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FROM THE
ICHABOD TUCKER
FUND
ESTABLISHED IN 1875 BY THE
BEQUEST OF ICHABOD TUCKER,
CLASS OF 179], AND THE GIFT OF
MRS. NANCV DAVIS COLE, OF
SALEM
Göttingische
gelehrte Anzeigen.
Unter der Aufsicht /2 ^ </y<^
der
König]. Gesellschaft der Wissenschaften.
1887.
Erster Band.
Göttingen.
Dieterieb'sche Verlags-BnchhaDdluDg.
1887.
O K <S hi' I
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H
Yerzeichnis
der an dem Jahrgange 1887
der
GöttingiBchen gelehrten Anaeigen
beteiligten Mitarbeiter.
Die Zahlen verweisen anf die Seiten.
Professor Dr. E. G. Aehelis in Marbnrg. 544.
Professor Dr. A. Bachmann in Prag. 383.
Professor Dr. A. Bezzenberger in Königsberg i. Fr. 413.
Pastor Dr. J. Biernatzki in Altona. 770.
Dr. C. Brun in Biesbach bei Zürich. 73.
Professor Dr. I. Brans in Kiel. 649.
Professor Dr. E. Cohen in Greifswald. 662.
Professor Dr. £. Dobbert in Berlin. 257.
Professor Dr. A. von Draffel in München. 449.
Oberkonsistorialrat Dr. F. D tt s t e r d i e c k in Hannover. 811.
Professor Dr. R. Encken in Jena. 948.
Professor Dr. A. P o n r n ie r in Prag. 352.
Privatdocent Dr. W. Friedensbnrg in Göttingen. 955.
Landgerichtsrat a. D. Dr. L. G a a p p , Privatdocent in Tübingen. 53.
t Professor Dr. K. Goedeke in Gi^ttingen. 445.
fDr. A. von Gonzenbach in Bern. 681.
a*
IV Yerzeiclinis der Mitarbeiter.
Professor Dr. W. Gräfe in Halle a. 8. 891.
Professor Dr. E. Hiller in Halle a. S. 401.
Professor Dr. W. H ö r s c h e 1 m a d n in Dorpat. 594
Professor Dr. H. Holtzmann in Straßbnrg i. E. 1. 857.
Stadtyikar Dr. L. Horst in Golmar. 35.
Professor Dr. Tb. Husemann in Oöttingen. 575. 613. 715. 851.
Professor Dr. H. Jacob i in Kiel. 520.
Professor Dr. E. Tb. von Inama-Sternegg. 313.
Prediger Dr. A. Jttlicber in Rummelsbarg bei Berlin. 199. 563.
Professor Dr. F. Jnsti in Marburg. 98. 775.
Professor Dr. J. Kaftan in Berlin. 534.
Dr. E. Kagelmacber in Berlin. 870.
Oberlebrer Dr. 0. Kaufmann in Straßburg i. E. 237.
Professor Dr. Tb. Kolde in Erlangen. 5. 721.
Professor Dr. W. Krause in Göttingen. 226. 526.
Oberlebrer Dr. J. Krebs in Breslau. 626.
Dr. 0. Krebs in Hamburg. 744. 842.
Privatdocent Dr. G. Krttger in Gießen. 26.
Professor Dr. P. de La gar de in Göttingen. 40. 289. 577. 983.
Professor Dr. Tb. Lipps in Bonn. 41.
Professor Dr. J. L o s e r t h in Gzernowitz. 398.
Professor Dr. E. Martin in Straßburg i. E. 77.
Professor Dr. E. Mayer in Wttrzburg. 151.
Professor Dr. A. Meitzen in Berlin. 66.
Professor Dr. J. Merkel in Göttingen. 985.
Privatdocent Dr. Ob. Meurer in Breslau. 999.
Privatdocent Dr. H. Meyer in Göttingen. 216. 675.
Professor Dr. W. M ö 1 1 e r in Kiel. 732.
Professor Dr. A. Mttller in Königsberg i. Pr. 897. 967.
Professor Dr. E. Nestle in Ulm a. Neckar. 207.
Professor Dr. K. J. Neumann in Straßburg i. E. 273.
Professor Dr. B. Niese in Marburg. 825.
Professor Dr. Tb. Nöldeke in Straßburg i. Eis. 81.
Bibliotbekar Dr. M. Perlbacb ip Halle a. S. 777. 934.
Oberlehrer Dr. J. Plew in Straßburg i. El. 103.
Yeraeichnis der IGtarbeiter. Y
Dr. W. Prellwitz in Königsberg i. Pr. 429.
Professor Dr. H. Beater in Göttingen. 529.
Oberschalrat Dr. E. yon Sail wflrk in Karlsrahe i. Baden. 494.
1014
Professor Dr. G. Schanz in Wtlrzbarg. 340.
Geheimer Arehivrat Dr. A. Schalte in Karlsrahe in Baden. 923. 977.
Professor Dr. 0. Seeck in Greifswald. 111. 497.
Professor Dr. B. Seaffert in Graz. 201.
Professor Dr. W. Sick el in Marbarg. 818.
Professor Dr. A. Springer in Leipzig. 241.
Arehivrat P. F. Stalin in Stattgart. 836.
Professor Dr. E. Steindorff in Göttingen. 617.
Professor Dr. E. Stein mey er in Erlangen. 785.
Professor Dr. A. Stern in Zürich. 211. 359.
Professor Dr. A. Ubbelohde in Marbarg. 113. 993.
Dr. H. Virck in Weimar. 1010.
Professor a. D. Dr. B. Westphal in Bflckebarg. 753.
Professor Dr. Th. Zachariae in Greifswald. 87.
Dr. jar. et phil. K. Zen me r, Mitarbeiter an den Monamenta Ger-
maniae in Berlin. 361.
Professor Dr. Th. Ziegler in Straßbarg i. Els. 937.
Professor Dr. H. Zimmer in Greifswald. 153.
Verzeichnis
der besprochenen Schriften.
Die Zahlen verweuen auf die Seiten.
Anecdota varia graeca et latina ediderant R. Schoell et
G. Studenmnd.
Vol. L: Anecdota varia graeca edidit Quilelinus
Studemmd. Berlin 1886. [W. Hörschelmann]. 594
Vol. II: Prodi commentarioram in rem publi-
cam Platonis partes ineditae. Edidit Rudolfus
Schoell. Berlin 1887. [I. BrunsJ. 649
d'Arbois de Jubainville, H., Essai d'un catalogue de la
littöratnre epiqae de Tlrlande. Paris 1883. [H. Zimmer]. 153
Archiv für Oescbicbte der Philosophie. In Verbindung mit
H. Diels, W. Dilthey, B. Erdmann, E. Zeller heraasgegeben
von L. Stein. Band I, Heft I. Berlin 1887. [B. Eucken]. 948
Arkiv, Nordiskt medicinskt, redigeradt af Dr. Axel Key.
Band XVIII. Stockholm 1886. [Tb. Hasemann]. 715
Arsberättelse, den sjande , frän Sabbatsbergs Sjnkhus :
Stockholm för 1885, lafgifven af Dr. F. W. Warfvinge.
Stockholm 1886. [Tb. Husemann]. 613
Ansoniiy Decimi Magni, Bardigalensis Opuscala recensait
R. Peiper. Leipzig 1886. [0. Seeck]. 497
Barthelemy,A., Gajastak Abalish. Texte pehlevi publiöpour
la premiere fois avec traduction, commentaire et lexique.
Paris 1887. [F. Justi]. 775
Baunack, Johannes und Theodor, Studien auf dem Gebiete
Verzeichnis der besprochenen Schriften. YU
des Grieobischen and der arischen Sprachen. Band I, Teil I.
Leipzig 1886. [W. Prellwitz]. 429
yan Bebber, W. J., Handbuch der aastibenden Witterangs-
kunde. Zwei Teile. Stuttgart 1885. 1886. [H. Meyer]. 216
Berg er, Hugo, Geschichte der wissenschaftlichen Erdkunde
der Griechen. Erste Abteilung: die Geographie der lonier.
Leipzig 1887. [K. J. Neumann]. 273
Berger-Levrault, Oscar, Catalogue des Alsatica de la
Bibliothfeque de Oskar Berger-Levrault. Nancy 1886. [G. Kauf-
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Bernatz ik, Edmund, Rechtsprechung und materielle Rechts*
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Budge, Ernest A. Wallis, The Book of the Bee. The Syriac
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Christie, Richard Copley, The Diary and Correspondence
of Dr. John Worthington. Vol. II. Part. II. Chetham So-
ciety. 1886. [A. Stern]. 359
Collection de textes pour servir ä T^tude et ä Tenseigne-
ment de Thistoire. — Textes relatifs aux institutions privies
et publiques aux epoques Merovingienne et Carol! ngienne,
publies par Marcel Thevenin. Paris 1887. [W. Sickel]. 818
Correspondenz, politische, der Stadt Straßburg im Zeit-
alter der Reformation. Band II, bearbeitet von 0. Winckel-
ifkiwn. Straßburg 1887. [H. Virck]. 1010
Dieterici, Fr., Die Abhandlungen der Ichwän es-safä in
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GesSy W. F., Christi Person and Werk. Dritte Abteilang.
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Haveti Jalien, Qaestions Mörovingiennes. I. II. HI. Paris
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Haber, Alfons, Geschichte Oesterreichs. Band 1 and 2.
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Ha her, Eagen , System and Geschichte des schweizerischen
Privatrechts. Band I. Basel 1886. [E. Mayer]. 151
Hyvernat, Henri , Les actes des martyrs de T^gypte tirte
des manascripts coptes de la biblioth^ae vaticane et da
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Jakob, Gtoorg, Drei Abfaandlangen zar Geschichte des Han-
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IL Welche Handelsartikel bezogen die Araber des Mittelalters
ans den nordisch-baltischen Ländern? Leipzig 1836.
IIL Der nordisch-baltische Handel der Araber im Mittelalter.
Leipzig 1887.
Joachim, £., Die Entwickelnng des Rheinbundes vom Jahre
1658. Leipzig 1886. [0. Krebs]. 842
jOlicher^ A., Die Gleichnisreden Jesu. Erste Hälfte. Frei-
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Kehrbach — siehe Monumenia.
Keller, Lndwig, Die Waldenser nnd die deutschen Bibel-
übersetzungen. Leipzig 1886. [Tb. Kolde]. 5
Khull — siehe Plettere.
Knot he, Hermann, Schriften über die Oberlausitz. [A.Meitzen]. 66
Köhler, Georg, Die Entwickelnng des Kriegswesens nnd der
Kriegfflhrung in der Bitterzeit. Band I und II. [J. Krebs]. 626
KOstlin, H. A., Geschichte des christlichen Gottesdienstes.
Freiburg im. Br. 1887. [E. C. Achelis]. 544
Kddewey — siehe Monumet^a.
Kfihnan, Richard, Rhythmus und indische Metrik. Göttingen
1887. [H. Jacobi]. 520
Kuntze, Johannes Emil, Die Obligationen im römischen und
im heutigen Rechte und das ins extraordinarium der römi-
schen Kaiserzeit. Leipzig 1886. [A. Ubbelohde]. 113
de Lagarde, Paul, Probe einer neuen Ausgabe der Ueber-
setzungen des alten Testaments. Göttingen 1885. — Catenae
in eyangelia aegyptiaoae quae supersnnt. 1886. — Norae
psalterii graeci editionis specimen. 1887. — Purim. Ein
Beitrag zur Geschichte der Religion. 1887. — Onomastica
sacra. Zweite Ausgabe. 1887. — Mittheilungen. Zweiter
Band. 1887. [Selbstanzeige]. 577
Laistner, Ludwig, Der Archetypus der Nibelungen. Mfln-
cben 1886. [E. Martin]. 77
Lamprecbt, Karl, Deutsches Wirthschaftsleben im Mittelalter.
Drei Bände. Leipzig 1886. [K. Th. von Inama-Sternegg]. 313
X Verzeichnis der besprochenen Schriften.
La my, Thomas Josepbns, Sancti Ephraem Syri hymni et
sermones, quos e codicibus LondiDensibos, Parisiensibus et
Oxoniensibns descriptos edidit, latinitate donavit etc.
Tomas IL Mecbliniae 1886. [Tb. Nöldeke]. 81
Lang, Heinrieb Otto, Beiträge zar Eenntnis der Ernptiv-
Gesteine des GbristiaDia-Silarbeckens. Cbristiania 1886.
[E. Geben]. 662
von der Linde, Antonius, Kaspar Haaser. Zwei Bände.
Wiesbaden 1887. [A. Scbalte]. 977
Lessen, Max, Briefe von Andreas Masias and seinen Frean-
den 1538—1573. Leipzig 1886. [J. Losertb]. 398
Lucbaire, Acbille, Histoire des institations monarcbiqaes de
la France soas les premiers Gap^tiens. Paris 1885. [E. Stein-
dorflFJ. 617
Ludwig, Hermann, Jobann Georg Kastner, ein elsässiscber
Tondicbter, Theoretiker and Musik forscber. Sein Werden
und Wirken, Leipzig 1886. Zwei Teile in drei Bänden.
[J. Plew]. 103
Luginbübl,, Rudolf, Philipp Albert Stapfer, helvetischer Mi-
nister der Künste und Wissenschaften (1766 --1840). Basel
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Luther, Martin, Werke, kritische Gesamtausgabe. Band III
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Mach, E., Beiträge zur Analyse der Empfindungen. Jena
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Masius — siebe Lassen.
M6 langes, nouveaux, orientaux. Paris 1886. [P. de La-
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Meyer, Gustav, Griechische Grammatik. Zweite Auflage.
Leipzig 1886. [A. Bezzenberger]. 413
Monumenta Germaniae Paedagogica. Herausgegeben von
Karl Kehrbach. Band I: Braunschweigische Schulordnungen
von den ältesten Zeiten bis zum Jabre 1828, mit Einleitung,
Anmerkungen, Glossar und Register berausgegeben von Frie-
drich Koldewey. Berlin 1886. [E. von Sallwttrk]. 494
Monume]nta medii aevi bistorica res gestas Poloniae illu-
strantia.' Tomus IX. Krakau 1886. [M. Peribacb]. 777
Pastor, Ludwig, Geschichte der Päpste seit dem Ausgange
Verzeichnis der besprochenen Schriften. XI
deB Mittelalters. Band I. Freibarg im BreisgaD. 1886.
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Petper — siehe Ätisonitis.
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Peshntan Dastur Behramji Sanjana, Ganjesh&jagin , An-
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ser Oott« in 21 Sprachen. Chicago 1883. [J. Biernatzkij. 770
Pischel — siehe Rudrafa.
P leisere, der, Tandareis and Flordibel, heraasgegeben von
F. Khdl. Graz 1885. [E. Steinmeyer]. 785
Proclus — siehe Änecdota varia graeca et latina.
Q a eilen zar Geschichte der Stadt Worms, heraasgegeben von
H. JBooSy Teil I, Band L Berlin 1886. [A. Schulte]. 923
Beichstagsakten, deutsche. Band IV und V. Gotha 1882
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Reuter, Hermann, Augnstinische Studien. Gotha 1 887 . [Selbst-
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Badrata's Qrngäratilaka and Ruyyaka's Sahrdayaltla. With
an Introduction and Notes edited by ü. Pischd, Kiel 1886.
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Schienther, Paul, Frau Gottsched und die bürgerliche Ko-
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Schmidt, F. W., Kritische Studien zu den griechischen Dra-
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1886. [E. Hiller]. 401
Sehotl — siehe Anecdota varia graeca et latina.
Sol tan, Wilhelm, Prolegomena za einer römischen Chrono-
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Stalin, Panl Friedrich, Geschichte Württembergs. Ersten
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Staodinger, Franz, Gesetze der Freiheit Band L Darm-
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Stein — siehe Archiv.
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Üöttingische
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
derKönigl. Gesellschaft der Wissenschaften,
Nr. 1. ß 1. Januar 1887.
Preis des Jahrganges : JIl 24 (mit den »Nachrichten d. k. Q. d. Wiss.« : »£ 27).
Preis der einzelnen Nummer nach Anzahl der Bogen: der Bogen 50 ^
lakaU: Far rar. History of Interpratatioii Yon SaUgmcmn. — Koller, Die Walctouer md
die devtscboB Bibelftbenotsimgeii. Von Koldi. — Yieeher, Die OJfeBbarang Johumia. Von läügm;
-' J&lielier, Die Qloiclimgredoii Jeoa. I. Von Horst — Gwynn, on a Syriac MS. bolonging to
Um Colleetuni of Arehbiiliop Uwhor. Yon de LagardM,
= El0MHiehti9«r Abdrack von Artikeln der QStt. gel. Anzeigen verboten. = '
Farrar, Frederic W., History of interpretation. Eight lectures
preached before the university of Oxford in the year 18d5. London, Mac-
miUan 1886. LI o. 553 S. 8^
Der durch frühere Werke (Kommentare) zu Lukas und vom He-
brierbriefy Lebensbilder von Jesus und von Paulos, ferner Early days
of Christianity und Messages of the books) rühmlich bekannte Ver-
fasser, gegenwärtig Archidiakonns und Kanonikus von Westminster,
veröffentlicht acht Vorlesungen, welche der Reihe der (apologetisch
gerichteten) Bampton lectures angehören. Mit der bekannten Breite
Diid rhetorischen Haltung englischer Vorträge versöhnt einigermaBen
die höchst achtungswerte Belesenheit und Gelehrsamkeit, von wel-
cher die Noten unter dem Text und am Schlüsse des Buches zeugen.
Hier findet sich eine erdrückende Menge von Stoff zusammenge-
tragen, dessen nur teilweise Verarbeitung der Text der Vorlesungen
selbst enthält. Trotzdem tragen die letzteren vielfach einen mehr skiz-
xeiibaften Charakter. Auf Vollständigkeit und GleichmäBigkeit der
DarsteUoog verzichte der Verfasser selbst, wenn er selbst bemerkt,
daB Ausleger wie Maldonatas, Estius, Cornelius a Lapide (S. VIII),
ab» auch die Soefatiaaer (S. 383) in seiner Darstellung keine Stelle
gefanden haben. Aber noch mehr ! Auch die Exegese der Onostiker
bleibt unberOeksiehtigt, obgleich das erste Auftreten einer kircUi-
ehen Anslegong und Auslegungskusst durch den Vorgang jener ur-
säehlicb bedingt ist und sich z. B. über Herakleon schon etwas sagen
Göit. fol. Abs. 18S7. Nr. I. 1
2 Gott. ßfel. Anz. 1887. Nr. 1.
ließe^ was nicht ohne Belang wäre. Aber aaeh von Größen des
J^irehlichen Altertums wie Ambrosiaster, Primasius, Andreas and
Arethas von Gäsarea erfahren wir nichts oder so viel wie nichts;
ttber Andere, wie Victorinas von Plettaa, die Kappadocier, Gyrillas
von Alexandria y nnr ganz beiläufig einiges Unwesentliche, ttber
die Meisten nicht genug Konkretes und Charakteristisches (man
vgl. z. B. was S. 174 f. über Irenäus ausgesagt wird mit Harnacks
Dogmengeschichte I, S. 441 f.), während von dem, was mitgeteilt
wird, sehr vieles nur in einem losen Zasammenhang mit der Exe-
gese steht Letztere Bemerkung gilt nicht bloß von der ganzen vier-
ten Vorlesung, welche die Scholastik behandelt, sondern vielfach
auch schon von der dritten, der Patristik gewidmeten. Daß z. B.
die dogmatische Termini zgtag zuerst bei Theophil us, trinitas zuerst
bei Tertullian begegnen, erfahren wir S. 171 und 368; für eine
Geschichte der Auslegung ist beides überhaupt belanglos. Wohl
aber wäre von Artemon und Theodotus in einer Geschichte der Aus-
legung ganz Anderes zu erwarten gewesen, als die gelegentliche Er-
innerung an ihren Antitrinitarismus (S. 263, vgl. hierüber Harnack
S. 577 f.). Keine Auskunft empfängt man auch über immer noch
zur Debatte stehende Detailfragen , wie nach dem Kommentar, wel-
chen ein gewisser Heraklit »zum Apostel« geschrieben haben soll
(Enseb. KG V, 27), nach dem Kommentar des Donatisten Tichonius
zur Apokalypse und seinem Verhältnis zu Victorinns und Hierony-
mns, nach dem Verfasser und Charakter des dem Chrysostomus zu-
geschriebenen Opus imperfectum in Matthaeum, nach den vierbändi-
gen AUegoriae, welche später dem Theophilus von Alexandria oder
gar dem von Antiochia zugeschrieben worden sind u. dgl. mehr.
Doch kommen wir zur Sache! Der Verfasser kennt eine Menge
falscher Methoden der Auslegung; er zählt als solche auf die hala-
chische , kabbalistische , traditionelle, hierarchische, »inferentiale«,
allegorische, dogmatische, naturalistische (S. XI). Er weiß, daß die
Geschichte der Auslegung eine Geschichte von Irrtümern ist (S. 8. 162) ;
er bemüht .sich gleich im Eingang, den »causes of aberration«
auf die Spur zu kommen und findet dieselben wesentlich in dem
Umstände, daß die christlichen Ausleger die verhängnisvolle Erb-
schaft ihrer Vorgänger in Jerusalem und Alexandria angetreten ha-
ben (S. 11 f.). In derselben Richtung habe ich neulich »das Pro-
blem der Auslegung« besprochen in der Festschrift zur fünfhnndert-
jährigen Stiftungsfeier der Universität Heidelberg, veröffentlicht von
dem historisch-philosophischen Verein zu Heidelberg 1886, S. 100 f.').
1) S. 113 Z. 10 V. o. ist eine Zeile ausgefallen: »Kirchenväter des Qlaa-
bens gelebt, es hätten die heidnischen«.
Farrar, History of Interpretation. S
Die gescbichtlicben BedingangeD, unter welchen die Kirotie an die
LOsnng der Aufgabe herangetreten ist, brachten es nämlich nnver-
meidlich mit sich, dail diese Aafgabe zunächst verkehrt angeschrie-
ben! das ganze Problem gleichsam mit unsicherem Schwerpunkt auf
den Kopf gestellt angetroffen wurde. Warum dies der Fall war,
und wie das Problem im Lanfe der Zeiten allmählich umgedreht
und in die natürliche Lage gebracht, eben damit aber der Lösung
entgegengefllhrt worden ist: das und nichts anderes ist das Thema
einer Geschichte der Auslegung. Von dieser Sachlage ist auch un-
ser Verfasser recht wohl unterrichtet. Das beweist nicht bloß die
erste einleitende, das beweisen namentlich die zweite and die dritte
Vorlesung, welche der rabbinischen und der alexandrinischen Aus-
legung gewidmet sind und nicht nur das Material fttr richtige Be-
urteilung dieser Fehlgeburten in Masse beibringen, sondern auch
hinlängliche Anleitung zu solcher richtigen Beurteilung bieten. Aber
des Materials ist nar zu viel, und die Anleitung zu seiner Zusam-
menfassung im »größten Epitomator«, wie Hegel den Gedanken ge-
nannt hat, erstickt in der Massenhaftigkeit des Stoffs. Beispiels-
weise wird mit vollem Recht der Widerspruch betont, daß Irenäus
die Schäden der gnostischen Exegese aufgedeckt hat, aber nur um
mit seiner eigenen Auslegung sofort in dieselbe allegorische Me-
thode, die er bei jener bekämpft, zurückzufallen (S. 175). Aber es
war auch zu zeigen, daß dem nicht wohl anders sein konnte. Hätte
der Bischof von Lyon sich der AUegorese im Grundsatze entschla-
gen wollen, so hätte er eben nicht der Vorkämpfer der katholischen
Kirche, der Mitbegründer ihrer Dogmatik sein können, der er in
Wirklichkeit gewesen ist. Denn der Wortsinn des gesamten Alten
und der meisten Teile des Neuen Testaments liefert nun einmal
nichts, was sich unmittelbar für jenes, freilich noch recht lose, Ge-
fbge von Glaubenssätzen verwenden ließe, als welches das werdende
Dogma bei ihm erscheint. Denn dieses hat bekanntlich seine War-
zeln nur sehr teilweise im Urchristentam, in viel weiterem Umfange
dagegen in der griechisch-römischen Religionsphilosophie. Somit
mußte auch die ex regula (vgl. Iren. II, 25,1) fließende Theologie
unseres Kirchenvaters, wie sie prinoipiell eine dogmatisch bedingte
war, so auch notwendig eine allegorische sein. Speciell fttr die
neutestamentlichen Schriften aber lag die dringlichste Nötigung zu
einer solchen, ihren historischen Sinn verdankelnden, Interpretation
in ihrer soeben vollzogenen und von Irenaens mit unter den Ersten
vertretenen Kanonisation, in den auf sie übertragenen dogmatischen
Vorstellungen der gleichmäßigen Inspiration, der absoluten Sufficienz,
der dorchgängigen inneren Einheitlichkeit Eine Schrift kanonisieren
1*
4 Gott, jarel. Anz. 1887. Nr. I.
heißt eben gar nichts Anderes, als sie zum Objekt allegorischer Aus-
legung erheben. Aber gerade diese Seite an der Sache, die mit
der Oeschiehte des Kanons zusammenhängt, tritt bei unserem Ver-
fasser zurück (vgl. darüber S. llö des angeführten Aufsatzes und
bei Harnack S. 276. 280 f.).
An dem Mangel an Einsicht in diesen Zusammenhang hängt
noch Weiteres. Man kann es einem Würdenträger der englischen
Staatskirche nicht hoch genug anrechneu, daft er es vermag, die
Lehre von der Inspiration nicht bloft in ihrer völligen Haltlosigkeit
zu erkennen, sondern ihr auch, wenigstens in ihrer dogmatisch kor-
rekten Gestalt als Wort-Inspiration, weil sie forthin jede ehrbare
Exegese im Grundsätze unmöglich machen würde, offen den Krieg
zn erklären (S. XX f. 336 f., 339 f. 369 f.). Nicht an sich selbst Offen-
barung sei die Bibel, sondern ein Buch , welches Offenbarung ent-
hält in Form von erhaltenen Fragmenten der hebräischen National-
Htteratur mit daran sich schließenden jüdischen und christlichen
Anslänfem. Er ist sich bewußt, damit den Interessen der Frömmig-
keit nichts zu vergeben. Und kein Zweifel kann bestehn hinsicht-
lich der vollen Aufrichtigkeit dieses Bewußtseins. Auch über die
bodenloseste AUegorik und anderweitige Verirrungen kann er nicht
berichten, ohne zum Schlüsse göttliche Fortschritte unter den mensch-
lichen Rückschritten zu entdecken (S. 157 f. 425 f.)! Ja die ganze
Krankheit, deren Verlauf er beschreibt, schlägt insofern nach Job. 11,4
nur zur Ehre Gottes aus, als jedwedes andere Buch, wenn es solche
Ausleger, wie die Bibel, gefunden hätte, dadurch notwendig discre-
ditiert worden wäre (S. IX. 8 f. 303 f.).
Aber eine principiellere Behandlung wäre doch auch gerade in
denjenigen Teilen des Buches zu wünschen gewesen, welche zeigen,
wie in Folge einer methodischer geübten Auslegung zuerst die Alle-
gorese fallen mußte. Dadurch aber, daß dieselbe protestantische
Theorie, welche dies leistete, daneben den Korrelatbegriff der Inspi-
ration nicht bloß festhalten, sondern noch zu steigern unternahm,
geriet man in eine im Grundsatz verfehlte und widerspruchsvolle
Stellung. Denn gerade die buchstäbliche Auslegung mußte auf ein
historisches Verständnis der Schrift, diese aber wieder mit Notwen-
digkeit auf historische Kritik führen. Sobald aber einmal das Alte
und das Neue Testament solcher Gestalt zur Quellensammlung für
die Geschichte Israels und des Urchristentums geworden waren, tra-
ten auch die einzelnen Autoren in so individueller Abgrenzung gegen
und neben einander auf, daß die einheitliche Urheberschaft verloren
gieng, und an die Stelle der inspirierten Bibel eine litterarische Be«
wegnng mit vollkommen menschlichem Verlaufe treten mußte. In
Keller, Die Waldenser nnd die deutschen Bibelübersetznngfen« 5
dieser Richtuog etwa hätte dem etwas diffasen Gebalt der seohsten,
riebeoten nnd acbten Vorlesnog, welebe die reformatorisehe, naeh-
reformatorisehe nnd moderne Exegese behandeln, aber vielfaeh mehr
einer populären Darstellung der protestantischen Theologie ähnlich
sehen, eine strengere Form und Fassung zu Teil werden mögen.
Auch die zahllosen Gitate ans englischen Bischöfen und kirchlichen
Wortf&hrem, die in den Text eingeflochten sind, stören wenigstens
den deutschen Leser.
Deutsche Namen begegnen vielfach in falscher Schreibung, so
Wetstein, Ouerike, Schröck, Knrz. Ebenso dnrcbgehend ist die Form
Cassiodorus gebraucht. Die ältere Angabe des Todesjahrs von Valla
S. 312 ist längst als falsch erwiesen. Die Zeit des Bncherius
ist S. 24 in der Note mit 440, im Text mit 450 angegeben. Das
S. 483 als in Wien erschienen bezeichnete Buch des Adrianus ist
vielmehr in Augsburg gedruckt worden. Das nachS.24Bibl. maxima
patmm VI, S. 889 stehende Buch des Tichonias ist vielmehr ebend.
S. 49 (besser bei Oallandi , Bibl. vet. patr. VIII, 8. 107) zu finden.
Sehleiermachers Schriften Ober den ersten Timotheusbrief und über
Lukas sind nicht, wie S. 411 steht, 1817 und 1824, sondern 1807
und 1817 erschienen, und zwar unter anderen als den dort ange-
gebenen Titeln. S. 409 ist eine Anmerkung stehn geblieben, welche
im Text keinen Anhalt hat, aber des jüngeren Fichte »Speculative
Theologiec vom Jahr 1846 auf Rechnung seines Vaters bringt.
Offenbar ist die Geschichte der deutschen Theologie der Gegenwart
am wenigsten anf eine Kritik von Seiten dentscher Fachgenossen
berechnet. Denn solchen dürfte es nicht absonderlich imponieren,
wenn erzählt wird, Lacordaire habe nach dem Studium von Strauß'
Leben Jesu nur zehn Minuten gebraucht, um sich von seinem
Schrecken zu erholen und zu lachen (S. 415).
Straftburg i. E. H. Holtzmann.
Keller, Ludwig, Die Waldenser und die deutschen Bibelüber-
setzungen. Nebst Beiträgen zur Geschiebte der Reformation. Leipzig,
S. Hirzel 1886. V u. 189 S. 8^
Unter den historischen Schriftstellern dürfte es wenige geben,
die sich einer solchen Fruchtbarkeit erfreuen wie L. Keller. Nach-
dem derselbe, wohl durch seine amtliche Stellung am Staatsarchiv
zn Münster dazu veranlaßt, mit seinem Boche über die Geschichte
der Wiedertäufer und ihres Reichs zu Münster (Münster 1880) sich
zoerst der Täufergeschichte zugewandt, sind von ihm eine ganze
Beihe denselben Stoff oder naheliegende Gebiete berührende, zum
6 Gott. pel. Anz. 1887. Nr. 1.
Teil umfassende Arbeiten erscbieqen, und mit einem wahrhaft un-
ermildlicben Fleiße, dessen Energie nur noeb dureb die Neigung,
seine Resultate möglichst schnell zu yeröffentlichen , überboten wird,
verfolgt der Verf. seine Ziele. Und Jedermann wird anerkennen
müssen, 4aß er eine ungewöhnliche Belesenbeit besitzt und manches
halb vergessene Buch an das Licht gezogen, und was dabei das
wichtigste ist, die hochinteressante Frage nach der Entstehung des
Täufertums von neuem in Fluß gebracht hat. Diesem rastlosen
Fleiß entsprechen freilich die Resultate sehr wenig. Zwar enthalten
E.S Schriften des Neuen nicht Weniges, ja sogar überraschend Viel,
von dem aber leider gesagt werden muß, daß nur der allergeringste
Teil davon der Kritik Stand gehalten hat. Unglücklicherweise
sieht nun aber E. nicht nur in allen denjenigen, welche ihm nicht
zustimmen, seine persönlichen Gegner, sondern geradezu Eetzer-
richter, die unversöhnlichen, intoleranten Gegner der armen tänfe-
rischen Gemeinden, während diejenigen, welche ihm zustimmen, als
die berufenen und kompetenten Autoritäten gepriesen werden. Un-
ter diesen Umständen kommt dann freilich der Eritiker in eine
höchst bedenkliche Lage. Trotzdem hat Ref. die Unvorsichtigkeit
begangen, in mehreren Zeitschriften, deren Herausgeber ihn fHr
kundig hielten, Besprechungen von Eellers Büchern erscheinen zu
lassen, die, wie nicht geläugnet werden soll, im Hinblick auf die
sich steigernde Sicherheit, mit der die kühnsten Hypothesen als be-
wiesen hingestellt wurden, und die Leichtfertigkeit, mit der beson-
ders Referate in politischen Zeitungen dieselben als gesicherte That-
sachen weiterverkündeten, nach und nach eine gewisse, übrigens
durchaus unpersönliche Schärfe annahmen. Eine Eritik des letzten
größeren Werkes: »die Reformation und die älteren Reformparteien«
lehnte ich ab, weil mir die Lektüre desselben jede Lust benahm,
mich weiter damit zu beschäftigen, und ich an die Möglichkeit einer
wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Eeller nicht mehr zu
glauben vermochte. Nur seinen ziemlich gleichzeitig in dem histo-
rischen Jahrbuch für 1885 erschienenen Aufsatz: »Jobann v. Stau-
pitz und das Waldensertnm« glaubte ich beleuchten zu müssen, weil
er einen Gegenstand betraf, über den ich selbst eingehend gehan-
delt, und ein Schweigen meinerseits als Zustimmung hätte gedeutet
werden können. So entstand mein Artikel: »Johann von Staupitz,
ein Waldenser und ein Wiedertäufer« in der Zeitschrift fUrEirchen-
geschichte Bd. VH, 426 ff., in dem ich mir die Aufgabe stellte, die
unhistorische Methode des Verfassers einmal rücksichtslos aufzu-
decken, und ich nach eingehendster Beweisführung zuletzt zu dem,
gegenüber dem von mir persönlich geschätzten Verfasser ungern
Keller, Die Waldenser und die deutschen Bibelübersetzungen. 7
ausgesprocbenen y aber notwendigen Urteile kam, daß der Verf.
»sieb in einer Weise in seine Lieblingsgedanken verstrickt hat,
die ibn zn richtigem historischen Urteil unfähig gemacht hatc. Da-
mit hoffte ich meine Auseinandersetzangen mit Keller abgeschlossen
ZQ haben, indessen nötigten mich die maßlosen und verleumderischen
Auslassungen E.s gegen meine Person, dem Wunsche der Redaktion
dieser Zeitschrift nachzugeben und die vorliegende neue Publikation
einer Besprechung zn unterziehen, was um so notwendiger erscheint,
als es des entschiedensten Protestes gegen die vom Verfasser be-
liebte Eampfesweise bedarf.
E. erzählt seinen Lesern im ersten Eapitel seines Buches, daß,
während von Seiten der > Historiker c ^) ihm kein einziges unfreund-
liches Urteil bekannt geworden, »manche und zwar sehr kompetente
Beurteiler sogar ihm warme Zustimmug zu erkennen gegeben habenc,
— er verweist dafür u. a. auf Hans Prutz, Qeorg Weber, G. E(gelhaaf)
und H. Boos — 3>eine Minorität von theologischen Recensenten« seine
Arbeit als »angebliche Forschungen c bezeichnet hätten, wobei der Um-
stand gewiß auffiallend sei, »daß die Männer, welche dieses Verdikt
ausgesprochen und die wissenschaftlichen Organe, welche dasselbe
publiciert haben, sämtlich als Vertreter einer Partei und zwar einer
ganz bestimmten konfessionellen Richtung der lutherischen Eirche
bekannt sind. Welche Partei dies ist, wird sofort klar werden,
wenn ich unten die Namen nenne, die hier in Betracht kommen.
Diejenigen römisch-katholischen Schriftsteller, welche ihr Urteil tlber
mein letztes Buch abgegeben haben, stimmen mit den erwähnten
Eritikern vollkommen ttbereiu und haben sich meist darauf be-
schränkt die Ansicht von jenen zu reproducieren oder einfach darauf
zu verweisen«. Ich stehe nicht an, unter allen Entdeckungen Eel-
lers in diesen Sätzen die größte zn sehen, die mich persönlich um
so mehr interessiert, als ich mir bisher nicht bewußt war, zu irgend
einer kirchlichen Partei zu gehören, und eine solche Zugehörigeit
auch bisher noch niemand von mir behauptet hat. Nach Eeller die-
nen also der streng-konfessionellen derartig katholisierenden Partei,
daß die katholischen Schriftsteller ihre Resultate ohne Weiteres ac-
ceptieren können, die von Hamack und Schürer herausgegebene
tbeol. Litteraturzeitung, die von Brieger unter Mitwirkung von 6ass,
Reuter und Ritschi herausgegebene Zeitschrift für Eirchengeschichte,
die in Verbindung mit 6. Baur, Beyschlag und Wagenmann von
l)'DaB der Verfasser Karl Müller, G. Weizsäcker, Tschackert, Brieger etc.
lud mich als »Uistorikerc nicht anerkennt, weil wir Mitglieder von theologi-
schen Fakultäten sind, werden wir in Qeduld zu tragen wissen.
8 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 1.
J. Köstlin nud Riebm herausgegebeueu Theol. Studieu und Kritiken
und — wie man ans dem Nachtrag gegen Weizsäckers ^) Anzeige in
diesen Blättern schließen maß, last not least — die Göttinger Ge-
lehrten Anzeigen. Den Beweis dafUr bieten die Namen derjenigeni
die in den genannten Zeitschriften Herrn Keller zuzustimmen nicht
in der Lage waren, P. Tschackert, Karl Müller, G. Weizsäcker and
meine Wenigkeit. Das ist in der That so spaßhaft, daß es unrecht
wäre, die Freude daran durch irgend eine Bemerkung zu stören.
Die Sache bekommt jedoch ein anderes Gesicht, wenn Keller auf
S. 17, um den Standpunkt jener Männer, speciell aber den meinigen
hinsichtlich seiner Konsequenzen zu charakterisieren, sich folgende
Auslassungen, die hier wieder gegeben werden müssen, erlaubt: »Es
war mir von großem Interesse in Carl Hases »»Handbuch der prote-
stantischen Polemik cc eine lebhafte Misbilligung der in den prote-
stantischen Kirchen an den Wiedertäufern vollzogenen Exekationen
zn finden. Hase bezeichnet dieselben als »»Justizmorde des re-
ligiösen Fanatismus«« and meint, daß dieselben aus der Phan-
tasie einer »»allein seligmachenden lutherischen und [calvini-
sehen' Kirche << entsprungen seien. Noch interessanter aber war mir,
daß ein Mann von Hases Ansehen anerkennt, wie das Gelüst nach
dem Einschreiten der Staatsgewalt in der lutherischen and calvini-
schen Orthodoxie sich stets za erneuern pflegt. Hase sagt im An-
schluß an die obenerwähnten Worte : »»Nur wo mit der Rückkehr zu
altertümlicher Orthodoxie auch das katholische Wesen in seiner (des
Protestantismus) Mitte wieder mächtig wird, erneuert sich auch
ein Gelüste nach der Macht solcher rettenden Thaten!««
In der That hat ja die konfessionelle Dogmatik die Waffen einst-
weilen nur auf dem Fechtboden niedergelegt; im Princip wird die
Pflicht der Obrigkeit zur Ausmerznng der »Häretiker« noch heute
aufrecht erhalten. Vielleicht werfen diese Thatsachen and Aeuße-
rnngen auf folgende Stelle der Koldeschen Polemik ein gewisses
Licht. Er sagt (Theol. Lit.-Ztg. vom 11. Aug. 1883): »»Wenn Kel-
lers überraschende Beobachtung, daß die Ideen Denks bis zu einem
gewissen Grade siegreich in das Bewußtsein der gebildeten Mensch-
heit übergegangen sind (S. 237 vgl des Verf.s Aufsatz in den Preuß.
Jahrbb. 1882 S. 251) wirklich wahr sein sollte, so wird die gebil-
dete Menschheit, zu der Referent sich dann leider nicht zählen
dürfke, es dem Verfasser Dank wissen müssen, daß er ihr zur Er-
kenntnis von dem wahren Wesen ihrer Welt- und Gottesanschaaung
1) Vgl. Keller S. 175 : Daß der betre£Pende Theologe innerhalb derjenigen
Kirche steht, deren Urteil über die »Ketzer« ja bekannt ist, n&mlich der luthe-
rischen, wird, wie ich hoffe, sein Urteil nicht allzusehr beeinflußt haben u. s. w.
Keller, Die Waldrnger und die dentsclien Bibelübersetzungen. 9
verholfen hat««, — so Keller^) der daDo weiter noch den Nachweis
▼ersnehty daß er mit den Ideen Denks dessen Gedanken von der
Gewissensfreiheit gemeint habe, während ich, wie jedermann aus
dem Gitierten ersehen kann, von der gesaroten Welt- nnd Gottes-
ansehannng Denks sprach. — Welche Gesinnung nnd welche Ab-
sichten E. mit diesen Worten, ohne doch den Mnt zu haben, es offen
aaBznspreeben, mir vorwerfen will, ist leicht zu ersehen. Hierauf
überhaupt etwas antworten zu wollen, wäre nnwtir-
dig. Diese Methode, sich eines unbequemen wissen-
schaftlichen Gegners durch eine verleumderische
Denunciation, die ihn verächtlich machen soll, ent-
ledigen zu wollen, richtet sich selbst, und nur, um die
Meinung nicht aufkommen zu lassen, als wären K.s sachliche Ent-
gegnungen gegen mich stichhaltig und hätte ich ihm Falsches vor-
geworfen, geheich, wiewohl mit einiger Ueberwindung, auf seine
weiteren Auslassungen ein.
Mit sittlicher Entrüstung wirft Keller mir vor, daß schon der
Titel meines Aufsatzes: »Johann von Staupitz, ein Waldenser und
ein Wiedertäufer« eine, wie er hoffe, unbeabsichtigte Irreleitung de-
rer sei, die meinen Aufsatz, aber nicht den seinigen lesen; ich hätte
ihm fälschlich die Absicht untergeschoben, nachzuweisen, »daß Stau-
pitz nnd Genossen eine Waldensergemeinde bildeten« , einen Satz,
den er nirgends geschrieben habe. Das ist allerdings richtig, daß
Keller diesen Satz nicht geschrieben hat, was ich auch nicht ge-
sagt habe; gleichwohl halte ich meine Behauptung, daß jeder Leser
seines Aufsatzes wie ich die üeberzeugung haben mußte, daß Kel-
1) Damit vergleiche man folgende für Kellers Kampfesweise beachtenswerten
Sätze: »Eben dasselbe unerhörte Proceßverfahren, welches einst die »Sektirerc
aaf den Scheiterhaufen gebracht hat, gilt in einzelnen Kreisen noch heute inso-
fern als zulässig, als man noch immer gezwungen werden soll, dieselben Männer
als Richter anzuerkennen, die an dem ProceB als Partei im höchsten Grade in-
teressiert sind. Die Aburteilung nach den Gesichtspunkten einer Theologie, die,
ohne sich selbst aufzugeben, ihre alte Auffassung über die Ketzer nicht ändern
könne, mufi ich entschieden und nachdrücklich zurückweisen c S. 35. Hierauf
als auf die »Zurückweisung des Urteils seiner Parteic beruft sich Keller dann
auf S. 176 gegenüber C. Weizsäcker. Zu meinem Bedauern hat er sich übrigens
die Thatsache entgehn lassen, daB ich vor Kurzem zwei sich mit Sekten befassende
Schriften habe erscheinen lassen: »die Heilsarmee« Erlangen 1885 und »der Me-
thodismus und seine Bekämpfung«. Erlangen 1886. Wie bequem würde sich schon
der Titel der letzteren zum Nachweis meiner ketzerrichterlichen Tendenz haben
verwerten lassen! Ich empfehle ihm übrigens und allen, die sich dafür inter-
essieren, wie ich nnd wohl im GroBen und Ganzen sämtliche evangelische Theo-
logen über die Behandlung der Sektierer denken, S. 38 ff. der zuletzt genannten
Schrift SV lesen.
10 Gölt. gel. Anz. 1887. Nr. 1.
1er Staapitz zum Qenossen der Waldenser, reap, jener Richtang, die
man später Wiedertänfer nannte, zu machen beabsichtigte, vor wie
nach aufrecht. Keller beruft sich dagegen auf folgenden Satz : »Es
mag sein, daß Staupitz formell keiner in sich geschlossenen Con-
fession angehört hat. Aber gleichwohl hat er in allen principiellen
Fragen eine ganz bestimmte religiöse Richtung vertreten, eine Rich-
tung, welche damals weit und breit Anhänger besaß und die sich
stets in der evangelischen Kirche erhalten hatc. Diese eventuelle
Entgegenstelinng von »Confession« und »Richtung«, welche, was
keines Nachweises bedarf, für die Zeit des Staupitz gar nicht ver-
wendbar, ist thatsächlich nur ein Spielen mit Worten und von dem
Verfasser nur noch nachträglich hervorgesucht, denn sein ganzer
Aufsatz läuft thatsächlich darauf hinaus zu erweisen, daß die »reli-
giöse Richtung« des Staupitz die der Gottesfreunde und Walden-
ser war (vgl. S. 131 ff.). Es genügt hier zu meiner Rechtfertigung
nur daran zu erinnern, daß Keller erklärt, ich hätte in meiner Cha-
rakteristik von Staupitz durch die Bemerkung: »er wollte nur ein
Nachfolger Christi sein«, einen deutlichen Fingerzeig gegeben, zu
welcher besonderen Partei Staupitz zu zählen ist, und daran
die Erklärung knüpft: »Es gibt in der ganzen deutschen Kirchen-
geschichte nur Eine religiöse Richtung, welche die Idee von der
Nachfolge Christi so sehr zum Mittelpunkt ihres Gedankenkreises
gemacht bat, daß sie sich selbst zur Unterscheidung von andern Ge-
meinschaften »»Nachfolger Christi«« nannte.
»Diese Gemeinschaft ist diejenige, welche bis zum Beginn der
Reformation den Namen »»Waldenser«« führte, und die von 1525
an die Bezeichnung »»Wiedertäufer«« von ihren Gegnern erhalten
hat, die sich selbst aber seit dem 12. Jahrhundert einfach »»Brüder««
nannte«.
Und hiernach erlaube ich mir, an jeden der lesen kann, die
Anfrage, ob es »Leichtfertigkeit der Kritik« oder »Unwahrheit« ist,
wie Keller mir vorzuwerfen die Liebenswürdigkeit hat, wenn ich
auf Grund dieser Sätze schrieb (Zschr. f. K. G. VII, 427): »die Iden-
tität von Waldensern und Wiedertäufern wird von vornherein ange-
nommen«. Eine reine Sophisterei ist es, wenn Keller erklärt, für
Staupitz, der ja schon todt war, als der Name aufkam, die Bezeich-
nung »Wiedertäufer« nicht gebraucht zu haben, und mich, der ich
ihm (im Titel meines Aufsatzes) dies untergelegt, auffordert, die Stelle
nachzuweisen, wo dies geschehen. Den Namen Wiedertäufer konnte
Keller dem Staupitz natürlich nicht geben, weil er denselben ja als
ein empörendes Schimpfwort ansieht, und was ich behauptet habe,
ist auch nur das, daß er ihn zum Mitgliede derjenigen Gemeinschaft
Keller, Die Waldenser und die deutschen Bibelübersetzungen. 11
gemacht, »welche bis zum Begion der Reformation den Namen Wal-
denser führte and die von 1525 an die Bezeichnung » Wiedertäufer c
?on ihren Gegnern erhielt (S. 429 f.)«. Das Recht dazu nehme ich
u. a. aus folgenden Sätzen Kellers (Hist. Taschenbuch S. 143). »Es
ist Thatsache, daß eine uralte bis etwa um das Jahr 1560 verfolg-
bare Tradition der Täufer behauptet « daß Johann von Staupitz
nebst Hans Denk, Christian Endtfelder u. a. die vornehmsten Schrift-
steller ihrer Partei gewesen seienc und weiter unten S. 146: »Es
gibt vielleicht einzelne, welche trotz aller erwähnten Thatsachen
und Verhältnisse sich nicht entscbliefien können, den Staupitz
in mehr als zufälligen Zusammenhang mit den Wal-
densern und »Wiedertäufern« zu bringen. Wie aber,
wenn sich der unzweifelhafte Beweis erbringen ließe, daß Staupitz
persönlich in aller Stille Beziehungen zu solchen Männern unter-
halten bat, deren Namen mit den »Sekten« und Ketzern auf das
engste verknüpft sind? Wird es dann noch möglich sein die Rich-
tigkeit der täuferischen Tradition zu bestreiten?
Dieser Nachweis soll in den folgenden Bemerkungen erbracht
werden«. — — Ich weiß nicht, ob jemand aus diesen Sätzen —
man nehme dazu den Hinweis auf des Staupitz angebliche Abneigung
gegen die Kindertaufe — etwas andres lesen kann als ich. Ebenso
steht es mit Anton Tücher, bezüglich dessen Keller allerdings sagt
— was er in der Antikritik allein citiert: »Ob Anton selbst wie
seine Vorfahren, formell Mitglied der Nürnberger Waldensergemeinde
gewesen ist, läßt sich einstweilen weder beweisen noch widerlegen«,
aber fortfährt: »Wer die Stärke der Tradition in einem solchen alt-
angesessenen deutschen Patriciergeschlecht zu beurteilen weiß, für
den ist es, mag Anton Tucher formell selbst Waldenser gewesen
sein oder nicht, zweifellos, daß er die religiösen Ideen, wie sie in
seiner Familie üblich waren ^); geteilt hat. Und denjenigen, der
dies bestreiten wollte, wird, wie ich glaube, der Umstand wider-
legen, daß Tucher nachweislich gerade solchen Männern seine werk-
thätige Hülfe zugewendet hat, die heimlich sich in dem Verbände
der Waldensergemeinde befanden«. — Ja was soll denn dies alles wie
der nachfolgende Satz mit seiner Behauptung, daß man sehr wohl
Mitglied der Waldensergemeinde sein und dabei seinen kirchlichen
1) Davon weiß man nun freilich weiter nichts, als daß im Jahre 1832 drei
Tücher als Waldenser unter Anklage standen, vgl. Haupt, die re]. Sekten in
Franken S. 19. Das genügt für Keller, um zu schreiben (Histor. Taschenb. 162):
Anton Tucher war im Jahre 1457 geboren, und auch sein Vater war vielleicht
Zeuge der Verfolgungen gewesen, denen die Gemeinde, der seine Familie
nach alter Tradition angehörte, im Jahre 1899 ausgesetzt gewesen war.
12 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 1.
Pflichten nachkommen konnte, als das Waldensertnm Tnchers glaublich
zn machen?
Oeradezn verblüffend ist aber der Mnt, mit dem Keller seine
Aenßerangen über das Waldensertam Albrecht Dttrers ablängnet.
Historisches Tasch. S. 163 ist über Dürer zu lesen: »Die Wahrheit
ist, daft weder die latherische Oemeinschaft, wie sie seit etwa 1522
sich gestaltet, noch die katholische Kirche ein Recht hat, ihn für
sich in Anspruch zu nehmen, sondern daß seine religiösen
Ideen mit den en des Waldenserthams in allen wesent-
lichen Punkten zusammenfallen«. Als Beweis dafür wird
angeführt, daß die (wegen ihrer täuferischen Ideen) gefangenen und
später ausgewiesenen Maler Hans Sebald Beheim und Barthel Be-
heim sowie Georg Penz gerade die tüchtigsten Schüler Dürers ge-
wesen sind, worauf es weiter heißt: »Wenn nun jemand die Ansicht
verteidigen wollte, daß eine so nahe Beziehung zwischen Schüler
und Meister, die gleichzeitig in derselben Stadt lebten, dieselben
Freunde hatten und so ähnliche Schicksale erlebten, in religiöser
Richtung verschiedene Bahnen gewandelt seien, so müßte er, um
hierfür Glauben zu finden, sehr gewichtige Beweisgründe beizu-
bringen im Stande sein«, und weiter S. 165: »Vielmehr ist Dürer
seinem waldensischen Standpunkt, den er bereits vor Lu-
thers Auftreten einnahm, bis an seinen Tod treu geblieben. Man
braucht nur Weniges aus der großen Literatur der Waldcnser
und des Anabaptismus gelesen zu haben, um in Dürers reli-
giösen Erörterungen sofort die Anklänge daran herauszufinden etc.« (! !)
Und der Mann, der dies geschrieben hat, wagt mich als Lügner an
den Pranger stellen zu wollen, weil ich behauptet habe, daß Keller
der Welt weismachen will, daß Dürer ein Waldenser und ein Wie-
dertäufer gewesen, und fordert von mir S. 34 des vorliegenden Bu-
ches Zurücknahme meiner Behauptung oder Nachweis der betreffen-
den Stelle, widrigenfalls er sich gezwungen sehen würde,
mich an das Wort zu erinnern: »Du sollst nich t fal-
sches Zeugniß reden wider deinen Nächsten«. Das be-
greife wer mag!
Indessen nötigt die Wichtigkeit, welche die Sache auch für die
Kunstgeschichte besitzt, zumal dafür einiges Neue beigebracht wer-
den kann, auch auf einen weiteren Punkt einzugehn, nämlich die
Frage, ob der von Dürer als guter alter Maler charakterisierte Mei-
ster Sebald Baumhauer, der zugleich Kirchner von St. Sebald war,
unter den als Genossen Denks verhafteten Sektierern gewesen sei oder
nicht. Da bisher Niemand etwas davon gewußt, und man immer
nur von den drei gottlosen Malern geredet hat, vgl. Rosenberg,
Keller, Die Waldenser and die deatschen Bibelübersetzungen. 13
Sebald u. Bartbel Behaim, Leipzig 1875, S. 5 ff. 134 f. uud Thau-
sing, Dürer, Leipzig 1876, S. 468, so konnte ich (übrigens auch
Andere, die Keller gelesen), als auf einmal ohne allen und jeden
Nachweis ein Sebald Baumhauer als Gefangener auftauchte, nur die
Vermatang hegen, daß es sich um eine Verwechselung mit Sebald
Behaim handelte. Nachdem ich mich überzeugt habe, daß ein Se-
bald Baumhauer unter den Verhafteten gewesen, und seine Aussage
anter den Proceßakten im Nürnberger Ereisarcbiv sich noch findet,
gebe ich natürlich gern zu, in jenem Punkte Keller mit Unrecht
einer Gedankenlosigkeit beschuldigt zu haben, indessen ist denn der
betreffende Seb. Baumbauer wirklich der Maler and Kirchner, der
mit Dürer Beziehungen gehabt hat und der für das Waldensertam
desselben wie des Anton Tucher benutzt wird ? Ich war nahe daran,
mich schon darauf zu stützen, daß Sebald Baumhauer, wie z. B. im
Künstlerlexikon von S. Meyer and Lücke III S. 152 za lesen, schon
im Jahre 1517 gestorben ist, also kaum im Jahre 1525 gefangen
gehalten werden konnte. Indessen traute ich dieser wahrscheinlich
auf Wald an Nttrub ergisches Zion 1787 S. 19 fußenden Notiz nicht,
and kann jetzt aus dem Läutbuch von St. Sebald^) die sichere No-
tiz beibringen, daß Baumhauer im Sommer 1533 gestorben ist. Aus
den Keller bekannten Aktenstücken^) scheint mir deutlich hervorza-
gehn, daß die darunter befindliche Aussage Sebald Baumhauers nicht
die des Kirchners ist, sondern seines gleichnamigen Sohnes. Veyt
Virsperger, einer der inquirierten Zeugen, gibt in seinem die gott-
losen Maler schwerbelastenden Zeugnis unter Anderem an: »Es geen
1) Buch der großen toden gelewt zu Sannd Sebalt, am Freitag in der Golt-
f asten vor Michaelis den Achzehenden tag des monats Septembris den 1617 Jar
angefanngenc (Pap. H. S. des germ. Mus. in Nürnberg Nr. 6277) Bl. 89 fin-
det sich nnter den Gestorbenen »Von pfingsten bis exaltationis Grucis ^jm Sep-
tember« 1533 eingetragen »Sebald Baumhauer maier kirchner zu 8. Sebald«.
2) Tbansing und Rosenberg haben die Episode von der Vertreibung der
drei Maler (und Denks) wesentlich auf Grund dessen, was Baader (Beiträge zur
Knnstgesch. Nürnbergs, Nürnberg 1862. Bd. II, 79 1) mitgeteilt, dargestellt. In-
dessen ergibt ein Vergleich mit den Griginalakten, daB Baader sehr willkührlich
damit umgegangen, auch sehr wesentliche, wie die Aussagen von Krug und
Baumhauer übergangen. Auf Grund des in den verschiedensten Stellen sich fin-
denden (auch Keller längst nicht vollständig bekannt gewordenen) reichhaltigea
Mateiiales läBt sich der Proceß der drei Maler von Jan. 1625 — zum 6. März,
an welchem Tage das Gesuch der Ausgewiesenen um NachlaB ihrer Strafe abge-
lehnt wird, in allen seinen Phasen verfolgen. Da Keller sein Versprechen, die
Aktenstücke (besonders das Bekenntnis Denks) zu veröffentlichen und die Fäl-
schung der Verhörsaussagen nachzuweisen, bisher nicht erfüllt hat, nehme ich
an, dal er darauf verzichtet.
14 Oött. gel. An«. 1887. Nr. 1.
anch dise zwen braeder mit des moDtzere ond karolstadt bacblin
ymb. Und es sey ein Janger bei Inen meister sebald kirch-
ners sone, wer wohlgethan das man den ?on Inen neme«. Wenn
nnn unter den weiteren Verhörsprotokollen eines mit der Ueber-
schrift: »Sebald Banmbaaerc sich findet, so liegt doch wohl nichts
näher, als daß dies die Aussage jenes Sohnes des Kirchners ist, den
man auf die obige Denunciation auch verhört hat, und dies um so
mehr, als es bei der Entschiedenheit, mit welcher die Geistlichkeit
gegen die Angeschuldigten auftrat, nicht wohl denkbar ist, daß Seb.
Baumhauer der ältere als ttberführter Anhänger täuferischer Lehren
in seinem Eirchenamte belassen worden wäre. Und daß er das-
selbe bis zu seinem Tode innegehabt, ergibt das Läutbuch, welches
bemerkt, daß fär sein Todtengeläute nichts bezahlt worden sei, weil
er »der kirchen zugethan gewest«. Ob ich endlich ein Recht hatte,
Sebald Baumhauer, den Maler, einen unbekannten Mann zu nennen,
wird jeder daraus ermessen können, daß trotz der von Keller ange-
führten (übrigens aus Tuchers Haushaltungsbuch S. 141 einfach her-
Ubergenommenen) Citate niemand etwas mehr von ihm weiß, als daß
Dürer ihn einen guten alten Maler genannt haben soll, und daß ihm
vielleicht mit Recht eine in der ungarischen Nationalgallerie be-
findliche Federzeichnung zugeschrieben werden kann. Sed haec
hactenus.
Wenden wir uns zu den neuen Darlegungen Kellers. Die Frage
nach dem Codex Teplensis als der angeblichen Waldenserbibel und
ihrem Verhältnis zu den vorlutherischen deutschen Bibelübersetzungen
hatte Keller in seiner früheren Schrift nur angeregt. Sie kam in
Fluß durch H. Haupt (die deutsche Bibelübersetzung der mittel-
alterlichen Waldenser in dem Codex Teplensis und der ersten ge-
druckten deutschen Bibel nachgewiesen Würzburg 1885). Ihm ent-
gegnete Fr. Jostes in Münster (die Waldenser und die vorlutheri-
sche deutsche Bibelübersetzung Münster 1885) mit völliger Zurück-
weisung der Keller-Hauptschen Hypothese, worauf H. Haupt er-
widerte mit seiner Schrift: »der waldensische Ursprung des Codex
Teplensis und der vorlutherischen deutschen Bibeldrucke gegen die
Angrifi^e von Dr. Franz Jostes. Würzburg 1886« , welche Schrift
Jostes zu einer Dnplik veranlaßte (der Codex Teplensis, eine neue
Kritik 1886).
Wie interessant es nun auch wäre, hier den Verhandlungen
nacbzugehn, so muß doch davon abgesehen werden, nur so viel soll
konstatiert werden, daß auch diejenigen, die zuerst wie Ref. selbst
geneigt waren, der Keller-Hauptschen Hypothese beizupflichten, der
Sache nach den Ausführungen von Jostes, dessen zweite Schrift
Keller, Die Waldenser und die deutschen Bibelübersetzungen. 15
mich aach überzeugt hat, daß die ans eiDzelnen Spracheigeotttmlich-
keilen eDtnommenen Argumente Haupts nicht aufrecht zu erhalten
sind) jet7^t ktthler gegenttberstehu, und wenn Karl Müller, wie er
yerspricbt (Zeitschrift für Eirchengesch. VIII, 506), den Nachweis er-
bringt, »daß die ganze angebliche waldensische Litteratur in der
Torhusitischen Periode ohne Ausnahme aus katholischen Kreisen
stammt und niemals waldensisch gewesen istc^ daß also auch die
romanischen Bibeltexte, die zur Vergleichung herangezogen werden,
nur qua romanische als waldensisch gelten, so würde allerdings die
Unbaltbarkeit der Waldenserhypothese in der Hauptschen Form klar-
gelegt sein ^). Hier darf diese Seite der Frage um so mehr dahin-
gestellt sein, als Keller in dem vorliegenden Buche andere Gesichts-
punkte in den Vordergrund stellt. Nach seiner Ansicht verleiht der
Umstand, »daft auch die lutherische Uebersetzung in vielen wichti-
gen Stücken auf die altdeutsche Bibel zurückgeht, der in Rede
stehenden Uebersetzung des Codex Teplensis noch besondere Bedeu*
tung«. Gewährsmänner für die vermeintliche Abhängigkeit Luthers
sind ihm G. W. Hopf (Würdigung der lutherischen Bibelverdent*
schung mit Rücksicht auf ältere und neuere Uebersetzungen. Nürn-
berg 1847 S. 33 ff.), Job. Geffken, Bilderkatechismus. Leipzig 1855
S. 6 ff. und W. Krafft in Bonn in seinem Lutherprogramm von 1883.
Er hätte sich auch noch auf den englischen Prof. Karl Pierson be-
rufen können, der gegen J. Hutchinson gelegentlich einer Bespre-
chung von Haupts Broschüre (vgl. Academy Sept. 26. 1885. N. 699.
700. 701. 702. 704) mit ebenso viel Selbstbewußtsein als Unkennt-
nis von Luthers Entwicklungsgang allen Ernstes behauptet: »Luther
so far from translating from the original Greek had in the New
Testament, to a great extent merely modernised the old German Vul-
gate. The September Bible was only a natural growth out of the
version of the Codex Teplensis of fourteenth century« schon deshalbt
weil Luther angeblich erst nach Melanchthons Ankunft Griechisch ge-
1) Nachdem ich dies geschrieben, kommt mir der hochinteressante Aufsatz
Ton Sam. Berger in der Bevue historique Tom. XXXn Nr. 63 (Sept. Okt. 1886)
zn Gesicht. Soweit ich als Laie in Dingen der Sprachvergleichung urteilen
kann, scheinen mir allerdings die Textverderbnisse im Cod. Tepl. bei Act. 77, 34.
Cap. 27, 7 u. 15 sich in überraschender Weise aus einer Abhängigkeit vom pro-
ven^alischen Texte zn erklären. Bewahrheitete sich diese Abhängigkeit, wozu wohl
umfangreichere Untersuchungen nötig wären, dann würde also weiter zu unter-
suchen sein, wie ein deutscher Bibelübersetzer zu einem proven^alischen Text
kam. Daß dies durch die Waldenserhypothese am leichtesten erklärt würde,
kann keinem Zweifel unterliegen, indessen wird man gut thun, vor einem ab-
schlieienden Urteil die Ausführungen Karl Müllers abzuwarten, weshalb ich nicht
darauf eingehe.
16 Oött. ge). Ans. 1887. Nr. l.
lernt habe, was er sicher schon vorher mit Job. Lang (vgl. Tb. Kolde,
M. Luther I, 89) getrieben, wobei vielleicht aoch daran za erinnern ist,
daß Hieronymas Einser, der wahrscheinlich von Lather etwas mehr
wußte als Pierson, von ihm sagt, er sei ^in kurzen jaren so geckisch
und greckisch geworden, das er sich der lateinischen anszsprechnng
schier schämen that (Annotationes Bl. 55^)€.
Der verdienstvolle Geffken wie W. EraflFt haben Proben des Zu-
sammenstimmens des vorl ätherischen und des lutherischen Textes ge-
geben , um zu zeigen, »dafi Luther an der deutschen Vulgata, die
sich schon gebildet hatte (— ein gänzlich unpassender irrefUhrender
Ausdruck) oft nur wenig zu ändern fand«. Das Richtige hierüber
scheint mir K. Biltz (lieber die gedruckte vorlutherische Deutsche
Bibelübersetzung in Herrigs Archiv für das Studium der neueren
Sprachen. 1879 S. 386 ff.) auseinandergesetzt zu haben, und zieht
man die Perikopen ab, wo, wie bei manchen anderen beliebten Bibel*
bistorien, sich naturgemäß durch die zahlreich verbreiteten Plenarien
und den (allerdings durchaus nicht wie Erafft annimmt allgemeinen)
kultischen Gebrauch ein gewisser Gleichklang für den späteren
Uebersetzer fast von selbst ergab, so finde ich den Unterschied doch
so groß, daß es mir unverständlich ist, wie Keller einfach Paul
de Lagarde zustimmen kann, wenn er sagt, »daß Luther mindestens
im Neuen Testamente sie (d. h. die altdeutsche Bibel) seiner in aller
Hast auf der Wartburg geschriebenen Version zu Grunde gelegt bate
(Gott. gel. Anz. 1885 Nr. 2. S. 58). Man vergißt dabei, sich einige
sehr wichtige Fragen zu stellen: nämlich welche Nachweise haben
wir denn für die wirkliche Lesung der angeblich so weit verbreite-
ten deutschen Bibeln und wie weit hat man sie denn überhaupt in
Wittenberg gekannt oder benutzt? Der bekannte Vers aus Sebastian
Brants Narrenschiff: All land syat jetz voll heiliger geschrifft etc.,
der gewöhnlich dafür angezogen wird '), ist belanglos, da er von
deutschen Bibeln nicht spricht und eher dabei an die lateinischen
bekanntlich bis 1500 in 98 Gesamtausgaben verbreiteten Bibeln zu
denken sein wird. In den sehr vielen mir bekannt gewordenen Brie-
fen aus der Zeit vor der Reformation erinnere ich mich nur eine
einzige Stelle gefunden zu haben, wo ein wirkliches Lesen
der deutschen Bibel zur häuslichen Erbauung erwähnt wird, und die
Leserin ist, charakteristisch genug, eine reiche Patriciersfran, Frau
Peutinger in Augsburg '), die wohl in der Lage war, das thenre
1) Vgl. Geffken, S. 10 Krafft 8.
2) In einem bisher ungedruckten Briefe des Eonrad Peutinger, den Horawits
Erasmiana III Sitzungsber. der Wiener Akademie Bd. 102 S. 762 notiert hat,
Breslau Stadtbibl. Cod. R. 264 epistol. vir. ill. ad. Er. Nr. 116. Ich gebe die
Keller, Die Waldenser und die deutachen Bibelüberaetzangen. 17
Bncb sieb zu kaafeu, waa doch nur von yerhältnismäßig wenigen
galt. Ihr zar Seite tritt dann allerdings schon nach Bekanntwerden
▼on Luthers Uebersetznng Fraa Argnla von Gmmbach als Kenne-
rin einer dentschen Bibel, wiederum eine wohlhabende Fran ^). Da,
wo das gröftte litterarische Bedürfnis war, in den KlOstern, hat man
sicher in den meisten Fällen die lateinische Bibel vorgezogen '). Die
Bibeln, deren einzelne Auflagen gewiß kaum mehr als 500 Exem-
plare nmfaAt haben werden'), waren Prachtwerke für die Hänser
ganze Stelle, die ein schönes Bild von dem Leben im Peutingerschen Hause lie-
fert, hier wieder: >D. Desiderio Roterodamo etc. Ghaonradus Peutinger Augu-
stanus . . . ecce quid heri actum, erat haec dies dominica Adventns Saluatoris
nostri seounda. ocio laxatus Nomismatis nostri et Historiae Augustalis Cornelii
Taciti lectione me oblectabar, sedebat prope ab alia tamen tabula Goniunz nostra
Margarita iiaec tuas noui Testamenti interpretaciones Latinas: simul et eiusdem
relationem Germanam vetustam admodum nee plane eruditam in manibus habe-
bat, mos me ab oblectamentis Ulis reuocauit inquiens lego Matheum capite XX
et perspicio Erasmum nostrum Matheo quicquam superaddidisse, respondi et
quid : illa denuo : at ille quae neo in Germana lingua habentur reficit, moz Euan-
gelium Mathei quod idem Hieronymus commentatus ad manum erat, Ybi eciam
Verba illa et baptismo quo baptistor baptistabimini. non reperiebantur : ad tuas
annotaciones cogebar, e quibus quam primum a te edocti vltra Marcum verba
haec eciam in Matheo ab Origene et Chrisostomo atque Yulgario referri. Tum
ipaa Toloit, nt Origenes XU et Chrisostomus LXVI omilia super Matheum lege*
retnr, ex quibus plane, quae e graeco restitueris cognouimus. tibi spero non in-
iocundum f<fre te Praeceptorem amplissimum non solum me sed et coniugem in
dies docere. ... Ex Augusta Yindelicorum V idus Decembris Anno salutis
MDXXL« Dabei liegt folgender Zettel von der Hand der Margareta Peutinger:
>Pote8tis bibere pocnlum quod ego bibiturus sum et baptismate quo baptizor bap-
tizari. Dieunt et Possumus. Ait illis Galicem quidem meum bibetis et baptis-
mate quo ego baptizor baptizabimini, sedere autem etc.
mögend ir trincken den kelch, den ich wird trincken, ynd mit dem tawf darin
ich getawft ir getawft werden, sy sprachen wir mögen, vnd er sprach zu in.
wan meinen kelch werden ir trincken. Ynd mit dem Tauf darin ich getauft ir
getauft werden aber zu sitzen etc.
Gommunis interpretatio Germanica hoc solum habet.
Mögend ir trincken den kelch den ich wird trincken , sy sprachen wir mögen,
Yod der herr sprach. Ja mein kelch werden ir trincken etc. hie de baptis-
mate nihil.
Margareta Peutingerin Augustana«. (Die Abschrift verdanke ich der Güte des
Herrn Stadtbibliothekars Dr. Markgraf in Breslau).
1) Ygl. Erafft a. a. 0. S. 7. Nach Th. Schott, Dr. Martin Luther und die
deatsehe Bibel Stuttgart 1888 S. 13 kostete die H. Bibel 12 Gulden, nach jetzi-
gem Geldwerte etwa 250 Mark.
2) Doch haben natürlich auch die Klöster vielfach deutsche Bibeln besessen.
So besitzt die Erlanger Universitätsbibliothek die Bibel von 1486 (also nach
Keller ein waldensischer Text) in einem Exemplar, das dem Kloster Heilsbronn
angehört hat.
3) Das ist schon hoch gegriffen, wenn die Annahme von Lorck ((EEandbuch
«Ml. g«l. Aai. 1SS7. Kr. 1. 2
18 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. I.
reicher Leute, und es mag viele gebildete Leate gegeben haben, die nie
eine zn Qesicht bekommen. Ich bin mir wohl bewußt, daß ein ar-
gamentam e silentio nar einen zweifelhaften Wert hat, aber es ist
doch zn beachten, daß bis zum Jahre 1520 in den Wittenberger
Kreisen, soweit ich zu sehen vermag, nichts auf die Kenntnis von
deutschen Bibeln, geschweige denn ihre Benutzung hinweist. Eine
Anlehnung an vorhandene deutsche Uebersetzungen bei Luthers er-
ster Uebersetzungsprobe, der Uebersetzung der sieben Bußpsalmen
(Weimar A. I, 158 ff.), wird nach einiger Vergleichung Niemand be-
haupten wollen, und wenn Luther in der Vorrede schreibt : »von dem
text diszer sieben psalmen, Ist zu wissen, dass derselb yn etlichen
Versen vmb klerer Vorstands willen über die gemeynen translation
nach der translation sancti Hieronymi genomen ist«, so ist unter
der »gemeynen translation« natttrlich die Vulgata zu verstehn. Be-
merkenswert ist ferner, daß Job. Lang in Erfurt in der Vorrede zn
seiner Uebersetzaug des Evangeliums Matthäi vom 1. Mai 1521 nur
von einer Uebersetzung der Evangelien ins Deutsche etwas weiß,
worunter wohl die Plenarien gemeint sind. Er schreibt: »Es seint
die heyligen Euangelien vor etlichen jaren in die deutsch sprach
aus dem latein gesetzt und gewandelt, aber meines vnd viler ande-
rer gedanckens nit fast fleisick noch eygentlich, wie auch in vnser
lateinischen gemeiner translation vil befunden wirt etc.« ^. Ebenso
fehlt in der Widmung zu der Uebersetzung des Johannesevangeliums,
die der Pfarrer und Licentiat Nicolaus Krumpach angefertigt,
jede Anspielung auf das Vorhandensein früherer Uebersetzungen ').
Gleichwohl hat man in Wittenberg Kunde von deutschen Bibeln ge-
habt. In einer bisher für die Geschichte von Luthers Bibelttber-
setzung nicht verwerteten Stelle') in Garlstadts Schrift: »Welche
Bücher biblisch seint« — es ist dies die Anfang November 1520 ge-
schriebene Umarbeitung der lateinischen Schrift »de canonicis scri-
ptnris« — gibt Garlstadt an: »Nachdem itzt, wie ich bericht, neue
und deutsche Biblien sollen gedruckt werden, und alle
Ghristen^ Geistliche und Layen, Gelarte und Ungelarte die heilige
Schrift zu leszen oder hören leszen und in solchem Vleisz schuldig
seint das sie widderumb andere Christen leren mögen und wollen,
der Geschichte der Buchdruckerkunst 1882. S. 57) richtig ist, daB die gewöhn-
lichste Stärke der Auflagen im 15. Jahrh. 275 Exemplare, bei popul&ren Werken
550 Exemplaren gewesen sei.
1) Vgl. Biederer, Nachrichten zur Kirchen-, Gelehrten-, und Büchergesch. I,
252 f.
2) Ebendas. S. 265 ff.
3) Obwohl sie Jäger, Garlstadt S. 108 ausdrücklich markiert
Keller, Die Waldenser und die deutschen Bibelübersetzungen. 19
babe ich« etc. Uieraus geht hervor, daA man damab mitten im arg-
8ten Kampfe nnd wohl zu Kampfzwecken »neue deutsche Bibeln c
auflgehn lassen wollte, das heißt doch wohl, — so wird man auch
scfalieften müssen, weil Carlstadt damit seine Absicht von der Eano-
nicität der einzelnen Bücher zu schreiben, motiviert — , nicht neue
Drucke der alten Uebersetznng , sondern eine neue Uebersetzung,
eine solche wie Luther auf Drängen der Freunde (quam rem postu-
lant nostri De Wette 11^ 116) sie vorhatte, translatio digna, quae a
Christianis legeretnr: spero enim nos meliorem daturos (quam ha-
beant Latini) nostrae Germaniae (De Wette II , 128 f.). Beachtet
man, wie Luther hier seine deutsche Uebersetzung in Vergleich stellt
mit der lateinischen, und in II, 116 seine Uebersetzung der von
Lang aus dem Griechischen angefertigten an die Seite stellt, so ist
schwer zu verstehn, wie man dazu kommen konnte, zu läugnen, daß
Luther das neue Testament ans dem Grundtezt zu tibersetzen unter-
nahm. Zudem wissen wir, wie abhängig Luther von dem ihm
vorliegenden griechischen Text des Erasmus resp. des Qerbelins
war, eine Abhängigkeit, die so weit gieng, daß er lediglich auf
seine Autorität hin ohne Btteksichtnahme auf die ihm natürlich
auch vorliegende Vulgata Worte oder ganze Sätze, obwohl sie in der
Vnigata (und in den vorlutherischen Uebersetzungen) standen, nicht mit
flbersetzt hat. So fehlt z. B. nach Erasmus Apok. XXI, 26 in allen
Originalausgaben der lutherischen Uebersetzung (vgl. auch hierzu
F. Delitzsch, handschriftliche Funde. 1861. Hft. 1. S. 51). Ebenso
steht es mit I. Job. V, 8, das Luther nach seinem Text nicht hat (vgl.
dagegen Cod. Tepl.).
Das stärkste an Unmethode ist es wohl aber, wenn Keller im
Anschluß an W. Erafft und als Beweis für die Abhängigkeit Luthers
von den vorhandenen deutschen Bibeln anführt, daß angeblich Luther
manche Stellen später nach der »altdeutschen Bibel verbesserte c,
anstatt zu erkennen, daß diese angebliche spätere Verbesserung nach
jenen Texten eben gerade gegen die vermeintliche ursprüngliche
Abhängigkeit spricht. Dabei will ich jedoch bemerken, daß ich es
flir keineswegs ausgeschlossen halte, daß Luther, als er von der
Wartburg zurückgekehrt mit seinen Freunden seine Uebersetzung
durchnahm, auch hin und wieder die eine oder die andere deutsche
Uebersetzung — denn daß er wenigstens solche gekannt hat, ist höchst
wahrscheinlich^) — zu Rate zog, vielleicht sogar die eine oder die
1) Denn auf deutsche Uebersetzangen wird man es wohl zu beziehen haben,
wenn Luther schreibt : Vides nunc quid sit interpretari, et cur hactenus a nullo
Sit attenUtum, qui profiteretur nomen suum De Wette II, 128. Indessen ist es
gar nicht nötig, dabei an gedruckte Bibelübersetzungen zu denken.
2*
20 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. I.
andere Stelle danach gebessert bat. Waram sollte er es ancb nicbt
gethan baben, bat er doch immer za lernen gesncbt and es nicbt
unter seiner Wttrde gebalten, ancb Verbesserangen von seinen Fein-
den anzanebmen (vgl. Riebm, Lntber als Bibelübersetzer Tb. Stud.
in Erit 1883. S. 301). Aber beweisen läßt sieb aocb bei allen An-
klängen in Rttcksicbt auf den gänzlichen Mangel an jedem Hinweis
daranf die Sache nicbt, and man sollte doch nicht vergessen, was
dabei doch wobl auch in Betracht zu ziehen ist, daß, wenn ich
nicht irre, mit einziger Ausnahme Wicels, die Oegner von dieser
Abhängigkeit, die sie sich gewiß nicht würden haben entgehn las*
sen , nichts wissen, sondern seine Uebersetzung als neue und
selbständige angesehen haben.
Indessen die ganze Untersuchung über die Abhängigkeit Luthers
von den früheren Uebersetzungen, resp. dem Cod. Tepl. soll Keller
nur dazu dienen, um ein neues Moment für den ketzerischen Ursprung
des Cod. Teplensis darauf zu gründen. Hieronymus Emser bat in
seinen Annotationes über Luthers neues Testament (1523) von Lu-
ther gesagt, daß er »weder unser glaubwirdigen noch des bocbgeler-
ten herrn Erasmus von Roterdam translation allenthalben nachge-
gangen, Sondern eins durch das ander gemenget vnd als zu vermuten
ein sonderlich Wickleffisch oder Hussisch exemplar vor im gehabt
etc.« (Emser Bl. 15 f. der Ausgabe von 1529). Da nun nach Keller
die >Tepler Verdolmetschung eben diejenigen Lesungen bietet, welche
Emser (in Luthers Uebersetzung) für hussisch und pickardisch er-
klärt«, und da ferner Emsers Uebersetzung, weil durch Herzog Qeorg
von Sachsen approbiert, »der Maßstab (für die Katholicität) aller
zwischen 1450 — 1530 erschienenen Uebersetzungen so lange bleiben
muß, bis eine andere deutsche Verdolmetschung nachgewiesen ist,
die von anerkannteren Autoritäten, als Emser es war, verfaßt und
von höheren katholischen Stellen, als Herzog Georg sie darstellt,
approbiert worden sind«, so ergibt sich daraus, daß diejenigen Ueber-
setzungen, welche die von Emser als ketzerisch bezeichneten Le-
sungen enthalten, auch wirklich ketzerische sind.
Wer nun weiß, wie Emser seit seiner ersten Fehde mit Luther
im Jahre 1519 darauf bedacht war, ihn als Husiten und Pikharden
zu zeichnen, und wie das überhaupt ein beliebtes Mittel gegen einen
unbequemen Gegner war, wird sich über das Manöver desselben
nicht wundern. Keller nimmt aber Emsers Vorwurf ernst und glaubt
wirklich, daß derselbe von dem Vorhandensein eines von Luther be-
nutzten husitisch waldensiscben Textes überzeugt gewesen und richtet
im Weiteren seine Untersuchung mit vielem Fleiße darauf, nachzu-
weisen, daß die von Emser bei Luther als ketzerisch gerügten Le-
Keller, Die Waldenser und die deutschen Bibelübersetzungen. 21
sangen auf Uebereinstimmang mit dem Cod. Tepl. resp. den vor
1470 ausgegebenen deatscben Bibeln beraben, wodurch nacb den
oben angegebenen Prämissen der ketzerische Ursprung seiner Auf-
fassung nach erwiesen wäre.
Sollte Emser wirklich, was ich nicht für wahrscheinlich halte,
Lutber im Ernste die Benutzung einer ketzerischen Vorlage haben
Torwerfen wollen, so könnte dieselbe doch nur entweder in einem
ketzerischen Vulgatatext, etwa demselben, der dem Cod. Tepl. zu
Grande gelegen haben soll, zu soeben sein, oder direkt in einer der
bisher gebrauchten deutschen Bibelttbersetzungen. Das letztere ist
ausgeschlossen, da Emser durchweg Luthers Uebersetzung als eine
neue anerkennt, und weil nicht einzusehen ist, warum er, wenn er
Luthers Uebersetzung fttr ein Plagiat der Mheren Uebersetzungen,
die er, wenn nicht alles trügt, sehr wohl gekannt hat ^), ansah, dies
nicht rund heraus gesagt hat. Es bliebe also nur das andere ttbrig,
besonders auf Qrund solcher Stellen, in denen Emser ktthnlich be-
hauptet, was freilich sehr häufig gelogen ist, daß etwas, was Luther
Übersetze, auch im griechischen Texte nicht stehe (z. B. Bl. 23. 58.
121. 136*). Das Vorhandensein eines solchen ketzerischen Vulgata-
textes ist zwar nicht unmöglich, bis jetzt aber nicht nachgewiesen.
Und tbatsächlich beruhen die Abweichungen, die Emser rttgt, abge*
sehen von offenbaren, größtenteils auch später (oder auch sogar schon
im Druckfehlerverzeichnis) verbesserten Uebersetzungsfehlem, fast
alle auf Luthers Zurückgehn auf den griechischen Text, oder darauf,
^ daß er den griechischen Text eben nicht nach Maßgabe der Vulgata
wiedergibt.
1) Allerdings findet sich, soweit ich sehe, nur eine Hindeutung auf BL 55^,
wo Emser gegen Luthers uebersetzung »ein königischerc polemisiert und dafftr
>ein königlin« gesetzt wissen will, »nicht das grosz daran gelegen, sondern das
die vnseren (!!) die bisher getewsöht haben, Es war ein königlin, nit verdacht
werden, als betten sie das Evangelion nicht recht tewtschen können«. Nun le-
sen sowohl der Cod. Tepl. als auch die gedruckten Bibeln ikti-
niglin. Von dieser Thatsache, daE Emser hier gegen Luther
für die Uebersetzung der ketzerischen Bibeln eintritt, kann
Keller natürlich keinen Gebrauch machen.
2) Einmal versteigt sich Emser sogar zu der Behauptung, daB »das Krie-
ch i s c h , daraus Luther dise stell verdolmetschet hat, von den ketzern gefelscht
worden sei«. (Hier dürften sich für Keller weite Perspektiven ergeben). Cha-
rakteristisch ist es auch für Emsers Verfahren, wenn er zu Matth. 20, 30 be-
merkt: Warumb hat dan Luther das wörtlein »euch« in der feder stecken las-
sen? Antwortet er, darumb das es im kriechischen text auch nicht steet. Dise
antwurt nem ich nit an, dann er dem kriechischen text selbs auch nicht allent-
halben folget, sondern allein wo er sein fortel ersihet vnd jm zu seinem ketse-
liadien formen dienstlich ist.
22 Gott. gel. Anz. 1887. No. 1.
Da Emaer c. 1400 Stellen in Luthers Uebersetzang des neuen
Testamentes als ketzerisch aufweist, wird man von Keller nicht ver-
langen, daß er sie alle bespricht, wohl aber konnte man von ihm
fordern, daß er gerade diejenigen markiere, in denen nach der bis-
herigen Tradition etwa die Sttcksicht auf waldensische Besonderheit
für die Uebersetzung hätte maßgebend sein können, z. B. bei den
auf die Beichte bezüglichen. Bl. 20 wird gerügt, daß Luther Math. 8, 4
ttbersetzt »zu einem zeugniß über sie« statt wie allerdings richtiger
wäre — »ihnen zum Zeugniß«, und wird dies ausdrücklich damit
motiviert, daß »Luther den text nit aus vnser noch aus Erasmus, son-
der aus Bussen exemplar den priestern vnd ider beicht zu merckli-
chem nachteil gefolget« — : der Cod. teplensis hat aber »in czu ein-
geczeng«. Ebenso sieht Emser (Bl. 58) nur eine Abneigung gegen
die Beichte, wenn Luther Act 19, 18 i^ofMXoyovfksvo^ nicht mit
»beichten« ttbersetzt, was die kirchliche Uebersetzung sei. Schlägt
man nun den ketzerischen Cod. Tepl. auf, so findet man daselbst
»si beiachten«, während die nach Keller im kirchlichen Sinne ex-
purgierte IX. Bibel liest: »bekennend und verkflndend jre that«.
Bl. 22^ wird getadelt, daß Luther nicht den kleinen (wie es auch
im Cod. Tepl. heißt, denen lutzein), sondern den vnmttndigen über«
setzt etc. So findet Emser ketzerische TextftUschungen gerade an
Stellen, wo Luther ganz anders ttbersetzt als der Cod. Teplensis, und
zwar gerade an solchen Stellen, wo die Uebersetzung im ketzeri-
schen Sinne verwendbar gewesen wäre, z. B. Math. 13, 52. Luther:
Ein jeglicher schrifl^tgelerter, der zum hymelreich gelert ist. Emser
will haben : Ein jetzlicher schrifftgelerter im hymel, und erklärt Lu-
thers Uebersetzung daraus, »das das kriechisch daraus Luther dise
Stele verdolmetschet hat, von den iketzeren gefelscht worden sey.
Et hoc fortassis ideo quia haeretici non dant omnem doctorem esse
in regno coelorum idest, in ecclesia, sed dicunt eos qui male vivunt
(quamvis bene doceant) esse extra ecclesiam quod est falsissimum. «
Cod. Tepl.: ein jeglich schriber gelerter in dem reich der himel (!)
— Math. 17, 2 ttbersetzt Luther (nach dem griechischen Text):
und seine kleider wurden weysz als ein Hecht. Emser: »vnser be-
werter Text«, — der nach Keller S. 83 im Gegensatz zum Cod.
Teplensis und zu Luther steht — »nit als ein Hecht sondern als der
Schnee«. Der Cod. Tepl.: weisz als der snee. Ebenso Verhaltes sich
mit dem Zusatz bei Math. 18, 35: »seine feyle«, der aber sachlich
irrelevant ist, dann mit der Rttge Emsers bei Math. 23, 1, wo Lu-
ther »haben sich gesetzt« Hest; der Cod. Tepl. wie Emser will
»sazzen«. Ebenso Job. 8, 26 (dgx^v)^ Act. 2, 4. Emser. Bl. 60^.
Auf Bl. 58 tadelt Emser, daß Luther, natttrlich nach dem ihm vor-
Keller, Die Waldenser and die deutschen Bibelübersetzungen. 23
liegenden griechischen Text von Act. 13, 25 die Worte fortgelassen :
Timait enim ne forte raperent earn Jadai et occiderent, Et ipse
postea ealamniam sastineret, tanqaam acceptaras pecuniam — »welche
wort Lnt. all in seim hussischen Text auch nit gefanden hat«. Der
Cod. Tepl. hat sie nicht, aber die spätem deutschen Bibeln. Vgl.
I Kor. 2, 17 bei Lnther mit Cod. Tepl. u. Emser 89. Ketzerisch and
ans dem »hassischen Bnch« ist nach Emser Luthers Uebersetzang
von 2. Kor. 5, 11, weil sie gegen den Bann und die Propheten zu
benatzen wäre-, die von Emser Bl. 89^ als richtig angegebene findet
sich, wie gewöhnlich, auch im Cod. Tepl. Ebenso Gal. I, 10 (Em-
ser 91 f.). Ebenso steht Eph. 5, 18 die von Emser entgegen dem
hussischen Bache als richtig hingestellte Lesart im Cod. Tepl.
Ebenso in der wichtigen Stelle tö (kvat^n^w tovto y^iya^ wo der
Cod. Tepl. wiedergibt: Dise heilicheit ist michel. Ebenso Phil. 4,3
(Emser 96*), ferner 1. Thess. 4, 3; 1. Petr. 1, 25 (Emser 111),
Hebr. 8,6 (Emser 12P), Apok. 8, 11; 9, 3; 21, 27 etc.
Nach dieser Blumenlese von Stellen — es sind nur solche her-
ausgegriffen, bei denen Emser ausdrücklich die Phrase gebraucht,
daß sie wohl aus einem hussischen Texte herrtihrten — wird jeder
ermessen können, was davon zu halten ist, wenn Keller S. 83
sehreibt: »Sodann ist es wichtig, daß die Lesarten,
welche Emser tadelt, sich zwar im Cod. Teplensis
und den ersten gedruckten deutschen Bibeln, aber
nicht mehr in den Bibeldrucken, die seit etwa 1470
erschienen sind, finden, daß diese letz teren vielmehr
eben diejenige Version bieten, welche Emser im Ge-
gensatz zum Codex Teplensis wie zu Luther für »un-
seren Texte erklärt.«
Indessen fQhrt Keller noch eine Reihe Stellen an, deren Be-
weiskraft er darin findet, »daß sie sich sämmtlich in gleicher Rich-
tung bewegen«. Emser entrüstet sich darüber, daß Luther Luk. 16, 20
%daika (v. 26 vnlg. chaos) mit »Kluft« übersetzt, was nur aus Ab-
neigung gegen die Lehre vom Fegefeuer geschehen sei. Luthers
Uebersetzung sei demnach nach Emser eine Ketzerei, noch mehr
aber müsse als solche erscheinen die Lesung des Cod. Tepl. »ein
michel vnderschiedung«, und daß man diese als solche empfunden,
ergebe der Umstand, daß die »Expurgatoren in den späteren, deut-
schen Bibeln der Ausdruck in vestenkeit« resp. Irrsal umgeändert
haben. Dem gegenüber muß nun bemerkt werden, daß Emser ge-
neigt ist, in Rücksicht auf das griechische Original, Luthers Ueber-
setzung von xädika hingehn zu lassen, wenn er nur nicht v. 22
alsch interpnngiert hätte und den Reichen gleich in der Hölle be-
24 Gatt. gel. Anz. 1887. Nr. 1.
graben werden lieBe (während dag ip up f dj erst za dem folgenden
Satze gehöre). Und ee ist offenbar^ daA dieser Sats nnmittelbar ge-
gen die Lehre yom Fegefeuer verwendbar war, trotzdem finden wir
nicht, daß man in diesem Pnnkte eine »Expurgation € in den späte-
ren Bibeln vorgenommen hätte % und wird die Aenderung des Wor-
tes Unterschiedung wohl aneh aus anderen Orilnden erfolgt sein.
Noch schwächer ist ein 2tes Argument. Luther hat offenbar nieht
genau — später ist eine Aenderung eingetreten — 1 Kor. 11, 18— 19
cxkffikaux und algiaetg gleichmäßig mit »Spaltnngen< ttbersetzt, nach
Emser und Keller aus Abneigung gegen das Wort »Ketzerei«, was
nattlrlich lächerlich ist. Luther hätte ebensogut »Sekte« setzen kön-
nen, wie er Gal. 5, 20 für algiat^ in Uebereinstimmung mit der
Vulgata gesagt hat. Vgl. Act. 5, 17. Richtig ist, daß der Cod.
Tepl. dafür »Irrthum« setzt; wie wenig aber dabei ein dogmatischer
Gedanke Platz gegriffen hat, geht doch wohl deutlich daraus her-
vor, daß er konstant so übersetzt, auch bei den verschiedenen Be-
deutungen, die bekanntlich alfta^g im neuen Testamente hat z. B. auch
Acta 24, 4 (wofür die angeblichen Expurgatoren schreiben: irrsale)
und Act. 24, 14 (später : die sy heißen ein ketzerei), nur Act 28, 22
heißt es fttr atgea^g^ vnlg. secta : Orden. Wenn spätere Ueberarbeiter
prägnantere Ausdrücke wählten, so werden sie denselben Grund da-
für gehabt haben, der dafür maßgebend war, daß in der späteren
Lutherübersetzung TA. 3, 10 für einen »abtrünnigen«, einen »ketze-
rischen« Menschen gesetzt wurde. Und Kellers ganze Untersuchung
über diesen Punkt wird, sagen wir milde bedeutungslos, wenn man
erwägt, was Keller, an dieser Stelle wenigstens, mitzuteilen vergessen
zu haben scheint'"^), daß der »waldensische« Besitzer des Codex un-
ter den Stiebworten am Rande zu Titas 3, 10 »Ketzer« schreibt
und zu Act. XXIV, 14 »ketzrige«. Das nQwwv tffevdog bleibt immer
dies, daß Emser, der bei seiner Stellung zu Luther allenthalben
Ketzereien wittert, auch als Maßstab für die Rechtgläubigkeit des
Cod. Tepl. angenommen wird. Es würde zu weit führen und ist
auch gänzlich überflüssig, zumal im Hinblick auf das oben über die
Uebereinstimmung der von Emser geforderten Uebersetzung und des
Cod. Tepl. Gesagte, Kellers weiteren Ausführungen nachzugehn —
ich verweise daÄlr auch auf die treffiche Besprechung im Lit. Cen-
1) Auch macht Emser selbst darauf aufmerksam, daß erst Erasmus und Fa-
ber Stapulensis, wie er will, interpungieren. Wie wenig übrigens Emser als ap-
probierter Richter über Lesarten gelten kann, ergibt der Umstand, da£ wie früher
noch heute in der Vulgata interpungiert wird et aepulttu Bit in inferno,
2) Er erw&hnt es nur gelegentlich später 8. 127, übrigens unter Anerkennung
des Umstandes, daft diese Anmerkungen gleichzeitig geschrieben seien.
Keller, Die Waldenser und die deutschen Bibelübersetzungen. 25
tralblatt 1886 Nr. 30 nnd auf Eaweraus Anzeige im Theol. Litte-
ratnrblatt 1886 Nr. 33; nur ein Punkt soll noch zur Sprache kom-
men: Nach Keller unterscheidet sich die Lehre der »Brüdergemein-
den« wesentlich in Bezug auf die Auffassung der Heiligen von der
katholischen Kirche. Emser tadelt nun bei Luther, daßerOffenb. 19, 5
Qbersetzt »Lobt nnsern Gott und alle seine Knechtet, wo er nach
der Yulgata hätte setzen sollen: »alle seine Heiligen« ; derCod. Tepl.
sagt »AU sein knecht sagt lob unserm Gott« ; die lutbersche Ueber-
setzang ist hussisch, folglich auch die des Cod. Tepl, und dies um
so mehr, als die Expurgatoren des 15. Jahrb., welche in ihrer »Vor-
lage«, nämlich den ersten Drucken, diese Uebersetzung fanden, Über-
einstimmend das Wort »Heilige« eingesetzt.
Darauf ist zu sagen, daß wie Keller leider nicht untersucht^)
bat, der von Luther benutzte Text wie heute allgemein liest ndvtsg
0« dovloi avtovy also ftlr Luther kein dogmatischer Grund gegen die
Heiligen vorlag, und daß es zu viel gesagt ist, daß die Expurga-
toren ttbereinstimmend den Text in Emsers Sinne geändert haben,
indem nach den Angaben von Klimesch noch die XI. deutsche Bi-
bel »All sein knecht« liest, während allerdings die VL, IX. X. and XIV.,
die ich vergleichen konnte, »Alle Heiligen« lesen; wir werden daher
anzunehmen haben, daß der Vulgatatext, der dem Cod. Tepl. zu
Grunde liegt, dem griechischen Original nach servi gelesen hat,
wie denn auch z. B. die von Koberger veranstaltete Lyoner Ausgabe
der Yulgata von 1513 am Sande »servi« als gewöhnliche Variante
gibt. Damit fällt natürlich auch hier die ketzerische Tendenz der
Lesung »alle seine knecht», die sich im Cod. Tepl. und den ersten
deutschen Drucken findet. Doch genug davon. Das Mitgeteilte
dürfte wofil zur Genüge darthun, was von den neuesten Beweisen
Kellers ftlr den waldensischen Ursprung des Cod. Teplensis zu
halten sei. Ihm weiter auf diesem Gebiete zu folgen, halte ich nicht
fbr nötig, besonders nicht auf den Wegen des allmählichen lieber-
gangs der evangelischen Gemeinden, der Gottesfreunde, der Walden-
ser und Wiedertäufer ins Freimaurertum, denn, wie ich gestehn
muß, ist meine Kenntnis desselben so geringfügig, daß ich nicht
einmal darüber urteilen kann, ob es wirklich sehr merkwürdig ist,
wie Keller S. 170 meint, daß in einem alten Ritual der Freimaurer
»sich Gtebräuche finden, welche mit denen der ältesten apostolischen
Gemeinden übereinstimmen« oder ob »es als Zufall zu betrachten,
daß schon vor vielen Jahren solche Historiker, welche von ganz an-
1) Er hat dem lügnerischen Emser einfach geglaubt, dafi der griechische
Text lese »alle seine Heiligenc.
26 Oött. gel. Anz. 1887. Nr. 1.
deren Aasgangspunkten aas diese Fragen antersaeht babeoi die
nächsten Geistesverwandten der Bauhütten in jenen alten Gemeinden
erkannt haben, die man »Ketzer« (Waldenser oder Katharer) nannte.
Und hat nicht die römische Kirche diese Verwandtschaft dadaroh
praktisch anerkannt, daß sie die Hütten beider in derselben Weise
wie die alten Christengemeinden in ihren amtlichen Erlassen als
Häretiker anter die kirchlichen Strafen stellte? Wer wollte da
noch dagegen Einsprach erheben! Ich beabsichtige es nicht weiter
zn than.
Erlangen. Th. Kolde.
Vischer, Eberhard, Die Offenbarung Johannis, eine jüdische Apo-
kalypse in christlicher Bearbeitung. Mit einem Nachwort von Adolf Har-
nack. Leipzig. J. C. Hinrichs'sche Buchhandlung. 1886. 137 S. 8^
Gerade ein Jahr ist verstrichen, seit Jttlicher an dieser Stelle
das Bach von Völter Über die Entstehung der Apokalypse einer sehr
scharfen, aber gerechten Kritik anterzogen hat Man stand anter
dem Eindrnck, daß die Hypothese, in anserer neutestamentlichen
Apokalypse verschiedene Bestandteile za anterscheiden, darch Völter
so diskreditiert sei, daß an ihre Wiederaafnahme so bald nicht ge-
dacht werden könne. Und doch haben wir nan bereits einen neoen
Versuch in ähnlicher Richtaog zu verzeichnen, einen Versach, der
-^ fügen wir das gleich hinza — vor dem Völterschen so gat wie
Alles voraas hat and die al lerer nsteste Beachtang verdient
Völter hatte seine Hypothese aaf der richtigen Einsicht basiert,
daß die Offenbarang Johannis, wie sie ans vorliegt, nicht von Einem
Verfasser herrühren könne: und zwar unterschied er nan vier ver-
schiedene Verfasser, welche zn ganz verschiedenen Zeiten arbeiteten,
so daß unsere heutige Apokalypse nach ihm erst unter Antoninas
Pias etwa um das Jahr 140 fertig gestellt war. Daß das Problem
des Buches auf diese Weise nicht gelöst werden konnte, hat beson-
ders Jülicher und unter Hinweis auf den durchaus einheitlichen
Sprachcharakter der Apokalypse auch Vischer p. 2 Note dargethan.
Indessen war es auf jeden Fall ein ersprießliches Resultat der Völ-
terschen Untersnchung, daß die Aufmerksamkeit dadurch aaf die
Frage nach der Einheitlichkeit des Baches gelenkt worden war.
Lagen doch auch für den oberflächlichen Beobachter genug Momente
vor, welche dieselbe sehr in Frage stellten. Weizsäcker hat in sei-
nem »apostolischen Zeitalterc sich mit guten Gründen gegen die
Einheitlichkeit entschieden, ohne jedoch einen eigenen Erklärungs-
versuch zu bieten.
Yischer, Die Offenbarung Johannis. 27
Einen solchen haben wir nun in dem uns vorliegenden kleinen
Schriftchen, dessen Verfasser die Frage aufgenommen hat, ohne noch
von Völlers Buch zu wissen. Das Resultat, zu dem er nach einer
mit der gröftten Sorgfalt und Umsicht durchgeführten Untersuchung
kommt, ist kurz gesagt dieses: die cc. 4—22, 5 der Offenbarung
Johannis sind eine jttdische Apokalypse, die von einem Christen
mit ganz geringen, oft in einzelnen Worten, gelegentlich in kleinen
Sätzen, nur dreimal in größeren Einschiebungen bestehenden Zu-
Sätzen versehen und in dieser Form für die christliche Gemeinde
brauchbar gemacht worden ist. Die cc. 2 und 3, welche die 7
Sendschreiben an die Oemeinden von Kleinasien enthalten, sind ihrem
ganzen Inhalt nach christlich, während von c. 1 und c. 22, 5 ff.
nicht mehr sieher ausgemacht werden kann, wie sich die jüdischen
zu den christlichen Bestandteilen verhalten. Da c. 4, 1 ff. nicht den
Anfang der jüdischen Apokalypse gebildet haben kann , so nimmt
Viseher an, daß dieser Anfang mit christlichen Zuthaten versetzt in
c. 1 verborgen ist. Ein Gleiches würde beim Schluß der Fall sein,
der übrigens überwiegend fttr christlich zu erklären ist.
Das einleitende Kapitel geht von der Beobachtung ans,
daß alle uns erhaltenen jüdischen Apokalypsen im Laufe der Zeit
Ueberarbeitungen erfahren haben, sowie von der weiteren, daß eine
Reihe jüdischer Apokalypsen, welche im Lauf des 1. und 2. Jahr-
hunderts in den Gebrauch der christlichen Gemeinden ttbergegangen
sind, bei dieser Gelegenheit kürzere oder längere Zusätze erfahren
haben. Die Annahme, daß es unserer Apokalypse ähnlich ergangen
sein möchte, ist daher nicht ohne Weiteres von der Hand zu weisen.
Indessen werden die Schwierigkeiten, die sich der Erklärung des
Buches bieten, nicht sofort durch die Annahme hinweggeräumt, daß
die Schrift aus mehreren zu verschiedenen Zeiten entstandenen
Stücken zusammengeschweißt sei. Diese Schwierigkeiten bestehn
aber darin, daß durch die ganze Apokalypse zwei vollkommen ver-
schiedene Anschanungen unvermittelt neben einander her laufen:
die eine, welche uns das Christentum des Verfassers als ein völlig
jüdisch befangenes erscheinen läßt, die andere, welche von einem
universalen, durch Christus bestimmten Geist zeugt. Viseher weist
nach, daß kein Exeget diese Schwierigkeiten hat heben können,
und formuliert demnach das Problem seiner Untersuchung dahin, ob
nicht der Kern des Buches eine rein jüdische Schrift
ist, welche erst durch eine Ueberarbeitung zn einem
christlichen Offenbarungsbuche umgewandelt wor-
den ist. Daß diese Hypothese noch nicht aufgestellt worden ist,
ist kein Grund, warum man nicht jetzt zu ihr greifen soll, zumal
28 Gott. gel. Aoz. 1887. Nr. 1.
sie alle Schwierigkeiten mit einem Schlage za lOeen Tenprieht. Ist
doch ein ganz paralleler Versuch nnter Zustimmung einer Reihe von
kompetenten Beurteilern erst vor kurzem an den Testamenten der
12 Patriarchen angestellt worden, und scheinen sich doch die An-
zeichen zu mehren, daB auch unter nichtapokalyptischeu Schrift-
stücken, welche fttr christlich gelten, sich solche finden, die man als
Umarbeitungen jüdischer Originale zu betrachten hat. Gtegen den
Einwurf, daft ein wesentlich jttdisches Buch nicht in dem neutesta-
mentiichen Kanon aufgenommen sein könne, schützt sich Vischer
durch Hinweis auf das hohe Ansehen, welches gerade jadische Apo-
kalypsen in der christlichen Gemeinde besaften (vgl. auch die escha-
tologischen Beden Jesu und die Untersuchungen über ihre jüdische
Grundlage), was z. B. bei Papias zu der wunderlichsten Entstellung
christlicher Tradition, die wir überhaupt kennen, geführt hat
In c. 2 wendet sich nun der Verfasser zur »Grundlegung
der Lösungc. Er stellt sich die Aufgabe, den Charakter des Bu-
ches an seinen specifischen Eigentümlichkeiten festzustellen, und
glaubt die sichere Grundlage hierzu in c. 11 und 12 gefunden zu
haben. Von diesen weist er ausführlich nach, daft sie bei der An-
nahme eines christlichen Ursprungs bisher jeder Erklärung gespottet
haben und spotten mnftteo, wenn man sich nicht auf das trügerische
Gebiet des Allegorisierens begibt, auf dem man Alles beweisen
kann, aber auch sein Gegenteil. Es zeigt sich zunächst, daftc. 11, 1
nnter radc tov ^eov xal td ^vCMi^tJQtop srai ol TtQogMVPovvug iv
ait(f nur der jüdische Tempel und jüdische Beter verstanden wer-
den können. Es zeigt sich ferner, daft die Erwartung von zwei
Zeugen, welche das Erscheinen des Messias vorbereiten, eine den
jüdischen Apokalypsen eigentümliche Vorstellung, dagegen dem Chri-
stentum ganz fremd ist, da dasselbe die Weissagung, daft ein grofter
Prophet dem Messias vorangehn wird, in Johannes dem Täufer er-
füllt weift. Hält man aber daran fest, daß ein Christ dieses Kapitel
schrieb, so muft man konsequenter Weise das Erscheinen der beiden
Zeugen vor das zweite Kommen Christi verlegen. Dann aber er-
scheint höchst auffällig, daß des ersten Erscheinens Christi auf Er-
den nur in einem kleinen Nebensätzchen (Vers 8^ : ^ng (seil. ^ n6hg ^
IkSfäXfi) nahUak nvsvgAauntSg Sodofna xal Afy^mog, onov nal b xt/-
Qkog a^dtAv ietavqui&fO gedacht wird. Diesem Christen ist die Kreu-
zigung des Herrn so unwichtig, daft er sie nur ganz flüchtig er-
wähnt, und daß er die Stadt, welche den Herrn kreuzigen ließ, im
Verhältnis zu Babel sehr milde bestraft. Wenn man nun sieht, daß
Jerusalem in diesem kleinen Satze als Sodom und Aegypten bezeich-
net wird, während es kurz vorher (v. 2) noch ayia nok&g genannt
Yischer, Die Offenbarung Johannis. 29
wHrde, BO erweist sieb der deo Zasammenhang in auffälliger Weise
störende Halbvers als Interpolation. Das ganze Kapitel aber mit
Ausnabme vielleicht der Worte xal vot^ X^ifftov avtov in v. 15 maß
jfidiscb sein and wird nnr anter dieser Voraassetzang verständlich.
Das Gleiche ist nun bei c. 12 der Fall. Hier soll nach gemeiner
Aaffassang die Oebart Christi geschildert sein. Vischer zeigt die
vollständige Unmöglichkeit dieser Annahme, bei der die allgemein
feststehenden Tbatsachen des Lebens Jesn verfltlchtigt , resp. ver-
nichtet werden. Vielmehr stimmen die in diesem Kapitel ausge-
sprochenen Anschauungen auf das genaueste mit denen der j tidischen
Apokalypsen zusammen, und sogar für die Thatsache, daft der Mes-
sias bald nach seiner Geburt seiner Mutter entführt wird, hat Vischer
unter Berufung auf Schttrer ein Analogen aus dem jerusalemischen
Talmud beibringen können. Auch in c. 12 aber erweist sich ein
Vers, der Ute, als eingeschoben, da die darin vertretene Anschau*
ung gar nicht zum Zusammenhang paßt.
Es läftt sich also evident machen, daß diese Kapitel ein rein
jüdisches Stück sind, welches nur von ein paar geringen, leicht aus-
zuscheidenden Interpolationen durchsetzt ist (S. 31). Diese Erkennt-
nis aber präjudiciert für den Charakter des ganzen Baches. Denn
das Stück c. 11, 15—12, 17 bildet das Herzstück der Apoka-
lypse und ist von den übrigen Teilen durchaus nicht zu trennen^
wie man angesichts der Schwierigkeiten der Erklärung wohl ver-
sucht bat; es ist der Schlüssel für das Verständnis der Weiterent-
wicklung der Endgescbichte. Sind diese Kapitel jüdisch, so
maß es das ganze Buch sein; und der Verfasser hält sich
nunmehr für berechtigt, seine Frage zu formulieren: was ist in die*
sem jüdischen Buche christlich? Er hat sich durch diesen Gang
sdner Untersuchung das Recht zu der Behauptung gesichert, daß
die Richtigkeit seiner Hypothese unabhängig sei von dem noch zu
fftbrenden Nachweis, daß jede christliche Stelle den Verdacht der
Interpolation erweckt
Diesen Nachweis führt der erste Abschnitt des »Lösung des
Problems« überschriebenen dritten Kapitels. Abgesehen von e. 2
und 3, die ohne Zweifel einen christlichen Verfasser voraussetzen,
dafür aber auch mit der eigentlichen Apokalypse in gar keinem in-
neren Znsammenhang stehn, handelt es sich um folgende Stellen:
1) die größeren Stücke 6, 9—14. 7, 9—17. 13, 9—10. 14, 1— &
14, 12—13. 19, 9—10. 20, 4—6 (?). 21, 5b— 8. 22, 6—21 und
e. 1 (über die beiden letzten Stücke vgl. oben); 2) die einzelnen
Verse: 11, 8b. 12, 11. 16, 15. 17, 14. 19, 13b. 21, 14b; 3)
kleine Znsätze in 5, 6. 8. 6, 1. 16. 9, 11. 11, 15. 12, 17. 13, &
30 Gott. gel. Ads. 1887. Nr. 1.
14, 10. 15, 3. 16, 16. 17, 6. 18, 20. 19, 7. 11. 21, 9. 22. 23. 27.
22, 1. 3.
Diese Zusätze bilden nur ungefähr den achten Teil des ganzen
Baches. Die Loslösang derselben stört mit Ausnahme einer Stelle
(ö, 9—14) den Aufbau der Apokalypse nicht: dagegen stören die
eingeschobenen Worte in vielen Fällen die Satzverbindung, unter-
scheiden sich ttbrigens in Bezug auf den allgemeinen Sprachoharak-
ter nicht wesentlich von der Grundschrift. Diese Erscheinung erklärt
Vischer, hauptsächlich unter Herbeiziehung von 9, 11. 16, 16, so-
wie der Deutung der Zahl 666 auf Nero, aus der Thatsache, daB
die Apokalypse dem Bearbeiter in hebräischer Sprache vorlag und
von ihm erst übersetzt wurde.
Die unter 1) genannten Stücke hat Vischer ausführlich bespro-
chen und glaubt besonders durch Ausscheidung des Abschnittes 7, 9 — 17
eine crux interpretum beseitigt zu haben. Denn bisher wuftten sieh
die Ausleger bei diesem Abschnitt wie bei c. 14, 1 — 5 nur dadurch
zu helfen, daB sie dieselben als »Ruhepunkte« bezeichneten, auch
wohl von jenem Stück im 7. Kapitel behaupteten, daß es ein »pro-
leptischer« Ausblick in die Zukunft sei. Besonders lichtvoll hat Vi-
scher hier dargelegt, wie man durch diese Abschnitte in die Enge
getrieben wird, sei es daB man in dem Verfasser des ganzen Buches
einen Heidenchristen, sei es einen Judenchristen sehen will. Da wir
indessen gerade an diesen Stellen über das MaB der Ausscheidung
nicht überall Vischers Ansicht sind, so mag die Besprechung dieser
Abschnitte vorläufig zurückgestellt werden.
Das Resultat ist, daß sämtliche Stücke, welche auf einen christ-
lichen Verfasser zurückgeführt werden müssen, nicht Teile der
ursprünglichen Schrift sein können; sie sind vielmehr lediglich zu
dem Zwecke eingefügt, den in der jüdischen Apokalypse gegebenen
Stoff für die christliche Gemeinde branchbar zu machen (S. 71);
das christliche Geftlhl verlangte solche Zusätze an einer Reihe von
Stellen, und man darf sich nur wandern, daß der Ueberarbeiter
überall so konservativ verfahren ist (vgl. die Beibehaltung von 7, Iff.
aber auch c. 13. Vischer S. 79. 85). Die Anschauungen, die in
den Zusätzen niedergelegt sind, zeigen Verwandtschaft mit der pau-
linischen, aber auch der johanneischen Betrachtungsweise; dazu
sind eine ganze Reihe von Sprüchen eingefügt, welche stark an die
nns in den Evangelien überlieferten Aussprüche des historischen Je-
sus anklingen (S. 74. 75).
Im zweiten Abschnitt des dritten Kapitels, zugleich dem letzten,
hat Vischer nochmals den >jüdischen Charakter der Grund-
sohr if tc an jedem einzelnen Kapitel des Buches nachgewiesen,
Yischer, Die Offenbarung Jobannis. 81
wobei vor Allem die Ansftthrangen über das 13. und 14. Kapitel za
beachten sind (hiezu vgl. man auch Mommsen röm. Qesch. V, S. 520 ff.).
Am Schlüsse weist er nochmals nachdrücklich auf den wahrhaft po-
sitiyen Erfolg seiner scheinbar so negativen Kritik hin: das rache-
scbnaubende Bach, das im strikten Gegensatz zu Christi Lehre den
Feindeshaß predigt und die Qier nach der Besiegung des Feindes
offen zur Schau trägt, es ist eben jüdisch; die christlichen Zusätze
aber müssen den schönsten Zeugnissen urchristlicher Frömmigkeit
beigezählt werden (p. 90). Unser christliches Bewußtsein fühlt sich
dadurch wahrhaft erleichtert; denn wie die Sache bisher lag, hatte
Luther Recht, wenn er sagte: »mein Geist kann sich in das Buch
nicht schicken, und ist mir die Ursach gnug, daft ich sein nicht
hoeb achte, daß Christus dariunen wedder gelehret noch erkannt
wird, welches doch zu tun fur allen Dingen ein Apostel schuldig
ist« (vgl. Vischer p. 11).
Der Untersuchung ist zur besseren Uebersicht ein Abdruck der
Apokalypse beigegeben, und zwar so, daß zunächst c. 4, 1 — 22, 5,
indem dabei die von Vischer als christlich bezeichneten Stellen mit
gesperrten Lettern gesetzt sind, ganz abgedruckt werden, dann die
christlichen Stücke für sich einschließlich der ersten drei Kapitel
und des Schlusses.
In seinem Nachwort berichtet Prof. Harnack über die Ent-
stehung der Arbeit, deren Verfasser noch Studiosus der Theologie
ist, und betont, daß sich sein Anteil an derselben auf einzelne Winke
beschränke. Er fügt endlich noch eine Tabelle von Fragen hinzu,
die sieh unter Voraussetzung der Richtigkeit der Vischerschen Hypo-
these teilweise ganz neu, teilweise in neuer Fragstellnng aufdrängen.
Denn solche Fragen bleiben genug übrig, und der Ver/iasser
unserer Untersuchung ist weit entfernt davon es zu läugnen. Wir
sehen aber einen großen Vorzug der Vischerschen Arbeit darin, daß
er, von gelegentlichen Andeutungen abgesehen, die Besprechung sol-
cher Fragen gänzlich unterlassen hat. Sie würde seine Unter-
sucbung unnötig belastet, vielleicht verwirrt, und damit dem Resul-
tat, auf das es vor Allem ankam, nur geschadet haben. Aus dem
letzteren Grunde ist es auch sehr anzuerkennen, daß Vischer auf zu
gewagte Untersuchungen, wie etwa die Sichtung der christlichen
und jüdischen Stücke in c. 1 und 22, sich nicht eingelassen hat:
dieselben wären niemals frei von Einwürfen gewesen und hätten
principiellen Gegnern unnötiger Weise Handhaben zu kleinen Aus-
stellungen gegeben, die man dann der ganzen Hypothese zur Last
gelegt haben würde. Diese weise Beschränkung, aber auch nmsich-
82 Gott. gel. Ans. 1887. Nr. 1.
tige Beweisftthrang sowie exakte Methode zeichnen Vischers Arbeit
vor Allem aas.
Die Frage darf aber aufgeworfen werden, ob Vischer den Um-
fang der Ansscheidnngen, die yorzunehmen sind, richtig bestimmt
hat. Die Antwort wird laaten : im Wesentlichen ja. Das schließt
aber kleine Meinangsverschiedenheiten nicht aus. So glaubt Ref. in
Bezug auf die oben unter Nr. 1) verzeichneten größeren Einschie-
bungen einige Modifikationen vorschlagen zu dürfen. Zeigt nämlich
die überwiegende Mehrzahl der Zusätze, daß sich der Bearbeiter nur
auf ganz kleine Aenderungen beschränkte, so wird man vielleicht
den Kanon aufstellen dürfen, daß man bezüglich des Umfangs der
Ausscheidungen möglichst vorsichtig sein, d. h. Alles so lange fttr
jüdisch halten muß, als es sich nicht unbedingt als christlich auf-
drängt Diesen Kanon hat ja auch Vischer befolgt; auch gibt er
zu, daß in den 4 Abschnitten, um die es sich wesentlich handelt,
5, 9-14; 7, 9—17; 14, 1—5; 20, 4—6 Vieles enthalten ist, was
recht wohl jüdisch sein kann. Einerseits aber ist es sein Grund-
satz allzu scharfsichtige Ausscheidungen zu vermeiden, dem er auch
hier treu bleibt, andrerseits die Beobachtung, daß sich der christ-
liche Ueberarbeiter gelegentlich dem Ausdruck seiner Grundschrift
accommodiert haben könne. In 5, 9 — 14 zwingt eigentlich Nichts
zur Auslösung des ganzen Abschnittes. Nimmt man an, daß in den
vorangegangenen Versen von einem litov (oder von wem immer) ^)
die Bede war, welcher das Buch öfi^nen und die Siegel lösen kann,
so hat es doch nichts Auffallendes, daß zu dessen Lobpreis jetzt ein
Lied gesungen wird, zumal dieser Gesang am Schlüsse wieder in
einen Preis des xa&ijfMvog inl tov dqovov^ d. L Gottes, ausläuft.
Die Worte enthalten mit Ausnahme der Verse 9 und 10, deren In-
halt dem veränderten Subjekt des Lobpreises entsprechend stark
umgearbeitet ist, Nichts, was nicht jüdisch sein könnte. Im Gegen-
teil, wenn nur die Worte vtal up dQvim in Vers 13 eingeschoben sind,
und das Subjekt in Vers 12 geändert ist, so haben wir genau das-
selbe Verfahren, das der Ueberarbeiter auch sonst verfolgt. Die
Wiederholung der Schilderung in c. 4, 8. 9. 10 durch Vers 14 (vgl.
Vischer p. 57) kann doch nicht auffallen. Vor Allem aber würde
der Anstoß beseitigt, daß sich an dieser Stelle bei Vischers Aus-
scheidung der ursprüngliche Wortlaut nicht mehr herstellen läßt.
Die Zusätze an dieser Stelle würden sich demnach redncieren auf:
Vers 9 b. 10; was hier gestanden hat, läßt sich nicht sagen; es ist
1) Nach 6, 6 ist es höchst wahrscheinlich, daS der Löwe an Stelle des
Lammes in der Grundschrift stand. Vischers daran geknüpfte Vermutung p. 58
darf freilich nur als solche aufgefaßt werden; dem Ref. erscheint sie gekünstelt.
Vischer, Die Offenbarung Jobannis. 38
aber möglicb, dali eiu JN'ebeuHatz luit Sn aach in der Grandscbrift
stand; die Worte td dgrtov w iff^paYpkiy^v in Vers 12; and na\ vß
äqylm in Vers 13; möglicberweise ist ancb Ka$y^v in Vers 9 a Zu-
satz. — Die Stocke 7, 9 — 17 nnd 14, 1—5 scheidet Visober auf
Grand banptsäoblicb der Erwägung ans, daß sie der Grandscbrift
widersprecbende Anscbaunngen entbalten. Der jttdisobe Apokalyp-
tiker kenne nnr die 144000 Versiegelten ans Israel; von Heiden,
die als Gleicbbereebtigte neben den Israeliten am Gottesreicbe teil-
nebmen werden, wisse er Nicbts. Indessen: von einer soleben Teil-
nabme ist docb aucb an diesen Stellen die Bede niobt. Vielmebr
ist nnr die Erwartung aasgesprocben, daA die Heiden Gott loben
and preisen werden, und diese Vorsteilang bat docb nicbts Befrem-
dendes. Es würde nichts Anderes aasgesagt sein, als was wir
4 Esr. 13, 33. 34 finden, wo auch von einer multitudo ingens
die Rede ist and es vorher beißt: et erü quando audierint omnes
genies vocem eius. Daß aber in Kap. 14 der Apokalyptiker noeb-
mals aaf seine 144000 znrttckkommt, bat wiederum nicbts AuffalteiH
des.; nnr sind freilieb die näheren Bestimmungen derselben in Vers 4
und 5 entschieden ehristlich. Die Stelle 4 Esr. 13, 35: ipse autem
stabit super cacumen montis Sion enthält zudem eine unse-
rem Kap. 14, 1 so verwandte Vorstellung, daß man sich kaum ent-
schließen kann, diesen Vers ganz preiszugeben, sondern wiederum
nur die ursprtingliobe Bezeichnung des Messias als duroh tA dgrtoy
verdrängt erklären mischte. Sind diese Bemerkungen richtig, so
würde sich der Umfang der Interpolationen in 7,9—17 auf folgende
Zusätze beschränken: die Worte fUQ$ßsßliiikirovg öwXag isvudg^ nal
foiPMsg hf tatg xsqfüv aitmv in Vers 9, die sich auch (beachte den
Akkusativ lu^ß^ßl^kivw^^ während imätsq vorangieng) als unge-
schickt eingefttgt erweisen; toi «uf dqvim in Vers 10; endlich die
Verse 13 — 17 ganz. Sie hängen mit der Interpolation in Vers 9
zusammen nnd sind entschieden cbristlieb. Kap. 14, 1—5 wQrde
folgende Aenderungen und Znsätze entbalten : ti aqptov in Vers 1 ;
ebenda die Worte aifi «al to tv^a %ov ncnqoq a^iu, wo an
Stelle des ersten aimi möglicher Weise tov ^soi (vgl. 7, 2) ge-
standen bat; endlich Vers 4 und b. Am verwiekeltsten liegen die
Dinge in dem Absohnitto 30, 4—6. Viseber bat sieh nicht ent-
aebieden, ob diese Veras ganz ausinscbeiden seien, oder nur der
Bl5rende Zusuts in Vers 4 und der Vers 6. Daß von diesen beiden
letzten Sätzen abgesehen, die siober ebristlicb sind, die Vorsteilang
in Vers 4 wak 5 nicht jüdisch sein könne^ ist nicbt zu erweisen
(vgl. Vischer S. 70). Attdrerseita sebließl sieb Vers 7 vortrefflich an
S^ an^ während er^ tf rekt aq 4 angescblessen, eine auffallende
a»U. gel. Am. 1867. Nr. 1. 3
Si OMI. gel. Ans. 1887. Nr. 1.
derbolnng enthalten wllrde. Ferner spricbt gerade die offenbare
Einsehiebnng des cbristlichen Satzes in Vers 4 entschieden flir
die UraprfliigHcbkeit des Übrigen Teilee: denn das Subjekt olnM;
ist dadnrch von seinem Prädikat ganz getrennt worden. Vielleicht
sind aber ancb die Worte xoi ngifta iäö&n avvtJq anaznacheideo,
weil sich cinvtz an in' avv>v( anschlieüt, der Wechsel des Subjekts
in a^nvf nnd ai'toi^ aber sebr auffällig scheint — Hit Bezng anf
c. 1 and 22, 6 ff. erscheint ea ancb dem Ref. sieht rätlich, Über das
von Viseber Gesagte hinanszngebn.
An einer Stelle mBchte Kef. eine cbristliobe Interpolation ver-
mntes, anf die Vischer nicht eingegangen ist. Eap. 20, 14 enthält
den erlänternden Znsatz: oimt 6 vtävatot « dsvuQÖg iauv ^ itftvii
mv ntt««Jc. Abgesehen davon, daß dieser Satz den Zasammenhang
stOrt, ist es nach Vers 14a sicher nicht im Sinn des Verfasaers i^o'-
ira«!); nnd lUftv^ zn identificieren, nnd der ^ävamt o dtvftHQi ist
zudem eine Vorstellung, die sonst nnr den christlichen Stflcken
eignet
Ist nun diese Frage nach dem Umfang der Interpolationen eine
verbältnismäftig unbedeutende, so erhebt sich eine andere, die sehr
wichtig zn sein scheint Sollen wir in dem Ueberarbeiter , dessen
fast beispiellose Unbeholfenheit Überall hervortritt, auch den Verfas-
ser der herrlichen 7 Sendschreiben in Eap. 2 und 3 sehen? Zwar
die Anschauungen, welche in den Interpolationen vorgetragen wer-
den, stimmen recht wohl zu denen des Briefschreihers , aber die An-
nahme erscheint doch fast nngebenerlich, daß derselbe Mann, wel>
eher in fließendem und gutem Griechisch seine Briefe schrieb, sich
Ungeschicklichkeiten zn Schulden kommen ließ, wie etwa die Ein-
Bchiebnng in c. 20, 4. Die letztere erscheint Überhaupt rätselhaft
nnd wird durch die Annahme eines hebräiBchen Originale fast noch
unverständlicher: denn der Uebersetzer dachte doch jedenfalls grie-
chisch, nnd es scheint fast andenkbar, daü er sein eigenes SatE-
gefBge in dieser Weise zerbrach.
Von den sachlichen Fragen, die sich bei Bewährung Ton Vi-
scbers Hypothese ergeben würden, hat Hamack eine ganze Reihe
genannt In ein ganz nenes Licht muft jedenfalls die Frage nach
dem Verhältnis des Ueberarbeitera — denn nar von diesem kann
fürderbin die Rede sein — zum 4ten Evangelism rücken. Ein Ver-
wandtscbaftsverbältnia zn stataieren scheint nahezuliegen, and viel-
leicht wtlrde sieb die »jobanneische Frage« dahin lösen, daB der
Verfasser des 4. Evangeliums und unser Ueberarbeiter, die nicht
identisch sein kOnnen, zum >jobanDeiacben Kreise« gehörten, eine
Losung, die ancb Weizsäcker a. a. 0. p. 503 schon angedentet bat.
Jnlicher, Die Gleichnlsredeii Jesu. 85
Mit dem »Johaonest igt dann ohne Zweifel der Apostel gemeint.
Sollte der Bearbeiter wirklieh in Ephesas za suchen sein, so wür-
den anch die paulinischen Anklänge sich erklären. Die zahlreichen
Herrnworte können sehr wohl ans der Tradition des Apostels Jo-
bannes stammen; und wie das 4te Evangelium unsere Synoptiker
kennt, so würde auch die Bearbeitung der Apokalypse Kenntnis
derselben voraussetzen. Interessant ist auch die Beobachtung, daB
überall, wo Berührungen von jüdischen Stellen unserer Apokalypse
mit anderen neutestamentlichen vorliegen (woraus man eventuell
einen Beweis gegen Vischer entnehmen könnte), die letzteren
selbst eine jüdische Grundlage haben; in den christlichen
Stücken lassen sich aber fast Vers für Vers .Gedanken- oder Wort-
parallelen mit Stellen aus den Evangelien oder Briefen nachweisen.
Die Fragen, welche Harnack unter 1) gesammelt hat, werden
sieh schwerlich jemals beantworten lassen, dagegen wird die letzte
nach dem Einfluß des Judentums auf das älteste Chri-
stentum sicherlich in immer schärfere Beleuchtung treten. Daft
Visehers Arbeit einen wichtigen Beitrag dazu liefert, uns einen wei-
teren Einblick in die Tragweite dieser Frage zu ermöglichen, ist
ein zwar unbeabsichtigtes, aber sehr bedeutendes Verdienst derselben.
Gießen. Gustav Krüger.
Jäiicfaer, A., Prediger in Rnmmelsburg. Die Gleichnisreden Jesu.
Erste H&lfte, allgemeiner Teil. Akademische Verlagsbachhandlong von
J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Freiburg i. Br. 1886. 291 S. gr. 8«.
Ein vortreffliches Buch, das sich von Anfang bis zu Ende mit
großem Interesse liest, warm, lebendig und gut geschrieben, wenn
anch einmal von den »hohlen Augen des Sinnbildes, welche nicht
ans den frischen Erzählungen der Synoptiker herausschauen« die
Rede ist oder von den »hochgehenden Wellen der AUegorese, welche
recht viel Sand an das Ufer des ursprünglichen Parabelbestandes
hingewälzt haben «^ etwas breit, aber nicht in unangenehmer Weise;
ein Bach, das Licht und Ordnung in ein Gebiet bringt, auf dem
bisher — man sollte es kaum glauben — eine arge Verwirrung
herrschte. Die Wahrheit, welche der Verfasser den wissenschaftli-
chen und den praktischen Theologen — beiden wird sie sehr zu
Oute kommen — zu Qemüte führt, ist einfach die, daß die Gleich-
nisse Jesu eben Gleichnisse sind und keine Allegorien, daß das We-
sen des Gleichnisses von dem der Allegorie grundverschieden ist,
daß man folglich die Gleichnisse nicht allegorisieren dürfe. Man
36 Gott, gel- Anz. 1887. Nr. 1.
braucht in der That nar den ersten besten Kommentar anfzuschla-
gen, um zur Einsieht zu gelangen, wie unsicher das Urteil und wie
unklar die Begriffsbestimmung — wird doch oft dieselbe Erzählung
bald Gleichnis, bald allegorische Erzählung genannt — , wie schwan-
kend, und oft auch, wie abenteuerlich die Exegese.
Die zweite Hälfte des Buches ist noch nicht erschienen ; sie
soll die Auslegung sämtlicher einzelner Gleichnisreden Jesu enthal-
ten; in der vorliegenden ersten Hälfte desselben, dem allgemeinen
Teile, behandelt der Verfasser die einschlägigen Vorfragen und
setzt sich zur Begründung der eigenen Ansicht mit seinen Vorgän-
gern auf demselben Gebiete auseinander.
Sind die Gleichnisreden Jesu acht, und in wie weit sind sie es.?
Diese Frage mußte sich dem Verfasser zu allererst aufdrängen; sie
wird im ersten Abschnitte des Buches behandelt. Das Urteil ist
nüchtern und gesund. Jttlicher verwahrt sich mit aller Energie ge-
gen eine in extreme Zweifelsucht verfallende Kritik, welche jedes
Gefühl für Möglich und Unmöglich und somit das wichtigste Erfor-
dernis der Kritik verloren habe, erkennt aber an und führt aus,
daß allerdings die Parabeln der Evangelien nicht unbedingt den
von Jesu gesprochenen gleichzusetzen seien. Was die Evangelien
bieten, ist offenbar nur eine Auswahl derselben, nachdem das Gedächt-
nis allein sie lange Zeit aufbewahrt und natürlich alteriert hatte. Die
Abweichungen der synoptischen Becensionen von einander erstrecken
sich nicht bloß auf den äußeren Verlauf, sondern nicht selten auch
auf die Deutung ; Anlaß und Zusammenhang variieren oft ; die Per-
sönlichkeit, der Standpunkt, die religiös-dogmatische Anschauung
der Evangelisten haben ihren Einfluß dabei ausgeübt. Die relative
Authentie steht nichts desto weniger fest; die Gleichnisse gehören
im Allgemeinen zu dem Sichersten und Bestüberlieferten, was wir
an Beden Jesu noch besitzen.
Im zweiten Abschnitt handelt der Verfasser vom Wesen der
Gleichnisreden Jesu. Das synoptische Wort nagaßokfi entspricht dem
hebräischen Maschal; dies aber ist ein sehr weiter Begriff; Einheit
kann in die darunter zu subsumierende Stoffmasse nur gebracht
werden, wenn der Begriff des Vergleichens die Grundlage bildet
Maschal ist eine Redeform, welche durch Nebeneinanderstellung von
Gleichem, durch Vergleichung zu Stande kommt. In der apokry-
phischen Litteratur kommt der Begriff des Dunkeln und Schwierigen
hinzu; bei den Evangelisten ist eben dasselbe der Fall Sie ver-
stebn unter nagaßolfj nicht bloß eine vergleichende Bede, sondern
eine Bede, die außerdem dunkel ist und der Deutung bedarf, indem
hinter den Worten ferne und hochliegende Gegenstände sich verber-
Jälicher, Die Gleichnisreden Jesu. 37
geo^ welche bei der Vergleichung mit ilirer Httile sich als derselben
äbolieb erweisen; Wortlaut und Bedeatung werden als zweierlei
auseinander gebalten; mit anderen Worten, die Erangelisten, wie
die ibnen selbst, nicbt aber Jesu zasuscbreibenden Deutungen be-
weisen, rttcken die Parabel in das Gebiet der Allegorie. Das ist
aber ein Fehler. Schon durch den Eingang der berühmtesten Gleicb-
niase: das Himmelreich ist ähnlich einem KOnige, einem Hausherrn,
einem Säemann, einem Senfkorn u. s. w., wird der Leser aufgefordert
zu Tergleicheu, nicht zu ersetzen; der Säemann ist und bleibt ein
Sämann, der König nnd der Hansherr ein König und ein Hausherr,
der ungerechte Haushalter ein ungerechter Haushaltet, während in
der Allegorie Ezech. 17 der Weinstock das Volk Israel ist und am
wenigsten ein eigentlicher Weinstock.
Nun unterscheidet Jtilicher in den Evangeliela drei Klassen von
Meschalim. Zunächst einfache Gleichnisse: Verauschaulichung eines
Satses durch Nebenstellung eines andern ähnlichen Satzes. Diese
Art wird definiert als »diejenige Redefigur, in welcher die Wirkung
eines Satzes (Gedankens) gesichert werden soll durch Nebenstellung
eines ähnlichen, einem anderen Gebiete angehörigeb, seiner Wirkung
gewissen Satzes«, während die Allegorie diejenige Redefignr ist, »in
welcher eine zusammenhängende Reihe von Begriffen (ein Satz oder
Satzkomplex) dargestellt wird vermittelst einer zusammenhängenden
Reihe von ähnlieben Begriffen aus einem anderen Gebiet«. Die Vor*
stnfe der Allegorie ist die Metapher; die Voi'stufe d^s Gleichnisses
die Vergleichung.
Eine zweite Klasse bilden die Gleichnisse in erzählender Form,
welche sich von dem reinen Gleichnis nicht mehr unterscheiden als
die allegorische Erzählung von dem allegorischen Satz: das ist die
»Fabel«, welche definiert wird als »diejenige Redefignr, in welcher
die Wirkung eines Satzes (Gedankens) gesichert werden soll durch
Nebenstellung einer auf anderem Gebiet ablaufenden, ihrer Wirkung
gewissen, et-dichteten Geschichte, deren Gedankengerippe dem jenes
Satzes ähnlich ist«. Für diese neutestamentlichen »Fabeln« schlägt
Verfasser, zur Bezeichnung der eigenartigen Verhältnisse, auf die
sie sieh, im Vergleich mit den meisten anderwärtigen Fabeln, be-
xiebetii den Namen »Parabel« im engeren Sinn vor: eine nicht eben
gilekliehe Wahl, wohl zur Schonung eines, wenn nicht gerechtfer-
tigten, 80 doch gewiß sehr verbreiteten Geftthls. Es wird keine Ge-
legenheit versäumt, dem Leser recht klar zu machen, daft bei der
Parabel von Deutung keine Rede sein kann. Sie deutet, und kann
oiebt gedeitet werden.
Bine dritte Klasse tadlich bilden solche Erzählungen, welche
38 Gott. gel. Aoz. 1887. Nr. I.
nicht aaf anderem Gebiete ablaufen, sondern anf demselben, anf
dem der zn richemde Satz liegt; die Geschichte ist ein Beispiel für
den zn behauptenden Satz. Verfasser nennt den Ilaschal dieser Gat-
tung »BeispielerzählungCy das ist eine Erzählung, welche »einen ali-
gemeinen Satz religiös-sittlichen Charakters in dem Kleide eines
Einzelfalles € vorführt. Sie verträgt keine Deutung , sie ist so klar
und durchsichtig wie möglich, sie wttnscht sich nur praktische An-
wendung.
Daft Jesus in diesen naqaßoXai keine absonderliche Lehr- oder
Bedeweise f&r sich ersonnen hat, geht aus dem Gesagten hervor.
Welchen Zweck verfolgte er aber damit, daft er die Gleichnisrede
so häufig anwandte? Dies der dritte vom Verfasser behandelte
Punkt. Nach Markus und Lukas, nicht minder aber auch nach
Matthäus, ist der Zweck der Parabelrede Jesu dem Volk das Wort
in einer Form zu vermitteln, welche die Wahrheit verheimlicht, da-
mit die Verstoekung des Volks durch diese Art der Verkündigung
vollendet werde. Diese Auffassung Jttlichers ist exegetisch unum-
stöftlich; ebenso gewift hat er darin Becht, daft die synoptische
Theorie anf dem fraglichen Punkte schlechterdings aufgegeben wer-
den muft. »Wer eingesehen hat, daft in der synoptischen Auffassung
vom Wesen der Parabel ein Fehler steckt, und wo er steckt, der
sieht sofort ein, daft aus diesem Fehler sich ein weiterer, bezüglich
des Zweckes dieser Beden, ergeben mufttec. Bei dem Gebrauch der
verhfillten Bede muft Jesus einen besonderen Zweck im Auge gehabt
haben. Die Thatsache des nicht gewonnenen, in seiner Verstoekung
beharrenden Volkes und die Propheten gaben die Antwort. Nein!
wenn Jesus die Parabel anwendet, so geschieht es ganz einfach, um
durch diese Form die Deutlichkeit und die Ueberzeugungskraft sei*
ner Gedanken zu erhöhen.
Der folgende Abschnitt handelt von dem Wert der Gleichnis-
reden Jesu ; sie sind vielleicht der unersetzlichste Teil seiner Lehre,
der, wo wir ihm am tiefsten ins Herz hinein sehen. Nicht genug
kann sich der Biograph Jesu — und nicht minder der einfache
Ghristenmensch, der sich in der heiligen Schrift Erbauung sucht —
in die Gleichnisse vertiefen und hineinleben. Der alte Satz, der
länger als tausend Jahre in der Kirche gegolten : iheologia parabdica
non est argumentativa, ist nur ein Bekenntnis der Bodenlosigkeit der
damaligen Parabelexegese.
Es ist interessant zu sehen, wie die litterärische Würdigung der
evangelischen Gleichnisse — deren Buhm durch die Vergleichung
mit den bnddistischen und haggadistischen nicht im mindesten beein-
trächtigt wird — ' durch die unrichtige Auffassung ihres Wesens be-
Jülicher, Die Gleichnisreden Jesu. 89
einfiuAt worden ist; die meisten Ansstellangen fallen mit der Ans-
legangsmetbode, auf deren Grand sie gemacht worden sind, und auch
die Gleichnisse vom ungerechten Haashalter, vom ungerechten Rich-
ter, welche Renan za dem Aassprach verleitet haben, daß eine angst«
liebe Moralität in den Parabeln Jesu ihre Rechnung nicht finde, ver-
lieren das Anstößige, das ihnen anzuhaften scheint, sobald man sich
jeder Allegorese enthält und nur den Grundgedanken herauszieht, um
ibn sofort für das religiöse Leben zu verwenden. Bei dem Satze,
daft, »wenn manche Fehler in Folge unrichtiger Auslegung den Bil-
dern Christi zur Last gelegt worden, die wirklich gerechtfertigten
Vorwürfe sich durch die Kritik erledigenc, möchten wir den Wunsch
ansdrttcken, daß in diesem Stücke nicht des Guten zu viel geschehe.
Wie ist es nun den Parabeln Jesu ergangen, sowohl hinsichtlich
der Aufzeichnung als auch der Auslegung? Dies der Gegenstand der
zwei letzten Abschnitte, in deren ersterem zum Neuen , wie auch
sonst hin und wieder in diesem Buch, manches Alte schon berührte
hinzukommt. Bei der Aufzeichnung der Gleichnisse läßt sich eine
aasmalende Richtung, besonders bei Markus und Lukas, wahrnehmen,
und eine ausdeutende, besonders bei Matthäus. In vielen Fällen wird
es kaum möglich sein Ursprüngliches und Hinzugekommenes za un-
terscheiden, zumal wenn nur ein Bericht vorliegt II ne faut pas
non plus vonloir k tout prix chercher la petite bgte. Sollte wirklich
Lakas das inl td ogfj des Matthäus in iv t^ iQijfAfp verändert haben,
»damit noch krasser heraustrete, wie alles Interesse des Hirten durch
die Sorge um das eine verlorene Schäflein absorbiert wird und ftlr
die anderen selbst die Wüste ihm gut genug ist«? Doch der Ver-
fasser selbst sagt: »Hier gilt es Vorsicht üben und oft nicht ent-
scheiden, um nicht anrichtig za entscheiden«.
Bei Johannes fehlt das Gleichnis fast gänzlich; seine naQot(Ala$
sind Allegorien; sind die Gleichnisse Geheimnisworte, Rätselreden,
80 gebührt ihnen auch kein Platz in dem Evangelium, welches die
vollkommene Erkenntnis zu lehren beabsichtigte. Der Begriff der
Gnosis ist auch bei dieser Frage im Johannesevangelium entschei-
dend. Mit Lukas ist die Periode der Parabelaufzeichnung geschlos-
sen, es folgt die Zeit der Parabelerklärung. Erstaunliches ist auf
diesem Gebiete geleistet worden ; nur der einfache Wortsinn kam
nicht zu seinem Rechte. Dem Ghrysostomus unter den Alten, Calvin
unter den Reformatoren, van Köstfeld und B. Weiß unter den Neuern
verdankt die evangelische Parabel das Beste, während heute noch
die große Mehrzahl der Exegeten gewillt ist zu deuten, so viel sich
bequem deuten läßt, eine kleine Scbaar sogar die Alles deutende
Bichtang vertritt. Dagegen will der Verfasser reagieren^ and von
40 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 1.
den drei ttberbaapt nur mSglichen Erklftrangsarten der Oleiohniwe,
daß man Alles allegoriBiere, daß man die HaapteacheD allegorieierey
daß man nichts allegorisiere, der letzteren zn ihrem guten und aas-
schlieftlicben Kecbte verhelfen. Za diesem Unternehmen können wir
ihm nur G4ttck wünschen. Wir zweifeln nicht daran, daß er das
Richtige getroffen habe, und wissen ihm Dank ftlr seine durch-
schlagende BeweisfQhrnng.
Colmar. L. Horst
John Q w y n n , on a Syriac MS. belonging to the Collection of Archbishop Ussher.
Dublin 1886. (Sonderabzug ans den Transactions of the Royal Irish Aca-
demy, Band 27).
Ich erlaube mir als bekannt anzunehmen, daß die alte syrische
Uebersetzung des neuen Testaments den Abschnitt von der Ehe-
brecherin (lohannes 7,53—8,11) wie die vier kleineren katholischen
Briefe und die Apokalypse nicht enthält. Von diesen Stücken ist
eine syrische Version erst durch LdeDien und EPococke veröffent-
licht worden. Herr John Qwynn erweist jetzt in einer völlig Über-
zeugenden Auseinandersetzung,
daS 1. Erzbischof Ussher den in Aleppo angesiedelten Kaufmann Thomas Davies
beauftragt hat, was in Widmanstadts Drucke des syrischen neuen Testaments
gegen unsere Recepta fehle, zu beschaffen :
dai 2. jener Davies eine Abschrift der gewünschten Stücke in dem Kloster Qanno-
btn (so schreibe: Baedeker Palaestina * 408) hat anfertigen heiSen:
daß 8. diese Abschrift in der Bibliothek von Trinity-College zu Dublin noch heute
vorhanden ist:
daA 4. LdeDieu die Perikope von der Ehebrecherin aus eben diesem Manuscripte
Usshers, daft Walton sie aus LdeDieu's Drucke herausgegeben hat.
Herr Gwynn, der musterhaft genau orientiert ist, würde sich ein sehr
großes Verdienst erwerben, wenn er Alles dem alten Syrer Abgehende
in einem eigenen Bande nach den Handschriften zusammenfaBte. Ich
will ihn um der Sache willen auf die Aeaßerung des groften Sealiger
aufmerksam machen, die in meiner Ausgabe der »vier Evangelien,
arabische xvj' schon 1864 mitgeteilt worden war: Herr Qwynn wird
dort erfahren, daA Scaliger dieselben Wege wie Ussher gewandelt
ist. Es wird sich für Herrn Gwynn vielleicht lohnen, auch an die
königliche Bibliothek zn Berlin die Bitte um Mittheilung des in ihr
etwa Vorhandenen zu richten, und das Buch von loh. Wichelhaos
de novi testamenti versione syriaca antiqua, Halle 1850, so geschmack-
los und nngelehrt es ist, einzusehen: der unermüdlich gefällige Igoazio
Guidi würde vern^ittdich in der Bibliothek der Propaganda und in
der Vaticana nach Abschriften forschen. Paul de Lagarde.
Fftr di« Badakliim rcnuitvortlach : Prof. Dr. B$ektd, DIrikior dn Mtk g«l. Abi.,
Amman der KönigUeha» QMttUaolwft der Wiaaenickalten.
f$t1<V der DitUrich'Bckm fmic^ -Bmhkamdhmg.
IkMck dn mtamitVuikm Dni9,-M¥ekdrm€tmm (#V-. W, Kamkutr),
Wivar
41
Göttingische
gelehrte Anzeigen
anter der Aufsicht
derKönigl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Nr. 2. 15. Januar 1887.
Preis des Jahrganges: tM 24 (mit den »Nachrichten d. k. G. d. Wies.«: «4127).
Preis der einzelnen Nummer nach Anzahl der Bogen: der Bogen 60 ^
iBluklt: Mach, Beitrftge sur Analyse dar Empflndangen. Yon läppt. — Bernatsik, Beeilt-
•predmng und materielle Beehtakraft. Von Oaupp, — Die Oberlansiia und Hennann Knothe. Von
JUtMit. — Perkins, Ghiberti ei son tfcole. Yen Bnm. — Laistner, Der Arcke^u der
Nibelnagen. Von MarUn.
= Elgeamiohtiger Abdruck von Artikeln der Gott. gel. Anzeigen verboten. ^
Mach, E., Beiträge zur Analyse der Empfindungen. Jena G. Fi-
scher 1886. VI u. 169 S. S».
Nicht ein Philosoph von Fach, sondern ein Naturforscher ist
es, der in der bezeichneten Schrift philosophische und speciell psy-
chologische Einzelprobleme aufstellt und zu lösen versucht. Der-
gleichen haben wir in letzter Zeit öfter erlebt. Und wir Philosophen
haben im Grunde kein Recht uns darüber zu beklagen. Lange ge-
nug hat die Philosophie tlber der Lösung der Welträtsel und dem
Streit um »Principienc die Inangriffnahme der konkreten Einzel-
probleme, aus deren Lösung sich die Principien oft genug erst er-
geben konnten/ verabsäumt, ja mit einer Art von Verachtung abge-
wiesen. Und auch heute noch ist dies kein völlig überwundener
Standpunkt. Da darf sich denn die Philosophie nicht wundern, wenn
diese konkreten Probleme, wenn also der vielleicht nicht idealere aber
dafür gewissere Frucht versprechende Teil ihrer Arbeit von andern
libemommen wird. Und noch mehr. Die Philosophie hat der Natur-
wissenschaft für die Usurpation sogar Dank zu sagen. Was für die
Inangriffnahme der Probleme vor allem erforderlich ist, nämlich
Sinn dafür, Respekt vor der einzelnen Tbatsache und dem eng um-
grenzten Gebiet von Erscheinungen, und Verständnis für ihre Be-
deutung, das pflegt der Naturforscher in höherem Grade als der
principiengQwandte Philosoph mitzubringen. Darin kann und muft
die Philosophie vom Naturforscher lernen.
OHI. g«l. Aas. 1887. Hr. 8. 4
;
42 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 2.
Aber wäre es, wenn dem so ist, nicht besser, jene Probleme ein-
fach dem Naturforscher za überlassen? — Ganz gewiß nicht. Das
Gebiet des seelischen Lebens, das dürfen wir nicht vergessen, ist
nun einmal ein eigenartiges, die Konstatierung und Analyse psychi-
scher Thatsachen, die Feststellung psychischer Beziehungen eine be-
sondere Art geistiger Arbeit, die darum auch eine besondere Art der
Uebang und Schulung voraussetzt. Jene Eigenartigkeit ist der Na-
turforscher geneigt zu übersehen. Ihm erscheint leicht einfach, was
nicht die Schwierigkeiten bietet, die Er zu beachten und zu lösen
geübt ist. Er überträgt am Ende Begriffe, die der Eigenart seines
Gebietes angepaßt sind auf das fremde, ohne sich Rechenschaft zu
geben, ob sie auch da am Platze sind. — Natürlich rede ich hier
nicht von den Beidlebigen, die auf dem einen und dem andern Ge-
biete zu Hause sind.
Aus den bezeichneten Umständen ergibt sich ein eigenartiges
Gepräge mancher Arbeiten aus dem Lager der philosophierenden
Naturforscher. Fast überall begegnen wir wertvollen Thatsachen,
einer konkreten Fassung der Probleme. Achten wir aber auf die
Lösungsversuche, so muß gelegentlich unser Urteil dahin lauten, daß
so einfach, wie der Naturforscher meint, und in der Richtung, die
er einschlägt, die Lösung sicher nicht gefunden werden kann.
Zunächst jener Vorzug ist nun auch dem Machschen Buche
eigen. Die Bedeutung des Vorzugs erhöht sich noch , wenn man
beachtet, daß es dem Verf gelegentlich nur darauf ankommt,
eine Thatsacbe zu konstatieren oder eine Frage zu stellen. Er
bringt, was ihm eben als Beitrag zur Analyse der Empfindungen
geeignet scheint. Und als solcher kann ja auch die bloße That-
sacbe oder Frage dienen. Damit ist schon gesagt, daß das Ganze
in einigermaßen freien Bahnen sich bewegen muß. Ganz erklärt
sich die Freiheit der Anordnung, wenn man erfährt, daß die Schrift
aus einer Zusammenfassung und Ergänzung früherer, gelegentlich
angestellter Arbeiten und zerstreuter Publikationen herorgegangen
ist, und daß die Zusammenfassung zunächst zur Selbstbelehrnng
unternommen wurde. Die Schrift bekommt noch ein eigenartiges,
frisch persönliches Gepräge durch die öftere Beziehung auf eigene
Erlebnisse.
Die p^'eciellen Probleme, um die es sich handelt, gehören dem
Gebiet des Raumes, der Zeit, und der Tonempfindung an. Den Un-
tCiSuchungen gehn voran und folgen Erörterungen allgemein er-
kenntnistheoretischer Natur. Fassen wir zunächst diese ins Auge.
Ich sagte oben, das psychische Gebiet sei ein vom physischen
pecifisch verschiedenes. Dies schließt nicht ans, daß dieselben
Mach, Beiträge zur Analyse der Empfindungen. 43
ElemeDte, die Farbeo, die Töne, der Raum, die Bewegungen etc.
beiden Gebieten zugleich angehören. Der Unterschied liegt nar
darin, daß sie auf dem einen Gebiet in einen anderen Zusammen-
hang hineingestellt erscheinen, als auf dem andern. Insofern hat
der Verfasser Recht, wenn er die Kluft zwischen Psychischem und
Physischem läugnet.
Alle Erkenntnis überhaupt, so erfahren wir weiter, hat zum Ma-
terial wenige Gattungen von »Elementen«. Außer jenen Inhalten
sinnlicher Empfindung gehören dazu die Inhalte unseres Bewußtseins,
die wir speciell dem Ich zuzurechnen pflegen. Aber diese Elemente
sind nur alssolche, nicht als Empfindungsinhalte, nicht als
im Bewußtsein yorhandene das ursprüngliche Material des Er-
kennens oder das unmittelbar Gegebene. Alle Erkenntnis geht auf
Yerkntlpfung der »Elemente«. Aus der Verknüpfung entsteht dann
erst die Welt der Körper einerseits, die Welt des Ich und damit die
Empfindung, d. h. die Zugehörigkeit zu der Welt des Ich, andrer-
seits. Uebrigens gibt es nach Mach gar keine bestimmte für alle
Fälle zureichende Abgrenzung des Ich und der Körperwelt
Auch hinsichtlich dieser, von mir freier reproducierten Anschan-
UDgen bin ich mit dem Verf. einverstanden. Ich selbst habe bei
verschiedenen Gelegenheiten') angedeutet, daß mir das Ansgehn
von der Empfindung, vom Bewußtsein, überhaupt vom Subjekt, als
ein Grundirrtum der Erkenntnislehre gelte. Mag das »Süß«, das
ich empfinde, noch so sehr »Inhalt« meiner Empfindung sein, fttr
mich wird es dazu doch erst auf Grund eines Erkenntnisaktes, einer
denkenden Bearbeitung des Gegebenen, und zwar eben der Bear-
beitung, durch die auch andrerseits das Bewußtsein der Zugehörig-
keit dieses »Süß« zur objektiven Welt entsteht. Durch unser Erken-
nen differenziert sich überhaupt die Menge des einfach G e g e b e-
nen in die beiden Welten des Ich und des Nicht^Ich.
Wie nun vollzieht sich für Mach die Erkenntnisarbeit ? — Auch
darauf bekommen wir eine, dem Psychologen vielfach fremdartig
klingende, aber doch der Hauptsache nach zutreffende Antwort.
Das Erkennen ist allgemein gesagt ein »Anpassungsproceß der Ge-
danken an die sinnlichen Thatsachen«. Angenommen wir haben
zwei Dinge A und B mit einander verbunden gesehen, und diese
Verbindung in unsern Gedanken nachgebildet, so suchen wir ge-
wohnheitsmäßig die gedankliche Verbindung auch unter etwas ver-
änderten Umständen festzuhalten. Ich denke B hinzu überall wo A
auftritt Darin besteht das »Erkenntnisprincip der Continuität«.
1) Vgl. meine Besprechungen der erkenntnistheoretischen Arbeiten von
T. Schubert-Soldern und Yolkelt in Gott. gel. Anz. 1886 Nr. S u. Nr. 9.
I
4*
44 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 2.
Begegnet ans dann einmal in der Erfahrung eine Verbindung, die
jener gedanklichen Verbindung widerspricht, so empfinden wir das
als Störung, und die Störung bleibt, bis sich eine andere Gewohnheit
herausgebildet hat, die auch dieser wahrgenommenen Verbindung
gerecht wird. Darin besteht das »Princip der zureichenden Be-
stimmtheit oder zureichenden Differenzierung«. In der Wechselwir-
kung der beiden Principien, in der beständigen Umwandlung von
Gedanken zum Zweck der Anpassung an neue Thatsachen, eben
damit zugleich im Uebergang von solchen Gedanken, die nur einem
engeren Thatsachenkreis sich anpassen, zu solchen, die umfassendere
Kraft haben, steigert und vollendet sich die Erkenntnis.
Diese Angaben wird man schwerlich genügend finden. Vor
allem sind die Begriffe der Gewohnheit und der Störung der Ge-
wohnheit allzu vage. Nicht um Gewohnheit handelt es sich, sondern
um Notwendigkeit, uud nicht um Störung der Gewohnheit, die man
um des damit verbundenen »intellektuellen Unbehagens« willen lie-
ber vermeidet, sondern um Widerspruch, den zu vollziehen unmög-
lich ist. Dennoch wird man aus den Erkenntnisprincipien der Kon-
stanz und der zureichenden Bestimmtheit leicht das wirkliche Grund-
gesetz des Denkens herausfinden. — Offenbar ist fttr den Verfasser
das Denken und Erkenneo nichts anderes als die Verbindung von
Vorstellungen und die fortgehende Ergänzung und Umwandlung der
vollzogenen Verbindungen, wie sie sich auf Grund des Associations-
gesetzes und im Kampf der Associationen unter einander und mit
den neu hinzukommenden Wahrnehmungen in uns vollzieht. Insbe-
sondere kennt er keine »objektive« Kausalität, d. h. kein kausales
Band, das von der Verknüpfung unserer Wahrnehmungen, Vorstel-
lungen, Gedanken verschieden, zwischen den wahrgenommenen und
vorgestellten Objekten selbst vorhanden gedacht würde oder gedacht
werden müßte. In allem dem hat der Verf., wie ich denke, völlig
recht. Auch ich meine, daß aus dem associativen Vorstellungsmecha-
nismus — ich bitte allzu scharfe Kritiker für diesen Ausdruck um
Entschuldigung — alle Denkgesetze und »Kategorien«, soweit sie
einen klar gedachten Inhalt haben, ohne weitere Zuthat sich er-
geben. Und ich meine dies nicht nur, sondern ich habe auch den
Versuch gemacht sie daraus abzuleiten^).
Dagegen muß ich dem Verfasser widersprechen, wenn er als
das letzte Ziel der »Anpassung« die Nachbildung der zusammenge-
hörigen »sinnlichen Thatsachen« bezeichnet, dagegen alle Rückfüh-
rung dieser Thatsachen, also der sogenannten Erscheinungen auf ein
1) Vgl. meine »Orondthatsachen des Seelenlebens«. Bonn 1888. Absohn. IV,
Mach, Beiträge zur Analyse der Empfindangen. 45
jenseits derselben Hegendes »An sich« zurückweist. Jenen Prin-
cipien der Eonstanz nnd zureichenden Bestimmtheit^ oder wie ich
kfirzer sagen wUrde, der Gesetzmäßigkeit unseres Denkens , wird
erst genügt durch den durchgängigen gesetzmäßigen Zusammenhang
der »sinnlichen Thatsachen«. Einen solchen finden wir aber in den
sinnlichen Thatsachen und ihrem wahrnehmbaren Zusammenhang
nicht. So sind wir gezwungen, die Wahrnehmung durch etwas, das
jenseits liegt, durch eine Welt an sich, die der Erscheinnngswelt zu
Grnnde liegt, zu ergänzen.
Von den erkenntnistheoretischen Erörterungen leitet Mach zu
den Einzeluntersuchungen über, indem er aus jenen einen »For-
Bchnngsgrundsatz« ableitet, der beansprucht fttr diese zu gelten. Es
ist der Grundsatz des durchgängigen Parallelismus des Psychischen
und Physischen. So nun wie der Grundsatz ursprünglich gemeint
ist» nämlich als Grundsatz fttr die Analyse der Empfindungen,
wird man nicht umhin können, ihm zuzustimmen. Empfindungen
werden zugehörige Nervenprocesse und anders gearteten Empfindun-
düngen anders geartete Nervenprocesse jederzeit zu Grunde gelegt
werden müssen. Unglücklicherweise aber hat es Mach in seiner
ganzen Schrift nirgends mit Empfindungen im engeren Sinne zu
thun. Schon die wahrgenommenen räumlichen und zeitlichen Be-
stimmungen sind nicht Empfindungen wie Blau und Bot, sondern
Formen, angeschaute Beziehungen derselben zu einander. Für sie
werden wir darum naturgemäß nicht, wie Mach will, eigene Nerven-
processe, sondern vielmehr Eigentümlichkeiten der Nervenprocesse,
oder der daraus hervorgehenden Empfindungen, nähere Bestimmun-
gen, Beziehungen derselben zu einander verantwortlich machen mtts*
sen. Noch weniger ist das Gefühl der Harmonie oder Disharmonie,
oder die eigentümliche Art, wie mir zu Mute wird, wenn zwei Töne
zusammenklingen, als besondere Empfindung zu bezeichnen. Auch
hier handelt es sich um Beziehungen, nicht angeschaute, aber in
unserm Gefühl sich kundgebende Beziehungen zwischen Empfindun-
gen, denen wiederum eine Beziehung oder ein Verhältnis der Nerven-
processe zu einander zu Grunde liegen wird. Endlich darf am aller-
wenigsten mit Empfindung verwechselt werden, unsere bloße Schätzung
oder Beurteilung räumlicher oder zeitlicher Verhältnisse. Jede solche
Schätzung oder Beurteilung muß freilich im letzten Grunde auf
Empfindungen und damit auf bestimmten Nervenprocessen beruhen ;
sie ist aber darum doch nicht selbst wiederum eine besondere
Empfindung, für die es Sinn hätte einen besonderen Nervenproceß
aufzusuchen. Indem Mach alle diese Unterschiede übersieht^ irrt er
von vornherein in Bezug auf die Richtung, in der die Lösung der
46 G5tt. gel. Adz. 1887. Nr. 2.
Probleme gesacht werden muß. Er maß darum auch die Mittel der
LOsang verfehlen. Er sacht nach Nervenprocessen nnd organischen
Einrichtungen, wo es sich gar nicht um solche handelt, sondern nm
Auffindung von Beziehangen zwischen Empfindungen und Aufzeigung
der Bedingungen, unter denen ein Urteil zu Stande kommt, oder
der mannigfachen Erfahrungen, auf die es sich grUndet.
Von der bezeichneten Verwechselung gibt gleich die erste Mach-
sche Untersuchung ein deutliches Beispiel. Die Gleichheit räumli-
cher Gebilde wird, wie man weiß, nicht unter allen Umständen
gleich leicht erkannt. Zwei gleiche gerade Linien etwa, nm das
denkbar einfachste Beispiel zu wählen, werden leichter als solche
erkannt, wenn sie einander parallel, als wenn sie verschieden ge-
richtet sind. Wie kommt dies? — Damit ist ein Problem gestellt,
das so gut wie jedes andere seine Lösung fordert.
Mach nun meint die Lösung zu geben, indem er die Gleichheit
der parallelen und die der verschieden gerichteten Geraden als zwei
verschiedene Arten der Gleichheit faßt, jene als optische oder an-
mittelbar empfundene, diese als geometrische durch Abmessung er-
kannte. Und er hält jene empfundene Gleichheit für ohne weiteres
gegeben durch die Gleichheit der Augenbewegungen, die zum Durch-
laufen der gleich gerichteten Linien erforderlich sind. Natürlich
geht dies nicht an. Jedes Bewußtsein der Gleichheit, auch das Be-
wufltheitsein der Gleichheit von Augenbewegungen, beruht auf Ver-
gleichung, und jede Vergleichung ist Uebertragung, Abmessung,
Versuch ohne Rest zu verschmelzen. Der Unterschied besteht nur
darin, daß die Vergleichung bald leichter und sicherer, bald weni-
ger leicht und darum weniger sicher ist. Daß es sich auch hier
lediglich darum handelt, daß die Gleichheit der Richtungen keine
besondere Art der Gleichheit der Linien, sondern nur eine besonders
sichere Vergleichung derselben bedingt, konnte Mach leicht daraus
ersehen, daß ja auch die Ungleichheit der Linien bei gleicher
Richtung leichter erkannt wird.
Des Verf. »Weitere Untersuchung der Raumempfindungen € be-
ginnt mit der Versicherung: »Daß die Raumempfindung mit motori-
schen Processen zusammenhängt, wird seit langer Zeit nicht mehr
bestrittene. Er steigert dann seine Behauptung bis zu dem Satze:
»Der Wille Blickbewegungen auszuführen , oder die Innervation
ist die Raumempfindung selbst«. Natürlich kann dieser letztere Satz
nicht wörtlich gemeint sein. Die Innervation ist eben die Inner-
vation und weiter nichts. Inhalte der Raumwahrnehmung sind eckig
oder rund, einen Zoll oder einen Meter lang ; dagegen kann von
der Innervation nichts dergleichen gesagt werden. Innervationen
Mach , Beiträge zur Analyse der Empfindungen. 47
oder genauer iDDeryatioDsempfiodangen setzen sich aber auch nicht
in Baumempfindungen um. Daran hindert schon der Umstand, da0
Innervationsempfindungen nur durch ihre Stärke sich unterscheideui
also ein Kontinuum von einer Dimension bilden, während der
Ranm nnserer Wahrnehmung sich zweier, nach Mach sogar dreier
Dimensionen erfreut. Nur die Bewegungsempfindungen, in denen zu
den Innervationen verschiedenartige Muskel- und Hantempfindungen
hinzutreten, könnten dem Baum zu Grunde gelegt werden. Aber
auch dies geht, soweit es sich um den Baum der Empfindung oder
besser der Wahrnehmung handelt, nicht an. Ich bestreite jene »seit
längerer Zeit nicht mehr bestrittenec Annahme durchaus.
Aber freilich der Baum, mit dem es die »weitere Untersuchungc
zn thun hat, ist in Wirklichkeit gar nicht der Baum unserer Wahr-
nehmung, sondern der gedachte Baum, zu dem sich jener durch er-
fahrungsgemäße Interpretation seiner einzelnen Bestimmungen er-
gänzt und erweitert. Und dieser gedachte Baum hängt allerdings
mit Bewegungsempfindungen zusammen ; insofern nämlich Bewegungs-
empfindungen als Zeichen oder Auflbrderung zum Vollzug dieser oder
jener bestimmten Interpretation dienen. Damit ist schon gesagt,
daß jeder Versuch für das über die unmittelbare Wahrnehmung
hinausgehende Bewußtsein von räumlichen Beziehungen und räum-
lichen Veränderungen Bewegungen verantwortlich zu machen, nur
insoweit zu einem sicheren Ziele führen kann, als zugleich nachge-
wiesen wird, auf Grund welcher Erfahrungen diese Bewegungen zu
Zeichen für jenes Bewußtsein werden konnten , bzw. werden muß-
ten. Da Mach jenes Baumbewußtsein als Baumempfindung faßt, so
unterläßt er natürlich diesen Hinweis. Kein Wunder, wenn dann
gelegentlich bei genauerer Prüfung die von ihm aufgezeigten Be-
wegungsempfindungen oder Innervationen zur Vollbringung der ihnen
zugedachten Leistung untauglich, die nicht aufgezeigten, sondern
nur postulierten — denn auch solche fehlen nicht — gänzlich nich-
tig erscheinen.
Darum halte ich doch gerade den Inhalt dieser »weiteren Unter-
Buchung« für keineswegs wertlos. Mach stellt doch die Probleme
und gibt, wenn auch zu sichtendes, Material an die Hand. Vor allem
sind die Versuche, die er mitteilt, geeignet, den Sachverhalt in hel-
les Licht zu stellen.
Den Hauptgegenstand der Untersuchung bilden die Bedingun-
gen, unter denen wir eine wahrgenommene Veränderung der räum-
lichen Beziehungen zwischen uns und der Außenwelt bald als eine
Bewegung unseres K()rpers bald als eine Bewegung der Objekte
interpretieren, oder wie Mach sagt, empfinden. Voran geht die Mit-
48 Oött. gel. Anz. 1887. Nr. 2.
teilüDg eines Falles von falscher Lokalisatioo , den ich selbst oft
beobachtet habe, hier aber zum ersten Male veröffentlicht finde.
Wenn ich von einem in dankler Umgebung befindlichen leachtenden
Punkte meinen Blick schnell wegwende, so scheint der Punkt einen
schnell verschwindenden Lichtstreifen nach entgegengesetzter Rich-
tung zu entsenden. Dies ist das Phänomen, um das es sich han-
delt. — Ich muß mich hier begnügen zu bemerken, dafi jene Inter-
pretationen, auch die auffallendsten unter ihnen, relativ leicht ver-
ständlich werden, wenn man sie eben als erfahrungsgemäße Inter-
pretationen faßt, und daß mir dies Phänomen in der Hauptsache auf
eine ürteilstäuschung zurilckzugehn scheint, die ich in meinen »Psy-
chologischen Studien c S. 26 gelegentlich mitgeteilt und andeutungs-
weise zu erklären versucht habe. Ich beabsichtige übrigens über die
von Mach in diesem Abschnitt behandelten oder angeregten Pro-
bleme an anderer Stelle mich eingehender auszulassen.
Derselbe Gegensatz zwischen Mach und mir stellt sich heraus
bei Betrachtung der Abhandlung über »Beziehungen der Gesichts-
empfindungen zu einander und zu andern psychischen Processen«.
Es ist darin besonders von gewissen Bedingungen des Tiefenbe-
wußtseins, oder wie Mach auch hier sagt, der Tiefenempfindung die
Rede. Mach sucht die Bedingungen dieser vermeintlichen Empfin-
dung in verschiedenartigen organischen Einrichtungen und »Ge-
wohnheiten des Auges«, von denen ich teilweise nicht sehe, worin
sie bestehn oder wie sie ihre Aufgabe erfüllen sollten, die in jedem
Falle in diesem Zusammenhang nur insoweit Wert haben, als sie zu
erfahrungsgemäßen Anknüpfungspunkten für die Interp;*etation die-
nen können, durch die alles, was Tiefe, Entfernung vom Auge, Re-
lief Form des Sehfeldes heißt, für unser Bewußtsein erst zu Stande
kommt
Auf die Untersuchungen über die räumlichen Anschauungen
folgt eine solche über die »Empfindung« der Zeit. Als Zeit empfun-
den wird nach Mach die Arbeit der Aufmerksamkeit. »Bei ange-
strengter Aufmerksamkeit wird uns die Zeit lang, bei leichter Be-
schäftigung kurz«. Zunächst ist diese letztere Behauptung nicht
ohne Einschränkung richtig. Es kann geradezu das Umgekehrte
stattfinden. Wenn ich mit großer Aufmerksamkeit eine spannende
Erzählung lese, so verfliegt mir die Zeit. Wenn ich bald dies, bald
jenes in Angriff nehme, aber nichts meine Aufmerksamkeit dauernd
in Anspruch nimmt, so schleichen die Stunden. Außerdem verwech-
selt hier Mach wiederum Wahrnehmung oder »Empfindung« und
Schätzung. Die Zeit, auf die ich zurückblicke, schätze ich nach
dem, was ich darin gethan oder erlebt habe. Dagegen macht es
Masch, Beitr&ge zar Analyse der Empfindangen. 49
keinen Unterecbied ilir die Zeitwahrnebmang, ob ich den Pendel*
schlag der Uhr, der jetzt vor meinen Obren erklingt , mit Anfmerk-
samkeit verfolge oder nnr znfällig höre. Die Zeitintervalle werden
dnrch die Aufmerksamkeit nicht größer noch kleiner.
Wie aber verhält es sich mit der Wahrnehmung des Nach-
einander? Die Empfindungen, so hören wir, welche an eine größere
Arbeit der Aufmerksamkeit gekndpft sind, erscheinen uns als die
späteren. Was beißt dies? Erscheint uns eine Empfindung später,
wenn im Momente ihres Auftretens die Kraft der Aufmerksamkeit
schon in höherem Maße erschöpft ist, oder wenn sie selbst mit
größerer Aufmerksamkeit vollzogen wird? Das letztere ist unmög-
lich. Die ersten Worte einer Rede frappieren mich, reißen mich aus
apathischer Stimmung auf, dann merke ich, daß nichts dahinter ist,
und falle wieder in meine Apathie zurtlck. Darum erscheinen mir
doch die Worte als die späteren, die thatsäcblich die späteren sind.
Aber auch das erstere ist unmöglich. Um gleich das Aeußerste zu
sagen: Warum erscheint mir, was ich morgens bei frischer Kraft
erlebe, nicht früher, als was ich am Abend zuvor halb schläfrig er-
lebt habe? Darauf kann Mach nicht antworten, das am Abend Er*
lebte sei eben vorüber, wenn der Morgen mit seinen Erlebnissen be-
ginne. Denn das hieße die Theorie aufgeben und das tbatsäcbliche
Nacheinander der Empfindungen zum Orund der Wahrnehmung des
Nacheinander machen.
In der That muß man das wirkliche Nacheinander der Empfin*
düngen dem Bewußtsein des Nacheinander irgendwie zu Grunde
legen. Außerdem muß man bedenken, was schon oben erwähnt
wurde, daß die Zeitempfindung eben nicht eine besondere Empfin-
dung, sondern die Wahrnehmung einer Beziehung zwischen Empfin-
dungen ist. Achtet man auf beides, so weiß ich nicht, welcher an-
dere psychologische Grund für das Bewußtsein des Nacheinander
sich sollte ergeben können, als der von mir in den »Grundthatsacben
des Seelenlebens« S. 588 f. bezeichnete.
Die Seihe der Machschen Untersuchungen schließt ein Abschnitt
über die Tonempfindungen. Das Hauptinteresse beansprucht die Er-
örterung über die »Empfindung«, genauer über das Gefühl, das die
verschiedenen Intervalle als solche, also abgesehen von ihrer Ton-
höhe charakterisiei*t. Mach weist zunächst die Ilelmholtzsche An-
schauung ab, und wie ich denke mit Recht. Nach Helmholtz sind
die verschiedenen Intervalle charakterisiert durch zusammenfallende
Teiltöne. So fällt bei der Terz der fünfte Teilton des tieferen
Klanges mit dem vierten des höheren zusammen. Aber dieser flinfte
und vierte Teilton ist bei jeder Lage des Intervalles ein anderer.
60 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 2.
Das Zasammenfallen der TeiltOne kann also nicht die Terz als
solche, abgesehen von der Lage charakterisieren. Das Charakteri-
stische maß etwas Gemeinsames, bei jeder Terz identisch Wieder-
kehrendes sein. Worin kann dies bestehen?
Daranf gewinnt Mach die Antwort, indem er folgende dreifache
Annahme macht.
Erstens. Jedes Endorgan des OehOrnerven ist zwar zanächst
and TorzDgsweise fähig darch Töne von einer bestimmten Schwin-
gungszahl in Schwingongeo versetzt zu werden. Zugleich reagiert
es aber auch in minderem Grade auf solche Töne, deren Schwin-
gungszahlen das Doppelte, Dreifache u. s. w. oder die Hälfte den
dritten Teil u. s. w. jener Schwingnngszahl betragen. Heißt also
allgemein JS, das Endorgan, das durch einen Ton von j9 Schwin-
gungen zunächst und vorzugsweise erregt wird, oder kürzer gesagt
ist R^ das auf den Ton von p Schwingungen abgestimmte oder die-
sem Ton zugehörige Endorgan, so erregt derselbe Ton in minderem
Grade auch die Endorgane JS^, R^ etc. und die Organe R^ , R^ etc.
Zweitens. Wird ein Endorgan R^ durch Schwingungsanzahlen
2pi 3p etc. oder ^p, ^p etc. erregt, so entsteht nicht lediglich die
Empfindung, die entstehn würde, wenn es von den ihm zugehörigen
j> Schwingungen getroffen würde; vielmehr gesellt sich dazu jedes-
mal eine eigene Zusatzempfindung Z„ Z^ etc. bzw. Z^ , Z^ etc. Die
Zusatzempfindungen sind, wie schon die Indices sagen, andere, je-
nachdem die Zahl der Schwingungen, die das Organ treffen, das
Doppelte, Dreifache etc. bzw. die Hälfte, den dritten Teil etc. der
Schwingungen beträgt, auf die das Organ abgestimmt ist
Drittens. Die Zusatzempfindungen sind an sich sehr schwach,
treten aber bei Kombination verschiedener Töne durch Kontrast
hervor.
Nun verhalten sich die Schwingungsanzahlen eines Grundtones
und seiner Terz wie 4 und 5. Macht also der Grundton 4p, so
macht die Terz 6p Schwingungen. Diese treffen zunächst die Or-
gane ü«, und ü,,. Beide Töne erregen aber zugleich das Organ
R^. Dabei erzeugen sie bzw. die Zusatzempfindungen Z^ und Z^.
Ebenso erregen beide das Organ R^^ und erzeugen auf Grund davon
die Zusatzempfindungen ^ und Z^. Die Zusatzempfindungen Z^, Z^
und Zj, Zj treten, wenn die beiden Töne 4p und 5 p zusammen-
treffen, deutlicher hervor und machen das Eigentümliche der Terz-
verbindnng im Unterschied von jeder andern Tonverbindung aus.
Bei dieser Erklärung wird man zunächst bedenklich finden.
Mach, Beiträge zur Analyse der Empfindungen. 51
daß sie auf einer Verkettang von nicht weniger als drei eigens za
dem Zweck aasgedachten Hypothesen beruht. Aber darauf lege ich
hier kein Gewicht. Die Erkläruug ist auch abgesehen davon nur
eine scheinbare. Sie beruht, wenn mich nicht alles täuscht, auf
einem merkwürdigen Versehen.
Fassen wir die Meinung schärfer ins Auge. Von vornherein
sind die beiden Möglichkeiten: Entweder die Eigentümlichkeit der
Zusatzempfindnng Z^, (A; = 2, 3 etc. oder = V») V» etc.) ist lediglich
dadurch bedingt, daß irgend ein Endorgan von Schwingungen ge-
troffen wird, deren Anzahl das X;-fache beträgt von der dem End-
organ eigentlich zugehörigen Schwingungsanzahl; oder aber jene
Eigentümlichkeit ist auch davon abhängig, welches Endorgan es
ist, das von dieser i-fachen Schwingungsanzahl getroffen wird. Von
diesen beiden Möglichkeiten ist die zweite für Mach durchaus aus-
geschlossen. Die Zusatzempfindungen Z^, Z^, Z^^ Z^ bilden ihm ja
das Charakteristische der Terzverbindung, abgesehen von der höhe-
ren oder tieferen Lage der Terz, also auch abgesehen davon, welche
Endorgane getroffen werden. Ist dem aber so*, wie kommt Mach
dazu, beim Znsammenklang der Töne von 4j!) und bp Schwingun-
gen nur die Z namhaft zu machen, die entstehn, wenn i2, und R^^^
von 4^) und bp erregt werden? Warum nicht ebenso diejenigen,
die durch Erregung der JB ^ , R^ etc., derJRj , R^ etc., der R^ R^^
■^p
etc., endlich der Bj^^, R^^^ etc. erzeugt werden, bzw. seiner Theorie
nach erzeugt werden müssen?
Um es kurz zu sagen: die Terzverbindung ergibt nach Mach
notwendig die Zusatzempfindungen Z„ Z^ etc. und andrerseits Z^, Zi
T T
etc., d. h. sie ergibt alle möglichen Zusatzempfindungen überhaupt;
sie thut dies nicht mehr und nicht minder als die Quarte, Quinte,
d. h. als jedes beliebige Intervall. Der Terzverbindung eigentüm-
lich ist nur der Umstand, daß die Z^, Z^ und ebenso die Z^^ Z ^
durch Reizung eines und desselben Endorganes nämlich jene durch
Reizung von JB, , diese durch Reizung von R^^^ entstehn. Da es itlr
die Beschaffenheit der Z gleichgiltig ist, welches Endorgan sie er-
zengt; so gewinnt die Terzverbindung aus den Z überhaupt nichts
Eigentümliches.
Nur wo es sich um den Zusammenklang der Töne handelt, wäre
noch ein Ausweg denkbar. Die Z^, Z,, könnte man sagen, und
ebenso die Z,, Z^ werden andere, bekommen dadurch, dafi sie
T T
in demselben Nerven gleichzeitig entstehn, das Charakteristi-«
62 Gott, gel Anz. 1887. Nr. 2.
sehe, das sie an sieb nicht haben. Oder genauer gesprochen, in-
dem die auf die Erzengang von Z^ und Z^y andrerseits von Z^ und Z^
gerichteten Reize gleichzeitig dasselbe Endorgau treffen , erzeugen
sie nicht die Z«, Z^ bzw. die Z^^ Z^^ sondern statt derselben ir-
gend welche neuen Empfindungen E^y bzw. E^^ deren Eigenart auf
dem Zusammentreffen eben jener Reize beruht. Offenbar wären aber
unter dieser Voraussetzung die Z überhaupt flberflttssig; und die
ganze Hachsche Theorie bekäme ein anderes Gesicht. Nicht die
Zy sondern die neuen Empfindungen E^ und E^ wären die Kenn-
zeichen der Terzverbindung. Und nicht die drei Hypothesen Machs,
sondern nur die erste derselben wäre erforderlich. Außerdem wOrde
der Ausweg eben nur für den Zusammenklang, nicht zugleich für
die Tonfolge Geltung haben.
Was will aber überhaupt das ganze Suchen nach einer für die
Terz charakteristischen objektiven Empfindung? Ich empfinde
objektiv, d. h. ich höre nichts als den Grundton und die Terz,
wenn sie beide zusammenklingen oder sich folgen. Ich fühle mich
nur zugleich von dem Zusammenklang oder der Folge in eigen-
tümlicher Weise angemutet Solche subjektiven Gefühle nun pfle-
gen in der Art, wie Empfindungen sich zu einander verbalten, ihren
Grund zu haben. Darnach wäre das Nächstliegende, auch das
eigentümliche Gefühl, das die Terz erweckt, auf ein besonderes
zwischen beiden bestehendes Verhältnis zurückzuführen.
Auf die Frage nun, worin dies Verhältnis bestehe, antwortet die
alte Theorie, indem sie auf das Verhältnis der Schwingungszahlen
verweist. Vier Schwingungen des Grundtones koincidieren mit fttn-
fen der Terz. Diese Antwort scheint auch mir noch immer die ein-
zig mögliche. Ich habe aber in meinen »Psychologischen Studien c
im vierten Aufsatze ausführlich gezeigt, was dies Schwingungsver-
hältnis für das Verhalten der Tonempfindungen zu einander zu be-
deuten haben könne. Meine Theorie ist angegriffen worden; auch
Mach erklärt sich dagegen, weil nicht anzunehmen sei, daß der
Rhythmus oder die Periodicität der Schwingungen im Nerven be-
stehn bleibe. Ich gestehe aber die Unmöglichkeit noch nicht einzu-
sehen. Zudem kommt es lediglich darauf an, daß der Rhythmus
irgendwie impercipierenden Organ wiederkehrt. Und diese
Annahme ist nicht ohne thatsächlichen Halt Jedenfalls kann man
nicht umhin, sie zu machen, solange es nicht gelingt gewisse auf
die Tonverbindungen bezügliche Fragen auf anderem Wege zu be-
antworten.
Man sieht, der Gegensatz zwischen Mach und mir ist hinsieht-
Bernatxik, Rechtsprechoog und materielle Rechtskraft. 53
lieh der ToDempfindung wie in Bezug auf die Raum- und Zeitan-
sehaauDg so durchgreifend wie möglich. Trotzdem bleibe ich dabei
den »Beiträgen zur Analyse der Empfindungenc ihren Wert zuzu-
erkennen. Die Schrift hat mich nicht nur wegen der kühnen Ori-
ginalität der Gedanken überall interessiert, sondern ich habe auch
daraus mehr positive Anregung geschöpft als aus manchem umfas-
senden psychologischen Werke.
Bonn a. Rh. Th. Lipps.
Bernatzik, Edmund, Dr., Rechtsprechung und materielle Rechts-
kraft. Yerwaltungsrechtliche Studien. Wien 1886. Manz. Xu. 826 S. 8\
I.
Der Verf. betrachtet es als eine Aufgabe der Wissenschaft des
Verwaltungsrechts, nicht bloß das System der verwaltungsrechtlichen
Institutionen nach den realen Grundlagen der Verwaltungsthätigkeit
gegliedert darzustellen, wie dies in den neuerdings sich häufenden
Systemen des Verwaltnngsrechts geschieht, sondern vor Allem im
Wege juristischer Dogmatik die im Staat vorhandenen Rechtsnormen
theoretisch zu Rechtssätzen und Rechtsinstituten zu entwickeln, die
einzelnen zu ihnen hinführenden Erscheinungen vorsichtig zu gene-
ralisieren und die so gewonnenen allgemeinen Regeln auf die realen
Grundlagen des öffentlichen Rechts anzuwenden. Auf diesem Wege
der Konstruktion soll durch monographische Bearbeitung einzelner
Partieen des allgemeinen Teils des Verwaltungsrechts unter Verfol-
gung der gewonnenen Rechtssätze bis in die feinsten Adern des
öffentlichen Rechtslebens die Grundlage für ein den Anforderungen
des letztern entsprechendes System des Verwaltungsrechts erst ge-
schaffen werden. In dem "vorliegenden Buch unterwirft nun B. die
Lehre von der materiellen Rechtskraft im Verwaltnngsrecht einer
höchst scharfsinnigen Untersuchung, deren Ergebnisse als Grund-
lage dienen für eine kritische Beleuchtung der Rechtsprechung der
österreichischen Verwaltungsbehörden und Verwaltnngsgerichte be-
zttglich der hier einschlagenden Fragen. Scheinbar als selbständige
Abhandlung, in der That aber nur zur Feststellung der theoreti-
schen Prämissen des Hauptthemas werden in der ersten Studie die
verschiedenen Thätigkeitsformen der Verwaltung erörtert und wird
insbesondere versucht, den Begriff der Rechtsprechung im Gegen-
sätze zur Verwaltung i. e. S. festzustellen. Dabei wird zwar jede
Erörterung de lege ferenda abgelehnt und nur das geltende öster-
54 Gott. gel. Änz. 1887. Nr. 2.
reichiscbe Recht als Gegenstand der Darstellung bezeichnet. Da
jedoch die Quellen des österreichischen Verwaltangsrechts — insbe-
sondere das Gesetz vom 22. Oktober 1875 Über die Verwaltungs-
gerichte und das Gesetz vom 18. April 1869 über das Verfahren
Tor dem Reichsgericht — für die Feststellung der allgemeinen Be-
griffe wie für die Lehre von der Rechtskraft insbesondere nur ge-
ringe Ausbeute gewähren, so ist der Verf. überall genötigt, auf die
Natar der Sache im Sinne einer Analyse der allgemeinen Grund-
begriffe des Rechts zurttckzagehn und bewegt sich deshalb bei der
Grundlegung der Begriffe ganz auf dem Boden der allgemeinen
Rechtstheorie. Eben deshalb verdient das Werk, wenn es sich auch
in den Specialfragen vorherrschend mit der Konstruktion der Er-
gebnisse der österreichischen Verwaltungsrechtsprechung beschäftigt,
auch aaßerhalb Oesterreichs alle Beachtung. Die Litteratur des
deutschen Verwaltungsrechts ist sorgfältig berücksichtigt , wobei
übrigens die Kritik, welche der Verf. an den Begriffsbestimmungen
der neueren Bearbeiter mit vieler Schärfe und Folgerichtigkeit aus-
übt, wesentlich bestimmt sein dürfte durch den von der österreichi-
schen Gesetzgebung beeinflußten Ausgangspunkt des Verf.
Nach B. besteht das unterscheidende Merkmal zwischen Recht-
sprechung und Verwaltung nicht in der judicierenden Behörde oder
deren Benennung, sondern nur in der Form, in welcher sich die
amtliche Thätigkeit vollzieht. Eine Unterscheidung nach den ver-
schiedenen Zwecken dieser Thätigkeit wird verworfen; denn Recht-
sprechung wie Verwaltung ist Erfüllung der Rechtsordnung, sollte
hiebei auch dem Ermessen noch so viel Spielraum gelassen sein.
Maßgebend können hiernach nur die Mittel sein, durch welche die
Imperative der Rechtsordnung verwirklicht werden. Dies geschieht
teils durch abstrakte Normierung der Thatbestände in Verwaltungs-
verordnungen, teils durch Regelung eines konkreten Thatbestandes,
indem die Rechtsordnung entweder die logische Thätigkeit ihrer
Organe oder aber deren Willensthätigkeit in Anspruch nimmt; im
ersteren Falle liegt eine logische Funktion (ein Urteil i. e. S.)
vor, welcher der Zweckbegriff fremd ist; im zweiten soll ein vor-
bedachter Zweck erreicht werden (Verfügung). Beschränkt sieb
das Urteil auf die Feststellung faktischer Vorgänge, so ist es Be-
nrkundung, wendet es aber eine abstrakte Rechtsnorm auf den
konkreten Thatbestand an, so ist es Entscheidung und wenn
diese Anwendung von einem Gericht ausgeht, Urteil i. e. S. Die
Verfügungen sind entweder konstitutive (Recht schaffende, bzw.
Recht vernichtende) oder, wenn nämlich der verlangte äußere Erfolg
erst der Thätigkeit eines Dritten bedarf: Befehle (Gebote, Verbote etc.).
Bernatzik, Bechtsprechimg and materielle Rechtskraft. 55
Auf diese Differenz der Formen administrativer Tiiätigkeit gründet
sich der Begriff der Rechtsprechang.
Abgelehnt wird insbesondere die Unterscheidung zwischen freiem
Ermessen und Rechtsprechung, da auch die Rechtsprechung^ selbst
diejenige der Gerichte, innerhalb des Kreises der Rechtsanwendung
freies Ermessen nicht ausschließt, andererseits jede Verwaltungs-
fnnktion auch beim freiesten Ermessen durch Rechtsnormen gebun-
den ist, sollten diese auch nur in der Vorschrift bestehn, im wahren
öffentlichen Interesse zu handeln. Die Gleichstellung der freien
Verwaltung und der freien Thätigkeit des Einzelnen (Bahr, Laband)
läßt sich eben deshalb nicht aufrecht erhalten.
Aber auch die Kompetenz von Gerichtsbehörden oder die sub-
jektive Qualifikation der rechtsprechenden Organe ist kein Krite-
rium der Rechtsprechung, da die erstere auf wandelbaren Zweck-
mäßigkeitsgründen beruht, und die Auffassung, daß es nur eine
Rechtsprechung durch die Gerichte gebe, eine petitio principii ist,
herrührend aus der Zeit, wo die Gebundenheit aller Staatsorgane an
Rechtsnormen noch nicht zur Anerkennung gelangt war. Dasselbe
gilt von der Ausstattung der zu gewissen Entscheidungen berufenen
Behörden, seien dies nun Gerichte oder Verwaltungs-Gerichte, mit be-
sondern persönlichen Garantien. Denn hierbei würden nur die außer-
halb der Verwaltung selbst stehenden Instanzen, nicht aber die be-
sonders qualificierte Rechtsprechung der Verwaltungsbehörden berück-
sichtigt, welche sich im Unterschied von der Rechtsprechung jener
Kontroiinstanzen nicht mit der Rechtsverletzung durch die Ver-
waltung, sondern mit der Anwendung der Rechtsnormen auf den
konkreten Thatbestand zu beschäftigen haben. Auch diese Thätig-
keit kann Rechtsprechung sein, sollte die Verwaltung bei dem frag-
lichen Akte nebenher auch öffentliche Interessen zu wahren haben.
Ebensowenig kann aber auch nach B. das Gegenüberstehn mehrerer
Beteiligter oder die Geltendmachung der Verletzung eines subjek-
tiven Rechts ein Unterscheidungsmerkmal bilden, ersteres nicht, da
im Verwaltungsrecht wie im Strafprocesse die kontradiktorische
Form ganz in den Hintergrund tritt, und das Geständnis, soweit
öffentliche Interessen in Frage kommen, keine Bedeutung bat, letz-
tere aber schon deshalb nicht, weil die — in Oesterreich allein in
Frage kommende — Rechtsbeschwerde an die Verwaltungsgericbte
nicht die Entscheidung eines Streits über eine angeblich von der
Verwaltungsbehörde verübte Rechtsverletzung bezweckt , vielmehr
hier — nach vorgängiger Nachprüfung der Sache selbst — die
Bechtsanschauung des Verwaltungsgerichtshofs an die Stelle der an*
gefochtenen Sentenz tritt, und weil überdies die Entscheidung der
56 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 2.
VerwaltaDgsiDstaDz Rechtsprechung sein kann, obgleich ein Rechts-
mittel an das Verwaltangsgericht nicht eingelegt worden oder nicht
statthaft ist. Der Begriff der Rechtsverletzung erschöpft hiernach
die Fälle der Rechtsprechung nicht.
Rechtsprechen bedeutet vielmehr nach B. Aussprechen, was im
konkreten Fall Rechtens ist , also Anwendung einer abstrakten
Rechtsnorm auf einen Thatbestand behufs Feststellung eines kon-
kreten Rechtsverhältnisses. Dies muß aber zum erkennbaren Aus-
druck gebracht sein, was hier wiederum nur möglich ist, wenn die
Feststellung nach gewissen, von der Rechtsordnung vorher bestimm-
ten Regeln vor sich geht, welche die Anwendung der Rechtsnorm
ermöglichen und gewährleisten. Rechtsprechung ist hiernach jede
nach abstrakt geregeltem Verfahren seitens eines vender
Rechtsordnung damit beauftragten behördlichen Organs vor
sich gehende Erklärung, mit welcher die beabsichtigte Feststel-
lung eines konkreten Rechtsverhältnisses zum Aus-
druck gebracht wird. Innerhalb der so charakterisierten Rechts-
sprechung werden dann wieder unterschieden die im ordentlichen
Instanzenzug vor sich gehenden »Meritalentscheidungenc und ande-
rerseits die Fälle, wo eine durch die Verwaltung begangene Recht-
verletzung seitens einer außerhalb des ordentlichen Instanzenzugs
stehenden Behörde — nämlich durch die ludicatur der Verwaltungs-
gericbtshöfe festgestellt wird, unter welchen B. alle Tribunale mit
gerichtlicher Organisation versteht, welche ttber die von der Ver-
waltung begangenen Rechtsverletzungen entscheiden. Jede Ent«
Scheidung eines Verwaltungsgerichtshofes ist Akt der Rechtsprechung,
und es können auf diesem Wege »die stumm gebliebenen Motive
obrigkeitlicher Akte jeder Art in der Form eigentlicher Entschei-
dung nachträglich zum Ausdruck gelangen €, auch wenn früher kein
Akt der Rechtsprechung vorlag. »Die Rechtsprechung fängt hier-
nach nicht erst bei dem Verwaltungsgerichtshof an, es gibt aber
Sachen, wo dies der Fall ist, nämlich immer dann, wenn im In-
stanzenzng nicht Recht gesprochen , sondern ein einfacher Ver-
waltungsakt erlassen wurde«. Wesentlich verschieden von dieser
ludicatur der Verwaltungs-Gerichtshöfe und keine Rechtsprechung
ist dagegen die Geltendmachung des Aufsichtsrechts der staatlichen
Oberbehörden durch Sistierung gesetzwidriger Verwaltnngsakte, teils
deshalb, weil hier das entsprechende Verfahren nicht vorausgeht,
teils weil die Aufsichtsbehörde als solche, im Unterschied von ihrer
Funktion als Verwaltungsreknrsbehörde nicht den Zweck verfolgt,
die Sache merital zu erledigen. —
B. statuiert hiernach neben der Thätigkeit der Verwaltnngsge-
Bernatzik, Rechtsprechung and materielle Rechtskraft. 57
richte noch eine besondere rechtsprechende Fanktion der Verwal-
tungsbehörden. Stellt man sich auf den Standpunkt der lex ferenda,
80 dürfte diese Dreiteilung — einfache Funktion der Verwaltungs-
behörden, Rechtsprechung derselben, und Akte der Verwaltungsge-
richtsbarkeit — erheblichen Bedenken unterliegen. Zunächst liegt
es nahe, alle Akte, bei welchen die Behörde in einem besonders ge-
regelten Verfahren über ein konkretes Rechtsverhältnis mit der Ab-
sicht der Feststellnng desselben entscheidet, der Kompetenz der
Verwaltungsgerichte zuzuweisen. Allein dies würde zu einer Trennung
der Verwaltungsfnnktion ftthren, welche mit den öffentlichen Inter-
essen nicht vereinbar wäre und überdies ein ganz eigentümlich kon-
struiertes Officialverfahren erfordern würde, um auch in Fällen, wo
eine Mehrheit von Parteien nicht vorhanden ist, schon in der un-
teren Instanz auf Veranlassung der Verwaltungsbehörde einen Akt
der Rechtsprechung durch den Verwaltungsgerichtshof etc. herbei-
(bhren zu können. Beläßt man dagegen jene rechtsprechende Funk«
tion bei den Verwaltungsbehörden, so ist nieht einzusehen, wie un-
ter Aufrechterhaltung der Einheit des Verwaltungsakts innerhalb des
Verwaltungsverfahrens selbst für die in Frage stehenden Feststellun-
gen ein zur Ausscheidung des Rechtsprechungsaktes von den übri-
gen damit verbundenen Elementen der Verwaltungsthätigkeit quali-
fiziertes Verfahren konstruiert werden soll, um den bloß als Prä-
misse einer Verfügung dienenden Denkakt von einem förmlichen
Akte der Rechtsprechung in objektiver Weise zu unterscheiden, eine
Frage, über welche B. sehr rasch hinweggeht. Man ist deshalb ge-
nötigt, alle Entscheidungen, welche nicht schon äußerlich von der
Verwaltungsthätigkeit im engern Sinne, sei es nun durch Verweisung
an besondere Organe der Rechtsprechung, sei es bloß durch ein
völlig abgesondertes Verfahren getrennt werden können, rechtlich
als Verwaltungsakte aufzufassen, so daß erst durch die Erhebung
der Rechtsbeschwerde an den Verwaltungsgerichtshof die in dem
bisher einheitlichen behördlichen Akte enthaltenen, mit reinen Motiven
der Verwaltung, insbesondre mit Fragen des sachgemäßen Ermes-
sens vermischten Elemente der Rechtsprechung auch formell als
solche zur Ausscheidung gelangen, dagegen bis dahin die Natur
einer Verwaltungsfnnktion behalten, was umsoweniger Bedenken er-
regen kann, wenn man anerkennt, daß heutzutage auch die Ver-
waltung an Rechtsnormen gebunden ist. Der Einwendung von B.,
daß eine Entscheidung, welche in der Instanz der Verwaltungsge-
ricbtsbarkeit Rechtsprechung sei, diesen Charakter auch schon in der
unteren Instanz — der Verwaltungsbehörde — gehabt haben müsse,
liegt zwar der richtige Satz zu Grunde, daß auch die Verwaltung
OftM. f«l. Am. 1887. Kr. 8. 5
68 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 2.
Recbtsnormen auf konkrete Tbatbestände anzuwenden hat, allein
diese Funktion ist noch nicht Rechtsprechung , wie B. selbst aner-
kennty wenn er sagt, daß auch solche Fälle, bei welchen in der un-
teren Instanz ein reiner Verwaltungsakt vorliegt, nachträglich vor
dem Verwaltungsgerichtshof zu einem Rechtsprechungsakt führen
können. Es bedarf nur der Erweiterung dieses Satzes dahin, daß
dies auch dann gilt, wenn ein solcher Verwaltungsakt nach vor-
gängigem Gehör einer Partei ergangen ist, weil eben derartige Mo-
dalitäten des Verfahrens innerhalb der Funktion der Verwaltungs-
behörden noch nicht genügen, um einzelne Elemente ihrer Thätig-
keit auch formell zu Rechtsprechungsakten zu machen.
Stellt man sich dagegen auf den Standpunkt der lex lata, so
wäre es wohl Sache des Verf. gewesen, den Nachweis zu liefern,
daß für diejenigen Akte, welche nach österreichischem, bzw. deut-
schem Recht nicht in den Rahmen der Verwaltungsgerichtsbarkeit,
wohl aber unter den allgemeinen Begriff der Rechtsprechung in dem
von B. deducierten Sinn fallen, besondere von den für einfache Ver-
waltuugssachen geltenden Normen abweichende Bestimmungen gelten,
denn nur dann war er berechtigt, aus letzteren Normen ein von der
Verwaltungsgerichtsbarkeit verschiedenes Rechtsinstitut der Verwal-
tungsrechtsprechung zu konstruieren ; andernfalls liegt eine theoreti-
sche Abstraktion vor, zu deren Aufstellung — neben der These von
der Gebundenheit der Verwaltung an Rechtsnormen — es an jeder
Grundlage fehlen würde. Diesen Nachweis hat nun aber der Verf.
in der ersten Abteilung seines Werkes nicht geführt. Wohl aber
scheint es uns, daß derselbe auf seinen weitereu Begriff der Recht-
sprechung durch sein6 Untersuchung über die Rechtskraft hingeleitet
wurde und dann dasjenige, was ihm dort als Postulat entgegentrat,
aus einem Elemente der Rechtskraft zu einem selbständigen Rechts-
institut entwickelt hat. Soll nämlich die materielle Rechtskraft nicht
auf verwaltungsgerichtliche Urteile beschränkt werden, sondern auch
in solchen Fällen eintreten, wo die Entscheidung der Verwaltungs-
behörde ohne vorgängige Anrufung des Verwaltungsgerichtshofs un-
anfechtbar geworden , so bedarf es einer Ausscheidung des der
Rechtskraft fähigen Inhalts der verwaltungsbehördlichen Akte und
äußerer Merkmale, um diesen Inhalt als solchen erkennbar zu ma-
chen. Könnte daher aus dem positiven Recht nachgewiesen wer-
den, daß auch gewissen Entscheidungen der Verwaltungsbehörden
nicht bloß formelle, sondern materielle Rechtskraft zukommt, so
würde dadurch allerdings der von B. aufgestellte Begriff der Recht-
sprechung Realität erlangen, während ohne diesen Nachweis der
Verf. sich in einem Zirkel bewegt. Damit kommen wir zur zweiten
Stadie.
Bcrnatzik Rechtsprechimg und materielle Rechtskraft. 59
n.
Id den Deneren deutschen und österreichischen Verwaltungsge-
setzen fehlt es, wenn man von der im württembergischen Gesetz
enthaltenen generellen Verweisung auf die Givil-Proceß-Ordnung ab-
sieht, an jeder positiven Normierung der Lehre von der materiellen
Rechtskraft in Verwaltungssachen. Die bisherige verwaltungsrecht-
liche Litteratur aber begnügte sich mit mehr oder weniger nichts-
sagenden Formeln, welche die Kluft zwischen materieller Rechts-
kraft und diskretionärer Wahrung des öffentlichen Interesses in Ver-
waltungs-Sachen zu überbrücken suchten, und für die Rechtsanwen-
dnng ziemlich wertlos waren. B. will daher das geltende Recht
unter Anwendung der konstruktiven Methode analysieren und zu-
gleich aus der communis opinio der Praxis das grundlegende Prin-
cip entwickeln, um so die unbewußt wirkenden Kräfte zum juristi-
schen Bewußtsein zu bringen. Doch scheint es uns bei Betrachtung
des umfangreichen Materials, welches der Verf. aus der Praxis der
österreichischen Verwaltungs-Gerichte und Verwaltungs-Behörden
beigebracht und einer scharfen und freimütigen Kritik unterworfen
hat, als ob es sich hier gegenüber einer (nicht bloß in Oesterreich)
ziemlich ratlosen und in Widersprüchen aller Art sich bewegenden
Rechtsprechung in Wirklichkeit mehr um die Sichtung jenes Mate-
rials vom Standpunkte der Deduktionen des Verfassers als um einen
Aufbau der Lehre auf Grund der Praxis handeln dürfte.
Rechtsprechung und materielle Rechtskraft sind dem Verf. unzer-
trennlich verknüpfte Begriffe ; denn es wird Recht gesprochen, damit
das als bestehend anerkannte Rechtsverhältnis fortan unanfechtbar
bleibt. Durch das Dispositionsrecht der Parteien erklärt sich zwar die
Beschränkung der res judicata auf die Parteien des Givilprocesses,
aber nicht die materielle Rechtskraft selbst. Auch nicht wegen der
wirklichen oder vorausgesetzten Wahrheit des Judikats, sondern nur
deshalb, weil im Auftrag der Rechtsordnung Recht gesprochen wird,
muß der in der Sentenz enthaltene Schluß als bindend anerkannt
werden. Da hiernach die Bindung durch die Rechtskraft eine not-
wendige Folge aus dem Begriff der Rechtsprechung ist, müssen die
Organe der letzteren selbst, wie alle Organe der öffentlichen Ge-
walt an die aus dem Judikat entspringenden Imperative gebunden
sein. Dies gilt auch gegenüber den öffentlichen Interessen, andern-
falls wäre die materielle Rechtskraft eine Illusion, da die Frage, ob
öffentliche Interessen beteiligt sind, rein Ermessenssache ist, welche
sich jeder Rechtskontrolle entzieht. Nur muß die Rechtsprechung in
Verwaltungssachen so organisiert sein, daß gemeinschädliche Ent-
acheidungen möglichst ausgeschlossen werden und eine gewisse Ka-
5»
60 Qött. gel. Anz. 1887. Nr. 2.
tegorie von NichtigkeitsgrUnden zur Wahrung der öffentlichen Inter-
essen offen gelassen wird. — Voraussetzung der materiellen
Rechtskraft ist wie im Civilrecht Unanfechtbarkeit der Entschei-
dung (sog. formelle Rechtskraft). Durch die rechtskräftige Ent-
scheidung wird auch in Yerwaltungssachen keine Novation bewirkt,
es entsteht jedoch ein neues Rechtsverhältnis, welches dem in der
Entscheidung festgestellten zur Seite tritt. Nur ein Akt der Recht-
sprechung, aber auch jeder solche Akt erzeugt materielle Rechtskraft,
alle anderen Verwaltungsakte sind derselben nicht fähige wenn sie
auch erzwiogbar, bzw. vollstreckbar sind. Auch die logischen Schlüsse,
welche solche Verwaltungsakte (Verordnungen, Beurkundungen, Ver-
fügungen) bedingen , entbehren jeder bindenden Judikatswirkung
und können dieselbe nur dadurch erlangen, daß die fraglichen Prä-
missen vorher durch einen Akt fixiert worden, welcher als Entschei-
dung des bedingenden Rechtsverhältnisses beabsichtigt ist und als
solche auch den Parteien entgegentritt. Dies gilt namentlich auch
von 8. g. konstitutiven Verfügungen (z. B. Einweisung in eine Ge-
haltsklasse, Eoncessionen etc.), wobei jedoch die Frage des Schutzes
des durch einen solchen Akt wohl erworbenen Rechts von der ma-
teriellen Rechtskraft scharf zu unterscheiden ist.
Diese Grundsätze finden auch auf die Entscheidungen der Ver-
waltnngs-Gerichtshöfe Anwendung, nur daß hier der Charakter der
Rechtsprechung prägnanter zum Ausdruck kommt. Dabei wird her-
vorgehoben, daß die Bindung der untern Instanz an die in der kas-
sierenden Sentenz des Verwaltungs-Gerichtshofs ausgesprochene
Rechtsanschauung von der materiellen Rechtskraft wesentlich ver-
schieden ist, indem letztere das konkrete Rechtsverhältnis selbst
zum Gegenstand und bindende Wirkung für künftige identische
Streitigkeiten hat, beides aber bei der erwähnten Bindung an die
ausgesprochene Rechtsanschauung nicht der Fall ist, weshalb auch
die bindende Wirkung verwaltungsgerichtlicher Urteile — in Oester-
reich — nicht aus dieser Vorschrift, sondern nur aus dem Charak-
ter jener Entscheidungen als Akten der Rechtsprechung abgeleitet
werden kann. Gegenstand der Rechtskraft ist nur das Rechtsver-
hältnis selbst, nicht die thatsächliche und nicht die rechtliche Fest-
stellung für sich. Bei der Entscheidung über bedingende (präjudi-
cielle) Rechtsverhältnisse ist maßgebend, ob solche durch einen Akt
der Rechtsprechung festgestellt werden wollten, oder ob die Ansicht
der Behörde nur ein latentes Motiv der behördlichen Aktion bildete.
Präjudicialpunkte einfacher Verwaltungsakte haben schon deshalb
keine Rechtskraft, weil der bedingte Akt selbst kein Rechtsprnch
ist; (an einer andern Stelle wird übrigens auch die rechtskräftige
Bernatzik, Rechtsprechung und materielle Rechtskraft. 61
FeststelluDg der Prämissen einfacher Verwaltangsakte zugelassen).
Liegt dagegen ein Recbtssprneb vor, so ist nach den konkreten Um-
ständen des Falls za beurteilen, ob und welche bedingende Recbts-
yerbältnisse durch Entscheidung festgestellt werden wollten und wel-
che derselben als der obrigkeitlichen Feststellung nicht bedürfende
Prämissen einfach dem meritalen Schlüsse zu Grunde gelegt wurden.
Eines Parteiantrags im Sinne des § 253 der R.-G.-P.-0.. bedarf es
nicht, da in Verwaltungssachen die reine Verhandlungsmaxime aus-
geschlossen ist, dagegen ist bei einer solchen Feststellung präjudi-
cieller Rechtsverhältnisse die materielle Rechtskraft derselben davon
abhängig, daft die erkennende Behörde auch zur meritalen Erledi-
gung des fraglichen Verhältnisses sachlich kompetent wäre. Fehlt
es an dieser Voraussetzung, so ist zwar die erkennende Behörde
zur Entscheidung der Vorfrage befugt und verpflichtet, diese Ent-
scheidung erzeugt aber keine Rechtskraft.
Identität des Rechtsverhältnisses liegt vor, wenn bei
mehreren nach einander zur Entscheidung stehenden Sachen alle
Individualisierungsmomente (Subjekt , Objekt , Entstehungsgrund)
gleich sind. Da in Verwaltungssachen bezüglich desjenigen, was
der Feststellung durch Entscheidung bedarf, der Parteiantrag nicht
maßgebend ist, so muß die Entscheidung über das Ganze auch ftir
den Teil, die Entscheidung über den Teil hinsichtlich des Ganzen
Rechtskraft begründen, ebenso die Entscheidung über die Neben-
sache als solche auch bezüglich der Hauptsache und umgekehrt.
Was die subjektive Wirkung der Rechtskraft betri£ft, so sind
zunächst die Behörden durch ihre Entscheidungen unbedingt gebun-
den. Dagegen gibt es im Verwaltungsrecht, da es sich hier immer
um Verwirklichung öffentlicher Interessen handelt, keine Parteien im
Sinne des Civilrechts, sondern nur Beteiligte oder Interessenten,
welchen unter gewissen Voraussetzungen die Behörde Partei-
rechte und Pflichten zuzuteilen bat. B. unterscheidet in dieser
Beziehung faktische Interessenten, welche zwar durch die
Rechtsordnung geschlitzt sind, aber ohne daß dem Einzelnen ein
durch ihn selbst zu realisierendes subjektives Recht zukommt, dann
subjektive Rechte, welche einen Anspruch auf einen bestimm-
ten Inhalt der behördlichen Entscheidung gewähren, endlich — zwi-
schen diesen beiden Kategorien stehend — die rechtlichen In-
teressenten, welche nur das Recht auf die Beiziehung zu einem
bestimmten Verfahren , insbesondere auf rechtliches Gehör , m. a. W.
das Recht haben, vor der Behörde als Partei aufzutreten. Jeder
rechtliche Interessent soll von der Behörde von Amtswegen zur
Partei gemacht werden. Dies folgt aus der Pflicht der
62 Gott. gel. An». 1887. Nr. 2.
Sprachbehörde, das ganze der Entscheidaug uoterätellte Verhältois
erschöpfend zu antersachen, was nicht möglich wäre, wenn Perso-
nen, welchen die Rechtsordnung Parteirechte eingeräumt wissen will,
präkludiert würden. Wurde daher die Beiziehung unterlassen, so
erzengt die Entscheidung keine Rechtskraft gegen einen solchen
rechtlichen Interessenten. Dagegen werden alle bloß faktischen In-
teressenten (— welche durch die verschiedenen Organe der öffent-
lichen Gewalt ausschließlich und obligatorisch vertreten werden — )
durch die Entscheidung gebunden, als ob sie Partei gewesen wären.
Die öfi^entlich-rechtlichen Entscheidungen haben hiernach — von den
rechtlichen Interessenten abgesehn — absolute Kraft gegen Dritte.
Diesen Grundsatz hat schon das römische Recht bei Urteilen über
Status Verhältnisse wegen des öffentlich rechtlichen Charakters der-
selben anerkannt, und die Praxis des Mittelalters hat dies dann auf
dem Weg der Fiktion durch Aufstellung sog. Status indifferentes auf
die verschiedensten öffentlich rechtlichen Verhältnisse übertragen.
Die Wirkung gegen Dritte ist jedoch davon unabhängig, ob im ein-
zelnen Fall die öffentlichen Interessen in irgend einer Form ihre
Vertretung fanden. Handelt es sich um solche öffentliche Interessen,
deren Vertretung der Staat, weil sie nur einen engeren Kreis be-
rühren, besondern Selbstverwaltungskörpern übeiiragen hat, so hat
zwar auch hier der Einzelne bezüglich der fraglichen Interessen kein
jus agendi; dagegen erscheinen nunmehr jene Organe gegenüber der
Gesamtheit als Subjekte rechtlicher Interessen, und die Entscheidung
bindet, wenn diese Organe beigezogen wurden, alle Genossen des
autonomen Verbands als faktische Interessenten. Ist ein rechtlicher
Interessent, dessen Interessen schon zur Zeit der Entscheidung vor-
lag, nicht zugezogen worden, so hat dies ihm gegenüber relative
Nullität zur Folge. Wurde das Verfahren nur mit einem von meh-
reren rechtlichen Interessenten durchgeführt und sind divergierende
Feststellungen mit der Natur des Rechtsverhältnisses unvereinbar,
so wirkt die Vernichtung der Entscheidung auch auf die früher Bei-
gezogenen, während das Gegenteil der Fall ist, wenn verschieden-
artige Regelung gegenüber den einzelnen Beteiligten denkbar ist.
Ist für die Meritalentscheidung ein zwischen andern Parteien be-
stehendes Rechtsverhältnis präjudiciell, so müssen, wenn über die-
ses Verhältnis selbst entschieden werden, letzteres also nicht bloß
die logische Prämisse bilden soll; auch die hierbei beteiligten Per-
sonen zur Verhandlung beigeladen werden, widrigenfalls relative
Nichtigkeit der Präjudicialentscheidung eintreten würde. — Entsteht
dagegen erst nach der Entscheidung aus einem bisher bloß fakti-
schen ein rechtliches Interesse, so bleibt der nicht zugezogene zeit-
Bernatzik, Rechtsprechung und materielle Rechtskraft, 63
her bloß faktische Interessent an die Entscheidung gebunden, m.
a. W. Jeder, der in ein öffentliches Rechtsverhältnis eintritt, muß
sich den Imperativen aus allen gegen den Vorgänger erlassenen
Entscheidungen unterwerfen, und zwar nicht auf Grund civilrecht-
lieber Succession, sondern weil es die Natur der öffentlich-rechtli-
chen Verhältnisse mit sich bringt, daß sie gegen den Subjekts-
wechsel nicht reagieren. Oeffentliche Lasten gehn deshalb, ohne
daß es der Regel nach einer grundbuchlichen Eintragung bedarf,
auf den Nachfolger im Besitz der Sache oder des Rechts über.
In Deutschland wie in Oesterreich gilt ferner sowohl fttr die
Gerichte als fttr alle andern Behörden auf dem Gebiet des Privat-
rechts wie des öffentlichen Rechts der Grundsatz, daß jede Behörde
konnexe Rechtsverhältnisse, auch wenn zu deren »meritalerc Erle-
digung eine andere Behörde sachlich zuständig ist, grundsätzlich
selbst zu prüfen und incidenter zu entscheiden berechtigt, unter Um-
ständen auch verpflichtet ist, und kein Gericht und keine Verwal-
tungsbehörde wegen einer in einen fremden Ressort fallenden Vor-
frage die eigene Zuständigkeit verneinen darf. Solche Incident-
feststellungen durch sachlich unzuständige Behörden entbehren je-
doch der materiellen Rechtskraft und können keine Rechtsverletzung
enthalten, weil nur durch eine Meritalerledigung, nicht durch die Mo-
tive einer Entscheidung in subjektive Rechte eingegriffen wer-
den kann.
Kommt dagegen eine bereits von der sachlich zuständigen Be-
hörde entschiedene Sache später als Präjudicialpunkt vor der Be-
hörde eines andern Ressorts zur Sprache, so muß das Postulat der
gegenseitigen Unabhängigkeit der Behördensysteme zurücktreten
gegenüber der materiellen Rechtskraft der von der zuständigen Be-
hörde gefällten Entscheidung. Dasselbe Princip gilt auch für die
Bindnng der Administration durch gerichtliche Urteile. Dagegen ist
jede Behörde befugt, zu prüfen, ob die vorhandene Entscheidung
von einer sachlich zuständigen Behörde ausgegangen ist. Nur be-
züglich der gerichtlichen Urteile verlieren — nach österreichischem
Recht — die Parteien und die Verwaltung mit Eintritt der formellen
Rechtskraft die Befugnis, die sachliche Inkompetenz geltend zu ma-
chen. Eine Entscheidung kann übrigens bindende Wirkung für
fremde Ressorts nur haben, soweit sie absolute Kraft besitzt, mag es
sich nun um Entscheidungen der Verwaltungsbehörden oder um Urteile
der Civilgerichte in Strafsachen, Statussachen, Ehe, Entmündigungs-
sachen etc. handeln, wogegen gerichtliche Urteile in privatrechtlichen
Verhältnissen nur inter partes wirken, und den öffentlichen Interessen
gegenüber einer freien Würdigung ihres inneren Werts unterliegen.
JSisxe Bindnng der Gerichte durch die von den Verwaltungsbehörden
64 Gott. gel. Adz. 1887. Nr. 2.
in ihrem Ressort erlassenen Entscheidungen findet jedoch ausnahms-
weise nicht statt, soweit gegen jene Entscheidungen der Rechtsweg
zugelassen ist. Verf. beschäftigt sich bei dieser Gelegenheit ein*
gehend mit der wenig klaren Bestimmung des österreichischen Staats-
grundgesetzes vom 21. December 1867 A. XV., und kommt dabei zu
dem Resultat, daß dieselbe ihrem Wortlaut nach auf einige wenige
Fälle zu beschränken sei, in welchen ausnahmsweise durch Gesetz
den Verwaltungsbehörden die vorläufige Entscheidung ttber privat-
rechtliche Verhältnisse (Streitigkeiten von Dienstboten, Arbeitern etc.)
zugewiesen sei. Die dargestellten Grundsätze werden dann schliefi-
lich von B. auch angewendet auf die Judicatur in Wahlangelegen-
heiten, insbesondere auf die Entscheidung präjudicieller Vorfragen
bei der Wahlprtlfung. Den Schlufi bildet eine sehr beachtenswerte Er-
örterung fiber die Anfechtung von Akten der Rechtsprechung in Ver-
waltungssachen, wobei zwischen den vom Verf. so benannten »Nioh-
tigkeitsgrttndenc (Mängel der sachlichen Zuständigkeit, des Ver-
fahrens und der materiellen Entscheidung selbst) und den Fällen der
Wiederaufnahme unterschieden wird. Wir müssen uns des Raumes
wegen versagen, auf diese Excurse weiter einzugehen.
Bei der im Vorstehenden dargestellten Theorie fehlt es dem
Verf., was die Funktion' der Verwaltungs-Gerichte betrifft, nicht
an Anknüpfungspunkten in der deutschen wie in der österreichischen
Gesetzgebung, wogegen die Ausdehnung dieser Grundsätze auf die
Funktionen der Verwaltungs-Behörden, und dies ist der Kern-
punkt der ganzen Ausführung, einer positiven Grundlage entbehrt,
vielmehr einzig auf dem unter I. charakterisierten Begriff der Recht-
sprechung beruht. Um die in den Willensakten der Verwaltungs-
Behörden zur Einheit verbundenen Elemente des diskretionären oder
sachverständigen Ermessens nnd der Rechtsanwendung auszuschei-
den, bedarf es, wie der Verf. selbst anerkennt, einer äußerlich her-
vortretenden Sonderung dieser Elemente umsomehr, als die Abhängig-
machung solcher rechtskraftfähiger Feststellung von einem Partei-
antrag im Sinne des § 253 der R.-C.-P.-O. bei einem großen Teil
der in Verwaltungssacben vorkommenden Vorentscheidungen nicht
durchfahrbar ist. Jener Forderung wird nun, soweit die Entschei-
dung durch Verwaltungsgerichte erfolgt, in unzweideutiger Weise
entsprochen. Innerhalb des Rahmens der Verwaltungsfunktion da-
gegen kann der von Amtswegen geäußerte Wille der Behörde, ein
Rechtsverhältnis mit bindender Judicatswirkung zu entscheiden, oder
aber dasselbe als bloße logische Prämisse der Hauptentscheidung zu
behandeln, noch kein genügendes Kriterium für die Rechtskraft-
wirkung begründen, ebensowenig das »abstrakt geregelte Verfahren«,
sofern dem Verfasser als solches schon die durch Gesetz vorge-
Bernatzik, Rechtsprechung und materielle Rechtskraft. 65
Behriebene vorgäogige VeroehmuDg der Beteiligten ete. genügt Ge-
rade die scharfsinnige Durohführnng der Theorie des Verf. dürfte
den Beweis erbringen, daß die von ihm durch Aasdehnang des Be-
griffs der Rechtsprechung und folgeweise der Rechtskraft erstrebte
Rechtssichernng in Ermangelung eines brauchbaren Unterscheidungs-
merkmals innerhalb der Aktion der Verwaltungsbehörden in das
Gegenteil — eine offenbare Rechtsunsicherheit umschlagen müßte,
indem dadurch die Möglichkeit gewährt würde, aus den Verfügun-
gen etc. der Verwaltungsbehörden im Wege der Interpretation (Er-
hebung des Feststellungswiilens ans den Umständen des Falls) nach-
träglich Rechtsprechungsakte und Rechtskraftwirkung zu deducieren,
wodurch eben so sehr die Rechte der Verwaltung wie der speciell
Beteiligten gefährdet würden. Man wird hiernach festzuhalten ha-
ben, daß, soweit der Gesetzgeber eine Ausdehnung der Funktion der
Verwaltungsgerichte auf Akte der Rechtsprechung in dem weiteren
Sinne von B. mit den Interessen der freien Verwaltungsthätigkeit
nicht für vereinbar hält, auch eine Ausscheidung der in der einzel-
nen Funktion der Verwaltungsbehörde enthaltenen Elemente der
Rechtsanwendung im Sinne von Rechtsfeststellung zwar theoretisch
aber nicht praktisch, d. h. nicht mit positiven Rechtswirkungen, zu-
lässig ist Es muß vielmehr bezüglich der in solchen Verwaltungs-
akten enthaltenen Feststellung von Rechtsverhältnissen ganz das-
jenige gelten, was B. über die Feststellung der einem fremden Res-
sort angehörigen bedingenden Rechtsverhältnisse ausführt, sie bilden
zwar giltige Prämissen des in Frage stehenden Verwaltungsakts, sie
erzengen aber keine selbständige materielle Rechtskraft. Was ins-
besondere die von B. als Meritalentscheidungen qualificierten Recht-
sprechnngsakte der Verwaltnngsinstanzen betrifft, so dürfte den An-
forderungen der Rechtssicherheit genügt werden durch die solchen
Akten nach Haßgabe des positiven Rechts zukommende s. g. for-
melle Rechtskraft und Vollstreckbarkeit, sowie durch die Auffassung
derselben als Entstehnngsgründe wohl erworbener Rechte. Zu einem
Akte der Rechtsprechung wird dagegen die auf Feststellung von
Rechtsverhältnissen gerichtete Thätigkeit der Behörde erst dann,
wenn nicht nur ein »abstrakt geordnetes Verfahrene stattfand, son-
dern die Entscheidung auch formell losgetrennt von andern Funk-
tionen der Verwaltung von einer hiezu berufenen Behörde, einem
Verwaltungsgericht im weiteren Sinn ausgeht Daß nämlich auch
eine Behörde, welche im Uebrigen als Verwaltungsbehörde fungiert,
mit einer solchen Funktion der Rechtsprechung betraut werden kann,
wie dies z. B. nach dem württembergischen Gesetz vom 16. Dec«
1876 bei den Ereisregierungen und allgemein bezüglich der Aus-
ftbong der Verwaltungsstrafgerichtsbarkeit der Fall ist, versteht sich
66 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 2.
von selbst. Das Entscheidende ist in dieser Beziehung allerdings
nicht die Bezeichnung der Behörde als »Gericht«, wohl aber die for-
melle Trennung der Verwaltungsfunktion von der Rechtsprechung
bei den einzelnen in Frage stehenden Akten.
Tübingen, 25. Sept. 1886. Ludwig Gaupp.
Die Oberlaufiitz und Hermann Knothe.
Bereits im Jahre 1821 stellte die Oberlausitzische Gesellschaft
der Wissenschaften das Preisthema: Wie ist das obeiiausitzische
Landvolk in die Verhältnisse zu den Gutsherrn gekommen, in wel*
eben es im Jahr 1815 war? 1822 wurde der ausgesetzte Preis so-
gar verdoppelt, gleichwohl fand sich kein Bewerber.
Gegenwärtig liegt nun auf die 1883 erfolgte Erneuerung der
Aufgabe die preisgekrönte Schrift vor:
»Die Stellung der Gutsuntert hauen in der Ober-
lausitz zu ihren Gutsherrschaften von den ältesten
Zeiten bis zur Ablösung der Zinsen und Dienste« (Neues Lau-
sitzisches Magazin Bd. LXI S. 159; und Separatabdr. bei War-
natz und Lehmann, Dresden 1885. 150 S. 8.).
Sie ist verfaßt von Hermann Enothe, und für den, der in
der Oberlausitz bekannt ist, bedarf es kaum der Erwähnung, daß
schlechthin Niemand für die Aufgabe besser ausgerüstet gewesen
wäre, und daß sie auf das Zuverlässigste und Wohlbegründetste und
zugleich in durchaus anschaulicher, energisch die lebendigen That-
sachen zusammenfassender Weise gelöst ist.
Enothe beherrscht das gesamte vorhandene Material in einer
solchen Weise, daß er kurz sein kann.
Er führt in markigen Zügen alles Sichere vor, was wir von der
alten Wendischen Verfassung des Landes Budissin, das die Ober-
lausitz umfaßte, wissen, stellt die deutsche Eolonisation desselben
dar, erörtert den Bauer und seine Hufe, seine Zinsen, Dienste und
Abgaben, die verschiedenen Elassen, die Smurden, Gärtner, Häusler,
Lassiten, das Dorfgericht in deutscher und wendischer Gestalt, die
Dreidinge, die Dorfgemeinde, die Mannschaften, endlich die Leistun-
gen an den Landesherrn, Schoß und Bede und deren Ueberlassnng
an zahlreiche Gntsherrschaften. Daraus ergibt sich ein bis in die
kleinsten Details ausgeführtes und belegtes Bild der Entstehung und
Ausgestaltung der mittelalterlichen Zustände bis gegen den Abschluß
des 15ten Jahrhunderts.
Wie in ganz Deutschland liegt auch in der Oberlaasitz der
Die Oberlaasitz und Hermann Knothe. 67
Wendepunkt des bäuerlichen Daseins in der überraschend schnellen
nnd mächtigen Entwickelang des Ständestaates in den ersten De-
cennien der Neuzeit. Aus den Fehderittern wurde Dienstadel, die
kleinen festen Höfe erweiterten sich auf wüsten oder gelegten
Banernhufen und auf Rodeland zu großen Ackergtttern, auch die
Forsten schloß der Gutsherr und setzte die Bauern als Servitutare
auf ihren Bedarf. Dabei aber erregte beide Parteien ein verhäng-
nisvoller Gegensatz des Rechtsbewußtseins. Der Gutsherr betrachtete
sich als Obereigentttmer und die Bauern mit ihren Gütern nur als
gegen Zinsen und die ihm nötigen Dienstleistungen beliehen. Die
Bauern aber bewahrten das Gedächtnis ihrer ganz individuellen Be-
fiitzverhältnisse. Viele waren Wenden und in der That völlig
Leibeigene y ihr Stand rührte noch aus der Slavenzeit und ans der
Kriegsbeute her. Andre aber waren deutsche Kolonisten, anfäng-
lich unzweifelhaft als freie Leute gekommen, die ihre Güter nach
bestimmten Vertragsbestimmungen übernahmen, und in der Ober-
Iaositz sogar auch im wesentlichen der landesherrlichen, nicht der
gutsherrlichen, Gerichtsbarkeit unterstanden. Dazwischen lagen frei-
lich verschiedene Arten der Leihe und des Hofrechts, und die Hö-
rigkeits- und Gerichtsbarkeitsklassen mischten sich allmählich in den
einzelnen Dörfern, die erst nach und nach aus dem früher oft ge-
teilt und zerstreut verliehenen und vererbten grundherrlichen Besitz
in die Hand eines einzigen Dominialherrn übergiengen.
Indeß fällt die deutsche Ansiedelung der Oberlausitz znm Teil
schon lange vor die Zeit des geregelten Kolonisationsverfahrens, das
seit Albrecht dem Bären sich nach Osten verbreitete. Auch für die
zweifellos von Deutschen angelegten Hagenhufen-Dörfer des soge-
nannten Eigenschen Landes in den südlichen Bergen von Mariastern
sind Austhuungsnrkunden nicht überliefert und wurden schwerlich
anfgenommen. Der Bauer lebte in seinen Gewohnheiten und war
Herr in der Flur gewesen, so lange der Ritter sich nicht um die
Wirtschaft kümmerte. Als sich aber die Zeit änderte, letzterer nach
seinen Rechten fragte, und sie als ObereigentUmer mit dem Ver-
dachte auszunutzen begann, daß der Bauer sich bisher möglichst
viele UebergrifiFe erlaubt habe, nahm er, der ohnehin übermächtige
Grandherr, seinen Maßstab nicht an den freiesten, sondern an den
Unfreiesten seiner Unterthanen.
Unglücklicherweise fiel die Entscheidung der Streitfragen im
besten Falle in die Hände römischrechtlich urteilender Richter. Die
Unklarheit der deutschrechtlichen Besitzverhältoisse erschien als
Barbarei, die Forderungen der Bauern klangen an die des Bauern-
krieges an. Freies Eigentum des Herrn, Servitus des Bauern schien
der natürlichste Zustand. Eine Beweiserhebung über die seit rechts«
68 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 2.
verjährter Zeit stattgehabte Uehnng der Rechte und Pflichten für
jeden einzelnen Banern durchzuführen, hätte Menschenalter und mehr
als den Wert der Güter gekostet. Es wurde deshalb überall der
Gedanke der Observanz geltend. Was dem Einen recht ist^ ist dem
Änderen billig, was Einige leisteten, dazu wurden Alle verurteilt
Die Ungerechtigkeiten und schweren Kämpfe, die daraus ent-
standen, fallen schon in die Zeit der umfangreichen modernen Ak-
ten, und diese sind für viele Orte noch vorhanden.
Knothe behandelt deshalb aus zum Teil erschreckenden gleich-
zeitigen Berichten die Bedrückungen der Unterthanen durch ihre
Herrschaften und die Aufstände der Ersteren gegen die Letzteren zu
Ende des 15. bis Anfang des 17. Jahrhunderts, schildert dann die
Zeit des 30jährigen Krieges und die theoretisch-praktische Weiter-
entwickelung der Erbunterthänigkeit vor der Mitte des 17. bis zur
Mitte des 18. Jahrhunderts, und gibt schließlich einen Ueberblick
über die Zeit der Aufklärung und die endliche Aufhebung der Erb-
unterthänigkeit nebst der Ablösung aller Frohnen von der Mitte des
18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts.
Es wäre ein Leichtes eine Menge interessanter und ergreifender
Bilder aus der Darstellung herauszuheben, aber es müßte mit allen
Einzelheiten geschehen, und die Schrift ist nicht so stark, daß sie
nicht Jeder nach seinem specielien Zweck schnell durchsuchen könnte.
Uns liegt eine andere Betrachtung mehr am Herzen, mit der
wir auch dem Leser in höherem Grade zu nutzen meinen, und die
uns als eine angenehme Pflicht gegen den Autor erscheint.
Die Schrift, so klein und knapp sie ist, wäre gar nicht mög-
lich geworden, wenn sie nicht die Früchte eines langen reichen Le-
bens voll Arbeit vor uns ausschüttete. Sie ist in sehr eigentümlicher
Weise mit der ganzen Entwickelung Knothes als Geschichtsschreiber
der Oberlausitz verknüpft. Aus den erregten Processkämpfen der
Bauern seines oberlausitzischen Heimatsortes ist sein Interesse an
der Geschichte seines engeren Vaterlandes hervorgegangen und er
ist ihr mit seinen Studien und seinen Arbeiten bis zur Gegenwart
treu geblieben.
Hermann Knothe ist 1821 in Hirschfelde bei Zittau ge-
boren. Sein Vater war dort Pastor.
Der Rat zu Zittau hatte bereits 1494 und 1506 Anteile von
Hirschfelde, welche bis dahin adlige Besitzer inne gehabt hatten,
erkauft und, wie die Städte auf den meisten ihrer Güter, die zuge-
hörigen herrschaftlichen Felder und Wiesen ausgethan. Das heißt,
es erwarben die Bauern und Gärtner des Dorfes zu ihren erblichen
Grundstücken jetzt auch Pachtgut, Laßacker oder Laßwiesen, hinzu.
Es war nicht üblich, von dem Rechte, den Pachtzins für diese Laß-
Die Oberlausitz und Hermann Knotlic. 69
acker gelegentlich za erhöhen oder gar das Pachtverhältnisza kün-
digen ^ Gebrauch zu machen. Die Laßäcker blieben somit, so gut
als die alten Erbäcker, nm den festen nicht wechselnden Laßzins
bei den betreffenden Baner- und GärtnergrundstUcken ; ja den mei-
sten Hänslernahrangen verliehen bei etwaigen Verkäufen die zuge-
hörigen Laßäcker erst einen Geldwert, den sie ohne diese nicht ge«
habt hätten. In älterer Zeit blieb den Leuten aber das Rechtsver-
hältnis noch bewußt. 1558 trat noch ein Häusler einem andern
einen Wiesenplan ab, »der einem ehrbaren Rathe ist, so lange es
ein ehrbarer Rath vergönnte, um einen Zins, wie er ihn gegeben,
»sofern es einem ehrbaren Rath gefällt«. Aehnlich noch ein Ande-
res 1562. 1570 aber kaufte der Rat das gesamte alte Komthurvor-
werk der Johanniterkommende von Hirschfelde, und that alles Land
als Laßgut aus, seitdem enthielten die Schöppenbttcher keinen
ähnlichen Vorbehalt bei den Abtretungen mehr. Die Laßgüter gal-
ten ebenso gut als festes Zubehör der Grundstücke, wie die Erb-
äcker, und der Laßzins wurde bis in unser Jahrhundert nicht ver-
ändert.
Am 17/3 1832 aber erschien das wohlbekannte sächsische Ge-
setz über Ablösungen und Gemeinheitsteilungen, nach welchem Jeder
gegen den 25fachen Betrag des Geldwerts der abzulösenden Leistung
freier Eigentümer seiner ländlichen Grundstücke werden konnte.
Die beginnenden Ablösungen führten auch den Zittauer Rat auf die
Untersuchung der Rechtsverhältnisse seiner Güter, und er kündigte
1836 den sämtlichen Inhabern von Laßäckern zu Hirschfelde an,
daß nach Ablauf von 4 Jahren der bisherige Laßzins erhöht, und
künftighin alle 4 Jahr die Aecker neu verpachtet werden sollten.
Es handelte sich um 507 Scheffel Aecker und Wiesen, die bis dahin
nur 543V2 Thlr. zahlten, und nun gegen alles Herkommen und den
Bauern ganz unbegreiflich Pachtlicitationen unterworfen werden
sollten, voraussichtlich auch den darauf fundierten Wirtschaften ganz
entzogen werden konnten. Die Aufregung unter den Hirschfelder
Banem war eine sehr große. Schriftwechsel aller Art trat ein. Der
Process wurde eingeleitet und erst 1843 dahin ausgeglichen, daß die
Inhaber ihre bisherigen Laßäcker für einen Kaufpreis von 20 Tha-
lem fttr den Scheffel als walzende Grundstücke überkamen und den
bisherigen Lafizins als ablösbaren Erbzins weiter zahlten.
Es läßt sich ermessen, wie das Pfarrhaus in die Bewegung die-
ser 7 Jahre hineingezogen wurde. Unablässig mußte der Pastor
Klagen hören, Rat geben und Schriftstücke verfassen. Es war die
Zeit, in der H. Knothe vom 15jährigen Gymnasiasten zum Studenten
und Kandidaten heranreifte, und es konnte nicht fehlen, daß ne-
ben aeineiD Stadium die Geschichte seines Geburtsortes seine Lieb-
70 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 2.
lingsbeBchäftignng wurde und ihm fast wie eine PflicbterfttllaDg er-
schien. Er war auch ganz der Meosch, nicht mit solchen Gedanken
zn tändeln, sondern von sich selbst feste Ergebnisse zu fordern.
Deshalb wurde schon 1846 im Lausitzer Magazin (S. 108) als seine
erste Arbeit: »die Johanniter Commende zu Hirschfeldec gedruckt;
und 1851 erschien »Die Geschichte des Fleckens Hirschfelde« (Dres-
den, Kunze). Bald folgten: »Geschichte der Dörfer Rohnau, Rosen-
thal und Scharre bei Hirschfelde« Zittau, Pahl 1857), »Geschichte
der Dörfer Burkersdorf und Schlegel« (Ebd. 1862), »Geschichte des
Schleinitzer Ländchens« (Lausitzer Mag. 1862, S. 401), »Die Burg-
grafen von Dohna auf Königsbrück« (Ebd. 1864 S. 1), »Das ritter-
liche Geschlecht der Schaff im Meißen'schen und in der Oberlansitz«
(Ebd. S. 19), »Die ältesten Besitzer von Pulsnitz« (Ebd. 1865,
S. 283), »Die Geschichte der Herrn vonKamenz« (Ebd. 1886, S. 81).
Inzwischen war Enothe als Lehrer an das Eadetteninstitut zu
Dresden berufen worden, und dessen Flucht vor dem vordringenden
preußischen Heere führte ihn 1866 nach Wien und Graz, Episoden,
die er kürzlich erst sehr lebendig geschildert hat.
Mit seiner Rückkehr nahm er auch die alten Arbeiten wieder
auf. Er verstand es sich Zugang zu fast noch unbekannten und
sehr ängstlich gehüteten Urkundenschätzen zu öffnen. Daraus gieng
die Geschichte der von Hohberg in der Oberlausitz (Laus. Mag.
1868, S. 350), die Geschichte des sogenannten Eigerschen Kreises
dort (Ebd. 1870 S. 1 und Dresden, Burdach 1870) und die Urkund-
liche Geschichte des Jungfrauenklosters Mariastern Cisterzienserordens
(Ebd. 1871) hervor.
Vor allem aber sammelte er unermüdlich die umfassenden Be-
weisstücke zu zwei Hauptarbeiten, den »urkundlichen Grundlagen zu
einer Rechtsgeschichte der Oberlausitz von ältester Zeit bis Mitte
des 16. Jahrhunderts« (Görlitz, Remer 1877 und Laus. Mag. 1877)
und dem umfangreichen Werke: »Geschichte des Oberlausitzer Adels
und seiner Güter« vom 13. bis gegen Ende des 16. Jahrhunderts
(Leipzig, Breitkopf u. Härtel 1879). In letzterem behandelt er den
Ursprung des Oberlausitzischen Adels, des höheren wie des niederen,
seine Stellung zum Landesherrn, zur Kirche und zu den Städten und
die Kulturverhältnisse im allgemeinen, gibt die Genealogie von 200
Adelsfamilien, und endlich die Beschreibung der Güter des Adels,
der großen Herrschaften, der Weichbilde der Städte, und der Be-
sitzungen des Bistums Meißen in der Oberlausitz. Alles dies sind
keineswegs trockene Verzeichnisse, sondern bei aller Knappheit le-
bendige, zweckbewußte Schilderungen.
Wir haben nicht nötig über Knothes weitere litterarische Thä^
tigkeit noch Vieles zu sagen, die Titel seiner Schriften und Ab-
Die Oborlansitz ond Hermann Knothe. 71
baDdlangen, die wir, soweit sie uns bekannt sind^ am Sebluß an-
fahren wollen, überheben uns dessen. Sie zeigen zugleich, wie nn-
entwegt Enothe an der Idee festgehalten hat und festhält, daß es
nützlicher sei, wenn er alle seine Kräfte der Ausbeute seines aller-
dings fast unerschöpflichen Materials über die Geschichte der Ober-
lausitz zuwende, als sie auf entferntere Aufgaben zu zersplittern.
Wir wissen, daß er in diesem Gedanken sogar ablehnte, das Direk-
torat des Eönigl. Staatsarchivs zu Dresden zu übernehmen, obwohl
er in dieser Anstalt seit langen Jahren völlig heimisch ist Große
Bescheidenheit und der Wunsch sich nur auf dem ihm ganz sicher
bekannten Gebiete zu bewegen, haben ihn stets geleitet. Dafür hat
er aber auch das Verdienst und die innere Befriedigung zur Aufhel-
lung der nach ihren nationalen und politischen Schicksalen und nach
der Entwickelung ihrer Rechts- und Wirtschaftszustände durchaus
eigenartigen Stellung der Oberlausitz Hervorragendes beigetragen zu
haben. Möge es ihm vergönnt sein, mit gleicher Rüstigkeit, von den
uns noch verborgenen Schätzen, für die ihm in seiner eindringenden
Kenntnis und in der Anerkennung seiner Landsleute die wirksamste
Wünschelrute zu Gebote steht, zu unserer Freude und Belehrung
noch recht viele zu heben.
Mit unserer Besprechung wünschen wir insbesondere die lebhaft
erwachten kulturgeschichtlichen Studien auf Knothe und die Ober-
laasitz hinzuweisen. Seit Garpzow und Anton besitzt die Oberlausitz
eifrige Freunde ihrer Geschichte, laufende historische Zeitschriften
und durch v. Redern, Hoffmann, Neumann und Köhler leicht zu-
gängliche Urkundensammlnngen. Das Lausitzer Magazin ist reich
an Lokaldarstellungen. Im Anhalt an Knothes Durcharbeitung der
historischen Zustände aber lassen sich für dieses bestimmt über-
sichtliche Gebiet die kulturgeschichtlichen Fragen in um so inter-
essanteren allgemeinen Zusammenhang bringen, als die Oberlausitz
schon seit der frühesten Ottonenzeit Gebiet der deutschen Kolonisa-
tion war, mehr als irgend eine der westlichen Slavenlandschaften
an ursprünglichen nationalen Ueberresten auf unsere Zeit gebracht,
und unserem Verständnisse jener Vergangenheit eine hinreichend
sicher zu betretende Brücke erhalten hat.
Außer den erwähnten sind folgende historische Arbeiten Herrn.
Enotbes zu nennen:
Die Besitzungen des Bistums Meißen in der Oberlausitz (v. We-
ber, Archiv für die Sachs. Gesch. VI, S. 159).
Geschichte der Herrschaft Hoyerswerda bis Ende des 16. Jahr-
hunderts. (Ebd. X, S. 237).
Zur ältesten Geschichte der Stadt Weißenberg. (Ebd. N. F. VI,
8. 329).
72 Gott. geJ. Anz. 1887. Nr. 2.
Zur ältesten Geschichte der Stadt Bautzen bis zum Jahre 1346
(Ermisch, N. Archiv f. sächs. Geschichte V, S. 73).
Die Stadt Bautzen im Banne des Bischofs von Meißen. (Ebd. V,
S. 309).
Die ältesten Besitzer von Tttrchau bei Zittau. (Laus. Magaz.
1884, S. 338).
Die ältesten Besitzer der Herrschaft Gabel-Lämberg in Böhmen.
(Ebd. 1885).
Urkundenbuch der Städte Eamenz und Löban. (Leipzig, Gie-
secke u. Devrient 1883; Cod. diplom. Saxon. reg. II, Bd. 7).
Die von Metzrade in der Oberlausitz. (Laus. Mag. 1872, S. 161).
Die Burggrafen von Dohna auf Grafenstein (v. Weber, Archiv
für d. Sachs. Gesch. N. Folg. I, S. 201).
Höherer und niederer Adel in der Oberlaasitz. (Ebd. IV, 24).
Die Berka von der Duba auf Hohnstein, Wildenstein, Tollen-
stein und ihre Beziehungen zu den meißnischen Fürsten. (Ermiscb,
Neues Archiv f. sächs. Gesch. II, S. 193).
Die Berka von der Duba auf Mtthlberg. (Ebd. VI, S. 190).
Zur Genealogie der Berka v. d. Duba aus dem Hanse Mtlhl-
stein. (Mitth. des Nordböhmischen Exkursionsklubs VIII, 81).
Zur Geschichte der Germanisier ung in der Oberlausitz, (v. We-
ber, Archiv fUr sächs. Gesch.).
Die verschiedenen Klassen slavischer Höriger in den Wettini-
schen Landen während der Zeit des 11. bis 14. Jahrh. (Ermiscb,
N. Archiv f. s. Gesch. IV, S. 1).
Gab es zu Görlitz eine Burg und Burggrafen? (Laus. Mag.
1868, S. 70).
Die Vereinbarungen zwischen König Johann von Böhmen, Her*
zog Heinrich von Jauer und Bischof Withego von Meißen auf dem
Schlosse Voigtsberg bei Oelsnitz. (v. Weber, Archiv f. s. Gesch. VIII,
S. 266).
Die politischen Beziehungen zwischen der Oberlausitz und
Meißen. (Ebd. XII, 274).
Die verschiedenen Benennungen des jetzigen Markgraftnms
Oberlausitz. (Ebd. N. Folg. I, S. 63).
Der Anteil der Oberlausitz an den Anföngen des 30jährigen
Krieges, 1618-1623. (Laus. Mag. 1880, Dresden, Burdach 1880).
Die Bemühungen der Oberlausitz um Erlangung eines Majestäts-
briefes, 1609—1611. (Laus. Mag. 1880, S. 96).
Die Landeswappen der Oberlausitz. (Ermiscb, N. Archiv, f.
Sachs. Gesch. III, S. 93).
Zur Presbyteriologie des Zittauer Weichbildes vor der Refor-
mation. (Laus. Mag. 1872, S. 190).
Perkins, Ghiberti et son dcole. 78
Beiubaiii vou Kameuz, der Stifter des Klosters Mariastera
(v. Weber, Archiv f. s. Gesch. IV, S. 81).
Geschichte der Pfarrei Höda bei Budessin bis zar Einftlhrang
der Reformation. (Ebd. V, 28).
UntersnchuDgen tiber die Meißner Bistamsmatrikel, soweit sie
die Oberlausitz betrifft. (Laas. Mag. 1880, S. 278).
Die Franziskanerklöster zn Löbau und Kamenz. (Dibeling n.
Lechler, Zeitschrift f. sächs. Kirchengeschichte I, S. 99).
Die Erzpriester in der Oberlausitz. (Ebd. II, 33).
Nachträge zur Presbyteriologie des Zittaner Weichbildes vorder
Reformation. (Laus. Mag. 1885, S. 132).
Zur Geschichte der Feier des Gregoriusfestes in der Oberlausitz.
(Laus. Mag. 1862, Wissenschaftliche Abendunterhaltungen 45).
Der Brtlderzoll zu Dresden und die Burggrafen zu Dohna auf
Königsbrück. (v. Weber, Archiv f. s. Gesch. I, S. 425).
Die Archive in der Oberlausitz. (Archivalische Zeitschrift IV).
Zur Geschichte der Juden in der Oberlausitz. (Ermisch, N. Ar-
chiv, f. sächs. Gesch. II, 50).
Geschichte des Tuchmacherhandwerks in der Oberlausitz. (Laus.
Mag. 1882, S. 241; Dresden, Burdach 1883).
Berlin. Meitzen.
Ghiberti et son ^cole. Par Charles Perkins, directeur da mns^e de
Boston, correspondant de l'Institut de France. Paris 1886. Jules Rouam,
äditeur. 29, citä d'Antin. 1 volume in 4*^. 150 pages. ]^dition tiräe k 500
exemplaires.
Eine Reihe v?ichtiger kunstgeschichtlicher Werke, unter denen
die verschiedenen Serien der Bibliothique internationale de Vart
wohl den hervorragendsten Platz einnehmen, hat uns die Officin der
Librairie de Tart in Paris bereits geschenkt. Wir verdanken dersel-
ben z. B. die Biographie Claude Lorrains aus der Feder Mark Pat-
tisoDS, diejenige des Luca della Robbia von Molinier und Cavallucci,
eine Monographie über den Ursprung des Porzellans von Davillier,
die Geschichte des Kupferstichs in Italien vor Marc-Anton von Henri
Delaborde und die Vorläufer der Renaissance von Eugene Mttntz.
Das Leben Ghibertis ist eine der letzten Publikationen des verdienst-
vollen, unter der bewährten Leitung von Müntz stehenden Unter-
nehmen Rouams, sein Verfasser, der amerikanische Kunsthistoriker
Perkins, längst mit dem Bildhauer der bertihmten Bronzethüren des
Florentiner Baptisten ums vertraut. Schon in seinem Grund legen-
den Buche über die »Tuscan Sculptores« ^) war er Ghiberti nahe
getreten ; was er uns hier bietet, kann als die Ausfahrung der damals
1) Im ersten Bande. Englische Ausgabe von 1864. S. 122—137.
CMM. fO. Am. 1887. Hr. 8. 6
74 Gott. gel. Adz. 1887. Nr. 2.
auf das Papier geworfenen Studie gelten. Leider wird dem »Gbiberti«
kein weiteres Werk des unermüdlichen Forschers folgen, da derselbe
durch einen seltenen Unglücksfall kürzlich um das Leben gekommen ist*
Das Buch, dessen Inhalt in den folgenden Zeilen mitgeteilt wer-
den soll, besteht aus fünf Kapiteln, deren jedes ein abgerundetes
Bild entwirft, welches mit zahlreichen Illustrationen versehen ist.
Zunächst spricht der Autor vom Ursprung der Familie, aus der der
Künstler, dessen Leben in die Jahre von 1378 — 1455 fällt, hervor-
gieng. Er war der legitime Sohn des Gione di Ser Bonaccorso de
Pelago und der Madonna Fiore, die sich nach dem Tode ihres
Gatten in zweiter Ehe mit dem Goldschmied Bartolo di Michele ver-
mählte. Dem Stiefvater verdankte Ghiberti zum Teil seine künst-
lerische Ausbildung, er bekundete seine Anhänglichkeit an ihn da-
durch, daß er an der zweiten Thüre der Taufkirche von San Gio-
vanni in Florenz sein Bildnis anbrachte und sich bisweilen nach
ihm Lorenzo di Bartolo nannte. Dies hatte zur Folge, daß er in
seinen alten Tagen, als es sich darum handelte, seine politische
Wählbarkeit zu hintertreiben, von seinen Feinden als uneheliches
Kind denunciert wurde. Ghiberti verlangte am 29. April 1444 eine
amtliche Untersuchung, welche so sehr zu seinen Gunsten ausfiel,
daß es unlogisch wäre, heute, nach mehr als 400 Jahren, an dem
Urteilsspruche der Richter rütteln zu wollen. Perkins ist Milanesi
gegenüber, der in seiner Vasariausgabe (Bd. 2, S. 222, Anmerk. 1)
doch noch Zweifel hegt, vollkommen im Recht, an demselben fest-
zuhalten, denn wir kennen die Zeugen, die in dem unerhörten Ver-
leumdnngsprocesse auftraten, nicht weiter, und die summarische Be-
handlung der Angelegenheit in den noch vorhandenen Akten schließt
jede für Ghiberti ungünstige Aufi^assung aus. Stimme ich in diesem
Fall vollkommen mit dem Verfasser überein, so kann ich dagegen
seine Meinung in Bezug auf das Verhältnis Ghibertis zu Filippo
Brunelleschi nicht ganz teilen. Es gereicht Perkins zur Ehre, daß
er dem Gegner Lorenzos volle Gerechtigkeit widerfahren läßt und
den egoistischen Zug im Charakter des Letzteren in das rechte
Licht stellt, allein er geht zu weit, wenn er mit Vasari annimmt,
daß der gewaltige Baumeister der Kuppel von Sta. Maria del Fiore
durch seine Fürsprache beim Schiedsgericht persönlich zum Siege
seines Widersachers beigetragen habe. Es wäre das von einem
Konkurrenten eine zu unnatürliche That gewesen. Und Ghibertis
Konkurrent war Brunellesco, nicht nur im Jahre 1402, als es sich
um die Bronzethüre des Baptisterium handelte, er war es auch spä-
ter, als die Florentiner ernstlich den Kuppelbau ihres Domes in An-
griff nahmen. Bekanntlich gelang es ihm erst 1443, Ghiberti aus
dem Felde zu schlagen und die Oberleitung ganz an sich zu ziehen,
Perkins, Ghiberti et son ^cole. 75
znm Qlfick fttr die Sache selbst, denn Gbibertis Leistnngen in der
Architektur standen weit unter seinen Leistungen in der Bildhauer-
kunst. So zieht sich wie ein roter Faden durch das Leben Bru-
nellescos und Gbibertis der Streit um die Führerschaft in dem da-
maligen Eunstleben von Florenz; der eine sucht den andern von
dem Gebiete seiner eigentlichen Thätigkeit zu verdrängen, beide
holen zu dem Zweck ihre Waffen ans der Schmiede des Gegners.
Den Schwerpunkt des zweiten Kapitels bildet die Beschreibung
der 28 Reliefs der von 1403 — 1424 gemeißelten ersten Bronzethttre,
80 wie die Würdigung der Statuen von Or San Michele und der
Basreliefs am Taufbecken des Baptisteriums zu Siena. Die Letzte-
ren, welche als Bindeglied zwischen den frühen Arbeiten Gbibertis
und seinen spätem gelten können, leiten uns zum folgenden Ab-
schnitt über, in welchem die zweite Thüre ausführlich besprochen
wird. Perkins bekundet hier die Sicherheit seines ästhetischen Ur*
teils. Er läßt sich nicht irre leiten durch das berühmte, in mancher
Hinsicht ja wahre Wort, »die Bronzethüre sei würdig, als Pforte des
Paradieses zu dienen«, sondern hebt, auf dem Laokoon Lessings
fußend, auch die stilistischen Schwächen derselben hervor. Er hätte
übrigens nicht nötig gehabt, gerade Lessing zu eitleren, um das ma-
lerische Princip in der Bildhauerkunst zu bekämpfen, er hätte einem
Mann des Quattrocento, keinem geringeren als Leonardo da Vinci,
das Wort erteilen können. Wenn Leonardo in seinem Buch von der
Haierei da, wo er vom Wettstreit der Malerei mit der Bildhauerei
bandelt, sagt: »Das Belief ist ein Mischding zwischen Malerei und
Skulptur, die Perspektive ein Glied der Malerei; der Bildhauer, der
sie auf seine Kunst anwendet, macht sich zum Malere ^), so ist damit
der Beweis erbracht, daß schon in dem Jahrhundert, in welchem
die zweite Bronzethür entstand, die Kritik sich gegen Ghiberti
regte, und daß speciell Leonardo, der hier als Vorläufer Lessings
gelten darf, über die Grenzen der bildenden Künste sich vollkom-
men klar war. Ohne Zweifel hat Leonardo, als er diese Sätze nieder-
schrieb, an Ghiberti gedacht, der, so groß er auch in der Kunstge-
schichte seines Landes dasteht, doch, man darf dies nicht verschwei-
gen, die Schuld an dem frühen Verfall der italienischen Plastik
trägt. Er hat gesäet, was die Bernini und Borromini ernteten, er
hat seine Kunst auf eine schiefe Ebene gestellt, von welcher selbst
der Genius eines Michelangelo sie nicht mehr ablenken konnte.
XJnd das hat er gethan, nicht zum geringsten Teil, um der Welt zu
zeigen, daß er die Gesetze der Perspektive, welche Brunellesco wie-
dergefunden, ebenso gut kenne wie sein großer Nebenbuhler.
1) Quellenschriften für Kanstgeschichte des Mittelalters und der Beuaissance.
Bd. 18, S. 46 und 48.
76 Gott gel. Anz. 1887. Nr. 2.
Die zwei letzten Kapitel umfassen die Thätigkeit Ghibertis als
Goldschmied, Kanstschriftsteller und Zeichner von Scheibenrissen, und
beschäftigen sich |mit seiner künstlerischen Nachfolgerschaft; ein
Anhang gibt Aaszüge aus den berühmten Kommentaren des Mei-
sters sowie die Uebersetznng des sehr unklaren und nicht einmal
mit absoluter Sicherheit auf Ghiberti selbst zurückgehenden Trak-
tats über die Architektur. Wir wollen uns bei seinen schriftstelle-
rischen Leistungen nicht aufhalten und lieber noch kurz sein Ver-
hältnis zur Antike berühren. Wie andere Künstler seiner Zeit hat
auch Ghiberti fleißig Antiken gesammelt, um sich an ihnen zu bil-
den. Mit Recht weist Perkins darauf hin, wie einzelne Figuren
seiner Werke, z. B. Isaak, Samson, welch' letzterer einem Herai^Ies
gleicht, den Stempel der Antike an sich tragen, und Vasari meldet,
daß die Erben Ghibertis nach seinem Tode »oltre le cose di sua
mano, molte anticagUe di marmo e di bronzo« im Atelier vorfanden.
Es drängt sich uns die Frage auf, hat Ghibetti nicht ebenso wie
Brunellesco, der auf seiner Konkurrenzarbeit von 1402 nachweisbar
das Motiv des Dornausziehers vom Capitol verwertete (vgl. Seite 13
und 16), bestimmte Stücke seiner Sammlung nachgebildet? Perkins
bleibt uns die Antwort auf diese Frage schuldig, obgleich er sie im
Texte und in den Illustrationen streift. Unter den Messer Giovanni
Gaddi verkauften Antiken Ghibertis befand sich auch (cf. S. 89)
der Torso eines Satyr, ein Werk angeblich aus der besten griechischen
Zeit, das heute in den Uffizien aufbewahrt wird. Gehn wir nun die 20
Statuetten in den Nischen der zweiten Bronzethür des Baptisteriums
der Beihe nach durch, so finden wir, daß Jeremias uns mit der
Maske eines Sokrates oder Satyr entgegentritt. Ich stelle diese
beiden Thatsachen neben einander, ohne aus ihnen eine Folgerung
zu ziehen, nur um zu zeigen, wie Ghiberti sich einläßlich mit dem
Satyrtypus beschäftigt hat. Jedenfalls war aber sein Verhältnis zur
Antike ein oberflächliches, das innerste Wesen des hellenischen Gei-
stes vermochte er nicht zu ergründen. Wäre er in die Tiefe ge-
drungen, so hätte er auf seinen Reliefs die mit der Plastik nicht
vereinbare perspektivische Verschiebung der Wandflächen entschie-
den vermieden.
Ich will nicht schließen ohne einige nekrologische Notizen über
den Verfasser^). Charles Callahan Perkins starb am 25. Aug. 1886
im Alter von 62 Jahren zu Windsor in Vermont in den Vereinigten
Staaten. Ein Sturz aus dem Wagen machte dem Leben des geistig
und körperlich noch frischen Mannes gewaltsam ein Ende. Wie
schon der »Ghiberti« zeigt, liegt das Hauptverdienst von Perkins
1) Cf. C. V. F. in der Kunstchronik v. 16. Dec. 1886. Nr. 10 S. 167.
Laistner, Der Archetypus der Nibelungen. 77
in seinen Studien über die italieniscbe Skulptur. Vier Jabre nacb
der VeröffentlicbuDg des bereits erwäbnten und aufs reicbste mit
Illustrationen versebenen zweibändigen Werkes über die »Tuscan
Sculptorsc, d. b. 1868 erscbien sein Bncb über die »Italian Sculp-
tors in nortbern, soutbern and eastern Italy c, und 1883 kam von
ibm ein »bistorical bandbook of Italian sculpture« beraus. Außer-
dem nabm er in Boston, wo er Galleriedirektor war, Teil an der
Grtlndung des »American journal of Arcbeology«. 1869 wurde Per-
kins korrespondierendes Mitglied der Akademie der scbönen Künste
zu Paris; die Franzosen betracbteten ibn als einen derlbrigen, und
Müntz berief ibn kurz vor seinem Tode zum Mitarbeiter an der Bi-
bliotbiqne internationale de Tart. Als solcber bätte er nocb Man-
ebes leisten können, immerbin aber ist das, was er gewirkt bat,
hinreicbend, um seinen Namen auf die Nacbwelt zu überbringen.
Wenn aucb vieles in den Scbriften von Perkins beute überholt ist
und veraltet erscbeint, so bildet ihr Inhalt im Wesentlichen doch das
Gemeingut der modernen Wissenschaft.
Zürich. Carl Brun.
Laistner, Ludwig, Der Archetypus der Nibelungen. [Sonderabdruck
der Einleitung zu dem Werke: Das Nibelungenlied nach der Hobenems-
l^Iünchener Handschrift in pbototypiscber Nachbildung]. München 1886.
Yeriagsanstalt f&r Kunst und Wissenschaft, vormals Friedrich Bruckmann.
IV, 48 SS. 4«. 2 M. 40.
Die Nachbildung der bekannten Nibelungenbandschrift Ä mit
Beifügung gut gewählter Stücke aus B und C ist ein sehr willkom-
menes Werk und bei dem unvergleichlichen Werte des Gedichtes
aufrichtigen Dankes sicher. Aus der Reproduktion von Ä ersiebt
man, um wie vieles genauer die verschiedenen an diesem Manuskript
beteiligten Hände in Lachmanns Ausgabe als in der von Bartsch
bestimmt sind. Aucb das für die Heptaden so wertvolle Zeugnis,
welches die von R. v. Muth bemerkte Abirrung des Schreibers von
1282,* auf 1289,* bietet, tritt hier klar hervor.
Die als Einleitung dienende Arbeit von L. Laistner bezieht sich
auf die Urschrift des Gedichts, aus welcher Ä direkt, mehrere andere
Handschriften durch Vermittelung nur eines einzigen Zwischengliedes
oder vielleicht ebenfalls direkt geflossen sein sollen. Schon diese
Annahmen werden bedenklich erscheinen. Wie viele Gedichte jener
Zeit sind uns nur durch späte Handschriften, z. T. nur durch Zeug-
nisse bekannt, und über die Nibelungen allein soll ein verbältnis-
mäßig so günstiges Geschick gewaltet haben?
Der Verf. bestimmt nun diese Urhandschrift überaus genau, nach
Seiten- und Zeilenzahl und nacb sonstiger Einrichtung. Vor «Hem
78 Gm. gel. Anz. 1887. Nr. 2.
aber äußert er über den Ornnd der Hanptverschiedenbeit zwiscben^
nnd dem gemeinen Text eine Vermatung, die er bis ins Einzelnste
verfolgt
Diese Hanptverscbiedenheit ist die Differenz in der ZabI der
Stropben. Ä bat bekanntlieb 63 Stropben weniger als der gemeine
Text, und zwar fallen von diesen Strophen bei weitem die meisten,
56, in eine bestimmte Partie des Oediebts, zwischen die Strophen 325
und 662 nach der Zählung von A, in Lachmanns IV. und V. Lied.
Eine Erklärung dieser Differenz aus äußerlichen Gründen hatte
schon Eonrad Hofmann 1872 gegeben in den Abhandlungen der K.
Bayer. Akademie der Wissenschaften L Kl. XIL Bd., 1. Abth. Er
vermutete, daß an dieser Stelle der Schreiber von J. eine ältere kür-
zere Hs. des Gedichts benutzt hätte, aus welcher mehrere Lagen irgend-
wie in seine Vorlage gekommen wären. Dann hätte aber auch in
den übrigen Partien des Gedichts, wie es in A überliefert ist, die
gleiche Behandlung des Grundtextes, wie sie die Interpolatoren hier
vorgenommen haben sollen, nachweisbar sein müssen. Daß auch die
Berechnung der bezüglichen Lagen nicht ganz stimmte, zeigte Rauten-
berg Germania 17,431 ff.
Laistner nun vermutet, daß die Urbandschrift allerdings jene
Strophen schon enthalten habe, daß sie aber durch einen unglück-
lichen Zufall, eine Uebergießung mit Dinte, unlesbar geworden seien.
A babe sie dann weggelassen, dagegen der Verfasser des Textes»
der den übrigen Hss. zu Grunde liegt, an ihrer Stelle neue, teilweise
schlechte Strophen eingesetzt.
In diesem Falle hätte aber wohl, wenn nicht überall, so doch
in der Regel der Text von A Lücken des Sinnes aufweisen müssen:
solche zu zeigen, hat sich der Verf. nicht bemüht.
Er begnügt sich mit einer überaus künstlichen Berechnung, wie
jener unglückselige Dintenerguß gerade diese, weit von einander
zerstreuten Strophen hätte treffen kOnnen.
Dabei legt er eine Ansicht über den Anfang des Gedichtes zu
Grunde, deren Stichhaltigkeit hier des Näheren geprüft werden möge.
Die erste Strophe fehlt in B und J\ die letztere Hs. bat außer-
dem auch die Stropben 7 — 12. 16. 17 nicht. Alle diese Strophen
spricht Laistner dem Original ab. 1 nnd 17 haben ganz durchgereimte
Cäsuren, eine » Modernisierung c, die das Original, d. h. A im Uebrigen,
nicht kenne. Zugegeben, daß diese Strophen späterer Zusatz sein
mögen (sie gehören nach Lachmann den Interpolatoren an) ; warum soll
aber auch Str. 16 fallen, eine in jeder Beziehung untadelhafte, ja
für den Zusammenhang kaum entbehrliche Strophe ? Und sind nicht
7—12 wenigstens ebenso gut wie 2—5? Daß J wegläßt, erkennt
doch Laistner selbst an, indem er die Strophe 19, welche in J fehlt,
Laistner, Der Archetypus der Nibelungen. 79
iD d aber ebenso yorhaudeu ist wie 1, gelten läßL Und sollte nicht
wie Str. 19, so auch 1 der Vorlage von Jd angehören ? Wollte man
nach äußeren Gründen für diese Lücken im Anfange von J suchen,
80 ließen sich wohl solche erdenken, die weit weniger wunderbar wä-
ren als jener ungeheure und doch so geschickt verteilte Diutenerguß.
Standen in der Vorlage von J Str. 1—9 auf der ersten Seite, 10—19
(19 wie in Ä vor 18 gestellt) auf der Rückseite, so wäre durch eine
Verletzung des ersten Blattes oben und unten, für welche Brand,
Wegreißen, oder auch Beschmutzung nach Belieben als Grund ge-
dacht werden können, der Wegfall von Str. 1 und 10 oben, 7 — 9
und 16. 17. 19 unten erklärt; auch 11 und 12 könnte [man sich
leicht so beschädigt denken, daß der Abschreiber sie lieber ganz
wegließ. Aber ich möchte ebenso gut auch irgend eine, uns jetzt
unerdenkliche Laune des Abschreibers für einen möglichen Grund
dieser Weglassungen halten.
Allzu künstlich, wie Laistners Annahme für die Benutzung der
Urbandschrift, scheint mir auch, was er über die Entstehung einiger
uns erhaltener Handschriften vermutet. Die Hss. Db bieten einen
Text, der bis Str. 268 an 0, von da ab an B sich anschließt;
ebenso wie sie auch in der Klage anfangs den modernisierten Text
enthalten , dann plötzlich zum älteren Ubergehn. Hier vermutet nun
Laistner folgenden Vorgang (p. 2) : »Der Schreiber von D* (bezeich-
nen wir so die Vorlage von Db) sollte oder wollte den C-Text lie-
fern. Zur Verfügung stand ihm nur ein Vulgatatext d. Er beschloß
seiner Abschrift wenigstens am Schauende den Anschein der (7-Re-
daktioD zu verleihen. Zu diesem Behufe entnahm er seiner Vorlage
d diejenigen Lagen, welche den Anfang der zwei Gedichte enthielten,
und begab sich an den Ort, wo er Einsicht von einem C-Text neh-
men konnte, notierte sich die Abweichungen und stellte mit Hilfe
dieser Notizen, welche allerhand Kleinigkeiten unberücksichtigt ließen,
seine Abschrift her«. Wie viel einfacher ist es doch anzunehmen,
daß der oder vielmehr die Abschreiber von D*, nachdem sie gleich-
zeitig den Anfang des Liedes und der Klage geschrieben hatten, sich
überzeugten, nicht der Text der erstbenutzten Handschrift, sondern
der einer anderen, ihnen vielleicht erst später bekannt gewordenen,
sei der bessere.
Notizen an den Rand, Lesarten anderer Hss. und Zusätze, etwa
als Vorbereitung einer späteren Verarbeitung, nimmt der Verf. mehr-
fach an. Ref. bezweifelt sehr, daß dies Verfahren überhaupt im Mit-
telalter üblich gewesen. Eben beschäftigt mit dem Abschluß seiner
Ausgabe des Rofnan de Eenartj dessen Text noch viel weiter gehende
Veränderungen erfahren hat als die Nibelungen, darf er sagen, daß
keine einzige der hierher gehörigen Handschriften derartige kritische
80 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 2.
Notizen zwischen den Zeilen oder am Rande zeigt. Die mittelalter-
lichen Handschriften, wenigstens die des XIII. Jahrhunderts noch,
waren viel za kostbar, als daß die Schreiber sich hätten eine solche
Verunzierung gestatten dürfen. Einzelne Glossen oder auch absicht-
liche Durchglossierung mit Worten, die zum Verständnis dienen soll-
ten, sollen damit nicht geläugnet sein.
Uebrigens ist der Verf. auch nicht durchweg genau in seinen
Angaben. S. 21 sagt er, daß sämtliche Hss. der D-Gruppe in fort-
laufenden Zeilen geschrieben seien: aber b setzt die Verse ab.
Kaum weniger als die Erörterungen über die Hss.-verhältnisse
werden die Vermutungen Bedenken erregen , welche der Verf. über
die Herkunft und Entstehung des Gedichtes äußert. Die Erhaltung
der meisten Handschriften in Tyrol oder in der Nähe wird benutzt
zu einer wieder bis in das geringste Detail durchgeführten Hypo-
these für den Ursprung des Werkes in Tyrol. Woher dann die ge-
naue Kenntnis nur Oesterreichs, die Hervorhebung Wiens? Laistner
begnügt sich auf S. 47 gegen diese inneren Gründe auf die Aeuße-
rungen eines Kritikers hinzuweisen, dessen Ansichten über die Hand-
schriftenfrage doch nicht den geringsten Eindruck auf ihn gemacht
haben. Auch geht er hier nicht nur über den sonst von ihm ange-
führten mitteldeutschen Charakter einer Hs. hinweg, auch die mittel-
niederländische Bearbeitung bleibt gänzlich außer Betracht.
Die Konjekturen zum Texte im Einzelnen haben denselben
Grundzug: erst wird die Möglichkeit eines Versehens erörtert, ehe er-
wiesen ist, daß wirklich ein Verseben stattgefunden hat. 895, 1 will
Laistner lesen: Von zierlichem siute was allea sin gewant. Aber er
fühlt wohl selbst, daß der Ausdruck »ein Kleid ist von zierlicher
Natc uns anstößig sein würde, und es wohl auch früher gewesen
wäre; und fügt deshalb die weitere Konjektur snite bei.
Laistner schließt mit der Hoffnung, zwischen »Liedkämpfen
und Notgestallcn« einen Mittelweg eingeschlagen zu haben, der beide
Gegner zur Versöhnung führen könne. Es ist doch sehr zweifel-
haft, ob die Verteidiger von C die Bezeichnung dieses Textes als
»Modernisiernngc annehmen, ob Bartsch in die gänzliche Außer-
achtlassung seiner Hypothese sich fügen werde. Lachmanns Anhän-
ger aber werden gewiß der Ansicht sein, daß eine Untersuchung des
Inhalts mehr Gewicht habe als eine äußerliche Betrachtung der Ueber-
lieferungsform, sei diese auch scharfsinnig angestellt und mit hin-
gebendem Fleiße durchgeführt.
Straßburg. E. Martin.
Fftr di« Redaktion Twanlirortlich : Prof. Dr. B§ekUl, Direktor der Q«tt. gel. Ans.,
ABeeasor der KAnigUcben OeaeUschafk der WiMenediftften.
ftriag dtr Düitriek'tehm YnfkigB'Buekkimdhmff»
J^nuk dm' DMmeh'Bdun Un99.'BucMrudt0irtt (JFV. W, Kautnti),
nrrrw'' f
i
81
Göttingische
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Nr. 3. 1. Febraar 1887.
Preis des Jahrganges : JH 24 (mit den »Nachrichten d. k. G. d. Wiss.c : «41 27).
Preis der einzelnen Nummer nach Anzahl der Bogen: der Bogen 60 ^
Inhalt : L a in y , Saneti Eplmem Syri bymni et sermones. Tom. II. Von NSUUke. — Bndr^ta^i
9rag«retilaka and Bnyyaka's Salirdayalili ed. Pia che I. Von Zaeharias. — D. Peshntan, Gan.
jaahAyagin etc. Von Jmtt. — Lndwig, Johann Oeorg Kästner, ein elsiasiBcher Tondichter etc.
Ton Bme. — Gftldenpennig, Geschichte dea ostrOmischen Reiches nnter den Kaisern Aroadins
oad Theodosins II. Von Swdu
= Eigenniohtiger Abdruck von Artikeln der 66tt. gel. Anzeigen verboten. ^
Saneti EphraemSyri hymni et sermones, quos e codicibus Londinensibos,
Parisiensibus et Ozoniensibns descriptos, edidit, latinitate donavit, variis
lectionibus instrnxit, notis et prolegomenis illastravit Thomas Josephus
Lamy. Tomas 11. Mechliniae, Dessain 1886. (XXHI S. und 832 Columnen
in Quart).
Der zweite Band dieser großen Nachlese zu der Römischen
Ausgabe^) enthält von Werken des EphraYm zunächst einen Teil
seines Bibelkommentars, nämlich die Auslegung des Jesaias von da
an, wo die Römische Ausgabe damit abbricht (capp. 43—66), von
fbnf kleinen Propheten und von den Klageliedern. Der Herausgeber
bemerkt aber mit Recht , daß diese , einer Eatene entnommenen,
Seholien nur Bruchstücke des Werkes sind. Andrerseits ist aber
auch hier wieder Fremdes eingemischt. Wenn zn Jona 3, 4 nicht
bloß die LXX, sondern auch Aquila und Symmachus citiert werden,
wenn zn Nahum 2, 11 der hexaplarische Text neben dem der Pe-
Bchita erscheint und ebenso, wie schon der Herausgeber konstatiert,
zu Hab. 3, 3, so weist das mit Notwendigkeit auf direkte oder in-
direkte Benutzung des syrisch-hexaplarischen Textes hin, der erst
im Anfang des 7ten Jahrhunderts n. Chr. entstanden ist. Auch die
Angaben Aber die persönlichen Verhältnisse der einzelnen Prophe-
ten in den Ueberschriften mögen zunächst einer hexaplarischen
Handschrift entnommen sein, wie ja auch der codex Ambrosianus
J, y 1) Siehe diese Blätter 1882, 29. Nov. (Stück 48).
Odtt. fei. All. 1887. Nr. 8. 7
82 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 8.
solche BemerkuDgen hat. Was nun EphraYms eigne Erklärungen
betrifft, so haben sie für diese Bücher allerdings nicht das Interesse
wie für einige andere. Das war natürlich von vorn herein gewiß,
daß sie uns für das Verständnis der Propheten selbst nichts Neues
bieten könnten, sondern nur für die Geschichte der Auslegung.
Er folgen einige längere, und natürlich weitschweifige, paräne-
tische und strafende Memre. In einem derselben lesen wir eine
krasse, aber im Grunde wenig phantasiereiche Schilderung der Hölle
(365 ff.), welcher ich meinerseits die entsprechenden Stellen im Eor&n
immer noch vorziehen möchte. In eben demselben schildert EphraYm
das Strafgericht über Sodom und hebt dabei besonders hervor, wie
sehr sich die Frauen in Sodom durch ihren übertriebnen Putz —
oder durch ihren Putz überhaupt — versündigt hätten. Er tadelt
dabei u. A. die Frauen, welche sich ordentlich die Zähne bürsten
(S. 379)^): man weiß, zu welcher Unsauberkeit die asketischen Nei-
gungen der syrischen Kirchen später geführt haben I — Der letzte
MSmrä enthält einige merkwürdige Hinweisungen auf allerlei heid-
nischen Aberglauben, der damals noch unter den mesopotamischen
Christen herrschte. EphraYm berichtet über den Unfug, der mit
Amuletten getrieben ward (395. 411)^), wie noch heute bei Musli-
men und Christen des Orients. Er erwähnt die Sitte, bei zauberi-
schen Handlungen mit eignem Blute zu schreiben (S. 411): »wer mit
dem Blute seines Leibes nur ein Iota schreibt und in ein Schrift-
stück einzeichnet, der bleibt bei Jannes und Jambres, den Namen-
Zauberernc'). Diese »Namen«, mit denen gezaubert wird, finden
sich u. A. auch bei den Mandäern und den Abessiniern. Sie wer-
den noch 419, 26 erwähnt. 397, 5 gibt uns EphraYm auch zwei
Dämonen- (resp. Engel-)Namen, wie wir solche aus litterarischen
und andern Denkmälern des Orients in Fülle kennen: Rüfäel und
ItefüfdSl, beides natürlich Entstellungen von Raphael {R^äM) in be-
kannter Art^). Auch die geheimnisvollen Waschungen in Quellen,
gegen die er an mehreren Stellen eifert^), werden hier wieder ge-
1) »Welche sich viel ihre Zähne abriebenc. Der Herausgeber bringt erst
durch die üebersetzung »quarum dentes nimio studi detersae fuerant« ein »zu
viele hinein und schwächt so den AnstoB.
2) Vgl. die Born. Ausg. n, 464 D. UI, 671 B.
8) Der Glaube, da£ der Kontrakt, wodurch man sich dem Satan zu eigen
gebe, mit eignem Blute zu schreiben sei, ist erst aus dem IStcn Jahrhundert be-
zeugt, s. Boskoff, Geschichte des Teufels I, 347; aber etwas Aehnliches mu$
doch schon hier gemeint sein.
4) Der Erzengel heiBt bei den Abessiniern ja selbst RüfdH,
5) Siehe die Stellen bei Payne-Smith col. 2588 unten.
«
Lamy, Sancti Ephraem Syri hymni et sennones. Tom. II. 83
oaoDt (395) ; leider läßt uns aach die etwas genauere Stelle III, 666 f.
(der Rom. Ansg.) Doch nicht recht das Wesen und den Ursprung die*
ses Brauches erkennen. Selbstverständlich verwirft EphraYm dies
Treiben nicht als Unsinn, sondern als Gottlosigkeit, da er mit seiner
ganzen Zeit an die Existenz der von den Beschwörern angerufenen
Dämonen und an die Wirksamkeit der Zauberei auf die höllischen
Mächte so fest glaubt wie nur Einer der Beschwörer selbst.
Den größten Teil des Bandes nehmen MedräschS (strophische
Lieder zum Singen) ein, zum Teil auf Eirchenfeste , zum Teil auf
Andres bezüglich. Einige davon sind alphabetische Akrosticha.
Dazu gehört außer den vom Heransgeber als solche bezeichneten
auch der 551 ff. Ein Bruchstück aus einem alphabetischen Liede
ist 575 f. (von 1 bis T\ und 3, b); vielleicht ließen sich noch mehr
solche nachweisen. Ueberhanpt sind, wie Hr. Lamy selbst aner-
kennt, manche dieser Hymnen fragmentarisch. In ihrem Wesen un-
terscheiden sie sich nicht merklich von den schon bekannten. An-
genehm berührt uns allerdings, daß innerhalb dieser starren Kirch-
lichkeit bei den Osterliedern die echt menschliche Freude über das
Erwachen der Natur im Frühling laut wird.
Dem Ganzen vorauf schickt Hr. Lamy das Leben EphraYms
nach der Pariser Handschrift. Schon Bickell hatte nachgewiesen,
daß der Pariser Text starke Abweichungen von dem Vatikanischen
zeigt, der im 3ten Band der Römischen Ausgabe abgedruckt ist,
und darunter solche, die entschieden Besseres geben. Somit war
die Herausgabe dieses Textes durchaus gerechtfertigt. Allerdings
bietet uns auch der Pariser Text keine neue historische Belehrung
von Belang. Ist ja diese Vita, wenn wir das Unwahrscheinliche
nnd das ganz Fabelhafte abziehen, überhaupt sehr arm an ge-
sebichtlichen Nachrichten. EphraYm hatte, nattirlich abgesehen von
den schweren Schicksalen seiner Vaterstadt und seines Heimatlandes,
ftlr seine Person offenbar wenig große Wechselfälle erfahren, und,
als er berühmt geworden war, wußte man schon wenig von seinem
früheren Leben. Der Herausgeber kombiniert allerdings die, gewiß
richtige, Angabe, daß EphraYm unter Konstantin geboren, und die,
auch ganz glaubliche, daß er im Alter von 18 Jahren getauft sei
(23), mit der Nachricht, daß er, natürlich als Getaufter, an dem
Concil von Nicaea (325 n. Chr.) teilgenommen habe, und bringt so-
mit seine Geburt noch eben im ersten Jahr Konstantins (beginnt den
24. Juli 306) unter. Aber das ist nicht zulässig, denn EphraYms
Anwesenheit auf dem Concil ist hOchst unwahrscheinlich ; schwerlich
findet man in seinen Schriften ein Wort davon. Ganz erdichtet ist
sein Aufenthalt in Aegypten. Nicht einmal das scheint mir vMlig
7*
84 Oött. gel. Anz. 1887. Kr. 3.
gewiß, daß der syrische, des Griechischen nDkondige Diakon wirk-
lich mit Basilius von Caesarea, damals wohl dem allerangesehen-
sten Kirchenfttrsten, persönlich zusammengekommen ist. Das eigne
Zeugnis des Basilius geht nicht sicher auf EphraYm (s. Ö9 dieser
Ausgabe), und die Schlüsse aus dem Encomium auf Basilius, das
dem EphraYm zugeschrieben wird, sind sehr anfechtbar. Denn gegen
die Echtheit dieser, nur griechisch vorhandenen, Schrift läßt sich Er-
hebliches einwenden , wenn sie auch die Schule jenes Mannes zeigt,
und vielleicht die Erweiterung eines echten Werkes ist. Dies En-
comium geht nämlich, wie mit der Vita gegen Lamy und Andre
festzuhalten ist, nicht auf den lebenden, sondern auf den schon ver-
storbenen Basilius (f 1. Jan. 379). Von diesem ist durchweg in der
Vergangenheit die Rede (sogleich im Anfang imtrMonijaaQ), Ebenso
setzt der Verfasser voraus, daß Kaiser Valens schon todt ist (f 9. Aug.
378). Einem Lebenden gegenüber hätte EphraYm auch schwerlich
die Farben so stark aufgetragen. Am Schluß wird die Fürbitte
nicht des lebenden, sondern des in höhere Regionen entrückten Hei-
ligen erbeten. Danach kann dies Encomium nicht wohl von Ephral'm
herrühren, denn es ist, darin gebe ich wieder Lamy Recht, sehr un-
wahrscheinlich, daß dieser deo Basilius überlebt hat. Die einfache
Notiz der Edessenischen Chronik und des Landschen Chronographen
(Anecd. I, 15, 1), sowie des sorgfältigen Jacob von Edessa (hier
VIII Anm. 2), daß EphraYm im Juni 373 gestorben sei, verdient
vollen Glauben, zumal dies Datum ursprünglich auch am Schluß der
Vita stand, wie zur Hälfte noch im römischen Text; denn es findet
sich in dem kurzen Auszug aus jener bei Assem. I, 25 f. und in
dem noch kürzeren Sachauschen (hier S. VllI f.). Das genaue Da-
tum ist wohl der, am besten bezeugte, 9te Juni ; der 19te, 18te oder
15te werden auf Entstellung beruhen, die ja bei Zahlbuchstaben nur
allzu leicht vorkommt.
Auf alle Fälle ist diese Vita, so wenig positiv Brauchbares sie
gibt, schon sehr alt, bald nach EphraYms Tode geschrieben und
auch sofort in's Griechische übersetzt; natürlich mag sich die Ur-
gestalt ein wenig auch von der unterschieden haben, die sich dnrch
kritische Vergleichnng der beiden uns jetzt bekannten Texte an-
nähernd ermitteln läßt. Wenn das Encomium des Gregor von Nyssa
auf EphraYm echt ist, so scheint schon dieser (f 394 oder etwas
später) die Vita benutzt zu haben. Allem Anschein nach ist das bei
Palladius in der um 420 geschriebnen historia Laasiaca (cap. 101)
wirklich der Fall, ebenso bei Theodoret im Philotheus (c. 1) wie
in der Kirchengeschichte und bei Sozomenus, der Späteren zu ge-
schweigen. Sozomenos hat 316 allerdings auch das »Testament«
Lamy, Sancti Epbraem Syri hymni et sermones. Tom. II. 85
EphraYms benatzt ; das beweist die vollständige Uebereinstimmong in
der Aufzählung der Scbtller EphraXms mit Einschluß der beiden irr-
gläubigen, im Gegensatz zur Vita. Uebrigens hat dieser das Testa-
ment schon selbst als Quelle gedient*).
Aus der Vita hatte Bickell schon einige Stücke herausgegeben.
Ein Vergleich seines Textes mit dem bei Lamy, der auf einer Ab-
schrift Martins beruht, hat das, nicht unerwartete, Ergebnis, daß er-
sterer korrekter ist. So hat Bickell nicht den, von Lamy auch in
der Uebersetzung wiedergegebnen, Unsinn, daß Jovian den Julian in
Nisibis begraben habe (23), sondern fttr \=^ »er begrübe hat er, wie
der Römische Text, u^ »er zog vorüber«. 67, 5 hat Bickell richtig
Ji\«flD statt |i^2axaD; 77 paen. fiom, statt des nichtsnutzigen I^Qo. Nach
79, 11 fehlt sogar eine ganze Zeile, welche Bickell gibt. Und so
noch einiges Kleinere.
Im Ganzen ist der syrische Text in diesem Bande nicht so
nachlässig gegeben wie im ersten, in der zweiten Hälfte sogar durch
die genauere Druckkorrektur, für die wir nach der Vorrede dem
Professor Forget zu danken haben, wesentlich besser; aber VieleS|
was ich vom ersten Bande gesagt habe, gilt doch leider auch vom
zweiten. Der Unterschied von ^ und l ist Hrn. Lamy immer noch
nicht recht klar geworden, und auch j^ und d werden noch gele-
gentlich vertauscht ^). Die, zum Teil sehr alten, Handschriften zeigen
sicher nur sehr wenige von den Sprachfehlern des Drucks; der
Herausgeber hat eben durchaus keinen Sinn fttr grammatische Rich-
tigkeit. Bringt er es doch fertig, sich bei IU4=» U^ I^^ajlI )xK; (63, 25)
zu beruhigen und zu übersetzen >ne plebs avida seducereturc : er
scheint also 1^«^^^ als »plebs« aufzufassen, dem sein attributives Ad-
jektiv im Plural vorangehe ! Natürlich wird die Handschrift \^ ha-
ben, so daß es heißt: »daß die einftlltige Schafheerde nicht in Oe-
fangenschaft gerate«. ^ und ^ sind ja allerdings in Handschriften oft
kaum zu unterscheiden ; so ist umgekehrt 35, 9 1;^ fttr l\^ gelesen.
Dagegen nimmt Hr. Lamy an einer völlig korrekten Form 807, 17
Anstoß, wie das beigefügte (sie) bezeugt. — Eine htibsehe Blumen-
lese kleiner Fehler, von denen nur ein Druckversehen in den Cor-
rigenda berichtigt wird, zeigt der letzte Absatz von col. 351.
1) Eine gründliche kritische Untersuchung des Testamentes auf seine echten
und unechten Bestandteile — letztere wohl nicht die am wenigsten interessanten
— w&re sehr erwünscht. Allerdings müftten daza nicht bloß die Römischen,
sondern aacb die von 0?erbeck benutzten Handschriften noch einmal sorgfältig
▼erglichen werden.
2) Sollte nicht auch das unglückliche ^o^^fiDiz» 261, 18 aus dem allein rich-
tigen ^9pDM3 durch Verwechslung der Zischlaute verlesen sein?
86 Gott gel. Anz. 1887. Nr. 8.
Sehr viele Fehler lassen sieh leicht berichtigen, aber das gilt
natürlich nicht von allen, und eine Nachvergleichang der Hand-
schriften würde gewiß noch Manches richtig stellen, worüber wir
hinweglesen ; jedenfalls ließe sich auch der kritische Apparat daraus
stark vermehren.
Die Uebersetzong habe ich auch bei diesem Bande nur ziemlich
selten angesehen, aber dabei ist mir doch wieder sehr Wandersames
aufgestoßen. Daß die Henne nicht über ihren Küchlein {pidlos\
sondern über ihren Eiern brütend sitzt (59), sollte auch der wissen,
dem es unbekannt ist, daß die Syrer die Eier »Töchterc des Vogels
nennen. — Die »tribus Hernahe J^^Mi *****♦- (230, 7) erregte Herrn
Lamy kein Bedenken: natürlich ist das ^ in 2 Jod aufzulösen und
Ikränäjai S zu lesen = iXXoffvXoh d. i. Philistäer. — 250, Str. 5
leuchten die Oefen der Helden! Allmählich müßte doch ein Editor
syrischer Werke wissen, daß tannurd, auch »Panzer« heißt — Für:
»0 daß doch statt (es ist wohl «s^ ausgefallen) der äußeren (irdi-
schen) Schafheerde die innere (geistliche) behütet würde!« (357, 19)
wird sinnlos übersetzt : »Hisce adhaereat {^) grex temporalis , ser-
vetur (J'tfri^ grex spiritaalis«. — Ein aus ^^^flQ» verlesenes, un-
mögliches v!^ ^^^^ (385, 17) soll bedeuten »mortem evomnnt«. —
Der Zusammenhang zeigt, daß 391, 2 t^^^ V^i^^ von weichen Stoffen
zum Lager gesagt ist, daß das erste Wort also ein Fl. von \'^
ist^); Lamy aber nimmt das ^ als ^ und verwandelt die weichen
Wollstoffe in »vina dulcia«. — o^ku »gein Reis« (455 paen.) über-
setzt er »Exaltaverat se«, als könnte das Verb sein reflexives Objekt-
suffix annehmen und als wäre das Imperfekt ein Perfekt. —
Jioai ^ h^D >mir war es leid, o Herr« {^aßßovpi Marc. 10, 51,
Job. 20, 16) gibt er wieder »molesta mihi fuit mea inflatio (?)«;
allerdings wird hier ein Fragezeichen beigegeben. Ebenso begleitet
ein solches bescheiden die geistreiche üebersetzung von »Topf und
Horn« (803 ult.) durch »viscera«. Obwohl hier von der Oeschichte
des Propheten Elias die Rede ist, kam Hr. Lamy nicht darauf, daß
Ephraim vom Mehltopf und vomOelhorn der Wittwe 1 Kön. 17, 12 ff.
spricht. Mit diesem Propheten hat er überhaupt Unglück. Für
11^ h^ (387, 26) hat die Handschrift sicher Uyy p »Regen und
Thau«, denn Ephraim hat hier 1 Kön. 17, 1 im Auge; Lamy aber
übersetzt »plnviam mortiferam« und verbessert demnach in den Cor-
rigenda Ato^ 'P; grammatisch wäre das richtig, aber Sinn hätte
CS auch nicht. — Ich zweifle nicht, daß eine systematische Durch-
1) Wie iXaaOj »buntes Zeng« von Ixao^ (bei Onkelos WX: pJSj:»). Beide
Fülle sind in meiner syrischen Grammatik § 74 hinzuzufügen. '
Riidrata's f rägftratilaka and Ruyyaka's Sahrdayallla ed. Pischel. 87
mnsterang der Ueberaetzang Hunderte von VerstöOeii ergeben
würde.
Dem Bache ist eine ziemlich lange Liste von Verbesserangen
znm ersten Bande angehängt, die aber sicher noch nicht ein Drittel
der anch ohne neue Kollation der Handschriften leicht zu machen-
den Korrekturen enthält. Dazu sind einige dieser Verbesserungen
nicht ganz richtig, z. B. muß es I, 247, 11 nicht rV^, sondern
^t*3o heißen, and andere sind entschieden falsch : so ist I, 355, 2
jA^joa pakkänithä zu lesen ; 627 Str. 28, 1 Sixy^, _ Auch von den
Korrekturen zum 2ten Bande ist die zu 367, 16, wo der Text ganz
in Ordnung ist, und die schon besprochne zu 387, 26 unrichtig.
Auf dem Umschlag liest man den Abdruck des Briefes, welchen
Leo XIII dem Herausgeber auf die Zusendung des ibm dedicierten
ersten Bandes geschrieben hat. Es ist wohl nicht zufällig, daß der
fein gebildete Papst zwar den Inhalt von EphraYms Schriften höch-
lich lobt, aber von dessen Eleganz und dichterischer Bedeutung
ganz schweigt
StraAbarg i. E. Th. Nöldeke.
Badrata'8 Qrng&ratilaka and Bayyaka*8 SahrdayaltU. With an
Introduction and Notes edited by Dr. R. Fisch el. Kiel, G. F. Haeseler.
1886. pp. 32, 104. 8^
Zwei kleine Texte aus der umfangreichen Alamk&ra-Litteratur
der Inder werden hier zum ersten Male veröffentlicht. Der erste
Text ist das Qrngäratilaka des Budrata, nicht zu verwechseln mit
dem angeblich von Eälidäsa verfaßten Qrngäratilaka , das Gilde*
meister, Bonn 1841, herausgegeben hat. Das Werk des Rudrata ist
meines Wissens zuerst von Aufrecht im ELatalog der Oxforder San-
skrithandschriften p. 209 kurz beschrieben worden: es behandelt to
nddog iqmuKov in drei Kapiteln. Der zweite Text ist die Sahrdaya-
llla des Ruyyaka alias Rncaka, die bisher kaum dem Namen nach
bekannt war.
Den Texten hat Fischöl eine längere Einleitung vorausge-
schickt, in der er sich nicht ausschließlich fiber das Alter und die
litterarische Thätigkeit des Rudrata und Ruyyaka verbreitet Es
werden hier tlberhaupt eine Anzahl von litterarhistorischen Fragen,
welche das Interesse der Sanskritphilologen in Anspruch zu nehmen
geeignet sind, besprochen und gelöst oder wenigstens ihrer Lösung
Daher gebracht. Kurz, Fischöls Arbeit ist ein sehr wichtiger Bei-
trag ZOT Geschichte der Sanskritlitterator, — eine Frucht seiner eio-
88 Qött. gel. Anz. 1887. Nr. 3.
gehenden Stadien aaf dem Oebiete des Alamk&ra^fistra , ans denen
unter Anderem schon seine reichen Mitteil angen in 'der Recension
von Regnands Rhitoriqne Sanskrite 06 A. 1885 S. 757— 69 geflossen
waren. Es ist der Zweck der vorliegenden Anzeige, anf die wich-
tigsten Pankte in Fischöls Einleitung zu seiner Ausgabe des Ra-
drata und Rayyaka aufmerksam zu machen.
Von dem Rhetoriker Rudrata sind zwei Werke anf uns gekom-
men, das kleine Qrngäratilaka und ein größerer Text, derE&vy&lam-
kära. Um die Zeit des Rudrata zu bestimmen, stellt und beantwor-
tet Pischel S. 6 ff. die Frage, ob die Beispiele, welche in den
genannten Werken als Belege fttr die einzelnen Regeln angeftthrt
werden, von Rudrata selbst gedichtet oder aus älteren Werken ent-
lehnt worden sind. Pischel entscheidet sich, im Anschluß an eine
Vermutung von Peterson, fttr das Erstere. Die älteren Rhetoriker,
zu denen auch Rudrata gehört, waren Theoretiker und Dichter zu-
gleich, sie verfaßten die Beispiele selbst oder entnahmen sie höch-
stens ihren eigenen dichterischen Kompositionen. Der ausführliche
Beweis, den Pischel fttr seine Behauptung liefert, kann hier nicht
wiederholt werden. Ich will nur auf die interessanten Bemerkungen
über das Ämarugataka S. 9 ff. aufmerksam machen. Dieses Werk
ist schwerlich in seiner ursprllnglichen Gestalt auf uns gekommen,
obwohl es so wie es jetzt vorliegt bereits im neunten Jahrhunderte
kursierte. — Wenn aber Rudrata die Beispiele (nichrgana, udäha^
rana) in seinen beiden rhetorischen Werken selbst gedichtet hat, so
sind wir berechtigt, diese Beispiele zu chronologischen Zwecken zu
benutzen (S. 11). Rudrata wird älter sein als die Schriftsteller, die
seine Beispiele eitleren. Nun ist der älteste Autor, der Verse des
Radrata citiert, Pratthärendur&ja, der Verfasser eines Kommentares
zum Udbhatälamk&ra. Pratthftrendur&ja aber gehört, wie Pischel
zeigt (vgl. schon 6GA. 1885 S. 764), in die Mitte des zehnten Jahr-
hunderts. Zu dieser Zeit wurde Rudrata bereits als ein 'standard
m
writer* betrachtet : mithin wird er spätestens um die Mitte des neun-
ten Jahrhunderts gelebt haben. Daß Rudrata auch nicht viel älter
sein kann, zeigt Pischel in einer ziemlich langen Erörterang — die
zagleich den wichtigsten Teil der Einleitung bildet — über die Zeit
und die litterarische Thätigkeit der älteren Rhetoriker, insbesondere
des Da^^in und des V&mana.
Räja^ekhara sagt in einem versus memorialist), der in der
1) Eine ganze Anzahl solcher veraas memoriales über indische Dichter ist
▼on Aufrecht und neuerdings von Peterson mitgeteilt worden. Diese Verse sind,
wie die Verse in der Einleitung zum Harshacarita, sehr wichtig fUr die indische
Litteratorgeschichte ; die in ihn^n enthaltene Ueberlieferung ist, soweit m«n Ur-
Kadrata's Qmg&ratilaka and Ruyyaka's Sahrdayalllft ed. Pischel. 89
QftrDgadbarapaddbati ^) citiert wird, daß 'drei Werke von Dandin in
den drei Welten berühmt Bind'. Welches sind diese drei Werke?
Nur zwei sind allgemein bekannt: der Kävyftdar^a und das Da^a-
knm&racarita. Das dritte 'berühmte Werk' des Daijidin ist noch auf-
zufinden; oder — das wäre mOglich — Dandin ist der wirkliche
Verfasser eines berühmten Sanskritwerkes, das unter dem Namen
eines anderen Verfassers geht. Pischel durchmustert zunächst die
Werke, die außer dem Kävy&darQa, und Dagakumäracarita noch den
Kamen des Dandin tragen und zeigt, daß dieselben entweder fälsch-
lich dem Dandin zugeschrieben werden') oder mit dem K&vy&darfa
und Da^akumäracarita nicht auf eine Linie gestellt werden können.
Hierauf führt Pischel den 66A. 1885 S. 765 versprochenen Nach-
weis, daß Dandin der Verfasser des Dramas Mfcchaka-
tik& ist'). Dieses Drama — angeblich von König Qfldraka ver-
faßt — ist allerdings ein Werk, das wir dem Dandin zutrauen und
von dem wir glauben können, daß es die dritte von den drei berühmten
Kompositionen des Dandin in dem Verse des RäjaQekhara ist Pi-
Bchels Beweisführung beruht auf der Annahme, daß Dandin die Bei-
spiele in seinem rhetorischen Werke K&vyfidar^a selbst gedichtet
(vgl. S. 7) oder doch nur seinen eigenen sonstigen Kompositionen
entlehnt hat: wie z. B. Udbhata im Kävyälamkärasamgraha Verse
aus seinem Kumärasambhava (Bühler, Detailed Report, p. 65), oder
wie der ältere Vägbhata Verse aus seinem Neminirvä^a anführt
(QGA. 1884 S. 306). — Dandin K&vyädar^a II, 362 gibt den be-
kannten Vers limpattva (Ind. Sprüche ^ 5853) als Beispiel für eine
rhetorische Figur. Die erste Zeile desselben Verses erscheint noch
an einer anderen Stelle, II, 226, und zwar wird* hier eine unge-
wöhnlich lange Erörterung daran geknüpft. Dandin will, offenbar
teil reicht , durchaus zuverl&ssig (vgl. weiter unten S. 94 den Vers über Euin&-
rad&sa). Der Verfasser dieser versus memoriales, dieses »Catalogue of Poets«
(Peterson, Report for 1883—84, p. 64), Rdja^ekhara, ist wahrscheinlich zu un-
terscheiden Ton dem Dramatiker R&ja^ekhara: vgl. The Academy vol. XXIX
(1886) p. 158, und Subh&shit&vali (Bombay 1886), Introduction, p. 101. Ich be-
merke das wegen Pischel, Einleitung zum Rndrata, S. 26 Anm. 1.
1) Sonderbar liest sich: »lUja^ekhara's Qärngadharapaddhatit , bei Müiler-
Gappeller, Indien in seiner weltgeschichtlichen Bedeutung, Leipzig 1884, S. 286
Anm. 119.
2) So z. B. die Chandoviciti. Mit ehandovieiti K&vyftdar^a I, 12 ist allge-
mein »Metrikc, nicht ein bestimmtes Werk über Metrik gemeint, vgl. V&mana,
KavyMamk&ravrtti I, 8, 8. 7 und dazu Böhtlingks kürzeres Wörterbuch unter
ekandovieitt. Anders Jacobi in den Indischen Studien XVII, 447; ZDMG.XL,100.
8) Frfiher, QGA. 1888 p. 1282 ff., hatte Pischel die Vermutung ausgesprochen,
d^l^ B h & s a der Verfasser der Mrcchakatik& sei.
90 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 8.
im Gegensatz zu anderen Rhetorikern, beweisen, daß die rhetorische
Figur tUpreJcshä auch mit der Partikel iva^) angedeutet , angezeigt
{dyotitä) werde. Pischel ist nun der Ansicht, daß der Vers limpativa^
so gut wie alle anderen Beispiele im E&vyädarQa, von Dandin selbst
herrührt. Der Vers wird auch in der That dem Dandin direkt zu-
geschrieben von einem verhältnismäßig alten Schriftsteller, dem oben
erwähnten Pratthärenduräja. In den Anthologieen wird er aller-
dings dem Vikramäditya und Mentha, oder ersterem allein, zuge-
teilt; doch das zeigt nur, daß der wahre Verfasser des Verses schon
frühe in Vergessenheit geraten ist '). Wenn aber Dandin im Kavyä-
darga nur seine eigenen Verse citiert, so muß er der Verfasser des-
jenigen Sanskritwerkes sein, in welchem der Vers limpativa^ wie be-
kannt, ebenfalls irorkommt, das heißt — der Mrcchakatikä.
Es läßt sich nicht verkennen, daß Pischels Annahme viel Be-
stechendes hat. So erinnert z. B. die Schilderung der Sitten in der
Mrcchakatikä stark an das Dagakum&racarita des Dandin. Diesen
Punkt sowie einige andere, die geeignet sind, seine Annahme za
unterstützen, erörtert Pischel kurz auf S. 19 f. und wendet sich dann
zu V&mana. Dieser gehört dem südlichen Indien an, wie wahr-
scheinlich auch Da](^din. Ob Vämana älter oder jünger als Dandin,
oder etwa ein Zeitgenosse von diesem ist, läßt sich nicht bestimmen
(S. 21). Dagegen weiß man jetzt ziemlich genau, wann Vämana
gelebt hat^). Er citiert die V&savadattä des Subandhu und die
Eädambar!^) des Bä^a. Folglich kann Vämana nicht älter sein als
ca. 700 A. D. Daß er auch nicht viel jünger sein kann, wird von
1) Die von Pischel S. 21 Anm. gegebene Verbesserung von Cappellers Text
des y&mana E&vy. lY, 8, 9 p. 49, 24 ist von mir schon früher gegeben worden
in den GGA. 1880 S. 1021.
2) So wird der bekannte päda varatanu taifipravadanü kukkutäf^ von einer
Autorität dem Eum&rad&sa, von einer anderen dem Bh&ravi zugeschrieben. Vgl.
weiter unten S. 98 ff.
8) Wo mag der im Kommentar zum Mankhakoga citierte Halbvers kdvyd-
lafßkdrahhür urvi vämaneneva dhäritä herstammen? (Q&^vata, Einleitung, S. XIV
Anm. 1).
4) anularoti bhagavato näräi/anasya. Ich habe diese Stelle zuerst nachdrück-
lich hervorgehoben GGA. 1880, S. 1020. Ebendaselbst S. 1019 habe ich darauf
hingewiesen, daB die Genetive von anukaroU abhängen (vgl. E&vy&dar^a II, 66),
was Cappeller in seiner Uebersetzung von Vämanas Stylregeln S. 14 nicht gese-
hen hatte. Die Stelle wird auch citiert im KItrakap&da des Saxpkshiptasära (s.
Bezzenbergers Beitr&ge V, 61) und in Mallin&thas Kommentar zum Kir&t&rjuntya
YII, 28. Aus der Kä dam hart ist die Stelle von Borooah angefahrt worden
zuerst in seiner Higher Sanskrit Grammar pp. 147. 152 (vorgedruckt seinem
English-Sanskrit Dictionary vol. II, Calcutta 1879).
Rudrata's ^rng&ratilaka and Ruyyaka's Sahrdayalilä ed. Pischel. 91
Pischel S. 22 ff. nachgewiesen. Als besonders interessant hebe ich
Piscbels Mitteilungen über den achten Sarga des Kumärasanabhava
berTor, der von Vämana an drei Stellen citiert wird, was ich, wenn
ich nicht irre, zuerst, gezeigt habe in Bezzenbergers Beiträgen V,5l.
Ich weiß nicht, ob Pischel S. 24 die Stellen, die von den Rheto-
rikern aus dem achten Sarga angeführt werden, vollständig zu ge-
ben beabsichtigt: jedenfalls fehlt in seiner Zusammenstellung Ku-
m&rasambhava VIII, 49. 51.79 = Saras vattkanthäbbara^a p. 308,3.
343, 23. 305, 5; s. 6GA. 1884 S. 309. Vgl. auch meine Beiträge
zur indischen Lexikographie S. 78. Uebrigens scheint Pischel im-
mer noch an der früher von ihm vertretenen Ansicht, daß der achte
Sarga nicht von Eälidäsa herrtlhrt, festzuhalten. Dem sei wie ihm
wolle: die Erwähnung des achten Sarga in der Eävy&Iamk&ravrtti
kann nus nicht hindern, den Vämana für älter zu halten als ca.
1000 A. D. (V&manas Stylregeln, bearbeitet von C Cappeller, S. IV).
Dasselbe gilt von der Erwähnung des Eavirfija '), Vämana Kävy.
IVy ly 10. Den Eaviräja setzt Pischel in den Anfang des achten Jahr-
hunderts. Was Pischel bei dieser Gelegenheit über das vielbe-
sprochene Datum des Dramatikers Bäja^ekhara vorbringt, wird wohl
durch die neuesten Mitteilungen von Peterson im Journal of the
Bombay Branch of the Royal Asiatic Society ttberholt worden sein.
Ich kann das hier nur andeuten, da mir Petersons Aufsatz nicht zu-
gänglich ist. Doch vgl. einstweilen The Academy XXIX, 153;
Snbhashitävali, Introduction, p. 101.
Auf S. 26 kehrt Pischel zu Rudrata zurtlck. Vämana gehört
in das achte Jahrhundert. Er war wahrscheinlich ein Zeitgenosse
des Udbbata, den Ealhai^a in die Regierung des EOnigs Jayäptda
779—813 versetzt. Nun wird Rudrata überall nach Udbhata ci-
tiert und er dürfte daher jünger sein als Udbhata und Vämana,
der von Rudratas Beispielen kein einziges anführt. Somit erhalten
wir als Rudratas Datum wiederum die Mitte des neunten Jahr-
handerts.
Ist diese Zeitbestimmung und Piscbels Annahme, daß Rudrata
die Beispiele selbst gedichtet hat, richtig, so muß die sogenannte
Dördliche Recension des Pancatantra später entstanden sein als ca.
850 A. D. Es findet sich nämlich eine Strophe des Rudrata im vier-
ten Buche des Paficatantra, und zwar eng verwebt mit der dort er-
1) GQA. 1880, S. 1015 hatte ich geäußert, es sei zweifelhaft, ob mit Eavi-
rl^a der Dichter des R&ghavapändavtya gemeint sei (und nicht vielmehr irgend
ein anderer Dichter). Böhtlingk im kürzeren Sanskritwörterbuch geht noch wei-
ter : er übersetzt kavir^'a Vämana IV, 1, 10 mit »Dichterfürst« , faSt das Wort
also gar nicht als einen Eigennamen.
92 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 3.
zählten Geschichte. Aach die Vetälapancaviri^atikft in der Recen*
sion des Qivadäsa maß jUnger sein als Radrata, da sie Strophen
aas dem Qrngäratilaka enthält. Dasselbe gilt dann aach — wie
ich hinzafügen kann — von der Qakasaptati. Denn hier^ am
Anfang der 25. Erzählang, wird die Strophe yatra svedajalair dUm
Qrngärat. I, 71 citiert, wenigstens in der Londoner Handschrift|
Sammlang von William Jones, No. 18.
S. 27 zählt Pischel die Werke aaf, die denselben Titel führen,
wie das Qrngäratilaka des Radrata. Hieraaf wendet er sich za
Rnyyaka, der eine bedeutende schriftstellerische Thätigkeit ent*
faltet hat (S. 28). Die Zeit des Rayyaka ist schon bestimmt wor«
den von BUhler in seinem Detailed Report. Ihm folgend setzt Pi-
schel den Rayyaka in den Anfang des zwölften Jahrhunderts.
Schließlich berichtet er über die Handschriften, die ihm bei der
Heraasgabe der Texte zu Gebote gestanden haben. —
Mögen aach manche von den Resultaten Fischöls später ange-
zweifelt and umgestoßen werden — er ist selbst auf Widersprach
gefaßt (S. 21 unten), und jeder Tag kann neue Entdeckungen brin-
gen — , so läßt sich doch nicht läugnen, daß seine Arbeit wieder
ein tüchtiger Schritt vorwärts ist. Wenn man sich, wie Pischel es
gethan hat, bemüht, von einzelnen sicheren Anhaltspunkten aus die
Zusammenhänge, namentlich die Entlehnungen des einen Werkes aus
dem anderen, nach oben und nach unten zu verfolgen, dann wird
es gewiß allmählich gelingen, für die neuere Sanskritlitteratur eine
genügende Chronologie aufzustellen^). Sollte es aber nicht an der
Zeit sein , erst einmal inne zu halten und die bisher gewonnenen
Resultate übersichtlich zusammenzustellen in einem Kompendium der
Sanskritlitteratur? Was für ein Stoff hat sich nicht aufgehäuft in
den zahlreichen Lists, Reports, Catalogues, Classified Indexes u. s. w.
seit dem Erscheinen der zweiten Auflage von Webers Vorlesungen
über indische Litteraturgeschichte ! Ein Kompendium der Sanskrit-
litteratur — das von einem kompetenten Gelehrten hoffentlich bald
anternommen werden wird — ist meines Erachtens dringend erforder-
lich für ein schnelleres Vorwärtskommen bei der Einzelforschung.
Es giebt so viele litterarhistorische Kleinigkeiten, um sie so zu be-
zeichnen, die zwar bekannt, aber doch nicht allgemein genug be-
kannt sind, und deren Kenntnis für diesen oder jenen Forscher unter
Umständen von Wichtigkeit sein kann. Zwei solche » Kleinigkeiten «,
die mir während der Ausarbeitung dieser Anzeige zufällig vor Augen
kamen, will ich hier erwähnen. Im Mahäbhäshya und in der Kä^i-
kfivrtti werden eine Anzahl von Stellen citiert, die den Eindruck
1) Nach Bad. Roth, Indische Stadien XIV (1876) 398 f.
Radrata's (rng&ratilaka and Ruyyaka's SahrdayalUft ed. Pischel. 93
machen y als seien sie der sogenannten klassischen Sanskritlitteratur
entnommen. Es lassen sich aber nor sehr wenige Stellen aas der
uns bekannten Litteratar nachweisen, z. B. keine einzige Stelle aas
den Dichtungen des Kälidäsa. Da ist es nan interessant za sehen,
daft wenigstens 6ins von den älteren Eunstgedicbten in der K&cikä
bereits citiert wird: dasKirätarjantya des Bhäravi, wie Kiel horn ')
vor Kurzem gezeigt hat. Es ist das ein neues Zeugnis für das be-
kanntlich vergleichsweise hohe Alter des Bb&ravi. — Die Zeit des
Kanstdichters M&gha ist, soviel ich weiß, noch nicht genau bestimmt.
Nach Aufrecht ZDM6. 27, 72 gehört er der mittleren Schule indischer
Kunstdichtung an und dürfte ein jüngerer Zeitgenosse von Bhava-
bhfiti sein '). Es wäre möglich — das soll hier erwähnt werden —
daft eine leicht zu übersehende Notiz in Aufrechts Catalogus einmal
za einer genaueren Zeitbestimmung benutzt werden kann: Lib. II.
dist 112. auctor ad Nyäsam, Jinendrae librum grammaticum, alludit
(p. 118).
Ich möchte jetzt an einem Beispiel zeigen, wie selbst wohlun-
terrichtete, mit aufterordentlichen Hülfsmitteln arbeitende Gelehrte be-
kannte Tbatsachen übersehen können, weil diese nicht allgemein be-
kannt sind, weil es noch an einem Kompendium der Sanskritlit-
teratar fehlt.
Im Mah&bh­a werden , wie eben bemerkt , eine Anzahl von
Stellen') citiert, die den »klassischen« Dichtungen der Inder ent-
nommen zu sein scheinen. Zu diesen Stellen — Versen oder Vers-
ieilen — gehört auch der p&da
varatanu sampravadanti hukkufah^
der, wie Aufrecht zum Ujjvaladatta p. 150 zuerst gezeigt hat, aas
einer Strophe stammt, die mit ayi vijahihi beginnt (Indische Sprüche^
1) Indian Antiquary XIV, 327. Die in der £&^ik& citierte Stelle Kirkt. 8, 14,
kommt auch im Samkshiptasftra vor, vgl. fiezzenbergers Beiträge V, 56. — Auf
ein nicht nachweisbares Citat aus einem älteren Lexicon in der K&^ikä zu P. I,
2, S6 hat Borooah aufmerksam gemacht in seiner Comprehensive Grammar III, 1,
Preface, p. 46. — Es ist vielleicht nicht überflüssig, wenn ich hier anführe, daS
die Worte pradfyaiäm DA^araihdya Äfaithüi Eä^. P. IV, 1, 95 (aach bei üjjva>
ladatta zu ün. n, 2) einer Strophe entnommen sind, die nach Kätantra p. 119
also lautet:
tffaja wakopaffi kuUMrUindganaiq^
hhaja 9oadharmam kuUikiritivarddhanam \
praMa ßvema sabändhavä vayaiih
pradiyaidm Ddfaratkäya MaiihiU\[
2) Vgl. aach Lassen, Indische Alterthnmskunde IV, 807. Jacobi in den Ver-
handlaDgen des 5. internationalen Orientalistenkongresses II, 2, 186 ; ZDMG. 88,
616 ; Indische Stadien 17, 444 f.
b) Neuerdings zusammengestellt von Kielhorn, Indian Antiquary XIV, 326.
tu Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 3.
562) und auch sonst, ganz oder teilweise, öfters angeführt wird; so
z. B. der erste päda
ayi vijahihi drdhopagühanam
im Ganaratnamahodadhi p. 16,7. In den Kommentaren za den ho-
monymischen Wörterbüchern dient der dritte päda
arunaharodgama esha vartate
als Beispiel fUr aruna in der Bedeatang »Sonne«, vgl. meine Bei-
träge zur indischen Lex. S. 38.
Bis vor Kurzem wußte man nicht , woher , aus welchem Werke
oder von welchem Dichter, die Strophe ayi vijahihi stammt. Sie
mußte, wie so viele andere anonym citierte Stellen, für dditsnotoq
gelten. Da machte Peterson die Entdeckung, daß diese Strophe in
Kshemendras Aucityälamkära ^) einem bestimmten Dichter, dem K u-
m&radäsa, zugeschrieben wird. Diese Entdeckung ist »mindestens
sehr interessante. Sie könnte einmal dazu dienen, die Zeit des Ma-
häbhäshya zu bestimmen .... Zunächst fragt es sich aber: Wer
ist dieser Kumäradäsa? Hat er ein bestimmtes Werk verfaßt und
ist dieses vielleicht erhalten? Ist die Zeit des Kumäradäsa bekannt ?
— Eine Antwort auf diese Fragen gab Peterson, bald nach seiner
ersten Mitteilung über Kumäradäsa, in einer Zuschrift an die »Aca-
demy« vom 24. October 1885, betitelt: The date of Kumäradäsa.
Hier wird berichtet^), daß in Jalhanas Sfiktimuktävali, einer Antho-
logie, der folgende Vers des oben S. 89 genannten Räja^ekhara
vorkommt :
Janakiharanam kartunj Raghuvange sthite sati \
kavih Kumdradäsag ca Rävanag ca yadi kshamah \\
Das Werk des Kumäradäsa, oder wenigstens eines seiner Werke,
heißt demnach Jänaktharai^a. Auch ist klar, meint Peterson,
daß Kumäradäsa sein Werk später als Kälidäsa geschrieben haben
muß. Man könnte auch sagen: Kumäradäsa und Kälidäsa waren
Zeitgenossen. Dieser Schluß liegt, meine ich, ebenso nahe.
Irgendwelcher Schluß auf Kumäradäsas Zeit ist übrigens nur dann
gestattet, wenn wir annehmen, daß unter dem Raghuvanfa in dem
Verse des Räjafekhara das bekannte Mahäkävya des Kälidäsa zu
1) The Auchity&lamkära of Eshemendra, with a Note on the date of Pa-
ta^ali by Peter Peterson, Bombay 1885, p. 3. 15. 22 (man beachte hier
die Worte: Unfortunately we do not yet know Eum&rad&sa's own date).
2) P. 277a. Wesentlich dasselbe findet man in einem Bericht über ein Pa*
per read before the Bombay Branch of the Boyal Asiatic Society by Professor
Peterson : Academy vol. XXIX (1886), p. 153 ; und in der Subh&shit&vali of Yal-
labhadeva, ed. by Peterson and Durg&pras&da, Bombay 1886, Introduction, p. 24f.
(Beachte hier p. 25 : Nothing is known of Kum&rad&sa's date). Etwaige weitere
Mitteilungen Petersons über Kum&rad&sa sind mir nicht bekannt geworden.
Kudrata's ^rng&ratilaka and Ruyyaka's SabrdayalHä ed. Pischel. 95
verstebD ist Es konnte verschiedene Raghavan^a gegeben haben,
80 gnt als verschiedene Werke Namens Eamärasambhava existieren
oder doch existiert haben (oben S. 89).
Ich werde jetzt zeigen , daß Petersons Mitteilung über Eam&ra-
d&sa, so interessant and dankenswert sie an sich auch ist, nichts
Nenes enthält. Ein Dichter Eum&radasa ist längst bekannt; sein
Gedicht Jänaktharana soll sogar erhalten sein; es existiert anch
eine bestimmte Ueberlieferang über die Zeit, in der Enm&rad&sa ge-
lebt hat.
James d'Alwis hat in seinem Descriptive Catalogue of Sanskrit,
P&li and Sinhalese literary Works (Colombo 1870) p. 188 ff. einen
ziemlich ausführlichen Bericht über das Jänaktharana erstattet. Das
Wesentliche daraus habe ich mitgeteilt in den Beiträgen zur Kunde
der indogermanischen Sprachen, herausgegeben von Bezzenberger,
V (1880) S. 52. Nach James d'Alwis ist das Gedicht nur in einer
singhalesischen »wörtlichen Uebersetzungc (sanna) erhalten. Doch
lä0t sich der Sanskrittext daraus wiederherstellen. James d'Alwis
selbst gibt eine Probe von zehn Versen. Als der Verfasser des Jä-
naktharana wird Eumäradäsa oder Kumäradhätnsena , König von
Ceylon 513 — 522 (s. Lassen IV, 293), angegeben.
Unabhängig von James d'Alwis (soweit ich jetzt zu sehen ver-
mag) hat Rhys Davids neuerdings über Kumäradäsa gehandelt in
der Academy XXIII (1883) p. 136. Rhys Davids macht hier, in
einer Anzeige von Max Müllers »India«, darauf aufmerksam, daß
ein interessanter, übrigens wohlbekannter ^) Synchronismus von Bh&o
D&jt und Max Müller bei der Zeitbestimmung des Kälidäsa übersehen
worden sei. Die »südlichen« Buddhisten nämlich versetzen den Kä-
lidäsa in das sechste Jahrhundert unserer Zeitrechnung, sie machen
ihn zu einem Zeitgenossen des Königs Kumäradäsa von Ceylon,
lieber Letzteren speciell bemerkt Rhys Davids : At that time [im An-
fang des 6. Jahrb.] there was reigning in Ceylon a king named
Knmäradäsa, who was himself a celebrated scholar and poet, and
the author of a Sanskrit poem, still extant, entitled Jänaktharana»
Was die Ceylonesen über den Tod des Kälidäsa und Kumäradäsa
berichten, hat Weber nach der mir nicht zugänglichen History of
Ceylon von William Knighton, vor 19 Jahren, ausführlich mitgeteilt
in der ZDMG. 22,730; früher, aber kürzer. Lassen in der Indischen
Alterthumsknnde lY, 293. Die älteste Quelle , in der Rhys Davids
1) Billiger Weise h&tte Rhys Davids die Leser der Academy verweisen sollen
aal Webers YorlesuDgen über indische Litteraturgeschichte* S. 221 (in der eng-
lischen Uebersetzong p. 204) Arno. 211.
96 Gott. gel. Ans. 1887* Kr. 8.
die ceylonesische Ueberlieferang gefnnden hat, ist nach der Ansicht
dieses Gelehrten nicht älter als das zwölfte Jahrhundert
Wenn das Jänakthara^a einmal heraasgegeben sein wird , so
wird es sich ja zeigen, ob die Strophe ayi vijahihi darin yorkommt
oder nicht 'J. Zn den Stellen, die sonst noch aas Kam&radfisa oder
dem Jäoakihara^a angefahrt werden (Snbh&shit&vali , Introduction,
p. 24 f.), füge man hinzu die Strophe ^tf^up^a^a smainamj welche
nach KramadtQvara aus dem Jänakthara^a stammt: dieselbe Strophe
wird aus »Raghu« (sie) citiert in der Prayogaratnam&lä des Paru-
shottama, und anonym im K&tantra p. 291 (cfr. p. 537) und im Sa-
rasvattkai^thäbharana p. 40, 18. Diese Nachweise sind, bis auf den
letzten, von mir schon gegeben worden in Bezzenbergers Beiträgen
V, 52. Mehrere Fragmente aus Eum&rad&sa und dem J&naktharana,
die in Räyamnkntas Kommentar zum Amarakofa citiert werden, siehe
bei Aufrecht ZDM6. 28, 118 ff. Der erste päda eines dieser Fragmente
ravah pragalbhähatabhensanibhavah
wird auch von Ujjvaladatta zu U9. p. 106, 10, und zwar aus »Ku-
m&ra«, citiert. In diesem Falle ist Enmära s. v. a. Eum&radäsa
{Bhimasene Bhtmavat)^ nicht, wie sonst gewöhnlich bei Anführungen,
8. y. a. Eum&rasambhaya. Ueber Kumärad&sa =. Eumära ygl. auch
die Snbbäshitayali 1. c.
»Should the book run to a second edition« , sagen die Heraus-
geber der Subhfishitävali , Preface, p. II, »we undertake that this
part of it [the Introduction] shall show that the editors haye ne-
glected no suggestion of improvement which may have reached
theme. Es ist demnach zu hoffen, daß in einer zweiten Auflage der
Subh&shit&vali das hier Vorgebrachte Berücksichtigung finden wird.
Ich bemerke noch, daß ich Mittel und Wege kenne, die Zeit des Eunst-
dichters Padmagupta alicts Parimala (Subh&shitävali, Introduction,
p. 51 ff.) ganz genau zu bestimmen — so genau wie es eben in der
indischen Litteraturgeschichte möglich ist Doch muß ich das einer
besonderen Arbeit vorbehalten.
Ich hatte mir vorgenommen, an dieser Stelle auch ein Paar
Worte zu sagen über die (Dichterin?) Räjyafr!') in Müller - Cappel-
1) Aber selbst wenn sie vorkäme , so wäre es dennoch möglich , daS die im
Mah&bhäshya citierten Worte varaianu Bampravadanti kukkufäf^ nicht von Kn-
m&radäsa selbst gedichtet, sondern irgendwoher von ihm entlehnt worden sind. ^
Uebrigens scheint es nicht »allgemein bekannt« zu sein, daft der päda varatanu
XL 8. w. in Räyamokutas Kommentar zum Amarako^a dem Bhäravi zugeschrieben
wird: s. Aufrecht in der ZDMG. 28, 116.
2) Sic! Wohl nur Druckfehler, wie bei Lassen IV,bl7: Bäjma^rt, statt Bä-
jayrt. — Borooah, der in seiner Schrift: Bhavabhüti and his place in Sanskrit
literature (1878) § 46 die Stelle RäjaUrangi^t IV, 145 bespricht, hält Väkpatirlja
Rudrata's QrSgfiratilaka and Ruyyaka's Sahrdayalflft ed. Pischel. 97
lers »iDdien« S. 288, sehe indessen aas der Snbb&shitavali I.e. p. 95,
daß mir Peterson zuvorgekommen ist. Es ist in der That unver-
ständlich, wie Jemand angesichts der Mitteilungen von Bhandarkar
(in der Vorrede zam Mälattmädhava 1876) noch von einem oder ei-
ner Rajya$rt sprechen kann.
Ich kehre zn Fischöls Buch zurück. Die Texte sind nach vor-
trefflichem handschriftlichen Material ediert. Der Umstand allein,
daß Q&radä-Handschriften ans Kaschmir benutzt worden sind, bürgt
für die Zuverlässigkeit der Texte. In den kritischen Anmerkungen
werden die Varianten und gewisse, nicht allen Handschriften ge-
meinsame Zusätze gegeben. Sehr dankenswert ist das Verzeichnis
der im Qrngäratilaka vorkommenden Beispiele S. 88 — 90.
Den Schluß des Buches bilden Noten zunächst zum Rudrata.
Hier werden einige schwierige oder seltene Ausdrücke erklärt; Pa-
rallelstellen aus den rhetorischen Büchern — soweit letztere im
Druck erschienen sind — zu den einzelnen Regeln oder Abschnitten
aufgeführt; endlich werden die Werke — darunter auch solche die
nur im Manuscript vorhanden sind — namhaft gemacht, in denen
Beispiele des Rudrata vorkommen. Zu diesen Nachweisen vermag
ich ans meinen eigenen Sammlungen keinen hinzuzufügen, mit Aus-
nahme der oben S. 92 genannten Stelle Qukasaptati 25.
Zu Fischöls Note (p. 101 f.) über die zehn oder zwölf Tcämä-
vasthas in den erotischen und rhetorischen Schriften der Inder be-
merke ich, daß ich hierüber ausführlich gehandelt habe — was
Tawney (Uebersetzung des Kathäsaritsägara, vol. II p. 304 n.) merk-
würdiger Weise nicht entgangen ist — in Bezzenbergers Beiträgen IV,
373. Dort findet man damals (1878) noch nicht edierte Werke, wie
das Sarasvatika^thäbhara^a undRudrata's Qrngäratilaka, bereits an-
gefahrt. Vgl. auch VetälapancavinQatik4 ed. Uhle p. 174.
Aus den Noten zum Ruyyaka sei die Erörterung über die rich-
tige Schreibung von pushyaräga »Topas« hervorgehoben.
Pischel hat sich in seinem Buche der englischen Sprache be-
dient. Möge das Buch nun auch auAerhalb Deutschlands die Beach«
tung finden, die ihm gebührt.
Königsberg i. Pr. Th. Zaohariae.
fikr einen Titel des Bhavabhüti , Iftngnet übrigens , daB mit Bhayabhüti der be-
rflhmte Dramatiker gemeint ist.
littt. goi. Abs. 1887. Kr. I. 8
98 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 3.
Feshutan Dastur Behramji Sanjana, Ganjeshäyagän, Andarze
Atrepat Märäspand&n, Mädigäne chatrang and AndarzeEhas-
roe Eavätän. The original PehMText; the same transliterated in Zend
Characters and translated into the Qujarati and English Languages ; a Com-
mentary and a Glossary of select words. Mr. Otto Harrassowitz, Bookseller,
Leipzig, sole agent for Enrope. Bombay: Printed at the Doftnr Ashkara
Press by Rustomjee Nowrozjee Khambatta, 87 Cowasjee Patell Street, Fort
In the year 1254 of Yezdezard and 1885 of Christ*).
Der gelehrte Herausgeber der vier hier genannten Stttcke ist
den Freunden der zoroastrischen Studien vorteilhaft bekannt als Ver-
fasser einer Pahlawigrammatik (Bombay 1871) und Uebersetzer und
Herausgeber des Dinkard (Bombay 1874—83). Wie dieses grOfiere
Werk besteht auch das vorliegende aus dem Urtext in Pahlawi, ei-
ner vom Verf. vorgenommenen Transscription in Zendschrift (wobei
jedoch die semitischen Fremdwörter nicht in ihre persischen Ae-
quivalente umgesetzt, wie in sogenannten Parsiwerken der Fall ist,
sondern semitisch gelesen sind), einer englischen und Guzaratitlber-
setzung, einem Verzeichnisse der ungewöhnlichen oder bisher nicht
bekannten Pahlawi Wörter , sowie einer Vorrede über die Stellung
der vier Stttcke in der Litteratur.
Von den Texten kannte man bereits die Titel (s. Hang, Essays
on the sacred language etc. ed. by E. W. West Lond. 1878, S. 110.
111). Die Uebersetzung ist sehr frei, bisweilen paraphrastisch. Die
Stttcke sind moralischen Inhalts und erhärten aufs neue den hohen
sittlichen Qehalt der persischen Religion, deren genauere Erkenntnis
sie indessen nicht fördern ; es würden die gelehrten Dasturs sich in
noch höherem Grade den Dank der europäischen Forscher verdienen,
wenn sie das was von Geschichte, Geographie und sonstigem Wis-
senswttrdigen in ihren noch unbekannten Manuscripten erhalten ist,
veröffentlichen wollten. Freilich ist der geschichtliche Wert dieser
Pahlawi werke schon deßhalb fraglich (man sehe z. B. die verwirrte
Uebersicht der persischen Könige im Bahman Jascht , West , Pahl.
Texts I, 199), weil viele erst lange nach dem Untergang des sasa-
nischen Reiches entstanden sind, wie die Erwähnung des Chalifen
Mämün (814 — 834) in der Refutation des Ketzers Abälisch und an-
dere sichere Thatsachen zeigen (West, Pahl. Texts III, XXVII), oder
wie in unserm ersten Stttck, Ganj-i fiäyigän, die elegische Auslas-
sung ttber die Vergänglichkeit alles irdischen, selbst der heiligen
Stätten des zoroastrischen Glaubens (män-i magän, S. 2, Z. 4) und
des (sasanischen) Königreichs gegenttber der alleinigen Dauer der
1) Obiges Werk ist für den Preis von 20 Reichsmark bei Herrn Harrasso-
witi, Leipzig, k&oflich.
D. PeshatED, Ganjeshftyagftn, etc. d9
Dinge des Frascbokereti (2, 8) d. h. der Werke , welche am Tag
des Oerichts von der Verdammung erretten , erweist. Dieses 6anj-i
iäyigän (in der alten Handschrift sähak an, also »königlicher Schatz«)
gibt nach einer Einleitung über den unterschied von vergänglichen
und ewigen Gütern eine in Katechismnsform verfaßte Erklärung der
wichtigsten moralischen Begriffe und deren Ursprung in den Seelen-
kräften. Der Kern des Werkes, welchem der Eingang und der nach
dem Katechismus folgende Schluß (der aus dem Parsi zurückge-
schrieben scheint, worauf u. a. die Form ö^pat für die Brücke
ömwat hindeutet § 133) später hinzugefügt sein mögen, wird aus
der Sasanidenzeit stammen, denn wir haben hier offenbar einen jener
Fahlawitexte vor uns, welche Firdusi zu seinen paraenetischen Ein-
schaltungen benutzt hat (Mohl, Le livre des rois VI, S. V. J. Pizzi,
Manuale di Letteratura persiana. Milano 1887, S. 170). Dastur
Peschntan hat die besonders übereinstimmenden Stellen aus dem
Pand-nämeh des Buzurgmihr bei Firdusi zum Vergleich ausgehoben
(im Livre des rois VI, 364, 2463. 366, 2488. 368, 2509, Stelle über
die Diws). Die neupersische Litteratur hat mehrere Werke zu ver-
zeichnen, welche auf die Maximen des Buzurgmihr zurückgehn, wie
das Zafarnämeh, das Na^ihat-nämeh (Bieu, Catalogue I, 52. IV. VII)
und das von Dastur Peschutan S. X erwähnte Djawedän chirad.
Das Manuscript, aus welchem die 3 vom Herausgeber benutzten Ko-
pien stammen, ist angeblich im Jahre 1010 (indisches Samvat 1067)
von einem Erzpriester (Peschwä) in Barotsch für seinen Zögling ge-
sehrieben (vielleicht verfaßt); die erste Kopie stammt aus dem 16.
Jahrhundert, die andere von 1761 und 1778.
Ein zweiter Traktat, Andarz-i Atropät Märaspandän, enthält
die diesem berühmten in der Pahlawiglosse zu Wend. 4, 128 ge-
nannten Dastur in den Mund gelegten Lehren für seinen Sohn Zar-
tnscht (s. Nöldekes Tabari 457, Z. 6). Für eine genauere Bestim-
mung der Abfassungszeit findet sich kein Anhalt.
Dagegen sind geschichtliche Notizen, freilich fraglicher Art, in
der Sehrift über das Schachspiel enthalten. Dieselbe wurde be-
reits 1854 vom Herausgeber in einer Bombayer Wochenschrift be-
kannt gemacht. Sie ist in 3 Handschriften vorhanden, deren älteste
1257 geschrieben ist. Leider gibt diese Erzählung nichts was un-
sere Kenntnis der Geschichte des Spiels erweitern könnte, denn wir
finden über seine Verpflanzung aus Indien nach Persien diejenige
legendenhafte Darstellung, welche wir auch bei Firdusi lesen und
welche bereits Ant. von der Linde (Geschichte und Litteratur des
Schachspiels L Berlin 1874, S. 67) als unhistorisch gekennzeichnet
lutt Da zwischen der Einführung des Spiels unter Chosro Ano-
8*
100 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 3.
Bchirwän (531 — 578) und der AasbildoDg der Legende geraome Zeit
yerflossen sein muß, so ist es schwer, an ein hohes Alter der Schrift
zu glauben. DerRädja, welcher das Schach erfindet, ist bei Mas üdi
Balhit, bei andern ist es dessen Wezlr Qi^^ah (Qaf^ah) Sohn des
Dähir (der indische Name Tschatscha kommt zweimal in der Räi-
dynastie in Sind, ein Jahrhundert später als Chosro, vor, Lassen,
Ind. Alt. m, 595. 604. 631. 632. Gildemeister, ZDMG. 28, 695),
in unserm Traktat aber Dewsäram ((•^^-^•^, vielleicht richtiger mit
Unterdrückung eines Zeichens Dewscharm ^j^^^ zu lesen), welcher
bei Mas'üdi als Dabschilim den mit dem Schachspiel gewöhnlich zu-
sammen genannten Kalilah und Dironah (s. von der Linde II, 473)
verfaßt. Der Name Dabschilim (richtiger wäre zu sprechen Debh-
schalm), dessen Identität mit Devagarman eben aus diesem Fabelbnch
erhellt, kommt auch in der Geschichte des Mahmud von Ghazna vor
(Lassen III, 560.561), und Deva^arman findet sich in derGardabha-
dynastie, deren Münzen den sasanischen Typus haben (Prinsep Es-
says on Ind. Ant. ed. Thomas 1,341. A. Weber, Ind. Stud. XV, 252),
während zu Chosros Zeit die Vallabhidynastie herrschte (seit 480).
Fragen wir nach der Abfassungszeit unsres Traktats, so dürfte der
Name des Rädja nicht für ein höheres Alter beweisend sein, da er
aus dem Fabelbuch entnommen sein köunte; wohl aber dürfte der
Name des Spiels Tschaturang deßhalb für die Abfassung noch zur
Zeit der Sasaniden sprechen, weil der neupersische Ausdruck (wel-
chen wir ohne Zweifel vor uns haben würden, wenn die Schrift erst
in das Pahlawi zurück transscribiert wäre) schon in der ältesten
Stelle (bei Firdusi) die arabische Form Schatranj g^^la-^ zeigt; das
Spiel wurde von den Arabern in Persien erlernt und in hohem Grad
ausgebildet, sodaßdie persischen Schach Wörter in arabischer Umformung
nach Persien zurückkehrten. Auch das Kärnämak des Ardeschir I,
welches Nöldeke (Bezzenberger , Beiträge zur Kunde d. indog. Spr.
4, 1878, S. 39) in die Zeit des Chosro Parwez setzt, hat den indi-
schen Namen Tschat(u)rang ; auch die Guzaratisprache kann den
letztern nicht geliefert haben, weil auch sie das Spiel schetrang
nennt. Gegen diese Verlegung in die spätere Sasanidenzeit dürften
Bedenken sprachlicher Natur nicht sehr ins Gewicht fallen, wie das
Nebeneinanderstehn der Pahlawiform wartaschn und der neuem gar-
daschn (auch gartandk aus wart^^ bereits in der üebersetznng des
Awesta findet man gart 'rund'), welche das Schriftchen für die Um-
drehung der Planeten und die Umwälzung des Himmels, oder wie
D. Peschustan im Glossar erklärt, für die Vorwärtsbewegung und
den Rückgang (der Planeten) anwendet; oder wie die neuere Form
Artachschir, denn obwohl noch der letzte König dieses Namens aaf
D. Peshutan, Ganjesbäyagän etc. 101
den Münzen Artachschatr heißt, so dürfte die Erhaltung dieser nr-
sprünglichen Form in officiellem Styl eine künstliche sein. Ein neuer
Name, der soviel Ref. bemerken kann, bei A. von der Linde und
seinen sachverständigen Kritikern nicht vorkommt, ist der des Mi-
nisters des Bädja, Tätaritns (D. Peschutan : Takhtaritas ; aus ©sodoi-
Qiltog?). Die Stelle, welche den Namen der Schachfigaren enthält,
lautet wörtlich: »Devafarman hat das Tschaturang auf die Weise
des Krieges gleichsam gemacht; gleichwie hier sind 2 Generale
(sar-ckudai) gemacht (geworden) zum König (malka d. i. schah) als
die obersten Ordner {matachwar^ die Lesart scheint ungenau, denn
wir haben offenbar np. ^a^ vor uns, im Sinne des yXo bei Mas'üdi,
B. Gildemeister, Scriptorum Arabum de reb. Ind. loci, Bonn 1838,
S. 10, nlt. = 142, Z. 5) für links und rechts (fttr beide Flügel des
Heeres); der Wezir {Farjm) als Anführer der Krieger {arteUaran
urspr. Wagenkämpfer) gleichsam, das Roß als Anführer der Reiter
gleichsam, der Fußgänger {jpiatdk) als das Korps des Fußvolks
gleichsam vor der Schlachtlinie«. Der Name des Ruch, welcher
am wichtigsten sein würde, ist nicht genannt. Ganz ungeschichtlicb
ist, wenn das weit ältere Nardspiel oder Triktrak dem Buzurgmihr
zugeschrieben und von ihm nur nach dem ersten Sasaniden aus An-
erkennung seiner Tüchtigkeit und Weisheit New-artachscMr benannt
wird. Dastur Peschutan liest diese Benennung Wen-ar^asdar (d und
i haben gleiche Zeichen), ohne diesen Ausdruck zu erklären. Die-
ses New hat dieselbe Bedeutung wie in dem Städtenamen New-
schahpuhr (Nöldekes Tabari 59); das unter Artachschatr erfundne
Spiel konnte ebenso benannt sein wie eine von ihm erbaute Stadt;
ans New-artachschir scheint das neben Nerd besonders von den Ju-
den gebrauchte Nerdschir eher entstanden zu sein als aus Nerd-
Ardeschir; das Wort würde eine ähnliche Kontraktion erfahren ha-
ben wie der Name der Stadt Weh-artachschir in Seleukia, welche
bei den arabischen Geographen Bahursir u. dgl. heißt, oder wie
Rew-artachschir, arabisch Rischahr, mit Anlehnung an schahr (Stadt),
Bahman-schir (Forat und Obollah gegenüber); Bardasir oder Guwä-
Bchir (aus Weh-Ardeschir, heute Kirman) , vgl. Jaqut jjJSi^A ^^«44^
etc. Wüstenfeld, ZDMG. 18, 406. Nöldeke 31, 149. Tabari 10. 16.
19. Hontnm-Schindler, Zeitechr. d. Ges. f. Erdk. 1881, 329. Das
Wort n^ (aitpersisch naiba) dürfte auch in dem Titel netoan-pat
(oberster Wezir, eigentlich Herr der Tapfern, der Helden) enthalten
sein, welchen D. Peschutan wenan-pat liest und von vain (sehen)
ableitet, sodaß er den Herrn der Sehenden, Oberaufseher, dann Rat
oder Minister bedeuten würde, etwa mit Bezug auf die Kazdaxono^
102 Gott. gel. Anc. 1887. Nr. 3.
und iif&aXikoi des Herodot and Xenophon. Ganz zoroastrisch ist die
Erläaterang des Nardspiels und von ähnlicher Tendenz wie die
Erklärung des Schachs als Planetenschach und Himmelskreisspiels
bei Mas^üdi und andern (von der Linde I, 108. 130), in dem das
Bret der Spendarmat oder dem Genius der Erde, die 30 Spielsteine
{muhrak) den Tagen und Nächten des Monats, ihre Bewegungen der-
jenigen der Planeten gleichgesetzt, auch die Steine noch mit gewissen
Begriffen des Avesta in Verbindung gebracht werden.
Der 4. Traktat ist die Ermahnung des Ghosro Anoschirwän an
seine Hinister und Edlen, nach zwei modernen Handschriften.
Zum Schluß einige Einzelheiten. Statt ahiJimän (Ganj. § 169,
S. 21, Z. 4; Transscr. 28, Z. 9) ist richtiger zu schreiben: %aneman^
wie das Glossar wirklich bietet. — In einer Note zum 2. Stttck
S. 2 sucht der Verf. die Vorstellung von Trauen des Ahuramazda',
einen Ausdruck anthropomorphischer Bildersprache, durch eine un-
richtige Uebersetzung aus dem Gab Aiwisruthrema zu entfernen.
Der Text ist ohne Schwierigkeit und läßt nur Eine Deutung zu. —
Im 3. Stttck ist das Pahlawiwort gtischan (awest. varckni) unrichtig
durch yuym transscribiert. — Das Wort, welches Dastur Peschutan
aoeamhurd und aoemeburd transscribiert und durch Diamant, Gemme
übersetzt (Schachsp. § 1, Z. 4 Glossar S. 2^) und für eine Zusam-
mensetzung von hebräisch yp^ (Kostbarkeiten) und neupersisch ^ß
(Stein) hält, ist nichts anderes als das Wort Smaragd; die Pahlawi-
zeichen ^jyiy^j^ müßten uemuburt gelesen werden, sie scheinen aber
nicht richtig zu sein, denn entweder muß man eine vom arabischen
zumurrud oder vom syrischen eemor^gdo abgeleitete Form annehmen ;
ersteres ist wahrscheinlicher, und man müßte wohl uzm{bv)ur^d (rus-
sisch issumurd, armenisch emruxt) verbessern, wobei hy nur eine or-
thographische Bezeichnung des scharf artikulierten m wäre, wie das
h in eVji^Vw (heftig) neben dV»(V«o^. Das Vorkommen dieser aus
dem Arabischen zu erklärenden Form würde gegen ein hohes Alter
des Traktats sprechen, wenn nicht eine spätere Einführung durch
einen Abschreiber mOglich wäre. Das Pahlawiwort für Rubin (an
derselben Stelle) liest Verf. yahüd (arabisch), während offenbar yo-
hand zu sprechen ist. — Afad (awad, Ganj. § 69) 'bewundernswert,
lobenswert' wird aus hebr. lyp erklärt, während es awest. abda.
neupersisch Oo\ ist. — Kanpak (karfä) neupersisch ä5^ (frommes
Werk, Gegensatz von «U?) ist nicht mit arabisch ^Ly verwandt,
sondern ist sanskritisch Mpa und deutsch 'Hülfe'. — Das Wort für
Tanzer' g^jj {eareh, S. 10) ist nicht mit hebräisch rnt (umgürten)
verwandt, sondern awest. israda. — Pahlawi j^ (groß) liest Verf.
Ludwig, Johaim Georg Kästner, ein elsäBischer Tondichter etc. 103
saiwar and erklärt es aas mbi^, hebräisch 9(0/tO] es ist vielmehr
$tapar zn lesen, neapersisch j^m, awestisch stawra, griechisch au-
ßaQog. So ist auch stahmah (Tyrannei) kein semitisches Wort, wie
Verf. annimmt, sondern neapersisch <uJüU>, «uaämI (starker Mann)
und Ju» (ünterdrttckang) ; derselben Abkanft ist awestisch itap'a,
and das dentsche Stahl (altpreaßisch staUa). — Sehöh (Glanz,
Würde) ist neapersisch v^X& and übersetzt im Zend-Pahlawifarhang
134, 5 das alte ainit% was im Awesta vielmehr durch pahlawi
jujuJ'l (Freisein von Bache) wiedergegeben wird; die Orandform
wird sJcau^a gewesen sein, verwandt mit altdeutsch sTcüwo (Schat-
ten), denn Olanz und Schatten werden durch dasselbe Wort ausge-
drückt, armenisch Siik'^ ist Schatten und Glanz, griechisch cr«ia und
deatsch Schemen ist mit 'scheinen' verwandt.
Marburg. Ferd. Justi.
Ludwig, Hermann, Johann Georg Kästner, ein elsäSischer Ton-
dichter, Theoretiker nnd Musikforscher. Sein Werden and
Wirken. Leipzig 1886. (Breitkopf & H&rtel). 2 Teile in 8 Bänden.
Selten wird wohl ein Buch mit größerem Eopfschütteln aufge-
nommen sein, als das vorliegende. Drei dicke Bände von zusammen
etwa 1300 Seiten in wahrhaft glänzender Ausstattung, mit einer Fülle
TOD Buchzierungen nach den besten Mustern der Renaissance, mit
Photographien, Faksimiles, einer Partiturbeilage von 32 Seiten —
nnd wem ist das alles gewidmet? Einem Manne, der bisher kaum
mehr als dem Namen nach bekannt gewesen ist. Liegt hier eine
grofte Ungerechtigkeit der Musiker oder ein großer Irrtum des Ver-
fassers vor? Doch hören wir erst, wie der Verf. das Werk einführt.
Er deutet zunächst die Erfüllung einer Pietätspflicht an. Darüber
kann hinweggegangen werden. Vor den Gefühlen der Angehörigen
hat die Kritik mit schuldiger Rücksicht Halt zu machen. Sie darf
sich aber auch in keiner Weise dadurch abhalten lassen, das Buch
rein sachlich zn schätzen. Familienpietät hat auf dem Felde der
Litteratnr keine Stimme. — Sodann wirft der Verf. den nationalen
Gesichtspunkt in die Wagschale. Das Buch soll »dem verdienstvollen
elsäßischen Tondichter, Theoretiker und Musikforscher auch in der
deutschen Kunstwelt den ihm gebührenden Platz erringen«, ferner
S. 5: »Ein echter, bei tiefer musikalischer Veranlaguog mit uner-
müdlichem Streben, staunenswertem Fleiße und scharfer Forschergabe
104 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 8.
ausgeBtatteter Sohn Alsas, hat J. G. Kästner mit der Innerlichkeit
deutschen Gemüts and deutscher Treue sein politisches Vaterland
Frankreich geliebt. Er verstand es, sich die Feinheiten französischer
Bildung anzueignen, ohne doch in der geringsten seiner seltenen
Geistes- und Herzenseigenschaften die alte Stammesart zu verläugnen.
So gehört der schon seit bald zwei Jahrzehnten Dahingegangene zu
den geistig eingebornen Söhnen des wiedererstandenen deutschen
Reichs. Auch ihn durch liebevolle, genauere Kenntnis seines Wer-
dens und Wirkens sich voll anzueignen, dürfte zu den neu erwerbe^
nen Pflichten und Bechten Deutschlands gegen das Reichsland zu
rechnen seine Zu den Rechten? Wird etwa auch auf litterari-
schem Gebiet erst durch den Waffensieg das Recht der Aneignung
erworben? Auf die Pflicht komme ich hernach. Was zunächst den
Satz betrifft, daß Kastner ein geistig eingeborner Sohn des neuen
deutschen Reichs sei, so ist mehr als fraglich, ob K. selbst nicht
gegen denselben auf das äußerste protestieren würde. Denn er war
mit Leib und Seele Franzose. Das bedarf keiner Entschuldigung,
wie es anderseits auch kein Verdienst ist, daß sein Charakter die
germanischen Merkmale aufweist. In der Einleitung wird die Ent-
stehung und das Wesen dieser zwiespältigen elsäßischen Eigenart,
der französischen nationality politique und der germanischen natio-
nalite morale, mit umfassender Kenntnis von Land und Leuten ein-
gehend und gut geschildert, und diese Darstellung, welche neben
der Schilderung von Paris i. J. 1835 das Anziehendste des gan-
zen Buchs ist, erfüllt den Nebenzweck, in Altdeutschland das Ver-
ständnis für den elsäßischen Volkscharakter zu fördern. Ob aber
der Hauptzweck erreicht, nämlich für Kastner durch den Hinweis
auf seine nationality morale in Deutschland Sympathie erweckt wird,
ist wiederum mehr als fraglich. Die Musikgeschichte wird ihn, so-
weit sie ihn überhaupt erwähnt, immer zu den Franzosen rechnen
müssen, wie dies bisher geschehen ist. Ebensowenig wird es in
Deutschland besonderen Eindruck machen, daß K. in Frankreich für
Einführung und Verbreitung deutscher Musik gewirkt hat. Einmal
hat K. sehr wenig damit erreicht, und das Wenige ist durch den
Krieg völlig in Vergessenheit geraten. Sodann ist es für die deut-
sche Musik aber auch sehr nebensächlich, wie sie in Paris beurteilt
wird. Sie ist und bleibt nun einmal für die Franzosen, diese un-
musikalische Nation, zu hoch, ein wahres Buch mit sieben Siegeln,
das zu entsiegeln weder Fähigkeit noch Neigung vorhanden ist
Musique allemande nennen sie ja auch eine Musik, die ihnen nicht
gefällt, und die Verspottung der Deutschen, weil sie die Musik comme
une affaire d'6tat bebandeln, ist gleichfalls bekannt. Vor allem hat
Ludwig,, Johann Georg Kästner, ein elsäBischer Tondichter etc. 105
der Verf. aber darcbaus nicht erwiesen, ob denn Kastner selbst wirk-
lieh nmfassende Kenntnis und eindriogendes Verständnis der deat-
schen Musik besessen bat. — Qanz gleiebgiltig für Deutschland sind
endlich K.8 Verdienste um den Musikunterricht am Pariser Konser-
vatorinm und um die französische Militärmusik. Der Verf. sagt übrigens
nichty ob diese Verdienste K.s auch heute noch in Frankreich aner-
kannt werden und in Geltung sind. Von einer Pflicht Deutsch-
lands, Kastner genauer kennen zu lernen, kann also nur dann die
Rede sein, wenn K.s Leistungen in Komposition, Theorie und Qe-
schichte der Musik abgesehen von allen nationalen Gesichtspunkten,
ttberhaupt yon jedem relativen Maßstabe, von hoher allgemeiner
Bedeutung sind. Sind sie das nicht, so muß das Buch in dieser
Ausdehnung als verfehlt bezeichnet werden, und höchstens ein kleiner
Teil verdiente dann als Beitrag zur Kunstgeschichte des Elsaß, bzw.
Frankreichs, die Veröffentlichung. Jene allgemeine Bedeutung K.s
ist aber nicht vorhanden, nach keiner der angegebenen Richtungen.
Werfen wir zuerst einen Blick auf K.s theoretische Leistungen.
Vorweg muß ich bemerken, daß der Verf. nach meiner Meinung auf
einem principiell unrichtigen musikalischen Standpunkt steht, wenn
er in Wagner, Berlioz, Liszt eine höhere musikalische Entwicklungs-
stufe sieht, als in Haydn, Mozart, Beethoven. Damit hängt zusam-
men, daß der Verf. zu den drei Grundfaktoren rein musikalischer
Darstellung, Melodie, Harmonie und Rhythmus, die Instrumentation
als vierten gleichberechtigten Faktor hinzufügt. Das läuft auf die
Ansicht hinaus, daß Instrumentationseffekte einen Mangel an jenen
Dreien zu ersetzen vermöchten. Wenn er aber gar sagt, daß die
Klassiker in der Instrumentation »unbewußte das Rechte gefunden
hätten, womit er ihnen in der Instrumentation klare Einsicht und be-
wußte künstlerische Absichten abspricht, so muß dies als durchaus
üalsch zurückgewiesen werden. Der Verf. hat hier nicht zwischen
angewandten Principien der Instrumentation und theoretischer Dar-
stellung dieser Principien zum Zwecke der Unterweisung unterschieden.
Alle Instrumentation beruht auf Erfahrung. Von ihr giengen die
Meister aus, nnd nachdem sie durch Beobachtung der Natur und
Stadium der Errungenschaften ihrer Vorgänger Herrschaft erlangt
hatten, bereicherten sie die Orchestersprache durch neue geniale Er-
findungen, durch erweiterte Benutzung der einzelnen Instrumente
and durch neue Kombinationen und Mischungen. Zu letzteren schrit-
ten sie behntsam fort, unter steter Kontrole der inneren Vorstellung
durch die äußere Wirkung, und gestanden es ohne Eigensinn durch
Aenderungen ein, wenn sie sich einmal geirrt hatten. Daß sie
dabei unbewußt verfuhren, hat wohl noch niemals jemand ange«
106 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 3.
Dommen. Es fiel ihnen nnr nicht ein, dnrch Darstelinng ihrer Prin-
cfpien als Lehrer der Instrumentation aufzutreten. Dazu hatten sie
besseres zu thnn. Sie waren wohl überhaupt der Meinung, daft der
lebendige Verkehr mit Partituren guter Meister die Bnchdarstellung
entbehrlich mache. Noch weniger wäre es ihnen in den Sinn g&*
kommen, die Instrumentation als besonderen musikalischen Grund*
faktor anzusehen. Ihre Gedanken sprangen mit der instrumentalen
Rtlstung hervor, und nur die Ausführung im Einzelnen blieb der
späteren Arbeit überlassen. Bloße Klangspielereien mit Orchester-
effekten endlich hätten sie fttr ein künstlerisches Armutszeugnis an-
gesehen. — Damit soll nun nicht gesagt sein, daß in der Instrumen-
tation dnrch theoretische Darstellung gar nichts gelehrt und gelernt
werden kOnne. Tonumfang, Tongebiet und Spielart der einzelnen
Instrumente ist Vorbereitung zur Instrumentation ; Klangwirkung und
Mischung der Instrumente können jedoch nur demjenigen mit Nutzen
demonstriert werden, welcher die Principien bereits durch Partitur-
Studien und Uebung des Gehörs beherrscht. So kann eine Instru-
mentationslehre wohl Erleichterung und Anregung gewähren, nie-
mals aber die wahren Lehrbücher der Instrumentation, Partituren
und Orchester, ersetzen. Eine »künstlerische That« ist also in jedem
Falle für eine Instrumentationslehre eine übertriebene Bezeichnung.
Nun ist außerdem Kastners Traits gän^ral dlnstrumentation durch
Berlioz' Grand Traitä d'Instrumentation, welcher mehrfach ins deut-
sche übersetzt ist, völlig in den Schatten gestellt. Diese Thatsache
sucht der Verf. dadurch zu parieren, daß er für einige von Berlioz
zuerst angewandte Orchestereffekte Kastner die Priorität der Erfin-
dung wahrt, und daß er überhaupt das Werk Kastners als Haupt-
quelle Berlioz' bezeichnet, was er aber gleich darauf so einschränkt,
daß B.S Originalität unangefochten bleibt {U} S. 149). Daß jedes
Werk, welches einen Gegenstand irgendwie fördert, alle früheren
Leistungen in sich aufgenommen haben muß, versteht sich von selbst.
Aber nicht einmal bei seinem Erscheinen ist K.s Werk mit unge-
teilter Anerkennung aufgenommen, vielmehr heftig angegriffen wor-
den, und zwar von seinen speciellen Landsleuten, was der Verf. auf
Neid und Gehässigkeit zurückführt. — Noch unbedeutender sind K.8
übrige theoretischen Werke. K.s musikalische Entwicklung ist eine
sehr unvollkommene gewesen, nicht durch seine Schuld, sondern
durch äußere Verhältnisse. Bis zu seinem Abgange nach Paris ist
er völliger Autodidakt gewesen, womit in keiner Kunst etwas zu er-
reichen ist. In Paris erhielt er in seinem 2öten Lebensjahre den er-
sten geordneten theoretischen Unterricht von Reicha. Auch dieser
wird vom Verf. offenbar überschätzt. Beichas Methode muß nach der
Ludwig) Johann Georg Kastner, ein elsäBischer Tondichter etc 107
SehilderoDg (IIi S. 103 ff.) ebenso oberflächlich gewesen sein, wie
sein kontrapanktisches Wissen und Können mangelhaft war. B. fand
alle bis auf ihn erschienenen Werke unklar, d.h. er hat sie nicht
verstanden. Das beweist schon sein oft und »feierliche geäußerter
Hauptsatz: »In der Vorbereitung der Quart liegt das ganze Geheim-
nis eines guten Basses«. Mit solchem Unsinn konnte ihn sein Schü-
ler wohl leicht in die Enge treiben, aber belehrt wurde er dadurch
nicht, wie die Quart zu behandeln sei. Das Geheimnis eines guten
Basses hätte er damit freilich auch noch nicht besessen. Im Belang
der Fuge bekämpft Beicha die »allzustrengen Theoretiker und die
absoluten Begeln«, er misbilligt sie, ohne sie zu kennen. Denn er
ist nicht im Stande, ein Fugenthema mit Sicherheit zu beantworten.
Doch genug. Ghernbinis Haltung gegen Beicha ist hier allein völlig
entscheidend, und wenn Berlioz, der auch Schüler Beichas war, zu
Ghembini äußerte je n^aime pcks la fugue, so galt die beißende Ant-
wort et la fugue ne vous aime pas vielleicht ebensosehr dem Leh-
rer als dem Schüler. Und was bezwecken nun sowohl Beicha wie
Kastner mit ihren theoretischen Werken? Sie wollen dem Schüler
Studien ersparen, dant la secher esse et la longue duree ont souvent
fait nattre le decouragement. Oft? Das mag sein, wenn nämlich der
Schüler kein Urteil hat, oder wenn der Lehrer lehrt, was er selbst
nicht kann. Ist dies aber beides nicht der Fall, so ist keine Lehre
ermutigender und befriedigender, als gerade die strengste Schule,
auf welche jener Vorwurf zielt, nämlich J. Fux' Gradus ad Par-
nassum, welches Werk durch die meisterhafte Behandlung H. Bel-
lermanns in seinem »Contrapunktc erst recht fruchtbar gemacht wor-
den ist. Nur von diesem Werke gilt, was Kästner von seiner Gram-
maire musicale unrichtig und allzu selbstgefällig behauptet, daß
»alle, welche sich gewissenhaft damit beschäftigt haben, mit eigenen
tondichterischen Arbeiten beginnen können und überzeugt sein dür-
fen, daß eine Menge Komponisten vor ihnen bezüglich der einschlä-
gigen Kenntnisse nichts voraushabenc; dann müßte es heißen, »daß
sie vor andern Komponisten etwas voraushaben«. Das können aber
nur die beurteilen, welche jene Schule wirklich durchgemacht haben.
Man erklärte dieselbe, wiewohl alle klassischen Meister in ihr gebil-
det sind, seit dem Auftauchen der Zukunftsmusik für Zopf, mit dem-
selben Becht, wie wenn etwa der Plastiker plötzlich die Antike für
Zopf erklären wollte. Mit der longue duree hat es allerdings seine
Bichtigkeit. Die Klage ist alt. Schon Fux hat aber die treffende
Antwort darauf gegeben (vgl. Bellermann a. a. 0. S. 166). Ich bin
im vorhergehenden absichtlich nicht auf Einzelheiten eingegangen,
sondern habe meinen principiellen Standpunkt in der musikalischen
108 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 3.
Theorie bezeichnet. Denn auf die bestimmte ümgrenzang eines sol-
chen kommt es an, wenn über masik-theoretiscbe Werke bestimmt
genrteilt werden soll. Ich glaube danach nicht, daß die vom Verf.
angekündigte deutsche Bearbeitung der theoretischen Werke Kast-
ners mein ablehnendes Urteil durch den Erfolg widerlegen wird.
Wir kommen zum Komponisten. Was Kastner alles komponiert
hat, erfahren wir bis auf jeden Walzer und Militärmarsch. Sogar
mit denjenigen Kompositionen beschäftigt sich der Verf. aufs aus-
führlichste, welche K. selbst vernichtet hat. Hier steht die glorifi-
zierende Tendenz des ganzen Buchs mit den Thatsachen doch in so
starkem Widerspruch, daß der bloße Hinweis darauf zur Widerlegung
genügt. Schon zu seinen Lebzeiten hat Kastner auch nicht einen
einzigen, sei es auch nur vorübergehenden, Erfolg errungen, weder
in Paris, noch in seiner engeren Heimat Straßburg, hier merkwür-
digerweise am wenigsten. Das lassen die Preßstimmen und privaten
brieflichen Urteile durch die schmeichelnde Verhüllung durchblicken —
ein so ungeheuerliches Urteil, wie das der Oazette musicale, welche
einmal einen Satz Kastners dem letzten Satz der neunten Symphonie
Beethovens an die Seite stellt, hätte der Verf. im Interesse seines
Helden doch lieber unterdrücken sollen — ja der Verf. muß es trotz
alles Sträubens selbst zugeben. Sein ganzes Streben geht nun da-
hin, dieser Thatsache die Spitze abzubrechen. Bald ist es unge-
nügende Einstudierung, bald schlechter Text, einmal ein ungeheizter
Saal, was den Erfolg hindert, zur komischen Oper eignete sich K«
nicht wegen seiner nationality morale, die Pariser schalten die Kom-
position une musiqae allemande (ob Deutschland sie als solche an-
erkennen würde?); er galt den Parisern überhaupt als Erudit alle-
mand ; seine theoretischen Werke sollen »Voraussetzungen geschaffen
haben, welche die Beurteilung seiner tondichterischen Schöpfungen in
der Folge in gewisser Weise (?) beeinflussen mußten«. Außerdem
soll Berlioz aus Künstlerneid und Furcht vor K.s Nebenbuhlerschaft
die komische Oper K.s zu Fall gebracht haben, wofür jedoch nur
das Zeugnis K.s selbst angeführt wird. Im Ganzen ist es aber
schließlich »die Art seiner musikalischen Veranlagung, welche seinem
allgemeineren Bekanntwerden als Masiker im Wege stände Er war
»gegen moralische Misklänge« zu empfindlich, um seine Werke in
die Oeffentlichkeit zu bringen. »Er konnte sich weder zur Benutzung
der in dieser Richtung meist allein zum Ziele führenden Druck-
werke der üblichen Ränke, Umtriebe und selbst Leidenschaften, noch
der ihm zu Gebot stehenden geldlichen Mittel und einflußreichen
Verbindungen entschließen. Seine sittliche Kraft war hier
Ludwig, Johann Georg Kästner, ein elsäftischer Tondichter etc. 109
zugleich seine praktische Schwäche. Erfüllt vom Glau-
ben an das Ideal, selbst durchsichtig im Handeln und Wollen, hatte
er nach kurzem Versuch den Wettlauf um öffentliche Erfolge als
Tondichter eingestellte Man mag von den Pariser Musikzuständen
Doch so gering denken, wozu Grund genug vorbanden ist, aber hier
geschieht doch wohl selbst ihnen Unrecht. Daß allein durch In-
triguen, Bestechungen und einflußreiche Verbindungen dort musikali-
sche Erfolge errungen werden, die Beschaffenheit der Werke aber
gar nichts vermag» wird dem Verf. schwerlich jemand glauben. Was
ferner der Glaube an das Ideal hier soll, ist unverständlich. Ist
dieser Glaube unvereinbar mit praktischen künstlerischen Bestrebungen?
Verlangt der Glaube an das Ideal, wenn er Wert haben soll, nicht
vielmehr den Kampf für dasselbe? Doch statt auf Gemeinplätze einzu-
gehn, will ich die Gegenfrage stellen: Läßt das ganze Verhalten
KjBy seine angebliche praktische Schwäche bezüglich des öffentlichen
Auftretens als Komponist, nicht auch eine ganz andere Auslegung
zu? Geht diese praktische Schwäche nicht vielmehr aus Mutlosig-
keit, aus dem unbestechlichen Gefühl der künstlerischen Schwä-
che hervor, einem Gefühl, welches ihn in der That in jüngeren Jah-
ren wiederholt beschlichen hat, welches aber später durch die Eigen-
liebe zurückgedrängt wurde? Wie ist es anders zu erklären, daß
er sein »Hauptwerk«, eine biblische Oper Le dernier roi de Jnda,
nicht einmal hat drucken lassen? Schon die Erzählung der Hand-
lung, welche 20 Seiten einnimmt, ist so ermüdend, daß man sich nur
mit Anstrengung hindurchwindet. Der Verf. erklärt das für »lieber-
f&Ue des Beichtumsc und deutet Notwendigkeit der Kürzung an.
Denn nach der Behauptung des Verf. besitzt das Werk »in seinen
großartigen musikalischen Schönheiten und seinem reichen dramati-
schen Leben Unvergängliches genug, um vollbegründeten Anspruch,
auf der Bühne zu uneingeschränkter Wirkung zu gelangen, fort-
dauernd behaupten zu dürfen«. K. selbst hat nur eine Aufführung
ausgewählter Stücke im Konzertsaal veranstaltet, wo der mangelhaft
geheizte Saal keinen rechten Eindruck aufkommen ließ. Betrachtet
man aber das in Partitur mitgeteilte Vokalsextett, so wird man den
Grund der kalten Aufnahme in der Musik suchen. Etwas platteres
und trivialeres, als dieses Sextett, welches als eine musikalische
Hauptnummer bezeichnet wird, kann man sich kaum denken. Wenn
das Uebrige nicht besser ist, so wird schwerlich eine Theaterleitung
sich bereit finden lassen, dem Buf des Verf. Folge zu leisten und
die Oper zur Aufführung zu bringen. Wieder sucht der Verf. der
Oper dadurch höhere Bedeutung zu geben, daß er Zedekia zum ür-
110 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 8.
bilde Johanns von Leyden im Propheten Meyerbeers maeht. M. habe
Kästner bei Rückgabe der Partitur versichert Ten ai fait mon pro-
fii ; ü y a lä dedans une foule de choses neuves ä etudier. Der Ze-
dekia Kästners sei aber »zweifellos nachhaltigem Anteil za erwer-
ben berechtigt, als der Johann von Leyden Scribesc Allerdings
wird für den letzteren niemand schwärmen. Ob aber die obigen
Behauptungen richtig sind, kann nur durch die Bühnenanfftthrnng
erhärtet werden. Wie kam es denn nan aber, daß auch seine spe-
ciellen Landsleute im Elsaß sich so gleichgiltig und undankbar ge-
gen den Komponisten zeigten? Er komponierte zum Schlettstädter
Sängerfest 1859 eine Festkantate. Dieselbe wurde aber nicht ein-
studiert, sondern mit nur einer Probe gesungen, oder vielmehr ge-
schwiegen ; denn von den 750 Mitwirkenden sangen nicht 200. Das
Straßburger Sängerfest 1863 brachte K. eine neue Erfahrung des
Undanks von Seiten seiner Landsleute, welche fast nach Verhöhnung
aussieht (IP S. 215 ff.). Die ganze Sache wirft ein sehr ttbles Licht
auf den Charakter der damaligen elsäßischen Musikvereine. Durch
»blaßen Neide allein ist dies Verhalten aber nicht zu erklären.
Waren K.s Kompositionen wirklich so bedeutend, wie der Verf. ver-
sichert, so hätte sich nicht bloß in der Presse und in einzelnen Pri-
vatbriefen die Entrüstung geäußert, sondern auch in den Vereinen
selbst doch mindestens eine für den Komponisten wirkende Minori-
tät gefunden. Ein neuerdings hier in Straßburg wieder zur Auf-
führung gebrachter Männerchor von Kastner beweist aber, daß die
obige Voraussetzung nicht zutrifft. —
»Die Eigenart Kastners als Musikforscher beruht, wie na-
mentlich seine Hauptschöpfungen nach dieser Seite, die Livres-Par-
titions, darthun, darin, daß derselbe vollständig aus dem Tondichter
hervorgegangen istc. Diese Livres- Partitions haben in der gesamten
Litteratur nicht ihresgleichen. Es sind Bücher, d. h. historisch-phi-
losophisch-litterarisch-musikalische Abhandlungen und Partituren fttr
Gesang und Orchester, welche den Gegenstand der Abhandlung mu-
sikalisch bearbeiten. Die Gegenstände sind: Die Toten tanze,
lieber den Ursprung des Männerchorgesangs, üeber
die Soldatenlieder der französischen Armee, Die
Aeolsharfe oder die kosmische Musik, Pariser Stim-
men (d. h. Straßenrufe, K. gibt sogar eine Geschichte der
Straßenrufe vom Mittelalter bis zur Gegenwart), die Sirenen (Aber
die wichtigsten Bezauberungsmythen, über magische Musik, über
Schwanengesang, in ihren Beziehungen zur Geschichte, Philosophie,
Litteratur und schönen Kunst) , endlich Paremiohgie musicdle de Iß
OQldenpennig, Oesch. des oström. Belches unter den Kaisern Arcardins etc. 111
Imgue frangaise (etwa : masikaliscbe SprichwOrtererklärong, über die
Sprichwörter, deren Bilder aas der Musik stammen). Zu den Toten-
tänzen kommt ein mosikalischer Totentanz für Chor and Orcbestery
za der Abbandlang ttber den Männergesang Männercböre, za den
Tois de Paris eine bamoristisebe Sympbonie Les cris de Paris n. s. w.
— Aaf diese Abbandlangen näber einzagebn vermeide icb absiebt-
lieb, weil die Kritik bier gar za leicbtes Spiel bat. Za soliden lit-
terariscben Arbeiten feblte es K. an der nötigen wissenscbaftlicben
Dnrebbildang. Die Scbriften bewegen sieb in baltlosen Verma-
tangen, veralteten wissenscbaftlicben Anscbaaangen, starken Irrtümern
and vor allem in Pbrasen, welcbe ganz aas der nationality politique
Kastners stammen.
Mag Kastner als Menscb die vortrefflicbsten Eigenscbaften be-
sessen baben, als Musiker verdient er das ihm bier erricbtete Denk-
mal nicbt, und die tendenziöse Uebertreibung der Darstellung dient
nar dazu , das Oegenteil der Absiebt zu bewirken. Wer zu viel be-
weisen will, beweist gar nichts.
Straßbarg i. E. J. Plew.
Galdenpennig, A.y Geschichf'te des oströmischen Reiches unter
den Kaisern Arcadias und |Theodosias IL Halle , Niemayer 1885.
XIV und 426 S.
Von dem vorliegenden Buche habe icb nur wenige Seiten ge-
lesen, doch genügen sie vollständig zu seiner Beurteilung. Die
mäßigsten Anforderungen, welcbe man an einen Historiker stellen
kann, sind fraglos diese : er muß auf dem Gebiete, welches er be-
bandelt, erstens die Litteratur kennen, zweitens die Quellen, drittens
die Sprache, in welcher sie geschrieben sind. Wie G. ihnen ent-
spricht, mögen folgende Thatsacben zeigen.
Im ersten Kapitel wird mehrere Mal der dritte Band von
Beeker-Marquardt, Handbuch der römischen Altertümer, citiert. Die-
ser ist längst veraltet und schon vor dreizehn Jahren als neue Auf-
lage desselben Marquardts Staatsverwaltung erschienen. Wenn aber
O. dies verbreitetste aller Handbücher niebt kennt, so kann er
▼on der Litteratur seines Faches nicht mehr gelesen haben, als
was ihm irgend ein glücklicher oder unglücklicher Zufall in die
Hände spielte. Daß in der Uebersicht der Provinzen, welche das
Buch eröffnet, Mommsens Untersuchungen über die Provinzen ver-
i
112 öött. gel. Anz. 1887. Nr. 3.
zeichnisse des Veronensis and des Polemins Silvias nicht einmal ge-
nannt sind, kann also gar nicht Wander nehmen.
Das zweite Kapitel beginnt mit den Worten: »Der Kaiser Ar-
cadias oder, wie er mit vollem Namen heißt, Flavias Arcadias Pias
Felix4f. Wer in Eckbels Doctrina namoram oder im Corpus Inscrip-
tionum aach nur fluchtig geblättert hat, wird wissen, daß Pias Felix
keine Namen, sondern Bestandteile des Kaisertitels sind. Folglich
sind die Münzen und Inschriften, welche in der römischen Kaiser-
geschichte zu den allerwichtigsten Quellen gehören, dem Verf. so
gut wie anbekannt.
Seine Sprachkenntnis endlich wird durch folgende Stelle ge-
nügend charakterisiert S. 34: »Aus Ambrosius (ep. I 57, 3: aderat
amplissimus honore magisterii militaris Baute comes et Rumoridus,
et ipse eiusdem dignitatis, gentilinm nationnm cultui inserviens a
primis pneritiae suae annis) will Seeck schließen , daß Baute Christ
war, indem er sich dabei auf den Singularis »inserviensc stützt.
Indes beweist derselbe nichts, weil aach das gemeinsame Prädikat
»aderat« singularisch ist«.
Wer so wenig von Litteratur, Quellen und Sprache weiß, kann
kaum die Absicht gehegt, geschweige denn erreicht haben, die Wis-
senschaft durch irgend ein neues Resultat zu bereichern. Wenn
aber Güldenpennig gehofft haben sollte, das schon Bekannte in
schönerer Form zu bieten, so hat er sich auch hierin getäuscht.
Wie Styl und Darstellung beschaffen ist, mag dieses Pröbchen zei-
gen S. 36 : »Dazu kam gewiß ein hoher Grad persönlicher Klugheit
und Gewandtheit, Eigenschaften, die niemand zur Schande gereichen,
andererseits aber für jemand , der an einem intriguenreichen Hofe
seine Laufbahn machen will, ganz unentbehrlich sind«, lieber die
historische Auffassung wird man bei einem Buche dieser Art wohl
ein Urteil nicht verlangen.
Greifswald. Otto Seeck.
Fttr ai0 Bedaktion TwutworUieli : Prof. Dr. B$chUl, Direktor dar GMtt. fd. Abs..
AssesBor der Königlichen GeaeUsduift der WiMenaelukfteB.
f9rkig ätr JHtUrieh^iehm Tmkigt 'BuehhcmtBmff,
ttmek im- IH«itri€k'»ekm üm9,'Bf»didnidur§i (Fr. W, tamkmh
fv»-«»»r.
118
Göttingische
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Nr. 4. 15. Febraar 1887.
Preis des Jahrganges : JL 24 (mit den »Nachrichten d. k. G. d. Wiss.« : JL 27).
Preis der einzelnen Nummer nach Anzahl der Bogen: der Bogen 50 ^
Ishftlt : K n n t E e , Die Obligationen im römischen and im heutigen Recht and dM ins eztn-
ordinarinm der römischen Kaiierseit. Von Ubbtlohde. — Haber, System und Geechiohte dee schwel-
seciechen Priratrechts. I. Ton Maff&r.
= Eigennichtiger Abdruck von Artikeln der 68tt. gel. Anzeigen verboten. :=:
K u n t z e , Dr. Johannes Emil, ord. Prof. d. Rechtswissenschaft a. d. Universität
Leipzig, Die Obligationen im römischen und im heutigen
Recht und das ius extraordinär ium der römischen Eaiser-
zeit. Zwei Abhandlungen. Leipzig, J. G. Hinrichs'sche Buchhandlung. 1886.
Vm u. 399 S. 8^
Laut der EinleitoDg (S. 1—11 §§ 1—3) beabsichtigt der
Verf. zweierlei zu zeigen, nämlich einmal an der Verarbeitung des
Obligationsbegriffs das Verhalten der römischen Kechtswissenschaft
der Eaiserzeit zn einem traditionellen antiken Stoffe, and sodann,
>inwiefem im ius privatum nnd publicum ein Hinausschreiten ttber
die Linien des alten römischen Qedankensystems erkennbar , auch
den Römern selbst schon bewußt gewesen ist, und inwiefern dieses
Hinansschreiten selbst wieder zu einem System > dem jüngsten in
der römischen Rechtswelt, gefährt hat« (S. 3f.)> nämlich dem von
ihm behaupteten Systeme des ius extraordinarium. Die Obligatio
aber greift er za dem ersten Zwecke heraus, weil sie in der Kaiser-
zeit »die weitaus hervorragendste Gestalt, die Lieblingsfigur der rö-
mischen Jurisprudenz, der unbestreitbare Prototyp in der immer rei-
cher sich belebenden Welt der Rechtsverhältnisse« sei (S. 4); und
weil an ihr die juristische Meisterschaft der Römer sich am höch-
sten zeige, kein anderes Volk zu einem so abgeklärten Begriff der
Obligatio gelangt sei. »Keine Rechtskultur wird der Obligatio so,
wie sie ist, entbehren können, keine Zeit in dieser Richtung voU-
•«tt. gel. Au. 1887. Hr. 4. 9
114 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 4.
kommneres erfinden«. Während alle übrigen Begriffe des römischen
Priyatrechts mannigfach gewandelt worden seien, stehe die Obligatio
fast unangetastet als eine fast übergeschichtliche Erscheinung. »Wenn
wir hente von einer den Römern anbekannten obligatorischen Sin-
galarsuccession (neben Novation und Cession) reden und im moder-
nen Girculationspapier die Obligatio mit einer Art Körper (als Ve-
hikel für den Verkehr) ttberkleidet haben, so geschieht das doch
ganz unbeschadet der Natur der Obligatio, ja dieselbe ist gerade
durch die Hand der Römer so zweckmäßig und handlich organisiert
worden, daß sie die Begriffe der Singularsuccession und der Nego-
ciabilität nicht bloß trefflich zu ertragen vermag, sondern zu ihrer
präcisen und funktionsfähigen Ausbildung Motiv und Norm gibtc
(S. 5). Endlich zeige die Geschichte der Obligation eine Stufenfolge
der Entwickelung »von rohen kindlichen Anfängen zu reinster und
freiester Höhe«, eine Stufenfolge jedoch, auf deren oberen Staffeln '
»die Römer sich nicht mehr in der Bahn ihres nationalen Geistes
fühlten und gleichsam das Programm der Klassicität verließen«
(S. 6 f.). Hiermit aber ist der Grundgedanke der zweiten Aufgabe
des Verf.s berührt. Die Eaiserzeit nämlich habe die in den, zuletzt
parallel laufenden, Linien des ins civile und des ins honorarium ge-
zogene alte klassische Bahn der Rechtsgeschichte zu schmal befun-
den und an tausend Punkten die alte Ordnung durchbrochen. »Ne-
ben der antiken Doppellinie mußte eine dritte Linie gefunden wer-
den, wenn wirklich in der Eaiserzeit sich eine neue Welt ankün-
digte und vorbereitete, denn aus lauter Punkten setzt sich keine
Linie, aus bloßen Ausnahmen und Unregelmäßigkeiten setzt sich
nicht eine neue Welt zusammen«. Man zog um die Kreislinie des
alten Horizonts »gleichsam einen neuen weitern Horizont-
kreis in koncentrischer Umspannung«, nämlich die Linie des ins
extraordinarium ; »erst mit (dessen) Aufstellung — neben dem ins
civile und honorarium (ist) das Römertum in seine volle Ehre ein-
gesetzt« (S. 8). »In dem ius extraordinarium ward sich für das
Privatrecht Rom seiner Aufgabe bewußt, Ordner und Hort nicht mehr
bloß eines nationalen Kulturkreises, sondern einer ganzen Kulturwelt
zu sein«. »Der römische miles und der römische servus dieser Zeit
sind die beiden Häupter, welche den neuen erweiterten Horizont
markieren« (S. 9). Bei genauerer Betrachtung stelle sich zu dem
privatrechtlichen ius extraordinarium auch im ius publicum der Rö-
mer ein Seitenstück dar. »Was der filiusfamilias miles neben dem
paterfamilias, das war der Imperator neben dem senatorisch-repu-
blikanischen System« (S. 11). — Uebrigens erklärt der Verf. in der
^chlußbetrachtung ausdrücklich, er »habe überhaupt nichts Neaei
Eantze, Die Obligationen im römischen und im heatigen Recht etc. 115
sagen wollen, vielmehr im Wesentlichen nur in (seinen) Exkursen
fiber römisches Recht Gesagtes wiederholte, indem er eine Anzahl
jener Exkurse weiter entwickelt» und in Zusammenhang gestellt
habe (S. 389).
Die erste Abhandlung (S. 12—244. §§ 4—50) gibt im I. Ka-
pitel (S. 12—35 §§ 4—8) »die Geschichte der Obligatioc.
Das IL Kapitel (S. 35-55 §§ 9—12) stellt »die Verbreitung
der Obligatioc dar, d. h. die obligatorischen Elemente auf dem Bo-
den des Sachenrechts, des Familien- und Erbrechts, in den übrigen
Bechtsgebieten, nämlich im Givilproceß, Strafrecht, Polizei- und Sa-
kralwcsen, sowie im Staatsrecht, endlich >die Obligatio aus ange-
borenen Bechtenc. »Die Obligatio ist die jaristische Gestalt par
excellence. Sie ist eine höhere Art von Bechten, die den Bömern
nationalste und vollkommenste Form rechtlicher Herrschaft. Ihr
gegenüber erscheint das Sachenrecht niedriger, schwerfälliger, irdischer ;
man kann sagen: dieses ist das Erdgeschoß im Aufbau des Privat-
rechts, die Obligatio aber erhebt sich über ihm und bildet gleichsam
den bei 6tage, d. h. das obere Stockwerk, welches freiere, sonnigere^
mannichfaltigere Bäume und Fächer enthält und einen weiteren Aus-
und Umblick gewährt« (S. 54).
Kapitel III (S. 56-89 §§ 13—20) behandelt »Obligatio und
Anspruch«. Der Verf. unterscheidet (S. 69) Ausübung, Geltend-
machung, Verfolgung der Bechte als drei Begriflfsstufen : Ausübung
nennt er jeden Gebrauch der Macht, welche den Inhalt des Bechts
bildet, auch einen dispositiven Akt, d. h. einen solchen, bei wel-
chem nicht Dritte als Verpflichtete in Frage kommen, z. B. Ein-
räumung eines dinglichen Bechtes seitens des Eigentümers, Abtretung
des Eigentums, Dereliktion; — Geltendmachung ist »diejenige Macht-
äußernng nach Außen, welcher eine fremde Pflicht korrespondiert,
also welche auf einen fremden Willen als rechtlich gebundenen hin-
überwirkt, ein fremdes Thnn oder Leisten zum Zweck hat,« also nur
die contradiktorische Ausübung, geschehe sie außergerichtlich oder
gerichtlich; — Verfolgung (der Bechte) endlich die gerichtliche
Geltendmachung und zwar sowohl offensive (Klage) als defensive
(Einrede). Auf das ganze Gebiet der Geltendmachung bezieht
er den Anspruchsbegriff, Anspruch ist ihm das Becht im Zustande
der Geltendmachung. Insofern decken sich ihm Anspruch und actio.
Während jedoch einerseits ihm in dem letzteren Ausdrucke Wind-
sebeid die gerichtliche Geltendmachung zu sehr zu accentuie-
ren scheint, weist er anderseits darauf hin, daß actio oft auch das
Becht, bez. die Obligatio selbst, samt dem gegenwärtigen oder zu-
künftigen Ansprüche, bedeute, nicht minder aber solche Bechte, welche
9»
116 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 4.
gar keiDen Anspruch aas sich erzeugen, wie z. B. das Statusrecht,
und ferner sehr oft geradezu und bloß das Recht, bez. den Anspruch
im Zustande der gerichtlichen Geltendmachung, m. a. W. die Klage
und das Proceßverfahren ; ja endlich oft auch den Angriff vor Ge-
richt im Unterschied von der Verteidigung (actioexceptio). In jedem
Givilprocesse, welcher nicht auf Präjudicialklage beruhe, spitze sich
das geltendgemachte Recht notwendig in einem Ansprüche zu, wel-
cher spätestens in der condemnatio zu Tage trete. Im Hinstreben
des Processes auf die letztere nehme das geltendgemachte Recht
die Form einer Obligatio an, werde einer solchen ähnlich. Der An-
spruch sei die dem Gegner zugekehrte Seite des Rechtes, welche
diesen zu entsprechendem Thun oder Verhalten aufrufen solle.
Dingliche Ansprüche seien nicht vor der Rechtsverletzung, obligato-
rische nicht vor Verfall der Schuld da. Von einem betagten oder
bedingten Anspruch sollte man gar nicht reden , sondern nur von
einem gegenwärtigen und einem zukünftigen (S. 80). Zur Anwen-
dung komme der Ansprnchsbegriff vor allem da, wo ein Geltend-
machungsakt in Frage ist, also beim Mahnen, Klagen, Excipieren,
dem Verlangen nach Aufrechnung. Ferner lassen sich die venditio
ususfructus, die cessio nominis, die Schuldtibernahme, auch die Erb-
schaftsrestitution ex Scto Trebelliano unter den Gesichtspunkt des
Anspruchs stellen, nur müsse für alle diese Fälle hinzugefügt wer-
den, daß actio die gerichtliche und außergerichtliche Geltend-
machung begreife; und für Cession und Scbuldübernahme vor Ver-
fall der Schuld sei zu beachten, daß sie zukünftige Ansprüche
zum Gegenstande haben (S. 82). Ueberall, wo es sich um Geltend-
machung des s. g. Interesse handelt, stehe nicht eigentlich das
Recht, sondern der Anspruch in Frage, denn das Recht könne und
müsse entschieden sein, bevor das Interesse in Frage gezogen
werde, und die rechtlichen Grundsätze vom Interesse beziehen sich
auf die Frage, ob ein Anspruch und wie hoch er begründet sei
(S. 83). Auch für den Vergleich (transactio) habe der Anspruchs-
begriff Wert. Regelmäßig handle es sich beim Vergleich nicht um
Rechte, sondern Ansprüche (S. 83 f.). Endlich sei das Institut der
Verjährung mit dem Anspruchsbegriff in Zusammenhang zubrin-
gen, m. a. W. die Verjährung sei eine Frage der Geltendmachung,
sie nehme nicht eigentlich das Recht selbst, sondern die actio; und
sofern es bei der Obligatio anders sei, beruhe dies auf positivem
Rechte, nach weltihem aus Zweckmäßigkeit die Verjährung dem
Schuldner eine perpetna exceptio gebe (S. 84). Sollte es aber nicht
vielmehr dem auf ihrem Zwecke beruhenden eigensten Wesen der
Verjährung entsprechen, daß ein Forder ungsrecbt, dessen Klage ver-
Kuntze, Die Obligationen im römischen mid im heutigen Recht etc. 117
jährt ist, auch sonst auf keine Weise (abgesehen von dem etwa
noch nicht verjährten Pfandrechte) wider den Willen des Schuld-
ners geltend gemacht werden kann ? — Ans dem anfgestellten An-
spmchsbegriflfe erhelle der Wert des cerium fUr die römische con-
dictio : die intentio sei eine certa, wo ans ihr sofort und unmittelbar
sich die condemnatio ergebe, ro. a. W., wo Becht und Anspruch sich
decken. Incertum dagegen habe vorgelegen, wenn nach Entschei-
dung des Rechts der Richter zwecks der condemnatio noch Inhalt
und Umfang des Anspruchs zu ermitteln hatte (S. 85 f.) Ver-
griffen ist übrigens als Beispiel eines modernen Falles, wo der In-
halt des Rechts mit dem Inhalt des Anspruchs sich deckt, die vin-
dicatio, welche einfach auf Herausgabe der Sache geht. — Wie An-
spruch und Elagrecht nicht identische Begriffe seien, weil der An-
spruch auch auAergerichtlich und innerhalb des Processes auch ex-
ceptivisch geltend gemacht werden könne, so gebe es auch Ansprüche,
welchen kein Elagrecht zur Seite stehe, nämlich die Natural-
obligationen, die schon deshalb nicht mit Windsoheid fttr
etwas »durchaus Anomales und Exceptionelles« gehalten werden
durften, weil sie bei den Römern einen großen Raum im praktischen
Leben eingenommen haben, insbesondere in den zahlreichen Pecn-
lienverhäitnissen der Haussöhne und Sklaven, — noch weniger aber,
wenn man mit dem Verf. annehme, daß ihr Begriff in dem durch
Ulpian vollendeten Systeme des ins naturale eine breite dogma-
tische Grundlage habe (S. 86). Als Geltendmachung eines Anspruchs
lasse sich auch die Ausübung des ins retentionis auffassen; und wo
die Obligatio nur in Gestalt des ins retentionis geltend gemacht wer-
den könne, da nehmen die Quellen nicht einmal eine Naturalobliga-
tion an; in der That liege ein auf irgend welchem Rechte, einer
Obligatio in ganz beschränktem Sinne, gegründeter Anspruch vor,
welcher retentionsweis zur Geltung komme (S. 87). Im Widerspruche
zu dieser allerdings durchaus herrschenden Ansicht muß Berichter-
statter umgekehrt den Fall des Retentionsrechts ohne begleitendes
Elagrecht für die wirksamste Art der Naturalobligationen halten;
außer dem unläugbar besonders kräftigen Mittel der Retention kom-
men ftlr sie alle übrigen Wege zur Ausübung einer klaglosen For*
derung in Betracht: die Befriedigung des Anspruchs kann lediglich
als Schnidtilgung behandelt werden ; das zu jenem Zwecke Geleistete
unterliegt nicht der condictio indebiti; der Anspruch bietet eine ge-
eignete Grundlage für Constitutum, Bürgschaft, Pfandrecht, Nova-
tion ; der Berechtigte wird ihn unter seinen Activa, derjenige, gegen
welchen er geht^ unter seinen Passiva zu inventarisieren haben; es
kommt dazu, daß im Laufe des Processes die Retention sich auch
118 Gott. gel. Anz. 1887. No. 4.
heute noch nicht selten in eine Kompensation verwandelt Der Um-
stand, daß die uns überlieferten Brachstttcke der römischen Rechts-
anfzeichnangen unsern Ansprach nicht nataralis obligatio nennen,
ist völlig gleichgültig gegenüber dem anzweifelhaften Wesen dessel-
ben. — Sodann gebe es Ansprüche, welche zwar klagweis auftreten
können, aber nicht in selbständiger Klage, sondern nur als
Anhang za einem selbständigen Petitam, z. B. die asurae officio
iadicis praestandae and die nicht konsumierten Früchte in der Hand
des bonae fidei possessor. Solche Ansprüche müssen auf ein laten-
tes Recht zurückgeführt werden, Obligatio in einem ganz beschränk-
ten Sinne, aequitatis vinculum (S. 87 f.). Anspruch und Klagrecht,
welches letztere bei den Präjudicialklagen ohne Ansprach vorkomme,
leiten sich beide real aus dem Recht ab; sie seien das geltend zu
machende Recht selbst in seiner gegen den Verpflichteten gerich-
teten Kraftäußerung inmitten der staatlichen Ordnung und (besser
wohl: bezw.) im Einwirken auf die Organe des Staatsschutzes.
Doch könne der Staat seine Hülfe noch im Exekutionsstadium ver-
sagen, indem er gewisse Sachen des Beklagten von der Pfändung
eximiere: hier liegen Ansprüche mit beschränkter Yollstreckbarkeit
vor (S. 88).
Kap. IV (S. 90—125 §§ 21—27) beschäftigt sich mit der
>Struktur der Obligatioc. Gehe man, um zu dieser zu gelangen, von
der römischen Proceßformel aus, so erblicke man in dem Gegen-
stücke zur petitorischen intentio »rem Titii esse«, welche Sub-
jekt und Objekt des Rechtes und rechtliche Abhängigkeit des einen
von dem andern ausdrücke, nämlich in der obligatorischen
intentio »Negidium Aulo dare (facere) oportet«, ebenfalls das Subjekt
des Rechtes, nicht minder aber auch in der daneben genannten Per-
son das Objekt, um welches es sich bei der Obligatio handle, und
in dem dare oportet die Art der Gebundenheit, d. h. der Objekts-
qualität eben dieser Person. Zu dem gleichen Ergebnisse gelange
man vom dogmatischen Ausgangspunkte. Ein subjektives Recht sei
Macht; die Macht aber als reale Existenz müsse sich an einem Ob-
jekte erweisen. Obligatio sei die Macht, auf einen fremden Willen,
welcher zu einem dem Gläubiger wertvollen Erfolge diesem gebunden
sei, rechtlich bestimmend einzuwirken. S. 96 ff. Verf. unterscheidet
nunmehr an der Obligatio drei Momente: das Obligationsob-
jekt, den Obligationsinhalt, den Leistungsgegenstand
(S. 99.).
Das Obligationsobjekt haben wir nach ihm in der Welt
des lebendigen menschlichen Willens zu suchen. »Der
menschliche Wille ist eine Realität« ; »das zeigt sich — auch dariui
Eantze, Die Obligationen im römischen und im heutigen Recht etc. 119
daft er als andaaemder Zustand der Selbstbestimmoog im eigaen,
wie im fremden Interesse auftreten kann. Ein solcher konstanter
Selbstbestimmnngszastand zeigt sich im Schnldner. Derselbe empfin*
det die Scbnld als eine Fessel, welche ihn gebunden halte (S. 100)
^ »Die Fessel kann ihm so lästig — werden, daft er — vielleioht
zum Aeuftersten, zum Selbstmord sehreitet, um — nicht die Last von
der Seele, sondern — die Seele von der Last zu trennen. Beweis
genug, daß nicht bloß ein Gedanke, sondern eine Kealität vorhanden
istc (S. 101). »Die Obligatio eine Herrschaft des Willens ttber den
Willen, des Wollenden Aber den Wollenden c (das.). »Wie scharf
umrissen steht (den) Gebilden (des germanischen Begriffs der
»Schuld«) gegenttber die römisch geborene Obligatio mit ihrer Eon-
centrierung auf einen festen Punkt in der Willenssphäre des Schuld-
ners, dessen Persönlichkeit im Uebrigen intakt bleibt, und dessen
Freiheit gewahrt ist so gewiß, wie die Herausnahme eines Punktes
ans der Unendlichkeit die Unendlichkeit nicht aufhebt Dieser Punkt
ist der dem Qläubigerwillen unterworfene Schuldnerwille, das Rechts-
objekt der Obligatio«. — Der »Gläubiger ist berechtigt, an diesem
Punkte den Schuldner zu halten« u. s. w. (S. 102). Sollte aber
hieraus nicht unabweislich folgen, daß eine Obligation nicht vorhan-
den sei, so lange dem Gläubiger nicht als gegenwärtig ein Mittel
zu geböte steht, auf den indolenten oder gar widerstrebenden Wil-
len des Schuldners bestimmend einzuwirken ? oder wäre ein Verhält-
nis, welchem, sei es zur Zeit, wie der betagten, der bedingten Obli-
gation, oder gar dauernd, wie der Naturalobligation, jedes derartige
Mittel gebricht, fUglich noch als »Macht«, als »Herrschaft ttber den
Willen des Schuldners« zu bezeichnen? Denn die Möglichkeit, auch
solche Obligationen zu cedieren, zu novieren u. s. w., enthält doch
nimmer eine solche Herrschaft: entweder erfordert sie einen Willen
des Schuldners überhaupt nicht, oder, sie setzt ihn, wo sie ihn er-
fordert, wie z. B. beim constitutum debiti proprii, als durchaus spon-
tanen voraus. Nicht einmal die Anfechtung einer Rechtshandlung
wegen Verkürzung steht einem derartigen Gläubiger zu: der bloß
naturaliter berechtigte hat sie nie, der Gläubiger sub die nur, nach-
dem der gegen den Schuldner eröffnete Konkurs seine Forderung
zur unbefristeten umgestaltet hat Dieser Einwurf wird nicht im
geringsten dadurch beseitigt, daß der Verf. sehr nachdrücklich als
yermeintliche Kehrseite jener Herrschaft des Gläubigers ttber den
Willen des Schuldners das »WoUenmttssen« des letztern, die für iha
Yorhandene rechtliche necessitas hervorhebt: bevor nicht der Gläu-
biger infolge der »Willensbindung« des Schuldners einen »Anspruch«,
d. h. ein Mittel hat, seine Forderung geltend zu machen, hat er
120 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 4.
eine Macbt, eine Herrschaft über den Schuldner willen nicht; jene
neceesitas kann ohne diese Macht des Gläubigers vorhanden sein.
Obligationsinhalt nennt Verf. das Moment, wodurch der
von ihm als Obligationsobjekt bezeichnete Wille des Schuldners »in-
dividuell erkennbar, gleichsam greifbar, und das Verschwimmen in
dem unterschiedslosen Element des Willens verhütet wirdc (S. 107).
Jenes Moment >muB sinnliche Merkmale an sich tragen, denn nur
dadurch kann es individualisierende Kraft haben. Wie aber tritt
der Schuldnerwille, welcher gebunden sein soll, in die Sinnlichkeit?
Im Augenblick der Entstehung der Obligatio; da auf alle Fälle.
In ihrem Entstehungsgrund, in der Ursprungsthatsache also indivi-
dualisiert sich die Obligatio« (S. 107). »Diese Ursprungs- oder Oe-
nerativbestimmtheit« heißt für den Verf. der Obligationsinhalt,
>weil der Schuldwille im Augenblick der Obligierung sich mit ihm
erfüllt oder sich zu seinem Träger macht« (S. 107). Wie Verf. be-
hauptet, aber mittels der dafür beigebrachten Quellenaussprttche
schwerlieh erweist, hätten die Römer dafür die Ausdrucke: causa,
debitum, pecunia, obligatio gebraucht.
Das Leistungsobjekt gehört nach dem Verf. S. 113 »nur
äußerlich zur Obligatio und hat nur für deren Erfüllung Wert. Es
ist das Medium der Erfüllung; es ist die Form, welche die Obligatio
in einem einzigen Augenblicke, im Augenblicke der Erfüllung an-
nimmt; es ist der Aufwand, welchen der Schuldner behufs seiner
Lösung oder Entlastung macht, und welcher mehr oder weniger von
seiner WillkUhr, vom Zufall, von für die Obligatio unwesentlichen
Umständen abhängig ist Sehr oft freilich sind Willkühr und Zufall
dabei in sehr enge Grenzen eingehegt, so namentlich, wenn die Obli-
gatio auf dare certam rem geht. Hier decken sich äußerlich Obli-
gationsinhalt und Leistungsobjekt, und daher ist es erklärlich, daß
die Quellen für das Leistangsobjekt Ausdrücke haben, welche an
die Bezeichnung des Obligationsinhalts anklingen«.
Die dem Wesen der Obligatio entsprechende Art der Zwangs-
vollstreckung erblickt Verf. in einem Wege der Erzwingung des
Schnldnerwillens, wie ihn das altrömische Recht ausschließlich in der
Personalexekution, das Recht seit der lex Poetelia in erster Linie
in der Exekution an den universa bona des Schuldners kannte.
Außerdem sind noch verschiedene, zum Teil schon der römischen
Rechtsordnung, zum Teil dem modernen Proceß bekannte, Mittel
denkbar, »welche darauf abzielen, die necessitas faciendi praktisch
zu verwirklichen und den entgegengesetzten Naturwillen des Schuld-
ners rechtlich zu überwinden« (S. 119). Die s. g. Specialexe-
kution dagegen »greift mit Umgehung der Person des Schuldners
Kuntze, Die Obligationen im römischen und im heutigen Recht etc. 121
anmittelbar in dessen Yennögen, — nm nicht zn sagen : in seine
Tasche — nnd holt ein einzelnes Exekationsobjekt, welches für den
Glänbiger mit Beschlag belegt, versiegelt, sequestriert, abgepfändet,
in Gerichtsanfsicht genommen, verkauft wirdc Diese Maßregel, in
welche sich die Kömer erst während der Eaiserzeit fanden, »fällt ans
dem Rahmen des ins ordinarium nod gehOrt in das System des ins
extraordlnarinm« (das.). »Der Befriedi gnngszweck tritt hier
in erste Linie«. »Die Herrschaft Ober die Person ist damit im letz-
ten Zipfelchen preisgegeben, nnd aller Accent auf den ökonomi-
schen, durch Geld repräsentablen Wert gelegt. Heutzutage ist das
der herrschende Oesichtspnnkt. Der persönliche Ehrenpunkt tritt
zurück, die Forderungsfrage ist eine Geldfrage« (S. 120). Aber
war nicht im Formnlarprocesse die condemnatio, ohne welche hier
Zwangsvollstreckung niemals eintreten konnte, stets und notwendig
auf Geld gerichtet? War mithin nicht in der klassischen Zeit des
römischen Rechtes eine gerichtlich geltend gemachte Obligation, so-
fern der Schuldner es zur Verurteilung kommen ließ, in viel ent-
schiedenerem Sinne auf eine reine Geldfrage gestellt, als bei uns?
ja, nach der Ansicht der Procnleianer eine obligatio stricta so
sehr, daß selbst die Erfüllung der ursprünglichen Verpflichtung nach
der Litiscontestation die condemnatio pecuniaria nicht mehr abzu-
wenden vermochte?
Kap. V »Einige Configurationen der Obligatio« (S. 125 — 186
§§ 28—40) erörtert Novation und Eorrealität, deren innere Verwandt-
schaft Verf. in dem Momente der »Identität des Obligations-
inhalts« ttüT die bei beiden Instituten, dort snccessiv, hier simultan,
vorhandene >Mehrheit der Obligationen« erblickt (S. 126).
»Die Novation ist nicht eine besondere Art der Begründungen,
sondern der Aufhebungen von Obligationen« (S. 130). Ihr »juri-
stisch Charakteristisches tritt hervor, wenn wir (sie) als eine be-
sondere Aufhebungsart ins Auge fassen. Warum? Weil hier von
den Römern angenommen wurde, daß die prior obligatio ipso iure
untergehe, ohne daß ein solenner actus contrarius (acceptilatio) oder
wirkliche solutio stattfindet Das war im römischen System etwas
Besonderes« (S. 131). »Aber warum entscheidet die neue Obligatio
dorch ihr bloßes Dasein das Nichtdasein der alten Obligatio?« —
»Die innere Berechtigung kann doch unmöglich in etwas Anderem
liegen, als daß durch Entnahme des StofiB der alten in die neue
Obligatio jene entseelt wird und stirbt«. — »Der .Begrttndnngswille
schafft aus der alten eine neue Obligatio, nimmt in der That eine
Verwandlung vor und thut das, was nicht bloß in dem Worte
novatio (oder in der Wendung obligationeni mutare (fr. 45 § ]
122 Gott. gel. Auz. 1887. Nr. 4.
mand. (17, 1) cf. BerichtigaDgen und Zusätze) aasgedrückt, sondern
aoeb in der bekannten Legaldefinition (fr. 1 de nov. 46, 2) desselben
mit drastischer nnd nnmisverständlicher Handgreiflichkeit dargelegt
wirdc — : idas prins debitam wird in die nene Obligatio transfan-
diert and transferiert, wie ans einem Gefäß in das andere, und jenes
schrampft damit in Nichts zusammen, einem Ballon vergleichbar,
welchem der Luftinhalt ausgepumpt ist. Weil der alten Obligatio
ihre causa geraubt ist, um sie für die neue zu verwenden, darum
bewirkt der Novationswille die Tilgung der alten Obligatio, und
deckt die Form des Begrttndungswiilens zugleich den unsolennen
Tilgungswillen, so daß er civilrechtlich wirken kannc (S. 132).
»Freilich«, fährt Verf. S. 133 fort, »ist der Vorgang, welcher von
mir als Verwendung bezeichnet wurde, kein einfacher, denn es läßt
sich eine causa nicht ohne Weiteres übertragen, weil jede Obligatio
ihre causa hat, aber sie läßt sich in der Weise ein- und um-
schmelzen, daß sie in die neue formale causa aufgenommen wird
und in dieser fortwirkt«. Stellen wir statt des bei seiner Mehrdeu-
tigkeit immerhin leicht verwirrenden Ausdrucks »causa« den im
Sinne desVerf.s hier gleich bedeutenden »Obligationsinhalt« (S. 116)
oder noch bezeichnender den Ausdruck »Ursprungs- oder Generativ-
bestimmtheit« (S. 108) der Obligation ein, so wttrde danach also
unter Novation »die Ein- und Umschmelzung der Ursprungs- oder
Generativbestimmtheit einer alten Obligation in diejenige einer neuen
Obligation« zu denken sein. Ob und wie weit damit Anderen der
Novationshergang anschaulich gemacht wird, muß selbstverständlich
dahin gestellt bleiben; der Berichterstatter darf aber vielleicht auf
gütige Nachsicht hoflfen, wenn er offen bekennt, daß ihm dafttr das
Verständnis gebricht. Hält er nämlich an der platten Thatsache
fest, daß »eine Obligation völlig bestimmt (erscheint) durch die Per-
sonen des Gläubigers und des Schuldners, durch die Leistung (=
Leistungsobjekt) und den Entstehungsgrund« (Mitteis, die Indi-
vidualisierung der Obligation S. 5), so dünkt ihn schon der ein-
fachste Fall der Novation, nämlich die Novation unter den Subjek-
ten der alten Obligation mit Beibehaltung des ursprünglichen Lei-
stungsobjektes, einen unlöslichen Widerspruch gegen jene Begriffs-
bestimmung zu enthalten, weil die neue Obligation notwendig einen
andern Entstehungsgrund hat, als die alte, und damit eben eine
andere »Ursprungs- oder Generativbestimmtheit«. Vollends aber
eine Novation mit Wechsel der Subjekte, des Leistungsobjektes!
Sollte es also inzwischen nicht geratener sein, die hausbackene Be-
griffsbestimmung der Novation beizubehalten, wonach sie die Auf-
hebung einer Obligation durch Begründung einer neuen ist ? — Verf.
Euntze, Die Obligationen im römischen und im heutigen Recht etc. 123
sagt weiter: »Nor ein abstrakter Eontrahierungsakt ist yermögend,
eine alte caasa herttberzanehmen und gleicbsam anfzafangen (vgl.
aoeh § 30 S. 134 ff.); onzweifelhaft ist das die Vorstellnng Ulpians
in der Legaldefinitionc. Berichterstatter will nicht betonen, daft er
von jener Yorstellang in dieser Definition nicht die blasseste Spar
erblickt; nm so mehr aber maß er das Bedenken erheben, ob nicht
die These des Verf.s aaf einer Verwechselang berahe. Die caasa
der neaen Obligation im üblichen Sinne, die caasa novandi, ist
eine besondere Anwendung der caasa solutionis. Es versteht sich
daher ganz ?on selbst, daß diese causa nicht verwirklicht werden
kann mittels einer solchen materiell individualisierten Obligation,
deren caasa eine andere ist als die solutionis causa, z. B. mittels
einer obligatio venditi, locati u. s. w. Aber aach eine derartige ma-
teriell individaalisierte Obligation ist zur Novation nicht geeignet,
deren causa zwar die caasa solutionis ist, aber die causa solntionis
einer erst durch Eingehang dieser Obligation re, z. B. dnrch Em-
pfang eines Darlehns, begründeten Schuld. Dagegen steht begriffs-
mäßig nichts im Wege, eine materiell individualisierte Obligation
gerade auf die caasa solutionis einer bereits anderswie entstandenen
Schuld zu gründen. Freilich hat das römische Civil recht dies
nicht gethan: es gibt keinen Konsensaalkontrakt solchen Inhalts.
Wohl aber hat das, honorarische, constitutum debiti eben jene causa
solntionis. Und wenn dasselbe da, wo es in der Absicht eingegan-
gen worden, daß aas der alten Obligation nicht mehr geklagt wer-
den soll, diese alte Obligation nicht ipso iure, sondern nur ope ex«
ceptionis pacti de non petendo unwirksam machte (3. 137 f.), so
folgt das nicht so wohl aus der »diskreten« Natar der obligatio ex
eonstitoto, als vielmehr aus ihrer honorarischen Natur, wie Verf.
selbst S. 160 anter III ganz unbefangen ausspricht. Auch kann
unser Schuldner iussa nostro gegenüber einem Dritten eine aaf einen
speeifischen Zweck gerichtete einseitige Verpflichtung recht füglich
ex causa nobis solvendi übernehmen ; und in dieser Weise war auch
dem ios civile die Novation durch materiell individualisiertes 6e«
scbäft nicht völlig fremd, nämlich in der dotis dictio seitens des
debitor delegatus der Frau. Es sollte darnach nicht bezweifelt wer-
den, daß hente die Novation aach darch formlosen Schuldvertrag
geschehen kann: dieses ist alsdann eben keio abstrakter, sondern
ein kraft der caasa solutionis prioris debiti materiell charakterisier-
ter, nicht, wie Verf. S. 139 sagt, ein bezugnehmender Formalakt.
Das Rätsel der Eorrealobligation meint Verf. mit der Formel
gelöst zn haben: >Mehrheit der Obligationen, Identität des Inhalts
(in seinem Sinne natürlich); das die Obligationen einende Band ist
124 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 4.
der allen gemeinsame Obligationsinhaltc (S. 153); d. h.
»die Ursprungs- oder GeneratiTbestimmtheit« (S. 108). Wie sich
freilich die Verschiedenheit der Obligationssabjekte mit dieser iden-
tischen Generativbestimmtheit vertrage, das wird nicht gesagt. —
Es werden nun nean »grandlegende« Qnellenanssprttche mitgeteilt,
»auf welche das System der Gorrealobligation wissenschaftlich zu
gründen istc (S. 156). Mit einer einzigen Ausnahme werde in allen
diesen Stellen »die solutio als maftgebender Gesichtspunkt, als proto-
typischer Anfhebungsgrund angeführt«. Die Rolle, welche die so-
lutio und zwar speciell für die Eorrealobligation spielt, wird darauf
nicht bloß dogmatisch, sondern historisch aufzufassen gesucht. Vor-
weg wird dabei die Meinung abgewiesen, es strebe die Obligatio
nach Tilgung; »denn es ist ein Mißgedanke, als Zweck einer le*
bendigen Potenz Tod oder Selbstmord hinzustellen« (S. 157). Es
verhält sich vielmehr folgendermaßen. Ursprünglich verlangten die
Römer zur Tilgung einer Obligatio einen contrarius actus. Für die
bonae fidei contractus des spätem Civilrechts entsprach der mutuns
dissensus diesem Princip, aber es kam der Erfttllungs- oder Zah-
lungsakt hinzu, »denn dieser, indem er sich aus Hingabe und An-
nahme zusammensetzt, enthält ja zugleich die übereinstimmende Ab-
sicht der Lösung des Obligationsnexus« (S. 158). Der praktische
oder teleologische Gesichtspunkt der Erfüllung trat somit an die
Stelle des logischen oder konstruktiven Gesichtspunktes des Eon-
träraktes; und dieser Gedanke kam dann auch zur Herrschaft
über die Obligationen ex stipulatu. Auch ihnen gegenüber erklärt
man die Zahlung (numeratio) als Lösung (solutio); solutio erhielt
den Sinn der Zahlung oder Erfüllung. »Man nannte die Wirkung
statt der Ursache, und konnte endlich von da aus leicht den letz-
ten Schritt thun, daß man den natürlichen Erfüllungs-
akt als den wichtigsten und darum vorbildlichen, nor-
malen Tilgnngsvorgang hinstellte« (S. 159). In diesem
Sinne drücke es Paulus aus, »daß solutio zwar speciell die naturale
Erfüllung bedeute, aber dann auch alle den Obligationsinhalt treffen-
den Tilgungsgründe begreife, wenn er sagt: Solutionis verbum per-
tinet ad omnem liberationem quoquo modo factam, magisque ad
substantiam obligationis refertur, quam ad nummorum solutionem«
(das.). Worauf aber gründet sich die Befugnis, der Ausdruck »sub-
stantia obligationis«, der m. W. nichts weiter bedeutet als »Bestand
der Obligation« durch »Obligationsinhalt« im Sinne des Verf.s wie-
derzugeben? Für ihn versteht es sich von selbst; und indem er so-
dann erklärt, daß acceptilatio und novatio sich unbestreitbar auf die
Substanz, den Obligationsinbalt beziehen, so ergibt sich ihm weiter.
Kuntze, Die Obligationen im römischen and im heutigen Recht etc. 125
daB sie als Solntionssnrrogate den Gesamtnexas der Eorreal-
obligatioD aafbeben. Entsprecheod verhält es sich mit dem ab*-
ändemdeD constitatam and dem iasiorandam liberatoriam de ipso
coDtraetn et de re: sie ergreifen »den Obligationsinhattc (=s: Ur-
sprungs- oder Oenerativbestimmtheit der Obligatio) and erledigen
denselben. Wie sie das bewerkstelligen, bleibt freilich dem Bericht-
erstatter gerade so anverständlich, wie bei der Novation; verstand-
lieh dagegen ist es ihm, daß alle diese Tilgangsgrttnde den Bestand,
das Dasein des Obligationsverhältnisses (im Gegensätze za der Ver-
pflichtuDg oder Berechtigung einer bestimmten Person daraas) be-
treffen. Hinsichtlich der Litiskontestation zweifelt Verf. (S. 162)
nicht, daß den römischen Juristen der klassischen Zeit die Verglei-
chnng derselben mit der solutio ganz vertraut war. »Ihren tieferen
Grund hat diese Solntionsartigkeit und Solutionswirkang der Litis-
contestation darin, daß sie die res in litem deducta ergreift
und der ursprünglichen obligatio entziehtc Bei Erör-
terung des Erfordernisses der eadem res begegnet S. 163 beiläufig
das Versehen, daß die in 1. 22 D. de exe. rei iud. 44, 2 erwähnte
personarum matatio bei den Klagen gegen die Erben des Deposi*
tars auf die »erbrechtliche Geteiltheit der nomina hereditariac za*
rückgeftthrt wird, während doch die obligatio depositi als unteilbare
ungeteilt auf sämtliche Erben des Despositars ttbergeht. — Die con-
fnsio endlich sei nach 1. 71 D. de fideiuss. 46, 1 bald der solutio
vergleichbar, bald nicht (S. 164 f.). — In gewissen Fällen haben die
Römer die Selbständigkeit der durch eadem pecnnia verbundenen
Obligationen noch gesteigert, indem sie nicht alle Konsequenzen
aus der Identität der pecunia (res) zogen, sondern den Gläubiger
gegen die nachteilige Wirkung der mit dem einen Schuldner kon-
testierten lis in Schutz nahmen durch Aufstellung des Satzes: reus
non litiscontestatione, sed solutione liberatur. Dieser Satz habe für
solche Fälle gegolten, wo die Billigkeit eine Ausnahme von der
strengen Konsequenz empfahl : wenn die Solidarschuld auf dolus oder
culpa beruhte (S. 168 ff.). Wie aber war es, wenn mehrere anab-
hängig von einander die Garantie für die nämliche Gefahr über«
nommen hatten? (vgl. S. 129 za N. 10) eine Frage, welche auch
Mitteis a. a. 0. S. 67 unbeantwortet läßt. — Der Verf. ftthrt
schließlich aus, daß fflr die Gegenwart der Unterschied zwischen
Korrealität und einfacher Solidarität den Boden verloren habe, und
nur noch aeqaitatis oder utilitatis ratione für einzelne Anwendangs-
fälle etwa diese oder jene Ausnahme im Einzelnen durch positive
Bechtsvorschriften beliebt worden sei (3. 186). Auf diese Betrach-
tang näher einzugebn, mangelt hier der Baum. Doch mag Bericht*
126 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 4.
statter nicht unterlassen, auch jetzt, wie schon bei einer frtthern Ver*
anlassang in diesen Blättern (1883 StUck 25. 26 S. 924 f.), anf die
grofie praktische Bedentang hinzuweisen, welche der s. E. nach I. 18
D. de duob. rei 45, 2 bei Korrealschaldnern ans Vertrag eintre-
tenden Haftung für die Widerrechtlichkeiten des Gorreus zukommt.
Nur freilich darf dieselbe nicht auf das Wesen der Eorrealverbind-
lichkeit zurtickgeftthrt werden, sondern darauf, daß jeder Gorreus
durch seinen Vertrag die Haftung fttr den andern übernimmt (cf.
Mitteis a. a. 0. S. 95 Anm. 111). Bei correi debendi aus Legat
findet sie also nicht statt.
Kap. VI (S. 186—206 §§ 41—44) betrifft die extraordinäre Obli-
gatio. Auch die Obligatio hatte laut der Aasftthrungen des Verf.8
teil an dem allmählichen Umschwünge, welcher während der Eaiser-
zeit in der wirtschaftlichen Wertschätzung und humanitären Behand-
lung der Sklaven stattfand. Wie das ins gentiam schon längst Bür-
ger und Peregriuen umschlang, so sei jetzt ein Kechtsboden Bedürf-
nis geworden, auf welchem auch der Sklav sich sicher, geschützt
und anerkannt fühlen konnte. Als solcher Kechtsboden erscheine das
ins naturale Ulpians. In demselben sei gleichwohl nur ein Teil der
neuen Lebensordnungen zusammengefaßt gewesen; viele andere Er-
scheinungen haben gleichfalls eine Placierung im System bedurft.
Gemeinsam sei ihnen die Abweichung von der römischen Tradition,
das Heraustreten aus dem Rahmen der Nationalanschauung, die Er-
hebung zu einem neuen Gesichtskreis. Habe man das Erzeugnis des
römischen Geistes als ordo iaris bezeichnen, von einem ordinarium
ins reden können , so habe sich das Neue als extraordinarium ins
gegenüberstellen lassen. Das naturale und das extraordinarium ins
sei der neuen Zeit als das ihr Entsprechende erschienen; man habe
es als novum ius zusammengefaßt (S. 186 ff.). Nach dem letzten
Aufflammen des nationalrömischen Geistes mit Trajan habe sich das
ius novum seit Hadrian in rascherem Tempo zur Blüte entwickelt
In diesen Zusammenhang gehöre das fideicommissnm libertatis,
durch welches der Sklav Gläubiger eines römischen Bürgers habe
werden und sein Recht gerichtlich geltend machen können. Es liege
hier also eine obligatio iure extraordinario vor (S. 188 f.). Der Aus-
druck »libertas servo debetur« freilich dürfte dies nach Ansicht des
Berichterstatters ebenso wenig beweisen, als der bekannte Ausdruck
»servitus praedio debeturc ein Forderungsrecht des herrschenden
Grundstücks erweiset. Auch der vom Sctum Dasumianum (1. 51
§ 6 D. de fideic. Hb. 40, 5) gebrauchte Ausdruck »oportet« (perinde
habeatur, atque si , ut oportet , ex causa fideicommissi manumissos
esset) beweist nicht das Dasein eines Forderungsrechtes fttr den
Euntze, Die Obligationen im rumischen und im heutigen Recht etc. 127
Sklaven, sondern nur die Notwendigkeit der Freilassang für den Be-
lasteten, genaa das Nämliche, was Marcellas in 1. 50 D. de R. N.
23, 2 »necessitasc nennt. Denn wenn schon ,beide Ausdrücke bäafig
für die obligatorische Verpflichtung vorkommen, so fehlt doch viel
daran, daß sie nur diese bezeichnen können. Weiter stellt Verf.
hierher die redemptio suis nnmmis, welche er ebenfalls als obligatio
iaris extraordinarii zwischen servus und emptor imaginarins auffaßt
(S. 190 f.). Beide Fälle zusammen nennt er wegen ihres Rechts-
schutzes durch cognitio extraordinaria »cognitionalis obligatioc. So-
fern aber die hierin erblickte Obligation nicht etwas specifisch An-
deres sein soll, als das, was man herkömmlich Obligation benennt,
wie verträgt sie sich mit dem Satze Ulpians (1.9 §2 D. de statulib.
40, 7): »ea enim in obligatione consistere, quae pecunia lui prae-
starique possant, libertas autem pecunia lui non potest nee reparari
potest, quae sententia mihi videtur verac — ? (vgl. S. 123 zu N. 16).
— Neben der cognitionalis obligatio stehe die technisch als natu-
ralis bezeichnete, zwar als klaglose von geringerer Kraft als jene,
aber thatsächiich von größerer Bedeutung. Hinsichtlich ihrer Aner-
kennung im römischen Rechte bleibt Verf. bei der schon früher
(Excnrse 2. Aufl. S. 373) von ihm verfochtenen Ansicht, dieselbe sei
in der Republik noch nicht zum Bewußtsein der Juristen gekommen ;
vermutlich sei Labeo der Bahnbrecher gewesen. Allein neue Beweis-
gründe bringt er dafür nicht; nnd der früher von ihm in 1. 40 § 3
D. de cond. 35, 1 angeführte und jetzt S. 201 einfach wiederholte
ist, wie bereits Mandry Familiengüterrecht I S. 371, N. 4 bemerkt
hat, völlig unkräftig: er beweist nichts weiter, als daß Servius den
Ausdruck >deberec für eine Naturalschuld des Herrn an den Skla-
ven nicht zuließ, — was um so weniger überraschen kann, als ja
noch Ulpian ausspricht, daß nee servus quicquam debere potest, nee
servo potest deberi, bei Sklavenobligationen vielmehr der Ausdruck
nur abusiv gebraucht werde (1. 41 D. de pec. 15, 1 S. 198 nach
N. 6), wie man überhaupt von Natnralschuldnern nur minus proprio,
nur per abusionem »debere« sage (I. 16 § 4 D. de fideiuss. 46, 1) ;
nnd als er die Naturgläubiger nicht loco creditorum rechnet (1. 10
D. de V. S. 50, 16, cf. Lenel ed. perp. S. 63 N. 19). Auf
Tuberos bekannte Definition des Peculium dagegen, wonach am
Wertbetrage dessen, was der Sklav domini permissu separatum a
rationibns dominicis habet, abgesetzt werden muß, si quid domini
debetnr (1. 5 § 4 D. de pec. 15, 1), welcher Servius bereits hinzu-
gefügt hat: et si quid bis debeatur, qui sunt in eins potestate, quo-
uiam hoc quoque domino deberi nemo ambigit (1. 9 § 3 eod. s. auch
1. 17 1. f. eod.), läßt der Verf. sich gar nicht ein, wiewohl Man-
128 Gott. gel. An%. 1887. Nr. 4.
dry a. a. 0. ihm sehr nachdrttcklich die 1. 9 § 3 cit entgegenge-
balten hat (s. auch Peroice Labeo I S. 131 za N. 74). Qauz will-
kttbrlich erscheiDt es, wenn der Ansdrnck »naturalis obligatio« auf
das ins naturale zurttckgefUhrt wird als das den Römern mit den
Sklaven gemeinsame Recht (S. 191 f.). Jedenfalls ist der Ausdruck
»naturalis cognatioc dafür eine bedenkliche Stütze: bei ihm handelt
es sich ja in der That um ein durch die natürliche Abstammung
geknüpftes Band, wie gerade die vom Verf. S. 194 N. 9 mitgeteilte
1. 4 D. si tab. test. null. 38, 6 (Si naturales emancipati et adoptatt
iternm emancipati sunt, habent ins naturale liberorum, d. h. sie wer-
den nunmehr, nachdem sie aus der fremden Agnatenfamilie ausge-
schieden sind, wieder im ordo unde liberi berufen) zeigt, wo der
Ausdruck »ins naturale liberorum« sicher nicht bedeutet: »das na-
türliche Recht der Kinder«, sondern »das (prätorische) Recht der
leiblichen liberi«. Vielmehr hätte die technische Bedeutung des
Ausdrucks »liberi naturales« für Konkubinenkinder den Verf. dar-
auf leiten sollen, daB die Römer von naturale im Gegensätze zu
»civile« u. a. auch bei Forderungs Verhältnissen da sprechen, wo die
Rechtsordnung an einen Tbatbestand zwar nicht die vollste denk-
bare Wirkung, immer aber doch eine gewisse Wirkung knüpft; so
z. B. auch in derjenigen Bedeutung des Ausdrucks »naturalis pos-
sessio«, womit jeder zur Usucapion nicht geeignete Besitz gemeint
ist (vgl. S. 195 N. 16). Wie erkünstelt, aus dem Grunde, weil das
Konkubinat vorzüglich im Hinblick auf libertinae geregelt worden
sei, im Begriffe der progenies »naturalis« einen indirekten Hinweis
auf den Sklavenstand zu finden! oder in dem Ausspruche: in con-
trahendis matrimoniis naturale ins et pudor inspiciendus est (1. 14.
§ 2 D. de R. N. 23, 2), womit Paulus das Ehehindernis der servilis
cognatio begründet, eine enge Beziehung des nomen naturale zu
dem Status servitutis zu erblicken! Ganz befangen in der Vorstel-
lung, wonach der Ulpiansche Begriff des ins naturale, nämlich quod
natura omnia animalia docuit (i. 1. § 3 D. de J. et J. 1, 1), mit
dem Sklavenstande zusammenhängt, trägt Verf. nicht einmal Beden-
ken, die von Ulpian selbst gegebene Bestimmung des nämlichen Be-
griffes, dessen rechtliche Erfassung er S. 342 als »eine schöpferische
That ersten Ranges und die großartigste Leistung der klassischen
Jurisprudenz« hinstellt, dadurch erst für seine Meinung brauchbar
zu machen, daß er ihre auf das Tierreich übergreifende Formulie-
rung für eine ungeschickte oder lieber für eine traditionelle erklärt.
Denn freilich paßt zu seiner Annahme das »omnia animalia« herz-
lich schlecht! Es ist zudem falsch, daß Ulpian das ins naturale als
ein »Rechtsband« neben das ius gentium stelle. Allerdings ge-
Knntze, Die Obligationen im römischen und im heutigen Recht etc. 129 I
hören zu deo animalia neben den Tieren and den freien Menschen
anch die Sklaven ; allein aus dem Ausdrucke »matrimoniumt, welchen
Ulpian als Bezeichnung fttr die maris ac feminae coniunctio unter
Menschen der ebenfalls unter dem ius naturale begriffenen con-
iunctio maris et feminae unter Tieren entgegenstellt, und wofQr
obendrein bei dauernder Geschlechtsverbindung von Sklaven bekannt-
lich contnbernium gesagt wurde, — so wie aus der Bemerkung (1. 4
eod.) : iure naturali omnes üben nascuntur, und : uno naturali nomine
homines appellamnr, — ist doch noch ganz und gar nicht »deutliche,
daß der Jurist unter dem ius naturale eine jenseits des ius gentium
liegende, »höhere, ideale und gleichsam tibergeschichtliche Region«
gemeint habe, welcher als einer rechtlichen Sklaven und Freie
gemeinsam angehören (S. 195); vielmehr scheint hiernach das ius
naturale nichts weiter zu sein, als der »Inbegriff derjenigen durch
die lex naturae gebotenen Normen, welche die auf dem appetitus
(d. h. den Menschen und Tieren gemeinsamen instinktiven Kegungen)
beruhenden gegenseitigen Beziehungen der beseelten physischen Ge-
schöpfe regeln« (M. Voigt ins nat. I S. 291), — also ein ftlr das
positive Kecht völlig unbrauchbarer Begriff. — Auch ganz abge-
sehen von des Verf. Deutung des ins naturale, erscheint misglückt
seine Erklärung der naturalis obligatio des Sklaven in 1. 14 D. de
0. et A. 44, 7 (S. 198 f.). Dieselbe beruht auf der Unterscheidung
einer dreifachen Verpflichtungsfähigkeit, nämlich nach ius civile,
nach ius honorarium und nach ius naturale im Sinne des Verf.s. Ul-
pian meine, daß sowohl nach Civil-, als nach Edictrecht Sklaven
durch Delikt verpfiichtungsfähig seien , was freilich nicht mit den
Worten naturalis obligatio ausgedrückt zu werden pflege; auf die-
ser Verpflichtungsföhigkeit ruhe der Satz: noxa caput sequitur, so-
wie die positive Kegel, daß der haftende Sklav nach seiner Frei-
lassung verklagt werden könne. Die Fähigkeit des Sklaven zur
kontraktlichen Verpflichtung und Berechtigung beruhe auf prätori-
Bchem Recht, daher könne hier von einer civilis obligatio nicht die
Bede sein. Dann trete der Begriff der naturalis obligatio im Sinn
der Eaiserzeit hinzu, und die Naturalobligationen folgen dem Skla-
ven auch in die Freiheit. Wie seltsam aber würde Ulpian verfahren
sein, wenn er in seiner Darstellung die Möglichkeit der Verpflich-
tung nach ins praetorium, welche doch wesentliche Grundlage fttr
das Verständnis seiner Erörterung bilden würde, mit völligem Still-
schweigen übergangen hätte!
Kap. VII (S. 206-- 244 §§ 45—50) bringt unter der Ueberschrift :
»Die negoeiable Skriptnrobligation« zuerst Betrachtungen Ober das
Verhältnis von Novation and Cession. Gemeinsam ist danach bei-
ßfttt. pol. Ans. 1887. Nr. 4. 10
130 Gott. gel. Jüii. 1887. Nr. i.
den, daß sie den positiven VermögeDSwert einer Obligation, das nomen,
aaf ein neues Subjekt übertragen können. Während aber die No-
vation die bisherige Obligation und mit derselben deren Accessionen
opfert (abgesehen, wie wohl hinzugefügt werden mUBte, von dem
auf die neue Forderung kraft Vereinbarung übergehenden Pfand-
rechte), dafür jedoch auch die Einreden aus der Person des frühern
Gläubigers beseitigt, läßt die Cession die Substanz der bisherigen
Obligation mit deren Accessionen bestehn, aber auch mit den Ein-
reden aus der Person des Cedenten. Dem Vorteile übrigens, welchen
die Novation dem neuen Gläubiger dadurch gewährt, daß sie ihm
eben ein neues, von den Einreden gegen den alten Gläubiger freies,
Forderungsrecht verschafft, steht der Verkehrsanwendung der Nova-
tion sehr hinderlich das Erfordernis der Einwilligung des Schuldners
gegenüber. Diese Unbequemlichkeit trifft die Cession nicht ; bei ihr
ist der Schuldner zur Passivität genötigt: auf Grund seiner Schuld
an den Cedenten hat er jetzt dem Cessionar zu leisten. Hierin liegt
keine Unbill gegen ihn, »denn sein Schuldverhältnis wird nicht
eigentlich abgelöst vom bisherigen ForderungsberechtigtcD, die Obli-
gatio dem Gläubiger nicht entfremdet. Noch immer ist sie dessen
Obligatio, der Cessionar in der Geltendmachung sein Organ, sein
Vertreter. Der Cessionar macht also im Grunde nicht seine, son-
dern des Cedenten Obligatio geltende. Machte er die codierte For-
derung wirklich als seine Obligatio geltend: wie in aller Welt könnte
es da gerechtfertigt werden, daß der Schuldner, wenn der Cessionar
sein eigenes Recht geltend macht, auf die Person des Cedenten zu-
rückgreift uud Einreden aus dessen Person herholt ?€ »Wie könnte
er das, wenn der Cedent kein rechtliches Verhältnis mehr zu seiner
Obligatio hätte?« »Hier gibt es keine andere dogmatische Hülfe
als die: entweder die Identität des Cessionars mit dem Cedenten zu
fingieren — zu welcher Fiktion uns die Quellen aber nicht berech-
tigen — , oder den Gedanken einer abgeleiteten, abgezweigten Obli-
gatio zu setzen. Die Cession ist eine obligatorische Veräußerung,
aber nicht der dinglichen Singularsuccession adäquat, sondern eine
konstitutive Translation, welche eher der Servitntenbestellung ähn-
lich genannt werden kannc (S. 209 f.). Diese Analogie ist sicher-
lich ganz verfehlt; denn einerseits begründen diejenigen Mängel am
Rechte des Auetors, welche überhaupt die von ihm bestellte Servitut
beeinflussen, unmittelbare Mängel dieser Servitut selbst, während es
nach Ansicht des Verf s hinsichtlich der abgezweigten Obligatioc des
Cessionars sich umgekehrt verhalten soll; anderseits aber behält der
Eigentümer, welcher seiner Sache eine Servitut auferlegt, zweifellos
ein sehr reales Eigentumsrecht, während der Cedent, jedenfalls nach
Kuntze, Die Obligationen im tömischeii und im heutigen Hecht etc. 131
der DenuDtiation an den CeBSus, tod der cedierten Obligation höch-
stens den leeren Namen zurückbehält, aber kein irgendwie wirk-
sames Forderangsrecbt. Es ist deshalb nnbegreiflich, wie das in
Wahrheit untergegangene Forderangsrecbt des Gedenten daza dienen
kann, in dessen »Vermögenssphäre« solche Exceptionen fortdauern
zu lassen, welche keine weitere Bedeutung haben, als jenes, nun-
mehr in dieser Vermögenssphäre wirksam nicht mehr vorhandene,
Forderungsrecht zu modificieren, z. B. die exceptio pacti de non pe-
tendo. Wenn aber Verf. behauptet, es sei der Cessionar nicht Singular-
successor des Gedenten, vielmehr seine Forderung eine abgeleitete, wel-
che aus der Stammobligatio des Gedenten die Normen ihrer Geltend-
machung empfange (S. 212), so hat er es nicht bloß unterlassen,
selbst nur eine Andeutung darüber zu geben, wie er sich den Her-
gang dieses Normenempfangens vorstellt, durch welches gleichwohl
die Eigenschaften der abgeleiteten Obligation als solcher nicht be-
stimmt sein sollen, — sondern er bringt auch statt eines Beweises
fttr jenen angeblich klassischen Gedanken in der That nur eine rhe-
torische petitio principii vor. Oder wäre es wirklich etwas Hehre-
res, wenn er sagt, der Gedanke, daß die Exceptionen Anhängsel
oder Qualitäten oder Mängel oder Gebrechen der Obligatio seien
und als solche der Obligatio auch in dem neuen Subjekte anhafte-
ten, schwebe ganz in der Luft, sei barbarisch (S. 212)? Dies ist
doch wahrlich nicht mit der Bedewendung dargethan, der Obligatio
fehle die dingliche Natur, vermöge deren bei der dinglichen Singu-
larsuccession der Successor sich auch ein vom Auetor begründetes
ins in re aliena gefallen lassen müsse; sie habe keine Sache zum
Objekt, sie hange an den Personen. Muß man anerkennen, daß un-
geachtet der persönlichen Natur der Obligationen der Cessionar ein
zu seinem Vermögen gehöriges Forderungsrecht auf der Grundlage
des bisher dem Gedenten zuständigen Forderungsrechtes erhält, so
ist schlechterdings nicht zu verstehn, weshalb es unmöglich sein
soll, daß auf jenes Forderungsrecht des Gessionars sich gleichzeitig
und notwendig dieselben Beschränkungen übertragen, welche dem
Stammrechte des Gedenten anhalfteten, es müßten denn diese Be-
schränkungen, wie z. B. das auf einer persönlichen Eigenschaft des
Gläubigers beruhende beneficium competentiae, eine noch engere per-
sönliche Beziehung haben, als das Forderungsrecht selbst.
Verwirft nun Verf. die von vielen in der Gession angenommene
Singnlarsuccession in Obligationen, so sucht er dafür die obligatori-
sche Singularsuccession als ein von Novation wie von Gession ver-
schiedenes, eigenartiges Bechtsinstitut aufzustellen, und zwar zu-
nächst theoretisch - abstrakt Seine Singularsuccession würde das
10*
IS2 Gott. gel. Ai.z. 1887. Nr. 4.
Gleiche leigten, wie die Cession, insofern es für sie der Einwilligung
des Scbnldners nicht bedarf, nnd andrerseits das Gleiche, wie die
Novation, insofern sie »das Recht gänzlich vom bisherigen Gläubiger
ablöst, nnd den neuen Gläubiger zum selbständig Berechtigten, mit
andern Worten zum Subjekt einer ganz eigenen Obligation machte
(S. 204), d. h. ihn von den Einreden ans der Person des alten Gläu-
bigers befreit. Die Rümer haben ein solches Institut nicht gehabt,
Novation und Cession genügten ihrem Mobilisierungstriebe« (S. 216)
im Obligationenrechte; auch würden sie gefürchtet haben, daß fttr
ihren Verkehr der Gewinn durch solche Singularsuceession gegen-
tlber der Einbuße an Sicherheit und Zuverlässigkeit zu gering sei,
da die hierbei ansreichende Sicherheit gewährende Urkundenform
ihnen in der geeigneten Anwendung fremd blieb. Vor allem aber
habe der obligatorischen Singularsuceession die römische Anschauung
von der Obligatio und dem Obligierungsakte entgegengestanden.
Die Frage, wie der in der Willensspbäre des zu Verpflichtenden
belegene Gegenstand gewonnen werde, »so daß er etwas Abgegrenz-
tes, Konkretes, eine individualisierte Realität und damit eben fähig
wird, den Stoff abzugeben fttr eine Macht, wie sie dem Gläubiger
eingeräumt und zugestanden werden soll« (S. 218), haben die Römer
erledigt unter dem Gesichtspunkte des Vertrages: der künftige
Gläubiger habe dabei thätig werden nnd mitwirken, ja sogar im
Vordergrunde stehn, als wahrer Schöpfer seines Rechtes erscheinen
müssen.
Bevor der Verf. dazu übergeht, die moderne Rechtsbildung zu
erörtern, welche er als obligatorische Singularsuceession ansieht, be-
rührt er noch die Frage, ob dieselbe geeignet sei , wie die Cession,
die Accessionen der Forderung auf den Erwerber der letztern mit
zu übertragen. Er bejaht diese Frage, falls die Accession Aufnahme
in die Skriptur finde und nicht etwa mit höchst persönlicher Wir-
kung begründet worden sei. Freilich gehe die Obligatio als dieses
bestimmte Rechtsindividuum insofern unter, als der neue Gläubiger
eine neue, d. h. eigne Obligatio erwerbe ; allein die Accession brauche
keineswegs gedacht zu werden als gebunden an die rechtliche Indi-
vidualität der Obligatio; es sei nicht nur zulässig, sondern genauer,
sie mit dem Rechtsobjekt der Obligatio, d. h. dem Willen des
Schuldners, verknüpft zu denken. »Der Pfandschuldner, wie der
Zinsen Versprecher, erweitert das Haftnngsobjekt (?) , welches dem
Gläubiger unterthan sein soll ; die Gebundenheit des Pfandes dient
der Gebundenheit der Person nnd geht ganz in diesem Dienste auf.
Dasselbe (?) ist von der Zinsverbindlichkeit zu sagen. Und nicht
minder gesellt sich die Haftung des Bürgen und die Haftung de9
Kuntze , Die Obligationen im römischen und im heutigen Recht. 133
Pfandobjekts des intcicedierenden Pfandbesteliers so anmittelbar zu
dem Schuldwiilen des (Haapt-)SehaldDerSy daß das Objekt des aeees-
gorischen RechtsverhältDisses sieb wie eine Pertinenz an das Objekt
des Principalverhältnisses hängte (S. 221), — d. h. an den Willen
des Schuldners ! Berichterstatter maß abermals bekennen, daß hier
sein Verständnis aufhört. Er besorgt, daß die Grundauffassung eines
praktischen Verhältnisses, welche derartiger Spekulationen bedarf,
fär nnser reales Leben ganz und gar verfehlt sei.
Verf. wendet sich nunmehr zu der Skriptarobligation. Im Ge-
gensatze zu den Römern brauchen wir die obligatorische Singular-
succession wegen der Ausdehnung unseres Verkehrs um so mehr,
als uns das bequeme Erwerbs- und Obligierungsinstrument fehlt, das
die Römer in den Sklaven hatten. Hinter der Beweglichkeit des
Eanfmannsgutes darf die Obligatio, dieses Hauptorgan der Vermö-
gensbeweglicbkeit, nicht zurttckstebn; »die Abhängigkeit des ur-
sprünglichen Gläubigers von der Einwilligung seines Schuldners (bei
der Novation) und die Exponiertheit des succedierenden Reehtssub-
jekts gegenüber ursprünglich dem Schuldner zur Seite stehenden
Einreden (bei der Cession) mußten fallen« (S. 223) ; die Obligatio
mußte fungibel werden. Unser Verkehr hat sodann zur Befrie-
digung dieses Bedürfnisses das geeignete Hülfsmittel in der Ur-
kunde. Kraft ihrer Verbindung mit dieser nimmt die Obligatio
teil an deren sinnlicher Erkennbarkeit und Identifiderbarkeit, Hand-
greiflichkeit und Beweglichkeit. Freilich ist es nicht »die Obli-
gatio selbst, die Obligatio nach ihrer Substanz als Reehtsindi-
viduum, in ihrer Ganzheit als das bestimmte einzelne Reehtsverhält-
nis, welebe in der Urkunde verkörpert wurdec (S. 225); auch würde
es nicht genügen, den Obligationsinhalt im Sinne des Verf.s
»als in das Papier versenkt zu denken«, denn dabei bliebe es un-
entschieden, »ob die Begebung eine Novation oder Singularsucoes-
sion bedeute, da ja auch die Novation den Obligationsinhalt unan-
getastet läßt und transferiert. Es handelt sich ja gerade darum,
daß der Gläubiger frei über die Forderung zu Gunsten eines Nach-
folgers verfügen kann, und der Nachfolger die Forderung ganz als
eigenes Recht und mithin exceptionsfrei erwirbt. Dies leistet — die
Begebung (mit der Wirkung der Singularsuccession), welche die
Identität nicht bloß des Obligationsinhalts, sondern des Obligations-
objekts zur begriffichen Voraussetzung hat« (S. 226). »Das Obli-
gationsobjekt, d. h. der Wille des Schuldners, ist also das-
jenige obligatorische Clement, welches, als die Verbindung mit der
Urkunde eingehend, in diese versetzt und eingesenkt zu denken ist«.
Der Schuldner »objektiviert seinen Schuldwiilen in der Urkunde,
134 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 4.
diese ist mithin Trägerin des Schuldwillens, d. h. des Rechtsobjekts
der Obligatio« (S. 227). Hiernach ist es nicht »verwnnderlich, daft
der Schaldner allein den entscheidenden Akt vollzieht, daB er dem
Bechtsobjekt Beharrangskraft einflößen kann, und daß er es darch
die Girkalationsbestimmung unabhängig macht von der Person des
Gläubigers« (das.). »So lange der Accent auf dem Gläubiger ruht,
oder aach nur beide Kontrahenten paritätisch zusammenwirkend ge-
dacht werden, verschwindet mit dem Wegfall des Gläubigers das
Rechtsobjekt« (= Wille des Schuldners!) »unaufhaltsam, rettungs-
los in Nichts, und kann also von Singularsuccession keine Bede sein;
sobald aber der Accent auf den Schuldner hinüber rttckt, und dessen
einseitiger Thätigkeit Überlassen ist, den Schuldwillen zu fassen und
zu objektivieren , kann es dem Schuldner zukommen, auch die Trag-
weite seiner Haftung zu bestimmen: entweder sie auf einen be-
stimmten Gläubiger zu beschränken, oder aber auf eine beliebige
Succession von Gläubigern auszudehnen« (S. 229). »Der Creator
setzt seinen Willen (den Schnldnerwillen) in Bewegung zu dem
Ende, die Obligatio zu erzeugen. — Aber es ist nur eine Bethäti-
gung des Willens, welche sich in der einen Handlung erfüllt und
erschöpft; sobald diese vollzogen ist, tritt die wollende Person in
ihre bisherige Ruhe zurück« (S. 231 f.). Aber aus der Bewegung
sei eine Urkunde hervorgegangen, und diese zeige einen gebundenen
Willen, den Schuldwillen, der als Objekt ein beharrendes, dauerndes
Etwas sei.
Von den bei Windscheid Fand. II § 291 Anm. 2 aufgezähl-
ten fünf Auffassungen der Cirkulationserscheinung weiset u. E. mit
Fug Verf. zwei von vornherein zurück, nämlich die Auffassung des
Hergangs als Cession und diejenige, wonach ein Forderungsrecht
erst mit der Präsentation erwächst. Entschieden bekämpft er so-
dann die Auffassung, wonach das Forderungsrecht durch den Besitz-
erwerb originär für jeden Erwerber entsteht. Die genetische Ein-
heit und Ungeteiltheit des grundlegenden Versprechens führe auf die
Kontinuität; die neuen Gläubiger rücken ein kraft der ursprüngli-
chen Schulderklärung, welche, durch die successiven Inhaber fort-
wirkend, diese unter einander nicht löse, sondern verbinde. Dies
dürfte nur eine Umschreibung des tfaema probandum sein, sicher
kein Beweis; und noch weniger liegt ein solcher in dem angehäng-
ten Bilde eines elektrischen Funkens, welcher als ununterbrochene
Strömung eine Kette in einander gefügter Hände durchlaufe. Fer-
ner zeige im Ordrepapier der Leitungsapparat »Indossament« den
Znsammenhang der Leitung ; die hier erforderte formelle Kontinnität
müsse aber auch bei Inhaberpapieren angenommen werden^ wenn
Kuntze, Die Obligationen im romisclien und im heatigen Recht etc. 135
•
nicht die theoretieelie Einheitlichkeit des Systems der Cirkulatious-
papiere verloren gehn soll. Darf man jedoch, nm den Schein einer
nicht sachlich, sondern rein spekulativ geforderten Einheitlichkeit zu
gewinnen, sachliche Unterschiede einfach übersehen? Kraft des
Versprechens an Ordre verpflichtet sich Aossteller nnd Acceptant
soccessiv dem ersten Empfänger und jedem Indossatar; kraft der
Ansstellong eines Inhaberpapieres verpflichtet sich der Aassteller je-
dem Inhaber. In keinem beider Fälle snccediert der spätere Erwer-
ber in das Recht des vorigen: im erstem nicht, weil in der Begrün-
dung der Verpflichtang aus einem Ordrepapiere zwischen Aussteller
bezw. Acceptanten einerseits nnd Remittenten anderseits beiderseits
die Erklärung liegt, daß kraft eines Indossaments an Stelle der al-
ten Obligation eine neue zwischen Aussteller bezw. Acceptanten und
Indossatar treten solle; — im andern Falle nicht, weil ganz unab-
hängig von irgend einem frühem Inhaber jeder zum Gläubiger wird,
welcher den Besitz des Papieres erwirbt. Wenn Verf. endlich
meint, die Auffassung, wonach jeder Besitzer eines Inhaberpapieres
originär das Fordernngsrecht erwerbe, entziehe dem spätem Gläu-
biger die obligatorischen Accessionen, so ist dafür schwerlich ein
Grund zu erkennen. So gut die Hauptobligation mit dem Besitze
des Papieres erworben wird, so gut muß auch die in diesem Papiere
verbriefte Zinsforderung Bürgschaftsforderung und Pfandsicherheit
damit erworben werden. Verf. kämpft hier gegen einen imaginären
Gegner, indem er wider Stobbes Auffassung des Indossamentes als
einer novatorischen Delegation einen Einwand erhebt, welcher nur
dann am Platze wäre, wenn Inhaberpapier und O^drepapier not-
wendig unter der gleichen Auffassung stehn müßten. Bei Recht-
fertigung seiner eignen Auffassung, wonach die Forderung aus einem
Cirknlationspapiere durch Singularsuccession erworben wird, und
zwar durch einseitige Besitzergreifung seitens des Nachmanns, hat
Verf. übersehen, daß damit für das Inhaberpapier den von ihm
selbst (S. 213) aufgestellten begrifflichen Erfordernissen der Singu-
larsuccession nicht genüge geschiebt, insofern das Recht des Vor-
manns durch Dereliction oder durch Verlust des Papieres bereits in
einem frühem Augenblicke beendigt sein kann, als in welchem das
Recht des Nachmanns entsteht. Für des Verfs Successionsbegriff
scheint es überhaupt verhängnisvoll gewesen >u sein, daß er die
Bedeutung nicht gewürdigt hat, welche dem die Succession begrün-
denden Rechtsverhältnisse zwischen Auetor und Successor zukommt:
es hat etwas Widerstrebendes, den Dieb eines Inhaberpapieres als
Rechtsnachfolger des Bestohlenen gelten zu lassen. Und sofem wir
gegenüber dem Verf. daran festhalten dürfen, daß Einreden gegen
136 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 4.
ein Forderangsrecht dieses Fordern u'gsrecht selbst in seinem objek-
tiven Bestände modificiereni nicbt bloß seine Geltendmachung seitens
eines bestimmten Subjekts, müssen wir eben den NichtUbergang der
Einreden aus der Person des Vormanns als zwingende Instanz ge-
gen die Annahme einer Singalarsuccession sowohl beim Inhaber-
papiere als beim Ordrepapiere anerkennen.
Die zweite Abhandlung (S. 245-399 §§ 51—70) betrifft »das
ins extraordinarium der römischen Eaiserzeit«. Sie wendet sich
hauptsächlich gegen die Angriffe, welche die Darstellung dieses Ge-
genstandes in des Verf.s Exkursen durch Wlassak, kritische Sta-
dien zur Theorie der römischen Rechtsquellen im Zeitalter der klas-
sischen Juristen, erlitten hat. Vermutlich ist es eine Laune des Zu-
falls im Verkehr mit dem Sortimentsbuchhändler gewesen, wie sie
danach also auch in Leipzig nicht ausgeschlossen zu sein scheint,
was dem Verf. die Bekanntschaft mit der im November 1885 er-
schienenen vom Berichterstatter besorgten Fortsetzung von 0. E. Hart-
manns Ordo indiciorum vorenthalten hat. Infolge davon ist Bericht-
erstatter zu seinem Bedauern um die ohne Zweifel höchst lehrreiche
Aeußerung des Verf.s betreffs der dort §§ 39 ff. vertretenen Ansicht
Hartmanns über das ius extraordinarium gekommen. Während einer-
seits der Verf. das römische Recht der Eaiserzeit in die drei neben
einander stehenden Massen des ius civile, des ius honorarium und
des ius extraordinarium zerlegt, andrerseits Wlassak nur die Zwei-
teilung in ius civile und ius honorarium gelten läfit, dagegen das
ius extraordinarium rein processualisch erklärt, nimmt dort Bericht-
erstatter mit 0. B. Hartmann an, daß das ius extraordinarium, d. h.
das auf Kaiserkonstitutionen und Senatusconsulten und der an die-
selben sich anschließenden Praxis beruhende Recht, nicht als gleich-
berechtigtes Glied neben ius civile und ius honorarium stehe, viel-
mehr diesen nur einzelne, teils sie ergänzende, teils sie als Aus-
nahmen durchbrechende, Rechtssätze und Rechtsinstitute hinzugefügt
habe, von welchen letzteren nur einzelne weder ius civile noch ius
honorarium enthalten. Und diese Auffassung scheint ihm auch durch
die vorliegenden Ausführungen des Verfs nicht widerlegt.
Der grundsätzliche Gegensatz dieser Ansichten liegt, soviel Be-
richterstatter zu sehen vermag, in der Bestimmung desjenigen Um-
standes, kraft dessen ein Rechtssatz, ein Rechtsinstitut zu einem
Stücke des ius extraordinarium gestempelt wird. Wlassak findet
diesen Umstand ausschließlich in der Form der processualischen
Behandlnng, 0. E. Hartmann in der Art der Rechtsquelle, beide also
in einer gegenüber dem Rechtsstoffe äußerlichen Thatsache; der
Verf. erblickt ihn, obschon auch er der Form des processualischen
Euotzc, Die Obligationen im römischen und im heutigen Recht etc. 137
Verfahrens und iDsbesondere der Art der Recbtsqnelle Bttcksicht
Bchenkt (vgl. S. 280 f. and namentlich die Begriffsbestimmang S. 281
N. 3) wesentlich in der Stylart, also in einer Eigenschaft des Stoffes
gelbst. Wäre nan der Ausdruck »ius extraordinarinm« nicht ein
Qnellenansdrack, so mtißte jedem Rechtshistoriker die gleiche Be-
fugnis zuerkannt werden, denselben nach seinem Ermessen zu ge-
brauchen; und lediglich die größere sachliche Angemessenheit des
Namens zu dem damit bezeichneten lohalte durfte irgend einem der
verschiedenen Vorschläge, jenen Ausdruck anzuwenden, den Vorzug
verschaffen. In der That jedoch handelt es sich darum, festzu-
stellen, was die Quellen unter ins extraordinarinm verstehn; und
demnach können wir nur diejenige Auffassung als die richtige gel-
ten lassen» welche eben die quellenmäßige Bedeutung des Ausdrucks
trifft. Damit ist es Übrigens recht wohl vereinbar, von ihrer Quellen-
mäftigkeit abgesehen, einer abweichenden Auffassung insofern eine
innere Berechtigung zuzuerkennen, als dieselbe auf einen tiefgreifen-
den Gegensatz in dem Wesen der Rechtsinstitute hinweisen sollte,
welcher die ihm gebührende Beachtung bisher nicht gefunden hat.
Verf. behandelt seine Aufgabe in zwei Kapiteln. Das erste
derselben (S. 245—303) »Das Allgemeinec bezeichnet zunächst
(§ 51) »das Thema« und skizziert sodann (§ 52) »die bisherige
Lehre«. § 53 >die Vorstufen des neuen Systems« unterscheidet als
Etappen zu dem ins extraordinarinm im Sinne des Verf.s eine re-
publikanische Vorstufe, welche der privatrechtlichen Souveränetät«
des paterfamilias mittels der lex Falcidia^) und der Aufstellung der
querela inofficiosi testamenti zuerst eine Schranke zog, und eine
Vorstufe der augustisch-tiberischen Zeit, welche einen Bruch mit der
bisherigen Rechtsordnung in den leges Julia de maritandis ordini-
bus, Aelia Sentia, Julia vicesimaria, Fufia Caninia, lunia Norbana,
Claudia de legitima agnatorum tutela mnlieris bezeichnet. Wlas-
saks Ansichten werden als »Phantasien« in § 54 abgewiesen.
1) Wenn Verf. S. 258 zu N. 3 die Vermutung aufstellt, die lex Gincia habe
nicht dem Eigentümer verboten, zu schenken, sondern nur dem Andern, Schen-
kungen anzunehmen, so steht das im Widerspruch mit der ganz unverdächtigen
Ueberlieferung der Vat. fragm. § 298, welche donare capere liceto liest, sowie nicht
minder mit dem trümmerhaften Anfange der Fragmente Ulpians, dessen Beziehung
auf eben diese lex kaum abzulehnen ist ; hier heißt es : si plus donatum sit, non re-
scindit. Verf. hat nicht beachtet, daS das Gesetz als lex imperfecta unbedenk-
lich das Schenken selbst Verbieten konnte; als lex minus quam perfecta h&tte
es das natürlich nicht gekonnt, ohne seinen Zweck geradezu umzukehren. Viel-
leicht war es diese Fassnng, welche den Proculeianem Anlaß bot, die Erfüllung
eines contra legem Cinciam gegebenen Schenkungsversprechens für durch quamvis
anfechtbar zu erklären, quasi popularis sit haec exceptio [sc. legis Cinciaej.
Tat. fragm. § 266.
138 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 4.
In § 55 folgen »die AnsBprttche der römiscben Juristen«. Von
den vierandzwanzig abgedruckten Stellen, die übrigens zum Teil
Nichtjuristen, zum Teil Gesetzen und Konstitntionen angeboren, be-
ziehen sich drei Viertel, nämlich achtzehn, gar nicht auf den Gegen-
satz des ins ordinarium und extraordinarinm im Sinne des Verf.8.
In der lex de imp. Vespas. lin. 13 geht das extra ordinem auf eine
von der regelmäßigen Berücksichtigung der Magistratskandidaten
abweichende; — bei Frontin. p. 16, 24 und 36 steht ins ordinariam,
wie auch Verf. S. 271 N. 6 bemerkt, im Gegensatze zum Verfahren
vor Feldmessern; daß dasselbe Givilrecht und Interdictrecht um-
faßt, bedingt durchaus keinen Gegensatz zu dem ins [extraordina-
rinm im fraglichen Sinne; — bei Sueton. Claud. 15 ist der Gegen-
satz des ordinari iuris, d. h. des vor Geschworenen im rerum actus
zur Entscheidung gelangenden Rechtes, die cognitio; — ebenso bat
das extra ordinem in 1. 2 D. ex quib. c. mai. 4, 6 seinen Gegensatz
in dem an den rerum actus gebundenen ins dicere; — bei Paul.
R. S. 3; 5, 18 ist der Gegensatz zu iure ordinario mindestens ebenso
gut als in der Zugehörigkeit zu dem ins extraordinarinm in der sum-
marischen und provisorischen Entscheidung aus diesem Recbtsbehelfe
zu suchen ; desgleichen in I. 15 § 4 D. de re iud. 42, 1 ; — in I. 32
§ 9 D. de recept. 4, 8 ist der Gegensatz der actio ordinaria das
Verfahren vor einem arbiter ex compromisso sumptus ; — in 1. 2 D.
de fur. baln. 47, 17 wie in I. 3 D. de priv. del. 47, 1 und ähnlich
in 1. 3 D. expil. her. 47, 19 muß als Gegensatz zu dem ad ins or-
dinarium remittere (ursprünglich wohl ad forum remittere) vorzugs-
weise gewiß die vom rerum actus unabhängige Aburteilung des
crimen extraordinarinm gedacht worden; — in I. 1 pr. D. si tab.
test. null. 38, 6 bezeichnet ordinarium die angemessene Reihenfolge ;
genau das Gleiche das ex ordine in 1. 1 D. de fid. her. pet. 5, 6 (vgl.
1. 1 D. de poss. her. pet. 5, 5), wofür Verf. S. 273 N. 18 höchst
gewaltsam extra ordinem als auf der Hand liegende Lesart setzen
will ; — in 1. 1 § 2 D. si ventr. nom. 25, 5 steht ins ordinarium im
Gegensatze zum Verfahren praetoria potestate (extra ordinem i. d. S.)
cf. 1. 1 § 2 D. de migr. 43, 32. I. 3 pr. § 1 D. ne vis fiat ei 43, 4.
1. 6 § 27 D. ut in poss. 36, 4; — in 1. 1 Cod. de ord. cogn. 7, 19,
aus welcher Verf. freilich die entscheidenden Worte wegläßt, ist ius
ordinarium die richtige Reihenfolge der Processe ; — in 1. 5 Cod. de
priv. fisci 7, 73 heißt >extraordinario iure« krafb fiskalischen Privi-
legs, ähnlich wie in der vom Berichterstatter im Ordo S. 549 aus
Versehen ausgelassenen 1. 12 D. ut in poss. legat. 34, 4 (Wlassak
S. 88) das extraordinarinm remedium auf ein prätorisches Dekret
geht, welches kraft eines ius singulare den Municipien erteilt wird,
nnd in 1. 16 pr. D. de min. 4, 4 die restitutio propter minorem
EuDtze, Die Obligationen im römischen und im heutigen Hecht etc. 130
aetatem extraordiDariam auxiliam beißt (s. anch 1. 10 D. de Carb. ed.
37, 10, wo ins ordioariain das gewöhnlicbe Becbt der bonornm pos*
^sessio gegenüber der Carboniana bonornm possessio bedeutet), was
Verf. S. 331 § 63 irrig bestreitet; — in der 0. E. Hartmann und
dem Berichterstatter entgangenen 1. 7 Cod. de H. v. A. V. 4, 39,
welche übrigens Verf. in einer nicht korrekten Fassang gibt, be«
deutet ordinarium das der fest bestimmten Regel Entsprechende
also den logischen Gegensatz dessen, was von den besonderen Um-
ständen abhängt, entsprechend der ordinaria actio in der in den
Berichtigungen und Zusätzen zu dieser Stelle noch nachgefttgten 1. 5,
Cod. si aliena res 8, 15 (16), nicht aber, wie Verf. S. 274 N. 21 für
möglich hält, den Gegensatz zu kaiserlicher Nachhülfe. Dagegen
hat Verf. nicht benutzt die ftir sein Beweisthema besonders geeigne-
ten 1. 7 § 2 D. de off. proc. 1, 16. 1. 2 §§ 19 und 33 D. de 0. J.
1, 2. 1. 1 Cod. ubi de crimin. 3, 15. Sueton. Claud. 23 cf. § 3. J.
de Atil. tut. 1, 20. 1. 50 D. de evict. 21, 2. 1. 7 D. ad Sc. Silan.
29, 5. 1. 1 Cod. de libert. et eor. lib. 6, 7. Ruhr. D. 43, 1: de in-
terdictis sive extraordinariis actionibus, quae pro bis competunt. Weit
erheblicher erscheinen, abgesehen freilich immer von der streitigen
Bedeutung des Ausdrucks »ins extraordinarium«, für den sachlichen
Zweck des Verfs diejenigen Aussprüche der Quellen, welche sich
auf den Gegensatz des ins vetus oder pristinum oder antiquum einer-
seits nnd des ins novum oder constitutum oder concessum anderseits
beziehen (S. 276 ff. unter III). Denn sie meinen diesen Gegensatz
nicht bloß als einen zeitlichen, der ja etwas nur Relatives sein
würde, sondern sicherlich zugleich und wesentlich als einen gegen-
ständlichen, welchen sie ganz ausdrücklich auf die Verschiedenheit
der Rechtsquellen zurückführen. Allein handelt es sich hier wirk-
lich um einen Gegensatz gleichwertiger Rechtsmassen? oder nicht
vielmehr um bestimmte E i n z e 1 Vorschriften, mittels deren das alte
Recht abgeändert worden ist?
Eben auf »die Quellen des ins extraordinarium« gehn dann die
§§ 56 und 57 ein. Es sind im Gegensatze einerseits zu den leges
und plebiscita, der interpretatio und der consuetndo, der tacita ci-
vinm conventio, als den Quellen des ins civile, andrerseits zu den,
hier nicht weiter in Betrachtung gezogenen, edicta magistratuum als
den Quellen des ins honorarium, die Senatus consnlta und die Con-
stitutiones principales. Es ist nicht zu verkennen, daß die Senatus
consulta und die Constitutiones principales nicht selten dem ins ci-
vile entgegengestellt werden.
§ 58 bespricht »die Litteratur des ins extraordinarium« bei den
Römern. Verf. vermutet, daß Papinians Hauptverdienst in der wis-
senscbaftlichen Durchdringung des ius extraordinarium zu suchen
140 Gott. gel. Anj5. 1887. Nr. 4.
sei; nur anter dieser Voraassetzang erkläre sieb eigentlich das her-
Yorragende, einzigartige Ansehen dieses gepriesensten aller römi-
schen Juristen. »Für die feine Geistigkeit des Schriftstellers Papi-
nian hatte die spätere Zeit, die einen Gains zu den Koryphäen rech-
nete, keinen Sinn«. »Aber wohl war es die kosmopolitische, die
römischen Nationalschranken durchbrechende Art des ins extraord.,
welche der Richtung der späteren Eaiserzeit entsprach. Das ins
extraordinarinm ward nun gewissermaßen zur Regel, wie die extra-
ordinaria cognitio zum Ordinarproceß ; was Wunder also, daß unter
den Koryphäen der am höchsten gepriesen wurde, welcher dem ins
extraordinarinm den wissenschaftlichen Stempel aufgedrtlckt hatte«
(S. 294). Wenn Verf. unbefangen genug ist, dies vorläufig als Hy-
pothese zu bezeichnen, so darf Berichterstatter gewiß dieselbe ebenso
künstlich, als überflüssig nennen. Papinians hervorragende wissen-
schaftliche Gediegenheit, bei seinen Lebzeiten gehoben durch die
einflußreiche Stellung des praefectus praetorio^ welche er vor allen Ju-
risten zuerst bekleidet hat, nach seinem Tode verklärt durch den
in der Christenheit des Reiches besonders wirksamen Märtyrernim*
bns, dürfte ausreichender Grund für Papinians Ansehen sein. Jener
Hypothese aber fehlt schon die äußere Grundlage, bevor nicht nach-
gewiesen ist, daß die Römer selbst das ins extraordinarinm als ein
den Gebieten des ins civile und des ins honorarium nur annähernd
gleichartiges Rechtsgebiet anerkannt haben.
Daß jedoch dieser Nachweis unerschwinglich sein dürfte, ergibt
sich aus den eignen Ausführungen des Verf.s in § 59 »das sekan-
däre Civil- und Honorarrecht«. Unmöglich nämlich ist es, zu ver-
kennen, >daß teils Sota, teils Principales Constitutiones sich mit Stof-
fen des ins ordinarium beschäftigten« (S. 296). Für die bereits von
Huschke bemerkte Erscheinung einer von Senat oder Princeps aus-
gehenden Ergänzung des ins honorarium hat Wlassak sich des Aus-
drucks »sekundär-prätorisches Recht« bedient, welchen Verf. auf die
gleiche Erscheinung hinsichtlich des Civilrechts in der Bezeichnung
»sekundär-civiles« Recht überträgt Indem er nun den Inhalt der-
jenigen Sota und Constitutiones, welche eine solche Ergänzung des
ins civile oder honorarium bilden, von seinem Begriffe des ins extra-
ordinarinm ausschließt, hat er damit nicht nur die Begrenzung die-
ses Begriffes von dem unter allen Umständen mehr oder minder
snbjektiven StylgefOhle abhängig gemacht (vgl. S. 247 f ) , sondern,
falls Berichterstatter recht sieht, geradezu der Ansicht Wlassaks den
Boden bereitet, wonach als ins extraordinarinm nur diejenigen Rechts-
bildnngen der Kaiserzeit gelten, für welche das gerichtliche Verfah-
ren von jeher mittels ausschließlich magistratischer Kognition er-
folgte. Denn sobald nicht mehr lediglich die Art der Eecbtsqaelle
Kuntze, Die Obligationen im römischen und im heutigen Recht etc. 141
über die Zugehörigkeit einer RecbtsbilduDg zam ins extraordinarium
eDtscheiden soll, wird sich kaom ein anderes sicheres Unterschei-
dongsmerkmal hierfür gewinnen lassen, als die Anwendbarkeit oder
Niebtanwendbarkeit der fOr das ins civile oder das ins honorarium
aofgestellten Formen des Rechtsschutzes.
Indem Verf. auch die Rechtsbildungen der Jurisprudenz der
Kaiserzeit je nach ihrem Inhalte entweder dem ins ordinarium oder
dem ius extraordinarium beizählt, scheint er hinsichtlich der Ein-
reihung der Innominatkontrakte nicht ganz vorurteilslos geblieben
zu sein. Uniäugbar haben manche römische Juristen einzelne Fälle,
namentlich das Schema »facio, ut des« nicht für Kontrakte gehalten
und deshalb da, wo ihnen gleichwohl statt der in concreto uuanwend-
baren condictio ob causam dati eine Schadensersatzklage billig er-
schien, bei Dolus des Gegners die actio de dolo, sonst eine actio in
factum, d. h. ohne Zweifel eine prätorische Klage mit einer intentio
in factum , gegeben. So noch Paulus nach Julians Vorgange.
1. 5 §§ 2 ff. D. de praescr. verb. 19, 5. 1. 7 § 2 i. f. D. de pact.
2j 14 (nach welcher letztern Stelle, wie schon von Cujacius u. A.
bemerkt worden ist, in I. 5 § 2 cit. das Schlußwort »civilem« ge-
strichen werden muß, vgl. 1. 15 eod. i. f.). Soweit jedoch ein römi-
scher Jurist einen zur Erfüllung verpflichtenden Vertrag annahm,
konnte er nicht füglich darüber im Zweifel sein, daß es sich um
einen civil en Schuldvertrag handele, welcher mit dem »Prätoren-
recbtc schlechterdings nichts gemein hatte. Seltsam genug beruft
sieh dagegen Verf. S. 3C1 für die zwischen contractus und pactum
geteilte Zwitternatnr der Innominatkontrakte auf die seiner Mei-
nung nach von Labeo oder vielleicht erst von Ulpian für einen der-
artigen Vertrag in 1. 19 pr. D. de praescr. verb. 19, 5 gebrauchte
Bezeichnung: quasi negotium quoddam inter nos gestum proprii con-
tractus, während offensichtlich das > quasi c jener Steile die ablativi
absolut] »negotio quodam — gesto« als einen verkürzten Kausalsatz
bezeichnen soll, in keiner Weise aber das negotium zu einem quasi-
negotinm machen will , wie ja auch der nämliche Ulpian in I. 15
eod. von einer eonventio der fraglichen Art sagt: habet in se nego-
tium aliquod. Eine Uebertreibnng dürfte es ferner sein, daß der
Aosdruek actio in factum civilis mit dem alten Maß gemessen eine
eontradictio in adiecto sei (S. 303). Gehört es denn zum repnblika-
Dischen Kontraktsbegriffe, daß ein Kontrakt einen civilrechtlich an-
erkannten technischen Namen haben müsse, mit welchem bei einer
intentio incerta aus diesem Kontrakte die demonstratio rei, de qua
agitnr, gemacht werden könne? Wenn aber nicht, so war es ja ganz
anvermeidlich, daß der Inhalt einer intentio incerta aus einem tech-
Biseh nicht benannten Kontrakte statt mittels der unanwendba-
U2 Gott. gel. Ans:. 1887. Nr. L
ren demoDStratio mittels einer tbatsächlichen Angabe der im Ein-
zelfalle getroffenen Vereinbarang, in factam, die erforderliche Be-
stimmtheit erhielt. Wer jedoch sähe nicht^ daß dies eine an sich
recht anerhebliche Aeußerlichkeit ist? Daß die Innominatkontrakte
ihrer Zeit etwas Neues gewesen sind, versteht sich freilich ?on selbst ;
immerhin aber könnte es fraglich bleiben, ob es diese, für seine Un-
tersuchung mindestens gleichgültige, Thatsache sei, was Qaius in
1. 22 D. de praescr. verb. 19, 5 mit dem »quasi de novo negotio«
bezeichnen wollte, oder nicht vielmehr einfach das Dasein eines
neuen, d. h. eines unter der vorher von ihm genannten, gebräuch-
lichen, locatio conductio nicht begriffenen, ungewöhnlichen, Geschäf-
tes, wie bereits Brissonius de S. ad v. novum § 3 ed. Hein, an-
nimmt. Ist hiernach aber der Innominatkontrakt kein Gemisch
der alten Systeme, d. h. des ius civile und des ins honorarium, so
kann auch seine Aufstellnog keine Vorbereitung des Bruchs mit dem
alten Systeme, kein Vorrücken des römischen Rechtstriebs bis an
die Grenzscheide zwischen ius ordinarium und ius extraordinarium
(S. 303) sein.
Kap. n (S. 304—399 §§ 60—70) endlich stellt »die einzelnen
Zweige des neuen Systems c dar, und zwar unter I »das ius extra-
ordinarium im engeren Sinne« (§§ 60—64).
§ 60 erörtert »die materiell rechtliche Natur desselben«. Wie
Cäsar das Pomerium durchbrochen, so habe der, an die Stelle des
Gemeinde Staates getretene, Nationalstaat sich angeschickt, ein
Welt Staat zu werden. Auch im Privatrechte habe sich die Masse
dessen, was des alten Maßstabes spottete, so beträchtlich gehäuft,
daß mit dem Gedanken vereinzelter Ausnahmen nicht aus-
zukommen gewesen sei. Was die Zeit von Augustus bis Aurelian in
juristischer Beziehung recht eigentlich auszeichne^ sei das s. g. ins
extraordinarium. Mit dem, was gewöhnlich zuerst unter ins extraordina-
rium gedacht werde, stehe das ins naturale und das ins militare in
nächster Verbindung; auch das ius publicum zeige einen in ent-
sprechender Weise über den alten Rahmen hinausgehenden Entwick-
lungsgang. Freilich lasse sich für das Dasein des ius extraordina-
rium in dem hier fraglichen Sinne nur ein Indicienbeweis fttbren;
und zu dessen Würdigung müsse verlangt werden, daß der Leser ge-
schichtlichen Sinn mitbringe.
Dem ius extraordinarium sei das Glück eines wissenschaftlichen
Abschlusses nicht zuteil geworden. So habe es die durchbrochene
Eischale der processualen Hülle, nämlich der extraordinaria cognitio,
am jugendlichen Körper behalten; in Wahrheit aber sei hier nicht
bloß ein neues Proceß system, sondern eine neue Welt materiel-
ler Rechtsgebilde zur Entstehung gekommen. Insofern aber habe
Kuntze, Die Obligationen im römischen und im heutigen Becht etc. 143
die extraordinaria cognitio für uds eine prototypiscbe Bedeutung, als
wir au ihrer Art recht deutlich den Grad der Abweichnug des neuen
Systems vom alten zu ermessen vermögen. Während die im ins ho*
Dorarium organisierte Masse völlig vom Römertum naturalisiert ge-
wesen sei, machen die Gestalten des ius extraordinarium Risse io
das alte Gewebe. So nehme der Proceß der Kaiserzeit Elemente
der Heimlichkeit und Schriftlichkeit in sich auf; der Kognitional-
proceß lasse die Proceßcäsur der Litiskontestation fallen und mache
sich los von der Mitwirkung des Bürgers im Geschwornenamt. Wie
nun dies nicht ohne Wandelung der rechtlichen Anschauungen habe
vor sieh gehn können, so erkläre sich auch die Geltendmachung der
Scta Macedonianum, Velleianum, Trebellianum, der epistola D. Ha-
driani u. s. w. in der Form der exceptio gegenüber dem reprobier-
ten Thatbestande, statt in der Form der ipso iure eintretenden Nich-
tigkeit desselben, innerlich nur daraus, daß das neue Recht als eine
besondere Schicht von den alten Rechtssystemen unterschieden wor-
den sei. Allein, wenn wirklich die Herkunft des Verbotes aus dem
ias extraordinarium dessen Geltendmachung ope exceptionis bedingt
bätte^ wie erklärt alsdann Verf., daß nach den Scta Hosidianum
und Volusianum verbotswidrige venditiones irritae, d. h. nichtig,
waren, ebenso nach dem Sctnm vom J. 122 n. Chr. (1. 41 §§ 1 sqq.
D. de legat 1) verbotswidrige Legate? S. auch 1. 46 § 2 D. de
J. F. 49, 14 (wo das infirmato contractu vindicatur auf die wndt-
dicatio seitens des Veräußerers geht). Und wenn es nicht bestritten
werden kann, daß die eigentümliche Form der exceptio erst dem
durch den Prätor gehandhabten agere per formulas angehört, so
muß doch behauptet werden, daß solche exceptiones, die, wie die
exceptio legis Cinciae, ex legibus substantiam capinnt, dies nur
darum thun, und thun können, weil die betreffende lex eine perfecta
nicht war, d. h. weil sie das von ihr verbotene Rechtsgeschäft eben
nicht völlig entkräften wollte, wie es daher sicherlich schon im Le-
gisaktionen- Verfahren eine besondere Form der auf derartige leges
gestützten Anfechtung gegeben hat. Sollte nicht entsprechend die
bloß exceptivische Wirkung eines durch Sctum ausgesprochenen
Verbotes darauf beruhen, daß das Sctum selbst absolute Nichtigkeit
des Verbotenen nicht wollte, während umgekehrt da, wo diese ge-
wollt war, Nichtigkeit ipso iure eintrat? und ist nicht die bloß
exceptivische Befreiung des heres fiduciarius ex Trebelliano die not-
wendige Folge des character indelebilis des heres, den auch das
Trebellianum nicht beseitigt hat? (S. 317 zu N. 42). Demnach
dürfte einstweilen wohl eine starke Vermutung auch dafttr streiten^
daß die bloß exceptivische Wirkung des beneficium divisionis nicht
auf der Eonstitutionennatur der epistola D. Hadriani beruht, sondern
144 Gott. gel. Adz. 1887. Nr. 4.
auf sachlichem Grande , wie es entsprechend 6ai. 4, 22 gegenüber
der korrupten Lesart von 3, 121 unzweifelhaft beweist, daß auch
die lex Fnria de sponsa kraft der von ihr vorgeschriebenen Eopf-
teilang unter die im Augenblicke der Fälligkeit vorhandenen spon-
sores keinesweges die Schuld auf das plus quam virilem partem ipso
iure aufhob, vielmehr als minus quam perfecta das exigere jenes
plus formell gestattete.
§ 61 stellt in hervorragenden Beispielen »das Recht aus Sena-
tusconsultenc dar, welches nach Ansicht des Verf» einen principiell
neuen Charakter trägt. Als derartige Beispiele sind hier genannt
die Scta über den s. g. quasi-ususfructus , Neronianum, Velleia-
num über die intercessio mnlierum, Macedonianum , Velleiannm
ttber die assignatio liberti, Rubrianum, Glaudianum über das Advo-
katenbonorar, Apronianum, Trebellianum, Pegasianum, TertuUiannm
und Orfitianum. Gewiß ist dem Verf. darin zuzustimmen, daß diese
Senatuskonsulte die alte Bahn des römischen Rechts verlassen. Gleich-
wohl muß nachdrücklich betont werden, daß diejenigen dieser Scta,
welche nicht bloß negativ wirken, wie das Velleiannm ttber Frauen-
intercession und das Macedonianum, sofern ihr Inhalt in das ins ci-
vile schlägt, mit der gleichen formellen Kraft Recht schaffen, wie es
die Volksschlüsse gethan haben. Wer ein iure civili, d. h. nach al-
tem Civilrecht, nichtiges Legat ex Neroniano erhält, ist ipso iure
Legatar, d. h. er hat die Klage aus einem Damnationslegat mit in-
tentio in ins concepta; — das Kind des Patrons, welchem der letztere
ex Velleiano den Liberten assigniert, ist gerade so gut civiler Patron
desselben, wie er es ohne Assignation geworden sein wttrde; der
Unterschied seines Rechtes in beiden Fällen ist nur ein quantitativer,
kein qualitativer; — die ex Aproniano von ihren Freigelassenen
rite eingesetzten Gemeinden wurden heredes; — das TertuUiannm
und Orfitianum gewährten nicht minder in dem Sinne die hereditas
legitima, daß durch sie die berechtigte Person quiritarisches Eigen-
tum der Nachlaßsachen erwarb, Erbschaftsklagen aktiv und passiv
direkt auf sie ttbergiengen u. s. w. Es ist in der That nicht ver-
ständlich, wie Verf. S. 318 f. N. 45. dies Letzte bestreiten mag> in-
dem er die vielfach dafür gebrauchten Ausdrücke »hereditas legi-
timac »heredes legitimic in dem Sinne von Intestaterbfolge ver-
stehn will, was in den meisten Stellen ganz bedeutungslos sein
würde nnd z. B. in I. 6 § 2 D. de A. et 0. H. 29, 2 als Gegensatz
der in § 1 erörterten bonorum possessio gar nicht paßt. Daß das
Trebellianum eine hereditas secunda nicht begründete, beruht ganz
folgerecht auf dem Charakter indelebilis des heres; und aus dem
nämlichen' Grunde vermochte auch die erzwungene Antretung und
Kuntze, Die Obligationen im römischen und im heutigen Recht etc. 146
Bestitntion der Erbsobaft ex Pegasiano den Fideikommissar zam
heres Dicht za machen.
§ 62 bringt »das Gonstitutionenrecht«. An die Spitze ist das
Fideikommiß gestellt. Verf. verteidigt hier mit großer Entschieden-
heit den Satz, »daß das Fideicommissrecht nicht Prätorenrecht istc
(S. 322), während o. W. niemand das Gegenteil behauptet hat, anoh
Dicht fttr das Universalfideikommiss. In der That kann es ja keinem
Zweifel unterliegen, daß die Klage des Fideikommissars gegen den
heres fidnciarius auf Erfüllung des Fideikommisses die extraordinaria
fideioommissi persecatio ist. Es handelt sich lediglich um die Wir-
kung der Erfüllung. Während bei einem Singularfideikommiss die
Leistung einer Nachlaßsache oder einer dem Belasteten selbst ge-
hörigen Sache den Fideikommissar zum vollen quiritarischen Eigen-
tümer macht, oder, wenn jene Sache eine res mancipi ist, kraft der
mancipatio oder in iure cessio oder kraft nachträglicher usncapio
immerhin machen kann, vermag Erfüllung eines Universalfideikom-
misses, wie schon oben erwähnt, wegen der UnzerstOrlichkeit der
Eigenschaft eines heres, den Fideikommissar niemals zum heres zu
machen. Gäbe es nun Dach ins extraordinarium eigentttmliche, den
actiones hereditariae entsprechende Rechtsmittel fttr die Universal-
soccession, so würden diese möglicherweise gerade auch auf den Uui-
versalsuccessor ex Trebelliano angewandt worden sein. Derartige
Rechtsmittel aber gibt es bekanntlich nicht. Das Trebellianum über-
ließ daher die Aufstellung der geeigneten Klagen dem Prätor, wel-
cher dieselben im Edikte als utiles actiones quasi heredi et iu
heredem proponierte, wie Gai. 2, 253, eine vom Verf. nicht berück-
siditigte Stelle, ausdrücklich sagt. Zum Ueberflnß ftigt dann Gai. 4, 111
hinzu, daß der Prätor bisweilen auch solche Klagen; welche unmit-
telbar vorher als actiones, quae ex ipsius inrisdictione pendent, in
QDZweideutigen Gegensatz gesetzt sind zu denjenigen, quae ex lege
senatusve consultis proficiscuntnr , unverjährbar gebe, und als Bei-
spiele dafür werden genannt eae, quas bonorum possessoribus ceteris-
que, qui heredis loco sunt, accommodat. Die Behauptung des Verf.s
(S. 322), es sei nicht wahr, daß Gaius dort die Klagen des Univer-
salfideikommissars zu den prätorisehen, d. h. vom Prätor eingeftlhr-
teo, zähle, ist gegenüber dem Zusammenhange dieser, von Wlassak
S. 101 N. 8 angeführten, Stelle nur unter der Anoabme zu begreifen,
daß er jeneo Znaammenhang gänzlich übersehen und dafür sein
Augenmerk auf eine bei Wlassak von ihm grundlos vermutete, irrige
Auslegung von accomodare beschränkt hat. Ebenso wenig scheint
ea bezweifalt werden zu dürfen , daß in 1. 20 D. fam. eroisc. 10, 2
and in 1. 2 § 19 D. pro empt 41, 4 der Ausdruck »ceteri honorarü
oder praetorii snccessores« auch auf den unmittelbar vorhergenann-
(Hlt. g«i. Au. 1887. Mr. 4. 11
146 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 4.
ten Fideikommissar geht, cai restitnta est hereditas ex Trebelliano
Scto; weoD dagegen in I. 20 § 13 D. de H. P. 5, 3 diejenigen, qoi
existiment sibi restitatam bereditatem, erst nach denen, qui bonornm
possessores se existiment vel alias instos saccessores, aufgeführt wer-
den, so dürfte Ulpian darunter solche Fideikommissare gemeint ha-
ben, denen ex Pegasiano, d. h. ohne den Erfolg der Universalsuc-
cession, restituiert worden war (vgl. Francke Comment. S. 146 und
S. 158 f.).
Dann erwähnt Verf. einige Eonstitntionen, welche sich auf das
fideicommissum libertatis und die iura ingennitatis bezieben. Dabei
ist der Inhalt des rescriptum D. Marci über die addictio bonorum
libertatum conservandarum causa insofern ungenau mitgeteilt, als
der Sklav, welcher dieselbe nachsuchen kann, einer der letztwillig
freigelassenen Sklaven des Erblassers selbst sein muß, und die ad-
dictio an einen Freien erst durch Gordian (1. 6 Cod. de testam. ma-
num. 7, 2) erlaubt worden ist Uebrigens zeigt auch dieser Fall,
daß Vorschriften des ius extraordinarinm durch den Prätor kraft der
Mittel des ius honorarium vollzogen wurden: es ist für denjenigen,
cui bona addicta sunt, keinesweges ein eigentümlicher Recbtsmittel-
apparat aufgestellt worden; ebenso wenig wurde er heres, ohne
Zweifel deshalb nicht, weil die addictio, worauf seine Stellung be-
ruhte, durch den zuständigen Magistrat kraft des imperium erfolgte,
dieser aber heredem facere non potest; — dagegen heißt es von
ihm in 1. 4 § 21 D. de fid. lib. 40,5: bonorum possessori assimilari
debet, was doch kaum etwas Anderes bedeuten kann, als daß ihm
nnd gegen ihn nach Analogie des bonorum possessor vom Juris-
diktionsmagistrate utiles actiones gegeben werden müssen. Propo-
niert waren diese freilich nicht; es genügte, sie im Einzelfalle zu
erteilen. Wie so aber aus jener Aeußerung deutlich erhellen soll,
daß man sich außerhalb der Sphäre des ins ordinarinm im Sinne des
Verf.s befindet (S. 288), ist hiernach schwer zu verstehn. Und nicht
deutlicher erhellt dies, wenn Paulus in Beziehung auf das Ungültig-
werden des durch Privileg gestatteten Quasi-Pupillartestaments für
den filins pubes mutus in 1. 43 pr. D. de vnlg. subst. 28, 6 sagt:
ut, quemadmodum iure civili pubertate finitnr pupillare testamen-
tum, ita princeps imitatus sit ius in eo, qui propter infirmitatem non
potest testari. Denn sicherlich kommen diesem Quasi-Pupillartesta-
mente alle Wirkungen eines civilrechtlich gültigen Testamentes zu;
ius civile bedeutet hier soviel wie ius commune im Gegensätze zum
Privileg.
Weiter folgt die Quarta D. Pii, welcher die durch die Jurispru-
denz eingeführte praeceptio dotis ex lege verglichen wird; das de-
cretum in 1. 93 (92) de H. J. 28, 5; die kaiserlichen Transmissions-
Kuntze, Die Obligationen im römischen und im heutigen Recht etc. 147
fälle (1. 86 pr. D. de A. v. 0. H. 29, 2. I. 6 § 1. 1. 42 § 3 D. de
B. L. 38, 2. I. 11 Cod. de bis, qaae at indigo. 6, 35. 1. 4 D. de
Scto Sil. 29, 5. cf. 1. 3 §§ 30-32 eod. S. ferner 1. 12 D. de Garb-
ed. 37, 10. 1. 1 § 1 D. ad Sc. Tertall. 38, 17). Hinßichtlich der
letzten nimmt Verf. selbst an, daß sie »formell an die in integrum
restitutio angeschlossene worden seien (S. 330), d. h. doch wobt,
daß den Erben des Delaten causa cognita die Erwerbung sei es der
hereditas, sei es der bonorum possessio gewährt wurde. Beim Un-
tergange der Delation infolge des Sc. Silanianum bedurfte es gemäß
einer Konstitution (wahrscheinlich von M. Aurelius I. 11 Cod. 1. 4 D.
citt.) vielleicht nicht einmal der i. i. restitutio: die Erben des De-
laten hatten die erbschaftlichen Klagen ohne weiteres als utiles (of.
Fr. Schröder in v. Jherings Jahrb. 15 S. 435 f.). lieber die Rechts-
behelfe, mittels deren die übrigen Vorschriften verwirklicht wurden,
läßt sich Yerf nicht aus; sonst wUrde er einräumen müssen, daß
dieselben mindestens in den beiden ersten Fällen dem ins civile oder
dem ins honorarium angehörten: der Quarta D. Pii dient eine per-
sonalis actio (1. 1 § 21 D. de collat. 37, 6), ohne Zweifel eine con-
dictio ex lege (1. uu. D. de cond. ex lege. 13, 3); der praeceptio
dotis falls der filius maritus Miterbe des Gewalthabers ist, das arbi-
trium familiae erciscundae , falls er exherediert ist , dasselbe als
otile (1. 1 § 9 D. de dote prael. 33, 4). Aber auch im Falle der
1. 93 cit mußte, sofern die dort mitgeteilte kaiserliche Entscheidung
einen allgemein anwendbaren Recbtssatz ausspricht, ein der herkömm-
lichen Rechtsordnung sich einfügendes Verfahren stattfinden; Be-
richterstatter meint, der in dem ersten Testamente Eingesetzte, dessen
irrig angenommener Tod den Erblasser zur Errichtung eines neuen
Testamentes veranlaßt hatte, habe eine bonorum possessio decretalis
cum re erhalten, bei welcher die Vermächtnisse des zweiten Testa-
mentes aufrecht erhalten blieben arg. Val. Max. 7, 7, 5. Plin. H. N.
7, 5, 4. (Vgl. Schröder a. a. 0. S. 437).
Die »Fortsetzung« in § 63 berührt das ins singulare des Fiscus
»neben dem Fideikommiss eine zweite Grundwurzel des ius extraor-
dinarium< (S. 331); das ius offerendi et succedendi des nachste-
henden Pfandgläubigers; den Satz »ipso iure compensatur« ; die Ali-
mentations-, Dotations- und Funerationspflicht , von welcher letzten
übrigens bemerkt wird, daß sie zum Teil in das Prätorenedikt zu-
rückreiche; die adoptio per mnlierem; die Specialexekution durch
pignoris capio und die Appellation. Es bedarf keiner Ausführung
parüber, daß manche der hier aufgezählten Rechtsbildungen in den
gewöhnlichen Formen des ius civile oder honorarium verwirklicht
wurden oder, wie z. B. das in einzelnen Fällen dem Fiscus ipso
iure zufallende Eigentum, genau den nämlichen Inhalt haben, wie
148 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 4.
die entsprecbeDden iure ordinario entstandenen Verbältnisse; über
die Zagehörigkeit anderer aber zum ins extraordinarinm sieb strei-
ten ließe.
§ 64 endlicb betrifft »das Jaristenreebt« , soweit dasselbe anf
Anregung der Jarispradenz selbst, d. b. ebne nachweisbare Grund-
lage im Rechte der Scta oder der Konstitutionen Schöpfungen ge-
zeitigt haben soll, welche von denjenigen des alten Römerrechts
specifisch verschieden sind. Als solche nennt Verf. die potestas usu-
fructuarii, worunter er den Erwerb des Usufruktuars durch Rechts-
geschäfte der seinem Nießbrauche unterworfenen Sklaven versteht; —
das Pfandprivilegium wegen in rem versio ; — die Emphyteuse oder
vielmehr das ius in agro vectigali ; — die epistola oder cautio inter
praesentes als Surrogat der Stipulation ; — die Erweiterung der ob-
ligatorischen Stellvertretung in der actio quasi institoria und dem
Klagrechte des Principals ohne Cession für einzelne Fälle, wobei
1. 1 § 18 D. de exerc. act. 14, 1 falschlich herangezogen wird, um
den Zusammenhang der Jurisprudenz mit dem von den kaiserlichen
Behörden verfolgten Systeme zu belegen, während doch extra ordi-
nem hier die Bedeutung »ansnahmsweis« bat; — das Klagrecht des
Hanssohns oder, wie Verf. sagt, dessen persona standi in iudicio,
nach I. 18 § 1 D. de iud. 5, 1, eine >Neuerung; welche ohne Prä-
cedenz im ius ordinarium war«, wie Verf. S. 339 wohl im Hinblick
auf das »extraordinario iudicio« der Parallelstelle 1. 17 D. de R. Cr.
12, 1 meint, welche jedoch nur sagt, daß die fragliche Klage unab-
hängig vom rerum actus stattfinde ; — endlich die divisio patrimonii
inter liberos nach 1. 20 §§ 3. 5. 8. I. 32. 1. 39 D. fam. ereisc. 10, 2.
I. 30 § 3 D. de adim. leg. 34, 1. Selbst wenn einzuräumen wäre,
daß alle diese Bildungen dem Juristenrechte angehören, was u. E.
für die in rem actio de fnndo vectigali zu bereiten bleibt, und daß
sie aus dem Rahmen des ius ordinarium herausfielen , was u. E. für
keine einzige zugestanden werden kann, so läßt sich anderseits gar
nicht leugnen, daß sie samt und sonders in den gewohnten Formen
des ius civile oder des ius honorarium verwirklicht werden.
Dem ius extraordinarinm i. e. S. sind in § 65 unter II »das ius
naturale« und in § 66 unter III »das ius militare« angereiht. Beide
»haben einen gemeinsamen Grundzug: sie tragen dem kosmopoliti-
schen Bedürfniß der neuen Zeit Rechnung und thun das gewisser-
maßen mit Bewußtsein und systematisch« (S. 341).
Auf das über das ius naturale hier Vorgetragene brauchen wir
nach dem bereits oben Bemerkten nicht weiter einzugehen. Doch
sei hervorgehoben, daß wohl nur von einer vorgefaßten Meinung aus
in Redewendungen wie : inter nos cognationem quandam natura con-
stitnit, libertas est naturalis facultas eins, quod cuique facere libet^
Eantze, Die Obligationen im römischen nnd im heutigen Recht etc. 149
qiias (res) — mUura vel gentiam ins vel mores civitatis commercio
exnemnty earnm nulla venditio est — der Hinweis auf ein ins naturale,
nnd vollends im Sinne einer Rechtsordnung, zu erblicken ist.
Hinsichtlich des ins militare bekämpft Verf. die Ansicht, das-
selbe sei »ein Mosaik von Privilegien«, auch dttrfe man nicht znei*st
an den ßiusfamüias miles denken (S. 349). Vielmehr handele es
sich um die Persönlichkeit des miles Romanus überhaupt: diese sei
duplex, die civile und die militärische. »Zwar ist es schwer, daß
ein Mensch doppelt sei; aber der Imperator hat das mit seinem
Machtwort fertig gebracht« (S. 350). In der libera testamenti factio
des miles sind zwei Hauptgruppen von Rechtssätzen zu anterscheiden,
die eine bezüglich der Form der Testamente, die andre bezüglich
des Inhalts derselben. »Neben der neuen Gestalt des paterfami-
lias miles erhebt sich die ebenso neue Gestalt des ßiusfamüias
müe8€ (S. 351). Auffallend ist es übrigens, daß Verf. die Verftt-
gangsbefngnis des filiusfamilias über die bona castrensia inter vivos
anf Hadrian zurückführt, dagegen der einflaßreichen , die wissen-
schaftliche Auffassung der bona castrensia bedingenden, Vorschrift
dieses Kaisers nicht erwähnt, wonach auch der filius veteranus über
jene bona noch testiren kann.
So tief aber das ins militare in das alte Recht einschneidet, so
wenig darf verkannt werden, daß seine privatrechtlichen Vorschriften
durchaus in den alten Formen sich vollziehen: wer aus einem Sol-
datentestamente, selbst aus demjenigen eines filiusfamilias über
dessen peculium castrense, erbt, ist gerade so gut heres, d. h. Erbe
nach ins civile, als der heres aas einem Paganentestamente. So
sind jene Vorschriften in der That nur eigenartige Ausnahmsgestal-
tnngen zu dem hergebrachten Systeme, keinesweges ein selbständiges
neues neben demselben, wie es die bonorum possessio neben der
bereditas ist.
Und eben diese Unselbständigkeit des ins extraordinarinm be-
stätigt der von einem ius tripertitum, nämlich civile, praetorium, ex
constitutionibus, redende § 3 J. de test. ord. 2, 10, welchen Verf.
S. 274 als eine, allerdings nicht besonders wertgeachtete, Belegstelle
seiner Lehre beibringt. Ein ordentliches Privattestament hat es ge-
geben sowohl nach ius civile als nach ius praetorium, niemals aber
ein solches nach ius extraordinarinm: die dasselbe betreffenden Vor-
Bchriften dieses letzten Rechtes haben sich gleichmäßig auf dvile
wie auf prätorische schriftliche Testamente bezogen; und so ergab
es sich mit der Verschmelzung der civilen nnd der prätorischen
Voraussetzungen für das schriftliche Testament ganz von selbst, daß
neben ihnen auch die beide ergänzenden Vorschriften des Eon-
stituiionenreebtes in Kraft blieben.
150 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 4.
Unter IV folgt »das ius publicum des Angnstnsc (S. 353—387.
§§ 67 — 69), auf welches der Berichterstatter nicht eingeht , weil
es außerhalb seines Arbeitsfeldes liegt.
V. »Schlußbetrachtung« (S. 388-399. § 70) bringt eine Reihe
inhaltsschwerer Aussprüche über die moderne Rechtswissenschaft,
welche auch nur berichtend zu erwähnen, der ohnehin außergewöhn*
lieh von uns beanspruchte Raum gebricht.
Wir haben zu den dogmatischen Ausführungen der ersten Ab-
handlung uns fast durchweg ablehnend verhalten müssen, und ebenso
zu demjenigen, was Verf. als den Schwerpunkt der zweiten ansieht.
Gleichwohl verkennen wir weder das Anregende seiner Eonstruk-
tionsversuche auf dem Gebiete des Obligationenrechts, noch das Ver-
dienstliche seines Bemühens, die Rechtsbildungen der Eaiserzeit plan-
mäßig auf ihr inneres Verhältnis zu dem der Republik entstammen-
den Rechte zu prüfen. Freilich gelangen wir nach den Zusammen-
stellungen des Verf.s in Beziehung auf die Gesamtschätzung des in jenen
Bildungen enthaltenen ius novum zu einem wesentlich verschiedenen
Ergebnisse, als er: uns wollen nämlich die Neubildungen andern Styls
quantitativ wie qualitativ gegenüber dem Grundstyle des römischen
Rechtes immerhin verhältnismäßig unerheblich erscheinen. Selbst-
verständlich waren wir es einem Gelehrten von des Verf.s Bedeutung
schuldig, sowohl seine eigne Darstellung im Zusammenhange zu schil-
dern , als auch unsre abweichenden Ansichten ausreichend zu be-
gründen. Was wir hier gern noch betonen , daß ist die jugendliche
Wärme, mit welcher Verf. für seinen Gegenstand erfüllt ist. Ihret-
wegen mag auch die mitunter etwas zu persönliche Polemik gegen
Wlassak entschuldigt sein , wie sie z. B. S. 257 N. 2 a. E., S. 278,
280, 303, 322 N. 8 und S. 331 wohl kaum zum Vorteile der Sache
heraustritt.
Schließlich verzeichnen wir an störenden Druckfehlern S. 80
Z. 1 V. n. : ein Komma hinter »ohne Weiteres c ; S. 253 Z. 11 v. u.:
»cognttio naturalis« statt »cognatio naturalise; S. 318 N. 45: Paul.
4, 9, 1—3 statt 4, 10, 1—3; S. 325 N. 16: fr. 1 statt fr. 4 § 2 de
fideic. lib. 40, 5; S. 330 N. 34: fr. 1 § 30. 32 statt fr. 3 § 30. 32
de Scto Sil. 29, 5; das. zu N. 35 Z. 4 v. o. wo es statt der »Erstere
(nämlich Papinian) fügt einen dritten und einen vierten Fall hinzuc
wohl heißen müßte: »der Erstere fügt einen dritten, der Andere
(nämlich Ulpian) einen vierten Fall hinzu«, und das. N. 35, wo die
unter allen Umständen falschen Gitate wohl zu ersetzen sind durch
das Citat: 1. 12 D. de Carb. ed. 37, 10; S. 340 N. 24: fr. 39 eod.
statt fr. 39 § 1 eod. ; das. N. 25 : fr. 20 § 2 statt fr. 20 § 3 fam.
ercisc. 10, 2.
Marburg. August Ubbelohde.
Haber, System und Geschiebte des schweizerischen Privatrechts. I. Bd. 151
Haber, Engen, System und Geschichte des schweizerischen Pri-
vatrechts. Erster Band. Basel. Detloffs Buchhandlung 1886. 767 S. 8^
Der Verfasser beabsichtigt auf Veranlassung des Schweizer Ju-
ristenvereins eine vergleichende Darstellung der kantonalen Privat-
rechte erscheinen zu lassen. Dabei gliedert er seinen Stoff in ein
System des geltenden Rechtes und einen Abriß der Kechtsgeschichte.
Während nun aber der letztere nicht bloß die £ntwickelung derjeni-
gen Institute besprechen soll, die dem heutigen kantonalen Privat-
recht verblieben sind, sondern auchjene Einrichtungen umfassen wird,
f&r die jetzt das Bundesprivatrecht maßgebend geworden ist, beschränkt
sich der systematische Teil auf dasjenige in den Kantonen geltende
Privatrecht, welches nicht der Bundesgesetzgebung entstammt. Vom
systematischen Teil liegt nunmehr der erste Band vor, der Personen-
und Familienrecht befaßt, letzteres abzüglich des Erbrechts. — Die
Arbeit ist auch für den deutschen Juristen von großem Interesse,
wenn man schon bei uns dem recbtsgeschichtlichen Teil mit noch
größerer Spannung entgegensehen wird: haben doch bereits Heuslers
Institutionen gezeigt, daß die schweizerischen Rechte die ungebro-
chenste Entwickelung des alamanniscben Rechts aufweisen und ist
hinwieder dem Bedürfnis einer gründlichen Darstellung derselben
dnrch die zum großen Teil veralteten kantonalen Rechtsgeschichten
noch nicht genügt. — Für die vorliegende dogmatische Darstellung
war dem Verfasser offenbar das Verfahren Roths maßgebend. Doch
gilt dies nur von der Einteilung des Stoffes im allgemeinen und von
der Genauigkeit, mit der das Detail wiedergegeben ist: zuerst sind
in knappen Zügen die hauptsächlichsten Aebnlichkeiten und Abwei-
chungen mitgeteilt, in denen sich ein Institut für die vier großen
Schweizer Rechtsgebiete: das Gebiet des österreichischen Gesetzbuchs,
des französischen Gesetzbuchs, des Zürcher Gesetzbuchs und des nicht
kodificierten Rechtes darstellt. Dann werden die gewonnenen Grund-
sätze für jeden einzelnen Kanton genau ausgeführt, ohne daß sich
der Verfasser mit einer Exemplifikation auf das eine oder das andere
Recht begnügte. Allein in der Detailausftthrung spricht Verf. nicht
selbst, sondern läßt nahezu immer die Quellen reden. Eine selbst-
ständige Durcharbeitung des Detail wird fast nirgends geboten. Da
nun aber das Detail die selbständigen grundsätzlichen Ausführungen
des Verfassers weit überwiegt, so kann man das Werk zunächst nur
bezeichnen als eine Zusammenstellung unverkürzt oder verkürzt wie-
dergegebener Artikel der schweizer Gesetzbücher unter allerdings
sehr geschickt gewählten Rubriken. Ein Tadel soll darin nicht lie-
gen. Jedenfalls wird das Buch sich für den schweizer Juristen sehr
brauchbar erweisen, wenn es in der That so vollständig gearbeitet
ist, als es den Anschein hat. Zu einem sichern Urteil über diesen
Punkt ist nur ein schweizer Praktiker berufen. Auch der deutsche
Jurist wird die Arbeit als eine sehr erwünschte systematische Samm-
lang der schwer zugänglichen schweizer Rechtsquellen ansehen. Was
ihm manchmal — mehr als dem Schweizer vielleicht — als ein Mangel
erscheinen mag, daß der Verfasser nicht auch die einschlägigen Bun-
deagesetze mitteilt, das erklärt sich aus der Tendenz und wohl auch
der Entstehungsgeschichte des Buches. — Nur der Kritiker, der an^
152 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 4.
zugeben bat^ welebe neuen fertigen Regaltate sieb fttr die Wissen-
schaft des deutschen Rechts aus Buch entnehmen lassen, ist in
einer schlimmen Lage, denn neue konstruktive Gedanken sind in der
Arbeit fast nicht enthalten und können nach Absicht des Verfassers
auch nicht enthalten sein: man wird dieselben im historischen Teil
suchen müssen. Eigentlich bleibt also dem Referenten nur die An-
zeige übrig, daß ein ungemein praktisches Repertorium des kanto-
nalen Privatrechts erschienen ist, dann ein Hinweis auf die beab-
sichtigte Rechtsgeschichte. Ein einigermaßen eingehender Bericht
wird erst nach dem Erscheinen dieses zweiten Teiles möglich sein.
Nur auf einen Punkt sei gleich heute hingewiesen, auf das eigen-
tümliche Güterrecht, wie es sich in Bern und ähnlich in Aargau, Frei-
burg und Waadt ausgebildet bat. Durch die Eheschließung wird hier
der Mann Eigentümer des gesamten ehelichen Vermögens ; im Verhältnis
zur Frau findet eine echte Universalsuccession unter Lebenden statt:
die Schulden der Frau gehn auf den Mann über, ohne daß die Frau
noch persönlich verhaftet ist. Die Frau ihrerseits bat nur noch ein
persönliches Forderungsrecht auf ihr eingebrachtes im Fall der Auf-
lösung der Ehe, oder im Fall daß der Ehemann in Konkurs gerät
Wird die Ehe durch den Tod der Frau aufgelöst, und sind keine
Kinder vorhanden, so fällt die Forderung auf Rückgabe des Frauen-
guts weg. Sind Kinder vorhanden, so fällt die Forderung an diese,
die Proprietät bleibt bei dem Manne. Stirbt der Mann, so tritt die
überlebende Frau, wenn sie will, in die Stellung des Mannes ein.
Huber selbst weist darauf bin, daß dieser Güterstand, der sich be-
kanntlich im österreichischen bürgerlichen Gesetzbuch nicht findet,
die konsequente Fortentwicklung altern bernischen Rechts ist; es ist
dabei zunächst an § 43 der Berner Handveste und dann an die ver-
wandten elsässischen, breisgauischen und schweizerischen Rechte zu
denken (Schröder Gesch. d. eh. Güterrechts II, 2 S. 14 fi".). Man sieht :
hier wo der Mann vollkommen einseitig auch über das Immobiliar-
vermögen der Frau disponiert, bildet sich Alleineigentum des Ehe-
manns aus. Bekanntlich hat Dunker (das Gesamteigentum S. 218 —
231) die juristische Natur der allgemeinen Gütergemeinschaft in dem
Alleineigentum des Ehemanns gesucht. Seine Ansicht ist in dieser
Fassung mit Recht verworfen worden. Allein fraglich ist doch, ob
es sich nicht empfiehlt nach dem Vorgang von Huber für das
deutsche Recht überhaupt einen Güterstand des Alleineigentums des
Mannes auszuscheiden und diesem eine Anzahl von Rechten zu über-
weisen, die man jetzt gemeiniglich zur allgemeinen Gütergemein-
schaft rechnet: nämlich alle Rechte, nach denen der Mann freie Ver-
fügung über die von seiner Frau eingebrachten Grundstücke hat
(Schröder II, 3 S. 234 ff.).
Wttr^bnrg. Dr. Ernst Mayer.
9fa dl« S«daktioB Termalirortlidi : Prof. Dr. BtekUl, Dimktor dar 0«tl. fei. Ans..
▲flMtsor der KönigUebm OeaellMliAlt der Wieeeinnhifteii.
y$rltv d0r DifitrielCtekm T§rkiif9'Bmekkamdtmv.
i>i^MCI d«r DitUncVmAm Uni9,'BwMnieUr§t (Fr. W. Eemtiikm).
16S
Göttlngische
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Nr. 5. ß 1. März 1887,
Preis des Jahrganges : JL 24 (mit den »Nachrichten d. k. G. d. Wiss.« : JL 27).
Preis der einzelnen Nummer nach Anzahl der Bogen: der Bogen 50 ^
Inhalt : D'Arbois de JnbainTille, Bswi d'nii catalogoe de la litMratare tfpiqne de
rirlaiide. Tob Zimmgr, — ü s t e r i , Die Selbatbeseichniing Jesu ala des Heiuchen Sohn ; — Der-
selbe, Hiaab^efkhren rar H611e. Ton JüUelur.
= Eigomiohtiger Abdruck von Artikeln der Gott. gel. Anzeigen verboten. =
H. D'Arhois de Juhainville, Essai d'un catalogue de la litto-
ral nre Opique de l'Iriande. Präc^O d'une Otnde sur les manoscrits
en langue Irlandaise conserves dans les Des Britanniqnes et sur le Conti-
nent. Paris, E. Thorin 1883. GLY und 282 S. 8^
In dem ersteo Teil seines Werkes, der Introdaktion , handelt
Herr D'Arbois (auf Seite XI— CLV) in zwölf Kapiteln: über seine
Mission Litteraire dans les lies Britanniqnes (1), die irisehen Hand-
scbriften in Cambridge (2), im British Mnsenm in London (3), in der
Bodleiana in Oxford (4), in der Bibliothek der Royal Irish Academy
in Dublin (5), im Trinity College in Dublin (6), im Franziskaner
Konvent ebendaselbst (7), in der Handschriftensammlang des Lord
Ashburnham — die sogenannte Stowe-Collection, jetzt in Dublin in
der Royal Irish Academy deponiert — (8) und über die in verschie-
denen Bibliotheken zerstreuten Handschriften (9); des Weiteren (10)
rekapituliert er in chronologischer Ordnung die besprochenen Hand-
schriften, verzeichnet (11) die bekannten Irischen Handschriften des
Kontinents und schließt (12) mit einer allgemeinen Uebersicht der
Handschriften unter dem Gesichtspunkt der in ihnen behandelten
Materien.
Der zweite umfangreichere Teil des Werkes bringt (auf S. 1—257)
einen Katalog der epischen Litteratur Irlands, soweit uns
solche in Irischer Sprache noch erhalten ist oder nachweislich
vorhanden war. Wir besitzen nämlich schon in einer Hand-
0«tt. rel. Aai. 1887. Nr. 5. 12
154 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 5.
sc&rift aas der Mitte des 12ten Jahrhunderts ein nach sachlichen
Gesichtspunkten angeordnetes Verzeichnis der bekannten epischen
Stoffe: unter einzelnen Rubriken wie togla (Zerstörungen), tochmarca
(Werbungen) catha (Kämpfe), immrama (Seefahrten), fessa (Feste),
aitheda (Entführungen), airgne (Plünderungen) etc. werden 187 Titel
von epischen Erzählungen vorgeführt. Dieses wichtige Denkmal ist
nach der ältesten Handschrift (LL. 189b, 44— 190b, 8) von O'Cnrry
ediert (Lectures on the Manuscript Materials of the ancient Irish hi-
story S. 583—593) und nach der jüngeren H. 3, 17 Col. 797 ff, von
O'Looney (Proceedings of the Royal Irish Academy 1879, I, 215 —
240): beide Gelehrte haben in den Anmerkungen in umfassendem
Maße festzustellen versucht, was von diesen Erzählungen
heutigen Tags noch vorhanden ist und auf die ihnen be-
kannten Handschriften hingewiesen, in denen diese Erzählungen sich
finden. Auf einen zweiten Katalog derart, welcher sich in mehre-
ren Handschriften des 15. und 16. Jahrhunderts findet und eine An-
zahl neuer Titel bietet, hat O'Curry (Manners and Customs of the
ancient Irish II, 131 ff.) hingewiesen: abgedruckt ist derselbe in vor*
stehend genannter Arbeit S. 260 — 264. — Herr D'Arbois gibt nun
(S. l<-257) in alphabetischer Reihenfolge die in diesen Kata-
logen genannten Irischen Titel der epischen Stoffe nebst den ihm
sonst noch bekannt gewordenen Titeln größerer oder kleinerer epi-
scher Erzählungen. Unter einem jeden Titel, dem eine französische
Uebersetzung beigegeben ist, folgt in chronologischer Beihen-
folge die Aufzählung der Handschriften, in denen das Stttck erhal-
ten ist und zwar bis auf die vor 40 und 50 Jahren verfertigten
modernen Abschriften von Handschriften des 19. Jahrb. selbst ; orien-
tierende Notizen darüber, wo von Gelehrten über den betreffenden
Text gehandelt ist, gehn der Aufzählung der Handschriften voraus
oder folgen derselben.
Dieses Werk des vielschreibenden Herrn D'Arbois kann nicht
den Anspruch erheben, als eine wissenschaftliche Arbeit betrachtet
zu werden, da dazu jede Vorbedingung fehlt: sowohl die skizzierte
Einleitung als auch der Katalog der epischen Litteratur Irlands sind
nämlich nicht auf einem Studium der zahlreichen Hand-
schriften oder auch nur einzelner Hauptcodices auf-
gebaut, sondern auf Excerpten, die Herr D'Arbois
aus den vorhandenen Katalogen in London, Oxford,
Dublin machte; auf handschriftlichem Studium beruht die Arbeit
des Herrn D'Arbois nur in soweit als die Kataloge der drei Hanpt-
sammlungen — British Museum in Loftdon, Royal Irish Academy
und Trinity College in Dublin — noch nicht gedruckt sind. 166
I)'Arboi8 de Jubainville, Essai d'un catalogue de la litt, epique de I'Irlande. 155
Irische HandschrifteD des British Mnseum sind von dem verstorbe-
nen O'Gnrry im Jahre 1849 katalogisiert; von diesem nngedrnckten
Katalog des British Mnseum befindet sich eine Abschrift in der
Royal Irish Academy. In letzterem Institut befindet sich ein hand-
schriftlicher Katalog in 13 Bänden mit 6 Bänden Indices Über 559
irische Handschriften, angefertigt von den verstorbenen O'Gnrry,
O'Longan, O'Beirne Crowe. Das Trinity College endlich weist einen
handschriftlichen Katalog O'Donovans auf über 54 irische Hand-
schriften. Unter diesen 779 Handschriften oder 794, wenn man die
15 Handschriften der Bodleiana hinzu nimmt, die in gedruckten Ka-
talogen analysiert sind, befinden sich mehr als 20, von denen jede
einzelne durch ihren Umfang und die Mannigfaltigkeit des Inhalts
auch nur bei flüchtiger Durchsicht vollauf eine Woche in Anspruch
nimmt: Herr D'Arbois hat nicht nur die 794 Handschriften, sondern
sogar 953 in der Zeit vom 6. Juni bis 21. August inclusive Hin-
und Rückreise (p. XI) »etudie«, die 166 Handschriften des British
Museums in dix stances, also auf jeden Sitz 161 Daß ein Mann,
der nachgewiesener Maßen noch mit den Elementen der irischen
Grammatik im Kampf liegt, die Handschriften in der angegebenen
Zeit nicht durchfliegen, geschweige denn durcharbeiten konnte, liegt
auf der Hand. Herr D'Arbois hat sich denn auch in der That dar-
auf beschränkt, aus den : genannten Katalogen sich Notizen über
Größe und Umfang der Handschriften, wahrscheinliche Zeit der Ab-
fassung zu machen und sieh die Titel der behandelten Stoffe mit
der in den Katalogen beigefügten englischen Uebersetzung des Ti-
tels notiert. Aus diesen Notizen hat er sein Werk zusammengestellt
mit Hinzuftlgung dessen, was er über einzelne Stoffe in der ge-
druckten Litteratur bemerkt fand.
Der Essai d'un catalogue de la litt6rature ^pique de l'Irlande
ist also im Wesentlichen geschrieben 1) ohne Kenntnis der
epischen Stoffe selbst und 2) ohne Kenntnis der Hand-
schriften, in denen dieselben erzählt sind. Die Fehler, die dar-
aus entspringen müssen und die sich in dem Werk des Herrn
D'Arbois in großer Zahl finden, liegen auf der Hand. Unter dem-
selben Titel werden Handschriften mit Erzählungen citiert, die nur
den Titel gemeinsam haben und vollständig gleiche Texte finden
sich als verschiedene aufgeführt, weil die Ueberschriften verschieden
sind. Andererseits geschieht die Aufzählung der Handschriften un-
ter jedem Titel völlig kritiklos, sieht man von der chronologischen
Reihenfolge ab, die sich auf Angaben und Vermutungen der Kata-
loge gründet. Die Unterdrückung jedes nationalen Lebens in Ir-
land und die immer größer werdende Verarmung Irlands seit den
12*
156 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 5.
Tagen der Elisabeth und Gromwells erklären es hinlänglich, daB
die Zahl der in Irland in irischer Sprache bis zu Anfang
dieses Jahrhunderts gedruckten Bttcher so gat wie Null ist, wenn
man von einigen zu kirchlichen Zwecken veröffentlichten absieht.
Gleichwohl wurde die Irische Sprache und vor allem die epische
Litt^ratur des Mittelalters in Irland gepflegt: die Stelle von Druck-
officinen auf dem Kontinent vertreten Schreiberfamilien. Belehrend
ist, daß von O'Clerys FocUnr no Sanasan nua gedruckt in Löwen
1643 in Irland kein DruckexempUr zu finden ist — das Exemplar
der Franziskaner in Dublin ist vor 15 Jahren aus Rom dorthin ge-
kommen — , dagegen die Royal Irish Academy zahlreiche >Mann-
scripts« dieses Werks besitzt, d. h. Abschriften, mehr oder minder
vollständig, angefertigt im vorigen und Anfang dieses Jahrhunderts
von Abschriften, welche direkt oder indirekt auf ein gedrucktes
Exemplar zurückgehn. Sie repräsentieren zweite, dritte oder vierte
Auflage. Daß diese >Manuscriptsc von O'Clerys Werk gegenüber
den erhaltenen Drnckexemplareu wissenschaftlich völlig wertlos sind,
liegt auf der Hand. Gleich wertlos ist eine große Anzahl, ja
man kann sagen die Hehrzahl der 953 Handschriften, welche Herr
D'Arbois angeblich »studiert« hat. Unter den 559 katalogisierten
Handschriften der Royal Irish Academy in Dublin gibt es ungefähr
bloß 25, die über das 17. Jahrhundert hinaufgehn. Die übrigen 95
oder 96 Procent (534 Handschr.) stammen zum größten Teil aus der
zweiten Hälfte des vorigen und dem Anfang dieses Jahrhunderts.
Viel günstiger gestaltet sich zwar das Verhältnis in der zweitgröß*
ten Sammlung Irischer Handschriften, in der des British Museum,
immerhin ist das Verhältnis 141 Handschriften aus 18. und beson-
ders 19. Jahrb. unter der Gesamtzahl 166 absolut wenig gtlnstig.
Gewiß befinden sich unter den nahezu 700 Handschriften aus dem
18. und 19. Jahrhundert einzelne, in denen neben wertlosen Kopien
von Texten aus den erhaltenen Vorlagen hie und da ein in äl-
terer Zeit sicher vorhandener aber in uns erhaltenen älteren Hand-
schriften nicht überlieferter Text gerettet ist, wie auch nachweislich
in einzelnen Fällen durch eine solche junge Handschrift uns eine
unabhängige Recension eines beliebten Textes gerettet ist, die sicher
im 12. Jahrb. vorhanden war: dies sind jedoch vereinzelte Aus-
nahmen, die Mehrzahl obiger 700 Handschriften ist fttr wissenschaft-
liche Herausgabe eines Textes absolut wertlos. Zwischen
diesem handschriftlichen Schund und den wirklich in
Betracht kommenden Handschriften macht Herr D'Ar-
bois keinen Unterschied: alles rangiert auf derselben Stufe.
Ganz natttriieh, da Herr D'Arbois in der Regel weder des Inhalt
D'Arbois de Jabainville, Essai d*un catalogue de la litt, ^pique de I'Irlande. 157
der einzelnen Erzählungen kennt noch die Handschriften, die er als
Quellen citiert, mehr als von auAen gesehen hat.
Ich glaabe es wird lehrreich sein^ wenn ich einen Artikel aas
dem Catalogue de la litt6ratare ipiqae de Tlrlande hersetze und
Kritik daran ttbe.
Ägallamh na Senoraib oa Seanörach >Dialogae des vi*
eillardsc Cycle ossianiqae.
Mannscrits:
1) XV« siicle, Oxford, Bodleian library , Rawlinson B. 487 fol.
12 v;
2) XV* si6cle, Livre de Lismore, appartenant an dac de De-
Yonsbire, copie d' O'Cnrry. R. J. A., 23. Q (Academy, 39. 6), fol.
201—240;
3) XVI« sifecle, Franciscains de Dublin (Ce ms. est dijk men*
tionne dans Tinventaire apris d6eö8 de Colgan, mort en 1658, voir
Gilbert dans Fourth report of the royal commission on historical
mss., 1874, p. 611, col. 2);
4) 1758, British Museum, Egerton 211, fol. 67 v;
5) 1761, B. J. A. 23. C. 26 (H. and S. 167) p. 153-176;
6) Vers 1772, R. J. A., 23. N. 18 (Betham 35), p. 63;
7) 1799, R. J. A., 23. G. 23 (Betham 4); p. 1;
8) Commencement dn XIX^ sitole, British Museum, Egerton
175, p. 81 ;
9) Commencement du XIX® siöde, R. J. A., 23. C. 6 (H. and
S. 84) p. 119—404;
10) XIX' sifecle, British Museum, additional 18949;
11) XIX* sifecle, R. J. A., 23. E. 11 (Miscell.), p. 405;
12) XIX» sifede, R. J. A. 23 N. 11 (Betham 18), p. 160;
13) XIX« si6cle, R. J. A., 23. L. 22 (H. and S. 149);
Traductions mannscrites en anglais. Tune par O'Longan, Tautre
par O'Beirne Crowe dans la bibliothöque de la R. J. A.
Analyse par O'Gnrry, Lectures on the ms. materials of ancient
Irish history, p. 307 -- 312.
Extraits d'aprto leLivre de Lismore; ibidem, p. 594 — 597 (avec
facsimile sous la cote SS, p. 16) et Manners and customs of the
ancient Irish, t. Ill, p. 366. Autre extrait d'aprfes le ms. R. J. A.
23. E. 11, chez le mdme auteur: Manners and customs of the an-
cient Irish, t. Ill, p. 223—224, note 805^).
Der in Rede stehende Text heißt in den alten Handschriften
nur AcciUam na senärach; er ist nächst Tain bö Cudlnge der um-
fangreichste Sagentext des irischen Mittelalters und auch einer der
1) Die Nummern 1—13 sind ?on mir zugefügt.
158 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 5.
wichtigsten. Bei seiner vollständigen Vernachlässigang habe ich
demselben längst vor dem Erscheinen des Katalog des Herrn D'Ar-
bois meine Aafmerksamkeit zugewendet and zwar an der Hand
der Handschriften selbst. Darnach kann ich konstatieren, dafi in
obigem Verzeichnis zwei Handschriften fehlen: einmal die älteste
und wichtigste, die Oxforder Laud 610 fol. 123a — 146b, und
zwischen Numero 3 und 4 eine Handschrift im Franziskanerkonvent
geschrieben 1626 in Löwen. Beide Quellen fehlen, weil
sie in den von Herrn D'Arbois benutzten Katalogen
fehlen, worauf ich im Verlauf zurück komme.
lieber die Frage, ob die aufgezählten 13 Handschriften alle
einen vollständigen, eventuell denselben Text enthalten, oder ob ein-
zelne nur Teile enthalten, erfahren wir nichts: Keine einzige
Handschrift enthält einen vollständigen Text, ja
nicht einmal aus Benutzung aller läßt sich ein sol-
cher gewinnen; eine Thatsache, die nach obiger Aufzählung
gewiß Niemand ahnt. Mit Ausnahme von 1. 2. 3. 9. 13 enthalten
alle aufgezählten Handschriften nur dürftige Bruchstücke, einzelne
nicht bis an V^oo des erhaltenen Textes reichend; von ihnen ist zu-
dem 8 eine Abschrift von 4. Unter den vollständigeren Texten ist
der in 9 aus 2 abgeschrieben, wie überhaupt Alles, was in 9 steht,
im Anfang dieses Jahrhunderts aus der 1815 wieder aufgefundenen
Handschrift 2 stammt: auch 10 geht auf dieselbe zurück. Als von
einander unabhängig bleiben nur 1. 2. 3. 13 übrig, wovon 1. 2. 3
nebst der oben erwähnten Handschrift Laud. 610 im Wesentlichen
denselben Text bieten und sich so ergänzen, daß aus allen 4 sich
bis gegen Ende ein Text herstellen läßt. Der Schluß ist, sofern
nicht neue Handschriften gefunden werden, unrettbar verloren. No. 13
im Anfang und Ende unvollständig bietet eine abweichende Recen-
sion, in der Ossian eine größere Rolle spielt. In der Handschrift 2
nun (Book of Lismore), in der unser Text fol. 201—240 steht, fin-
det sich auf fol. 194 — 200 ein kürzerer ohne Ueberschrift, der eine
abweichende, kürzere Recension desselben Stof-
fes repräsentiert, welche aber nicht eine Abkürzung der
größeren in Laud. 610 sowie 1. 2. 3 vorliegenden Erzählung sein
kann: von diesem »kleinen c Äcällam na Senörach, wie ich vorläufig
diese Recension in Book of Lismore fol. 194 — 200 nennen möchte,
könnte vielleicht No. 13 eine Abschrift sein.
Demnach stellt sich heraus, daß wissenschaftlich Brauchbares
so gut wie Nichts in den Angaben des Herrn D'Arbois bleibt; auch
seine sonstigen Bemerkungen sind unvollständig. O'Curry giebt nicht
nur an den genannten drei Stellen »extraits« sondern noch Manners
D'Arbois de Jabainville, Essai d'un catalogue de la litt, dpiqae de Plrlande. 159
and Castoms 111, 169—170. 179. 323—324. 325. 328. 360—361. 377.
379. 380. Die Angabe, ans welchen Handschriften O'Ourry seine
Anszilge gibt, beruht natUriich nicht auf Einsicht des Herrn D'Ar-
bois in die Handschriften, sondern ist O'Cnrrys Bach entnommen.
Wenn sich somit Herrn D'Arbois Thätigkeit bei vorliegendem
Werk wesentlich auf Excerpieren handschriftlicher und gedrackter
Kataloge, Anordnung und Zusammenstellung der Excerpte beschränkt,
also eine Thätigkeit ist, welche ebenso gut von Jemand hätte aus-
geftlhrt werden können, der noch weniger vom Irischen versteht als
er — so ist damit nicht gesagt, daß eine derartige, wissenschaftlich
wertlose Arbeit nicht praktisch von Nutzen sein könnte. Im Gegen-
teil, ich stehe nicht an zu bekennen, daft eine gewissenhafte
und zuverlässige Kompilation der Art des Dankes Aller sicher
sein kann, auch derjenigen, welche durch selbstständiges Studium der
Quellen in zahlreichen Fällen solche Katalogexcerpte berichtigen und
ergänzen können. Der Umfang der epischen Stoffe und der Quellen
DÖthigen beim Quellenstudium, sich zu beschränken; ist man mit
einem umfaugreichen Stoffe oder einem Gyklus von solchen beschäf-
tigt, so wird man häufig durch diese oder jene Frage auf einen an-
deren hingelenkt: dann ist es nicht nur von Interesse sondern von
unzweifelhaftem Nutzen ein solch statistisches Nachschlagewerk zur
Hand zu haben, mag es an sich auch noch so unvollkommen und
absolut gemessen wertlos sein. Die vorläufige und unmaBgebliche
Informierung genügt häufig und erspart Zeit, und selbst in dem Fall
daft man sich gezwungen sieht Über selbige hinauszugehen, ist sie
eine Erleichterung der Arbeit
Freilich wird dieser relative Wert einer derartigen Kompilation
in vorliegendem Falle dadurch gedrückt, daß die Ausnutzung der
Kataloge weder vollständig noch zuverlässig ist. Die wichtigste Hand-
schrift fttr die ältere epische Litteratur Irlands ist neben den beiden
durch Facsimile allgemein zugänglichen Lebor na hnidre (B. J. A.)
und Book of Leinster (H. 2. 18, Trinity College, Dublin) anerkann-
termaften das Yellow Book of Lecan (H. 2. 16, T. C. D). Der wich-
tigste und umfangreichste Text des älteren Sagenkreises Tain bö
Caälnge findet sich in genannten drei Handschriften und zwar, wie
ich auf Grund von Untersuchungen behaupten kann, in allen dreien
nicht bloft unabhängig sondern auch in abweichenden Recensionen.
Herr D'Arbois führt S. 214. 215 wieder 15 Handschriften aus der
Zeit von 1100 — 1836 oder noch später an, von denen die meisten
ebenso wertlos sind wie bei Äcällam na senörach^ aber die dritt-
älteste und an Wert keiner nachstehende H. 2. 16
(Tellow Book of Lecan) fehlt! Diese Handschrift gehört zu den
160 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 5.
katalogisierten des Trinity College, Herr D'Arbois spricht S. LXII--
LXIV des Langen nnd Breiten über sie, als ob er sie wirklich ge-
sehen hätte. Daß in dem Katalog der älteste nnd umfangreichste
Text der Handschrift fehlen sollte, ist nicht glaublich. Selbst wenn
dem so wäre, müßte Herr D'Arbois wissen , daß diese Handschrift
eine wichtige Quelle fttr die Tain bö Cüalnge ist, voransgesetzt daß
er von dem genannten Stoff mehr als den Titel kennt: nicht nur in
der dem Facsimile des LU. beigegebenen Inhaltsangabe dieser Hand-
schrift heißt es bei Oelegenheit Tain bö Oüalngi »there are two an-
cient copies of it in the library of Trinity College Dublin — one
of them, in MS. H. 2. 16, imperfect at the beginning; the other,
in the Book of Leinster, H. 2. 18 is perfect, and nearly as old as
the present« (p. XVIII), sondern auch O'Cnrry handelt Manners and
Customs HI, 413 davon, ja er gibt sogar 1. 1. 425. 430 Besserungen
aus ihr zu dem aus Book of Leinster gedruckten Text.
Wie bodenlos oberflächlich Herr D'Arbois excerpiert hat, wird
durch eine andere Nummer bewiesen. Seite 138 lesen wir:
Fled Bricrenn. »Festin de Bricriuc. Cycle de Conchobar et
et Cfichulainn. Cette piice paratt identique k celle qui est appeläe
Feis tige Bricrenn dans la Liste B 1, 2, 3.
Manuscrits :
1) Fin du XP siicle, Leabhar na hUidhre, pag. 99, col. 2;
2) XIV sifccle (?), T. C. D., H. 2. 16, col. 759—765 ;
3) XV"^ si6cle. British Museum, Egerton 93, fol. 29, fragment;
4) XV'— XVP siicle, T. C. D., H. 4. 22, fragment, suivant
O'Curry, Lectures on the manuscript materials, p. 194;
5) XVI« sifecle, T. C. D., H. 3. 17, col. 683-710.
Edition :
Texte iriandais d'aprte le Leabhar na h Uidhre, et TEgerton 93,
chez Windisch, Irische Texte, p. 254—314. Variantes de FEgerton
93, ibidem p. 335— 336. Extrait de T. C. D. H. 2. 16, ibidem p.311.
Variantes de T. C. D. H. 3. 17, ibidem p. 330-335.
Analyse de ce morceau chez Windisch, Irische Texte, p. 236 — 245.
Wenn man nach Vorstehendem annehmen wollte, daft Herr D'Ar-
bois den von Windisch edierten Text kenne oder auch nur Win-
dischs Bemerkungen über denselben gelesen habe, dann würde man
sehr irren. Windisch sagt 1. 1. S. 236 ausdrücklich: »Gänzlich
verschiedenen Inhalt hat der Sagentext, welcher den Titel
flihrt Fled Bricrend ocus loinges mac nBtd nBemmty überliefert im
Oelben Buch von Lecan (H. 2. 16), fol. 759 — 765« und der »extrait«,
den Windisch nach Herrn D'Arbois ans dieser Handschrift H. 2. 16
gibt, ist eben der Anfang des total verschiedenen Tex-
D'Arbois de Jubainville, Essai d'an catulogae de la litt, ^pique de I'lrlande. 161
'68. Wenn nun Herr D'Arbois trotzdem H. 2. 16 col. 759—765 als
zweite Qnelle neben Leabbar na hUidhre citiert, so beweist er da-
mit, daß er weder den einen nocb den andern Text kennt und nicht
einmal gelesen bat, was Windisch schreibt! In Folge dieses Um-
Standes bringt er es sogar fertig S. 173 folgenden Artikel zu bieten :
^Langes mac nDuü Dermait Navigation on exil des fils de Dal-
Dermait. Cycle de Conchobar et Gücbulainn. C'est nn sous-
titre de la piice intitul^e Fled Bricrenn dans le manascritT. C. D.,
H. 2. 16, col 759. Cf. Windiscb, Irische Texte, p. 311«. Doch
damit nicht genug. Windisch bemerkt an der angefahrten Stelle
(S. 236) in einer Anmerkung: »Nach O'Gorry, on the ms. Mat. p. 193
und 194 finden sich außerdem Fragmente des Fled in den Hand-
schriften H. 3. 17 (16. Jahrb.) und H. 4. 22 (15. Jahrb.) Trin. Coli.
Dublin. Allein ich erfahre von Prof. O'Loonej, daß nur erste-
res Ms. diesen Text enthält, letzteres dagegen ein zweites
Exemplar des Serglige Conen laind«. Trotz dieser Angabe
und trotzdem, daß Windisch Ir. Texte S. 325—330 die Varianten
aus H. 4. 22 gibt und dadurch thatsächlich beweist, daß es sich um
Serglige Conculaind handelt --, trotzdem ftthrt Herr D'Arbois diese
Handschrift als vierte Qnelle zum Fled Bricrend an! Dies hindert
ihn allerdings nicht 50 Seiten weiter unter dem Stichwort Serglige
Conculaind (S. 207) als zweite Quelle anzufahren »XV» sifecle, T. C. D.,
H. 4. 22, p. 89—104« und anzugeben, daß Windisch die Varianten
an eben genanntem Orte gebe. Es bleiben also für Fled Bricrend
die Handschriften 1, 3, 5 und zwar sind alle drei fragmentarisch,
d. h. ohne Schluß, wie aus Wiudischs Ausgabe ersichtlich ; wieso
Herr D'Arbois demnach dazu kommt, bloß bei 3 zu bemerken »frag-
ment«, ist nicht ersichtlich.
Wenn man bedenkt, daß diese Dinge Herrn D'Arbois bei einem
der umfangreichsten, ältesten und wichtigsten Texte der epischen
Litteratur begegnen, einem Texte, der zudem mit dem gesamten
erhaltenen handschriftlichen Material durch Facsimile und Druck
pnblici juris gemacht ist, dann kann man eine Vorstellung gewinnen
davon, was sein Katalog bei weniger bekannten, bis jetzt unedierten
Stoffen bietet. Aber durch viel Schlimmeres als die nachgewiesene
Oberflächlichkeit wird die Nützlichkeit der Kompilation noch mehr
herabgedrückt
Wie eingangs bemerkt ist der Katalog (S. 1—257) so angelegt,
daß die Irischen Titel der einzelnen größeren oder kleineren
Erzählungen und Dichtungen in alphabetischer Reihenfolge vorgeführt
werden und unter jedem Titel das gegeben wird, was sich auf den
Zetteln des Herrn D'Arbois findet, die dies Stichwort tragen. Nun
162 Gott. gel. Adz. 1887. Nr. 6.
finden sich in den Handschriften, und besonders den ältesten,
epische Erzählungen, vor Allem aber zahlreiche epische Dicbtangen,
welche Episoden der Heldensage behandeln und keinen Titel
tragen oder nur ein Ossin cecinä und Aehnliches. Wie verfährt hier
Herr D'Arbois? Er läßt in seinem Essay d'nn catalogue de la
litt^ratare 6pique de Tlrlande diese Stoffe einfach weg! Be-
achtet man nun ferner: in den Bänden der Ossianic Society, vor
Allem Band 4 und 6 (Dublin 1859. 1861), ist eine ganze Anzahl
von Ossianischen Gedichten publiciert auf Grund von Handschriften
aus dem Jahr 1780, 1812 und jüngeren, und diese Gedichte haben
thatsächlich meistens kein höheres Alter; in dem vierten Bande ge-
nannter Zeitschrift nennt Standish O'Grady S. 17 ff. eine stattliehe
Reihe solcher moderner Gedichte mit Titeln oder charakteristi-
schen Ueberschriften. Alle diese Titel moderner Produktionen so-
wie die veröffentlichten Gedichte, soweit sie Titel haben,
nimmt Herr D'Arbois in seinen Katalog auf und belegt sie aus den
jungen Handschriften des British Museum und der Royal Irish Aca-
demy, natürlich auf Grund der handschriftlichen Kataloge dieser Bi-
bliotheken. In Folge dieses zweierlei Maaßes, welches Herr D'Ar-
bois für gut befindet an die epischen Stoffe anzulegen, ergibt sich
ftlr sein Werk folgendes wunderbare Verhältnis : während das-
selbe Dutzende ganz moderner Stttcke des Ossian-
sagen kreises auffuhrt, die meistens aus Handschrif-
ten von 1760 — 1840 stammen, fehle n sämtliche Ge-
dichte des LL. aus dem Ossiansagenkreis, also einer
Handschrift von 1150 (z. B. LL. 204 a, 32 ff., 192a, 61 ff.,
192b, 34 ff., 297b, 41 ff., 298b, 34 ff., 193a, 34 ff., 208a, 36 ff., 154a,
44 f., 206b, 11 ff., 208a, 7 ff., 207b, 5 ff., 208a, 24 ff., 197a, 53 ff.
und andere), mithin fast die gesamten übers 14. Jahrh.
hinausgehenden Zeugnisse für den Ossiansagenkreis.
Das einzige Kriterium ftlr Aufnahme eines Textes aus der epi-
schen Litteratur in den Catalogue de la litt6rature 6pique war in
diesem wie zahlreichen anderen Fällen, die Titelfrage: trugen sie in
den excerpierten Katalogen einen Titel, so wurden sie notiert, wenn
nicht dann nicht. Wenn man bedenkt, wie leicht es gewesen wäre,
bei genauerer Durchsicht auch nur der Handschriftenkata-
loge, die namenlosen Stoffe zu notieren und dann unter Rubriken
wie »Ossiansagenkreis, Guchulinnsage« oder ähnlichen aufzuführen^
dann wird man eine Vorstellung bekommen von dem Aufwand gei-
stiger Kräfte, mit dem Herr D'Arbois sein Werk ausgeführt hat^).
1) Einen nach vielen Seiten hin interessanten Beleg dafür, welche Rolle die
»Titeüragec für Herrn D'Arbois spielte, werden wir in anderem Zusammenhang
kennen lernen.
D'Arbois de Jubainville, Essai d'un catalogae de la litt, ^pique de Tlrlande. 163
Durch die im Vorhergehenden anfgedeckte oberfläohliche nnd
wenig gewissenhafte Arbeitsweise des Herrn D'Arbois wird natttr-
lieh der praktische Wert seiner Kompilation sehr herabgedrttckt :
etwas besser wie gar Nichts ist sie immer noch, nnd ich würde gern
mit der Anerkennung schließen. Leider macht dies Herr D'Arbois
selbst unmöglich.
Bei dem Verhältnis seiner Arbeit zu den Katalogen von O'Do-
Dovan, O'Curry, O'Beirne Crowe, O'Longan, O'Grady und Atkinson
(zum Book of Leinster) dUnkt es mir nicht nur eine Pflicht der
Dankbarkeit, sondern vor allem der litt e rar isc^hen E hrlich-
keit, daß der Herr D'Arbois den Sachverhalt klar darlegte. Er
mußte auf dem Titel unbedingt angeben, daß seine Arbeit sich im
Wesentlichen auf die Kataloge genannter Gelehrten sttttze, um so
mehr, als eine solche Angabe von vornherein verhindert hätte, daß
mehr in dem Werk gesucht wird als es bieten kann. Wenn auch
die Kataloge von O'Donovan, O'Curry, O'Beirne Crowe und 0*Lon-
gan zur freien Benutzung in den Bibliotheken von British Museum,
Trinity College und Royal Irish Academy ausstehn: geistiges Eigen-
tum genannter Männer bleiben sie und zwar ist dasselbe um so hei-
liger zu achten, als die genannten Verfasser sämtlich verstorben
sind. Der Titel von Herrn D'Arbois Werk entspricht nicht
den Forderungen der litterarischen Ehrlichkeit; im
Gegenteil, er sucht durch die Angabe »pr^c^dä d'une ätude
sur les manuscrits en langue irlandaise conserves dans
les lies Britanniques et sur le Continent« direkt den Eindruck her-
vorzurufen, als ob der Catalogue de la litterature epique de Tlrlande
auf einem Studium der irischen Handschriften selbst beruhe. Auch
in der Vorrede, die sich von den Cedern des Libanon bis zum Ysop
der an der Wand wächst, verbreitet^ wird mit der Wahrheit hinterm
Berge gehalten; zwar gesteht Herr D'Arbois (S. VHI), daß sein
Katalog kein »travail complet« sei und »bien des errenrs« wohl ent-
halte, aber das verschweigt er, daß diese Mängel in der Anlage
größtenteils begründet sind, weil er nicht Handschriften studiert,
sondern Handschriften k a t a I o g e. Keine Spur, daß ihm beim
Sehreiben der Vorrede das Gewissen auch nur leise geschlagen habe.
In den einzelnen Kapiteln der Introduction werden natürlich die
vorhandenen Kataloge erwähnt, ja S. XXIII geht Herr D'Arbois
soweit, daß er beim British Museum sagt: >Dans ce grand ätablis-
sement, j'ai eu pour guide le catalogue compost en 1849 par
Engine O'Curry«. Daß man in einer Bibliothek den Handschriften-
katalog als Führer benutzt, ist so selbstverständlich, daß aus die-
sem Geständnis und den Bemerkungen über die anderen Kataloge
164 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 5.
gewiß Niemand auf den Gedanken kommen wird, daß Herrn D'Ar-
boiB' Werk fast anssehließlich auf Notizen nnd Exeerpten aas den
Katalogen sich aufbaue. Damit nun aber nicht Jemand durch ein-
fache Vergleichung der Arbeitstage mit der Zahl der angeblich be-
nutzten Handschriften doch etwa auf einen solchen Gedanken
komme, dafür weiß der gelehrte Herr zu sorgen : er nimmt aus jeder
der Sammlungen ein Dutzend oder mehr der größeren Handschriften
aus verschiedenen Jahrhunderten vor, verbreitet sich in der Intro-
duction über Umfang, Alter der einzelnen Partien, Inhalt und Wert
der wichtigeren Texte — alles natürlich auf Grund der Kataloge —
und zwar in einer Weise, daß ein mit den Dingen wenig Vertrauter
glauben muß, Herr D'Arbois habe jede einzelne Handschrift gemäß
der Horazischen Regel nocturna versate manu varaate diuma behau«
delt; zur Erhöhung der Glaubwürdigheit fließt mitten ein >parmi
les vingt-trois manuscrits du XV« et du XVIe sifecle, il y en a plu-
sieurs sur lesqnels je suis passe tr&s-rapidement: tels sont« etc. (wer-
den 7 aufgezählt)^); an einer anderen Stelle zählt er die Hand-
schriften auf dont il a ätä question jusqn'ici (es sind 953), und nach-
dem bemerkt ist, daß die Zahl der wirklich vorhandenen eine viel
größere ist, fährt er mit den Worten fort »parmi les manuscrits que
nous avons ätndi6s« (S. CHI), was nur heißen kann »unter den
953 Handschriften c; im Haupteile des Werkes, dem alphabetischen
Katalog der epischen Stoffe, gibt sich Herr D'Arbois durch Bemer-
kungen aller Art den Anschein, als ob er ganz genau wisse, was
hinter den Titeln stecke, und er die Texte in den Handschriften ge-
lesen habe: für denjenigen, welcher diesen und jenen Text wirklich
gelesen hat, wirkt der Widerspruch zwischen den Angaben und den
Thatsachen (vergl. eben das über Fled -Brtcrenrf beigebrachte S.'^lßO)
gewöhnlich komisch, die Nichtkenner werden aber sicher überzeugt
Kurz Herr D'Arbois hat die einfachste Pflicht litterarischer Ehr-
lichkeit nicht erfüllt, nirgends das Verhältnis seiner Kompilation zu
vorhandenen Arbeiten meist verstorbener Männer dargelegt; im Ge-
genteil geht sein ganzes Streben von Anfang bis Ende dahin, das
Publikum über die wahre Grundlage seines Werkes irre zu führen:
dies ist mit einem Raffinement ausgeführt, welches sich nur durch
jahrelange Praxis erwerben läßt, wie sie Herr D'Arbois auf dem
Gebiete der keltischen Studien pflegt. Gegenüber einem solchen
unerhörten Schmücken mit fremden Federn konstatiere ich also:
1. Herr D'Arbois hat nur diejenigen Handschriften
1) Der Unterschied in der Benutzung wird wohl darin bestanden haben,
daß Herr D'Arbois diese Handschriften nur von auBen betrachtete, die anderen
aber aufmachte.
D'Arbois de Jubainville, Essai d^un catalogue de la litt, dpique de llrlande. 165
»studiert«, die in Katalogen analysiert sind oder de-
ren Inhalt aus gedruckten Werken bekannt ist.
2. Herr D'Arbois kennt in seinem Catalogue de
la litt^rature äpique de Tlrlande nur das aus den von
ihm »studierten« Handschriften, was in den Katalogen
Torkommt: sind letztere lückenhaft, so fehlen die be-
treffenden Stücke auch bei ihm, enthalten sie falsche
Angaben, so bringt er selbige ebenfalls.
Der Beweis fUr die erstere Behauptung läßt sich bei aufmerk-
samer Lektüre der Introduction trotz aller Verschleierungsversuche
aus den Angaben des Herrn D'Arbois selbst führen. So hat er z. B.
nach seiner Aufzählung 560 Handschriften der Royal Irish Academy
benutzt, und auf Seite XLII — LV verbreitet er sich des Ausführlichen
in der geschilderten Weise über die größeren und wichtigeren aus
ihnen. Diese 560 Handschriften teilen sich nun in 559 von O'Cnrry,
O'Lougan und O'Beirne Crowe katalogisierte und das später erst in
den Besitz der Academy gelangte sogenannte Book of Formoy. »Le
nombre de ceux qui ne sont pas catalogues est, dit-on, presque
6gal. Les fonds manqnent k l'Academie pour faire continuer cette
utile operation : on s'en console par la pens^e que les manuscrits non
catalogues sont d6nn6s d'inter§t. Le seul mannscrit impor-
tant que j'aie remarquä parmi eux est le livre de Fer-
moyc (S. XLIV). Wer aus den letzten Worten den Schluß ziehen
wollte, daß Herr D'Arbois die ungefähr 500 nicht katalogisierten
Handschriften untersucht oder auch nur flüchtig studiert habe, der
täuscht sich: das Book of Fermoy ist darum »seul important«, »senl
digne de notre attention« (p. CHI), weil davon ein ziemlich
ausführlicher Katalog vou dem früheren Besitzer desselben,
Todd, erschienen ist in den Proceedings of the Royal Irish
Academy, Irish mss. series I, S. 1 — 65! Ajso circa 1100 Hand-
schriften besitzt die B. Irish Academy in Dublin, von ihnen sind 559
in den handsehriftlichen Katalogen analysiert und eine in Druck-
schriften dieser Institution: Herr D'Arbois »studiert« 560 Hand-
schriften aus der Sammlung, nämlich jene 559 und jene eine. Der
Gkisichtspunkt, von dem Herr D'Arbois sich leiten ließ, ist klar; in
noch helleres Licht wird er durch folgende Erwäguog gerückt: un-
ter den von Herrn D'Arbois »studierten« 560 Handschriften sind un-
gefähr 480, schreibe vier Hundert und Achtzig, welche aus der Zeit
von 1760 — 1830 stammen und von denen mindestens die Hälfte voll-
kommen wertlos ist, weil sie moderne Auszüge sind aus vorhandenen
allgemein zugänglichen Pergamenthandschriften oder gar Abschriften
gedruckter Texte. Wertloser können die ungefähr 500 nicht katalo-
166 Gott. gel. Anz. 1887. Kr. 5.
gisierten Handschriften doch nicht sein, im Gegenteil wird gewiß
manche derselben eine zweite oder dritte unabhängige Kopie jener
modernen Produktionen bieten, wie sie in den katologisierten Hand-
schriften der Royal Irish Academy und des British Museum aus der
Zeit 1760—1830 so zahlreich sind. Also Wert oder Unwert der
Handschrift kommt nicht in Frage, ja die Handschrift überhaupt
nicht, sondern nur ob katalogisiert oder nicht.
Höchst unbequem war für Herrn D'Arbois die kleine irische
Handschriftensammlung im Franziskanerkloster in Dublin. Sie ist
erst Anfang der 70er Jahre von Rom dorthin gekommen und ent-
hält die dürftigen Beste der schOnen Irischen Bibliothek, welche
Irische Franziskaner in der ersten Hälfte des 17. Jahrh. in Löwen
sammelten. Zwar sind neben dem Katalog der vollständigen Samm-
lung, welcher kurz nach Colgans Tode (1658) aufgenommen wurde,
mehrere jüngere vorhanden, so besonders der Gilberts, welcher im
Jahre 1873 angefertigt wurde und die kurz vorher nach Dublin ge-
kommenen Beste aufzählt (gedruckt in Fourth report of the royal
Commission on historical manuscripts p. 601 ff.) ; aber der reichte
für Herrn D'Arbois Zwecke nicht aus, da er nur die Handschriften
aufzählt, nicht aber den Inhalt und die einzelnen Teile mit genügen-
dem Detail analysiert. Stolz bemerkt daher Herr D'Arbois: »Je ne
me suis pas contente de ce catalogue, et je me suis rendu au con-
vent des Franciscains, oü j'ai 6ii introduit par le rev6rend C. Mehan,
savant pretre catholique, anquel j'avais et6 pr^ente par M. W. Hen-
nessyt. Gewiß eine respektable Leistung, wenn ein Gelehrter, der
in der Absicht einen Katalog der epischen Stoffe in irischer Sprache
zu verfassen von Paris nach Dublin geschickt ist, sich leibhaftig in
die Bibliothek der Franziskaner daselbst begibt und sich nicht mit
einem ungenügenden Katalog begnügt, der um billiges in Paris
käuflich ist Wir finden also Herrn D'Arbois einmal wirklich vis-a-
vis von irischen Handschriften. Die Art und Weise, wie er sich über
diese schwierige Lage hinweg hilft, ist lehrreich in wissenschaftlicher
Beziehung und lehrreich hinsichtlich des Charakters des Mannes.
Er ßlhrt in direktem Anschluß an die eben citierten Worte fort
(p. LXXIX) : > J'ai 6t6 accueilli avec la courtoisie la plus parfaite,
mais les röglements du monastire out rendu tris difficile le travail
de verification auquel je voulais me livrer. Les manuscrits venus
de Saint-Isidore de Bome sont enfermäs dans un coffre-fort dont
le p&re gardien ne confie k personne la cli, et le p6re gardien n'est
ordinairement visible que pendant quelques minutes tout les jours,
de une heure k une heure un quart environ. Dans ces conditionSi
il est ais^ d'obtenir la communication d'un manuscrit qui sort da
D'Arbois de JuJ^ainville, Essai d'un catalogue de la litt, i^pique de llrlande. 167
eoffre-fort; on le lit sons la sarveillance incessante d'an religieux
moins occnpä que le p6re gardien, et qui peat tous lea joars, avec
aatant de devoaement que d'enna], coDsacrer quelques heures k la
garde du pr^cieux manuscrit. L'intervalle d'une heure k quatre 6tait
celui qui m'avait 6te fixe. Mais sons Tempire de cette r^glemeuta-
tion, il n'ätait pas ais^ d'^tudier la colleetion dans son ensemble.
Les nianuscrits ne sont point num^rotös; ils sont d6poB^ dans le
eoffre-fort sans aucun ordre, m616s m6me k des imprimes de valenr
m^dioere. L'offre que j'ai faite de lear donner les cotes dn cata-
logue de M. Gilbert et de les disposer dans Tordre de ces cotes a et6
rejetee» Mon travail est reste parcons^quentincomplet«.
Fast ebenso viele grobe Unwahrheiten als Behauptungen! Ich
habe zu zwei verschiedenen Zeiten (August-September 1878, März-
April 1885) wochenlang im Franziskanerkloster in Dublin gearbeitet
und hatte keine andere Einführung als die des Herrn D'Arbois,
nämlich eine Empfehlungskarte von Hennessy. Bei ersterer Gele-
genheit fand ich Rev. Theob. Carey, bei letzterer Bev. N. A. Hill
als Bibliothekar vor. Von beiden mit gleicher Liebenswürdigkeit
aufgenommen, habe ich Tag ein Tag aus von Morgens 9 bis Abends 6
oder 7 Uhr — ganz nach meinem Behagen — ungestört und u n-
beaufsichtigt gearbeitet. Die Bibliothek des Convents ist ein
mäßig großes Studierzimmer, worin neben Bücherregalen, zwei Ar-
beitstischen ein feuerfester Schrank steht, der mit anderen Wert-
sachen auch die Handschriften enthält in einer Zahl und Umfang,
daß man sie bequem unter beiden Armen forttragen kann. Aus die-
sem Schrank wurde mir gegeben, resp. ich durfte mir in Gegen-
wart des Bibliothekars aussuchen, was ich zur Arbeit
brauchte. Den Schlüssel zum Schrank nahm natürlich der Biblio-
thekar an sich, der sich in den ersten Tagen mindestens 10 mal am
Tage einstellte oder sich erkundigeo ließ, ob ich eine Handschrift
oder sonst was brauche. Sobald ich das Gewünschte gefunden hatte,
habe ich tagelang von Morgens 9 bis Abends 4 oder 5 gearbeitet
durch nichts unterbrochen als durch das mir gastlich gebrachte
Frühstück. Ich bemerke zur Charakteristik noch folgende Einzel-
heiten: 1878 wurde mir gestattet gelegentlich Sonntags nach 12 Uhr
zu arbeiten, ebenso am 4. Oktober, dem Tage des heil. Franziskus,
im Oktober habe ich in den Abendstunden von 6—9 bei Licht O'Cle-
rys Sanasan nüa abgeschrieben; 1885 wurde meinetwegen im März-
April fortwährend die Bibliothek geheizt, ich habe Gründonnerstag
und Gharfreitag gearbeitet und in liberalster Weise wurde mir auf
meine Bitte Zutritt für ersten Ostertag nach 12 Uhr zugesagt, wovon
ieb keinen Gebrauch machte, sondern einer Einladung Dr. Mac Gar*
168 Gott. gel. Änz. 1887. Nr. 5.
tbys naeh Macroom folgte. Ich gehe nar höchst nngern aaf diese
persänlichen Dinge ein, glaube aber gegenttber den anerhörten Un-
wahr heiteD, die Herr D'Arbois zum Besten gibt; es den Franziskanern
schuldig zu sein: ich habe nirgends so angenehm und liberal be-
handelt gearbeitet als bei ihnen. Stokes hat öffentlich seinen Dank
für die Liberalität ausgesprochen, die er in der Klosterbibliothek
fand, und mir ist glaubwürdig versichert, daß er sowohl wie Hen-
nessy mehr als einmal am Sonntag Nachmittag im Franziskaner-
konvent über Handschriften saßen. Die Entrüstung über die oben
angeführte Münchbausiade des Herrn D'Arbois ist daher in Dublin
nicht bloß bei den davon betroffenen Franziskanern zu treffen.
Der Grund, warum Herr D'Arbois zu solchen Unwahrheiten
greift, ist klar: er wollte damit verdecken, daß er unfähig ist mit
Irischen Handschriften etwas anzufangen; weniger verwerflich wird
seine Handlungsweise dadurch nicht
Man ist gespannt, was denn überhaupt bei dem Besuch im Fran-
ziskanerkloster für Herrn D'Arbois herausgekommen ist. Er be-
ginnt seine auf Autopsie gegründeten Mitteilungen
damit, daß er von den fünf Seiten, welche er den
Handschriften der Franziskaner widmet, nahezu eine
Seite auf die Beschreibung eines Ms. verwendet, das
er nicht gesehen hat (S. LXXXff.); dann spricht er mehr als
eine Seite von einer Handschrift sehr gelehrt, über die er sich gar
Notizen will gesammelt haben, »mais les notes que j'ai recneillies
n'ont plus d'ntilit6 depuis que M. Zimmer a insert un travail iden-
tique, et mSme sur certains points plus detaill6, dans ses Keltische
Studien, p. 13 — 15c. Doch halt, S. LXXXIII spricht er über eine
Handschrift, die im Katalog von Gilbert nicht steht, wohl aber im
Nachlaß Golgans (1658) erwähnt wird: ^ÄgaUamh na seneorach Dia-
logue des vieillards, quatre-vingt-une pages num6rot^s, dont les
quatre premiers manquent; c'est un des manuscrits les plus
importants de ce morceau, dans lequel on reconnidt un des testes
fondamentaux du cycle ossianique«. Nur 5 Zeilen, gewiß dürftig
gegenüber der sonstigen Redseligkeit, und was sie enthalten ist
größtenteils ganz falsch oder nur halb richtig.
Die Pergamenthandschrift, die auf der Außenseite den Titel
Ägall. na seneorach und darunter von jüngerer Hand No. 12 trägt,
beginnt allerdings scheinbar mit Seite 5, aber in der Handschrift
lag 1878 und 1885 — also vor und nach Herrn D'Arbois Anwesen-
heit — ein Doppelpergamentblatt von derselben Größe wie der Co-
dex, welches den fehlenden Anfang enthält: Seite 5 be-
ginnt mit dodäinib icarabatar sin aar Patric und Seite 4b Mitte endet
I
D^Arbois de Jubainville, Essai d'lin catalogue de la litt, dpique de I'Irlande. 169
mit mor dodainib icarabatarsin, also dem Anfang von Seite 5. Dann
folgt S. 4 b noch feuch ar do laim deis cdeighthecir finis d. h. »schaue
rechter Hand o Leser, wo Fortsetzung folgte , wodurch sich diese
Blätter als beabsichtigte alte Ergänzung der wahrscheinlich beschä-
digten ersten Blätter ergeben. Also der Anfang fehlt nicht
Da Seite 41 zweimal gezählt ist, so tritt von S. 42 die seltene
Erscheinung ein, daß die geraden Zahlen die Vorderseite der Blätter
bezeichnen, mithin S. 81 Rückseite eines Blattes ist und die Hand-
schrift also nicht 81, sondern 82 Seiten enthält Da
Herr D'Arbois nun angibt, daß im Anfang 4 Seiten fehlen — was
nicht richtig ist — so muß man annehmen, daß die Handschrift am
Schluß vollständig ist, was wieder nicht zutrifft Sie schließt S. 81
mit den Worten Caide taignedsin imme siut a Chats Coraig ar Caäte
ise maigned. Hätte Herr D'Arbois eine Ahnung von dem Inhalt dieses
Fnndamentaltextes, wie man aus seinen gelehrten Worten sowie sei-
nen Bemerkungen S. 3. 4 eigentlich schließen muß, so müßte er wis-
sen , daß dies nicht Schluß sein kann : es entspricht Book of Lis-
more fol. 239 b, 2 und Laud. 610, fol. 145 a, 1. Es folgt denn auch
auf S. 82 Fortsetzung von der Hand des Schreibers, wel-
cher S. 1 — 4 ergänzte; auch diese Fortsetzung bringt den Schluß
nicht: sie endet mitten auf S. 83 erste Spalte mit tainic remhe
iarsin godorus intsida 7 dorinne lamach mos fior et cetera gleich
Land. 610, fol. 145 a, 2. Darunter steht ni hfuü ann n^s mö re
scriobh(adh) don cor so 7 dam{eth) dodheanmais arndioihcheU fair
d. h. »für jetzt ist nicht mehr zum Schreiben hierunter
vorhanden und wenn wäre, dann würden wir unsern
Fleiß darauf verwendenc
Es läßt sich demnach annehmen, daß von einer vollständigen
Handschrift des AgäUamh na senorach die ersten und letzten Blätter
beschädigt, resp. abgerissen waren ; während der Anfang (2 Blätter)
wenigstens erhalten war, so daß nur die beschädigten Blätter brauch-
ten umgeschrieben zu werden, waren von den Schlußblättern einige
verloren gegangen. Von der Hand des Restaurators der Handschrift
steht auf dem gebliebenen leeren Baum S. 4 b Agsin daibh enrt %
agan 7 mobheandacht fein maille reis da bar nionsoigh{eadh) 7 cuirim
fiaghnuisi ar dia gid nach cöir athögbhail mfiagnuisi acht goro deng-
moHa nach me is ciontaighe res in leabarso aolcus ata scrU>btha acht
droch metnbrum 7 beean aimsire etoa (mit Abkürzungszeichen übero)
bar ncuine for MaoiUr b{rü)c^ woraus wir sehen, daß die Restaura-
tion für einen Henry O'Hagan geschah und der Schreiber die schlechte
Schrift entschuldigt.
üeber Schreiber, resp. Benutzer der Handschrift selbst ergibt
Q^n, gel. Abi. 18S7. Nr. 6. 13
(
(
170 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 5.
sich: S. 13 unten steht misi Concob. o. D (nicht Schreiber der Hand-
Schrift), S. 25 unten Fiorifiduine ma. Firbis, S. 56 von jüngerer Hand
unten 1589 (5 unsicher), S. 57 wieder andere Hand misi Morch, o
maoüochluin (?) dosgribso^ S. 65 unten Manam duid ade (xth{air)
timna iscoir docrichnach (adh) nifath dimda modhol. domtimna istraih
tindsgnama, dasselbe zwischen erster und zweiter Spalte 66 (nur
mogol, domtimna) und darunter is misi Niall O'Maoilechb . . . dosgri-
obso an agaUaim nasenorach antaonud la deg d. h. »ich Niall 0*Ma-
oilechb . . . schrieb die Unterhaitang der Alten den elften Tage.
Seite 83 steht nach der angeführten Klage des Restaurators ein Ge-
dicht aus zwei Strophen beginnend üch is mairg ön och is fnairg
atd fdn saoghol ag spairng\ ganz unten auf der Seite lesen wir Mo
mheallacht ort aPhinn, darlind ataoi goholc mar nach (?) bfuart4stu
regies, ata in lebran fein goholc: wenn man bedenkt, daß zahlreiche
Episoden des Textes von den galanten Abenteuern des Finn Mac
Gumail, Oisin, Gailte und anderer Helden bandeln, dann wird mao
begreifen, wie ein streng denkender Klosterbruder in asketischem
Eifer sich zu den Worten »Sei verflucht o FingaU konnte hinreißen
lassen und die Handschrift ein »schlechtes Buch« nennt. Auf der
nicht paginierten Umschlagsseite stehn zwei dreistrophige Gedichte
beginnend A dhüibh dil in ccluititi angair und Dercc anocht cörr mo
cruit.
Fttr Kenntnis und Herausgabe des ältesten zusammenhängenden
Textes des Ossiansagenkreis kommen, wie oben S. 158 ausgeführt,
überhaupt nur 4 Handschriften in Betracht: der Herrn D'Arbois nn*
bekannte Text in Land 610, fol. 123—146, dann Book of Lismore
und Bawl. 487, endlich in letzter Linie die in Rede stehende
Franziskanerhandschrift. Letzteres darum, weil der Schreiber der
Handschrift die schlichte und volkstümliche Prosaerzählung der an-
deren Handschriften durch geschmacklose Häufung von schmücken-
den Beiwörtern und ungeschickte auf Reminiscenzen aus anderen
Texten beruhenden Redefloskeln verunstaltet hat.
Vorstehender Kommentar zu Herrn D'Arbois' Worten (s. oben
S. 168) wird genügen, um des Mannes ganze Hilfs- und Ratlosigkeit
zu zeigen gegenüber einer irischen Handschrift, über welche Kata-
löge nichts zum Ausschreiben bieten.
Höchst auffallend ist, daß Herr D'Arbois unter den wenigen
Handschriften des Franziskanerklosters eine nicht erwähnt, welche
durch Umfang und Dicke schon auffällt und auch sachlich von ganz
bedeutendem Wert ist. Es ist eine Papierhandschrift in groß-Oktay,
welche in einem alten Bucheinband liegt, der auf der Vorderseitd
oben : anno, unten : 1628 trägt. Der eigentliche Papierumschlag trägt
D'Arbois de JabainTiIle, Essai d'an catalogue de la litt, ^pique de I'lrlande. 171
mehrere Stempel nod die Nummer 2. Blatt I und 2 sind zerrissen.
Diese Handschrift enthält auf fol. 1 bis 129a unten
eine getreue Abschrift der eben besprochenen Agal-
lamhandschrift und zwar in ihrem restaurierten Znstande : sie
endigt dorinne lafnh{ach) mcLS fSOrlt es fehlt also nur et cetera der
Vorlage. Bei schwer lesbaren Stellen der Vorlage habe ich die Ab-
schrift öfters mit Erfolg zu Bate gezogen, dabei auch gefunden, daß
einzelne Blätter nachträglich (d. h. nach dem Binden) herausgeris-
sen sind.
Seite 129b beginnt Agso duit trachiad aithger ar seüg ddbi ag
Finn mac Cumaill ar Benn Edair »hiermit hast du einen kurzen
Bericht über die Jagd, welche durch Fingal in Howth standfandc und
des Weiteren wird in der Inhaltsaugabe mitgeteilt, daß die Erzäh-
lung auch berichtet mar do cuiredar astech go crioch Loehlann iad
(sc. seclU catha na Feine) mar do sgriosadar riogacht Magnuia nikör
le cungnamh Oscair mhic Osin: do marbhse an Cailleach dobith ag
aithbeochad muintere Maghnuis mic Bi Loehlann^ d. h. wie sie hin-
aus nach Norwegen schickten die 6 Schaaren der Fenier, wie sie das
Seich des Magnus mör vernichten mit Hilfe Oskars des Sohnes des
Ossian : der tötete die Jungfrau, welche das Gefolge des Magnus des
Sohns des Königs von Lochland wieder erweckte«. Die Erzählung
beginnt Feachd naon daraibh cronned ag ionadh sdga ar Fionaib
Eirion ag Fionn mac Cumail. Eine wunderbare Mischung: irische
Sagenelemente gemischt mit dem historischen König Magnus von
Norwegen, welcher den Versuch Irland in gewohnter Weise auszu-
plündern im Jahre 1103 an der Küste von Ulsterland mit dem Le-
ben büßte; dazu die nordisch-germanische Hildensage, denn »die
Jitngfrau, welche pflegte dasGefolge desMagnus des
Sohns des Königs von Lochland wieder zum Leben zu
erweckenc und die von Oskar, Ossians Sohn getötet
wurde, ist sicher die nordgermanische Hilde. O'Grady
f&hrt (Ossianic Soc. 3, 18) ein comhrac Mhaghnuis mhic righ Loch-
latirn, modernes Gedicht in 32 Strophen und ebendaselbst ein 40-
strophisches Lied an betitelt: Laoidh Mhaghnuis righ Locfdainn;
die Handschriften des letzteren gehn nach Herrn D'Arbois (S. 164)
bis 1726 znrück.
Nachdem in der Handschrift eine Anzahl Blätter leer gelassen
ist, beginnt eine neue Paginiernng bis zu Ende: fol. 1—94. Die-
ser Teil der Handschrift enthält auf fol. 1— 94a Mitte
die stattliche Zahl von 69 Gedichten aus dem Ossian-
sagenkreis nnd wird vom Schreiber selbst Duanaire Finn »Fin-
18 •
172 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 5.
gals Liederbuch c genannt! Folgendes sind die Strophenanfänge der
einzelnen Gedichte fol.
Eol damh senchus feine Finn la
Oumain let a Oissin fheü 2a
Ä chaorthuinn Clüana ferta 3b
SgSla catha Chruinn mhona 4b
A bhen den folcud mochinn 6b
Fuür ar naghaigh aloch luig 8a
Maidim inmhaidin faglonn 9a
Ceist agam ort a ChaoiUe 10a
Mo whallackt ar chloinn Baoisgne 10b
A bhean beir let moleine 10b
Fiond ße ha fer goU IIa
Fegthar teeh Finn anÄlmain IIb
Aonach so amaigh eala inrt 12b
Fuaramar seüg iar sanihuin 14a
Sgriobh sin aBhrogain sgribh inn 15a
Uchan asgeUh morXogh reü 15b
Siothdl Chaüti cUa rosfuair 17 b
Eüchtach ingen DermaUa 21b
Anocht ftr deiredh nafflan 22b
A doidimh chMrckXn inchluig 23b
Claidktear leibh leab{aid) Osguir 27b
Abair aOistn nihic Finn 29a
Fleadh rosfuair Corbmac öFionn 31b
La röbhamor ar stidbh Truim 40a
Dobhadhfisa uair, fa foÜ buidhecas 43a
Mairg ismuinter do cl^rchib 43a
Trüagh sin aChaoilte achara 43a
TricLT laoeh dochuadhmor dosheüg 43b
Dfrgidh bhar sleagha sealga 43b
Gorta chüle crfdn locha 43b
A muicidh seolam sasliäbh 44a
Cruth gadoir agcnoc na rfogh 44a
Codaü began began beg 44b
Abhean labhrtis rinn anlaoidh 45a
Uaihadh damh sa coirtheso 45b
Sgrfdbh sin aBrogain sgribh inn 50a
Fiafraighis Patraic Macha 52a
ALorchain mheic Luigdech lain 52b
A Oisin dUi infert dona 54a
An seisior triür attigim ar deisiol 57b
D'Arbois de Jubainville, Essai d'uu catalogue de la litt, äpique de Tlrlande. 173
fol
CUoiban cuü ctä doroine 58a
Ältd ttdcha tuaifhe shuas 58b
Agso inföd inarghein Fionn 63a
Cairdius logha rE droing danfsin 64b
Innis aOisin echtaigh 65a
Fiamain mae Faraigh goftar 65b
IsS sud colg inlaoigh lain 65b
Derg ruafhar cloinne Mama 68a
A OisfH inraidhe rinn 69a
A Oistn fuirigh ardta 70b
Eirigh suos aOi^n 71b
Eirigh suOs aOsgair 71b
Faöidh cluig dochüäla andruitn deirg 72a
Domhnach lodmair tar luachair 72b
Is fada anocht anoil Finn 73b
Mairg fuil arhiarr{ad) aSrain 73b
A Oi^n isfada doshuan 74b
La dandech{aidh) Fiann ndbfian doseüg ar sliaibh namban fionn 75b
La da rabJMmur andün bö 76a
In ceüala tä ftana Finn 77a
La dandech(aidk) Fionn nabftan doseilg ar beinn 6ulb(m) ^Sar 78a
La dobf sealg slsibhe Guülenn 78b
Aithreos caithreim infirmoir 83b
Leacht Cruill dochraidh mochraidhe 85b
La daraibh Fionn ag 61 anAlmhain 86b
In cumhhain let aOisin fhsü 87a
La daraibh Padraie andün 89b
Dtibach sin abhenn Ohüalann abend nan uabhar 90b
Cumain liom animirt, dabi ag flaith naffian 93b
Wie weit einzelne Lieder dieser Sammlung sich einerseits mit
den in >die Unterbaltnng der Alten« eingestreuten, andererseits mit
solchen in der schottischen Sammlung des Dean of Lismore (Mao-
gregor) ans dem 16. Jahrhundert teilweise decken und berühren, kann
hier nicht untersucht werden; noch weniger, in welchem Verhält-
nis moderne ossianische Gedichte dazu stehn: ich will vorläufig bloB
auf diese Fundgrube aufmerksam gemacht haben.
Ueber Zeit und Ort der Entstehung dieser wertvollen bis jetzt
unbekannten Handschrift ergibt sich folgendes: fol. 35b unten nennt
sich der Schreiber NiaU gruamdha OCathan »Niall O'Cathan der
saure (bittere)«. 56a unterer Rand steht anoist^n indeich ... la tl.
Seiptemper. 1626. er ich in ledbair ouid seo 7 go ndena dia trocairi
174 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 5.
or in hfer rosgribh •/* NiaU gruamda OCath. cc. 7 air fhir in Uub(uir)
mar incetna ./. Somairle mac Domnaül rl. Auf den 4. Oktober und
ein FraDziskanerkloster weist die Bemerkang fol. 64b unten Änfugh
trosgudhla 8. Proindsios mo patrüin bennaig 7 co nguidh{edh) sE aar
arson dochum De nime, amen, Folio 90a unten steht 16. Oktober
1626; fol. 97a unten 2. desemper 1626. aLobhan don leabursa da
sgrtbh{aidh)se NiaU OCath, Wir sehen also, daß die Kopie »der
Unterredung der Alten« im Herbst und Winter 1626 von einem
Franziskaner Niall OCathain dem sauren (herben) in Löwen fttr
einen Somairle mac Domnaill angefertigt wurde.
Der Schreiber der zweiten Hälfte, der Liedersammlung, ist ein
anderer: fol. 39b Schluß steht vom Schreiber Agsin duit a chaipt%n
Samhairle 7 ni fedium niosa mho dosgriöbad anuairsi obhuaidhr{edh)
in cretha] fol. 74a Schluß klagt er, daß ihm die Vorlage ausgegan-
gen: Agsin duit ackaiptin Samhairle et da ffaghuinn nt badh mo in-
nasin do Dtianaire Finn rE na sgrtob. dodhenainn daoibsi e. mist
Aodh ö Docart{aigh) dosgriobh. anoisdin in 12. Fdmrnri 1627 Es
muß lange gedauert haben bis neues Manuskript in seine Hände
kam und dann nicht viel, denn fol. 93a unten klagt er schon wie-
der Daffagainn nt b(adh) mo ina affuarus dosgribhAhuinn iad, anoisdin
in 6. Augustus 16ä7. »Fingais Liederbuch« wurde also in direktem
Anschluß an den ersten Teil der Handschrift im Laufe des Jahres
1627 geschrieben und zwar mit großen Unterbrechungen, da dem
Schreiber Hugh O'Doherty die Vorlage nur bruchstückweise zugieng.
Der Auftraggeber ist Captain Somhairle, der wohl identisch ist mit
Somairle mac Domnaill im ersten Teil der Handschrift; es wird da-
durch wahrscheinlich, daß auch der zweite Teil in Löwen geschrie-
ben ist.
Die vorkommenden Namen weisen nach Nord-Irland: die O'Do-
hertys sind eine seit dem 12. Jahrb. in den Annalen häufig auf-
tretende Ulsterfamilie, ein Cahir O'Doherty Lord von Innishowen
(Country Donegal) erhob 1608 die Fahne des Aufstandes gegen die
Engländer. Die O'Eanes {CfGathain) sind gleichfalls ein hochange-
sehenes Geschlecht in Ulsterland, das noch viel häufiger in den An-
nalen erwähnt wird wie die O'Dohertys. Der Name Somhairle tritt
in den Irischen Annalen zuerst 1083 auf, in welchem Jahre So^
mhairle mac Giollohrigde als König der Hebriden stirbt. Hier auf
den Hebriden halten die Somhairle eine mächtige Herrschaft bis
Ende des 15. Jahrhunderts. Ein jüngerer Somhairle erwirbt Argyle
{Airer-Gaoidhedl) und wird Ahnherr der angesehenen Familien der
Mac Donnell, Mac Dougall, Mac Hory, bei denen der Name Som-
hairle (englisch Sorley) häufig auftritt An den Kämpfen der mäch-
D'Arbo is de Jubainville, Essai d^un catalogae de la litt, dpique de I'Irlande. 175
tigen Ulsterfamilieu vom 12. bis 15. Jahrh. nehmen sie eifrig An-
teil, sodaß öfters einzelne Glieder des Clann-Somhairle anf entgegen-
gesetzter Seite kämpfen (s. Annalen der 4 Meister 1366). Ende des
14. Jahrhunderts fassen sie durch Heirat in der den Hebriden and
Argyie benachbarten Ulstergrafschaft Antrim festen Faß and gelan-
gen dort nach and nach zu großer Macht and Besitz^) Somhairle
Buidhe Mac Domnaill (Sorley Boy Mac Donnell) nnterwirft sich 1573
der Königin Elisabeth; sein zweiter Sohn wird erster Earl of Antrim.
Ueber den »Captain Sorley Mac Donnell {Somhairle Mac DomnaiU),
der sich »die Unterhai tang der Alten c and »Fingais Liederbach c
1626 and 1627 von den Franziskanern Neal O'Kane (Niall O'Ca-
thain) and Hagh O'Doherty {Aodh O'Dochartaigh) in Löwen ab-
schreiben ließ, weiß ich aas den mir za Gebote stehenden Qaellen
Nichts beizabringen. VermatUch gehörte er dem Antrim-Zweige der
Mac Donneils an. Jedenfalls ist die Handschrift ein gewichtiges
Zeugnis für das Interesse, welches man im Anfang des 17. Jahrh.
in Ulster am Ossiansagenkreis nahm und zwar in dem Teile der
Provinz, welcher durch viele Fäden an das nachbarliche Argyie
geknüpft war, wo Dean Macgregor ein Jahrhundert früher ein ähn-
liches »Liederbuch Fingais« aufzeichnete, wie es Hugh O'Doherty
fttr Eaptain Sorley Mac Donnell abschrieb.
Fast unmittelbar auf den Schluß des Dtianaire Finn fol. 94a
Mitte folgt von jüngerer Hand ein Gedicht, in dem der Schreiber
persönliche Erlebnisse schildert. Es beginnt:
Olc mothuras son ö Lundain go Cnoc Samhruigh aoibhinn aird
Fuanis ainnsein mur nar saoilios began aoibhnis easbaid graidh
Doshaoüis gombiad sandUnsoin faäte romham ar son De
Mur nar saoilios tOrla damhsa beg fartor dorn amgar S.
Anf fol. 94b Mitte steht >to Sister Sumtisset att the English Qe-
resan (?) in hier* Darunter
»t70or susier Sumuset in de English Gresan tot Lier€.
Durch diesen Nachweis zweier Handschriften mit dem Text
AgäUaimh na seanorach in der Sammlung der Franziskaner werden
wir in den Stand gesetzt, einen Irrtum im Katalog Gilberts zu be-
richtigen. Gilbert bringt sämtliche Handschriften und Fragmente
solcher in der Bibliothek der Franziskaner zu Dublin unter 40 Num-
mern, von denen 26 Irisches bieten. Unter ihnen sollen zwei (die
Nummern 4 und 29) den Text benannt ÄeaUam in da st^ad »die
I
I
1) Den Stammbaum dieser Mac Donnells von Antrim gibt O'Donovan in den 1
Amnerkungen zum Jahr 1690 der Annalen der vier Meister (Band 6, S. 1892
-1896). \
176 Gott. gel. Auz. 1887. Nr. 6.
Unterhaltung der beiden Weisen« bieten. Herr D'Arbois ftthrt sie
S. 5 unter den Quellen zu dem genannten Text gewissenhaft an,
bemerkt aber »Je n'ai pas eu le talent de les tronver«. Sehr na-
türlich, da sich unter den Handschriften der Franziskaner Eopieen
des genannten Textes thatsächlich nicht finden. Da nuu; wie oben
nachgewiesen, 2 Handschriften mit dem Text Äcallam na senaraeh
vorhanden sind, welche Gilbert in seinem Katalog nicht kennt, so
werden eben die 2 Handschriften Gilberts mit Äcallam in da stMdy
welche in der Sammlung weder 1878 noch 1885 waren, mit jenen
identisch sein: beide Texte haben allerdings nicht mehr gemeinsam
als das Wort ÄcaUam im Titel, was aber für Leute, die weder
den einen noch den andern Text kennen, genügt sie zu verwech-
seln. Ich weise noch darauf hin, daß dabei die Anzahl der Hand-
schriften dieselbe bleibt wie in Gilberts Aufzählung und daß die
beiden Handschriften von Äcallam na senorach zu den Nummern
passen, welche Gilbert ihnen gibt: mit No. 4 meint er die erst be-
sprochene ältere Pergamenthandschrift und mit No. 29 die Papier-
handschrift von 1626 mit dem Duai%aire Finn. Es überstieg natür-
lich die Fähigkeiten des Herrn D'Arbois vis-ä-vis den genannten
Handschriften den Irrtum zu erkennen, zumal auch er keinen der
beiden Texte selbst kennt.
Ich hoffe damit genügend gezeigt zu haben, daß genannter
Herr nur diejenigen Handschriften studiert hat, welche in Katalogen
analysiert sind oder deren Inhalt aus gedruckten Werken bekannt
ist, und wende mich zum zweiten Teil meiner Behauptung, daß Herr
D'Arbois aus den von ihm »studierten« Handschriften nur die Texte,
resp. die Titel der Texte kennt, welche in den Katalogen vor-
kommen.
Im Jahre 1814 wurde beim Aufräumen von Trümmern des alten
Gasteils Lismore in der Grafschaft Waterford in Sttdirland eine um-
fangreiche Pergamenthandschrift des 15. Jahrh. aufgefunden. Dies
durch die vielen epischen Stofife besonders wichtige Dokument wird
entweder Book of Mac Carthy Biagh (nach dem vermuteten alten Be-
sitzer) oder Book of Lismore (nach dem Fundort) genannt. Der Agent
des Herzogs von Devonshire, dem Lismore gehört, lieh die Hand-
schrift bald nach ihrer Auffindung an einen gewissen O'Flinn in
Cork, welcher sie nach gemachtem Gebrauch gebunden zurück er-
stattete. Im Jahre 1839 machte O'Curry eine Facsimileabschrift von
der Handschrift für die Royal Irish Academy, die zudem von O'Do-
novan noch genau kollationiert wurde und unter 23. Q (ancient fond
39. 6) in der Handschriftensammlung der Academy aufbewahrt wird.
D'Arbois de Jubainvilie, Essai d'on catalogue de la litt ^pique de Tlrlande. 177
Bei dieser Arbeit wurde es O'Cnrry zur GewiAbeit, daß die vielen
feblendeo Blätter und Lagen ein ganz junger Verlust sein müssen,
erst eingetreten naeb dem Auffinden der HandBchrifty also ver-
mntlieb in den Jabren 1816—1820 in Cork; seinen Nacbforschungen
gelang es (vergl. Manusc. Mater, of ancient Irish History S. 197 ff.)
zu eruieren, daß in Cork und Umgebung aus jener Zeit nicbt nur
vollkommene Absebriften von Texten existierten, die in der zurück-
gelieferten Handschrift verstümmelt sind, sondern aucb Absebriften
von Texten, die jetzt ganz in ibr feblten: sie waren von Micbel
O'Longan im Jabr 1816 im Haus des genannten O'FIinn von dem
Book of Lismore gemacbt worden '). Im Laufe der 50er Jabre
tancbten aucb umfangreiche Fragmente der alten Handschrift wieder
auf, mit der sie schon seit einiger Zeit wieder vereinigt sind. Nach
O'Currys Tode gelangte dann eine zweite Facsimileabscbrift des
Book of Lismore in den Besitz der Royal Irish Academy, angefer-
tigt von Joseph O'Longan, dem Sohn Micbel O'Longans. Ein Ver-
gleich ergibt sofort, daß dieses zweite Facsimile wesent-
lich ein Facsimile ist der im Jahr 1839 fehlenden
Blätter: die Abschrift C'Currys enthält fol. 42-44; 47—70; 96—
131; 148-175; 201—240 der Handschrift, die O'Longans dagegen
fol 42— 44; 47—147; 176—200 bat also die bei OCurry feh-
lenden 66 folia (71—95; 132—147; 176—200), sodaß durcb
beide die Handschrift von fol. 47—240 vollständig repräsentiert
wird. Da O'Gurrys und O'Longans Abschriften Seiten- und Zeilen-
getreue Facsimiles sind, dasjenige O'Currys gar von O'Donovan nach-
kollationiert ist, so können beide, soweit es sich um Kenntnisnahme
des Inhalts der Texte handelt, vollkommen die in Privatbesitz des
Herzogs von Devonshire befindliche Handschrift ersetzen.
Herr D'Arbois war also vollauf in der Lage, diese fUr einen
Katalog der epischen Stoffe Irlands hOchst wichtige Handschrift be-
quem ausnutzen zu können. Er erwähnt sie im 9. Kapitel der In-
troduction (Mannscrits Irlandais conserves dans divers collections),
hat sie jedoch nicht in den Händen gehabt : > on en trouve deux co-
pies dans la bibliotbique de ia Royal Irish Academy; Tune a pour
auteur Joseph O'Longan, Tautre est de la main d'O'Curry. Elles
1) Eine ganze Anzahl der aus der »Sir William Betham Collection« stam-
menden Handschriften aus den Jahren 1815—1830, welche sich in der R. J. A.
befinden, sind Abschriften und Ezcerpte aus dem Book of Lismore; auch ein-
zelne aus der Sammlung Hodg. and Smith (z. B. 23. G. 6) gehn auf sie zurück.
Alle diese jungen Abschriften sind in den 5 Bänden Katalogen beschrieben und
Herr D'Arbois verwendet sie daher in rührender Umwisscnheit als selbständige
Quellen 1
178 Gott, gel Anz. 1887. Nr. 6.
offrent de notables differences qui tiennent k ce qa'elles reprteentent
denx etats diff6rents de ce mannscrit gravement mntil6 par des
lectears pen d^licats. Ce manascrit, präcieax k la fois poor la
littärature r^Iigieose et pour la littörature profane de Tlrlande, est
surtont consider^ comme important au point de vue du cycle ossia-
niqne«. Da Herr D'Arbois eingestandnermaßen von den beiden Ko-
pien Kenntnis bat, auch angeblich weiß, daß sie verschieden
sind und so beredt den Wert der Handschrift schildert, so sollte
man glauben, daß er dieselbe aasgenutzt habe. Aus dem Werk er-
gibt sich: Herr D'Arbois hat sämtliche in dem Facsimile
O'Currys stehende epische Stoffe gewissenhaft ver-
zeichnet, also die auf den fol. 42—44; 47—70; 96-131; 148—
175; 201 — 240 der Handschrift stehenden und zwar immer mit
genauer Angabe der folios der Handschrift; dagegen
kennt Herr D^Arbois keinen der dem Facsimile O'Lon-
gans eigentümlichen Stoffe, also der auf fol 71 — 95; 132
—147; 176 — 200 stehenden, auf Grund dieses Facsimile.
Die Aufklärung dieses Kätsels liegt in Folgendem: unter den
katalogisierten 559 Handschriften der Royal Irish Academy
befindet sich auch 23. Q (ancient fond 39. 6) d. h. O'Currys
Facsimile des 1839 vorhandenen Teils des Book of Lismore, wäh-
rend O'Longans Facsimile zu den noch unkatologisierten
Handschriften gehört; es sind daher nur die ans dem Kata-
log bequem abzuschreibenden Titel gegeben. Mit ge-
wohnter Ehrlichkeit hat Herr D'Arbois natürlich die Thatsache
verschwiegen, daß der durch O'Cnrrys Facsimile repräsentierte Teil
der Handschrift in den Katalogen der Academy analysiert ist
Hiermit sind die Leistungen dieses Gelehrten hinsichtlich des
Book of Lismore noch nicht erschöpft. O'Cnrry gibt in den Lectures
on the Ms. Materials p. 198 einen Brief von Josep Long (wohl Jo-
seph O'Longan) aus Cork vom 10. Febr. 1848, worin derselbe
W. Hudson eine Handschrift anbietet, welche enthalten soll various
pieces from the Book of Lismore. Als solche werden angeführt
Forbuis Dromma Danihghoire, Air an da Fearmaighe^ Scä Fiachna
mic Beataigy Riaghail do righthib, Scä air Chairbre Cinncait u. A.
In Herrn D'Arbois Katalog lesen wir nun unter dem Titel Forhais
Dromma Damgaire als älteste Quelle: XV® si^cle, Livre de Lismore,
propri^tö particuliftre, dont copie par O'Curry, R. J. A., 23. Q, fol.
169 — 176c. Unter dem Titel Scsl Fiachna mic Retaig finden wir
als einzige Quelle angegeben (S. 198): XV* sifecle, Livre de Lis-
more, d'apris O'Gurry, Lectures on the mannscript materials
p. 198c. Endlich ist S. 182 bei dem Titel Scd air Chaibre
D*Arboi8 de Jabainville, Essai d'an catalogue de la litt, ^piqae de rirlande. 179
CaU auf S. 182 yerwiesen auf Orgain Cairpri Cinn^Caitty woselbst
als älteste Quelle: XV« stiele, Livre de Lismore, sons le titre de
Scä air Chairbre Cinn^Caity sairant O'Carry, Lectures on the manu-
scripts materials, p. 198c.
Wie man sich erinnert enthält O'Gurrys Facsimile fol. 148 — 175
der Handschrift, dann 200-241; die Lücke zwischen beiden Teilen,
fol. 176 — 200f füllt O'Longans Facsimile aus : aus dem Katalog von
O'Currys Abschrift stammt daher das Gitat unter Forbais Dromma
Damgaire. Es gehört nun gewiß nicht viel Kombinationsgabe zu
der Vermutung, daß die in dem angeführten Briefe hinter Forbais
Dromma Damgaire citierten Texte aus Book of Lismore in der
fol. 176 beginnenden Lücke standen, also in O'Longans Facsimile
zu suchen sind. Wenn man bedenkt, daß es sich in dem einen
Fall {Scd Fiachna mic Betaig) gar um die einzige Quelle han-
delt, dann ist doch klar vorgeschrieben, was zu thun war : mag nun
Herr D'Arbois dies aus mangelndem Verständnis dessen, worauf es
ankam oder ans Unfähigkeit, die Texte aufzufinden, unterlassen ha-
ben — eins so schlimm wie's andere.
Noch viel stärker ist Herr D'Arbois bei einem anderen Texte
darauf hingewiesen worden, ihn in dem Teil der Handschrift zu su-
chen, welcher durch O'Longans Facsimile repräsentiert wird, also in
dem nicht katalogisierten, ohne daß er dem nachgekommen wäre.
Der Text Imthecht na tromdaime muß in irgend einer Form schon
Ende des 9. Jahrb. eine bekannte Erzählung gewesen sein, wie
schon 0*Curry On the manners and customs II, 89 sah. Herr D'Ar-
bois belegt ihn (S. 156) mit 5 Handschriften, von denen die älte-
ste aus dem Jahr 1800 nnd die 4 anderen ans der ersten Hälfte
des 19. Jahrhunderts stammen, nnd fährt dann wörtlich fort:
»Edition, texte irlandais avec traduction anglaise, par Owen Gon-
nellan, dans Transactions of the Ossianic Society for the year 1857,
vol. V, p. 1 — 129. L'6diteur dit qu'il reproduit le Livre
de Lismore, manuscrit attribu6 par lui au quatorzi^me si^cle, et
qnMl appelle anssi Livre de Mac Garthy Riagh; com-
parez ä son introduction, p. XXXIII— XXXIV, la note de la page
128. II s'est aussi servi, comme il declare, d'un manuscrit snr pa-
pier qui avait appartenu k M. Lamb de Newtownhamilton«. Con-
nellan gibt an der citierten Stelle ausdrücklich an, daß > Thomas
Hewitt, Esq. of Snmmerhill House, Gorkc der Besitzer des von ihm
benutzten Book of Lismore ist; andererseits berichtet O'Gurry, Ma-
nnscript Materials S. 198 — eine von Herrn D'Arbois Seite C citierte
und sonst mehrfach ausgeschriebene Stelle — , daß die abhanden
gekommenen Teile des Book of Lismore 1854 in den Besitz von
180 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 5.
»Thomas Hewitt, £q. of Sammer bill Honse, near Cork« übergien-
gen : der Text muß demnach sicher in dem darch O'Longans Facsi-
mile repräsentierten Teile des Book of Lismore stehn. Dies ist in
der That der Fall; er findet sich fol. 186a— 193b, unter dem Titel
Tromdam Guaire »die lästige Schaar für Quaire«.
Das Machwerk des Herrn D'Arbois durch Hinzufügung der in
dem nicht katalogisierten Teile der Handschrift noch vorkommenden
epischen Stoffe zu vervollständigen, wUrde mich zu weit abfuhren;
bemerken will ich, daß fol. 87a, 1. 2 unter Sgel ar Moling die LL.
284a, 49 ff. erzählte Geschichte sich findet, so daß für das vierte
Gedicht der Kloster S. Pauler Handschrift {Isor glan isnem imgrein)
hier ein neuer mittelirischer Beleg vorliegt.
Herr D'Arbois hat also von einer der wichtigsten mittel-
irischen Handschriften für epische Stoffe, deren Benutzung ihm durch
die genannten Facsimiles geboten war, nur die Teile in seine
Arbeit mit aufgenommen, weichein einem Katalog
analysiert sind, er hat sich nicht einmal vergewissert, ob be-
stimmte epische Texte, welche in verschiedenen Werken dieser
Handschrift zugewiesen werden, aber in dem katalogisierten Teile
nicht stehn, ob diese Texte in dem nicht katalogisierten Partien
wirklich vorkommen. Dieser Unfähigkeit hat er die Krone aufge-
setzt durch die Unehrlichkeit, womit er das Vorhandensein des von
ihm ausgeschriebenen Katalogs für einen Teil der Handschrift ver-
schweigt. Sich selbst übertroffen hat er aber durch folgende Prak-
tik: S. 212 bietet er den Artikel * Stair ou Sdair na Lumbardag
histoire des Lombards Manuscript: XW^ sifecle, Livre de Lismore,
suivant la copie de Joseph O'Longan, R. J. A., 3 Q,
fol. 112r.€ Herr D'Arbois citiert hier einen Text aus dem Book of
Lismore auf Grund von O'Longans Facsimile, also scheinbar aas
dem nicht katalogisierten Teil der Handschrift, er müßte demnach
also diesen Teil benutzt haben. Die Beweisführung ist von Seiten
des Herrn D'Arbois fein angelegt ; aber nichts ist so fein gesponnen,
es kommt ans Licht. Unser Gelehrter läßt in der citierten Stelle
ans Seite G seine Leser vollkommen im Dunkeln über das Verhältnis
der durch die beiden Facsimile repräsentierten Teile der Hand-
schrift, er sagt bloß: elles offrent de notables differences qui tien-
nent ä ce qu'elles repr^entent deux ätats diffärents de ce manuserit
gravement mutilö. Aus dem oben S. 178 gegebenen Inhalt beider
Facsimile ergibt sich, daß beide fol. 42—44; 47 --70 und 96— 131
gemeinsam haben, also auch das fol. 112a beginnende Frag-
ment Dosdair na Lumbard andso. Dasselbe ist daher auch in
dem von Herrn D'Arbois geplünderten Katalog O'Carrys, sei-
D'Arbois de Jubainville, Essai d'un catalogue de la litt, ^piquc de Plrlande. 181
ner einzigen Quelle verzeichnet Wenn man bedenkt, daß
das in Rede stehende Stück, das einzige aas den beiden Facsi-
miles gemeinsamen Stücken ist, welches Herr D'Arbois in seine Ar-
beit aufnehmen konnte oder vielmehr aufnahm, dann kann die dar-
gelegte Handlang des genannten Herrn — also Ausschreiben des
Titels aus dem unehrlicherweise verschwiegenen vorhandenen Kata-
log zu O'Currys Facsimile und Gitieren nach dem die betreffenden
Folios gleichfalls enthaltenden aber nicht katalogisierten Facsimile
O'Longans — einen Begriff gaben von dem Raffinement, mit dem
er die simulierte Benutzung von Handschriften sucht glaublich zu
machen.
Höchst lehrreich für die am Book of Lismore nachgewiesene
Thatsache, daß Herr D'Arbois aus den von ihm »studiertenc Hand-
schriften nur die Texte, resp. deren Titel kennt, welche in vorhan-
denen Katalogen aufgeführt werden, sind die irischen Handschriften
der Bodleiana in Oxford. Ihre Zahl ist sehr gering (15), aber durch
Alter, Inhalt und Umfang sind sie wertvoll. »lis sont d^crits dans
les beaux catalogues imprimis qui sont un des titres de gloire de
ce grand etablissement«, sagt Herr D'Arbois S. XXXII. Ich muß
leider gestehn, daß diese Kataloge, soweit sie sich auf die irischen
Handschriften erstrecken, sehr wenig schon sind: sehr wichtige
Texte der Handschriften fehlen in den Katalogen
vollständig oder sind verkannt, und Herr D'Arbois
folgt ihnen unbesehen.
>Le Rawlinson B. 512, 154 feuillets, est un des plus importants
mss. littäraires irlandais qui existente sagt er Seite XXXVI und wid-
met der Handschrift und ihrem wertvollen Inhalt eine ganze Seite.
Wie weit diese Beschreibung auf Studium der Handschrift selbst
oder auf Studium des gedruckten Katalogs beruht, möge man aus
folgendem beurteilen.
Fol. 119a, 1 beginnt ohne Ueberschrift eine Erzählung: Coeca
rand rogdb in ben cdlrib ingnad forlar atUige do Bran mac Febaü^
crdboi ariffthech Idn dortgaib annadfedatar can dolluid inben orcbatar
indHss duntai. Issed tossach insceoü »Fünfzig Strophen sang das
Weib aus den unbekannten Gefilden auf der Flur des Hauses dem
Bran mac Febail, als sein Königshaus voll von Königen war, welche
nicht wußten, woher das Weib kam, da die Burg verschlossen war.
[I. aroba mit H. 2. 16. T. G. D]. Folgendes ist der Beginn der Er-
zählung«. Nun folgt bis fol. 120b,2 Mitte eine vollständige
Kopie der wunderschönen Erzählung von Bran mac
Febails Reise in das Land der Feen (tJr nafnban)^ zur In-
1^2 Gott. gel. Anz. 1887. No. 5.
sei der Freude (inis subai no meid). Als er endlich durch Sehnsucht
eines Gefährten bestimmt zurückkehrt, da erkennt man ihn am hei-
mischen Strand nicht mehr: in den alten Erzählungen wisse man
von einer Meerfahrt des Bran. Der Genosse, der ans Land gesetzt
wird, zerfällt sofort in Staub, als ob er viele hundert Jahre in der
Erde gelegen. »Er (seil. Bran) erzählt seine Erlebnisse alle von
Anfang an und schrieb diese [vorher angeftlhrten] Strophen in Ogam
und sagte ihnen darauf Lebewohl und von seinen weiteren Erleb-
nissen weiß man von der Stunde an nichts«.
In dem Katalog von Bawl. B 512 steht nun zu fol. 119 und
120: »The poem of >fifty stanzas<, prophetic«. Der Verfasser des-
selben (O'Grady) las ersichtlich in der Handschrift die 5 ersten
Worte »Fünfzig Strophen sang das Weib« und schrieb hin The poem
of fifty stanzas; dann warf er vermutlich einen Blick auf die 50
Strophen der Fee, mit der sie Bran verlockt, und da er wenig da-
von verstand, setzte er hinzu »prophetic«. Herr D'Arbois trug offen-
bar kein Verlangen in die Handschrift zu sehen; nach der Informa-
tion des Katalogs handelte es sich nicht um Episches, der Text trug
zudem nicht einmal einen Titel: es wurde über ihn zur Tagesord-
nung übergegangen. So kommt es, daß im Catalogue des Herrn
D'Arbois unter Echtra Brain mate Febail S. 105 die in erster
Linie in Betracht kommende vollständige Handschrift
fehlt.
Auf fol. 120 b, 2 folgt dann ebenfalls ohne Ueberschrift ein ähn-
licher Stoff Echtra Condla Ruaid, nicht vollständig wegen der Lücke
zwischen Blatt 120 und 121. Auch hier fehlt unsere Hand-
schrift bei Herrn D'Arbois S. 109. In der Handschrift folgen auf
einander 117a-— 118a Schluß von Tochtnarc Emere, 118b, 1 Verba
Scathaige fri Üoinculaindy 118 b, 2 For f ess fer Faigaey 119 a, 1 —
120 b, 2 Imram Brain, 120 b, 2 Echtra Condla Buaid. Bis fol. 119a
sind die Angaben des Katalogs richtig und da hat Herr D'Arbois
unter den betreffenden Titel richtig Rawl. B. 512; wo der Katalog
falsch ist, ist auch Herrn D'Arbois Weisheit zu Ende.
Eine wichtige litterarhistorische Notiz, die, weil sie im Katalog
fehlt, auch Herrn D'Arbois unbekannt ist, findet sich fol. 101a:
hier beginnt der Text genannt Baue in Scaih^ von dem Schreiber
der Handschrift steht quer über Kolumne 1 und 2: Incip{ü) dibaüe
inscail inso arslicht hisenlib(ur) Duibdaleitius ./. coarpa Pat{raic\
also nach der Version der alten Handschrift des Dnbdaleithius, Nach-
folger Patriks ist der Text geschrieben. Nach O'Curry (Mannsc.
Mat. p. 19) eitleren die Annalen von Ulster zweimal (962 und 1021)
»the book of Dubhdaleithe« ; in den Annalen von Loch Ce wird
D'Ärbois de Jubainville, Essai d'un catalogae de la litt, epique de Tlrlande. 183
gelegeDtlicb einer Begebenheit des Jahres 1021 hinzugefügt sie in libra
Duibhdhdleithe€. Von den Dubdalethe der Annalen der 4 Meister ist
der eine eomarba Patriks von 965 — 998 and der andere von 1049
— 1064. Der Urheber des lU>er Dubdalethe^ welcher in den Ulster-
annalen und von Loch Ce citiert wird, kann nur der letztere sein,
wie O'Gorry und Henessy (Ann. of Loch Ge, I, 22 Anm. 2) anneh-
men; nothing eise is known regarding the book at present, setzt
Hennessy hinzu. Der Text {Baue inScäH), welcher nach der Ver-
sion in dem alten Buch des Dubdaleithe in Raw. B. 512 gegeben
ist, wird schon in einem der chronologischen Gedichte Flann Mai-
nistrechs in LL. 132 a 49 citiert (vergl. O'Gurry Man. Mat. S. 389),
war also, da Flann 1056 gestorben ist, zur Zeit des genannten Dub-
daleithe (1049--1064) sicher wohl bekannt Von der Seite steht
also nichts im Wege, daß unter dem senlibar Duibdcdeitius eine
Handschrift aus der Mitte des 11. Jahrh. kann gemeint sein, die
mit dem liber Duibhdhaleithe der Annalen von Loch Ge identisch
sein kann. Darauf möchte ich hinweisen, daß nicht nur die-
ser Text, sondern auch die folgenden Sagentexte bis
fol. 120 hin auffallend viel altirische Formen be-
wahrt haben: ihm, sich (ei) heißt immer döu (z. B. 101a, 1;
102 a, 1; 103 a, 1; 104 b, 2; 105 b, 1), der Dat. Sing, der o-Stämme
heißt di neort (zn nert 102 a, 2), di otd meda (zu ol 105 a, 1), der
Acc. Plur. laithiu findet sieh 101a, 1, cauru (zu cor) 105 b, 1; sceo
f&r Konjunktion »und« 102a, 2; cichis ist redupliciertes ^-Futur zu
dngim {cichis archd 103 b, 1; cf. cinges arcJiel 105 b, 1), ebenso
iurait zo orgim (103 a, 2); die altir. Konjunktion cammaib findet sich
als camma 117 a, cammaihh 117 b, 1; für feifiy fadein steht cadein
119b, 2 (ef. cadesin LU. 64b, 24. 73a, 21. 74b, 23). Dies sind
Erscheinungen, welche auf das Irische um die Wende
des 8. und 9. Jahrh. hinweisen (vergl. dau in der Handschrift
des Kloster St. Paul, im Book of Armagh und im ältesten Teil des
Book of Deir). Jedenfalls ist auf den genannten folios von RawL
B. 512 die ältere Sprache unter mittelirischer Umschrift getreuer
bewahrt als in irgend einem Text der um 200 — 300 Jahre älteren
Handschriften Lebor na hUidre und Book of Leinster. Auf mehrere
Vorlagen deutet eine Bemerkung 105 a, 2 dofuitt didaigir Diarmait
hiTdenmaig. XVI. bli. no XXX. no XIII. sic exemplaria variantur.
Bawl. B. 502 ist eine andere wichtige irische Handschrift der
Bodleiana; ihre ältesten Teile reichen sogar bis ins 12. Jahrhundert.
Herr D'Ärbois hat ihr, entsprechend ihrem Wert, Vl% Seiten Bespre*
ehnng gewidmet (S. XXXIII). Woher seine Kenntnis der Hand-
schrift stammt, mag man daraus schließen, daß nicht weniger
184 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 5.
als 6 epische Texte, die im Katalog der Handschrift
übersehen sind, auch bei ihm fehlen.
Gein JBranduib mic Echdach 7 Äedain mic Gab, insasis fol. 47a| 2.
Döluid Diarfnait meto Cerbaü feeht naüe fol. 47 b, 2 nnten.
Im Katalog steht »yarions short pieces in prose and verse on the
kings of Leinster fol. 47— 50b<, damit konnte natürlich Herr D'Ar-
bois nichts machen.
Geinetnain Find mic Cumaill foL 70 b, 2.
Tairired nan Dcssi inso fol. 72 a, 2 Mitte. Es ist dies derselbe
Text, von dem ein größeres Fragment sich LU. 53 a, 33— 54b Ende
findet unter dem Titel Tucait innarha nan Dessi im Mwnain inso
nnd der Land^ 610 fol. 99dff. unter De Causis torche nan DSssi
innso vorliegt. Die beiden letzten Quellen kennt Herr D'Arbois
S. 236,. da die Kataloge sie bieten.
Orguin tri mac Biarmata mic Cerbaill la Mcelodran ifothauch
muilend mic Dimma fol. 73b, 2. Dieser Text, welcher erzählt, wie
die 3 Söhne Diarmaits (Dunchad, Gonall, Maelodnr) auf einem Raub-
zug {forcreich) von Maelodran O'Dimmse verfolgt in einer Mühle um-
kamen, findet sich auch noch Rawl. 512, 1 15b, 1 ohne Ueberschrift
Herr D'Arbois kennt keine der Quellen, ja den Stoff überhaupt
nicht.
Die schlimmste Auslassung in Folge der Nichtkenntnis nnd
Nichtbenutzung dieser Handschrift ist aber die, daß in Herrn
D'Arbois Katalog der epischen Stoffe eines der ältesten und inter-
essantesten Stücke des Ossiansagenkreises fehlt. Fol. 59 b, 2 steht
zuerst das Qebet des Adomnan zu Golumba dem Aeltern (Ädomnan
mac Ronain rochachain innorthainseo), welches Qoidelica S. 173 von
Stokes aus Liber Hymnorum abgedruckt ist; dann folgt auf dersel-
ben Spalte ein Gebet Golumbas selbst (beginnt Dia ard arUihar^
schließt dia do^rmrlisea)'^ hieran schließt ohne Absatz noch in der-
selben Spalte und geht bis fol. 60 a, 1 erste Hälfte ein Text begin-
nend Mac Lese mc Ladain aithech und endend badescaidiu osain
mach; hierauf folgt ein Gebet von Cainech an Golumba (Cainech
dorigni innorthainnse) und daran schließt ein weiteres {Cainech beos
dorigne innorthainseo). Der zwischen diesen Gebeten an
Golumba und von Golumba stehende Text ohne Ueber-
schrift ist eine Erzählung des Ossiansagenkreis; wie
sie eine der ältesten ist, so auch eine der interessantesten: Fingal
selbst spielt die Hauptrolle und ihm ist ein allitterierendes Gedicht
in den Mund gelegt:
Mac Lese mc. Ladain aithech Meith bui hüegluch Finn: ise ro-
gab narunnusa sis. Adaig dosrala 7 Find foleith ondfein icorthi
"S
D'Arbois de Jubainville, Essai d'un catalogue de la litt, äpique de I'Irlande. 185
Chuüt hisl(eib) Ghuäind, corochart Find eseom foriarair usd doib.
Conidann asbertsom arnate$s(ed) immach doiarair indu{sci):
Fuitt cobrath ismo indonenn arcach isob cachetrice an idoch Ian
each ath.
Mat muir mor cech loch hnn
Met taul sceith banna dondlinn
Meü cuühi cad^ laaihrach Isig
Nahdta nlsta dm
Eoiad reod rota gribb
Congab donenn dar each leth
isdrong cechcuiri gUr gann
met moUchrocann find cecJi slamm,
eoirthe cachreid caul cachmoin
snechtai Find^) f&r doroich töin.
iargleo glicc imchoirthi Cuät
cannaabair nech acht fuit. F.
Asrubart Find babrec do 7 rogaib formdlad (sic) nastn 7 nas^n
7 nanamser 7 rochachain inso sTs:
Tanic $am slan soer
lAngid ag seng sneid
Canaid cu : ^) ceol m bind m blaith
Lengait eoin ciuin cruaid^
Foss no88 rogab tess
libid tracht find fonn
Fuam ngaeth baeth barr.
Bethid graig mtdntuad.
Maidid glass forcechlus
Tanic sam rofaith gaim.
Canaid Ion dron dord
Suanaid ler lonn liac
Tibid grian dor cachtir
Garit coin dailit daim
diambi chen caul dor
diamb^ rSid ron rfan,
diambt strnn saimreid,
7 daim luaith leith.
gairdess cctss ctMn.
diambi hnn ler luath,
dairi duib drumdaill.
diambi dincuan caiU.
bilech doss daire glaiss
gonü coin cuilinn caiss.
diambi f{pr)bb caiU cerb,
foling iach brec bedc.
dedlaid lim frisü snan
forbrit brain • tanic sam. T.
Aiberatsom tra ropoecen dosom techt doiarair indusci 7 rocengalt Find
lomnocht eomatain dochoirthi Chuilt connadbui ißin Find badainiu 7
hadescaidiu osain mach.
Ist die allgemeiDe Annabme richtig, daß die 83 Pergament-
blatter YOD Rawl. B. 502 aas dem 12. Jahrb. stammen, also so alt
sind wie das Book of Leinster, dann haben wir in dem eben ge-
gebenen Text die älteste erhaltene vollständige Erzäh-
lung Yor nns, in derFinn selbst auftritt. Der Anfang die-
ser Erzählung liegt mit geringen Varianten LL. 208a, 36 — 51 Yor, so-
daft, wenn Rawl. B. 502 auch nicht so alt sein sollte wie man annimmt,
die Erzählung selbst fttr das Jahr 1160 bezeugt ist. Der Schreiber
Yon LL. scheint nicht ^ehr in seiner Vorlage Yorgefunden zu haben
als er gibt, da keine Lttcke in LL. angedeutet ist. Qewift eine der
1) Hier beginnt fol. 60 a, 1.
2) Vergleiche coi Fr. Sg. 204, eat Revue Gelt. 6, 201; cäi ./. euach ^Eukok)
CCIery.
9m. fei. Ans. 1887. Nr. 5. 14
186 Gott. gel. Anz. 1887. lir. 6.
wunderbarsten Erscheinungen ist aber, wie in Rawl. B. 502 fol.
59b, 2— 60a, 1 diese Fingalerzählang so mitten zwischen die Ge-
bete des Adomnan, Cainech und Golumba kommt. Es wäre erklär-
lich, wenn sie fol. 59 b, 2 zu Ende gienge, dann könnte der Schrei-
ber nachträglich einen leergelassenen Raum damit ausgefüllt haben.
Dies ist jedoch nicht möglich, da die Erzählung ohne Zwischenraum
sich 59b, 2 unten an das Gebet Columbas anschließt, auf fol. 60a, 1
gegen Mitte ohne Absatz von dem Gebete Gainechs gefolgt wird,
also das Ganze vom Gebet Adomnans bis zum Schluß des zweiten
Gebetes von Cainech ans einem Guß geschrieben ist: wie kommt
Sani unter die Propheten möchte man fragen. Die Möglichkeit liegt,
wie mir scheint, nur vor, daß io der älteren Vorlage von Bawl. B.
502 die Fingalerzählung eine leergelasseue Spalte nachträglich füllte
und der Schreiber von Rawl. B. 502 diese Vorlage kritiklos ab-
schrieb.
Aus der vorliegenden Erzählung erfahren wir, daß Fingal eines
Nachts sich allein mit einem Genossen seiner fian auf Sliab Guilind
befand und denselben aufforderte, Wasser suchen zu gehn. Der
weigerte sich dies zu thun unter dem Vorgeben, daß es grimmig
kalt sei und der Sturm heule, was er dann in einem dreistrophigen
Gedicht weiter ausführt [soweit geht das Fragment in LL.]. Finn
sagte, dies sei nicht wahr und begann das Wetter und die Jahres-
zeit zu preisen: in 7 Strophen schildert er das Wiedererwachen der
Natur beim Beginn der schönen Jahreszeit. Fingal tritt uns hier
gewissermaßen in der Rolle eines lyrischen Dichters entgegen, und
dazu stimmen weitere alte Quellen. Das älteste Zeugnis für Finn
und für den Ossiansagenkreis überhaupt haben wir meines Wissens
in dem Gommentar zu Dallän Forgaills Ämra Coluim Chülij erhal-
ten in zwei Handschriften, die um 1100 geschrieben sind (LU. und
Liber Hymnorum TGD); hier wird zum Beleg einer Erklärung des
Substantivs rian (die Wogen, Flut, das Meer) ein Lied Fingais an-
geführt: ut dixit Find hu Baiscne
Scel lern düib: dordaid dam, snigid gaim rofaith sam.
Gäeth ard huar isel grian gair arrith ruthach rian,
Boruad rath rocleth cruthy rogdb gnath giugrand guth
Bogdb uMht ete m aigre r^, e, moscle. Scd lern duib.
Dies kleine lyrische Gedicht (LU. Hb, 22—27 ; Liber Hymn.
27 a siehe Goidelica S. 165) ist das gerade Gegenstück zu dem in
Rawl. B. 512: es schildert die Veränderung in der Natur beim Ein-
treten der rauhen Jahreszeit, des Winters, dem rofaith gaim in er-
sterem entspricht hier rofaith sam. Dies Gedicht ist unstreitig eben-
falls aus einer kleinen Erzählung genommen, wie wir sie in Rawl.
B. 512 kennen lernten.
IVArbois de Jubainville, Essai d'un catalogue de la litt, äpique de Tlr lande. 187"
Es ergibt sich also, daß die ältesten erhaltenen Er-
zeagnisse lyrischer Profandichtung in irischer Spra-
che — sieht man von dem kleinen Stimmungsbild im Sanct Gallener
Priscian p. 203. 204 ab — dem Finn (Fingal) zugeschrieben
werden: »Winteranfange und »Sommeranfang« könnte man die-
selben überschreiben. In der in den fünfziger Jahren des 15. Jahr-
hunderts geschriebenen Oxforder Handschrift Land 610 liegt von
fol. 118a, 2 — 121b, 1 ein umfangreiches Fragment vor betitelt >Ju-
gendthaten des Finne {Macgnimariha Finn, zuerst abgedruckt von
O'Donovan in Ossianic Society 4, 288 fif., vollständiger von K. Meyer
in Revue Celtique 5, 197 ff.), welches ganz klar eine Nachahmung
der »Jugendthaten des Güchulinn« ist {Macgnimrada Conculaind LU.
59 a, 6ff. = LL. 62 a, 19 ff.), also erst aus der Zeit stammen kann,
in welcher die Gestalten des älteren Sagenkreises, vor allem Gü-
chulinn, durch den jüngeren Ossiansagenskreis aus der Phantasie
des irischen Volkes verdrängt wurden, resp. viele von ihnen erzähl-
ten Dinge auf die Helden des Ossiansagenkreises übertragen wur-
den. Es scheint mir nicht schwer, die Zeit einigermaßen zu be-
stimmen, in welcher diese große Revolution in der bis auf den heu-
tigen Tag die Stoffe der Heldensage mit Liebe pflegenden irischen
Volksseele sich vollzog. Ein Vergleich des Inhalts der großen Sa-
geuhandschriften des 12. Jahrhunderts mit denen des 15. Jahrhun-
derts ist lehrreich. Vom Lebor na Huidre (um 1100 geschrieben)
sind 134 Seiten erhalten; auf die Stoffe des älteren Sagenkreises
(Güchulinn, Gonchobar) kommen davon ungefähr 58 Seiten, auf die
des Ossiansagenkreises 4 resp. 6 Seiten und einGitat (LU. IIb, 22 ff.).
Im Book of Leinster (geschrieben um 1150) hat sich das Verhältnis
schon zu Gunsten des Ossiansagenkreises etwas verschoben : es über-
wiegt zwar der ältere noch bei Weitem, indem mehr als 100 Seiten
dieser Handschrift mit Erzählungen aus ihm gefüllt sind, aber die Zahl
der meist kurzen Stücke (Gedichte) aus dem Ossiansagenkreis steigt
doch auf etwa 25 (gegen 4 oder 5 in LU.)^). Wie ganz anders
sind die Handschriften des 15. Jahrhunderts Laud. 610, Rawl. B. 487
und Book of Lismore: in ihnen ist das Verhältnis gerade das um-
1) Ganz dasselbe Verhältnis, welches LU. und LL. hinsichtlich der Vertre-
tong der Stoffe des Heroen- und des Ossian-Sagenkreises bieten, ergibt sich, wenn
man die 187 Titel des Sachkatalogs in LL. oder die des zweiten Katalogs prüft.
Gerade der Umstand, daß in diesem allgemeinen Gesichtspunkt kein Unterschied
zwischen dem LL-Sachkatalog und dem Rawl-Sachkatalog besteht, spricht mit
dafür, daft letzterer, obwohl er erst in Handschriften des 15. und 16. Jahrh.
Torliegt, thats&chlich das durch die Erz&hlung vorausgesetzte Alter hat (Ende
des 10. Jahrb.).
14 •
188 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 6.
gekehrte wie in LU. und LL. Dazu kommen zwei wichtige That-
sachen. Lü. and LL. haben grofie umfangreiche epische
Erzählungen aus dem älteren Sagenkreis; das Wenige,
was sie aus dem Ossiansagenkreis bieten, sind kurze Epi«
soden, Scenen, Gedichte. In den Handschriften des lö.Jahr-
hunderts haben diese Episoden ihren Rahmen gefunden: in ihnen
liegen umfangreiche Erzählungen aus dem Ossiansagenkreis. Dies
die eine Beobachtung, und die andere ist die: die Sprache, in der
die großen Texte des älteren Sagenkreises in LU. und LL. vorlie-
gen, selbst in jüngeren Handschriften wie Rawl. B. 512, verrät bei
den meisten Texten deutlich, daß es sich um Umschriften von Tex-
ten handelt, deren Aufzeichnung sicher ins 8. und 9. Jahrb., wenu
nicht früher zurückgeht; die Sprache aber, in der die umfangreichen
Prosatexte des Ossiansagenkreises in Laud. 610, Rawl. B. 487
und Book of Lismore vorliegen, ist sicher keine hundert Jahr älter
als die Handschrift selbst, ist das Mittelirische (Neuirische) des 14.
und 15. Jahrhunderts.
Ich glaube wir dürfen aus den mehr angedeuteten wie ausge-
führten Gründen behaupten: um 1100 und im 12. Jahrhundert stan-
den in den litterarisc hen Kreisen Irlands noch die Stoffe des
älteren Sagenkreises im Vordergrunde des Interesses; um die Mitte
des 15. Jahrb. nahmen die Stoffe des Ossiansagenkreises diese Stelle
ein. Es wird daher im 13. und 14. Jahrhundert das allmähliche
Vordringen der Stoffe der älteren Heldensage in diesen Kreisen ein-
getreten sein, was zur Voraussetzung hat, daß dieser Proceß im
Volke zu dieser Zeit schon wesentlich zum Abschluß gekom*
men war. Wo daher von da an noch Handschriften mit Stoffen
des älteren Sagenkreises vorkommen, da sind sie, und zwar je spä-
ter sie sind um so mehr, lediglich das Produkt antiquarischen Inter-
esses, ein Zeugnis für das Studium und die Pflege irischen Alter-
tums; heutigen Tags ist ja fast Alles, was von Sagenelementen im
irischen Volke lebendig ist, in den Kreis der Ossiansage hineinge-
zogen. Den Beginn der Bewegung werden wir nach dem Bemerk-
ten wohl ins 12. Jahrhundert zu setzen haben.
Gerade wegen dieser Entwicklung des Ossiansagenkreises wer-
den wir uns hüten müssen das Bild, welches wir in den umfang-
reichen Texten des 15. Jahrhunderts von den hervorragendsten Ge-
stalten desselben empfangen, ohne Weiteres nm einige Jahrhunderte
hinauf zu rücken, etwa auf Finn, Oisin um 1100 zu übertragen.
Diese Gefahr liegt so nahe, weil man mit einiger Sicherheit glaubt
annehmen zu dürfen, daß Gestalten des älteren Sagenkreises wie
Cuchulinn, wie sie in Texten des 12. Jahrb. auftreten, wesentlich so
D'Arbois de Jubainville, Essai d*un catalogue de la litt, ^pique de Flrlande. 189
in der VolkspbantaBie im 8. und 9. Jahrb. lebendig waren. Der
Finn mac Cnmail, wie er in den Macgnitnartha, in Äcollatn na setuh
rachy in Cath Finntragha, in den TesmoUa Cormaic ui Cuinn auf-
tritt, darf vor der Hand bloß der Finn des 15. (oder 14. Jahrh.)
Bein, ebenso wie der Fingal Maepbersons nicht wegen der Namens-
identität mit seinem Than und Lassen ins 15. oder gar 12. Jahrh.
darf versetzt werden. Erst wenn eine eingehende Vergleichang ge-
zeigt hat, wie viel alte Sagenzüge des Cachalinnkreises in die ge-
nannten zusammenfassenden Erzählungen des Ossiansagenkreises
verwoben sind ^), können wir von dem üebrigbleibenden rückwärts
schließen. Die Gestalt des Finn mac Gumaill des 15. Jahrh. ist
nun in ganz hervorragendem Maaße im Sinne des alten Ulsterhelden
Cucbttlinn ausgearbeitet. Bei solchen Umgestaltungen kommt es
sehr leicht vor, daß alte gewohnte Züge der neuen Gestalt sehr
schlecht stehn und allerlei Umdeutungen und Interpretationen er-
fahren: etwas Derartiges scheint mir mit Finn mac Gnmail vorge-
gangen zu sein. In den erwähnten Macgnimartha Finn wird
eine Reihe von Begebenheiten gemeldet, die wie die Namensände-
rung Deimne in Finn u. A. sicher Nachbildungen der Enabenthaten
Cuchulinns sind ; dann wird erzählt, wie der junge Finn zu Finns-
ces an die Boine geht, um die Die h tkunst zu lernen, wie er
bei demselben in Besitz prophetischer Gabe gelangt, den Namen
Finn erhält, die drei Dinge lernte, welche einen ße ausmachen und
1) Ich möchte hier aber noch besonders betonen, daB nicht nar eine Beihe
Ton Zügen des Guchalinnsagenkreises auf die Gestalten des Ossiansagenkreises
übertragen ist, wie man schon yerschiedentlich beobachtet hat, sondern daft die
groften Erzählungen des Ossiansagenkreises selbst, wie sie uns in den
Handschriften des 15. Jahrh. entgegentreten, Nachahmungen der Hauptkomposi-
tionen des älteren Sagenkreises sind. So ist die Idee die Helden Ossi an und
Cailte mac Ronain mit Patrik im Leben zusammen zu bringen, wodurch der
Rahmen für Acallam na senorach und jüngere Erzeugnisse gegeben wurde, doch
nur eine Yergröberung der alten Erzählung Siahureharpat Coneulaind (Lü. 113 a ff.)»
wonach Guchulinn dem Patrik leibhaftig auf seinem Streitwagen er-
scheint, und wie in der alten Erzählung der leibhaftig erschienene Cuchuünn
aufgefordert seine und seiner Genossen Thaten erzählt (Lü. 114 a, 87— 116 a, 26),
so Ossian und Cailte die Thaten der Fenier. Der zweite Haupttezt Cath Finn"
tragha ist als Komposition der Tain 55 CSalnge nachgeahmt: dort zieht die
ganze Welt gegen Irland, hier ganz Irland gegen Ulster ; dort zahlreiche Kämpfe
am Strand, hier die zahlreichen Kämpfe Cuchulinns an der Forth ; dort die Sen-
dung um Hülfe an Cormac, hier die Sendung Sualtams zu Conchobar (LL. 93 a, 81 ff.)
um Ersatz; beidemal ist die Sendung momentan erfolglos; in beiden Fällen
Heranziehen der Hülfe und entscheidende Schlacht. DaB die Macgnimartha Finn
endlich den Magnimrada Conculainn nachgebildet sind, als Ganzes sowie in vie-
len Einzelheiten liegt auf der Hand.
190 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 5.
als Meisterstück ein Gedicht verfertigte. Dies Gedicht bebaD-
delt wie dasjenige in Bawl. B. 502 das Erwachen der
gesamten Natnr im FrUbsommer, es ist in demselben
Metram abgefaßt und zeigt vielfache Anklänge, wie
der hier folgende Anfang zeigt:
Cäiemain cain ree rosair and cucJU
canait luin laid lain diambeüh laigaig ann.
Gairid cai cruaid dean is fochen samh sair
Suidig sine serb imme cerb caill craib.
Schon O'Donovan fiel der Umstand auf (Ossianic Society 4, 302
Anm.), daß kurz hinter einander zwei total verschiedene Be-
richte darüber folgen, wie der junge Deimne zum Namen Finn kam.
Haben wir den ersteren nun als eine Nachahmung der Guchulinn-
geschichte erkannt, so bleibt der zweite als der der Finnsage eigen-
tümliche. Er liefert uns den Schlüssel zu einer älteren Vorstellung
von Finn als der im 15. Jahrhundert geläufigen, und diese durch
die Guchulinnsage noch nicht beeinflußte ältere Vorstellung denkt
sich Finn als einen vollen deten /SZa, (Dichter), stimmt
also zu dem, was um 300 Jahre und mehr ältere Handschriften uns
thatsächlich lehren.
Wir wenden uns wieder den Oxforder Handschriften zu. Laud
610 ist eine irische Handschrift des 15. Jahrhunderts. Sie ist zuerst
eingehender beschrieben und analysiert von Todd in den Proceedings
of the Boyal Irish Academy für 1842—1843 S. 336—345; der so-
genannte Katalog von H. E. Goxe (Oxford 1858) ist nur eine Wie-
dergabe dieser Analyse, und Herrn D'Arbois Beschreibung (S. XXXVI
— XXXIX) sowie die gegebenen Titel faßen auf letzterer: Die Irr-
tümer der Toddschen Arbeit liegen also in dem Werk des Herrn
D'Arbois in dritter Auflage vor.
Bei Todd heißt es nun in der Beschreibang der Handschrift
(Proceedings of the R. J. A. 1842-1843, S. 345): fol. 122 A very
important tract which appears from the handwriting to be much
more ancient than any other part of the volume, containing the de-
rivation of names, local traditions and other remarkable circum-
stances of the hills, mountains, rivers, caves and monumental re-
mains in Ireland, more especially such as relate to the deeds
of Finn mac Cui&ail and his heroes. There is an imperfect
copy of this tract in the book of Lismore. — fol. 127 a a Finian
tale entitled the Elopement of the Daughter of the King of Munster
with Oisin. — The remainder of the volume is occupied with
a series of these tales, which are of great interest and im-
D'Arbois de Jubainville, Essai d'un catalogue de la litt, ^piqae de I'Irlande. 191
portance. Mauy modern copies of them on paper are preserved ,
especially in the valuable collection of Hodges and Smith; but with
the exception of the fragment in the book of Lismore, the p r e-
sentYolume is the only vellomMS. ofsuchtales whose
existense is knownc Der gedruckte Katalog wiederholt diese
Worte mit einigen Ettrzangen. Herr D'Arbois endlich, nachdem er
an der Hand des Katalogs bemerkt, daß von fol. 118—121 die Re-
vue Gelt. 5, 197 abgedruckten macgnimartha Finn stehn, fährt fort:
»Le reste du volume [d. h. von fol. 122 an], qui se termine au
fol. 146, est occup6 par des histoires ossianiques. II est tris
important pour F^tude du d6velloppement de ce cycle, qui a pris
trös tardivement sa forme däfinitivec. Wie man sieht, Excerpt und
wörtliche Uebersetzung!
Welchen Gebrauch macht nun Herr D'Arbois in seinem Cata-
logue de la litt6rature ipique de Tlrlande von diesen 50 Folioseiten,
also mehr als dem sechsten Teil der ganzen Handschrift, die er >trös
importantc nennt fttr das Studium des Ossiansagenkreises ? Sie exi-
stieren fttr ihn nicht, weil ihm der Katalog keinen
Titel zum Abschreiben bietet. Unglaublich, aber wahr.
Man beachte noch: 1) Todd gibt in der von Herrn D'Arbois ausge-
schriebenen Analyse der Handschrift ausdrücklich an, daß many
modern copies of them on papers are preserved, especially
in the valuable collection of Hadges and Smith; 2) diese valuable
collection of Hodges and Smith ist jetzt in der Royal Irish Academy
und diese modernen, zum Teil aus dem 19. Jahrb. stammenden Pa-
pierhandschriften sind durch O'Curry katalogisiert ; 3) Herr D'Arbois
schreibt diesen Katalog O'Currys aus und liefert, wie wir oben S. 157
sahen, zahlreiche wertlose Belege aus modernen Handschriften ; 4)
Herr D'Arbois hat nach seinen eigenen Angaben (S. XI) Oxford
nach den irischen Bibliotheken besucht, hatte also alle Excerpte aus
den Katalogen O'Currys — und der Mann hat es nicht der
Mtthe wert gehalten oder war nicht fähig zu konsta-
tieren, ob etwas und was von den notierten Produkten aus Hand-
schriften des 19. Jahrb. in der Pergamenthandschrift des 15. belegt
sei Die Erklärung liegt darin, daß Herr D'Arbois in Wirklichkeit
auch nicht weiß, was in den modernen Dubliner Handschriften steht,
sondern nur Titel abgeschrieben hat.
Wie groß das Körnchen Wahrheit ist, welches in Todds An-
gaben ttber fol. 122—146 von Laud 610 steckt, kann man leicht aus
nachfolgenden näheren Mitteilungen ersehen. Fol. 122 ist von fol.
123—146 durch Pergament, Tinte und Schrift geschieden, wie tlber-
hanpt in Laud 610 Bruchstticke zweier wesentlich gleichaltriger
192 Gott. gel. Aaz. 1887. Nr. 5.
Handschriften von demselben Format vereinigt sind: fol. 122
gehQrt nun anf Grund der äußeren Indicien (Pergament, Scbrift,
Tinte) unbedingt mit den vorhergehenden Blättern zusammen und
ergibt sich inhaltlich als Fortsetzung einer fol. 121 b, 1 in direktem
Anschluß an das Fragment der Macgnimatha Finn folgenden Er-
zählung ans dem Ossiansagenkreis. Dieselbe ist ohne Uebersobrift,
hat aber Egerton 1782 fol. 24 b, 2 den Titel Temholta Corbmic ui
Cuinn 7 aighed Finn mic Cumaül Dies ist schon von Kuno Meyer
in der Revue Celt. 6, 190 bemerkt. Der Text fehlt vollständig bei
Herrn D'Arbois. Im Anschluß an dieses Aided Finn, welches fol.
122 by 2 Mitte schließt, folgt dann der Anfang einer Finnerzählung
beginnend Artoidhecht airsaigheckta do Fhinn hua Baiscne] nach
wenigen Zeilen endet fol. 122 und damit brechen die Fragmente des
einen Manuskripts ab.
Fol. 123 — 146 gehören unstreitig einer anderen Handschrift an,
aus der z. B. auch die Blätter 59 — 72 stammen, welche den Feiire
enthalten. Als ich die Handschrift Laud. 610 zum ersten Mal zu
Gesicht bekam (1878), da hatte ich sofort den Eindruck, daß uns
in den Blättern 59 ff. und 123 ff. Fragmente einer Handschrift vor-
liegen, welche von dem Schreiber des Lebar Brecc geschrieben ist
Auch bei wiederholtem Gebrauch der Handschrift 1885 ist mir der
Eindruck geblieben. Ist diese Beobachtung richtig, dann ergäbe
sich daraus, daß die genannten Teile von Laud um 50 Jahre älter
sind als die Handschrift, aus welcher fol. 93— 122 und andere Teile
stammen (geschrieben 1453. 1454 cf. fol. 58 b, 2). Inhaltlich nun
repräsentieren fol. 123^146 nicht verschiedene Erzählungen aus
dem Ossiansagenkreis wie Todd angibt, sondern sie bieten die
am Anfang und Ende durch Verlust von Blättern et-
was verstümmelte älteste Ueberlieferung des oft ge-
nannten Textes Acallam na senorach. Der Anfang fer Muman
andes entspricht Bawl. B. 487, fol. 23 b, 2 Zeile 18 von oben und
Franciscan Convent fol. 31b, Zeile 1. In Betracht kommen fttr die-
sen umfangreichsten irischen Sagentext nur 4 Handschriften: Laud.
610, fol. 123—146, Rawl. B. 487, fol. 12—52, Book of Lismore fol.
201—240, Franciscan Convent No. 12, S. 1—83. Von diesen ist
nur die an letzter Stelle genannte Handschrift in sich vollständig;
keine jedoch enthält den ganzen Text und nicht ein-
mal aus allen 4 Handschriften läßt sich ein solcher
gewinnen: In Land 610 fehlen im Anfang wohl 12 Blätter, denn
zwischen fol. 123 und 124 sowie zwischen 129 und 130 je ein
Blatt, endlich Schluß (1 Blatt?); in Rawl. B. 487 ist fol. 12a un-
leserlich, zwischen fol 12 und 13 fehlt ein Blatt, ebenso zwischen
D'Arbois de JubainvUie, Essai d'un catalogue de la litt, dpique de Flrlande. 193
16 nnd 17« zwiBchen fol. 20 nnd 21 feblen zwei Blätter, zwisohen
fol. 38 and 39 fehlt ein Blatt, endlich eadigt fol. 52b = Laad. 610,
fol. 141a, 1, 80 daß also das gesamte Material in Land. 610 fol.
141a, 1-146 in Raw. B. 487 fehlt; Franciscan Convent No. 12
geht etwas weiter wie Rawl. B. 487, aber nicht soweit wie Land
610, sondern nur bis fol. 145 a, 2; nur Book of Lismore geht um
eine halbe Spalte weiter als Laud 610, welche Handschrift fol. 240b, 2
Mitte des Book of Lismore endigt, wogegen in letzterem allerdings
zwischen fol. 239 und 240 ein Blatt fehlt. Wir sind also, abgesehen
von dem fehlenden Schloß, in dem nicht viel verloren sein kann,
im Stande einen Text aafzabauen, der sich für weite Strecken auf
4 Handschriften stützt, für kürzere auf 3 respektive 2, für eine
kürze Strecke (das in Book of Lismore zwischen fol. 239 und 240
Fehlende) auf Laud 610 nnd für eine halbe Spalte auf Book of
Lismore allein.
Der in Rede stehende Text ist eine Rahmenerzählung. Die
Idee, Ossian und Cailte, die der Vernichtungsschlacht von Oabair
entronnenen Fenierführer, als alte Recken mit dem 200 Jahre jün-
geren Patrik zusammen zu bringen, liefert den Rahmen zu einer
Sammlung von gegen 100 Einzelerzählungen. Gemeinsam und ein»
zeln durchziehen Cailte und Ossian mit Patrik und seiner Beglei-
tung Irland: jeder Hügel, jeder Wald, jeder See, jeder Wasserfall,
jeder Bach hat im Munde des Volkes seine Oeschichte und diese
Geschichten werden Cailte oder Ossian den Alten in den Mund ge-
legt. Fast alle Ereignisse stehn mit Finn und den Thaten der Fe-
nier in Beziehung. Es ist begreiflich, daß viele dieser Erzählungen
auch außerhalb des rein äußerlichen Rahmens vorkommen, und so
sind in der That manche der in jungen Handschriften vorliegenden
Erzählungen des Ossiansagenkreises mit Einzelerzählungen in Acailam
identisch. Um einen Begriff von dem Umfang dieser Rahmener-
zählung zu gebeU; erwähne ich, daß meine Zusammenstellung eines
fortlaufenden Textes auf Grund der genannten 4 Handschriften allein
501 enggeschriehene Quartseiten umfaßt, ohne die Collationen.
Ich glaube genügendes Material zum Beweis meiner beiden S. 165
aufgestellten Behauptungen beigebracht zu haben. Hat aber Herr
lyArbois nur Titel ans Katalogen excerpiert, so liegt es auf der
Hand, daß er von dem Inhalt noch nicht publicierter epischer
Texte nur soweit eine Ahnung haben kann, als sich derselbe aus
den benutzten Katalogen oder Analysen O'Cnrrys und anderer in
den allgemein zugänglichen Hilfsmitteln ersehen läßt. Welche Feh*
194 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 5.
1er daraus eDtspriDgen müssen, darauf habe ieh Seite 1 55 hingedeu-
tet. Ich greife einen Beleg heraus.
S. 236 wird der Text Tochondod nan Desi o Themraig aufge-
führt und mit 2 Handschriften belegt (LU. und Laud 610).
S. 253 findet sich ein Text Tacaü caecJUa Cormaic, er wird mit
H. 2. 15 T. C. D. belegt
S. 90 endlich wird Coecad Cormaic i Temraig mit H. 3. 17
T. G. D. belegt. Herr D'Arbois verweist unter Ti4caü caechtä auf
Coecad Cormaic und umgekehrt, wohl weil in beiden Titeln coecad
Cormaic vorkommt. Beide Texte sind nicht nur nnter sich, sondern
auch mit TocJiomlod nan Desi identisch und zu den 4 Handschriften
des einen Textes kommt noch Rawl. B. 502 fol. 72a, 2 (s. oben
S. 184) und zwar als Zweitälteste.
Daß Herr D'Arbois sich in diesem und vielen anderen Fällen
geriert, als ob er wirklich wisse, was hinter den Titeln stecke, wird
man nicht auffallend finden: das gehört zur übernommenen Rolle.
Selbst der harmloseste wird sich nach den vorausgegangenen Erör-
terungen dadurch nicht täuschen lassen, um so weniger als ich schon
oben S. 160 Gelegenheit hatte zu zeigen, daß Herr D'Arbois von
dem Inhalt eines der wichtigsten und umfangreichsten
Texte des älteren Sagenkreises keine Ahnung hat,
trotzdem derselbe in Facsimile und einer von Analyse
und Wörterbuch begleiteten Ausgabe vorliegt. Die Be-
lege für diese Thatsachen lassen sich häufen.
Seite 156 lesen wir ^Imtheacht na Tromdhaimhe aventures de
la lourde compagnie. Cycle deConchobar et Güchulinn«.
Dann folgt die Aufzählung der Handschriften und daran schließen
sich die oben S. 179 angeführten weiteren Erläuterungen, wonach
Herrn D'Arbois die 1857 erschienene Ausgabe mit englischer lieber-
Setzung bekannt ist. Als Hauptpersonen der Handlung treten
in dem Text auf der bei Golum Gilles Tode (597 p. G.) noch lebende
Dallän Forgaill, sein Nachfolger in der Würde eines Ollam der be-
kannte Seuchän Torpeist und König Guaire, welcher zwischen 622
und 662 in den Annalen auftritt: die Geschichte spielt um 630 am
Hofe Guaires im christianisierten Irland und die bekanntesten Hei-
ligen Irlands des 6. und 7. Jahrb. treten auf und der Text soll zum
Gonchobar- und Güchulinnsagenkreis gehören! Wie Herr D'Arbois
zu dem Unsinn kam, ist klar. In dem Text wird gegen Schluß
erzählt, daß dem Senchän Torpeist und den um ihn versammel-
ten Barden als Strafe ftlr ihren Uebermut von Marbän dem Bru-
der König Guaires aufgegeben wurde, eine vollständige Ver-
sion der Erzählung Tain bö Cualnge herbeizuschaffen, was ihnen
D'Arbois de Jabainville, Essai d*im catalogue de la litt, dpique de Tlrlande. 195
aacb entgiltig gelingt Es ist erklärlich, daß in den verschiedenen
Bezugnahmen O'Cnrrys anf Imthecht na tromdaime dieses Kapitel in
den Vordergrund tritt eben wegen der in ihm enthaltenen litterar-
historischen Nachricht. Nehmen wir nan an : Herr D'Ärbois hat den
seit 1857 mit Uebersetzang vorliegenden Text nicht gelesen, er hat
sich ans O'Gurrys Analysen ein falsches Bild von dem Inhalt des
Textes gebildet, in der Flüchtigkeit confandiert er »Erzählang von
dem Wiederanffinden einer vollständigen Version der Erzählang
Tain hö Cudlngey also einer Erzählung des älteren Sagenkreisesc
mit »Erzählung des älteren Sagenkreisesc — so ist begreiflich, wie
er dazu kam, die Erzählung einer Begebenheit des 7. Jahrb. dem
Gücbnlinnsagenkreis zuzuweisen.
Einen weiteren Beweis, daß Herr D'Arbois den in Rede stehen-
den Text nicht gelesen hat, geben die erläuternden Worte, die er
ihm S. 157 widmet: ^Uimtheacht na Tromdhainihe est un d6ve-
loppement dela pi6ce plus courte intitul6e Fallsigad Tana bo
Cualnge d6converte de Tepopee connue sous le nom TaTn bo Cudlnge^.
Dementsprechend hat er S. 128 einen Titel Fallsigad Tana bo Cualnge
belegt durch LL. 245 und knttpft daran die erläuternde Bemerkung :
»La composition InUheacht na Tromdhaimke en est un döveloppe-
mentc. Hiermit beweist er nebenbei, daß er auch diesen Text
wesentlich nur aus den Bemerkungen O'Gurrys Manuscript Materials
S. 29 — 30 kennt. Wer nämlich den Inhalt von Imthecht na trom-
daime näher kennt und dies Stück Fallsigud Tana bö Cuainge LL.
245b liest, sieht sofort, daß letzteres nur ein Kapitel aus
der Erzählung Imthecht na tromdaime i s t und zwar eben das-
jenige Kapitel, in welchem erzählt wird, wie es dem Senchän und
seinen Barden gelang, in den Besitz einer vollständigen Täinversion
zu gelangen. Schon der Anfang concomgartha tra fölid Brenn »es
wurden nun zusammengerufen die Dichter Irlands (LL. 245b, 2)
zeigt, daß es sich um einen Ausschnitt aus einer Erzählung han-
deln muß. Freilich, die Recension von Imthecht na tromdaime^ aus
der LL. 245 b, 1 — 29 ein Kapitel repräsentiert, muß von der uns er-
haltenen und edierten in manchen Punkten abgewichen sein. In
dem Glossar Cormacs liegt ein anderes Kapitel aus Imthecht na
tromdaime unter dem Worte priül vor, wie schon O'Gurry Manners
and Customs II, 89 sah, das uns für Ende des 9. Jahrb. das Vor-
handensein des Textes bezeugt und zwar in einer von kirchlichen
Tendenzen weniger beeinflußten Redaktion als die uns aus dem 15.
Jahrh. erhaltene. Da nun gerade die Abweichung des Kapitels LL.
245 b, 1—29 von dem entsprechenden in der erhaltenen Recension
darauf beruht, daß es von den dort zu Tage tretenden kirchlichen
Einflössen frei ist^ so werden vriir eben in LL. 245 b, 1—29 ein
196 Gfitt. gel. Anx. 1887. Nr. 5.
weiteres Zeugnis für die ältere, profane Kecension von Imthecht na
trotndaime betrachten dürfen.
Durch das Erscheinen der Facsimile von Lebor na hUidre
(Dublin 1870) und Brook of Leinster (Dublin 1880) ist Jeder in die
gtlnstige Lage versetzt, die wichtigsten und umfangreichsten Texte
des älteren Sagenkreises an den ältesten Quellen studieren zu kön-
nen. Man sollte doch meinen, daß Jemand, der den Versuch macht
einen Katalog der epischen Stoffe Irlands zusammen zu stellen, we-
nigstens dasjenige von epischen Stoffen gelesen hat, was in diesen
Facsimiles Allen zugänglich ist. Fttr Herrn D'Arbois existieren
diese beiden Handschriftenfaksimile nur, um ans den beigegebenen
Inhaltsverzeichnissen Titel auszuschreiben und Analysen zu plün-
dern. Wo eine auf Lektüre gegründete Kenntnis eines Textes aas
diesen Faksimiles erforderlich ist, da hört Herrn D'Arbois Weisheit
anf. Nicht einmal die in beiden Handschriften, Lü. und
LL., enthaltene berühmteste irische Erzählung der Hel-
densage Tain bö Gücdnge^ die nationaler Stolz der Ilias oder den
Nibelungen gleichstellt, hat er gelesen, wie sich nachweisen läßt.
Schon in den beiden ältesten Handschriften führen Einzelepisoden
dieses Epos besondere Titel; die in LL. vorkommenden Titel hat
O'Looney in den Proceedings of the Royal Irish Academy 1879,
Band I p. 242 ff. gesammelt. Der jüngere der beiden Eingangs
erwähnten alten Sachkataloge zählt neben Tain bö Cualnge in an-
derem Zusammenhang Titel von Texten auf, die nur Einzelepisoden
dieses Epos sein können. Jüngere Handschriften endlich bieten that-
sächlich solche aus dem Zusammenhang gerissene Einzelerzählungen.
Herr D'Arbois nimmt natürlich sämtliche Titel des jüngeren Kata-
logs in sein alphabetisches Verzeichnis, daher auch die von Einzel-
episoden der Tain bö Cualngi. Alle Einzelepisoden dieses Epos nun,
welche sich auf Grund von 0*Looneys Zusammenstellung oder in
Folge ihres selbständigen Auftretens in den excerpierten Katalogen
als Teile der Tain bö Cualnge verifizieren lassen, weist Herr D'Ar-
bois thatsächlich als solche nach. Wo aber die beiden Krücken
fehlen und bloß Kenntnis der Täin weiter helfen konnte , da heißt
es »cette pi6ce paratt perdue«! selbst wenn es sich um eine der be-
kanntesten Episoden handelt. So stehn gleich im Anfang des jün-
geren Katalogs (S. 260) folgende Titel hinter einander: 1. caUUhgleo
Cethirny 2. mellgleo nlliachy 3. fiacalgleo Fintain, 4. airecar narad^
5. brisleach muige Murthemni, 6. imslige Glendamnach^ 7. cath For-
gairig ocus Irgairig^ 8. aus in Duib Chuaingi diatir, 9. damgäl ina
tarb M tarbgae, 10. tochustal nJJlad. Wer die Tain bö Cualnge ge-
lesen hat, sieht sofort, daß es sich um .bekannte Episoden dieses
Epos bandelt. Herr D'Arbois weist auch an den betreffenden Stellen
D'Arbois de Jubainville, Essai d^un catalogue de la litt, epique de Hrlande. 197
seines Katalogs die obigen Nammern 1 — 5^ sowie 8 — 10 richtig nach ;
fbr 6 and 7 lassen ihn O'Looney und Eatalogexcerpte im Stich und
da finden wir : S. 69 » Cath forgairid acus Irgairig. Liste B. C e 1 1 e
pi^ce paratt perduec; S. 157 *imslige Olenn Amnaig Marche
de Olenn Amnach. Liste B. La localite dont il est question ici
paratt etre celle dont le nom est ^crit Glennamhnach , par O'Dono-
van, Annais I, 85 sous i'an du monde 4981. II y aurait eu* en ce
lieu, ä cette date, une bataille; mais la piöce dont il s'agit ici
paratt perdue«. Unter bristech inor maige Murthentnej also Num-
mer 5 in obiger Reihe, bemerkt er richtig (S. 47): G'est une section
du Tain bö Cnalnge und gibt richtig LU. p. 77 col. 2 und LL. p. 75,
col. 2. Hätte er nun diese Citate nachgeschlagen und sich die
9 section du Tain« angesehen, so wttrde er gefunden haben, daß die-
selbe zum Schluß erzählt, wie Ouehnlinn so mordete, daß die Oe-
fallenen immer zu sechs auf dem Schlachtfeld lagen (die Nacken
dreier gegen die Fußsohlen dreier), und daß daher die Episode auch
den Namen sesrech (Sechsheit) breslige führe: 7 issed ires ndfrime
natana ./• sessrech breslige 7 imslige Glennamnach 7 incath
forgarig-l ir garig (LU. 80b, 21 = LL. 78a, 51), d. h. und
dies ist die dritte Unzäblbarkeit der Täin, nämlich Sessrech breslige
und [die beiden andern sind] imslige Olennamnach und caih forgOrig
0CU8 irgarig,
Imslige Glendamnaeh wird noch LU. 73 a, 17 als eine Täin-
episode erwähnt und findet sich LL. 92 a, 1—44 (cf. 24) erzählt
Caih Fargarig 7 Irgarig wird noch erwähnt LL. 95 a, 38. 44. 51;
102b, 11; 103a, 23. 107a, 15 und ist die Bezeichnung der
entscheidenden Schlacht in derTäin, LL. 101 b, 4— 103 b,
18 erzählt. Der Ort, wo die Schlacht stattfand wird LL. 95 a, 41.46.
96 a, 54 ff. anchiSfemam Mide genannt, in Folge dessen gibt O'Looney
1. I. als Episode der Täin an cath na tana a Slimain Mide. Es ist
also Caßi Forgarig 7 Irgarig und Cath na täna i Slemain Mide Be-
zeichnung derselben Episode; ersteres ist die Bezeichnung der
Handschrift, letzteres die OXooneys; unter ersterem Titel sagt Herr
D'Arbois »Cette piöce paratt perdue« (S. 69) unter letzterem (S. 83)
bemerkt er weise »section du Tainc und gibt sogar LL. 95—103
als maiiBScrit an! O'Looney wird natürlich in gewohnter Ehrlichkeit
yerschwiegen. Daftlr erhalten wir ein »cf. Tochim inna mbuden
iSlemain* ; sieht man an alphabetischer Stelle nach, so erfahren wir
(S» 224), daß dies ebenfalls ein Titel der jüngeren Liste ist, im
Uebrigea aber >cf. caih na tana i Slemain Jtfidß«, d. h. Herr D'Ar-
bois weiß nichts mit dem Titel anzufangen, vermutet aber wegen
iSkmain Beziehungen. Es ist dies die Bezeichnung eines der Schlacht
yorausgebenden Abschnittes und muß nach LL. 97 a, 3 dem Ab-
lc SelbstbezeichnuDg Jesu als des Menschen Sohn.
199
• -■ " ! ' ' ' IV*
des Lesers bleibe die Entscheidung darüber vorbe-
'harakteristiscbe des besprochenen Werkes ist: die
'retende Unehrlichkeit oder die Unfähigkeit oder die
'»s Herrn D'Ärbois.
H. Zimmer.
w ^
iftA^Hs' A "
Die Selbstbezeichnung Jesu als des Menschen
h, Höhr 1886. 23 S. ^^
abgefahren zur Hölle. Eine Wiedererwägung der Schrift-
tr. 3, 18—22 und Kap. 4, vers 6. Zarich, Höhr 1886. 58 S. 8^
-;^
fjT«-
'isser dieser beiden Abhandlungen hat sich um die Re-
schichte anerkannte Verdienste erworben. Auch hier
vielseitige Belesenbeit, grofie Zuverlässigkeit und be-
ist der Forschung. Von Druckfehlern abgesehen wüßte
Namen des Clemens-Herausgebers (S. 27. 55. 57) Pott
\ verbessern. Die Sprache ist nicht sehr durchsichtig;
e und schwerfällig gebaute Sätze erlegen dem Leser un-
i Anstrengung auf. Doch gebe ich der zweiten Schrift
Qsicht den Vorzug. Die erste will den Sinn der Selbst-
Jesu als »Menschensohn« feststellen — denn daß die-
Jesum selber zurückgeht, behauptet der Verf. mit Recht —
.ieht dahin, daß Jesus mit dem allerdings unter dem Ein-
Daniel c. 7 gewählten Namen nicht seine göttliche oder
.'he Natur, sondern seinen einzigartigen Beruf habe be-
I wollen, in »tiefsinniger Hinweisung auf die geschicht-
ü^inpflanzung des Heils in die Menschheit«. Jesus
; dabei an seinen eigentumlichen Beruf, wie er
durch seine Menschwerdung (!) bestimmte«. Da
J. doch mit Vorstellungen rechnen, welche der kirchlichen Dog-
entlehnt eine streng historische Beantwortung der Frage kaum
iten, ebenso wenn es S. 18 vom geschichtlichen Menscbensohn
, daß »er als sUndlos schon von oben gekommen war«. Der
iiualfehler scheint mir indessen, daß der Verf. unbedenklich in
in überlieferten Wort (auch denen des 4. Evangeliums), wo der
.ischensohn« erwähnt wird, ein authentisches Wort Jesu sieht, als ob
t die Evangelisten diesen Titel weggelassen haben könnten, wo
rsprünglich stand und eingeschoben, wo ihn ein anderer vertrat.
st die Auslegung des Unkrautgleichnisses Mt. 13, 37 ff. behau-
i\v wie ein Stenogramm einer Rede Jesu, während sie sicher das
k eines Späteren ist, und wenn man schon da viel mehr Vor-
wünschte, so ist dies vollends der Fall, wenn Usteri »die An-
!iiDg des Namens „Menscbensohn'^ in allen charakteristischen
eu sich erklären« will, wenn er »in jenen Prädikaten«, welche
.dwo mit dem Subjekt »Menschensohn« verbunden sind, eine
'rhe und umfassende Charakteristik des Sinnes, in dem Jesus
es Menschen Sohn nannte, entdeckt und aufzeigt. Wenn Mt. 12, 8
rt: des Menschen Sohn ist Herr auch des Sabbaths, so macht
■ aus : Jesus ist Herr über den Sabbath »in seiner Eigenschaft
ier Sohn des Menschen, der frei ist und frei macht u. s. w.,
'.c. 6,22 diejenigen selig heißen, welche sich um des Menschen
willen schmähen lassen, so erklärt U.: »Nur ein hoher Name
200 Göt(. gel. Adz. 1887. Nr. 6.
kann, indem er Schmach bringt, beseligend sein«. Aber wären jene
iSätze Mt. 12 und Lc. 6 weniger richtig, wenn statt Menschensobn
Christas dastände? Den Unterschied zwischen analytischen and syn-
thetischen Urteilen hat Usteri wohl dem Leser einmal ins Gedächtnis
zarückgerafen, aber nicht sich: darum mögen seine Resultate das
Selbstbewußtsein Jesu überhaupt trefifend umschreiben, das ihn zur
Wahl des Namens Menschensohn treibende Bewußtsein umschreiben
sie nicht. Und auch das Erstere muß ich bestreiten ; wenigstens ist
mir ein Jesus mit so dunklen und modern angehauchten Empfindun-
gen über seinen Beruf nicht verständlich.
Die zweite, rein exegetische Schrift hingegen ist ein sehr för-
dernder Beitrag zur Auslegung der katholischen Briefe. I Petr. 3, 17 — 22
unterwirft der Verf. einer gelehrten und eindringenden Untersuchnng,
deren m. E. sicheres Resultat ist, daß der Verf. eine Heilspredigt des
gestorbenen Christus im Hades als den Gedanken von v. 19 konsta-
tiert. Den Zusammenbang weist er gut nach, wie das Beispiel Christi
die Leser ermuntern solle zum Gutesthun bei allem Leiden, da dies
xQetvToy^ d. h. gar segensreich sei; und gewiß lag es dem Briefeteller
nahe bei Christus den Segen des sttndlosen Leidens recht ausgiebig
zu beschreiben. Fast zu reichlich setzt sich U. hier mit seinen Vor-
gängern auseinander; so interessant seine Mitteilungen aus der Ge-
schichte der Exegese sind, führen sie den Leser doch bisweilen in
Gefahr den Faden zu verlieren. Auch über »die dogmatische Situa-
tion« der Lehre von Christi Höllenfahrt handelt er im Schlußabschnitt
S. 53 ff. besonnen, wiewohl ich glaube, man muß jene Idee mit Weiß
für einen Bestandteil schon des ursprünglichen apostolischen x^Qvy/ut
halten: sie ist auf dem Boden der Vorstellung ja eine notwendige
Eonsequenz des Glaubens, daß Gott alle Menschen in Christo
selig machen will. Nur darin kann ich U. wieder nicht beistim-
men, daß I Petr. 4, 6 jede Beziehung auf eine »Hadespredigt Christi
an alle Todten« entbehren soll. Seine Auslegung der vexgoi als der
inzwischen, d. h. vor der Heilsvollendang Gestorbenen, denen bei
ihren Lebzeiten das Evangelium gebracht worden sei, dünkt mich
übermäßig gezwungen, höchst erstaunlich, — da doch der Verf. nach
3, 19 einen Besuch Christi im Todtenreich annimmt und eine Be-
schränkung desselben auf die vornoachischen Geschlechter oder ge-
nauer auf die unbußfertigen Zeitgenossen Noahs direkt undenkbar
ist, vielmehr eine Pflicht der Gerechtigkeit ihn auf alle ysxQoi aus-
zudehnen — und durch nichts begründet, da das erste Glied des Ab-
sichtssatzes in V. 6 auch von U. dem zweiten subordiniert, also
ihm vorausgehend gedacht wird. Nach »Petrus« hatte die Predigt
Christi im Hades den Zweck zu bewirken, daß die dort gefangenen
Geister der Verstorbenen mit ihm in den Himmel aufstiegen, wenn
anch die Leiber noch fortfuhren unter dem Gericht, d. h. in der
Auflösung des Grabes sich zu befinden. »Petrus« liebt scharfe Anti-
thesen, darum hat er den fver-Satz etwas misverständlich gebildet; die
spätere kirchliche Theologie hat ihn ganz richtig verstanden.
Summelsburg b. Berlin. Dr. Jtilicher.
— -
Fftr die Bedftktion Tenntwortlioh : Prof. Dr. BsckUl, Direktor der 0«tt. gel. Ans.,
Assesaor der Königlichen OeeellBdiaft der WiMeneehaften.
Teriag dsr IfüUrich'schm fmioffa-Budüumähmg.
JhMdt d§r DUUnaCickm üni9,'Budidrwim4i (Fr. W. Kaukm),
t-' »H.1.V ,
201
Göttingische
gelehrte Anzeigen
anter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Nr. 6. PfSlö. März 1887.
Preis des Jahrganges : JL 24 (mit den »Nachrichten d. k. G. d. Wiss.« : tÄ 27).
Preis der einzelnen Nummer nach Anzahl der Bogen: der Bogen 60 ^
lohalt : Sehleuther, Fnn Oottached und die bflrgerliehe Komödie. Von Seufftrt -* Budge,
The Book of the Bee. Yon Nwäe. — Oardiner, Hietory of the great ciTÜ war 1642-1649. Vol. I.
Yon Bimn. — TanBehher, Handbnch dor auSbenden Wltterangibmde. Yon Jfiiyer. — Zweinnd-
paehilfiter Jahreeberieht der 8ohleeischen Geeellechaft fb Taterl&ndl«che Knltor. Yon AhiMW. —
B«rger-LeTranlt, Ckitalogae dee Alsatiea de la Biblioih^ne de 0. Berger-LoTranlt. Yon
= EI|Maiehtiger Abdruck von Artikeln dar 69tt. gel. Anzeigen verboten. =
Seblenther, Paul, Frau Gottsched und die bürgerliche Komödie.
Ein Kulturbild aus der Zopfzeit. Berlin, W. Hertz (Bessersche Buchhand-
lung) 1886. Vm und 267 SS. 8^ M. 6.
Die Gottsched verdient eine Biographie. Schienther hat sich
ihrer mit Kenntnis and mit Liebe angenommen. Daß er dabei der
VersQchnng erlag, als Ritter einer Fran gegen ihren Gemahl unge-
recht zu werden, ist in diesem Falle doppelt begreiflich. »Wenn
an Gottsched ttberhanpt etwas zu rühmen ist, so wäre es, nach des
Verf.s Meinung, die Seßhaftigkeit in den Btlchern« S. 22. Das
dttnkt mich stark aufgetragen. Doch es handelt sich hier nicht um
den Wert der Gottschedschen Pläne und Unternehmungen; es han-
delt sich um die Bolle, die er als Ehemann spielt Die gemütlichen
and moralischen Qualitäten -des Ehrgeizigen sind nicht hoch anzu-
gchlagen. Trotzdem, der Tyrann seiner Frau war er nicht, den
Schi, aus ihm macht. Hat er sie bis zur Erschöpfung zur Schrift-
stellerei gezwungen? hat er ihre freiere Entfaltung durch seinen
Regelkram gehemmt? hat er ihr eheliches Glück gestört? Die letzte
Frage ist zu bejahen vop einem ganz bestimmten ZA^onkte an;
man sieht die Wendung in den Briefen der Frau gegen Ende 1756 ;
dahin weist auch das Geständnis vom Jahre 1762: »sechs Jahre
lang unzählige Thränenc (Briefe 3, 167). Vorhenicann ich kein
Zeichen dafür finden, daft sie jene Frage nicht verneint hätte, auch
nicht dalür, daft sie sieb das eheliche Leben wesentlich anders er-
(Mlt. gel. Ans. 1887. Kr. S. 15
202 Gott. gel. Am.. 1887. Nr. 6.
wartet hätte, als Grottsched es gedacht und bereitet hat. Die Ver-
lobung war anf gegenseitige Bewunderung schriftstellerischer Lei-
stungen gegründet; gemeinsame Geistesarbeit war das erwünschte
und erreichte Ziel der Ehe fttr beide. Aus den Briefen der Braut
ist wenig anderes zu lesen, als daft sie ihre höhere Ausbildung vom
Gemahl erwartet Die späteren hinterlassen nicht den Eindruck, als
ob die Schreiberin wider ihren Willen zu arbeiten gezwungen wor*
den sei; sie hatte selbst das Bedürfnis nach immer neuer Thätigkeit,
und wenn sie einmal, da sie schon kränkelt, über ihren Platz auf
einer Galeere seufzt, so steht nicht dabei, daß ihr Mann sie daran
geschmiedet. Sie war keineswegs trotz Schi. S. 26 des Ehrgeizes
bar. Sie ward nicht durch persönliche Bescheidenheit vom Eintritte
in gelehrte Gesellschaften abgehalten, sondern weil sie überhaupt
weibliche Beteiligung daran misbilligte. Ihr Wort, vor der Aufoabme
der Ziegler sei ihr die Ehre zu groB gewesen, darnach zu klein,
ist stolz. Und in der Vorrede zur Guardian-Uebersetzung tritt sie
mit Selbstbewußtsein auf. Sie war wirklich nicht »von der Selbst-
liebe, diesem so wesentlichen Stücke der menschlichen Natur, gänz-
lich entblößte, wenn sie auch ebenso gewiß nicht mehr davon be-
saß, als ihr zustand. Ich möchte daraus nur schließen, daß sie eige-
nen Trieb zur Bücherarbeit hatte, und daß es ihr eine Genugthuung
sein mußte und war, an der Seite eines so lehrreichen und so be-
rühmten Mannes zu gehn. Die Bolle, die sie durch ihn, und dann
allerdings auch durch ihren eigenen Wert, in geselligen und littera-
rischen Kreisen spielte, hat Schi, nicht genügend gezeichnet, obwohl
das in einem »Eulturbildc bestimmt zu erwarten war. Sie hat Be-
friedigung darin gefunden, wie ihr die Berührung mit fürstlichen
Personen, in welche sie vornehmlich als Gattin des Herrn Professors
kam, so sehr schmeichelte als ihm.
Man braucht dabei gar nicht zu vergessen, daß sie ein »mun-
terererc Kopf war als ihr Gemahl, der seinen Verstand in sehr strenge
Zucht genommen hatte. Aber sie stellte die etwaigen freieren Re-
gungen desselben in voller Ueberzeugung in d6n Dienst der An-
sichten ihres Mannes, denen sie huldigte, bevor er ihr Bräutigam
war. Hätten sie sich selbständig oder unter anderer Leitung besser
entfaltet, wer vermag es zu behaupten ? Ihre Gedichte vor der Ver-
lobung und vor der Ehe geben dafür keinen Beweis; sie sind wie
ihre damalige Lektüre »ganz nach Gottschedischem Geschmackc
S. 9^ Und wie viele ihrer Briefe, die nicht ausgeschlossen, welche
vor der Heirat liegen, und die nicht, in denen sie sich anf den
Wunsch der befreundeten Adressatin »ohne Gepränge«, ohne zierlich
gemalte Anrede gehn ließ, zeugen denn für ein stärkeres Naturell^
Schlenther, Frau Gottsched und die bürgerliche Komödie. 20S
Ar eine leichtere Beweglichkeit? Wie selten erreicht sie die Be-
wegtheit des Briefes ttber den Tod ihrer Matter? Wie selten die
Leidenschaft der Freundschaft, die z. B. 2, 78 f. einige Funken
sprüht? Die Briefe der Mutter Haguedorn sind so viel natürlicher.
Die Gottsched schreibt ihre Briefe konventionell, wie eine moralische
Wochenschrift. Die Vorrednerin Kunkel stellt sie mit Fug und Recht
auf eine Stufe mit Briefromanen. Es spricht mehr Erziehung aus
ihnen als Natur. Der iadividuelien Ztige, die den Charakter im
kleinen ausmalen, sind wenige. Eine jugendlich bewegte Seele hat
die Schreiberin nicht gehabt oder sie verdeckt sie sorgfältig. Sie
hat ein festes Herz, aber seine Gefühle sind verstandesmäftig ein-
geengt. Sie meint 1, 32 »heftige Gemütsbewegungen lassen sich
wohl empfinden, aber nicht beschreiben«. Sie hilft der Unfähigkeit
des Ausdruckes ihrer Empfindungen durch häufige Gitate von Ver-
sen und Aussprüchen berühmter Männer nach. Für das ruhig ver-
nünftige führt sie eine gewandte Feder; sie spricht überlegt und
einfach; sie huldigt nicht dem Modestyl, »dem falschen Anstrich,
den ausgesuchten, nichts bedeutenden Worten« (1, 102); und sie
besitzt Humor, mehr noch als Witz. Im ganzen aber erheben sich
ihre Briefe nicht viel über die, welche die Runkel von einigen an-
dern am Schlüsse der Sammlung mitteilt
Und wenn die Kulmns-Gottsched nun hier in ihren vertraulich-
sten Aeußerungen und jederzeit keine besonders kräftige und ori-
ginelle Prägung zeigt, womit soll bewiesen werden, dat diese Prä-
gung in ihren Druckwerken durch das Gebot ihres Mannes oder
auch nur durch ihre Befangenheit in seinen Ansichten verwischt
worden sei ? Ueberdies wissen wir ja, daB sie sich durchaus nicht
ganz und gar vom Gemahl einschnüren lieft; sie verehrt Haller, sie
lehnt Voltaire stolz ab, sie verachtet Schönaich u. s. w. Aus solchen
Selbständigkeiten gegenüber den Meinungen ihres Mannes erhellt,
daft sie nicht so völlig geknechtet, und daft es also nicht Gottscheds
Drnck, sondern Mangel an originaler Kraft war, wenn ihre Produk-
tion in seinen Geleisen blieb. Von einigen abweichenden Ansichten,
vom Durchschauen, ja gelegentlichen Ueberschauen seiner Ziele bis
zur Fähigkeit neuer Darstellung ist ein weiter Sprung. Hätte sie
ihn zu thun vermocht, so hätte sie ihn trotz Gottsched gethan.
Woftte sie doch hinter seinem Rücken der Runkel Manuskripte zu-
zustellen.
Sonaeh kann ich die geistige Tyrannei Gottscheds so hoch nicht
schätzen. Frau Louise Adelgunde Yictorie war seine überzeugte
Schalerin, ja sie verdankte ihre Entwicklnng seiner Führung; und
wenn ihr Naturell verbildet war, war es schon vor der Verlobung
lö*
204 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 6.
geschehen. Für den ersten Teil seines Baches gewann allerdings
Schi, darch seine Auffassung des Verhältnisses einen recht wirkungs-
YoUen Effekt; im zweiten Teile läßt er ihn bei Seite und scheint
überhaupt Gottsched höher zu stellen.
Der erste Teil gibt die Biographie und schildert dabei die Ge-
sinnung und litterarische Thätigkeit der Gottschedin mit Ausnahme
der Lustspiele. Die Einteilung ist außer im ersten und letzten Ka-
pitel dieses Teiles nicht von der zeitlichen Folge genommen, sondern
nach den Meinungen und den Beschäftigungen der Heldin. Die
Nachteile solches Vorgehens scheinen mir die Vorteile zu überwie-
gen. Der Verf. bringt sich dadurch um die Möglichkeit, die Ent-
wicklung der Gottsched darzustellen, und der Leser bekommt zwar
einen Ueberblick über ihre Haupteigenschaften , verliert aber den
Zusammenhang des Charakters. Die Unruhe der Darstellung wird
wesentlich auch durch die Manier des Verf.s gesteigert, zu Gunsten
effektvoller Eingänge der Abschnitte späte Ereignisse vorausza-
greifen, das letzte zuerst zu sagen. So setzt er mit der Vermählung
der Eulmus ein und erzählt dann ihre Mädchenzeit; so berichtet er
zu Beginn des zweiten Kapitels ihren Tod und trägt in sechs Ka-
piteln ihren Lebenslauf nach. Und so werden ihre Werke auch
nicht in chronologischer Ordnung besprochen, sondern so wie sie sich
nach inneren oder auch nur äußeren Gesichtspunkten zusammenreihen
lasen , in Kapitel verteilt. Schi, sucht Hlr diese Kapitel sachlich
bezeichnende Ueberschriften und er sucht packende Ueberschriften.
Der zweite Abschnitt gleich ist auf der gelehrten Galeere betitelt,
ein Wort, das die Gottsched gelegentlich fallen läßt; dazu halte
man Kolumnentitel wie: Das geschickte Kind, Hangen und Bangen,
Ideal und Wirklichkeit, Die beiden Tabaksdosen u. s. f. Derlei ist
bezeichnend ftlr die Darstell ungs weise des Verfs und leider auch
für ihren Geschmack. Zur Beleuchtung des letzteren verweise ich
noch auf die Phrase: Professor May hatte in seinem Wesen etwas
maifrisohes, auf die witzelnde Antithese: Der sterbende Gato lebte,
der lebende Harlekin sollte sterben u. ähnl. m. Auch so manches
über die Psychologie des Weibes und über das Verhältnis von Gat-
ten ist nur dem Bedürfnisse, gemeiniglich zu unterhalten oder za
reizen, entwachsen. Es ist ja eine schöne Sache, auch als gelehrter
Forscher — denn das ist Schi, in diesem Buche — nicht langweilig
und trocken zu sein, und sein Stoff fordert eine gewisse Laune her-
aus. Aber der flotte Styl konnte solcher Schnörkel entbehren und
würde ohne sie die Leser gleichmäßiger fesseln. Gegen diejenigen
unter ihnen, welche sich mit der Sache, für die er sie interessiert,
näher befassen wollen, wäre es rücksichtsvoller gewesen, Anmerknn-
Schlenther, Frau Gottsclied und die bürgerliche Komödie. 205
gen beizufügen, da sie jetzt nur in Beilagen ein paar Winke über
seine Quellen enthalten. In diesem Falle, wo selbst dem Special-
forscber die zerstreut liegenden Quellen schwer zugänglich sind, wo
keine Vorarbeiten anderer bereiten Aufschluß geben, wäre ein ge-
naues Citat öfters sehr dankenswert, ja nötig gewesen. Nicht zu-
vörderst um nachprüfen zu können, auf welche Stelle gerade sich
des Verf.s Ansicht gründet, mehr noch um von diesen Stellen aus
zu einer Vervollständigang des Themas zu gelangen. Denn er-
schöpfend ist die Biographie nicht.
Schi, erklärt, sein Bemühen gelte weniger der Erforschung und
Vermebrang des litterarhistorischen Materials, als vielmehr ästheti-
schen Beobachtungen. Diese Absicht ist bedauerlich. Denn es ist
unerläßlich, daß die Teilnahme der Gottsched an Zeitschriften, die
Aufnahme ihrer Werke in der Kritik und aaf der Btthne, ihre Stel-
lang im Leipzig-Zürchischen Kampfe untersucht werde und manches
andere, was Schi, eben so nebenher und halb oder nicht berührt.
Und ich dächte doch, daß sie als Recensentin z. B. eine Seite ihres
Wesens zeigte, die Schi, nicht gesehen hat. Das gate, das er ge-
leistet hat, wird nun der Feind des besseren sein : Nachlesen zu ma-
chen ist keine verlockende Aufgabe.
Für den zweiten größeren Teil seines Buches, welcher dem bür-
gerlichen Prosalnstspiel in Obersachsen gilt, gleichfalls den Vorwurf
der UnVollständigkeit zu erheben, wäre ungerecht. Hier ist die Auf-
gabe ungleich schwieriger und umfassender, der Mangel an Vorar-
beiten empfindlicher. Schi, führt von Gryphins zu Weise, läßt die
Neubers folgen, führt Gottsched wie einen Mann ein, mit dessen
äußerer Lage, dessen Ansichten und Absichten der Leser noch nicht
im ersten Teile vertraut gemacht worden sei, behandelt Henrici und
König, das Verhältnis des Dresdener Lustspieles zum Leipziger, die
Stellung des Harlekin, dann Reuter und Henrici als Pasqaillanten
und schließt mit dem Streite Straubes und J. E. Schlegels über Vers
und Prosa in der Komödie die Vorgeschichte der Gottschedischen
Lustspiele ab. Das ist eine Skizze in übersichtlichen Strichen, de-
ren selbständiger Wert dnrch umfassendere Komödienuntersuchung
im einzelnen beeinträchtigt werden wird, die aber sehr wohl auf die
Hauptsache, die Betrachtung der Lustspiele der Gottsched vorbereitet
Im 6. Kapitel ist Schi, bei ihr angelangt und behandelt nun unter
der Ueberschrift : Talentprobe ihre Pietisterey im Fischbeinrock,
wobei wohl die Anmerkung erwünscht gewesen wäre, daß davon in
der ersten Woche der Michaelismesse 1736 150 Exemplare in Leip-
zig verkauft wurden und daß die Gensur auf das Werklein fahn-
dete (Grenzboten 1882. 1, 275), dann ihre Uebersetzungen — der
206 Gott- gel. Anz. 1887. Nr. 6.
Verweis auf Lessings Dramaturgie 17 fehlt aatfalleDder Weise —
UDd verweilt bei diesen auch noch in dem Kapitel mit dem Titel:
Einrichtnng. Wer diese and die nächsten Eapitelstichworte : der
moralische Satz nnd seine Anwendung, Typns und Charakter, der
Knoten betrachtet, sieht nnn anch deatlicher, wie Schi, seine yer-
sprochenen ästhetischen Beobachtungen anstellt. Er geht jedesmal
von Gottscheds Theorie aus nnd zeigt, wie die Dichtung der Frau
Gottsched derselben gerecht wird. Diese Art von Untersuchung ist
fruchtbar, nur daft auch sie das Urteil über die Entwicklung der
Gottsched erschwert nnd die Bilder ihrer einzelnen Komödien, die
doch wenigen alle und genan bekannt sind, nicht ganz deutlich zeigt.
Man muft sich aus den Kapiteln die Züge zusammensuchen. Immerhin
ttbersteigt hier der Gewinn den Schaden, zumal Schi, hiebei der
geschichtlichen Folge einige Rechnung trägt In diesen Abschnitten
liegt die nachhaltigste Förderung, welche die litterarhistorische For-
schnng aus Schl.s Buch erfährt. Das ist sein Kern.
Schi, geht freilich in seiner Beobachtung, wie die Theorie in
Praxis umgesetzt wird, so einseitig vor, daß er dem Geschichtsfor-'
scher auch hier nicht überall genug thut, z. B. den Witzling zn
knrz abgefertigt nnd seine litterarischen Bezüge nur durch eine No-
tiz S. 204 andeutet Aber der Litterarhistoriker wird sich eben
überall in das Buch Nachträge einschreiben müssen, so viel Förde-
rung er daraus erfährt. So z. B. zum dritten Kapitel den Inhalt der
Vorrede zum Guardian, auf welche die Gottsched selbst (Briefe 2, 265)
Gewicht legt Er wird ihre Gedichte doch näher betrachten als in der
summarischen Behandlung Schl.s geschieht und daraus z. B. ihre
Ablehnung des Brockes (Gedichte S. 113) und des Schwulstes
(S. 45 ff.) notieren, welch letzteres auf der Gegen den Schwulst über-
schriebenen Seite 45 Schi, so gut wie die Stelle in den Briefen 1, 102
hätte anziehen sollen. Er wird hier und oft, gerade weil das Buch
ein Kulturbild entwerfen will, die Gottsched an der Ziegler und
Zäunemann nnd andern poetischen Zeitgenossinnen messen, wie er
ienm 1. Elapitel die Anforderungen Gottscheds und seine Urteile über
die Braut mit den Aeufterungen anderer Zeitgenossen vergleichen und
anmerken wird, daft sie, mit Ausnahme Hallers, auch nicht über den
Preis der Klugheit, Munterkeit, Tugend, Schönheit, des Fleißes hin-
ausgekommen sind ; ja ein Blick in das wohlverdiente Ehrengedächt-
nis der seligen Frau Hofrätin Maria Henrietta Trillerin von 1754
wird ihn zu einer besseren Würdigung des Gottschedischen Ehren-
males veranlassen. Er wird zn dem 6. Kapitel über die Panthea
sich erinnern, daft in demselben Jahre 1756, in welchem die Gott-
sched die zweite Bearbeitung jenes Trauerspieles unternahm , anch
Badge, The Book of the Bee. 207
Wieland in Zürich denselben Stoff dramatiscb za gestalten begann;
ohne daß er jedoch von seiner, darch Bodmer recensierten Vorgän-
gerin etwas entlehnte, wenn man nach der ans dem Plane erwach-
senen moralischen Oeschichte Araspes und Panthea anf die erste
Konception znrUckschließen darf. Er wird sich in demselben Ka-
pitel erinnerni daß der Schwabe Wieland seinen Cyrns anf Friedrich
den Großen anwendete, während die Danzigerin ihre gute Meinung
Yon dem PrenßenkOnig (Gedichte S. 101) bald änderte und seine
»Ehrbegierdec verständnislos beseufzte. Und er wird aus jeder
Yergleiohung einen Standpunkt gewinnen, von dem aus er den Cha-
rakter der Gottsched und die Kultur ihrer Zeit und ihres Ortes
stärker beleuchtet sieht als bei Schi. Dort wo von den ans dem
Französischen ttbersetzten Komödien und von ihrer Vergröberung
durch die Gottsched die Rede ist, wird er fragen, wie andere Zeit-
genossen derlei Übertragen, wird dabei an die realistische Dialekt-
seene in der Pietisterey und die Unflätereien in der HausfranzOsin
sich erinnern und bedenken, ob nicht in diesen Derbheiten ein Gha«
rakterzug der Gottsched unverfälscht zu Tage tritt und also der
Versuch SchLs, ihre Feinftthligkeit zu retten S. 98 f. eine verfehlte
Künstelei ist. Aus der neuesten Litteratur wird er nachtragen, daß
Baculard d'Ärnaud sich 1751 mit der Uebersetznng eines Lust-
spieles des Gottsched befaßte (Zs. f. vgl. Litteraturgeschichte 1, 150 ff.).
Und so wird jeder Leser des Buches, der mit der Zeit einigermaßen
yertraut ist, und gar der, dem die Litteratur der Komödie jener
Epoche besser gegenwärtig und zur Hand ist als mir, Zweifel und
Zusätze beischreiben. Trotzdem wird jeder das Buch gebrauchen
und besonders die Beiträge zur Geschichte des deutschen Lust-
spieles dankbar benutzen.
Graz. Bernhard Seuffert.
Budge, Ernest A. Wallis, M.A., The Book of the Bee. The Syriac Text
edited from the mannscripts in London, Oxford and Munich with an English
Translation. Oxford at the Clarendon Press 1886. XYI. 166 180 SS. 4^
2 Facsimile. Auch unter dem Titel Anecdota Oxoniensia. Semitic
Series. Vol. I. Fart II.
Der kleinste Teil dieses stattlichen Bandes stammt ans der
Bodleiana oder sonst einer Ozforder Bibliothek; eigentlich nur 10
Seiten des arabischen Anhangs und eine Reihe Anmerkungen unter
der englischen Uebersetznng; auch der Herausgeber ist ein Garn-*
bridgeman, ebenso derjenige, dem das Buch gewidmet ist, W. Wright,
208 Gott. gel. Anas. 1887. Nr. 6.
der auch den arabischen Anhaug bearbeitete und vom G-anzen eine
Korrektur las: am so dankenswerter, daß die Delegierten der Cla-
rendon Press dasselbe nnter die Anecdota Oxoniensia aufge-
nommen. An unserer Freude über das Erscheinen des Werks än-
dert auch der Umstand nichts, daß dasselbe seinem Inhalt nach schon
bekannt war. J. M. Schönfelder hatte 1866 in Bamberg eine latei-
nische Uebersetzung des Buchs veröffentlicht, die auf der einen der
unserer Ausgabe zu Grunde liegenden Hss., der Hilnchener, beruhte.
Aber abgesehen davon, daß diese Uebersetzung in mancher Hinsicht
fehlerhaft war — Budge führt gelegentlich einige Proben an, die
vor 20 Jahren allerdings eher entschuldbar waren als heute — : das
Werk scheint in dieser lateinischen Uebersetzung verhältnismäßig
wenig bekannt geworden zu sein; Ref. erinnert sich wenigstens
nicht, viele Beziehungen auf dasselbe gefunden zu haben, auch
nicht bei Gegenständen und Autoren, wo man solche hätte erwarten
können. Und jetzt bekommen wir, neben einer trefflichen Ueber-
setzung, das Original, und zwar in sehr guter Gestalt. Zwar stammt
die älteste der 3 Hss. erst aus dem Jahr 1569 (nicht 59 S. III,
letzte Zeile), die zweite aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts, und
derselben Zeit gehört wahrscheinlich auch die Münchener an, ob-
gleich sie im Münchener Katalog (1875) noch mit Schönfelder ins
14. Jahrb. versetzt wird (ein treffliches Facsimile dieser und der
ersten aus der Bibliothek der Asiatic Society vor dem Text). Die
Vaticana hätte eine noch um 100 Jahre ältere Hs. geboten. Aber
einmal lebte der Verf., den Ebedejsn in seinem Katalog der orien-
talischen Schriftsteller als letzten vor seiner Zeit anführt, erst um
1222, und sodann war der sündige Knecht und fehlerhafte Elias,
dem wir die erste Hds. danken, ein überaus pünktlicher Mann, wie
manche seiner Bandbemerkungen bezeugen ; ähnlich der Schreiber
der zweiten, der auch sonst bekannte Homo von Alkosch. Nur eine
Stelle im letzten Kapitel (nur in A erhalten) mußte der Herausgeber,
als zur Zeit unverständlich, unttbersetzt lassen; an einigen andern
kann man über den Text etwas zweifelhaft sein , namentlich wo es
sich um die Schreibung fremder Namen handelt, z. B. c. 22 Völker-
tafel, c. 49 die 70 Jünger Christi, c. 54 die 22 Völker, welche
Alexander im Norden eingeschlossen ; aber auch hier sind wir nicht
sicher, wie weit dem Verf. selbst noch die richtigen Formen zuge-
kommen waren. Bei der Völkertafel hat übrigens der Herausgeber,
der sonst eine sehr umfassende Litteraturkenntnis zeigt, sich eine
Quelle entgehn lassen, Lagardes Praetermissa 244 f.; dadurch
hätte sich die Stelle 38, 1 des syrischen Textes und eine Reihe von
Namen (Keniter, Kenisiter, Thebäer, Lacedämonier) sofort richtig
Badge , The Book of the Bee. 209
sielieu lasen. Dasselbe Werk 94, 20 ff. hätte anch zur Gescbiehte
der 30 Silberlinge beigezogen werden können. Dies üebersehen ist
aber nm so eher begreiflich, als diese Ton Lagarde veröffentlichten
Texte f ttr die nenen Teile des Thesaurus nicht excerpiert worden
ZQ sein scheinen; Namen wie U^, )^;2dgd hätten sofort auf diese
Quelle führen mttssen, wären sie im Thes. zu finden gewesen (ähn-
lich fehlen dort anch die vielen (geographischen) Namen ans Hoff-
manns syrischen Märtyrerakten). Auch noch einige andere Anstände
hätten sich dnrch Rückgang auf weitere Quellen erledigen lassen,
z. B. die Anmerkung 6 S. 69 über die syrische Wiedergabe des
griechischen xtica^» xataxwcag in Epiphanius, oder S. 121, Anm. 3,
dai unter den Namen der griechischen Bibelttbersetzer aus dem
Stamm Asser ftlschlich Johannes, Jonathan stehe ; ebenso hat ja
auch der syrische Epiphanius (bei Lagarde nach einer Hs.
ans dem Jahr 650) und die Urquelle, der griechische Aristeas. Be-
sonders zahlreich sind die Varianten zu den 12 Namen der Weisen
ans dem Morgenland ; zwei Listen in meiner syrischen Porta ; eine
Verweisung auf v. Gutschmid, Rheinisches Museum 19 (1863) 169
wäre hier fttr manchen Leser gewifi besonders erwttnscht gewesen.
Dankenswert ist das Glossar S. 11—15; hinter dem unerklärt geblie-
benen Wort S. 48, 11 : Moses sei )k«q:^ der Tochter Pharaohs genannt
worden, wird iK^^a Findling stecken. Doch genug des Sprach-
lichen, obgleich noch manches Interessante herauszuheben wäre, wie
die Anmerkung über den männlichen und weiblichen Gebrauch von
ktp00 and dergleichen.
Unser Hauptinteresse erfordert der Inhalt des Buches. Es ist
eine mit BienenfleiB zusammengetragene Sammlung alles dessen,
was einem syrischen Theologen im Anfang des 13. Jahrb. zur Bibel
alten und neuen Testaments wissenswert oder erklärungsbedttrftig
schien, mit Weltschöpfung und Paradies beginnend und mit der
Frage nach der Ewigkeit der Höllenstrafen oder der Wiederbringnng
aller Dinge schlieSend. Noch heute beschäftigt sich eine eigene Fa-
kultät unserer Universitäten großenteils mit demselben Buch und es
ist nicht gerade sehr erfreulich zu sehen, wie viele der exegetischen
und dogmatischen Fragen, die den syrischen Metropoliten von Basra
vor 600 Jahren beschäftigten, zum Teil heute noch auf der Tages-
ordnung stehn. Andere freilich sind verschwunden, nicht weil sie
endgttltig gelöst wären ; man ist nur bescheidener geworden und hat
einsehen gelernt, daft wir über vieles, was die fromme Phantasie
jener Zeiten wissen wollte und zu wissen glaubte, einfach nichts
wissen könne. Eben hier erhebt sich nun aber die interessante, bis
jetzt kaom aufgeworfene Frage: wie entstanden jene vermeintlichen
210 Gott. gel. Am. 1887. Nr. tf.
EeoDtnisse? Unser Salomo weiB z. B. von Zwillingsschwestern von
Kain ODd Abel, die Kelemath und Leboda bieBen, erkennt die
Eltern des Melcbisedek Mal ach and Jozadak, die Entstehnng
der Magie zur Zeit Nahors, den Namen der Tochter Pharaohs, die
Moses rettete, Shipor, nach andern Tharmesis, den desAegyp-
ters, den Moses erschlag, Pethkom, oder ans dem N. T. weift er,
daß die Fraa, welche zu Bethlehem helfen sollte, Salome hieft,
nicht Hadjok, wie die Ketzer sagen, daß 7 Hirten, deren Namen
er kennt, die Weihnachtsbotscbaft erhielten, daß die namentlich ver-
zeichneten 12 Weisen aas dem Morgenland in dem Stern die Weis-
sagung des Zar a dost d. i. Barach erfüllt sahen. Die 2 Jünger,
welche Johannes za Jesa sandte, waren Stephanas and Ana-
nias, die Tochter der Herodias hieß Bozia (nach andern wie ihre
Matter) and brach auf dem Eis rettangslos bis an den Hals ein, daß
man ihr den Kopf abschneiden maßte. Er verfolgt die Geschichte
des Krenzesholzes vom Paradies bis Golgatha, die der 30 Silber-
linge von Abraham bis Jadas Iscbarioth; er weiß genan, wo die 12
Apostel wirkten and begraben liegen; welche verheiratet waren,
darunter auch Paulus; wie die 70 Jünger Jesa hießen und derglei-
chen. Wober weiß er das alles? Zum Teil nennt er uns seine
Quellen, solche die uns noch erhalten und andere, die ons nicht
mehr oder zur Zeit noch nicht wieder zugänglich sind ; einmal weist
er auch ausdrücklich auf mündliche Tradition hin im Unterschied
von der schriftlichen (S. 103 über die Herkunft des Ghrjsam).
Andere Quellen wissen diese Dinge auch, teils ebenso wie unser
Gewährsmann, teils in anderer Form. Man vergleiche, um nur 2
Beispiele herauszuheben, die mittelalterlichen Holzschnitte za der
History of the Gross, die von Dibdin in der Bibliotheca
Spenceriana nachgebildet wurden, nnd die Fortsetzung dieser
Legende vom Verf. der Briefe aus der HOlle, and hinsichtlich der
Magier die von Brentano heraasgegebenen Betrachtungen der gott-
seligen Anna Katharina Emmerich« Wie haben diese oft so sinn-
vollen, manchmal aber auch recht abgeschmackten kirchlichen and
biblischen Legenden sich verbreitet? und weiter zurück, wie ist
deren Entstehung zu denken? Zar Beantwortung solober Fragen
liegen bis jetzt kaum Versuche vor, nar für die Apostellegenden
neostens das meisterhafte Werk von Lipsius. lieber Märchen, Volks-
lieder, Volksepen und deren Entstehung hat man ganz anders den-
ken gelernt, als noch vor kurzer Zeit; über die Entstehung von
Mythen and Legenden ist aach nach Straaß das rechte Wort noch
zu sprechen. Der Heraasgeber hat in den Anmerkimgen nnter sei-
ner Uebersetzung mannigfach aaf Parallelen, insbesondere anf di
Gardiner, History of the great civil war 1642—1649. Vol. I. 211
Scbatzhöhle hingewiesen; ich fUge noch einige Kleinigkeiten
bei. Zn dem Ober das Paradies bemerkten konnte auch Moses bar
Kepha de Paradiso, zu Nicodemas Land Anecd. Syr. III, za dem
Metropolitenverzeichnis Gariel citiert werden (der letzte, Mar Simon,
lebt nach G. U77, nicht 1507, wie S. 119, A. 6). S. 122 ist in
der Uebersetzung bei dem Haas des Antoninas die Jahrszahl (20)
ansgefallen; S. 148 n. 2 ist die Lesart aus C anverständlich. Za
der Anm. S. 124, 5 daß Methodias, den Salomo zum Bischof von
Rom macht, in Olympas and Tyras Biscbof gewesen, ist der Ex-
kurs Aber den Bischofssitz des Methodias in Zahns Studien zn Ja-
stinns Martyr (ZfKG. 8, 15—20) za vergleichen. In den synchroni-
stischen Tabellen ist S. 123 der Aasdrack »dies 15. Jahr des
Gbosraa« bemerkenswert ; anf ihren Ursprang habe ich diese chro-
nologischen Tabellen nicht geprüft. Besonderes Interesse gewährt
eine Yergleichnng der apokalyptischen Partien mit den parallelen
der gleichzeitigen abendländischen Litteratar; hier steht Eaisertam
and Papsttam, dort der Islam im Vordergrand; aber wie viel Be-
rtthrangspankte im einzelnen. Nach allen Seiten lassen sich die Fä-
den ziehen; machte das Bach zn den vielseitigen Forschnngen an-
regen, za denen Anlaß zn geben es in der That geeignet ist. Ein
Stellenverzeichnis and ein sehr sorgfältiges Register erleichtert sei-
nen Gebranch.
Ulm a. D. E. Nestle.
Gardiner, Samnel, Rawson, History of the great civil war 1642 —
164 9. Vol. L 1642—1644. London, Longmans, Green and Go. 1886. XXX
und 522 S. 8^
Zwei Jahre Qrst sind verflossen, seit die früheren Werke S.
Rawson Gardiners, die sich anf die englische Geschichte vom Jahre
1603 bis znm Jahre 1642 erstrecken, in zehn Bänden znsammenge-
faAt nns vorliegen, and schon können wir ans glücklich schätzen
aas derselben Hand die Fortsetzung, einen ersten stattlichen Band
der Geschichte des Bürgerkrieges, za empfangen. Es gehört die
ganze Eoncentration aaf einen einzigen Gegenstand, die in Jahr-
zehnten erworbene anvergleichliche Kenntnis aller mit ihm znsam-
menhängenden Fragen, endlich der Reichtum an Hilfsmitteln dazu,
wie ihn London dem Forscher aafs bequemste darbietet, um es dem
Verfasser möglich zu machen, ohne die Feder abzusetzen, sofort in
der Behandlai^ seines großen Themas fortzufahren. Wenn ein Band
von mehr als 500 Seiten zwei Jahre des Bürgerkriegs behandelt, so
212 üött. gel. An/. 1887. Nr. 6.
kann man sich schon vorstellen^ daß hier die Ereignisse Tag für
Tag mit einer Genauigkeit verfolgt werden, wie sie bisher in kei-
nem früheren Werke, das sich mit dieser Epoche beschäftigt, anzn-
treffen ist. Auch hat keines eine so breite Grundlage zeitgenössi-
scher Berichte wie das vorliegende. Von den allgemein zagängli-
chen oiBciellen Aktenstücken, gedruckten Memoiren u. a. zu schwei-
gen: ist hier die große Flugschriftensammlung des Britischen Mu-
seum, die unter den Namen »Kings Tracts« einen so wohl begrün-
deten Ruf hat, und darunter die Masse der »Zeitungen« kritisch
und systematisch ausgenützt. Eben da boten sich ein paar hand-
schriftliche Tagebücher von Mitgliedern des Parlamentes und ein
Teil der wichtigen Manuskripte, die Warburton, weil er Chiffriertes
nicht immer zu entziffern wußte, durchaus nicht genügend, für sein
Werk »Memoirs of Prince Rupert and the Cavaliers« verwertet hat.
Die Papiere des »Committee beider Königreiche«, in dessen Händen
die gemeinsame englisch-schottische Kriegführung gegen den KOnig
ruhte, im Record-Office sind leider nicht vollständig, haben aber
doch auch R. Gardiner gute Dienste geleistet. Die Depeschen des
venetianischen Gesandten, in Kopie gleichfalls in London aufbe-
wahrt, sowie andere diplomatische Berichte, z. B. die französischen,
ergaben eine nicht zu verachtende Ausbeute. In Oxford war ein ge-
naues Studium der Carte Mss. in der Bodleiana unentbehrlich, um
den Gang der Irischen Dinge zu verfolgen. Eben da finden sich
die Tanner- und Clarendon Mss., die zum Teil über die Politik der
royalistischen Partei die besten Aufschlüsse geben. Endlich darf
man nicht vergessen, daß manche wichtige Veröffentlichung der
Camden-Society, deren Direktor S. R. Gardiner ist, in den letzten
Jahren ihm als Vorarbeit für sein Geschichtswerk dienen könnte,
wie z. B. das im Jahre 1883 erschienene Heft: »A secret negotia-
tion with Charles the first 1643. 1644«, dessen Herausgabe man der
kundigen und geschulten Gemahlin des Verfassers verdankt.
So groß und so verschiedenartig die Masse des benutzten Qnellen-
materiales auch ist, wird der Verfasser doch niemals von ihm er-
drückt Er ermöglicht dem Leser durch die Noten unter dem Texte
ihn Schritt für Schritt zu kontrollieren, aber seine Darstellung be-
wegt sich in vollkommener Freiheit. Bei voller Beherrschung der
Einzelheiten läßt sie immer die großen Gesichtspunkte hervortreten.
Zu diesen gehört vor allem die Durchführung des Gedankens, daß
die kirchliche Frage, weit mehr noch als die politische, die Geister
trennte, den Bürgerkrieg unvermeidlich machte und während des
Bürgerkrieges die erste Rolle spielte. Es handelte sich in erster
Linie darum, ob der Puritanismus ein Lebenselement des englischen
Gardiner, History of the great civil war 1642—1649. Vol. L 218
Volkes bleiben sollte, und die luusendei »für die der Paritanismns
die Stimme Oottes selbst wart, die bereit waren für diesen Glauben
zu sterben, wollten ebensowenig aaf parlamentarische Majoritäten
wie aaf die königliche Prärogative Rtlcksicht nehmen, wenn es galt
ihr religiöses und kirchliches Ideal za vertheidigen. Daft Karl L
biefUr vollkommen das Verständnis abgieng, war die Haaptnrsache
seines Verhängnisses. An zahlreichen Stellen dieses Bandes wird
die »doppelte Politikc, die Verfolgung von zwei einander wider-
streitenden Plänen, auf die sich der Meister der Intrigae gegenüber
der paritanischen Energie and Leidenschaft glaabte verlassen za
können, vorzüglich aaseinandergesetzt. Besonders aaf seine Ver-
handlungen mit den irischen Rebellen fällt neues Licht, und es wird
unwiderleglich dargethan, daft die Furcht, die katholisch-celtischen
Hilfstruppen des Königs aaf englischem Boden erscheinen zu sehn
für die Gegner Karls die beste Bandesgenossin war. Es kann
nicht fehlen, daA der Verfasser bei diesem Anlaft die allgemeinen
Fragen, die heute wieder brennend sind, über das Verhältnis Eng-
lands zur grünen Insel berührt. Aber er spricht als Historiker, nicht
als Politiker. Er erkennt die Thatsache, daß von den Irländera
der damaligen Zeit das Banner der Nationalität entfaltet wurde, an,
aber er kommt zu dem Schlüsse, daft keine englische Partei im
siebzehnten Jahrhundert die Organisation einer rein irischen Regie-
rang zugestehn wollte und zugestehn konnte. Zu den neuen Ent-
bttUnngen über die Absichten des Königs gehört auch der Bericht
über die mit dem König von Dänemark gepflogenen Unterhandlun-
gen. Es kann kein Zweifel daran sein, daft für die Gewährung dä-
niBcher Hilfe die Abtretung der Orkney- und Shetlandinseln zuge-
standen war. Hier wie bei anderen wichtigen Verhandlungen tritt
die Königin Henriette Marie als treibende Kraft hervor. Die Fein-
heit und Lebenswahrheit, über die der Historiker bei der Schilde-
niDg ihrer Persönlichkeit gebietet, erinnert an die PinselfUhrung
van Dyks. Ein Gleiches läftt sich von seiner Charakterisierung des
Prinzen Rupert, Newcastles, Falklands u. a. sagen, die der royali-
stischen Partei angehören.
Was die andere Seite betrifift, so wird der Verfasser der Gröfte
des Puritanismus vollkommen gerecht, ohne deshalb seine Einseitig-
keit and Härten zu übersehen. Insonderheit findet der schottische
Presbyterianismus, bei seinem Versuche in England Propaganda für
sich zu machen, in ihm einen strengen Beurteiler. Die Auseinander-
setzung, daft die politische and sociale Entwicklang des englischen
Volkes dem kirchlichen Systeme > des. nordischen Naohbarreiohes
ganz und gar widerstrebte, gehört zu den vorzüglichsten des vor-
214 GöU. gel. Anz. 1887. Nr. 6.
liegenden Bandes. Nicht minder in die Tiefe gehend sind die
Darlegungen des 13. nnd 14. Kapitels ttber den entstehenden Ge-
gensatz von Presbyterianern and Independenten , sowie ttber die
Frage der Gewissensfreiheit. Zu dem vielen Nenen, was uns hier
geboten wird, gehört u. a. der Hinweis anf eine merkwürdige ano-
nyme Flagschrift: »Liberty of Goncience or the sole means to
obtain peace and troth«, die schon vier Monate vor Roger Williams'
»Bloody Tenent« erschienen ist. Sie ist eine der merkwürdig-
sten Erzeugnisse der Epoche ^ das der unbekannte Verfasser in
seiner Forderung unbedingter Gewissensfreiheit mit dem Gründer
von Rhode-Island übereinstimmt Die bisherigen Forscher haben
sie aber nicht beachtet^). Dagegen vermisse ich eine Erwähnung
der Petition der Brownisten ans dem Jahre 1641 (s. Barclay: The
inner life of the religious societies of the commonwealth S. 476), in
welcher bereits der beachtenswerte Satz vorkommt: »Whether it
were not more convenient for the state and more grateful to the
subjects to tolerate aU professions whatsoever every one being left to
use his oum conscience none to he punished or persecuted for it*.
Von den politischen Größen der parlamentarischen Partei tritt
John Pym in das hellste Licht. Das abschließende Urteil, welches
nach der Erzählung seines Todes über ihn gefällt wird, ist ein hi-
storiographisches Meisterstück. Hier erbebt sich die Darstellung des
Verfassers zur Höhe hinreißender Beredsamkeit nnd wetteifert mit
den besten Mustern. Dasselbe läßt sich von dem Nekrologe John
Hampdens sagen, dessen letzter Brief aus den »Barrington Mss^c
zum ersten Male mitgeteilt, nebst manchem anderen Funde zur Ver-
vollständigung des Bildes beiträgt, das man sich von dem edlen
Kämpfer um's Recht zu maehen hat. Auch ein dritter großer Par-
lamentarier, Henry Vane, gewinnt nach den Mitteilungen dieses Ban-
des für den Nachlebenden an Deutlichkeit der Züge. Höchst beaeh-
tenswert ist namentlich die hier meines Wissens zum ersten Male
festgestellte Thatsache, daß Vane bei seiner Mission in's Lager von
York (Juni 1644) den geheimen Auftrag hatte, die Führer der be-
waffneten Macht fllr die Idee der Absetzung Karls L zu gewinnen,
eine Idee, die schon im Frühling d. J. bei den radikalen Politikern
in London aufgetaucht war. Die Schotten, Fairfax und Manchester
sprachen sich entschieden dagegen aus. Von Cromwell läßt sich nnr
vermuten, daß er auf Vanes Seite trat, was denn viel zur weiteren
Erklärung der bald darauf entstehenden Konflikte im parlamentari-
schen Heere beitragen würde.
1) S. B. Qardiner hatte auf diese Flugschrift schon aufmerksam gemacht in
»The £n|lish historical reWew« No. 1. 1889.
Gardiner, History of the great ei?il war 1642—1649. Vol. I. 215
Mit Cromwell tritt das grüßte militärische Talent auf, dessen
Tbätigkeit in diesem Bande za schildern war. Die Gefahr war
nicht gering, ihn zum Mittelpunkte der Erzählung zu machen. Aber
der Verfasser hat sie sehr wohl yermieden. Die übrigen Heerführer,
sowohl der königlichen wie der parlamentarischen Partei, werden
nach Verdienst gewürdigt. Wie viel bisher Unbekanntes, um nur
zwei Namen herauszugreifen, über die Leistungen von Essex und
Waller beigebracht wird, kann nur derjenige ganz ermessen, der
sich die Mühe nimmt, die ausführlichsten früheren Darstellungen der
ersten Jahre des Bürgerkrieges mit derjenigen S. R Gardiners zu
vergleichen. Sie bleiben alle hinter der seinigen zurück, in der die
Zusammensetzung der Armeen, die Einwirkung der politischen Ab-
wandlungen und der finanziellen Schwierigkeiten auf den Gang des
Krieges, die strategischen Bewegungen und die einzelnen Gefechts-
bilder mit unübertroffener Klarheit aus oft sehr verwirrten Notizen
herausgearbeitet und dem Leser zur Anschauung gebracht werden.
Der Verf. spricht im Vorworte mit zu großer Bescheidenheit von
diesen Partieen des vorliegenden Bandes. Wer, wie er, über die
reichste Kenntnis des Materiales verfügt und sich noch dazu durch
Besichtigung der in Betracht kommenden Oertlichkeiten eine unmit-
telbare Vorstellung des Schauplatzes der kriegerischen Ereignisse
zu verschaffen gewußt hat, bedarf keiner Entschuldigung gegenüber
den Militärschriflstellem von Beruf, wenn er es unternimmt ihr
eigenstes Gebiet zu betreten. Eine große Zahl sehr sorgfältig ge-
arbeiteter Karten kommt der Darstellung im Texte zu Hilfe.
Alles in allem kann man sich glücklich schätzen, die historische
Litteratnr durch den Anfang eines Werkes bereichert zu sehen, bei
dem die Begabung des Darstellers der Größe des Gegenstandes ganz
und gar entspricht. Auch braucht man nicht zu fürchten, daß die
Vollendung dieses Werkes auf unbestimmte Zeit hinausgeschoben sei.
Der Verfasser ist mitten in der Fortführung seiner Arbeit begriffen,
er rechnet darauf mit zwei weiteren Bänden bis zum Ende des Bür-
gerkrieges in seiner Erzählung zu gelangen, und so dürfen wir hof-
fen, in einigen Jahren das Ganze in fertiger Gestalt zu besitzen.
Bern. Alfred Stern.
216 Gott. gel. Auz. 1887. Nr. 6.
▼ an Bebber, Dr., W. J., AbteilungB vorstand der deutschen Seewarte, Hand-
buch der ausübenden Witterangskunde, Geschichte und gegen-
wärtiger Zustand der Wetterprognose. Zwei Teile. Stuttgart, Verlag von
Ferd. Enke. I. Teil: Geschichte der Wetterprognose, 1886, X, 892 S. mit
12 Holzschnitten; II. Teil: Gegenwärtiger Zustand der Wetterprognose mit
einem Vorwort von Buys-Ballot. 1886. X, 508 S. mit I Wolkentafel und
66 Holzschnitten.
Zur Abfassung eines Handbuches der ausübenden Witternngs-
knnde war von den deutschen Meteorologen wobl kaum einer be-
rufener als der langjährige Vorstand der III. Abteilang der deat-
scben Seewarte ^ deren Aufgabe in der Pflege der Witterungskande,
der Kttstenmeteorologie und des Sturmwarnuugswesens in Deutsch-
land besteht; so ist denn auch das vorliegende Werk, das in der
ganzen meteorologischen Litteratur einzig dastehti ein vortreffliches.
Das Werk zerfällt in zwei Teile:
I.Teil: Geschichte der Wetterprognose. Von jeher
ist die Aufstellung einer verläßlichen Wetterprognose eins der Haupt-
ziele meteorologischer Forschung gewesen. Die hier gegebene
Oeschichte der Wetterprognose ist daher für lange Perioden eine
Geschichte der Meteorologie selbst, für eine vollständige Geschichte
dieser Wissenschaft bedarf es nur noch relativ geringer Erweiterun-
gen, welche jetzt keine erheblichen Schwierigkeiten mehr haben.
Die Neigung des Menschen, die Ursachen für die ihm uner-
klärlich erscheinenden Vorkommnisse außerhalb der Erde zu suchen,
führte zum Glauben an willkuriicbe Einflüsse höherer Wesen und
übernatürlicher Kräfte auf die Witternngserscheinungen. Die nicht
zu verkennenden periodischen Aenderungen der Temperatur mit der
Aenderung der Stellung der Sonne gegen die Erde verleitete, durch
Analogieschlüsse, zur Astrometeorologie. Diese beiden Ansichten ha-
ben das ganze Altertum und Mittelalter hindurch die Meteorologie
beherrscht und jeden Fortschritt dieser Wissenschaft unmöglich ge-
macht Die Ueberzeugung, daß die Witterungserscheinangen aaßer
von der Sonne nur durch irdische Kräfte bedingt werden, bat sich
nur langsam Bahn gebrochen, sie gehört der Neuzeit an.
Der Glaube an die Beeinflussung des Wetters durch die Götter
ist allen Völkern, wenigstens in ihrer Kindheit, gemein, er ist meist
harmlosester Natur. Weit schlimmer ist die Wirkung der Dämonen;
denn sie haben die unglückliche Fähigkeit ihre Verderben wirken-
den Kräite auf ihnen ergebene Menschen übertragen zu können.
Zahllose Hexen haben wegen Wettermachens den Scheiterhaufen be-
steigen müssen. Nachdem der Verf. im ersten Kapitel die bezügli-
chen Ansichten der Israeliten, Griechen, Römer, Inder, Aegypter,
▼an Bebber, Handbuch der ausübenden Witterungskunde. 217
Chaldäer und der altnordischeo Völker besprochen bat, wendet er
sich im zweiten Abschnitte zu den ersten Bestrebungen die Witte-
rangserscheinnngen wissenschaftlich zu erklären, zur Astrometeoro-
logie, indem er von derselben die Mondmeteorologie für das folgende
Kapitel abtrennt. Die Geschichte und Verbreitung der Astrometeo-
rologie wird von den ältesten Zeiten her betrachtet, dabei werden
die Ansichten der hervorragendsten oder doch bekanntesten Astrolo-
gen durch Auszüge ans deren Schriften erläutert Als Erster, der
einen Fortschritt anbahnte, muß der Nürnberger Astronom Johannes
Werner (1468 — 1528) genannt werden; denn er machte zuerst den
Versuch die nach astrologischen Principien abgeleiteten Wetter-
prognosen mit den thatsächlich eintretenden Verhältnissen zu ver-
gleichen. Ihm folgte Tycho Brahe und viele Andere. Fortgesetzte
Kritik der Astrometeorologie durch die Erfahrung mußte die ein-
sichtavollen Köpfe jener Zeit zu der Ueberzeugung bringen, daß
alle astrometeorologischen Principien unhaltbar seien, aber mancherlei
zum Teil äußere Gründe hielten den Durchbruch dieser Meinung
noch lange zurück. Von Kepler z. B. dürfte es feststehn, »daß er
mit sich darüber im Klaren war, was von der Astrologie zu hal-
ten sei, aber der Umstand, daß er beständig mit Nahrungssorgen zu
kämpfen hatte, war der Beweggrund nebenher auch astrologische
Künste auszuüben, wenn dieses auch jedenfalls mit großem Wider-
willen geschähe. Im Volke fand die Astrometeorologie namentlich
durch die Kalender Verbreitung, unter denen die sog. hundertjähri-
gen, deren Aera in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts be-
ginnt, nicht zu vergessen sind. Erst durch die Erfindung der me-
teorologischen Instrumente wurde die Astrometeorologie, wenigstens
in wissenschaftlichen Kreisen zu Fall gebracht Dem allmählich
durchdringenden Gopernikanischen Weltsysteme darf man nach der
Meinung des Bef. doch wohl keinen großen Einfluß zugestehn ; denn
in der Astrologie kommt es weniger auf die Gesetze der relativen
Bewegung der Himmelskörper an als auf die Konstellation der Ge-
stirne. ~ Wie sehr man noch am Ende des vorigen Jahrhunderts
in den Banden der Astrometeorologie lag, beweist am besten eine
Ton der Münchener meteorologischen Gesellschaft 1781 gestellte Preis-
anfgabe, welche nach den Ursachen der Barometerschwankungen
fragte. Zwei Lösungen dieser Frage wurden mit goldenen Medaillen
gekrönt, beide führten die Aenderungen des Barometerstandes auf
die Wirkungen von Sonne, Mond und der Planeten und deren Kon-
stellation zurück. Die dritte nur durch eine silberne Medaille aus-
gezeichnete Arbeit bestreitet den direkten Einfluß der Himmelskör-
per; wenn ein solcher vorhanden wäre, so müsse er nach dem
i^Mi. gel. Abb. 1887. Nr. 6. 16
218 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 6.
NewtoDSchen Gesetze bestimmbar sein, and könne dann nicht mehr
als V8> Linie betragen; der Verfasser war ein Physiker, Joseph
Stark mit Namen.
Diese ersten Kapitel des vorliegenden Baches sind der Natar
des Inhalts gemäß mehr schildernder and erzählender Artj der Cha-
rakter des Werkes ändert sich im Folgenden, wo es sich am die
kritische Darstellang der Ansichten über den Einfluß des Mondes
and der Sonnenflecken auf das Wetter handelt, ganz wesentlich.
Diese Ansichten sind nicht nur in den sog. Baaernregeln ausgespro-
chen, sie sind auch in tiberaas zahlreichen wissenschaftlichen Ab-
handlangen durch instrumentelle Beobachtangsreihen oder durch ma-
thematische Berechnungen zu begründen und zu widerlegen versucht.
Bei der Besprechung dieses Streites beschränkt sich der Verfasser
nicht auf die Mitteilung und Abwägung der Ansichten der einzelnen
Forscher, sondern er gibt auch, wofür ihm besonderer Dank ge-
bührt, in zahlreichen Tabellen das zum Teil schwer zugängliche Ma-
terial, welches die Gründe fllr und wider enthält. Der Reihe nach
werden zunächst die Untersuchungen über den Einfluß des Mondes
auf den Luftdruck, die Witternngsänderung überhaupt, die Nieder-
schläge, die Bewölkung, die Gewitter, den Wind und der kalorische
Einfluß des Mondes in streng wissenschaftlicher Weise diskutiert und
die Resultate schließlich in 7 Paragraphen resümiert. Daroach kann
ein Einfluß des Mondes auf die Atmosphäre zwar nicht geläugnet
werden, doch ist er immer geringer, als daß er durch unsere bis-
herigen instrumentellen Hülfsmittel mit Sicherheit hätte nachgewiesen
werden können; für die Wetterprognose ist er ohne jeden Belang,
so daß die Versuche, ihn für diese zu verwerten, »den astrologi-
schen Bestrebungen fast gleich zu achten« sind. Zwar glaubt der
Verf. selbst nicht, daß der bekannte Ausspruch des alten Lichten-
berg »Der Mond sollte zwar keinen Einfluß auf das Wetter habeni
er hat aber einen« beim Volke in absehbarer Zeit an Ansehen ver-
lieren werde, beim wissenschaftlichen Publikum aber wird die vor-
liegende Untersuchung der Mondmeteorologie, soweit sie sich aaf
die Wetterprognose bezieht, den Todesstoß versetzen.
In den beiden folgenden Kapiteln wird der vermeintliche Ein-
fluß der Kometen and Meteorite kurz abgethan. Die Vermutungi
daß die Meteorite die Witterungsverhältnisse der Erde berühren,
ist zuerst von Erman und St. Claire-Deville ausgesprochen worden.
Es treten nämlich um die Zeit des 7. Febr. und 11. Mai dieAugust-
und November-Asteroiden beim Durchgang der Erde durch ihre zwei-
ten Knoten mit der Sonne in Konjunktion, und man könnte vermaten^
daß diese Asteroiden einen merklichen Teil der von der Sonne in der
van Bebber, Handbach der ausübenden Witterangskunde. 219
Biohtang nach der Erde hin ausgestrahlten Wärme absorbierten und
80 Kälterttckfälle bedingten. Diese Eälterückfälle wurden daun auch
aus langjährigen Beobachtungen als thatsächlich vorhanden bestä-
tigt. Sie .haben aber doch wohl einen andern Grund. Nachdem
sich auch die Ansichten von Mädler und Dove als unhaltbar erwie-
sen, haben in neuester Zeit Aßmann und v. Bezold jene Rückfälle
der Temperatur in engsten Znsammenhang mit einer bestimmten
Luftdruckverteilung gebracht. Eine Erklärung der Thatsacben ist
damit natürlich noch nicht gegeben, aber die Frage ist jetzt auf ein
anderes, viel aligemeineres Gebiet hinübergeführt, auf das nach den
Ursachen der Ortsveräoderung der barometrischen Maxima und Mi-
nima. Daß man hier auf dem rechten Wege zu einer Erklärung
ist, dafür scheint mir eine Untersuchung von Eraukenhagen (Meteo-
rologische Zeitschrift 1, p. 11, 1884) zu sprechen, nach welcher die
ebenfalls mit großer Regelmäßigkeit im Juni eintretenden Kälte-
rttckfälle an eine ähnliche sonst außergewöhnliche Luftdruckverteilung
gebunden erscheinen.
Im folgenden Kapitel erfährt die Wirkung der Sonnenflecken
auf die Atmosphäre, auf welche zuerst Meldrum und Lockyer die
Meteorologen hingewiesen haben, eine ebenso ausführliche Behand-
lung wie in Kap. III die des Mondes. Das Resultat, zu dem der
Verf. gelangt, ist auch hier ein negatives. Ein Zusammenhang zwi-
schen der Häufigkeit der Sonnenflecken und den Witterungsände-
rungen ist wohl nicht zu läugnen, bei unserer jetzigen Kenntnis der
Verhältnisse ist aber nicht daran zu denken, die Periodicität der
Sonnenflecken für die Vorhersagung des künftigen Wetters nutzbar
zu machen. Die Perioden der einzelnen meteorologischen Phäno-
mene erscheinen häufig gegen die der Sonnenflecken etwas verscho-
ben, und es ist nicht unwahrscheinlich, daß beide von einer gemein-
samen oder von mehreren gleichzeitig wirkenden Ursachen abhängen.
Jedenfalls bedarf es hier noch eingehender Studien, für welche die
einschlägigen Untersuchungen von KOppen als Muster dienen dürften.
Nach alle dem erscheinen also z. Z. kosmische Phänomene für
die Wetterprognose unbrauchbar. Wenn trotzdem der Glaube an
kosmische Einflüsse auf das Wetter noch immer besteht und noch
lange bestebn wird, so liegt das vornehmlich daran, daß das Ein-
treffen einer auf diesen Glauben basierten Prognose mit rührendster
Treue im Gedächtnis bewahrt zu werden pflegt, während ein Fehl-
schlagen entweder gar nicht beachtet wird, oder doch bald der Ver-
gessenheit anbeim fällt. Eine rationelle Prognose kann sich nur auf
Beobachtungen innerhalb der Atmosphäre stützen. Der Verf. be-
spricht daher kurz die Bedeutung der Bauernregeln, der Loos- oder
16*
220 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 6.
Noteltage/ das Barometer als Wetterglas, als welches es besonders
durch Otto von Gaericke bekannt wurde, und die Hygrometerprogno-
sen der neuesten Zeit, um dann im achten Kapitel zur Entwickelung
der neueren Meteorologie zu gelangen. Charakteristisch ist der mo-
dernen Meteorologie das gemeinsame Beobachten nach demselben
Principe. Es ist das Verdienst des Karlsruher Prof. Böckmann,
1778 zuerst die Notwendigkeit gemeinsamer Arbeit zahlreicher Be-
obachter nach denselben Grundsätzen betont zu haben, wenn es
ihm auch nicht möglich war, seine Ideen zu realisieren. Das blieb
der Societas meteorologica palatina, 1780 — 1792, vorbehalten; sie
hat sich durch die Ausstattung zahlreicher meteorologischer Stationen
in Europa, Amerika und Grönland mit genau yerglichenen Instru-
menten, durch die Fürsorge, daß an allen Orten nach denselben In-
struktionen beobachtet wurde, und durch die Publikation eben dieser
Beobachtungen unvergänglichen Ruhm erworben. Da die Meteorologie
wie keine andere Wissenschaft auf die Mitwirkung Zahlreicher an-
gewiesen ist, so mußte sie unter dem Einflüsse der politischen Wirren
im letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts und der sich an-
schließenden napoleonischen Kriege verktlmmem , erst nachdem
Europa der Frieden wiedergegeben war, konnte sie zu neuem Le-
ben erblühen. Allmählich haben sich die meteorologischen Beobach-
tungssysteme mehr und mehr ausgebreitet, und heute finden wir über
alle civilisierten Staaten der Welt (die Türkei und Griechenland
ausgenommen) ein mehr oder weniger dichtmaschiges Netz meteoro-
logischer Stationen ausgebreitet. Die Verarbeitung des durch Beob-
achtung gewonnenen Materials war lange Zeit hindurch eine stati-
stisch-geographische; die wissenschaftlichen Meteorologen verfolgten
fast ausschließlich klimatologische Ziele, für alle Orte der Erde die
durchschnittlichen atmosphärischen Verhältnisse zu kennen, erschien
als das Ideal der Meteorologen, nur ausnahmsweise fanden besondere
Erscheinungen (heftige Stürme, strenge Kälte etc.) ein besonderes
Studium, das dann nicht verfehlte zu wichtigen Entdeckungen An-
laß zu geben. Wie Kopp treffend bemerkt, man studierte das Wet-
ter wie es in der Vergangenheit gewesen war, während sich heute
die Mehrzahl der Meteorologen mit dem Wetter beschäftigt, wie es
ist und wie es voraussichtlich sein wird. Dieser Umschwung trat
ein, sobald es gelang die Telegraphic der Wetterberichterstattung
dienstbar zu machen. Die heutige meteorologische Forschung mit
ihrem Streben, dem praktischen Leben, namentlich der Seefahrt und
Landwirtschaft, nützlich zu sein, setzt ein internationales Zusammen-
wirken voraus ; wie dieses durch meteorologische Kongresse und Kon«-
ferenzen herbeigefllhrt worden ist, und wie sich die telegraphiscbe
van Bebber, Handbuch der ausübenden Witterungskunde. 221
Wetterb erichterstattiiDg in den einzelnen Staaten Enropas, Asiens
nnd Amerikas entwickelt hat, ist der Inhalt der beiden Schloßkapitel
des ersten Bandes des vorliegenden Werkes.
üeberblickt man die Entwickelung der Meteorologie, so glaube
ich, wird man die Geschichte dieser Wissenschaft am besten in zwei
große Epochen teilen, von denen die erste vom grauen Altertum bis
in die Mitte des 17. Jahrhunderts reicht, sie ist die Zeit der meteo-
rologischen Beobachtung ohne instrnmentelle Httlfsmittel. Die zweite
Epoche erstreckt sich von da bis in unsere Tage, sie ist die Zeit
instrumenteller Beobachtung und der Zurttckflihrung der atmosphäri-
schen Erscheinungen auf physikalische Gesetze. Diese Epoche zer-
fällt in drei Perioden 1) bis 1780 die Zeit der Bestrebungen Ein-
zelner; 2) 1780 — 1860, die Zeit vorwiegend statistisch-geographischer
Studien auf Grund des nach gemeinsamen Principien gewonnenen,
an Centralstellen gesammelten und von hier aus publicierten Mate-
rials (was in diesem Zeitabschnitt geleistet worden ist, das ist der
Inhalt von E. E. Schmudis Lehrbuch der Meteorologie) ; 3) 1860 bis
heute, die Zeit vorwiegend synoptischer Studien mit Hülfe täglicher
Wetterkarten oder auch die Zeit der wissenschaftlichen Wetter-
prognose auf Grund telegraphischer Berichterstattung. Selbstver-
ständlich werden auch in dieser Zeit die klimatologischen Unter-
suchungen fortgesetzt, und es ist wohl wahrscheinlich, daß sie mit
der Zeit wieder etwas mehr aus dem Hintergrunde, in den sie angen-
blicklich durch die praktischen Anforderungen an die Meteorologie
gedrängt sind, hervortreten werden.
IL Teil: Gegenwärtiger Zustand der Wetter-
prognose. Im ersten Hauptabschnitte des zweiten Bandes wird
der gegenwärtige Zustand der Wettertelegraphie dargelegt und daran
Vorschläge zur Verbesserung derselben geknüpft. Dieses Kapitel
hat auch fttr den Laien ein großes Interesse, denn es gestattet einen
Einblick in einen Hauptteil der Thätigkeit der großen Central*
institute, indem es eine Vorstellung gibt von dem telegraphischen
Verkehr dieser Anstalten und der Verarbeitung des Depeschenma-
terials, wovon sich der Uneingeweihte nur ein h(3chst mangelhaftes,
wenn nicht ganz falsches Bild zu machen pflegt. Die Vorschläge
zur Verbesserung unserer telegraphischen Berichterstattung verdie-
nen ganz besondere Beachtung; es wäre sehr zu wünschen, daß
dieselben eine lebhafte Diskussion hervorriefen, wodurch sie ohne
Zweifel gefordert werden wtlrden.
Das amerikanische System übertrifift die europäischen durch die
Exaktheit, mit welcher es fanktioniert, ganz bedeutend. Der Grund
hierfür liegt in den reichen Mitteln, über welche das Signal OfSce vcr^
222 Gdtt. gel. Anz. 1887. Nr. 6.
fügt (im Jahre 1881—82 beliefen sich die Ansgaben aaf rand 1022000
Doli.), in der straffen Disciplin (die meteorologischen Beobachtangen
bilden den Friedensdienst der Militär-Telegraphenabteilang) , in den
gesetzlichen Verpflichtangen sämtlicher Telegraphenverwaltangen ge-
genüber dem Signal Office, und endlich in dem Umstände, daß man sich
fast ganz aaf inländische Berichte beschränken kann. Charakteristisch
ist dem amerikanischen Wetterdienste ferner die rasche Verbreitong
der Beobachtnngsergebnisse durch das >Circait System« über das
ganze Land. Der Entwickelang der Wettertelegraphie in Earopa steht
ein anüberwindliches Hindernis entgegen : die Centralanstalten, insbe-
sondere die des Kontinentes, bedürfen nicht nar inländischer, sondern
auch ausländischer Berichte, es müssen also die Telegraphenverwal-
tangen verschiedener Länder zusammenwirken. Wenn aber auch
dieses Hemmnis bestehn bleibt, es läßt sich doch manches verbessern.
Was auf dem Kontinente angestrebt werden muß, ist nach der Mei-
nung des Ref. nicht allein eine pünktlichere Berichterstattung an
die Centralstellen, es muß auch für eine raschere und weitere Ver-
breitung der Beobachtungsergebnisse gesorgt werden. Es dürfte sich
empfehlen im Großen und Ganzen das amerikanische System zum
Muster zu nehmen. Bislang werden die Wetterberichte bei uns als
Staats- oder Dienstdepeschen befördert und wirken so während län-
gerer Zeit störend auf den öffentlichen Verkehr. Ich glaube, es ist
eher eine Verminderung als eine Steigerung dieser Störung, wenn
die betreffenden Telegraphenlinien für wenigstens zwei kurze Mo-
mente ausschließlich für die Wetterberichterstattung reserviert blie-
ben, zumal einer dieser Zeitpunkte in die Nacht fallen kann. Als-
dann aber müßten die Beobachtungen nach Simultanzeit angestellt
werden. Daraus ergibt sich für die Mehrzahl der meteorologischen
Stationen, welche gleichzeitig klimatologischen Zwecken dienen, eine
Verdoppelung der Arbeit; bei dem regen Eifer aber, den die mei-
sten meteorologischen Beobachter schon durch lange Zeit an den
Tag gelegt haben, wird dieses Hindernis mit ziemlich geringen Mit-
teln zu überwinden sein. Weniger leicht wird es sein, die verschie-
denen Centralstellen Europas zur Annahme derselben Beobachtungs-
termine zu bestimmen; man erinnere sich nur, welche Mühe es ge-
kostet hat, die Annahme eines internationalen Nullmeridians durch-
zusetzen, obwohl hier noch nicht einmal praktische Fragen, die aus
den Bedürfnissen des großen Publikums entspringen, in Frage ka-
men. Es wäre aber auch schon ein Fortschritt, wenn nur an allen
Stationen desselben Netzes nach Simultanzeit beobachtet würde. Man
hätte dann nur an den Grenzen der verschiedenen nationalen Sy-
steme Sprünge, die leicht zu berücksichtigen wären. Da man doch
van Bebber, Handbuch der ausübenden Witterungskonde. 223
über kurz oder lang m Simaltanbeobachtangeii wird flbergebn mils-
sen, 80 möge man diesen Zeitpunkt niebt za weit binansscbieben. —
Einen weiteren Fortschritt in der Wettertelegraphie, der nnbedingt
angestrebt werden maß, sehe ich, wie schon gesagt, in der AnsbiK
dnng der Berichterstattung von Seiten der Gentralstellen an das
Publikum. Man kann nicht behaupten, daß diese heute, in Deutsch-
land wenigstens, ausreichend wäre; das liegt aber nicht an der
Centralstelle, sondern an den Telegraphenbehörden. Zur Zeit ge-
langen bei uns, mit Ausschluß der Küstengebiete, die Beobachtungs-
resultate nur durch die größeren Zeitungen (1880 im deutschen
Reiche durch wahrscheinlich nur 59) in das Publikum (die autogra-
pbischen Wetterberichte kommen viel zu spät) und zwar meist in
Gestalt von Tabellen, die für die Mehrzahl der Leser ganz unver-
ständlich, weil unübersichtlich sind, zudem kommen diese Zeitungen
zn spät in die Hände der meisten Interessenten. Es ist zu verwun-
dern, daß trotzdem unsere Bevölkerung noch einen so lebhaften Anteil
an den Bestrebungen der Meteorologen nimmt Unstreitig würde
dieses Interesse, dessen die Meteorologie wie wenige andere Wissen-
sehaften bedarf, außerordentlich gehoben werden, wenn sich die Te-
legraphenverwaltungen entschließen wollten vielleicht nach einem
den amerikanischen Circuits ähnlichen Systeme die Beobachtungs-
ergebnisse einmal täglich an eine größere Anzahl von Stationen des
Reiches portofrei oder doch gegen ein mäßiges Entgeld zu über-
mitteln, wo sie dann von Amtswegen durch Anschlag und kartogra-
phische Darstellung bekannt gemacht, und von wo sie auch recht-
zeitig weiter verbreitet werden könnten. Im Wesentlichen dürfte
ein derartiger telegraphischer Wetterdienst auch den Wünschen des
Verf. entsprechen. Daß er durchführbar ist, beweist Nord-Amerika.
Das zweite Kapitel ist das wichtigste des ganzen Bandes; es
bebandelt die Grundzüge der ausübenden Witterungskunde. Die
klimatischen Konstanten, deren Kenntnis für die Aufstellung einer
rationellen Prognose unerläßlich ist, finden in allen neueren Lehr-
bttehern der Meteorologie und Klimatologie eine mehr oder weniger
aasfttbrliche Behandlung, der Verf. konnte also mit wenigen Wor-
ten, nur das Wichtigste hervorhebend, über dieselben hinweg
gebn. Um so eingehender werden die barometrischen Maxima und
Minima, die ja nach den modernen Anschauungen das Wetter be-
herrschen, untersucht. Herr van Bebber findet sich hier auf seinem
eigensten Forschungsgebiete. Unsere Kenntnisse von den Eigen-
schaften und dem Verhalten der barometrischen Maxima sind noch
in mehrfacher Beziehung mangelhaft, da ihre statistische und karto-
graphische Behandlung mancherlei eigentümliche Scbwierigkeitea
224 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 6.
hat, die bei dem Studiam der Depressionen nicht, oder doch nar in
weit geringerem Maße hervortreten, diese sind uns daher weit bes-
ser bekannt als jene. Zwischen den tropischen Wirbelstttrmen and
den Windsystemen, welche in unseren Breiten den barometrischen
Depressionsgebieten zugehören, besteht nur ein gradueller Unter-
schied. Der Verf. gibt daher an dieser Stelle zunächst einen histo*
risch-kritischen Ueberblick über die älteren Stnrmtheorien ; ausführ-
licher wird die Dovesche Theorie besprochen, welche sich in Europa
eines derartigen Ansehens erfreute, daß hier die genialen Unter-
suchungen William Ferrels mehr als zwanzig Jahre so gut wie un-
beachtet blieben. In großen Zügen wird alsdann die moderne Oy-
donentheorie dargestellt, und noch einiger anderer neueren Theo-
rien Erwähnung gethan, von denen uns die von Faye besondere Be-
achtung zu verdienen scheint, weil sie die Cydonen der unteren
Luftschichten in Zusammenhang mit der allgemeinen atmosphärischen
Cirkulation zu bringen versucht^). Die Untersuchungen von Miller-
Hauenfels bleiben unberücksichtigt.
Die nächsten Abschnitte bringen eine ausführliche Darstellung
der Konstitution der europäischen Cyclonen an der Hand der Wind-
und Wolkenbeobachtungen. Eine genaue Untersuchung der Vertei-
lung der meteorologischen Elemente in den Cyclonen haben wir bis-
lang nur für solche, welche das Gebiet der Ostsee betreten, bezüg-
liche Studien für Binnenlandstationen sind noch nicht angestellt, ob-
wohl sie von besonderem Interesse sein dürften. Darauf wird die
geographische Verbreitung mit ihrer jährlichen Periode in Europa
betrachtet, die Tiefe, Veränderlichkeit, das Entstehn und Verschwin-
den der Depressionen besprochen und dann zu dem wichtigen Ab-
schnitte über die Fortpflanzung der barometrischen Minima überge-
gangen, an welchen sich die Behandlung der »typischen Witterangs-
erscheinungen c anschließt. Diese Untersuchungen stützen sich vor-
nehmlich auf eine Statistik der Cyclonen von 1876 — 80 nach den
Wetterkarten der Seewarte; sie ganz zu würdigen ist wohl nur der
im Stande, dem es vergönnt ist, auf Grund der täglichen Wetter-
karten selbst regelmäßig Prognosen aufzustellen. Es wäre zu wün-
schen gewesen, daß der Verf. seinem Werke an geeigneter Stelle
Köppens vortreffliche Karte, die Häufigkeit der mittleren Zug-
straßen der barometrischen Minima darstellend, einverleibt hätte.
Dies Kapitel wird zu zahlreichen Untersuchungen Anlaß geben.
Kap. III gibt eine Anleitung zur Aufstellung von Wetterprogno-
1) Vergl. hierzu auch den kürzlich erschienenen Anfsatz von Werner Siemens
Wiedemanns Ann. d. Phys. u. Chem. 28 p. 263, 1886.
van Bebber, Handbuch der ausübenden Witterungskupde. 225
sen aaf Grand der Wetterkarten bei Benutzang der typischen Er-
scheinungen.
Die im Voraufgehenden enthaltenen Untersnchangen beziehen
sich in erster Linie aaf die Abhängigkeit des Wetters and seiner
Aenderangen von der Laftdrackverteilang , wie sie sich in Deutsch-
land geltend macht. Aehnliche Bestrebungen sind auch in Frank-
reich, Großbritannien und Italien zu Tage getreten. Aus der Be-
sprechung, welche der Verf. diesen angedeihen läßt, gewinnt man
den Eindruck, daß sie dem hier ausführlich mitgeteilten Systeme an
Einfachheit und Uebersichtlichkeit nachstehn. Namentlich erscheint
das System von Poinear6, welches für Nordfrankreich gelten soll,
sehr kompliciert und, wenn man die kurze Zeit der Beobachtungen,
auf welche sich dasselbe stützt, in Betracht zieht, auch wohl etwas
zu detailliert
In neuerer Zeit hat sich ein ziemlich lebhafter Streit um die
Bedeutung lokaler Beobachtungen für die Wetterprognose erhoben,
indem behauptet wurde, die Kenntnis der allgemeinen Wetterlage
sei für eine lokale Prognose ziemlich wertlos. Es versteht sich von
selbst, daß der Verf. dieser Ansicht nicht beipflichten kann ; dennoch
bat auch für ihn die Beachtung lokaler Wetterangaben eine ge-
wisse Bedeutung, aber vornehmlich in anderer Hinsicht als man ge-
wöhnlich anzunehmen pflegt (Kap. V, S. 384). »Meiner Ansicht
nach besteht aber der Wert der Anwendung dieser lokalen Anzeichen
auf die Prognose insbesondere darin, daß wir unter dem frischen
Eindrucke der Witterungserscheinungen die Aendernngstendenzen am
Orte intensiver verfolgen und ein gegründetes Urteil darüber ge-
winnen können, in welcher Weise sich die Veränderungen der all-
gemeinen Wetterlage für die betreffende Gegend vollziehen werden«.
Folgen dann einige Winke, wie bei Zugrundelegung der Wetter-
karten die beobachteten Aenderungen der meteorologischen Elemente
namentlich des Wolkenhimmels (Clement Ley, Richter) von Wert
sein können.
Eine vorurteilsfreie Prüfung der gestellten Prognosen an der
Erfahrung ist fttr die Entwickelung der Prognose ebenso wichtig,
wie sie schwierig ist, wir müssen daher dem Verf. Dank wissen,
diesen Gegenstand nicht übergangen zu haben. Wir lernen in
Kap. VI die von der See warte früher (bis I.Jan. 1886) und die jetzt
befolgte Methode kennen, welche letztere, von Koppen ersonnen, den
Vorzug hat, von jeder Willktthr frei zu sein.
In Kap. VII behandelt der Verf. die Frage nach der Möglich-
keit einer Wetterprognose auf längere Zeit voraus. Wenn man von
einer Berechnung des mutmaßlichen Wetters der Zukunft aus dem
226 Gott. gel. Auz. 1887. Nr. 6.
Witterangscbarakter der verflosseneD Zeit nach den Orundsätzen der
Wahrscheinlichkeitsrechnnng (Kap. VIII) absieht, so erfordert eine
derartige Prognose eine wenigstens angenäherte Kenntnis der Laft-
drackverteilang über dem Ostlichen Teile des atlantischen Oceans.
Um diese za erhalten, hat Hoffmeyer vorgeschlagen eine regelmäßige
telegraphische Berichterstattung von Grönland, den Far Öern, Island
und den Azoren anzustreben, ein Projekt, das lebhaften Beifall ge-
funden hat und seitdem wiederholt ventiliert wurde, das aber vor
allem eine telegraphische Verbindung jener Punkte mit dem Kon-
tinente voraussetzt, die wohl noch lange auf sich warten lassen wird.
Die räumliche Verteilung gleichzeitiger Niederschläge und die
Möglichkeit einer hierauf gegründeten Einteilung eines gegebenen
Gebietes in Prognosenbezirke bilden das Schlußkapitel, das noch
sehr der Ergänzung bedarf, da bezQgliche Untersuchungen bislang nur
für Württemberg und Bayern ausgeführt wurden.
Angehängt sind dem Werke sodann noch ein Abschnitt über
das Manöverieren der Seeschiffe bei Stürmen mit praktischen Regeln
für Seeleute in tropischen Wirbelstttrmen und eine Anzahl meteoro-
logischer Hülfstabellen. Ein Namen- und Sachregister findet sich
am Ende des zweiten Bandes.
Das vorliegende Werk erhält noch einen besondem Wert durch
die ausführlichen Litteraturnachweise. Dürfen wir noch einen Wunsch
aussprechen, so ist es der, daß in einer neuen Auflage diese Citate
nicht an das Ende der Bände, sondern direkt unter den Text ge-
stellt werden; die Benutzung derselben wird bequemer und die Dar-
stellung dadurch gewiß nicht gestört.
Göttingen. Hugo Meyer.
Zweinndsechzigster Jahresbericht der Schlesischen Gesell-
schaft für yaterl&ndische Gnltur. Jahrgang 1884. 8^ XLII und
402 S. Breslau, Aderholz.
Wie früher zerfiillt der Jahresbericht in einen allgemeinen Teil
and in Einzelberichte über die Thätigkeit der verschiedenen Sektionen.
Medicinische Sektion. (S. 1 — 160). In dieser Sektion hielt
Voltolini einen Vortrag über Taberkniose des Ganmensegels
und des Kehlkopfes, demonstrierte daher stammende Tuberkel-
Bacillen und gab Veranlassung zn einer Discussion über die Tuber-
kulose überhaupt. Bekanntlich hat Virchow die Forderung gestellt,
zwischen einer baeillären and einer nicht-bacillären Form der Tuber-
kalose zu unterscheiden. Ponfick (S. 19) will dagegen nur das als
Zweiondsechzigster Jahresbericht d. Schlesisch. Ges. für vaterländische Eultor. 227
Taberkulose betraebten, was mit der Anwesenheit der speeifisehen
Baeillen von vornherein verbunden und erfahrnngsgemäS dnreh sie
hervorgerafen ist. Die secandären miliaren Knötchen , welche man
bei Tieren z. B. dnrch Injektion von Zinnober oder Glaspalver unter
die Haut erzeugen kann, würden also nicht unter diese Definition
fallen. Lassen wir das aber hier bei Seite und abstrahieren wir auch
von einem technischen Bedenken. Wenn man in irgend einem der
Luft fortwährend zugänglichen Geschwür in der Mund-Pharynx-
bohle oder im Kehlkopf feine stäbchenförmige Bacillen antrifft,
mögen sie sich nun färben resp. entfärben lassen oder nicht, so kann
man doch hieraus unmöglich die Diagnose auf Tuberkelbacillen ab-
leiten. Denn es gibt viele indifferente aber vollkommen ähnlich aus-
sehende Bacillen, wie schon sehr lange bekannt ist. Die Praktiker
aber sind sich dieser Fehlerquelle um so weniger bewußt, weil sie
die letztgenannten Bacillen gewöhnlich gar nicht einmal kennen.
Lassen wir jedoch, wie gesagt, das bei Seite, so resultiert eine
enorme Abweichung von den seit Alters her gangbaren Vorstellungen.
Man weiß oder glaubte zu wissen, daß die Tuberkulose zwar erblich
ist, aber nicht ansteckend. Nach der Entdeckung von R. Koch sollte
man nun bei einer baciilären Krankheit gerade das Umgekehrte er-
warten. Bacillen sollten anstecken wie die Gholerabacillen und nicht
erblich sein, so wenig wie etwa die Krätzmilbe. Vor der Ent-
deckung der letzteren hielten ja manche Aerzte auch die Krätze ftlr
erblich, weil sie bei Eltern und deren Kindern gleichzeitig beobach-
tet wurde. In Betreff der Erblichkeit der Tuberkulose hilft man sich
jetzt bekanntlich dnrch die Annahme, daß zwar nicht die Bacillen
erblich sind, aber eine anatomische Disposition: schmaler Brust-
kasten, gebengte Rücken Wirbelsäule, Neigung zu Katarrhen und da-
durch bedingte leichtere Vulnerabilität der Bronchialschleimhaut und
der Lungen, in welche die Bakterien am leichtesten einwandern
können, wenn die schützenden Epithelüberzüge durch Katarrh lä-
diert sind. Man könnte sich auch auf die Untersuchungen von Jani
berufen, der in den Hoden und der Prostata sowie andererseits in
den Eileitern von Lungenschwindsüchtigen Tuberkelbacillen aufge-
funden hat, so daß wenigstens doch eine Möglichkeit gegeben ist,
die letzteren möchten schon zur Zeit der Zeugung oder später auf
dem Wege des Blutkreislaufes durch die Placenta in das Ei hinein-
gelangen (Ref.). In Bezug auf die Ansteckungsfähigkeit dagegen
ist die Sache nicht nur schwieriger, sondern zugleich von eminente-
ster praktischer Bedeutung. Vielleicht ein Drittel aller Gestorbenen
gebt an Tuberkulose zu Grunde, die Sputa der Kranken enthalten
notorisch Bacillen, man müßte also , wenn die Ansteckungsfähigkeit
228 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 6.
eine erhebliche ist, eigentlich schon von Seiten des Staates anf ün-
schädlichmachang des Aaswarfes, wo der Taberkalöse geht nnd
steht, dringen. Von den Konsequenzen für die zahlreichen Taber-
knlösen auf den Sälen großer Krankenhänser, in Eororten wie Me-
ran, Nizza nnd in eigenen Heilanstalten für Tuberkulose ganz za
schweigen. Voltolini nun bestreitet principiell die Ansteckangsfähig-
keit. Er beruft sich auf die Seltenheit der gleichzeitigen oder sac-
cessiven Erkrankung von Ehegatten, auf die Immunität der Kran-
kenwärter in jenen Anstalten, auf die Möglichkeit eines zufälligen
Zusammentreffens oder gleichzeitiger hereditärer Belastung bei einer
an sich so häufigen Krankheit u. s. w. Ferner wird aus denThier-
experimenten mit Koch der Schluß gezogen, daß die Tuberkulose
eben nur dann ansteckend sei, wenn sie eingeimpft, die Bacillen also
unter die Haut gebracht werden, gerade wie z. B. die Syphilis oder
Intermittens, weil es Gerhardt gelang, von einem bei einem Wechsel-
fieberkranken entstandenen Herpesbläschen die Intermittens überzu-
impfen. Auch meint Voltolini, daß trotz der zahlreichen Impfungen
durch zufällige Verletzungen bei Sektionen doch die betreffenden
Aerzte nicht tuberkulös geworden wären. Im Ganzen läuft die De-
duktion darauf hinaus: weil trotz tausendjähriger Erfahrung, trotz
der Millionen von Bacillen , welche an Versammlungsorten der
Schwindsüchtigen täglich ausgehustet werden und noch im getrock-
neten staubförmigen Zustande überimpfbar sind, die Ansteckungs-
f&higkeit der Tuberkulose bisher nicht erkannt worden ist, so —
sind die Tuberkel- Bacillen nur als gleichsam zufällige Ansiedler auf
den tuberkulösen Geschwüren, in den Kavernen n. s. w. zu betrach-
ten. Dagegen sagt Koch mit Recht : ein solches Ansiedeln kann doch
nicht nur eine Marotte dieser Krankheit sein.
Wollner (S. 21—37) sprach über Diabetes und seine Kur in
Karlsbad. Die Krankheit ist unheilbar, kann aber längere Inter-
missionen, bis zu vier Jahren z. B.. machen. Unter 210 Diabetikern
fanden sich 20, die niemals an vermehrtem Durstgeftthl oder ver-
stärkter Hamabsonderung litten. Katarakte kamen in 4%, Amblyo-
pie in 5 o/o, Retinitis in 3% vor. Der höchste Zuckergehalt des
Harnes betrug 10 %• Golezowski (1883) fand die ersteren Procent-
zahlen viel höher, z. B. 31% Katarakten; die Differenz würde sich
durch die Annahme erklären, daß sich die letztere französische Sta-
tistik vorzugsweise aus schweren Fällen zusammensetzt, während die
leichteren in Folge der weniger sorgfältigen Untersuchung übersehen
worden sind (Ref.). Wollner sieht dagegen eine Art von wissen-
schaftlichem Chauvinismus darin, der sich in Angriffen anf die deut«
sehe Ophthalmologie geäuftert haben mag, der aber doch die Zah-
ZweiundsecLzigster Jahresbericht d. Schlesisch. Ges. für vaterländische Kultur. 229
leo an sieh kaum beeinflassen köuote. Förster erklärte, daß es über-
haupt nicht möglieh sei, bei älteren Leuten zu entscheiden, ob man
eine diabetische oder eine einfach senile Katarakt vor sich habe,
die Statistik sei hierbei also immer mit Unsicherheit behaftet. —
Störungen der Geschlechtsfunktionen konstatierte Wollner nur bei
ca. 20%. Interessant ist es, daß Karlsbad den Zuckergehalt vor-
flbergehend herabsetzt, obgleich allen dort tlblichen, sowie auch den
Diätregeln ftlr Diabetiker von den Kranken Hohn gesprochen wurde.
Wie thöricht die ersteren Regeln sind und vielleicht nur den Hotel-
besitzern zu Gute kommen, da eine solche sog. Kurdiät im Großen
sich billig liefern läßt, scheint man nach und nach auch an den
Badeorten selbst einzusehen. Dem entsprechend will Wollner die
Ernährung des Diabetikers höchstens vorübergehend durch strikte
Fleischkost, im Allgemeinen aber durch gemischte Kost mit vorwie-
gender Berücksichtigung stickstoffhaltiger Nahrungsmittel bewerk-
stelligen, sogar ohne Roggenbrot ganz zu verbieten. Trotz reich-
licher Stärkmehl haltiger Kost ließ sich der Zuckerverlust in leichte-
ren Krankheitsfällen zurückdrücken , wenn energische Muskelan-
strengungen, wie Bergbesteigungen mit einer Trinkkur kombiniert
wurden. Vielleicht wäre es thunlich, die letztere das ganze Jahr
oder doch Monate hindurch fortzusetzen.
In der Diskussion heben noch Ponfick die Kombination mit
Lungen nekrose, Berger mit physischen und nervösen Symptomen,
Asch mit Furunkulose hervor, welche letztere Kombination Neißer
für mehr zufällig ansehen wollte. — Da der Harn ohne Zncker-
reaktion darzubieten im Anfange der Krankheit oder bei Inter-
missionen nicht selten ein hohes specifisches Gewicht zu zeigen fort-
fährt, so läßt sich vermuten, daß hieran noch besondere, abnorme
Stoffwechselprodukte Schuld seien.
Magnus (S. 50 — 63) sprach über die Blennorrhoea neona-
torum. Der Schaden, welchen der Nationalwohlstand oder der
Staat durch das Erblinden eines Kindes erleidet, ist auf fast 12,000
Mark zu veranschlagen. Eine rechtzeitige ärztliche Behandlung
würde oftmals das Unglück der Erblindung haben beseitigen kön-
nen und schon deshalb erscheint eine größere Sorgfalt in Betreff
der Prophylaxis dieser verhütbaren Krankheit lohnend zu sein. Da
die letztere jedenfalls von der Mutter auf das Kind übertragen wird,
die blennorrhoischen Erblindungen aber ungefähr 25 7o der ver-
meidbaren ausmachen, so hielt Jani in der Diskussion es für not-
wendig, den Hebammen ihre Verantworlichkeit klar zu machen^ in-
dem sie sich durch eigene Kurversuche, Unterlassung der ihnen auf-
SKuIegenden Anmeldung der Krankheit u. s. w. einer fahrlässigen^ im
230 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 6.
Maximnm mit drei Jahren Geföngnis zu ahndenden Körper?erletznng
schuldig machen würden.
Neißer (S. 66—67) demonstrierte einen sog. Bärenmenschen,
nämlich einen Fall abnormer Behaarang bei einem 13jährigen Kna-
ben. Der ganze Körper ist mit feinen, weichen Wollhaaren sehr
dicht besetzt, am meisten das Gesicht; wie gewöhnlich besteht ein
Defekt der Zahnentwickelang, so daß nar fttnf Zähne vorhanden
sind. Diese Behaarung ist als eine Entwickelungshemmung zu be-
trachten, indem das embryonale, in den sechs letzten Schwanger^-
Schaftsmonaten normal sich entwickelnde Haarkleid bei diesen Fäl-
len, von denen etwa 23 bisher bekannt geworden sind, sich nicht
abgestoßen hat, um durch die bleibenden Haare ersetzt zu werden-
Dem entspricht die vorzugsweise im Gesicht hervortretende Behaa-
rung, ferner die mikroskopische Beschaffenheit derselben. Die Haare
sind wie die embryonalen Haare fein, pigmentarm und marklos, sog«
Rindenhaare.
Berger (S. 70 — 75) besprach die Tabes dorsal is. Im Ini-
tialstadium sind die lancinierenden Schmerzen das wichtigste, nur
in 14,5 7o fehlende Symptom; ohne tabische Grundlage kommen
solche durchaus nicht häufig vor. Nicht nur der Patellarsehnen-
reflex, sondern auch der Achillessehnenreflex fehlen später regelmäßig.
Harnblasensymptome, insbesondere ohne nachweisbaren Grund im
Mannesalter auftretende Enuresis nocturna sind häufig. Die initia-
len Neuralgien können unter dem Bilde einer heftigen Migraine auf-
treten. Auch die sog. reflektorische Pupillenstarre ist zu beachten.
Born (S. 75—85) hat seine Studien über die Entwickelung
der Froscheier, speciell über den Einfluß der Schwere, auf
dieselbe fortgesetzt. Bekanntlich hatte Pflüger (1883) eine direkte,
richtende Wirkung der Schwerkraft auf die Teilung der Eier resp.
der Zellen überhaupt aus seinen Versuchen gefolgert. Born dagegen
erkennt nur eine, freilich auch interessante, indirekte Wirkung an,
die bedingt ist durch die excentrische Lage und das ohne Zweifel
geringere specifische Gewicht des Kernes (Keimbläschens) in dem
speciellen Falle des befruchteten Froscheies. Nach Pflüger ist durch
die Verlagerung des hellen Eipoles in bestimmter Weise die spätere
Medianebene des Embryo festgestellt; Born formuliert die Sache so,
daß letztere immer durch den vertikalen Meridian geht, welcher die
höchste Erhebung des weißen Kreises (in seiner späteren Stellung)
trifft. Diese Stelle ist zugleich diejenige, wo später die Blastoporoa
zuerst auftritt. Bonx kam gleichzeitig und unabhängig in Bezug auf
die Lage der späteren Medienebene an normalen Eiern von Rana
esculenta zu denselben Resultaten wie Born, der in Zwangslage
Zweinndsechzigster Jahresbericht d. Schlesisch. Ges. fur vaterländische Kultur. 231
fixierte Eier nntersucbte. Das Merkwürdige ist dabei, daß trotz der
durch VerlageruDg der Eier herbeigeführten, erheblichen Störungen
in der Verteilung des Eimateriales sich schließlich doch normale Kaul-
quappen entwickeln. Auch die Willkür, mit der man die Richtung
der Medianebene ändern kann, macht das Problem der Entwickelung
durchaus nicht leichter verständlich, denn die Sicherheit in der Ver-
erbung nicht bloß der großen (zoologischen) Familiencharaktere,
sondern der kleinsten Eigentümlichkeiten der Art und selbst des In-
dividuum hat immer dazu geführt, eine möglichst frühzeitige, spe-
cielle, örtlich feste Austeilung des Eimateriales je nach seinen zu-
künftigen Bestimmungen anzunehmen. Die experimentellen Erfah-
rungen zeigen sich dieser bekanntlich von His betonten Auffassung
nicht günstig, doch werden weitere Untersuchungen erforderlich sein.
In der Diskussion stellte Roux auch solche in Aussicht über die
Frage, ob die Richtung von vorn nach hinten beim künftigen Em-
bryo schon im unbefruchteten Froschei fest gegeben ist, oder ob
dieselbe erst nach der Befruchtung bestimmt wird.
Ponfick (S. 104—108) hielt einen sehr interessanten Vortrag
über Actinomykose ohne Actinomyces (Strahlenpilz). Von
dieser neuen, nicht sehr angenehmen Krankheit, die dem größeren
Publikum noch ziemlich unbekannt ist, kamen Ponfick drei weitere
Fälle vor und es stellte sich dabei heraus, daß große Zerstörungen
in den Organen, die der Pilz veranlaßt, den letzteren selbst so weit
zu Grunde richten können, daß nur bei genauester Nachforschung
noch Reste von demselben zu entdecken sind. Daraus folgt ohne
Weiteres, daß ein Uebersehenwerden leicht möglich ist und ferner-
weit, daß diese Pilzkrankheit viel häufiger auftritt, als man bisher
vorauszusetzen geneigt war. Auch Wolff (S. 113—121) teilte einen
ähnlichen Fall mit, bei welchem der Kranke anfangs eine Arsenik-
vergiftung sich zugezogen zu haben glaubte, und Soltmann (S. 127
— 128) wies zum ersten Male die Einwanderung auf dem Wege
einer verschluckten Garbe der Mäusegerste, Hordeum neurinum nach.
Im Anschluß an seine erwähnte Darstellung der Tabes dor-
sal is (S. 230) hat Berger (S. 138—140) auch die Beziehungen der-
selben zur Syphilis erörtert. Während man seit Hippokrates die
sog. Rückenmarksschwindsuoht mit Excessen in Verbindung zu brin-
gen pflegte, läugnete Leyden die Aetiologie der Syphilis für die
Tabes durchaus. Berger konstatierte unter 100 Fällen 43mal Sy-
philis nnd zwar betrug die durchschnittliche Zeitdauer zwischen der
Infektion nnd der Entwickelung der Tabes 8,4 Jahre. Ein sehr
charakteristischer Fall wurde von ihm bei einem 74jährigen Manne
beobachtet. Andere Ursachen der Tabes behalten darum doch ihr^
232 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 6.
Bedeutung ; 43 % vorausgegangene Syphilis bei Nicfat-Tabetischen
wtirde aber unerhört sein und einer antisyphilitischen Behandlung
der Tabes namentlich in deren Anfange das Wort zu reden sein.
Fränkel (S. 142 — 148) erörterte die Wirkungen des damals neuen
Anästhesiernngsmittel, des Cocains, auf die Schleimhäute und
empfiehlt dasselbe außerdem, wenn die Reflexerregbarkeit herabge-
setzt werden solle. Ebenfalls Landmann (S. 148 — 154) benutzte die-
selbe Substanz Tielfach in der Augenheilkunde als Narkoticum und
Anästheticum f&r die Eonjunktiva, bei kleinen Operationen am
Auge u. s. w. Nach Fränkel ist es besonders in der Zahntechnik
zu empfehlen, um die freiliegende Pulpa abzustumpfen, wozu man
bisher meistens Arsenik u. dergl. zu gebrauchen pflegte.
Ponfick (S. 154 — 157) demonstrierte die bekannte in Deutsch-
land herumreisende Mikrocephalin, Margarethe Becker, das
Mädchen mit dem Vogelkopfe. Seit G. Vogt derartige Mikrocephalen
als Affenmenschen bezeichnete und auch schon früher haben sie
stets das Interesse des großen Publikum wachgerufen, das die zahl-
reichen analogen, in Irrenhäusern oder Idiotenanstalten detiuierten
Fälle nicht kennen kann. Um dies zu erläutern muß Ref. ein we-
nig weiter darauf eingehn. 'Blödsinnige, Idioten, Cretins und Mikro-
cephalen sind keineswegs Synonyme. Der Blödsinn kann ange-
boren oder erworben, nämlich als Ausgang von Geisteskrankheiten
entstanden sein. Idiotie ist angeborener Blödsinn. Von der Idiotie
bat man seit langer Zeit den Gretininismus abgeschieden, charakte-
risiert durch sein endemisches Vorkommen, meist in Gebirgsthälern,
durch das Vorhandensein eines mehr oder weniger starken Kropfes
und durch die frühzeitige oder embryonale Verknöchernng der Syn-
chondrosis basilaris, wodurch die Schädelbasis zu kurz wird. Als
Mikrocephalie bezeichnen die Irrenärzte jede erhebliche Verklei-
nerung des Schädels und Gehirnes; jeder Mikrocephale leidet an
angeborenem Blödsinn, aber keineswegs ist jeder Idiot zugleich mi-
krocephal. Vielmehr läßt sich eine Reihe bilden von unbedeuten-
den Verkleinerungen, den Minimalmaßen der Schädelgröße bei Ge-
sunden entsprechend, bis zu den ausgesprochensten Mikrocephalen,
deren Köpfe solchen von ganz jungen Kindern gleichkommen. Die
geistige Störung geht keineswegs der Wachstumshemmung des Schä-
dels parallel, man sieht aber so viel, daß es sich um pathologische
Processe, namentlich Entzündungen, Wassersucht u. desgl. des Ge-
hirnes handelt. Die Mikrocephalie steht also einer scheinbar ent-
gegengesetzten Erkrankung, dem Hydrocephalus oder Wasserkopf
ganz nahe und femer den nicht-lebensfähigen Misbildungen, die als
Eynocephali, Hundsköpfe, Hemikranie u. s. w., endlich als Spina
Zweiundsechzigster Jahresbericht d. Schlesisch. Ges. für vaterländische Kultur. 233
bifida, bezeichnet werden. Alles das bildet offenbar nur Eine Reihe
von Erkrankungen, so merkwürdig das auch sei, und stets ist das
Gehirn das primär erkrankte Organ. Die geistige Störung bei Mi-
kroeephalie zeigt oft, aber nicht immer, neben dem selbstverständli-
chen Blödsinn verschiedenen Grades bei intakter Sinnesthätigkeit
noch Tobsucht, d. h. motorische Erregung geringeren Grades, auch
nicht selten geschlechtliche Erregung. Sind die Kranken nun noch
ein wenig erziehungsfähig, so werden sie in Idiotenanstalten ge-
bracht und misbräuchlicher Weiss hier und da sogar konfirmiert
Sind sie tobstlchtig, störend, geschlechtlich erregt oder, wie so sehr
häufig, unreinlich, so kommen sie ebenfalls in Anstalten. In Privat-
pflege können nur solche asserviert werden, bei denen von Allem
diesen nichts zutrifft, und wenn sie dann noch recht kleine Köpfe
haben — so werden sie auf Reisen zur Schau gestellt und gelten
als Affenmenschen. Daß die Margarethe Becker ganz und gar in
jene gewöhnliche Reihe gehört, zeigt der Sektionsbefund bei ihrer
Schwester: es war nämlich von acht Geschwistern die Hälfte mikro-
cephal. Die Schwester Helene wurde etwa 10 Jahre alt, ihr Gehirn
zeigte sich in eine Art häutigen Sackes verwandelt und durch Flüs-
sigkeit ersetzt, sein Gewicht betrug nur etwa 360 g. Die Ohren der
Margarethe sind relativ groß, stehn weit ab, die Augen irren unstet
umher. Letzteres deutet auf Tobsucht im psychiatrischen Sinne,
d. b. erhöhte motorische Erregung; das Verhalten des äußeren Ohres
zeigt, daß die embryonalen Schlundspalten keine wesentlichen Stö-
rungen erlitten hatten, denn das Ohr bildet sich aus der zweiten
Spalte. Anders bei den Cretins, wo die ebenfalls von Schlundspal-
ten abzuleitende Schilddrttse abnorm groß ist und an der Schädel-
basis frühzeitige knöcherne Verwachsungen stattfanden: offenbar
sind beim Embryo in dem Niveau der Schlundspalten und Nacken-
krttmmung pathologische Störungen vorhanden gewesen. Aus dem
Gesagten geht wohl zur Genüge hervor, was den Psychiatern eben-
falls hinreichend bekannt war, daß bei der Mikrocephalie von Ata-
vismus, von einem Rückschlag auf Entwickeinngsstufen, die zwischen
Mensch und Affe stehn sollten, gar keine Rede sein kann.
Bachwald (S. 157 — 160) sprach über und empfahl warm den
Kephir oder eigentlich den Kapir. Dies ist ein durch Gährung
ans Milch wie Kumyss bereitetes, angenehm schmeckendes Getränk;
dasselbe enthält Alkohol, Kohlensäure, Milchsäure und Peptone, in
welche das Casein und Albumin der Milch zum Teil verwandelt wird.
Zur Bereitung des Kapir dient am Kaukasus eine aus graupenähn-
lichen Kömern bestehende Hefe, die sich aus Hefezellen der Gat-
Q9tt, gel. Am. 1887. Nr. 6. 17
234 Qött. gel. Anz. 1887. Nr. e.
tang SacefaaromyceB und einer Baoterie, Dispora caacasica Bach-
wald, zaBammensetzt. Der Eephir wird aos dieser Hefe allein dar-
gestellt.
Sektion für öffentliche Gesundheitspflege (S. 160 —
217). Schon im Eingange des Berichtes findet sich ein ausführli-
cher Nekrolog (S. I— XXVII) Heinrich Robert Göpperts. Dieser
Nestor nnter den deutschen Botanikerti war am 25. Juli 1800 zu
Sprottaa geboren; er starb am 18. Mai 1884. Der schlesischen Ge-
sellschaft widmete er eine ausgedehnte Teilnahme und noch dieser
Bericht enthält (S. 161—168) einen Vortrag Goepperts ttber den
Haasschwamm, Merulius lacrymans, der in Breslau sehr viel
Sehaden anrichtet. Alle Gegenmittel wie Imprägnierungen, Aetz-
roittel^ Geheimmittel, welche in den Zeitungen angepriesen werden,
sind Yolikommen nutzlos. Trockene Luft kann der Pilz nicht yer-
tragen^ es wird also Ventilation anzuwenden sein, ferner als Vor*
bauungsmittel Vermeidung der Ausfüllung des Raumes unterhalb der
Fuftböden mit altem Bauschutt, der so vielerlei schädliche Pilze ent-
hält (was das Publikum von den Baumeistern erzwingen sollte) and
Verbrennung allen inficierien Holz Werkes.
Goho (S. 173—177) teilte die Geschichte einer wörtlich abge-
schriebenen Hygiene des Auges mit Im Jahre 1 800 erschien
die erste Auflage der »Pflege gesunder und geschwächter Ange&c
von dem berühmten Augenarzt F. Beer in Wien. Dieses Buch über^
setzte der Leibarzt des E&nigs August Stanislaus von Polen, F. L.
de la Fontaine 1801 für ein polnisches Journal, Dziennik z dromia
unter dem Titel: »0 chi^robach oczu« (lieber die Krankheiten der
Augen) ins Polnische. De la Fontaine starb 1812 in russischer Ge-
fangenschaft, in seinem Nachlafi fand sich ein deutsches Manuskript
v<H', eine Abschrift jenes Beerschen Baches mit einzelfien Anslassan»
gen und wahrscheinlich ohne Titel. Dieses Manuskript hat nun
F. K. Liohtettstädt , damals Professor der Medicin in Breslau, 1824,
anter dem Titel : 9Ueib«* den vernünftigen Gebrauch und die Pflege
der Angen« inel. der Beerschen Vorrede bei Kern i« Breslaa drueken
lassen, und -später nochmals in den »hinterlassenen Scfarifte« vott
F. L* de la Fontaine« herausgegeben. Der Heransgeber handelte
offenbar bona fide, aber de la Fontaitie ließ in der polnischen Uebet*
Setzung das Beersche »ich« stebn, so daft der Leser glauben nmftteii
die betreffenden Beobachtungen seien solche des Uebersetzers. Auf*
fallend ist noch, daft die polnische Zeitschrift das Beersche Original
ohne jene Auslassungen wiedergibt Da Beer 1821 gestorben war>
so konnte er keinen Protest mehr erkebeti. Ein anak^s Plagiat
Zweiundsechzigster Jahresbericht d. Schlesiscb. Ges. fQr vaterländische Koltor. 235
warde in der Diskassion, wie Förster bemerkte, von Letzterem 1862
naobg^wiesen. Das Lebrbacb der Aagenheilkande von J. J. Plenk
ist nämltob von dem Engländer Rowley großenteils wörtlich Über-
setzt and als sein eigenes Werk herausgegeben ; merkwürdiger Weise
erschien dann 1792 eine deutsche Rttckttbersetzang aas dem Eng-*
lisehen.
Biermer (S. 184—199) hielt einen Itegeren, sehr zeitgemäßen
Vortrag ttber die Cholera. Aach hier wie bei der Taberknlose
(S. 227) wollen die alten Anschaanngen sieh nicht ohne Weiteres
der Eoehsehen Eatdeckang von Eommabacillen accommodieren.
Petteakofer hatte seit 1854 die Kontagiosität der Cholera geläagnet
und sie fllr eine dnroh den Boden mitgeteilte Inf^tionskrankheit
erklärt. Seitdem knüpfen sich im großen Pabiikam allerlei mysti-*
sehe Ideen an den Namen des Grundwassers an, obschon Petten-
kofer anfs Bestimmteste die Verbreitung der Cholera durch das
Trinkwasser in Abrede nahm* Als nan Koch Cholerabacillen in in-
dischen Wasserbassins, Tanks, freilebend nachwies, kamen die nnbe-
stimmten Theorien Pettenkofers noch mehr ins Gedränge, als sie es
fttr die eiBsichtsvoUen Pathologen, beispielsweise Virchow, von An-
fang an gewesen waren. In der Diskussion erhob sieh sofort För-
ster, um aus der Thatsache, daß in manche kleinere und grOßere
Orte die Cholera öfters eingeschleppt ist, ohne eine Epidemie ui er-
zengen, die Folgerung zu ziehen, hiervon müsse das Trinkwasser die
Ursache sein. Z. B. die Städte: Polnisch-Lissa, Glogau, Lauban,
Pleß, Bybnik, Grünberg, Neumarkt, Zobten, Tarnowitz, Karlsbad,
Jena, Crossen, Belpern u. s. w. haben sich jener anscheinenden Im-
munität erfreut und wurden gleichzeitig durch gutes Quellwasser
versorgt. (In diesem Sinne könnte man auch Göttingen fttr immun
erklären, denn daselbst wurde 1851 die Cholera in das akademische
Hospital eingeschleppt, ohne sich in der Stadt zu verbreiten, Bef.).
Indessen scheint vom Standpunkt der bacillären Anschauungen eine
andere Erklärungs weise aufgesucht werden zu müssen. Wenn man
as die enormen Verheerungen denkt, welche die Krankheit in Süd-
frankreich seit ihrer letzten Eimschleppung (1884) nach Tonion, fer-
ner in Neapel und das Jahr darauf ita Spanien anrichtete, während
sie ifi Paris und jetzt (1886) am adriatischen Meer nur kleine Epi-
demien zn veranlassen vermochte, so könnte man glauben, der tro-
pische Cholerapilz vertrage das nördliche Klima nicht, er vegetiere
unter unseren Breiten im Triqkwasser oder feuchten Boden nur
kflsuneflieh, wovon es abhängig sei, daß die Cholera in Europa
Mili> nickt statioBär geworden ist. So plausibel dies klingt, möchte
236 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 6.
Ref. doch noch auf einen wesentlichen Unterschied hinweisen. An-
fangs sucht man überall die Krankheit za vertuschen, schon am
dem Fremdenverkehr nicht zu schaden oder die Börsencourse nicht
zu deprimieren. Man zieht mit den Mitteln der Apotheke oder mit
Räucherungen und Processionen dagegen zu Felde, nngefilhr wie
beim Ausbruche eines feuerspeienden Berges, malträtiert auch wohl
die Aerzte. Später, wenn die Ruhe zurückkehrt und die Vernunft
in ihre Rechte tritt, beseitigt man, nach staatlicher Vorschrift
oder so zn sagen instinktmäfiig , die Abgänge von den Kran-
ken, verbrennt deren Wäsche, beobachtet eine skrupulöse Reinlich-
keit und das Resultat ist die Zurückdrückung der Epidemie auf
eine kleine Anzahl von Fällen, die kaum noch diesen Namen ver-
dienen.
Was die Prophylaxis nach dem Ausbruch der Epidemie anlangt, so
empfiehlt Biermer, wo es angeht, schleunige Entfernung vom Cholera-
heerde. Ferner Vermeidung von Diätfehlern, Reinlichkeit, Ventilation
der Wohnungen, Qennßvon Rotwein, Beachtung jeder Verdauungsstö-
rung, während es specifische Vorbau ungsmittel nicht gibt. — Sollte die
Cholera zu irgend einer Zeit nach Deutschland übergreifen, so wird
sich ohne Zweifel das Reichsgesundheitsamt mit populären Beleh-
rungen befassen; bis dahin macht Ref. nur auf eine Folgerung ans
der Bacterientheorie aufmerksam. Pilze, auch der Cholerapilz kön-
nen das Kochen nicht vertragen — so wenig wie z. B. die Trichi-
nen — man darf also nichts ungekocht und weder Milch noch Obst
aus Händen genießen, bei denen man nicht sicher ist, ob die Verkäufer
nicht bereits an Cholera-Diarrhöe leiden oder mit solchen Kranken
in Berührung gekommen sind. Denn leider ist es eine Thatsache,
die freilich für den Sachverständigen begreiflich genug ist, daß auch
der sauberste Mensch unachtsam zu werden anfängt, wenn er öfters
im Tage von Diarrhöe überrascht wird. Sapienti sat! Absperrun-
gen, Quarantänen, die gebräuchlichen Desinfektionen, Gossenspülun-
gen sind nicht nur nutzlos, sondern meist direkt schädlich, weil sie
eine trügerische Sicherheit verleihen, die Spülungen außerdem, weil
sie zufällig in die Gossen gelangte Cholerapilze am Leben erhalten
und verbreiten, die sonst bald vertrocknet wären.
Bei dem Umfang, den diesmal die medicinischen Berichte er-
langt haben, bedauert Ref., auf die Wiedergabe von Vorträgen aus
den übrigen Sektionen heute verzichten zu müssen. Nur seien die
Nekrologe noch erwähnt: von Göppert, dessen Lithographie als
Titelbild den Band ziert, von G. H. von Buffer, C. L. F. von Witt-
ken, H. Friedberg, F. F. Graf von Pfeil, H. Straka, J. Promnits,
Berger-Levranlt, Gatal. d. Alsatica de la Biblioth^ae de 0. Berger-Leyraalt. 237
6. F. F. Eberiy, J, L. A. Weudt, H. NeumauD, J. Steinitz, G. ü.
TOD Boguslawski, J. O. Droysen und Jalius Goboheim. lieber Göp-
pert baben Heidenbain and Gohn (S. II — XXVII), über Cobnbeitn
bat PoDfick (S. 128—138) gesprocben und des Letzteren Verdienste
nm die patbologiscbe Anatomie sowie seine litterarisehe Thätigkeit
aasfUbrlieh gewürdigt.
W. Kranse.
Berger-Levraalt, Oscar, Catalogue des Alsatica de la Biblio-
tb^que de Oskar Berger-Levraalt. Nancy. Imprimerie Berger-
LeYraalt et G^. 1886.
Niebt leicht wird man einer äbniichen Pnblikation begegnen, sie
ist wirklieb in vieler Beziebnng einzig in ibrer Art. Der ebemalige
Inbaber und Leiter der großen Druckerei und Bucbhandlang Berger-
Levranlt zu Straßbarg in Elsaß, (jetzt B. Scbultz & Co.), der nacb
den Ereignissen des Jabres 1870 für Frankreich optierte, sich auf
die Filiale des Geschäfts in Nancy und dann überhaupt vom Ge-
schäftsleben zurückzog, hat seine Muße benutzt, nm einen Katalog
all der Druckwerke herzustellen, welche von der Gründung der
Buchhandlung durch F. W. Schmuck 1675, der dann bald eine
Eupferdruckerei und Buchdruckerei angefügt wurde, bis zum Jahre
1870 aas dem Geschäft bervorgegangen sind. Zunächst im Ganzen
betrachtet, machen diese 7 Hefte von zusammen etwa 1000 Seiten
scbarfen aber engen Druckes ^) einen bedeutenden Eindruck. Welche
Fülle der Arbeit ist hier vereinigt, welch eine Arbeit der Schrift-
steller, welch ein Unternehmungsgeist des Herausgebers! Und wenn
man nun etwas Näheres weiß von der Familiengeschichte dieses Ge-
schäfts, wie sie der Pfarrer Ratbgeber in der Landeszeitung von
Elsaß-Lothringen (1884) Gemeindezeitung Nro. 11 u. 12 auf Grund
von Material erzählt hat, das ihm ein langjähriger Beamter des
großen Hauses lieferte, so steigert sich dieser Eindruck zu ehrfurchts-
vollem Respekt vor diesem Hanse, in welchem echter Bürgersinn
und männliche Thatkraft Generationen hindurch in immer neuen
Formen sich entfalteten. Wir Deutsche sind viel zu sehr ein Volk
der Gelehrsamkeit und des Beamtentums, wir suchen die Größe zu
1) Es ist eine bedeutend erweiterte Aasgabe des 1883 yeröfientlichten Ka-
talogs.
238 Gott. gel. Änz. 1887. Nr. 6.
sehr bei den Dekorationen, den Titeln and den Reeensionen, es ist
wirklich nioht nnntttz, bei solcher Gelegenheit einmal energisch dar-
auf hinzuweisen, daß in dem Tbun und Treiben des Geschäfts-
mannes, wenn es sich irgend über das Maß des kümmerlichen Brod-
erwerbs erheben soll, regelmäßig eine ganz andere Kraft des Gel-
stes und des Herzens aufgewendet werden muß als in der Thätig-
keit der Gelehrten und der Beamten, wie sie [im Durchschnitt ver-
läuft. Diesen ist der Tisch immer gedeckt, und mit den Jahren
kommen die Ehren — im Geschäft wiU alles erkämpft sein. Hier
ist nun ein Ueberblick über die Arbeit einer solchen Familie, die
noch dazu zwei Jahrhunderte hindurch ihr Geschäft auf einer be-
deutenden Hohe zu halten wußte. Die Namen des Hauses wechsel-
ten, weil mebripals di^ Schwiegers($bne die Weitßrfllhrang tiber-
nahmen. Der Gründer war F. W. Schmuck, ?oa dem es an den
Bruder G. F. Schmuck kam, von dem übernahm es der aus Kempten
zugewanderte Gbristmaun, dessen Sohn nahm seinen Schwager
Levranlt, der aus Lotbringen kam, in das Geschäft, der es seit 1771
allein führte. Bis 1850 hieß dann die Firma »Buchhandlung und
Bnehdruckerei Levrault«. Der älteste Sohn dieses Levrault war ein
ungemein bedeutender Mensch. Das Zeitalter der Revolution trug
ihn an die Spitze der gemäßigten Freibeitsfreonde, er mußte deshalb
flüchte^ vor den Schergen der Schreckensmänner, die es ihm namentlich
nicht vergaßen, daß er mit rücksichtslosem Mute für den Maire Dietrich
eingetreten war, gewann dann aber, nachdem er 1795 von der Liste
der Emigranten gestrichen war und zurückkehren durfte, eine Stel-
lung in der Stadt wie sie selten einem Bürger gewährt wird. Im
Jahre 1809 wurde er zu anderen Ehrenämtern noch zum Inspectenr
d'Acad^mie ernannt, erhielt 1810 den Ehrendoktor der philosophi-
schen Fakultät und wurde 1818 Rektor der Akademie. Dazu war
er auch Präfektnrrat und Efogar die Präfektur selbst wurde ihm an-
geboten. Dies Amt lehnte er jedoch ab, denn selbst seine riesige
Arbeitskraft mußte erliegen, als er diese und andere wichtige Aem-
ter noch nebe^ der Leitung seines großen Geschäfts verwaltete.
Nur die strengste Zeiteinteilung konnte ihm über diese Arbeitsftille
hinweghelfen. Sein T&gewerk begann 4*/« Uhr früh, von 5 — 7 be-
redete er mit seiner Frau nnd seinem Bruder die Angelegenheiten
des Geschäfts, von 7—8 erteilte er Audienzen in persönlichen Ange-
legenheiten^ dann nach kurzem Frül^ßtücl^ in das Bureau, wo er, einis
kurze Mittagspause abgerechnet, bis zum Abendessen arbeitete. Dann
folgten einige Stunden der Erholniig bis 10 Uhr^ dann wieder Ar-
beit bis Mitternacht. Seine Fran nnd seine Brüder waren ihm 9f^
Berger-Levraalt, Catal. d. Alsatica de la Biblioth^que d. 0. Berger-Leyrault. 239
gezeichnete Oehülfen. Die Fraa war eine Tochter des straBboi^er
ProfesBorB Schertz. Sie war Protestantin nnd Lerrault lieft denn
aach die Kinder dieser Ehe, zwei Töchter, protestantisch erziehen.
Bis dahin war das Haas katholisch gewesen, führte auch den Titel
eines »Bnchdrackers der katholischen Universität und des bischöf-
lichen Seminariamst. Die eine Tochter vermählte sich mit Friedrich
Berger aas Mümpelgard, dw aber früh (1837) starb, and da aach
der jtlngere Levraolt gestorben war, so wnrde das Geschäft von den
beiden verwittweten Fraaen geführt. Die Matter Levraalt-Schertz
leitete die Bacbhandlaog , die Tochter, Fraa Berger, leitete die
Drackerei mit der Firma Berger-Levraalt. 1850 gieng dann, nach
dem Tode der GroAmatter die Leitang des Haoses an den Sohn der
Fraa Berger-Levraalt, Oskar Berger-Levraalt über, dea Verfasser
des vorliegenden Katalogs.
Die Bachhandlong hat Seln^iften aller Art veröffentlicht. So
enthält das 7. Heft Pablications aoa alsatiqaes 1676—1815 anter
den Babriken 1) Histoire, Geographie, 2) B6volition, 3) Gravares,
4) Beligion catboliqae, 5) Instraction a. s. w. Material zo einer Ge-
schichte der Litteratar, der socialen Bewegangen a. s. w., das za
den mannigfaltigsten Beobachtangea auffordert. Noch reicher ist das
6. Heft, das Pablikationen des 18. Jahrhanderts nmfaftt and neben
zahlreichen wissenschaftlichen Pablikationen aach Singataritäten ent-
hält, die den Kattarhistoriker auf manche längst vergessene Spar
leiten können. So die Bampleriana p. 212 f. Eine ganz anfier-
ordentliche Bedeatong für die historische Forschang gewinnt aber
dieser Katalog darcfa die Hefte 1—5, vor allem darch die Hefte
2 — b^ welche die Ordonnanzen der französischen Yerwaltong ver-
zeichnen, denn vom 12. December 1681 bis zam September 1870
war dies Hans der Drncker der franaösisehea Verwaltung^), nnd es
worden alle Erlasse, welche für Frankreich allgemein ergiengen,
anfter in Paris zagleiob and nar noch in Straßbarg in diesem Hanse
gedrackt and zwar regelmäßig in beiden Sprachen. Aaßerdem war-
den alle von der Provinzialverwaltnng aasgehenden Erlasse hier
gedrackt
Es fehlen nnr die Erlasse des Conseil Soaverain d* Alsace, die
in Colmar gedrackt warden. Nan hatte dieser Gerichtshof gleich
den alten Parlamenten aach gewisse Befognisse der Gesetzgebang
1) A dater du 12 d^cembre 1681 et en toül cas nous ftvons continue ä 6tre
les Imprimeurs de rAdnünistratioa josqu'en septembre 1870 schreibt mir Herr
O. Berger-LeYraalt.
240 Gott. gel. Äuz. 1887. Ko. 6.
und Verwaltung, aber die eigentliche Verwaltung gieng doch von
Paris und der Intendance d'Alsace aus. Die Thätigkeit dieses In-
tendanten umfaßte den Handel, das Gewerbe, die Zünfte und son-
stigen Korporationen, die öffentlichen Straßen, die Schiffahrt, das
Militärwesen — kurz alle Zweige, und so bietet denn diese Zusam-
menstellung der Verfügungen ein ungemein reiches Material zur Ge-
schichte der Ansichten und der Richtungen in allen Zweigen des
thätigen Lebens, und im Ganzen genommen ein Regestenwerk über
die allgemeine Verwaltung Frankreichs und der Provinzialverwaltung
des Elsaß im Besonderen. Ich wüßte nicht, daß ein ähnliches Hülfs-
mittel für irgend ein Land geboten würde. Wer sollte sich auch
der Mühe unterziehen, die zum Affichieren bestimmten Bekannt-
machungen durchzugehn, im Regest zusammenzufassen und dies
drucken zu lassen? Es läuft da viel Unbedeutendes mit unter, allein
da hier nun die Liebe zur Geschichte des Hauses den geeigneten
Mann dazu veranlaßte, der auch die großen Kosten nicht scheute,
diesen Katalog mit jener Sauberkeit und Eleganz zu drucken, welche
den traditionellen Ruhm des Hauses bildet, so ist hier eine unge-
mein nützliche Arbeit entstanden. Für einige Jahre sind nur wenig
Bekanntmachungen verzeichnet, da wird also manches verloren sein,
ohne daß die angestrengten Bemühungen des Autors die Spur da-
von finden konnten: aber was hier geboten wird ist trotzdem er-
staunlich viel. Herr Berger-Levrault hat sich durch diese Publika-
tion ein wesentliches Verdienst um die Forschung auf dem Gebiet
der Geschichte Frankreichs, im Besonderen aber des Elsaß und vor
allem der Stadt Straßburg erworben und zugleich dem Andenken
seines Hauses und dem straßburger Bürgertum Überhaupt ein un-
vergleichliches Denkmal gesetzt. Der rechte Dank aber wird ihm
abgestattet werden, wenn die Specialforschung dies Httlfsmittel nun
ausgiebig benutzt und wo dies möglich ist ergänzt
Straßburg i. E. Dr. G. Kaufmann.
FQr die Bodaktion T«rantwortlich : Prof. Dr. Bsehtd, Direktor der OAtt. gel. Ans.,
ÄBsemor der Königlieben OesellecliafI der WieaeneehafteB.
Yerloff dtr J)iHmieh*9ehm Ytrtagt-BueMumdlmiff,
Drudt dtr IHämriek*aehm Univ^'Buekdnidurei (Fr. W, Koit^»).
'm/itm^ .
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GöttingTsclie
gelehrte Anzeigen
unter der Anfsicht
derKönigl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Nr. 7. g'ß 1. April 1887.
Preis des Jahrganges : JL 24 (mit den >Nachrichten d. k. G. d. Wiss.c : JL 27).
Preis der einzelnen Nummer nach Anzahl der Bogen: der Bogen 60 ^
Inluat: Yi scher, Stadien rar Euutgeaobichte. Von Sgrirngm, — Tli ode, Franz Ton Assin
md die Anfinge der Knnsl der Bennissnnce in Italien. Von JMib^rt — Berg er, Geechiclito der
wJMMisdhnttlichen Krdlninde der Griechen. I. Von Hwmmm,
= Eigeiinichtiger Abdraok von Artikeln der Q8tt. gel. Anzeigen verboten. =
Viecher, Bobert, Studien zur Kunstgeschichte. Stuttgart, Verlag von
Adolf Bonz & Comp. 1886. IX, 680 S. 8<>.
Der Verfasser hat vor einiger Zeit in einer zornigen, gegen
Weltmann, Janitschek o. a. gerichteten Streitschrift das Ideal eines
Ennsthistorikers aufgestellt. »Nar ein lebendiger philosophisch darch-
klärter Empirismos wird Dasjenige erfassen, was eigentlich ein
Bildwerk will, was der Kunst nnd ihrer Bewegung zu Grunde liegt«.
Daran kntipfte er eine herbe Kritik der gegenwärtig in der Kunst-
gesehiehte herrschenden Methode. Er nennt die Forscher, welche
der ästhetischen Betrachtung keinen weiten Baum in der historischen
Untersuchung gönnen: »Streblinge, welchen der blaurote Truthahn-
klunker über die Nase herabwächst und welche wider alles kollern,
was bei Mutter Philosophie in die Kost gegangen ist«; er schildert
sie weiter als »Affen der Kalendermacher, Anstreicher und Traktat-
schreiber des Mittelalters«. In dem vorliegenden Buche ist Vischer
seinem Programm, aber auch seiner Abneigung gegen die exakte
Knnstforschung treu geblieben. Thausings Dttrerwerk erscheint ihm
»als ein trauriges Exempel daftlr, wie sehr in der Kunstgeschichte
einseitiges Getttpfel mit äußeren Merkmalen und faktischen Umstän-
den, advokatisch klflgelnde Zersetzung und Kombination irreftihren
kann. Seine Betrachtung klebt fast durchweg unfrei am Einzelnen,
und vermag sieh nicht zur Erfassung von Dttrers Kunst aufzu-
lebwingen«. Noch schlimmer fährt Morelli, »ein russischer Bilder-
GMt. «Ol. Aas. 1887. Nr. 7. 18
242 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 7.
keonerc (!) weg. »Er stößt dnrch geschwätzige salbungsvolle Eitel-
keit ab und trägt gegen Aesthetik, des Beifalls moderner Eurzköpfe
gewiß, ein ironisch wegwerfendes Verhalten zar Schau, ohne zu
wissen, daß er damit einen unstatthaften Mangel an Intelligenz und
Wissen verrät«. In diesen Klagen über die angeblich schroffe Ein-
seitigkeit der gegenwärtigen Kunstforschung steht der Verfasser
nicht allein. Sie klingen auch sonst, namentlich bei Theologen, häufig
an und gipfeln in dem Bedauern, daß die Kunstgeschichte den gei-
stigen Qehalt der Bildwerke nicht genügend hervorhebe, nicht tief
genug in die Seele des Künstlers dringe. Gustav Portigs »Ange-
wandte Aesthetik« geht von den gleichen Grundsätzen aus und ver-
folgt ähnliche Zielpunkte wie Vischer. Ob wohl immer nur böser
Wille oder die den Kunsthistorikern wiederholt an den Kopf ge-
worfene Unwissenheit ihr zurückhaltendes Wesen gegenüber der
Aesthetik verschuldet haben? Es könnte das Beispiel der rein po-
litischen Geschichtschreibung angerufen werden. Die Kunstge-
schichte steht zur Aesthetik in einem verwandten Verhältnisse, wie
die Staatengeschichte zur Politik. Der früheren engen Verbindung
folgte eine vollkommene Trennung. Wohl muß jeder Historiker po-
litische Bildung besitzen; ihr Erwerb ist eine wesentliche Voraus-
setzung seiner Thätigkeit als Geschichtsschreiber. Er läßt aber
nicht seine politische Ueberzeugung auf sein historisches Urteil be-
stimmend wirken, er bescheidet sich, wahrhaftig zu erzählen, wie
die Dinge in der staatlichen Welt sich ereigneten und entwickelten.
Ranke und Sybel standen zu einander in deutlich ausgeprägtem po-
litischem Gegensatze. Das hinderte aber den jüngeren Mann nicht,
die Methode der Geschichtsschreibung von dem alten Meister anzu-
nehmen, sich als dessen Schüler zu bekennen. Wenn die Kunstge-
schichte in unseren Tagen den gleichen Weg einschlug, auf die
wahrhaftige Erzählung den Hauptnachdruck legte und die Zumutung
von sich abwehrte, außerdem noch zu lehren und zu bestimmten
ästhetischen Ansichten zu bekehren, so geschah dieses nicht will-
kürlich, aus persönlicher Laune, sondern weil die allgemeine wis-
senschaftliche Strömung dazu drängte. Ob dieselbe im Laufe der
Zeit von einer anderen wird abgelöst werden? Darüber mag die
Zukunft entscheiden. Eine ewige Geltung der jetzt herrschenden
Methode behauptet Niemand, wohl aber muß jedermann zugeben,
daß ihr die Geschichtschreibung große Fortschritte verdankt. Und
auch die Kunstgeschichte hat durch den Anschluß an die strenge
historische Methode viel gewonnen. Sie gebietet seitdem über eine
stattliche Beihe gesicherter Thatsachen, welche doch auch für eine
ästhetische Betrachtungsweise die unabweisbare Grundlage bilden.
Yischer, Studien zur Eonstgeschichte. 243
Das früher herrschende Vertrauen zur ästhetischen Leitung warde
vornehmlich darch zwei Erfahrungen erschüttert. Unter der Firma:
ästhetische Würdigung eines Kunstwerkes schmuggelten sich nur zu
hftnfig zubillige Eindrücke einer beliebigen Betrachtung in die
Kunstgeschichte ein. Stammen solche Herzensergüsse von einem
wohl unterrichteten, geistreichen Manne, so nimmt man sie mit Dank
entgegen und liest sie mit Vergnügen. Das ist leider durchaus nicht
immer der Fall. Außerdem aber wird durch das Vorschieben sub-
jektiver, der augenblicklichen Stimmung des Betrachters entsprunge-
ner Ansichten der historische Standpunkt leicht verrückt Bei einem
alten Bildwerke handelt es sich in erster Linie gar nicht darum,
ob es uns noch heute gefalle. Gewiß muß dasselbe auf seinen
künstlerischen Gehalt geprüft werden. Wir fragen nach der Ab-
sicht und dem Ziele des Schöpfers, forschen nach den Mitteln, mit
deren Hilfe er seine Absicht verwirklicht, und untersuchen, ob er das
Ziel erreicht oder in welchem Maße er sich demselben wenigstens
genähert hat. Wir gehn dabei von dem überlieferten oder selb-
ständig gefundenen Gegenstande der Darstellung aus, stellen die
Form fest, welche der Gedanke in der Phantasie des Künstlers
empfängt, verfolgen die Entwickelnng des Werkes wenn möglich
vom ersten Entwürfe bis zur endgiltigen Gestalt, wiederholen im
Geiste gleichsam den ganzen schöpferischen Proceß. Aus dem
Werke heraus bemühen wir uns seine ästhetische Bedeutung zu er-
fassen. Wir spüren dann dem Eindrucke desselben auf die Zeitge-
nossen und dem Einflüsse auf die Kunstgenossen nach. Fanden
jene ihre Ideale in dem Werke wiedergegeben? Haben diese in
ihm eine neue Seite der Auffassung oder Formgebung erblickt, wo-
durch die Kunst in andere Bahnen gelenkt wurde? Auf diese Art
vorgehend, legen wir an den Künstler und seine Schöpfung keinen
fremden Maßstab an ; wohl aber droht die Gefahr einer falschen Be-
urteilung, wenn wir von Stimmungen und Strömungen einer ganz
anderen Zeit, insbesondere der Gegenwart den Ausgangspunkt neh-
men. Der Künstler hat nur für seine Zeit und seine Welt gearbei-
tet; das darf auch die ästhetische Betrachtung nicht vergessen. So-
bald die Aesthetik das Gebiet der allgemeinen Gesetze verläßt und
die lebendige künstlerische Phantasie zu schildern unternimmt, er-
scheint sie einem großen Wechsel und Wandel in der Beurteilung
derselben unterworfen. Sie formuliert nicht mehr Grundsätze, son-
dern spricht Ansichten aus, auf welche die mannigfachsten äußeren
Umstände, der gerade herrschende Geschmack, die von den Künst-
lern eingeschlagene Richtung, neue Entdeckungen u. s. w. bedeuten-
den Einfluß üben. Wie wogte nur im Laufe der letzten Menschen-
18*
244 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 7.
alter die ästfaetische Wertschätzung der alten Künstler aaf and nie-
der I So lange die Aesthetik im Banne romantischer Anschanangen
stand, galt selbstverständlich als der größte Farbendichter Correggio.
Seitdem die realistische Richtung in der Malerei siegte, mußte Cor-
reggio den Thron an Franz Hals und Velasquez abtreten. Bekannt
ist auch das wiederholt schwankende Urteil über die Praeraphae-
liten und die italienische Kunst des siebzehnten Jahrhunderts, über
die Gothik und die Benaissance, von dem Preise und Tadel, wel-
cher abwechselnd einzelne Künstler traf, gar nicht zu reden. Aehn-
liche Schwankungen zeigte auch die ästhetische Kritik der helleni-
schen Kunst gegenüber. Man kann auf solche Beobachtungen ge-
stützt, die Regel aufstellen: Die ästhetische Kritik ist solchen Künst-
lern und Kunstwerken der Vergangenheit am günstigsten gestimmt,
welche entweder mit der gegenwärtigen Richtung zusammenhängen
oder von dieser unmittelbar verwertet werden können. Sie ist nicht
notwendig parteiisch aber gewöhnlich subjektiv gefärbt
Der Einwand, daß sich diese Klagen vorwiegend auf einen
Misbrauch der Wissenschaft, auf die populäre, von Dilettanten be-
triebene Aesthetik beziehe, soll gelten. Aber auch das Auftreten
der wissenschaftlichen Aesthetik bei künstlerischen Fragen weckte
einzelne Bedenken. Auf das Recht wahrer Spekulation fußend liebte
sie es, die Begriffe als selbstthätig einzuführen. Sie ließ bereits im
Kreise derselben alle Bewegungen, die ganze Entwickelung der
Schönheitswelt sich vollziehen. Die Geschichte lieferte nur die Bei-
spiele des inneren Begriffslebens und gab die praktische Probe auf
die Richtigkeit des im Reiche der Ideen sich abspielenden Processes«
Damit steht aber die Aufgabe des Historikers, auf dem Boden der
greifbaren Wirklichkeit den Gang der Dinge zu zeichnen, aus dem
Zusammenwirken realer Faktoren die Entwickelung der Ereignisse
zu erklären, in argem Widerspruche. Die lebendigen Persönlich-
keiten, welche die Bestrebungen der Zeitgenossen kraftvoll zusam-
menfassen oder mutig in neue Bahnen lenken, kann der Historiker
nicht missen. Ohne Heroenkultus gibt es keine Geschichtschreibung.
Das sind die Hauptbedenken, welche gegen die Ansprüche der
Aesthetik^ der Kunstgeschichte den Weg zu weisen und ihr den
Stempel der reinen Wissenschaft aufzudrücken, erhoben werden.
Sie entstammen nicht einem grundsätzlichen Hasse, sondern bittereOi
im Laufe mehrerer Menschenalter gesammelten Erfahrungen. Sollte
es z. B. dem Verfasser der »Studien zur Kunstgeschichte« gelingen,
diese Bedenken zu heben, sollte er sich als feinsinniger Psychologe
in der Schilderung der Künstlergestalten bewahren und den Beweis
liefern, daß seine Begriffsbestimmungen nicht den Thatsacben Ge-
Vischer, Studien zur Eonstgeschichte. 245
wait anthiin, dieselben vielmehr in ein reines Licht stellen, so kann
er des Dankes aller Kunsthistoriker gewiß sein. Darauf hin haben
wir Vischers Buch zu prüfen. Leicht macht er uns das Geschäft
nicht. In einer gelegentlichen Bemerkung ttber E. Gh. Plancks »(be-
setz und Ziel der neuen Kunstentwicklunge klagt Yischer^ die
Schrift sei schwer zu lesen. Das Gleiche gilt auch von seinen Stu-
dien. Vischer steht mit seiner Muttersprache zuweilen auf recht ge-
spanntem Fuße. Ein akademisch gebildeter Mann sollte den folgen-
den Satz doch nicht drucken lassen: »Es waren zuvOrderst drei
Meister, welche mit voller Macht auf ihn einv^irkten und zur Reife
gelangen ließen«. Wenn nicht fehlerhaft, so doch unklar ist die
Konstruktion des Satzes: »Stumm hingegeben glauben wir um so
inniger zu erfassen«. Große Schwierigkeiten bereitet dem Leser auch
der Umstand, daß dem Verfasser der vorhandene Sprachschatz nicht
genügt, er sehr häufig nur in neuen oder seltsamen Wendungen und
Wortbildungen den richtigen Ausdruck fllr seine Meinungen findet.
Wir stoßen auf ornamentiv, Individuation, Getheil und Getheilwerk
der menschlichen Physis, fremdendes Antlitz, inkräftig erscheinende
Gebilde, gedrange Beine, knUppelhaft verholperte und quallete For-
men, bäumige Gestalten, zügig ausgreifende Richtung u. s. w. Nie-
mand bestreitet einem Schriftsteller das Recht freier Wortbildung.
Dasselbe wird nur an eine einzige Voraussetzung gebunden: den
Schein der Naturnotwendigkeit. Der Leser muß die üeberzeugung
gewinnen, daß er es mit einer urkräftigen Persönlichkeit zu thun
hat, welche sich durch die Schranken des Sprachgebrauches nicht
hemmen läßt oder daß die neuen und originellen Gedanken unwill-
kOhrlich auch ungewöhnliche Wortformen schaffen. Leider gewinnen
wir aus Vischers Studien nicht diesen Eindruck. Gar häufig müssen
wir vielmehr fragen, ob die sonderbaren Wendungen und Worter-
findungen der unmittelbare Erguß eines kühnen Originalgeistes sind,
oder ob nicht vielmehr nur bekannte ältere Vorbilder mühsam nachge-
ahmt werden, ob es in der That die Notwendigkeit erheischte, die
Ansichten des Verfassers in die von ihm beliebten Wortformen zu
kleiden und ob endlich durch das den Urteilen umgelegte spekula-
tive Gewand die Wissenschaft der Kunstgeschichte eine namhafte
Bereicherung erfahren hat?
Der erste Aufsatz, zur Kritik mittelalterlicher Kunst betitelt,
stellt sich die Aufgabe den »Byzantinismus im gebräuchlichen styl-
kritischen Sinne des Wortes« zu erklären. Unter Byzantinismus
wird »der extreme Schematismus, welcher so weite Strecken des
mittelalterlichen Kunstgebietes beherrscht«, verstanden. Der Ver«
fasser kehrt demnach zu dem Standpunkte zurück, welchen Fr.
246 Qött. gel. Anz. 1887. Nr. 7.
Schlegel und Boisseräe am Anfange des Jahrhunderts eingenommen
hatten. Aach ihnen galt der Byzantinismus im Mittelalter vorherr-
schend und der Mangel an Natürlichkeit durch das Feierliche und
Strengwürdevolle aufgewogen, auch sie leiteten den im Mittelalter
herrschenden Styl von oströmischen Einflüssen ab. Ist diese histo-
rische Ableitung, die Unterwürfigkeit des Mittelalters unter die by-
zantinischen Vorbilder richtig? Der Verfasser behauptet diese! be,
beweist sie aber nicht. Und doch wäre eine solche Beweisführung
in Angesicht der gegenwärtig vorherrschenden entgegengesetzten
Anschauungen wohl am Platze gewesen. Einen Satz wie folgenden :
»daß seit dem Bilderstreite im 8. Jahrhunderte eine starke Einwan-
derung von oströmischen Künstlern in Italien stattfand, ist mehr als
wahrscheinliche kann selbst der Verfasser nicht als ernsten Beweis
gelten lassen. Die andere Behauptung, der Byzantinismus oder der
extreme Schematismus bilde ein Wahrzeichen der mittelalterlichen
Kunst, erinnert an den Satz, welcher ehedem in populären Ge-
schichtsbüchern zu lesen war : Die politischen und socialen Zustände
im Mittelalter wurden durch das Feudalwesen bestimmt. In dieser
allgemeinen Fassung ist beides falsch. Um dem Byzantinismus als
dem herrschenden Princip in der mittelalterlichen Kunst den Schein
der Wahrheit zu verleihen, werden ganze Reihen kunsthistorischer
Thatsachen übersehen, andere willkürlich ausgewählt und zusam-
men gestellt. Der Verfasser lehnt sich in seiner Schilderung des
byzantinischen Styles an Semper an. Aber dieser scharfsinnige For-
scher beschränkt ganz richtig die »Flächenstereometriet auf die lo-
kal byzantinische Kunst. Für die »Malerei des Westens« im Mittel-
alter stellt er einen principiellen Gegensatz fest. Sie tritt »mit
ihrem ersten Flügelschlage instinktmäßig ihren alten Kursus, ihre
frühere plastische Richtung wieder an«. Dadurch daß Vischer die
Raumschranken niederwirft, raubt er seiner stylkritischen Betrachtung
den wissenschaftlichen Wert.
Um den Leser in den Stand zu setzen, sich ein selbständiges
Urteil über Vischers Studie zu bilden, lassen wir den Gedankengang
des Verfassers in seinen eigenen Worten folgen. Die in ihrer Sinn-
lichkeit unterbundene Phantasie fand ihren adäquaten Ausdruck in
der Mosaiktechnik. Die Feierlichkeit und statuarische Gemessen-
heit wurde durch die Herwendung der Figuren zur Vorderansicht
bedeutsam gemacht und der Charakter feierlicher Objektivität der so
subjektiv uns zugewendeten Gestalten noch durch das unpersönliche
Gepräge der künstlerischen Genesis verstärkt. (Der Verfasser will
damit sagen, daß der Entwurf und die technische Ausführung bei
Mosaikbildern wie in vielen andern Kunstgattungen verschiedenen
Yischer, Stadien zur Kunstgeschichte. 247
Händen anvertraat sind). Die höchste Wirkung erzielt die mnsivi-
Bche Kunst da, »wo der Bildschmuck als strenge Folgerung ans dem
architektonischen Geftige und in sich selbst architekturähnlich er-
scheint vermöge der hoch einfachen und klaren Gesetzmäßigkeit
symmetrischer Konstellation und einfachster Gliederung in parallel
untereinander gereihte Serien«. Nachdem uns der Verfasser über
das Wesen der Mosaikmalerei, Formalisierung der Menschengestalt
nach Analogie des Flachmusters, aufgeklärt, und diesen Zug durch
das Citat aus Wilhelm Busch: »Die bösen Buben von Korinth platt
gewalzt wie Kuchen sind«, erläutert hat, versichert er, daß auch die
eigentliche Malerei in Wandbildern und Miniaturen zur selben Zeit,
schon im 7. Jahrhundert, demselben Geschmack huldigte, wobei er
nns leider die doch so wünschenswerten Belege vorenthält, und stellt
die Vermutung auf, daß die Mosaizisten auch als Wand- und Tafel-
maler auftraten und Miniatoren und Emailtechniker sich ihrer Muster
bedient haben mögen. Die eingehende Untersuchung wenigstens der
Miniaturen lehrt bekanntlich das Gegenteil und beweist, daß sowohl
die byzantinische wie die karolingisch-ottonische Malerei in Aus-
gangspunkt, Formengebung und Ziel technisch wie künstlerisch von
der Mosaikmalerei verschieden waren, alles andere eher als eine
Formalisierung der Menschengestalt anstrebten. Ebenso beruht es
anf einem Irrtum, wenn der Verfasser behauptet, daß die byzantini-
niscbe Malerei in dem Zeitraum zwischen dem 9. und 14. Jahrhun-
dert im äußersten Maße unter die Herrschaft der Flächendekoration
geraten und dem Wesen derselben konform geworden sei. Schon
das Zusammenfassen von fünf Jahrhunderten zu einer einheitlichen
Periode verrät, daß dem Verfasser die mannigfachen Strömungen,
welche neben und nach einander auftauchten, unbekannt geblieben
sind. Einzelheiten, welche zum Widerspruch reizen, wie die über-
treibende Behauptung von dem Einflüsse des Schreibstyles , nament-
lich des irischen auf die deutsche Malerei, der sich nur in der Ini-
tialenornamentik äußert, die Gegenüberstellung der am Rheine herr-
schenden Richtung und der Gemälde in — S. Gereon zu Köln, die
Schilderung der byzantinischen Architektur: »mehr Princip und Maß-
regel als lebendige Geberde, gleichsam mehr strategischer als takti-
scher Gewinne, mögen auf sich beruhen und nur noch der ab-
schließende Satz hervorgehoben werden, in welchem die Thatsache,
daß die Natur des Stoffes auf die künstlerische Behandlung einwirkt
und derselben feste Schranken setzt, in folgender Weise gefaßt
wird: »Wenn wir als Substrat der Kunst den von ihr verwendeten
Stoff ins Auge fassen, so können wir sagen : Der Byzantinismus un-
terwirft wie alle junge Kunst das Bild der organischen Gestalt den
248 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 7.
Bedingungen des Anorganischen und läßt sie somit halbwegs blofl
als ein Ding, als eine Sache erscheinen. Verstehen wir anter Sub-
strat weiter den an sich schon künstlerisch geformten Oegenstand,
welcher mit einem Anhang verziert wird, das örtliche Unterlager, so
können wir den Satz aufstellen: Die menschliche Qestalt wird dem
GefUge dieses Substrates stylistisch angeformt, so daB sie also halb-
wegs bloß dekorativ, architektonisch, keramisch, verhäng- und tafel-
artig, deckelhaffc, kapselmäßig, schlußgerecht erscheintc. Das ist
nach Vischer der stylkritische Begriff des Byzantinismus.
Stützt sich der Verfasser in dem Aufsatze über die mittelalter-
liche Kunst vornehmlich auf Hotho und Semper, so wählt er in der
Studie über Raphael Crowe und Cavalcaselle zu Führern. Er belastet
die Kunsthistoriker mit dem Vorwurfe, »daß ihnen die Frage nach
dem Logos und Pnenma in Raphaels Kunst fast ganz abhanden ge-
kommen sei, sie den centralen Geist im Umkreis seiner Leistungen,
den inneren Raphael Raphaels nur flüchtig anstreifen«. Der Tadel
würde stärker haften, wenn nur der Verfasser selbst sich auf kunst«
historischem Gebiete mit größerer Sicherheit bewegte. Er stellt die
Jugendentwickelung Raphaels so dar: Der zehnjährige Knabe mag
zu Perugino nach Perugia in die Lehre gebracht worden sein. Pe-
ruginos Einfluß auf seine Entwickelung war offenbar die erste und
nachhaltigste. In Perugia aber, wird zwei Seiten weiter erzählt,
stand in Abwesenheit Peruginos seit c. 1495 der »trockene« Pintu-
ricchio der Werkstätte als Geschäftsführer vor. Wie steht es dann
mit dem ersten persönlichen Einfluß Peruginos? Wieder einige Sei-
ten weiter werden wir belehrt, daß Timoteo Viti, wenn nicht Ra-
phaels Lehrer, so doch sein bahnweisender und vorbildlicher Ratgeber
war. Auch des Kunstkenners harren mannigfache Ueberraschungen.
Das florentiner Selbstbildnis und das Frauenporträt in der Tribuna
atmen etwas vom Geiste bolognesisch-ferraresischer Kunst und sind
sicher um 1500 entstanden. Logos und Pneuma in Raphaels Kunst
lassen sich nach dem Verfasser nur durch eine »rege, erfahrungs-
reiche Wanderzeit« erklären. »Schon zwischen 1499 und 1503
dürfte er manchen Ausflog gemacht haben, jedoch besonders zwi-
schen 1503 und 1508 war sein Leben offenbar ein örtlich wie gei-
stig hochbewegtes. Aus gewissen Gründen halte ich die Hypothese
für geboten, daß er Besuche in Florenz und Rom, Bologna, Ferrara,
Padua , Orvieto , Monteoliveto, Borge S. Sepolcro, Castiglione fioren-
tino, Cortona machte und zwar wohl die meisten vor dem Jahre
1504«. Auch nach Venedig läßt Vischer den jugendlichen Raphael
reisen, um das Breviarium des Kardinal Grimani zu studieren und
aus diesem (vom Verfasser c, 1475 angesetzten) niederländischen
Vischer, Studien zur Kunstgeschichte. ^^
Prachtwerke die Anregangen fttr den Petersburger h. Gtoorg and die
Mttnchener Mad. Tempi holen. »Wollte ich, heiBt es S. 101> alle nur
dem Namen nach nennen, welche namentlich in der Zeit seiner flo«
rentiner Periode nachweisbar auf Raphael einwirkten, so gäbe es ein
ermüdend langes Begisterc. Vischer begnügt sich daher mit der
Nennnng Masaceios, Leonardos and Fra Bartolomeos und hebt nur
die Änregangen hervor, welche Raphael von der antiken Plastik and
den Sknlptaren eines Ghiberti, Donatello, Robbia, Andrea Sansovino
n. a. empfieng. Wir fragen nicht, wie sich der Verfasser eigentlich
den Bildnngsgang eines einfachen Malerlehrlings and Gesellen am
Ende des 15. Jahrhunderts denkt, ob diese Stadienreisen kreuz und
quer durch Italien nicht allzustark an moderne Touristenfahrten er-
innern — , ob es glaublich ist, daß ein unbekannter junger Mensch
im Hause eines Eirchenftlrsten gemächlich dessen Bflcher durch-
blätterte? Wohl aber mttssen wir die Forderung stellen, daft diese
Datzendeinflflsse auch im Einzelnen nachgewiesen werden. Crowe
and Cavalcaselle schienen in der Einflaßtheorie, welche die künstleri-
sche Individualität vollkommen verflüchtigt, bereits das Menschen-
mögliche geleistet zu haben. Hier werden sie aber noch weit über-
troffen. In demselben MaAe maß sich auch der Widerspruch gegen
ein solches Verfahren verschärfen. Es genügt durchaus nicht, daß
man sich auf »gewisse Gründe« beruft oder auf allgemeine Aehn-
Uchkeiten hinweist. Die sogenannte Balgzoologie hat in früheren
Zeiten auf Grund allgemeiner äußerer Aehnlichkeiten die Gattungen
and Arten der Tiere zusammengestellt. Erst als man von dieser
Methode abgieng, die innere Verwandtschaft im Einzelnen nachwies
and anschaulich machte, konnte an einen wissenschaftlichen Aufbau
der Zoologie gedacht werden. Auch in der Kunstgeschichte gilt es,
den gleichen Fortschritt anzubahnen. Wer den Einfluß eines Künst-
lers auf die anderen behauptet, von dem verlangen wir, daß er die
besonderen Beziehungen im Einzelnen darlege, wie sich Gestalt mit
Gestalt, Gruppe mit Gruppe deckt, die Zeichnung in diesem oder
jenem Teile wiederholt, überzeugend uns vorführe. Wir fordern fer-
ner Gewißheit darüber, ob nicht die Verwandtschaft auf einer ge-
meinsamen Tradition beruhe, ob nicht der Gegenstand der Darstellung
eine Aehnlichkeit der letzteren von selbst schon bedinge. Wenn
%. B. Vischer behauptet, der Petersburger h. Georg sei von einer
Miniatur in Brevier Grimanis abhängig und stimme mit der letzteren
blähst anffallend überein, nur der Mantel wäre anders geworfen, das
Pferd anders gewendet, die Königin anders gestellt, der Drache an-
ders gezeichnet, der Hintergrund anders entworfen, der Lanzenstoß
anders geführt, so verwechselt er einfach die Aehnlichkeit der Schil-
250 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 7.
derung, welcbe ans der Gleichheit des Gegenstandes entspringt, mit
der Verwandtschaft, welche aaf dem Einflasse eines Bildwerkes anf
das andere beruht. Alle Darstellangen des Ritter Georg müssen un-
ter sich eine gewisse Aehnlichkeit aufweisen. Wie schwankend
solche Annahmen von künstlerischen Einwirkungen sind, ersiebt man
daraus, daß Crowe und Galcaselle den h. Georg Raphaels mit
einem Relief Donatellos in Zusammenhang bringen.
Vischer führt noch ein zweites Beispiel von künstlerischen Wech-
selbeziehungen an. Er leitet die Gruppe der knieenden Jünglinge
hinter dem Papste Gregorins in der Disputa und die Zuschauer aaf
dem Pfeilersockel in der Heliodorfreske von Paduaner Reliefs Dona-
tellos ab. >Die urwüchsige, heiß gährende Leidenschaftlichkeit Do-
natellos muß Raphaels schlummernden Sinn für Dramatik, fttr feste
energische Befeuerung und Spannung der szenischen Organe vne
Feuerlärm wachgerufen haben«. Nun stellt [sich die Sache bei ge-
nauerer Vergleichung so dar, daß nur die aligemeinen Motive über-
einstimmen, alle Einzelheiten : Haltung, Bewegung, Wendung der
Köpfe, Zeichnung der Leiber u. s. w. abweichen. Das allgemeine
Motiv wurde aber schon durch den Gegenstand der Darstellung unmittel-
bar gegeben. Wenn man Raphael nicht einer jämmerlichen Gedan-
kenlosigkeit beschuldigen will, so muß man anerkennen, daß er, so-
bald ihm die bestimmte Aufgabe vorlag, von selbst auf die erwähn-
ten Gruppen kommen mußte.
In dem einen Falle schildert Raphael das Wunder, welches sich
im Vorräume des Tempels ereignete. Staunen und Schrecken mit
Neugierde gemischt bemächtigt sich des Volkes, als es den himmli-
schen Reiter gegen den Tempelräuber anstürmen gewahrt. Diesen
Wiederschein der Handlung breiter auszumalen bildete die Aufgabe
des Künstlers und zwar mit Rücksicht auf den gegebenen Ranm.
Da der Volkshaufe nicht in die Handlung eingreift, mußte Raphael
denselben etwas zur Seite schieben. Aus der Nebenhalle drängen
sich Menschen heran, die Pfeiler und Säulen der Halle gewähren
den Geängstigten Schutz. Was lag da näher, als einzelne der Kühn-
sten und Neugierigsten noch über der Frauengruppe anzubringen,
welche den Sockel emporkletterten, an der Säule sich halten (was
sie bei Donatello nicht thun) und auf diese Weise rascher den
Ueberblick über die Scene gewinnen? Gerade so ist in der Disputa
die Gruppe der Knieenden durch die Komposition bedingt. Die
Stimmung der Hauptfigur (h. Gregorius) verlangt notwendig eine
verwandte Umgebung, die andächtige Begeisterung in der Haupt-
person mußte in den nächsten Nebenpersonen nachklingen. So er-
scheinen die knieenden Jünglinge als ein untrennbarer Bestandteil
Yischer, Stadien zur Kanstgeschicbte. 251
der Gedankenreihe, welche wir bei Raphael lebendig and klar ge-
faßt voranssetzen rnttssen, als er an das Werk schritt. In der That
lernen wir die Grnppe bereits auf der vom Verfasser nicht erwähnten
Windsorzeichnung, einem der frühesten Entwürfe zur Disputa, ken-
nen, aber erst nur im Keime; auf dem bekannten Blatte im Städel-
schen Museum ist sie dann reicher entwickelt, mit ihrer Umgebung
in einen noch engeren auch formalen Zusammenhang gebracht wor-
den. Dieses langsame stetige Wachsen des Motivs weist darauf
hin, daft es selbständig der Phantasie des Künstlers entstammt und
nicht aus einem fremden Werke mechanisch herübergenommen wurde.
In diesen beiden Fällen deutet der Verfasser die Richtung des
von ihm behaupteten Einflusses genau an und macht dadurch eine
sachliche Erörterung möglich. Wenn er in anderen Fällen sich mit
dem Bekenntnisse begnügt, dieses Werk und dieser Meister wecke
in ihm Erinnerungen an jenes Werk und an jenen Meister, so setzt
er einer ruhigen Verständigung die engsten Grenzen. Jedermann
weiß aus täglicher Erfahrung, wie schwankend, trügerisch und von
Zufälligkeiten abhängig solche Erinnerungen sind. Sollte die Vorliebe,
ans allgemeinen Aehnlichkeiten auf den Ursprung eines Werkes zu
schließen, die Berufung auf mehr oder weniger dunkle und unklare
Erinnerungen, sich noch weiter steigern, so werden die Vertreter der
anderen Wissenschaften als Motto für kunsthistorische Schriften
wahrscheinlich die Unterredung Hamlets mit Polonius vorschlagen:
Seht ihr die Wolke dort, beinahe in Gestalt eines Kameeis? —
Beim Himmel, sie sieht auch wirklich aus wie ein Kameel. — Mich
dünkt, sie sieht aus wie ein Wiesel. — Sie hat den Rücken eines
Wiesels. — Oder wie ein Walfisch? — Ganz wie ein Walfisch!
Vischer ereifert sich gegen die »unsinnige Annahme« eines un-
bekannten Kunsthistorikers, Raphael sei ein eklektischer Klassicist
gewesen. Empfangen wir aber eine andere Vorstellung von Ra-
phael, wenn wir wiederholt von den vielen »Bezugsquellen« hören,
welchen er »allerlei wertvolle Gestaltungsmotive entnahm«, von dem
»Amalgamieren der Errungenschaften gewisser Meister«, von der
»Konsumtion von Anregungsfaktoren« und lesen, daß Raphael »aus
einem tiefen Bedürfnis seiner Natur eine gewisse Einbegleichung
der distrakten Intentionen und Methoden vollbringt, von welchen
die Renaissance bewegt war« ? Allerdings wird die Konsumtion als
eine organische bezeichnet und hervorgehoben, daß er die »Anre-
gnngsstoffe pflanzenhaft gedeihlich verarbeitete«. Immer bleibt der
Eindruck stärkster Abhängigkeit von fremden Meistern. Gerade die
reiche Empfänglichkeit Raphaels legt dem Forscher die Pflicht auf,
auch die anderen Seiten in seiner Natur, den festen Kern dersel-
252 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. r.
ben klar darzulegen und ein genaues Bild seiner psyehologischen
Entwickelnng in deutlichen Linien zu zeichnen. Was uns der Ver-
fasser in dieser Hinsicht bietet, reicht nicht ans. Als Merkmal fttr
die florentiner Periode hebt er die »leichte, von der Erscheinung in
flüssigstem Bapport beseelte Pinselschrift hervor, welche immer in
wachem Anschluß den gegebenen Formen folgt«. Zum tieferen Ver-
ständnis Raphaels gelangen wir sodann nach der Meinung des Ver-
fassers durch folgende Sätze: »Raphael einigt klassische und roman-
tische Eunstideale, antike Göttersinnlichkeit, platonischen Hochsinn
und christliche moderne Gemtttsvertiefung«. Es glückt Raphael »bis
zu einem gewissen Grade eine Vermittlung des Eolorismus mit streng
plastischer Behandlung«. »In der kühlen, keuschen Flut der kasta-
lischen Quelle, im zarten Himmelsäther seine Gestalten vom Irdi-
schen so rein zu baden und so streng ins Allgemeine, ürbildliche
zu läutern wie ein Phidias, dies konnte bei allem Adel nicht seine
Absicht sein«. Als Grundeigenschaften seiner Kunst erkennen wir
»die seelenvolle Natur und naturvoUe Seele«. Raphaels Psyche ist
»hochgeartet, edel, wohlgethan, von normalem Gleichmaß in sich
selber, genial und glücklich organisiert«, sein künstlerisches Verhal-
ten« oifenäugig und ruhesam schwebend«. »Die sixtinische Madonna
hinschwebend aus dem Himmel entzückter, seliger Anschauung ist
— Raphael, Symbol seiner Seele«. Nur die in der letzten Zeit auf-
tauchende Neigung »zum morphologischen Folgern« stört zuweilen
die Wirkung. Sonst aber läßt sich sein Wesen so zusammenfassen:
»Raphaels warme und willktthrfreie Subjektivität schafift wahre Ob-
jektivität. Seine klassische Kunst ist lebendige That«.
Die dritte größere stylkritische Studie ist Dürer gewidmet
Der Verfasser holt weit aus. Er beginnt mit einer Schilderung der
romanischen Malerei, leider ohne die Denkmäler zu bezeichnen, an
welchen er seine Beobachtungen machte. »An dominierenden Stellen,
wie inmitten desTympanons und der Concha bleibt noch die herge-
brachte (byzantinische) Zucht bestehn, aber in den Seitenteilen sehen
wir eine so zu sagen »geworfene und geschlenkerte, schusselhafte
Formengebung«. Die Ursachen dieser stylistiscben Eigentümlichkeit
findet er teils in den Werkstätten der Miniatoren und Schreibezeich-
ner, teils im Wesen der Erzgießerkunst und Freskomalerei. Da aber
die romanische Malerei sich fast ausschließlich in Miniatur- und
Fresko- (Wand-)Malerei bethätigt, so erfahren wir aus Vischers Dar-
legung nur, daß die Eigentümlichkeit der Miniatur- und Fresko-
malerei durch die Miniatur- und Freskomalerei bedingt wurde. Auch
in der Formensprache der Gothik findet er noch sehr viel Byzanti-
nisches, doch spricht uns in den Heiligengestalten ein subjektives
4
Yischer, Studien zur Kunstgescbichte. 253
Ffiblen an. Er erläatert dieses VerhältDis darch folgendes Bild: Es
ist, als ob der emaillierte Schild des byzantinischen Himmels trans-
parent würde nnd liebeverwandte Wesen erblicken ließe, in einem
Strahlenmeere bräntliche Himmelsgestalten, atmend in zarter Jagend
aber erst mit nnerfaßlichem verklärtem Leibe«. Den Maßstab zum
Urteile ttber die Eycksche Schale entlehnt er von den oberen Ge-
stalten des Genter AlUtres. Den Eindruck, welchen er von einem
einzelnen Werke empfangen hat, generalisiert er nach der bei ihm
nun einmal herrschenden Sitte and überträgt ihn in die begrifOiiche
Form. Nor so kann man die Behanptang, daß die Eycksche Kunst
schlicht monamental sei, die Oertlichkeit von ihr als »einbegleichen-
der Schirm und Hort der heiligen Scenenc erfaßt werde nnd daß die
deutsche Malerei »im Unterschiede von der flandrischen Kunst bald
«. mit Vorliebe bewegtere Vorgänge zu schildern« versuche, erklären.
Gehören denn Roger von der Weyden, Bouts u. a. Niederländer zur
V deotschen Schule? In die Nähe Dtlrers bringt uns endlich die
Schilderung der deutschen Kunst im 15. Jahrhundert, welche der
Verfasser nicht ganz zutreffend als spätgothische Kunst bezeichnet.
Diese Benennung deutet immerhin eine Abhängigkeit von der Ar-
chitektur an, welche denn doch nicht so schlechtweg von der Ma-
lerei behauptet werden kann. Das 15. Jahrhundert gehört zu den
schwierigsten Kapiteln in der deutschen Kunstgeschichte, nicht nur
weil noch manche Gebiete hier der genauen Durchforschung harren,
sondern auch wegen seines zwiespältigen Wesens, da es gleichzeitig
den Abschluß einer Kunstperiode und den Anfang eines neuen
Knnstlebens bedeutet. Diese Schwierigkeiten spiegeln sich auch in
der Behandlung deutlich wieder, welche der Gegenstand in den Stu-
dien erföhrt. Daß wir hier noch häufiger als sonst auf dunkle
Wendangeo, wie z. B. das »Streben nach optischer Polyphonic« in
der Spätgothik, die »mit dem Fidelbogen gezogenen Konturen«
stoßen, bat nicht viel za sagen. Der Verfasser kann vom Leser ver-
langen, daß dieser sich in seine Ansdrucksweise hineinlebe. Ver-
wirrend wirkt aber die Sitte Vischers, seine Eindrucke in einem
Wortbilde wiederzugeben nnd das letztere sodann wie einen stren-
gen Begriff zu fassen , von ihm zu weiterer historischer Entwicke-
lang den anmittelbaren Ausgangspunkt zu nehmen. »Wir finden,
versichert Vischer, in der Spätgothik gleichsam den stylisierten
dentschen Wald und seine Seele: das Märchen. — Die Erinnerung,
daß die spätgothische Phantasie so innig mit dem Wald zusammen-
hängt, führt uns auf das gebräuchlichste Material altdeutscher Kunst,
auf das Holz, auf die Tttchtigkeit damaliger Zimmerleute, Schreiner^
Drechsler und Schnitzer«. Darauf folgt unmittelbar eine Erörterung
k
2&4 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 7.
der »holzmäßigen Richtung«, welche mit der malerischen und me-
tallotechnischen zusammen die Kunst am Ende des 15. Jahrhun-
derts charakterisiert.
Die historischen Thatsachen in Dürers Leben werden nur kurz
berührt. Von einem der groben Gesellen Wohlgemuths »dürfte«
Dürer in die Kunst Schongauers eingeführt worden sein. Außer
Schongauer übte dann der Amsterdamer Meister von 1480, »offenbar
ein Rheinschwabe, welcher von der Schongauerschen Tradition aus-
gieng« den größten Einfluß auf den Jüngling. Man muß annehmen,
daß Dürer im Jahre 1795, also sehr bald nach seiner Hochzeit eine
kurze Reise nach Venedig unternommen. Diese Anführungen mögen
genügen. Von größerem Gewichte sind gewiß auch in den Augen
des Verfassers die stylkritischen Ausführungen. Er läßt sich dabei
von dem Grundsatze der »stofflichen Metamorphose der Phantasie«
leiten. Das Material, welches der Künstler bearbeitet, erscheint als
Zug in seiner Phantasie wieder, bekundend daß »wir ein Auszug
aller Kräfte sind«; der Geist nimmt die Natur des Stoffes, mit wel-
chem er sich beschäftigt, an. Daher spricht Vischer von einer »Me-
tallphantasie« bei Pollajuolo u. a. Auch Dürer besitzt dieselbe.
»Die Bearbeitung der Metallfläche mit dem Stichel weckt in ihm
eine qualitativ übereinstimmende Kraft gediegenster Verarbeitung.
Der Reiz seiner Stiche ist ein metallischer in dem übertragenen Sinn
der Spiegelung menschlichen Wesens im rein Formalen und Anor-
ganischen. Das in ihnen enthaltene Künstlertum gemahnt selber so
gedrang und schneidig wie Erz und Eisen«. Vischer führt noch
weitere Beispiele der stofflichen Metamorphose an. — In dem Stiche
des Einhorn, dessen Kopf »eine urgründliche Feuergewalt verkündet«,
hat Dürer »den antediluvianischen Granitgehalt seiner eigenen Ge-
nialität an den Tag gelegt«. Wenn er Roßschweife, Vogelschwingen
besonders Adlergefieder zeichnet, so feiert seine Phantasie die »ho*
mogensten Triumphe«. »Das Adlergemüt altdeutschen Wesens ist ihm
selber eigen«. Persönlich sprechen wieder in anderer Weise ein-
zelne Zeichnungen und Holzschnitte zu uns. »Das Eichenknorrige,
Bemooste, Rindenmürbe, Föhrenmilde seiner Linienführung hat etwas
Väterliches«. Aber auch eine lederne Phantasie muß Dürer zuge-
sprochen werden. Nürnberg war nach Vischers Untersuchungen ein
»höheres Reutlingen mit ziemlich großem Gerber viertel, wo es stark
nach Loh riecht und man ein sonderliches Gefallen an Wasserstiefeln,
Schweinslederfolianten, Dudelsäcken, ledernen Strümpfe u. dgl. hat«.
»Dürers angeborene und namentlich in Verbindung mit dem Hand-
werk der Holzschneider erstarkte Art treibt zu diesem ihr genehmen
Stoffgepräge hin«. Auch seine Kreidezeichnungen »enthalten oft
Vischcr, Studieu zur Eunstgescliiclite. 255
darcbweg, selbst im Nackten einen Anklang an zerfeuchtetes Leder
oder Bchrnndigen Feaerschwamm«. Das Wort »Anklang« weckt im
Verfasser einen neuen Gedankenkreis. £r nennt solche Wiedergabe
des zerfencbteten Leders »Baßgeigenstreiche« , im Gegensatze zu
»fein gezogenen Violintönen«, durch welche »die vornehm flatternde
Bewegtheit« von Seide und Leinwand ausgedrückt wird.
Von dieser »Stoffsinnigkeit« Dürers läßt aber der Verfasser doch
auch Ausnahmen gelten. Als Dürer in dem Kupferstiche: das große
Pferd »den latschigen Viechkerl in grotesk antikisierender Rüstung
gezeichnet hatte, mag er sich mit kindlichen Freudeblicken gesagt
haben: Das ist ein netter Kerl!« Hier findet also keine stofiQiche
Metamorphose der Phantasie statt, sondern der Künstler steht frei
und unabhängig dem Gegenstande, dem latschigen Viechkerl gegen-
über, ohne seine Natur anzunehmen.
Nachdem Vischer festgestellt, daß Dürers Kunst »aus einem
schwungvollen Schweifen, aus spontanem Flugspielen des inneren
Sinnes« hervorgegangen ist und daß das »Ineinanderspielen von Le-
benstreue und abstrakter Ornamentalisierung« ihn (wie Veit Stoß)
charakterisiere, wirft er die Frage auf, wer wohl der eigentliche
Lehrer Dürers gewesen sei? Die Antwort wird am Schlüsse einer
längeren Studie über Wohlgemut gegeben. Dürers erster Lehrer
war aller Wahrscheinlichkeit nach ein Unbekannter. Von Wohlge-
muth hat er nur »einen starken sensorischen Einfluß« erfahren.
Zahlreiche Vermutungen werden aufgestellt, um dem großen X. auf
die Spur zu kommen. Keine bringt aber auf die richtige Fährte. Der
Verfasser hätte sich viel Mühe sparen können, wenn er von dem
Satze ausgegangen wäre, welchen er resigniert am Schluß der Studie
ausspricht; »Das Beste zu Dürers Entwickelung konnte nur dieser
selbst gethan haben ; das eigentliche Wesen der Kunst läßt sich
nicht lehren«. Jeder Unbefangene weiß, daß Dürer vor seiner er-
sten italienischen Reise nur eine handwerkmäßige Ausbildung em-
pfangen hatte, seine künstlerische Bichtung, welcher er sodann
zeitlebens treu blieb, zuerst durch die Kunde von den richtigen
Maßen und Verhältnissen bestimmt wurde.
In dem Aufsatze über Wohlgemuth und den folgenden Studien
betritt der Verfasser das engere Gebiet der Kunstkritik und Kunst-
geschichte. Auch hier regen sich gegen einzelne Behauptungen und
gegen die Methode Bedenken. Aus der Angabe, daß ein Wohlge-
muth 1451 am Ulmer Dome arbeitete, folgert er Beziehungen des
Nürnberger Michael Wohlgemuth zu Ulm. Der Umstand, daß ein
Schwager des Hans Schühlein in Nürnberg als Maler ansäßig war,
wird benutzt, um die behauptete Styl Verwandtschaft zwischen Wohl-
256 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 7.
gemath und Schüblein erklären zn helfen. Solche grandiose Ver-
matangen bilden doch nimmermehr die richtigen Bausteine za einer
wissenschaftlichen Kunstgeschichte. Ebenso sträubt sich die beson-
nene Forschung einen im J. 1522 thätigen tiroler Maler ohne wei-
teres zum Schüler des 1474 verstorbenen Squarcione zu stempeln.
Die Freude an Hypothesen kommt auch in der kritischen Schilde-
rung der tiroler Kunst stark zum Vorschein. Dieselben lassen sich,
wie billig zugegeben wird, nicht völlig vermeiden ; nicht minder häufig
muß man in einem Lande, in welchem sich zwei große Volksstämme
berühren und kreuzen^ auf Einflüsse mannigfacher Art stoßen. Wenn
nun aber behauptet wird, daß die Tiroler Kunst im Zeitraum von
1470 bis 1530 einerseits unter dem Einflüsse von Squarcione, Man-
tegna, Cossai den Vivarini und Bellini, Liberale di' Jacomo, Pisa-
nello und anderen Veronesen, von Verrocchio, Leonardo stand, anderer-
seits die Einwirkung von Schühlein, Zeitblom, Strigel, Schaffner,
Burgkmair, Giltlinger, Muschgat, Baidung, Grien, Schäuffelin, P. Vi-
scher, Wolgemut, Dürer, Hans von Kulmbach, Altdorfer, Ostendorfer,
Schoreel erfuhr, so ist dieses Stelldichein von so vielen Italienern,
Deutschen und Niederländern auf dem doch eng begrenzten Tiroler
Boden eine so außerordentliche, in der Kunstgeschichte einzig da-
stehende Thatsache, daß wir dringend den Nachweis dieser bunt ge-
würfelten Einflüsse wünschen müssen. Der Verfasser begnügt sich
leider nur mit einer summarischen Angabe derselben. Er nennt
z. B. die Gemälde in der Pfarrkirche zu Terlan (aus dem 16. Jahr-
hunderte?) bald »ziemlich giotteskc^ bald »hoch giotteskc, findet
eben dort Anklänge an Spinello Aretino, weist aber gleichzeitig auf
Altichieri und d'Avanzo hin, er^ charakterisiert ein Bild in der Angs-
burger Gallerie, welches der älteren Augsburger Schule bisher zuge-
schrieben wurde, also: »tirolisch, entfernte Beziehung zum Meister
M. R., vorn knieender Apostel filippes K.<, ein anderes Gemälde
ebendort : »tirolisch , das dicknäsige Gesicht der Madonna erinnert
an Gossa; ihr Gewand ist noch ziemlich vaneyckischc u. s. w. Die-
ses genügsame Anrufen subjektiver Eindrücke und beiläufiger Erin-
nerungen verringert gar sehr die wissenschaftliche Brauchbarkeit der
Bilderbeschreibungen. Vielleicht legt der Verfasser selbst keinen
großen Wert auf seine historischen Specialarbeiten. Aber auch in
Bezug auf die stylkritischen Abhandlungen muß man bei allem Wohl«
wollen für den Verfasser und alier Anerkennung seines Fleißes be-
kennen, daß er seine Absicht, zwischen der Kunstgeschichte und der
spekulativen Aesthetik eine feste Brücke zu schlagen, nicht er-
reicht hat.
Leipzig. Anton Springer.
Thode , Franz von Assisi a. d. Anfänge d. Kunst d. Renaissance in Italien. 257
Thode, Henry, Franz von As sisi and die Anfänge der Kunst der
Renaissance in Italien. Mit Illustrationen. Berlin, G. Grotesche Ver-
lagsbuchhandlung 1885. Xn, 57S S. 8^
Die italieDische Kunst des 15. und der ersten Hälfte des 16.
Jahrbunderts, die Kunst der Renaissance, hat ihre Warzeln and
Keime in den beiden vorangegangenen Jahrhunderten. Diesen An*
fangen jener großartigen Kunstblttte nachzugehn, bietet einen un-
gemeinen Reiz, zu gleicher Zeit aber auch große Schwierigkeiten.
Der Reiz der Aufgabe springt sofort ins Auge, sobald man erwägt,
daß es sich hier um die Erforschung der frühesten Aeußerangen
einer später zur höchsten Vollendung gediehenen Entwickelung han-
delt. Die Schwierigkeiten aber sind von mancherlei Art: hier gilt
es den noch unscheinbaren Keim des neuen Lebens mitten in der
innerlich absterbenden, aber äußerlich noch mit Wucht auftretenden
älteren Kanstweise aufzusuchen; dort sind diejenigen Momente in
den der Kunst benachbarten, aber auch in scheinbar weit abliegen-
den Gebieten des übrigen Kulturlebens zu erforschen, welche auf
die Entstehung und Fortentwickelung des neuen Kunstideales ein-
gewirkt haben. Dazu kommt, daß wir von den persönlichen Ver-
hältnissen der Künstler des 13. und 14. Jahrhunderts nur geringe
Kunde haben und mithin die Oefahr nahe liegt, daß beim Erläutern
der Entstehung ihrer Werke die Individualität der Urheber nicht
zur Genüge in Rechnung gebracht wird ; macht doch so mancher an
sich gewiß gerechtfertigte Versuch, den Einfluß allgemeiner Kultur-
verhältnisse auf die Entstehung eines Kunstwerkes zu ergründen und
darzustellen, den Eindruck, als meinte der Forscher, er könne und
müsse das betreffende Werk, so daß kein Rest übrig bleibe, als ein
Produkt jener Verhältnisse erklären.
Henry Thode hat die Kunst der werdenden Renaissance, so-
weit sie zu Franz von Assisi und dem von ihm begründeten Orden
in Beziehung steht, zum Hauptgegenstande seiner Darstellung ge-
macht, nur hier und da werden auch Ausblicke in das 15. und 16.
Jahrhundert gethan.
Das Werk zerfällt in zwei Teile, deren erster ein Lebensbild
und eine Charakteristik des Franciskus bietet, sowie seinen Einfluß
auf die Malerei, Skulptur und Architektur in Italien schildert, wäh-
rend der zweite von dem Franziskanertum und dessen Bedeutung
für die italienische Kunst handelt. Ein Anhang enthält neben wich-
tigem kunstgeschichtlichen Material eine Kritik der Quellen zur Ge-
schichte des Franz.
Thode schildert das Leben des Ordensstifters mit nahezu
glühender Begeisterung für das Wesen desselben. Als Grundlage
QM. gel. Au. 1887. Hr. 7. 19
268 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 7.
dieot ihm hauptsächlich die sogen. »I. vitac des Thomas von CeIanO|
»die (von allen frühen Lebensbeschreibungen) den größten Ansprach
auf Glaubwürdigkeit hat und deren Schreibweise einfach und natür-
lich istc.
Ueber der Bewunderung seines Helden vergißt der Verfasser
nicht, auf die Vorgänger des Franz in der Verinnerlichung des re-
ligiösen Lebens sowie in der Volkstümlichkeit des Wirkens gegen-
über den damals herrschenden, »von den eigentlichen Berufspflichten
abziehenden politischen und zugleich weltlich sinnlichen Interessen
der Geistlichen« hinzuweisen. So wird er namentlich dem Petrus
Waldus gerecht, wie er denn auch einen direkten Einfluß der Wal-
denser auf Franz von Assisi, besonders bezüglich der Auffassung
von dem freien Rechte der Predigt der heiligen Schrift, sehr wahr-
scheinlich gemacht hat. Auf welche Weise diese Einwirkung statt-
gefunden hat, läßt sich freilich nicht mit Sicherheit angeben, aber
der Verfasser entnimmt seinen Quellen einen Fingerzeig dafür:
stammte doch die Mutter des Franz aller Vermutung nach aus dem
Süden Frankreichs, stand doch der Vater in Geschäftsbeziehung zu
diesem Lande und ist doch von dem Sohne bezeugt, daß er gern
»auf gallisch sang«, was ihm wohl auch den Beinamen »Francesco«
eintrug, der bald seinen Taufnamen Giovanni gänzlich verdrängte.
Trefflich charakterisiert der Verfasser die Volkstümlichkeit des
im tiefsten Gemütsleben wurzelnden Wesens seines Helden. »Weil
Alles Natur in seiner Rede, Alles Empfindung war, und diese Em-
pfindung aus dem reinsten, von Liebe zu Gott und den Menschen
überströmenden Herzen kam, mußte er eine Wirkung auf die Zu-
hörer ausüben, die wir uns gar nicht groß genug vorstellen können«.
»Franciskus ist durchaus Gefühlsmensch. Alle seine Empfindungen
konnten so ursprünglich, so stark und einheitlich sich nur geltend
machen, weil sie durch keine, Zweifel anregende Verstandeskritik
schon im Entstehn gehindert wurden«. . . »Sein Leben ist ein
großer Dithyrambus auf das Gefühl. Darin allein liegt die Erklä-
rung für seinen gewaltigen Einfluß«.
Dieses gefühlsinnige Wesen des Franciskus tritt in besonders
schlagendes Licht bei einem Vergleiche mit seinem Zeitgenossen
Dominikus. Ueberans treffend hat Dante den Unterschied zwischen
den beiden Ordensstiftern im 11. Gesang des Paradieses bezeichnet,
wo geschildert wird, wie Gott der Braut Christi (der Ejrche) zwei
Führer verordnet habe: »der Eine war an Gluten ganz seraphiscfai
der Andre war auf Erden schon an Weisheit ein Abglanz von dem
Licht der Cherubimi. Mit Recht dehnt Hettner (»Die Dominikaner
in der Kunstgeschichte des 14. nnd 15. Jahrhunderts«, in den Ital.
Thode, Franz yon Assisi u. d. Anfange d. Kunst d. Renaissance in Italien. 259
Studien S. 99) diesen Gegensatz aneb auf die beiden Orden ans, in*
dem er sagt: »Die Franziskaner traebten nach Innerlichkeit and
buAfertiger Erwecknng ; die Dominikaner nach Festsetzung und Anf-
rechterbaltung der strengen Kirchenlehre und Eirchenzacht. Die
Franziskaner sind mystische Schwärmer, nnyergangliche Andachts-
lieder sind von ihnen aasgegangen; die Dominikaner sind die Mei-
ster der Scholastik und die nnerbittlichen Schergen der Inquisition«.
Von besonderer Bedeutung fflr die Frage nach dem Einfluß des
Franziskus auf die bildende Kunst ist neben der Gefühlswärme im
Allgemeinen seine Liebe zur Natur. Tiere, Pflanzen, Sterne, Sonne
und Mond waren ihm »Brttder und Schwestern«. »In der ganzen
Natur sah er nur den Abglanz der Allmacht und Herrlichkeit Got-
tes«. Dem einzigen Liede, welches von Franziskas selbst auf uns
gekommen, dem Gedichte von der Sonne, liegt diese Begeisterung
tfXr die Natur zum Grunde. Ein wesentliches Moment in der sich
allmählich anbahnenden Renaissance-Kunst ist aber auch ein innige-
res Verhalten zur Natur, das wachsende Verständnis fttr dieselbe
Wie weit ist hier die bildende Kunst dem Franziskus zu Dank ver-
pflichtet?
Thode faBt in dem Kapitel: »Franz und die Kunst« die Seg-
nungen zusammen, welche der letzteren durch Franziskus gebracht
worden. Er teilt uns hier bereits die Hauptergebnisse der dann fol-
genden Specialuntersuchungen mit Diesen läßt er sodann einen
Sehlnßabschnitt folgen, dessen kunstgeschichtliche Betrachtungen als
eine Ergänzung des oben genannten Kapitels betrachtet werden
können.
Des Verfassers Gedankengang ist, möglichst mit seinen eigenen
Worten wiedergegeben, in Kürze folgender:
Franz hat den geheimen und noch verborgenen Drang der Zeit
zur Natur der Menschheit zum Bewußtsein gebracht, er hat das bis
dahin unter geistiger Bevormundung gehaltene individuelle Gefühl
befreit und ihm für alle Zeiten die selbständige Berechtigung er-
worben. Sein Christentum predigte die Gleichheit der Menschen vor
Oott and das direkte persönliche Verhältnis jedes einzelnen Men-
schen zum Schöpfer. Die Religion der Franziskaner fand als Re-
ligion des Bürgertums eine dankbare Aufnahme in den Städten.
Hand in Hand sind die Bürger and Bettelmönche mit einander groß
geworden, durch sie beide auch die Kunst, zwischen Predigt und
Kunst entwickelte sich die innigste Wechselbeziehung. Durch Fran-
ziskas ward der Mensch Christus in den Vordergrund gerückt.
Indem er die Geheimnisse des christlichen Glaubens in den natürli-
chen Vorgängen von Christi irdischem Lebenswandel veranschaulicht
19*
260 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 7.
sab, bat er den alten Stoff der cbristlicben Legende als einen gleich-
sam ganz neuen der Kunst zugeführt. Da nun Christus als leibli-
cher Bruder der Vertraute und Freund jedes Einzelnen geworden
war, konnte, ja mußte auch der Künstler ihn als solchen in der er-
habenen Einfalt menschlicher Natürlichkeit schildern. Da malte
dann Giotto seine lebensfrischen, ungezwungenen Fresken in der
Arena zu Padua — kurz, erstand die Kunst der Renaissance. Tos-
kana, aber auch nur dieses wird im XIII. Jahrhundert der Aus-
gangspunkt der neuen Kunstbewegung. Die Lebenskraft aber der
toskanischen Kunst, die durch Franz bewegt wird, sich zu äußern,
liegt in dem starken Gefühl für die Natur. Was die Antike beige-
tragen zu der Entwickelung ist nichts als eine formelle Anweisung
und praktische Belehrung. Fast unbewußt wenden sich die ersten
großen Heister der Kindheitszeit der Kunst, Niccolö Pisano und
Giotto, um Rat an die Denkmäler des Altertums, ohne doch genü-
gend darauf vorbereitet zu sein, aus denselben wirklich großen
Nutzen ziehen zu können. Mag auch im Einzelnen der Bildhauer
und Maler antiken Vorbildern manchen praktischen Hinweis ver-
danken, im Großen und Ganzen geht er doch unbekümmert in der
seit dem 13. Jahrhundert vorgeschriebenen Bahn vorwärts, bis das Ziel
in Raphaels und Michelangelos Werken erreicht ist. Was aber die-
ser ganzen Entwickelung gemeinsam ist, eine, Religion und Natur
in harmonischen Einklang setzende Anschauung, wurzelt in Franz
von Assisi. Malerei und Plastik beginnen in der Mitte des 13. Jahr-
hunderts sich zu regen. Nur der Mangel eingehender Kenntnis hat
es bisher verhindert, daß man neben den Werken der Pisani die
Elemente der neuen künstlerischen Auffassung auch in den Bildern
ihrer Zeitgenossen entdeckte. Am faßlichsten sind sie in den Dar-
stellungen des Franz und seiner Legende zu sehen. Diese werden
gewissermaßen die Vorschule der neuen Malerei. Das allgemeine
Verlangen nach bildlicher Verherrlichung des Heiligen bietet den
Künstlern einen neuen, großen und dankbaren Stoff. Da für den-
selben keine von Alters her geheiligte Tradition zu berücksichtigen
war, wurde der Maler direkt auf die Beobachtung des Lebens hin-
gewiesen.
Vor Thode ist bereits wiederholt auf die Bedeutung des Fran-
ziskus und seines Ordens für die bildende Kunst hingewiesen wor-
den. In meiner Studie über Giotto (Kunst und Künstler des Mittel-
alters und der Neuzeit, herausgegeben von Dohme) brachte auch ich
den Fortschritt der italienischen Malerei nach der Seite tieferen
Seelenausdruckes hin mit der durch Franz und seinen Orden nen
Thode, Franz von Assisi u. d. Anfänge d. Ennst d. Renaissance in Italien. 261
belebten religiösen Empfindung in Verbindung und bob die Bedeu-
tung der Thatsache hervor, daß die ktlnBtlerische Darstellung der
Legende des Heiligen neue, der Nation ans Herz greifende Kompo-
sitionen und neue Typen ins Leben rief, die nicht unter dem Banne
der alten kirchlichen Tradition standen. In besonders eindringlicher
Art wies sodann Hettner in seinem schönen Aufsatze: »Die Fran-
ziskaner in der Kunstgeschichte« (Kleine Schriften, S. 312 ff.) auf
die durchgreifende Verinnerlichung und Durchgeistignng der künst-
lerischen Motive hin, welche dem vertieften Innenleben der Fran-
ziskaner zu danken sei. Thode hat das Verdienst, den Einwirkun-
gen, welche das Gefühlsleben des Franziskus und die Begeisterung
für ihn, welche ferner die gesamte Lebensauffassung und Thätigkeit
der Franziskaner, vor Allem ihre Dichtung und Predigt, auf die
bildende Kunst geübt, mit größter Sorgfalt bis ins Einzelne nachge-
gangen zu sein.
Bei der eingehenden Analyse von Giottos Fresken in der Ober-
kirche von S. Francesco zu Assisi, welche die Legende des Heiligen
zum Gegenstande haben, teilt der Verfasser Schritt für Schritt, un-
ter Berücksichtigung der älteren Quellen, diejenigen Stellen aus Bo-
naventuras »Vita« mit, die den einzelnen Bildern zum Grunde lie-
gen, und erleichtert hierdurch dem künftigen Beschauer das Eindrin-
gen in diese Kompositionen, sowie in das künstlerische Schaffen des
großen Meisters. Er wird hier durchweg der Gediegenheit von
Giottos Kompositionsweise und (in der zusammenfassenden Betrach-
tung auf S. 185) der Art seiner Begabung mit den Worten gerecht:
>Giotto hatte die glücklichste Anlage des Genies in der Wiege er-
halten, er ist von vornherein bestimmt gewesen, die Natur und das
menschliche Sein in derselben mit anderem Blicke zu erfassen, als
die Künstler vor ihm«.
Daß die Giotto in seiner Jugend zu Teil gewordene Aufgabe,
die Legende des so volkstümlichen Heiligen darzustellen, ihn in sei-
ner Entwickelung mächtig gefordert haben wird, ist nicht zu be-
zweifeln. Die Dichtung der Franziskaner hat aber auch auf seine
Schilderung des Lebens Jesu ihren Einfluß ausgeübt. Ein lehrreiches
Kapitel in dem zweiten Teil des Thodeschen Buches, »Die künstle-
rische Neugestaltung der christlichen Darstellungen« Oberschrieben,
versucht meist mit Glück diesen Einfluß im Einzelnen nachzuweisen.
Schon Hettner hatte auf die Bedeutung hingewiesen, welche in dieser
Beziehung Bonaventuras berühmtes Buch »Meditationes Vitae Christi«
besitzt, dieses Werk, welches die überlieferten Begebenheiten indi-
vidueller ausmalt und einen feinen Blick und sinniges Verständnis
für die Seelenbewegungen der Handelnden bekundet Hettner hatte
262 Gött. gel. Anj5. 1887. Nr. 7.
besonders an zwei Beispielen: dem Foftkaft bei der Anbetung der
Könige nnd jenen Bildern, welche die Madonna vor dem Christus-
kinde knieend darstellen ^)y die Einwirkung Bonaventuras nachge-
wiesen. Thode bringt auch fUr eine große Anzahl anderer Darstel-
lungen aus dem Leben und Leiden Christi die betreffenden Stellen
aus derselben Quelle bei, indem er mit der ihm eigenen anerkennens-
werten Vorsicht bemerkt: er wolle damit nicht behaupten, daß die
angeführten litterarischen Stellen direkt bestimmend für die Kunst-
werke gewesen seien, er wolle vielmehr mit denselben nur auf die
besonders durch die Predigt verbreiteten maßgebenden allgemeinen
Anschauungen hinweisen.
Das befruchtende Element bei der Entstehung der großen
christlichen Kunst sieht Thode in der »Geftthlsherrschaft einer sub-
jektiven Religionsanschauung«, wie sie eben dem Franziskus eigen
war; als gleichsam empfangendes Element bei jenem Processe
erscheint ihm die ursprüngliche, eingeborene künstlerische Anlage
des toskanischen Volksstammes, als dritter Faktor kommen die
günstigen äußeren Umstände dieses Volksstammes hinzu, in denen
die Bedingung der gedeihlichen Entwickelung liege.
Doch wohl zu ausschließlich wird hier das religiöse Element als
der die neuere italienische Kunst befruchtende Faktor betont. Steht
diese Kunst auch noch Jahrhunderte hindurch wesentlich im Dienste
der Kirche, hat, wie wir oben sahen, das gesteigerte subjektiv re-
ligiöse Verhalten des Franziskus und der Seinen große Verdienste
um die Kirchenmalerei, so dringen doch etwa seit der Mitte des
13. Jahrhunderts je länger je mehr auch die specifisch weltlichen
Elemente der ganz allmählich aus dem Bannkreise der Kirche tre-
tenden italienischen Kultur in die Kunst dieses Volkes. Bereits im
Jahre 1260 vollendete Niccolo Pisano seine Kanzel für das Baptiste-
rium zu Pisa, deren Skulpturen nicht nur nach der Seite der Form-
gebung, sondern auch bezüglich des Inhalts und des Ausdruckes
einen starken Einfluß der Antike zeigen. Ist es ihm hier auch
noch nicht gelungen, das antike Element mit dem Ideengehalte der
von ihm behandelten religiösen Gegenstände innig zu verschmelzen,
so wird man doch bei einem Blicke auf die weitere Entwickelung
1) Mit Recht bemerkt Thode, daß nicht Gentile da Fabriano, wie Hettner
meint, dieses Motiv zuerst angewendet habe. Doch wurde der betreffende Schritt
auch nicht, wie Thode glaubt, erst am Ende des 14. Jahrh. gethan, die neben der
Krippe knieende Maria findet sich vielmehr bereits in einem der, dem Taddeo
Gaddi zugeschriebenen, kleinen Bilder von den Sakristei-Schranken der Kirche
S. Croce in der Sammlang der Florentiner Akademie. Auch Joseph ist hier
knieend dargestellt.
Thode, Fraaz von Assisi a. d. Anfinge d. Kunst d. Renaissance in Italien. 263
der Keuai&Bance es nicht in Absede stellen könnea, daß jenes antike
Element, wie in der Litteratar, so aneh in der Kunst fortan einer
der bedentendsten befraehtenden Faktoren war.
Aber auch Giottos Kunst ist vielfach weltlieh gefärbt. Thode
legt, wie wir sahen, ein großes Gewicht auf die Begeisterung des
Franziskus für die Natur. Wenn auch Giotto die Natur wieder zu
Ehren bringt, so geschieht es doch wesentlich in einer andern Weise.
Das Verhalten des Franz zu den Gestirnen, zur Landschaft, zum
Tierreiche hatte, nach den Berichten der Legenden zu urteilen, et-
was Schwärmerisches, Empfindsames, Ueberschwängliches, ich möchte
sagen Weibliches an sich, wie ja das ganze Wesen des Franziskus
— auch nach Thodes Auffassung — in Gefühl aufgeht. In den Ma-
lereien Giottos bewundern wir aber vor Allem den energischen,
männlichen Sinn, bei welchem Denken und Fühlen im Gleichgewicht
sind. Seine Naturauffassung macht auf uns den Eindruck, daß doch
noch ganz andere Momente, als jene allgemeine Begeisterung des
Franziskus fttr alles Geschaffene, ihm das Auge für die Wirklichkeit
geschärft haben. Seiner glänzenden Beobachtungsgabe liegt vor
Allem ein klarer Verstand zum Grunde, wie denn auch die meisten
jener Anekdoten, welche schon frühe über Giotto im Gange waren,
und in denen sich denn doch etwas von seinem wirklichen Wesen
spiegeln möchte, sein scharfes Denken betonen.
In der romantischen, »prärafaelitischenc Kunstepoche unseres
Jahrhunderts hat Rumohr ^) ein hartes Urteil über Giotto gefällt: er
sei gleichgültig gewesen gegen die Würde der von ihm dargestellten
Gegenstände, seine Bichtung habe den ernsten Sinn der vorangehen-
den Kunstbestrebungen verdrängt, er habe die Richtung seiner Vor-
gänger auf edle Ausbildung heiliger und göttlicher Charaktere, wenn
auch nicht ganz aufgegeben, doch hintangesetzt, hingegen die italie-
nische Malerei zur Darstellung von Handlungen und Affekten hinüber-
gelenkt, in denen . . . das Burleske neben dem Pathetischen Raum
üand. Diese erbitterten Vorwürfe eines so feinen Kunstkenners, wie
Bumohr es war, erklären sich, wie mir scheint, durch den Umstand,
daß er die starken Keime einer Verweltlichung der Kunst in Giottos
Werken empfand. Wer die seit Giotto ganz allmählich sich voll-
ziehende Emancipation der Kunst von der Kirche, ja von der Reli-
gion, beklagt, verfährt ganz folgerichtig, wenn er Giotto tadelt. In
seiner Kunst ist eben bereits etwas von jenem weltlichen Zuge der
Renaissance-Kultur, und so vermag ich denn diese Kunst nicht in
dem Maße, wie Thode es tbut, als Ausdruck des Franziskanertums anzu-
sehen. Wohl aber weist die italienische Kunstgeschichte einen Meister
1) Italienisclie Forschungen II, S. 89 ff., »lieber Giotto«.
264 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 7.
anf, der wie ein ins Eünstleriscbe übersetzter Franziskas erscheint:
Fra Angelico da Fiesole, und mit Recht sagt Thode, es lebe des
Franz Empfindang fast in jeder der Figuren dieses Meisters, »der,
wenn irgend einer, »seraphisch ganz von Glnthen«, daza bestimmt
schien, das Wesen des Heiligen ganz nacbzaempfindenc.
Vergleicht man nun die holdseligen in Andacht aufgelösten En-
gel, Jünglinge, Frauen des frommen Malers, seine sanften Männer
und Greise, deren stets geftthlsinnige, ja nicht selten empfindsame
Blicke und Gebärden den Gedanken an männliche Eraftentfaltung
oder an eine Verschiedenheit der Charaktere kaum aufkommen las-
sen, mit der der Wirklichkeit abgelauschten reichen Mannigfaltig-
keit der durch Giotto geschaflfenen, meist von Willenskraft strotzen-
den, leidenschaftlichen Charaktere, so wird man sich dessen bewußt,
daß dort allerdings die Empfindungsweise des Franziskus vor-
herrscht, hier aber eine Gedanken- und Gefühlswelt sich ofiTenbart,
die sich aus noch ganz anderen Elementen zusammensetzt. Vor
Allem da, wo Giotto und Fiesole Seelenschmerz darzustellen haben,
macht sich der tief gehende Unterschied in dem Denken und Em-
pfinden beider Künstler bemerkbar: während in Fiesoles Beweinung
Christi (in der Sammlung der Akademie zu Florenz) die Angehöri-
gen Jesu trotz ihrer tiefen Trauer gottergeben erscheinen, hat das
leidenschaftliche Gebahren derselben in Giottos gleichnamigem Bilde
in der Arena zu Padua mit religiösem Empfinden schlechterdings
nichts zu thun. Hier bricht die Verzweiflung mit elementarer Ge-
walt hervor; selbst die, wie eine Schaar aufgescheuchter Vögel, in
der Luft umherflatternden Engel nehmen an dieser trostlosen Stim-
mung Teil. Wir haben es mit einer rein menschlichen, hinreißenden
Tragödie zu thun, die uns wohl an das leidenschaftliche Pathos der
Elagegesänge antiker Trauerspiele, nicht aber an die christliche De-
mut eines Franziskus gemahnt.
Thode hat sich allerdings nicht die Aufgabe gestellt, eine Ge-
schichte der Anfänge der Renaissance-Kunst im Ganzen zu schrei-
ben, sein Ziel war vielmehr die Darlegung der Einflüsse des Fran-
ziskanertums auf diese werdende italienische Kunst, und dieses Ziel
hat er im Einzelnen in glänzender Weise erreicht, aber beim Lesen
seines Buches komme ich von dem Eindruck nicht frei, daß er in
der Gesamtauffassung jenes Verhältnisses über das Ziel hinaus-
gegangen.
Thode fuhrt ja freilich, wie wir sahen, dort, wo er zusammen-
fassend von der Entstehung der Renaissance-Kunst spricht, als einen
der drei seiner Meinung nach hierbei in Betracht kommenden Fak-
Thode, Franz von Assisi u. d. Anfänge d. Kunst d. Renaissance in Italien. 266
toren, die günstigen äußeren Umstände des toskanischen Volks^
Stammes an, in denen die Bedingung der gedeihlichen Entwickelnng
liege. Da aber dieser Gedanke nicht weiter aasgefbhrt wird, ver-
schwindet er so gänzlich hinter den eingehenden Erörterungen ttber
die Einwirkung des Franziskanertnms auf die werdende italienische
Kunst, daß beim Leser der Eindruck zurückbleibt, nach der Mei-
nung des Verfassers habe doch eigentlich Franziskus hier fast das
ausschließliche Verdienst, und jene günstigen äußeren Umstände hät-
ten nur im Verein mit der künstlerischen Anlage des toskanischen
Volksstammes einen fruchtbaren Boden für den vom Franziskaner-
tnm ausgestreuten Samen geschaffen.
Dieser Eindruck wird noch dadurch verstärkt, daß der Verfasser
auch in der Geschichte der italienischen Dichtung dem Franziskus
eine geradezu vorherrschende Stellung anweist, hat doch seiner Mei-
nung nach die religiöse Begeisterung, die von Franziskus ausge-
gangen, die Divina commedia Dantes, »dieses erhabene Lied zur Ver-
herrlichung der himmlischen Liebe«, hervorgerufen. Es liegt mir
ganz fern, den Einfluß des Franziskanertums auf Dante in Abrede
stellen zu wollen. Wie die Weltanschauung des Thomas von Aquino,
so kommt ohne Zweifel auch die Mystik des von Dante im 11. Ge-
sang des Paradieses mit warmen Worten gefeierten Franziskus und
der Seinen in der großen Dichtung zum Ausdruck. Aber wie zahl-
reiche andere Elemente in Dantes Denken und Fühlen, die mit der
Gedanken- und Gefühlswelt der Bettelorden nicht das mindeste za
thnn haben, mußten zusammenwirken, um diese gewaltige Dichtung
zu ermöglichen: ein offenes Auge und ein offener Sinn für die welt-
lichen Dinge-, Liebe zum Weibe; glühender Patriotismus; politische
Leidenschaft; gründliche Kenntnis der römischen Litteratur und Be-
geisterung für dieselbe u. s. w. Wie fühlt man es doch immer wie-
der aus der »göttlichen Eomödiec heraus, daß ihr Urheber mitten
im vollen Leben seiner Zeit stand, wie spürt man da die scharfe
Luft, welche das politisch und social erregte, von inneren Kämpfen
durchtobte, die verschiedenartigsten Bildungselemente geistlicher und
weltlicher Natur allmählich zu einer neuen Art der Kultur verar-
beitende Florenz durchzog! So kann ich denn Thode nicht Recht
geben, wenn er sagt^ die mystische Dichtung der Franziskaner habe
der Divina commedia den eigentlich künstlerischen ewigen Gehalt
verliehen. Auch hier, wie in der bildenden Kunst, liegen die Dinge
nicht so einfach. Und Dante selbst hat nicht etwa auf den Fran-
ziskaner Jacopone da Todi als seinen » Vorläufer c hingewiesen, er
nennt vielmehr voller Begeisterung den Vergil seinen Meister, seinen
Vater, dem er zu seinem Heile sich ergeben (Inf. I, 85; Purgat
2^ Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 7.
XXX, 49)| nnd bezeichnet daDn wieder mit demselben Ehrennameii
den Dichter Gaido Goinicelü (Pargat. XXVI, 97—114). Spricht
Dante hier diesem seinem Vorbilde in der Liebespoesie den Dank in
warmen Worten aus, so ist sein Gefühl für das, was er seinem Vor-
gänger bezüglich der Popularisierung und Einführung des Altertums
in die nationale Litteratnr, was er Brnnetto Latini verdankt, nicht
minder lebhaft Denn gewiß war es ihm Ernst mit jenen schönen
pietätvollen Worten, welche er an den geliebten Lehrer richtet:
»Se fosse pleno tutto '1 mio dimando,
— voi non sareste ancora
Deir nmana natura posto in bando:
Chi in la mente m' h fitta, ed or m' accuora
La cara e buona imagine paterna
Di voi, quando nel mondo ad ora ad ora
M' insegnavate come l'uom s'eterna:
E quant' io V abbo in grado, mentr' io vivo
Convien che nella mia lingua si scerna. (Inf. XV, 79 sq.).
Es ist hier nicht meine Aufgabe, alle die verschiedenen Bil-
dnngselemente zn analysieren, mit denen die geistige Atmosphäre
erfüllt war, ans welcher heraus ein Dante, ein Giotto ihre unsterb-
lichen Werke schufen. In einem Buche aber, welches die Anfänge
der Kunst der Renaissance zum Gegenstande hat und die hiebei in
Betracht kommenden religiösen Anregungen so eingehend bespricht,
yermisse ich den Hinweis auf diejenigen außerhalb der Sphäre des
religiösen Lebens liegenden Momente der damaligen Kultur, welche
ebenfalls auf die Kunst eingewirkt haben. Die Folge der Unter-
lassung eines solches Hinweises ist eben der Eindruck, als genügte,
des Verfassers Meinung nach, unter Voraussetzung der angeborenen
hohen dichterischen oder künstlerischen Begabung eines Dante, eines
Giotto, das Franziskanertum, um Werke wie die göttliche Komödie
oder die Fresken in der Arena ins Leben zu rufen. Dazu stimmt
denn auch der Ausspruch: »Fast zur Gewißheit wird die Ahnung,
daS dem Franziskus der beste Teil der neuen Geistesrichtung in
Italien zu verdanken ist, betrachten wir die künstlerischen Aenße-
mngen derselben c
Thode unterschätzt ferner, wie mir scheint, gegenüber dem neuen
Geftthlsgehalt, der durch Franziskus in die Kunst gekommen, die
Vorgänge auf formal künstlerischem Gebiete, welche es erst einem
Giotto ermöglichten, das Leben Christi so zu schildern, wie er es
in der Arena that ; namentlich wird er der gewaltigen Umgestaltung
der Knnst, welche Niccolö Pisanos Zurückgreifen auf die Antike be-
Thode, Franz von Assisi u. d. Anfänge d. Kunst d. Renaissance in Italien. 267
wirkte, nicht gerecht. Ich kann ihm nicht zustimmen, wenn er
sagt, Niccolö Pisano habe fast anbewaßt sich an die Denkmäler des
Altertums um Rat gewendet, ohne daß es ihm wirklich großen Nutzen
gebracht hätte, lehren doch vielmehr Niccolös Werke mit den zahl-
reichen der Antike entnommenen Motiven und Oestalten, daß er
sich dessen klar bewußt war, was er that, als er zu dieser lange
vergessenen Quelle kttnstleriscber Wahrheit und Schönheit zurück-
kehrte ; und hat doch dieses sein Studium der Antike der Kunst erst
wieder gleichsam die Binde von den Augen genommen, welche sie
80 lange verhindert hatte, der Natur ins Antlitz zu schauen. An der
Hand dieser Lehrmeisterin kamen die Pisaner Bildhauer dazu, die
menschliche Figur wieder plastisch zu gestalten, bewegungs- und
ausdrucksfähig zu machen. Thode ist uns den Beweis fUr die Be-
hauptung schuldig geblieben, daß die Elemente der neuen künstleri-
schen Auffassung auch in den Gemälden der Zeitgenossen der
Pisani vorhanden seien, wohlverstanden solchen Malereien, die von
der großen Neuerung des Niccolö Pisano und seiner Schule unbeein-
flußt waren. Wenn es jenes großen Fortschrittes in der Darstellung
des menschlichen Körpers, welchen die Pisani vollzogen, nicht be-
durft hätte, um auch die Malerei erst wieder in den Stand zu setzen,
subjektives Empfinden zu veranschaulichen, wie kommt es dann, daß
die frühesten künstlerischen Darstellungen des Franziskus und sei-
ner Legende, welche Thode in dankenswerter Vollständigkeit uns
vorführt, noch so gar nichts Individuelles zeigen! Und doch muß
Franziskus und das damals noch junge Franziskanertnm in jenen
Jahrzehnten viel begeisternder gewirkt haben, als in der Zeit, da
Giotto malte, einer Zeit, in welcher bereits viele Misbräuohe und
Schäden in den Bettelorden offenkundig geworden waren, und die
Begeisterung für das Princip derselben, welche Franziskus durch-
glüht hatte, sich eine so herbe Kritik gefallen lassen mußte, wie sie
sich in dem bekannten Gedichte desselben Giotto findet, jener Can-
zone ^), die den Gedanken nahe legt, Giotto habe sich hier dafür ent-
schädigen wollen, daß er in seinem Bilde der Vermählnng des Franzis-
kus mit der Armut die letztere dem ihm gegebenen Programm gemäß
als Künstler habe feiern müssen, während er als Mensch ganz anders
ttber sie dachte.
Vermag ich Thode in Betreff der Gesamtauffassung des Verhält-
nisses des Franziskus zur italienischen Kunst aus den angeführten
Gründen nicht beizustimmen, kann ich nicht mit ihm der italieni-
schen Kunstgeschichte des 13. und 14. Jahrhunderts gleichsam die
Ueberschrift: Die Epoche des Franziskanertums geben, so pflichte
1) Neuerdings wieder abgedruckt in der Yasari- Ausgabe von Milanesi. I, 426.
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Oder die FrMten ">«'_* .p„, ,
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t (1. Renaissance in Italien. 269
)we and Cavalcaselle haben
iterkirche wie in der Ober-
en stylistischen Untersacbung
i ihrer epochemachendeD Ge-
[ die Grundlage für alle fer-
)er noch so manche Frage zu
reulich, daß ein so gründlicher
liam dieser für die Entwicke-
L-hen als auch der sienesischen
fte and die Ergebnisse seiner
:ider, die Ansichten seiner Yor-
•r Weise dem Leser vorführte.
sei ungelöst, aber ist doch, wie
ickt.
i'kirche betrifft, so sei zunächst
.1 Langhause der Unterkirche be-
nde des Franziskus eine größere
lie Bedeutung beilegt, als es bis-
oits hier der neue, durch Franzis-
>1T befreiend auf den Künstler ge-
ehr von dem Schematismus der äl-
spreche von Naturbeobachtung, so
/mzelnen noch sei. So weist denn
. er die Bezeichnung »Meister des
bedeutsame Stellung unter den Vor-
an. Seine Hand glaubt er auch in
zu haben, so namentlich in dem Bilde
on S. Maria degli Angeli bei Assisi
Margaritone zugeschriebenen Crucifix
um Jahre 1272; auch das Crucifix in
V' von S. Francesco in Assisi meint er
iichkeit zuweisen zu dürfen. Die den
idern im Langhause gegenüber befind-
11 Jesu schreibt Thode wegen der größe-
Darstellung und des Fortschritts in der
t einem Künstler zu, der zwischen dem
nd Cimabue mitten inne stehe, ja er hält
.^ wir es hier bereits mit einem Jugend-
n haben. Crowe und Cavalcaselle hatten
ere Entstehnngszeit angenommen und die-
reien in S. Pietro in Grado in Zusammen-
auch einen Fortschritt in der Bewegung
270 Gott. gel. Adz. 1887. Nr. 7.
und GruppieroDg anerkennen. Jedenfalls hat Tbode hier eine wich-
tige Frage berührt. Sollte sich seine Auffassung bewähren, so wtirde
nachstehende Angabe Vasaris Aber Cimabne bis zu einem gewissen
Grade ihre Rechtfertigung finden: »dove (sc. in Assisi) in compagnia
d'alcuni maestri greci, dipinse nella chiesa di sotto di San Fran-
cesco parte delle volte, e nelle facciate la vita di Ges& Cristo e
quella di San Francesco; nelle quali pitture passö di gran lunga
que' pittori grecic '). (Vasari, ed. Milanesi I, 252).
Wenn es mir erst nach einem erneuerten Besuche Assisis mög-
lich sein wird, zu dieser Frage Stellung zu nehmen, kann ich bereits
gegenwärtig dem Verfasser bezüglich seiner Auffassung des Verhält-
nisses der Malereien in der Sakraments- oder Nikolaus-Kapelle und
in der Magdalenen-Kapelle zu Giotto vollständig zustimmen. Die
Fresken beider Kapellen stehn in der That der Kunst Giottos ganz
nahe. Auch darin dürfte der Verfasser das Richtige treffen, daß er
die Bilder der Nikolaus-Kapelle mit dem früheren Styl Giottos in
Zusammenhang bringt und es für das wahrscheinlichste hält, es habe
hier ein ganz früher Schüler Giottos nach Entwürfen seines Meisters
in den ersten Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts gearbeitet. Die
nahe Verwandtschaft dieser Bilder mit Giottos Kunst hatten auch
schon Crowe und Gavalcaselle mit den Worten: kein Maler habe
sich bis dahin erfolgreicher und zugleich enger an Giotto gehalten
als dieser, anerkannt. Die Malereien der Magdalenen-Kapelle in
ihrer breiteren, monumentaleren Kompositionsweise, der größeren
Sicherheit der Zeichnung, der feineren Vollendung im Einzelnen
weisen, wie Thode mit Recht bemerkt, auf die Zeit der Arenafresken
hin, mit denen nicht allein einzelne Kompositionen , sondern auch
die Typen die nächste Berührung zeigen. Ich halte es mit Thode
für das Wahrscheinlichste, daß hier Giotto selbst, vielleicht unter
Beteiligung eines begabten Schülers, gearbeitet hat. So würde sieh
auch die Verwandtschaft mit Giottos allegorischen Bildern über dem
Hauptaltar noch einfacher erklären, wie wenn man mit Crowe und
Gavalcaselle als Urheber der Magdalenenbilder den Gehilfen
Giottos bei den allegorischen Deckenbildern annimmt.
Da auch die Scenen aus dem Leben Jesu und aus der Legende
des Franziskus in dem nördlichen Querschiffe auf das Engste mit
der Kunst Giottos zusammenhängen, so wird man Thode nur Recht
geben können, wenn er alle diese Fresken auf einen geistigen
Urheber, auf Giotto, zurückführt. Und eben so kann man ihm darin
1) Da£ Vasari auch hier griechische Maler thätig sein l&£t, hängt mit seiner
unbegründeten Auffassung von dem Betriebe der vorcimabuesken Kunst in Italien
ausschliefilich durch byzantinische Meister zusammen.
Thode, Franz von Assisi u. d. An&nge d. Kunst d. Renaissance in Italien. 271
beipflichten, daß sich in ihnen Giottos Entwickelang im Allgemeinen
erfassen läßt: in der Nikolaas-Kapelle der Uebergang von dem
jagendlichen Style der Oberkirche zu einem reiferen, etwa dem der
Arenabilder entsprechenden, wie ihn die Magdalenen-Kapelle zeigt,
in den Qaerscbifffresken eine Milderang and Umwandlung za einer
liebenswürdig graciOseren Aaffassang.
Die Darstellangen aas dem Leiden Jesu im südlichen Quer-
schiff, welche Growe and Gavalcaselle dem Pietro Lorenzetti za-
schreiben, hält Thode fUr das Werk eines diesem sehr nahe stehen-
den Schillers. Ich maß auch noch gegenwärtig meine früher (Die
sienesische Malerschale, bei Dohme, Kunst und Künstler S. 47) aus-
gesprochene, aus der Verwandtschaft dieser Bilder mit denjenigen
in S. Francesco zu Siena hergeleitete Ansicht aafrecht erhalten, wo-
nach wir es hier mit einer in naher Beziehung zu Ambrnogio
Lorenzetti stehenden Arbeit zu thun haben.
Gehn wir nun zu den Malereien in der Oberkirche über! Hier
stimmt Thode in Betreff der Darstellangen aus der Legende des
Franziskus mit der, in meiner Studie über Giotto ausgesprochenen
Ansicht ttberein, wonach der ganze Gyklus diesem Meister zuzu-
schreiben sei. Dafür, daß ein und derselbe Künstler alle 28 Bilder
geschaffen, spricht Alles: Kompositions weise , 1^7po°y Gewandung,
Architektur, Technik.
Das Ergebnis, zu welchem das eingehende Studium der dem
Cimabue und seiner Schale zugeschriebenen übrigen Bilder der Ober-
kirche den Verfasser geführt bat, ist folgendes: das Qnerschiff und
der Chor seien bis aaf wenige Teile von Cimabue selbst, das Lang-
haas durchweg nur von Schülern desselben gemalt worden. Unter
den Arbeiten der letzteren, den Darstellungen aus dem alten und
neuen Testamente, aber machen sich im Großen und Ganzen zwei
yersehiedene Riebtungen geltend: eine ältere, die, den Styl des
Cimabue abschwächend, seine Schule verrate, und eine jüngere, die
ganz neue Elemente in Komposition, wie Formenbildung und Tech-
nik bringe. Die Bilder dieser jüngeren Richtung — die Scenen aus
dem Leben Jakobs und Josephs, die Beweinung Christi, die Himmel-
fahrt und das Pfingstfest, die Heiligen im Eingangsbogen und die
Kirchenväter an der Decke, sowie auch die kreisförmigen Bilder an
der Eingangswand — seien wegen ihrer Verwandtschaft mit dem
Franziskus-Cyklns bereits Giotto zuzuweisen.
Daß in den soeben aufgeführten Malereien eine neue künstleri-
sche Kraft zu spüren ist, muß zugegeben werden. Mit Recht betont
Thode das starke antike Element, das sich in der maßvollen Be-
wegung der Figuren, so wie in der Gewandbehandinng , besonders
272 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 7.
bei deu Jakobsbildern nnd bei den FraneDgestalten im Hintergrunde
der Beweinung, auf das Entsebiedenste bemerkbar macht ^). Auch
dieses bat der Verfasser ricbtig beobachtet, daß neben den offen-
bar direkt der Antike entnommenen Zügen in einigen der hier in
Betracht kommenden Bilder noch zahlreiche Anklänge an die tra-
ditionelle, cimabneske Darstellungsweise sich finden. Ja, ich muß
gestehn, daß die mit der byzantinischen Kunst eng zusammenhän-
genden dttstern Gesichts-Typen in dem Bilde, das uns die vor Joseph
knieenden Brüder zeigt, sowie die wiederum anders bebandelten,
aber auch von byzantinischem Einfluß zeugenden Köpfe in den
Fresken an der Eingangswand: der Himmelfahrt Christi und der
Ausgießung des heiligen Geistes, sich so stark von der Auffassungs-
weise der Jakobsbilder unterscheiden, daß ich für alle diese Male-
reien einen und denselben Urheber kaum annehmen kann. Eine
gewisse Abhängigkeit der Giottoschen »Beweinnng Christie zu Padua
von dem gleichnamigen Bilde in Assisi hatte ich bereits in meiner
Studie über Giotto betont; dagegen aber, daß Giotto das letztere
gemalt, spricht, auch abgesehen von den ganz abweichenden Typen,
der Umstand, daß hier die beiden mittleren der im Hintergrunde
stehenden Figuren von dem tragischen Vorgange nicht irgend be-
rührt erscheinen, bloße Fttllfiguren sind, wie wir solche nirgend bei
Giotto finden ^). Daß der jugendliche Giotto an den unzweifelhaft
yorgeschrittenen zuletzt genannten Bildern, daß er namentlich auch
an der dramatisch bewegten Hauptgruppe der > Beweinung c gelernt,
ist mir unzweifelhaft, von dem durch Thode angenommenen direkten
Uebergang zu den Franziskusbildern habe ich mich aber nicht über-
zeugen können.
Ich breche hier ab. Thodes Buch geht auf so zahlreiche Denk-
mäler und kunstgeschichtlich wichtige Fragen ein, daß aus der wei-
teren Besprechung seiner Ansichten leicht wieder ein Bach ent-
Btehn könnte.
Der Leser wird durch die lebhafte, überall von Begeisterung
1) Bereits Crowe und Gavalcaselle hatten auf die antiken Anklänge in den
Jakobsbildern, sowie die Fortschritte, die sich in den letzten Malereien der bei-
den Gyklen einstellen, hingewiesen.
2) Treffend bemerkt Tikkanen in seiner gediegenen und geistreichen Schrift:
Der malerische Styl Giottos, Helsingfors 1884 : Giotto stellte sich vor, welche
Eindrücke die in den Legenden beschriebenen Ereignisse den Anwesenden veror-
sacht haben mafiteu, machte diese Eindrücke durch Geberden und Mienen äuBer-
lieh sichtbar und übersetzte so in echt künstlerischer Weise die Worte der Le-
gende ins Bild.
Berger, Geschichte der wissenschaftlichen Erdkande der Griechen. I. 273
für die Aufgabe getragene Darstellnngsweise des Verfassers in die
Gedankengänge desselben hineingezogen. An solchen Stellen, wo
sich der Verfasser mit Meinungen, die von den seinigen abweichen,
auseinandersetzt, geschieht es mit einem so gründlichen Eingehn auf
die Gedanken des Gegners und in einem so urbanen Tone, daft man
sogleich die Ueberzeugung gewinnt, dem Verfasser komme es nur
auf die Sache an.
Durch Thodes Buch ist unsere kunstgeschichtliche Litteratur um
ein durchaus tOcbtiges Werk bereichert worden.
Berlin. E. Dobbert.
Berg er, Hugo, Dr., Geschichte der wissenschaftlichen Erdkunde
der Griechen. Erste Ahtheilung. Die Geographie der lonier. Leipzig,
Yerlag von Yeit & Comp. 1887. XII, 145 S. 8*».
Die von Johann Heinrich Voß begründete Geschichte der grie-
chischen Geographie schien der Stagnation verfallen, als die Unter-
suchungen von Mtlllenhoff und Berger fast gleichzeitig neues Leben
brachten. Müllenhoffs Avien erschloß uns die älteste Kunde von
Westeuropa, aber seine Behandlung der alexandrinischen Systeme
war bereits in dem Augenblicke , wo sie das Tageslicht erblickte,
durch den Hipparch von Berger überholt. Müllenhoffs > offenes Be-
kenntnis« in den Nachträgen zur deutschen Altertumskunde I 500 f.
gereicht ihm selbst und Berger zur Ehre. Nach zehnjährigen Vor-
arbeiten einer fast unbeschränkten und auf das Gewissenhafteste be-
nutzten Muße konnte Berger 1880 dem Hipparch seinen Eratosthenes
folgen lassen, ein Werk, das wohl in Einzelheiten Ergänzungen und
Aenderungen erfahren mag, als Ganzes aber dauern wird und voraus-
sichtlich noch lange den Mittelpunkt der auf die systematische Geo-
graphie der Griechen gerichteten Studien bilden wird. Was man an
den genannten beiden Fragmentsammlungen vermissen konnte, war
der Umstand, daß kein Versuch gemacht war, die Fülle der wohl-
geordneten Einzelheiten zu concentriertem Ueberblick zusammenzu-
fassen. Bergers Aufsatz »Zur Entwickelang der Geographie der
Erdkugel bei den Hellenenc, 1880 in den Grenzboten erschienen,
konnte bei seiner durch den Charakter der Zeitschrift gebotenen
Knappheit einen vollständigen Ersatz dafür nicht bieten ; aber dieser
Aufsatz mußte den Wunsch erwecken, in ausgeführter Darstellung zu
erhalten, was hier in Kürze angedeutet war. Wir freuen uns, daß
es einem einsichtigen Verleger gelungen ist, Berger zu einer Zusam-
menfassung der Resultate fast zwanzigjähriger Studien zu bewegen;
heute liegt das erste Stück des ausgereiften Werkes vor uns.
Was Berger uns in historischer Behandlung vorführt, ist nicht
die Gesamtheit alles dessen, was man bisher Geographie der Grie-
chen genannt hat. Die Geschichte der griechischen Länderkunde ist
QttL gtl. Ans. 1S87. Nr. 7. 20
274 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 7.
iD bewußter Absicht ausgeschlosseO) die Oeschichte der Eotdeckan-
gen nur soweit behandelt, als ihre Resnltate fär die GrandzUge des
Eartenentwarfes in Betracht kommen. Nach brieflicher Verständi-
gung mit Berger bin ich dessen sicher, daß es die Zustimmung zu
einer von mehreren Geographen der Gegenwart gebilligten Begriffs-
bestimmung erklären soll, wenn Bergers Buch der Länderkunde ihre
Stelle außerhalb des Gebietes anweist, dessen Behandlung der Titel
verspricht. Es ist nicht meines Amtes, die Zugehörigkeit oder die
Geschiedenheit der Länderkunde von der Geographie zu diskutieren ;
auch bestreite ich niemandem das Recht, die Geschichte eines in
moderner Weise abgegrenzten Gebietes der Wissenschaft zu schreiben.
Aber danach muß allerdings gefragt werden, ob Berger mit der
Ausschließung der Länderkunde die Absicht der Griechen selbst ge-
troffen hat Ich suche vergeblich in dem Buche eine Bestimmung
dessen, was die Griechen unter Geographie verstanden haben ; die
Bemerkung auf S. 2 A. 1 und 2 kann in keiner Weise genügen.
Im sechsten Jahrhundert und einem großen Teil des fünften
kann man bei den Griechen wohl von Wissenschaft, aber noch nicht
von Einzelwissenschaften reden. Die l(noQia umfaßt das ganze Ge-
biet der Beobachtung, der wirklichen und der vermeintlichen Ueber-
lieferung; was über die Beobachtung hinausgeht ist (ftXoco(fla. Erd-
beschreibung und Geschichte gehören in gleicher Weise in das Ge-
biet der tctoQliXy der Erkundung. Die Gestalt der Erde aber und
ihre Stellung in der Welt zu bestimmen, reichte keine Erkundung ans.
Diese Fragen beantwortete der Mythos und nach und neben ihm die
Philosophie. So sind geographische Elemente auf den beiden großen
Gebieten geistiger Thätigkeit zu finden ; zur Eiuheit eines selbstän-
digen Zweiges wissenschaftlicher Erkenntniß sind sie n icht verbunden.
Innerhalb der Uftoqia aber hat man bereits zeitig eine Schei-
dung der geographischen und historischen Elemente versucht.
Aber obwohl man Periegesen und Genealogien als getrennte Werke
schrieb, war es nicht möglich, eine rein sachliche Sonderung durch-
zuführen. Die Barbarengeschichte, die Völkerkunde fügte sich bes-
ser in den periegetischen Bahmen; ihre Einfügung in das genealo-
gische Schema ist nicht ursprünglich. In noch engere Verbindung
treten Länderkunde und Geschichte in der einheitlichen Darstellung
Herodots. Diese Verbindung ist, im Gegensatze zu der großen Hasse
römischer Historiographie, ein charakteristisches Merkmal der grie-
chischen Geschichtschreibung geblieben, das auch dem Werke des
Thukydides nicht fehlt.
Das sicherste Zeichen einer bestimmten Unterscheidung bietet
immer das Vorhandensein eines terminus technicus. Das Wort r^oh-
f^atpla bez. yswyqdfpoQ und yemyQaqiiia ist aber in der voralexandri-
Berger, Geschichte der wissenschaftlicheD Erdkunde der Griechen. I. 275
nischcD Litteratnr überhaupt nicht nacbzuweiseD ; ebensowenig x^*
QojTQOipia^ %ono3$(f(a oder ein anderer ähnlicher terminus ^). Und man
darf sich hier nicht auf die Lückenhaftigkeit unserer Ueberliefernng
berufen. Wäre ein solches Wort vorhanden gewesen, so stände es
bei Aristoteles. Einmal findet sich allerdings r^mrqa^iia in dem
aristotelischen corpus, — aber in dem bekanntlich nicht aristoteli-
schen, späten Schriftchen nsgl HoCfAov 3 p. 393 b 20. Aristoteles
selbst braucht ^^g neqiodoq von der Karte (met. I 13 p. 350a 15. 16;
II 5 p. 362b 12) und der litterarischen Behandlung (pol. II 3
p. 1262a 18. 19). Erst im Zeitalter der alexandriniscben Wissen-
schaft findet sich das Wort r^aiygatpia gebraucht. Nach Strabon
I 1, 2 G 2 hatte Hipparch den Homer als ^Qx^ir^ttj^ tijg ysarga^
q>$9t^g ilkmiqtoq bezeichnet; aber schon vor ihm Eratosthenes. Daß
das Citat bei Strabon I 1, 1 G 1 sich auch im Wortlaut eng an Era-
tosthenes anlehnt, ist an sich deutlich und wird dadurch nur ge-
wisser, daß dem 3a^^ijaapteg bei Strabon hoXfA^ae bei dem von
Strabon unabhängigen Agathemeros (I 1) entspricht. Vor Allem
aber lautete der Titel des eratosthenischen Werkes ysmyQafptud
(Strabon I 2, 21 C 29).
Ich kann mich des Gedankens nicht erwehren, daß eben Era-
tosthenes den terminus geschaffen hat , der durch den Titel seines
Werkes weite Verbreitung finden mußte. Daß Dikaiarchos hierin
nicht sein Vorgänger gewesen, erkennt man daraus, daß derselbe
noch die alte Bezeichnung nsqiodog yijg bietet. Auf jeden Fall läßt
sich erkennen, worauf Eratosthenes das neue Wort bezogen wissen
wollte. Es handelt sich bei ihm um die Vorbedingungen und die
Ausführung der Karte. Als Pioniere der Geographie nennt Era-
tosthenes bei Strabon I 1, 1 G 1 Homer, Anaximander und Heka-
taios. Die beiden letzteren haben Erdkarten entworfen ; das legt
den Gedanken nahe, daß Homer hier wesentlich wegen des Schildes
des Achilleus erwähnt wird, wo Hephaistos
iy fkiy yatav St€V^\ iv d' ovgavöv, iv dh &dXa(f<rav (2 483).
Die Daten für die Ausführung dieser Karte mochte dann ein jeder in
den homerischen Gedichten suchen. Meiner Meinung nach ist also der
eratosthenische rfwygdifog lediglich der Kartenzeichner, Y^wyqatpia der
Kartenentwurf. Die yBfayqaffk^d des Eratosthenes sind eben die
»Lehre vom Kartenentwurf«. Die Karte selbst behält natürlich die
Bezeichnung nival^. Zu genauerer Bestimmung aber brauchte man
nun nicht mehr nival^ iv taS y^q andarrig nsqlodog ipstitfAfjtOy y^g ne-
qiodog ndtfijg oder ntvaueg, iv dtg y^g nsqlodoi eta^v zu sagen ; jetzt
1) Der Ausdruck tonoyqatpia bei Strab. Vm 1, 3 C 334 ist Dicht ephorisch,
sondern strabonisch. Die Absicht des Ephoros klarzulegen bedient sich Strabon
seiner eigenen Sprache.
20*
276 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 7.
genttgt es, von einem r^9»}^Q^(ftxdg ntva^ (Strabon II 5, 13 G 118)
zu reden.
Womöglich noch bestimmter als bei Eratosthenes zielt bei sei-
nem Gegner Hipparch alles aaf die Konstruktion der Karte hin.
Der wesentliche Teil des Bergerschen Buches, die Kapitel über die
äaßere Begrenzung der ionischen Erdkarte, die Einteilung der Oiku-
mene, über das innere Kartenbild und der Beschluß nehmen genan
dieselbe Richtung. Bergers Stoffabgrenzung würde demgemäß der
eratosthenisch-hipparchischen und m. E. ursprünglichen Begriffsbe-
stimmung der Geographie entsprechen, wenn sie sich hierauf be-
schränkt hätte. Aber das Kapitel über die Spuren der physischen
Geographie fügt sich nicht in diesen Rahmen.
Welchen Einfluß die eratosthenische Begriffsbestimmung gewon-
nen hat, erkennen wir daraus, daß die ptolemäische Definition sich
fast vollständig mit ihr deckt. ^ r^<oyQa<fia, sagt Ptolemaios, f»^
[Hjüig ifSu dh& yQa(frjg tov »autliif$fA4vov %^g ;'$( (Asgovg, Eine Diffe-
renz tritt nur insofern ein, als bei Eratosthenes offenbar die Her-
stellung jeder Karte unter den Begriff der r^cayqafpta fällt, während
Ptolemaios bereits zwischen geographischen und chorographischen
Karten scheidet. Letztere unterscheiden sich von ersteren durch die
Berücksichtigung des Details; eben diese ist es, welche Cborographie
und Geographie von einander trennt. Bereits Strabon kennt die
Unterscheidung des x^Q^yQ^V^*^^ ntva^ vom yewygaffixog ^). Das
Wort xiaqoygaifia kann ich nicht früher als bei Polybios nachweisen :
daß Strabon X 3, 5 G 465 den Wortlaut des Polybios erhalten hat,
sagt er selbst, und seine Aussage findet in der Vergleichung mit
Polyb. I 36 f. ihre Bestätigung. Die eigenste Aufgabe der xfaqoyit^'
<pia ist nach Polybios nsql d^iastag xotkav xai d^actfukdtwv zu handeln;
es ist die specielle Länderbeschreibung. Ich wage es nicht, auch
diesen terminus bereits auf Eratosthenes zurückzuführen; ich finde
ihn bei Strabon nur in solchen Stücken, die polybische Gedanken
weiterspinnen. Aber nachdem einmal Eratosthenes seinen terminus
geschaffen hatte, lag es nahe, die verwandten, von ihm ausge-
schlossenen Gebiete ebenfalls unter einem einheitlichen Namen zu
begreifen. Nur in einer Beziehung glaube ich einen verschiedenen
Entwickelungsgang beider termini annehmen zu sollen. Die yemyQatfla
ist ursprünglich lediglich die Herstellung der bildlichen Erdzeichnung,
und daraus entwickelt sich erst die Bedeutung der redenden, die
Karte erklärenden Erdbeschreibung. Der terminus x^ü^YQ^V^ da-
gegen gebt von der ausführlichen litterarischen Länderbeschreibung
ans, wie sie bereits vorhanden war, während es detaillierte Länder-
1) Frick, Fleckeisens Jabrbb. 123 (1881) S. 650 ff. die notxiXfiata finden ihre
3chl»gende Parallele bei Ptol. I 1 p. 6, 11. 12 und p. 6, 2 Müller.
Berger, Geschichte der wissenschaftlichen Erdkunde der Griechen. I. 277
karten offenbar noch gar nicht gab. Erst im Fortgang der römi-
schen Herrschaft hat dann die Straßenkarte der ysmyqcttpia aach die-
ses chorographische Komplement verschafft.
Es maß also zugestanden werden, daß die Terminologie der
nacheratosthenischen Zeit Geographie und Länderkunde unterschei-
det; was Polybios in Exkursen seiner pragmatischen Geschichte be-
handelt, hat er selbst nicht als Geographie, sondern als Chorographie
bezeichnet. Wie Ptolemaios zeigt, ist diese Scheidung auch in der
Folge nicht vergessen worden. Aber daß auch Strabon >den Unter-
schied anerkennec, meint Groskard I 13 in gewisser Beziehung mit
Unrecht. Strabon kennt wohl diese Unterscheidung, aber sie ist
ihm keine Norm. Man führe nicht dagegen an, daß seine Gegen-
fiberstellnng des r^mrQatpixdg und des x^Q^rQ^V*^^^ nivalg ja von je-
ner Trennung ausgeht; denn hier hat Strabon offenbar übliche Aus-
drücke wiedergegeben. Für seine eigene Grandanschauung ist viel-
mehr Folgendes charakteristisch. Der Inhalt seines Werkes ist be-
kanntlich überwiegend Länderkande, und eben darin beruht seine
Stärke; trotz alledem hat er sein Werk remrQcef^ud genannt. Das
lehrt ganz unzweifelhaft, daß er an eine Gegenüberstellung nicht im
Entferntesten gedacht hat. Wohl versteht auch er Chorographie von
der ausgeführten Beschreibung; aber er subsumiert dieselbe unter
dem höheren und umfassenderen Begriffe. So sind die verwandten
Stücke, die im Anfang in der latogla and der (p^Xoaoipia zu suchen
waren, nunmehr znr Einheit zusammengezogen. Und man kann die-
ser Zusammenfassung ihre Bedeutung nicht bestreiten, wenn man er-
wägt, daß A. V. Humboldt und Karl Ritter den umfassenden strabo-
nischen Begriff der Geographie anerkannten.
Die Anfänge der physischen Geographie, sofern man von ihren
Objekten nicht bloß staunend als n^qi ^av^atsitav dxovaikdxmv redet, ge-
hören nun unzweifelhaft nicht in die Geographie eratosthenischer Be-
stimmung, sondern in die Chorographie, die Länderkunde. Dieselbe
gibt zunächst wohl 3i<r€t^ %6nmv und dtaczfjfAata, aber daß sie dar-
auf nicht beschränkt ist, zeigt auch die Definition des Ptolemaios
(I 1 p. 5, 2 Müller), wonach sie mehr negl td noiov als %d nottop
xmv »ataTaaoofiSvmy r^veva$. Ebenso ist deutlich, daß die Fülle phy-
sikalischer Notizen, die bei Strabon stehn, nicht dem geographischen,
sondern dem chorographischen Teile alexandrinischer Scheidung ent-
stammen.
Beurteilt man nun die Stoffbegrenzung Bergers nach den eben
konstatierten Thatsachen, so ist deutlich, daß sie sich der alexandri-
nischen Einteilung nicht fügt. Sie würde ihr allerdings entsprechen,
wenn das Kapitel über die Anfänge der physischen Geographie bei
den Griechen fehlte. Dagegen deckt die Auswahl Bergers sich aller-
278 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 7.
dings in anderer Weise und ohne es beabsichtigt zu haben mit einer
Einteilung der Griechen selbst, mit der alten Scheidung von IozoqUi
und (ptloaog>ia. Denn unter letztere fällt die physische Oeographie,
und die Objekte der iatogla sind von Berger nur insoweit behandelt,
als sie der if$loao(pla zur Grundlage dienen. So wird denn Bergers
von modernen Gesichtspunkten ausgehende Stoffbegrenzung sich bis
auf die Zeit des Aristoteles auch mit der griechischen Scheidung
decken; der alexandrinischen Gegenüberstellung von r^ci^rgafpia und
X^QorQa(fla wird sie aber nicht mehr entsprechen, da die physische
Geographie eben zur Ghorographie gehört, und Berger mit ihrer Be-
handlung ttber den Rahmen der alexandrinischen y^^YQ^V^^ hinaus-
geht. Aber wir wollen uns dessen freuen, daß wir nunmehr erwar-
ten können, wenigstens einen Teil der x^Q^VQ^V^^ iQ Bergers Dar-
stellung zu erhalten.
Eine Geschichte der physischen Weltanschauung des Altertums,
wie sie Humboldt in großen Zügen entworfen hat, wird wohl jedem
als das höchste Ziel vorschweben, das hier zu erreichen ist. Ich
weiß nicht, ob in der Gegenwart irgend jemand für die Lösung die-
ser Aufgabe besser vorbereitet ist als Berger. Auf jeden Fall wird
uns sein Werk der erreichbaren Lösung erheblich nähern.
Die ältesten kosmologischen und geographischen Vorstellungen
der Griechen haben wir unzweifelhaft in ihrem Mythos zu suchen
und aus den homerischen Gedichten zu erkennen. Ein psychologi-
scher Unterschied der ältesten Spekulation und der mythenbildenden
Phantasie ist kaum zu finden ; auf jeden Fall hat die älteste Philo-
sophie der Griechen an die Vorstellungen des Mythos angeknüpft.
Nicht ohne guten Grund hat Zeller die griechische Religion als eine
Quelle griechischer Philosophie behandelt, und Berger hätte m. E.
diesem Beispiele folgen sollen. Das gleiche Recht, das der Lehre
Anaximanders von der Erdgestalt sorgfältige Erörterung verschafft
hat, kann ohne Zweifel auch die Angabe des Aristoteles geltend
machen, der zu Folge Thaies die Erde auf dem Wasser schwimmen
ließ. Die äußeren und inneren Gründe, welche dafür sprechen, daß
Anaximander die Erde ftir eine kreisförmige Platte von mäßiger
Dicke erklärte, macht Berger in überzeugender Weise geltend. Wenn
er aber eine weitgehende Unabhängigkeit Anaximanders von der mythi-
schen Vorstellung behauptet, so vermag ich ihm hierin nicht zu folgen.
Ich bekenne, nicht recht einzusehen, welch ein Unterschied zwischen
einer kreisförmigen Platte von mäßiger Dicke und einer dicken
Scheibe besteht, als welche sich nach J. H. Voßens Darlegung die
homerischen Gedichte die Erde vorstellen. Berger, der die Abhängig-
keit der anaximandrischen Karte von dem runden, durch die Gestalt
des Horizontes bedingten, homerischen Erdbilde richtig konstatiert,
Berger, Geschichte der wisseuschaftlichen Erdkunde der Griecheu. I. 279
wttrde hiergegen wohl nichts einzuwenden haben, wenn er dieselben
Ansehannngen von der allmählichen Losli^snng des wissenschaftlichen
Denkens von der mythischen Vorstellung hegte, in denen ich mich
mit hervorragenden Forschern einig weiß. Die kosmologischen Vor-
stellungen des Mythos müssen uns aber den Thaies ebenso gut wie
den Anaximander erklären helfen; ich glaube nicht, daß man ein
Recht hat anzunehmen, Thaies habe sich die auf dem Wasser schwim-
mende Erde als etwas anderes als eine dicke Scheibe vorgestellt.
Mit Homer hätte ich die Geschichte der griechischen Erdkunde be-
gonnen, und von dort aus wäre ich zu Thaies und Anaximander
fortgeschritten. Als Begründer der wissenschaftlichen Geographie hat
Berger den Anaximander doch wohl nur unter dem Einflüsse des
Eratosthenes bezeichnet. Eratosthenes nannte ihn auch mit vollem
Bechte, von dem homerischen Hephaistos abgesehen, an erster Stelle,
aber als r^iarqdqoq in seinem Sinne, d. h. als ersten Kartenzeichner ^).
Dieser Ruhm, und das ist kein kleiner, möge ihm bleiben.
In dem ersten vorliegenden Hefte behandelt Berger die Geogra-
phie der lonier d. h. die Geschichte der griechischen Geographie, so-
weit dieselbe durch die ionische Philosophie bedingt ist. Im zweiten
Hefte soll zunächst der Einfluß der pythagorischen Lehre von der
Engelgestalt der Erde in ihrer mächtigen Wirksamkeit nachgewiesen
werden. Ich halte es für ein großes Verdienst von Berger, den Ein-
fluß der Philosophie mit Energie betont und zum Princip der Ein-
teilung gemacht zu haben. Die Behandlung der ionischen Geographie
erörtert die äußere Begrenzung der Erdkarte, die Einteilung der
Oikumene, das innere Eartenbild und die Spuren der physischen
Geographie, um mit einem Ausblick auf Demokrit und Herodot zu
schließen. Betrachten wir zunächst den
I. Abschnitt, die äußere Begrenzung der ionischen
Erdkarte S. 1—51. Daß die älteste Philosophie ihr Erdbild in
den großen Zügen der naiven Vorstellung entlehnt hat, habe ich be-
reits bemerkt. Berger sucht nun die Umgrenzung des Oikumenen-
bildes auf der ältesten Karte festzustellen und die Gründe zu erken-
nen, auf denen diese Umgrenzung beruhte. Bei wiederholter Lektüre
ist mir immer deutlicher geworden, daß Bergers Darstellung mit dem
Worte Oikumene operiert, als ob über den begrifflichen Inhalt dieses
Wortes und das Alter des Begriffes allgemeine und bewußte Ueber-
einstimmung herrschte. Mehrfach führen gelegentliche Bemerkungen
Bergers bis dicht vor die Frage, die auch einmal S. 9 beiläufig
aufgeworfen wird, aber keine geschlossene Antwort findet. Von
1) Das 18t auch für Berger S. 53 zu beachten. Auch Hekataios verdankt
die Stellung, welche EratOBthenes ihm in der Geschichte der Geographie anweist,
seiner Karte, wonach Berger S. 65 zu berichtigen ist.
280 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 7.
einer Oiknmene konnte nur im Gegensatze zu einer unbewohnten
Erde geredet werden. Ein solcher Oegensatz konnte vielleicht von
der mythischen Vorstellung seinen Ausgang nehmen. Von dieser aber
abgesehen konnte er entweder durch die Erfahrung gewonnen wer-
den, falls dieselbe faktische Grenzen der menschlichen Siedelungen
aufwies, oder er war auf Grund mathematisch-naturwissenschaftlicher
Spekulationen zu erschließen.
Wenn der Fluß Okeanos die Erde rings umströmte, so wird es
uns nicht leicht, von der Frage nach dem jenseitigen Ufer desselben
abzusehen, und man kann auch nicht behaupten, daß die homerischen
Zeiten sich keine Gedanken darum gemacht hätten. Das Todtenreich,
der Hades, liegt auf dem jenseitigen Ufer des Stromes, nicht, wie
Voß gemeint hat, auf der dem Ocean zugekehrten Seite der Erde,
auf der die lebendigen Menschen wohnen ^). Im Anschluß an diese
Vorstellungen hätte der Begriff der oltovfkivfi vielleicht entstehn können
als Bezeichnung fUr die vom Okeanos umströmte Erde. Hiervon
aber abgesehen mußte Wort und Begriff sich bilden im Zusammen-
hang mit der Lehre von der Kugelgestalt der Erde und der parme-
nideischen Zonentheorie. Auf dem Grunde dieser Lehre stehend hat
man die Bewohnbarkeit der ganzen Kugel als eine Unmöglichkeit
bezeichnet. Endlich hat man, wie der Empirismus der Spekulation
ja immer nachhinkt, angefangen, faktische Grenzen ') des bewohnten
Landes im Norden und im Süden zu ermitteln.
Es ist notwendig und nützlich, die Verschiedenheit dieser Wege
zu erkennen und festzuhalten, wenn auch der Versuch, eine so ge-
naue Präcisierung zu gewinnen, wie der terminus r^<oyQa(fla sie ge*
stattet, angesichts der Trttmmerhaftigkeit der älteren Litteratur, fttr
welche Aristoteles hier nicht entschädigt, kaum unternommen werden
darf. Daß bereits Anaximander den Ausdruck otxovfAivtj gebraucht
habe, läßt sich aus Aristoteles Meteorologie, die in den Ausdrücken
ihrer eigenen Zeit redet, nicht entnehmen, so recht auch Berger S. 10
daran thut, Anaximanders Karte in die von Aristoteles getadelten
einzuschließen. Die Wahrscheinlichkeit spricht daftlr, die bewußte
Formulierung des Begriffes und die Bildung eines terminus erst auf
die Nötigung der parmenideischen Lehre zurückzuführen. Wollte
man aber Begriff und Wort otnovfAiytj doch bereits bei Anaximander
voraussetzen, so könnte bei ihm lediglich die Vorstellung des home-
rischen Erdbildes in Betracht kommen. Denn der Fluß Okeanos er-
möglicht immerhin die Vorstellung einer Oikumene. Tritt aber das
Weltmeer an die Stelle des Flusses, so schwindet der Gedanke an
1) Dafi die Kimmerier nicht in den ursprünglichen Zusammenhang gehören,
ist evident; v. Wilamowitz, Homer. Unters. S. 165.
2) Berger S. 84.
Berger, Geschichte der wissenschaftlichen Erdkunde der Griechen. I. 281
das andere Ufer und damit der Gegensatz, ohne welchen der frag-
liche Begriff eben nicht entstehn konnte ^),
Der Zusammenhang des die Erde rings umgebenden Wassers
! verstand sieh ganz von selbst und bedurfte keines Beweises, so lange
I man am Flusse Okeanos') festhielt. Daß die Betrachtungsweise
für diesen mythischen Begriff keinen Platz mehr gehabt habe, hat
Berger S. 15 f. meines Erachteus nicht erwiesen. Denn daraus, daß
Anaximander die x^dXaaaa für den Ueberrest t^g ngtavtiQ v/Qotfitoc
erklärte (doxogr. p. 494 Diels), folgt ja nicht im Mindesten, daß er
den Okeanos in anderer Weise als die FIttsse zur ^aXatfca in Be-
ziehung setzte'). Und wie nsqii »lyv y^v doxogr. 494, 5 aufzufassen
I ist, zeigt deutlich die von Diels A. 4 citierte Stelle aus Aristoteles
met. II 2 p. 355 a 21. Wirklich erschüttert wurde die mythische
Vorstellung vom Okeanos erst durch die Fahrten der Phönicier außer-
halb der Säulen. Den Ursprung dieser Fahrten zu datieren sind wir
aber bekanntlich nicht im Stande ; wir können nur sagen, daß man-
nichfache Versuche vorhergehn mußten, ehe Expeditionen von solcher
Ausdehnung möglich wurden, wie der alte Periplus des Avienus sie
voraussetzt. Indirekt gewonnene Kunde von dem Ocean mochten
die Fahrten der Phokäer bringen. Daß Anaximander die mythische
Vorstellung vom Okeanos aufgegeben habe, würde nur dann mit Si-
cherheit behauptet werden können, wenn der Nachweis möglich wäre,
daß die Resultate dieser westlichen Fahrten ihm bekannt geworden
seien und einen Einfluß auf i hn gewonnen hätten. Eine
sichere Entscheidung wird ans dem vorhandenen Materiale ftlr Ana-
ximander nicht direkt zu gewinnen sein ; es fragt sich, ob uns nicht
doch Herodot indirekt dazu verhilft. Mit größerer Bestimmtheit lehne
ich aber Bergers Vermutung auf S. 30 ab, nach der die Erzählung
des Aristeas von Prokonnesos auf eine dunkele Kunde der Ostsee
dentet. Herodot IV 13 führt in eine ganz andere Richtung und nicht
bis zum Weltmeer ; der ursprüngliche Bericht wird den Okeanos ge-
nannt und den Strom gemeint haben. Allmählich haben die ionischen
Geographen allerdings eine wirkliche Kunde vom äußeren Weltmeer
gewonnen, welche den Glauben an den Okeanosstrom schließlich ver-
nichten mußte. Auf die Entdeckung des atlantischen Oceans hat Ber-
, ger nicht genauer eingehn wollen. Für den Eridanos waren v. Wi-
I- lamowitz und Robert, Hermes XVIII (1883) S. 426 ff., sowie Knaacks
i qnaestiones Phaethonteae, Berlin 1886, noch zu benutzen. Bergers
1) Die platouische Dichtung des Atlantis kommt in der Entwickelungsreihe
des auf die Erkenntnis der Wirklichkeit gerichteten naiv-mythologischen und
spekulierenden Denkens überhaupt nicht in Betracht.
2) Üeber die UfAyti des Helios handelt Berger S. 84 in gelehrter Weise.
Entgangen ist ihm Bergk, Geburt der Athene (opusc. II S. 665 £f.).
8) Griechische Anschauungen über die Natur der Flüsse bei Berger S. 67 1
282 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 7.
Skepticismus in der Eassiteri den frage (S. 29 f.) zu teilen bin ich
nicht im Stande; allerdings bin ich der Meinung, daß die richtige
Interpretation der entscheidenden Stellen des Avien sich weder bei
MUllenhoff noch bei Unger findet, nm von den Scillyinseln ganz za
schweigen.
Meine Anschauung von der Entwickelung der Okeanoslehre
stimmt in wesentlichen Stücken mit der von Berger Oberein, deckt
sich aber nicht mit derselben. Das mythische Erdbild gab den
Strom Okeanos, der die ganze Erde umkreiste. Die Entdeckung des
Weltmeeres zwang allmählich dazu, die Vorstellung von dem weit-
umgürtenden Strome aufzugeben und an seine Stelle ein umgebendes
Meer zu setzen. Der ungestörte Zusammenhang dieses Außenmeeres
aber wurde aus der alten Okeanoslehre einfach übernommen. Mit
Herodot beginnt der Zweifel sich zu regen und eine empirische Be-
gründung des Zusammenhanges zu verlangen. Dieselbe wird nun in
der That versucht, aber erst in Folge dieses Zweifels und nicht
vorher. Von Herodots Bestrebungen, soweit dieselben sich in die-
ser Richtung bewegen, hat Berger eine Charakteristik entworfen, die
ich durchaus für richtig halte. Auch an seiner Besprechung der Fahrt
der Phönicier um Libyen und der Expedition des Skylax möchte ich
keine wesentliche Aenderung in Vorschlag bringen. Was ich in mei-
nen letzten Vorlesungen darüber vorgetragen habe, berührt sich eng
mit Bergers Resultaten, aber seine Auseinandersetzung ist genauer
durchgeführt. Ueber den Magier des Herakleides Pontikos wird Ber-
ger wohl keine günstigere Meinung haben als die im Philologus 45
(1886) S. 385 vorgetragene. Ueber die Fahrtrichtung des Skylax
hätte Berger S. 48, 5 die m. E. richtige Bemerkung im Hermes VI
(1872) S. 461 lesen sollen. Ueber Damastes würde ich mich im
Philol. Anz. 16 (1886) S. 217 anders geäußert haben, wenn ich mich
einer mir wohlbekannten Angabe des Aristoteles (meteor. II 1, 10)
zur rechten Zeit erinnert hätte.
Als Ganzes in hohem Grade überzeugend, wenn auch vielleicht
nicht in allen Einzelheiten unanfechtbar ist Bergers Nachweis von der
allmählichen Schließung des Mittelmeeres. Daß die Kenntnis von der
Geschlossenheit dieses Beckens in den ältesten Zeiten nicht voraus-
gesetzt werden darf, war allerdings schon mehrfach bemerkt worden.
Aber Berger fUhrt den Nachweis, wie die allmähliche Ausdehnung des
geographischen Horizontes mehr und mehr dort Küsten nachwies, wo
man Anfangs ungehinderte Wasserfahrt erwartet hatte. So konnte die
Karte der lonier schließlich einen zusammenhängenden Umriß der
Länder um das Mittelmeer gewinnen.
Auf die Frage nach der geographischen Homerexegese des Alter-
tums Aihrt Berger mit seiner Bemerkung über den Exokeanismos auf
Berger, Geschichte der wisseoschaftlicheo Erdkunde der Griechen. I. 28S
S. 15. Er verweist anf die Behandlang dieser Frage in seinem Era-
tosthenes. Indessen trage ich Bedenken, die dort geführte üntersn-
chang in allen Resultaten zu aeceptieren. Mir scheint, als ob man
fiber die Begriffe des i^ioxBavtafAÖg und itttomafkog noch nicht zur er-
^vünschten Klarheit gelangt ist, wenn man den Exokeanismos wie
Berger S. 15 definiert und (Erat. S. 26) die alexandrinischen Gramma-
tiker, Krates von Mallos und Strabon als Exokeanisten zusammenfaßt.
Dem, der die homerische Darstellung der Irrfahrten des Odysseus
als Einheit auffaßt und erklärt, sollte unserer Meinung nach die Frage,
ob und in wieweit Homer diese Fahrten in den Ocean versetzt hat,
keine besonderen Schwierigkeiten bieten können. Auf dem Okeanos
wird lediglich die Fahrt unternommen, welche den Odysseus von
Aiaie zu den Eimmeriern und dem Hades hinführt. Auf der Rück-
fahrt verläßt Odysseus die Flut des Okeanos und gelangt zur ^a-
Xaaffa und der Insel Aiaie. Die Homerexegese des Altertums hat
die Okeanosfahrt indessen nicht durchweg darauf beschränken wol-
len, sondern sich dadurch freie Hand geschaffen, daß sie Od. ir 1. 2
auf eigene Weise deutete. Krates (bei Strabon I 1, 7 G 5) machte
geltend, Odysseus habe nicht den ganzen Okeanos, sondern nur einen
Teil desselben, den ^dog tixsavoto verlassen. Wie zeitig man bereits
den Odysseus in den Okeanos gelangen ließ, erkennen wir aus der
Polemik des Polybios (bei Strabon I 2, 17 G 25) gegen einen Exo-
keanismos, der gleich die erste Gelegenheit benutzte. Auf der Heim-
fahrt von Troia bis Maleia gekommen (& 80) wird Odysseus vom
Boreas verschlagen und gelangt nach neun Tagen zu den Lotophagen.
Polybios weist die Ansetzung der Lotophagen am Okeanos damit ab,
daß die neun Tage nicht ausgereicht hätten, den Odysseus von Maleia
bis zum Okeanos zu führen.
Unter Exokeanismos müßten wir demgemäß zunächst die Lehre
verstehn , welche die homerische Darstellung nicht bloß bei der
Hadesfahrt auf eine Okeanosfahrt bezog. Indessen wie die Exoke-
anisten thunlichst viel zu erobern suchten, so bestritten ihre (}egner
schließlich sogar die Ansetzung der Kimmerierfahrt im Ocean; den-
teten jene die Flnth des Okeanos, die Odysseus verlassen, nur als
einen Teil des Oceans, so erklärten diese (bei Strabon I. 2, 10 G.
21), hier habe Homer mit dem Okeanos vielmehr den Pontes ätnuQ
aXXoy uvä dxtavov gemeint. Jetzt wird man es begreiflich finden,
wenn man alle, die zur Deutung der Odysseusfahrten das Weltmeer
überhaupt verwandten, als Exokeanisten bezeichnete.
Indessen dieser Streit über die Ansetzung dieser Fahrten im
Ocean oder in der ^dXaaaa ist ein häuslicher Streit der Stoiker
und derer, die der stoischen Homerexegese folgten. Exokeanisten
und »Tbalattistenc steht Eratosthenes in gleicher Weise ablehnend
284 Gott. «el. Anz. 1887. Nr. 7.
3'
gegenüber. Wenn er die Lokalisiernng der Odyssensfahrten dem
überließ, der den Riemer fassen könnte, der den Scblanch der Winde
genäht , so lehnte er eben jede Lokalisiernng ab. Wenn er dem
Homer bereits die Kenntnis von Sicilien nnd Italien absprach, nm
wie viel sicherer die des Weltmeers! Ueberhanpt aber habe der
Dichter gar nicht beabsichtigt, die Irrfahrt iv yywQifjkotg tönoig anzu-
setzen (Strabon I. 1, 14 C. 23). Nor dagegen wollte Eratosthenes
(bei Strabon I. 2, 19 G. 26) sich nicht erklären, daß der Dichter
wohl die Absicht gehabt habe, den Odyssens in den westlichen
Gegenden omherirren zn lassen, aber er habe diese Absicht nicht
festgehalten nnd durchgeftlhrt, teils wegen des geringen Umfanges
seiner geographischen Kenntnisse^), teils in poetischer Richtung auf
das Wunderbare.
Man sieht deutlich, welch tiefe Kluft den Eratosthenes von den
Exokeanisten trennt, eine viel tiefere als die, weiche Exokeanisten
und Thalattisten von einander scheidet. Den Eratosthenes und die
ihm folgenden Alexandriner gleichwohl, wie das Berger thut, nuter
den Exokeanisten zu subsumieren , dazu wttrde man sich nur dann
entschließen, wenn unzweifelhafte Zeugnisse dies verbürgten. Das
ist aber nicht der Fall. Denn mit Apollodor bei Strabon I. 2, 36
C. 44 und VII. 3, 6 G. 299 hat es , wie wir sehen werden , eine
andere Bewandtnis.
Wenn Eratosthenes es ausgesprochen, daß Homer nicht einmal
beabsichtigt habe ip ypooQtfAOtg tönoig nouXv t^p nldp^v^ so läßt er of-
fenbar den Dichter die fraglichen Lokalitäten in unbestimmte Ferne
rücken. Auf diese von Eratosthenes begründete Ansicht be-
zieht sich das ixtonl^etp der Scholien zur Odyssee; begreiflicher
Weise ist Aristarch^) auch hierin dem Eratosthenes gefolgt. Der
ixtomafidg ist also von dem i^coxeaPkafAog durchaus verschieden.
Bei Strabon I. 2, 10 G 21 aber finden wir offenbar das Be-
streben , Ektopismos und Exokeanismos mit einander auszugleichen ;
auch eine Fahrt im Pontes habe der Dichter ruhig als Okeanosfahrt
bezeichnen können, denn damals hätte man Leute, die nach dem
Pontos gefahren wären, in gleicher Weise für intetomtffikSvot ansehen
können, wie solche, welche Ober die Säulen des Herakles hinausge-
kommen. Die Frage, ob wir diese Harmonistik erst dem Strabon
selber oder bereits einem seiner Vorgänger zuschreiben sollen,
1) Innerhalb deren aber auch nach Eratosthenes die Syrte gelegen hat und
insofern liegen konnte, als Eratosthenes eine frühe Bekanntschaft der Griechen
mit derselben sehr wohl auf ein Yerschlagenwerden griechischer Schiffer bei der
Fahrt um Maleia zurückführen konnte ; vgl. auch y. Wilamowitz, Hom. Unters. S. 164.
2) Daft bei Gellius XIV 6, 3 utrum i¥ r^ Hcta &ald6^ üüxes erraverit xaf
'AgicraQxoy an iy tp l^ta xarä K^dtn%a die Fragsteiiung falsch ist, brauche ich
wohl ebensowenig erst zu zeigen, wie den Weg, der zu dem Irrtum gefuhrt hat.
Berger, Geschichte der wissenschaftlichen Erdkunde der Griechen. I. 285
läßt sich m. E. noch beantworten. Schon oben habe ich auf zwei
strabonische Stellen hingewiesen, welche beide ein und dieselbe
apollodorische Notiz wiedergeben, VII. 3, 6 C. 299 genauer und in
höherem Grade das Verständnis fördernd als I. 2, 36 G. 44. Hier
tlbt Apollodor an Kallimachos Kritik und glaubt das in eratostheni-
scbem Sinne zu thun; er tadelt den Kallimachos, weil dieser Gaudos
für die Insel der Kalypso und Kerkyra für Scheria erklärt hatte.
Dem hätte Eratosthenes allerdings schwerlich zugestimmt, aber nicht
wegen des Exokeanismos , wie wir an beiden Stellen lesen, sondern
wegen des sich nicht einmal an die Wirklichkeit bindenden Ekto«
pismos. Was aber den Apollodor anlangt, so ist es gewiß nicht
zufällig, daß wir in den Schollen zur Odyssee, die sonst vom i*to-
mofko^ reden , zu d 556 just über die Insel der Kalypso bemerkt
finden : di^Xov nd* tovtov, on ^{«»««ota» ^ Pijaog 606 ; wir würden ixu-
tomctat erwarten. Aber die Lesart H^toxustat ist auch nicht zu halten,
denn iioixi^B&p heißt nicht dasselbe wie ixzoniJlß^p und hat überhaupt
keine Bedeutung, welche in diesen Zusammenhang paßt ; aus Lehrs,
Arist. 244^, ersehe ich, daß Hecker in durchaus zu billigender Weise
iiai*€dp^ota$ geschrieben hat. Wir sehen, Strabon hat an beiden
Stellen den Apollodor richtig wiedergegeben. Wir werden demge-
mäß geneigt sein, auch bei Strabon I. 2, 10 G. 21 die Annäherung
des Exokeanismos und Ektopismos auf Apollodor zurückzuführen.
Und in dieser Vermutung werden wir dadurch bestärkt, daß L 2, 10
C. 21 offenbar mit 1. 2, 39. 40 C. 45 f. zusammengehört, dessen apollo-
dorischen Ursprung bereits Niese , Rhein. Mus. 32, 308 erkannt hat ^).
Auf Apollodor würden wir also diesen Versuch einer Vereinigung
•alexaudrinischer und stoischer Homerexegese zurückzuführen haben.
Und eine solche Harmonistik kann bei einem Manne nicht befremden,
der, wie Diels, Rhein. Mus. 31, 6 mit Recht betont, zugleich den
Philologen Aristarch und den Stoiker Diogenes aus Seleukeia gehört
und den Gegensatz wirklich vereinigt hat.
Ich würde gern noch zu mancher Stelle dieses Kapitels meine
Zustimmung äußern oder meinen Widerspruch begründen, aber an
eine yollständige und gleichmäßige Auseinandersetzung kann ich in
dieser Recension ja doch nicht denken. Ich muß mich auf das Not-
wendigste beschränken.
Der IL Abschnit, über die Einteilung der Oiku-
m e n e, behandelt auf S. 51 — 74 die Scheidung der Erdteile. Daß
der ionischen Zweiteilung der Erde ebenso wie der eratosthenischen
die Rücksicht auf die klimatischen Differenzen zu Grunde liege,
1) Auch C. 224 y. 2, 6 EndC) wo fQr ixronnffAuiv ixnme/46p zu schreiben sein
Wird, ist apollodorisch. Das nicht sehr weit vor dieser Stelle befindliche apollo-
doriscbe Out ist Nieses Aufmerksamkeit (a. a. 0. S.289) dagegen nicht entgangen.
286 Gott. gel. Auz. 1887. Nr. 7.
nimmt Berger gewiß mit gatem Recht an ; daß Mittelmeer and Pon-
tes die Scheide bilden , leuchtet ebenso ein , wie daß diese Scheide
später in der Maeotis fortgesetzt wurde und schließlich zur Tanais*
grenze führte. Daß die Maeotisgrenze überhaupt älter sei, als die
Phasisgrenze, wird Berger wohl selbst nicht annehmen wollen ; aber
sein Bestreben, sie als altionisch hinzustellen, ist mir verständlich,
weil diese Ansetzung auf der reflectierenden Durchführung eines be-
stimmten Princips beruht. Bewiesen hat nun freilich Berger diese
Grenze erst für Hippokrates; aber sie findet sich bereits bei Heka-
taios fg. 164 — 167 Kl. auf das unzweideutigste. Diesen Beweis hat
sich Berger offenbar nur darum entgehn lassen, weil er den Heka-
taiosfragmenten überhaupt nicht recht traut ; aber daß ich in Ueber-
einstimmung mit A. v. Qutschmid, Nöldeke, Niese und anderen Oe-
lehrten dieses Mistrauen für unbegründet halte, habe ich bereits
früher ausgesprochen, üeber die eigentümliche, uns zuerst bei
Sallust begegnende Teilung der Oikumene, welche ebenfalls nur
Asien und Europa kennt, Libyen aber nicht zu Asien, sondern zu
Europa rechnet, hat Berger S. 53 A., 59 A. 2, 66 A. 5. zwar nichts
Falsches gesagt, aber er hat sie doch eigentlich unerklärt gelassen.
Die Bemerkung , daß diese Teilung sich auf den Meridian Tanais-
Nil gründe, ist zwar richtig, obwohl Sallust als Orenze nicht den
Nil, sondern den Katabathmos nennt; denn letzteres ist doch nur
geschehen, um Aegypten nicht zu zerreissen. Aber die Frage, wie
man denn dazu gekommen sei , einen Meridian , der weder wie das
Meer eine natürliche Grenze bildet noch wie das Diaphragma sich
an eine solche anlehnt, zur Scheide zu machen, ist nicht einmal auf-
geworfen, geschweige denn beantwortet. Ich kann mir diese salin-
stische Scheidung lediglich als ein Kompromiß erklären. Man stand
unter dem starken Eindruck der eratosthenischen Zweiteilnng und
wollte doch die Bezeichnung der Erdteile nicht aufgeben. Ohne
weiteres zur altionischen Scheidung zurückzukehren war aber mis-
lieh. Nach den geographischen Kenntnissen der Zeit nahm Asien
allerdings die eine Hälfte der Oikumene ein, aber nicht die südliche,
sondern die östliche, und zwar ohne Libyen. Man sah sich demge-
mäß nicht in der Lage , Libyen zu Asien zu rechnen ; man mußte
es zusammen mit Europa die andere Hälfte bilden lassen. Diese
Hälfte bekam als Ganzes aber natürlich den Namen Europa und
nicht Libyen, denn in der altionischen Scheidung waren eben Asien
und Europa einander entgegengesetzt und Libyen nur ein Sonder-
abscbnitt. Ein solcher blieb es, aber nunmehr vor Europa. Der
späteren Zeit des Altertums blieb es vorbehalten, auch für diese
Teilung der Oikumene in eine östliche und westliche Hälfte natür-
liche Gründe zu suchen, aber plausible nicht zu finden. — Auch auf
Berger, Geschichte der wissenschaftlichen Erdkande der Griechen. I. 287
m
die Namen der Erdteile iLommt Berger zu sprechen. Die neuesten
Behandlangen derselben konnten ihm wohl erst z. T. bekannt sein,
die Ton Bannack, Beiträge zur altgriech. Onomatologie, studia Nico-
laitana S. 21 f. und Studien auf dem Geb. der griecb. und arischen
Sprachen I. 1. S. 68 f., sowie die von Maspero, die mir bis jetzt
nur in dem Referate der Berliner philol. Wochenschrift vom 13. Nor.
1886 Sp. 1455 f. zugänglich gewesen ist. Fttr seine Besprechung
des Prokop auf S. 51. 71 ff. würde Berger aus Jungs verdienstlicher
Abhandlung in den Wiener Studien V. (1883) S. 85 ff. für seine Zwecke
keinen Nutzen gezogen haben, auch wenn sie ihm bekannt gewe-
sen wäre.
Im III. Abschnitt (S. 75—92) sammelt und sichtet Berger
mit Sorgfalt und Vorsicht die Notizen, auf die wir fUr eine Vorstel-
lung von dem innern Kartenbilde der lonier angewiesen
sind. Sehr berechtigt ist seine Kritik an Klausens Hekataioskarte ;
übrigens ist Klausen auch in der Ordnung der Hekataiosfragmente
sehr mit Unrecht dem Skylax gefolgt. Mir ist bekannt, in welcher
Weise A. v. Outschmid, dessen vorzeitiges Ende wir beklagen, sich
den hekataeischen Periplus angeordnet dachte. Gutschmids Begrtln-
dung kenne ich nicht; indessen wird man wohl nicht fehl gehn^
wenn man dieselbe in solchen Fragmenten wie 75, 79 u. a. sncht^
die zwei Namen nennen und dadurch die Fahrtrichtung verraten.
An eine große Mannichfaltigkeit ionischer Karten vermag ich
nicht mit Berger zu glauben, und wer mit mir der Meinung ist, daft
Eratosthenes in seinem Ueberblick über die Geschichte der griechi-
schen Geographie lediglich eine Geschichte der Kartographie gegeben
hat, für deren Rekonstruktion auch Agathemeros Dienste leistet, der
wird nicht ohne Weiteres viele Kartentypen statuieren wollen. Na-
türlich soll damit nicht im Entferntesten das Vorhandensein einer
gröfleren Anzahl von Exemplaren ionischer Karten bestritten werden;
nur werden dieselben eine ganz beschränkte Anzahl von Typen
wiedergegeben haben '). Bei diesem meinem Standpunkte kann ich
nicht wohl zweifeln , wessen Karte Aristagoras mit nach Sparta ge-
bracht habe, und ich kann das um so weniger, wenn ich erwäge,
1) Beiläufig sei eine Bemerkung Über eine der spätesten Karten des Alter-
tums, die Bavennatische, gestattet. Soeben kommt mir Nr. 12 des lit. Central-
blatts von 1887 zu Gesicht, das Sp. 887 f. eine Recension von Berger bietet.
Ich mnfi danach mit der Möglichkeit rechnen, dafi eine Bemerkung meiner Re-
cension von Schweders Ravennas im philo!. Anz. 17 (1887) S. 75 f. misverstanden
worden ist oder misverstanden werden kann. Natürlich habe ich nur sagen
wollen, daB die Richtigkeit der Schwederschen Construction vorausgesetzt, die
eigentümliche Art der Stundenteilung erst vom Ravennaten herrührt. Da-
rauf aber, da£ Karten mit Stundeneinteilung des Oikumenenrandes viel älter sind
und bereits von PHnias erwähnt werden, war ich längst aufmerksam geworden,
eben durch Bergers früheren Hinweise.
288 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 7.
aus welcher Qaelle Herodots Daretellang des ionischen Anfstandes
geflossen ist. Den Umsturz der ionischen Karte leitet Berger neben
der Lehre vom Easpischen ISee hauptsächlich von der fortschreitenden
Kunde des Perserreiches ab. Erwägt man aber, daß der Gesichts-
kreis eines Hauptvertreters der ionischen Geographie, des Hekataios,
sich bereits bis zum Indus erstreckte , so wird man lediglich an den
Nordosten, d. h. ausschließlich an das Kaspische Meer denken dürfen.
Daß die Erkenntnis von der Geschlossenheit dieses Meeres sich von
Herodot bis Aristoteles und Alexander in Geltung erhalten hat, habe
ich früher nachgewiesen und erkennt auch Berger an. Ganz allein
auf die Wirkung dieser Lehre wird man Bergers Motivierung auf
S. 81 beschränken milssen.
Geradezu als ein erster Wurf muß der IV. Abschnitt (S.
93 — 136) bezeichnet werden, der den Spuren der physischen
Geographie der lonier nachgeht. Vorarbeiten von Bedeutung
konnte Berger hier eigentlich nur für die Nilschwelie benutzen:
unter den benutzten aber vermißt man ungern die Untersuchung von
Diels über Seneca und Lucan (Abb. d. Berl. Ak. v. J. 1885). Dem
Beichtum dieses Kapitels kann ein Referat unmöglich gerecht wer-
den; es wird ja ohnehin ein jeder, der etwas von griechischer Geo-
graphie lernen will, Bergers Buch lesen und studieren. Mit gespann-
ter Erwartung wird man einer diesem Abschnitt analogen Behand-
lung Strabons und Senecas im dritten Hefte entgegensehen.
Auf den Einfluß, den die Veränderung des griechischen Den-
kens in der zweiten Hälfte des fünften Jahrhunderts auf die ionische
Geographie ausüben mußte, hat Berger m. E. ebenso richtig wie da-
rauf hingewiesen, daß dieser Einfluß sich bereits bei Herodot geltend
mache. Auch das ist mit gutem Grunde als Herodots Verdienst be-
zeichnet, daß er in richtiger Würdigung der Bedeutung der Länder-
kunde für die Geschichte beide in seiner Darstellung vereinigte.
Das moderne Urteil über Herodot als Geographen wird von der
Stellung beeinflußt bleiben, die der Kritiker zu der Länderkunde ein-
nimmt; ich will daher lieber nicht erörtern, ob Berger dem Herodot
vollkommen gerecht geworden ist, und ob er Grund hat, ihm den
Charakter eines Geographen abzustreiten. Ein yseaygafpog in des
Wortes eratosthenischer Bedeutung ist er allerdings nicht gewesen.
Hoffen wir, daß die Fortsetzung dieses grundlegenden Werkes
über die Geographie der Griechen nicht lange auf sich warten lasse;
bei Berger gilt es, nicht zum Zögern zu raten, sondern zum Ab-
schluß zu drängen. Zunächt aber wollen wir uns an dem Gebotenen
erfreuen nnd dafür danken! tl di nov ^vaynaa^inksv totg avtotg
dpuliystVj otg fkdXkOta inaxoXov&ovfkBV tLwi älla^ 6bI avyyvwfAi/p S%(BhV.
ov ydq ngouBttat ngog dnaptag dpuiJyetVy dkXa tovq fniv noXXoig
idv^ qU f*^di duolovv^ttv d^toy, ixtivovg di dtattdv, ovQ dy totg nXei^
otOkQ KawkQx^dßuvtag iofjbsv insl oids ngdg änavtaq ipkijotsoipf^tv a|*oy,
nqiq * Eqatoci^ivii dh Hai floastdcir^oy xal 'Innagxoy aal UoXvßMV ual
ällavQ totovtovg naloy.
Straßburg i. E. K. J. Neumann.
Fftr die Bedftkiioii TerantwortUcli : Prof. Dr. BgehM, Direktor der Gott. gel. Ans.,
Aneaeor der Königlichen Oeselliohnft der WiaeeMohnften.
Y4rl<iff dm- DttUneh'sehtn Yeriofft -Bfiehkemdlimg.
Vnui dtr Difttrick*9ch§n ünw,'Bmckdimdm$i (F)r, W, XamtHm).
^fi^i/ven^
1
\
289
/
GÖttingisehe
gelehrte Anzeigen
unter der Ao&icht
derKönigl. Gesellschaft der Wissenschaften.
>^Nr. 8. 15. April 1887.
Preis des Jahrganges : JH 24 (mit den >Nachrichten d. k. G. d. Wiss.« : Jl^ 27).
Preis der einzelnen Nummer nach Anzahl der Bogen: der Bogen 60 ^
Inhftlt : Nonveanx m^anges orientanx. Von Btid ds Lagard«.
z^ Bgennäohtiger Abdruck von Artikeln der G9tt gel. Anzeigen verboten. =:
Noaveauz m^anges orientanx. M^moires, teztes et traductions publics par les
professeurs de P^cole speciale des langues orientales Vivantes & l'occasion du
septi&me congr^s international des orientalistes r^nni ä Vienne (Septembre
1886). Paris 1886, xiv 600 Seiten gröftestes Oktav.
Ous&ma ibnMounlddhi un ^mir Syrien au premier si^le des croisades (1095—1188)
par Hartwig D^renbourg. Beuxi^me partie, texte arabe de l'autobiographie
d'Oasäma, publik d'apr^s le manuscrit de l'Escurial. Paris 1886, xii 184 Sei-
ten grdBestes Oktav.
Note sur quelques mots de la langue des Francs au douzi^me siäcle d'apr^s le
texte arabe de l'autobiographie d'Ous&ma ihn Mounlkidh, par Hartwig Bären-
bourg. Paris 1887. 20 Seiten größestes Oktav.
A. Carri^re, un ancien glossaire latin-armänien (von der äcole des langues orien-
tales Vivantes Herrn J-B. Emin in Moskau zur solennitä du jubilä cinquant^
naire gewidmet). 20 Seiten gröBestes Oktav.
Von Paul de Lagard e.
Die Herren, welche an der icole spteiale des langnes orientales
Vivantes zn Paris angestellt sind, haben dem zu Wien versammelten
siebenten Orientalistenkongresse einen stattlichen Band überreicht, in
welchem Texte der von ihnen gelehrten Sprachen, wie Abhandlangen
Aber die Schrift nnd Litteratnr dieser Idiome veröffentlicht werden.
Wer Vieles bringt, wird Allen Etwas bringen: aber er kann nicht
erwarten, daß ein einzelner Mann, der za einer Anzeige einer solche
woXvjcoüukoq 6oipla vorführenden Arbeit aufgefordert wird, mehr
thae, als anf das Ganze aufmerksam machen, und die seinen Studien
nSber liegenden Stücke der Sammlung für seine Besprechung heraus-
0«tt. gel. Au. 1887. Nr. 8. 21
290 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 8.
greifen. Ich lasse also das Türkische, Malaiische, NeaOriechische ^),
Serbische, Anoamitische, Chinesische, Tamnlische, Romanische, Japa-
nische, ja selbst das Persische des Bandes unbeachtet, und beschäf-
tige mich nnr mit den Aufsätzen der Herren Garri^re, HD^renbourg
und Hondas, ziehe aber einige den in dem Bande der ecole des lan-
gues orientales Vivantes veröffentlichten Abhandlungen der Herren
Garriire und Därenbonrg parallel laufende, für sich erschienene Ar-
beiten derselben mit in den Kreis meiner Betrachtung.
Ehe ich aber Ober den Inhalt der von mir zur Besprechung aus-
gewählten Stücke etwas sage, muß ich meiner Bewunderung der
Form Ausdruck geben, in der jener Band uns vorgelegt wird. Die
Imprimerie nationale hat mit Fuge unter die Norm jedes Bogens
ein »imprimerie nationale« gesetzt. Ich muß freilich auf einen Feh-
ler des Drucks aufmerksam machen: die Schwärze zieht sich ge-
legentlich mehr oder weniger ab. Was Deutsche (aber Symmicta 1
101, 43), Engländer und Amerikaner können, werden auch die Fran-
zosen fertig bringen. In Amerika erscheinen selbst Zeitschriften —
ich nenne nur das zufällig auf meinem Tische liegende Andover
Review — , ohne daß die eine Seite auf der gegenüberstehenden sich
in umgekehrtem Bilde wiederholt. So schlimm wie in den ersten
Bänden von Dozys Cataloge der Leydener Handschriften tritt die
Krankheit in den Nouveaux melanges nicht auf — jenen Katalog mag
ich als Eigenthum gar nicht in meinem Hause leiden — , aber ver-
drießlich ist auch der von mir besprochene Band hier und da anzu-
schauen. Uneingeschränktes Lob hingegen verdienen die angewandten
Typen. Zu nicht kleinem Tbeile sind dieselben alter Besitz der Anstalt:
die r6publique fran^aise lebt vom Erbe der Monarchie, und zu diesem
Erbe gehören die Lettern, mit denen sie die Bücher ihrer Gelehrten
setzt, gehört auch die Einrichtung, daß die Staatsdruckerei nicht un-
ter der Leitung von Handwerkern, sondern unter der Aufsicht von
Gelehrten steht. Als ich im October 1877 griechische Typen von
der Imprimerie nationale kaufen wollte, war das mir zugehende
1) Ich hebe aus der im ersten Viertel des vorigen Jahrhunderts verfaBten
Beiseheschreibung des Ba0ilt*oc Baraji^c (Seite 287) die Terse hervor, welche
von Berlin handeln: t;^; MitQovaiag 9 fitiTQonoJag, j&vaxtoe 9 xad^edga liege nicht
in MnQovüia:
xdiftQoy <fiy ilyat cfi fAhtt^6vf dlXä aj^sdoy xat fieya,
ilg ndyra tagatoraroy, Mmglty myo/ÄaOftiyoy,
xai Tolf bgtaift ytyttat nolXd ^yantifiiyoy.
Ein Urtheil, das die Anspruchslosigkeit des guten Bacilttos erweisen wird. Das
x^g$findQt des Verses 989 ist natürlich \*jt)i (meine gesammelten Abhandlungen
54 226) =: fui^fiu^utp armenische Studien § 443.
Noaveaaz m^anges orienUux. 291
Antwortschreiben von keinem Geringeren als Herrn Haar6aa unter-
zeichnet, neben dem jetzt, so yiel ich weiß, Herr Joseph Dörenboarg
wirkt: früher haben Reinaud und Silvestre de Sacy über die Drackerei
za befehlen gehabt, and die Leistungen sind denn ancb danach ge-
wesen, und sie sind noch danach. Es wQrde gewis nicht schaden,
wenn Deutschland in diesem Punkte der alten, frtth geeinigten Eul-
tumation nachstrebte: ich weiß ein Lied von den Nöthen zu singen,
die bei uns ein »Orientalistc auszustehn hat. Meine vergleichende
Grammatik der semitischen Sprachen kann ich nirgends drucken : sy-
rische Texte habe ich mit hebräischen, neuAegyptische mit lateinischen
Buchstaben herausgeben mttssen, danach allerdings der überaus gü-
tigen Kritik meiner Gönner von der Zunft dafür zu genießen gehabt
Für meine Bibliotheca syriaca die nöthigen Typen zu beschaffen, bin
ich außer Stande. So etwas freut einen alten Menschen nicht, der
sein Lebtag nicht das Seine gesucht hat, und der abschließen möchte.
Zohrab, so bekannt durch seine Ausgabe der armenischen Bibel
und der armenischen Uebersetzung der Chronik des Ensebius, hatte
dem vierten Bande seines Oktavdruckes der Bibel einen jon-A^f-uf^
mumaum&uiiittlbi^JmmlA^u beigefügt, der die armenische Uebertragung
des Sirach, des dritten (bei uns vierten) Buches des Ezdras, des Ge-
betes des Manasses, des Briefes der Eorinthier (oder des Stephanus)
an den Paulus *) , den ^ßA^ftum {^ntl^iuithnu und mqirpu \^p-iuti^
vorführt Ich habe zwei der hier aufgezählten Schriften benutzt,
Zohrabs Einleitung aber nie gelesen , und so erst jetzt durch Herrn
Carriere erfahren, daß Zohrab in ihr schon im Jahre 1805 die
Herausgabe anderer tritokanonischer Stücke der Bibel als die in sei-
nem jmdrinLuti^ enthalten sind, in Aussicht gestellt hat Die arme-
nische Uebersetzung des Testaments der zwölf Patriarchen und der
Geschichte der Asseneth liegt Herrn Carriöre in einem von Zohrabs
Hand geschriebenen Manuscripte vor: aus demselben theilt er uns
ftirs Erste nur ein Stück aus der Geschichte der Asseneth mit Seit
die nouveaux melanges orientaux erschienen sind, hat in einer Ber-
liner Promotionsschrift Herr Gustav Oppenheim die fabula losephi
et Asenethae apocrypha e libro syriaco latine versa herausgegeben.
Was Herr Oppenheim gesammelt hat, muß mit dem von Fabricius
1) Da ich nicht die Muße gehabt habe, die über die Pseudepigraphen des
neuen Testaments erwachsene Litteratur zn verfolgen, ich aber sicher sein darf,
eine Ladung der üblichen Urbanit&ten zageführt zu bekommen, wenn ich nicht
durchaus Bescheid weiß, enthalte ich mich, mehr zu geben. Einen Artikel
>Pseudepigraphen des neuen Testaments« bringt die Realencyclopädie für prote-
stantische Theologie und Kirche nicht, ich vermag also nichts zu citieren, als
dieser Realencyclopädie ersten Band 527, der, 1877 erschienen, gewis schon der
Nachträge bedarf.
21 •
292 Gdtt. gel. Ans. 1887. Nr. 8.
und von Herrn Carriire Zasammengetragenen verglichen werden,
vor Allem aber müssen wir die Texte selbst erhalten. Herr Dill-
mann waßte 1 883, als er seineQ Artikel in der Realencyclopädie fUr
protestantische Theologie nnd Kirche 12 366 schrieb, nicht, daß Herr
Land Eine der syrisch vorhandenen Gestalten der Asseneth-Ioseph-
Sage schon 1870 herausgegeben hatte: Herr Dillmann nennt was
ihm ans Fabricius bekannt ist, »sicher christlichen Ursprungs, von
einem müßigen Kopfe geschrieben, doch nicht ohne alles höhere
Streben« — eine recht schulmeisterliche Werthung — , Herr Noeldeke
nrtheilt im literarischen Gentralblatte 1871, 1 von dem die &ja>)? \h.^t^
enthaltenden ersten Buche des von Land vorgelegten Werks »das Meiste
hätte wohl ohne Schaden verloren gehn können«. Ich bin leider
auch hier anderer Ansicht als die tonangebenden Kritiker unsrer
Tage: alles Einzelne ist als Einzelnes freilich ohne Gewicht, als
Glied eines größeren Ganzen gewinnt es eine Bedeutung, die freilich
nur der Historiker, nicht der Chronist und nicht derjenige versteht,
dem die Thatsachen der Geschichte nur »Eideshelfer«, wie man jetzt
sagt, für seine Dogmatik sind. Herr Sachau gibt in seiner der
Academy 1871,292 — 294 einverleibten Besprechung von Lands Anee-
dota nichts was uns hier interessierte. Herr Carriöre — neben
Baumgartner die einzige Hoffnung d^rer, die vom Studium des Ar-
menischen Nutzen für die Wissenschaft erwarten — zeigt sich schon
so gut über die einschlagende Litteratur unterrichtet, daß er un-
schwer was er noch nicht zur Hand hat, wird beschaffen können:
ich bitte ihn nicht um Abhandlungen über die Texte, sondern um
die Texte selbst, zunächst die armenischen, die ganz gedruckt wer-
den müssen. Alle Beziehungen auf Fabricias und ähnliche Werke
sind meines Erachtens zu vermeiden: sie verunzieren nur das Buch.
Was kein Tadel für den hochachtbaren Fabricius sein soll, aber ein
Tadel für diejenigen ist, die durch ihre Faulheit uns zwingen, noch
heute den Fabricius zu eitleren. Urtheilen darf über diese Litteratur
nur derjenige, dem sie vollständig vorliegen wird. Möglich, daß ich
Muße finde, über die aus dem Syrischen stammenden Stücke der ar-
menischen Litteratur einiges des Lesens Werthe vorzulegen: sehr
wahrscheinlich ist es freilich nicht.
Eine dem Seminare in Autun gehörige, um das Jahr 900 ge-
schriebene Hieronymushandschrift bot Herrn Omont verba seu dictio-
nes Armeniorum, lateinisch und armenisch. Da die Schriftzttge die
lateinischen sind, haben wir in dieser Liste eine Urkunde vor uns,
die uns wie nichts anderes über die vor dem Jahre 900 irgendwo
übliche Aussprache des Armenischen unterrichtet. Herr Garriire hebt
mit Becht den Werth dieser Belehrung hervor.
Noareatix m^anges orientanz. 298
leb sehrieb im November 1853 in meinem Hefte »zur Urgeschichte
der Armenier € 919: »so viel ist klar, daß die Aspiratae h^^^zü
den Mediis p f t herabgesunken sind, und daft die Sprache, um ihr
Gefühl von der Verschiedenheit dieses ans u ir ir verstümmelten und
des nrsprttnglichen, dem sr^ it ^ entsprechenden, p ^ 'f knnd zn thnn,
angefangen, jenes nrsprtlngliche p ^ ^ in if 4 « zn verschieben,
diese Verschiebnng aber za großer Unbequemlichkeit von nns armen
Etymologen nicht dnrcbgefUhrt hat«. Ich gab dann Beispiele des
Schwankens. 1866 nnd 1883 behauptete ich (gesammelte Abhand-
inngen 30, Mittheiinngen 1 156), »daß die Armenier in dem hier ge-
schilderten Processe, nachdem ihre Sprache durch die Schrift fixiert
worden war, in der Art weiter fortgeschritten sind, daß sie die
ß y 8, welche sie in der Schrift nicht mehr verschieben konnten,
in der Aussprache verschoben haben, also statt ß y 8 wenigstens in
gewissen Gegenden Armeniens x x t sprechen, was zu schreiben sie
durch das Herkommen gehindert wordene. Ich argumentierte aus
der Thatsache, daß die Armenier selbst an verschiedenen Orten jetzt
dieselben Schriflzeichen verschieden aussprechen , daß Procopius einen
Ort Ba{ßsQ8aj Cedrenus ihn naixsgrs nennt, daß älteres ^ovvv später
als Tvßivfj auftritt, gegen die Möglichkeit, das Originalalphabet der
Armenier durch eine » Transcription c zu ersetzen. Wenn ich zur
Zunft gehörte, würde man nicht unterlassen haben, idie Tragweite
dieser 1853 und 1866 nicht auf der Oberfläche liegenden Bemerkun-
gen anzuerkennen. Der Fund der Herren Omont und Garriire be*
stätigt was ich vor so langer Zeit schon behauptet habe. Schon vor
dem Jahre 900 treffen wir p als p, q. als c ch kc, f als g k ch c, m
als d t: wir treffen schon die von Schroeder als die normale ver-
zeichnete Aussprache des n als ue, während n doch unweigerlich ur-
sprünglich das griechische o ist. Ich bin in der Lage, Ein Wort nach-
zuweisen, in dem vermuthlich schon lange vor dem Jahre 900 4 ^Is
g gesprochen worden ist. Die Hauptstadt Gappadociens, die später
Gaesarea genannt wurde, hieß ursprünglich Md^axa = \fut^m^^ also
Maiak: meine armenischen Studien § 1402. Herr Jacob Levy ver-
zeichnet in seinem großen Wörterbuche 3 14 62 den Namen einer
eappadocischen Stadt MTAtt = K^na, für den er des Herrn Neubauer
geographic du Talmoud 318 319 citiert. Herr Levy hat nicht für
nöthig erachtet, Herrn Neubauers Arbeit genau zu benutzen: Herr
Neubauer — was ihm 1868 vorgeworfen wurde, bat seiner Zeit
HEwald in unsem Anzeigen erwähnt — fand nicht für nöthig, als
er über Cappadoeien handelte, Saint-Martins m^moires sur FArminie
an den durch das Register leicht zu beschaffenden Stellen einzusehen,
ans denen er über Xf^iu^m^ D"iif«fiu^ VT'^ZIf'^ Wb2!l!'k Mi^axa Aus-
294 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 8.
knnft erbalten hätte. Mitaoia StraboB iß 2, 7 erweist, neben W'*mJ■ul^
nnd K^Hs gestellt , Alles, 'was ieh hier erweisen will. Bis anf Wei-
teres halte ieh KMIS für die richtige Form, und meine, dies sei Md-
laxa IPumAiu^, aber schon mit der Verschiebang des 4 in y- Herr
Levy citiert nan n^^^^na 34 gegen Ende, also 43 ' 19 des Stettiner,
144 ^ 3 des herrlichen Wilnaer DrDcks : im Talmnd erscheint das
cappadocische VQTü als ein Ort, an dem Strafrechtsprocesse ihren Aas-
trag fanden, was aaf Caesarea pa6t. Leider haben die Jaden noch
immer nicht begriffen, daß sie vor allen Dingen eine nach den Re-
geln der modernen Philologie gearbeitete Aasgabe der Talmade her-
zastellen haben, wenn sie für ihre Nation einen Platz in der Wis-
senschaft der Geschichte beansprachen wollen: zar Zeit schwebt
meines Erachtens noch recht Vieles, was ttber die Chronologie des
Talmads and der an den Talmnd sich anlehnenden oder angelehnten
Schriften amläaft, in der Lnft. Also wie alt ist das > in K^T»?
Herr Hartwig Därenboarg hat in den Melanges orientanz aas
yaü\ HJ^j> des von 1125 bis 1201 lebenden Imädaldtn den ttber
Usäma ibn Manqic} handelnden Abschnitt, er hat in einem eignen
Bande die Aatobiographie des üsäma heraasgegeben : in einem klei-
nen Hefte bietet er lexikographische Bemerkangen za jener Aato-
biographie.
Was ich ttber diese drei Arbeiten za sagen habe, maß ich mit
dem Bekenntnisse großer Unwissenheit anheben. Der Usäma ibn
Manqi4, dem HD6renboarg so viel Fleiß gewidmet hat, war mir bis
1886 nnr aas Weils Geschichte der Chalifen 8 297 nnd ans Beiskes
Abalfidä 8 532 bekannt, bei welchen Schriftstellern er sich höchst
nnvortheilhaft aasnimmt.
Wie ich nan an einem schlechten Bache irgend etwas Lobens-
werthes, so sache ich an einem vortreflEiichen Bache — nnd vortreff-
lich sind die beiden Texte D6renboargs — etwas was ich tadeln
maß : denn mitunter bin sogar ich abstrakt. Ich will aber meinen
Tadel freandlich einkleiden, and mache daher Herrn D^renboarg aaf
das WohlwolIcD aufmerksam, mit dem 39,20 sein Usfima einen Ko-
ranschreiber behandelt hat, der die (j^U^-t ond JijS^\ des Koran
(Noeldeke, Geschichte des Qor&ns, 323) sorgfältig angegeben hatte.
Will D^renboarg sich nicht — hoffentlich tritt das Bedürfnis erst
nach langen Jahren fleißigen Schaffens ein — einen ähnlichen
SCr^t fUXÄjwl von dem sichern, juÄi" ^^ v^aS^ ^ ? Er hat ja dem
Slbawaifai so schön die Zeilen gezählt: waram nicht anch dem alten
Recken Usäma? Ich habe, am genaa eitleren za können, Alles mit
der Feder darchnameriert: daß mir das Freade gemacht habe, kann
ich nicht behanpten: es that dies nicht, da es erstens Zeit kostete,
Nonveaox m^anges orientanz. 295
da es zweitens das schön ausgestattete, mir sogar in einem Schreib-
papierexemplare zugegangene Bach nicht verschönerte.
Die Gedichte Usämas erinnern mich an die des Abd Fir&s:
genaa gelesen habe ich sie nicht, desto genauer zwei bis drei Male
die Antobiographie, die recht ein Bach nach meinem Herzen ist,
von einem klagen nnd in seiner Art gaten Manne verfaßt, der un-
bändig offenherzig nnd wahrhaftig, rein sachlich und durchaus naiv
schreibt, und, ohne es zu wollen, das Leben, das im zwölften Jahr-
hunderte in Goelesyrien und dessen Nachbarländern gelebt wurde, in
einer Anschaulichkeit uns vorführt, die geradezu in Erstaunen setzt.
Dabei ist das Buch eine Fundgrube für den Lexikographen, auch
den an erster Stelle den Interessen der Theologie gehorchenden
Lexikographen meines Schlages. Ich glaube, die Entdeckung dieser
Autobiographie sei für Hartwig Dörenbourg das ihm von der Vor-
sehung für seinen Stbawaihi gezahlte Honorar : Stbawaihi ist freilich
selbst schon eine Gottesgabe, nur eine schwerer als üsäma zu ver-
dauende.
Völkerpsychologie — schon der Name flößt Grauen ein — , wer
will Ober sie reden, der nicht wenigstens bei zwei Völkern Sprache,
Litteratur, Recht, Religion und einige der zahllosen X der den beiden
Völkern angehörigen Individuen durch vertrautesten Umgang kennt,
der nicht versteht, die ihm entgegentretenden Individuen als Sym-
ptome oder als Typen oder als Bahnbrecher zu begreifen? Nur in
Preußen, und zwar erst, nachdem die Paedagogik Hegel-Altenstein-
Scbulze-Wieses einerseits, nachdem die Zeitungspresse andrerseits
zwei Menscbenalter hindurch Alles schabionisiert und langweilig ge-
macht hatte, konnte der verwegene Gedanke, Völkerpsychologie zu
lehren, in eines Menschen Hirn entstehn. Ich habe jetzt wenigstens
Villehardouins Geschichte der Eroberung Gonstantinopels und vor
Allem Joinvilles Geschichte des heiligen Louis gelesen, um einen
Maßstab ftlr die Beurtfaeilung Usämas zu gewinnen: ich werde das
unschätzbare Aktenstück so bald nicht aus der Hand lassen.
Usäma ist selbst eine Person, und darum spricht er auch ttber
andere Personen mit Verständnis. Obwohl ich in meinem Durste
nach Konkretem die Schriften der arabischen Aerzte nnd Botaniker
verschlinge, wie die armen Seelen das Blut der von Odysseus ge-
schlachteten ft^Aa, habe ich von ^^LLu ^t [js>yj^)j dessen Taqwtm
iB meiner Sammlung steht, keine Vorstellung gehabt, bis von diesem
Usäma dem &iMvrivbv xAqtipov Blut, und mit dem Blute Leben ge-
1) Ibn Abt UgaibiA 241, Wüstenfeld § 133, LeClerc 1 489. Interessant ist
was Usäma 97, 19 ff. über die christlichen Aerzte seiner Zeit erzählt.
296 Oött. gel. Anz. 1887. Nr. 8.
geben worden ist. Sogar Hnmor zeigt ÜB&ma : man lese nur 138, 5 ff.
die Geschichte von dem fast handertjährigen Mütterchen, das sich
über den Eäsegemch des von ihm gewaschenen Mandil beklagt, and,
wie Usäma nachsieht, darauf ertappt wird, statt der Seife ein Stück
Käse zam Waschen zu verwenden : oder aber 82; 9 ff. die Geschichte
von dem Panther — ich bitte die Gerechten nm Verzeihung, wenn
das nicht der zoologisch richtige Namen des Thieres ist — , der ans
Versehen einen der fränkischen Satane, Sir Adam, tot springt, und
zur Belohnung von den Bauern seines Bezirks der am heiligen
Kriege betheiligte Panther, oü^b^t ^4jÜI, genannt wird. Joinville er-
zählt § 196 von einem Araber, den unser Kaiser Friedrich der zweite
zum Ritter geschlagen, und fttgt § 198 hinzu: £n sa baniere portoit
les armes l'empereour qui Tavoit fait chevalier: sa baniere estoit
bandle: en Tune des bandes estoient les armes Tempereour qui Tavoit
fait chevalier, en Tautre estoient les armes le soudanc de Halape,
en l'autre bände estoient les au soudanc de Babiloine. Dem ent-
spricht bei Usäma 97 ff., daß ein fränkischer Ritter aus dem Heere
Fulcos [des Fünften, Grafen von Anjou, Königs von Jerusalem :
HDerenbourg Note 10] sich mit Us&ma bis zur Brüderschaft befreun-
den, und als er nach Europa zurückkehren will, dem Fürsten von
äaizar vorschlagen kann, den eigenen Sohn zur Ausbildung des Ver-
standes und der Rittertngend ihm als Genossen für den vierzehnjährigen
Knaben, den er selbst zu Hause hatte, mitzugeben. Usfima lehnt
das Anerbieten mit Rücksicht auf des Knaben GroBmutter, die an
ihm hange, ab, und der Franke räth, der alten Frau nicht zu wider-
streben.
HDerenbourg spricht am Ende der Vorrede verständig über die
Nothwendigkeit, ein arabisches Wörterbuch aus den arabischen
Schriftstellern, nicht aus den Originalwörterbüchem , zusammenzu-
tragen. Durch eine günstige Fügung bin ich schon 1845 oder 1846
mit Avicenna bekannt geworden: ERoedigers beste (und im Grunde
einzige) Abhandlung über einzelne Theile der arabischen Bibel wies
mich, wie auch meine Studien zur Kritik des Bibeltextes dies thaten,
auf die arabischen Bibelversionen, die ich noch heute für hervor-
ragend wichtig ansehe, und von denen ich einzelne Stücke selbst
herausgegeben habe: koptisch-arabische und syrisch-arabische Glos-
sare hoffe ich noch auszubeuten. Die Hauptsache wird sein, daB
die auszuziehenden Schriftsteller verständig gewählt, und daß sie
schlechterdings vollständig verbucht werden. Ich habe, nachdem ich
bei Rückert als einziger, einen Winter hindurch fast täglich auf
Stunden kommender Schüler die Hamäsa gelesen hatte, geglaubt,
daß die ältesten Dichter uns das Semitischste des Arabischen bieten
NoQveaax m^anges orientanx. 297
würden: ich bin von diesem Glauben längst znrftckgekonunen, nnd
meine, daß die Bibelttbersetzangen der iU^ Avicenna, der aas dem
Syrischen (nicht ans dem Griechischen) gedolmetschte Dioscorides, Da-
mtrfy Ibn Baitär, Maidän!, daß Reisebeschreibungen und Uebertra-
gangen griechischer Aatoren, vor Allem die des Galenas, zanächst
in Angriff za nehmen seien. Weder des Korans noch auch der wirk-
lich oder angeblich alten Dichter können wir entrathen, am allerwe-
nigsten des Korans : im Ernste für diejenigen belehrend, die sich einem
aasgedehnten Stadiam der arabischen Sprache and Litteratar wid-
men wollen, sind nar die genannten Stücke. Und Bücher wie die
Antobiographie Usämas schließen sich ihnen anroittelbar an. Die
Originalwörterbücher der Araber haben ans das Fachwerk bereits
geliefert, in das hinein gesammelt werden maß^).
1) Ich benutze diese Stelle, am eine Parallele drucken zu heißen. Was links
steht, habe in den persischen Studien 65 Ich geschrieben : was man rechter Hand
lesen wird, rührt von Herrn Noeldeke her, und steht in der im literarischen
Centralblatte 1884 Spalte 888 gedruckten Anzeige jener meiner Studien :
Wohl aber hebe ich hervor, daB Üebrigens hieBe es die Lösung der
... ein persisches Wörterbuch nicht Aufgabe ins unabsehbare verschieben,
allein durch Zusammenstellung und Sich- wenn man warten wollte, bis alle etwa
tung des in den im Oriente verfaBten brauchbaren persischen Werke dieser
Wörterbüchern enthaltenen Stoffes zu Art [Wörterbücher] gedruckt vorl&gen.
Stande kommen darf : daB vielmehr diese Die Hauptsache muB unseres Erachtens
Bücher nur das Fachwerk liefern sol- für den Verfasser eines persischen Lexi-
len, in welches das aus der Beobach- kons doch die sein, daB er die Schrift-
tung des Sprachgebrauchs der freilich steller selbst, vor Allem das Schäh-
erst noch herauszugebenden persischen näme, gründlich und umsichtig ausbeu-
Elassiker gewonnene Material eingeord- tet. Besonders erwünscht wäre die
net wird. Durchforschung alter Prosawerke, in
guten alten Handschriften.
Man wird billig eine Kritik bewundern, die als Berichtigung eines Schrift-
stellers dem mit dem kritisierten Buche unbekannten Publikum die Ansichten des
Beurtheilten auftischt, und aus Eigenem nur einen Fehler hinzufügt. Denn aus
dem Schähnäma wird man etwa zwei Fünftel des Wortschatzes der neupersischen
Sprache erhalten: drei Fünftel werden fehlen. Herr Noeldeke hält freilich auch
>yertratttheit mit dem Sanskrit« für eine dem »Iranisten« nöthige Eigenschaft.
Er wird die Verantwortung für diese Ansicht um so leichter tragen, als er an
der Universität Kiel nach Ausweis der amtlichen Vorlesungsverzeichnisse selbst,
und zwar in denselben Semestern, in denen er auch Arabisch las, publice, Sanskrit
gelehrt hat: ich bin, nachdem ich nun 43 Jahre lang Persisch treibe, gewis, daB
das Sanskrit mir für das NeuPersische (von diesem allein handeln Meine persi-
schen Stadien) so gat wie nichts helfen würde. Auch um Chaucer und Shake*
speare zu verstehn, brauche ich Boehtlingk-Eoth und den Pänini meines Erach-
tens nicht: oder hat AWvSchlegel den Shakespeare nur deshalb so gut über-
setzt, weil er dereinst das Bäm&yana herausgeben sollte? Das NeuPersische ist
allerdings eine indogermanische Sprache, steht aber, obwohl es sich schon in den
Tagen des Etesias gebildet hat, virtuell auf Einer Stufe mit dem NeuEnglischen.
298 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 8.
Zn Herrn D^renbonrgs Aufsätze fiber die fränkischen Wörter, die
Usäma braucht, will ich einen Nachtrag geben, der eigentlich kein
Nachtrag ist: ich bespreche eine weitgewanderte Vokabel, die auch
bei XJsäma vorkommt: 34,17 (wo falsch vokalisiert wird) 41,17
49,7 63,17 74,26 75,5 76,6 92,3 7 und wohl auch an andern
Stellen, die ich in der Freude des Lesens nicht aufgezeichnet haben
werde, erscheint als Name eines Kleidungsstückes JüLcf^. Freytag
hieß 4 32 ^ [aber 3 439 ^], wo er die Vokabel durch zwei Stellen belegte,
und für persisch erklärte, kuzägand aussprechen. Aus IGolius (meine
persischen Studien 7) hatte EGastle schon 1669 im lexicon persicum
453 JJ^\yi' = kaiägand aufgeführt als tegumentum lecti, pec.
multo gossipio intersutum : thorax multo cotto "^^ et serico infarctus,
sine ferro, quo in hello uti solebant. Dies war von Heninsky wie-
derholt worden : in dessen anderer Ausgabe 4 73 ^ k^ei&^send er-
scheint = stragulum seu tegumentum lecti, pec. multo gossipio in-
tersutum: thorax multo cotto "^^ seu gossipio et serico crudo infar-
ctus, quo in hello sub lorica uti solent. 4 33 ^ bietet Heninsky '
vJOctt ^ als species vestis ex serico viliori, quae sub lorica tem-
pore belli gestari solet. Unter JOcty nennt RDozy Supplement 2
462 ^ indem er ein Paar Beläge gibt, das ihm durch Vullers [2 828 '^] be-
kannt gewordene J^Xi.Wd' = esp^ce de jaqnette rembourr^e et piqu^e,
en coton ou en soie, dont on se sert en guise de cuirasse. Er
merkt nicht, daß ^ der Vokabel das von ihm 2 342 ^ ungenügend
behandelte j3 ist. Ich las 1865 meinem Amtsgenossen BLangkavel
zu Liebe die Hamburger Handschrift des *^ ^ U [EMeyer Geschichte
der Botanik 3 239—245, Häg! Kalfa § 11278], und lernte aus ihr
was ich 1866 in den gesammelten Abhandlungen V mitgetheilt habe,
und aus ihnen Herr ESachau zu Gawältq! 124, 5 wiederholte, daß
jd die aus dem Cocon nach dem Ausschlupfe des Schmetterlings ge-
sponnene, («^^<^t [persisch {«A^yf = luuipint^iTy armenische Studien
§ 175] die aus dem noch unversehrten Cocon bereitete Seide ist.
Hiervon, wie auch von des Canes 3 354 seda en bruto jä, hat BDozy
Kenntnis nicht genommen: auch WOstenfelds Qazwtn! 2 434, 10
Jä\ «>3v> = Seidenwurm kennt er nicht. Hein Pedro de Alcala bietet
mir 413 * 39 texedor cazi^ = jtj3 [= venditore di seta, Angelas a
S^Ioseph gazophylacium 390] und 413 '2 texedora caziza = H^\ß.
Nun ist j3, wie der Farhang i Bastd! 2 148, 13 lehrt, aus dem per-
sischen ^ = ^y entstanden: Gawälfqt 124,5 nennt das Stammwort
von jS nicht ausdrücklich, was auch Gauhart 434 und der aus Gau-
bart schöpfende Kafäg^t 180, 3 nicht thun. Das bei den Armeniern
dem ^ =: '^ entsprechende ^mq^ (meine armenischen Studien § 1072)
Noaveanx melanges orientaux. 299
setzt das Venediger Wörterbncb 1 1030 ^ neben das franzOsisebe
[von Diez nicbt bebandelte] gaze zn scbreibende, »gasec, und ftthrt
Stellen an, in denen in der That, wie k^ ^ U erwarten läßt , ^m^
L muipinLA L Jm^ L f^M^pq^ neben einander genannt werden : ver-
gleiche Firdanst Gaai&6d 13 [Yullers zwingt, da er keine lebenden
Kolnmnentitel gibt, daneben »leidener Ausgabe 1 23« za citieren!]
Bei P wird PSmith, der P schon unter »)/^< 472 genannt hat, seiner
Zeit natttrlich von allem was ich eben beigebracht habe, nichts wis-
sen. Die ÄJ^L der Araber führte schon ECastle 397 auf = vestis ex
serico facta, in primis cradiore, qaod j3» dicitur : Ganhart sagt nur
V^uÜt er LT^ ^j^W^I- RDozy schwieg 1845 im Dictionnaire und
1877 im Supplement. ji.\^ oder icb bedeutet »mit der Seidenart gaz
verbunden«: die X^j^li ist vielleicht für die Friedenszeiten das ge-
wesen, was der juct^ für Eriegsläufte war.
Von ?^ = g^ bilden die Perser ^ ^f = ^ ^-T:
diese Wörter bedeuten eine mit Florettseide oder Baumwolle ausge-
stopfte Decke, die man im Kriege über Pferde, Elepbanten und auch
Menschen breitet. Aus Vullers kann in diesem Falle und sonst nur
lernen wer Persisch liest: so verweise ich auf Meninsky ^ 4 36 ^
JvHammer hat in den Wiener Jahrbttchern 125 159 von dem (von
ihm nicht als Ableitung von ^ erkannten) ^^j^ das mittelhoch-
deutsche Geziem hergeleitet: ich habe diesen Einfall gutgläubig in
meinen gesammelten Abhandlungen 60' verbreiten helfen. Aber Ham-
mer hat sein Geziem nur ans dem von ihm (was ich damals in
meinen Auszügen nicht notiert hatte) daneben angeführten geziemiert
[von cimiire!] erschlossen: kein von mir eingesehenes Wörterbuch,
kein des mittelhochDeutschen genau kundiger Kollege kennt ein Ge-
ziem. Ich erwähne dies natürlich nicht nur, um einen alten Fehler
von mir gut zu machen — 1866 war ich noch nicht mistrauisch ge-
nug — , sondern auch, weil ka^m kaum = kagtn kaitn das von
mir erläuterte jOfitjl' weiter zu erklären helfen können.
Ich füge aus Rudolfs von Wagner Handbuche der Technologie "
775 776 hier ein, daß durch das Herausbrechen des Schmetterlings
[aus dem Gocon] der Zusammenhang des Seidenfadens zerstört wer-
den wUrde, und dnrchbissene Gocons nur einen geringen Werth ha-
ben, und daß derjenige Theil des Seidenwurmgespinstes, welcher sich
nicbt abhaspeln läßt [also auch die Seide der vom Schmetterlinge
durchbissenen Cocons] auf Florettseide verarbeitet wird. Diese
Florettseide also ist es, die ^ = ji^ = jä = P = fiu^^ = gaze
300 Oött. gel. Ans. 1887. Nr. 8.
genannt wird. Nnnmebr ist erwiesen, daft OJJA^ = \\x£\\ ^ »mit
Florettseide ausgestopft (wattiert«) bedeutet. [Langlte za Ghardin 4 162.]
Darch die Erenzzttge ist sXiJA^ nach Enropa gekommen. Alwin
Schnitz spricht in dem Bache über das höfische Leben zur Zeit der
Minnesinger 2 32 vom kasagän Wolframs von Eschenbach (die bei-
den Stellen, die er anführt, stehn auch in WMflllers mittelhochdent-
schem Wörterbache 1 791) und dem gasygan Henris aus Valencien-
nes (Godefroy gibt 4 243 ' für gasygan nur den von Schultz ange-
zogenen Belag). Kasagän = gasygan ist yXkiS^^ = kaz&gand selbst.
Die neufranzösische Form der Vokabel lautet casaqain, das WMniler
neben kasagän gestellt hat Aus casaquin [kaum^^iy FRa&!dt2 148, 8]
ist casaque dadurch entstanden, daß man »ine für yerkleinernd, und
darum unstatthaft, anzusehen anfieng, was erst geschehen konnte,
als der Ursprung des Wortes vergessen war. Aus der neuen Aus-
gabe des La Garne de Sainte Palaye 3 259 — vielleicht hat das
schon in der alten gestanden — lerne ich, daft »casaqui justaucorps
est un mot languedocien, ainsi traduit par Borel au mot Beguines«.
Die Acadämie hält casaquin für ein diminntif, casaque f&r die Ur-
form, wie denn auch die Spanier zur Zeit casaquin als Verkleine-
rungs-, casacon als Vergrößerungsform von casaca empfinden, wäh-
rend meines Erachtens casaquilla — eine alte Verkleinerungsform von
casaquin — erweist, daß casaquin eine Verkleinerungsform nicht ist :
woraus dann folgt, daß casaca im Spanischen dasselbe ist was cas-
sock im Englischen und casacca im Italienischen, nämlich ein aus
dem französischen casaque entstandenes Fremdwort. Man hört und
liest voltar casacca wie volver casaca, weil die Franzosen tourner
casaque »zu einer andern Fahne schwören c sagen. Die Acad6mie er-
klärt casaquin durch espice de d6shabilI6 court, qu'on porte pour sa
commodity.* il ne se dit gaire aujourd'hui qae d'an vetement ä l'usage
des femmes du peuple ou de la campagne : sie erklärt casaque durch
Sorte d'habillement dont on se sert comme d'nn manteau, et qui a
ordinairement des manches fort larges. Diez lehrt in der Gramma-
tik* 2 339, was fttr mich gegen die Acadömie spricht, das Suffix
»ine habe im Französischen kaum noch »diminutive Kräfte. Da der
casaquin ein ungefüges Kleidungsstück war, lag es nahe, das schein-
bare Suffix, das unpassend schien, und altmodisch klang, abzuwerfen,
und aus casaquin casaque zu bilden. Die Italiener besitzen meiner
Meinung nach ein casachina, dem ich im Augenblicke nicht nach-
kommen kann : wie es sich mit dem von DuCange 2 246 ^ aus einer
italienischen Urkunde des Jahres 1227 nachgewiesenen cazeta verhält,
überlasse ich denen zu ermitteln, welche die Urschrift der Urkunde
vergleichen können.
Noaveatiz m^anges orientaux. 801
Za meinen Gunsten muß ich noch Folgendes anführen: ich be-
danre, Qnicherats histoire da costame en France (1878) nicht ein-
sehen ZQ können. Der Siear da Bellen räth bei GDaniel, histoire
' de la milice f ran^oise [Amsterdam 1724], 1 288 : il les faut armer
k era et sans casaqnes: car cela a bien plas belle monstre, et ponnra
qae la cairasse soit bonne et forte, il nimporte du reste. Erstens folgt
hieraus, daß fttr da Bellen die casaqae noch genau der cXJw&iy war,
das unter dem Panzer getragene wattierte Eleid, in dem man sich
auch zeigen konnte, nachdem der Panzer abgelegt worden war, also
dasselbe was Fauchet bei Daniel 1 281 gobisson^) nennt, an yßte-
ment long, jnsques sur les cuisses, et contrepoint6 , über den man
den »auber,. hauberc oder die »brugnec zog. Die Entwickelung der
Bedeutungen des Wortes casaque geht dann ihre eigenen Wege : Da-
niels Ausdruck [irgendwo] >au lieu de casaque un mandiU will ich er-
wähnen, weil der Zusammenhang der mir jetzt unfindbaren Stelle
lehrt, daß die casaque schwerer als der mandil ist: sonst verweise
ich auf das von Daniel 2 158 Beigebrachte, und erwähne, daß ca-
saque auch geradezu Soldat ist : d'Aubignä bei Daniel 1 343 schreibt
>les casaques cramoisies et blanches se s6parirentc. Wer sich ge-
nauer über das xiXriiut bei den Alten unterrichten will, lese die Ab-
handlung des Papadopulo Vretos in den mömoires des savants Stran-
gers der nouvelle academic des inscriptions vom Jahre 1842.
Da es für kleine Leute immer räthlich ist, an den durch allge-
meine Bewunderung der Menge gegen die Kritik gesicherten großen
Gelehrten nicht vorbeizugehn, erwähne ich, daß FDiez das nach meiner
Ansicht aus casaquin = Ju^tj^ verstümmelte casaque unter casacca
Yoncasa »Htttte« ableitet: eine lange Ueberjacke wäre also ein>Hütt-
1) Gamboison NdeWailly zu Joinville Seite 463, gambeso und dessen Neben-
formen bei DuCange 4 20' 21 ^ gonblg mit der Mehrheit ganlbi^ = jubon, ve-
stido naevo mein Pedro de Alcala 280' 8. RDozy hat im Supplement 2 228'
dies gonbi^ als jLJLä erkannt, und das spanische gambax [schreibe gambaj] da-
neben gestellt : gamboison nennt er in seinem gelehrten Artikel nicht. PdeGayan-
gos (bei Diez^l55 citiert) hatte, ohne Nutzen für ASchultz das höfische Leben
2 32, gambeso für ;LaJL£ erklärt. Die Endung >on« ist ebenso falsch zugesetzt,
wie die Endung »in« aus casequin falsch weggelassen worden ist. Was ASchultz
2 42 gibt, bedarf wohl noch näherer Prüfung, ebenso, nur in anderer Weise, was
PhCluver bei DuCange 4 21' Mitte sagt. ThYatke besprach unlängst in seinem
höchst interessanten Buche Culturbilder aus AltEngland 261 das Doublet, das
bombasted = gefQttert war, und zwar mit mehreren Pfunden »bombast«. Bei
DuCange 4 21' trifft man gambesatus im Sinne jenes bombasted, aber — wie ich
glaube, irrthümlich — mit gambeso in Verbindung gebracht. Auf jeden Fall ist
unser Bombast aus jenem englischen Worte zu erläutern. Guiot de Provins hat
sich, als er Bible 1688 [San Marte Parcivalstudien 1] f^ves & tout le gainbais
schrieb, nicht träumen lassen, da£ er jLaä verwendete.
302 Qött. gel. Anz. 1887. Nr. 8.
leio« oder »Httttchenc: ich bin in Luthers and BAaerbacbs Schriften
nicht genng zu Hause, um zu wissen, welches Diminutivsuffix ich
als guter Deutscher hier anzuwenden habe. Uebrigens hat Diez diese
Weisheit aus Menage abgeschrieben, der die Meinung Labb^ anftlhrt,
casaque stamme entweder aus sagum oder aus casa. Etwas mehr
Gelehrsamkeit als diesem Liebliuge der »Neusprachlerc zur Verfü-
gung stand, würde ermöglicht haben, Philo zur Unterstützung zu ci-
tieren. Zu Anfange der Schrift nagl g^W t&v slg &v6iag (2 238
Mangey = 573, 8 Tourneboeuf) sagt Philo aly&v Tcal tQl%eg xat do(fai,
öwvipaLvöiisvai xb xal ffvQQajctöiisvaij ipoQiftal ysyivMiv bSomdQoig
oixiaty xal (idXiöta rotg iv ötQatsiaig^ o9g i^o xöXemg iv i)%atd'(fGi
SicctQißsLv ivayxd^ovöLv at xQstac tä noklA. Theologen kennen diese
Stelle und die entsprechende des Isidorus origines t^ 21 aus dem
dictionary of christian antiquities 1 293: bei Kraus 2 205 findet
man Philo wie in jenem dictionary citiert, und einiges Neue.
Usäma jagt öfters den j^*^.y also den "ymn^ Deuteron. 14,5
Begn. y 5,3. In den gesammelten Abhandlungen 52 hatte ich vor
21 Jahren aus Moses Korena5i 615, 10 jmJhjpuiStmii angeführt, und
juidhjp = niüTT) gesetzt: ich hatte 1877 in den armenischen Studien
§ 1546 aus dem y gefolgert, daß )99XLm^ in GHoffmanns Glosse 4448
in fiQxiw^ umzuschreiben sei. Daß davon trotz meiner Register in
dem 1879 erschienenen Buche des Herrn Hommel »Namen der Säuge-
thiere bei den südsemitiscben Völkern« 333 392, in Gesenius-Mtthlau-
Volck ®, von PSmith und RDozy keine Notiz genommen wird, ist en
rfegle: Herr Hommel hat das Verdieust, zuerst auf CRGonders Teot-
work in Palestine 1 172 verwiesen zu haben: darum nennen auch
die Herren Mtthlau und Volck ^ den Herrn Hommel, und nicht den das
Entscheidende bringenden Conder selbst. jkixL^ ;)^*^- EWslb aus Ni-
sibis (meine Praetermissa) 42, 64. Jene Stelle des Moses Korena5i
mögen die Herren in der Whiston, mit einer lateinischen Uebersetznng
versehenen Ausgabe 366 nachlesen, und aus dem Venediger Wörter-
buche die schon von LaCroze gebrachte Thatsache kennen lernen,
daß j«"%/» lob 39, 1 tQayelaipogy Deuteron. 14, 5 6pv| wiedergibt
daß es bei Moses Korenasi ß 78 [Whiston := 81 Seite 163, 8 Ve-
nedig 1843] vorkommt, wo neben jutJhi,ftmg die Varianten jitfi/iui./Nu^
und juiJopttig^ und bei Philo Exodus ß 101 [Seite 533 Aucher].
Durch Gonder wissen wir , daß der jy^-^. noch heute in den Waldun-
gen des Garmel lebt, durch Usäma (141,4 6 158,1 3 161, 2), daß er
im zwölften Jahrhunderte in Goelesyrien und Mesopotamien gejagt
wurde, durch die Armenier, daß sein Name auch ihnen bekannt war,
durch Begn. 7 5, 3 endlich , daß er in Salomons Tagen neben bnit
und ^yi als tägliche Speise genannt werden konnte, das Reh neben
Noaveftox m^aages orientaux. 303
dem Hirsche und der Gazelle: ich bin »einer, der nicht Zoologe Bein
will«, mithin mit Fuge für seine vielleicht gegen die Titulaturen der
Zoologen begangenen Verstöße denunciiert werden darf. Das sind
nicht bloße Notizen: wer eine Ahnnng von vergleichender Grammatik
der semitischen Sprachen hat, wird einsehen, daß die Verbreitung
eines Wortes der Form J^üb interessiert: wer IGuidis Aufsatz della
sede primitiva dei popoli semitici (1879) und des verstorbenen Rut-
gers Buch de echtheid van het tweede gedeelte van Jesaja gelesen
hat, wird wissen , was aus der Localisierung eines Thiernamens —
unter Umständen — für die Geschichtsforschung sich ergibt.
yu> (Usäma 92,18 160,7 und sonst) hätte von Herrn Dären-
bonrg in seiner »Note« genannt werden müssen, da es als sacre und
sagro in die romanischen Sprachen übergegangen ist. SBochart hie-
rozoicon 2 2, 19 [dritter Band 267, 53 Leusdens, 1692] hatte das ro-
manische sacre sagro als ß^ erkannt, was GMenage annahm, En-
gelmann-Dozy 338 billigten, FDiez ^ 279 in der für ihn charakteristi-
schen Urtheilslosigkeit ablehnte. Ohne von Diez zu wissen, folgte
ihm SFränkel, die aramäischen Fremdwörter im Arabischen 115/116,
unter Berufung auf VHehn, Kulturpflanzen und Hausthiere ^ 495 (er
citiert »537«). Pedro de Alcala 166 ^ 29 zeigt m in Spanien.
Wollte nicht Herr Hehn , bevor er lateinisches »sacer« und deutsches
»Weibe« als »Uebersetzung« von U^aJi [^f&f, meine Reliquiae iuris
eccles. graece xxiv!], und jenes »sacer« als Original von yüo an-
spräche, lieber erst »sacer = Weihe = f£^|« aus alten Texten belegen,
und untersuchen, ob mit Falken zu jagen europäisch oder asiatisch
ist? losephs von Hammer Falknerklee zu studieren wäre rathsam,
mindestens um aus xxij des Buches zu lernen, daß Abulfidä 5 376, 2
(Reiske) yU/d und .Jüd unterscheidet, also jki^ = jäJuM, was nicht
persisch, sondern altaisch ist (chinesisch song eulh), mit yuo nichts
zn schaffen hat. Auch was Langlfes zu Chardin 8 128 und Quatre-
m6re zu Makrfzts Mamlouks 1 91 — 95 anmerkten, muß kennen wer
über Juo und ^J^ mitreden will. Wäre yu^ nnsemitisch, so dürfte
das türkische ß^ (Meninsky ^ 2 306 % immer noch eher als »sacerc
sein Original sein, da die Sitte mit Stoßvögeln zu jagen aus Hoch-
Asien stammt: ^c^yL^ Hammer Falknerklee xxiv. Svy%ov(fiov.
Noch erwähne ich, daß Usäma 142, 6 160, 13 und sonst den
vj^AL, also nieX's&iuli, in Syrien jagt (meine »Mittheilungen« 2 16),
und daß er 141, 7 bei Paneas einen v'^P^ ^^^ einem Baume sitzen
siebt (die Endung, meine Semitica 1 46) : ich gedenke des ^J^j v^
Usäma 92, 18 156, 2 166, 11 und sonst, den RDozy Supplement 1 594 ^
nicht belegt, und der als {ayigiov (DuCange 455/466) bei den By-
zantinern, als sarap^ bei den Slaven umläuft: siehe die Urkunde in
304 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 8.
PJ^afariks ^) slaviscben Alterthümern 2 692, 1 der deutschen lieber-
setznog. Ausdrttcklich bemerke ich, daß Usäma 156, 2 diese Hunde
ans griechischem Gebiete kommen läßt, daß also, trotz des t, ^ayi-
Qiov oder aber das angeführte slavische Wort fflr das Arabische die
Vorlage ist. Die Urkunde Safariks ist vom äußersten Interesse fttr
das in meinen > Mittheilungen« 2 72 73 Besprochene: das ^ayi^wv
gleicht in ihr den Tataren. Uebrigens ist das ttlrkische ^ Meninsky '
8 150 ^ als das Original des slavischen, zu den Byzantinern und von
diesen zu den Arabern gewanderten Wortes \^U^\ anzusehen. J^y ist
nach Hammer, Falknerklee xxiv, Windhund, nicht Spürhund ^). Herr
Hommel schweigt.
Unverständlich ist mir, wie Hartwig D^renbourg so oft (106, 14
148, 5 8 15 17 und sonst) jaj^ hat drucken können. Der Herausgeber
des Stbawaihi weiß natürlich Vieles was ich nicht weiß : aber wo ich
in meinen Hülfsmitteln suche, fehlt l;b, und erklärbar ist es mir
auch nicht, während ^Ll alltäglich, und wie jb^^ gebildet ist. Bei
.y darf man natürlich nicht, wie Freytag 1 172 ^ thut, an^lf »Freunde
denken : FSmith 504 belehrt uns unter yLp [Elias aus Nisibis 8 »=
22, 86 meiner Praetermissa], daß J^ja aus ^bjL verderbt sei : Quatre-
mfere Makrizi 1 ^ 251 gibt nicht genug : etwas mehr steht in meinen
gesammelten Abhandlungen 21, vgl. die armenischen Studien § 316.
Ich denke, Hartwig Derenbonrg werde auf die Wichtigkeit sei-
nes Usäma genügend aufmerksam gemacht finden: die das große
Wort führenden Rationalisten und » Darwinisten c unter unseren mit dem
Morgenlande beschäftigten Gelehrten dürften vielleicht zugeben, daß
ein Theologe, itoXka %kay%%'£lg aväyxyj in aller Eile wandernd, am
Wege manches aufliest, was ftlr die Vertreter anderer Wissenschaften
von einigem Werthe ist.
Ich wende mich jetzt zu dem Aufsatze des Herrn OHoudas sur
r6criture maghräbine.
Dem Herrn Hondas gilt als eine nach den Untersuchungen Sacys
unumstößliche Wahrheit, daß man sich schon im Jahre 600 in den
arabischen Kanzeleien der Nas^iSchrift bedient hat: aber auf den
hohen Schulen des Islam, meint Herr Houdas (88 oben) habe man
das Näslet nicht vor der Reform des Ihn Muqla in Gebranch ge-
nommen : auf der Universität Qairnwän (die Stadt Qairuw&n hatte
Uqba [Weil, Geschichte der Chalifen, 1 283 284 286 287] im Jahre
55 der Flucht [T&qfit 4 213, 15] gegründet), auf der Universität
1) BeUftnfig merke ich für Slavisten an, daB mir das vonMiklosich im Jahre
1850 verzeichnete sepRl, das auch als 3'BRp'B und aCRp'B auftritt, ^dylmmot^
das arabische ^«^1 zu sein scheint.
2) Aber bei DuCange: tä (ayd^nt ra dy^j^vtvorta tiiy oHfAf^v ruip nt^dintfa^.
NoQTeanz m^anges orientaoz. 306
Qairaw&n sei noch am 909 (89 Mitte, 91 Ende) das Edft der alten
Oelehrtenwelt geschrieben worden, nnd ans diesem allmählich der
von uns maghrebinisch genannte Ductus entstanden: in Qairnw&n
müsse man chercher les formes primitives de Fäcritare employee dans
tont le Maghreb (87 Ende).
Ich schiebe hier ein, daß die Brttder Ihn Maqla — man weiß
nicht genan, welchem der beiden die Einführung der uns geläufigen
arabischen Schrift verdankt wird — um 925 blühten: der Aeltere
lebte von 886 bis 940, der Jüngere von 892 bis 949: ich erinnere
daran, daß Ihn al Baww&b das Werk des Ihn Muqla noch verbes-
sert hat: Slanes Uebersetzung des Ihn Kallik&n 2 282 331 8 270.
Ueber den u^^^MOlt ,b^, den MacGuckin nicht zu deuten wußte, jetzt
BDozy Supplement 3 665 : schon EGastle heptaglottum 2327 hätte
nicht zu verachtende Dienste geleistet
ThNöldeke, Geschichte des Qorans^) 329, hatte 1860 demNaskt
1) Als ich, um dem Herrn Hondas in keiner Weise Unrecht zu thun, dies
lange nicht zur Hand genommene Buch wieder einmal durchlief, traf ich am,
Rande der Seite 270 die Behauptung, das hebräische und aramaeische *^ habe
>wie die mit Suffixen verbundenen Formen zeigen, eigentlich ^*|y« gelautet. Hätte
Herr Nöldeke dies bedacht, als er gegen meine Deutung des Wortes bK zu Felde
zog, so würde er sich und mir das in meinen Symmicta 2 101 — 103 Auseinander-
gesetzte, und sich eine groBe Niederlage erspart haben. Meine Probe einer neuen
Ausgabe der lateinischen Üebersetzungen des alten Testaments 48: die dort von
mir gegebene Deutung des ji^ findet ihre Bestätigung durch ein von Herrn
SFränkel, die aramäischen Fremdwörter im Arabischen 131, nicht verstandene
Vokabel. qU »Pflugsterze hat mit ^ taaifOQ {mJluU armenische Studien § 71)
nichts zu schaffen : es stammt von ^ wie j^^ von ^t , wie TytD von ;^^y.
Wenn Nathan 1(^^ = 1HQ =» HK setzt, so hat er, ohne es zu wissen, die he-
bräische Yocabel richtig aufzufassen gelehrt, und der Regn.a 13,21 stehenden
Vocalisation zu Gunsten der bei Isaias 2, 4 und sonst vorkommenden den Garaus
gemacht. nM gehört zu XMH ▼^e qU zu ^\: vergleiche meine Mittheilungen 1
64—68. Das syrische ^ (Gastellus-Michaelis 771) wird für ^uo stehn, und =
rp^ sein: Elias in meinen Praetermissa 27, 15
9PH ist nach lulius Pollux a 252 to cr^ovi^ [tdv dffotQov] oxfif^cov, fast genau das,
was die Araber qU, die Hebräer nM nennen — Ableitungen der Wurzel ^^^ :
Geopon 8, 14 entspricht Jj^ haeo dem wtt des Originals ß 23, 14. Unmöglich
wäre nicht, daS vph mit qU und fy^ ss j^k"* desselben Stammes wäre, dann
nämlich nicht unmöglich, wenn die eisernen Pflugschaaren einmal nicht in Hellas
verfertigt, sondern irgendwoher durch semitisch redende Händler nach Hellas ge-
bracht worden wären.
Es sei gestattet, Herrn Fränkels Buch an Einer Stelle 'aus Castles Hepta-
glottom zu verbessern, um, ich weifi nicht zum wie vielsten Male nutzlos, auf
Castles Werk hinzuweisen. Herr Fränkel nennt 277 ^^yti^ »ein sehr schwieriges
Wort«, und erkennt darin »flosA«: »wieso aber grade das Osterüest speciell das
„Gebet*' genannt wurde, weiB ich nicht zu sagen«. ^2{^ verdankt sein g
a«tt. gel. Au. 1887. Nr. 8. 22
306 Odtt. gel. Anz. 1887. Nr. 8.
nachgesagt, daß man es schon vor dem Ende des vierten Jahrhun-
derts der Flucht, also vor 1009, »zum Bttcherschreiben nnd im ge-
meinen Leben« gebrapcht habe. Die arabischen Tafeln der Oriental
Series der Palaeographical Society zeigen Nask! (5) in einem Passe
des Jahres 750, (96) in einem Exodas des zehnten Jahrhunderts, (96)
in einem 960 zu Mosul vollendeten Exemplare des (^JoJtlt^ ^3Uüt v*^*^)
(60) in einem 974 zu Samarqand geschriebenen \^Si\ q1^«> AlFara-
bis, (60) in einem 990 zu Bagdad gefertigten Diwane des Abu 0älib,
(21) in einem 993 in Aegypten kopierten Lucas, wie sie Efift (19)
in einer Genealogie des achten Jahrhunderts, und sogenanntes kufi-
sches Nask! allerwärtsher, und durchaus nicht nur in Koranen, vor-
führen.
Herr Houdas hat die Darstellung der Schriftgeschichte nicht ge-
kannt, die Herr von Eremer in seiner Kulturgeschichte des Orients
unter den Chalifen 2 313 bis 315 schon 1877 gegeben hat: was in
einem allerdings nicht gut redigierten Satze Herr von Kremer 314
behauptet, entspricht meiner eignen Anschauung von der Sache:
'»Spanien, das politisch vom Mutterlande getrennt war, bewahrte sei-
nen eigenen Schriftzug , der sich bis jetzt in WestAfrica erhalten
bat«. Es wird Herrn Houdas nicht schwer fallen, was Herr von Kre-
mer beigebracht hat, und das, was ich gleich beibringen werde, zur Er-
gänzung seiner eignen Darstellung zu benutzen, da er 87 (99) aner-
kennt, daß Qairuwän der Sitz der Mälikiten gewesen, und daß von
Qairuwän aus die M&likiten den ganzen Westen, auch Spanien, so-
weit dies dem Isl&m anhieng, für ihre Rechts* und Glanbensanscbau-
ungen gewonnen haben.
Die Iren schreiben noch heute als nationallrisch die im Wesent-
lichen auch den Angelsachsen einst geläufigen Buchstaben (über de-
ren Herkunft ich nichts ausgesagt haben will), weil ihnen keine nor-
mannische Eroberung, wie 1066 den Angelsachsen, normannisch-fran-
zösischen Ductus gebracht hat. Den Besitz sogenannter maghrebini-
scher Schrift dankt der Westen nicht Qairuwän, sondern dem Um-
stände, daß im Maghreb Umayyaden weiter herrschten, als im Osten
allerdings dem Glauben, daS es von )x:d = Uu herstamme: in Wahrheit ist die
Wurzel v£>ju, die ECastle 404 reichlich belegt.
Erpen Galat. 1, 1 ol^^^t ^^ q« ^JJu ^yttgw avtoy i* ytxgtui^,
„ Corinth, a 15, 4 15 16 Goloss 2, 12 e^juit ny^e^ij.
Polygl. Act 4, 38 28, 6 Rom. 1, 4 v^ljuit aVairfacr*^
e^wJbJI 1^ {\iyju aya<naffts Erpen Hebr.6, 2) MI Nacht 4 889, 11 [Habicht]
Auferstehongstag : ich bemerke , daS schon Castle (mit falschem Citate) sich auf
den Qoran berufen hat, aus dem mit der Hülfe Willmets und Flügels ^^^^jlJI p^
[22, 5] 80, 56 wie Ctytu.!^ 6, 29 zn nennen ist.
Nonveaux melanges orientanx. 307
die Abbasiden das Scepter ergri£fen hatten. Daß die im Westen re-
gierenden Umayyaden gerne eine der in dem ihnen feindliehen Osten
angenommenen Rechtsauffassung entgegenstehende Theologie und
Jurisprudenz, so zu sagen als Staatstbeologie und Staatsjurisprudenz,
unter sich wirken sahen, war — beweisen kann ich es nicht —
selbstverständlich: so brutal war der Staat damals noch nicht, nicht
in der Idee, die er freilich schon anbefahl und aufzwang , das den
Staat Zusammenhaltende zu erblicken. Die im Grunde von vorne
herein unmögliche Gemeinsamkeit der Entwickelung der islamischen
Länder wurde 750 durch die Schlacht am großen Zab in aller Welt
Augen unmöglich gemacht. Von Marwän des zweiten Nachfolger an
entwickelten sich die beiden Hälften des Gebiets selbstständig. Ana-
log erwuchs später eine persische Schrift, als Erän nicht mehr im
Machtbereiche des von kräftigen Abbäsiden beherrschten Bagd&4
lag. Ich sollte meinen, daß auch das türkische Reich einen eigenen
Scbriftzug hervorgebildet habe. Kann man doch sogar, was heute
im Königreiche Sachsen zu Papiere gebracht wird, noch in unserer
Alles gleich machenden Zeit auf den ersten Blick als königlich säch-
sisches Schriftstück erkennen.
Man wolle mir nicht verübeln, daß ich hier auf zwei mich als
Theologen — denn etwas anderes bin ich nicht, und mein Interesse für
alle Dinge hat seinen Mittelpunkt in meiner Theologie — daß ich
auf zwei mich als Theologen interessierende Thatsachen aufmerksam
mache.
Dem Ezdras wird ^) nachgesagt, er habe den Canon der Juden
aus Einer Schriftart in eine andere umgeschrieben. Sollte Ezdras dabei
von etwas Anderem als dem Wunsche geleitet worden sein, das jüdi-
sche Volk von den stammverwandten Nachbarvölkern zu scheiden?
Dieses Streben, zu trennen, bat ja in der Speisegesetzgebung bereits
IDMichaelis erkannt: Gesammtausgabe meiner deutschen Schriften
32Ö. Ich habe schon als Religionslehrer der Untersecunda am Werder-
schen Gymnasium, nachher in Göttingen in meinen Vorlesungen über
die Genesis und in der Einleitung in das alte Testament regelmäßig
gezeigt, daß im Hexateuche der durch das Labyrinth leitende Faden
der Bericht darüber ist, wie von Gott immer wenigere Erwählte aus
dem Menschengeschlechte ausgesondert werden, und wie in Israel
selbst schließlich die D^^V^nfi oder Pharisäer, »die Ausgesonderten c,
»sieh Aussondernden € als Endpunkt der Entwickelung erscheinen:
ich meinte damit zu erweisen, daß die Entstehung des Hexateuchs
als eines Ganzen in die Zeit der Entstehung des PharisäerOrdens
1) Origcnes in meinem novae psalterii graeci editionis specimen 9^.
'•,•»■
308 Oött. gel. Ans. 1887. Nr. 8.
falle. In den Znsammenhang dieser von mir lange ehe 1869 Qraf
seinen bekannten Aufsatz in des Herrn Herx Archiv schrieb, öffent^
lieh und privatim geschilderten Anschaaungen scheint mir zu pas-
sen, daß der damals Israel leitende Mann die innere Scheidung aach
mit dadurch äußerlich anschaulich machte, daß er eine neue Schrift
einführte : diese Schrift mußte nattlrlicb von des Ezdras Hanptgegnern,
den Samaritern, abgelehnt werden. Der »Epiphanius«, der über die
Edelsteine des Hohenpriesterschildes schrieb, nennt 21ö, indem er diese
Aenderung der von GHoffmann in des Herrn Stade Zeitschrift 1 334
— 336 aus fTi (meine armenischen Studien § 2274') erklärten dees-
sion- oder deessenon- in die somahirenus-Schrift (ich deute n'^lni'ö ^fib)
berichtet, den Ezdras »volens discernere Israel a relliquis gentibus,
ut genus Habrahae non videretnr esse permixtum cum habitatoribus
terrae«. Nun, der Erfolg hat des Ezdras Werk gekrönt: die Schei-
dung ist noch hente, nach 2350 Jahren, vollkommen.
Nicht so geflissentlich hat man die Schrift in Syrien geändert:
allein daß syrische lacobiten anders als syrische Nestorianer schrei-
ben, kommt deutlichst davon her, daß lacobiten und Nestorianer sich
getrennt von einander gegen den Tod wehrten').
*
1) In des Herrn ThNoeldeke syrischer Grammatik § 1 steht aber die sy-
rische Schrift nicht Alles, was man dort über dieselbe gesagt erwarten moBte:
einigermaßen orientiert HerrRDnval in seinem zweiten Kapitel. Es wäre immer-
hin hübsch gewesen, wenn Assemanis BO 3' 878 mit ihrem Berichte über JUL^'«^£d)
= mQoyyvhi und I^^^jl^ )j,*«flD (der lacobiten und Maroniten), wenn desselben As-
semani BO 2 352 Auszüge über den 1299 die seit hundert Jahren auf dem \q^
xf>^ ill Abnahme gekommene »Estrangelo« Schrift erneuenden lohannes von Qar-
tamtn auch Anföngern genannt worden wären: wir sollen von den Studierenden
doch nicht Glauben heischen, sollen sie unter keinen Umständen aus anderen als
den ersten Quellen trinken lassen. Für die beiden Grammatiker der syrischen
Sprache, die am 30 September 1880 und 1881 erscheinen ließen, würde es sich
vielleicht empfohlen haben, von den von mir am 12 Juni 1879 herausgegebenen
Praetermissa 95, 78 — 96, 81 Kenntnis zu nehmen, in denen von den sieben
Schriftarten der Syrer die Rede ist: dieselben heiften l>^.u>, l^vao, (x^ffio, jL;^)
[Briefschrift? Fihrist 1 16, 19], i\o;yip), )i5&..s^ und (von einem Kloster J'«»^)
jA^^n^ )1V^. Mit dem beregten Abschnitte ist PSmith 804 2739 zu vergleichen.
Nicht einmal, wenn von persönlichen Freunden der tonangebenden Leute auf
die von mir herausgegebenen Urkunden ausdrücklich aufmerksam gemacht wird,
nimmt man von diesen Urkunden Kenntnis: mit meinen sogenannten Ansichten
möchte man in seiner Selbstgenügsamkeit meinethalben verfahren wie man verf&hrt.
GHofiinann hat im literarischen Centralblatte 1879, 1708 auf die im neunten Jahr-
hunderte geschriebene Grammatik des Isö bar Nun als die Quelle der hier in Be-
tracht kommenden, von mir veröffentlichten Nachricht verwiesen, und Khayyäth
Syri Orientales 143 citiert: Herr Nestle hat in der theologischen Literaturzeitung
1879, 539 die in Rede stehende Notiz hervorgehoben. Aber wie PSmith en rägle
nicht einträgt was ich bringe und brachte, wie Herr Budge (Nestle GK}A 1887,
Nouveaux mdlanges orientaux. 309
UDerklärt ist noch, waram gerade Aktenstficke der Verwaltang
schon 660 in Naskt geschrieben worden sind: freilich kennen wir,
so viel ich (Nicht- Arabist) weiß, nur Aktenstücke der islamischen
Verwaltang Aegyptens. Ich wage anf die Gefahr hin, in die Hände
eines Gerechten zu fallen, die Vermuthung, daß die arabische Regie-
rang Aegyptens dem Islam nicht angehörende, also christliche, Ara-
ber za Schreiberdiensten herangezogen hat: dann wäre das Naskt,
sage ich einmal nabatätschen Urspranges, das Küfi die erst allmäh-
lich häufiger angewandte plampe Schrift von Mekka ond Medtna.
1855 hat Herr FySpiegel ZDMG 9 191 daran gedacht, das awesti-
sche na^ka (= ^)umo) aas np^'^ »transcriptam« herzaleiten: er hat
den Gedanken noch 1860 in dem Bache »die traditionelle Literator
der Parsen« 438 wiederholt. Ich habe 1856, zu welcher Zeit ich
bei 38 Unterrichts- und 8 mit wenigen Pfenningen besoldeten Turnanf-
sichtsstanden — der gnädigen Ueberwachang der hohen and höchsten
Behörden hatte ich mich dabei dankbarlichst zu erfreaen — nicht
in der Lage war, viele Bttcher zu lesen, ohne von des Herrn von Spie-
gel Aeaflerung zu wissen, in den Beliquiae iuris ecdesiastici anti*
qoissimae graece ix gefragt, ob iCJcw3 = l^coo^ und das zo diesem
gehörende awestische na^ka nicht ägyptischer Herkunft seien: wie
sich ii«.|g^r za na|o^, aaor^ zu jjlk«.^, ^^z^ ^^ n^oT- verhalte (ich
schrieb damals »ortum est ex«), könne ein ni^csS nocs6 aus c&j6 cj6«j
entstehn: nciu;6i-e&oA iipavrög sei belegbar. Da GHoffmann ZDMG
32 760 Spiegels und meine Aeußerungen übersehen hat, soll Herr
^Fränkel (die aramäischen Fremdwörter im Arabischen, 251) ent-
schuldigt sein, wenn er von Herrn von Spiegel und mir nichts weiß,
zumal er dadurch, daß er nnoiS ans einer nabatäischen Inschrift nach-
weist, meine unabhängig von dieser Thatsache gemachte Vermuthung
bestätigen hilft, daß Naskt die arabische Schrift bedeutet, wie Naba-
täer sie im Rohre hatten. Ueber die Nabatäer lese man Noeldeke
ZDMG 25 122—128. Nabatäer konnten 660 in Aegypten sehr wohl
von den harthändigen Raufbolden des Isl&m als Schreiber angestellt
werden: nach Qairuwan ist kaum je ein Nabatäer gekommen: dort
maßten Uqbas Soldaten sich helfen, so gut sie es vermochten, und
208 209), ein Schüler WWrights, meine Praetermissa, Fragmenta und Materia-
lien nicht kennt, Bücher von denen in Cambridge mindestens siebenzehn Exem-
plare vorhanden sind, so schweigen die Herren Noeldeke und Duval über die ein-
zige ausdrückliche ältere Angabe über die syrische Schrift , die es gibt , da ich
sie zugänglich gemacht habe. Wenn ich dem Herrn Roensch nicht meine Gene-
sis seiner Zeit als Geschenk in das Haus geschickt hätte, würden er und seine
Gehülfen nie gemerkt haben, was in dieser Genesis für das Buch der lubiläen
steckt
810 Gott. gel. Ans. 1887. Nr. 8.
deshalb schrieb man im Maghreb die den n'ittnoia der Nabatäer
fremde plampe Eoranschrift, das Eüft.
Außerordentlich geistvoll ist es, am dies beiläufig zu erwähnen
— die Semasiologie der semitischen Sprachen wird noch lange unge-
schrieben bleiben — , daß ;^^\ nicht allein Abschrift, sondern auch
Seelenwanderung und Plagiat bedeutet. Nur muß man das cum grano
salis verstehn. Meine Seele wenigstens ist nicht in natura in die-
jenigen ttbergewandert, die meine Arbeiten abgeschrieben haben:
die ihr da zur Verfügung gestellten Lokale wären ihr zu unsauber.
Die Bedeutung Plagiat belegt BDozy aus Mehreus Bhetorik der Araber
146 199: fc^^' »einer der die fiBxsiiinixmöLg lehrt« ist aus Pocockes
Specimen 219 und ^ahrastäni 249,15—250,2 433,13-15 449,7
bekannt genug: ^Llj Gurgänt oU^yü 72,3. Besser freilich (ikstav-
6(D(uka)6ig als {utsfif'öxaiötgj Clemens von Alexandrien 217, 38
268,51/52 Sylburgs.
Ich führe als weitere Bestätigung meiner Ansicht von der Ent-
stehung des Nas^i und des Eüft, die ich als verschiedenen Gegenden
entsprungen betrachte, den Werth an, den in ihnen die Buchstaben
als Zahlzeichen haben. Die Formel lautet nach FvDombay, gram-
matica linguae mauro-arabicae 6, hinter ^^JS im Maghreb ^jakM^
^Jkäis iX^ y^yanj , während das Naskt ^^ Ä^ v£>u&J ^jasüLm hat.
Das heißt, es bedeutet
im Naskt y» 60,
magrabiniscb 300 :
{jo 90,
60:
0» 800,
90:
Jb 900,
800:
t 1000»
900:
ja, 300,
1000:
Auch für die vergleichende Grammatik der semitischen Sprachen
ist die Thatsache wichtig. D (meine Mittheilungen 1 68 69 152) wird
im Naskt durch (^, im Küft durch o? vertreten, f dort durch yo,
hier durch ^, 10 dort durch ^, hier durch ^: im Efift ist ^^ ein
neuer, im Nasl|^t ein alter Laut. Der für die Geschichte der semi-
tischen Schrift erheblichen Verschiedenheit weiter nachzugehn, ist
nicht dieses Orts.
Herr Hondas macht 96 darauf aufmerksam, daß das Efift avec
un qalam en pointe, das Nas^i avec un roseau geschrieben werden
mttsse, dont Textr^mitd präsente une section rectiligne taili^e en
biseau et k arStes vives. Noch heute sind nach ihm im Maghreb
les roseaux taillös en pointe, während im Osten le qalam a un bec
plat et taillä en biseau. Herr Hondas versichert 98, im Maghreb
könne man sich die ftir die Nas^ischrift nöthigen Rohre gar nicht
Noayeanx melanges orientaux. 311
verscliaffen. Man bescbaue den biseaa anf Herbins von Herrn
IPNLand Anecdota syriaca 1 wiederbolter Tafel, und lese über den
^^ß den Fifarist 1 20, 26 — 21, 5 : woza dies wichtige Bach heraus-
gegeben worden ist, habe ich bislang noch nicht erfahren: Niemand
benutzt es, und dabei steht doch nicht »PdeLagarde« auf dem TiteL
Es versteht sich von selbst, daß die Weiterentwickelung des Eüft
▼on dem Materiale abhängig ist, anf das, wie von den Werkzeugen,
mit denen es geschrieben wurde. Chardin von Langl^s 4 273 — 284.
Ich setze aus RGaldwells comparative grammar of the Dra-
vidian family of languages ^67 folgendes aus des Herrn Beames
Buch Uebernommene zur Erläuterung her: The Oriyas and all the
populations living on the coast of the Bay of Bengal write on the
Tfilpatra, or leaf of the fan-palm, or palmyra (Borassus flabelliformis).
The leaf of this tree is like a gigantic fan, and is split up into
strips about two inches in breadth or less, according to the size of
the leaf, each strip being one naturally-formed fold of the fan. On
these leaves, when dried and cut inter proper lengths, they write
with an iron style, or Lekhani, having a very fine sharp point. Now,
it is evident that if the long, straight, horizontal mäträ, or top line
of the Deva-n&gart alphabet, were used , the style in forming it
would split the leaf, because, being a palm, it has a longitudinal
fibre, going from the stalk to the point. Moreover, the style being
held in the right hand and the leaf in the left, the thumb of the
left hand serves as a fulcrum on which the style moves, and thus
naturally imparts a circular form to the letters.
Ich gestatte mir zum Schlüsse, um meinen Oönnern an einer
recht augenfälligen Stelle Gelegenheit zur Erweisung ihres Wohl-
wollens zu geben, eine Frage in Betreff des Wortes xdxvQog zu
stellen. Dasselbe ist bis jetzt, so viel ich weiß, noch nicht erklärt.
Herr von Eremer berichtete 1877 in seiner Gultnrgeschichte des
Orients unter den Ghalifen2 305 > Der Hauptsitz der Papyrusindustrie
war im Delta, und zwar in dem Städtchen Bura, einem Ettstenorte
des Bezirks von Damiette. Hier ward die Papyruspflanze, die ver-
muthlich im nahen MenzalehSee in großer Menge wuchs, verarbeitet|
und dann in den Handel gebrachte. Herr von Eremer beruft sich
auf »Ja'kuby 126 127«. Er meint des jüngeren Juynboll qIjJLJI vl^
(Leiden 1861): dies Buch des ^.^^ibu gehört in das zehnte Jahrhun-
dert Von »derot Hauptsitze lese ich in ihm nichts: die Worte lau-
ten 126, 16 vLtyul L^ j^- J^LyO JsF o^j^\ >-U J* ^^uis^ ^^ 8^50
g,^t jüt^ = und Büra, und dies ist ein fester Platz am Gestade des
Heeres, im Bezirke von Damiette : in ihm werden Eleider und xiftm
verfertigt : 127, 1 u^lyü! Ljj ^^ k^jo^^ L(J JLfi^. iubJa»^ = und [zwi-
312 Gott. gel. Ans. 1887. Nr. &
sehen y^\ Täqflt 1 166, 10 (and gelegentlich sonst) und Alexandria
liegend] die Stadt, die Wasimat heißt, in der x^if^fi^ verfertigt wer-
den. Wastm Yäqflts 4 929, 7 scheint mir der Lage nach nicht zu
passen: die amtliche Statistik des Reichs des Khedive habe ich im
Augenblicke nicht zur Hand. Aber Ein Hauptsitz der Papyrusaus-
fuhr wird Bdra sicher gewesen sein. Wer schafft den alten Namen
des Ortes? Yäqfit 1 755,17 meldet, daß nach Bfira gewisse Tar-
banbinden und gewisse Fische genannt wurden. Letztere bespricht
SdeSacy Relation de l'Egypte par Abdallatif 281 287, ÜJSeetzen
Reisen 3 497 (mugil cephalus ist ein Meerfisch: Herr Fleischer in der
musterhaft schlecht eingerichteten, registerlosen Ausgabe des wichti-
gen Werks weiß 4 517 nur Abdallatif zu eitleren), mein Pedro de
Alcala 345^ 22 pece pescado generalmente bur büri (meine Mitthei-
lungen 2 11—15, die sich schon ergänzen ließen): über die Turbanbin*
den ans Bdra sagt RDozy nichts. Konnten gewisse Salzfische und
gewisse Turbanbinden Bfirische heißen, weil sie aus Bfira stammten,
so konnte auch der aus den Rohren des bei Bfira gelegenen Men-
zaleSees gefertigte Schreibstoff als n^-ikorp..* bezeichnet werden«
n&^nori' = üatpvo'&ciog zeigt dieselbe Bildung: fitiÄ Kb = nd.«.juLox«
die dem Ammon gehörigen (= Thebäer) lehrt die Mehrheit kennen.
Wer mir gegen meinen Einfall spricht, ist kein Geringerer als Theo-
phrast, der Geschichte d 8, 2 drei Arten des Rohres nennt , Ttinvqogj
6aQi (cgo^pi? Peyron 304: j:|^o ist nach Bragsch ^oo-fq), 6 fivdffiov^.
Siehe EQuatremöre m^moires sur TEgypte 526 unter Pa usw. Bfira,
dessen B den des P entbehrenden Arabern gedankt werden wird,
scheint jetzt untergegangen : es kann ebensowohl einst bedeutend
gewesen sein, wie ^Akai6a = Halaesa auf der Nordküste Siciliens,
das als ntr^bK in der Völkertafel Sicilien vertritt ^). ^^ stammt aus
dem Griechischen.
16 März 1887. Paul de Lagarde.
1) Cum illa sit haec insulai quae undiqae exitus maritimos habeat, quid ex
ceteris locis exportatum putatis? quid Agrigento, quid Lilybaeo [^^2^77» ara-
mäisch: PSmith 1908], quid Panormo L*"^^^^, kann auch aramäisch sein], quid
Thermis, quid Halaesa, quid Catina [nr^pi aramäisch], quid....? Cicero gegen
Verres ß 75 (185).
Fftr die Badaktion ▼«tsntwortlieh : Prof. Dr. B§cktd, Direktor dar Odtt. gel. Abs.,
Aeseaaor der KfinSgliehen Geselleckaft der WieaenickAften.
Ytriag der DitUrieüCaehm ymiaot'BwMtcmdhmg.
VrMck d§r DUUn'ch'ackm Vm'v.-Bnchärudcnei (fr. H'. KaeaiMer).
y^i
V
813
Göttingische
gelehrte Anzeigen
uDter der Aufsicht
derKönigl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Nr. 9. 1. Mai 1887.
Preis des Jahrganges: JL 24 (mit den »Nachrichten d. k. G. d. Wies.«: UK 27).
(^' Preis der einzelnen Nammer nach Anzahl der Bogen: der Bogen 50 ^
IbImU: Lanpreclit, DeotsobM WirteeluifUileben im Mittelalter. — Von «. btamO'^tmtgg.
Oeering, Hendel und Indnetrie der Stadt Basel. Yen Bcheuis, — Stern, Abhandlvngen und Jkk-
tenitfteke inr Oeeebichte der preveeiecben Befomueit Von FüimUer. — Cbristle, Tbe Diary and
Correependenee ef Dr. Jobn Wortbington. Yol. I. Part II. Von 8t§m,
= EifiaMiohtIger AMrnok von Artikeln iler 60tt. gel. Anzeigen verboten. =
Lamprecht, S[arl, Deutsches Wirtschaftsleben im Mittelalter.
Untersachungen über die Entwicklung der materiellen Kultur des platten
Landes auf Grund der Quellen zunächst des Mosellandes. I. Band : Dar-
stellung. XYI und 1640 S. n. Band: Statistisches Material. Quellenkunde.
X und 784 8. m. Band : Quellensammlung. X und 608 S. Mit 18 Karten.
Leipzig, Verlag von Alphons Dürr, 1886.
Das von langer Hand vorbereitete, von den Freanden des Ver-
fiuBsers und der von ihm gepflegten Stadien mit lebhaftem Interesse
erwartete Werk liegt nunmehr in drei Bänden , von denen der erste
vneder in zwei starke Halbbände zerfällt^ abgesohlossen vor. Mit
seinen mehr als 3000 Seiten ist es schon ganz äußerst genommen
eine imposante Erscheinung; wie sie nur äufterlich selten mit einem
Male und von einem einzigen Autor herrtthrend auf dem Bücher-
märkte vorkommen mag, und gibt in dieser Art Zeugnis von der
Leistungsfähigkeit; aber auch von dem hingebenden Interesse einer
deutschen Verlagsfirma für ein großartiges wissenschaftliches Unter-
nehmen. Mit seiner auf vieljähriger Sammlung, Durchforschung und
Gliederung eines ungeheuer reichen Materials beruhenden Vielseitig-
keit, Reichhaltigkeit und Vertiefung in alle wissenschaftlich wichtigen
Probleme der mittelalterlichen Wirtschaftsgeschichte innerhalb des
der Arbeit gesteckten Rahmens ist das Werk ein höchst ehrenvolles
Zeugnis deutschen Fleißes, deutscher Qrttndlichkeit und Umsicht
verbunden mit hoher geistiger Kraft, die an dem schweren Werke
OAtt. gel. Anz. 1887. Nr. 9. 23
ÖU Oött. gel. Änz. 1887. No. d.
nicht erlahmt und sich den vollen Umblick nnd Ausblick nicht trü-
ben läßt darch die Fülle der konkreten Tbatsachen und die Massen-
haftigkeit des sich herandrängenden Materials. Mit seiner von inni-
ger Verehrung und Dankbarkeit diktierten Widmung an den Geheim-
rat Dr. jur. Gustav von Mevissen, Mitglied des preußischen Herren-
hauses und des Staatsrats, den unermüdlichen und opferwilligen För-
derer und Berater des ganzen Unternehmens, ist das Werk ein schö-
nes Denkmal gemeinnützigen Sinnes im Bereiche der Wissenschaft,
das um so freudiger begrüßt, um so höber geschätzt zu werden ver-
dient, als sich so großartige Opferwilligkeit gerade auf diesem Ge-
biete in Deutschland bisher leider noch selten bethätigt hat Und
mit der energischen und zielbewußten Art endlich, mit welcher diese
drei Faktoren des Werkes, Gönner, Autor und Verleger, jeder seine
ganze Kraft für die Lösung des wirtschaftsgeschichtlichen Problems
eingesetzt hat, liefert das Werk den lebendigen und höchst wirksamen
Beweis von der Notwendigkeit und Wichtigkeit der wirtschaftsgeschicht-
lichen Durchforschung des deutschen Volkslebens wie der historischen
Nationalökonomie überhaupt, und zeugt von der Fruchtbarkeit der
Anregungen, welche die zu neuem Leben erwachte wirtschaftsge-
schichtliche Forschung schon jetzt dem Studium der Geschichte wie
der Nationalökonomie gegeben hat. Es sind aber auch gerade bei
Karl Lamprecht die beiden Qualitäten des Historikers und des Na-
tionalökonomen in einer Weise entwickelt und in eins verschmolzen
wie nicht leicht bei einem zweiten der jetzt lebenden Forschen Wie
er sich schon in seinen »Beiträgen zur Geschichte des französischen
Wirtschaftslebens im 11. Jahrhundert« (Schmollers staatswissenschaft-
liche Forschungen I, 3, 1878) für dieses Gebiet gleichsam präde-
stiniert bewährt hat, so zeigen ihn auch seine zahlreichen späteren,
zumeist in rheinischen Zeitschriften enthaltenen Arbeiten ebenso sehr
als gründlichen Kenner und selbständigen Kritiker der deutschen Ge-
sehichtsquellen wie als geschulten Nationalökonomen und Socialpoli-
tiker; ja es läßt sich wohl sagen, daß er es verstanden hat, seine
eigne wissenschaftliche Wirksamkeit gleichsam zu einem Central-
und Sammelpunkt der ganzen wirtschaftsgeschichtlichen Arbeit in
Deutschland zu machen; ihm verdanken wir zunächst die muster-
haften und schon ganz unentbehrlich gewordenen Jabresttbersichten
über die Fortschritte der deutschen wirtschaftsgeschichtlichen For-
schung, welche er im Verein mit Höniger seit einigen Jahren in
Conrads Jahrbüchern für Nationalökonomie und Statistik publiciert
und womit er den Ueberblick über die noch immer sehr zerstreute
Litteratur nnd dadurch zweifellos auch den einheitlichen Fortschritt
dieser ganzen Richtung wesentlich gefördert hat
Lamprcctit, Deutsches "Wirtschaftsleben im Mittelalter. 316
Ueber die Gesicbtspankte, welche far den Gesamtplan and die
Richtung der vorliegenden Untersachangen maßgebend waren, spricht
sich der Verfasser selbst eingehend aas. »Nach dem lebhaften Er-
wachen wirtschaftsgeschichtlicher Forschang neben den älteren Dis-
eiplinen der Rechts- und Verfassungsgeschichte maß es nanmehr dar-
auf ankommen, nicht einseitig za werden, weder wirtschaftliche noch
jaristische, noch auch sociale und politische Fragen speciell in den
Vordergrand zu drängen ; vielmehr ist jetzt die Aufgabe zn stellen,
die materielle Ealtar in ihrer Gesamtheit als Ziel der historischen
Forschang za erfassen, soweit sich diese Forschang flberhaapt den
realen Dingen im Gegensatz zur Erforschung der idealen Entwick-
lungsfaktoren des Glaubens, der Wissenschaft und der Kunst beson-
ders zuwendete. Dieses eine Geschichte der materiellen Kultur im
weitesten Sinne umfassende Programm konnte natürlich nur schritt-
weise und Stück für Stück in Angriff genommen und einer Erledi-
gung zugeführt werden. Ganz besonders wünschenswert vom prak-
tischen wie vom wissenschaftlichen Standpunkte aus schien dem
Verfasser eine solch umfassende und vielseitige Behandlung für die
Entwiekelungsgeschichte der realen Kultur des platten Landes mit
besonderer Beschränkung auf das Mittelalter des alten Deutschland,
wie sich eine solche teils aus dem bisherigen Stande der Forschang,
teils aus dem Bedürfnisse einer Koncentration und möglichsten Ver-
tiefung der Forschung ergab. Daß er bei der Auswahl eines engeren
Bezirkes und damit eines begrenzteren Qnellenmaterials für seine
Studien gerade auf das Land an Mosel und Mittelrhein verfiel, wird
nicht nur mit dem berufismäßigen Aufenthaltsort des Verfassers, son-
dern auch mit seiner hinlänglichen Orientierung über die Quellen der
deutschen Wirtschaftsgeschichte überhaupt zu erklären sein ; die Wahl
hat sich übrigens als richtig getroffen bewährt; 30,000 Urkunden
mehrere Tausende von Weistümern und mehre Hunderte von Urbaren
boten der Forschung auch noch auf diesem beschränktem Gebiete ein
ergiebiges Feld. So sind diese Untersuchungen, principiell ganz uni-
versell gedacht, doch stofflich, räumlich und zeitlich begrenzt; aber
die Idee des Ganzen ist damit nicht preisgegeben; sie hat schon in
der Aufstellung eines für die Fortsetzung der Studien berechneten
Programms gewirkt; sie ist auch in der vorliegenden begrenzten
Bearbeitung Überall als roter Faden erkennbar.
Ueber die Weiterführung des großen Gesamtplans informiert der
Verfasser selbst: »nachdem ich die Forschungen zur mittelalterlichen
Wirtschaftogeschichte des platten Landes, besonders an Mosel und
Mittelrhein begonnen hatte, ergab sich die Möglichkeit, den Plan fttr
eine diesen Studien analoge Bearbeitung der mittelalterlichen Wirt-
23*
816 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 9.
scbaftsgeschiobte der Städte, mit besonderer Rttcksicbt auf KOln za
entwerfen. Man konnte in dieser Hinsicht vier einzelne Themata
als besonderer Untersachnng wert bezeichnen : die Anfänge des Bttr-
gertams and der Stadtverfassung darzulegen anf Grand der Schreins-
karten; die Entwickelang der Stadtverfassung und Stadtverwaltang
im 14. und 15. Jahrhundert mit besonderer Berücksichtigung der
Finanzen; die Entfaltung des selbständigen bQrgerlichen Lebens in
Handel und Industrie ; endlich die Darstellung einer groftbOrgerlichen
Privatwirtschaft des späteren Mittel alters €. Die Arbeiten sind, wie
Lamprecht berichtet, bereits in Angriff genommen, so daß sich damit
schon diese neae Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters fiber .die bei-
den Hauptriebtungen, die agrarisch-territoriale und die industriell-
nnd kommerziell-städtische verbreiten und, wenigstens für die Bhein-
gegenden auch so ziemlich das ganze von Lamprecht entworfene
Programm erschöpfen wird. Neuerdings ist nun aber von Lamprecht
auch der Gedanke einer Wirtschaftsgeschichte der niederrheinischen
Länder seit etwa dem 16. Jahrhundert, unter genauerer Untersuchung
namentlich des preuBischen Einflusses angeregt and der Stadienplan
für eine solche Arbeit in seinen OrundzUgen fertig gestellt worden.
Es eröffnet sich damit die Aussicht auf den völligen AbschluS einer
eingehenden rheinischen Wirtschaftsgeschichte von den ältesten Zeiten
bis zur Gegenwart — auf die erste voll durchgeftthrte Wirtschafla-
geschichte für ein deutsches Land Überhaupt.
In diese große und verheißungsvolle Perspektive maßten wir vor-
erst das vorliegende Werk stellen, um seine eigene Bedeutung, seine
innere Struktur und seine Zielpunkte als Glied einer großen Auf-
gabe richtig beurteilen und so den richtigen Maßstab für seine Wert*
Schätzung im Ganzen gewinnen zu können. In diesem Znsammen-
hang ergibt sich auch sofort das Verständnis ftir die Gliederung des
in der Darstellung des L Bandes behandelten Stoffs in seinen Haupt-
teilen: 1. Recht und Wirtschaft zur fränkischen Stammeszeit. 2.
Land und Leute im Verlauf der geschichtlichen Entwickelung an der
Mosel. 3. Die Entwickelung der Landesverbände und der autonom-
genossenschaftlichen Wirtschaftsverfassung. 4. Die Agrarverfassung.
5. Die Entwickelung der Landeskultur. 6. Die Wirtschaftsorgani-
sation des Großgrundbesitzes. 7. Grundherrlichkeit und Vogtei als
Formen halbstaatlicher Gewalt und Fermente socialer Schiehtung«
8. Zur Entwickelungsgeschichte der Landesgewalt. Die Belege und
Grundlagen ftir alle diese Untersuchungen, so weit sie nicht in die
Darstellung selbst verwoben sind, bilden den Inhalt der weiteren
zwei Bände, von denen der eine die Bearbeitang des statistischen
Materials, sowie eine erschöpfende Quellenkunde zur Wirtschaftsge*
Lamprecbt, Deutsches Wirtschaftsleben im Mittelalter. 317
schichte des Hosellandes enthält und zugleich eine Einleitung zar
Qaellensammlang bildet^ welche den S.Band aasschlieftlich {fX\\% and
mit wenigen Ausnahmen nur Inedita enthält; sie ist übrigens nicht
als Urkundenbuch zur Wirtschaftsgeschichte des Hosellandes im
Sinne eines Gegenstücks zu anderen Sammlungen gedacht, sondern
sie ist nur eine fttr die hier vorgenommenen Untersuchungen unum-
gängliche Ergänzung zu den vorhandenen Urkundenbflchern und als
solche fllr sich allein schon von großem bleibenden Wert.
Indem wir uns nach diesen allgemein orientierenden Bemerkun-
gen zu der Darstellung Lamprechts in ihren einzelnen Partieen wen-
den, müssen wir es uns versagen einen erschöpfenden Bericht über
alle in dem Buche bebandelten Fragen der deutschen Wirtschafts-
geschichte zu geben. Doch soll die Stellung des Verfassers zu
einer Beihe wichtiger Probleme markiert werden, wo er entweder
einer herrschenden oder doch verbreiteten Auffassung entgegentritt,
oder wo er neue bisher noch nicht beachtete Momente der histori-
schen Entwickelung oder neue Gesichtspunkte für ihre Beurteilung
zur Geltung zu bringen sich bemüht. Es wird sich daraus schlieB-
lieh doch auch ein Urteil über die Gesamtauffassnng ergeben, welche
der Verfasser von dem Charakter der mittelalterlichen Volkswirt»
Schaft und ihren Entwickelnngstendenzen vertritt.
In dem ersten Kapitel: Recht und Wirtschaft zur frän-
kischen Stammeszeit behandelt der Verfasser die äußeren For-
men des Wirtschaftslebens, die gegenseitigen Beziehungen von Recht
und Wirtschaft, die Entwickelung der Stände und des Staates vor-
wiegend nach den Bechtsaufzeichnungen der lex Salica und der ver-
wandten LL. Rib. Cham. Angl. et Wenn., deren EinfluB auf die ge-
samte reale Kultur der Wirtschafts- und Machtbeziehnngen für diese
älteste Zeit gewift nicht unterschätzt werden darf, wenn wir auch
zugestehn müssen, daß auch andre nur quellenmäßig nicht zu ver-
folgende Faktoren hierbei in entscheidender Weise mitgewirkt haben.
Alle fränkischen Rechte bieten Rechtssysteme der übermächtigen Ur-
produktion. Die gesamte Entwickelung der realen Kultur ist ange-
knüpft an die Einrichtungen, die Ansiedelungen und die Organisation
des Landbans. Aber wir vermögen diese beiden Angelpunkte des
vollen Verständnisses jener ältesten Zeit aus den Volksrechten nicht
mit genügender Deutlichkeit zu erkennen. Schon bei der Frage der
Ansiedel ungsformen zeigt sich das. Lamprecht hält sich trotz, oder
vielleicht gerade wegen der eingehenden Untersuchungen, die er dem
Gegenstande gewidmet hat (»die ältesten Nachrichten über das Hof-
und Dorf system, speciell am Niederrhein € in der Zeitschrift des Ber-
818 Gott. gel. Auss. 1887. Nr. 9.
gischen Gescbichtsyereins 16, 192 ff.) sehr reserviert. »Das Dorf der
fränkischen Stammeszeit darf man sich nicht den ans geläufigen Vor*
stellangen entsprechend denken, namentlich kann es nicht nach einer
noch immer beliebten Anschaaang im schroffen Gegensatz zam Ans-
baa ganzer Gegenden im Einzelbofsystem gefaßt werden. Der Aas-
drack villa in der lex Salica bedentet eine Ansiedelung von einem
oder mehreren Höfen und ist daher auf das Hofsystem und das
Dorfsystem gleich anwendbare Lamprecht stellt sich damit, wie
mir scheint mit Recht, gegen Schröder (Zeitschr. d. Savigny-Stif-
tang II, 49), der die Existenz von Hofanlagen neben den Dorfan-
lagen zu stark in Zweifel zog und mir bei dieser (Gelegenheit im-
putierte, ich hätte (Wirtschaftsgeschichte I 43 f.) ein ausschließendes
Hofsystem bei den Saliern behauptet, während ich doch nur bewei-
sen wollte, daß man die Stellen der 1. Sal., in welchen der villa
Erwähnung geschieht, im Einzelnen sehr wohl mit Hofsystem ver-
einen könne. Ich bin also nicht, wie Schröder (1. c. p. 49) sagt,
den Beweis schuldig geblieben, da ich Überhaupt nichts anderes be-
weisen wollte, als daß den Franken wie den Alamannen keine be-
stimmte Ansiedelungsform, wenigstens keine scharf ausgeprägte,
eigentttmlich war. — Auch in der Frage der salischen Agrarverfas-
sung steht Lamprecht der von mir vertretenen Auffassung viel näher
als der entgegengesetzten Schröders. Wenn letzterer (I. c. S. 53)
den Gegensatz des Sallands und des /eidgemeinschaftlichen Landes
in Ed. Chilp. c. 3 einerseits, 1. Sal. tit. 59 § 5 späterer Redaktion
andererseits erblickt und mit uneigentlichem Salland, das aus den in
herrschaftlichen Besitz erst nach Entstehung bäuerlichen Privat-
eigentums übergegangenen Dorfhufen entstanden sein soll, eine ganz
willktlrliche Kategorie schafft, so macht Lamprecht mit Recht gel-
tend, daß sich der spätere Begriff Herrenland ungezwungen aus deiH
Begriff: volksrechtliches Salland = zu einer sors gehöriges Land
entwickelt; auch meine Auffassung (Wirtsch. Gesch. I p.44), wonach
campus und ager in der fränkischen Zeit wohl allgemein schon als
Ackerland in Sondereigentum zu verstehn sind, wird durch die neue-
ren Untersuchungen von Lamprecht (I, 13) im Wesentlichen bestä-
tigt, während Schröder (1. c. 59) die verschiedenen bezüglichen Stellen
der 1. SaL willkürlich bald auf Salland in seinem Sinne, bald auf
Gemeinland bezieht. Wenn Lamprecht trotzdem der Idee einer Feld-
gemeinschaft den Markgenossen im rechtlichen Sinne größere Eon-
cessionen macht, als sich aus der 1. Sal. begründen lassen, so mag
er ja ftlr die älteste fränkische Stammeszeit immerhin im Rechte
sein; die Entwickelung , welche die fränkische Agrarverfassun^ auf
Grund des Gesetzes genommen hat, spricht aber doch wohl entschie-
Lamprecht, Deutsches Wirtschaftsleben im Mittelalter. 819
den genug zq GuDsten der Annabme eines dem Grandeigentam deut-
seher Auffassung schon sehr nahestehenden Rechts der tfarkgenossen
an ihrem Lose sowohl wie an anderweitig erworbenem Grundbesitz,
der dann allerdings, wie Lamprecht richtig bemerkt, auch im 5.-8.
Jahrhundert mit nichten frei war von allen durch Volksrecht und
Staatsanschauung auferlegten Fesseln.
In dem zweiten Abschnitt: Land und Leute im Verlaufe
der geschichtlichen Entwicklung an der Mosel wird zu-
erst der differenzierende Einfluß von Natur und Geschichte auf die
ländliche Kultur durch das ganze Mittelalter hindurch untersuchti
sodann in »Waldwnchs und Neubruch« die ursprüngliche Ausdehnung
und Lichtung des Waldes, Charakter und Ausdehnung des Neubruchs
nach seiner rechtlichen und wirtschaftlichen Seite eingehend erörtert.
Die interessanteste und wohl auch principiell bedeutendste Ausftth-
rung dieses Kapitels ist unstreitig der durch Schröder neuerdings
wieder mehr betonten Frage des Bodenregals gewidmet Die Lehre
vom Bodenregal in der Ausdehnung und Intensität, wie sie Schröder
in der Zeitschr. der Savigny-Stiftung II entwickelt, ist nicht nur
nach dessen eigenem Zugeständnis aus den Quellen der fränkischen
Stammeszeit nicht strikte zu erweisen, sondern auch mit der socialen
und wirtschaftlichen Entwickelung des deutschen Volkes nicht ver-
einbar. Es setzt eine viel stärkere Gewalt der fränkischen Könige
voraus, als wir sie thatsächlich geübt finden , eine viel strammere
Organisation der Verwaltung, eine wesentlich geringere Bedeutung
der altgermanischen Freiheit, die sich ja vor allem auf freiem Grund
und Boden behauptet; und in seinen Konsequenzen wttrde es zu
einer politischen Verfassung ähnlich dem normannischen Lehensstaat
in England, zu einer den slavischen ähnlichen socialen Struktur der
Gemeinden geführt haben, während von alle dem in der älteren
deutseben Wirtschaftsgeschichte durchaus keine Spur vorzufinden ist
Das eroberte Land stand allerdings, wie es war, zur Verftlgung des
erobernden Volkes, und der König als der Führer des Volkes machte
seine Macht auch bei der Verteilung geltend; aber ihm stand doch
andererseits von Anfang an die Macht eines social wohlgefügten
Volkstums gegenüber, das, wie es um die Gewinnung neuer Land-
striche willen aasgezogen war, sich das natürliche Recht auf das
Landlos für jeden Freien auch durch Königsmacht nicht entwinden
lieft. Die scheinbare Parallele dieser Verbältnisse in den ostdeut-
schen Kolonialgebieten trifft nicht zu, denn hier wandert nicht ein
ganzes Volk am neue Sitze zu gewinnen; hier erobert der König
mit seinem Heere als Mehrer des Reiches. Hier werden Beneficial-
Verhältnisse begründet durch die Anerkennung guter Dienste, dort
820 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 9.
wird ein Staatswesen begründet durch ein siegreiches Volk, das sich
seine neue Heimat als gutes Recht eignet. Lamprecht ist geneigt
die theoretische nnd ursprüngliche Konstruktion des Bodenregals, als
ein hoheitliches Eigentum, bzw. Obereigentum des Königs an nr*
sprttnglich allem Lande seines Territoriums, auch dem in Privat-
eigentum tibergegangenen, anzuerkennen; im übrigen scheint auch
ihm die besondere Betonung des königlichen Verfltgungsreohtes über
alles Qrundeigen auch in späterer Zeit, bei den geringen Spuren,
welche die Quellen hier von ihm aufweisen, doch nicht völlig ge-
rechtfertigt; »die Praxis gestaltete sich so aus, daß der König min-
destens seit spätmerowingischer Zeit fiechte an reinem Privateigen
auf Grund des Bodenregals nur noch in Ausnahmefällen geltend
machte. »Spätestens um die Wende des früheren und späteren Mit-
telalters gehörte das alte Bodenregai seiner rechtlichen Konstruktion
nach endgültig zu den Rechtsaltertttmemc. Diese Beschränkungen
des Bodenregols stimmen besser, als dessen principielle Anerkennung
zu dem Satze Lamprechts, daft der König im salischen Gesetz noch
nicht der Träger der Staatsgewalt, noch nicht der Herr der Rechts-
bildung, daß das Volk noch souverain ist; sie finden ihre ergänzende
Erläuterung in der Bemerkung, daß dem König frühzeitig die Exe-
kutive des Volkswillens zugefallen ist, und daß er damit das
Recht hatte, über das rechtlich noch nicht vergebene Land zu ver-
fügen und mit Berücksichtigung der aus politischen Gründen aufge-
richteten Schranken des Rechtsschutzes für das Privateigentum auch
von diesem Leistungen zu verlangen und Hoheitsrechte auf demsel-
ben geltend zu machen.
In dem dritten der »Entwicklung der Landesverbände
nnd der autonom-genossenschaftlichen Wirtschafts-
verfassnngc gewidmeten Abschnitte scheint uns die sehr umsich-
tig und an vielfach ganz neuem Material durchgeführte Untersuchung
über die Zenderei nicht nur die originellste, sondern auch principiell
wichtigste zu sein. Speciell ist die Bedeutung der Zenderei für die
Ausgestaltung des Wirtschaftsverbandes hier wohl zum ersten Mal
mit voller Klarheit dargelegt und damit das Bild der markgenossen-
schaftlichen Organisation um einen seiner wesentlichsten Züge be-
reichert worden. Zu der auch bisher wohl schon unbestrittenen An-
nahme einer Identität der Hundertschaftsbezirke mit den autonomen
Wirtschaftsbezirken der ältesten Zeit, d. h. den ersten Ansiedelungs-
und Anbauabgrenzungen tritt nun nach den Ausführungen von Lam-
precht auch die Identität der aus den älteren Hundertschaften entstan-
denen Zendereien als Untergerichten mit einer Art von Markgenossen-
schaften zweiten Ranges hinzu, welche sich aus den von ihm ange-
Lamprecht, Deatsehes Wirtschaftsleben im Mittelalter. 821
segnen Quellen mit großer Dentliehkeit als Zendereimarkgenossen-
schaften abheben. Eine reiche Flllle von Nachrichten, wie eie ge*
rade die Qaellen des Mosellandes darbieten, läßt ersehen, daß diese
Eigenschaft der Zenderei und in ihr des gewöhnlichen (Unter-)Ge-
richts als Mark ganz regniär war. Dieses Zusammenfallen war nach
Lampreeht geradezu obligatorisch. Die Notwendigkeit ist in dem
überwiegenden Charakter des Zenders als genossenschaftlichen Ge-
meindebeamten begründet Der Zender wird von der Gemeinde ge-
wählt, er ist der Vertreter ihrer Autonomie in der Wirtschaftsver-
waltung; wo er seine Bedeutung nicht verloren hat (z. B. grund-
herrlich geworden ist) läßt er sich außerhalb einer Markgenossen-
sehaft überhaupt nicht denken. Für die Beurteilung der Größe die-
ser Sicndereimarken gewinnt Lamprecht durch sehr sorgsame Unter-
suchung der über die Lokalitäten der einzelnen Marken vorhandenen
Angaben das sehr wichtige Ergebnis, daß die Marken der karolin-
gischen Zeit noch durchschnittlich groß genug waren, um mit den
späteren Zendereibezirken identificiert wenden zu müssen. »Mau
wird daher mit der Behauptung nicht fehl gehn, daß noch bis zum
Schlüsse des ersten Jahrtausends unserer Zeitrechnung die Heeres-
und Gerichts-, sowie die Wirtschaftsverfassung der Regel nach in
denselben Verbänden nnd Bezirken lokalisiert war; die Zenderei-
mark war bis dahin die erste und letzte allgemein entwickelte Ema-
nation des ursprünglich allein vorhandenen Wirtschaftsbezirks der
Hundertschaften. Bei fortschreitender Intensität der Wirtschaft konnte
allerdings diese Organisation nicht mehr genügen. Die Gerichtsver-
fassung allerdings machte bei den Zendereien Halt und gewann in
ihnen eine letzte allgemein durchgeführte Bezirkseinteilung, welche,
wenn auch unter mannigfachen Aenderungen der Gerichtsorganisa*
tion und des Proceßrechts, doch sogar für die Bevölkerungshöhe des
späteren Mittelalters noch ausreichte. Aber die Wirtschaftsverfassung
griff tiefer. Bei ihr ergaben sich mit der höheren Entwickelung der
Landeskultur stets zunehmende Emanationen, welche nun nicht mehr
in zugleich staatlich-gerichtlichen, sondern in allein genossenschaft-
lich-wirtschaftlichen Verbänden und Bezirken zum Ausdruck gelang-
ten«. Dieser Proceß der Ausbildung rein wirtschaftlicher Verbände
nnd zwar namentlich der Ortsgemeinde, der Samtgemeinde und der
Partikniarmarkgenossenschaft setzt nach den Quellen des Mosellandes
spätestens im 11. Jahrhundert ein, manifestiert sich zunächst in
Harkstreitigkeiten und folgender Begelung der Marknutzung, um
dann spätestens seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts in Ge-
meinheitsteilungen eine weitere folgenschwere Etappe zu erreichen,
deren Abschluß über die Zeit des Mittelalters hinaus zu verfolgen
322 Gott. gel. An/. 1887. Nr. 9.
ist Qnd erst in unserer Zeit unter dem Einfluß der' Gesetzgebung
Über die Oemeinheitsteilnng ihren Abscbluß findet. Die Einsehrän-
kung, welche man dieser Theorie von der Entwiekelung der Wirt-
schaftsverbände zu machen sich veranlaßt sehen kann , sind zum
großen Teil von Lamprecht selbst schon gemacht. Er weist insbesondre
darauf hin, daß schon vor dem vollen Herabsinken der alten mark-
genossenschaftlichen Verfassung auf diese räumlich kleineren Ver-
bände im Ileimgerede eine embryonale Ortsverfassung bestand, wo-
mit jedenfalls die Ansätze der wirtschaftlichen Lokalverwaltung bis
in die spätere karolingische Zeit hinaufgerückt werden müssen.
Ebenso ist es schon nach der Art der Beweisführung bei Lamprecht
ganz ausgeschlossen , diese Entwiekelung unbedingt auch für andere
Oebiete anzunehmen, wo sich einerseits die Zendereimark gar nicht,
die Hundertschaftsmark aber ausschließlich nur in ihrer Projicierung
aufgrundherrliche Verhältnisse darthun läßt; endlich ist auch die
von Lamprecht selbst genau entwickelte aristokratisch-grnndherrliche
Lokalverwaltung in Zusammenhang mit der stellenweise? schon sehr
früh durchgeführten Entwiekelung eines grundherrlichen Obereigen-
thums an Allmenden auf die Ausbildung lokaler Wirtschaftsverbände
der Markhörigen geführt worden, welche vielleicht doch auch zur Er-
klärung des vielfach gänzlichen Fehlens einer Zwischenbildnng, wie
sie die Zendereimark darstellt, hervorgehoben zu werden verdient.
Eine höchst interessante, auf ebenso reichem 'wie neuem Mate-
rial beruhende Untersuchung ist in dem 4. Abschnitte »die Agrar-
verfassungc den vielbesprochenen »Eönigshufen« gewidmet
Nachdem der Verfasser die verschiedenen im Moselgebiete vorkom-
menden Hufenformen beschrieben, stellt er zunächst die urkundlichen
über das Vorkommen und die Beschaffenheit der Königshnfen
aus dem 10. — 13. Jahrhundert verfügbaren Nachrichten zusam-
men und gelangt dadurch zu einer ziemlich sicheren Charakteristik
dieser Hufenform. Die Eönigshufen sind darnach mit aller Sicher-
heit als Rotthufen zu erkennen.^'^Sie entstammen ferner ursprünglich
sämmtlich königlichem Besitz. Später verflacht sich freilich der Be-
griff; auch andere besonders große Botthufen von 120-- 160 Morgen
werden nun wohl Eönigshufen genannt, woraus Lamprecht wieder
zurttckschließt, daß fttr die alte Eönigshufe des 10.— 12. Jahrb. neben
ihrer Derivation aus Eönigsgut auch eine besondere Größe (eben
von 120 — 160 Morgen) notwendig erforderlich war. Die Natflrlich-
keit dieser Hufenart in dieser Zeit beruht nach Lamprecht darauf,
daß man bei wachsender Bevölkerung nothwendig zum Ausbau
schreiten mußte: ein solcher Ausbau konnte aber nur dann prospe-
rieren, wenn er die Mühen der ersten Anlage und die Folgen eines
Lamprecht, Deutsches Wirtschaftsleben im Mittelalter. 323
zunächst sehr extensirea Aasbaues gegenüber der Intensität der
alten Kaltaren durch eine wesentliche Vergrößerung des Areals ge-
genüber der gewöhnlichen Besiedlungsanlage gedeckt erhielt. Aber
eben in Folge dieser ganz allgemein gültigen Veranlassung für die
Entstehung größerer Rotthufen ist die Königshufe keineswegs die
einzige sich hier ergebende und damit singular dastehende Bildung;
sie ist vielmehr nur die besondere fiskalische Rotthufe.
Die Einfügung der Eönigshufen in die alte Flurverfassnng ist
im Moselgebiete nur selten in der Weise erfolgt, daß neue Rotthufen-»
dörfer angelegt wurden ; vor dem Dorfsystem hat die Königshufe
wie überhaupt die Rotthufe das Hofsystem bevorzugt. Dabei ist je-
doch der Unterschied zu beobachten, daß man in den Ardennen in
Gewannen mit obligater Verteilung der einzelnen Streifen an die zu Ein-
zelwirtschaften entwickelten Hofsplissen rodete ; an Saar und Rhein
dagegen ist in großen Stücken, welche man Blöcke nennen kann,
Yon jedem Hofspliß für sich gerodet worden. Zu diesem Resultat
ist Lamprecht durch ein eingehendes Studium der Flarkarten geführt,
von denen auch mehrere sehr charakteristische Beispiele beigestellt
sind ; auch die Autorität Meitzens, wohl des genauesten Kenners der
deutschen Flurverfassung, wird für diese Auffassung eine gewichtige
Stütze, um so mehr als derselbe selbst erst durch die mit Lamprecht
gemeinsam durchgeführte Durchforschung der Katasterkarten von Lo«
kalitäten, in denen Königshufen örtlich festgestellt sind, zur lieber-
Zeugung gekommen ist, daß dieselben auch in Einzelhöfen ausgethan
wurden. Dieses zunächst für die Königshufe, wie mir scheint, genü-
gend sichergestellte Ergebnis verspricht ftlr die genauere Feststel-
lung der Bedeutung, welche der kolonisatorischen Thätigkeit der
Könige beizumessen ist, von größerer allgemeiner Tragweite zu
werden. Insbesondre wird dadurch Licht verbreitet über den Cha-
rakter der in der Ostmark und in Steiermark zahlreich auftretenden
Königshufen. Die in der fiskalischen Rotthufe hervortretende Eigen-
tümlichkeit, mit der virga regalis aufgemessen und überwiegend au-
ßerhalb des bisherigen Dorfverbandes in Bauerschaften nach Hofsy-
stem organisiert zu werden, mag auch bei der kolonisatorischen Be-
siedelung dieser neu erworbenen Reichsgebiete, über welche ja der
König zunächst als Fiskalland verfügte, traditionell fortgewirkt haben.
So erklären sich vor allem schon jene zahlreichen Verleihungen von
mansi regales mit nur ungeftlhrer Ortsbestimmung (z. B. 1025 Steier.
U. B. I n. 45, 1041 n. 50, 1049 n. 97, 114 n. 95 und 98; 1011
Mon V. Boic. VI p. 158 u. o.), neben welchen verhältnißmäßig selten
direkte Beziehungen von Königshufen zu vorhandenen Dörfern vor-
kommen; auch die von Meitzen (bei Lamprecht I 353) erwähnten
324 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 9.
KatasterkarieD von Stillfried an der March mit ihren aDregelm&Aigen
Gewannen nnd Blöcken bei nrknndlich sichergestellten Königshafen
lassen in der That keine andere Deutang zu, als daß hier eine cnrtis
mit dazugehörigen, in Einzelhöfen angelegten Hafen bestand, wie sie
ganz ähnlich in einer Urk. Otto III v. J. 970 fUr das Erzstift Salz-
barg bezeagt ist : cartem ad . . . Nidrinhof nominatam et 50 regales
hobas ad eandem curtem pertinentes pariterque at oontigaam et ad-
iacens eidem cnrti nemas Susil. Ist ja doch auch in den nach Wald-
and Marsch hafen angelegten Kolonistendörfern das ökonomische Prin-
zip des Hofsystems zur Geltung gekommen; warom sollte die Macht
dieses reformatorischen Gedankens sich, besonders im Gebirgslande
und anter dem zielbewaßten Eingreifen der königlichen Gewalt, nicht
aach in Ausgestaltang des reinen Hofsystems bei den Königshafen
geltend gemacht haben?
Eine weitere in die Fragen der Agrarverfassang tief eingrei-
fende Untersuchung betrifft den Allmendeausbau und insbesondre die
Charakteristik des Beundeausbaues. »Die Bennde war
ihrem eigentlichen und ursprünglichen Charakter nach eine jtingere
auf Rodung beruhende agrarische Institution: sie war vom Grund-
herrn allein in Beschlag belegtes und aufgewonnenes umfangreicheres
Stttck der Allmende, etwa in sonstiger GewanngröBe«. »Neben der
Rodung bestand freilich von jeher , aber zunächst doch nur fttr sehr
vereinzelte Fälle, eine zweite Möglichkeit für die Einrichtung von
Beunden: der Grundherr konnte eine Gewanne des Hufenlandes ganz
in seine Hand bringen und nun aus der Gewanne eine Beunde ma-
chen«. Die Beunden konnten daher sehr wohl an den verschieden-
sten Stellen der Flur liegen und ebenso konnten die verschiedensten
Kulturen im Beundebau vorkommen. »Es begreift sich, daß eine so
eigenthOmliche Sonderbildung, wirtschaftlich noch dazu fast aus-
schließlich an die Sonderstellung der Grundherrschaft gebunden, zur
Ausbildung eines dem gemeinen Markrechte entgegentretenden Rechts
führen mußte. Schon äußerlich schied sich die Beunde durchaus von
der gemeinen Mark ab. Sie war stets genau abgegrenzt, und der
äußeren Selbständigkeit entsprach die rechtliche; die Beunde war
stets AUod, sie konnte frei verliehen und veräußert werden. Diese
Selbständigkeit ging so weit, daß man die Beunden zusammen mit
der Hofstätte als Haupt des Gutes ansah , zu welchem der ttbrige
Besitz die Pertinenz bildet. Zur rechtlichen Freiheit kam die wirt-
schaftliche Immunität; die Beunde war nicht nur aus der^Mark son-
dern auch aus dem markgenossenschaftlichen Nexus von Rechten
nnd Pflichten geschieden : die Beunden waren geradezu grundherrliche
Enklaven im Gebiete der autonomen Wirtschaftsverfassung der Dorf-
Lamprecht, Deatsches Wirtschaftsleben im Mittelalter. 826
genossen. Vergegenwärtigt man sich dazn noch die anAerordentlich
weite Anedehnnng der Benndewirtschaft, welche mit der grundberr-
lichen Organisation aach bis in entlegenere Landesteile vordrang,
80 wird man die große Bedentong der Beande fttr die Entwicklang
der Agrarverfassang nicht verkennen dürfen. Das um so mehr, als
sich ftar die Beunde zugleich auch eine besondere Wirtschaftsform
ausbildete. Die Beunden wurden in Frondienst bestellt: gerade anf
diesen Frondienst hin ist die Bennderodang vor sich gegangen ; nnd
es war nan zugleich im Charakter der Beunde wie der Hofgenossen-
sohaft nothwendig begründet, daft diesen Arbeitskräften fttr den Be-
undbau eine besondere Organisation gegeben wurde. In der That
ist der Charakter des Benndebaus eine Betriebsgemeinschaft der
gmndhOrigen Arbeitskräfte. Diese Konstruktion der Beundefronen
als Kollektivfronen ist übrigens keine allein dastehende Erscheinung
in der Geschichte der Grundherrschaft; im Grunde waren alle grund-
hörigen Leistungen in diesem Sinne gedacht«. Diese aus den Quellen
des Mosellandes geschöpfte Auffassung der Beande als einer aus-
schließlich grandherrlichen Institution stimmt zwar nicht ttberein mit
der Entwicklung des Bennderechts , wie wir sie aus süddeutschen
Quellen kennen, wo es vielmehr mit Einödrecht überhaupt ideutifi-
eiert, also auch den Dorfgenossen zugestanden ist (vgl. mein »Hof-
system« S. 79 ff.) ; soweit jedoch ihre Bedeutung fttr die grundherr-
schaftliche Entwickelung reicht, ist sie gewiß zutreffend geschildert
Der Einfluß des Beundeausbaues auf die Gestaltung und die Wirt-
schaftsführung des Sallandes einerseits, und der »Gehöferschaften«
andererseits ist unstreitig ein mächtiger gewesen und hat sich insbe«
sondre in der Geschichte des Sallands vom 10.-14. Jahrhundert sehr
fühlbar gemacht Lamprecht erkennt selbst ausdrücklich an , daß
BeundestOcke mit dem alten Salgute verbunden wurden wie
überhaupt eine Verschmelzung von Salland und Beundeland sowohl
vom Standpunkt der Agrarverfassung als auch vom Standpunkt der
Domanialwirtschaft aus zu beobachten sei. Allerdings ist dadureh
der Verfall der Sallandswirtschaft nicht aufgehalten worden; aber
fttr die ältere Zeit mindestens hat der zunehmende Beundeausbaa
unzweifelhaft zu einer vorübergehenden Vergrößerung des Sallands
geftthrt, während im späteren Mittelalter gewiß die Zerschlagung
des Sallands und des Beundelandes zum Zwecke der Verleihung ge-
gen Zins oder Ertragsanteil der Veränderung der Agrarverfassung
nach dieser Seite hin ihre Signatur aufdrückt. Für die Karolingische
Zeit ist das Vorkonunen von Beundestücken im Sinne von Lamprecht
wohl schon unbedingt anzunehmen, und es würde sich vielleicht eine
Korrektor der Vorstellungen von der Größe des eigentlichen SaU
326 Gott. gel. Anz. 1867. Nr. 9.
lands daraus ergeben, wenn über den Umfang der Beande fttr diese
Zeit irgend genauere Anbaltspunkte zu Gebote ständen ; da aber,
wie Lampreeht selbst zugesteht, ihre Zahl nicht groß und ihr Cha-
rakter noch sehr unbestimmt ist, Überdies der Ausdruck terra sota-
ricia schon frühzeitig fttr Beunde gebraucht erscheint, so bleibt zur
Charakterisierung des Herrenlandes im Gegensatz zum ansgethanen
Zinslande wohl kein andrer Ausweg übrig als eben die im Ganzen
doch zutreffende nur nicht hinlänglich präcise Znsammenfassung von
Salland und Beundeland, wie ich sie (Wirtschaftsgeschichte 1, 307 ff.)
zur Bestimmung der Größen Verhältnisse des Sallands angewandt habe.
Elndlich sei in diesem Zusammenhang auch noch der Unter-
suchung über die Gehöferschaften gedacht , welche ihre ei-
gentliche Bedeutung ja gerade innerhalb des von Lamprecht haupt-
sächlich berücksichtigten Moselgebietes haben. Bekanntlich ist das
wissenschafUiche Interesse an diesen eigentümlichen agrarischen
Bildungen besonders geweckt worden durch Hanssens sorgfältige
Schilderung der Gehöferschaften (Erbgenossenschaften) im Reg. B.
Trier (Abb. der Berliner Akademie d. W. 1863 nebst Nachträgen
in seinen Agrarhist. Abb. II. 1884). Er bestimmt nicht nur den
Charakter dieser bis in unsre Zeit hereinragender GehOferscbaften
»als agrarische Genossenschaften mit dem Gesammteigentum ihres
ganzen Grundbesitzes an Feldgärten, Aeckern, Wiesen, Wildlände-
reien und Waldungen unter periodischem Wechsel der Interessanten
in der privaten Nutzung der Ländereien auf Grund erneuter Verlo-
sungen, soweit nicht eine gemeinsame Nutzung derselben statttfindetc,
sondern er erblickt in diesen Gehöferschaften auch Reste der urzeit*
liehen Agrar Verfassung, speciell der in derselben bestehenden abso-
luten Feldgemeinschaft. In direktem Widerspruch damit sucht nun
Lamprecht die Auffassung zu begründen , daß die Gehöferschaft eine
auf und aus grundherrlichem Boden erwachsende Gemeinschaft ist:
keine Fortsetzung und kein Ueberrest germanischer Feldgemein-
schaft, sondern vielmehr eine relativ junge Bildung, welche fttr das
Verständnis urzeitlicher Zustände nur wegen gewisser Einzelanalo*
gien von Wichtigkeit sein könnte. Speciell glaubt Lamprecht die
Gehöferschaftswirtschaft an jene von ursprünglicher Betriebsgemein-
schaft im hofgenossenschaftlichen Nexus zu voller Feldgemeinschaft
fortentwickelte und später meist zu Gesammteigentum unter privater
Nutzung der Ländereien auf Grund erneuter Verlosungen abgeblaftte
Benndewirtschaft anknüpfen zu kOnnen, von welcher im Vorange^
gangenen die Rede war. Den Beweis fttr diese ganz neue originelle
Auffassung sucht Lamprecht .vor allem aus dem Charakter der 6e-
böferschaft selbst, so wie ihn Haussen vornemlich aus den bis auf
Lamprecht, Deutsches Wirtschafsleben im Mittelalter. 827
unser Jahrhundert gekommenen Resten fixiert hat, zn erbringen.
Er konstatiert zunächst, daft in den bisher über die (Jehöferschaften
bekannten Daten keinerlei Anhalt vorliegt, welcher einen Wider-
sprach gegen die von ihm behaoptete Entstehnngsweise gestattete«
Dagegen gibt es eine Anzahl schwerwiegender, noch beute vorhan-
dener Tatsachen, welche nur zum Beundecharakter des GehOfer-
schaftslandee, aber in keiner Weise zu einer altgermanischen Feld-
gemeinschaft passen. Hierher gehört zuvSrderst die Bestimmung,
daft nicht einmal Wohnsitz im Dorfe zur Teilnahme an der OehS*
ferechaft notwendig ist; namentlich aber die folgenden drei von
Haussen selbst als mit seiner Theorie völlig unvereinbar erklärten
Erscheinungen: 1. Die Differenz zwischen Allmende (Gemeindegut)
und Gehöferschaftsland an Orten wo GehOferschaften sind ; 2. Die
Tatsache, daft das Areal einer einzelnen Gehöferschaf häufig in mehreren
Gemeidefiuren liegt, während andrerseits in einer Anzahl von Ge-
markungen mehrere Gehöferschaften nebeneinander bestehen ; 3. Die
Tatsache, daft Hochwald nie im Gehöferschafts-, sondern mit ganz
geringfllgigen Ausnahmen im Gemeindebesitz ist. AuBerdem treten
in der Verfassung der GehOferschaften noch eine grofte Anzahl von
Einzelheiten auf, welche unter der Betrachtung der GehOferschaft als
höriger Benndegemeinschaft ein ttberraschendes Licht empfangen.
So z. B. die Benennung der ideellen Anteile der Gehöfer als Zins
oder Schaft, als Pflug oder Rute; auf die beiden letzteren Ausdrucke
konnte man erst zu einer Zeit verfallen, welche schon die Auflösung
der Hnfenverfassung sah. (?) Nirgends sind die Anteile nach Hafen
veranlagt. Vereinzelt wenigstens ist die Weidenutzung der Gehöfer-
schaftsländereien den Gehöfern ausschlieftlicb zugesprochen ; auf
manchen GehOferschaften lastete sogar noch die ursprünglich (?)
grundherrliche Pflicht den Stier für die Ortsgemeinde zu halten.
Auch die Tatsache, daft die GehOferschaften noch heutzutage fast gar
keine Organisation aufweisen, zeigt, wie wenig die Geböferschaft in
die Ortsgemeinde aufgieng, wie sie sich vielmehr in der Ablösung
aus einem ftlr sie autoritativen , grundherrlichen Verband , der einst
ihre Behörden gestellt hatte, bildete. Neben diesen aus dem jetzt
noch erkennbaren Bestände der GehOferschaften abgeleiteten Grün-
den gegen die Annahme einer altmarkgenossenschaftlichen Feldge-
meinschaft der Gehörerschaften fahrt Lamprecht auch noch den
direkten Beweis aus geschichtlichen Ueberlieferungen zu Gunsten
der Entstehung der GehOferschaften aus der Beundegemeinschaft.
Dieser Uebergang war ein yerhältnismäftig einfacher: es bedurfte
nur einer Uebergabe des Beundenackers an die Hofgenossenschaft
%nT Eigenknltnr mit der Konsequenz der allmäligen Auflösung des
328 Gott. gel. Anz. 1687. Nr. 9.
alten groDdherrlieben Beondenexas und einer dementspreebenden
Umwandlnng der hörigen BetriebBgemeinscbafl zur FeldgemeiDBchaft
d. b. zur Eigentamsgemeinscbaft mit anfänglicbem Qesammtbetrieb.
Dafi die Grundberrschaft Salland der Hofgenossenscbaft übergibt, ist
darch mebrere Beispiele ans verhältnismäftig frttber Zeit belegt ; mit
Beginn des 13. Jabrbnnderts löst sieb aneb allmäblicb der Zasammen-
bang der grandberrlichen alten Beandewirtscbaft : die Bennden werden
an die Hofgenossenscbaft gegen einen Jahreszins erblioh verliehen.
Die Beibehaltung des Gesammteigentnms und bisweilen der Betriebs-
gemeinsobaft nach Uebergang der Beunden in das erbzinslichCy
später freie Eigentum der Geh(^ferscbaft erklärt sich in vielen Fällen
einfach daraus, daB die mit diesen Systemen verbundene Art des Anbaues
für die Aussenfelder, auf denen die Beunden zumeist lagen, eben die tech-
nisch ratsamste war. Aber auch die Steuergemeinschaft, in welcher die
Gehöferschaften zunächst verblieben, mußte auf die Beibehaltung auch der
Betriebsgemeinschaft bezw. des Gesamteigentums EinfltfA haben ; für alle
diese Vorgänge liefern insbesondere die Weistümer des Mosellandes
zahlreiche Belege. Die Entstehung der Gehöferschaften steht also
nach Lamprecht im engsten Zusammenhang mit dem Verfall der al-
ten grundherrlichen Eigenwirtschaft: »sobald nur die Grundherr*
schauen ihre alte feste Geschlossenheit zu verlieren beginnen, treten
Nachrichten auf, welche auf das Emporkommen geböferschaftlicher
Bildungen deuten, und um die Wende des 12. und 13. Jahrb., in
der ersten offenkundigen Verfallzeit der Grundherrschaft, ergibt eine
klare Ueberlieferung die ersten selbständigen bofgenossenscbafllichen
Beundefeldgemeinschaftenc. Mit diesem Schlufiergebnis der Erörte-
rung über das Wesen der Gehöferschaft wird man sich, wie wir glau-
ben, allgemein einverstanden erklären können. Die Charakteristik
der Gehöferschaften als Reste alter markgenossenschaftlioher Feldge-
meinschaft war ja doch von Anfang an nichts als eine ganz unge-
ftlbre Vermutung ohne jeden Versuch einer streng historischen Be-
weisftlhrung und ohne nähere Kenntnis des Zustandes jener Stufe
der Agrar Verfassung, als deren Ueberrest man die Gehöferschaft in
einem Anflug von Romantik anzusehen geneigt war. Hier ist zum
ersten Mal das ganze verfügbare Quellenmaterial herangezogen, Ur-
Jkunden und WeistUmer, Urbare und Flurkarten; hier ist zum ersten
Mal die singulare Erscheinung der Gehöferschaft in ihrem Zusam-
menhang mit Feldgemeinschaft und Allmende, mit grundherrlieher
Beunde- und Medemwirtschaft betrachtet , so daB jede Abirrung auf
das Gebiet anderweitiger bekannter Erscheinungen sieh von selbst
verbot. Indem Lamprecht die Gehöferschaft voll und rttckbaltslos
der gTundberrscbaftlicben Wirtschaftsverfassung einordnet, löst sich
Lamprecht, Üentsches Wirtschaftslebeo im Mittelalter. 329
nieht nor einfach and leicht das scheinbare Rätsel, welches der Wirt-
sehaftsgesehiehte gestellt schien, sondern es schlieBt sich damit auch
der Kreis der an das Problem der spätem Entwickelnng der Qmnd-
herrschaften sich anreihenden Fragen in Bezag auf die antonome
Lokalverwaltung agrarischer Interessen in der spätem Markgemeinde
in Überraschend günstiger Weise ab. Vermögen wir aaeh die ans-
sehlieBliche Bedeutung der Beunde fttr die Entstehung der Gehöfer*
Schaft an dieser Stelle ebensowenig wie früher den scharf formulier-
ten. Gegensatz der Beunde zum eigentlichen Salland ohne eine ge-
wisse Einschränkung anzunehmen (die von Lamprecht selbst aus
Lac. ÜB. I 367 v.J. 1149 angeführte Urkunde spricht hier eine nicht
undeutliche Sprache), so bleibt doch in der Hauptsache der Beweis
des grundherrlichen Ursprungs der Gehöferschaft vollkommen ge-
lungen und bestätigt an der Hand von Quellen, die mir nicht zur
Verfügung waren, die Vermutung, welche ich aus allgemeinen Er-
wägungen fiber die gesamte Entwickelnng der Agrarverfassung schon
vor Jahren in den Jahrb. f. Nationalök. und Statistik ausgesprochen
habe.
In dem fltnften Kapitel fiber die Entwickelnng der Lan-
deskultur ist wohl die wichtigste Untersuchung der Gttterbewegung
im Mittelalter und der daraus resultierenden Verteilung der Boden-
nutzung zugewandt Nicht nur, daft eine genauere Kenntnis der
GrOftenverhältnisse der einzelnen Arten von Landgütern und ihres
gegenseitigen Verhältnisses an sich schon fttr die Beurteilung der
Faktoren der Bodenkultur von groBer Tragweite ist, so zeigt sich
auch die fortschreitende Belastung der Bodennutzung gerade von der
Art der Gflterbewegung und Gttterverteilung in entscheidender Weise
beeinfluftt Das Hauptagens für die Geschichte der Bodenverteilung
liegt natttrlich in der Entwickelnng des Privatrechts und innerhalb
desselben wieder in der Entfaltung des Immobiliarerbrechts, im Mittel-
alter um so mehr, als seine Strenge in dieser Epoche noch das ge-
sammte sonstige Privatrecht in viel weitergehender Weise als heut-
zutage beeinfluftte. Im Charakter des alten fränkischen Erbrechts
war schon die Tendenz zur unablässig weitergreifenden Zersplitterung
der Bodenbenutzung und des Landeigens gegeben ; von einer vielfach
behaupteten alten Marklosung als Hemmnis der VeräuBerung ist aber
ebensowenig eine Spur aufzufinden, wie fiberhaupt von einer mark-
genossenschaftlicben Beschränkung der Gttterbewegung. Diese Ten-
denz muBte voll wirksam werden, sobald der Ausbau des Landes
soweit vorgeschritten war, daft jttngere Söhne nicht mehr aufterhalb
des Erbrechts unter Auswanderang neue Hufen auf Bottland erwerben
konnten. Gemäftigt wurde diese Tendenz fUr die faktische Boden-
OW. gel. Abk. 1897. Nr. 9. 24
330 Öött. gel. Anz. 1887. Nr. Ö.
Dntzaog dadurch, daft man Realabteilangen so weit als möglich ver-
mied nod das Erbenwart- und Beisprnchrecht als Nachklang alter
Qrnndsätze der Familienerbfolge wieder mehr in Aufnahme brachte.
Aber doch konnte sie die immer wachsende Zersplitterung der Bo-
dennutzung nicht aufhalten, wie sie sich innerhalb des Allodialver*
mOgens, spätestens seit Ende des 12. Jahrhunderts ausbildete. Qe-
genttber dieser Tendenz der sog. vorfälligen Gttter ergeben sich
allerdings bei den sog. hinterfälligen QUtern mit abgeleitetem Eigen-
tum einige Besonderheiten. Zwar war im Ganzen und Großen das
materielle Recht der hinterfälligen Güter, soweit es hier in Frage
kommt, dem Rechte der vorfälligen Gtlter so ziemlich konform ent-
wickelt. Aber doch hatten die hinterfälligen Güter eine allgemeine
Grundlage für ihre Verkehrsfähigkeit von singulärer Art. Zunächst
ist es hiefttr schon richtig, daß gegenüber einer beständigen Ab-
nahme des echten Eigens der Bestand des abgeleiteten ein rasches
Wachstum zeigt. Alle diese hinterfälligen Liegenschaften aber, das
Lehengut, das Zinsgut und das Vogteigut unterlagen bei Teilung,
Veräußerung und Vererbung einer besonderen Einwirkung des Ober-
eigentttmers, durch welche die Ausbildung eines besonderen Rechts
der hinterfälligen Liegenschaften in diesen Beziehungen veranlaßt
wird. Noch im späteren Mittelalter, wo doch die Rechte der Ober-
eigentümer schon mehr zurücktraten, blieb doch auf dem platten
Lande ihr Zustimmungsrecht bei allen wesentlichen Veränderungen
im Schicksal des hinterfälligen Eigens bestehn. Freilich bewirkte
nun dieses Einmischnngsrecht nicht durchgängig eine Erschwerung
im Güterverkehr; höchstens in den daraus abgeleiteten Besitz Verän-
derungsabgaben kann ein allgemeines Hemmnis aber von doch nur
geringfügiger Wirksamkeit gesehen werden. Im übrigen machte sich
auch bei den hinterfälligen Gütern die gewohnheitsmäße Erbfolge
geltend, ja sie war weithin sogar im Interesse des Obereigentümers
selbst gelegen ; nicht selten war dadurch Gelegenheit die Einnahmen
zu erhöhen, indem auf alle Splissen früherer Vollgüter große Teile
der alten Lasten jedesmal vollinhaltlich und selbständig übertragen
wurden. Nichtsdestoweniger ergab sich doch aus dem Verhältnis des
Obereigentums von selbst eine Grenze fbr diese Teilbarkeit und Ver-
vielfältigung der Abgaben eben in der Leistungsfähigkeit der hinter-
fälligen Liegenschaften selbst. Zugleich bewirkte die Zersplitterung
der Vollgttter die organisatorische Zusammenfassung der Teilgttter
für die Leistung der gesammten Lasten des zu Grunde liegenden
Stammgutes und die Feststellung von Minimalgrößen für die ersteren.
Andrerseits hatte die Abänderung der alten Erbfolgeordnung, wo sie
|m Interesse der Obereigentümer lag, die singulare Bildung der sog.
Lampreclit, Deutsches Wirtschaftsleben im Mittelalter. 331
Stock- oder Scbaftgttter im Gefolge, welche im Sinne der Indivi-
dnalsnecesBioD wieder za einer Beschränkung der Verkehrsfreiheit
der Gflter führte. Das aber ist doch vor dem 13. Jahrhundert kaum
anzunehmen und hängt sichtlich mit der vollen Badioierung der vog-
teilichen Lasten und mit dem Verfall der Hnfenverfassung zusammen.
Als eines noch besonders bedeutsamen Faktors für die Entwickelnng
der LandnntzuDgsverteilung gedenkt Lamprecbt schlieBlich noch des
kirchlichen Rechts der toten Hand. Dieses Recht untersagt bekannt-
lieh im Allgemeinen die Veräufterung kirchlicher Liegenschaften ; es
läAt eine Veräufterung nur bei evidentem Nutzen zur Arrondierung
und zu anderen Zwecken zu ; selbst der Tausch ist nur unter be-
sonderen Bedingungen zulässig. Dieses Recht der toten Hand bil-
dete also ein ganz wesensentliches Hemmnis für die Mobilisierung
der Liegenschaften und somit fttr die Verteilung des Grund und
Bodens und seiner Nutzung; es macht sich denn auch schon frtth-
zeitig eine gewisse Abneigung der Laienwelt gegen diesen unbeweg-
liehen Besitz der toten Hand geltend; bald kam man zu völligen
Erwerbsverboten an Liegenschaften für dieselbe. Seit der Mitte des
13. Jahrb. war der Einfluft der toten Hand auf die Gttterbewegung,
abgesehen von der Einwirkung ihres einmal vorhandenen großen
Besitzes, erschtlttert , seit dem 14. Jahrb. war er gebrochen, wenn-
gleich die Wirkung auf die Mobilisierung des Grundbesitzes in dieser
Zeit noch wenig zu beobachten ist Andrerseits ist freilich auch der
Einfluft nicht zu ttbersehen, welchen die Kirche durch Begünstigung
der Testierfreiheit und durch die besondem fttr kirchliche Schen-
kungen erwirkten Erleichterungen des Gttterverkehres auf die Mo-
bilisiernng des alten Gttterbestandes ausgeübt hat. Den Gesammt-
affekt dieser gesammten mittelalterlichen Entwickelnng der Vertei-
lung des Grundbesitzes und der Bodennutzung faftt Lamprecht da-
hin zusammen, daft ein Uebergang vom reinen Hufenanban zu klei-
neren Landgütern einerseits, zu etwas grOfteren aber gleichwohl
nicht ttbergroften Herrenhöfen andrerseits stattfand und in den Schaft-
gtttern eine eigne Kategorie gröfterer Bauerngüter enstand, neben
welchen auch noch eine Anzahl gröfterer Allodialgttter auf hochkul-
tiviertem Boden erhalten blieb. Diese Mischung gröfterer und klei-
nerer Landgüter war im Allgemeinen dem Fortschritte der Landes*
knltur im Moselgebiete entschieden günstig, ja es ist fttr die natür-
tiehen Vorbedingungen dieses Gebietes eine bessere Verteilung der
Bodennutzung, als die während des Mittelalters historisch erwachsene,
im Ganzen wohl nicht denkbar.
Das sechste Kapitel über »die Wirtschaftsorganisation
des GroAgrundbesitzes bietet in seinem ersten Abschnitte
24*
Sdä 6ött. gel. Adz. 1887. Kr. d.
im Wesentlichen eine wertvolle Ergänzung nnd Weiterftthrang der
bisher in der deutschen Wirtschaftsgeschichte gewonnenen Anscbau-
nngen über die Bildang nnd den Charakter des GroBgrundbesitses
im Mittelalter. Es ttberrascht dabei yielleicht einigermaften, daft der
Verf., nachdem er die Vorgänge der Bildang geistlicher nnd welt-
licher Groftgmndbesitzangen zuerst analysiert, schlieftlich doch zu
dem Urteile gelangt, daß die Unterschiede dieser doppelten Bestre-
bungen nicht so groß sind als das nach den beiderseitigen Ausgangs-
punkten wohl hätte erwartet werden können. Weltlicher wie geist-
licher Besitz war bis zum 11. Jahrb., der eine durch Besiedelungi
der andere durch Schenkung, völlig ausgeweitet und nahezu abge»
schlössen; weltlicher wie geistlicher Besitz erlebte vom 12. bis 14.
Jahrb. in Hofanlagen eine Nachblttthe des Erwerbs, welche zugleich
mit der Einfahrung ausgedehnterer Hofwirtsohaft verknüpft war.
Selbst die größere Kohärenz des Laienbesitzes, welche man des-
halb vermuten möchte , weil die Kirche im Zufall vornemlich der
Schenkungen, der Laienadel mit der bewußten Absicht kolonisato-
rischer Erweiterung erwarb, scheint keine bedeutende gewesen zu
sein; die positiven Nachrichten ergeben auch für den Grundbesitz
des Laienadels einen ziemlich weitgehenden Streucharakter. Mag
dieses Urteil nach der Lage der Quellen des Moselgebietes auch im
Großen als zutreffend anerkannt werden , so bleibt doch der große
Unterschied bestehn, welcher sich in den Organisationstendenzen
zwischen weltlichem und geistlichem Großgrundbesitz zeigt, und sich
insbesondre durch größeres Salland der ersteren, durch reicheres
Zinsland der letzteren, besonders der Elosterherrschaften charakteri-
siert Andererseits unterschätzt Lamprecht doch auch unter dem Ein«
drucke der zahlreichen Einzelnachrichten über Streubesitz die auf
bessere Anordnung und Zweckbestimmung der großgrnndberrliohen
Besitzstflcke gerichteten Veränderungen in der Organisation der
Wirtschaft. Schon die auch von ihm anerkannte Veränderung der
Erwerbsarten, besonders die für den geistlichen Besitz wichtige Thal-
sache, daß die Schenkungen mit der Zeit seltener werden , während
Kauf, Tauschund andere Erwerbsarten, welche den Grundherrn
mehr Ingerenz verstatten, zunehmen , ist hierfttr ein wichtiger Um*
stand; waren die kirchlichen Institute an dieser Veränderung aieh
nnr passiv, nicht aktiv beteiligt, so haben sie doch dadurch erst Ge-
legenheit bekommen, bei Gutserwerbungen auf die Interessen der
Wirtschaftsorganisation Bflcksicht zu nehmen. Und daß durch Ar»
rondierung und Gutstäusche nicht nur viel geleistet, sondern der Guts-
bestand geradezu massenhaft geändert wurde, dafttr liefert ja doch so
ziemlieh jedes Urkundenbuch für die Zeit vom 10 — 13. Jahrb. schla-
Lamprecht, Deutschem Wirtschaftsleben im Mittelalter. 388
genden Beweis. Aach Bonst wohl ist Lamprecht geneigt, die Bedeo-
tung der QroßgrQDdherrschaft ftlr die Organisation der volkswirtsobaft-
liehen Kräfte ftlr unbedeutend zu halten; insbesondere eine steigen*
Specialisierung der Dienste und Abgaben will er nicht zugeben, die
Gewährung Ton Saatgetreide und Ausstattung der ZiQ3gttter mit
Inventar, sowie die freie Wahl der Wertform der Leistungen durch
die Grundhörigen siebt er nur als singulare Vorkommnisse an, welche
keine durchschlagende Bedeutung für eine einheitlichere Organisation
der Groftwirtschaft gehabt haben. Es wird sich nun allerdings bei
der Kargheit der Ueberlieferungen vielleicht nie entscheiden lassen,
ob wir es hier mit mehr oder weniger häufig vorkommenden Ver«
hältnissen zu thun haben ; genug an dem , daft sie nicht eben nur
vereinzelt sind, und daft sie erst in der Zeit einer bewuBten grund-
herrschaftlichen Organisation überhaupt auftreten.
Wird sich in dieser Art in Bezug auf die Bildung der groften
Grandherrschaften und den Gesamtcharakter ihrer volkswirschaftli-
eben Wirksamkeit wenigstens für die ältere Zeit doch im Groften und
Ganzen die Auffassung aufrecht erhalten lassen, welcher ich (Wirt-
schaftsgeschichte I 278 — 427) Ausdruck gegeben habe, so ist andrer-
seits die Charakteristik, welche Lamprecht innerhalb des Groftgrnnd-
besitzes speciell von der fiskalischen Lokalverwaltung entwirft, and
seine Betonung der Verschiedenheit zwischen dieser und der aristo-
kratisch-grundherrlichen Lokalverwaltung zweifellos vollkommen be-
rechtigt und geeignet die Vorstellungen von der grundherrschafttichen
Wirtschaftsverfassung flberhanpt wesentlich zu bereichern und zu be-
richtigen. Die karolingische Fiskalverfassung hat darnach keine
Parallele in der aristokratischen Grundherrschaft. Gegenüber so aus-
gedehnten Unterverwaltungen, wie es die der Fisci waren, und bei
so wenig ausgebildeten Verkehrsverhältnissen wie den karolingischen
konnte die Centralverwaltung im wesentlichen nur in Rechnungs*
und allgemeiner Verwaltungskontrole bestehn; der Schwerpunkt der
Verwaltung und Bewirtschaftung muftte dagegen im Ganzen und
Groften auf den einzelnen Fisci selbst liegen. Es war mithin die
Aufgabe, jeden Fiskus zu einer thunlichst kräftigen Einheit ausza-
gestalten, an die Spitze desselben also einen besonders umsichtigen
und besonders verantwortungsftlhigen Beamten zu setzen ; unter die-
sem Beamten und von ihm abhängig konnte dann die weitere Aus-
gestaltung der Fiskusverwaltung im Einzelnen vor sich gehn. Dieser
Beamte war der Judex, stets ein freier Mann, wohlbegtttert and
mächtig; in seiner Hand koncentrierte sich die ganze Verwaltang
des Domänialbezirks : die obere Wirtschaftsverwaltung, die Rechts-
pflege and die Polizei ; der Bezirk war also von der gewOhnlicben
S34 Gott gel Auz. 1887. Nr. 9.
HondertBchaftsverfassang eximiert and bildete für sich wie einen
eignen Wirtschafts- so auch einen eignen Gericbtssprengel Den.
weitreichenden Befugnissen des Jadex stehn dann die einzelnen ihm
sämtlich zar Recbnnngslage verpflichteten Lokalbetriebe gegenüber,
teils allgen^ein landwirtschaftliche, die Fronhöfe , teils Sonderbetriebe
wie die Forstrerwaltang a. a. An der Spitze aller dieser Betriebe
standen Subalterne, Juniores des Judex, wie der Maior an der Spitze
des Fronhofes, der Forestarius an der Spitze einer lokalen Forstver-
waltnng, lauter Ministeriale niedrer Gattung, Dieser Verwaltangsor-
ganisation der Fiskalbezirke hat die aristokratische Grandherrschaft
nichts Gleichwertiges an die Seite zu stellen ; es ^bt hier keine hö-
here Klasse von grnndherrlichen lokalen Verwaltnngsbeamten als
die Meier der einzelnen Fronhöfe; nur in dem Yiztum oder Propst
der größten geistlichen and weltlichen Grundherrschaften ist eine ge-
wisse Analogie mit dem Judex der Fiskalverwaltung zu finden; sie
gehören aber nicht der Lokalverwaltung an, sondern sind nar Ver-
treter der rechtlichen Interessen des Grundherrn zumeist als Immuni-
tätsherrn. So bereitwillig und dankbar nun aber auch dieses Resultat
der sorgsamsten Analyse der grundherrschaftlichen Verwaltungsein-
richtungen bei Lamprecht anzuerkennen ist, so wird doch auch zu
konstatieren sein, daß in dem Fehlen der eigentlichen lokalen Ver-
waltungsbehörde die einzige wesentliche Verschiedenheit der aristo-
kratischen gegenüber der fiskalischen Gutsorganisation besteht. Und
so weitragend dieser Unterschied für die Geschichte der Verwaltung
sein mag, — die eigentliche Betriebsorganisation der Grundherr-
schaften ist doch kaum sehr erheblich davon berührt worden. Denn
in der eigentlichen Villenverfassung, der Wirtschaftsorganisation des
Fronhofs mit seinen zugeteilten Hufen und mit seinem Sal- und
Beundeland, lag doch der Schwerpunkt der produktiven Arbeit dieser
Wirtschaften, gleichmäßig bei den königlichen Domänen wie bei dem,
immerhin viel mehr zerstreuten, Besitz der geistlichen und weltlichen
Herrn. Der Meier wird allerwege eine sehr maßgebende Bolle fttr
die Wirtschaftsftihrang und ihre Erträge gespielt haben, mag im
Uebrigen die Centralisation der Verwaltung eine vollständige, in der
Hand des Grundherrn selbst gelegen, oder durch die Zwischenstufe
des judex eine mehr gegliederte gewesen sein. Es wird Lamprecht
anbedingt zuzugeben sein, daß die aristokratische Grundherrschaft
die Einrichtnng des Fiskalbezirks nicht nachgeahmt hat, bei ihrer
relativ geringeren Ausdehnung, schlechteren Arrondierung und gerin-
gerem Maße von öffentlicher Gewalt auch nachznahmen gar nicht in
der Lage war; in der Organisation der Fronhöfe mit ihren Meiern
and sonstigen Ministerialen, mit ihrem Salland and zugeteilten Zins-
Lamprecht, Deutsches Wirtschaftsleben im Mittelalter. 335
land, in der Organisation ihrer Specialbetriebe und ihrer gewerblichen
Arbeit zeigt sie dennoch in der Zeit vom 9. Jahrb. an so viel ver-
wandte Zttge mit der k?$niglichen Villenverwaltang , daS eine Her-
tlbemahme leitender Gedanken dieser in die Ordnung jener doch
auBer Zweifel scheint, und daB sich scblieftlich aas dieser wenn-
gleich anvollkommnen Nachahmung der Verwaltungseinrichtungen im
Verlaufe der Zeit Propsteien, Oberschultheißenämter und ähnliche
OfBcien mit einem den Kompetenzen des fiskalischen Judex nahe ver-
wandten Inhalt ihres Amtes entwickeln konnten , wie das am Ende
doch in den zu landesherrlichen Territorien herangewachsenen Grund-
herrschaften vielfach beobachtet werden kann, das spricht doch auch
daflElr, daß die aristokratische Grundherrschaft den Geist der könig-
lichen Wirtschaftsorganisation wohl erfaßt und in jahrhundertelanger
Ausgestaltung wirksam erhalten hat.
In dem siebenten Abschnitte werden die Grundherrlichkeit
und Vogtei als Formen halbstaatlicher Gewalt undFer-
mente socialer Schichtung in Überaus anschaulicher und viel-
fach origineller Weise vorgeführt. Vertretungsgewalt vor Gericht
und Obereigentnm sind die Basis der Grundherrlichkeit, wie sie etwa
seit Beginn des 10. Jahr, in jedem Fronhofe vorliegt; unter ihrem
Einwirken verschmelzen die Verhältnisse der unfreien, minderfreien
und vollfreien Bevölkerung der karolingischen Grundherrschaft nun-
mehr völlig zur Grundhörigkeit des eigentlichen Mittelalters : aus ihrer
Ausgestaltung zu besonderen Institutionen erwächst die specifisch
grnndherrliche Verfassung. Allmendeobereigentum dagegen und Im-
munität sind nur, allerdings kostbare, Zugaben jeder späteren, wahr-
haft bedeutenden Grundherrschaft, sie runden deren Charakter ab,
ohne ftar die Grundherrlichkeit wesentliche Erfordernisse zu sein.
Daft sie trotzdem in den meisten Fällen hinzutraten und damit der
einfachen Grundherrlichkeit eine weitaus größere Bedeutung gaben,
erkennt Laroprecht nichtsdestoweniger unumwunden an : insbesondere
von den markgenossenschaftlichen Rechten fllhrt er selbst des nä-
heren aus, wie es die Grundherrn etappenweise, bald früher bald
später, zur vollen Entwickelung eines Obereigentums an den All-
menden derjenigen Marken brachten, in welchen Fronhöfe von ihnen
gelegen waren. Bis zum 12. Jahrb. war der Erwerb eines solchen
Obereigentums schon weitreichend durchgeführt, und auf dieser Basis
entwickelte sich nun ein besonderes grundherrliches AUmenderecht,
dessen Ausgestaltung bis zum Schlüsse des 13. Jahrb. im wesentU-
ohen abgeschlossen wurde. Daß dieser Entwickelungsproceß schon
in der ELaroIingerzeit begann, wird wohl nicht zu bestreiten sein; es
ist aber ein Misverständnis von Lamprecht, wenn er meine auf dieses
336 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 9.
Verhältnis sich beziehenden Ansftthrangen (Aasbildang der groftea
Qrandberrscbaften S. 65 , 101) dahin versteht, als hätte ich den
Proceß bereits mit dem 9. Jahrb. als abgeschlossen, die Markgenos-
senschaft in dieser Zeit schon ganz in Hofgenossenschaft nmgewan*
delt bezeichnet. Vielmehr ist in diesen Stellen nur der nnzweifel-
haften Tbatsache Ausdruck gegeben , daB die Grundherrn sich früh-
zeitig die Marken ftlr ihre ökonomischen Interessen dienstbar za
machen und sich als faktische Herrn der Mark zu gerieren begannen,
und daß sie andrerseits den hofgenossenschaftlichen Verband da, wo
sie in einer Mark diese Macht errangen, an die Stelle des alten
markgenossenschaftlichen setzten , wobei ich aber ausdrücklich her-
vorgehoben habe, daß in der Earolingerzeit nur Spuren einer solchen
Wirksamkeit vorhanden sind, während die Ausbildung eines eignen
Hofrechts und damit natürlich auch die Ersetzung der Markgenossen-
schaft älterer Struktur durch eine neue grundhörige Bildung schon
wesentlich einer späteren Zeit angehört
Ein letztes großes Hauptthema erörtert Lamprecht im VIII. Ea*
pitel »zur Entwickelungsgeschichte der Landesgewalt,
nnd zwar, wie wir gleich hinzufügen wollen, mit besonders glttekli-
chem Erfolge. Zwar stellten sich gerade dieser Aufgabe besondere,
äußere und innere Schwierigkeiten entgegen; schon der hierfür brauch-
bare Quellenstoff war ein beschränkter, im Wesentlichen nur zur
Geschichte des Kurfürstentums Trier verfügbar, das nicht den be-
günstigten Entwickelungscentren der Landesgewalt angehörte. Auch
war es durch die grundsätzliche Beschränkung des ganzen Werkes
auf das Mittelalter verwehrt, den ganzen Proceß der Bildung der
Landesgewalt bis zu seinem Abschlüsse zu verfolgen, daher insbe*
sondere auch später erst wichtig gewordene Bildungsmomente auf
ihre Wurzeln zurückzuverfolgen ; andrerseits aber war durch die Be-
schränkung des Werkes auf ein deutsches Territorium die erschö-
pfende Darstellung des Einflusses der Reichsgewalt, durch die beson-
dere Betonung der materiellen Kultur des platten Landes der volle
Ausblick auf städtisches Wesen in seiner Bedeutung für die Ausbil-
dung der Landesgewalt behindert. Das aber, was nun in dieser man-
nigfachen Beschränkung zu leisten war, die Klarlegung der im Be-
reiche der Kultur des platten Landes liegenden Potenzen und ihre
differente Wirksamkeit ftlr die Bildung eines großen landesherrlichen
Territoriums, sowie der Organisation dieser Landesverwaltung selbst,
das ist Lampreeht doch in hohem Maße gelungen. Und wenn wir
bedenken, daß gerade diese mittelalterliche Vorgeschichte der Lan-
desherrschaft noch am meisten der Aufhellung bedarf, und andrer-
seits nicht übersehen, daß ftlr diese erste Periode ihrer Geschichte
Lamprecht, Deutsches Wirtschaftsleben im Mittelalter. 837
doch Orandherrlichkeit , Vogtei und Lebnaherlicbkeit nebst der ei-
gentttmlicb entwickelten, aber wesentlicb docb immer noch auf nicht-
Btädtisoben Fundamenten rahenden Eriegsgewalt die eigentlichen
Faktoren der Territorialgewalt waren , so werden wir auch ttber die
allgemeine Bedentnng dieser Specialantersachnng für die deutsche
Wirtschafts- und Verwaltangsgescbicbte nicht geringfügig arteilen
können. Es scheint ans dabei ganz besonders verdienstlich die Art
und Weise, in welcher Lamprecht den Parallelismas entwickelt, in
welchem eben diese genannten Momente für die Entwickelang der
Landesgewalt und ftlr den Umbau der socialen Ordnnng wirksam ge-
wesen sind. In der That wäre wohl das Streben der grOftten Qrand-
faerm nach der vollen Landesherrsehaft nicht znm Ziele gelangt,
wenn nicht die parallele Entwickelong der ständisehen Verhältnisse
sie so begünstigt hätte. Insbesondere ist hier die Rolle der Mini-
sterialität, der kri^erischen wie der unkriegerischen, bedeutsam, welche
Lamprecht mit Recht so besonders in's Licht gerückt hat Vielleicht
hätte aber diese Seite der ganzen Entwickelung auch aus den Quellen
des Mosellandes noch anschaulicher hervortreten können, wenn Lam-
precht etwas näher auf die Wechselbeziehungen eingegangen wäre,
welche zwischen den seit dem 10. Jahrhundert gegründeten
Burgstädten und dem platten Lande bestanden. Die Besatzung der
für die Anfänge der Landesgewalt so hervorragend wichtigen Bargen
bestand ja doch vomemlich aas Eriegsdienstmannen, welche mit ihrer
neuen Bedienstung keineswegs den Zusammenhang mit dem platten
Lande verloren. Vielmehr zogen sie aus demselben, wo sie selbst
und ihre Familien mit Lehen und Beneficien begütert waren, die
wirtschaftliche Kraft, mit deren Hilfe sie sich dann in den aufkei-
menden Bargstädten als social bevorzugte Klasse mindestens ebenso
sehr als mittelst ihrer militärischen Organisation behaupteten. Wirt-
schaftliche Beziehungen sind damit zwischen Stadt und Land ange-
knüpft worden, wie sie vordem nie bestanden; der Landbevölkerung
guter Absatz ihrer Prodakte, der Stadtbevölkerung reiche Zufuhren
und ein stets belebter Markt; beide Vorteile aber zunächst in der
Hand eben der ritterschafllichen Familien, von denen ein Teil
mit dem Pfluge, der andere mit dem Schwerte die sociale Führer-
rolle erkämpfte, mit der sie dann die ganze Bevölkerung in die Ge-
walt ihrer Herrn, der Landesherm, brachten.
Wir müssen uns angesichts des groBen Reichtums an Einzel-
untersuchnngen, welche der I. Band des Lamprechtschen Werkes
bietet, mit diesen Stichproben begnügen, können aber nicht unter-
lasse% noch besonders hervorzuheben, dafl wohl kein irgend belang-
338 Gott. gel. Adk. 1887. Nr. 9.
reiches Moment der agrarischen Entwickelang des Mittelalters ohne
Beachtung, kein principiell wichtiges Verhältnis ohne eingebende
selbständige Untersachnng geblieben ist. Das Werk wird weit ttber
den Kreis des eigentlichen Forschungsgebietes des Verf. hinaus fttr
die weitere Entwickelung der deutschen, ja wohl der Wii-tschafts-
geschichte Überhaupt von fruchtbarster Wirksamkeit sein, wie es ja
auch keineswegs aus den partikularen Quellen des Mosellandes allein,
sondern mit vollem historisch-nationalökonomischen Verständnis aus
den geschichtsquellen des deutschen Lebens Überhaupt geschöpft ist.
Zum Schluß sei noch des außerordentlich reichen statistischen
und urkundlichen Materials gedacht, welches der Verf. für seine Be-
arbeitung des deutschen Wirtschaftslebens im Mittelalter gesammelt
und in zwei starken Bänden seinem Werke beigegeben hat. Die
Schwierigkeit aus den Urkunden und Akten des Mittelalters statisti-
sches Robmaterial zu gewinnen, ist den Forschern auf diesem Ge-
biete ebenso bekannt, wie das Bedürfnis nach dieser exakten Unter-
lage wirtschaftlicher Forschung allgemein anerkannt ist. Da ist es
denn ein um so größeres Verdienst Lamprechts, nicht nur die un-
wegsamen Pfade, welche zu diesem Material führen, unverdrossen auf-
gesucht und alles Brauchbare mit Bienenfleiß gesammelt zu haben,
sondern durch seine musterhafte Bearbeitung nach statistischer Me-
thode zugleich den Stoff fruchtbar für seine eigentlichste Aufgabe
und die Wege gangbar auch für seine Nachfolger gemacht zu haben.
Wir messen diesem statistischen Teile eine eminent methodologische
Bedeutung bei; alle künftige wirtschaftsgeschichtliche Forschung wird
hier in die Schule gehn müssen, und das ist um so wichtiger, als ja
gerade diese Richtung der Forschung kaum eingeschlagen, geschweige
denn schon viel verfolgt ist. Der Kreis von Thatsachen der mittel-
alterlichen Kultur, auf deren Erforschung sich die statistische Methode
anwenden läßt, ist naturgemäß ein beschränkter. Am ehesten noch
ist die Preisgeschichte bis jetzt dadurch gefördert worden, und auch
bei Lamprecht spielt diese Seite der historischen Statistik eine große
Rolle, um so mehr, als sie auf der breiten Grundlage eingehender
Ausftihrungen ttber Verkehrsmittel, Verkehrsbewegung und Zölle, über
Mttnze, Maß und Gewicht entwickelt wird. Immerhin bleibt es be-
merkenswert, daß sich in dem ganzen reichen Quellenschatz des
Mosellandes keine preisgeschichtliche Quelle erhalten hat, welche nur
annähernd etwa' mit den Eton- und Oxfordlisten oder mit den schö-
nen Preisverzeichnissen von Orleans, Braunschweig und anderen Orten
sich vergleichen ließe. Größere, einheitliche Preisreihen fehlen daher
gänzlich in Lamprechts statistischem Material und mit einiger Ent-
täuschung haben wir, trotz des reichlichen Details , diesen Abschnitt
Lamprecht, Deutsches Wirtschaftsleben im Mittelalter. 339
als einoD der am wenigst frachtbaren des ganzen Werkes gelesen.
Wie ganz anders baut sich da Bogers history of agrioaltare and
prices in England gerade aas dem preisstatistischem Material auf!
Aach die Bevölkerangsstatistik geht beinahe leer ans; Lamprecht
yersnoht zwar fttr die verschiedenen Perioden des Mittelalters den
Znwaohscoefficienten ans allen ihm zn Gebote stehenden Anhalts-
punkten zu ermitteln and nimmt ihn an :
fttr das Jahr cca 900 mit 3,5 Procent
- . • - 1000 - 1,8
. . - . 1100 - 2,26 -
.... 1200 - 2,9
Aber eigentlich bevölkerangsstatistische Qaellen hat er doch nicht zn
erschlieften vermocht and anch die als Redaktionsfaktoren etwa ver-
wendbaren Verhältnisse sind statistisch nicht genügend festgestellt,
um darauf eine Rechnung begründen zn können. Dagegen ist das
statistische Verfahren mit ebenso viel Umsicht wie Erfolg angewen*
det zur Beleuchtung der Geschichte der Besiedelung und des Ans-
baues durch tabellarische Nachweisung der gleichzeitig vorkommen-
den Ortsnamen mit Rücksicht auf ihre neuzeitliche Verteilung und
Bevölkerung, femer zur Geschichte des Grundbesitzes durch statisti-
sche Bearbeitung der wichtigsten Urbare von Prüm, Mettlacb,
St Maximin und Trier, woraus auch auf die Parcellierung, Vertei-
Inng und Belastung des Grundbesitzes vielfach Licht verbreitet wird.
Die Quellenkunde sodann, welche die andere Hälfte des
2. Bandes einnimmt und sich über Weistum und Urbar als die Haupt-
qnellen der Wirtschaftsgeschichte des platten Landes i. A., dann über
die einzelnen territorialen Quellenkreise mit voller kritischer Sorg-
falt verbreitet, beweist nur aufs Neue die sorgsame und erschöpfende
Vorbereitung, mit welcher der Verfasser an seine Aufgabe herange-
treten ist
Der dritte Band endlich enthält eine Quellensammlung und
zwar 282 Stücke Verwaltnngsnrkunden und 26 Stttcke statistische
und kalkulatorische Quellen, letztere zumeist Einnahmen- und Aqs-
gabenregister, zu welchen Dr. N. van Werveke in Luxemburg das
schöne Urbar der Grafschaft Luxemburg (1306—1317) beigesteuert
hat Es sind fast durchaus Inedita, welche hier geboten werden;
nur sehr wenige schon früher gedruckte wichtige Urkunden, für
welche wegen ihrer bisherigen mangelhaften Veröffentlichung eine
nene Edition notwendig war, finden sich darunter. Weistümer und
Urbare fehlen fast gänzlich, weil ihre Edition der Gesellschaft für
rheinische Geschichtsknnde vorbehalten ist Die Sammlung der^Ver-
waltungsurkunden bietet für manche besonders wichtige wirtschafte
340 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 9.
liehe Verhältnisse z. B. die Geschichte der Pachtformen, die Ent-
stehungsgeschichte der Territorialverwaltung im Sinne des Beamten-
staates ganze Entwickelungsreihen oder doch hervorragende charak-
teristische Beweisstücke.
SchlieBlich sei noch der im I. Bande enthaltenen Chronik der
elementaren Ereignisse gedacht, welche sich eigentlich der Urkunden-
Sammlung anschließt , insoferne der Verf. dabei den gewiB sehr ge-
rechtfertigten Grundsatz befolgt, nicht nur das Datum selbst, sondern
die quellenmäßige Fassung desselben mitzuteilen. Es zeigt sich eben
bei jeder Gelegenheit , wie gewissenhaft, in wahrhaft historischem
Geiste, der Verf. seine Aufgabe erfaßt und durchgefdhrt hat Wir
können uns aufrichtig eines Werkes freuen, das ebenso großartig in
seiner Anlage wie tüchtig in seiner Durchführung die Position der
wirtschaflsgeschichtiichen Forschung wesentlich gefestigt hat und
damit gewiß auch erheblich dazu beitragen wird, ihre Zukunft hoff-
nungsvoll und erfolgreich zu gestalten.
Wien. Dr. von Inama^Sternegg.
Oeering, Trangott, Handel und Industrie der Stadt Basel. Zunft-
wesen and Wirthscbaftsgeschichte bis zam Ende des 17. Jahrhunderts aus
den Archiven dargestellt. Basel 1886. Druck and Verlag von Felix Schnei-
der (Adolf Geering). XVI u. 678 S. 8<>.
Das vorliegende Buch, obwohl ein Erstlingswerk, kann den An-
spruch erheben, die Wirtschaftsgeschichte um ein gutes Stttck ge-
fördert zu haben. Der Verfasser hat ein erstaunlieh grofies archi-
valisches Material verarbeitet, er ist auch nationalOkonomisch genug
geschult, um zu wissen, worauf es ankommt; es fehlt ihm nicht an
Gesichtspunkten, er weiß Fragen zu stellen und sie auch zu beant-
worten. Basel bot freilich ein sehr dankbares Feld zu Untersuchun-
gen teils wegen seiner reichen und in seltener Vollständigkeit erhal*
tenen archivalischen Schätze, teils wegen der wertvollen Vorarbeiten,
wie sie Häusler, Fechter, Arnold, Schönberg, Ochs u. A. geliefert
haben, so daft der Verf. auf Nebengebieten, wie z. B. bezüglich der
Baseler Verfassungsgeschichte, guter Berater nicht entbehrte.
Den Hauptwert des Geeringschen Werkes möchten wir darin er-
blicken, daft es nicht ein Bruchstdck, nicht ein einzelnes Gewerbe
herausgreift, sondern den Versuch macht, die gesamte wirtschaftliche
Entwicklung des eigenartigen Baseler Gemeinwesens bloft zu legen
und zwar so, daft an die wirtschaftlichen Einrichtungen angeknüpft
und den treibenden Kräften nachgegangen wird, welche Umgestal-
Geering, Handel und ladastrie der Stadt Basel. Sil
tangen vorbereiten und dnrcbsetzen. Das ist ja aacb der Pankt^ der
uns Nationaldkonomen intereasiert ; antiqaariscbe EiDzelbeiten können
ons wenig nützen.
Es wäre undankbar, wollte man in Anbetracht dessen, was uns
der Verf. im Ganzen bietet, am Einzelnen nörgeln. In den meisten
Stocken ist ohnehin ohne Kenntnis der Qaellen selbst eine Kritik
gar nicht mOglich, wird also erst za Tage treten, wenn das Baseler
Wirtschaftsleben noch weiter nntersucht wird. Wir wollen es auch
nicht betonen, daB in der Darstellung manchmal das Detail die lei-
tenden Gedanken etwas drückt, daß manche Seiten, wie der lieber«
gang von Handwerk in Hans- und Fabrikindostrie, and die Verhält-
nisse der letztern noch frachtbarer hätten gemacht werden kOnneUi
daft hie ond da die einschlägige Litteratar nicht gekannt wird ; wor-
auf es z. B. zurückzuführen sein dürfte, wenn Geering S. 592 be*
hauptet, von den Refugiantenindustrien wisse man in Deutschland
wenig oder nichts, sie blieben als unwesentlich oder undeutsch bei
Seite liegen. Wohl aber scheint es nns am Platz, wenn wir eine
kurze Skizze geben, um klar zu stellen, was der Verf. Neues ge-
bracht hat
Gleich das erste Kapitel über die Entstehung des Baseler Zunft*
Wesens ist sehr wertroll. Die Darlegung des Verf. macht einen
überzeugenden Eindruck und bestätigt in der Hauptsache die Nitzsch
und Fecbterschen Forschungen. Die Basier Zünfte sind ans dem
bischöflichen Herrenhof heryorgewachsen ; im 10. und IL Jahrb.
ward mit dem privaten Hofrecht gebrochen, aus dem Hof ward eine
öffentliche Stadt, der Bischof aus einem Hofherrn ein Stadtherr, das
Verwaltungssystem aus einem privaten ein Öffentliches. Das geschah
durch Eröffnung der gratia emendi et vendendi, die wahrscheinlich
den Ottonischen Privilegien nachfolgte. Die Fürsorge des Meiers
und der Officialen verwandelte sich in die Marktpolizei und Hand*
habung der wenigen Reste hofrechtlicher Leistungen. Die Vermin*
derung der letztern erschien als finanzpolitische Weisheit, der Aus«
fall wurde durch die Abgaben der groften Zahl neu Zuwandernder
aufgewogen. Das Interesse von Stadt und Bischof verschmolz immer
enger mit einander, es entstand unter dem Segen der neuen Gewerbe-
freibeit; Wettbewerb, ein Markt, eine Summe feinerer Wertbegriffe,
eine Menge gebundener Kraft wurde durch das Freigeben des städti-
schen Verkehrs gelOst. Die Organisation von Handwerkern alten
Styls verschwand übrigens mit der gratia keineswegs, im Gegenteil
^t jeder neu zuwandernde Handwerksgenosse in die 8 oder 9 oiB*
dellen Handwerke ein. Die neu entstehenden Handwerke hatten
dagegen nniprtng^ich k^ine Organisation, die gratia stand auch ihnen
ä42 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 9.
offen, aber sie war nicht an die Zogehörigkeit zu einer hofrechtlicben
Genosflenschaft geknüpft — es waren offene Handwerke; die Ge-
richtsbarkeit übte der Probst zu St. Bernhard, sie war der alten
bofrechtlichen des Vnllicis nnd der Officialen nachgebildet. Die
Aemter waren yomehmer als die offenen Handwerke, welche schon
ihr Wohnsitz in den damaligen Vorstädten zn einem niedrigen Stande
stempelte ; die offenen Handwerke hatten dafür den Vorzng größerer
Beweglichkeit. Die Znnftbildnng bei diesen setzte nur an den kirch-
lichen Brüderschaften (»Seelenheilversicherangsgesellschaftenc) an;
es entstand das Bewußtsein der Solidarität , man traf auch gemein-
same Verabredangen über gewerbliche Dinge (Condictum inter se fe-
cerunt) ; die widerwiltigen außerhalb Stehenden suchte man zu zwin-
gen und setzte beim Bischof durch, daß die gratia an das Eondikt
der Handwerker geknüpft wurde. Vom privaten Verein erhob sich
die Bruderschaft so zu einer öffentlichen Zwangsgenossenschaft Von
den Gewerbeordnungen der OfBcia unterschieden sich die Eondikte
der offenen Handwerke formell darin, daß sie auf autonomer Initia-
tive der Handwerksgemeinde beruhten. Aber in dieser Autonomie,
meint der Verf., sei noch durchaus kein Vorzug vor den officia zu
erblicken. Die neuen Handwerke streben zunächst durchaus nicht
etwa nach persönlicher Freiheit, sondern im Gegenteil sie streben,
um Anteil an dem noch ministeriellen Bat zu erhalten, in das Hof-
recht des Bischofs hinein, sie suchen die Leitung eines Officialen
nach. Dem Ministerial lagen die Einrichtung der neuen Zunft, so-
wie etwa nötig werdenden Verfassungsänderungen ob; die eigent-
liche Aufsicht erhält ein Meister, er ist der dienende Gehülfe des
Ministeriais, er ist aber Handwerksgenosse, während er bei den Of-
ficia Ritter oder Achtbürger war.
Wir können dem Verf. hier nicht weiter folgen in seiner licht-
vollen Darstellung der weitem Fortbildung und des Zusammenhangs
der Frage mit der Entwicklung der Stadtverfassung. Entscheidend
war, daß der Bischof die Hülfe der Handwerker gegen seine Geg-
ner brauchte und damit den Grund zu einer der autonomsten Znnft-
herrschaften in ganz Deutschland legte. Auch auf das, was uns der
Verf. über die Ansiedlung der alten Officia und der Zünfte, fiber
ihre Einfügung in den städtischen Verfassungsorganismus mitteilt,
können wir nicht eingehn. Es sei nur bemerkt, daß letztere inso-
fern sehr wichtig war, als die Zahl der Zünfte, seit ein integrieren-
des Element des Rats aus ihnen hervorgieng, nicht mehr beliebig
vermehrbar war, weshalb es bei den 15 bleibt; neu auftauchende
Handwerke werden den bestehenden angegliedert, die meisten den
Krämern, welche bisher ihre Produkte importiert hatten. Dieser
GeeriDg, Handel ond Industrie der Stadt Basel. 843
Umstand scheint mir anfterordeutlich wichtig: der Zosammenschlnft
der Qewerbe in wenige Groppen hielt doch eine Masse Streitigkeiten
nnd Unbequemlichkeiten ferne, gestattete eine gröftere Beweglich-
keit Diese wurde noch erhöht durch die in Basel häufig yorkom-
mende Doppelzünftigkeit, die wie ein roter Faden die jeweils auf-
tauchenden Gestaltnngstendenzen durchzieht und begleitet.
Ueber die Zunftverfassung von 1356—1526 unterrichtet uns der
Verfasser im 2. Kapitel. Wir erfahren über Bedingungen der ZUnf-
tigkeity Znnftkauf und Aufnahme, zünftige Pflichten, Wachen und
Reisen, zünftige Rechte, Bruderschaft, Vorstand, Zunft- und Stuben-
knecht, Rechnungswesen, Zunftgerichtsbarkeit, Teilzünfte neues De-
tail verknüpft mit kulturhistorischen Notizen. Doch kommt ftlr die
Entwicklung im Ganzen so sehr viel nicht heraus. Im Gegensatz
zu ähnlichen Darstellungen ist immerhin wertvoll die zeitliche und
örtliche Einheit, welche die Darstellung umspannt; auch ist recht
interessant, was über Burgrecht, Strafmaß und manches Andere ge-
sagt wird. In ersterer Hinsicht mag hervorgehoben werden, daft in
Basel das Bürgerrecht ursprünglich nicht Bedingung der Zttnftigkeit
war; im Gegenteil gleichwie die Handwerker seit der gratia 2 — ^3
Jahrhunderte gebraucht, um sich vom alten Hofrecht zu emancipieren,
so wuchsen sie auch nur ganz allmählich etwa von 1260—1350 in
das Bürgerrecht hinein. Die meisten eroberten das Bürgerrecht erst
nach mehrjährigem zünftigen Aufenthalt durch die Teilnahme an
einem Kriegszuge. Später trat Burgrechtszwang ein, und nur aas-
nahmsweise erhielt ein. Nichtbürger eine Zunft; noch später z. B.
1700/16 wurde das Bürgerrecht aus Eonkurrenzfnrcht zeitweilig ge-
schlossen. Was die Zunftstrafen betrifft, so hat der Verf. eine
hübsche Beobachtung bezüglich des Strafmaßes gemacht; er zeigt,
wie allgemein der 5 ß Bann herrschte und wie dies der germani-
schen Rechtsauschauung entsprach, wonach es eben nur zwei Dinge
gab; entweder im Rechtsschutz stehn oder den Frieden verwirkt
haben. Mit dem Eindringen des römischen Rechts gieng der 5 ß Bann
in Stücke; die Strafen wurden bis zu einem ziemlich hoch gegriffe-
nen Maximum beweglich.
Ein sehr instruktives Kapitel ist wieder das dritte: die Grund-^
lagen des Verkehrs im Mittelalter. In das dunkele Gebiet wird
einiges Licht gebracht, wenn schon die gesamte Urproduktion und
der ihr dienende Handel unberücksichtigt blieben. Was uns vom
Transitwesen und Transitzoll, von den StraBen und ihrem Verkehr
von Basel aus, vom Straßenzwang, Zollwesen am Rhein, vom mittel*
alterlichen Rechnen, Schreiben, Geld und Kredit erzählt wird, ist
^in acbtungswerter Versuch. Die wertvollste Partie ist aber un-
SU Gott. gel. Auz. 1887. Nr. 9.
Streitig das über das Eaufhans Mitgeteilte. Ohne dasselbe kann
man allerdings den mittelalterlichen Verkehr Basels kaam begreifen.
Das Kaufhaas gab dem Zunftwesen die Möglichkeit den namentlich
in Folge der DoppelzUnftigkeit etwas lose organisierten Handel in
sein System einzufügen. Hier verschafft es seinen lokalen und ge-
werblichen Sonderrechten die Herrschaft ttber Import und Export
Das Kaufhans war in Folge des Eaufhanszwangs der einzige Markt
der Fremden en gros sowohl als en detail; der Verkehr mit Gästen
deckte sich nach dieser Seite mit dem Eaufhausverkehr tiberhanpt
Oeschäfte mit Fremden ausgenommen Detaileinkänfe in Basler Kauf-
läden kamen in der Stadt Überhaupt nicht vor aufterhalb des Kauf-
hauses. Zu diesem absoluten Kaufhanszwang der Fremden kam der
Kaufhauszwang der heimischen Kaufleute für allen Engrosumsatz,
kam ferner ihre Beschränkung auf das Angebot fremder Produkte.
Der interne Umsatz von Rohstoffen lag außer ihrem Bereich; jedes
Handwerk erhielt auf seine Rohstoffe für 24 Stunden den Vorkauf,
nachher zuweilen noch ein Zngrecht. Jeder durfte nur soviel kau-
fen, als er selbst zu verarbeiten gedachte. Wiederverkauf war streng-
stens untersagt. Konnte einer nicht alles verarbeiten, so durfte er
den Rest an einen andern abgeben^ aber ohne Mehrschatz, zu dem
Preise, den er selbst bezahlt hatte. Aller Import durfte nur einmal
en gros umgesetzt werden; die verteuernde kaufmännische Zwi-
schenband wurde zurückgedrängt Zttnftisches und fiskalisches Inter*
esse reichten sich im Kaufhaus die Hand. Nach diesen grundlegen-
den Kapiteln werden in acht weiteren die Oeschicke, die Handel und
Industrie von 1356 bis Ende des 17. Jahrhunderts erfahren haben,
im Einzelnen dargelegt Es ist unmöglich, auch nur entfernt den
Reichtum, der sich uns bietet, zu erschlicAen.
Die erste Epoche (1356 — 1430) zeigt uns Basel auf seiner poli-
tischen Höhe. Damals gewann der Rat vom Bischof die öffentlichen
Hobeitsrechte — 1373 die des Verkehrs, 1386 die derVogtei —und
die beiden wichtigsten Landgebiete, Kleinbasel und die Landschaft,
ein Territorium, wie es damals keine andere Freistadt besaB. Die
Finanzwirtschaft wird eine reichere. Die Wirtschaftspolitik aber be*
ginnt mehr und mehr die Handelsinteressen zu vernachlässigen, er-
hält immer schärfer einen handwerklichen Charakter. Der Rat ver*
leiht seinen Oewerben durch staatliche Regelung den Charakter von
konkurrenzfähiger Exportindustrie. In der Steuer- und Zollpolitik
kam natürlich der Umschwung zum Ausdruck. Die Handwerker be-
säten seit 1382 die politische Macht und suchten der vereinten In-
telligenz der Handelzttnfte und der so nahe verwandten Patricier-
staben die Spitze zu bieten. Wie sich die aufsteigende Entwicklung
Geeriog, Handel and tiidafltrie der Sfadt Basel. 345
der iDdustriellen Prodaktion des 15. Jabrhnnderts vollzog, sticht der
Verfasser an der Hand der Geschichte der vier wichtigen Zttnfte zum
Sehlltssel, znm Safran, zn Gerbern nnd Webern im Einzelnen darzu-
legen. Namentlich die Erämerznnft znm Safran läftt gewissermaften
Yor unsern Aagen das Umsichgreifen neuer Gewerbe sich abspielen.
Sie erscheint so recht als die Zunft der Mode und des Geschmacks,
deren Beruf es ist, den Bedtirfniskreis der Einwohnerschaft zu er-
weitem und zu heben. Sie brachte die zahllosen Artikel aus der
Fremde. Der gewöhnliche Gang war aber dann der, daA der Im-
port auBer Konkurrenz trat, sobald der betreffende Artikel in der
Stadt produciert wurde. Den unerbittlichen Ausschlag gab eben die
Kostspieligkeit und Schwerfälligkeit des mittelalterlichen Transports
und Verkehrs. Darin lag der beste Schutzwall. Es ist die Ansiebt
des Verf. nicht unwahrscheinlich, daß der Krämer oft gleich selbst
einen Knecht mitbrachte, von dem er und seine Kinder die Technik
erlernten; das Beispiel fand Nachahmung, selbständige Meister tha-
ten sich auf, das neue Handwerk war begründet. So kam es, daA
nach und nach 42 Gewerbe und Handwerke der Krämerzunft sich
beigesellen und daraus erklärt sich auch die unorganische Zusam-
menfassung mancher Gewerbe, wie daß die Rotgießer, Riegler, Nad-
1er, Spengler zu den Krämern und nicht zu den Schmieden gehören.
Anders lagen die Verhältnisse znm Teil in der Textilindustrie;
da waren die Konkurrenten vor der Tbttre. Kamen, wie im untern
Elsaß, die Vorteile der Großproduction und billige Preise des Roh-
produkts dazu, so war ein Unterbieten möglich, wie denn auch die
Baseler Grautttcher an dieser Konkurrenz sich verbluteten.
Die ZunftTcrhältnisse der Textilgewerbe und des Handels sind
in Basel sehr verwickelte, es ergaben sich manche Abweichungen
von den Forschungen Schmollers. Der Verf. vermochte auch eine
Lttcke auszufällen, die in dem großen Bild, das Schmoller von der
oberrheinischen Textilgeschichte entworfen hat, geblieben ist; es be-
trifft dies die Leinen- und Baamwollweberei. Basel war relativ stark
in der ersteren von 1268—1380, in der letzteren bis 1500. Die
Banmwollweberei war durch die Mauren aus dem Orient nach Sici-
lien nnd Spanien gedrungen, von da im 18. und 14. nach Ober-
Halien, Frankfurt, Ulm, Konstanz, Augsburg. Auch Basel beteiligte
sieh an dem billigen Modeartikel, es war der Baseler Schttrlitz
(Barchent). Die Krämer brachen auch hier wieder mit ihrem Im-
port die Bahn, der Rat untersttttzte in mehrfacher Weise die Bewe-*
gung; gleichwohl wollte die Sache sieh zunächst nicht recht ent-
wickeln. Während die Leineweber Lohnwerker, d. h. Hausindustrielle
waren, sind die Baumwollweber Eigenwerker, sie kaufen sich ihre
a«ii. f«l. Ani. 1887. Nr. 9. 25
^46 6ött. geL Adk. 1887. Nr. d.
Baumwolle selbsti weben auf Vorrat, den sie dann an fremde oder
heimische Eanflente absetzen ; es fehlte der Organisator des Absatzes.
Mit dem znnfthand werklichen Kleinbetriebsprincip war es nicht mehr
gethan. Um eine Exportindustrie im großen Styl aufzubringen,
wäre es nötig gewesen, ähnlich wie in Ulm und Augsburg, die We-
ber vom Lande heranzuziehen, der Handelsstand war aber nicht
mächtig genug, um da den Widerstand der Weberzunft zu über-
winden.
Ein 5. und 6. Kapitel sind der wirtschaftlichen Bedeutung des
Eoncils (1431 — 49) und der Renaissance gewidmet Ein Eoncil war
die stärkste Konjunktur, die sich für das gesamte Wirtschaftsleben
einer mittelalterlichen Stadt denken läßt. Die gesamte Bauindustrie
erhielt einen mächtigen Impuls, das Mietswesen bildete sich aus, die
Gasthäuser mehrten sich (früher 3, 1433 dagegen 20); die Werts-
verhältnisse des Grundbesitzes erfuhren starke Wandlung. Der Be-
darf nach Waaren wuchs. Soweit der Import in Betracht kam, über-
ließ man in Basel die günstigen Chancen meist fremden Spekulan-
ten; die Kaufleute und Krämer Basels standen eben in Folge der
städtischen Wirtschaftspolitik nicht auf der Höhe. Dagegen profi-
tierte das Handwerk und der Detailhandel. Die Technik zeigt ent-
schiedene Fortschritte, durch die Fremden werden ganz neue Arten
der Produktion vermittelt, ebenso treten eine Masse Arbeitsteilungen
auf ; es zeigt sich dies namentlich auch in der Textilindustrie. Es
wurde ferner auch die älteste der »freien Künste« Basels begründet,
es war dies die Papierindustrie und zwar geschah es — ein in der
Indnstriegeschichte Basels seltener Fall •— durch die Initiative eines
Baselers, Namens Halbisen. Es war mit diesem ersten kapitalistisch
unbeschränkten Betriebe der Keim gelegt, der später in Verbindung
mit dem Handelsstand in der Seidenindustrie zur Sprengung des
Zunftwesens führte. Daß das Koncil auch im Geld- und Kredit-
wesen erhebliche Neuerungen nach Basel bringen mußte, liegt auf
der Hand. Der Wechsel bürgerte sich mehr ein und zeitweise war
Basel natürlich der beste Markt für Edelmetall. Nach der hoch-
gehenden Konjunktur, die das Koncil gebracht, folgte mit seiner
Auflösung ein schwerer Bückschlag, verstärkt durch Pest (1439)
Hungersnot (1438), Innern und äußern Krieg (1443—49). Auch
social und politisch sank Basel, besonders in Folge des Wegzugs
des größten Teils seines Adels (1445/49) ; den bürgerlichen Regenten
fehlten die großen Gesichtspunkte, wie sie ihnen die Zeit Karls des
Kühnen stellte. Man versäumte die Gelegenheit zu Gebietserweite-
rungen, welehe Basel zur Königin des oberrheinischen Verkehrs ge-*
macht und die Unterthanenstädte zu Dörfern herabgedrückt hätten,
Öeering, Handel und Industrie der Stadt Öasel. ^üt
Oleichwohl zeigt sieb bald wieder ein Auf bittben der Gewerbe haupt-
säehlich in Folge der Renaissance, die in Basel etwa 1460 — 1520
sich geltend macht. Italienische Mode, Bedtlrfnisse und Luxusartikel
halten ihren Einzug. Der Sinn ftir die Form wird geweckt, man
hat ein Bedürfnis nach geschmackvoller Gestaltung, nach organischer
Belebung der täglichen Gebrauchsgegenstände. Man kann dies
deutlich beobachten an dem Einfloß, »den diese StrOmung auf die
Weberei übte. Der Schttrlitz, der bereits auf dem Aussterbeetat
stand, erhielt einen mächtigen Impuls, als er animale Ornamente
und Mehrfarbigkeit aufnahm und so zum Vogelschttrlitz wurde.
Allein auch jetzt wird der Versuch, das Land mit in die Textil-
industrie zu ziehen und nach dem Vorgang Ulms und Straßburgs
Basel zu einem Gentrum der Textilindustrie zu machen abgewehrt
Die Basler Weberei bleibt Handwerk, und es schien überhaupt in
Basel Alles sich so zu gestalten, daß es wie Isny, Memmingen, Bi-
berach und so viele ehemals blühende Reichsstädte in mittelalterli-
chen Verhältnissen stehn bleibend zur Bedeutungslosigkeit eines Dor*
fes herabsinken sollte. Die Vorteile seiner Lage, sein Transit, seine
freien Künste, Papierer und Buchdrucker in Verbindung mit Univer-
sität (1460) und Messe (1471) hielten es selbst während der Zeit
des ausgesprochensten Handwerksregiments auf einem höhern Ni-
veau. Der Verf. gibt hier eine Geschichte der Basler Papierindustrie
und Buchdruckerei, wobei er vielverbreitete Irrtümer namentlich be-
züglich der Gallizianen definitiv beseitigt. Die Papierer und Buch-
drucker standen außerhalb des Zunftwesens, sie bedeuteten wie schon
oben erwähnt die erste Durchbrechung des sonst festgeschlossenen
Bings, aber sie wiesen der wirtschaftlichen Regsamkeit, dem kauf-
männischen Unternehmnngsgeiste neue Bahnen. Von innen heraus
das Zunftwesen erfassend und durchdringend geschah das Gleiche
durch die Errichtung einer Messe. Der kaufmännische Geist gewann
an Terrain. Für die Zeit ' der Messe stand es Jedermann frei zu
handeln, womit er wollte. Die Messen machten die Handwerker
vorübergehend zu Kanfleuten und Krämern. Sie waren dem Zunft-
wesen nicht nur stets eine heilsame Medicin, sondern sie bildeten
zugleich den Heerd der ganzen modernen Gewerbefreiheit Die
Messe brachte den starken städtischen Handwerken durch die Reci-
' procität der fremden Märkte weit mehr Vorteil als Schaden. Die
Märkte und Messen der Landstädte wurden in kurzer Zeit ihre ge-
winnreichsten Absatzgebiete. Je länger die Handwerker die neue
Gewerbefreiheit kosteten, um so mehr Gteschmack fanden sie daran.
Die neue Wendung führte aber zu Reibungen und principiellen Er-
örterungen namentlich gegenüber den durch den Handelsbetrieb der
2b*
d4d Gott. gel. Adz. 1887. Nr. 9.
Handwerker geschädigten kleinen Eanflente. Diese Beeinträcbtigang
des Detailbandeis durch Märkte und Messen führte den Import einer-
seits zu Versuchen, neue Bedürfnisse zu wecken, andererseits zum
Engroshandel. Die Messen boten Gelegenheit zu Importspekulatio«
nen. Das Kapitel verstärkte sich wie im Buchhandel durch die
Form der Gesellschaft und es tauchen die ersten kaufmännischen
Monopole auf. Das war dann auch der Punkt, an dem das Refor-
mationszeitalter einsetzte, wie es sich denn auch gegen die am Ka-
pitalismus beteiligten oberen Stände, den Klerus und das Patriciat
und die Ausgelassenheit der Renaissanceperiode wendet.
Diese Zeit (1501 — 52) bebandelt der Verfasser im 7. Kapitel.
Die Befreiung der Geister im 16. Jahrb. war bekanntlich umgeben
von Unruhen der untern Bevölkerungsscbicbteu. Die Landbevölke-
rung begann ihre Menschenrechte aus dem Schutte feudaler Tradi-
tionen zu eruieren, ebenso machten sich in den Städten große so-
ciale Klassenkämpfe geltend. Die geistige Gleichheitstheorie der
Reformation wurde auf das materielle und gesellschaftliche Leben
Übertragen, ein kommunistischer Zug machte sich in den breiten
Massen geltend. Es ist sehr verdienstlich, daß der Verf. ftir Basel
diese Bewegung näher untersucht und im Gegensatz zu Vorgängern
ihre volle Bedeutung erst erkannt hat. Sie kam zum Ausdruck in
der Wirtschaftsordnung von 1521. Das durch den Kapitalismus be-
drohte Kleinbetriebsprincip wurde bewußt zur Geltung gebracht.
Der Kaufmann mußte noch mehr zurücktreten. Er war nur dazu
da, dringende Lücken der heimischen Produktion durch seinen Im-
port auszufüllen. Konkurrieren darf er mit den heimischen Produ-
eenten überhaupt nicht mehr. Das Verkaufsrecht des Handwerkers
auf die Produkte der eigenen Hand wird erweitert zu einem Ver-
kaufsmonopol auf die ganze Branche. Selbst, wenn er schlecht und
thener arbeitet, bleibt ihm der Absatz gesichert. Der Kaufmann ist
entweder gezwungen, das Angebot ganz dem lokalen Handwerk za
überlassen oder doch seine Waaren nur theurer zu verkaufen. Den
Krämern z. B., welche mit nürnbergischen fragenden Pfennwerten
nrngehn oder Gürtel führen, wird der Import von gesprengter Ar-
beit auf Leder und von Gürteln aus Nürnberg und Ungarn aus^
drücklich untersagt, sie sollen ihre Gürtel von den Gürtlern in Ba-
sel und sonst nirgends kaufen. Dem Handel blieben seine specifi-
sehen Gebiete, feines Wolltuch, Seide und Brokat, Gewürze und
einige Pfennwerte; allein auch da sachte man den zünftigen Klein-
betrieb durchzuführen, man teilte den Zunftzwang jeder der beiden
Handelszünfle in 2 oder 9 sich gegenseitig ausschließende Branchen,
eine künstUebe Arbeitsteilung wurde dem Handel aufoctroyiert«
GeeriDg , Handel uud Industrie der Stadt Basel. 349
Weiter wnrde die Doppelzttnftigkeit, ferner die Association zwischen
VerschiedenzttDftigeDy sowie die Association in einem nnd demselben
Gewerbe, aaAer zwischen Vater nnd Sohn, verboten. »Mttftiggän-
gerne, d. h. Nicbtgewerbetreibenden blieb die Eommandite innerhalb
ihrer Zanft gestattet Mit Gewalt wurde alles auf das mittlere wirt-
schaftliche Niveau herabgedrttckt
Dem Charakter der Bewegung entsprach es, wenn man auch
der gesamten Elosterarbeit zu leibe gieng, den Handel mit den Ju-
den verbot, den Geldwechsel verstaatlichte. Allein der Sieg des
Handwerksregiments war nur ein äußerlicher. Die volle Durchfüh-
rung war überhaupt nie gelungen. Der Handel, zu allen Zeiten die
natürliche wirtschaftliche Großmacht Basels, konnte nicht dauernd
unterliegen; mit elementarer Kraft rang er sich wieder durch. Nach
zwei Jahrzehnten war die Opposition so erstarkt, daß sie die ge-
werblichen Errungenschaften der Beformationsjahre zu beseitigen
vermochte. Die kapitalistische Arbeitsvereinigung, Doppelztinftigkeit,
Association und Eommandite hielten wieder ihren Einzug, die Juden
wurden wieder zugelassen. Es brach eben eine neue Zeit an, fttr
welche das Eleinbetriebsprincip nnd der rein lokale Charakter des
Zunftwesens unzureichend wurde. In Basel zwar dauert in Folge
der Befruchtung der Renaissance, des Verschontbleibens vom Krieg,
des Anwachsens der Bevölkerung namentlich durch die Befugianten
die Blute des Handwerks noch bis etwa 1650; allein dem aufmerk-
samen Beobachter können die vielen Regungen, die eine andere Ge-
staltung vorbereiteten, nicht entgehn.
Ein trefSiches Bild von diesen allerwärts eintretenden Verkehrs-
ändemngen entwirft der Verf. im 8. Eapitel, indem er an die Auto-
biographie des Tuchhändlers Andreas Ryff (1550—1603) anknüpft,
der so ganz seine Zeit auf sich einwirken ließ und mit ihr Schritt
zu halten suchte. Der größere Gesichtskreis, die größer werdenden
Verhältnisse in der Technik und Struktur des Handels, so daß es
nötig wurde, »auf den Handel zu studieren«, das Emporbltihen des
Engros- und Kommissionsgeschäfts treten in vollster Deutlichkeit uns
entgegen. Zu diesem sich vorbereitenden Umschwung kam ein an-
derer Faktor, der ftlr die spätere Entwicklung Basels ausschlaggebend
wurde. Es war die in Folge der gegenreformatorischen Ereignisse
namentlich aus Frankreich her erfolgte Zuwanderung.
Der Verf. untersucht eingehend im 9. nnd 10. Eapitel diese
Verhältnisse. Die Fltlchtlinge traten allenthalben als Begründer
neuer Industrien auf, die Industrie der Schweiz ist ohne diese Be-
wegung gar nicht zu verstehn. Die schweizerische Uhrenindustrie
z. B. begann 1587 mit der Ankunft des Burgunders Charles Cousin
350 Qött. gel. Auz. 1887, Nr. 9.
iD Genf; die Spitzeoklöppelei von Neucbätel ist ein echtes Refagian-
tengewerbe, in Basel waren die, wie uns der Verf. dnrch ein Ge-
sellenbach nachweist, Samt- und Passementweberei fast ganz, die
Stricker, Lederbereiter, Seidenfärber zum großem Teil Befagianten-
gewerbe. Die Refagiantenpolitik der Stadt war ttbrigens eine sehr
kluge. Basel sah nicht auf die Zahl, am so mehr aber aof die
Qualität. Während Zürich mit seiner Exklusivität in Bezog anf das
Yollbttrgertnm seinen altbttrgerlichen Indastriellen eine starke Ar-
beiterbevölkerung heranzog, ja gleich Bern und Waadt von armen
Arbeitern ft^rmlich Überflutet warde, wußte Basel mit seiner Ableh-
nung des Hintersassentums , aber leichteren, jedoch vorsichtig ge-
handhabten Bilrgerrechtsgewährang die Elite an sich zu ziehen. Es
worden nur Leute zugelassen, an denen der heimische Handwerker
etwas zu verdienen fand, femer solche, die der Stadt neoe wirt-
schaftliche oder bedeotende geistige Kräfte zuzufahren im Stande
waren. Für reiche and gelehrte Flüchtlinge wnrde Basel der Sam-
melpunkt. Diesem Verhalten dankt Basel seine kulturhistorische and
wirtschaftliche Bedeutung während der folgenden Jahrhunderte, sein
heutiges Patriciat. Weit über die Hälfte der heutigen großen Basler
Firmen tragen, vielfach allerdings unkenntlich verdeutscht, in ihren
Namen den welschen Ursprung zur Schao. An die Stelle, die der
eingeborne Adel des Mittelalters 1529 leer gelassen, haben sich in
Basel verhältnismäßig wenige Altbürgergeschlechter emporgearbeitet,
es sind vielmehr die vornehmen evangelischen Flüchtlinge in die
Lücke eingerückt; sie waren keine »Müßiggänger«, wie dereinst die
Ritter, das Kapital, das sie der Stadt zubrachten, haben sie ohne
falschen Standesdünkel, formell dem gemeinen Bürger sich gleich-
stellend, in indastriellen und Handelsunternehmuogen fruchtbar ge-
macht, so daß es nie aas ihren Händen kam, sondern von Geschlecht
zu Geschlecht nunmehr in der zehnten Generation gedieh und ge-
äufnet wurde. Bei keiner andern Stadt deutscher Zunge trägt die
heutige Gesellschaft noch so sehr die Reminiscenzen an die große
Refugiantenzeit in sich. Auf das reiche Detail, das der Verf. hin-
sichtlich des Einflusses der Refugianten auf die Entwicklung der
Gewerbe bringt, kann hier nicht eingegangen werden. Glänzende
Seiten haben sie mit ihrer überlegenen Kultur aufgezeigt, aber sie
brachten auch in das Basler Gewerbsleben den Kapitalismus als et-
was abgeschlossenes Fertiges mit allen Konsequenzen, insonderheit
mit seinen socialen Unterschieden. Wie sich ihnen die vornehme
Lebenshaltung von selbst verstand, so auch die Existenz großer
dienstbarer Volksmassen. Namentlich die Italiener waren an das
industrielle Proletariat schon von Jugend auf gewöhnt. Neben den
Geering, Handel and Industrie der Stadt Basel. 851
AnfllDgen des vierten Standes, bildete sich damals auch der Grund-
stock der blflbenden Hansmannfaktar der Landschaft Basel, indem
viele welsche SeidenmttUer nnd Seidenfärber, Samtweber und Passe-
menter auf dem Land sich ansiedelten, auf diese Weise sich leichter
ernährten und die Beengungen, die den Basler Verlegern auferlegt
waren, umgehn halfen. Dieser Ansatz wurde für die künftige Zeit
außerordentlich wichtig; denn in der gesunden Verbindung von
Landarbeit und Handerwerb liegt das eigentliche Geheimnis der un-
verwüstlichen Lebenskraft der schweizerischen Industrien.
Es ist das letzte Kapitel, in welchem der Verf. das Umsich-
greifen der Haus- und Fabrikindustrie an einer Reihe von Industrie-
zweigen (Stricken, Landweberei, Strumpffabrikation, lederne Hand-
schuhe, Tabak), die Verschiebungen in denselben und die Zwiste,
die mit den alten Zünften daraus entsprangen, zur Darstellung
bringt Der schwerste und entscheidende Kampf spielte sich ab, als
in der Bandweberei der Kunststuhl aufkam und das allerdings be-
reits hausindustriell betriebene Passamentergewerbe zersetzte. Der
Kunststuhl siegte. Das herrschende Zunftwesen wurde seitdem durch
die Fabriken und Hausindustrien nach allen Seiten hin durchbrochen.
Aus der lokal zünftigen Produktionsweise war Basel in den freien
Wettbewerb des Weltmarktes eingetreten. Bei dem Uebergang war
ihm die äußere Lage günstig gewesen. Im 17. Jahrb. war Frank-
reich in der industriellen Produktion tonangebend, wie es früher
Italien gewesen war. Deutschland war durch den 30jährigen Krieg
geknickt. Frankreich sah es als eine Domäne für seine Industrie
an, während es sich gegen außen abschloß. Basel war das kein
Hindernis, seine Entwicklung beruhte vielmehr auf der Verdrängung
französischer Produkte auf dem deutschen Markt ; der kürzere Trans-
port gab ihm einen Vorsprung.
Damit hat der Verf. die Darstellung so weit geführt, daß die
Wurzeln der wirtschaftlichen Bedeutung Basels zu erkennen sind.
Erfreulich ist, daß bis auf heute der ideale Hauch, der das Refugian-
tentum umgab, in Basel nicht verloren gegangen ist. Die Mehrzahl
der Basler Fabrikanten hat zu keiner Zeit die Arbeiter als reine
Exploitationsobjekte angesehen, sondern stets den Sinn für Gemein-
wohl und Humanität bewahrt
Wir schließen mit dem Wunsche, daß der Verf. noch recht viel
ähnliche fruchtbare Studien zu Tage fOrdem mOge.
Würzburg. Georg Schanz.
862 Gott. gel. Auz. Ib87. Nr. 9.
Stern« Alfred, Abhandlungen und Aktenitücke zur Gegchichte
der preuBischen Beformzeit 1807—1815. Leipzig, 1885, Duncker
und Humblot, YIII und 410 S. 8^
An verBchiedeneD Orten: in der »Historischen Zeitochrift«, in
den Göttinger »Nachrichten c, in den »Forschungen sar deutschen
Qeschichte«^ in der »Revue bistorique«, der »Deotsohen Revnec nnd
der »Qegenwartc hat Alfred Stern die meisten der Aufsätze mitge-
teilt, die er jetzt mit neuen Früchten seines SammelfleiBes zu einem
stattlichen Bande vereinigt vorlegt — gewiB allen denen zu Dank,
die es von Tag zu Tag mehr als ein Unerschwingliches erkennen,
die zahllosen Abhandlungen in Evidenz zu halten, denen Zeitungen
nnd Wochenschriften, fachmännische nnd nicht fachmännische Bevnen
gastlich Raum gewähren. Der Verf. hatte ursprunglich den Plan — und
wie die Vorrede andeutet, hat er ihn noch nicht aufgegeben — »eine
zusammenhängende Geschichte der preußischen Beformzeit zu schrei-
ben€. Wir haben demnach, was er hier bietet, als Vorstudien zu einem
grOBeren Werke anzusehen, welches bestimmt zu sein scheint, mit
den Forschungen Dunckers und Bankes, Treitschkes und Hassels in
Konkurrenz zu treten. An Material fttr eine solche neue Unterneh*
mung ist allerdings ebensowenig ein Mangel als an Lttcken in un-
serer Kenntnis, die ausgefüllt, an dunklen Partien, die noch aufge-
hellt werden müssen , wovon sich Jeder, der dieser Epoche deut-
scher Geschichte näher trat, leicht überzeugen konnte.
Gleich die erste der neun Abhandlungen: »Der Sturz des
Freiherrn vom Stein im Jahre 1808 und der Tugend-
bund« erörtert eine solche noch unaufgeklärte Fraga Diese Studie
war bisher noch nicht veröffentlicht worden; nur die Beilagen zum
Teil bekannt. Darin ist das Thema, wie der große Beformmi nister
zu Fall kam, mit der größten kritischen Sorgfalt behandelt. Und
dennoch kann das Besultat noch nicht als ein endgiltiges bezeichnet
werden. War es nur jener Brief an Wittgenstein vom 15. August
1808, der Stein den Haß Napoleons und dadurch mittelbar seine
Entlassung zuzog? oder war es eine Intrigue der preußischen Be-
formfeinde, welche den Sturz des Ministers endgiltig herbeiführte?
Stern registriert die Zeugnisse für Beides, um schließlich ein Zu-
sammenwirken von beiden Seiten, entsprechend den Worten des
Grafen Goetzen: »Stein fiel durch Kabale von innen und außenc
anzunehmen. Stein selbst bezeugte dies, so z. B. auf einem Bündel
von Aktenstücken aus dieser Zeit, dem er die Aufschrift gab: »Ver-
drängen aus dem Dienst durch Napoleon, Davoust, Daru, die Ka-
bale des H. Minister von Voß, Fürst Hatzfeld u. A. und die Schwäche
des Ministers Grafen von Goltzc Hierher gehört auch noch eine
Stern , Abhandlangen a. Aktenstücke sur Geschichte d. preaft. Reformzeit. 353
Stelle jenes Briefes an Hardenberg, aus Prag vom Joli 1811 datiert^
den Ooldscbmidt in der »Histor. Zeitschrift«, 46, 188 mitgeteilt
hat: »Rappelez-Yous sealement les miserables petits ressorts qu'on a
fait jener ponr me perdre en 1808«. Die Rolle, welche Voß dabei
spielte^ ist von Stern an der Hand von Berichten desselben an Kö-
nig Friedrich Wilhelm III. vom 14. November und 4. December
nachgewiesen, die im Anhang unter anderen bezüglichen Schrifl-
stttcken mitgeteilt sind. Aber auch damit ist noch nicht Alles er-
klärt Die Oberhofmeisterin von Voß, die Tante der Gemahlin
SchOns, eines der Gehilfen und Gesinnungsgenossen Steins, hat Ober
diese Dinge Aufzeichnungen gemacht, die sich, nach der Versiche-
rung der derzeitigen Besitzerin derselben, »nicht zur Veröffentlichung
eignen«. Wir vermuten, daß darin die Haltung, weiche Königin Louise
gegen Stein annahm, zur Sprache kommt, der Stern nur wenig Be-
achtung schenkt. Hoffentlich werden die Erinnerungen der geist-
vollen Frau nicht für immer der Forschung vorenthalten bleiben.
In einem der beiden von Stern mitgeteilten Briefe von Voß an
den König, d. i. in demjenigen vom 14. November 1808, ist von einer
»revolutionären Gesellschaft in den preußischen Staaten< die Rede;
sie sei von Schriftstellern und Beamten gegründet und habe der
französischen Regierung ewigen Haß geschworen, die französischen
Behörden seien von ihrer Existenz unterrichtet und setzen alles in's
Werk, um ihre geheimen Absichten zu erforschen. Das war , nach
Steins Vermutung, der Königsberger sittlich-wissenschaftliche Verein
mit seinen Filialen, den man mit dem Namen »Tugendbund« be-
legte. In einem der Zweigvereine, dem Berliner, soll die Erwartung
ausgesprochen worden sein, binnen kurzem in Preußen einen »con-
stitutionellen König« zu haben. Mit diesem Vereine brachte man
Steins Reformsystem in Beziehung, und seitdem ist Stein für das
geheime Oberhaupt des Tugendbundes gehalten worden, auch noch
zu einer Zeit, als sich der harmlose, königstreue Verein auf den
Befehl des Monarchen Ende 1809 bereits gehorsam aufgelöst hatte.
Ref. bat diesen Gegenstand, parallel mit Stern, in einer Abhand-
lung »Zur Geschichte des Tugendbnndes« (Historische Studien und
Skizzen 1885, S. 302—330) untersucht und an der Hand authenti-
scher Dokumente den Nachweis geftihrt, daß Stein dem Königsber-
ger Verein nicht nur ferne stand, sondern ihn sogar bekämpfte und
dessen Auflösung in Vorschlag brachte ^). Danach wird Sterns Mei-
1) Zu den Ton M. Lebmann (Enesebeck und Schön, S. 118 f.) registrierten
Quellenstellen für Steins Abneigung gegen den Bund vergl. man auch das
Gneisenaasche Gutachten vom December 1811 bei Oncken, Oestreich und Preußen
L 300.
854 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 9.
nang, »Stein babe eine Zeit lang geglaubt, den Tngendbnnd benotsen
zn können c (S. 27) zn berichtigen sein. Ich möchte es auch nicht
auf den Tngenbund zarQckfflhren, wenn Boyen , der allerdings ein '
Mitglied desselben war, am 29. September 1808 dem Könige die
Berufung eines Landtages aus Volksvertretern Yorschlug, wie Hassel
1. 288 und im Anschluß an ihn Stern (S. 25) meinen. Dieser Ge-
danke findet seine Vertretung vielmehr in jener geheimen Königs*
berger Gesellschaft, welcher auch Stein angehörte und über die
wir erst durch Schöns Selbstbiographie bestimmte Kenntnis erhalten
haben. »Bald nachdem wir uns in Königsberg im Sommer 1808
geordnet hatten — erzählt Schön — errichteten wir auf Boeckners,
des Feldprobstes, Vorschlag einen geheimen Bund. Boeckner, Stein,
Sttvern, Scharnhorst, Nicolovius, Gneisenau, wenn ich nicht irre
Grolmann, und ich bildeten den Bund. Wir hatten uns durch Hand-
schlag verpflichtet, ohne daß etwas wiedergeschrieben werden durfte,
Mittel zu suchen, durch welche die Schmach, welche auf unserem
Vaterlande hafte, entfernt werden könne. Wir kamen in jeder
Woche an einem anderen Orte zusammen u. s. w.c. (Weitere Bei-
träge und Nachträge zu den Papieren Th. v. Schöns S. 61 f. und
Aus den Papieren Schöns 4. 571 ohne Grolmann). Es kann nicht
Übersehen werden, daß genau dieselben Namen, den Steins ausge-
nommen, unter dem von Pertz (Steins Leben IL 250—257) mitge-
teilten Dokumente stehn, in welchem dem Minister Torgeschlagen
wird, der König solle wegen der Ratifikation oder Nichtratifikation
des Vertrages mit Frankreich »das Volk in seinen zu berufenden
Stellvertretern € befragen, dann sei der Monarch außer Haftung, die
Nation habe eine Sache mit ihrem Oberhaupte und müsse tragen,
was aus ihrem Entschluß folge. Das Schriftstück ist vom 14. Ok*
tober datiert; kurze Zeit darauf trug Stein auf die Auflösung des
Tugendbundes an. (Histor. Studien und Skizzen, S. 317 Anmerk.)
Man sieht also, die Ansicht, daß Stein mit dem Tugendbnnd in Verbin-
dung, dessen Stifter gar oder geheimes Oberhaupt gewesen sei, ist ent-
standen trotz der entschiedensten Gegnerschaft des Ministers gegen
die Königsberger Doktrinäre. Ich habe in der angeftlhrten Studie
(S. 327) den Versuch gemacht, das Aufkommen jener irrigen Mei-
nung folgendermaßen zu erklären: »Da man die heimlichen insur*
rektionellen Konventikel nicht kannte, welche damals ganz unab-
hängig vom Tugendbunde in und außerhalb Preußens bestanden und
mit denen Stein und seine Gesinnungsgenossen thatsächlich in Be-
ziehung waren, dagegen um so mehr von jenem Vereine gesprochen
wurde, so war es natürlich, daß man in der öffentlichen Meinung
die geheime Wirksamkeit des Tugendbnndes überschätzte • . . Man
Stern, Abhandlungen u. Aktenstücke zur Geschichte d. preuB. Reformzeit. 365
nannte scblieftlicb Tagendbnnd, was gar nicht Tugendband war and
bezeichnete mit dem Namen insgesamt alle die national and patrio-
tisch Gesinnten, die Stein, Scharnhorsty Qneisenan etc.« — »Es bleibt
za nntersochen — sagt Stern S. 27 — ob nicht dieser Wahn sehr
viel dazu beigetragen hat, — nach der Entlassung Steins von sei-
nem Posten auch noch jenes Aechtangsdekret anf sein Haupt herab-
zuziehen, das ihn fUr vogelfrei erklärte, und zum heimatlosen
Flflchtling machte«. Stern läßt die Frage offen. Sie läßt sich be-
antworten. Schön erzählt: »Einige Wochen später (nach Steins
Entlassung) kam leider die Nachricht, daß Stein seine Unvorsich-
tigkeit so weit getrieben habe, daß Napoleon noch spätere
Briefe von ihm habe auffangen können und daß er geächtet sei.
Ob die Wut Napoleons nicht von Berlin aus angeregt sein mag,
mag dahin gestellt bleiben« (Weitere Beiträge S. 61). Der erste
Teil dieser Mitteilung wird durch zwei Briefe bestätigt, die Stern
im 9. Abschnitte seines Buches abgedruckt hat. In dem einen, wel«
eher bisher nur in deutscher Uebersetzung bekannt war, schreibt
Napoleon, das Aechtungsdekret begleitend, am 16. December 1808
an Ghampagny: Stein fahre fort Ȋ manigancer avec les Anglais
de chim6riques com plots centre la conf£d6ration du Rhin«. Im zweiten
meldet Ghampagny an S. Marsan in Berlin : der Kaiser sei unterrichtet
worden »que M. de Stein, dont les premieres manoeuvres ont itA
divoilöes, continue d'entretenir des intelligences avec les Anglais et
travaille en secret k exciter des troubles dans les ötats conf&därte
du Rhin.« (Stern S. 269 f.). Von dem Wunsche Napoleons, Stein
nicht mehr an der Spitze der preußischen Regierung zu sehen, bis
znr Aechtung and leiblichen Bedrohung desselben ist ein großer
Schritt, den die Hofintrigue allein nicht erklärlich macht. Man
muß hier nnwillktlrlich an Verrat denken, durch den die Franzosen
in den Besitz dieser spätem Briefe gelangten, ein Oedanke, der
sich Übrigens schon bei dem ersten Schreiben an Wittgenstein einstellt
und den man nicht leicht los wird.
Gleichfalls neu ist die achte Abhandlung: »Di« Entstehang
des Ediktes vom 11. März 1812 betreffend die bürger-
lichen Verhältnisse der Jaden im preußischen Staate«.
Dem Verf. erscheint die Entstehungsgeschichte des Gesetzes betref-
fend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden vom März 1812 sehr
stiefmütterlich behandelt, and auch von L. Geiger in seiner Ge-
schichte der Juden in Berlin nur in beschränktem Maße dargestellt,
da demselben die Akten des Staatskanzleramtes zwar behufs Durch-
forscbung aber nicht behufs freier Verwertang zur Verftlgung ge-
standen hatten. Bei Stern fiel diese Einschränkang hinweg, and er
356 Gott. gel. Änz. 1887. Nr. 9.
nnterDimmt es nun zn zeigen, »wie es allmählich Schritt fbr Schritt
unter heftigen Meinnngskämpfen« zur Annahme nnd Promalgation
des Ediktes kam. Stein hat die Jaden in seiner Selbstbiographie
nnter seine persönlichen Feinde gezählt. Die Städteordnnng hatte
ihre besonderen staatsbürgerlichen Verhältnisse, denen der christlichen
Bevölkerung ungleich, nicht geändert. Doch wurde schon 1808
daran gedacht, »das staatsbürgerliche Verhältnis der jüdischen Na-
tion angemessener zu stellen c. Minister vonSchrötter hatte einen be-
züglichen Befehl vom Könige erhalten und beauftragte seinerseits
den Eriminalrat Brand in Königsberg, ein Mittel zu ersinnen, um
die Juden »zwar unblutig, jedoch auf einmal todtznschlagenc. Der
Brandsche Entwurf von Oktober 1808 ist der erste in einer gan-
zen Reihe, die Stern analysiert Er diente einem Berichte Schrot-
ters vom Ende 1808 zur Grundlage , welcher dann sämtlichen De-
partements zur Begutachtung überwiesen wurde. In der Hauptsache :
»daft der bisherige Zustand der Absonderung und Unterdrückung
der Juden nicht fortdauere, sondern nnter gewissen Restriktionen
eine Einbürgerung der Juden und Oleicbstellung der Rechte nnd
Pflichten zwischen ihnen und den Christen stattfinden müsse«, waren
alle Ressorts einig, nur im Detail giengen die Meinungen aus-
einander, wobei die von W. v. Humboldt dirigierte Sektion für Kul-
tur nnd Unterricht den vorgeschrittensten Standpunkt einnahm.
Die Gutachten liefen erst im Sommer 1810 ein. Im selben Jahre über-
nahm Hardenberg das Ministerium, fand aber erst 1811 Zeit nnd
AnlaB, sich mit der Sache zu beschäftigen. Im Januar dieses Jah-
res wurde ein neuer Gesetzentwurf angefertigt. Dieser ist Stern
nicht bekannt geworden , wohl aber zwei von dem Tribunalsrat
Pfeiffer und dem jüdischen Stadtrat Friedländer darüber gelieferte
Elaborate, die er im Wesentlichen mitteilt Bald aber wurden
die Vorbereitungsarbeitnngen neuerdings unterbrochen. Erst im
Febrnar 1812 arbeitete Pfeiffer einen neuen Entwurf aus. Dieser
mit den Bemerkungen und Aenderungen des Justizministers und des
Staatskanzlers -*- der Letztere äußerte sich zumeist im Sinne der
Rechtsgleichheit — gab endlich die Grundlage fttr das Gesetz, wel*
ches Friedrich Wilhelm III. am 11. März vollzog. Die Excerpte
nnd Analysen der Aktenstücke, welche Stern darbietet, liefern einen
willkommenen Beitrag zum Studium dieser Frage, dessen sich auch
die heutige Zeit nicht entschlägt. Kur wäre es wünschenswert ge-
wesen, einen gewissen antijüdischen Zug verzeichnet zu finden, der
zn jener Zeit in der öffentlichen Meinung nicht fehlte und seit Stein
die deutsche Nationalbewegung begleitet hat In der Abhandlung
findet sich bierfür nur ein einziges Zeugnis : die Klage der Stände
Stern, Abhandlaugen a. Aktenstacke zar Geschichte d. preafl. Reformzeit 857
des Lebnsschen, Storkowscben and Bresko wachen EreiBes yom J.
1811 ttber den »neumodischen Jadenstaatc. In den Depeschen
S. Marsans dagegen, z. B. in der vom 18. August 1811, ist von
dieser antisemitischen Tendenz unter den nationalen Patrioten die
Bede: »il est assez singulier que ranimositä centre les juifs soit
un caractöre distinctif des soeiät^ secr&tes ailemandes« (Stern
S. 333).
In dem neunten Abschnitte des vorliegenden Buches »P r euften
und Frankreich 1809 — 1813c bietet der Verf. urkundliche
Mitteilungen aus dem Archive des Ministeriums des Auswärtigen zu
Paris, zumeist die Berichte St. Marsans aus Berlin vom Januar 1809
bis zum April 1813. Der Botschafter Napoleons am preußischen
Hofe war so wenig Franzose als sein Herr. Er hatte ehedem dem
KSnig von Sardinien gedient und war — wie Stern in einer dan-
kenswerten biographischen Skizze nach neuen Quellen zu erzählen
weift — erst 1805 dem schmeichelhaften Rufe des Kaisers gefolgt
Die Revolution in ihrer republikanischen sowohl als imperialistischen
Periode hat immer Wert darauf gelegt, durch ein gewisses form-
gewandtes aristokratisches Element nach außen vertreten zu sein.
Ein völlig gefügiges Werkzeug hatte man jedoch in St. Marsan
nicht gewonnen. Gleich bei der Aechtung Steins trat dies zu Tage.
Er warnte den Verfolgten und ließ ihn entweichen. Er ist im Jahre
1811 lange nicht von der kriegerischen Wendung in Preußen tiberzeugt
und wird auch zwei Jahre später über den bereits erfolgten System-
wechsel bis zum letzten Augenblicke von Hardenberg getäuscht Kapo-
leon ließ sich denn auch lieber von dem Botschaftssekretär LefebvrCi
der schwärzer sah, berichten und vertraute den Mitteilungen des west-
fälischen Gesandten Baron Linden mehr als denen seines eigenen Ver-
treters. Gleichwohl enthalten die Depeschen St. Marsans viel Wertvolles
und ergänzen die unvergänglichen Arbeiten Dunekers und Rankes ttber
Preußen zur Zeit der französischen Hegemonie in erwünschter Weise«
Aus ihnen wurde Stern z. B. darüber belehrt, daß der bisher für
echt gehaltene Rapport Champagnys an Napoleon vom 16. November
1810 und der darin enthaltene Plan zur Vernichtung Preußens eine
Fälschung sei. Die Untersuchung hierttber, zuerst in den »For-
schungen zur Deutschen Geschichtet mitgeteilt, ist in das neue
Buch ah vierte Abhandlung wiedet aiifgenommen. Stern thut wohl
daran, im Anschluß an eine Stelle in Ernoufs Maret zu bemerkenf
daß, wenn man auch dieses Dokument ins Bereich der Fabel zu verwei-
sen habe, deshalb über die zeitweiligen Absichten Napoleons in Bezug
auf das Schicksal Preußens noch nicht das letzte Wort gesproobea
35a Gott. gel. Adz. 1887. Nr. 9.
Bei. Hierher würde n. A. ein Brief gehören, der den spaDiflcben
Qaerillas in die Hände fiel, im Goarrier de Loadres von 1811 ab-
gedruckt und über Prag nach Berlin bekannt wurde , des Inhalts,
daft Berthier mit PreuBen beschenkt werden sollte. Aber auch sonst
enthalten St Marsans Berichte wertvolle Beiträge zur Zeitgeschichte.
Vor Allem interessant — von Stern bruchstttckweise in der Revoe
historique bereits mitgeteilt — sind die Bemerkungen über die »Sektec
der Franzosenfeinde, die »Tngendfrennde«, die »deutschen Jakobiner c
und wie sonst die Partei der nationalen Unabhängigen genannt
wird. In den Berichten vom 15. Fehrnar 1810 und vom 14. August
1811 ist sogar von zwei Parteien, der »antifranzOsischen« und der
»revolutionären«, in Preußen die Rede, welche Letztere gleichfalls
Frankreich feindlich und durch die herrschenden Umstände mit der
Ersteren verbunden sei (S. 307 und 332). Soweit geht allerdings
St. Marsan nicht, wie der französische Konsul GI6rambault in Königs-
berg, welcher Blücher, Scharnhorst, Auerswald, Chasot, Schill n. A.
nicht nur zum Tugendbund zählt, sondern ihnen auch noch die Absicht
zuschreibt, die Krone Preußens von Friedrich Wilhelm III. auf Stein
übertragen zu wollen. Stern scheint mir aber doch S. 290 Anm. 2
eine gewisse Tendenz gegen den herrschenden König zu unter-
schätzen. Sie war vorhanden. Was Wessenberg am 26. Juni 1809
an Stadion berichtet, wird durch die Bemerkung von Harnisch, Mein
Lebensmorgen, S. 220, bestätigt: »In einem Gedanken, das muß ich
bekennen, mochten einige von uns zu weit gehn, nämlich in dem,
daß wenn unser König zur rechten Zeit für das Vaterland nicht vor-
gehn werde, dann wohl sein Bruder dies thun würdec. Unter den
St. Marsanschen Depeschen seien noch besonders hervorgehoben:
die vom 14. Februar 1810 mit den Aeußerungen des Königs über
Stein und Hardenberg und seine persönliche Abneigung gegen Jenen
(S. 306), die vom 14. August 1811 mit der Nachricht, daß und in
welchem Maße der Kronprinz den Antifranzosen feindselig gesinnt sei
(S. 330), die vom 27. August 1811, mit dem kriegerisch klingenden
Ausspruch Hardenbergs, welcher bisher von Lefebvre nicht ganz wort-
getreu wiedergegeben wurde (S. 333), die vom 24. December 181 1 über
die Werdersche Konspiration (S. 370), über welche übrigens außer den
von Stern citierten noch^ein eingehender Bericht von Nostiz (mitge-
teilt von E. Guglia in der Oesterreichischen Rundschau I. 426) vor-
liegt, ferner die vom 30. Januar 1812 mit der Denkschrift Hatzfelds
über die Franzosenfeinde, welche St. Marsan selbst »übertrieben«
nennt (S. 371), die vom 6. und 24. März 1812 über die Demissionen
preußischer OfBciere, worin Wittgenstein als einer der eifrigsten Par-
Christie, The Diary and Correspondence of I>r. John Worthington. 11. 2. 359
tisane FraDkreichs erscheint (S. 385 f.), die Tom Jani, Jali and
Anglist 1812 ttber die Affaire Grnner und dessen Arretierung in
Prag (S. 389 ff.) , in denen Hardenberg nicht eben im schönsten
Lichte erscheint, and die wir gerne etwas weniger gekürzt mitge-
teilt gesehen hätten. Erwähnenswert sind aach die Depeschen
vom Janaar 1813 ttber die Schwenkang York's, welche das bisher
hierüber Bekannte ergänzen , die vom 4. März über die preuftischen
Freiwilligen and die letzte vom 10. April 1813, welche St. Marsans
Auffassung zum Ausdruck bringt, daß »nicht Alezander und nicht
Friedrich Wilhelm den Krieg mache, sondern die Stein, Blücher,
Scharnhorst, Tettenborn und eine Menge von ehrgeizigen Aufwieg-
lern, deren erste Opfer ihre eigenen Souveräne sein würden, wenn
sie im Felde Erfolg haben sollten. Dann würde man Deutschland
in einen Zustand verfallen sehen, wie derjenige Frankreichs von
1793 war, nur mit einigen von dem Unterschiede des Nationalcharak-
ters diktierten Nuancen c So sehr war die Ansicht des Gesandten
von den Einflüsterungen der Voß und Hatzfeldt und Wittgenstein
beherrscht, die sich später bekanntlich auch im eigenen Lager OehOr
verschafft haben.
Die fünfte Studie »Zur Geschichte der Mission Scharnhorsts
nach Wien im Jahre 1811« ist den Fachmännern schon bekannt;
desgleichen Abschnitt 6: »die Sitzungsprotokolle der interimistischen
Landesrepräsentation Preußens 1812— 1815c und Abschnitt 7: »Ge-
schichte der preuftischen Verfassungsfrage 1807 — 1815«. Wir wol-
len deshalb hier nicht näher auf deren Inhalt eingehn. Nur ne-
benbei sei angemerkt, daß in der Abhandlung über Soharnhorst's
Sendung der Rat, den Metternich dem Abgesandten gab, Preaßen
möge sich an Baßland anschließen (Duncker, Preußen während der
französischen Occupation S. 422) als charakteristisch für die Politik
dieses Staatsmannes nicht hätte unterdrückt werden sollen.
Prag. August Foumier.
Christie, Bich&rd Copley, The Diary and Correspondence of Dr.
John Worthington. Vol. U. Part. 11. Printed for the Chetham Society
1886. a*
Mit diesem zweiten Teil des zweiten Bandes von Worthingtons
Tagebuch und Briefwechsel gelangt ein Werk zu seinem Ende, das
man als eine wahre Fundgrube für die englische, wenn nicht in ge-
wissem Sinne für die europäische Qelehrtengeschichte einiger De-
eennien des siebzehnten Jahrhunderts betrachten kann. John Wor-
1
360 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 9.
thiDgton, w&brend des Protektorates Haster des Jesus-Üoltege in
Cambridge, bat selbst aaf seinem eigenen Arbeitsfelde, dem tbeolo-
giscben, zwar nichts Originelles von Bedeutung bervorgebraebt, aber
sein reges wissenscbaftlicbes Interesse wie seine trefflieben Cbarak-
tereigenschaften machten ihn znm Mittelpunkte eines Kreises von
Freunden, deren Korrespondenz mit ihm sich ttber weite Gebiete er-
streckt. Das Vielseitigste unter ihnen war unzweifelhaft jener nach ^
England verschlagene Deutsche Samuel Hartlib, dessen Beziehungen
zu Milton, Hobbes, Boyle, Gomenius, Oldenburg, Gassendi n. a. be-
kannt sind (s. den Artikel Samuel Hartlib in der Allgemeinen Deut-
schen Biographie und die daselbst angeführte Litteratur sowie den
Aufsatz von Althaus im Historischen Taschenbuch 1884). Durch ihn i
wurde Worthington auch mit John Durie (Duraens) in Beziehung j
gesetzt, dessen Bestrebungen, eine Union zwischen Reformierten
und Lutheranern herbeizuführen eine so große Rolle in der Kirchen-
gesehichte der damaligen Zeit spielen.
Der ursprüngliche Herausgeber von Worthingtons Tagebuch und
Korrespondenz, der gelehrte James Grossley, welcher 1847 den ersten
Band, 1855 den ersten Teil des zweiten Bandes erscheinen lieft, * •!
hatte die Absicht am Schlüsse des Werkes Biographieen der drei
genannten Männer, Worthington, Hartlib, Durie hinzuzufügen. Sein
Tod hat leider die Ausführung dieser Absicht vereitelt Richard
Copley Christie, der Fortsetzer seines Werkes und sein Nachfolger
auf dem Präsidentenstuhle der Chetham-Society, hat sich damit be-
gnügt den fehlenden Rest des Manuskriptes zum Abdruck zu bringen
und mit Anmerkungen auszustatten, die wie diejenigen der voran-
gebenden Teile Zeugnis von außerordentlicher Sorgfalt ablegen.
Den Hanptstoff dieses ScbluBbandes bildet, die Korrespondenz mit
Henry More und N. Ingelo. Wie mancherlei neue litterarische Er-
scheinungen, wie viele bekannte Persönlichkeiten der gelehrten, ge*
legentlich auch der politischen Welt in ihren und anderer hier mit-
geteilten Briefen berührt werden, läßt sich erschöpfend nicht angeben.
Nur, um ein paar Beispiele herauszugreifen sei auf die Erwähnung
L. Meyers von Amsterdam, des Freundes Spinozas (S. 280), Hobbes
(S. 288 u. s. w.), Lauderdale (S. 340) hingewiesen.
Bern. Alfred Stern.
Fikr die Bedaktion ▼•rantwortlkh : Prof. Dr. B^ehtAt Direktor der GAtt. gel. Abs.,
Awenor der KftnifHehen Oeeelleeliftft der Wieeeaichftftea.
Y«Hao dm DitUiich*ickm Vtrkv^-B^düumdkmff.
Dntdt dir JHtUrteKiOkm üni9.-0HdidrMdtir$i (t)r, W. Etmkmh
fCC^VAf-^
i ;,5;0, \\ i'c ...•■■
361
r
Göttingische
gelehrte Anzeigen
anter der Aafisicht
derKönigl. Gesellschaft der Wissenschaften.
^Nr. 10. 15. Mai 1887.
Preis des Jahrganges: UK 24 (mit den »Nachrichten d. k. G. d. Wiss.«: e4S27}.
Preis der einzelnen Nummer nach Anzahl der Bogen: der Bogen 60^
Inlialt: 'Havet« Qoeaüoiifl MtSrovingiennM. Ton Ztumer. — Hub er, Oeeeliicbte Oester-
niohs. Bftfld 1 «ad 2. Von Badmaam. — L o s 8 e n , Briefe tod AndreM MaefoB und aeinen Freun-
den. Ton Loatrtk.
= Eigennächtiger Abdruck von Artikeln der GStt. gel. Anzeigen verboten. ^
Hayet, Julien, Questions M^rovingiennes. I. La formnle: N. rex
Francorum v. inl. (dazu M. Pirenne, La formule N. rex Francorum v. inl.
in 'Compte rendu de la commission royale d'histoire' XTTT, nd. 2, 4me sdrie.
Bnixelles 1886*. 8^. — II. Les d^couvertes de Jerome Vignier. — m. La
date d'un manuscrit de Luxeuil. Paris 1886. (Besonders abgedruckt aus
der Biblioth^HO de l'äcole des chartes XLVI). 8^.
Von den drei Abhandlungen, welche J. Havet nnter dem obigen
Titel yerSfPentlicht hat, verdienen namentlich die beiden ersten im
vollen Mafte die Beachtang, welche sie bei den Fachgenossen ge-
funden habet). Die Besultate sind überraschend. Lange herrschende
Irrtümer, zum Teil von sehr tiefgreifender Bedeatung, sind widerlegt
nnd zwar meist mit so einfachen und, wie ich meine, zwingenden
Gründen, daB man sich nachträglich kaum so sehr über die aufge-
deckten Thatsaehen wundert, als vielmehr darüber, daß dieselben so
lange vermocht haben, sich den prüfenden Blicken der Forscher zu
entziehen, Das kann natürlich dem kritischen Scharfblick , wie der
treffliehen Darstellung des Verfassers nur zur Ehrö gereichen. Wenn
d^mgemM' die folgende Besprechung der einzelnen Abhandlungen
sieh zumeist als ein zustimteeiides Referat erweisen wird, so glaube
ieb do^b"' air' einzelnen Punkten die Beweisführung des Verfassers
einächränken oder erweitem zu kt3nnen. Wie ich aber hoffen darf,
hierdurch im- Ganten die' Sicherheit d'er Resultate zu verstärken, so
^ube ich aueh einzelne Einwände, welche (Seither gegen Havets
AusfHbiUnjgen erhoben sind, als unzutreffend erweisen zu künnen.
OMt. gel. Aas. 1887. Nr. 10. 26
862 Gott. gel. Anx. 1887. Nr. 10.
L La formale: N. rex Francornm t. inl.
Das Beweistbema dieser ersten Abhaodlang ist folgendes: Die
Formel N. rex Francarum v. inl. in den Inskriptionen der Mero-
winger-Diplome ist nicht, wie bisher geschehen, N. rex IV. vir in-
lusterj sondern N. rex Fr. viris inlt*stribfis za lesen. Das haupt-
sächlichste Argument ist: Eeins der erhaltenen Original-Diplome
hat ausgeschrieben vir inluster^ sondern alle haben entweder Ab-*
kttrzungen, welche die Endungen zweifelhaft lassen, oder ausdrück-
lich viris inlustribuSy teils ausgeschrieben, teils so abgekOrzt, daA
diese Lesart unzweifelhaft bleibt 22 Stücke haben t;. inl. oder
V. inU,j 7 dagegen viris inlustribus oder unverkennbare Abkürzungen
dafür, und 3 Stücke, nach Havet, Abkürzungszeichen, welche eben-
falls eher so, denn vir itduster lesen lassen. Nach dem einfachen
Grundsätze der Palaeographie, daft zweifelhafte Abkürzungen so auf-
zulösen sind, wie in analogen Fällen vollständig ausgeschrieben
wird, schlieftt Havet, daß r. «n2. und v. inU. nicht vir inluster^ son-
dern nur viris inlustrüms aufgelöst werden darf. Nicht auf den Kö-
nig bezieht sich also der Titel, sondern auf die Beamten, an welche
der Erlaß gerichtet ist Die Formel ist eine vollständige Inscriptio
mit Adressant und Adressat, angemessen dem Briefcharakter, wel-
chen die Diplome tragen. Der Titel vir ivluster für den König ist
nicht merowingisch , sondern karolingisch. Er ist von der Kanzlei
der Hausmeier, welche ihn führten, für das arnulfingische Oe-
schlecht, auch nachdem es die Königswürde angenommen hatte, noch
eine Zeit lang beibehalten. Dadurch gewöhnten sich die späteren
Abschreiber auch in den Merowinger-Diplomen v. ifU. als vir in-
luster aufzulösen und auf den König zu beziehen, und dadurch
wieder sind die Editoren der letzten Jahrhunderte zu einem gleichen
Verfahren veranlaßt
Havets Verdienst ist zuerst klargestellt zu haben, daß kein ein-
ziges Original-Diplom das bisher als regelmäßig geltende vir itduster
hat und demnach kein Grund vorhanden ist; diese Form als Regel
anzusehen, neben welcher die schon früher beobachteten Fälle mit
viris inlustribus als Ausnahmen zu erklären wären. Merkwürdig ge-
nug hat man sich mit diesen vermeintlichen Ausnahmen bisher ab-
zufinden gesucht, indem man den Dativ Pluralis teils wirklich auf
die Beamten bezog, an welche das Diplom sich wendet, teils ein
Misverständnis der Kanzlei annahm, welche über die Konstruk-
tion im Unklaren gewesen sei, und trotz des Dativ Pluralis das
Prädikat habe auf den König beziehen wollen. Auch Bef. hat sich
früher ausdrücklich dieser Ansicht angeschlossen, sieht sich aber
genötigt jetzt die Seltsamkeit derselben unumwunden anzuerkennen.
Havet, QaestioDS M^roviugienues. B63
Dreierlei Fälle nahm man also an: 1. vir inluster steht hinter
rex Francorum in der Inscriptio der Diplome als Titel des Königs.
2. An derselben Stelle steht statt dessen viris inlustribuSy seiner
Form gemäß als Titel der Beamten, an welche der ErlaB gerichtet
ist. 3. Es steht zwar wie im 2ten Falle viris inlustrihus^ dies
ist aber dennoch, wie im ersten, nicht auf die Beamten zu be-
ziehen, sondern als Titel des Königs zu rex Francorum zu neh-
men. Ist es schon sehr unwahrscheinlich, daß derselbe Titel an
derselben hervorragenden Stelle an der Spitze der Diplome bald
dem Könige, bald nicht ihm, sondern seinen Beamten beigelegt
wird, 80 ist es im höchsten Grade die Annahme des dritten Falles.
Und doch lag gerade hierfür ein scheinbar sicheres Beispiel Tor in
dem Diplom Ghilperichs II. (Mon. Germ. DD. Merov. ed. K. Pertz
Nr. 82), welches die Inscriptio hat: Ch. rex Francorum viris inH-
strdms omnis tilenariis Masiliensis. Weil man nicht annehmen
wollte; daß den Zöllnern ein Titel beigelegt worden sei, welchen auch
der König führte, glaubte man hier das Prädikat trotz der nach
Casus und Numerus widersprechenden Form auf den König beziehen
zu mtlssen. Nachdem nun die Voraussetzung, daß der König diesen
Titel sich * in der Inscriptio der Diplome beigelegt habe, als unbe-
gründet nachgewiesen ist, dürfen wir mit Havet wohl umgekehrt
aus dieser Stelle die Unwahrscheinlichkeit der Annahme folgern,
daß der König selbst einen Titel geführt haben sollte , den er allen
seinen Beamten und, wenn auch vereinzelt, sogar den Zöllnern
beilegte (p. 14).
Was die Originaldiplome ergeben, findet Havet mit Recht auch
in den merowingischen Formeln und andern Quellen bestätigt: der
König führt nicht den Titel vir vnluster^ wohl aber seine Beamten;
und wenn man die Verleihung der Konsulswürde an König Chlodo-
vech durch Kaiser Anastasius mit jenem römischen Titel in Verbin-
dung gebracht hat, so erinnert der Verfasser daran, daß den Kon-
suln das Prädikat darissimius zukam.
Nur eine Stelle, welche Havet nicht berücksichtigt hat, könnte
man etwa mit Waitz, Verfassungsgeschichte 11, 1, S. 187, A. 3, be-
nutzen, um die frühere Annahme zu stützen , nämlich die in der
Exhortatio ad Francorum regem enthaltenen Worte: 0 rex Franco-
rum inluster (Digot, Histoire du royaume d'Austrasie III, p. 352).
Doch ist hier zu beachten, daß nicht vir inluster steht und der Ver-
fasser an dieser Stelle wohl ebensowenig eine officielle Titulatur
anwenden wollte, als wenn er den König rex nobüissime (p. 349)
oder dükissime rex (p. 353) anredet.
Noch eine Bemerkung möchte ich hinzuftlgen. Gewiß ist es
26*
364 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 10.
kritisch darcbaw gerechtfertigt, wenn Havet seine Untersachnng
zunächst aaif die ei'haltenen Originaldiplome gründet Ich glaube
aber auch das ist zu beachten, daß selbst eine Anzahl der nur ab-
schriftlich überlieferten Diplome nicht vir inlustery sondern aasdrück-
lieh viris inLustribus aufweist. Es sind das in der Ausgabe von
E. Pertz die Nummern 28. 29. 40. 44. 52. 86. 91. 96. Dazu kommen
noch zwei Stücke, welche mehr der Formel Marculfs I, 2 entspre-
chen, Nr. 95: Theuderkus rex Francorum viris apostoUcis patribus
episcopis nee non et inlustribus viris dudbus — , und Nr. 97: Chü'
dericus rex Fr. viro indiio Karolomanno — viris apostolicis patribus
nostri» necnon et imperataribus (lies : inlustribus) viris omnibtis cami-
tibfiSm Genau den Fällen, wo das Diplom an mehrere Beamte ge-
richtet ist, entsprechen Nr. 2;5 und 42, welche nur einen einzelnen
als Adressaten bezeichen : jY^ rex Francorum viro ifUustri, und mit
Auslassung des viro auch Nr. 62. Ebenso haben auch neuere Her-
ausgeber in dem Original Nr. 20 (Letronne Nr. 9) gelesen; ich
kann nicht entscheiden ob mit Recht. Jedenfalls genügen aber die
übrigen Fälle schon, um das von Havet gewonnene Resultat etwa
so ZU: formulieren : In der Formel N. rex Francorum v. inL in me-
rowingischen Diplomen sind die beiden letzten Wortzeichen in der
Bagel viris init^stribuSf und wenn ausnahmsweise das Diplom nur
an einen einzelnen Beamten, gerichtet ist, viro ihlustri zu lesen.
Gegen Havels Ausführungen hat M. Pirenne in der in derUeber-
scbrift mit angefühlten Abhandlung einige Einwände erhoben. Pirenne
verkennt keineswegs das Gewicht der von Havet geltend gemachten
Gründe, ist aber der Meinung, daß die neue Annahme Schwierig-
keiten^ die Begründung einige schwache Seiten darbiete, und hält
mit Recht die Sache für wichtig genug, um alle etwa entgegen^
stehenden Momente in sorgfältige Erwägung zu ziehen. Zunächst
glaubt Pirenne auf Grund der Facsimiles bei Letronne die drei
DipJoiM) in denen Havet in den Originalen v. inL mit Abkürzungen
zeichen gelesen hat und viris itdusiribus auflösen will, zu den 221
Stücken stellen zu sollen, welche v. inl. oder v. mU. haben und die
Auflösnng zweifelhaft lassen. Soweit ich ohne Einfiicht, der Origi«
naJe urteilen darf, möchte ich. hierin Pirenne zustimmen« Wenn aber
somit auch, die Zahl der direkt für den Dativ Pluralis zeugende«
Diplome von IQ gegen 22 auf 7 gegen 25 neutrale redueiert weir-
den mufi^ so ändert das an der Hauptsache nichts. Es bleibt auoh
dabei der entscheidende Umstand bestehn, daß kein Original ausge-
schrieben vir iniuster hat, daß- dagegen alle Originale, welche nicht
unbestimmt abkürzen, viris ifdustribus haben. Nun bemerkt aber Pi«r
renne in allen Stücken der letztera Art he»Mid^re Eigentümlich*
Havet, Questions M^rovingiennes. S6Ö
keiten. Während in alien Diplomen, welche hinter rex Franaorum
die abgekürzte Form t;. inl. aufweisen, dieser Titel auch äoßerliöh
durch verlängerte Schrift und folgenden Absatz als zn rex Franco-
rwn gehörig bezeichnet wird, sind in vier von jenen sieben Fällen
(Letronne Nr. 3. 5. 19 and 40) die Worte viribtis i^^lMgtHibus von
rex Fr. getrennt and an den Anfang des Eontextes der Urkande
gesetzt; in einem 5ten Falle (Nr. 17) ist dagegen nicht nar viris
inhLstribua mit gleichfalls verlängerter Schrift anmittelbar hinter
re^ Fr. gestellt, sondern ebenso anch noch die Aufzählung der ein-
zelnen Beamtenkategorien, während in einem 6ten Falle (Nr. 7) ebenso
eigentämlich die verlängerte Schrift überhaupt nicht angewandt ist
Diese 6 Stücke charakterisieren sich also sämtlich durch über-
raschende Abweichangen vom merowingiscfaen Kanzleigebraaehe.
Nur das 7te Stück mit trim mlustrüms (Nr. 89) scheint tadelA^i;
aber, wie Pirenne noieinft, scheint es nur so. Während nämlich in
den sechs übrigen Fällen mit visris iniMStrüms diesem Titel stets
noch eine nähere Bezeichnung der Beamten folgt, fehlt diese in Nr.
39. Also bildet dieses Sttlok wieder eine Ausnahme von einer kon-
stanten BegeL
Ich halte diese ganze Argumentation, welche, wie wir sehen
werden, darauf hinausläuft, 6 Stücke zn beanstanden, weil sie eine
gewisse Eigentümlichkeit haben, und das 7te, weil es eben diese
Eigentümlichkeit nicht hat, für nicht zutreffend. Richtig führt Pi-
renne eine gemeinsame Eigentümlichkeit jener 6 vom Kanzleigebrauch
abweicheaden Fälle an, bemerkt aber nicht, daft in dieser gemein^
samen Eigentümlichkeit eben der gemeinsame Grund jener Ab^
weichnngen liegt Bestand die Inskription nur aus N. rex Fr. f).
inl, so war es durchaus natürlich dieselbe, wie regelmäßig geschieht,
von dem übrigen Inhalt der Urkunde auch in der änfteren Erschein
nung zu trennen und mit der Arenga oder Narratio in der gew9hn«
liehen Teztsehrift eine neue Zeile zu beginnen. Folgten aber den
Worten viris iiUustrüms noch andere im gleichen Casus, welche diese
ffiri inluetres noch näher bezeichneten oder durch Hinzuftlgung an-
derer Personen ergänzten, so war man gezwungen entweder [die
ganze erweiterte Inscriptio vom Texte äuAerlich za unterscheiden,
wie in Nr. 17 geschehen ist, oder auf äufterliche Unterscheidung
etwa durch Anwendung verlängerter Schrift für die ganze Inscriptio
zo verzichten, wie in Nr. 7 geschehen ist, oder endlich, wie in den
übrigen Fällen geschieht, die Inscriptio zu teilen. Teilte man aber,
so lag es durchaus nahe, nur den E()nigBnamen und Titel mit ver-
längerter Schrift in die erste Zeile zu setzen und alles übrige, also
die Dative, in gewöhnlicher Schrift an den Anfang des Textes zu
366 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 10.
stellen. Diese, wie mir scheint, anabweisbare , Erklftrang gibt zu-
gleich die Antwort auf die Frage, weshalb gerade vorzagsweise in
diesen Fällen das viris inhtstribus nicht abgekürzt wird, sondern
aasgescbrieben. Allein mit davorstehendem N. rex Fr. als Inscriptio
gesetzt, brauchten Casus und Numerus des v. »nZ. als selbstverständ-
lich nicht ausgeschrieben zu werden. Folgten aber diesen Dativen
Pluralis noch mehrere koordinierte, so wäre es seltsam gewesen,
wenn man die ersten hätte abkürzen wollen, da man es doch bei
den übrigen ohne undeutlich zu werden, nicht durfte. Daft aber der
Schreiber nicht etwa nur durch die folgenden Dative verleitet wurde
auch V. inl. in diesen Casus zu setzen, zeigt nunmehr auf das deut-
lichste jener 7te Fall , wo viris inlt^stribus auch ohne folgende Da-
tive steht. Pirenne meint (p. 8), es scheine, daß die Schreiber,
welche dem Könige in der Regel den Titel vir inluster beilegten,
in den Fällen, wo das Schreiben mit einer Adresse an Beamte ver-
sehen wurde, welche ihrerseits Anspruch auf den Titel vir iniiister
hatten, diesen Titel ihnen gegeben, dagegen dem Könige genommen
hätten. Das Unwahrscheinliche dieses Hin- und Herschiebens des-
selben Titels zwischen dem Könige und seinen Beamten liegt auf
der Hand. Eine solche Kanzleiregel wäre unerklärlich, während
unsere Annahme für Alles die einfachste Erklärung bietet.
Auch Marculfs Formeln sprechen nicht, wie Pirenne p. 9 meint,
gegen Havets Ansicht. Könnte es in I, 29 scheinen, als hätte Mar-
culf, was er sonst nie thut, dem Könige den Titel vir inlustris bei-
gelegt, so dürfen wir diese einzige Ausnahme angesichts der That-
sache, daß unsere Handschriften sämtlich nicht über die karolingi-
sche Zeit zurttckgehn, aus Verderbnis des Textes erklären ^). Kei-
neswegs aber ersetzt Marcnlf die Formel N. rex Francorum v. inl.
immer kurz durch ill. rex'^ vielmehr steht niemals iUe rex allein,
sondern stets ist noch der notwendige dem i;. ifd. der Diplome ent-
sprechende Dativ dazu gesetzt. Daß hierbei vir inluster fast nur
erscheint, wo ein Comes genannt wird^ trägt bei dem Charakter des
Werkes, welches die Segeln der königlichen Kanzlei nur im Großen
und Ganzen kennt und befolgt, wenig aus.
Auch der weitere Einwand, welchen Pirenne erbebt, daß nicht
t;. ifU. sondern t;. inlbus die Abkürzung ftlr viris inlustribus gewesen
zu sein scheine, ist kaum von Bedeutung. In v. inUms sind die für
die Endung ausschlaggebenden Buchstaben so deutlich ausgeschrieben,
daß hier im Sinne unserer Frage gar keine Abkürzung vorliegt.
Eben darum handelt es sich, ob auch die Abkürzungen, welche keine
Elemente der Endungen enthalten, so aufzulösen sind. Daß aber,
1) Eine Handschrift, freilich nor B, hat auch hier mro inhuire.
Ha vet, Qaestions M^rovingiennes. 367
weil V. inlbus nur viris inlustribus aufgelöst werden kann, eine an-
dere Abbreviatur nicht auch noch dasselbe bedeuten könnte, wird
Niemand behaupten und ebensowenig, daß t;. inl. an sich nur in
vir inluster aufgelöst werden dürfe. Zeigen das doch schon die Bei-
spiele, welche Pirenne, p. 10, n. 1, gerade ftlr die Auflösung vir in^
luster anführt : Signum f v. inl. Radoberto . . . Signum f t;. inl. Er-
menrico . . . (Letronne 8 = E. Pertz Nr. 19). Gerade hier kann v. inl.
nicht vir inltistep- sondern nur entsprechend den dazu gehörigen
Eigennamen viro inlustri (fttr viri inlustris) aufgelöst werden^).
Ebensowenig vermag ich Pirenne zuzugeben, daß eine Adresse
N. rex Fr. viris inlustribus bei den Placita - Urkunden ein Nonsens
sein würde. Freilich wurden diese den Parteien im Eönigsgericht
übergeben, und nicht unmittelbar »mm inlustribus*. Letzteres war
aber auch sonst oft nicht der Fall z. B. bei Zollprivilegien ; wie durch
diese der König sich erst, wenn der Besitzer des Privilegs von dem-
selben dem Beamten gegenüber Gebrauch macht, an diesen wendet,
so kann man auch annehmen, daß die Adresse der Placita sich an
die Richter wende, denen gegenüber etwa die Partei von der Ur-
kunde Gebrauch zu machen hat. Briefcharakter haben auch die Pla-
eita, wie schon die in den Originalen häufig beigefügte Formel:
»Bene valetec zeigt (z. B. E. Pertz Nr. 59. 60. 64), welche sich nicht
auf die Parteien im Gericht beziehen kann, da diese im Eontexte
nicht angeredet, sondern nur in dritter Person erwähnt werden.
Endlich aber findet Pirenne in einigen Stücken den positiven
Beweis, daß die merowingischen Eönige den Titel vir inluster ge-
führt hätten. Freilich seien diese Texte nicht im Original erhalten,
doch der Art, daß die Beziehung auf den Eönig nicht erst durch
einen Fehler des Eopisten hineingekommen sein könne. Es sind
dies Fälle, wo in der Inscriptio erst vir inluster hinter dem Königs-
titel, dann noch einmal in der Anrede der Beamten inlustribus viris
steht. Von den drei von Pirenne angeführten Stücken gehört aber
eins, Marculfi Addit. 2 (cf. Coli. Flav. 69), der karolingischen Zeit an.
Es ist dies die karolingische Ueberarbeitung der merowingischen
Formel Marc. Suppl. 1, welche im bemerkenswerten Gegensatz zu
der Ueberarbeitung ganz den merowingischen Originaldiplomen ent-
sprechend nie rex Francorum viris inlustribus bietet Ebenso ist
ein zweites dieser Stücke, das angebliche Diplom Chlotars I, Par-
dessns No. 136, bei E. Pertz Spur. 9, p. 125, welches Sickel, Beiträge
z. Diplomatik III, S. 195 für nur sprachlich emendiert erklärte, wohl
sicher mit Waitz , Verf. Gesch. II, 2, S. 14, n. 1. S. 42, n. fbr un-
1) Auch fOr die den Namen folgenden Titel mt^far domus and domesHeuB ist
die in den Drucken gew&hlte Nominativform nach dem Facsimile nicht berechtigt.
366 Oött. gel. Anz. 1887. Nr. 10.
echt oder mindestens überarbeitet zu halten , und zwar Ist es grade
die Inscriptio, w:elche zu Verdacht Veranlassung gibt. Das dritte
Stück endlich; das Diplom Dagoberts für Kesbach, Pard. Nr. 270^
ist durch Marculfe nach diesem Diplom verfaßte Formel I, 2 zu
kontrolieren. Das Diplom ist ediert von Mabillon aas einem angeb-
lichen Original, welches aber kein Original gewesen sein kann, da
der Text, wie die Vergleichung mit dem Marcalfs ergibt, schlechter
ist als der eines Ghartulars des XUL Jahrb. Dieses enth< leider
nur die 2. Hälfte, so daß der erstere Teil textlich nicht besonders
sicher ist. Der Text jenes angeblichen Originals lautet nun aller-
dings: Dagöbercihus rex Francorum vir inltister apostolids patribm
nostris dominis episcopis et ülustribus viris dudbus u. s. w. Marcnlf
aber schreibt richtiger: llle rex viris apostolids patribuB nostris neo-
f^(m et inlustribtAS viris Uli comUe u. s. w. , und aus dieser Fassung
erklärt sich leicht die des Diplomentextes, wenn man annimmt, daß
durch das Versehen oder die vermeintliche Korrektur eines karolin-
gischen Abschreibers vir, itd. ans viris geändert sei.
Den besten Beweis für die Existenz des Tit^ vir itdtister für
den merowingischen König erblickt Pirenne darin, daß auch die er*
sten Karolinger bis 774 denselben führten. Denn entschieden falsch
sei , was Havet meine , daß das karolingisohe Urkundenwesen vom
merovingischen wesentlich verschieden sei. Havets Behauptang geht
thatsächlich nicht ganz so weit, sondern nur dahin, daß die Kanzlri
eine Umwandlung erlitten habe und die karolingischen Diplome sich
merklich von den merowingischen unterschieden. Das ist unbestreit-
bar richtig und durch die von Havet p. 13 angeführten Tbatsachen
ausreichend begründet. Und wenn Pirenne sich für seine Behaup-
tung auf Ausführungen Sickels beruft, welche darthun, daß die
Kanzlei der Arnulfinger, als sie königlich wurde, sich in manchen
Dingen mehr dem Gebrauch der merowingischen Kanzlei angeschlossen
hat, so steht das nicht im Widerspruch mit der Annahme großer
Verschiedenheiten, welche ja auch Sickel anerkennt und hervorhebt.
(Vgl. z. B. Sickel, Acta Karol. I, 8. 193. 213. 214. 219). Havets
Annahme, daß die Kanzlei der Arnulfinger den Titel für das könig-
lich gewordene Geschlecht von früher her beibehalten habe, ist also
durchaus zulässig.
Die Kritik Pirennes dürfte demnach das Resultat Havets nicht
erschüttert haben ^).
1) Da das Manuskript dieser Anzeige schon vor längerer Zeit abgeschickt
wurde, konnte ich die ebenfalls gegen Hayet gerichteten Ausführungen H. Bress-
aus im N. Archiv Xu S. 363 ff., die mich nicht zu überzeugen vermögen, im
yprstehenden nicht mehr berücksichtigen, ebensowenig Havets Entgegnung im
neuesten Hefte der »Biblioth^ue de P^le des chartesc.
H&vet, Questions M^rovingiennes. 9^^
n. Les .dicoQvertes de Jerome Vignier.
Diese zweite AbbandluDg geht von der BeobaefatoDg ans, daA
die Glaubwürdigkeit einer Reihe hOchst wichtiger Denkmäler der
Herowingerzeit lediglieh auf dem Zeagnis eines einzelnen Mannes,
des 1661 verstorbenen Priesters yom Oratoriam Jöröme Vignier rnht.
Keiner vor ihm hat sie gekannt. Nur Er hat die Handschriften ge-
geben, nnd naeh ihm Keiner eine Spar davon aufgefunden. Diese
auffallende Gleichartigkeit der Ueberliefernng macht die Entdeckun-
gen Vigniers im hohen Grade verdächtig. Eine nähere Prüfung der
einzelnen Texte, welche die Mehrzahl derselben als unecht erkennen
läßt, bestätigt den Verdacht und ftthrt zu der Ueberzeugung , daß
diese Entdeckungen samt und sonders Fälschungen Vigniers sind.
Die Mehrzahl der hier in Frage kommenden Stücke hat nach
Vigniers Tode sein Freund D'Achery aus dessen hinterlassenen Pa-
pieren im 5. Bande des Spicilegium natürlich bona fide herausge-
geben. Dies sind: 1. Das Testament des Bischofs Perpetuus von
Tours vom Jahre 475 (Pardessus, Diplomata Nr. 49). 2. Die Grab-
sdirift desselben Perpetuus. 3. Die Schenkungsurkunden Ghlo-
dovechs für St. Mesmin, die sogenannte Fundatio Miciacensis (K.
Pertz, Dipl. Mer. nr. 1). 4. Das Beligionsgespräch zu Lyon vor
König Gundobad vom Jahre 499, die sog. Collatio episcoporum
(Spie. V, p. 110), und 5. Briefe von Bischöfen und Päpsten, welche als
Appendix ad miscellanea epistolarum p. 578 ff. gedruckt sind. Es
sind dies Briefe des Bischofs Lupus von Troyes an ApoUinaris Si-
donius vom Jahre 472, des Papstes Gelasius an Bischof Busticus
oder Rusticius von Lyon vom 25. Jan. 494 (Reg. Pont. ed. 2. nr. 634),
des Papstes Anastasius IL an König Chlodovech vom Jahre 497
(Reg. Pont. nr. 745), des Papstes Symmachus an Avitus von Vienne
vom 13. Oct. 501 (Reg. Pont. nr. 756). Die Texte selbst sind bei
Havet sämtlich genau nnd vollständig wieder abgedruckt.
Der § 2 beginnt mit der Kritik des Testaments des Perpetuus.
Folgende Gründe macht Havet gegen die Echtheit geltend.
. Erstens besteht ein Widerspruch zwischen der Naebrioht Gre-
gors von Tours über das Testament und Vigniers Texte. Nach
Gregor war der Bischof reich begütert per muUas civüaies und ver-
machte, was er in den einzelnen civihUes besaß, den dortigra Kirchen
(His^ Fr. X, 31, M. G. SS. Merov. I, 444 sq.). Wäre Vigniers Text
echt, so müßte Gregor die in demselben genannten Parochialkirchen
kleiner Städte der Umgegend von Tours gemeint und diese als civi-
totes bezeichnet haben, während dieses Wort im VL Jahrhundert
sonst ausschließlich zur Bezeichnung der Dioecesanbauptstadt nnd
fhres Gebietes gebraucht wird. Die einzige wirkliche dvitas aber
§llf^ ßregors Spraehgebrauph, weleb» der Text des Testamentes
370 öött. gel. Anz. 1887. Nr. 10.
nennt, würde Tours sein , so daft das Gregor bekannte ecbte Testa*
ment nicht dem Texte Vigniers entsprochen haben kann. Sehr wohl
aber konnte ein Fälscher des XVII. Jahrhunderts Gregors Ausdruck
civüates irrig von kleinen Städten der Umgegend verstehn, wie denn
auch eine 1668 erschienene Uebersetzung des Gregor diesen Fehler
begeht.
Zweitens entspricht das Testament nicht dem zu Perpetuus Zeit
in Galiien geltenden römischen Rechte. Es war dies das vorjusti-
nianische Recht, wie es einige Jahrzehnte später in der vom Gothen-
könig Alarich II. veranstalteten Sammlung, dem sogenannten Brevia-
rinm fixiert wurde. Nach diesem älteren römischen Rechte sollten
diejenigen Legate und Freilassungen, welche im Testamente dem
wesentlichsten Teile desselben , der Erbeinsetznng , vorhergiengen,
nichtig sein, die Erbeinsetzung also den Legaten und Freilassungen
vorhergehn. Im Testamente des Perpetuus steht dagegen die
Erbeinsetzung ganz am Schluß hinter allen Legaten und Freilassun-
gen, was erst durch eine Konstitution Jnstinians vom Jahre 528 Air
zulässig erklärt wurde. Ferner verlangte das damalige römische
Recht die Nennung von certae personae als Erben. In unserem Texte
dagegen bezeichnet der Testator ganz allgemein die Armen und Be-
dürftigen als Erben: Vos pauper es Christi^ egeni, mendici, aegriy vi-
äuaey orphani, vos inquatn heredis meos scribo^ dico^ statuo. Das wi-
derstreitet also einer Regel, für welche wiederum erst Justinian 528
oder 529 eine Ausnahme zu Gunsten der Armen zugelassen hat.
Endlich verlangte das damalige Recht auch für die Legate certae
personae als Legatare und certae res als Gegenstand der Vermächt-
nisse. Auch dieser Forderung entspricht nicht, wenn im Testamente
des Perpetuus der Bischof seinen Schuldnern alles das vermacht,
was sie ihm am Tage seines Todes schuldig sein würden, nnd wenn
er an anderer Stelle seinem künftigen Nachfolger im Amte Gegen-
stände vermacht, welche dieser sich aus der Hinterlassenschaft aus-
wählen soll. Auch hier ist wieder die Beschränkung, wie man aus
einer Institutionen - Stelle vermuten darf, erst durch Justinian auf-
gehoben.
Sonach würde das vorliegende Testament nicht dem am Ende
V. Jahrhunderts in Gallien herrschenden Rechte, sondern vielmehr
dem späteren justinianischen Rechte, welches zudem erst nach Jahr-
hunderten in Frankreich Eingang erhielt, entsprechen.
Weitere Kriterien der Unechtbeit findet Havet in der Sprache,
zunächst in einzelnen Ausdrücken. So ist das Wort mansus^ wenn
auch nicht, wie der Verfasser meint, erst seit der karolingischen
Zeit, so doch nicht vor dem VII. Jahrhundert mit einiger Sicherheit
nachzuweisen (vgl. Neues Archiv XI, S. 331). In eine viel jüngere
Havel, Qaestions H^rovingiennes. 371
Zeit aber weist der Ausdruck: aervUus ad heredes transmissibüis et
gMxUica.
Die Ortsnamen , welche im Gegensatze zu der Mehrzahl der äl-
teren Testamente sehr spärlich vorkommen, zeigen einige Formen,
die für das Y. Jahrhundert unmöglich sind. So Proülium^ MoMeiutn^
Preslaiumy Banibasicacaj Orbonay welche teils frei erfunden, teils ans
modernen Ortsnamen in unrichtiger Weise zurttckgebildet sind. End-
lich macht Havet den ganz ttberschwänglich religiösen Styl, das
Uebermaß der erbaulichen Betrachtungen gegen die Echtheit geltend.
Andere nicht weniger fromme Bischöfe jener Zeit reden in ihren
Testamenten die dem bürgerlichen Geschäfte angemessene Sprache,
während dieses sich so lese, daß man oft glaube, eine Predigt zu hören.
Dieser Beweisführung kann ich mich im Großen und Ganzen
ntkr anschließen. Doch in einem Punkte glaube ich sie einschrän-
ken, in einer Richtung dagegen noch erweitern zu sollen.
Mit Recht erblickt Havet in der ganz unbestimmten Weise, wie
die Armen und Elenden im Allgemeinen zu Erben eingesetzt wer-
den, ein wesentliches Merkmal der Unechtheit dieses angeblich vor-
justinianischen Testaments. Es verstößt das nicht nur gegen das
geschriebene Recht jener Zeit, sondern findet sich auch in keinem
der uns erhaltenen älteren gallischen Testamente. Dagegen dürfen
wir die Legate an incertae personae nicht mit Havet als Grund ge-
gen die Echtheit anführen, da sich solche auch in anderen, unzwei-
felhaft echten Testamenten finden. So enthält das Testament des
heiligen Remigius vom Jahre 533, Pardessus Nr. 118, und das des
Bischofs Caesarius von Arles ebenso wie die Fälschung Vermächt-
nisse an den Amtsnachfolger: futuro episcapo successari meo amphir
halum dOmm rdinquo, a. a. 0. I, p. 81 ; saneto et domino meo ponti-
fidj qui mihi indigno digne successerit — indumenta paschcdia etc.
dimisero, p. 105. Beide Stellen entspreehen nicht weniger als die
von Havet aus der Fälschung hervorgehobenen: Tibi fratri et con-
sacerdoti carissimOy de quo Dominus providebit regendae post diseessum
meum ecdesiaSf do u. s. w. der von Gains als Beispiel fttr unzuläs-
sige Legate an incertae personae angeftlhrten Bezeichnung des Le-
gatars : Qui post testamentum scriptum primi cansules designati erunt.
Auch im Testament des Aredius und der Pelagia, Pard. Nr. 180, wird
in ähnlicher Weise an Personen legiert, welche nach dieser Auffas-
sung als incertae gelten müßten. Die Hälfte eines Gutes soll der
Erbe — der heil. Martin von Tours — haben, die andere Hälfte
erhalten die Mönche von Attano: monachos quas ibi Deus per nos
peecatores esse ordinavit aut in antea Deus ordinäre jusserit Weitere
Beispiele finden sich im Testamente des Bischofs Bertram von Le
372 öött. gel. An«. 1887. Nr. 10.
Mans vom Jahre 615, Pardessus Nr. 230, I p. 197 sqq., wo z. B.
p. 207 im letzten Absätze dem unbekannten künftigen Bischof, dem
ebenfalls noch unbestimmten ei-nstigen Archidiakon and den Armen Le-
gate yermacht werden, deren Gegenstilnde sogar tnm Teil als incertae
res zu charakterisieren sein würden. An eine Eiawirknng des ja-
stinianiftchen Rechts ist in allen diesen Fällen nicht zu denken, yiel-
mehr haben wir es hier wohl mit einer den Beformen Jastinians
parallelen Entwicklung im Occident zu thun. Die Praxis durchbrach
die Sehranken des geschriebenen Rechts hier etwa um dieselbe Zeit,
wo Justinian durch die gesetzliche Aufhebung derselben dem glei-
chen Bedürfnisse der 2ieit und nametttlich dem Interesse der Kirche
und der kirchlieben Wohltbätigkeitsansialteo entsprach.
Können wir so einerseits die Legate an incertae personae nicht
als Merkmal der Fälschung gelten lassen, so nennen wir dagegdn
noch als wichtiges Kriterium der Unechtheit die Abwesenheit fast
aller Formeln, welche seit dem vierten Jahrhundert bis in die ka-
rolingische Zeit hinein den Testamenten eigentümlich sind. Ich
hebe nur einige der charakteristisehsten and liäufigsten hervor. Ver
allem fehlt die Kodieillarklausel , welche seliiOiQ Ulpian, I. 3, D. de
testamento militis 29, 3, als üblich in den Testamenten der CivU-
personen bezeicbnet, «nd die vom Testament des heil. Gregor von
Nazianz an die vorhandenen Testamente, soweit sie uns in den in
Frage kommenden Teilen vollständig überliefert sind, bis zum VIL
Jahrhundert sämtlich, vom VII. Jahrhundert an bis zum Verschwin-
deo der römischen Testamentsformel meistens esthalteD. Die Formel
lautet in den besser redigierten Stücken im Wesentlichen etwa : quad
(iestamentum) si jure civüi vel praelorio vdlere nequiverit etiam ab
intestate vice codiceUorum valere vöto, und findet sich — in einzelnen
Stücken allerdings verstümmelt und entstellt — in folgenden Te-
stamenten: Test. Gregorii* Naz. a. 389 bei Spangenberg, Tabnlae
p. 76 sqq.; in sämtlichen Testamenten des Ravennatischen Protokolls
(von 474—552) bei Marini, I papiri dipl. Nr. 72, p. 110—115 (bei
Spangenberg p. 97. 99. 101. 103. 107. 110; Test. S. Bemigii a. 533,
Pardessus Nr. 118; Test Caesarii Areiat. a 542, Pard. Nr. 139;
Test Aredii et Pelagiae a 571, Pard. Nr, 180; Test. Bertramni epis-
oopi Genom, a. 615, Pard. Nr. 230; Test Burgundofarae a. 632,
Pard. Nr. 257; Test Hadoindi ep. Genom, a. 642, Pard. Nr. 300;
Test Abbonis a. 739, Pard. Nr. 559; Test Remigii ep. Argent
a. 778, StraAb. ÜB. I, p. H (echtl); Test Bogerii comitis a. 785,
Habillon, Ann. ord. S. Ben. II, p. 711. Form. Visigoth. Nr. 21. 23.
Ebenso fehlt die Fideikomissklausel, welche ungefähr lautet: quod
cuique hoc testamento dedero, lega/vero darwae iussero, id ut detur^
Havel, Questions MdroTiDgieimes. 373
fiat, praeskiur^ fidei heyedis mei C09wnüta. Aaeh diese finctet sich im
Wesentliehen in der Mehrzahl der älteren Testamente, nämlich im
fiavennater Protokoll , Spangenberg p. 97. 99. 103. 107; Pardessos
Nr. 118. 139. 18a 300. 559, Test, filii Iddanae a. 619, Pard.
Nr. 413, nnd entstellt bei Marculf II, 17, darnach im Test. Wideradi
a. 721, Pard. Nr. 514, und in der wieder hieraus abgeleiteten For-
mel Collectio Flavin, c. 8 (M. G. Form. p. 476). Ferner fehlt die
Exheredatio: ceteri (ceteraeve) amnes exheredes sunto^ welche in den
älteren Testamenten entsprechend den rechtlichen Bestimmungen
regelmäftig der Erbeinsetznng hinzugefügt wird. Sie findet sich im
Tegtameate des heil. Gregor von Naaianz, Spangenb. p. 73, in
Pard. Nr. 118. 139. 230. 413. 559, im Test Erminethrudis a. 700
Pajrd. Nr. 452 (II, p. 258), Marcnlf II, 17 und fehlt in dem Ravennater
Protokolle sicher nur, weil die dort angeführten Testamente sämt-
lich aar bis zur Erbeinsetzung mitgeteilt sind. Ebenso mag es sich
mit der Korrektur-Klausel verhalten, welche schon. zu Ulpians Zei-
tea den Testamenten angehängt zu werden pflegte und damals lau-
tete: lüuraa^ i$idmHones^ superductiones ipse feci (1. 1, § 1, D. de
his quae in testamento delentur 28, 4) ; vgl. Test. Dasumii bei Bruns,
Fontes ed. 4. p. 231. In den merowingischen Testamenten beginnt
dieselbe regelmäBig und mit nur geringen Variationen: si qua lüura
vd earaxatura inventae fuerint^ woran sich dann a me factae sunt
oder ein gleichbedeutender Satz schließt; so Pard. Nr. 118. 180.
2aa 413. 450. 559; Test Irminae a. 698, Pard. Nr. 449; im Test.
Grimoais, Mittelrhein. Urkb. I, Nr. 6, S. 7 ; und mit Erwähnung der
superductümea der altrömischen Formel bei Marculf II, 17. Endlich
aber nm nur da« noch hervorzuheben, enthalten fast alle die ange-
führten Testamente und Testamentsformeln im Eingang die Erklä-
rung, daB der Testator sana mente integroque consilio handle, im
Wordaat mit nur geringen Modifikaüomen. Auch das fehlt hier.
Es fällt gewiß gegen die Echtheit des Testaments des Perp^
tnas schwer in die Wagschale, daß sich in demselben von all die-
sea häufigen und charakteristischen römischen Formeln nicht Eine:
findet, während maur doch gerade in diesem angeblich ältesten'
aller gallisohen Testamente noch einen stärkeren Einfluß dw römi-
schen Formen erwarten sollte. Was von den Formeln , welche' der
Verfasser benutzt hat, um seiner Fälschung römisphes Kolorit za
geben, etwa den echten Testamenten entspricht, ist auAer der her^
dis institutio die Freilassungsfbrmel : volo liberos esse liberasque.
Dag ist aber auch alles. Denn was sonst noch an vermeintlich ech-
ten Formeln verwendet' ist, ist nur geeignet den Fälscher zu ver-
raten. Dahin< gehört vor Allem das bis zur Ermüdung wiederholte ;
374 Gott. gel. Am. 1887. Nr. 10.
doj lego. Freilich ist das die echte alte Formel des römischen Le-
gats; doch gerade diese kommt so in dieser knappen Form wohl
ip den Schriften der klassischen Juristen; nicht aber in den späteren
gallischen Testamenten vor. Selbst wenn man die Möglichkeit za-
geben wollte, daß die Formel zu des Perpetuns Zeiten noch üblich
gewesen, bald darauf aber außer Gebrauch gekommen wäre, so
zeigt doch die Art der Anwendung, daß der Verfasser von der Be-
deutung dieser Formel eine so ungenügende Kenntnis hatte, wie wir
sie im fünften Jahrhundert nicht voraussetzen dürfen. Benutzt er
doch diese Formel des römischen Legats, um den Angehörigen der
Kirche den Frieden Jesu Christi zu erteilen: preshüereSj draconibus
et dericis ecdesiae^ meae pacem domini nostri Jesu Christi do, lego
Amen. Wie hier der Verfasser durch unrichtige Anwendung einer
römischen Formel ein wohl einzig dastehendes Legat schuf — that-
sächlich mochte dem Fälscher die eigentümliche Invokation an der
Spitze des Testaments des Gaesarius von Arles vorschweben: Pax
ecclesiae Ärelatensi Pard. Nr. 139 — so zeigt er sich auch sonst
nicht gerade glücklich in seinen Versuchen durch Einstreuen von
Wendungen, welche an alte Formeln anklingen, seinem Machwerk
römisches Kolorit zu geben. Worte wie rogo^ volo, statuo^ ratum esse
iübeo sind oft in ganz sinnloser Weise eingefügt. Endlich aber ist
die Anweisung an Delmatius das vorliegende Exemplar des Testa-
ments aufzubewahren und mit einem anderswo deponierten Exem-
plare zum Grafen Agilo — ein echtes Testament jener Zeit mußte
die Kurie nennen — zu bringen, damit dieser es eröffne und verlese,
innerhalb der also verschlossen gedachten Urkunde sinnlos und in
echten Testamenten unerhört. Denn auch die Testamente der bei-
den Bischöfe von Le Mans, Bertram und Hadoin, enthalten nicht,
wie Savigny, Geschichte des römischen Rechts im MA. II, 118 f.
meint, die Vorschrift das Testament nach dem Tode der Testatoren
vor der Kurie zu eröffnen, sondern das eine, Pard. Nr. 230, enthält
im Text die Vorschrift, das Testament nach erfolgter Eröffnung der
Kurie zur Eintragung in die Gesta vorzulegen, das andere, Pard.
Nr. 300, dieselbe Anweisung in einem beigeftigten besonderen Mandat
Hiermit hoffe ich dem Resultat, daß das Testament des Per-
petuns eine Fälschung ist, an Sicherheit reichlich ersetzt zu haben,
was demselben durch Beseitigung eines nicht stichhaltigen Grundes
etwa entzogen sein könnte.
Dem Testamente reiht sich das in § 3 besprochene Epitaphium
des Perpetuus als zweites der von Vignier »entdecktenc Stücke an.
Verdacht erregt hier neben der Nachahmung eines Wortspiels ans
einem ebenfalls auf Perpetuus bezüglichen Gedichte des Apollinaris
Hayet, Questions Merovingiennes. S75
Sidonios die Uebereinstimmang mit dem falschen Testamente. Für
sich betrachtet konnte das Stück, wie Havet bemerkt, echt sein.
Im folgenden Absohnitt, § 4, beschäftigt sich der Verfasser mit
der angeblichen Schenknngsarkande Chlodovechs fttr Miciacom
(Micy). Früher schon sind vereinzelte Zweifel an der Echtheit des
Diploms lant geworden, aber seit Mabillon nnd wohl vor allem auf
seine Autorität hin ist dasselbe nicht mehr angefochten. Während
zwei andere denselben Gegenstand behandelnde Urkunden längst
als mittelalterliche Fälschungen erkannt waren, weil die Fälscher
sich späterer Formulare bedient hatten, blieb diese viel gröbere Fäl-
Bchnn'g, vielleicht gerade weil sie gänzlich frei komponiert ist und
zwar so, daft sie weder mit anderen merowingischen noch mit spä-
teren Diplomen, noch tlberhaupt mit Urkunden irgend einer Zeit
Aehnlichkeit hat, als echt anerkannt. Wohl mancher schon mag,
wie auch Ref., das Monstrum mit stillen Zweifeln betrachtet haben,
ohne sich näher mit dem rätselhaften Wesen einzulassen, und wird
es mit ihm Havet danken, daft er das Rätsel gelöst, das Stack als
Produkt eines Betrügers erwiesen hat. Der Beweis geht mit sol-
cher Sorgfalt auf alle in Betracht kommenden Einzelheiten ein, daft
der plumpen Fälschung damit fast zu viel Ehre geschieht
Wenngleich in allen Fällen die Reinigung des Qnellenbestandes
von Fälschungen ein verdienstliches Werk ist, so ist doppelt er-
freulich, wenn dadurch mehr eine Störung, ein Hindernis ftlr unsere
Erkenntnis beseitigt wird, als eine wenn auch nur anscheinend
wertvolle Quelle. Mit dem Diplom Chlodovechs verlieren wir, aufter
dem Bewufttsein ein solches zu besitzen, wenig. Wohl kein echtes
Diplom hat der Forschung so wenig Material geboten wie diese Fäl-
schung, und ähnlich verhält es sich mit dem Testament des Perpe-
tuus gegenüber den äufterst wertvollen echten Testamenten des
sechsten und siebenten Jahrhunderts.
Ganz anders freilich liegt die Sache bei dem Gegenstand des
§ 5, der sog. GoUatio episcoporum, einem Berichte über ein angebli-
ches Religionsgespräch, welches im Jahre 499 vor König Gundobad
zu Lyon stattgefunden haben soll. Wesentliche sonst unbekannte
Thatsachen erfahren wir allerdings auch aus diesem Stücke nicht,
doch um mit den von Havet angeführten Worten Bindings zu re-
den: >selten schildert eine Quelle die gesamte Lage in einem be-
stimmten Moment in so drastischer Weise«. Leider ist aber auch
hier anzuerkennen, daft wir es lediglich mit der Erfindung eines
Fälschers zu thun haben, mit einer Fälschung, die freilich im
Gegensatze zu dem Diplom Chlodovechs als eine überaus geschickte
m bezeichnen ist. Havets gewichtigste Gründe gegen die Echtheit
376 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 10.
sind diese: 1. Als Bischof von Lyon erscb^iDt id der CoUatio sobon
Stephanas, während sein Vorgänger Rusticias erst 502 starb , was
zn Vigniers Zeiten noch nicht bekannt war. 2. Als gegenwärtig
nennt das Schriftstück die Bischöfe von Vienne, Arles, Valence und
Marseille. Die Namen der beiden ersten Bischöfe, die auch sonst
bekannt sind, werden genannt. Es wäre non von Interesse gewesen,
auch die der beiden letzteren za erfithren^ die man heute noch eben-
sowenig wie zu Vigniers Zeiten aus anderen Quellen kennt. Hier
aber wurde plötzlich die Handschrift, welche sonst alles deutlich
erkennen ließ, unleserlich, so daß die beiden Nameti und merkwür-
diger Weise nur diese wichtigen Namen nicht zu entziffern waren,
und Vignier in seiner Abschrift Punkte setzen mußte. Offenbar
fttrchtete der Fälscher sich durch fingierte Namen, die jeden Tag
durch Auffindung einer echten Quelle widerlegt werden konnten, der
Gefahr der Entdeckung auszusetzen und zog deshalb die neutralen
Punkte vor.
Zu den tibrigen Qrttuden, welche neben diesen beiden mehr
zurticktreten, möchte ich noch die Nachricht der Gollatio fQgen, daß
»Arianer« Buße gethan hätten und »getauft« wiären, da die Wie-
derholung der Taufe an Arianem verboten war. Loening, Gesch. d.
deutschen Kirchenrechts I, S. 556, N. 2, glaubte hier entweder eine
Textverderbnis {baptismaü für chrismati) annehmen, oder an noch-
»ungetaufte Arianer« denken zu müssen. Die einfachste Erklärung
gibt wohl auch hier die Annahme der Fälschung.
Die fünf Briefe, welche in § 6 besprochen werden, bieten z. T.
weniger Angriffspunkte dar, doch reicht, was Havet beibringt, fast
bei allen aus um den Verdacht, den ihre Provenienz erregt, zu be-
stätigen.
In dem Briefe des Bischofs Leontius an den Papst Hilarius
wird letzterer mit »tu« angeredet, was in Briefen abendländischer
Bischöfe jener Zeit ohne Beispiel ist Daß der Brief eine Lücke
ausfüllt, indem er einem echten Antwortschreiben des Papstes
(Reg. Pontif. Nr. 553) entspricht, kann ihn aus dem Grunde nicht-
glaubwürdiger machen, weil dieses Antwortschreiben zu Vigniers Zeiten
bereits allgemein bekannt war und die Handhabe zur Fälschung
darbieten konnte. Ich möchte aber noch hinzüftigen, daß der Brief
merkwürdiger Weise nicht nur im Inhalt der Antwort entspricht, son-
dern auch in einer Aeußerlichkeit. Beide haben kein Monatsdatnm.
Das päpstliche Schreiben ist, was verhältnismäßig selten, ohne Mo^
natsdatum überliefert. Vignier findet die Antwort, deren Datum
wenigstens Aufschluß geben mußte über den terminus ad quem jenes
Papstbriefes. Doch hier geht es gerade wie bei jenen Bischofs-
HiiTft, Questions Märovingiennes. 377
namen: alles andere war deutlich zu lesen, nur bei den Monats-
namen selbst versagte das Mannskript Ein Ealendenzeicfaen war
noch sichtbar, der Name selbst aber mußte wieder durch Punkte er-
setzt werden. Der sonst so glückliche >Entdeokerc zog es offenbar
vor in solchen heiklen Dingen lieber ein ganz anfiklliges Mißgeschiok
zu haben, als die gelehrte Welt durch thatsächlich neue und wert-
Yolle Angaben zn erfreuen, welche durch eine wirkliche Entdeckung
so leicht als Schwindel entlarvt werden konnten. Freilich war es
wenig vorsichtig in beiden Fällen genau denselben Kunstgriff zu
benutzen, denn dadurch hat er uns ein wertvolles Beweismittel ftlr
die Identität des Fälschers beider Stttcke in die Hand gegeben.
Der zweite Brief, der des Bischofis Lupus von Troyes an Apol-
linaris Sidonins ist ganz im eleganten Style des Adressaten ge-
schrieben. Die Adresse ist genau den Briefen nachgebildet, welche
Sidonius an Lupus gerichtet hat. Der Fälscher versteht aber nicht
nur Formeln genau nachzuschreiben ; er kann sie auch frei umbilden.
Dabei passiert es ihm denn, daft er bei der Umgestaltung der
Schlußformel jener Briefe : Memor nostri esse dignare , domine papa^
den Lupus gerade die Worte wählen läßt, mit welchen er im Te-
stamente des Perpetuus in so auffälliger Weise den Testator seine
Legatare ermahnen läßt: Memor esto mei. Darauf, daß der Brief
im Style sehr von einem Schreiben, welches Lupus, von dem wir
sonst nichts haben, gemeinsam mit einem andern Bischof erlassen
hat, abweicht, möchte ich dagegen nicht allzu großes Gewicht legen.
Der dritte Brief, von Pabst Gelasius an Bischof Rusticus von
Lyon gerichtet, ist datiert vom 25. Jan. 494, was Havet mit Recht
als auffallend bezeichnet, da der Pabst noch im August desselben
Jahres den Bischof von Arles ersucht, den gallischen Bischöfen den
Antritt seines Pontifikats anzuzeigen. In der Schlußformel findet
sich eine Unregelmäßigkeit. Es heißt dort: Deus praestat te inr
eolumem^ während alle echten Pabstbriefe jener Zeit custodial statt
praestat haben. Daß auf keine Thatsachen Bezug genommen wird,
wdehe einem Fälscher des siebzehnten Jahrhunderts nicht bekannt
sein konnten, weist Havet im Einzelnen nach.
Die wenigsten Angriffspunkte bietet der vierte Brief, das Ora^
tnlatioBSSchreiben des Pabstes Anastasius an König Ghlodovech.
Als ungewöhnlich bezeichnet Havet, daß der König beständig mit
»tue angeredet wird. Ich möchte hinzufdgen, daß dem nachdrück-
lichen »Tuum«, womit in gesuchter Weise dieser Brief an Chlodo-
veeh beginnt, so genau das ebenso auffällige »Tibi« entspricht, mit
welchem das gefälschte Diplom des Königs anfängt, daß wir darin
OMi. ff«L Abs. 1887. Ir. 18. 27
878 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 10.
wobl ein Zeichen für die gleiche Fabrik beider Stücke erblicken
dürfen.
Im fünften and letzten der von D'Achery ans Vigniers Papieren
Teröffentlichteo Briefe, einem Schreiben des Pabstes Symmachns an
Avitas von Vienne vom Jahre 501, findet sich wieder eine Ton der
echten Grußformel Deus te incolumem custodiat abweichende Fassung :
Deu8 te incolumem 8 er vet Viel verdächtigender ist aber dasDatam
dieses Briefes, da von den zwei angefahrten Konsuln des Jahres
(Avieno et Pompejo coss.) der eine, Pompejns, im Abendlande gar
nicht bekannt geworden ist, und demgemäß in Italien und Gallien
echte Datierungen nar Avienus nennen. Schon Rossi hat deshalb
das Datum für interpoliert gehalten. Nachdem jetzt die lieber-
lieferung dieses Stückes klargestellt ist, dürfen wir darin vielmehr
mit Havet ein Zeugnis für die Fälschung des Ganzen erblicken.
Das Ergebnis der Prüfung der einzelnen Stücke ist also : das
Testament des Perpetuus und das Diplom Ohlodovechs sind grobe
Fälschungen, und auch die übrigen Stücke sind bis auf das Epita-
phium und den Brief des Anastasius, die nur geringere Auffällig-
keiten enthalten, durch ihren Inhalt in hohem Grade verdächtig.
Da nun von allen diesen Stücken nur Vignier die handschriftlichen
Vorlagen gesehen haben will, Niemand vor ihm etwas von ihnen
gewußt oder nach ihm eine Spur davon entdeckt hat, und da ferner
mehrfach dieselben Eigentümlichkeiten in verschiedenen Stücken wie-
derkehren, und auf ein und dieselbe Fabrik deuten, (vgl. zu dem
oben gelegentlich Bemerkten die Zusammenstellung bei Havet p. 61,
n. 2) so ist der von Havet gezogene Schluß gar nicht abzuweisen,
daß alle diese Stücke gefälscht sind und zwar von keinem andern
als eben dem Entdecker: J6röme Vignier.
Dadurch wird aber alles verdächtig, was nur auf Vigniers Au-
torität beruht und so auch ein bisher für sehr wichtig gehaltenes
Stück, das Bruchstück der älteren Lebensbeschreibung der heiligen
Odilie, dessen Glaubwürdigkeit Havet im § 7 prüft. Das Stück ist
in einem anonymen, aber bald nach dem Erscheinen als Vigniers
Werk bekannt gewordenen Buche: Le vSritable arigine des tris^ttlu^
stres maisons ff Alsace, de Lorraine, ffÄutriche Paris 1649, zuerst
veröffentlicht. Der Verfasser gibt von der Auffindung des Fragments
in anschaulicher Darstellung einen eingehenden Bericht, der nur den
einen Fehler hat, stark an die Auffindungsgeschichten, mit welchen
mittelalterliche Fälscher ihre Produkte zu empfehlen pflegten, zn er-
innern. Und ebensowenig wie dieser Bericht ist der Inhalt des
Stückes selbst geeignet, Vertrauen zu erwecken.
Vignier fand, nach seiner Erzählung, eine Handschrift oder viel«
Havel, Questions M^roviugiennes. S79
mehr die Ueberreste einer solchen, von welcher nur 5 bis 6 Blätter
gnt erhalten waren, alles Uebrige aber so von Moder and WarmfraB
zerstört, daA sich vom Inhalt nichts mehr erkennen ließ. Gerade
jene wenigen Blätter enthalten nur eine ganz erstaunliche FttUe von
wichtigen genealogischen Anfschlttssen, and zwar gerade die, welche
Yignier gebraachte. Reste einer Widmang an Bischof Gerhard von
Tool bezeagen, daß die heilige Odilie and Leo IX. za dem Vorfah-
ren jenes Gerhard aas dem Hause der Grafen von Vaudemont ge-
hören, und das Fragment der Vita gibt innerhalb einer ganz kurzen
Episode die vollständigste Aoskanft über die Eltern, die Geschwister
und deren Kinder und Enkel. Von der ünglanbhaftigkeit dieses
»lieblichen Zufalls überzeugt vielleicht am wirksamsten eine Za-
gammenstellung der genealogischen Notizen in der Fassung des Tex-
tes selbst : dux Ethko et Srustoinda uxor eius — OdUia earum fUia
— ]^hico duXy Ädalbertus dux^ Ethicoms et Brusunndae ghriosiS'
sima progenies — n^otes tarn Ethiconis cuius ßii fuerunt episeopus
Jrgentinensis aeguivocus et AJbericus^ comes ^ quam ÄdälberH liberi
Eberaardus scUicet et lAutfredus sed etiam HugoniSy qui ante parentes
suos defunctus erat — Eberardus ÄWerid comitis fiUi. — Hehr kann
man von einem wenige Seiten umfassenden Bruchstück nicht ver*
langen : Wie auf einem Theaterzettel werden die verwandtschaftlichen
Beziehungen der auftretenden Personen knapp und klar angegeben.
Sicher haben wir mit Havet hier nur eine weitere Fälschung Vig-
niers zu registrieren.
Julien Havets Kritik hat, wie nicht anders zu erwarten war,
fast allgemeine Zustimmung gefunden. W. Wattenbach hat bereits
einen Nachtrag geliefert, der sehr geeignet ist, die Fälscherqualität
Vigniers zu bestätigen. Die Mou. Germ. SS. XIII, p. 245 abge-
druckte Genealogie ist eine anerkannte Fälschung, deren Verfasser
man jedoch bisher im Mittelalter suchte. Wattenbach macht nun im
Neuen Archiv XI, S. 631 darauf aufmerksam, daß es Vignier ge*
Wesen, von welchem der erste Herausgeber dieses Stück erhalten
hat Femer hat der Abb6 Pierre Batifoll in einem Aufsatze im
Bulletin critique VII, p. 155 sq. wahrscheinlich gemacht, daß Vignier
auch als der Urheber der gefälschten Epistel des Theonas an Lucian,
Spicilegium XII, p. 545 sqq. zu betrachten ist. Beide Nachträge
sind in der Biblioth^que de T^ole des chartes t. XLVII, 1886 von
J. Havet nochmals zam Abdruck gebracht, der erstere in französi-
scher Debersetzung.
Widerspruch hat, so viel ich sehe, bis jetzt nur der gelehrte
Herausgeber des Avitus, Professor R. Peiper, in seiner Recension in
der Deutschen Litteratur-Zeitung VII (1866) S. 298 sq. erhoben,
27*
d80 Qött. gel. Anz. 1887. Nr. 10.
Derselbe meint, von einigen der von Havet besprochenen Stttcke sei
die Echtfaeit längst mit gaten Qrttnden angezweifelt worden, wie ?om
Testament des Perpetuus. Falls sieh diese Bemerkung nicht anf
eine Aeufternng ?on Waitz, Altdeutsche Hufe S. 14 beziehen soll,
wo jedoch die Urkunde als »an sich unverdächtige bezeichnet wird,
ist es mir nicht gelungen zu finden, wo diese Zweifel ausgesprochen
sind. In jedem Falle haben dieselben auf die herrschende Ansicht
keinen Einfluß geübt. Zugegeben wird von Peiper nur, daß dieses
Testament und die Urkunde Chlodovechs einer späteren Zeit ange-
hören. Die Darstellung Havets soll aber gegen dessen Absicht zu
der Annahme führen, daß wir es mit Fälschungen des elften oder
zwölften Jahrhunderts zu thun haben. Bei den anderen Stücken sei
selbst ein solches Resultat nicht erreicht. — Ich meinesteils sehe
keine Möglichkeit diese Aufstellungen zu begründen und gegenüber
dem erdrückenden Beweismaterial Vignier von der Anklage der
Fälschung freizusprechen. Wenn aber Peiper zur Entlastung Vig-
niers behauptet, den Brief des Papstes Symmachus an Avitus (Nr. 33,
ed. Peiper p. 63) habe D'Achery gar nicht von Vignier, sondern von
ChifSet erhalten, so ist das offenbar unrichtig. In der ersten von
D'Achery selbst besorgten Ausgabe des Spicilegium sind die fünf
von Vignier herrührenden Briefe, darunter dieser als letzter, beson-
ders als Appendix den übrigen Briefen angehängt. Die Vorrede
des fünften Bandes gibt dazu ausdrücklich an, daß der Herausgeber
diese Stücke von B. Vignier, dem Bruder des damals bereits ver-
storbenen Jöröme Vignier, welcher auch die übrigen Sachen aus
dem Nachlaß an D'Achery auslieferte, erhalten hätte, und das In-
haltsverzeichnis enthält p. 36 nach AnfUhrung der fünf Briefe noch-
mals die deutliche Angabe : Hujus appendids epistolae e schedis Hie'
ran. VigneriU. Peipers irrige Behauptung dürfte auf einen Fehler
der zweiten lange nach D'Acherys Tode veranstalteten Ausgabe des
Spicilegium zurückzuführen sein. Dort sind diese fUnf Briefe unter
die übrigen eingereiht, und dabei ist der Brief des Symmachus durch
ein leicht erklärliches Versehen mit der Randnote: Idem commtmi-
cavit versehen. Der Bearbeiter übersah, daß unmittelbar vorher ein
Stück mit der Quellenangabe: Franc. Chiffl. S. J. comm. geht, wel*
ches die Reihe der von Vignier herrührenden und mit Vignerius
eamm. bezeichneten Stücke unterbricht. Maßgebend sind natürlich
nur D'Acherys eigene ausdrückliche Angaben in der ersten Ausgabe.
Gewiß müßte man es mit Peiper bedauern, wenn auf unzarei*
chende Gründe hin ein von vielen seiner Zeitgenossen und besonders
von D'Achery so hochgeschätzter Mann, nach Jahrhunderten als Fäl-
scher gebraudmarkt würde. Leider kann man aber in unserem Fall^
Havel, Questions M^roTingieimes. 881
nar bedauern, daft ea einem Fälscher gelungen ist, nicht nur seine Zeit-
genossen, sondern Jahrhunderte lang die gelehrte Welt bis tief in
unsere so kritische Zeit hinein tlber seinen wissenschaftlichen Char
rakter und die wahre Natnr seiner Entdeckungen zu täuschen.
Uebrigens urteilten nicht alle, welche Vignier persönlich ge-
kannt haben, so günstig über ihn wie D'Achery. A. Ingold hat in
den M^moires historiques, critiques et litt^nüres de Bruys, Paris
1702, in 12^ ein sehr abweichendes urteil gefunden und kttrzlieh
im Bulletin critique VII, 1886, p. 477 yerOffentlicfat. Ein Zeitge-
nosse berichtet in den Borboniana am Ende des zweiten Bandes
der Mimoires ttber das Oratoire de Saint-Honori zu Paris: »i{ y a
dans un certain pere^ qui autrefois a Hi huguenot^ nomme le P. Vig^
fiiery qui est un grand, excellent et hardi menteur. D*au
on du par ironiei >ȣe9 virites du Phre Vignier^ les promenades de
M. de Bourbon, la science du P. Gomer, la consciense du P. Bonnet.€
Also im Kreise der nächsten Genossen Vigniers war die Verlogen*
heit dieses »großen, hervorragenden und ktthnen Lttgners« sprich-
wörtlich! Diesem Urteil gegenüber wird wohl Niemand mehr mit
Peiper befürchten, daB unserem Oratoristen- Pater Unrecht geschieht,
wenn er als Fälscher gebrandmarkt wird. Wichtig aber ist jene
Mitteilung Ingolds vor Allem deshalb, weil sie ein scharfes Schlag-
licht auf die Motire der Fälschungen wirft. Havet, tder mit Recht
hervorhebt, daft als Triebfeder des Fälschers nicht wohl irgend ein
materielles Interesse angenommen werden könne, meint auf Orund
einer Stelle, wo Vignier mit Bezug auf die »Collatioc sagt: Quo pio
lectori ÜQBl^g moveatur nobisque gratuletury qui thesaurum isterum mt-
nime wundemus^ es habe ihn Streben nach litterarischem Ruhme ge-
leitet. Ich möchte dagegen nach jener Nachricht annehmen, daft
Vignier ein Lügner von Profession, eine Art Httnchhausen gewesen
ist, welcher log um der Lttge willen, und f&lschte aus Lust an der
Täuschung, ja der sich nicht begnügte seine Mitmenschen so lange
er lebte zu belttgen, sondern auch noch nach seinem Tode seine
gelehrten Freunde mittels seines litterarischen Nachlasses am Narren-
seile fahren wollte.
ni. La date d'un manuscrit de Luxueil.
Dieses dritte Stttck der > Questions« enthält eine chronologische Ab-
handlung, welche im Anschluft an Krnschs Korrektur der Merowinger-
Chronologie das genau bezeichnete Datum der in Luxenil geschrie-
benen von Mabillon bereits benutzten, aber erst kürzlich von Herrn
J. Delisle wiederaufgefnndenen Handschrift der Homilien des heil.
Augustin feststellt und die sich daraus ergebenden Schlüsse zieht
382 G6tt. gel. Ans. 1887. Nr. 10.
Das Datam lautet: Ea^leoitum opus favente Domino apud coentMum
Lussovium anno duodecimo reges Chlolhachariiy indicüone tercia de*
cima^ anno quadragesimo patris nostri feliciter peracti. Mabillon be-
zog das Datam anf Ghlotachar IL, and zwar auf das zwölfte Jahr
seiner BegieriiDg in BurgoDd (625), welches der dreizehnten Indik->
tion entspricht Havet zeigt jedoch in Aasftthrnngen, welche sich
in der Hauptsache mit gleichzeitigen des Ref. decken (siehe Nenes
Archiv XI, S. 358), daß die Regiemngsjahre der merowingischen
Könige, d. h. die Anni regni schlechtweg, stets fttr die ganze Re-
gierangszeit darchgezählt und nicht ftlr jeden Landesteil besonders
berechnet worden, wie es ja anch der Anffassang des regnum Fran-'
corum als einer Einheit entsprach. Da aber Ghlotachar IL in sei«
nem zwölften Regierangsjahre noch nicht über Bargand herrschte,
in Ohlotachars I. zwölftem Jahre aber Lazeail noch nicht bestand, kann
nnr Ghlotachar III. gemeint sein. Andere Qaellen ergeben nnn,
daß Ghlotachar IIL entweder in der Zeit vom 2. Janaar bis 10. März
oder in der vom IL September bis zum 16. November des Jahres
657 König geworden ist. Mit der ersten Annahme stimmt das Da-
tam der Handschrift von Lnxeuil nicht ttberein, da dann kein Teil
des zwölften Regierangsjahres mit der dreizehnten Indiktion zasam-»
menfallen würde; dies geschieht aber bei der zweiten Annahme in
der Zeit vom 1. Sept. 669 bis zn dem zwischen dem 10. Sept. and
15. Nov. desselben Jahres liegenden Regiernngsantritte. Darans er-
gibt sich ferner mit Hülfe anderer Nachrichten, daß Ghlotachar IIL
in der Zeit vom 11. März bis 15. Mai 673 gestorben ist and der
Tod seines Nachfolgers, Ghilderichs IL and damit der Regierangs-
antritt Theadericbs HL in die Zeit vom 11. Sept. bis 14. Dec. 675
fällt. Für die Geschichte des Klosters selbst ergibt sich aaßerdem
eine Berichtigung der Regierangszeit des Abtes Waidebert (629 bis
2. Mai 670).
Die drei im Vorstehenden besprochenen Abhandlangen gehören
trotz ihres geringen änßeren Umfanges za dem wertvollsten was in
nnserer Zeit über die Merowingerzeit veröffentlicht ist. Hoffen wir,
daß die Reihe der »Qaestions M6rovingiennes< noch nicht er-
schöpft ist ^).
1) Diese Ho£fhung hat sieb iazwischen erfallt durch eine die Urkunden für
S. Galais behandelnde Fortsetzung der Questions im neuesten Hefte der »Biblio-
th^ue de l'^ole des chartes«.
Berlin. K. Zeamer.
Haber, Geschiebte Oesterreicbs. Baud 1 und 2. 383
Haber, Alfona, Gescliichte Oesterreicbs. Band 1 and 2. Gotba 1885,
Andreas Pertbes. XXYII and 618; XVm and 539 SS. 8^
Bei nioht allza vielBeitiger moDographisoher Thätigkeit hat es
auch in letzter 2^eit an zaBammenfasBenden Darstellangen der Ge-
Bchicbte des OsterreichiBcheD Staates nicht gefehlt. Za M. Bttdiü-
gers trefflichem, leider nur den Zeitraam vor 1055 behandelndem
Bache sind, abgesehen von populär geschriebenen Werken, binnen
kaam zehn Jahren drei Bearbeitungen der österreichischen Gesamt-
geschichte gekommen, denen früheren Arbeiten gegenüber ihre be-
sondere Stellung und Bedeutung eingeräumt werden muß. In seiner
»Geschichte Oesterreicbs mit besonderer Bttcksicht auf Eultnrge-
schichtec, 2 Bände, Wien 1874, faßte erst F. Mayer (Graz) das seit
zwei Decennien von der Einzelforschung Geleistete methodisch und
liohtroU zusammen, um, wenn auch abhängig von seinem Materiale,
kaum irgendwo selbständig vorwärts dringend, ja sogar nicht immer
auf voller Höhe, hier den nutzbringenden Einblick in den Stand die-
ser wissenschaftlichen Aufgabe, dort das gefällige Lesebuch zu bie-
ten. Ihm folgte F. Krones mit dem »Handbuch der Geschichte
Oesterreicbs von der ältesten bis neuesten Zeitc, 5 Bände, Berlin
1876 — 1879. Krones hatte die vielen und weitklaffenden Lttcken
erkannt und strebte nun mit seltener Schaffenskraft und Arbeits*
freudigkeit, vor allem seine erstaunliche Belesenheit in Quellen und
Litteratur glänzend bewährend, sie selbständig auszufttllen; daß er
sich schönen Erfolges zu erfreuen hatte, soweit es bei einem der-
artigen schwierigen und ersten Versuche möglich war und nament-
lich ungflnstige äußere Verhältnisse, welche die Gleichmäßigkeit und
Einheitlichkeit des Werkes beeinträchtigten, gestatteten, muß mit
Recht hervorgehoben werden. Als dritter gesellt sich jetzt, wie oben
ersichtlich, A. Huber hinzu. Ihm gilt es, das von den früheren Ge-
leistete sorgsam prüfend und verwertend, gestützt auf eigene lang-
jährige Thätigkeit auf diesem Gebiete, die von Krones vielfach im
einzelnen erreichte Höhe zur Eigenschaft des Ganzen zu erheben,
und, damit seinem Werke die wissenschaftliche Harmonie leihend,
andererseits mit dem Schatze des inneren Gehaltes den Vorzug gleich-
mäßiger und gewählter Darstellungsform zu verbinden. In hohem
Grade, reichlicher noch, als man namentlich letzteres erwarten konnte^
ist ihm beides bisher geglückt. Hubers österreichische Geschichte
gehört, soweit sie erschienen, zu jenen bemerkenswerten Leistungen,
an denen der fachmännische Berichterstatter viel leichter dies oder
jenes findet, das zu tadeln ist, als er hier der Pflicht genügt, durch
Hervorhebung der in Fülle gebrachten neuen Anschauungen und
Forschungsergebnisse, kurz der Vorzüge der Arbeit, dem Autor die
884 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 10.
verdiente Änerkenoang kundzageben* Wenn Befer. trotzdem sich
begnügt, einfach zu betonen, daß er die neueste österreichische Ge-
schichte würdigt, wie wohl nur wenige, und daftir seine Aufmerksam-
keit einigen Streitfragen zuwenden will, so hoflFt er durch die der
Tendenz der »gelehrten Anzeigenc entsprechende Absieht, wo mög-
lich zur Lösung jener beizutragen, entschuldigt zu sein.
Es ist gewiß bezeichnend, daß trotz der langen Beihe der
»österreichischen Geschichten« bisher unter den Historikern eine
Einigung über den Begriff der österreichischen Geschichte und die
dem entsprechende Gliederung derselben nicht erfolgt ist. Es steht
dies in direktem Znsammenhange mit den divergierenden Anschau-
ungen über das Entstehn, die Lebensbedingungen, die Aufgaben der
Monarchie, ebenso aber mit der Art der Auffassung ihrer früheren
Geschicke und dem Festhalten an sich zum Teile geradezu widerspre-
chenden Principien, nach denen die Verfassung und Verwaltung Oester-
reichs in der Gegenwart organisiert werden soll. Ob da der Staats-
mann den Historiker oder dieser jenen im Stiche läßt oder in un-
billigem Maße, fördernd oder hemmend, beeinflußt, bleibe hier uner-
örtert. Im allgemeinen erzeugt aber, sowie denn der Mensch in
allem das Maß der Dinge von sich selbst nimmt, die politische Spal-
tung die Parteigeschichtschreibung, über die, so sehr die hehre Auf-
gabe, die Wahrheit überall zu suchen und zu sagen, bestehn bleiben
muß, dem Mitlebenden und Mitkämpfenden sich zu erheben, nur
schwer und selten gelingt. Aber wird denn auch in unserem vom
Streite zerrissenen Zeitalter, jene erste Bedingung wissenschaftlicher
Thätigkeit immer vorausgesetzt, nationale Geschichtschreibung ohne
die ernsteste Prüfung und triftige Gründe zu verwerfen sein?
Huber sagt (Bd. 1, Vorrede VI): »Oesterreich ist nicht ein
Baum, der von einem Grundstöcke aus immer mächtiger werdende
Aeste und Blätter getrieben hat, sondern eine Verbindung von drei
ursprünglich getrennten Gebäuden, aus denen erst eine Beihe von
Baumeistern ein einheitliches architektonisches Werk zu schaffen be-
müht wart. »Wer die Entwickelung Oesterreichs seit 1526 verstehn
will, der muß tiefer dringen, muß zu ergründen suchen, wie die Ein-
zelstaaten, welche damals zu einer losen Einheit verbunden wurden»
entstanden und fortgebildet worden sind. Daher beginnt die
Geschichte Oesterreichs im zehnten Jahrhunderte, wo sowohl in Un-
garn und Böhmen geordnete einheitliche Beiche entstanden sind, als
auch die baierische Ostmark oder Oesterreich gegründet worden ist,
an welche sich nach und nach im Laufe mehrerer Jahrhunderte die
übrigen südostdeutschen Länder angeschlossen haben c. Die Zuge-
ständnisse, welche die Anhänger des historischen Beehtes in Oester-
Huber , Qeschichte Oesterreicbs* B»Dd 1 und 2, 9B5
reich, die Männer des OsterreichiBchen Föderalismas nnn auch aaf dem
Gebiete vaterländischer Geschichte ans diesen Sätzen herauslesen
werden, die Stelle, an der sie stehn, sihd zu gewichtig, als daß
Ref. sich ihnen gegenüber mit dem Hinweise auf die gelegentlich
einer Anzeige von F. Erones, Grundriß der österreichischen Ge-
schichte, Lief. 1, in der Zeitschrift für die österreichischen Gymna-
sien, 1881, S. 338 gemachten Bemerkungen begnügen könnte^), als
daß er es unterlassen möchte, auch hier wieder hervorzuheben, daß,
sowie jegliches staatliche Gebilde eben nur als Einheit gefaßt wer-
den kann, falls man nicht vom Wesen des Staates überhaupt ab-
sehen will , so auch die Erfassung und Darstellung des Einheitsge-
dankens, die Voranstellung der staatenbildenden und erhaltenden
Momente in materieller und ethischer Hinsicht für die Zeichnung sei-
ner Geschichte maßgebend sein müssen. Was gilt aber da unbe-
stritten von Oesterreich? Ist es Phrase oder historische Wahrheit,
daß die Wiege der europäischen Großmacht Oesterreich, der heutigen
österreichisch-ungarischen Monarchie, und nicht bloß des deutsch-
österreichischen Staates der Babenberger und Habsburger im Donau-
tbale stand? Kuht nicht sein Schwerpunkt bis 1867 unverrückt auf
den deutschen Alpenländem, in den Millionen deutscher Bevölkerung
mit den durch sie repräsentierten Elementen vorschreitender Kultur?
Ist Oesterreich geworden, indem man die böhmischen oder ungari-
schen Institutionen zu Beichseinrichtungen ausbaute, oder indem der
Von Kaiser Maximilian nach französisch-burgnndischem Muster und
der Eigenart des Länder einheitlich und allseitig organisierte Staat
Deutschösterreich seine Centralbehörden sich ausgestalten ließ zu
Organen, welche das ganze Beich Ferdinand I. u. s. w. umfassend
zu den mächtigsten Mitteln und Kennzeichen des Einheitsstaates
wurden? Nicht daß Böhmen und ein Teil Ungarns mit Deutsch-
österreich vereinigt ward — das war ja wiederholt ganz oder ähn-
lich ebenso früher geschehen, machte Oesterreich zum Großstaate,
leitete seit 1526 für dasselbe neue Geschicke ein, sondern daß die
vereinigte und organisierte deutsch-österreichische Ländermasse, und
daß deren deutsches Fürstenhaus, zugleich in Burgund, Spanien, Neapel
u. 8. w. herrschend, nun die Kraft besaß, jene Landschaften festzu-
halten und wenigstens die Errichtung der dringendsten gesamtstaatlichen
Behörden zu vollbringen. Damit dieser Organismus aber bestehe,
1) Mit groBem Vergnügen ersehe ich hinterher aus der soeben erschienenen
Besprechung eben des Huberschen Werkes darch Krones, (Zeitschr. f. die österr.
Gymnasien 1887, S. 67—64, daS E. nun im wesentlichen hinsichtlich dieser Dinge
mit mir übereinstimmt.
386 05tt. gel. An«. 1887. Nr. 10.
Wurzel fasse, das Ganze staatlich gedeihe, gehörte dazu durch Jahr-
hunderte der unmittelbare Zusammenhang mit, ja die Führung im
deutschen Reiche. Im Wesentlichen erwächst aus altösterreichi-
sehen und reichsdeutschen Elementen, trotz aller Beeinflussung und
Anteilnahme seitens slavischer, ungarischer, italienischer, auch spani«
scher und niederländisch-burgundischer Geschlechter, der neuOster-
reichiscbe Adel, die österreichische Diplomatie und das österreichi-
sche Heer, die österreichische Beamtenschaft. Es ist ein jahrhun-
dertelanger Proceß, der noch lange nicht abgeschlossen ist, dessen
Wesen und Tendenz aber unmöglich verkannt werden kann. Die
Aufgabe, welche hier zu leisten, ist gewiß eine ungeheure, der Störun-
gen sind mannigfaltige und mächtige; aber dem Historiker vor
Allem sollte es erspart sein, den Stillstand als Norm, die Hemmun-
gen als organisch anzusehen.
Huber begründet die eingehende Berücksichtigung der Ge-
schichte, namentlich Böhmens und Ungarns vor ihrer Vereinigung
mit Deutschösterreich, weiter auch damit, daß »doch auch früher
mannigfache freundschaftliche und friedliche Beziehungen derselben
mit Oesterreich eintreten« (I Vorrede VII). Dem gegenüber genügt
es wohl, darauf hinzuweisen, daß der Einfluß der baierischen und
allgemein deutschen Verhältnisse auf die Geschicke Oesterreichs vor
1500 ungleich maßgebender und vielseitiger war, als jener des böh-
mischen oder ungarischen Reiches. Stellt man nun deswegen die For-
derung, daß — von der genauen Charakterisierung der Verfassungs-
verhältnisse abgesehen, die für die Erkenntnis des Werdens der
deutsch-österreichischen Territorien und ihres Zusammenwachsens
zum deutsch-österreichischen Verfassungsstaate Max I. unerläßlich
ist — die eingehendere Behandlung der allgemeinen deutschen und
besonders der baierischen Geschichte ein integrierender Bestandteil
der österreichischen Geschichte sei? Hat man nicht vielmehr das
Recht, jene Kapitel der böhmischen und ungarischen Geschichte, in
welchem sie als Biographie selbständiger Reicbsbildungen mit eige-
nem Recht, eigener Dynastie, eigener Nationalität erscheint, der ja
erfreulicherweise nicht zu wenig entwickelten und selbstbewußten
Provinzialgeschichtschreibung zuzuweisen? Soll man sich in einer
Geschichte Oesterreichs nicht lieber auf die Klarlegung der politi-
schen und materiellen Lage jener Länder und Reiche zur Zeit ihrer
Vereinigung mit den alten habsburgischen Hauslanden, auf die aller-
dings möglichst allseitige Betonung ihrer Bedeutung für die Einrich-
tung und Weiterbildung des Oesterreichs Ferdinands I. beschränken^
am von nun an, da es mit den wesentlichen Momenten einer Mon-
archie ausgestattet ist, auch darnach seine Geschichte zu schreiben?
i
Huber, Geschichte Oesterrefchs Band 1 and 2. 387
Seheint es aber somit nicht allza schwer, den richtigen Weg
für die Darstellang der Geschichte Oesterreiohs vor 1526 za finden,
so maß freilich für die nachfolgende Periode bis 1765 etwa, oder
besser bis za den Reformen Maria Theresias and Josephs IL, ein Wei-
teres zagestanden werden : Eben weil die Neaerwerbungen von 1526/7
za bedeatend waren, als daß, gestutzt aaf den alten deotsch-Oster-
reiehischen Haasbesitz n. s. w., die für das Ganze za {schaffenden
Neninstitutionen rasch und allseitig aasgebaat werden konnten, als
daß das staatbildende deutsche Element den mächtigen Körper ent-
sprechend za durchdringen vermochte, wird auch für diese Epoche
— und ganz und gar ist sie ja bis heute nicht abgeschlossen —
die Geschichte der Dynastie und der von ihr beherrschten Länder
noch nicht durchaus identisch mit der Entwicklung des Osterreichi-
schen Staates jener Periode, dessen und nur dessen Biographie
die »österreichische Geschichte« ist. Die besondere Entwicklung
der Provinzen und Länder der Monarchie, deren Umfang zudem we-
sentliche Aendernngen erfährt, bleibt während dieser Epoche eine so
reiche, daß neben der Reichsgeschichte immer noch die Provinzial-
geschichte berechtigten Raum erhält und behauptet. Um so mehr
wird ein einheitlich aufgebautes und damit allein ttbersichtliches und
zugleich lesbares Werk über österreichische Geschichte, bei strenger
Beobachtung der Forderungen voller Wissenschaftlichkeit, auch wäh-
rend dieser Periode seiner oben gekennzeichneten besonderen Auf-
gabe nacbgehn können.
Aehnliohe Erwägungen haben nun zwar wiederholt zum Betreten
des bezeichneten Weges geführt; konsequent gewandelt ist ihn Nie-
mand. F. Mayer hält ihn fUr die ältere Periode betreffs der Alpen-
länder, wo er gerade minder berechtigt ist, fest, schenkt uns aber
hinterher keinen der Borschiwojs und Stefans. Hnber empfindet das
Unthnnliche, dreimal — und wenn man konsequent ist, muß man es
noch öfter — , von vorne anzufangen; er entgeht dem durch die
Nebeneinanderstellung des Stoffes, den er zu diesem Zwecke in
kleine Abschnitte gliedert. Aber inhaltlich haben diese rasch auf
einander folgenden Kapitel gewöhnlich blutwenig Zusammenhang,
und von einer Einheitlichkeit der Erzählung, sie mag im Einzelnen
sehr klar und gefeilt sein, ist oft genug nicht zu reden. Dazu
kommt, daß H. vielfach direkt auf der eigenen bisher nirgends ver-
werteten Forschung steht. Es ist dies gewiß ein bedeutender Vor-
zag seines Werkes. Wer aber weiß, wie schon die Notwendigkeit,
das neu Behauptete wenigstens im Wesentlichen zu begründen, zn
größerer Breite ftlhrt, and daß wir in der Finderfreade leicht etwas
888 Oött. gel. Aas. 1887. Nr. 10.
mehr als gerade nötig von nnserer Forsch ang in die Darstellang
einfließen lassen, der wird sich über die Aasdehnang, in welcher
z. B. die nngarische Geschichte in den beiden yorliegenden Bänden
H.s bebandelt ist, nicht wandern.
Za mehr materiellen Fragen übergehend, widersteht Refer, der
Yersachung, seine an anderer Stelle Torgebrachten Ansehaaangen
über den Zusammenhang der ayarisch-slavischen und bajavarischen
Einwanderang, soweit sie von H. nicht verwertet erscheinen, hier
neaerdings zn begründen; auch sind es mehr Momente von anter-
geordneter Bedeutang, in denen der Verfasser noch nicht völlig die
Ansehaaangen des Refer, teilt, lieber die Entstehung des Landes
Ob der Ems and das Rechtsverfahren König Radolfs gegen Otto-
kar IL mit Böhmen 1274 — 76 za sprechen, hat Refer, anlängst in
der Zeitschrift für die österreichischen Gymnasien die Gelegenheit
wahrgenommen; daraus erhellt aach, in wie weit er bezüglich die*
ser Punkte anderer Meinung als der Verfasser ist. Ueber eine Diffe-
renz in der Auffassung der inneren böhmischen Zustände nach 1431
wird endlich besser bei der Anzeige des dritten Bandes zu handeln
sein. Dagegen fordert die Darstellung der Nachfolge Herzog Spi-
tighniews IL in Böhmen nach seinem Vater Bretislaw I. zu einigen
Bemerkungen heraus. Bfetislaws auf dem Todtenbette geäußerten
» Wnnscbe gemäße, schreibt Huber I 222, »der übrigens nur
den bisherigen Thronfolgeverhältnissen entsprach,
erkannten die Böhmen seinen ältesten Sohn Spitighniew
als Herzog an, worauf er im März 1055 auch von Heinrich HI.
mit seinem Lande belehnt wurde«. Er fügt (ebd. Anm. 1) hinza,
es sei Loserths Verdienst, darch seine Schrift »Das angebliche Se-
nioratsgesetz des Herzogs Bretislaw I. und die böhmische Succession
in die Zeit des nationalen Herzogtums« (Arch. f. österr. Gesch. Bd.
LXIV, 1882), »der lange geglaubten aber durch den allein ma£-
gebenden Bericht des Gosmas IL 13 f. nicht begründeten Mythe von
der Einführung eines neuen Erbfolgegesetzes durch Bretislaw u. s. w.
ein Ende gemacht und überhaupt die Art der Besetznng des Thro-
nes und die den deutschen Verhältnissen analoge Mischung von
Erbrecht und Wahlrecht ans den Quellen dargelegt zu habenc.
Refer, hat seinerzeit die Loserthsche Darstellung um so mehr durch-
genommen, als es darin an offener (S. 14) und versteckter (S. 17,
37, 41, 45, 61) Polemik gegen die vom Refer, in der Zeitschrift f.
d. österr. Gymn., Bd. 29, S. 840—847 vorgebrachten bezüglichen
Anschauungen nicht fehlt Ref. fand aber in der Loserthschen Ar-
beit neben manchen richtigen und beachtenswerten Bemerkungen
Huber, Geschichte Oesterreichs. Band 1 und 2. 889
ttber die NominatioD, KoDfirmaiion und Inthronisatioo der böhmischen
Herzoge (S. 67 ff. des Separatabdruckes) die BeweisftIhraDg gegen
die Qttltigkeit des Bfetislawschen Erbfolgegesetzes nicht gelungen;
daB Loserth zudem ganz übersehen hatte, wie das Verhältnis des
böhmischen Adels, ja des ganzen Landtages dem Landesberrn gegen-
über zn verschiedenen Zeiten sehr verschieden war, daß seine Schrift
an Widersprüchen, an irrigen Interpretationen keinen Mangel leidet,
daft er hier an bedentsamen Belegen vorübergeht nnd dort mit
feinstem Ohre das Gras wachsen hört, lieft Refer, erwarten, daft die
»Resaltate« der Loserthschen Schrift schwerlich viele Oläubige fin-
den würden. Die Zustimmung H.8 belehrt mich eines Andern, und
ich sehe mich genötigt, über die Loserthsche Beweisftthrnng ein-
gehender zu handeln nnd fllr die oben dagegen gemachten Bemer-
kungen die Belege beizubringen.
Der Kernpunkt der Streitfrage ist der: hat Herzog Bretislaw
bezüglich der Nachfolge Verfügungen getroffen, welche eine neue
Ordnung dieser Sache bedeuteten? Mit dem Beweise für oder gegen
diesen Satz ist die ganze Kontroverse erledigt. Man wird im allge-
meinen einem Forscher nicht vorschreiben wollen, auf welchem Wege
er die Wahrheit finden will, die Form seiner Darlegung bleibt ohne-
hin sein Eigentum; aber es mnft doch der Kritik erlaubt sein, zn
prüfen, ob der eingeschlagene Weg zweckmäftig gewählt war. Das
ist nun bei L. entschieden nicht der Fall. Es galt ihm zunächst,
den Nachweis zu erbringen, daft das Seniorat bereits vor 1055 in
Böhmen in Geltung war. Hat L. eine solche Rechtsanschauung in
Böhmen oder doch eine entsprechende Rechtsübnng dargethan? Be*
hauptet hat er wohl S. 29 »diese Succession (das Seniorat) bestand
in Böhmen nnd Mähren, aber in einer das Wahlrecht der Groften
nicht präjttdicierlichen Weise , schon seit nahezu 200 Jahren z a
Rechte. Aber die Beispiele fflr das Vorrecht des Alters, die
er S. 60 — 61, an ganz anderer Stelle, aus der böhmischen Geschichte
anführt, gelten insgesamt für die Zeit nach Bretislaw (übrigens hin-
dert dieses Vorrecht L. nicht, ebendort S. 60 wieder zu sagen: »Im
allgemeinen gelten die Spröftlinge aus dem Prschemyslidenstamme un»
ter einander als gleicht. Wie es aber überhaupt mit diesem »Vor*
rechtec bei den Böhmen (Ozechen) und den andern Slaven stand,
hat schon Palacky, Gesch. v. Böhmen I 163 — 164, richtig ansgefOhrt:
»Fast in allen slavischen Ländern sah man, früher oder später, bei
vermehrter Anzahl der Nachkommen des regierenden Hauses, das
Staatsgebiet durch das Paragium in kleine Fürstentümer zerfallen,
deren Besitzer, die Teilfürsten, dem Groftfürsten, ab dem Aeltesten
890 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 10.
des Hauses, za Trene und Gehorsam verpflichtet waren. Die
Wurde des Großfürsten wurde jedoch nicht immer
nach Alter und Erstgeburt vererbt; meist war sie an den
Besitz der Hauptstadt des Landes geknüpft und wurde auch durch
Wahl oft auf den Jüngsten des Hauses übertragen*)«. Das ist
doch etwas ganz anderes als das später in Böhmen gehandhabte
und dem Herzoge Bretislaw zugeschriebene Gesetz , welches jeder-
zeit dem den Jahren nach Aeltesten den Prager Herzogsstuhl zuweist,
Böhmen ungeteilt läßt, die jüngeren zu versorgenden Fürsten nach
Mähren weist. Eher läßt sich das Gegenteil von Loserths Behauptung
stützen: die Libuschasage wird man nur als Lokalsage des um den
Wyschebrad herum angesiedelten Namens ansehen dürfen: wenn aber
nach ihr die jüngste der Töchter Eroks die Herrscherin des Landes
ist, muß ein so Iches Verhältnis wohl der Reebtsanschauung des berr-
sehenden Stammes der Czechen entsprochen haben; Gosmas,
der nach den Zeiten Bretislaws jede Verletzung der Senioratserb-
folge hervorhebt, läßt die ähnlichen Fälle zur Zeit der Söhne Bo-
leslaws IL in dieser Hinsicht ungetadelt. Und will denn nicht
L. selbst aus den Annales Hildesheimenses zu 1034 folgern, daß da*
mals zwei Brüder in Böhmen von einander unabhängig ge-
herrscht hätten? (S. 21). Wo bliebe da das Seniorat? Freilich hat
er die bezügliche Stelle unrichtig interpretiert. Und sagt er nicht
S. 20: »Eine solche Teilung, wie sie im Jahre 1034 und vielleicht
auch schon 1002 stattgefunden, ist nun wesentlich verschie«
den von der Zuteilung einzelner Distrikte in der Form von Para-
gien«, d. i. doch von dem Seniorate? Und gesteht er nicht selbst
zu, daß Cosmas »dieses Recht (des Seniorats) für die Zeiten vor
Bretislaw nicht kennt« (S. 29) ? Im Ganzen erhellt aus dem Vor-
hergehenden klar, daß die Rechtsanschauungen und die Feststellung
bei der Thronfolge in Böhmen vor Bretislaw nicht jenen entspre«
eben, die man auf Bretislaw I. zurückfahrt und als Senoratserbfolge
bezeichnet
Aber nach Loserth und Huber ist eine derartige Verfügung
Bretislaws nicht hinlänglich bezeugt I Vielleicht doch. Refer, hat an
der oben bezeichneten Stelle S. 842 ausgeführt, daß Cosmas nicht
bloß mit seinem Berichte über die Sterbescene in Chrudim unsere
Quelle ist. »Er berichtet weitere Anordnungen Bretislaws zu
1054 oder früher, die darauf hindeuten, daß B. rechtzeitig sein Haus
bestellte ; den Frieden mit Polen (ebdt), die Versorgung seiner jün»
1) Die dafikr von Palacky 1. c. (Wilzen) and Loserth S. 61 (Mähren) gebrach*
ten Beispiele können leicht vermehrt werden.
Haber, Geschichte Oesterreichs. Band 1 und 2. 391
gerep Söhne mit Teilen Mährens (p. 77 bei Pertz, Sc. rer. Germ. IX)
und Maßregeln bezüglich seines ältesten Sohnes, den er bei sich in Böh-
men behält und inzwischen mit Saaz aasstattet Mit vollem Rechte
darf mit Palacky daraus geschlossen werden y daß Bretislaw auch
das wichtigste zn thnn nicht versäumt haben wird, die Feststel-
lung der Thronfolge, die Zuweisung der Herzogswürde an den erst-
geborenen Spitighniew; denn nur so erlangt die Versorgung der
jttngeren Söhne in Mähren Sinn und Bedeutungt. Dabei bleibt es
doch sehr begreiflich, daß Bretislaw im Angesichte des Todes in
schwerer Sorge um die Eintracht seiner Söhne und die Zukunft des
Reiches es angezeigt findet, die anwesenden Edlen zu ermahnen und
KU beschwören, ttber die Einhaltung der gemachten Ordnungen zu
wachen: obtestor (vos) fidei vestre per sacramentum, quatenus inter
meos natos sive nepotes semper major natu summum jus et solium
obtineat in principatu. Cosmas ist auch noch für diese Zeit, wie
der Vergleich mit den Annal. Hildesh. zeigt, keineswegs im Detail
verläßlich: so bekamen, weil er des Herzogs eigentliche (frühere)
Verfügung nicht kannte, bei ihm des Herzogs letzte Worte jene obige
Fassung. Nun sucht freilich Loserth darznthun (S. 15 — 16), daß »der
Friedensschluß mit Polen gar nicht unter jenen Gesichtspunkt ge-
stellt werden könne, welcher auf das Ende Bretislaws hinweist;
»derselbe erfolgte vielmehr im J. 1054 unter der Einflußnahme und
auf den Wunsch des Kaisers«. Los. hat dabei Einiges übersehen:
1. Hatte der Kaiser 1041 die Ordnung im Osten getroffen und stand
es auch sonst, nach seiner Stellung zn Böhmen und Polen ihm zn,
wenn es hier zum Streite kam, zu intervenieren. 2. Hatte er dies
bereits 1043, 1046 und wohl auch später, aber ohne Erfolg, gethan
(Annal. Altah. ad. ann. 1043, 1046, 1050; Loserth S. 16). 3. Ge-
lang der Vergleich 1054 nur, indem der Böhmenherzog nach-
gab und auf das streitige Gebiet gegen einen Zins verzichtete. Wer
bringt da den Frieden zustande, der Kaiser oder der Herzog? Noch
viel übler sieht es mit Loserths Kritik jener Stellen des Cosmas aus, in
denen er von einer früheren (vor 1055 fallenden) Versorgung der
jttngeren Söhne B.s berichtet. Loserth sucht darznthun, daß die
Vergabung Mährens schon »viel frühere, als 1054, an Bfetislaws
jüngere Söhne erfolgte. Cosmas sage: regnum Moravie, quad pater
ejus olim inier fiUos suos dividens etc. — , das deute doch auf die Zeit
vor 1053 oder 1054. Daß Spitighniew schon lange vor 1055 in
Saaz waltete, erkenne man auch sonst; weil Comas sagt, Spitigh*
jiiew habe sich, bereits Herr von Saaz, eine von der Aebtissin zu
St Georg erlittene Beleidigung tief eingeprägt, scheine er >anza*
392
Gott. gel. Ans. 1887. Nr. 10.
deuten €^ daA jene Beleidigung doeh schon geranme Zeit Tor dem
Regierungsantritte des Herzogs sieh zugetragen habe ; hat aber aUa
mente^ von Vergil (vgl. Aen. I 26) bis Cosmas, je die Intensität oder
die Dauer des Affektes bezeichnet? Gegen solche Düfteleien aof
die Latinität des Cosmas hin und das, was er »anzudeutenc »scbeintc ^\
gentigt es auf das Lebensalter der jungen Fürsten hinzuweisen : der
älteste war Beginn 1055, wie Loserth S. 17 selbst, zu anderem
Zwecke freilich, ausführt, 23 Jahre, die drei jüngeren also wohl
zwischen 17 und 22; und denen soll Bfetislaw schon vor Jah-
ren, vor 1054 oder 1053, Mähren übergeben haben? Mähren, dem
Loserth sogar »eine selbständige Verwaltungc (S. 19) zugesteht?
Uebrigens was lag denn schließlich daran, ob Bretislaw früher
oder später seine Ordnung getroffen haben mag, wenn nur diese
selbst feststeht. Hat der Herzog den Jüngeren früher zugeteilt, was
er ihnen zu geben willens war, so hat er doch mindestens zu glei-
cher Zeit betreffs des Aeltesten verfügt. Nicht das Jahr, sondern
der innere Zusammenhang dieser Maßregeln ist ausschlaggebend.
L. bestreitet hier ebenso Nebenargumente, wie er völlig überflüssiges
vornimmt, wenn er einen bezüglichen Reichstag Böhmens und
Mährens in der Form und mit den Rechten späterer Reichstage
bekämpft Diese Frage sollte doch wohl nach meinen Darlegungen,
die sich übrigens nur mit den Anschauungen Anderer (z. B. To-
meks) decken, erledigt sein (Zeitschr. f. die österr. Oymnas. 1. c.
843—844).
Es bleibt noch übrig, zwei Gründe zn würdigen, mit denen L,
die Einsetzung der Bretislawschen Senioraterbfolge bestreitet: gegen
sie spreche das Wahlrecht der Großen und der Umstand, daß Böh*
men auch nach Bi'etislaw Teilfttrstentümer aufzuweisen hatte.
Was die Entstehung des »Wahlrechtes« der böhmischen Großen
anbelangt, so führt es Loserth zurück auf die Begründung der
Alleinherrschaft der Premydliden im ganzen Lande; das Resultat
dieses Processes, der zum Teil in friedlicher Weise (?) sich
vollzogen habe, zum Teil in schweren Kämpfen, sei, »daß die
einzelnen Stämme Böhmens das gemeinsame Oberhaupt aus dem
Geschleohte der Premydliden wähltenc Diese Vorstellung von der
Aufrichtung einer Alleinherrschaft über die (14?) Stämme Böhmens
und die daraus gezogene Folgerung ist ganz unhistorisch. »Wer
Staaten (die in demselben Lande liegen und dieselbe Sprache haben)
erobert, muß zwei Dinge beobachten, wenn er sie erhalten will, ein*
1) Man vergl. damit, was Los. S. 39 and 43 von dem Unwerte des von Cos-
mas En&hlten »noch Über die erste Hälfte des 11. Jahrhunderts hinaosc sagt
I
Huber , Qe^bicWfe ÖfeStfer^ehs. Bäiltf 1 und 2. 39^'
mäH, äM dag Blnt met ahen PüM^rt atltettfimv . . . üä^ nilhn 17.
UaethUym (Priilci>p^ 6ap. III) ; ä" b^Jzeiitnet eä' (mt cäji. 6^ ä^
E/an «Md Kh^b<^it« h^U, »^lle )MbeDbtAs«6r Mt'd Eif<jtstf6ht?^ ivtf
B^fne MlHebt 2tt veri[ri6hteD€. So lErU ^s dignn auc'b j^erkeiir de^' Fafl
gd'^ene^ vdK^ DavM cMtd Pftaraä^^cb- l^is atrf MoiMW Vdn If&Gfreti
(sr. PriWfna) tthd die ^fsi^i^ in ^ir/ BBbüie^ ^bi^endüA Ttettty^-
\vdm. Ei ifaag da Uie and' di£ ixMbit i^m SLVtt eiihAal ^ftlM^
g^W^Sen j^tin; dieser und' jeb6r GegAeY miiMe Wotil z^^itti^e'iK^
gesdftme ^6täM oi&r debkM gicb doi'cfr Ktbgbelt, Wie d^F SkwWiS
ge^ BoVecAaw f. von BChmeD ; abeV da» Ettdergebbid* watr , \<r!e
überall', Wo man dfe-Saföbhige erka'tfnte, so ^öH in Bt)hääti : dibJ ab^-
soMie JNMtenigewaU. N^trif wai" bter, wAe^ L. trStte' genttner riAW-
Bt^fäitt sIrileDV di^ 9acbla|^e ^: atieb itiK^ectfeii^ai/ fililiitleii ßttl?-
iiM»W gM offenbäf nrsf^ffngf^ch jtui« Wäbl^cbV def FaibffiobAll^-'
Bf^j Wile es dt^ patril&i<ebElii^che Eni^iekltttig M( sieb bravibVe' (v^l/
mA«r I 59. 59) ; ^§ sebidfneii di^er Fiftnnieilv^rMfDdö' dei^ Qm^
noob dre« iteM^U A^W ^Mik^yd1id«n ^eWes)^ 2a (s^ehi; die S^ä^l^,
Tepte üföd Wrteiowetz (vgl Gobmw üb^ die^ Bi'böbttüg" Bf etfWaW T.
1. e. pl 66). Die^ WablreeUt des GaniätfeÜ Wntd^ tiMmi' bedbtf-
timgslo^; 9oMld d6r Oaük^rert 2&m Laiüd^rarMeä, öi', lblsV/6^ di»
Hltfüpt Cities SMmtbes, tnui ^errü all&i' StHibtt^ des Cati^efif nWdf
E4^eMtlfti» nngeb^ti^t aiAfat^reiöbidti B^dlte^ titid Ab^kbi/lfei^ M6tit
nw) Rebble' wurde ; et^ Wurde ebeneft) zirr^ ^cfbfältlbsefü Portn, Wie jtf
attcb dfer Laadtäglä den befi^söglieben Wünsieb^n ^göiitlbe^ Wiflenldy^
wurden: (Zefftebr. f: d. ö«fferr; SyninÄö. 2i9, 843). IMc»' gflt riirtüf'-
lieh' a«tf V^Hkonttn^enSten f^t die Zirft' linttitfSeflbat^ äaißtf ^eUdl^ati^
def Binbdftfeätei^fe, <!A^ m^^ EOm nnd^ Mitf^ de^ Xr. «^iVrbtttderl^.
Attdef0WWde die SMbe, als unter BfetlslaMf^ Enk^Ib die Thrbb'^
küttpfo be^il^, äli^ oft gemg dbi^ Vei^n^t/ äMtetis ^f äibJ^lälidii^tibW
FtMit€tti^ genihcbt' wnr^; das Heriiogthnr 2b eifan^eftf, obnö^ Vom' (^-'
8etK9 dsnrif bbftiftftf zu se?ä. Da nindtetr diö^ KiAs<ir odei' die g^
w%mtett<9tf Q¥i[»Sißtt'/ -^ 1^* imt^Tt Waf'fiT, Wemf ii!a!n bekM ^Wa^n — ,
dta^nlMigctede Rechfl et^1Ȋb ; jd tffter mab' iA>eir an dle^ Binffafilnabnie
der ei^oisir ä;peHl#rt9, dtlticb' Qfo&tebettiM und' Bttretf Me" ei^katfftb öder'
UAobntK^ desto m^bf ^l^gmef sWh ibre^ Bedeutung und' ib'^ ffeäftk
n^yi^nraler Hft^bftSdfkuiig eitf frgMdWte enttfötteid'^d^ V^ttttii'
der OfoBeii tfi^ettt* eiM'eMeitf.
Uebi^r dH dieb eiMMie« cM^ BJäf. Hel¥b L6t aW abd^r^f SlUHe''
zMp MwMflfe. Hil# büt' ^ , Mm^ htifs B^cfMAArMfg i'ih Eitf^tf 1-
a«M. fei. Am. 1887. Nr. 10. 28
S94 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 10.
neu als onzareichend darznthnn, sofort zugleich die eigenen An-
scbanangen entwickelt. Nar Eines sei noch erwähnt. Los. gesteht
zn, daß Cosmas von einer Wahl der Herzoge in der älteren Zeit
(von jener in der Libuschasage abgesehen) nichts weiß und offenbar
an eine solche nicht geglaubt hat (S. 37). Die S. 38 angeführte
Stelle ans Gumpold. vita St. Venceslai : Quidam gentis iUius progenie
clafiar ac potencia in cives eminencior^ Zpugtignew nomine principatus
regimen sub regis dominatu impendens (M. 6. SS. VI 214) sagt
doch von einer Wahl gar nichts; und wenn es ebenda von Wenzel
heißt: Favoräbüi popuhrum assensu in paterni ducatus successianem
ddectus et in prindpalis sedem dignitatis est devatus, so wird hier,
wo ein Unmündiger im »väterlichen Herzogsamte« »nnter Zu*
Stimmung der Bevölkerung« nachfolgt, Niemand im Zweifel sein,
welches Moment für die Nachfolge maßgebend war, ob das Erbrecht
des Fürsten oder ein Wahlrecht der Großen. Das ist nun unser
Quellenmaterial. Wie kann L. da (S. 37) sagen: »daß die Herzöge
Böhmens, von Spitighniew angefangen, durch Wahl zu ihrem Amte
gelangten, läßt sich nach dem vorhandenen Quellenmateriale
nicht gut bezweifeln«?! Aber Loserth, der S. 37 Cosmas' Stellung
hierin »charakteristisch« findet, erklärt dieselbe S. 39 für bedeutungs-
los, denn Cosmas' Erörterungen für diese Zeit »haben nur sehr ge-
ringen Wert«, ja sie sind (S. 42) selbst »für die erste Hälfte des
eilften Jahrhunderts und noch darüber hinaus«, »entweder ganz falsch
oder doch mit vielen unrichtigen Notizen vermengt«. Den Beweis
für das Wahlrecht der Großen nach Bretislaw stützt L. namentlich
auf die Erklärungen Herzog Sobieslaws I 1026 Kaiser Lothar gegen-
über, und Kaiser Friedrich Barbarossas 1173 König Wladislaw gegen-
über. L. hat dabei ganz übersehen, daß bei beiden Gelegenheiten
ganz bestimmte Absichten die Sprechenden leiteten: 1126 gilt es bei
Herzog Sobieslaw, dem Ansprüche des Kaisers das im Lande gültige
Nachfolgerecht (nicht ein Wahlrecht der Großen, wie Loserth die
Stelle auffaßt) entgegenzustellen. 1173 ist der Kaiser entschlossen,
gegen alte Zusagen die Nachfolge in Böhmen dem Herzoge Friedrich
zu nehmen ; als Grund macht er geltend, daß dessen Erhebung erfolgt
sei, indem der König ^ßitrni suum ad injuriam nobis inconsuUis stä}»
stituit€ ; neben der Beleidigung, die man ihm zugefügt, weist er auch
hin auf die fehlende Gutheißung dieses Thronwechsels in Böhmen.
Daß der Kaiser hier eine Gewalthat auch noch durch andere Mo-
mente zu entschuldigen und zu rechtfertigen sucht, als durch die Ver-
letzung seiner Majestät, wem ist dies auffallend ? Und wer hat sich
je weniger um das böhmische Fürstenrecht oder gar ein »Wahlrecht
Haber , Geschichte Oesterreichs. Band 1 und 2. 395
der Großen BöhmenBc (1179, 1182, 1187 and auch schon 1158) ge-
kümmert, als der gewaltige Stanfer?
Ich komme zu jenem weitern Einwände. >FaIl8 Bretislaw
Anordnungen bezüglich der Nachfolge getroffen hatc, sagt L. S. 29,
>so sind dieselben nicht dahin gegangen, daß das Teilfdrstentam in
Böhmen ttberhanpt abgeschafft werde, denn Teilfttrstentümer sind
daselbst anch nach Bretislaw, sobald dies überhaupt möglich ist,
nachweisbare. Hier wäre zunächst ein Einwand vom Standpunkte
der gemeinen Logik zu erheben: daraus, das ein Gesetz nicht be-
folgt wird, folgt noch lange nicht, daß es auch nicht erlassen wurde.
Doch wir wollen die Sache selbst vornehmen. Es ist sicher, daß
auch nach Bretislaw Teile Böhmens an Premjsliden gegeben wur-
den. Aber die Gründe und Umstände waren andere, als L. meint.
Bretislaw hat zwar die bisher schwankende Nachfolge in der an-
gedeuteten Weise geordnet, indem er vor allem die eigenen Söhne
und die Burggrafen und königlichen Dienstleute dafür verpflichtete
— anders läßt sich nach den damaligen Verfassungsverhältnissen
in Böhmen diese Ordnung nicht verstehn — und noch auf dem
Todbette mahnte, daran festzuhalten — seit dieser Zeit gilt des
Cosmas Satz: justida enim erat Boemorum, ut semper inter prin-
cipes eorum major natu solio potiretur in principatu^ (1. c. p. 108;
vgl. pag. 155), seitdem folgt auch stets der Aelteste, er mag nun bis-
her wie immer versorgt sein, oder wird doch, falls das Gesetz darin
verletzt wird, das Recht des ältesten hervorgekehrt (vgl. Zeitschr. f.
d. österr. Gymnas. 1. c. 879—886 ; Loserth selbst S. 59 ff.), — aber
in einem Punkte war das Gesetz schwer durchzuführen und ist es
nur wenige Male wirklich durchgeführt worden: betreffs der Neuauf-
teilung während bei jeder Neubesetzung des böhmischen Fürsten-
stuhles. In den uns bekannten Bestimmungen über das Seniorat gibt
es nämlich eine Lücke. Was sollte mit den Nachkommen Spitigh-
niews II. (und der später regierenden Herzoge Böhmens) geschehen,
wenn der Prager Herzog starb und nun nicht sein Sohn oder Bru-
der, sondern ein entfernter Verwandter, etwa einer der mährischen
Vettern, der Aelteste war und somit im Herzogtume nachzufolgen
hatte? Es gibt hier nur zwei Möglichkeiten: entweder hat Bretislaw
den Mangel übersehen, was man nicht wohl annehmen wird ; oder er
hat vorausgesetzt, daß bei jeder Thronbesteigung und je nach Be-
dürfnis der Großherzog von Prag die regierungsfllhigen Verwandten
in Mähren, so wie er selbst es gethan, versorgen werde. Nun haben
in der That solche Neuaufteilungen Mährens stattgefunden. Im
Jahre 1062 gab der neue Herzog Wratislaw IL, bisher Fürst von
S96 Qftt. ;^,1. A^z. 1887. Nr. ^.
Eonrad nnd Otto, die allein ^Ivm^^B iiÄbiw flw f<om ^repfyfriif^p-
JV9^P(9 jp^e^ Awprucb fif\iebfifä komm. 4^^wJich^ Yerfitewigcft itrafen
/eben nqcl^ liyra.d,i3l^w fl. AoJibsi^ i. f. ^87, al» J9ein Brf4e^ XHjto ^-
j8t9f be^ »w^r; Bßm$ ^fe.tialav Jl 1093, J099 und ßU» «aw B^^«
,<^ef McWpJlg^^^en i^nbftl?.^ 4«» ?ra^ fl^erzogstp^lw- Aber wfi
^ro^ Schyi^riigikeiliWi ste^te^ laich dew WK* Wtgpgen: df» wfffik"
,sei)i<j»9 2*W ,^er zu .Ue]te^e^4.en FfjeipyflUdei^ ujgi.^ noc^ ^^ji/ebr, 4*i«
4^ ip Mäl^^ej;! 1Q62 eijy^esie^^t^^ Ftlr^ten pup t!tn4 Konr;^ und d^
jei^ l^achjl^ompve»; ,wiejyohl o^ Ur^^eebt, eineo Jbt^o^iji^ef Aji8(»r|9ph
fl!^ 4^,V Alleip^.i»itz M^föuß beha^pjtetep; jyiorin siß 9Ji/)b gegeoa^g
loi|; ^pr S^^aft unte^^l^^ten i^d durpb 4ie ^uti^ in Böbme^ ji^r
^elt.i^ng gql^ngo^Qdßp leb^srecb^tlic)»^^ 4nfBcbauungi^p gefördert sabeu.
pj^rj^ yprvmi^tfi »pho» JOS/ pnjg Vnijjajj^^, 4I9 er, des«^ QQ^e
jf^yi^^ jt^ja^ewaohsen ^^reif^ i^^ph 4piu Tp4.q Aoiu^ Qrp%s
0,^9 i^ OIn(#*^er P^Jwt «pfuj^jf» ;Ziy^fj^gjel^pr^ne;9 IJlwtrug, «cfaUpj^
Jjph dopjf ^cht zjm Zi/el^ zft gplangp^. S,eiff Nefl[e Friied^icb, Sohn
3piti^|}0ie^ I^., blieb o\mß hwd tfoij^ a))pr B^^erjt^ui^g und ol^wp)il
§icb pogar d^f Papst fjtlr ibQ vierwe#ete: ^Y^atjsl^w ItberU^ ^bm
fi(^p|i ppipeqa JSpcbl^ nicbtp ypn ^öbfjien, dip OJbejijne dul^pteji^ k^e
^an^^i^roi^g ii;^ ^Hhrep. So war pß aueb vpiterbif): vor die WfM
f!^tp% 4efP ßobpe, dßjtn BrQ.djDr, der alß junior j^^t 4ie l^acbfolge
ip Böhn^en uii4 sisitens 4^ Otfiopen un4 I^unidij^e nicbta in Mäbren
^u ^.offen bf^te; w Land wd I^ßuii^o gjou- n^pbtil z|i fibprlapsen, o4er
ihppn Tejlß des böbmiscben Ilauptlaade^^ freilich entgegen der I^-
tpn);jon des Abuberrn und ^m Ii^tereaae der Contr^}gßW9lt, zu^u-
jveißen, griffen djijß jörpßfeerzoge docb wieder, wie begfeiflic^; m i^^v^
let^tjß^ap. So wenig e^ an Verpuji^t^ep febl^, ,9ber tfähreo frei z^ vei-
plgen, po oft pfemydjidi^iche Frfpzep flberbaifpt ohne Land blipb^,
so wppig w^ug^^lt es darum im 12. nifd 13. J^brbpp4ertp ^^ Bpi-
^piplßp, dat Söjjpen und Brttdprn dpf Hprzoge Teile Qjtibmeps zuge-
wipsQQ )f er4p9. Nur b.e4putet di^ nipt^t» gegen 4&9 einsfigie Pfipeip.
Vop dei^ sebr yieiep £inwendnpge«», die fßßer^ 4^ ^ßtf^^^ 4(9r
Erzä)flpj)jß ^^ppifH wip pa^prlipb erhoben werden t^Qpneu, sejyeq bipr
nur wepig.e gebri^pht; w.eH sip viieHeipb^ ^i^berpe fnterpipe be^p-
9prucben Qflrfep. Wpnp p. (I 45) ^a^t, ^Mangel u»4 Npt l)p^og«p
den (Q8j;gpjei^-)könig fljeodoipir um d^e Jajif 473 peiQ Vp)k ^j^s
d§jB yprw^stp^pp Pppppjpn Pbef die Sayp in das 99tr(}mia«bp Bpfch
zu ftlhrp^, upf 4jQin9p)t)en \i\er |i)es9ere Wo)iU6itze ^u verscbaffei^f, so
ii^ die9 jpipdp9tiens uogenau. Spif 453 galt Fannon^pp auch den
yöll|grn des ßpfallppep Pftp^fw^reicbe^ wip4pj' alß Tpif 46| J^n^pprlnffis
Huber, Q€9chiohte Oesterreiclw. Band 1 und 2. d97
ijffifitifm^ De Qioih. f. fy. oprig. et reb* ge#. cap. 50 : CMi . . ^ 9o-
AKMip r^jmo 4^rra^ j)eteri6 . . . occipimles Pcknmicm)' Vgl. Arcb. f.
fif^TT. £[e«cL L;H, 1B4. Q^enii no« d^n Ajignben I 49 (vg4, I 60,
Ai»9f 1) .ttber dpe Awieboniig des Ay«repr6veb«8 »bis ao dag £r^
ge)Hrge<i und zv4J acboo unter 4eia epsten Chakan, also no^ ipn
15, J/l)i^banderte , ftn* äiß Bew^eguag der Moen ciim} frtth^eo B6v(>I-
^rjBOg Böbmeog bei« $cfal«0 yer^oobt wird, ao anag man diese Zu-
r,|liekhaltaiW g^m gejteii lassen; ^eov aber BL (I i64) ohne weitere
jB€£^ttn4QAg iiß frJlAkische Völkertafel mk MttUenhoff noch imwfif
^ü^iseheM 510 und 524 entstanden glaubt, so gijl; 4ieae ZeiJib^stjvir
mQ9g #P liefer. feeute ooeh wehr als vor acU; Jabren (Fgi- Sitf^b.
der kais. Akadem. in Wien, 91. Bd. 865) fUr eine der vielen iM^lt-
losen hjsi^jorjscjl^en Anfstellangen des aosgezeichneten (Jreipiani-
sten. Was H. (I 91) 0. Ettmmel, Anfänge des deutschen Lebens in
Oesterreich, 292, über die Lage der deutschen Kolonisten im Slaven-
lande entnimmt, hat beinahe mit denselben Worten schon der treff-
liche Justus Moser geschrieben. Als Urheimat der Kroaten läßt
ßpber {l 59, An;D. 1) mit Recht Galizien picl^t geltep; 4er czecbi*
^e «od ebensio der deutsche Oalimil lassen erkennen, daS schon das
beginnende 14. Jahrhundert von einer nördlichen Heimat der Kroa-
ten nichts wußte. Die Aufstellung, daS die Babenberger schwäbi-
«ßjb^n UrsiHTQnges /leien, ist nicht so neu, wie H. (I (74 und IfitteiU
des InstU. f. österr. KJeschichtsforsch. II 374 ff.) mdnt. Schon J.
Coßpiiiljanus sagt (Austria 9 — 10): i^Im^qHus (sei), tifarekio Äustriae)
iMo duciti49 erat Suevorumf^ was sich auch in Heuteri Dßlf. praep.
Arnb. Schrift De Habsb. (Anstriac.) origine, Antyeipiae 1598, vrie-
derbpft 0ndet (c. 2^y. 37): ^Leopcldus . . . e famUia Bäbmbergica, ß
ß^evi$ 0fia€. Qeg^ 4ie Ang^e H.s, welche Jierzog Bi^etislaw I.
^m Sphpe >eip|3s /icböppn Banernmäiilshensc maebt (I 168), he-
fp^ke icfa neuerdings, daß Boieon pacfa Cosmae (I 36) nur di^ Frap
ifiß BAoe^ ^rpsjna geweisen sein kann. Zivar köwto die maßgebende
Angabe: fptße fuU ^ßsina apch bedeqten »die 4a9i K- (als L^b-
eigene) gehörte« ; aber 4ic Stelle selbst upd pocb ppehr 4ic nacb6>)-
gend^n AusfttlirQffgca 4eß Cpsn^^, es sei in Böhmen überbMF^ PV^bte
besonderes gewesep, w|9pn eiq^sr dem andern 4ic Frpii «^egpabp^,
as^ingen zu epit^rer InterprptMion. Die S^ndeserb^bung, 4i# l^esina
gel(egep^li^ pr^hr, ist ^ns (Jen Quellen nieh(; ^9 begrtt94an; 4<l!>
Boieffa Bj^erin war, zisi^t apph ihre ßejicbi^igung (Wäsf^bßwaapbw) ;
das Bauern m ä d c h e n stammt aps deini czechisphen IHlimil (eiap. ^I^I
13 ff.), den hier der deptsche Uebersetzer yöUig misFers^d (sedmä
flietvkß): Auch mit dem ?^ra^p# Wftcel^ (Bub^r I ?^)i 4w 8«l9n
898 Gott, gel Anz. 1867. Nr. 10.
Palacky Geschichte von Böhmen I 358 ff. bringt ^ ist nichts zu ma-
chen; der »comes Wakoc findet sich erst bei Joh. von Marignola
(vgl. Font. rer. Bohem. III, Prag 1882, 549), also im 14. Jahrb., and
bei einem Fremden ; Marignolas Quelle, Gosmas, sagt nar : et coniinuo
(Stiatpluk) cum $uo comitatu vertens iter Moraviam sie fatur Wacek
ad comitem (Font. rer. Bohemic. II 152 ad ann. 1005), wo natürlich
comes ebensowenig »Gräfe bedeatet, als comitattts »Grafschaft« ; Grafen
gab es ja in Böhmen nicht bis auf die Schlicke und Gattensteine, and
sie hatten ihre Titel anderswoher. Doch genug. Es bedarf kaum
der Erwähnung, daß durch derlei geringfügige Ausstellungen das
oben dem Werke Hubers gespendete Lob keinerlei Einschränkung
erfahren soll.
Prag. Adolf Bachmann.
LoBsen, Max, Dr., Briefe von Andreas Masius und seinen Freun-
den 1538—1573. [Pnblicationen der Gesellschaft fur Rheinische Geschichts-
künde. 11. Bd.]. Leipzig 1886. Verlag von Alphons Dürr. XX. und
687 S. 8°.
Man hat Masius mit Recht immer als einen der hervorragend-
sten Gelehrten des sechszehnten Jahrhunderts und namentlich als
Exegeten des Alten Testamentes hochgeschätzt nnd wußte, daß er in
der Kenntnis des Hebräischen, Arabischen nnd Syrischen kaum je-
manden seines gleichen hatte. Er war einer der verdienstvollsten
Mitarbeiter an der großen bei Plantin gedruckten Polyglottenbibel ;
seine syrische Grammatik und sein syiscbes Wörterbuch, die 1571/2
erschienen, dienten bis in das siebzehnte Jahrhundert als Grundlagen
für syrische Sprachstudien und sein bedeutendstes Werk, die hebräisch-
griechische Ausgabe des Buches Josua — dieselbe kam wegen eini-
ger freien Aeußerungen auf den Index — ist wiederholt aufgelegt
worden. Die vorliegenden Briefe zeigen uns Masius im Verkehr mit
den namhaftesten Gelehrten seiner Zeit und gewähren in Folge des-
sen einen Einblick in die geistigen Bewegungen dieser Jahre.
Weniger als die litterarische ist bisher die politische Tbätigkeit
des Masius gewürdigt worden. Erst die Arbeiten Kellers nnd Los-
sens haben anf diese etwas Licht geworfen ; namentlich muß man es
der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde zum Verdienst an-
rechnen, daß sie in ihrer Denkschrift vom Mai 1881 unter den zur
Veröffentlichung geeigneten »Literalien c auch die im Staatsarchiv zu
Lossen, Briefe von Andreas Masiiis und seinen Freunden. 399
DflBseldorf yerwahrten Berichte des Agenten zu Rom, Andreas Ma-
8108, an den Herzog von Jttlich-Gleve-Berg verzeichnete. Die Edition
derselben konnte kaum in bessere Hände als die Lossens gelegt
werden, da sich derselbe bereits in seinem Kölnischen Kriege (S. 235 ff.)
mit der politischen Thätigkeit des Masias in dessen letzten Jahren
beschäftigt nnd in der Allg. D. Biographie (XX. S. 659—562) des-
sen Leben geschildert hatte. Lessen hat Übrigens nicht bloft die
Dttsseldorfer Archivalien, sondern auch die sonstigen gedruckten and
nngedrnckten Briefe von and an Masias einer umfassenden Durch-
sicht unterzogen und dieselben nach der politischen Wirksamkeit der
letzteren in drei Teile: 1538-1548 (Nr. 1—22, S. 1—26), 1548—
1558 (Nr. 23—224, S. 27—309) und 1558—1573 (Nr. 225-362,
S. 310—515) geteilt. Masias war nämlich, nachdem er noch in
jungen Jahren eine Lehrstelle an der Artistenfakultät zu Löwen, wo
er auch seine Studien gemacht, bekleidet hatte, 1537 im Alter von
23 Jahren als Sekretär in die Dienste des kaiserlichen Rates und frühe-
ren Erzbischofs von Lund getreten. Nach dessen Tode (1548) wirkte
er als Agent deutscher Fürsten, namentlich des Herzogs Wilhelm
von Cleve und Friedrichs IL von der Pfalz. Im Jahre 1558 wurde
er Rat des ersteren und ließ sich in dem (damals clevischen) Städt-
chen Zevenaar nieder, wo er 1573 starb. Schon als Sekretär Wee-
ze's war er viel herumgekommen; namentlich weilte er schon da-
mals und dann als selbständiger Agent oft und lange in Rom nnd
yerkehrte daselbst mit vielen humanistisch gebildeten Männern, un-
ter denen sich die Kardinäle Morone, Gervino (später Marcellus IL),
Maffeo, Sirleti und Commendone befanden. Unter diesen Umständen
darf es nicht Wunder nehmen, daß die Masiusbriefe fUr die Oe-
schichte seiner Zeit im Allgemeinen und die Cleves insbesondere von
großer Wichtigkeit sind: Der schmalkaldische Krieg, das Koncil
von Trient, die letzten Kämpfe Karls V., die Unruhen in den Nie-
derlanden, die Hugenottenkriege u. d, werden gestreift. Als Agent
des Herzogs von Cleve suchte er in Rom den Bestrebungen seines
Herrn, die auf eine eigene Kirchenreformation und namentlich auf
die Gewährung des Laienkelches gerichtet waren, die Billigung des
Papstes zu verschaffen, was ihm jedoch ebensowenig gelang, wie die
Oenehmigung zur Errichtung der Universität in Duisburg.
Von den Briefen des Masius und seiner Freunde war bisher nur
ein verhältnismäßig kleiner Teil — das meiste als Epistolae Pala-
tinae (im VII. Bd. der Acta Acad. Theodoro-Palatinae) — gedruckt.
Lessen hat von diesen in Kttrze den Inhalt verzeichnet und eine
jReihe Verbesserungen und Ergänzungen angeftlgt Einige aus den
4Ö0 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. W.
Jaft¥€tf 1568—1673 sfammende Briefe ttad AkWnmtSdke — cüe W^
it^e» zv^is^is^ dfe MffnstereY Eoadjaterfrage — Bii^cf t<yA KelfeV
(PM>)ik. ktm den Pr. Sttotsarch. IX) nrifgefeftt wot^a. Loileii'
koBDte aBcb" zu diesetf einzelne Yerbessernngetf b^IVk^ingeA. Die Bis-
her nngedruekteik' Briefe staMtaen mn det llftin^fiAer Hof^ vM SUkah-
brbttetbek, dem MUncböer Reiehsarehlv, Aeri Sfftatsarchivenf tri DVli-
s«Moi^f, M^iDster and Stuttgart, deiA ftfrMfieh T^^rn- und Tniflf-
8^b«ti A^ebiv' zn^ R^etidbürg aiktt der EDam^ii^i^ 8tadl6iblMtbek.
Di« safeftKoheil' Anssteünngen', die man M d^iii tvltbef nuMfteii
kttm,' firiM im Oänfzen «lerlieblicb. Der »FebeAffek fiber' das Le-
ben- de» Andreas MaEÄts«, ein (an einfgeA Stellen verb^sbertfeiO Wtto-
ddraödruek d<eB ÄTtikels dei^ Allg. D. 6iogr. M ivt knapp gehalfen.
So war z. B. die< dfplomatisetbe Thätij^keff! de« MaÜns in deMen
letzten Lebensjabren,' #elbbe' Lossei^ idr seinem^ K5tnis^be# Krieg
(Sk* 235—230) i» trefflflober Weise geseMklert bitft, ni6M So* flffJef-
mtMterKcb' za bebaiid>elit>, wie es bier gescUebetii istf. Die Aitegabe alis
sofobe ist (bis auf Verein^dte Dnickfeblieff) korrekt; Vön> AM üütfloi
iMikttk änd ntiloserlfeb gewordenen Stellen* kött<ttten einsMM ergttnzf
werden ; soKwer versMndllcbe, znmeist dtatoktMbe Wttrfei' Wenden
(iti Kiammem) erklärt, doch- ist der Heraiasgebeir hiefitt etWais za
weM ^egan^en : dato Wotli dar ^ #ag1l Wbz. wage wirtf aä' vii^ SMkfti
SS. 106. 34t. 248. 376 erklftrt Naob meiner Meidttng w^ eine^
Erklänmgi hier ebenso ttberflfissig, wie bei> den WöH^b M^ ^
kaum (Si 346)v sessm =b« zn essen* (S. 254), side^ ^ s6ilhe^ (8: 266),
tür^ =» Tb«viAe, i^e^ ^ Red^e a. a. e^reichmi) S. 317 ist ni(6M nn^
versländlfeb Md^ he^igei^abimsr S. 236 niobt nnritebtig.' Anob die
SieRb (bez. das Wort) nomina omiMent^ sed redeHiu$ (!) serfi^abui^
btttte ieb «iottt beanrstandet. Ist reädiU»s als Sclr^fehlef bemän-
grit^ dann« waren amcb t'K^Oy n. ai «Is solche zu beteiebnerf; redü^
tu9> ist tttrigens: d4« nobb ms dem Itf« A. Obei^mnttieBe Porbl/
Fasi jbdenf Briefe ist ein ansftibriieber Kotumeatar beigaben,
\vt welcbMB die in den< Briefen genannten Persönlielikeiten fbstgi^
sfelH odiBf BriäntemngeB des Sucbverbultes^ gegeben werde». DM
Bmßstor ist iliit großer Genauigkeit ansgeairb^diM.
6zembwitz& J. Losertli.
ftt die Svdakttdif tttanlmrdrfHdi : Phtf. Dr. SbdkM, Bü^Hor Arfr Mtt. ga. A^.,
kmmwit d«r IKai^Udien OiMMUaehaift der Wiüumdwften.
Jwlag der JHtimie/Caehm Tirkiif§'B¥düumdim^,
JMMt d^ l>t^Ühihlftdkmi Vft»:'9itdldt^Mitr0^(W. WlMmkkikhi
401
Göttingische
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
derKönigl. Gesellschaft der Wissenschaften.
/^Nr. 11. 1, Jmii 1887.
Preis des Jahrganges : JL 24 (mit den 9Nachrichten d. k. G. d. Wiss.« : Jü 27).
Preis der einzelnen Nammer nach Anzahl der Bogen: der Bogen 60 ^
Inhalt: Schmidt, Kritische Studien in den griechischen Drun»tlken. Bändig Ton J98fr.
^ Meyer, Griechische Gnounfttik. Zweite Anflage. Von Settmubirger. — Bannnek, Stadien anf
den Gebiete des Griechischen nnd der arischen Sprache«. I. Band, erster Teil. Yen IViSwAk —
Enbel, Geschichte der oberdentschen (Strassbnrger) Minoriten-ProTinL Yon Ootitkt. — BrUiranff.
▼on NMek§. — Erwidernnp. Ton d$ Lagarda.
= Eigenmäohtiger Abdruck vor Artikeln der G5tt. gel. Amelgen verboten. =r
Schmidt, F. W., Dr., Oberschalrat nnd Direktor des Gymn. Carol, zn Neu-
strelitz, Kritische Studien zn den griechischen Dramatikern
nebst einem Anhang zur Kritik der Anthologie. Band L Zu Aeschylos nnd
Sophokles. Berlin, Weidmannsche Buchhandlung 1886. XTV und 282 S. 8^
Vorliegendes Bach ist eine acbtnngswerte Leistung, die auf
liebevoller nnd sorgfältiger Beschäftigang mit den grieobiseben Tra^
gikem nnd anf genauer Kenntnis derselben bembt. Der Inbalt
ist znm weitaus größten Teile neu ; einiges ist bereits frttber in zwei
Programm-Abbandlangen von Nenstrelitz (»Eritiscbe Miscellen« 1860.
»Satnra criticac 1874) nnd in Bd. 111 und 113 der Fleckeisenscbeti
Jabrbttcber yeröffentlicbt and bier wiederbolt. Der Verfasser gibt
VerbessernngsYorscbläge zn einer sebr großen Zabl von Stellen deb
Aescbylos and Sopbokles; gelegentlicb werden ancb Stellen ändert
Antoren znm Gegenstände kritiscber Versnobe gemacbt Von den
letzteren erscbeinen mebrere, wenn ancb nicbt sicber, so doch^a^«-
sprecbend, ebenso ancb mancbe anter den Eonjektnren zn den ¥^^
menten der Tragiker. Eine Anzabl von Stellen der Art 9A^
man z. B. von Wecklein in der Berliner pbilol. Wocbenscb!rift
1887 S. 325 f. anfgezäblt. Was die erbaltenen Dramen des AeboAjf <-
los nnd Sopbokles anlangt, anf die sieb der größte nnd die Wikt^
zabl der Pbilologen jedenfalls am meisten interessierende Teil" ditei^ei^
Bandes beziebt, so hat mir keine der hier vom Verf. TorgesdUlkjgö^
nen Aendemngen (ancb nicbt die v^ti Wecklein gebilligte!!) *deb
0«tt. gel. Am. 1887. Nr. 11. 29
46i Oott. gel. Anz. 1887. Kr. II.
entschiedenen Eindruck großer Wahrscheinlichkeit gemacht: indessen
soll damit kein den Verf. speciell treffender Vorwurf ausgesprochen
sein, da es eine allbekannte Thatsache ist, daft von den zahlreichen
Konjekturen, die in gegenwärtiger Zeit zu diesen «vierzehn Dichtan-
gen gemacht werden, die überwiegende Mehrzahl von niemandem
auBer von den Urhebern für richtig gehalten wird. Bei manchen
mit Sicherheit nicht zu heilenden Stellen gebe ich übrigens zu, daft
die Vorschläge des Verf. ebenso gut resp. nicht schlechter sind,
als die vorher gemachten Emendationsversache. Scharfsinnig aas-
gedacht ist mehreres. Den eigentlichen Nutzen des Boches er-
kenne ich nicht so sehr in den darin enthaltenen neuen Konjek-
turen, als vielmehr einmal in seinen reichen sprachlichen Sammlan-
gen, die von der Gelehrsamkeit ond Belesenheit des Verf. ein rühm-
liches Zeugnis ablegen, sodann in der richtigen Widerlegang, die
vielfach den Ansichten anderer zu Teil wird (wohlgelangen ist z. B.
die Rechtfertigung der Ueberlieferung an den Stellen Aesch. Hik.
507 [Weckl.] Soph. El. 573. 651. 1235. Trach- 259. 1247. Philokt 271.
Aristoph. Pax. 522), endlich darin, daft die eindringenden Bemer-
kungen des Verf. häafig Anlaft geben, den von ihm behandelten Stellen
eine sorgfältigere Erwägung zuzuwenden, auffallende Erscheinungen
semasiologischer, syntaktischer und inhaltlicher Art mit größerer Be-
stimmtheit und Schärfe hervorzuheben als es bisher geschehen ist
Nur befinde ich mich hierbei sehr häafig insofern in Widerspruch
mit dem Verf., als dieser (vielfach nach dem Vorgange anderer)
eine Korruptel annimmt, während meiner Meinung nach das auf-
fallende der Ueberlieferung sich rechtfertigen oder mindestens ent-
schuldigen läftt. Der Verf. stellt, wie mir scheint, an die Dichter-
sprache viel zu sehr die Anforderungen strenger Regelmäftigkeit und
peinlichster Logik, erkennt das, was man als dichterische Freiheit
zu bezeichnen pflegt (womit freilich auch starker Misbrauch getrie-
ben wird) viel zu wenig an. Sprachliche Singularitäten hält er öf-
ter ftlr unmöglich, auch wo sie sich durch Analogieen hinlänglich
verteidigen lassen. So steht z. B. Aesch. Hik. 385 (Weckl.) tvxii^
iUXv {%J%^ in der Bedeutung »Glücke) : Schmidt fUhrt selbst aus
Euripides die Verbindungen vq ^ «VX9C atpaa^o»^ ^XV^ laßstv^ ^ydXa
iXsJv an: trotzdem verdächtigt er die Ueberlieferung, weil sich ge-
rade diese specielle Verbindung sonst nicht findet. Das gleiche
gilt von der Konstruktion von cS^rra Csii^ mit dem Genetiv Agam. 632,
oder auf dem Gebiete der Formenlehre von der in den Trimetem
Choeph. 738 und Kritias fr. 1, 18 überlieferten offenen Form v6oi
(worüber von Gtorth in Cnrtius' Studien zur griech. u. lat. Gramm.
1, 2 8. 234 im Zusammenhang gehandelt ist) u. s. w.
ScBmidt, Kritische Studien su den griecliiscben Dramatikern. Band 1. 40^
Aach darin weiche ich yom Verf. ab, daB er (auch hierin mit
anderen Gelehrten tibereinstimmend) die Texte der griechischen
Tragödien auch in den Dialogpartieen durchweg fttr viel stärker
korrupt hält als ich. Eine große Zahl seiner Aenderungen liegt von
der Ueberlieferang weit ab. So z. B., um bei einem Stttcke zu
bleiben. Soph. Oed. Tyr. 360 hiQq Hy^ statt ixfu$Q4 A^^av, 420
nav nofl oi% ictat (jbSlti statt notog ovx idta^ hfujv, 441 ci ravT^
dyndiCiB$g ä /»' ^gs »al fkiyav statt foiavi:' ovsidhC otq i(k* tigijcstg
fkfyay, 598 iSr yäg vv)i6ty igwüi, ndvi iv t^iP ivk statt fö Tfäg fv-
%(kXv avioig änav iv%aid^ Sp$j 608 dijlov «T iXi^xov statt j^mfi^ ö'
dd^hf, 677 col ikkv doxmv dXXoXoq statt üov fkiv tvxfiiv dfvmtoq^ 725
«X3 ikiqiikvav statt x^^^^vs' igcvpq^ 1031 iifxd%o$g itn^ Htsitälj^ogiaxoy^f
1084 f. ot'x dp iiik^otfjkt ug dv&gmnog o« 'dn /n^ iufka&etv Iwoy yi"
vog statt ovx dv i^SXi^otfA^ Su not* älXog tSats fii} ixpad^stv %oi^6v
yivog, 1293 ndvtwg d* dgwffig statt ^dfk^g fs fjkirto$f und so auch
sonst. In der Regel wird zwar bei derartigen Vorschlägen ein Ver-
SQch gemacht, die Entstehung der Eorrnptel zu begründen; aber die
Art, wie dies geschiebt, ist allzu künstlich , um glaubhaft zu er-
scheinen. Ich kann nicht umhin, die treffenden Worte, die der
Yerf. S. IX f. gegen die kritischen Versuche anderer vorbringt , auf
einen guten Teil seiner eigenen anzuwenden. Gewiß gibt es auch
in den Dialogpartieen korrupte Stellen, bei denen man mit der An-
nahme einer leichteren Verderbnis nicht auskommt; aber ich wüßte
nicht, in welcher Zeit und auf welche Weise die Texte eine so
durchgreifende, massenhafte und gründliche Verwüstung erfahren
haben sollten, wie sie der Verf. annimmt. Es scheint mir, als wenn
derselbe den auf die Textesgeschichte und den Thatbestand unserer
üeberlieferung bezüglichen Fragen nicht ganz die nötige Aufmerk-
samkeit zugewendet habe. S. 157 bemerkt er über einen Vers, den
er für verdorben hält: »allerdings kannte Suidas unseren Vers
schon in der uns vorliegenden Form, indessen dies Zeugnis wiegt
nicht so schwer, daß wir eine offenbare Ungereimtheit mit in den
Kauf nehmen müßten«. (Es wird alsdann auf eine Bemerkung
Kaucks über die Kritiklosigkeit des Suidas verwiesen). Hiernach
scheint also der Verf. zu glauben, die schwereren Verderbnisse un-
serer Tragikertexte gehörten, wenigstens zu einem großen Teile, erst
der Zeit nach Suidas an ! Zu Aesch. Sept. 295 wird bemerkt : ȟber-
liefert ist neben nmfAduay auch flYMATÜN^ wodurch uns PETMA-
TQN nahe gelegt wird«. Mir ist von jener »Üeberlieferung« nichts
bekannt
Anerkennung verdient der maßvolle^ ruhige und stets sachliche
Ton, der in dem Buche herrscht. Auch will ich nicht unterlasse^
29*
404 Gott. gd. Abs. 1887. Nr. II.
hervorznbebeOy daA der Verf., wie er ä. X bemerkt , von dem Au-
spmcbe weit entfernt ist, ttberall das richtige za bieten; vielfacb
will er sieb mit dem Zngeständnis begnttgen, daB das dargebotene
»einen gewissen Orad von Wabrscbeinlichkeit für sieb babe«. Nicbt
selten wird man ibm freilieb nicbt nnr dieses Zngeständnis versa-
gen, sondern ancb behaupten müssen , daß seine Eonjektaren ans
formalen oder inbaltlicben Grtinden geradezu anstattbaft sind. Man-
ches der Art ist von Wecklein nachgewiesen worden. Ich will auf
diese Seite der Kritik nicht weiter eingehn, dagegen eine Anzahl
von Bedenken gegen die Textes-Ueberlieferang der erhaltenen Ae-
scbyleiscben und Sopbokleischen Tragödien, die ich hier zuerst gel-
tend gemacht finde, einer kurzen Besprechung unterziehen.
Oefter bringt der Verf. gegen die handschriftliche Lesart im
Grunde weiter nichts vor, als daß er irgend welches ästhetische
Misbehagen an ihr empfindet Aesch. Hik. 464 macht noXXmv auf
ihn »den Eindruck eines äußerst mattherzigen Attributs« (es wird
^iXmv vorgeschlagen); ebenso klingt ihm Soph. EI. 562 das Attri-
but sroirov »allzu mattberzig« {jib^&w naxovgroQ dvdqo^). Gboeph.
256 ist der Ausdruck i^koiaq x^^Q^^ »ttber die Maßen nttchtem und
farblos« {ii*otaQ ^a^^Tb^). Choeph. 922 ist das »kühl warnende«
oga nicht am Orte (<i nat). Agam. 1669 ist insl näga »völlig in-
haltlos« (ita$( / ^Q^' Trachin. 536 klingt otfM$ 9 oduiu »über-
aus ungeschickt«, und die Rede wird dadurch »höchst ungelenk«
(plffav oinMj. Agam. 520 klingt q^iXov u^Qvua im Munde des He-
rolds »nicht geziemend« (^emy mijqvxo). Oed. Col. 817 hat die
sprachliche Form »etwas geschraubtes und unnatürliches« (not 6p %$
iffoy). Pers. 455 klingt ^EXX^vmv wegen des vorhergebenden ix&qol
»höchst befremdlich« {Bi%BiQm%ov £v uBivmv äyqav). Auf Zustim-
mung in Betreff der Annahme einer Eorrnptel wird der Verf. in
diesen und ähnlichen Fällen natürlich nur bei solchen rechnen kön-
nen, die seine Empfindung teilen; aber auch von diesen werden
viele der Ansicht sein, daß es unzulässig sei, wegen eines derartigen
ästhetischen Anstoßes, der sich moderner Empfindung aufdrängt, auf
eine Verderbnis der üeberlieferung zu schließen, einmal darum, weil
sich unser Empfinden mit dem der alten Athener nicht notwendig
zu decken braucht, und sodann darum, weil auch den größten Dich-
tem dies und jenes minder gelingt. (Auf eine Kritik von Schmidts
Konjekturen will ich mich, wie schon bemerkt, nicht einlassen). An
anderen Stellen wird irgend welcher direkte Tadel gegen den Wort-
laut der üeberlieferung gar nicht vorgebracht ; eine Aenderung wird
nur darum vorgeschlagen, weil sie dem Verf. besser gefällt, indem
dadurch entweder eine Uebereinstimmung des Ausdrucks mit anderen
Sohmidt, EritiBche Studien su den griechischen Dramatikern. Band 1. 406
Stellen erzielt wird, oder der Dichter um eine in der Ueberliefernng
nicht vorhandene Schönheit oder Feinheit bereichert werden soll
oder dgl. mehr. So wird z. B. vorgeschlagen Hik. 493 inhqq$(p&^
statt änoQQ$q>&^, weil ein Verbam wünschenswert sei, »welches
deutlicher und bestimmter den Sinn einer feindlichen Tendenz zam
Ansdrack brächte«. 531 tdfMä statt taiwy damit anf das zarttck-
gewiesen werde, was Pelasgos vorher als seine Aufgabe bezeichnet
bat Agam. 557 sindtfAwg statt söfuttäg, weil man den Begriff
»gttnstig, glückliche erwarte (S. 91). 845 tvx^ statt Wxf, weil er-
steres dem Verf. >angem.essener dünkt«. 1114 hält er statt niXst
»in Bttckblick auf V. 1093 und 1C96 für richtiger tslet oder auch
ntlqt, 1630 ndvta %oh statt ndv^ dnd ohne Angabe eines Orun-
des. Choeph. 282 itpakvs als »terminus technicus« statt itpmvs^.
Aias 64 scheint dem Verf. äyn^v statt Sxmv »weit angemessener und
sinngemäßer«. £1. 878 co^ nagovtf iqqq statt dansq ihsoqqq, weil
es »im Interesse des Gedankens liege, den Oegensatz noch schärfer
hervortreten zu lassen«. Oed. Tyr. 930 vatokq statt r^yo$t* {r^voif
Wecklein), weil ersteres durch »die unmittelbare Verbindung mit
Ihv dXßio§^€ empfohlen werde. 1074 sollen die Ausdrücke dyQiag
und 4i^^^ ^zu dem Schluß berechtigen«, daB Ivaa^g statt Xvntig
vom Dichter geschrieben worden sei. Antig. 183 rifM<i$ statt Xiym
»in Hinblick auf Stellen wie Aesch. Fers. 501 und Eur. Andr. 210«
(hinzugefügt wird: »sowie in der Erwägung, daB auch sonst eine
Vertauschung von Xiyatv und riftsty vorgekommen ist«, was hoffent-
lich kein Or und zur Aenderung sein soll). 517 ov ydq tftdovlog
statt od r^Q u dovlog, weil dadurch »der Gegensatz an Schroffheit
gewinnen würde«. Oed. Gol. 1093 erscheint dmlovg dqmrovg
statt dhnldg dqmydg »wegen der Stellung vor dem Inf. (äolsty weit
natürlicher«. Trach. 942 natQög %9%oiSfSijg ii statt ncpt^ig t* ln^i-
yfC t* ohne Begründung.
Anderes erfordert eine etwas eingehendere Widerlegung. Aesch.
Prom. V. 27 behauptet Schmidt, ov — nm könnte nur dann stehn,
wenn Hephästos einen bestimmten, für Prometheus später erst er-
scheinenden Better im Auge hätte, und schlägt deshalb coh statt nm
vor. Mit Unrecht: vgl. die Anmerkung Weckleins. — Agam.
V. 554 iSnXjnqdg 9 anovtmv %ohqdvmv ixX^g wiag. Der Anstofi,
den Schmidt an der Ueberliefernng nimmt, scheint mir nicht ge-
gründet Denn die Vermutung, daß während Agamemnons Abwesen-
heit die Argiver von feindlicher Seite irgendwie bedrängt worden
seien, liegt für den Herold nach den vorhergehenden Worten des
Chors nicht allzu ferne, und für eine derartige Situation (die sicher-
lich eine f^Xdf^n ist) gibt die Ueberliefernng einen angemessenen
406 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 11.
Äusdriick. — Weshalb V. 877 gfiQs$ in dem Sinne »eine solche Recht-
fertigang führt keinen Trag mit siehe falsch sein soll, ist nicht ein-
zusehen. Der Yerf. sagt, der Sinn der Worte sei »eine derartige
a»ijtp$^ birgt keinen listigen Anschlag in siehe und will daher
xqiqfsh schreiben. Damit wird, was bewiesen werden sollte, ohne
weiteres angenommen. — V. 1066 wird an oi fAÖhg Anstoß genom-
men and statt dessen yermatet tovfAov ^. Aber od ftoXtg mit der
Erklärung Schneidewins ist schon an sich ohne Bedenken and wird
überdies geschützt darch Ear. Hei. 334. — Choeph. V. 226 gno-
qäv statt hqav. Die Sparen von Orestes' Anwesenheit haben die
Gedanken der Elektra aaf ihn gerichtet, was sie in lebhafter länge-
rer Bede kand that; kann hiernach Orestes nicht sagen, sein . Bild
sei vor ihrer Seele emporgestiegen? and kann dies der Dichter nicht
mit den Werten idonug dgav i^i aasdrttcken? — V. 514 xivova^
statt upmif. Daß dvijusotov nd^og fttr denjenigen gesagt wird, dessen
Geschick ein dprjxsatov nd^og gewesen ist, der also gewissermaßen
den Gegenstand des nd&og bildet, ist eine Freiheit, für welche es
nicht an Analogieen fehlt. — V. 544 ^QOfAßtf t* Sikv^sv atfMt-
Tog »oipdv ydXa (S. 38), weil tfiXov ein »ziemlich müßiges Attri-
batc sei, fifi«ScF dem V. 531 voraafgehenden andaw zu wenig ent-
spreche, und der Aorist passender Weise erst mit V. 545 einzutreten
habe. Daß das Attribut ^iXov (mit Bezug auf den Säugling, ygL
y. 541. 513. 547 f.) müßiger sei als viele andere Epitheta der Dich-
tersprache, kann ich nicht zugeben. ifAeiiev, von der beim Sangen
bewirkten Vereinigung von Blut und Milch, ist ohne Bedenken, und
ebenso der Aorist, da die Verwundung das entscheidende Moment
ist. — V. 650 inavttS statt tS not näl, weil zu (kdX aid^^g ein
Verbum vermißt werde. Der Gebrauch von i^dV av&tg ohne Ver-
bum nach einer Interjektion ist bekannt; ihn nach einem Vokativ
für unstatthaft zu erklären erscheint willkürlich. — V. 770 verwirft
Schmidt mit Recht die Erklärung des Scholiasten (pQorstg cv = xal-
Q€$g. Aber seine Aenderuog f av r* svqiqukv ist überflüssig, denn
die Ueberlieferung gestattet auch eine andere Erklärung: vgl. die
Anmerkungen von Blomfield, Klausen und Paley. — V. 850 ndq-
«»j»' iliy^at t^ sv ^iXm tdv aryeXov: denn es komme weniger dar-
auf an, daß Aegisthos den ^iyog sich selbst ansehe, als daß er ihn
genauer befrage: ein iXiyxskv habe noch nicht stattgefunden, so daß
das Adverbium av nicht recht passend erscheine; endlich sei eine
Berücksichtigung der Mahnung iam naqsX&sXv am Orte. Die Mah-
nung wird berücksichtigt durch die That; daß es auch in Worten
geschehe, erscheint mir vollkommen überflüssig. Weshalb Aegisthos
nicht sagen soll, er wolle den Boten »sehen und befragenc (wenn
Schmidt, Kritische Stadien sa den griechischen DramatikenL Band 1. 407
auch nattlrlich das letztere die Hauptsache ist), verstehe ich nicht
ai endlich ist hier nicht Partikel der Wiederholang, sondern des
Gegensatzes: derselbe findet statt zwischen der genaueren Kenntnis,
die sich Aegisthos verschaffen will, und der Unklarheit, in der er
sich bis jetzt noch befindet. — V. 896 f. ßqVinv yala oüX. if. $iStQ.
ndXa$, weil das Trinken nicht gleichzeitig mit dem Schlammern des
Kindes stattfinden konnte. Dieser Einwand scheint mir kleinlich ; die
Zeit, während welcher das Kind an der Brost der Matter gelegen hat,
wird als einheitlich anfgefaSt — V. 931 ikBlimv statt noXX^v^
weil der Chor »einen Doppelmord nicht mit noXXd idfkctta bezeich-
nen kann«. Das that er aach gar nicht: vgl. die Erklärer. —
V. 1045 sdnotfikmg statt ihntwg: dieses schicke sich nicht f&r den
vorliegenden Gedanken, »in welchem aaf den Segen hingewiesen
wird, welcher die That dem Lande gebracht habe«. Ganz recht:
aber dies geschieht schon za Genüge im vorhergehenden Verse.
In sdnsuSg liegt eine Anerkennang der Klngheit and Gewandtheit,
mit der das Unternehmen ins Werk gesetzt warde ond in Folge
deren es, ohne aaf Hindernisse and aaf Widerstand za stoBen, aas-
geführt werden konnte. — Aehnlich verhält es sich mit dem AnstoB,
den Schmidt Eamen. V. 718 an ov Xaxaay nimmt, wofür er oi xcr-
Xm^ vorschlägt. Es komme hier, sagt er, daranf an, daft ApoUon in
seiner Eigenschaft als ikävthQ za blatigem Werke seine Hand biete;
die sich hierin offenbarende Entweihnng seines göttlichen Berafes
werde vom Chor verarteilt. Dieser Gedanke ist in V. 719 klar aas-
gedrückt; daß die Sache nicht zum Wirkangskreise des Gottes ge-
höre, wofür 0^ Xaxoiv ein ganz angemessener Aasdrack ist, dient
dazn, den Vorwarf za verstärken. — An der Stelle Eam. V. 753 f.
nimmt Schmidt, aafter den schon von Anderen geltend gemachten
Bedenken, aach den Anstoß, daß za tvm^i der Begriff /»mc fehle.
Allein yvmiki^ braacht nicht in dem Sinne von tp^g^o^ genonmien zn
werden; vgl. Paley. — Soph. AiasV. 324 erhebt Schmidt gegen
die Ueberlieferang den Einwand, daß es »hier nicht aaf eine Um-
wandlang eines edlen Menschen in einen unedlen ankommtc Aber
was ist an dem Gedanken anpassend : »wer sich undankbar zeigt,
hört damit aaf, ein edler Mensch za seine, vorausgesetzt daß er bis
dahin ein solcher gewesen. Diese Voraussetzung aber ist darum voll-
kommen am Platze, weil trotz der allgemeinen Fassung des Satzes
die Beziehung auf Aias unverkennbar ist. ytypBodu^ ist bekanntlich
von «ft^cr« öfter nur wenig verschieden: vgl. EUendt Lex. SophocL
S. 147 a. — V. 781 f. will Schmidt die Versanftlnge ntymek und
T$vuqoq mit einander vertauschen. Dies halte ich für eine Ver-
schlechterung. Steht nämlich zwischen 6 di und TiiuQo^ das ver-
40B QOtt. gel. Alz. 1887. $fr. 11.
bun finitanii so ist i Pronomen and Tsvhqoq wird epezegetisch bin za-
gefttgt; dies recbtfertigt sieb (znmal in einer Erzäblang) dnrcb den
Gebraneb des Epos. Weit anstößiger scbeint mir die Wortstellang
o <r €iMg ii SÖQug TevMQog [m xvl. — V. 1195 ist der Anstoß, den
Scbmidt an ids$isy nimmt (wofür er Stsvisv verlangt) gereebtfer-
tigt, wenn man, was offenbar ancb Scbmidt tbut, anter dem nstvog
dv^Q den Urbeber des trojaniscben Krieges yerstebt Allein bei der
Erklärang Wolff's ist Sdei^w ebne Bedenken. — Elektra V. 291f.
Wenn Elytämnestra die Elektra mit den Worten verwOnsebt »a«(S$
oAoio ikfidi & ix, yowv noti tmv vvv clnaXlcl^€$ap ol »ätm O^soi, so
ist der Sinn unverkennbar der, daß sie stets in der gleicben trost-
losen Stimmang bleiben, stets in gleiober Weise Anlaß zum Jammer
baben möge. Scbmidt, ancb bier die Worte allza sebr pressend,
nimmt Anstoß an to^^y weil gerade die lauten Klagen es seien, die
den TTnwilien der Klytämnestra bervorriefen, und will nov^av statt
^oo9K — V. 564 widerlegt Schmidt zwar die bei Sobneidewin-Naaok
stehende Erklärang von %d noUa, aber nicht die Hermannsche, fttr
welche die Bemerkangen von Partsob Physik. Geogr. von Griech.
S« 106 f. Anm. 8 zu vergleichen sind. Das von allen Herausgebern
aufgenommene no*pdg ist die Schreibung der ersten Hand des Lau-
rentianus ; wenn Schmidt ancb in dem Umstände, daß jttngere Hand*
Schriften no$v^g bieten und der Schreiber der Scholien des Laur.
nohvä^ in no$r^g geändert hat, ein Anzeichen fttr eine Korruptel er-
kennen zu dürfen glaubt, so wird ihm darin wohl kein Sachkundi-
ger zustimmen (er will toXfk^Q änotva statt no^vdQ tot noUä
schreiben). — Mit Becht bemerkt Schmidt V. 620f. stehe %ovwo dqä¥
und aiitxfiä nQclrfMux von dem Verbalten der Elektra überhaupt
Diesen allgemeineren Bezug kann aber Elektra ihrer Bede bereits
V. 618 geben. Der Anstoß, den hier Scbmidt an ngdaam nimmt
(dafttr 9Qcliio\ ist daher nicht gerechtfertigt. — Gegen die Ueber-
liefemng von V. 628 f. erhebt Schmidt einen doppelten Einwand:
nach den Worten nQÖg oQr^v i*9^QV ^^ ^^^ Erklärungsgrund des
Zornes, daß Elektra von der Erlaubnis frei zu reden Gebranch ge-
macht habe, eigentlich »nur angedeutet« und erst aus dem folgen-
den Satzgliede cid* inUnatuu nlmv zu entnehmen; dieses aber sei
^matt nachhinkend«, lieber letzteres läßt sich nicht streiten; daß
aber Elekra von jener Erlaubnis den ausgiebigsten Gebranch ge-
macht hat, stand dem Publikum noch in so lebhafter und unmittel-
barer Erinnerung, daß der Sinn der (in koncessivem Sinne stehen-
den) Worte ik8&6taa %tX. jedem klar sein mußte. (Schmidt will oiff
ifk otn ändern und gM&ataa zu odn inkttaacu ziehen, wobei das Asyn-
deton nicht angemessen erscheint). — Mehrfache Bedenken änßert
Scbmidt, Kritische Studien zu den griechischeD Dramatiken. Band 1. 409
Schmidt gegen im uslsim V. 632 ; die Frage sei bereohtigt, warum
Elektra mit solchem Eifer zur Darbringnng des Opfers auffordere;
zu befehlen habe Elektra nichts; ein derartiges Asyndeton verrate
an anderen Stellen eine gewisse Gemtttserregnng, Ton der hier nichts
zur verspttren sei; endlich seien es sonst immer sinnverwandte
Worte» die zu derartigen Verbindungen zusammenträten. Der erste
Punkt erledigt sich meines Erachtens dadurch, daft die Aufforderung
mit Ironie ausgesprochen wird, der zweite dadurch, daft »sl€vs$y
nicht vollständig unserem »befehlen« entspricht: vgl. H. Schmidt
Synonymik der gr. Spr. 1 S. 203 f.; von einer Qemtttserregung ist
an manchen der von Schmidt mit dankenswertem Fleifte gesammel-
ten Stellen (z. B. Aias 59) noch weniger wahrzunehmen als hier;
sinnverwandt endlich sind die zwei Begriffe doch auch an unserer
Stelle, insofern sie sich beide auf die zustimmende Einwirkung be-
zieheUi die jemand auf die Handlung eines anderen ausObt; daft die
Differenz eine gröftere ist als anderswo, ist zuzugeben, genUgt aber,
wie mir scheint, nicht zur Annahme einer Eorruptel (Schmidt hält
für das ursprüngliche im a*, iniilog ^s.) — 656 nimmt Schmidt an
ndü$w Anstoft und schlägt vor m^ Snaaov ^^av. Durch die Hin-
zuftigung von nächv will der Dichter die Elytämnestra , im Gegen-
satze zu dem vorhergegangenen schroffen Auftreten gegen Elektra,
ihre Liebe zum Oatten und zu den ihr nicht feindlich gesinnten
Kindern mit besonderem Nachdruck hervorheben lassen. Zur Athe-
tese von V. 653 f. liegt ein zwingender Grund nicht vor. — Die
Frage äq' i%H xailcDc; V. 790 ist meiner Meinung nach von Wunder
nicht richtig mit den Worten »nonne egregie tneeum actum estc
übersetzt worden; der Begriff »mecum« ist nicht ausgedrückt (an-
ders 816), und seine Ergänzung erscheint nicht geboten. Elektra
stellt die gegenwärtige Situation als schlechthin schmachvoll, in Wi-
derspruch mit der göttlichen Gerechtigkeit stehend, hin. nov xiA
%i9Bc9a$ taSta, n9v & alvtXv ml. fragt in ähnlicher Stimmung Phi-
loktet y. 451. Dieser bitteren Frage gibt Elytämnestra eine andere
Wendung, indem sie an Stelle des unpersönlichen Gebrauchs von
uaXm^ 9%sk den persönlichen setzt. Hält man diese Auffassung fllr
statthaft, so liegt zu Schmidts Aenderung iq* Sxm nalm^ kein Grund
vor. — y. 902 hält Schmidt ta'Aaira ftlr unstatthaft, weil Ghiyso*
themis nicht schmerzlich bewegt sei, und vermutet statt dessen so«
|ii}y« Allein aus Aristophanes sehen wir, daft in der attischen Um-
gangssprache sowohl die yokative tdhzy tdXmva wie die Nomina-
tive talaq %ala§9a nicht selten zum Ausdruck einer erregteren leb-
hafteren Stimmung dienten, auch ohne dafi dieselbe eine irgendwie
sobmerzUehe war. ygl. Pax 544. Av. 1260. 1646. Lys. 102. 910.
410 Gott. gel. Anz. 1887. No. II.
914. Thesm. 559. Ban. 559. 926. Ekkl. 124. 242. 658. 919. Plal
706. 1055. (Soph. Oed. Col. 318). — Ud verständlich ist mir die Be-
hanptungy in V. 1054 sei durch die Hinzufttgnng von xal »die Vor-
aussetzang angedeutet, daft der Gedanke an einen Versuch wirklich
aufgestiegen oder Gegenstand einer Erwägung geworden sei«, wäh-
rend dies bei der vorgeschlagenen Aendernng ndqta statt na\ %b
nicht der Fall sein soll. — V. 1036 ist bei ngofAti&ta^ cov die Assi-
milation nicht streng logisch, läßt sich aber, wie mir scheint, da-
durch rechtfertigen, daß der Gedanke vorschwebt, das VerhalteUi
wozu Chrysothemis die Elektra veranlassen wolle, sei nicht ehrlos,
sondern ein solches, wie es der nqo^fi^ia^ die sie für Elektra hegt,
entspreche, d. h. ein solches, bei dem diese nicht dem Verderben und
Tode ausgesetzt sein werde. Schmidt hält dies fttr unmöglich und
schreibt daher 1035 lic äuf^tag Sxp — Ebenso wenig vermag ich
den Anstoß, wegen dessen Schmidt V. 1066 (pigovaa vslx^ schrei-
ben will, zu teilen. Der Chor erklärt das Verhalten der Chry-
sothemis gegen den toten Vater für pietätlos, wirft ihr vor, die
Elektra im Stich zu lassen und prophezeiht ihr Bestrafung; man ist
hiernach, wie mir scheint, nicht berechtigt, den Ausdruck ivetdij für
unpassend zu erklären. — V. 1209 f. hat die Störung der Sticho-
mythie Analogieen : vgl. Wolff, oi (p^f$' idcsiv steht nicht wie Phi-
lokt 817, sondern es ist zu idasiv das Objekt mit dem Infinitiv
[S%nv\ dessen Begriff sich aus der Situation von selbst ergibt, zu
ergänzen: vgl. Oed. Col. 1135. «a^^^c wird von den Herausgebern
richtig erklärt. Damit dürften wohl die Gründe zu Schmidts ge-
waltsamer und wenig ansprechender Aenderung OP. ool 9ijf^\ iaC9¥.
ai ndl$v Xiym. iki&B^* HA. 'OgSetay t^t; a^g »al tnsQij<fOfka$ ti^qag
wegfallen. — V. 1296 bestreitet Schmidt mit Becht Wolffs Erklärung
von ovvm: aber die Auffassung von Nauck und Campbell erscheint
nicht unzulässig (die Ellipse ist nicht härter als z. B. die nach %l di
Oed. Tyr. 1056), so daß zu dem freilich bestechenden Vorschlage von
Blaydes und Schmidt (oqd) eine zwingende Notwendigkeit nicht
vorliegt. — Unklar ist mir der Anstoß geblieben, den Schmidt Oed.
Tyr. V. 296 an dqüvu nimmt und wegen dessen er dqäv u schrei-
ben will. (»Wenn jemand die That ohne Furcht begeht, so läßt er
sich auch durch ein Wort nicht in Schrecken setzen c) — 594 oi y^Q
statt ot/iiM. Aber ein derartiges Asyndeton ist wiederum keineswegs
auf erregtere Stellen beschränkt ; vgl. Ziel de asyndeto apud Sophoclem
S. 9. — In dem Scholion zu 635 ist ifklovs^noi^tB^ nichts weiter als
Erklärung von US^a mvovvtsq uaud: weder dieses Scholion, noch (waa
auch Schmidt anerkennt) der Fehler im Lanrentianus geben zu der
sprachlich sehr bedenklichen Aenderung Iöm PHuoimg nand eine
Schmidt, Kritische Stadien zn den griechischen Dramatikern« Band 1. 411
BerechtigQDg. — V. 676 verlangt Schmidt den Begriff des Ver-
kenneng bestimmt aasgedrttckt and hält die Aenderang ttol fkip douiir
d Ho tog ftlr »fast nnabweisbarc. Aach hier erseheint mir seine
Behandlangsweise allza peinlich; ein Verkennen ist immer aach ein
Nichtkennen, nämlich ein Nichtkennen der wahren Eigenschaften
eines Menschen. Der Dichter konnte anbeschadet der Deatlichkeit
den weiteren Begriff statt des engeren setzen. Aach der Gegensatz
zwischen den beiden Satzgliedern war für jeden einigermaßen den-
kenden Hörer anyerkennbar. — 937 soll geändert werden Ijöattd
/ iv ndSg cT oix] ^f*' dcxdXXot cT lamq. Soviel ich sehe, ohne
irgendwie genflgende Gründe. Wenn der Bote V. 934 den Gatten
der lokaste erwähnt hat, so kann er denselben doch 939, nachdem
er nnr zwei Verse dazwischen gesprochen hat, ohne alle Zweideatig-
keit darch aitov bezeichnen. Weshalb es bei der Ueberlieferang
AnstoB erregen soll, daß nicht schon vorher speciell die Freade der
lokaste hervorgehoben ist, verstehe ich nicht. Daß das Ableben
von Oedipns' vermeintlichem Vater anch die Teilnahme der lokaste
erregen werde, darf, nach Schneidewins richtiger Bemerkang, der
Bote voranssetzen. Daß sich endlich in V. 937 die Wirkung der
Partikel äv aach aaf das unmittelbar vorhergehende ^do^o erstreckt,
läßt sich darch analoge Stellen hinlänglich rechtfertigen. — 1013
verlangt Schmidt tovto dij f*' del tpoßst oder (da ihm dtt »nicht recht
zusagte) tovtd f»' itrti dtj (poßovv^ weil der Sinn der Stelle »einer
Beziehung zur Zukunft widerstrebec. Durchaus nicht : denn Oedipns
wehrt den Gedanken des Boten ab, daß von nun an Eorinth dauernd
oder zeitweilig sein Herrscher- und Wohnsitz sein werde: s. 939 f.
1006 f. 1010 ff. Fttr das Präsens neben stg äst vgl. z. B. Eur. Or. 207.
— V. 1286 ^onfi statt ^oXfl, Schmidt fragt: »wie kann derChor-
f&hrer jetzt an einen Ruhepunkt in dem Leiden des Oedipns den-
ken?«. Die für mich vollkommen befriedigende Antwort hierauf er-
teilt die Note Wolffs. Wenn hiemach der Chor eine oxoXij glaubt
annehmen zu dttrfen, so kann er auch fragen, von welcher Art die-
selbe sei. — V. 1292 ndvtmq d* dgmr^q statt ^o»>9( r' fkiy%o$.
Ich glaube, daß ^cifM^ von Sophokles hier weder in der Bedeutung
»Sttttzec noch in der Bedeutung »forte auxilium« gebraucht ist, son-
dern im eigentlichen Sinne. »He needs some one to lend him
strength and guidance, for his calamity is greater than can be
bomec Übersetzt Campbell. — Antig. V. 1214 ist aaiv$$ allerdings
ein auffallender Ausdruck; derselbe findet indessen darin seine Erklä-
rung, daß es die Stimme des geliebten Sohnes ist, die an
Kreons Ohr dringt. Schmidt (S. 275) hält fttr das ursprtingliohe
nmddg /$? Udvs^ 9&6rrog. — Oed. Gol. V. 326 dt^^ i/m statt
412 QOtt. gel. Abs. 1887. Nr. 11.
SsfkßQoy. davuifop ist daram bereobtigt, weil Ismene die Jabre, die
sie znsammen mit Vater and Scb wester in Tbeben verbracbt bat
nnd die von der Gegenwart dnrcb einen längeren Zwisebenraam
getrennt sind, als zeitlicbe Einbeit znsammenfassen und der jetzt
eingetretenen Wiedervereinigang gegenüberstellen kann. Daß das
barmlose bei Sophokles bäofige Wort bier »bOcbst prosaisch klinge<|
wird dem Verfasser scbwerlicb jemand zagestebn. — V. 907 yiy f
ovaiUQ avtÖQ ^slq rdpMv^ bI<s^19b y^v statt fot)^ v. slaijX&* s^mv.
Der Anstoß, den Schmidt an den Worten toi^g vofAOvg B%m¥ nimmt,
durfte sich erledigen, wenn man den Aasdrack in demselben Sinne
faßt, in welchem sich z. B. Ai. 548 iv voftotg na%q6g findet Schlechte
VQikOk^ in diesem Sinne, hatte Kreon, als er ins attische Land kam,
wie sich durch sein Verfahren gezeigt bat Fttr den folgenden Vers
ist dann ro/io», was kein Bedenken bietet, in etwas anderem Sinne
za nehmen. Die Ergänzung des lokalen Begriffs za ihs^X&B ist
ebenso selbstverständlich wie Oed. Tyr. 319 oder EI. 685. 700. —
V. 1344 IvfMpiQovwg statt \vv&iXov%og, weil letzteres nnr »eine Be-
zeichnung der Geneigtbeitc enthalte und dies zu wenig sei. Daß
aber in ivv9ilshv mehr als eine bloße Geneigtheit liegt, zeigt z. B.
die Anwendung des Wortes Arist Av. 851. — V. 1381 hält Schmidt
ddin^ika mal ^qoywq für falsch, weil »eine derartige Verbindnngc
(soll wohl heißen »diese Verbindung«) sich sonst nicht finde und
weil auch daraus, daß Bergk V. 1382 mit Recht d^q6vo^ in voikOkg
geändert habe, auf eine Verwechselung der beiden Versbälften zu
schließen sei. Er vermutet daher ddfkovg statt d^övovg. Die Ar-
gumentation bat fttr den nichts überzeugendes, der Bergks Konjek-
tur fttr unberechtigt hält und an dem einmaligen Vorkommen einer
'Verbindung, fttr die es an Analogieen nicht fehlt, keinen Anstoß
nimmt — Der Sinn von Trach. V. 1131 soll nach Schmidt sein:
»du verkflndigst ein Wunder, woran man nicht glauben
kannc. Da aber der letztere Gedanke, wie er mit Recht bemerkt,
in dkd nanmv nicht liegen kann, so vermutet er statt dessen d$d
neviSr. Es ist natürlich, daß die Nachricht von dem unerwarteten
und seinem Anlasse nach zunächst noch unverständlichen Ereignisse
den Herakles in Staunen versetzt und er daher dasselbe als ein ttqag
bezeichnet Aber kein Grund liegt fttr ihn vor, die Angabe rundweg
fttr eine Lttge zu erklären. Der Zusatz did xcutmp bezieht sich auf
das unerwünschte der Nachricht: Herakles ist, wie wir sogleich aus
seinen nächsten Worten erfahren, zornig, daß er nicht selbst die
Strafe vollstrecken konnte. — V. 1201 f. steht in freier Weise mit
persönlicher Wendung, ficyod & iym ml, statt »die von mir veran*
laßte Strafe wird dich erwarten« (vgl 1239 f.), und dqatog steht nn-
Meyer, Griecliische Grammatik. Zweite Auflage. 413
gewöhnlich, aber ohne Verletzung eines Sprachgesetzes, snbstantivisch.
Hält man diese beiden Freiheiten ftlr statthaft, so ist die Stelle ohne
Anstoft. nai viq&sv äv ist mit dem folgenden zn verbinden; nai ist
einfach dämm hinzugeftlgt, weil der strafende Rächer einer Misse-
that in der Regel ein Lebender ist. Schmidt will schreiben : si di
f*^y daifkfAV & Udo xäxmd'BV Sv mX, — V. 1204 wird onoXa
dnrch Stellen wie Oed. Tyr. 1076 oder Oed. Col. 1347 geschützt;
der Sinn des einfachen Relativs nnd der Qaalitätsbegriff sind darin
vereinigt. Die ȟndentlichkeitc, wegen deren Schmidt inoXa in
& fsoi YB ändern will, war für den einigermaßen anfmerksamen HO-
rer nicht vorhanden. — Pbilokt. V. 440 schlägt Schmidt vor
yhdatSfi di ds^vov xal t/ß6g>M^ ti viv »VQst oder xal q>6gfO$a§ vvv
niQ$. Mit Unrecht erklärt er das Prädikat aoipov in der Schilderang
des Thersites fOr unpassend, r^ciaoy dstyog ual ao(p6g gibt das ho-
merische i^yvg ^r^Q^^i B 246 wieder: die Neueren halten diesen
Ansdruck teils für ironisch, teils für das Zugeständnis eines wirkli-
chen Vorzugs ; jedenfalls hindert nichts, dem Sophokles die letztere
AufTassung beizulegen. Uebrigens wissen wir auch nicht, wie Ther-
sites in der Aethiopis geschildert war: Sxa^qs 2og>o*l^g tu imtt^
Mmhf. Daß die beiden syntaktischen Singularitäten der Stelle keine
zwingenden Orflnde zur Annahme einer Eorruptel sind, stellt auch
Schmidt nicht in Abrede.
Halle, im März 1887. E. Hiller.
Meyer, Gustav, Griechische Grammatik. Zweite Auflage. Leipzig, Druck und
Verlag von Breitkopf & Härtel. 1886. XXXVI nnd 652 S. 8^ [A. u. d.
T.: Bibliothek indogermanischer Grammatiken. Band in.]
Der Titel »Grammatik«, welchen dies Werk ftthrt, ist in einem
sehr eingeschränkten Sinn zu verstehn, denn es fehlt ihm die Lehre
von der Betonung, von der Wortbildung und von der Syntax der
griechischen Sprache. Aber trotzdem stehe ich nicht an, es für die
beste griechische Grammatik zu erklären, welche wir haben. Die
Grammatiken Buttmanns, ErOgers und auch Etthners Oberragt es
weit, weil es, und zwar im allgemeinen in beifallswerter Weise,
komparativ gehalten nnd auf den griechischen Inschriften aufgebaut
ist, nnd vor derjenigen Brugmanns, die allerdings sehr viel, aber
darum durchaus nicht jedem etwas bringt, hat es reicheres Material,
grOftere Grttndlichkeit, bessere Darstellung und weniger jnnggram-
matische Einseitigkeit voraus. Frei von der letzteren ist es aller-
dings durchaus nicht, aber dieselbe tritt nach meiner Empfindung
4T4 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. II.
bei dem Hrn. Verfasser nicht in verletzender Weise hervor and ist
bei ihm offenbar nicht Folge eines bösen Willens, sondern einer wis-
senschaftlichen Gewöhnung, die mir ganz verständlich ist. Die
Jnuggrammatiker folgen eben alle emporgehobenen Hauptes ihrem
Stern and anterscheiden sich nar dadarch von einander, daft die
einen von ihnen — ond hierzu rechne ich den Hrn. Verfasser —
den ihnen entgegenkommenden einen Blick zuwerfen und aus dem
Wege gehn, die anderen aber diese anrennen.
Von der ersten Auflage dieses Werkes unterscheidet sich die
vorliegende zweite durch eine Menge von Aenderungen und Zu-
sätzen und, in Folge dessen, durch eine erheblich größere Seiten-
zahl (552 gegen 464 S.)- Wer die Arbeiten des Hrn. Verfassers
kennt, wird hiernach nicht zweifeln, daft diese zweite Auflage er-
heblich wertvoller ist, als ihre, übrigens auch schon sehr anerken-
nenswerte Vorgängerin, und ich freue mich um so mehr, dies be-
stätigen zu können, je häufiger mir die Darstellung des Hrn. Ver-
fassers Anlaft zu Ausstellungen gibt. Die Fortschritte, welche die
Wissenschaft in den letzten sechs Jahren gemacht hat, sind in ihr
fleißig berttcksichtigt und hin und wieder durch selbständige Bemer-
kungen vervollständigt und vertieft, und mancher Irrtum der ersten
Auflage ist in ihr ausgemerzt. Das Lob, welches Gollitz der letzte-
ren gespendet hat, daft sie nämlich »im allgemeinen ein getreues
Bild des jetzigen Standpunktes der griechischen Grammatik lieferte
(Beitr. z. K. d. ig. Sprachen VII 175) darf demnach dieser neuen
Auflage in erhöhtem Mafte gezollt werden.
Indem ich mich nun den Einzelheiten des Werkes zuwende, be-
tone ich, daft ich nur einen Teil dessen, was ich dazu zu bemerken
habe, hier zur Sprache bringen kann, und daft der Widerspruch,
welchen ich dem Hrn. Verfasser im folgenden wiederholt entgegen-
stellen werde, teilweise nur durch die Verschiedenheit seines und
meines principiellen Standpunktes bedingt ist und insofern nicht als
Tadel aufgefaßt werden darf. Auf diese Verschiedenheit selbst ein-
zugehn, halte ich für unnötig, da ihre Diskussion erhebliches neues
kaum zu Tage fördern würde ^), und da die Lehrsätze der jung-
grammatischen Richtung in dieser Grammatik nicht in den Vorder-
grund gestellt sind.
1) Im Vorbeigehn möchte ich mir nur die Frage erlauben, warum es im Go-
tischen .wohl ßanuh, ßammuh, ßatuh, aber z. B. hoanoh, hoammeh^ hvarjatoh
hdftt. Man wird erwidern, dai fanuh u. s. w. spätere Formationen seien, und
ich will das gern annehmen; aber dann finden sich doch altertümlichere und
jüngere Qestaltongen einer grammatischen Bildongsweise in einer und derselben
sprachlichen Periode neben einander.
Meyer, Griechisofae Grannnatilc. Zweite Auflage. 415
Bei der BeBprechung der YokalreibeD (S. 4 ff.) Termisse ich
aaBer einem Hinweis auf die fleißige Arbeit Bloomfields Americ. Jour-
nal of Philology I 281 (»The 'Ablaut' of greek roots which show
variation between e and oc) die Würdigung von dv^q: dy^^vmq^
igiim: dfjKp-^Qktnog, oQog: dnQ'tioQf$a u. s. w. (vgl. ved. an-anuhrtya^
lit skdn-skoniai n. s. w.). Der Ablaut, welcher in solchen Fällen
erscheint und bekanntlich vollkommen geregelt ist, beruht offenbar
je auf dem betreffenden kurzen Vokal. Ob bd-äroQ fttr die Zurttck-
ftthrung von äym auf eine starke Wurzelform by (S. 52, 62) zu ver-
werten ist, erscheint hiemach zweifelhaft.
S. 12 (Anm. zu § 11) heiftt es: »Nasalis und Liquida sonans
stehn von Haus aus n u r in unbetonten Silben c Vielleicht ist die-
ser Satz richtig, vielleicht aber auch nicht. Da nämlich sowohl ein
Nasal wie eine Liquide den Ton tragen kann, so ist die Ursprttng-
lichkeit von z. B. indogerm. v^qos durchaus nicht undenkbar. Ein
Lautkomplex vdqos konnte an drei Stellen betont werden: vilqasj
veTqos (vgl. lit mlkas), vdqos. Aus vePqos und velqös mußte sich
aber gleichmäßig vlqos ergeben^).
An derselben Stelle wird TSKtalyen aus ^uxtnioS erklärt (vgl.
S. 14, 23, 456). Ich habe mich dagegen schon anderswo (Beitr. z.
E. d. ig. Sprachen X 72, vgl. das. VII 73) ausgesprochen und will
diesen Widerspruch hier etwas ausführen. Man vgl.:
fuatyu ßaqivm \ {^nkavim *ßaqvvim
intäva
ivm ßaqivm \ i^ntavi» *ßaqvvim
Iva ißdq^va f ==^ { *imct¥Ca *ißaqwaa
1) Beiläufig mögen hier ein paar andere den indogerm. Accent betreffende
Bemerkungen Raam finden. 1) Die vedischen Verkürzungen und Dehnungen stehn
teilweise vielleicht mit der indogerm. Verschiedenheit von Akut und Gircumfler
in Zosammenhang. Man beachte : paurd (Voc. Dual., gr. t»), avasU (Instr. Sg.,
lit i), pardkdat (Abi. Sg., gr. »[c]), gaam (Acc. Sg., gr. ßwp), dettnaam (Gen. P).,
gr. »r), ntitf (gr. vvH), dhartdü (wie A. Kuhn las) (Gen. Sg., lit Sa). 2) Die Re>
gel Bechtels, daß die urgerm. Verschärfung von / vor unmittelbar folgendem in-
dogerm. Accent eingetreten, bei unmittelbar vorausgehenden unterblieben sei
(Getting. Nachr. 1885 S. 235), wird von Brate Beitr. z. E. d. ig. Sprachen Xm 33,
wie mir scheint mit Becht, auf den Kopf gestellt. Nehmen wir an, dafi nicht
got priJB nach ßreis, sondern an. priggja (ahd. ihriio) nach ^9ggja (as. iueio^
ahd. stftt^'o) sich gerichtet habe, so erhalten wir urgerm. fr^jt = gr. iqmp^
lit trijfi (ved. trlnim) und urgerm. tüa{dd)Je = ved. dväyo9 (gr. dvoZt^, lit dveju),
Tva{dd]fi wäre hiernach ein alter Gen. Dual., der die Endung des Gen. PI. an-
genommen, aber seine ursprüngliche Betonung bewahrt hat. 8) Der Name Frigg
beweist nichts für Bechtels Annahme, da es skr. priyd gegenftberstehn kann, wie
an. ßur$ dem ahd. durri (Grimm Mythol. ' S. 488), B6act Bon, 9oa»y dem A^\
^pf. Der >- von Wheeler und Prellwitz (Gott. gel. Anz. 1886 S. 760) ftbrigens
jBUi Becht bestrittene — »Nominalaccent« kam eben auch im Germanischen vor,
4li Gatt. gel. Am. 1887. Nr. U.
bei dem Hm. Verfasser nicbt in verletzender Weise hervor nnd ist
bei ifam offenbar nicbt Folge eines bösen Willens, sondern einer wia-
senschaftlichen GewObnang, die mir ganz verständlich ist. Die
Jouggrammatiker folgen eben alle emporgehobenen Hanptes ihrem
Stern nnd nnterscheiden sich nnr dadnrch von einander, daft die
einen von ihnen — and hierza r"»*-"» '-^ '*"" ""• Vi.rf<.<ui«i- _
deo ihnen entgegenkommenden ein
Wege gehn, die anderen aber diest
Von der ersten Auflage diesf
vorliegende zweite durch eine M<
Sätzen and, in Folge deasen, dnr
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kennt, wird hiernach nicht zweife
heblich wertvoller ist, als ihre, Hb
Denswerte Vorgängerin, nnd ich i
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fassere Anlaft zu Ausstellungen gi
Wissenschaft in den letzten sechs
fleiftig berücksichtigt nnd hin und
fcnngen vervollständigt und vertieft
Auflage ist in ihr ausgemerzt. Dai
ren gespendet hat, daft sie nämli
Bild des jetzigen Standpunktes dei
(Beitr. z. K. d. ig. Sprachen VII 1
Auflage in erbShtem UaBe gezollt
Indem ich mich nun den Binz<
tone ich, daB ich nnr eiuen Teil di
habe, hier znr Sprache bringen k
welchen ich dem Hrn. Verfasser in
stellen werde, teilweise nnr dnrct
meines principiellen Standpunktes 1
Tadel Bufgefaftt werden darf. Auf
zugehn, halte ich fUr unnötig, da
kaum zu Tage flirdem würde *),
grammatischen Richtung in dieser
grnnd gestellt sind.
1) Im Torbeigelin möchte tcli mir ni
tisclien .TOhl ßanuk, ßammuh, ßatuh,
heilt. Hui vird erwideni, dftt famuh
iah will du gern umehmen; ftber d&
jüngere Qeataltnngeii einer gramm&tiach
■prachüchett Periode neben einander.
Meyer, Griechische Qrammatilc. Zweite Auflage. 417
ZU erklären und anzanebmen, daA der AnBgaDg der letzteren den der
ersteren in großem Umfange verdrängt habe (?gl. as. dagas, dages n. a.).
Bei inta-y lat Odin- (S. 25) wäre wobl aacb Benfey Qnantitäts-
▼ersebiedenbeiten V^ 1 S. 16 ff. zn erwäbnen gewesen.
Zu S. 25 § 21 nnd S. 419 verweise icb auf Mttller Fragm. bist,
graec. IV 478: >lyto$ %&¥ ^Imvmv . . • . %d inofkarw v ipvldnov(A€
(sc. in nsno$iapta$, ysyspiartai). Dies -cn^tai entspriebt dem activ.
'oyu (•6(r»), wie -aiiM dem aetiv. -au (ätu). -avtak, ^vtvu sind nur
zeitlicb von -atuh, •au verschieden und zwar jünger als diese. Die
letzteren stammen ans der Zeit, in welcher das thematische a des
Perfekts*) noch Schwä war (also -«» =: -"-v», -ata* s= -''-kto*), die
ersteren aas derjenigen, in welcher dasselbe bereits zum volltonen-
den a geworden war (also -am ss -a*f^i, -avsa* ss -a-yfca). —
Daft ioh| obwohl kein Junggrammatiker, die Zurttckfitbrung von
l-M* auf idg. |-iUi, von i-äOh auf idg. s-^i ') nnd des optativiscben
-«•ono auf "i/^ für Verstöfte gegen die Lautgesetze halte, bemerke ich
nnr beiläufig.
Das a von f^efirM, tQätpmy tqä%m^ fftQcl^m wird S. 27 fär »not-
wendig hysterogen« erklärt, »da den nur mit dem thematischen Vo-
kal gebildeten Präsensstämmen e zukommt«. Seine notwendige Kor-
rektur erhält dieser Satz durch S. 443 § 499 B), wo sich der Hr.
Verf. nur etwas ansf&hrlicber ttber die s. g. VI Eonjngationsklasse
hätte aussprechen sollen.
Was r^ und r^ betrifft (S. 30), so entspricht das erstere dem
skr. ha, asl. £e, altlit. ge^ das letztere dem skr. Ai, lit. prenft. gi\
skr. gha ist gleich avest 9a(-/), asl. go, altlit. preuft. ga. Zweifelhaft
bleiben hiemach nnr german. -%, ^a-, abd. -gi *) nnd lit gu.
Unter »unregelmäftige Vertretung von o« (S. 31), wo ich die
an anderer Stelle erwähnten Wörter ißdtfMJuovta^ figrarw vermisse,
heiftt es im Ansohlnft an das pampbyliscbe twigüömwi »Esl. proti
1) Nach dem Hm. Verf. S. 481 § 551 freilich »ist das Perfektom Ursprung«
lieh eine unthematische Bildungc nnd »im Activum durch Eintritt eines analo-
gisch entstandenen -a- Alteration des ursprünglichen Verhältnisses ;eingetretenc.
Wer aber kein Analogieschw&rmer ist, wird dem einen nackten Widerspruch ent-
gegensetzen und das perfektische a mit dem entsprechenden skr. i und german.
u identifideren.
2) U[» ist vielmehr von einer Basis /[«]«- ans gebildet, die bereits von Fick
mit an. tru- identificiert ist (Beitr. VU. 171 f.), und auf welcher auch das dor.
Particip kriTMi und 1«^, Ion bei Herodot beruhen. Verschieden von dieser Basis
sind l[<r]«- in Up (skr. Uam) und l[f]a-, Iv- in Iftf-d« (lat. era»),
8) —ffi »ecce« Holtsmann Isidor 15, 25. 26. • für • wie in den einsilbigen
yt6, ick, miehf
«Ml. gel. Ami. 1SS7. Hr. 11. 80
418 GAU. gel. Anz. 1887. Nr. 11.
It pari- ambr. pur- scheioen anf o zn weisen. EigeDtttmlieh ist lit.
presa gegen, wieder, lett. pretti^ n. s. w. Lit prese liegt aber von
lett. pretij asl. proü himmelweit ab , and das letztere läfit sich nach
Ausweis seiner slavischen Reflexe nicht anf *porti zartlckftthren«
Zu vno und ina- (S. 33 Anm. zn § 26, S. 63 Anm. 2 S. 74 [wo die
unrichtige Proportion «anf: ua%d &= vn6: ina-'^) gesellt sich jetzt
die ionische Form inv^ vorkommend in der in den Notizie degli
scavi com. all' academia dei Lincei 1884 p. 352 ff. ^) veröffentlichten
und behandelten kymaeischen Grabinschrift: HVPVT^IKI^IN^ITOV-
TOI^NO^HVPV . • . . — Wie diese Form und änv oder «an; zu
erklären sei, weiß ich nicht, aber jedenfalls ist sie sehr wertvoll und
berichtigt manches, was über xatd^ xa%i u. s. w. (vgl damit lett lit.
sai lit su^ lit gai gu u. s. w.) gesagt ist
S. 37 § 32 war neben apyiav das S. 506 erwähnte im&Oar
u. a. (Daniel Beitr. z. E. d. ig. Sprachen VI 246) zu nennen.
S. 40 Anm. 1 heißt es: »Sie [sc. die Wurzelformen nk^, ng^i,
fQfl u. s. w.] sind nach der gewöhnlichen Ansicht durch Metathesis
aus solchen Wurzeln entstanden, wo ein kurzer Vokal zwischen der
Explosiva und dem Sonanten steht, z. B. nl^ aus nel. In den mei-
sten Fällen müßte die Metathesis bereits idg. sein, wie bei nX^ ngti
yvif %Xfi tQ^. Die Annahme der Metathesis macht nicht unbedeutende
Schwierigkeiten; deshalb hat Brugmann in einer eingehenden und
sorgfältigen Erörterung MU. 1, 1 ff. diese Erklärung durch eine an-
dere zu ersetzen gesucht, nach welcher 17 ein an die schwache Wur-
zelform {nl nX) angetretenes Suffix wäre«. Ich verweise dem gegen-
ttber nicht sowohl auf meine Auseinandersetzung 6QA. 1879 S. 670 ff.,
und auf Fick das. 1881 S. 1425 ff., als auf Benfey Kieler Monats-
schrift 1854 S. 34, OGA. 1865 S. 1379, Gott Nachr. 1873 S. 403.
Ein Junggrammatiker, der diese Aeußerungen Benfeys liest, wird
zugeben müssen, daß »der Leipziger Sprachforscherkreis von 1876
und 1877« doch wirklich einiges von auswärts hätten lernen kön-
nen. Brugmanns Suffix a begegnet außer an den von ihm genann-
ten Stellen übrigens auch bei Justi Handbuch S. 366 § 113 a).
S. 54 ist gesagt: »Da dies -*a in auffallender Weise mit dem
-i Acc. 'im gewisser altindischer Femininbildungen sowie mit den
übrigens als ';a-Stämme flektierenden Nominativen auf -I im Germa-
nischen und Slavolettischen übereinstimmt, was zuerst Sievers, Paul
und Braune's Beitr. 5, 136 ff. hervorgehoben hat . . .c Sievers zu-
erst hervorgehoben hat? Wer nichts von der Sache versteht, wird
1) Jetzt auch von Bechtel Die loschriften des ionischen Dialekts No. 3 a.
TOVT^'I halte ich nicht für das Adverb «otmi;, sondern f&r Dat Sing, «s «r^ijr-
vgl. htov&a Bechtel a. a. 0. No. 18 Z. 17.
Meyer, Griechische Grammatik. Zweite Auflage. 419
hiernach gewiB annehmen, daft vor Sievers und seineu Freunden
Überhaupt noch nichts nachgewiesen ist Ich verweise beispiels-
weise auf Ebel E. Zs. VI 214, L. Heyer das. S. 386, Schleicher
Formenlehre d. ksl. Sprache S. 168 Anm.
Die Annahme, daft ufkäam, no$^<rm aus ^ufkäjeamy *nouJ€C» ent-
standen seien (S.59), ist durch die Schrift von E. F. Johannson De
derivatis verbis contractis linguae graecae, Upsalae 1886, jetzt hof-
fentlich ans der Welt gebracht.
In lo(ppid$aj lo(prtg steht o nicht für a (S. 64), sondern für v,
d. h. diese WOrter sind »= XvjyUMy lv%¥iQ (Moritz Schmidt E. Zs.
IX 366).
Die Etymologie *Bqi>vvvi = ai. saromyu- (S. 67) hätte auch nicht
mit einem Fragezeichen angeftihrt werden sollen. Wohl aber konnte
auf die etwaige Beziehong von ^Eqtvvvq zu dem maked. ^Aqdvufh
(Legerlotz E. Zs. VIII 418, Fick das. XXII 200) and osk. Jceri armtik[a%\
(Bttoheler Osk. Bleitafel S. 6, Bugge Altit Stud. S. 5) hingewiesen
werden.
S. 69 vermisse ich unter den dialektischen Belegen für i »s «
lakon. d$ffovQa (erwähnt S. 103 und S. 199), tlg^og' &4Qovg. KQ^ng
Hesych und auch das S. 130 Anm. zu § 115, S. 198 Anm. zu §
193 angeftlhrte bOot. nQ^ar^Ug.
Weshalb S. 73 bei der Besprechnng von nvnXog der unvermeid-
liche Osthoff, nicht aber Sievers PBr. Beitr. V 149 und Collitz Beitr.
z. E. d. ig. Sprachen III 209 Anm. citiert sind, verstehe ich nicht
0. Curtius' Erklärung von voaog voviTog ist nicht nur sehr zwei-
felhaft (S. 90), sondern unrichtig. Novüog^ att. voaog steht für
*[&\popwfog und gehört zu an. snauät »stripped, bereft, poorc, sney^
(KUgr »destitotec, nhd. schnöde (vgl. uXovkgi skr. ^ont, »oJ^, n^X^:
an. hoM und Beitr. z. E. d. ig. Sprachen VII 65 f.).
S. 105—106 wäre es gut gewesen, l&wtn^ Collitz Sammlung
No. 41 (Beitr. z. E. d. ig. Sprachen VI 71) als inschriftlichen Be-
leg ftbr kypr. o statt v anzuführen.
Zu • fttr V (S. 106 f.) trage ich nach: irffMr** X^Hc nvq$vog ....
(M. Schmidt E. Zs. IX 365) und Uft^ikaxog Rhein. Mus. XXXV 358.
Zweekmäftig wäre es wohl gewesen, auf aUufAvautg u. s. w. S. 75
zu verweisen. — Ist aha richtig und steht es fbr crtwo, so entspricht
ihm genau lett. ßüka.
Allzu lückenhaft ist § 98 »prothetische Vocalec. Oar nicht be-
legt ist hier die Prothese vor y : dvfJQ, oyndog ^). Ferner sind gar
1) In hrkt, lp9fta und Srv| ist nicht Prothese angenommen, sondern ivpia
ist auf ein *hwn^ *Snwn inr&ckgef&hrt (S. 879)« und Iro^, ipvf (nicht aber
hrim) sind in § 97 d) »Vocalentfaltnng zwischen Nasal und Gonsonantc (welche
ich gftnilich leugne) untergebracht.
80*
420 O^tt. gel. Ans. 1887. Nr. It.
nicht erwähnt die — wirklichen oder scheinbaren — Fälle des ä-
nnd f-Vorschlags (vgl Froehde Beitr. z. E. d. ig. Sprachen VII 327 ff.).
Endlich vermisse ich die Beispiele: danig^ dtnaXvCm (neben (ftaivC»),
dfHQdfnm and datQamj (neben (fUQomj^ ütqond), danJQ, äfkaqtdvm
(neben ikwqoq\ dfidm, dqnal^, dqh&^oq^ iqi&m^ Sqswa^ iqc&i^y ^Qf^i
dlandim (neben XandJ^m), dlii^»^ dhutt^, dXiym^ dlrty^tfiog, iXfk§pg
(lif$iP&sg' SXfHy&eg. nd<p§o§ Hesych), dpdm, äpMm, dpi^m^ dpiffu^
dpta&mj eh^tg (got. vans), svldna^ dystq^^ fysigm, o<nhri {(nlqrytg)
n. a. Einige, vermatlich auch hier anznschliefiende Wörter, wie
dvM, ik&etp^ hat der Hr. Verf. in anderem Sinne besprochen. VfHpa-
log, das er nicht erwähnt hat, und ovofAa, opvlS haben ihren vorge-
schlagenen Vokal schon in vorgriechischer Zeit erhalten. In Hin-
blick anf ihre Lantstnfe nnd aaf d(ftqan^ neben tnsQonfj and tngond
erscheint mir die Annahme Ficks QOA. 1881 S. 1448, daß »der
Vokalvorschlag des Griechischen arsprttnglich nar vor solchen Silben
eintrat, welche nrsprttngliches Schwä aasstieften«, sehr beachtenswert.
— Beiläafig bemerke ich hier noch, daß die Etymologie iUrog: lit.
ligä (S. 114) meines Wissens von mir herrührt (Beitr. z. E. d. ig.
Sprachen IV 332), daß ich {avV')€oxiA6g (S. 115) fttr redapliciert
halte (vgl. das. VII 72), and daß (m^xo^ »Ehebrecherc (S. 114) sei-
ner Bedentang nach nar verständlich wird, ^wenn man es ähnlich
wie ndö^ (Fick Cartias Stad. Vm 313) erklärt, ihm also ein *f^^x^
oder dgl. »weibliche Schäme (vgl. lit. miz^ and küs^endris) za
Ornnde legt.
S. 169 fehlt anter »Cap. IIIc in der Litteratar tiber das grand-
sprachliche I die aasgezeichnete Arbeit Fortanatows Beitr. z. E. d.
ig. Sprachen VI 215.
Dagegen, daß »nrsprttngliches idg. anlantendes r, soweit es nicht
za l geworden ist wie in den Warzeln Xtn, hx, Ivn, im Griechischen
stets einen Vokal vor sich entwickelt bate (S. 173), sprechen aaßer
^dnvg — daß lat räpa, slav. r^a, lit. röpe, d. riibe aas dem Gri^
chischen entlehnt seien, ist laatlich doch sehr anwahrscheinlioh —
aaeh ^i^^a (Beitr. z. E. d« ig. Sprachen IV 354) and ^oio/mm
(de Saassare Systeme S. 169).
Aiin^w filr später als vinXov za erklären (S. 178) verbieten letL
leTcseha, lit ''UMÜ (GGA. 1885 S. 928).
unter den inschriftlichen Belegen für v statt l (S. 178 § 170)
fehlt das korkyräische iv&dv (s. jetzt Blass Beitr. z. E. d. ig. Spra-
ehen Xn 190).
Statt der in Note 1 zn S. 183 mitgeteilten Etymologie von
*Aifito^U^ hätte lieber aaf lat. farduSj hordus hingewiesen werden
aoüen.
Meyer, Griechische Orammatik. Zweite Auflage. 421
Anm. 2 zu S. 183 scheint mir etwas zn kurz gefaltt zu sein;
YgL z. B. öxv^ijai: omvq&oIIj Mo^kßqm (Hesycb): MoQfMi n. a.
Wenn für das v von töv Entstehnng aus tn behauptet wird
(S. 184, 296), so muB* auch das n von lit. tdny got. pana hierauf
zurttckgefhhrt werden. Mehr als vermutungsweise läAt sich jene
Entstehung nicht annehmen.
'Onxa soll nicht aus onpa, sondern aus S»a *a entstanden sein
(S. 192). Aber woraus ist xduMii (lit. ssikti) entstanden? Vgl. S. 276
§ 285 {ylvMna^ iuxog, idxxog, (hkuxoQ^ niXäuxor).
»Wo sonst vor hellen Vokalen n erscheint, ist dies an die
Stelle von t aus Formen getreten, die .vor dunklen Vokalen oder vor
Konsonanten das n lautgesetzlich hatten« (S. 192 § 187). (}egen
diese Auffassung habe ich mich Beitr. z. E. d. ig. Sprachen VI 236
Anm. 2 gewendet, und in gleichem Sinne wie ich, aber erst später
hat dies auchBrugmann gethan. In der Anmerkung zu der citierten
Stelle ist dieser aber allein erwähnt. Ein solches Versehwiegen«
werden ist nicht angenehm, aber immer noch angenehmer, als die
Citierweise Brugmanns Morphol. Unters. IV 411 Anm. 1, die ich für
nicht gentlemanlike halte.
Wäre es richtig, daß dvdtram auf ^pavam^f^ beruhe, was oft be-
hauptet, aber in Hinblick auf die Stammform pavan^ und lat pro*
vinda unsicher ist, und daß nqoiaaoikm eine Ableitung von Tv^tatfc
sei (Ascoli Erit. Studien S. 332 Anm. 14, vgl. jedoch Fiek Beitr. z.
E. d. ig. Sprachen VIII 330) , so ließe sich z. B. nXiiaam (S. 201)
auf *nli]rtj6$ zurückführen (vgl. nijv: nitSiSHv Mekler Beiträge z.
Bildung d. griech. Verbums, Dorpat 1887, S. 19 und skr. ]/pa:ypat
IV). In derselben Weise habe ich vkfaoika$ und mlnaok zu erklären
versucht (60A. 1879 S. 562), was der Hr. Verf. nicht erwähnt Er
weist dafür aber wiederholt (S. 260, 444, 453) darauf hin , daß Hn
Osthoff mioffw als fiuvaiw und vlcüofka^ als vf^ogtofKr* auffasse, was
ich meinerseits wegen inqiva und des (a)» von hlaioikm ftlr lautgesetz-
lich unerlaubt halte. Freilich scheinen des Hrn. Verf.s und meine
Ansichten über griechische Lautgesetze zum Teil entgegengesetzt zu
sein. Ich vermute dies wegen der Anmerkung zu S. 408, wo über
meine Erklärung von q>iqs^q geurteilt ist, sie »stehe mit feststehen-
den Thatsachen der griechischen Lautlehre in direktem Widerspruch c^
während ich dieselbe der Hauptsache nach ftlr tadellos halte und
die Zurückführung von ^iqs^q auf *(fiqBa^ aus dem Grunde bean-
stande, welchen GoUitz Anzeiger f. deutsch» Altertum V 342 und
Bechtel Philol. Anzeiger 1886 S. 18 dagegen bereits geltend gemacht
haben.
QtXm und yoilfCo» habe ich keineswegs, wie es nach S. 204
422 Gott. gel. Ans. 1887. Nr. 11.
scheint, kurzerhand za ahd. geil^ lit gaüüs gestellt, sondern zn »der
Wnrzel ghdlf auf der nach J. Schmidt Voo. 11 467 ahd. geü n. s. w,
beruhen«.
S. 215 § 212 konnte i^^' if$öl$vn%QOQ X= n^^ ofkoXsvxtQog?)
Bnll. d. corresp. hell. IV 288 erwähnt werden.
Bei den Verbis auf - aC« (S. 217 f.) bitte ich Fick Vgl. Wör-
terb. ^ II 1000 and Stokes Beitr. z. E. d. ig. Sprachen XI 158 tu
vergleichen. Die ir. Denominativa auf -aigim erinnern aach an skr.
hhisajydti, av. baishaeyatc^ca.
Gegen die Erklärung von *ji»^paü aus ^ji^ifvaöde (S. 219,
262, 275) spricht aufter fitffo^s und x^f^Üfi (hinsichtlich dessen Be-
tonung ich Herodian mehr glaube als Hrn. Osthoff und seinem Ge-
währsmann), die man nur im Wege der Eabinetsjustiz zum schwei-
gen bringen kann, aufter igaifi (in dem man seines Begriffs wegen
ebenso wenig einen Acc. Plnr. suchen darf, wie in /u^aCs und xa-
fioC«), die sonstige, von Bechtel Beitr. z. E. d. ig. Sprachen X 286
besprochene Behandlung von 0 -[- Media im Griechischen und beson-
ders, wie Bechtel treffend betont hat, aldiofka$. In inschriftlichen
Schreibungen wie GeoJ^atog (daneben QsoaJ^otog) sehe ich nur graphi-
sche Versuche die Lautgruppe 0d zu bezeichnen ; von dem C des
durch die ganze Gräcität gehenden M^aC§ läfit sich dies aber na-
türlich nicht annehmen. — Die ZurttckfQhrung von xccnrfc auf ^nct^-
ifwQ (S. 286) ist, beiläufig bemerkt, durchaus nicht notwendig; vgl.
lett. sists und Fick Beitr. z. E. d. ig. Sprachen VIII 330.
Die Annahme, daß in ^I4lvira$^ iUlvao die Eonserviernng des
a der Anlehnung an Formen konsonantisch auslautender Stämme wie
rirQttt/ßa^ zu verdanken sei, und vom Perfektum aus die Analogie
auch auf die häufig reduplicierten Präsentia der Eonjugation auf •/**
gewirkt haben mOgec (S. 222, vgl. S. 417) ist sehr hart Weshalb
sind -<rcw, ^ao nicht auf demselben Wege auch in die «-Eonjugation
gedrungen, der doch auch zahlreiche reduplicierte Praesentia ange-
hören? Die Betrachtung von
ifiqsm (ai. bhdrase) %l3saa$ (ai. dhatsi)
li/ffa* (ai. vifdse) hi^sao (ai. [ä]dhaUhi8)
hi&ov (ai. ödhatihas) tt&stro (ai. dadhisvd)
inev (ai. sdcasvä) Xilvao {Bi.vavrtsvay Yg\. mumugdhS)
f»^^ (ai. dddhase) iUlvffo (ai. sußupO^
u9sto (ai. dädhifhas) natQdö$ (lit akmewisü)
iXvöao (aL dboähisthds) ddf$o^c$ (lit. hrasatäse)
^ot (ai. usäsi) datsvq
nQdffop (aus '^npsdv)
Meyer, QriecbiBche Gr&mmatik. Zweite Auflage* 428
legt die Verrnntang nahe, daft inlautendes s, äbnlieh wie ;\ im
Griechischen ursprünglich nur nach yorausgehendem Accent einge-
btlBt sei. Ein vollständiger Beweis hierfür lälilt sich aber nicht führen.
Bei der Besprechung des Bhotacismus (S. 227 ff.) vermisse ich
das befremdliche ^iy^* ü^na Hesych.
Daft r vor f» als gutturaler Nasal ausgesprochen sei (S. 271) ist
vor Westphal (1870) bereits von Ebel E. Zs. XUI (1864) 264
vermutet (später von Havet M^m. de ia soc. de ling. IV [1880] 276).
Außer z. B. ninleyi^at^ worin der Hr. Verf. eine Analogiebildung
nach iJlsyfkat sehen will, scheinen mir dafttr namentlich H^lsyfäa$
und 8tfq>$jrfka^ (neben i^-tlijlsyxto und Süip^yntai) zu sprechen.
Qegen S.273 Anm. 1 erwidere ich, daß von einem »Erklärungs-
versuche gar keine Rede sein kann; an der citierten Stelle sind nur
die nun einmal bestehenden Thatsachen konstatiert.
S. 281 § 290' (vgl. S. 90 ff.) beißt es: »Geminierte Liquiden und
Nasale, besonders solche, die aus der Verbindung des einfachen Lau-
tes mit / hervorgegangen sind, werden im attischen und vereinzelt
im homerischen Dialekt häufig vereinfacht, ohne daft dabei eine
yerlängernde Wirkung auf den vorhergehenden Vokal ausgeübt wird
. . . Att. diQff neben lesb. diQQa dor. di/Qcl ion. dstqij und »oqij . . .
neben dor. ntoQa hom. xovq^ thessal. »off a legen wegen ihres 17
übrigens die Erwägung nahe , ob sie (und ebenso die andern hier-
her gehörigen Formeu) nicht direkt aus digj^ »öqJ^ entstanden
sindc. Nur die letztere Auffassung ist zuzugeben. Beruhte di(n auf
*i^Q9H» i^vog auf *iipvog n. s. w., so verstände man, in Hinblick auf
sMtstva^ oUttqag u. s. w. , die Entstehung von di^, liivoq über-
haupt nicht.
Die neueste Behandlung des homer, ddgot^ta ist nicht von
Giemm (S. 285 Anm.), sondern, soviel ich weiß, von Benfey Vedica
und Linguistica S. 220 = Gott. Nachr. 1880 S. 299.
Zu S. 294 bemerke ich, daß eine Spur des Ablativausganges d
(der Hr. Verf. schreibt dafür t\ vgl. darüber M. Müller Essays IV 415
der Uebersetzung) sich möglicherweise in dem vielleicht rustiken
boot onmx Collitz Samml. No. 1145 erhalten hat Da im böotischen
Dialekt da als vt erscheint (vgl. uofk$vnlfjbePo$ u. dgl.), so muftte hier
für inmd^g inmit und weiter, da tt im Auslaut nicht sprechbar war,
Snmt eintreten. Wäre dies sicher, was es aber natürlich nicht ist,
so wäre damit bewiesen, daß das g von »aiUig, oitmQ u.s.w. bereits
in einer Zeit eintrat, in welcher das -d des Ablativs teilweise noch
gesprochen wurde.
Bei ddg, ^^g u. s. w. (S. 295, 496), deren von Brugmann ge-
gebene Erklärung in der Hauptsache jedenfalls zutrifft, ist es viel-
424 Q6%i. gel. Ans. 1887. Nr. 11.
leicbt gaij an die Regel der Sanskritgrammatik za erinnern, daA da^
äha zur Bildang der Conjonctive Praes. nnd Imperil aaeh das
Bchwache Thema annehmen können (Benfey VoUeL Gramm. § 811
3) Bem.).
DaB die b(k>ti8chen Kosenamen auf -» anslantendes ( und
zwar zunächst vor tönenden Laoten verloren haben (S. 296), ist be-
reits von mir Beitr. z. E. d. ig. Sprachen VII 74 bemerkt Anders
sind sie von Blass Rhein. Hos. XXXVI 604 ff. beurteilt Beides hat
der Hr. Verf. nicht erwähnt
TSnot€$p, ^cwv^ ßefiXfiwv (S. 298—9) sind nieht eigentlich Aas*
nahmen von der Regel, daft das v iipshfwtnxov an kontrahierte Ver-
baiformen nicht tritt; sie reflektieren vielmehr die Zeit, in welcher
die betr. Eontraktion noch nicht vollzogen war. — Die Behandlang
des ¥ ifpsXMVQunov hätte ich übrigens etwas eingehender gewflnseht
Ich vermisse darin z. B. einen Hinweis daraaf, dalt dieser paragogi-
sche Laat im Eyprischen nicht vorzukommen scheint Der Dativ
ndfkv Beitr. z. E. d. ig. Sprachen VI 143 ist durch Deecke selbst
Collitz Samml. No. 31, 32 wieder beseitigt.
Zu S. 304 und 327 sei wenigstens an das *An6Um, "ÜiriUm
der Inschriften von Naukratis (Ernest A. Gardner Inscriptions from
Naukratis p. 9 ; vgl G. Hirschfeld Rhein. Mus. XLH 209 ff.) erinnert
Bechtel Die Inschriften des ionischen Dialekts S. 153 f. bezweifelt
mit Recht die Richtigkeit der Lesung. — S. 328 § 338 war neben
Wdn^' aia zu erwähnen.
S. 310 wttrde ich unter den Litteratnrnachweisen zu »1. Stämme
auf -»• und -ii-c auch Benfey Vocativ S. 56 ff. genannt haben.
S. 318 ff. (§ 327) ist gerade diejenige Erklärung der Maskulina
auf -la, -fifCi welche mir die richtigste zu sein scheint (Fick Beitr.
z. E. d. ig. Sprachen III 159, vgl. meine Bemerkungen das. S. 174)
nicht erwähnt. Aus einem innotä — die Bedeutung »Ritterschaft«
»Reiterei« und die von Delbrttck angenommene Begriffisentwicklung
schwebt ganz in der Luft ~ hätte man gewiA kein lrm6%a gebildet :
die chronologische Betrachtung der betr. Wortgruppe ftthrt auf die
gerade entgegengesetzte Annahme. Daft a^x^ij^a (man beachte den
Accent!), lnnA%a u. s. w. eigentlich Vocative seien, ist eine An-
nahme, mit der ich nicht rechnen kann. Sind etwa änar^a und
lUq^lkva auch alte Vocative?
Bei der Besprechung von idcn-, ^nuw^ u. s. w. (S. 325) hätte
Fick Beitr. z. E. d. ig. Sprachen V 183 (vgl de Saussure M^oire
S. 27 f.) wohl Erwähnung verdient ; bei derjenigen der pelasgiotischen
Genitive auf o* (S. 334), die — wie schon von Ebel E. Zs. XIII 446 ff.
— für genitivisch gebrauchte Lokative erklärt nnd mit lat eq%i ver-
Meyer, Griechische Grammatik. Zweite Auflage. 425
glichen werden, war anf Mahlow Die langen Vokale S. 37 (ygl.
Stolz Lat. Gramm. S. 209) Bezog zn nehmen, wo die Auffassung
von equi als Locativ von J. Sobmidt widerlegt ist. Bei der Bolle^
welche man jetzt dem Satzsandhi zuzuweisen pflegt^ ist die Ansicht
Lagebils Fleckeisens Jabrbtlcher Soppl.-Bnd. XII 216 f. und Ficks
Odyssee S. 29, daft jene tbessaliscben Genitive aus solchen anf -o»o
▼or Vokalen entstanden seien, daß ihr Ausgang also als -o*' aufzu*
fassen sei, mindestens sehr zeitgemäft.
Die kyprischen Genitive auf -«v (S. 334) baben, wie mir scheint,
im Auslaut c oder * verloren und sind dem arkad. tc$pi^ dem thessal.
toipsog zur Seite zu stellen; ibre Endung ist dann == -m-v[«]«
Was ttber den Gen. Sing, der männlichen fi-Stämme gelehrt ist
(§ 346), ist nacb den wertvollen Mitteilungen Becbtels Beitr. z. E.
d» ig» Sprachen X 280 ff. zum Teil sehr wesentlich zu berichtigen.
Daft diese Genitive mit dem Suffix sjo gebildet seien, ist erst noch
zu beweisen.
Daft die »männlichen Locative auf -•« als eine, wenn auch alte,
so doch speciell griechiscbe Analogiebildung aufgefaftt werden müs-
sen, die sich durch Einführung des der Mebrzahl der anderen Kasus
gemeinsamen stammauslautenden o an Stelle von altem -» gescho-
ben bat« (S. 341 § 352), ist nicht zuzugeben; -o» kam von Haus
aus den barytonierten, -m (vgl nst^ %^vb%, avuX u. s. w.) den oxyto-
nierten betr. Locativen zu. Das Slavische (}qei u. s. w., vgl. CoUitz
Beitr. z. E. d. ig. Sprachen III 203 Anm.) bestätigt die Endung -o».
Wenn die attischen Accusative Plur. ho^Uk, ^9X^k> ßaif$kttg
u. s. w. wirklieh Nominativformen wären (§ 360—62), so hätten die
Atbener einfach nicht griechisch deklinieren können. Wir baben in
diesen Formen vielmehr echte Accusative auf -sg anzuerkennen, die
wohl auch in got baürgs^ bisüands zu erkennen sind (über den lit.
Acc Plur. asamenes Eurschat Gram. § 739 enthalte ich mich des
Urteils, dantes Z. Gesch. d. lit. Sprache S. 140 kann latinisiert sein).
Ob man dagegen in den vereinzelten dialektischen Fällen isnatiuh
ifsff ihicaov$^ u. s. w. (S. 348 § 365, wo el. nlttovBi^ und phthiot
ma^QBi Collitz Sammlung No. 1172, 1448 fehlen) fehlerhaft gesetzte
Nom. Plur. annehmen soll, lasse ich dahin gestellt sein.
Die femininischen Dativendungen -a»c, -mtfn, h^ic, -f*(» sollen
Analogiebildungen nach bez. ^o^, -oitn sein (S. 359). Das entspricht
nicht ganz den Ergebnissen der vergleichenden Grammatik (s. Mahlow
Die langen Vokale S. 101).
9ln den Adverbien auf dorisch -« ionisch-attisch -if sieht man
allgemein Instrumentale von -A-Stämmen (ved. dhara lit mergä)^
S. 364 § 388. Die »abweichende Ansicht von Mahlow« a. a. 0. S. 131
426 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 11.
hat nach einer Anmerkung zn dieser Stelle > nicht das mindeste
Ueberzeagendec. Nach meiner Meinung enthalten die betr. Ansfllh-
rangen Mahlows mehreres sehr bemerkenswerte, and ich stimme
ihnen insofern za, als ich äfk& n. s. w. mit lit dewo (vgl. dewo[pt\)
yerbinde. Lit mergä steht f&r mergq (Beitr. z. E. d. ig. Sprachen
X 313 f.), ist also von ä(Mä, nqv^a n. s. w. aaf alle Fälle fern zu
halten.
Anlaß zar Bildung der Komparative auf -aittqo^ soll das vom
Adverb ndla^ gebildete naXaiteqoq gegeben haben; nach dem Vor-
bild naXaitsqoq : nalatog seien dann fsqattsqoq^ (SxoXai/uQog neben ys^
QMog, axolatog geschaffen, und später sei dann -cUtsQog gewisser-
maßen als 6m Suffix angefügt worden: taaitsgog^ luttaitBqog u. s. w.
(S. 372). Beruht aber nalaitsQog auf ndlah, so kann doch fiketfat^
wQog auf *fAiaM (vgl. fisaa^-noXiog) beruhen und braucht durchaus
keine Analogiebildung zu sein, so können die Steigerungsformen auf
-aksgog^ -akatog Überhaupt von Adverbien auf -m ausgegangen sein,
deren Vergleichnng mit den litauischen auf -ai sehr nahe liegt.
Bei tirog, tiva (S. 400) würde ich Ascoli Vorlesungen S. 77 er-
wähnt haben.
S. 404 § 444 heißt es: »Auch im Griechischen hat sich die En-
dung -fft* mehrfach über den ihr ursprünglich nur zukommenden
Kreis hinaus verbreitet 1) Im Aeolischen sind die abgeleiteten
Verba in ausgedehnter Weise in die Analogie der Verba auf -/im
übergeführt worden, so ndlfifi^ tptl^fM . . .«. Diese Formen fallen
aber vollkommen in die alten Grenzen des Gebrauchs von -/»•; so-
bald xaXtj^ (ftlii als Präsensstämme verwendet wurden, war ihre Bil-
dung gegeben. — Weiter wird a. a. 0. bemerkt, -jm sei in den Gon-
jnnctiv der «o-Konjugation eingedrungen. Hierbei — vgl. auch die
III Sing. Konj. dyija^^ Xaßfitrt u. s. w. — thut man gut, sich daran
zu erinnern, daß der Konj. Aor. im Sanskrit Vorliebe für die Prä-
sensendungen zeigt.
»Secundär war ursprünglich -t, nach griechischem Auslautsgesetze
geschwunden: iipsqe für *S-(p€QS'% € (§454). Ich betone wie-
derholt (vgl. Beitr. z. K. d. ig. Sprachen II 135), daß -t mit Nichts
bewiesen ist, und daß ihm das Italische widerspricht (vgl. Bugge K. Zs.
XXII 401 und jetzt wieder fheßaked Bficheler Rhein. Mus. XLII. 317).
Die Gleichung -/u£^a = skr. -mahi (S. 418 § 468) ist meines'
Wissens zuerst von Lepsius Paläographie als Mittel f. d. Sprachfor-
schung (1834) S. 54 aufgestellt
Ob das Augment von Anfang an ein notwendiger Bestandteil
der Präterita war, wird unter Verweisung auf G. Curtius Verbnm ' I
136 f. — wo dasselbe aber gerade für einen solchen notwendigen
Meyer, Qriechiscke Orammatik. Zweite Aaflage. 427
BeBtandteil erklärt wird — als anentachieden hingestellt (S. 421).
Ob die Verbindung der Präterita mit dem Augment von Hans ans
notwendig war^ will ich nicht beurteilen; jedenfalls aber war die-
selbe, wie der Oegensatz hgs^oy: tit^oipa zeigt, ursprttnglioh eine
ganz lose.
Wieso ««tt- »liegen« 9 Ma- »bewegen«, igx^- unsicher sind
(S. 434), sehe ich nicht ein; Aber ««a- und iQxa- ygl. Fick GGA.
1881 S. 1426, 1432.
Bei der Besprechung der reduplicierenden Eonjugationsklasse
(S. 435 ff.) unterscheidet der Hr. Verf. rednplicierte Präsentia 1) vo*
kaiisch auslautender Wurzeln, 2) konsonantisch auslautender Wurzeln
nnd führt unter 2) auf: nl§knXaf$€V^ nifknQtifMt, Twpqdvm und vermu-
tungsweise Uf-, tXa. Ich verstehe diese Unterscheidung nicht, da
ich in niiknlapav ebenso wenig wie in n^qdvtn u. s. w. konsonan-
tischen Wurzelanslaut finden kann. Hätte der Hr. Verf. hier Übri-
gens Recht, so wttBte ich nicht, wie er den Unterschied von z. B.
nufudvak und ylyvoikM (welchem er ]/^«v zu Grunde legt [S. 443],
während ich es auf y^vs zurflckftthre) erklären könnte. Im flbrigen
kann ich nicht umhin, meiner Verwunderung darüber Ausdruck zu
geben, daß ein so einsichtiger Sprachforscher wie der Hr. Verf. sich
von der Vorstellung von »Wurzeln auf Gonsonantenc nicht frei ma-
chen kann, deren Unrichtigkeit vor mehr als fünfzig Jahren schon
Lepsius a. a. 0. S. 66 eingesehen hat.
Ob sich wegen mvm annehmen läßt, daß inlautendes ny»
zu mm werden konnte (S. 444), ist doch äußerst fraglich.
Die Unterscheidung der Verba auf -ay« in solche mit nasalier-
ter und solche mit nicht nasalierter Wurzelsilbe (S. 447 f.) ist vor-
läufig äußerlich und zwecklos. Wie ntsv&dvm auf «cv^ct , so sind
S§yyäpmy Xafxdvtö^ lafMßdyw^ hikndvm, nvv&dvoiMM$^ %uyddvm auf lal
fingOy preuß. -lankeij ags. Umpan^ tat. linqtw^ lit fttindu, lat. -hendo
zu beziehen. Die Präsentia auf -apm scheinen also durchweg ganz
gleich gebildet, und jene Verschiedenheit scheint nur die Folge der
Verschiedenheit der betr. Wurzelformen zu sein. Daß die baltischen
Verba auf -inu und »inäju an die griechischen auf •avm und "ovam
erinnern, habe ich schon wiederholt bemerkt; auf die Aehnlichkeit
zwischen lav&dvm u. s. w. und lett rAnu (»» *randnUy lit. randA\
Prät radu) u. s. w. hat bereits Bielenstein Lett Sprache I 348 auf-
merksam gemacht; auch lat danunty obinunty prodnmnty redmumtj
neguinontj soUnunty ferinunt (Neue Formenlehre II ' 412 f.) fordern
Berttcksichtigung. — Kkxdvm ist nicht reduplieiert ; vgl tV^uwo*
tif^. Slaßsv. flv$ynBv Hesych und Beitr. z. E. d. ig. Sprachen II 191 1
VIU 380, E. Zs. XXV 61.
428 Gott gel. Aju. 1887. Hx. 11.
Die Intensiya, Boweit er sie flberbaapt erwähnt hat, hat der Hr.
Verf. unter »VI. Jod-CIasse« § 513 ff. and zwar zum Teil als Deno-
minativa eingeschachtelt. Diese schöne, alte Bildangsweise kommt
in seiner Darstellung also sehr schlecht weg, während sie eine be-
sondere and eingehende Behandlang verlangte. Man betrachte nar
im-vfivim (skr. ffäyat)^ nainpc^vm (skr. jangamyate)^ ikaq^kaiqm (skr.
marmrjya\ nliknqmik (skr. pamphulyate) and da^ddllw, no^wnim a. s. w.
Was das # der letzten Verba betrifft, so beziehe ich es — ebenso
wie das t, i Yon ai. kanikradydmanay varivartydniana — aof das Saffix
jo der s. g. Intensiva II; das cfa*< von daiddXlw «» datdaljm wäre
hiernach in <fa-*- zu zerlegen and nar in da- die Reduplikation der
Wurzelsilbe zu sehen.
7|oy, intaor und dgl. Aoriste (S. 466 § 532) halte ich nicht fttr
Analogiebildungen, sondern stelle sie zu ved. Aoristformen wie
ydkaatäm.
Daft der Hr. Verf. in § 535 Brugmanns Erklärung des Aor. auf
-^9V wie etwas ganz selbstverständliches vorträgt, bedauere ich sehr.
Nach meiner Ansicht ist dieselbe so falsch wie nur möglich (vgl.
GGA. 1879 S. 675). Das nicht-passivische korkyr. notf^&ff ist nicht
erwähnt.
Daft die ZurttckfQhrung von fkspwj /afuS auf ^/mi^coi«, *f(xiks<sim
(S. 470 f.) unsicher ist — ich lege *iMV66iA, *r^fu(fm zu Grunde —
ist bereits mehrfach von anderer Seite bemerkt.
lieber den Fortfall der Reduplikation (S. 480) habe ich GGA.
1879 S. 818, also vor J. Schmidt und Osthoff gehandelt
Nach S. 489 § 559 »muft das Perfektum auf -ara als eine speci-
fisch griechische Neubildung gelten c. Der Gegenbeweis ist von mir
Beitr. z.E. d.ig. Sprachen V318, Bugge das. X 112 ff., Bartholomae
das. XII 84, K. Zs. XXVII 355, Ar. Forschungen II 64 Anm. ge-
ftlhrt Auf italischem Boden scheinen mir auch die Bildungen auf
'<undU'S (faeundtiSy fScundus, iracundtiSy jücunduSf verecufidus)^ ver-
glichen mit denjenigen auf -bunduSy auf das i-Perfektam zu be-
ziehen zu sein.
Die Formen der II Sg. Aor. I Imper. Med. auf ca$ (S. 498)
halte ich ftlr nichts anderes, als die gewöhnlichen Infinitive Aor. I
Act (was zögernd bereits Thurneysen E. Zs. XXVII 178 vermutet
hat). Ihre mediale Verwendung verdanken sie dem äufteren Zusam-
mentreffen ihrer Endung mit der medialen Personalendung o<a; die
Zurttckziehung des Accentes erfolgte in ihnen im Anschluß an die
II Sg. Aor. I Imper. Act auf -tfov und weiterhin an den Vocativ
dem der Imperativ als Bnfwort nahe steht
Was ttber die Endungen der III Plur. Imper. Act gesagt ist
Batmack, Studien anf dem Gebiete d. Griecbiaeben n. d. arischen Sprachen. 1. 1. 429
(S. 498 f. § 577), bedauere ich nnr zum kleinsten Teile annehmea
zn können. Dnrch die Bernfong anf Brngmann Morpbol. Unter*
snchnngen I 163 ff. wird es nicht nnterstfltst, denn Brngmann ist
ftlr einen Nicht-Jonggrammatiker keine Autorität, nnd seine eitierten
Anseinandersetznngen enthalten nichts, als das scbablonenmäftige
jnnggrammatische Raisonnement , mit dem alles widerlegt und alles
bewiesen werden kann. Die Endnng -vtmr identificiere ich mit skr.
-^am nnd -vtm mit ved. -ntat (Benfey Pluralbildungen S. 33, Schlei-
cher Gompendinm ' S. 667). Aus -vf4»(cf) -|- (fav entstand -rtm^mf,
das in Hinblick auf die grofte Verbreitung, welche die Endnng -oav
gefunden hat, für Brngmanns Zwecke nichts beweisen kann.
Die II nnd III Sg. Praes. Eonj. Act. (S. 409 f., 502) scheint
mir im Griechischen je mit doppeltem Ausgang, mit nnd ohne * sub-
scriptnm vorgekommen zn sein. In den Endungen -i}c (-jftf-^a),
-jf (H}-(n) sehe ich die regelrechten conjunctivischen Gegenstflcke zu
den indicatiyischen Endungen •s$g, -«» ; in Hf c, *t mit anderen die zn
indicativiscb *'9g, *-• (vgl. got -i^, -ip n. a.). Die Annahme Ton
Analogiebildungen ist auch hier unnötig nnd wttrde die klaren und
natQrlichen Verhältnisse der Sprache nur stören.
S. 516 § 602 war zu erwähnen, daft Usener Fleckeisens Jahr-
bücher XXIV (1878) 55 die Suffizform -mona in Namen wie 7crfif-
vog^ ^jÜMi^jv^ finden will.
S. 516 § 603 ist aus dem Hesiodischen 4pau$6g geschlossen, daB
die Grundform des Verbaladjektiv-Suffixes -lio-c -w*o-c gewesen sei
Dabei ist zn beachten, daft nur das unregelmäßig betonte ^omoc
*isfo-c zeigt, und daft datiog^ ^tttog^ viprattog sich von ihm anfter
durch das Fehlen des * durch ihre Betonung unterscheiden. Jatiog
n. 8. w. einerseits und tpatsiog andrerseits sind demnach treffende
Belege ftlr die von Fick Beitr. z. E. d. ig. Sprachen IX 317 aufge*
stellte Regel.
Königsberg L Pr. A. Bezzenberger.
Baunack, Joh. u. Theod., Studien auf dem Gebiete des Orieehischen
und der arischen Sprachen. I. Band, erster Teil. Leipiig, Verlag
?on S. Hiriel 1886. X und 218 S. 8^
Der erste Teil der »Studienc, welche die Brüder Bannack her-
anszugeben beabsichtigen, stammt ganz von Johannes Bannack her
nnd enthält I. »Analektenc, IL »Inschriften aus dem Asklepieion zn
Epidanrosc, ni. Nachträge nnd Indices. Die Analekten, welehe
»fast flberalt an eigene frühere Arbeiten anknüpfen c, sind zum Teil
480 Gdtt. gel. Ans. 1887. Nr. II.
lose aneinander gereihte Bemerkungen zu den griecbiscben Dialekt-
inschriften und zu HesychinSy znm Teil Etymologien. Eine Vorstel-
lung von der Art und dem Werte derselben werde ich dem Leser
besser und unparteiischer als durch einzelne Beispiele dadurch yer-
schafifen, daft ich sämtliche Punkte eines grOfteren Abschnittes be-
spreche. Dazu wähle ich die »Thessalicac S. 18 — 24, weil ich auf
diesem Gebiete, in welches meine eigene Erstlingsarbeit fällt, mir
am ehesten ein Urteil zutrauen darf und weil ich dabei zugleich
meine Arbeit gegen B. verteidigen und ihre Rechte wahren will.
In No. I. der Thessalica gibt B. seine Ansicht über den Namen
der Thessaler, welche sich selbst Dst^aXoh nannten, bei den Booten
0s%%aXoi^ den Attikern Q^nalot^ gemeiniglich Bsöüalot hieften.
B. freilich hält 0st%aX6q auch für thessalisch : ^Tovfk 0$tutXoiv In-
schrift von Phalanna, Fick, Bezzenb. Beitr. 5 825« ist sein Beleg.
Die fragliche Inschrift steht jetzt Gollitz' Samml. unter No. 371, und
Lolling, welcher sie nach Heuzey wieder gelesen und Mitt d. deutsch,
arch. Inst. VII z. S. 224 ein Facsimile gegeben hat, schreibt den
Schlnft der dritten Zeile [%\d[o\viq M dQWQ[a^] (Bef. de dial.
Thess. 30 cre^^[(ac]). Früher war die Lesung dieser Stelle so nn*
sicher, daft Fick »fof» if6v%alo[v\ ss f»/» OsvmJimv oder foSf» 0«ffa-
Mv* Tcrmuten konnte. Fick selbst erwähnt nun in der neuen
Ausgabe diese Vermutung gar nicht mehr, B. aber citiert sie in
allem Ernst als Beleg für ^BtiaXoQ. Offeubar hat er sich nicht die
Mtthe genommen, nachzusehen, was fttr eine »Inschrift von Pha-
lannac das eigentlich wäre. Als Grundform f&r den Namen der
Landschaft nimmt B. *nst%aUa an. Um nun »so verschiedene Formen
wie Iln&aUa und QenaJSa zu vereinigen» bedarf es . . . des Namens
09la als Mittelformt. »Während /7«f^-aiU(« offenbar erst aus dem
masculinen Stamme net^-alo- abgeleitet ist, geht 0&la aas dem aner-
weiterten {n§t&', Ui^' vgl. G. Hey er § 210), synkopierten Stamme
hervor«. »<Z>Ma- verhält sich zu *ns&-ia sr f*(a: d/i-fa, *a(«)fftlo«.
— Die Ansetzung von *[]€&', *ns&la neben n$t9^ahh^ d. h. doch,
die Annahme eines Wandels von %& zu &, wird durch das Citat
G. Heyer ^ § 210 geschützt. An dieser Stelle handelt Heyer von
der (späten) Lauterscheinung der Affrikation der Aspiraten, infolge
deren bisweilen td^ fttr 9 und tv eintreten soll (s. unten). B. aber
läftt 9 aus %& entstehn, das Citat hat also gar keinen Sinn und die
Ansetzung von *ne&la 14t nicht gerechtfertigt. Daft tf^^ö, hom.
0d^itl wegen der Verschiedenheit der Quantitäten mit fkiä nicht anf
eine Stufe gestellt werden darf, wie B. es thut, braucht kaum be-
merkt zu werden. Indessen auch wenn Bs Ansicht ttber O^la
sprachlich ganz ohneAnstoft wäre, so wäre sie deswegen nm nicbll
Baanack, Stndien auf dem Gebiete d. Griechiselieii u. d. arischen Sprachen. I. 1. 431
riehtiger. Das aralte O^iii nämlicb, die Heimat des Achill, bestand
lange unter diesem Namen, ehe die Thessaler in ihre späteren Sitze
wanderten. Dies geschah bekanntlich erst nach Homer, der sie noch
gar nicht kennt. Deswegen darf man 0^itt nicht mit dem Namen
der Thessaler in Zusammenhang bringen, und B. verstößt somit ge-
gen die wichtigsten sprachlichen und sachlichen Momente, um die
Mittelform 0^ta zu gewinnen. Mit ihr fällt alles, was er ttber ®*<7-
aaXog u. s. w. sagt und ich konnte es fttglich ttbergehn. Indes der
Leser soll ja B. kennen lernen! Das Etymon von flst&aXog soll
(boot.) ninaq$q »vier« sein. »Danach scheint mir der Name auf die
tstQcldsg hinzuweisen, deren besondere Namen zum Teil aus dem
Voll- und Eurznamen {0sfraaX$wT$g und 0&njiuc) zum Teil aus neuen
Stämmen (IleXaifywug und ^EauaKong) nach Sonderung des einge-*
wanderten Stammes in vier Isopolitien sich bildeten.« — Also zuerst
ist das Ganze (dessen älterer Name verloren gieng?) nach seiner
Teilung in vier Teile benannt worden, dann zwei dieser Teile nach
dem Ganzen ! Diese Annahme könnte kaum unwahrscheinlicher sein,
auch wenn wir nicht durch Aristoteles wüßten, daß die Teilung erst
von Aleuas Pyrrhos herrührt, also, welches dessen Zeitalter auch
gewesen sein mag, sicherlich nicht so alt ist, wie der Name der
Thessaler. Die Erklärung der Lautübergänge, welche seine Vermu-
tung anzunehmen nötigt, macht B. sich sehr leicht »Die Entwicke-
ungsreihe /70fT-, /7ct^-, ns&' hat in ^Aviig, *A%&'ig, ^A&^ym (Stud.
NicoL 27) u. a. ihre Analogien.« — In der That gibt es eine Beihe
jinigj ^A%&tg^ *A&ijyak ebenso wenig wie i7«ff-, Utt^-, ns&^. An
der von ihm genannten Stelle erklärt B. ^Atn^j als »Wasserland«
aus einem verlorenen ßnja^ von welchem er Spuren im Griechischen
nachweisen zu können glaubt. Aber darauf läßt *Atu*^ sich nieht
zurückführen, weil dann nothwendig eine Nebenform *A(fü$nij in an-
deren Dialekten (z. B. im Ion.) und auch im Attischen selbst zu
erwarten wäre (G. Meyer § 282). Zu *A%wtij soll nun *Attlg gehö*
ren, hieraus ^Ax^ig und daraus ^A&^ya$ geworden sein. ^Anlg*
*A9%vm bei Hesychius ist aber der einzige Beleg für die Form, die
B. zur Grundlage seiner Erklärung macht. Das ist doch mehr wie
bedenklieb! Natürlich muß man die älteste Form zu Grunde legen:
'A&^rcu. Hierzu ist ^Ax&ig »das Land, die Sprache, die Geschichte
nnd die €k)ttin von Athen« regelrechte Kurzform, wie tit^ti zu t»-
9^vn (Wurzel ^), imztpig zu tnatpvXif^ äatQ^g zu dütgayalog. Nicht
Vereinfachung des «^ zu i^ liegt in *A^^ra$: ^At&ig^ u&^rii: tlrC^
vor, sondern die Verdoppelung des Konsonanten bei Kurznamenbil-
dung, die ja so häufig ist. Von der »Aspirierung der Doppelkonso-
nanz «Y« in ^AiStg ist also auch keine Bede^ sondern *A%nM^ ist von
432 Gott. gel. Ans. 1887. Kr. 11.
*j4&^pa$, ^At&lg ganz zu trennen. Jenes einzige ^Axüq* *A&^va$
Hes. ist entweder zu ^Aruxii Kurzform oder es verdankt seinen Ur-
sprung der Zurttckftlbrung von ^At&ig auf ^jimxij, welehe sehon bei
den Alten wie bei den Neueren bisher ttblich gewesen ist. Deshalb
darf ich fttr diesen Irrtum B. nicht allein verantwortlich machen.
Auch z. B. 0. Meyer § 210 nimmt fttr *ji%3^ und BstSaUg Verwan-
delnng von fr in t^ an. Sonst kann er nur %h9er' flam»y aus He-
sychins anführen. Von diesem aber weiß man nicht, in welcher Zeit
es entstanden ist, und mit Ilst&aldg läßt es sich nicht vergleichen,
weil sein td^ (rt) auf «t zurückgeht. Die Beispiele Meyers für den-
selben Vorgang bei Labialen und Gutturalen können auch nur höch-
stens das zeigen, daß er ganz vereinzelt möglich war ; *Ang>$a¥6^ ist
nicht griechisch, än(pag, dlmpvg^ ßanx^mg etymologisch unklar. Wei-
tere Beispiele hat Meyer nicht und B. ftihrt die seinigen bloß unter
dem Rande an. Dtti^etig, Iht^igy Iln&oq, thess. Hi&ovrB^og u. a.
sollen mit [Knaq^ IUftaXog u. a. auf den Stamm miv- zurückgehn.
Die Namen mit & aber gehören ohne Zweifei zu nst^m, idg. bheidhöj
dessen zwiefache Aspirata boot Ol^mv GoUitz' Samml. 850 zu be-
wahren scheint. n$t&tvg, Fln&iq u. s. w. zeigen die Verdoppelung
des ^ wie *At9iq, tlf^f. Ebenso gehören IlXat&lg, nXav&hv zu
nladatvfi {nla&dvfi) und daß IlXdtmv mit ihnen etwas gemein hat^
wird B. erst beweisen müssen. So gibt es für das Verhältnis n&n-x
üet&'i /7c^- in der That keine Analogien. Um B.s Methode weiter
zu schildern, gebe ich seine eigenen Worte wieder : »Ausgehend von
der Ueberzengnng, daß gegenüber nixd^aXoq [so!] von den Formen
Oßvt-aUq und &st%'aX6q nur die letztere die jüngere sein kann,
denke ich mir, daß, als O^Um regelrecht [1] Eurzname geworden
war, *n%%%aUay die ursprüngliche Form des Vollnamens, an den An-
laut jener Bildung sich anglich, daß also aus *n§w9^alla ein (»«tr-
^aUa dem 0&ta zuliebe gebildet wurde und dieses 0e%%aUa die Ba-
sis ftlr das gewöhnliche Oetw-^Xia abgäbe So sehen wir hier in
No. I. B. unter schweren Verstößen gegen geschichtliche Thatsachen
altes und junges ohne alle Kritik durcheinander werfen, falsch eitle-
ren, Analogieen, die gar keine sind, als Beweise anftihren, dazu
die abenteuerlichsten Analogiebildungen annehmen und schließlich
dem Leser seine ȟeberzeugungc anstelle eines Beweises bieten.
De dial Thess. S. 26 habe ich auch einen Versuch gemaeht|
die genannten Namensformen auf ihre Qrundform zurückzuftlhren.
Als solche stellte ich *%ps9jaXoq auf, woraus sich alle überlieferten
Formen erklären, wenn man annimmt, daß thess. tt^, die reine aspi-
rata geminata, auf ^9; zurückgeht Hierauf scheint auch thess.
Bat^inag as att Ban««f c zn weisen. Diese Erklärung erwähnt B»
Bannack, Studien auf dem Gebiete d. Griecliisclieii n. d. arischen Sprachen. 1. 1. 433
S. 20 unter dem Rande: »Oanz anders Fiek nnd Prellwitz p. 26c.
Soviel ich weiB, bat Fiek nirgends tiber den Kamen der Tbessaler
gesprochen nnd ich maß verrnnten, daft B.s Irrtnm folgendem Satz
meiner Arbeit entstammt : radicem igitar ghedh habemns, qnae in no-
^ocy ^d(Hf6if^a$ latet, quae Fickins . . . cnm Qermanico bufjan . . .
comparatc. Trifft diese Vermotang zn, so läftt sie B. nicht gerade
als einen aufmerksamen Leser erscheinen.
In No. II der Thessalica heiftt es : »Die beiden Namen FoXl-tvac
nnd roXX-iyatoQ . . . auf den von Fiek unter No. 1307 publicierten
Inschriften ([^ifotofuxxoc] FoUiPMog | [ro]lUvag ^Aotoikdxstoq \ Kgccun--
nog rolXira^g) stelle ich zn Fel-tag, FslX-lag^ FslX-w. Vgl. z. B.
einmal (!) Johfoi ftlr Jeltpoi . . .c. Zunächst ist FolUtfa^og neben
FolUvag kein zweiter Name, sondern das regelmäßige thessalische
patronymische Adjektiv, welches den Genetivus vertritt. Was aber
die Sache betrifft, so heißt das Verfahren B.8 doch nichts anderes,
als ein unbekanntes X durch ein ebenso nnbekanntes Y erklären
wollen. Jolq^oi kommt einmal vor und seine Entstehung ist unklar,
ebenso die von Fsl-tag. Wenn dieses z. B. aus ^A-yH^aog entstanden
ist, wogegen sich sprachlich nichts einwenden läßt, so ist Bj9 Ver-
mutung falsch.
III. Für »"Exvofoc« werden zwei Möglichkeiten der Entstehung
angefahrt. Da die Lesung unrichtig ist, gehe ich gleich zu der hier
angeknüpften Note Aber. Sie beginnt: »Prellwitz p. 5 S^xy^^^^ ^^
nichts ist€. Welchen Sinn dieser Relativsatz auch haben mag, an
der Lesung Ssjiyaio^ muß festgehalten werden. Dieser Name steht
nämlich, auf. der (linken) Schmalseite einer Marmorplatte, deren beide
Kanten nicht unversehrt sind; Lolling Mitt d. deutsch, a. Inst Vm,
p. 104 = Fiek, Oollitz' Samml. 1329 IIb. Die erste Zeile zeigt . .
YPO ., die zweite unversehrt 0Mnnoh^ darunter steht EYJAM und
unter dem • von 0Mnno$ ein rechts zerstörtes o: C. Die rechte
Kante ist also hier abgeschlagen, jedenfalls unleserlich. Da die vor-
hergehende und die folgende Zeile {SEXNAIOF) Aber das C der
dritten hinaus noch einen Buchstaben haben, so ist kein Zweifel, daß
der unversehrte Stein noch Platz fUr S bot Deswegen hat Lolling 3
Evd0fi^[og] I 4 S§xif€uo$ geschrieben, der die Inschrift allein gesehen
hat Der Schreibung Fieks 3 Biiafko \ 4 g ^Exya$o$ kann ich mich
schon deswegen nicht anschließen, weil mir die Abtrennung des S
allein auf die andere Zeile bedenklich scheint. Auf jeden Fall hätte
B. nicht mich, sondern Lolling citieren sollen. Umgekehrt hätte ich
z. B. gewünscht, daß er für fwp9$QdM0y[tBg] nicht »Mitteil. d. deutsch,
arch. Inst VII 346c, sondern meine Arbeit S. 2 f. citierte, weil hier
}ene Form zum ersten Male ergänzt nnd erkannt ist
06ti. f«l. Au. 1687. Nr. 11. 31
484 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. II.
Aber B. fährt in jener Note mit dem besprochenen Anfang fort:
»Im ganzen enthält seine Arbeit viel Oates. Doch ist sie leider
recht unzuverlässig. Von S. 6 — 14 kann ich genaue eingaben bei-
bringen : ich zähle 55 Korrekturen, auf S. 12 z. B. 10, auf S. 14
gar 19. In § 4 werden die Beispiele für Ableitungen von GiQCog
angefahrt: warum fehlt Oequiwog 60 und Qiqaovv 50? Mit der
Ueberlieferung ist ganz willkürlich verfahren : die Genitive der Steine
sind meist in den Nominativ verwandelt, S. 14 wird bald der Nomi-
nativ, bald der Genitiv citiert; JalU6v[K^oQ hat das Zeichen der Er-
gänzung, aber vier Zeilen weiter steht NtuLoXaoq statt [iViiicJdilaoc
345, 82, wie denn auf den in Rede stehenden Seiten sonst kein
Elammerzeichen angewendet worden ist ; S. 6 wird jQäa%a^ st. Jga-
a<ito( citiert, aberS. 14 iatnaas (richtiger Siftnaff)] S. 11 (Mitte) wird
id'avs angeführt, während der Stein äni^avs hat, dahinter aber oVi-
di^ne mit der Präposition; S. 11 Z. 23 v. o. gehört das boot. Citat
zu 489 19/20; es hat also danach erst 488, 45. 92 zu folgen; S 14
Z. 15 steht ^a(p$iafAipag 345. 14 (17. 41), während es doch ^af>»-
iaiA^vag 345. 9. 40, tpaifiiaa&ikv 345, 14, itpäy^iJui 345, 17, 41
heißen muß. Und diese Proben von Inkonsequenz und Ungenauig-
keit ließen sich noch vermehren I« Ich bitte den freundlichen Leser
mit mir das Gewicht und die Wahrheit dieser Vorwürfe zu unter-
suchen. Jqdtnaq fOr jQdaczag ist ein Druckfehler und ich gestehe,
daß es deren leider mehr und schlimmere in meiner Arbeit gibt.
Dieser ist unschädlich, da es sich an der betreffenden Stelle nur um
die Entstehung des Namens aus *A^dqd<naq handelt. Im übrigen
spreche ich auf den von B. herangezogenen Seiten über die Vokale
des Thessalischen und führe z. B. unter ä § 9 die Stämme an, wo
thessalisches ä gegenüber attischem 17 erscheint. Dabei hatte ich
ursprünglich alle Belege für diese Stämme gesammelt; weil ich aber
einsah, daß Vollständigkeit hier gar keinen denkbaren Zweck haben
kann, so strich ich vor dem Druck den größten Teil der Citate weg.
Dadurch ist es nun leider gekommen, daß die gebliebenen Citate
zwar immer noch richtig den besprochenen Stamm, die behandelte
Lauterscheinung belegen, aber nicht mehr genau die Form, welche
als Beispiel angeführt wird. Z. B. für *ddfAog fähre ich an ^JafMQ-
Xc»o( 1323 ... EidafAog 345 5s. 66. ss alia« und von diesen Citaten zu
Evdafkog ist keines richtig: 345,52 (bis) u. 56 steht Evdafuiog, 82
EvdafMdag, während EvdafAog z. B. in der oben erwähnten Inschrift
1329 IIb, 8 steht, was man bei mir nun gar nicht findet. Ich ge-
stehe ein, daß diese Art ungenau und deshalb fehlerhaft ist Aber
derartig sind auch nur alle die »Proben von Inconsequenz und Un-
genanigkeit«, die B. gibt. Bei a^av«, ivi^sws handelt es sich am
Baanack, Stadien anf dem Gebiete d. Griechischen a. d. arischen Sprachen. L 1. 48&
das € des Schiasses and nicht am die Präposition, ttber welche §40
Aafschluß gibt; bei ipaqn^af$4vag a. s. w. bloB am das a, nicht die
Verbalformen, welche § 37, Kap. V besprochen werden; bei Niuo--
Xaog steht aaßer dem von B. erwähnten Gitat noch ein anderes 345, 82,
wo keine Verstttmmelang des Steines vorliegt; die boot. Gitate be-
legen alle nar die Konstraktion von nsXox^at mit nagd c. acc. , ihre
Reihenfolge ist also gleichgiltig. Qiqüovv 345, 55 kann za den tlbri-
gen von mir genannten Belegen hinzafttgen, wer hier Vollständigkeit
fflr wünschenswert hält. Qsqaimo^ dagegen, dessen Fehlen B. aach
tadelt, darf gar nicht aafgeftthrt werden, weil es neben dem von mir
genannten ®$Qaiaq 34566 kein neaes Beispiel ist, ebenso wenig wie
FolXivaq and roXUvmo^ zwei Namen sind. QsQirSag HstaUatog ist
der Vater des rietaXiag GsQaia^og, Os^aiag and OsgaSmog gehn also
aof dieselbe Person. — Ich habe mir nicht die Mtthe gemacht, B.
alle Gitate nachzaschlagen, weil ich meinen Fehler keineswegs da-
darch geringer za machen glaabe, daß ich ihm eben denselben nach-
weise. Aber als Gariosam führe ich an — vielleicht hat es der Le-
sef schon bemerkt — daß eben das Wort bei B., an welches diese
Note anknüpft, jene tadelnswerte »Verwandelang des Oenetivs in den
Nominative aafweist: nicht 'Eji^a* o ^ hat der Stein, sondern {S)€xvalo$\
B.S Anraerkang hat noch einen zweiten Teil: »Daneben gibts
aach noch genag des Seltsamen and Unrichtigen: p. 12 schließt
P. aas ^OziXvxog aaf einen „obtasam fascamqae sonam^' des oc ; —
Aber S. 39 n. führe ich die mir während desDrnckes meiner Arbeit
von Fick gütigst mitgeteilte Verbesserang OIoXvuoq an, welche B.
nar verdankelt, wenn er S. 22 daneben aach ^OgoXvuog für möglich
hält. — »p. 9 Z. 21 wird kypr. MaU&$jav aas dem bekannten Fal-
sifikat (Hans Voigt Bezz. Beitr. IX, 167) angeführte ; ^ Erstlich
habe ich für die genannte Form zwei Gitate gegeben, nämlich aach
die Inschrift von Idalion 60 Z. 27, was B. verschweigt, and zwei-
tens bezeichnet Voigt selbst seine Vermatang, daß die von mir an
zweiter Stelle citierte Inschrift von Thremithas 123s gefälscht sei,
keineswegs als sicher: »Ich verkenne nicht, daß meine Hypothese
einer Fälschang mancherlei bedenkliches hat« sagt er S. 169, and
deshalb ist es anrichtig, von einem »bekannten Falsifikat« za reden,
wie B. thot. — »p. 13 liest man boot. @»oi;tI^ov st^fiv (ODI.502,2)«
— ist Drnckfehler — »ferner Mvaa^y^vog == ^yevBog^ während doch
Meister GDI za No. 497, 532 and 557 konstatiert, daß Wegfall des
Iota nicht anzanehmen ist«; — Erstlich stehn die betreffenden
AeaBerangen Meisters nicht bei den genannten Nammern, sondern
erst in den Nachträgen, zweitens berührt mich die erste Stelle gar
nicht Hier sagt Meister, daß nach Latiscbew aaf dem Steine
31*
436 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. II.
laQaQx^öptmv steht und nicht, wie Decharme gelesen hatte, laQaQxd^-
Tüiv. Drittens aber ist es interessant zn erfahren, was B. unter
» konstatieren € versteht. Im Nachtr. zu 532 und 557 erklärt Meister
nämlich, daß er jetzt Sirog (für SiPtog) und Mvaa$yivog (für yiweog)
nicht mehr auf die Gr. Dial. I, 246 angegebene Art entschuldige
und das & hinter p eingesetzt wissen wolle. Das ist doch nichts als
eine Konjektur, für B.also ist konstatieren soviel wie konjicieren!
Daß die Konjektur falsch, ist mir sehr wahrscheinlich. Auch
O. Meyer ^ § 147 bleibt bei der alten Ansicht, schreibt freilich auch
noch laQaQxovt^y. — B.S nächster Tadel überbietet den eben be-
sprochenen noch an Grundlosigkeit, wenn das möglich ist; »p. 11
erßlhrt man nichts über das Zahlenverhältnis von Klio-: KUo-^t
Dem gegenüber stelle ich fest, daß S. 11 von mir bemerkt wird, in
den Inschriften von Metropolis, Pherae und Krannon — die Beispiele
führe ich sämtlich auf — sei »* ante vocalem pro ec geschrieben.
»Ceteris in titniis semper s legitur«. Dies genügt B. nicht und er
will speciell über das »Zahlenverhältnis von KJUo-: KX€0€ etwas
genaues erfahren. Beabsichtigt er aus der Angabe über das zufäl-
lige Vorkommen von Namen mit KXso- auf den bisher gefundenen
thess. Inschriften eine ganz besondere Wissenschaft zu ziehen ? Wes-
wegen will er von den Namen mit @£o-, die doch auch nicht selten
sind, gar nichts wissen? Ich meinesteils gestehe, daß ich mir von
dieser Forschungsmethode nichts verspreche und daß ich den von
ihm gerügten Mangel weder für »seltsame, noch für »unrichtig«
halte, wohl aber sein Verlangen für beides.
So gelangen wir zu dem letzten Vorwurf, den B. mir macht:
»p. 12 ist die Annahme von ^Avta* als erstem Kompositionsgliede
sicher falsch : ''Avtoxog hat regelmäßigen Verlust des Iota und *Av%U
oxog ist jünger, vgl. att. nsq^ vor Vokalen (neQtidfjne ; I. v. G. 68),
UoXvdv^fig nach noXv-{/)dpai (regelrecht rXvn-av&ig GDI. 973 n. a.)««
— Es ist wahr, daß meine Vermutung, durch welche ich die An-
nahme »falscher Analogiebildung« überflüssig zu machen suchte, sich
nicht direkt beweisen läßt. Jedenfalls aber können B.s Andeutun-
gen, die vielleicht selbst unrichtig sind, sie auch nicht widerlegen.
B. schließt seine Anmerkung mit folgenden Worten: »Doch genug.
Ohne beständige Kontrolle bis in's Einzelnste ist das Buch nicht zn
gebrauchen«. Ich hoffe, der freundliche Leser meiner Rechtfertigung
wird diesen Satz mit mir auf diejenigen Benutzer einschränken,
welche in den Arbeiten andrer nichts als Citatsammlungen sehen,
die sie ohne jede weitere Rücksicht auf den Inhalt für eigene Lei-
stungen ausschreiben zu können wünschen. — Gelernt habe ich aus
B.S langer Anmerkung nichts und bei der Oberflächlichkeit und Grund*
Baoiiack, Stadien auf dem Gebiete d. Griechiscliea u. d. arisclieu Sprachen. 1. 1. 437
losigkeit des grSfiten Teiles seiner Vorwürfe moftte auch meine Ant-
wort anf sie unfrachtbar sein; ich würde sie mir und dem Leser
erspart haben, wenn B. einen weniger herausfordernden Ton ange-
schlagen hätte. Uebrigens bemerke ich, daft die Vergleicbung der
Citate von S. 6 — 14 mit dem Heisterschen Wortregister die Haupt-
mtihe gewesen ist, welche B. meiner Arbeit gewidmet hat. E^ wird
sich im folgenden zeigen, daß er gewisse Ergebnisse derselben zu
seinem eigenen Schaden nicht yerwertet hat.
No. IV der Thessalica stellt den Namen Konßldmoq zu delph.
Kdßwv und vergleicht wegen der Schreibung boot. Minyao. Doch
ist diese Parallele nicht unbedenklich, da durch die Schreibung ity
flir TY im Eigennamen, »unzweideutiger als in MEITIJAS der Laut
einer einfachen Fortis (im Gegensatz zur Lautgruppe yY == '^) be-
zeichnet wurde« (Meister I, 266) und deswegen da eine bestimmte
Absicht vorgelegen haben kann, die bei nß für ßß nicht denkbar
ist Xdßßßtog 326 I 84, K zeigt neben boot. Xdßag auch ßß. Daher
halte ich an meiner Erklärung jenes Namens aus KonqidaM^ fest,
vrelche B. gar nicht erwähnt. Xdßße^og (Xdßag) stellt sieh so zu
Xaßg-lag, Zum Schluß heiftt es bei B.: »Während das t von xatd
im Homer sich sonst jedem beliebigen Konsonanten assimiliert, schreibt
man »dt^avc, 9tav&d^a$: verhält es sich etwa ebenso mit Ba%9^inag
326 II, 19, steckt etwa ßa»V' darin? Vgl. Bd»$fmog€. — Daft
Aspirata geminata in guter Zeit überhaupt fast nie geschrieben wird,
sollte B. doch bekannt sein! Die Vergleicbung mit Bd&knmg samt
dem att. Bandxfig, welches B. nicht kennt, findet sich bereits bei
mir S. 28. Ebenso im wesentlichen alles, was in No. Y über Kqov^
xipag und Xen. Hell. II, 3, 1 gesagt wird S. 16 n. Nr. VI ttber
Otokvxov (OloXvnov Fick) kam schon oben zur Sprache.
VII. meint B., der »wunderliche Name 0auäQ€ repräsentiere »im
ganzen etwa <2>a»»o-aeAfcc« Ich habe ihn S. 3 von q>au^ »dieLinsec
hergeleitet, wie thess. SMogdsla, welches Lolling in SnoÖQsia ändern
wollte, von cnoqodov^ axogöop »der Lauche Das erwähnt B. nicht
— VIIL »Das zweimalige ^avvtUoy . . . (sonst (Poicxioc; Liv. 36,13
Phaes^tn) könnte man als eine erwünschte Bestätigung für Assimi-
lation von 0t zu rr ansehen, welche ich Stud. Nie. 50 in 'jinvXa 340,
^jimPülag 332 sachte«. Aber B. sieht in diesen Namen jetzt doch
lieber seinen Stamm *daaa~ (»Wasser«) belegt. — Beides ist gleich
falsch« Wie Oavtümv mit OakCtdg zusammenhängt, ist gänzlich nn*
klar wegen des av ftlr a* ebenso, wie wegen des t% ftir crr. Für Icj^
welche dem tsa in jenem daau'- zu Orunde liegen würde , zeigt das
Tbessalische wie für ^ immer <i<r, nie t%\ (de dial. Thess. § 24). Aber
B. fahrt mich selbst als Stütze seiner Vermutung an: »Gegen Er-
438 Qött gel. Anz. 1887. Nr. 11.
klärnng daroh Assimilation ans x% spricht, wie Prellwitz 33 selbst
anftthrty nolvonttoq 345, 75 a. a.c. Diese Bemerkung ist wieder ganz
unrichtig and ein nener Beweis fHr die Oberflächlichkeit und Gedan-
kenlosigkeit B.s. A. a. 0. spreche ich über die Assimulation von
xt und m zu t% in d%%äq^ ABtüvatoq, *A%^6v€$to^ u. a. und fahre
fort: Atque üa omne tr Thessdlicum expUeandum est. Atuoq igitur
pro "Anuoq, AttvXaq 340 pro An%o^ Atuvav pro ^AtüvaVy nt *Ain*ij
pro *Axu«il. Cave antem pates banc assimnlationem semper factam
esse, sf. DoXvomoq^ KlsomoXsfjkogt. Hiemit stimmt S. 28 »Qaotiens
n apud Thessalos invenitar, assimulatione ex *t vel tit natnm estc.
B. freilich bindet sich hieran nicht, wie er überhaupt fremde Mei-
nungen nie widerlegt; aber daß er mich zu Gunsten jener Vermutung
anfährt, ist mehr als seltsam. IX. XoQQiovystog wird auf x^Q^^ zu-
rttckgeftthrt. X. »Bvxivav ist ggr. gen. zu BvMipag . . . mit böoti-
scher Orthographie ... für fotutvag^. HOchst unwahrscheinlich.
XI. * Baa-avUiog . • . setzt fllr's Sprachgefllhl ein ißaaa yoraust.
Diese kurze Bemerkung ist ausgezeichnet, aber abgesehen von dem
unsicheren XoQQtovmog in der That das einzige beifallswttrdige Nene
in B.S »Thessalicac. Denn die Erklärang von f*sifnod$ in No. XII.
ist auch gänzlich verfehlt.
Der erste Teil dieser thessalischen Konjunktion ist stets mit
fkiifq>a kret. f$4(na, f^Btisg verglichen worden. Dieses fuvag I. v. G.
IX, 48 zerlegt B. (J. v. G. 544) in fAstu-gj sieht in lutts ^i<ns und
erklärt dies aus fkixqh »und dem dialektisch so geläufigen Stfis, assi-
miliert Stut und lisa- in fA€onod$ soll aus (i^ixQ^ ^k entstanden sein.
Hierbei ist, abgesehen von der Schwierigkeit /i^x^* — Ibts zu fkitns
zusammenrücken zu lassen, noch mehreres falsch. Allerdings haben
diese irrigen Ansichten nicht erst bei Baunack ihren Ursprung und
dehnen sich weiter ans. Man hat Sme mit lat. tisque ai. acchä (Bloom-
field Am. J. VI 41 f.) und abulg. eäte (Burda K. Beitr. VI. 89 f.) ver-
glichen und damit sau für ein sehr altes Wort erklärt. Aber das
delphische und lokrische ipts (Cauer Del * 2044o, 229 An) zeigen
meiner Meinung nach doch, daß vielmehr die frühere Erklärung aus
ipg -f ts die richtige ist. Denn da jene Dialekte ivg (ctg) nicht ken-
nen, sondern ip c. acc. dafür brauchen, bilden sie ip-ts. Wäre Am
vorgriechisch, so wäre die gleichmäßige Verteilung von igy S<fn und
^, Bv%6 ganz unerklärlich. Auch das Böotische kennt ig nicht und
daraus folgt, daß boot. Sm — ftir andere Dialekte ist diese Form nicht
belegt — nicht aus icts entstanden sein kann, wie Meister u. a. mei-
nen, sondern aus Swe. Dafür spricht auch, daß Uebergang von m
zu f% auf boot Inschriften erst in sehr später Zeit zu belegen ist
(Meister I, 265), und andrerseits aus Svte sehr wohl Stu werden
Baonack, Stadien anf dem Gebiete d. Qriechisclien u. d. arischen Sprachen. L 1. 439
konnte, wie fynatfi^ zn innatft^ geworden ist. Das hat vor langer
Zeit schon Ftthrer gesehen. Da non das Thessalische weder Stfu
noch ig oder ttg kennt, kann fMC- nicht auf die von B. vermutete
Weise entstanden sein.
Im zweiten Teil von fMCnodi siebt B. den Accasativns nod -f- *
ans id = ai. id. Dafür führt er an, dafi im Thessalischen nolag xs
ftlr oftotai äy, nouui ans noS m (so schon de dial. Thess. 24 n.) für
Sn, also »das Interrogativnm für das Relativnm gebrancht ist«. Das
ist auch falsch. De dial. Thess. 40 f. nenne ich die Stellen, wo der
Artikel relativisch gebrancht wird und fahre fort: ^Belativi compositi
loco semper interrogativnm ponitnr«, also nicht für das einfache Re-
lativnm, welches B. doch für seine Erklärung von fkstinodt = etg i
allein brauchen kann. Endlich wird die Affigierung des » an nod
durch ai. yada id u. ähnl. nicht genttgend geschtjitzt.
Auch hier ist aber nicht bloß B.s eigene Ansicht falsch, sondern
er verschweigt wieder die richtige Erklärung, die in einem Buche
gegeben ist, welches er doch kennen muß. Bticheler das Recht von
Gortjn p. 8 bemerkt : ftitt' ig , . . wofttr ark. fi^of , nächst verwandt
mit fMTft, (Ai<fq>a, thess. fjie<fnod$, in welchem ftstd und die daftlr in
Gortyn wie sonst gebrauchte Präposition nsdd, die Elemente beider,
komponiert sind«. Da ich auf dieselbe Erklärung im wesentlichen
auch verfallen bin, so sei es mir hier gestattet, meine Gründe für
diese Ansicht vorzubringen, wobei ich noch einige andere Präpositio-
nen besprechen muß. Mstsnodh ist aus zwei Präpositionen zusam-
mengesetzt wie unser »ftt^«, ahd. unei^ unza^ mhd. unz^ untee. Das
Griechische kennt solche Verbindungen auch: f*ixQ^^ ^^^» ^^c» nQ6g^
kret. fiM ig und so auch Sau not mehrmals in der trözenischen In-
schrift Cauer DeP 6221.88. Auch dieses not ist von B. falsch er-
klärt (L V. G. 23). Es findet sich außer auf Inschriften der Argolis
im boot, noidhuog Collitz Samml. 307, s^), delph. FIotvQdntog Gauer
deP 219 s, *Evdv(Snonq6niog 212 2-8, im Lokrischen not top fdotov
Collitz Samml. 1479 B u und ist auch im Eorkyreischen not tofk . ,
CIG. 1838a8, not tat CIG. 1840i7 = Dittenberger Syll. 320 anzuer-
kennen, obwohl Blass B. B. XII p. 193 und 196 n:o<t> schreibt
Denn daß daneben not vorkommt, ist nicht auffällig, da sich in Epi-
dauros dasselbe findet. Hier hat sich der Gebrauch der ursprünglich
ganz verschiedenen Präpositionen so geordnet, daß in der Regel not
vor Konsonanten, vor Vokalen not steht, wie B. S. 120 richtig be-
merkt. Ausnahmen sind nur nonßXitpag, nounoQ€Vo[fAi9^ov] und
1) Aach im £ypr. gibt es einen Beleg, wenn Meister (Berliner philolog.
Wochenschr. 1886. S. 1604) Nro. 230 der Gollitzschen Samml. mit Recht no» ti^
tanm liest.
440 Qött. gel Anz. 1887. Nr. 11.
noiputxoptk. Batmack schrieb früher mit Eabbadias a. a. diese Prä-
position Twt, jetzt not, da die Einsilbigkeit durch den Vers des Isyl-
los bewiesen wird: not ff ^AffnXän$oy iqvetSh ilcciag ^fUQog>Hlov
(v. 20). Auch dies ist nicht richtig, da die beiden bisher allerdings
verkannten Stellen, wo diese Präposition in alten Texten überliefert
wird, not haben: Et M. 678, 44 ist folgendes Zeugnis des ApoUo-
nius Dyskolus erhalten: not naqd l^gyslotg dvin tov noji, d^cuqicsk
%ov T, sha avpodtp. nsQl na&wv. Nur so lange man keine inschrift-
lichen Belege ftlr arg. not = no%t hatte, durfte die Konjektur Syi-
burgs no&i und & ftlr nou und « Beifall finden. Auch in dem Ora-
kel an die Tirynthier^ welches Stephanns Byz. in leider ganz ver-
stümmelter Gestalt unter ^AXutg ttberliefert, ist not w = nQog ob : not
tv Xaßwv xal not %v »a^Sim xai not tv oUtii<fir 8%fAv ^Ahia %s *€xXija&a$
(vgl. Ahrens II, 364). Auf die Erklärungen von not, welche B.
IvG. 23 und andere gegeben haben, wonach die Präposition auf
griechischem Boden aus no%i entstanden sein soll, gehe ich nicht
ein. Sie werden allein durch den Accent von not widerlegt Nur
bemerke ich, daß die Bemühung so vieler Gelehrten, die verschiede-
nen dialektischen Formen der griechischen Präpositionen alle aus
einer Grundform durch griechische Lautgesetze abzuleiten, von Grund
aus verfehlt ist. Vor allem sind hier die verwandten Sprachen zu
befragen und diese zeigen einen erstaunlichen Reichtum an präposi-
tionalen Formen, welche ohne Zweifel einst nebeneinander bestanden
haben. Von diesem alten Reichtum haben nun die Dialekte manches
erhalten, was die Schriftsprache verloren hat Für not hat das
Richtige bereits Bechtel zu Collitz Samml. n. 1479 ausgesprochen.
Es entspricht genau dem lettischen jpl und weiter dem lit jn, wel-
ches sieh mit m in miCw (J. Schmidt E. Z. XXVI 23) deckt Vol-
leren Anlaut neben pi zeigt ai. api, gr. int, neben pi lit qpä und
diesem letzteren vergleicht sich wieder inei, die Konjunktion. Die
Ausdrücke ngö^ea^g, praepositio, trvrdecffM^^ conjunctio sind bekannt-
lich rein äußerlich und es besteht in Wahrheit ursprünglich kein
Unterschied darin, ob diese »Richtungsadverbien« oder »Verhältnis-
wörter« zu einem einzelnen Worte oder zu einem Satzgefüge hinzu-
treten. Vgl. Grassmann E. Z. XXIII. 559 ff. Auch nog ist nicht
auf griechischem Boden aus noii entstanden. Ich habe es de dial.
Thess. 54 n. mit lit. pas^ lat pos-t (pos-sideo) verglichen. Wenn
Bechtel Bezzb. B. X 287 ff. nog aus *nötc erklärt, so ist das sehr
möglich, nur muß man den Vorgang seiner Entstehung in eine vor-
griechische Periode setzen, was lat ab-s (a^), sas, osk. cuf (Bechtel
a. a« 0.) got U8 aus ud-{- s (nach Bezzzenberger ; ai. ud, kypr. t!
8. unten) als möglich zeigen. So erklärt sich auch f^o- in fMcmocf»,
Baunack, Studien auf dem Gebiete d. Griechischen u. d. arischen Sprachen. LI. 441
fibiina, fkiOipa als §$st -f C» welches sich zu §$sta stellty wie ntlg zu
na%i and nsvd.
Denn auch dieser Präposition muß wieder zn ihrem Rechte ver-
holfen werden. Die Grammatiker (Meister I, 117) nennen sie äoliscb
für fketd. Belegt ist sie freilich nur in dem koischen Monatsnamen
üstaYBitviOQy 'Vo;^ während im Lesbischen neda für fA€td erscheint.
Deswegen aber die Graramatikerttberlieferung unberücksichtigt zu las-
sen und für Ustaysttv^og eine Vermischung von Usda- (dessen Verhan-
densein in Kos nicht einmal feststeht) mit Meta-yttTPio^ anzunehmen,
ist unerlaubt. Wie sich kret. noQtt zu pamph. ncgt-^id^ue (GoUitz
Samml. 1261) osk. pert^ wie ngari zu lett. preU^ pretim (pretm = gr.
*nQ€ta\ nqoQ zn äol. nqi^ (Meister I, 44 ; für nQi%q\ iv^ ivi zu iv^ so
verhält sieb no'd zu ns%d und, fahre ich fort, auch nodk in iktcnoi^
zu nedd. Daß die Präpositionen so häufig e- und o-Färbung neben-
einander zeigen, wie auch inat neben lit. api^ beruht auf ihrer leicht
yeränderlichen Stellung und Betonung und auf ihrer Abkunft von
einsilbigen Stämmen, die ja jene Vokalverschiedenheit auch zeigen
(Gott gel. Anz. 1886. 764). Es ist klar, daß etymologisch (utd,
netdj ntdd und ihre Verwandtschaften nichts mit einander zn thun
haben. Man könnte alle drei »Richtungsadverbien < Wurzeln zu-
weisen, welche eine Bewegung nach einem Ziele sehr lebhaft aus-
drücken: fHtd zu mitto^ lit mdü »werfet, mtd zu nHofkM^ peto nnd
nsdd zu ai. pad fallen, hinzugehn u. a. (Gnrtius Grdz. ^ 245).
Doch kehren wir zu Baunack zurück, dessen »Thessalicac der
Leser ganz kennen gelernt hat. Die übrigen Abschnitte seines Ba-
ches sind nicht viel besser. Ueberall zeigt sich derselbe Mangel an
Schärfe und genauer Beweisführung, dieselbe Vernachlässigung wich-
tiger und nahe liegender Momente. Dazu tritt noch die eigentüm-
liche Art, mit welcher B. ihm unbequeme Ansichten anderer einfach
verschweigt und auch Vorgänger in seiner eigenen Meinung gar
nicht nennt Seine »Cyprica« S. 16—18 geben hauptsächlich eine
Besprechung der kypr. Präposition v und ihre Vergleichung mit
»arischem ud-, w (d. i, ud'{- s)< , aber mit keiner Silbe wird er-
wähnt, daß eben diese Vergleichung sich schon auf S. 117 vonBrng-
manns Gn Gr. findet, obwohl er auf die nämliche Seite dieses Bu-
ches ein wenig später (S. 23) selbst verweist*).
Bei der Erklärung des Namens der Dichterin Wampm, Sang>m
aus ^Vaks^iXa (S. 56 ff.) wird der ähnliche Name des attischen
Demos V^aq>lda$ (Wachsmut Hell. Altert. II, i. S. 436) gar nicht er-
wähnt, obwohl ein Zusammenhang doch nicht unmüglich erscheint
1) Beide haben auch die unrichtige Erklärung von abaktr. U8 aus ud + 9;
Tgl. vielmehr Bezzenberger Kuhns Beitr. VUL 8. 863 ff.
442 Gdtt. gel. Ans. 1887. Nr. II.
S. 66 wird *A(pQ$x^ von ^Atfqodttfi hergeleitet mit Beziehung auf
den ÄBtarte-Aphroditekult der Karthager. »Unter *J[(pQttij verstand
das Altertum nur das Oebiet von Earthagoc beginnt der Abschnitt;
freilich: nur die römische Provinz Africa, Denn der Ausdruck
*A<pQ$Mij (^AtfQinavoQ n. ä.) findet sich erst in der Zeit des römischen
Einflusses und Griechen wie Römer bezeugen, daß die Oriechen
»Africac vorher Libyen genannt hatten: z. B. Plin. h. n. 5, 1: Afri-
cam Graeci Libyam appellavere. Wäre der Name Africa griechischer
Entstehung, so müßten lat. Afer^ Africa griechische Lehnwörter sein,
und daß das a und das f dieser Wörter eine solche Annahme in
gleicher Weise verbieten , ist B. gar nicht in den Sinn gekommen.
Derselbe Einwand widerlegt seine Etymologie von Eianavia S. 74
(stg IJavtay (>Colonialbesitz<) nXstvl)
S. 69 ff. wiederholt B. die Zusammenstellung von ElUi(h)M mit
iXtv^m, die bei alten und neuen Etymologen bisher die herrschende
gewesen ist. Nur faßt B. die Göttin nicht als »die Kommende« auf
(nagd td iXsv3m to naQaylPia&at. Hrdn. II, 499. 24 oder anders:
naqd td ilev^av elg gfwg d& avt^g %ä uKtöficra EU Gud.) , sondern
mit Meister als die »welche das Kind gebracht hat oder bringt«
von dem transitiven (kret.) ilfv^m ich bringe. B. versucht einge-
hender als seine Vorgänger eine lautliche Ableitung der vielen sehr
verschiedenen Formen zu geben. Aber ganz vergeblich. Denn wenn
er, um das alte €$ der zweiten Silbe (für welches <; erst durch Ita-
cismns eintritt) zu erklären, sagt: *Elij^vta »wird zn 'Elsi&vta^ auch
im Monatsnamen ^Elsi&vaifav (Bischoff, Leipz. Stud. VII, 408), vgl.
tidskua för xi&fina (z. B. CIA. 403, 27 ; 'Eif.^Aqx. 1884, p. 138 Z.44),«
so wird gewiß niemand, der sich durch die vielen Citate nicht blen-
den läßt, diese einzige Analogie, die das nur scheinbar ist, flir einen
Beweis halten. Es fehlt hier noch ein Gitat aus G. Meyer's grie-
chischer Grammatik, welche B. sonst so gerne heranzieht; § 71,
S. 86 der 2. Auflage heißt es: *zi^€t*a ist aus %i&^»a nicht auf
lautlichem Wege entstanden, sondern durch die Analogie von sha
hervorgerufen : ^xa : eha = S&tjxa : %i^e$»a€. Dazu kommt , daß B.
sich um die Belege der einzelnen Formen gar nicht kttmmert, son-
dern diese einfach aus Wörner (Sprachwissenschaftl. Abhandl. Leipz.
1874) abschreibt, dessen Unzuverlässigkeit und Unvollständigkeit ich
Gott gel. Anz. 1886, S. 763 ff. dargetan habe. An derselben Stelle
habe ich gelegenlich der Wörter auf -vta eine neue Erklärung von
Etlit'OvMc als »der in der Bedrängnis schnellen« gegeben. Ich führe
als Ergänzung der Belege noch folgende boot. Formen an: Etit&k/
Collitz Samml. Nacbtr. 406 nio, ElXs$&$ifi ebd. 747 ci^s nnd*Eh^$ofSif
ebd. 406 ms. Dieselben enthalten lediglich die Bestätigung meiner
Baufiack, Stadien auf dem Gebiete d. Griechischen u. d. arischen Sprachen. I. 1. 443
Ansicht ttber den zweiten Teil Im ersten Bestandteile «tX«i- sehe ioh den
Lok. Sg. eines im hes. eXksa belegten *elXog^ das von $iXlt» abzuleiten ist
Neben diesem Verbam kommt auch etkXmy Mim, liXiw^ iXlta vor und dazu
gehören tiXsdg, eXXfj, IX^, lX$rh ^^Xiitaog (Onrtius Ordz. 568 ff.) Zu dem hier
öfters erscheinenden * und dem attisch genannten Asper von ttXXm
stimmen auffällig die Namensformen, welche auf einigen attischen
Darstellungen der von Eileithyia unterstützten Geburt der Athena
aus dem Haupte des Zeus erscheinen: Die Vase des Brit. Mus. No.
564, abgeb. Monnm. ined. III, tav. XLIV (6. Jahrb.), zeigt neben
HEPA, nO^ElAON u. a. HIAEIGVA; Brit. Mus. No. 741 abgeb. Gerb.
Vasenb. 1, 3. 4 steht linksläufig HIAFIOVA (cf. Löscbcke Arch. Z. 1876
Bd. 34, S. 118; der Katalog des Brit. Mus. giebt HIAEI<t>VA; Ended.
5. Jahrb.) Neben diesem ^IXsl^va zeigt eine Vase, welche attische
Nachahmung einer korinthischen Vorlage ist (daher z. B. ABEVZ ;
vgl. Löscbcke a. a. 0. S. HO; im Berlin. Antiqu. No. 1074, Furt-
wängler 1 , 242) BFl^EIOVA d. i. 'EXsi&va. Hier liegen also die
gleichen Lantverhältnisse vor, wie in BlXXiA^ iXfi, Ihyi u. s. w., doch
gestehe ich, daft ich zu einem klaren Verständnis dieser Formen nicht
vordringen kann. B. hätte aber kaum jene Erklärung in Schutz ge-
nommen, wenn er diese alten Formen gekannt hätte.
Der zweite Teil des vorliegenden Buches bringt die Inschriften
aus dem Asklepieion von Epidauros, welche P. Eabbadias in der
^EipinktQi^ dgxa^oXtrintj 1883—85 veröffentlicht hat. Der Abdruck ist,
soviel ich sehe, genau und Bemerkungen anderer Gelehrten, die sich
inzwischen allerdings wieder vermehrt haben, sind fttr den Text be-
rttcksichtigt. Von B. selbst rühren einige gute Ergänzungen der ver-
stümmelten Inschriften und die sachlichen und sprachlichen Anmer-
merkungen her. Die letzten nehmen auch hier den breitesten Raum
ein; sie sind ihrem ganzen Charakter nach denen des ersten Teiles
entsprechend. Als Beispiel führe ich eine Anmerkung zu der Inschrift
des Julius Apellas an. (B. No. 60, S. 110 ff. =^ *E^. dqx. 83, 227
SS von Wilamowitz-MöUendorf, Isyllos von Fpidauros. Philol. Unters.
XI. Heft, S. 116 ff.) Dieser karische Sophist suchte und fand wäh-
rend oder nach der Regierung des Antoninus Pius Heilung in Epidau-
ros and schrieb die Geschichte seiner Heilung natürlich in seiner
Sprache ) d. b. der gebildeten Sprache seiner Zeit, auf. Trotzdem
entdeckt B. bei ihm »eine recht interessante«, dialektische Form:
X^eifAcvoi, welches der Stein Z. 20 bietet, soll zu xQ^(r&a$ gehören
und mit der Schreibung €$ fttr 17, »wie lokr. MaX6lfi€Pog€ genau dem
kret xQ^f^^og GIG. 2554, I, 61 entsprechen ! Dass in der vierten Zeile
Apellas das Part. pr. zu xQ^^^^* xQ^f^^^s bildet, daß sonst in der
Inschrift nie et fttr 17, aber fast stets fttr i geschrieben wird, daft
444 Gott. gel. Änz. 1887. Nr. 11.
also ancb nsxQs^pLsvog Z. 18 nicht zn x9^^^^ gehören kann, daBder
Sinn in der Verbindung {p)ä7w$ Kai aialp iu%qe^fkiyoq and xif^ifurog
f$iv %oU oXal ual fai*<*> yanv(fi) iygm ^lyt^aa, XovfAfvoQ di av* fi-
yifia es notwendig macht, diese Formen von xQUc&a$ abzuleiten,
alles das bemerkt B. gar nicht! Er merkt es nicht, trotzdem von
Wilamowitz nicht nur die richtige Uebersetznng »sich abreibenc, sondern
ancb die notwendige Verbessernng xQBMfjuroc gegeben hatte, welche
B. ohne weiteres darch die Worte »entschieden mit Unrecht« abtun
zu können glaubt, ohne sich um ihr Verständnis zu bemühen ').
Im Anschluß an den Päan des Isyllos giebt B. Etymologieen zn
na$ij€9yy *An6XXmv und *AanXdmo^^ die ich nicht weiter besprechen
wilL Ich mache B. nur darauf aufmerksam, dafi die Thessaler durch-
aus nicht »nur« die Präposition an für dno kennen (de dial. Theos.
46), und daß er das Verhältnis von lAniXlmv zu ^AnoXXtav gänzlich
auf den Kopf stellt, wenn er sagt: »jQngere Zeiten erneuerten in
Yolksetymologischer Art durch *AniXX«av den ursprtinglichen Sinn, an den
diese dorische Form wegen ihres Anklanges an dnsXäv mehr er-
innert, als ^An6XXmv€. Denn ^AniXXmv ist weder ausschließlich do-
risch, noch in »jüngeren Zeiten« gebräuchlich, im Gegenteil außer
in Personennamen nur in den ältesten Inschriften belegbar. Ich ver-
weise auf die Belege, welche ich Bezz. Beitr. IX. 327 ff. gegeben,
wo ich in den verschiedenen Formen dieses Götternamens alte Stamm-
abstufung nachgewiesen habe. G.Meyer ^ S. 33 stimmt im wesent-
lichen bei. Jetzt sind an neuen Belegen besonders kypr. *An€lXm$^$
(Deecke Berl. philol. Wochenscbr. 1886 S. 217) und ion. ^AniXXmr$
(Naukratis I, Plate XXXII, 104, E. Gardner) zu nennen. — Bei
seiner gänzlich haltlosen Etymologie von Asklepios erwähnt und be-
rücksichtigt B. gar nicht die wertvollen Bemerkungen , welche von
Wilamowitz an die Stelle des Isyllos inttiX^tr^v di viv AfyXag futtffoq
*Aa»Xdnkov iiv6(kai$ *An6Xhoy (S. 92 ff.) geknüpft hat.
Königsberg i. Pr. Walter Prellwitz.
1) Die Inschrift ist an Schreibfehlem nicht arm und es wäre deswegen ver-
fehlt, j|f^<*^firo( mit Oewalt zn yerteidigen. Daher mnS auch der Einfall, es
könnte hier zunächst < und t« nach * geschwunden {j^l - XQ*** Hes.) and nach
der Analogie dieser Formen auch o getilgt sein, unterdröckt werden. Auch bei
Luc. Alex, haben in dem Verse:
die besseren Hdss. /^»«fr^ff» statt 0» xQ*o&tt§,
*
Enbel , Geschichte der oberdeutschen (StraCburger) Minoriten-Provinz. 446
Geschichte der oberdeutschen (Straiburger) Minoriten*Provinx. Mit
Unterstützung der Görres-Gesellschaft herausgegeben von Konrad Enbel,
Mitglied dieser Provinz im Konvente zu Warzburg. Erster Theil : Text.
Zweiter Theil : Anmerkungen. Würzburg, 1686. YIII und 408 S. 8^
Eine sehr will^ommne Gabe, zunächst für den EirchenfaiBtoriker,
dem hier aas gründlichem Studium sowohl der gedruckten als der
archiyalischen Quellen eine umfassende Darstellung des im Titel an-
gezeigten Themas geboten wird ; sodann aber auch für den Litterar-
historiker, da viele bedeatende Namen und Mitglieder des Francis-
canerordens alter nnd neuer Zeit in der deutschen Litteratar anf-
treten, die hier ans nea erschlossnen Quellen genauer geschildert
werden, als bisher geschehen konnte. Es ist besonders auf das auf-
merksam zu machen, was E. 29 f. nnd 251 f. über Berthold von Be-
gensbarg mitgeteilt ist. Die päpstliche Balle, darch welche Albert
dem Gr. die Kreazpredigt aufgetragen worden, war bisher nor dem
Argument nach bekannt (Potthast M. 18491); hier wird dieselbe
ihrem ganzen Wortlaute nach mitgeteilt Sie hat sich als In-
sert einer Urkunde Alberts erhalten, in welcher dieser Qehttlfen za
seiner Kreazpredigt bestellt. Einer dieser Gehfllfen war der be-
rühmte Prediger Brader Berthold von Regensbarg, dessen Gedächt-
nistag auf den 14. Dec. (1272) festgestellt wird. »Berthold, beißt
es S. 30 f., hinterließ, abgesehen von zweifelhaften deatschen Schrif-
ten, folgende lateinische Werke: 1. De religiös» vit» institatione,
2. Expositio Apocalypsis S. Johannis Apostoli, 3. Predigten. Wäh-
rend jedoch die beiden ersten Schriften bis jetzt nicht wieder anfge-
fnnden wurden , sind gemäß der sorgsamen Forschung von Jakob
folgende Predigtwerke von ihm in einzelnen oder mehreren Codices
erhalten: 1. Rasticanus de Dominicis, 2. Rusticanus de Sanctis, 3.
Commune Sanctorum Rusticani, 4. Sermones ad Religiöses et quos-
dam alios, 5. Sermones speciales sive extravagantes. Durch den
verdienstvollen Forscher P. Fidelis a Fanna 0. S. Fr., der den bis-
her unbekannten Prolog Br. Bertholds zu seinen Sonntagspredigten
aufgefunden, sind wir endgiltig aufgeklärt ttber dessen nächsten An-
laß zur Niederschreibang seiner Predigten (in lateinischer Sprache,
während sie in deutscher gehalten wurden). In diesem Vorwort
klagt nämlich Br. Berthold darüber, daß seine Predigten von wenig
anterrichteten ZuhOrern aufgezeichnet worden, wobei viele Irrtflmer
sich eingeschlichen hätten. Er habe sich deshalb genötigt gesehen,
seine Predigten selbst niederzuschreiben , damit nach diesen lateini-
schen Aufzeichnungen die deatschen Nachschriften berichtigt werden
möchten nnd die Irrtümer nicht unter das Volk kämen«. P. Eabel
berichtet in gleicher Quellenmäßigkeit ttber David von Aagsbarg,
446 Gott. gel. Ans. 1887. Nr. 11.
Lamprecht von Regensburg und andre hervorragende Mitglieder des
Ordens, S. 31 ff. Interessante Untersachnngen sind über Jobann
Pauli, den Verf. von »Schimpf und Ernste and Heransgeber von
Oeilerschen Predigten, geführt, der hier von dem Paal Pfeddersheimer
bestimmt gesondert wird, mit dem ihn E. Veith nnd nach ihm alle
Lit.-Historiker zusammengeworfen war. »Aus der ohne Zweifel ver-
lässigen Angabe Huebers (Dreif. Chronik S. 563 ff.), der den Jo-
bannes Pauli wohl kennt, ergibt sich nicht der geringste Anhalts-
punkt, daß Paul Pfeddersheimer zuerst Eonventual, dann Observant,
dann wieder Eonventual geworden ist, was doch bei der Annahme
seiner Identität mit Johannes Pauli der Fall sein mttftte, da letzte-
rer 1479 als Eonventual erscheint, ersterer aber 1499 als Observant.
Direkt spricht aber gegen diese Identität der Umstand, daß der
Uebertritt des Paul Pfeddersheimer zu den Eonventualen im Jahre
1508 und bezw. 1509 erfolgte, während doch Johannes Pauli von
1506 bis 1510 als Guardian des Eonventualenklosters Strasburg er-
scheint Es ist aber auch nicht anzunehmen, daß Johannes Pauli
mit Paulus Pfeddersheimer wenigstens das gemeinsam gehabt habe,
daß er gleich diesem ein getaufter Jude war. Denn es existiert hie-
für kein weiterer Anhaltspunkt als jene tHerzensergießung, durch
welche sein erbitterter Gegner Peter Wickgram (Neffe Geiler's) sei-
nem Zorne ttber die von Joh. Pauli (angeblich interpoliert) heraus-
gegebenen Predigten Geiler's Luft machte; diese hier gemeinte An-
spielung auf Pauli's Judaismus läßt sich aber wohl »in einem figür-
lichen Sinne deuten, als ob Pauli dabei nur nach unredlichem Ge-
winne gestrebt habe«. Weitere Mitteilungen aus dem anziehend ge-
schriebenen Werke gestattet der zugemessene Raum nicht.
E. Goedeke.
Erklärung.
Die von Herrn Professor de Lagarde in Nr. 8 dieser Anzeigen
S. 297 Anm. gebrachte Zusammenstellung einiger Sätze aus seinen
»persischen Studien« und aus meiner Besprechung derselben im »li-
terarischen Centralbiatt« sowie die darin geknüpfte ironische Bemer-
kung sind geeignet, einen bösen Schein auf mich zu werfen. Zur
Klarstellung der Sache gebe ich hier meine Worte unverktirzt und
in ihrem vollen Zusammenhang und stelle Lagardes Worte wieder
daneben. Was oben S. 297 fehlt| schließe ich in eckige Klammern.
Ndldeke, Erklärung. 447
Lit. Centrabl. 1884, 21. Juni, Sp. 888.
[Lagarde bespricht dann, wie es mög-
lich werde, zu einem wirklich guten
persischen Lexikon für Europäer zu
gelangen. Vollkommen stimmen wir
darin mit ihm Überein, daB ein solches
nicht auf einige in Indien verfaßte Wör-
terbficher gebaut werden darf, eben weil
dieselben sehr viel Falsches und Zwei-
felhaftes enthalten. Ob die noch auf-
zutreibenden altern persischen Wörter-
bücher sehr vollständig und genau sind,
bedarf erst der Untersuchung. Eine so
vorzügliche lexikalische Grundlage, wie
Dschauhart für den arabischen Wort-
schatz, hat es sicher für den persischen
auch nicht anntüiernd jemals gegeben.] Lagarde, Pers. Studien 166.
Üebrigens hiefie es die Lösung der Auf- Wol aber hebe ich hervor, daß ... ein
gäbe ins Unabsehbare verschieben, wenn persisches Wörterbuch nicht allein durch
man warten wollte, bis alle etwa brauch- Zusammenstellung und Sichtung der in
baren persischen Werke dieser Art [in den im Oriente verfaßten Wörterbüchern
guten Ausgaben] gedruckt vorlägen. Die enthaltenen Stoffes zu stände kommen
Hauptsache muß unseres Erachtens für darf : daß vielmer diese bücher nur
den Verf. eines persischen Lexikons doch das fachwerk liefern sollen, in welches
die sein, daß er die Schriftsteller selbst, das aus der beobachtung des sprachge-
vor Allem das Schähnäme, gründlich und brauchs der freilich erst noch heraus-
umsichtig ausbeutet. Besonders er- zugebenden persischen klassiker gewon-
wünscht wäre die Durchforschung alter neue material eingeordnet wird.
Prosawerke [wie des persischen Tabart],
in guten alten Handschriften [, wie der
Qothaer. Aber wir behaupten, daß der
rechte Mann sogar schon aus den bis
jetzt gedruckten persischen Texten zwar
kein vollkommenes, aber ein sehr gutes
Lexikon herstellen könnte: es müßte nur
eben der rechte Mann seinl]
Lagardes Bemerkung zu seiner Zasammenstellaog lautet:
Man wird billig eine Kritik bewundern, die als Berichtigung eines Schriftstellers
dem mit dem kritisierten Buche unbekannten Publikum die Ansichten des Beur-
theilten auftischt, und aus Eigenem nur einen Fehler hinzufügt. Denn aus dem
Schähnäma wird man etwa zwei Fünftel des Wortschatzes der neupersischen
Sprache erhalten: drei Fünftel werden fehlen.
Man flieht nun aber 1) was ich hier sage, tritt nicht als »Be-
richtigang« des besprochenen Buches auf, 2) der Sinn meiner Worte
ist nicht so weit mit dem der Lagardischen identisch, wie er behanp-
tet. Ich messe den lexikalischen Arbeiten der arabischen Philologen,
welche anch in Zukunft die Grandlage unsrer arabischen Wörter-
bQcher bleiben müssen, einen weit höheren Wert bei als denen der
persischen, and rede gar nicht davon, daB^der Stoff der persischen
Originallexika als Fachwerk fttr ansre künftigen persischen Wör-
terbücher za verwenden ist. Lagarde will ferner nar den Sprach-
gebranch der »Klassikerc berücksichtigen, woranter man herkömm-
licher Weise die berühmten Dichter and sonstigen Belletristen ver-
steht; ich weise nachdrücklich auf die alten Prosawerke hin, na-
448 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 11.
meatlicb aaf das älteste größere Bach in neupersischer Sprache, den
persischcD Tabar!. Daß freilich das Scb&hn&me auch für den persi-
schen Lexikographen das allerwichtigste Werk ist, meine ich heute
nochj obwohl Lagarde das als einen »Fehler« bezeichnet.
Straßbarg i. E. den 11. Mai 1887. Th. Nöldeke.
Erwiderung.
Weon Herr Professor Köldeke erklärt, die von mir an angeführter Stelle
wiederholten Sätze nicht als »Berichtigangc angesehen wissen za wollen, so ist
eine Abwehr unnöthig.
Classiker in des Wortes eigenster Bedeutung sind diejenigen Schriftsteller,
die dem Qedanken- und Gefühlsinhalte einer bestimmten Epoche einen in der
Form vollendeten Ausdruck geben. Classiker in diesem Sinne hat Persien sehr
wenige. Firdusi mit Einem, Nisami mit drei, Sadi mit zwei Werken von vie-
len, Omar Kayy&m, Dscheläleddtn, Hafis, Dschami — dann sind wir fertig.
Und für das Wörterbuch — nicht die Phraseologie •— ist von diesen auSer Fir-
dusi nur Nisami von Belang. Da Niemand ein Recht hatte zu der Annahme,
daB ich diesen Sachverhalt nicht mindestens ebenso gut wie irgend ein anderer
Zeitgenosse kenne, so ergab sich von selbst, daS ich das Wort Klassiker in einem
weiteren Sinne verstanden habe: man redet ja unter Umständen auch von Kir-
chenvätern in einem weiteren Sinne als dem nur die bekannten Acht umfassen-
den. Auch die persische Uebersetzung Tabaris und ähnliche, mir wohl bekannte,
zum Thei! vor Jahren von mir kopierte Bücher liefern das nicht, was uns not
die Wörterbücher der Eingeborenen gewähren, Kenntnis der im gewöhnlichen
Leben (der Techniker) umlaufenden persischen Vokabeln. Trotz der Einrede
Nöldekes bleibe ich bei der Aussage stehn, daß drei Fünftel des Sprachguts uns
nur durch die einheimischen Lexikographen bekannt sind, deren Quellen für ans
nicht mehr oder noch nicht wieder fließen.
Was ich über das Schähnäma geschrieben habe, bitte ich bei mir selbst
nachzulesen. Ich habe gar nicht in Abrede gestellt, daß unter den Texten das
Schähnäma der wichtigste ist, sondern nur, daß es für den Lexikographen als
Quelle ausreiche. Ich meine, erst müsse ein Lexikograph dieVokabebi in Reihe
und Glied stehn haben, ehe er Beläge aus »Klassikern« für sie sammelt: ich wie-
derhole es, daß drei Fünftel der vorhandenen persischen Vokabeln im Schähnäma
nicht vorkommen.
Oöttingen 14. 5. 1887. Paal de Lagarde.
Fiki die Badaktion Teraatwortlick : Prof. Dr. B^htd, Direktor der Oött. gel. Ans.,
AfaesBor der Königlichen Gesellecliaft der WiseensehafteB.
T^rlae der J)üUHeh*9chm YurU^ 'BvehhoMOmtg,
Dmek der DieUriOetehm Üni9,-B«ehdr%€i§rei (Fr, W. Mauitm).
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Gröttingische
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
derKönigl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Nr. 12. 10. Juni 1887.
Preis des Jahrganges : UK 24 (mit den »Nachrichten d. k. G. d. Wiss.c : Ji 27).
Preis der einzelnen Nummer nach Anzahl der Bogen: der Bogen 50 ^
Inhalt: Paitor, Oesdiiehte der Pftpite seit dem Aoagtug des Mittelalters. I. Von «. JhttffA.
— MoiiniBeBta Oenuaiae Paedagogiea. I. Von «. Seäkoürk.
= Qfienniftciitlger Abdruck von Artikeln der G6tt. gel. Anzeigen verboten. =
Pastor, Ludwig, Dr., a. o. Professor der Geschichte an der Universit&t Inns-
bruck, Geschichte der P&pste seit dem Ausgang des Mittel-
alters. Mit Benutzung des p&pstlichen Geheim- Archives und vieler anderen
groBen Archive bearbeitet. Freiburg i. Er. Herder 1886. Bd. I. ym, 728 S. 8^
Neben dem angeftlhrten Gesamttitel seines großen Werkes,
welehes in sechs Bänden erscheinen soll, hat der Verfasser dem
vorliegenden ersten Bande einen besonderen Titel gegeben: »Oe-
schiehte der Päpste im Zeitalter der Renaissance bis znr Wahl
Pias IL«. Aus der Vorrede ist zu ersehen , daß die ursprüngliche
Absicht war, auch noch die Regierung des Piccolomini in diesem er-
sten Bande znr Darstellung zu bringen ; aber die Rücksicht auf des-
sen Umfang bot Veranlassung, diese Aufgabe dem zweiten Bande
zuzuweisen. Der Verf. nimmt für sich in Anspruch, daß er »von der
Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts an, welche die Wende zwischen
zwei großen Zeitaltern und das eigentliche Ende des Mittelalters
bezeichne, systematisch die Römischen Archive durchforscht
habe«; dabei sei ihm klar geworden, daß das Wort von Pertz:
<Petri Schlüssel sind noch jetzt die Schlüssel des Mittelalters' auch
für die neuere Zeit Geltung habe. Diese neuere Zeit betrachtet
er als sein Arbeitsfeld. Wenn man nun mit Pastor, S. 460, den
Fall Eonstantinopels als Grenzscheide annimmt, so hat P. von den
vierhundert Jahren, welche er durchforschen will, bis jetzt nur fünf
Jahre bearbeitet, und ein Decennium, wenn, der von P. oben gewähl-
0«tt. gal. Ans. 1887. Nr. 12. 32
450 Gott. gel. Adz. 1887. Kr. 12.
ten Einteilang entsprechend, die Tbronbesteignng Nikolans V. als
Anfang genommen wird. Man darf demnach zweifeln, ob der Ver-
fasser sich fttr die Fortsetzung seiner Arbeit einen Plan festgestellt
hat. Doch mag er dieses mit sich selbst abmachen. In dem bis
jetzt vorliegenden Bande begreift je ein Bach, das dritte und vierte,
nur ein einziges Pontifikat, Nikolaus V. und Calixt III, während in
dem zweiten Buche zwei Päpste, Martin V. und Engen IV. , abge-
handelt werden. Das erste Buch umfaßt die Zeit von 1305 — 1417,
und ist nicht mehr nach Pontifikaten eingeteilt, sondern bespricht in
drei Kapiteln: 1) Die Päpste in Avignon, 2) Das Schisma und die
großen häretischen Bewegungen, 3) Die Synoden von Pisa und Kon-
stanz. Eine Einleitung ist der litterarischen Renaissance in Italien
gewidmet, welche P. in die falsche heidnische nnd die wahre christ-
liche einteilt Das Vorwort rechtfertigt das Erscheinen des Werkes
durch den Hinweis auf Rankes »vielgelesenes Werk, welches den
Ruf dieses bedeutendsten von allen protestantischen Historikern
Deutschlands begründete, aber im Wesentlichen den Standpunkt der
Forschung in den Jahren 1834—1836 bezeichnete. Da Ranke nur
»die Päpste im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert« schildern
wollte, nach Pastors Bemerkung in der Vorrede aber auch der zweite
Band seines Werkes sich noch mit dem 15. Jahrhundert beschäftigen
wird, so dürfte diese Oegenüberstellung »Ranke-Pastor« kaum
als glücklich gewählt erscheinen, ganz abgesehen von — einer an-
deren sich aufdrängenden Frage.
In der Vorrede gibt der Verfasser einen Bericht über die wich-
tigsten Archive, welche er durchforscht hat. An erster Stelle steht
das durch Leo XIII. eröffnete päpstliche Oeheimarchiv und andere
Archive geistlicher Behörden zu Rom, welche bisher der historischen
Forschung fast vollständig verschlossen waren: das Konsistorial-
archiv^), die Archive des Lateran, der Inquisition; der Propaganda,
der sixtinischen Kapelle, der Sekretarie der Breven. Auch die Va-
tikanische Bibliothek und die Bibliothek von S. Peter wurden ausge-
beutet, zugleich die übrigen Römischen Sammlungen untersucht.
Nicht minder wandte P. seine Aufmerksamkeit den wichtigsten Ar-
chiven und Bibliotheken in den anderen Städten Italiens zu, er
rühmt die großartige diplomatische Korrespondenz der Sforza im
Mailänder Archiv, deren Lücken er in der Ambrosianischen Biblio-
thek und in der Nationalbibliothek zu Paris ausfüllte, und die an-
1) Dieses Archiv bespricht auch A. Gottlob im Görres Jahrbach VI, 271«
£r steht in Widersprach za F., mit dem er nar darin übereinstimmt, da£ sich
der Eingang zu dem Archir in dem Damasushof befindet. P. hebt hervor, daB
er sich seine Notizen 'unter Schwierigkeiten und Hindernissen' aller Art machte.
Pastor, Geschiclite der Päpste seit dem Ausgang des Mittelalters. I. 451
geahute Ftille von größtenteils noch unbekannlen Akten, welche er
in Florenz, Siena, Bologna, Venedig and Mantaa gefanden habe.
Aach in Frankreich and Deatschland sachte er nach Ergänzangen
and »hatte die Freade, an manchen Orten, z. B. in Aix in der Pro-
vence, sowie in Trier schöne and wertvolle Fände za ma-
chenc. Die Uebersicht über die f&r diesen ersten Band benatzten
Archive and Bibliotheken füllt sechs Spalten, das Verzeichnis der
Litteratar zweiandzwanzig Seiten, anter dem Text finden sich Gitate
aas Handschriften and Dracken, darnnter manchen teils in Wirklich-
keit, teils angeblich seltenen, in reicher Fülle, im Anhang sind in 86
Nummern Aktenstücke, sowie einzelne Aasführangen über ganze
Handschriftengrappen beigefügt, kurz — man gewinnt den Eindruck,
als ob der Verfasser, der Größe seiner Aafgabe entsprechend, die
ausgedehntesten und gründlichsten Stadien gemacht habe. Auch für
die ersten Abteilungen ist auf handschriftliche Studien verwiesen;
von den 86 Nummern des Anhangs beziehen sich 30 auf die Zeit
vor 1447, welche demnach auch nicht zu kurz gekommen ist
P. ist ein Schüler von Janssen. Auch bei Janssen berührt es
keineswegs angenehm, daß in die Erzählung Stücke aas den Wer-
ken anderer, mit Vorliebe als »protestantische bezeichneter Autoren
verwebt werden. Janssen braucht bei derartigen Entlehnungen An-
führungszeichen, bei Pastor geschieht dies in der Regel nicht. Wäre
es erfolgt, so würde jedem Leser die Möglichkeit geboten sein, den
kompilatorischen Charakter der »Geschichte der Päpste« sofort za
erkennen. Die einfach aus anderen Werken erborgten Absätze sind
außerordentlich zahlreich; es kommt vor, daß P. rahig ganze Seiten
aus dem einen Autor abschreibt, am dann einem anderen das Wort
za geben. Es leuchtet ein, daß bei einem solchen Verfahren ein
wirkliches Durchdringen des Stoffes nicht einmal versucht werden
kann, es treten Widersprüche der seltsamsten Art za Tage, da Aa-
toren sehr verschiedener Art ausgeschrieben sind. Auf Stellen aas
Höfler folgen Aasschnitte aus Reumont, Qregorovias, Wattenbach,
Jakob Burkhardt, G. Voigt, auch Rohrbacher-Enöpfler und Franz
Eraas kommen zur Geltung neben Aschbachs Eirchenlexikon and
E. A. Menzel ; ja selbst Gsell-Fels wird nicht verschmäht, und wäre
es auch nur, um S. 168 die geschmacklose Phrase anzubringen, daß
»die Geschichte der Engelsburg ein Rombild in der camera obscura
sei«. Es dürfte nicht übertrieben sein, wenn ich behaupte, daß
zwei Drittel des Buches aus wörtlichen Bntlehnungen von neaeren
Antoren bestehn. Es Allt dies äußerlich nicht in die Augen, ob-
gleich Pastor meistens die benatzten Schriftsteller in einer Anmer-
kung anführt, zuweilen ist gesagt: »Das Obige wörtlich nach N.c,
32*
452f Gott. gel. An«. 1887. Nr. 12.
aber Niemand wird z. B. ahnen, daß auf S. 60 — 61 ein mehr ate
eine Seite groAer Ansschnitt aus Höfler steht, welcher mit den Wor«
ten: >Und ferner« lose mit einer Entlehnung aas Körting verknüpft
ist Auf S. 408 folgt P. in der Schilderung Nikolaus V. wörtlich
Gregorovius, VII, 509 :
Gregoroyius VII, 606: Pastor S. 408:
Der Thätigkeit des Copirens ging der- Vespasiano de Bisticci nennt eine lange
selbe Eifer des üebersetzens zur Seite. Reihe von üebersetzongen , welche der
Dies var die edelste Leidenschaft des *edlen Leidenschaft Nicolaas' Y.' ihre
Papstes und ihr verdankt das Abend- Entstehung verdanken. Damals zuerst
land die Bekanntschaft mit einer groften wurden Herodot, Thucydides, Xenophon,
Zahl griechischer Autoren. Damals zu- Polybius, Diodor, Appian, Philo, Theo-
erst wurden Herodot und Thucydides, phrast und Ptolemäus der Wissenschaft
Xenophon, Polybius und Diodor, Ap- zugänglich gemacht. Mit unbeschreib-
pian, Philo, Theophrast und Ptolemäus lieber Lust schöpfte man die helleni-
der Wissenschaft zugänglich gemacht, sehe Weisheit aus den Quellen selbst.
Auch übertrug man viele Schriften des
Aristoteles und Piaton jetzt erst aus
dem Urtext ins Lateinische, nachdem
sie in der Zeit der Hohenstaufen nur
durch Vermittlung arabischer Texte hie
und da bekannt geworden waren. Mit
unbeschreiblicher Lust schöpfte man die
hellenische Weisheit ans den Quellen
selbst.
P. verweist aber nur auf dessen Vorlage, den Vespasiano de Bisticci;
im Uebrigen bemächtigt er sich der Worte des deutschen Schriftstel-
lers , allerdings unter Fortlassung eines sehr wichtigen Satzes.
Wir werden aber dafür entschädigt. Der ausgelassene Satz kommt
auf S. 410, wo Pastor Keumont III, 1, 329 abschreibt, in etwas an-
derer Form zur Gteltung.
Reumont S. 329: Pastor S. 410:
Selbst von Aristoteles kann man sagen. Damals erst ist das Verständnis des
daß das Verständnis seiner Schriften Aristoteles durchgedrungen, dessen
erst in jener Zeit durchdrang, welche Schriften man nun frei von der Ver-
sie in ihrer wahren Gestalt frei von der hüUung der Araber und Scho-
Verhüllung des Mittelalters em- lastiker empfing. Die bis dahin nur
pfing. Die bis dahin nur aus Eompen- aus Kompendien geschöpfte KenntniA
dien geschöpfte Kenntnis der griechi- der griechischen Geschichte wurde zu-
sehen Geschichte wurde zugleich mit gleich mit jener der Historiker geför-
jener der Historiker gefördert. Thucy- dert ; Thucydides , Herodot, Diodor, Po-
dides, Herodot, Diodor, Polybids, Xeno- lybius, Xenophon, Plutarch, Arrian,
phon, Plutarch, Arrian, Appian, Strabo Appian, Strabo n, A. wurden um die
u. A. wurden um die Mitte des Jahr- Mitte des Jahrhunderts ganz oder theil-
hunderts ganz oder theilweiae übertra- weise übertragen. Diese Uebertragun-
Pastor, Geschichte der Päpste seit dem Ausgang des Mittelalters. I. 453
gen. Diese üebertragangen lieBen meist gen liefien meist sowohl in Besag auf
so in Bezug auf Treue, wie auf den la- Treue wie auf den lateinischen Aus-
teinischen Ausdruck viel zu wünschen druck viel zu wünschen übrig, aber es
übrig, aber es war doch eine unend- war doch eine unendliche Bereicherung
liehe Bereicherung des wissenschaftli- des wissenschaftlichen Materials und
chen Materials und geistigen Reichthums, geistigen Beichthums, namentlich eine
namentlich eine Aufforderung zu voll- Aufforderung zu vollkommenerer An-
kommnerer Aneignung. Von Ueber- eignung.
Setzungen poetischer Werke hören wir
wenig.
Es ist schon nicht gerade erbaalicb, zu sehen, daß P. karz nach
einander aas verschiedenen SchriftBtellern zweimal ziemlich dasselbe
abschreibt; aber besonders charakteristisch ist die Art der Verwer-
tung der Renmont'schen Stelle, ßenmont hatte ausgeffihrt, daß die
Frtlchte der Thätigkeit des Papstes Nikolaus »nach einer Seite hin
bedeatendy auf der anderen zweifelhaft« seien. Das vierzehnte Jahr-
hundert habe den Eifer für Sprache ond Litteratur geweckt, aber die
Kenntnis beider sei wenig verbreitet, darum der Wunsch nach Ueber-
setzungen berechtigt gewesen; biefttr habe Nikolaus V. eifrig ge-
wirkt. Nun schildert Reumont den Einfluß Platen's, dann folgt das
Obige. Es leuchtet ein, wie P. durchaus lückenhaft die Ausfahrung
Renmonts wiedergibt, indem er sie anreiht an eine nnglttckliche Ver-
arbeitung des Körting'schen Gedankens, daß es besser gewesen wäre,
wenn sich die humanistische Bildung auf das Hellenentum, statt auf
das Römertum gegründet hätte. P. hat die ziemlich zahlreichen
Stellen, wo Körting diese Thatsache beklagt und die Hofl^nung aus-
spricht, daß künftige Generationen sein Ideal verwirklichen, gesam-
melt und macht daraus das Folgende: »Die bisherige Ignorierung
des Altertums war gleichsam ein Erbübel der Früh - Renaissance.
Daß Papst Nikolaus dieser Einseitigkeit entgegentrat,
kann nur freudig begrüßt werden. Die ganze spätere Entwicklung
wäre eine andere geworden, wenn es gelangen wäre, die humani-
stische Bildung vorwiegend auf das Hellenentum statt auf das ver-
sankene Römertum zu gründen.« Es braucht wohl kaam bemerkt
zu werden, das Körting nichts von diesen angeblichen Plänen des
Papstes Nikolaus gesagt hat; er betont gegenüber der mangelnden
Kenntnis Petrarca's die Verdienste, welche sich Boccaccio am
das Griechische erworben habe. Und Pastor schiebt dem Oberhaapte
der lateinischen Christenheit, demselben Papste, welcher vorzüglich
aaf Herstellang lateinischer Uebersetzungen griechischer Autoren^)
1) Die von Cochläus edierte dem Papste Nikolaus gewidmete üehersetzung
des hl. Ghrysostomus durch Lilius Tifernas durfte auch neben der des Traver-
sari genannt werden.
454 Gott. gel. Ans. 1887. Nr. 12.
hinarbeitete, ohne jeden Schatten eines Nachweises derlei Gedanken
nnter. Aber freilich bietet er seinen Lesern noch andere urteile
ttber denselben Nikolaus V. Auf S. 396 schreibt er, im Anschlag an
Beumont S. 383, von Vegio's Schilderung des Tempels des Probus, vgl.
Oregorovius I, 93, welchen Nikolaus V. einreißen ließ. P. fährt fort:
> Die Gerechtigkeit erfordert , hier hervorzuheben , daß Papst
Nikolaus im Uebrigen großen Respekt vor den Erinnerungen der
alten Basilika und angelegentliche Sorge fttr die Werke seiner Vor-
gänger zeigtet, und weist dann darauf hin, daß Nikolaus ttber die
Erhaltung der Porphyrplatten des alten Fußbodens gewacht und das
Grab Innocenz VII. [!] hergestellt habe. Und in demselben Athem
erzählt er, daß der Papst die in altchristlichen Gräbern gefundenen
Schmucksachen einschmelzen ließ.
Zuweilen unterläßt P., wenn er neuere Autoren abschreibt, sogar
die kurzen Gitate, welche er meist gibt; es scheint hierbei eine ge-
wisse Tendenz obzuwalten. Das Buch von Janus wird Öfter citiert;
wenn es dort von einer Schrift heißt, sie sei um 1450 verfaßt, so
weist P. auf die Ansicht hin, daß vielleicht das Jahr 1449 richtiger
sei; derartige nichtige und kleinliche Polemik treibt er gegen Janus;
wenn er ihn aber wirklich benutzt, vermeidet P. .dies anzugeben.
Man vergleiche z. B.
Janas 8. 354 : Pastor S. 806:
Als Friedrich III. im Jahre 1462 die Als n& ml ich Friedrich III im Jahre
Kaiserkrone aus den Händen des Papstes 1452 die Kaiserkrone aus den Händen
empfing , konnte Enea Silvio in seiner des Papstes empfing, konnte Enea Silvio
Gegenwart erklären : ein anderer Kaiser Piccolomini in seinem Namen und
würde wohl ein Konzil begehrt haben, seiner Gegenwart erklären : Ein anderer
aber das beste Konzil sei der Papst Kaiser würde wohl ein Konzil begehrt
mit den Kardinälen. haben, aber das beste Konzil sei der
Papst mit den Kardinälen.
Janus citiert richtig: »Aeneae Sylvii hist. Frid. III in Eollar
Analecta II, 317c, Pastor: Aeneae Silvii bist. Frid. III, 317, was
natürlich ungenau ist. P. meint, die Aeußerung Piccolomini's kenn-
zeichne die Umwandlung der Ideen unter den Zeitgenossen, welche
sich zum Teil mit überraschender Schnelligkeit vollzog, indem an
Stelle der Begeisterung fttr ein Konzil vielmehr Unlust getreten sei,
das päpstliche Ansehen sich befestigt habe. Bei Janus ist die Er-
zählung der Schlußstein der Erzählung, wie Friedrich III., beraten
von Piccolomini, sich dem Papste verkauft habe. Hätte P. in Wirk-
lichkeit die citierte Quelle oder auch Voigt II, 53 nachgesehen, so
würde er wohl schwerlich auf sie hingewiesen haben. Die ganze
Bede fehlt, nach V. Bayer, in der ersten Redaktion des Werks. Sie
ist ausschließlich zu brauchen, um den Charakter des späteren
Pastor, Gescliichte der Päpste seit dem Ausgange des Mittelalters. I. 455
Pins II. zu zeiehnen, welcher, wie auch Voigt Bchon bemerktOi
die Bede selbst Dachträglich angefertigt hat.
Während Janas darauf hinweist, daß diejenigen Männer, welchen
die Beform der Kirche am Herzen lag, ihre Hoffnungen nicht auf
den Papst, sondern auf ein künftiges Konzil setzten , vertritt unser
Autor die entgegengesetzte Ansicht: »Das Wort ,Konzil' das so viel
Verwirrung angerichtet, begann seine Zauberkraft mehr und mehr
zu Terlierenc Zwar treffliche Männer hätten noch daran festgehalten,
so: Jakob von Jüterbogk, aber: »Es war ein Gltlck, daft die Mehr-
zahl der Zeitgenossen nicht also dachtcc
Der als Vertreter jener erstgenanten Ansicht allein genannte
Jakob V. Jüterbogk wird von P. auf S. 303 — 304 besprochen ^). Von
seiner Schrift ,De Septem statibus^ wird gesagt, daß sie wegen »wilder
Leidenschaftlichkeit und düsterer Hoffnungslosigkeit« sich sehr un-
vorteilhaft von der Denkschrift unterscheide, aus welcher S. 303 Mit-
teilungen gemacht werden. Dies Urteil gewann P., indem Kellners
Ansicht etwas verschärft wurde, die Schrift selbst bat er nicht durch-
gesehen; sonst könnte er nicht sagen: »Kellner (323) und Gieseler
setzen die Abfassung dieser Schrift in das Jahr 1449^), während
Janus (264) sie als ,um 1450^ geschrieben bezeichnete , weil Jakob
selbst schreibt: Gaudet quideni nostris temporibus^ scüicet nunc de
anno Domini 1449 ecdesia de unico et indubitatopastore, scüicet Nico-
loa papa V. Nur eine einzige Stelle, eben diejenige, auf welche
Janus hingewiesen hatte, schlug P. auf und verdrehte sie.
Jakob Tgl. Janas 864: Pastor 304:
Mihi vix credibile videtur, poase eccle- Keine Nation unter den Gl&ubigen
siam generalem reformari nisi curia Ho- stellt der Reformation solchen Wider-
mana fuerit ante reformata. Quod tarnen stand entgegen, wie die italienische, und
quam difficile nt^ curstu temporum prae- zwar aus Hoffnung auf Beförderung, Ge-
seniiwn mantfestat, cum nuUa gens aut winn und zeitlichen Nutzen, aus Furcht
na^io ßdeUum tantam renstentiam faeiat vor Verlust der Würden.
reformatumi uilius ecclesiaet ncut natio
ItaUifet alii eis applau dentesy spe
promotionis aut lucri aut temporalis com'
modi aut iimore ammissionis dignitatum
ligati,
P. erklärt, die Schuld fttr das Erlahmen des anfänglichen
Beformeifers falle weniger auf Nikolaus V, als auf seine italienische
Umgebung. Auf S. 303 hatte er sogar behauptet, daß Jakob von
Jflterbogk auf Nikolaus V. »viel gehalten habe, von dem mehrere
1) Vgl. Kellner in der Tübinger Quartalsch. 1866 , S. 888 u. Pastor S. 804.
Die Erörterung über die Abfassungszeit ist bei beiden verfehlt.
2) EeUner sagt übrigens S. 839, die Schrift sei Jedenfalls nach 1449 ge-
sehrieben.
466 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 12.
seiner Schriften approbiert worden seienc Der Nachweis für das
erstere fehlt, ich wtißte ans Jakobs Schriften kein günstiges Urteil
über Nikolaus V. beizubringen. Voigt sagt I, 409 mit Recht , daft
»Nikolaus als Vater der Kirche auf dem Wege seiner Vorgänger
fortwandelte c ; bei P. S. 280 ist Parentucelli's Wahl »einer der wich*
tigsten Wendepunkte in der Geschichte des römischen Papsttums,
die christliche Renaissance besteigt den Throne. Was die Appro-
bation von Schriften durch den Papst angeht, so ist daraus kein
Schluß zu ziehen auf die Gesinnung Jakobs selbst. Die von P. S. 303
angeführten Stellen beweisen nur, das ftir einzelne von Jakobs
Schriften die Approbation des Papstes Nikolaus erwirkt wurde, wie
dies auch bei Galixt HI. geschah, vgl. Hain 9329 u. 9330. Persön-
liche Beziehungen folgen daraus nicht.
Jakob von Jttterbogk ist übrigens der einzige auf Seite der
konciliaren Partei stehende Schriftsteller, welchen P. erwähnt. Ihm,
dem für die extreme konciliare Idee Begeisterten wird Geiler v. Eai-
sersberg entgegen gestellt, der am besten die Stimmung der »Mehr-
zahl der Zeitgenossen — welche glücklicher Weise anders gesinnt
waren, als der Erfurter Earthänser — Ausdruck gegeben habe«.
Dieser Hinweis ist sehr unglücklich. In Wirklichkeit ist in der be-
trefiPenden Predigt Geilers gesagt, daft die Versammlung der ganzen
Christenheit iküs wann der bapst Manien berüffle die geistlichen und
toeUlichen prdaten, als weit die gane weit isU^ sich nach den Amei-
sen richten solle. Geiler fordert u. A.: »Die omeisen thun die ding
all an ein lerer, niemant fürt sie da, allein Got. Also Got der hK
Geist sol die leren in einem consilio und sunst niemans«, und klagt
daß die Reformation unmöglich sei und es in der Christenheit nicht
besser werden könne, wegen der Verderbtheit der Häupter wie der
Unterthanen. Geiler betont die Schwierigkeit einer allgemeinen Re-
form. Eine Besserung im kleinen Kreise sei leicht, aber ein gemein
reformaeton der ganteen Cristenheü^ das ist hart und schwer und
kein consilium hat es mögen betrachten und weg mögen finden. TVa-
runib^ das wil ich dir sagen, du sihest was grossen hosten und arbeit
daruff gaty wan man nur ein dosier sol reformieren : So mues man vor
gu dem bapst urlob nemen und zudem hönig. Aber wanmandie
döster difformiert, so bedarf es sein luter nüt^ das ist iderman erlaubt^
yederman thut es von ihm sdbert. Dann folgt die von P. angefahrte
Stelle über die erfolglosen Bemühungen des Basler Koncils. Und dar-
auf hin will P. den Geiler zu einem Gegner der konciliaren Ideen,
zum Anhänger des Papalismus machen? Wenn irgend welche Hoff-
nung auf Reform noch gehegt werden könnte, so wäre dieselbe auf
einEoncil zu setzen, aber ich verzweifele — das ist nach meiner Mei-
Pastor, Geschichte der F&pste seit dem Ausgang des Mittelalters. I. 457
nuDg der (bedanke Geilers, der in seiner ganzen Ansftlhrang von
dem Papste nar spricht, um ihn als denjenigen zu bezeichnen, wel-
cher die Reform erschwere. Wenn Pastor nach den Quellen gear-
beitet hätte, so würde er zudem gesehen haben, daß Oeiler an
der betreffenden Stelle den Formicarins Niders vor sich hatte:
Nider I, 7: . Geiler fol. 21 u. 22, (vgl. P. 305):
8i enitn proM^nie genwali eondUo in Im consilium 9U Banl da ist ein man
BanUa in annis sex nee unum quidem [eben Nider] sechs ganzer jar aüein oh
fragüis ssxus monasterium cooperanie dem stuck gewesen, wie man kunt ein
etiam seeulari consulatu reformari po^- gante reformation machen in der eristen-
tuity propter quarundam inhabitantium heit und wart dennocht nUt daraus, w t •-
mtam malivolam ei eisdem astantem m- wol sun st vil guts da gemacht
viOam, quid, queso, sperandum est de ward, als grosse kriege und blutver*
virorum nohilium vel Uteratorum solle- giessen wider die Hussen wart abgestellt.
gOs qui ruinas et deformitates suas in Aber aus dem punetsn wart nüt und
spi9-itualibus exeunies domibus non modo waren sechs ganur jar darob gewesen*
armis calibeis, sed etiam, quae deteriora . . . Das ganz consilium tu Basel was
sunt, verbalibus et ligneis possunt defen- nit so mechtig, daz es möcht ein frauen^
dere f closter reformiren in einer etat, wan die
sta$ hielt es mit den frauen, wie woli da ein consilium die ganz Cristsnhsü r«-
formiren . . . Darumb so stoss ein isgUeter sein haupi in ein winkst in ein loch . . .
Und da wundert sich P., daS dem Biographen Oeilers, Dacheax,
diese abgeschriebene Stelle entgangen sei! Man sollte denken, es
sei gerade sehr bezeichnend, wie Geiler, völlig von Pessimismus er-
füllt, seinen Kopf in ein Loch steckt, während Nider in dem Formi-
carius sowohl dem Eonstanzer als dem Basler Eoncil einige Erfolge
zuerkennt und in der Schrift 'De reformatio ne religiosorum'. Bouquet
S. 219, folgendes niederschrieb: sunt guidam simpliceSy qui ecdesiam
in omni fere statu lapsam graviter putant per unum concilium gene-
rale posse reformari totaiüer. Bona plura facere potest, non ambigo^
generale concämm^ sed non simul reformare omnia. Opus hoc non est
unvus concilii^ sed dierum plurium^ et fortassis numguam hoc fiä^ sicut
et in retractis iam temporibus numquam ecclesia diu stetit sine defor^
matis et persecutoribus. Und während P. auf S. 303 eifrig behaup-
tet, daB Jakob v. Jttterbogk die Zeit Nikolaus V. nicht angeklagt
habe, and Engen des vierten Pontifikat preisgibt, will er auf
S. 267 den Leser glauben machen, daß Eugen IV. den Plan gehabt
habe, alle Klöster zu reformieren und erzählt uns : > Eugen IV. nahm
die Beform der Kirche in der unter den damaligen Verhältnissen
einzig möglichen und ersprieBlichen Art und Weise in Angriff durch
Verbessemng nnd Begenerirung der Orden und dann auch des Cle-
ms«. Wenn Eugen IV. auf dem Koncil zu Fdrrara erklärte, daft er
selbst sein und der Seinigen Verhalten dem Urteil der Väter unter-
werfe, nnd zugleich diese ermahnte, selbst ein gutes Beispiel zu ge-
458 Gott. gel. Adz. 1867. Nr. 12.
ben, 80 wird wofal gewiß kein Unbefangener in dieser auf die Stirn-
mang der Eoncilsteilnebmer berecbneten Wendung etwas anderes als
eine rbetorisebe Phrase finden. Der Römer Gecconi hatte jedenfalls
mehr Veranlassung, Eugen IV. gegen die Verdächtigung zu vertei-
digen, als habe er damit sich demQthig dem Eoncilsurteil unterwor-
fen, als Pastor mit Hefele ttber das treffliche Wort des Pap-
stes in Jubel auszubrechen, »denn des Geredes war bei Vielen
übergenug, aber Thaten wollten nicht zum Vorschein kommen;
darum hatte Eugen schon früher den Baselern geschrieben, nicht
Worte seien nöthig, sondern Thaten, gutes Beispiel«. Trefflich sind
die leeren Worte, weil ein Papst sie sagt, aber die Basler werden
hart beurteilt, weil sie nur Worte gehabt hätten! Und auf S. 30
schreibt er dann wieder aus der Universalgeschichte von Rohrbacher-
Knöpfler ab: »Eine Zeit, die ihre Fehler in solcher Weise durch-
schaut und erkennt, gehört gewiß nicht zu den schlimmsten. Wenn
bei dem einzelnen Individuum die klare Erkenntnis der Fehler der
erste Schritt zur Besserung ist, so wird dies auch bei ganzen Men-
schenklassen, Nationen und schließlich der Kirche selbst nicht an-
ders sein. Diese Erkenntnis war vorhanden, »der erste und noth-
wendigste Schritt zur Besserung war mithin bereits gethanc
Der ehrliche Nider war anderer Ansicht. Vgl. De ref. relig. II,
cap. 9: Vix reperitur äliquis adeo maltiSy quin reformationem fieri
Jxmum opus esse affirmet . . . Cum autem reformatio in isto ordine^
vel in isto coUegio attentatur . . . illico tales murmurant.
Die über das Verhältnis des Papsttums zur Reformfrage han-
delnden Stellen, welche bisher angeführt wurden, zeigen in ihrer
wirklichen Fassung, daß Janus durchaus recht hat, wenn er S. 359
schreibt: »Es währte nach dem Unglttcksjahre 1446 geraume Zeit,
bis man in Deutschland erkannte, daß es mit den Goncilien und
den auf sie gesetzten HofiPnungen einer Verbesserung der Kirche
vorbei seic. P. reiht dem schon oben erwähnten Ausspruch Enea
Sylvios die Behauptung an: »Die Opposition gegen das Papstthum
hat noch zu wiederholten Malen mit dem Schreckbild einer allge-
meinen Kirchenversammlung gedroht, aber diese Drohungen blieben
ohne Erfolge. Dann bespricht er aber nur die »wahnsinnige
Idee^) des abenteuernden Prälaten, der sich Erzbischof von Krain
nanntec — eine Episode aus viel späterer Zeit, die hier zu erwäh-
nen nicht der mindeste Grund vorlag, schon deshalb , weil dieselbe
noch nicht gentlgend erforscht ist; P. selbst verweist hierfür auf den
zweiten Band seines Werkes. Nicht hier, wo es am Platze gewesen
1) Diese geschmackvolle Wendung stammt aus der Kirchengescbichte von
Kraus.
Pastor, Geschichte der P&pste seit dem Ausgang des Mittelalters. I. 459
wäre, erfahren wir von der Forderung eines in Frankreich abznhal-
tenden Eoncils, welche von Frankreich 1450 erhoben, und die da-
durch beseitigt wurde, daß Enea Sylvio, der, vgl. P. S. 16, im Jahre
1448 zum Urteilen ttber die Eonstantinische Schenkung ein Eoncil
gewtlnscht hatte, ein Eoncil in Deutschland im Namen Friedrichs III.
verlangte nnd so dem Papste die Möglichkeit bot, das eine wie das
andere zu vermeiden. Es wird dies bloß als ein Ereignis erwähnt,
welches dem Papste Nikolaus die Freude des Jubeljahres gestört
habe, ebenso wie der Wirrwarr des Volks auf einer Tiberbrttcke,
wobei eine Anzahl Menschen umkam. Auf S. 449 bei Besprechung
der angeblich so segensreichen Legationsreise des Nikolaus von
Cues erfahren wir, daß die Briefe des Earthäusers Yincenz v. Ax-
baoh einen Einblick gewähren »in die fanatisch antirömische
Stimmung Vieler in Sttddeutschlandc, aber P. verschweigt uns den
Inhalt, und sagt uns nicht, daß Vincenz dringend nach einem Eoncil
verlangte, welches Rom unbedingt verweigerte, und daß er die Beseiti*
gung der Eoncil ien für schlimmer erklärte als die Hussische E^tzcrei.
Auf S. 346 bietet P. uns die aus dem Zusammenhang gerissen aller-
dings ziemlich unglücklich erscheinende Bemerkung des Vincenz, daß
die Gegner des Cues, d. h. eben Vincenz, dem Manne nicht trauten, weil
er Eardinal war, während doch guter Grund vorlag, dem Ueberläufer
gegenüber, welcher Eardinal geworden, sich zurückzuhalten. Janus
hatte vom Vincenz v. Axbach ebenso wie von dem Earthäuser Dio«
nys aus Ryckel schlagende Stellen angeführt, P. erzählt uns, daß
bisher »wenig beachtet aber doch recht bemerkenswerthc sei, daß
gewisse Ereise gegen den Cusanus opponierten; er spricht von
»Doktrinären, welche die Reform nur durch einOoncil wollten«
und sagt uns nicht, wie Ryckel über den Papst und die Eurie sich
geäußert hat. Auf S. 539 und 540 erfahren wir von dem Streite
zwischen der Universität Paris und dem Papste über den Türken-
zehnten, wobei erstere auch auf ein allgemeines Eoncil provocierte;
und in demselben Aktenstücke, Nr. 76 bei P., wo dieses erwähnt ist,
erfahren wir, daß des Arragoniers Gesandter ebenfalls an ein Eoncil
appellierte, worauf der Papst denselben bannte und dem Eönige
schrieb : Sciat tua Majestas^ guod papa seit deponere reges. Auf S. 306
schreibt P. Maurenbrecher nach, daß das Papalsystem mit Glanz
nnd mit Pomp seine Auferstehung feierte, S. 312 versichert er, daß
die Wiedererstarkung der päpstlichen Gewalt nicht bloß eine
äußerliche war, sondern auch innerlich die Stellung des Papst-
tums neu gekräftigt wurde. »Unzählige wandten sich mit Abscheu
von den antipäpstlichen Doktrinen, die in Eonstanz und Basel trium-
phirt hatten, ab, und der alten Lehre von der monarchischen
460 G&tt. gel. Adz. 1887. Nr. 12.
VerfaBsnng der Eircbe und den unveräußerlichen Rechten
des heiligen Sluhles von Neuem zuc S. 313 gibt er dann allerdings,
sich an Bänke anlehnend und zugleich ihn verdrehend, wieder zu,
daß die antipäpstliche Opposition gerade in Deutschland nicht
innerlich Überwunden wurde, nachdem er vorher aus Wattenbachs
Papstgesehichte ^) S. 283 eine Stelle über die ernste und tiefreligiOse
Stimmung der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, wie er sagt, am
so lieber entlehnt hatte, »weil derselbe über jeden Verdacht, die
kirchlichen Dinge allzu günstig anzusehen, erhaben istc P.
bricht sein Citat ab vor dem Satze Wattenbachs: »Auch der Aber-
glaube ist in vollster BIttthe. Der Ablaßhandel geht prächtig ....
Sehr in Bechnung zu ziehen ist, daß man diesseits der Alpen außer-
ordentlich wenig vom Papste wußte und erfuhr ; es ist ganz erstaun-
lich, wie wenig in den Chroniken des 15. Jahrhunderts von ihm die
Bede ist. Daß nicht alles war, wie es sein sollte, wußte man wohl,
betrachtete es aber als eine vorübergebende von Qott zugelassene
Entartung . . . Eine Zeitlang hielt am römischen Hofe noch die
Nachwirkung des Concils vor; man hütete sich vor zu grobem Aer-
gemiß, aber bald genug ist doch diese heilsame Scheu wieder ver-
flogen«. Wie soll man das Verfahren nennen, welches in dieser
Weise bei den Lesern eine ganz falsche Auffassung über das, was
ein namhafter Schriftsteller gesagt hat, hervorrufen will, und gleich-
zeitig diese [angebliche Auffassung als ein Zugeständnifl, welches
derselbe wider Willen habe machen müssen, bezeichnet?
S. 306 erzählt uns P. von der »Wiederherstellung des päpstli-
chen Ansehens« unter Nikolaus V. Die Persönlichkeit des regieren-
den Papstes und seine ersten Amtshandlungen, so behauptet P.; wa-
ren wohl geeignet, auch heftige Gegner mit dem Papsttum zu ver-
söhnen, die allgemeine Abspannung nach den vergeblichen Versuchen
des kirchlichen Parlamentarismus kam dem Bömischen Stuhle zu
gute, und endlich feierte die theologische Litteratur einen neuen
1) Die Watteobachsche Aasführung weist gewiB mit Becbt auf Thomas
V. Kempen hin; ob aber die Kirchenbauten und Wallfahrten ohne Weiteres in
diesem Sinne verwertet werden dürfen, scheint mir nicht zweifellos. P. ruft S. 278
sogar die Kirchenbauten des üppigen Kardinals Estouteville als Zeugen dafür an,
»daS ihm ein gewisser kirchlicher Sinn nicht fehlte« t Es wäre zu wänschen,
daS die Bangesohichte der stattlichen Dome, welche Wattenbach im Auge hat,
einmal genau in finanzieller Beziehung untersucht würde. Ob sich dann nicht
manche Aehnlichkeit ergeben würde mit der Gegenwart, wo in den Sakristeien
Kirchenbauloose ausgeboten, und schwerlich immer in religiösem Sinne gekauft
werden? Rosi^res* Ausführungen in derHistoire dela Sociätä fran^aise du Moyen-
Age n, 191 sind in dieser Beziehung entschieden sehr beachtenswert, so wenig
ToUst&ndig auch das Bild ist , welches er bietet.
Pastor, Geschichte der P&pste seit dem Ausgang des Mittelalters. I. 4SI
Aufschwang. Ob P. bei jenen »ersten Amtsbandlnngen« wobl die
Anffbrdernng des Papstes an Frankreich im Auge bat, sieb Savoyens
zu bemftcbtigen ^), welches der Papst ihm geschenkt hatte, freilich
ohne damit bei dem so großmütig von dem Vater der Christenheit
bedachten Franzosen Anklang zu finden? Nachgedacht hat P. wohl
tLberbanpt sehr wenig, . als er die gesammelten Lesefrttcbte über die
Wahl und Regierung Nikolaus' V. an einander reihte.
Auf S. 287 fg. erfahren wir von der »christlichen, wahrhaft idea-
lenc Gesinnung Nikolaus V., der »als Vertreter der christlichen Re-
naissance wahrhaft innerlich demütbig gewesen sei«, über die Wahl
werden uns die Ausspruche von Zeitgenossen mitgeteilt, welche sie
dem unmittelbaren Eingreifen Gottes zuschreiben, obgleich doch ein
Vergleich mit anderen unmittelbar nach einer Papstwahl abgegange-
nen Rtfmischen Depeschen zeigt, daß die ersten Gesandtschaftsbe-
richte, welche gar leicht zu allgemeiner Kenntnis gelangten, fast
durchweg den Neugewählten mit Jubel preisen. Jeder kritische Hi-
storiker muß sie mit Mistrauen ansehen, lieber Alexander VL
schreibt Valori, der Florentiner Gesandte, in einem zweiten Schrei-
ben: io can ogni homo universalmente lodo questa promotione et mo-
atromene cofUento assaif währender in dem ersten kurz hingewor-
fenen Briefe gesagt hatte: daß Alexander ^e state creato etpublicato
canonicamcnte per gratia di Bio et deüo Spirito Sancto\ Nach P.
war die Wahl Parentucellis für Alle eine Ueberraschung. Aber Ve-
spaciano da Bisticci erzählt uns von einem Traume des in das Konklave
eingetretenen Parentncelli, wonach ihm Eugen IV. die Tiara ver-
sprochen haben soll. Daß Parentncelli gleich tlber das angebliche
Gesicht sprach, deutet doch gewiß an, daß er nach der Tiara strebte
und auf dieselbe hoffte, einen andern Zweck, als sie ihm zu ver-
schaffen, konnte diese Erzählung nicht haben; wir htfren zudem, daß
die Rede, welche Parentucelli bei Eugens IV. Leichenfeier hielt, die
Kardinäle bestimmte, ihm die Stimme zu geben — alle diese Dinge
lesen wir an verschiedenen Stellen auch bei P., und da wird uns
eine Wendung des Kardinals von Portugal mitgeteilt, der gesagt
haben soll : 'Gott hat einen Papst gewählt, nicht die Kardinäle'.
Diese Beurteilung der Wahl hat P. selbst aus den Quellen geschöpft,
sobald er aber die Regierungsthätigkeit Nikolaus V. schildert, begibt
er sich S. 291 in Abhängigkeit von Reumont III, 1, 116: »In der
That trat Nikolaus V. gleich nach seiner Erhebung auf den heiligen
Stuhl als ein Friedens fürst auf, nach dem Vorgange dessen,
welcher Petrus die Scbltlssel übergeben hatte, die er, der kein Adels-
wappen besaß, als sein Wappen annahm mit der schönen Devise:
1) Vgl. Pastor S. 295.
462 Gott. gel. Anz. 1887. Hr. 12.
»Bereit ist mein Herz o Herr!« Und auf S. 315 lesen wir dann
über den Friedensfürsten, nnzweifelbaft der Wahrheit gemäBer, daft
der Papst nnr dnreh Begünstigung von Streitigkeiten zwischen den
Nachbarn sich selbst den Frieden yerschalSte. P. benutzt hier einen
anderen Schriftsteller : Q. Voigt I, 408. Ein anderes Stück von Voigt
ib. wird S. 474 eingeflickt.
Auf S. 285 erfahren wir dann auch von dem schnellen Auf-
brausen, der Hastigkeit und Heftigkeit jenes FriedensfGlrsten ; es
wird uns von dem Befehl einer schnellen Hinrichtung, an den der
Papst nach dem einen Bericht sich am anderen Tage nicht mehr
erinnerte, den er nach einer anderen Meldung ernstlich bereute, nur
in einer Note des Anhangs S. 679 berichtet; der Stelle bei Voigt
S. 407, welche hierüber handelt, entnimmt unser Forscher nur die
Nachricht von der Liebhaberei des Papstes für fremde und gute
Weine, nachdem er dieser Meldung schon auf der vorhergehenden
Seite jede schlimme Bedeutung genommen hatte durch die Nach*
rieht, daß diese Weine nur für die in Rom zu bewirtenden Herren
aus Frankreich, Deutschland und England bestimmt gewesen seien.
Und während die Gesandten des Deutschordens und ebenso Poggio
über den Papst spotten, weil er in ängstlicher Furcht zur Zeit der
Pest aus Rom floh und die Annäherung an seinen Aufenthaltsort
mit strengster Strafe bedrohte, belehrt P. S. 332 seine Leser, daB
der Vater des Papstes im Jahre 1399 als Arzt bei der Pest zu Lueca
gewirkt habe, bald darauf gestorben sei und wahrscheinlich
als Opfer seines Berufes der Seuche zum Opfer gefallen sei^). Es ist
dieser angebliche Tod an der Pest lediglich Vermutung, der spätere
Papst war wahrscheinlich 1397 (nach P.) geboren, hatte also un-
möglich einen unmittelbaren Eindruck von dem Tode des Vaters,
falls dieser bei der Pest starb, und da schreibt P., daB Voigt mit
Unrecht die ungewöhnliche Todesfurcht Nikolaus' V. durch dessen
übermäßige Lebenslust zu erklären suche, und unter Hinweis auf
Martins V. gleiches Verhalten preist er, unter Berufung auf Haeser, den
Fortschritt, welchen in der Pestlehre die Ansteckungstheorie be-
deute. P. meint: »Es ist nicht zu sagen, wie viele Menschenleben
1) Diese Behauptung steht übrigens ziemlich in der Luft. Wir wissen, d&S
der Rat von Lucca am 81. Mai 1400 beschloS, der MagUUr Bartkolotnatus [es
folgt eine kleine Lücke in dem Protokoll] de Sarzana prohus et expertus drutieu»
sei auf ein Jahr mit 100 Goldgulden Gehalt anzustellen, dummodo veniat kUra
vtgtnU dies proximoe futuros a die praeseniaiae eleetionis inchoandoe; Sforza 8. 84.
Andererseits wird dessen Gattin Andreola am 1. Nov. 1401 als Wittwe bezeich-
net. Daraus folgert Sforza S. 89, daß derselbe an der Pest gestorben sei. Wie
aber, wenn Bartolomeo von dem ehrenvollen aber gefährlichen Anerbieten keinen
Gebrauch gemacht hätte?
Fastor, Geschiolite der P&pste seit dem Ausgang des Mittelalters. I. 463
durch die Absperrang, selbst bei ihrer höchst maogelhaften Anwen-
daog im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert, erhalten worden
sind«. Das ist ein Satz, mit welchem auch Pettenkofer einverstanden
sein würde, wenn man ihn wörtlich nimmt. Was aber diese ganze
Ausführung bezüglich Nikolaus' V. beweisen soll, der nur sein eigenes
Leben schützen wollte, ist unerfindlich ; die Zeitgenossen Nikolaus' V.
würden jedenfalls einem Papste, der den heimgesuchten Kranken bei-
gestanden hätte, statt sie zu fliehen, ebenso zugejubelt haben, wie
dies in unseren Tagen bei dem Könige von Italien der Fall war,
als er, unbekümmert um die auch jetzt noch ungeklärten Theorien
der Medicin, der Cholera nach Neapel entgegen reiste, ja wie es
teilweise schon bei Leo XIIL geschah, als dieser ein Gholeraspital
zu Born vorsorglich einrichtete. S. 483 urteilt P. jedenfalls viel
vernünftiger: »Aus der Neigung zur Kränklichkeit dürfte sich die
ängstliche Sorge für seine Gesundheit am leichtesten erklären«.
Um den Aufschwung der theologischen Wissenschaften unter
Nikolaus V. zu belegen, verweist P. S. 306 vor Allem auf den Spa-
nier Torquemada, welchen er bereits auf S. 276 als den unzwei-
felhaft gelehrtesten Theologen des Kardinals-Kollegiums gefeiert
hatte. P. schreibt aus einer unbedeutenden aber fleißigen Würz-
burger Preisschrift von Lederer die Uebersetznng einer Stelle der
Vorrede Torquemadas ab, ohne sie mit dem Urtext zu vergleichen ^)
und macht dann eine Anmerkung, welche charakteristisch ist. P.
schreibt: »Die von Lederer und Schwane vertretene Ansicht, Tor-
quemada sei bezüglich der Stellung der Bischöfe zum Papste zu
weit gegangen, ist nicht haltbar; s. A. Langhorst in den Laa-
eher Stimmen 1879 II, 447—462. Wer diese Jesuitenzeitschrift
nicht kennt, bleibt im Zweifel, in welcher Richtang sich Torque-
mada, nach P., zu weit vorgewagt haben soll. Der Aufsatz von
Langhorst, welchem sich P. anschließt, bekämpft besonders die Schrift
von Lederer, weil dort die Ansicht ausgesprochen ist, Torquemada habe
den Bischöfen zu wenig Selbständigkeit gegenüber dem Papste zu-
erkannt Der Jesuit führt aus , daß vielmehr Torquemada den be-
sten Kommentar zu den Vatikanischen Dekreten liefere, daB dessen
Behauptung : gpwd iota jurisdiäionis potestas äliorum praelatorum de
lege communi derivcUur a papa durchaus der orthodoxen Lehre ent-
spreche, und daß die Ansicht jener Theologen, welche meinten, Tor-
quemada gehe in der Degradierung der Bischöfe noch weiter als
1) Ich betone dies, weil in Wirklichkeit Torquemada sich gegen die schür*
kischen Gegner wendet, qui diabolico instineiu . . • faUa dogmata . . p§mieiotu
autihuB iniroduxerunt, Lederer spricht Yon Leuten, welche falsche Dogmen
jKor Geltong bringen wollten.
46i Gott. gel. Anz. 1887. Nr. IfL
das Vatikanam, nicht zutreffend sei^). Und so gelangt P. daza,
das Urteil Schwabs in folgender Weise nmzagestalten :
Schwab Gerson. S. 749 : Pastor S. 808 :
Alle die Willkür, die sich ältere Gano- Die tiefgreifende Bedeatang Ton Tor-
nisten in der Deatnng einzelner Schrift- quemada's Werk, das überaus reich-
ond Vaterstellen erlaubten, die Kühn- haltig an gelehrtem Material und mit
heit des Ton ftufierlich logischer Conse- scharfen logischen Gegen[sic l]beweisen
quenz begleiteten syllogistischen Baison- gefüllt ist, trat in der Folgezeit immer
nements, ein advokatenmäßiges schar- deutlicher herror; er ist bis in das
fes Spähen nach jeder wirklichen oder achtzehnte Jahrhundert hinein für alle
blos scheinbaren Blöße des Gegners, Vertheidiger des apostolischen
das dogmatische Absehen von aller ge- Stuhles eine der wichtigsten litera-
schichtlichen Entwicklung, ein reiches rischen Fundgruben geblieben. [Lederer
ftir jede Gelegenheit zu Gebote stehen- hatte gesagt, daß alle Verehrer der
des gelehrtes Material, und jenes sichere mittelalterlichen Papalhoheit Torque-
Auftreten, wie es die Gewißheit wenig- madas Werk Werth beilegten, aber
stens äußeren Erfolges gewährt, bildet keiner es kritisch besprochen habe],
das Eigenthümliche seiner Arbeiten.
Das ist es, was wir über den Kardinal Torqaemada erfahren, wel-
cher es übernahm, alle die des Papstes Ansprüche bekämpfenden
Eanonisten niederzuwerfen. Ueber andere, im Sinne and auf Be-
fehl der Päpste schreibende Eanonisten erfahren wir bei F. so gut
wie niehts. Von den Männern, welche gegen die »falschen Goncil»-
Ideen« schrieben, nennt er noch drei : Bodericus Sancias de Arevalo,
Capistran und Monte. Bezüglich Gapistrans erhalten wir bloß einen
Hinweis auf Wadding, ohne daß die ZweifeP) über die Antorschaft
des dem Gapistrano zugeschriebenen Werkes 'De potestate' gelöst
würden; Ober den Bischof von Brescia Piero del Monte und über
Bodericus Sancias de Arevalo werden dürftige Mitteilangen aas
bisher angedruckten Werken gemacht, während P. sich am das, was
die beiden, von der Kurie abhängigen Autoren in ihren gedruckten
Werken gesagt haben, gar nicht kümmert. Und doch wäre es wohl
der Mühe wert gewesen, uns Mitteilung zu machen von den schar-
fen Urteilen, welche Bodericus in seinem Speculum vitae II, 20
über den kirchlichen Zustand seiner Zeit fällt , derselbe Mann , der
von dem päpstlichen Stuhle sagt: tanta est sublimitas et eminentiaj
tanta immensitas td nullus mortalium nedum comprehendere aut saus
exprimerey sed nee cogüare posset ; II, 1. Von der in der Luccaschen
Bibliothek vorhandenen Hs. des Monte hätte man ebenfalls etwas an-
deres zu erfahren gewünscht, als die Marginalnotiz, welche P., ohne
deren Autor (Felinus) zu kennen, mitteilt').
1) Pastor macht auch im Görresjahrbuch 1887 Dittrich zum Vorwurf, daß
er, in seiner Arbeit über Gontarini, bezüglich Torquemada's nur Lederer, nicht
aber jenen Aufsatz von Langhorst benutzt habet
2) Vgl. Schalte U, 819.
8) Vgl. Schulte n, 819. F. begrfiBt die falsche Auflösung des von Monte
Pastor, Gescldclite der tUpuie seit dem Ausgang des Mittelalters. I. 465
Ebenso wie hinsichtlich der Doktrin Troquemadas sucht sich
P. f&r die Schilderung einiger anderen historischen Thatsachen Au-
toren strengster karialistischer Observanz ans, um ihnen nachzu-
schreiben. 8. 221 gibt P. als Inhalt der Bulle Eugens IV vom
15. Dec. 1433 an, daft der Papst die Baseler Synode als ökumenisch
begonnen und fortgesetzt anerkannte, mit Vorbehalt seiner
und des apostolischen Stuhles Rechte. Und P. f>
hinzu: »Die Bulle, welche diese wichtigen, jedoch keineswegs
eine ausdrückliche Bestätigung der früheren papstfeindlic&en Syno-
dalbeschlüsse enthaltenden Zugeständnisse machte, gieng bis an
die äufterste Grenze des Möglichen; sie ist dem Papste
gleichsam abgepreßt worden durch die Gefahren, welche zu die-
ser Zeit seine Stellung in Italien anf das Aeufterste bedrohtenc.
Torquemada, anf welchen P. verweist, erklärt die Bulle fttr nichtig,
weil sie erzwungen sei, P. folgt demselben nur auf halbem Wege
mit seinem unbestimmten Ausspruch: gleichsam abgepreßt, da er
wohl einsah, daß von einem wirklichen Zwang im Ernste nicht ge-
sprochen werden kann. Ich will mich nicht darauf einlassen, das
aus Phillips entlehnte Urteil über die Bedentang jener auch nach
P. wichtigen Anerkennung des Basler Eoncils zu erörtern; nach
P. schließt Eugens Bulle nicht die Anerkennung der erlassenen De-
krete in sich, sondern soll etwa nur besagen, daß eine Versammlang
vorhanden sei, die sich selbst für ein Koncil halte, obgleich jeder,
der so deutet, sich hüten dürfte, den Wortlaut, wie er z. B. bei
Gieseler II, 4, S* 67 steht, dem Leser mitzuteilen. Aber die Frage
möchte ich stellen, ob P. gewußt hat oder nicht, daß er den Inhalt
der Bulle fälschte, indem er Phillips folgte; ob es ihm unbekannt
war, daß Phillips irrtümlich den die Klausel : 'Mit Vorbehalt etc.' ent-
haltenden Text der von dem Papste dem Koncil vorgelegten, aber von
diesem als ungenügend zurückgewiesenen Bulle fllr die echte end-
gültige Fassung hielt? Phillips ließ sich in seiner Ansicht nicht
dadurch stören, daß, wie er sagt, jene Klausel in manchen Aus-
gaben vers eh wunden sei, die Akten des Konoils sie nicht ent-
gefthrten Beinamens Briziensis als »Bischof von Brizenc bei Schulte II, 817
mit einem Ansmfnngszeichen, obgleich doch die Bemerkung über den Münchner
Handschriftenkatalog zeigte, daß Schulte richtig an Brescia dachte. Er beachtet
aber nicht, daß er in Widerspruch ger&t mit der Angabe Schuhes, wenn er die
Schrift contra imjmgnaiores sedis apostolicae an Nikolaus Y. gerichtet sein l&Bt,
statt an Eugen lY. Die you Schulte Anm. 7 angeführte Stelle aus dem Reper-
torium Montes beweist, daß auch die Schrift de pote$iate Eomani pontifieia früher
abgefaSt ist, als das Bepertorium, welches nach Eugens IV. Tode geschrieben
wurde. [Schulte kehrt in Folge Schreibfehlers das Verhältnis um].
CMU. fei. Abi. 1887. Kr. 18. 89
466 Gott. gel. Adz. 1887. Nr. 12.
bielteoy aber er weist doch wenigstens auf diesen Umstand hin.
Anders P.! Wer gläubig unseren Autor liest, erfährt hiervon nichts,
obgleich inzwischen doch auch Hefele VII, 562 gesagt hatte, daft
in der Bulle vom 15. Dec. 1433 »die Bedingung, die Eugen in der
früheren Bulle gestellt hatte, daß die Basler zuvor Alles zurückneh-
men müßten, was sie gegen ihn und seine Anhänger getban, ans*
gelassen ist«. Zudem ist bei Gecconi Concilio di Firenze, Nr. 18,
die Bulle in derjenigen Fassung zum Abdruck gebracht worden,
welche Phillips als die interpolierte betrachtet hat, und außerdem
liegt ein Schreiben Eugens IV. an Kaiser Sigismund vor, worin es
beißt: Voluimus potius cedere de iure nostro tut contemplatione ei
pro salute fideiiutn, quam perstare in conservanda dignitate et auctori-
täte nostra et apostolicae sedis. Alles das ignoriert P. Ich sehe mich
vergeblich nach einem Ausweg um, das Pastorsche Verfahren in
halbwegs glimpflicher Weise zu erklären, wenn man annimmt, daß
er wirklich über das, was er niederschrieb, nachdachte. Aber man
wird richtiger P. nicht im Ernste für das, was er zusammen schreibt,
verantwortlich machen. Auf S. 291 entnimmt er aus Ghristophes
Geschichte der Päpste den Satz: »Engen IV. hat die Feinde der
Kirche hart und unversöhnlich aufLeben und Tod bekämpfte,
während er S. 232 geschrieben hatte: »Weder Eugens Nachgie-
bigkeit, noch seine trostlose Lage waren im Stande die erbitter-
ten Feinde, welche das Papsttum in Basel hatte, milder zu stimmen«.
Auf S. 300 bespricht P. die Aufhebung des Schismas. »Niko-
laus V. ging, — so sagt er — in seiner Friedensliebe bis« an die
äußerste Grenze, weiter sogar, als der Billigste hoffen durfte«. Daß
nicht Nikolaus, sondern das Koncil, wie P. sich ausdrückt, die
Form wahrte, d. h. daß alle Maßregeln der Römischen Päpste
gegen die bisher als Schismatiker und Ketzer bezeichneten Anhän-
ger Felix' V. für ungültig erklärt wurden, in den römischen Regi-
stern getilgt werden sollten, und erat nachdem diese Bulle ^) ergan-
gen war, die weiteren entgegenkommenden Schritte des Koncils und
des Gegenpapstes erfolgten, war allerdings insofern eine Formsache,
als Nikolaus die Anerkennung schließlich in der Obedienz des Pap-
stes Felix erlangte, aber ich sollte meinen, in dieser Weise sollten
sich nicht diejenigen ausdrücken, welche die Oberhoheit des Papstes
über das Koncil als ein Grunddogma zu verehren vorgeben.
Wie verfährt P. bei der Beurteilung des Schismas vom Jahre
1378! S. 96 behauptet er: »Dieser Mann [der Erzbischof von Bari]
1) P. verweist wegen des Datums anf Hefele, and man darf somit wohl an-
nehmen, daS es ihm unbekannt geblieben ist, daB Georgius S. 64 bereits dasselbe
richtig gestellt, aber freilich zugleich die Bulle als apokryph verworfen hatte.
Pastor, Geschichte der F&pste seit dem Ausgang des Mittelalters. I. 467
warde am 8. April 1378 zur höchaten Würde erhoben ; er nahm den
Kamen Urban VI. an.« Dann beißt es, indem ein neuer Absatz be-
ginnt: »Naeh der Wahl entstand in Folge eines MiSver-
ständnisses eine entsetzliche Verwirrung«. Möchte man nur an-
nehmen können, daß dem Verf. selbst nur ein Misverständnis be-
gegnet sei, wenn er sagt, daß seinem Berichte der von ihm als
vortrefflich bezeichnete Aufsatz von Lindner zu Grunde liege.
Lindner sagt natürlich nichts von einem »Mißverständniß« , sondern
meldet nach den besten Quellen von dem Drucke, der durch die
Römer schon vom Beginne des Konklaves an auf die Kardinäle aus-
geübt wurde, er berichtet, wie die Kardinäle bei dem gewaltsamen
Eindringen des Volkes in das Konklave den alten Tibaldescbi als
Papst begrüßten , wie der Erzbischof von Bari selbst am Tage
nach der Sprengung des Konklaves erklärte, bevor die Kardinäle
nochmals seine Wahl als gültig und kanonisch anerkannt hätten,
könne er sich nicht als Papst betrachten. Lindner betont aus-
drücklich, daß erst nachher der Gewählte den Namen Urban
annahm. Den Verlauf der Wahl erzählt Lindner in ganz anderer
Weise als Pastor, während dieser Lindners Urteil über deren Gültig-
keit allerdings in richtiger Weise abschreibt. Es geht dahin, daß
die Wahl kanonisch gewesen, aber die Entstellung dieses Sachver-
haltes leicht möglich gewesen sei. Pastor fügt den Satz hinzu, daß
die ausgezeichnetsten Juristen jener Zeit sich in ausführlichen Gut-
achten in jenem Sinne ausgesprochen hätten. Das letztere ist rich-
tig, aber, wer gewissenhaft ist, hat die Pflicht hinzuzufügen, daß
auch Gutachten in entgegengesetztem Sinne vorliegen. Um aber
das Urteil: die Wahl war gültig! auszusprechen, fehlt uns, wie ich
glaube, jede Berechtigung. Ich glaube, auch P. würde sich doch
bedenken, den übertreibenden Ausspruch des Kardinals d'Aigrefeuille,
daß seit Petrus Niemand mit mehr Recht Papst gewesen sei, sich
anzueignen. Von welchem^ Augenblicke an ist die Wahl zu datie-
ren? Konnte durch eine spätere Zustimmung der Kardinäle, die
außerhalb eines Konklaves erfolgte, die unter Sturm und Drang er-
folgte Abstimmung im Konklave zu rechtlicher Gültigkeit gebracht
werden? Darf man über die Erklärung des Kardinals Orsini, wel-
eher vor der Wahl erklärt hatte, man könne angesichts der toben-
den Menge nicht frei wählen, deshalb zur Tagesordnung ttbergehn,
weil auch er später sich bestimmen ließ, unter dem andauernden
Eindrucke der Furcht die Wahl Urbans anzuerkennen? Ich sollte
denken, daß man doch untersuchen müßte, ob nicht die Bestimmung
der 39. Sessio des Konstanzer Konoils, welche einer späteren Zu-
stimmung zu einer unter dem Eindruck der Furcht erfolgten Wahl
33*
4ß8 , Gdtt. gd. Adx. 1887. Xr. 12.
jede Bedeutang aberkennt, einen in damaliger Zeit im allgemeinen
Bechtflbewnfttsein liegenden Grundsatz aussprach. Was will es be-
deuten, wenn jetzt Juristen und Historiker, nach einer noch immer
Lttcken lassenden Feststellung der thatsäcblichen Vorgänge, den
Menschen des 14 Jahrhunderts gegenüber behaupten wollen, daft
die Wahl gültig gewesen sei, da doch die Wähler selbst dies später
auf das entschiedenste bestreiten? Aegidins Bellamera behauptet»
daft die Kardinäle, welche zwei Monate Urban VI. gehorcht hatten,
eine Todsünde begangen hätten, sie seien schuldiger, als der an-
gebliche Papst, weil sie ihn zu der Usurpation der Tiara Ycrleiteten.
Wer will sagen, daft die Behauptung der Kardinäle, die Todesfurcht
habe während dieser Zeit bei ihnen fortgedauert, unwahr sei? Hätte
der bei dem Eindringen des Volkes in das Konklave adorierte Ti-
baldeschi die Verwegenheit besessen, sich als Papst zu behaupten,
so würden zweifelsohne genug Kanonisten sich erheben, welche uns
nachwiesen, daft das Wesen der Papstwahl in der Adoration liege,
daft man es hier mit einer Inspirationswahl zu thun habe, und ihr
gegenüber die vorhergehende Abstimmung keine Bedeutung bean-
spruchen könne. Auch derjenige, welcher es für unwahrscheinlich
hält, daß die Furcht bei den Kardinälen zwei Monate lang fort-
wirkte, und vielmehr der Ansicht ist, dafi die unlautersten Motive
bei denselben mitwirkten, würde doch in Verlegenheit sein, wenn
er beweisen sollte, daft von Furcht keine Rede sein dürfe.
S. 44 erzählt P. seinen Lesern, daft die ebenso einseitige wie
kurzsichtige Auffassung, als sei die ganze Bewegung der Renaissance
vom Uebel, nicht als diejenige der katholischen Kirche betrachtet
werden dürfe. »Wie im ganzen Mittelalter, so zeigte sich auch
jetzt die Kirche wieder als Förderin eines jeden gedeihlichen gei-
stigen Fortschritts, als die Schtttzerin aller wahren Bildung und Ci-
vilisation. Sie gestattete den Anhängern der Renaissance die denk-
bar gröftte Freiheit, eine Freiheit, die von einer Zeit, welche die
Einheit des Glaubens verloren, nur schwer begriffen werden kann.
Nur einmal ist das Oberhaupt der Kirche in der Periode, welche
hier zur Darstellung kommen soll, direkt gegen die falsche Re-
naissance eingeschrittene. Man sollte danach meinen, P. sei durchaus
einverstanden mit dieser angeblichen Haltung der Kirche, d. h. der
Päpste, und man greift damit insofern nicht fehl, als in Pastors
Vorlage, der er hier nachschreibt, allerdings diese Ansicht ausge-
sprochen ist. Es ist hier Körting, welcher die Freiheit rühmt, wel-
che die Humanisten an dem Orte fanden, wo sie nach seiner Mei-
nung eher die Folterkammer der Inquisition erwarten mußten. An
einer anderen Stelle aber, S. 34, erzählt dann P. gleichsam ent-
Pastor, Geschichte der Päpste seit dem Aasgang des Mittelalters. I. 469
flcbnidigend : »Die Wachsamkeit der kirchlicben Organe zu tänscben,
war um so leichter^ als es meist sehr schwer za bestimmen war, wo
die Spielerei mit dem Heidentbnm bedenklieb wnrde«. Und ferner:
»Die Nachsicht der kirchlichen Würdenträger gegenüber der falschen
Renaissance wird erst ganz yerständlich , wenn man in Betracht
zieht, daft die genügend gekennzeichneten gefährlichen Tendenzen
nicht die allein herrschenden waren. Neben der falschen stand die
wahre christliche Renaissancec , als deren Vertreter F. dann neben
dem Papste selbst acht Männer aufzählt. Zn der Verherrlichung
des Ambrogio Traversari wird eine Stelle des »protestantischen
Schriftstellersc Meiners herangezogen, dessen Blick noch nicht durch
Einzelforschnngen getrübt war, während F. der eingehenden Schil-
derung Voigts nur die Stelle entnimmt S. 37 : »Seine gelehrten Ar-
beiten bezogen sich meist auf die griechischen Schriftsteller; auf
diesem Gebiete war er an Bttcherreichthum und Kenntnis unstreitig
der Erstec. In einer Anmerkung wird dabei hervorgehoben, daß
Voigt keiner Vorliebe für Traversari beschuldigt werden
könne. Von der Fersönlichkeit Traversaris kann man sich aber nur
dann ein richtiges Bild machen, wenn gesagt wird, daß er mit
Poggio in vertrauter Verbindung stand, und mit demselben Briefe
wechselte, die man einem Ordensmanne jetzt nicht zutrauen wUrde.
Bei einem anderen Anhänger der »christlichen, wahren Renaissance«,
Maffeo Vegio, wird S. 38 von einer »Sinnesänderung« gesprochen,
welche die Eonfessionen Augustins hervorgerufen haben sollen. Nach
dieser Wendung kann der Leser wenigstens das richtige vermuten,
ttber die ungeschminkte Wahrheit muß man bei Voigt Auskunft sn*
eben. Wenn nicht dieser, sondern verschiedene andere Autoren ci-
tiert werden bei der Besprechung Carlo Marsupinis, so liegt dies
wohl daran, daß Voigt I, 316 erzählte, wie dieser Mann in der
Kirche S. Croce zu Florenz mit allem Fompe beigesetzt wurde, ob-
schon er auf dem Totenbette die Sterbesakramente abgelehnt hatte.
Wer diese Thatsache sich gegenwärtig hält, wird wohl kaum dem
Wunsche Poggios, in eben jener Franziskanerkirche sein Grab zn
finden, die Bedeutung zusprechen, welche F. S. 28, oder vielmehr
sein Gewährsmann Norrenberg, ihm zuschreibt, in der irrigen Vor-
aussetzung, daß das Florentiner Pantheon in jener Zeit nach ähnli-
chen Grundsätzen behandelt worden sei, wie gegenüber Viktor Hugo
der Invalidendom. Pastor spricht von der Leichenfeier Marsupinis
ebensowenig als von dessen schönem Denkmal, welches in jener Kirche
dem Leonardo Brunis gegenflberstebt; nur Leonardo Bruni vnrd ge-
priesen, weil er der Kirche aufrichtig zngethan war, sein Begräbnis
wird im Anschluß an Voigt beschrieben mit einer charakteristisohen
470 OAtt. gel. ABZ. 1887. Nr. 12.
Variante. Voigt hatte gesagt: »die Prioren beschlossen auf den
Vorschlag einiger gelehrter Männer den groSen Todten nach Sitte
der Alten zu ebrenc. Die gesperrten Worte ersetzt P. dnrch:
'anf außerordentliche Weise'.
Sehr sonderbares leistet P. aach hinsichtlich L. Vallas. Er be-
spricht S. 407 die Bernfang Vallas nach Born in teilweise wörtlichem
Anschlaft an Voigt II, 89 anter Verschweigang der Thatsache, daft
Kardinal Bessarion es war, der ihn dorthin za kommen einlud; P.
schreibt: »Der Papst daldete, daft ein solcher Mann sich in Born
einfand, and ernannte ihn sogar zum apostolischen Skriptorc. Aof
S. 505 erzählt er, Voigt II, 92 amschreibend , aber nicht aaf ihn,
sondern nar aaf die von jenem citierten Gewährsmänner verweisend,
von Vallas Befttrderong zu kirchlichen Warden anter Galixt III.
Und damit möge man vergleichen, was P. aaf S. 20, Gregorovias
misverstehend, mit Bezag anf Vallas Arbeit Ober die Schenkung
Konstantins niederschreibt :
Oregorovios S. 686: F. S. 20:
Die Äbbandlang wurde heimlich ver- Wenn die Curie dem Pamphlet eifrig
breitet, die römische Curie stellte ihr nachstellte, so erfüllte sie damit nur
eifrig nach, so daB sie selten wurde, eine Pflicht der Selbsterhaltung. Jede
Erst Hütten entdeckte sie wieder. andere Regierung würde in gleicher
Weise gehandelt haben, denn Yalla
forderte die Römer auf, den Papst, fort-
zujagen, ja er macht sogar die Andeu-
tung dai es erlaubt sei, ihn umzubringen.
In einer Anmerkung schreibt er dann, darchaas znstimmendy ans
Ottos Bach des Gochläas Behaoptong ab, Vallas Bach würde nicht
verworfen worden sein, weno er nar die Echtheit der Schenkung
bekämpft und nicht zugleich den apostolischen Stahl geschmäht
hätte. Er verschweigt aber die an derselben Stelle bei Otto er-
wähnte Thatsache, daB Cochläas selbst dem Fränkischen Ritter die
Abschrift von Vallas Schrift zar Veröffentlichang Obermittelt hatte,
allerdings nicht ohne ttber dieses sein Beginnen etwas Enieschlottem
za empfinden : credo equidem verissima esse quae scripsit Laurentius^
vereor tarnen^ ne tuio edi queaniy at Huttenus anathema twn farmidat;
et indignum mihi videtur ut Veritas a veritaiis gladio prohibeaiur.
Za der Zeit des Gochläas wie mehrere Jahrzehnte vorher und nach-
her gab es eben eifrige and mächtige Eanonisten, welche jeden ver-
ketzerten, der die Echtheit oder aach nar die GOltigkeit der Schen-
kang zu bestreiten wagte; dies hatte Gregorovias im Aage, wenn er
von Nachstellangen sprach, die gegen das Bach gerichtet wurden.
Dagegen maft man sagen, daft »die Guriec dorchaus pflichtvergessen
war, falls P. Recht hat mit seiner Behaoptung, daft die Pflicht der
Pastor, Geschichte der Päpste seit dem Ausgang des Mittelalters. I. 471
SelbsterbaltODg die Yerfolgang des Yallascben Buches forderte ; denn
amtlich geschah vor 1554 lediglich nichts gegen dasselbe, P. ist hier
mit seiner Annahme eben in Irrtum geraten, da er Qregorovins
nicht richtig verstand^), während er, wie erwähnt, an der oben
S. 468 angeführten Stelle, wo er die Freiheit preist, die man den
Humanisten ließ, ebenfalls die Thatsachen getreu berichtet hatte.
Hinsichtlich des angeblichen Verbots des Hermaphroditus von
Beecadelii durch Eugen IV folgt P. wenigstens getreu seiner Vor-
lage 6. Voigt, welcher einer gelegentlichen Erwähnung des Vespa-
siano da Bisticci Glauben schenkte. Besser vermeidet man mit
Keusch, Index I, 38, ein bestimmtes Urteil, vgl P. S. 415; jeden-
fklls wird Vespasianos Bericht Über Cesarinis Verhalten auch an-
ders KU deuten sein, als es von P. geschieht.
Während P. den Päpsten ihre Lässigkeit und Nachsicht bei
Ausübung der Gensur gegen unsittliche und unkircbliche Schriften
zum Vorwurf macht, befleißigt er sich bei der Erzählung von dem
Wirken der Inquisition einer gewissen Znrückhaltung. Er spricht
davon in Ausdrücken, welche zeigen , daß er sich doch schämen
würde, dieselbe offen zu verteidigen. Auf S. 124 hören wir, daß
der Inquisitor sich seines Lebens nicht mehr sicher fUhlt, die Hülfe
der weltlichen Macht gegen die mit Mord und Brand drohenden
Ketzer anruft; das Einschreiten gegen die Häretiker wird als Not-
wehr bezeichnet (S. 128). Auf S. 311 heißt es: »Die Wiedererstar-
kung der päpstlichen Macht zeigte sich unter Nikolaus V. auch in
den Anstrengungen der kirchlichen Autorität zur Ausrottung
der Ketzereien. Der Papst entfaltete in dieser Hinsicht eine sehr
ausgedehnte Thätigkeit«; »in Burgund mußte Nikolaus gegen Irr-
lehren über Ablaß und Beichte einschreiten c. »Fast durch die ganze
Regierung des Papstes hindurch ziehen sich seine Anstrengun-
gen gegen die in Italien in größerer Anzahl auftretenden Frati-
cellenc. Daß P. auf diesen Punkt nicht näher eingeht, will er mit
der Bemerkung, daß eine Zusammenstellung der Nachrichten über
die häretische Bewegung jener Zeit fehle, und ein höchst verdienst-
liches Unternehmen sein würde, wohl halbwegs entschuldigen. Es
wäre indessen wohl eine Aufgabe des Historiographen der Päpste
gewesen, die entsetzlichen Folgen der »Anstrengungenc der Päpste
und ihrer Henkersknechte offen zu beleuchten, anstatt sie mit
glimpflichen Worten zu verhüllen und den unschuldigen Leser mit
einer Gitatenflut zu ttberschtttten und im Uebrigen in glücklicher
1) Das Richtige haben DöIIinger Papstfabeln S. 104 und Reusch Index 1, 227
ausdrücklich ausgesprochen; aber auch bei Yahien und Voigt steht nichts, wo-
durch Pastors Behauptung sich rechtfertigen lieBe.
472 Gott. gel. Ans. 1887. Nr. 12.
Unwissenheit zu belassen. Der Leser des Pastorschen Werkes er-
fährt auch nichts von dem Scheiterhaufen, welchen Engen lY. — in
der Zeit vor jener oben erwähnten Wiedererstarknng — dem Gar-
meliten Thomas Gonecte bereiten lieft, weil er die Laster der Curie
zn scharf gegeißelt hatte ').
Mit kaum glanblicher Sorglosigkeit nrteilt P. auch ttber die
auBerordentlich wichtige Frage, wie sich die Päpste zn der Nach«
folgefrage in Neapel stellten.
Pastor erzählt anf S. 249 im AnschluB an Gregorovins, daft
Papst Engen die Fähigkeit des Bastards Ferrante anf den Thron
von Neapel zn steigen ausdrücklich anerkannt habe. Als P. später
fand, daft Galixt IIL die Belehnung verweigerte, und zugleich ans
Voigt III, 22 ersah, daß jenes Dokument Eugens nicht bekannt sei,
ist er sofort bei der Hand mit dem Satze: »Juristisch wird sich der
von dem Papste eingenommene Standpunkt kaum anfechten lassen,
da nach langobardischem Lehensreeht, das Galixtus unzweifel-
haft im Auge hatte [!], auch der Legitimierte nicht Lehenserbe ist,
und eine ausnahmsweise Anerkennung der Successionsf&higkeit
Ferrantes nicht vorliegt«; er fttgt die Note hinzu: »Aeneas Sylvius
behauptet dies allerdings, aber das Dokument ist nie znm Vorschein
gekommen. Hiernach ist meine Angabe S. 249 zu berichtigen«.
Kecken Mutes widerspricht er hier Gregorovius und Voigt; ohne je-
den Grund: im Nachtrag, S. 712, heiftt es dann wieder zu S. 572:
»Eugen IV. hatte die Successionsfähigkeit Ferrantes ausdrttcklicb
anerkannt. Galixtus III. scheint von der Ansicht ausgegangen zn
sein, daft er durch diese Verfügung seines Vorgängers nicht gebun-
den seic. Der P. Ehrle hatte ihn anf die Urkunde, die in den päpst-
lichen Begesten verzeichnet ist[l], hingewiesen. Wie soll man zn
einem Autor Vertrauen fassen, der in dieser Weise sein Urteil jeden
Augenblick in aller Unbefangenheit umgestaltet?
Ein Schriftsteller, welcher sich, wie P., in ausgedehnter Weise der
Gedanken wie der Worte anderer Forscher bemächtigt, hätte gewift
allen Grund, ihnen gegenüber recht bescheiden anfzutreten. Aber
das Gegenteil ist der Fall. Er 'polemisiert gegen sie in wortklau-
bemder Weise:
Die Behauptung von Gregorovius, mit Eugen IV. beginne die
Beihe der Benaissance-Päpste, ist nicht richtig. P. behauptet
dagegen: »Eugen IV. vermittelte recht eigentlich den Ueber-
gang zu diesen Päpsten, Engen hat in gewisser Hinsicht sei-
nem groften Nachfolger die Wege bereitete »Auf Eugen IV. ttbte
1) Vgl. Janufl 374.
Pastor, Geschichte der Päpste seit dem Ausgang des Mittelalters. I. 473
der lange Aufenthalt in Florenz, dem damaligen Mittelpunkte
der BenaiBsanee tiefen Einflnft auBt. 3. 268, 269. GregoroviuB
wird alB ein SchriflBteller bezeichnet, der im Allgemeinen nicht leicht
KD Gunsten eines Papstes sieh ausspriebt, S. 202, der ganz auf Sei-
ten der Florentiner steht, S. 92, ein principieller Gegner des Papst-
tums ist Wattenbach sieht sich S. 312 als leidenschaftlichen Geg-
ner des Papsttums bezeichnet, S. 20 heißt es von Gregorovius, daA
er bezüglich der weltliehen Herrschaft der Päpste ungefähr auf dem-
selben Standpunkte stehe, wie Valla.
lieber Voigt urteilt P., an Reumont sich anschliefiend, daA des-
sen Werk nber Pius IL durch maßlose Härte des Urteils
entstellt sei; dabei bezeichnet P. den Brief, worin Enea seine sittli-
chen Anschauungen darlegt, als »berüchtigte, während Voigt
sagt, 'derselbe habe eine wahrhafte Berähmtheit erlangt, zumal bei
den Feinden des Papstthums'. An dieser Stelle überbietet also P.
an Schärfe den Ausdruck Voigts, um dann auf der folgenden Seite
das »ruhige und maßvolle« Urteil des Geschichtschreibers der Stadt
Bom — er meint Reumont — wiederzugeben, welcher sich in allge-
meinen Redewendungen über die Mislichkeit eines Parteiwechsels
ergeht, und die unbewiesene Behauptung aufstellt, daß es nicht
bloß persönliche Gründe gewesen seien, welche Enea zum Ueber-
tritt von dem Baseler« Eoncilspapst in die Reichskanzlei bestimmt
hätten. Wie konnte P. wagen, Reumont nachzuschreiben, daß man
die »vertrautesten Briefe« gegen Enea verwerte, während doch Voigt
I, 285 gerade geltend gemacht hatte, daß Enea selbst deren Ver-
breitung betrieb und seine Freude daran hatte! Bei Piccolomini
handelt es sich nicht um einen Wechsel in der Gesinnung, die
Frage, welche man stellen und auch beantworten muß, ist die, ob
seine dogmatischen und sittlichen Retraktationen ernst gemeint wa-
ren oder nicht, ob sie Heuchelei oder Wahrheit waren? Man m?$ge
doch nur die Ausfiihrungen Pastors über das mit der Zeit erfolgte
Eintreten einer großen Sinnesänderung bei Enea, einer
ernsteren Lebensauffassung, wobei er dann noch längere
Zeit gezögert habe, Priester zu werden, mit der Thatsache zusam-
men halten, daß er 1344 die den Terenz nachahmende Komödie
Chrysos schrieb. Die Anrede, welche Enea an Eugen IV. im Jahre
1345 hielt, sowie des Papstes Antwort gibt P. S. 259 einfach in der
Voigtschen Uebersetzung wieder, aber während Voigt urteilt, Enea
habe nicht als Gesandter, sondern als ein Bekehrter, der Verzeihung
erbittet, gesprochen, zieht Pastor es vor, auf die von Enöpfler bear-
beitete Rohrbachersche Eirchengeschichte zu verweisen, wo es heißt,
die Abbitte sei die »Sprache eines in Kriegsgefangenschaft gerathe»
474 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 12.
nen Helden«. Und wenn dieser Held seine früheren Gesinnungs-
genossen als ^animalia spnrca atqne probrosa' bezeichnet, so ver-
schweigen das die Herren Pastor und Genossen — ob aas densel-
ben Gründen der Sanftmut, welche über die Härte Voigts erschrickt,
der den kecken Apostaten mit dem richtigen Namen bezeichnet, weil
er die eigene Vergangenheit mit Ftißen tritt? Es soll indessen nicht
verschwiegen werden, daß P. aaf S. 588 sich wenigstens mit Ent-
schiedenheit gegen die tollen Versuche Alexander VI. rein zu wa-
schen erklärt. Er nennt diese Versuche des Dominikaners Ollivier
nnd Leonettis »eine unwürdige Verdrehung der geschichtlichen
Wahrheit*. Vgl. unten S. 491.
Die bisherigen Erörterungen Über den Text des Pastorschen
Buches dürften gentigen, um die Leichtfertigkeit zu beweisen, mit
welcher P. sein Buch zusammen geschrieben hat, und man wird nicht
von mir verlangen, daß ich den gleichen Nachweis auch bezüglich
der oben nicht berührten Abschnitte führe. Auf Verlangen steht er
zu Diensten. Ueberall macht man die Wahrnehmung, daß P. die
Titel der gedruckten Litteratur in großem Umfange kennt, aber der
Herstellung seines Buches kein gründliches Studium vorausgehn
ließ, sondern nur im Fluge die Stellen aufschnappte, welche ihm
paßten, ohne Rücksieht auf ihre Glaubwürdigkeit, ohne Rücksicht
auf die Widersprüche, in welche er sich verwickelte.
Es erübrigt uns noch, die handschriftlichen Studien Pastors ins
Auge zu fassen. Auch in dieser Beziehung erfüllt das Buch nicht
das, was man nach der Vorrede erwarten durfte. P. arbeitete so
ungewöhnlich flüchtig, daß er keine Zeit hatte. Wichtiges von Un-
wichtigem zu unterscheiden, oder vielmehr nach wirklich bedeuten-
den Quellen zu suchen. Der Verf. versteht unter der Benutzung
einer Bibliothek etwas ganz anderes, als andere Leute. Wenn er
ans dem gedruckten Katalog einer Bibliothek sich einige Notizen
gemacht hat, so ist dies hinreichende Veranlassung für ihn, diese
Bibliothek als eine benutzte zu bezeichnen. Aber auch aus den Bi-
bliotheken und Archiven, aus denen er wirklich Aktenstücke mit-
teilt, hat er bis jetzt — für die Zukunft verspricht er gar manches
— im Ganzen wenig von Belang veröffentlicht und wenn er inter-
essante Aktenstücke mitteilt, so verwertet er sie mehrfach unrichtig.
Die meisten, 22, lieferte Mailand, dem Vatikanische Archiv ent-
stammen 19, Aix, Mantua und Siena, die Bibliothek Ghigi sind eben-
falls ausgiebiger vertreten. Ich gebe einen Ueberblick über die im
Anhange abgedruckten 86 Nummern.
Nr. 1 und 2 sind geschäftsmäßige Breven, welche Gregor XI.
absandte, das eine, um den Pompejns Trogus zu erlangen, von dem
Pastor, Geschiclite der P&pste seit dem Ausgang des Mittelalters. I. 476
das Gerücht gieng, daß man ibn in Vercelli aufgefunden habe, das
andere, nm f&r die päpstliche Bibliothek ans der Sorbonne eine Ab-
schrift von Ciceros Briefen za erwirken. FUr das übrigens gar nicht
bestrittene humanistische Interesse des Papstes läßt sich hieraus na-
türlich keineswegs irgend eine Folgernng ziehen, wie F. dies than
möchte. Es ist die Frage, auf wessen Veranlassung die Nachfor-
schung nach dem Trogns erfolgte. Derselbe war bereits früher von
Salutato gesucht worden, ist aber bis auf den heutigen Tag nicht
aufgefunden worden. Daß der Papst selbst sich dafür interessierte,
wird man ans der — über das unbekannte Buch — gebrauchten
Bedewendung: Hber nimium est sensibus nostris acceptus, et lange
accqptior^ si eum praesentiälüer haberemus kaum folgern dürfen.
Der erbitterte Streit des Papstes Gregor gegen Florenz erhält
keine neue Beleuchtung durch Nr. 3, ein Begleitschreiben, womit die
päpstliche Kundgebung dem gegen Florenz so feindlich gesinnten
Lucca übermittelt wurde, eher konnte es gerechtfertigt erscheinen,
die Thatsache mitzuteilen, welche aus Nr. 7 hervorgeht, daß der
Papst einem Abte in Venedig befahl, die Sentenz zur Nachtzeit
heimlich an den Thüren der Markuskirche anzuschlagen. Die Num-
mern 4 — 6 kannte man schon früher. Die Texte wimmeln von Fehlern.
Nr. 8 ist von Bedeutung; sie führt die Ansichten, bei P.
S. 92, über die »weise Politik« Gregors XI. in dem Streite mit Flo-
renz auf das richtige Maß zurück; der Papst mußte bloß klagen,
daß seine auch nach P. »furchtbar strengen« Maßregeln gegen den
Handel von Florenz in Neapel keine Ausführung fänden, das Inter-
dikt, wie gegen Pisa und Genua, gegen die Königin von Neapel zu
verhängen, wagte er nicht ^). Man kann daraus sehen, wie Gregor
nicht »aus Liebe zum Frieden«, sondern aus Not sich zu Verhand-
lungen entschloß, S. 93; auf der vorhergehenden Seite hatte P. ge-
sagt: »Kein Wunder, daß Gregor XL, statt auf die milden Vor-
schläge der h. Catarina von Siena zu hören, den Kampf mit seinen
unerbittlichen Gegnern, welche zuletzt selbst das Interdikt
nicht mehr beachteten, energisch weiterführte^.
Wenn Gregor, Nr. 9, seinen zur Friedensunterhandlung mit Flo-
renz abgeschickten Legaten, wie er selbst sagt, um nicht die An-
sprüche der Gegner zu steigern, darüber beruhigt, daß die Meldun-
1) Vgl. Grcgorovius VI, 458.
2) S. 98 verweist P. für einen aus Oregorovias S. 468 abgeschriebenen Satz
auf eine noch angedruckte Depesche. Die das Blutbad von Cesena yerurteilende
Stelle der Chronik von Bologna lautet : Nsrone nan ne eommise mat una «t faita^
ehe ^asi la gente non voleva piu credere nh in papa ni in eardinaii: perehi
quesie erano cose da uscire di fede ; P. übersetzt S. 91 'weil diese Dinge mit dem
Glauben nichts au thnn hfttten' [i\
476 aött. gel. Anz. 1887. Nr. 12.
gen TOD eiDem Aufstände in Korn nnbegründet seien , so rechtfertigt
dies doch nicht den Pastorschen Satz S. 93 : »Kurz vor seinem Tode
konnte Gregor den Römern dasZengniß geben, daß die Ver-
hältnisse ihrer Stadt kaum jemals friedlicher gewesen seien, als in
dem vergangenen Winter«. Daß Antonius Malavolti, wahrscheinlich
auf der Folter, Geständnisse bezüglich einer Verschwörung machte,
ist zweifellos, daß die Flucht des Lucas (Savelli) damit im Znsam-
menhang stand, wahrscheinlich. Der Papst fttbrt als Zeichen der
guten Stimmung der Römer nur an, daß das Volk, d. h. doch wohl
der Magistrat auf dem Kapitol, einstimmig die Todesstrafe Über Ma-
lavolti verhängte, und bei seiner Hinrichtung kein Aufruhr ausbrach.
Man sieht, der Papst gibt sich keiner Täuschung hin und hätte ge-
wiß nicht den S. 93 aus Gregorovius abgeschriebenen Satz, fOr den
Anm. 8 sich doch auf eine Depesche beruft, über die Aussöhnung
der Römer mit dem päpstlichen Regiment mit P. durch die Worte
ergänzt: >Der Papst wurde mit Freuden empfangen«. Die De*
peschen Christofs von Piacenza an den Herzog von Mantua während
der wichtigen Sedisvakanz 1378, Nr. 10 u. 11, sowie die kurz nach-
her geschriebene Nr. 12 bringen uns gar keine sachliche Aufklä-
rung, wenn man nicht auf die Feststellung einiger unwesentlicher
Daten Gewicht legen will; der Gesandte hatte in Rom augenschein-
lich nicht so gute Verbindungen sich zu verschaffen gewußt, wie er
in Avignon besessen hatte, von wo er einen Brief schrieb, welchen
P. S. 89 nach Osio's Abdruck benutzen konnte, denn über das Ver-
hältnis Urbans zu Johanna von Neapel war Christof entschieden
nicht genau unterrichtet. Von dem Inhalte der Depeschen über die
Thronbesteigung Urbans VI. kann man sich indessen wenigstens
nach der Wiedergabe Pastors eine richtige Vorstellung machen, wäh-
rend dies ziemlich unmöglich ist bei der Aktengruppe Nr. 23 — 30,
welche Briefe des Abts von S. Galgano an Siena über die letzten
Wochen Engens IV. enthält. P. hat einzelne Stücke der Briefe als
Anmerkungen unter dem Texte mitgeteilt, man empfängt kein Ge-
samtbild von dem Inhalt jedes Briefes. Aber auch wenn dieses der
Fall wäre, würden wir über die damals geführten interessanten Ver-
handlungen der Deutschen Gesandten vielleicht nichts Neues aus
ihnen erfahren, denn nach den durch P. gegebenen Stücken zu
schließen, bewegen sich die Mitteilungen des Abtes auf der Oberfläche.
Wenn man allerdings sieht, wie P. über jene Eonkordatsbesprechun-
gen hinweggeht, uns nicht einmal, S. 261, mitteilt, daß es sich da-
mals nm die Dekrete Frequens und Sacrosancta handelte, wenn er
uns sogar von der vereinbarten Fassung nichts näheres sagt, son-
dern auf Hefele verweist, und nns nur von dem Salvatorinm, dessen
Pastor, Geschichte der P&pste seit dem Ausgang des Mittelalters. I. 477
Gebeimbaltang er zudem verschweigt, einen angeDttgenden Aaszag
gibt, so würde man ibm zatraaen dürfen, daß er aach die Wiebtig-
keit etwaiger bieraaf bezüglicher Aeaßerangen in des Abtes De-
peschen übersehen hätte ^). Aas einer Anmerkang S. 262 kann aller-
dings ersehen werden, was P. über jene AbmachuDg Eugens in sei-
nem Innern denkt. Er sagt: »Oewissensaogst hätte der Papst über
die den Deutschen bewilligten weitgehenden Concessionen haben
können; eben deshalb aber hatte er das erwähnte wichtige Salva-
toriom vom 5. Februar erlassen«. Das ist das Urteil Pastors über
die geheime Zurücknahme eines öffentlichen Zageständnisses von
Seiten des Papstes. Und doch würden gerade die Gesichtspunkte,
welche die bisherigen Forscher zu einer milderen Beurteilung dieses
Verhaltens Eagens IV. bestimmten, wesentlich erschüttert werden,
wenn die Depeschen des Abtes von Oalgano die Wahrheit sagten.
Voigt II, 394 weist zur Rechtfertigung jenes Gewissensvorbebaltes
bin auf >die todesbangen Zweifel eines Herzens, das seinen letzten
Scblägen entgegen zittert«, der Abt von S. Galgano schreibt am
IL Februar, daß seit seinem letzten Briefe [vom 23. Jan.?] das Be-
finden des Papstes sich andauernd gebessert, der Papst gestern ein
Konsistorium gehalten habe und fast fieberfrei sei, und der in Folge
der schweren Krankheit noch vorhandene Schwächezustand täglich sich
bessere, so daß man auf baldige völlige Herstellung rechne. Und P.
erwähnt dazu in einer Note einen Brief des Kardinals von Aquileja,
welcher sagt quod verum fuit S*^ S, aliquot superioribus didms
egrotasse^ et aliquante gravius^ quam ceteris temporibus consue*
verii; dies könnte in gleicher Richtung verwertet werden. Von
deutscher Seite liegen freilich andere Aeußerungen vor, und es ist
denkbar, daß jene nach Siena gerichteten Meldungen einer be-
stimmten Tendenz dienten, aber so viel dürfte doch aus dem von P.
Mitgeteilten hervorgebn, daß man nicht mehr in der bisherigen ver-
trauenden Weise mit der schweren Krankheit des Papstes rechnen
darf. Die Möglichkeit, daß man diese an der Kurie eben zum
Zwecke des Salvatoriums den Deutschen gegenüber übertrieb, dürfte
nicht von der Hand zu weisen sein.
In Nr. 13 wird ein bereits in Uebersetzong bekanntes Stück
aus einem Traktat Lignanos im Urtext abgedruckt, Nr. 14 gibt sehr
flüchtige Notizen über einige römische Handschriften, welche das
Schisma bebandeln. In Nr. 15 rechtfertigt P. die Sonderbarkeit, daß
er Langensteins Gedicht Fro pace nicht nach dem Drucke v. d. Hardts,
sondern nach der Abschrift einer Breslauer Handschrift citiert; P.
1) P. citiert S. 261 Martine a. Mansi, in Wirklichkeit dürfte er Raynald
benvtzt hahen, aas welchem er wenigsteoB das irrige Citat in Anm. 6 entnom-
men bat; die Stelle steht S 18» nicht 17.
478 Gott. gel. Adz. 1887. Nr. 12.
selbst weist auf eine auch Ascfabach I, 384 bekannte Wiener Hs.
hin, welche einen teilweise besseren, jedenfalls einen vollständigeren
Text, als die Breslauer Hs. biete, and zngleieh bemerkt er, daft in
der Breslaner am Anfang 64 Zeilen stehn, welche im Drucke fehlen.
Aber! »die Wiener Hs. konnte er leider nicht untersachen« , der
(angeblich seltene!) Druck war ihm unzugänglich, und so zog er
es vor, stets auf die Breslaner Hs. zu verweisen, teilt uns aber nichts
mit, was nicht im Drucke sich auch vorfindet. Hätte er sich die-
sen — ein dünnes Heftchen — verschafft, so würde er sich die für die
meisten Leser doch bedeutungslosen Verweisungen auf jene Hand-
schrift erspart haben, und die ganze völlig wertlose Ausführung
Nn 15 würde unterblieben sein.
Nr. 16 erzählt uns einiges über die Einrichtung des Konsisto-
rialarchivs, durch welches P. eine Anzahl von Daten berichtigen
konnte, wie er denn überhaupt in Bezug hierauf einen ganz beson-
deren Eifer entwickelt. Er kann weitläufig erörtern, ob ein Papst
um 6 oder 7 Uhr gestorben sei, ob er am 28. oder 29. nach Rom
gekommen sei. Wenig glücklich ist er bei dem Versuche gewesen
das Datum eines angeblich in Rom unter Martin V. abgehaltenen
Jubiläums festzustellen. Er beweist zu viel, wenn er gegenüber de-
nen, welche dieThatsacbe völlig bezweifeln, behauptet, daft dasselbe
nicht einmal schwach besucht gewesen sei. Glaubt er denn wirk-
lich, daß sich in unseren Quellen nicht mehr Nachrichten erhalten
haben müßten, wenn das Jubiläum in der That, etwa wie das von
1450, ein »wichtiges Ereignisc gewesen wäre?
Von den Nummern 18 — 20 wird man gerne Kenntnis nehmen.
In Nr. 18 versucht Martin V. die Befreiung des Französischen
Kanzlers, Bischofs von Clermont, bei Karl von Bourbon durchzu-
setzen; irrig dürfte aber sein, daß P. dies nur als eine Maßregel
zur Anfrechthaltnng der kirchlichen Freiheit auffaßt; er erzählt uns
nichts von den politischen Verhältnissen, welche die Gefangennahme
bewirkten. Nr. 19 gibt uns in dem Briefe des Kardinals Oorrer ein
lebendiges Bild von den römischen Verhältnissen nach dem Tode
Martins V., und nicht minder interessant ist der Brief Nr. 20, eine
Aeußerung über die Gefangennahme des Kardinals Vittelleschi von
dem Thäter selbst. Nr. 21 dagegen war bereits aus Gregorovins
genügend bekannt, und Nr. 22 meldet uns nichts neues. Es ist ein
Schreiben an Bologna mit den üblichen Lobesphrasen über den Bi-
sehof dieser Stadt, den späteren Papst Nikolaus V. Der päpstliche
Erlaß, der den Bessarion zum Legaten in Bologna ernennt, Nr. 31,
soll ebenso wie ein auf S. 319 abgedrucktes Breve, worin der Stadt
diese Ernennung mitgeteilt wird, nach P. Absicht die falsche An-
sicht beseitigen, daß erst ein Jahr später Bessarion sein Amt ange-
Pastor, Geschichte der Päpste seit dem Ausgang des Mittelalters. I. 479
treten habe, welche in Ersch and Graber, sowie in der zweiten Auf-
lage des Freiburger Eirchenlexikons aasgesprochen sei. Aber Vab*
len hat in seiner Biographie Vallas bereits ganz richtig das Jahr
1450 angegeben, es wäre also wegen der falschen Angaben in zwei
Sammelwerken, Ton denen das letztere notorisch aaf sehr niedriger
Stufe steht, wohl kaum ein solches Aufgebot erforderlich gewesen.
Von dem päpstlichen Bre?e wäre der Teil, welcher Bessarions Voll-
machten enthielt, (»lange juristische Formelnc nach P.) wahrschein*
lieb interessanter gewesen, als das von P. mitgeteilte Stück, welches
die bloße Ernennung bietet.
Durch Nr. 32, 33 und 47, päpstliche Erlasse zu Gunsten der
Johanniter, ferner durch das Bundschreiben im Interesse des Königs
von Cypern') Nr. 31 will P., anknüpfend an eine Abhandlung
von F. Kayser, im ultramontanen Görres-Jahrbuch VI, nachweisen,
daß Papst Nikolaus V. mit Eifer den Schutz der Christenheit gegen
die Türken sich habe angelegen sein lassen. Dieser Aufsatz eines
wohlmeinenden Dilettanten, welcher ein paar Bände des päpstlichen
Bnllarinms durchgemustert hat und nun naiv meint, er könne damit
die Auffassung von Voigt und Gregorovius, — diese nimmt Kayser
aufs Korn — umstoßen, verdient keine ernsthafte Berücksichtigung.
Solche Schriften sind aber ein Labsal für unseren Autor I Er
hält es nicht für nötig, sich mit dem Urteil Voigts II, 90 über die
wahre Bedeutung der TürkenbuUen des Papstes aaseinanderzusetzen,
und neben dem Gelehrten des Görres-Jahrbuchs wird sogar ein
Reumont, der sonst so gern benutzt wird, nicht zum Worte gelassen.
Beumont erwähnt III, 1, 386 einen Brief des von P. doch jedenfalls
sehr hochgeschätzten Capistrano: »Alle Fürsten, alle Welt sagt ein-
stimmig: wie sollen wir Schweiß, Güter, unserer Kinder Brod gegen
die Türken aufs Spiel setzen, wenn der oberste Pontifex in Thür-
men und Mauern, Kalk und Steinen den Schatz des h. Petrus auf-
gehn läßt, den er zur Verteidigung des heiligen Glaubens verwen-
den solltet. Von den Aeußerungen des dem Papste so ergebenen
Poggio, auf welche Voigt eben an der von Kayser angegriffenen
Stelle verweist, war doch auch Notiz zu nehmen, und wie durfte
Kayser von dem Briefe des Enea Sylvio vom 12. Juli 1453 nur die
letzten Worte anführen und damit den Sinn umkehren, und P. ihn
ganz verschweigen? Wie darf P. S. 454 die von dem Humanisten
Manetti dem sterbenden Papste in den Mund gelegte Bede ein Zeug-
1) Der Abdrack ist mit so übermäßigen Lücken vorgenommen, daß man an-
nehmen möchte, ursprünglich habe der Verf. des Auszugs nur an eine Verwer-
tung im Texte gedacht. Nach S. YIU ist vielleicht Dr. Gottlob hiefür haftbar
m machen.
I
" 480 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 12.
BIS Denoen, welches der Papst selbst im Angesicht der
Ewigkeit abgab?
Trotz dieses geflissentlichen Verschweigens wichtiger Zeugnisse
ist P. doch bloß auf S. 443 mit Eayser der Ansicht, es sei erwie-
sen, daß man Nikolans V. mit Unrecht grober Yernachlässignng des
Krieges gegen die Unglänbigen beschnldige. Auf S. 453 ist gesagt,
daß die Nachrichten »leider höchst Ittckenhaft seien und sich wider-
sprächenc. Dort, S. 443, spricht P, als seine Ueberzeagang ans,
daß es des Papstes Pflicht war, die Darchftthrang der Union als
Bedingung für die Untersttttzang Eonstantinopels zo fordern , aof
S. 448 schreibt er Frommann nach, daß der Papst sich damit be-
gnügte, daß der Schein gewahrt wurde, gibt zustimmend nach
einer von Frommann nachgewiesenen Komischen Handschrift Aus-
züge aus einer Abhandlung, welche gegenüber der obigen Behaup*
tung, daß den Schismatikern keine Hülfe zu gewähren sei, u. a.
Opportunitätsgründe geltend macht: melius est Oraecos tolerare^ sictd
meretrices ecclesia tolerat propter tnaiora mala vUanda.
Auf S. 339 preist P., daß er das Glück hatte, im Mailänder
und Florentiner Archiv neue Berichte aufzufinden über das durch
übermäßiges Gedränge veranlaßte Unglück, welches bei Gelegenheit
des Jubiläums 1450 auf der Engelsbrücke am 19. Dec. 1450 vor-
kam. Gregorovius hatte sehr mit Recht nur zwei Zeilen darüber ge-
schrieben, P. sagt, daß fast alle Chroniken Italiens das Ereignis er-
wähnten, er verzeichnet kurz 3 Berichte von Augenzeugen, und fttgt
selbst zwei neue Nr. 34 und 35, von Männern hinzu, welche damals
der eine in Rom, der andere in Florenz weilten. Es ist dies für
den Geschicbtschreiber der Päpste ungefähr das gleiche Beginneni
als wenn man die Ringtheaterkatastrophe in einer Oesterreichischen
Geschichte behandeln wollte! P. freilich behauptet: »Das schreck-
liche Ereignis schlug dem väterlichen Herzen des Papstes eine
langhin blutende Wundec, läßt den Papst in eine Art Trübsinn
verfallen, zerrupft mit Eifer, aber allerdings mit Recht, eine Eoldesche
unglückliche Stylblüte, vgl. Luther S. 4, verneint aber mit Unrecht
sofort die Frage, ob der Papst nicht selbst die Schuld getragen
habe. Um des päpstlichen Segens willen waren die Volksmassen
zusammen geströmt Indem dieser plötzlich abgesagt wurde, und in
Folge dessen die Massen plötzlich über die Brücke zurückeilten und
hier nicht freie Bahn, sondern ihnen entgegenkommende Reiter vor-
fanden, trat die Verwirrung ein. Wer, wie P. es thut, dem Papste
persönlich die Fürsorge für die Pilger rühmend zu Gute schreibt,
sollte sich doch hüten denselben hier sofort freizusprechen mit dem
Hinweis auf die von Nikolans V. verbesserten römischen Straßen!
Pastor, Geschiciite der Päpste seit dem Aasgang des Mittelalters. I. Wl
Man maß ein römischeB kirchliches Volksfest gesehen haben, um sich
einen Begriff za machen, welche Wirkung ein Gegenbefehl, wie der
von Nikolaas erlassene, haben kann.
Nr. 36, 38, 39, 40 and 41 sind Vollmachts- und Beglaubigangs-
schreiben für die Kardinäle Estouteville and Gusa. Nr. 36 ist die
Vollmacht Nicolaus, y. Casa; über den Zweck von Estoutevilles
Sendung Nr. 38 muß man bei Reumont III, 1, 255, aaf den P. in
einer Note bloß verweist, die Auskunft holen, daß er die prag-
matische Sanktion beseitigen sollte; P. spricht von Beform der Dom-
kapitel, bezeichnet als des Kardinals Hauptaufgabe die Herstellung
des Friedens zwischen England und Frankreich, und von Estonte-
villes Thätigkeit für den Ruf der hingerichteten Jeanne d'Arc nach
6. Görres; jenen Punkt verschweigt er.
Vielleicht liegt dies indessen daran, daß es unserem Historiker
nicht darum zu thun war, ttber die politische Thätigkeit seiner
Päpste ein allseitiges Bild zu geben. Von den Beziehungen der
Kurie zu Frankreich und England erfährt man sehr wenig. Aber
auch in der Schilderung des Verhältnisses zu Deutschland sind große
Lücken. Von dem Eingreifen des Papstes in den Streit zwischen
Friedrich III. und den österreichischen Ständen ist in dem Texte bei
Pastor gar nicht die Rede, obgleich es in der Geschichte Nikolaus V,
eine hervorragende Bedeutung hat. Die entschiedene Parteinahme
des Papstes für Friedrich III., zu dessen Gunsten Bann und Inter-
dikt aufgeboten wurden, wogegen dann die Appellation an ein Kon-
cil von seinen Gegnern ins Auge gefaßt wurde, erklärt auch die
Haltung Friedrichs in den kirchlichen Fragen. Das wird auch P.
klar geworden sein, als er durch Dr. Gottlob Abschrift von zwei
päpstlichen Erlassen erhielt, die an den Kardinal Cusanus gerichtet
waren, der in diesen Streitigkeiten vermitteln sollte. Nur in einer
Note S. 366 brachte er dann eine hierauf bezügliche kurze und
nichtssagende Notiz an, muß aber sonst zur Erklärung der Akten-
stücke Nr. 40 und 41 auf Voigt II, 78 verweisen, den er nicht ein-
mal so weit gelesen hat, um zu sehen, daß an den Bischof von
Siena ein anderer päpstlicher Erlaß am 22. Okt. 1452 abgieng, and
Bomit seine Bemerkung, welche die Auszüge Gottlobs fttr dessen et-
waige Auslassung verantwortlich macht, sehr überflüssig war.
Die Aktenstücke Nr. 42—46 und 49 behandeln die Verschwö-
rung Porcaros. Ohne jeden Wert ist, daß der Verf. in Nr. 42 eine
Anzahl von Handschriften notiert, in denen sich angebliche Reden
Porcaros fanden. Ueber die Echtheit urteilt P. nicht, verzeichnet
nur die sich gegenüberstehenden Meinungen. Der Verlauf der Ver-
9«U. ^el. Am. 1887. Hr. IS. 84
462 QÖtt. gel. ABZ. 1887. Nr. 12.
schwOrnng ist ziemlich bekannt, aber P. sagt mit Becht, daB man
über die Mitbeteiligten noch nicht klar sehe. Seine »Gestae Nr. 44
sind wohl »notata in [oder >ex<] confessione eornm (nach Tortur)€.
[P. liest nova in confnsionem !] aber jedenfalls nicht das ursprüng-
liche Protokoll. Beachtenswert ist der Brief des Kardinals Calan-
drini, welcher behauptet, es habe sich bei dem Aufstände nicht um
Geldgewinn oder um die Freiheit der Stadt, sondern geradezu um
die Religion Christi gehandelt. Das macht die ganze Angelegen-
heit wo möglich noch dunkler.
Nr. 48 berichtet über die Haltung Genuas nach Eintreffen der
Nachricht von dem Verluste von Eonstantinopel, 50 and 51 sind
Briefe an den Mailänder Herzog über die Maßregeln, welche man
in Rom traf, um eine Versammlung, die über den Frieden Italiens
beraten sollte, zusammenzubringen und so eine Aktion gegen die
Türken zu ermöglichen, welche der Papst durch eine Kreuzzugsbulle
ins Leben zu rufen suchte. Die Berichte gehn von Männern aus,
welche dem den Papst beherrschenden Arragonier feindlich gegen-
überstanden, sie verändern nicht das Bild, welches wir bisher von
der Stellung des Papstes haben, fügen aber eine Menge interessan-
ter Züge hinzu. P. selbst gibt hier, im Anschluß an Gregorovius,
zu, daß der Papst die Türken- wie die Friedensfrage lau betrieb
ihn interessierte es die griechischen Bücher vor den Türken zu ret-
ten, da hatte er Erfolge, welche aber nicht mit Erlassen, wie Nr.
52, sondern darch Aufwand von Geldmitteln erreicht wurden. Nr. 53
verzeichnet eine Meldung des Podestä von S. Donino an Fr. Sforza
nach Aeußerungen eines Reisenden über ein am Vatikanischen Hofe
umlaufendes Gerücht von einer gefährlichen Erkrankung des Pap-
stes. Man sollte denken, daß bezüglich des körperlichen Befindens
doch etwas zuverlässigere Nachrichten aufzutreiben gewesen wären.
P. hat deren in der That auch in hinlänglicher Zahl gesammelt, sie
aber an verschiedenen Stellen seines Baches angebracht. S. 342 er-
krankt Nikolaus V. wegen des Unglücks auf der Engelsbrücke an
Melancholie, S. 437 und 484 wird die Empörung Porcaros, an letz-
terer Stelle auch der Fall von Konstantinopel als nachteilig für die
Gesundheit des Papstes bezeichnet, wir hören bei P. von Seelen-
leiden, welche sich zu körperlichen gesellten. Bezüglich des Auf-
standes von Porcaro dürfte darauf hinzuweisen sein , daß Sforzas
Gesandter am 7. Jan. 1453, eben nach P. 484, von einer seit einem
Jahre oder 8 Monaten bei dem Papste wahrnehmbaren Veränderung
spricht, welche durch seine Krankheit, aber auch durch andere
Gründe veranlaßt sei. Wer die auf 8. 475 und 484 fg. angeführten
Quellenstellen zusammen nimmt, wird finden, daß Nikolaus V. seit
I
Fastor, Geschichte der Pftpste seit iem Aasgang des Mittelalters, t 488
1450 zeitweilig Gicht- und Fieberanfälle hatte, sich sonst aber meist
den Geschäften widmen konnte.
Nr. 54 ist ein Bericht des Gesandten der Republik Venedig in
Siena, Francesco Gontarini. Aas dem in dem BOcherverzeichnisse
fehlenden Bache Malavolti Historia de Sanesi, III, 44, welches
in Venedig erschien, hätte P. genaaer ersehen können, in welchem
Zasammenhang der bei Georgias und P. als kleine Episode erschei-
nende Streit zwischen dem Grafen Everso y. Anguillare und Spoleto
einerseits und Norcia andererseits mit der Politik von Siena, Florenz
and König Alfonso stand, und welche thätige Bolle Francesco Gon-
tarini in allen diesen Streitigkeiten spielte. Aber auch aas Geor-
gias wird klar, was es mit dem Verräter Angelo Boncone, welchen
Nikolaus nebst 2 Schwiegersöhnen hinrichten ließ, für eine Bewandt-
nis hatte. Der Papst behauptete, Roncone hätte dem von Norcia
ungefährdet nach seinen Besitzungen entkommenen Grafen Everso
den Weg verlegen können und dies wegen verwandtschaftlicher
Bttcksichten nicht gethan. So Gontarini* Der Gesandte Sforzas in
Florenz schreibt, man kenne die Sache nicht genau, und ebenso-
wenig den Grund, zuerst habe sich eine von Boncone besessene
Burg in der Mark empört, Boncone sei nach Bom gegangen und
habe sich sehr beschwert, darauf sei er hingerichtet worden, und
nun behaupteten die Anhänger des Papstes, er habe ein Attentat
gegen Leben und Staat des Papstes geplant. Georgius macht dar-
auf aufmerksam, daß die Versöhnung des Papstes mit Everso am
5. Aug. 1454 erfolgte und es demgemäß unwahrscheinlich sei, daß
man im Oktober noch eine Hinrichtung vorgenommen haben sollte,
weil ein Heerführer denselben habe entkommen lassen. Georgius
läugnet darauf hin die ganze Sache. Gontarini begrüßt die Nach-
richt von der Hinrichtung mit Freuden, weil er daraus auf eine un-
günstige Stimmung des Papstes gegen Everso schließen, vielleicht
eine Unterstützung Sienas durch den Papst erwarten zu können
meint. Auch Gontarini setzt also die Versöhnung mit Everso eben-
falls voraus. Untersucht man alle Zeugnisse, so werden wir zu der
Annahme geführt, daß der Tod Boncones einer Tyrannenlaune ent-
sprang, welche Niemand zu erklären wußte, aber Jeder zu erklären
suchte, der eine durch den Hinweis auf ein militärisches oder Ma-
jestätsverbrechen, der andere durch Trunkenheit oder Uebereilung
des Urteilssprechers.
Von dem Briefe Enea Sylvios, Nr. 55, gibt uns Voigt II, 134,
135 viel ausführlichere Nachricht, als P., welcher ihn nach der von
Voigt benutzten Hs. abdruckt, aber im Texte doch nur Voigt S. 135
abzuschreiben weiß. Die Stelle Voigt S. 135, worin Voigt die Be-
34»
4S4: Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 12.
stechaog des Trierer Erzbischofs dem Papste anrät, wird vod P.
nicht verwertet, aber im Abdruck doch getrea mitgeteilt
Die Aktenstücke Nr. 56—61 behandeln die letzten Tage Niko-
laus' V. und das Konklave Oalixt III. Beachtenswert ist Nr. 56,
die beiden folgenden Sttlcke, Berichte Contarinis ans Siena, sind
dagegen unerheblich; Nr. 59 u. 60 sind bereits von Petrucelli della
Gattina verwertet, Nr. 61 ist ebenfalls von Belang. Es spricht sich
darin eine sehr nüchterne Beurteilung der Eonklavevorgänge aus,
wir erkennen die Einwirkungen der Gesandten der verschiedenen
italienischen Mächte auf die im Konklave versammelten Kardinäle.
Obgleich P. diese Berichte kennt und teilweise auch mitteilt — P.
spricht S. 494 von den wertvollen Berichten des Nicodemns
V. Pontremoli — sieht es bei P.s Schilderung des Konklaves so aus,
als ob dasselbe von aller Welt abgeschnitten gewesen sei, während
die Gesandten sich selbst rühmen, wie sie auf die Kardinäle ein-
wirkten. S. 496 redet P. von dürftigen Andeutungen in einzelnen
Gesandtschaftsdepeschen. Er gibt wörtlich nach Voigt II, 157,
der vor Petrucelli schrieb, die Meldung von Gapranicas Kandidatur
wieder, verschweigt aber die Behauptung Sanseverinos ^), der die
Wahl des Galixt dem Einfluß Alfonsos von Neapel zuschreibt. Statt
dessen erbaut P. seine Leser mit einer angeblichen Prophezeiung
des Dominikaners Yincenz Ferrerio, welcher dem Alfonso Borja, eben
Galixt, in einer Predigt die Tiara in Aussicht gestellt haben soll.
»Gläubig habe Borja seit diesem Augenblick an der merkwürdi-
gen Prophezeiung festgehaltene, sie häufig seinen Freunden erzählt,
und es sei, nachdem die Weissagung in Erfüllung gegangen, [siclj
eine der ersten Sorgen seines Pontifikats gewesen. Ferrer die Ehre
der Altäre zuzuerkennen: am 29. Juni 1455 fand die feierliche Ka-
nonisation des redegewaltigen Dominikaners statt«. Wer die Ge-
schichte der Päpste schreibt, sollte doch wissen, wie in einem Zeit-
alter, wo die Astrologen den wunderglänbigen Theologen in die
Hände arbeiteten, derlei Prophezeiungen an der Tagesordnung wa-
ren, es dürfte in der Renaissancezeit wenige Päpste geben, von de-
nen nach ihrer Erhebung nicht ähnliches behauptet worden wäre.
S. 284 lehnt P. selbst die Glaubwürdigkeit ähnlicher Weissagungen
bezüglich Nikolaus' V. ab. Er möge nur einmal die Schrift des
Hofastrologen Pauls III., des Bischofs Lucas Gauricus, ansehen, wel-
cher 1552 dem Kardinal Gervino, dem 1555 gewählten Marcellus II.
die Tiara nach dem Horoskop vorhersagte. Enttäuschungen, wie
1) Bd Petracelli I, 268. Auf S. 569 wird bei P. beiläufig erw&hnt, daS
König Alfonso »sich rahmen konnte, den allerweaentlichsten Anteil an dem
Emporsteigen des Papstes zu haben«.
Pastor, Geschichte der Päpste seit dem Ausgang des Mittelalters. I. 485
816^ nach Niders Formicarias II, 3, z. B. ein Dominikaner in Eon-
stanz erfahr, welcher meinte, sein Tranm Papst zn werden mttsse in
Erfttllang gehn, als gerade in der Stadt am Bodensee drei Päpste
fielen und ein neuer zn wählen war, warden selten überliefert.
Wenn P. hier sich den Anschein gibt, als lege er der Weissagung
des heiliggesprochenen Dominikaners einen gewissen Wert bei, be-
streitet er an einer anderen Stelle dessen Olaubwürdigkeit ~ freilich
ohne es zu wissen. Aaf S. 120 preist er »den ehrlichen hessischen
Gelehrten« Heinrich von Langenstein, den angesehensten deutschen
Theologen jener Zeit« [Gitat nach DOllinger Weissagungsglaabe 352],
weil er, den Standpunkt der weltberühmten Theologenschale teilend,
den Abt Joachim für einen Konjekturenmacher erkläre, und die »da-
mals grassierende Prophezeiungssucht des Telesphorus bekämpft
habe«. In dem Prolog des Telesphorus aber ist ausdrücklich auf
Ferrer »unseren Ordensbruder« für die Behauptung verwiesen, daft
der Antichrist aus Deutschland kommen werde. Dies hätte P. auch
schon ans Döllinger S. 270 ersehen können. Hätte er dies gewaßt|
sowie daß noch 1516 der loquisitor und der Patriarch von Venedig
den Druck des Telesphorus erlaubten, so würde er wohl die eine
oder die andere Stelle abgeändert haben. Welche? das ist schwer
zn sagen. Jedenfalls würde wohl die Behauptung S. 120 über die
Verwertung der Weissagungen durch häretische Parteien et-
was abgeschwächt worden sein.
P. rühmt sich des Papstes Calixt für Ferrer ausgestellte Bulle
in einer Münchner Hs. gefunden zu haben ; er schreibt darüber wei-
ter: »Die Kanonisationsbulle ist nicht in den Regesten des päpstli-
chen Geheimarchivs eingetragen, in Folge dessen entstanden Zwei-
fel, weshalb Pius IL eine neue Bulle erließ«. In der betreffenden
Hs. ist aber der Abschrift jener angeblichen Galixtinischen Bulle die
von Pius erlassene unmittelbar angefügt, im Katalog allerdings nicht
aufgeführt. Sie ergieng ne pro 60, quod super canonizactone ac aliis
praemissis eiusdem praedecessoris Ktercte, eius superveniente öbitu^
mini me confectae fuerunt^ in posterum valeat de huiusmodi ca-
nonieacione et aliis praemissis quotnodolibet haesitari. Wie kam es,
daß Pius II. als Grund der unterbliebenen Ausfertigung den super-
veniens obitus [6. Aug. 1458] anführt und von einer ausgespro-
chenen Kanonisation durch Calixt überhaupt nichts zn wissen
scheint? Sollte es nicht denkbar sein, daß die während des Schisma
von Ferrer eingenommene Parteistellung, vgl. P. S. 110, den Papst
Calixt bedenklich machte? Jedenfalls hätte P., wenn er über diese
Kanonisation sprechen wollte, auf die Quellen zurüokgehn mflsseni
anstatt Bzovius, Eohard nnd Wadding zu folgen. Ich fürchte frei
486 Gott. gel. Ans. 1887. Nr. 12.
lieb, daß P. bei näherem EiDgebn auf die Oeschichte des Heiligen
yielleicht niebt mebr mit solcher Begeisterung von demselben spre-
chen würde').
Nr. 62 ist eine Bitte um freien Durchzug fttr Bodrigo Borgia
und Bologneser Gesandte, welche Papst Calixt — an Bologna
selbst gerichtet haben soll; indessen muß in der Ueberschrift ein
Schreibfehler stecken. Genauere Untersuchung überlasse ich den
Forschern über die päpstliche Kanzlei, sachlich ist das Schreiben
ohne jeden Wert, auch unserem Autor dient es nur um gegenüber
dem »phantasiereichen« Clement nachzuweisen, daß Bodrigo nicht
erst 1456 nach Italien kam.
In Nr. 63 haben wir ein Bruchstück von einem Briefe des mai-
ländischen Gesandten an seinen Herrn. Dieser glaubt augenschein-
lich etwas ganz Neues zu melden, wenn er berichtet, daß die Be-
ziehungen zwischen dem Neapolitaner Alfonso und dem spanischen
Papste nicht mehr so gut seien, wie man annahm : der aus des Kö-
nigs Dienst in den des Papstes übergetretene erste Sekretär des
1) Bei dieser Gelegenheit erhalten wir noch einen niedlichen Einblick in P.b
Arbeitsweise. Er schreibt Döllinger ab, fügt nur die mit der Wirklichkeit durch-
aus nicht übereinstimmende Behauptung bei , dafi die zahlreichen Handschriften
bezeugten, wie der Telesphoras von allen ähnlichen Schriften die weiteste Ver-
breitung gefunden hätten. Von solchen Handschriften notiert nun P. S. 120 und
im Nachtrag eine hübsche Zahl, er bemerkt dazu: Nach Döllinger ist die
Schrift 1515 in Venedig gedruckt worden, aber diese (auch mir unzugäng-
liche) Ausgabe ist so selten, daß die Neueren sie nur aus Handschriften ken-
nen. Jeder Leser wird über den FleiB staunen, mit dem der Verf. sich nach
den Handschriften umsah, während Döllinger bequem den Druck benutzen konnte.
Indessen auch der zweite Teil des Satzes ist aus Döllinger abgeschrieben, Pastor
gehören nur die drei eingeklammerten Worte, und er ließ die bei Döllinger
stehende Aufzählung jener Neueren: >Papenbroich uud Mosheimc fort. Damit
meinte er jedenfalls nichts Bedenkliches zu thun, denn weshalb sollte ein Aus-
spruch, der in Döllingers Aufsatz richtig war, nicht auch in Pastors Munde seine
Wahrheit behalten ? Ein seltsames Misgeschick, daß diesmal wirklich ein solcher
Fall vorliegt. Seit Döllinger seine Abhandlung auf Grund des Venetianer Drucks
schrieb, ist nämlich von Fr. v. Bezold mit Benutzung der auch von P. ange-
führten Münchner Handschriften nachgewiesen worden, daß diese, und somit wohl
auch die übrigen von P. erwähnten, einen von dem Venetianer Druck wesentlich
verschiedenen Text darbieten, welchen die Druckausgabe wegen politischer Ten-
denzen im Jahre 1515 abänderte. Bei diesem SachverhäUnis muß natürlich
der Hinweis auf die zahlreichen Handschriften, welche P. anfuhrt, da ihm —
wie den Neueren 1 — der Druck nicht zugänglich gewesen sei, erheiternd wirken,
üebrigens besitzt die Münchner Staatsbibliothek drei Exemplare — 2 verschie-
dene Drucke — der Venetianer Ausgabe, so daß der Ausspruch über dessen
Seltenheit nur in Beziehung auf jene eben von Döllinger angeführten Schriftsteller
am Platze ist. Vgl. Sitzungsberichte der Bayerischen Akad. 1884, S. 566.
Pastor, Geschichte der Päpste seit dem Ausgang des Mittelalters. I. 487
Papstes hatte ihm zwei Briefe gezeigt, die ihm sein früherer Herr
geschrieben, worin er beauftragt wurde, den schläfrigen Papst zum
Türkenkriege anzaspornen. Man mag hierin ein ernstes Anzeichen
der zwischen Alfonso und Calizt sich entspinnenden Entfremdung
und zugleich der Annäherung des Neapolitaners an Sforza sehen,
aber keineswegs darf man mit P. S. 569 den Uebermut Alfonsos
einer persönlichen Beleidigung des Papstes anklagen, fflr dessen
Augen der Brief wohl nicht bestimmt war. Und ist es nicht sehr
wenig am Platze, wenn P. sagt, daß der Wunsch Alfonsos, das Bis-
tum Valencia möge einem seiner Verwandten gegeben werden, nicht
bestätigt werden konnte wegen Jugend und Unwissenheit des
Kandidaten, während natürlich derlei Einwendungen dem Papste
nicht in den Sinn kamen, wenn es sich um die Beförderung seiner
eigenen Nepoten handelte? Und was soll es heißen, daß P. in dem
Texte von der päpstlichen Ablehnung des Wunsches Alfonsos nach
Belehnung mit Ankona emphatisch sagt: »Galixtus war nicht ge-
willt, aus Liebe zu seinem früheren Herrn seine Pflicht zu ver-
letzency während nur in der Anmerkung von der doch viel wichtige-
ren Weigerung, die Investitur mit Neapel zu erneuern, die Rede ist?
Ist es nicht die Pflicht des Historikers, dem Leser zu sagen, ob er
den Ausspruch des Gesandten von Neapel, nur in dem Ehrgeiz der
Borgia sei die Erklärung für Galixts Auftreten gegen Alfonso zu
suchen, für eine Verläumdung oder für Wahrheit hält?
Eine ganze Gruppe von Aktenstücken Nr. 65, 66, 68 — 76 be-
zieht sich auf das Verhältnis Calixts zur Türkenfrage. P. erzählt
uns auf S. 518, wer die »in 38 starken Bänden zerstreuten
Akten im päpstlichen Geheimarchiv einsehe, müsse staunen über die
großartige Wirksamkeit des alten kränklichen Papstes in dieser Hin-
sicht« ; S. 531 erfahren wir, daß einige Bände eben dieses Archivs,
welche des päpstlichen Schatzmeisters Einnahmen und Ausgaben für
die Flotte enthielten, weder 1879 noch 1883 aufzufinden waren, und
deshalb bis zum Wiederauftauchen dieser Bände ein abschließen-
des Urteil über die Ausgaben Galixt III. nicht zu gewinnen sei;
auf S. 584 behauptet P., daß die Breven Calixt III. überhaupt nur
sehr unvollständig erhalten seien. Durch die beiden letzten Aus«
Sprüche wird der erste doch wohl sehr wesentlich beschränkt, denn
es kann ja nicht auf volltönende Phrasen in Bullen und Breven,
welche zum Türkenkrieg aufiforderten, ankommen, sondern lediglich
darauf, was Galixt für den Krieg zusammenbrachte, und ob er das
mit Ablässen und Steuern beschaffte Geld wirklich für den ange-
kündigten Zweck verwandte. Ein nüchterner Forscher wird von
dem Ergebnis dieser Untersuchung es abhängen lassen, ob er sich
488 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 12.
P. aoflcblieBt, wenn dieser verkfindet S. 512: »Das Papstiham allein
begriff die Größe des Moments. Während rings nmber Alles von
partikularen Interessen beherrsebt wurde, zeigte es sieb von Neuem
als die universellste und konservativste Maebt der Welt. Die Erb-
weisbeit Roms wUrdigte die ganze Gröie der Gefabr u. s. w.c; fer-
ner »Mit Calixt III. war der recbte Mann an die Spitze gestellt
wordene.
Aus der bereits oben berttbrten Depesebe Nr. 63 gebt hervor,
daft im Sommer 1455 Alfonso, ob mit Beebt oder Unrecht, dem
Papste vielmehr Saumseligkeit Schuld gab. Das wurde zwar bald
nachher entschieden anders, der alte Papst redete und ' schrieb so
viel er konnte gegen die Türken. Um das zu beweisen, bedurfte es
kaum eines Neudruck^ des bereits durch Ennen bekannten Breves
Nr. 64, worin die Universität und Stadt Köln zur Unterstützung des
nach Frankreich abgesandten Kardinals Alain aufgefordert wird,
noch des Berichtes Nr. 65 ttber die Feierlichkeit der Verleihung des
Kreuzes an einige Legaten, wobei der Papst Thränen der Bttbrung
vergoß. Castiglione urteilt: Der Papst hat gltthenden Eifer gegen
den Türken, und es ist sehr schade, daß er gehemmt wird, beson-
ders durch das Uoternehmen Piccininos*)€; gegen dessen Sbldner-
haufen erklärte der Papst eben so auftreten zu wollen, wie gegen
die Tflrken. P. selbst teilt uns mit, daß die vom Papste mit dem
Befehl ttber die wenigen Schiffe betrauten Prälaten, anstatt die Tür-
ken zu bekämpfen, BanbzUge gegen die Genuesen unternahmen.
Nr. 68 enthält die Absetzung des Bischofs von Tarragona und seiner
Genossen ; auch der Admiral Kardinal Scarampo entsprach nicht den
päpstlichen Befehlen, Nr. 70 und Nr. 73, Kardinal Alain, der Kreuz-
zugslegat in Fraukreich wurde vom Papste mehrfach scharf getadelt,
Nr. 74, und der gegen Piccinino befehligende Ventimiglia mußte
ebenfalls ein Tadelsbreve hinnehmen, ganz zu schweigen von den
bei P. 584 augeführten scheltenden Schreiben an zahlreiche Prä-
laten. Gewiß trifft hinsichtlich der auch von P. 584 betonten
Schwierigkeiten der Ausspruch Voigts II, 775 zu, »daß auch die
besten Absichten eines Papstes schmutzig wurden unter den curialen
und mönchischen Händen, die ihre AnsftthruDg zu durchlaufen hatte,
und daß mit ihnen die Fürsten im Zugreifen wetteiferten«, aber es
muß doch die Frage aufgeworfen werden, ob denn die Zeitgenossen
1) P. hat S. 517 den. Satz: [S. S^] ha ferventüsimo detiderio contra h
Tureho, et *^ grande peccato che se li posta impedimento, maxime per queeto fatio
del conte Jaeopo übersetzt: Galixtus hat das allergröSte Verlangen den Türken
Widerstand zu leisten; wer ihm hierin Hindemisse bereitet, begeht eine große
Büade. [l] S. 525 Z. 4 ist wohl 1455 statt 1456 zu lesen.
Pastor, Geschichte des Päpste seit dem Aasgang des Mittelalters. I. 489
Zutrauen auf eiuen Erfolg des vom Papste so eifrig betriebenen
Unternehmens setzen, ja ob sie an den uneigennützigen Eifer der
päpstlichen Kreuzzugspredigt glauben konnten. Was wollte es be-
deuten, wenn der Papst, P. 552, dem Gesandten Mailands beteuerte,
er sei bereit, ftlr das gemeinsame Wohl zu sterben, auch wenn er
sich in Qe fangen schaft begeben müsse, und zugleich erklärte,
er wolle um keinen Preis Rom verlassen, selbst wenn er hier der
Pest erliegen sollte! Waren dies nicht zusammenhangslose Beden
des altersschwachen Papstes, und kann nicht das Mitleid, welches
der Gesandte dem Papste widmete, einen anderen Sinn haben, als
P. annimmt? Der Papst sprach sich dagegen aus, daß die Rhodiser
Ritter von den Einkünften des Franz(}si sehen Zehnten unterstützt
würden, er meinte für jene sei genug geschehen, alles komme darauf
an, daß die päpstliche Flotte unterstützt werde. P. selbst schreibt
S. 535, daß die Erwartungen, welche Galixt von seiner Flotte hegte,
Angesichts der geringen Zahl der Schiffe übertrieben waren; als
die Flotte wirklich endlich segelte, war Rhodus, der Sitz der Jo-
hanniter ihr erstes Ziel, Nr. 75. War es nicht eine allzu optimisti-
sche Auffassung, wenn der Papst, P. 528, schrieb, ein paar Schiffe,
die in der Nähe von Ragnsa erschienen, würden den Mut der Un-
garn neu belebt haben ? P. S. 546 eignet sich den Ausspruch Voigts
an, daß der zu diesen abgesandte päpstliche Legat Carvajal ihnen
nichts gebracht habe als Ablaß für Alle, welche die Waffen gegen
die Türken ergreifen würden, und Versprechungen, die schon oft
genug getäuscht ; sollte man da am Ende schon mitjubeln, wenn in
Rom wegen der bloßen Ernennung eines Legaten zum Admiral der
Türkenflotte ein Fest abgehalten wurde? Der Bereich der Thätig-
keit dieses Legaten wurde außerordentlich weit gesteckt, so daß
man wohl Grund hatte an Erobernngspläne des Papstes, oder der
Seinen, zu denken, zumal wenn man sah, daß die »Missethäter«,
welche zuerst an der Spitze der Flotte gestanden und diese gegen die
Genuesen verwandt hatten, bald begnadigt worden waren und auch
ferner in päpstlichen Diensten bleiben durften. Fordert es nicht
geradezu den Spott heraus, wenn der Papst darauf hinwies, wie
schnell er seine Flotte abgeschickt habe, um die Feinde an der
Donau abzuziehen, und dann hinzufügte, bereits sei der Legat in
— Neapel und werde in wenigen Tagen nach Eonstantinopel se-
geln?^) Zu dieser Fahrt nach Eonstantinopel drängte der Papst
den Legaten Scarampo fortwährend, er schrieb, wie der Mailänder
1) Pastor S. 538. Die Chronologie der Bremen ist noch vielfach in Un-
ordnung.
490 Gott. gel. Auz. 1887. Nr. 12.
Gesandte sagt, tausend Mal, daß er überzeugt sei; der ganze Islam
müsse bei seinen Lebzeiten vernichtet werden. P. selbst findet S. 557,
daß übertriebene Pläne dieser Art in fast allen Breven dieser Zeit
bis zur Ermüdung wiederholt werden. Man wird zugeben, daß die-
ser fanatische, die wirkliche Sachlage übersehende Eifer auf ruhig
überlegende Politiker eher abschreckende als aufmunternde Wirkung
üben mußte. Dazu kam, daß die Beziehungen des Papstes zu Al-
fonso fortdauerten, und gerade bei dem Fiottenunternehmen die
Mitwirkung desselben Alfonso gewünscht wurde, welcher den an-
fänglich von den päpstlichen Anführern geübten Misbrauch veran-
laßt hatte. Wie endlich der Legat Scarampo nach langem Zögern
angewiesen wurde, nicht länger auf Alfonso zu warten, sprach der
Papst es ofi^en aus, daß es ihn freue, jetzt Italien von diesem Skor-
pion befreit zu sehen; Nr. 73; das gewährte gewiß keinen günsti-
gen Einblick in die Verhältnisse an der Kurie, wo die Nepoten den
Kardinal Scarampo sich vom Halse zu schafi^en wünschten, lieber
Frankreichs Haltung mit dem Urteil: »unwürdig einer christlichen
Macht« abzusprechen, P. 536, ist unglaublich naiv ; P. erwähnt
selbst, S. 538, daß der päpstliche Kreuzzugslegat Alain zugleich die
Aufhebung der pragmatischen Sanktion betreiben sollte, die päpst-
lichen Ansprüche stießen auf grundsätzlichen Widerstand, man darf
nicht von Lässigkeit reden. Die Franzosen waren gewiß nicht min-
der von den Gedanken beseelt, welche die deutschen Kurfürsten zu
Frankfurt aussprechen ließen , als sie auf die wüste Wirtschaft der
Nepoten hinwiesen, welche man nicht mit Geld unterstützen wolle,
und daraufhin den Zehnten weigerten.
P. S. 563 spricht hier von »Schmähungen« gegen den apostoli-
schen Stuhl, aber was er selbst über den Nepotismus Calixt III. er-
zählt, S. 585, genügt, um das Mistrauen gegen die päpstliche Krenz-
zugspredigt zu erklären, ganz abgesehen von den Misbräuchen, die,
wie P. S. 520 salbungsvoll sagt, bei jeder menschlichen Institution
sich einschlichen. P. vergißt leider uns zu sagen , was er bei dem
damaligen Ablaßhandel für gebräuchlich hielt, ob er der Meinung
ist, daß nur wenn falsche Sammler auftraten, oder wenn die aufge-
stellten Prediger Unterschlagungen verübten, ein Misbrauch vorlag,
oder ob er einen solchen auch dann für gegeben erachtet, wenn man
dem Volke vorlog, das Geld solle nicht nach Rom gehn ^). P. S. 700
scheint geneigt die Beteuerungen des Papstes, alles an ihn gelangte
Geld sei für die paar Schiffe, welche man Flotte nannte, verwandt
worden, zu glauben; er beruft sich auf Moser, der die Kostspielig-
1) Vgl. Voigt n, 176.
Pastor, Qeschichte der Päpste seit dem Ausgang des Mittelalters. I. 491
keit eines Seekrieges betont babe. Ein bestimmter Beweis läßt sich
in solcben Dingen nicht führen, unzweifelhaft ist, daß die Zeitge-
nossen dem Papste vielfach hierin nicht geglaubt haben. Sah sich
doch der Papst sogar veranlaßt, dem Augustinerorden bei Strafe des
Bannes zu befehlen, sich eifrig der Ablaßpredigt und der Geld-
sammlung zu widmen; Nr. 69. Daß allerdings der Sieg bei Belgrad
in Rom nicht mindere Freude hervorrief, als in Venedig, was durch
Nr. 71 und 72 dargethan werden soll, wird Jedermann glauben.
P. druckt das Ernennangsbreve für den Kardinal Bodrigo Bor-
gia^) ab, Nr. 67, welches uns nichts von dem Widerstand der Kar-
dinäle sagt, sondern deren Zustimmung notiert. Darüber wird man
sich nicht wundern. Durch ein Urteil Hergenröthers — P. sagt:
»das von einem deutschen Kardinal des 19. Jahrhunderts gefällte Ur-
theii mag hart erscheinen, ist aber vollkommen berechtigte —
gewinnt P. den Mat, den späteren Papst als einen sittenlosen und
lasterhaften Menschen zu bezeichnen. Er verzeichnet in Nr. 79 eine
Anzahl Gnadenerweisungen Galixts an seine Nepoten, auf S. «588
weist er darauf hin, daß aus der Zeit dieses Papstes ungünstige
Zeugnisse über Rodrigos Wandel nicht vorlägen, und bei der Straf-
predigt, welche Pius II. an denselben richtete, müchte er meinen,
daß Rodrigo noch nicht Priester gewesen sei ^). Die Frage ist wohl
ziemlich gleichgiltig, da feststeht, daß nicht einmal der Besitz der
höchsten Würde der Christenheit einen Sinneswechsel bei Rodrigo
hervorbrachte.
Nr. 80—82 führen uns in die bereits oben erwähnte Politik ge-
gen Neapel ein, welches Calixt wohl sicher seinen Nepoten zudachte ;
darüber finden wir hier auch noch einige Nachrichten von Interesse.
1) Pastors Behauptung S. 586 über dessen früheren Namen ist wohl nach
Thuasne Burchardi Diarium, III, 457, n, zu modificieren.
2) P. fuhrt S. 589 eine, wie er meint, hiefür in Betracht kommende Urkunde
des Vatikanischen Archivs (von Calixt oder Pins ?) an : Roderico eoneeditur facultas
coneedendi pro 8b vel al, familiaribus suis semel iamsn in mortis articulo remis*
sionem omnium peccatorum und meint, das heweise nichts, denn rsmissio psecato-
rum bedeute hier SterheablaS, da jeder Priester einen Sterbenden absolvieren
kann. Diese Erklärung verstehe ich nicht. Meint P., daß jeder päpstliche Bann
im Angesichte des Todes aufhöre, jeder Priester bei Todesgefahr eben so viel
vermöge, als der Papst, und dieser sich das Absolvieren für diesen Fall nicht
vorbehalten^ könne? Das möchte doch kaum die Meinung Pastors sein. Aber
auch dann würde der obige Wortlaut doch besagen, daB auf Bodrigos Vollmacht
die remissio peccatorum zurückzuführen sei. Ich bin übrigens der Meinung, daß
statt tarnen vielleicht tantum zu lesen ist, und sollten nicht die Worte semst in
vita et ausgefallen sein? Vgl. P. S. 662. In der Stelle S. 591 Anm. 3 wird, um
sie verständlich zu machen uretra statt ureehia zu lesen sein.
492 Oött. gel. Aoz. 1887. Nr. 12.
Die Angaben in Nr. 81 ttber den Fand einer, prachtvoll gekleide-
ten antiken Leiche, deren Goldschmack Calixt in die MQnze schickte,
obgleich auch die Kanoniker von S. Peter Ansprach daraaf mach-
ten, sind bezüglich des Goldwertes wohl etwas übertrieben.
Als nach Alfonsos Tode zwischen Calixt and seiner Sippe ge-
gen Ferrando ein Krieg geplant wurde, den der Papst mit geistlichen
and weltlichen Waffen za fuhren gedachte, trat ein plötzlicher Wech-
sel ein darch Galixts Tod. Was waren jetzt die Borgia und alle
Catalanen! Wer kümmerte sich noch um den toten Papst! Den da-
maligen Znstand Roms schildern die Depeschen Nr. 83—85.
Nicht mit der Schilderung dieser Schreckenstage wollte P. sein
Bach beenden. Nr. 86 bietet einen Brief des mailänder Gesandten
ttber den Tod Capranieas, welcher sich noch zu Lebzeiten Galixts
bei Sforza um dessen Unterstützung zur Erlangung der Tiara be-
worben hatte'). Davon sagt P. nichts, sondern erbaat seine Leser
mit einer Lobeshjmne auf den Kardinal, dem nach P. Meinung die
höchste Würde sicher zugefallen wäre, wenn er länger gelebt hätte.
Diesmal erinnert er sich nicht an das römische SprOchwort : Wer als
Papst ins Konklave geht, kommt als Kardinal heraus.
Nach dem Gesagten wird es nicht überraschen, daß auch die Texte
vielfach mangelhaft wiedergegeben sind. Neben der vielfach unge-
nügenden Kenntnis des Verfassers im Lesen liegt der Grund vor
Allem in der Flüchtigkeit, mit der er die zahlreichen ihm unter die
Hände kommenden Akten durchmusterte. Er siebt z. B. von dem
Cod. Vatic. 4167 die ersten und die letzten Zeilen an und schreibt
S. 413: »Auch geschichtliche Akten wurden auf Befehl Nikolaus V.
kopiert. So fand ich in Cod. Vat. 4167 die Akten des unter Mar-
tin L in Bom abgehaltenen Concils auf Befehl des Papstes durch
Piero de Godi 1453 kopiert {per Fetrum de Oodis de Vicentia etc.
1453 de mense Januario*). Im Nachtrag lädt er ein die Worte : 'auf
Befehl etc.' zu streichen; er hatte in Tommasinis Aufsatz im Ar-
chivio di storia Romana gefunden, daß in der Hs. sehr viel andere
Dinge stehn, von Godi aber nichts, als der von Perlbach edierte
.Dialog mit einer Ueberschrift, welche anscheinend der dem Papste
günstigen Stimmung sehr widerspricht: Äd laudem Bei et Nicolai
papae quinti (s) uperbiam ambitionein — hier bricht Tommasini ab ^).
Richtiger hätte P. wohl seine ganze Anmerkung gestrichen, denn
mit der von ihm vorgeschlagenen Beseitigung der wenigen Worte
1) Petruoelli I, 278.
2) SpaBhaft ist, daB der Verf. S. 308 in UebereinstimmuBg mit Tommasini,
aber genauer als dieser, also wohl nach einem Vatikanischen Katalog die in der
betreffenden Bs. enthaltene Schrift des Zamorensis f. 121—174 anfthrt.
' Fastor, Geschichte der F&pste seit dem Ausgang des Mittelalters. I. 493
ist oar erreicht, daß seine Behaaptang yöliig in der Luft steht. Man
kann wohl mit Bestimmtheit sagen, daß die ganze Handschrift viel
jünger ist.
Von falschen Lesarten möge man berichtigen: Nr. 9 Z. 6 1.
sicut St. sie, Z. 18 vobis st. nobis, Z. 19 vestros st. vero^ S. 668 Z. 6
tantum st. tarnen^ Nr. 53 Z. 4 poterne st. pote na, Z. 7 che st. cum.
S. 627 Z. 4 V. n. inclusum st. interdusumy S. 629 Z. 22 coUiMio st
collisio, Z. 23 in^r st in, Z. 25 ecantra st contra.
Ich habe mich bemüht, die Punkte hervorzuheben, wo durch das
Hervorziehen neuer Akten ans den Archiven unsere Kenntnis geför-
dert worden ist. Das Gesamturteil über den Herausgeber P. kann
indessen nicht viel günstiger ausfallen, als das über die Forschung und
Darstellung. Nirgends gewinnt man den Eindruck, daß P. mit Gründ-
lichkeit einer Frage nachgegangen ist, überall hat er herumgenascht,
aber bis jetzt wenig Honig zu Tage gefördert
Indem ich von dem unerfreulichen Buche Abschied nehme, muß
ich darauf hinweisen, daß mein ungünstiges Urteil im Widerspruch
steht mit allen mir bisher bekannt gewordenen sehr zahlreichen Kri-
tiken. Um von der ultramontanen Presse ganz abzusehen, so be-
wundert das Archivio storico Italiano die deutsche Arbeitskraft und
Akribie, das Literarische ' Centralblatt stellt unsern Autor seinem
Lehrer Janssen als Muster der Unparteilichkeit vor, und die Frank-
farter Zeitung ist mit der Nationalzeitung einig in Worten der An-
erkennung. Mit einer Vollständigkeit, welche wohl nur unter Bei-
hülfe des Autors selbst zu erreichen war, sind die bis zum Beginn
dieses Jahres erschienenen Kritiken in einem Aufsatze der histor.
pol. Blätter S. 377 aufgezählt, und es wird daraus folgende Summe
gezogen: »Die Urteile stimmen, mehr oder weniger unumwunden
darin ttberein, daß diese Leistung Pastors sich als wissenschaft-
lich gleichwertig den Schöpfungen Rankes und Janssens [I] an die
Seite stellt«. Bonghi soll über Pastors Buch an de Rossi gesagt
haben: »Wenn die Katholiken so gründlich arbeiten, wie Pastor,
dann maß man Achtung vor ihrer Wissenschaft haben, nnd Beleb-
rang annehmen«. Ich habe mich vergeblich bemüht, in demPastor-
Bchen Buche selbst eine Erklärung für diese Erscheinung zu finden;
gegenüber dem einstimmigen Lobe hielt ich es für erforderlich, mein
abweichendes Urteil ausführlicher zu begründen. Das möge die nn-
gewObnliche Länge dieser Kritik erklären.
München. v. Droffel.
494 Gott. gel. Auz. 1887. Nr. 12.
Monumenta Germaniae Paedagogica. Schnlordnungen , Schulbücher
und pädagogische Miscellaneen aus den Ländern deutscher Zunge — unter Mit-
wirkung einer Anzahl von Fachgelehrten herausgegeben von Dr. Karl Kehr-
bach. Band I: Braunschweigische Schulordnungen von den älte-
sten Zeiten bis zum Jahre 1828, mit Einleitung, Anmerkungen, Glossar und
Register herausgegeben von Prof. D. Dr. Friedrich Koldewey. 1. Bd.
(Schulordnungen der Stadt Braunschweig). Berlin, Hofmann u. Comp., 1886.
CGV, 602 S. und 4 Tabellen. 20 Mk.
Als vor nahezD vier Jahren der Heraasgeber der Monnmenta
GermaDiaePaedagogica der Gelehrten- und Schalwelt Deutsch-
lands seinen Plan vorlegte, durfte man trotz Eehrbachs erprobtem
Redaktionsgeschick wohl die Frage aufwerfen, ob ein so umfassen-
des Unternehmen der durchaus erforderlichen Teilnahme der inter-
essierten Kreise sich versichert halten könne; denn bis heute ist die
Schulgeschichte nur selten von eigentlich wissenschaftlichen Stand-
punkten aus behandelt worden, und für eine grundsätzliche Verwer*
tung derselben in der Geschichte der pädagogischen Ideen haben
wir in Deutschland fast kein Beispiel. Nun ist der erste Band des
großartigen Werks in unsere Hände gekommen und ein zweiter und
dritter, welche allerdings das höchste Interesse erregen werden, sind,
wie man uns mitteilt, zur Ausgabe fertig. Die Aufnahme dieser er-
sten Probe wird für den Fortgang dieser Veröffentlichungen vielleicht
um so mehr maßgebend sein, da unterdessen die deutschen Regie-
rungen um thatkräftige Förderung derselben durch Vermittelnng einer
auf der Philologenversammlung in Gießen gewählten Kommission an-
gegangen worden sind und ja wohl zu erwarten steht, daß wenigstens
das Maß der erwarteten Beihilfe von dem Urteil abhängen werde,
welches über diese ersten Bände gefällt wird. So ist es wohl auch
unsere Pflicht, über den uns vorliegenden ersten Teil der Arbeit von
Koldewey eingehender zu berichten.
Das Schulwesen der Stadt Braunschweig hat sich ganz so ent-
wickelt wie das der anderen Städte des protestantischen Norddeatsch-
lands, ohne zu irgendeiner Zeit besonders bemerkenswerte Gestal-
tungen aufzuweisen. Indessen ist es dem sorgfältigen Herausgeber
der vorliegenden Schulordnungen doch gelungen, einzelne Züge die-
ser Entwickelung durch genaues Eingehn auf die ihm zu Gebote
stehenden Urkunden heller zu beleuchten. So ist es gewiß richtig,
daß das Streben der Stadtgemeinden, neben den der geistlichen Be-
hörde unterstehenden Schulen eigene zu gründen, nicht ans Unzu-
friedenheit mit der diesen Schulen durch den Klerus gegebenen Ein-
richtung entsprungen ist. Es hat dazu in Braunschweig zu An-
fang des fünfzehnten Jahrhunderts eine Reihe ganz äußerlicher Um-
stände gefuhrt, so daß nach dem vom Papst Johann XXIII. erteilten
Privilegium das Verlangen der Stadt dahin geht, daß apud quamlibet
Monnmenfa Gennamae Faedagogica. I. 495
sancti Martini et sanctae Gathennac ecclesiarum huiusmodi const-
miles scolae hdbeantur (S. 14). Das hiDdert freilich nicht, in der
Errichtung dieser Schalen auch ein Zeichen der wachsenden Bedea-
tung nnd des sich hebenden Selbstbewußtseins der deutschen Städte
zu sehen. Im nächsten Jahrhundert hat Bugenhagen für die städti-
schen Schulen Braunschweigs eine Schulordnung aufgestellt, welche
einige eigentümliche Züge trägt, im ganzen aber den Charakter der
reformatorischeu Lateinschule deutlich ausprägt (S. 25 ff.). Gegen
Ende des sechzehnten Jahrhunderts verfallen auch diese Schulen.
Die Thatsache ist bekannt und nicht bloß für Braunschweig erwie-
sen; die Gründe derselben leuchten aber aus Koldeweys Darstellung
und Mitteilungen besonders deutlich hervor. Das Schulamt lag in
den Händen von Theologen, welche von da aus den Weg und die Ge-
legenheit zum begehrteren Kirchenamt suchten ; die Schularbeit diente
so sehr kirchlichen Zwecken, daß die Bewältigung der vorgeschrie-
benen, mäßigen Lehrpensen auch davon abhieng, daß nicht zu viele
Leichenbegängnisse vorkamen, an denen die Schulen sich ordnungs-
mäßig zu beteiligen hatten ; die Schnlzucht war rein klösterlich, der
Schulunterricht trotz aller humanistischen Neuerungen noch im Banne
der Scholastik. Das Bedürfnis nach besserer Ordnung des Unter-
richts war im Anfange des siebzehnten Jahrhunderts ein sehr leb-
haftes; von Ueberbttrdung der Schüler sprach man schon damals
(S. 151), aber eine eigentlich pädagogische Behandlung der erkann-
ten Uebelstände trat damals so wenig ein wie heute. So hörten
denn die Klagen nicht auf, und mit den Schulen sanken auch die
Lehrer herunter, die sich »auf das gesö£P begaben €, während ihre
»Hausfrauenc weit über ihren Stand gekleidet waren (S. 180 v. J.
1621). Die Schüler aber betrugen sich so, daß »Schulzucht and
Yiehezuchtc nicht mehr zu unterscheiden waren (S. 163 v. J. 1599).
Im Jahr 1671 wurde die Stadt herzoglich. Die Verhältnisse der Zeit
beleuchtet recht grell der Umstand, daß einer der ersten Beweise
der Fürsorge der neuen Regierung die Gründung eines Waisenhauses
war, wie in jenen Jahren auch anderswo durch ähnliche Maßregeln
der Grund zu geordneteren Zuständen in den städtischen Bevölke-
rungen gelegt wurde. Auch die höheren Schulen hoben sich wieder
nnter tüchtigen Kektoren; für den Elementarunterricht sorgten die
oft verfolgten, schließlich aber als ein notwendiges Uebel geduldeten
Winkel- und Klippschulen. Bald macht sich der Einfluß des Halle-
Bchen Pietismus geltend: um 1751 wird mit dem Waisenbaus ein in
Franckeschem Sinne eingerichtetes Lehrerseminar verbunden. Auch
eine Realschule entstand nnter gleichem Einfluß in jener Zeit, und
damit nichts zur reichen pädagogischen Musterkarte des Jahrhun-
derts fehle, rief der Herzog Karl L nach dem Plane des Hofpredi-
496 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. I2f.
gers und späteren Abtes Jernsalem eine Fflrstenscbule ins Leben,
das Collegium Garolinam. Für die genaae, durchaas objektiv ge-
haltene Darstellung der Qeschicbte dieser Anstalt, ans weicher die
1862 eröffnete Polytechnische Schule herausgewachsen ist, danken
wir dem Verfasser insbesondere.
Auch die Bewegung der Philanthropen berührt Braunschweig
vorübergehend; Campe war eine Zeit lang Mitglied der brannschwei-
giscben OberschulbehOrde. Man denkt auch an die Errichtung eines
seminarium philologicum ; doch glaubte man, mit Stipendien auf die-
sem Gebiete alles Erforderliche gethan zu haben. Bedeutender war
die Einwirkung, welche der neue philologische Humanismus auf die
höheren Schulen Braunschweigs ausübte; Heusinger und Scheffler,
der erste Karl Lachmanns Lehrer, brachten die Qymnasien der Stadt
zu bedeutender Blüte. Die Zeit des westfälischen Königtums war
für das gesamte Schulwesen sehr ungünstig. Bedeutsam ist erst
wieder die Gründung eines Privatrealgymnasinms im Jahr 1825 durch
Brandes. Die zwei Jahre darauf begonnene Neuordnung des ganzen
braunschweigischen Schulwesens hat wohlweislich auch diese glück-
liche Schöpfung in ihren Kreis hereingezogen. Für die in unseren
Tagen sich entfaltenden Bestrebungen, eine einheitliche Form der
höheren Schule zu finden, ist die Organisation des braunschweigi-
schen Gesamtgymnasinms von hohem Interesse. Die Fehler und Un-
klarheiten, die man damals in Braunschweig verschuldet hat, dürf-
ten heute zur Lehre und Warnung dienen.
Der Kenner der deutschen Schulgeschichte wird in Koldeweys
Buch keine von den Stufen vermissen, durch weiche das deutsche
höhere Schulwesen zu seinen heutigen Zuständen gelangt ist. Zu
einem genauen Studium derselben wird aber gerade diese sorgfältige
und eingehende Darstellung und Urkundensammlung sich besonders
empfehlen. In der Art der Behandlung der letzteren sind die von
Kehrbach aufgestellten Redaktionsgrundsätze maßgebend gewesen;
mancher Leser wird das Verfahren zu umständlich finden: an Ge-
nauigkeit und Zuverlässigkeit übertri£ft das Buch die meisten Schnl-
geschichten. Nur in einem Punkte- sind wir mit Koldeweys Be-
handlung nicht einverstanden. Koldewey hat sich nicht entschlieften
können, »genau die Schreibweise und Zeichensetzung der Vorlagen
wiederzugeben« (S. CLIV). Er schreibt aber doch: ecclesie^ consti-
tuciOf ymo^ ydonrns^ consweverunt^ sollefnpnis u. s. w. Hier hätte
nach der einen oder nach der anderen Seite hin eine Entscheidung
getroffen werden müssen. Wer die auch sprachlich interessanten
und teilweise vortre£Sich geschriebenen niederdeutschen Urkunden
des Buches liest, wird im Zweifel sein, ob er auch in sprachlichen
Dingen auf vollständige Zuverlässigkeit der Wiedergabe zählen kann.
Dieser Einwand kann indessen den Wert der Veröffentlichung
80 wenig beeinträchtigen, daß mit Sicherheit erwartet werden darf,
man werde nach diesem ersten Bande der Monumenta Germaniae
Paedagogica dieselben allseitig der Unterstützung und Förderung würdig
finden, ohne welche sie ihr hoch gestecktes Ziel nicht erreichen können«
Karlsruhe. E. v. Sallwürk.
FOr die Bedaktion Teruktwortlieh : Prof. Dr. B$eht§t, Direktor der GOtt. gel. Am.,
▲flMBior der Edniglicben OeeeUachaffc der WieaeiiMiwfkeii.
Cröttingische
gelehrte Anzeigen.
Unter der Aufsicht
der
Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
1887.
Zweiter Band.
Göttingen.
Dieterich'gcbe Verlags-Bnchbandlang.
1887.
9
i^rii^ii) ■
m
Göttingische
gelehrte Anzeigen
anter der Aufsicht
derKönigl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Nr. 13. ß 20. Juni 1887.
Preis des Jahrganges : J^ 24 (mit den »Nachrichten d. k. G. d. Wiss.« : UK 27)
Preis der einzelnen Nummer nach Anzahl der Bogen: der Bogen 50 ^
Inhalt : Ansoniaf rec. P e i p e r. Yan EhtdL — K fl h n a n , BhytlimTis und Indiselte Metrik.
Von Jacobi. — Weismann, Die Continnit&t des Keimplasmas als Grundlage einer Theorie der YeJ^•
orbong. Yen Krana«.
= Qgenmaohtlger Abdruck von Artikeln der G5tt. gel. Anzeigen verboten. =
Decimi Magni Aasonii Burdigalensis Opuscula recensnit R. Peiper.
Leipzig, Teubner 1886. GXXVIU und 656 S. 8<>.
Seit Lacbmann sind wir gev^obnt, fttr jedes erhaltene Werk der
antiken Litteratar nach einem Urcodex zu suchen, d. h. nach einer allen
Handschriften gemeinsamen Quelle, die Yon dem Originalmanuskript
des Autors verschieden war. An sich ist diese Voraussetzung keines-
wegs notwendig. Da viele Schriften des Altertums sich gleich nach
ihrem Erscheinen über fast alle Provinzen des römischen Reiches
verbreiteten, und manche davon uns in hunderten von Abschriften
vorliegen, die teils in Frankreich und Irland, teils in Italien und
Spanien entstanden sind, so ist die Wahrscheinlichkeit sogar viel
großer, daß einzelne derselben durch von einander unabhängige Mit-
telglieder auf das eigene Exemplar des Verfassers oder selbst auf
verschiedene Recensionen desselben zurttckgehn werden. Wenn sich
dies in der großen Mehrzahl der Fälle mit Sicherheit widerlegen
läßt, so dürfte der Qrund dafür wohl nur in der philologischen Thä-
tigkeit des vierten und fünften Jahrhunderts zu suchen sein. Nach
dem Zeugnis zahlreicher Subscriptionen ist damals der Text der
meisten Schriftsteller, welche überhaupt noch gelesen wurden, einer
durchgreifenden Revision unterzogen worden, und wer sich in der
Folgezeit eine neue Abschrift fertigen ließ, der suchte sich dazu eine
jener Ausgaben zu verschaffen, welche zwar interpolierter, doch eben
darum auch lesbarer waren als die älteren Handschriften mit ihren
Q9%%. gelr Au. 1867. Sr. U. 35
496 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 13.
unberührten Korruptelen. Auf diese Weise ist das Exemplar der
Symmacbi fär die erste Dekade des Livias, die Recension des Ha-
Yortius fttr den Horaz zum Urcodex geworden, und ähnlich wird
jene Einheitlichkeit der Ueberlieferung sich bei den meisten Autoren
erklären lassen, welche dem vierten Jahrhundert yoransliegen. Bei
den späteren dagegen fällt dieser Orund weg; daß die Handschrif-
ten jedes einzelnen von ihnen alle auf einen gemeinsamen Urcodex
zurttckgehn, bleibt darum zwar noch immer möglich; doch bedarf
dies in jedem Falle des Beweises. Als Präsumption ist diese An-
nahme durchaus nicht gestattet, sondern die allgemeine Wahrschein-
lichkeit spricht eher dagegen.
Daß dieser generelle Unterschied in der Ueberlieferung der vor-
und nachconstantinischen Autoren besteht, hat Peiper nicht beachtet.
Er will für seinen Ausonius um jeden Preis einen Urcodex haben, und
zwar nicht nur für jedes einzelne Gedicht, sondern fttr die Gesamt-
werke. Welche Gründe ihn dazu veranlaßt haben und wie er sich
jenen Urcodex denkt, ist mir nicht ganz klar geworden, denn leicht
zu verstehn ist es nicht. Was ich verstanden zu haben glaube, soll
das folgende Referat wiedergeben.
Nach Peiper hat Ausonius in den Jahren 383 und 390 zwei
Gesamtausgaben seiner Werke publioiert, deren erste dem Syagrius,
die zweite dem Kaiser Theodosius gewidmet war. Doch nicht in
vollem Maße verdienten sie den Namen von Gesamtausgaben.
Castum esse decet piam poetam
ipsum, versiculos nihil necesse est.
Diesen Grundsatz Gatulls erkennt auch Ausonius ausdrücklich als
den seinen an (Cento 8; epigr. 25, 7; 39 Peiper); trotzdem soll er
nicht nur alles Zweideutige, sondern auch die ganz unschuldi-
gen Erotika von seiner Sammlung ausgeschlossen haben. Es ist
nicht selten, daß man im Alter den Uebermut früherer Jahre verur-
teilt; aber bei unserem Dichter trat gerade das Gegenteil ein. Als
er schon an der Schwelle des Grabes stand, fand er plötzlich wie-
der Gefallen an all dem Schmutz, welchen er früher der Veröffent-
lichung unwert geachtet hatte, und begann ihn eifrig zusammenzu-
tragen, um ihn einer dritten, der ersten wirklichen Gesamtausgabe
seiner Schriften einzuverleiben. Dieser legte er die zweite in der
Weise zu Grunde, daß er ihre Anordnung im Ganzen beibehielt und
die neu hinzugekommenen Stücke an den passend scheinenden Stel-
len einschob. Noch stand er aber in den Anfängen dieser Arbeit,
als der Tod ihn ereilte. Seine Erben verstanden das Werk nicht
abzuschließen, sondern hängten diejenigen Schriften, denen ihr Platz
durch den Dichter selbst noch nicht angewiesen war, als bunt zu-
Ausonias rec. Peiper. iW
sammengewttrfelte Maese den Uebrigen an. So entstand ein Boch|
dessen erste Hälfte die dem Theodosios gewidmete Sammlang darch
einige wenige Einschiebsel vermehrt reprodacierte und vortrefflich
geordnet war, während in der zweiten die Mehrzahl der seit 390
entstandenen' Schriften, die Erotika nnd was sonst in die ersten Aas-
gaben nicht aufgenommen war , ohne jede Ordnang nebeneinander
standen. Aas diesem Bache soll dann der Urcodex nnserer sämt-
lichen Ansoniashandschriften hergeleitet sein.
Womit Peiper diese Ansicht begründet, bin ich außer Stande
anzngeben, da ich, wie schon gesagt, seine Argamentation nur sehr
unvollständig begriffen habe. Fragen wir uns also lieber, welche
Gründe erforderlich wären, um eine so künstliche Hypothese za
rechtfertigen. Von den beiden ersten Ausgaben hat sich nach Pei-
pers eigener Meinung nichts unmittelbar erhalten ; über ihre Existenz
könnte nur eine direkte Ueberlieferung Nachricht geben, und eine
solche meint er denn auch wirklich in den beiden Dedikationsge^
dichten des Vossianus zu finden. Doch von diesen sohlieftt das erste,
an Syagrius gerichtete mit den Versen:
Sic etiam nostro praefatos habebere libro,
difierat ut nihilo, alt tuas anne meas.
Hier ist von Einem Buche die Bede. Die Gedichtsammlung, welche
Ausonius dem Freunde widmete, muß folglich so klein gewesen sein,
daß sie einer Einteilang in mehrere Bücher nicht bedurfte. Da nun
der Umfang seiner Schriften im Jahre 383 schon weit über das
Maß hinausgewachsen war, welches die antike Sitte einem Mono-
biblon za setzen pflegte, so kann hier von einer Gesamtausgabe gar
nicht die Bede sein. Nicht viel besser steht es mit der zweiten,
welche der Dichter dem Theodosius gewidmet haben soll. Uns ist
ein Brief des Kaisers überliefert, worin er Ausonius um Uebersen-
dung seiner Schriften bittet, und als Antwort darauf ein Gedicht,
das die Zusage enthält. Es unterliegt also freilich keinem Zweifel,
daß unser Poet einmal ein Prachtexemplar seiner sämtlichen Werke
hat anfertigen und seinem hohen Gönner zustellen lassen. Doch
höchst wahrscheinlich hat dasselbe ein sehr stilles Dasein in der
kaiserlichen Bibliothek geführt; daß jemals Abschriften davon ge-
nommen und durch den Buchhandel verbreitet wären, läßt sich wenig-
stens durch nichts belegen. Mithin wissen wir von einer Gesamt-
ausgabe des Ausonius, die er selbst zum Abschluß gebracht hätte,
gar nichts; soweit Peipers Hypothese eine solche voraussetzt, steht
sie völlig in der Luft.
Was übrig bleibt, ist jene Ausgabe, die in ihrem ersten Teil
noch von dem Dichter sellMBt geordnet sein soll, im zweiten nicht
36*
gob Gott. gel. Adz. 1687. ]^r. IB.
mehr. Worauf kann sich diese Annahme gründen, als aaf den Zu-
stand der Handschriften? Danach sollte man meinen, daß wir we-
nigstens einzelne besäßen, in deren Anfangsteilen die klar durchge-
führte Anordnung mit dem wüsten Durcheinander des Schlusses in
au£fälligem Gegensätze stände. Statt dessen ist nach Peipers eige-
ner Behauptung die Reihenfolge, welche Ausonius selbst seinen Wer-
ken gegeben hat, in keiner einzigen erhalten. Woher weiß er also,
daß eine solche ursprüngliche Ordnung je existiert hat?
Freilich erklärt er, dieselbe lasse sich aus dem Vossianus noch
deutlich erkennen. Wie sollte dies aber möglich sein', da Peiper,
um jene vorausgesetzte Ordnung herbeizuführen, die Gedichte dieser
Handschrift fast ebenso rücksichtslos umstellen muß, wie die aller
übrigen? Er meint, an dieser Verwirrung seien Blattverstellungen
schuld. Wäre dies richtig, so müßte sich in den Verszahlen der
angeblich an falsche Stellen geratenen Stücke eine gewisse Gleich-
mäßigkeit nachweisen lassen, da ja der Umfang der Blätter und
Quaternionen des Urcodex hier von Einfluß gewesen sein müßte.
Doch davon ist gar nicht die Bede, oder wenigstens hat Peiper
keinen Versuch gemacht, den erforderlichen Beweis zu führen, lieber-
dies kommt es kein einziges Mal vor, daß Teile desselben Gedichtes
oder auch nur Teile desselben Gedichtcyclns auseinandergerissen
sind, wie dies bei so zahlreichen Blattverstellungen doch unver-
meidlich wäre. Also nicht nur im Vossianus ist die Anordnung, für
welche er der einzige Zeuge sein soll, ganz unkenntlich, sondern es
findet sich darin auch nicht die leiseste Spur, daß sie jemals in ir-
gend einem präsumierten Urcodex vorhanden gewesen sei.
Doch geben wir auch zu, daß Peipers Augen schärfer seien als
die unseren, und daß die Reihenfolge, welche er postuliert, sich im
Vossianus noch erkennen lasse, so ist selbst unter dieser Voraus-
setzung sein Beweis doch erst halb geführt-, zu der Ordnung im
ersten Teile der Handschrift müßte die Unordnung im zweiten tre-
ten. Statt dessen ist nach Peiper der Vossianus, abgesehen von je-
nen Blattverstellungen, von Anfang bis zu Ende wohlgeordnet; die
verwirrte Reihenfolge findet sich in einer ganz andern Handschrif-
tenklasse, deren Hauptvertreter der Tilianus ist. Peiper nimmt des-
wegen an, der Urcodex sei in zwei Stücke zerrissen worden, und
jede Klasse sei nur die Abschrift einer seiner Hälften. Daß das
Princip der Anordnung in beiden ganz verschieden sei, behauptet er
selbst; eben darauf beruht ja seine Annahme, daß die Ausgabe der
Gesamtwerke nur zum Teil von Ausonius besorgt worden sei. Wo
bleiben da die Kennzeichen, aus denen der ursprüngliche Zusammen-
hang der beiden Klassen sich ergeben soll?
Ansonras rec. Peiper. 601
Mehrere Gedichte finden sich in beiden wieder. Darans müßte
Peiper schlieften, daß in jener Qesamtansgabe des Ansonias dieselben
Werke zweimal gestanden hätten ; doch hilft er sich auf andere
Weise. Nachdem die Vorlage des Vossianus aus der ersten Hälfte
des zerrissenen Urcodex abgeschrieben war, soll derselbe noch wei-
ter zerstückelt und einzelne Fetzen wieder mit der zweiten Hälfte
vereinigt sein. Unter diesen Fetzen kann man doch kaum etwas
anderes verstehn als Quaternionen oder Blätter. Nun befinden sich
aber darunter so kleine Stttcke, wie die Aerumnae Hercnlis, welche
nur zwölf Verse zählen. Wie sollen wir uns das Format eines Ur-
codex denken, der so minime Blätter enthielt?
Das Fastenepigramm ist im Vossianus dem Hesperius, im Tilia-
nus dem Gregorins gewidmet, das Technopaegnion dort dem Paca-
tus, hier dem Paulinus; das letztere trägt in beiden Handschriften-
klassen sogar eine verschiedene Dedikationsepistel. Wie läßt sich
dies mit der Fetzentheorie Peipers vereinigen?
Die Klasse des Tilianus enthält an zweiter Stelle das folgende
Epigramm :
Est quod mane legas, est et quod vespere; laetis
seria miscuimus, tempore ut placeant.
non onus vitae color est nee carminis unus
lector; habet tempas pagina quaeque suum.
hoc mitrata Venus, prohat hoc galeata Minerva,
Stoicus has partes, has Epicuras agit.
salva mihi veterum maneat dum regula morum,
plaudat permissis sobria musa iocis.
Offenbar ist dies das Einleitungsgedicht zu einer größeren Samm-
lung mannigfachen Inhalts. In dieser Handschriftenklasse sind aber
nur die drei letzten Verse erhalten; den Anfang des Epigramms
kennen wir aus anderer Quelle. Da also hier eine Lttcke in der Ur-
handschrift des Tilianus war, welche doch wohl durch den Verlust
oder die Zerstörung eines Blattes hervorgerufen sein wird, so ist es sehr
wahrscheinlich, daß sie nicht nur die fünf Anfangsverse des ange-
führten Gedichtes verschlungen hat, sondern auch den SchluB des
vorhergehenden. Dieses preist in seinen erhaltenen Versen den Gra-
tian als Pfleger der Musen; es ist wohl mehr als Vermutung, daß
ein Lob dieser Art ursprünglich die Einleitung zur Dedikation der
Sammlung bildete. Also der Urcodex der Tilianusgruppe begann
mit einem Widmungsgedicht an den Kaiser, darauf folgte die kurze
poetische Inhaltsangabe, welche wir oben haben abdrucken lassen.
Und eine Handschrift, welche einen so passenden Anfang hatte, sollte
das abgerissene Schlußstück eines verlorenen Urcodex gewesen sein ?
Doch damit sind die Unwahrscheinlichkeiten der Peiperschen
602 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 18.
Hypothese noch nicht erschöpft. In einer Gesamtausgabe des Aasonius
kann sein Hauptwerk am wenigsten gefehlt haben ; nichtsdestoweniger
steht die Mosella weder im Vossianas noch im Tilianns. Nattlrlioh soll
anch sie auf einem Fetzen gestanden haben, der sich ans der all-
umfassenden Urhandschrift losgelöst hatte« An der Stelle, wo Peiper
im Yossianns die Lücke ansetzt, fehlt weder der SchluB des ihr
Yorhergehenden, noch der Anfang des folgenden Gedichtes. Jener
Fetzen hatte also wieder die merkwürdige Eigentümlichkeit, daß er
gerade mit dem Anfang eines Gedichtes begann und mit dem
Schlüsse eines andern endete. Alles dies sollen wir glauben, nur
damit dem Ausonius, wie dem Horaz sein Urcodex und seine Gesamt-
ausgabe zu Teil werde.
Wir würden uns bei der Widerlegung nicht so lange aufgehal-
ten haben, wenn nicht Peipers Hypothese, obgleich in Einzelheiten
bestritten, doch in ihrer Gesamtheit die ganze Ausoniuskritik be-
herrschte. Schenkls Ausgabe steht völlig unter ihrem EinfluB, und
selbst Brandes, der sie in vielen Punkten mit Scharfsinn und Glück
bekämpft hat, konnte sich ihrem Banne nicht gänzlich entziehen.
Dem gegenüber mufite namentlich der Satz scharf und klar hervor-
gehoben werden, daß wir von einer Gesamtausgabe des Dichters
nicht das Geringste wissen und wissen können. Wenn je eine exi-
stiert hat, was ich für sehr unwahrscheinlich halte, so ist sie auf
unsere üeberlieferung ohne jeden Einfluß geblieben.
Wie also ist die höchst eigentümliche und sehr interessante Ge-
stalt der Ausoniasüberlieferung zu erklären? Um hierauf die Ant-
wort zu geben, müssen wir zuvörderst untersuchen, wie man im
vierten Jahrhundert überhaupt zu publicieren pflegte, und wie na-
mentlich Ausonius seine Schriften publiciert hat.
Selbst in der schönsten Blütezeit der römischon Dichtkunst war
das litterarische Interesse nicht so rege und allgemein, die Schätzung
litterarischer Verdienste nicht so. hoch, wie im vierten Jahrhundert
Dem Kaiser ein lesbares Buch zu widmen, war das sicherste Mittel|
um schnell zu Ehren und Würden emporzusteigen, und Männer nie-
drigster Geburt wurden selbst von den adelstolzesten Häuptern des
römischen Senats nicht als Emporkömmlinge betrachtet, wenn sie,
wie Aurelius Victor oder unser Ausonius, sich litterarisch legitimiert
hatten. In der Aristokratie sämtlicher Provinzen, vor allem aber
bei Hofe, war die Schöngeisterei so zur Mode geworden, daß selbst
die barbarischen Generale sich der allgemeinen Strömung nicht zu
entziehen wagten. Bichomer und Baute, deren Bildung gewiß nicht
ausreichte, nm ihnen das Verständnis für den Beiz Symmachiani-
scher und Libanischer Bedeschnitzel zu eröffnen, sorgten doch daftir.
Ausonias rec. Peiper. 603
daft es ihnen nicht an ansehnlichen Panegyrikern fehle, und bemüh-
ten sich eifrig nm litterariscb berühmte Korrespondenten. Jedes
Produkt einer anerkannten Größe, mochte es anch noch so unbedeu-
tend sein, suchte man sich so schnell als möglich zu verschaffen, um
es gebührend zu bewundern und zuerst den Freunden mitzuteilen.
Den kleinen Briefchen des Symmachns jagte man, trotz ihrer un-
glaublichen Inhaltlos! gkeit, mit solchem Eifer nach, dafi man seinen
Boten auf den Straßen auflauerte, um Sendungen, die an andere ge-
richtet waren, abzufangen und eiligst davon Abschriften zu nehmen
(Symm. ep. II48 quae^ tU confidOy tarn tradita sunt; nisi forte denuo
aliquis ex urbanis divüHms insessor viarutn scripta nostra furaverü).
Auf diese Weise muß sich in den Bibliotheken der Litteraturfreunde
neben den Bücherrollen auch eine ganze Anzahl einzelner Zettelchen
angesammelt haben; denn nur in dieser Form ließen sich Briefe,
wie die des Symmachus, Epigramme, litterarische Kleinigkeiten aller
Art, denen man doch einen großen Wert beilegte, leicht zusammen-
tragen und aufbewahren.
Hieraus ergibt sich, wie wir uns das erste Bekanntwerden der
kleinen und kleinsten Schriften auch bei Ausonius zu denken haben.
Die Episteln haben natürlich ganz dasselbe Schicksal gehabt, wie
die Symmachianischen : sie wurden dem Adressaten zugestellt, von
ihm aufbewahrt und seinen Freunden in Abschrift mitgeteilt oder
wenigstens vorgelesen. Diese Form der Verbreitung war für Epi-
gramme und versus memoriales zwar ungeeignet; doch ein so eitler
Mensch, wie Ausonius, wird sich gewiß bestrebt haben, auch diese
Früchte seiner Muse so schnell wie möglich an den Mann zu brin-
gen, und die Gelegenheit dazu konnte ihm nicht fehlen. Wenn er
bei der Tafel des Kaisers oder beim Gastmahle saß, wird gewiß ir-
gend einer der Anwesenden die Höflichkeit gehabt haben, den be-
rühmten Dichter nach seinen neuesten Erzeugnissen zu fragen, und
nach einigem bescheidenen Sträuben wird Ausonius sein Schreib-
täfelchen hervorgeholt und eine oder die andere Kleinigkeit vorge-
lesen haben. Selbstverständlich folgte dem Vortrage der Excellenz
begeisterter Beifall; die Eifrigsten baten sich Abschriften aus, und
diese Zettel wanderten in ihre Bibliotheken zu den übrigen Kleinig-
keiten ähnlicher Art.
Hat diese Form der Verbreitung auf unsere Ausoniusüberliefe-
rung irgend einen Einfluß geübt? Daß diese Frage sich nicht ohne
Weiteres von der Hand weisen läßt, ist klar; doch sie abschließend
zu beantworten, vermag ich nicht, da ich von den in Betracht kom-
menden Handschriften fast keine selbst gesehen habe und nur von
sehr wenigen mir ausreichende Beschreibungen zugänglich sind.
504 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 13.
Immerhin gewährt schon das von Peiper and Scbenkl mitgeteilte
Material in dieser Beziehung interessante AufschlHsse.
Besonders lehrreich ist der Briefwechsel mit Panlions. Dieser
zerfällt in zwei große Massen, von denen die eine (23—26 Peiper)
nur in der Gruppe des Tilianus, die andere (27 — 31) in mehreren
von einander unabhängigen Handschriften erhalten ist Die Reihen-
folge der Briefe ist in den einzelnen Textesqnellen folgende:
1) Parisinus 8500: 31 a.b.*) 30a. b. 31c. 28. 27 a.b. 29. Es
fehlt der Schluß von 31 o von V. 285 an.
2) Paris. 2122 und Bruxell. 10703/5: 29.31b. 28. 30 ab. 27 a.b.
31 c. Es fehlt 31 a.
3) Vossianus: 29. 27 a.b. 28. 30a. 31c. a.b. Es fehlt 30b.
4) Paris. 7558: 29. 28.30a. 31c. 27b. 31 a.b. Es fehlen
27 a. 30 b.
5) Harleianus 2613: 28. 27 a. b-V. 122. 31 a. b. 30 a. b. 31 c—
V. 166. Es fehlen 29, 27 b V. 123—132, 31c V. 167—331.
6) Außerdem ist 29 noch in mehreren Handschriften allein über-
liefert.
Sehen wir von der sechsten Gruppe ab, so ist der Bestand der
Sammlung überall ziemlich der gleiche, doch jedesmal fehlt minde-
stens Ein Stück, und zwar fast jedesmal ein anderes, und immer ist
die Reihenfolge verschieden. Daß in den Handschriften, aus wel-
chen unsere Textesquellen hergeleitet sind, Blätter ausgefallen oder
verstellt gewesen wären, läßt sich, außer beim ersten Parisinus und
beim Harleianus, unmöglich annehmen ; denn die Stücke, welche fehlen
oder ihren Platz gewechselt haben, sind ja nicht Fragmente, son-
dern ganze, in sich abgeschlossene Gedichte, und niemals ist eine
Handschrift so angeordnet, daß der Abschnitt des Sinnes immer mit
dem Ende des Blattes zusammenfiele. Auch an absichtliche Aus-
lassungen und Aenderungen der Keihenfolge läßt sich kaum denken,
da gar kein Grund dafür zu finden ist. So bleibt für diese ver-
schiedene Anordnung der Briefe meines Erachtens nur Eine Erklä-
rung übrig: Die Urquelle unserer Handschriften war nicht ein zu-
sammenhängender Codex, sondern ein Convolut einzelner Blätter,
deren jedes nur Ein Gedicht enthielt, d. h. es war eine Zettelsamm-
lung, wie wir sie oben charakterisiert haben.
Wo sich in Sammelhandschriften vereinzelte Ausonische Stücke
finden, da nimmt man gewöhnlich an, sie seien aus den größeren
Corpora excerpiert. Mitunter wird dies richtig sein, doch sollte man
1) Mit a, b, e bezeichne ich diejenigen Teile der von Peiper zusammenge-
faSten Stücke, welche sich entweder durch Wechsel des Versmaßes oder durch
neue Ueberschriften oder durch beides von einander sondern.
Ausonius rec. Peiper. 605
in jedem Falle auch die zweite Möglichkeit nicht auBer Betracht
lassen, daß jene Miscellancodices ans Zettelsammlangen entstanden
sind. Dies za erforschen, wäre vom höchsten Interesse, da aller
Wahrscheinlichkeit nach gerade die ältesten Redaktionen der einzel-
nen Schriftchen ans in dieser Form erhalten sein durften. Als Aq-
sonins sich endlich zu einer wirklichen Edition seines Griphus ent-
schloß, schrieb er darüber an Symmachas: iste nugator libeUi^s iam
diu secreta quidem, sed vtdgi ledione laceratus perveniet tandem in
manus tu(is. Also ehe der Dichter die letzte Feile an sein Werk-
chen anlegte, nm es der Oeffentliehkeit zu übergeben, waren schon
zahlreiche Abschriften davon verbreitet. So wird es auch mit den
andern Gedichten gegangen sein, und wenn sie überhaupt in ihrer
frühesten Gestalt auf uns gekommen sind, könnte dies nur durch
jene Zettelsammlungen geschehen sein. Daß die Hoffnung nicht ver-
geblich ist, in den Miscellanhandschriften jene ersten Recensionen
wiederzufinden, scheint sich mir namentlich aus der Ueberlieferung
der Oratio matutina zu ergeben.
Diese ist uns in fUnf von einander gänzlich unabhängigen Quel-
len erhalten^): 1) und 2) in den beiden Corpora des Vossianus und
des Tilianns, 3) im Parisinus 7558 verbunden mit dem Briefwechsel
des Ausonius und Paulinus, 4) im Cantabrigiensis zusammen mit dem
Technopaegnion, 5) im Parisinus 18275 verbunden mit einer Anzahl
kleinerer Gedichte des Ausonius^). In der letzten dieser Hand-
schriften stehn nur die Verse 58 — 78, doch so geordnet, daß der
Anfangsvers an den Schluß gestellt ist. Das ganze Fragment lautet
hier also folgendermaßen:
Nil metaam cupiamqae nihil: satis hoc rear esse,
60 quod satis est! nil turpe velim nee causa pudoris
sim mihi! non faciam cuiqaam, quae tempore eodem
nolim facta mihi! nee vero crimine laedar
nee maculer dubio: paulum distare videtur
suspectus vereque reus, mala posse facultas
65 nulla sit et bene posse adsit tranquilla potestas!
sim tenni victu atque habitu, sim carus amicis
et semper genitor sine vulnere nominis huins!
1) Vielleicht sind es auch mehr; doch von den Handschriften, welche nach
Peiper (praef. p. LXXX) das Gebet allein enthalten, weiß ich nichts als die
Namen, und vermag daher nicht zu entscheiden, ob sie eine unabhängige Ueber-
lieferung repräsentieren.
2) Daß diese Handschrift einen Auszug aus der Sammlung des Tilianns
enthalte (Peiper, die handschr. Ueberlieferung des Ausonius S. 275), ist nur fär
den ersten Teil ihrer Ausoniana richtig. Die Oratio ist aus anderer Quelle hin-
zugefügt, wie ihre Lesarten, die meistens mit dem Vossianus gegen die Gruppe
des Tilianns gehn, klärlich beweisen.
506 Gott. gel. An«. 1887. Nr. 13.
noii auimo doieam, noa corpore; cancta raeüs
faogantur membra officiis ; nee sandos ollis
70 partibns amissom quidqaam desideret usna!
pace froar, secunis agam, miracala terrae
nalla potem^ suprema dii cum vonerit hora,
nee timeat mortem bene conscia vita nee opteti
puros et occaltis cnm te indalgente videbor,
75 omnia despiciam, fuerit cam sola yoluptas
indicium sperare tuum! quod dam saa differt
tempora cunctanturque dies, procul exiges aevo
78 iusidiatorem blandis erroribus anguem.
58 da, pater, haec nostro fieri rata Tota precatu!
Daß UDS hier kein z afällig aas seinem Zusammenhange ge-
rissenes Fragment vorliegt, ist aaf den ersten Blick klar. Schon
allein die Umstellong von Vers 58, welcher im Parisinas das ganze
Gebet sehr passend abschließt, würde beweisen, daß derjenige, wel-
cher es so niederschrieb, die Absicht hatte, ein Ganzes zu bieten.
Und wirklich ist es das geworden : wer die Oratio matutina in ihrer
andern Gestalt nicht kennt, wird hier weder Anfang noch Schlaft
vermissen. Sollte irgend ein Schreiber dies Stflck ans dem voll-
ständigen Gedicht excerpiert nnd so meisterlich abgerundet haben?
Die Schreiber des Mittelalters w*aren alle mehr oder weniger Theo-
logen, und einem solchen hätten die weggelassenen Teile in ihrer
stark dogmatischen Färbung wahrscheinlich viel besser gefallen, als
die einfache Lebensweisheit dieser Bitte. Schwerlich also hätte er
sie vor dem übrigen Gebet so sehr bevorzugt, um sie allein in sei-
nen Sammelcodex aufzunehmen. Hingegen ist es sehr wohl mög-
lich, daß Ansonius selbst das Gedicht ursprünglich in dieser kürze-
ren Fassung geschrieben hat, und daß der gegenwärtige Anfang und
Schloß spätere Erweiterungen sind.
Auch in der folgenden Recension, welche uns die Familie des
Tilianus repräsentiert, fehlen noch neun Verse 8—16:
ipse opifex rerum, rebus caasa ipse creandis,
ipse dei verbum, verbam deos, anticipator
10 mandi, qaem facturus erat; generatus in illo
tempore, quo tempns nondnm fuit; editus ante
quam iubar et rutilus caelum inlustraret Eous;
quo sine nil actum, per quem facta omnia; cuius
in caelo solium, cui subdita terra sedenti
15 et mare et obscurae chaos insuperabile noctis;
inrequies, cuncta ipse movens, yegetator inertum.
Der Tilianus liest also an der betreffenden Stelle folgendermaften :
cemere quem solus coramque audire iubentem
7 fas habet et patriam propter considere dextram
17 non genito genitore deus, qui fraude superbi
offensus populi gentes in regna vocavit,
stirpis adoptivae meliore propage colendus.
Aasonius rec. Peiper. 607
Das Fehlen jener nenn Verse bewirkt also gar keine erkennbare
Lttcke, ein unerklärlicher Zufall, wenn sie nur durch die Zerstörung
des ürcodex oder durch Schreiberversehen ausgefallen wären. Noch
weniger aber darf man an absichtliche Tilgun|^ denken, denn wel-
cher Grund hätte diese veranlassen können? Als Zusatz des Dich-
ters dagegen sind jene Verse sehr leicht zu erklären. Das ganze
Gebet ist an Gott den Vater gerichtet; in der Recension des Tilia-
nns wird des Sohnes nur nebenher gedacht. Zu einer Zeit, in wel-
cher das Verhältnis der beiden göttlichen Personen die brennende
Frage des Tages bildete, konnten eifrige Theologen hierin leicht e^
was wie versteckten Arianismus wittern. Ihre Bedenken zu beschwich-
tigen, wird Ausonius jenen kurzen, aber vollständigen Abriß der or-
thodoxen Christologie eingeschoben haben, welchen die fraglichen
neun Verse enthalten.
Zuerst begegnen uns dieselben im Gantabrigensis, welcher aufier-
dem noch eine sehr bemerkenswerte Korrektur der älteren lieber-
lieferung enthält. Vers 84 lautet in der Gruppe des Tilianus:
Consona quem celebrat modalato carmine plebes.
Dagegen im Vossianus:
Consona quem celebrant modulati carmina David.
und in der Paulinussammlung:
Mystica quem celebrant modulati carmina David.
Im Catabrigiensis endlich stehn die Versionen des Tilianus und Vossia-
nus neben einander. Auf den ersten Blick möchte man daraus
schließen, daß er auf einer Handschrift beruhe, in welcher die bei-
den Becensionen contaminiert waren; doch nähere Prüfung seiner
übrigen Lesarten erweist dies als irrig. Denn überall sonst geht er
mit dem Tilianus; nirgend ist die leiseste Spur einer Korrektur aus
dem Vossianus oder einer verwandten Handschrift zu entdecken.
Wir werden also vermuten dürfen, daß der Gantabrigiensis aus dem-
jenigen Einzelexemplar der Oratio geflossen ist, in welchem jene
theologischen Korrekturen zuerst an den Rand geschrieben waren:
denn wenn als würdiger Lobsänger Christi an die Stelle der gläu-
bigen Menge der Priesterkönig gesetzt ist, so hat auch dies einen
stark hierarchisch-dogmatischen Beigeschmack.
Eine Beihe neuer Korrekturen zeigt die Paulinussammlung, von
denen vnr nur Eine hervorheben wollen. Der erste Vers hatte im
Tilianus und Gantabrigiensis folgenden Wortlaut:
Omnipotens, quem mente colo, pater uniee rerum.
Wenn Gott Vater hier als einziger Erzeuger aller Dinge angere-
det wurde, so konnte man dahinter die ketzerische Ansicht vermu-
508 Gott. gel. Anz. 1887. No. 13.
tea, als wenn Gott Sohn an der Weltschöpfang keinen Teil gehabt
habe. Die PaulinasBammlang schreibt daher:
Omoipotes, solo mentis mihi cognite cultu.
Es ist klar, daß das^^t^^n mente coh hier nur in eine breitere Form
gezerrt ist, um dadurch den Schlußteil des Verses ttberfltissig zu ma-
chen. Ich halte es für recht wahrscheinlich, daß die Aenderungen
dieser Recension von dem frommen Paulinus, dem Freunde und Ver-
wandten des Dichters, herrühren.
Der Vossianus contaminiert die Lesarten des Cantabrigiensis und
der Panlinussammlung; Neues bietet er innerhalb des Gebetes selbst
nicht mehr, wohl aber hat er es in einen neuen Znsammenhang ein-
geordnet. Es steht hier in einem Gyclus von Gedichten , welche die
Geschäfte des ganzen Tages schildern. Daß es ursprünglich in die-
sen hineingehöre und in den bisher besprochenen Handschriften nur
aus ihm herausgerissen sei, halte ich für sehr unwahrscheinlich.
Schon daß der Vossianus die allerjüngste Form des Textes zeigt,
würde dem widersprechen. Das Einzige, was sich mit einigem Fug
zu Gunsten dieser Ansicht geltend machen läßt, ist die Ueberschrift:
oratio matutinaj welche das Gedicht auch im Tilianus und Cantabri-
giensis trägt. Doch warum sollte Ausonius ein Gebet, das er viel-
leicht thatsächlich jeden Morgen hersagte, nicht auch selbständig
unter dem Titel »Morgengebett niedergeschrieben und seinen Freun-
den mitgeteilt haben?
Ein anderes Zeichen dafür, daß wir in den Zettelsammlungen
die ursprünglichste Form der Gedichte zu suchen haben, gewährt
der Einleitungsbrief des ludus Septem sapientum. Das Schriftchen
findet sich außer im Vossianus auch im Parisinus 8500, der uns in
seiner wirren Mischung aller möglichen Ausoniana und Prudentiana
den ausgeschütteten Zettelkasten wohl am deutlichsten erkennen
läßt. In jener Epistel fordert der Dichter den Pacatus auf, er möge
an seinem Werke strenge Gensur üben und es durch seine Strei-
chungen ebenso verschönen, wie Aristarch und Zenodot am Homer
gethan hätten. Die Stelle heißt im Parisinns:
Pone obelos igitur pariorum stemmata^) vatnm:
palmas, non culpas esse putabo meas,
et correcta magis quam condemnata vocabo,
adponet docti quae mihi lima viri.
Dagegen im Vossianus:
Pone obelos igitur: primorum stemma vocabo,
adponet docti quae mihi lima viri.
1) Warum Peiper hier die Aenderung des Ugoletus: stigmata in den Text
gesetzt hat, ist mir unerfindlich. Wie man aus Forcellini ersehen kann, bedeutet
siemma im späten Latein auch den Ehrenkranz.
Ansomus rec. helper. 609^
Von einer Lttcke kann hier nicht die Rede sein. Wenn die beiden
Mittelyerse einfach ausgefallen wären, könnte der Zusammenhang
nicht so ungetrübt erscheinen. Eine Korrektur des Autors ist um
so eher vorauszusetzen, als derOedanke im Parisinus äußerst schief
ausgedrückt ist. Was Pacatus verdammte (condemnata), konnte doch
unmöglich für den Dichter zum Ehrenzeichen werden, schon weil er
es streichen mußte und es folglich für jeden künftigen Leser un-
sichtbar wurde. Dies fühlt Ausonius selbst und spielt daher im letz-
ten Verse das Streichen in's positive Bessern hinüber. Doch auch
hierfür ist die Form sehr ungeschickt gewählt. »Was mir deine
Feile hinzufügt {adponet)^ werde ich nicht sowohl für verdammt, als
für verbessert halten«. Das ist der haare Unsinn, doch nichts desto
weniger hat Ausonius zweifellos so geschrieben; freilich auch mit
gutem Grunde in der zweiten Auflage den ärgsten Widerspruch ge-
tilgt, obgleich damit der schiefe Gedanke noch keineswegs gerade
gerückt ist.
Wo der Tilianus und die übrigen Handschriften vom Vossianus
erheblich abweichen, sind ihre Lesarten fast immer schlechter; doch
wenn Peiper daraus schließt, jene müßten interpoliert sein, so ist
dies ein großer Irrtum. Denn vorausgesetzt, daß der Dichter nicht
ganz urteilslos verfahren ist, müssen die Aenderungen einer späteren
Recension doch naturgemäß in ihrer Mehrzahl Besserungen sein.
Daß dies übrigens nicht ausnahmslos der Fall war, zeigt das Epi-
cedion. Hier schreibt die Gruppe des Tilianus V. 37 ff. :
Coniagium per lustra novem, sine crimine consors, ')
anum habai; gnatos tri» numero genui,
maximas ad sammum culmen pervenit bonorum,
praefectus Gallis et Libyae et Latio.
Dies ist ungenau, denn der alte Ausonius hatte vier Kinder gehabt;
doch da die älteste Tochter schon als Säugling gestorben war, lange
ehe das Bewußtsein im Dichter selbst erwachte, war es mensch-
lich und poetisch ganz gerechtfertigt, von ihr zu schweigen. Auch
in den Parentalien scheint sie Ausonius anfangs vergessen zu haben.
Denn wenn eine so nahe Verwandte erst an vorletzter Stelle, nach
allen Vettern, Basen und Schwägern, ihren Platz gefunden hat, so
läßt sich dies wohl kaum auf andere Weise erklären. Ebenso be-
rechtigt ist es, daß der Dichter über die Schicksale seiner anderen
Geschwister, welche in der Dunkelheit gelebt hatten und gestorben
waren, mit Stillschweigen hinweggeht, da hier, wo es galt, den
1) Unzweifelhaft ist censors, nicht mit der zweiten Hand des Yossianufl
Concors zu schreiben; sine erimine eonsors ist ein Ehemann, dem man keine Un-
treue vorwerfen kann.
510 Gott. gel. Aoz. 1887. Nr. 10.
Rohm seines Vaters za preisen, nur derjenige Sobn einer ansfübrli-
cheren Schilderang bedurfte, welcber seinem Erzeager Rabm ge-
bracht batte. Oegen die Ueberlieferung des Tilianus ist also gar
nichts einzuwenden , aber freilich begreift man, warum Ausonius sein
Gedieht in der Sammlung des Vossianus folgendermaßen vervollstän-
digt hat:
Goninginm per lustra novem, sine crimine consors,
anum habui, gnatos quatiuor edidimus.
prima obiit lactans, at qui fait ultimas aeri,
pubertate rudi non rudis interiit.
maximus ad summam etc.
Der Dichter bat seine Ungenauigkeit gut gemacht, um dafttr in die
trockenste Pedanterie zu verfallen. Doch mag man auch darüber
streiten, ob guaUtMr edtdimt^s oder tris numero genui die bessere
Lesart sei: daß keine von beiden die Interpolation eines mittelalter-
lichen Schreibers sein kann, bedarf wahrlich keines Beweises.
Doch wir haben unserem Thema vorgegriffen. Wir wollten von
den antiken Ausgaben des Ausonius reden und sind bis jetzt nur zu
den Zettelsammlungen gelangt, denen dieser Namen jedenfalls nicht
zukommt. Unter den Ausgaben im engeren Sinne lassen sich zwei
Formen unterscheiden, die wir, da es an einem technischen Aus-
drack fehlt, die verschämte und die offene nennen wollen. Ftir beide
Arten gewährt Sulpicius Severus wohl die bezeichnendsten Beispiele.
Seine Vita Sancti Martini beginnt also : Severus Desiderio fratri ca-
rissimo. ego quidem^ frater unanimiSj HbeUum^ quem de vüa sancti Martini
scripseram, scheda sua premere et intra damesticos parietes cohibere
decreveramj gma, ut sum natura infirmissimus, iudida hutnana vitor
banty ne, quad fore arbiträr, sermo incuUior legentibus displiceret am-
niumque reprehensionis dignissimus iudicarer^ qui materiem disertis
merito seriptoribus reservandam inpudens occupassem: sed petenti tibi
saepius negare nan potui. quid enim esset, quad non amori tuo vd
cum detrimento mei pudoris inpenderem? verumtamen ea tibi fiduda
libeUum edidi, qua nülli a te prodendum reor, quia id spopondisti. sed
vereor, ne tu ei ianua sis futurus et emissus semel revocari non queat.
$tfod si acciderit et ab dliquibus eum legi videris^ bona venia id a lec^
taribus postüläbiSf ut res potius quam verba perpendant et aequo animo
ferant^ si aures eorum vitiost^ forsitan sermo percuUrit. Also Seve-
rus Übergibt dem Freunde sein Buch, nachdem dieser gelobt hat, es
keinem zu zeigen; doch setzt der Verfasser gleich voraus, daft er
sein Versprechen nicht halten werde, und trifft deshalb seine Be-
stimmungen, was in diesem Falle dem Leser kundzuthun sei. In
den Episteln und Dialogen spricht er dann mehrmals seine Freade
Aasonius rec* Peiper. 511
über die weite Verbreitung seines Baches aus; daft er diese nur
einer Indiscretion des Desiderias zu danken hätte, wenn die Vor-
rede ernst gemeint wäre, fällt ihm dabei gar nicht ein. Die Heu-
chelei liegt hier offen zu Tage ^).
Oanz anders lautet die Vorrede der Chronik: Res a mundi
exordia sacris litteris editas breviter constringere et cum distinctione
temporum usque ad nostram memoriam carptim dicere adgressus sum^
multis id a me et studiose efflagitantibus. Hier versteckt
sich die Publikation nicht mehr hinter den Vertrauens brach eines
Freundes, sondern der Verfasser spricht es deutlich aus, daß sein
Bach für einen weiten Kreis bestimmt sei.
Fragen wir nun nach dem praktischen Unterschiede dieser bei-
den Publikationsarten, so dürfte er sich dabin bestimmen lassen : Im
ersten Falle schickt der Autor sein Bach einem Freunde mit dem
stillschweigenden Auftrag, für die Verbreitung desselben zu sorgen;
im zweiten übernimmt er diese Sorge selbst. Jetzt wird man es
yerstehn, warum wir das Exemplar seiner Oesamtwerke, welches
Ausonias dem Theodosius übersandte, nicht als Ausgabe gelten
Heften, wie wir es gethan hätten, wenn der Adressat Syagrius oder
Pacatus gewesen wäre. Einem Privatmanne, dem dafür die Ehre
der Dedikation zu Teil wurde, konnte man es wohl zumuten, daft
er Becitationen veranstaltete und die Verhandlungen mit Abschrei-
bern und Buchhändlern betrieb, nicht aber dem Kaiser.
Welche dieser beiden Formen in jedem Falle angewandt wurde,
ist für unsere Ueberlieferung keineswegs gleichgiltig. Mit der Zu-
sendung an einen Freund war meist auch die Bitte verbunden, das
Buch zu korrigieren, und wir wissen aus Aasonins' eigenem Bei-
spiel, dafi ihr manchmal und vielleicht immer Folge geleistet wurde ').
Die verschämte Ausgabe war also meist eine interpolierte, während
bei der offenen das Werk ganz so, wie es aus den Händen des 'Au-
tors kam, der Vervielfältigung übergeben wurde. Denn daß Publi-
kation im vierten Jahrhundert, so gut wie heute und in der ersten
Kaiserzeit, nichts anderes bedeutete, als Uebergabe des Baches an
den Buchhändler, liegt in der Natur der Sache, und was man da-
gegen anzuführen pi9egt, bedeutet sehr wenig. Wenn der Kaiser
den Ausonius selbst um Zusendung seiner Schriften bat und dies
1) Hieraus ergibt sich auch, was von »des Aasonius Klage über die Indis-
cretion eines Freundes, der ein Gedicht ohne seine Zustimmung in weiteren Kreisen
verbreitet hatte«, zu halten ist.
2) Epist. 26. De quo ojntseulo, ut tubes, faeiam ; exquisiUm unieerea limabop
et quanme per te manue summa contigerit, caelum superßuae expolUionis adhibeho^
moffis ut tibi paream, quam ut per/eetis aliquid adiciam.
612 Öötf. gel. An«. 1887. Nr. 13.
zwar, wie er ansdrttcklich hervorhebt, in einem eigenhändigen Briefe
(familiaremque sermonem autographum ad te transmitterem) ^ so ge-
schah es, nm dem Dichter eine Ehre zu erweisen, nicht weil das
Gewünschte nicht auch käuflich zu haben gewesen wäre. Sjmma-
chns beklagt sich, daß ihm Ansonius kein Exemplar d^r Moseila
zageschickt habe, nnd schreibt, er kenne das Gedieht durch die
Güte anderer {alioruin benignüate); doch offenbar liegt ihm daran,
von dem litterarischen Ereignis recht schnelle Kunde zu erhalten,
und da das Büchlein zuerst in Gallien veröffentlicht war, mußte es
einige Zeit dauern, bis auch der stadtrömische Buchhandel sich sei-
ner bemächtigte. Die Dedikationsexemplare, welche an Freunde
versandt wurden, langten natürlich früher an, und eins von diesen
war es, das sich Symmachus verschafft hatte.
Auch Ausonius hat beide Arten von Ausgaben angewandt. Die
offenen sind daran kenntlich, daß sie entweder, wie die Moseila, gar
keine Vorrede haben oder daß diese direkt an den Leser gerichtet
ist; die verschämten sind an Freunde und Verwandte überschrieben
und die Dedikationsepistel enthält meist die Bitte, das Büchlein zu
verbessern, und wenn es der Veröffentlichung unwert scheine, es ganz
zu unterdrücken. Als Beispiel sei das Einleitungsgedicht der Epi-
grammensammlung des Vossianus angeführt, dessen Schlußverse fol-
gendermaßen lauten:
Hoius (seil. Proculi) in arbitrio est, seu te (seil, libram) iavenes-
cere cedro
seu iubeat duris vermibus esse cibam.
huie ego, quod nobis snperest ignobilis oti,
depute, siye legat, quae daboj sive tegat.
Auch hier also ist die Publikation von dem Ermessen des Freundes
abhängig gemacht, was, wenn es gleich natürlich nur Phrase ist,
doch klärlich zeigt, daß sie seiner Mühverwaltung überlassen blieb.
Doch der Dichter hatte es mit seinen Publikationen zu eilig.
Der eitle Mann mochte nicht warten, bis er ein Convolut von Ge-
dichten beisammen hatte, das des buchhändlerischen Vertriebes
lohnte. Seine Einzelausgaben kleiner Cyclen umfaßten selten mehr
als 200 Verse , oft viel weniger ; sie gehörten daher eigentlich in
die Zettelkasten und werden in diesen auch meist ihr Ende gefun-
den haben ; denn der Buchhandel hat sich zu keiner Zeit gern mit
den kleinsten Kleinigkeiten befaßt. So wird bei den meisten jener
Schriftchen die Verbreitung hinter den Erwartungen des Dichters
zurückgeblieben sein, nnd dies mag ihn veranlaßt haben, endlich
eine größere Menge derselben in Einem Bande zusammen heraus*
zugeben.
Adsooinv rec. Peiper. 61 S
Daß die SammlaDg des Tilianns schon 383, also mindesfens zeliD
Jahre vor dem Tode des Dichters, abgeschlossen ist, hat Brandes
schlagend erwiesen; trotzdem stimmt anch Er der Meinung Peipers
bei, daß sie nicht von Aasonius selbst herrtthren könne. Der ein-
zige Grund dafür ist, daß Peiper die Anordnung der Werke schlecht
findet ; doch warum sollte der Geschmack des Dichters nicht ein an-
derer gewesen sein? Es ist wahr, Stücke, die dem Sinne nach zu-
sammen gehören, sind oft auseinandergerissen; aber ich erinnere
mich, daß selbst ein moderner Recensent Eaibels Epigrammata
Graeca deshalb tadelte, weil das Zusammengehörige zusammensteht:
es sei doch gar zu langweilig, siebenhundert Grabschriften hinter
einander zu lesen. So thöricht dieser Vorwurf bei einer wissen-
schaftlichen Sammlung ist, bei einer solchen, welche nur dem ästhe-
tischen Genüsse dienen soll, würde er seine volle Berechtigung ha-
ben. Von Zusammengehörigkeit kann bei poetischen Kleinigkeiten,
wie die Werke des Ausonius es sind, doch nur insofern die Rede
sein, als sie dieselben oder ähnliche Themata behandeln, und in
diesem Falle konnte es oft sogar geboten sein, sie nicht zu nahe
bei einander stehn zu lassen, weil sie sonst einförmig hätten wirken
müssen. Der Gedanken verrat des Ausonius war mehr als dürftig;
so wenig umfangreich seine Produktion auch war, vermochte er sie
doch nicht zu bestreiten, ohne immer wieder mit andern Worten das-
selbe zu sagen. Unter Umständen kann es seinen Reiz haben, den
gleichen Gedanken in immer neuen Formen ausgeprägt zu sehn ; wo
der Dichter ho£fen konnte, diese Wirkung zu erreichen, stehn auch
im Tilianus Stücke desselben Inhalts neben einander, wie die Epi-
grammenserien auf den Rhetor Rufns und auf den Silvius Bonus
zeigen. Doch meist ist die Wiederholung eine reine Folge der Gei-
stesarmut, und diese ließ sich am ehesten verhüllen, wenn man, mit
der Vergeßlichkeit des Lesers rechnend, das Gleiche auseinander
rückte.
Daß die Sammlung des Tilianus nach diesem Princip im Gan-
zen sehr verständig geordnet ist, läßt sich nicht verkennen. Auf
Dedikation (26 Peiper) und Inhaltsangabe (25) folgen die Epigramme,
welche die Herrscherfamilie verherrlichen (27 — 30); nur eins ist aus
dieser Reihe herausgerissen und an eine spätere Stelle gerückt, die
Anrede des Danuvius an den Kaiser (31); offenbar weil ein Gedicht
ganz gleichen Inhalts schon vorausgegangen war (28). Aus dem-
selben Grunde sind 48 und 49, 53 und 54, 57 und 58, 8 und 60
möglichst weit auseinander gestellt Auch sonst zeigt sich in der
Gruppierung der Gedichte meist dichterische Absicht, namentlich ein
sehr bewußtes Rechnen mit der Kontrastwirkung. Auf die Grab-
ß«M. gel« Abi. 1887. Nr. 18. 36
5U öött. gel küK. 1887. Nr. IS.
Schrift eines GlUcklicheD (VI 31) folgt die ErmahnaDg zar Beschei-
denheit (2j; nachdem ein Künstler getadelt ist, daft er die Echo zu
malen versucht habe (32), wird ein anderer gelobt, der Gelegenheit
nnd Reue trefiSich dargestellt hatte (33); zwei Gedichte reihen sich
an, welche schildern, wie die Gelegenheit benatzt oder nicht benatzt,
die Reue vermieden oder zu spät gekommen sei, das erste die Grab-
schrift einer Matrone, die schon mit sechzehn Jahren alles Frauen-
glück aasgekostet hatte (VI 35), das zweite an ein Mädchen gerich-
tet, das im Alter die Liebe vergeblich sacht, welche sie in der Ja-
gend verschmäht hatte (34). Auf ein schlüpfriges Epigramm (38)
folgt die Versicherung; daB die Frau des Dichters ihn doch ftir
keusch halte, möge er auch noch so viele LaYden und Glyceren be-
singen (39). An andern Stellen scheint auf die Anordnung der Ge-
dichte die zeitliche Folge ihrer Entstehung von Einfluß gewesen zu
sein. So steht hinter dem Ostergebet (III 2) ein Brief, der unmit-
telbar vor Ostern geschrieben ist (Epist. IV 9), dann ein zweiter,
welcher des Festes als kürzlich gefeiert erwähnt (VI 17), und ein
dritter aus Saintes datierter (VII), wo Ausonius damals die Oster-
tage zugebracht hatte (Vgl. IV 3). Auf Epistula XXIII, welche im
December abgösandt ist, folgt XIII, die von einem verspäteten Neu-
jahrsgeschenke redet. Keiner anfter dem Dichter selbst konnte an
verschiedene Empfänger gerichtete Briefe nach der Zeitfolge ordnen ;
denn daß ein fremder Eompilator und noch dazu ein solcher, wel-
cher die Gedichte der Sammlung ohne alle Ueberlegung wirr durch-
einander warf, gleichwohl an ihnen chronologische Studien getrieben
habe, liegt doch außer aller Wahrscheinlichkeit.
Daß die beiden ersten Gedichte des Tilianus den Zweck haben,
eine größere Sammlung zu eröfl^nen, ist zweifellos (vgl. S. 501) ; doch
wäre es allerdings an sich nicht unmöglich, daß sie ursprünglich
als Einleitung einer ganz andern Sammlung verfaßt wären und nur
durch einen Eompilator ihre jetzige Stelle erhalten hätten ^). Ließe
sich aber erweisen, daß sie zu eben derselben Zeit gedichtet sind,
in welcher das Corpus des Tilianus abgeschlossen wurde, so wäre
damit die Frage entschieden; ein Zweifel daran, daß Ausonius es
selbst zusammengestellt habe, wäre meines Erachtens nicht mehr
möglich. Nun heißt es in dem Dedikationsgedicht von dem Eiiiser:
qai proelia Mosis
temperat et OeUeum moderator Apolline Martern,
arma inter Chunoique truces furtoque nocentes
SauromataSy quantum cessat de tempore belli,
indulget Clariis tantum inter castra Camenis.
1) Bei den Eiuleitungsgedichten des Vossianus ist dies thatsächlich der Fall,
da sie beide viel älter sind, als der Abschluß der Sammlung.
Afuonias rec. Peiper/ 515
Hier sind als Feinde des Kaisers Goten, Hannen und Sarmaten ge-
nannt, also ausschließlich Völker, welche an der antern and mittleren
Denan haasten; von den Alamannen and den sonstigen Anwohnern
der Rheingrenze ist gar nicht die Rede. Daraus folgt, daß dies Ge-
dicht nach dem Jahre 378 verfaßt sein muß, da diejenigen Herrscher,
in deren unmittelbarem Dienst Ausonius stand, bis dahin ihre glän-
zendsten Erfolge alle am Rhein erfochten hatten. Nun finden wir
im Jahre 382 Oratian in Italien ; im Juli war er bis nach Vimina-
cium an die untere Donau vorgerückt (Cod. Theod. XII 1, 89)*);
erst im November ist er wieder nach Mailand zurückgekehrt (Cod.
Theod. I 6, 8), doch bereitet er den Winter über einen neaen Feld-
zag in die Illyrischen Provinzen vor (Cod. Theod. XI 16, 15 quibtts
expedüionis lUyricae pro necessitate vel tempore utilitas adiuvatur).
Zur Ausführung ist dieser zwar nicht gekommen, da im Sommer des
nächsten Jahres der Aufstand des Maximus den Kaiser nach Gallien
zurückrief; doch immerhin zeigt das Angeführte zur Genüge, daß
wer im Jahre 382 oder 383 die kriegerischen Verdienste Gratians
feiern wollte, in erster Linie an seine Unternehmungen gegen die
DonauvOlker denken mußte. Daß das Dedikationsepigramm in die
allerletzte Zeit des Kaisers fällt, verrät auch ein anderes Zeichen.
Zar Zeit der Abfassung desselben war er eben mit einem Epos be-
schäftigt, welches den Kampf des Achill und der Penthesilea schildern
sollte. Wenn dieses zum Abschluß gekommen und der Oeffentlichkeit
übergeben worden wäre, so würde dies in der reichen Litteratur jener
Zeit gewiß nicht die einzige Erwähnung des kaiserlichen Gedichtes
sein ; wir würden Lobpreisungen desselben auch an anderer Stelle be-
gegnen müssen. Es ist, wenn auch nicht sicher, so doch sehr wahr-
scheinlich, daß Gratian durch den Tod an seiner Vollendung ver-
hindert wurde. Soweit also das fragliche Epigramm chronologische
Merkmale bietet, weisen diese auf das Jahr 383, und eben demsel-
ben Jahre gehören auch sonst die jüngsten Gedichte des Tilianus an.
Die Sammlung, welche in dieser und den verwandten Hand-
schriften erhalten ist, sollte keine Gesamtausgabe des Dichters bie-
ten, denn die Moseila und manches andere Werk, welches sicher vor
383 entstanden ist, fehlen darin. Wahrscheinlich sollten nur die-
1) Was ich in meiner Symmachosausgabe (S. CXI) über die Datierung dieses
Gesetses gehabt habe, ist einer Korrektur bedürftig. Das Tagdatum wird bestä-
tigt darch ein zweites Fragment desselben Gesetzes (I 10, 1), dessen Zugehörigkeit
ich damals noch nicht erkannt hatte. Wie die eigentümliche Jahresbezeichnung
SU erklären sei, weiB ich zwar noch immer nicht, doch die Frage der Postcon*
salate ist noch dorchaos nicht absehlieiend gel^t, und einer wahrscheinlichen
Hypothese zu Liebe darf man ein doppelt überliefertes Datum nicht anfechten,
36*
616 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 18.
jenigen Schriften anfgenommeD werdeu, welche bis dahin entweder
noch gar nicht veröffentlicht waren oder nach der Meinung des
Dichters noch nicht die genügende Verbreitung gefunden hatten.
Die Auswahl dürfte also eine rein zufällige sein, in der man ein
Princip nicht suchen darf
Wie Brandes gezeigt und auch Peiper anerkannt hat, ist die
Sammlung des Vossianus erst nach dem Tode des Ausonius zum
Abschluß gekommen ^) ; doch läßt sich die Zeit ihrer Veröffentlichung
vielleicht noch etwas enger umschreiben. Der Herausgeber, in dem
man mit großer Wahrscheinlichkeit Hesperius, den Sohn des Dichters,
vermutet, hat zwei Briefe des Symmachns mit in das Corpus auf-
genommen, aus keinem andern Gründe, als weil sie das Lob des
Ausonius und seiner Verwandtschaft sangen. Noch viel ehrenvoller
mußte die Anerkennung eines Kaisers sein, aber der Brief des Theo-
dosius, welcher sie in der schmeichelhaftesten Weise aussprach, ist
weggelassen. Zu der Zeit, in welcher die Ausgabe veranstaltet
wurde, kann es also nicht für einen Ruhm gegolten haben, wenn
man zu Theodosius in nahen persönlichen Beziehungen gestanden
hatte; ein gewisses Odium muß an der Person dieses Kaisers gehaf-
tet haben. Daß die Antwort des Ausonius an ihn in der Sammlung
enthalten ist, wird man als Gegenbeweis nicht anführen wollen.
Was von dem Dichter selbst herrührte, gehörte in das Corpus seiner
nachgelassenen Werke notwendig hinein, doch ob man an ihn ge-
richtete Schriften anderer aufnahm oder nicht, darüber entschieden
die Umstände. Die Thätigkeit des Herausgebers kann also weder
unter Theodosius noch unter seine Söhne fallen, sondern nur in die
kurze Zwischenregierung des Eugenius (392—394). Dies wäre
schon an sich wahrscheinlich, da man eine solche Sammlung am
natürlichsten der Zeit zuschreiben wird, welche dem Tode des Dich-
ters unmittelbar folgte, und das letzte Lebenszeichen, welches wir
von ihm besitzen, dem Jahre 393 angehört. Das Jahr der Ausgabe
wird also 394 sein.'
Auch der Vossianus enthält nicht die sämtlichen Werke; auch
diese Sammlung scheint nur bestimmt gewesen zu sein, neben dem
1) Daraus erklärt sich; auch, das die Dedikationsgedichte beide <er sind
als der AbschloS der Sammlang, also aach nicht zu dem Zwecke gemacht sein
können, dieselbe einzuleiten. Der Herausgeber hat sie aus ihrem ursprünglichen
Zusammenhange losgelöst und an die Spitze seiner Ausgabe gestellt, um so fikr
diese eine passende Eröffnung zu schaflEen. Daft ein Teil der Ausgabe noch Ton
Ausonius selbst geordnet sei, ist möglich, aber nichts zwingt zu dieser Annahme.
Warum h&tte nicht auch der Sohn des Dichters eine verst&ndige Anordnung her*
stellen können?
Attsonius rec. Peiper. 517
bisher UDpablicierten dasjenige aufzunehmen, was im Bachhandel
selten war. Daher fehlt die Mosella and in der Hauptsache auch
diejenigen Stücke, welche die Tilianusgrappe enthält. Die Ausnah-
men, welche wir im Folgenden aufzählen werden, erklären sich meist
daraus, daß von den betreffenden Schriften neue, erweiterte oder
verbesserte Redaktionen vorlagen, welche eine zweite Auflage wün-
schenswert machten.
Von der Oratio matutina haben wir schon S. 505 ff. in anderem
Zusammenhange geredet; ebenso von dem Epicedion, das außerdem
S. 509 f. angeführten Distichon im Tilianns noch der Vorrede und
der Verse 13—16, 19—26, 29—34 entbehrt, ohne daß dadurch eine
bemerkbare Lttcke entstände.
Die Grabschriften, welche sich im Tilianus über die Epigramme
^ zerstreut fanden, sind im Vossianus zusammengefaßt, vermehrt und
den Epitaphien der trojanischen Helden angereiht worden.
Die Aerumnae Herculis standen dort vereinzelt, hier sind sie in
eine zusammenhängende Gruppe anderer Versus memoriales aufge-
nommen.
Das Technopaegnion beginnt in den beiden Handschriftenklassen
mit verschiedenen Dedikationsepisteln ^) und hat auch sonst im Vos-
sianus sehr wesentliche Veränderungen erfahren.
Die Gaesares sind auf mehr als das Doppelte ihres früheren
Umfanges erweitert worden.
Das Anfangsepigramm der Fasten ist im Tilianus an Gregorius,
im Vossianus an Hesperius gerichtet, und der Person der verschiede-
nen Adressaten gemäß erscheint ein Vers (9) in verschiedener Ge-
stalt. Die Schlußepigramme haben in den beiden Recensionen gar
nichts mit einander gemein.
Ohne sichtbaren Grund wiederholt sind nur die Versus pascha-
les, der Griphus, der Protrepticus, zwei Episteln (4 und 14) und die
meisten Epigramme. Dies wird ein Versehen des Herausgebers sein,
das sich leicht genug erklärt; denn daß er den Inhalt der älteren
Sammlung vollständig im Kopfe hatte, kann man bei der großen
Mannigfaltigkeit derselben wahrlich nicht von ihm verlangen, und
1) Wenn im Tilianus trotz der Dedikation an Paalinus sich der Vers findet :
Pacato ut studeat ludua mens, Mto operi dux, 80 ist daraus wohl zu schlieSeD,
daft das Qedicht gleichzeitig an Pacatas und Paulinus versandt wurde. Der
Schreibersklave des Dichters wird den Fehler begangen haben, den Namen, wel-
cher in dem einen Dedikationsexemplar stand, gegen die Absicht des Ausonius auch
in dem andern zu wiederholen. Der Ausgabe von 888 wurde dann das an Pau-
linus gerichtete Exemplar zu Grunde gelegt, der Erweiterung, welche in den
Vossianus aufgenommen ist, das an Pacatus versandte.
618 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 13.
das Nachschlagen wurde ihm durch die wenig ttbersichtliche Anord-
nung der Gedichte sehr erschwert.
Uebrigens hat es mit den Epigrammen noch eine ganz heson-
dere Bewandtnis. Der Tilianus enthält etwa 100, der Vossianus nur
22, und diese finden sich fast alle in jenem so gut wie unverändert
wieder. Nur zwei machen eine Ausnahme, doch bei dem äußerst
lückenhaften Zustande der Tilianusgruppe ist es sehr wohl möglieb,
daß diese irgendwo ausgefallen sind. Da nun jene zweiundzwanzig
Gedichtchen des Vossianus ein wohl abgerundetes kleines Corpus
mit eigener Dedikationsepistel bilden, so halte ich es für sehr wahr-
scheinlich, daß sie ursprünglich gesondert herausgegeben und erst
später durch den Dichter selbst zerstreut und in die Tilianusausgabe
eingeordnet sind. Hier wäre also der Ausnahmefall zu verzeichnen,
daß uns der Vossianus die ältere Redaktion bewahrt hat Wahr-
scheinlich empfieng Hesperius diese kleine Sammlung von seinem
Landsmanne Proculus Gregorius, dem sie gewidmet ist, und ohne
zu bemerken, daß die Epigramme derselben schon in der früheren
Ausgabe Verwendung gefunden hatten, nahm er das ganze Büchlein
unverändert in die seine auf.
Die modernen Ausgaben des Ausonius zeigen ein stetes Schwan-
ken in der Reihenfolge der einzelnen Schriften, wodurch natürlich
das eitleren und das Auffinden früherer Citate sehr erschwert wird.
Jeder Herausgeber müht sich auf seine Weise, die Ordnung der hy-
pothetischen Gesamtausgabe herzustellen, wobei jeder die ganz un-
motivierte Voraussetzung macht, daß diejenige Reihenfolge, welche
ihm die vernünftigste scheint, auch die vom Dichter gewollte sein
müsse. War denn der geschmacklose Schulfuchs von Burdigala
wirklich ein so großer Geist, daß er nur das Vernünftigste hätte
wählen können? Und welcher Zusammenhang ist vernünftig bei
einzelnen, zu verschiedenen Zeiten entstandenen Gedichtchen^die ihrer
ganzen Natur nach zusammenhanglos sind? All dies willkürliche Mei-
nen und Raten muß aufhören, sobald man anerkennt, daß von den
beiden Corpora des Ausonius das eine auf den Dichter selbst, das
andere auf seinen Sohn und Erben zurückgeht, daß also beide
authentische Ausgaben darstellen. Mag ihre Anordnung gut
oder schlecht sein, das Besserwissen moderner Herausgeber hat an
ihr nicht zu rühren.
Eine neue Ausgabe des Ausonius, welche noch immer Bedürfnis
bleibt, hätte also an die Spitze die Moseila mit dem Symmachusbrief
zu stellen. Diese trägt zwar im St. Gallensis und im Bruxellensis
die Ueberschrift: Incipiunt excerpta de cpusculis Decimi Magni
Äusoniiy MoseUa, Danach scheint es, als wenn sie, sei es vom Dich-
Ansoniiis rec. Peiper. 519
ter selbst, sei es in spftterer Zeit, was ich fttr wahrscheinlieher
halte, auch einmal in ein größeres Gorpas des Aasonius eingeord*
net war. Doch dieses ist ans zweifellos verloren, and da das Qe-
dicht schon im Jahre 370 in einer Sonderaasgabe erschienen
war, mag der neae Heraasgeber immerhin so verfahren, als
ob er diese reprodacieren könnte. Hieran hat sich die Samm-
lung von 383 vollständig and in ihrer überlieferten Reihenfolge an-
zuschließen, endlich ebenso die Sammlung des Vossianus. Daß auf
diese Weise mehreres doppelt geboten werden mtlAte, hat gar keine
Bedenken. Auch in den beiden Briefsammlungen des Cicero stehn
einzelne Stücke zweimal, ohne daß je ein Heraasgeber daran ge-
dacht hätte, sie das eine Mal zu tilgen. Wird doch so unendlich
viel Ueberflttssiges gedruckt: warum sollte nicht ein Verleger die
Kosten fttr einen Bogen mehr hergeben, wenn dadurch zwei antike
Ausgaben in ihrer Integrität herzustellen sind? Am Rande müßte
überall sorgfältig bemerkt werden, welche Stücke uns außerhalb der
beiden Hauptcorpora in den Zettelsammlungen überliefert sind. Die
wesentlichen Abweichungen früherer Recensionen dürften nicht
im Wüste des kritischen Apparates verschwinden, sondern ihnen
müßte eine besondere Rubrik unmittelbar unter dem Texte einge-
räumt werden. Auf diese Weise würden wir einen Dichter, der trotz
seiner Geistesarmut doch historisch und litterarhistorisch das höchste
Interesse erregt, erst wirklich kenuen lernen. Hoffentlich beschenkt
uns Brandes, der ja ohnehin für den Ausonius schon viel gethan
hat, mit einer Ausgabe dieser Art.
Peiper hat sich durch seine überaus fleißige Sammlung des um-
fangreichen Apparates unstreitig ein großes Verdienst erworben, doch
im Uebrigen wird sein Aasonius künftigen Herausgebern nur als Bei-
spiel dienen können, wie sie es nicht machen sollen. Er versteht
es meisterlich, die Benutzung seiner Arbeit zu erschweren. Der kri-
tische Apparat ist im höchsten Maße unübersichtlich, weil keine Ver-
wechslung von e und ae^ voü ci und ti dem Leser geschenkt wird,
weil V bald den Vossianus, bald den Vaticanus bedeutet, P bald
den Parisinus 8500, bald den Parisinus 4887 oder 7558, R bald den
Regius, bald den Rhenaugiensis, bald den Parisinus 9347 u. dgl. m.
In derartigen Aeußerlichkeiten muß ein Herausgeber die größte Sorg-
falt anwenden, weil er immer damit zu rechnen hat, daß neunzig
Procent derjenigen, welche seine Arbeit gebrauchen, sie nicht stu-
dieren, sondern nur nachschlagen wollen, und folglich einer leichten
und schnellen Orientierung dringend bedürfen. Die Textgestaltung
ist, wie die Anordnung der Gedichte, von dem Irrtum beherrscht,
daß Ausonius ein großer Dichter gewesen sei und daß man ihm
520 Gott. gel. Änz. 1887. Nr. 13.
folglich nichts zatraoen kODne, was poetisch oder logisch zu verwer-
fen sei. So hat Peiper allein in den 230 Versen des Lndas nicht
weniger als sechsmal den Hiatns heraaskorrigiert and anch sonst die
metrischen Schnitzer sorgfältig beseitigt, als wenn sie nicht Aaso-
nius, wie so viele andere seiner Zeitgenossen, sehr wohl begangen
haben könnte. Daß sowohl hier, als auch in allen andern Stttcken,
die uns in zwei Recensionen erhalten sind, die Eonjekturalkritik,
wenn auch vielleicht nicht ganz auszuschließen, so doch auf das
allerbescheidenste Maß zu beschränken sei, konnte er freilich nicht
beherzigen, da er die Doppelrecensionen ja überhaupt so viel wie mög-
lich zu negieren sucht.
Von den Resultaten Peipers wird jedes einzelne noch einer sehr
sorgfältigen Revision zu unterziehen sein, ehe die Wissenschaft
es hinnehmen kann. Auch daß die Epigramme, welche er in den
Anhang verweist, wirklich von Georg Morula und nicht von Auso-
nius oder einem seiner Zeitgenossen herrtthren, scheint mir höchst
zweifelhaft. Schon ihr lückenhafter und korrumpierter Zustand be-
weist meines Erachtens, daß sie nicht unmittelbar vor ihrer Druck-
legung gedichtet sind, sondern eine tausendjährige Ueberlieferung
hinter sich haben. Die Fehler, welche Peiper ihnen vorwirft, halte
ich alle für ganz Ausonianisch, also nur für Beweise ihrer Echtheit.
Doch hierüber wage ich kein abschließendes Urteil zu ftlllen; eine
zweite vorurteilsfreie Prüfung wird dazu erforderlich sein. Aber
daß eine solche überhaupt möglich ist, daß wir die Fragen stellen
können, deren Beantwortung eine wirklich befriedigende Ausgabe
des Dichters voraussetzt, haben wir zum größten Teil Peipers fleißi-
ger und mühevoller Sammelarbeit zu verdanken, und dies Verdienst
soll ihm nicht geschmälert werden.
Greifswald. Otto Seeck.
Eühnau, Richard, Dr., Rhythmas und Indische Metrik. Eine Entgeg-
nung. Göttingen. Vandenhoeck und Rnprechts Verlag. 24 S. S\ M. 0,80.
Dieses Schriftchen enthält eine in sachlichem Tone gehaltene
Entgegnung auf Prof. Oldenburg's (Deutsche Litteraturzeitung 1887
p. 196) und meine (siehe diese Anzeigen 1886 p. 961 ff.) Anzeigen
seines Buches über die Trishtubh und Jagatt-Familie. Dr. Eühnau
legt darin nochmals seinen Standpunkt klar. Nach ihm ist der Rhyth-
mus, beruhend auf dem Unterschied von gehobenen und gesenkten
Silben (Thesis und Arsis), keine Eigentümlichkeit der griechischen
Metrik, sondern die Grundlage aller Metrik. Er habe versucht, den
Euhoan, Bhythmus und Indische Metrik. 621
Rbythmns in der indischen Metrik anfzadecken. Wenn man die Me-
trik ohne Rttckflicht aof den Rbythmns behandele, so begebe man
sich anf den längst überwundenen Standpunkt, den einst G. Her-
mann mit Rücksicht anf die griechische Metrik eingenommen habe.
Diesen überwundenen Standpunkt nehmen wir, seine Gegner, ein, deren
schiefes Urteil Etthnau sich nur daraus zu erklären vermag, daA
wir »mit dem großen Umschwünge unbekannt geblieben sind, wel-
chen die metrische Wissenschaft auf dem Gebiete der europäischen
Sprachen, insbesondere der griechischen in der zweiten Hälfte unse-
res Jahrhunderts erfahren hat«.
Nun will ich gerne Herrn Dr. Kühnau zugeben, daft ich keine
so eingehende Kenntnis der griechischen Metrik besitze wie er. Aber
die Principien glaube ich zu kennen, und vielfache Besprechungen
mit einem gründlichen Kenner der griechischen Metrik, Professor
Stahl in Münster, führten uns zur Ueberzeugung , daß die indische
Metrik etwas durchaus anders geartetes sei, und daß die griechische
Rhythmik nicht der richtige Standpunkt zu ihrem Verständnis sei.
Diese Ansicht spricht auch Oldenberg in seiner Beurteilung des
Kühnauschen Versuches aus. Ich war aber bereits früher noch wei-
ter gegangen und hatte die Ueberzeugung ausgesprochen, daß im
Gegensatz zu der griechischen Metrik den Indern der principielle
Unterschied von Arsis und Thesis unbekannt sei. Zunächst glaubte
ich noch, daß es einen Ictus in der indischen Musik gäbe (der
ägh&ta im Tfila). Doch sehe ich, wie ich in diesen Anzeigen p. 962
dargelegt habe, mich jetzt genötigt, auch der indischen Musik den
Gegensatz von guten und schlechten Taktteilen, von Arsis und The-
sis, abzusprechen. Der T&la ist lediglich Zeitmaß {hshanädirupo
yoA kälahf sa pränatvena Mrtyate, gUddes tu mitim hurvan sa evä
"ydti tälatäm)f oder wie Tagore sagt, der Takt ist das für die Mu-
sik, was die Prosodie für die Poesie ist. Die Zeit wird genau durch
das Taktschlagen gemessen, aber rhythmische Betonung hängt nicht
damit zusammen. Wenn Tagore über seine Noten das Zeichen des
Ägh&ta und Vir&ma setzt, so bedeutet das nur, daß die betreffende
Note mit dem äghäta^ dem Schlage auf den mridanga zusammenfällt,
nicht aber, daß sie größere Stärke hat. Denn wäre die relative
Stärke des Tones von principieller Bedeutung gewesen, so würden
die indischen Musiker, deren Theorie ja nicht etwa nur in Bruch-
stücken, sondern in vollständigen Darstellungen vorliegt, sich über
diesen Punkt wohl ausgesprochen haben ^). Bisher habe ich vergeb-
1) Dr. Kühnau (p. 10 Note) sagt, daß von dem Yerh<nisse, in dem »strokec
und »kM< zum Vortrage stehn, die Entscheidung der Frage abhänge, ob die In-
der Thesis und Arsis gehabt haben. »Gerade über diesen Punkt wünschte ich
622 Gott. gel. Anz. 1867. Nr. 13.
lieb Dach derlei Bestimm angen geflucht, und nach dem, was ieh yon
Professor Bhandarkar in Erfahrung bringen konnte nnd mitgeteilt
habe, wird man vergeblich danach suchen. Es entspricht also der
indische Gesang in Bezug auf die mangelnde rhythmische Betonung
unserer Orgelmusik, nur dad wir bei letzterer die fehlende Betonung
innerlich ergänzen, weil wir nun einmal alle Musik rhythmisch auf-
zufassen gewohnt sind. Der Inder dagegen thut das nicht; seine
Musik ist uurhythmisch (im modernen Sinne) '). Doch wenn der
Inder das rhythmische Oeftthl, sei es nicht entwickelt, sei es yerlo*
ren hat, so hat er ein um so feineres, uns abgehendes Gefühl f&r
Zeitmessung erworben. Er faßt Zeitintervalle mit großer Sicherheit
genau aof, ohne daß ihm dieselben durch rhythmische Gliederung
markiert werden. Hält man dies fest, so wird die Entwicklung der
indischen Metrik in der Äry& und Doha, welche Versmaße man ak
Vertreter zweier auf einander folgenden Stufen hinstellen kann, ohne
weiteres klar. In der Äry& ist das Zeitmaß die Einheit von vier
Moren (Gai^a); in der Doha folgen auf einander Gruppen von 6, 4,
3 Moren, dann von 6, 4, 1 Moren. Innerhalb der Gruppen können
nach bestimmten Regeln je zwei Moren zu einer Länge zusammen*
gezogen werden. Ist es nun wahr, daß die Inder auch ohne andere
Unterstützung Zeitintervalle scharf nnd richtig auffaßten, so mußten
sie in Versen, deren Bau nur durch eine bestimmte Zeitmessung ge-
regelt ist, sofort die Gesetzmäßigkeit herausfählen ^). Uns dagegen,
die wir auch in die indischen Verse, wie in unsere Orgelmusik, den
fehlenden Rhythmus hineintragen wollen, bleiben sie unverständlich.
Denn wie will man in die Doha, von der man noch nicht einmal
ein Schema aufzeichnen kann, einen Rhythmus hineinbringen? Eher
ließe sich bei der Äryä vermuten, daß die erste Mora jedes Ga](^a
betont sei. Ich befragte daher Prof. Bhandarkar auch nach diesem
Punkte. Er versicherte mir aber, daß man aus nichts heraushören
recht genau unterrichtet zu seiu«. Das wQnschte ich auch. Aber Prof. Bhan-
darkar hat nicht die Theorie der Musik studiert, und so muSte ich mich bei sei-
ner bestimmten Erklärung zufrieden geben, daS welcher Unterschied auch immer
zwischen »strokec und ^lakU bestände, derselbe nicht auf. einem Unterschied
der Betonung beruhe.
1) Es sei, wenn auch nicht hierhin gehörend, als eine weitere Eigentümlich-
keit der indischen Musik erwähnt, daS sie nur das Ugato, kein staccato kennt.
2) Westpbal, griechische Rhythmik' p. 44 sagt: 9Solche der Zeit nach meß-
bare YersfÜfie gibt es in der recitierten Poesie nicht«. Wenn wir für die Aryä
und Doha das Gegenteil statuieren, so ist zu beachten, daß diese Verse, wie sie
ursprünglich für den Gesang bestimmt waren (daher der Name Gäthä), so auch
jetzt noch immer, sei es in bestimmter Melodie, sei es mit selbst gewählter Mo-
dulation singend vorgetragen werden.
Kähnau, RhytTimus und Indische Metrik. 523
kOnne^ wo ein neuer Ga^a beginne^ noch daB irgend eine Stelle in
den ?er8chiedenen Ga^a an sieb den Ton trage. Ich babe nan nach
seinem Vortrag (in Recitativ) in der bekannten Strophe im Eingange
der (Jakuntala die betonten Silben genaa notiert, wie folgt: ^)
Sparüoshad vidtisMm na sSdhu mdnye prayögavijnSnam{mfn)
balavdd api gikshitänäm ätmany aprdtyayam cetahQiaka),
Man siebt, es herrscht hier lediglich die Wortbetonnng, wie sie anch
Air die Prosa gilt (cf. Bühler, Elementarcursas des Sansskrit, Schrift-
tafel p. 2). Bhandarkar sagte und bewies es thatsächlich, daß sie
genan fttblten, wo in einer Äry&, wie in jeder andern Versart, ein
Fehler stecke, ohne daß sie dieselbe auch nur in Gedanken scan-
dierten. (Ueberhaupt war ihm das Scandieren eine mühsame, weil
ungewohnte Arbeit). — Wo ich also erwarten konnte, den musika-
lischen oder metrischen Ictus zu fassen, überall griff ich ins Leere.
So bestätigte sich mir in oft wiederholten Gesprächen mit einem
Eingeborenen, daß den Indern der Unterschied zwischen Arsis und
The4us unbekannt sei.
Nach obigen Auseinandersetzungen wird es klar sein, daB ich
meinen Standpunkt in der Beurteilung der indischen Metrik nach
vorsichtigen Stadien und nicht aus Unkenntnis der Fortschritte der
europäischen Metrik eingenommen habe. Mein Standpunkt konnte,
da ich den Gegensatz zwischen Arsis und Thesis auBer Acht lassen
muBte, kein anderer, als etwa der G. Hermanns mit Bezug auf die
griechische Metrik, sein. Die von mir gebrauchten metrischen Ter-
mini haben also keinen weiteren Sinn , als den ihnen G. Hermann
beilegte. Dr. Kühnau hat daher leichtes Spiel, wenn er mich in
schreienden Widerspruch verwickeln will, indem er meine Ausdrücke
in aristoxenischem Sinne deutet, bei mir, der den Unterschied von
Arsis und Thesis nicht gelten lassen kann ! Spreche ich von Rhyth-
mus, so meine ich natürlich nicht gesetzmäßigen Wechsel von Arsis
und Thesis« sondern eine gewisse Beihenfolge in einer prosodischen
Reihe. Eatalektischer P&da bedeutet bei mir nicht, daß »die letzte
sprachliche Arsis unterdrückt istc, sondern daß, bei sonstiger Gleich-
heit zweier P&da, der katalektiscbe um eine Silbe kürzer ist als der
akatalektische. Eine solche Uebertragung von termini technici hat
•ihr mißliches; aber wir müssen nun einmal uns derselben Ausdrücke
bedienen, um ähnliche Erscheinungen auf indischem und abendlän-
dischem Gebiete zu bezeichnen, mögen sie auch nicht auf derselben
Grundlage ruhn.
Was nun meine Behandlung der indischen Metrik betrifft, so ist
1) In many glaubte ich schwebende Betonung zu hören. Die Endsilbe jedes
Halbverses irurde in eigentümlicherweise so geEogen, dai der Gaya yoII wurde.
524 Qött. gel. Anz. 1B87. Nr. 13.
dietteibe nicht so willkürlich wie Dr. Etthnan meint Ich sah bald
ein, daß anf den T&la, das nächste Analogen zu nnserem Takte,
eine Theorie der indischen Metrik sich nicht anfbauen Hefte. Fflr
gewisse Vermäße ergab sich als Princip, nach dem die Reihen ge-
baut sind, die Gana-Einteiinng. Daft diesem Principe auch über die
eigentlichen Ganacchandas hinaus Bedeutung zukomme, habe ich
früher gezeigt. In älterer Zeit galt wahrscheinlich die Zusammen-
fassung von je vier Silben zu aneinander gereihten Gruppen', die
aber, um sich von einander abzuheben, nach möglichst entgegenge-
setzter Gestaltung der Prosodie strebten. Aber für die meisten der
sogenannten künstlichen Metra (der meisten Samavritta) fehlte jeg-
licher Schlüssel. Da war nun der einzige methodische Weg, der
überall eingeschlagen werden rouft, wo man über die Thatsachen
hinaus zu einem tieferen Yerständuis derselben gelangen will, der,
daft ich Aehnliches möglichst zusammenzustellen suchte und von der
Aehnlichkeit auf Verwandtschaft schloß. In manchen Fällen war
dies Vorgehen nun eben nicht so, »wie wenn man von der äußeren
Aehnlichkeit zweier Menschen schließen wollte, daß sie Vater und
Sohn oder Brüder sind«. Von meiner Erklärung des Vait<ya aus
der Jagatt sagt Eühnau, daß sie »nichts als eine mechanische Ope-
ration ist, wo Silben beliebig von einem Schema abgerissen und
einem anderen hinzugefügt werdent. Gerade hier haben wir den
festen Anhaltspunkt, daß Trishtnbh, Jagatt und Anushtubh die ein-
zig zeitlich vor dem Vaitallya liegenden Metra sind, und daß also
zwischen ihnen als den möglichen » Vätern c gewählt werden muß.
Da nun das älteste Schema des Vaitältya mit dem der Jagatt bis
auf den vorne fehlenden Teil von abwechselnd 3 und 1 Silbe aufe
genaueste übereinstimmt, so müßte man blind sein, wenn man in
dem Vaitältya nicht den »Sohne der Jagatt erkennen wollte. — Na-
türlich kann zufällige Aehnlichkeit zu irrigen Schlüssen verleiten;
so lange wir noch im »Vorhofe« der indischen Metrik stehn, müssen
wir einen solchen Irrtum mit in den Kauf nehmen. Größer aber ist
die Gefahr zu irren, wenn man ein nicht in der indischen Metrik
gefundenes Princip (also die Rhythmik) von außen in sie hinein-
trägt. Auf seinen Rhythmus vertrauend sagt Eühnau p. 4, daß Va-
santatilakä und Trishtubh (Indravajrä) durchaus von einander zu
scheiden sind. Nun dürfte weniges sicherer sein, als daß ersteres ■
Metrum aus letzterem entstanden ist. Denn außer den früher ange-
gebenen Gründen spricht für die enge Verwandtschaft beider Metra,
daß in ihnen die Quantität der letzten Silbe, auch der ungraden
P&da (also nicht nur am Schlüsse der Halb verse), anceps ist, wäh-
rend dieselbe in fast allen anderen Metren bestimmt ist, d. L lang
Kühnau, Bhythmtis und Indische Metrik. 525
sein muß. Eine solche, anter den gegebenen VerbältniBBen änßerst
bedeutsame Uebereinstimmang spricht laut zu Gunsten der Verwandt-
schaft von Vasantatilakä und Indravajrä. Welchen Wert hat da-
gegen die »rhythmische« Betrachtungsweise, wenn sie uns zwingt, so
offenbar zusammengehöriges von einander zu scheiden?
Doch kehren wir zum Schlnsse zu Dr. Ktthnans Behandlungs*
weise der indischen Metrik zurück. Will man auch den von mir
eingenommenen Standpunkt nicht sofort zu dem seinigen machen, son-
dern das Vorhandensein des Rhythmus in aller Poesie als a priori fest-
stehend betrachten, so finde ich nicht, daß Dr. Ktthnau die auf die-
ser Basis gegen seinen Versuch erhobenen Einwürfe in seiner Ent-
gegnung entkräftigt. Denn es wird wohl auch von eben denselben,
welche a priori Rhythmus in jeder Poesie voraussetzen , zugegeben
werden, daß das rhythmische Gefühl nicht überall gleich fein ent-
wickelt ist. Daß es sich bei den Griechen so entwickelt hat, mag
zum Teile daher kommen, daß es von Haus aus bei ihnen stärker
ausgebildet war, zum Teil aber wurde diese Entwicklung dadurch
begünstigt, daß ihre ältesten volkstümlichen Versmaße einen scharf
ausgeprägten, klaren Rhythmus hatten. Bei den Indern dagegen sind
die einfachen daktylischen und anapästischen, trochäischen und iam-
bischen Versmaße, an denen das Gefühl für Rhythmus hätte sich
ausbilden und erstarken können, keineswegs die ursprünglichen, son-
dern wenig beliebte Eunstprodukte einer späteren Zeit. Es fehlten
also bei ihnen die Bedingungen, um wie die Griechen zu einer fein-
fühligen Rhythmik zu gelangen. Trotzdem behandelt Dr. Kühnau
ihre ersten Versmaße, die vedischen, so wie ein Ghorgesang der
griechischen Tragödie bebandelt werden muß. Für ihn scheint das
rhythmische Gefühl nicht nar als Keim, sondern in seiner höchsten
Entwicklung, die es zur Blütezeit der griechischen Poesie zeigte,
allen Menschen angeboren zu sein. Darum ist ihm auch die.aristo-
zenische Rhythmik der einzig passende Schlüssel zum Verständnis
der indischen Metrik, den man nur aus Unkenntnis beiseite lassen
kann. Auch wir kennen einigermaßen diesen Schlüssel: sein Bart
ist kraus, doch hebt er nicht die Riegel.
KieL Hermann Jacobi.
626 Gott. gel. Ans. 1887. Nr. 13.
Weismann, A., Dr., Die Gontinuit&t des Eeimplasmas als Grand-
lage einer Theorie der Vererbung. Jena, G. Fischer. Yln. 122S. 8^
Die Schrift des Verfassers: »Ueber Leben ond Tode, welche in
diesen Blättern frtther (Jahrg. 1884. S. 350) bereits angezeigt wurde,
hat eine Reihe von Publikationen veranlaftt, bei denen die Diskus-
sionen zwischen dem Verf. und Virchow jedenfalls die wichtigsten
sein dürften. Wie es bei fundamentalen Fragen zu gehn pflegt,
warden eine Menge scheinbar seitab liegender Dinge hineingezogen,
nnd schließlich hängt noch die Frage nach der Akklimatisierungs-
fähigkeit der Europäer und speciell der Deutschen in tropischen Ko-
lonien mit obigem Thema zusammen. Die Akklimatisationsfrage
aber ist sogar im Parlamente zwischen dem Reichskanzler Fftrsten
Bismarck und Virchow erOrtert worden.
Um zunächst bei letzterer stehn zu bleiben, so scheint es ein-
leuchtend, daß diejenigen eingewanderten Kolonisten in den Tropen
am längsten leben und die meisten Kinder haben werden, welche
dem Klima am besten widerstehn. Vererbt sich diese Eigenschaft
auf die Kinder, so muß sich nach und nach, reine Inzucht voraus-
gesetzt, eine dem Klima mehr oder minder vollkommen angepaßte
Rasse herausbilden, während die Schwächeren unter den Einwande-
rern ohne Nachkommenschaft zu Grunde gehn. Das ist offenbar die
Konsequenz der Descendenztheorie, und die Frage ist nur, ob die
Erfahrung mit der Theorie übereinstimmt. Die Praxis scheint nun
zu lehren, daß europäische Auswanderer sich unter den Tropen als
Rasse nicht erhalten können, wenn nicht fortwährend vom Mutter-
lande her das Blut aufgefrischt wird.
Wie dem sei, so kann man die Wirkung der Auffrischung jeden-
falls an Tieren studieren. W. läugnet aber, daß die Konjugation
gleichsam die Bedeutung eines Verjtlngungsprocesses haben kOnne.
Dies folge aus der Thatsache, daß die Parthenogenesis bei man-
chen Arten die einzige Fortpflanzungsform ist, ohne daß wir Ab-
nahme der Fruchtbarkeit bemerken könnten. Vielmehr erscheint der
sexuelle Fortpflanzungsmodus deshalb von Bedeutung, insofern durch
diesen allein der unermeßliche Vorteil der Anpassungsfähigkeit der
Art an neue Existenzbedingungen beibehalten werden konnte. Sc-
lectionsprocesse im eigentlichen Sinne, solche nämlich, die neue
Charaktere liefern, sind nicht möglich bei Arten mit ungeschlechtli-
cher Fortpflanzung. Wegen der Mischung der Vererbnngstendenzen
verschiedener Keime, um es kurz auszudrücken, deren Anzahl be-
reits in der sechsten Generation auf 32 angewachsen ist, resultiert
aus der sexuellen Fortpflanzung die erbliche individuelle Variabili-
tät, wie die Theorie sie braucht zur Verwandlung der Arten auf dem
Weismann, Die Gontinnität d. EeimpTasmas als Grundlage einer Theorie etc. 527
Wege der natttriichen AuBlese. Und bei der Befrochtnog findet nicbt
nur eine Verschmelzung des männlieben and weiblicben Vorkernes
statt, sondern die Fadensehleifen; welcbe jeder Toehterkern bei der
indirekten Eernvermebrong erbält, teilen sich der Länge nach. In
Folge davon kommt jedem Toehterkern bei jeder Eernteilang gleich
viel Eernsabstanz vom Vater wie von der Matter za; dabei braocht
aber die Qualität des elterlichen Kernplasma keineswegs auf beiden
Seiten stets die gleiche zn sein. Fflr die Theorie der Parthenoge-
nesis erschien es von Bedeutnng zu wissen^ ob bei solchen Eiern
ein Richtnngskörperchen ausgestoßen wird oder nicht, nnd W. fand,
dafi dies bei den parthenogenetischen Sommereiern von Daphniden
in der That der Fall ist. Schon von A. Braun (1856) war die ge-
schlechtliche Fortpflanzung als Generationswechsel aufgefaßt. Nach
W. kann man sie als Konjugation von zwei einzelligen Wesen be-
trachten (der Eizelle und der Samenzelle), durch welche der Grund
gelegt wird zum Aufbau eines vielzelligen Individuum, das dann
seinerseits auf ungeschlechtlichem Weg wieder einzellige Individuen
(Samen- und Eizellen) hervorbringt. Das, was bisher als ein Ge-
Bcblechtsindividttum betrachtet wurde, wäre dann nur die geschlechts-
lose Amme, welche ihrerseits erst die einzellige Geschlechtsgenera-
tion hervorbrächte, die Samen- und Eizellen, sei es daß ein und die-
selbe Amme beide Arten erzeugt, sei es daß die Ammenform — wie
beim Menschen und allen höheren Metazoen — dimorph ist (männ-
liche und weibliche Individuen), nnd dann also entweder nur Samen-
oder nur Eizellen hervorbringt.
Die Zumutung, selbst eine geschlechtslose Amme zu sein, wenn
auch die Species dimorph ist, wird den meisten Menschen wenig
einleuchten, und auch W. ist nicht geneigt, ohne Weiteres die Frage
SU bejahen, ob die Geschlechtszellen der Metazoen einzelligen Orga-
nismen entsprechen u. s. w. Vielmehr zieht W. die Vorstellung vor,
daß bei den Metazoen eine unendliche Kette von Einzelligen vor-
liegt, die Keimzellen, von denen jede Generation ein ungeschlecht-
liches Metazoenindividuum von sich abspaltet oder als Knospe hervor-
sprossen läßt. Jedenfalls läuft hier neben der unendlichen Kette
einzelliger Generationen eine entsprechende Anzahl Individuen höhe-
rer Ordnung (vielzellige Individuen) einher, welche nicht, wie die
Einzelligen, unmittelbar auseinander hervorgehn, sondern nur durch
Vermittelnag der Einzelligen. Diese Individuen höherer Ordnung
allein haben ein physiologisches Ende, einen natttriichen Tod, die
einzelligen Generationen (die Keimzellen) sind poteatia ebenso nn-
sterblich wie die Protozoen oder sonstige selbständige einzellige Or-
ganismen, denn sie gehn niemals in ihrer Knospe, dem Metazoon
628 Oött. gel. Ads. 1887. Nr. 19.
auf, sondern spalten sie nor von sich ab, nm dann im Inneren der-
selben nnter ihrem Schutz nnd ihrer Ernähmng weiter zn leben.
Zn der vielfach und aach von W. diskutierten Vererbung ktfnst-
lieh erzeugter Epilepsie bei Meerschweinchen (Brown-S^uard, 1857 ;
Obersteiner, 1875) ist zu bemerken, daßW. dieselbe nicht als siche-
ren Beweis fttr die Vererbung erworbener Krankheiten angef&hrt
wissen will. Nicht weil die Thatsache der Uebertragung der Krank-
heit unsicher wäre, sondern weil dieselbe möglicherweise gar nicht
auf Vererbung beruhe, sondern etwa auf Ansteckung des Keimes,
z. B. durch Hikrobienl
Entgegengesetzter Meinung, was die letztere, wenig pathologi-
sche Hypothese betrifft, ist Ziegler. Derselbe bezweifelt ganz ein-
fach die betreffende Thatsache und meint, die in Ställen detinierten
Meerschweinchen seien äußerst reizbare und nervöse Tiere, welche
sehr leicht und durch geringfügige Eingriffe in epileptische Zustände
verfallen können.
Virchow hat in einem sehr lesenswerten Aufsatz ttber Descen-
denz und Pathologie (Archiv f. pathol. Anatomie, Bd. 103. 1886)
besonders hervorgehoben, daß nicht jeder pathologische Zustand eine
Krankheit sei, ein Knochenbruch so wenig als ein Buckel oder eine
Schntlrleber. Da Misbildungen sonder Zweifel vererbt werden kön-
nen, so muß man ohne Weiteres die Möglichkeit pathologischer
Rassen zngestehn: Mops, Bulldog, das Hollenhuhn sind die bekann-
testen Beispiele. Ob nun die Vererbung auf dem Wege monogener
oder amysigoner (geschlechtlicher) Zeugung zu stände kommt —
nach Weismann nur bei letzterer — ändert an der Betrachtung gar
nichts. Die Anpassung oder Regulation der Störung muß sich mit
der Vererbung kombinieren ; erst dadurch nimmt das neue Verhältnis
einen neuen Typus an. Bei der Akklimatisation beruht darauf der
so wichtige, von V. in den Vordergrund gestellte Unterschied zwi-
schen Akklimatisation des Individuum und Akklimatisation der Fa*
milie oder im weiteren Sinne der Rasse.
Ref. hat im Vorstehenden versucht, so weit es thunlich war ein
Bild der schwebenden Fragen zu geben; in Bezug auf des Verfas-
sers specielle Ansichten und Ausführungen muß ganz auf das Origi-
nal verwiesen werden. Druck und Ausstattung sind vortrefflich, wie
man es bei dem betreffenden Verleger gewohnt ist
W. Krause.
Fttr die Redaktion Tera&twortUch : Prof. Dr. B$ektd, Direktor der Q6U, gel. Abs.,
Aieeepor der KOnigUolien Oeaellechafi der WiMenechafteft.
ftrkv am DitUrieh*aehm TmIßfft'JkieMumdhmff,
Mircixc/
629
Göttingische
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
derKönigl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Nr. 14. ^ 1. Juü 1887.
Preis des Jahrganges : «41 24 (mit den »Nachrichten d. k. G. d. Wiss.« : t£ 27).
Preis der einzelnen Nummer nach Anzahl der Bogen: der Bogen 60 ^
Inhalt: Beater, Aa^siiniBche Stadten. Vom F«t/<Mwr. — Herrmann, Der Verkehr des
Christen mit Gott im Anschloss an Lnthtr. Von Ktftia^ — K d ■ 1 1 i n , Geschichte dee christlichen
Gottesdienstes etc. Von AcheUs. — Weissfteker, Das apostolische Zeitalter der christlichen Kirche.
Von JOichtr. — Stnder, Die wlohtigbten Speisepilse. Von Sttasnumn.
= Eigenmächtiger Abdrucic von Artiiiein der 66tt. gei. Anzeigen verboten. =
Beater, Hermann, Augustinische Studien. Gotha 1887. F. A. Perthes,
ym und 516 SS. 8^
Die fünf ersten Stadien, welche das Bach enthält, werden jetzt
nicht zam ersten Male pabliciert, sondern waren bereits in Briegers
Zeitochrift fttr Eirchengeschichte Bd. IV, Y, VI, VII, VHI, abgedrackt,
erscheinen aber hier stellenweise verändert and vermehrt.
Dieselben sind insgesamt nicht durch irgendwelche schriftstelle-
rische Begehrlichkeit, welche ich überhaupt nicht kenne (s. die Vor-
rede zu meiner »Geschichte der religiösen Aufklärnng im Mittel-
alter« Berlin 1875 Bd. I S. IX), motiviert, sondern die Abfassung
ist, ich möchte sagen, mir aufgenötigt durch die Erkenntnis, daß
es darauf ankomme, Irrtümer zu berichtigen, welche das rechte Ver-
ständnis der Lehre Augustins hindern. — Alle (abgesehen von der
siebenten) tragen dem Titel entsprechend den Charakter der metho-
dischen Untersuchung, der Beweisführung , schließen aber mit
präciser Formulierung der gewonnenen Resultate. —
Die erste Studie S. 4—46 »Die Lehre von der Kirche
nnd die Motive des Pelagianischen Streits« prüft das
Recht der Ansicht, der letzte Qrund des Gegensatzes des Augusti-
nismus und Pelagianismus sei in der Lehre von der Kirche zu
erkennen, die Central-Idee in Augustins Denken, die speciellen
an ti pelagianischen Lehren von der Notwendigkeit der Kindertaufe,
von der Erbsünde u. s. w. seien durch jene begründet, aus jener
OOtt. gel. Am. 1887. Hr. 14. 37
680 Gott. gel. Adz. 1887. Nr. 14.
abgeleitet. Meine aaf genauer Qaellen-Analyse sieb basierende Er-
örterung beweist die Unhaitbarkeit derselben, zeigt dagegen den
Begriff der Gnade als den die streitenden Parteien zaböchst schei-
denden auf. — »Die Kirche ist die Voranssetzung des Denkens
Angnstins, die dasselbe beherrschende Gentralidee aber der Ge-
danke von der gratia ChristU.
Die zweite Studie S. 47—105 trägt den Titel Zur Frage
nach dem Verhältnis der Lehre von der Kirche zu der
Lehre von der prädestinatianischen Gnade. Nitzsch
und Andere haben erklärt, daß beide Lehren sich wohl mit einan-
der vertrugen, wenn man nur erwäge, daß die Zahl der Erwählten
als in die Kirche als externa communio sacramentorum (in die ver-
fassungsmäßig und liturgisch eingerichtete historisch-katholische
Kirche) sicher eingeschlossen von dem Verfasser gedacht wttrde.
Ich habe dagegen darzulegen gesucht, daß in den Stellen, an wel-
chen der prädestinatianische Gedanke streng durchgeführt ist, die-
ses Eingeschlossensein verkannt wird, — daß die prädestinatianische
und die katholische Tendenz Angnstins, die Lehre von den Gnaden-
mitteln der historischen Kirche und die Lehre von der gegen
alle historischen Vermittelungen sich gleichgültig verhaltenden über-
historischen Gnade in Widerstreit sind, — daß der letztere verhüllt
wird vornehmlich durch die Oscillation zwischen einer Zweiheit
von Kirchenbegriffen. »Vieles vulgär Katholische ist durch Augustin
umgestimmt, aber längst nicht alles. Manches hat sich nicht sowohl
dieser Umstimmung entzogen, als es vielmehr die auktoritative Posi-
tion geblieben, eine ihn beherrschende Macht geworden ist« (S. 102).
In der dritten Studie S. 106—152 »Die Kirche das
Reich Gottesc gehe ich aus von der Stelle de civitate Dei lib. XX
cap. IX, welche in neuerer Zeit zu dem Urteil verführt hat, Aug. erkläre
die von den Bischöfen regierte Kirche für das Reich Gottes, —
dureh ihn sei die hierarchische Tendenz Cyprians noch gesteigert.
Ich habe gezeigt, daß dasselbe auf einer falschen Interpretation des
Textes beruhe, in dem richtig interpretierten dagegen der ganz an-
dere Gedanke sich finde, die Kirche »als communio sanctorum ist
das Reich Gottes«, — ich habe weiter diesen durch Vergleichung
des weiteren hierhergehörigen Quellenmaterials als den acht Augn-
stinischen darzulegen mich bemüht; — ferner die Lehre von dem
Staate erörtert, die U n richtigkeit der Ansicht, der letztere gelte ihm
als der Organismus der Sünde, bewiesen und mit einer kurzen Ex-
position der Lehre von dem Verhältnisse der Kirche zum Staate ge-
schlossen.
Die vierte Studie S. 153 — ^230 »Augustin und der ka«
Seater, Angustinisclie Stndien. 6SI
thoiische Orient« enthält ein Mebreres als Mancher beim Lesen
dieser Ueberschrift erwarten wird. Sie erforscht das Verhältnis des
Orients (ttber den Konvent in Jernsalem im J. 415. S. 153—163)
zum Occident znr Zeit Angnstins, zeigt, daß er nnd seine Zeitge-
nossen nur von einer in beiden Reichshälften existierenden katho-
lischen Kirche, nichts aber von einer selbständigen »griechischen
Kirche« wußten, ermittelt die Kenntnis der griechischen Sprache im
Occidente, insbesondere den Umfang der des Angustin selbst, nnter-
sncht die Trinitätslehre nnd Christologie desselben (und des Ambro-
sins) znm Zweck der Beantwortung der Frage, wie sich diese Lehr-
begriife zu den entsprechenden griechischen verhalten und kommt
zu dem Ergebnisse, daß jene so wenig abhängig seien von den letz-
teren, daß vielmehr gesagt werden müsse, das Ghalcedonische Glau-
bensdekret erkläre sich nur aus charakteristischen Einwirkungen des
Occidents auf den Orient. Angustin (nebst Ambrosins) ist zeitweilig
in gewissen' kirchlichen Kreisen im Orient hochangesehen gewesen;
nichtsdestoweniger hat er den spätem delSnitiven Bruch des Occi-
dents mit dem Orient wider Willen vorbereitet
Die fttnfte S. 231—358 ist tiberschrieben: »Der Episkopat
und die Kirche. Der Episkopat nnd der rOmische
Stahl. Das Koncil und die Tradition. — Die Infalli-
bilität«. Um eine Vorstellung von dem Inhalte zu geben, welchen
ich in Betracht des mir zugemessenen Baums nicht darlegen kann,
erlaube ieh mir wenigstens einige Besultate (s. oben S. 529 Z. 8 v. u.)
mitzuteilen. — Im Vergleiche zu der Lehre des Cyprian ist in der
Angnstins das Hierarchisch-Episkopalistische erheblich ermäßigt, der
Episkopat als Kirchenamt längst nicht so betont wie bei jenem, —
wie es denn in dieser Zeit kaum einen Schriftsteller gibt, der we-
niger hierarchisch gesinnt, weniger kirchenpolitisch interessiert
gewesen. Nirgends wird die Unterwerfung unter den Bischof als
Bedingung der Gliedschaft an der -Kirche in den Vordergrund ge-
rflckt, — nirgends der Unterschied zwischen Klerus und Laien scharf
betont, im Oegenteil von demselben an mehr als an einer Stelle ganz
abgesehen, dagegen die Idee des allgemeinen Priestertums wieder-
holt in ergreifender Weise verkündigt. — Die Lehre von dem Sa-
cramentum ordinis, welche nnser Schriftsteller begründet hat, ist
nicht durch hierarchische Interessen, nicht durch irgend welche dog-
matische Gupidität motiviert, sondern durch die Tendenz Donatisti-
sehe Konsequenzen abzuschneiden, für den Katholicismus unschäd-
lich zu machen, durch Opportunitätsrttoksichten. Es läßt sich keine
Stelle bei Aog. ausmitteln, welche bewiese, daß diese Lehre von ihm
selbst znr Steigerung der priesterlichen Würde im Unterschiede von
37*
532 Oött. gel. Anz. 1887. Nr. 14.
dem Stande der Laien verwendet worden. — Alle Bischöfe als Nach-
folger der Apostel gelten ihm im Qroften nnd Ganzen als koordi-
niert. Petras wird betrachtet als Repräsentant der einander gleich-
stehenden Bischöfe, aber anch der schwachen Christen. Nichtsdesto-
weniger nennt ihn A. mehrfach den ersten der Apostel nnd schreibt
dem römischen Bischof als dessen Nachfolger im Interesse der Ein*
heit der Kirche eine relativ höhere Autorität nach Bang and
Macht zn. Der Umfang der Jarisdiktion wird aber nirgends des
Näheren beschrieben. — Die sedes apostolica in Rom gilt ihm als
eine angesehene Trägerin der Lehrtradition. Es kommen Stellen
vor, in welchen ihr die (infallibele) Entscheidung in Lehrstreitig-
keiten zageschrieben za werden scheint. Ja ei nz eine Stellen
sprechen die Anerkennung des Rechts derselben wirklich aus. Die-
selben können aber nicht als ausreichende Beweise dafttr verwendet
werden, daß A. die Lehre von der römischen Infallibiiität mit vol-
lem Bewußtsein vertrete, weil andere ganz anders lautende Er-
klärungen denselben entgegenstehn. — Der Satz de baptismo lib. II
cap. Ill § 4, in welchem das emendari des froheren Koncils durch
das spätere ausgesagt wird, mit den Principien des Eatbolicismus
nicht vereinbar, ist von A. nicht mit Bewußtsein als ein principieller,
allgemeiner ausgesprochen, sondern aus Opportunitätsrttcksichten zu
erklären. — Die Idee der Infallibiiität der Kirche gehört zu Augu-
stins vulgär katholischen Grundvoraussetzungen, ist nirgends
ausdrücklich erörtert. Darum kann er nicht das Bcdttrfnis haben
die legitime Form der allerhöchsten Repräsentation der Kirche
theoretisch zu bestimmen. — Der Episkopat und die sedes aposto-
lica romana, sämtliche relativ koordinierte sedes apostolicae gelten
als Repräsentationen der (infallibelen) Kirche; aber keine dieser
Größen bildet, nicht alle zusammengenommen bilden die (infallibele)
Repräsentation der (infallibelen) Kirche. Diese hat kein unbedingt
sicheres, sie u n zweifelhaft repräsentierendes anstaltliches Organ.
In Bezug auf die sechste Studie S. 359—478 »Weltliches
und geistliches Leben (Möncbthum). Weltliche und
kirchliche (geistliche) Wissenschaft (Mystik)€ will ich
ebenso verfahren. Dem weltlichen und geistlichen Leben im Diesseits
steht gegenüber das Leben im Jenseits, das eigentliche, das se-
lige Leben. Die absolute Seligkeit und die Existenz im Dies-
seits schließen sich aus. — Das Verlangen nach einer Anticipa-
tion des Anteils an dem jenseitigen ewigen Leben bewegt freilich
Augustins Seele, wird aber doch abgewiesen; der Gedanke an eine
Vergottung hat sich ihm ebenfalls aufgedrängt, ist aber von ihm
nicht im Dienste einer systematischen Mystik verwendet — Es wird
Beater, Angnstiniscbe Stadien. 533
eingeräumt, daß das ewi{;e Leben beziehungsweise sehen im dies-
seitigen Glauben (nicht mit Hilfe mystischer Ekstasen) genossen
werden könne. — Die ethische Weltbetrachtung ist überwiegend
pessimistisch. Daneben bemerken wir eine durch metaphysische
und ästhetische Interessen begrtlndete optimistische Tendenz. —
Wenngleich im Allgemeinen »die Weite nach Maßgabe der vulgär
katholischen Gedanken in negativer Weise beurteilt wird : so fin-
den sich doch Ansätze zu einer positiven Würdigung »des Welt-
lichen« z. B. des weltlichen Besitzes, des Staates. Aber die negie-
renden Neigungen bleiben doch im Uebergewichte. Aug. vermag
trotz der relativen Anerkennung des Staats als Reichsinstituts den
nationalen Patriotismus nicht zu schätzen. Wenngleich er den Zu-
stand der (christlichen und heidnischen) Gesellschaft im römischen
Beiche tief beklagt, die Notwendigkeit einer Beform anerkennt: so
weiß er doch keine Anwendung zu einer praktischen Methode der-
selben anzugeben, da die Ausübung nicht ohne Beteiligung an den
verderbten gesellschaftlichen Zuständen möglich, diese aber see-
lengefährlich wäre. Daher ist die Weltflucht die Aufgabe der
eigentlichen Christen, — das geistlich -asketische Leben das
Ideal. Dasselbe soll auch nach Augnstin durch die vulgäre katho-
lischen consilia evangelica (Armut, Yirginität) geregelt werden. Er
fordert das sinnlich praktische Beobachten derselben und bezeichnet
das als ein höheres Verdienst erwerbendes; aber die Sicherheit die-
ser Forderung wird erschüttert durch jene ganz anders gearteten
Gedanken, welche zu den Wurzeln einer tiefsinnigen, geistvollen Kritik
der damaligen Zustände des asketischen Lebens werden, — durch
die Gedanken von dem einzigen Werte der — freilich nur durch
den katholischen Glauben ( — ein an und für sich Sittliches
gibt es nicht — ) ermöglichten sittlichen Gesinnung, welche das Feh-
len der Handlang ersetzen kann. — Lediglich die Zugehörigkeit
des Einzelnen zu der Klasse derer, welche die vita consiliorum auf
sich genommen haben, gibt keine Garantie für den sittlichen Wert
dieser Zugehörigen. Das votum votorum ist die unbedingte Selbst-
verläugnung, das Selbstopfer S. 399, 420; die ächte Nachfolge,
die durch dieses zu leistende. Das »Folge mir nach c Matth. XIX, 21
setzt voraus die Gesinnung, welche Jesus sich selbst beilegt
Matth. XI 21. S. 378. 399. Das Mönchtum ist von Aug. gefördert in
der Absicht, dasselbe mit der Kirche zu verbinden. — Gott gilt als
»das höchste Gut« (nirgends findet sich die Aussage, die Kirche
sei das höchste Gut); aber die aus diesem Satze mit Notwendigkeit
sich ergebenden Konsequenzen werden nicht gezogen. Trotzdem
daß Aug. das theoretische Erkennen im Vergleich zu dem
534 Gatt. gel. Ans. 1887. Nr. 14.
praktischen Willen zu beToreagen, — die Erkenntnis als das
Ziel des Menschenlebens darzostellen geneigt ist, hat er doch die-
ser Neigung nicht unbedingt nachgegeben, die Bewohner der Klö-
ster nicht vornehmlich dazu angeleitet, sich der Kontemplation za
widmen. — Man kann ihn als den Begrflnder einer christlich katho-
lischen Philosophie im Occidente, als Verteidiger des Gedankens be-
trachten, alle Wissenschaft sei nnr nm der Kirche willen. Gleich-
wohl hat er niemals das Bedürfnis in sich ersticken kOnnen, eine
selbständige (also nicht-geistliche) Wissenschaft zn fordern.
Die siebente Studie S. 479— 516 »Zur Würdigung der
Stellung Augustins in der Geschichte der Kirchec bil-
det den SchluB des Buchs. Die in demselben publicierten Unter-
suchungen werden den Fachgenossen dargeboten mit dem Wunsche,
daß sie dieselben »als an sie gerichtete Fragen beurteilen wollen,
ob die ausgewählten Probleme etwa so gelöst werden können, wie
sie hier gelöst sindc, — »Nicht sowohl zu belehren als bessere Be-
lehrungen zu veranlassen ist Zweck dieser Publikation« (S. 3). Aber
die letzteren können freilich auch nur erteilt werden durch dasselbe
Mittel, welches hier verwendet ist — durch den Beweis.
Hermann Renter.
Herrmann, W., Professor in Marburg, Der Verkehr des Christen mit
Gott im Anschluß an Luther dargestellt. Stuttgart 1886, Cotta. IV,
207 S. 8«.
Zum Ausgangspunkt seiner Betrachtungen nimmt der Verf. den
Umstand, daß gegen die Theologie Ritschis und seiner Schüler die
verschiedensten, ja einander direkt widersprechenden Einwände er-
hoben werden. Daraus schließt er, daß es eine religiöse Stimmung
ist, welche die sonst so verschieden denkenden Gegner in der Op-
position gegen Ritschi einigt Und zwar eine Stimmung, die als
eine Abart mystischer Religiosität begriffen werden müsse, da es in
ihr darauf abgesehen sei, das Verhältnis zu Gott auf sinnliche Weise
zn erleben, nämlich so, daß diese Erlebnisse bestimmte zeitlich ab-
gegrenzte Momente ausfüllen. Im Gegensatz hierzu denjenigen Ver-
kehr mit Gott darzustellen und zu rechtfertigen, zu welchem Luther
durch das Verständnis Jesu Christi gekommen war, ist die Aufgabe,
die Herrmann sich stellt Denn eben diese selbe Auffassung des
Verkehrs mit Gott bilde den Mittelpunkt der Ritschrschen Theologie.
Durch eine klare Zeichnung desselben hofft er die Gegner zu nöti-
gen, sich unzweideutig Ober ihre Stellung auszusprechen — was dann
zugleich einer zukünftigen Verständigung dienen würde.
Herrmann, Der Verkehr des Christen mit Gott im Anschlufi an Luther. 535
Das erste Kapitel handelt von dem Verkehr Gottes mit
uns. Derselbe ist angekotlpft nnd wird innerhalb der christlichen
Gemeinde vermittelt durch die Erscheinung Jesu Christi. Denn wer
von dieser innerlich getroffen wird, gewinnt daraus den Gedanken
einer Macht, welche der Welt gegenüber Recht behalten muß, d. h.
den Gedanken Gottes ; er lernt zugleich in der Gesinnung Christi die
Gesinnung Gottes gegen uns als die Liebe kennen, welche die Stln-
den vergibt; er schöpft endlich aus der Thatsache, daß dieser Mensch
zu unserer Welt gehört, die Zuversicht, daß das Gute in ihr siegen
muß, und lernt dadurch sich der Teilnahme am Guten freuen. So
wird der Verkehr durch Christum von Gott angeknüpft Das Wort
vermittelt ihn dem Einzelnen, das Sakrament, indem es als sichtbares
Zeichen das Wort und seine Verheißung unterstützt, überdies und
vor allem das allgemeine, worin jenes eingeschlossen ist, seine Stel-
lung in der christlichen Gemeinde. Auch die Gottheit Christi muß
in diesem Zusammenhang verstanden werden, dahin nämlich, daß
Christus der ist, durch welchen der Verkehr Gottes mit uns vermit-
telt wird. Die alten Lehren von den zwei Naturen und von der Sa-
tisfaktion wissen seine Erscheinung dagegen nur als Voraussetzung
des Heils und des Verkehrs mit Gott zu deuten. Kein Wunder da*
her, daß die Gegner, welche diese (katholische) Ansicht festhalten,
sie nun durch die Bemühung ergänzen, auf selbstgewählten Wegen
der Phantasie zu einem wirklichen Verkehr mit Gott zu gelangen.
Wenn sie das richtige evangelische Verständnis des durch Christum
vermittelten Verkehrs mit Gott befolgten, würden sie aller solcher
Surrogate entbehren können.
Das zweite Kapitel schildert unsern Verkehr mit Gott
Er vollzieht sich im Gebet. Aber die Voraussetzung des christlichen
Gebets ist der Glaube, der Christum ergriffen hat, weshalb weiterhin
auch der Glaube selbst als unser Verkehr mit Gott bezeichnet wird.
Besonders von diesem Glauben handelt daher das zweite Kapitel.
Auf den sittlichen Zusammenhang, in welchem er entsteht, wird hin-
gewiesen, sein Wesen als Vertrauen auf die Gnade Gottes in Christo
wird betont und das Verlangen der Gegner nach mystischen Erre-
gungen daraus abgeleitet, daß sie sich über den scholastischen Be-
griff eines Lehren aneignenden Glaubens nicht zu erheben vermögeni
welcher Glaube freilich keinen Verkehr mit Gott begründet Weiter
wird dieser im rechten Glauben erlebte Verkehr mit Gott als Ge-
wißheit der Sündenvergebung und Freiheit von der Welt geschildert :
auch die Liebe zu Gott wird nur richtig verstanden, wenn man sie
als das ehrfurchtsvolle Vertrauen auf Gott dem Glauben einordnet
Besonders aber gehört das sittliche Handeln auf die Welt gleichfalls
636 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 14.
in den ZosammenhaDg nnseres Verkehre mit Gott, wie sich ergibt,
wenn man den evangelischen Orandsatz, daft das gate Werk die
Fracht des Glaubens ist, richtig versteht, d. h. erkennt, daß im Glau-
ben nicht bloß die Kraft des gaten Handelns (was Lather einseitig
betont), sondern auch das Motiv desselben gegeben ist. Denn dann
ergibt sich, daß wir in unserem sittlichen Handeln niemals der im
Glauben gegebenen Beziehung zu Gott durch Christum entbehren
können, folglich auch in diesem Handeln mit Gott verkehren. End-
lich kehrt die Betrachtung zum Gebet zurtlck, um auf solche Er-
kenntnis des Glaubens sie zu wiederholen, daß das Gebet aus dem
Glauben kommen muß, aber auch zu fordern, daß das Wachstum im
Glauben, welches sich durch das Gebet vollzieht, nicht stille
stehn darf.
»Die Gedanken des Glaubens« ist das dritte Kapitel
überschrieben, welches zeigt, daß diese Gedanken entwertet werden,
wenn man sie für Daten des objektiven Denkens oder Erkennens
nimmt, wie das im hergebrachten theologischen Betrieb geschieht:
sie sind vielmehr göttlichen Ureprungs, weil sie sich auf den Ver-
kehr mit Gott beziehen, welchen der Glaube an Christum begründet.
Und zwar vollzieht sich die Betrachtung namentlich wieder im Ge-
gensatz gegen die herrschende Theologie. Als Beispiele diene der
Vorsehungsglaube, die Wiedergeburt und das mit Christo in Gott
verborgene Leben des Christen. Herrmann schließt, indem er es als
Grundsatz ausspricht, daß die Theologie keine andere Aufgabe habe
als die Gedanken des Glaubens zu formulieren und den Glauben
selbst — als ganzes genommen — wissenschaftlich zu rechtfer-
tigen. —
Der Schwerpunkt dieser Betrachtungen liegt im eraten und zwei-
ten Kapitel. Was im dritten Kapitel entwickelt wird, berührt ein
Thema, über welches sich gerade Herrmann schon zu wiederholten
Malen ausgesprochen hat. Freilich ist auch, was die ersten Kapitel
bringen, in seinen Grundgedanken nichts neues. Das kann es auch
nicht sein, weil es sich um die Darstellung und Verteidigung eines
schon gegebenen theologischen Standpunktes handelt. Die bekann-
ten Gedanken treten aber schon dadurch in eine neue Beleuchtung^
daß sie durchweg im Anschluß an Luther, wie auch der Titel aus-
drücklich hervorhebt, vorgetragen werden. Ueberdies ist manches
einzelne in dieser Fassung überhaupt neu, und die Gesamtdaratellung
unterecheidet sich nicht unwesentlich von den früheren Erörterungen
Herrmanns über die gleichen Fragen. Meiner Ansicht nach verdient
aber diese neue Darstellung den Vorzug vor der früheren. Denn
wenn in dem früher von Herrmann dargelegten Veratändnis des
Herrmann, Der Verkehr des Christen mit Qott im AnschluB an Luther. 637
Cbristentams das sittliche Moment einseitig hervorgehoben wird, so
ist das hier nicht mehr der Fall. Und das hängt doch wohl nicht
bloß mit der verschiedenen Themastell ang zusammen, sondern läßt
anf eine Weiterbildnng der theologischen Ansicht in dieser Richtung
schließen. Den Inhalt der christlichen Frömmigkeit, als deren Form-
bestimmtheit die in der christlichen Gemeinde erlebte Bechtfertigang
und Versöhnung gefaßt wird, stellte er frtlher so dar, daß beides,
das sittliche Handeln im Gottesreich und die religiöse Freiheit von
der Welt, neben einander zu stehn kam. Jetzt wird man dagegen
von einer übergreifenden Bedeutung reden dürfen, welche auch ab-
gesehen von der Rechtfertigung dem religiösen Momente beigelegt
wird. So schon wenn im Anschluß an Luther nachdrücklich betont
wird, daß dem Christen die Kraft zum guten Handeln aus dem
Glauben fließt. Ganz besonders tritt es aber in der Entwicklung
S. 142 ff. hervor, wo gezeigt wird, daß der Gottesglaube den Chri-
sten durch die Not trägt, in welche ihn die Notwendigkeit des Gu-
ten versetzt, die ihn zuerst erkältend berührt. Das ist entschieden
eine andere Betrachtungsweise als die, welche in dem sittlichen
Handeln als solchem die Seligkeit finden lehrt, und welche das
ttberweltliche und übernatürliche, von dem der christliche Glaube zu
sagen weiß, geradezu mit dem sittlichen identificiert. Und zwar ist
diese Veränderung eine Verbesserung. Man wird gegen die hier
entwickelte Auffassung des Verkehrs des Christen mit Gott den Vor-
wurf des einseitigen Moralismus nicht mehr erheben können. Zwar
war dieser Vorwurf auch früher eine Uebertreibung, aber eben doch
Uebertreibung eines an und für sich nicht grundlosen Bedenkens.
Jetzt dagegen ist er gegenstandslos geworden, wie denn Niemand
die Betrachtungen des Verf.s wird lesen können, ohne einen lebhaf-
ten Eindruck von der freudigen Energie zu erhalten, mit welcher
er nicht bloß einen theologischen Standpunkt, sondern eine religiöse
Position und zwar die des evangelischen Christentums vertritt
Eine andere Frage ist, ob die Darstellung des Verf.s nun auch
völlig der Sache, um die es sich handelt, entspricht. Der Grund-
gedanke freilich, daß es für den evangelischen Christen keinen an-
dern Verkehr mit Gott geben kann als den, der sich im Glauben an
die Offenbarung Gottes in Christo vollzieht und daraus je und je
entwickelt, dieser Grundgedanke scheint mir über allen Zweifel er-
haben zu sein. Ebenso steht außer Frage, daß Rechtfertigung oder
Sündenvergebung (wenn nicht immer zeitlich so doch principiell)
unter den Gaben Gottes voransteht, die der Glaube ans der Offen-
barung und durch sie d. h. durch Christum empfängt. Aber wenn
wir nun nach dem weiteren Inhalt des Glaubens und damit gleich-
638 Gott gel. Anz. 1887. Nr. 14.
sam nach der Substanz der eyangeligchen Frömmigkeit frageüi ge-
nügt es dann, bei den von Herrmann entwickelten Vorstellangskreisen
stebn zu bleiben? Ich setze voraaS; daß wir in diesem Inhalt ein
religiöses und sittliches Moment zu unterscheiden haben. Ich nehme
ferner an, daß auch Herrmann die übergreifende Bedeutung des re-
ligiösen Momentes anerkennt: beides steht nicht neben einander und
wechselt mit einander ab, sondern ist in der Weise innerlich verbun-
den, daß das sittliche Handeln seinen Ausgangs- und Zielpunkt in
der religiösen Zugehörigkeit zu Oott hat, deren der Olaube durch
Christum gewiß ist Uod nun lautet meine Frage so : ob es wirklich
der Sache entspricht, dies religiöse Moment außer und neben der
Rechtfertigung als Freiheit von der Welt zu bezeichnen? Offenbar
tritt nämlich so gerade dies Moment in den Mittelpunkt der christ-
lichen Frömmigkeit. Diese Zugehörigkeit zu Gott durch den Glau-
ben an Christum ist es, in welche die Rechtfertigung den Christen
versetzt, und wiederum ist sie es, aus welcher ihm beides kommt,
die Kraft den Willen Gottes in der Welt zu thun und durch einen
lebendigen Yorsehungsglauben (mit allem was er einschließt) die
Welt zu überwinden. Aber das heißt doch, daß wir es hier mit dem
zu thun haben, was wie nichts andres die Substanz der christlichen
Frömmigkeit ausmacht. Dies nun aber als etwas unsagbares ohne
nähere Bestimmung zu lassen scheint mir ebenso unthunlich wie das
andere, das ganze nach einem Teil desselben als Freiheit von der
Welt zu bezeichnen oder wieder nur durch den allgemeinen, die Ge-
samthaltung des Christen charakterisierenden Ausdruck des Vertrauens
auf Gott zu bestimmen. Ersteres würde zudem der von Herrmann
mit Recht vertretenen Forderung widersprechen, daß die christliche
Frömmigkeit sich an bestimmte Gedanken zu halten hat und nicht
in verschwommenen Gefühlen hängen bleiben darf. Hieraus folgere
ich, daß das Verständnis der christlichen Frömmigkeit erst vollstän-
dig wird, wenn auch dies, das wichtigste Moment derselben, an einem
bestimmten biblischen Verstell ungsk reis nachgewiesen und mittelst des-
selben formuliert ist. Und daß Herrmann das nicht versucht hat,
erscheint mir als ein Mangel seiner Betrachtungen, der sich nament-
lich darin äußert, daß es an derjenigen einheitlichen Zusammenfas-
sung und Gliederung aller in Betracht kommenden Elemente fehlt,
welche zu ei reichen die Sache erlaubt hätte.
Was für ein Vorstellungskreis an den damit bezeichneten Ort
gehört, will und kann ich hier nicht im einzelnen erörtern. Ich
habe früher zu zeigen versucht, daß uns derselbe gegeben ist in der
apostolischen Verkündigung von dem slg Xgtavi^j in welchem allOi
die an ihn glauben, mit ihm als dem verklärten Haupt zur Einheit
Herrmann, Der Verkehr des Christen mit Gott im Anschlui an Luther. 639
eines Lebens in Einem Leibe verbanden sind. Und jedenfalls läßt
sieb von dieser centralen Anschanang ans alles, was die Eigentum-
liebkeit christlicher Frömmigkeit aasmacht and bestimmt, einheitlich
zasammenfassen, während Herrmann eines nach and neben dem an-
dern aafzazählen genötigt ist. Ebenso ist es dieser Vorstellangs-
kreis, welcher als die Fortsetzang der Reichspredigt Jesa im Mittel-
pankt der gesamten apostolischen Verktlndigang steht. Herrmann
irrt gar sehr, wenn er den hierher gehörigen Aussprach des Apo-
stels über das mit Christo in Gott verborgene Leben der Christen
als ein gelegentliches »schönes Worte wertet, wie denn auch seine
Aoslegang desselben kaum den Beifall eines Kundigen finden wird:
was dahinter liegt and was ich gelegentlich, in diesem Wort zu-
sammengefaßt, Ritschi and ihm gegenüber als den Mittelpunkt der
christlichen Frömmigkeit bezeichnet habe, ist einfach, and zwar zu-
nächst in einem eschatologischen Zusammenhang, die breite Mitte der
paalinischen and aller apostolischen Verkündigung. Und es ist heute
noch geeignet, der leitende Oedanke in aller christlichen Dogmatik
and Predigt zu sein, weil unsere veränderte Aaffassang vom Zeit-
pnnkt des Endes den Kern der Sache nicht berührt, sobald nur der
transscendente Zielpunkt aller christlichen Frömmigkeit energisch
festgehalten wird. Endlich mag aach darauf verwiesen werden, daß
diese Anschauung nicht minder den abendländischen Eatholicismus
beherrscht, sofern derselbe seine Wertschätzung der Kirche daraus
rechtfertigt, daß eben die Kirche Christus sei. In der That muß
man diesem Gedanken nachgehn, um zu verstehn, daß der Katholi-
cismus Christentum ist, so wenig man sich verhehlen darf, daß an-
dererseits die Gleichsetzung der hierarchischen Anstaltskirche mit Chri-
stus die große Unwahrheit des Katholicismus aasmacht. Und viel-
leicht werden wir unser evangelisches Christentam erst dann zur
völligen Ausgestaltung gebracht haben, wenn bei uns alles in der-
selben Weise aaf diese große mystische Anschauung von Christo be-
zogen ist, wie sich dort alles auf die mit Christo identificierte An-
staltskircbe bezieht
Aber dies alles gehört nicht anmittelbar hierher. Es za er-
wähnen schien mir unerläßlich, weil ich betonen möchte, daß die
Geltendmachung dieses Yorstellungskreises gerade auch das zuläng-
liche Mittel für den von Herrmann verfolgten Zweck gewesen wäre,
dafür nämlich, die mystischen Velleitäten moderner Gläubigkeit zu
bekämpfen. Denn nichts ist geeigneter, einem Irrtum entgegenzu-
wirken als die Wahrheit, welche er entstellt. Diese Wahrheit ist
aber hier die eben erwähnte Idee von der Einheit aller Gläubigen
mit Christo. Man kann darauf hin allen, welche mystische Phanta-
640 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 14.
sien im Christentum befürworten, entgegenhalten, daß das, was sie
zu bieten haben, gerade unter dem von ihnen selbst hochgehaltenen
Gesichtspunkt in keiner Weise an den apostolischen Gedanken von
der im Glauben gesetzten Einheit mit Christo heranreicht, daft
aber, wenn von dieser Einheit abstrahiert wird, und der einzelne seine
Beziehung zu Christo als einzelnem vergegenwärtigt, dem göttlichen
Haupt des Leibes gegenüber nicht nachlässige Vertraulichkeit, son-
dern nur heilige Ehrfurcht am Platz ist, und daß es endlich, wenn
die Vorstellung von dem verklärten Haupt der Gemeinde bestimmter
gestaltet werden soll, hierfür auf evangelischem Boden kein andres
legitimes Mittel als das geschichtliche Lebensbild Jesu gibt, während
alle Irrgänge einer zuchtlosen religiösen Phantasie schlechthin aus-
geschlossen bleiben müssen. Ein solches Entgegenkommen scheint
mir den bestimmtesten und wirksamsten Widerspruch zu enthalten.
Was aber das Wort »mystische betrifft , so bekenne ich offen, daß
ich die Abneigung gegen dasselbe bei Ritschi, Herrmann und an-
dern nicht zu teilen vermag, ja daß ich sie nicht ganz verstehe. Es
ist doch einfach eine Thatsache, daß es längst gebräuchlich ist, das
Wort in einem weiteren als dem ursprünglichen Sinn für solche re-
ligiöse Erfahrungen zu gebrauchen, die sich weniger au Reflexions-
Vorstellungen als an bildliche Anschauungen halten und eine kräf-
tige Erregung weniger des Intellekts als des fühlend-woUenden Gei-
stes einsehließen, wie auch, daß ein bestimmtes Wort für diese Sache
kaum entbehrlich ist. Daher halte ich für richtig, bei dem Ge-
brauch desselben zu verbleiben, zumal die Ablehnung dessen von der
andern Seite als Verläugnung des innerlichen Charakters der christ-
lichen Frömmigkeit verstanden wird, den doch Herrmann selbst in
keiner Weise verläugnet wissen will.
Dazu füge ich eine Bemerkung über einen andern Punkt
des von Herrmann befolgten Sprachgebrauchs. Er scheint mir das
Wort »Vorsehungsglaube« in einem zu weiten Sinn zu nehmen, in-
dem er es geradezu für die fides specialis gebraucht. Das kann
aber nur dazu dienen, Misverständnisse hervorzurufen, da es dem
eingebürgerten Sprachgebrauch widerspricht. Auch fordert die Sache
zwischen der fides specialis, die sich auf Wort und Sakrament rich-
tet, und dem Vorsehungsglanben zu unterscheiden. Der Unterschied
ist der, daß der äußere Vorgang, in welchem uns Wort und Sakra-
ment entgegentritt, uns Christum nahe bringt und so den Glauben
an ihn nährt oder diesem Glauben eine Bürgschaft vermittelt, wäh-
rend die äußeren Vorgänge, die uns zum Mittel der Seligkeit wer-
den, in dem wir sie uns durch den Vorsehungsglauben unterwerfen,
diese Bedeutung nur da gewinnen, wo der Glaube an Christum schon
Herrmann, Der Verkehr des Christen mit Gott im AnscbU'ß an Luther. 641
lebeudig ist. Dori; int der äußere Vorgang das Mittel, wodurch Gott
den Olanben weckt oder nährt, hier ist der Glaube an Christum das
Mittel, wodurch wir des äußeren Vorgangs innerlich Herr werden.
Das ist aber zweierlei. Und der Sprachgebrauch darf diesen Unter-
schied nicht verwischen.
Außer den mystischen Liebhabereien der von ihm bekämpften
Gegner hat Herrmann auch hier wieder ihre Vorliebe fttr die wis-
senschaftliche Erkenntnis der Glaubensobjekte , wie sie in der über-
lieferten Theologie versucht wird, als Gegensatz im Auge. Auch
was dies betrifft, möchte ich aber den Ausführungen der vorliegen-
den Schrift den Vorzug vor den früheren geben. Es wird hier mit
aller nur wünschenswerten Deutlichkeit betont, daß der Glaube und
daher die Glaubenslehre sich auf die Offenbarung stützt, während
das Sitt^ngesetz sachgemäß als ein Hauptstttck im Inhalt der Offen-
barung in Betracht gezogen wird. Die Bedeutung der Lehre in der
evangelischen Kirche, das Mittel für die Pflege der Frömmigkeit zu
sein, tritt überall als das Hauptinteresse, das sich an sie knüpft,
hervor. Und die Aufgabe der Dogmatik wird ganz richtig darauf
beschränkt, die Gedanken des Glaubens mit wissenschaftlicher Ge-
nauigkeit zu entwickeln: daneben tritt als ein anderes die Aufgabe,
den Glauben selbst wissenschaftlich zu rechtfertigen. Gerade dies
halte ich für den Vorzug der hier gegebenen Ausführungen, daß die
Wiedergabe der Glaubensgedanken und folglich die darin geübte
Fassung der dogmatischen Aufgaben dem Beweis gegenüber selb-
ständig bleibt. Die Bedeutung, welche die an Kant orientierte
Philosophie des Verfassers dem religiösen Glauben anweist, die Vor-
stellungskreise des theoretischen Erkennens und des auf dem Sitten-
gesetz beruhenden persönlichen Lebens zu verknüpfen, tritt beschei-
den in den Hintergrund und beeinträchtigt die Gedanken des Glau-
bens nicht. Das mag nun mit der verschiedenen Themastellung
früher und jetzt zusammenhängen. Ein Vorzug ist es jedenfalls.
Und ich würde dem Verf. gern geschenkt haben, was er S. 23 über
die Bedeutung des Absoluten für die wissenschaftliche Forschung
bemerkt, da dieser Gedanke, den ich nicht für richtig halte, nur
einen überflüssigen Haken abgibt, an den sich die Anklage auf Dua-
lismus u. s. w. wieder anhängen kann.
Scheint mir aber so, was der Verfasser in dieser zweiten Be-
ziehung vorbringt, volle Billigung zu verdienen, so weiß ich nun
doch nicht, ob es die Gegner befriedigen wird, und ob nicht in die-
sem Interesse ein weiteres hätte geschehen können. Es ist, wenn ich
recht urteile, ein doppeltes, was die Gegner von der Rechten gegen
den von Herrmann in dieser Frage vertretenen Standpunkt ein«
5i2 Gatt. gel. Anz. 1887. Kr. 14.
nimmt. Einmal wollen sie das Dogma in Beiner fiberlieferten Form
z. B. die Zweinatnrenlehre nicht aufgeben. Diesem Verlangen kann
man nnn freilich nicht entgegenkommen. Wer eingesehen hat, daft
die fraglichen Lehren einer andern als der in der Schrift begründe-
ten nnd für die Kirche der Reformation maßgebenden Auffassung
des Heils entsprungen sind, kann um der evangelischen Wahrheit
willen jene Lehren nicht in der überlieferten Gestalt gelten lassen.
Da bleibt nur übrig fleißig darzuthnn, daft hier eine solche Inkon-
gruenz obwaltet, und von der Thatsache, daft auch die Gegner das
evangelische Ideal der Frömmigkeit anerkennen nnd üben, zu hof-
fen, daft ihr Eifer um die überlieferte Lehrform allmählich erlahmen
wird. Ich glaube aber, daß noch etwas anderes nnd allgemeineres
im Spiel ist. Man flirchtet, daß die Forderung, es in der Dogmatik
statt auf eine Objekte Erkenntnis des Glaubensinhalts auf eine wis-
senschaftliche genaue Erkenntnis des Glaubens abzusehen, einen gan-
zen oder doch einen halben Verzicht auf die objektive Wahrheit
dieses Glaubens einschließt: dagegen aber sträubt man sich mit
Recht, weil ein solcher Verzicht sich allerdings mit dem christlichen
Glauben nicht vertragen würde. Und dem gegenüber scheint es mir
Pflicht und im Interesse der Sache dringend geboten, bei jeder Ver-
handlung über die Frage nachdrücklich zu betonen, daft etwas der-
artiges nicht gemeint ist und nicht gemeint sein kann. Ja, ich
stehe nicht an, den Nachweis, daß die christliche Glaubenserkennt-
nis den Abschluß unsrer gesamten Erkenntnis bildet, als eine drin-
gende Aufgabe zu bezeichnen, welche die Theologie nach wie vor
nicht aus den Augen verlieren darf. Denn nur indem sie diese
Aufgabe stellt und zu lösen sucht, kann sie dem entscheidenden
Interesse genügen, das sich für die Kirche an die Wahrheit des in
ihr verkündigten Glaubens knüpft. Es wird sich aber darum han-
deln, die Aufgabe so zu lösen, daß die Glaube nserkenntnis in
ihrer eigentümlichen Art unangetastet bleibt. Und dafi das kein
aussichtsloses Unternehmen ist, ergibt sich daraus, daß eine f&r uns
mit Kant anhebende veränderte Beurteilung des gesamten Erkennens
die Voraussetzungen enthält, unter welchen die alte Aufgabe auf
diese neue, dem religiösen Fortschritt der Reformation entsprechende
Weise gelöst werden kann. Ist dies nun richtig, dann wird in einem
wissenschaftlichen Beweis ftlr die Wahrheit des christlichen Glau-
bens vor allem gezeigt werden müssen, daß und weshalb wir den
Absohluft nnsres gesamten Erkennens in einem praktisch bedingten
Glauben zu suchen haben. Ich würde dies als das erste nnd wieh-
tigste Stück des Beweises bezeichnen und in einem zweiten die bei-
den von Herrmann genannten Momente dahin zusammenfassen^ daS
Herrmann, Der Verkehr des Christen mit Gott im Anschlufi an Luther. 643
weiter gezeigt werden müsse, wie nur der christliche Glaube den
Forderungen der Vernunft an einen die menschliche Erkenntnis
vollendenden praktischen Olanben genüge. Indessen — das ist nicht
eigentlich eine Differenz. Herrmann hat bei seiner Formulierung
der Aufgabe jenes von mir als das erste und wichtigste Stück des
Beweises bezeichnete Moment jedenfalls vorausgesetzt, wie er sich
denn selber gerade darum in seinen früheren Untersuchungen sehr
eifrig bemüht hat Die Differenz besteht nur darin, daß wir die
Aufgabe, die uns beiden im wesentlichen als die gleiche vorschwebt,
auf verschiedene Weise angreifen zu sollen meinen. Für meine
Ansicht habe ich aber in diesem Zusammenhang nur geltend zu
machen, daß sie mir geeigneter erscheint, alle berechtigten Beden-
ken der Gegner gegen die von uns vertretene Fassung der dogma-
tischen Aufgabe niederzuschlagen.
Endlich erwähne ich noch, daß die Form der Herrmannschen
Polemik nicht geeignet ist, eine Verständigung mit den Gegnern
herbeizuftlhren. Sein Tadel ist nach meinem Gefühl in der Regel
verletzend, und das von ihm den Gegnern gelegentlich gespendete
Lob ist es erst recht. Dabei ist er selbst nicht vorsichtig, wo er
auf fremde Urteile eingeht. Das habe aoch ich in der Anmerkung
S. 30 zu erfahren bekommen. Denn wenn er hier meine Einwände
gegen sein früheres Buch dahin interpretiert, ich hätte ihm vorge-
worfen, daß er das Christentum von fremden Ideen abhängig mache,
so ist das einfach nicht richtig. Ich habe nur gesagt, daß er durch
die Anlehnung an Kant zu einer einseitigen Betonung des ethischen
Moments im Christentum gekommen sei und sich dadurch das Ver-
ständnis desselben beeinträchtigt habe. Das ist aber nach wie vor
meine Meinung; daß er selbst in dieser neuen Schrift davon zurück-
kommt, halte ich ftlr einen wesentlichen Vorzug derselben. Vollends
das Misverständnis Kants, das ich »begangene haben soll, und das
er hier schon zum zweiten Mal öffentlich rügt, existiert lediglich in
seiner Phantasie. Wer sich aber über Misverständnisse anderer be-
klagt und sie in dieser Art tadelt, sollte sich doch vorher dessen
vergewissern, daß sie wirklich existieren.
Berlin im Januar 1887. Eaftan.
Ml Gott. gel. Aq2. 1887. Nr. 14.
Eöstlin, H. A., Geschichte des christlichen Gottesdienstes etc.
Freiburg i. Br. 1887. J. C. B. Mohr. 263 S. 8^
Der QedaDke, eine Geschiebte des christlichen Gottesdienstes in
Form eines Kompendiums für Vorlesungen und SeminarUbungen zu
schreiben, ist sehr glücklich. Der allerdings nicht festbegrenzte
Stoff, welchen man den Studierenden der praktischen Theologie un-
ter dem Namen der »Liturgik« zu bieten pflegt, würde hier unter
dem Gesichtspunkt geschichtlicher Entwicklung vorgetragen werden
und damit seine geschichtliche Wertung empfangen. An einem der-
artigen Werke fehlt es noch in der That; denn das inhaltreiche
Werk von H. Alt: Der christliche Gultus, welches allein in Betracht
kommen könnte, ist zu umfangreich und zu kompilatorisch gearbei-
tet, als daß es jenen Mangel auszufüllen vermöchte.
Das vorliegende Buch Eöstlins ist klar und übersichtlich ge-
gliedert: In drei durch die Natur der Sache gegebene Hauptab-
schnitte wird der Stoff eingeteilt. Der erste behandelt den alt-
christlichen Gottesdienst in den Unterabteilungen des Gottes-
dienstes im apostolischen und nachapostolischen Zeitalter
und des Gottesdienstes in der altkatholischen Kirche; der
zweite bespricht den katholischen Gottesdienst in zwei Ab-
schnitten den der griechischen und den der römischen Kirche;
der dritte Hauptabschnitt handelt von dem evangelischen
Gottesdienst, um in drei Unterabteilungen den der lutherischen
und den der reformierten Kirche darzustellen und in der letz-
ten Unterabteilung über den Verfall und die Wiederherstellung des
evangelischen Gottesdienstes im 18. und 19. Jahrb. zu handeln.
Ein großer Sammelfleiß tritt in den reichhaltigen Litteratnr-
Angaben zu Tage. Um so mehr fällt es freilich auf, daß an einigen
Stellen geradezu klaffende Lücken sich finden. So werden z. B,
S. 23 unter dem Titel: »Litteraturc (der »Lehre der zwölf Apostel«)
nur sieben Schriften aufgeführt; in den an letzter Stelle angeführ-
ten Aufsätzen Harnacks in der Tb. Lit. Ztg. 1886 Nr. 12 und 15
[wozu eine dritte Abhandlung in 1887 Nr. 2 hinzugetreten ist] wird
dagegen bemerkt, daß Ph. Schaff: The oldest Church Manual called
the Teaching of the XII Apostles. New-Tork, 2. ed. (bis März 1886)
etwa 200 Schriften über die J$dax^ namhaft macht, wozu Harnack
noch 20 andere hinzufügt. So werden S. 41 ff. bei Gelegenheit der
Arkandisciplin in der altkatholischen Kirche zwar die Disser-
tationen von Frommann (1833) und R. Rothe (1841), sowie die Auf-
säize von Credner (1844) und Hefele (1846) citiert ; daß aber R. Rothe
es ist, welcher den organischen Znsammenhang der Arkandisciplin
pnd der Proselytentaufe zuerst nachgewiesen hat, dem dann Credner
Eostlin, Geschichte des christlichen Gottesdienstes etc. 646
ergänzend folgte, während Tb. Harnack (der cbristliche Gemeinde-
gottesdienfit im apostolischen und altkatholischen Zeitalter 1854,
S. 1 ff), neuerdings von G. N. Bonwetsch (in Eahnis Zeitschr. f. d.
histor. Theol. 1873 S. 203 ff.) unterstützt, die Unabhängigkeit bei-
der Institutionen von einander zu erweisen suchte, bis endlich
G. von Zezschwitz (System der christlich kirchlichen Eatechetik I
(1863) S. 154 ff. 180 ff. und Herzogs Tb. B.E. « I (1877) S. 637 ff.)
für die Auffassung Kothes eintrat und die Untersuchung in den von
Bothe eingeschlagenen Bahnen zu einem vorläufigen Abschluß brachte,
findet sich nicht, auch nicht andeutungsweise, erwähnt. Auffallender
noch tritt solche Lücke in dem Abschnitt S. 71 ff. »der gottesdienst-
liche Baum« hervor. Der Herr Verfasser entwickelt seine Ansicht
über die Entstehung der altchristlichen Basilika im Anschluß an
Chr. E. Jos. Bunsen (die Basiliken des christlichen Roms u. s. w.
München 1842): das Vorbild derselben sei die forensische Basilika
der Bömer. Außer Bunsen wird als Vertreter derselben An-
sicht nicht etwa Glem. Brockhaus (Herzogs Th. R. E. ' II (1878)
S. 135 ff.), sondern Zestermann (de basilicis 1847; erweiterte deut-
sche Bearbeitung unter dem Titel: die antiken und die christlichen
Basiliken. Leipzig 1847) angeführt, obgleich Zestermann in ausge-
sprochenem Gegensatz zu Bunsen die christliche Basilika als
> hervorgegangen aus christlichem Bedürfnisse und aus christlichem
Geiste« zu erweisen sucht. Die neuen Meinungen von F. X. Kraus,
welcher Martigny folgend die Basilika für eine Verbindung der rö-
mischen Gerichts- und Markthalle und der sogenannten Katakomben-
Kapelle hält ; von Weingärtner, der sie aus heidnischem Tempel und
dem antiken Privathause zusammengesetzt sein läßt; vonLübke, der
sich für eine Verschmelzung der Gerichtsbasilika und des antiken
Privathauses entscheidet u. s. w. werden auch nicht einmal genannt,
und der gegenwärtige Stand der Forschung, welcher von den hete-
rogenen Viktor Schnitze (Christi. Kunstblatt 1882 S. 117 ff.) und
Dehio (Sitzungsberichte der Histor. Klasse der königl. bayr. Akad.
derWiss. 1882 II S. 300— 341; vgLBrieger, Ztschr. f. Kgesch. 1883
Bd. VI Hft. 1 S. 122 ff.) einerseits und andrerseits von Konrad Lange
»Haus und Halle« 1885 vertreten wird, bleibt dem Leser verborgen.
Die beiden erstgenannten Forscher kommen darin überein, daß als
Vorbild der christlichen Basilika lediglich das antike Privat-
bans anzusehen sei; sie differieren jedoch darin, daß V. Schnitze
nur das Peristylium, Dehio das ganze Privathaus in Anspruch nimmt,
während Lange, auf Bunsen zurückgehend, mit großem wissenschaft-
lichen Apparat die Herkunft der christl. Basilika aus der antiken
Kaufhalle (Marktbasilika) begründet.
9ött. gel. Am. 1887. Nr. U. 38
646 Gfött. gel. Anz. 1887. 1fr. 14.
In formeller Beziehung ferner fällt es auf, daß die Quellen
überall fast nnr citiert werden, mit Ausnahme der Quellen für die
nächapostolische Kirche, welche ausgeschrieben sind; befremdender
ist, daß die Citate in völliger Willkür dann in der Quellensprache,
dann in deutscher Uebersetzung dargeboten werden. So finden wir
S. 18 ein Wort Augustins in deutscher Uebersetzung, S. 20. 23
Clem. Rom. ad Gor. I c. 59— 61 undignat. adSmyrn. griechisch,
dagegen S. 24—28 Jkdax^ VII— XII deutsch, während S. 28 ff.
Justin Apol. I, 65—67 wieder griechisch steht; die Liturgie aus
Const, ap. II — der Herr Verf. schreibt ständig falsch Ap. Const
— wird S. 46ff. in griechischer, die aus Const. Ap. VIII
S. 53 ff. in deutscher Sprache mitgeteilt; S. 67 finden wir Conc
Nie. can. 18 in griechischer, Conc. Laod. can. 15 ff. in deut-
scher Sprache, und S. 111 folgt auf Caes. Arel. hom. 12 in la-
teinischer Sprache der 30. Canon der Synode von Agde in
deutscher Sprache u. s. w.
Der Titel des Buches verspricht mehr als der Inhalt bietet
Zum »christlichen Gottesdienste würde doch z. B. der des heutigen
Altkatholicismus, der altlutherischen Kirche, der auf reformiertem Ge-
biet so zahlreichen Denominationen (Methodisten, Baptisten u. s. w.)
gehören , auch müßten die Haupteigentümlichkeiten der Kulte in den
verschiedenen Landeskirchen Erwähnung finden; aber von dem AI*
leü erfahren wir nichts. Doch an dem Titel allein liegt's nicht; un-
ter der Rubrik: »Quellen und Litteraturc für den Gottesdienst der
reformierten Kirche (S. 191 ff.) finden wir zwar die Litteratur ange-
geben fnt deü Kultus nach Zwingli und Oekolampad, nach Calvin
und a Lasco, für den der schottischen , der holländischen, der eng-
lischen Kirche, der Freikirche (? welcher unter den vielen?) und
der Irvingianer; aber in der Darstellung wird die schottische, die
holländische Kirche, die Freikirchen und der Kultus der Irvingianer
völlig übergangen. Dieselbe Unvollständigkeit, bezw. Willkür in
der Auswahl des Stoffes tritt auch in der Behandlung der einzelnen
Bestandteile des Kultus hervor; eine Belehrung beispielsweise über
das für deü christlichen Kultus so überaus wichtige Perikopenwesen
und seine Geschichte suchen wir vergebens. Mit großem Interesse
zwar und gerne folgen wir der Darstellung des Herrn Verfassers,
welche derselbe über die Entwicklung der kirchlichen Musik
(S. 88 ff., 126 ff., 179 ff., 252 ff.) uns bietet ; der Autor der »Ge*
schichte der Musik im Umritt« (3. Aufl. 1884) wird ohne Frage nur
tüchtiges geben, und dem begeisterten Musiker rechnen wir es nicht
allzu hoch an, wenn er mit Vorliebe von der »heiligen Tonkunst«
redet und S. 185 die wohl nicht ganz nüchterne Behauptung wagt,
der Eirchenohor sei derjenige Teil der Gemeinde, »dem vom (leiste
Köstlin, Oeschichte des christlichen Gottesdienstes etc. 647
Qottes die Gabe, den Herrn in höheren Zangen zu preisen, verliehen
sei«. Allein um so mehr hätte erwartet werden dürfen, daß Ober
die Entwicklang des Kirchenliedes, sowohl des rOmisch katholi-
schen lateinischen in den Hymnen and Seqaenzen a. s. w., ftlr welches
neuerdings so reiche Quellen flieSen, als besonders des evangelischen
deatschen, mehr als vereinzelte dürftige Bemerkungen gegeben wären*
lieber die Entwicklung des Kirchenjahres finden wir allerdings
mehr; allein teils ist die Darstellung nicht unanfechtbar — z. B.
p. 118: »von den Anfangs werten des Introitus [der Messe] haben
viele Sonntage ihren Namen erhalten«; es werden sämtliche bezüg-
liche Sonntage mit willkürlicher Auslassung des Sonntags Bogate
aufgezählt und das Begister wird mit unverständlichem »n. s. f.c
geschlossen, als ob noch andere Sonntage als die der Quadragesimal-
zeit und der Quinquagesimalzeit individuelle Namen trügen —^ teils
fehlt eine zusammenhängende und lückenlose (z. B. das Verhältnis
des christlichen Sonntags zum jüdischen Sabbath berücksichtigende)
Behandlung. Er liegt auch wohl kein sachlicher Grund vor,
weshalb S. 76 die Gewandung der Liturgen in der grieo bi-
so hen Kirche ausführlich mitgeteilt, auch die liturgische Kleidung
in der englischen Kirche wenigstens kurz (S. 214) erwähnt
wird, dagegen der Leser über die liturgischen Gewänder beim r^
mischen Gottesdienst und in dem evangelischen Kultus in Un-
wissenheit gelassen wird. DaA ebenfalls die liturgischen Farben
und ihre Verwendung in den Kirchenzeiten nicht berührt werden,
sei nur beiläufig erwähnt. —
Doch sehen wir die Gabe des Herrn Verfii im Einzelnen näher
an. Von der » Einleitung c, die der Herr Verf. seiner Darstellung
S. 3 vorausschickt, hätten wir eine Erörterung vornehmlich über das
Wesen und die Notwendigkeit des Gottesdienstes ftlr Konstituie-
rung und Pflege des Oemeindebewufttseins gewünscht; und es er-
scheint zu sehr als itio medias in res, wenn nur eine Bechtfertigung
der Teilung des Werkes in die genannten drei Hauptabschnitte ge-
boten wird durch den Satz, daft im Kultus sich die geistige Phy-
siognomie abpräge und verfestige, welche der kirchlichen Entwick-
lung und dem kirchlichen Bewußtsein bestimmter Epochen und Völ-
kergruppen eigne. Auf die Epochen und Völkergruppen scheint es
uns in der Gestaltung des Kultus weniger anzukommen, als auf die
konfessionelle Bestimmtheit der verschiedenen kirchlichen Gemein-
schaften, und eine Abprägung der geistigen (besser wohl: religiösen)
Physiognomie wird der Kultus nur in dem Falle sein, wenn er sich
ohne Beeinflussung von fremdartigen Nebenrücksichten gestaltet und
entwickelt. Daft dies aber durchaus nicht immer der Fall ist, räumt
88*
ß48 Öött. gel. Anz. 1887. Kr. 14.
der Herr Verf. am Schlaft der karzen »Einleitangc und im weiteren
Verfolg des Werkes hinsichtlich des latherischen Kaltas selbst ein.
Den ersten Hauptabschnitt: »der altchristliche Gottesdienste
beginnt der Herr Verf. mit einer kurzen Charakteristik des aposto-
lischen and nachapostolischen Gottesdienstes einerseits, des altkatho-
lischen andrerseits. Dort trage der Gottesdienst den Charakter
einer spontanen Lebensäaßerang des neuen Glaubensgeistes, des na-
türlichen und freien Ausdrucks des Verhältnisses Gottes zur Ge-
meinde und der Gemeinde zu Gott, hier den des pflichtmäftigen Be-
kenntnisses, der an und fllr sich wertvollen Leistung. Der Herr
Verf. verwahrt sich S. 7 zwar gegen die Verwertung seines ersten
Satzes zu gunsten der Auffassung, als ob die Gottesdienstform der
apostolischen und nachapostolischen Zeit das Normativ aller folgen-
den Kultusbildungen sein mtlsse, was allerdings ans der Darstellung
des Herrn Verf.s notwendig sich ergibt. Allein auch aus anderem
Grunde ist die Charakteristik zu beanstanden. Man braucht nur
die Schilderung Justins M. in der Apol. I, 65 ff., in welcher der Herr
Verf. selbst apostolische Tradition erkennt, mit dem synagogalen
Gottesdienst, wie denselben Schürer: »Geschichte des jüdischen Volks
im Zeitalter Jesu Christi« II (1884) S. 375 ff. darstellt, zu verglei-
chen, um die synagogale Tradition, welche der Herr Verf.
ganz außer Betracht läßt, als einen Hauptfaktor fttr die Gestaltung
des altchristlichen Gottesdienstes zu erkennen.
In der Darstellung des Gottesdienstes im apostolischen Zeitalter
bespricht der Herr Verf. a. die Quelle, b. das Princip des Kultus.
Dieser letztgenannte Abschnitt nimmt die Aufmerksamkeit besonders
in Anspruch. Drei Principien werden namhaft gemacht 1) das der
Erbauung (olxodofA^)^ 2) das der Ordnung und Wohlanstän-
digkeit, 3) das der Pietät gegen die apostolische Ueberliefe-
rung und das der Gesamtheit Gemeinsame. Es bleibe unerörtert, ob
es wohlgethan sei, den Zweck des Gottesdienstes, die Erbauung,
mit einem höchst allgemeinen und nichts weniger als specifischen
Gesetz der Form und einem Gesichtspunkt der inhaltlichen Aus-
wahl unter dem Namen »Principe zusammenzufassen; schwerer wiegt
es, daß ttber den hochwichtigen und der Miskennung so sehr aus*
gesetzten Begriff der »Erbauungc (ohodofkff) so gut wie nichts
gesagt wird, obgleich Bassermann in der Zeitschr. fttr prakt. Theo-
logie IV (1882) S. 1 ff. die Frage durch eine umsichtige Abhandlung
wieder in Fluß gebracht hat. Denn was S. 8 Anm. 1 angeführt
wird, daß die oUodofAij Ausdruck und Förderung der lor$x^ latgeia sei,
wie S. 30, daß sie teils ethisch, teils religiös, oder S. 220, daß sie
Förderung des Glaubenslebens nach Erkenntnis, Wille und Gemüt
9ei| wird doch nicht als Erläuterung des Begriffs anzusehen sein^
Eöstlin, Ge8cbichte des christlichen Gottesdienstes etc. 549
nm so weniger, als der Herr Verf. darch seine durchgängige Unter-
scbeidnng der beiden Teile des Gottesdienstes in einen »der Er-
bannngc dienenden nnd in den der Encharistie stets wieder aaf fal-
sche Fährte verführt. Aber aach das dritte »Principe, das der Pie-
tät gegen die apostolische Ueberliefernng and das der Gesamtheit
Oemeinsame, dürfte anfechtbar sein ; denn die Pietät gegen die apo-
stolische Ueberliefernng wird nnr durch Act. 15 nnd den Ansdrack
ovyfj&sta in 1 Gor. 11, 16 gestützt, den der Herr Verf. darauf be-
zieht, daß die Bedeckung des Hauptes der Frauen im Gottesdienste
u. s. w. auf des Apostels Wunsch von »den Gemeinden Gottes« be-
obachtet werde, und die Pietät gegen das der Gesamtheit Gemein-
same soll sich einerseits im Liebesmahl, andrerseits in den Liebes-
steuern geäußert haben ; allein jenes ist doch durch die beigebrach-
ten Gitate nicht bewiesen als »Principe des Gottesdienstes, und die-
ses dürfte der »spontanen Lebensäußerung« des Gemeindegeistes und
der Stiftung des Herrn mehr als der Pietät zuzuschreiben sein. Aber
auch das rechnet der Herr Verf. zu dem Princip des Kultus im apo-
stolischen Zeitalter überhaupt, daß die äußere Leitung des Gottes-
dienstes in der Hand der Apostel gelegen habe, und daß (alleini-
ger) Gegenstand der Anbetung Christus gewesen sei. Beides wird
wohl auf einen lapsus calami zurückzuführen sein, da der Herr Verf.
doch unmöglich der Meinung sein kann, daß in jeder Gemeinde der
apostolischen Zeit einer der zwölf (bezw. dreizehn) Apostel (denn
nur von diesen ist die Rede) ständig anwesend gewesen sei, und da
er S. 13 die Leitung der gottesdienstlichen Versammlungen in den
heiden-christlichen Gemeinden in die Hände der Gemeinde selbst ver-
legt, welche diese (?) Leitung durch die mit den Charismen der
nvßiqvf^itiq Begabten (?) ausgeführt habe; und für die Behauptung,
Christus sei (alleiniger) Gegenstand der Anbetung, führt der Herr
Verf. selbst u. a. Act. 4, 31 (soll heißen: 4, 24 ff.) an, was seine
Behauptung direkt widerlegt.
Auf die Darstellung des »Princips« folgt S. 10 ff. die »Ordnung«
des Gottesdienstes, zuerst in den judenchristlichen, dann in
den heidenehristlichen Gemeinden. Von der Ordnung des Got-
tesdienstes innerhalb der judenchristlichen Gemeinden wissen
wir nun außerordentlich wenig. Was der Herr Verf. außer den Zu-
sammenkünften im Tempel von Jerusalem über die Gliederung des
Erbauungsgottesdienstes in Gebet, Lektion, Auslegung, Segen be-
richtet, ist durch einen Bückschluß aus Apoc. 1. 4. 5 ff. gewonnen,
und auch hier ist übersehen, daß diese Gliederung die des herkömm-
lichen Synagogengottesdienstes war. Noch schwächer begründet
dürfte die Darstellung der Feier des hl. Abendmahles in der juden-
christlichen, besonders in der jerusalemischen Gemeinde sein. Die
650 Qött. ge). Anz. 1887. Nr. 14.
einzige Stelle, worauf sieb der Herr VerfaBser für seine Sobildernng
zu stützen vermag, ist Act. 2, 46. 47: ua^ ^fkiQar . . . nlAvti^
%8 *a%^ otuov ägvov, iksuXafkßayor tgoq^g iv dyaXX$aif$$ nal afpeXo-
fi^M »a^dtoc, alpovrtsg tdr ^Biv xal S%ovt6q xdqiv nqiq öXav «ii^
Xaop. Die Voraassetznng ist, daft jene »lda$g tov ägtov die spe-
eifische Feier des bl. Mables Jesa bezeicbne, was docb (vgl. C. Weiz*
säcker: das apostoliscbe Zeitalter der cbristlieben Eircbe 1886
S. 43 ff.) nicbt obne weiteres feststebt, and aas dem Aasdnick al*
vbXVj welcber mit evXoretp, sv%aq^(SuXv, ifipstp aas Mt. 26, 26 — ^30
zasammengestellt wird, ist der kttbne Schlaft gezogen, daft diese
Feier von Anfang an »nmschlossen gewesen sei von Gebet and Lob-
gesang«. Wir bezweifeln nicbt, daß es sieb mit der Feier des
bl. Mables wirklieb so verbalten babe, das ist vielmebr ratione rei
sebr wabrscbeinlicb. Nor die exegetiscbe Beweisftlbrang beanstan-
den wir. Denn der Wortlaut Act. 2, 47 erlaubt nicbt, das alravvtsq
%ir &Biv mit der Handlang der »AoVk tov ägtov als diese und nur
diese begleitendes Moment zu verbinden, ebensowenig wie das 'xot^-
TSQ x^9^^ *^^- Atif diese Handlang zu bescbränken ist; und dafi in
dem Worte alyetp sowenig wie in stJloretr und sixaq^oiBXv ein Lob-
gesang ausgedrückt werden soll, lebrt scbon Luc. 24, 51 ff. So
bleibt für den »Lob g es an g« nur das ti/tivct»^ übrig; scbadenur, daft
das von der Oemeindefeier nicbt bericbtet wird. Hiermit scbwebt
aber aucb das, was Eöstlin über die musikaliscbe Bescbaffenbeit der
Oesänge mitteilt, völlig in der Luft. An wirklieben Spuren
des Oemeindegesanges in der apostoliscben Eircbe feblt es nicbt;
der Herr Verf. gebt ibnen jedoch nicbt nacb. Dabin geboren jene
Hymnenstttcke wie I.Tim. 3, 16; dabin die Erwähnung von tpalfkot^
£fftVo», Mal npsvfAannai Gol. 3, 16 (Epb. 5, 19). Der Herr Verf.
notiert diese drei Liedarten allerdings S. 18; aber worin sie be-
stebn und worin sie sieb von einander untersobeiden, erfahren wir
nicbt, obschon die richtige Deutung seit Luther feststeht (Eirchen-
postille, Predigt über die Ep. des 5. Sonntags nacb Epipb. Erl.
Ausg. ^ 8, S. 84 ff.).
Eine der oben erwähnten ähnliche Willkür tritt uns in der Ord-
nung des Gottesdienstes in den heidencbristlicben Gemeinden entgegen.
Der Herr Verf. nennt — in gewissem Anscbluft an die wertvollen
Abbandlungen von Seyerlen: der christliche Eultus im apost ZA.
(Ztschr. f. prakt. Tb. 1881, S. 222—240. 289—327) — nach 1. Cor.
14, 26 vier Haupt formen (besser: Hauptmittel) der gegen-
seitigen Erbauung: tffai^koq^ d^axi}^ dnondlvfff$i (nqotpiftala) und
rXmiUfa. Unter tf/alfAog (npdXXstv) versteht Eöstlin Gebet, das teils
Bitt- {nqoi^xi)} teils Lobgebet {tpalftog im engem Sinne (IGor.
149l6[? wohl26]), teils Dankgebet (sikarht^sixi«fi<fdal Gor. U, 11)
Eöstlio , Geschichte des christlichen Gottesdienstes etc. 55t
sei. Allein 1) kennt 1 Cor. 14 den Unterachied zwischen f/falindg
im weiteren und im engeren Sinne nicht; 2) ist ngogsvxii nicht
Bitte {diii<f$g) sondern Gebet überhaupt; 3) gibt 1 Cor. 14
nicht die geringste Veranlassang, ngogevxij, evloyta, tf^aXfidg unter
den allgemeinen Begriff tpalikog zu subsumieren ; 4) ist yfaX/kdg nicht
Oebety sondern ein Psalm, der gesungen wurde (vgl. Heinrici z.
d. St. Eöstlin selbst nennt S. 18 die tfßaXfkoi unter den >Formen
des heiligen Gesang esc). Wenn aber der Herr Verf. S. 17 hinzu-
fbgty in tpaXfAÖg habe die denkende Betrachtung (t^ovg) vor-
gewogen, so ist 5) zu erwidern, daß der Apostel 1 Cor. 14, 15
zwei Arten des ^äXXs$v kennt: f^ nvsvfHxu und im vol. Auch
das dürfte nicht richtig sein, daß &• 17 das yXniaismq laleXv als be-
sonderes Mittel der Erbauung im Unterschied von tpalfkig, ngog-
svxij u. s. w. angeführt wird; denn das nQogt^x^a&at ^ tpdXXskV^
$vxaii$ituXv u. s. w. t^ nyevfAati ist eben ein yXuScaahq XaXsXv
(so auch Seyerlen a. a. 0. S. 310). Eigentümlich ist der hohe Wert,
den der Herr Verf. im Gegensatz zu dem Apostel Paulas (1. Cor.
14, 5 ff. bis 19) der Glossolalie] beilegt (S. 17); und die Behaup-
tung, daß die jnbilatio, von der Augustin , Enarr. in Psalm. Ps. 92
conc. 1, redet, diese Nachwirkung der Glossolalie, das »Element der
ans religiöser Ergriffenheit heraus schaffenden künstlerischen Intuition,
die heilige Tonkunst, die künstlerisch stylisierte und geordnete Form
für die Ergießung der genialen Ergriffenheit« sei, möchte wiederum
doch lebhaft zu bezweifeln sein.
Es würde ohne Frage zu weit führen, wenn wir in der bisheri-
gen Weise das vorliegende Werk durchzunehmen fortfahren wollten.
Die Nötigung dazu ist um so weniger gegeben, als es sich nicht
um die principielle Auffassung und Beurteilung der geschichtlichen
Erscheinungen, sondern nur um den Nachweis ungenauer Darstellung
bisher gehandelt hat. Indem wir die Geltendmachung einiger prin-
cipiellen Gesichtspunkte auf den Schluß dieses Referates zurück-
stellen, möge es gestattet sein, das lebhafte Interesse an der Gabe
des Herrn Verfs dadurch zu erweisen, daß hervorragende Punkte,
die einer Korrektur bedürftig erscheinen, ans den folgenden Ab-
schnitten des Buches in der Kürze notiert werden. Wohl nur als
lapsus calami ist die Behauptung S. 31 zu beurteilen, daß nach der
»Lehre der Apostel« Subjekt der Erbauung in erster Linie »immer
noch« (? vgl. S. 9!) die Propheten und Apostel gewesen seien.
— Jkdaxij Kap. 12 widerspricht dem. S. 43 heißt es ungenau, die
Nichtgetauften hätten vor dem Beginn der Eucharistie die
Versammlung verlassen müssen, während S. 47 Const, ap. II, 57 an-
geführt vrird, daß schon das allgemeine Kirchengebet fand fi)y v8y
552 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 14.
natri%oviktv(av %a\ %riv t&v (Astavoovptuy S^odov stattgefanden habe«
Auch was S. 43 über die Katechamenatsstnfen des 4. tind 5. Jahr-
hunderts gesagt wird, entspricht nicht dem geschichtlichen Befund
(y. Zezschwitz, System der ehr. kirchl. Katechetik I (1863) S. 108 ff.).
S. 44 entsteht der Schein , als ob der Freitag jeder Woche als
ndtsxa ctavQwfftfiop y der Sonntag jeder Woche als ndaxa dva'
ctdis^lkov gefeiert worden sei. Ferner: das Verzeichnis der Quellen
für den Gottesdienst der griechisch-katholischen Kirche S. 64 beginnt
mit dem Satze: »schriftliche Aufzeichnung der vollständigen Liturgie
ist vor dem 5. Jahrb. nicht anzunehmenc; daß der Herr Verf. dies
als allgemeine, nicht nur auf die griechisch-katholische Kirche,
welche ja selbst erst mit dem 5. Jahrb. beginnt, bezügliche That-
sache darstellen will, erhellt aus den Argumenten, welche u. a. den
Canones der Synode von Hippo (393) und denen von Carthago (407),
sowie Gregor v. Tours de vita patr. c. 16 entnommen sind. Gleich-
wohl sind bereits fttr die Periode der altkatholischen Kirche S. 38
sowohl die vollständige Liturgie aus Const. Ap. II (3. Jahrb.) und
die vollständige Liturgie aus Const. Ap. VIII (4. Jahrb.) vom Herrn
Verf. selbst mitgeteilt. - S. 49 fehlt die Notiz, daß die Praefatio :
sursum corda, babemus ad Dominum ihren Ursprung bereits vor der
Mitte des 3. Jahrb. habe, da Cyprian de orat. dom. c. 31 sie als
üblich notiert. An kleinen Versehen bemerken wir S. 78 das über
den Sonnabend als Tag des Begräbnisses Christi und als Gedächt-
nistag der Schöpfung Gesagte; S. 106 die Bemerkung über den
Taufritus des üntertauchens, der bis ins 10. Jahrb. geherrscht habe
(vgl. dagegen Jtdaxij C. VII); S. 107 die Bezeichnung des goti-
schen als germanischen Styls; S. 108 enthält der Abschnitt
»B. Die Kultnszeitenc eine Reihe von Ungenauigkeiten ; S. 112
wird der Ausdruck lectio continua als eine lectio erklärt, welche vom
Presbyter bestimmt werde. Die Sitte, daß mehrere Altäre in der
Kirche errichtet werden, hätte S. 105 einer Erklärung bedurft. Das
Verzeichnis der Quellen für den Gottesdienst der römisch katholi-
schen Kirche (S. 95 flf.) berücksichtigt unter A. den Provincialkir-
chen die afrikanische, gallikanische , spanische (mozarabische) und
die englische, während unter B. die Quellen für die römische Litur-
gie (d. h. doch die für die italische Provincial kirche geltende,
hernach als allgemein gültig erklärte Liturgie) genannt werden. In
der Verwertung der Quellen unter C. »die Gliederung des Gottesdien-
stes« wird jedoch zwar über die afrikanische, die gallikanische, die
spanische, aber nicht über die englische, sondern über die mailändische
Liturgie gehandelt und uno tenore ohne irgend bezeichnende üeber-
Bchrift der vollständige römische Meßritus dargelegt, und an diese
Eöstlin, Geschiclite des christlklien Gottesdienstes etc. 553
Darlegung schlieBt sich, wiederam nno tenore, eine Erörterung ttber den
liturgiBchen Vortrag, den Kirchengesang, die Notenschrift u. s. w. bis
zum Jahre 1883. So dankenswert diese Erörterung besonders fttr den
Hosiker ex professo ist, so wird das Fehlen der Oekonomie des Bu-
ches in diesem Abschnitt dadurch doch nicht aufgewogen, und die
UnVollständigkeit der Darlegung (z. B. ttber die Arten der Messe
S. 114 [vgl. Herzog Th. R. E. « IX, S. 638 ff.] nicht gerechtfertigt.
In Bezug auf die Gliederung des Gottesdienstes in der evangelischen
Kirche machen wir darauf aufmerksam, daß beispielsweise die
so bezeichnenden und wichtigen Spende formein beim heiligen
Abendmahl vollständig nur bei Darstellung der Liturgie des a Lasco
und der der anglikanischen Kirche mitgeteilt werden, also die, deren
Kenntnisnahme doch erst in zweiter Linie unseres Interesses steht,
dagegen ttber die lutherischen Spendeformeln und die der refor-
mierten Kirche erfahren wir nichts. Um anderes zu ttbergehn , sei
endlich noch der geschichtliche Irrtum erwähnt, daß (S. 212) die
Uebersetzung der Psalmen durch Ambr. Lobwasser (1573) »das Grund-
buch und der Grundstock des reformierten Kirchengesanges geblie-
ben sei«. Das ist für die reformierten Gemeinden des Rbeinlandes
— und hier ist doch der Hauptsitz der reformierten Kirche Deutsch-
lands — nicht der Fall. Vielmehr sind die Lobwasserschen Psalmen
durch die hervorragend gelungene Bearbeitung der Psalmen von
Matthias Jorissen (1739—1823), welche 1798 in Wesel erschien, ver-
drängt worden (vergl. Max Goebel, Gesch. d. christl. Lebens in der
rhein.-westf. evangelischen Kirche Bd. III (herausg. von Th. Link
1860) S. 65 ff.). Endlich sei es gestattet zu den am Schluß des
Buches verzeichneten »sinnstörenden« Druckfehlern noch folgende zu
notieren: S. 4 Z. 7 v. o. 1724 statt 182^\ S. 32 Z. 12 v. u. JusH-
nu8 statt Justin%U8\ S. 38 Z. 18 v. o. Hippolytus statt Hypölütis;
8. 49, Z. 10 V. 0. ßaciXe$oy statt dßaikstov ; S. 67, Z. 17 v. o. o/fcrre
statt offeree S. 154, Z. 16 v. u. 1526 statt 1528 \ S. 163 Z. 20 v. o.
honum statt banam] S. 169, Z. 10 v. o. dankbare statt dankare;
S. 181, Z. 10 V. u. Herman statt Hermann] S. 189, Z. 11 v. n.
Gerhardt statt Gerhard; S. 222 Z. 15 v. o. Franche statt Franke.
Aus den Erörterungen, welche, wie oben bemerkt ist, eine mehr
principielle Besprechung wttnschenswert erscheinen lassen, nehmen
wir zwei heraas, weil die Klarheit ttber die darin behandelten Ge-
genstände für die liturgische Zukunft der evangelischen Kirche in
Deutschland von hervorragender Bedeutung sind: wir meinen die
Beurteilung von Luthers liturgischen Gedanken und praktischen für
die Folgezeit vorbildlichen Einrichtungen, und die Bedeutung und
Stellung des Chorgesangs im evangelischen Gottesdienst.
654 Gott. gel. Anz. t887. Nr. 14.
Bei der hohen Verebning, die den Herrn Verf. gegenüber der
Person nnd der religiösen Genialität Luthers erfüllt and in welcher
der Referent ihm nichts nachgeben möchte, ist es gewiß nicht leicht,
eine nttchterne und kritisch-abwägende Stellang aaoh den litnrgi-
sehen Qedanken Luthers gegenüber zu bewahren. Und doch würde
gerade hier eine eindringende Kritik in heryorragendem Matte ge-
fordert sein; ohne dieselbe wird sich kaam ein klares Bild von Lu-
thers Gedanken entwerfen lassen. Die Aeußerungen Luthers über
den inneren Gottesdienst, — die große Bedeutung derselben hof-
fen wir bald an anderem Orte darzutbun — lassen wir hier billig
außer Betracht, obgleich sie in seine Erörterungen über den äuße-
ren, den kultischen, Gottesdienst sich häufig genug eindrängen; sie
bleiben bei Seite, weil sie hier nur Verwirrung anrichten können.
Wir bezweifeln nicht, daß Luthers Ansicht durch das Wort des
Herrn Verf.8 (S. 154) getroffen werde, daß in dem Maße, als die
Gemeinde zur vollen Reife heranwachse, sich der Kultus vergeistige
und selbst überflüssig machen müsse; in der »Deutschen
Messe« 1526 liegt diese Ansicht klar zu Tage. Wir wollen nicht
fragen, wie dem gegenüber der Herr Verf., welcher jene Anschauung
durchaus zu billigen scheint, S. 159 vom »Gottesdienst im vollen
und wahren Sinne, wie ihn nur die gereiften, streng genommen nur
die vollendeten Christen halten können c, zu reden vermag. Von
den Voraussetzungen aus, welche jener Ansicht zu gründe liegen,
haben »vollendetec Christen überhaupt keinen kultischen Gottesdienst
mehr. Welches sind aber jene Voraussetzungen? Vor allem die,
daß Luther den konkreten in den Vorurteilen und Traditionen der
römischen Kirche erzogenen Gemeinden gegenüber den Kultus
nur als heilspädagogische Einrichtung zu werten vermag;
gerade in seinen praktischen liturgischen Darlegungen kommt Luther
— begreiflich genug — von dem römischen Sauerteige, daß die
Kirche primo loco Heils an st alt sei (Melanthon, Heilsschule),
nicht los, und daraus folgt die Auffassung des Kultus als heils-
pädagogische Einrichtung von selbst. Diese Voraussetzung steht
bei Luther friedlich neben dem evangelischen Kirchenbegriff,
wie derselbe theoretisch und bekenntnismäßig in einer Reihe von
Schriften von 1520 — 1530 nnd später noch dargelegt ist, und wie
derselbe im Art. VII der Conf. Aug. seinen klassischen Ausdruck
erhalten hat (vgl. die betreffenden Abschnitte in J. Köstlin, Lnthers
Theologie 2. Ausg. 1883, 2 BB. und den Artikel desselben Verf.s
in Herzogs Th. R E. ^ VII, 685 ff.). Mit dieser Voraussetzung hängt
dann bei Luther die andere zusammen, daß ihm das Objekt dieser
Pädagogie nicht die Kirche oder die Gemeinde als solche , sondern
Eöstlin, Geschichte des christlichen Gfottesdienstes etc. 666
die einzelnen Christen in ihrer Vereinzelang sind. Denn den
Gegensatz, den die römische Earche zwischen Klerns and Laien auf-
gerichtet hatte, erkannte Luther niemals an, er konnte deshalb aach
die Gemeinde als solche, die Laiengemeinde, nicht, wie die römische
Kirche that, in bleibender Unmündigkeit and Erzieh angsbedürftig-
keit, in ewigem Katechumenat sieb denken ; seine liturgische An-
Behauung war ein Notbehelf den traurigen Zuständen der Christenheit
gegenüber, und lieB sich auf evangelischem Boden eben nicht konse-
quent durchfuhren. Daher denn der Gedanke, daß die Pädagogie
in demselben Maße tlberflUssig sei, wie die Christen heranreifen, daß
also auch der Kultas überflüssig werde; daher aber auch die be-
denkliche Aenßernng im Großen Eatech. zum IIL Gebot (Erl. Ausg. ^
Bd. 21, 48), daß die Teilnahme am Kultus nicht für »verständige
und gelehrte« Christen geboten sei, sondern nur für das geringe
unwissende Volk, eine Aeußerung, die bekanntlich bis heute eine
verhängnisvolle Tragweite entfaltet hat, um so mehr, als der pä-
dagogische Charakter des Kultus in der Entwicklung der lather.
Kirche festgehalten wurde. So ist denn folgerichtig die Teilnahme
des Einzelnen am Kultus der Gemeinde ein testimonium paupertatis,
und der fromme, der Vollendung sich entgegensehnende Sinn trägt
sich mit dem Wunsche, daß doch bald alle Kultusttbung aufhöre,
etwa in demselben Verstände, wie man sich nach der Zeit sehnt, in
der es keine Gefängnisse u. dgl. mehr auf Erden gibt. Luther selbst
bat den Fehler gefühlt, daß der Kultus nur pädagogischen Zwecken
dienen solle; aber da er dem großen, innerlich noch ganz römi-
schen Haufen die Pädagogie nicht entziehen konnte, so geriet er
— und es ist bezeichnend, daß das zuerst und am kräftigsten in
der liturgischen Schrift der »Deutschen Messe« geschieht — auf
den Gedanken, ernste Christen zu sammeln aus dem großen Haufen,
damit diese einen Kultus ohne pädagogischen Zweck einrichteten,
dessen Grondbestandteile einerseits Wort Gottes und Sakrament, an-
drerseits Gebet seien, der also, wie man es seit der Apol. Conf.
wohl nennt, ans sakramentalen und sakrificiellen Funktio-
nen besteht. Hier sind nun in der That durch Luther selbst die
Grundelemente des evangelischen Kultus gegeben, und auf diesen
Grandelementen hat sich die Ordnung und Gliederung des evange-
lischen Kuhns aufzubauen. Lediglich der evangelische Begriff
des Knltns, welcher sich aus dem evangelischen Kirchen-
begriff ergibt, darf das Entscheidende in der Konstruktion der
Liturgie sein, wodurch jedoch selbstredend keineswegs ausgeschlos-
sen ist, daß alle Elemente des christliehen Kultus, welche die Ge-
Bobiehte produciert hat, verwertet werden, wofern sie nicht nar
566 Qött. gel. Anz. 1887. Nr. 14.
Dicht wider-evangelisch sind, sondern sofern sie der Darstellang des
evangelischen Gottesdienstes positiv dienen, dem evangelischen Be-
griff des Knltns dienen. Es ist offenbar kein evangelisch-principiel-
les Werk, daß Lntber (vgl. bes. formala Missae et comm. 1523 and
Deutsche Messe 1526) die römische Messe vornimmt and nar das
streicht, was wider evangelisch ist, and alles am des Herkommens
willen and der Schwachheit der römisch erzogenen Masse willen
stehn läßt, was nar nicht dem Evangeliam widerspricht. Lather soll
deshalb kein Vorwarf treffen; er hatte mit äaßerst widrigen Ver-
hältnissen zn rechnen; aber daß ans solchem Verfahren ein evan-
gelischer Ealtas aas einem Gaß nicht entstehn kann, ist deut-
lich, und daß die gesamte liturgische Entwicklung in der evangeli-
schen Kirche an dem Fehler dieses Verfahrens bis heute krankt, ist
leider auch deutlich genug. Nicht aus »Pietät«, wie der Herr Verf.
es darstellt, sondern ans Eoncession gegen die an das Herkommen
so völlig gebundenen Gemeinden hat Luther die Messe nur »gerei-
nigt«, ohne Hand anzulegen, sie von Grund aus neu zu bauen; wie
gerne hätte er es gethan! »Es erharre seiner Zeit«, das war seine
BernhiguDg bei der Unzufriedenheit mit dem bestehenden Periko-
penwesen — nicht nur in der form. Missae gibt Luther dieser Un-
zufriedenheit Ausdruck, vgl. auch die Klagen in seiner Kirchenpo-
stille Eri. Ausg. * 8, 14. 267 ff.; 11, 103; 12, 266 u. s. w. — , bei
seinem Mismnt gegen beibehaltene Cärimonien, z. B., daß sich der
»Priestert zum Altar wende und dem Volke den Bttcken kehre
(Deutsche Messe). Wie sehr Luther innerlich an die Rücksicht auf
die faktischen Zustände gebunden war, geht besonders klar ans der
Stellung und Bedeutung hervor, welche er der Predigt in der Glie-
derung des Gottesdienstes gibt. Wir denken namentlich an das
Wort aus der form. Missae: »aptius ante missam fiat, quod Evange-
liam sit vox elafnans in deserto et vocans ad fidem infidel€8€. Das
ist durchaus römische Wertung der Predigt, welche eine ofuiia
nicht kennt, die den Glauben voraussetzt und zu Brüdern redet,
sondern nur ein nffQvrf^a, eine Missionspredigt an die Unwissenden,
an die Ungläubigen oder Noch-nicht-gläubigen. Daß Luther solcher
Predigt das Glaubensbekenntnis vorausgehn läßt, ist in der That
nur wieder daraus zu verstehn, daß Luther es nicht als Glaubens-
bekenntis der Gemeinde faßt, sondern der Heils a n s t a 1 1 , wel-
che die Gemeinde erst zum Glauben erziehen will. Aber auch in
den Aeußerungen, welche Luther bei andern Gelegenheiten über die
Stellung nnd Notwendigkeit der Predigt gethan hat — wir beschrän-
ken uns hier anf die Anführungen Köstlins S. 157 ff. — , tritt im-
mer wieder der pädagogische Gesichtspunkt in den Vordergrund|
Kösilin, Geschichte deer christlichen Gottesdienstes etc. 557
das Bedürfais der Gemeinde, »belehrt and vermahnte zu werden;
das kann nach Lather aach der einzelne Christ an sich selbst even-
tuell besorgen, in der Kirche geschieht es nur öffentlich, »damit
die Leute von Gottes Willen unterrichtet werdent. Also für
den, der unterrichtet ist und der Belehrung seitens des Pfarrers
nicht bedarf, ist ' die Predigt, ist der Gottesdienst überflüssig, und
die, welche daran teilnehmen, bekennen damit, daß sie der Beleh-
rung durch Andere ^bedürftig sind; es ist der Gang in die Kirche
ein Gang der Demütigung, nicht vor Gott, sondern vor den Men-
schen, welche »belehren, vermahnen und unterrichtenc.
Es wird nicht möglich sein, die Idee des Kultus im evangeli-
schen Sinne zu fassen und in der Liturgie durchzuführen, es sei
denn, daß man mit dem evangelischen Begriff der Kirche Ernst
mache, wie er bekenntnismäßig in den Augustana vor Allem vor*
liegt Die Kirche ist eben nicht in erster Linie Heilsanstalt;
sie kennt principiell den Unterschied zwischen Christen erster Klasse
(Klerus) und Christen zweiter Klasse (Laien) nicht. Die Kirche ist
in erster Linie Heils gem einsch aft, und alle ihre Glieder ge-
hören dieser Heilsgemeinschaft an. Allerdings ist ein Unterschied
da zwischen der ecdesia proprie diäa und der ecdesia lote dictOj wie
Melanthon ihn formuliert, oder zwischen der ecdesia visibüis und
der ecdesia invisibiliSf wie die spätere Formulierung im Anschluß an
eine Zwinglische Terminologie lautet Allein auch dieser Unterschied
ist nicht der von Christen erster Klasse (die Gläubigen) und von
Christen zweiter Klasse (die Ungläubigen und Schwachglänbigen),
es ist nicht der Unterschied zweier koncentrischen Kreise, so daß
die ecdesia invisibilis in der ecdesia visibüis als Teil derselben ent-
halten wäre — das ist der Kirchenbegriff des Pietismus, der sich
freilich schon lange vor Spener angebahnt hat •», sondern die
ecdesia visünlis und die ecdesia invisü)üis sind nicht zwei verschie*
dene Subjekte, sie sind ein und dasselbe Subjekt; visibüis ist das
Subjekt der ecdesia in seiner Erscheinung, invisibüis in seinem
Wesensbestand. Durch die efficacia verbi Divini ist dieser We-
sensbestand vorhanden überall, wo das Wort Gottes verkündet wird,
und ob dieser Wesensbestand der Gläubigen auch nur in einigen
Wenigen lebendig vorhanden wäre, so geben doch diese einige We*
nige der ganzen ecdesia visibüis^ dem ganzen Haufen der getauf*
ten Christen, ihren Charakter als ecdesia und in irgend einem
Maße nehmen alle Glieder der ecdesia visibüis an diesem Wesens-
bestände teil. — Was ist nun der Kultus, der Gottesdienst? Er ist
die Darstellung des religiösen Lebens derKirche, oder
da das Ganze der Kirche aus Ganzen, den Gemeinden, besteht, des
558 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 14.
religiösen LiebeDfl der Gemeinde. Nicht des religiösen Lebens
der Bummierten zufälligen Einzelnen, welche die Gemeinde bilden,
sondern der Gemeinde, der Kirche als solcher, ihres Wesens*
bestände 8. In dem Gemeindegottesdienst kommen nicht die Ein-
zelnen als solche, sondern als Glieder des organischen Ganzen, der
Gemeinde, in Betracht. In der Predigt sollen nicht die Einzelnen
ermahnt, nnterrichtet, belehrt werden, sondern das Wort Gottes soll
der Gemeinde verkttndet werden; aber nicht als ein fremdes oder
vergessenes, nicht als ein nur äußerlich an die Gemeinde heran-
kommendes und herangebrachtes etwa von Personen, die eine Mitt*
lerrolle zwischen Gott und der Gemeinde spielten, sondern als das
Wort Gottes, welches die Gemeinde bereits hat und welches sie in
ihrem Wesen konstituiert. Das Wort Gottes, welches sie hat, tritt
ihr in Aussprache durch den von ihr Beauftragten, der daher in
ihrem Namen, im Namen der ecclesia invisibüis redet, objektiviert ent-
gegen; der Christenglaube, die Ghristenhoffnung , die Christenliebe
wird der Gemeinde gezeigt, welche Christenglaube, ChristenhoffBung
Christenliebe hat, und die Wirkung dieser Objektivierung ist Stär-
kung, Reinigung oder auch Erweckung des Christenglaubens, der
Christenhoffnung, der Christenliebe. In dieser Wirkung, also in
zweiter Linie, tritt der, wenn man ihn so nennen will, pädago-
gische Charakter des Kultus, der Charakter der Kirche als Heils-
anstalt hervor; aber das, was die Pädagogie ttbt, ist nicht eine
Summe von Christen erster Klasse, nicht ein Klerus im römischen
Sinne, sondern es ist die Gemeinde selbst als ecclesia invisAäü^ in
ihrem das Ganze durchdringenden Wesensbestande; das, woran die
Pädagogie geübt wird, sind nicht Christen zweiter Klasse, nicht eine
Laienschaft, die zeitlebens im Katechumenate verbliebe, sondern es ist
dasselbe Subjekt als Objekt, doch nicht als ecclesia invisUnliSj son-
dern als ecclesia vi8Ü)ilis. — Wir haben hier nicht darüber zu han-
deln, daft der Wesensbestand der Gemeinde, daß die ecclesia invisi-
biliSj seine Norm und seine Lebensquelle in dem objektiven Worte
Gottes hat; auch nicht darüber, daft der Prediger der Gemeinde an
dies objektive Wort Gottes gebunden ist und mit dem Worte, das
er predigt, eins sein muß als Mund Gottes, weil er anders nicht das
Wort Gottes, das die Gemeinde hat, objektiviert geben kann als
Mund der Gemeinde ; die Behauptung des Pietismus , die der Herr
Verf. S. 223 tadelnd anführt, hat eben darin ihr unanfechtbares
Recht, daft »geistliches Leben zu wecken nur derjenige im Stande
sei, der selbst geistliches Leben in sich trägtc. Nur über den an*
dern Teil des Gottesdienstes, welcher die sakrificiellen Funktion
pen umfaßt, noch eine kurze Bemerkung. In diesem, dem Kirchen-
Köstlin, Geschichte des christlichen Gottesdienstes etc. 559
liede, dem Gebet, dem Bekenntnifl, tritt der Charakter des Ealtas
als Darstellung des religiösen Lebens der Kirche von vorn-
herein so deutlich hervor, daß eine Erörterung unnötig erscheint.
Allein es ist zu betonen, daß auch dieser Teil des Kultus in seiner
Wirkung denselben pädadogischen Charakter trägt, wie je-
ner erste Teil. Durch das Gebet wird das Gebetsleben befruchtet,
durch das Bekenntnis das Glaubensleben gefestigt Aber auch hier
ist die Pädagogie lediglich die Wirkung des Kultus, nicht das
Wesen, das Wesen ist die Darstellung des religiösen Lebens
und beruht darauf, daß die Kirche in ihrem Wesen eben Heils ge-
meinschaft, erst in der Wirkung ihrer Lebensäußerungen Heils-
anstalt ist.
Der Herr Verf. spricht an mehreren Stellen seines Buches
(S. 3. S. 145) die Ueberzeugnng aus, welche wir durchaus teilen,
daß die richtige liturgische Form für den evangelischen Kultus noch
erst gefunden werden mttßte. Worin aber sucht er die notwendige
Reform ? Nach S. 145 fordert er »größere Bethätigung der Gemein-
den und ausgedehntere Berücksichtigung der Elemente der Andacht
und der Anbetungc. Es wird nicht angegeben, worin die Elemente
der Andacht und Anbetung bestehn sollen ; ist's vielleicht reichere
Verwendung des Kirchenchors, was der Herr Verf. im Auge hat, so
werden wir später darauf zurückkommen. Daß aber die Gemeinde
nicht genügend bethätigt sei, geht aus den Liturgieen der preußi-
schen Agende, der bayrischen evangelischen Kirche und der mecklen-
burger Kirche, welche S. 246 ff. mitgeteilt werden, doch nicht her-
vor. Doch vielleicht ist's die Konstruktion des Gottesdienstes, »die
Zusammenschweißung des Wortdienstes und des HL Abendmahlsc,
welche S. 173 die crux unserer Liturgie genannt wird, die der Herr
Verf. geändert haben will? Wir stimmen bei, daß die Liturgie des
Hauptgottesdienstes so konstruiert werden müsse, daß die Feier des
hl. Abendmahls nicht als die Vollendung des Gottesdienstes erscheine,
also daß ohne diese Feier der Hauptgottesdienst ein Torso sei.
Allein wie stimmt damit das Lob, welches der Herr Verf. S. 198
der lutherischen Liturgie im Gegensatz zu der reformierten Ordnung
des Gottesdienstes zollt, daß dort principiell das hl. Abendmahl den
Höhepunkt des Gottesdienstes bilde, daß darum Luther es bei der
Einfassung des ganzen Gottesdienstes in die Communio, in die Eu-
charistie, belasse? Dies Letztere ist überdies nicht vollkommen rieh*
tig. Schon in seiner »Ordnung des Gottesdienstes« sagt Luther:
»Will nun jemand alsdann (nach der Predigt) das Sakrament
empfahen, dem lasse man's geben, wie man das alles kann wohl
unter einander nach Gelegenheit der Zeit und Personen schicken««
6e0 Gott. gel. Anz. 1887. Kr. 14.
Noch dentlicber redet Lather in seinem »Sermon von dem Sakrament
des Leibes und Blutes Christi, wider die Schwarmgeister c (Erl. Aasg.
29, 345 ff.): >Es ist aber ein Unterschied da: wenn ich seinen Tod
predige, das ist eine öffentliche Predigt in der Gemeine,
darin ich niemand sonderlich gebe, wer es faßt, der fassets;
aber wenn ich das Sakrament reiche, so eigene ich solches
dem sonderlich zn, der es nimpt, schenke ihm Christas Leib
und Blut, daß er habe Vergebang der Sünde, darch seinen Tod
erworben and in der Gemeine gepredigt Das ist etwas mehr,
denn die gemeine Predigt. Denn wiewohl in der Predigt
eben das ist, das da ist im Sakrament, and wieder-
um b, ist doch darüber das Vorteil, daft 'er hie auf gewisse Person
deutet«. In diesen und ähnlichen Aeafterangen tritt Luther offenbar
für eine Scheidung der Feier des hl. Abendmahles von der Ordnung
des Hauptgottesdienstes als solchen ein; freilich nicht, weil beides
»eine Znsammenschweiftnng« von heterogenen Dingen wäre — das
was die Predigt gibt, ist vielmehr dasselbe, was im Sakrament ge-
geben wird —, wohl aber, weil der Natur der Sache noch die Pre-
digt Sache der Gemeinde, die Feier des hl. Abendmahles Sache
der bedürftigen Einzelnen ist. Der Gottesdienst bedarf allerdings
einer solchen Konstruktion, daß derselbe auch ohne Abendmahlsfeier
ein in sich abgeschlossenes Ganzes bilde, daß aber die hinzukom-
mende Abendmahlsliturgie nicht als ein Zweites, oder gar Fremdes
empfunden werde, sondern als eine harmonisch sich anschließende
Fortführung des Vollendeten zu neuer Vollendung erscheine. Vor
allem aber bedarf es einer Klarheit über Wesen und Zweck des
evangelischen Kultus auf Grund des evangelischen Kirchenbegriffes
und einer Durchführung der Idee des Kultus durch seine gesamte
Gliederung.
Endlich sei noch ein Wort gestattet über die in unsem Tagen
so viel behandelte Frage über die Verwendung des Kirchen-
chors, des Chorgesanges im Gottesdienst Es ist in hohem
Grade erfreulich, bei einem so enthusiasmierten Freunde der Musik
so nüchternem Urteile zu begegnen, wie wir es S. 180 finden. »Der
evangelische (Gottesdienst bedarf an und für sich des musikalischen
Schmuckes nicht«. Weshalb wird denn im Gottesdienst gesungen?
Lediglich aus Zweckmäßigkeitsgründen. »Der Gesang ist die na-
türlichste Form des gemeinsamen (und gleichzeitigen) Vortrags der
Gemeindet. Das Gemeinsame und Gleichzeitige könnte in abstracto
auch gesprochen werden; aber »weil es leichter ist, geordnet
zusammen zu singen, als geordnet zusammen zu sprechen, so empfiehlt
^ich der Gesangesvortrag unter dem Gesichtspunkt der Wohlanstän-
Eöstlin, Geschichte des christlichen Gottesdienstes etc. 561
digkeit und Ordanngc. Wir gebn noch einen Schritt weiter, als der
Herr Verf. Soll die gemeinsame und gleichzeitige Aeaßerung der
gemeinsamen Anbetang , des gemeinsamen Bekenntnisses wirklich
gemeinsam and so bethätigt werden, daß die Würde des Bekennt-
nisses und Oebetes and die Einheit der Gemeinde im Bekenntnis
und Gebet zum Ausdruck kommt, so ist Gesang unentbehrlich und
zwar ein solcher Gesang, welcher durch die Harmonie der Töne und
durch den Charakter der Musik beides, die Würde des Gegenstan-
des und die Einheit der Gemeinde, möglichst vollkommen darstellt.
Also Gesang, mögliebst schöner, vollkommner Gesang der Gemeinde
ist zu erzielen, nicht um eines musikalischen Genusses, oder einer
musikalischen Leistung willen, sondern um des Kultus willen, damit
der Kultus wahrhafte Darstellung des religiösen Lebens der Kirche,
der Gemeinde sei. Selbstverständlich darf die Gemeinsamkeit nicht
im Interesse der Schönheit beschränkt werden, so daß man Nicht-
Sängern das Mitsingen untersagen dürfte, sondern die gemeinsame
Aeußerung ist die Sache, der Gesang nur die Form, und die Auf-
gabe ist es, die Form in den Dienst der Sache zu stellen, so daß
die Sache um so völliger als das, was sie ist, erscheine. Wer ist nun
das Subjekt des Gesanges? Natürlich nur die, um deren gleich-
zeitige und gemeinsame Aeußerung es sich handelt. Also nicht der
Liturg — dessen Gesang hat keinen Sinn — , sondern nur die
Gemeinde. Was soll denn nnn der Kirchenchor, der Ghorgesang
im Unterschied vom Gemeindegesang? Es ist wiederum hoch er-
freulich, daß der Herr Verf. den Gedanken Schöberleins, dem selbst
Th. Harnack beistimmt, von dem Chor als dem Vertreter der idealen
oder der himmlischen Gemeinde, durchaus abweist; auch den neue-
sten Gedanken, daß ein Kuabenchor, zu beiden Seiten des Liturgen
postiert, den Liturgen (der übrigens gegenwärtig bleibt) zu vertreten
habe bei kürzeren Sätzen, die gesprochen etwas abrupt erscheinen,
wird der Herr Verf. gewiß nicht billigen, aus dem einfachen Grunde,
weil dieser Gedanke kein liturgischer, sondern ein rein ästhetischer
ist, also im Gottesdienst der evangelischen Gemeinde keinerlei Recht
der Existenz hat. Zwei Aufgaben erteilt der Herr Verfasser dem
Kirchenchore. Er soll das musikalische Gewissen der Ge-
meinde wach erhalten, das Ohr schärfen und das Verständnis üben,
und er soll der musikalische Führer der Gemeinde sein.
Wir halten den Ausdruck »musikalisches Gewissen der Gemeindet
ftlr verfehlt, da die Gemeinde nicht eine Gesellschaft von Sängern
ist und weder musikalischen Beruf, noch masikalische Pflicht hat,
also auch nicht ein musikalisches Gewissen haben kann. Soll aber
der Ausdruck andeuten , daß an den Produktionen des Chors die
a«it. gel Au. 1887. Nr. 14. 39
602! Ofött. gel. Aue. 1887. Kr. U,
Gemeinde zu Herzen nehmen soll, wie sie eigentlich singen mQSte,
aber natürlich weder singen kann noch jemals wird singen können,
so wird die gottesdienstliche Versammlang zn einer Gesangschnle,
und der Chor hat keine liturgische, sondern lediglich eine mnsika-
lische Aufgabe. Ohne Frage wird der Herr Verf. diese Stellung
des Chors abweisen, wie derselbe auch den Gedanken abweist, daß
der Chor statt der Gemeinde funktioniere. Indem aber der Herr
Verf. hinzufügt, das selbständige Hervortreten des Chors erscheine
durch den Gesichtspunkt der gegenseitigen Selbsterbauang gerecht-
fertigt, so schwebt ihm offenbar eine organische Gliederung der Ge-
meinde in ChOre der Eatechumenen, der Jungfrauen, der Jünglinge,
der Männer, der Frauen u. dgl. vor, wie sie die altchristliche Kirche
gekannt hat ; aber durch Teilung der Gemeinde in sangeskundigen Chor
und sangesnnknndige Menge wird nach einem dem Gottesdienst ganz
fremdartigen Gesichtspunkt eine Organisation der Gemeinde erstrebt.
Es scheint der Bemühung des Herrn Verf.s in der That eine lieber-
Schätzung des Eunstgesangs im Gottesdienst, eine Vermischung der
religiösen Erhebung und der musikalischen Erregung zu gründe zn
liegen. Referent ist der Ansicht, daß die Beschlüsse der Eisenacher
Eirchenkonferenz von 1886, die S. 253 mitgeteilt werden, Verwer-
tung der Eirchenchöre betreffend, vornehmlich in dem dritten und
vierten Paragraphen grundlegende Beachtong verdienen. Der
dritte Paragraph lautet: ». . . dem Chor darf nicht zugewiesen
werden, was an liturgischen Gesängen der Gemeinde zukommt. Ein
großer Gewinn ist es, wenn die Glieder des Chors sich künftig bei
dem einstimmigen Choral und liturgischen Gesang beteiligen und
insonderheit schwierigere oder weniger bekannte Melodien einführen
helfen €k Das wird die erste und vornehmste Aufgabe des Chors
sein, und er braucht sich solches Eantordienstes wahrlich nicht zn
schämen. Aus dem vierten Paragraphen notieren wir den Satz:
»daß die mehrstimmigen Chorgesänge namentlich auch bei liturgi-
schen Gottesdiensten und Festandachten in größerem Maße Verwer-
tung finden können«. Gewiß, dort können dieselben auch ein selb-
ständiges Hervortreten beanspruchen, weil es sich da nicht um Ge-
meindegottesdienst im strengeren Sinne, sondern um eitie Mischart
von kirchlichem Eoncert und Gottesdienst handelt, welcher an ihrem
Orte das Recht der Existenz nicht bestritten werden soll. Freilich
will die Eisenacher Eonferenz mehr; sie will, daß »die mehrstimmi*
gen Chorgesäkige in die Liturgie organisch eingegliedert werden
sollen«. Das lautet recht gut: die Schwierigkeit, für welche Refe-
rent vorläufig noch keine vollbefriedigende Lösung kennt, ist nur
die, solche Stellen, wo sie organisch einzugliedern sind, ausfindig
Weizsäcker, Das apostolische Zeitalter der christlicben Kirche. 6ßS
ZU machen, da ja der Chor eine liturgische Idee eben
nicht repräsentiert, die er im Unterschied von der Gemeinde
und dem Liturgen geltend machen kOnnte. Bevor eine solche li-
turgische vom Chor repräsentierte Idee gefunden ist, wird es wohl-
gethan sein, den Chor außer bei besonderen koncertartigen Veran-
lassungen seine Wirksamkeit auf den verheißungsvollen Kantordienst
beschränken zu lassen und alle »AusschmOckungc der Liturgie mit
fremden Federn keuscher Weise zu vermeiden, selbst auf die Gefahr
hin, daß das am Aesthetisieren krankende Geschlecht unserer Tage
behaupten sollte, im Eoncertsaal sich schöner zu >erbauen«, als in
der Kirche. —
Beim Rückblick auf den durchlaufenen kritischen Weg drängt
der Wunsch sich auf, daß der gute Gedanke des Herrn Verf.8, den
Studierenden der Theologie eine Geschichte des evangelischen Got-
tesdienstes in die Hand zu geben, durch Benutzung auch des hier
dargebotenen kritischen Materials gute Frflchte zeitigen möge.
Marburg. Achelis.
Weizsäcker, C, Das apostolische Zeitalter der christlichen
Kirche. Freiburg i. Br. 1886. Akademische Yerlagsbuchhandlung von
J. G. B. Mohr (Panl Siebeck). VUI and 698 S. gr. 8^ 14 Mk.
Vor uns liegt ein Buch, fast 700 Seiten umfassend, ohne jede
Vorrede, ohne Register, ohne Anmerkungen unter dem Text, ohne
alle direkte Rücksichtnahme auf abweichende Ansichten: kein mo-
demer Name begegnet uns darin außer einem dreimaligen »ed. Har-
nack« bei der jttngst entdeckten »Apostellehre« (S. 601. 602. 615).
C. Weizsäcker durfte sich diese vornehme Außergewöhnlichkeit ge-
statten; zudem offenbaren sich bei genauerer Bekanntschaft mit sei-
nem Buche die scheinbaren Mängel als Vorzüge. Denn eine Vor-
rede wäre hier ein Ueberfluß; was zur Sache zu sagen war, hat er
im Buche selber gesagt, und über seine Person braucht er nichts
mehr zu sagen. Den gelehrten Gebrauch einen Teil des Stoffes dem
Text zu entziehen und in einer Fülle von Anmerkungen nebenher-
zuschieben hat Weizs. nie geliebt ; schon in seinen früheren Arbeiten
auf neutestamentlichem Gebiete, gleichviel ob sie in Buchform er-
schienen wie die »Untersuchungen über die evangelische Geschichte«
(1864) oder als Abhandlungen in den »Jahrbüchern für deutsche
Theologie« sind dieselben sehr selten; hier hat er sie .principiell aus-
geschlossen, jedenfalls weil er nur das Unentbehrliche zu geben ge^
39 •
664 Oött. gel. Ant. 1887. Nr. 14.
dachte, and das gehört in den Text hinein. Selbst das Fehlen jedes
Registers wird beabsichtigt sein; der Verfasser will nicht ein Nach-
scblagebach liefern, in welchem man gelegentlich über den einen
oder den andern Gegenstand sich Rats erholt, er hat ein streng ge-
schlossenes Ganzes geschaffen, von dem er erwartet und yerlangt,
daß es als Ganzes gelesen und genossen werde; er hat einen Bau
aufgeführt, dessen einzelne Teile durchaus an ihrem Orte und in
ihrem Verhältnis zum Uebrigen betrachtet werden müssen, um rich-
tig gewürdigt zu werden. Und wenn er jede Polemik gegen fremde
Standpunkte vermieden hat, so ist er vor dem Verdachte gesichert,
als ob er nicht kannte, was gegen seine Resultate geltend gemacht
worden ist oder als ob er es einer gründlichen Widerlegung nicht
für wert achtete, aber unter dem bunten Vielerlei einer fortwähren-
den Auseinandersetzung mit abweichenden Hypothesen und Aus-
legungen hätte die Durchsichtigkeit seines Vortrags leiden müssen
und die Aufmerksamkeit des Lesers wäre von der Hauptsache ab-
gezogen worden. Er fühlt sich als Geschichtsschreiber, der Resul-
tate liefern, Bilder zeichnen soll, nicht aber den Weg beschreiben,
auf welchem man zu diesen Resultaten gelangt ist, oder in die
Werkstatt einführen, in welcher Hunderte, Berafene und Unberufene,
mit den Vorarbeiten zu solchem Werk beschäftigt sind. Weizsäckers
Buch ist nichts weniger als ein Konkurrenzunternehmen zu Lechlers
in so vieler Hinsicht verdienstlichem Apostel, und Nachapostol. Zeit-
alter ' 1885; denn während bei diesem die polemische Tendenz vor-
wiegt, die Absicht die Thesen der Tübinger Schule Schritt vor
Schritt durch genaue Prüfung umzustoßen, will Weizsäcker lediglich
positiv die eigene Auffassung vom apostolischen Zeitalter zur Dar-
stellung bringen. Wer über den heutigen Stand der Forschung
orientiert sein und erfahren will, welche Auslegungen derzeit für
jede einzelne Thatsache in jenen Quellen und von welchen Gelehr-
ten vertreten werden, mit welchen Argumenten die verschiedenen
Hypothesen sich verteidigen und angegriffen werden, der darf sich
freilich nicht an Weizs. wenden. Dagegen findet man dort, was
schwieriger und noch bedeutender ist, ein Bild der apostolischen
Zeit, wie es nur eine Meisterhand von der Höbe der heutigen For-
schung aus entwerfen kann. Den Einfluß fremder Arbeit und den
daher geschöpften Gewinn will Weizs. nicht etwa verläugnen; auch
wenn Wendungen wie S. 434: »Viele begnügen sich damit anzu-
nehmenc ganz fehlten, würde der Sachkundige fortwährend ein stil-
les Zwiegespräch des Verfassers mit seinen Mitarbeitern belauscheui
Sätze antreffen, welche unmittelbar die Antwort enthalten auf be*
Stimmte gegneriscbe Argumente.
Weizs&cker, Das apostolisclie Zeitalter der christlichen Kirche. 565
Heines Erachtens hat er seine Aufgabe in bewondernswUrdiger
Weise gelöst und ein klassisches Werk geschaffen , ein Werk, das
za den hervorragendsten Leistungen der theologischen Wissenschaft
in unserm Jahrhundert gezählt werden wird. Es ist in einem Style
geschrieben, der, ohne alle gesuchte Eleganz, anschauliche Fülle mit
Präcision glücklich verbindet; bisher hat sich Weizs. noch nirgends
so als Meister der Form bewiesen; kaum irgendwo nimmt der Le-
ser Anstoß an einem ungelenken Satze; trotz der größten Einfach-
heit und Ruhe fesselt die Darstellung und erhebt das Interesse nicht
selten zu förmlicher Spannung. Da aller gelehrte Kleinkram fort-
gelassen ist, und selbst griechische termini nie ohne Uebersetzung
und Erklärung auftreten, kann jeder gebildete Leser ohne außerge-
wöhnliche Anstrengung sich den Genuß des geistvollen Buches ge-
währen. Vortrefflich gelungen ist auch die Verteilung des Stoffs in
die 5 Hauptabschnitte und die Gruppierung im Einzelnen, Wieder-
holungen sind fast gänzlich vermieden, und wo sie einmal nötig
werden, weiß der Verfasser gewiß durch den Zusammenhang das
bereits Bekannte in ein anderes Licht zu rücken. Und wenn ein
glänzender Scharfsinn, feine Kombinationsgabe, strenge Nüchtern-
heit und Genauigkeit anerkannte Tugenden Weizsäckers sind, so
wird an diesem Werke auch der Gegner die Vollständigkeit be-
wundern müssen, welche selbst das entlegenste Material, soweit es
nutzbar ist, benutzt und keinen Strich fortgelassen hat, der zur Ver-
deutlichung des Bildes irgendwie dienen konnte.
Unter dem apostolischen Zeitalter im engeren Sinne versteht
Weizs. die Zeit von der Gründung der Gemeinde an bis etwa 70
n. Chr. d. i. bis zum Tode der Apostel Paulus und Petrus, im wei-
teren Sinne bis zum Tode des Johannes, der ungefähr mit dem
Ende des ersten Jahrhunderts nach Christus zusammenfällt. Denn
daß der Apostel Johannes in Kleinasien, speciell in Ephesus das
vernichtete Werk des Paulus neu angegriffen und eine Kirche mit
eigentümlichem Geistesgepräge gestiftet hat, daß er unter Domitian
nach Patmos verbannt worden und in hohem Alter, bewundert von
einem Kreise gleichgesinnter Schüler, gestorben ist, glaubt Weizs.
nicht bezweifeln zu dürfen. Daher könnte sein Buch den Titel tra-
gen: die christliche Kirche bis etwa zum Jahre 100 n. Chr. Was
nach dieser Zeit entstanden ist, interessiert ihn hier nicht weiter
außer soweit darin Nachrichten über die frühere Periode enthalten
sind, daher die Pastoralbriefe nur flüchtig besprochen werden und
vollends der 2. Petrus- und der Judasbrief nicht einmal so viel Be-
rücksichtigung finden wie z. B. der Hirt des Hermas oder die Schrif-
566 Gott, gel Aas. 1887. Kr. li.
ten des Xärlyren Jostiniu. Hingegen gebt der VerC auf den soge-
nannten enten Clemensbrief, der noeb im ent^i Jahrb. n Rom ge-
sehrieben worden ist, mindestens so genau ein wie anf den Hebrier-
brief, obwohl derselbe nicht in den Kanon bineingekonunen ist;
und auch die Angaben der freilich späteren »Lehre der 12 AposteU
nntzt er in den Abschnitten fiber Yerfassang, (Gottesdienst und Sitte
gebttbrend ans. Mancher wird über Mangel an fester chronologi-
scher Begrenzung klagen. Die Klage ist im Blick anf das gesamte
Werk begreiflich; denn Jahreszahlen begegnen darin &nierst selten,
nnd die Datiemngeo sind nahezu sämtlich nur ungefähre (eigentlich
ist das Jahr 52 fflr das > ApostelconciU die einzige Ausnahme), aber
die Schuld trägt nicht der Geschichtsschreiber jener Zeit, sondern der
Zustand unsrer Quellen. Mir scheint Weizs. sich ein Verdienst zu
erwerben durch seine Zurückhaltung gegenüber der auf konserrati*
Ter wie »kritischer« Seite (man denke nur an Volkmars Tabellen!)
beliebten Festlegang ganz Ungewisser Dinge: wir können wohl mit
leidlicher Sicherheit angeben, zu welcher Zeit der Jakobusbrief noch
nicht geschrieben war, oder welche Erfahrungen der Verfasser der
Apostelgeschichte hinter sich haben mu0: ein bestimmtes Jahr fBr
sie anzusetzen ist und bleibt Anmaänng. Und wie nach dieser
Richtung, so tlbt Weizs. auch nach anderer hin eine Vielen unge*
wohnte und unbequeme Skepsis ganz besonders gegenüber den ge-
schichtlichen Bttchero des N. T. — aber krankt die Theologie nicht
noch in allen Lagern so schwer an dem Orundschaden , auf die-
sem dunklen Gebiet alles sicher wissen zu wollen? Unermfldlich
macht Weizs. durch allerlei Wendungen seinen Leser auf die yer-
schiedenen Grade der Sicherheit aufmerksam, welche fttr seine Re-
sultate in Ansprach zu nehmen sind, deutlich unterscheidet er das
Zweifellose von dem bloß Wahrscheinlichen nnd das wieder von
solchem, was bloß mit einigem, Grande vermutet werden kann. Un-
befangener ist die Methode wahrhaft geschichtlicher Forschung auf
die NTliche ond verwandte Litteratur noch nicht angewendet wor-
den; keinerlei Wunsch zieht den Verf. zu negativen oder positiven
Resultaten hinüber. Und wenn die Resultate, an dem Hergebrach-
ten gemessen, Überwiegend negative geworden sind, so kann nur
blinde Wnt den angebeuren Fortschritt längnen, den Weizs. tlber
den großen Altmeister der Kritik F. Chr. Baur und dessen etwa ver-
gleichbares Werk, den »Paulus«, hinaus gemacht hat. Ich rede noch
gar nicht von den zahlreichen Berichtigungen in Einzelheiten, aber
wie fi'ei ist Weizs. von dem »Intellectnalismus«, welchen man der
alten Tttbinger Schule nicht ohne Grund vorgeworfen, wie ferne
Weizsäcker, Das apostolische Zeitalter der christlichen Kirche. 667
liegt ihm das Streben sieb eine Bewegung dnreb Gegensätze im
Urcbristentam zarecbtzaconstrnieren , wie freadig anerkannt wird
jetzt die MOglicbkeit der mannicbfaltigsten Bildungen im jttdisoben
wie im heidnischen Ghristentam! Aerger konnte deswegen der ohn-
mäobtige Ingrimm der angeblich »positiven c Kreise sich nicht ver-
greifen als mit der Behaaptang, Weizs. Arbeit enthalte aaAer dem
aus Baur »und ähnlichen Werkenc Bekannten »wenig Neues« und
da seine Kritik »den ausgeprägten Charakter unwissenschaftlicher
Willktlr und Launenhaftigkeit an der Stirn trage« ^ bezeichne sein
Werk weder einen weiteren Fortschritt, noch liefere es eine so-
lidere Begründung. Wir wollen dem dunklen Freunde der theologi-
schen Wissenschaft, der in P. Egers Theol. Litteratur-Bericht (April
1887 8. 77 f.) sogar »um des Gewissens und der Wissenschaft wil-
len protestieren« mufi gegen Weizsäckers durch und durch »will-
kürliche«, auf »die subjektivsten Hypothesen« bauende, voreinge-
nommene »Tendenzschriftstellerei«, nur bemerken, daß sein und sei-
ner Gewissensgenossen klares Auge dazu gehört, um von Weizs.
»die biblischen Autoren sämtlich als kindische Schwärmer oder als
bewußte oder unbewußte Fälscher behandelt« zu sehen; ein halb-
wegs Vorurteilsloser kann durch die Lektüre dieses Buches nur zu
liebevollem Verständnis der biblischen Autoren und zu tiefer Ver-
ehrung vor ihnen geführt werden ; eine höhere Wertung jedes Worts
z. B. in den paulinischen Briefen und der ganzen Persönlichkeit des
Paulus, ein gerechteres, umsichtig milderes Urteil über den Petrus
wüßte ich mir gar nicht vorzustellen. Wahr iät nur, daß Weizs.
eine durchgreifende, vor keinem Resultat erschreckende Kritik übt; er
beginnt gleich mit der Erklärung, daß betreffs Jesu Auferstehung
geschichtlich nichts weiter bewiesen werden kann, als daß die Jün-
ger Erscheinungen Jesu gehabt; welche Realität dem zu Grundege-
legen habe, das zu entscheiden sei Sache des Glaubens. Wessen
Glaube nun unabhängig ist von den Ergebnissen wissenschaftlicher,
geschichtlicher Forschong uifd wer Gerechtigkeits- und Wahrheits-
sinn genug besitzt, um christliche Quellen auch als evangelischer
Christ doch mit dem gleichen Maße zu messen wie irgendeine indi-
sche oder muhammedanische Quelle oder die Akten irgend eines
katholischen Heiligen, den werden diese Eingangserwägungen Weiz-
säckers durchaus befriedigen, und nicht einmal darin wird er eine
Inkonsequenz erblicken, daß Weizs. einen ursächlichen Zusammen-
hang zwischen den einzelnen Christnserscheinungen in ICor. 15 an-
nimmt. Denn daß, nachdem in Petrus der erste Anstoß zu dieser
großen Bewegung gegeben war, dieUebrigen für ähnliche Erlebnisse
568 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 14.
ganz anders als vorher disponiert waren, ist nicht eine »subjektive
Auffassung«, sondern eine unanfechtbare psychologische Thatsache.
Oder wenn Weizs. jetzt für undenkbar erklärt, daß das vierte Evan-
gelium von einem Urapostel verfaßt worden, so zeigt sich angesichts
seines früheren entgegenstehenden Urteils ebensowenig, daß er jetzt
etwas Willkürliches behauptet, wie daß diese Frage überhaupt nicht
»eine rein historische« sei, sondern nur daß das Gewicht der gegen
die Echtheit sprechenden Gründe doch ein ungeheures sein muß,
wenn das jahrelange Widerstreben eines so vorsichtigen und weit-
blickenden Forschers durch sie zuletzt gebrochen worden ist.
Indes wird Weizs. am wenigsten die Diskussion über das apo-
stolische Zeitalter nun für geschlossen erachten. Ein Buch, das so
zahlreiche Probleme berührt und auf so selbständigen Bahnen sei-
nem Ziele zustrebt, erweckt notwendig Widerspruch. Aber der Zwei-
fel an Einzelnem darf die dankbare Anerkennung des vielfachen
Neuen und Guten nicht aufheben oder verkümmern. Wenn man
nämlich unter Neuem nicht bloß solche Dinge versteht, wie die Her-
leitung des Galaterbriefs aus türkischer Quelle, oder die Behauptung,
daß der 2. Petrusbrief die älteste und einzig echte Schrift des N.T.
sei, so enthält dieses Werk mehr Neues, als man auf einem so viel
beackerten Felde Überhaupt noch erwarten konnte. Es ist staunens-
wert, wie Weizs. seit 25 Jahren durch die Vertiefung in seinen Stoff
trotz der fruchtbaren Anfänge immer noch gewachsen ist, wie bereit
er geblieben ist hinzuzulernen und sich zu verbessern. Nirgends
haben seine früheren Arbeiten fttr ihn einen Anflug von kanonischer
Geltung. In einer Reihe von höchst bedeutsamen Abhandlungen in
den Jahrbüchern für deutsche Theologie hatte er über die meisten
Fragen der NTlichen Wissenschaft mehr oder minder ausführlich
seine Ansicht kundthun müssen: vieles davon kann er aufrechter-
halten, aber wo er es in dem abschließenden Werke verwendet, ge-
schieht es nie in monotoner Abhängigkeit vom Buchstaben, immer
bereichert, geklärt, erweitert. Seine 'Uebersetzung des N. T.s war
besonders in 2. Aufl. (s. diese Blätter 1883 Stück 24 S. 737 ff.) eine
fast vollkommene Leistung; jetzt bedient sich Weizs. häufig dersel-
ben, und wo er von ihr abweicht, betrifft es meist Kleinigkeiten wie
Wortstellung u. dergl., bisweilen aber hat er auch absichtlich den
dortigen Wortlaut geändert, und dann zeigt sich immer ein Resultat
noch eingehenderer Untersuchung: z. B. Phil. 4, 3 übersetzte er
ryijo$€ avvivre 1882 durch »Du lauterer Genosse«, jetzt findet er
(S. 245 — 247) darin einen Mann, mit Namen Synzygos angeredet.
Von Weizsäckers Ergebnissen in kritischen Fragen erwähne ich
Weizsäcker , Das apostolische Zeitalter der christlichen Kirche. 560
hier einige aas diesem oder jenem Qrnnde eharakteristiscbe. Für
eebte Panlasbriefe hält er außer den bekannten vieren den ersten
an die Thessalonicber und den an die Pbilipper, obwohl er ein Ver-
ständnis auch für die Zweifel an der Authentie der letzteren be-
sitzt (S. 250) ; beim Eolosserbriefe überwiegt das Anstößige ihm doch
zu stark (S. 190. 254. 560 ff. 595 f. 693). Daher er ihn fttr gleich-
zeitig mit dem sicher unechten Epheser- (Laodicener-)Briefe und zu
dessen Ergänzung geschrieben ansieht, vom Eolosserbrief aber sei
das Schicksal des Philemonbriefes (S. 190 hätte dieser erwähnt
werden sollen!) nicht loszulösen (S. 565. 686). Den 2. Thessaloni-
cherbrief vermag er innerhalb des ersten Jahrhunderts nicht zu be-
greifen; in den Pastoralbriefen, unter welchen der 2. später als der
1. ist, findet er schon die großen gnostischen Systeme bekämpft.
Seine Ansichten über den Hebräerbrief sind denen Overbecks sehr
nahe verwandt; den Jakobusbrief hält er für ein Produkt der Ur-
gemeinde aus der Zeit nach Jerusalems Zerstörung, in ihm eine Po-
lemik gegen des Paulus Galater- und Römerbrief. Erst in der
Trajanzeit entstand der 1. Petrasbrief. Die 3 Johannesbriefe, na-
mentlich der erste, stehn nicht bloß zeitlich hinter dem Johannes-
evangelium, sie stellen auch eine gewisse Verflachung seiner Ideen
dar. Den neueren Interpolationshypothesen ist er wenig gewogen;
nur Rom. 16, 25 — 27 gibt er auf, während er die vorangehenden
Verse des 16. Kapitels nach wie vor ftlr ein Schreiben des Apostels
nach Epbesus erklärt, welches mit dem Römerbrief ursprünglich
nichts als Ort und Zeit der Abfassung gemein hatte : sonst nimmt er
im Römerbriefe Alles als genuin, auch das 15. Kapitel, und ebenso
kommt er in den Korintherbriefen — 11 Gor. 6,14—7, 1 nicht etwa
ausgenommen — ohne jede Einschubshypothese aus. Mehrere Pan-
lusbriefe sind frühe verschollen (S. 189), wahrscheinlich einige an
die Philipper (S. 244), jedenfalls zwei nach Corinth, von denen
einer vor, einer nach unserm ersten Gorintherbriefe geschrieben
war (S. 300—302). Wie Weizs. die Briefe des Paulus behandelt,
ihren inneren Oehalt darlegt, aus ihren Worten heraus das Bild der
Zustände in den betreffenden Gemeinden entwirft, das ist unüber-
trefflich; der Abschnitt über Paulus und die Gorinthier ist einer der
glänzendsten im ganzen Werke, und man faßt es kaum, welch' eine
Fülle von Anschauungen über die ephesinischen Verhältnisse sein
Scharfblick den scheinbar so dürren Grnßreihen in Römer 16 zu
entlocken versteht. Ueberhaupt ist Paulus, den Weizs. mit Recht den
»Mittelpunkt der apostolischen Zeit« nennt, mit der eingehendsten
Sorgfalt behandelt, ein feiner Ueberblick über die paulinische Ge-
670 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 14.
dankenwelt geliefert, das Bleibende aas seinem Wirken gebührend
neben dem Unverstandenen hervorgehoben (S. 150 f.) and in wenig
Strichen eine Charakteristik seines Wesens an and für sich and im
Verhältnisse za Jesas gegeben, die in jedem Worte wahr and be-
deatend zugleich ist. — Die Geschichte der paalinischen Missionen
aber and seiner Gefangenschaft ist noch nie so abweichend vom Be-
richt der Apostelgeschichte erzählt worden. Während Weizs. der
Wirquelle — er scheint geneigt sie aaf Timotheos zarllckzaftthren
— absolaten Glaaben schenkt ^), wertet er die meisten ttbrigen Nach-
richten der Acta höchst niedrig, ohne jedoch dem Verfasser dersel-
ben, der aach Verfasser des 3. Evangeliams ist (c. 100 n. Chr.),
jede anderweite Qnelle abzusprechen. Die schriftstellerische Eanst
dieses Mannes schlägt er nicht gering an, traat ihm aach Kenntnis
nnd Benatzang griechischer Litteratar (wie Josephos) za, aber seine
Anschaaangen lagen za weit ab von der Wirklichkeit der za be-
schreibenden Gedanken, Verhältnisse and Vorgänge, als daß er ihnen
hätte gerecht werden können. Was daram in der Apostelgeschichte
nicht darch bestimmte Merkmale seine Abkunft aas guter Quelle
verrät, das wagt Weizs. zur Feststellung des geschichtlichen Thatbe-
standes nicht herbeizuziehen, und zwar im zweiten, paalinischen Teil
so wenig wie im ersten Teil über die Urgemeinde. Hier scheint er
mir in seiner Behutsamkeit bisweilen zu weit zu gehn. Nicht ein-
mal die »erste Missionsreise« macht ihm, und wäre es nur in der
Reihenfolge der Stationen, einen vertrauenerweckenden Eindruck,
die Identität des jerusalemischen Silas Act. 15, 22 mit dem Paalas-
begleiter Silvanus ist ihm sehr zweifelhaft; in Act. 15 sieht er den
Galaterbrief polemisch benutzt (S. 182). Doch ist gerade hier Weiz-
säckers Verdienst das^ zum ersten Male ganz konsequente Kritik an
dieser Geschichtsquelle gettbt zu haben, und dazu gehört es auch
Darstellungen fallen zu lassen, die an und für sich nichts unmög-
liches oder Phantastisches enthalten. So gestehe ich von den Ein-
wendungen gegen den apostelgeschichtlichen Bericht über die Ge-
fangenschaft Pauli in Cäsarea fast gewonnen zu sein; nach Weizs.
ist daran beinahe nicht« Historisches und der Apostel, nachdem
1) Nebenbei bemerkt liefert ein Recensent Weizsäckers, Prof. Zdckler, einen
Beweis, wie genau er das von ihm getadelte Werk gelesen hat, da er in seinem
j&ngsten Pamphlet S. SO versichert, daB »kein namhafter Schriftforscher mehr<
diese monströse Annahme — über die Glaubwürdigkeit des Verf. der Wirquelle
und seine Verschiedenheit vom Verf. der Apostelgeschichte -— vertrete. Nor
halte man das nicht für die einzige Unwahrheit in Zöcklers Angaben über Weizs.
und andere »negative« Forscher.
WeizB&cker, Das apostolische Zeitalter der christlichen Kirche. 671
seine freie MissiooBthätigkeit bis 61 n. Gbr. gewährt batte^ wabr-
scheiolicb erst noter Festns gefangen genommen und alsbald nach
Rom transportiert worden. Sehr einleuchtend ist auch die Auffas-
sung, welche Weizs. von der Persönlichkeit und Bedeutung des
Stephanus im Anschluß an Act. 6. 7 entwickelt. Von einer zweiten
Gefangenschaft des Paulus will er natürlich nichts wissen, um so
interessanter ist, wie er die Tradition von Petri Hinricbtung in
Born verteidigt.
Reich an Eigentümlichem sind vielleicht vor allem die Ab-
schnitte, welche die synoptischen Evangelien und die jobanneische
Litteratur bebandeln. So nachahmenswert mir die behutsame, fast
skeptische Stellung erscheint, welche Weizs. auf dem erstgenannten
Gebiet gegen alle die bekannten Lösungsversuche einnimmt, wie er
sieb darauf beschränkt, eine nur ganz allgemeine Vorstellung von
dem allmählichen Heranwachsen dieser Kompositionen zu geben und
so untadelig diese Grundztige sein werden, so vielfach ftthlt man
sich doch hier zu Einwendungen herausgefordert Daß jetzt nach
Weizs. das Mattbäusevangelium zuerst unter allen, und zwar auf
syrischem Boden, fertig geworden sein soll, dann erst von Mt ab-
hängig zu Rom Marcus und endlich das die beiden anderen voraus-
setzende wohl auch römische (oder asiatische? S. 492) Lucasevan-
gelium, wird Viele mit Betrübnis erfüllen, bedeutet indes nicht so
viel, da anerkannt wird, daß Marcus am reinsten die Ordnung dar-
stelle, welche den Synoptikern überhaupt zu Grunde liegt und ge-
gen Holsten entschieden betont wird, daß hier nie der ganze That-
bestand aus der Benutzung des Vorgängers durch den Nachfolger
erklärt werden könne. Auch wird aufgeräumt mit alt- und jung-
tübingischen Hellsehereien über die riesigen Gegensätze zwischen
Mt., Mc. und Lc. in der dogmatischen Position: sie sind alle drei
Universalisten, wenn auch in verschiedener Schattierung. Daß in
der Formulierung ihrer Stoffe allerhand ZuiUIle mitspielen, daß wir
uns nicht einmal einbildeu dürfen alles in diesen Evangelien tref-
fend zu verstebn — wie viele Anspielungen auf Lokales und vor-
übergehende Verbältnisse in der Gemeinde müssen uns dunkel blei-
ben! — konnte nicht kräftiger betont werden, und die Ausführun-
gen über die Motive, unter deren Wirkung nach und nach die Aus-
sprüche Jesu, dann seine Thaten autoritative Fassung bekamen, wie
bei der Bildung der christlichen Halacba und Haggada entschei-
dender als das Scbriftlichwerden das Gebundenwerden der üeber-
lieferuDg ist, werden sieb weithin Beifall erzwingen: aber im Ein-
zelnen scheint mir Weizs. den Einfluß der Gemeinde auf den lieber-
572 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 14.
lieferangsstoff zn UberschätzeD and oft, wenn ein RedestOck viel-
leicht im Hinblick anf ein später zu Tage getretenes Bedürfnis der
Oemeinde entstanden oder umgebildet worden sein könnte, aneh
gleich za statuieren, daß es so entstanden sei. Was er z.B. S. 399
namhaft macht, um die Parabeln Mt. 20, Iff. und 21, 28 ff. Jesu
abzusprechen, genügt mir keinenfalls zum Erweise, und so gern ich
zugebe, daft Mc. 4, 26 ff. einer späteren Zeit angehören könnte, so
wenig leuchtet mir ein, daß es »ganz sichere (S. 379) derselben an-
gehört.
Der Abschnitt S. 493 — 565 führt uns den Apostel Johannes vor,
wie er in Asien, vorzüglich Ephesus, nachdem die paulinische Kir-
chengründnng dort verunglückt war, eine ganz eigenartige, vom
Judaismus freie und doch wieder jüdisch beeinflußte Form des Chri-
stentums verbreitet und Haupt einer Schule wird, welche nach seinem
Tode die johanneischen Schriften hervorgebracht hat. Also ist für
Weizs. die Apokalypse erst gegen 100 fertig geworden; doch findet
er in ihr Bestandteile, welche schon zwischen 64 und 66 geschrie-
ben sein müssen. Seine Kritik ist ganz geeignet, jeden Leser das
Vertrauen zur Einheit der Apokalypse verlieren zn lassen, weniger
ihn für die Hypothesen Weizsäckers über deren Entstehungsgeschichte
zu gewinnen ; man hat da den Eindruck des sehr Eomplicierten
und Unnatürlichen. Mit der neuen Vischerschen Hypothese konnte
Weizsäcker sich noch nicht auseinandersetzen; seine Resultate wei-
chen sehr weit von denen Vischers ab; und ich bekenne, daß ich
ganz für den Weg gewonnen bin, auf dem der jüngere Forscher das
Problem der Offenbarung Job. so einfach zu lösen versucht. Jeden*
falls aber sind die vorsichtigen Vermutungen Weizsäckers über die
einzelnen Bestandteile des rätselhaften Buches mit den luftigen Be-
stimmungen seines Schülers D. Völter gar nicht zu vergleichen. —
Das Johannesevangelium bleibt mir eigentlich auch bei Weizsäcker
ein Rätsel. Daß es geraume Zeit »weniger als Geschichtserzäb-
lung, vielmehr als Lehrschrift angesehen wordene (S. 558) ist
doch eine schwer vollziehbare Vorstellung, es bleibt da überhaupt
Vieles in der Schwebe, z. B. wann es nun eigentlich geschrieben
sei und ob auf Grund aller drei Synoptiker; daß das ganze »ein
großes haggadisches Lehrstück« (S. 536) sei, ist ja gewiß richtig,
allein wie dasselbe von einem Vertrauten eines der Donnersöhne so
pneumatisch-philosophisch abgefaßt werden konnte, will einem nicht
einleuchten. Manches deutet Weizs. merkwürdig kühn, so die An-
rede Jesu an den Petrus in Job. 21, einem Nachtrag »von hohem
Altertum € (S. 485), welche dafttr sprechen soll, daß Petrus' Märty-
Weizsäcker, Das apostolische Zeitalter der christlichen Kirche. 579
rertod an einem anderen Orte als dem seiner früheren Wirksamkeit
Btattgefnnden, daß er in zwei Stufen über seinen Beruf als Leiter der
Urgemeinde hinausgeführt worden und zuletzt der paulinisehen Mis-
sion gefolgt ist — sogar der Wechsel von aQvta und nqoßdua soll
hier bedeutungsvoll sein! An anderen Stellen wird nicht ganz klar,
wie Weizs. sie verstehn will z. B. Job. 10, 8 (S. 541): immerhinist
auch hier des Lehrreichen und Sicheren noch mehr als des Bedenk-
lichen und ganz Ungewissen.
Niemand, der Interesse am Neuen Testamente nimmt, wird ohne
Gewinn von diesem Buche scheiden. Selbst an exegetisch wertvol-
len Bemerkungen ist es nicht arm, vgl. die mustergültige Auslegung
von Rom. 1, 6 (S. 422) oder von I Cor. 9, 20 f. (S. 327. 424) oder
über das i&fiqkoikdxnoa I Gor. 15, 32 (S. 337 f.). Der Gedankengang
in Pauli Strafrede zu Antiochien Gal. 2, 14 ff. wird S. 166 ff. glän-
zend rekonstruiert; und Dinge wie die Taufe für Tote (I Gor. 15)
werden mit einer heute noch seltenen Unbefangenheit besprochen.
An diesem Lobe wird dadurch nichts geändert, daß manchmal wie
S. 609 aus den Präpositionen in Gal. 1, 1 ovx än^ dv&quinmv oidi
d§' äv&qmnov doch zu viel erschlossen wird. Mögen dann z. B. die
Motive der tpfvdddeXtfo^ auf dem Apostelconcil wohl zu ungünstig
erklärt werden — im Ganzen tritt uns ein psychologischer Scharf-
blick und eine liebevolle Billigkeit im Urteil über Personen und
Verhältnisse entgegen, wie sie nur große Historiker besitzen, und
die Reife des Werks offenbart sich am besten in der großartigen
Einheitlichkeit der Auffassung, die das Ganze durchzieht: vergebens
sucht man in einem Teile eine Erklärung, der an andrer Stelle eine
abweichende zur Seite träte; auch der Feind kann nicht läugneui
das Buch ist aus einem Guß, ein in allen Teilen wohl zusammen-
stimmendes Bild. Nie zuvor ist die Geschichte der apostolischen
Zeit geschrieben worden mit solcher Vereinigung großer Gesichts^
punkte und der sorgfältigsten Beachtung des Kleinsten. Darum ist
diese Geschichte so frei von aller Einseitigkeit; wenn der Verfasser
es auch — unsers Erachtens mit Recht — dem Geschichtsschreiber
des 2. Jahrhunderts überläßt, wie er an dieses Buch anknüpfen will,
ob er nach derselben Methode verfahren kann, so hat er aus Ver-
gangenheit, Folgezeit und außerchristlicher Gegenwart herangezogen^
was irgend zur Beleuchtung seines Gegenstandes nutzbar war. War*
nende Erscheinungen im Judentum werden nicht unbeachtet gelas*
sen, Analogien in den heidnischen Kultvereinen getreulich registriert
(S. 570. 630. 691) — sehr wertvoll ist auch die häufigere Einwei-
sung (z. B. S. 451) darauf, wie wichtig das Altertum einer Religion
674 Gott. gel. Änz. 1887. Nr. 14.
damals war, um ihr Ansehen und Anziehongskraft zu verschaffen
und von welchem Einfluß diese Thatsache sein maßte auf das Ver-
hältnis der Kirche zum Alten Testament — aber den besten Beweis
für die Richtigkeit seiner Geschichtsanffassang liefert er doch da-
darch, daß er im großen Ganzen die Erscheinangen in der ältesten
Christenheit ans ihr selber begreift, ohne ZnhOlfenahme fremder
Einflüsse, gar schOn ist immer wieder das Freischaffende, das Ueber-
reiche, Selbständige in der Gemeinde hervorgehoben, beim Gottes-
dienstlichen nicht minder (S. 566) wie bei Theologie und Sitte nnd
Verfassung. Es ist doch wahrlich kein »negativesc Ergebnis, wenn
ein Mann wie Weizsäcker, der eine so schonangslose Kritik an allen
Quellen übt, der auch ohne Bedenken die Beschränktheiten einräumt
z. B. im Urteil des Paulus über die Ehe (S. 691), wenn der (S. 646)
die christliche Sittlichkeit gegen den Vorwurf der Heteronomie ver-
teidigen kann und überhaupt einsteht für die Idealität der neuen
Grundsätze und ihre Freiheit von Mönchischem wie von Fanatismus.
Mag also in hundert Einzelheiten Weizsäcker korrigiert werden
können — die Quellen gewähren dort leider in dem EJeinen so
selten volle Sicherheit — die großen Hauptzttge der Geschichte des
apostolischen Zeitalters hat er festgestellt und darin wird er zur
Ehre der Kirche Recht behalten. Doch selbst wenn das nicht sein
sollte, wäre sein Buch unschätzbar: als Ausgangspunkt für neue
methodische Einzelforschnng: alle Detailfragen lassen sich viel leich-
ter und erfolgreicher behandeln, wenn einmal gezeigt' worden ist,
wie sie unter einander und mit dem Ganzen zusammenhangen nnd
von welchem Einfluß ihre Lösung auf die verschiedensten Gebiete
sein wird, resp. von wie vielen anderen Erwägungen höherer Art
dieselbe doch schließlich abhängt.
Zum Schluß erlaube ich mir noch auf einige geringfügigere
Verseben, größtenteil erst beim Druck — der übrigens im Allge-
meinen höchst korrekt ist — herbeigeführt, kurz hinzuweisen.
S. 476 wird Suetons Abfassung der Kaiserbiographieen ins Jahr 104
verlegt, was sicher um 15 Jahre zu früh gegriffen ist; doch bemerke
ich gegenüber dem Recensenten, der diesen Irrtum schon gerttgt
hat, daß er kein Recht hat, den Sueton in den Details seines Bu-
ches im stillen Gegensatz zum Verfasser der Apostelgeschichte einen
»80 mangelhaft unterrichteten späten Schriftsteller« zu nennen.
S. 616 Z. 17 lies »Propheten« statt »Apostel«, S. 216 Z. 10 v. u.
»Cilicien« statt »Sicilien«, S. 282 Z. 18 »geschlechtlichen« st »ge«*
seilschaftlichen« S. 39 Z. 16 »Synagoge« st. »Synode«, S. 669 Z. 22
»Gnade« st. »Gemeinde« des Evangeliums, S. 657 Z. 1 v. u. »ihre«
Stader, Die wichtigsten Speisepilse. 575
Statt des zweiten »hierc; S. 614 Z. 7 v.u. fehlt hinter »woblancbc ein
»niehtc und in der folgenden Zeile 1. >beic st. mache. Bei den Citaten
erscheint mir die Schreibweise 11, 13—5 (statt 13—15) z. B. S. 169 doch
als wanderlicbe Sparsamkeit, erheblichere Veranlassung zu Verbesse-
rungen böte da etwa S. 20 Z. 2 v. n. >5, 12—6, 42t in »5, 12—16. 42c ;
S. 67 Z. 4 V. u. »9, 11. 39c in »9, 11. 21, 39€; S. 98 Z. 6 v. u.
>I Kor. 1,4c in »8,4c; S. 139 Z. 1 »2, 25c in »8, 25c; S. 217 Z.5
V. 0. »14, 17c in »17, 17c, ibid. Z. 9 »18, 18c in »18, 11c und
Z.10 »18,8c in »19,8c; 8. 230 Z. 7 v.o. »2, 3c in »3,3c; ibid. Z.15
»5, 11c in »5, Ic; desgl. S. 284 Z. 14; S. 316 Z. 2 v. u. »2, 14—
3, 17c in »1, 15—2, 17c; S. 405 Z. 23 Lc. »16c in »15c; S. 466
Z. 18 V. u. »25, 17. 25. 31c in »25, 18. 25. 26, 31c; S. 589 Z. 5
>12, 23c in »14, 23c; S. 643 Z.ll v.u. Vis. »III, 7c in »III, 9, 7c;
S. 679 Ueberschrift »579c in »679c.
Rummelsbnrg b. Berlin. Ad. Jttlicber.
Studer, B., Apotheker in Bern, Die wichtigsten Speisepilze. Nach
der Natur gemalt und heschriehen. Bern, Schmidt, Francke ä Co. 1887.
24 Seiten in Oktav und 10 Tafeln.
Die erste Veranlassung zu diesem ungeachtet seines nur ge-
ringen Umfanges außerordentlich nützliehen und wertvollen Buchs
ist unstreitig die im Jahre 1884 in Bern vorgekommene Vergiftung
von sieben Personen durch den Genuß von Amanita phalloides, bei
welcher Gelegenheit Studer auch eine Abbildung dieses in Frank-
reich und in Italien seit lange mit Recht gefUrchteten Giftpilzes in
den Mitteilungen der Naturforscher-Gesellschaft in Bern gab. Die
übrigens schon früher von mehreren Autoren, z. B. M. H. Wagner
(der Schwämmesammler. 1867), mit Nutzen verfolgte Idee, durch gute
kolorierte Abbildungen der hauptsächlichsten Nahrungspilze dem
Volke das allerdings in seinem Nahmngswerte lange überschätzte,
immerhin aber bedeutungsvolle Speisematerial, welches die eft«
baren Schwämme liefern, in einer Weise zugänglich zu machen, daß
keine Gefahr vor Vergiftung besteht, ist nur zu billigen. Den für
die Erfüllung dieses Zweckes wichtigsten Faktor, die Beschränkung
auf das Allernotwendigste, sowohl in Bezug auf die abzubildenden
Species als auf den Text, hat Studer unseres Grachtens richtig ge-
würdigt Er beschränkt sich auf die gewöhnlichsten Pilze der
Schweizer Flora, nämlich den Champignon, von dem er auch die
576 Gott. gel. Adz. 1887. Nr. 14.
Treibbeetvarietät abbildet , den echten Reizker, den EierBchwanoini,
Steinpilz, Semmelpilz, Stoppelschwamm, den gelben nnd roten Hirsch-
schwamm, die Spitzmorchel und Speisemorchel. Diese Beschränkung
ist offenbar in Rücksicht auf die Berner Pilzflora gemacht, wobei
alle nor selten vorkommenden eßbaren Arten ausgelassen sind,
während allerdings fUr unsre nordwestdeutschen Verhältnisse und
noch mehr für Mittel- und Suddeutschland oder für Oesterreich ge-
wiß noch verschiedene Arten mehr, bei denen Vergiftung durch Ver-
wechslung mit giftigen Arten nicht zu beftlrchten ist, zweckmäßig
abgebildet wären, wie die diversen Lycoperdonarten, Fistulina, Ma-
rasmius oreades, und einige andere. Von dem Stoppelschwamm hat
der Verfasser nur die von Harzer als Hydnnm repandum var. flavi-
dum beschriebene gelbe Varietät abgebildet, die bei uns kaum so
häufig ist als die weißliche (Harzer, T. XXIII). Im Uebrigen sind
die Tafeln außerordentlich gut ausgeführt, so daß sie die zweite
Vorbedingung erfttllen, von welcher die Brauchbarkeit eines Werks
tiber Speisepilze abhängt, und sich in dieser Beziehung sehr vor-
teilhaft von einzelnen neueren Publikationen unterscheiden, bei de-
nen selbst der Hykologe manchmal nicht weiß, was der Autor zu
zeichnen beabsichtigt hat. Von Giftpilzen ist bei Studer nur die
Amanita phalloides abgebildet, und zwar die weiße Varietät, um sie
von Champignon zu unterscheiden. Obschon wir der Ansicht sind,
daß in einem Buche fiber Speisepilze Abbildungen von Giftpilzen
überhaupt entbehrlich sind, mag es doch gerechtfertigt sein, gerade
diesen Pilz näher zu charakterisieren, weil merkwürdiger Weise
diese allergefährlicbste Species, die, wie Studer richtig sagt, dreimal
mehr tödliche Vergiftungen hervorgerufen hat, wie alle anderen
Giftpilze zusammen, beim Volke kaum bekannt ist. Es ist auffällig,
daß beim Volke die giftige Wirkung des Fliegenpilzes und dieser
Pilz selbst ganz genau bekannt sind, während man von dem
schlimmsten und deletersten Giftpilze nichts weiß und andrerseits Ar-
ten zu Schreckgespensten gemacht und mit einschüchternden Be-
nennungen, deutschen, wie Hordpilz, und lateinischen, wie Lactarins
neeator, L. turpis u. a., belegt hat, ohne daß dieselben überhaupt
schädliche Wirkungen haben.
Tb. Httsemann.
F«r die SedAktion TerantwortUch : Prof. Dr. BiekM, Direktor der CMtt. fl^el. Ans.,
▲eeeMor der Königlichen Oesellecbaft der WiMenaek*flen.
F#rbV d0r JHtUtich'ickm Vmit4f9 'BuehkmuBmng.
Z^Mcl dsr DMmriOt'aehm üni9.'Suekärmcktr€i (fr, B'. Xat^lmtr),
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^
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I vM-y / lot./
Göitnrgische
gelehrte Anzeigen
nnter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften,
Nr. 15. 15. Juli 1887.
Preis des Jahrganges : JL 24 (mit den »Nachrichten d. k. G. d. Wiss.« : «^ 27).
Preis der einzelnen Nummer nach Anzahl der Bogen: der Bogen 50 ^
Inhalt: Paul de Lagarde , SelbstaioeiRe seiner leisten Schriften. — Sehoell-Stude-
mand. Anecdota. Bd. I. Yon Ho&rscMman», — Xrsberftttelse fran Sabbatebergs Sjakhns i Stockholm
for 1886. Yon Hmenuum.
= Eigenmächtiger Abdruck von Artikeln der G8tt. gel. Anzeigen verboten. =
Prohe einer neuen Ausgabe der lateinischen üebersetzungen des alten Testaments.
1886. 48 Seiten Oktav.
Catenae in evangelia aegyptiacae quae supersunt. 1886. yiii 244 Seiten Quart.
Novae psalterii graeci editionis specimen. 1887. 40 Seiten Quart.
Purim. Ein Beitrag zur Geschichte der Religion. 1887. 68 Seiten Quart.
Onomastica sacra. Zweite Ausgabe. 1887.
Mittheilungen. Zweiter Band. 1887. 388 Seiten Oktav.
' von Paul de Lagarde.
Es macht mir wenig Frende, über das Vorbandensein meiner
letzten, selbstverständlicb der Theologie dienenden Arbeiten in eigener
Person berichten zn milssen. Wer anter dem harten, vor 16 Jahren
in den Symmicta 1 78, 26 27 gefällten Urtheile steht, geht in immer
rascherem Tempo bergab: wer, wie ich, unter Anstrengung aller
seiner Kräfte die Wahrheit, wenn auch oft genng erfolglos, sacht, geht
berganf: so entferne ich mich von nicht wenigen derer, für die ich
za arbeiten scheine, naturgemäß immer mehr. Da ist das Ignorieren
des unbequemen Mannes die angezeigte Waffe, die ich heut pariere.
lieber die Gesammtausgabe meiner deutschen Schriften und tlber
eine kleine Sammlung meiner Gedichte zu sprechen ist unnöthig : flir
jene Schriften habe ich einen recht großen, recht dankbaren und stets
wachsenden Leserkreis. Was in der deutschen Studentenzeitung ver-
ständig und ausführlich schon am 7 März 1885 ff., was unlängst am
21 Mai 1887 in der allgemeinen deutschen Uniyersitätszeitung zu Ber-
lin, am 24 Hai 1887 in der Eronstädter Zeitung den Siebenbttrgenii
a«tt. g«l. Ana. 1887. Vr. Ifi. 40
578 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 16.
am 5 Juni 1887 in ihrem Tagblatte den Mainzern, and so weiter
nnd so weiter, ohne jedes Znthun seines Verfassers empfohlen, was
in dem Blatte, das in Wien die Bolle der norddeatschen allgemeinen
Zeitung spielt, non sine dts, am 12 Febraar 1887 mit Schmatze be-
worfen wird, was die Ehre hat, den rois de T^poqae höchlichst za
misfallen, das kommt schon darch die Welt, ohne daft sein Verfasser
selbst es za nennen nöthig hätte. Der dem Wichtigsten was ich zu
bieten habe, von der Jagend gespendete Beifall maß mich trösten,
wenn die Zanft mit der ihr eigenthOmlichen , wissentlichen Verleag-
nang der Wahrheit an meinen wissenschaftlichen Arbeiten vorbeigeht.
Daft Sabatier die Beste der alten lateinischen Uebersetznngen
der Bibel gesammelt hat, dürfte vielleicht sogar einigen Mitgliedern
der Zanft vom Hörensagen bekannt sein. Wie völlig fremd das Bach
selbst den anerkannten Wortführern der Zunft ist, erhellt aus folgenden
Thatsachen. In dem im Januar 1874 erschienenen Psalterium der
Herren CvTischendorf, FzDelitzsch, SBaer wurde (iv der Vorrede) ver-
sichert, daft Tischendorf für die von Hieronymus ans dem hebräischen
Originale gemachte Uebersetzung des Psalters den apparatus Saba-
tiers perpendit, nnd mit aus ihm acri iudicio den Text des Hierony-
mus recognovit. Nun beschäftigt sich Sabatier in seinem großen
Werke nur mit den aus der Septuaginta, also nicht mit den aus dem
Hebräischen geflossenen lateinischen Bibeln, nur für diese hat er
einen apparatus: das Psalterium iuxta Hebraeos Hieronymi gibt er
nur als Zugabe, nach seines Ordensgenossen Martianay Texte, und
ohne jeden apparatus. Jene Versicherung war — ja was war sie? Der
Eirchenrath und Professor der Exegese des alten Testaments, jetzige
Akademiker, Herr ESchrader, der de Wettes Einleitung in das alte
Testament neu herausgegeben hat, hielt gleichwohl für angezeigt, am
11 April 1874 (das recensierte Buch wurde am 20 Januar 1874 ver-
schickt) in einer Besprechung jenes Psalterium in der Jenaer Litera-
turzeitung drucken zu heißen:
insbesondere übernahm es GTischendorf auf Grand des Textes Yallarsis
[der so gut wie ganz und gar den Text Martianays, nicht einen eige-
nen Text gibt]
und QDter Hinzuziehung des Codex Amiatinus
[der für jeden mäAig orientierten Forscher ein contaminatissimus ist]
sowie auch der Varianten Sabatiers
[die zu dem herauszugebenden Werke gar nicht existieren]
den hieronymianischen Text zu edieren, eine Aufgabe, deren sich der hoch-
yerdiente Falaeograph mit gewohnter Sorgfalt entledigte.
Man mag aus dieser Becension ermessen, wie wenig den deut-
schen > Theologen c die Noth wendigkeit einleuchten wird, Sabatiers
Paul de Lagatde, Selbstanzeige seiner letzten Schriften. 679
ibneo dnrchans nnbekannteB Werk nea zu arbeiten. Der einzige, der
sich außer ERanke in Dentschland mit einer Weiterftthrang der Sta-
dien Sabatiers nutzbar beschäftigte, war Leo Ziegler. Vorjahren hatte
in der Schweiz OFFritzscbe eine Probe einer Neubearbeitung gegeben:
in England sind vieler wackeren Männer Gedanken dieser wichtigen
Aufgabe zugewandt: ich habe dieselbe seit über dreifiig Jahren nicht
aus den Augen verloren, und redlich gesammelt. War doch flir mich
der Text des Westens der unentbehrliche Prüfstein, an dem ich die
Echtheit und das Alter der Lesarten des Ostens nntersuchte. Nun
ist eine erhebliche Schwierigkeit die, daß die in Betracht kommenden
Handschriften fast alle uralt, oft auch noch ans anderen Gründen als
dem des höchsten Alters TcaiiiijXia, also nur in den sie bewahrenden
Bibliotheken oder gar Kirchen an Ort und Stelle einzusehen sind.
Man muß mithin reisen, und muß, um reisen zu können, große Mittel
besitzen, man darf kein Universitätsarat bekleiden: was mache ich
zum Beispiel mit Universitätsferien für Bom? Also, deutsch gespro*
eben, alte Handschriften sind für uns unbenutzbar, nnd Kritiken von
der Art der von den Herren os (meine Mittheilnngen 1 [171] 381 —
384) nnd DKaufmann (ebenda 2 280 281) geschriebenen blühen je-
dem nicht bei einer general-mutual-praise-insnrance-company Versi-
cherten zu, der, wie ich das gethan habe, — nothgedrungen — sich
auf den andern Theil des Sabatier, die Testimonia, beschränkt loh
bin der Meinung, daß praktischer als ich meine Probe eingerichtet
habe, die Sache sich nicht einrichten lasse. Ich besitze das Mate-
rial , die ganze Bibel in der Weise vorzulegen , in der ich in der
Probe Psalm a—i^ vorgelegt habe: mein Material ist sogar seit dem
Erscheinen dieser Probe durch die so sorgfältig bearbeiteten, neu er-
schienenen Texte der Wiener Akademie nnd durch Anderes in er-
freulichster Weise vermehrbar geworden. Ich habe aber das Gefühl
des Ekels — man verstehe mich wohl, des Ekels — über die die-
sen grundnöthigen Studien von der Zunft gewidmete Theilnahmlosig-
keit nicht überwinden können, nnd habe darum abgebrochen. Die
pars prior meines Lucian erschien im August 1883; bis hente (26
Juni 1887) sind von diesem Buche 204 Exemplare abgesetzt worden:
an eine große Universität, an der drei Individuen über das alte Te-
stament opinieren, kein einziges. Was sollte da ein neuer Sabatier?
der doch, noch mehr als Lucian und als @, nur Mittel znm Zwecke
wäre, Mittel nämlich zu dem Zwecke, ® herzustellen. Es versteht
sich ja auch von selbst, daß Menschen, die nicht wissenschaftliche
Wahrheit suchen, sundern als Advokaten einen Prozess zn führen nur
ternommen haben , auf Abhörung ihnen für ihren Prozess nnd die
Ueberredung der Richter nnd der Geschworenen niobto nützender ZeQ-
40»
580 Gott. gel. Ans. 1887. Nr. 16.
gen verzichten. Das liegt im Handwerke, und ist bei Handwerkern
durchaus in der Ordnung.
Die Gatene zu den Evangelien ist ans einer Handschrift des
Lord Zonche herausgegeben, die mir der Besitzer mit echt englischer
Hochherzigkeit zur Verftlgung gestellt hat.
Das Erste, was ich in Betreff dieses Buches zu thun habe, ist,
daß ich dem erlauchten Besitzer des Codex auch öffentlich (brieflich
ist es längst geschehen) ftir die in meiner Vorrede vorliegende Ent-
stellung seines Namens um Entschuldigung bitte. Lord Zouches Na-
men (so von ihm selbst geschrieben) trat in Briefen englischer Gor-
respondenten mit einem Male ohne das schlieftende E auf: da wir
nun Guericke für Guerike, Wulker für WUlcker, Ghwolson für Ghwol-
söhn haben erscheinen sehen, konnte fttglich auch Zonch fttr Zouche
von dem Herrn Träger des Namens selbst beliebt worden sein. Seine
Lordschaft mochte ich nicht fragen: ein ausdrücklich mit Erkundi-
gungen beauftragter — studierter, gelehrter — Eogländer schrieb
ausdrücklich zurück, »Zonche sei richtig, und verführte mich so zu
einer groben Ungezogenheit, die mir, als ich wieder einen Brief mei-
nes freundlichen Gönners erhielt, peinlich genug war, und es noch
heute ist. Den Namen meines erbärmlichen Informators werde ich
unter Umständen öffentlich nennen: vor solchem Gesellen muft man
warnen.
Die Handschrift, aus der ich herausgegeben habe, war von dem
Vater des gegenwärtigen Besitzers, dem Hon. B. Gnrzon, der natür-
lich selbst Koptisch nicht verstand, auf Grund der Aussagen eines
französisch schreibenden Gelehrten, in das Jahr 395 n. Ghr. gesetzt
worden. Nachdem WWright öffentlich seinen Unglauben an diese
Datierung ausgesprochen, und aus der im Godex häufigen Nennung
des Severus von Antiochia gerechtfertigt hatte, äußerte sich der Bi-
schof von Durham über das Werk, ohne das Rechte zu treffen. Die
Handschrift ist vom Schreiber selbst datiert, und zwar aus 605 der
Märtyrer, also 888/889 nach Ghristus. Wer die datierten bohairi-
schen Handschriften des Vatican gesehen hat, könnte das Alter auch
^hne diese geflissentliche Angabe bestimmen: bevor ich das Datum
gefunden, setzte ich den Godex nach dem Facsimile in das zehnte
Jahrhundert.
Die Handschrift ist in der abscheulichsten Weise verbunden, was
mir viel Mühe, Zeit und Geld gekostet hat Auf ihren 256 Blättern
stehn große Stücke der bohairischen Uebersetzung der Evangelien,
•mit einer aus Ghrysostomus , Gyrillus, Severus von Antiochia und
Titns [von Bostra] zusammengetragenen Erklärung. Seltener werden
andere Väter benutzt: Athanasius, Basilius, Glemens von Born, Gyrill
Paul de Lagarde, Selbstanseige seiner lelaten Schriften. 681
▼on Jernsalem, Didymns, Epiphanias, Eaagrios, Ensebins, mehrere
Qregore, Irenaeas, Severianas von Gabala. Man sehe mein Register.
Der Styl des Bnchs ist noch got, der Text der Evangelien ^) alt :
derselbe wird für meine Aasgabe des koptischen neaen Testaments
benatzt werden. Den Dieben gegenttber sind die nöthigen Vorbehalte
gemacht. Es sind von dem am 6 März 1886 erschienenen, ganz anf
meine Kosten gedrackten Bache bis heate 27 Exemplare verkaaft:
mir fällt nicht ein, meine Arbeit von dem ersten besten Indnstrie-
ritter, als ob sie herrenloses Gat sei, aasplttndem za lassen. Wonach
sich zn achten. Vergleiche die Vorrede zam Hartzt.
FOr Jeden, der aoch nar das allerkleinste MaB von Einsicht be*
sitzt, and noch irgend einer Begang des Gewissens fähig ist, maß
1) Von ganz besonderem Interesse für mich war die Auslegung des Yater-
nnsers. Herr Staatsrath Leo Meyer hat NGGW 1886, 245—269 über den <SpToc
iirio6aioc gehandelt, ohne Yon dem Kenntnis genommen zu haben, was der Bischof
von Dnrham, JBLightfoot, in seiner 1871 nnd 1872 erschienenen [ganz yergrÜfie-
nen] Schrift on a fresh revision of the English New Testament über den Vor-
wurf seiner Abhandlung vorgetragen hat: ein dem Herrn Meyer »nahe befreun*
deter, sehr namhafter Orientalistc [Herr ThNoeldeke ?], wuBte, als er ihm Aus-
kunft gab, ebenfalls von Lightfoots Arbeit nichts: von Suicers Artikel ^7no6a(oc
vermuthlich ebenfalls nichts. Daß die Herren Meyer und Noeldeke keine Theo-
logen sind, ist ja bekannt, so daß eine ausdrückliche Erinnerung an das in dem
Schriftchen »die revidierte Luther bibel« 9 10 von mir Vorgebrachte, wie an die in
Gappadocien und NordAfrica umlaufende Gestalt des Gebets (Gregor von Nyssa 1
787^ ff. der Pariser Ausgabe von 1688, Tertullian gegen Marcion h 26) vielleicht
am Platze ist Moderne Schriftsteller, die nicht bei einem Ringe versichert sind,
müssen sich freilich gefallen lassen, daB man ihnen Einzelheiten aus ihren Ar-
beiten herauspflückt: das Vaterunser zu deuten sollte doch Niemand unterneh-
men, der nicht über das Ganze desselben eine Anschauung, und nicht einen Ein-
blick in die Geschichte dieses Gebets erworben hat. Wenn Herr Meyer 246 schreibt
»so bleiben wir also genöthigt, auf rein griechischem Boden vorw&rts zu gehende,
und 269 auf den »aram&ischen Ausdruck« hinweist, der dem inio^aioc zu Grunde
liege, so ist das ein Widerspruch. Der Gedanke durfte auch NichtTheologen
kommen, nach ausdrücklichen Zeugnissen über das Original des imo\}tsioi zu fra-
gen. Der Bohairier (diese Gatene 18, 82) nenmiR n*re p«^c^ = unser Brot
für morgen, der Qftidier (Woides Appendix 7) nenoeiR cT-nirjf) was Woide »pa-
nem nostrum venturum« überträgt (er h&tte dreist t6v fA^ovt« schreiben dürfen):
dies vergleiche man — alt genug ist es, und die Verschiedenheit des Bohairiers
und des Qatdl beweisender als die Identität — mit Hieronymus 7 34^ (der ech-
ten Vallarsiana): in evangelio quod appellatur secundum Hebraeos, pro supersub-
stantiali pane repperi mahar [zwei Hdss moar , andere maar], quod dicitur cra-
stinum. In der neunten, von den Herren Staatsr&then Mühlau und Voick besorgten
Ausgabe des Gesenius steht nniD »morgen« 1 468, in Gastle-Michaelis t«*30 B
498, bei JLevy ' ^pD 8 ^2^ Vergleiche die zweite Bulaker Ausgabe der tausend
und einen Nacht 4 288, 16: der Bedarf für morgen wird morgen kommen =3
^^ S v^ ^^ '^j' ^^9^F^ Matth. 6, 25 ist weder icpovotiv noch npooeuxeodau
B82 G5tt. gel. Ans. 1887. Nr. 15.
es zur Zeit nnmöglich seio, das alte Testament anszniegen, über die
Beligion der alten Israeliten sich zn änßern, die sogenannten isago-
gischen Fragen zu besprechen^ wenn er nicht fttr seinen Privatge-
branch vorher den Text dieses alten Testaments kritisch festgestellt
hat: wie er das von heute anf morgen machen will, kann ich freilich
nicht sagen, and ich weift anf diesem Gebiete doch so leidlich Bescheid.
Wenn sich ein Vertreter der classischen Philologie unterstände, des
Plinius Naturgeschichte aus einer getreuen Wiederholung der 1469
von Hans aus Speier besorgten Ausgabe zu erklären, ohne von Her-
molaus Barbaras und den vielen in Handschriften und Parallelen be-
stehenden, zur Emendation des Schriftstellers dienlichen Httlfsmitteln
Gebrauch zu machen, so würde die Fakultät, welche von einem sol-
chen Subjekte verunziert würde, beim vorgesetzten Minister wegen
der Entferaung des Burschen vorstellig werden. Die »Theologen«
legen Jahr aus Jahr ein den Canon der Juden ans, ohne im Minde-
sten sich um die Verläßlichkeit des ausgelegten Textes gekümmert
zu haben: die sich am Nettesten Vorkommenden unter ihnen naschen
dann und wann an den Materialien des systematisch zu bearbeiten-
den kritischen Apparats. Dafür haben sie freilich die > höhere« Kri-
tik, die Gesinnung und die Dogmatik. Ein Artikel wie der des Pro-
fessor GFMoore im Andover Review 1887, 93 ff. ist in Deutschland
meines Erachtens, wenn nicht unmöglich, so doch allen den das Wort
führenden »Sachverständigen« verschiedener Tendenz gegenüber ohne
jeden Erfolg. In GroflBritannien ist der Sinn für Wahrhaftigkeit bei
den Theologen wenigstens dem neuen Testamente gegenüber vorhan-
den: man sehe nur die mühseligen Arbeiten der Oxforder Gelehrten
an. Ich hatte 1884 eine große Ausgabe des Psalters in Arbeit, grie-
chisch, lateinisch, mit kritischem Gommentare zum Originale, dessen
fünfundzwanzig erste Lieder ich bereits hatte absetzen heißen, als,
von WWright angemeldet, TbKAbbot in Dublin mir von einem dem
letztgenannten Unternehmen ähnlichen Werke schrieb, das er selbst in
das Auge gefaßt habe. Ich bin darauf hin (mein Brief vom 6 Oktober
1884 theilt dies noch nicht mit) von der Ausführung meines Planes
abgestanden*, und habe (vermuthlich in Folge des von dem berühm-
ten Herrn Abraham Berliner [meine Mittheilnngen 3 285] an mir
entdeckten Neides) meine schon gedrackteu Textbogen kassiert, ohne
daß bislang von Herrn Abbot auch nur eine Zeile veröffentlicht wor-
den wäre: mein Opfer scheint umsonst gebracht worden zn sein.
Schließlich bin ich auf den Gedanken gekommen, meiner Septuaginta
den nöthigen Apparat beizugeben. Wie ich mir die Arbeit gedacht
habe, zeigt mein Specimen. Dasselbe ist anfänglich in dem Quart
der Catena gesetzt, nachmals, als ich meinen Mnth dem bekannten
Panl de Lagarde, Selbstanseige seiner. letiten Schriften. 588
Pablioum gegenüber erlahmen fühlte, — anf meine Kosten (and bil-
lig war die Geschichte nicht) — in das Format der Abhandlangen
nnserer Gesellschaft der Wissenschaften ambrocben, and fflr 1,80 Mark
der Nicbtachtnng der Zanft »prostitaiertc worden. Zn lernen wird
vielleicht das Eine oder Andere aas dem Hefte sein. 2, 18 schreibe
qua fttr quae: 34, 13 von anten nndVK für näStitt (die Schrift der
Semiten ist nicht daranf eingerichtet, darch den heatigen Bachdrack
vervielfältigt za werden).
Mir macht es Spaß, an Einem Beispiele zn zeigen, daß doch
Manches anf einen richtigen Text — beispielsweise der Psalmen —
ankommt. In dem za besprechenden Falle lehrt die in ® stehende
richtige Lesart, daß der Psalm nicht am 169, sondern 701 vor Christas
geschrieben ist. Die Seligkeit hängt nattlrlich fttr Niemanden an diesei'
Einsicht: einem Theologen dürfte sie nicht anwichtig scheinen.
Man weiß , daß Psalm 44 , 20^ ts^it? tapttl gelesen wird = an
einem Schakalplatze. An diesen Ansdrack heftete FHitzig folgende
»höhere Kritik c:
Eignet das Schriftsttück also der makkabäischen Zeit, so kann
es sich nar noch am den besonderen Vorgang innerhalb dieser
Periode fragen, anf welchen dasselbe Bezag nimmt Eine Schlacht
ist verloren worden , aas der ttbrigens der jüdische Anftlhrer,
welcher hier spricht,
[ein preußischer General wtlrde nach einer Niederlage kaam Verse
machen, am allerwenigsten Verse, wie die im Psalm 44 stehenden]
entkam, and es läßt sich keine andere passende Beziehang absehn
[für Hitzig nämlich nicht],
als jene Niederlage des loseph and Azarias 1 Maccab. 5, 56 —
62. Ihr Ort war die Gegend von lamnia, derjenige* im Psalm
ist (Vers 20) eine Stätte der Schakale: für die Erinnerang nnn
daran , daß dort an der philistäisch-danitischen Grenze Simson*
einst seine 300 Fttchse, d. i. Schakale . . .
[Fachs ist, entschaldige der Herr, nicht Schakal: II? =s 'k>u (trotz
Herrn Fleischer bei Herrn JLevy 2 265 noch 1879 TTT^) = ^^W ^\
(wozo D*^») nicht ^T{l6 »: "^jjl = yJLna]
fieng, hat Hapfeld nar — ein Aasrafangszeichen. Aber noch
Hasselqaist fand den Schakal hänfig zwischen loppe and Ram-
leb* and znfolge* von Seetzen (Reisen 2 68) soll er »in
erstaanlicher Menge« da gewesen sein.
[Seetzen — 1806 — schreibt: Die Tschakale, die sich vormals in er-
staanender* Menge am R&mle aafgehalten haben sollen, müssen sich
seitdem sehr vermindert haben. Wenigstens hatte ich keine Gelegen-
heit aach nar Einen za sehen, oder des Nachts schreien za hOren.]
684 €Httt. gel. Arn. 1887. Nr. 16.
Die Gegend konnte somit passend vor andern Stätte der Scha-
kale heißen: irgendwo aach mafi der Ort des Treffens gewesen
sein :
[wie weise: aber der Psalm redet von gar keinem Treffen]
wohin nnn verlegt dasselbe der Mann
[Hnpfeld] ,
welcher, ohne besser za machen, tadelt?
Hier ergießt die in meinen Mittbeilangen 3 297 genannte Tonne ihr
würziges Naß.
Nnn übersetzt aber ® jenes D'^an durch xaxaösmgy das heißt, er
hat D'^DKti vorgefunden (Ezechiel 24,12), in dem ihm lfi( nicht Lese-
mutter war: vergleiche Isa. 3, 26 ^3K taiCBivmd^ifovtMj Threni 2,5
tWt^ n^^ttl*) taitBivovndvi^ xal tataytsi,v(oiidvi^. Ezdras 12, 13 wird
l'^srn y^^ von Lucian ^riyil rov dgaxovtogy von ® xtiyij x&v 6vk&v
ttbersetzt: Letzterer fand also "p^nn, und deutete ^)i. Die Phrase
ü^^r\ Dpttä nd'n ist artikellos wie Begn. y 22, 27 die andere b'^dKn
frb Dnb und leremias 8, 14 die dritte mh "^ ^^ßtn, und der ge-
meinte Ort ist Jerusalem, in dem Ezechias von Sennacherib einge-
schlossen war: vergleiche
Psalm 44, 17 Sj-nÄW t|nrro Isaias 37, 12 ^^W bs tiK mr^ Toto
önnb nb« 'i«« Tnrw
Isaias 37, 23 WnV} Pjem "^ inK
Isaias 37, 24 '^sh» Wonn V'^» TÄ
Das '^1^'^! Q*!^? spricht nicht gegen die Zeit des Ezechias, in
der ludaea voll Juden, Samaria voll Samariter war, wie in der Mao-
cabäer Tagen. Psalm 44, 18 rtthmt die Jabwetreue des Volks: das
paßt auf die Zeit des Ezechias: der Psalm fällt auf den Tag vou
Isaias 37, 14>).
1) Psalm 46 gehört nach Isaias 37, 86. npil 1D''W»1 I»»« 37, 36 = ni3sS
*)pl ^salm 46, 6. Psalm 46, 9 ist t3(2f ^on niDB^ vielleicht aus dem yorherge-
henden Dtt^ entstanden : ni ist zu n&*)D zu ergänzen. Die That Gottes war keine
1^^^, kein orj^eiov, keine Bestätigung f&r Glaubende, sondern ein n^lO» ^^^ '^'
pac für Nicht-Glaubende : meine armmtischen Studien § 24^. Unbegreiflich, daS
aus i& nicht längst nfilD hergestellt ist.
Seit 1878, in welchem Jahre ich das erste Heft meiner Semitica herausgab,
ist die Grundlage für das Verständnis von Isaias 7 gelegt. Die TtuTj) ist des
Achaz Königin. Ezechias war, wenn man Regn. S 18, 13 und 2 zusammenhält, |
701, als Sennacherib vor lerusalem erschien, rund 24 -f- 15 = 39 Jahre alt, also |
740 geboren. Isaias 7, 1 wird nicht genau datiert: ich werde mich hüten, mich
in die Händel der Assyriologen zu mischen. Jene 24 + 15 Jahre als richtig
vorausgesetzt, träfe des Sohnes der noSy C^eburt auf 740, wenn Ezechias dieser
mühjf ^^^ ^B^' I^Aun verstände man auf einmal den Kehrvers des Psalms 46
Paul de Lagarde, Selbstanzeige aeiner leUten Sohriften. 686
Da man heat zu Tage immer auf ttbelsfcen Willen bei den Le-
sern reehnen muß; verwahre ich mich — am mir eine Antikritik za
ersparen — schon jetzt gegen die Unterstellong, als ob ich die von @2@
gebotenen Varianten stets dem Texte äRs vorziebcn wolle, and mache
daraaf aufmerksam, daß man @ müsse lesen können, ehe man ihn ver-
wendet: etwa Psalm 75, 6 ist xaxä tov ^sov »= ^^, vgl. Nam.
12, 8 21,7 lob 19, 18 Psalm 50,20 78, 19 and Deut. 32, 4 Begn. a
2, 2 KKircher 1269. Ich verwahre mich aach gegen die andere
Unterstellang, als ob der wahre Text ohne gelegentlich gegen alle Zeu-
gen angehende Gonjectur gefunden werden könne. Ich setze zum
Beispiel ohne Bedenken Psalm 50, 23 aus Vers 14 "in: ü)iWm flir
trj*!! taten, und 52,3 aus Vers 9* 3Ä, 9* S TJ«:? aha fllr'nlaan TVSyi^
wie 48i 3 l(W) für l^ta (Hafis 385, 2' der Zählung Sudis, deutsch
von Bflckert in meinen Symmicta 1 182: vgl. Psalm 69,14 Isa.49, 8
58,5 61,2), und bedaure, daß ich die nach 50,21 fehlende nrwr\
nicht schaffen kann. Vieles im Canon der Juden ist hoffnungslos
verderbt.
Die Abhandlung über Purim versucht den Namen Purim als aus
persischem Fröharan entstellt zu erweisen: was über den Kalender
der Perser gesagt wird, empfehle ich der Prüfung aller derer, die
in der Geschichte etwas mehr sehen als Notizen, und die vom Alter-
thume mehr erwarten, als einen nachtschwarzen Rahmen, von dem
das Bild ihrer eigenen, in freundlicher Aufklärung und mit Menschen-
liebe flbernähtem Hasse lenchtender Persönlichkeit gehoben wird. »Wie
wir es dann so herrlich weit gebracht«. Das mit Vokalen verseh-
bare Cicero-Hebräisch der akademischen Druckerei stammt aus der
Periode der Lias: im Reindrucke gibt das abgenutzte Zeug mitunter
mit seinem ^^t^y nM3^ TiyiV' Jahwe, der Alles was er yerheiSen hat, werden
läßt (davon tr> er ja den Namen), hat vor der Geburt unseres Königs ihm den
Namen Emmanuel beilegen heiten: jetzt zeigt sich, daS 7^ *ÜDU* ^^ ^^^^ ^o
tiefsinnig and correct wie das 7')nB^ = {jtrcaTCB^uxeuiJi^ov Psalm 1, S = aas Car*
rhae nach Ghanaan, von da nach Aegypten, von Aegypten abermals nach Cha-
naan, dann nach Babylonien, und ein drittes Mal nach Ghanaan „verpflanzt*^.
Aber selbst wenn nicht Ezechias der Emmanuel genannte Sohn der T\u7\J w&re,
die Signatur der Epoche des Isaias sind die S&tze 2W ItW ^^^ hwi210)jt und
unser Psalm wiese durch seinen Kehrvers doch auf jenes alte Wort des Isaias,
des Davididen.
Jene Berechnung däucht mich so gewis wie die andere, in meinen Vorlesun-
gen vorgetragene, daß die Tempelweihe des Psalm 30 die unter Darius den Ersten
fallende ist, und daB die 70 Jahre Exil von dem Aufhören des Opferfeuers 586
bis zu dem Wiederanzünden dieses Feuers im Jahre 616 laufen: ein Theologe
sieht das Elend in dem Fehlen der geistigen Heimath, nicht in dem Verluste des
irdischen Vaterlandes. Auf Zustimmung der Herren Dillmann und Noeldeke habe
ich hierf&r natürlich nicht zu rechnen : doch das schadet wenig.
586 Gott. gel. Ans. 1887. Nr. 15.
Punkte her, die in den Correctnrbogen, mttde wie sie waren , nicht
anfBtanden, and umgekehrt: nm der Kritiker willen, denen die Wahr-
heit heilig ist y bemerke ich , daB es 56, 5 '^^P , nicht '^'n!!? heiften
mnft. Jetzt werden nun vermnthlich unsere neuen (Drngulinschen)
Gorpustypen den Einen Punkt des >^ nicht in allen Abdrücken der
Bogen zeigen. Also Veranlassung zu tadeln bleibt zu ihrer Freude
jenen Gelehrten dennoch. Einer nicht entschuldbaren Flüchtigkeit ist
die falsche Bubricierung 44, 23 24 entsprangen : natürlich gehören
zur Nummer 5 bei den Juden »Vögel und Fischec, während die
Landthiere vor den »Menschen« genannt werden müssen. Die Rech-
nung wird dadarch noch ungünstiger für die jüdische Urkunde, die
Thatsache ist selbstverständlich nach meinem Psalterium Hieronymi
163 (oben) weiter auszuführen.
Als mein Heft erschienen war, wies mir QHoffmann unter dem
30 Juni 1887 ans Assemanis BO 8 2, 23 h««QA als convivia Mago-
rum Seleuciae nach: über den Wechsel von n und n handele NOl-
deke, mandäische Grammatik 59 ff. Den Mohtt alMohtt besitze ich
als ein dankenswerthes Oeschenk meines Schülers WRSmith: ich
hatte ihn thörichter Weise über ^ nicht nachgeschlagen, und trage
hier aus ihm nach, worauf GHoffmann mich aufmerksam gemacht
(2 1638):
Diese Tradition nachzuweisen, habe ich jetzt keine Mnfte: ich
bitte nur, von Lane 1333^ zu lernen, daß der Jj^ der Kleider eine
charakteristisch jüdische, den Arabern misfallende Sitte war. Die-
selbe ist zu den Juden — was sehr für meine Auffassung des ^
paftt — von den Persern gekommen: Freytag 2 301 genügt zum Er-
weise, daß i^Xm aus «t«>JUM oder «^oami entstanden ist: vermuthlich ist
H^IjüyM (Dozy, dictionnaire des vStemens 201) irgendwie verwandt
Das von Kafägt 118 besprochene Wort ist bereits von Oauhart rich-
tig aufgefaßt worden. Ich hoffe, die interessante Vokabel in ande-
rem Zasammenhange ausführlich bebandeln zu können: man muß
tief in die Realien eingehn , um die Worte zu verstehn.
Ich habe Veranlassung zu der Erklärung, daß ich 26' meiner
Abhandlung, wie eigentlich was ich geschrieben habe, hätte ohne
eine Erinnerung meinerseits zeigen sollen, recht viele Parallelen zu
der von Bfirünt erzählten Geschichte kenne. Ich esse nicht gerne
lactuca virosa, daher diese Warnung für die Freande derselben.
Paul Haupt hat mich, nachdem er meinen Aufsatz gelesen, darauf
aufmerksam gemacht, daß nach Herrn EMeyer, Geschichte des Alter-
thums 1 506, »das Avesta ans Ende^ nicht an den Anfang der Reli-
Paal de Lagarde, Selbstanzeige seiner letzten Schriften. 587
gioDsentwicklciDg gehörte: »es wird in der späteren Arsakidenzeit,
und zwar yennnthlich zanächst in dem* bekanntlich unter eignen
Königen stehenden Persis, ttber dessen* Geschichte in dieser Zeit
wir leider gar nichts wissen, entstanden, unter den Sasaniden zum
Abschluß gebracht seine Vergleiche meine Mittlieilungen 1 149
(Mitte) [Anfang 1883], Beiträge 10,18 (»nach Lucullns«) 18,33 25,
20 28,25 46,7 [1868], gesammelte Abhandlungen 45,10 46,2' 62,8
180,12 [1866]. Haupt verweist mich in Betreff des cilicischen San-
des auf SASraiths eben erschienenes Buch »die Keilinschriften Asur-
banipals (668 — 626 vor Christus)€, in dem in einem Texte Sarda-
napals 16 = 17, 75 Sandasarmg als König Giliciens genannt wird,
in welchem Namen wohl Udvdrig stecke. Haupt citiert mir weiter
EMeyers Aufsatz ZDMG 81 736—740.
Einige Leser meiner Abhandlang tlber Pnrim haben dieselbe
schwierig gefunden: es liegt mir daran, den diesen Lesern gleich-
werthigen Personen einen Leitfaden für das Studium meiner Schrift
zu geben.
Das Buch Esther liegt uns in mehr als .Einer Gestalt vor : wei-
tere Formen der Sage sind uns — nicht als eigene Bücher — bei
arabischen Schriftstellern erhalten.
Der Name Purim, der in dem canonischen Buche Esther nicht
ausreichend motiviert wird, ist uns als Purim, Fuhr, Ful^r, OgovQcUa,
OovQÖaia bekannt, die beiden letzt genannten Vokabeln sind ara-
mäische Plurale. OQovgaia findet sich auch bei losephus. Das ara-
bische Ffir bedeutet das Neujahrsfest. Richtig wird nur diejenige
Deutung Einer dieser Formen sein, die auch den Übrigen mit gerecht
wird.
Der persische Kalender hat sich im Laufe der Jahrhunderte
verschiedentlich geändert. In Einer seiner Kedactionen sind die
Farwardtgfin (das Fest der Farwar oder der den Individuen des
menschlichen Geschlechts zu Grunde liegenden Ideen) das Neujahrs-
fest. Der Name Farward = Farwar = Frawa&i lautet in Einem
eranischen Dialekte Frohar.
Dies Frohar ist meiner Ueberzeugung nach as Fuhr Fnkr Fdr.
Der Kalender der Perser, der jetzt ganz oder zum Theil noch
gilt, ist in dem Reiche der Achaemeniden , deren Inschriften andere
Monatsnamen als die heute üblichen zeigen, nicht gebraucht worden.
Dieser jetzt geltende persische Kalender ist ein d'€oXoy(y6ii$vov
der SasanidenZeit, dessen Bedeutung sich errathen läßt.
Aber dieser Kalender hat recht zahlreiche ältere Bestandtheile
in sich aufgenommen: zu diesen gehört die echt zoroastrische Lehre
von den Perioden der Schöpfung, welche schon in Genesis 1, um 450
688 Gott, geh Ans. 1887. Nr. 16.
vor GbriBttts, bekämpft, also als vorbanden voraosgeeetzt wird: zu
diesen gebort aacb der Glaube an die Farwar, der eine Qrnndveste
der Weltanscbaonng Zoroasters ist.
In einer im Talmud erhaltenen, also in die Epoche der letzten
Arsaciden oder der Sasaniden gehörigen Liste der persischen Hanpt-
feste erscheinen Nansardi (das Nenjahrsfest) , Ttrag&n (Ttrfest, im
vierten Monate), Mt^Qaxava (Mitbrasfest, im siebenten Monate), end-
lich "p^nita oder psi'itt. Letzteres scheint bis auf weiteres mit dem Ffir
Fuhr Fuhr der Araber, also mit den D'^^'lfi, OavgScua^ 9(fovQ€cuc der
Juden identisch : ich deute F[rjöhar&n ^ Farwar[djfest, das danach in
der (unbekannten) Heimath jener Liste noch nicht Neujahrsfest gewescA
wäre, sondern den alten Platz im achten Monate des persischen Jah-
res inne gehabt hätte. Nehmen wir dies an, so ist die Reihenfolge
der vom Talmud genannten (groften) Feste der Perser der Folge der
Monate entsprechend.
Das Farwar[d]fest , das ein Totenfest eigenthfimlicher Art war,
gieng nach Armenien über, natürlich unter den Arsaciden, die in
Armenien eine Secundogenitnr hatten. Der Name wurde dort um*
gedeutet: der Monat H&otiz ist der Monat der Frddtan s=s t&v vbq-
xdQoyi/: HBotiz ist ein Genetivus Pluralis, hBot »= fröd.
Kein wirklich gefeiertes Fest dauert irgendwo und irgendwann
in der ursprünglichen Gestalt. Ostern, Pfingsten, Weihnachten haben
eine lange Geschichte: aus ihrer jetzt in Deutschland gültigen Be-
deutung darf man nicht auf ihren ersten Sinn scblieften. Was von
ihnen , gilt auch von den Heiligenfesten , gilt überall. Darum kann
auch Purim einer altEranischeu Feier seinen Ursprung verdanken,
ohne bei den Juden den Sinn dieser altEranischeu Feier zu haben.
Aber Purim — der Mardochaeustag — wird in den verschiede-
nen die Geschichte der Esther behandelnden Schriftstücken nicht als
Fest, und nicht als eine Thatsache der Geschichte behandelt. Jene
Schriftstücke sind rein willkührliche Compositionen, zur Erheiterung
der sich ihrer bedienenden Juden bestimmt, und darum gerade den
schlechtesten Seiten in der Natur dieser Juden zu gefallen trachtend.
Diese Schriftstücke sind mit den Arbeiten der von Lucian in der
AXtfi^g t6to(fia verspotteten Romanschreiber und Novellisten des
späteren Hellenismus gleichwerthig, vielleicht auch ungefähr gleich-
zeitig.
Die Onomastica sacra erschienen zum ersten Male im Jahre 1870.
Sie sollten sowohl meiner Ausgabe der LXX wie meinen Studien se-
mitischer Grammatik dienen. Das mühseligster Arbeit bis zum Bande
volle Buch ist unbeachtet geblieben, der gröAeste Tbeil der Auflage
an preuftische Gymnasien verschenkt worden , in deren Bibliotheken
Paul de Lagarde, Selbstanzeige flreiner letzten Schriften. 589
68 seitdem so nogenatzt gestanden hat and weiter stehn wird — ne-
ben Lneian nnd vielem andern — wie ein Nicol oder ein Perrot-
scher Gasofen bei den Anwohnern des Gap Horn stehn würde. Kein
Mensch hat mir je für die beschwerliche Gitiernng der Bibelstellen
nnd fttr die Register gedankt.
Jetzt ist zum ersten Male des Easebius Bach über die Orte Pa-
laestinas aas dem Archetypus aller unsrer Abschriften herausgegeben
worden. Woraufhin Gustav Parthey in die Berliner Akademie ge-
wählt worden ist, weiß ich nicht: unter allen mir bekannten Arbei-
ten des Mannes ist die mit Larsow zusammen verttbte Ausgabe des
beregten Buches des Eusebius wohl die erbärmlichste: man kann
das schon daraus schließen, daß sie von den »Theologent so viel
»gebraucht« wird. Eusebius folgt der Reihenfolge der biblischen
Bücher: nur wenn diese Reihenfolge bewahrt wird, wissen wir von
welchem Orte Eusebius redet: Parthey - Larsow haben Alles in die
alphabetische Reihenfolge umgestellt. Wenn Parthey die römische
Handschrift verglichen hat, so weiß ich nicht was vergleichen heißt.
Mein Register ist in Folge meiner Collation um viele Namen erleich-
tert, um einige bereichert worden. Erst jetzt wird man anfangen
können, das — übrigens sehr überschätzte — Buch für die Wissen-
schaft zu benutzen. Der lateinische Theil der ersten Ausgabe ist
im wesentlichen unverändert, verbessert nur dadurch, daß die An-
merkungen, welche früher um der Unfähigkeit der Göttinger Setzer
'Willen in den zweiten Band gebracht worden waren, jetzt, da ich
reichlich gute Setzer erzogen habe, unter dem Texte stehn. Daß
sehr viele alte Handschriften der lateinischen Stücke vorhanden nnd
von mir nicht benutzt sind, weiß ich selbst. Oben 579, 14 ff.
Wider Willen habe ich bei diesem Werke den am Ende des er-
sten Bandes meiner Mittheilungen und sonst für die Nachwelt auf-
bewahrten Herren eine Freude gemacht. Ich hatte eigentlich — aus
taktischen Gründen — die Absicht, die Onomastica als einen Theil
einer größeren, aus drei Bänden bestehenden Sammlung iMonu-
menta« erscheinen zu lassen. In diesem Denken ist der Druck des
Bandes mit einer schon in den Actis Sanctorum veröffentlichten, von
mir nach dem einzigen vorhandenen, in der Barberiniana zu Rom auf-
bewahrten Codex revidierten Vita Gregorii Armeni begonnen worden :
Agathangelus sollte den zweiten, die Acten der Ripsima sollten den
dritten Band beginnen. Ich wünschte dadurch, daß ich die drei nur
in Vergleichung mit einander zu benutzenden Stücke in drei Bände
vertheilte, das Lesen derselben zu erleichtern. Ich konnte den Plan
nicht darchftthren , und obgemeldete Herren werden nun gerne die
Gelegenheit zu einem Tadel darüber benutzen , daß in den Onoma-
690 Q6tt. gel. Adz. 1887. Nr. 15.
stica sacra ein nicht in dieselben gehöriges Stück steht. Wenn
meine Bücher mir die auf sie verwendeten Kosten wieder einbräch-
ten, würde ich — des mögen jene Leute versichert sein — die er-
sten anderthalb Bogen haben Umdrucken heißen.
In den Onomastica steht sehr viel Wichtiges, aber man muß et-
was wissen, um es finden zu können, und man muß sich sehr ernst-
licher Arbeit unterziehen, um das Gefundene zu nützen. Unsere
Exegeten des alten Testaments aber können nichts leiden was sich
nicht naschen läßt, und haben gar nicht die Absicht zu wissen, son-
dern wollen irgend welche dogmatische Latwerge kochen.
Der Plan, jene Monumenta vorzulegen, ist nicht aufgegeben
worden.
Die Arbeit des Herausgebens ist durch meine Onomastica nicht
gethan, sondern angefangen: ich lege nur einiges Material vor, des-
sen der Arbeiter nicht entrathen kann. Die Accente sind nicht zuver-
lässig. In sich folgerichtig ist die Behandlung des Textes nicht durch-
weg: wer aus den auf den einzelnen Bogen vermerkten Zeitangaben
ersehen will, über wie lange Zeit der Druck sich in Folge der per-
sönlichen Verhältnisse des Herausgebers hingeschleppt hat, wird dies
entschuldigen. Vom Juni 1885 bis zum August 1887, wann es eben
gieng I !
Der zweite Band der Mittheilungen enthält erstens eine Reihe von
mir in Zeitschriften geschriebene Artikel, auf die ich sowohl wegen
ihres Inhalts, als weil sie für mich charakteristisch sind, Werth lege.
Er enthält zweitens — wie auch der erste Band dies that —
bisher noch nicht bekannt gewordene Arbeiten. Nämlich 1. Erinne-
rungen an Friedrich Rückert: 2. Lipman Zunz und seine Verehrer:
3. ein Eine Seite langes Corollarium zu dem oben besprochenen Spe-
cimen : 4. des Hieronymus Uebertragung der griechischen Uebersetzung
des lob: 5. Juden und Indogermanen, eine Studie nach dem Leben:
6. aus Prolegomenis zu einer vergleichenden Grammatik des Hebräi-
schen, Arabischen und Aramäischen. 233 der 388 Seiten sind nur
in diesem Bande zu finden.
Davon ist 1 das nnanstößigste , 4 das unvollkommenste Stück:
ersteres mit Symmicta 1 177 ff. zusammenzuhalten.
Hieronymus hat die alte griechische Uebersetzung des lob in
das Lateinische übertragen. Von dieser dem Septnagintakritiker un-
entbehrlichen Arbeit sind meines Wissens nur zwei Abschriften be-
kannt, deren erste in Oxford liegt, deren andere ich in Tours wie-
dergefunden habe. Eine musterhaft sorgfältige Abschrift des Oxfor-
der Codex hat mir Herr Professor Driver zum Geschenke gemacht,
eine Vergleichung des Mannscripts von Marmoutier-Tonrs LDelisle
Paul de Lagarde, Selbstanzeige seiner letzten Schriften. 591
mit oft erprobter Güte durch Herrn Goudere für mich anfertigen
heiften. Die Ansgabe Martianays erwies sich als ganz nnzuverlässig,
die Hand des Hieronymns als vorläufig nicht herstellbar. Ein wich-
tiger Schritt vorwärts ist gemacht: wir wissen jetzt was die zwei
erhaltenen Handschriften bieten, auch an Asterisken und Obelen.
Die Stttcke 2 und 5 beziehen sich auf einander. Es hatte drei
Rabbinern gefallen, die Promotionsschrift meines Schttlers Ludwig
Techen zu einem Angriffe auf mich zu benutzen : denn Techen war
nur Vorwand. Dieser Angriff wäre danach angetban gewesen , den
Staatsanwalt mit den Herren bekannt zu machen. Ich hielt es ftlr
der Sache förderlicher, statt das formelle Recht anzurufen, sachlich
zu verfahren, und den verstorbenen Lipman Zunz, den Teeben ver-
unglimpft haben sollte, einem gröfieren Publicum vorzustellen. Ich
schicke, mich an das gegen Techen Gesagte erinnernd, ein Paar
Worte vorauf, um meine Ansichten über Promotionsschriften anzuge-
ben und zu erklären. Es ist bekanntlich frtther Brauch gewesen,
die Promotionsschriften von dem Praeses des Verfahrens, einem P. P. 0.,
verfassen, von dem Promovenden, der als Respondens auftrat, nur in
öffentlicher Disputation unter des Verfassers Schutze vertheidigen zu
lassen. Da bekam man natürlich nur mehr oder weniger gute Ar-
beiten als Dissertationen. In dem dritten Viertel unsres Jahrhunderts
wurde es wenigstens in gewissen Kreisen tiblich , dem Promovenden
das Thema zu stellen, und des Promovenden Versuche so lauge in
einem Seminare oder einer sogenannten Gesellschaft zu besprecben
und durch des jungen Mannes Gommilitonen besprechen zu heißen,
bis etwas Vorzügliches hergestellt war. Nach meiner Ueberzeugung
stammt die Unmöglichkeit , in der wir uns zur Zeit finden , Univer-
sitätsprofessuren, die sich mit Geisteswissenschaften abzugeben haben
— von den Naturwissenschaften darf ich nicht reden — , wirklich
gut zu besetzen, gar sehr mit von den ausgezeichneten Dissertationen
der ihrem Lebensalter nach jetzt in Betracht kommenden Philologen
und Historiker her. Wer als Student alle Kraft zweier Jahre auf
die Bearbeitung eines nothwendiger Weise ganz speziellen Themas
verwendet, wird, da die Hülfe ja nicht zu fehlen pflegt, in den mei-
sten Fällen eine gute Arbeit liefern, aber eine Orientierung über das
ganze Gtebiet seiner Wissenschaft nicht gewinnen, und an allgemeiner
Bildung Mangel leiden. Nehmen wir etwa an, Jemand sammele als Sta-
dent griechische Papyri (Kaufurkunden and Aebniiches) oder Regesten
eines Hochstifts, so hört er damit auf, ein Historiker zu sein : er wird
ein branchbarer, fUr die Gesammtwissenschaft anders denn als Hand-
langer nicht zu verwendender Tagelöhner werden. Ich stelle in Folge
dieser meiner Ansichten und Erfahrungen meinen Scbttlern stets The»
692 Gott. gel. Ans. 1887. Kr. 16.
mata, die sie nicht sehr belasten , nnd ich helfe ihnen niemals : mit
den Dissertationen einer Fakultät mnS es meines Erachtens wie mit
den Abbandinngen einer Zeitschrift gehalten werden: eine Fakultät
ist wie eine Redaction für nichts verantwortlich als dafttr, daft das
Gelieferte von Methode^ Fleift und cogoitio cogniti zenge: fttr Alles
Einzelne steht der Verfasser selbst ein, wie man denn die Menschen
gar nicht früh genng darauf hinweisen kann, daft sie für alles was
sie thnn, ganz allein aafznkommen haben. Wohin wttrde es führen,
wenn wir Ordinarien jeden Satz, jedes Citat der von ans gebilligten
Dissertationen selbst za verantworten hätten ? Ich wttrde nie wieder
eine Dissertation annehmen, wenn solche verrttckte Forderung von
andern als Rabbinern an mich gestellt wttrde. Techen sollte sagen,
was in zwei Goettinger Handschriften stehe: weiter reichte sein Auf-
trag nicht: diesen Auftrag hater, so gut er konnte, gut erledigt DaB
er ttber Zanz so urtheilte wie er geurtheilt hat, ttberraschte und er-
freute mich: ich sah daraus, daß der junge Mann selbstständig und
richtig (das heiftt, nicht nach irgend welcher vorgefaßten Meinung,
sondern sachgemäß) zu denken verstand. In Beantwortung der ge*
gen Techen, mich und meine Fakultät gerichteten, geradezu pöbel-
haften Angriffe habe ich nun Proben aus des augeblich mit Unrecht
niedrig gewertheten Zunz Uebersetzungen der synagogalen Poesie
vorgelegt, welche Proben jeder Bierzeitung Ehre machen wttrden.
Der Leeer mag entscheiden, ob Ich Recht habe oder die drei Rabbiner.
Die Poesien des verstorbenen Zunz waren von Herrn Abraham
Berliner als etwas ganz besonders Nettes neu gedruckt worden — ge-
wis ein wonderguter Beweis fttr die Urtheilslosigkeit des Herrn Ber-
liner und seines Kreises — : so kam es, daß ich mich auch mit Herrn
Berliner zu beschäftigen hatte. Zufälliger Weise gelangte, als ich
den Aufsatz schrieb, in einer in New York veröffentlichten Schrift fol-
gender Satz des Herrn Akademiker Dillmann mir zu Gesichte:
Obwohl es an einer kritischen Aasgabe der LXX und der Tar-
gume zu den Nebiim und Eetobim, sowie des Targnms Jonathan
zum Pentateuch noch fehlt
Darin lag implicite deutlich ausgesprochen, daß wir vom soge-
nannten Targum des Onkelos eine »kritischec Ausgabe besitzen. Als
solche konnte nach Lage der Verbältnisse Herr Dillmann nur das
Machwerk jenes Herrn Berliner bezeichnen wollen, mit dem ich mich
bei Gelegenheit der Besprechung Znnzens gerade zu beschäftigen ge»
habt hatte. Das Urtbeil war so ungeheuerlich falsch, daß icb es fUr
Pflicht hielt, ttber diese so von einem auf einer Höhe stehenden
Manne gelobte Ausgabe des Onkelos die Wahrheit zu sagen, leh
fasse was ich gesagt habe, gerne noch einmal kurz zusammen:
Paul de Lagarde, SelbstaDzeige seiner leisten Schriften. 598
Herr Berliner hat gar keine eigene Aasgabe des Targam Onke-
los gegeben, sondern er bat eine 1557 in Sabbioneta veranstaltete
Aasgabe Bachstab fBr Bachstab and Vocal für Vocal abgedrackt|
wenigstens sie so abdracken wollen.
Diese Aasgabe von Sabbioneta ist mit Nichten der Archetypus
des OnkeloSy sondern eine, nicht im Vaterlande des »Onkelo8«| Pa-
laestina, sondern in Babylonien, and nicht in der Zeit des Onkelos,
sondern vier bis fttnf Jahrhanderte nach dieser Zeit veranstaltete »Re-
censionc in dem technischen Sinne des Wortes »Recension« , also,
wenn aach nicht ohne allen Werth, so doch mit Nichten das was wir
brauchen. Herrn Dillmanns Genügsamkeit werden Kenner nicht theilen.
Selbst diese »Recension« konnte and mnBte genaaer vorgelegt
werden als Herr Berliner gethan, der nicht alle ihm zagänglichen
Httlfsmittel benatzt hat, aber so that, als habe er sie benntzt.
Der Variantenband des Herrn Berliner, zam großen Theil mit
Allotriis and zwar mit tendenziös gefärbten AUotriis angefllllt, aagen-
scheinlich von einem völlig angebildeten and angeschalten Menschen
gearbeitet, ist ohne irgend erheblichen Werth.
Für eine Wiederholang der Ansgabe von Sabbioneta konnte man ein
anderes, recht billiges and sehr genaaes Verfahren der Reprodaction
anwenden, and den Typendrack sparen: für den anderen Band des
Herrn Berliner Mittel aas der Staatskasse aufzuwenden ist ein ebenso
grober Unfug wie für die Revision der Lutherbibel solche Mittel aufzu-
wenden: von da zum Ankaufe der Moabitica ist nicht allzu weit
Herr Dillmann hat sich schlimm kompromittiert, als er jene Ar-
beit zu unterstützen rieth, und als er noch lange nach ihrem Er-
scheinen jenes oben abgedruckte lobende Urtheil über dieselbe ab-
gab. Aach Herr Noeldeke würde arg kompromittiert sein, wenn er
— was Herr Berliner behauptet, ich leugne — wie Herr Dillmann
geurtheilt hätte.
Darauf die übliche sittliche Entrüstung. Ihre Waffen: Schmutz,
Schmutz, Schmutz — , nicht einmal origineller Schmutz. Ich höre
aas jeder Zeile von Berliners Pasquill den Satz heraus, welchen ein
Dichter modernster »Synagogalpoesie«, Jacob Eorew, in seinem »Pu-
rimspiele« 60 dem Mardochaeus in den Mund legt: »ich hab"ne groAei
mächtige Nekome«.
Nun, ich habe im Interesse des deutschen Vaterlandes geant-
wortet. Wie, mag man selbst nachlesen. An Deutlichkeit wenigstens
fehlt es nicht, und von niederem Gesichtspunkte aus ist das nicht
gesehen was ich gezeichnet habe. Das deutsche Volk soll erkennen,
was es an dem Herrn Berliner, dessen Gönnern und Vorbildern besitzt
Auf das was ich aus den oben genannten Prolegomenis mitge-
Qftii. ftl. AM, 1887. Nr. 16. 41
694 Gott. gel. Aoz. 1887. Nr. 16.
theilt habe, lege ich großes Crewicht. Für die ToDaDgebendeii ist es
nicht geschrieben: denn ich arbeite nur für Leute, die noch lernen
können and lernen wollen. Der Aufsatz über die in drei semitischen
Sprachen übliche Bildung der Nomina, zu dem jene Prolegomena als
Einleitung dienen sollten, wird, so Gott will, noch im laufenden
Jahre in den Abhandlungen der königlichen Gesellschaft der Wissen-
schaften erscheinen.
Ausdrücklich merke ich an, daß nur eine bestimmte Anzahl des
zweiten Bandes der Mittheilungen einzeln abgegeben wird: so wie
diese abgesetzt ist, wird man die beiden Bände nur noch zusammen
erhalten können.
Die Aufsätze über ROckert und Zunz, so wie der über Juden
und Indogermanen sind auch in Sonderdrucken zu beziehen.
26. 6. 1887. Paul de Lagarde.
Anecdota Varia Graeca et Latina edid. R. Schoell et Giiil. Stademand.
Band L: Anecdota Varia Graeca musica metrica grammatica edidit
Gnilelmns Studemund. Berolini, apud Weidmannos, MDCGCLXXXVL
Unter diesem Specialtitel ist der erste Band der seit Jahren von
R. Schoell und W. Studemund vorbereiteten Anecdota Varia Graeca
et Latina erschienen. Der Inhalt ist zum größten Teile metrisch.
Der erste Hauptteil (p. 1—30) enthält die Tres caoones harmonici,
ed. A. Stamm; der fünfte (p. 257 — 283) die Anonymi Laurentiani
duodecim deorum epitheta, edidit G. Studemund. Außerdem sind die
unten zu nennenden Tractatus de vocibus animalium und mehreres
kleinere Nicht-metrische eingelegt. Alles in hohem Grade anregeod
und fruchtbar; aber die Hauptmasse des ganzen Bandes gehört der
metrischen Litteratur an.
Im Jahre 1880 vereinigten sich Studemund und der Unterzeich-
nete zu gemeinsamer Herausgabe eines Corpus Metricorum Graeco-
rum: Studemund hatte die italienischen, der Unterzeichnete die eng-
lischen und französischen Bibliotheken daraufhin ausgebeutet. Die
von mir im Codex Saibantianus gefundene und wegen ihrer litterar-
historischen Stellung so überaus wichtige Exegesis zu Hephaestions
Enchiridion wollte ich sofort drucken lassen, weil die (von mir
dann im Rheinischen Museum 36 dargelegten) Beziehungen der ver-
schiedenen Scholienkomplexe zu einander nur an der Hand der Exe-
gesis verstanden werden konnten. Auf Studemunds Aufforderung,
sie in seinen Anecdota herauszugeben, gieng ich ein. Er seinerseits
wollte den bisher nur z. T. bekannten Anonymus Ambrosianus in
Schoell-Studemund, Anecdota. B. I. 595
unverkürzter Gestalt hinzufügen. Das Corpus selbst wollten wir ge-
meinschaftlich bearbeiten. Die zwei genannten Schriften bilden jetzt
den zweiten und vierten Abschnitt des Bandes; p. 31 — 96 und
p. 211—256. Als dritten Abschnitt hat Stndemund auf p. 97—209
jetzt eine »Appendix de codicibus aliquot italicis ad Hephaestionem
et Choerobosci Exegeein pertinentibus« hinzugefügt. Unter diesem
Titel ist eine ganze Reihe von sehr verschiedenen, sehr wertvollen,
bisher teils ungedruckten teils ganz ungenügend gedruckten metri-
schen Texten zusammengefaßt. Eingeschaltet sind hier als wichtige
Beigabe die Tractatus de vocibus animalinm p. 101—105; (dazu ge-
hört auch 284 — 290). — Diese metrischen Texte hatte auch ich
aus französischen und englischen Handschriften kopiert, bez. kol-
lationiert. Nur einige Kleinigkeiten, wie z. B. die 17 Verse des
Michael Psellus (p. 198), fehlten mir. Von den pariser Sachen hat
Studemund Vieles jetzt durch Gundermann kollationieren lassen.
Dieses und gar manches Andere, eng zur Sache Gehörige, hätte
ich beisteuern können, wenn ich von dem bevorstehenden Erscheinen
dieser Texte — überhaupt irgendwelche Kenntnis gehabt hätte. Da
das nicht der Fall gewesen ist, bleibt mir nur übrig, denjenigen Teil
meiner Materialien, der noch nicht verwertet ist, gelegentlich in Form
von Kollationen erscheinen zu lassen. —
Im Einzelnen verteilen sich die metrischen Schriften, die der
Band enthält, auf fast alle Gebiete der metrischen Litteratur^ ange-
fangen vom Text des Hephaestio selbst bis zu recht späten byzan-
tinischen Schriften. Ich beginne die Besprechung mit dem Enchiri-
dion und den Schollen.
I. Hephaestio und seine Scholiasten.
Auf p. 106 — 110 berichtet Studemund über den Ambrosianus
J 8 ord. sup. (A), die beste Handschrift, die vom Enchiridion über-
haupt existiert, und p. ill — 117 (Kap. III) werden sämtliche Dich-
terstellen getreu nach dem A abgedruckt. Bei der großen Zahl und
dem unvergleichlichen Wert dieser Fragmente ist es sehr dankens-
wert, daß die beste Recension, in der sie überhaupt erhalten sind,
schon jetzt jedem zugänglich gemacht wird, bevor die neue Aus-
gabe des Hephaestio den ganzen Apparat darbietet. Für diese Dich-
terverse wird A stets maßgebend sein; denn A ist der beste Vertre-
ter der besten Handschriftenklasse. Für den Text des Hephaestio
aber und die Scholia können wir mit A allein nicht auskommen,
lieber die Handschriften des H. im Allgemeinen habe ich im Rhei-
nischen Museum 36, 262 f. und 274 f. gehandelt. Wir haben drei
Gruppen: 1) die beste Klasse (X), Von dieser glaubte ich damals
696 Gott gel. Anz. 1887. Nr. 16.
6 selbstfindige Vertreter namhaft machen za kOnnen; jetzt sind es
nur noch drei. Daß der Saibantianus and der Venetns Marcianns
483 (E) einen im Ganzen identischen Text böten, konnte ich
mit Bezugnahme anf die i^^rv^^g schon B. M. 36, 299 aussprechen.
Daß der Saibantianus eine Kopie von K sei, erkannte Studemnnd,
als er die Kollation des K zur ganzen Exegesis erhielt. Daß aber
auch K. selbst in den Hephaestionea aus A abgeschrieben sei, wurde
Ton Studemund und mir 1883 nach gemeinsamer Durcharbeitung
des betreffenden Materials konstatiert. So bleiben denn von den
frtther genannten fttnf Handschriften als selbständige Zeugen nur
drei nach: A, der Gantabrigiensis Univ. Dd XI 70 (G) und der Pa-
risinns 2881 (P). P und G, die ich kollationiert habe, stehn in
einem engeren Verhältnis zu einander als zu A und sind von A
unabhängig. Sie können daher nicht entbehrt werden. Der große
Vorzug, den A vor ihnen voraus hat, zeigt sich aber an den Dich-
terversen am deutlichsten. Wir besitzen 2) die Klasse der Turne-
biana and des Gaisfordschen Meermannianus. Sie ist durchweg in-
terpoliert, aber aus einem Exemplar der besten Klasse, das gewisse
Vorzüge hatte. Im Text des Hephaestio p. 4, 1 — 2 W. hat nur diese
Klasse das richtige KATAETPOnOYC {xatd e tgonovq). während die
beiden andern Klassen mit offenbarer Verschreibnng KAIABIPAJIÜG
(xfltl äsi ^qdUdg) bieten. In den Scholia A aber hat diese Klasse ein
erhebliches Plus vor X voraus ; davon gleich mehr. Endlieh gibt es
3) die Klasse der schlechten Handschriften, die zahlreichste von
allen; sie hat nur einen geschichtlichen Wert, insofern viele falsche
Lesarten späterer Hetriker sich ans ihrem Texte herleiten lassen.
Die Scholia A fehlen in dieser Klasse ganz; dagegen stehn die
Scholia B außer in der ersten Klasse (X) auch in dieser, und zwar
hier in zwei verschiedenen Becensionen (Y und Z).
Wenden wir uns zu den Scholien. Wie schlecht es früher
mit diesen bestellt war, habe ich im R. M. 36 gezeigt. Die Scholia
B waren in den Ausgaben so beispiellos verstümmelt, daß man über
sie schlechterdings nicht instruiert war; die Litteraturgeschichte ar-
beitete hier mit Phantasiegebilden, denen in der Ueberlieferung gar
Nichts entsprach. Die Scholia A waren, wie sich herausstellte, bis-
her nur nach der obengenannten zweiten Handschriftenklasse gedruckt
worden. Turnebus hatte ein Exemplar dieser Gruppe zu Grunde gelegt ;
sein Text war die Vulgata. Einiges Wenige war im Einzelnen aus
S nnd P hier eingeflickt worden ; aber im Ganzen repräsentierten die
gedruckten Texte durchaus die interpolierte Klasse. Hier mußte ra-
dikal vorgegangen werden. Nachdem ich (Dorpat 1882) die Scholia
B in authentischer Form herausgegeben hatte, hat Studemund nun
Schoell-Studemund, Anecdota. B. I. 597
p. 118—152 (Eap. IV) die gesamten Scholia A so dracken lassen,
wie sie in der besten Klasse (X) erbalten sind. Zu Ornnde liegt
natUrlicb A. Da er aber oft beschädigt oder überklebt ist, ergänzt
ihn die Abschrift K^ Eine spätere Hand in K (E^) hat nach einer
geringwertigen Vorlage korrigiert and Manches hinzngefttgt Hierzu
kommt dann Q, d. i. der Ambrosianas Q 5 ord. snp., in welchem
die Scholia A ohne das Enchiridion selbst enthalten sind. Im Rhein.
Mus. 36, 276 berichtete ich, daß das im Parisinas 2881 so wäre;
Q war damals noch nicht bekannt Wir haben also zwei Hand-
schriften, die — auf das Engste mit einander verwandt, wie sieh
nnten zeigen wird — aach die Scholia A beide in dieser Oestalt
bieten. Aas A K Q hat Stodemand nan die Scholia A gedruckt.
P and G sind nicht verwertet worden.
Es ist für alle auf die Metriker bezüglichen Untersachungen ein
Vorteil, daß jetzt die gute Recension der Soholien überhaupt zum
Druck gelaugt ist. Das Fehlen von P und G ist dem gegenüber
von geringerer Bedeutung. Für alle Forschung ist jetzt eine feste
Basis gewonnen. Aach ist es durchaus za billigen, daft der erste
Abdruck dieser Fassung streng konservativ ist.
Wie verhält es sich aber nun mit der interpolierten Klasse? Ist
sie völlig wertlos? Kann sie gänzlich bei Seite gelassen werden?
Oder muß sie bei der definitiven Scholienausgabe mit berücksichtigt
werden? eventuell in welchem Umfang? Diese Frage maß jetzt
aufgeworfen werden. — Ich habe zwei Handschriften dieser Klasse
kollationiert, den Oaisfordschen Meermannianus (M) und den Pari-
sinas 2676 (J); vgl. R. M. 36, 263. Neben diesen zweien erwiesen
sich die andern, die es mir gelang za ermitteln^ als wertlos. Ich
nenne diese Recension der Kürze halber M. Die Vergleichung von
X (d. i. AKQ und — füge ich hinzu — PG) undM ergibt im We-
sentlichen folgendes Resultat: die Vorlage von M war inhaltlich
reicher als die jetzt erhaltenen Vertreter von X. M hat einzelne
Scholien von Bedeutung, die dem X gänzlich fehlen und die auf gute
Quellen zurückgehn. In der Vorlage von X gab es überhaupt nach
dem zehnten Kapitel keine Scholien mehr. In M reichen sie bis ans
Ende. Folgendes ist bemerkenswert: Westphal bespricht in der Me-
trik IF 223 f. »die antike Asynarteten-Theorie«. Dieselbe beruht,
abgesehen von einer dürftigen Notiz bei Mari us Victorinns p. 142,
auf dem Scholion zu Hephaestio ed. Westphal p. 201, 15—202,6.
Dieses ganze Scholion steht in M und fehlt in X. Ebenso verhält
es sich mit p. 211, 24—215, 26, wo interessante Bemerkungen über
die iSVY*€xvfjkiva und dnfftfpaivovta gemacht werden, und mit p. 208, 3
—16 (nqwifi ^^^ dsvtiqa dvund&B^a). Zu beachten ist auch, daB
B98 Gott. gel. Adz. 1887. Nr. 15.
wir p. 203, 21 in einem M-Scholion ein Fragment des Eupoiis
lesen (fr. 236 Eoek), welches sonst nirgends überliefert ist. Das
Gesagte gentigt, um darzuthan, daß das Pias in M zum Teil wertvoll
ist and in der abschließenden Ausgabe auf keinen Fall ausgelassen
werden darf. Auf der andern Seite ist aber zu betonen, daß dieser
wertvollen Partieen sehr wenige sind, und das Meiste in Analysen
der betreffenden Versmaße und weitläufigen Paraphrasen besteht,
die Jeder sich selbst machen konnte, ohne alte Quellen zu besitzen.
Da aber das Urteil über wichtig und unwichtig subjektiv ist, wird
man üoch nicht umhin können in der definitiven Ausgabe den gan-
zen Mehrbestand von M zum Abdruck zu bringen, etwa mit kleine-
ren Typen oder als Appendix. Hierbei darf man nicht vergessen,
daß die ganze Scbolienmasse, auch wie sie in X vorliegt, ein recht
armseliges und dürftiges Produkt ist, daß auch hier einige wenige
GoldkOrner unter einer Masse von Spreu verborgen sind. Auch hier
ist Vieles so simpel, daß jeder Leser es selbst ersinnen konnte. —
Was nun die Stellen anlangt, die sowohl in X als auch in M über-
liefert sind, so ist hier fast immer die Fassung M offenbar aus der
X herausgearbeitet. Auch hier finden sich aber in M einzelne Zn-
sätze, die ursprünglich zu sein scheinen. —
Es wurde schon oben bemerkt, daß in K eine zweite Hand aus
einer andern Vorlage Mehreres aufgenommen hat. Ich kann nun hinzu-
fügen, daß diese Znsätze auf eine Quelle zurttckgehn, die sich mit M
berührt. Die Hälfte etwa der Zusätze steht auch in M, und zwar ist
es entschieden die bessere Hälfte. Für die Kapitel 11 bis zum Schluß,
wo wir nur K ', aber nicht A K^ Q haben, setze ich alle Stellen hierher,
die K' mit M gemeinsam hat; der Stern bedeutet, daß M dasselbe
besser oder ausfUhrlicher bietet: von p. 150 bis 152 bei Studemund
sind es die folgenden Scholien: Ad pag. 86, 21*; 87, 12; 89, 6;
93, 1; 98, 1—2* (in M steht hier das ausführliche Scholion 208, 3
—16 W., von dem oben die Rede war) ; 99, 1 ; 106, 1 ; 107, 1 ;
107, 10; 109, 1; 110, 4*; 110, 7*; 112, 1 und 2*; 122, 11*. —
Wann ist diese Ueberarbeitung der Scholien und — fügen wir
hinzu — des Hephaestio vorgenommen worden? Die Zeit läßt sich
ungefähr bestimmen. Zunächst kennt der Bearbeiter die Exegesis
des Choeroboscus, und zwar ganz wie wir unter dem Namen der
ilg^ytiaig schlechthin. Diese Thatsache ist von Interesse ; ich kenne
bis jetzt kein anderes Citat der Art. Hephaestio p. 8, 10 W. lehrt,
daß mnta und liquida dann keine no&v^ machen, wenn die muta das
Ende der ersten und die liquida der Anfang der zweiten Silbe ist.
Dazu sagt unser Scholiast in MJ p. 110, 3 W. : oSote sha^ aito
nntct dhd<s%a<s^v Sfilovou* ovtm ya^ i iiijr^^^^ yifit. Gemeint
Schoell-Stademand, Anecdota. B. I. 699
ist die iiijr^^^^ p. 47, 16: idp yctQ ifuv iv d$a(f%etfteg^ oi no$otü$
niHVijy^ ats d^ tov d$aati}fAccto^ iv tm d^axm^tfiskv td trvf^pwya fuiCo^og
Yivoikivov etc. Wir wissen also, daß dieser interpoliereDde Scholiast
nach dem Verfasser der Exegesis, d. h. nach dem sechsten Jahrhun-
dert lebte. Aber das genügt nicht. Wir müssen ihn noch viel wei-
ter herabrttcken. Ich kann das im Einzelnen hier nicht ausfahren.
Nor so viel möchte ich ganz kurz bemerken: alle mir bekannten
Handschriften, die. diese Recension des Hephaestio nnd der Scholia A
haben, enthalten vor dem Hephaestio eine Menge metrischer Trak-
tate, die — an sich völlig wertlos — doch ein litterarhistorisches
Interesse haben. Sie stehn nämlich zum weitaas größten Teil in
engster Beziehung zu unserem Pseudo-Draco, so daß sie Seiten lang
dasselbe bieten. Aber es sind weder diese Traktate aus Pseudo-
Draco , noch der letztere ans jenen abgeschrieben ; sondern beide
benutzen eine gemeinsame Vorlage, mit der sie verschieden ope-
rieren. Diese Vorlage hat wieder ihrerseits unter Anderem Scholien
zu Dionysius Thrax ausgeschrieben. Ich kann das hier nur kurz
andeuten und behalte mir den genaueren Nachweis für eine andere
Gelegenheit vor. — Ich vermute nun, daß der Redaktor dieses me-
trischen Konglomerates, der seine trivialen Vorlagen mit noch trivia-
leren Scholien ausstattet, derselbe Mann ist, von dem die jetzt vor-
liegende Redaktion des Hephaestio und der Scholia A in M her-
stammt. Es erklärt sich dann auch folgende Tbatsache sehr ein-
fach: die Scholia A p. 93, 23— ICO, 2W. enthalten eine prosodische
Partie, die mit Pseudo-Draco p. 117 f. im Wesentlichen identisch
ist. Ich glaube nicht, daß sie aus unserem Pseudo-Draco abge-
schrieben ist, sondern daß auch hier beide eine gemeinsame Vorlage
wiedergeben. Eben diese ist es wohl, die der Scholiast meint, wenn
er uns p. 99, 30 auf den Kvgtog Mavovi^X verweist, den Westphal im
Anschluß an Bergk für Manuel Moschopulus erklärte (Metrik I ^ 137).
Wie dem auch sei, diese Redaktion gehört der spätesten Zeit an.
Wenn in Ihr trotzdem einiges Oute vorkommt, so haben wir festzu-
halten, daß da| ursprünglich zu Grunde liegende Exemplar des He-
phaestio und der Scholia A selbständig war und die jetzt vorhandenen
Vertreter der Klasse X in mancher Beziehung übertraf. Auch dür-
fen wir nicht vergessen, daß zwischen diesem Exemplare und unserem
Redaktor Mittelglieder gewesen sein können, von denen wir jetzt
Nichts mehr wissen. —
Soviel von den Scholia A. Auch für die Scholia B fällt Einiges
Ab. Auf p. 107 f. gibt Stodemund die Varianten des A zu dem Teil
der Scholia B, der in X erhalten ist; und p. 108 f. druckt er aus A
die 32 M{isterverse ab, die für die 32 ifx^i^ata des Hexameters als
600 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 15.
Beispiel dienen. Sie folgen auf den § 6 der Scholia B (nsgl (fx^jf^a-
toq) in allen Exemplaren der Klasse X, also auch in P, 0 und C;
sie fehlen in den Klassen Z und Y, soweit ich die Exemplare der
zwei letzteren Klassen untersucht habe.
Zu den Hephaestio-Scholien im weiteren Sinne gehört auch die
anonym überlieferte ^El^ilt^Ck^ elg tö %ov ^HtpahCtimvo^ iy
%6$qldhQv^ die p. 33 — 96 zam ersten Mal herausgegeben wird,
üeber sie wäre eigentlich viel zu sagen; nur ungern verzichte ich
auf eine eingehendere Besprechung dieses für die Geschichte
der griechischen Metrik hochwichtigen Buches. Doch will ich mich
hier auf einige wenige Bemerkungen beschränken. Mit dieser Schrift
ist es eigen gegangen. Im Jahre 1874 machte ich (De Dionysii
Thr. interpr. vet. p. 48 f.) zuerst darauf aufmerksam , daß es einst
einen Kommentar des Choeroboscus zum irx^tQi3$ov Hephaestios ge-
geben habe. Die Geschichte der Grammatik und der Metrik hatte
das übersehen. Da es nun allbekannt war, daß derselbe Verfasser
einen Kommentar zu Dionysius Thrax geschrieben hatte, und in bei-
den Scholienmaßen Partieen vorkamen, die auf eine gemeinsame
Quelle zurückgiengen, so vermutete ich, daß Choeroboscus diese ge-
meinsame Quelle sei, und er in dem metrischen Kommentar den
grammatischen ausgeschrieben habe. Wie groß mußte nun meine
Ueberraschung sein, als ich bei der Untersuchung des Saibantiauus
zuerst einen einheitlichen Kommentar zu Hephaestio vorfand, von
dessen Existenz bisher Niemand eine Ahnung gehabt hatte; dann
aber bald erkannte, daß eben dieses der früher notificierte und ver-
loren geglaubte Kommentar des Choeroboscus sei! Die Hauptstelleo
dafür sind in der neuen Ausgabe p. 48, 13 f eha xa» ö%i> ta Idr»
iSetx&^i tfifP &€4f iv vdf ns^l ^fiikdtmv. Und bei Choeroboscus in den
Dictata in dem Abschnitt über das Verbum heißt es II p. 553, 28:
elxöuog avv nal %6 nimmna ndi HixtijfkM ttS Xoytp fi^c »o^yfj^ dvfdt-
nXa<f$dcSfiaar. nsQi %ljg xotv^g trvXlaß^g xag' dxqißs^uv iv %o%i; fiitgotQ
^HqiakCiUavog fta^fjcofAe^a. Ferner steht in der Exegesis p. 44, 21 f.:
oiu yctQ €l€f$ (pvtfei fiaugal ^ aV na\ 17 ör öiipd^ojryoty dXX\ dq xal iv
t£ ruqi tovwy dsinvvtai, avtcu nqdq Sva ^fAtovp ixovc$ XQ^^^^f *?^
ipvct^ ykaxqäg dvo ixovCfi^^ o&er Mal ini tiXovg ovca$ ixovch noXXnxtg
top QonaQoivtoPoy ffopov. Also ir %w nsQi tdvcov will der Verfasser
das gelehrt haben. Bei Choeroboscus im zweiten Bande der Dictata
in dem Abschnitt nsQi ttSv iv %alq nuiaect ToVcoylesen wirp. 400, 8f. :
tattmv i^ctQ (d. h. a$ und ot) ini tiXovg oiomv noXXdxtg nqonaQol^v-
ys%a$ 17 Xift^j olov . . . ., Innd^ avii xotv^g naqaXaikßdvovzak xdi nqög
tva fffMOVv xQ^vov ixovtr^r. Und nun folgt eine eingehende Erörte-
Schoell-Stodemond , Aneedota. B. I. 601
rung eben bierttber. Diese Stellen zeigen, daß wir es mit einem
ftlr beide Bfleher gemeinsame? Autor za tbnn haben. Man darf also
als den Verfasser des anonymen Kommentares Ghoeroboscas ansehen.
Auf der andern Seite ist es höchst wahrscheinlich, daß die Schrift
des Ghoeroboscas selbst eine spätere Ueberarbeitang erfahren hat.
Liegt nns doch noch heute die Exegesis in zwei, z. T. recht weit
auseinandergehenden Recensionen vor.
Auch in Betreff der Ueberlieferung unseres Textes ist Manches
unerwartet und überraschend gewesen. Als ich die ^Sifr^^'^c im Sai-
bantianus gefunden hatte und mich nach weiteren Textquellen um-
sah, fiel mir bald der Venetus Marcianus 483 auf, aus dem Einzel-
nes ediert war, was bis auf die kleinsten Accentfehler mit dem Sai-
bantianus fibereinstimmte. Aus Hilgards freundlichen Mitteilungen
ersah ich dann, daß sowohl der Inhalt als auch die Textgestalt bei-
der Handschriften sich so vollkommen deckte (Rh. Mus. 36, 299).
Ein vorläufiger Abdruck des S sollte in den Aneedota erscheinen;
für die definitive Ausgabe im Corpus wollte Studemund den Venetus
(K) vergleichen. Statt dessen beschaffte Studemund schon 1881,
gleich nachdem der Text des S gesetzt war, noch vor dem Erschei-
nen desselben die Kollation des K, und fand nun, daß S eine di-
rekte Kopie von K sei, ein Resultat, das nicht zu bezweifeln ist.
Zwar ist die Ausbeute ans K für den Text selbst ganz gering
gewesen; indessen ändert das nichts an der Thatsache, daß wir uns
nun an K zu halten haben. In diesem Sinne wurde der Apparat im
Jahre 1881 umgestaltet und umgesetzt, und in dieser Fassung stand
der fertige Satz einige Jahre. Als er dann endlich im Jahre 1884
definitiv abgezogen werden sollte, wurde Studemund auf ein Blatt
aufmerksam, auf dem er vor Jahren Stücke eines anonymen metri-
schen Werkes ans dem Vaticanus 14 (U) abgeschrieben hatte, und
*— es war das kein anderes als die irvr^^*^* Die Kollation des U,
auf Studemunds Bitte von Man besorgt, langte noch an und wurde
nun nachträglich in den seit langer Zeit fertiggestellten Satz hinein-
gearbeitet. So ist der jetzt gedruckt vorliegende Text entstanden :
eine Reihe von Ueberraschungen, mehrfache Umgestaltungen des
bereits gesetzten Textes. Natürlich ist das auf die Textgestaltung
von Einfluß gewesen. Der in letzter Stunde gefundene U ist that-
sächlich die wichtigste von allen Handschriften. Hier ist eine ganz
andere Recension der Schrift erhalten, von der des K wesentlich
verschieden. Jetzt, wo das ganze Material vorliegt, würde man U
noch viel mehr Einfluß auf die Textgestaltung einräumen, als damals
möglich war. Wie wir die Verschiedenheit zu erklären haben, ist
eine Frage. Man kann mit Studemund an andere Kollegia oder
602 Gott. gel. Ans. 1887. Nr. 16.
Kollegienhefte des Choeroboscus denken; man kann aber ancb eine
Bearbeitung darch einen Anderen in Erwägung ziehen, wofür Einiges
zu sprechen scheint. Doch davon ein ander Mal.
II. Der Venetas Marcianas 483 und der Saibanti anas.
Von den übrigen Metrica hebe ich vor Allem den Codex Venetas
Marcianas 483 (E) hervor, lieber ihn handelt Stndemund p. 165 —
198. Bei der Gelegenheit wird p. 170—184 Helias und p. 185—188
Pseudo-Herodian herausgegeben, beide mit Benutzung anderer Hand-
schriften. Zu diesen anderen gehören zwei, von denen unten die
Bede sein wird, D und Q. E ist aber z. T. verstümmelt. Nach fo-
lium 63 sind hier 7 Blätter ausgefallen. Den Text derselben be-
sitzen wir also nur in der Eopie, dem Saibautianus. Es sind das
diejenigen Stücke des S, die ich im Rhein. Mus. 36, 284 als
5, a — e bezeichnet habe; die Lücke beginnt mitten in 5, a. Ich
werde im Folgenden den Inhalt des S für diese Partie genau be-
zeichnen, und seine Lesarten da hinzufügen, wo das erforderlich er-
scheint. Da der in E erhaltene Anfang des ersten Stückes dort
die Nummer VI trägt, nenne ich dieses VI, 1 und die in E fehlen-
den Eapitel VI, 2 u. s. w.; mit VII tritt dann E wieder ein.
VI, 1. fol. 52'-53'. Der Traktat über die Versfüße, den
Studemund p. 98 — 101 als § 3 aus U (Vaticanus 14) und z. T. aus
E herausgibt. Der Text beginnt in S wie in E erst p. 99^ 1 mit
den Worten: /7ot'c i<ft$ no^mv xal noadSv avllaßtSv üvv^ec^ slq
BvnQsm^ (Tx^fi^a. Am Rande steht in S : IIsqI nodmv aXXu>g. Mit den
Worten eiaii' ol nev bricht p. 100, 50 E ab. S bietet hier folgende
kleine Abweichungen vom gedruckten Text: 50. ff] ontw \\ 51. Iß']
XF II TetQdwg yäg okw \\ ij Jjrro^, ohne ot \\ 52. inl rovc ^ \\ 52. äX-
Xovg — 53. ?<f ] dXXovQ ovo, dig tgiavtadvo (!) l^f || 53. %ov] %6 || 55.
d$cX&sXv II dq fehlt || Btnofiev \\ 56~-57. dvM avtovc \\ 101, 1 ^i/f]
Qod' II av fehlt || ovv fehlt || 2. vnofpigovtai] if(f>tatavta$ \\ ß'] ovo jj nal
tQHwXXctßovQ Y II 3. TQiCvvdito^ (Tvv&eto^ II JU17 di II Nach 4 stehn in
S noch einige Worte, die in ü und folglich im gedruckten Text
ganz fehlen : ndXty di tsrgaaijXXaßog^ äna^ wv <StjVx^6toq^ itiqav im-
VI, 2. fol. 53^—53^ folgt ohne Titel und ohne jegliche Abtei-
lang das Eapitel über die Namen der Füße, welches St. p. 205
-207, 17 als § 1* aus U und C (Chisianus R IV, 11), den Mangelsdorf
hier nicht vollständig abgedruckt hat, herausgibt. Ich gebe die Va-
rianten des S sämtlich; nur ganz einfache Accentverschreibungen
lasse ich fort: p. 205, Z. 1. HsqI öp. %. /i*.] fehlt || 2, al di oPOfMxa(a$
Schoell-Stndemiiiid, Anecdota. B. L 608
attmv fivoikda&fiaav || 3. TJeql nvQQi%tov am Rande || 6. in§\ ntgi ta t^X^
II aXXmg n ual || 7. ovy avXXaß^v öiaXdaaovciP \\ 9. ot^oc] ovtog di \\ 10.
naxdnvxtov jj 206, 1. %d naXovfuva nvQQtaxct f^itga nottt \\ 3. inl deCfAct
(Dicht diCfka ) II 4. nstgdifOQOV (nicht nstgofpoga) x^Q^ova xa&ogjkiva
{na&, mit Abkürzung geschrieben) || ö. negl tgoxotfov am Rande ||
XaXdv II nat ys oiv dgxtXoxog \\ 6. ^eafjKov || 7. Sgllij ntj d^%^ || 10. negl
idfüßov am Rande || i Idfj^ßog fj and Idfjbß^q r^^ neXeov v^eganaivtfg ^
and Idfjkßfi^ t^^ inayttjadati^ InnaiyaxTog ygctv^ ^g 8(paiffdftsvog t^C
andtfi^q 6 Inntival^ i(f' ^g SnXvVBV if ygavq tci igta. 15 — 16. dgVf$€P
%s XiXov nvvog, S^v m uivtavgov atfiffnoq. ina^ifotigtav iov ixf* atof^d'
ttav II 17. Xo^dogfi%kx6v jj 18. mgl (Trrovdelov am Rande ||*0 (i7tovdftog\\
tatg fehlt II 19. anivdofuhv || t. fAvdfjba$g (Terpander fr. 3 B) || noai || Aiy-
toifg II 23. nsgl daxtvXov am Rande || "H and %wv danttvXfav i dairn;-
Xog o^q II 24. novgfitag (paalv H did to negl Kovgov ovta tov dla \\ 207, 1.
rov fehlt II 4. X6rc9 \\ 8. laa (!) || 10. Xoroo || 11. t^v fehlt || 12. tov ip]
fco iy II Xö/io II 13. top tgttOk nataXsintiten \\ 16 — 17. to d$* avtof^ yt-
V€dg ual ngdl^e^g ijgvioov uataXiynv ||
VI, 3. fol. öS""— 54«: Tlcgl na^wv tov daxtvX^ttov (die
Ueberschrift am Rande), fld&tf tov damvXov S^ — 'fd tiXog
fAelovgop X4y€ta$; nnd am Rande dazu von derselben Hand: wg iv
tw Tgwsg d* iggiyf^üav 6nmg Xdov aioXop 6(p$p\ Das Ganze ist ge-
druckt von Gaisford im Hephastio II p. 195, Anm. X, 1 Kolumne
Zeile 1—32. Die Varianten des S sind ganz unbedeutend: 16. Ugdv'\
Igov II 22. Vfiag ts \\ 23. d^ tw iXXstnop \\ 26. afo] ato oder atg, un-
deutlich II 29. td f\\. Der Traktat kehrt fast wörtlich wieder im
Pseudo-Hephaestio § 1 1 >» nnd § 26.
VI, 4. fol. 54' folgt hier (wie im Pseudo-Hephaestio auf § 26):
Xalgst di fkdXtfna etc., gleich Pseudo-Hephaestio § 27. Aus S hat
dieses gedruckt Gaisford a. a. 0., 1. Kolumne Zeile 32 bis 2. Ko-
lumne Zeile 31 avp^nrat nodi. Die Abweichungen des S von
Pseudo-Hephaestio § 27 sind ganz ohne Belang: 2. noi^g ikfidslg]
natd ftifdip \\ 3. ip m] \\ 8. wg] tig Sp ttd || tXij] tXet {tX undeutlich)
II 10. anijgT$fncu ydg aXfi&tag eig || 11. t^p ip tg$x^ II ^^ fehlt ||
12. /ui|f fiiO$\ ikifkOk II psiucai II 14. otap\ St$ \\ fi^igfj toi Xoyov || ffH tnix»
II 16. Big titagtop \\ ddutvXop || 19. c9(f« iutiptc || 20. fj ipapij(Taa&a$
XaXenij dh (abgekürzt) dr,fAov (abgekürzt) (jri^iui^c || 22. Xvntt] iXXsinm
II td ilS^g\ — In S folgt auf die Worte 19. fA^gog Xoyov ip avrw] im
Text selbst : iMffouXacto^ Si tlaip, oaoh xatd td f/bi(fop nd&og u exovtfip,
fig tö »/?$ iT elg AUXovt, Und am Rande ist mit einem Verweis auf
ip avtm das nachgetragen, was auch im Ps.-Hephaestio den Schluß
bildet: Ag%6 i^tipm — avp^nta§ nodi.
604 Gott. gel. Anz. 1887. No. 16.
VI, 5. fo]. 54': 2%txo$ ikhqm (sol) ygafAfkaunap &' ' ta^ßtndy,
tqo%att6v, daxTvXtxdifj dvanatot^xdv, xoQiafj^ßtxöVf dv%k(Snaaunöv^ Imv^uov
and fAtll^ovoQ , ifovixov dj^ iXdacovoQy na^wvinov, ^tjiOQ$xol otlxot'
KOfjkfAa^ nmXov^ neqiodoq, dta(poQä di yQaikfkaunmy nqoq td ^ijtOQ^nd jo
(toi S) ta fill' YQafAfj^atiitd Ka%d fi^yed-OQ (svvlütaad'a^ aviXaßwVy tä di
^^Togtxd natd nottotiixa, —
VI, 6. fol. 54^*— 56'. Unter der interessanten Ueberschrift :
^Eyqdiffi int naXaiov ßkßXiov neq^ixovtoq %^v fQafkfka'
x^n^v Jtovvaiov folgt hier der bekannte Traktat über die vier
Haupt-Versmaße der byzantinischen Metrik, das iambische, das heroi-
sche, das elegische, das anakreonteische. Der Titel wird hübsch
illustriert durch die beim iambischen Versmaße beigefügte Bemerkung:
tovto öi %d fjkitgoy ovm hlnc Jiovvaiog^ dkV ^fietc; did %^y twv vimv
(ß(f4Xnay nqoasdriKaf$€v, Diese Recension des Traktats, die den
»Scholia B« § 12 und dem Chisianus § 12 engverwandt ist, steht
jetzt in den Anecdota Varia I p. 153 — 158 (§§ 1»— 4*), aus dem Pa-
risinus 2881 (D) und dem Ambrosianns Q 5 ord. sup. geschöpft.
In diesen beiden Handschriften fehlt aber — wie ich hinzufüge —
der Anfang: Solches lehren die anderen Metriker, Solches lehrt der
Codex S, wo nicht nur die wertvolle Ueberschrift, sondern auch die
ganz sollenne Beschreibung des jambischen Trimeters erhalten ist.
Ich schalte daher vor § 1* bei Stndemund Folgendes ein: § 1 «.
TIsqI tov iafAß$xov fAdzQov (am Rande). Der Text nuterschei*
det sich vom Chisianus § 12, I an folgenden Stellen: 1. T6 iagj^ßt-
xdp fiizQOP Scu f/b^v i^df$€tQOV »al avto ö^MQtXtat si^ ovo, to fiiv
ydg avtov (NB. »al avro stammt wohl aus einer Recension, wo der
daktylische Hexameter diesem »iambischen Hexameter € vorangieng)
II 5. x^^^^^^ ^^^ h&t S II 6. t^v ngd riXovg tlva^ ßgaxBlav || . Auf
die Schlußworte des Chis.: oUyo^ nav dgxaltav ixgijoavto' folgt ähn-
lich wie in den Scholia B § 12, p. 18, 9 — 10 meiner Ausgabe: Ji-
;i(«7a* dl ir fiiv %^ ngmti^ ßdtfB^ Xafkßov xal cnovdttov , iv di t^ dev^
%Sgq Xafkßov fkdyov^ iv di %rj tgitfi la($ßov ual anovdsXov ' naxd fäifä^aiy
%^g ngtdtfi^^ iv dh tf^ wtdgtri fiovov lafißov xatä ftifätiatv %^g df^vti^
gag, iv di t^ nifAnzfi ndXtv %d toi ngwiov, iv di t^ imfi ta(Aßov ^
nvggix^ov, % l ß. Ttvig di d$a$gov(ftv etg dvo tov Idfkßov %dq x^Q^^j
xa\ %dq f/b^v nsggttrdg tag di dgtiovg xaXovctv. »al nsgtvräg fhhv ivo-
fidJ^otiiXk tijV ngwttjVy t^v tgltt^v^ tijv niikTit^v, dgtiovg di t^v dsvtigav^
«iji' T6tdg%9iv, t^v futtjv, —
Soweit die Lücke in D Q. Es folgen nun wie dort die §§ 1*—
4«; aber der Anfang ist anders: 'iafsßog di ixX^^fj v6 f^itgov^ insineg
ol vßglj^ovteg nvdg xal Xoidogstv ßovXöfuvot etc. Die übrigen kleinen
Abweichungen des S von DQ werde ich hier nicht notieren.
Scboell-Stiidemuiid , Anecdota. B. I. 605
VI, 7. fol. 56* — 58'. Die ganzen »Appendices I und lie zu
He lias, p. 177 bis zum SehlnB in den Anecd. Var. (p. 81 Zeile 3
von unten bis znm Schloß bei De Furia). Auch in DQ folgt dieses
Stück, aber wiedernm am Anfang verstümmelt; es fehlt Alles bis
p. 178, Zeile 4 von unten: ^gato f dd^^vfj. Die drei Titel lauten
in S: FIbqI (Wv^iijtffmg (am Rande) p. 177, 'Onmg ylvstm td inti xuaXd
p. 180, IJfQi %mv iv aiixoig na^iSv (am Bande) p. 184. —
VI, 8. fol. 58': ^Hguidtarov nsgl tftix^y iti^ IS^sw^.
In S kehrt anf fol. 149' diese Schrift noch einmal wieder (vgl.
Rhein. Mus. 36, 285). An letzterer Stelle, wo auch K erhalten ist,
haben wir die gute, an ersterer (fol. 58') die schlechte Ueberliefe-
rung, die n. a. auch in D Q vorlieo:t. Ihre Lesarten sind in Stude-
munds Apparat Anecd. Var. I, 185—188 schon überreichlich berück-
sichtigt worden.
VI, 9. fol. 58^: Uegl toftmv und *Ex4gm^ nsgl nodcSv (soll
beißen: rojucoK; beide Titel am Rande). Aus DQ abgedruckt Anecd.
Var. I 158 f.
VI, 10 und 11. fol. 58'»-59«: Tov aitov negl nodmv ig^
liffvtia und Jkovv^lov negl nodwv (am Rande). Hit Be-
nutzung meiner Kollation gedruckt Anecd. Var. I, 160 — 162.
VI, 12. fol. 59^: fligl öajctvXtnov f^itgov. = Pseodo-He-
phaestio § 25. S stimmt dort mit M überein in den Nummern !•
da»TvX$9d¥, 2. in$, 4. tov ö^ ovx otxanq l^'»»'; dazu 8. i^a. Außer-
dem hat S in Zeile lO— 11 das falsche dXiyoavHaßötegoy und in
Zeile 12 das richtige iklfinny. —
VII.») fol. 60»— 64': Der me trisch-rhetor ische Trak-
tat. Von hier an ist K wieder vorhanden. —
VII.^) fol. 64': Ein kurzes Kapitel über die nd3§i des Hexa-
meters, das Studemund p. 166 nicht erwähnt, das aber nach p. 90
Anm. 2 auch in K auf den Traktat folgt. —
III. Der Parisinus 2881.
Der Codex Parisinus 2881 ist von mir (vgl. Rhein. Mus. 36,264
und 276) als diejenige Pariser Handschrift rekognosciert worden, die
Gaisford bei seinem Hephaestio benutzt hat, ohne sie genauer zu
bezeichnen. Diese Handschrift hat aber ein hervorragendes Inter-
esse. Sie gehört zu den vornehmsten Repräsentanten einer Art me-
trischer Sammelbände, wie wir sie zahlreich, aber von sehr verschie-
denem Werte besitzen. Mir schienen unter allen englischen und
französischen Handschriften der Saibantianus und der Parisinus 2881
in dieser Hinsicht den ersten Rang einzunehmen. Von dem Saiban-
tianus und dessen Original, dem Venetus K^ war soeben die Rede.
606 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 15.
Den Parisinus 2881 hatte ich, wie den Saibantianus, vollständig ko-
piert, resp. kollationiert. Studeniund bat jetzt mehrere einzelne
Stucke aus ihm durch Hrn. Gundermann kollationieren lassen und
herausgegeben. Er nennt ihn D. Die Handschrift ist aber sowohl
an sich als auch in ihrem Verhältnis zu ES so wichtig, daß einige
genauere Angaben durchaus notwendig erscheinen.
Der Parisinus 2881 ist eine Papierhandschrift in klein Oktav
und enthält auf 164 folia folgende Schriften:
I. Das metrische Lehrgedicht des Joannes Tzetzes, das
Gramer An. Ox. Ill 302 f. herausgegeben hat. In E ist dasselbe
No. IX.
IL IIL fol. 19^—24': Den Traktat negl %ov ^ gtatKov fki-
tgov, den De Furia p. 42, 7—- 46, 29, und die Epitome aas
Trieb a , die derselbe p. 47, 1 — 52, 19 herausgegeben hat; nur
hört D schon 52, 17 mit den Worten fot^ov öi ou iy$o§ %mv auf;
und am Rande steht l$inBh. — In E sind das die Nummern X
und XL
IV. fol. 25'— 36^ Es folgen in D die »Scholia B< zu
Hephaestio in der besten Oestalt (X) (= E II); in dieser Fassung
brechen die »Scholia B< mitten im Satze ab (p. IS, 3 meiner Aus-
gäbe). In D steht hier leinen und es folgen 4 leere Blätter, bis
40^ inclusive.
V. fol. 41'— 63^ Hephaestio's iyxsiqidiov ohne Scho-
llen (In E No. III). Von fol. 63^ ist ein Drittel leer gelassen, and
dabei steht: tv ifiXov Xsinsi, —
Es folgen nun in D auf fol. 63^—95« dieselben Stücke and in
derselben Reihenfolge wie sie im S fol. 54^ — 79' jetzt stehn (5, b—e;
6; 7 in der Beschreibung des S Rhein. Mus. 36, 285) und wie sie in
E vor Entstehung der oben beschriebenen Lücke einst gestanden ha-
ben; in E S sind es (unter Berdcksichtigung des oben p. 602 f. über
5 Gesagten) die StUcke VI, 6—12. VII— XIV. Im Einzelnen sind
es folgende Traktate:
VI. fol. 63" — 66': lieber die vier Hauptmetra der By-
zantiner (VI, 6 in S). Gedruckt A need. Var. I 153-158, §§ 1»— 4«.
Nur fehlen in D die ersten 6 Worte des § 1\ — Dieser Teil schließt
am Anfang von fol. 66'; der Rest der Seite ist leer.
VIL fol. 66"" -68'' (?): Die »Appendices« I und II des Hei i as,
am Anfang lückenhaft; Aneed. Var. I 178, Zeile 4 von nnten ^qa%o
6 da^vff - 184 Schluß (In S VI, 7). —
VIIL fol. 6.s^: Pseudo-Herodian (In S VI, 8). —
IX. fol. 69': flsQl %o(Aiäv. *E%iQmg negl %Qfkmr. Gedruckt
Anecd. Var. I p. 158 f. (In S VI, 9). -
Schoell-Studemund, Anecdota. B. I. 607
X. XI. IJegl nod cSv igfkfjycia ood (fol. 69°) J$oPV(fiov
nsQl nodiSv. Ebenda p. 160-162. (In S VI, 10 und 11). — In
D ist hieraaf eine Lticke von Vs Seite. In S steht an dieser Stelle
VI, 12, d.i. Usgl SaHtvltxov ftitgov (vgl. oben S. 605); da das
Vorhergehende und Folgende in D und S gleich ist, hat wohl auch
in der Vorlage von D dieses Stück gestanden.
XII. fol. 71'— 7 6^ Der m etrisch-r het orische Trak-
tat. Hier tritt wieder E ein (No. VII in E).
XIII. Ueber die nd&ij des Hexameter, abgedruckt weiter
unten p. 608. In S folgt dieses Stück auf das vorige und (nach Anecd.
Var. I 90 Anm. 2) auch in E, sowie im Ambros. C 156 ord. inf.
(Hinter VII in E). -
XIV. fol. 75*— 95^ Trieb a , cvvo^p^q wv ivvia fkitgmv. (E
No. VIII). — Die Nummern VI bis XIV folgen also in D so auf
einander wie in ES. —
XV. fol. 96'— ISS"". Das Lehrgedicht desisaak Tzetzes
ttber die pindarischen Metra (Gramer Anecd. Par. I 59 — 162) (E
No. XIV). - Die folia 139 und 140 sind leer. —
XVI. XVII. fol. 141'— 142«: Ein Auszug aus Hepbaestio,
der als Einleitung vorausgeht der (fol. 143' — 149«) metrischen Ana-
lyse der pindarischen Strophen, and zwar von der zweiten
olympischen Ode bis zur ersten pythischen. Vor dem Anfang der
zweiten olympischen ist eine halbe Seite leer, und vor der Lticke
stebt auf fol. 143' oben : %6 (j^itgov tovto tov ßtpddgov vfkdgxsk tgtag.
tg$dQ di i(fn noiinjta, iv ä atgofp^ dvtiatgo(pog aal inmdog, — Auf
fol. 149« unten steht: 7a>aVvov und ein Zeichen, das typographisch
sieb nicht wiedergeben läßt, vielleicht = xov ^a (??). —
XVIIL fol. 150'-156' (?): Akßaviov in^ctoUfkat (I) x«-
gaxT^gsQ.
XIX. 156«: De gl tofkwy. TofA^ di iöup sdngsn^g dnagti^
XX. fol. 157'~164«: die Scholia A zu Hephaestio. —
Vergleichen wir diesen Bestand des Codex D mit dem von E S,
so zeigt sich, wie nah verwandt die beiden Sammlungen sind. Und
zwar reicht diese Verwandtschaft vom Anfang beider Handschriften
bis zur Nnmmer XIV in E = XV in D ; was darauf folgt, ist jeder
einzelnen eigentümlich. Im Uebrigen ist E S reicher; er bat die
Stocke IV, V, VI, 1—5. und XII-XIII allein; die übrigen sind in
D so geordnet, daß IX — XI an der Spitze stehn. Die Nummern des
ES folgen also in D so auf einander:
1) IX, X, XL
2) n, m, VI, 6-12, VII, VIII, XIV.
606 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 15.
Auf der andern Seite steht D in der ailernächsten Beziehung
znm Ambrosianns Q 5 ord. sup., über den Studemnnd Anecd. Var. I
152 f. berichtet (Q). Die Reihenfolge der Stücke erscheint hier viel-
fach verändert. Aber der Text in Q ist dem in D nächstverwandt
Vor allen Dingen aber ist es diesen beiden Handschriften — soweit
man bis jetzt das Material übersieht — allein eigentümlich, daft sie
die Scheuen A zu Hephaestio nicht beim Texte selbst als Rand-
oder Interlinearscholien bieten, sondern als selbständiges vom Texte
ganz getrenntes Buch.
Vergleichen wir den Inhalt von D und Q, so ergibt sich Folgendes:
Q I (Tricha) = D XIV.
Q II (Die 4 byzantinischen Metra) = D VI.
Q III (Helias) == D VII.
Q IV (Herodian) == D VIII.
Q V {nsQl toiiwv) »= D IX.
Q VI {Dtql noÖÄv igf»^yeia) = D X.
Q VII (Jtowoiov nsQl nodwr) = D XI.
Q VIII (Isaac Tzetzes) = D XV.
Q IX (Metrische Piudarscholien : Einleitung und Scholien zu
Olymp. II bis Pyth. I; für Olymp. I ist eine Lücke gelassen. Das
Ganze offenbar identisch mit) = D XVI und XVII.
Q X (Scholia A zu Hephaestio) = D XX.
Q XI (Libanius) = D XVIII.
Es folgen in Q Coluthus und Tryphiodor, die D nicht hat Es
fehlt also der ganze Anfang des D, dessen Nummern I— V (d. h.
Joannes Tzetzes, der kleine Tricha, Scholia B und Hephaestio selbst),
ferner XII, XIII (der metrisch-rhetorische Traktat und die /7a^f),
endlich XIX (das kleine Stückchen Hegi tofiwv)^ welches in D auf
Libanius folgt; wobei zu beachten ist, daß in Q vor Libanius drei
folia leer gelassen sind.
Was die Reihenfolge betrifft, so hatQ nur das Stück XIV des D
vorangestellt und am Schluß XVIII (Libanius) hinter XX (Scholia A)
gesetzt Sonst ist auch die Reihenfolge genau dieselbe, d. h. I) XIV.
2) VI— XL XV-XVIL XX. 3) XVIII.
Es ist klar, daß Q und D zum mindesten Kopieen ein und der-
selben Vorlage sind, was auch der Text da, wo ich beide verglei-
chen kann, bestätigt
Ich lasse nun die Nummer XIII des D hier folgen. Kollatio-
niert ist außerdem S (vgl. oben p. 605):
Daptdg di f^ivgov Ijf nd^fj ctai^ ttatd fAhf nXeo^aOfkop tgla »al
xai' iXlettpty tQia. natd fiiv nleovaofkov stot vat^a * nqoni^aXov
td nqi fi^c %ov aiixov Msq^ak^^ b%ov fkiar ntq^ca^p cvXlaß^r^ «( ti
Schoell-Stademand, Anecdota. B. L 609
J»C o tav9^ mQfuwvt {pqpuuvs P S) natd ifqiva nal uaut ^f$dv
(A 193 u. Ö.) *€tl ta ofio#a. nQO»oiX$ov %d »a%ä fiiaov %ov ctlxop
fi^^v$v ä^9 x^sd </7fili|^{adtfa» ^Ax^Xrio^ (A 1) ual td
&wQ^*ag ^^rdg ts di/tmt^ dftfpl tnff^&imv (B 544) uai %ä SfioiflR»
d o Xhxo ovqo v to fAaxgoaxsXdg^ fo nsgl %4Xog Sxov nsq^tw^v ffvXXa-*
ß^Py f dnXfSg ty iu (n;i^*Ci/<'««(, mg to
KdcioQa v^' Innddafkoy <xa) nv^ aya&dv FloXvdstjnea'^ (f 237) iroi
KvuXmtff «gf nl« oft^or (ofoF S) ^fr«» ifdy^g {fdysp SP, in P COr-
reetam) dwdgofMa (-(Aa$a S) x^^a (* 347). fa <)d traf' SXXet^^v %av%a*
d ni (f a Xov to iv d^^xi ^tixov Xetnoy cvXXaß^^ f in Mo^yiJQ cvXXa^
ß^g f anXmg^ tig to
ig ^dff td V* idyta td if IfSCo^va ngd if idvta (A 70) nal td
in$$dtj p^ag ts xal iXX^tfnovtop tuopto (V^2). f$€ <r6 x Xa (ttop
(^»Xavtnor P) %d natd fiiaov Mior ifvXXaß^gj ijf »over no§VifVj «if sfnoPf
^ f^dtiiv, f0( to
ßriv* {ßifi P) c{( aioXov nlvtd deSfuxta^ td 3i ntxavov (E 60)
ndi to («d om. P)
wtQVvc dl yiqovta naq^tafkivfi inhaa^ (T 249) (asiovgop td
ofiotmg tovtotg Sp (corrig. ip) tu teXtvtaUf nodi avXXaß^g ipÖBtp
(corrig. ipdiop\ tig td
Tqweg & iQQfytiCop iml Hop {Mop PS) alöXop Stpip (M 208)
nal td ofAOta, —
Id mehrfacher Beziehang ist yod Interesse die Nummer XVI des
D, ein Auszug ans Hephaestlo« der der Analyse pindariseher Stro*
phen vorausgeht. lob drucke ihn aus D ; selbstverständliche Accent-
Verbesserungen lasse ich unerwähnt. Er lautet wie folgt:
Td iafäßtndp fkitqop natd (tip tag ruQttidg X^Q^^i ^/OVP d <^'>
na\ h\ dixfjat iafAßop tQlßqaxyp anopdeXop ddntvXop dpdna$(noPy natd
dl tdg dgtiovg^ tovtiitu devtiqap utdQtipf nal tnttjp, taf$ßop tqißqaxw
nal dpdna$ötop, —
To tQOxaSnöP (kitqop natd fitip tag niQ&tftfdg x^Q^^ di^sta^ tQO^
XaTop tqißqaxvp nal ddntvXop^ natd dl tdg dqtUwg tovtWfg ts (vi D)
nal anopöitop nal dpdnaKfwop, —
Td dantvhndp ikitqop d4x^ta$ daittvXovg nal ffnopdtlovg natd nä^
aav x^Q^^ nX^p tijg tsXiVtalag' inl tattf/g 64, ei fAiP dmatdX^ntoP
tttj, ödntvXop i^Bk ^ <d»a> tijp ddkdifoqop ngi^ndp^ st dl xafoi^M»-
ndp, td dvf aitov ftBfAStmfAipa ^ (tf D) ovXXaß^, nal nataXtjnnndp stg
diCvXXaßop naXettu$^ f (if D) dvo fSvXXaßaXg^ nal naX$Xta$ nataXffnU'
nop itg cvXXaßijp. inhf^fi^op di td ij^dfutgop natai^nundp sig d$(fvXXa'
ßop td Xs/dfABPOP inog, wg ^ia^p^p dstös* (A 1) -—
a«U. gol. Aat. 18S7. Nr. 15. 42
To oioAfx^y (a2«ft2>«otf>D) td^(ti D)^ m4v frfiSmr %« ^od» li/» (a D)
^ x^i^nxd»' dic^ TO 4it(i(poq9V^ %^^ ifvXlaßl^j $1 icnv dxamiXiixtov^ cl öi
WHÜL^nuxdv ci^, iauß (!) ««i «a J« <at/fOtf> i»ißfkum^kiva st^ i^lkaßov
%6v xciQ^^o (X^Q^ ^^ I)) Mivc^vu Halji^tftu {nd idffifat !>)* (Ale, fr.
46, 1 B.). -
To dvcinakfftHU^ ncffd fmtsav x^iQo^ d4xs9m ifmvdi^^y d^tdnffttnoy,
ddxmXov.. «led di ait^i v«r Mi^ fi$^ «aw) cnrCt^r^aN drnt^^vi^ivw}' hn^Q^
xatakfjutov elg dttnUXaßoy, vneQuavdl^xtov et^ avUmß^M, dumtdXtixwovi,
xavali^ntixiy et^ dygüAaßov, xatmkifmsmäy el; mUiMß^v^ ßQuxV'^^'^^f'
Nfox. irUtHifAor di iv adttS ti u%qdpiAtQü¥ xmtaJ^nmxiu dq wUttßijy,
St^ iym, %ä dUai, aXiyfov. f^y&ovv, xal (r<o. (pqoovy^, {ompK QOtfdu^ D)
v$ydßAa%d!. (Aristoph» Wolken 962)^
Mfkin%Q9t n^ig tag ktfkßtxdg. coc inhtw <K. &%s nn^aAt^xunov imWj th
nawiajh^ ^i^moifM [^] i^ß%x^ [m ^^^l Mrr tmy ifStiyag o», di
%QO(faV (fr. lyr. adesp. 70 B.)], f sU dfAfpißgaxvH, olc ,o^« Mg «j* y^
vetJ^ßg' (AriBtopb. fr. 10 Kook) f ^ ßamxitov Ak4 ^ dd^d^oq^y, tig
^daxQvosao. ay t' itpU^. asy aixßdy* (Anacr. fr. 31 B), ij dg (faxtv*
Xqv f 4g uQfi^iiy dnx «d ddkd<pQQffy %^g uUv^img, <«»£ «^4 X$dy.
%mv a^ivog oi. dh %HQtp»i>. ^Avau^ifm di. im^fßi»^^ \^ nqmtfiy ov^
ivyia3^ iu ^ftgdx^g nai läfkßpv nok^^a^ **- oi^$v Urmg nfid xo^mt/k^it
xdy inlij^ii ncttd A^y^y^* imXXoy rdQ.fQQX^<»^ß*»oy$ oftti^ naXfXffi^tu
äy^f^Xf — , qfQy %ß ^dyan^^o^k^^ (dyanjito, pkM D) d^ ng^ "(XXvfk. noy
n99gvy^04 tf« novgi^H {Hwigiatc Hy (AnactT- fr. 34, I B.). ^^
7M dyu0ua(mniy t^y fi^y a avCyyhy ex^ %g9nof$4yi^ n^nd tiy
ngoTsgoy noda elg td tiaaaga axi^ftata td d^fvllaßa, «die di iy fUa^
Mi^agdc dy%^nm^i^g^ «^ d^ tsi^vtc^^w, 9ni%^ icüx d»ßtdl^*tog
iui^ß^i^y^ id9( di dveff^iayiivu tntg ia§kßixMk, qv i^dyw (#«rfy D) %%y
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naiwyag (es folgt twy noifjtwy^ aber aasgestribhen) nagalafj^ßdy$$y
Sehoell-SlQdaMBd» Aaeedetii. B. L 611
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H«ph«68tio)* ^m n4h 94» Alf J^Ae^fio^. ^imfvii (^iPtH^^ D)« dtuxijj
(Aristopb. (t. liO Kook)
ixety ohy inX danwhnov' jfiü& Sys. xtuXiiO, §§» &^a teg J$4q' (Alc-
man /n 45, 1 6»)» ma%aifiiitutd 6iy 00» fA^mmfkipov exß^ {8%Pi fkSfk,
darüber y ß D) tiv wlavtcaot^ noi^ , oto¥ i^ Utpßntw' ,k«^k &
vftfK ^a xa^ i^n^ «TJ /a^. ^(^(' (Sappbo fr. 103 B>X 'c^*' ^^ ^g^l*
XaßoQ ^ d noi^ 6 avvhüMV {cvvk^nAv D) ti ykixqov^ dvvatiot^ u€^ ikhqd
dvo 0vXlaßd€ shtu td Mct^al^nfMtöy^ <iXov ini ikmtuhxdC* Jp di Ba.
vovtfm. dffg^ (Archil, fr. 104, 2 B.)- ivtav&a ydq 17 d^q (d^q D) ftvl-
laß^ ävii dantvlov usttcu XQ^ftvilhißov, inl di uSp tOMVuiiV td fkiv
nagA avXlafi^v uaXsttiu mtudi^uMiff $ig SufiHetßov {diovXlaßkty D),
td iM nofd 6vQ avlXaßa^ ««JUVfa» nautl^nn^p vIc o^XXetßijy. figa^V"
ttatdhinta di »altttak, oCa in d^nodUf^ iiü tiX^ViiXtf nodi p€fk$iwtn$^
otov inl iaf$ßiwov (so Hepbaestio, lafkßlm D)* ^uy^ ait** (ai* ^ D)
1^ of {0$ D). »ov tip- Kaifi* alnnm* (fr% lyr. adesp. 45 B.) iptai^a
ydg i ^fflnn»^ novg dptl SXtf^ laf^ßtu^g »eUcu i^noHa^^ W ij tgl/A€9gop.
vnsgtmmXfitna di, Stfa ngd% tä tsXtifj^ ngwiXaßßdvOwh ß4(0Q trodd^^
ohp inl lafAß$Mov* ^ftXt^iu %d ftt' Sg^p mt* fktrig^ %4 w5v* X*^^^ tdv\
dvpooai d^ nal d$avXXdß^ nagsnsvuv inouiP iudvsgo^ {infix^gOP D)
%mv i¥ %^ Ksvtvyiq nodwp tggavXXaßog \-ßop D) 9 otov in' ivana^ot^
MOV' Jf (oid' D) "Ag- m/u«« ä (na D)' nögtn' (Telesilla fr. 1 B.)»
fot/fo ydg ngdg wf iXonXijgtf avCvylq dutvXXaßow eax9 tdv (%i D) f6-
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iXctfUfovo}; {'OÖ6V D). (ftpH9txtx$ otv nal xa^ äitd SfHntop avpti&sta$
di ttal ngdt; «<rg tgoxaUdg (fp^vykc^^ tig cVfkßätpHp (inotsXst<f9a$ i»
toitmp naitdpag u ntx\ y\ imtgitoi)^ f {Mo D) *ai 9, $1 filv ydg and
paKoPO% BXti «dl ti fT^cJff TC^g^ ^^ tgox^iiOP dt^^^h ^ohst top näimpa
<a> —uuu, tatd di Hjp 6$ttigap x^H^^ ne^fJ^^ov foi tgoxohv yU
pstat o & initgttOQ ^. it di an' iXatraoPog €«f xal ^ a x^9^
^^ T^oxtttoy dixita^^ nöi^t tip Ssdtegop inltgiiOP — ^ — — ^ tgoxcctov
a «ofd t^p dovtigap ftigaP n€$tl^iPOV dn&nXtUm 6 y naimp
ict$<p> o%s ^ ik^p tgitfj nmtoPhnil ftvpa$getta$ elg naX$(Aßaxx9$op, %ijg Si
inkifsgofkipff^ tgoxatu^g t ngdtsgog Xvetat aU tgißgaxvp. df/^nimovat di
nal ol fkoXottol ip tov%o$g: dU! ip totq dnd fMl^opog iwpucoXg inl %mp
KJ \J
ei2 Oött. gel. Ans. 1887. Nr. 16.
änd fkBlißvog uu, df^ iXaMoroQ \j\j . —
Ji%s%ah %i n$viaQtn6p hu%oqi€tp^ß^nov natä t^v d xaaQav dvtUma^
CtoVj ncttd %^v devtigav %OQiay^ov^ uatd v^v tgltifv taftßov srnri <rt»A-
Jiaßij¥ ddhdtpoqov^ Aq cha^ td Slotf ipöeuattvllaßop, öJop ^6 fAOvaayi'
tag fM naXst' xoq$v' fSaC (Pind. fr. 93 B.). —
Tö di Safup$Kdv uatd ndvtct to aitJ ifn$' nXi)v Mcnci t^p d x^-
Qav dixB%a$ i?Ktl dputfnd<ftov üvj^vyiar tqox^tnifv f i^dtnifiOP _ u — u
^ imdai/fAoy ovtmg «.u , diHs %i nagöp ßiXuov slvat Sanq'iudp
^ n^vdaqinöv, —
0^ Xsin^ (!) iy%avS^ (wohl ans iptaD^a korrigiert) wc juo* donate.
Vf.
Atif eine Würdigung der einzelnen jetzt zum ersten Mal erschei-
nenden metrischen Texte kann ich hier nicht eingehn. Es würde
das die Grenzen, einer Besprechung — wenn sie auch noch so weit
gesteckt wären — überschreiten. Es genüge der Hinweis darauf,
dafi wir im vierten Hauptabschnitt (p. 211 — 237) jetzt endlich den
Anonymus Ambrosianus vollständig besitzen ; und zwar ist
p. 213—221 und 232, 11 bis zum Schluß neu. Durch die Oefällig-
keit eines philologischen Freundes besitze ich seit Jahren den grOß>
ten Teil des jetzt neu hinzukommenden Textes in einer zuverlässi-
gen Abschrift und weift den Wert gerade dieses metrischen Werk-
chens zu schätzen. Eine zweite Handschrift desselben scheint nicht
zu existieren. Die Appendix zu diesem Texte (p. 237 — 247) ist an-
deren Geistes Kind: das sind sehr gewöhnliche Besprechungen der
den Byzantinern geläufigsten Dinge, Besprechungen die man aas
Bandschriften noch beliebig vermehren kann. Ein hübscher Fund
ist dagegen der Anonymus Berolinensis über die zwei- bis
sechssylbigen VersfÜfte, der gerade noch in den Corrigenda et ad-
denda ein Plätzchen gefunden hat (p. 293-— 298): Eine Liste der
zwei- bis sechssylbigen Versfttfie) nahe verwandt mit Dio-
medeSi im 16ten Jahrhundert niedergeschrieben. Die litterarhistori-
sehen Beziehungen, die Studemund p. 293 andeutet, verdienen wei-
teres Nachspüren. Was hat Micyllus faktisch benutzt?^ Das muft
ermittelt werden. Dieser ganze Anonymus Berolinensis, aus dem wir
natürlich materiell nicht viel lernen, ist doch für den Kenner der
metrischen Litteratnr eine Ueberraschnng.
Von den übrigen dem dritten Hauptabschnitte angehörigen
Schriften verweise ich besonders auf den Neudruck des He lias
M 0 n ac b u s (p. 167 — 184). Der frühere Druck beruhte auf der schlech-
Anberättelse fr&n Sabbataberg^ SJnkbas. VII. 618
ten HandBcbriftenklasBe, die den Text bis zur totalen ünlesbarkeit
verball borate. Wer lernen will, wie weit die Textverbunznng in
Handsobriften gebn kann, der vergleiehe die beiden Oestalten diesefl
Bncbea mit einander.
Anf den Text der einzelnen Traktate einzagehn, ist mir bier
unmöglich. leb werde das an anderer Stelle thnn. Aeafterst wert-
volle Beiträge zur Textgestaltnng im Einzelnen verdanke ich brief-
lichen Mitteilungen des Herrn Akademiker A. Nanck. Ebenso macht
er mich daranf aufmerksam, daft die p. 198 edierten Verse des
Psellas negl toS taftßixov fkitgov »in teilweise schlechterer, teilweise
besserer Gestalte von ihm gedruckt worden sind in den Melanges
Gr^o-Rom. II p. 492 f. und vor ihm von Piccolos Sappl. k TAntbol.
p. 218 f.; feraer daft im Codex Hilferdingii (cf. Melanges Gr, R.)
als 18ter Vers auf die 17 in den Anecdota V. gedruckten derselbe
Vers folgt, der in den Anecdota V. p 193 aus dem Venetns K ge*
druckt wird:
Mai 1887. W. Hoerschelmann.
Arsberftttelse (den sjande) fr&n Sabbatsbergs Sjakhus i Stockbolm för 1885,
afgifven af Dr. F. W. Warfvinge, SJakhusets Direktor och Oefverlftkare
vid dess medicinska afdelning. Stockholm, Isaak Marcus Bocktryekeri-Ak-
tiebolag. 1886. 170 Seiten in Oktav.
Der vorliegende Jahresbericht enthält auBer statistischen Notizen
ttber den Erankenbestand in dem großen Stockholmer Hospitale und
seinen verschiedenen Abteilungen verschiedene höchst interessante Ab-
handlungen, die sich anf Beobachtungen in der medicinischen und
chirurgischen Abteilung beziehen. Zwei dieser Aufsätze rtthren von
dem Direktor der Anstalt her; darunter ^ie bereits fttr das Vorjahr
in Aussicht genommene, aber wegen verspäteten Druckes zurückge-
stellte Arbeit tiber die antipyretische Behandlung , anf welche man
um so mehr gespannt sein konnte, als Warfvinge in Bezug auf diese
seit langen Jahren einen selbständigen Weg gegangen ist. Er hat
sich in verschiedenen frttheren Aufsätzen als einen Oegner der von
Liebermeister aufgestellten und bei uns ziemlich allgemein geglaubten
Theorie der deleteren Aktion hoher Fiebertemperaturen erwiesen,
und wenn er sich anf Krankenversuche mit den in den letzten Jah-
SU aott. fek Aas. 1887. lür. Mi.
reo 10 größerer AAzabl ao%etfeteneii sog. Atttipyi^tiM «itigelasseii
bat, Bo war nictit seine Absicht, das Fieber als Todesursache z« be->
käflApfea, SMiderD anter deo bekaBnÜich ja meist anefa (tolniswidrig
wirkenden Antipyretica ein Mittel zn finden, das «ineB besonderen
Einfloß aof diese oder jene lufektioa bedingeade Noxe iiafterte and
dieselbe ftlr den OrgaDisuns weniger gefäbrlicb snachle. Waifviiige
ist ein entschiedener Gegner d^ Ealtwasserbebandlang des Ty[»hvB
som Zweck der Herabsetzung der Körpertemperatar, obsebon er eine
stimulierende und roboriereude Wirkung von abkühlenden Bädern
auf das Neirensystem nicht in Abrede nimmt, und erklärt die me-
dikameatöse Antipyrese für bedeutend einfacher, beqaemer und si-
cherer als die hydropathische. In Bezug auf die einzeloen Anti^iy«
retica betont er die lange Dauer der allerdings spät zur Gtoltnng
kommenden Wirkong des Chinins, wobei er die günstige Aktien bei
typischen und nicht typischen Infektionskrankheiten jedoch nicht
auf den antitbermischen Efl^ekt, sondern auf die antiseptiscfaen Eigen-
Schäften in Bezug auf das Kontagium selbst surttekführt Die fieber-
herabsetzende Wirkung der Salicylsäure nennt Warfvinge eine ra-
schere, aber weniger dauernde; wirkliche HeilefiPekte gab ihm das
Mittel nur bei Rheumatismus acutus, nicht beim exanthematischen
und Abdominaltyphus. Eine sehr große Erfahrung hat Warfvinge
über die Wirkung der Karbolsäure bei Typhus abdominalis, wo er
zu dem Resultate gekommen ist, daß das Verfahren der Karbolsäure-
klystiere, abgesehen von den deutlichen, wenn auch nicht ttberaua
großen antipyretischen Effekten, ausgesprochene Wirkung auf den
Krankheitsproceß hat, den es mildert, abkürzt und weniger gefähr-
lieh macht Als besonders auffällig bezeichnet der schwedische Pa-
thologe die durch Karbolsäore bedingte Besserung der Apathie und
die Abkürzung der mittleren Dauer, die in 178 Fällen nur 23,1 Tage
gegen 28,4 bei expectativer Behandlung (331 Fälle) betrag. Aller-
dings kamen 11 (ca. 6,8 Procent) Todesfälle vor, jedoch nur 2 in
Folge der Infektion, in den übrigen neun dagegen in Folge von
Komplikationen oder von Nachkrankheiten. Hydroehinon und Re-
sorcin lieferten zwar rasche, aber kurze Fieberabfälle, auch keine
Besserung des Allgemeinbefindens, das namentlich bei Resorcin ein
sehr schlechtes war; doch ist allerdings in Folge dieser Erfahrungen
das Beobachtungsmaterial ein geringes. Thymol wurde in Klystie-
ren sehr gut und lange ertragen, in einem Falle sogar 65 Tage;
der Effekt war aber schwächer als beim Phenol und eine Abkür-
zung des Verlaufes im Typhus nicht ersichtlich; Naphthalin war
ancb ohne antithermischen Einfluß. Der antipyretincbe fiftkt des
Arsber&tMse- Mb SabbaMerg» SJikhus. YU. 615
OktB^tiB* war »war ein mebr daaerndev, aber afibedeutendeiF und
wenig either; der Krank heitsverlau^ warde dadurch nicht verktlret;
Id Bezug aaf Rairin- u«id Antipyrin beetätigte WarfVioge die deut«
sehen Erftthrvogen, welche das letztere wegen der länger daaeraden
Apyrexie «ad des Mangelns sekaadärer Fröste als weit zweekmäftige^
res Medikament erscheinen lassen. Die Letaiitätsverhältnisse ieien
beim Antipyrin Ewar nicht sehr günstig aas, doch sind von den 7
Todesfällen wohl 3 abatiziehen, bei denen Antipyrin nor 1 — 3 Tage
angewendet werden konnte. In Being auf das Thaltin hält er die
Darreiebang kleiner Dosen nach diem Vorgange von Ehrlich nnd
La^aer im AUeminaltyphns fllr die geeignetste, aoeh schreibt er
dem Ifittel einigen Einflnft auf den Krankheits?erl«Qf bei Rheuma*
tismas acnlns, bei Intermittens and- yielleioht sogar bei Erysipelas
zn. Besonders die Erfahrangea mit dem letzteren Mittel, dann die
längst bekannten Effekte des Chinin bei Malariainfektion nnd der
SaUcylsänre bei akuten Rheumatismas, sowie die der Karbolsäore
im Typhas, begründen die Ansicht des Verfassers, daA es sich bei
der Heilwirkong der Antipyretica nicht sowohl am deren antither-
mischen- Effekt, als am eine speoifiscbo Wirkang aaf das Kontagium
handle, so daß es als die Anf^gabe der M«dicin erscheine, nicht anti»
pyretische and anti bakterielle Mittel ttberhaopt zu Sachen, sondera>
solche, welche ftlr jede einselne Krankheit besondere Wirkang be-
sitzen.
Ein zweiter Aofsatz WarfVinges behandelt die Therapie derMe^
Dingitis toberoalosa mittelst Jodoform, die im Sabbatsberger Kranken-
haase so yorzttglicbe Resultate gegeben hat, daß es notwendig wird,
auch bet oas Ton diesen Beobachtungen Akt zu nehmen. Es han-
delt sich um 5 Fälle einer bekanntlich bisher nahezu h^ffnungelosen
Affektion durch Eiareiben einer starken Jodoformsalbe (1 : 6) auf den
Fasierteii' Kopf and Bedecken desselben mit einer Mtttze aus imper«-
meablem Taft Daß das angewendete Verfahren, bei welchem dia
fragliehe Einreibung 2 mal täglich yorgenommen wird, erst bei län-
gerer Dauer Resultate gibt, ist a priori selbstverständlieh, nnd man
wird sich daher nicht wandern, wenn wir dasselbe auf 30 bsw. 32
Tage ia aw.ei Fällen aasgedehnt finden. Ueberrascht wird aber ein
Jeder sein, daß die fünf von Warfvinge damit behandelten Fälle eben
sämtliche Fälle waren, die im Krankenhause vorkamen, so daß also
ein Miserfolg bei keinem beobachtet wurde. Die schwedische Litte-
ratnr bat übrigens noch, zwei weitere Fälle von Nilsson und Sondin,
in denen das Jodoform schon nach weit kürzerer Zeit wirkte, auf-
zuweisen. Daß es sich uo) diagpostiscbe Fehler handele, ist ja
1
616 Q6U. gel. Ans. 1887. Nr. 16.
a priori nndeokbar and nmch DorcblesuDg der beigefUgten EraDken-
gescbichteD Warfvinges wird gewift Niemand das za bebaupten wa-
gen. Der Verfasser weist Übrigens darauf bin, daft aocb scbon Mo-
lescbott, als er 1878 das Jodoform empfabi, anter Anwendang ?on
Jodoformcollodium und Jodoformsalbe in ö Fällen von tabercolöser
Meningitis drei günstig verlaufen sah. Unbekannt scbeinen dem
Herrn Verfasser die ebenfalls sebr günstigen Erfahrungen von Coes-
feld (Deutscbe med. Wocbenscbrift 1881. Nr. 37. S. 405) über Jodo-
formcollodium bei Meniogitis taberculosa geblieben zu sein.
Eine Abbandlang von Dr. P. Söderberg über blutige operative
Behandlung der Fractura patellae teilt zwei auf der cbirurgiscben
Abteilung des Hospitals operativ 0^ehandelte Fälle von Kniescheiben-
brach mit, wobei jedoch nur einmal, in einem ganz frischen Falle, gün-
stiger Erfolg vorbanden war. Ein grofter Teil des Aufsatzes ist der
Besprechung der ausländischen Litteratur über diesen Gegenstand
gewidmet, welche ebenfalls einen wesentlichen Unterschied der Heil-
resaltate bei frischen und alten Fällen konstatiert Wenn man be-
denkt, daft im Allgemeinen bei frischen Fällen überhaupt ein ope-
rativer blutiger Eingriff unnötig ist und daft bei alten Frakturen
mit Adhäsion der Hinterfläche der Fragmente mit der hinteren
Kapselwand nur wenig Hoffnung auf Erfolg ist, so wird man die
Operation auf leicht operierbare Fälle alter Frakturen beschränken
müssen, die möglicherweise bessere Resultate geben, als sie die
gegenwärtige Statistik aufzuweisen hat.
Endlich enthält der vorliegende Bericht noch eine Mitteilung
des mit den Obduktionen des großen Krankenhauses betrauten Pro-
fessors Gurt Wallis über einen Fall von progressiver Muskelatropbie,
die bei einem an Empyem Behandelten zufällig konstatiert wurde,
und bei welchem die Sektion hochgradige Atrophie der vorderen
Höruer im Cervicalteile des Rückenmarks and starke symmetrische
Erweiterung des Gentralkanals konstatierte.
Die äufteren Verhältnisse des Krankenhauses sind gegen das
Vorjahr wenig verändert ; doch war die Zahl der Bebandelten (3054)
um fast 300 mehr als im Vorjahre.
Tb. Husemann.
Fttr die Bedaktion T«nBtirortUcli : Prof. Dr. Bsekid, Direktor 4«r Q9U. f ol. Abs.,
AcMoaor der^ Königlichen Oeeellscheil der WieMnechaften.
fnüiff im IHtimüitiAm Timhyt -B^Mmußmug»
DrmA im JHtimiek'tekm Utnin^'Bmghinukmsi (Jr. H. MamiMO*
A 0 7 '
/
[ SEP 7 löB/
Göttingische
gelehrte Anzeigen
anter der Aufsicht
derKönigl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Nr. 16. 1. August 1887.
Preis des Jahrganges : JL 24 (mit den »Nachrichten d. k. G. d. Wiss.« : JL 27).
Preis der einzelnen Nummer nach Anzahl der Bogen: der Bogen 60 ^
Inhalt: Lnehaire, Histoire des instiintions monarcliiqiiM de la France bovb les premiers
Capetiens. Ton SUtHdoiff. — Kohl er, Die Sntwickelnng des Kriegswesens und der EriegfOhrang
in der Bitteneit 1. H. Ton Ertbe.
= Eigenmächtiger Abdmoic von Artil(ein der G5tt gel. Anzeigen verboten. =
Lnchaire, Achille, Histoire des institutions monarchiques de la
France sous les premiers Capetiens (Mämoires et documents),
ü^tttdes sur les actes de Louis VII. Paris, Alphonse Picard, ^diteur, 1886.
Yin u. 680 S. 8^ mit sechs Tafeln.
Das zweibändige Geschichtswerk, worauf der Titel Bezug nimmt,
ist im J. 1383 (PariS; Alphons Picard) erschienen. Die »Etudes«,
denen diese Anzeige gilt, sind bald gefolgt und werden von dem
gelehrten Verfasser im Vorwort charakterisiert als eine notwendige
Ergänzung seiner verfassungsgeschichtlichen Arbeit Diese hat nach
einem Rückblick auf die Vorfahren Hugo Capets und auf die Vor-
läufer des capetingischen Königtums die Geschichte der französi-
schen Monarchie in den zwei Jahrhunderten von König Hugo bis
zur Thronbesteigung von Philipp IL August (987 — 1180) zum Gegen-
stand, das Interesse koncentriert sich jedoch vorzugsweise und durch-
aus sachgemäift auf die Verfassung, worin sich die Monarchie unter
Ludwig VIL (1137—1180), dem Vater und Vorgänger des Siegers
von Bouvines, befand. Das Bild aber, welches die »Histoire des in*
stitntions monarchiquesc von der königlichen Gewalt entwirft, wie
Ludwig VII. sie in einer langen aber keineswegs ruhmvollen Re-
gierung handhabte, ist vor allem deshalb als besonders treu zu
rtthmen, weil die Darstellung ein urkundliches Gepräge trägt und
weil der verfassungsgeschichtlichen Verwertung der Urkunden und
sonstigen Erlasse des Königs ein umfassendes und eindringendes
Qm. gel Au. 1887. Kr. 10. 43
618 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 16.
Studium dieses reichen Quellenstofifes in diplomatisch-kritischer Rich-
tung zur Seite gegangen ist. Das urkundliche Material hat sich auch
in diesem Falle als das sicherste Fundament der Verfassungsge-
schichte bewährt und zwar ein Bestand von Akten, der an Reich-
haltigkeit die bisher bekannte Ueberlieferung weit übertrifft, Dank
den Nachforschungen, welche der Verf. in den handschriftlichea
Schätzen vornehmlich der Pariser Sammlungen aber auch in zahl-
reichen Departementalarchiven eifrig und mit schönem Erfolge ange-
stellt bat. Einige dieser neuen Funde sind von Herrn Luchaire in
dem lehrreichen Anhang seiner »Histoire des institutionsc T. 11,
p. 293 ff. bereits mitgeteilt worden. Indessen was er hier darbietet
an >Actes in^dits de Louis VII.c ist nur ein kleiner Teil des sehr
bedeutenden Gesamtvorrates; die vollständige Publicierung mußte
einem besonderen Werke — eben den nun vorliegenden »fitudesc —
vorbehalten bleiben und nahe lag dann der Gedanke mit der Edi-
tion von Inedita eine Beschreibung des den einzelnen Akten zu
Grunde liegenden Urkundenwesens zu verbinden — eine Kombina-
tion, welche sich auch vom litterarischen Standpunkte aus empfeh-
len mußte. Denn nicht nur, daß der Verf. auf diese Weise in die
Lage kam sein eigenes verfassnngsgeschichtliches Werk zu ergän-
zen und zu vertiefen, sondern außerdem gewann er den Anschluß
an das Hauptwerk der neueren französischen Specialdiplomatik und
Regestenlitteratur, an Leopold Delisle, Catalogue des actes de Phi-
lippe-Auguste (Paris 1856): er wurde Delisles Fortsetzer in rück-
läufiger Richtung.
Die zu einem stattlichen Bande vereinigten »^tudesc bestehn
aus drei Hauptstücken: aus einer specialdiplomatisohen Abhandlung
(Garactöres des actes de Louis VII. p. 1 — 78), ans Regesten (Cata-
logue p. 79—348) und einer Sammlung von Akten, die bisher noch
gar nicht oder nur bruchstückweise ediert waren (Actes inidits
p. 349—464). Die diplomatische Theorie wird in sieben Kapiteln
vorgetragen und betrifft die Einteilung der Akten in drei Arten:
»actes solennels ou chartes, actes semi-solennels, mandements et
lettres proprement dites«, eine Reihe von Formeln in den Diktaten
derselben, die für die Datierung maßgebende Zeitrechnung und ver-
wandte Materien, um in Kap. VII (Examen critique des prindpaux
actes irr^liers, suspects on faux attribuös 4 Louis VII.) mit einem
wertvollen Beitrag zur Kritik der einschlägigen Urkunden abzu-
schließen. Dem Inhalte wie der Einrichtung nach berührt sich diese
Abteilung der »j^tudes« nahe mit Delisles » Introduction c, deckt sieh
aber nicht völlig mit derselben, sondern bietet in einer Hinsieht we*
niger, in anderer mehr als jene. Das Minns beruht darauf, daß die
Luchaire, Hist. d. instit. monarchiqaes de la France 8. I. prem. Cap^tiens. 619
meisten der haDdscbriftlicben Qaellen, ans denen Luehaire fttr sein
AktenverzeicbniB geschöpft hat, mit zahlreichen von Delisle für seine
Zwecke benatzten und tlbersiohtlich geordneten Handschriften (Gata-
logae des actes de Ph. A. p. 545 ff. Table des cartulaires etc.) iden-
tisch sind. Um nun nicht dort Gesagtes zu wiederholen, bat L. auf
eine orientierende Erörterung der Quellen Überhaupt verzichtet : eine
»Indication des sources«, wie D. sie für sein Gebiet, Introduction
p. VI. ff. gegeben, findet sich bei ihm nicht; die bezüglichen hand-
schriftlichen Quellen werden im »Catalogue analytique« unter jedem
Regest nach der zur Zeit geltenden archivalischen oder bibliotheka-
rischen Signatur verzeichnet und wer sich genauer über sie unter-
richten will, muß auf Delisles Tabelle zurückgreifen. Andererseits
hat Lucbaire die den Akten Ludwigs VII. anhaftenden und fttr die
Kritik derselben wichtigen Merkmale bedeutend eingehender b.-
bandelt als Delisle die in der Kanzlei des Königs Ph.-Aug. herrschen-
den Normen und Gebräuche: während D., soweit es sich um die
äußeren Merkmale seiner Akten handelte, im Wesentlichen nur
die Besiegelung berücksichtigte, hat L. in dem entsprechenden Ka-
pitel (p. 69 — 81) der Siegelbeschreibung ausführliche Bemerkungen
über Schreibmaterial, Schrift und Monogramme vorausgeschickt. Auf
diese seine »observations palöograpbiques et sigillographiquesc, wel-
che sich durch Klarheit und Genauigkeit auszeichnen, beziehen sich
am Schlüsse des Werks sechs Tafeln, deren Inhalt dazu bestimmt
ist die Beschreibungen des Textes durch eine Auswahl von Beispie*
len zu erläutern. Angefertigt nach der in Frankreich besonders be-
liebten Methode des Sonnenkupferstichs (Heliogravure Dnjardin) sind
diese Reproduktionen in der That zweckentsprechend: die Auswahl
ist so getroffen, daß man nicht nur von der durchschnittlich herr-
schenden Ordnung, sondern auch von der innerhalb derselben zu-
lässigen Mannichfaltigkeit der Formen eine deutliche Vorstellung
bekommt. Die auf Tafel I und II vollständig abgebildeten Origi-
nalurkunden (Catalogue analytique Nr. 156. 608, 83) repräsentieren
je eine von den drei Klassen, aus denen die Gesamtheit der Akten
Ludwigs VII. besteht: Nr. 156 ist ein Mandat, Nr. 608 ein min-
der feierliches Diplom (littera, acte semi-solennel), Nr. 83
ein feierliches Diplom (Acte solennel ou Charte). Den Unter-
schied zwischen der verlängerten Schrift, wie man sie in der ersten
Zeile der »chartac anzuwenden pflegte, und der runden, aber diplo-
matisch stylisierten Minuskel, worin der übrige Teil der Urkunde
geschrieben wurde, exemplificiert Tafel III an sieben Schriftproben
verschiedener Herkunft : sie sind so geordnet, daß für beide Arten von
Schrift gewisae Abstufungen der GrOBe und der Form, welche der
43*
62a Gott. gel. Ans. 1887. Nr. 1^.
Verf. im ersten Teil p. 70 ff. beschrieben hat, saceessive zur An-
schaanng kommen. Man orientiert sich aber auf dieser an sich in-
teressanten and instruktiven Schrifttafel nicht so leicht und bequem
als wünschenswert ist, weil der Verf. die Originale seiner Abbildun-
gen nur mit ihrer archivalischen Signatur bezeichnet ohne ihre
Stelle innerhalb seines »Catalogue analytiquec anzugeben. Bezugs
nähme auf die entsprechende Regestennummer fehlt auch auf Tafel
IV und V mit Abbildungen von zehn Monogrammen. Zur Ausftil-
lung dieser fttr jeden Benutzer empfindlichen Lttcke möge deshalb
eine derartige Reduktion hier Platz finden. Die Schriftproben auf
T. III gehören zu Catal. anal. Nr. 246 (a. 1149), Nr. 155 (a. 1145),
Nr. 669 (a. 1174), Nr. 96 (a. 1142), Nr. 137 (a. 1144), Nr. 72 (a. 1140),
Nr. 457 (a. 1162). Die Monogramme auf T. IV gehören zu Nr. 253
(a. 1150), Nr. 763 (a. 1179), Nr. 457 (a. 1162), Nr. 72 (a. 1140),
Nr. 464 (a. 1162); diejenigen auf T. V zu Nr. 19 (a. 1138), Nr. 571
(a. 1169), Nr. 8 (a. 1137), Nr. 166 (a. 1146), Nr. 762 (a. 1179).
Die Abbildungen von Siegeln Ludwigs VII. auf T. VI entbeh-
ren leider jeglicher Signatur. Die beiden gröBeren repräsentieren
die meistgebrauchte Form des Königssiegels aus der Periode von
1137^1154: oben ist die Vorderseite, unten die Rückseite (Rttck-
Siegel Nr. 1) abgebildet. Auf den beiden kleineren Bildern in der
Mitte der Tafel sind die späteren Rttcksiegel des Königs dargestellt:
links (vom Beschauer) das zweite vom J. 1174, rechts das dritte
vom J. 1175. Den früheren Capetingern war der Gebrauch der
Rttcksiegel fremd: erst unter Ludwig VII. und zwar gleich bei der
Thronbesteigung ist er eingeführt worden.
Unter den Ausführungen, welche innere Merkmale betreffen,
verdient das Kapitel, worin der Verf. die Ergebnisse seiner diplo-
matisch-chronologischen Untersuchungen niedergelegt und diese zum
Teil in extenso mitgeteilt hat (Des notations chronologiques dans les
actes de Louis VII. p. 25 ff. ^) als besonders wertvoll hervorgehoben
zu werden. Die Zeitrechnung, wie sie in der Kanzlei Lud-
wigs VII. gehandhabt wurde, besteht, soweit es sich um die Jahres-
bestimmung handelt, aus dem Inkarnationsjahr und dem Regierungs-
jahr. Für jenes ist als Jahresanfang Ostern nachweisbar ; die übri-
gen und anderswo üblichen Epochen, vornehmlich der Jahresanbng
1) Eine Vorstudie dazu ist die Abhandlung tou A. Luchaire, Sor la
Chronologie des documents et des faits relatifs k Pbistoire de Louis VEL pen-
dant rannte 1150, Annales de la facuM dee LeUres de Bordeaux^ IV (1882)
p. 284 ff. Herr Luchaire ist »professeur k la faculty des Jettres de Bordeauzc
und dirigiert das dortige Seminar für mittelalterliche Palaeographie und Diplo*
matik (la conference de pal^ographie et de diplomatique du moyen &ge).
Lnchaire, Hist. d. instit. monarchiqnes de la France 8. I. prem. Gap^tiens. 621
am 1. Jannar Bind als aoBgeschlossen za betrachten. Was die Be-
rechnnng nnd Umsetzung des Begiernngsjahres angeht, so ist zu
nnterscheiden zwischen der Zeit vor nnd nach 1142: zeigt die
Berechnnngsweise während der ersten fttnf Jahre der Regierang eine
große Mannichfaltigkeit, indem mindestens drei, vielleicht vier Epo-
chen simultan Gültigkeit hatten, so wurde sie später bedeutend ver-
einfacht: aus der Tabelle auf p. 31 geht hervor, daß der Modus D
(Epoche des 1. August 1137), schon während des ersten Zeitraums
stark bevorzugt, den Datiernngsgebrauch von 1143 ab fast ausschließ-
lich beherrscht. Die übrigen Epochen A (1131 Oktober 25), B
(1134 Januar), C (1135 November), welcher überhaupt problematisch
ist, kommen nur noch sporadisch vor. Die in anderen Gebieten des
damaligen Urkundenwesens fest eingebürgerte Indiktionenrechnung
und die übrigen Rubriken der Ostertafel: Epakten und Eonkurren-
ten, welche z. B. in dem Datierungsgebrauche der erzbischOflichen
Kanzlei von Trier während des zwölften Jahrhunderts eine große
Rolle spielen, sind zur Datierung von Akten Ludwigs VII. nur neben-
bei und ausnahmsweise gebraucht worden. Einige wenige Einzel-
fälle der Art hat der Verf. p. 41 zusammengestellt Ebendort kon-
statiert er auch, daß die Zahl der Urkunden, die außer den Jahres-
bestimmungen ein Monatsdatum aufweisen, außerordentlich gering
ist Mandate und Briefe entbehren der Datierung überhaupt (p. 5);
Datierung allein nach dem Inkarnationsjahr ist die Regel bei den
minder feierlichen Diplomen (p. 5); in der Kategorie der feierlichen
Diplome (chartae) tritt das Regierungsjahr hinzu, aber nur aus-
nahmsweise wird der Monatstag angegeben und von den circa fünf-
zehn Fällen, welche der Verf. unter mehreren Hunderten von »chartaec
gefunden hat, nehmen die meisten auch sonst eine Ausnahmestellung
ein: »la plupart de ces chartes — heißt es p. 41 — rentrent dans
la elasse des actes irräguliers, suspects ou fauxc.
Unter solchen Umständen war nicht nur die Ermittelung des
Datierungsgesetzes, es war auch die Reducierung der urkundlichen
Daten auf die heutige Zeitrechnung mit besonderen Schwierigkeiten
verbunden: um so anerkennungswerter, daß der Verf. seine Aufgabe
auch in diesem Stücke so exakt wie möglich gelöst hat. Die mei-
sten Reduktionen, wie sie uns in dem »Catalogue analytique« ent-
gegentreten, sind approximativer Natur: sie bestehn je aus einem
terminus a quo und einem terminus ad quem, welche durchschnitt-
lich um mehrere Monate von einander entfernt sind. Aber an die-
ser Unbestimmtheit ist der Verf. unschuldig; sie ist ein Uebelstand,
den die erwähnten Eigenschaften des Datierungsgebrauchs unver-
meidlich maehten.
622 Gatt. gel. Anz. 1887. Nr. 16.
Die Lehre von dem Formelwesen ist in Kap. II (Des for-
males employees dans les actes de Lonis VII.) p. 9 ff. verbältois-
mäftig knrz behandelt worden. Vollständig ist die ErOrterang nar
in Betreff der Formeln, welche wir nach deotschem Branche ab
Protokoll zusammenfassen. Unter den Eontextformeln hat
der Verf. eine Auswahl getroffen: er beschränkt sich darauf die
vom Recbtsinhalte unabhängigen und in diesem Sinne allgemein-
gültigen Formeln wie Promnlgatio, Petitio, Strafandrohungen, Cor-
roboratio u. ä. zu besprechen ; alle diejenigen Formeln, welche je
nach der Besonderheit des lohaltes variieren und demgemäß nur
kategorienweise beschrieben werden können, läßt er außer Betracht
Aber auf dem so beschränkten Gebiete hat er Tüchtiges geleistet:
seine Formelanalysen sind gründlich, präcis und gut geordnet Za
den für die Klasse der feierlichen Diplome (chartae) specifischea
Merkmalen gehört die berühmte Formel, worin auf die Anwesenheit
nnd die Unterschriften (signa) von vier hohen Hofbeamten: äopifetf
huticuiariuSf camerarius^ constabülarius Bezug genommen wird, wäh-
rend die den Kanzler betreffende Behändigungsformel : Data (sei*
ten datum) per manum N. cancellarii nicht nur in feierlichen Diplo-
men, sondern auch in minder feierlichen vorzukommen pflegt Von
jener (la formule indiquant Tassistance des grands oiBciers) ist in
§ 16, p. 20 ff., von dieser (la formule relative au chancelier) ist in
§ 18, p. 22 ff. die Rede. Das wichtige Kapitel von der Geschichte
nnd dem Personalbestande der Kanzlei unter Ludwig VII. wird in
§ 18 nur leicht gestreift; erst später verbreitet der Verf. sich aus-
führlich über diesen Gegenstand, nämlich in dem Abschnitte, worin
er die höchsten Beamten des Königs, soviele ihrer an der Ausstel-
lung seiner Diplome permanent, wenn auch meist nur nominell be-
teiligt wurden , einer eingehenden Betrachtung unterzieht nnd jede
Kategorie für sich durchnimmt, an erster Stelle den Truchsess oder
Seneschalk, p. 44 ff., an letzter den Kanzler, p. Ö2 ff. Der Verf.
stützt sich dabei auf eine seiner früheren Arbeiten »Remarques snr
la succession des Grands-Officiers de la courronne qui ont souscrit
les diplömes de Louis VI. et Louis VII Paris 1881c. In Einzel-
heiten verbessert ist der Inhalt dieser Abhandlung, soweit er sich
auf die hohen Kronbeamten und speciell auf die Kanzler Lud-
wigs VIL bezieht, in die »i^tndesc p. 44 ff. übergegangen. Indessen
als Darlegung der Verhältnisse, welche die historische Stellung der
Kanzlei Ludwigs VIII. bestimmt nnd den Zusammenhang derselben
mit den entsprechenden Einrichtungen am Hofe der früheren Cape-
tinger genetisch vermittelt haben, behält jene Abhandlung ihren Wert
neben den »Etudes«. Und dasselbe gilt von dem Kapitel, welches
Lnchaire, Hist. d. instit monarchiqaes de la France s. I. prem. Gap^tiens. 623
Herr Lnchaire der Geschichte der altfranzösischeD EOnigskanzIei bis
anf Philipp Angnst in seiner »Histoire des institutions T. L p. 181 ff.
gewidmet hat: vor allem die Einrichtung der königlichen Kapelle
und das Verhältnis derselben zur Kanzlei, wie es unter Ludwig VII.
fortbestand, werden dort vortrefflich auseinandergesetzt.
Aus dem ersten Hauptteil der »j^tudesc ist nur noch das fünfte
Kapitel hervorzuheben : in diesem ^Tableau chronologique des säjours
de Louis VII.« p. 62 ff. nebst Ergänzungen p. 624, hat der Verf.,
um das Itinerar des Königs so vollständig und genau wie mög-
lich festzustellen , nicht nur die aktenmäßigen Zeit- und Ortsangaben,
sondern auch einschlägige Daten der erzählenden Geschichtsquellen
(les chroniques) gesammelt und verwertet. Dagegen sind die er-
zählenden Geschichtsquellen von dem zweiten Hauptteil der >&tudes«
principiell ausgeschlossen : im Einklang mit der Idee und dem Zweck
des Werkes besteht der »Catalogue analytique des actes de Louis VII.«
nur aus Urkundenregesten. lieber die Einrichtung bemerkt
der Verf. im Vorworte (Avertissement p. VI): »Nous n'avons com-
pris d'ailleurs dans ce catalogue que les actes et les lettres certaine-
ment 6manes de la chancellerie de Louis VII. et exp6di6s au nom
de ce roi«. Aber diese Anktlndigung trifft nicht zu; tbatsächlich
steht es so, daß der Katalog nicht nur die echten Urkunden, son-
dern auch Stücke von zweifelhafter Echtheit und Fälschungen ent-
hält : man sehe Nr. 31 (suspect), 266 (faux), 328 (faux), 431 (suspect)
und so fort. Bei der ExtrahieruDg der Regesten aus den Akten ist
der Verf. verständig und sorgfältig zu Werke gegangen. Hinsicht-
lich der materiellen Beschaffenheit der Regesten ist er von seinem
Vorbilde, dem Catalogue des actes de Ph.- Aug. abgewichen: wäh-
rend Delisle in dem Streben nach knapper Reduktion des Urkunden-
inhalts sehr weit, hin und wieder wohl etwas zu weit gegangen ist,
hat Herr Luchaire sich größerer Ausführlichkeit befleißigt nach dem
im Vorworte aufgestellten Grundsatz, daß das Regest reproducieren
soll »les details essentids de la Charte et tcus les noms de lieux et
de personnes«. In formeller Beziehung dagegen, was die Anord-
nung des einzelnen Regests und das Beiwerk der Textquellen wie
der Ausgaben angeht, hat Luchaire sich genau nach dem Verfahren
Delisles gerichtet, und auch das gereicht der eigenen Leistung zum
Vorteil. Der Fortschritt, den die »^tudesc in der hülfswissenschaft-
Hchen und quellenkritischen Litteratur zur Geschichte Frankreichs
während des zwölften Jahrhunderts überhaupt bezeichnen, ist be-
deutend: in erster Linie und hauptsächlich beruht er auf den Re-
gesten, dem »Catalogue analytique« der Urkunden und der anderen
Akten Ludwigs VII.
624 Gott. gel. Anx. 1887. Nr. 16.
Mit dieser Bemerkung soll übrigens das Verdienstliche der drit-
ten Hauptabteilung durchaus nicht geschmälert werden. Die Summe
der Trades inedits€ beläuft sich auf 179 (zu 798 Nummern der Be-
gesten), sämtlich neu in dem Sinne , daß der Herausgeber von kei-
nem Stücke einen vollständigen Abdruck nachweisen konnte. Nur
einige wenige, wenn ich richtig zähle : sechs, sind in den bisherigen
Ausgaben durch Fragmente vertreten. Auf Originalurkunden gehn
14 Abdrücke zurück: Nr. 41, 82, 89, 103, 104, 112, 205, 307, 394,
400, 567, 622, 717, 764 ; in zwei Fällen, Nr. 415 und 436, bat der
Heransgeber die Originalität der Urschrift als zweifelhaft bezeich-
net; abgesehen hiervon beruhen die Texte der Sammlung auf Ein-
zelkopien oder EopialbOchern. Wiederholt kommt es vor, daft zur
Edition eine sekundäre Quelle benutzt wurde, obwohl der Heraus-
geber unter dem entsprechenden Bögest des »Catalogue analytique«
Nr. 281, 397, 667 das Original als noch vorhanden notiert hat.
Man darf also erwarten, daß das numerische Verhältnis zwischen
ursprünglichen und abgeleiteten Texten sich später zu Gunsten der
ersteren Kategorie noch etwas verändern wird. Was die Editions-
weise betrifft, so machen die Texte, wie der Herausgeber sie dar-
bietet, im allgemeinen einen günstigen Eindruck. Ueber die von
ihm befolgten Grundsätze hat er sich nicht geäuBert, aber auch
ohnedies erkennt man leicht, daß Regeln befolgt wurden, welche
mit den in Deutschland herrschenden Editionsgrundsätzen verwandt
sind. Nur ein paar Unebenheiten sind mir aufgefallen. In dem
Texte der ersten Originalurkunde, welche die Sammlung enthält,
Nr. 41 hat der Herausgeber zwei äußere Merkmale: die Abkürzun-
gen und die Länge der Zeilen durch den Druck markiert, und die-
ses Verfahren ist dann auch in der Folge wiederholt zur Anwen-
dung gekommen, z. B. in Nr. 103, 307, 394 u. a., aber nicht kon-
sequent: so sind die Texte Nr. 82, 89, 205 in 'der gewöhnlichen
Weise gedruckt, obwohl sie, wie es scheint, vom Herausgeber selbst
aus den Originalurkunden transskribiert wurden. In Nr. 104 (Ab-
druck nach dem Or., »communique par M. Pellissier, archiviste de la
Marne«) unterblieb nicht nur die Markierung der Abbreviaturen und
der Zeilen, sondern auch die Auflösung der Siglen: G. Catalaunensis
qnscopi = Gaufridi G. qp. und L. ahbatis heati Petri de ManH-
bus B=s Ludovid dbbatis etc. In Nr. 419 (nach einer Kopie)
schwankt die Reproduktion der Sigle G. == Gerardus principles
zwischen unverändertem Abdruck und Auflösung.
Ueber den Wert und die Bedeutung der in extenso mitgeteilten
Aktenstocke urteilt der Herausgeber in dem Vorworte (Avertissement
p. VI): »Ces documents sont loin d'avoir Timportance de ceux qui
Luchaire, Hist. d. instit. mooarcbiqaes de la France a. h prem. Capdiiemi. 625
ont 6t6 insiris k la Ad da Catalogue des odes de Philippe Augustex
mais ils pr^eDtent näanmoins quelqne int£r6t ponr rhistoire oa
pour la dipIomatiqae€. Diesem Urteile schließe ich mich an unter
Hinweis auf einige von den interessanteren Bestandteilen der Samm-
lang. Nr. 330 gibt einen Beitrag zur Rechtsgeschichte der damaligen
Eönigsarkande : anläßlich eines Einzelfalles wird in der Arenga die-
ses Diploms die allgemeine Regel aafgestellt: gesta et contractus in-
ter homines scilicet et Dei servos ne aliqua possint in posterum per-
verti aut temerari versutiaj regis debent sigillo et testimonio commu-
niri€. In Nr. 394 wird dem Seneschalk (dapifer) and dem Kanzler
eine Jarisdiktion beigelegt, die dem Wortlaute der Urkande nach
mit der vom Könige selbst gehandhabten konkurriert : ^Ejusdem da-
mus hospiteSf si quidam in querelam venerint^ solummodo per nos aut
per dapiferum nostrum aut per cancellarium nostrum justiciamfacient€.
In Wirklichkeit handelte es sich um Vertretung des Königs im höch-
sten Gericht auf Orund permanenter Delegation. Vgl. A. Lucbaire,
Histoire des institutions T. I, p. 175, 197, 309. Als ein urkundli-
ches Zeugnis für die am Hofe herrschende Idee des Erbkönigtums,
wie sie, mächtig bereits unter Ludwig VII., in der nächsten Folge-
zeit vollständig zum Siege kommen sollte, ist Nr. 718 bemerkens-
wert; Nr. 205 vermehrt die Urkunden über die Beziehungen jenes
Königs zu den Tempelherrn (milites Templi Domini); durch Nr. 191,
262, 682 gewinnt man neue Einblicke in den Fortgang des Pilger-
wesens, welches vor wie nach dem zweiten Kreuzzuge viel dazu bei-
trug, daß die Verbindung zwischen Frankreich und dem heiligen
Lande nicht nur aufrechterhalten, sondern auch bescmders eng ge-
staltet wurde.
Im Anhange finden sich außer den Tafeln, von denen schon
die Rede war: ein Register der Orts- und Personennamen (p. 465 —
523), fttr dessen Anordnung nicht die urkundlichen Formen, sondern
die ihnen entsprechenden modernen Benennungen maßgebend ge-
wesen sind; eine Zusammenstellang von Ergänzungen und Berich-
tigungen (p. 524—527) und ein Fehlerverzeichnis (Errata p. 528),
welches noch vermehrt werden kann. S. 98, Z. 2 v. u. I. Louis VII.
anstatt: Louis XIL; S. 382 Z. 3 v. o. 1. sicut dictum est anstatt:
sivut dictum est. — Die typographische Ausstattung ist zweckmäßig
und gefällig.
E. Steindorff.
626 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 16
Köhler« G., Generalmajor z. D. Die Entwickelang des Kriegswesen«
und der Kriegführang in der Bitterzeit. Erster Band: Kriegs-
geschichtliches von Mitte des 11. bis Mitte des 18. Jahrhunderts, mit 15 li-
thographischen Karten und Plänen. Zweiter Band: Kriegsgeschichtliches
Yon Mitte des 13. Jahrhanderts bis zu den Hussitenkriegen, mit 16 Pl&nen.
Breslau, W. Köbner 1886. I XL und 519, II XXYII und 800 S. gr. 8^
Der Verf. sucht den Haupt wert der vorläufig erschienenen bei-
den Teile seines anf drei Bände berechneten Werkes darin , daß es
ttber eine Periode von vier Jahrhunderten in einer der wichtigsten
Richtungen des Lebens der Völker Licht verbreitet und daft es der
Geschichtsschreibung für die behandelte Zeit eine sichere Grundlage
zur Beurteilung kriegerischer Vorgänge und politischer Situationen
gewährt, lieber den Wert seines Werkes fttr Militärs spricht er sich
dahin ans, daß der jüngere Officier aus der älteren Eriegskanst
nichts zu seiner praktischen Ausbildung lernen, der ältere wissen*
scbaftlich gebildete Officier dagegen ttber die Gefahr einseitiger
herrschender Systeme der Gegenwart dadurch Aufklärung erhalten
werde. »Die einfachen Grundsätze der Kriegführung bleiben fttr
alle Zeiten dieselben, und sie treten in ihrer einfachsten Form ge-
rade da hervor, wo die Mittel für die Kriegführung die einfachsten
sind«. Schärfer wie je in den neueren Kriegen drttcke sich der Un-
terschied der auf einander folgenden und der gleichzeitigen Verwen*
dung der Kräfte, sowie die Kombinierung beider Methoden in der
Schlacht aus. Der Verf. wählt und arbeitet die Schlachten und Be-
lagerungen nur in Beziehung auf die Taktik aus , damit sie als
Quelle fUr deren Erkenntnis dienen; er zieht auch ganze Feldzttge,
welche zu diesem Zwecke beitragen, heran und schließt bei seiner
Darstellung der Schlachten des Mittelalters diejenigen aus, ttber
welche die Quellen zu spärlich fließen, oder solche, bei denen —
wie bei den meisten Schlachten der Krenzzttge — eine genaue
Kenntnis des Terrains, namentlich der Marschrichtung der Heere
vor und ihrer Stellung am Beginn der Schlacht fehlt. Wie gewissen-
haft und strengkritisch er dabei zu Werke gegangen, bekundet sein
Ausspruch, daß fUr ihn eine Beschreibung der Sohlachten von Niko-
polis und Warna erst nach dem Erscheinen des bekannten Kanitz'-
schen Buches mit den genauen Karten ttber Bulgarien möglich ge-
worden sei. Fttr seinen Zweck, eine Grundlage für unsere Kenntnis
ttber die Taktik des Mittelalters zu gewinnen, hält der Verf. bloße
Studien ttber eine Schlacht nicht fttr ausreichend, er gibt daher kri-
tische, ausführliche Darstellungen. Aus einer möglichst großen Zahl
derselben leitet er dann allgemeine Grundsätze ab; die Kriegsge-
schichte, bemerkt er, ist nur belehrend| wenn man sie in ihrer Tiefe
Köhler» D. Entwickel. d. Kriegswesens a. d. Kriegführung i. d. Bitterz. L ü. 627
anfsacbt and nicht an einzelnen beransgegnifenen Stellen verwertet.
Diese Anwendung der induktiven Methode, die Ref. schon an ande-
rer Stelle empfohlen, wird jeder Sachkenner nur billigen müssen.
Die Darstellung der Schlachten beginnt mit der Mitte des 11.
Jahrhunderts. Um diese Zeit sei das Lehnswesen zu einem gewissen
Abschloß gelangt und hebe sich deutlich von den früheren Zeiten
ab. Zwischen dieser Periode und dem Anfange der Hussitenkriege,
in denen die Feuerwaffen ihren ersten Einfloß auf die Umgestaltung
der Taktik ausüben,' liege »die Ritterzeit«, die natürliche Begren-
zung seines Werkes. Während die ersten beiden Bände, wie schon
der Titel besagt, Kriegsgeschichtliches, d. h. die genauen, umfassen*
den Beschreibungen fast aller Schlachten aus jenen vier Jahrhun-
derten bringen, soll der dritte Band gleichsam eine Art Znsammen-
fassung seiner Vorgänger bilden, die Resultate der dort geschilder-
ten Vorgänge geben und die Entwickelung der einzelnen Zweige der
Kriegskunst darstellen.
Von besonderem Interesse ist was der Verf. übet die Gründe
berichtet, die ihn zur Abfassung der vorliegenden Arbeit bewogen.
Nachdem er für seine Schrift »über den Einfloß der Feuerwaffen auf
die Taktik« die Kriegsgeschichte der letzten vier Jahrhunderte gründ-
lich aus den Quellen studiert, strebte er danach einen Ueberblick
über die der Anwendung der Feuerwaffen unmittelbar vorausgehende
Zeit zu gewinnen. Zu seinem Erstaunen suchte er vergebens nach
Autoritäten für diese Zeitperiode, er fand dies Oebiet von der Mili-
tär-Litteratur wenig angebaut, von den Historikern auffallend ver-
nachlässigt. Was die Beschäftigung der Ofiiciere mit älterer Kriegs-
geschichte betrifft, so darf uns des Verf.s Unzufriedenheit darüber
nicht Wunder nehmen; man könnte dieselbe Klage auch für spätere
Jahrhunderte erheben. Die Hauptschuld liegt wohl daran, daß bis
vor nicht allzulanger Zeit die Quellen teilweis noch unaufgedeckt
lagen, ihre kritische Benutzung in heutiger Weise der damaligen
Forschongsmethode auch nicht geläufig war. Wie anders würde
z. B. Heilmann seine militärischen Betrachtungen übei; den SOjähri-
gen Krieg, wie Glausewitz seinen Essay über die Feldzüge Gustav
Adolfs heute nach dem Erscheinen von Droysens, Helbigs, Wittichs
u. a. Arbeiten geschrieben haben! Anders steht die Sache mit den
Historikern, die über das Mittelalter berichten. Bei ihnen hätte K.
wohl einen Teil der von ihm vergeblich gesuchten Vorarbeiten fin-
den müssen. Als er sich auch darin getäoscht sah, gelangte er zu
dem Urteile: Es ist kein Oeheimnis, daß der Historiker für gewöhn-
lich ohne alle Vorbereitung an die Darstellung kriegerischer Vor-
628 Gott gel. Anz. 1887. Kr. 16.
gauge geht [richtiger vielleicht : bisher gegangen ist *)], indes die
akademische SchuIoDg allein genügt nicht znr Entzifferung der mi-
litärischen Qaellenschriften einer entlegenen Zeit.
Damit gelangen wir nan anch an den Punkt, dem die gegen
50 Seiten langen Vorreden beider Bände gewidmet sind, za der Po-
lemik, in welche K. schon früher nach Veröffentlichung einzelner in
Form von Monographieen erschienener Schlachtbeschreibungen mit
einigen Historikern geriet. Wenn er dabei stellenweise einen ge-
reizten Ton anschlägt', so dürfen wir nicht vergessen, daB er durch
die mit Selbstbewußtsein ex cathedra vorgetragenen, keinen Wider-
spruch duldenden und für sein militärisches Verständnis doch oft
unbegreiflichen Aussprüche seiner Gegner, sowie durch manches an-
dere dazu gereizt wurde ; z. B. auch dadurch , daß abßUlige Be-
sprechungen seiner Publikationen in Zeitschriften erschienen, die
keine Entgegnung von ihm aufnahmen. Nachdem er Jahre lang die
gründlichsten Quellenstudien gemacht, gerade durch seine militäri-
sche Auffassung der Quellen in Gegensatz zu den landläufigen, wie
eine ewige Krankheit sich fortschleppenden falschen Anschauungen
über Kriegswesen und Schlachtenverlauf im Mittelalter getreten war,
warfen ihm seine Gegner unrichtige Auffassung, mangelhaftes Ver-
ständnis, willkürliche Deutung der Quellen vor, nannten seine Ar-
beiten unhistorisch, dilettantisch, behandelten ihn »mit einem Worte
wie einen Schulknaben c. Selbst das Lob, das sie ihm stellenweise
spendeten, trug einen gehässigen Zug; er hatte nach dem einen
wohl den Verlauf einer Schlacht »im ganzen sicher gestellt«, sonst
aber doch nur »manches richtig gesehen«. Kein Wunder, daß bei
einer solchen »Entfesselung der Leidenschaften« aueh des Verf.8
Sprache bisweilen scharf und verletzend wird und daß er in der
Hitze des Gefechts mitunter wohl auch über das Ziel hinaus-
schießt^. Im übrigen wird man seiner Versicherung unbedingt bci-
1) Eef. verweist hier nur auf die anch in militArischer Beziehung moBter-
haft nnd tadellos geschriebenen Werke des jüngeren Droysen über Oosta? Adolf
und Bernhard von Weimar.
2) Dazu rechne ich, daß er einem geachteten Historiker [I, XIV] auffallen-
den Mangel an historischer Methode zuschreibt. Man kann in einem besonderen
Falle wegen mangelhaften militärischen Verständnisses über Deutung der Quel-
len vielleicht abweichender Meinung, ja im Festhalten einer irrtümlichen Ansicht
vielleicht sehr eigensinnig und doch sonst ein vortrefflich geschulter Historiker
sein. Die frühesten Berichte, daran ist gewiß festzuhalten, sind die treuesten
und grundlegendsten. Das schließt natürlich nicht aus, daS durch zufällige Um-
stände einmal eine spätere Relation besonders für den Verlauf einer Schlacht
genauere und zuverlässigere Nachrichten bringt, namentlich wenn der Zeitunter-
schied so geringfügig ist wie hier.
Köhler, D. Entwickel. d. Kriegswesens o. d. Kriegführung i. d. Ritterz. I. II. 629
pflichten kOnnen, daB ihm die Polemik aafgezwangen wurde, daB
ihm nichts anderes ttbrig blieb als den Kampf aufzunehmen und daB
ihm »die unangenehme Pflicht« erwuchs auf seinem Wege zu be-
harren. Wenn E. einmal äuBert, der heftige [Gegensatz der ledig-
lich akademisch geschulten Professoren zu seinen Forschungsergeb-
nissen beweise ihm die Schwierigkeit des Verständnisses für kriege-
rische Angelegenheiten des Mittelalters, so pflichtet Ref. aus eigener
Erfahrung bezüglich eines späteren Jahrhunderts heraus diesem Aus«.
Spruche im vollsten MaBe bei. Nicht mit dem Studium der Quellen
über eine Schlacht mufi man deren Bearbeitnug beginnen , sondern
mit dem Sichversenken in die allgemeine Kriegsgeschichte der Zeit
Erst muß man mit den kriegerischen Vorbegriffen einer Epoche ver-
traut sein, zunächst eine militärische Grundlage ftlr das Verständnis
der Quellen überhaupt gewonnen haben, ehe man an letztere selbst
geht Da die Berichte je nach Partei- und Lebensstellung der Ver-
fasser verschieden ausfallen werden, da ein in kriegerischen Dingen
völlig nnerfahrener Klosterbruder den Verlauf eines Kampfes in an-
derer Art schildern wird als ein ritterlicher Mann der Zeit, dem die
Ausdrücke für Kampf und Schlacht geläufig sind, so gehört eben
anter Umständen ein militärisch geschultes Auge dazu, um in Bezug
auf Notizen über Terrain, Bewaffnung, Anmarsch, Aufstellung u. a.
das Richtige aus scheinbar verworrenen Mitteilungen herauszulesen.
Gewisse militärische Vorgänge, wie daB man ein Gefecht nicht in
der Marschordnung annehmen wird u. a., gehorchen dem Gesetze
der eigenen Schwere, wenn sie sich im Laufe der Jahrhunderte nur
unwesentlich verändern, wenn sie für Marathon, für das Marchfeld,
für Metz annähernd dieselben bleiben. Andrerseits wird auch die
bestimmteste Versicherung einer sonst unanfechtbaren Quelle über
Vorgänge, die heut und zu allen Zeiten militärisch anausführbar and
unmöglich sind, als Irrtum bezeichnet werden müssen. Unsere aka-
demischen Lehrer erklären ihren Hörern die verwickelten gesell-
schafUicben, politischen oder staatsrechtlichen Begriffe des Mittel-
alters, sie tragen ihnen über Lehnswesen and kirchliche Angelegen-
heiten, über den Gang der Beichsverwaltung, die Einkünfte aus
Staat and Domänen, über das Aufkommen der Städte, die Eni-
wickelang der Zünfte and tausend andere Dinge vor und wissen
dabei recht wohl, welche jahrelangen fleißigen Stadien zu einem tie-
feren Eindringen in all diese Materien gehören. Nur über das mit«
telalterliche Kriegswesen sind sie anderer Meinung. Für Wehrver-
fassung, Taktik, Bewaffiiang, Znsammensetzung der Heere nach
verschiedenen Truppengattungen, für Maschinenwesen; Belagerungen
p, 8. w. hat jeder das Privileginm des Verständnisses, daza gehören
680 Gott. gel. Ans. 1887. Nr. 16.
keine oder geringe Vorstudien, das i»t alles so eiufacb. Nein! Wie
ein für die politisehen Verhältnisse des Mittelalters gesebnltes Aage
ganz anderes in den Urkunden finden wird als ein ungeübtes, genau
80 wird und muß es auch in militärischen Angelegenheiten der Fall
sein. »Daß ich aus den Quellen, so weit sie sich auf Kriegsge-
schichte beziehen, mehr herauslese als andere Leute, liegt in der
Natur der Sache« äußert der Verf. einmal mit gerechtem Stolze. An
anderer Stelle schreibt er, erst das volle Verständnis f&r das Wesen
der in den einzelnen Berichten genannten Kämpfergattnngen des
Mittelalters ftihre zu einer richtigen Auffassung der Kriegsgeschichte ;
erst eine völlige Vertrautheit mit den Grundsätzen mittelalterlicher
Kriegführung mache zu Zeiten auch die Stellungnahme eines Für-
sten in der politischen Geschichte ganz begreiflich. Man wird ihm
die Richtigkeit dieser Aussprüche schwerlich bestreiten können.
Ref. gibt im folgenden eine Inhaltsübersicht Ober die in beiden
Bänden enthaltenen Schlachten, Feldzüge und Belagerungen ; um sie
auf ihre Zuverlässigkeit und die Wahrheit der Darstellung hin ge-
nan und abschließend zu prüfen, bedürfte man, wie schon von an-
derer Seite hervorgehoben wurde, wenigstens ebenso jahrelanger Ar-
beit als der Verf. darauf verwendet hat. Für alle in der Folge an-
geführten Schlachten sei hier noch bemerkt, daß darin nicht bloß
der Verlauf des eigentlichen Kampfes geschildert wird, sondern auch
die der Entscheidung vorausgehenden Momente erzählt und die zwi-
schen den einzelnen Schlachten liegenden Ereignisse übersichtlich
zusammengestellt sind. Bei allen Schlachten sind ferner die Quel-
len ausführlich angegeben und orientierende Pläne oder Ueber-
sichtskarten, z. T. mehrere für eine Darstellung, beigefügt worden.
Die Ausstattung des Werkes ist geschmackvoll und würdig; leider
wimmelt es darin von Druckfehlern. Der Verf. gibt am Schlüsse
beider Bände mehrere Seiten von »Verbesserungenc, wie er es gut-
mütig nennt. Viele dabei nicht genannte [so I 479 22. März statt
22. August, II 229 11. Juni st. 11. Juli, II 302 24. September st
28. Sept u. 8. w.] wirken doch recht störend. Der Verleger läßt
seine wissenschaftlichen Bücher seit Jahren in den kleinsten Städten
der Provinz drucken, z. T. in Drnckereien, die nicht einmal die nö-
tigen Typen wie n oder f besitzen. Ob der dadurch erzielte Ge-
winn die damit verbundene notwendige Verschlechternng der Bücher
aufwiegt, erscheint fraglich.
Den ersten Band eröffnet die Schlacht bei Senlae*
Hastings (1066, 3 Pläne), deren Darstellung »durch ein Vergleichs-
weis ungemein reiches QuellenmateriaU unterstützt wird. Der Verf,
Köhler, D. Entwickel. d. Kriegswesens n. d. Kriegführung i. d. Ritterz. I. IL 631
schildert ^cscbaffenheit, Zasammensetzang, Kampfart, Stärke der
englischen Streitkräfte zur Zeit Haralds, gibt eine Beschreibung des
Terrains and weist auf den im damaligen englischen Volke zu Tage
tretenden Mangel an kriegerischem Geiste und Aufschwung bin.
Dann zeigt er, daß das normannisch-französische Heer kein Lehns-,
auch nur z. T. ein Söldnerheer war und sich zumeist aus den in
der Hoffnung auf reichen Landerwerb in England aus verschiedenen
Teilen Frankreichs herbeigeströmten Fürsten und Rittern mit ihren
Gefolgschaften zusammensetzte. Er bespricht deren Zahl, Bewaff-
nung, Schlachtordnung, charakterisiert die Eigenschaften Haralds
und Wilhelms und erzählt die Vorgeschichte des Kampfes, sowie die
Landung der Normannen. Die Beschreibung des eigentlichen Schlacht-
yerlaufs ist von großer Anschaulichkeit und an vielen Stellen durch
Heranziehung bisher nicht voll gewürdigter oder ganz übersehener
wichtiger Quellennotizen völlig nen^). Am Schluß wird eine an-
nähernde Berechnung der Verluste und eine zusammenfassende Be-
trachtung gegeben, wonach »Geschlossenheit der Truppe schon zn
jener Zeit das oberste Princip war«. In der Beschreibung der Be-
lagerung von Grema (1159 — 1160) ist besonders die Schilde-
rung der verschiedenen Belagerungswerkzeuge und ihrer Thätigkeit
von Interesse. Die Schlacht bei Legnano (1176) wird mit
einer Darstellung der militärischen und politischen Vorgänge in
Oberitalien (1175) und des Anmarsches der deutschen Streitkräfte
im Frühjahr von 1176, ferner mit einer Beschreibung der ritterlichen
Bewaffnung nach Quellen der Zeit eingeleitet. Darauf erzählt der
Verf., wie sich die Heere auf dem Marsche begegneten und zur
Schlacht ordneten; er betont dabei im Gegensatz zu anderen Bear-
beitern der Kriegsgeschichte des Mittelalters die Bildung der einzel-
nen Haufen zum Keil, wenigstens an der Spitze des Haufens. Man-
gel an Reserven und die far jene Tage unerwartete und ungewöhn-
lich feste Haltung des Mailänder Fußvolks führten den Sieg der
Italiener herbei. Ausführlicheres erfahren wir über die Schlacht
bei Mar et (1213, ein Plan). Wer sich überzeugen will, mit wel-
cher Gründlichkeit, mit welch' gewissenhaftem Fleiß der Verfasser
gearbeitet hat, der mag die der Darstellung vorausgehende fast
1) Auch hier ist E. wegen falscher Aufiassnng einer Stelle des Wido neuer-
dings angegriffen worden. Man wirft ihm vor, Worte der Quelle, die auf das
Hervorbrechen des rechten englischen Flügels gehn sollen, in falsche Beziehung
zu Harald gebracht zu haben. Bef. findet, daft hier Deutung der schwerver-
ständlichen Stelle gegen Deutung steht. Zu Ungunsten des Verf. spricht es aber
gewiß nicht, daft die der genannten Stelle (Conspicit nt — V. 429) unmittelbar
vorausgehenden sechs Zeilen des Gedichts das Herausbrechen der Engländer ans
ihrer festen Stellung schon ziemlich ausführlich erzählen.
632 Oött. gel. A&z. 1887. Nr. 16.
zwei Seiten lange Aufzäblang der von ihm benutzten lateinischen,
französischen und spanischen Quellen in Augenschein nehmen. Es
ist diese Schlacht aus den Albigenserkriegen neuerdings auch von
dem Franzosen Henri Delpech beschrieben worden^ dem E. schon
früher schwerwiegende Versehen nachgewiesen hatte. Der Schlacht
geht eine Schilderung der Oertlichkeit und der Stärkeverhältnisse
beider Heere voran. Die Niederlage der 1800 spanischen Bitter
durch die nur 800 Ritter starken Streitkräfte des Grafen Simon von
Montfort erklärt der Verf. mit der besseren Bewaffnung und der
ttberlegenen Taktik der Franzosen. Die Spanier hatten bisher gegen
die leichter bewaffneten Mauren zwar schon in tiefen Haufen, aber
durchaus nicht in der festen, geschlossenen Ordnung gefochten, wie
sie ihnen seitens der Franzosen bei Muret so verderbenbringend
gegenttbertrat Der als Fußsoldat kämpfende freie Btlrger, der bei
Legnano Barbarossas Bittern mit Erfolg die Spitze geboten, unter-
liegt hier noch dem der Zahl nach viel schwächeren Bitter. Die
Schlacht hatte die Folge, daß Spanien seine Absichten auf Langue-
doc aufgeben und dasselbe den von Erfolg gekrönten Aneignungs-
versuohen Frankreichs überlassen mußte. Die nächste Schilderung
des Verf. ist der Schlacht bei Bouvines (27. Juli 1214, 1 Taf.)
gewidmet, der glänzendsten Leistung des im Lauf des 13. Jahrhun-
derts einen so mächtigen Aufschwung nehmenden militärischen Gei-
stes der Franzosen. »Sie bildet den Schlußstein der Erfolge König
Philipp Augusts von Frankreich, sie stärkte das Nationalbewußtsein,
das Gefühl der Zusammengehörigkeit der bis dahin vielfach getrenn-
ten Teile des Landes in einer Weise, daß das moderne Frankreich
eigentlich erst daraus hervorgegangen istc Nachdem der Verf. eine
kurze Vorgeschichte der zum endlichen Zusammenstoße führenden
politischen und militärischen Ereignisse gegeben, schildert er die
Terrainverhältnisse des Schlachtfeldes, die Stärke beider Heere,
ihre Schlachtordnung (die der Franzosen bestand aus 9 Haufen in
3 Treffen zu je 3 H.) unter Zugrundelegung und Erklärung einer
Stelle aus Wilhelm dem Briten. Aus der Darstellung des eigentli-
chen Kampfes sind der wirksame Vorstoß des deutschen Fußvolks
gegen die französischen Kommunen, wodurch König Philipp in Le-
bensgefahr geriet, und die Tapferkeit der westfälischen Grafen be-
sonders hervorzuheben. Die Schlacht verlief treffenweis , in succes-
siven Angriffen; sie weist ferner eine in mittelalterlichen Schlachten
sonst selten vorkommende Art von Eingreifen durch den Bischof Garin
von Senlis während der Schlacht auf. Der Widerstand der Verbttndeten
war aller Orten so nachhaltig, daß er die ihnen entgegenstehenden Kräfte
des Siegers völlig absorbierte und ihm die Bildung einer Beserve od^r
Köhler, D. Entwickel. d. Kriegswesens u. d. KriegföhroDg i. d. Ritterz. I. ü. 683
die VerwendoDg irgeudwelcber darch Flacht nnd Niederlage des
Gegners frei gewordener Abteilangen an anderen Stellen des Schlacht-
feldes unmöglich machte. Den endlichen Sieg der Franzosen ent-
schied auch hier die größere Geschlossenheit ihrer zumeist aus den
königlichen Ministerialen bestehenden Schlachthanfen, die bessere
Handhabung ihrer Waffen und Pferde, sowie ihre Ueberlegenheit an
Schwerbewaffneten, d. h. Rittern; auch machten sich diese Vorteile
auf allen Punkten des Schlachtfeldes gleichzeitig geltend. Am
Schluß zeigt der Verf., wie im Gegensatz zu Bouvines das Vorhan-
densein YOH Reserven bei Muret und auf dem Marchfelde eine fiber
die bloße Schlachtordnung weit hinausgehende Leitung des Kam-
pfes ermöglichte. Den Kern, die Hauptarbeit des ersten Bandes
bildet der nun folgende Abschnitt: Der Krieg Kaiser Frie-
drichs II. gegen den lombardischen Bund und den
Papst von 1236 bis 1250>).
Diese Arbeit zählt allein 276 Seiten und bildet also gleichsam
ein Buch für sich. Voraus geht ihr eine Einleitung fiber die Kriegs-
und Wehrverfassung Kaiser Friedrichs IL und der lombardischen
Städte, ans der wir erfahren, daß die Teilnahme Deutschlands an
den Lombardenkriegen Friedrichs eine geringe war und eine eigent-
liche Reichsheerfahrt nicht zustande kam. Die zu Anfang des 13*
Jahrhunderts in Deutschland ganz dnrchgeffihrte Lehnskriegsverfas-
sung, der Kriegsdienst außerhalb des Reichs wird ausführlich be-
sprochen und mitgeteilt, welche Teile der Bevölkerung zur Reichs-
heerfahrt verpflichtet waren. Der Verf. weist in klarer und über-
zeugender Weise nach, daß dem Kaiser nur in den Jahren 1236 —
1239 Hilfe aus Deutschland zukam und daß die Dienstzeit dieser
verhältnismäßig geringen Mannschaften ziemlich genau drei Monate
betrug. In dieser kurzen Zeit war in einem Kriege, der fast nur
aus langwierigen Belagerungen bestand, natürlich nicht viel zu lei-
sten. Während Friedrich Barbarossa »durch reichliche Donative und
Abkommen mit den einzelnen Fttrstenc größere Heere aufbrachte
und sie länger im Felde erhielt, war Friedrich II. hauptsächlich auf
Söldner angewiesen ; er bezog sie aus Deutschland oder entnahm
sie den Vasallen seines Königreichs Sicilien. K. vergleicht nun das
Einkonunen des Kaisers mit den Kosten ffir seine Heere und zeigt,
daß Friedrich mit seiner Haupteinnahme, der Kollekte, nur etwa
1000 Ritter zu erhalten imstande gewesen wäre. >Es entzieht sich
völlig unserer Einsicht, wie Friedrich während des lang andauern-
den Krieges die Mittel hat aufbringen können«. Dementsprechend
1) (6 Karten, danmter 2 Pl&ne zur Belagerung von Yiterbo and Parma).
0OU. ^el. Abi. 1887. Kr. 16. 44
634 G«U. geL Ans. Ida?. Nr. 16«
war die Stärke seiner Heefe niemlds bedeatend; eia Heer wie das*
Barbaroflsas' vof -Mailand' (1168) • hat er nie zu- sammeln termocbt '
Der Verf. gibt darauf ein bOehit < anriehendes Bild von der Ueber-
ffthrang des sieilischeb Feiidalstaates durch Friedrieh IL in den mo-
dernen Beamtenstaat und von der militärischen Organisation des
Königreichs. Zur Erklärung einiger schwerverständlieher Bestimmun-
gen Friedrichs ttber Lehnsverleihungen zieht K. die gleichartigen
Verhältnisse im Ordeosstaate PreuBen heran. Dann erfahren wir
ttber die Verpflichtungen der Edelleute, der Städte und der Landbe-
völkerung zur Landesverteidigung) ttber Namen und Lage der zum
Schutze des. Reichs im Nordwesten dienenden Burgen. Da ein von
Norden aus gegen Neapel operierender Feind auf bestimmte Straften
angewiesen war, so erörtert der Verf. die für Anlage von Befesti-
gungen an ihnen maßgebenden Gesichtspunkte des Kaisers, der auch
in anderer Beziehung, durch Waffenfabriken, Anlegung von Ge-
stüten, Unterhaltung einer Flotte n. a. für die Sicherheit des Landes
sorgte. Sein Hauptziel war* eine enge Verbindung -seines König-
reichs Sidlien mit dem übrigen Italien. Was das Kriegswesen der
lombaftKsohen Städte betrifFt, so besaßen letztere damals noch eine
durchaus kriegsgettbte, au» Reiterei und Fnßtruppen l)e8tehende Mi-'
Hz ; einzelne Städte — wie Pavia — konnten 3000 Reiter ntid
15,000 Mann Fußtruppen aufbringen. Alle Bürger vom 18. bis zum
70. Jahre waren heerespflicbtig und hatten Bewaffnung, AusrQstnng,
Verpflegung selbst zu bestreiten. An der Spitzel jeder Stadt stand
ein Podesta, der vom Volke gewählte Senateren (Anziani) und Ka-
pitäne oder Bannerherm (Gonfalonieri) znr Seite hatte. Der Adel
des LandgebietB und der wohlhabende Bttrgerstand diente in Roß,
der Hauptteil der Bürgerschaft käapfke zn Fuß, die Aermeren ver-
wandte man als Handwerker oder Vastatoren. Die Mannschaft gHe*
derte sich nach lokalen- Einteilungen in Viertel und Sechstel, Auf*
gebot und Abmarsch der Truppen war genau geregdt, Vergefaeik
dagegen wurden streng bestraft; auch Söldner wurden von den
Städten verwandt. Die Gesamtzahl der Streiter des lombardischen
Bundes sollte nach einer Festsetznng aus dem Jahre 1331 10,000
Mann zu Fuß, dOOO Reiter und 1500 SohAtzen betragen. Als Sann
melpunkt in der Schlacht diente daaOaroeeio, das mit seinem Mast-
baume weithin sichtbare Bundeshetli^tam ; auf ihm befand sich auch'
die Kri^sglocke, deren Klang im stanbi&nfwiiMlnden Getümmel der
Schlacht den Verbündeten den Platz des Heerwagens verriet
Nach diesen teils neoen, teils schon' bekbnnteny Bhtn in dan-
kenswerter Weise zusammengestellten allgemeinen Bemerkungen über
die Kriegsgeschichte jener Zeit geht der Verf. nun zur Schilderung
Köhler, D. Entwickel. d. Kriegswesens a. d. Kriegführung i. d. Ritterz. I. 11. 635
der 'kriegerisch'eD BegebeDbeiten der einzelnen J^bre Von 1236 bis
1250 über. Bei der Reicbhaltigkeit des Stoffes h'ilt es scbwer dem
Verf. hier aucb tiür andeutangsweise za foljgeii; hervorgehoben
werde nur das prägnante, ttbersicbtiiche' Kapitel: »Ausbrach des
Krieges«, die Vorgeschichte der Schlacht von Cortenuova
(1237) und die höchst verdienstvolle Auseinandersetzung Über die
taktischen Gliederungen, die' Stärkeverhältnisse der Heere, die ritter-
liche Bewaffnung der ^eit, ferner die verfehlte! Belagerang Brescias
von 1338, die im folgenden JaWe zu spät unternommene Bewegung
Friedrichs gegen Mailand, die politisch wie militärisch nicht zu
rechtfertigende Aufhebung ' der Belagerung Bolognas nach der See-
schlacht vom 3. Mai 1241, die ausführlich erzählte Belagerung von
Viterbo (1243), Friedrichs Unthätigkeit im Jahre 1244. Von 1246'
an verschlimmert sich des Kaisers Lage darch die Wahl eines Gegen-
kOnigs in Deatscbland und die stärker fühlbar werdende Thätigkeit
des Papstes in Italien, durch den Abfall von Parma, der seine ein-
zige Verbindungslinie mit Mittel- and Unteritalien gefährdete, durch
die vergebliche, von K. vorzüglich geschilderte Belagerung dieser
Stadt und die Gefangennahme König Enzios bei Fossalta. Selbst
die Erfolge des Jahres 1250 änderten an dieser unglücklichen Sach-
lage im großen und ganzen nicht viel. Demgemäß fallen aach die
sehr lehrreichen Betrachtungen des Verf.s am Abschluß dieser gan-
zen Epoche für die Gesamtbeurteilnng Friedrichs 11, nicht günstig
aus, und man wird seinen Ausführungen am so mehr zustimmen
müssen, als er andererseits dem Kaiser in der Anlage and Durch-
ffihrang der Schlacht bei Cortenuova militärischen Blick zuerkennt
nnd ihm nacb den Unfällen von Parma das Zeagnis hoher That-
nnd Spannkraft nicht versagt. In sehr überzeagender Weise führt
E. aas, daß die geringen Erfolge Friedrichs in , dem Gegensatze
zwischen dem Lehnswesen and den realen Verhältnissen der Zeit
begründet liegen. Mit der Entwickelang der italienischen Städte za
selbständigen Kommanen tritt ein ganz neues nnd vor allem aach
militärisches Element auf, der zu Fuß kämpfende freie Bürger.
Friedrich It., ganz in den exclusiven Anschauungen des schon zucht-
loser Werdenden Bittertums aufgegangen, erkennt die hohe Beden-
ttmg desselben nicbt, entbehrt es zu seinem Schaden bei den Be-
lägerängen, könnte »mit seiner. Beiterei selbst in Gegenwart von
l^ruppen, äie den seinen an Qualität weit nachstanden, nicht einen
Flaß öder Graben, wenn er auch überbrückt war, überschreiten«.
Es fäflif ferner auf, daß der E!aiser bei seinen Belagerangen von den
sonst wirkünjgsiroflen Minen nnd Vpni dem Feuerwerfen ans Schleu-
dermascbitieh 6o Wenig GebraacH macht. Er zog es {(berhaupt vor,
44*
686 Gott. gel. Adz. 1887. Nr. \6.
statt der »ihm langweiligen« förmlicben Belagerang die sogenannte
Depopulation, die Verwttstang des Stadtgebiets anzuwenden ; während
einer Belagerang erkundigte er sieb einmal nacb dem Namen der ver-
schiedenen Maschinen. Andere militärische Fehler Friedrichs , wie
die Unterlassang seines Vorhabens gegen Mailand im Jahre 1238,
die Nicbtbertlcksicbtigang Brescias 1239 oder Bolognas 1242 , den
anterbliebenen Entsatzversach Ferraras a. s. w. erklärt E. aas der
dem Kaiser eigenen Leidenschaftlichkeit, seinem Mangel an Festig-
keit and Aasdaaer and seiner häufig fehlerhaften Politik gegenüber
dem Papsttume.
Die Belagerung von Carcassone (1240, eine Taf.) wird
durch eine genaue Schilderung der damaligen Oertlichkeit eingeleitet,
die Belagerung selbst nach dem Berichte des Seneschalls Guillanme
des Ormes erzählt. Sie ist dadurch wichtig, daß sie über den Stand
der Belagerungskunst des 13. Jahrhunderts, Aber die Leistungen im
Minenkriege seitens der Angreifenden and der Verteidiger und Ober
die Bedeutung der Armbrust im Festangskriege Aufschluß gibL
Für die Darstellung der Schlacht bei Benevent (1266, 2 Taf.)
beschränkt sich E. auf das rein Militärische. Er erzählt , daß Karl
von Anjoa nicht nur seine provengalischen Vasallen durch Soldzah-
lung und Aussicht auf Erwerb von Landbesitz zur Teilnahme an
seinem Zuge bewog, sondern auch in ganz Frankreich zahlreiche
Werbeplätze errichten ließ, auf denen Ritter und berittene Armbrost-
schützen durch bekannte Eriegsbanptleute gegen Sold in Dienst ge-
nommen wurden. Nach Ankunft der Franzosen um Rom nahm Man-
fred die militärisch nicht za rechtfertigende Anfstellang bei Capua
statt bei Geprano, von wo er die hier in Betracht kommenden drei
von Norden her nacb dem Königreich Neapel führenden Straßen am
leichtesten beherrscht hätte, zersplitterte durch unnütze Detachierung
seine Armee und begieng, nachdem das feste San Germano durch
einen unglaublichen Glücksfall in Karls Hände gefallen, den Fehler,
seine Truppen nördlich von Benevent mit demCaloreflufi im Rücken
aufzustellen. Letzteres bestimmte die militärischen Berater Karls
zu sofortigem Angriffe. Die Schlachtordnung beider Heere and der
Verlauf des Kampfes werden sehr anschaulich geschildert In der
Schlußbetrachtung hebt der Verf. den einfachen Gang der Schlacht
hervor. In 9 Haufen wie bei Bouvines waren die Franzosen ange-
rückt; König Karl zog sie behufs besserer Leitung and üebersicbt
in 5 zusammen, die in 3 Treffen fochten. Die Schlacht verlief nun*
mehr nicht flügel-, sondern treffenweise. »Für diese successive Ge-
fechtsmethode ist die Schlacht von Benevent höchst lehrreiche. Sie
war es nach dem Verf. auch in Beziehung auf das die Herren sq
Köhler, D. Entwickel. d. Kriegswesens n. d. Kriegf&hnmg i. d. Ritterz. L II. 637
FqB in den Kampf begleitende Oefolge der Bitter , auf das wegen
Znsammenhaltens der Ordnung in den Hänfen von den Rittern ein-
geschlagene langsame Tempo im Reiten, die feste Geschlossenheit
der Hänfen und die » doppelte < Rüstung bei den Deutschen. Die
Sehlacht bei Tagliacozzo >) (1268, ein Plan) bildet die letzte
Monographie dieses Bandes. Obwohl räumlich nicht sehr umfang-
reich, hat sie dem Verf. gewis von allen Schlachtbeschreibungen des
ersten Teils die meiste Mtthe und vielleicht auch den größten Aerger
verursacht. Mit ihrer Darstellung gehn nämlich zwei schon früher
erschienene Arbeiten des yerf.s parallel; beide wurden durch die
Polemik hervorgerufen , in welche K. mit Ficker über die Marsch-
richtung Karls und Konradins vor der Schlacht verwickelt wurde.
Ficker versteifte sich auf das in Karls Bericht an den Papst (vom
23. August) vorkommende Wort Monies Charchii und preßte nun alle
übrigen Nachrichten gewaltsam zusammen, um den eigentlichen Ver-
lauf des Kampfes in die Gegend zwischen dem Monte Garce und
der »Burg« Ovindoli, eine fbr Ritterschlachten ganz ungeeignete ber-
gige Stelle zu versetzen. Dabei kommt es ihm, derK. willkürliches
Umspringen mit den Quellen vorwirft, nicht darauf an, ein im Au-
gust unbedingt wasserloses Gebirgsrinnsal als Fluß Riale zu bezeich-
nen und die Lage der Villa Pentium entgegen der bestimmten Quel-
lenangabe auf dem rechten Ufer des Imele zu suchen. K. legt da-
gegen den Hauptwert auf Karls Bericht an die Stadt Padua (vom
24. August), worin nicht der Monte Garce, sondern ein Monte Taucio
angeführt wird, wie E. und vor ihm schon Raumer annimmt, der
in Folge des Sieges neugetaufte heutige Monte Feiice. Mit der An-
nahme des Verf.s läßt sich die Wichtigkeit der Brücke über den
Imele, die 1275 von Karl auf dem Schlachtfelde errichtete Kapelle
S. Maria de Vittoria, die für den Gegner bei Scurcola unsichtbare
Aufstellung der französischen Reserven östlich des M. Feiice, der
Kampf in der Palentinischen Ebene n. s. w. sehr gut vereinigen ; auch
fällt das zwecklose Linksausbiegen Konradins, seine Annahme der
Schlacht mitten im Gebirge, Karls Preisgeben der fruchtbaren mar-
sfschen Ebene n. a. fort, Hypothesen, zu denen F. nur des Wortes
Charchii halber kommt, das Karl von Anjon doch in seinem Schrei-
ben vom folgenden Tage selber geändert hat. Daß K. ferner mit
dem viel näher an Avezzano gelegenen Ovinuli gegenüber Fickers
Annahme von Ovindoli das Richtige getroffen, steht dem Ref. aufler
allem Zweifel. Die Existenz der näher an Karls Anmarschlinie lie-
genden Burg Ovinuli für jene Zeit steht urkundlich fest, während
1) Richtiger »die Schlacht auf dem PalentiiiiBchen Felde hei Albe« (E.)
638 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 16.
Fickers Ansicht doch vorzugsweise aof der Thatsache berabt, daB
es beute noeb einen Ort 0?indoli in der Nähe des Schlachtfeldes
(IV2 Meilen entfernt!) gibt. Auf die übrigen Differenzpunkte , die
Aufstellang Karls bei Ceprano n. a. kann leider hier nicht einge-
gangen werden. Wie lehrreich und aufklärend im tlbrigen die Ter-
rainschilderung, die Vorgeschichte und der Verlauf der Schlacht (na-
mentlich der Hinweis auf die griechischen Vorbildern entlehnte
Schlachtordnung der Franzosen) ausgefallen sind, braucht nach dem,
was über die yorhergehenden Schlachten bemerkt wurde,' kaum her-
vorgehoben zu werden. Ein Anhang enthält den Nachweis, daA
Villani für die Beschreibung der Schlachten bei Benevent undTaglia-
cozzo den Bicordano Malespini zur Grundlage hat und damit die
Berichte des Primatus verbindet, ferner Karls Berichte an den Papst
und an Padua^ letzteren, auf den K. besonderen Wert legt, weil er
einen Tag nach der Schlacht, also nicht in der ersten Kampfesaof-
regung geschrieben ist, auch in deutscher Sprache.
Der zweite Band beginnt mit der längeren Abhandlang:
Der zweite große Aufstand der Preußen gegen den
deutschen Orden (1260 — 1274, eine Taf.) In Verbindung mit
drei anderen umfassenden kriegsgeschichtlicben Aufsätzen aus der
Ordensgeschichte hat diese Arbeit für den zweiten Band des Verf.
fast dieselbe Bedeutung wie die Qeschichte der Feldzüge Friedrichs II.
im ersten Teile seines Werkes ; sie bildet ein Buch, eine militärische
Studie fUr sich. Die Einleitung enthält die Schilderung des Kriegs-
schauplatzes, der Bewohner, ihres kriegerischen Auftretens, ihrer mi-
litärischen Stärke, der ersten Kämpfe des Ordens, seiner Beziehungen
zu Polen, der Zustände im Ordenslande selbst, der Bewaffnung, Tak-
tik der Ritter, der Ordensburgen. Aus der Erzählung des Aufstan-
des sei auf die Niederlage des Ordens bei Dnrben (1260) und den
dadurch veranlaßten Abfall von Kurland und der eigentlichen preußi-
schen Stämme hingewiesen. Der Verf. unterscheidet in dem fünf-
zehnjährigen Kampfe 3 Perioden, die für den Orden unheilvollen
Jahre 1260—1264, den Zeitraum von 1265—1268, in dem die Kräfte
der Ordensritter ^urch Hilfe auswärtiger Fürsten verstärkt wurden
und den Preußen die Wage hielten , und die ein allmähliches Ueber-
gewicht der Ritter, die Ermattang der Aufständischen verratenden
Jahre 1270—1274. Aus den Schlußbetrachtungen ergibt sich, daß
der Aufstand an dem Mangel einheitlicher Leitung der kriegerischen
Operationen seitens der Eingeborenen sowie daran scheiterte, daß
es den Preußen nicht gelang die Verbindangen des Ordens mit der
See zu unterbrechen. Durch die Unterwerfung Samlands und die
Anlegung fester Burgen daselbst umfaßte der Orden nicht nur einen
Köhler, D. Entwickel. d. Kriegswesens d. d. Kri^^hnmg i. d. Ritterz. I. n. 639
Teil der prenBiBchen Landsehafteii im Bflcken , sondern beherrsehte
anoh die Schifffahrt auf beiden Haflb nnd sicherte so seine West-
grense dnreh die Verbindang mit der Weichsel.
Die Schlacht anf dem Marchfelde (1278, eine Taf.) ist
fbr K. eine ebenso dornenvolle Arbeit geworden wie die von Taglia-
cozzo im ersten Bande. Nach ihrer schon frOher von ihm veröffent-
lichten Schilderung entspann sich zwischen ihm nnd einigen öster-
reichischen Universitätsprofessoren eine heftige Utterarische Fehde.
Es gewann darin fast den Anschein, als ob diese Schlacht von letz-
teren als eine Art nationales Geheimnis betrachtet werde^ zn dessen
Aafhellang die Kräfte eines Ausländers nicht aasreichten. Aach bot
sie om so mehr Gelegenheit zn Angriffen gegen E«, als die darüber
Aoskonft gebenden Nachrichten in starkem Misverhältnis za der
Wichtigkeit des Ereignisses stehn and ohne Zahilfenahme von Kom-
binatioaen aas den arsprttnglichen Berichten eine Darstellong ganz
anvollkommen ansfiillen oder anmöglich werden würde. Wer wie
Bissen flberhanpt jeden Baohstaben einer Scfalachtenschilderang aas
den QaeUen belegen möchte, der maA, weil das ebensowohl far das
Mittelalter wie für die Neazeit anmöglich ist, von vornherein auf
eine, solche Arbeit verzichten. Ohne Kombinationen, ohne »militäri-
sche Erwägnngenc nnd »Moeaikarbeitc, ohne »geistige Verarbeitang
des Qaellenmaterials and infolgedessen ohne Komposition c geht es
weder für die Schlacht anf dem Marchfelde noch fliir die von Kö-
niggrätz oder Sedan ab ; es kommt nar daraaf an, ob diese Kombi-
nationen eine sichere Unterlage in den vorhandenen Berichten fin-
den. Dabei spielt allerdings »das anerzogene militärische Empfinden
des Sichtigen«, wie es K. nennt, eine große Bolle and mit Behanp-
tangen, dafi der geschalte Historiker den Mangel an militärischem
Verständnis eben darob seine Schnlang reichlich ersetze , ist es nicht
gethan. Bezttglich der Streitfrage ttber den Wert der Chronik von
JKi)lmar verweist Bef. hier aof seine in der Einleitang za dieser In-
haltsangabe bereits mitgeteilte Ansieht ttber Qaellenbenatzang. Die
Schlachtordnang beider Heere and der Gang der Schlacht wird von
K. klar and tibersichtlich beschrieben. Die leichten angarischea Bo-
genschfltzen eröffneten den Kampf, während Badolf mit seinem
zweiten and dritten Treffen sttdlich des Weidenbachs zarttckblieb.
Um weitere Fortschritte za erzielen, sendet er den Ungarn sein
zweites Treffen, die Oesterreicher, nach; es stöBt anf das 2. böhmi-
sche Treffen, die Deutschen, in Ottokars Heere, dessen 1. — die
Böhmen and Mähren — nnterdes von dem angarischen Adel gewor-
fen worden ist. Es würde allen militärischen Begriffen jener Zeit
widersprechen, . wenn .das 2«. Treffen Rudolfs, erst die böhmischen
640 Gött. gel. Adz. 1887. Nr. 16.
Gegner in Ottokars erstem Treffen zerstrent haben sollte nnd dann,
wie nach solchem Handgemenge nicht anders möglich, anfgelSet, aus-
einander gekommen, kurz in loser Ordnung den geschlossenen Reihen
des 2. (dentscben) Treffens in Ottokars Heere entgegengetreten wäre.
Die Böhmen nnd Mähren mttssen also vorher darch die Ungarn za-
rttckgeworfen worden sein. Ebenso ttberzeagend schildert E. Radolfs
Ueberschreiten des Weidenbachs, die Ursachen dazn, den hartnäcki-
gen, durch das Eintreffen des 3. böhmischen (von Polen gebildeten)
Treffens hervorgerufenen Kampf — darauf aufmerksam gemacht zu
haben, ist ein besonderes Verdienst Köhlers — und den jetzt erst
verständlichen, zur Entscheidung ftthrenden Flankenangriff der Re-
serve des Kapellers. Die Schlacht bei Worringen (1288,
1 Taf.), hauptsächlich nach dem kritisch benutzten Berichte van Hee-
lus erzählt und daher mit manch charakteristischen Einzelheiten
(auch ttber Rüstung und Bewaffnung der Zeit) ausgestattet, wurde
ebenfalls in der Dreitreffenstellung durchgefochten. Sie bietet ein
besonderes Interesse dadurch, daß die schon bei Muret und Taglia-
cozzo erfolgte Bildung und Verwendung einer Reserve, die ziemlich
bestimmt griechischen Ursprungs war, hier scheinbar ganz selbstän-
dig auftritt und daß das bei Worringen geübte System von Angriff
und Verteidigung für die späteren Schlachten bei Mtthldorf und Tan-
nenberg Vorbild wird. Auch in der Schlachtordnung Bajazids bei
Nikopolis läßt sich der griechische Ursprung erkennen. Die Schlacht
bei Oö 11 heim (1298, 1 Taf.), »die Normalschlacht auf dem Ge-
biete mittelalterlicher Taktik«, enthält eine umfassende Erzählung
der Vorgeschichte des Zusammenstoßes, eine genaue Terrainschilde-
gerung nnd das ausfBhrliche Verzeichnis der vornehmsten Ritter in
den beiden nicht zahlreichen Heeren. Der Verf. hält sich bei der
Darstellung der eigentlichen Schlacht besonders an die Steirer Reim-
chronik. Da die Quellen sonst spärlich fließen, so war eine scharfe
Kritik derseben geboten; wie gewissenhaft sie der Verf. geübt bat,
beweist die Note auf S. 214—215. Die Schlachten bei Cour-
tray (1312) und Mons-en-Pev61e (1304, je 1 Taf.) stehn in
engem Zusammenhange; sie fanden beide zwischen der französischen
Ritterschaft und dem lediglich aus Fußvolk gebildeten Heere der
Flamänder statt. Wie einst bei Legnano die Mailänder Bürger den
deutsehen Rittern, so brachten die flämischen Fußtrnppen der fran-
zösischen Ritterschaft bei Courtray eine entscheidende Niederlage
bei. Man darf sich die wehrpflichtigen Mannschaften der flämischen
Städte nicht als undisciplinierte, zusammengelaufene Massen vorstel-
len; sie waren organisiert, zu taktischen Körpern verbunden und
wurden von tüchtigen, kriegserfahrenen Männern der Zeit befehligt.
Köhler, D. Entwickel. d. Kriegsweaens o. d. Kriegfiihrung i. d. Bitterz. L TL 641
E. gibt Aasftthrlieberes über ibre OrganisatioD, Bewaffnang, ibre Oe-
fecbtsstellang in tiefe Hänfen. Die fVanzOsische Ritterschaft, obwobl
änfterlicb nocb dieselbe, die im 13. Jahrbnndert so groBe Trinmpbe
über Dentscbe, Engländer, Spanier nnd Italiener erfochten, hatte
doch »dnrch den excentrischen Geist der Chevalerie in ihrer Ver-
wendbarkeit im Kriege gelitten«, war der veränderten Taktik ihrer
Oegner zn wenig gefolgt. Das Heer der Franzosen bei Coartray
weist anch die zu Fnft kämpfende, aber von den Bittern verachtete
nnd wenig znr Geltung kommende Miliz der Kommunen, ferner ita-
lienische Armbmstschtttzen nnd die sogenannten Bideanz oder Bi-
dets auf, in ihrer eigentümlichen Bewaffnung und Fechtweise eine
' der interessantesten Erscheinungen für die Entwicklung des Fußvolks
im Mittelalter. Es waren ursprünglich spanische SOldner zu Fuß, wie
sie sich in den Kämpfen mit den Mauren herausgebildet hatten; ihr
Führer Rüdiger von Flor gab im Jahre 1303 den ersten Anlaß zur
Begründung des italienischen Condottieriwesens ^). Sehr fesselnd ist,
was in der Darstellung der Schlacht bei Mons-en-Pev6le Ober die
auf griechischen Ursprung zurückzuführende Verwendung von Wa-
genburgen zur Deckung des Rückens und über die Umformungen
bemerkt ist, die König Philipp IV. zwischen beiden Schlachten im
französischen Heerwesen eintreten ließ. Aus dem Umstände, daß die
französischen Ritter bei Courtray eine vollständige Niederlage er-
litten und schon zwei Jahre darauf dem Sieger mit Erfolg wider-
standen, zieht K. den Schluß, daß das Fußvolk seine Stellung gegen
die Ritterschaft zwar behaupten, aber keine Entscheidung herbeizu-
führen vermochte, wenn der Gegner dasselbe von allen Seiten um-
schloß, ermüdete und namentlich nicht in ungünstigem Terrain wie
bei Gourtray aussichtslose Angriffe dagegen unternahm. Ausftllle
der Fußkämpfer gegen Ritter wie bei Senlac und Courtray, bei de-
nen Ordnung und Geschlossenheit verloren giengen, schlugen in
Niederlagen um. Die das Auftreten der flämischen Infanterie kenn-
zeichnende tumultuarische Art^ ihr Mangel an Disciplin verhinderten
ihre weitere Fortentwickelnng , ihre »Gestaltung zu mustergiltigen,
Vorbildern, wie es bei den Schweizern der Fall war. Nur in der
Verteidigung, durch sorgfältige Benutzung der Bodenbeschaffenbeit
war sie überhaupt imstande der Ritterschaft zu widerstehnc. Mit
Recht weist K. darauf hin, daß die Städte ihre politische Bedeutung
nicht allein durch ihre Mauern und ihr Fußvolk, sondern vorzugs-
weise durch ihre reicheren Hilfsmittel, durch das Einsetzen der gan-
1) üeber die wachsende Bedeutung dieser Condottieri, namentlich über ihren
Kampf mit König Ruprecht bei Brescia (1401) hätte Ref. gern etwas Näheres
erfahren.
642 Gdtt. gel. An». 1887. Np. 16.
zeo Volkskraft erlangt haben ; ihr gegenüber wies das LehnsBystem
nur spärlich vorhandene Kräfte anf.
Ueber Ort und Gang der Schlacht bei Mtthldorf (1322,
eine Taf.) geben die Quellen keine befriedigende Anakanft. Sie ge-
hört, wie der Verf. bemerkt, zn den Sehlachten, die rom Standpunkte
einer skeptiBchen Kritik wegen Mangelhaftigkeit der Qnellen eben-
sowenig einer Darsteilong fähig sind wie irgend eine des Mittel-
alters, falls hier nicht Verständnis für militärische Dinge and Kennt-
nis der ttblichen Taktik vermittelnd eintreten and diese Mängel er-
setzen helfen. K. ftthrt-den »ganz bestimmten« Nachweis, daft Kö-
nig Ludwig bis zum 27. September die Straße Landshut-Erharting
nicht verlassen konnte und daß er das bairische Heer am 27. bis
Dornberg zurücknahm. Der eingehenden Terrainschilderang folgt
die Bestimmung der Lage des Schlachtfeldes aof der Vehwiese zwi-
schen Isen and Inn and die Beschreibung der Schlachtordnung bei-
der Heere. »Mit unverzeihlicher Saumseligkeit« hatte Friedrich
d. Seh. die günstige Gelegenheit, in den Tagen vom 15. bis 26. Sep-
tember sich auf die noch schwachen Baiern zu werfen versäumt und
wurde nun vom Erscheinen König Ludwigs, der das bei Erharting
ßtehende österreichische Heer nmgieng und es gleichzeitig vom Mn-
l^en Ufer der Isen aus in der Front bedrohte, sowie dessen Bttck-
zog über den Inn jetzt unmöglich machte, völlig Überrascht. Der
Qinweis des Verf. auf das Ueberschreiten der Isen durch das bairi-
sche Fußvolk und dessen im Verein mit den bairischen Bittern an-
terpommener, die letzten Kräfte Friedrichs aufzehrender Kampf läßt
jetzt erst verstehn, wie der Stoß des Borggrafbn von Nürnberg in
4ie linke Flanke der Oesterreicher entscheidend wirken mußte.
Mühldorf war die eigentliche Nutzanwendung der bei Worringen ge-
machten und Gemeingut der deutschen Heerführer gewordenen Er-
fahrungen, »eine selbständige Entwickelung aus vorhergegangenen
Thatsachen, die dem deutschen Geiste alle Ehre macht«. Die
Feldzttge des deutschen Ordens gegen Polen (1330—
,1332) schließen an die Eingangsarbeit dieses Bandes an and be-
handeln den mächtigen Aufschwung des Ordens seit Ende des l3.
Jlkhrbpndtf ts im Innern wie nach außen. Aus den einzelnen Kriegs-
j^breii sei auf den lehrreichen Kampf und den Untergang der Ar-
riöreg^rde des Ordens (durch Umzingelung der zahlreicheren Polen)
in der Schilde ht bei Plo wcze (1331) und aaf die von den Or-
^ensrittierQ in gräßlichster Weise aasgeübte Depopulation des polni-
schen Gebiets hingewiesen. Der nun folgende Abschnitt: Zum
englisch-französischen Kriege des 14. Jahrhunderts
gehört zu den fesselndsten des ganzen 2. Bandes; mit staunensw^r*
Köbler, D. Entwickel. d. Eriegswesens u. d. Eriegf&hrang i. d. Bitterz. I. II. 643
tem Fleiße nnd weitgehendstem Sachverständnis geschrieben, er*
scheint er dem Bef. als eine hervorragende Bereicherang unserer
Eriegslitteratnr des Mittelalters. Er gibt über die allmähliche Aus-
bildung der englischen Taktik unter Eduard UL, über den Kampf
der vorgeschobenen Bogenschützen und der abgesessenen Bitter-
schaft und die Verbindung beider zu einer förmlichen Schlachtord-
nung in drei Treffen mit zwei an das Mitteltreffen angebängteni
von aufgesessenen schweren Beitern gebildeten Flttgeln, über die
Wagenburgen im Bücken der englischen Armee u. a. Aufschluß;
die Ansicht, als ob die Entscheidung bei Gr6cy und Poitiers ledig»
lieh durch die Bogenschützen erfolgt sei, wird als unbegründet zu«
rückgewiesen. Alles was K. ferner über die englischen Webrein-
richtungen, über das Verhältnis der Bogenschützen zur heutigen In-
fanterie, über Eduards III. Kräfte im Kriege gegen Frankreich he*
merkt, ist wie die sich daranschließende Schilderung des damaligen
französischen Heeres, die darin zu Tage tretende Vernachlässigung
des Fußvolks, der allmähliche Uebergang der Bitterscbaft zum Fuß-
kampf, das stehende Heer Karls V. nnd die eingehend gegebene
Darstellung der Fortschritte in der Bewaffnung beider Völker in ge-
nauer und erschöpfender Weise behandelt Für die Schlachten
bei Gröcy (1346) und Poitiers oder Maupertuis (1356,
je 1 Taf.) bot der bekannte Froissart die mit scharfer Kritik be-
nützte Hauptquelle, Bei Cr^cy sind die Märsche beider Heere vor
dem Zusammentreffen und die am Anfang der Schlacht durch die
langen Pfeile der englischen Bogenschützen bewirkte Unordnung
unter den Franzosen hervorzuheben. »Vom weiteren Verlaufe der
Schlacht lassen sich nur ganz allgemeine Züge entworfene. An die
Schlacht bei Maupertuis knüpfen sich weniger militärische als weit-
reichende politische Folgen. Ihr Verlauf war bei der Ueberlegen-
heit der Engländer in Stellung und Bewaffnung trotz der bedeuten-
den Uebermacht der Franzosen ein verhältnismäßig rascher. Die
schlechte Haltung eines Teils der abgesessenen französischen Bitter-
schaft im Treffen des Dauphins Karl und ihr hastiges Zurückeilen
zu den Pferden führte später bei Boosebeke und an a. 0. dazu, die
Bosse ganz außer dem Bereiche des Schlachtfeldes zu lassen, so
daß den Feigen damit von Anfang an jede Hoffnung zur Flucht be-
nommen ward. Die Schlachten bei Cocherel und Auray
(1364, zusammen 1 Tafel) fördern unsere Kenntnis von der Taktik
des Mittelalters besonders deshalb, »weil die Armeen verhältnismäßig
klein sind und die taktischen Maßnahmen dadurch in hohem Maße
beeinflußt werden«; sie ermöglichen uns ferner die Beurteilung der
voü den vorzüglichsten Heerführern und Gondottieris Frankreichs und
644 Qöti. gel. Aaz. 1887. Nr. 16.
Englands geführten »Söldnerbanden«. Bei Cocherel, in der Thal-
niederung des linken Earenfers, fochten beide Teile in drei »Ba-
taillonen« neben einander, die Franzosen hatten an Berdem eine kleine
ans Gascognern bestehende Reserve als 2. Treffen. Die sonst so
furchtbaren englischen Bogenschützen versagten gegen die zu Fuft
kämpfenden französischen Ritter, und der schliefiliche Sieg Dngne-
sclins über Captal de Buch, seit langem der erste tiber die mit den
Engländern verbündeten Landsleute, erweckte in Karl V. Hoffnun-
gen, welche die Niederlage bei Auray wenige Monate darauf wieder
vereitelte. Bezeichnend für die^ritterlichen Anschauungen der Zeit
ist, daß der englische Ritter Galverley bei Auray sich anfangs wei-
gerte den Oberbefehl über die von Chandos gebildete Reserve zu
tibernehmen. Die Feldzüge von 1366 und 1367 in Spa-
nien (1 l'af.) »bilden den Höhepunkt der englischen Erfolge im
14. Jahrhundert. Der Zug des Prinzen von Wales legt aber auch
den Grund zum Niedergange der englischen Ueberlegenheit dadurch,
daß er den Prinzen in dauernde Geldverlegenheit bringt, die über
die Auferlegung neuer Steuern empörten gascognischen Barone zum
Abfall führt und den Keim seiner späteren Krankheit in den schwar-
zen Prinzen pflanzt«. Wir erhalten dadurch ferner den deutlichsten
Einblick in die eigentümlichen Söldnerverhältnisse der Zeit. Die
Einmischung der Engländer in den Zwist zwischen den spanischen
Kronprätendenten hatte den Wiederansbruch des Krieges auch mit
Frankreich zur Folge; der Seesieg des in Spanien vom Prinzen von
Wales überwundenen Grafen Heinrich von Trastamara über die eng-
lische Flotte bei La Rocbelle (1372) unterbrach die Verbindung des
Prinzen mit der Heimat und trug vornehmlich zur Vertreibung der
Engländer aus Guienne bei. Die z. T. von Augenzeugen herrüh-
renden Nachrichten über den Einmarsch des Prinzen in Spanien und
die Schlacht bei Najera (1367) ermöglichten es dem Verf.,
seine Erzählung mit einer Fülle beachtenswerter Einzelheiten auszu-
statten, die ihr eine besondere Frische und Lebendigkeit verleihen.
Am Schluß dieser Arbeit gibt der Verf. eine besondere Kritik der
Quellen, »die erst nach der Darstellung der Schlacht möglich war«.
In dem Abschnitte : Neun Kriegsjahre aus der Regierungs^
zeit des Hochmeisters Winrich von Kniprode (1362—
1370) weist K. auf die eigentümliche Kriegführung hin, die sich bei
der Unzulänglichkeit der Mittel des deutschen Ordens gegenüber den
Littauern herausgebildet hatte ; sie bestand in der den Gegner un-
ausgesetzt beschäftigenden Offensive, sowie darin, daß der Orden
zwischen seinem Gebiet und Littauen eine unzugängliche, durch Anlage
zusammenhängender Befestigungen verstärkte Wildnis schuf. Nach
Köhler, D. Entwickel. d. Kriegswesens a. d. Kriegführung i. d. Ritterz. I. IL 645
einer Untersuchung Über die Lage der einzelnen Burgen darin er-
zählt der Verf. die kriegerischen Ereignisse der einzelnen Jahre,
aus denen Ref. die Belagerung von Kauen (Eowno, 1362) und die
Schlacht bei Rudan (1370) nennt. E. macht schließlich auf
die irrtümliche Ansicht aufmerksam, wonach die Kriegführung des
Ordens nach 1370 eine schlaffere geworden sein soll; bis zum Tode
Winrichs sei »die Vernichtung der Heiden, nicht die Eroberung Lit-
tauens« geplant und durch größere mit Energie ausgeführte Heer-
zttge angestrebt worden. Die Schlacht bei Boosebeke
(1382, 1 Tafel) schildert die Niederlage der fiamänder Bürger unter
Philipp Artevelde durch die Franzosen. Vor Beginn der Schlacht
hielten die Sieger einen Kriegsrat ab, der sich mit dem geplanten
Uebergange über die Lys beschäftigte und die ritterlichen Anschau-
ungen der Franzosen vortrefflich kennzeichnet. Eine Umgehung des
schwierigen D6fil6s wurde als feig und unredlich abgelehnt. »Wenn
wir einen anderen Weg einschlagen als den direkten«, äußerte der
französische Connetable, »so zeigen wir, daß wir keine rechtschaf-
fenen Soldaten sindc Unter den Waffen werden auch tragbare
Feuerwaffen der Franzosen und Ribeaudequins, eine Art Feldgeschütz
der Flamänder, erwähnt. Die in einem einzigen tiefen Haufen auf-
gestellten 60000 Flamänder wurden nach einem kurzen Anfangserfolge
rafich überwältigt; der Sieg führte die rebellischen Städte Frank-
reichs wieder unter die königliche Botmäßigkeit zurück. Die
Schweizerschlachten von Laupen (1339) und Sempach
(1386, zus. 1 Taf.) beanspruchen ein besonderes Interesse, weil »von
den verschiedenen Formen^ unter denen sich seit dem 12. Jahrhun-
derte das Fußvolk zur Geltung zu bringen suchte, diejenige der
Schweizer schließlich die allgemeine Annahme gefunden und zu einer
gleichförmigen europäischen Infanterie hinübergeleitet hatc. Bei L.
siegten die vereinigten Bürger von Bern und den Waldstätten über
den umwohnenden Adel. Sempach gestaltete sich zur Niederlage
der Bitterschaft, weil die Oesterreicher den Vorteil ihrer Höhen-
Stellung nicht wahrnahmen und weil, als »der Spitze der Luzerner
am Anfange der Schlacht ins Gedränge kam, die nachfolgenden
Waldstätte sich vom Spitz lösten und mit Erfolg in die Flanke der
Oesterreicher giengen. Hier wie zwei Jahre später bei Döffingen
fochten die Bitter zu Fuß. »Im Verlauf der Schlacht ergibt sich
kein Moment, wo die Sage von Arnold Winkelried eingereiht wer-
den könnte; es ist kaum möglich, daß ein Mann mehr wie zwei
SpieAe erfassen konnte, da der abgesessene Bitter mindestens 3 Fuß
Raum in der Front einnähme. Die Schlacht bei Nikopolis
(1396, 1 Taf.) — von E. schon früher in Verbindung mit der Schlacht
646 Gott. gel. Am. 1887. Nr. 16.
von Widdio als Monographie bearbeitet — gestaltete sich ans einem
anfänglichen Siege der Christen durch die zäFuß und ohne Ordnung
und Geschlossenheit ausgeführte Verfolgung der französischen Ritter-
schaft zu einer gänzlichen Niederlage des Kreuzheeres. Am Ein-
gange seiner Darstellung entwirft der Verf. ein eindrucksvolles und
anziehendes Oemälde von dem kriegerischen Lehnsstaate der Osmanen
und ihrer gesamten militärischen Organisation. Die Schi ach t b e i
Tannenberg (1410, 1 Taf.) »gibt ans ein Bild mittelalterlicher
Fechtweise, wie es vollkommener in keiner der bisher vorgeführten
Schlachten geboten wird. Es ist zugleich die letzte Schlacht, wo
sich das mittelalterliche Reitergefecht völlig unabhängig vom FuB-
volk in seiner charakteristischen Form der successiven Verwendung
der Kräfte v^enigstens auf Seite der Polen zeigte. Die bei T. nur
zum Rttckhalt bestimmte Wagenburg wurde unter Ziska der Haupt-
körper der Schlachtordnung; unter ihrem Schutze bildete sich ein
beachtenswertes Fußvolk heran, sie gibt der schwerfälligen Artillerie
der Zeit Oelegenheit sich geltend zu machen. Der Schlachtbeschrei-
bung gehn »Vorbemerkungen c , d. h. umfassende Untersuchungen
über das Heerwesen des deutschen Ordens zur Zeit der höchsten
BIttte desselben, Studien über die militärische Organisation des Lan-
des, die Zusammensetzung und Bewaffnung des Ordensheeres, seine
Stärke, seine Artillerie, Vergleiche zwischen der englischen Kampf-
weise der Zeit und der des Ordens und Betrachtungen Über das
Heerwesen des Königreichs Polen unter Jagello voraus, »das im
Oegensatz zu dem sich dem Greisenalter nähernden Orden in völli-
ger Jugendfrische stand«. Auf die Anführung der Ursachen des
Kriegs von 1410 und der einleitenden Operationen folgt die Schilde-
rang des Terrains bei T., das K. augenscheinlich ans persönlicher
Anschauung kennt. Den Hauptgrund für den ungünstigen Ausgling
der Schlacht findet der Verf. darin, daß der Hochmeister es znerst
nnterließ sich auf die überraschten Polen zu werfen und daß er
dann nach der Flucht der Littauer zögerte, mit seinem 3. Treffen in
die jetzt offene rechte Flanke der Polen einzubrechen und damit
seine gesamten Kräfte gleichzeitig zu verwenden. Dad polnische
Heer besaß nach dem Verf. in dem littanischen Großftlrsten Witold
eine bedeutende militärische Capacität. Der Fei dzng König'
Heinriohs V. in Frankreich (1415, 1 Taf.) beschließt den
zweiten Band. Er zerfällt in die Darstellung der Belagerung
von Harfleur, des damaligen Hafens von Paris, deren für die
Engländer günstigen Ausgang hauptsächlich ihre wirksame Artillerie
herbeiführte, und in die Schilderung der Schlacht bei Azitk**
CO art. Die geringe Zahl der englischen Streiter veranlaß te' König;
Köhler, D. Enlwickel. d. Kriej^swesens u. d. Kriegfuhhing i. d. Ritterz. I. II. 647
Hüinriob, das' 2. waä 3. 'Treffen in seitlör Schlächtordnang wegfallen
zu lassen; er «Mllte'sich in einem einzigen, noch daza nur 4 Mann*
Tiefe zfthlenden Treffen auf. Trotz der Erfahrungen von Cr^y
giengen die äaüersten Flttgeiabteilungen der Franzosen zu RoB in
den Kampf; ihre darch die Pfeile der englischen Bogensclitttzen in
blinde Wut versetzten Pferde hielten nicht Stand nnd brachten die
hinter ihnen stehenden Abteilungen in Unordnung. Das gleichfalls
gegen den Befehl zu Roß verbliebene 3. französische Treffen ergriff
ohne Kampf die Flucht. Der Anhang des zweiten Bandes
enthält einen Exkurs über die Stärkeberechnungen der
Armeen seit Mitte des 13. Jahrhunderts. Darin sind be-
sonders die Schlachten auf dem Marchfelde, bei Courtray und Mons-
en-Pev&le, die Stärke der Armeen im englisch-französischen Kriege,
der Heere bei Sempaeh, DöflSngen, Tannenberg und Azincourt be-
handelt Die Schwierigkeit der Materie ließ den Verf. natürlich nur
lu annähernden Ergebnissen gelangen.
Nach dieser ausgedehnten und dem reichen Inhalte beider Bände
doeh nur notdürftig gerecht werdenden Uebersicht mögen dem Ref.
noch einige Bemerkungen allgemeiner Natur gestattet sein. Mit
Rücksicht auf die seinen Arbeiten an einigen Stellen schon früher
zu Teil gewordene ungünstige Aufnahme äußert der Verf. in der
Vorrede zum ersten Teile: Ich zweifle nicht, daß mein Werk von
gewisser Seite in der ungünstigsten Weise zur Besprechung gelan-
gen wird. Diese Befürchtung ist in der That eingetroffen. Ein
Kritiker glaubte »pflichtmäßige darauf hinweisen zu müssen, daß
der Styl, sowie mannigfache Abschweifungen und Wiederholungen
das Studium des Werkes erschwerten, und citierte als Beleg dafür
einen etwas zu lang geratenen Satz der Einleitung. Daß in einem
Bache, welches aus der Darstellung und Untersuchung einzelner
Schlachten allgemeine Schlüsse ableiten will, wiederholte Hinweise
auf Aehnliclikeiten in Bewaffnung, Aufstellung und Fechtweise vor-
kominen, kann ebensowenig Wunder nehmen, wie daß in einem
Werke von nahezu 1400 Seiten der eine oder andere Satz verun-
glückt Aas einem solchen Falle heraus aber zu einem das Qanze
verdammenden Ausspruche zu kommen, ist mindestens stark über-
trieben und tendenziös. Ref. muß, nachdem er Seite ftlr Seite bei-
der Bände gelesen, seinerseits auch 9 pflichtmäßige bekennen, daß
das Werk frisch und anregend, selbst bei Untersuchung schwieriger
Quellencitate in leichtverständlicher, nie ermüdender Art geschrieben
ist Die SchlachtenBchildernngen Köhlers bilden einen wahrhaften
Gewinn ftlr unsere Militärlitteratur; sie füllen eine schmerzlich
648 Gott. gel. Aos. 1887. Nr. 16.
empfandeDe Lücke in fachmännigch erwflnscbter Weise ans and wer-
den fbr kriegsgeschichtliche Studien ttber das Mittelalter anf Jahr-
zehnte hinaas grandlegend bleiben. Bei der oft mangelhaften Beschaf-
fenheit der Qaellen ans jener Zeit liegt es in der Nator der Sache,
daß für Kontroversen, fttr entgegengesetste Änffassangen und ab-
weichende Meinungen Raam genug bleibt. Gibt es doch selbst in
der Darstellung von kriegerischen Ereignissen der Neuzeit anaafge-
klärte Stellen genug; um so weniger werden sie, wie schon hervor-
gehoben wurde, fttr jene zurückliegenden Jahrhunderte fehlen. Aber
wenn dem Verf. auch fUr einzelne Momente seiner umfangreichen
Schilderungen kleinere Irrtümer nachgewiesen werden sollten , so
nimmt das der Gesamtbedeutung seines verdienstvollen Werkes we-
nig oder nichts. Im großen und ganzen iiaben Köhlers Forschun-
gen, die nie bei Fremden Anleihen machen, immer anf eignen Füßen
stehn und stets aus dem Vollen schöpfen, den Gang der Ereignisse
sicher gestellt; sie haben dadurch zugleich eine Legion gangbarer
irriger Ansichten beseitigt und sind auf Jahre hinaus ein Kanon fttr
die Kriegsgeschichte des Mittelalters geworden.
Zum Schluß will Ref. nach einigem Schwanken die Bemerkung
nicht unterdrücken, daß er das Erscheinen des Köhlerschen Werkes
noch in anderer Beziehung freudig begrüßt ^hat. Wenn ein preußi-
scher Officier, der in drei wichtigen Feldzügen höhere, verantwor-
tungsreiche Stellungen bekleidete, den wohlverdienten Buheabend
seines Lebens dazu benutzt, um mit eisernem Fleiße und einer nicht
einmal unserer studierenden Jugend immer eigenen gewissenhaften
Hingebung an die Sache sich länger als ein Jahrzehnt in die schwer-
verständlichen Quellenschriften verschiedener Nationen einzulösen,
sich in die schwierigen kriegsgeschichtlichen Details des Mittelalters
hineinzuleben und seine Zeitgenossen dann mit so schönen Ergebnissen
seiner Arbeitskraft und seines militärischen Urteils zu überraschen, so
ist das eine Tbatsache, die uns mit nationalem Stolze erfüllen muß.
Solche Erscheinungen sind selten, nicht nur im Vaterlande Henri
Delpechs, auch am Fuße der Martinswand und an der schönen
blauen Donau.
Breslau. J. Krebs.
Fttr die BedAlction ▼•ntntwortlicli : Prof. Dr. Ssektd» Direktor der Gfitt. gel. Am.,
Aneaeor der Königliehen Geeelleehafl der WiaeeBediftftaB.
Ttfkv dm DkUridiftckm 7mrkigB'.Bu6kkanam^,
J)ni€k dw DmtricVKhm Vni».'Bwikdrw)kmr§i (f)r» W, Matthttr).
'■•-■*' li
«49
Göttingische
gelehrte Anzeigen
anter der Aufsicht
derKönigl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Nr. 17. 15. August 1887.
Preis des Jahrganges : JL 24 (mit den »Nachrichten d. k. G. d. Wiss.c : JL 27).
Preis der einseinen Nummer nach Anzahl der Bogen: der Bogen 50 ^
Inhalt: 8 eh cell, ProcU oommentarloniH in ran pnUieam Plfttonia partes inedltae. Ton
Brmu, — Lang, Beitr&g« rar Kenntnis der Bmptiy-Geeteine des C]iri8tiaiiiap49ilarbeekens. Von
CMm. — Woeikof, Die Klimata der Erde. Yen Jfe|w.
= EigeiiHioIrtIger Abdrook von Artikeln der Gott gel. Anzeigen verboten. ^
Sehe eil, Rudolf, Prodi commentariorum in rem pnhlicam Piato-
nis partes ineditae. Berolini apud Weidmannes (Zweiter Band der
Anecdota varia graeca et latina ediderant R. Schoell et
G. Stademund.) 240 3. 8^
Die zweite Hälfte der Abbandlangen des Proclos zu Piatos
Staat, die bis auf spärliche Excerpte bisher unbekannt war, erscheint
hier zum ersten Mal auf Grund der einzigen erhaltenen Handschrift.
Diese Abhandlungen haben eine merkwürdige Geschichte ge-
habt, die zwar in Einzelheiten, besonders durch Valentin Böses
Aufsatz »der Index zu Proclos Abhandlungen über die Republik des
Plato« (Hermes n, 96 £f.) schon früher bekannt war, in die aber
doeb erst die Untersuchungen des Heransgebers umfassenderen Ein-
blick gewähren. Rose, der nur den unvollständigen Laurentianus
80, 9 und seine Apographa kannte, hatte gemeint, der damals bis
auf Mais und seiner Vorgänger Excerpte noch ganz unbekannte Co-
dex der Salviati enthalte, zwar verstümmelt, doch den vollständigen
Text dieser Abhandlungen, werde also nach seiner Auffindung eine
Tolbtändigere Parallelquelle neben dem Laurentianus abgeben. Dies
ist nicht haltbar. Die AeuBerungen derer, die den Codex selbst ge-
sehen haben, sowie seine nunmehr von SchOU publicierte Abschrift
(Barberinus Graeeus I, 66 olim 606) ergeben mit Bestimmtheit, daß
die SdtlTialische Handschrift nur die Fortsetzung des Laurentianus
enthielt. Aber Schoell geht weiter und schlieft (praef. 7), gestützt
05tt. fol. Abi. 1807. Mr. 17. 46
650 Gott. gel. Adz. 1887. Nr. 17.
banptsächlich aaf die absolute Aebnlichkeit der Scbrift im Lanren-
tianns einerseits und der salviatiscben Handscbrift andererseits (von
welcber Mai, scriptt. vett. noy. coli. II, glttcklicber Weise wenig-
stens ein Facsimile gab), daß Beides nar Teile ein und derselben
Handscbrift seien.
Vergegenwärtigen wir uns den bistorischen Hergang, wie er sieb
Scboell ergibt. Im Jabre 1492 bat Janas Lascaris, der damals ge-
rade im Auftrage Lorenzos Oriecbenland zam Erwerb von Hand-
scbriften bereist batte, ein Exemplar des Proclos »zum Staat« nach
Florenz gebracht (also schon von seiner ersten Reise, die zweite
wurde erst nach Lorenzos Tode beendet^)). Dieses von ihm in
Oriechenlknd gekaufte Manuskript ist der unvollständige Laurentia-
nus 80, 9 (Pergamentbandschrift des 10. Jahrb.), der die erste größere
Hälfte der Abhandlungen enthält und der auch damals, als ihn
Lascaris kaufte, nicht mehr enthielt. Denn von dem »soeben durch
Lascaris bekannt gewordenen Proclos zu den ersten 6 Btlcbern des
Plato vom Staat und dem Anfang des siebenten« schreibt im August
1492 Marsilius Ficinus an Martinns Uranius (praef. 4), und dem
entspricht die Notiz des alten Ausleiheregisters: a messer M. Ficini,
Procolo ... sopra la rep.di Piatone ... non finite^). Der Schnitt
also, der das einst vollständige Exemplar in zwei ungleiche Hälften
zerlegte, ist nicht in Italien, sondern schon in Oriecbenland ge-
schehen, ehe Lascaris seine Bekanntschaft machte. Ob der frühere
Besitzer (Harmonics von Athen) noch das Ganze besaß, ist ans der
Bemerkung im Laurentianns leider nicht zu ersehen. Dennoch aber,
meint Scboell, hätte Ficinus im Jahre 1492 auch die zweite Hälfte
in Florenz lesen kOnnen. Seltsamer Weise nämlich befand sie sich,
als Lascaris die erste brachte, schon (aus früheren Erwerbungen) in
der Privatbibliotbek der Mediceer. Denn wenn sie sich später in
dem Besitz der Salviati findet, so spricht alle Wahrscheinlichkeit
dafür, daß sie zu den Handschriften gehörte, die im Jahre 1500 von
den damaligen Besitzern der Laurentiana, dem Konvent von San
Marco, den Gläubigern, d. i. den Salviati übergeben wurde. Die
weiteren Schicksale dieser zweiten Hälfte sind dann bekannt Im
17. Jahrhundert haben sie Lucas Holstenius und Alexander Moms
in Florenz benutzt und ihre Klagen über den traurigen Znstand der
Handscbrift sowie die Barbarei ihrer Besitzer stimmen ttberein.
1) Vgl. K. K. Müller »Neue Mittheilongen über Janas Lascaris und die me-
diceische Bibliothekc, Centralbl. f. Bibl.-W. I, 1884, S. 887 if.
2) Ediert von Piccolomini im Arch. stör. ital. 1876. scr. m Bd. 21, 289.
Die Citate Schoells beziehen sich wohl auf eine mir nicht zug&ngliche Separal"
Ausgabe.
Schoell, Procli commentarioram in fem publicam Flatonis partes iaeditae. 651
Später ist sie Dach Rom in die Vaticana gekommen. Hier hat sie
Mai in Händen gehabt, aber bedauerlicher Weise, so oft er auch
von ihr spricht, niemals auch nnr angedentet, in welchem Teil der
Bibliothek sie sich befindet Deshalb ist sie bis hente verschollen
geblieben and leider läftt sich auch Valentin Roses Vermutang, sie
sei von der Königin Christine von Schweden den Salviati abgekauft
wordeui nicht beweisen. Leider, denn nun wird der, welcher nach
ihr suchen will, sich nicht auf die Reginensis beschränken dtlrfen.
Aber eine Abschrift des Codex existiert, eine sorgfältige von Lucas
Holstenius besorgte Kopie, der schon genannte Barberinus I, 65, und
hierauf beruht die vorliegende Edition.
Soweit die Ausführungen Schoells, die in allen Hauptpunkten
von zwingender Wahrscheinlichkeit sind. Freilich werden Zweifel-
stichtige für die ursprüngliche Einheit der beiden Handschriften
noch nach weiteren Beweisen fragen, als die große Aehniichkeit der
Schrift in Mais Facsimile mit der des Laurentianus. Und sollten nicht
z. B. die in Folge von Randbeschädigung regelmäßig wiederkehren-
'den Zeilenausfälle im Barberinus (in Schoells Ausgabe p. 88 ff.) es
möglich machen, den Seiteninhalt des Originals zu erschließen und
als identisch mit dem des Laurentianus zu erweisen ? Aber wie dem
auch sei, der Sachverhalt ist so einleuchtend, daß ich auch die an-
dere auf den ersten Blick sehr verwunderliche Vermutung ohne
weiteres zugebe, daß zu einer Zeit beide Hälften unerkannt in der
Laarentiana sich zusammen befunden haben müssen. Nur glaube
ich nicht, daß die zweite Hälfte früher als die erste nach Florenz
gekommen ist. Denn daß in der ruhigen Blütezeit der Platonischen
Studien vor Lorenzos Tode (1492) die spätere Salviatische Hand-
schrift nicht als Prodos enthaltend erkannt worden sei, ist sehr un-
wahrscheinlich, wenn sich der Name des Autors auch nur in der
Subskription der Abhandlung tk ti^ vf^ nolttsla^ ikv9ov erhalten
hatte. Von neuen Handschriften sprechend sagt in der von Schoell
p. 4 angeftlhrten Briefstelle Ficinus: >ego autem inter multa ut soleo
semper in primis lego Platonica«. Die von Müller ans einer vatika-
nischen Handschrift (Vat. gr. 1412) publicierte Desideratenliste,
welche sich Lascaris vor einer seiner griechischen Reisen zur Kon-
trolle aufstellte, enthält 0 die Bemerkung: iu iiijr^^iy ek tetg noJU^
tsiag* sh «et)« pdfkovg' oi di äSf/yiifal nf^o^yovikivwQ Ugöxlog, 7af*-
/}Jl«XO(. Jagkdatuo^. Smmngo^* £vi$nUM$og nal *Iwdwfii OMnoro^^
nal st ug äUog iSurv^^ %a€ta. Bei diesem allgemeinen Interesse
für Platonica und platonische Exegese liegt es doch wohl näher,
1) a. a. 0. 868.
46*
652 Gott. gdl. Am. 1887. Nr. 17.
die zweite Hälfte unter die Erwerbungen der zweiten Seise, die erst
1494 an Lorenzos Nachfolger übergeben wurden, zu stellen. Be-
denkt man, daß noch im selben Jahre Pietro dei Medici vertrieben,
der mediceische Palast geplündert wurde, und die ftlr die Bibliothek
so verhängnisvollen Jahre beginnen *), so erscheint es nicht als auf-
fallend, daß das Fragment nicht als zu Laur. 80, 9 gehörig erkannt
und vielleicht eben als weniger geachtetes und wohl damals schon
stark beschädigtes (Fragment den Gläubigem ausgeliefert wurde.
Deshalb dtlrfte auch das Fehlen des namenlosen Bruchstttckes fn
dem Verzeichnis des Lascaris (bei K. E. Malier III p. 379 ff.) selbst
dann nicht auffallen, wenn ftlr dieses Vollständigkeit erwiesen wäre,
was nicht der Fall ist.
Daß sich nun Schoell entschlossen hat, auf Grund der Abschrift
des Holstenius die letzten 5 Abhandlungen zu edieren, ist äußerst
dankenswert. Wie die Dinge liegen, kann das Original ebenso gut
morgen gefunden werden, wie es für immer verschollen bleiben
kann. Aber auch wenn es gefunden werden sollte, würde dadurch
Schoells Arbeit in keiner Weise ttberflnssig gemacht werden. Aller-
dings wissen wir jetzt, daß diese Handschrift der Salviati eine
Membrane des zehnten Jahrhunderts war. Aber schon als Holstenius
sie kopierte, war sie schwer verderbt. Wir sind unterrichtet, wie
die Besitzer die Handschrift behandelten und müßten ohnehin auf
ihren seitdem fortgeschrittenen Buin schließen, auch wenn dieser
nicht durch Mais spätere Lesung direkt erwiesen würde. Dieser
aber hat faktisch an besonders der Zerstörung ausgesetzten Stellen
oft nur den vierten und ftlnften Teil von dem gesehen, was Hol-
stenius las. Dafür gibt das ganze sogenannte Kapitel suqI natSmr
ßQüiasm^ klare Belege. Sicherlich ist hierbei nicht nur Mais Nach-
lässigkeit verantwortlich zu machen. Heute also wird noch weniger
zu erkennen sein. Holstenius dagegen hat nachweislich (praef. lOff.)
sorgfältig abgeschrieben, und wo er nicht selbst kopierte, seinen
kundigen Schreiber kontrolliert. Zweifelhaftes hat er wiederholent*
lieh geprüft.
Um so mehr ist es zu beklagen, daß er nicht Alles abgeschrie-
ben hat. Aber offenbar hatte er in einigen Fällen die gänzlieh
verwirrte Blattfolge des Originals noch nicht geordnet (praef. XI;
auch Mai sagt: »quin et ipsi quaterniones sus deque perturbati fne-
runt, qui abrupto toties orationis filo aegre ordinantur« Spie. Rom. Vm
praef. XX. Schoell p. VIII) ; er hat deshalb Papier freigelassen für spätere
Ausftlllung, ist aber nicht dazu gekommen, sie auszuftlhren. So ist be-
1) Vgl. über diese Vorgänge Piccolomini Arch. stör. Bd. 19. S. 106 ff. 254
Malier a. a. 0. 849 und die in der Note angeführte Litteratur.
Schoell , Prodi commentarioram in rem pablicam Platonis partes ineditae. 653
sonders der Anfang der fkiX$ü(fa slg %6v iv nohutq liyov täv fkov-
cmv und vor allen Dingen fast die Hälfte (darüber später) des My-
thos-Kommentars verloren gegangen. Es sind also wider Erwarten
die Excerpte des Moros nnd Mai, über welche E. Bohde in seinem
interessanten Aufsatz >Za den Mirabilia des Phlegonc (Bhein. Mos. 32
p. 329 ff.) gebandelt hatte, Fragment geblieben. Scboell bat sie an
der betreffenden Stelle (p. 63) zosammengeordnet.
Bis aaf diese Lttcken liegen nan aber die »Abhandlungen« des
Proclos vollständig vor. DaB die neu edierten Partieen mit ab-
schließender Accuratesse und völliger Durchdringung des erreichba-
ren Materials gearbeitet sind, war bei dem Namen des Herausgebers
nicht anders zu erwarten, aber es darf wohl darauf hingewiesen
werden, welche aufopfernde Arbeit fUr einen (belehrten, der sich
sonst in diesen entlegenen Gebieten der letzten philosophischen Spe-
kulation der Griechen nicht bewegte, dazu gehört, den Proclos so
wie es hier geschieht, mit voller Kenntnis seiner Sprache und seiner
Gedankengänge zu edieren. Als ein besonders günstiger Umstand
für die Sache ist ferner zu verzeichnen, daß Schoell während der
Edition sich durchweg der Mitarbeit Hermann Useners erfreuen
durAe. Ohne Zweifel gereicht auch die angehängte Erörterung von
Friedrich Hultsch »de numero Piatonis a Proclo enarrato« der Aas-
gabe zum Vorteil. Leider aber muß sich hier der Beferent aus völ-
ligem Mangel an Sachkenntnis jeden Urteils enthalteo. Sehr will-
kommen endlich wird Jedem, der sich mit späterer Graecität be-
schäftigt, der reiche Wortindex sein. Aber gerade weil so viel ge-
boten wird, möchte ich fragen: weshalb nicht noch mehr? Wie
dankbar würde man für einige grammatische Bubriken, einige Zu-
sammenstellungen über den Sprachgebrauch sein. Möchte der Ver-
fasser hier noch weiteres aus seinen Scheden mitteilen!
Dem Beferenten möge es erlaubt sein, an dieser Stelle, da es
sich um ein Novnm handelt, aaf den Charakter der nunmehr ge-
nauer zu bestimmenden ganzen Schrift einzugehn. »Commentariorum in
rempublicam Platoois partes« betitelt der Herausgeber sein Buch.
Sind es Commentarii, oder ist es ein Commentar? Sollen wir von
Abbandlungen sprechen, und was bezweckte der Verfasser mit ihrer
Vereinigung ?
Ich möchte zunächst davon ausgehn, daß sich vollkommen be-
stätigt, was der Index des Laurentianus, welchen Böse edierte, ver-
bieA. Die dort aufgeführten Haupt- und Unterabteilungen liegen
wirklich alle vor. Diese 13 Hauptteile nun hatte Böse in den Proclos-
artikel bei Suidas hinein korrigieren wollen {bU ^v nohxsiav nXd-
tmpog ßtßXia ly oder td statt d). Aber die 13 Abhandlungen sind
654 Gdtt. gel. Anz. 1887. Nr. 17.
keinesfallB Bttcfaer. Wir bekämen dadurch ein 10. Bach von 2 Ok-
tavseiten Umfang. Aach erinnere ich, daB der erhaltene Teil des
Timaeos-Cummentars y der mindestens ebenso umfangreich ist, wie
die Pragmatieen ttber den Staat, in nur 5 Bticher geteilt ist ^). Schon
Scboell hat dagegen gewiß mit Recht Einsprache erhoben. Er be-
zieht die 4 Bttcher des Saidas ttberhanpt nicht auf Prodos, sondern
nimmt eine fälschliche Uebertragang von Syrian-Bachtiteln in den
Prociosartikel an (praef. 4. Adn.)i die, wie ans dem Weiteren her-
vorgehn wird, höchst wahrscheinlich ist.
Mir kommt es hier darauf an, zu betonen, daft man mit diesem
Index des Laurentianns überhaupt nicht operieren darf. Er ist
durchaus wertlos, da er keine Ueberlieferung , sondern nur eine Re-
kapitulation der im (vollständigen) Laurentianus enthaltenen Kapitel-
einteilung darbietet.
Um mit den Unterabteilungen zu beginnen, so gibt der Index
unter der XII. Hauptabteilung {etg %o¥ ip noXtwtq §Av9oy) als viertes
und letztes Kapitel an : ntSg ^ %»¥ natdwy ßQmtf^ yivsxM in %ov nap-
Toc »€tl n<oQ tovto (pilsXtai tfßvx^ i» vot; ovgapov nauot/^. Dies Ka-
pitel hat Mai gesondert herausgegeben (Spie. Rom. VIII, 664 ff.)
und auch bei Schoell figuriert ein solches; man könnte sich auch
hier zu der Annahme verleiten lassen, von der naidmp ßqAfhq han-
dele der Text bis zum Schluß der XII. Abteilung. Aber diese Ka-
pitelttberschrift rührt sicherlich nicht von Prodos her. Ich will dar-
auf keinen Wert legen, daß sie falsch gesetzt ist Die Aporieen,
um die es sich in diesem vermeintlichen Kapitel handelt, daß die
naidmp ßQwoig von dem All nicht nur angezeigt, sondern durch sein
Walten bedingt, und zwar xawd dtn^p bedingt sei, sind schon 86, 18 ff.
entwickelt und die Worte nqig f^ip ovp nqdnqop dnoxQtPopu^a
schließen sich aufs Engste an das Vorhergehende, wie denn die
ganze Ausfahrung 85, itO— 93, 7 einfach Exegese des Lemma
85, 27 ist. Weshalb aber verläuft das Folgende ohne weitere Ka-
piteltrennung ? Die beiden Aporieen sind 89, 3 erledigt, dann wird
die Frage noch im Sinn der Daimonologie behandelt und im An-
schluß daran tiber tvx^ und tlf^agfAipi/ gesprochen, all dies aber ist
93, 7 beendet. Von da an handelt es sich um ganz andere Dinge.
Wozu also diese in ihrer Vereinzelung nur misleitende Ueber-
schrift, wo andererseits manche abgeschlossenen Oedankengrnppen,
die sich von dem erklärten Text viel weiter entfernen, wie nsql
ii^iSp (95) eher zur Abtrennung hätten Anlaß geben können aber
nicht gaben?
1) Ueber die ungewöhnliche GröSe der Bücher in Proclos Schriften vgl. Birt
Buchwesen 816.
Schoell, Procli commenUriorum in rem publicam Platonis partes inediiae. 655
Die Hauptsache ist aber : bier allein baben wir es — im Gegen-
satz zu dem ganzen andern Scbriftenkomplex »zu Piatos Staat« — mit
einem fortlaufenden Kommentar zu tban, einem Separatkommentar
zu dem ikv^o^ des £r. Der volle Titel ist in der Subskription er-
balten: (128) nqonXov Xvnlot^ nlataayixov d$ad6xov tlg tov iy noli-
tetq tov nXdti»vog ikvi^ov vnofAV^fka, Es liegt also, um dies gleicb
zu sagen, bier ein abgescblossenes litterariscbes Produkt vor. Ein
Werk mit eigener Dedikation (an Mariuos), mit eigener Praefatio,
eigenem Epilog. Es beginnt mit einleitenden Bemerkungen, welebe
ttber den Grundgedanken des Mythos orientieren und zugleich ge-
gen litterariscbe Angriffe auf ihn Front machen sollen. Daran
schließt der Verfasser, was er über die Stellung, die er mit Por-
phyrins zu den platonischen Mythen überhaupt einnimmt, zu sagen bat.
Ob dieses Prooemium von Proclos selbst in die 2 Kapitel tig 9 nQo-
&€öig tov fkv^ov navtög (52) und ndüa dhX nqoX^if&^vai tmp tpv%wwv
MQtaiwv (55) eingeteilt ist, mag auf sich beruhen, es kommt wenig
darauf an. Wichtig aber ist, daß mit den Worten tovtwv d^ ^f»7>' tilog
ixovtmv M aiStov ^df^ %6v nXatcavtudv [av&ov %fßQ€tv dvaytoXov
(59, 26) der fortlaufende Kommentar beginnt, der bis zum Schluß
(126, 10) %d (Aiy d^ tov fkvx^ov tiXog ix^co (was folgt, ist Epilog)
keine weitere Gliederung verträgt. Es entspricht also ebensowenig
der Angabe Mais Procli sententia de animarum corporibus solutarum
conversatione (Scboell 66, XVII) wie der des Holstenius ex capite
quomodo aniraa ingrediatur et egrediatur corpus (Scboell 70, 18 adn.)
eine etwaige originale Ueberschrift des Proclos. Wie die Worte neql
naidünv ßqniaimg titX, 87, I. 2 entstanden sind, liegt auf der Hand.
Auch einem mit Proclos recht vertrauten Leser kann es wohl vor
den Augen flimmern, wenn er diese kosmologiscbe Begründung des
AuflTressens der eigenen Kinder durch die Eltern liest. Begreiflich,
daß er sie als »bemerkenswerte an seinen Rand notierte. — Die
Platonischen Worte sind von X 614^ an jedesmal wörtlich ange-
führt und zwar fast immer als unabhäogiges Lemma den betreffen-
den Teilen des Kommentars vorangestellt, nur 78,36 und 82, 28
sind sie (unverändert) in die Konstruktion eingefügt. Es fehlen in
dem erhaltenen Teil des Kommentars nur die Worte 619« — 620* tav-
«fv r^Q — a\Q$xax^a$. Sollten sie vielleicht 94, 26 herzustellen sein?
Air dies ist nicht so gleichgültig, wie es scheinen mag. Es
läßt sogleich einen positiven und einen negativen Schluß zu. Der
positive ist der, daß von dem vorliegenden /»St^o^-Kommentar fast
die Hälfte verloren gegangen ist. Nämlich von den 9Teubnerseiten,
ttber die sich der Platonische Mythus erstreckt, sind in dem Erhal-
tenen nur 5 kommentiert Es leuchtet ein; daß von dem fehlenden
656 öött. gel. An«. 1887. Nr. 17.
Teil, also dem EommeDtar za 614^—617^ (clraß$ovg — i^^liv dnsty)
die erhaltenen 27 Brnchstttcke nur einen yersohwindend kleinen
Brncbteil repräsentieren. Mit dem negativen Schlaft wende ieh mich
zu dem Index znrttck: da dieser, wie wir nnn sehen, nar die zofUl-
lige Einteilung des Lanrentianns darstellt, ist nichts ans ihm za
schließen, also^ am wiederam noch bei den Unterabteilongen zn blei-
ben, wenn es anter II heißt: mgl %^v nqiq tdv oqov %^q d«xiuo0bVf(
tdtf ino tolf JloXeikdqxov ix&irrmy vni %ov Smxqdtovg (waoy$0i$mP:
nefl {mv) vniQ dh9ta$ocvvij^ wrucQwv Idjrmy ip noistsicu fiQdq td Sqa^
ovfAaxov f^fvtt^a ddyikata neqt ait^q^ so kann daraus nicht gefolgert
werden, daß eine erste Unterabteilang verloren and der Schlaft der
zweiten and letzten erhalten ist (v. Hermes II S. 99), sondern wir
müssen bekennen, daft wir ans ttber Aasdehnong and Einteilung des
Fehlenden ganz im Unklaren befinden.
Aber auch die groften (13) Abteilungen halten nicht Stich und
erweisen sich als sachwidrig. Versuchen wir einmal diese Schriften
im Ganzen zu sichten. Schoell hat (praef. 5) gegen Frendenthals
(Hermes 16, 214) chronologische Ansetzungen polemisierend gesagt:
nempe commentarii illi ex scholis originem ducunt quas de dialogis
Platonicis identidem babuit Proclus. Wenn damit gesagt sein soll,
daft diese Entstehungsweise ex scholis auch in der Form der Ab-
handlungen erkennbar sei, so ist dies Urteil nur fttr einzelne Par-
tieen richtig. Der soeben besprochene Mythos-Kommentar ist seiner
Form nach durchaus kein Eollegienheft. Wir sehen, daft er ein für
die Publikation abgerundetes Schriftstück mit Einleitung, Nachwort
und Dedikation ist. Er ist stylistisch sorgfältig gefeilt. Aber frei-
lich steht diese Schrift mit den andern Teilen der Abhandlungen«
Sammlung in gar keinem Zusammenhang. Hierüber läftt sich jetzt
bestimmter urteilen. Denn dieser Separatkommentar ist nicht das
einzige selbständige Stück. Neben ihm steht eine ganz analoge Ein-
zel-Publikation, * die unter der ersten Hälfte der Abhandlungen er-
halten ist. Emancipieren wir uns zunächst von den verwirrenden
Angaben des Index : IV nsqi «gf^ no^^un^l^ nai täy M adtijg stdiy Mai
%^g dgUn^i aQfM^ptag ual ^v9-fMoS %ä Illdtmvk donovvta^ 18 Unter-
Titel, p. 360—392 der Baseler Ausgabe ^). V Su navtaxoi tip 'Of»f ^oi^ .
dg ^^efköva ndiS^g dl^9sktg 6 IHdtny stm&t yeqaiQHV dttSugop ') (sie),
10 Unter-Titel, p. 392—407. Weder bildet V eine besondere Abhand-
lung, noch reicht der als IV bezeichnete Abschnitt tugl %^g 9ve*ff»-
1) Die erste H&lfte der Abhandlungen ist bekanntlich nar einmal am SchloB
der Plato-Ansgabe des Grynaeus Basel 1584 ediert.
2) Hierüber später. Ich weiB nicht, ob dies divuq^p im Index wiederholt
ist, da Böse nur die Anfangsworte abdruckt.
Schoell, Prodi commentarioram in rem pablicam Platonis partes ineditae. 657
«fC bis p. 392. Ueber das kleine Kapitel m^^ t^g no^qnx^g p. 360—
367y das mit dem Folgenden in keiner Weise zusammenhängt, spreche
leh nachher, denn hier ist vor Allem die groBe, p. 368 beginnende
Abhandlang in ihr rechtes Licht zn stellen , die den Titel ngönkov
d$adoxov nsgi %^p iv noX$%siq nqig 'Ofk^iQOV ual troiij^T»*
ui^v nXä%mvh ^^^iytmr fllhrt nnd als ein abgeschlossener Trak-
tat anznsehen ist Derselbe reicht aber nicht etwa nar bis p. 392
(naQad$dova^g\ sondern bis 407, wo die Schlußworte, wie sich gleich
zeigen wird, anf den Anfang Bezug nehmen. Auf eine Praefatio
(368, 1 — 24) folgt Z. 25 die dem Haupttitel ganz entsprechende
dreiteilige Disposition, die dann auch im weiteren Verlauf genau
befolgt wird. Zuerst sollen die Angriffe Piatos auf Homer widerlegt
werden {Ssmif^aofksv nqmov $1 n^ dv^atdv tdg %ov SmuQcttovg änoglag
(dnoQstag d. Ed.) d$aXv€$9f. Das geschieht bis p. 392, 29 (nagadiSovo^g).
Zweitens soll Piatos Tendenz bei dieser scheinbaren Feindschaft ge-
gen Homer entwickelt werden {dsvnQOP di %dv mtondv tijg g>Myofikiv^g
tavwiig nQdg "OfikiiQoy dnavtijtrsmg ; die Ausführung folgt unmittelbar
auf den ersten Teil 392, 30 ff. und zwar ist in dem sonst unyerständlichen
Zusatz devuQoy des jetzigen Titels das Verhältnis deutlich ausge-
druckt); nach einem Nachweis, daB Plato eigentlich ein großer Ver-
ehrer des Homer sei ( — 393, 45) ist dem Hauptgedanken dieses Teils
vornehmlich das mit den Worten sl di tovg (393, 46) beginnende
Kapitel (— 395, 6) gewidmet. Der dritte Teil endlich behandelt von
hier bis zum SchluB t^y %Ay (ed. %u) nXdswy$ douovytuy nsgl «v
noii/UM^g avt^g nal *Ofk^QOV f$lay xal dyiXtymoy äl^'&e$ay.
Daft diese Abhandlung litterarisch abgerundet, d. h. in irgend
einer Weise fttr sich zur Publikation bestimmt war geht aus Einlei-
tung und Schluft deutlich hervor. Der Verfasser, der im Eingang sein
Thema durchaus der späteren Disposition und dem Titel entsprechend
einerseits als Verteidigung Homers gegen Plato formuliert, anderer-
seits als Auflösung der Widersprüche, in die sich Plato durch seine
häufige Polemik gegen Homer zn verwickeln scheint, kennzeich-
net sich dabei als junger Mann. Er nimmt Bezug auf gemeinsame
Unterhaltungen über diesen Gegenstand, wie er sie mit Freunden an
Piatos Geburtstag unter Leitung eines verehrten Lehrers gepflogen
hat: ipayxog ijftSy iy totg tov UXcltmyog Ysya&Xio§g dutleyofkivo$g na*
fi^Hui d$aifuä^a69a$^ %tya äy ug tqonoy hniq %s ^OfAiJQinf ngdg tdy iy
nohtslq SmuQcttfj wig ngoaijuoytag no$ij<S€ta$ Xdy^vg MtL (368,3). Er
redet die Genossen, die an jenem Gespräch mit dem Lehrer Teil nahmen
an : ^iQ^ ovy Saa ndytav^u %oi MaSiiY9§k6y0g ^f$i5v ^novaaiuv {duov*
Ciifk§y ed.) nsQl t^vtmy S$atattofii4yov • . d$iX&mfuy, er will in Erinne-
rung rufen y was jener Lehrer damals nnd später den andächtigen
658 Oött. gel. Anz. 1887. Nr. 17.
Jüngern mitzateilen für gat fand : deX *. %d tote ^ijdivta d$afk¥^ft0-
vsvaat xal o(fa »al vfTuqoy ^(*ag nsQl %mv adtwp d$a<fuo7iovfJki9HiV^
imd$dacx€ir ixftvog ^ISttoaey (Alles p. 368). Es sind dieselben
Genossen, an die er sich am Schloß des Ganzen wiederum wendet,
denen gegenüber er seine Schrift als ein Produkt dankbarer Er-
innerung an jenen Lehrer bezeichnet: tavta w q>Uo$ iu^Qoi fky^ftf
uexaqUs&f» trjq tov xa &fiye fiovog ^ (Amv (fvvovtftag (407, 32). Ans den
nnmittelbar folgenden Worten: ifAol fA^v opta ^tfta nQog^fAä^f v/Atvdi
äqq^xa nqdgtovg noXlovg geht nur hervor, daß der Verfasser seine Schrift
nur in einem engeren Kreis verbreiten wollte. Daß er sie zu ver-
öffentlichen gedachte, dafür spricht die sorgfältige Abrundung des Gan-
zen. Wenn nun, woran zu zweifeln mir kein Grund vorzuliegen scheint,
Proclos hier der Sprecher ist, so fällt die Abfassung dieses Traktats
in seine Jugendjahre. Den > Lehrer c wage ich nicht sicher zu be-
stimmen, doch ist wohl das Nächstliegende, an Syrianos zu denken.
Diese Thatsachen sind lehrreich: Es lösen sich aus dem Uebri-
gen zwei ganz unabhängige Monographieen heraus, die weitaus den
umfangreichsten Teil des Ganzen bilden. Wenn wir aber unter dem
Zurückbleibenden- sichten wollen, so fällt das Auge zuerst auf das
erste Kapitel mgl tijq noifiux^g u. s. w. (360-'367). In welchem
Verhältnis steht es zu der folgenden, eben besprochenen Abhand-
lung? Formell in gar keinem, denn beide Stücke ignorieren sich
vollkommen, was um so auffallender ist, als beide von Piatos An-
sicht über Musik und Poesie in ähnlichem Sinne handeln. Was nun
in dem größeren Stück mit dem vollen Behagen an litterarischer
Formgebung breit vorgetragen ist, trägt hier ganz hypomnematischen
Charakter. Unmittelbar setzen die Probleme ein, die behandelt wer-
den sollen: ngtStoP elneXv xqtl xa< d^anoQ^CM ruql tijg ahiag^ d$' Ijv
ov* dnodix^ta^ t^p notfjn*fiP ö Illdtoßp — weshalb verstößt Plato
die Poesie aus seinem Staat, da er sie doch sonst als göttlich be-
zeichnet? devfCQOP tl denote . . . zweitens weshalb nimmt er gerade
die Tragödie und Komödie nicht auf, die doch zur äfoatmiUg der
Leidenschaften beitragen? Drittens wie stimmt die Aeußerung im
Symposion über die Einheit des Tragödien- und Komoediendichters
mit der Trennung von Tragödie und Komödie nach Poeten und Dar-
stellern im Staat? und so fort bis zum lOten Aporem. Und genau
dieser Reihenfolge entsprechend werden sie dann kurz, eins nach
dem andern, abgehandelt.
Diesen hypomnematischen Charakter teilt nun aber das Kapitel negl
no$tiun^g mit dem ganzen Rest der übrigen Abhandlungen, wenn wir
von der Eingangspartie vor der Hand absehen und auch die melissa^)
1) Die Abhandlung üher die Musenrede im 8. Buch der Politik (/iil^wm Uc
Schoell, Procli commeptariornm in rem publicam Platonis partes ineditae. 659
wegen der starken Einbafte, die sie erfahren hat, bei Seite lassen.
Allen diesen Traktaten fehlt jede Rücksichtnahme auf ein etwaiges
Lesepublikam. Schlecht and recht handelt ein jeder den aufgegebe-
nen Pankt ab und damit ist es gat. Alle setzen ohne Einleitung
ein. Von der ersten fehlt der Anfang (aber der erhaltene Schlaß
zeigt, daft sie gleichen Charakters war), man beachte also die fol-
genden Titel p. 356: fugl tmv iv tm ÖBVtiQVi t^g nohtslag dqtfiiivmv
&eoloytnmv tvnaff ^ Anfang: *Ev totg tvnotg totg 9soXoytuotg ovg iv
vf devtigif t^g noXiutag ifi^tpfcr, nqAtoy ixtl&etai »tX. p. 407 : Titel :
ntQl twv ip Toaf utdqiif t^g noktutag änodsiisrnv %0V tqia iha$ ^qta
fi^^ dp&gmntp^g ^vxiig xa) «^no^ac ta^ ir ort^^ agstäg^ Anfang: tip
jiBQl mi^ dqBtmv X6yov nmg dU^^ufV i iv noXtniq Smnqdtfig nttX. Und
SO die andern alle: p. 416 (hieran schließt sich als eng zagehörig
420—22), 422, dann aas der zweiten Hälfte 43, 45. Das Fragment
endlich der letzten Abhandlang inianst/f^g uSv vn* *AQ$tftotiXovg Ip
Sfvtifm wp noXtuxtSp ngdg t^p HXdtmp^g noXtuiap dputQijfkipmp
(129 — 133) kann hier anberttcksichtigt gelassen werden, da diese
Abhandlang ttberhaapt nur als ein Zusatz zu dem Uebrigen ange-
sehen werden kann. Ueber diesen ganzen Schriftenkomplex läßt
sich also Folgendes gemeinsam aussagen: alle diese Stacke sind im
Vergleich zu den 2 (oder 3) ausgeführten Traktaten sehr kurz dem
Umfang, knapp und schmucklos der Form nach. Keins von ihnen
ist ein Teil eines Kommentars zu Piatos Staat, aber alle behandeln
einen Gedanken oder eine Gedankengruppe im Anschluß an Piatos
Staat, alle sind endlich (und dies gilt auch fbr die drei ausgeschie-
denen Monographieen) nach der Reihenfolge der Bttcher in Piatos
Staat geordnet. Denn offenbar steht auch die kleine Abhandlung
fisQl no$iiunijg und der ihr folgende große Traktat aber denselben
Gegenstand nur an dieser Stelle, weil Plato auch im dritten Buch
Ton der Poesie handelt.
Nach all dem mUssen wir sagen, daß es nur auffallend
wäre, wenn der erste Teil, d. i. der Anfang des Ganzen, eine Ein-
leitung zu einem Gesamtkommentar zu Piatos Staat enthielte. Eine
solche ist aber auch augenscheinlich nicht darin zu erblicken. Der
Titel dieser ersten Abteilung p. 849 (rugl toti^ ttpa XQ^ «o) ndaa nf6 vf c
tor iy noUtii^ loyor rar fiovüw) 18t im Barberinus in 45 Kapitel geteilt. Da-
von fehlen am Anfang 1—9 (der Schluß des 9. ist erhalten) in der Mitte 20—86,
also im Ganzen mehr als die Hälfte. Der Titel und wenn ich recht sehe aach
die breitere Behandlung unterscheiden diesen Traktat von den kurzen StUcken,
die ich im Text behandle. Es wird der vorläufigen Sichtung, die hier vorge-
nommen werden soll, keinen Eintrag thun, wenn ich, ein bestimmtes Urteil hier-
über ablehnend, diesen Teil unter Vorbehalt als dritte neben die zwei größeren
bereits besprochenen Monographieen stelle.
660 Gott. gel. Adz. 1687. Kr. 17.
ölifyavayvmifBmi tijg noJUntag ülcmvog xsfpdXtua dtaq^äeah fo^ iiff^
rovfiirovg avtijv) besagt, es solle gezeigt werden, welche nnd wie
viele Hauptpunkte die Erklärer des Platonischen Staates vor der
gemeinsamen Lektüre mit ihren Schtllern behandeln müssen. Deut-
licher aber noch als der Titel erklären die Anfangsworte der
Schrift selbst, daß hier eine methodologische Betrachtang für
Lehrer der Platonischen Philosophie gegeben werden sollen, wie
man Einleitungen zn Platonischen Dialogen über-
haupt abzufassen habe: tovg nqoXofOvq %wv ITlataytnuir J*a-
Xoyiav önmq XQ^ diattd'iya$ tdp f^ij noQiqYmq aimv änto^
Iksvov dtihScat ßovldfLsrog ivötV^ofkak mtl. Dies soll an einem Bei-
spiel und zwar dem Beispiel des platonischen Staates gezeigt, exem-
plificiert werden: nn\ ifitr i(p' ipdg tov %^q nohteiaq ffvytQdikpka^
%oq (sc. iydsiUofkak onmg XQV it^cu&iyai)^ if»sZg de (StfneQ tx^sotv kni-
fk$voh %o%q ^fi&^COfjkiyokq Xoyokq %6v aiitdy Mal inl tmy a IXmy
tgdnoy fitet$ify%sg tag iii^y^^nq atoxdÜßta&s äy rqc nf^» tavta
fM^ddov. Und weiter unten (Z. 16): Deshalb will ich die Sache am
Staat klar legen, das Huster eines Prologs zu einem Plato-Kommen-
tar an dem zum Staat ausführen : ipiQ€ ovy Snsq tlnov tdy tinoy inl
t^g noXitstag insxdiiiyijcofAat. Diesen Probeprolog will ich nun aus-
führen und deshalb sage ich, daß, wer der Interpretation des Staa-
tes mit Erfolg zuhOren will, vorher sich folgende Punkte klar ge-
macht haben muß: Xiy<a tolyvy ngd t^g dyayywaewg t^g noXitfktg imd
tavta XQV^^^ ^^ ngsndytmg o Jf i^^ dxovaofAtyoy d$syywxiya§. Und nun
folgen sie: nQ&toy fAiy utX. so weit sie erhalten sind.
So paradox es also klingt, das kaum abweisbare Resultat des
ersten Gesamtüberblicks über Proclos Abhandlungen zum Staat ist
das, daß Proclos überhaupt nichts Zusammenhängendes über den Staat
geschrieben hat, oder wenigstens wir nicht das Mindeste davon wissen,
daß also auch die >4 Bücher« bei Suidas wahrscheinlich auf Misverstän-
nis beruhen. Es existieren von Proclos znm Staat jene drei selbständigen
Werke, die ursprünglich sicherlich, jedes flir sich, publiciert waren:
der Traktat über Piatos Verhältnis zn Homer, der Separatkommentar
znm Mythos des Er und die melissa über die Musenrede im 8ten Buch
des Staates. Diese drei hat man später gesammelt und, da die Samm-
lung jedenfalls von den Schülern des Proclos ausgieng, pietätvoll damit
zusammengestellt, was immer noch von hypomnematischen Aufzeich-
nungen aus dem Schulbetrieb des Meisters vorhanden war. Man hat
dabei die Reihenfolge der platonischen Bücher zu Grunde gelegt
und mit Fug nnd Recht die Epikrise des Proclos zu der aristoteli-
schen Kritik von Piatos Staatslehre an das Ende des Ganzen ge-
stellt. Das ist der Inhalt unserer Sammlung.
Schoell, Prodi commentarioruin in rem pnblicam Platonis partes ineditae. 661
Zum Schluß uur nock wefiige Bemerkuugen. Wenn ich auch
Bchlieftlich Frendenthal (>zn Proclos uod dem jüngeren Olympiodor«
Hermes 16, 201) in der grammatischen Interpretation der Olympio-
dorstelle Recht geben maftte, so habe ich mich doch immer mit Zel-
ler (»zur Geschichte der platonischen und aristotelischen Schriften«
Hermes 15, 548) gesträubt, an eine wenn auch nur zeitweilige Athe-
tese des Staates durch Proclos zu glauben. Schon Schoells Nach-
weis von der gegenseitigen Gitierung der Prociosschrifteo (praef. 5)
ersehwert die Annahme. Noch schwieriger wird es, an etwas Ande-
res, als ein Misyerständnis Olympiodors zu glauben, wenn man sich
entschließen muß, in den »Abhandlungen« eine Sammlung verschie-
dener Schriften des Philosophen zum Staat aus verschiedenen Zeiten
(denn gewiß ist der Mythoskommentar ^) viel später als die Jugend-
sefarift ttber die Poesie anzusetzen) zu sehen.
Ich habe hier Beobachtungen, die jeder Leser macht, mit einan-
der verknüpft, und, die Gunst der Lage ausnutzend, ans dem end-
lich vorliegenden Material leichte Konsequenzen gezogen. Mögen bes-
sere Kenner des Proclos als ich sie prüfen und richtig stellen. Mit
diesem und noch einem andern Wunsch möchte ich schließen. Wenn
sich doch ein Kundiger an die schöne und dankbare Aufgabe ma-
chen wollte, nun auch die erste Hälfte aus dem Laurentianus
herauszugeben I Es ist schon viel unnötigeres zum zweiten Mal
ediert worden. Jetzt, wo man Schoells Ausgabe hat, ist es doppelt
empfindlich, zu der unhandlichen , fehlerreichen Baseler Ausgabe, die
nach einer mäßigen Abschrift des Laurentianus gedruckt ist, greifen
zu mttssen«
Nachtrag.
Der obige Aufsatz war schon gedruckt, als ich durch die Güte
des Herrn von Wilamowitz die wichtige Anzeige der Prodos-Aus-
gabe Schoells in der Wochenschrift für klassische Philologie 1887
Nr. 27. p. 835-839 erhielt. In derselben teilt R. Beitzenstein mit,
daß es ihm gelungen ist, die vermißte Handschrift der Salviati in
Born zu entdecken. Die Vermutung Schoells Aber die Zusammenge-
hörigkeit der beiden Hälften bestätigt sich durchaus, aber B. Beitzen-
stein ist in der Lage versichern zu können , daß 'das aufgefundene
Original doppelt so umfangreich, als die Abschrift des Holstenius ist.
Leider mußten die höchst dankenswerten Mitteilungen Beitzen-
steins noch unvollkommen bleiben, wie sich aus folgendem Besume
ergibt: Mit dem größten Teil der Handschriften der Salviati ist der
1) 69, 8 und der Timaeut-Eommentar citiert.
662 UötC. gel. Ans. 1887. Kr. 17.
Proclos wahrscheinlich id der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhan -
üerts in die Hand der Familie Colonna gekommen und einige Zeit
daranf in den Besitz des Papstes übergegangen. »Sie wurden in
die bibliotheca Vaticana graeca eingeordnet^ in welcher sie Nr. 2162
bis 2254 umfassen. In dem Vatikanischen Katalog sind sie natür-
lich nicht mit verzeichnet nnd daher fast alle unbekannt Doch exi*
stiert ein von Giuseppe Cozza gefertigtes Inventar, welches man lei*
der nur für einzelne Nummern einsehen darf. Die Handschrift des
Proclos ist in demselben als Vat. Grace. 2197 bezeichnet; sie um-
faßt 200 Blätter, jede Seite hat 33 Zeilen zu durchschnittlich 35—
38 Buchstaben €.
Von dem ersten Drittel dieser Handschrift hat Hai eine genaue
Kopie (Vat. Lat. 9541) angefertigt und leider hat nur sie unserm
Landsmann zur Verfügung gestanden, nicht das Original, welches
»sich gegenwärtig bei dem Kardinal Pitra befindet, welcher eine
neue Ausgabe des gesamten Kommentars vorbereitet«.
Bis diese Absicht, welche hoffentlich nicht das Schicksal der
Maischen teilen wird, ausgeftlhrt sein wird, ist also trotz der höchst
verdienstlichen Nachforschungen Beitzensteins der Fund vorläufig un-
serer Kenntnis wieder entzogen.
Kiel, Juni 1887. Ivo Bruns.
Lang, Heinrich, Otto, Beitr&ge zur Kenntnis der Eruptiv-Qe-
steine des Christiania-Silurbeckens. Unter Mitwirkung des Hm.
Paul Jannasch. Erschienen in der Zeitschrift Nyt Magasin for Natur-
Tidenskabeme XXX. 1884—1886. p. 1-76 und 279— 883. Kristiania 1886 >).
Das vorliegende Werk ist das Resultat von Studien, welche der
Verfasser im Herbst des Jahres 1878 ausgeführt hat Wenn trotz
des verhältnismäBig langen verflossenen Zeitraums und trotz mancher
in denselben fallenden Arbeiten anderer Forscher noch immer Lttcken
auszufttUen waren, ja, wie Lang selber hervorhebt, auch noch auszu-
nillen bleiben, so beweist dies am besten, wie wflnschenswert die
gelieferten Untersuchungen gewesen sind und ein welch reichhaltiges
1) In den Separatabsdgen, welche von der PeppmflUerschen Buchhandlung
in Gtöttingen direkt zu beziehen siod, wurden durch Versehen der Druckerei die
Seitenzahlen fortlaufend paginiert, so daS rUckweisende CiUte in dem zweiten,
die letBten 106 Seiten umfassenden Teil nicht stimmen. Es entsprechen die Sel-
ten 76—179 in den SeparatabzQgen den Seiten 27d— 888 der oben angeföhrteo
Zeitschrift«
Lang, Beiträge zar Kenntnis d Eruptiv-Gfesteine d. Christiania-Silurbeckens. 663
Feld fttr petrographische Studien das Kristiania-SilarbeckeD trotz
vielfacher Bearbeitang noch immer bietet.
lieber einige Gesteine dieses Gebiets bat Lang schon frtlher be-
richtet: lieber FInBspat im Granit von Drammen^); Zar Kenntnis
der Alaanscbiefer-Soholle von Bäkkelaget bei Christiania^); Ein Bei-
trag zar Kenntnis Norwegischer Gabbros"). Die in den letzten bei-
den Arbeiten besprochenen Felsarten, sowie die von Brögger auf das
eingehendste behandelten Augit- und Nephelinsyenite^) finden hier
keine weitere BerOcksichtigung.
Höchst wertvoll war die Mitwirkung des Herrn Paul Jannasch,
da die Zahl der gleichzeitig chemisch und nach den neueren Metho-
den petrographisch untersuchten Gesteine trotz des in den letzten
Jahren nach dieser Richtung entfalteten Eifers immer noch eine sehr
ungenttgende ist. Von dem reichlichen aus älterer Zeit stammenden
Analysenmaterial läßt sich leider ein großer Teil nicht in einer den
jetzigen Anforderungen entsprechenden Weise verwerten. Die Re-
sultate seiner Untersuchungen hat Jannasch auch separat mit kurzen
petrographischen und geologischen Anmerkungen in den Berichten
der deutschen chemischen Gesellschaft veröffentlicht^).
Ans dem gewählten Titel und aus den einleitenden Worten geht
hervor, daß Lang nicht beabsichtigte, ein größeres abgeschlossenes
Gebiet vollständig zu bearbeiten; dazu hätte es auch einer län«
geren Zeit bedurft , als zu Gebote stand, sowohl ftlr die Beobach-
tung im Felde, als auch fUr die spätere Untersuchung im Laborato-
rium. Er bat vorgezogen^ sich im wesentlichen auf einen Ge-
steinskörper zu beschränken, diesen aber nach allen Richtungen so
eingehend zu erforschen, wie dies bisher nicht oft geschehen ist
Die Aufgabe, welche sich der Verf. gestellt hat, ist auch im allge-
meinen mit Erfolg gelöst worden. Mit größter Gewissenhaftigkeit
wird alles Beobachtete mitgeteilt, auch wenn eine befriedigende Deu-
tung einstweilen nicht gelungen ist. Dadurch wird einem Nachfol-
ger manche Mtthe erspart, und er kann direkt anknttpfen, wo sein
Vorgänger stehn geblieben ist; dadurch wird aber auch, wie es sich
bei dem genannten Zweck wohl schwer vermeiden ließ, die Darstel-
1) Nachrichten tob der K. Gesellscb. d. Wissensch. u. d. G. A. Universit&t
EU Göttingen 1880. No. 16. 477—488.
2) Zeitschr. f. d. ges. Naturwissensch. Halle 1879. LIL 777-^816. u. Neues
Jahrbuch f. Mineralogie, Geologie u. Pal&ontol. 1880. IL 290—292.
8) Zeitschr. d. deutschen geolog. Ges. 1879. XXXI. 484-603.
4) Die silorischen Etagen 2 und 3 im Eristianiagebiet und auf Eker. Kri-
stiania, Universitatsprogramm fOr das 2. Semester 1882.
6) ZX. Heft 2. 167-^176. 1887.
664 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 17.
lang f&r den Leser zuweilen etwas ennttdend. Besonders benrorge-
hoben za werden verdient, daft Lang ttberall bemttbt ist, mit grOtter
Objektivität Selbstkritik zu üben. Soweit die Terminologie von der
sonst üblichen abweicht, findet sie sieb in des Verf. Orandrift der
Gesteinskunde, Leipzig 1877, erläutert.
Die Arbeit beschäftigt sich ganz vorwiegend mit dem in der
weiteren Umgebang von Kristiania herrschenden massigen Gestein,
welches durch seine recht konstante rote Färbung ausgezeichnet ist,
einen sehr wechselnden Gehalt an Quarz besitzt, und unter dessen
im allgemeinen spärlichen basischen Gemengteilen bald Homblendei
bald Glimmer herrscht. Daher die Bezeichnungen Drammens Granit
und Kristiania Syenit bei Kjerulf, Hornblendegranit, Granitit| Syenit
und Glimmersyenit bei BrOgger.
Diese roten Granite und Syenite, wie Kjerulf sie auf seiner
Uebersichtskarte des sttdlichen Norwegens nennt, bilden drei räum-
lich getrennte ausgedehnte Partien, welche sich in sttdwest-nordOet-
lieber Richtung an einander reihen und im Norden bis an den MjO-
sen, im SOden bis an den Langesund-Fjord erstrecken. Lang nimmt
an, daß es in der Tiefe zusammenhängende, gewaltige Lagergänge
von paläozoischem Alter sind, welche älteren Silurschichten auflagern
und ursprünglich von jüngeren Silursehiohten bedeckt waren. In
Folge der bedeutenden, 300 Meter übersteigenden Mächtigkeit er-
scheint es allerdings in der Regel so, als ob StScke vorliegen.
Bankförmige Absonderung ist sehr verbreitet. Die Struktur wird
selten porphyrartig, was bei so ausgedehnten granitischen Massen
bemerkenswert erscheint Mikropegmati tische, gelegentlich ins Ghmao-
phyrische übergehende Verwachsungen von Quarz und Feldspat
sind häufig, und kleindrusige (miarolithische) Varietäten im n^rdli*
eben Gebiet nicht selten, letztere mit gelegentlicher Ausf&llung der
Hohlräume durch sekundäre Gebilde.
Unter den Gemengteilen — Feldspat, Quarz, Hornblende, Bio-
tit, Augit, opakes Erz (meist Magnetit, zuweilen Titaneisen), Apa-
tit, Titanit, Zirkon — wird dem stark vorherrschenden Feldspat
ganz besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Lang unterscheidet vier
Generationen desselben.
Die Feldspate erster Generation , deren Verbreitung eine un-
gleichförmige ist, haben sich vor oder während der Gesteinseruptian
ausgeschieden; Sie werden gelegentlich von Feldspaten späterer Bil-
dung eingeschlossen oder zeigen Resorptionserscheinungen und me-
chanische Störungen, wie Quetschung, Biegung, Zertrümmerung. Es
sind lediglieh Plagioklase: Albit konnte sicher nachgewiesen wer-
den; wahrscheinlich kommen auch Oligoklas und Lttbradorit vor,
Lang, Beiträge zur Kenntnis d. Ernptiv-Gesteine d. Christiania-Silarbeckens. 665
vielleicht alle PlagioklasmiBchnngeD. Charakteristisch sind der Auf-
bau aus zahlreichen feinen Zwillingslaniellen, das Auftreten musco-
vitähnlicher, regellos angeordneter Olimmerblättchen (? Natronglim-
mer) unter den Zersetzungsprodnkten, das Fehlen mikropegmatiti-
scher Verwachsung mit Quarz. Für diese Erstlinge der Ausschei-
dung aus dem Magma ist es recht auffallend ^ daß die Form meist
eine ganz gesetzlose ist.
Die Feldspate zweiter Generation sind weitaus am reichlichsten
vertreten; sie zeigen die größten Dimensionen und sind durch mi-
kroperthitische Ausbildung gut charakterisiert, wenn man die Be-
zeichnung Perthit und Mikropertbit , wie Lang es thut, auf alle »er-
sichtlich gesetzmäßigen Ver- und Durcheinanderwachsungen zweier
substantiell oder in ihrer Molekular-Ordnung verschiedener Feld-
spate« ausdehnt. Beobachtet wurden Mikroperthite von Orthoklas mit Al-
bit oder Oligoklas, von Albit mit Orthoklas, Mikroklin oder ? Oligoklas.
Der meist stark getrübte Feldspat dritter Generation ist dem
der zweiten ähnlich; doch meist von geringeren Dimensionen , von
besserer Formentwickelung und in der Richtung der Kante P/M ge-
streckt. Er tritt besonders in den Varietäten mit miarolithischer
Struktur auf, die locker struierten Partien zusammensetzend, und
scheint vorherrschend dem Orthoklas anzugehören.
Während die bisher genanntien Feldspate primärer Bildung sind,
gehören diejenigen der vierten Generation zu den sekundären, ent-
standen aus >Verwitterungs-Solutionenc nach der völligen Gesteins-
erstarrung. Es sind wasserktare, ganz unregelmäßig begrenzte Pla-
gioklafie, welche Spaltrisse erfüllen, und von deneii sich ein Teil
als Albit bestimmen ließ.
Die Übrigen Gemengteile werden kurzer behandelt. Quarz fehlt
zwar nie, ist aber in sehr wechselnder Menge vorhaiiden; bemer-
kenswert sind die öfters beobachteten Andeutungen rhömboedrischer
Spaltbarkeit und die — wie es scheint — nicht allzu häufigen Ein-
Bchlttsse farblosen Glases. Es ist nicht ersichtlich, ob letztere sich
anf die peripherischen Teile beschränken, wie das sonst der Fall zu
sein pflegt, oder ob sie dem ganzen Gesteinskörper zukommen.
Ancb Hornblende ist llberall vorhanden und daher zu den wesent-
lichen Oemengteilen zu rechnen, obwohl ihre Menge gerade in den
typiacben Varietäten eine sehr geringe ist. Die vorherrschende Va-
rietät mit Anslöschungsschiefen bis zu 30 Grad ^) ist bläulichgrtln
und feinfaserig; die Umwandlang liefert meist efaloritische Snbstan-
1) Brögger hebt einen kleinen Ausldffchungswinkel hervor.
0«ti. 9«1. Ans. 1887. Nr. 17. 46
1
666 'Oött. gel. Ans. 1887. Nr. 17.
zen, daneben auch Epidot, Braaneisenerz, Qaarz and Floftspat. Be-
gleitet wird jene za weilen von einer bräanlicben, weniger feinfaseri-
gen Varietät. Wie oft^ ist bei beiden der Absorptionsnnterscbied
zwischen b nnd a groA, zwischen c nnd b gering. Brauner, stark
pleochroitischer Magnesiaglimmer ist meist vertreten, farbloser bis
blaßgrünlicber Angit nur gelegentlich. Zirkon, den Brögger nicht
mit Sicherheit nachweisen konnte, fand Lang allgemein verbreitet
nnd dem Titanit an Menge kaum nachstehend.
Apatit und Zirkon haben sich zuerst ans dem Magma ausge-
schieden; fflr die ttbrigen Gemengteile wird Bildung während der
ganzen Zeit der Gesteinserstarrung angenommen , und auch dem Ref.
scheint es, daß scharf abgegrenzte Bildungsperioden der einzelnen
Oemengteile jedenfalls sehr selten vorkommen.
Unter den drei analysierten Varietäten, welche von Drammen (I),
vomTonsen Aas bei Kristiania (II) nnd vom Vettakollen (III) stam-
men, wird die zweitgenannte als Vertreter des Hauptgesteinstypos
angesehen, während die beiden anderen bei der Eruption entstandene
Spaltungsprodukte repräsentieren durften.
I.
n.
III.
SiOi
76.05
64.04
~ 59.56
TiO«
0.05
1 0.62
1.22
ZrOi
0.42
X>)
0.44
AUOs
11.68
17.92
17.60
FeiO>
0.34
0.96
2.90
FeO
1.05
2X>8
3.38
HnO
Spar
0.23
0.03
MgO
0.29
0.59
1.87
CaO
0.42
1.00
3.67
SrO
Spar
Spar
NaiO
3.79
6.67
4.88
KtO
5.09
6.08
440
LiiO
Spur
Spar
Spar
F
Spar
HiO
1.36
1.18
1.37
100.54
101.37
101.32
Spec. Gew.
2.636
2.646
2.729
1) Als X bezeichnet Jannasch einen noch nicht n&her bestimmten Eückstand
bei der Kiesels&ure, welcher durch schmelzendes Monokaliumsulfat gelöst wird,
aber nach Behandlang der Schmelze mit kaltem Wasser zurückbleibt,
LtDg, Beiträge zur Kenntnis d. Eruptiv- Gesteine d. Cbristiania-Silurbeckens. 6G7
Da sich sowohl aas den obigen Analysen, wie aacb aas den
älteren, von Ejerulf mitgeteilten ergibt, daB in den vorliegenden Ge-
steinen Natriumfeldspat den Ealiamfeldspat überwiegt, so reibt Laug
dieselben niebt den Graniten an, sondern der von ibm früher aaf-
gestellten Gruppe der Prädacite '). Ob es zweckmäßig ist, die qaarz-
fUbrenden Plagioklasgesteine durch Einftlhrnng einer nenen Bezeich-
nung von den quarzfreien schärfer als bisher zn trennen, kann hier
füglich anerörtert bleiben; aber nnabhängig von der Beantwortung
dieser Frage erscheint dem Ref. die Abtrennung dieser sQdnorwegischen
Gesteine von den Graniten nicht hinreichend begründet. Einerseits
ist sicherlich ein Teil des Natriumsilikats in isomorpher Vertretung
des monoklinen Ealiumsilikats vorhanden, so daß Orthoklas reich-
licher vertreten sein wird, als es nach dem Resultat der Analysen
erscheint; andererseits enthalten typische Plagioklasgesteine in der
Regel gar keinen, oder, falls solcher vorhanden ist, sehr wenig Or-
thoklas. Während man in den granitischen und syenitisohen Ge-
steinen den Plagioklas zu den wesentlichen Gemengteilen rechnen
kann und muß, dürfte der Orthoklas in den dioritischen Gesteinen
lediglich die Rolle eines accessorischen Gemengteils spielen. Es er-
scheint dem Ref. also unbedenklich, solche Gesteine den Graniten, resp.
dea Syeniten anzureihen, in welchen Ealiumfeldspat wesentlichen
Anteil an der Zusammensetzung nimmt und in dem ganzen Ge-
steinskOrper verbreitet ist. Wollte man von den Graniten alle die-
jenigen Gesteine abtrennen, welche nach dem Resultat der chemi-
schen Untersuchung mehr Natrium- als Ealiumfeldspat enthalten, so
würde man geologisch sicherlich auf die allergrößten Schwierigkeiten
stoBen, abgesehen davon, daß typische Granite dann nicht allzu
reichlich vorkommen dürften. Nach des Ref. Ansicht sind eben die
Granite und Syenite nicht Orthoklasgesteine, sondern Orthoklas-
Plagioklas-G esteine, in denen nur ausnahmsweise der Plagioklas bis
zam Verschwinden zurücktritt.
Die Detailbeschreibung der einzelnen Handstücke bietet Gele-
genheit, den Grenzzonen gegen das Nebengestein und gegen Silur-
schollen, sowie der Ausbildung von Trümern, welche letztere
durchsetzen, besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Dabei wird
mit Recht zwischen einfacher Eontaktwirkung (veränderte Erstar-
rangsbedingungen in Folge von abweichenden Druck- und Tempe-
ratnrverbältnissen) und Eontaktmetamorphose schärfer unterschieden,
als es meist zu geschehen pflegt.
1) Vgl. Gmndrift der Oesteinskunde. Leipzig 1877. S. 186 ff., und Erratische
Gesteine aus dem Herzogtum Bremen. Oöttingen 1879. S. 75—81.
46*
068 Gott. gel. Ans. 1887. Kr. 17.
Die Trümer zeigen keineswegs Uebereinstimmang in der
Struktur, wie man wohl erwarten könnte. Im allgemeinen sind sie
kleinkörniger und qnarzreicher, als das Hanptgestein, und die Rand-
zonen sind wiedemm feinkörniger and noch reicher an Qaarz^ als
das Trnmcentrnm. Zuweilen stellt sich porphyrartige Strnktnr ein
oder reichlicher Gehalt an brauner Hornblende; gelegentlich ist An-
Schmelzung bis Einschmelzung von Teilen des benachbarten Gtesteins
deutlich nachweisbar, wobei es sich aber stets um Fragmente von
geringfügigen Dimensionen handelt. In anderen Fällen ist wenig-
stens von einer materiellen Beeinflussung durch das Nebengestein
nichts wahrnehmbar, und schließlich können auch lokal irgend welche
merkliche Veränderungen an den Grenzen vollständig fehlen. Am
Eontakt mit eingeschlossenen Silurschollen treten im Hauptgestein
breite, lichte, feldspatreiche Höfe auf, welche gewöhnlich nach Innen
scharf abgegrenzt erscheinen.
Trotz des starken Wechsels im relativen Mengenverhältnis der
Bestandteile und damit auch der chemischen Zusammensetzung nimmt
Lang an, daß alle die beschriebenen, bald mehr granitisch, bald
mehr syenitisch ausgebildeten Gesteine einem einheitlichen geologi-
schen Körper angehören ^), und es wird erörtert, wie etwa die Spal-
tung eines Magma vor sich gehn könne, um so verschiedenartige
Varietäten zu liefern. Der Quarzreichtum in den Grenzzonen und
in den Trümern wird z. B. auch eher ftir eine Spaltungs-, als für
eine Kontakterscheinung gehalten.
Der zweite Hanptteil der Arbeit beschäftigt sich mit den exo-
morphen Kontaktersoheinungen, für welche das Kristiania-Silnrbecken
geradezu als klassisches Gebiet bezeichnet werden kann. Hier fin*
den nur die Thonschiefer, Kalksteine, kalkhaltigen Thonschiefer und
ein älteres Eruptivgestein Berücksichtigung, während Alannschiefer
und klastische Gesteine ausgeschlossen bleiben.
Die unveränderten Thonschiefer von mattem Glanz und schwar-
zer Farbe — soweit sie untersucht wurden , sämtlich der Silur-
Etage IV angehörig — zeichnen sich durch Armut an kohligen
Partikeln, Thonschiefemädelchen und isotroper Substanz aus. Haupt-
gemengteile sind farblose, anisotrope Körner und Blättehen , von de-
nen erst^re wohl vorwiegend aus Quarz, untergeordnet ans Feld-
spat, letztere aus glimmerartigen Mineralien (Glimmer, Chlorit) be*
stehn. Die Färbung bedingen trübe, graue bis bräunliche, staub-
förmige Partikeln, sowie Eisenkies und Eisenhydroxyd.
1) Einschlieilich des »grauen Syenite vom Yettakollen, denBrdgger als einen
selbständigen geologischen Körper ansieht.
Laog, Beiträge zur Kenntnis d. Eruptiv-Gesteine d. OhriBtiania-Silurbeckens. 669
Ftlr das fiFBte Stadiam der YeränderaDg, welches sich durch
eine gewisse Färbnog bei noch unverändertem matten Glanz aus-
zeichnet, ist maschenfbrmige Anordnung glimmerartiger Mineralien
charakteristisch, welche zum Teil wenigstens neu gebildet sind;
auch nimmt die Menge der farbigen Bestandteile ab.
Das Endprodukt der Umwandlung besteht ans stark glänzendem
Qlimmerhornfels , der keine Schieferang, wohl aber zuweilen noch
Schichtung erkennen läßt. Vorwaltender und besonders charakteri-
stischer Qemengteil ist hier, wie in den meisten Oranitkontaktzonen,
ein dunkelbrauner Magnesiaglimmer (etwa 38 Proc. ausmachend),
der in höchst dankenswerter Weise mit Aufwand großer Mtthe iso-
liert nnd analysiert wurde. Die Zusammensetzung ermittelte Jan-
naseh wie folgt:
IV.
SiOi 33.95
TiO» 3.40
X 0.98
AlsOs 17.69
PeO 21.94
Mg 0 7.98
CaO 1.10
NaiO 1.00
K« 0 8.39
Hs 0 3.46
99.89
Spec. Gew. 3.096
Eisenoxyd fehlt gänzlich, Manganoxydul, Strontian und Lithion
sind in Spuren Torhanden. Den obigen Zahlen entspricht die em-
pirische Formel:
(H, K, Na)i8 (Fe, Mg, Ca)i5 (Al^s Siis O76
welche sich zerlegen lässt in :
HsFeAltSiO?
6KAl[Si04]
7(Fe,Mg)8[Si04]
HioAh[Si04]4.
Die Versuche, eine rationelle Formel nach den Bammelsberg'-
sohen oder nach den Tscbermak'schen Anschauungen über die Kon-
stitation der Glimmer aufzustellen, führten zu keinem befriedigenden
670 Gott. gel. Ans. 1887. Nr. 17.
Resaltat. Leider liegt, soweit Ref. bekannt ist, ans keiner anderen
6ranitkoDtakt-Zone eine Glimmeranalyse vor, welebe zum Vergleich
herangezogen werden könnte. Es wäre von Interesse zu prüfen, ob
die chemische Konstitution, wie man nach der Aehnlicbkeit der phy-
sikalischen Eigenschaften vermuten konnte, unabhängig ist von der
ursprünglichen Zusammensetzung der veränderten Schiefer.
Zweiter Hanptgemengtheil des Olimmerhornfels sind farblose
Kömer, die gröfitenteils fttr Quarz, zum Teil — allerdings mit Vor-
sicht -— fttr Feldspat und zwar für Orthoklas gehalten werden,
während Brögger und Penck sie als Plagioklas deuteten. Ob Lang
Recht hat, wenn er dem Feldspat und besonders dem Orthoklas
eine größere Verbreitung in den Hornfelsen zuschreibt, als die meisten
übrigen Petrographen, dürfte jedenfalls ohne weitere Untersuchungen
nicht zu entscheiden sein, wenn es auch lokal fttr das hier in Be-
tracht kommende Gebiet seine Richtigkeit haben mag. Weitere Ge-
mengteile sind Magnetkies, stark lichtbrechende, grünlichgelbe Körner
und ein fast farbloses, blättriges, talkäbnliches Mineral, welches un-
bestimmt bleibt, aber jedenfalls nicht, wie es von Anderen geschehen
ist, fttr Muscovit gehalten wird. Am unmittelbaren Kontakt mit dem
Nebengestein scheint letzteres zu verschwinden. Bemerkenswert ist
das Fehlen des sonst so verbreiteten Andalusit; Lang meint, das-
selbe könne vielleicht mit der Armut des normalen Schiefers an or-
ganischer Substanz in Beziehung stehn. Von Granit vollständig
«eingehüllte Schieferschollen lassen keine stärkere Veränderung wahr-
nehmen, als die nur einseitig angrenzenden Schichten.
Die Kalksteine zeigen die normalen Veränderungen ; ihre isomer-
feinkörnige Struktur geht in die isomer - grobkörnige des Marmor
über, und wo neben Karbonaten ursprünglich noch andere Gemeng-
teile vorhanden waren, entwickeln sich Kalksilikate wie Skapolith
(Dipyr), Granat, blaßgrUne und dunkelgrüne Hornblende, fast farb-
loser Augit.
Mannigfaltiger erscheinen die Kontaktprodukte der kalkreichen
Thonschiefer, welche als Kalksilikathornfelse oder Kalkhornfelse zn-
sammengefaßt werden, und sich vom Glimmerhornfels durch geringeren
Glanz, von den veränderten Kalksteinen durch das Fehlen von Kar-
bonaten auszeichnen. Die Färbung ist meist licht, gelegentlich —
besonders bei schlierenartig auftretenden Partien — auch dunkel.
Allen diesen Hornfelsen gemeinsam sind Härtung, Verlust der Schie-
ferung, Verminderung des Wassergehalts, sowie farblose doppelbre-
chende Körner (Quarz, Feldspat und andere Silikate) nebst Bisili-
katen (besonders farblose Hornblende) als Gemengtheile. Da Mus-
Lang, Beitr&ge zur Kenntnis d.Ernptiv-Gesteine d. Christiania-Silurbeckens. 671
covit fehlt nnd Eali reichlich vorhanden ist, so wird auch hier ein
großer Teil des Feldspats als Orthoklas gedeatet. Sonstiger Mi-
neralbestand und Struktur sind aber recht wechselnd, und eine all-
mähliche Zunahme der Veränderungen mit der Annäherung an das
Eruptivgestein ist auffallender Weise nicht merklich. Der fttr den
Olimmerhornfels so charakteristische braune Magnesiaglimmer tritt
hier nur sehr spärlich auf.
Analysirt wurden zwei unveränderte Thonschiefer von Tyvehol-
men in Ghristiania (V dickschieferig, VI feinblättrig) , ein Glimmer-
hornfels von Gunildrud (VII), aus dem der Glimmer stammt, dessen
Zusammensetzung schon oben unter IV mitgeteilt worden ist, und
ein heller, violetter Ealkhornfels , ebenfalls von Gunildrud (VIII).
Va und Via geben die Zusammensetzung der Thonschiefer nach
Abzug der Karbonate, da letztere nur als Kluftanskleidungen und
in Form feiner Adern auftreten, also nicht der eigentlichen Gesteins-
masse angehören. Spuren von Chlor und Lithion konnten in allen,
von Phosphorsäure und Strontian in fast allen Gesteinen nachgewiesen
werden.
V.
VI.
Va.
Via.
VIL
VIII.
SiOt
49.46
49.32
53.07
52.50
66.60
57.43
TiOi+ZrO«
0.89
0.79
0.95
0.84
1.00
1.13
X.
0.12
GOt
3.70
3.31
0.00
0.00
0.00
0.00
AIiOs
19.44
19.52
20.86
20.78
20.70
17.53
Fe»0»
1.37
1.55
1.47
1.65
0.00
0.00
FeO
6.03
6.22
6.47
6.62
8.27
1.76
MdO
0.11
Spnr
0.12
Spnr
Spnr
MgO
4.68
5.02
3.83
4.36
3.85
1.47
CaO
3.16
2.92
0.00
0.00
0.36
8.61
NaiO
1.55
1.60
1.66
1.70
2.93
1.76
KtO
4.12
4.35
4.42
4.63
4.28
8.51
HiO
6.37
6.19
6.83
6.59
2.46
1.05
FeS>
0.29
0.29
0.31
0.30
FeS
0.54
0.77
101.17 101.08 99.99 99.97 100.89 100.04
Spec. Gew. 2.734 2.733 2.743 2.741
Am Barnekjern bei Christiania tritt mit dem Hauptgestein ein
älteres, wahrscheinlich nahe verwandtes massiges Gestein von dunk-
ler Farbe, feinem Korn und dioritischem Habitus in Kontakt, wel-
ches als „dioritischer Prädacit" vom „granitischen Prädacit" unter-
1
672 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 17.
schieden wird und sich durch Beichthum an basischen Gemengteilen
(Hornblende^ Magnesiaglimmer, opakes Erz) aaszeichnet. Die nach-
weisbaren Veränderangen, welche übrigens wenig scharf henrortreteni
haben nicht das ganze Gestein, sondern nur einzelne Gemengteile
betroffen. Sie beginnen mit deren Trübung und schliessen ab mit
einer Neubildung von Hornblende und Titanit, sowie wahrscheinlich
auch von opakem Erz.
Die allgemeinen Resultate stimmen im ganzen mit den an anderen
Kontaktzonen erzielten übereio, indem auch Lang annimmt, daS die
Neubildung von Mineralien im wesentlichen durch Umlagerung vor-
handener Substanz ohne Zufuhr von außen stattfindet^). Granitma-
terial sei sicherlich nicht in die Schiefer eingetreten, eher habe der
Granit Teile der letzteren aufgenommen. Neu ist der aus den ana-
lytischen Daten gezogene Schluß , daß mit der Annäherung an den
Granit, abgesehen vom Verlust an Wasser und Kohlensäure,
auch ein Verlust an Sauerstoff stattfindet; in Folge dessen tritt im
Hornfels an die Stelle von Eisenoxyd Eisenoxydul, an die Stelle von
Eisensulfid Eisensulfür. Ganz unanfechtbar dürfte dieser Schluß wohl
nicht sein, da nicht Gesteine aus einer und derselben Schicht und
unmittelbar neben einander auftretend verglichen worden sind;
jedenfalls aber bedarf es noch weiterer Belege, um zu übersehen,
ob hier eine allgemeine oder nur eine lokale Erscheinung vor-
liegt.
Die von Lessen und Lehmann für den Dislokationsmetamorphis-
mus aufgestellten Sätze werden einer eingehenden Erörterung unter-
zogen. Lang ist der Ansicht, daß der Gebirgsdruck direkt vorzugs-
weise mechanisch verändernd wirkt, daß aber die stofflichen Um*
lagerungen wesentlich auf Prozessen beruhen , welche nur indirekt
mit jenem in Beziehung stehn. Die Veränderungen seien in der
Regel im Liegenden energischer, als im Hangenden, und es laße
sich dies dadurch erklären, daß überhitzte Wasserdämpfe, welche
wahrscheinlich die Metamorphose vermitteln und zum Teil auch von
dem veränderten Gestein selbst geliefert sein mögen, im Liegenden
unter höherem Druck standen. Der Druck des Eruptivgesteins komme
wohl auch in Betracht, könne aber nicht von großem Einfluß ge-
wesen sein, 0a sonst ^ie Horiifßlse häufiger eine schiefrige Struktur
zeigen würden. Pabei möge die Gebirgsfenchtigkeit wesentlich bei-
1) WennBrögger die Zufohr von Kieselsftare und anderer Substanxen für wahr-
scheiDüch halte, so erkl&re sich dies wohl darch den Vergleich zwar gleichaltriger,
aber damit doch nicht auch substantiell als identisch eri^esener Schicl^^n.
Lang, Beitr&ge zur Kenntnis d. Eruptiv-Gesteine d. Christiania-Siliirbeckens. 673
tragen, die Leitang der Wärme zn fördern and den Draek zq er-
höhen. Als Lösapgsmittel habe das Wasser jedenfalls nicht gewirkt;
dagegen spreche die Anordnung der Oemengteile, sowie die scharfe
Grenze zwischen den Umwandlangsprodakten ursprünglich verschieden
ausgebildeter Schichten. Auf welche Weise die molekulare Umlage-
rnng stattgefunden habe, sei unbekannt; ausgeschlossen seien aber
hydrochemischer Niederschlag und Austausch eben so sicher, wie
normaler Schmelzfluß.
In einem kleinen, den Verwitterungserscheinungen gewidmeten
Abschnitt wird hervorgehoben, wie ganz abweichend die Oberfläche
der sOdnorwegischen Granitgebiete sich darstelle im Vergleich mit
denen anderer Gegenden. Keine wollsackähnlichen Blöcke oder Felsen-
meere, keine Grusanhäufungen, kein an Ort und Stelle entstandener
Verwitternngsboden ! Da dieser Granit früher wahrscheinlich wie jeder
andere Desaggregations-Produkte geliefert habe, so müsse man an-
nehmen, daft sie von Gletschern vollständig fortgeführt seien, und
daft seit deren Verschwinden die Zeit zur Bildung von neuen nicht
ansgereicht habe trotz zahlreicher mikroskopischer Spaltrisse, welche
das Gestein in unmittelbarer Nähe der Oberfläche durchsetzen und
auf den Druck des gleitenden Eises zurückgeführt werden. Sei der
ungenügende Zeitraum der wahre Grund des Mangels an Desaggre-
gationsgebilden , so lasse sich ihr Vorhandensein oder Fehlen ver-
werten, um zu entscheiden, ob Gegenden gleichzeitig vergletschert
sein konnten oder nicht Aber es dürften noch so viele andere Fak-
toren in Betracht kommen, daft ein derartiger Schluft dem Ref. sehr ge-
wagt erscheint und jedenfalls nur mit allergröftter Vorsicht gezogen
werden darf.
Den Schluft der Arbeit bilden einige Hittheiinngen über den
Qaarzporphyr von Drammen und über Eontakterscheinungen am
Felsitfels von Vikersund. In Uebereinstimmung mit vom Rath hält
Lang den Porphyr für eine Tuff- und Eonglomeratschichten überla-
gernde Decke. Er ist ausgezeichnet durch schlierenförmigen Wechsel
von Partien, in denen teils Einsprengunge und Grundmasse sich an-
nähernd das Gleichgewicht halten, teils letztere kaum merklich her-
vortritt Die Feldspateinsprenglinge sind der Mehrzahl nach als
Mikroperthite ausgebildet, die Quarze in den peripherischen Teilen
reicher an Einschlüssen, als in den centralen und beherbergen opake,
gelegentlich margaritenartig an einander gereihte Stäbchen, wie sie
anch in den Odenwälder Porphyren auftreten ; die mikro- bis krypto-
krystalline Grnndmasse enthält wahrscheinlich etwas isotrope Basis,
obwohl letztere direkt nicht wahrnehmbar ist
674 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 17.
Aus der unter IX folgenden Analyse wird das Mengenverhält-
nis der Bestandteile za 33.65 Qaarz, 42.21 Orthoklas, 20.135 Albit,
1.57 Chlorit, 0.66 Schwefelkies, 0.51 Zirkon, 0.27 Titaneisen berech-
net und aus dem starken Oehalt an Orthoklas geschlossen, daB eine
Beziehung zum plagioklasreichen Drammengranit nicht stattfindet|
wie Brögger angenommen hat.
IX.
SiOt 75.44
TiOt 0.07
ZrO» 0.34
AlsOs 12.33
Fes 0$ 0.49
Fe Ss 0.66
FeO 1.00
MnO 0.11
MgO 0.52
NasO 2.38
KsO 7.13
HjO 1.26
101.73
SpecQew. 2.618
Bemerkenswert ist das vollständige Fehlen von Phospborsäure,
das fast vollständige von Kalk, welcher ebenso wie Lithion nur in
Spuren auftritt.
Wie der Porphyr von Drammen, so wird auch der mikrogra-
nitische Felsitfels von Vikersund für .ein selbständiges Gestein ge-
balten. An der Orenze gegen das Nebengestein lassen sich drei
Zonen von je verschiedener Korngröße unterscheiden.
Ans den einleitenden Worten der im Vorhergehenden besprochenen
Arbeit geht hervor, daß eine Fortsetzung der Beiträge beabsichtigt
war ; nach persönlicher Mitteilung des Verf. ist leider keine Aus-
sicht zur Verwirklichung dieses Planes in absehbarer Zeit vor-
handen.
Greifswald, Mai 1887. E. Cohen.
Woeikof, Die Elimate der Erde. 675
Woeikof, Dr., A., Die Elimate der Erde. Nach dem Russischen. Vom
Verfasser besorgte, bedeutend veränderte deutsche Bearbeitung, mit 10 Karten
und 15 Diagrammen nebst Tabellen. Zwei Teile. Jena, Verlag von H. Co-
stenoble 1887. XX, 893 und 422 S. 8«.
Id der deatschen meteorologischeD Litteratur besitzen wir be-
reits ein Werk über denselben Gegenstand: J. Hanns Handbuch
der Elimatologie, Stattgart 1883. Aber beide (von dem vorliegenden
Werke das rassische Original) sind gleichzeitig and vollständig un-
abhängig von einander entstanden, and die Abgrenzung nnd Behand-
lang des Stoffes ist in diesen beiden Werken eine so durchaas ver-
schiedene, daß keineswegs das eine das andere überflüssig erscheinen
läfit, vielmehr ergänzen sie einander in mehrfacher Beziehung, and
wir sind Herrn Woeikof für diese deutsche Ausgabe zu Danke ver-
pflichtet. Hanns Klimatologie ist ein Handbuch, Woeikofs Werk
trägt den Charakter des Lebrboches; Hann wendet sich an den
Fachgenossen, Woeikof an den Schüler.
Wer gewohnt ist die Publikationen des Verf. zu studieren, wird
in den »Elimaten der Erde« manchen bekannten Abschnitt flnden,
der aas einer früheren Arbeit des Verf. direkt übernommen worden
ist Der Zusammenhang ist dadurch manchmal ein etwas lockerer.
Dadurch ist es aach gekommen, dafi S. 172 auf eine Originalab-
handlung verwiesen worden ist, ohne dafl angegeben ist, wo man
dieselbe flndet; dieser Abschnitt ist nämlich der Abdruck eines Re-
ferats des Verf. über zwei seiner Arbeiten in der Zeitschrift der
Osterreichischen Gesellschaft für Meteorologie, in welchem »das Ori-
ginal« in der Ueberschrift genannt ist, nämlich Bulletin de la So-
ci£t6 des Naturalistes de Moscon 1881 p. 81. Das ist zwar nur
eine Kleinigkeit, ich erwähne sie aber, weil die Citate überhaupt
die schwache Seite des Buches ausmachen. Es wäre zu wünschen,
daß dieselben vermehrt würden, vor allem aber müßten sie voll-
ständiger und zuverlässiger sein. Der Verf. verwechselt wiederholt
(z. B. I S.237 zweimal, ferner IIS. 55) »Meteorologische Zeitschrift«
mit »Zeitschrift für Meteorologie«, welche letztere Bezeichnung für
Zeitsehr. d. österr. Gesellsch. f. Met. reserviert bleiben sollte. Diese
Verwechselung wäre weniger unbequem, wenn der Verf. Band- und
Jahreszahl anführte: er begnügt sich aber immer mit einer
Angabe. Ich habe natürlich nicht alle Citate nachgeschlagen, aber
trotzdem habe ich ziemlich viele Druckfehler in denselben ge-
funden.
Ganz besonders rühmenswert erscheinen dem Ref. an dem vor-
liegenden Werke zwei Punkte. Zunächst das Bestreben, möglichst
676 GötU gel. Ans. 1887. Nr. 17.
für alle in Frage kommeDdeii Probleme eine pbyaikaliscbe ErklSmng
zo geben. Dabei nimmt der Verf. sebr bäafig and mit groBem Olflek
seine Zuflacbt zn dem Wasser an der Erdoberflftebe nnd in der At-
mosphäre. Die grofte Bolle, welobe die Wftrmeamsetzangen beim
Gefrieren nnd Tbaoen, beim Kondensieren nnd Verdampfen in der
Elimatologie spielen, wird hier mit Recht wiederholt betont Ferner
ist die strenge Kritik zu rflhmen, welche derVerf an hergebrachten
Hypothesen übt Verschiedentlich wird die Unhaltbarkeit derselben
durch rechnerische Prüfung erwiesen.
Das Werk zerfällt in zwei dem Umfange nach nahezu gleiche
Teile: I. allgemeine, II specielle Klimatologie.
I. Teil : 1) Luftdruck und Winde. Temperaturänderungen in
auf- und absteigenden LuftstrOmen. 2) Luftfeuchtigkeit, Ver-
dunstung, Bewölkung, Niederschläge. 3) Flttsse nnd Landseen als
Produkte des Klimas. 4) Einfluß der Schneeoberfläche auf das Klima.
5) Die klimatischen Verhältnisse des beständigen Schnees. 6) Die
Temperatur der Gewässer. 7) Verschiedenheit der Temperaturver-
teilung im Festen und Flüssigen und ihr Einfluß auf die Tempera-
tur des Erdballs. 8) Die täglichen und jährlichen Aenderungen der
Temperatur der Luft. 9) Die täglichen Aenderungen der Hydrome-
teore. 10) Der tägliche Gang des Luftdrucks und der Winde.
11) Temperaturänderung mit der Höhe in Bergländem nnd in der
freien Atmosphäre. 12) Einfluß des Klimas auf die Vegetation.
13) Einfluß der Vegetation, besonders der Wälder auf das Klima.
14) Die nichtperiodischen Aenderungen der Temperatur nnd der
Niederschläge. 15) Veränderlichkeit der Temperatur von Tag zu
Tag. 16) Allgemeine Bemerkungen ttber die Verteilung der Tempe-
ratur auf dem Erdballe. 17) Allgemeine Bemerkungen über die Ver-
teilung des Luftdrucks, der Winde, und der Hydrometeore auf dem
Erdballe. — Tab. 1, Mittelteroperaturen. Tab. 2, Mittlere Bewöl-
kung. Tab. 3, Jährliche Höhe des Niederschlages. Tab. 4, Ver-
teilung der Niederschläge auf die Monate in Prozenten der Jahres-
menge.
Obwohl namentlich die ersten Kapitel mancherlei enthalten, was
eher in ein Lehrbuch der Meteorologie oder der Hydrographie gehörte,
als in eine Klimatologie, möchten wir dieselben doch nicht gern
missen. Die Meteorologie hat sich erst in den letzten Decennien zu
einer physikalischen Disciplin entwickelt, es harren noch manche
Fragen einer physikalischen Beantwortung, und es ist von großem
Interesse ttber einige der wichtigsten dieser Fragen einen so nam-
haften Gelehrten wie den Verf. im Zusammenbang reden zu hören.
Woeikof, Die Elimate der Erde. 677
— An eiDzeloe Kapitel möchte ich einige Bemerkangen an-
knttpfen.
Kap. 1. Der Verf. bespricht die Eigenschaften der auf- und
absteigenden Lnftströme. Dabei hätte er nach der Meinung des
Ref. die gleiche Natur aller Fallwinde betonen sollen sollen. Föhn,
Vent d'Espagne, Scirocco in Sicilien, dalmatischer Wind (Siebenbürgen),
wie auch Bora und Mistral sind Fallwinde, und es ist nicht zulässig,
sie, wie oft geschieht, zu einander in Gegensatz zu bringen bloß
deshalb, weil sie am Orte der Beobachtung in der Regel als
warme, oder als kalte Winde aufzutreten pflegen. Ob das eine oder
das andere der Fall ist, hängt von der topographischen Gliederung
des Gebietes ab, in welchem der Wind weht. Soll nämlich die Tem-
peratur eines Ortes durch den herabfallenden Wind erniedrigt wer-
den, so erfordert das zwischen dem Ursprung des Windes und dem
Beobacbtungsorte eine Temperaturabnähme mit der Höhe von mehr
als 0.97^; ist sie kleiner, so wird der Wind als ein warmer em-
pfunden. Eine derartige Temperaturabnahme mit der Höhe kann
wegen des größeren specifischen Gewichtes der kalten Luft in zer-
rissenen Gebirgen garnicht eintreten, sie erfordert ein plateauförmiges
Hinterland, das durch einen mäßigen Höhenzug von einem steilen
Abfall nach der Tiefe gehemmt ist (Warad&h). Durch Aspiration
vorliegender Depressionsgebiete oder durch Drucksteigerung im Hinter-
lande wird die über dem Plateau erkaltete Luft über den Kamm
tainttbergeschoben und gewinnt alsdann durch ihre Eigenschwere einen
starken vertikalen Gradienten. Es ist klar, daß in Gegenden, wo
solche kalte Fallwinde vorkommen, auch warme müssen auftreten
können; diese aber werden weniger heftig sein; denn bei ihnen
fällt sehr bald die Steigerung des vertikalen Gradienten durch die
Schwere fort. Beispiel einer warmen Bora in der Zeitschr. d. Ost.
Ges. l Met. 10 p. 112, 1875. In Oebirgsländem , welche für die
Entwicklung kalter und warmer Fallwinde gleich günstig sind, wird
durch den Wind die Temperatur in der Niederung bald gesteigert
bald herabgedrückt, und dann haben die Winde der betreffenden
Biobinng keinen typischen Charakter und ziehen daher die Aufmerk*
samkeit weniger auf sich. Daher kommt es auch wohl, daß wir z. B.
ans Norwegen^ das für das Auftreten von Aspirations winden so außer-
ordentlich günstig gelegen ist, soviel ich wenigstens weiß, keine Kunde
fiber Winde mit Föhn- oder Boracharakter haben.
Kap« 2. Für die größten Niederschlagsmengen in Deutschland
hätte der Verf. bei Hellmann (Zeitschr. d. K. Preußischen statistisclien
Boreanis 1884 p. 251) bessere Beispiele gefunden. — Für die Cha«
678 öött. gel. Anz. 1887. Nr. 17.
rakterisiernng eines Klimas binfiichtlich der Niederecblagsverbälinisse
sind die Länge der Perioden von aufeinander folgenden Tagen mit
oder obne Niederscblag und die Häufigkeit der Perioden gleicher
Länge jedenfalls ancb von bervorragender Bedeutung.
Kap. 5. Angaben Über die mittlere Temperatur der Schneelinie
besitzen wir bislang nur wenige. Die alte Ansiebt, daB die Scbnee-
linie mit der NuUisotberme des Jahres zusammenfalle, ist von Benou
durch die Annahme ersetzt, daß die Nullisotherme der wärmsten
Monate maßgebend sei. Der Verf. vermag sich auch dieser Ansicht
nicht anzuschließen, und seine Zweifel erscheinen nach den neuesten
Mitteilungen von Hann durchaus berechtigt (Met. Zeitschr. 4 p. 28,
1887). Hann findet nämlich, daß am Säntis die mittlere Tempera-
tur der unteren Schneegrenze in allen Monaten mit Ausnahme des
December über 0^ liegt (im Mittel des Sommers 4^7, im Mai beträgt
sie sogar 7^.4), und daß die Höhendiflerenz zwischen der Nullisotherme
und der Schneegrenze mehrere hundert Meter beträgt (im Mai 1200,
im Nov. 100, im Dec. —500). — Dieses Kapitel dürfte auch für Geo-
logen und Gletschertheoretiker von großem Interesse sein.
Kap. 6 ist von hervorragender Bedeutung. Hier werden einige
weit verbreitete Irrtümer berichtigt. Es ist z. B. durchaus nicht
richtig, daß die Seen wie auch die Meere immer die Extreme der
Temperatur abstumpfen und die mittlere Jahrestemperatur in niede-
ren Breiten herabdrücken, in höheren dagegen erhöhen.
Kap. 8. Die tägliche Amplitude a der Temperatur wird be-
kanntlich durch die Bewölkung ß stark beeinflußt, es hat daher
Weilenmann vorgeschlagen statt der Amplitude selbst den Ausdruck
aß
T^ zur Vergleichung verschiedener Orte heranzuziehen. Der Verf.
fuhrt statt dieses Ausdrucks einen etwas andern ein, der aber hier^
wie auch überall, wo er in Folgenden vorkommt, verdruckt ist, er
muß lauten ''^^^^^ —
Die Beobachtungen über die Periode der Temperatur der festen
und flüssigen Erdoberfläche sind zwar bislang nur gering, dennoch
wäre es wohl wünschenswert geweseut sie wenigstens kurz zu er-
wähnen und die Abweichungen derselben von der Lufttemperatur
hervorzuheben.
Kap. 9 wird durch Einftihrung des Sättigungsdeficits, dessen
Bedeutung für die Klimatologie in neuerer Zeit auch von maß-
gebender Seite anerkannt worden ist, eine Erweiterung erfahren müs-
sen. Soweit wir die periodischen Aenderungen dieser Größe bis
Woeikof , Die Elimate der Erde. 679
jetzt kennen, schließen sich dieselben ziemlich eng an die der Tem-
peratar an; die Größe der Amplitude ist noch ziemlieh nnbekannt
Ans dem reichen Materiale, welches dem Verf. za Gebote steht^ wer-
den sich leicht wichtige Resultate ableiten lassen. — Die täg-
liche Periode des Niederschlages ist doch wohl etwas zu stiefmütter-
lich behandelt.
Kap. 11. Auf Grund eines sehr umfassenden und hier auch
ausführlich mitgeteilten Materiales gelangt der Verf. auf rein empi-
rischem Wege zu dem Resultate, daß die Größe der Temperatar-
abnahme mit der Höhe ohne Ausnahme von S nach N (nördliche
Hemisphäre) abnimmt, während Hann (Klimatologie p. 153) fand
daß ihre Größe für alle Gebiete zwischen 0 und 60® Breite die-
selbe sei. Woeikofs Resultat läßt sich noch in anderer Weise be-
gründen. Mendeleef hat eine Formel ttber den Zusammenhang der
Temperatur der höheren Luftschichten mit dem daselbst herrschen-
den Luftdrücke aufgestellt. In diese Formel geht eine Konstante
ein, unter welcher man die Temperatur an der Grenze der homoge-
nen Atmosphäre, wo der Druck nahe 0 ist, zu denken hat. Diese
Konstante hat denselben Wert im Winter und im Sommer, ttber dem
Aequator wie ttber den Polen. Daraus folgt: 1) die Temperatur-
abnahme mit der Höhe ist im Sommer größer als im Winter das
ist empirisch längst festgestellt; 2) sie ist ttber niederen Breiten
größer als ttber höheren, und das ist das oben angefahrte Resultat
Woeikofs.
Kap. 13 findet eine wertvolle Ergänzung in der Schrift von
C. E. Ney: lieber den Einfluß des Waldes auf das Klima. Deutsche
Zeit- und Streitfragen N. F. I, Heft 5. Berlin 1886.
Kap. 16. Herr Woeikof ersetzt die hergebrachte astronomische
Zoneneinteilnng durch eine etwas abweichende, indem er als Gren-
zen ftlr den Tropengttrtel 26^ N. n. S. Breite und als Grenze der
Polarzonen die 65 Parallelkreise wählt Diese Teilung entspricht
den klimatischen Verhältnissen in der That besser. Beachtenswert
ist das durch diese Einteilung geschaffene Verhältnis der Flächen-
ränme der warmen zu den gemäßigten and zu den kalten Zonen, näm-
lich 417 : 490 : 93. Daraus zieht der Verf. gewiß mit Recht den
Schluß, daß wegen ihrer geringen Ausdehnung die Polarzonen nur
einen geringen Einfluß auf die Klimate der Erde haben können. —
Auf die Kritik der Hann-Forbes'schen Ansichten ttber die Tempe-
ratarverteilnng auf einer Land- und einer Wasserhemisphäre mag
ebenfalls besonders aufmerksam gemacht werden.
In den Tabellen der Mitteltemperatnren der Luft fehlen leider
6S0 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 17.
die Monate Februar, Joni, Angnst und December. Ein Maugel aller
Tabellen besteht darin, dai weder angegeben ist, woher die Zahlen-
reiben entnomnien sind, noch aus welchen Jabren dieselben berech-
net wurden, auch nicht einmal auf wielangjährige Beobachtungen
sich dieselben stützen. Ihre Brauchbarkeit leidet darunter sehr,
auch wenn man zu dem Verf. das Zutrauen hat, daS er nur zuver-
lissiges Material benutzte.
II. Teil : Fttr die Einteilung der speciellen Klimatologie iSit
der Verf. die geographischen, einmal sogar die politischen Verhält-
nisse maftgebend sein, und in der Ausftihrlichkeit, mit welcher er
die Elimate der verschiedenen Länder behandelt, gestattet er sich
einen ziemlich hohen Grad von Willkttr. So fallen dem russischen
Reiche allein ungefähr zwei Fflnftel des ganzen Bandes zu, wogegen
Centraleuropa auf ca. 30 Seiten abgethan wird, »in Betracht des
unbedeutenden Raumes, welchen es auf dem Erdball einnimmt, wie
auch weil es dem Leser Bekanntes bietete, sagt der Verf. im Vor-
worte. Dieser »unbedeutende Räume hat aber fflr den deutschen Le-
ser ein ganz besonderes Interesse , und auf die Bekanntschaft mit
dem Oegenstande i^egt sich der Verf. , und das in einem Wei4:e,
wie das vorliegende mit Recht, sonst auch nicht zu beziehen. EHe
Form der Darstellung hat sich Hr. W. dadurch sehr erschwert, daft
er auf Originalmitteilungen aus Berichten von Reisenden fast voll-
ständig verzichtet; statt dessen ftthrt er, wo immer thunlicb, hMhst
instruktive Vergleiche zwischen den klimatischen Verhältnissen der
verschiedenen Oegenden ein, wobei es ihm sehr zu statten kommt,
daft er einen groften Teil der betrachteten Länder durch Augen-
schein kennen lernen durfte.
Als besonders beachtenswert möchte ich die Abschnitte über die
Monsune hervorheben, denen der Verf. aus triftigen Gründen ein
viel ausgedehnteres Gebiet zuweist, als das sonst zu ges^heheir
pflegt. — Die zahlreichen, den Elimaten der Erde zur Erläüterang
beigegebenen Diagramme verdienen wegen ihrer vortreffii<^heii Ans*
wähl und tibersichtlichen Anordnung ebensosehr Lob wie wegen der
nwsterhaften Zeichnung, sie erhöhen den Wert des Werkes sehr.
Qöttingen. H. Meyer.
Für die B«d«ktioB T«rMilwortUeli x Prof. Dr. BtekUl, Direktor der CMtt. gel. Abs.,
Aieeieor der KdniglieheB GesellBchaft der WiBMneehafkeB.
ikmck dgr IHä$riek*§eh§n ümi9,'Buekdrvdtirti (Fr, W, KAmhitr),
pn-iB
681
Göttingische
gelehrte Anzeigen
anter der Anfeicht
derKönigl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Nr. 18. 1. September 1887.
Preis des Jahrganges : JL 24 (mit den »Nachrichten d. k. 0. d. Wise.« : JL 27).
Preis der einzelnen Nummer nach Anzahl der Bogen: der Bogen 60 ^
lalttlt: L «gl Hb «hl, FUlipp Albert Btepfto btlTetiselur Mlaktor d«r KAuU ond WiBsen-
•chafton. Yon von OoNMitteM. — Nordiskt medicinakt Arldv. XYlII. Von Brntmemn.
^iz Eigenmiiohtiger Abdruck von Artikeln der G8tt. gel. Anitigen verboten. =
Luginbfthl, Rudolph, Philipp Albert Stapfer helvetischer Mi-
nister der E&nste und Wissenschaften (17^—1840). Ein Lebens-
und Kttlturbild. Basel, Verlag von C. Detloff 1885.
Das Yorliegende Bach verdient eine BesprechnDg in den GK^t-
tiDgigcben gelehrten Anzeigen nicht nnr aiiB dem Ornnde, weil es
sieh um eine mit Fleift bearbeitete Biographie eines bedeutenden
Mannes handelt, sondern nameDtlieh auch deßhalb, weil der Gelehrte,
dessen Leben hier geschildert wird, seine hohe Bildnng groftenteils
der Universität OOttingen zn verdanken hatte.
Im Oktober 1789 ist Stapfer als stndiosas theologiae in Göt-
tingen immatriknliert worden, wo er die Kollegien der Theologen
Michaelis, Koppe, des Philologen Heyne, der Historiker Eichhorn,
Spittler, Meiners and Sehlözer, des Geographen Forster nnd des
Mathematikers nnd Physikers Lichtenberg (alle Männer von earo-
päischem Ruf) besachte. Von Meiners and Eichborn namentlich hat
Slapfer viele Anregung erhalten. — Zuerst einige Worte Über das
Bach und dessen Anlage — und dann ein Mehreres tiber die darin
gesehilderte Persönlichkeit.
Vor allem sei anerkMint, daß eine fleißige, auf Quellen-Studium
gegründete Arbeit vor uns liegt: der Verfasser hat das Sohweize-
rieebe Bnndes- Archiv, wie die Staats- Archive von Bern und Basel
grändlieh durchforscht ind auch idie zahlreichen Privat-Korrespon-
denaen Stapfers ndt GMehrten und Staatsmännern zu Rate gezogen.
yi3 QM. §•!. Au. 1887. Hr. 18. 47
6^82 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. IS,
Das Buch zerfällt in fttnf Kapitel, von welchen indessen das
dritte und vierte, betitelt: »Stapfer als Minister der Künste and
Wissenschaften (1798— 1800)c und »Stapfer als Schweizerischer Ge-
sandter in Paris (1800— 1803)€, obschon nur 6 Jahre von Stapfers
Leben umfassend, mehr als V» T^^i^^ des ganzes Buches einnehmen.
Es fehlt dem Buche somit an innerer Harmonie oder Symmetrie,
und der Verfasser darf es uns daher kaum verfibeln, wenn wir, sei-
nem Beispiele folgend, uns bei der Besprechung seiner Arbeit darauf
beschränken das vierte Kapitel, namentlich so weit es von der Wirk-
samkeit Stapfers als helvetischer Gesandter in Paris handelt, teils
ergänzend, teils einige thatsächliche Irrtümer berichtigend etwas näher
zu beleuchten
Das dritte Kapitel (Stapfer als Minister der Künste und Wissen-
schaften [S. 46—352]), welches der Verfasser mit Vorliebe behandelt
zu haben scheint, werden wir in unserer Besprechung ganz bei Seite
lassen, teils weil dasselbe weit über den Rahmen einer Biographie
hinaus reicht und eher als eine Geschichte des Unterrichtswesens in
der Schweiz zur Zeit der helvetischen Republik gelten kann, teils
weil an die unermüdliche Thätigkeit Stapfers als Minister der Künste
und Wissenschaften sich so zu sagen keine praktischen Folgen ge-
knüpft haben. Stapfer hat unzählige Projekte ausgearbeitet über
Gründung von Volksschulen und einer eidgenössischen Hochschule,
über Lehrer - Bildnngs - Anstalten (Seminarien) und über Gründung
eines helvetischen .Volksblattes, eines Büreaas für Nationalkaltnr,
einer National-Bibliothek, eines Nationalmuseums und eines National-
gartens u. s. w., an welche Gründungen alle er überschwengliche
Hoffnungen nach seiner Art knüpfte ; zur Ausführung aber sind diese
Projecte alle nicht gekommen (qui trop embrasse mal itreint).
Zur Entschuldigung dieses Miserfolgs kann allerdings angeführt
werden , daß während der ganzen Zeit von Stapfers Ministerium
(1798 — 1800) die Schweiz durch eine zahlreiche französische Armee
besetzt war, die im Jahre 1799 auf schweizerischem Grund und Bo-
den mit Russen und Oesterreichern schwere Kämpfe (Schlacht bei Zürich
im Sept. 1799) zu bestehn hatten. Unter solchen Verhältnissen konn-
ten die Werke des Friedens in Helvetien freilich nicht gedeihen.
Der Umstand indessen, daß Stapfer noch weniger gelungen ist, als
anderen Ministern, obschon das Volk besseren Schuleinrichtnngen
nicht abgeneigt war, läßt uns vermuten, daß dem »Zeug« Stapfers,
der mehr ein Mann des Gedankens, als der That war, etwas »S tär ke-
rn ehU fehlte. Der Minister der Künste und Wissenschaften konnte
nämlich nicht zürnen, und nahm es daher jeweilen geduldig bin,
^enn das helvetische Direktorium oder die gesetzgebenden Bäte sein^
Luginbab], Fbilipp Albert Stapfer belvet. Minister d. Künste u. Wissensch. 683
bestgemeinten nnd woblttberdachten Vorschläge auf dem Gebiete der
Schale nnd der Kirche nnberttcksichtigt ließen, oder gar zurückwiesen.
Denjenigen, welche sich fttr das Erziehnngswesen in der Schweiz zur
Zeit der helvetischen Republik interessieren, empfehlen wir die Bek-
toratsrede, welche Dr. Eduard Herzog am 15. Novbr. 1884 anläßlich
des Stiftungsfestes der Berner Hochschule gehalten hat. Dieselbe
ist unter dem Titel : »Ueber Religionsfreiheit in der helyetischen Re-
publik« bei K. J. Wyß in Bern 1884 erschienen. Dr. Herzog spricht
mit vieler Anerkennung von Stapfer, als Kultusminister namentlich,
und hat ein feines Verständnis für dessen ganzes Wesen. Rück-
sichtlich des ersten Abschnitts dieses III. Kapitels (S. 46 ff.), wo von
einer diplomatischen Mission gesprochen wird, welche Stapfer im
April 1798 durch die provisorische Regierung von Bern als Sekretär
des Bürgers Friedrich Lttthard nach Paris anvertraut worden ist,
erlauben wir uns indessen eine thatsächliche Berichtigung. Lüthard
und Stapfer sollten einige Erleichterungen ftlr den Kanton Bern beim
französischen Direktorium erbitten, die vergeblich bei den Qeneralen
Brune und Schauenburg, die seit dem 5. März 1798 Bern mit ihren
Armeen besetzt hielten, nachgesucht worden waren und welche auch
die französischen Regierungs-Kommissäre Le Carlier und Rapinat^)
nicht hatten zugestehn wollen. Stapfer war damals Professor der
Philologie an der Akademie in Bern ^) Wenn der Biograph Stapfers
bei diesem Anlasse (S. 47) bemerkt, Stapfer habe , obschon nun
Sekretär bei dieser Mission, nach den Akten zu schließen, die Haupt-
sache besorgt, ja er sei (S. 52) das Haupt der Deputation gewesen,
— so irrt er sich vollständig.
Der alleinige Unterhändler des berühmten Vertrags
vom 8. Floral an 6 (27. April 1798) war Gottlieb Abraham Jenner,
welcher am 26. März 1798 durch General Brune in Begleitung seines
Adjutanten Capitaine Guillemot mit den bernischen Wertschriften
und dem sogenannten »Schatzi-Buchec nach Paris gesandt worden
war, ohne daß er von Seiten seiner Landes-Regierung irgend
welchen diplomatischen Charakter erhalten hätte"). Dieses erhellt
1) Der Name Rapinats ist in der Schweiz durch einen Vers verewigt worden
Derselbe lautet:
ün hon Suisse qu'on ruine
Voudrait que Von d^däM
8% Bapi/ncd vieni de rapine
Oü rapine de Bapinat.
2) In seiner Inanguralrede am 13. Nov. 1792 hat Stapfer das Studium der
Klassiker in fiberzeugender Weise empfohlen. Dieselbe ist seinerzeit gedruckt
worden.
8) Brune schrieb am 5. terminal an 6 (26 März 1798) an das französische
47*
684 Oött gel. Anz. 1887. Kr. 18.
dentiioh Mm dem Schreiben , welcbee Talleyraod am 9. Flor6al aa
6 aa den »Citoyen Am£d6e Jennerc gerichtet hatte, also
lautend: »Je n'ai entenda rien changer ii ce qni a ite conyenn dana
la conference qoi a en lien entre le minietre des finances, vous et
moi*).^ Ja wir dürfen, gestützt aof Jenners Memoiren, beifügen, daft
Lüthard and Stapfer den Vertrag, darcb welchen Wertschriften im
Betrag von beiläufig 12 Millionen gegen eine Baarzahlong von 4
Millionen Liyres gerettet worden sind, gar nicht kannten, bevor sie
denselben unterzeichneten, und daft sie eben so wenig die Absichten
kannten, welche Jenner rücksichtlich der dnrch ihn geretteten und
in seinen Händen liegenden Wertschriften hegte. Daft aber die bei-
den Abgesandten der provisorischen Regierung von Bern mit den
Verrichtungen des sie in ihren Bestrebungen' so wirksam unter-
stützenden Jenner wohl zufrieden waren, erhellt aus d«n Zeugnis,
welches Stapfer am 9. Florial an 6 (28. April 1798) in einem Briefe
an seinen Freund Albert Bengger, Minister des Innern der helveti-
schen Bepublik, ausgestellt hat, und welcher lautet (St 63): »Mit
Jenner sind wir auierordcDtlich zufrieden. Er ist ein impayabler
Mann, und das helvetische Direktorium könnte unserem Vaterlande
keinen wesentlicheren Dienst erweisen, als wenn es Jenner zum
Finanzminister erhöbe. Er steht mit Bamel besonders gut and hat
sich durch seine Einsichten und sein Benehmen Achtung erworben.€
Die Macht dieses sonderbaren nicht accreditierten Unterhändlers be-
stand in den Oeldmitteln, über welche er verfügte. Der Biograph
Stapfers, obschon er Jenner (auf S. 355) ab einen Mann von grofter
Begabung und politischem Scharfblick bezeichnet, scheint dennoeh
dessen Bedeutung nicht erkannt zu haben, was daraus zu sohlieften
ist, daß er ihn als den Neffen des berühmten Standes-Sekel*
meisters Beat Ferdinand Ludwig von Jenner bezeichnet, während man
Direktorium (nehe^Beilage B. N. 66a zamBeiielit der Mehrheit der Schatzgelder-
KommiftsionI S. I2ß, [Bero, Stärapfliscbe Baclidrackerei 1868.]): Gitoyens Direc-
teors : Je vous envoie tous les titres de cr^aaces que j'ai pu me procorer ; ils sont
tr^8 considerables et tous les titres formenton ddpot qae je fais conduire k Paris»
et que le capitaine Gaillemet mon aide de camp est charg^ de surveiüer et de
remettre k Paris, entre les mains, de qui vons proposerez. J'envMC en m6me
tems Pancien trdsorier oa directeur de la monnaie de Berne, actaellement com-
missaire des guerres g^n^ral da Canton de Berne. II se nomme Jenner.
n pourra vons donner tons les renseignemeats seit sur les cr^ances et les
moyens de les r^aliser, soit sur le numeraire quidxistait k la monnaye ou dans
le tr^sor.
1) Siehe Beilage a, S. 160 zn den Verhandlongen zwischen der Schweiz und
Frankreich betreffend Eriegskosten von Dr. v. Qonzenbach, abgedrackt im ArchiT
der Schweizerischen gesehichtsförschendea Gesellsohaft, Bd. X2X 1874*
LuginbOhl , Philipp Albert Stapfer helyet Minister d. Künste u. Wissensch. 685
diesen letztem eber den Oheim des bertthmten Neffen Gottlieb Abra-
ham von Jenner nennen könnte. — Dieser letztere, Oberwardein
und Oberkriegskommissär im Jahre 1798, helvetischer Gesandter in
Paris im Jahre 1800, helvetiseher Staatssekretär der auswärtigen
Angelegenheiten anno 1802, Mitglied der bernisehen Regierung 1803
nnd Regierungs-Statthalter in Pruntrut im Jahre 1815, war nämlich
yiel berühmter als sein Oheim, der Standes - Sekelmeister. Gottlieb
Abraham Jenner war schwerhörig und in seiner äußern Erscheinung
schwerfällig, so daß die mit ihm unterhandelnden Franzosen eher
glaubten, einen etwas unbeholfenen, als einen äusserst schlauen Un-
terhändler vor sich zu haben ^).
Das interessanteste und verdienstlichste Kapitel des vorliegenden
Buches ist das vierte mit der Ueberschrift : Stapfer als Schweizeri-
scher Gesandter in Paris 1800—1 803. Das interessanteste aus
dem Grunde, weil Stapfer während dieser Episode seines Lebens
aaf die große europäische Btthne getreten und mit welthistorischen
Persönlichkeiten, wie mit dem ersten Konsul Bonaparte und dessen Hini-
stern, in Berührung gekommen ist; das verdienstlichste und
fttr die Schweizerische Geschichtschreibnng wichtigste aber deß-
halb, weil der Verfasser in diesem Kapitel zeitgenössische Korrespon-
denzen verwertet hat, welche bis dahin unbekannt geblieben waren *).
Durch diese Korrespondenzen wird ein neues Licht auf wichtige
Zeitereignisse geworfen, auch sind dieselben fttr eine richtige Beur-
teilung Stapfers von großem Werte. Wir rechnen dazu namentlich
die Korrespondenz Stapfers mit dem zttrcherischen Staats -Rate Dr.
Paul Usteri und mit Friedrich Caesar de Laharpe, dem bertthmten
Erzieher Kaiser Alexanders L von Rußland, der in den Jahren
1798—1800 Mitglied des helvetischen Vollziehungs-Direktoriums ge-
wesen ist. Bei Durchforschung der offiziellen Korrespondenz Stapfers
mit dem helvetischen Yollziehungs-Direktorium und bei deren Ver-
1) Erst nachdem die französischen Regierungs-Eommissäre in Helvetien (Le
Garlier und Rapinat) darauf drangen, den Vertrag vom 8. Formal an 6 als einen
för Franirreich sehr ungünstigen nicht zu genehmigen, erkannte Talleyrand, dessen
Willfährigkeit übrigens unter Beistimmung Lüthards und Stapfers durch Jenner
mittelst einer Million erkauft worden war, vielleicht zu nachgiebig gewesen zu
sein und äuSerte bei diesem Anlaß gegen Jenner : »Je donnerais un million pour
avoir l'air aussi niais que yous.«
2) Aus dem schriftlichen Nachlasse P. A. Stapfers sind dem Verfasser durch
den Sohn Stapfers Herrn Albert Stapfer 160 Briefe an Friedrich Caesar de La-
harpes aus den Jahren 1800—1837 mitgeteilt worden, und ebenso hat alt Re*
gierungsrat Hagenbuch in Zürich dem Verfasser 157 Briefe Stapfers an P. Usteri
aus den Jakren 1800-1831 zur Benutzung überlassen.
686 Gott. gel. Adz. 1887. Nr. 18.
gleicbuDg mit den Korrespondenzen der Vorgänger und der Nach*
folger Stapfers auf dem Gesandtschaftsposten in Paris , ist der Ver-
fasser za der Ansieht gelangt. Stapfer sei ein gewandter Diplomat
gewesen.
Dies ist ein Irrtam; Stapfer schrieb allerdings vortrefiTlichi aber
zum Diplomaten fehlten ihm Kaltblütigkeit und rahiges Urteil.
Stapfer war nämlich sehr impressionabel and ängstlich ^) ; flberdieft
scheint ihm alle and jede Menschenkenntnis abgegangen za sein.
Dieß letztere glaaben wir nicht schlagender als darch Hinweisang
aaf den uneigenntttzigen Vorschlag darthan za können, welchen
Stapfer für die Besetzung des Gesandtschafts-Postens in Paris dem
helvetischen Direktorium gemacht hat, als diese Behörde ihn zum
Gesandten ernannt hatte. Stapfer bat nämlich dem helvetischen
VoUziehangs-Direktorium geraten , den Banqaier Badolf Emmanuel
von Haller wegen seiner nahen Beziehangen zum ersten Konsul Bo-
naparte zum Gesandten in Paris zu ernennen. Unbegreiflicher Weise
hat der Verfasser diesen Bndolph Emmanuel v. Haller, Banquier
in Paris, mit dem Professor Karl Ludwig v. Haller dem sogenannten
»Bestaurator der Staats-Wissenschaften € verwechselt^ Ersterer, der
zweite Sohn des großen Haller, Professor in Göttingen, geboren 1747,
gestorben 1833, war Banquier in Paris und hatte 1793 den jttngern
Bobespierre als General-Schatzmeister zur Alpenarmee und 1796 den
General Bonaparte als Eintreiber der Kontributionen (administratear
des finances) zur italienischen Armee begleitet Von dieser Zeit her
datierte die exceptionelle Stellung, welche Haller dem ersten Konsul
1) Talleyrand hielt ihm wiederholt seine Aengstlichkeit vor; so sagte er ihm
am 1. März 1802 (siehe Bonaparte Talleyrand et Stapfer 1800—1808 par Albert
Jahn, Dr. phil., Zürich, Orell Füssli 1869, S. 100) : »Bah, toiit $a sont des b^tises,
comment pouvez-vous y mettre quelque importance, vou^ etes constamment alarme
et voas affligez sans ndcdssit^ ; transqoillisez-voas, je vons en priec. Siehe ibid. S. 168.
Die Depesche Stapfers 8. Juli 1802, wo er schreibt: »Le ministre a ri de nos
craintes et m'a dit: ,Cdlmez, vous done; je n^ai jamais vupersoime cPaussiinguitt
que vaus,*
2) Um den Verwandtschaftsgrad zwischen diesen beiden Haller aofiuklftren,
sind wir genötigt, hier eine kurze genealogische Notiz über die Descendenz des
großen Haller einzufügen. Professor Albrecht von Haller inQöttingen (der groie
Haller genannt) hatte vier Söhne; der älteste geboren 1735, gestorben 1786, ist
der Verfasser der Bibliothek Schweizer Geschichte, dessen Sohn Karl Ludwig ron
Haller, geboren 1768, gestorben 1864, war Professor an der Akademie in Bern und Ver-
fasser der »Restauration der Staatswissenschaftenc ; derselbe ist im Jahre 1820
zur katholischen Religion übergetreten. Dieser Professor Karl Ludwig Haller
ist nie mit dem ersten Konsul Bonaparte in nähere Berührung gekommen. Der
zweite Sohn des groEen Haller, Banquier in Paris, hat im Jahre 1796 den Gene-
ral Bonaparte als »administrateur des finances« nach Italien begleitet.
Laglnbahl, Philipp Albert Stapfer helret. Minister d. Künste u. Wissenscb. 687
gegenttber einnahm, deren Stapfer in seiner Depesche vom 28. Sept.
1800 aus helvetische Direktorium Erwähnung thnt, and welche ihn
so sehr gehlendet hatte ^). Die Beziehnngen zwischen dem Generale
Bonaparte und seinem »administratenr des finances« waren indessen
mitunter sehr gespannte. So hatte BonapartQ am 19. Novbr. 1796 an
Qeneral Clarke geschrieben: »Je vous prie d'ordonner au citoyen
Haller, fripon qui n'est venu dans ce pays que pour voler, et qui
s'est ärigä »Intendant des finances, dans les pays conquis«, qu'il rende
compte. Clarke aber schrieb am 7. Dezember 1796 ans franz()sische
Direktorium: »Vous vonlez savoir en qnelles mains reposentles int6-
r6ts de la France en Italie, quelle est la cheville onvriöre, le facto-
tum de vos commissaires, qui veulent administrer^ et qui n'y enten-
dent rien ! C'est Haller, jadis Banquier, homme tar6 dans Topinion,
et pour lequel vous aviez marqu^ de la repugnance au citoyen Sali-
cetti, il est plus commissaire du gouvernement, que ceux qui sont
rev6tus de ce titre. On dit ici publiquement qu'il revolt des sommes
pour chaque ordonnance qu'il fait signer Garreau. Le G6näral Bona-
parte a 6ii sur le point de faire arreter Haller , mais il sait tous
nos secrets, et la confiance de noscommissaires pour lui est illimitie.«
Später scheint allerdings Bonaparte sein Urteil ttber Haller geändert
zu haben. Am 16. Mai 1800 ist der erste Konsul nämlich im Hause
Hallers in Lausanne abgestiegen, als er ttber den groBen St. Bern-
hard nach Marengo eilte. Die Oflfentliche Meinung ttber Haller, von
welchem Bonaparte einst gesagt hatte, er wäre fähig dem Papst den
Fischerring von der Hand zu ziehen und denselben als National-
eigentum ^u erklären, ist durch den Dichter Delille fixiert worden').
1) Siehe Jahn Ronaparte Tallejrrard et Stapfer S. 12. Stapfer schrieb am
28. Sept. 1800 deni Minister Bögos : »Mais ce qui est beaucoup plus que tout
cela, et absolument sans priz. Haller a son franc parier avec le Premier
Consul. II est constant que Bonaparte s'ouvre k lui plus qu'& aucun autre
des hahitn^s de son palais; que quand Haller entre, il quitte toutes les conver-
sations pour la sienne, et que notre compatriote a un plus libre accds aupr^s
de Bonaparte que Roederer et Yalney, qui passent pour avoir, apr^s Joseph
Bonaparte, le plus d'ascendant sur le premier Consul. Je r^p^te que cet avan-
tage est inappreciable .... parceque Bonaparte est toutc
2) In einem Gedicht über den groften Haller hatte Delille geschrieben:
Haller chantre divin frais camme vos campagnes
Dux comme voa vällons, fier camme voa mcntagnes
Et qui ne prMt pas, que son hymen un jour
Du cygne harmonieux ferait naitre un vautour.
Diese letztere Anspielung bezog sich wohl auf einen Erlafi Hallers vom 1. April
1797 welcher also lautete : Toutes les propiHis du Saint Phre, jusqu'ä sa cassette
privSe ses midailles, ses livres, ses manuscripts, ses collections de tout genre seront
vendues,*
688 Gott. gel. Anc. 1887. Nr. 18.
Dai Stapfer diesen Mann im September 1800 dem hetreliflehen Voll-
ziehangsrat zum Gesandten in Paris Torsehlagen konnte , sengt doeh
wohl fttr einen gänzlieben Mangel an Mensehenkenntnis.
Viel naefateiligere Folgen als an diesen Mangel an Mensehen-
kenntnis knttpften sieb wäbrend der Zeit, daft Stapfer den Gesandt-
sebaftsposten in Paris einnabm, an den Mangel an rnbigem Urteil,
der Stapfer trotz seiner groften Intelligenz eigen war, nnd dnreh
welcben er seine Vollmacbtgeber nnwillkUrlieb bänfig irre geftbrt
nnd sieb selbst nnd seinen politiseben Freunden bittere Enttäosebnngen
bereitet bat — Stapfer war nämlieb ein Optimist, der stets an die
E^fllllnng dessen glaubte, was er boflPte. Trotz aller ibm dareb den
ersten Eonsal seit seiner Antrittsaadienz im Jabre 1800 nnnnter-
brocben gemaebten Einwendungen gegen das Scbweizeriscbe Einbeita-
system bat Stapfer stets an der Ueberzeugung festgebalten, daft die
französiscbe Regierung dasselbe in der Sebweiz aufreebterbalten
werde^y und diese Znversiebt in unzäbligen D^>escben der belvetiseben
Regierung gegenttber ausgesprocben. Seine politiseben Freunde —
die Unitarier -^ lud er im Jabre 1802 dringend ein, zur Consulta
naeh Paris zu kommen, indem davon ibr Sieg abbängen werde*).
Die Foederalisten wollte er indessen aus dem Grunde nicbt von der
Teilnabme an der Consulta abhalten, damit dieselben nacbtrftg-
lieh üiebt erklären könnten, sie seien unterlegen, weil ibre Ansieht
niebt vertreten gewesen sei *).
Aber abgesehen von dem Mangel an gewissen Eigenschaften, die dem
1) Siehe Jahn, Bonaparte Talleyrand et Stapfer: a. Depeache Stapfera vom
7. März 1801 (S. 38) »La question de l'uniti ne daU pas meme etre rh>oquie en
doute<. b. Depesche vom 6. M&rz 1801 (S. 89) > Quant au Systeme de l'uniti .. ,\
ü est Habli ici par nos soins dans Fopinion des hcmmes d^Etat les pius edot-
r^<; c. Depesche vom 7. März 1801 (S. 40) »Jai eu avec Talleyrand une con^otr-
sation saHsfaisante su^r la question de l* unite* \ d) Depesche vom 4. April 1801
(S. 50) > Talleyrand me repondit trhs cathigoriquement que l'uniti aeroit une
des bases que le premier Consul approuverait*', e. ebenda (S. 218), Depesche vom
9. Okt. 1802 *Le gouvemement franQois ne peut ni ne veut souffrir le retaH^Ksse-
ment de Vanden rigime en Suisse* \ f. ebenda (S. 288). Ganz gleich sprach sich
Stapfer noch am 9. Dez. 1802 aus.
2) Am 2. u. 9. Oct. 1802 schrieb Stapfer an Rengger: »Es ist höchst wich-
tig, daB aufgeklärte f&hige rechtgesinute Männer sich nicht weigern hierher zn
kommenc. In ähnlichem Sinne hat er an Usteri geschrieben, der am 10. Kovbr.
zu kommen versprach (8. 425).
8) Am 18. Novbr, 1802 (siehe Jahn S. 219) schrieb SUpfer: Le citayen
TaUeyrand vous a demandi si Mr de Mülinen viwdraüt c^est une MOut^eUe preune
que le gouvememmt frangais disire beaucoup de voir au congrhs des odMnns
de Vanden rigime, aßn que ce parti ne puisse pas dans la suiU se pHaindre de
n'avoir pas eu des reprisentants ä Faris,
Lttginbüh], Philipp Albert Stapfer helret. Minister d. Künste n. Wissensch. 689
Diplomaten unentbehrlich sind, hatte Stapfer überdies Gewohnheiten,
die für den Diplomaten gefährlich werden können. Wir zählen da-
hin die Gewohnheit viel zu schreiben; das viele Schreiben war
doppelt gefährlich ftlr einen Mann, der das Bedttrfnis hatte, sich beim
Schreiben denjenigen, an welche seine Briefe gerichtet waren, mög-
liehst zu assimilieren. Diplomaten sind in der Regel im Schreiben
vorsichtig — in der Erinnernng , daß „scripta manent" *). Zu die-
sen vorsichtigen Diplomaten gehörte Stapfer aber nicht, er schrieb
nicht nur sehr viel , sondern er trachtete auch jeweilen den Ton zu
treffen , der seinem Korrespondenten angenehm sein konnte. Daher
schrieb er an seine verschiedenen Korrespondenten über denselben
Gegenstand sehr verschieden. Wie weit diese Verschiedenheit gehn
konnte, soll hier an zwei Beispielen gezeigt werden. In Privat-
Briefen urteilte Stapfer zuweilen so hart ttber Talleyrand, daß
der Herausgeber vom Briefwechsel Renggers Anstand nahm, ein-
zelne Briefe zu pnblicieren. Dies hinderte Stapfer aber nicht am 13.
April 1802') an den Minister direkt zu schreiben wie folgt: »Je me
filiciterai, citoyen ministre, et m' honorerai toute ma vie, d'avoir 6t6
en rapports avec vous ; vous qui avez porta les Inmiires et Turbanitö
de Tancien regime dans le nouveau, vous qui avez prouvä, que tons
les rteultats du perfectionnement social et la culture des premiers
rangs de la society pouvaient s'allier parfaitement k des principes
populaires, principes qui aux ämes faibles avaient d'abord fait
craindre le döbordement de la rusticity, la ruine des arts, et la dis-
parition des fieurs de la civilisation sous le souffle barbare, d'un nou-
veau genre de fanatisme.c Am 6. Mai 1801 hat Stapfer, nachdem
er an üsteri in Ztlrich (welcher von allen seinen Schweizer Korre-
spondenten der leidenschaftlichste war) über eine Audienz Bericht
erstattet , die er samt Glayf e in Malmaison beim ersten Konsul hatte,
welchen Usteri den »sterblichen Gott« zu nennen pflegte, und dann
wörtlich beigefügt (siehe S. 369): »Glauben sie wohl im Ernste, daß
Bonaparte, wenn wir ihn beim Wort genommen hätten , sein in der
Hitze und ohne Ueberlegung gethanes Anerbieten (Zurtlckztehung der
Trnppen) nicht sogleich zurückgenommen oder auf gut korsikaniscb
modificiert hätte? Er selbst ist Verfasser des ersten monstruosen
Entwurfs und bat sich in den Kopf gesetzt die Hauptidee desselben
zu realisieren. Ueberhapt müssen Sie wissen, mein verehrungswfir-
diger Freund, daß der Kerl toll ist, daß er sehr oft unbedacht-
sam spricht und solche Aeußerungen wie jene in seinem Munde so
1) Siehe Leben und Briefirechsel von Albrecht Rengger von Ferdinand Wydler.
Zarich 1847. Torrede S. IV.
2) Siehe M^anges de Stapfer publik par Yinet Tome I , page LIX— -LXIV.
690 Gott. gel. Ads. 1887. Nr. 18.
gat wie nichts sind. Hingegen besteht er mit rasender Hartnäckigkeit
aaf vorgefaßten Ideen, zn diesen gehört nun anstreitig der Foedera-
lismas in der Schweizc u. s. w.t Am 13. April 1802 dagegen schrieb
Stapfer über denselben ersten Eonsal Bonaparte an Talleyrand (siehe
S. 410): »La gloire da premier Gonsal rempiit le globe! Depais les
grands hommes de Tantiquite, il est le premier aoqael on poisse ap-
pliquer ce qae le Gonsal Romain a dit de denx de ses plos illostres
contemporains : Tanta est eorum gloria, at coelo vix capi posse tI-
deatur.c
Noch einer anderen für einen Diplomaten gefährlicheren Gre-
wohnheit Stapfers haben wir za gedenken, welche ihm viel Leid
bereitet hat, derjenigen nämlich, gleich unter dem ersten Eindrack za
schreiben, was bei so großer Sensibilität, wie sie Stapfer eigen war,
fUr ihn doppelt gefährlich werden maßte. Eine solche Eile in Be-
antwortang einer Note hatte Stapfen z. B. am 27. März 1802 be-
thätigt, als er auf die Mitteilung Talleyrands vom 26. März 1802,
dahin gehend, daß der erste Konsul das Wallis, zwar als »anab-
hängiges Land«, aber nicht als Glie d der Schweiz aner-
kennen werde, sofort von sich ans antwortete und dabei bemerkte:
»Je manquerais k tons mes devoirs, si j'attendais de noavelles in-
structions de mon gouvernement, pour r^pondre k la lettre que vons
m'avez fait Thonneur de m'adresser , sous date du 4 germinal
an 10.« Diese Einleitung kann gleichsam als eine Illastration des
Bates gelten, welchen Talleyrand seinen Diplomaten mit auf den
Weg zu geben pflegte, indem er denselben »avant tout pas trop de
z61e« empfahl. Auch ist die Strafe für diesen zu großen Eifer nicht
ausgeblieben ; am 12. April meldete Talleyrand dem helvetischen
Gesandten, der erste Konsul fühle sich durch sein letztes Schreiben
persönlich verletzt und betrachte es als eine Heransforderung von
seiner Seite, die keinen andern Zweck gehabt habe, als
sich persönlich bei der Majorität des Senats eine
günstige Stel lang zu machen. »Es war unnötig, c fogt
Talleyrand bei, »von Ihnen aus mit solcher Bitterkeit zu antwor-
ten. Sie hatten mein Schreiben Ihrer Begierung mit-
zuteilen und deren Befehle zu gewärtigen.«
Noch haben wir einen andern Vorwurf zn berühren, welcher
Stapfer, als Gesandten in Paris, gemacht worden ist, zumal die Ver-
teidigung , die sein Biograph diesfalls in der Note zu S. 398 ver-
sucht hat, kaum als eine befriedigende angesehen werden kann.
Professor Friedrich von Wyß^ hat nämlich in seinem kürzlich heraas-
gegebenen »Leben der beiden zürcherischen Bürgermeister David voo
Laginbü>\ Philipp Albert Stapfer helvet. Minister d. Künste u. Wissensch. 691
Wyß *)< darauf aufmerksam gemacht, daß Stapfer, der in seinem
offi ei eilen Schreiben die Veränderung vom 28. Oktober 1801
beglückwünscht, am 6. Dezbr. gl. Jahres seinem Freunde
Albrecht Rengger in feindlichem Sinne sowohl über den 28. Oktbr.
als über den ersten Landamann Aloys v. Reding geschrieben hatte.
Der Biograph Stapfers glaubt nun diesen letztern gegen den Vor-
wurf der Doppelzüngigkeit, den Wyß zwar nicht ausgesprochen, wohl
aber angedeutet bat, dadurch zu verteidigen *) , [daß Stapfer vom
3. Nov. bis 6. Dez. durch die Ereignisse, namentlich durch die am
21. Novbr. getroffenen einseitigen Wahlen in den kleinen Rat, vom
Gedanken und der Hoffnung, daß die neue Regierung eine Fusion
aller Parteien anstrebe, abgebracht und vom diametralen Gegenteil
überzeugt worden sei. Wenn man nun seine Note vom 1. Dez., in
der er von dem schlimmen Eindrucke spricht, den jene Wahlen und die
Absetzungen in Frankreich hervorgerufen, mit dem genannten Briefe
vergleiche, wo er eine Gegenrevolution in Redings Abwesenheit an-
rätb, so müsse der Vorwurf der Doppelzüngigkeit
fallen. Auch in Bezug auf das Verhältnis Stapfers zu Reding
kann, nach der Ansicht des Biographen, Stapfer auch nicht im
Geringsten ein Vorwurf treffen, indem da wo er in seinen
officiellen Schreiben Reding lobe, ja bewundere, dieß keine Ver-
stellung, sondern Ausdruck seiner innern Ueberzeugung sei, während
er am 28.' Juni 1802 an seinen Gesinnungsgenossen Müller-Friedberg
dann geschrieben habe : » J'avone que je m'^tais entiörement tromp6
snr son compte (de Reding). Je lui ai suppose plus de moyens, et
plus de vues liberales qu'il n'en a d6veloppä.< — Zu besserem Ver
ständnis wollen wir nun zunächst anfahren, worin der Staatsstreich
vom 28. Okt. 1801 bestand, und sodann durch wörtliche Auszüge aus
den Depeschen Stapfers, welche wir um allen Irrtum zu vermeiden
in der Ursprache einrücken, den Anteil auszumitteln trachten, wel-
chen S tapfer selbst an diesem Staatsstreiche vom 28. Okt. 1801 ge-
nommen hat. Dem Leser wollen wir es dann überlassen, für das
Benehmen Stapfers einen Namen zu finden. Auch über die Persön-
keii Aloys von Redings werden wir einige aufklärende Notizen bei-
fügen. Wir zögen es bei weitem vor, einem Manne wie Stapfer
gegenüber, den am Schlüsse seines Lebens an der Spitze der Huge-
notten in Frankreich beinahe ein Heiligenschein umgab'), der Vor-
1) Siehe Lehen der beiden zarcherischen Bürgermeister David v. WyS. Zürich,
S. Höhr 1884, Bd. I S. 864.
2) Siehe Phil. Alb. Stapfer von Rudolph Luginbühl S. 398 Note.
8) Einer der tiefsten Denker, welche die Schweiz hervorgebracht, Alexandre
Vinet, betrachtete sich selbst gleichsam als ein Pfropfreis vom Baume Stapfers«
692 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 18.
Bohrift >de mortals nihil nisi benec za folgen, wenn nicht das be-
zttglicbe Auftreten Stapfers bereits der Geschichtschreibang anhebn
gefallen wäre. Unter solchen Umständen scheint es Pflicht zu sein.
Stapfer selbst sprechen za lassen ttber den Staatsstreich vom 28.
Okt. 1801 sowohl als ttber Reding, da zwischen diesen letztern and deooi
Datom des 28. Okt. 1801 eine nnaaflösliche Wechselwirkang be-
steht. Gegenüber der vom Biographen versachten Verteidigang dee
Widersprachs zwischen der officiellen Korrespondenz Stapfers und
seinen Privatbriefen rttcksichtlich des 28. Okt. 1801 und Aloys von
Redings werden wir sodann eine andere Erklärung versuchen.
1) Welches Ereignis in dem kurzen Leben der helvetischen Re-
publik bezeichnet man mit seinem Datum vom 28. Okt 1801 ?
Anfang Mai 1801 hatte Alb. Rengger den von Bonaparte den
Gesandten Glayre und Stapfer ttbergebeneu sogenannten Entworf
von Malmaison nach Bern gebracht. Dieser Entwurf ist am 29. Mai
von den gesetzgebenden Räten angenommen worden, und wird da-
her häufig als die Verfassang vom 29. Mai bezeichnet. Am 1. Aug.
1801 wählten die in dieser Verfassang vorgesehenen Kantonal-Tag-
Satzungen ihre Abgeordneten an die helvetische Tagsatzung, die
ihrerseits am 7. Sept. 1801 in Bern zusammentrat Die helvetische
Tagsatzung wollte diejenigen Kantons-Abgeordneten nicht anerken-
nen, deren Vollmachtgeber nicht den Eid auf die Verfassang vom
29. Mai 1801 geleistet hatten, was den Ausschluß der Abgeordneten
von Uri (MttUer) und von Schwyz (Aloys von Reding) zur Folge
hatte. Der Deputierte von Unterwaiden von Fltte nahm sodann freiwillig
auch seinen Austritt, um sich von den beiden anderen Urkantonen nicht
zu trennen , obschon in Unterwaiden der Eid geleistet worden war.
Dem Austritt der Abgeordneten von Uri, Schwyz und Unter walden
folgte bald derjenige der 13 anderen foederalistisch gesinnten Ab-
geordneten. Die helvetische Tagsatzung ließ sich indessen dadurch
nicht stören und brachte am 24. Okt 1801 ihre Beratungen ttber den
Verfassungsentwurf zum Abschlüsse.
2) Welches war nun die Stellung, welche Stapfer als Gesandter
den Beratungen der helvetischen Tagsatzung gegenüber eingenommen
hatte?
dem er das beste verdanke, was er je geleistet. Siehe A Yinet histoire de sa vie
et de ses onvrages par E. Rambert Lausanne O. Bride! 1876 pag. 127: »Yos
Berits Monsieur ont marqu^ dans ma vie (so schrieb Yinet an Stapfer); ils ont
pour moi jet^ nn nonveau jour sur ces v^rit^ attendrissantes et sublimes qae
le Christ nous a r^v^Iäes.« — Adolphe Monod, protestantischer Pfarrer in Paris,
schreibt (Choix de Lettres IL 276) : »La science de Stapfer est pour moi an
Snigme. Je ne puis coucevoir, ni comment un 6tre de mon espöee peut ap-
prendre tant de choses^ ni comment il les peut retenir.
Lnginb&h], Philipp Albert Stapfer helfet. Minister d. Künste u. Wissensch. 693
Am 9. Sept. IBOl schrieb er an den helvetisehea Minister der
aaswärtigen Angelegenheiten, Bögos ^) : „Je tfiche, k tout ävenement
de preparer ici ies esprits des goayernans k accaeillir les change-
ments qae la constitution pourroit sabir, sartoat, k Tavantage du
Systeme de Tunitö, aussi fayorables que possible.« Diese Aenderun-
gen im Sinne der Einheit erwartete Stapfer, weil die helvetische
Tagsatznng in ihrer groften Mehrheit ans Unitariern bestand.
Am 8. Okt. schrieb Stapfer an B^os^): »Le Premier Consul
me demanda, quelles nouvelles j'avais de Suisse? Je lui dis en
substance ce que j'avais appris des operations de la di6te, et ajoutai
que la paix glorieuse (d'Amiens) qu'il venait de conclure contribuefait
beauconp k r6tablir la tranquility en H^lyötie et k faciliter Ies
operations de la diäte. Et Berne? räpliqua-t-il ; on m'6crit qu'on
ya transferer le siöge du gouvernement ? Ayant röpondu que je
n'ayois rien encore appris de positif k cet ägard, le Premier Consul
observa , que c'etoit une modification peu essentielle du plan de con-
stitution.«
Am 16. Okt 1801 schrieb Stapfer an B^gos ') : » J'ai eu hier
ayec le ministre des relations exterieures une conyersation dont je
dois d'antant plus yous communiquer Ies traits saillants que son in-
tention a sans donte &i& que j'en instruise mon gouyernement ....
Qnant k la diete, il me dit qu'on yoyait ayec surprise une assemblie
qni n'existait que par le projet de constitution, et dont tout le pou-
voir se bornait k accepter ou k rejeter ce projet, s'arroger les
droits d'une assembiee Constituante, et decröter article par article une
organisation publique qui risquait de n'ayoir point d'ensemble.«
Am 20. Okt. schrieb Stapfer an den helyetischen Minister der
auswärtigen Angelegenheiten ^) : »Je ne dois pas yous dissimuler que
le ministre des relations exterieures temoigne k chaque fois que nous
nous yoyons un grand mecontentement des operations de la diete.
Le Premier Consul s'attendait k appendre que la diete aurait accepte
on rejete purement et simplement ce projet de constitution en yertu
dnqael seul elle existe. Si des modifications paraissaient absolument
D^essaires , on aurait desire ici quelles eussent ete faites pour ainsi
dire d'uu seul jet» dans un plan propose et adopte en masse.
Und am 24. Okt., am Tage, an welefaem die helyetische Tag-
aafaBOiig ihre Beratungen scUoA, achrieb Stapfer wieder ^) : »Je doia
1) Siehe Dr. Jahns Bonaparte Talleyrand und Stapfer S. 79.
2) Siehe ibid. S. 82.
8) Siehe ibid.
4) Siehe ibid. S. 88.
5) Siehe ibid. 84.
694 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 18.
voQS entreteDir eocore de Tefifet qn'a prodait ici la m^tamorpbose de
la diite en assembl^e constitnante. Le ministre Talleyrand cod-
tinne de s'en plaindre, et le Premier Gonsal parait la voir de trte
mauvais oeil.«
Im Hinblick auf diese wiederholten Warnungen Stapfers gegen
die Anmaßung der belvetischen Tagsatznng, als konstituierende Ver-
sammlung auftreten zu wollen, darf doch wohl angenommen werden,
daß er die Ereignisse, welche am 28. Oktober eintraten, mit vorbe-
reitet hat« Kaum war nämlich die aus den Beratungen der helve-
tischen Tagsatzung hervorgegangene Verfassung, welche im Grunde
niemanden befriedigte, angenommen worden, so traten in der Nacht
vom 27. auf den 28. Oktober unter dem Vorsitze des Tessiners Mar-
cacci 13 Mitglieder des gesetzgebenden Rates zusammen und Über-
trugen den drei Mitgliedern des Vollziehungsrates Dolder, jSavary
und Rüttimann provisorisch die alleinige Ausübung der vollziehen-
den Gewalt. Rüttimann verweigerte die Annahme des Auftrags^),
worauf Dolder und Savary die vollziehende Gewalt allein ansübten.
Nachdem sie sich der Httlfe des französischen Generals Montchoisy
und des Gehorsams der helvetischen Truppen, die unter das Kom-
mando des Generals Andermatt von Zug gestellt worden waren, ver-
sichert hatten, versammelten sich am Morgen des 28. Oktober 24
Mitglieder des gesetzgebenden Rats, und mit einer Mehrheit von 17
Stimmen wurde ein von Dolder und Savary vorgelegtes Gesetz an-
genommen, welches die helvetische Tagsatzung auflöste, ihre Arbei-
ten fdr nichtig erklärte, die Verfassung vom 29. Mai in Vollziehung
setzte und unverzflgliche Wahl des Senats, der wenigstens in 3 Mo-
naten die verfassungsgemäße Tagsatzung einzuberufen hätte, anord-
nete. Dolder und Savary ernannten sodann einen AusschuA von 5
Mitgliedern, der 25 Kandidaten vorschlug, die sogleich zu Senatoren
ernannt wurden. Die Wahlen fielen nicht ausschließlich, aber vor-
herrschend auf Mitglieder der foederalistischen Partei, namentlich
auf Mitglieder der Minderheit der Tagsatzung. Aus Bern warden
gewählt Frisching von Rttmligen und Bay, aus Zürich Fflßly und
Wyß, aus den Urkantonen Aloys Reding, Mttller und von Fltte. Den
Mitgliedern der Tagsatzung, die sich versammeln wollten, wurde der
Eintritt in den Saal verweigert, und mit einer Protestation von 11
Mitgliedern des gesetzgebenden Rats und 43 der Tagsatzung been-
digte sich ohne weitere Gewaltthat der Umschwung, dem das Volk
ohne viel Teilnahme zusah. In Vollziehung gesetzt wurde derselbe
1) Siehe Leben der beiden Burgermeister David von WyB I Band Zürich
1884. S. 882.
LaginbuliT, Philipp Albert Stapfer helvet. Minister d. Künste u. Wissensch. 695
in erster Linie durch den französischen Gesandten Verninac^) and
den französischen General Montchoisy.
Es ist nun zur Beurteilung des Benehmens Stapfers von Wich-
tigkeit zu erforschen , wie er die Nachricht Yon dem erfolgten
Staatsstreich aufgenommen hat. Weit entferot über die gewaltsame
Auflösung der Tagsatzung und der Nichtig-Erklärung ihrer Be-
schlttsse verstimmt zu sein, schreibt Stapfer schon am 3. Nov. an
den Minister B6gos') »Etant intimement convaincu que la disso-
lution de la diite Constituante, et Tanni hi lation des ses
operations anarchiqnes et factieuses, ^tait un grand bienfait
pour la Suisse, que le projet de code constitutionnel du 29. Mai
ätait le senl point de ralliement qui rest&t aux amis de la patrie
pour la sauver de la plus affrense anarchic, et que les choses in-
d6pendamment du m^rite et des qualit6s recomman-
dables des s^nateurs, qui paraissent, antant que j'en puis juger
k cette distance et aprfes dix huit mois d'absence de mon pays,
devoir inspirer la plus grande confiance mettre un
terme aux malheureuses scissions qui mena^aient les plus chers in-
terSts de la r^publique et ^teindro toutes les haines en r^unissant
tous les partis et en ressuscitant toutes les espörances Hen*
rensement que la sagesse de ceux qui ont dirigö le
moQvement, nous a fait sortir du labyrinthe sans avoir recours
k la cooperation immediate de Tötranger, et quelque soit le change-
ment que la journ6e du 28 October amöne dans ma position, jene
puis qu'en bien augurer pour mon pays, et jepuisdire
avec v6rite que je la crois aussi salutaire dans les
effets qu'elle a m nöcessaire dans les circonstances
0Ü nons nous sommes trouvest. Ebenso anerkennend schrieb Stapfer
am 5. November 1801 »Ce que je me suis plu jt faire ressortir jusqa'ici
dans cette revolution est l"* la fin d'une scission d^sastreuse . . . •
2^ la fusion de tous les systömes et de tons les partis C'est
ce dernier räsultat surtont qui a fait une bonne impression , puisque
le Premier Consul I'a eu particulierement en vue en France et dans
tous les pays rävolutionnes« ').
Am 21. November 1801 nahmen die Befugnisse des provisori-
schen Vollziehungsrats ihr Ende, indem der Senat zu der Bestellung
1) Siehe Wyi, die beiden ßürgermeister v. WyB Bd. I, S. 880. Dieftbach
schreibt am 28. Oktober an WyB : >yeminac s'est mis en töte de faire dissondre
la di^te. II est all^ chez Dolder et lui a dit: Sacre Dieu 11 faut que cela finisse
f . . t . . . ne voulez tous done rien faire ?c.
2) Siehe Jahn am angeführten Ort S. 86, und LuginbOhl SUpfer S. 889.
8) Siehe 8. 890 und Jahn a. a. 0. S. 87.
696 Gott. gel. Ans. 1887. Nr. 18.
des »kleinen Rates« schritt, welcher gemäA Verfassung vom 29. Mai
(Titel III) aas vier Senatoren bestehn sollte, unter welchen der erste
Landamann den Vorsitz fUhrt. Der Landamann bat auch die aus-
wärtigen Geschäfte zn fahren, auch ernennt er die diplomatisohea
Agenten ^)
Am 21. November 1801 ist der kleine Rat sodann ans folgen-
den Mitgliedern bestellt worden: Aloys Reding erster Landamann,
Frisching zweiter Landamann^), Dolder, Hirzel, Olntz nnd Lanther.
Der Gesandte Stapfer in Paris stand daher seit dem 21. November
unmittelbar unter dem ersten Landamann Aloys Reding, welchem es
zQStand, die diplomatischen Agenten zn ernennen. Welche Haltung
nahm nun Stapfer den neuen Behörden und seinem neu^i Chef,
dem ersten Landamann, gegentlber ein?
Am 21. November, also am Tage der Ernennung des kleineo
Rats, schrieb Stapfer*): on voit assez gän^ralement dans le 28 Oe*
tobre le 18 Brnmaire de l'Hälvätie, c'est une expression dont je me
suis toujours servi de präf6rence, parceque eile m'a parn reveiller les
idäes et les espörances les plus flatteuses et les plus fond^ daas la
nature des cboses. La magie des mots est graade partout; et par-
ticuliirement en France od la grande mobility et la yivaciti des
Esprits donnent k une expression bien tronvii la plus gründe in-
fluence snr Topinion publique, et oü un terme heureux parvient soo-
vent 4 la fixer irrövocablemeni II me semble que le m6me rappro-
chement devait produire un hon effet en Suisse« Du moins id je
Vai employ^ avec snccte«. Am 23. November 1801 schrieb Stapfer
an den Minister B6gos^) >on augure toujours bien des r^
sttltats du 28 Octobre mais on troufe que le nouveau gouveme-
ment s'organise lentement, et on slmpatiente d'apprendre les nomi-
nations des Landamanns et des oonseillers ainsi que Las menureB
que ces magistrats prendront tout de suite, pour metlre fin k Tanar-
ohie et pri^venir la dissolution de la ripubliqae h^lvitique«. Bia
/ dabin ist Stapfer Ober den 28. Oktober und den sich daran kniffen-
den Erfolg voller Hoffnung! In einer Depesche vom 27. Ndvamber
1801^) äußert Stapfer Besorgnis darüber, daA der ecste Konsul im
Corps l^slatif sich darüber beschwert habe, daft in Helvetien seine
1) Siehe Oeffentliche Vorlesungen über die Helvetik von Dr. Karl Hilty 760.
2) Der Senat hatte unter seinen Mitgliedern zwei Landam&nner zu wählen,
die 10 Jahre im Amt blieben. Die Laadaminner führen wechselweise jeder 1 Jahr
lang den Vorsitz im Senate. Deijenige, weleher nicht in Aktivitftt ist, ist der
Statthalter des andern im Falle von Krankheit oder Abwesenheit
8) Siehe Dr. Jahn Bonaparte Talleyrand et Sti^^ 8. 88.
4) Siehe Dr. Jahn ibid. S. 89.
6) Siehe Dr. Jahn ibid. S. 90.
Luginbühl, Philipp Abert Stapfer helvet. Minister d. EüiiBte u. Wissensch. 697
gnten Räte (conseils salataires) so wenig berttcksichtigt worden
seien. Es konnte sich dies aaf die einseitigen Wahlen in den Senat
and in den kleinen Bat beziehen, die damals in Paris bekannt sein
maßten. Aber Stapfer fügt bei: »II y a liea d'esp^rer qae la sa-
gesse de notre goavernement aetael et son empressement k
realiser la constitation qae Bonaparte croit adapts k vos besoins
.... ramöneront pea k pen le h^ros k des sentimens de bienveil-
lance plos prononcte envers les aatorit^ de TH^Ivötie«. Stapfer
selbst ist somit darch die Wahlen vom 21. November noch nicht
verstimmt. Am 1. December bemerkt er in der ersten Depesche,
die er an den neabestellten Staatssekretär Thormann') richtete: »Je
dois voas pr^venir citoyen s6crätaire d'itat qae toas les membres da
goavernement fran^ais me parlent sans cesse de la fasion si necäs-
saire des hommes de toas les partis; et qa'ils paraissent ne pas
troaver dans les nominations faites en Saisse poar chaqae classe
sociale cette garantie de ses int^rSts contre les p^ventions oü les
empi^temens des aatres« etc. etc. »Qaant k moi (so schließt Stapfer
seine Depesche) »je dis partoat qae je snis fier de voir k
la tgte de ma nation Thomme, qai le dernier a döfen-
da son independance contre Tetranger, et les mem-
bres da goavernement fran^ais sont assez jastes . . .
poar me tenir gre de ce langage«.
Aloys Reding Landshaaptmann von Schwyz hatte nämlich am
2. Mai 1798 mit 500 Schwyzern an der Schindellegi einen AngriflP
von 2000 Franzosen glttcklich abgeschlagen, war dann aber, weil
der Ezel von den Einsiedlern nicht gehalten worden war, genötigt
gewesen, sich aaf den »Rothentharm c zarückzaziehen, wo er Ver-
stärkang erhielt and Morgarten, welches die Franzosen schon besetzt
hatten, wieder im Starm nehmen ließ. Aach beim Rothentharm
zwang Reding mit 1200 Mann die ihn in großer Ueberzahl angrei-
fenden Franzosen zam Rtickzage. Da aber in der Zwischenzeit die
Franzosen über den Ezel nach Einsiedeln vorgedrangen waren, schien
die Stellang am Rothentharm nicht mehr haltbar, woraaf Reding^)
1) Siehe Dr. Jahn ibid. S. 90 a. 91.
2) Reding gehörte einem Geschlechte an, welches seit mehr als 400 Jahren
an der Spitze seines Volkes stand wad demselben in Krieg und Frieden schon
Tiele gute Dienste geleistet hatte. Im Jahre 1315 hatte der alte Rudolph Re-
ding von Bibereck durch seinen weisen Rat den Eidgenossen zu ihrem Sieg am
Morgarten (15. November 1815) über Herzog Leopold von Oestreich verholfen —
nnd jetzt mehr als 400 Jahre später stand wieder ein Reding an der Spitze sei-^
nee Volkes einem französischen Invasionsheere au derselben Stelle, am Morgar-
ten, gegenüber. Durch seine mutige Verteidigung hatte er wenigstens den Abzug
des feindlichen Heeres und die Erlaubnis für die 8 ürkantone erreicht, ihre
QHi, gel Abi. 1887. Nr. 18. 48
1
698 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 18.
vom französischen Obergeneral Schaaenbarg einen 24stttndigen Waf-
fenstillstand verlangte^ am die Frage ttber Krieg oder Frieden der
Landsgemeinde vorlegen zu können, die sich am 4. Mai in Schwyz
versammeln sollte. Schaaenbarg bewilligte folgende Friedensbe-
dingangen :
1) Versicherang der Unverletzbarkeit der katholischen Reli-
gion, falls
2) Annahme von Seite des Kantons der helvetischen Verfassang
binnen 24 Standen erfolge, während welcher die Franzosen nicht wei-
ter vorrücken werden.
3) Beibehaltang der Waffen and Befreiung von aller Brand-
schatzang, samt Abzag der französischen Trappen.
Nach langer ernster Beratang nahm das Volk diese ehrenvolle
Eapitalation an. Schaaenbarg hatte sich bereit erklärt, dieselben
Bedingangen aach aaf Uri and Unterwaiden ansdehnen za wollen,
wenn diese Kantone ihre Trappen zarttckziehen and dieselben Be-
dingangen annehmen wollten, was denn aach geschah. Worauf
Schaaenbarg seine Trappen wirklich zarttckgezogen hat.
Wie kam nan Stapfer, nachdem er den Staatsstreich vom
28. Oktober darcb seine wiederholten Andentangen, die helvetische
Tagsatzang habe die Verfassang vom 29. Mai nar anzunehmen oder
za verwerfen, nicht aber als konstituierende Versammlung etwas
daran za ändern, gleichsam provociert, and nachdem er densel-
ben später ausdrücklich gebilligt und seine Befriedigung
darüber aasgesprochen hatte, Aloys v. Beding an der Spitze der
Nation zu sehen, dazu, plötzlich seine Ansicht zu ändern und am
Waffen za behalten, während die ganze übrige Schweiz dieselben an den über-
mächtigen Feind hatte abliefern müssen. Von den 3 Brüdern Aloys von Re-
dings war der zweitjüngste Rudolph am 10. August 1792 in den Tuilerien ver-
wandet und am 2. September in der Gonci^rgerie grauenyoU ermordet worden.
Der älteste, Theodor, hat später im Jahre 1808 bei Baylen den Franzosen unter
General Dupon die erste groBe Niederlage beigebracht. General Castagnos, der
kommandierende spanische General ist zum Herzog v. Baylen ernannt worden.
Theodor v. Beding aber, der an seinen Wunden und dem Aerger darob, daft der
Sieg nicht besser ausgenutzt wurde, am Lazareth-Fieber starb, hat in der Ge-
schichte des spanischen Unabhängigkeitskrieges sich einen ehrenvollen Platz er-
worben. Als Kaiser Napoleon die Nachricht von der Niederlage bei Baylen er-
halten, soll er gesagt haben: faut il donctoujours que je rencontre an Reding
Bur mon chemin? Nazar, der Zweitälteste Bruder, war Generalleutnant in spani-
schen Diensten und Gouverneur der Insel Majorca. Aloys v. Reding, der jüngste
der 4 Brüder, hat die Ehre der schweizerischen Waffen den Franzosen gegenüber
an der Schindellegi und am Rothenthurm gerettet. Vorher war er Oberstleutnant
in spanischen Diensten gewesen.
Luginbuhl, Philipp Albert Stapfer helvet. Minister d. Künste a. Wissenscb. 699
6. December 1801 an seinen Freund Alb. Rengger zu schreiben:^)
»Durch Gambac6r£s, Fouch6, Bouriönne, selbst durch Talleyrand ist
Bonaparte von mir über die ganze Schändlichkeit des 28.
Oktober und die Tendenz des jetzigen Senats belehrt
worden? Er hat auch weder die Regierung anerkannt noch ir-
gend, (wenigstens jetzt), den Willen sie anzuerkennen. Nur zwei
Dinge sinds, die mich hier in Kummer setzen: erstlich der immer-
wiederkehrende Einwurf Talleyrands : „Woher kommt es doch, daß
der Erzrevolutionär Reinhard, Reding, Eulach, Dießbach, Thormann
u. s. w. für Freunde Frankreichs und für die einzigen hält, die der
Schweiz wieder Ruhe geben können'', und zweitens die Escapade
von Reding. Sie gefällt Bonaparte zuverlässig, wegen des Romati-
Bchen^ auch ist er schon lange für ihn als Helden eingenommen.
Das einzige Gute, was aus diesem Theaterstreich hervorgehn kann,
wäre eine neue Revolution in Redings Abwesenheit; allein dazu seid
ihr zu moralisch, zu wenig Revolutionsmänner! Wollet Ihr etwas
versuchen, so hat MarceP) Geld! Brauchts dazu, Ihr werdet euch
aber alle lieber, so wie ich euch kenne, einzeln und nach und nach
erwttrgen lassen als einen Versuch machen c
Am 7. December 1801, an welchem Tage der erste Landamann
der Schweiz begleitet von Dießbach von Carouge in Paris anlangte,
in der Absicht, sich mit dem ersten Konsul Bonaparte über die Ver-
hältnisse der helvetischen Republik zu der französischen, namentlich
mit Rücksicht auf Wallis zu verständigen, welches der erste Konsul
ganz oder teilweis von der Schweiz loszutrennen beabsichtigte, und
in Betreff der ehemals bischof-baselischen Lande, welche seit 1792
von französischen Truppen besetzt und seit 1793 teil weis der fran-
zösischen Republik einverleibt worden waren, berichtete Stapfer dem
Staatssekretär Thormann, der erste Konsul habe ihn Tags vorher,
.also am gleichen 6. December (an welchem Tage er an Rengger
geschrieben), nach dem Diner einer langen Unterredung gewttrdiget,
welche er dazu benutzt habe, Bonaparte eine möglichst gün-
stige Idee von den Tugenden und dem Charakter des
ersten Landamanns zu geben, um ihn dadurch zu bestimmen,
den Anliegen, welche dieser ihm vortragen werde, diejenige Aufmerk-
samkeit zu schenken, welche die helvetische Nation zu finden hoffe').
1) Siehe Leben und Briefwechsel Albert Renggers yon Ferdinand Wydler.
Aarau, Sauerländer Bd. U, S. 24.
2) Ein Waadtländiacher Finanzmann und Spekulant.
8) Siehe Bonaparte Talleyrand und Stapfer S. 92. Aprds dtner il (le prä-
mier consul) m'honora d'une longue conversation, dans laquelle je me plus k lui
donner la plus haute id^e possible des vertus et de l'änergie de notre
premier Landamann afin de Pengager It donner ä sa d-marche et aux demandes
48*
1
700 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 18.
Welches waren nao die wirklichen Gesinnungen Stapfers sei-
nem anmittelbaren Vorgesetzten, dem Landamann Aloys v. Reding
gegenüber? diejenigen, die er am 6. December in seinem Briefe an
Rengger äußerte, wo er dessen Reise nach Paris eine »Escapade«,
einen Theaterstreich, nannte, oder diejenige, welche er in seinem of-
ficiellen Schreiben vom 7. December 1801 an den Minister B^os
äußerte? Aufschluß darüber gibt auch die folgende Korrespondenz
Stapfers nicht, die sich in den gleichen Widersprüchen bewegt, je
nachdem Stapfer in officieller Stellung oder als Privatmann schreibt
Am Tage der Ankunft Rediogs in Paris am 7. December 1801 ') mel-
det Stapfer (nämlich seinem Freund Rengger) dem Minister Talley-
rand gesagt zu haben, in einer Lage wie die nach Abukir würden
Reding & Comp, die Oesterreicher zu Hülfe rufen ^) wie die Salis in
Bündten. Ja er wirft die Frage auf, ob Talleyrand, der bemerkt
hatte, »qu'il serait charmä de voir Monsieur Reding« damit
nicht vielleicht habe andeuten wollen, daß er ihn nur als »Parti-
cular« sehen wolle? Noch feindlicher gegen den 28. Oktober und
Reding ist ein Brief dd. Paris 9. December, an Marcel gerichtet, aber
für Rengger bestimmt'), den der letztere durch Monod erhielt In
demselben schreibt Stapfer wörtlich: »On me r^itöre qu'en promet-
tant de Targent en cas de röussite vous avez celui qn'il vous faut
avoir« (damit will er wahrscheinlich Verninac den französischen
Gesandten bezeichnen). Dann fahrt er fort: »Geci ne partant que de-
main et les deux personnages arrives avant hier (Reding u. Dieß-
bach) allant ce soir chez le ministre des relations extärienres, si
fapprends ce qui y a eu Heu, je le joindrai (Stapfer besorgte daher
wahrscheinlich der Audienz gar nicht beiwohnen zu können); vous
pouvez @tre sür que leur plan est le r6tablissement des anciennes
limites du Canton de Berne, le rötabissement des privileges de la
bourgeoisie de la capitale avec quelques facilites pour Tadmisaion,
voili tout«. Nach der Audienz, bei welcher von alledem begreiflich
keine Rede war, schrieb Stapfer an Rengger: »La visite chez Talley-
qu*il lui adresserait toute Pattention que la nation h^lv^tiqne esp^re lai Toir
prdter. Le ministre des relations extärieares (Talleyrand) m'a dit qa'il serait
charmd de faire la connaissance d'on homme d'un aussi grand märite qae le
citoyen Beding.
1) Siehe Bd. 11, S. 26: Leben und Briefwechsel von Alhrecht Rengger, Mi-
nister der helvetischen Republik von Ferdinand Wydler. Zürich, Friedr. Schult-
heB 1847.
2) Es war dies eine sehr ungerechte Beschuldigung, denn in Stockach war eine
Schlacht wie bei Ahukir, welche die Oesterreicher sogar nach Zürich führte, ohne
daß Reding sie weiter ins Land gerufen hatte.
8) Siehe ibid. S. 27.
La^inbühl, Philipp Albert SUpfer heWet. Mioister d. Künste a. Widsensch. 701
rand a it& polie et voilä tont! on a dit qa'on chercherait k proca-
rer one aadience dans quelques jonrs! Ne serait-ce point poor
attendre ce qui se passe chez vous? raison de plus pour se häter,
courage done et cel^ritälc Somit fordert Stapfer, von der Audienz bei
Talleyrand zurückgekehrt, zu welcher er seinen unmittelbaren Vor-
gesetzten, den ersten Landamann der Schweiz, begleitet hatte, seinen
Freund Rengger abermals auf, den Sturz dieses seines Vor-
gesetzten möglichst zu beschleunigen^). Tags darauf,
am 10. December, drängt Stapfer in einem zweiten an Marcel adres-
sierten, aber an Rengger gerichteten Brief noch bestimmter auf
schnelles Handeln. Er schreibt: »Jeudi 10 decembre ä midi
Topinion etait que vraisemblablement Reding ne serait prösentä et
re^u par le Premier Consul que comme M' Reding . . . c'est ici le
moment d'agir, si Ton yeut et peut le faire, mais il n'j a pas de
temps k perdre«.
Nachdem wir die eine Hälfte dieser Stapferischen Korrespondenz
wörtlich angeführt haben, mag nun die andere Hälfte, d. h. seine
officielle Korrespondenz mit den betreffenden helvetischen Behörden,
in gleicher Weise folgen.
Am 11. December 1801 schrieb Stapfer an den Staatssekretär
Thormann ^): »Avant hier le ministre Talleyrand a re(u notre Pre-
mier Landamann et le citoyen Diessbach. II s*est engagä k ieur
procurer au premier jour une entrevue avec le Premier Consul; il
a assurä au citoyen Reding qu'il inspirait un grand intergt k Bona-
parte et que ce dernier serait charme de prendre de lui des renseigne-
mens exacts et d6tailles sur T^tat actuel de la Suisse«. »Voilä
done nos affaires en hon train, et nous avons lieu d'en
espärer un denouement aussi prompt que satisfai-
sant! J'aurai soin de vous tenir au courant du progrte de la n^-
gociation importante, dont le Premier Landamann a eu le courage
patriotique de secharger«. Die Vermutung Stapfers, Re-
ding durfte nur als Privatmann und nicht in seiner off ici eilen
Stellung empfangen werden, hatte sich somit nicht bestätiget, und in
Folge dessen veränderte sich sofort das Urteil des impressionabeln
Stapfers über die Bedeutung der Reise Redings: am 6. December
hatte er sie einen Theaterstreich genannt, während er dieselbe jetzt
als eine Handlung patriotischen Mutes bezeichnete. Noch aner-
1) Natürlich schrieb Stapfer so gefährliche Dinge nicht eigenhändig, aber
Marcel, an welchen der Brief adressiert war, konnte erraten, wer schrieb, und
für den Fall, daB dieser nicht anwesend wäre, konnte Rengger sich darauf ver-
lassen, daE »l'avisc ?on gutem Orte komme: siehe Wydler a. a. 0. S. 28.
2) Siehe Bonaparte Talleyrand Stapfer S. 92.
702 Qött. gel. Anz. 1887. Nr. 18.
kennender spricht sieh Stapfer in seiner Depesche vom 19. December
über den Entschlaß des ersten Landamanns aus, selbst nach Paris
zn kommen^). An diesem Tage schrieb Stapfer nämlich: >Le Pre-
mier Gonsnl a tena dans son entrevne avec le Premier Landamann
le propos, qo'il avait &i6 snr le point d'envoyer un coarier en
Suisse, pour dSsavoner tout ce qai ätait fait depais le 28 octobre,
lorsqa'il apprit le depart da citoyen Reding«. Dadurch erscheint
die so vielfach angefochtene Reise des ersten Landamanns nicht nur
als gerechtfertigt, sondern als zweck- und sachgemäß, zumal
Stapfer in derselben Depesche beiftigt, daß dieser Schritt des ersten
Landamanns Bonaparte sehr geschmeichelt habe und dafi
derselbe deshalb zuverlässig günstigen Erfolg haben werde.
(»La demarche du premier Landamann flatte infiniment Bona-
parte et am^nera certainement d'heureux r6sultats«.) Am 9. Ja-
nuar 1802 ist der erste Landamann Aloys von Reding wieder von
Paris abgereist und hat, wie dies Stapfer in seiner Depesche an
den Staatssekretär Thormann dd. Paris 10. Januar versichert, in
seiner Abschieds-Audienz vom ersten Konsul Bonaparte in Gegen-
wart des Herrn Hauterive (Stellvertreter Talleyrands) die Bestätigung
der Versprechen erhalten, welche ihm der erste Konsul bei seiner
ersten Vorstellung in Anwesenheit Talleyrands gemacht hatte. —
Stapfer bemerkt gleichzeitig, es könne im Hinblick auf diese wie-
derholten Erklärungen kein Zweifel darüber walten, daß nach er-
folgter Ergänzung des Senates durch 6 Mitglieder, worauf die fran-
zösische Regierung bestehe, die Schweiz den Rückzug der
französischen Truppen aus Helvetien, die Wieder-
herstellung ihrer Neutralität und die Rückgabe d er
bischof-Baselischen Gebietsteile erhalten werde in
Entsprechung der beiden Noten, welche der erste Landamann am
20. December 1801 dem Minister des Auswärtigen übergeben habe^).
Dies sind die ofBciellen und die Privat Korrespondenzen Stapfers
vom December 1801 über den Staatsstreich vom 28. Oktober 1801
und über die Reise des ersten Landamanns der Schweiz nach Paris,
welche den Professor v. Wyß veranlaßten auf den Widerspruch auf-
merksam zu machen, welcher zwischen der officiellen und der Pri-
vat-Korrespondenz Stapfers vorwalte'). Der Biograph Stapfers
äußert entschuldigend^), daß namentlich die einseitigen Wahlen
1) Siehe Bonaparte Talleyrand et Stapfer S. 93.
2) Siehe ibid. S. 94 u. 96.
8) Siehe Leben der beiden zürcherischen Bürgermeister Da?id von Wyi von
Fried, v. Wyß, Professor. Zürich 1884. Bd. I, S. 354.
4) Siehe Note zu S. 398.
Luginbahl, Philipp Albert Stapfer helvet. Minister d. Künste u. Wissensch. 703
vom 21. Nov. 1801 in den Senat and in den kleinen Rat Stapfer
die Hoffnang nehmen mußten, daß die neue Regierang eine Fasion
aller Parteien anstrebe, wodarch der Vorwarf der Doppelzüngigkeit
falle. Diese Erklärung stimmt indessen nicht mit den Daten von
Stapfers Briefen, denn am 29. November waren dem Gesandten in
Paris die Wahlen vom 21. November bekannt, and dennoch sprach
er an jenem Tage noch die Hoffnang aas >qae la sagesse de notre
goavernement (desjenigen vom 21. November) actael et son empres-
sement ä r^aliser la constitution que Bonaparte avait adapt6e k nos
besoins, ramfeneront le heros k des sentimens de bienveillance plus
prononcäs envers les autorit^s de THelv^tiec Auch rttcksichtlich des
Verhältnisses Stapfers zu Reding kann nach Ansicht seines Biogra-
phen Stapfer „im Geringsten kein Vorwurf treffenc, zu-
mal Stapfer am 28. Juni 1802 an Müller Friedberg geschrieben
habe: »J'avoue que je m'6tais entiferement trompe sur le compte de
Reding .... II est dans le fond un brave homme, mais je n'ai
decouvert que trop tard qu'il n'est rien par lui mgme, et que tout
son röle lui a £te souffle«. Diese Entschuldigung ist den Daten
gegenüber abermals nicht stichhaltig. Stapfer schlägt nämlich schon
am 6. December 1801 Rengger vor, Reding zu stürzen, bevor er
diesen kannte, während er am 17. December, nach der Audienz Re-
dings beim ersten Konsul, noch officiell schreibt^): »La d6marche du
Premier Landamann flatte infiniment Bonaparte et amfenera cer-
tainement d'heureux räsultats«. Die durch Stapfers Bio-
graphen versuchte Entschuldigung kann daher niemanden befriedi-
gen. Und doch ist es interessant zu untersuchen, wie ein Mann von
Stapfers Gehalt zu einer solchen Handlungsweise seinem unmittel-
baren Vorgesetzten gegenüber kommen konnte.
Wenn der Krieg »hart« und »unbarmherzig« macht, so
machen Revolutions-Zeiten die darin Verflochtenen häufig »gewis-
senlos«. »En tems de revolution le plus scel6rat est moi« hat
Danton gesagt, der darüber ein Urteil haben konnte ! Für zartbe-
saitete Naturen wie diejenige Stapfers sind solche Zeiten doppelt
gefährlich. Von allen Korrespondenten Stapfers in der Schweiz war
aber der bei weitem leidenschaftlichste der Senator Dr. Paul Usteri
von Zttrch, der durch den 28. Oktober 1801 seine öffentliche Stel-
lung einbüßte. Usteri schrieb am 2. November 1801 (S. 391) an
Stapfer über den 28. Oktober folgendes: »Die Berner wollten
ein abermaliges „Provisoire^' und den Sturz der Männer von aufge-
klärtem Republikanismus. Eine große Zahl von subalternen Schur-
ken wollten Schurkereien treiben, im Trüben fischen, Almosen durch
1) Siehe Dr. Jahns Bonaparte Talleyrand u. Stapfer S. 98.
704 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 18.
Verrath erkaufen! und die Zasammensetzang dieser aller schuf den
28. Oktober. Ihren Zweck haben die Fränkischen erreicht und die
Schurken«. Am 3. November 1801 schrieb Usteri an Stapfer ^) : »Wenn
gegenwärtig fflr die ganze Sache etwas gethan werden kann, so
können Sie allein ^ mein verehrter Freund, es thun, sei es , dafl Sie
an Ihrer Stelle bleiben, oder was viel wahrscheinlicher
ist, von derselben entfernt sind oder werden. Wenn
durch Aufklärung über Sachen oder Personen etwas bei der franzö-
sischen Regierung zu leisten ist, so können Sie das allein than,
und Ihre Freunde rechnen auf Sie«.
Am 6. November schrieb Usteri abermals an Stapfer: »Mit Un-
geduld warten Ihre Freunde auf Nachrichten von Ihnen. Vermuth-
lich heißt es nun in Paris: die Girondisten und Unitarier seien ge-
fallen und die Föderalisten an ihre Stelle getreten. Das ist auch in
der That wahr; nur sind neben und an der Spitze der Föderalisten
feile Schurken, „la queue de Rapinat'' ; die Hefe der Intrigan-
ten des Landes, die Berner Advocaten und Municipalisten ! Wird
Frankreich dieses letztere Raub- und Schelmengesindel
unterstützen, so wird die Folge sein, daB die rechtlichen Föderalisten
bald auch wieder abtreten, sei es nun gezwungen oder freiwillig.
Wird Frankreich die Föderalisten unterstützen und es ihnen möglich
machen, die Briganten von sich zu stoßen, dann sind die rechtlichen
Föderalisten Männer, die mit gespannten Segeln auf das alte los-
segeln, bis sie auf Klippen stoßen, an denen sie zuversichtlich schei-
tern^)«.
Am 1. December endlich schrieb Usteri aus Luzern an Stapfer:
»Ein junger wilder unwissender und unmoralischer Mensch, ein ge-
wisser Pfyffer, der unter Bachmann diente, und die Waffen gegen
sein Vaterland trug, ist in Luzern zum Censor ernannt. Ohne sein
Outheißen darf nichts gedruckt werden. Meyer, Rüttimann, Mohr,
ganz eigentlich die Zierde des cultivirten Helvetiens, sind einem sol-
chen Menschen unterworfen«').
Welchen Eindruck mußten diese leidenschaftlichen Briefe Usteris auf
das weiche Oemttt Stapfers machen ? Er sah daraus, daß seine Freunde,
die Unitarier in der Schweiz, den 28. Oktober, welchen er seinerseits
vorbereitet und dann freudig begrttßt hatte, verabscheuten.
Die Wahlen aber vom 21. November 1801 in den kleinen Rat muß-
ten ihn denn doch davon überzeugen, daß der kleine Rat ausschließ-
lich mit Föderalisten besetzt worden sei, als deren Repräsentant er
1) Siehe S. 892.
2) Siehe S. 892—93.
8) Siehe ibid. 898.
Lagitibühl, Philipp Albert Stapfer helvet. Minister d. Künste u. Wissenscb. 705
sich nicht fühlen konnte; daher er auch daran gedacht hatte, seine
Demission zn nehmen. Darcb Usteri erfahr nnn Stapfer, daß seine
Freunde nicht bezweifelten, er habe seine Entlassung bereits erhal-
ten (es ist allerdings davon die Rede gewesen, ihn darch Dieß-
bach za ersetzen). Stapfer war somit in Gefahr, entweder seine
Stelle zu verlieren, an welcher er sehr hieng, wenn er der neuen
Regierung Anlaß zn Mistrauen gebe, oder aber die Achtung seiner
Freunde der Unitarier einzubüßen, wenn er sich dem neuen Regi-
ment aufrichtig anschlösse. Das einzige Mittel, um sowohl seine
amtliche Stelle als die Achtung seiner Freunde sich zu bewahren,
konnte ihm ein neuer Staatsstreich bieten, ähnlich demjenigen vom
28. Oktober, aber diesmal durch die Qnitarier statt durch die Föde-
ralisten ausgeführt; daß ein solcher in Paris gut aufgenommen
wOrde, davon war er fest tiberzeugt. In dieser Stimmung
schrieb Stapfer seine Briefe vom 6. December an Rengger und vom
9. und 10. December an Marcel zu Händen Renggers, durch welche
er Rengger aufforderte, die Abwesenheit Redings zu dessen Sturz
nicht ungenutzt vorttbergehn zu lassen. In diesem Brief hatte er
ansdrtlcklich bemerkt, daß, wenn eine Revolution in einem andern
Sinne gegen den 28. Oktober gemacht worden wäre oder noch zu
Stande käme, so wttrde hier die Sache ungleich mehr Billigung er-
balten ').
Dies ist unsere Erklärung des Benehmens Stapfers, das wir
indessen in keiner Weise entschuldigen wollen! Denn einmal war
Reding gar nicht der willenlose Mann, als welchen Stapfer den-
selben in seiner Depesche an Mtlller Friedberg vom 28. Juni 1802
darstellte. Heinrich Zschokke, der als Regierungskommissär in Un-
terwaiden und den übrigen Urkantonen mit Aloys Reding in viel-
fache Berührung gekommen war, spricht in seinen »Denkwürdig-
keiten« bei verschiedenen Anlässen mit der größten Achtung und
Verehrung von ihm; so schreibt er z. B. in der Vorrede zum ersten
Band seiner »historischen Denkwürdigkeiten« ^ wörtlich: »Aloys Re-
ding wäre unter andern Verhältnissen ein Winkelried gewor-
den« ! Aber auch wenn der erste Landamann der Schweiz wirk-
lich so unselbständig gewesen wäre, wie Stapfer ihn darstellt, so
wäre die Handlungsweise des helvetischen Gesandten in Paris,
der am 9. Januar 1802, vor und nach der Audienz Redings bei
Talleyrand am Sturze seines Vorgesetzten arbeitete, eine unverant-
wortliche. Stapfer durfte unserer Ansicht nach die öffentliche
1) Siehe Wyher, Leben und Briefwechsel Renggers Bd. II. S. 25.
2) Siehe historische Denkwürdigkeiten der helvetischen Staatsumwftlzuog von
Heinrich Zschokke. Winterthnr 1803.
706 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. IS.
StelloDg, in welcher ihn Reding vertrauensvoll belassen hatte,
unter keinen Umständen gegen seinen Amtsvorgesetzten and Voll-
machtgeber ausbeuten. Ans älterer und neuerer Zeit ständen Bei-
spiele genug zur Verfügung^ um nachzuweisen, wie Diplomaten be-
straft worden sind, die sich ihren Vollmachtgebern gegenttber viel
weniger schwer vergangen hatten als Stapfer sich gegen Reding
vergangen hat, und zwar mit Recht bestraft , denn die erste
Pflicht des Diplomaten wie des Soldaten ist Treue gegenüber sei-
nem Vaterland und seinen Vorgesetzten.
Der Rat Stapfers ; Reding während seiner Abwesenheit zu stür-
zen, kam damals allerdings nicht zur Yollziehungy da der erste
Landamann am 17. Januar unter Glockengelänte wieder in Bern
eingetroffen war. Bald darauf, am 2. Februar 1802, ist sodann der
kleine Rat gemäß dem diesfalls dem ersten Konsul erteilten Ver-
sprechen durch 6 Unitarier ergänzt worden. Derselbe bestand nun-
mehr aus folgenden 11 Mitgliedern: Reding erster Landamann f&r
1802, AI. Rengger zweiter Landamann, Rlittimann, Hirzel , Knhn,
Schmid von Basel, Escher von Zürich, Frisching, Dolder, Füßlj von
Zürich und Glntz. In der so bestellten Behörde waren die Unitarier
in Mehrheit, und somit war die Stellung Stapfers als helvetischen
Gesandten in Paris wieder gesichert, obschon er nicht das volle
Vertrauen des Staatssekretärs Thormann, an welchen er seine De-
peschen zu adressieren hatte, sich zu erwerben wußte. Aber schon
am 17. April ist, diesmal von Seite der Unitarier, eine Wiederholang
des 28. Oktober versucht worden, zu welcher Stapfer abernaals das
Seinige beitrug'). Nachdem am 16. April Reding und die übrigen
Katholiken und föderalistisch-gesinnten Mitglieder des kleinen Rats
nämlich zur Feier des Osterfestes in ihre Heimatskantone gereist
waren, versammelten sich die Unitarier in der Wohnung des franzö-
sischen Gesandten Verninac und beschlossen, es solle Tags daranf,
am 17. April, durch Kuhn im kleinen Rat die Vertagung des Se-
nats und die Einberufung von 27 Notabein aus allen Kantonen be-
antragt werden, welche auf der Grundlage des Malmaison-Entwurfs
vom 29. Mai 1801 eine neue Verfassung ausarbeiten sollten. Hirzel,
Frisching und Escher erklärten keinen Anteil an diesen Beratungen
nehmen zu wollen. Den Rat, den Stapfer am 6. December 1801 er-
teilt, die Abwesenheit Redings zu einer neuen Revolution zu he-
1) Siehe |Leben und Briefwechsel Albert Renggers von Ferdinand Wydier
Band II, S. 40. 47. 48. 49. Am 28. April schrieb Stapfer an Rengger: »Wenn
Ihr der Majorität des Senats nicht auf andere Weise los werden könnet, so
schliesset Zellweger, Salis-Sils, Wyß und Müller von üri aus. Dies sind die Se-
natoren, welche hier zuverlässig übel angeschrieben sindc.
Luginbühl, Philipp Albert Stapfer helret. Minister d. Künste u. Wissensch. 707
natzen ist somit 4 Monat später, während der Abwesenheit Redings
in Schwyz zur Vollziehung gekommen. — Nachdem Reding am
19. April in Eile nach Bern zurückgekehrt und Kenntnis von der
Sachlage genommen hatte, war er anfänglich Willens seine Demis-
sion zu geben, beschränkte sich dann aber darauf mit 11 Senatoren
gegen die am 17. April beschlossene Vertagung des Senats zu pro-
testieren. Der kleine Rat aber, sich durch die Unterstützung des
französischen Gesandten Verninac stark fühlend, beschloß am 20. April
die Demission Redings als eingegeben zu betrachten, und am 22. April
gieng er über die Protestation der Senatoren Hirzel, Wyß, Bal-
dinger, Müller von Uri, Zell wegen, Salis-Sils, Anderwerth, Pfister;
Ernß, Zweifel und von Flüe zur Tagesordnung über, worauf Reding
am 25. April mit vielen Senatoren Bern verlassen hat.
Von den einberufenen Notabein ist darauf am 20. Mai die
zweite helvetische Verfassung, welche auf der Grundlage des Mal-
maison-Entwurfs zwischen Rengger (damals zweiter Landamann),
Wieland von Basel und dem französischen Gesandten Verninac fest-
gestellt worden war, unverändert angenommen worden. Mitte Juni
ist dieselbe zur Abstimmung vors Volk gelangt; 72,453 Stimmende
sprachen sich für Annahme, 92,423 für Verwerfung aus. Da
aber die Nichtstimmenden als Annehmende gezählt wurden, und de-
ren Zahl sich auf 167,172 belief, so wurde die Verfassung als mit
großer Mehrheit angenommen erklärt. In Folge dessen schritt der
nene Senat, dessen Zusammensetzung ebenfalls zwischen Rengger
and Verninac vorher vereinbart worden war, zur Wahl des Voll-
ziehnngsrats. In denselben wurden gewählt: Dolder als Land-
amann, Rüttimann als erster Statthalter, Füßli als zweiter Statthai-
ter, als Staatssekretär Rengger für das Innere, Kuhn für die Justiz
nnd Polizei, Schmid von Basel für das Kriegswesen, Güster von
Bheineck für die Finanzen, und G A Jenner für die auswärtigen An-
gelegenheiten ; Stapfer wurde als Gesandter in Paris bestätigt
Diese zweite helvetische Verfassung, an deren Wiege Bonaparte
(mit seinem Entwurf von Malmaison) als Vater, sein Gesandter Ver-
ninac als Pflegevater, Dr. Albert Rengger als Geburtshelfer und Wie-
laud als Zeuge standen, war vielmehr ein »ausschließlich fran-
zÖBisches Produkt« als die darauf folgende Mediationsverfas-
sangy welche wenigstens durch einen in Paris versammelten, aus
63 Kantons- und Gemeinde-Deputierten zusammengesetzten schweize-
rischen VerfasBungsrat unter dem Präsidium des ersten Konsuls
dnrcbberaten worden war.
Kaum war der neue Vollziehungsrat installiert, als Talleyrand
am 12. Juli Stapfer mitteilte, der erste Konsul beabsichtige nnnmebr
708 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 18.
die französischen Trappen ans der Schweiz zurückzuziehen. Diese
frohe Botschaft teilte Stapfer durch Eonrier sofort dem Vollziehungs-
rat mit, seine Freude darüber bezeugend, daß die neue Behörde der-
gestalt in die »glückliche Lage versetzt werde, ihre Amtsthätigkeit
mit einer Erleichterung des Volks zu eröffnen«. Bei Ueberreichung
seiner neuen Ereditive aber am 15. Juli , und nachdem der erste
Eonsul dem helvetischen Gesandten seine Genugthuung darüber aus-
gesprochen hatte, daß nunmehr eine definitive Regierung in
der Schweiz in Thätigkeit sei, antwortete Stapfer, »d'nn
ton p£u6tr6 et avec un accent dont il n'a pu mäconuoitre la source,
que nous 6tious profond6ment 6mus de ses procMes
je ne pouvois m'empßcher, fährt Stapfer fort, de le f^liciter de s'etre,
par sa loyaut6 envers rH61v6tie, placä audessus des
c^sars, et acquis des droits äternels k la reconnois^
sance! Je röpetai qn'il avait conquis pour jamais les coeurs des
Hälvätiens que leDirectoire avait aigris; qu'il pouvait autant compter
sur Taffection et le devouement inviolables de la nation h6iv6-
tique, que le gouvernement de Tancien regime, et que les licus, qui
dösormais uniraient les denx etats seraint anssi forts et anssi inalt^rables
que les m6nagemens d^Hcats, et la protection d^sint^ress^e qu'il nous avait
accordee 6tait unique dans Thistoire.» Nachdem der Biograph Stapfers
diese so überschwenglichen Dankesbezeugungen des helvetischen Ge-
sandten wörtlich angefahrt hat, ist es auffallend denselben einen in der
schweizerischen Geschichtsschreibung vielfach verbreiteten Irrtum unter-
stützen zu sehen, denjenigen nämlich, Bonaparte habe der helveti-
tischen Regierung durch den Rückzug seiner Truppen eine Falle
legen wollen. Es wäre ein Leichtes, aus zerstreuten Angaben des
vorliegenden Buchs selbst den schlagenden Gegenbeweis zu leisten,
allein bei der Ausdehnung, welche diese Besprechung ohnehin schon
genommen hat, müssen wir sowohl darauf als leider auch auf eine
Ergänzung verzichten, die wir anfänglich beabsichtigt hatten , und
die in einer etwas einläßlicheren Darstellung der Verhandlungen der
sogenannten Consulta in Paris, und des Anteils, den Stapfer daran
genommen hat, bestehn sollte. Nicht als habe Stapfer bei diesen
Verhandlungen eine hervorragende Stellung eingenommen; eine solche
kann einzig der erste Eonsul beanspruchen , der am 29. Januar
1802 in den Tuilerien mit 5 schweizerischen Unitariern und 5
schweizerischen Foederalisten sowohl die Eantonal-Verfassungen als
die Foederal- Verfassung (die Mediationsakte) durchberaten und durch
seinen Scharfsinn und seine ungewöhnliche Auffassungsgabe für ihn
1) Siehe D. Jahns Bonaparte Talleyrand et Stapfer S. 164, die Depesche
Stapfers au Secretaire d'Etat Möller-Friedberg vom 15. Juli 1802.
Lugiabuhl, Philipp Albert Stapfer helvet. Minister d. Künste u. Wissensch. 709
ganz fremder Angelegenheiten alle Schweizer in Erstaunen gesetzt
hat. Als ersten Landaniann der Schweiz hatte der erste Konsal Loais
d'Affry von Freibarg, Sohn des ehemaligen Obersten des schweize-
rischen Garde-Regiments, bezeichnet, welches am 10. August 1792
die Tuilerien so lange verteidigt hatte, bis der König die Nieder-
legung der Waffen geboten, welche Waffenthat Bonaparte zufällig
als Zuschauer mit angesehen hatte. Die helvetische Regierung hatte
am 10. März ihre Gewalt an den Landamann d'Affry zu übertragen,
und am gleichen Tage sollte in den Kantonen die Staatsgewalt an
die in Paris bezeichneten provisorischen Organisations- und Voll-
ziehnngs-Kommissionen ttbergehn; eben so sollten von diesem Tage
hinweg die helvetischen Truppen mit den in französischen Diensten
stehenden schweizerischen Auxiliar-Brigadeu verschmolzen, zur Ver-
fügung des Landamanns gestellt, aber in französische Verpflegung ge-
nommen werden. Am 10. Mai 1802 aber, am Tage der Eröffnung
der Tagsatzung in Freiburg unter dem Präsidium des Landamanns
d'Affry, sollten alle französischen Truppen aus der Schweiz zurück-
gezogen werden. Mit der Einführung der Mediations- Verfassung hat
auch die Stelle eines helvetischen außerordentlichen Gesandten in
Paris, welche Stapfer seit dem Jahr 1800 bekleidet hatte, ihr Ende
erreicht.
Stapfers Ruhm würde kaum darunter leiden, wenn die 5 Jahre
von 1798 bis 1803 aus seinem Leben herausgeschnitten werden
könnten. Er stand erst in seinem 37. Altersjahre, als er im Früh-
jahr 1803 aus dem öffentlichen Leben zurücktrat, und erreichte noch
ein Alter von 74 Jahren.
Diese zweite Hälfte von Stapfers Leben (1803—1840) hat sein
Biograph in das V. Kapitel zusammengedrängt, und diese Kürze da-
mit entschuldigt, daß das historische Interesse seit dem Rücktritt
Stapfers vom öffentlichen Leben zurücktrete. Wir können Stapfer
nur beglückwünschen, daß er sein Schifflein aus der Brandung der
hohen See der Politik zeitig in den sicheren Hafen der Wissenschaft
gerettet hat. Stapfer war nicht zum Seemann geboren, und ist im
Jahr 1803 seiner wirklichen Lebensbestimmung wieder gegeben
worden ; aber auch den Biographen Stapfers beglückwünschen wir,
1) Die Unitarier hatten als ihre Vertrauensmänner zu dieser Besprechung
vom 29. Januar 1802 in den Tuilerien abgeordnet: Sprecher von Bernegg (aus
Graubünden), Dr. Paul Usteri von Zürich, Monod aus dem Kanton Leman und
Stapfef) nachdem Koch und Kuhn abgelehnt hatten. Die Abgeordneten der
Föderalisten zu dieser Konferenz waren Hans v. Reinhard von Zürich , d'Affry
Ton Freiburg, Jauch von Uri, Wattenwyl von Bern und Glntz von Solothum«
710 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 18.
mit Rücksicht auf die Art and Weise, wie er sein V. Kapitel nnter
geschickter Benatzang der ihm za Gebote gestandenen Korrespon-
denzen and anderen Quellen geschrieben hat. Niemand wird diesen
Schloß des Bachs aus der Hand legen , ohne von Achtang fttr den
frommen Gelehrten and Menschenfreandy in dessen Leben er Einblick
gewonnen, darchdrungen worden zu sein.
In dieser zweiten Hälfte seines Lebens hat sich die Thätigkeit
Stapfers namentlich nach drei Richtungen hin entwickelt. Während
des Winters in Paris and während der Sommermonate aaf seiner
Besitzung Belain in der Nähe der Haupstadt oder auf dem seiner
Schwiegermatter gehörenden Schloß Talcy bei Mer lebend , be-
schäftigte sich Stapfer, indem er, unterstützt durch Gnizot, den spä-
teren Minister, der in seinem Hause wohnte und die Erziehang seiner
beiden Söhne Karl und Albert leitete, hauptsächlich mit litterarischen
Arbeiten. Stets vom Wunsche beseelt, wieder einen amtlichen Wir-
kungskreis zu erhalten, konnte sich Stapfer, wenn ihm eine sol-
che angeboten wurde, sei es als Direktor der Kanton -Schule in
Aarau, als Mitglied des oberaargaaischen großen Rates oder ab
Lehrer an der Akademie in Lausanne, aus Rücksichten für seine
Fran (eine Französin), nie dazu entschließen , Paris zu verlassen,
obschon er seinen Aufenthalt in Frankreich als ein Exil zu be-
zeichnen pflegte. Es fehlte ihm im Privatleben wie im öffentlichen
an Tbatkraft und Festigkeit.
Auch die Art und Weise seiner literarischen Thätigkeit trügt
mehr den Charakter augenblicklichen Aufraffens, als den der Naeh-
haltigkeit. Er schrieb hauptsächlich Artikel in politische litterarische
oder religiöse Zeitschriften; aber kein grosses Werk. Einst hatte
er ein solches über die erste Ausbreitung des Christentums za schreiben
beabsichtigt ^) wozu er, bei seinen gründlichen Kenntnissen fiber den
Orient, besonders befähigt gewesen wäre. Er kam aber nicht znr
AnsarbeituQg derselben. Auch eine Philosophie der Geschichte hätte
Stapfer schreiben können, da er zu den wenigen Professoren zählte,
welche Geschichte gemacht und nicht nur gelesen haben. Aber
auch dies blieb nur Projekt, obgleich Stapfer wiederholt die Absicht
geäußert hatte, die Geschichte der helvetischen Republik zu schreiben,
und es sogar für »Pflicht der Zeitgenossen erklärte, die Nachwelt
über Dinge, deren Augenzeuge man war, zu belehren, und ihre Vor-
stellungen zu berichtigen, um, wie Boissy d'Anglas sich ausdrückte,
seine deposition au tribunal de la postiritä abzulegen.» (S. 461.)
Zu den verdienstlichsten litterarischen Arbeiten Stapfers zählen wir
seine Beteiligung an der »Biblioth&que universelle« von Michand,
1) Siehe Brief an Usteri vom 21. Febr. 1810 (S. 503).
Lagiobühl, Philipp Albert Stapfer helvet. Minister d. Künste u. Wissensch. 711
an welcher neben ihm Suard, Cuvier Lacroix, Chateaubriand, Lally
Tollendal, Laplace, Benjamin Constant, Sismondi Guizot etc. Mitar-
beiter waren. Stapfer war der Verfasser der Artikel Arminius, Al-
bertus Magnus, AdelQng, BOsching, BUrger, Heyne, Kant, Lichten-
berg, Meiners, J. D. Michaelis, Sokrates und Wittenbach.
Alle Arbeiten Stapfers zeichnen sich durch Gedankenfülle, Ver-
standsschärfe und Gründlichkeit aus. Es entsprach der Eigentüm-
lichkeit Stapfers , statt selbständig zu schreiben Andern bei ihren Ar-
beiten behUlflich zu sein. So übersetzte er für seinen Freund Viilers
die Litteraturgeschichte Eichhorns ins Französische *) (S. 477), auch
leistete er Villers gute Hülfe bei der Abfassung seines »Lutherc,
zu welchem Werke Stapfer eine meisterhafte Inhaltsanzeige schrieb.
Eine ähnliche Inhaltsangabe schrieb er zu den von Villers übersetzten
Kreuzzügen Heerens, auch besorgte er die Herausgabe der Preis-
schrift von Sartorius »Ueber Italiens Zustand unter den Gotbenc.
Noch sind zwei weitere Arbeiten zu erwähnen, welche Stapfer für
Andere machte ; wir rechnen dahin die in den zwanziger Jahren ano-
nym bei Renouard erschienene berühmte Schrift des Eonstanzer
Bischofs Wessenberg »Essai snr T^tat actuel de Täglise catholique
Romaine« und die Korrektur des Manuskripts des Professors Villers
»de la fausse gloire, et de la fausse liberte« , welches Friedrich von
Villers, des Verfassers Bruder, herausgab. Eigene Werke, welche
Stapfer in dieser zweiten Hälfte seines Lebens herausgab , sind fol-
gende : sein »Voyage pittoresque de TOberland bernois, Paris Treuttel
et Würz 1812« und seine »Histoire et description de la ville de
Berne, Paris 1835«. Seine »Melanges historiques« sind im Jahre 1844
darch Alexander Vinet in 2 Bänden, 1250 Seiten haltend, herausge-
geben worden.
Ein anderes Gebiet von Stapfers Thätigkeit während dieser
zweiten Lebenshälfte war die Wohlthätigkeit
Stapfer war der Stifter der schweizerischen Hülfs- Gesellschaft
in Paris, die seither vielen Tausenden Hülfe und Trost, ja manchen
Bettang von physischem oder moralischem Untergang gebracht hat.
Diese Schöpfung allein, die sich an Stapfers Namen knüpft, hat
in ansern Augen viel mehr Wert, als die vielen wohlgemeinten Pro-
jekte, die er als helvetischer Unterrichts- und Cultus-Minister ausge-
arbeitet hat, ohne dieselben zur Vollziehung zu bringen. Wir er-
wähnen ferner, daß Stapfers Haus allen Schweizern offen stand, die
in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts nach Paris kamen , wo sie
einen Kreis hochgebildeter und vortrefflicher Menschen vereinigt
fanden.
1) Stapfer an Usteri vom 80. Juni 1805 und 20. Febr. 1808.
712 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 18.
Ein drittes Gebiet von Stapfers Tbätigkeit, auf welchem er
Begensreieb wirkte, war das religiöse. Stapfer, der darch den
seit 1808 in Paris als protestantischer Pfarrer angestellten Johann
Monod dem positiven Christentum wieder völlig zugeführt worden
war, das bei ihm während des Aufenthalts in Göttingen und wäh-
rend seiner politischen Laufbahn zeitweise in etliches Schwanken
gekommen war, galt als das Haupt der Protestanten in Frankreich,
die ihm während mehr als 20 Jahren einen »der ehrenvollsten Plätze
in der protestantischen Kirche in Frankreich sicherten« (S. 438).
Sein Bestreben war namentlich darauf gerichtet , zwischen dem
deutschen und dem französischen Protestantismus die möglichste Ver-
einigung herbeizuftthren ; auch war er, von einer französischen Mutter
abstammend und selbst mit einer Französin verheiratet, gleichsam
dazu berufen, zwischen Germanismus und Romanismus vermittelnd
einzuwirken. Glauben ohne historisches Christentum galt Stapfer als
Unsinn ^). Auf dieser positiv christlichen Unterlage aber war er kon-
fessionell sehr unbefangen. So beteiligte er sich nach dem Sturze
Napoleons lebhaft bei der Gründung der >Soci6te de la morale chr^
tienne«, obschon deren Mitglieder beiden Eonfessionen angehörten«
Durch diese Gesellschaft, an deren Generalversammlung im Jahre
1825 Broglie, Guizot, Keratry Rämusat über die Notwendigkeit
einer moralischen Reform zur Befestigung der politischen gesprochen
hatten, ist Stapfer mit Alexander Vinet bekannt geworden, der eine
ausgeschriebene Preisaufgabe über Eulturfreiheit einstimmig gewon-
nen hatte. Vinets Schrift hatte einige Aeßerungen enthalten^ welche
die Katholiken verletzen konnten; diese sollten nach dem Wunsch
der Prüfungs-Eommission abgeändert werden, wozu sich Vinet, von
Stapfer dazu eingeladen, sofort bereit erklärte. Noch größere Thätig-
keit entwickelte Stapfer auf dem Gebiet der protestantischen Eirche,
welcher er angehörte; so schrieb er* häufig Artikel in den Semeur und
in die »Archives du christianismec über sehr verschiedene Gegen-
stände, wie dieses aus deren Aufzählung (S. 582) zu ersehen ist. Aach
gründete Stapfer die»Soci6täbiblique< und die »Society des traitesröli-
gieux«. Als eifriger Anhänger Eants war Stapfer stets bemüht, dessen
Philosophie mit dem positiven Christentum in Einklang zu bringen. In
den letzten Monaten seines Lebens beschäftigte er sich namentlich noch
damit, die Behauptung zu widerlegen, daß die Philosophie Piatos schon
die Fundamentalsätze des Christentums enthalte (S. 511). Vinet
hat in die Melanges historiques mehr als 20 Reden aufgenommen,
welche Stapfer als Präsident dieser verschiedenen religiösen protestan-
tischen Vereine an deren Jahresversammlungen gehalten hat. Die Bibel-
1) Stapfer an Usteri 1823 (S. 494).
Luginbühl, Philipp Albert Stapfer belret. ^iniqter i, ^toaste n. Wissenscb. 713
gOUellBAl^ft} nftigje^tlicb bfttte di« Qj^pps^ipo 4?8 ^jPp^ppcvn^ifiujfj
einer Zeitschrift ^dtr^moqt^mw j^ichjtmi^ ifi ^.qIq^^ ^er* 1}j;)^do^. Ä)?b)|
LaiD^nais scbriebt b^rvorg^raf^i;. Pureb StopjC^i; i^f L^O)|;i;§]p, gl^qzend
widerlegt lyordeq f) und ebenso bat ^x gegep p^rrs^ Y;9J(i^^ppald d^ip ^i^^^-;
gefii^l^chaft ^^fplgr^i^b yerioidj^gt (S. 5)5). ][!p Jabj;e 1^824 b^sorgt^
Stapler die Korrektur c|^r St«i:^,t35p^n - ^ib?J (U^^erfifitaijng Of^^-
vraki), was ihm vi^}e l^übe iqach^. l^U Admiral Y9r-Qn^i| Y^>!^°^
wirkte S^pfer üb^rdips eifrig 9fl der. Mif9io^.f-G^§Q)]^ch%fl|; ii^ Pi^ri£|.
In al^^n diQBten ]^teb|ungen wijirc^e ej{ wick^^qi yft^rffützt d^rch
IJlair^ 4« Birau, Unte^pref^t in ^erger^c, ^/c^ i^Ujg. de Staßl^
S. YiQcapt Qnd J- Bl^oDod (^ 5AÖ), Aifi 2^. ij^^fi^ IS^O v^j^i^biefl
Stapfe^ n^cfa li^qg^^r Ki:fin^b^t. K^xa^ yox n/^ip^ Ta^ fif^tfp er
za eineip §n sein.^ l^q^pkßpl^ger 9t6ben4^ ]^i:ei|9d g^sa^gt: *Jfi
doia i^e p^öpareif j^ l'appel d^ Dien qai mp ^^r^^ ^^^9^^^^ l4^?^ft4' ^^
je 4^ire (ii^Qjp pj\er aifli), qo.^ yoqs priez pppr ^npi. IJeipftp^P* ^M"
cialem^nt ä Dien qfl'y me ft^ss^ qpn^r rtW ^lY^iW* P^°. W^IS^iÜ
me^ peph6^, ms^ coiDdapjinatif^, afin qu? je §|eq|e plus ijiiYpnfeq^ ai;i38i
rimnfipnsitä 4.e ^ piiB^ncoE^^ ei^ Je^oa C\\mti f^\ quj^ ]fi m^ dispp^^.
s^riea^ement k »a T^n^f\ffe.c
Sollen Tvir znifi Scblqqi^ den Qesfimmt^^ndrae^ a^aoimfi^flgss^^
d^p, ups i9^^ yo^liegen^e Bach geflia^bt I?#t, ^q ge^^t er d^hin , 4^^
darcl) da^gjßlbe daa Lebjsi^bi^d ej^e^ Maipufif ypr ni;^ %nfgf^ojlt ^ai;^p^^
4er Yon Natnr g^t a^gei^, A^rph fpin^ fo^gfälljigf; grttndl^cfae ^il-
4ai^g zujfi ^elphrtpn besstimpit ficl^pp, der a^^ef ^arcl^ di^ ^Ipyo^qijo:
nierung 8ein^c| Vat^rlnp^es R^?l^?Hc^ 9fl( ^ef Lpiter pvljfiefher A^fli^- ^^^
Et^renstellen zq d^n böplystep ^^feq g^lifngfp, ^o ihm e|9^wjf4~
lipb iv;a];de;, de^ aber^a)B d^fQh f^ol^^ippfae ynj^^t^fipgqi; ^]^^W''
^Ulig seinen wirl^Hp^ipn in^^^p L^^^e^W znTlJ;Ckgpgp|)fip , |n dfif
zi«fgi^en pjilfte seinem Lehpftft zum ^pQhgel?il4f|tc}lj GQJp^rten yop 5jel-
tener Herzensgute sich entsickelt, uud ia den gebildetesten Kreisen
vqn P^yi? 9^nq berYo^ragen^e StpUftfig ejngeppRjipftp ha^ I^i Riesen
l^rpiften, in w^lcbe^ Stftpfpr ^ftit ßfi; Fj^ihe^t ejije? altep. Djplqma^en
sieb b^wegtft fap^ep ^fl^ Gej^t ui\4 feiiji^ e[alt9 fMx feine gei^^feifhp
IjJoB^y^rsi^tjflp , fttr ^e|ph^ er st^ yi^. §inn ^ehalp^ |^^fte ^ ^rst ^hi^e
rechte Geltung ; während dies vori}^]8 ip ^pik djplqn^fi^^t^pn ^rf^^eO}
ifl yH^M>)m er. i\^ Qf\^^ex pifitt^« ^^¥}^^ H^ ^^4\\ ^^ 0?ichen
>^ft««fi dpT FliU ^ar^ gtfipfec? fpjpfttljlflnde? , bpfchei^efl?^ , ^.p^ni^ht^
äpgstlt^he^ T?^P9ep Pft^^fi jii J99.e Kreiq^ picht r^e^^^, wo f^ijdef^ f^^l^:
m*A Hi?l l^<)hf Q^^^^irt und f^ii;^? Wäs^j^?^ Bla^ier^he^ (da8 nU fl^T
ri^rü qnfl kq^r^l^tpr^nzüg eptjpljjqd^nd qjij^^. ye|)er^^npnt f|\),9r g^^ß(i
Ijyrfwatoi » <^plehrfeif)trei8fii)^ wq ^e ^l^ piyppjfi? %ft<fhtet i^^-
den, die mit den QQtt^ri^ dieser IjV^H ver^g bren, in der Regel mehr
1) ^iehe MqDit^nr uniyeuiel 28. April 1823.
QOtt. gel. Am. 1B87. Nr. 18. 49
114 Öött. gel. Am. 1887. Nr. 18.
als die Gelehrten bei den Diplomaten, denen sie als Pedanten er-
Bcbeinen, sobald deren Gelehrsamkeit unbequem wird.
Im Allgemeinen erscheint mir die zweite Hälfte von Stapfers
Leben viel bedeutender als die erste, die ihm allerdings zwei ephe-
mere Titel, den eines »Ministers der helvetischen Republik« und den
eines »helvetischen Gesandten in Paris« einbrachte, innerhalb welcher
er aber nichts Bleibendes geschaffen hat, während in der zweiten
Hälfte seines Lebens Stapfer sich durch die Stiftung der schwei-
rischen Httlfsgesellschaft in Paris ein bleibendes Verdienst
um die leidende Menschheit und durch seine wissenschaftlichen
Schriften und durch seine Reden in verschiedenen wohlthätigen und
religiösen Vereinen einen geachteten Namen erworben , Vielen , die
ihn lasen oder hörten, Förderung, Genuß und Trost gebracht hat.
In dieser zweiten Hälfte seines Lebens ist Stapfer erst zu dem
hervorragenden Manne geworden, denMonod undVinetso innig ver-
ehrten, den die Brüder Humboldt und viele andere ausgezeichnete
Gelehrte preisen. In dieser zweiten Hälfte seines Lebens hat Stapfer
auch den weiten Horizont gewonnen, der ihn veranlaßte, seinen
Freund Friedrich Caesar de Laharpe, der nicht an Christum glaubte,
mit aller Schonung davon zu Überzeugen, daß die Lehren des
Christentums hoch ttber dem nationalen Egoismus der Griechen und
Römer stehn, dem Laharpe huldigte, ' während in der ersten Hälfte
seines Lebens sein politischer Horizont noch so enge war, daß er
gegen alle ungerecht wurde, welche nicht an die Vortrefflichkeit der
einen und unteilbaren helvetischen Republik glaubten und die sich
nicht unter die dreifarbige helvetische Fahne einreihten , welche
Fahne doch nur eine Nachahmung der französischen Tricolore war,
die denn auch in sich zusammenfiel vom Augenblicke an, wo der
elektrische Draht, der sie mit Paris verband, zerissen worden war!
Auch die Korrespondenz mit seinen Schweizer • Freunden Us-
teri, de Laharpe, Rengger, Zschokke, Bonstetten u. s. w., in welcher
er Fragen aus allen Gebieten menschlichen Wissens besprach, be-
weisen, wie sehr sich Stapfer in dieser zweiten Hälfte seines Lebens
geistig entwickelt und gehoben hat
Seine literarische Thätigkeit hatte ihn mit vielen französischen,
deutschen und schweizerischen Gelehrten ersten Ranges in Verbindung
gebracht, wie Laplace, Lebreton, Cuvier, Cousin, Degerando, Guizot,
namentlich aber mit Alexander v. Humboldt, der während der Heraus-
gabe seines großen Reisewerks in Paris häufig bei Stapfer in Belain
wohnte. Diese alle achteten ihn hoch. »Wer den Besten seiner
Zeit genug gethan, der hat gelebt für alle Zeiten c
Bern, Mai 1887. Dr. A. von Gonzenbach.
Nordiskt medicinskt ArkiT. XVm. 715
Nordiskt medicinskt Arkiv. Redigeradt af Dr. Axel Key, Professor i
patol. Anat. i Stockholm. Adertonde bandet. Med 10 tafler och 6 träsnitt.
1886. Stockholm, Norrstedt & soner. In 28 besonders paginierten Nummern,
gr. 8.
Der Keichtnm an intereBsanten Beiträgen ans fast sämtlichen
Abteilangen der Heilkunde^ wie ihn regelmäßig die einzelnen Jahrgänge
des Nordischen Archivs darbieten , charakterisiert aach den vor-
liegenden 18. Band, in welchem die theoretischen und praktischen
Fächer in gleicher Weise vertreten sind. Der Band wird eingelei-
tet durch den Schluß einer Studie von Prof. K. Hällsten (Helsingfors)
ttber die Beziehungen der sensiblen Nerven und die Reflexapparate
des Rückenmarks, in welcher namentlich das verschiedenartige Ver-
halten der Reflexe unter der Einwirkung differenter (chemischer,
elektrischer, thermischer und mechanischer) Reize auf die peripheren
Nerven an und fUr sich und bei unversehrtem und durchschnittenem
Rttckenmarke experimentell untersucht wird. Die Arbeit, in welcher
der Verfasser die Lehre von den spezifischen Sinnesenergien zurück-
weist und den qualitativ verschiedenen Reizmitteln ebenso viele qua-
litative verschiedene nervöse Erregangsvorgänge zuschreibt, zugleich
aber die Anschauung vertritt, daß identische Erregungsvorgänge bei
ihrer Fortpflanzung durch Abschnitt des zentralen Nervensystems
ihre Qualität verändern können, bedarf indeß eines näheren Ein-
gehens nicht, da Hällsten seine Versuche auch in deutscher Sprache
im Archiv ftlr Anatomie und Physiologie veröffentlicht hat.
Fast rein physiologischen Inhalts, jedoch mit einer praktischen
Tendenz, ist auch eine Arbeit von Dr. Jens Schon (Kopenhagen) ttber
traumatische Vagusläsionen, wie solche ja bei den neuerdings in die
Mode gekommenen Eehlkopfexstirpationen manchmal nicht zu ver-
meiden sind. Es ist bekannt, daß bei Menschen auch einseitige
Vagusdurchschneidung zu Pneumonie ftthrt, während das bei Tieren
nur selten der Fall ist. Da diese Pneumonien Schlnckpneamonien
sind, ist allerdings, wie Schon richtig betont, in allen Fällen, wo
der Vagus angeschnitten wird, die Kehlkopftamponade rationell, und
gegen die Bewerkstelligung derselben mit antiseptischem Materiale,
welche der dänische Autor anrät, ist ebenfalls nichts zn einzuwen-
den , nur dttrfte das Jodoform nach den Untersuchungen Aschen-
brenners zu beanstanden sein, da in der Nähe der Respirationswege
appliciertes Jodoform zu Lungenentzündung Anlaß geben kann.
Der physiologischen Chemie gehören Arbeiten von Gand. pharm.
A. Ghristensen (Kopenhagen) ttber die quantitativen Bestimmnngs-
methoden des Harnstoffs und von Chr. Jttrgensen (Kopenhagen) ttber
die Nahrnngsstoffmengen bei freigewählter Kost erwachsener Men-
schen und deren» Verteilung anf die Tagesmabizeiten an. Christensen's
Arbeit ist eine Preisschrift der Kopenhagener Universität nnd gibt
nicht nnr eine genaue Prttfung der bisher bekannten Methoden zur
716 Gott, t^el Ana. 1887. Kr. 18.
quantitativen ^J^esUifaintiiig des Bknibtoffä , ilonderh Äncb bin eigetfc^
Yerfabren äes yerlassers^ zur Ebntrolle (lie beiden SpaUangsprodukte
des Harnstoffs, Kohlensäure and Ammoniak, auf einmal dorcb die-
selbe Hamprobe zu bestimmen. Die Resultate Jürgensens entsprechen
im Wesentlichen den frOher von Forster bei der Untersuchung der
Kost eines MOnchener Arztes erhaltenen, doch ist die Eopenhagener
Nahrung reicher an Fett und ärmer an Kohlehydraten. Die Arbeit
ist übrigens auch in der Zeitschrift fttr Biologie mitgeteilt.
Die pathologische Chemie vertritt K. A. H. Moerner (Stockholm)
durch einen Beitrag zur Kenntnis der Farbstoffe in melanotischen
Geschwülsten. Der Autor hat in einem multiplen Sarkom, das
seinen Ausgangspunkt von einem Naevus hypertrophicus der Schul-
tern hatte, zwei Farbstoffe, einen in Essigsäure unlöslichen, aller Wahr-
scheinlichkeit nach mit der als Phymatorusin von Berdez und Nencki
bezeichneten Substanz identischen, und einen in geringer Mengen
vorhandenen, in Essigsäure löslichen, gefunden. Interessant ist, das
Moerner den ersten Farbstoff auch in dem während der Beobach-
tangsdauer stets dunkelgef&rbten Urin des Kranken auffand.
Eine sehr umfangreiche chemische Arbeit bildet die Studie von
Eduard Welander (Stockholm) über Absorption und Elimination des
Quecksilbers im menschlichen Organismus, die der Verfasser in Ver-
bindung mit dem Pharmaceuten Schillberg nach einem ursprüng-
lich von Alm6n angegebenen Verfahren ausführte, die auf SnbHma-
tion des auf Kupferdraht abgelagerten Quecksilbers und Nachweis
des letzteren durch das Mikroskop beruht. Die Empfindlichkeit die-
ser Methode läßt sicherlich nichts zu wünschen übrig, da der Qaeck-
silbernachweis in Sublimatlösungen von 1 : 10.000000 dadurch mög-
lich ist. Die auf Grundlage dieses Verfahrens angestellten Unter-
suchungen sind außerordentlich zahlreich und deren Resultate inter-
essant. So fand Welander z. B. Quecksilber in dem Harne aller
derjenigen Personen, welche das Einreiben grauer Quecksilbersalbe
bei Syphilitischen als Geschäft betrieben. Daß auch die von Ziemsseii
eingeführte Applikation mittelst Glaskugeln nicht vor der Absorption
schützt, hat Welander wiederholt konstatiert. Selbst bei einer Per-
son, die eine solche Kratikenpflegerin bei ihren iatroliptischen Wan-
derungen begleitete , ohne selbst jemals direkt mit Mercnrialien zn
manipulieren, fttnd sich Quecksilber im Urin. Von großem Interesse
ist ftir uns der Fall gewesen, in welchem eine Wärterin, die seit
1873 fast täglich Friktionen mittelst des Handschuhs ausgeführt
hatte, nach 5 Jahren von chronischer Quecksilbervergiftung (Stoom-
titis. Zittern) befallen wurde und dabei starke Ausscheidung von Mer-
cur durch die Nieren zeigte, und nach 4monatlteher Behandlung
mittelst Massage und Elektrieität genas, ohne daß jedoch selbst hier
Nordisftt medicinskt Arkir. XVIII. 717
TlollfitäDdig das lletcai* aus detn Öatn verschwandeii Wähe. Die AI-
m^DBche Methode ist so empfindlich, daB sie sogar den Nachweis in
dett Harn von Säuglingen liefert, deren Mutter 3 Tage zuvol- eine
Sablitnatinjektion erhalten hat, wie auch dadurch das Metall bei
Nengebornen nachgewiesen wurde, deren Mutter Snblimatkuren wäh-
r^ der Gravidität durchgemacht hatte, lieber die HanptstVeft-
fragei), die in Bezog auf die Ausscheidung des Quecksilbers bei
neuen Autoren aufgetreten sind, äußert sich Welander mit einiger
ReiServe. Er gibt zu, daß auch die Faeces ein gutes Untersuchnngs-
objekt abgeben, ohne jedoch zu entscheiden, ob die Elimination durch
den Darm oder durch den Harn die bedeutendere sei. Mit Entschie-
denheit spricht sich Weiander für die kontinuierliche, nicht sprung-
weise Elimination aus und erklärt die mehrjährigen Termine, die
steh in der Litteratur ftlr die Beendigung der Ausscheidung finden,
für die Folge ungenauer oder unrichtiger anamnestischer Angaben;
nach eigenen Erfahrungen läßt er jedoch einen Zeitraum von etwas
ttber 1 Jahr als möglich zu. Es ist uns nicht möglich, einzusehen,
daß die von uns gern zugelassene kontinuierliche Ausscheiduiüg es
unumgänglich notwendig macht, die Angaben von Pasehkis and Vajda
für irrtümliche zu erklären. Welander meint sogar, daß dieselbe
unverträglich sei mit einer Deposition, und er glaubt, daß das Queck-
silber im Blute cirkuliere, ifi welcfae^m er in der That i^eichlich Queck-
silber naebwies. Das ist nicht auffällig, beweist aber nichts für und
wider, denn da das Blut dasjenige Fluidum ist, in welches die de-
ponierten MetaHverbindungen wieder eratretefn mtlssen, uih zu den
eliminierenden Organen zu gelangen, und da neben den Nieren auch
Darm, Sf^eicheldrttsen n. a. Drüsen das Quecksilber fortschaffen, so
ist es giant natürlich, daß sich mehr Quecksilber im Blute findet,
als %leicbeeitig durch den Harn fortgeschafft wird. Ich möchte indes
daran eritinern, daß wiederholt Quecksilber in Knochen mit Innnkti'on
behandelter Syphilitischer schon gefunden ist (was jetzt kaum noch
vorkomtiien dürfte, seit man minder intensiv ate Louvrier und Rü^
KU Werke geht) und daß man bei der Ablagerung in so ti^eni^ ihm
SfoffWechsel unterworftinen Teilen doch die MOglidikeit ^eitres Wife-
derauftretenb von Quecksilber in den Sekreten üilter gbwi^en de-
dingungen zugeben muß. Daß andererseits leicht Irrtütner bei Sfiital-
krainkeh begangen werden können, die sich tn der Atmösph^lre iUl'er
Bcbinierend^n Bettnachbbfn -aufhalten, beweist di^ obige Angäbe We-
lafadei^ ttber das Quecksilber im Harn einer Begleiterin einet mit
Inonktionen Sich beschäftigenden Wärterin. Praktische Bedentcmg
bäben Hbrigeirs Weländers Utttersudhungeti Üisofern, als sie die Vor-
züge der Intmktionskur und der Subkotaninjektion bei Syphilis gegen-
über 'den Pttküfcoren in sölcben taieh dartbun, wo ^in ts^idöt fM&
718 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 18.
wichtiger Effekt erzielt werden soll, da die rasche Resorption größe-
rer Qaecksilbermengen nur durch erstere gewährleistet wird.
Der allgemeinen Pathologie gehOrt eine Studie von 0. Johan-
Olsen und F. 6. Oade (Cbristiania) über intravenöse Injektion mit
einer neuen Aspergillusspecies, A. subfuscus, an; die Arbeit ist auch
botanisch von Interesse, insofern detaillierte Beschreibungen und Abbil-
dungen der einzelnen Species der genannten Gattung beigefügt werden.
Außerordentlich reichhaltig ist der vorliegende Band an Beiträ-
gen aus der speciellen Pathologie und Therapie. Eine sehr inter-
essante Arbeit ist darunter ein von Johannes Mygge (Kopenhagen)
auf der 1886er skandinavischen Naturforscherversammlung zu Cbri-
stiania gehaltener Vortrag über den klinischen Wert der Harnsäure-
Sedimente in Urin, insbesondere über die Beziehungen derselben zur
Albuminurie, die allerdings a priori erscheinen, sehr innig, da diese
Sedimente in der Regel auch morphologische Elemente enthalten,
welche unstreitig von den Nieren sich ableiten. Ob dabei freilich
die übersättigten Harnsänreiösungen die Ursache von Epithelabstoftnng
sind oder andererseits nach Esbachs Ansicht das Vorhandensein der-
artiger organischer Massen die Fällung der Harnsäure bedingt, ist
nicht immer zu ermitteln ; doch geht in vielen Fällen die Albuminurie
der Harnsäureausscheidung voraus. Eine andre dänische Arbeit von
Fr. Hailager (Viborg) handelt über die Gewichtsabnahme nach epi-
leptischen Anfällen, als deren Ursache sich in zwei untersuchten
Fällen die vermehrte Abscbeidung von Harn nach dem Paroxysmns
evident herausstellte. Die bei psychischer Epilepsie eintretende Ge-
wichtsabnahme hat im Gegenteile damit nichts gemein, sondern gebt
mit Verminderung der Diurese einher, die von veränderter Nahrangs-
aufnähme abhängt. Eine dritte Abhandlung aus dem Gebiete der
inneren Medicin ist ein von P. V. S. Tham auf der schwedischen Ver-
sammlung der Aerzte zu Jönköping gehaltener Vortrag über verschiedene
Epidemien kroupöser Pneumonien, bei denen er Eontagiosität annimmt,
ohne im Uebrigen den Einfluß atmosphärischer Schädlichkeiten auf
deren Entstehung abweisen zu können. Einen interessanten Beitrag za
der anfallsweise auftretenden Haemoglobinur liefert Bruzelius (Stock-
holm) durch Mitteilung der drei ersten schwedischen Fälle dieser
Affektion, die im Norden außerordentlich selten zu sein scheint, da
außerdem nur noch zwei Fälle aus Norwegen beschrieben sind. Bru-
zelius Kranken bieten insofern besonderes Interesse, als bei allen
dreien regelmäßig Erkältung als Ursache des Auftretens des Anfalls
nachweisbar war, während bei zweien mit Bestimmtheit Syphilis aus-
geschlossen ist, welche Murri nnd Schumacher als die wahre Ursache
des Leidens betrachten. Endlich ist noch ein Aufsatz von F. Trier
(Kopenhagen) zu erwähnen, welcher drei Fälle enthält, in denra
Nordiffkt medicinskt Arkiv. XYIII. 719
tödliche Metrarhagie im Verlaufe yon cbrooischer Nephritis auftrat,
ohne daß die Sektion, voo etwas Verdickung der kleinen Arterien
des Uterus abgesebn, in letzterem histologische Alterationen nachwies.
Von den chirurgischen Arbeiten im vorliegenden Jahrgange ha-
ben wir die auf Beobachtungen im Stockholmer Sabbatsberger Kran-
kenhause basierenden Aufsätze von Glas über Sublimatjodoformanti-
septik und von Ivar Svensson und Erdmann über Radikaloperation
freier Hernien bereits in unserer Besprechung des 188öer babbats-
berger Berichtes erledigt. Zwei andere Abhandlungen sind däni-
schen Ursprunges. In der einen handelt der Oberarzt am Blegdams-
hospital zu Kopenhagen, S. T. Sörensen, über Kroup und Tracheo-
tomie, wobei er sich als Anhänger der Theorie der Unität von Kroup
und Diphtheritis bekennt. Diese Ansicht gründet sich auf die persön-
liche Erfahrung des Verfassers, wonach er bei 10 Kranken 7 Mal
den kleinen Klebs'schen Bacillus, in welchem Löffler den Autor der
Diphtherie erkannt hat, auffand, während 2 Mal das Resultat unge-
wiß und 1 Mal negativ war. Bei 7 Kranken, wo es sich nicht um
die septische Form handelte, enthielten die bei Lebzeiten ausgewor-
fenen Membranen nur eine sehr beschränkte Anzahl Kokken. Bei
zwei Kranken mit Pharynxdiphtherie waren die bei der Sektion ge-
fundenen, leicht ablösbaren Membranen im Kehlkopf voll von Ba-
cillen. Sörensen hat den Bacillus auch bei kroupöser Pneumonie ge-
sucht, aber vergeblich. In einer weiteren Arbeit resümiert Joachim
Bondesen die im Kopenhagener Kommunehospitale gesammelten Er-
fahrnngen ttber die Behandlung der Haemarthrosis genus und der
Fractur der Patella. Es ergibt sich daraus zur Evidenz, daß die
Punktion bei der erstem, wenn sie frühzeitig gemacht wird, weit
rascher als die expektative Methode zur Heilung führt, während
nach Eintritt der Koagulation die Arthrotomie und Entleerung keine
Vorzüge von dem abwartenden Verfahren bietet. Bei Bruch der
Kniescheibe mit geringer Diastase hat Bondesen durch Punktion und
Kompression mit Heftpflaster komplete Heilung erzielt, bei starker
Diastase durch Arthrotomie und Knochennaht, deren Ausführung er
für ebenso gerechtfertigt hält, wie die Osterotomie bei Genu valgum
nnd die Excision von Gelenkmäusen.
Die Ophthalmologie ist vertreten durch eine Arbeit von Karl
RoBsander (Stockholm) über die Behandlung der Entzündung der
Thränenwege, und eine Untersuchung von Dr. Johan Widmarik
(Stockholm) über das Vorkommen von Refraktionsanomalieen bei den
Schulkindern der schwedischen Hauptstadt Rossander hebt hervor,
daß Entzündungen der Thränenwege, obschon allgemein als unbe-
deutend betrachtet, doch als Infektionen durch Mikroorganismen zu
betrachten sind, von denen man Gonokokken, Staphylokokken n. a.
mehr oder weniger virulente Formen immer in den Sekreten fin-
det. Dieselben können auch, besonders wenn Verengung des Thrä-
nenkanals den Abfluß der Thränen und der Sekrete hindert, in
den Konjunctivalsack gelangen und auf zufällig vorhandene oder
durch Operationen entstandene Wunden vergiftend wirken, wodurch
langwierige Geschwüre oder Eiterungen z. B. nach Kataraktopera-
tionen resultieren. Während man durch die antiseptische Methode
die anderen Quellen der Infektion zu eliminieren vermag, ist die
Antiseptik vor nnd während der Operation gegen diese Quelle nn-
720. Gott. gel. Aqz. 1887. Nr. 1&
genügend, und 09 ist ateto nötig aDorgiscli gegen ^^ (HÜL^oeystiti»
eiozoscbreiten, i^obei man keineswegs allein die Verengung, sondern
anob an.d oft in erster Linie die Blennorrhagie als Angrifibpnnkt za
wählen bat. Antiseptiscbe Wascbangen und später ad^tringiefende
iDJek^oneD werden wesentlicb durch yollst&ndige Oeffuung deaTh^Ji-
ueoiiaiCks nntersttttzt, der häufig mit Eiter erfüllte Becesse enthält,
die uur durch Spaltuug entleert werden können und die bekannt^
SondenbehaudluDg oft erfolglos naschen. In Be^ug auf letztere ena-
pfi.eblt Kossander in schwierigen FäUen die Methode von Stilliqg.
VVidiparck bat 752 Mädchen nnd 704 Knaben in den Stpckholmet
Schulen auf Myopie untersucht und dabei das auch in Deatachiand
konstante Resultat der Zunahme der Kurzsicbtigkeit in höheren Klas-
sen erhalten, ja die von ihm erhaltenen Zahlen zeigen dentli^eb, daft
4ie Znnabme der Kurzsichtigkeit nicht dem Alter der Kinder, son-
dern der ]^lassen adäquat wächst und daft sonüt die Vermehrung der
KI{|8Aenarbeiten die Ursache dieser Srscbein^ngen ist. In böhereii
KlaBsen waren Übrigens die Mädchen mehr myopisch als die Knaben.
Aus dem Gebiete der Qehurtshilfe liefert der vorljegende B^nd
des Archivs einen vom Autor besorgten Auszug ans der KopeAkageuer
Doktordissertation von Anton Flöystrnp über Kraniciklasie nnA «pe-
cieU tt.h/er deren Technik. Die Arbeit enthält nicht nur d^e Besnl-
tai(e der unter Stadfeld vom Verfasser an 32 Kindesleicben, teils am
gf^^öbnUchen Phantom, teils bei künstlicher Verengerung der K^n-
gata mit iiüUfe you Zinkplatten mit Beihilfe eines. aW Dynamojneter
oingericbteten Traktionaapparats ausgeführten Versuche, sondern an^b
die von ihm seibßt in der Kopenbagener Entbindungsanstalt gewon-
nenen Erfahrangeu über Kranioklasie, welche relativ gtlosti^ sind,
iaspfern voa 1& Fällen nur 2 den Tod zur Folg? batten. 3ekaM(-
1^ ist die Mortalität bei dieser Operation nach neueren Antwen eiQ§
¥[eit geringere als in der ersten Zeit, wo Rokitansky, Bidder nnd
Qraun etwa ein Drittel der Mütter verloren, bei denen die Kranior
klas^ie yoUzogen war. Indessen hat eine solche snmnnMriseha Angabe
d^ >f,9;et4^U(ät nur einen geringen Wert, da zweifelsobnf^ der QxuA
d/ii; ßeckenverengung einen wesentlichen £inflnft auf den Anw^AS
bat Das beweist auch eine Zusammenstellung vnn Fiöystcup fik^i
1(H ^i[aniokla9ien, wo der Grad der Beckenverengang angageben
18^ nn^ lyp. aich bei einer Konjugata über 85 Hm* (26i Fälle) eine
SteifWichkeit yon 4,3 Froc, bei einer Konjugata von 85.— 10 1( (oft
F^Ue) eine Mortalität von 8,5 Procent, bei einer Konjugatfi antar 10
Mm. (19 Fälle) aber eine solche von 11,1 Procent ergibt. Diei 2i^
fern i|ind allerdings zu klein, um diese ProcentverhältniMe nVi sta-
bile b/strachten zu künnen, aber der Unterschied ist ein so pr^i^nan-
te(, d&^ dfr Qrad der Beckenenge als wesentlich bC4timinca4 fte
dcA A^ß&^^e anzusehen ist. Bestimmend i^ übr^ens neben dec
Bi^kepei^e die Ausführnng der Operation an)^ vorliegenden oder
nachfolgenden Kopfe, da letztere, wie auoh die KopevAngenar G^-.
f^brnngen bestätigen, eine weit B(^ilechtere Prognose bietet.
Tb. Hnsemi^n.
F«r die Redation terantwortlich : Prof. Di. JftehM, Direktor der G6U. gel. 4^*»
Assessor der Königliclien Gesellschaft der Wissensduifteii.
r«ri(v der JHtUrieh'tekm Ymiagt'BvchhtMdkmQ,
Ifmdk dir J^kkri^^sehm üni9,'Budidmcktrn (SV, W. Xamintr),
•
If
( I'CT 25 1887 '
721
Göttingische
gelehrte Anzeigen
anter der Aufsicht
derKönigl. Gesellschaft der Wissenschaften.
JSTr. 19. 15, September 1887.
Preis des Jahrganges : JL 24 (mit den »Nachrichten d. k. G. d. Wiss.c : uK 27).
^^ Preis der einzelnen Nammer nach Anzahl der Bogen: der Bogen 50 ^
Inhalt: Dr. Martin Luthers Werke. III. lY. Von Kolde, — Hanck, KirchengMchichte
DontsehJands. I. Ton Mdüer. — Fester, Die arrairten St&nde und die Beichskriegsverfasanng
(1681—1697). Von Krel»,
zi^ Eigenmäohtiger Abdruck von Artikeln der 6ltt. gel. Anzeigen verboten. :=:
Dr. Martin Lnthers Werlce, Icritische Gesammtausgabe. Weimar, Hermann
Böhlau. Bd. III. 1885. 652 S. — Bd. IV. 1886. 717 S. 8«.
Daß der anfängliche Plan für die kritische Ausgabe von Luthers
Werken im Laufe der Zeit manche Veränderung erfahren würde,
was an und für sich gewiß kein Schade ist, war vorauszusehen.
Schon der Umstand, daß die Größe der Aufgabe die Fortftlhrung
der Herausgabe durch eine einzige Kraft unmöglich machen würde,
ließ dies erwarten. Mit Bd. III ist G. Kawerau, als Kritiker und
Forscher auf dem Gebiete der Reformationsgeschichte längst auf das
vorteilhafteste bekannt, in die Redaktionsarbeit mit eingetreten, und
seinem Eifer und seiner unermüdlichen Thätigkeit verdanken wir,
obwohl er sich inzwischen in sein neues Amt als Professor in Kiel
einarbeiten mußte, bereits auch schon Bd. IV. Der Gesichtspunkt, daß
eine Hülfe für den Herausgeber absolut notwendig, die Herausgabe
derjenigen Schriften aber »deren Einleitungen direkt in reforma-
tionsgeschiohtliche Untersuchungen hineinführen, im Interesse der
Einheit des Werkes durchaus Herrn Dr. Knaake selbst verbleiben
mtlBse« ^) hat, wie das Vorwort zu Bd. III ausführt, dazu veranlaßt,
1) Dieser Grundsatz hat sich denn doch auch nicht festhalten lassen, wenig-
stens arbeitet Prof. Kawerau jetzt an der Herausgabe der von Luther auf der
Wartborg geschriebenen Schriften. Einem Gerüchte zufolge soll die Herausgabe
von Luthers Liedern einem Dritten überwiesen sein. Es wäre dringend zu wün-
schen, daß diese Aufgabe, eine der allerschwier igst en, einem auf dem
QHt, gel. Ans. 1887. Nr. 19. 50
722 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 19.
eine größere exegetische Arbeit Luthers einzafttgen, and zwar hat
man sich dazu entschlossen, die ursprünglich an den Schlaft verwie-
senen von Luther selbst nicht veröffentlichten Psalmenvorlesungen
an dieser Stelle wiederzugeben. Das lag um so näher, als es sich
dabei um die ersten Leistungen Luthers als akademischen Lehrers
handelt, denn es ist eine unbestrittene Thatsache, daß Luther nach
Erlangung des Doktorats zuerst über sein Lieblingsbach den Psalter
gelesen hat. Nun besitzen wir bekanntlich außer den von Luther
im Jahre 1519 herausgegebenen Oper, in Psalmos von seiner Hand
noch die bisher teilweise nur in schlechter Uebersetzung (Walch.IX,
1473 ff.) bekannte sogenannte Wolfenbttttler Glosse, und den von
F. Schnorr von Garolsfeld wieder aufgefundenen und zuerst von
Seidemann herausgegebenen sogenannten Dresdner Psalter oder die
Scholae^). Da Luther in der Vorrede zu den Operationes diese als
den Ertrag seiner zweiten Psalmen Vorlesung bezeichnet, so kön*
neu die beiden erhaltenen Manuskripte, wenn sie, was bisher eicht
bezweifelt worden ist, beide zu Vorlesungszwecken gedient haben,
sich beide nur auf jene erste Psalmenvorlesung beziehen.
Kawerau hat sie nun in der Weise für die Edition zusammen-
gestellt, daß er fUr jeden Psalm zuerst die Wolfenbfltteler Glosse
gibt und sodann den Dresdner Psalter folgen läßt. Dazu veran-
laßte ihn seine Vorstellung von dem Verhältnis der beiden Erklä-
rungen zu einander, die der Herausgeber übrigens nicht so ein-
gehend erörtert, wie man wünschen möchte.
Kawerau erkennt an und hat es im Einzelnen durch Fußnoten
an den betreffenden Stellen erwiesen, daßDieckhoff^) mit Recht be-
obachtet hat, daß überall da, wo auf die glossa verwiesen ist, nicht,
wie Seidemann annehme, an die glossa ordinaria zu denken, son-
dern Luthers eigene Glosse oder der Wolfenbttttler Psalter gemeint
ist. Daraus folgt ihm mit Notwendigkeit, daß die Glosse — zwar
nicht als Ganzes aber im Einzelnen — früher da war als der Dresde-
ner Psalter. Aber mit Recht wird von K. die Frage aufgeworfen:
diente jene Glosse nur dem eigenen Studium, oder hatte sie einen
Zweck bei der Vorlesung? Waren die Glossen Notizen, die Luther
gewissermaßen als Grundlage für sein eigenes Studium, für seine
Gebiete der ältesten evangelischen Hymnologie auch wirklich allseitig be-
währten Forscher . übertragen würde und die Kommission die bei der Lieder-
edition zu befolgenden Grundsätze der öffentlichen Diskussion unterwürfe.
1) Doctoris Martini Lutheri Scholae ineditae de Psalmis habitae Ännis
1513 — 16. £. Codice Ms. Bibliothecae Regiae Dresdensis primum edidit J. C Sei-
demann. Dresdae 1876.
2) in Luthardts Zeitschr. f. kirchl. Wissenschaft, u. kirchl. Leben 1881,
Dr. Martin Luthers Werke. III. IV. 123
eigene VorbereituDg zur PsalmeDvorlesung gemacht hat, oder waren
sie ein Grundriß, den er seinen Zuhörern in die Feder diktierte?
Ich hatte mich im Anschluß an Seidemann in meinem Luther I,
S. 84. 370 f. für das Letztere entschieden, indem ich das mehrfach
vorkommende vide in coli, auf die Wolfenb. Glosse bezog, und wenn
sich Luther (De W. I, 4L Enders I, 67) collector Psalterii nennt, es
m
dahin verstanden, daß Luther das, was er ausführlich in der Vor-
lesung gab, in den Glossen zusammenfaßte. Indessen nach Kennt-
nisnahme des lateinischen Originals und genauerer Untersuchung
läßt sich das Letztere wenigstens nicht halten, wie das Folgende er-
geben wird.
Kawerau meint: »Alle jene Stellen, an denen Luther die Glosse
citiert, lauten so, daß man annehmen möchte, daß auch die Zu-
hörer eben diese Glosse vor sich hatten, das läßt uns auf ein Diktat
schließen, welches er dem Vortrage vorausschicktet. Indessen würde
man dies doch nur dann sagen können, wenn wir wttßten (Bd. III, 8),
daß Luther genau so vorgetragen, wie er in seinem Hefte (dem
Dresdner Psalter) geschrieben, daß er wie dort zu lesen auch wirk-
lich im mündlichen Vortrag gesagt hat *ut in glosa^ vide gUsam^
vide circa textumt. Was hindert uns aber anzunehmen, daß dies
Hinweisungen für den eigenen Gebrauch sind, zumal Kawerau selbst
anerkennt, daß, wie aus der Ungleichmäßigkeit der Behandlung zu
ersehen, »wir in den Aufzeichnungen bald den ausgeführten Vor-
trag selbst, bald nur Notizen zu erkennen haben, die dann der münd-
liche Vortrag weiter ausführte und ergänzte«?
Dafttr, daß Luther die Glosse diktierte, verweist Kawerau auf
eine Stelle in den scholae, wo Luther sagt : scriptifko vos glosam i.
e. ego facio vos scribere glosam (III, 33. Zeile 30). Aber die Beweis-
kraft dieser Stelle ist doch eine sehr geringe. So konnte Luther
auch sagen, wenn seine Zuhörer auf Grund seines Vortrages sich
in ihren Text zwischen die weitabgedruckten Zeilen Glossen
machten.
Für meine frühere Ansicht war Luthers eigener Ausdruck die-
tata super' psalterium entscheidend. Luther schreibt an Spalatin (De W.
I, 47 Enders I, 27 ^) »rogo te ut ... respondeas, ut scilicet non ex-
1) Wie ich schon in meiner Anzeige von Enders Luthers Briefwechsel I in
der deutschen Litterat.-Ztg. VI (1885) Nr. 17 dargethan, ist die von Enders und
Kawerau angenommene Datierung: 26. Dec. 1505 des betreffenden Briefes kaum
richtig. Dafür, daß altera naiivitatis mit »zweiter Weihnachtsfeiertagc aufzulösen
wäre, fehlt mir jegliches Beispiel. Zur Bezeichnung des 26. Dec würde Lather
immer gesagt haben die Steph, proUnn. Das Datum dieses »cursimc geschriebe-
nen Briefes: Altera natiyatis 1516 ist abgekürzt. Ich ergänze »Mariaec und
löse es dann auf: Montags, an Marien Geburt (8. Sept.) 1516. Das würde auch
50*
724 Gölt. gel. Anz. 1887. Nr. 19.
pectet did ata mea super pscdterium. Quae quamvis eapiam nua-
qoam et nuDqnam edi, tameo coactas praecepto noDdam qnidem satis-
feci, nQQe aatem absoluta professiooe lectionis PaoliDae, huic uni me
dedam operi assiduum. Sed et ubi absoluta fueriut, non ita sunt
coüectay ut me abseDte possint escudic. Versteht man nun unter den
didata das »Dictierte« oder die Olosse, so würde man annehmen
mttssen, daft es sich eben um deren Drucklegung handelt Das
würde bei ihrer Bescbaffenheit schon an und für sich auffallend sein
[auch Kawerau nimmt an (S. 2), daft es sich vielmehr um die Vor-
lesungen handelte], wird aber bei näherer Betrachtung, zumal unter
Hinzunahme anderer Stellen unmöglich. Luther gibt an, seine Dik-
tate seien non ita coUecta, daft sie in seiner Abwesenheit gedruckt
werden könnten. Auf didata bezieht sich also diejenige Thätigkeit,
die Luther colligere nennt, die ihn veranlaßt, sich (Enders X, 67)
als einen coüedor psaiterii ^) zu bezeichnen, und ohne Zweifel wird
man als das Resultat derselben das ansehen mtlssen, was Luther als
collectumf colleda citiert. Da nun aber Luther mit dem Ausdruck
vide in coüedis etc. nicht auf die Olosse verweist, sondern, wie ganz
besonders aus den Bd. IV, 863 ff. abgedruckten Adnotationes zu dem
Psalterinm des Faber Stapulensis ^) hervorgeht, immer auf die Psalmen-
vorlesung, so sind die Dictata und die Gollecta oder das Commen-
tum identisch^ eben der Dresdner Psalter, und kann jene Stelle für
die Annahme, daß Luther die Glosse diktiert habe, nicht verwendet
werden. Wäre die Glosse, wie ich früher annahm, als eine Art
Leitfaden diktiert worden, an den sich dann der mündliche Vortrag
nur anschloß, so müßte man dieselbe gewissermaßen als Quintessenz
von Luthers Vorlesung ansehen. Nach der jetzt aber möglieben
vollständigen Vergleichung halte ieh dies für ausgeschlossen. Liest
man z. B. sogleich in Psalm 4, die Auslassungen über die Rechtfer-
zu der in demselben Briefe erwähnten Beendigung der Vorlesung des Römerbriefs
passen, auf die Luther am 27. Okt. desselben Jahres die über den Galaterbrief
folgen ließ und dazu, daß er sich in demselben Briefe vom 26. Okt. 1516, wo er
dies erzählt (Enders I, 67) noch collector psalierii nennt.
1) Was diesen Ausdruck anbelangt {lector Pauli, collector psalterii, coUigere,
colhcta), so beziehe ich ihn jetzt auch mit Seidemann auf das Bewußtsein der
Unselbständigkeit, auf das Zusammentragen aus den alten Autoren, und wenn er
dieses Zusammentragen mehr bei der Auslegung des Psalters als bei den pauli-
Bischen Briefen betont, darf man daran denken, was Luther fiber diese Zeit in
der Schrift »Von Ccmcilien und Eirchenc Erl. A. 26 S. 230 f. schreibt : »Da ick
die Epistel ad Ebraeos furnahm mit St. Ghrysostomus Glossen und Titum, Gala*
tas, mit Hälfe St. Hieronymi, Genesin mit Hülfe St. Ambrosii und Augnstim;
den Psalter, mit allen Skribenten so man haben kann.
2) Dieselben waren dem Herauatgeber, als er die Einleitung zu den »Diktates«
schrieb und den Druck begann, noch nicht bekannt.
Dr. Martin Luthers Werke, m. IV. 725
ti^ng ans dorn Olauben, so wird ma/n erstannt sein, in der Glossn
davon kein Wort zu finden. Eb kommt natttrlioh vor, daß wir in bei-
den dieselben Erklärungen finden (z. B. fast wörtlich Bd. Ill, S. 77
Z. 1 — 8 nnd 74 Z. 29 ff.), aber doch nur selten, nnd teilweise ist die
Anslegovg eine ganz andere. Man verg). z. B. in dems. Ps. 1, y. 1
die Auslegung des Cum invocarem^ wobei die Olosse wie im gan-
zen Psalm eine Beziehung auf Christum findet, mit der durchweg
praktisch - paraenetischen Erklärungsweise im »Psaiterc Ebenso
Ps. 5 etc. Sehr beachtenswert ist auch eine Auslassung in der Er-
klärung des Ps. 42, V. 7 (S. 240) ^Ahyssus* ut supra expcmatur.
Potest etiam aliter exponi, ut scilicet utrumque pro sancto ut in
glosa€. Hiernach verweist Luther zuerst auf eine frfiher bei demsel-
ben Psalm gegebeue Auslegung und ftlgt hinzu: es kann auch anders
ausgelegt werden, wie in der Glosse; daß aber jemand im mündlichen
Vortrag in dieser Weise auf die im Leitfaden gegebene Erklärung
als eine allenfaifs auch angängliche verwiesen haben sollte, halte ich
fttr unmöglich. Das Alles veranlaßt mich jetzt zu der Annahme, daß
die Glosse den Zuhörern schwerlich vorgelegen haben wird. Ich
denke mir das Verhältnis so, daß Luther zunächst seinen Text durch-
gearbeitet und dabei sich seine Notizen gemacht hat, daß er diesel-
ben bei der Ausarbeitung seiner Vorlesungen natürlich benutzte, aber
sie doch in sehr freier Weise verarbeitete und oft für das, was er
sagen wollte, in seinem Heft auf die Glosse verwies^), was er um
so eher thun konnte, als er in der Vorlesung natürlich seinen
Text und damit seine Glossen bei sich hatte. Dabei bleibt
bestehn, daß der weite Drack des Textes, den er seinen Zuhörern in
die Hand gab, zur Eintragung von Notizen aus der Vorlesung die-
nen sollte.
Sind diese Darlegungen richtig, dann würde man freilich nicht
nnr an der Berechtigung des von Kaweran fttr beide Bearbeitungen
gewählten Gesamttitels »Dictata super psalterinm« zweifeln müssen,
sondern auch an der des Editionsverfahrens. Indessen sind auch
die Beziehungen zwischen beiden Bearbeitungen keine so enge, wie
der Heransgeber annimmt, so sehe ich in der Art der Wiedergabe
doch keinen Mangel, da Glosse und Psalter sicher ziemlich in die-
selbe Zeit fallen nnd die Gegenüberstellung ganz besonders Luthera
Art zu arbeiten illustriert. Auch habe ich, am das noch einmal her-
vorzuheben, um so weniger das Recht zu einer Kritik, als ich bis-
her im Großen und Ganzen dieselbe Vorstellung hatte und erst nach
1) Vgl. z. B. folgende etwas dunkle Verweisung auf einen Zettel zu Rom. 15
vide Bthliam Rom. 15 in scedula Bd. IV, 458, wozu KaweraTi anmeilft: Eine
Notiz, die offenbar nnr für Luther selbst, nicht für seine Zuhörer bestimmt ist.
726 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 19.
Einsicht in das Ganze and in die Adnotationen za Fabers Psalter
eines Besseren belehrt wnrde.
Was die sonstige Editionsarbeit anbelangt, so gebtthrt dem
Heransgeber fttr die ttberaas mühsame Arbeit der Entziffernng der
Wolfenbtltteler Glosse sowie der auch nach Seidemanns Arbeit sehr
notwendigen nochmaligen Kollation des Dresdner Psalters der
wärmste Dank. Sehr geschickt und übersichtlich sind aach die
Randbemerknngcn beider Handschriften wiedergegeben worden. Vor
Allem verdient aber als ein sehr erheblicher Vorzug dieser Eawe-
raaschen Edition, zum Teil im Gegensatz za den früheren Bänden,
herrorgehoben za werden, daß der Heraasgeber sich nicht aafbloften
Abdruck beschränkt, sondern danach gestrebt hat, das von ihm ge-
lieferte aach nutzbar zu machen , bezw. die Benutzung zu erleich-
tem. Dahin zielen die zahlreichen Anmerkangen, in denen der
Herausgeber nach Möglichkeit feststellt, auf welchen Vorgängern
Luther fußt. Erwähnenswert ist, daß von Neuem konstatiert werden
konnte, daß Luther bei seinen Psalmenvorlesungen kaum irgendwo
auf den Grundtext zurückgeht, und wo er, wie sehr häufig, auf den
Hebräus verweist, er niemals den Grundtext darunter versteht, son-
dern des Hieronymus psalterinm iuxta Hebraeos.
Was Luthers Zuhörer anbelangt, kann ich dem Herausgeber
nicht beistimmen. Er denkt sich die Vorlesung lediglich vor Mönchen
gehalten. »Der Mönch redet in ihr zu Mönchen, wir hören den vom
Augustinerklostcr bestellten Cursor bibliae reden , der seine Zuhörer
mit patres et fratres anredet«. Richtig ist, daß die Beziehungen auf
das Elosterleben sehr zahlreich sind, das gleiche gilt von der Anrede,
indessen glaube ich, daß man zu weit geht, wenn man daraus schließen
wollte, daß Luther nur vor seinen Augustinermönchen ge-
sprochen. Wenn jene Anrede gebraucht wird, so geschah es wohl
in Bücksicht darauf, daß die Mehrzahl seiner Zuhörer Mönche —
aber nicht bloß Augustioermönche waren. Einen Beweis dafür,
daß Luther diese Vorlesung lediglich fttr seine Ordensbrüder und
nicht als akademischer Professor gehalten, kann ich weder in der
Anrede, noch in der durchgehenden Beziehung auf das Mönchsleben
und seinen Gehorsam finden. Unrichtig ist es sicher, wenn Eaweraa
Luther den vom Augustinerkloster bestellten Cursor bibliae nennt
Diese Stufe hatte Luther längst hinter sich, er war vielmehr re-
gens studii.
In Band IV, der in seiner ersten größeren Hälfte den Schloß
der Psalmenvorlesung bringt, bietet der Herausgeber etwas bisher
vö!lig Unbekanntes, nämlich Luthers Adnotationes zu dem
Dr. Martin Luthers Werke, m. IV. 727
Qainooplex Psalterinm des Faber Stapulensis, die Luther in
seine (Bd. IV, 464 näher beschriebene) Ausgabe desselben notiert.
Dieser kostbare Band ans Luthers Bibliothek ist wie der Psalter
von Dr. F. Schnorr von Carolsfeld in der Dresdner Egl. Bibliothek
neu entdeckt worden, leider erst nachdem die Psalmenvorlesnngen
größtenteils gedruckt waren. Mit Recht bemerkt der Herausgeber
»ein wertvolles St tick aus Luthers Handbibliothek ist hier entdeckt,
ein Buch, dessen Randglossen uns einen unmittelbaren Einblick in des
Reformators Studierstube gewähren. Wir sehen hier, wie er für seine
Vorlesungen verarbeitet, wir können kontrollieren, mit welchen Hülfs-
mitteln er in das Schriftverständnis einzudringen bemüht istc Daft
Luther sich in vieler Beziehung von Faber Stapulensis führen ließ,
wußten wir schon; wie groß dessen Einfluß war, und wie er zu
Stande kam, erfahren wir erst durch dieses Buch mit seinen oft sehr
umfänglichen Anmerkungen, das zugleich den nie rastenden Fleiß des
Reformators in immer erneuter Durcharbeitung der Psalmen wie seine
werdende Selbständigkeit erkennen läßt, denn an manchen Stellen
sieht er sich auch zum Widerspruch veranlaßt.
Da die Adnotationen keine Daten enthalten, die wenigen Stellen,
in denen Luther in seinen Briefen Faber Stapulensis erwähnt, keine
Anbaltepunkte zur Zeitbestimmung der Adnotationen liefern, ist die-
selbe, wie das Verhältnis zu der Glosse und dem Dresdner Psalter
nicht genau zu bestimmen. Da die Ausgabe, in der die Notizen sich
finden, schon aus dem Jahre 1509 herrührt, konnte man versucht
sein, sie früher als die Glossa und die Scholae anzusetzen. Das ver-
bietet sich aber dadurch, daß Luther mehrfach auf die Gollecta ver-
weist und einzelne Ausführungen z. B. zu Ad victoriam in Ps. IV
auch deutlich die glossa voraussetzen. Man wird daher dem Heraus-
geber Recht geben müssen, wenn er sagt (IV, 465): »Somit werden
wir annehmen müssen, daß diese neuentdeckte Arbeit Luthers im
Wesentlichen neben den beiden neuen Niederschriften über die Psal-
men, der OloBsa und der Scholae gleichzeitig hergegangen, also auch
den Jahren 1513 ff. zuzuweisen ist«. Mit weniger Bestimmtheit möchte
ich mich der Meinung anschließen, »daß sie als die erste gewisser-
maßen als eine Präparation zu gelten haben wird, so daß wir für
Lathers Arbeit die Folge Adnotationes, Glossa, Scholae« haben. Dazu
scheint Eawerau durch die in ihrer Beweiskraft zweifelhafte Beob-
achtung geführt zu sein, daß bei Citaten der Gollecta in der Regel
anf frühere Psalmen verwiesen wird. Wenn nicht die Thatsache,
daß eben doch bei vielen Psalmen gar keine Bemerkungen sich finden,
gegen die Auffassung spräche, in jenen Adnotationen eine Art Prä-
paration zu der späteren Glosse in dem Psalter zu sehen, könnte man
728 Qött. gel. Ans. 1687. Nr. 19.
darauf verweisen, daA Olossa und Adnotationes sieh insofioni näher
stehn, wie Glossa and Annotationes, als sich yieUach zeigen ISM, daS
da, wo Adnotationes und Glossa in der Beziehnng der PsafaneBaot-
sagen auf Christas sehr entschieden sind, dieselbe in der Begel in
Scholae fehlt. Man vergleiche den z. B. Ps. VII aller drei Aasl^inngeiL
Von zeitgeschichtlichen Bemerkangen bieten die Adnotationes
leider nichts. Beachtenswert ist die Rahe, ja Ablehnang, mit der
Lother von der Prädestination spricht. So sagt er einmal IV, 470
»De iadicio aatem discretion is et electionis non volait nos Dens molta
scire: ideo ei reliqaendamc. Damit vgl. S. 503, Z. 22 f. Zweimal
verweist Lather aaf Predigten : Vide sermonem Dominica 4. post pern-
tec.f S. 511 and Vide sermonem de Philippo et JaeobOy S. 518. Die
einzige Predigt anter den vorhandenen, an die man bei dem letzten CSitat
denken könnte, wäre die nach der jetzt allgemeinen Annahme am 1. Mai,
also am Tage Philippi Jacobi gehaltene contra tniium detractianis^
Weim. A. I, 44 vgl. IV, 675 i ihr Inhalt will aber nicht passen, so
daß also daher für die Datierung nichts gewonnen werden kann.
An dritter Stelle bringt der vierte Band eine ebenfalls bisher
in allen Latberaasgaben fehlende Arbeit, die Praelectio in librum lur
dicum. G. Bachwald in Zwickau hat sie zuerst aus einer Hand-
schrift der Stephan Rothschen Sammlung der Zwickauer Batschulbiblio-
thek herausgegeben. Daß wir es hier wirklich mit einer Luthervor-
lesung und nicht, wie Dieckhofif (Zeitschrift f.k. Wiss. 1884. S. 638 ff.)
annahm, mit einer von Staupitz herrührenden za than haben, war von
mir bereits in der theol. Litteratnrzeitung 1884. Sp. 558 ff. nachgewie«
sen worden, und wird jetzt wohl nicht mehr bestritten. Desto fraglicher
ist die Zeit. In seiner Einleitung S. 527 stimmt Kawerau auf Grand
neuer Untersuchungen mit mir darin iiberein, daß diese vor Mönchen
gehaltene Vorlesung, die in vieler Beziehung fragmentarisch ist, etwa
im Herbst 1516 ihren Anfang genommen habe, glaubt aber, obwohl
er anerkennt, daß einzelne frappante Aeußerungen uns mitten in die
Zeit des Kampfes hineinführen, doch an die Möglichkeit, daß sie
schon 1518 zum Abschluß gebracht worden sei, während ich auf
Grund des von mir nachgewiesenen Zusammenklanges (a. a. 0. Sp. 561)
mit Auslassungen im Sermon von den guten Werken sie bis ins
Jahr 1520 fortgesetzt dachte. Neuerdings ist aber die Sache ver-
wickelter geworden, als Kawerau nachträglich (vgl. theol. Litteratnr-
zeitung 1886 S. 416 und dann Bd. IV Nachträge nach der Vorrede)
gefunden hat, daß eine Stelle, die in der fraglichen Vorlesung mit
einem T^Iccirco beneloaäas estüle* eingeführt wird, einem Briefe des
Erasmus vom 15. Mai 1524 an Nicolaus Everardus entstammt, der
Dr. Martin Luthers Werke. IIT. IV. 72S
merat im opus epistalaram Bagil. 1529 p. 810 gedrückt worden ist.
Man wird dem Heransgeber vollständig Recht geben mflssen, wenn
«r, da ein so später Ursprang ans andern Ortlnden nnmöglicfa ist,
so lange eine gleiche Aenßernng des Erasmas ans früherer Zeit
nicht anfgefanden ist, hier eine Interpolation desjenigen annimmt,
der die betreffende Vorlesung ins Reine geschrieben hat. Ist aber
eine derartige Interpolation erst nachgewiesen, so kOnnen eben so
gnt aach andere, znmal solche Stücke, die man für die Zeitbestim*
mnng benutzen wollte, eingeschoben sein, wie dies z. B. Dieok-
hoff bezüglich eines Passus , der mit Auslassungen in den Predigten
über die Decern praeoepta übereinstimmt , vermutete. Das wird
aber sehr wahrscheinlich , da Eawerau , durch eine Bemerkung
Dieckhoffs zu weiteren Nachforschungen veranlaßt, gefunden hat, daS
»zahlreiche Abschnitte gar nichts Anderes sind als —
meist abkürzende — Abschrift aus Augustin und zwar
jedesmal ohne Nennung der Quelle«. Dieselben sind von
Kaweran bei seinem Abdruck sämtlich kenntlich gemacht. Da nun
aber ein Hinttbemehmen fremden Gutes ohne Namennennung nicht
Luthers Weise ist, so kommt Kaweran (Theol. Litteratur-Zeit. 1886
Nr. 18 Sp. 417) zu dem gewiß richtigen Schlüsse, »daß diese Stücke
— sie treten meist gruppenweise auf — nur dem Verf. der Nach-
schrift angehören kOnnen. Das Zwickauer Mskrpt stammt also aus
einem Kollegienhefte, dessen Verf. die Lücken, die ihm beim Nach«
schreiben entstanden waren, bona fide mit selbstfabricierten Excerpten
aus Augustin gefüUt hat. Oder, was mir noch wahrscheinlicher
dünkt, der Verfasser der Reinschrift hat Lücken des ihm vorliegen-
den Manuskripts aus Augustin ergänzte Nimmt man dies Alles zu-
sammen und zieht auch sonst den fragmentarischen Charakter des
Manoskripts in Betracht, so scheint es ziemlich überflüssig, sich noch
weiter mit der Frage nach der Zeit hernmzuqnälen. Was wir durch
diese Vorlesung, von der man unnötig viel Aufhebens gemacht hat,
für die Lutherforschung gewonnen haben, das wird wenig mehr sein,
als daß wir wissen, daß Luther nach 1516 vor seinen Klosterbrüdern
eine Vorlesung über das Richterbuch gehalten — und daß man in
der Wertschätzung von Kollegienheften und von sonstigen ihm zu-
geschriebenen Schriftstücken, die nicht von seiner Hand berrihren,
künftiger etwas zurückhaltender sein wird.
Trotz der Einsicht in den nachgerade sehr gesunkenen Wert diieees
Zwickaaer Manuskripts (in dessen Schreiber der erste Herauflgeber
jetzt [vgl. Bnchwald, die Lntherfunde der neueren Zeit, Zwieka«
1886. S. 8] Stephan Roth erkennen will, während er früher Oeerg
Börer vermutete)^ bat Kaweran mit großer Sorgfalt den riehtigeii
730 öött. gel. Anz. 1887. Nr. 19.
Text herzustellen gesucht und in dankenswerter Beiehhaltigkeit er-
läuternde Notizen und Nachweise gegeben.
Erheblich wertvoller sind die nächsten Stttcke, die ebenfalls der
Zwickauer Bibliothek und zwar der großen Sammlung von Luther-
predigten entstammen, die der Erfurter Prediger Andreas Poach an-
gelegt, und über welche 0. Buchwald mehrfach u. a. in »Andreas
Poachs handschriftliche Sammlung ungedruckter Predigten Dr. Mar-
tin Luthersc etc. Leipzig 1884. L berichtet hat. Es sind zwei Pre-
digten, die Poach nach seiner Angabe einem Autograph Luthers im
Erfurter Augnstinerkloster entnommen hat. Die naheliegende Ver-
mutung Buchwalds (a.a.O. I, S. XII), daß sie dem zweiten Aufent-
halte Luthers in Erfurt angehören und damit mit das Früheste sein
konnten, was wir von Luther besitzen, hat sich nicht bestätigt Sie
sind nicht an Mönche gerichtet. Eawerau wird das Richtige treffen,
wenn er sie fttr Wittenberger Oemeindepredigten hält, dereu Mann-
skript Luther vielleicht an Job. Lang geschickt hat Sie sind übri-
gens sehr beachtenswert, besonders die zweite, eine Pfingstpredigt
mit ihrer wunderlichen Darstellung der Trinitätslehre. Man em-
pfängt da einen lebhaften Eindruck von Luthers Werden, wenn man
z. B- inmitten scholastischer Partitionen und spekulativer Subtilitäten
Aussagen begegnet wie diesen: »Quid nunc nobis cooperandum est
Deo pro nobis tanta operanti? Respondit Dominus: Omnis qui cre-
det in eum. Credere igitur sufficit: hoc est nostrum cooperari<
(S. 60). Oder weun in der ersten der beiden Predigten auf den
Satz: »Haec doctrina probatur triplici antoritate: ratione, autoritate,
similitudine« die Erklärung folgt: »Autoritate, teutonice mit
gespruchen der Schrifftc, und der Autorität der Väter gar keine Er-
wähnung gethan wird. (S. 91). Man weiß, wie Luther sich an ein-
zelnen alten Liedern erfreut hat, u. a. das Pfingstlied 'Nun bitten
wir den heiligen Geist' hoch geschätzt hat. Was es ihm war, tritt
wohl nirgends so deutlich hervor als in einem Ausruf in dieser
Pfingstpredigt: »Nonne dulce est, quin duicissimum, Wan wir beim-
farn ans diesem elend? Quanta est in istis verbis emphasis: heim
aus diesem elend! Unnm sonat risum et tripudium, aliud lacrimas
et rugas ostendit (S. 603). —
Den Schluß des Bandes bilden (aus einem Stephan Rothseben
Manuskripte) Predigten, und kürzere oder längere Eollectaneen aus
Predigten, Vorlesungen, die der Herausgeber in der vorgefundenen
Reihenfolge unter Beibehaltung des der Handschrift entnommenen
etwas unklaren Titels: Ä Luthero quaedam coUecta sparsim tufn in
cofUionilms tum pradectionibus Wittenbergae zum Abdruck bringt.
Wie weit hier der Wortlaut als von Luther herrührend angenommen
Dr. Martin Luthers Werke. III. IV. 731
werden darf, läßt sich natürlich schwerlich feststellen. Interessant
ist das Bmchstttck »De sacerdotnm dignitate sermo«, eine Predigt,
die wohl bei Gelegenheit einer Primizfeier gehalten worden ist, denn
dahin wird man den Anfang za verstehn haben : »Dweil wir ein erste
mesz haben szomnszen wir etwas von den Priestern szagenc (S.655).
Zum Schluß ließe sich De Wette I, 116 ff. heranziehen. Mehrere
Predigtfragmente führen ans mitten in den Kampf. So die Predigt
vom Frohnleichnamsfest S. 700 ff. und die über Matth. 6, 24, die
(vgl. die Identificierang des Papsttums mit dem Antichristentnm)
nicht vor 1520 -gehalten worden sein können. In derselben Hand-
schrift finden eich anch vier der schon in Bd. I ans Löscher, vollst.
Reformations-Akten, entnommenen Predigten, in znm Teil erheblich
abweichender Recension, weshalb sie hier noch einmal abgedruckt
sind. Wer sie vergleicht, wird von Neuem den Eindruck gewinnen,
daß in Anbetracht der freien Art, mit der Nachschreiber und Ab-
schreiber mit Luthers Predigten verfuhren, es in den seltensten Fäl-
len bei den nur handschriftlich überlieferten Predigten gelingen wird,
einen echten Text herzustellen, und fast dasselbe gilt von allen nicht
von Luther selbst herausgegebenen Predigten, was die von Eawerau
mehrfach dargethane Benutzung der vorliegenden Fragmente zu der
einen oder andern uns aus Drucken bekannten Predigtrecensionen
von neuem bestätigt. Den richtigen Modus für eine kritische Aus-
gabe derselben zu finden wird nicht ohne Schwierigkeit sein. Jeden-
falls darf Niemand daran gehn, der nicht das ganze Predigtmaterial
ttbersieht. Sollten die Grundsätze, die Buchwald (Lutherfunde
S. 117) für die Herausgabe proklamiert hat, wirklich in allen ihren
Teilen die maßgebenden werden, so würde ich das mit Tb. Brieger
(Deutsche Litteraturzeitung VIII. Jahrg. 1887 Nr. 30) für sehr be-
denklich erklären müssen.
Ich schließe diese Anzeige mit dem Wunsche, daß auch die
folgenden Bände einen gleich kundi{;en wie sorgfältigen Heransgeber
finden möchten, und in der Hoffnung, daß der von Knaake selbst in
Angriff genommene Band nun nicht mehr zu lange auf sich war-
ten läßt.
Eriangen. Th. Eolde.
782 OAtt. gel Anz. 1887. Nr. 19.
Hauck, A., Eirchengesehichte DeatschUnds. T. I. Bis zum Tode
des Bonifatius. Leipzig 1887. Hiorichs' Verlag. VUI, 657 8. gr. 8r
Oboe Vorrede, welche über Plan, Umfang und zeitliche Begren*
Bung der geetellteii Anfgabe Anfachlaft gäbe, erscheint hier der erste
Band einer Kii'chengeBcbichte Dentscblands , also eines jedenfmlls
groften und amfassenden Unternehmens. Von den Anfängen, dem
Christentam in den Bheinlauden während der Bömerzeit (Boch l\
fährt dieser erste Band durch die Oescbicbte der fränkischen Lan-
deskirche (Buch II) zur Thätigkeit der angelsächsischen Missionare
in Deutschland bis herab zum Tode des Bonifatius (Buch III). Die-
ser Band bewegt sich also noch ganz innerhalb des zeitlichen 6e«
biets, welches Rettberg in seinem Meisterwerk beÜanddt hat Seit
dem Erscheinen dieses bahnbrechenden und noch heute unentbehrli-
chen Werkes, das fUr die methodische Kritik die Grundlagen le-
gend zugleich so positiv anregend und fördernd gewirkt hat, wie
wenige, haben wir bei massenhaften Arbeiten für das Einzelne und
zahlreichen größeren Arbeiten, die nach der einen oder andern Seite in
die Sache einschlagen, keine Wiederaufnahme der gleichen Anfgabe,
die nicht hinter dem von Rettberg erreichten zeitlichen Ziel (Karl
d. 6r.) noch znrückgeblieben wäre. Krafts Deutsche Kirchengeschichte,
viel weiter zurückgreifend als Rettberg, ist in den gotischen Anfän-
gen abgebrochen; Friedrichs Unternehmen, in seinen beiden Bänden
von breitester Ausführlichkeit in der Merovingerzeit stecken geblie-
ben, bezeichnet bei manchen Verdiensten im Einzelnen und dankens-
werter Verwertung des seit Rettbergs Zeit zugänglich gewordenen
Materials im Ganzen doch einen Rückschritt an unbefangener Kritik.
Die rege Arbeit der geschichtlichen Forschung auf dem einschlagen-
den Gtobiete seit Rettbergs Zeit weist aber so bedeutende Fortschritte
der Quellenforschung wie der Verwertung für deutsche Geschichte,
für Geschichte der Kirche und des Kirchenrechts auf, dafi es in der
That sehr an der Zdt zu sein scheint, daß der Versuch einer za-
sammenfassenden Darstellung gemacht werde, welche, ohne sich in
Form kritischer Einzeluntersnchangen zu veriieren, das gesicherte
geschichtliche Material zu einem geschichtlichen Ganzen aufzabanei
sucht Bei dem massenhaften Anschwellen des Stoffs ist das ge-
radezu ein Bedürfnis, und durch eine Reihe hervorragender ge-
schichtlicher Arbeiten ist doch der Boden für eine solche so weit
geebnet, daß eine berufene Hand sie ausführen kann. Welche
großen Schwierigkeiten dabei und bei einer ebenmäßigen Fortsetzung
des Unternehmens durch das Mittelalter hindurch zu überwinden
sind, wird sich der Verf. des vorliegenden Buchs selbst am wenig-
sten verborgen haben.
Hauck, Kirchengeschichte Deutschlands. I. 783
Ueberlassen wir aber vorläufig dem rttstigen Verf. die Sorge (Ar
die weitere Darcbftthroiig der großen Aufgabe, die er sich gestellt
zu haben scheint, «nd halten uns an das im ersten Bande uns ge-
botene. Daß derselbe nicht bloß als Kompilator, sondern als mit-
arbeitender Forscher auftritt, davon wird den Kundigen die Prfl-
fang desselben ttberzeagen. Seine zahlreichen, wenn auch notwen-
dig knapp gehaltenen Auseinandersetzungen mit andern Forschern
über einzelne Fragen in den Anmerkungen lassen bei aller gebote-
nen Beschränkung dies ebenso erkennen, wie die überall sich kund-
gebende Vertrautheit mit den Quellen und der einschlägigen Litte-
ratur. Auch die Abgrenzung des Qegenstandes und die geschicht-
liche Anordnung scheint mir im Ganzen zu Ausstellungen keine Ver-
anlassung zu geben. In ersterer Beziehung könnte man allenfalls
wünschen, daß der Verf. bei Qelegenfaeit des bedeutungsvollen Ein-
greifens der irischen Glaubensboten Veranlassung genommen hätte,
seine Anschauung vom irisch-schottischen Kirchen wesen zusammen-
hängend zur Darstellung zu bringen. Indessen da die besonders
durch Ebrard veranlaßte Bh)cbflttt mit ihrer mannigfachen Verwirrung
bereits als verlaufen angesehen werden muß und wenigstens in ge-
wissen Hauptpunkten sich das wissenschaftliche Urteil ziemlich kon-
solidiert hat, mag es gerechtfertigt erscheinen, wenn der Verf. dar-
auf nicht ex professo eingeht, sondern nur nach Erfordern gelegent-
lich zurückgreift.
Wenn der Verf. auch die deutsche Kirchengeschichte erst mit
der Bekehrung der Franken beginnen läßt, so war doch natürlich
ein Zurückgreifen auf das römische Christentum der Rhein- und
Donanlande unumgänglich, schon um die für das Entstehn germani-
schen Christentums so wichtige Anknüpfung an Reste römischer
Stiftungen zu verstehn, insbesondre aber vm die Verschmelzung des^
fränkischen Christentums mit dem der romanisierten keltischen Be-
völkenug zur Anschauung zu bringen, welche zu ei«em guten Teile
für die ganze folgende frärukisch-germanische Entwicklung gntnd^
legend ist. Für die Auffassong dieser Anfänge sind die Sätze von
Bedeutung, einmal : nicht Rom hat die [von ihm eingeleitete und- sehr
aUmähUch sich vollziehrade] Romanisierui^ Galliens vollendet,
aoodksm erst die Kirch e.. Gelten im mittleren Gallien gegen Ende
des vierten Jahrhunderts die Sttdgallier als vollkommene Römer,
so dofih nur diese. Völlig wich das Kdftische dem Lateinischen erst,
naohdena an die Stelle der Bömerherrschaft die Frankenherrsehaft
getreten war. Sodann: die germanisehe Kirche der Röraerzeit be-
schränkte sich im Wesentlichen auf die lateinischen (ftreiKefa von
^Uen Enden der otttovi^iwif zusaumengewIlrfeUen) Beweboer der
734 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 19.
Städte. Endlich: »In Gallien nnd Germanien entstand nicht eine
keltische und germanische Kirche neben der lateinischen , wie im
Orient eine syrische neben der griechischen c. In dem anziehenden
Gemälde, welches der Verf. im zweiten Kapitel: zar Charakteristik
der religiösen nnd sittlichen Anschaaangen des römischen Galliens
in der Zeit etwa von Martin v. Tours bis Ausgang des fbnften Jahr-
hunderts an der Hand besonders des Snlpicius Severus, Salviana nnd
den Schriften des Sidonius Apollinaris entwirft, ist es besonders das
Verhältnis des asketischen und mönchischen Christentums zum welt-
förmigen und zum Episkopat, welches in seiner alünählichen Ent-
wicklung mit Aufmerksamkeit verfolgt wird von der anfänglichen
schroffen Stellung eines Martin von Tours an. Das Bild wQrde hier
wohl noch einige Modifikationen erfahren, wenn der Verf. die sfld-
gallischen Verhältnisse, die ja allerdings von seiner eigentlichen Auf-
gabe ferner lagen, mit herangezogen hätte. Darüber, daS der Verf.
die eigentlich theologischen Bewegungen des fünften Jahrhunderts
in Gallien, jene nicht unbedeutende Blüte der semipelagianiscben
Theologie, von seiner Darstellung ausgeschlossen, wird man ihm
keinen Vorwurf machen dürfen. Was übrigens den Geist des aske-
tischen Christentums in Gallien betrifft, so zieht der Verf. zu seiner
Charakterisierung entsprechend seinen früheren Nachweisungeu (in
Luthardts Zeitschrift für kirchl. Wissensch. 1885, 357 ff.) auch die
unter Columbans Namen gehenden Instructiones mit heran, wie ich
glaube mit Recht, denn seine Untersuchungen bestätigen in der That,
daB man es hier mit einem Schüler des Faustus Rejensis zn thun
hat. Ich möchte bei dieser Gelegenheit hinweisen auf den Anklang
an das Athanasian. Symb. in diesen instructiones: Credat igitar pri-
mum omnis qui vult salvus esse etc. — Noch möchte ich in diesem
1. Buche auf die Erörterung über die erst im Anfang des f&nften
Jahrhunderts in der Konsolidation begriffene kirchliche Organisation
durch die Metropolitanverfassung hinweisen. Hier wird wohl doch
Loening (I, 370 ff.) hinsichtlich des bekannten Streits zwischen Arles
nnd Vienne um den »Primate d. h. doch eben die Metropolitan-
stellung, über welchen die Turiner Synode Entscheid gab, Recht be-
halten gegen Hauck (S. 37 Anm.). Wenn diese Synode entscheidet,
derjenige solle die Ehre des Primats haben, der den Beweis erbracht
haben werde, daß seine civitas die metropolis sei, so kann metrop.
hier schlechterdings nur von der politischen Provinzialhauptstadt
verstanden werden. Die Verhältnisse, unter denen dies ftlr femer
stehende oder in einem gewissen Zeitpunkt zweifelhaft sein konnte,
sind von Loening meines Erachtens richtig bezeichnet. Sie sind be-
stimmt durch die Verlegung des politischen Mittelpunkts, der Resi-
Haucky Eirchengescbichte Deutschlands. I. 785
deDz des Präfektus Prätorio von dem gefllhrdeten Trier nach Arles,
der schon früher von den Kaisern begünstigten bisherigen zweiten
Stadt der Prov. Viennensis. Es handelt sich also nicht um eine ein-
fache Verlegung des Sitzes einer Provinzialregiernng von einer Stadt
nach der andern; sondern daram, ob sofort aus der Verlegung des
Präfektnrsitzes die Konsequenz gezogen worden, welche Vienne sei-
ner bisherigen Bedeutung entkleidete. Bald darauf wird in der be-
kannten Konstitation des Kaisers Honorius von 418 Arles ausdrück-
lich und man könnte meinen mit einer gewissen Geflissentlichkeit
als metropolis bezeichnet.
Wenden wir uns zum IL Buche, so notiere ich ans der Dar-
stellung der Bekehrung der Alamannen, Burgunder und Franken, in
Betreff der ersteren, daft H. darauf aufmerksam macht, wie von den-
jenigen alamannischen Qebieten, auf denen bei der späteren Be-
setzung durch die heidnischen Alamannen sehr wohl sich Reste rö-
misch-christlicher Stiftungen hindurch retten konnten , das Deknma-
tenland, ihre früheste Niederlassang auf römischem Gebiet im dritten
Jahrhundert zu unterscheiden* ist, welche etwa schon vorhandenes
Christentum abbrechen mußte, da die vorhandene römische Bevölke-
rung sich mit den Legionen zurückzog. Die Burgunder betreffend
hält H. die Notiz des Sokrates (h. e. 7, 30) über die Bekehrung der
rechtsrheinischen Burgunder um 430 gegen die chronologischen Be-
denken Rettbergs fest, indem er dies Ereignis unterscheidet von dem
durch Orosius gemeldeten, etwas früheren. Hinsichtlich der Bekeh-
rung der Franken tritt er für die durch die legendarischen Akten
der h. Genovefa begünstigte Annahme der bereits kirchenfreundlichen
Gesinnung Childerichs, des Vorgängers Chlodwigs, auf Grund jenes
Kapitulars des Ghlotachar ein, dessen Beziehung auf Chlotar I. er
gegen Waitz, Boretins a. Loening glaubt festhalten zu können und
wegen Bezugnahme der zweiten Synode von Toniti auf dasselbe
festhalten zu müssen. In der Darstellung der Bekehrung Chlodwigs
bei Greg. Turon. II, 29 ff. sieht H. eine Verschmelzung oder In-
einanderschiebung zweier einander ausschließender Ueberlieferungen,
deren eine gesondert vorliege in dem wegen persönlicher und zeit-
licher Nähe ins Gewicht fallenden Briefe des Nicotins v« Trier,
während die andere in der alten vita Vedasti erscheint. Letztere
in c. 30 bei Greg, eingefügte Ueberliefernng bringe Verwirrung in
die sonst gut zusammenhängende Darstellung Gregors. — In der
Schilderung der fränkischen Verhältnisse der kirchlichen Verfassung
wie des Verhältnisses von Staat und Kirche hatte der Verf. an Loennig
einen trefflichen Führer, mit dem er sich jedoch öfter anseinanderzu«
7S6 Oött. gel. Ans. 1887. Nr. 19.
setzei VeraDlaBBQDg bajt, während seine wesentlich andere Aufgabe,
die der historischen Darstellung veranlaßt» dieselben Fragen auch unter
andern Gedichtspunkten zu zeigen. Wieder aber zeichnet sich hier
der Abschnitt Über die sittlich-religiösen Zustände (S. 119—218)
durch Sorgfalt und feinsinnige Verwertung des Materials aus. Bei
rlickbaltsloser Anerkennung des so oft betonten fnrchtbaren sittlichen
Tiefstands der in Gewaltthätigkeit, Treulosigkeit, Unbändigkeit und
Gier hervorragenden Zeit versucht der Verf. doch auch der andern
Seite gerecht zu werden, zu zeigen, dafi die fränkische W^ trotz
aller Frevel nicht irreligiös war, daß ihre Religion bei all ihrem
maafliveu Aberglauben und ihrem rohen Werkdienst einen wertvollen
Kern barg, und daft die Kirche in aller Verderbnis doch die wider-
standsfähigen Grundlagen einer volkstümlichen Entwicklung za legen
vermocht hat, endlich daft der Klerus als Bildungsträger das Ab-
sterben der klassischen BUdnngsformen und die hereiabcechende
Barbarei zwar nicht aufzuhalten und die innerlich völlig hohl und
nichtig gewordene rhetorische und poetische Bildung nicht mit neuem
Inhalt zu füllen vermocht hat, daft er aber dafür »wieder anfieng
zu schreiben, um verstanden zu werden« und, dürfen wir hinzasetzen,
religiöftHsittlicb zu wirken. Wirklich ist in dieser Beziehang die
elendeste Heiligenbiogri^)hie immer noch mehr wert, als das nichtige
Pbrasengeklingel der geschraubtesten Prunkrede. Auch die Ent-
wicklung des Mönehtams nimmt hier eine wichtige Stellaog ein,
insbesondere natürlich der neue mächtige AnstoA , den Colunba mit
seinen Iren durch seine Wirksamkeit im Frankenreich gegeben.
Daß H. die instructiones nicht als Werk Golumbas gelten läftt, ist
bereits bemerkt, dagegen ist er mit allen neuem Forschern, soweit
sie sich nicht von Ebrard beeinflussen lassen, von der Aecbtheit der
Möncbsregel Columbas überzeugt, nämlich nicht hloft von der all-
seiidg anerkannten sog. regula monaet, sondern auch der eoenobia-
lis, und zwar in dem Sinne, daß beide wie ein erster und zweiter
Teil zusammengehören, unter Abweisung auch der Ansieht von
Seehaft (über Col. Klosterregel, Dresden 1883), der nur die ersten
9 Kapitel der reg. coenob. anerkennen will. Mit Becht, wie mir
scheint, urteilt H. trotz aller Anerkennung eines mächtigen idealen
Zugs, welcher durch den ersten Teil (reg. mon.) geht» daft durin im
Grunde kein andres als das aUgemein asketische Ideal des Möneh-
tums überhaupt, und zwar ziemlich stark anf dk Spitze getrieb^
seinen Ausdruck finde, und daft in der reg. coenob., {der so anstSAi-
gen i^FrttgelregeU, die kleinliche Durchführung der Strafe demselben
gesetzlichen Standpnnkt entspringe und demselben !&weeke dienen
solle: Bruch des eignen Willens dem Gebot gegenüber, und Star-
Hauck, Kircbengeschichte Deutschlands. I. 737
knng der Willenskraft dem eignen Ich gegenüber. Was das Baß-
buch nnter Golambas Namen betrifft, dessen kompilatorischer, ganz
verschiedene Bestandteile vereinigender Charakter anerkannt ist, so
ist H. geneigt in c. 13—37 den ächten Kern zu sehen, welcher auf
Columba oder seine Schüler zu Luxeuil zurückzuführen ist (s. 254
Anm. Auseinandersetzung mit Schmitz).
Als das Entscheidende für die Wirksamkeit Columbas und die
von ihm ausgehenden Wirkungen ist nach H. dies anzusehen, daß
erst mit ihm als bewußte Aufgabe des Mönchtums die religiöse Ein-
wirkung auf die Kirche, auf die Laienwelt im fränkischen Reiche
geltend gemacht wird, entsprechend der eigentümlichen Stellung und
Wirksamkeit des irisch-schottischen Mönchtums. In diesem Sinne
also ein missionierendes Mönchtum, d. h. ein solches, welches seine
Aufgabe nicht bloß in der Förderung des Seelenheils der Mönche
selbst sucht, und sich in mönchischer Vollkommenheit abschließend
für die Weltkirche etwa nur Ideale und heilige Fürbitter liefert, be-
ziehentlich allerdings fromme Bischöfe für den Kirchendienst, son-
dern das Predigt und Seelenleitung, christliche Wirksamkeit nach
Außen in seinen Beruf aufnimmt. Eigentliche Missionsgedanken aber
im engern Sinne sind dabei keineswegs das ausschließlich Bestim-
mende gewesen, worauf auch unser Verf. hinweist. Es muß ande-
rerseits auch darauf hingewiesen werden, daß das eigentümliche
Gewicht, welches auf die peregrinatio, das Ausgehn von Vaterland
und Freundschaft, gelegt wird, nicht bloß dem Missionsgedanken als
solchem gilt, sondern auch schon dem asketischen Ideal der Welt-
flucht an sich. Im Zusammenhang mit dieser Auffassung schließt
sich der Verf. an die zuletzt von Loening begründete Ansicht: »das
ganze spätere Büß- und Beichtwesen der katholischen Kirche ent-
sprang aus der Ausdehnung der Klosterdisciplin auf die Laienweltt,
und hierfür bildet eben die Uebung der irisch-schottischen Kirche
die wesentliche Vermittelung ; in ihr gab es keine öffentliche Buße
im Sinne der alten Kirche, d. h. als Rekonciliationsmittel für die
Ausgeschlossenen, aber Privatbuße, d. h. BußObungen, die von den
Geistlichen als Disciplinarstrafen auferlegt wurden und die den in
den Erlöstem über die Mönche verhängten entsprachen. Daraus ge-
winnt die Klage Columbans eine eigentümliche Beleuchtung, wonach
in der gallischen Kirche nur der christliche Glaube vorhanden sei,
äoAerst selten aber poenitentiae medicamenta et mortificationis amor
sieb fänden (Jonas, vita Col. c. 11). Das in den irischen Buß-
bttchern geltend gemachte Bußwesen ist von Columban und den
Seinen auÜB Festland verpflanzt und hier nicht durch die officiellen
Organe der Kirche, sondern durch die persönliche Autorität Colum-
aott. f »1. Ani. 1887. Nr. 19. 51
73B Gott. ge(. Aqz. 1887. Nr. 19.
bas and seiner Nachfolger verbreitet , ohne daß die bisherige Foim
der Exkommanikation und Bekonciliation darch diese daneben tre-
tende Neaernng berührt worden wäre. Hat diese ganze Anffassang,
wie ich glaube, Recht, so rechtfertigt sich H.s Urteil, daA, was Co-
lamba für Einftihrnng der Beichte that, weit länger wirkte, als was
er zur Förderang des Klosterwesens that. Hier greift die Frage
nach dem Verhältnis der Colamban-Klosterregel za der im 7. Jahr-
hnndert im fränkischen Reiche in steigender Weise sich geltend ma-
chenden Benediktinerregel ein. Aach aber den hier vorliegenden
Proceß ist H. im Ganzen mit Loening einverstanden. Wirklich wird
die Zarückdrängung der Colamban*Regel hinter die Benedikts ihren
Hauptgrund darin haben, daß die Benediktiner-Regel Bedürfnisse be-
friedigte, welche durch die Anweisungen Columbas eben nicht be-
friedigt wurden, nämlich Bestimmungen über Verfassung and Ver-
waltung der Klöster enthielt, während die Columbas nach dieser
Seite lediglich durch den Einfluß der kraftvollen Persönlichkeit er-
gänzt wurde. Es muß wohl gesagt werden, daß dem ganzen Pro-
ceß viel weniger etwa ein Bewußtsein eines Gegensatzes oder gar
eines feindlichen Verhältnisses zwischen den beiden Konkurrenten
zu Grunde liegt, als das Gefühl eines Bedürfnisses gegenseitiger Er-
gänzung, sie stehn weniger einander gegenüber als Konkarrenten,
wie mit einander gegenüber den Zerrüttungen des Klosterwesens im
fränkischen Reiche, und die Nebeneinanderstellung beider Namen in
zahlreichen Kiosterstiftungen wird eine völlig unbefangene und unver-
fäugliche sein. Allerdings nimmt H. im Unterschiede von Loening
einzelne Fälle an, in denen er eine spätere Einschiebung des Na-
mens Benedikt für wahrscheinlich erklärt. An sich ist ja diese
Möglichkeit nicht zu läugnen, ob aber die S. 284 A. besprochenen
Fälle wirklich zu dieser Annahme zwiogen, scheint mir nicht so
ganz ausgemacht. Freilich wird nun nicht zu verkennen sein, daß
der bedeutende geistliche Impuls, der von Columbas Stiftungen aus-
gieng, mit welchem auf der einen Seite das häufig erfolgreiche Stre-
ben nach größerer Freiheit der Klöster vom Bischof, auf der andern
Seite die eine Zeit lang sich zeigende Thätigkeit der Mönche für
Volkspredigt und Seelsorge verbunden war, durch das Eingreifen
der Benediktinerregel gerade in letzter Beziehung gekreuzt werden
konnte, sofern ja nach dieser die Thätigkeit der Mönche auf den
Kreis der Klöster beschränkt gedacht wurde. Man vergleiche, wie
in den Kanones des Koncils von Antun (circa 670) (Mansi XI, 127)
an die Befolgung der Klosterregel, speciell der des heil. Benedikt
nur die Hoffnung geknüpft wird: et numerus monachorum deo pro-
pitio augebitur et mundus omnis per eorum orationes assiduas mali9
Uauck, KirciieDgescbichte Deutschlands. I. 739
carebit cootagiis, nieht aber etwa die Hoffnung einer fracbtbaren
Wirksamkeit auf die Laienwelt in ihrem Bereicb. Indessen wenig-
stens auf dem Gebiete der Mission setzen ja jene Impulse sieb aueb
in dem Benediktiner-Mönebtum nun mächtig durcb.
Mit der von der großen Gestalt Golumbas beberrscbten Darstel-
lung des Mönchtums hat der Verf. die Zeit erreicht, welche den Höhe-
punkt der fränkischen Kirche zeigt^ mit deren £rstarkung er nun
auch den Ausbreitungstrieb in Verbindung setzt; er bandelt daher
hier von den Bemühungen um Christianisierung sowohl in den nörd-
lichen Grenzdistrikten (Amandus und Eligius) als auch in unter
Austrasieu stehenden deutschen Landschaften (Alamanieu und Baiern).
Was das erstere betrifft, wird die unter Chlotar II. vorgenommene
Bevision des alamanischen Gesetzes herangezogen. Den h. Pirmin
glaubt H. für einen Angelsachsen halten zu dürfen; da einerseits die
Grabschrift Pirmins von Raban ihn als peregrinns bezeichnet, der
Vaterland und Freundschaft verlassen habe (wie auch die Diplome
die Mnrbacher Mönche als congregatio peregrinorum bezeichnen), was
eine fränkische Herkunft, welche R E ^ noch festgehalten wird, aller-
dings ausschließt, und da andererseits der Anschluß an die Benedik-
tinerregel auch gegen irische Abkunft spreche; aber warum das
letztere, wenn doch die Kombination von Columba und Benedikt
sich im Frankenreich bereits vollzog? Die von Caspari kritisch neu
edierten und erläuterten Dicta Abbatis Priminii (sie) benutzt H. zur
Charakteristik des Mannes wie der Zeit, in welcher ftlr seine Um-
gebung die Missionsarbeit im engsten Sinne vorttber war und die
der Kirche begann. Ebenso wird bei Rupert von Worms der Ge-
sichtspunkt vorangestellt, daß seine Berufung nach Baiern nicht so-
wohl geschehen sei, um das Volk erst zum Christentum zu bekeh-
ren, als eine kirchliche Ordnung herbeizuftthren, eine Auffassung,
welche in beachtenswerter Weise durch genauere Beachtung der
sog. vita primigenia, der gesta Hrodberti confessoris (Archiv für
Österreich. Gesch. 63 S. 606) bestätigt wird. Der Agilolfinger
Theodo sucht der drohenden Macht des Hausmeiers, des Arnulfingers,
gegenüber eine Stütze in der Verbindung mit dem merovingischen
Hause (S. 340 Anm.)- Salzburg wird durcb Rup. nicht eine Bi*
schofsstadt, sondern ein Kloster, als Abt von St. Peter hatte Ru-
pert Nachfolger, nicht als Bischof; seine Stiftung verkrüppelte, und
der als Bischof genannte Vitalis (Mon. Germ. Scr. XIII, 351) könnte
nach H. der den Emmeran begleitende Presbyter sein, der von die-
sem die bischöfliche Weihe erhielt. Ueberall wird hier betont, daß
eben noch nicht an bischöfliche Sprengel zu denken ist, wie die fol-
gende Entwicklung zeigt. Ein Bischof Erhard in Regensburg (Ver-
61*
740 Gott. gel. Anz. 1887. Kr. 19.
brttderaDgsboch von St. Peter) mag in der herzoglichen Stadt seinen
Sitz gehabt haben, aber Bischof einer Regensbnrger Didefese
war er so wenig, als Emmeran, von welchem festznhalten sein wirdf
daß er im Anfang des 8. Jahrhunderts ein Kloster in Regensbnrg
gründete nnd hier gewaltsam den Tod fand; auch Korbinian in
Freising, der als Bischof gilt, ist dies nar im Sinne eines Klerikers
mit bischöflicher Ordination.
Das 6. Kapitel: »Die Kirche im Kampfe mit den Oroßenc führt
nns zu den Innern Verhältnissen der fränkischen Kirche seit dem
Tode Dagoberts zurUck, wo die längst begonnene sociale Umgestal-
tnng, das Aufkommen großer nnd mächtiger Familien das meroyin-
gische Königtom bedrängt und allmählich zum Schatten macht, der
König nicht mehr dem Volke, sondern den großen Familien gegen-
tiber steht, nnd die Kirche als die größte Grandbesitzerin, die Bi-
schöfe als mächtige geistliche Aristokratie neben der weltliehen
einesteils selbst als Faktoren in diesen Machtinteressen auftreten,
andererseits aber eben damit die Kirche der Herrschaft rein weltli-
cher, politischer Gesichtspunkte unterliegt und in der bekannten
Weise ausgebeutet wird, welche den Verfall der kirchlichen Ordnung
und Zucht notwendig mit sich führen muß. Was ttber das Verhält-
nis der fränkischen Kirche zu Rom vor der Wirksamkeit der angel-
sächsischen Mission zu sagen war, verbindet der Verfasser mit der
Erzählung von eben dieser Thätigkeit im III. Buche. Der damit
eintretende Wendepunkt wird vom Verf. S. 392 dahin kurz gekenn-
zeichnet: »Die angelsächsischen Missionare kamen als Missionare
in die Machtsphäre des fränkischen Reichs (nicht also in der ur-
sprünglichen Absicht, das Verhältnis der fränkischen Kirche nmin-
gestalten), suchten aber in gewohnter Weise die Gemeinschaft mit
Rom zu bewahren. Durch ihre Erfolge entstanden innerhalb des
fränkischen Gebiets Provinzialkirchen, die mit Rom weit enger zu-
sammenhiengen, als die fränkischen Reichskirchen. Daß auch diese
die Ftlhlung mit Rom wieder gewannen, bewirkten sehließlicb die
angelsächsischen Priester nicht allein, es ist die That der Söhne
Karl Martellst. Hier tritt zunächst die friesische Mission in den
Gesichtskreis. Bei Gelegenheit der Lebensgeschichte Willibrords
sollte, meine ich, stärker betont werden, wie die Ueberwindung der
irisch-schottischen Sonderheiten in kirchlichen Fragen die Angel*
Sachsen durchaus nicht hindert, in den irischen Klöstern die hoch-
angesehenen Sitze mönchischer Tugend und theologischer Bildung
zu sehen. Der Angelsachse Egbert hat, wie viele seiner Landsieale,
bei ihnen seine asketische und theologische Ansbilduag gefunden —
er der später die Mönche von St. Jona endlich bew^, ihr Wider«
Hauck, Kircbgengescliichte Deutschlands. I. 741
streben gegen römische Einrichtungen ani^ngeben. Sein Rof lockt
den jungen Willibrord ebendahin, nachdem er schon nnter des >rOmi-
sehen c Wilfried EinflnA gestanden, and hier wird er mit Missions-
eifer erfttllt. Eine gewisse Dunkelheit bleibt auch bei H.s Darstel-
lung über dem Umstand, daß nach Willibrords erster, von H. mit
Recht auf Grund von Beda festgehaltenen, Romreise die angelsäch-
sischen Missionare in Friesland, veranlaßt durch die bisherigen Er-
folge, einen aus ihrer Mitte zum Bischof wählen und zwar nicht
Willibrord, sondern Suidbert, der dann in England durch Wilfried
geweiht wird, daft aber dann Suidbert alsbald Friesland und das
fränkische Gebiet verläßt und unter den Brnkterern wirkt. Erste-
res, die Wahl Suidberts, glaubt H. ans dem vorauszusetzenden hö*
hern Alter desselben erklären zu können, letzteres aber daraus, daß
Pipin die von den Hissionaren eigenmächtig vorgenommene Bi-
schofswahl (oder die Wdhe in England?) nicht anerkannt habe. In
der That habe sich dann auch Willibrord davon Überzeugt, daß
kirchliche Einrichtungen im fränkischen Reiche nur unter Mitwir-
kung der staatlichen Gewalt getrpffen werden könnten. Im Zusam-
menhang hiermit hält H. daran fest, daß Willibrord bei seiner zwei-
ten Anwesenheit in Rom vom Papst Sergius zum Erzbischof geweiht
sei, d. h. nach den Plänen Pipins die Stellung an der Spitze einer
neuen Eirchenregierung, der friesischen, einnehmen sollte.
Zur (beschichte des Bonifatius notiere ich zunächst, daß H.
(hierin einverstanden mit Fischer) Winfried schon zwischen 672 und
675 geboren sein läßt, und daß er (S. 413) seinen Eintritt in das
Kloster Nhutscelle nicht vor 711 ansetzen will (was nach Willibalds
Worten doch nicht unbedenklich ist), und zwar weil der AbtWyn-
brecht, der ihn in dies Kloster aufnahm, vor diesem Termin noch
nicht Abt gewesen sein könne, da er 701 noch am Hofe des Königs
Ini von Wessex eine Schenkungsurkunde koncipiert habe. Ist die-
ser Schluß stringent? Und sind andrerseits die Gründe für eine so
frttbe Ansetzung der Geburt des Bonifatius (S. 411 f.) wirklich so
zwingend? Von der nach der dritten Romfahrt (738) ins Auge ge-
faßten Organisation der bairischen Kirche nimmt H. an, daß die-
selbe, ind^n sie die baierische Kirche dem Papst unterwarf, zu-
gleich dem Herzog Odilo, welcher der Einsetzung der Bischöfe seine
Zustimmung gab und die Abhaltung von Synoden genehmigte, eine
ähnliche Stellung znr bairischen Kirche geben sollte, wie sie der
fränkische Herrscher für die fränkische Kirche hatte, eine Kombi-
nation, welche daroh die Einsetzung Odiles als Herzog nahe gelegt
werde, und wodurch die ursprünglich vom Papst gegebne Weisung
zu etfi^ allgemeinen alamannisoh-baierischen Synode aus den Augen
742 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 19.
gerfickt nnd der Blick zunächst bei Baiern festgehalten wurde; »in
Gemeinschaft mit dem Herzog ließ sich ohne Synode mehr erreichen«.
Die Angelegenheit Wicterps in Regensbnrg wird S. 462 in das
rechte Licht gerttckt Wicterp war Mönch mit bischöflicher Weihe,
aber nicht Inhaber einer vorhandenen bestimmten Diöcese; wird diese
jetzt errichtet nnd Gaabald für sie bestellt, so liegt darin nicht
eigentlich eine Verdrängung Wicterps. H. hält ferner (mit Hahn
und Waitz) daran fest, daft die Einsetzung der drei thttringischen
Bistümer noch bei Lebzeiten Karl Martells erfolgt sei. Nun muft
nach cap. 42 wie fltr Wttrzburg und Bnraburg so auch fttr Erfurt
ein Bischof wirklich ernannt und eine Diöcese abgegrenzt sein. Daß
der gesuchte Bischof für Erfurt der auf dem Goncil. German, anter
den Bischöfen genannte Dadan sei, ist eine Vermutung Hancks,
welche mindestens ebensoviel ja wohl mehr fttr sich hat, als die ge-
wöhnliche, welche in Dadan den Utrechter Bischof findet, oder auch
die von Loofs aufgestellte, daft David zu lesen nnd an den Bischof von
Speier zu denken sei. An Utrecht zu denken empfiehlt sich eigent-
lich am allerwenigsten, wenn man die von Köln erhobenen An-
sprüche auf die Utrechter Kirche und die daraus hervorgehende Op-
position Kölns gegen die Bestellung eines eignen Bischofs fttr Utrecht
bedenkt, mit welcher B. noch später (ep. 107) zu thun hat — Zur
Beurteilung des Concil. Germanicum, welches H. wie herkömmlich
auf 742 ansetzt (gegen Dttntzer und Loofs: 743), betont er nach-
drücklich, daß diese erste germanische Synode, welche Karlmann
berief und deren Beschlüsse er publicierte, an welcher Bonifatius
teil nahm, die er aber nicht selbst abhielt, zwar eine Reformsynode
war, aber die Rechtsordnung der fränkischen Kirche und besonders
deren Verhältnis zu Rom ganz unberflhrt ließ. Ja die bisher in un-
mittelbarer Unterordnung unter Rom befindliche thttringisch-hessi-
sche Kirche ordnete sich jetzt der austrasischen Kirche ein und ge-
stand Karlmann dasselbe Maaft von Gewalt über sich zu, wie er es
Über die rheinische Kirche hatte. H. betont also sehr nachdrfick-
lich, daß die Synode viel mehr der Festigung der fränkischen Lan-
deskirche als der Unterwerfung derselben unter Rom diente. >Daß
Bonifatius unter diesen Verhältnissen sich der Teilnahme nicht ent-
zog, ist das beredteste Zeugnis dafttr, daß er nicht nur die Erwei-
terung der römischen Macht, sondern vor Allem die hochnötige kirch-
liche Reform der fränkischen Kirche suchte«. Damit soll natflrlich
auch nach H.s Meinung nicht verkannt werden , daß indirekt hier-
durch auch den Interessen Roms gedient wurde. — Nachdem in
neuerer Zeit die Ansicht viel Beifall gewonnen hatte, wonach die
Synode von Lestinnes mit der Versammlung von 745 , welche den
Hanck, Eirchengescliicbte Deatschlands. I. T43
Bischof Oewilieb von Mainz absetzte, identisch und also als ein
fränkisches Oeneralkoncil zn fassen sei, kehrt H., wie mir scheint,
mit beachtenswerten OrOnden, zu der frühem Ansicht znrflck, welche
in ihr eine anstrasische Synode von 743 sieht. Voraassetzong dafür
ist allerdings die Ansetznng des conc. German, anf 742, sodaß nan
die Syn. von Lestinnes als erste AnsfUhrang der dort (742) gegeb-
nen Vorschrift jährlicher Synoden erscheint. Die bekannten Be-
stimmungen über das Eirchengat, welche den Grundsatz , daß der
Kirche das Entrisesne znrtickgegeben werde , mit den dringenden po-
litischen Lebensinteressen auszugleichen suchen, wttrden danach als
Ausftthrungsbestimmungen des allgemeinen Zugeständnisses des conc.
Germ, erscheinen, allerdiogs aber als restringiereude (vgl. H's Be-
merkungen gegen Ribbek S. 483 Anm.).
Mit der guten Entwicklung der bairischen Verhältnisse, sofern
sie durch die Bekämpfung und Unterwerfung Odiles bedingt sind
(S. 486 ff.), verknüpft H. die Entstehung des Bistums Eichstädt Mit
andern hält er dafür, daß der Abt des Klosters in Eichstädt, der
Angelsachse Willibald, von B. im Jahr 741 nur die Bischofsweihe
erhalten habe für seine Missionswirksamkeit unter den benachbarten
Wenden, also als Regionarbischof, daß es aber zur Errichtung einer
Diöcese Eichstädt erst gekommen sei, als in Folge der Niederlage
Odilos der westliche Teil des Nordgaus von Baiern getrennt und
mit Austrasien vereinigt wurde und mit diesem Nordgau nun das
sog. Sualafeld zu einem Sprengel verbunden wurde. Bedenklich
könnte dabei nur das Eine machen, daß Willibald schon anf dem
Conc. Germ, (also nach H.s Chronologie 742) unter lauter solchen
Bischöfen erscheint, die wirklich bestehende oder in der Bildung be-
griffne Sprengel vertreten. Die Absicht müßte also doch hinsicht-
lich Eichstädts bereits unabhängig von der nachherigen Umwand-
lung der Dinge in Baiern bestanden haben.
Aus der großen Menge von einzelnen Fragen ans dem Leben
des Bonifatius, welche auf Grund des vorliegenden Werks zur Be-
sprechung reizen könnten, sei hier nur noch die über die Stellung
von Mainz kurz berührt. Indem H. sich denen anschließt, welche
die päpstliche Bestätigung für Mainz als Erzbistum (Jaffö ^ 2292 =
Bonif. ep. 81) als unächt ansehen -— als eine der spätem Tradition
gemäße Umarbeitung der von Zacharias fUr Köln ausgestellte Ur-
kunde — , hält er fest daran, daß B., nachdem sich die nach seinem
Wnnscbe geplante und vom Papst bereits bestätigte Erhebung Kölns
zur Metropole zerschlagen, sich dazu verstanden habe, das durch
Gewiliebs Absetzung erledigte Bistum Mainz zu übernehmen.
Dadurch wurde er zwar nicht aus einem Nuntius Roms ein einfacher
744 Gott. crel. Anz. 1887. Nr. 19.
Bischof des Reichs, denn seine persönliche Wttrde als Erzbischof and
päpstlicher Vikar verlor er nicht. Aber während der Papst voraos-
gesetzt hatte, daß das Amt des Bonifatias ttber seinen Tod hinaus
dauern sollte (ep. 51 p. 152), haben die Fürsten, indem sie die Zu-
sage hinsichtlich Kölns fallen ließen, ansgesprochen , daß Bonifatios
in dieser seiner persönlichen Würde keinen Nachfolger haben sollte.
Indem er damit die Verhältnisse in Neustrien verbindet, wo es ja
ebenfalls mit der Metropolitanstellung nicht vorwärts will, sieht er
hier die landesftirstliche Tendenz, die kirchlichen Dinge selbst in der
Hand zn behalten. Entscheidend ist ja für die ganze Kombination,
daß thatsächlich der Nachfolger des Bonifatius in Mainz nicht als
Erzbischof, sondern als Bischof erscheint, bis um 780. — Endlich
verdienen die wiederholten besonnenen Erwägungen des Verhältnisses
der kirchlichen Ziele des Bonifatius zu denen der fränkische Herr-
scher, insbesondre Pipins, rühmend hervorgehoben zu werden, welche
sich fem halten von den hier gerade so geschäftig gewesenen ten-
dentiösen Auffassungen. Man beachte hierfür S. 495 ff., 507, 513 ff.
523. 537.
Ueberblickt man die ganze Arbeit des Verf., so kann man sich
nur freuen des hier Geleisteten; das nüchtern und gründlich gear-
beitete Buch verdient als ein tüchtiger Führer und zugleich auch als
eine bequeme Grundlage, an welche sich weitere Einzel forsch ung gut
anschließen kann, willkommen geheißen zu werden.
Kiel. W. Möller.
Fester^ Richard, Die armirten Stände und die Reichskriegsver-
fassung (1681-1697). Frankfurt a. M., Karl JOgels Verlag (M. Abend-
roth). 1886. IX. 170 S. gr. a*».
Als oberste Aufgabe wird von dem Geschichtsforscher unserer
Tage gefordert ein litterarisches Kunstwerk zu schaffen. In Folge
dessen sind die Geschichtsperioden, welche einen weniger dramati-
schen Stoff darbieten, von der Forschung mehr oder minder stief-
mütterlich behandelt. Allein mögen auch für Kunst und Poesie die
Worte Platens ihre Berechtigung haben, man solle nicht das dar-
stellen, »was man, und wäre es auch geschehen, mit Nacht bedecken
sollte« — für die Geschichtsforschung gelten sie nicht. Denn wäre
der Geschichtsforscher Künstler, er dürfte nur Naturalist sein.
Aus diesem Grunde ist es mit Freuden zu begrüßen, daß der
Verfasser oben genannter Schrift einem verhältnismäßig so wenig
erforschten und so wenig anziehenden Stoffe, wie es die deutsche
Geschichte in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ist, seine
Aufmerksamkeit zugewandt hat. Aber aus demselben Grunde ist es
Festor, Die armirten Staude und die Reichskriogsverfassuiig (1681—1697). 745
ZU beklagen, daß der Verfasser »die vielgenanDte Objektivität in
der inneren Wahrheit einer Anschauung über einen Zeitraum sucht
und die einmal richtig erkannte Anschauung der Dinge aus den
Dingen heraus auch dem Leser einleuchtend zu machen c sich an-
schickt Nicht »soll der Historiker eine von ihm vertretene Ansicht
über .einen Zeitraum zum Grundgedanken und Fundament seiner Ar-
beit erheben«, sondern die Dinge so mit kühler Ruhe im Einzelnen
darstellen, die Motive der Handlungen so ins Einzelne zergliedern,
daß sich die Anschauung über den Zeitraum wie eine Naturnotwen-
digkeit von selbst ergibt. Hierzu maß sich der Historiker in die
Anschauungen des Zeitabschnittes, welchen er darzustellen beabsich-
tigt, hineinleben. Denn nur von ihnen aus können die Verhältnisse
beurteilt werden.
Der Verfasser hat dies nicht gethan. Deshalb unterläßt er es
eine Uebersicht der Meinungen zu geben, welche in den Gutachten
der Juristen, den Broschüren und Zeitungen über die Sekurität dar-
gelegt sind. Und doch sprechen sich darin die öffentliche Meinung
und die Wünsche des damaligen Deutschlands aus! Ebenso übergeht
der Verfasser die Rangstreitigkeiten, welche dem 17. Jahrhundert
seinen Charakter geben. Tst wirklich das 19. Jahrhundert berech-
tigt überlegen auf dieselben herabzusehen? Worin unterscheidet
sich denn ein Streit darüber, ob der Gesandte eines Staates das
Recht hat mit vier oder sechs Pferden vorzufahren (vgl. S. 9 des
Werkes), von dem, ob die Abgeordneten eines Landtages berechtigt
sein sollen alle vier Jahre oder jedes Jahr das Budget zu beraten?
Allein seine Ansicht hat den Verfasser weiter geführt als cha-
rakteristische Seiten des 17. Jahrhunderts zu ignorieren.
Trotz der lebhaften Opposition, welche derselbe den Anschau-
ungen Droysens macht, ist er ebenso wenig den Bestrebungen und
der Politik der kleinen deutschen Staaten gerecht geworden, wie
dieser Forscher. Der Hauptfehler liegt darin, daß der Verfasser
ebenso, wie Droysen, glaubt, es könne für die zweite Hälfte des
17. Jahrhunderts von einer »deutschen Politik« geredet werden.
Eine deutsche Politik gab es damals nicht. Die Geschichte der
deutschen Nation hatte sich thatsächlich aufgelöst in eine Geschichte
der einzelnen deutschen Territorialstaaten. Nur von den Sonder-
interessen dieser einzelnen Staaten aus kann ihre Politik verstanden
und gewürdigt werden. Der Verfasser hätte darlegen sollen, wie
sehr diese pnblicistische Phrase der deutschen Politik, welche die
öffentliche Meinung beherrschte, im Widerspruche mit den gegebenen
Verhältnissen stand.
Ee ist nicht möglich im Folgenden auf alle Fragen einzagebn
746 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 19.
welche der Verfasser berührt. Um seine Meinang ttber den Rhein-
bund von 1658 za widerlegen, bedürfte es einer GeiBchicbte dessel-
ben von 1658 bis 1667. Die Motive des Augsbnrger Bundes vom
18. Juli 1686 etwas aafznhellen wäre der Verfasser selbst in der
Lage gewesen, wenn er die »N6gociations d'Avanx en Hollande de-
puis 1679 jusqu'en 1688. Tomes VI, Paris 1754« benutzt hätte.
Jedoch da diese Fragen hier nicht gelöst werden sollen, so
möge ein Beispiel genügen. Dieses soll sein der erste Exknrs in
der vorliegenden Schrift S. 147 — 155 > Brandenbarg and Hamburg
im Jahre 1691«.
Der Grandgedanke dieses Abschnittes ist, daß Hamburg »leider
nicht eine durchaus deutsche Politik verfolgt habe«. Zum Verständ-
nis der Sache müssen wir etwas weiter ausholen^).
1) Zur obigen Darstellang sind benutzt:
J. G. Busch, Versuch einer Geschichte der Hamburgischen Handlung.
Hamburg 1797.
Wurm, Der europäische Hintergrund der Snitger-Jastramschen Wirren in
Hamburg 1686. Aus archivalischen Quellen. Yorlesungsanzeigen des
akademischen Gymnasiums zu Hamburg 1855. Die Quellen sind die Ma-
terialien der Archive in Wolfenbüttel, Bremen und Lübeck.
Uhrsachen und Motiven, warumb der Frantzösische Resident Bidal zu Ham-
burg nicht länger zu gedulten, sondern von da wechzuschaffen. Handschriftlich
vorhanden Hamburger Kommerzbibliothek.
Umständliche Repräsentation und Vorstellung der Uhrsachen, warümb von
der Rom. Eayserl. May., unserm allergnädigsten Kaiser und Herren bei gegen-
wärtigen weitaussehenden . . . Conjuncturen dero und des Heil. Reichs Stadt
Hamburg auf ihr beschehenes allerdemühtigstes Bitten und Anruffen, in Conside-
ration des weitläuftigen Seehandels .... eine auf gewisse Masse limitirte Neu-
tralität . . . allergnädigst zu concediren und gestatten sein möchte. Anno 1689
aut circa. Das Actenstück schließt: Obiges von dem nach Hamburg abge-
ordneten K. M. Christian Ernst von Reichenbach, Rittern und zu Wien Kays.
Reichs-Hoffrath in Hamburg anno 1689 m. Febr. wohlmeinendlicb entworfen.
Beilagen dazu sind: Brief Reichenbachs Hamburg d. 5. Februar 1689. —
Designation derer wahren, welche aus den Kayserl. Erbkönigreichen und Lan-
den auf Hamburg kommen und von da verführt werden, so viel man sich in der
Eil erinnern kann. Diese Beilage ist von einigen Kaufleuten »ungemeldet waröm
es geschehen« eingefordert. Diese genannten Actenstücke handschriftlich vor-
handen. Hamburger Kommerzbibliothek.
Unvorgreiffliche Wiederlegung der in Druck ausgelassenen Motiven, mit wel-
chen vermeintlich erwiesen werden wollen, daB "der Stadt Hamburg bey jetzigen
Kriege das freye Commercium auff Frankreich weder öffentlich zu gestatten noch
auch darinnen zu conniviren sey. Gedruckt im Jahr 1689. Hamburger Kom-
merzbibliothek.
Eenige redenen, waerom men by dezen oorlogh dan de Stad Hamburgh de
Ncutraliteit en de vrye Commercie, Nävigatie en Corrcspondentie vyt en naar
Fester, Die armirten Stände und die ReichskriegSTerfassnng (1681—1697). 747
Die Zerstörung Antwerpens and der Schloß der Scheide für die
Schiffahrt darch den Frieden von Münster im Jahre 1648 sind die
Epoche eines neuen Abschnittes der Handelsgeschichte. Die Erb-
Schaft jenes Emporiums traten Hamburg und Amsterdam an. Sie
gewährten, den fluchtigen Antwerpener Eaufleuten Aufnahme —
Hamburg den lutherischen, Amsterdam den reformierten — und zo-
gen damit den Handel an sich. Von beiden Rivalen war Hamburg
im Anfang der schwächere. Dies Verhältnis änderte sich seit der
zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Die Bank und die Wechsel-
ordnung, Einrichtungen, welche wohl meist dem Einflüsse jener ein-
gewanderten Eaufleute verdankt werden und im Beginn des 17.
Jahrhunderts entstanden, machten Hamburg zum ersten Wechsel-
platze des Nordens. Die Verfeindung Hollands mit Frankreich und
England brachte der Hansestadt den Welthandel in größerem Maß-
stäbe als zuvor. Hamburg erlangte es in London von der Naviga-
tionsakte befreit zu werden, und schon 1652 ersuchte Ludwig der
Vierzehnte die Hansestädte sich mehr auf den Handel mit Frank-
reich zn werfen und den Profit zu gewinnen, welchen sonst die
Engländer und Holländer dort machten ^). In der That gelang es
Hamburg während der Kriege, welche Holland in der zweiten Hälfte
des 17. Jahrhunderts zu bestehn hatte, Amsterdam aus seiner domi-
nierenden Handelsstellung in Frankreich zu verdrängen. Der fran-
zösische Handel Hollands war bei Beginn des pfälzischen Erbschafts-
krieges so zurückgegangen , daß in Folge dessen der Oranier die
Partei der Eaufleute zum Kriege gegen Frankreich mit sich fort-
reißen konnte*). Namentlich der Handel mit französischen Weinen
und Spirituosen, von denen Holland zuvor far 15 Millionen ans-
Vrankryk niet behoort toe te staao noch te conDiveren. t'Amsterdam 1689.
Hamb. Eommerzbl.
Acta conventuum Senatas et Civium Tom. ni. handschriftlich vorhanden Hamb.
Stadtbibliothek.
Hambnrgs Wohlstand gntt vor Deutschland oder Eurtze Betrachtung des
Ansehens und Nutzens so der ganzen hochlöblichen deutschen Nation aus dieser
ihrer weltbekannten Ansee- und Handelsstadt Hamburg entspringe. Zum Dmck
befördert durch Sincerum Germanum Anno 1675. Hamb. Stadtbibliothek.
Die dem Verfasser der besprochenen Schrift allein bekannte Broschüre S. 153
»Copia Eines Schreibens aus Hamburg vom 11. May 1691« ist ins Französische Über-
setzt und unter dem Titel »La d^couverte d*un Espion frangois dans la ville de
Hambonrg ä Cologne chez Pierre Martean 1691« erschienen. Hier ist beigefügt
»R^ponse k la lettre pr^c^dente k la Haye ce 12. iuin 1691 und Lettre de Sa
Maiest^ Imperiale aux Magistrats de la ville de Hambourg k Vienne le 4. iuin
1691. Hamb. Eommerzbibliothek.
1) Becueil des Instructions des ambassadeurs de France. Gteffroy Bd. II, S. 2.
2) N^gociations d'Avaux en Heilande. Tome I. S. 3.
748 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 19.
führte, hatte darch die Konkarrenz der Hansestädte einen schweren
Schlag erlitten. Die Holländer warfen den Hambargem besonders
vor, daft sie französische Weine in Rhein Weinfässern in Eriegszeiten
in die Rheinlande einschmuggelten, welche als die eigenste hollän-
dische Handelsdomäne galten.
Zugleich machte Hambarg aber auch seit den siebziger Jahren des
17. Jahrhunderts den Holländern erfolgreich in den Grönlandsfahr-
ten Konkurrenz. Vergebens suchten sich die holländischen Kauf-
leute des hamburgischen Tranes durch Zölle zu erwehren. Auf die-
sem Gebiete spttrten ebenfalls die Engländer die hambnrgische Kon-
kurrenzy und, da sie den hambnrgischen Rivalen zugleich in Ar-
changel begegneten, waren auch sie der Stadt keineswegs freund-
lich gesonnen. Vor Allem bestand aber in Folge der geschildertes
Verhältnisse bittere Feindschaft zwischen Hamburg und den Hol-
ländern. Die Hamburger behaupteten, sie trieben Schiffahrt, >um die
menschliche Societät unter den allerentferntesten Nationen zu beför-
dern und ein weitläuftiges Kommercium zu veranlassen, wodurch die
Welt sich selbst recht kennen und die besten Mittel und Wege fin-
den lernt, wie ein Teil derselben von seinem Segen und UeberfloA
dem andern zu seiner Notwendigkeit und Ergötzlichkeit allerhand
Reichtum fttglich mitteilen könne«. Die Holländer dagegen seien
eine Nation, welche glaube, »Gott und die Natur hätten ihnen den
Seehandel und die Schiffahrt ganz allein gegeben^ nm sich deren
privative zu gebrauchen c.
Eine Gelegenheit, ihren Neid gegen Hamburg zn bethätigen fan-
den nun die Engländer und Holländer im Anfange des pfälzischen
Erbschaftskrieges.
Hamburg kam gerade damals aus einer Zeit innerer Wirren
heraus und hatte kurz zuvor eine dänische Belagerung ansznstehn
gehabt. Dazu hatte eine Feuersbrnnst ein Viertel der Stadt in Asche
gelegt. Diese Ereignisse hatten verhindert, daß sich die Eaniente
fttr die kommenden Dinge vorgesehen hatten. Die Holländer hin-
gegen waren mit Waaren aller Art ftlr lange Zeit versehen. Wenn
daher der hamburgische Handel nach Frankreich aufhören mnfite,
beherrschten sie allein den deutschen Markt und konnten die Preise
nach ihrem Belieben in die Höhe schrauben. Diese Verhältnisse
wurden noch durch einen Umstand verschlimmert. Es lagen damals
dreißig hamburgische Handelsschiffe in französischen Häfen. Im
Fall nun es Hamburg nicht gestattet wurde beim Reicbskriege neutral
zu bleiben, waren diese ebenso verloren, wie die hamburgischen Kapi-
talien, welche in französischen Handelsunternehmungen angelegt waren.
Diese Umstände veranlaßten die Hamburger, als beim Beginne
Fester, Die armirten Stände und die Reichskriegsverfassung (1681—1697). 749
des fieicbskrieges am 11. December 1688 die Avokatorien and In*
bibitorieD erlassen warden, welche den Handel mit Frankreich ver-
boten, den Kaiser inständigst am Neutralität für sich za bitten.
Sie wären die einzigen, welche direkt nach Deatschland ein- und
aus Deutschland ausführten. Die sUddeatschen Reichsstädte handel-
ten nur indirekt. Für sie importierten and exportierten die Hollän-
der and steckten damit den Haaptvorteil in ihre Tasche. Es gäbe
keine deutsche Flotte den hamburgischen Handel za schützen. Die
bamburgischen Kaufleute müßten, wenn sie nicht zo Grande gehn
wollten, Freipässe entweder vom Feinde selbst oder seemächtigen
Potentaten mit großen Kosten sich auswirken. Dadurch würden die
Waaren yertheaert, und nur Fremde zögen Nutzen daraus.
Durch diese Vorstellungen in Wien gelang es Hamburg andert-
halb Jahre neutral zu bleiben. Und der Kaiser hätte auch noch
länger gerne der Stadt durch die Finger gesehen. Denn Hamburg
war ein wichtiger Exporthafen für die habsbnrgischen Länder.
Führte es doch abgesehen von anderen Waaren allein Leinwand 3
bis 4 Milliopen an Wert jährlich aus Böhmen, Mähren ond Schlesien
aus. Allein länger ließen sich die Engländer and Holländer nicht
beschwichtigen. Sie erklärten öffentlich, sie würden weder Hamburg
noch einer anderen deutschen Stadt den Handel nach Frankreich
gestatten. Es wäre gleichgültig, sagte eine Flugschrift, ob Ham-
burg, wenn es den französischen Gesandten Bidal ^), welcher sich
noch dort aufhalte, aaswiese, den Handel mit Frankreich verliere.
Ja eben darum solle man den Bidal wegjagen, »damit denen Ham-
bargern desto ehender and mehr die Hoffnung und der Appetit za
solchen egyptischen Fleisch- und Knoblochtöpfen vergehen möget.
Deutschland verarme nur durch die französischen Manufakturen. Die
Abneigung gegen die veränderlichen französischen Moden sei im
Wachsen. Bald werde eine beim Reichstage in Regensbarg vorge-
schlagene Reform denselben den Garaus machen. Nur durch den
groSen Handel gewönnen die Franzosen das Geld, »vit het welke
haer koning als de kleyne Jupiter syne Krygswapenen en helse
1) Um die Angaben des Verfassers S. 151 über Bidal za berichtigen, Bti be-
merkt: Pierre Bidal, Baron d'Alsfeld (Harsefeld) Resident 1669, 1661, 1667nHiBte
Hamburg wegen des Reichskrieges 1676 verlassen. Am 25. April 1679 zeigte er
seine Zarückkanft in Hamburg an.
Etienne Bidal, Abbä, ein Sohn des Vorstehenden, Resident um 1686 und
hernach aufierordentlicher Gesandter, verlieB die Stadt 1690, kehrte nach dem
Rfswicker Frieden ^nröck and blieb bis zam 8. Juli 1703. Er starb zu Paris
1722. Der Bruder des letzteren war französischer Oberst und hielt sich 1690 in
Bambarg auf. Hamburgisches Staatsarchiv.
750 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 19.
bomben prepareert, om daer mede alle syne naburen te snbiugeereD
en te verpletteren na' t exempel van den grooten Japiter, van wien
de Poeten fabuleeren , dat hy de vochtigheyd en de dampen vit de
wateren en d'aarde na boven trekt en daer vit tot straffe van deo
mensche den hagel, donder en blixsem smeed«.
In Folge dieses Drängens seiner hohen Alliierten befahl Leopold
der Erste den Hambargern die verschärften Avokatorien und Inhibi-
torien gegen den Handel mit Frankreich za erlassen und den fraa-
zösischen Gesandten Bidal und seinen Bruder auszuweisen. Denn
Bidal wäre der einzige Weg Frankreichs im Norden zu verhandeln.
Er sei der »Wecbselzahler« aller derjenigen Gelder, welche Ludwig
der Vierzehnte an an Hamburg angrenzende Mächte unter dem
Namen von Subsidien oder an Privatpersonen zur Erhaltung verbor-
gener Korrespondenzen zahle. Außerdem gienge alles Geld, welches
Frankreich nach Polen und Moskau und durch Polen in Ungarn
zum Hanptrebellen TOckeli schicken wollte, durch Wechisel Aber
Hamburg und somit durch Bidals Hände. Zugleich hielte sich der
Bruder Bidals, ein französischer Oberst, in Hamburg aAf i um die
militärischen Bewegungen auszukundschaften.
Das kaiserliche Mandat erregte großen Unwillen in Hamburg.
Der Bürgermeister bat den Kaiser, er möchte doch nicht die Leute
zur Verzweiflung bringen, daß sie sich einer fremden Macht in die
Arme würfen. Und wie nahe lag diese Gefahr damals!
Für die dänische Partei, welche vorhanden war, sprachen die
materiellen Interessen. Wurde Hamburg dänisch, wurde es der Un-
annehmlichkeiten ledig, welche jedesmal die Frage der Nentralitit
bei den Reichskriegen mit sich brachte. Die dänische Flotte hätte
dem hamburgischen Handel den Rückhalt gegeben, welcher ihm
jetzt fehlte. Hatten doch Engländer und Holländer gerade deshalb
so sorgsam die Selbständigkeit Hamburgs geschützt, weil es das
beste Mittel war den Handel dieser Stadt niederzuhalten. Der di-
rekte Handel nach dem mittelländischen Meer war ja Hamburg
schon dadurch verloren gegangenj^ daß die Flotte mangelte, welebe
die Kauffahrteischiffe gegen die Raubstaaten an der nordafrikani-
schen Küste schirmte. Nur indirekt über Lissabon konnte Hamburg
noch nach dem Mittelmeer handeln.
Zu diesen Misständen kam jetzt noch, daß die Assignationsgel-
der, welche Hamburg an den Kurfürsten von Brandenburg zu zahlen
hatte, dazu zwangen fast jedes Jahr die Steuern zu erhöhen.
Wie leicht konnte sich die dänische Partei diese Lage za Nutze
machen I
Als aber der Kaiser allen Klagen kein Gehör gab, schlag der
Fester, t)ie armirteu Stände und die Keichskriegsverfassung (16dl--1697). 751
Bat die Ayokatorien and Inhibitorien gegen den Handel mit Frank-
reich am Ratsbause an nnd ersuchte Bidal in der höflichsten Form
die Stadt zu verlassen. Derselbe antwortete, er mttsse dieses erst
seinem Könige berichten und seinen Befehl abwarten. Der Rat mel-
dete dies nach Wien und hielt damit die Sache fUr abgethan.
Mit größter Bestürzung erhielt derselbe daher ein neues Mandat
Leopolds Tom 27. Juni 1690. Darin wurde der Stadt bei 200T. Rth.
Strafe befohlen Bidal und seinen Bruder nebst den Personen nnd
Sachen, welche sie bei sich hätten, zu verhaften und dem kaiserli-
chen Gesandten Freiberrn von Gödens auszuliefern. Diesen Befehl
auf eigene Verantwortung auszuführen fiel dem Rat nnd dem Kol-
legium der Hundertachtziger zu schwer. Daher wurde am 10. Juli
1690 die Bürgerschaft berufen. Sie beschloß Bidal auf glimpflichste
Art zu verhaften. Da es aber bei der Beratung spät geworden war,
überlegte man, ob noch am Abend der Beschluß ausgeführt werden
sollte. Es verlautete, der Oberst Bidal befände sich nicht mehr in
der Stadt. In Folge dessen entschied die Bürgerschaft sofort eine
Deputation hinzusenden, den französischen Gesandten zu verhaften,
in der stillen Hoffnung, auch er sei schon fort und man könne ohne
Schaden Eifer an den Tag legen. Wie die Deputation hinkam, fand
sie denn auch Niemanden mehr vor. Dies wurde nach Wien berich-
tet, und damit war die Sache beendigt.
Dieses letztere Verhalten ist typisch. Es wiederholt sich fast
genau derselbe Vorgang bei allen Gelegenheiten, bei welchen Ham-
burg gezwungen wurde, einen Gesandten oder Spion zu verhaften.
Nie wurde in der Regel ein solcher gefunden. Um diesem vorzu-
beugen, forderte Leopold der Erste im Jahre 1691 den Kurfürsten
von Brandenburg auf den französischen Spion Le Giere durch einige
brandenburgische Soldaten in Hamburg zu verhaften. Dies geschah.
Derselbe wurde später nach Wien ausgeliefert. Der Rat klagte
über diesen Eingriff in seine Jurisdiktion. Der Kaiser erklärte als
»chef souverain« dazu berechtigt zu sein. Der Streit darüber gieng
in die Verfassungskämpfe der folgenden Jahre unter, »ob der Sou-
verän Hamburgs das hamburgische Volk sei oder nichtc.
Diese Verhaftung des Le Clerc, welche eine Nebensache ist, hat
nun der Verfasser oben genannter Schrift zur Hauptsache in seiner
Darstellung gemacht, ohne die übrigen Verhältnisse zu berücksichtig
geik »Der Versuch der jungen brandenburgiscben Flotte auf der
Nordsee Seepolizei zu üben«, welche der Verfasser bei dieser Ge-
legenheit erwähnt, bestand darin hamburgische Schiffe unter dem
Vorwande, sie ftlhrten Waaren der Contrebande, mit Beschlag zn
]i>elegen; um die Stadt zu zwingen die Assignationsgelder zu zahlen.
1
752 Gett. gel. Anz. 1887. Nr. 19.
Denn hierüber beschwerte sich dieselbe in Wien und erreichte es
dieselben herabgesetzt zu sehen.
Die Holländer benutzten dann diese Zeit, wo die Hamburger
auf die Gnade ihres Flottengeleites angewiesen waren, dem ham-
bnrgischeu Handel alle möglichen Hindernisse in den Weg zu legen.
Als die Hamburger trotz der Eriegszeit Grönlandsfahrten unterneh-
men wollten, erklärten die Holländer, sie blieben daheim und er-
warteten bestimmt dasselbe von den Hamburgern. Diese muftten
sich fügen.
Die geschilderten Verhältnisse, glaubt Becensent, beweisen, daft
es unberechtigt ist, eine deutsche Politik damals von Hamburg zu
fordern. Solange keine deutsche Flotte existierte, welche den bam-
bnrgischen Handel schützte, mußte die Stadt für ihr Wohl in ihrer
Weise sorgen. Das war eben das Unglück Deutschlands, daft das
Bewußtsein der gemeinsamen Interessen der Nation abhanden ge-
kommen war. Dies Bekenntnis ist klagend damals ausgesprochen
in den Worten einer Denkschrift »Hamburgs Wohlstand gott vor
Deutschland«. Der Verfasser derselben schließt:
Wenn wir betten all einen Glauben,
Gott und gemeinen Nutz vor Augen,
Ein Tolie MaaB und recht Geriebt,
Den güldnen Frieden und recht Gewicbt,
Darzu eine Möntz und gut Gteld,
So stund es wobl in aller Welt.
In diesen Worten liegt der Schlüssel zum Verstllndnis der Tra-
gödie der deutschen Geschichte im 17. Jahrhundert.
Zum Schluß möge der Verfasser der besprochenen Schrift ver-
zeihen, daß Becensent »mit dem rechtete, welcher gleichsam den
ersten Spatenstich in ein hartes Erdreich getban bate
Hamburg. 0. Krebs.
Fftr dio Redaktion Tenntwortlieli : Prof. Dr. B«€kUl. Direktor der Q«tt. gel. Au.,
Anessor der KAniglicken GeeellBcbaft der WueeMehaften.
y0iiaff der Dieimieh* sehen Yeiiaß* 'BMMiimihmff.
Druck dtr Di§Uiiek*9ch«H Uniu-Jtuchdi^ck$i$t (ir. II. Aac*tecr>.
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753
GÖtttngische
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
derKönigl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Nr. 20. ^3 1. Oktober 1887.
Preis des Jahrganges: JL 24 (mit den »Nachrichten d. k. G. d. Wiss.c: .4^27).
Preis der einzelnen Nummer nach Anzahl der Bogen: der Bogen 50 ^
Ink«U: Use a er, Altgrieddsdier YenVav. Von WMpAot. - Piek, Lnthen «Eine feate Borg*
in 21 Sprachen. Yen BkmatM. — Gigastak Abalieeh ed. Bartkelemy. Von Jm<^ — Honn-
maata med. aer. Poloniae, tonrae IX. Yen Aritacft.
= ElgomXohtIger Abdruck von Artikeln der G6tt. gel. Anzeigen verboten. =
Usener, H., Altgriechischer Versbau. Ein Versuch vergleichender
Metrik. Bonn, Verlag von Max Cohen u. Sohn (Fr. Cohen) 1887. 128 S.
Auf S. 78 dieser ttberaas interessanten Schrift sagt der Verfas-
ser: »In dem Reich thum ihrer metrischen Formen steht die Poesie
der Griechen einzig und unvergleichbar da. Diese Mannichfaltigkeit
schöner Gebilde maßte blenden and täaschen. Man konnte glaaben
in der Zurttckftthrang der verschiedenen Reihen anf ihre letzten
Elemente, die Versfüße oder wenn es hoch kommt, die rhythmischen
Takteinheiten, das Wesen der Sache za fassen. Der herkömmliche
Weg fuhrt za statistischer Beschreibong, nicht za geschichtlicher Er-
kenntnißc« Der Verfasser verlangt (S. 111), daß man den Form-
reicbtnm der griechischen Metrik mit anderen Aagen . ansehe« »Diese
schönen Gebilde sind nicht freie Schöpfangen einzelner dichterischer
Geniep, sondern geschöpft an dem ewig jangen uv4 verjüngenden
Born der Volksflberlieferang. Formen werden nicht geschaffen, son-
dern sie entstehen and wachsen. Der schöpferische Künstler erzeugt
sie nicht, sondern bildet das Ueberkommene veredelnd um. Wer sie
willktlrlich schaffen za können meint, Obt nicht Kunst, sondern spie-
lende Künstelei ; sein Gebilde zerstiebt, wie seine Spur aaf Erden
erlischt. Was fest gehalten wird vom Volke, was fortlebt und wei-
ter wirkt, das war aus dem Boden des Volks erwachsen, ist Blut
von seinem Blute«. Soweit das möglich ist, sucht der Verf. die
metrischen Formen alter griechischer Volkspoesie zu bestimmen, auf
OStt. firel. Ans. 1887. Nr. 80. 52
764 Odtt. gel. Änz. 1887. 'So. 20.
welche der Homerische Vers als seine Elemente zarttckzuftthren ist
Die nrsprttngliche Grundlage des daktylischen Hexameters habe be-
reits Theodor Bergk in einem Freibarger Programme d. J. 1854 er-
kannt: nämlich den alten volksmäßigen Eno plins, wie er noch
im Volksliede anf Lysander vorkomme (foi^ *ElXddog dyadiaq)^ and
den Parömiacus, die metrische Form des alten Sprich wortverses
{alqs^v aim noda niilov). >Aber den metrischen Formen, mit welchen
die Griechen und die ihm verwandten Völker in die Geschichte ein-
treten« — sagt der Verf. 55 — »liegt eine lange Entwickelang vor-
aas. Die Vergleichang der ältesten erreichbaren Versformen, deren
sich die Völker nnserer Familie bedient haben, gewährt die Aas-
sicht, den gemeinsamen Grandstock annähernd za bestimmen, dea
ansere Völker ein jedes in seine Sonderexistenz mitgenommen and
in seiner Weise amgebildet haben. Den Weg daza hat R. West-
phals Abhandlang »Zar vergleichenden Metrik der indogermanischen
Völker« eröffnet, eine Leistung, deren Verdienst durch die Ueber-
eilangen, za denen die Ueberraschung des neuen Ausblicks verfah-
ren mußte, nicht geschmälert werden kann. Sein geübtes Aoge ent-
deckte in einem erzählenden Stttck des jttngeren Zendavesta, das
noch Westergaard als Prosa drucken ließ, metrische Form. Mit
Hilfe der in regelmäßigem Abstand wiederkehrenden Wort- and
Satzschlttsse beobachtete er, daß in jenem Stttck immer zwei Lang-
Zeilen, die aas Halbversen von acht Silben zusammengesetzt sind,
sich za einer Strophe verbinden ; innerhalb der Verse ergab sich kein
anderes Princip des Baues als die bestimmte Anzahl von Silben in
den fortwährend durch Cäsar von einander abgeschlossenen Reihen«
. . . Des Ref. Abhandlung ttber die ältesten indogermanischen
Metra wurde 1860 in Kuhns Zeitschrift fttr vergl. Sprachforschang
veröffentlicht. In der zweiten Aaflage der Roßbach-Westphalschen
Metrik der Griechen II S. 14 (1868) wurde darzuthun gesacht, daß
der altiranische Vers
......... I ......... II
nicht bloß im AnuStubh des Veda und im Qlokaverse des Sanskrit
als ein im Ausgange qnantitierend gewordenes Metrum vorliege, son-
dern daß er sich als ein bloß die Hebungen zählendes Metram in der
altitalischen Poesie (als Vorstufe des Satumias) and in der altger*
manischen Poesie wiederfinde: im altgermanischen Langverse seien
zwei Hemistichien von je vier rhythmischen Hebangen vereint Lange
Zeit zögerte die Zend-Philologie, ehe sie der die Zendmetrik betref-
fenden Entdeckung des Ref. öffentlich ihre Zustimmung gab. Dies
geschah erst 1877 durch R. Roths Schttler K. Geldner in der zu
Tttbingen erschienenen Schrift »lieber die Metrik des jBngeren
üsener, Altgriechiscber Venban. 755
Avesta«. Qeldner koDstatiert für das Avesta die vom Ref. entdeck-
ten Metra, welche lediglich darch Sylbenzahl und Gäsar, nicht darch
Wortaccente and nicht durch die Prosodie bestimmt seien. Er habe,
so sagt er, aus den statistischen Zahlenergebnissen »die feste lieber-
Zeugung gewonnen, daß weder in der Sylbenmessung noch in der
Verteilung von betonten und tonlosen Sylben ein festes Gesetz wal-
tete: ein gleichmäßig wiederkehrender Tonfall wie eine geregelte
Verteilung von Hebungen und Senkungen auf bestimmte Sylben
bleibt somit f(1r diese Dichtungen gänzlich ausgeschlossen«
»Denken wir uns diese Dichtungen nach Art der feierlichen Recita-
tion langsam und eintönig mit vollem Aushalten der Schlußpause
vorgetragen, sollte da einer weder durch Rhythmus noch Reim und
Alliteration verwöhnten Zuhörerschaft nicht auch diese einfache Form
der Poesie in ihrer strengen Durchfahrung an das Ohr geschlagen
und einen ungewöhnlicheren und erhabeneren Eindruck hinterlassen
haben, als jegliche einfache Prosa ?€ Ref. hatte far die von ihm
nachgewiesenen Zendmetra angenommen, daß sie ihren bestimmten
Rhythmus erst als »gesungene Verse« empfangen hätten; erst
dnreh die Melodie, welche zu den Worten hinzukam, seien die Takte,
seien die Hebungen und Senkungen bestimmt worden. Er ließ es
daher fraglich, ob der Rhythmus der Zendverse ein iambischer oder
ein trochäischer gewesen sei. Ein Jahr später, nachdem Geldners
Darstellung der Zendmetra erschienen war, wnrde von dem ameri-
kanischen Gelehrten Frederic Allen (Gincinati) in Kuhns Zeitschrift
ftlr vergleichende Sprachforschung 1879 eine Abhandlung ȟber den
Ursprung des Homerischen Versmaßes« veröffentlicht, der er — wie
dies jetzt auch H. Useners denselben Gegenstand behandelnde Schrift
gethan hat — die durch Ref. gefundenen Ergebnisse ttber die verglei-
chende indogermanische Metrik zugrunde legt. Bezüglich der Zend-
verse sagt Allen: »ein Rhythmus muß in ihnen geherrscht haben.
Entschieden hat sich Geldner geirrt, indem er einen eigentlichen
Rhythmus den Zendgedichten abspricht. Geldner meint, daß Gleich-
heit der Sylbenzahl und Einförmigkeit im Strophenbau eine für den
primitiven Dichter genügende Grundlage der gebundenen Rede sei.
Für den Dichter als Dichtungsprincip, ja: ftlr den Vortragenden
und die Zuhörer gewiß nicht. Schon deshalb nicht, weil die Gleich*-
heit der Sylbenzahl, wofern sie nicht durch rhythmischen Vortrag
unterstützt wird, dem Zuhörer gar nicht vernehmbar wäre. Das
menschliche Gehör vermag nicht eine Gmppe von acht Sylben als
ein Ganzes genau zu fassen. Man weiß nicht, ob man sieben, acht
oder zehn Sylben hört So wäre die Gleichheit der Reihen ganz
nnd gar zwecklos und unnütz, falls diese Reihen nicht durch den
52*
756 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 20.
RhythniDS in kleinere, dem Obre leicht faßbare Einheiten — also in
Versfüße — geteilt warenc. Von der Aoffassang des Ref. weicht
der amerikanische Gelehrte bloß darin ab, daß er den Rhytbrnos der
Zendyerse für iambisch erklärt, weil die den Zendmetren entspre-
chenden Verse der altindiscben Poesie entschieden den iambischen
Rhythmus hätten. Das dem indischen Qloka als Grundlage dienende
16 silbige Zendmetrnm bestehe aus zwei tetrapodischen Halbver-
sen; in den vier 2 sylbigen Versfüßen einer jeden Tetrapodie bilde
die Senkung den Anlaut, die Hebung den Auslaut:
Dies sei der indogermanische Urvers. Aus ihm habe sich der vedi-
sche Langvers herausgebildet, der bei scharfer Scheidung in zwei
gleiche Hemistichien einem jeden Hemistichium festen prosodischen
Auslaut gebe
nicht selten aber auch die vorletzte Sylbe des Hemistichions, welche
die rhythmische Geltung der Senkung habe, unterdrücke
Denn statt der Normalform *Indram vigva ati^dhant^ begegnen
auch Reihen wie ^^rathUamam rathmomt (S. 563). Der indoger-
manische Urvers, meint Allen mit dem Ref., war ein gesunge-
ner Vers, er konnte ebenso gut eine kurze wie eine lange, eine ac-
centuierte Spraohsylbe als rhythmische Hebung wie als rhythmische
Senkung verwenden; im indischen Langverse war die nr-
sprOngliche Gleichgültigkeit des Metmms gegen die Sylbenquantität
wenigstens im Ausgange des Hemistichiums überwunden; dem alt-
germanischen verblieb die dem indogermanischen Urverse eigene
Gleichgültigkeit gegen die Sylbenquantität, dagegen wurde der
Sprachaccent in der Weise für den Rhythmus verwendet, daß als
rhythmische Hebung nur eine solche Sylbe fungieren konnte,
welche der Träger des Wortaccentes (Hochton) war; außerdem kam
die Unterdrückung der als Senkung fungierenden Sylbe im altger-
manischen häufiger als im vedischen Langverse vor. Fr. Allen
stellt daher für den altgermanischen Langvers das Schema auf:
(.)/(.)/(.).'(.).'!(.)/(.).' (.)/(.).'.
Fr. Allen glaubt es klar gemacht zu haben (S. 567), daß die gemein-
samen Vorfahren der Iranier, Inder und Germanen ihre epischen
Balladen in einem Verse gesungen, der aus 2 scharf gesonderten
Reihen bestand, deren jede vier Icten und vier leichte Sylben hatte,
und zwar begann jede Reihe mit einer leichten Sylbe nnd schloß
mit einem letus; und femer, daß sowohl die Inder wie auch die
üsener, Altgriechischer Versbao. 757
Qermanen die Gewohnheit hatteOi die vor dem letzten Ictos stehende
Senkung znr Erzielong eines volleren Sehlassee zn unterdrücken. In
dem vedischen Langverse sei wenigstens mit der Unterdrückung
der letzten Senkung (vor der ScbluBhebung) der Anfang gemacht.
Im altgermanischen Langverse fehle diese Sylbe fast regelmäßig, so
daß* die Reihe mit einem gewichtvollen Tonfall von zwei Icten
/schließe. Aber auch aller anderen Senkungen könne er entbehren;
nichts sei gewöhnlicher als eine Reihe, die nur aus vier Sylben be-
stehe, deren jede einen Ictus trägt:
m^des myrSe | männä cynni.
Soweit folgt der amerikanische Gelehrte der in der zweiten Auflage
von Boßbach- Westphals griechischer Metrik gegebenen Darstellung
des metrischen Standpunktes der verschiedenen indogermanischen
Völker, nur daß er, wie schon gesagt, den Rhythmus der altirani-
Bchen Verse nicht als einen absteigenden, sondern als einen auf-
steigenden auffaßt.
Weiter lehrt er, daß der aus zwei tetrapodischen Reihen kom-
binierte Urvers der Indogermanen auch die Grundlage des heroi-
schen Hexameters der Griechen bilde. Er nimmt an, daß der
ans sechs daktylischen Versfüßen bestehende heroische Vers der
Griechen einst viel schärfer und konstanter, als wir es bei Ho-
mer sehen, in zwei Hälften geschieden war, daß auch er wie
die von ihm herbeigezogenen vedischen, Zend- und deutschen Verse,
aus zwei gesonderten Reihen bestand. Und zwar versteht Allen
unter Reihen nicht die n^Xa der griechischen Lyrik, die ganz un-
abhängig von dem Sinne bestehn, sondern wirkliche, durch festen
Einschnitt konstante Pausen, und noch dazu durch den Sinn ge-
sonderte Versabschnitte. Denn auch im Griechischen müßten die
Versabschnitte ehemals auch Sinnesabschnitte gebildet haben. Die
jetzige Mannichfaltigkeit in der Gliederung des epischen Verses
könne unmöglich von Anfang an vorhanden gewesen sein. Sie
widerspreche ja dem ganzen Wesen der frühen Poesie. Der Vers
durfte nicht bald hier, bald da die Sinnespause zulassen, die Ge-
dankenfolge durfte sich nicht unabhängig von der metrischen Ein-
teilung entwickeln. Mit der in der Mitte stehenden Gäsur mußte
sich ursprünglich eine Sinnespaase verbinden. Erst mit der Zeit
konnte eine künstlichere Mannichfaltigkeit der Gliederung eintreten.
In früherer Zeit wurden die beiden xco^a des heroischen Verses
durch eine breitere Kluft getrennt Damals lautete die erste Reihe
ebenso gut wie die zweite auf eine syllaba anceps aus. Auch im
technisch ausgebildeten Verse Homers ist die weibliche Gäsur häu-
figer als die männliche; in der Ilias A ist das Verhältnis fast wie 3:2;
758 Gott. gel. Änz. 1887. Nr. 20.
aber auch bei mänDlicber Cäsar beginnt die zweite Reibe mit dem
Auftakte. Es ist anzanebmen^ daS der Anftakt im Hexameter wie
der Auftakt ttberbaopt gegen die Quantität gleiebgOltig war. Man
wird also z. B. neben einem
ävdqa fkOi iwsm fkovaa \ nolvtQonov Sg f$dXa noiXd
aucb etwa ein
zugelassen haben. Das Schema des Torbistorischen Hexameters ist
nach Fr. Allen folgendes:
Fr. Aliens Auffassung ist auch diejenige H. Useners. »Es sind viele
Jahre — sagt er S. 59 — da0 ich die Entstehung des Hexameters
yerstehn lernte : beute, wo ich AnlaB nehme über die inzwischen er-
wachsene Literratur mich zu unterrichten, freut es mich zu sehen
und anzuerkennen, daß bereits ein amerikanischer Gelehrter Frede-
ric Allen von Westphals Grundlage aus auf wesentlich deduk-
tivem Wege zu gleichem Ergebnisse geführt worden ist«. Im
Unterschiede von Aliens wesentlich deduktivem Wege ist Usener den
analytisch-kritischen Weg gegangen.
Es fehlen uns, sagt er S. 10, von zufälligen Einzelheiten abge-
sehen, geradezu alle Voraussetzungen, um unseren Homertext auch
nur auf eine voraristarchische Stufe zurttckzuheben , geschweige
denn seine ursprüngliche vorpisistrateische Gestalt wieder herzu-
stellen. Diese Aufgabe ist eine ideale, nicht eine praktische Forde-
rung. Eine ttber Aristarch hinausgehende Kritik nennt der Verfas-
ser eine transcendentale Kritik. Auch die sichersten Scblttsse die-
ser Art sind nicht (oder doch nur in sehr beschränktem Unoifang)
praktisch verwertbare Ergebnisse für unseren Homertext, sondern
bleiben Postulate fUr einen ursprünglichen Homer, der uns unwieder-
bringlich verloren ist (S. 10). Um die Präcision analytischer Unter-
suchungen im Homer zu erhöhen, kann es nicht genug solcher Be-
obachtungen über ältere und jüngere Sprachformen geben, vereinzelte
Verstöße gegen das alte und echte Gesetz heben nicht die Möglich-
keit auf, daß dieselben erst nachträglich auf dem langen Wege der
Ueberlieferung an Stelle des Ursprünglichen gesetzt sind; erst die
Vereinigung vieler und verschiedenartiger Beobachtungen gestattet
einen sicheren Schluß, der selbst der Analyse den Weg zu weisen
vermag. Aber solche Anstöße im Texte selbst zu tilgen, heißt die
Wegweiser mutwillig zerstören, die glücklicherweise zahlreich genug
geblieben sind, um uns in diesem noch immer etwas dunklen Urwald
Homerischer Untersuchungen zu leiten (S. 12). Auch an dem älte-
ren überkommenen Gute konnte, zumal bei mündlicher Ueberliefe-
Usener, Altgriechischer Versbaa. 759
rnog, die EDtwicklang der Sprache nicht spurlos vorttbergehn ; die
QrsprttDgliche Sprachform konnte aber auch nicht Yöllig verwischt
und dem jüngeren Sprachznstand angeglichen werden, ja sie ist in
einer Fülle von Formeln und Nachbildongeni die sie entlehnen, auch
von den jüngeren Nachdichtern gewissermaßen anerkannt worden-
Wir haben darnm das Recht und die Pflicht, and ich denke wir
wollen davon nicht lassen, die älteren Schichten des Epos ans Ver-
letzungen des ursprünglichen Anlauts auf Störung der Ueberlieferung
und auf eine ursprüngliche Form zurückzuschließen (S. 15). Der
Verf. beabsichtigt nicht den Wiederherstellungsversuchen eines ver-
meintlichen wahren Homertextes einen neuen Weg zu zeigen, son-
dern im Gegenteil die Achtung vor der Urkundlichkeit der aristar-
chischen Ueberlieferung einzuschärfen.
Zu der Vernachlässigung des Digamma an Stellen, wo die bei-
den tripodischen Reihen des daktylischen Hexameters sich vereinen,
sieht der Verf. unüberwindliche Schwierigkeiten ftlr die Arbeit des
Eonjekturalkritikers. Verständlich und erklärt würde hier die Ver-
nachlässigung des Digamma sein, wenn der Homerische Hexameter
aus zwei Eurzversen zusammengewachsen wäre, deren Fuge sich an
jener Stelle des dritten Fußes befände. Dahin gehört A 294
§1 dij 00$ ndv Sqyov vneiiofkcu^ am ner tinjig.
Da das Digamma von peUstr^ etymologisch bestens begründet
(unser » weichen c), bei Homer in voller Geltung sei, so können die
Homerischen Worte des Verses nicht anders gelautet haben als
el dl) näv piqyov || vnopti^Ofia^ om n$ fetni^g ;
zu einem daktylischen Hexameter wird dieser Vers des Schemas
nie und nimmer sich umkorrigieren lassen, obwohl A. Nauck und
A. Fick es versucht haben. Usener sagt: Der Ilias-Vers A 294 ist
kein Hexameter, sondern nur eine äußerliche Zusammenstellung zweier
Eurzverse, die ihre Selbständigkeit durch die freie Behandlung des
in der Fuge zusammentreffenden Aus- und Einganges bekunden.
Ein zweiter derartiger Vers der Ilias ist ^141
dJiV i/ys y^a fkilMvav iq^iaoofkev bIq äXa dXav,
Notwendig muß hier, in einem der älteren Bestandteile der Ilias,
in welchem sogar :^aviQVüav€ vorkommt, > psQtSaaofuy^ mit Digamma
gelesen werden. Also kein Hexametron, sondern zwei zu keiner
Verseinheit vereinte daktylische Eola
ctkk* dys Vf^a fkilatyap || pfQvffaofuy slg AXa iUȴ.
Analog seien auch folgende vermeintliche Hexameter der Ilias
und Odyssee in ihre alten Bestandteile aufzulösen:
760 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 20.
v^a^ fi€V ndfAngmtor \\ psQvtfaafMV st^ äXa dtav 6 617. X i.
v^a f$iy aQ ^d^knomtov || pSQvMats ^fu$q6vis u 403.
^fAip Snmg tdv venqdv || paqvctsofkBV ^di Mal avtot P 635. P 713.
fj} (T hiQfi S&sv aaaov \\ psQvtnfatQ ffmv^fitv ts % 481.
Darch iDScbriften werde das anlaatende Digamma in pBu^ßol^
u. 8. w. bezeugt, daher müsse gelesen werden
i* &iK(n6ikßtiv ß^aav \\ peuiißöl^ ^AnoUrnvk A 438
äCofuyok J$öi vUp II pBufißolov ^AnoXXmva A 21
flic h^i Atvslag di || psnaniß6Xov ^Amllmva P 333,
wo Bekkers and Nancks Textänderang dl pßnnß6lw entbehr-
lich ist.
Dem Worte "Ihoi dürfe das anlautende Digamma nicht erlassen
bleiben in
nä(S$y^ ifkol Si fkahcta || toi ptUm fyyeydaatP Z 493
ohg fSiv XaoXCk^ jj vol p^Xlm iyysyäaaty P 145
wg linov, avtctQ nej^dg || ig fiXtov $ll^lov6a E 204
vijco^y ^rii(foaBa$ \ ig /iJUov oidi u fA^x^g { 238
c$X«0' äfA* ^ÄtQsid^aty I ig flJUotr ovdi ikO§ hh^g q 104.
Während das Digamma für die letzte (Generation selbstthätiger
ionischer Rapsoden, die Zeit der zusammenfassenden Ausdichtung,
als erloschen gelten dürfe, habe in derselben Epoche die Verbindung
von muta und liquida ihre Kraft als Doppelkonsonanz, wenigstens
im Inlaute fast angebrochen bewahrt. Hiernach seien folgende Verse
der Ilias und Odyssee zu beurteilen:
ual noti ug psin^a^ * |1 natqog y o8b noiXiv dfusivmv Z 479.
Sy yvfi^ti tins v^lg \\ *OiQvyvil$ ntol&nÖQdtf Y 384.
nVQxä g>alfjQi6e$yt€i^ \\ ngo pkiv t* aXX\ avväq in^ dXXa N 799.
dXXd xvysg psQvovat \\ ngo pdauog ^ftetigoio A 351.
ßX^fkivia dpi^ma^ || nqd xovqwv t^ijQfitiJQwv P 726.
ißv/wöav, alipa d' 8ns$ta \\ ngd pdauog ^ysgiSoPto i3 783.
iy 9 avtdg xis p^at || nqodv/ki^iu 7tsno$0wg B 588.
OfÜQayoOey nataßdaa * || ngo^ut ydq svQvona Zevg P 545.
ot d' in' iysiad'^ ivotfta || nQonsifksya x«r^ac taXXoy 191 n. 8. f.
iS( ot fkiy towSta || nqdg dlXijXovg dyoqsvoy E 274 n. 8. f.
fkv9oi(r$y tignoyto || ngdg dXX^Xovg iyinoyug A 643«
si^ inl 6$iV UniH II nq6g ^6a %' ijiX^oy ts M 239 u. 8.
i^fftlv itsok yaiovoi || nqbg ^6a %* ^iXidy u y 240.
j/X«*, iful titqafno || ngög l&v po$, ovS* dipdfutqtey 8 403.
^7 l^y imn^ ^c^is j| nqdg ovgay^y, ^ di naqsi^ tfß 868.
ndytfi namatyoyn || ngog ^$qoeidia nitqfp^ pk 233.
Usener, Altgriechischer Versbau. 761
i|f rotSrmv U(faoi%o \\ ngocafSag ^Odva^a % 337 n. B.
ßXf^%o yäq fSfiOP SovqI || ngdat» tstgaf/^fäipog atpel P 598
(Sc Squ tpmviioaüa || nqdcm äyt dla &sdmv 2 388
ix^i^tSag & äqa fetne || nQdg pov fuyalijtOQa &v§k6p A 403 U. 8.
Wo nqogijvda n. dgl. inoerhalb der tripodischen Reihe vorkomme»
Bei not^vSa n. b. w. zu Bchreiben.
Die Anlaate tQ, xq^ au, xq^ wenn Bie in der Hanptcaesar des
Hexameters steho, stellt Usener in dieselbe Kategorie wie hq:
vm d* ay* iy tp^Xot^n \\ tqansioyav eit^^&ivts 3 314
Ol/dl yäq ovdi Jqiiavtoq || v\ög nqatsqbq Avuooqyog Z 130
BiStaif d'ip IstfMSvt II SnaikavdqUf dvd'S^osvu B 467
ZffviQ 6' odu äv iymys \\ Kqoviovog äfsaov UoiiMpf 3 247.
Der Verf. wird wohl niehts dagegen haben, wenn wir denlliag-
nnd Odyssee- Vers y welcher nur als eine laxe Vereinigung der bei-
den daktylischen Tripodien erscheint, als einen »asynartetischent Hexa-
meter bezeichnen , in d e m Sinne, wie das Wort asynartetisch von
Bentley und nach seinem Vorgange von G. Hermann gebraucht
wird.
Nachdem der Verf. das Vorkommen asynartetischer Hexameter
in den HomeriBchen Gedichten konstatiert hat, gibt er den Nachweis,
daB die nämlichen metrischen Bildungen auch auf griechischen In-
schriftsteinen vorkommen. »Mag auch die Zahl der nur gelegentlich
gemachten Beobachtungen noch eine geringe sein, sie genttgt vollkom-
men um der vermeintlichen Hypothese die Thatsache zur Seite zu stellen.
Von neuen Funden , wie sie jährlich in wachsender Fttlle zu Tage
treten und gerade den hier vor kurzem dflnnen Bestand ältester Denk-
mäler so erfreulich mehren, darf auch hier Zuwachs an Belegen er-
wartet werden, und vielleicht vermögen schon heute belesenere Epi-
graphiker meiner Sammlung manche Ergänzung hinzuzufllgen.c
(S. 28.) Folgende Verse ans Weih-Inschriften werden von H. Usener
als ältere (asynartetische) Formen des epischen Hexameters aufgeführt
^laucusvg ju' dviBfiisv || KdlXmvoq vneq^ ipiV "AnoXXov^
wo das Wort ^latuxtsvg choriambisch zu messen sei,
M¥d(k* ifM Ovq(jq)tdSa^ y og oi» ^Ti[(\o%ctto (fsiyskV^
^AXnkybd%(a'\ fods of^fta || fA^T^q indßi^MC Bavovn^
iqtpavd %inva Xlno$to || x^^ov ßlov, olnov Sqf^ikov^
äyOsa ndvva (pvovCkV^ || udXJüog de to oov fkefidqaytat^
nXavaats datykova ndvtsg, \\ Qeodtiqag vs6%f[tav^
3vv6v *Ädayod6tov %b || ndi ^Acmnodotov toöb piqyov.
Dem Verfasser gelten auch diese dem strengen metrischen Bau
durchaus nicht entsprechenden Hexameter »als Beweis des unwill-
762 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 20.
kttrlichen Fortwirkens einer alten längst verscbollenen Form«, ohne
daA er von anderen erwartet, dass sie von ihnen mit dem gleichen
Wohlwollen betrachtet werden. Dnrch Einmischung fraglicher oder
gar bedenklicher Beweisstücke könne der Umfang, aber nicht die
tiberzeugende Kraft der Beweisführung vermehrt werden.
Die Wissenschaft wird es dem Verf. danken, daß er den schwer-
lieh anzutastenden Nachweis geliefert hat, daß sich unter den Home-
rischen Versen auch solche finden, in welchen die dem daktylischen
Hexameter zu Grunde liegenden tripodischen Reiben noch unvereint
neben einander stehn , und daß diese gleichsam vorhomerische
Bildungsweise auch unter den Hexametern der Inschriften ver-
treten ist.
Im daktylischen Hexameter der vollendeten Technik sind zwei
daktylische Tripodien in der Weise zu einem fUxqov dinmloy ver-
einigt, daß erst in der dno&sats des Schluß - Kolons eine tfvlXaß^
äd$dtpoQog eintritt; wenn dieselbe schon im Inlaute des Verses er-
scheint, ist dies eine in den Dialekteigentümlichkeiten begründete
Ausnahme. In analoger Weise sind in daktylischen Pentamer zwei
daktylische Tripodien katalektischcr Bildung zu einem ikitqov dlxmlor
d^uawiX^xtoif vereint.
Daktylischer Hexameter und Pentameter sind gleichförmige fUtqa
ddr^ila; jedes der beiden zu einem fiitQov vereinten Kola ist ein
daktylisches. Archilochos war der erste, welcher f^itga dixmla ans
zwei heterogenen Kola bildete, von denen das eine dem daktylischen,
das andere dem trochaeischen (iambischen) Rhythmengeschlechte an-
gehörte.
Er verband die daktylische Tetrapodie mit einer darauf folgen-
den trochaeischen Tripodie zu einem ^itqov SUmlov, welches bei
den alten Theoretikern als i^dfutQov nBqn%o<svXXaßiq oder ^q^^ov fi/-
iff^vov bezeichnet wird.
UVJ«Z_VJW;«Z_UU-JLUU l .J-\J jl.kj
ov* iy ofiüSg &dH€ig änaldv XQ^^» \ ^dqq>stM fdq ^dt/.
Neben den normal gebildeten daktylisch - trochaeischen i|a-
fketga n€Q$ttoavXlaß^ , die am Ende des zweiten Kolons eine
cvXlaß^ ddtdifOQog hatten, kamen in demselben archilocheischen Ge-
dichte auch solche Verse vor, welche einen laxeren Bau in der Art
zeigten, daß jedes der beiden heterogenen Kola ein selbständi-
ges Metron mit schließender ^XXaß^ dd&d^oQog ausmachte. Dahin
gehört das iidfMStQov ncQtttoövXXaßig
Kai ßija<fag iqimv dvgna$ndXovg \\ otog ^v iqi* vßv^'
Üsener, Altgriechischer Versbau. 763
Hepbaestion ftthrt diesen Vers des Archilochos io seinem metrischen
Eneheiridion o. 15 an mit der Bemerkang: rtv€ta$ Si 6 tsksvvatog
ff C utQanodtag d$ct ti^p inl %ilovQ ddtdg^QOP »al xQ^xog, d. i. als
letzten VersfnE der daktylischen Tetrapodie gebraucht Archilochos
statt des Daktylos aoch den Kretikos, da er die Schlaftsylbe dieses
ersten Kolons als ddtdg>ofog anffaftt.
Ferner verband Arcbilochos die daktylische Tripodie mit einem
iambischen Dimetron
dlld f*' d Iviftf^k^gy I ctf *tatQ$f ddf*yatM nd^og.
Nach Borat. Epod. 11, 10 u. 11, 13 zu schließen
argoit et latere || petitar imo Spiritus ||
libera concilia || nee contnmeliae graves ||
war in diesem Verse des Archilochos die SchluBsilbe des ersten Ko-
lons eine cvXXaß^ ddiaipoqov.
Diese freieren Bildungen der daktylisch-trochaeischen Metra di-
kola des Archilochus, welcher in der Komissur der beiden Kola eine
avllaßi^ dd$d^0Q0i zuläßt, haben genau dieselbe Eigentümlichkeit,
welche H. Usener für eine Zahl von heroischen Versen der Uias und
Odyssee konstatiert:
Bentley bezeichnet die freiere Bildung der daktylisch-trochaei-
schen Verse als asynartetische Bildung. Schwerlich wird H. Usener
etwas dagegen einzuwenden haben, wenn wir die analog gebildeten
Verse der Uias und Odyssee von den nach normaler Technik gebil-
deten durch die Benennung asynartetischer Hexameter (im Sinne
Bentleys) unterscheiden.
Das von H. Usener aus der Ilias und Odysse nachgewiesene
fkitQOP ^QMoy asynartetischer Bildung (bleiben wir der Kttrze wegen
bei Bentleys »asynartetisch«) nun soll es nach des Verf. Ansicht sein,
welches aus dem 16silbigen Urverse der ludogermanen, jenem aus 2
tetrapodischen Reihen kombinierten Langverse, hervorgegangen ist.
Aach Fr. Allen, der jene asynartetische Vorstufe des Hexameters auf
dem Wege synthetischer Deduktion, nicht wie der Verf. auf dem Wege
kritischer Analysis, erschlossen hatte, war zu derselben Annahme wie
H. Usener gelangt. Das technisch ausgebildete fkitqov ^q^ov ist ein
ans 2 tripodischen Reihen bestehender Langvers, der von seinem geneti-
schen Znsammenhange mit dem indogermanischen Urverse zunächst
keine Kunde gibt. Aber bei dem asynartetisch gebildeten Homer-
verse ist dies anders, so wie man sich ihn als einen gesungenen
Vers denkt und seinen musikalischen Rhythmus nach jenen Versen
764 Gott. ffel. Anz, 1887. Nr. 20.
e'
bemiftt, welche Aristoxenos im Auge hat, die nur ans einer späten
Zeit des Griechentams in den Hymnen desDionysios undMesomedes
vorliegen. H. Usener spricht ja vorwiegend bei dem Nachweise
eines historischen Zusammenhangs des griechischen Verses mit dem
altgermanischen, alteranischen nnd altindischen von Volksliedern,
also von gesungenen Versen. Ist nun die Urform des homeri-
schen Metrums ein gesungener, kein gesagter Vers, so wird der
Rhythmus z. B. von q. 479
fkij öS piok dkä düifka || peQtSfftfmtf oV dyoQSVS^g ||
gesungen worden sein:
./. \J\J .J- \JKJ -^ U, U ..£. U. \J\J -i- JL.
Das zweite Kolon kann nur folgendermaßen gesungen sein:
pSQv<f<tmff oV äyoqswq
\J .J- U- XJ \J ^L. U- ^
eine andere Rhythmisierung ist nach dem uns quellenmäßig Ueber-
kommenen ausgeschlossen.
Analog wttrde dein ersten Kolon
f$ij as viok dkd ddSf^a
als gesungenem Verse folgende rhythmische Messung zukommen:
Werden beide Reihen unmittelbar hinter einander gesungen, so
mag immerhin zwischen beiden eine Paase eintreten, aber diese
hebt nicht auf, daß der Rhythmus dereelben einer Kombination vop
zwei großen (tetrapodischen) C-Takten entspricht, in deren jedem 4
musikalische Versfüße — der alte Mattbeson in seinem Vollkommeneo
Kapellmeister nennt sie KlangfUße — enthalten sind.
Ich denke, daß ich des Verfassers Ansicht richtig wiedergegeben
habe, obwohl Manches in seiner Darstellung den Anschein erwecken
könnte, als ob nach seiner Meinung der aus zwei Tetrapodien be-
stehende vorhomerische Vers auch als gesagter, d. i. gesprochener,
rhapsodisch vorgetragener Vers zu einem aus zwei Tripodien be-
stehenden sich hätte umgestalten können. Das letztere muß Bet
in Abrede stellen. »Die Verwitterung des Auslautes«, von welcher
der Verf. gelegentlich des deutschen Verses spricht (S. 65), ist nor
bei gesagtem, nicht bei gesungenem Verse möglich. Von dem deut-
schen Volksliede
Rüben, Rüben | die haben mich vertrieben
beiißt es S. 66 : »Die erste Zeile (~ u — u) entspricht vollständig an
Usener, Altgriechischer Vershau. 766
Taktwert deo übrigeD, nnd unter diesen steht ein Vers von vier He-
bangen den zwei abgestampften gleich«. In Wirklichkeit aber bil-
det der erste Vers des Volksliedes keine Dipodie, wie H. Usener
annimmt, sondern eine Tetrapodie :
Rü - ben, Rü-ben ha-ben mich ver • trie - ben
So schreibt J. S. Bach die Melodie dieses Volksliedes, die er in
seinen Keiserling- Variationen (I 63 Peters) mit einem zweiten Thü-
ringer Volksliede polyphonisch verbunden hat.
Ueberhaupt kann in der Metrik, znmal in der vergleichenden
Metrik — H. Useners Boch will ja »ein Versuch vergleichender Me-
trik« sein — nicht scharf genog zwischen gesungenen und gesagtön
Versen geschieden werden. Sowohl der gesungene wie gesagte Vers
besteht aus VersfQßen. Aber was Äristoxenos im zweiten Buche sei-
ner Rhythmik von den nach dem Zeitmafie des Chronos protos zu
bestimmenden nodsg sagt, gilt bloß von den nodsg des iv f*ov(r«»^
tavt6p€yog ^v^fkög^ bloß von den Versfüßen des gesungenen Verses
und der Instrumentalmusik, — denn auch die Instrumentalmusik hat
nicht minder wie die Vokalmusik ihre Versfttße, obwohl bis jetzt die
Kenntnis der in der Instrumentalmusik vorkommenden Versfttße trotz
Mattbesons Vollkommenem Kapellmeister noch immer eine esoterische
ist Die vergleichende Metrik wird nicht bloß den gesprochenen,
sondern auch den gesungenen Vers zu behandeln haben. Während
für den gesprochenen Vers fast ein jedes der heutigen Kulturvölker
seine eigenen Principien hat, die entweder aus quantitierender oder
accentaierender Grundlage hervorgegangen sind, ist gegenwärtig bei
allen Völkern in der musikalischen Rhythmik dasselbe Princip zur
Gteltnng gekommen, welches dem gesungenen Verse der alten Orie-
eben zn Grande liegt und durch Äristoxenos theoretisch fixiert wor-
den ist. Daß unsere großen Meister der musikalischen Komposition
Bach, Händel, Gluck, Mozart, Beethoven ihre Werke in derselben
rhythmischen Form gehalten haben wie die alten Griechen, diese
bisher nur in dem kleinen Kreise der Aristoxenus-Verehrer bekannte
Thatsache kann nicht anders erklärt werden , als daß das rhythmi-
sche Gefühl dem menschlichen Geiste immanent ist und sich'dahör
bei alten und neuen Völkern in ähnlicher Weise manifestieren muß.
Ohne daß es unsere Musiker wissen, zählen sie nach den zuerst von
Äristoxenos theoretisch erkannten Chronoi protoi (die Ausnahmen
brauchen hier nicht berücksichtigt zu werden), wenn sie nach |-, f-,
f > iV) i'9 V''^A^^^° zählen, denn in diesen Taktvorzeichnungeu
766
Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 20.
bezeichnet der Zähler die Anzahl der Chrono! protoi, welche dareb
den Nenner als Viertel-, Achtel-, Sechszehntelnoten bestimmt werden.
Das ist genau der Aristoxenische Standpunkt Den Standpunkt der
mittelalterlichen Mensuralmusik dagegen hat unsere Musik festge-
halten, wenn sie fttr den geraden Takt die bei den Mensuralistea
vorkommenden Taktbezeichnungen C u. s. w. anwendet Von den bei
Aristoxenos besprochenen Taktarten der griechischen Musik wendet
die heutige nicht bloB das Rhythmengeschlecht des 4-zeitigen (dak-
tylischen), des 3-zeitigen (trochäischen), sondern auch des 6-zeitige&
(ionischen) Versfußes an. Bloß das päonische Rhythmengeschlecht
ist in der modernen Musik erloschen. Die Versuche es wieder do-
zufiihren, welche von Händel (Orlando) und von Boieldieu (Weifte Dame
Nr. 11), gemacht sind, haben keinen bleibenden Erfolg gehabt Das
dem menschlichen Oeiste immanente rhythmische Gefühl verlangt
sogar, daft die moderne Musik ihre rhythmischen Glieder genau so
weit, wie dies Aristoxenos fttr die griechische Musik angegeben bat,
ausdehnt: von 3-zeitigen und 4-zeitigen Versfttften kann eine tetrar
podische Reihe gebildet werden, bei 6-zeitigen (ionischen) Versfttften
vertritt die Dipodie dieselbe Stelle, welche dort die tetrapodische
Reihe einnimmt, nur im modernen Recitative findet das Aristoxeniscbe
Gesetz über die Ausdehnung der rhythmischen Reihen keine Parallele
(der griechischen Musik fehlte das auf laxerem rhythmischen Ge-
fühle beruhende Recitativ der modernen): hier werden auch sieben
und mehr VersfQfte zu einer rhythmischen Reihe verbunden.
Je größer aber die principielle Gleichheit der rhythmischen Fo^
men in der Kunst der Griechen und in der christlich modernen Mn-
sik, um so mehr scheint es auffallen zu mtlssen, daft tetrapodische
Reihen bei Griechen und Modernen zwar gleich häufig, tripodisdie
Reihen aber in der modernen Musik um so seltener sind. Den
Rhythmus des daktylischen Hexameters werden manche in den Wer-
ken der modernen Musik kaum vernommen haben. Selten genog
kommt es vor, daft sich in unserer Musik daktylische Tripodien in
längerer Folge ununterbrochen an einander reihen. Wer Glucks Tsn-
rische Iphigenie gehört hat, der hat in der der Ouvertflre eingeleg-
ten Vokalmusik den antiken Rhythmus heroischer Hexameter ve^
nommen :
m
t
&-i
u
4St± '-,
^^^
^
Grmnds Dieuxl soyes - nous se-cou - ra - bles!
De tovr-
nei vol fou - dies ven - ^urt,
Usener, Altgriecliisclier Versbau.
767
Id der Vokalmusik Mozarts, Beethovens, Webers wird man die-
sen tripodisch-daktylischen Rhythmus vergebens suchen. Außer der
Oiuekschen ist die Bachsche Vokalmusik die einzige, welche densel-
ben zu Oebör kommen läßt. Bach hat in seiner Hohen Messe das
Ghorlied No. 11 »Cum sancto spiritn« nach daktylischen Tripodieen
gegliedert:
^^
Cum lanoto ipi - ri - tu in glo-r-a De - i pa-teif.
Das sind regelrechte daktylische Hexameter, nur daß denselben
eine 1-zeitige Anakrusis vorangeht. Mit Ausnahme von Glucks Tau-
riscber Iphigenie und Bachs Hoher Messe dttrfte schwerlich in unse-
rer Vokalmusik der Rhythmus des daktylischen Hexameters der Al-
ten gefunden werden. Bach indes hat denselben auch in der In-
stramentalmusik zur Anwendung gebracht. Unter den Fugen des
Wohltemperierten Elavieres ist 1, 21 (B Dur), 2, 16 (6 Moll), 2, 22
(BMoll) im Rhythmus daktylischer Tripodien, deren zwei sieb zum
Hexameter vereinigen, gehalten. Am instruktivsten fttr diesen Rhyth-
mus ist die erste B Dur-Fuge des Wohltemperierten Elavieres :
Das sind zwei anakrusische Hexameter Bachs, in denen wir
durch Legatobogen die einzelnen tetrapodischen Reihen markiert ha-
ben. Man wird alsbald finden, daß Bach trotz der von ihm ange-
wandten Anakrusis die antiken Verscäsuren eingehalten hat: ans
keinem anderen Grunde, als weil das rhythmische Geftthl unseres
groBen Meisters Bach mit dem rhythmischen Gefühle der alten Grie-
chen identisch war.
Da tripodisch-daktylische Rhythmen in unserer Musik gar so
selten sind, glaubte ich, als ich die in Rede stehende Bachsche
Foge in den Elementen des musikalischen Rhythmus besprach, den
tripodischen Rhythmus derselben dadurch am besten verständlich
machen zu können, daß ich ihn in den tetrapodischen umformte«
Umgekehrt muß das Griechentum verfahren haben, als es die tetra-
podischen Reihen des alten vorhomerischen Hexameters zu tripodi-
schen Reihen gestaltete. Wir kehren hiermit auf die zu Anfang
qoserer Besprechung angeführten Worte des Verfassers znrUck: »Die
768
Gott. gel. An«. 1887. Nr. 20.
scböDen Gebilde der griecbiscfaeD Kunst ... der scböpferiscbe Ktlnst-
ler erzeugt sie nicbt, sondern bildet das Ueberkommene veredelnd
um«. So sind auch die tetrapodiscben Reihen des ältesten griechi-
schen Verses zu tripodischen umgebildet und veredelt worden. Ge-
rade diese Umbildung tetrapodischer zu tripodischen Rhythmen ist
eine Kllnstlerthat, durch welche das Griechentum seine rhythmiflche
Ueberlegenheit ttber alle verwandten Völker bethätigt za haben
scheint. Von modernen Künstlern hat außer dem Komponisten der
Taurischen Iphigenie eigentlich nur der große Meister Bach als der
einzige den tripodisch-dal^tyI^sc(ien Rhythmus^ ^i^4pi^ Vi gewinnen
den nicht erfolgreichen Versuch gemacht. Im Volksliede kommt die-
ser Rhythmus^ so viel Ref. weift, bei keinem anderen Volke als bei
den Russen vor. In der Sammlung russischer Volkslieder von
J. Helgunow »Ruskija Pesni .... Moskwa 1879c enthält p. 10
ein mehrstimmiges Ghorlied des russischen Landvolkes im Rhythmiu
des daktylischen Hexameters der Griechen, freilich ohne Einhaltung
der antiken Cäsur. Der Originaltext lautet in deutscher Ueber-
setzung :
Adf dem Petersburger, | adf dem schönen W^ge H
auf der Tw^rschen Straße | in der N&h der Stadt,
fllhrt mein Schätz, mein Holder, | auf dem Dreigespanne, ||
auf dem Dreigespanne | unter Glöckenklänge, ||
Schätz auf Dreigesp&nne, | unter Glöckenklänge, t|
unter Glöckenklänge | und mit Schalen drän||
Bittre Thränen, wehe, | hat geweint mein Holder, ||
bittre Thr&nen, w^he, | hat mein Schätz geweint ||
Der russische Originaltext gibt auch als gesprochener Vers im Gan-
zen denselben Rhythmus wie ihn die deutsche Uebersetznng einge-
balten hat, also Verse desselben Metrums, wie z. B. »Auf ArkonaB
Höhen«. Aber es kommen hinreichend Fälle vor, wo im russischen
Volksliede der Worttext in der Art des alteranischen Verses die
rhythmische Hebung mit dem Silbenaccente nicht zusammenfalleQ
würde, wenn nicht die Melodie hinzukäme.
Ufiener, Altgriecldidier Versbaa. 769
DaB ist eiM am zwei HezAmetera besteheude Distichie. Demselben
tripodisch-daktyliscben Bbythmas gehören tod den rmsiBcben VoUls-
liedern der Ifelgimowscben Sammlang anch Nr. 1. Nr. 7 an. Die knnst-
reiebe Mannicbfaltigkeit, wekbe ^ler Saxameter der Oriecben darcb die
Verteilung der Cäsaren erbält, ist dem daktylischen Hexameter des
rofisischen Volksliedes anbekannt, eleu die Oäsnr tritt hier am Ende
der tripodiscben Reihe ein. Aber der musikalische Vortrag des
Verses steht im rassischen Volksliede aafeiner entschieden höheren
JStofCy als er jemals im alten Griechentiune atehn konnte. Denn der
Oesang des rossisehen Volksliedes ist stets ein mehrstimmiger, nicht
4arch Anwendung yoa Terzenintervallen wie im deutschen Volks-
liede, sondern dnreh eime polyphone Behaadlnag der Stimmen, welche
vein keinem gelehrten Musiker den ressiscben Landleuten komponiert
sind, aoodern yoib diesen als selbständige Schöpfungen gesungen wer-
den, zum Teil sogar im Augenblick des Singens von den Sängern
frei gestaltet 9 daher mit vielen Varianten, welche der sorgsame
Herausgeber Melgnnow dem Leser nicht vorenthalten hat. Husi-
kalisebe Instramente werden zsm Vortrage der vom Chore gesan-
genen rassischen Volkslieder nicht gebraacht, sie sind ganz Vokal-
mnaik^). Kein anderes l4md hat ähnliehe VolbiUeder aufzuweisen,
dorcb sein Volkslied ist RuUand der g&nzen ttbrigen Welt voraus.
Konatatieren wir, daft das russische Voft (d. i. das russische Land«-
volk) in seinen nationalen Liedern aueh den Bhyth-
mna des daktylischen Hexameters der altenOriechen
anwendet; eine historische Brttcke, auf welcher dieser Rhythmus
YOB den alten Griechen zn dem russischen Volke hinttbergewandert
aeiii könnte, läftt eich nicht ausftndig machen , ebensowenig wie ftlr
die Anwendung desselben Rhythmus hei Bach und bei Oluck. Hier
^bt es keine andere Erklibrung, als daft dem menschlichen Geiste
das nändicbe rhythmische Gefiihl immanent ist : im gesungenen Verse
oder vielmehr in der Musik überhaupt muft es bei den alten Grie-
4^11, bei den modemen Komponisten Bach and Gluck und in den
1) Auf die ¥on nnsoren groBen abendl&Ddischen Meistern aoBgebildeten Har-
jnpadegesetae ist in Aen raasifldbmi Vollnliedem keine Rftcksidht genommen , und
doch ist da9 Volk, von welchem diese MusUc henrahrt, ein musikalisch so koch
beanlagtee, daZ .unsere deutschen Musikgelehrtieu an diesen VoJkaliedem ihre
Freude haben. Als von mir Melgunows Sammlung 2um ersten Haie zwei Leip*
siger Mnsikforschern vorgelegt wurde, riefen diese ganz erstaunt: »Wir sehen es,
glftoben es aber doch nicht: wer von unseren heutigen Musikern wäre im Stande,
B^ldbie Mvaik «u komponieren ?c Im vorigen Jahre wurde dem Publikum der
gr0Aeren deutschen Stftdte Gelegenheit geboten, unter Slavianskys Leitung die
nationalen Cborgesänge der russischen Landleute kennen .und bewundem m lernen,
Q6Um gel Au. 1887. Nr. SO. 53
770 G5tt. gel. Adz. 1887. Nr. 20.
nationalen Ghorgesängen des russischen Landvolks zn den nämlichen
rhythmischen Formen fuhren.
Blickebarg. R. Westphal.
Pick, Bernhard, Dr. Martin Luthers »Eine feste Bnrg ist unser
Oott« in 21 Sprachen. Zu seinem 400jährigen Geburtstage (Mit Luthers
Brustbild). Chicago, Hl. Severinghaus & Co. Publishers. 188S. 46 S. 8«.
Lnther ist anerkanntermaßen nicht allein der Schöpfer der nen-
bochdentschen Prosa, sondern auch des Kirchenliedes. Er hat es wie
kein anderer verstanden, dem Gedanken den völlig entsprechenden
volkstümlichen Ansdmck zn geben, schlicht nnd kräftig zugleich.
Daher bewahrt anch sein Kirchenlied eine jugendliche Frische, die
nie veraltet nnd eine melodische Form von hinreißender Wirkang.
Allen voran steht das bekannte »Ein' feste Barg ist nnser Gottc ein
Kirchenlied ersten Banges, einzig in seiner Art Dem Ornndgedan-
ken der Reformation, sowohl nach seiner polemischen wie nach sei-
ner apologetischen Seite bin, verleiht es einen ebenso vollkommenen
wie mächtig ergreifenden Ansdrnck. Darum ist es auch, gleichwie
der kleine Katechismus Luthers, gleichsam ein Symbol der Kirche
der Reformation, insbesondere der nach Luther benannten Kirchen-
gemeinschaft geworden. Wo immerhin unter einem Volke die Re-
formation Eingang gefunden, bat auch dieses Lied mit seinen mäch-
tigen Akkorden seinen Einzug gehalten. Ueberall mit Begeisterung
aufgenommen hat es wesentlich dazu beigetragen !der Reformation
die Wege zu bahnen. »Diese Lieder Luthersc, sagt ein Jesuit Con-
zenius, »haben mehr Seelen getödtet als seine Bücher und seine Re-
done. Gleich der Bibel ist es daher anch in nicht wenige Sprachen
übertragen worden. Freilich ist es so durchaus deutsch empfunden
und in eine äohtdeutsche Sprachform gekleidet, daß eine Uebertra-
gung in eine andere Sprache niemals ganz das Original erreicht,
zumal zur Beibehaltung des Versmaßes nnd des Endreims in der
fremden Sprache nicht immer der Gedanke des deutschen Originals
festgehalten werden kann. Umänderungen, Vertauschungen, Aus-
lassungen und Ergänzungen sind unvermeidlich und darunter leiden
sowohl die Tiefe der Gedanken wie die Kraft, die dem Wort inne-
wohnt. Indessen gibt eine Zusammenstellung der Ueberträgungen
des Liedes in verschiedene Sprachen, wie sie die oben erwähnte
Schrift enthält, den Beweis, einen wie vielfachen Widerhall dieser
urdeutsche Posaunenton auch in den Herzen anderer Völker gefun-
den hat. Auch in den fremde Sprachen redenden Christengemeinden
ynri das Lied unvergessen bleiben.
Pick, Lathers »Eine feste Bnrg« in 21 Sprachen. 771
Der Verf. nennt in dem kurzen Vorwort diese Sammlang von
»56 Uebersetzungen des Beförmationsliedes« in 21 Sprachen die
zweite, die er herausgegeben; die erste erschien 1880 in 19 Spra-
chen. Eine italienische and eine ungarische sind neu hinzugekom-
men: die bereits vorhandenen durch eine lateinische, eine französi-
sche und vier englische vermehrt Von letzteren ist die Auswahl
groß; es sind 28 aufgeführt; diese Sprache und ihre Litteratur ist
dem Verf. wohl am gründlichsten bekannt Es will uns vorkommen^
als wenn die englische Sprache neben der [lateinischen sich ganz
vorzugsweise dazu eignete, die ergreifende (Gewalt des Liedes wieder-
zugeben. — Den auf S. 17 gemachten Quellenangaben wäre noch
hinzuzufügen, daB die spanische Uebersetzung S. 35 in dem Salterio
christiano. Madrid, libreria nacional y estransera. 1878. pag. 3 ab-
gedruckt ist (im ersten Verse Nr. 1 muB es heiBen /tierte, nicht
fuerto), sowie daB die italienische Uebersetzung S. 43 in dem Ge-
sangbuch der evangelischen Gemeinden in Italien: Salmi Oantici.
Quarta edizione. Firenze. Tipografia Ciaudiana 1885 pag. 21 als
Cantico 20 steht In der hier besprochenen Schrift muB in Strophe 1
der zweite Vers an die Stelle des dritten und der dritte an die
Stelle des zweiten gerückt werden; auch muB es Str. 2 V. 5 heiBen
domandi und Str. 4 V. 5 pieni statt pinei. Die schwedische Ueber-
setzung S. 32 findet sich in dem jetzt in Schweden gebräuchlichen
Gesangbuch : Swenska Psalm-Boken. Af Eonungen gillad och stad-
fiistad är 1819. Stockholm 1884. S. 85 u.f. Nr. 124 (Str. 1 V. 4
muB es heiBen toüje statt wäju). Die dänische Uebersetzung ist da-
gegen in der S. 31 mitgeteilten Form dem jetzt in Norwegen ge-
bräuchlichen Gesangbuche entlehnt, während das gegenwärtig in
Dänemark geltende »Psalmebog« eine Uebertragung hat, die sehr
abweichend von der erstgenannten sich einer älteren im »Evange-
lisk-kristelig Psalmebog til Brug ved Eirke og Huus-Andagt. E0-
benhavn 1806« Seite 166 u. f. No. 190 mitgeteilten anlehnt Der
Setzer oder Eorrektor des hier S. 31 vorliegenden Drucks scheint
den der dänischen Sprache eigentümlichen Buchstaben 0, der ent-
weder als ein von oben nach unten durchstrichenes 0 oder als ein 0
mit einem kleinen schrägen Strich darüber geschrieben wird, nicht
gekannt zu haben. Richtig heiBen die Wörter Nod (nicfat Nod)^
Hivding^ stode, dornte Born ; desgleichen Str. 1 V. 3 faerd statt ferd ;
und Str. 3 V. 2 opsluge^ nicht opfiuge.
Der Verf. schreibt im Vorwort S. 1, daB er in dieser Schrift
»den noch vorhandenen Reste — nämlich der von ihm gesammelten
Uebersetzungen — »in erweiterter Form als Gedenkblatt zum 400|ähri-
gen Geburtstage „des deutschen Propheten'' ausgehen lasse c. Dabei
53»
772 6ött. gel. An«. 1887. Nr. 20.
ist dem Referenten anf gefallen , daß der in den Händen des Verf.
befindliebe Rest niebt nocb rdcbbaltiger gewesen ist Ref. hat n&mlich,
1875 von einem befreundeten Prediger in Holland dazu aufgefordert,
für den Verf. eine Änzabl Uebersetzungen in skandinaviseben Sprachen
gesammelt, was ihm nur dadurch möglich wurde, daft ein Studieren-
der der Theologie in Kopenhagen, Namens Hafström, sich der Mfihe
unterzog, auf der dortigen, an skandinavischer Litteratnr sehr rei-
chen Bibliothek zu suchen und abzuschreiben was dort vorhanden
war. So gelangte Ref. in Besitz einer finnischen, einer lappischen,
einer isländischen, einer grOnländischen, drei dänischer nnd einer
schwedischen Uebersetzung, die derselbe leider damals, weil er krank
war, ohne Abschrift zu behalten, nach Holland weiter beförderte.
Dort nahm ein Dr. Gohn', der inzwischen verstorben ist, sie in
Empfang, um sie dem Verf. zu übermitteln. Sollte letzterer die in
seiner Schrift nicht abgedruckten Uebersetzungen in lappischer, is-
ländischer nnd grönländischer Sprache gar nicht empfangen haben?
Man muß es fast annehmen, denn die Uebersetzungen in diesen nar
Wenigen bekannten Dialekten würden doch zur Vervollständigung
der Sammlung wesentlich beigetragen haben. Ref. möchte sein
großes Interesse an dem von Umsicht und Fleiß in hohem Hafte
zeugenden Unternehmen des Verf. noch dadurch bekunden, daß er
einen S. 17 ausgesprochenen Wunsch erfüllt, indem er nämlich hier
eine griechische (neugriechische) Uebersetzung des Lutherliedes mit-
teilt. In dem Liederbncbe des griechischen Mädcheninstituts Arsakion
in Athen, welches deutsche Lieder in Uebersetzung nebst den deut-
schen Melodien enthält, findet sich, wie der Hofprediger in Athen
schreibt, ein schwacher Versuch von dem Dichter Angeles Vlacbos,
dessen erste vier Verse so lauten:
6 fJksyd^ 6 iv itp((f%a$Q
Die Fortsetzung entspricht aber so wenig dem deutschen Original,
daß ihre Mitteilung sich nicht verlohnt. Um so dankenswerter
ist es, daß der Verf. der sehr gelungenen Uebersetzung von Goethes
Faust ins Neugriechische, Herr Aristomenis Provilejios in Athen sich
hat bereit finden lassen , die nachfolgende Uebertragung des Luther-
liedes anzufertigen, welche unter Berücksichtigung der nicht gerin-
gen sprachlichen Schwierigkeiten , die zu überwinden waren , als
eine möglichst treue, namentlich in den drei ersten Strophen, und
überaus wohllautende bezeichnet werden kann. Sie lautet;
Pick, Luthers 9£ine fette Bargt in 21 Sprachen. 773
üxin^ nal äifvlop fta^
iv fAdüM %är dshvmv ftag.
iQ&omai ßloiWQog
fii doXov nal taxvt^'
mdpfo $ig t^y f^v
(Aag iyxatahfAndpst,
nl^p nQOfkaxog (Aag tov ^sat
o ixlsxtdg fiQOip&dyti.
b ItjcovQ XQtotog!
Movoq aiitiq x^cog
inccQxsi »Qatatog'
^ piui/ idix^ tov.
Kai äv da$n6pcay (ftganal
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"Ag Xdß^ näp iX^wp
ngoCMMQOP dyaMp
iaUap *al ufMJPy
nXijP dg dox^fj ^f»tp
td nqdtog aov td ^ttop.
Bev. Dr. B. Pick stellt in der Einleitnog za seiner Sammlang
von Uebertragangen den Text des Liedes in der Gestalt voran^ wie
ihn das Angsbarger Gesangbacb vom Jahr 1531 hat| führt dann
774 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 20.
mehrere Veranstaltangen des Liedes an, die es in verBcbiedenen
GesangbttcberOy z. B. im Hamburger von 1787, im Neuen Ansbaehi-
scben von 1800, im Sebaambarg-Lippiseben von 1804, im Amatftdti-
sehen (Sehwarzbnrg-Sondersbaasen) von 1811 n. s. w. erfahren hat,
und berührt auch die Frage nach der Zeit der Abfassang, ohne sieb
für eine der verschiedenen Ansichten zn entscheiden. Hier wäre
noch hinzuweisen auf die von Fischer und Linke herausgegebenen
Blätter ftlr Hymnologie 1883 S. 75 ff. und S. 103 ff., sowie auf das
Harburger Universitäts-Programm (1883) von Achelis »Entstehnngs-
zeit von Luthers geistlichen Liedernc. In letzterem wird S. 21—27
es unentschieden gelassen, ob es vielleicht schon 1521 oder 1524
gedichtet sei, da diese Vermutung, die auch sonst schon ausgespro-
chen, in einem Citat bei Schamelius Lieder Gomm. 1724 eine Stfltze
finde, die nicht zu ignorieren sei. Derselbe bemerkt nämlich im
vierten Anhang, der eine kurzgefaßte historia Hymnopaeornm ent-
hält, S. 96 in einer Note, von dem bekannten Hermann Tast: >Er
war erst unter den 24 vicariis zu Husum in Hollstein. Als er den
Lutherum gelesen hatte, fieng er an die Wahrheit zu lehren und n
predigen. Und da ihn die Pfaffen nicht in die Kirche lieSen, ge-
schah es unter einer groBen Linde. In der ersten Predigt zu Oar-
dingen im Eiderstädtischen hat er beym Schluß Ao 1524 allein ge-
sungen: Ein feste Burg etc. wurde der erste Reformator selbiger
Lande und dann auch Past, zu Husum, starb 1551 alt 61«. Ebenso
erzählt Petrus Saxe, geboren 1579, dessen Annalen, im Ms. in Kopen-
hagen, bis 1645 reichen. — Für eine spätere Abfassungszeit, näm-
lich 1527, erklären sich K. F. Tb. Schneider: D. Martin Luthen
geistliche Lieder nebst einer kurzen Geschichte ihrer Entstehung.
2. Aufl. Berlin 1856 und J. K. F. Knaake: Luthers Lied »Ein
feste Bürge im Jahre 1527 gedichtet, in Zeitschrift Air kirchliche
Wissenschaft und kirchliches Leben, herausgegeben von Dr. Chr. E.
Luthardt Leipzig 1881. S. 39-48; ftir 1529 E. Ooedeke: Dichtun-
gen von D. Martin Luther. Leipzig 1883. S. 69, und Wagenmann,
der die Einleitung zu Goedeke geschrieben hat, dem sich auch Fi-
scher in dem Supplement zum Liederlexikon 1886. S. 41 zuzuneigen
scheint. Der Versuch Bäumllers : das katholische Kirchenlied 1886.
I S. 29 die Melodie zu dem Lutherliede als ein Plagiat von einem
alten katholischen Lectionarrecitativ hinstellen zu wollen, ist vOliig
gescheitert, da die Melodien des alten »Kölner Lectionarsc sämtlich
neueren Ursprungs sind, nämlich aus dem 18. Jahrhundert stammen,
wie unlängst in der Mttnchener Allgemeinen Zeitung nachgewiesen ist
Manche der in vorliegender Schrift mitgeteilten Uebersetzungen
sind grOfitenteils Umdicbtungen, dem deutschen Original wenig ent-
Gujastak Abalisch ed. Barthelemy. 775
sprechend z. B. die beiden holländischen S. 30 nnd 31 von Da Costa
nnd von J. J. L. Ten Eaten. Mitunter ist das Versmaft verändert^
z. B. in der englischen Uebersetzang von B.H. Kennedy 1863 S.24,
oder die vierte Strophe fehlt wie S. 20 in der englischen Uebertra-
gung von A. T. Bassell 1851. Diese Strophe scheint flberhanpt den
Uebersetzern die meiste Mtthe gemacht zu haben. Die mitgeteilten
56 Uebersetzangen gehören folgenden Sprachen an: hebräisch, eng-
lisohy holländisch, dänisch, schwedisch, französisch, spanisch, italie-
nisch (dies fehlt im Sprachenverzeichnis S.'17 nnten), lateinisch, ras-
sisch, polnisch, böhmisch, wendisch, lettisch, litauisch, finnisch^
esthnisch, ungarisch (fehlt ebenfalls S. 17), endlich die afrikanischen
Dialekte: Akra, Tschi ond Zala (S. 41). Eine nochmalige Auflage
dieser Schrift wflrde sich noch mannigfach yervollständigen lassen.
Möchte es dem Verf., der bisher so fleißig gesammelt, noch vergönnt
sein, seine Sammlung zu bereichern; wir wtlrden ihm gern dazu be-
httlflich sein.
Altena. Dr. Biernatzki.
Gnjastak Abalish. Relation d'une conference th^ologique präsid^e par le
Galife Mftmoun. Texte pehlvi publik ponr la premiere fois avec tradaction,
commentaire et lezique par A. Barthelemy, Ancien £läve de l'^cole des
Hantes Stades. Paris, F. Yieweg, Libraire-^diteur 67, Rne de Richeliea, 67.
1887. (Forme le 69'' Fascicule de la Bibliothöque de l'^le des Hautes
£:tude6). — 80 S. in 8^
Eine musterhafte Ausgabe der Disputation zwischen Atür-fam-
bäg Farruchzätän, Peschpai (Großpriester) von Pars, und dem ver-
fluchten (Ketzer) Abälisch über Gegenstände der persischen Religion.
Das Werkchen, zu derselben Qattung theologischer Traktate gehörig
wie Ulemä-i IsiSm und ähnliche von Masndi erwähnte, war bisher
nur dem Namen nach bekannt (s. Hang, Essais 108. West, Pahl.
Texts III, XXVII), nnd ist vom Verf. herausgegeben nach zwei Ko-
penhagner Handschriften, deren eine die Abschrift der andern, im
14. Jahrb. geschriebenen, ist, und einer Pariser vom Jahr 1737. Die
Parsitransskription weicht in der Art vom Urtext ab , daß man ein
verlorenes Pahlawimanuskript voraussetzen darf, aus welchem un-
sere älteste Handschrift nnd jene Transskription abgeleitet werden
müssen. Diese gleichfalls vom Verf. aus Handschriften zu Mttnchen
nod Paris entnommnen Transskriptionen in Zend* und neupersischer
Schrift (sogenannten Pazend und Parsi) hat er zur Bequemlichkeit
des Lesers unter den Urtext gestellt, und die Uebersetznng in neu*
776 Mit. gel. Aas. 1887. Nr. 20.
persiflebe Sprache nur soweit, als sie Toti Pani akweieht, ia FqA-
noten beigefügt; in einem Kommentar hat er sndem die fßmA-
laatenden Stellen ans den Rivajat aoagehoben nnd, wie den Urtext
selbst, ins Franzöeisdie ttbersetzt Endlich ist anch ein Gtoesar nnd
ein Index der Pahlawi Wörter in lateinisctaer Schrift beigefügt , so
daA sich das Buch zar Einftlhrong in das Slndinm des PaUawi
eignet.
Der Inhalt der Dispntation hat anr insofern Interesse als mso
sieht, mit welch anwichtigen Dingen sieh die Priester besehlftigten,
nnd wie spitzfindig sie sich mit den Einwürfen der Vemnnft gegen
den Dnalismns nnd mit noch geringfügigeren Fragen, wie z. B. dem
Dilemma abfanden, daß man das Wasser wegen seinw Heiligkeit
nicht an Scbmntz bringen dürfe nnd doch desselben zor Bainiging
benötige. Sie hatten hierin bereits Vorbilder in manchen Olossen
der Pablawittbersetznng des Awesta.
Geschichtlich möglich ist die Disputation; der GroBpriester ist
eine Instorisehe Person, nnd wenn man ihn als den Vorgänger Yon
Hannstschithra (881) nnd von dessen Vater Gaschan Jim ansieht,
wirklich ein Zeitgenosse des abbastdlschen Ghalifen llaman (813—
833), anter dessen Vorsitz die Dispntation geführt wird and der
aach nach andern Zeagnissen theologische Kontroversen zu veran-
stalten pflegte; dagegen schreibt der Traktat diesem Fürsten wohl
zn viel Konnivenz zo, wenn er ihn, den Beschtttzer des Islam, der
Heinnng des zoroastrisohen Priesters seinen voUkommnen Beifall
aosdrttcken läftt.
Der Verf. hat einige offenbare Fehler des Textes gllleUieb ver-
bessert; einige Stellen sind wegen verderbter Lesarten, resp* Diffe-
renz zwischen Text and Transskription einem vollen Verständnis ai"
zugänglich. Nach Anleitang der letztern ist vielleicht S. 28, 2 (pas.:
öün man nl^lHsniT pa du bun (Uta fvat) statt des vom Verf. gelese-
nen Pahlawiwortes giraviän (Glanbe, was vielmehr varoün ist) «ii-
röün^ weiterhin pun du bun-datahih (vgl. Dinkart ed. Peshotan D.
Behramji III, S. 132, Z. 4. 5 vgl. Jamaspji D. Minocheherji, PaU.
Diet. 22. 286) za lesen, and es wflrde zu ttbersetzen sein: »wie on-
sere Bestimmnng aaf zwei Prineipien (raht), das ist ans am eignen
Körper offenbart (versinnbildlicht)«, da er nämUeh dareh die bcilige
Schnar in zwei Hälften, eine gttttliohe (intellektnelle) nnd eine irdi-
sche geteilt ist Die Parsitransscription scheint als letztes Wort des
Vordersatzes iaft abzutrennen, in welchem sie aber irrig np. iatni
(wird) siebt, während es etwa »gestützt, berahead« bedeaten mlMe,
als Particip zo dem später folgenden Sst^d gehörig ; ftlr asta (Friede)
scheint hier keine Stdle.
Monumeota med. aey. Poloniae^ tomus IX. 777
Von selteeD PahlawiwOrteni erwftbneii wir: afeatar (Mörder),
^fvajifakaf^ (Fragen anfwerfen, im Minoichirad airoHnend, Nerios.
(»vtüokayantif np. dnreb putan (fragen) Übersetzt), ^raxfan (wider-
legen ; da man die Zeichen auch h&^axfan lesen kann, so würde man
an armen, herk'd erinnert, welcbes de Lagarde indessen mit med.
pareq (kämpfen) zusammengestellt hat); ferner mödäk (Schab, np.
mö0ahf sonst im Pahl. müh)] die Drnj Nasa beißt nasruSt^ vielleicht
mit Anspielang anf den Namen ihres Gegners SraoSa^ S. 49. So-
dann ist Abälisch als bisher nicht bekannter pers. Name za nennen;
da die herkömmliche Lesang vielleicbt darch die richtigere Abäläg
zn ersetzen ist (S. 7, Z. 1), so konnte man an np. dbarähy avOrah
denken, welches n. a. »heimatlos, umherschweifend«, sodann »Ein-
siedler« bedeutet und in der Bedeutung »Prophet« aas dem Ttirki-
scfaen ins Awarische ttbergegangen ist (Schiefner S. 90). Endlich
sei bemerkt, daB der Ghalif amfr mUtninln heißt, während die altern
omajjadischen Mttnzen amfr-i varöiänigOn zeigen.
Harburg. Ferd. Justi.
Monumenta medii aevi historica res gestas Poloniae illnstran-
tia. Tomas IX continet Codicis diplomatic! Poloniae minoris Partem se-
eandam 11 58— 1888 [a. n. d. T. : Koddn dyplomatyczny Matopolski. Tom n
wydat 1 prgypisami objainit Dr. Franciszek PiekosiÄski. w Erakowie na-
ktadem akademii umiejf tnosci Erakowskiej 1886]. LYI, 874 S., 1 Tafel 4^
14 Mark.
Im Jahre 1876 veröffentlichte Dr. Franz Piekosinski im Auf-
trag« der historischen Kommission bei der Krakauer Akademie als
dritten Band der Monumenta medii aevi bistoriea ein Urkundenbuch
für EJetn- Polen, welches in 371 Nummern das damals bekannte
Material bis zum Beginn der Jagellonenherrsebaft, 1386, hinabführte.
Diesen verbältnismäBig geringen Umfang verdankte die Sammlung
dem Umstände, daA nicht nur ftlr das Bisthum und die Stadt Krakau
andere Bände der Monumenta bestimmt waren, sondern auch die
gröBeren Klöster, wie das alte Benediktinerkloster Tyniec und das
Ciatereienserkloster Mogita (Clara Tumba) bei Krakau besondere Ur-
knadenwerke bereits besaAen, welche den letzten Jahrzehnten ange-
hörten und den Fortschritten der diplomatischen Wissenschaft und
der bietorischen Kritik vollauf Becbnnng trugen. Letzteres war aber
Hiebt der Fall bei dem im Jahre 1634 in Krakau erschienenen, flir
seine Zeit die höchste Anerkennung verdienenden Werke Nakielskis
Ober das Stift der Brüder vom heiligen Grabe zu Miecfaow, das zahl-
reiebe Urkunden in die Oeschichtserzählung aufgenommen hat und
dadnreb fttr den polnischen Historiker eine sehr wichtige Quelle,
778 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 20.
aber inzwischen so selten and thener geworden ist, daS es aoSer-
halb der früher za Polen gehörenden Landestheile sich kaum an-
treffen läßt. Deshalb beschloß die historische Kommission, was sie
eigentlich schon 1876 hätte than sollen, die von Nakielski edierten
Urkanden von Neaem abdrucken zu lassen, and lieft darch den be-
währten Herausgeber jener ersten Sammlang und der Krakauer Ur-
kundenbttcher zu diesem Stamm das nicht anbeträchtliche weitere
Material hinzufügen, das diesem in den 10 Jahren ans Archiven,
Bibliotheken und Druckwerken an kleinpolnischen Urkunden zuge-
flossen war. So ist der vorliegende Band , welcher den nen gesam-
melten Stoff bis zum Tode Wladyslaw Lokieteks (1333) enthält nod
dem noch ein zweiter bis 1386 folgen soll, entstanden. Er hat die
historische Litteratur Osteuropas um ein wichtiges und vortrefiich
gearbeitetes Urkundenbach bereichert, aber auch die Unübersicht-
lichkeit der polnischen Codices diplomatici weiter gesteigert Die
von verschiedenen Seiten nach verschiedenen Gesichtspunkten seit
1840 unternommenen Publikationen mittelalterlicher Diplome in Po-
len bilden heute schon eine kleine Bibliothek ftar sich, beschränken
sich teils auf einzelne geistliche Korporationen, wie die eben ange-
führten, wollen das Gebiet der alten Landschaften, wie Groft- und
Kleinpolen, Masovien, umfassen, oder erheben auch den Anspruch
das ganze alte Königreich in ihren Rahmen zu ziehen, wobei dann
der größeren geographischen Ausdehnung leider nur die gröBere Ud-
Vollständigkeit entspricht. Am bequemsten für die Benutzung ist
jedenfalls das neue groftpolnische Urkundenbnch, von 1877—81 in
4 Quartbänden bis 1399 von der Gesellschaft der Freunde der Wis-
senschaften zu Posen herausgegeben: hier findet man ohne Aus-
nahme alle groApolnischen Diplome, gleichviel wo sie früher abge-
druckt waren, zusammen; wer mit kleinpolnischen Dingen zu thno
hat, braucht neben den drei getrennten Urknndenbüchern Piekosin'skis
noch die von Tyniec and Clara Tumba and kann auch die alte
Sammlang von Rzyszczewski und Muczkowski (1847 — 58) nicht ent-
behren. Möchte wenigstens das vor 13 Jahren in der Krakauer
Akademie erörterte Projekt, Begesten über dieses weitzerstreote Ma-
terial anzniegen und zu veröffentlichen, znr Ausführung gelangen!
Der vorliegende zweite Band des Codex diplomaticus Minoris
Poloniae enthält 248 Urkunden (von 12 im Anhang mitgeteilten
Fälschungen meist des 17. Jahrhunderts sehe ich dabei ab), von
denen 126 bisher noch angedruckt, dagegen 123 bereits bekannt
waren, darunter allein 38 aus Nakielski: im Original sind noch 75
erhalten, die ttbrigen stammen zum kleineren Teil ans Transsumpten,
zum größeren aus Kopialbttchem , von denen das der Klarisserinnen
Monamenta med. aev. Poloniae, tomas IX. 779
ZU Alt-Sandecz ans dem Jahre 1681 (welchem 47 Nnmmern entnom-
meo sind) obenan steht. Die Originale finden sich, da in Polen die
gro0en Privatsammlnngen teilweise an die Steile der öffentlichen nnd
Eorporations-Archive getreten sind, in den Bibliotheken des Grafen
Rnsiecki za Warschau (12, alle ftlr Miechow), des Fürsten Gzartoryski
zu Krakan (13 , 11 f)lr Miechow, je eine für Alt-Sandecz nnd die
Cistercienser za Sulejow), des Grafen Przezdziecki za Warschau (2,
für Sulejow und Sandomir), des Grafen Krasinski zu Warschau (1
fttr die Cistercienser von Wf^chock), des Grafen Lanckoron zu Rozdole
(1) und des Fttrsten Sangusko in Gnmniski (1), bei 29 Originalen
war der Herausgeber verpflichtet, den gegenwärtigen Besitzer nicht
zu nennen. Aus dem Warschauer Hauptarchiv sind 10 Originale
(7 fttr Miechow, je eins fttr W%chock, Sulejow und Eoprzy wnica) ent-
nommen, während die EopialbOcher dieses Archivs, die Metryka ko-
rony, 18 Nummern geliefert haben. In den Stadtarchiven von Po-
doliniec, Bochnia, Lublin und Wieliczka fanden sich nur 7 Num-
mern (8 -f- 1 -f 2 4- 1)9 ii^ der Krakauer Universitäts-Bibliothek noch
1 Nummer. Aus anderen Landestheilen ergab das Eapitelsarchiv
zu Gnesen 1 Sttlck, das Staatsarchiv zu Posen 3, das Stiftsarchiv
zu Trzemesno 2, das Eapitelsarchiv zu Wtoctawek 6 und ein Ko-
pialbuch von Czerwinsk 1. Von entfernteren Sammlungen gewähr-
ten die Archive zu Breslau die größte Ausbeute, 11 Nummern, je 1
Stttek fand sich zu Beuthen (dessen Hospital dem Stifte Miechow
gehörte), im Gulmer Diöcesanarchiv zu Königsberg und in der kai-
serlichen Bibliothek zu Petersburg: der letzteren gehört auch das
Eopialbuch von Koprzywnica, welchem 6 Nnmmern entlehnt wurden,
während die Eopialbttcher von J^drzejow (mit 4), Stani^tek (mit 9),
Wfchock (1) und der Dominikaner in Krakau (1) sich noch in ih-
ren Stiftern befinden. Mit dieser Uebersicht über die Herkunft des
im 2. Bande enthaltenen Stoffes ist zugleich angedeutet, auf welche
Stifter sich derselbe hauptsächlich bezieht: die Mehrzahl der abge-
druckten Dokumente gehört Miechow und Alt-Sandecz an, während
im ersten Bande (1876) hauptsächlich die Urkunden der Dominika-
ner und Franziskanerinnen von Krakau, der Cistercienser von J^dr-
zejow und Szczyrzyc zum Abdruck gelangten. Der Zeit nach ver-
teilen sich die 248 Nummern des zweiten Bandes dergestalt, daß 5
dem 12., 171 dem 13. und 72 dem 14. Jahrhundert zufallen. Aus-
gestellt sind von diesen Urkunden 114 von kleinpolnischen Fürsten
(Lesko der Weiße ist mit 3 Nummern vertreten, seine Gemahlin
Grzymislawa mit 2, Conrad von Masovien und seine Söhne mit 12,
Boleslaw der Keusche mit 35, seine Gemahlin Kunigunde mit 9,
Lesko der Schwarze mit 12, seine Gemahlin Griphina mit 6, Prze-
780 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 20.
myslaw IL mit 2, Wenzel II. von Böhmen mit 6, WladjBlaw Lokietek
mit 26| seine Gemahlin Hedwig mit 1 Nummer), 7 von schlesischen
Fürsten, 1 von Herzog Wenzel von Masovien: 13 Urkunden sind
von Baronen, 22 von polnisehen Bischöfen, 3S von Aebten, Domherren
und anderen geistlichen Würdenträgern gegeben. Unter 45 Bullen
finden sich zahlreiche, die als Ergänzung zu Pottbasts Begesten die-
nen, 5 Nummern stammen von päpstlichen Legaten.
Die Art der Ausgabe entspricht, v^ie in den früheren Pablika-
tionen Piekosinskis, allen Anforderungen, welche die heute so ausge-
bildete Lehre von dem mittelalterlichen Urkundeowesen an derartige
Sammlungen zu stellen berechtigt ist Eine umfangreiche Einleitung
weist die eben angeführten Quellen nach und bespricht die Kopial-
bttcher, drei sorgfältige Register (zu denen allerdings im Kwartalnik
historyczny I, 1 Lwöw 1887 p. 81 einige Ergänzungen beigebracht
werden) der Personen, Orte und Bechtsausdrttcke erleichtem die Be-
nutzung, jeder Urkunde geht ein lateinisches Regest voran und folgt
eine sehr genaue Erklärung der Ortsnamen, auch wenn dieselben
Ortschaften öfters vorkommen , ein Verfahren , das allerdings viel
Raum in Anspruch nimmt , aber dem Leser gestattet , sich an jeder
SteUe, ohne erst im Register suchen zu müssen, von der Lage der
in Frage stehenden Oertlichkeiten zu überzeugen. Die Textgestal-
tnng zeigt im Gebrauch der großen Anfangsbuchstaben jetzt größe-
ren Anschluß an das in Deutschland gebräuchliche Verfahren ; wäh-
rend Piekosinski früher alle Willkttrlichkeiten der mittelalterlichen
Schreiber im Druck wiedergab , beschränkt er sich jetzt darauf, u
und t;, e und t genau nach der Vorlage zu geben , dagegen in spä-
teren Kopien die mittelalterliche Orthographie (e für ae) durchzuftlb-
ren, was ich ftlr durchaus berechtigt halte. Die erklärenden Noten
(in polnischer Sprache) nehmen besonders im Anfang häufig den
Charakter kleiner Abhandlungen an, so zu N. 372 (über die Datie-
rung der Stiftung von Brzeznica), N. 373 (die Siegel des 12. Jahr-
hunderts), N. 374 und 380 (die ältesten Schenkungen von J§drzejow),
N. 387 (die Kreuzfahrt nach Preußen von 1223), N. 427 (das Itine-
rar Conrads von Masovien), und zeigen überall, daß der Herausgeber
den Stoff meisterhaft beherrscht.
Wenden wir uns nach dieser Uebersioht über den Inhalt des
Urkundenbuches den einzelnen Dokumenten zu, so geben manche
von ihnen hin und wieder zu Betrachtungen Veranlassung. In N. 386,
einer Zehntenschenkung des Erzbischofs Vincenz von Onesen f&r
Jfdrzejow aus dem Jahre 1221, erwähnt der Aussteller seinen Vor-
gänger bone memorie Johannes quondam archiepisccpus ecdesie, cm
Deo annuente nunc presideo : das erinnert an eine Stelle in der Ghro-
Monamenta med. aev. Foloniae, tomus IX. 781
Dik des Magister Vincentins, der von 1218—23 als HOnch im Klo-
ster J^drzejow lebte: III, 10 (Bielowski, Hon. Pol. II, 336) Erat
enim eitisdem sande Ghteenensis ecclesie, cut tu presides^ archipantifez
Martinus. In der eben erwähnten ausführlichen Note zn N. 387
(1223 Schenkung des Dorfes Malininov durch Lesko von Erakan
an Bischof Christian von Preußen) glaubt Piekosinski die Lage die-
ses oft gesuchten Ortes durch Matyn am Ner im Gebiet von Sieradz
bestimmen zu können, da Sieradz zum Anteil Leskos gehört habe:
nur 50 Kilometer westlich davon, jenseits der Warte, liegt das dem
Bischof früher von Wladyslaw Odonicz verliehene Dorf Gekoviz bei
Kalisch, so daß diese Bestimmung allerdings wahrscheinlicher ist,
als alle anderen bisher versuchten. Sehr wichtig ist N. 389, bisher
noch ungedruckt und im Origlual erhalten: Herzog Lesko schenkt
dem Kloster Snlejow das Dorf Lqczuo, 1224 22. Sept. in Prudov
(vielleicht Pr^dzewo no. von L^czyca, P. hat den Ort, den er in heutiger
Schreibweise durch Pr^döw wiedergibt, nicht ermittelt): Zeuge und
Mitbesiegeler ist neben Bischof Ivo von Krakan auch der preußische
Bischof Christian, der bisher vom 6. August 1223 bis 27. Mai 1227
nicht nachweisbar war; ein früherer Besitzer des Dorfes Graf Cho-
cemir erhält vom Abte 80 marcas fusi et pu/ri argenti et quinque Et"
fordienses^ quod didtur latum^ es wird hervorgehoben, daß er in Ge-
genwart des Herzogs super eadem heredüate aquam äbrenunciacionis
hibissetj der Herausgeber hält die Urkunde trotz des aufßUligen Ti-
tels nos Lestco dux Cracome für echt : den Ausdruck cargentutn fusum
vermag ich «so früh in polnischen Urkunden nicht nachzuweisen»
auch ist die Erwähnung der Erfurter Münze dunkel. Wichtig ftir
die Vorgänge nach Leskos Ermordung am 22. November 1227 ist
N. 393 vom 6. December 1227 zu Krakan von der Wittwe des Her-
zogs Grzymislawa fQr Sulejow erlassen, unter den Zeugen erscheint
Herzog Konrads von Hasovien zweiter Sohn Kasimir, der also sofort
nacb dem Tode des Oheims nach Krakau geeilt zu sein scheint
N. 394, Bulle Gregors IX. für Miechow Datum Borne II nonas Man
pant no^i anno secundo paßt nicht ins Itinerar des Papstes, der
sich nacb Potthasts Reg. pont. vom 25. April bis 10. Mai in Rieti
anf hielt, auch kommt bei Rome in Bullen gewöhnlich noch apud 8.
Petrutn hinzu. Da die Bleibulle erhalten ist, kann das Dokument
nur von Gregor IX. herrühren. In N. 402 , einer bisher unbekann-
ten Schenkung Herzog Konrads von Masovien vom 12. April 1232,
die später an das Nonnenkloster Staniftek Obergieng und daher in
dem Kopialbuch desselben erhalten ist, wird der Erzbischof von
Gnesen erwähnt : coram domino fratre archiqnsccpo Qnemensi^ was der
Herausgeber in patre verbessert, vielleicht bat im Original nur F. gc-
782 Qött. gel. Anz. 1887. Nr. 20.
Standen und ist F[ulc(me] zn ergänzen. N. 408, 1233 Mai 3. Her-
zog Eonrad von Erakaa nnd Masovien transsnmiert and bestätigt
die Urkunde Leskos von 1224 fttr Sulejow, die wir oben besprochen
haben, hält der Herausgeber für eine Fälschung aus der zweiten
Hälfte des 13. Jahrhunderts nach einer ihm von Dr. ÜUtnowski in
Erakau (der Aufbewahrungsort des Originals ist eine ungenannte
Privatsammlung) mitgeteilten Beschreibung : das wäre ein Verdachts-
grund auch gegen das Dokument Leskos (389). Zwischen 413 und
414 fehlt die bei Nakielski 160 abgedruckte Schenkung des Dorfes
Smroköw durch den Erakauer Dompropst Vitus an Miecbow vom
15. August 1236, deren Echtheit wohl unbeanstandet ist, wenigstens
stimmen die in derselben genannten Krakauer Prälaten mit anderen
Dokumenten. Interessant ist die Erwähnung des Magdeburger Rechts,
qtio cives Cracovienses et Sandomirienses utuntur^ in einer Schulzen-
urkunde Boleslaws des Keuschen fttr Podoliniec bereits von 1244
(425), während Erakau erst 1257 sein Stadtrechtsprivilegium erhielt,
P. weist zur Vertheidigung dieser Urkunde S. 74 auf ähnliche Ve^
bältnisse in Breslau hin. Die große Note mit dem Itinerar Konrads
von Masovien zu N. 427 wurde schon erwähnt: zu berichtigen ist
in derselben S. 76 die Erwähnung des pommerellischen Wyszegrod
am Einfluß der Brahe in die Weichsel (1231 Sept. 17, dum edifica-
retur a duce Cunrado castrum Wisegrody in Smarsotcuf = Smard-
zewo bei Ptock, heißt es in einer Urkunde fttr Clara Tnmba), dss
sich damals im Besitz Swantopolks von Pommerellen befand (Pom-
merell. Urkdb. n. 45), hier handelt es sich um die masovische Burg ge-
genüber der Bzuramttndung. Zwischen N. 445 und 446 hätte die
altpreußische Monatsschrift X (1873) S. 500 von mir aus einer theo-
logischen Handschrift (saec. 14) der Königsberger Universitätsbiblio-
thek (N. 1160) mitgeteilte Schenkung an das Dominikanerkloster in
Sandomir von 1255 eine Stelle verdient, da sie das älteste Zeugnis
ttber die Dominikaner und die [deutsche] Bflrgerschaft dieser Stadt
zu sein scheint, sodann auch dazu dient, die Reihenfolge der Prälaten
des KoUegiatstiftes zu Sandomir zu berichtigen : die hier als Zeugen
genannten Propst Jascotlo, Dekan Adalbert, Cantor Petrus und Gustos
Benedikt erscheinen auch in einem Dokument des Bischofs Prandota
von Krakau von 1248 (Cod. dip. min. Pol. I n. 30), werden aber
von Piekosinski im Register als Krakauer Domherren angesehen.
N. 453, Schenkung Wladyslaws von Oppeln an Miecbow von 1257
ist in deutscher Uebersetzung bei Gramer, Chronik der Stadt Beuthen
in Ober-Schlesien (Beuthen 1863) S.340 gedruckt und daselbst S.23
n. 2. bemerkt, daß der in der Urkunde vorkommende, jetzt nicht
mehr auffindbare Ortsname Baldbreee als Bezeichnung einer Stelle
des Prymsaflusses (Biatobrzezie) bei Brzenskowitz fortlebt. Unter
Monumenta med. ae?. Poloniae, tomus DC. 788
N. 457 wird der interessante Brief des Abtes B. von Qvda an den
Abt N. von Welegrad über den Tatareneinfall in Polen von 1260
mitgeteilt, den Pertz aas einer Eornenbarger üandschrift abschrieb,
Grflnbagen zuerst in den scfalesischen Regesten (II n. 1023) im Aus-
züge brachte, dann Wattenbacb im Neaen Archiv II 626 and nach
ihm Ulanowski in den Krakauer Sitzungsberichten (Rozprawy i
sprawozdania XVIII, 298) vollständig herausgaben : bei der Deutung
des wunderlichen Namens Qvda möchte ich mich doch entschieden
der Ansicht Grttnhagens, welche die übrigen Forscher mehr oder we-
niger bezweifeln, anschließen, daß Rvda zu verbessern sei: Räuden
liegt gerade zwischen Welegrad und den Gegenden, deren Verwü-
stung geschildert wird: wenn auch der erste bekannte Abt von Ran-
den 1263 Petrus heißt, so kann 1260 immerhin eiuR. an der Spitze
des Klosters gestanden haben. In N. 473, 477 und 483, Urkunden
Boleslaws des Keuschen für Polaniec 1264, W^chock 1271, Miechow
1277, von denen die erste und dritte von dem Unterkanzler Twar-
doslaus ausgehändigt sind, beginnt die Arenga mit einem Hexameter :
Omnia trahü secum vdvitque vdlubile tempus. Bei N« 500, Ablaßbrief
von 12 Bischöfen für die Minoriten und Klarisserinnen in Polen und
Böhmen (aus dem Copiarium von Alt-Sandecz) ist im Regest 1284
statt 1285, wie am Schlüsse der Urkunde steht, wohl nur Druckfeh-
ler, dagegen können die falschen Lesarten der Handschrift JBena2c2t45
Messenensis und Lohertus Ästensis mit Hülfe von Gams Series episco-
porum ecclesiae catholicae in Beginaldus und Obertus verbessert werden :
von den 12 Bischöfen sind 10 Italiener, einer (Andreas Asloensis)
ein Norweger, Robertus Rossensis ein Schotte. Der Ablaßbrief selbst
ist am päpstlichen Hoflager zu Perugia, vier Tage vor dem Tode
Martins IV. ausgestellt. In N. 515, Privilegium Przemyslaws 11. fttr
Wieliezka von 1290, ist in der Arenga Dum vivü littera vivit et
actio das erste vivity wohl aus Versehen, ausgefallen. Schwierigkei-
ten bereitet die chronologische Einreihung von N. 520, Schenkung
des Kastellans Bogota von Krakau an das Heiligegeiststift daselbst,
besiegelt von Herzog Boleslaw von Oppeln capitaneatum Cracovien-
sem tenentis und Bischof Johann von Krakau, die nur aus Dtngoß
liber beneficiorum dioecesis Cracoviensis stammende Urkunde trägt das
unmögliche Datum M. GG. XXII, welches Piekosinski durch Verwand-
lung der zweiten X in 0 in 1292 verbessert, wobei aber, wie er
selbst zugibt, nur der Aussteller, aber nicht die Zeugen stimmen :
letzteres ist der Fall, wenn wir die erste X in C ändern, dann würde
sich M. GGG XII ergeben, die Zeit des bekannten Krakauer Auf-
Standes gegen Wladyslaw Lokietek, aus welcher freilich ein Krakauer
Kastellan Zegota ebensowenig bekannt ist (anscheinend aber auch
jLein anderer), wie eine Statthalterschaft Boleslaws von Oppeln im
784 Oött gel. Adz. 1887. Nr. 20.
Jahre 1292. Die Urkande würde dam ein iatereasantes Sdteiifltfiek
zu N. 557 BeiD, in welcher am 17. April 1312 Wladyslaw die asf-
siäDdischen Bürger hei Gelegenheit einer Sebenknng an Att-Sandees
aller Privilegien für yerlastig erklärt Wichtig für diplomatiaebe Fra«
gen ist N. 573, Neaaasfertigang eines Privüeginms Wladyslaws Lo-
kietek für W^chock unter nenem Siegel, 1318 18. Juni: die Zeugen
gehören diesem Jahre an, der Tenor der Urkunde stammt abo* aas
viel älterer Zeit, weil der 1294 von den Litaaera erschlagene Bra*
der Wladyslaws, Kasimir von Cajavien, noch als ein Lebender er-
wähnt wird. Bedenklich scheint N. 575, eine nar ans Paproeki,
Herby (ed. 1858) p. 66 stammende Anssetznog zu deatsebeoi Beeht»
in welcher der Aussteller Palatin Navogius von Sandomir am ScUune
als Aushändiger {Datum per mantis dni Navogii etc.) genannt iat
Den vom Heransgeber zu 592, 1326, vergebens gesochten Ort Oaotys
im Archidiaconat Lublin, dessen Zehnten vom Bischof Naiiker Ten
Krakau dem Kloster Lysagöra zugesprochen werden, mOcbte ich in
Gzutczyce östlich von Lublin finden. N. 603, 1331, ist wohl mehr
eine Quittung über den von den Klarisserinnen von Alt-Saadena g^
zahlten Peterspfennig als eine Befreiung zu nennen, wie ea im Be-
gest heißt. Ob der Abdruck der Nrn. 608—619« Fälschungen meint
neueren Ursprungs, erforderlich war, möchte ich bezweifeln, aie tia-
gen doch deutlich das Gepräge ihrer Entstehung an der Stini^ wie
wenn in 616 zu 1308 die Türken, in 619 zu 1313 ein Maltaeemtter
vorkommen. Leider ist der Herausgeber zu spät auf den Beiehtom
der Breslauer Archive an kleinpolnischen Urkunden aufmerksam ge-
worden und hat daher erst in einem Nachtrag, der aber der Einlei-
tung angefügt ist und (mit besonderem Register) dem Haaptteile des
Bandes vorangeht, die von dort erhaltenen Nrn. 620 — 631 (vier nUa-
men aus anderen Quellen) mitteilen können. Denselben ist noch ein
Verzeichnis von verlorenen Urkunden beigegeben^ von denw sich 7
auf Sandecz, 26 auf Miechow beziehen: vielleicht briAgt aneb dieee
noch einmal ein glücklicher Zufall ans Licht Wie viel die Kennt-
nis des polnischen Urkundenwesens und der Vorrat an vortrefflich
pnblicierten Dokumenten durch diesen Band Piekosinakis gewennea
haben, wird keinem, der ihn benutzt, entgehn. Den deutschen Histo-
riker werden die zahlreichen Verleihungen des Magdeburger 'Bnebts,
auf die ja schon für jene Gegend am NordaUiange der Ka«pathen
vor 30 Jahren Boepell hingewiesen hat, ganz besonders interooaieroBL
Halle, März 1887. it. Feclbaeli.
FHT dio Sedakiion Terantwortlicb : Prof. Dr. BgekUl, Direktor der Gdtt. gel. 4at.,
Aweaeor der X&nigUchen OeeelleebafI der WlwMiwhnfte».
feriao der DüUricVschtn Ymiag$-Bmckh«mäkm9,
Üruds dtt Di€Urich*Khen Umt.-Mchdittckttti (Fr. W, KaeäatmJ.
. ■> :> ■
786
Göttingische
gelehiMie Anzeigen
anter der Aufsicht
derKönigl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Nr. 21. 15. Oktober 1887.
Preis des Jahrganges : JL 24 (mit den »Nachrichten d. k. G. d. Wiss.c : JL 27).
Preis der einzelnen Nummer nach Anzahl der Bogen: der Bogen 50 ^
Inliftlt : Tudareifl und Flordib«!. Heraugegeben von K h n 11. Yen SUtimir^» — O e ■ ■, Christi
Person and Werk. 3. Abt. Ton I>ü8tmUeek, — Thävenin, Collection de textee ponr serrir k Te-
tnde et 4 renseignement de TUstoire. Ton SiduL
= EigeimSohtiger Abdraek von Artikelo der G9tt gel. Aizeige« verboten. :^
Tandareis and Flordibel. Ein höfischer Roman von dem Pleiaere. Heraus-
gegeben Yon Ferdinand Ehull. Graz, Yerlags-Buchhandlung Styria
1885. 248 S8. gr. 8^ 8 Mark.
Es ist za bedanem, daß von den drei Artasromanen des Fleiers
der früheste and beste, der Oarel (G.)^ bisher keine Aasgabe erfah-
ren hat, obwohl fUr denselben neben der späten Linzer Hs. reichliche
Brachstücke eines alten Meraner Codex, welche A. Ooldbacher
Germ. 8, 89 ff. (G. G.) and I. V. Zingerle in den Sitzangsberichten
der Wiener Akademie phil.-hist Kl. Bd. 50, 449 ff. (G. Z.) bekannt
machten^), zar Verfttgang stehn and somit ein viel gesicherterer
Text für diese Erzählang sich gewinnen läßt als fttr den nar in
Hanaskripten des 15. Jahrhunderts überlieferten Meleranz oder Tan-
dareis. Allerdings legte 1881 M. Walz im Jahresbericht des aka-
dem. Gymnasiams za Wien die Probe einer Edition vor; aber sie
misriet, wie allgemein anerkannt warde, so vollständig, daß ihr Aa-
tor für sich nnd für die Sache gut that, aaf jede Fortsetznng za
verzichten. Den weit schlechteren Meleranz (M.) veröffentlichte
E. Bartsch, Stattgart 1861, and über den Tandareis (T.) und seine
litterarhistorische Bedeatang handelte ein vorzüglicher, im 12. Bande
der Zeitschrift f. d. Altertam S. 470 ff. abgedruckter Aufsatz
E. H. Meyers, welcher insbesondere den Zweck verfolgte, eine Aus-
^l) G. G. I gehört hinter G. Z. IX, G. G. 11 hinter G. Z. XTTT.
^T^tt. gel. Am. 1887. Mr. 21. 54
786 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 21.
gäbe des Gedichtes überflüssig zu machen. Wenn dies Werk trotz-
dem jetzt im Drucke erscheint, so hätte man billiger Weise von
seinem Heraasgeber eine Revision und eine Weiterftihrang der
Meyerschen Untersachungen erwarten dürfen. Statt dessen stellt
Khüll S. 243 eigene Forschung erst für den Zeitpunkt in Aussicht,
wo Walzs Oarelausgabe vollendet sein würde. Da indessen, wie be-
merkt, der Abschluß dieser Arbeit kaum zu befürchten steht, so
wird der Leser des Tandareis wohl auch auf Khulls Erörterungen
Verzicht leisten müssen, und sieht sich genötigt, einstweilen selbst
Hand anzulegen. Der Wert von Ehulls Edition beschränkt sieb da-
her, zumal der T. jedes sprachlichen oder poetischen Interesses ent-
behrt, so ziemlich darauf, daß sie eine Nachprüfung der Resultate,
zu denen seiner Zeit Meyer gelangte, ermöglicht.
Meyer hat die ausgiebige Benutzung der Werke Wolframs,
Hartmanns und Wirnts durch den Verfasser des T. nachgewiesen.
Aber er gieng weiter, er bemühte sich darznthun, daß der Pleier
für die ersten 8000 Verse dieses Gedichtes eine Handschrift des
Parzival vor sich hatte, welche zur Klasse 6 gehörte, während er
für die größere zweite Hälfte sich eines Codex bediente, der aus
der Familie D der Parzivalhandschriften stammte. Es verlohnt sich,
diese Hypothese zu widerlegen. Denn wäre sie richtig, so wttrde
ihr ein besonderes litterarhistorisches Interesse inne wohnen. Mao
müßte nämlich annehmen, daß der Pleier ganz wie ein modemer
Gelehrter an seinem Schreibtisch, aufgeschlagene Bücher neben sich
aufgeschichtet, gearbeitet hätte. Das ist aber nicht der Fall. Ich
betrachte zu dem Ende die einzelnen Stellen, welche Meyer für seine
Ansicht geltend machte.
T. 9556 (9402 Meyer, welcher nach der von ihm benntzfen
Hamburger Handschrift zählte): ^mit ir blanken henden uAz^ dar an
lac der gotes vUe stammt aus P. 88, 15 mit ir linden henden wus^
dar an lac der gotes vUz nach D, während G an den liest'. Aber
bereits im G. 917 lauten beide Verse ganz gleich, und der 6. ist,
wie Niemand bezweifelt, der älteste Roman des Pleiers. Also nicht
erst in der zweiten Hälfte des T., sondern schon in seinem frühe-
sten Gedicht müßte dem Poeten eine Parzivalhandschrift der Klasse D
vorgelegen haben. Oder vielmehr, so weit sich ans Lachmanns Ap-
parat ersehen läßt, die St. Galler Hs. D selbst. Doch auf diesen
Apparat ist nicht viel zu bauen. Lachmann hat verhältnismäßig we-
nige Handschriften völlig ausgebeutet, jedes neue Bruchstück, wel-
ches auftaucht, zeigt neue Varianten, ja der generelle Unterschied
der zwei Handschriftenfamilien tritt immer mehr in den Hinter-
grund. Bekanntlich bezeichnete Lachmann die nur der Klasse D
Tandareis and Flordibel. Heraosgegeben von EhuII. 787
oder nar der Klasse 6 eigentümlicheD Lesarten durch ein vorge-
setztes OleicbheitszeicheD y verheblte dabei aber nicht (s. Vorrede
S. XVIII), daß die Angabe dieses Gegensatzes vielfach eine zufällige,
von der Anzahl der Zeugen abhängige sei. Und all die vielen nach
dem Erscheinen seiner Ausgabe veröffentlichten Fragmente bestätigen
das und beweisen damit, daß die meisten im 13. und 14. Jahrhun-
dert umlaufenden Exemplare des Parzival einen gemischten Text
enthielten. Becht instruktiv in diesem Betrachte ist das Zeitschrift
f. d. Altertum 28, 241 ff. mitgeteilte Berleburger Bruchstück saecl. 13.
Dasselbe gehört, der überwiegenden Menge der unterscheidenden
Lesarten nach (70, 3.29. 71, 10. 25. 72, 18. 26. 73, 4. 10. 108,19.
109, 15. 110, 9. 24), zur Klasse D, bietet aber daneben folgende
von Lachmann ausschließlich der Klasse G zugeteilte Varianten:
70, 17. 72, 28. 29. 109, 1. 12. 13. 110, 29. 111, 6; außerdem
weist es manche von Lachmann nur ans einzelnen Handschriften der
Klasse G oder überhaupt nicht verzeichnete Lesarten auf. Wie
leicht also kann, auf den vorliegenden Fall angewendet, auch die
vom Pleier benutzte Parzivalhs., bei aller sonstigen Zugehörigkeit zu
Klasse 6, 88, 16 dar an übereinstimmend mit Handschrift D gelesen
haben! — T. 11987 (11712) ^nöch was niht hoch der tac stimmt bes-
ser zu D: ez ist noch vil hoher tac P. 51, 19 als zu G: ea ist nu
tool mitter tac\ Dagegen ist einzuwenden: 1. schon in der ersten
Hälfte des T. heißt es fast genau ebenso V. 2658: dennoch was niht
hock der tac; 2. es läßt sich nicht beweisen, daß der Pleier gerade
die angeführte Parzivalstelle nachahmte, er konnte auch an Erec'
8187 denken: dannoch was ez hoher tac; ferner sagt er M. 7946 do
was ez hoch üf den tac übereinstimmend mit P. 704, 30 nü was ez
hoch üf den tac und M. 11910 nü was es also hoher tac = Wig.
8011. Wir werden nachher reichliche Gelegenheit haben, zu beob-
achten, daß der Pleier sich erlaubte, an entlehnten Versen Variatio-
nen vorzunehmen. — T. 13449 (13168) ^von Tryant im Keime auf
gewant richtet sich nach D Triande P. 786, 28, nicht nach Triende
in G.' Indessen haben auch hier die Handschriften gg Triant\
Triande und Triant weisen alle Codices P. 629, 19. Wh. 447, 15
auf, und gerade pfelld von Triant (durch den Beim geschützt und
ohne Variante) wird Wh. 444, 13 genannt Ebenso schon G. 3460
ein phelle bräht von Triant, 4528 ein ricker pkelle von Triant y 5235
borten von Triant. — T. 16768 (16342) ^vü swert wart da erklenget
stimmt gut mit D: und swerte vä erklenget P. 60, 26, weniger ge-
nau mit G : mit swerten vil gecklengeP. Der Umstand, daß M. 8579
und swerte vü erclenget wörtlich mit jener Parzivalstelle überein-
kommt, beweist allerdings für ihre Entlehnung gegenüber anderen
^4.
788 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 21.
äfanlicben AeaßeruDgen Wolframs, aas denen an sich der Pleier aach
geschöpft haben könnte, wie P. 380, 14 do wart erUenget moMcc
swert oder Wh. 380, 24 des wart erUenget manee swert. Aber die
Lesart mit swerten vü gedüenget ist kein Charakteristikum der Klasse
6, sondern eignet nnr der Münchner Handschrift G, welche hier
einzig von allen unseren übrigen Urkunden abweicht. — Aus dem
gleichen Grunde fällt fort T. 8442 (8299) 'dem gebirge want nindert
mite s= P. 512, 4 dem brunnen wonte ninder mite^ wo G niemer baf
und T. 11429 (11271) 'lise an allen schal-slUAen folgt D R 192, 24
do sleich si Use an allen schal, indem G eine dafür bietef . — End-
lich T. 11499 (11341) 'wird gefragt: lebt ieman dinnePj wie nach
D im P. 437, 2 ist ieman dinne? G hat drinne\ Ich bezweifle, ob
es erlaubt ist, auf einen dermaßen geringfügigen Unterschied ir-
gend welchen Schluß zu bauen. Jeder Schreiber, auch der gewis-
senhafteste, konnte wahrlich leicht, sobald er nicht ganz mechanisch
nachmalte, für das seltenere dinne der Vorlage das geläufigere da
inne, dar inne^ drinne einsetzen. Uebrigens steht P. 438, 19 dinne
in allen Manuskripten, und nicht minder kennt die erste Hälfte des
T. V. 7906 dinne (darinn h).
Das dritte Buch des Parzival jedoch, so behauptet Meyer wei-
ter, habe der Pleier auch in der ersten Hälfte des T. nach einer
Handschrift der Klasse D benutzt Zum Beweise werden 2 Stellen
(nicht 3, wie Meyer irrtümlicher Weise angibt) beigebracht. Die
zweite derselben, T. 7189 (7163) = P. 133, 11 beweist nichts, da
es sich hier wieder um eine Lesart nur der Handschrift D, nicht
der Klasse D handelt Eher könnte die erste stutzig machen. T.
5310 (5295) wird ausgesagt, daß die selben porteMere sint aUer
güete Itsre (vgl. auch 6772 portencere. sün herae was güete l<ere\ and
diese Wendung erscheint als eine sichere Nachahmung von P. 142, 18
vischßre und aller güete leere; dagegen lesen Ggg, d. h. da das
Gleichheitszeichen fehlt, nicht alle, sondern nur eine Reihe von Hand«
Schriften der Klasse G, und matter güete leere. Gemß wird kein
Schreiber, welcher in seiner Vorlage aller vorfand, es durch das
eigentümliche manger ersetzt haben, wohl aber lag das umgekehrte
zu thun sehr nahe, nicht nur fttr die Parzivalkopisten, sondern anch
für den Pleier selbst Auch wenn dieser eine Handschrift vor sich
hatte, die manger güete leere aufwies, konnte er leicht sich veranlaßt
finden, wäre es auch nur um den Ausdruck seiner Ansicht nach zu
steigern oder zu verallgemeinern, ihn mit alter zu vertauschen.
Uebrigens beruht Meyers Behauptung, daß das 3. Buch des Parzival
dem Pleier für beide Teile seines T. in einer Handschrift der Fa-
milie D vorgelegen habe, auf der meines Erachtens sehr bedenkli^
Tandareis und Flordibel. Herausgegeben von Khali. 789
eben Annahme) daB noeh gegen Ende des 13. Jahrhunderts dies
Buch in einer Sonderausgabe vorhanden gewesen sei.
Wenn Meyer den Nachweis zu fahren suchte, daft der Parzival
in der ersten Partie des T. nach einer andern Handschrift citiert sei
als in den letzten 10000 Versen , so wollte er damit eine und zwar
die hauptsächlichste Stütze für seine Vermutung schaffen, daß der
T. nicht aus einem Qusse sei, sondern daß zwischen beiden Hälften
eine längere Pause stattgefunden habe. Denn die weiteren Stützen,
die er zu ihren Gunsten ins Feld führt, sind wenig stichhaltig. Daft
das Oedicht schon etwa mit V. 8000 hätte schließen können, ist
richtig ; aber für wie viele Artnsromane, die nur aus einer planlosen
Häufung von Abenteuern in majorem gloriam des Helden bestehn,
gälte dies Argument nicht? Femer wird ein Widerspruch ange*
nommen zwischen V. 8199 ff. swer liep hat, der hat dicke leit, ich
enwei0 sin niht, est mir geseU^ li(be gU verborgen heidiu vröude unt
sorgen und dem langen Herzenserguß gegen solche Weiber, welche
ihre Männer nicht lieben, ihnen vielmehr eine Hölle auf Erden be-
reiten, V. 17430 — 17514, zumal hier das ich des Pleiers sich stark
hervordränge ; derselbe scheine inzwischen eigene Erfahrungen gemacht
zu haben. Meyer hätte in gleichem Sinne auch geltend machen
können, daft nach T. 161 ff. das Oedicht zu Ehren einer Geliebten
verfaftt ist, während es V. 4076 heißt: wan ere durch huratoÜe tet
dae er das buoch getihtet hat, und ähnlich am Schluß V. 18307 ff.:
stoen mSnitt rede nü, versmäht, da u?ü ich stn unschüldic an^ ich hän
ee durch hubscheit getan unt biderb Muten sdren. Aber derartige Wi-
dersprüche fallen wenig ins Gewicht, denn mit der von Meyer bei-
gebrachten Stelle V. 8199 ff. harmoniert auch nicht V. 119 ff., wo
der Dichter erklärt : mtn vröude ist Jcranc, das humt von einer sckut-
den. diu hat ir eorn üf mich geswom^ des bin ich vröuden äne.
Seinen jeweiligen Mustern Wolfram und Hartmann entsprechend be-
kundet der Pleier an verschiedenen Orten verschiedene Auffassung
und Gesinnung. Nach stylistischen oder sprachlichen Gründen hin-
gegen, welche eine Scheidung des T. befürworten könnten, habe ich
vergeblich gesucht.
Die für die Benutzung einer Parzivalhandschrift der Klasse D
in der zweiten Hälfte des T. angeführten Momente fallen also fort.
Vielmehr deuten einige Stellen mit ziemlicher Bestimmtheit darauf
hin» daß dem Dichter auch in dieser zweiten Hälfte ein Codex der
Klasse G vorlag. T. 12009 unt wolt der degen valsches lojs ihtes
hon an si gegert, ich wtjen si haete in wol gewert sowie 13485 unt
hate er ihtes an si gert^ ich wcen si hcete ims niht versaget sind dem
P. 552/27 entlehnt : het er iht hin eir {ihtes an si g) gegert, ich woen
790 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 21.
5t hetes {heb G) in gewert, T. 17155 d& wart daz vamäe vole vü
richj die enpfiengen groBer gäbe teil (: geiT) geht znrttckanf P. 101,3. 4
da wart dae varnde volc vü geil: die enpfiengen richer gäbe teil ; dies
Verspaar fehlt aber der Klasse D darchans. 11814 a. s. w. (s. die
Gitate in Khalls Register s. v. Karonicä) soll das Tnroier abgebal-
ten werden und wird auch wirklich abgehalten ee Sabins bi der
Karonicä, oder vielmehr Kortha, wie nach h in den Text zu setzen
war: dies entspricht der Lokalität Berns bi der Korea P. 610, 17.
626, 15. 644, 15, wo immer nnr Handschriften der Klasse G, wenn
auch nicht alle, au Sabins oder ähnliches bieten.
Nichts, so viel ich sehe, weder im Tandareis noch in den bei-
den andern Romanen, spricht dagegen, daß dem Pleier stets nnr
eine und dieselbe, der Familie G angehörige Parzivalhandschrift zu-
gänglich gewesen sei. Für die ersten 8000 VV. des T. suchte das
ja auch Meyer zu erweisen. Freilich sind nicht alle von ihm ge-
sammelten Stellen stringent. Nicht z. B. T.4056 (4042). 4878 (4862)
'and öfter ^) : hin reit der cren rtehe degen, ist nachgebildet dem P.
451, 3: hin reit Herzeloyde fruht G, dagegen gebraucht hier D die
wirksamere Gegenwart rttet' : denn P. 333, 15 steht ohne Variante:
hi^ reit Gahmuretes Jcint^ auch braucht der Pleier mit seiner Ans-
drucksweise gar nicht Wolfram nachgeahmt zu haben, da Hartmann
im Iwein 7941 ebenso sagt: hin reit diu guote. — Femer fällt fort
T. 8131 ff. (7988—90) ouch enböt der werde degen Mär daz al der
tavelrundär sins diens mit triuwen ntemen war, welche Stelle Meyer
zu P. 652, 13 G al der tavelrundcere genuzzen in Beziehung setzt,
da nunmehr Khulls Text mit daz cd der tavelrunder schar das rich-
tigere gewährt. -- Endlich T. 8178 (8035) ^daz möht an werdekeU
gefromen richtet sich nur nach G im P. 625 (1. 626), 6^ D hin-
gegen liest in gefrumn und ähnlich weichen die anderen Texte von
G ab'. Obwohl hier ein Klassenunterschied der Parzivalurkunden
vorliegt, so besitzt doch der Ausdruck keine beweisende Kraft, und
zwar deshalb nicht , weil der Pleier an zahlreichen anderen Orten
die gleiche Phrase, aber mit beigefögtem Pronomen, verwendet: so
T. 7514 a/n werdikeit ez iu vrumt, M. 5175 an mrdeheit frumt ez dich^
1) Ich füge alle weiteren beim Pleier begegnenden Beispiele dieser Wen-
dung hinzu : T. 6378 hin reit der Sren riche degen, M. 4948. 12738 hin reä der
^en riche, T. 10685. 14135. M. 8988. G. 5381 hin reit der elleneriehe degen, T.
6010 hin reit der ritter wert erkant, T. 9629 hin reU der degen unverzeit, T.
10201. G. 1348 hin reit der äzertoelte man, M. 325 hin reit der werde man , M.
4260. 7070 hin reit der tugenthafte man, G. 3122 hin riten diee zwSne man, M.
12509 hin reit der künee von Lorgdn, M. 3076 hin reit der künee von Franken
rieh, M. 1586. G. 2108 hin reit der vaUches frie: M. 2483 hin streich der bote.
Tandareis und Flordibel. Herausgegeben von EhuII. 791
ö. 5321 im mohte an stelde wöl gefromen; vgl. M. 11846 ir kunft
mich an frouden frumt, M. 11442 dcwr muoz si immer umib mich fromen.
In wie hohem Orade der Fleier vod Wolfram abhängig ist and
lu welcher Art er ihn benatzte, wird am besten eine Zasammen-
stellung des Sprachgutes zeigen, das er diesem entnahm. Eine solche
Sammlang existiert für den 6. bisher nicht, für M. sind nur ganz
wenige Sparen von Bartsch zu V. 4539. 5250 seiner Ausgabe und
von Meyer S. 485 nachgewiesen worden. Von diesen sowohl als
von sämtlichen durch Meyer im T. aufgedeckten oder auch nur ange-
deuteten Nachahmungen sehe ich natürlich im allgemeinen ebenso
wie von einer Wiederholung der oben bereits gelegentlich bespro-
chenen ab; freilich kann auch ich ftlr absolute Vollständigkeit mei-
ner Aufzählungen entfernt nicht garantieren.
T. 61. M. 1458 von dem her ir gemüete gar: P. 119, 27 von dem
Jcer dine gedanke, — 179. 8641. G. 6. 94, 50 den rehtiu missewende
ie vloch: vgl. P. 94, 26 die wtbes missewende ie vlöch, 113, 12 die
wibes missewende vloch, 751, 8 elliu missewende in vloch. — 202
Artus der pris erkande, G. Z. 524, 137 Gdrel der pris erchande:
P. 677, 1 Artus der priss erkande, 558, 1 Gäwän der priss erkande.
— 335 ff. M. 3175 ff. entspricht die Situation P. 309, 7 ff. Wig. 247 ff.
— 384. 1086 u. s. w. M. 878. 1287 u. s. w. G. 3332. 4070 u. s. w.
valsches laei P. 128, 20. 310, 8. — 485 alle die si sähen mit gelicher
völge jähen, vgl. M. 6135 daxf alle die ee sahen mit gemeinem munde
jähen, vgl. auch 6. Z. 500, 16 alle geliche jähen daz si nie gesähen,
6. 3545. 3684 die ritter alle jähen, daz si nie gesähen, M. 10015 die
gevangen ritter jähen daz si nie gesähen, weitere Variation M. 5974.
T. 17728: Wh. 155, 15 mit gelicher volge jähen daz si nie gesähen.
— 564. 1736. 6940. 13767. 15411. 16895 mit heldes handen unver-
zaget: P. 263, 26. — 1158. M.S99 vrowe, lät michUwitzen (: sitzen):
P. 244, 20 si sprach 'lät mich U witzen (: sitzen). — 1790. 3674.
3784. 7806. 8378. 15157. 15627. 17339 17367. M.4098. 5309. 6366 an
alle vär, 2102.17231 an alle väre, 8134. G.4803. 5141. G. G. 94, 62.
G. Z. 533, 167 an allen vär: P. 369, 2 an alle väre, P. 252, 29.
431, 22. Wh. 132, 12. 293, 16 äne allen vär; 2095. M. 1399 an
wankes vär, M. 147 äne wankeis vär, vgl. M. 1063 ar^e valsches vär:
P. 279, 23 an wankes väre^ P. 476, 21 sunder wankes vär; M. 4598. G. Z.
466, 122 äne vär: P.612,2. 699, 7. Wh. 387,9 äne vär, P. 267, 27.
630, 14. 633, 22. 696, 16. 780, 1 äne väre. — 2061. 9002. 13530
(vgl. 10080). M. 3289. 3381. 5084. 5921. 9261. 9684. 10053. 10075.
G. 3073 (vgl. 3080) sin wäpenroc Sin kursit: P. 36,38. Wh. 140, 13.
— 2065 (vgl. 13545) ein Jmckel was dar üf gestagen von gölde, die
792 Oött. gel. Anz. 1887. Nr. 21.
er muoste tragen: P. 70, 28 mU golde von Äräbi ein titoeriu buid
drüf geslagn^ stocßre^ die er mtiose tragen. Weniger stimmen die Ton
Meyer S. 497 yerglichenen Stellen des Wigalois. — 2157 (vgl. 2688)
reit dem her so nahen, das sie in halten sähen: P. 289, 13 das her
lac tool so nähen daz si Partnvälen sähen haben. — 2318 hurta täe
ez da wart getan : P. 673, 10. — 2395 hiez der gevangen schone pfle*
gen^ 7313 hiez — der gevangen schone pflegen, vgl. die Variation M.
9615. 9949: P. 208, 24. — 2438. 3491. 3761 Änticonte vor vaischeü
diu vrie, vgl. 17531 Änticonien vor valscheit der vrten: P. 413, 2, vgl
427, 8 Antikonten, vor valscheit die vrien; ebenso wird im G. aof
Laudamte nnd Sabte gerne vor välsche diu vrte gereimt Anfterdem
välsches vrt^ vor välsche vri sehr hänfig in allen drei Gedichten: F.
255, 8. 271, 6. 580, 6, vgl. 439, 20. Wh. 157, 4. — 2610 moras
Kläret unde tdn gap man in unt sptse guot : Wh. 265, 10 mdraz, da-
ret unde uAn si heten, unde spise guot; die erste Zeile allein nochT.
15207. H. 6901. 8698. 12202. G. 4912. — 2685 mU ros mü aUe if
daz gras^ 13152. G. 2215 (wo der Heransgeber den Unsinn der
Handsohrift nicht bemerkte) mit ros mü äUe üf den plan : F. 38, 27.
680, 21 mit orse mit aUe, vgl. unten za H. 9533. — 2117 der ha
der rief im nach genuoc : P. 39, 15 der Spänol rief im nach genuoe.
— 2725 ff. unt kämet niht vür die sto^. swaz er gd>dt unde bat, enr
dehaft daz wart getan: P. 39, 7 und körnt nach mir in die stat,
swaz'er gAöt oder {unde G) bat, endehaft ez (daz G) wart getan. —
2796 der prts mit werdikeit was ganz, G, B. 10b (so bezeichne
ich Zingerles Auszüge aus dem G. in seinen Vorbemerk nngen zu
dem Fresken-GykluB des Schlosses Runkelstein bei Bozen) des pris
mit wirdikeit was ganz, M. 164 des pris mit wirdekeit wart ganz, 6.
4195 des pris mit wirdikeit ist ganz: Wh. 32, 18 des prts mit werde-
keü was gam^s. — 3726 ob der wise unt der tumbe : P. 30, 9 Aie der
uAse, dort der tumbe, 670, 14 hie diu Wise, dort diu tumbe. — 3779
der künec luterltch verkos, daz er in äne schulde vlds, üf Tandareis
den jungen man : vgl. P. 428, 27 Kgngrimursel och verkäs üf dm
künec, der in da vor verlos. — 4300 der ie vor schänden was beknot,
G. Z. 540, 170 der ie was behuot vor schänden, vgl. T. 9319 der ie
vor schänden %5 bewart: Wh. 51, 1. — 4778 daz äl der Franzoser
lant, 5120 in der Franzoser lant: Wh. 137, 28. 269, 7, vgl. 116, &
85, 14. 335, 11. — 5129 ich bin geheizen lAodarz, min voter häzri
Teschelarz, unt bin von Poytowe geborn: P. 87, 23 der ander heizä
lAedarz, ß li cunt Schiolarz (Tschidarz g, Tschihdarz g), 68, 21
von Poytouwe Schyolarz (vgl. die Varr.). Mit Unrecht sieht Meyer
8. 498 in diesem Namen eine Anspielung auf die Grafschaft Leo-
darz bei Wirnt. — 5557 do er von Liodarz schiel, wie Sin reise
TandareiB and Flordibel. Herausgegeben Yon Eholl. 793
d6 geriet: P. 504, 3 ^ ^ van Tschanfaneün geachiet^ op ^ reise
üf stfit geriet. — 6619 und het in gerne erreichet ^ er sluoc unge*
smeichet nach im ein sd starken swanCf M. 6194 er sluoc im unge-
smeichet einen also starken slac: Wh. 429, 19 dd wart ungesmeichet
heim und schilt erreichet mit eime also starken swanc. Die Ans*
drncksweise ist recht selten , ich wüßte nur zn vergleichen ndrh.
Tnndalns 36 äne smeichen und Efidrnn 843, 3 äne smiele. — 7251
ua prise nie ein vuoe getrat, vgl. 246 er getrat üb pris nie einen
vuoe und 15249 Artus het nindert vuoe getreten üe lobdichem prise:
Wh. 850, 17 ir h6rre üz prise nie getrat. — 7290. 12947. 13255.
15005. 0. 4647. 0. Z. 514, 35 manliche und unvereaget : P. 564, 25.
— 8172 die man da gin prise mae: V. 162,19. 309, 29, vgU145,3.
275, 16. — 8204 mit also wunderlichen siten ist diu liebe under sniten :
Wh. 280, 9 des marcgräven trüric muot wart mit vreuden undersnitn.
— • 8405 die rehten sträee er meit: Wh. 70, 11 die rehten stroBe er
gar vermeit (nicht mit Meyer S. 492 auf P. 180, 5 zu beziehen). —
8434 in hä diu müede überstriten : P. 547, 12 mich hat grde müede
überstriten. — 8789 Uute unt guot swae heizet mtn, vgl. 3074. G.
4141 Up unt guot swae heufet miti, sowie oft swaa heizet mtn^ oUee
dae da heizet min : P. 362, 2 Uute und guot swae heieet min. — 8836
diu künegtn bot im guote naht ( : wol geslaht) : P. 242, 22 der wirt bit
im guote naht ( : wol geslaht). — 8934 az der wol gebom gast, vü Mutzet
in da des gebrast : P. 405, 23 saz der wol geborne gast, süezer rede
in niht gd^rast. — 8994 huop die küneginne wert sunder schämet (so
ist natürlich mit h zn lesen, nicht sunder scha$iden, wie EhuU nach
den andern Handschriften schreibt; derselbe Fehler freilich auch in
den Meraner Fragmenten G. Z. 543, 5) üf ir pfert : P. 89, 3 si huop
Kaylet der degen wert sunder schämet tif ir pfert. — 9107 für unbc'
^ogrc» (auch 11517?). G. IL 10b: P, 64, 1. 339,21. M5, 12. 667, 22.
Wh. 26, 19. 81, 16. 84, 28. 88, 107^^-^^148.3^3^ (der Heraus-
geber bietet Unsinn) diu maget stuont üf^ der kus geschach : Wh. 213, 25.
— 9694 spise wilde unde zam^ met moraz win alsam: Wh. 177, 3
daz wilde und daz zam^ gepigmentet cldret aisam, den met^ den wtn^
daz moraz. — 9793. 9825. H. 3400. 9984. 10386. 11254. 12184 an
koste niht verswachet^ vgl. M. 8152 an koste niht geswachet^ T. 9081
an richeit niht verswachet: Wh. 400, 30. — 10159 den sin manheit
niht erliez (so mit h zu lesen) : P. 416, 22 den sin kunst des niht erliez.
— 10474 ff. sag Artus unt dem wibe sin den wiUedichen dienest mit»,
dar zuo der massenie gar unt al der tavelrunder schar^ vgl. 9620
sagt Artus unt dem Wibe An den wiUedichen dienest min unt al der
tavdrunder schar: P. 199, 3 sage Artuse und dem uiibe ^n, in &ei-
<2en, von mir dienest mfn, dar zuo der massenie gar. — 10739. 13885.
794 Gott. gel. Ans. 1887. Nr. 21.
16427 hellen dön: Wh. 337,10. — 11088. 11108. 13990 aer Montä-
niJäüse: P. 382, 24. - 11131 üf kristenlicher erden: P. 659, 12, vgl.
Wh. 313, 24 üf al histenltcher erden. — 11215 ich weene nie vtm
ijoibe (: libe) kiuscher vruht wart gd>orn: P. 457, 16 nie kiuseher
fruht von Itbe (: tvibe) wart gebom. — 11266. 11556 wol beraten
mit senften plümUen: Wh. 323, 29, vgl. P. 627, 28. Wh. 244, 12. -
11455 nieman dd rette noch enrief (: entslief)^ 11599 (: slief), vgl
M. 6410 nieman umb in redet noch rief (: entslief): P. 245, 26 nie-
man da redete noch enrief (: entslief). — 11593 unt zwo hosen von
seine: Wh. 196, 3 und hosen von sein, — 11626 diu maget im guoien
morgen bot, M. 7929 dem gaste guoten morgen bot^ M. 8059. 8765
dem ritter guoten morgen bot, Q. 1234 im lachend guoten morgen bot:
P. 604, 20 Oäwän guoten morgen bot. — 11645 im sneit diu magä
stelden rieh mit ir selber hant die spise^ vgl. 13472 si snite im ^ne
spise, H. 8689 diu küniginne wise mit ir selber hant im sneä:
P. 279, 12 diu lobes wise sneit ir bruoder sine spise mit ir blan-
ken linden hant, vgl. 176, 18. 551, 4. — 11709 ich bin der
des mit iu giht: Wh. 150, 24 ich pin der des taster's giht. —
11747. 13782. M. 4134 wan ich iu vü ee sagen hdn: P. 403,
22. — 11781 ez wtere an vrbuden ein gewin y G. Z. 530, 59 ez
W(Br mir an fröuden ein gewin: P. 425, 12 daz wtBre an freuden
sin gewin ^ vgl. 369, 8 daz git an freuden mir gewin, Wh. 135, 29
unz ir an freuden habet gewin ; G. Z. 527 , 244 daz wirt an prise
iuwer gewin, 6.5119 ez wirt iu an eren ein gewin: Wh. 342,26 dai
wirt an prise din gewin. — 11875 manec ritter gar untr€ege, 14967
i!rec der gar untrtsge^ 16395 Bedcurs dem gar untr€egen^ immer im
Reim auf Norwcege : P. 669 , 24 der gar untrcege (: Norwcege). —
11908 ff. künec von PatrigaU: P. 66, 23 ff. — 11931 wdlt iuch des
niht betragen, M. 5397 und wolt iurhs niht betragen: P. 554, 26.
655,13. — 12033. 12487 iwer (ir) güete ist an mir worden schin^ 4620
iwer güete ist worden schin an mir^ 7363 do wart an mir iur güete
schin, vgl. 12431. 16363. 18235. M. 4940 iwer tugent ist an mtr
worden schin (daza vgl. G. Z. 471,24), G. Z. 478, 276 iwer tugefit ist
worden schin an mir, T. 12001. M. 5714 iwer tugent ist an mir wor-
den schin unt iwer reiniu güete, M. 1648 der tugent ist an mir wor-
den schin y M. 4814 sin tugent ist an iu worden schin, G. 4233 sus
wart rfn tugent an mir schin, T. 16183 iwer triwe ist an mir worden
sddn, G. 2402 nü ist an mir worden schin dlrist din reiniu triuwe:
Wh. 135, 14 iwer güete ist an mir worden schin. — 12135 im wart
vroude wilde unt sorge zam: Wh. 171, 2 mirst freude wilde und sorge
zam. — 1,2249 rot schilt rotez kastdan rot wapenroc rot kursit: P.
211 , 9 rot schüt rot kur^. — 12338 war fioch kiuscher dan ei»
Tandareis und Flordibel. Herausgegeben von EholL 796
uAp: P. 26y 15 er tvas noch hituscher denne ein totp. — 12413. M.
10559 si sprach ^hdst du dae vernomen^ M. 11425 ^Oursün, hästü
dajB vemomeHy M. 1623 ^herre, habt vr dae vernomen: P. 483, 29
sprach ^häbt ir daz vernomen^ vgl. Wh. 238, 6 sprach *hästü war ge-
nomen. — 12894 wan dae si in der kirchen was unt an ir venje ir
siüter Icis: P. 644 , 23 diu Jcünegin eer kappein was, an ir venje si
den saiter las. — 12906 da von er unversunnen hielt: P. 283, 17
unjs dae er unversunnen hielt. — 12907 diu minne witee von im
spielt: P. 293, 27 dae minne witee von im spielt. — 12908. 13798.
14235. M. 414 (so zu lesen). 1530. 2026. O. Z. 486, 33 (vgl. aneh
M. 5647. G. 3204) dannoch was ee harte vruo: P. 555, 17. 801, 29.
Wh. 233, 24. — 12919 Utepantragünes sun: P. 775, 1. — 12934.
13072. 17412. G. R. 10 b Beacurs von {gen) Norwtsge gen valr
scheit der trtsge: P. 66, 11 Lot von Norwtsge gein valscheit der trage.
— 13015. M. 5106. 5990. 9522 (in der Ausgabe des M. ist santen
sanden gedruckt). G. 1376. 2208 von rahine sancten sie diu sper:
P. 295, 12. — 13034 hindere ros üf den sämen: P. 60, 19. — 13063.
13904. 16880 dd wart gewunnen unt verlorn: P. 82, 13 da was
{wart G) gewunnen und verlorn, Wh. 446, 1 da was gewunnen und
verlorn, P. 102, 16 des wart gewunnen unt verlorn. — 13093. 13853.
G. Z. 512, 204 sie (die) lieeen dae wol schtnen dae sie waren unver^
eagt, Tgl. G. Z. 497, 218 doch lieeen si wol schtnen dae si wären un-
verzagt : Wh. 431 , 24 si lieeen dd wol schtnen dae si wären unver-
eagt. — 13120. 13880 von Provene der marUs: Wh. 135, 16. —
13343. M. 7846. 7878. G. 2998 guot naht geh iu der gotes segen:
P. 279, 26. — 13404 erstrichen von im sin amasier: P. 167, 5 stri-
chen schiere von im sin amesiere. — 13405 sin Up was Jdär unde
fier: P. 118, 11. — 13442 üe dem bade an sin bette er schreit: P.
168, 1 der gast an dae bette schreit. — 13451 mit einem tiuren für'
span: P. 168, 19. — 13458. M. 683 diu ringge ein edeler rubbin:
P. 307 , 6 diu rinke was ein rubin. — 13534 noch roßter den ein
rubbin: P. 679, 10. — 13755 ir kraft ir vü gar gesweich, G. R. 9a
sin kraft im so gar gesweich {geseich Handschrift, aber es reimt
bleich): P. 480, 4 unt im sin kraft gar gesweich^ ygl. fibrigens
auch Wig. 9987 ir freude ir so gar gesweich. — 13792 AT. er
ranc nach Wtbes lone^ des het er vil sch&ne den lip geeimieret. er kam
gdeischieret : P. 736, 21 ranc nach wfbe lone (diese Zeile auch Wh.
22, 25) : des eimiert er sich sus schone , P. 121 , 13 do kom gdei-
schieret und wol geeimieret, — 13848 dirre vlos, ener gewan: P. 77,
29. — 13916 in wart — durch die snüere gerant: P. 82, 12 durch
die snüere in waere gerant^ 284, 22 iu ist durch die snüere alhie ge-
rant — 14101. G. 3464 dae nuere iuch niht belriuget (: ereiugef):
7% Gott. gel. Aue. 1887. Nr. 21.
Wh. 426 , 14 dUf mmre uns mkt beMuget (: ermuget). — 14296 vü
swert da erJäungen: Wh. 441, 20 da vü swerte erJäungm. — 14585
gin valscheit diu tunibe: P. 630, 18. — 14699 dojg iwer wetdikeU
enbor swebet unt iwer hoher pris : Wh. 45 , 12 des prts embar ndk
hiut in hoher unrde swebt, P. 539, 17 des pris so hohe e swAt
enbor. — 15113 iedoch si gen dem wege neic: P. 375, 26 vü dicke
er dem wege neic. — 15268 ein tavdrunder rkhe : P. 775 ,4. —
16043 durch elUu u>ip Ut iuchs gezemen : P. 136, 16. — 16123. IL
1547. G. Z. 556, 198 mit triwen äne wenhen: Wh. 378, 17; T. 968
an aXUe wenken: P. 462, 18; M. 4031 dne wenken: P. 283, 15.
751, 13. — 17138 der zühte houbetman: P. 162, 23 dem houbelman
der wären euht. — 17402 Boisawena: vgl. P. 677, 3. 720, 24 die
Varr. zu Boschs Sabtns. — 17438 diu ir uApheit rehte tuoti F. 3, 20.
— 17469 den lobe euch ich als ich sol: P. 3, 13 die lobe ich eis
ich solde.
M. 116 da0 nie hoübet under crdne (; schone): Wh. 462, 2. —
132 der reihten wirdekeit geniee: P. 475, 28. — 136 vor ir lamdes
fürsten schone (: krone) ^ vgl. T.' 11093 vor einen värsten
(: hr^ne): P. 660, 14. — 338 der wec wart smai der e was
P. 249, 7 ir sla wart smci diu i was breit — 386 da0 dähte in ein
goßber funt: P. 352, 30 daa dühte si ein gteber funt. — 410 e0 stuont
im niht vergebene: P. 443, 28 ea enstuont in niht vergebene. — 682
der was vor armüete vri: Wh. 125, 11 des buckd was armüete vrt, —
714. 5934. (vgl. T. 13542. G. 5237. G. Z. 505, 206) eddgesteine (steime)
drin verwieret : Wh. 249 , 9 edei steine druf verwieret. — 1022 i^oii
nigramanden den list (vgl. aaeh G. Z. 473, 89): P. 453, 17 ä» de»
list von nigrdmanjsi. — 1128 die von arte gäben Uehten schin^ ^SK^*
4985. G. Z. 547, 154 die gäben von arte Hebten schin: P. 722, 3 die
von art gäben lichten schin: vgl. T. 12532. G. 801 die (diu) gäben
lieihten werden schin^ G. Z. 505, 208 die gäben werden liehien schin:
P. 581 , 8 die truogen lichten werden schin. — 1352 mit getriuUcher
liebe ganz: P. 765, 22. — 1386 owe war umbe tuet si daa: P. 114^
20 owe war umbe tuont si daz. — 1559. G. 3483 du soU mü n^nem
husse vam^ T. 9147. 10117. 12564. H. 8947 ir suU mit nnnem husse
vom: Wh. 213, 21 du soU mit nAme husse vam. — 1621 das tuon
ich gerne, kumt ez sdj 5670 als ich immer dienen sei umb iuch^ kumi
ez immer so, 7899 dirre wirde ich danken «oZ, sprach der ritter^ kmiU
ez soy vgl. T. 9769 vrowe, unt kumt ez immer so daz iu dienstes not
geschiht: Wh. 138, 18 dirre herberge ich danken sdj sprach der mar^
gräm^ kumt ez so. — 1787 d6 der tac Ke sinen strit: P. 423, 15 uns
daz der tac Uez sinen strit. — 2550 ein mögt si was und niht ein
tc^ip: P. 60, 15 si was ein magd , niht ein wtp (daraus hat Wimt in
Tandareis und Flordibel. Herausgegeben von Kholl. 797
seinen Wig. 9187 die Zeile wörtlieh hinttbergenommeu), 84, 6 st was ein
maget und nihi ein toip. — 2938 cm dem brieve er niM mSr las, 4041
an dem brief si niht mir sach^ vgl. G. Z. 557, 232 an dem (Lttcke,
1« brieve las oder sach) si nifU mir: P. 77, 19 an disem brieve er
niht mir vant — 3420 ein sper das was von varwe glänz: Wh. 86,
4 des sper was lidd von varwe glänz. — 3434 daz die sprizd von
der hant sich wunden gegen den lüften hoch , 6000 daz die sprizen
von der hant hoch üf gin den listen fingen: P. 704, 4 daz die sprtr
zen von der hant üf durch den luft sich wunden. — 3714 solhen
prts^ des beviUe ander künege die gendze sin: Wh. 419, 18 daz es
durch not bevüte ander künege sine gendze. — 5079. 5983. G. 2153
ais er tjostieren wolde: Wh. 24, 1. — 5111 er reit üf in und trat
in nider. des erhoÜ er sich wider ^ T. 6086 des erholte er sich wider j
T. 10881 mit zomes siten reit er üf in unde trat in nider^ dd hülfen
im die einen wider: P. 38, 1 er reit üf in und trat in nider. des er-
holt er sich dicke wider. — 5126 diz was der erste swertes strit:
P. 197, 3 diz was stn irste swertes strit. — 5202 im warn diu lit er-
swungen: P. 691, 28 dem wäm die lide erswungen. — 5363. G. 4800
und bat in ezzen vaste^ G. 4762 und bat si vaste ezzen, M. 1230 und
heizt in ezzen vaste: P. 34, 3 diu bai si ezzen vaste. — 6745 als er
niht langer weide leben: P. 666, 10. — 7499 sd kurlichen Up: Wh.
257, 24 aisi kürUchen lip. — 7561 so daz Sin vel gap lichten schln:
P. 459, 13. — 8612. 9591 sus was der strit ergangen: Wh. 50, 10 der
strit was so ergangen. — 8620 si fluhen veU oder waU: Wh. 117, 14
er vUehe veU oder wait. — 9241 ich hän mir geziuges niht: P. 15,
14 ine hän nü mir geziuges niht. — 9263 mit golde von Kaukesas
{:was): Wh. 203, 25 mit dem goU von Kaukasas (:wäs). — 9412
durah rehter wvrdekeite kür, 9830 durch ^ner wirdekeite kür: P. 509,
22 nach der werdekeite kür. — 9515 sin ros er mit den sporn ruorte.
mit vollem poinders hurte , vgl. G. Z. 512 , 213 mit vollen poynders
hurte, G. G. 92, 178. 93, 275 mit poynders hurte: Wh. 239, 23
hoßm mit poynders hurte , 442 , 1 mit voUeclicher huorte an den marc-
graven ruorte. — 9533 äldä pris bezaUe. mit der tjost er valte den
ritter mit ros mit alle, von der tjoste volle wart er betwungen sicher-
heU, ez wter im liep oder leit: P. 596, 27 swer den pris bezaUe, daz
em mit tjoste valte^ P. 38, 27 mit orse mit alle von der tjoste vaUe^
und UHirt betwungen Sicherheit ^ ez wtere im liep oder leit, vgl. auch
P. 596, 19 von siner tjoste vdHe. — 9682 groz richeit dar an gekiret:
P. 107, 2. 129, 20 groz richeit ch^an gekiret. — 10036 der der wir-
dekeite kränz treit, 8492 der der wirdekeite kränz — truoc, 6505.
6655 er tregt der werdekeite kränz, vgl. 1800 daz er bgaget der
iren kränz: P. 632, 28 der der werdekeite kränz ireit. — 10111 liezen
näher strichen üf dem poinder hurtedichen : P. 679, 25 liezen näher
798 Gott. gel. Ans. 1887. Nr. 21.
strichen üfen patnäm- hurtedichen. — 10123 mit der tjost ein ander niht
trugen, die sprisen gen den lüften flugen, vgl. 10117 dcus die sprlzen uf
Stuben und hoch üf gen den lüften fltyen, Meyer S. 492 za T. 9249
(9098) und oben zu M. 3434: P. 37, 25 der tjost ein ander si niht lugen.
die sprieen gein den lüften ftugen. — 11368 die juncfrowen werd erkani
huop er von dem pferde do mit drucke an sich: P. 615, 16 er huop die
frowen wolgetan mit drucke an sich üf ir pfert. — 11911 das dt»
swnne durch die wölken brach ^ T. 13654 der tac durch die walke»
brach: Wb. 289, 3 dajg de sunne durch die wölken brach ^ 292, 14
und diu sunne durh die walken brach; vgl. Q. 1217 der gräwe tac
asten durch die walken brach und dazu Wig. 10882 des tages wise
asten durch diu walchen dranc, — 12088 aUer meide schoene ist ein
wint gen der schosne die si hat, vgl« 6. 6. 89, 7 sin kraft was gen
im gar ein wint: P. 188, 6 IMgen schoene was ein wint gein der
meide diu hie sagj vgl. 318, 20 al äventiure ist ein wint — 12810
Laediejs: P. 56, 15 Ixusaliee.
6. 782 dae ors und diu straee in truogen vor (1. vür) dass
bur clor, da stuant ein schoeniu linde vor: P. 162, 12 daz ars und
auch diu sträze in truogen^ 162, 8 da vor stuant ein linde breit. —
789 ein den schoensten aUen man der (I. des) er künde ie gewan: P.
240, 27 den aller schoensten alten man des er künde ie gewan. —
796 van palmät dicke ein matraz gesteppet üf ein phdle breit: Wb.
353, 19 ein tiwer pfeU van galde, gesteppet, als er weide, van palmät
uf ein matraz, P. 683, 13 palmäts ein dicke matraz — , dar üf ge-
stept ein pfelle breit. — 892 dem ganzer tugende nie gebrast^ vgl. H.
3244 ganzer tugende im nie gebrast ^ T. 283 dem eren nie gehrast:
P. 22, 26 dem süezer (ganzer G) tugende nie gebrast. — 933 iA
walte iuch fragen nuere^ wanne iur reise wcere^ T. 6481 ich weste
gern diu mcere, wannen iwer reise wcere, vgl- G. 2897 fragt in —
der mcere y van wan ^n reise wcere: P. 169, 27 ab ich iuch wäge
mcere, wannen iwer reise weere, 189, 13 herre, ich vräge iuch mcare^
wannen iwer reise wcere. — 1003 waz taue ich noch Übende? daz
aUer ist mir gebende: Wh. 64, 25 waz taue ich nü lebende? der /ä-
mer ist mir gebende. — 1016 ff. Oerhart van Riviers (; ab ir geion-
bd mirs): P. 682, 18 Bemaut de Riviers (Gemaut FGg, van FGgg)
: wdt ir glauben miers. — 1199 ein bette ridie geMret künidiche niht
nach armüde kür. da was geleit ein tqpich für : P. 191, 21 em bette
riche gehSrt künecliche^ niht nach armüde kür: ein teppich was gddt
derfür. — 1204 die ritter wcU der werde degen da niht langer läsen
stän; er bat si zühtidtchen gän: P. 191, 2b er bat die ritter wider
gen , diene liez er da niht larger sten. — 1377 ein richiu tjaste da
geschach (diese Zeile auch G. 2213. 6. Z. 508, 40. M. 5107. T. 2683.
13016. 13150. 13818). Gdrd in ßigelingen stach: P. 385, 9 ein riehiu
Tandareis and Flordibel. Herausgegeben yon KhuU. 799
tjast da geschadr. Gdwdn in fiiigdingen stach. — 1413 Gerhardes l^er mU
hrache im seihen euo gemache (I. eungemache) : Wb. 34, 9 Terramer mit
krache den getauften zungemache. — 1460.2172 ^n eimierde koste: P.
598, 10 stner eimierde koste. — 1479 gevellet hindere kastelän; dae
was im selten e ^e^dn (die zweite Zeile auch M. 5110 and Wig. 470):
Wh. 118, 11 (pflac) gevelles hindere castelän. dae was im selten e
getan. — 1484 Gärd was sins gevelles wer: P. 598, 3 wer da ge-
vdles was sin wer. — 1490 do walte ir niht^ der mit im streit,
vgl. M. 9567. 9573 der da mU im streu: P. 198, 2 ir mwolde niht
der mit im streit. — 1505 ic/» sluoc im sinen suon : P. 198, 6. 214, 9.
— 1526 ich wil dir Ideen ander wal: P. 198, 14. — 1543 vor val-
sches strites überlast; ich was sdiumphentiure ein gast: P. 742, 7
vor solhem strites überlast: er was sehumpfentiure ein gast. — 1756
sus rümte er der herren lant: Wh. 467, 8 sus rümt er Provenedlen
lant. — 2256. 3768 durch wae slüege ich den degen snel (werden
helt): P. 539, 26 durch wae toete ich disen man. — 2294 swae ich
noch her gestriten hdn dae ist mit kinden her geschehen : P. 734, 19 swae
sin hant ie gestreit^ dae was mit kinden her getan. — 2440 min hdfe
dae niht irrd {: wirret): P. 24, 21 min hdfe iuch, frouwe^ niht irret
(: wirrd). — 2664 dae in dae harte unhohe wiget : P. 719, 22 dae
in lihte unhohe wigt^ 287, 24 swie unhohe iuch dae wigt. — 2839 ich
hdn ein schumphentiure gedoU^ diu mir fröude hat erholt: P. 270,
27 ich Mn schumphentiure geiioU, diu mir freude hat erholt. — 2905
i7i ndnem hereen nahen trage: P. 24, 20 den ich nähe {nahen Ggg)
im hereen trage. — 3735 reht als ein pheterc^e: P. 197, 24 wie ein
pfetertere. — 3883. 4918 diu süeee valsches äne: P. 16, 8. — 3948
Frtdns: P. 524, 19 flF. ürjdns {frians, vrians d). — 4041 sin vol-
s(heit fröude von mir spielt: Wh. 254, 24 und der jdmer vreude von
im spidt. — 4172 sider von Maeedänes eit: vgl. P. 56, 17. 400, 7.
585, 13. — 4187 der ist herre über den gräl (so ist statt überal zu
lesen): P. 474, 22 der was ouch herre übern gräl, 476, 16 wtsr ich
dan hirre übern gräl. — 4189 min gesieht was ie gein valsche Uint,
vgl. T. 214 der knabe wart gen valscheit blint: Wh. 355, 3 sin heree
was vor valsche ie blint. — 4390 vü wol gefeitierd {: geeieret): P.
565, 14 und wol gefeitieret {: geeieret). — 4495 sin ort von der feien
(; meien) : P. 96, 20 ; 400, 9 sin art was von der feien (: meien). —
4595 (== 6. Z. 459, 117) sagt an, gebuten iu dae wip: P. 47, 8 sag
anj gebot dir dae ein vcip. — 4632 si wären ee sehenne ein ander vro:
P. 47, 4, vgl. 94, 28. — 4831. 3 geborn von Testregis — von Jßreckes
lande, T. 11876. 14968 künec von Testrigeis: P. 382, 16 unt die soU
dier von Destrigleis {destrigeis Klasse 6) üe J^rekes lande. — 4881
ouch mohte man dd schouwen ie eunschen ewein frouwen einen klären
ritter tanees pUegen : P. 639, 21 och nwhte man dd schouwen ie ewir
80O Gött. gel. Anz. 1887. Nr. 21.
sehen ewein frotmm einen dären riter gen. — 5266 von Ajfogouc
ein grüen samU bediu lanc unde wU^ vgl. 2161 ^n decke ein grüener
samit^ gesnüen lanc unde wU : P. 234, 4 rocke grüener denn ein gras,
van Äjsagouc samtt , gesniten wol lanc unde wU. — 0. Z. 487 , 80
manec schar mit krache reit : P. 667, 4 des morgens fruo mii brache
reit. — 511, 168 in2 lüie Nantes wart geschHt, G. Z. 509, 71 Nantes
lüte wart erschdU, Ärtüses des küneges krie^ Tgl. G. G. 90, 95 und
schfiten Nantes die: P. 382, 12 dicke Nantes wart gesehnt^ Artüses
herzeichen, — 515, 59. G. G. 93, 256 icA het iu vä ze sagen: Wh.
78, 8. — 521 , 11 die muosten im entuAchen und doch unlastarHUAen^
G. G. 92 , 231 muost in den fürt entu^hen und doch untasterUduen :
P. 411, 1 Qäwän do muose entuAchen^ doch unlasterlkhen. — 535,
271 trOrens unerlost: P. 733, 16. Wh. 92, 30. 166, 29.-542, 255
Elinotes tot — daz was Ärtüses werder suon: P. 383, 5 Hindt —
daz was Artus werder suon. — G. Z. 544, 42 mit chrancher freuden
schalle, 524, 128 mit chrancher freuden schal, 533, 185 chranch was
ir freuden schal: P. 487, 26 mit kranker freuden schaue. — 550, 251
in der stat ze Thasmi: P. 808, 8. — G. G. 89, 11 alsus viewA er
den werden man : P. 73, 28 alsus vienc er den degen wert (vgl. beide
Male auch die vorhergehende Sitaation). — 95, 146 Florie: P.
586, 4. — G. B. 9a du bist der tugende ein hemdez rts: P. 26, 11
gtn Up was tugende ein bemde rts. — 10b Artus der zuM gderte:
P. 131, 7 diu frowe zuht gderet — Daß die in allen (Jediehten aus-
schließlich angewandten Namenformen Gdwän, Iwm, Iwanet^ BrOun,
Britaneis n. a. ebenfalls aaf Wolfram berahen , bedarf kaum der
Erwähnung. Auch die ungemein häufige starke Interpungierang in
der Versmitte ist Wolfram (vgl. T. FOrster , Zur Sprache and Poeaie
Wolframs von Bschenbach, Leipzig 1874, S. 2 ff.) nachgeahmt
In gleicher Weise stelle ich des Pleiers Entlehnungen ans dem
Wigalois und aus den Werken Hartmanns zusammen, soweit die-
selben nicht bereits von Meyer (Zeitschrift f. d. Altertum 12, 496 tt.\
Bartsch (zu M. 10062) und Zingerle (Germ. 3, 26. Wiener Sitzongs-
ber. 50, 453) nachgewiesen sind.
T. 247 dem (i. den) besten was er undertdn: Wig. 1604. — 660.
14457 weU irz vememeny ich sage iu u^eSj 1460. 17861 wdt ir ver*
nemenj ich sage iu wes: Wig. 3094 wdt irz vernemen, ich sagiu wes.
— 2126. 4880 daz volc im aUez heOes bat: Wig. 1407. 6211 das
liut {volk B) im cdlez heiles bat. - 6210. 12465. M. 1974. 5878. 595a
G. 3171. 4489 in sAnem herzen er des jach , T. 5778 in stme herzen
er dd jach^ vgl. M. 7639 daz er in sinem herzen jach: Wig. 5021
in einem herzen er des jach. — 9883 daz veU was üf unt zetal vot-
lez pavelün geslagen : Wig. 2645 daz gevilde was üf und zetal voüez
pavdüne geslagen. — 10288 baz dan rehte reise: Wig. 4573 (sehr
Tandareis und Flordibel. Herausgegeben von Ehull. 801
sigDificaDte, weil auf Misverständnis der Wirntschen Aasdracksweise
berahende EDtlehonng). — 11217 diu Stsdde het euo ir geswarn^
16405 diu Saide hat jsuo ir gesworn, T. 16513. M. 997. 6. 4704
(= G. Z. 462, 226) diu Scalde hat euo im gesworn: Wig. 941 diu
Südde het ir gesworn. - 12115. 16249. G. Z. 557, 231 heidiu mU
ernest und mit spil: Wig. 8795. 8997. — 12951. 16851 von dem
brunnen her Iwan: Wig. 10073 und von dem brunnen her Iwein.
M. 470 verre brdht über si: Wig. 7434. — 1685 er was ge-
unejsen unde guot: Wig. 1409; vgl. 3772 si ist gewissen unde guotj
11542 sit gewissen unde guat, — 3989 getihtet, mit rimenwolberihtet:
Wig. 139. — 5105. 5989. 8272. 9530. G. 1375. 3577 in beiden was
zesamen ger^ G. 2207 sus was in auo einander ger, M. 10115 den was
oucfi euo einander ger: Wig. 6629 in beiden was eesamene ger, 3531
wand in was euo ^einander ger, — 5420 swaa mir von iu ist beschehen^
des wil ich kein laster han^ G. 4715 swae mir ist von im gescJiehen^
des wü ich kein laster h&ni Wig. 3130 swae mir von iu ist geschehen,
des toil ich niht laster hän. ~ 5636. G. 1214 guot naht er in allen
bot (vgl. auch G. 4925) : Wig. 4356 gmt naht er in do allen bot. —
5968 er wand im soU gelingen (vgl. aach 7972. 8120. 9944) : Wig. 1973.
— 9569 swae er in tuon hieee, dae er des niht enlieee, G. 1399 swae in
diu meit leisten hieee , dae er des niht enlieee , T. 507 1 swae er sie
leisten hieee, dae ir keiner des niht lieee, G. 4000 swae ich in werben
hieee, dae er des niht enlieee^ M. 5185 und dae ers niht enlieee^
swae er in tuon hieee: Wig. 3076 swae er in tuon hieee j dcte er
dae (des Pfeiffer) niht enlieee. — 12635 ^ bescheiden an edlen din-
gen: Wig. 11534.
G. 1291 man reihte im schiU unde sper. von dem hüse kerte er,
T. 10136 man reichte im schilt unde sper. in dae her keret er, T.
12572. M. 4945 man reichte im schilt unde sper, T. 8393. 9158 man
bot im schilt unde sper: Wig. 6249 man reichte im schilt und sper.
von dem huse kirte er (die erste Zeile auch 520). — 2770 diu wert
mit ganeer triuwen kraft undr in beiden unee an ir tot: Wig. 7204
diu het st€ete und ganee kraft under in beiden une an ir tot. — 3462
gluat des nahtes üe der vinster tuot: Wig. 10698.
T. 8 der i^ der verlorne^ 9113 der was der verlorne: Iw. 5630
des was er der verlorne^ doch vgl. auch P. 265, 22. 467, 8. — 2894.
17655 diu gewieeen äne heme (an der ersten Stelle wird fortgefahren :
diu reine unt diu guote , diu senfte wol gemuote) , G. 896 gewieeen
äne hoene: Iw. 7298 diu gewieeen, diu unhoene (dafür in den Hand-
schriften ab one höne)y diu süeee, diu guote, diu suoee gemuote. —
3124. G. Z. 499 , 284 nü suoche ich helfe unde rät , M. 6427 nü
suochte hüfe unde rät, vgl. M. 1704 nu suoch ich dinn getriuwen rät,^
Q«U. f«l. Am. 1867. Nr. 21. 55
802 Gott. gel. Anz. 1887. Kr. 2L
1748 SO suock ich dinn getriuMen rät, 2637 suoche rat an iuch^ O.
Z. 483 y 174 des suoche ich dinen rät, ib. 188 so soUü danne suoehen
rät: Erec 479 so suoche ich hdfe unde rät, — 3702 der dicke den
litUen schaden tuot^ M. 6568 dicke den liuten schaden tuot: Iw. 636
der mir vü dicke schaden tuot. — 4037. G. 3979. 4237 wajs mac ich
sprechen mire, vgl. M. 12634 waa sol ich iu mere sagen: Erec 5077
wajg mac ich nü gesprechen mS, aber aach P. 379, 3 woß mac ich nu
sprechen mir. — 4413 des {bluotes) was er also gar ersigen unt het
sich in dem strUe erwigen , G. R. 9 a 6»' was des bluotes so gar er-
sigen, T. 6776 er hat sich so erwigen: Ereo 5720 des bluotes was er
gar ersigen, die siege heten in erwigen (steht etwas näher als dievoa
Meyer S. 498 verglichene Wigaloisstelle). — 5918. 9335 e er erjmge
den andern slac, vgl. 6642. G. R. 8b: Iw. 5066. — 10140 do
wünschten man unde wtp daa got stnen werden Up behüete stvä (1.
swar mit M) er kirte, M. 3731 do wünschten man unde wtp dae got
stnen jungen lip behüete wol vor aller nöt^ M. 6139 ee bat man unde
wtp dae in got behuot ir lip und si schiede an den tot: Iw. 5139 do
bat da man unde uAp dae got sin Sre und stnen Up vriste und be-
huote und daraus Wig. 2946 do bat da man unde w^ daa got s$nen
jungen Itp friste und behuote. Vgl. auch Wig. 1841 ff. 4421 ff^ —
10688 gie meiner siner veste die er da nähen weste, 14138 keri heim
tfe siner veste die er da nähen weste, vgl. 1933 üf ein burc die besten^
die sie in dem lande westen: Iw. 3769 gein einer siner veste die er
da nähen weste.
M. 376 nü si got der mich ner : Erec 6901 nü si got der in ner^
Iw. 1172 got ^ der iuch ner^ Erec 3188 unser herre si der dich ner;
daraus Wig. 4978 nü st got der mich gener. — 874, 4382. 8768 gar
in des Wunsches gewdU (:gestaU): Iw. 6916 so gar in Wunsches ge-
wait (:gestaU). — 1882 iur not ir mit dem jungen man aUe über-
windet, vgl. G. 1174 der mrt het aUe Sine not mit im iibertounden^
G. 1968 dajBf er sin not mit im het überwunden, G. Z. 536, 2 wan
mit klage nieman chan sin not überwinden ; vgl. auch G. Z. 485, 259
diu chünegin het ir leit mit liebe Obertvunden: Iw. 5916 wand ir
danne überwindet mit im alle iuwer not. Dagegen H. 2322 da mite
ich mine not überwinde mit richeit (vgl. 2498 f.) ist entlehnt aus
Wig. 8934 da mite er stne not überwant mit richeit. — 8446 toes
möht wir langer biten?^ G. 5349 wajg mac er langer htten^ 4569
wes möhte er langer btten? (ebenso wohl auch G. Z. 551, 6), H.
5650 wes sott ich langer htten: Erec 2121 wes möhten st langer U-
ten? — 12776 ej9 ist an sinem Übe gar swa£ ein ritter haben ao/,
10352 ejs ist an ^nem Übe gar swaa eim ritter rehte stät , vgl. auch
G, 4723 swa0 ein ritter tuon sol ze ritterlicher manlidi^ dar üf ist
Tandareis and Flordibel. Heransgegeben von Ehull. 803
iutver Up bereit: Iw. 6912 €0 ist an Arne Hbe gar swaa ein fiter
haben ad.
6. 1157 got geatuont dem rehten ie (vgl. M. 8019): Iw. 7628 so
half ouch got dem rehten ie, doch vgl. aach Wig. 2773 wander gestuont
dem rehten ie. — 4164 swa ich dich hcere nennen daz ich dich müge
erkennen: Ereo 4820 daz ich inch müeze erkennen: geruochet iuch mir
nennen; vgl. anch Wig. 3117 ich toil mich iu nennen, daz ir mich
muget erkennen. — O. R. 7 a e^er enai ob in des wände siechttwm
vancntusse oder tdtj so wendet in des kein ander not: Iw. 2933
e^ latzte in ihaftiu noty siechtuom vancnüsse ode der tot.
Vorstehende Tabellen sind so eingerichtet, da A sie die Entleh-
nangen des Fleiers aas Wolfram, Wimt, Hartmann dort verzeichnen,
wo die Übereinstimmang die genaneste ist, nicht dort, wo die Nach-
abmong zuerst, wenn auch minder schlagend, anftritt. Daher findet
man manche Lehnstelle des Tandareis erst in den Listen des Meh-
ranz oder des Oarel notiert Aber Schlüsse anf die Reihenfolge der
drei Romane lassen sich daraas nicht ziehen, denn Jeder kann sich
leicht ttberzengen, daft sehr häufig aach innerhalb einer und der-
selben Erzählang Variationen eines Plagiats seiner genaueren oder
ganz wörtlichen Verwendung um Taosende von Versen vorangehn.
Der Fleier hat sich also entweder heute weniger bestimmt als mor-
gen einer ihm sympathischen Fhrase aus seiner Lecttlre erinnert, oder
er hat gewisse Lieblingsautoren immer von neuem während der ei-
genen poetischen Production gelesen. — Hält man zu diesen mas-
senhaften Entlehnungen die nicht minder zahlreichen stereotypen
Wendungen, welche der Fleier gebraucht und welche leicht ebenfalls
anf Nachahmung beruhen können ^ volle Sicherheit Hefte sich erst
gewinnen, wenn des Strickers Daniel gedruckt vorläge — , z. B. miU
guoten triuwen dne (sunder) sjpot, vil ungdtche einem zagen^ des mor-
gens do der tac erschein (üf brach\ edeliu kint^ vä sarjantj üf nAne
triuwe ich daz nim , swaz er gd>dt daz geschach u. s. w., so gelangt
man za der Überzeugung, daft nicht nur das Motivrepertoire des
Poeten f sondern bis ins einzelne auch sein Sprachschatz mühselig
aus der mhd. Dichtung der Blütezeit zusammengebettelt ist, kein Fun-
ken Originalität hinter dem breiten Wortschwall steckt
Benutzung des Umhanges Blickers von Steinach durch den
Fleier behauptete Bartsch in seiner Ausgabe des Meleranz S. 365;
Meyer S. 484 pflichtete ihm bei. Zwei Ortlnde machte Bartsch fUr
seine Annahme geltend : 1. der Dichter schildere M. 685 ff. den Um-
hang eines Bettes, auf welchem der trojanische Krieg und die (be-
schichte des Aeneas abgebildet gewesen sei: gen&t wol mit gcide^
(Us diu künegin wolde, wie Parts unde Elend ein ander nimten^
66*
804 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 21.
ouch stuont däy wie * Troien slt gewan und wie Eneas dan eniran
und wie im al sin dinc ergie. Ich erblicke in diesem Passus nar eiae
Nachahmung des Erec, wo 7545 ff. von einer ganz ähnlichen Dar-
stellang des Trojanerkrieges and der Schicksale des Aeneas , die
einem Pferdezeug zum Schmacke diente , berichtet wird : an diseni
gereite was ergraben daz lange liet von Trogä. ze aller vorderst stuoni
da wie des wart hegunnen dae ^ was gewunnen unz dcus sl wart zer-
stceret: da mite was da gehoeret, da engegen ergraben was wie der
herre tineas^ der vil listige man^ über sc fuor von dan^ und wier ze
Kartagö kam u. s. w., zamal einige wörtliche Anklänge sich bemerk-
lich machen und in demselben Erec 8596 ff. auch gemalte, goldge-
schmückte Umhänge erwähnt werden. Hartmann aber folgte be-
kannter Maßen mit dieser Beschreibung seinem Gewährsmann Chre-
stien , schöpfte also seinerseits nicht aus Blickers Gedieht Ferner
kannte, wie wir wissen, der Pleier den Wigalois, wo V. 2715 ff. eine
Jungfraa aus einem Buche vorliest, wie Troie zefiieret wcere und wie
jämerliche ilneas der rlche sich dannen stdl mit sinefn her vor den
Kriechen üf daz mer, wie in frou JDido enpAe, und wie ez im dar-
nach ergie, alseziuofteist geseit Auch die weiteren Er-
wähnungen von bildlichen Darstellungen des Trojanerkrieges in der
mhd. Litteratur dürften auf Hartmanns Muster zurückgehn und nicht^
wie man wohl geglaubt hat, als Beschreibungen wirklich vorhan-
dener Teppiche anzusehen sein : dahin gehört die von Pfeiffer, Freie
Forschung 62 ff. ausgehobene Stelle der Krone 524 ff., dahin der
Bericht Fleckes (Flore 1587 ff.) über einen Becher, auf welchem die
ganze Geschichte des trojanischen Krieges in erhabener Arbeit an-
gebracht war; und noch der Wigamur weiß V. 2410 ff. von einem
Zeltdach zu erzählen, daranwaswol üzgenomen^ als ir ofte habet
vernomen, wie Troie wart zefüeret, — 2. auf dem Gürtel der Kö-
nigin Tydomie seien die Worte dulcis labor, minne ist süeziu arbeit
692. 4 eingeschrieben gewesen, diese begegneten aber in dem Bmch-
stücke, welches Pfeiffer dem Umhang zuerkenne. Ich bezweifle, ob
nach den Ausführungen von J. Schmidt in Paul- Braunes Beiträgen
3, 173 ff. heute noch ein Urteilsfähiger an die Zugehörigkeit jenes
Fragmentes zu dem Werke Blickers glaubt; jedesfalls aber braucht
der Pleier seine Kenntnis von amor dulcis labor nicht ans dem
Bruchstück, selbst wenn dieses wirklich einen Teil des Umhanges bil-
dete, zu haben , denn darin erscheint der Spruch nur als ein Citat
aus (Pseudo-)Ovid, und ein solches konnte sicherlich, auch ohne lit-
terarische Vermittelung, in der Konversation gerade des 13. Jahr-
hunderts des öftern zur Anwendung kommen.
Einen Anhalt für die chronologische Fixierung des T. hat Meyer in
Tandareis and Flordibe^ Herausgegeben von Khali. 805
den W. 10155 ff. (10000) sehen wollen. Dort wird nämlich in Kur-
netoäl, dcuf ivtten Markes des kiineges was ^ ein eons LischeU viz Tinaz
erwähnt, bei welchem Tandareis frenndliche Aarnahme genießt. Da
derselbe nnn an der zweiten der drei Stellen, die ihn nennen, Ryschait
heiAt, so vermutete Meyer eine Anspielung auf den deutschen König
Richard von Cornwall. Aber es liegt hier nur in der von Meyer be-
nutzten Hamburger Handschrift ein Schreibfehler vor, die anderen Co-
dices bieten Lytscboit und so liest denn auch Khuli Überall mit Recht
LischeU, Auf die Nachahmung von P. 429, 18 cons Latz {lAäz 6)
fiz Tinas wies Meyer selbst hin; es fragt sich nur, wie der Pleier
dazu kam, Latz (Liäz) durch LiscJieit zu ersetzen. Und da zweifle
ich keinen Augenblick, daß er den nur einmal vorkommenden L&iz
verwechselte mit dem im P. eine nicht unwichtige Rolle spielenden
Lischois (ßwelljus) (507. 536. 538. 541. 542 u. s. w.).
Daß von den drei Gedichten des Pleiers der Garel, wie das
beste, auch das älteste sei, nahm Meyer S. 483 mit Recht an. Sei-
nen Ortlnden lassen sich eine Reihe Argumente formaler Natur hin-
zufügen, welche darthun, daß M. und T. einander näher als dem Q.
stehn. In letzterem begegnet die Konjunktion dtio^ durch den Reim
geschlitzt, nur einmal, sonst immer dfo, während der M. 9, der T. 4
duo neben dö aufweist. Das Epitheton Mchjehorn findet sich nur im
G., der M. und der T. kennen bloß wolgehorn (18, resp. 21 Mal),
welches an 4 Stellen des G. ebenfalls zu lesen ist. Im G. steht das
Adjektiv stolz 10 Mal mit gemeit verbunden, 7 Mal allein, während
es im M. nur ein einziges Mal, ohne gemeit, erscheint, und im T.
gänzlich fehlt. Die Partikel sän neben sa hat G. 5 Mal, der M. und
T. je 19 und 16 Mal. Aber es fragt sich nun, ob der M. oder der
T. frtther entstanden sei. Meyer entschied sich S. 484 für die letz-
tere Alternative; er sagt: 'der Meleranz scheint nach dem ernsten,
tiber die Abnahme guter Dinge klagenden Eingange von einem rei-
feren Manne verfaßt zu sein, der schon oftmals die Ehre des tüchti-
gen, die Schmach des schlechten gesehen hat, V. 86 — 90. Jetzt er-
wähnt er denn auch nicht nur Hartmann, sondern auch Wolfram
V. 106—109. Und auch mit dem verlorenen Umhang Bliggers von
Steinach scheint er sehr vertraut geworden zu sein. Sein Gedicht
widmet er nicht mehr der Geliebten, sondern als getriuwer dientere
V. 12785 dem Ritter Wtmar V. 12775'. Diese Gründe besagen we-
nig oder nichts. Der an dritter Stelle vorgebrachte wurde bereits
widerlegt ; der zweite kommt in Wegfall, wenn man erwägt, daß im
T. weder Hartmann noch Wolfram genannt wird, Wolfram aber dort
gerade stärker benutzt ist als in den beiden andern Erzählungen.
Dlis vierte Argument könnte nur etwas beweisen im Zusammenhange
806 Gott. gel. Adz. 1887. Nr. 21.
mit Meyers Hypothese über die Tersehiedene Entstehangszeit der
beiden Hälften des Tandareis ; weshalb ich ihr nicht beizutreten Ter-
mag, habe ich oben aaseinandergesetzt Denn warnm sollte niebt,
an sich betrachtet, ein Dichter sein frühestes Werk Niemandem, sein
zweites einem Bitter, das dritte erst seiner Dame zueignen? End-
lich die Einleitung des M. : um so triviale Gemeinplätze, die nament-
lich in der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts — ich erinnere an die
Spruchdichter — gewissermafien zum Motivenschatz der Poeten ge-
h()rten, vorzubringen, bedarf es gewiß keines gereifteren Alters oder
erheblicher Lebenserfahrungen. Ohne Mtthe konnte auch der Pleier
seinen Bedarf an Beflexionen dem sententiOsen Wirnt abborgen. Und
wirklich verwertete er den großen Monolog des Wig. V. 10245 ff.
für die Anfangspartie des M. , wie z. B. M. 23. 24 nü hai ee siA
verkeret gar : ie langer so hcßser jär =» Wig. 10265 f. diu gU hat
sich verwandelt gar ; ie lenger und lenger boseni diu jdr zeigt Oben-
drein hat Bartsch zu M. 36—93 angemerkt, daß die größere Hälfte di^
ses Einganges, zum Teil mit denselben Worten, schon im O. sich ▼01^
findet. Vielmehr bin ich, wiederum auf formelle Orfinde gesttttzt, d^
Ueberzeugung , daß der T. das letzte Werk des Fleiers darstellt, daß
wir also die Folge : G. M. T. zu statuieren haben. Denn nur im T. be-
gegnet das seltene Adj. vram (vgl. außer Heyers Gitat S. 490 noch
Alphart 325, 4, Albers Tundalus 631 vgl. 87» Ottes Barlaam 54) 3 Mal,
ebenso oft das Participadjektiv Jie^^emd^« (12991. 13005. 16763) neben
3 liehtgemdl (dies bei Wolfram sehr beliebte Adjektiv bieten G. and M.
je 1 Mal). Nur im T. geschieht das Abbrechen oder Wiederanknüpfen
der Erzählung gelegentlich in der 2. P. PI. bei dem Verbnm /oji,
während der Q. und der M. ausschließlich die 1. P. PI. oder Sg.
verwenden oder Konstruktionen mit der 3. P. Sg. gebrauchen. Ich
gebe die Beispiele aus allen 3 Gedichten vollständig; natttrlioh sehe
ich von derartigen einer Bomanfigur in den Mund gelegten Aus-
drücken ab. G. 1816 nü laee wir den rittet hie, 5465 Jne lasen wir
daz mtjere^ 4855 die rede wir nA Ideen, 4731 hie suln unr dise rede Jm,
Germ. 3, 35 hie suUn unr diz nusre län; 2774 der rede ich hie ge-
suAgen wü, 5193. G. Z. 546, 102 der rede ich nü gesuAgen tril;
4744 (= G. Z. 463, 266) der rede A nu hie genuac, 5136 diu rede
si nü laeen. — M. 94 Ai^ siH wir dise rede län^ 4133 nü sul wir
dise rede län^ 1515 die rede suln wir Wfen sin^ 11513 die rede läge
wir hie ^n, 2743 hie Idee wir den boten vam, 4109 hie laee wir die
maget Mar; 3600 da ich die äventiure lie^ da wU ich wider grifen an,
12786 nü wil ich an min nusre wider grifen, ddicheelie. — T. 1590.
5540. 17989. 18323 hie sul wir dise rede län, 14443. 15363 hie sul
wir die rede län, 13779 hie läge wir die rede ^n, 14242 die rede siA
Tandareis and Flordibel. Herausgegeben von Khali. 807
mr beliben Ian, 1437 nü Use wire beUben hie, 8301. 9668 nü läsen
das belfben hie, 7969 nü läse wir hdtben das, 15453 nü sule unr län
beUben das nuer von einer missetät, 3958 die maget sul wir läsen hie^
11746 hie sul mr die maget län, 11662 hie läse wir den werden de-
gen^ 13976 hie läse wir dm künec stn^ 12801 die Mnege läswirligen
hie un^ sagen; 156 hie wil ich dise rede län^ 11931 wolt iuch des
niht betragen y ich wolt das mcere läsen hie unt wolde iu sagen,
17056 ir essens wil ich gar gedagen unt sidn ein ander nuere sagen.
Daneben in der 2. P. PI. (und zwar in beiden Hälften des Qediehts) :
264 die rede lät ^n, ich wil iu sagen^ 2740. 10715. 13263 die rede
lät sin, Iwert was (wie) geschach, 4891. 13496 die rede lät Sin unt
hcßret hie, 15412 nü lät si^ ligen; vgl. aocb 655. 15817 nü hcert ein
ander nuere. Hit dieser Verwendung der 2. P. PI. ahmt der Pleier
speeifiseh ^) Wolframscbe Redeweise nach, vgl. die reichlichen Samm-
longen bei Förster a. a. 0. S. 32 f. — Der Dativ Sg. oder PI. süe
oder siten, von einer Praeposition regiert and mit einem davon ab-
hängigen Genetiv verbanden, also in umschreibender Funktion, findet
sich im Q. und M. nur je einmal (mit fröuden siten, nach vindes si-
ten), im T. hingegen 10 Mal (17735 mit fröuden siten, 11680. 11743
mit jämers siten, 9229. 10881 mit somes siten, 9280 mit somes site,
10338 üs sornes siteny 16598 mit sühten siten; 7311 nächhmfmannes
siten, 17112 nach ritters siten), und es überwiegen, wie man sieht,
die Genetive von Abstrakten. Gerade dies ist wieder Wolfram ab-
gelauscht^). Die Wolframschen Beispiele sind weder von Jänicke,
1) W&hrend n&mlich das Abbrechen oder Wiederanknüpfen der Rede in
1. P. Sg. oder PL das ganze 12. and 13. Jahrhundert hindurch so massenhaft
Torkommt, dafi eine Sammlung der Beispiele überflüssig erscheinen muS, lassen
sich die Fälle, in welchen die 2. P. Sg. oder PI. zur Verwendung gelangt, zählen :
in der ganzen poetischen Litteratur bis auf Eonrad von Würzburg und ihn ein-
begriffen begegnen viel weniger Fügungen dieser Art als bei dem einzigen Wolf-
ram. M. von Cräün 1177 nä Idzet dise rede varn, Bari. 294, 85 nü lät mich üz
dem mare kSren, ib. 298, 6 iä mich aber kSren wider an daz mare, H. von Krol-
witz 421 daz lät heliben an der stete, Mai 196, 27 nü lät dm knahen riten hie
und hasret. Ulrich v. Türheim, Willehalm (Lohmeyer S. 88, 859) nü lät sich daz
her telän. Dabei Verbindung von 2. mit 1. Person: Mai 9, 18 nü läze wir die
rede hie und haaret, Mariae Himmelfahrt (Zeitschr. f. d. Altertum Bd. 5) 428 nü
läzen wir virliben daz und virnemit vorhaz. Zu unterscheiden davon ist selbst-
verständlich der Gebrauch von lä, lät in der Bedeutung von 'angenommen, gesetzt
den Fall'. So Kaiserchr. D. 108, 26 lä zehenzec tüsent den Up verlorn hän, M.
von Gräün 1158 wan lät ez sin alse daz, Trist. 124, 28 nü diz läi allez sin getan,
besonders üblich im Wälschen Gast, z. B. 9388 nü lä dav er gelSret si, 11149.
11161. 11251. 11940 läi.
2) Es ist äin erheblicher Unterschied, ob der von site, siten abhängige Gene-
tiv einem Abstraktum oder einem Konkretum angehört. Beispiele von konkreten
Begriffen sind ziemlich häufig in der Litteratur des 18. Jahrhunderts, und nur
808 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 21.
Zeitscbr. f. d. Altertam 15, 160 noch von Kinzel, Zeitschr. f. d. Phil.
5f 32 vollständig gesammelt, ich vermisse bei letzterem: P. 264, 24
von smeiches süen, 309, 22 nach tavelrunder sUeny 313, 8 nach der
Franzoyser siten^ 778, 18 nach Franeoyser sUen^ 643, 8 ob minne
site, 657, 7 in eouhers süe^ Wh. 16, 12 n&ch der g&mane siten^ 30, 14
mit eOMe siten, 73, 28 /se jämers siten^ 457, 4 nach vAhes süen.
Daß mit der Annahme der Reihenfolge 6. H. T. das richtige
getroffen sei, wird weiter bewiesen durch die Beobachtung, daft ge-
wisse beliebte Epitheta in einem Verhältnis zunehmen, welches kei-
neswegs dem wachsenden Umfange der Gedichte entspricht. Setzen
wir runde Zahlen, so liegen vom 0. 9000 VV. gedruckt vor, der M.
enthält 12000, der T. 18000, es ergibt sich also die Proportion
3:4:6, und demgemäß mttßten sich die Epitheta — denn bei ihrer
Wahl verfährt wenigstens der Pleier ohne jede bewußte Absiebt oder
Ueberlegnng — in den 3 Gedichten, wären diese zu gleicher Zeit
oder unter gleichen Verhältnissen entstanden, verhalten. Aber es
steht anders. Im G. finde ich wert 210, im M. 382, im T. 639 Mal,
wert erJcant (eine acht Wolframsche Bildung, vgl. F()rster a. a. 0.
S. 10) im G. 22, im M. 51, im T. gar 105 Mal ; Mar begegnet im
G. 49, im M. 136, im T. 230 Mal, wolget&n im G. 11, im M. 70, im
T. 126 Mal. Bei unvereaget stellen sich die Zahlen so : G. 42, M 43,
T. 149, bei wolgeslaht: G. 1, M. 3, T. 10. Adjectiva auf -sam ver-
wenige Poeten enthalten sich dieser Fügungen g&nzlich : so Walther, Neidhart,
der Verfasser des Eraclius, Konrad v. FoSesbrunnen, Th. von Zirclaria, Hart-
mann im Iwein, die Dichter des Alphart, Ortntt, Wolfdietrich AB und der Kü-
drun. Freilich aus dem 12. Jahrhundert könnte ich nur namhaft machen Nfr.
Legendär 661 nä armer lüde $ide, Orendel 1029 nach ritter sü&n, und aus der
Scheide des 12. und 13. Jahrhunderts M. von Cräün 612 nach geseüecUehes tofbes
site sowie mehrere Stellen des Biterolf: 8113 näeh geaU aiten, 3270 nach der
valken nte, 6172 nach friunde» siten^ 6758 in friundee siten^ 11146 nach der kre-
heze 9ite\ 4790 nach siten des hovee dn, 11886 näeh site Hner Herren lanL An-
ders hingegen steht es mit den Genetiven von Abstraktis. Sehe ich von dem
ganz vereinzelten in zornes siten Bit. 8104 ab, so finden sich derartige Genetive
nur bei solchen Autoren, die entschieden jünger sind als Wolfram und diesen
kennen konnten oder nachweislich gekannt haben. Die bis auf Eonrads Zeit
von mir bemerkten Fälle sind, ungefähr in chronologischer Folge geordnet, fol-
gende : H. V. d. Türlin, Krone 6229 mit frVuden siten, 20489 nach fröuden siU,
16888 näeh leides site-, Ernst B 4209 nach freuden siten; R. v. Ems, G. Gerhard
5088. 56^8 mit freuden siten, 6750 mit urdrätzen siten, Bari. 378, 29 mä eg^s-
Hcher forhie site; ü. v. Lichtenstein 472, 29 nach tähte site; B. v. Holle, Deman-
tin 8471 nach der frouden site; Uebles Weib 118 in riuwen siten; Mai 169, 80
üz Zornes site ; K. v. Würzburg, Engelh. 369 nach miner hShen ISre site , Tumei
26 näeh siner tugende siten; Fortsetzer des Trojanerkrieges 41229 dur manUeker
iugende site^ 41487 mit frihtden siten, 46447 mit clagendes jämers siten, 48516.
48732 in (mit) vientliches zornes siten, 48722 durch des biUiches fuoges nU,
Tandareis und Flordibel. Herausgegeben von Kbull. 809
wendet der 0. 4, M. 8, T. 21. vol mit abhängigem Genetiv eines
AbBtrakts (tugende volj eren vol) kennen Q. und M. je 2 Mal, der T.
weist diese Figur 7 Mal auf. Man ersieht ans diesen Zahlen, was
die LektUre der Gedichte nur bestätigt, daß die Monotonie der Dar-
Stellung immer zunimmt, daß an die Stelle von wirklicher Schilde-
rung in wachsendem Maße leere Phrase tritt; der Pleier hat sich
eben schon in seinem G. ausgegeben und kann im M. und T. ledig-
lich das früher gesagte variieren. Dazu stimmt, daß die Anakolu-
thien oder die Verbindungen eines pluralischen Subjekts mit einem
Praedikat im Sg. stets sich mehren, alles Zeichen der Zusehens sa-
lopper werdenden Darstellung. Bei einzelnen anderen Epithetis läßt
sich eine Abnahme des Gebrauchs in gleichem Verhältnis, wie dies
bei jenem Wachstum der Fall war, konstatieren : edel erscheint im
G. 65 Mal, ebenso oft im M., 58 Mal im T.; für üeerkom sind die
Zahlen G. 20, M. 10, T. 13. Nur wenige Beiwörter entsprechen un-
gefähr derjenigen Norm, welche sich aus der Verszahl der Gedichte
ergeben würde: so her (16. 24. 42), die Adjektiva auf -hcere (17. 27.
37), auch lobeUch (12. 14. 17), hoch gelohet (13. 13. 23). Hingegen
die enorme Zunahme von curteis im T. darf wegen des Reimwortes
Tandareis nicht in Betracht gezogen werden.
Man wird von mir noch ein Wort über den philologischen Wert
von Ehulls Ausgabe erwarten, ein Urteil darüber, ob er das Ver-
hältnis der 3 Handschriften zu einander und zum Archetypus richtig
erkannt und ob er auf Grund dieser recensio dann auch eine metho-
dische emendatio des Textes vorgenommen hat. Ich muß bekennen,
daß ich abschließend darüber mich nicht zu äußern wage. Denn
leider ist der Variantenapparat dermaßen unübersichtlich, technisch
unbeholfen und im einzelnen unklar sowohl als fehlerhaft ausge-
fallen, daß jede Sicherheit der Nachprüfung fehlt. Zum Beweise
begnüge ich mich folgendes anzuführen: die Siglen für die verschie-
denen Codices sind nicht durch kursiven Druck von den Varianten
selbst abgehoben, und da für die Heidelberger Handschrift das Zei-
chen h gewählt ist, so entstehn zuweilen Zweifel, ob man es mit
dieser Abbreviatur oder mit einem abgekürzten Textwort zu thun
hat ; die Lücken eben dieses Manuskripts stehn in dem Apparat nicht
verzeichnet, sondern sind nur in den vorangeschickten Bemerkungen
über das Verhältnis der Handschriften notiert, so daß der Benutzer
jedesmal an zwei Orten nachschlagen muß; vielfach endlich stören
falsche Zahlen. S. 192 heißt es: 'die Verse 16326 f. 17429 f. 17903 f.
18053 f. sind in hH in verkehrter Ordnung überliefert, während sie
M in richtiger Folge liest'; aber sieht man den Apparat ein, so
findet man bei allen diesen Stellen (die letzte soll wohl 18052 f.
810 Gott. g;el. Ane. 1887. Nr. 21.
lanten) nur h yermerkt: welcher Angabe soll man algo trauen?
Ohne Einblick in die Handschriften selbst, bloß anf Ehulls Varian-j»
ton angewiesen, läßt sich somit die Richtigkeit oder Unricbtigkeir^
seiner Ansicht über die Ueberlieferang im allgemeinen nicht bear-
teilen; aber das ist mir darchaas klar, daß er die Handschrift b
stark unterschätzt, sie hätte viel öfter zur Korrektur von HM die-
nen können als es geschehen ist. Schon oben, als ich die Entleh-
nungen des Fleiers zusammenstellte, ergaben sich Stellen, an denen
h allein unzweifelhaft das ächte bot (s. 8994. 10159). Weitere möge
man einer kleinen Lese von Verbesserungen zu Ehulls Ausgabe ent-
nehmen, welche ich hier folgen lasse ^): 78. 79 wohl dem soUe ouch
bültch jse teü werden ein werdes toibes gruoe. 143 von. 332 (ähn-
lich 1612. 17399) schreibt Khull: mü manec rüter gemeity warum
dieser sonderbare Dativ und nicht manegem? 591 minie für minne,
1181 mir statt michj vgl. 1215. 1314 n. s. w. 1198 entweder
scheit ir mich niht oder ir scheu. 1682 vielleicht ein für sin. 1844
über statt itver. 2000 ist gegen Ueberlieferung und Sinn künde
in enhunde geändert. 2089 Punkt, 2090 Komma. 3303 dae man
vil wol verhuere mit h. 4947 im mit h. 5139 iuch. 5463 acte ee
mit h. 5895 erbluotä , wie H hat, vgl. G. Z. 521, 23 und Roe-
diger, Zeitschr. f. d. Altertum 26, 241. 6220 diu, 6238 swer,
6562 dien mit h; an der gleichartigen Stelle 5230 hatte Khull das
richtige eingesetzt, allerdings wühl nur, weil es dort der Reim ver-
langte. 6739 kiren. 7634 falls hier nicht die Lesart von h den
Vorzug verdient, so ist mindestens niender zu schreiben. 9925 taes.
12568 wohl zwei in, vgl. z. B. O. 2095. 12582 an. 12882 die.
13501 dorfte mit h. 13984 swenn. 14562 so wunderliche mit h, vgl.
M. 2256. G. 1728. Wig. 1327. 14780 diu. 15605 die. 16669 nahL
17467 das von allen Handschriften gebotene nusre war durchaus beizu-
behalten und nicht, unter Annahme eines gemeinsamen Fehlers, in nn-
mcere zu ändern. Denn bekanntlich fungiert dies Adjektiv als vox media.
Ich benutze diese Gelegenheit, um auch ein paar Emendationen
zum M. beizusteuern. 151 BSäcurs. 1057 wohl kam. 1114 muß
drein statt awein gelesen werden, es liegt also ein weiterer Fall des
Reims { : ei (vgl. Meyer S. 489; vor. Denn 1 103 ff. sind drei
Glocken, eine jede größer als die andere, genannt, und in der That
werden diese drei auch nach einander geläutet, s. V. 1143. 1149.
1403 ist Punkt, 1407 Komma zu setzen. 3276 1. sinen, denn Libyals
hat nur einen Knappen, wie V. 3593 zeigt. 4362 1. desn statt dem.
1) Am Schiasse seines Apparats hat Khull mehrüache Berichtigungen seines
Textes geliefert, andere aber verwies er, um es dem Leser recht unbequem zu
machen, unter die Varianten.
Geß, Christi Person und Werk. Abt. 8. 811
4810 neinä, lieben frouwen min^ vgl. T. 5078. G. 2968. 5792 hän ; dann
wäre im reflexivisch zu fassen. 6230 ruowen. 6564 eher wtgant, 6630
»^'und var swar im geväUe. 7186 1. werde ^ vgl. G. 3841. 4153. 5071.
T. 6796; die Zeile ist selbständiger Aasrnf. 8978 ^n gebiten. 9030
Pnnkt, 9032 Komma. 9276 und Jcomen in, 9778 stm schiüe man?
10644 t;on.^ 10694 $i. 11536 am nächsten liegt ^AuKen, vgl. T. 15416.
12658 bevulhen.
Erlangen. £. Steinmeyer.
GeB, W. F. , Dr. theol. und General-Superint. a. D., Christi Person and
Werk nach Christi Selbstzeugnis und den Zeugnissen der Apostel. Dritte
Abteilung. Basel, C. Detloffs Buchhandlung. 1887. XXVIII und 486 Seiten
in Oktav.
Die vorliegende dritte Abteilnng des Geßsehen Werkes enthält
die »dogmatisehe Verarbeitung des Zeugnisses Christi und der apo-
stolischen Zengnissec nnd bringt somit das Ganze zu dem von An-
fang an beabsichtigten Abschlnsse. Ein halbes Menschenalter hin-
durch hat der ehrwürdige Verfasser an diesem seinem Hauptwerke,
welchem manche wichtige Vorarbeiten vorangegangen waren, gear-
beitet. Zwischen der ersten und der zweiten, in diesen Anzeigen
(1879. St. 15) besprochenen Abteilang lagen etwa acht Jahre; nach
fast gleicher Zeit ist es ihm vergönnt, die letzte Abteilung zu ver-
öffentlichen. Mit dem Verfasser werden weite Leserkreise der Voll-
endung eines Werkes sich freuen, welches mit seinem frommen
Ernste, seiner gediegenen Gründlichkeit und seiner umsichtigen,
warmen Darstellung immer lehrreich, anregend, ja man kann sagen
erbaulich anspricht, auch wenn Anlaß zu Zweifel und zu Widerspruch
gefunden wird.
Es ist nicht leicht, einen kurzen Ueberblick über den reichen
Inhalt des Buches zu geben-, die bloße Anführung der Hauptüber-
scbriften gewährt keine rechte Anschauung von der lebensvollen,
gelegentlich auch polemischen Verhandlung. Der Verfasser ist sich
wohl bewußt und spricht es wiederholt aus, daß er jetzt eine andere
Aufgabe zu lösen hat, als ihm bei den ersten Abteilungen seines
Werkes vorlag. Der in Betracht kommende Offenbarnngsgehalt —
denn nur unter diesem Gesichtspunkte versteht er mit Recht den zu
bearbeitenden Lehrstoff — war früher historisch, nämlich biblisch-
theologisch, darzustellen ; jetzt aber handelt es sich um eine dogma-
tische, um eine systematische Verarbeitung. Diese letztere gründet
812 Oöte. gel. Anz. 1887. Nr. 21.
sich überall auf die frflher gewonnenen bibliseh-theologischen Er-
gebnisse. Liegt hierin einerseits ein wesentlicher Vorteil, die sichere
FandamcnticFQDg von dogmatischen Aufstellangen, so ist auch ande-
rerseits nicht zu verkenneDy daß die jetzt zu gebende dogmatische
Erörterung sehr oft zu weit in das biblisch-theologische zurückgreift
und Wiederholungen aus den ersten Abteilungen bietet Dazu kom-
men an manchen Wendepunkten mehr oder weniger ausfQhrliche,
mitunter in längere Anmerkungen verwiesene Auseinandersetzungen
mit andern Gelehrten, insbesondere mit Ritschi, so daß es nicht im-
mer leicht ist, das dogmatische Ergebnis des Verfassers sicher zu
erfassen.
Der Aufriß des vorliegenden Werkes ist dieser. Nachdem in
»einleitenden Bemerkungen« (S. 1 — 7) die systematisch-dogmatische
Art der jetzt vorliegenden Aufgabe festgestellt und erörtert ist,
warum es zweckmäßig sei, zuerst von dem Werke Christi, dann erst
von seiner Person zu handeln, folgen die beiden Bücher von dem
Werke (S. 8-- 234) und von der Person Christi (S. 235-481). End-
lich finden wir (S. 482 — 486) Schlnßbemerkungen, welche eine kurze
Znsammenfassung der Lehre von der Person Christi und einen Rück-
blick auf die dogmatische Art der Darstellung bringen, wobei kurz
erörtert wird, in welchem Sinne die Dogmatik spekulativ sein solle.
Wenn der Verfasser mit dem Werke Christi beginnt, so hat er
dabei die Meinung, daß von dem Werke aus die richtige Würdigung
der Person sich ergebe. Ich wüßte nicht, warum man ihm diesen
Gang wehren wollte ; immerhin aber begegnen uns bei ihm Ausfüh-
rungen, die an das mindestens gleiche Hecht der üblichen umgekehr-
ten Ordnung erinnern, insbesondere sogleich im Anfange, wo von
dem »Wirken Christi auf sich selbstc, das beißt doch von seinem
Personleben die Bede ist. Das erste Buch zerfällt nämlich in die
fünf Abschnitte, welche »Christi Wirken in den Fleischestagen«
(S. 10—145), »zwischen Tod und Auferstehung« (S. 146--152), »zwi-
schen Auferstehung und Himmelfahrt« (S. 152 — 156), »zwischen Him-
melfahrt und Wiederkunft« (S. 157—203), endlich seine »Wieder-
kunft« (S. 204—229) behandeln. Der erste Abschnitt hat wiederum
drei mit besondern Ueberschriften versehene Kapitel, nämlich:
»Christi Wirken auf sich selbst« (S. 10—43), »sein Offenbaren des
Vaters an die Welt« (S. 43 — 63) und sein sühnendes Eintreten iUr
die Welt bei dem Vater« (S. 64—145). — Es mag sich empfehlen,
um die Eigenart des Verfassers einigermaßen kenntlich zu machen,
hier sogleich auch einen Ueberblick über die Disposition des zwei-
ten Buches zu geben. Der erste der hier sich findenden elf Ab-
schnitte erörtert die Gottessohnschaft Jesu als den Schlüssel zum
Qeß, Christi Person und Werk. Abt. 8. 813
Verständnis seines Werkes. Die parallele Ueberscbrift lautet indes-
sen: idas Problem, welches sich ergibt aus dem Satze: der Mensch
Jesus ist der Sohn Gottes« (S. 235 — 254). Die beiden folgenden
Abschnitte (S. 254. S. 306) bringen Auseinandersetzungen mit an-
dern Aufstellungen (Schleiermacher, Kitschl , Dorner u. A.). Der
4. Abschnitt (S. 324) dient zur Hinstellung des Problems, »welches
sich aus der persönlichen Identität Jesu und des Logos ergibt«. Der
Lösung des Problems sind die folgenden Abschnitte gewidmet. Im
5. Abschnitt (S. 327 — 337) werden zunächst die Versuche der kirch-
lichen Dogmatiker, die auf der Unveränderlichkeit des Logos beruhen,
zurückgewiesen. Der 6. Abschnitt (S. 337 — 343) richtet sich gegen
Dorners Anschauung von einer allmählichen Vereinigung des Logos
mit dem Menschen Jesus. Den Kern der Geßschen Vorstellung von
der Kenosis enthalten dann die übrigen Abschnitte, zunächst der
siebente, »die Entherrlichung des Logos« (S. 344—366), mit welchem
aber die folgenden Abschnitte in Verbindung zu halten sind: 8.
(S. 367—399) »die Entwickelung des Sohnes auf Erden«; 9. {S.4O0
—413) »die Verherrlichung des Sohnes mit der zuvor gehabten Herr-
lichkeit« ; 10. (S. 413—437) »die Congruenz von Christi Werk und
Person«; 11. (S. 437-441) »die Ghristologie und der Gottesbegriff«.
Wenn ich dieser Inhaltsangabe einige beurteilende Bemerkungen,
welche meiner abweichenden Anschauung Ausdruck verleihen mö-
gen, hinzufüge, so beabsichtige ich keineswegs, das vorhin im All-
gemeinen ausgesprochene Lob einzuschränken; aber es finden sich
so mancherlei Aufstellungen bei dem verehrten Verfasser, die den
Widerspruch, insbesondere auch von dem mit Recht ihm selbst als
maSgebend geltenden biblischen Standpunkte aus, hervorrufen müs-
sen, daß ich die folgenden Bedenken nicht zurückhalten mag.
Die bedenklichen Aufstellungen des Verfassers liegen alle, oder
doch nahezu alle, auf Einer Linie, nämlich in dem Zusammenhange
mit seiner Anschauung von der Kenosis, der Entherrlichung des Lo-
gos, welcher Mensch wird. Bevor wir aber diesen Hauptpunkt ge-
nauer ins Auge fassen, mögen einige verhältnismäßig untergeordnete
und mit jener Grundanschauung nur mehr oder weniger zusammen-
hängende Aussagen erwähnt werden.
Am Fernsten von dem Mittelpunkte der GeBschen Theologumena,
und am Fernsten von der sichern biblischen Bezeugung, liegen einige
eschatologische Aufstellungen , denen ich zunächst widersprechen
möchte. Von denen, welche im Weltgerichte verworfen werden, weil
ihre Namen nicht in dem Buche des Lebens, sondern »in den Bü-
chern des Todes« (S. 216) geschrieben befunden werden, urteilt der
Verfasser S. 238 (»vielleicht«) vermutungsweise, aber S. 444 zuver*
814 Qött. gel. Ans. 1887. Nr. 21.
sichtlicber, daß sie, weil das Böse sich selbst verzehrt nod weil Gott
alles in allem sein werde, dem allmählicben Erlöschen, der vöUigeD
VerDichtuDg, entgegen gehn. Dies ist zweifellos wider die hellsten
Aassagen der Schrift, auch der Apokalypse, und wider das Bekennt-
nis der Kirche. Von Büchern des Todes zu reden wollen wir lathe-
rische Theologen uns doch ernstlich hüten. Das gibt die Vorstellang
von einem decretom, von welchem aach in der Apokalypse nicht die
Bede ist; denn hier finden wir nur Bücher, in denen der Wandel
der Menschen aufgezeichnet ist, und ein Buch des Lebens, aber kein
Buch des Todes. DaB aber der Apostel Paulas seiner 1 Cor. 15, 28
ausgesprochenen Anschauung die von dem Verfasser bezeichnete
Folge gegeben habe, wird dieser selbst schwerlich annehmen. —
Liegt aber bei dieser Vorstellung von 6eß, und von andern Theolo-
gen, eine gewisse ethische Baison zu Gründe, so begegnet uns eine
andere eschatologische Meinung, bei welcher ich meinesteils den
Grund und Boden aller Ethik verliere, wie ich hier denn aach die
biblische Begründung durchaus vermisse. Ich gestehe, daB mir dies
um so empfindlicher ist, als der Verfasser bei seinen wesentlich dogma-
tisch gerichteten Erörterungen nicht selten zu feinen ethischen Be-
merkungen, die auch einen Blick in seine pastorale Erfahrung tbnn
lassen, geführt wird. Aus der Apokalypse nimmt der Verf. eine
feste dogmatische Lehre vom 1000jährigen Beiche; aber nicht das
allein, sondern er entwickelt nun diese Vorstellung in folgender
Weise. Nach der Parusie des Herrn, bei welcher er seine Gläubi-
gen zu sich nehmen und in seine Herrlichkeit einführen wird, »geht
auf der Erde während der 1000 Jahre das Leben in irdischer Weise
forte (S. 215). Das 1000jährige Beich ist nämlich »die Bereitang
zur vollen Freiheit der Entscheidung für alle die, welche vom End-
gericht auf Erden lebend getroffen wordene (S. 229). Die Unent-
schiedenen, die Lauen, die Weltkinder, welche von Christo und sei-
nem Heile nichts haben wissen wollen, sehen mit ihren leiblichen
Augen seine Wiederkunft vom Himmel und die Verherrlichung der
Gläubigen in der ersten Auferstehung, dem Beginn des lOOOjäbrigen
Keiohes. Viele werden durch diese erstaunliche Erfahrung zum Glaa-
ben gebracht; bei vielen Andern aber verschwindet während der
1000 Jahre der gewaltige Eindruck der Parusie; sie beharren in
ihrem Weltleben, sie entscheiden sich definitiv wider Christum und
werden dann im Weltgerichte, am Ende der 1000 Jahre, verworfen.
Gog und Magog führen den letzten Ansturm der irdischen Menschen
»gegen die heilige Stadt« aus (S. 215). Dies vermag ich nicht als
dogmatisch anzuerkennen; ich achte es für phantastisch. Ein edles
Phantasiegebilde des Apokalyptikers ist in seiner poetischen SchOn*
Qel^, Christi Person and Werk. Abt 3. 815
faeit und in seinem poetischen Rechte verkannt, indem es nicht nur
ohne Weiteres für eine eigentliche > bestimmte Lehrofifenbarang an-
genommen, sondern auch in dieser Beziehung noch ausgearbeitet
und übertrieben ist. Wie ist denn das sittlicher Weise denkbar, daft
Menschen den Herrn selbst vom Himmel kommen sehen, dafi sie die
»heilige Stadt« mit ihren der ersten Auferstehung teilhaftigen Heili-
gen vor Augen haben und gleichwohl gleichgültig, feindlich bleiben ?
Und wie sollen denn 6og und Magog es anstellen, mit irdischen
Waffen Auferstandene anzugreifen? Man lasse doch dem Apoka-
lyptiker seine Poesie und seine Inkonsequenz, daft er 20, 8 noch
Völker im Dienste des Satans wider die Stadt der Heiligen ziehen
läftt, nachdem er 19, 18 ff. geschildert hat, wie schlechthin alle anti-
christlichen Erdbewohner vertilgt sind, aber man bleibe auf der Spur
unsrer alten Dogmatiker (vgl. Job. Gerhard), welche die apokalyp-
tischen Qebilde aus der Analogie der wirklich lehrenden Schrift ver-
standen haben.
Indessen alle diese Bedenken richten sich gegen Sachen, die in
der Peripherie liegen. Der entscheidende Mittelpunkt der Geftschen
Aufstellungen ist sein Theologumenon von der Kenosis, von der
»Entherrlichung« des Fleisch, d. h. Mensch werdenden göttlichen
Logos. Der ehrwürdige Verfasser vertritt seine Anschauung mit
vollster Ueberzeugnng, mit immer wiederholter Berufung auf die
ihm entscheidend scheinenden Schriftstellen, mit reger Polemik ge-
gen andere Vorstellungen, mit warmer Empfehlung fllr das System
der Dogmatik. Und doch kann ich nicht umhin, ihm auf das Ent-
schiedenste zu widersprechen, im Namen der Exegese, der Dogmatik
nnd der Ethik. Die Summe meiner Bedenken, in zwei oder drei
Worte gefaßt, kann ich von vorn berein aussprechen: Wie soll ich
mir einen Gott vorstellen, der auf sein Gottsein verzichtet? Ich
wttrde es nicht wagen, ttber die von dem ehrwtirdigen Verfasser mit
ernster Versenkung in die Sache ausgesprochene Ueberzeugnng, die
sich ihm in langjährigem Nachsinnen ergeben hat, zu urteilen, wenn
ich nicht mit ihm in dem Glauben an den gottmenschlichen Heiland
mich eins wfiftte. Unsere Anschauungen gehn auseinander, wenn
wir EU der Frage kommen, wie wir das Geheimnis des Glaubens
uns vorzustellen versuchen sollen. Die Geßsche Ansicht ist, so weit
sie in der Kürze dargelegt werden kann, die folgende. Aus den
immer wieder als maßgebend angerufenen Zeugnissen des Herrn
selbst und der Apostel in Job. I, 14, 16, 28. 17, 5. 2 Gor. 8, 9
nnd Phil. 2, 5 entnimmt der Verfasser seinen Satz von der >Ent-
berrlichungc des Logos bei der Menschwerdung. Hierunter versteht
pr die uiit Nachdruck als solche bezeichnete »Veränderung« der
816 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 21.
göttlichen Person des Logos — and der Trinität — daß der Logos
durch Verzichtleistang auf das göttliche Sichselbstsetzen in das Le-
ben des Gesetztseins, aos dem Sein in das Werden übergegangen
ist (S. 353. 379). Dieser Uebergang besagt, daß der vorirdische
Sohn seine Natur dem Vater übergeben habe, wie der sterbende
Heiland seinen Geist in des Vaters Hände befohlen hat; and kraft
der Menschwerdung »ruht nun die göttliche Natar des Sohnes inn
Schöße der Maria«, da wird »die Natur des fleischgewordenen Soh-
nes von dem Vater bewahrt« (S. 354). Jener Uebergang der Ent-
herrlichung bringt dann dies mit sich, daß der Menschgewordene im
Stande des irdischen, menschlich-sittlich sich entwickelnden Lebens
keine Erinnerung an seine vorweltliche Herrlichkeit hat -— er erfait
derartige Gedanken nur im Glauben (S. 387 f.), wie er durch Schlüsse
des Glaubens zur Erwartung seiner Wiederverherrlichung gelangt,
wobei aber nicht ausgeschlossen ist, daß »eine augenblickliche Er-
innerung an die vorirdische Herrlichkeit das Innere Jesa habe
durchblitzen können« (S. 389) — und ferner daß er anf die Macht
über den heiligen Geist und über die Welt verzichtet (S. 351. 401) ;
die Wunder thut er in der Macht des Vaters, der ihn erhört. Der
so entherrlichte Logos vertritt in der gottmenschlicheu Person Jesu
die menschliche Seele (S. 409 f.) — deren Vorhandensein jedoeh
S. 482 behauptet wird — und die so vorhandene Person geht in
einer wahrhaft geschichtlichen, sittlichen, sttndlosen Entwickelang der
Wiederverherrlichung entgegen. Die Versuchungen, welche (Hebr. 2, 18)
ausschließlich vom Leiden verstanden werden, sind immer neue Be-
währungen und Fortschritte zur erneaten Herrlichkeit In diese vrird
auch der Leib, »den er aus Maria angenommen hat« (S. 409) mit
erhoben, und zwar derart, daß auch der verklärte Leib des Herrn
»wohl räumlich« (S. 406) zu denken ist und daß, »wo leibliche Ver-
mittelang des Lebens ist, auch — Zeitiichkeit sein maß«, »obwohl
freilich die Aafeinanderfolge in blitzartiger Schnelligkeit erfolgen
wird« (S. 408).
In diesem kurzen Ueberblick, den ich hoffentlich mit aller Treae
gegeben habe, tritt die Geßsche Theorie frappanter hervor, als in
seiner eigenen Ausführung. Dies zu vermeiden, war aber unmöglich.
Darf ich nun mein Urteil beifügen und einigermaßen begründen, so
möchte ich zunächst nur im Vorbeigehn zwei verhältnismäßig we-
niger bedeutsame Punkte berühren. Die Einmengang der Bäom-
lichkeit and der Zeitliehkeit in die Verhältnisse des ewigen gött-
lichen Seins wird, auch wenn wir dabei die blitzartige Schnelligkeit
der Zeitfolge annehmen dürften, sich nicht empfehlen, and die Ver-
suchung des Herrn nur durch Leiden, welche in dieser Aasschließ*
GeB, Christi Person und Werk. 3. Abt. 817
lichkeit keineswegs im Hebräerbriefe ausgesagt wird, widerspricht
Dicht Dar aller Ethik, soDdern auch dem bestimmten Zeagois der
Schrift. Die Versachnogsgeschichte setzt eioe VersucfauDg zur Lust,
Dicht durch Leiden.
Aber was ist nun von der Hauptsache, der Kenosis, zu halten?
Was zuvörderst den Schriftbeweis anlangt, so sage ich ganz getrost,
daß ich außer Phil. 2 nicht eine einzige Stelle für unsern Zweck
zu verwenden weiß. Alle anderen Stellen sagen das Geheimnis ans
und stellen das große Problem vor uns hin; aber sie sagen nichts
über das Wie des Geheimnisses, nichts zur Lösung des Problems.
Die einzige Stelle aber, die uns hier leiten muß, Phil. 2, 5 ff., weist
uns nach meiner Ueberzeugung auf eine andere als die von Geß
betretene Bahn. In einem wichtigen Punkte stimme ich dem Ver-
fasser völlig bei, nämlich in der Meinung, daß die Aussage iavtdv
Mvmasv nicht von dem schon Mensch Gewordenen, sondern von dem
erst Mensch Werdenden zu verstehn sei ; dann aber gehn unsere
Ansichten auseinander. Die für mich dogmatisch und ethisch nicht
zu vollziehende Vorstellung , daß die göttliche Person des Sohnes
ihre göttliche Natur während des irdischen Lebens abgelegt habe,
kann ich in den apostolischen Worten nicht finden. Die sprach-
richtige Exegese gibt eine andere Anschauung. Nicht von einer
Veränderung oder Vertauschung der Natur oder des Wesens redet
der Apostel, sondern von einer Vertauschung der »Gestalte (f$0Q(pfi
^sov' f*oQg>^v dovXov) , von einer veränderten Weise und Form des
Seins. Was der Sohn, da er Mensch \i^ard, aufgab, was er nicht
wie einen Baub , dem Willen des Vaters zuwider , an sich raffen
wollte, das war das that Xtfa ^ea, d. h. die gottgleiche Art und
Weise des Seins, also das Festhalten der f*oc74 ^sav. Dies halte
ich für die sprachlich notwendige Exegese, und diese weist uns,
wenn wir einen Blick in das ktlndlich große Geheimnis thun wollen,
weit mehr auf den Standpunkt unserer alten Dogmatiker, als auf
den von Geß eingenommenen. In der Gestalt, in der Form, in der
Art und Weise eines Knechtes bat der Mensch Gewordene seine
göttliche Natur, sein göttliches Wesen behalten und erwiesen ; das
besagt das apostolische Zeugnis, nicht aber daß er sein Gottsein
abgelegt habe. Wie ich versucht, dies einigermaßen vorstellig zu
machen, habe ich im dritten Theile meiner apologetischen Beiträge
dargelegt. Soll ich mit der Stelle aus dem Philipperbriefe noch eine
andere, von dem Verfasser wiederholt angerufene Stelle (2. Cor. 8, 9)
vergleichen , so kann ich auch in dieser , so weit wir ihr überhaupt
eine Bestimmung entnehmen dürfen, keinenfalls die Geßsche Eenosis
finden. Angenommen — was mir aber durchaus nicht zweifellos
0«t». g«l. Ans. 1887. Hr. 21. 56
818 Gott. pel. Anz. 1887. Nr. 21.
ist — daß das nlova. wv ein Partie. Imperfecti, nicht PraesentiSy sei,
so ist im Sinne des Apostels der Uebergang aas dem göttlichen
Reichsein in das menschliche Armsein viel sicherer nach Maßgabe
von Phil. 2 zu verstehn, als im Geßschen Sinne. Aber die Stelle
spricht geradezu wider diesen Sinn, wenn das iSv^ wie z. B. 1 Cor.
9, 19, präsentisch gemeint ist, wenn als sachliche Parallele Job. 3,
23 (o iSv ir 1. ovQ.) angezogen werden darf, und wenn somit die
Anschauung sich ergibt, daß der in der armen Enechtgestalt im
irdischen Leben Wandelnde gleichwohl den Reichtum seiner gött-
lichen Natur unter jener armen Gestalt bewahrt und, seinem Hei-
landswerke entsprechend, auch erwiesen habe.
Hannover. Dr. Fr. Düsterdieck.
Th^veniu, Marcel, Collection de textes pour seryir k Petnde
et ä reDseignement de l'histoire. Textes relatifs aax institutions
privdes et publiques aux epoques m^rovingienne et caroüngienne. Institutions
privies. Paris, Alphonse Picard, ^diteur Libraire des Archives nationales
et de la Soci^t^ de T^cole des Chartes 82, Rue Bonaparte, 82 1887. V,
271 S. 8«.
Herr Thevenin hat sich an diesen Textaasgaben beteiligt, um
selbständiges Denken und eigenes Urteilen unter den Studierenden zu
fordern. Er bestimmt seine Arbeit sowohl für die, welche Geschichte,
als für die, welche die Rechtswissenschaft studieren, und erinnert
bezüglich der letzteren an da's Wort von Lavisse: »les etudiants en
droit comprendront de mieux en mienx que le droit, sans la con-
naissance du d6veIoppement historique, n'est qu^une Sorte de scola-
stique«. In den 180 Stücken, die er ans Formeln, Urkunden und
dem Polyptyque der Abtei Saint-Germain-des-Prös zusammengestellt
hat, führt er uns in einer Reihe anziehender Bilder das Priratrecht
und die Gerichtsordnung der ahen Zeit vor Augen. Nur in einer
Sammlung, die mit vollkommenem Verständnisse und mit großer Um-
sicht ausgewählt wurde, war es möglich, einen so reichen Inhalt zu
bieten, wie ihn ein Blick in das zwanzig Seiten umfassende Sach-
register kennen lehrt. Die Texte sind mit kurzen Inhaltsangaben
versehen und von sprachlichen und sachlichen, seltener von bibKo-
graphischen Anmerkungen begleitet.
Zwei Urkunden sind es, die unsere Aufmerksamkeit am meisten
in Anspruch nehmen. Die eine, Nr. 71, vom Jahre 834, ist 1875
bei Vaissete II, 186 f., 1877 im Cartulaire de Fontjoncouse Nr. 3,
Bulletin de la Commission archeologique et litt^raire de Narbonoe
I; 112 ff., und 1878 im Mubee des Archives d^partementaies Nr. ö
ThdveniOi Collection de textes pour servir ä VÜuäe et h Penseign. de I'hist. 819
S. 10 £f. gedrackt. Sie ist größerer Beachtang wert, als sie bisher
gefunden zu haben scheint. Cauvet hebt in dem angeführten Bulle-
tin I| 504 ff. hervor, daß sie ein Beispiel für einen weltlichen vice-
dominus gibt. Daß er hierbei Boretius, Gapit. I, 51, 19, wo sich
drei kircbliche und drei weltliche Beamte entsprechen, aus der Liste
der Anwendungsfalle streicht, ist gerechtfertigt, aber mit Unrecht läßt
er die vicedomini der Urkunden von 802, 821 und 852 bei Sohm,
Oerichtsverfassang I, 515 ausnahmslos dasselbe Schicksal teilen.
Th^venin, der die beiden letztgenannten Aufzeichnungen Nr. 68 und
88 gibt, bemerkt S. 110 Anm. 2 specieil von der zweiten, daß ihr
vicedominus ein Yicegraf ist. Der Sprachgebrauch läßt sich bis in
das achte Jahrhundert znrückverfolgen : 791 Vaissete 6d. 1875 II,
Sp. 85: coram vicedomino a M. comiie de Narbona misso. In dieser
Beziehung ist das Aktenstück demnach von geringerer Wichtigkeit,
als Cauvet glaubt. Sein Interesse liegt vielmehr in der Erzählung
über ein Gericht des Pfalzgrafen: dum Johannes ipsum viüare a
lone integritate abuisset per siAam adprisionefn, sie Ademares comis
eum mallavit quod ipse villares suus benefidus esse deb^at, in Aquis
palatii, ante Vuarangande, comiti palatii, vel ante GauselmOy Berane^
Giscafredo , Odilone et Ermengario comites seu etiam judices Xixilane,
Jonatan^ Vincentio et AngenaldOy qui erant ad tunc judices dominiciy
seu etiam Archibaldo notario et alios plures; et a tunc Johannes in
supra dictorum judicio sua dedit testitnonia (acht Zeugen) et sie testir
ficaverunt in supra dictorum judicio et serie condidones. Hoc jura-
verunt in ecclesia Saudi Martini cujus baselica sita est in Aguis pa-
latii et viderunt quando fuit ipse villares traditus ad Johanne per ma-
nus Sturmirni cofuiti. Waitz hat die Urkunde III, 397^ für den
vicedomimts und IV, 494* für die judices dominid benutzt, aber bei
dem Pfalzgrafengericht IV, 487 nicht berücksichtigt.
Die zweite Urkunde, die uns beschäftigt, Nr. 89 vom Jahre
857, ist die einzige ungedrnckte, die der Herr Verfasser aufgenom-
men hat. Er sagt hierüber S. III : »c'est la concession necessaire
au gofit exagere et iudiscret de Terudition de notre temps pour
„rinedit''; eile est süffisante, les quelques textes, non encore pnblies,
que j'ai recueillis n^ayant pas, pour un motif on un autre, la valeur
de ceux qui sont connus depuis longtemps, bien que souvent encore
mal compris; on peut gtre assure, en outre, de ne pas rencontrer,
dans les depots d'archives ou autres, de document qui, snr les insti-
tutions de cette epoque, apporte quelque chose de vraiment nou-
veauc. Durch die Veröffentlichung von Nr. 89 erfährt unsere
Kenntnis eine mehrfache Bereicherung. Wir lernen daraus, daß
der Abt von S. Martin zu Tours in seinem Territorium Gerichts-
820 Qött. gel. Adz. 1887. Nr. 21.
barkeit besaB. Dumque in stia pene omni dictione precipiefUe atque
compdlente ejus missi justitias facere studerent^ — - solche Aufträge er-
teilten bekanntlich auch königliche Beamte, s. z. B. Nr. 66 — pres-
biter quidam Ecclesie sancti Hispani ipsa ex dictione nomine NoSberim
presentiam Saramiani prepositi gregis heati Martini — adiens proda-
mäbat. Der Propst ist als Richter nmgeben von nobUes, zn deneB
nach den Unterschriften aach einige Kleriker gehören, and von eo-
loni. Diese beiden Gruppen geben die Urteile gemeinsam ab : judi-
catum est ibi a muUis nobilibus viris et colonis^ qui subter teneniur
inserti; judicio omnium qtii ibidem aderant; ei ab omnibtts judicalus
est et deliberatum ; judicio omnium ibidem residentium aique astantiim.
Daß die Urteiler hier und vorher (S. 122: omnes residentes et asta$h
tes) teils sitzen and teils stehn, könnte eine irrelevante Thatsache
za sein scheinen, wenn nicht einmal (S. 122) ansdrücklich gesagt
würde : sciscitatus a residentibus utrum testes ipsius potestoHs habere
potuisset. Die Unterscheidung zwischen Sitzenden und Stehenden
treffen wir wieder in Nr. 103 und 133. Vgl. ferner 887, Bruel, Re-
caeil des chartes de l'abbaye de Gluny I, 29 S. 35: in Masconis
civitatCj infra intus murum, ante domno Ramnulfo (comite) videntibus
Ulis sedentibus et stantibus^ cujus nomina vocantur^ es sind hier nicht
mehr als nenn Männer. Zahlreiche Placita bei Vaissete zeigen einen
umfangreichen Kreis von Sitzenden, z. B. 6d. 1875 II, 169 Sp. 346:
868 in Gegenwart von 6 judices^ 9 Anderen, 1 scyo vel aliorum ph-
rimorum bonorum hominum, qui in ipso judicio residä}ant\ 875
II, 187 Sp. 378: anwesend sind 6 judices, 3 sacerdotes^ 1 sajo
vel plures bonis hominibus, id est (8), seu et in presencia muUonm
bonorum hominum y qui in ipso judicio residebant Aehnlichen Fas-
sungen begegnen wir 874, 875 II, 185.189 Sp.373. 382; 918 V,43
Sp. 137 und sonst. Vergl. Zeitschrift der Savigny-Stiftung VP,54f.
Um die Art der Gerichtsbarkeit des Abtes zu bestimmen gewährt
die Urkunde keinen Anhalt. Schlagen wir die Immunitätsprivilegien
der Abtei nach, so haben wir nar die gewöhnliche negative Formn-
lierung vor uns, ohne daß durch einen Zusatz die Gerichtsbarkeit
ausdrücklich verliehen würde'). Wir müssen also erst das Dasein
der Immunitätsgerichtsbarkeit durch andere Mittel darthun, ehe wir
aus unserem Dokument für sie etwas gewinnen dürfen. Der Nach-
weis ist nicht so leicht, wie Beaudouin, der die Frage zuletzt be-
rührt hat^, vermeint. Er ist der Ansicht, daß die Formeln von
1) Siehe z. B. die Privilegien von 816, 828, 854 and 862, Bourass^ Carta-
laire de Corm^ry 6 S. 14 ff. (Mühlbacher 609), Gallia christiana XIY, 15 S. 22
und Bouquet VIU, 127. 173 S. 537. 576.
2) Nouvelle Eevue historique du droit fran^ais et stranger 1887 S. 500 f.
Th^venin, Collection de textes pour servir h T^tude et k Feaseiga. de I'iiist. 821
Angers für die merowingische Zeit genttgen, s. dagegen diese An-
zeigen 1886 S. 557 und Sehröder, Rechtsgeschichte 1887 S. 177 *).
Fttr das neunte Jahrhundert beruft er sich auf ein Eönigsdiplom,
das eine unbrauchbare Fälschung ist (MUhlbacher, Regesten Nr. 751),
sodann auf Ouärard, Polyptyque de Saint-Remi de Reims XVII, 127
S. 57 und auf eine Urkunde von 865 bei Vaissete 6d. 1875 II, 341 :
dort ist es ein staatliches Gesicht, hier eine kirchliche Versammlung.
Uebrigens sind Privilegien, die nicht bloß den Ausschluß der ordent-
lichen Richter betonen, sondern unmittelbar die Uebertragung der
Gerichtsbarkeit aussprechen, auf französischem Boden während des
neunten Jahrhunderts seltener als in Deutschland.
Es wäre immer noch besser gewesen , statt auf solche Beweise
1) Vergl. diese Anzeigen 1886 S. 657. Wenn Schröder, Rechtsgeschichte
8. 177 Anm. 120, mit Berufung auf Form. Turon. 89 ein Gericht der Kirche an-
nimmt, 80 kann der Grund doch wohl nur der sein, daß dort ein Gericht ante
ven§rabiUm virum stattfindet. Dieser Grund reicht nicht ans. Da die im vorigen
Jahrgang a. a. 0. angeführten Stellen nicht genügt haben, um die Hinfälligkeit
jenes Arguments darzuthun, so will ich weitere Beispiele vorlegen, aus denen er-
hellt, da£ Laien sehr häufig venerabiles genannt sind. Grafen heiEen venerabües
862 Mämoires de la Soci^tä des Antiquaires de POuest. Ann^e 1847. Nr. 6 S. 9.
903 Bruel a. a. 0. I, 81 S. 91. 918 Tardif, Monuments historiques Nr. 229
S. 148 {marchio). 1079 Hennebert, Histoire g^n^rale de la province d'Artois
I, 385. 1108 Paris, Histoire de Tabbaye d*Avenay H, 78. 1116 Gn^rard,
Gartulaire de Saint-Victor U, 806 S. 155. um 1170 Bouquet XH, 374.
1194 Lalore, Collection des principaux cartulaires du diocöse de Troyes II, 88
S. 101. 1200 M^moires de la Socidt^ de l'Aube XXYIU S. 292. 1202 Upi-
nois et Merlet, Gartulaire de Notre-Dame de Ghartres II, 159 S. 21. Odo
schrieb 1058 eine Vita domini Bnrchardi venerabilis comitis, in welcher er
c. 4. 9, Bouquet X, 858. 356, den Grafen, c. 13 S. 859 die Gräfin venerabi-
lis nennt und zur Abwechslung c. 2. 6. 7. 10 S. 851. 852. 354. 356 veneran-
dtu gebraucht. — Gräfinnen sind oft venerabiles, so 1040 Bouquet XI, 506. 1107
Mabille, Gartulaire de Marmoutier 1874 Nr. 78 S. 71. 1117 Viellard, Documents
et memoire pour servir k Thistoire du territoire de Beifort 1884 Nr. 140 S. 190. c.
1009-1200 Gallia Christiana Xim, 345. 495. 518. 525. 564. XIYb,64. 159 (ducissa).
Die vorige Urkunde von 1200. ~ Mitglieder eines Königshauses sind venerabiU$^
z. B. Mämoires de PAcadämie des inscriptions et belles-lettres XXXII, 1 S. 107
(9. Jahrb.). 1162 Deladreue, Histoire de Tabbaye de Lannoy 1881 Nr. 26 S.168.
Willelmi Gemeticensis Hist. Normann. cont. YUI, 10, Bouquet XII, 572. — Der
Ausdruck ist noch weiterer Anwendung fähig. 943 Marchegay et Salmon, Ghro-
niques des comtes d'Anjou 1856 — 1871 S. GVIII: als ein Abt seine Urkunde ,/f<l8^«
mo«, venerabiUs quidem viros, firmare rogavit, erscheinen sechs comüe$ und drei
vasalli dominiei. Gegen 1186 bei Deladreue a. a. 0. Nr. 8 S. 142 heiSt der
Herr von Bretueil venerabilis. Eine fromme, vornehme Frau ist venerabilis Aca-
d^mie imperiale de Savoie. Documents U, 2 S. 9 (10. Jahrb.?). 1147 Gallia
Christiana XIÜ^, 502. — Ich habe keine älteren Stellen mitzuteilen, weil ich die
älteren Quellen hierftir nicht nachgelesen habe.
822 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 21.
sich za stutzen den Umstand geltend za machen, daß das Immnni-
tätsprivileg eine unmittelbare Stellang unter dem König gewährte»
So spricht es z. B. besonders deutlich die dritte Formel in der Col-
lectio Sangallensis, Zenmer S. 398, aus und desgleichen Pippin, der,
nachdem er 743 die Immunität der Kirche von Mäcon bestätigt
hatte, die Erklärung abgab : hoc absque ullius honnnis coniradictione
teneant prefer tantum sub jussioneni domni regis et episcapi consir-
stant^ Ragut, Gartulaire de Saint-Vincent de M&con 1864 Nr. 66.
67 S. 53. 55. In der Urkunde für das Kloster Aniane von 792
folgt auf die negative Fassung der Satz : sed ipsum sanctum loeum
sub nostra defensione atque dominatione volumus constare^ Vaissete
ed. 1875 II, 53 (Mühlbacher 309).
Auch für die Treupflicht bringt unsere Urkunde eine bedeutsame
Notiz. Colonen der Abtei werden von dem Propst bei einer Aus-
sage auf die fidelitas, die sie dem Abte schulden, vereidigt Es er-
hellt nicht, ob sie früher ihre Treue hatten beschwören müssen.
Möglich scheint es nach Hincmar, opera II, 835, der sich über eine
Stelle des von ihm dem Könige geleisteten Eides so äußert: quod
scripsit scriba doctus: secundum meum ministerium in otnnibus scUicet
fidelis et obediens et adjutor era, contra consuetudinem juramenti^ quod
principes et domini suis subjectis et etiam servis jurare jubent^ ad-
scripsit.
Zum Schluß sei es mir gestattet auf die erste Anmerkung S. 24
einzugebn. Tli^venin faßt den gasindus bei Marculf II, 36 als einen
freien Dienstmann auf und sagt, gasindus sei mit amicus übersetzt
worden. Zur Begründung der nämlichen Ansicht hat Brunner,
Mithio und Sperantes, in der Festgabe für Beseler 1885 S. 4, an-
läßlich Marculfs I, 23 darauf hingewiesen, daß die Gefolgsleute im
Heliand wini heißen und der Beowulf den Gefolgsherrn winedryhten ')
nennt. Karolingische Diplome für das Kloster Saint-Galais im Gau
von Le Mans aus den Jahren 760, 771, 779 und Fälschungen des
neunten Jahrhunderts für dasselbe Kloster stellen amid, gasindi^
suscepti neben einander, als ob es Leute wären, die nach Innen in
verschiedenen Verhältnissen stünden *). Der Ausdruck amicus im
Sinne eines freien Dieners ist früh verschollen und etwa gleichzeitig
mit ihm gasindus aus der fränkischen Sprache verschwunden').
1) Jacob Grimm erklärt toinedryhten mit amicus dominus, Andreas und Elene
1840 S. XXXVII.
2) Bei Hayet, Questions märovingiennes IV, 73. 77. 78, die Fälschanj^
S. 64. 65. 66, Bibiioth^que de T^cole des Chartes XLVUI, 223. 227. 228; 214.
215. 216.
3) Marculf, add. 2 S. 111. Carta Senonica 28. 36. Gollectio FlaYiniao»!-
sis 44. Mühlbacher, Regesten Nr. 60. 74.
Th^veoin, Collection de textes poar scmr fi Tctude et k Tenseign. de Vhisi. 823
Die Entscheidang, ob amictis auf einen altfränkischen oder ob es
nicht vielmehr auf einen gallisch-römischen Dienstvertrag hinweist^
scheint mir in erster Linie davon abhängig, ob vornehme Diener
von Gallo-Römern zu einer Zeit als amm bezeichnet werden, wo
der germanische Gefolgsmann in diese Kreise noch nicht wohl vor-
gedrungen sein kann. Diese amici würden einen Bestandteil der
einheimischen Dienerschaft bilden , welche Paullinus Pell., Euchar.
435 — 437, herausg. von Leipziger 1858 S. 32, schildert:
cum mihi laeta domus maguis floreret abundans
deliciis, nee pomp a minor polieret honoris
instructa obsequiis et turbis fulta clientum.
Vor der fränkischen Eroberung ist der Ausdruck amictis für
einen Diener in Gallien schwerlich beglaubigt. Den quellenmäßigen
Beweis, den man dafür in Epist IV, 9 § 1 (S. 61 ed. Luetjohann)
des Sidonius hat finden wollen ^) : servi utües {rustici morigeri^ ur-
bani amid) oboedientes patronoqtie contenti; mensa non minus pascens
hospüefn qtuim cliefiiem, diesen Beweis wird man, wie ich in den
vorliegenden Anzeigen 1886 S. 571 bemerkt habe, fallen lassen müs-
sen, weil hier amicus keine Dienstklasse bedeutet, die ja mit der
Stadt nichts zu thnn haben würde. Dafür hatte ich a. a. 0. auf
Berichte Gregors aufmerksam gemacht , in denen amid im Dienste
von Gallo-Römern stehn. Da nun Fustel de Coulanges, Revue des
questions historiques XLI, 30 gegen Monod, Revue historique XXXI,
282, der die amid bei Gregor VII, 47 für freie dienten erklärt
hatte, die Bemerkung macht: »je serais assez porte k croire que,
dans Gr^oire de Tours notemment, il (amicus) ne signifie pas autre
chose que amis«, so führe ich noch ein paar Stellen an , die meines
Erachtens den Gegenbeweis erbringen. Gregor erzählt von sich
virtnt. s. Martini I, 32 S. 604: iter cum mds arripio — corrui —
tunc accedentes amidj videntes me välde lassum, dicebant: Revertamur
ad propria. Die amid sind also sui des Bischofs wie z. B. bist.
Franc. VIII, 31 S. 347. Der Galienus, amicus noster, das. V, 49
S. 240, mag in einem solchen Herrschaftsverhältnis gestanden haben.
Zum deutlichen Beweis gereicht hist. Franc. III, 35. Siacrius geht
nach Flenrey-sur-Ouche, um Sirivald zu ermorden, egressoque domo
uno aniicorum^ putantes, ipsum Sirivaldum esse, interfecerunt cum. —
indicat eis unus ex famüia, non eos dominum interfedsse, sed std>di-
tum. Der amicus ist ein Untergebener, der Dienste zu leisten hatte,
und nicht ein Freund. Gregor , welcher puer^ famtduSj serviens für
1) Auch von Sybel, Eönigthum. 2. AniL 1881. B. 445. 448. 466.
82^ Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 21.
die unfreie Dienerscbaft gebrauchte ^), hat ftlr den freien DieuBtmann
amicus angewendet, auch fbr denjenigen, den Gallo-Römer wie er
selbst besaßen '). Diese abhängigen Leute können daher nicht wohl
sämtlich auf das germanische Gefolge zurückgeführt werden.
In späteren Urkunden treffen wir hin und wieder auf eine Ver-
wendung des Wortes amicus, die dem Gebrauch in der fränkischen
Zeit verwandt scheinen könnte. So erklärte der Graf von Savoyen
1220: predpimtis universis casteüanis et amicis nostriSf ut eos cum
rebus et familia eorum et appendiciis ex parte nostra manuteneant
et defendant eundo et redeundo per comitatum et districtum nostrum.
Der Graf von Albon wurde 1223 gebeten, den Befehl zu erlassen :
si quin eis injuria inferiretur ab äliquo infra districtum meum, mei
baroneSj bajuUi, castellani, prepositi et amici postquam scirent esse
factam injuriam ut meam propriam actores injurie compdlereni emen-
dare '). Daß indes diese amici nicht die des alten Rechts sind, wird
leicht zu erweisen sein.
1) S. z. B. Hist. Franc. V, 8. VI, 17; Yirt. s. Juliani {c. 16. 17; virt. 6.
Martini IV, 7 ; vitae patr. YIII, 8. Yergl. Roth, Beneficialwesen S. 153 ff.
2) Die Stellen bei Roth a. a. 0. S. 160 Anm. 215 fallen wohl weniger ins
Gewicht als das von Waitz n, 1, 257 Anm. 3 citierte Testament des Bertram-
nas vom Jahre 616, Gallia Christiana XIV, 6 Sp. 105. 118. In demselben ist
Sp. 105 die Rede von amicis aut servientibus, tarn sanctae ecclesiae quam et
meis propriis, und einzelne von diesen werden Sp. 118 namhaft gemacht.
3) Beide Urkunden im Gartulaire de Tabbaye de Notre-Dame et Saint- Jean-
Baptiste de Ghalais publ. p. Pilot de Thorey 1879 Nr. 38. 39 S. 66 f. 67 f.
Marburg a. L. W. Sickel.
Fftr die Bedftktion Tenmtvortlieh : Prof. Dr. BtehUl, Direktor der Oött. gel. Abs.,
Aweeeor der Königlichen Geeellscliafk der WiisenMiiftften.
Vtrioff d$r DkUricKUhm Ymiaot'BuaümiiUmg.
DmOs d4r Diti$Heh'9ehiH ümi%,'Buehdr%Lekmt§i (Fr, F. racdNA*;.
NOV 23 1887 j
Göttingische
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der Königl Gesellschaft der Wissenschaften.
Nr. 22. 1. November 1887.
Preis des Jahrganges : JH 24 (mit den »Nachrichten d. k. G. d. Wiss.c : JH 27).
^^ Preis der einzelnen Nummer nach Anzahl der Bogen: der Bogen 50 ^
Inhalt : 8 o 1 1 ft n , Prolegomena sn einer römiscben Chronologie. Ton Nüss. — 8 1 & 11 n , Oe-
Bckloht« Wttrtfcemberge. 1. Bd. 9. H&lfte. Tom Yrnfantir. — Joachim, Die Entwicklang des Rhein-
bimdes rom Jahre 1668. Ton KnbB. — Upsala LikarefÖrenings Förhandlingar. XXtl. Ton S^umann,
= EigoiiiiiXchtigor Abdruck von Artikeln der G6tt. gel. Anzeigen verboten. =
Soltau, Wilhelm, Prolegomena zu einer römischen Chronologie
Berlin 1886. R. Gaertner. YIII und 168 S. 8^ [Historische Untersuchun-
gen herausgegeben Ton J. Jastrow. Heft UTj.
In der letzten Zeit ist die römiBche Chronologie, besonders die
Frage nach dem Gange des älteren Kalenders und nach dem Ur-
sprange und der Begründung der älteren Zeitrechnung, Tielfach be-
handelt worden ; nach Mommsen sind in kurzer Folge Unger, Matzat,
Franke! , Holzapfel und Seeck daran thätig gewesen. In dieser Er-
örterung ergreift nun auch Soltau das Wort mit seinen Prolegomena
oder besser Beiträgen zu einer römischen Chronologie, durch die er,
wie er im Anfangskapitel erklärt, den Ornnd zu einer Verständigong
der streitenden Meinungen zu legen hofft.
Die Untersuchung beginnt cap. H mit der Flaviosinschrift. Zu*
erst wird nachgewiesen, daß die Aedilen am 1. März ihr Amt an-
zutreten pflegten und daft Cn. Flavius im Jahre 449 der Stadt, 305
y. Chr. (nicht wie bei Livius 304 y. Chr.) seine berühmte Aedilität
bekleidete. Die Inschrift seines Monuments, gesetzt 204 J. nach
der Weihe des capitolinisoheu Tempels, rechnet also yarronisch;
denn diese Aera der Tempelweihe beginnt nach Soltau ein Jahr spä-
ter als die, welche yon der Vertreibung der Könige rechnet. Ebenso
rechnet das sogen. Censorenprotokoll (Dionys. I 74). Da diese äl-
testen Zeitangaben also yarronisch zählen, so mttssen sie sowohl
die Diktatoren-, wie die Anarchiejahre kennen.
GMt. fol Aas. 1887. Nr. ». 57
826 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 22.
Die hier vorgetragene Beweisführung hat jedoch ihre Mängel.
Zuerst ist darchaus nicht erwiesen, daß die Aedilen am die Zeit des
Flavins am 1. März antraten. Es fällt ferner anf, daß Diodors
Nachricht, der Flavins' Aedilität mit der Gensnr des Ap. Clandius
verbindet, nicht einmal erwähnt wird, während doch auch Soltaa
Diodors Ueberlieferung für verhältnismäßig alt ansieht Ein sehr
bedenkliches Ansknnftsmittel ist die Unterscheidnng der Aeren der
Tempelweihe und der Vertreibung der Könige, da diese aller Wahr-
scheinlichkeit nach gleichbedeutend sind; die letztere Benennung ist
die jüngere und hat sich an die Stelle der ersteren gesetzt Da0
die Tempelweibe am Ende des ersten Konsulatsjahres stattgefunden
habe, ist der Erzählung der späteren Annalen entnommen and als
gänzlich unverbürgt anzusehen. Was endlich das GensorenprotokoU
angeht, so ist dasselbe mit nichten eine Urkunde ans der Zeit des
gallischen Brandes, sondern ein Schriftstellerzeugnis etwa aas der
Zeit Varros, das für die ältere römische Chronologie gar keine Be-
deutung hat
Die Diktatorenjahre, die Soltau also schon in den ältesten Mo-
numenten findet, werden im 3. Kapitel weiter behandelt. Er glaabt
nach lingers Vorgang zwei derselben auch bei Diodor, zwar nicht
in den Fasten, wohl aber XIX 10 und XX 101 in der Angabe der
Dauer der Samniterkriege zu finden , wie sie auch von Cicero be-
kanntlich früher übergangen, später mitgerechnet werden; ebenso
finden sie sich in einigen andern älteren Zeitbestimmungen einge-
rechnet und zwar als ganze volle Jahre. Da sie also in den älte-
sten Rechnungen vorhanden sind, in den späteren Chroniken aber
verschwunden, so wirft der Verf. die Frage auf, warum sie unter-
drückt seien. Die Antwort lautet (p. 38 f.) : mit Rücksicht auf den
Synchronismus des Gallierbrandes mit dem Antalkidischen Frieden
haben kundige Männer des 2. Jahrb. die Theorie aufgestellt, daß
die römische Liste vier Stellen zu viel habe. Diese vier Stellen za
entfernen sei zwar ein älterer ehrenwerter Annalist nicht fähig ge-
wesen, wohl aber sei es durch eine mit dem Abschluß der annates
maximi verbundene Fastenreduktion um 130 v. Chr. geschehen.
Hier hat der Verf. im besten Falle nur bewiesen, daft die Sache
so hätte vor sich gehn können, wie er es darstellt, nicht aber , daft
sie so vor sich gegangen ist Keiner seiner Schlüsse ist sieber.
Daß man bei Diodor an der erwähnten Stelle vielleicht zwei Dik-
tatorenjahre eingerechnet finden kann, ist zuzugeben, ob es aber
wirklich Diktatorenjahre sind, ist damit nicht erwiesen*). Ich halte
1) Ich erinnere daran, daß wir nicht wissen, ob Diodor den Samniterkrieg
in demselben Jahre beginnen lieft, wie Livius.
Soltan, Prolegomena zu einer römischen Chronologie. 827
es überhaupt fttr ratsam) bei der ErkläruDg der Diodorschen Chro-
nologie zunächst nur die Fasten und die darauf beruhende Jahres-
reihe und nicht beiläufige Zeitangaben zu verwenden und kann da-
her jener Stelle eine entscheidende Bedeutung nicht beimessen ^).
Notwendig hätte weiterhin der Verf. erklären müssen, worauf sich
denn die Oleichsetzung des gallischen Brandes mit dem Frieden des
Äntalkidas^) gründete. Das wunderbarste dabei ist aber, daß die
kundigen Männer, denen Soltau diese ohne Zweifel richtige Erkennt-
nis zuschreibt, ebenso gerechnet haben mUssen, wie 0. F. Unger in
seiner Stadtära, gewußt haben, daß die Eonsulatsliste zu viele Stel-
len enthalte und demgemäß die überschüssigen Jahre in unschuldige
Diktatorenjahre umgewandelt haben'). Da die Ausfahrungen lin-
gers für mich nicht überzeugend sind, so wird man mir nicht ver-
argen, wenn ich auch Soltaus darauf gegründete Ansichten nicht
billige. Endlich die von ihm angenommene Ordnung der Fasti
gleichzeitig mit der Herausgabe der Pontificalchronik ums J. 130
V. Chr. ist ersonnen, ebenso wie die Herausgabe der Pontificalchronik
nicht bezeugt ist; es wird nur berichtet, daß die annales maximi
bis in diese Zeit geführt seien ^).
Das vierte Kapitel versucht nachzuweisen, daß 387 v. Chr. auch
das wirkliche Datum des Gallierbrandes ist. Ich stimme in der
Sache mit dem Verf. überein, bemerke aber, daß ich nach seinen
Ausftahrungen nicht recht begreife, weshalb er dieser Ansicht ist.
Hier wird ferner über diö Anarchiejahre gehandelt, von denen
Soltau nur vier als hinzugesetzt betrachtet. Diese vier Jahre sind,
wie der Verf. vermutet, Ersatz für vier verdächtige oder angefochtene
Eponymenkollegien und dienen demselben Zwecke wie die Dikta-
torenjahre, um einen chronologischen Ausgleich zu finden und die
Zahl der Rubriken in den Fasten dem der Jahre gleich zu machen,
sind aber älter als die Diktatorenjahre. Zum Schluß des Kapitels
folgt eine Erklärung für das Fehlen der Eponymen von 331—335
d. St. bei Diodor.
Im 5. Kapitel kommt der Bericht des Polybios über die Gallier*
kriege, den Verf. auf Cato zurückführt. Er hält es für beinahe
selbstverständlich, daß Polybios sich der zu seiner Zeit erscheinen-
den epochemachenden Novität, der Origines des Cato bedient habe.
1) Besonders da für die beiden noch übrigen Diktatorenjahre ein ähnlicher
Nachweis fehlt.
2) Der wahrscheinlich ins Frühjahr 386 v. Chr. f&llt, was übersehen ist.
8) Ich möchte wohl wissen, wie sich in chronographischer Hinsicht Diktate-
ireiüahre von Konsulatsjahren unterscheiden.
4) Cicero de orat. 11 62.
67*
828 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 22.
Dieser Grnnd ist unter allen sonst ins Feld geführten der alleiD
achtungswerte ; denn die angeführten Uebereiostimmangen bestebn
nicht; z. B. gleich an der zuerst (p. 67) erwähnten Stelle spricht
Polybios von der Poebene, Cato vom Ager Galliens, also von ei-
ner anderen Landschaft; der Verf. ist in dieser Hinsicht sehr nach-
sichtig, hilft auch wohl durch eine Konjektur der Uebereinstimmung
nach. Es ist eine Beweisführung, wie ich sie mir schwächer kaom
denken könnte ; dabei hält der Verf. sie für ganz sicher und spricht
sich auf das zuversichtlichste aus. Cato ist gewiß ein epochema-
chender Schriftsteller, aber nur für die römische Litteratur und in dem
Sinne wie Livius Andronicus mit seiner lateinischen Odyssee es war.
Als historisches Werk stehn die Origines noch auf sehr niedriger
Stufe, sind auch zum guten Teil nach griechischen Quellen and Vor-
bildern gearbeitet und waren daher für eine allgemeinere Benutzimg
auch durch griechische Schriftsteller nicht geeignet; auch nennt sie
Polybios nie.
Was nun die Frage über die Rechnung der Ordinalzahlen an-
geht, ob man bei Polybios das dreißigste Jahr für 29 oder 30 Jahre
zählen soll, so hat der Verf. einen sehr glücklichen Gedanken ge-
habt: er rechnet sie auf ungefähr 29 Vs, hält also die Mitte ein.
Versöhnt können sich die Gegner nunmehr die Hand reichen. Doch
muß auch so eine Zahl geändert werden; statt TQMxatdsxa: iutauat-
dsua\ Cato schrieb XIIX, Polybios aber las aus Versehen XIH
Wer wollte wohl läugnen, daß Polybios sich verlesen konnte? Noch
viel sicherer ist es aber, daß alle diejenigen, die den Text jener
Polybianischen Stelle geradezu oder auf Umwegen ändern, um sie
erst mit ihrer römischen Chronologie in Einklang zu bringen and
dann für dieselbe zu verwerten, nicht gehört zu werden verdienen.
Für den Rest des Kapitels, wo der Verf. sich mit dem gebesserten
Polybios noch etwas weiter ergeht, wollen wir ihn daher sich selbst
ttberlassen, und wenden uns zum 6. Kapitel, wo die nach Cicero de
rep. I 25 von Ennius erwähnte Finsternis an den Nonen des Juni
besprochen wird. Gemeint ist nach dem Verf. die Finsternis vom
6. Mai 203 v. Chr. Bei Cicero, dessen Text ohne Gewähr sei, sei
für quinquagesimo CCG fere zu schreiben: quingentesimo quinquage^
simo f^e anno (p. 105). Zur Hülfe genommen wird dabei der Be-
weis, daß Silius Italiens aus Ennius geschöpft habe. Auch das Re-
sultat dieses Kapitels ist, wie man sieht, z. T. durch gewaltsame Mit*
tel gewonnen ^). Das 7. Kapitel behandelt die Chronologie der Waf-
1) Bemerkenswert ist u. a. der Satz p. 90: Schon der Umstand, dai man
den Tag seines Todes, den Tag der Gründung Roms und bald sogar Geburta«
und Konceptionsstunde berechnete, zeigt, daS Romulus' Lebenszeit, wenn nicht
in der Geschichte, so doch in der Sage feststand.
Soliau, Prolegomena zu einer römischen Chronologie. 829
fenBtillBtaDdflverhandlangeD 203—202 v.Chr. Es wird yermutet, daß
LiyiuB eine Epitome des Polybios benutzt habe, was Hirschfeld schon
frtther fttr das 21. and 22. Buch aufgestellt hatte. Dies Kapitel
dient zorn Nachweise, daß in den Jahren 203/202 der römische Ka-
lender nur geringe Abweichungen vom richtigen zeigte: starke Ab-
weichung findet sich erst 190 v. Chr.; aber um 160 v. Chr. ist sie
wieder beigelegt (Kap. VIII). Diese Kalenderverwirrnng ist, so fährt
das 9. Kapitel fort, nicht zufällig, sondern absichtlich eingetreten.
Es gelang den Pontifices durch die lex Acilia (191 v. Chr.) die
Schaltung und damit den Festkalender in ihre Hände zu bringen
und ihre Macht zu stärken, besonders mit Rücksicht auf die verän-
derten kirchlichen und religiösen Zustände Roms, wo der alte Qlaube
durch fremde Kulte und Freigeisterei mit Untergang bedroht war.
Damals wurde auch der 1. Januar als Neujahr fttr den Festkalender
eingeführt.
Kap. 10 bringt die Erklärung einiger italischer Monate als Jah-
reszeiten. Auch hier würden die Ausführungen des Verf.B an Wert
bedeutend gewonnen haben, wenn es nicht wiederum einiger Text-
änderungen dabei bedurft hätte. Uebrigens steht dies Kapitel mit
der römischen Chronologie in keiner Verbindung. Zum Schluß stellt
der Verf. drei Probleme: er entwickelt zuerst, daß in der alten Zeit
nur die Kalendae Nonae und Idus und der jedem von diesem fol-
gende Tag dies fasti waren, und fragt nun, wie die Ansicht ent-
Btehn konnte, daß trotz der Veröffentlichung des Kalenders durch
die Decemvirn vor Cn. Flavius die Kenntnis der Gerichtstage bloß
bei den Pontifices gestanden habe. Das zweite Problem ist: wie
konnten die Römer auf ihre Tetraöteris 1465 Tage statt 1461 rech-
nen? Das dritte: was machten die Römer, wenn die nundinae, die
bis zur lex Hortensia nefasti waren, auf einen dies fastus fielen?
Gottlob gibt der Verf. auf diese schwierigen Fragen eine Antwort :
es waren die Pontifices, die einen überschüssigen Tag, den dies in-
tercalaris, dem ursprünglichen Kalender zugelegt hatten, dadurch die
Tetra^teris auf 1465 Tage brachten, den Zusammenstoß der nundinae
mit dies fasti vermieden und ihren Einfluß auf das stärkste geltend
machten. Dem hat Cn. Flavius durch Festlegung des dies interca-
laris ein Ende gemacht. Es macht den Eindruck, als wenn Verf.
den Cn. Flavius für jünger hielte als die lex Hortensia, was des Be-
weises bedurft hätte. Auch sonst sind diese kalendarischen Ausfüh-
rungen sehr vielen Einwendungen ausgesetzt. Für alles wird eine
Erklärung gegeben, als wenn wir alles auf das schönste wüßten.
Der Verf. hat die Absicht, mit seinem Buche der Sprachverwirr-
ung, die, wie er sagt, neuerdings unter den römischen Chronologen
830 Qött. gel. Anz. 1887. Nr. 22.
herrscht, ein Ende za machen ; er will die Gegensätze versöhnen ; er
betrachtet es als ein Glück, wenn die Gelehrten einmal über eine
Meinung einig sind (p. 135 oben), was doch die Richtigkeit der-
selben wenig verbürgt. Sein Werk ist in der That eine Mischung
aas allen früheren; man findet Gedanken von Mommsen, Hartmaon,
Seeck, besonders viel von Unger und Matzat, and im Grande nicht
viel eigenes, obwohl der Verf. allerdings za eigentümlichen Besal-
taten gelangt ist. Mit diesen Resaltaten hat er ein leichtes Spiel;
die Thatsacheu, aus denen er seine Schlüsse zieht, sind vielfach voo
ihm selbst durch Vermatung geschaffen oder verändert worden, wo-
bei öfters der Ueberlieferung Gewalt geschehen ist^). Es finden sich
wohl einige gesunde Gedanken und scharfsinnige Bemerkungen, aber
man kann nicht sagen, daß der Verf. besseres geleistet hätte, als
seine Vorgänger, oder daß von seinem Buch für die wissenschaft-
liche Einsicht in das Wesen der römischen Chronologie Gewinn za
erwarten sei. Man findet bei ihm wie bei andern in hohem Grade
das, was der Grieche dovksve^y fjgf ino&iast nennt. Zu tadeln ist
auch die Verzettelung von Untersuchungen, wie z. B. die über Dio-
dors und Polybios' Chronologie auf verschiedene Kapitel verteilt ist
Ich bin jedoch aus noch anderen Gründen , die nicht bloß Sol-
tau, sondern auch seine letzten Vorgänger treffen, mit seiner Be-
handlungsweise der römischen Chronologie nicht einverstanden. Be-
sonders ist zu bemerken, daß ein festes Urteil über den Wert der
Quellen fehlt. Das zeigt sich z. B. p. 12, wo der Rücktritt der er-
sten Konsuln im ersten Jahr der Republik als eine beglaubigte That-
sache angesehen wird ; p. 30, wo es heißt, daß das von Livius VII 22
aus d. J. 351 V. Chr. Erzählte im wesentlichen auf gleichzeitige
Berichte zurückgehe; auch die IVsjährige Dauer des zweiten De-
cemvirats wird als historisch angesehen, obwohl davon im Diodori-
schen Bericht keine Spur ist, und doch Soltau selbst im ganzen von
der Verderbtheit der uns erhaltenen späteren Annalen überzeagt ist
Es geht ihm eben wie den meisten seiner Vorgänger in der römi-
schen Chronologie : sein Glaube oder Unglaube ist nach den Bedürf-
nissen der Untersuchung bemessen ; ja selbst die ältere gute Ueber-
lieferung hat sich aus solcher Ursache Aenderungen gefallen lassen
müssen. Aber all' das Material, das von den Chronologen der letz-
1) z. B. p. 174 »Die genannte Ueberlieferung ist einig, daB es die That des
Flavius war, welcher die wichtige Neuerung verdankt wurde«, was nicht richtig
ist. Als wenn die Ueberlieferung die Meinungen des Verf. bezeugte. Femer
das p. 138 von den religiösen Zuständen Roms zu Anfang des 2. Jahrh. v. Chr.
entworfene Bild hat nur den Wert eines der Hypothese des Verfassers dienen-
den Einfalls.
Soltau, Prolegomeoa zu einer römischea Chronologie. 831
ten Jahre aofs neue hin und her gewälzt ist, muß noch auf seinen
Wert antersacht werden, aach die antiquarischen Notizen dürfen
dem nicht entzogen werden, und nur was wirklich überliefert and
nicht spätere Vermutung oder Erfindung ist darf benutzt werden.
Ferner sind in den Soltauschen Prolegomena wie in andern
neueren chronologischen Schriften zwei Dinge mit einander vereinigt
und mit steter Beziehung zu einander dargestellt, der Oang des äl-
teren römischen Kalenders und die Frage nach der Richtigkeit der
uns erhaltenen Jahresreihe, die eigentlich historische Chronologie«
Ob jedoch und wie weit diese beiden Gegenstände mit einander zu-
sammenhängen, ist nicht mit Sicherheit zu sagen : wir wissen nicht,
wie weit durch etwaige Unregelmäßigkeiten des Kalenders oder des
Amtsjahres die unzweifelhaft vorhandenen Fehler in der Jahresreihe
hervorgebracht worden sind ; es ist das zwar vermutet, aber nicht be-
wiesen. Daher wäre es zweckmäßig gewesen, so wie es richtig
schon von Mommsen geschehen ist, die Untersuchung des Kalenders
von der Erörterung über die historische Chronologie zu trennen und
sie nicht eher zu verbinden, als bis die Verbindung als sicher oder
wahrscheinlich erwiesen ist.
Zum Schlüsse will ich, um mich nicht bloß in der Verneinung
zu bewegen, selbst versuchen, einen kleinen Beitrag zu den von
Soltau und seinen Vorgängern behandelten Fragen zu geben , zur
Erklärung der Chronologie Diodors, der von den Gelehrten ^) bisheri
so weit mir bekannt, wenig befriedigend behandelt worden ist.'
Diodor gibt eine Universalgeschichte in Form von Annalen;
Jahr für Jahr sind die griechischen (athenischen) und römischen
Eponymen neben einander den Ereignissen vorgesetzt und dazu alle
vier Jahre die Olympienfeier mit ihrer Ordnungsziffer erwähnt. Ver-
gleicht man die Eponymen mit den Sprossen einer Leiter, an wel-
cher der Chronologe in die Vergangenheit emporsteigt und ihre
Länge ermißt, so hat Diodor hier zwei Leitern so zusammengesetzt,
daß die Sprossen beider sich decken. Es kümmert ihn nicht, ob das
Jahr des athenischen Archon dem der römischen Konsuln gleich ist;
bei derartigen Vergleichen haben die Alten überhaupt stets Jahr
gleich Jahr sein lassen'). Was nun die Anhaltspunkte angeht, wel-
che dem Diodor für das Zusammenlegen der griechischen und römi-
schen Eponyme zur Hand waren, so war zunächst für die eigene
1) die übrigens von der Uebersicht Mommsens Rom. Chronol. p. 125 abhän-
gig zu sein pflegen.
2) Die von Q. F. Unger ausgegangene Annahme gelegentlicher Jahreswechsel,
die dann dazu dienen kann, ein Jahr in der Tasche des Chronologen verschwin'«
den zu lassen, kann ich mir nicht aneignen.
882 G6tt. gel. An£. 1687. No. 22.
Zeit DiodorSy in die er die BynchroDistische Gfesehichte hinabftthrt, keiD
Zweifel vorhanden, ebensowenig fttr die nähere Vergangenheit^ etwa
vom 2. panischen Kriege an , von wo die griechische and rOmische
Geschichte zosammenwachsen and von Polybios zusammen dargestellt
waren. Ein sicherer Synchronismus war ferner der Krieg des Pyrrhos
gegen die Römer, sowohl in griechischer wie in römischer Qeschiehte
anfgezeichnet. Endlich hatte Diodor auch für den gallischen Brand
ein griechisches gleichzeitiges Ereignis, den Frieden des Antalkidas,
der schon bei Polybios mit ihm zasammengestellt war. Von diesen
gegebenen Pankten and der Länge der römischen Jahresreihe hieng
es dann weiter ab, wohin das Grtindangsjahr Borns in der grieehi-
sehen Chronologie za fallen haben würde.
Die Chronologie der Vergangenheit wird arsprOnglich, wie be-
kannt, von der Gegenwart aas bestimmt. Daher sind die ältesten
chronologischen Angaben, in Generationen oder in Zahlen, so be-
schaffen, wie die des Thakydides (I 13): »etwa 300 Jahre Tor dem
Ende dieses Krieges wurden in Samos die ersten Trieren gebaute.
Auf diese Weise sind ursprtlnglich auch die Synchronismen ausge-
rechnet. Folgen wir dieser nrsprttnglichen Sitte und beginnen wir
Diodors griechisch-römische Synchronistik nahe ihrem Ende^).
Zur Zeit Diodors traten die römischen Konsuln den 1. Januar
an und bestimmten damit den Anfang des römischen Jahres. Da-
gegen begann das durch die Archonten angedeutete attische Jahr
etwa im Juli , also in der Mitte des römischen Jahres und etwa um
dieselbe Zeit pflegte man alle vier Jahre die Olympien zu feiern.
Diodor konnte also nach seiner Zeit, da er Konsulatsjahr und Ar-
chontenjahr gleich und je vier dieser Jahre auf eine Olympiade
rechnete, mit demselben Bechte den Konsul demjenigen Archen gleich-
setzen, in dessen Jahr er antrat, wie demjenigen, unter dem er ab-
gieng. Was er einmal erwählte, muBte auch fttr die weitere Syn-
chronistik maßgebend bleiben. Auf die Frage nach dem Wechsel
des Antrittstags der Konsuln konnte er dabei keine Bttcksicht neh-
men, gesetzt auch, er hätte dayon etwas gewußt. Diodor entschied
sich nan dafür, die Konsuln dem Archonten gleichzusetzen, unter
welchem sie ihr Amt antraten, anders als wir zu thun pflegen; denn
er gleicht die Konsuln von . 673 Borns (varron.), unter denen der
Bnndesgenossenkrieg ausbrach, L. Marcius Philippus und Sex. Julius,
mit Olymp. 172. 1^). DemgemäA, nm einige Daten anzuftthren, die
1) Womit nicht gesagt sein soll, daft Diodor von seiner Zeit aus selbständig
diese Synchronistik aufgebaut hat. Er konnte auch durch seine üeberliefemng,
tk B. Polyb, darauf hingeführt werden.
2) Diodor fr. XXXVn 2. 2. 6 i( avnÜB^ nilifi^f ngot 'J^^aMvc l{««^
SolUu, Prolegomena za einer römischen Chronologie. SM
bei ihm nicht mehr erhalten sind, maßte das Jahr 586 d. St. (=
168 y. Chr.)y die Eonsoln L. Aemilioa Pauli qb und G. Licinius Gras-
800, das Jahr der Schlacht bei Pydna, auf Ol. 152, 4 (vnlgo 169 v. Chr.)
fallen. In der That fand die Schlacht noch vor der Feier der 153.
Olymp, statt und wurde demgemäß in der Polybianischen Darstel-
long im 29. Buche erzählt, das wahrscheinlich die Ereignisse von
Ol. 152. 4 enthielt ').
Femer das Jahr d. St. 538 (216 v. Ghr.), die Konsuln L. Aemi-
lins und G. Terentius, das Jahr der Schlacht bei Gannae, mußte bei
Diodor fallen auf Ol. 140, 4 (217 y. Ghr.), auch da in Ueberein-
Stimmung mit der wahren Zeit der Schlacht, die in dem FrOhsommer vor
den Olympien 216 v. Ghr. geschlagen ward, und mit der Anordnung
des Polybios , der mit derselben die italischen Begebenheiten der
140. Olymp, abschließt.
Ferner das Jahr d. St. 490 (264 v. Ghr.), die Konsuln Ap.
Claudius M. Fulvius, mußte bei Diodor fallen auf Ol. 128, 4 (265
V. Chr.). Wenn Diodor den Beginn des 1. punischen Krieges unter
diese Konsuln setzte, so wich er diesmal von Polybios I 45 ab, der
denselben auf Olymp. 129. 1 bestimmte ').
Das römische Jahr 474 (280 v. Chr.), Konsuln P. Valerius und
Ti. Cornncanius, das erste Jahr des Pyrrhuskrieges, mußte bei Dio-
dor zusammenfallen mit Olymp. 124. 4 (281 v. Chr.). Das stimmt
mit der griechischen Datierung desselben Ereignisses, der IIvqqov
dkdßatn^ bU ^Itaiiay^ die nach dem doppelten Zeugnis des Polybios
(11 20. 6 und II 41 §§ 1 u. 11) in eben dieses Jahr fällt >).
Demgemäß und derselben Rechnung nach fällt die Eroberung
Roms durch die Gallier, das Jahr d. St. 364 (390 v. Chr.) *) bei
vnanv6yf»p h rp 'Poifip Jtvxiov Moffxiov 4>$Xinnov xal Ji^tov 'lovXiov* olvfiitUtt
<r nx^l ^*v^^9« ^Qot tmtt ixaroy ißdofi^xona. Diese wichtige Stelle ist den Chro-
nologen entgangen; doch hat Matzat richtig erkannt, daB Diodor mit dem End-
ponkt seines Werkes, Ol. 180. 1, das Eonsnlatsjahr C&sars meint, 645 d. Stadt.
(Diodor I 4. 7).
1) s. Steigemann, de Polybii olympiadum ratione et oeconomia (diss. Breslau
1885) p. 48.'
2) Dionys v. Hai. (Arch. 8) setzt den Anfang des Krieges auf Olymp. 128, 8,
was mit seiner früheren Rechnung zusammenhängt und zur Erklärung Diodors
nicht dienen kann.
8) Die Behauptung Soltaus, das Epochenjahr des dtaßacte IIvqqov sei Olymp.
125. 1 gewesen (p. 48 Anm. 2), ist unrichtig. Polyb bezeugt, daB sie stattfand
in der 124. Olymp, und zwei Jahre vor dem Angriff der Gallier auf Delphi, der
sich Ol. 126. 2 begab (Pausan. X 28, 14).
4) Hierin sind die 4 Diktatorenjahre einbegriffen, die Diodor nicht kennt,
80 daS ihm der Anfang des Pyrrhuskrieges nicht 474, sondern 470 J. nach Roms
Gründung liegt.
834 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 22.
Diodor XIV 107. 113 auf Olymp. 98. 2, (387 v. Chr.) gleichzeitig
mit dem Antalkidischen Frieden und der Belagerung Rhegions
durch Dionysios von Syrakus, genau übereinstimmend mit der Yon
Polybios I 6 überlieferten Bestimmung. Diodor rechnet hier in der
That so, wie er rechnen mußte und man kann getrost annehmen,
daß er die soeben von mir ergänzten Synchronismen auch wirklich
so gegeben hat, wie sie von mir gesetzt sind.
Zwischen den beiden letztgenannten überlieferten Punkten, dem
1. Jahre des Pyrrhuskrieges und dem Gallierbrande, weicht nan, wie
bekannt und neuerdings viel erörtert, Diodors römische Jahresreihe
von den sonst erhaltenen erheblich ab, worüber Mommsen Rom.
Ghronol. p. 125 f. einzusehen ist. Diodor hat, um nur das wichtig-
ste zu erwähnen, nach dem gallischen Brande die fünf (von 360—364
d. Stadt) vorhergehenden Jahreskollegien wiederholt und also ans
fünf Jahren zehn gemacht; er hat ferner nicht fünf Anarchiejabre,
sondern nur eins, und läßt endlich das Kollegium von 387 fort, hat
hier also ein Jahr weniger. Aber die Hauptsache stimmt bei ihm
mit den übrigen : bei allen liegt die gleiche Anzahl von Jahresstel-
len zwischen dem Pyrrhuskriege und der gallischen Katastrophe,
nämlich 106 ^). Was die fünf nach dem Gallierbrande wiederholten
Magistratskollegien angeht, so scheint mir deutlich, daß sie wesent-
lich dasselbe zu leisten bestimmt sind, was in den andern Quellen
die fünf Jahre der Anarchie ^) ; wie diese, so sind auch jene der
chronologischen Berichtigung halber hinzugesetzt; durch sie wird
der in den griechischen Synchronismen des Galiierbrandes und des
Pyrrhuskrieges eingeschlossene Zeitraum auch für die römische Zeit-
rechnung hergestellt. Für Diodors Chronologie ist diese Absicht als
sicher anzunehmen; aber auch die Anarchiejahre der andern üeber-
lieferung verdanken wahrscheinlich demselben Bestreben ihre Ent-
stehung. Die Voraussetzung ist dabei, daß schon den älteren römi-
schen Chronologen das Zusammenfallen des gallischen Brandes mit
dem Antalkidischen Frieden bekannt war, und dagegen ist nichts
einzuwenden, da schon Polybios (I 5 § 4 f.) diesen Synchronismus
als fest und anerkannt erwähnt. Bekanntlich wurde die Eroberung
Roms durch die Gallier auch von älteren griechischen Autoren er-
wähnt, z. B. vom Theopomp. Man darf vermuten , daß ihre Datie-
1) Mit Abrechnung der Diktatorenjahre.
2) Das stimmt ja nicht genau, da Diodor selbst ein Jahr der Anarchie hat
Dafür hat er nachher ein Jahr weniger, was auf eine Abweichung seiner Fasten
zurückgehn wird. Bei Diodor bestehn die nötigen 106 Jahre aus 100 Magistrats-
kollegien, 1 Anarchiejahr und 5 eingeschobenen Kollegien, bei den übrigen aus
101 Magistratskollegien und 5 Anarchiejahren.
Soltau, Prolegomena eu einer römischen Chronologie. 886
rang arsprtlDglioh von Philistos gegeben war, dem zeitgenössischen
sicilischen Historiker, der, wie wir wissen, auch die italischen Ange-
legenheiten zn berühren Gelegenheit nahm und ohne Frage anch
von den mit Dionysins I verbündeten Oalliern gehandelt hat. Der
griechische Synchronismus also des gallischen Brandes geht wahr-
scheinlich auf gleichzeitige Ueberlieferung zurück, und bei dem Ein-
fluß, den die griechische Litteratur schon auf die frühesten Bearbei-
tungen der römischen Geschichte gehabt hat, ist es ganz in der
Ordnung, daß dieses griechische Datum für die rOmische Chronologie
maßgebend gewesen ist.
Da ferner Diodor (bei Eusebius I p. 283 if. Schöne) Roms Grün-
dung auf Ol. 7. 2, 433 Jahre nach Trojas Fall setzte, die Daner der
Eönigsherrschaft aber auf 244 Jahre (=61 Olympiaden), so folgt,
daß bei ihm das erste Jahr der Republik, die Konsuln Brutus und
Horatius auf Olymp. 68, 2 fiel , abweichend vom Polybios (III 22),
der sie auf Olymp. 68, 1 bestimmt^). Freilich läßt er zwischen
dem gallischen Brande und diesem Zeitpunkte die 5 Kollegien von
331 — 335 d. Stadt fort, aber es ist deutlich, daß er diesen Ausfall
in den verlornen Teilen seines Werkes (vor Olymp. 75. 1) wieder
eingeholt haben muß ^). Denn in der Gesamtzahl der zwischen den
beiden Punkten liegenden Jahre, 120, muß er mit der sonstigen
Chronologie tibereingestimmt haben').
Diese Erklärung der Chronologie Diodors weicht von der anderer
Gelehrter ab, bei denen meistens und nicht zum Vorteil der Sache
noch andere sehr ungewisse und dnnkle Fragen mit dieser verbun-
den worden sind. Der Ausfall der fünf Stellen zwischen Gallierkrieg
nnd erstem Jahre der Republik ist ziemlich allgemein mit dem Hin-
zufügen der fünf Stellen nach dem Gallierkriege in Verbindung gebracht.
Nach Mommsen verfährt Diodor wie ein gewissenhafter Schelm, der
mit der Linken zurückgibt, was er mit der Rechten entwandt hat.
Aber diese Erklärung würde nur statthaft sein, wenn die ergänzten
Jahreskollegien dieselben wären, wie die fehlenden , was nicht der
Fall ist, und auch dann wäre die Erklärung nur halb. Ebenso
wenig ist Mommsens Meinung zu billigen , daß Diodor den Gallier-
1) Diese Abweichung könnte man so zu heben versuchen, daS man dem Polyb«
drei Decemviratsjahre zuschriebe. Das würde jedoch mehr als bedenklich sein,
da man alsdann den Bericht der späteren Annalisten über den Ausgang der
Decemvirn als dem Polybios bekannt voraussetzen müSte; denn von diesem
Bericht ist die Einlegung eines S. Decemviratsjahres aasgegangen.
2) Das hat Matzat richtig erkannt ; sein Ergänzungsversuch freilich (I p. 243 ff.)
stützt sich auf ganz ungenügende Mittel und ist imaginär.
3) Abgesehen vom 3. Decemviratiljahr.
836 Gott. gel. Ans. 1887. Nr. 22.
krieg auf Olymp. 98. 1 habe setzen wollen, aber es nicht gekonnt;
denn ich wenigstens kenne kein Mittel, den Willen Diodors zn er-
kennnen, außer an dem, was er wirklich erreicht hat. So nnfübig
war Diodor nicht; in der römischen wie in der griechischen Ge-
schichte hat er, so weit er uns erhalten ist, die wichtigen Ereignisse
allemal richtig an die ihm von der Ueberlieferung vorgeschriebenen
Pankte gebracht
Die später and auch bei uns zur Herrschaft gelangte Chronolo-
gie und Synchronistik nnterscheidet sich von den Diodorischen we-
sentlich dadurch, daß einmal das griechische Archonten- oder Olym*
piadenjahr nicht mehr mit den Konsuln gleichgesetzt ward, die in
ihm antraten, sondern mit denen, die in ihm abtraten, wodurch s. B.
der Ausbrach des Bandesgenossenkrieges (663 d. St.) nicht mehr auf
Olymp. 172. 1, sondern auf Olymp. 172. 2, und der gallische Brand
von Olymp. 98, 2 auf Olymp. 98, 3 kommen mußte. Sodann traten
die vier Diktatorenjahre zwischen dem Pyrrhuskriege and dem
Gallierkriege daza, wodurch dieser um eine ganze Olympiade zorflck
aaf Ol. 97, 3 kam, das auch von uns übernommene Datum (390 v. Chr.).
Die jenseits liegenden Abweichungen, das dritte Decemviratsjahr and
Verschiedenheiten in der Berechnung der Königszeit sind auf die
Synchronistik nicht mehr von Bedeutung gewesen.
Marburg. Benedictas Niese.
Stftlin, Paul Friedrieh, Geschichte Württembergs. Erster Band, Zweite
HAlfte. 1268^1496. [Aach anter dem Titel: Geschichte der earo-
pfti sehen Staaten. Herausgegeben von A H. L. Heeren, F. A. ükert
und W. Y. Gieseb recht. Lief. 47. Abth. 2.] Gotha, F. A. Perthes.
1887. Xm und S. 449—864. 8«. ').
Indem ich hinsichtlich der Anlage des Werks und seines Ver-
hältnisses zu der umfangreicheren Geschichte meines Vaters aaf die
Besprechung der 1. Hälfte des 1. Bandes in diesen Anzeigen vom
4 Juli 1883 S. 844—857 zu verweisen mir erlaube, wende ich mich
alsbald za derjenigen der nunmehr erschienenen 2. Hälfte des Ban-
deSy welcher das 2. Buch: Das spätere Mittelalter oder die Graf-
schaft Württemberg vom Erlöschen des schwäbischen bis zur Errich-
1) In Folge eines Uebereinkommens der Leitung der Geschichte der Euro-
päischen Staaten mit dem f Hofrat Heeren ist den Mitarbeitern derselben das
Recht eingeräumt worden, zu jenem Unternehmen gehörende Werke in den GGA.
selbst SU besprechen. Dieses Recht steht sonst nur den Mitgliedern der König-
lichen Gesellschaft der Wissenschaften und deigenigen Herrn zu, welche zur Zeit
des Erscheinens des zu besprechenden Buches Docenten an der hiesigen ünirer-
sität sind. — Die Redaktion.
Stalin, Geschichte Württembergs. 1. Bd. 2. H&lfte. 887
taug des württenibergisckeu Uerzogtums und zum Tode des ernteu
Herzogs, Eberhard im Bart, 1268-1495/6 nmfaßt. Fttr die vorlie-
gende Periode war, zumal da seit dem 3. Bande der Geschichte mei-
nes Vaters, welchem dieser Halbband entspricht, ein bedeutend kttr-
zerer Zeitraum yerflossen war, als seit dem 1. und 2., neu veröffent-
lichtes Quellenmaterial und neuere Litteratur nicht mehr in demsel-
ben Umfange vorhanden, wie für den ersten, doch entbehrte kein
noch so kleiner Zeitraum derselben.
Eine Besprechung im Einzelnen schienen mir namentlich fol-
gende Punkte, wiederum hauptsächlich einige solche, hinsichtlich
deren die Geschichte gegenüber dem Werke meines Vaters weiter-
geftthrt ist, zu verdienen.
Fdr denjenigen Grafen Eberhard, welcher im Anfange der Pe-
riode 60 Jahre lang in einer vielfach stürmischen Zeit in Wttrttem-
berg waltete und 4 mal den Kampf gegen das Reichsoberhaupt auf
sich nahm, ist der in der Geschichte seither übliche Beiname: der
Erlauchte, nicht einmal annähernd gleichzeitig und verdankt seinen
Ursprung, wie dies auch anderwärts, z. B. bei Herzog Otto von
Bayern t 1^53 vorkommt, einem Misverständnis der Standesbezeich-
nung ülfistris, welche vorzugsweise, aber nicht ganz ausschließlich,
fttr ftlrstlicbe Personen gebraucht wurde, fttr Eberhard selbst aber in
gleichzeitigen Urkunden nicht zur Anwendung kommt. Es war da-
her zweifelhaft, ob der Beiname doch aufrecht zu erhalten sei, ich
glaubte aber, solche durch längere Uebung gewissermaften geheiligte
Namen überhaupt womöglich wenigstens neben oder statt der Ordi-
nalzahl beibehalten zu sollen, zumal da es bei den ersten Anfängen
des württembergischen Hauses oft schwer ist, die der Zeit nach in
einander übergehenden Träger desselben Namens als verschiedene
Personen sicher von einander abzuscheiden, und da durch einen
solchen althergebrachten Beinamen die betreffende Persönlichkeit
insbesondere für einen größeren Leserkreis gewiß sicherer bezeich-
net wird, als durch die beigesetzte Ordinalzahl. Bei dem von einem
gleichzeitigen Schriftsteller einmal fttr diesen Eberhard gebrauchten,
schon verschieden gedeuteten Beinamen Koche dürfte meines Erach-
tens am richtigsten an das mittelhochdeutsche koe, koch^ choch s»
keck gedacht werden, eine Bezeichnung, welche ftlr Eberhards Cha-
rakter sehr zutreffend erscheint. Was die Regierung dieses Grafen
betrifft, so glaubte ich hinsichtlich des so bestrittenen Wirkungskrei-
ses der von K. Rudolf eingesetzten Landvögte mich dahin ausspre-
chen zu sollen, daß sie als Stellvertreter des Königs wohl nament*
lieh die Reichsgttter zu verwalten, insbesondere die Einkünfte fttr die
königliche Kammer einzutreiben, überhaupt aber über die Aufrecht-
S38 Oött. gel. Ans. 1887. Nr. 22.
baltuDg der Ordonog im Namen des Königs zn wachen* batten. Wei-
terbin ist nenes, z. T. die frQberen Annahmen berichtigendes, Qaellen-
material zur Benntznng namentlich vorgelegen ond von mir teil-
weise veröffentlicht worden hinsichtlich des Kriegs der Jahre 1311
und 1312 mit Kaiser Heinrich VII., welcher Eberhard an den Rand
des Untergangs gebracht hat, nnd im Anschlufi an diesen Krieg hin-
sichtlich des Strebens des Grafen, den Gegnern des Kaisers in Ita-
lien an der Spitze eigener Mannschaft denselben bekämpfen zo
helfen.
Ans der Regierongszeit von Eberhards des Erlauchten Enkel,
Eberhard dem Greiner, welcher »ein frischer freier Katzbalger and
Kriegsmann«, aber auch ein kluger Politiker und hansbälterischer
Rechner die beträchtliche Vergrößerung seines Landes mehr seiner
Geschicklichkeit im Kaufen als seinem Schwerte zu verdanken ge*
habt hat, war insbesondere für den schwarzen Tod und die Juden-
verfolgungen, fttr die Belagerung Ulms im J. 1376, für die Ent-
stehung und Ausdehnung der Rittergesellschaften manches veröffent-
licht worden, wie z. B. ein gegen die Juden aufhetzender Beriebt
ttber die Verbreitung eines gefälschten Briefes, welchem zufolge die
Juden zu Jerusalem denen za Ulm die Freudenbotschaft von der
Hinrichtung Christi mitgeteilt hätten, sodann waren die Tendenzen
der Städtebunde gegenüber weitergehenden Ansichten, wie sie den-
selben schon beigelegt wurden, auf das richtige Maß zurückzuführen
und manchen Berichten llber die Schlachten von Reutlingen und
Döffingen gegenüber eine kritischere Stellung einzunehmen, nament-
lich aber auf Grund der überzeugenden Ausführungen Jaco'bsons als
Tag der ersteren Schlacht nicht wie bisher der 21., sondern der
14. Mai aufzustellen.
Fttr die vormundschaftliche Regierung nach Graf Eberhard des
Jüngeren Tod ist ^s merkwürdig, daß alle seitherigen Schriftsteller
in der ersten officiellen Statistik des in der Hand der wttrttembergi-
sehen Grafen vereinigten Besitzes vom Jahr 1420 nur die Reicha-
lehen, die böhmischen Lehen und das Eigen aufführen, die 4. Rubrik
der Originalaufzeichnnng: bischöflich bambergisches Lehen, weglas-
sen; ob dies vielleicht bei der erstmaligen Veröffentlichung dieses
Verzeichnisses, in der Mitte des vorigen Jahrhunderts^ aus Foreht
geschah, es möchten bei Nennung dieses Lehensverhältnisses ältere
wohl durch Nichtausübung in Vergessenheit geratene Rechte wieder
geltend zu machen gesucht werden? Bei der zuerst an die Spitze
der Vormundschaft getretenen mannhaften und herrschsüchtigen Grä-
fin Henriette, der Erbin Mömpelgards, war ähnlich wie bei der Mut-
ter Eberhards im Bart, der Pfalzgräfin Mechthilde, zwei in der Zim-
Stalin, Geschichte Württembergs. 1. Bd. 2. H&lfte. 889
inerscheD Gbiouik zieinlicb viel besproehcueu Persöullclikoilcü, ilic
PrüfaDg der fragliohen Ueberliefernng auf ihren geschichtlichen Wert
besonders angezeigt. — Der Eifer, welchen namentlich die Ulmer
Städteeinigung, aber auch Graf Ludwig der Aeltere von Württem-
berg in den Husitenkriegen etliche Male bekundet, ist erst aus
neueren Publikationen ersichtlich geworden. — Hinsichtlich der
kriegerischen Thätigkeit Graf Ulrichs des Vielgeliebten ist die seit-
herige Annahme, derselbe sei in dem Kampf bei Eßlingen vom Jahr
1449 verwundet worden, unrichtig, da der Graf am Kampf sicher-
lich nicht Teil nahm, ist aber andererseits die ihm im Jahr 1464
von Papst Pias II. sowohl als dem Kaiser unter Umständen zuge-
dachte Ehre der Hauptmannschaft im Kreuzzuge gegen die Türken,
der freilich nicht zur Ausführung kam, für die württembergische Ge-
schichte seither nicht verwertet worden.
Die in neuerer Zeit viel erörterten Fragen nach dem Urheber
des Schwäbischen Bandes und den leitenden Gesichtspunkten bei
seiner Gründung möchten wohl folgendermaßen zu beantworten sein.
Graf Hugo war hinsichtlich der Errichtung desselben in ähnlicher
Weise, wie einst Markgraf Albrecbt von Brandenburg bei dem
Reichskriege gegen Bayern und die Pfalz der Leiter der kaiserlichen
Politik bei einem Unternehmen, das seinem eigenen Interesse zum
mindesten nicht weniger diente als dem kaiserlichen. Hatte er als
kaiserlicher Rat wohl den Gedanken in Friederich angeregt, so
wußte er auch, mit der Ausführung im einzelnen betraut, der Sache
eine Richtung zu geben, welche dem Interesse seines Hauses und
Standes vorzugsweise entsprach, und gestattete den Verhandlungen
im Verhältnis zu den Wünschen des Kaisers einen ziemlich selb-
ständigen Verlauf. Bei den schwäbischen Städten und Adeligen aber,
mochten sie auch manche Aenderungen an den kaiserlichen Vor-
schlägen in Anregung bringen, fiel der Gedanke im allgemeinen an-
gesichts der von Bayern drohenden Gefahren auf einen sehr gün-
stigen, wohl vorbereiteten Boden.
Im allgemeinen habe ich es in Uebereinstimmung mit einer von
Giesebrecht bei der Aufforderung zur Uebernahme der Arbeit aus*
gesprochenen Ansicht für angezeigt gehalten, die einzelnen, z. T.
kleinlichen Fehden dieser Zeit, welchen Einungen und Bündnisse
nur in ungenügendem Maße abzuhelfen vermochten, weniger ein*
gehend zu behandeln und ein Hauptgewicht auf die Darstellung der
inneren Zustände, der Kulturgeschichte zu legen, hinsichtlich welcher
das spätere Mittelalter gerade aus dem heutigen Württemberg manche
nicht uninteressante Beiträge zu liefern im Stande ist. Die Dar-
stellung der einschlägigen Verbältnisse nimmt daher auch in diesem
840 G6tt. gel. Anz. 1887. Nr. 22.
Halbband gegen V» des Raumes ein uod ist meistens ziemlieh am-
fangreicher geworden, als in der Gesebichte meines Vaters. Es
kommen hiebei vorzugsweise in Betracht: die staatsrechtliehe Eint-
wickelang der württembergisclien Grafschaft und ihrer Bestandteile,
Landschaft, Adel und Klöster — die Bey{}lkernng des Landes Ober-
haupt am Ende des Zeitraums mOchte ich anf Grund von neuer-
dings publicierten Nachrichten über die streitbare Mannschaft des-
selben auf 200,000 Seelen schätzen ; als Einkommen aus ihm wurden
von Markgraf Albrecht von Brandenburg, wohl etwas ttbertrieben,
bei 50,000 oder 60,000 fl, von dem im Allgemeinen gut unterrichte-
ten Venetianer Marino Sanuto etwa 30,000 fi. genannt — ; die
städtische Entwickelung — hinsichtlich der in neuerer Zeit lebhaft
erörterten Größe der mittelalterlichen Städte liegen für Ravensburg
und Ulm Nachrichten vor, welche jedenfalls Beachtung verdienen
und denen zufolge Ulm im Jahre 1427 gegen 20,000 Einwohner ge-
habt haben soll; von den 144 Städten, welche das Königreich Würt-
temberg heutzutage zählt, reihen sich in dieser Periode an die al-
ten 22 Reichsstädte von längerer oder kürzerer Dauer und 18 (17)
Landstädte im späteren Verlauf des 13. Jahrhunderts 28, im 14.: 50,
im 15: nur 8 Landstädte oder Städtchen an; — die Standesverbält-
nisse — insbesondere die Anfänge der sog. freien Reichsritterschaft
— ; die Rechtsbildung, insbesondere im Gebiet des Privat- und öffent-
lichen Rechts; das Kriegswesen; kirchliche Verhältnisse; Bod^-
kultur, Gewerbe, Handel — die Zahl der aus Schwaben tlberhaapt
und speciell aus Württemberg stammenden frühesten Jünger der
Buchdruckerkunst ist durch neuere Publikationen beträchtlich ver-
größert und die Bedeutung des Handels sowie der biedurch begrOn-
dete Reichtum der oberschwäbischen Städte im Mittelalter doreb
solche in ein helleres Licht gestellt worden als fräher — ; Künste
und Wissenschaften — die Baugeschichte des Ulmer Münsters, wel-
ches wohl im übernächsten Jahre wenigstens äuitorlich vollendet
werden wird und dessen Thurm noch 3 Meter höher werden soll, ak
die Thürme des Kölner Domes, hat in neuerer Zeit die eingehendste
Untersuchung erfahren; die Bedeutung des Grafen Ulrichs des Viel-
geliebten und Herzogs Eberhards im Bart als groBer Gönner und
Förderer von Kirchenbauten und ihrer tüchtigen Baumeister, Albreeht
Georg von Stuttgart und Peter von Koblenz, ist erst in letzter Zeit
auf Grund sorgfältiger Erforschung der Steinmetzzeichen zn Tage
getreten, die große Bedeutung der Gmünder Baumeisterfamilie eist
neuerdings in ihrem vollen Umfang gewürdigt worden, mögen aueli
im Einzelnen hinsichtlich der Namen und der eigentlicben Heimat
derselben noch ungelöste Streitfragen (? Arier, ? Parier, ? Polonia »b
Stalin, Geschichte Württembergs. 1. Bd. 2. Hälfte. 841
Boulogne oder ColoDia, Köln) obwalten, and die z. T. sehr schätzens-
werten Wandmalereien dieser Periode, wie das kolossale jUngste Ge-
richt Über dem Triumphbogen des Ulmer Münsters, sind vielfach
erst in den letzten Jahren wieder aufgedeckt worden ; von Ge-
schichtsquellen ist die seither verschollen gewesene, freilich nur fttr
eine kurze Zeit wertvollere Chronik des Reutlinger Priesters Hugo
Spechtshart neuerdings, wohl im Original, in St. Petersburg aufge-
funden und sind einige specifisch wtlrttembergische Geschichtsquellen
dieser Periode teilweise neu entdeckt, teilweise richtiger gewürdigt
worden.
Hinsichtlich der wichtigeren Herrengeschlechter auf dem Boden
des nunmehrigen Königreichs Württemberg habe ich die gräflich
wttrttembergische Nebenlinie von Grüningen-Landau bis zum Erlö-
schen des Mannesstamms im J. 1690 verfolgt, worauf ihr Name und
Wappen auf den Gemahl der Schwester des letzten männlichen Spros-
sen und dessen Nachkommen, die noch heutzutage blühenden Frei-
berrn von Hackelberg-Landau in Oesterreich übergieng; die defini-
tive Annahme des gräflichen Titels durch die Familie Hohenlohe
habe ich auf den, freilich nicht zu voller Wirklichkeit gewordenen
Erwerb der Graf- und Herrschaften Ziegenhain und Nidda zurück-
geführt, und fUr die Geschicke manches Gliedes anderer Familien
haben insbesondere neu veröffentlichte italienische Quellen Ausbeute
gewährt.
Von Berichtigungen möchte ich folgende namhaft machen.
S. 642 Z. 3 V. u. fehlt nach Eberhard das Relativ: welcher; S. 651
Note 1 statt Chr. I. Gustav; S. 707 Anm. 2: Zwar kein Oelbild,
vielleicht jedoch ein gleichzeitiges steinernes Reliefbild dürfte sich
von Herzog Eberhard im Bart erhalten haben, indem in der Mauer
des Klosterhofs zu Sindelfingen eine Gedächtnistafel, wie es scheint
von 1477, angebracht ist, welche ihn und seine Mutter knieend dar-
stellt, wobei es übrigens zweifelhaft ist, ob wir hier getreue Porträts
vor uns haben; S. 757/8: auch Wurzach kommt urkundlich als eine
der Malstätten des freien Landgerichtes in Schwaben vor; S. 840
Z. 17 V. 0. statt Liutard 1. Luägard.
Stuttgart. P. F. Stalin.
afttl. gtl. Am. 1807. Hr. ». 58
842 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 22.
Joachim, £., Die Entwiöklung des Rheinbaudes vom Jahre 1658.
Verlag von Veit und Comp. Leipzig 1886. VIII und 515 S. 8*.
Der Rheinband des Jabres 1658 wurde von den einen als ein
Werkzeug angeseben, welcbes dazu dienen sollte, den französischen
Einfluß in Deutschland zu befestigen, von den anderen als Frneht
reifer staatsmännischer Einsicht gepriesen, welche dadurch dem
kranken deutschen Staatswesen ein heilsames Pflaster aufgelegt
habe^). Allein nicht die damaligen Parteimeinnngen können einen
sicheren Maßstab des Urteils abgeben, sondern nur die Motive nnd
Bewegungen, welche zu diesem Bund geführt haben.
Dieselben darzulegen hat sich der Verfasser oben genannter
Schrift als Aufgabe gestellt. Derselbe kommt hierbei zu dem Resultat,
daß jene Bestrebungen, welche den Ausgangspunkt des Rheinbundes
vom Jahre 1658 bilden, einen Beweis ' von »dem trotz aller Leiden
des dreißigjährigen Krieges gesund gebliebenen Sinne unseres Vol-
kes, von dem ungebrochenen Mute des deutschen Geistes« (S. 2) ge-
ben. Allein wird eine genauere Betrachtung dieses urteil bestätigen?
Die Anfänge des Rheinbundes reichen bis in die ersten Jahre
nach dem westfälischen Frieden zurück. Es galt damals gesicherte
Zustände für Deutschland herbeizuführen. Jedoch gerade die Reichs-
stände trugen wenig hierzu bei. Nur widerwillig fügten sie sich
zum Teil den Friedensbestimmungen und mußten manchmal erst
durch Exekution dazu gezwungen werden^). Wie ein Glttckszufall
war es anzusehen, daß Deutschland durch dieses Verhalten nicht in
einen neuen Krieg gestürzt wurde. Nur ein gütiges Geschick be-
wahrte es im Jahre 1651 bei der Fehde zwischen dem Kurf&rsten
von Brandenburg und dem Pfalzgrafen von Neuburg davor. Der
spanische König stand aus Rücksicht auf die Wahl des Kaisersohnes
Ferdinand zum römischen König, welche in Aussicht genommen
war, davon ab für Philipp Wilhelm Partei zu ergreifen*).
Damit waren die Gefahren aber nicht beseitigt. Noch lagen
Garnisonen fremder Mächte in deutschen Festungen nnd beunruhig-
ten die umliegenden Territorien. Den Unterhalt dieser Truppen
hatte in der Regel das Reich selbst zu bestreiten, eine Verpflich-
tung, welche durch die Schäden des Reichsfinanzsystems besonders
drückend wurde. Ein Beispiel dafür.
Die Schweden hielten den Platz Vecht im Münsterischen für
den Rest der Summe besetzt, welche ihnen nach dem Friedens-
instrument zukam. Für diese Schuld, welche sich auf 150 Tausend
1) Leibniz, Staatswissenschaftlicbe Werke. Bd. IV., S. 108.
2) So bei der Restitution des Fürstentums Sulzbach.
8) Nägociations secretes Bd. in, S. 679.
Joachim , Die Eatwicklnng des Rheinbundes vom Jahre 1658. 843
Bth. belief, erfaielteo sie mooatlich 8000 Rth. Verpflegongsgelder, so
daft die Samme derselben Bchließlich die Forderung überstieg. Dies
Verhältnis wurde dadurch noch um so nngerechter, als die Haupt-
last der Verpflegung nicht diejenigen traf, welche die genannte
Schuld KU entrichten hatten, nämlich den oberrheinischen und schwä-
bischen Kreis, sondern die Bischöfe von Mttnster und Paderborn,
in deren Gebiet die Schweden lagen ^).
Derartigen unhaltbaren Zuständen ein Ende zu machen gab es
nnr ein Mittel. Man hätte den deutschen Boden von allen fremden
Garnisonen säubern müssen. Denn indem man die Völker einer
Macht in Deutschland daldete und denen einer anderen den Unter-
halt versagte, gab man dem Ausland AnlaB zu neuen Klagen und
Beschwerden, welche dasselbe nicht versäumte zu erheben ').
Allein eine so kühne Politik war von den Ständen nicht zu
erho£fen. Das deutsche Reich glich einem gestrandeten Schiffe, des-
sen Passagiere, jeder seine Person zunächst, in Sicherheit zu brin-
gen suchen. Denn was anders trat bei jenen Frankfurter Verhand-
inngen, welche in den Jahren 1651 und 1652 zwischen den beiden
rheinischen, dem schwäbischen und fränkischen Kreise Statt fanden,
za Tage, als der nackteste Egoismus? Jeder Stand wünschte zu-
nächst die Uebel abgestellt, welche ihn bedrückten').
Der Kurfürst von der Pfalz verlangte vor Allem, die Spanier
sollten Frankenthal räumen. Dafür muite aus Heilbronn die pfUl-
zische Garnison zurückgezogen werden. Hierauf wären die Wünsche
des fränkischen und schwäbischen Kreises gerichtet, weil sie die
pf&lzischen Truppen zu unterhalten hatten. Die drei rheinischen
geistlichen Kurfürsten wollten dagegen ihre Kräfte gegen die Räu-
bereien der lothringischen Scharen wenden.
Dieser letzte Wunsch gilt oft — und so erscheint es auch bei
Dr. Joachim S. 1— 11 — als der einzige oder wichtigste Gegenstand
jener Verhandlungen. Jedoch die Ziele der letztgenlinnten Fürsten
waren weiter gegangen. Sie hatten Nichts Geringeres erstrebt als
das Zollwesen und den Verkehr auf dem Rheinstrom mit Hülfe der
Vereinigten Niederlande, welche ebenfalls nach Frankfurt eingeladen
waren, neu zu ordnen und zu sichern ^). Da aber diese Hoffnung
fehlgeschlagen zu sein scheint, so beschränkten sie sich darauf Maß-
regeln gegen das Treiben des Herzogs Karl von Lothringen zu
1) N^. secr^s, Bd. m, S. 658, 689.
2) N^g. secr. in, 627, 629. Londorp, Acta publica Bd. V, S. 618, Nr. U6.
8) Näg. ni, 618, 668 f.
4) Aitzema, Saken van Staet enOorlog Bd.in, 8.847. Vgl. dazu ?. M6rner,
Kurbrandenb. Staatsyerträge S. 163—155, Nr. 80.
68*
844 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 22.
treffen, welche ursprünglich offenbar als ein Mittel zu dem böberen
Zwecke hatten dienen sollen. In diesem Sinne ist jene karrbeioi-
sehe Kreisdefension der drei geistlichen Knrfttrsten vom 21. März
1651 aufzufassen').
Ihren Zweck hat dieselbe nicht erfüllt. Und es ist kaum anzu-
nehmen, daß jene Fürsten dies erwartet haben. Denn dazu waren
die Streitkräfte, welche in der kur rheinischen Kreisdefensionsverfas-
sung und in dem Kreisbeschlusse des verbündeten oberrheinischen
Kreises gefordert waren, zu gering. Man ist daher auch nur säumig
daran gegangen das Beschlossene auszuführen. Der oberrheinische
Kreis unterließ es ganz. Der Kurfürst von Mainz, welcher als Bi-
schof von Worms ausschreibender Fürst desselben war, meinte, wenn
die Lothringer sich hierhin wendeten, würde der Hauptstoß den Teil
des Elsaß treffen, welcher in französischen Händen sei^).
Die Kurftlrsten von Köln und Trier glaubten dagegen nm Geld
sich Ruhe von dem Lothringer erkaufen zu können. In dieser Ab-
sicht verhandelten sie unter Vermittlung des Kaisers auf demReiehs-
tage zu Regensburg im Jahre 1653 mit dem lothringischen Ge-
sandten Fournier^). Jedoch stellte sich bald heraus, daß die Ver-
heißungen des Kaisers, welche sie zu diesem Schritt bestimmt hat-
ten, nicht aufrichtig gemeint gewesen waren. Derselbe machte nicht
ernstlich seinen Einfluß zu ihren Gunsten bei dem Herzog Karl von
Lothringen geltend. Umsonst hatte der Kurfürst von Trier seine
Stimme für die Wahl Ferdinands zum römischen König abgegeben.
Die Feste Hammerstein im Trierer Lande, welche der Lohn hatte
dafür sein sollen, blieb trotzdem im lothringischen Besitz^). Das
Verhalten Ferdinands III. schien nur darauf angelegt gewesen zu
sein die Fürsten einzuschläfern und so die Kreisdefensionsverfassnn-
gen zu hindern, welche lebhafte Besorgnis in ihm hervorgerufen
hatten ^).
Da also der Kaiser nicht helfen wollte oder konnte, wandte der
Kurfürst von Köln * seine Blicke von Neuem auf die General-
staaten ^).
Der niederländische Handel litt schwer unter der Unsieherbeit
1) Vgl. auch die schon von von Haeften, Urk. u. Actenst. z. Oesch. d.
Großen Kurfürsten Bd. V, S. 476 dargelegten Verhandlungen dieser Fürsten mit
dem Pfalzgrafen Wolfgang Wilhelm von Neuburg (Dr. Joachim, S. 12), and dam
von Mömer, Eurbrandenburgische Staatsverträge, Nr. 84, S. 161.
2) N6g. m, 677.
3) Nög. in, 662, 569, 677, 589, 604.
4) N^g. Ill, 669.
5) Näg. III, 658, vgl. Londorp, Acta publica Bd. V, S. 882, Nr. 54.
6) Vgl. Erdmannsdörfifer, Graf WaJtdeck S. 176, 176, 193.
Joachim, Die Entwicklung des Rheinbundes vom Jahre 1658. 845
der Land- and WasserstraBeo darcb die lothriDgischeQ Banden. Ja
selbst das Gebiet der Republik batten dieselben nicht mit ihren
Raubzügen verschont. Vergeblich hatte man sich in BrOssel dartlber
beschwert *).
In Folge dessen scheint man im Haag auf halbem Wege den
Wünschen Maximilan Heinrichs entgegengekommen zu sein. Man
hatte schon den Kölner Hof durch den Rheingrafen sondiert^). Im
Oktober 1653 sandte daher der Kölner Kurfürst, als er wiederum
von dem Lothringer bedrängt wurde, seinen Gesandten Simonis nach
dem Haag. Die Handelsbeziebnifgen hatten für ihn den Ausschlag
gegeben entgegen dem Wunsche seiner Itttticher Landstände, welche
eine engere Vereinigung mit den Reichsständen lieber gesehen hät-
ten, diesen Schritt zu thun.
Der Gesandte bot im Namen seines Herrn als Bischof von Lttt-
tich — denn gerade dieses Bistum, welches ebenfalls Maximilian
Heinrich unterstand, war den lothringischen Streifzttgen sehr ausge-
setzt — eine Defensivallianz gegen den Herzog Karl von Lothringen
zur Sicherheit der Land.- und Wasserstraßen an.
Dieses Anerbieten begegnete im Haag Schwierigkeiten. In
dem Traktate '), welchen man entwarf, wurde im vierzehnten Artikel
der Wunsch ausgesprochen, andere Fürsten besonders des westfäli-
schen Kreises und vor Allem den Kurfürsten von Brandenburg zu
dem Bund hinzuzuziehen. Nicht eher als diese Bedingung erfüllt
sei, wollte die Provinz Holland die Allianz in Kraft treten lassen.
Der Kölner Kurfürst suchte dem Begehren nachzukommen. Bald
meldete sein Gesandter die Geneigtheit mehrerer Fürsten dem Bunde
beizutreten. Es waren die Kurfürsten von Mainz und Trier und der
Bischof von Münster, dazu kam der Herzog von Württemberg, dann
der Fürstabt von Stablo, die Stadt Aachen, die Abtei Kornelimün-
ster und das Stift Thorn. Außerdem waren an den Landgrafen von
Hessen, die Grafen in der Wetteran, im Westerwald und auf dem Eichs-
feld Einladungen ergangen. Auch den Herzog von Neuburg hatte der
Kurfürst von Köln zum Beitritt aufgefordert. Derselbe hatte jedoch
dies Ersuchen mit dem Hinweis darauf abgelehnt, daß Maximilian
1) Aitzema III, 797—800. Lettres et ndgociations entre Mar. Jean de Witt
et Mssrs. les Pl^uipotentiaires des Provinces-Unies des Pais Bas. Traduites da
Hollandais. Tome I. S. 21—23. Brief de la Haye le 9. oct. 1653. Ich citiere
nach dieser Uebersetzung, da mir das Original nicht zugänglich ist.
2) Aitzema III, S. 861.
3) In holländischer Sprache Aitzema III, S. 850 , in deutscher Londorp,
Bd. Vn, S. 875 Nr. 41.
846 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 22.
Heinrich ihm 1651 keine Hülfe gegen den Karfllraten von Branden-
burg gewährt habe ').
Unter diesen Fttrsten, mit welchen der Kölner KnrftlrBt ange-
knüpft hatte^ fehlte aber Friedrich Wilhelm von Brandenborg. Und
gerade sein Beitritt erschien den Generalstaaten in Folge besonderer
Umstände änfterst wünschenswert. Schon seit Längerem nnterban-
delte der Qesandte desselben im Haag am ein Bündnis. Durch ein
Versprechen im Bandesentwurf| welches dem brandenburgischen Kur-
fürsten »defensie in syn pretenderende recht tot de Guiichsehe,
Clelfsche ende aengehoerighe latitten«') yerhieft| hatte sich der
Pfalzgraf von Nenbnrg bedroht geglaubt und sich deshalb klagend
an den Kaiser und Reichstag gewandt. Hier hatten seine Machina-
tionen so gute Früchte getragen, daß die Generalstaaten sieh ent-
schließen mußten, um ernsten Dingen vorzubeugen, einen Gesandten
dorthin zu schicken '). Dieser Umstand, daß die Niederlande zu be-
fürchten hatten die Neutralität vom Reich gekündigt zu sehen,
wirkte auf die Verhandlungen mit dem Kölner Erzbischof zurück.
Der Eintritt Friedrich Wilhelms sollte dem geplanten Bande
eine solche Wendung geben, daß derselbe auch Sicherheit gegen den
Kaiser und die Spanier bot. Davon wollten aber der KurfQrst von
Köln und seine Genossen Nichts wissen, noch viel weniger sich na-
türlich für den Krieg gegen England, welchen die Niederlande da-
mals zu bestebn hatten, verpflichten. Daran zerschlugen sich die
Verhandlungen ^).
Die Folge davon war, daß Maximilian Heinrich sich mit den
benachbarten Reichsständen, dem Kurfürsten von Trier, dem Bischof
von Münster und dem Pfalzgrafen von Neuburg zu Köln am 15. De-
cember 1654 verband.
Also nicht allein durch die Furcht vor den drohenden Ueber-
griffen der Schweden, wie sich schon aus den mitgeteilten Thal-
Sachen ergibt, welche Dr. Joachim S. 22^42 übersehen hat, waren
diese Fürsten veranlaßt sich zusammenzuschließen ^). Außerdem hat-
ten aber noch andere Gründe hierzu mitgewirkt.
Da war einmal der jülich'sche Erbfolgestreit, welcher gerade
damals die Verbündeten wieder mit banger Sorge erfüllte.
Mit dem Tode Ferdinands IV. war die kaiserliche Gnaden-
1) Aitzema m, 868.
2) Aitzema lU, S. 848.
8) Aitzema III, 849, vgl. Green van Prinsterer, Archives de la maison d'Orange.
Serie II, Bd. V, S. 89. Lettre MXLVII.
4) Basnage, Annales des Provinces-Ünies, Vol. I, L. XXXL S. 325.
5) Vgl. £rdmannsdörffer, Graf Waldeck, Beilagen S. 459.
Joachim, Die Eutwicklimg des Rheinbundes vom Jfthre 1668. 847
fionne, welche bis dahin dem Pfalzgrafen von Neabarg geleuchtet
hatte, erloschen. Die Not die Stimmen der Kurfttrsten zu einer Neu-
wahl zu gewinnen zwang den Kaiser den Gegnern desselben ein ge-
neigtes Ohr zu leihen. Schon hatte das Haus Sachsen seine alten
Anrechte auf die Jülich 'sehe Erbschaft wieder angemeldet. Kurpfalz
erneuerte dringender denn je seine Ansprüche auf vier Jülich *sche
Lehen, welche angeblich an dasselbe heimgefallen waren. Dieselbe^
herauszugeben war jetzt Philipp Wilhelm vom Kaiser angewiesen
worden. Ueberrascht hatte er den König von Spanien um Hülfe ge-
beten. Nur der dringenden Bitte des Kurfürsten von Köln, Karl
Ludwig möge in dieser kritischen Zeit den Streit ruhen lassen,
wurde es verdankt, daß dieses Unge witter vorüberzog').]
Neben dieser Frage machte sodann den Fürsten der Streit des
Kurfttrsten von Köln mit der Stadt Köln über die Kriminaljustiz
viel zu schaffen. Es war zu Thätlichkeiten gekommen. Maximilian
Heinrich hatte die Schiffe und Waren der Stadt bei Bonn mit Be-
schlag belegt, die Stadt sich an den Gütern der Geistlichen ver-
griffen *).
Dazu bestand ein gespanntes Verhältnis nicht nur zwischen dem
Pfalzgrafen von Neuburg und dem Kurfürsten von Brandenburg
sondern auch zwischen dem letzteren und dem Kölner Erzbischof.
Lippstadt, eine Festung in der Grafschaft Mark, welche Friedrich
Wilhelm gehörte, hatte Maximilian Heinrich als zu seinem Erzbis-
tum gehörig zurückgefordert. Der Platz sei verpfändet. Er wolle
ihn einlösen').
Sollte nun der Kölner Bund in einer Zeit', wo so drohende
Wolken sich am politischen Horizonte auftürmten, Schutz gewähren,
so kam es darauf an denselben durch den Beitritt anderer Staaten
dazu fähig zu machen.
Ein Schritt zu diesem Ziele war der Frankfurter Bund vom
11. August 1655, welcher die kurrheinische Kreisdefension mit der
Kölner Einung verschmolz.
Ein anderer gieng von dem Kölner Kurfürsten aus. Denn die-
ser, nicht der Bischof von Münster, wie aus den Aktenstücken Aitze-
mas erhellt, welche Dr. Joachim S. 119—121 nicht herangezogen
hat und dadurch die Sachen unrichtig darstellt, hat mit den Gene-
ralstaaten angeknüpft.
Am letzten März 1655 trafen die kölnischen Gesandten, der
1) Lettres de Jean Witt, vol. L S. 234 de Paris le 20. mars 1664, S. 273
de Paris le 26. dec. 1664.
2) N^. m, S. 622.
8) N^g. m, S. 616, 638.
848 Gott. geL Anz. 1887. Nr. 22.
Domkapitular Andreas von Walenburg and der kurfttrstliche Bat
und Amtmann zu Rheinberg, Johann Arnold von Backhorst, im Haag
ein. Sie hatten die Aufgabe die Gerüchte za widerlegen | welche
aafgetaacht waren, als wenn ihr Herr sich darch den Kölner Bond
nur den Rücken habe decken wollen ; am einen Anschlag aaf die
Festang Rheinberg, welche die Holländer besetzt hielten, za machen.
Zagleich sollten sie aaf ein Bündnis antragen.
Anfangs nahmen die niederländischen Staatsmänner die Anträge
gat auf. Jedoch schon im Juni begann das freundschaftliche Ein-
yernehmen zu erkalten. Die Oeneralstaaten entfernten die Katholi-
ken aus dem Magistrat von Rheinberg und setzten daftir Refor-
mierte ein ^). Dies hatte zur Folge, daß sich der Kurfürst von Köln
zurückzog.
Die officielle Einladung der Genossen des Frankfurter Sondes
zum Beitritt wurde daher den Generalstaaten durch den pfalzgräfli-
chen und münsterischen Gesandten, den Freiherrn von Virmond nod
den Kolonel Wilich, überreicht.
Auf dieselbe einzugehn verspürte man im Haag wenig Lost. Es
regten sich Zweifel, ob der Bund dem Kurfürsten von Brandenbarg
angenehm sei. Sein Gesandter hatte diese Einladung, wie Alles,
was von dem Herzog von Neaburg kam, verdächtig gefanden').
Vergeblich suchte der kurmainzische Gesandte von Herzelles, welcher
im März 1657 im Haag erschien, den Dingen eine andere Wendong
zu geben, indem er an die gemeinsame Abstammung der Niederlän-
der und Deutschen appellierte').
Die Parteinahme der Generalstaaten für die Stadt Münster ge-
gen den Bischof derselben führte zum Bruch. Die Folge war, daft
sich die rheinischen Alliierten Frankreich in die Arme warfen.
Zwar hatten einige derselben schon vorher mit Mazarin in Unter-
handlung gestanden. Jedoch war der Zweck hierbei mehr daraof
hinausgelaufen, einen Bund zu Stande zu bringen, welcher einen
nicht habsburgischen Kandidaten mit Waffengewalt auf den Kainer-
tbron führen sollte. Auf die Geschichte dieser Bestrebangen ^) ein-
zagehn liegt aber nicht in unserer Aufgabe. Wir greifen nar einen
Punkt heraus.
1) Lettres de Jeau Witt, Bd. I, S. 466 de la Haye le 3. aoftt 1656, AiUema
m, S. 1320, 1321 f.
2) Aitzema III, S. 1326.
3) Aitzema IV, 118—123, vgl. Basnage I, 494.
4) Vgl. hierüber meinen Aufsatz: Beiträge zur Geschichte der Politik der
Pfalzgrafen Wolfgang Wilhelm und Philipp Wilhelm von Neuburg in den Jahren
1630—1660 in der historischen Zeitschrift für Schwaben und Keuburg 1886.
S. 33 - 36.
Joachim, Die Eotwicklung des Rheinbnndes vom Jahre 1658. 849
Unter den Kandidateo für die Kaiserkrone, welche durch den
Tod Ferdinands III. im Jahre 1657 erledigt war, wurde auch der
Pfalzgraf Philipp Wilhelm von Neuburg genannt. Von Mazarin war
ihm diese Kandidatur aufgedrungen ^). In welcher Absicht? Der
Pfalzgraf war machtlos, durch den extrem katholischen Standpunkt,
welchen er einnahm, den Protestanten wenig genehm, dazu mit den
drei KurfUrsten von Sachsen, von der Pfalz and von Brandenburg
durch den jiilich'schen Erbfolgestreit verfeindet. Wie konnte da Ma-
zarin ernstlich meinen denselben zum Kaiser machen zu können?
Die Zeitgenossen schöpften daher schon Verdacht, als weon der
Kardinal etwas Anderes dabei im Schilde fUhre. Man vermutete,
Mazarin habe diese Kandidatur deshalb aufgebracht, um die Lud-
wigs des Vierzehnten annehmbar zu machen.
Wie dem auch sei, jedenfalls steht diese Kandidatur des Pfalz-
grafen mit seiner gleichzeitigen Bewerbung um den poloischen Kö-
nigsthron im Zusammenhang.
Denn auch die letztere war gegen das Haus Habsburg gerich-
tet. Als Preis seiner Hülfe gegen Karl Gustaf von Schweden war
nämlich Ferdinand dem Dritten im Jahre 1657 die Nachfolge in Po-
len nach dem Tode Johann Kasimirs für seinen zweiten Sohn Karl
Joseph in Aussicht gestellt^). Da aber nicht der ganze polnische
Adel damit einverstanden war, schien auch für andere Bewerber die
Möglichkeit vorhanden zu sein ihr Glück zu versuchen.
Philipp Wilhelm bot sich dazu französische Hülfe. Der Grund
war folgender. An die Spitze der MisvergnUgten hatte sich die pol-
nische Königin gestellt. Der Argwohn, der österreichische Prinz
werde nie ihre Nichte heiraten, welche sie zur Gemahlin des künf-
tigen Thronfolgers ausersehen hatte, bestimmte sie dazu als Nach-
folger ihres Gemahls den Herzog Enghien, den Sohn Gond6s, ins
Ange zu fassen. Ein Sohn des Mannes aber, welcher tötlich mit
dem Kardinal verfeindet war und dabei auf spanischer Seite focht,
konnte unmöglich den Beifall des französischen Hofes fioden').
So kam es, daß der lang gehegte Wunsch des Pfalzgrafen pol-
nischer König zu werden von Mazarin gefördert wurde ^). Aber
1) Urkunden und Aktenstücke zur Geschichte des GroSen Kurfürsten, Sim-
son Bd. n, 120, Erdmannsddrffer Bd. VIU, S. 474, 475. Save, Kejsarvalet i
Frankfurt 1657-1658, S. 39. Vgl. Pufendorff, De rebus Caroli Gustavi, L. IV,
§ 44, 45, S. 299, 300 f.
2) Pufendorff, De rebus Caroli Gustavi, L. II, §27, S. Ill, L. Ill, §74, S.212,
L. IV, § 6 S. 249, § 37, 38 S. 286-288,
3) Erdmannsdörffer Bd. VUI, S. 276, 295, 330. Pufendorff L. IV, § 46 S. 303.
4) Wagner, Historia Leopold! Magni S. 224.
850 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 22.
trotzdem sollte Philipp Wilhelm denselben nicht in ErftlUang gehn
sehen. Die Polen waren ihm entgegen und ebenfalls der Karfllrst
von Mainz. Angeblich soll der Minister des letzteren Boineburg im
Jahre 1657 den Pfalzgrafen bewogen haben seine Bewerbung aaf-
zugeben, um keinen Krieg Über Deutschland heranfzubesebwören.
Als Entschädigung seien daftlr — und hier tritt der Zusammenhang
beider Kandidaturen hervor — Philipp Wilhelm Hoffnungen auf die
Kaiserkrone gemacht Selbst diese Kandidatur habe dann Boine-
burg dem Kardinal widerraten und so den Pfalzgrafen um zwei Kro-
nen betrogen^).
Diese Angaben entsprechen nicht ganz der Wahrheit. Schon
vor 1657 ist von der Kandidatur des Pfalzgrafen für den Kaiserthron
die Rede. Allein etwas Genaueres hieraber zu ermitteln ist nicht
möglich gewesen'). Denn die mainzische Politik ist nicht in dem
Maße, wie notwendig, aufgeklärt. So dankenswerte neue Anfschlttsse
die Arbeit Dr. Joachims auch über dieselbe gibt, ein klares endgfll-
tiges Urteil ist dadurch nicht gewonnen. Noch heute stehn sich
zwei Auffassungen unvermittelt einander gegenüber, die Droysens und
die Guhrauers'), oder, um weiter zurückzugehn , diejenige , welche
wir in Friedrich Wilhelm Pufendorffs und diejenige, welche wir in
seinem Karl Gustaf^) und den Berichten Vautortes finden. Nur
nach den Materialien fremder Archive ist hier die Politik Jobann
Philipps beurteilt. Dies nach den eigenen mainzischen Akten zu
thun, wenn sie noch vorhanden sind, — und sie befinden sieb wahr-
scheinlich in Wien, ~ hätte in der Aufgabe des besprochenen Wer-
kes gelegen. Denn der Rheinbund des Jahres 1658 galt als das
eigenste Werk Johann Philipps. Also gerade hier wäre AufsehluB
zu erhoffen gewesen, ob wirklich jene Schildträgerei für Frankreich
freier Wille des Kurfürsten gewesen ist. Aus dem oben Mitgeteilten
geht doch wohl hervor, daß nur nachdem man allerorts vergeblich
angeklopft hatte, der Weg ins französische Lager eingeschlagen
wurde. Gewonnen haben aber anfangs die Kurfttrsten des Rhein-
bundes nichts dadurch. Ihre Präeminenz erhielt durch den Einfluß
der fremden Mächte einen Stoß. Denn ohne Unterschied, was Dr.
Joachim nicht berührt, unterschrieben die Gesandten sowohl der Für-
*
1) Puf. L. y. § 46, S. 414—416. Daraus wohl entlehnt Basnage, Annales des
Pro^inces-Ünies, Tome I., S. 689.
2) Akten, welche Aufschluß hierüber enthalten zu haben scheinen, sind noch
Ton Bommel, Geschichte Hessens Bd. IX, S. 242 Anm. benutzt. Dieselben sind
bis jetzt im Marburger Staatsarchiv nicht aufzufinden gewesen.
8) Gnhrauer, Eurmainz in der Epoche von 1672, S. 89 f.
4) Vgl. dazu das citierte Werk von S&ve.
üpsala LäkareföreniDgs Förhandliogar. XXII. 851
sten als anch der Earfttreten die Urkunde des Rheinbandes als
»legati«, während Tordem den ersteren nnr der Titel »depatatic
zustand ').
Im weiteren Verlauf des Rheinbundes hat dann allerdings der
Kurfürst von Mainz Vorteile aus der Allianz mit Frankreieh gezogen.
Jedoch dies darzulegen geht über den Rahmen der Arbeit Dr. Joa-
chims und unserer Aufgabe hinaus.
Hamburg. Oskar Krebs.
üpsala L&kare Förhandlingar. Redigeradt af R. F. Fristedt. Tjuju-
andra Bandet. Arhetsäret 1886—1887. Upsala 1887. Akademiska Boktryk-
keriet, £dv. Berling. 594 S. 8^
Der zweite Band der zweiten Dekade der Upsalaer medicinischen
Zeitschrift ist durch große Reichhaltigkeit und Mannichfaltigkeit des
Inhalts ausgezeichnet.
Von großem Interesse sind die Mitteilungen aus der medicini-
schen Klinik, welche teils von dem Dirigenten, S. B. Henschen, teils
von Albin Sjöling, F. Lennmalm und H. Oraeve herrühren. Hen-
schen und Sjöling behandeln die Methoden der klinischen Bestim-
mung des Hämoglobingehaltes des Blutes, wobei sie zu dem Resul-
tate kommen, daß das Hämometer von Fleischl die richtigsten Re-
sultate gibt. Lennmalm bringt einen interessanten Beitrag zur Kennt-
nis der amyotrophischen Lateralsklerose, für welche er übrigens den
Namen amyotrophische Pyramidsklerose als passender vorschlägt, da
die Affektion hier, wie auch in früher von Kowejnikow und Charcot
beschriebenen Fällen, sich keineswegs auf die Medulla spinalis be-
schränkte, sondern die ganzen Pyramidenbahnen von der Gehirnrinde
durch das Oehirn, verlängerte Mark und Rückenmark Degenerationen
zeigten. Der Fall, an sich interessant, da die amyotrophische La-
teralsklerose nur eine sehr geringe Kasuistik darbietet, ist es da-
durch nmsomehr, daß die topographische Verteilung der Entartung
in Gehirn und Rückenmark so genau wie möglich nachgewiesen
wnrde, wobei übrigens im Allgemeinen die von Flechsig u. a. als
motorisch bezeichneten Gebiete sich betroffen zeigten. Neben diesen
Degenerationen fand sich Atrophie der großen Zellen in den Vorder-
hörnern des Rückenmarks, namentlich im Gervicalteile, beginnende
Alteration in den Kernen des Hypoglossus und Vagus-accessorius,
Degeneration und Atrophie in den austretenden Wurzeln des Facia-
1) Leibniz, Staatswissenschaftliche Werke Bd. lY, S. 207.
862 Gott. gel. Auz. 1887. Nr. 22.
ÜB, Vagas, Accessorius and Hypoglossus und in einem Teile der pe-
ripheren Nerven. Ebenso wertvoll wie der Fall selbst, ist die an
denselben geknüpfte Darstellung der früheren Litteratur und die ta-
bellarische Gegenüberstellung von 32 reinen Läsionen der motori-
schen Bahnen, in denen Veränderungen sowohl in den Pyramid-
bahnen als in den grofien Zellen der Vorderhömer resp. der Bulbar-
kerne gefanden wurden, und von 11 Fällen, wo die Zellen der Vor-
derhömer und die Bulbarkerne afficiert, die Pyramidenbahnen da-
gegen nicht betroffen waren. Leunmalm gelangt dadurch zu einem
bestimmten Gegensatze zwei symptomatisch und anatomisch wohl zu
unterscheidender Krankheiten, insofern die letzteren der progressiven
Huskelatropbie (Atrophie vor der Lähmung, keine spastische Erschei-
nungen), die ersteren der amyotrophischen Lateralsklerose (Lähmung
der Atrophie vorangehend, Anwesenheit spastischer Symptome) ange-
hören. Lennmalm ist der Ansicht, daß die von Leyden angeführten
Fälle, welche gegen die Existenz der Cbarcotschen Lateralsklerose,
soweit das Bild derselben spastische Erscheinungen und Steigerang
der Sehnenreflexe in sich begreift, sprechen sollen, nicht beweisend
seien, zumal da sie größtenteils aus der Zeit vor 1875, dem Ent-
deckungsjahre der Sehnenreflexe seien. Von Interesse ist auch die
weitere auf jene Tabellen gestutzte Beweisführung, daß die progres-
sive Bulbarparalyse keine selbständige Krankheit ist, sondern ent-
weder ein Glied in der Kette der amyotrophischen Lateralsklerose
darstellt oder, jedoch seltener, der protopathischen spinalen Muskel-
atrophic angehört.
Ein weiterer , zumal diagnostisch, interessanter Fall aus der
Upsalaer Klinik wird von Henschen und Graeve mitgeteilt. Es
handelt sich um einen Fall von Leberkrebs mit Dilatation und
Hydrops der Gallenwege, die bei der Sektion deutliche Fluctua-
tion zeigten, welche, wenn sie bei Lebzeiten geftlhlt worden wäre,
auf Echinococcus oder Leberabscess hätte bezogen werden kön-
nen. Außerdem teilt Graeve die auf Henschens Klinik gemachten
Versuche mit Antifebrin mit, dessen antipyretische Wirksamkeit sich
so bewährte, daß es dem Antipyrin sich nahestellt, vor dem es den
Vorzug des 50 mal billigeren Preises besitzt. Im Uebrigen scheint
man in Upsala in Bezug auf die Anwendung der antipyretischen Me-
thode den gesunden Principien zu huldigen, wie sie sich auch bei
uns im Gegensatze zu den anfänglichen ttbertriebenen Lobeserhebun-
gen und zu der modernen Samuelschen Verurteilung der Antipyrese
bei den meisten Praktikern und Klinikern als die richtigen erwiesen
haben. Wir finden dieselben niedergelegt in einem schönen Vortrage
von F. Lennmalm über die Bedeutung und Berechtigung der Anti-
üpsala Läkareförenings Förhandlingar. XXII. 853
pyrese, dessen Schlußsätze mit dem Hauptresultate der frtiher von
uns in diesen Bl. besprochenen Untersuchungen F. W. Warfvinges
zusammenfallen. Danach ist der Zielpunkt der Behandlung fieber-
hafter Krankheiten die Auffindung specifischer Arzneimittel gegen jede
einzelne derselben, und die Antipyrese, so lange dies Ziel nicht er-
reicht ist, nur in gewissen Fällen als symptomatisches Mittel ge-
rechtfertigt. Lennmalm betont dabei, daß man die hydriatrische Me-
thode wohl von der medicamentösen trennen müsse; erstere, von
welcher er jedoch die rigorose Kaltwasserbehandlung ausgeschlossen
wissen will, wirke mehr kräftig stimulierend auf den Organismus als
temperaturherabsetzend. Die Indikationen der einzelnen Antipyretica,
so weit solchen nicht eine gewisse Specificität der Aktion auf be-
stimmte Pyrexien zukomme, hält Lennmalm fUr höchst unsicher,
nnd nur in seltenen Fällen, wo es sich um sog. hyperpyretische Tem-
peraturen handle, werde eine direkte Bekämpfung der erhöhten Kör-
perwärme notwendig.
Wie die klinische Medicin findet auch die Chirurgie in dem vor-
liegenden Bande durch mehrere Aufsätze Vertretung, die zum größe-
ren Teil kasuistischer Art sind. Interessant ist eine Mitteilung von
Jacques Borelius über einen Cancer en cuirasse, der nach einem
Stoße einer Kuh sich von der Leistengegend aus entwickelte und
eine Zeit lang diagnostische Schwierigkeiten, da man an Pachydermie
denken konnte, machte, welche die Entwicklung von Krebskachexie
und die mikroskopische Untersuchung der Neubildung jedoch be-
seitigte. Ein interessantes Moment in diesem Falle ist die Verkleine-
rung des Neoplasma nach dem Befallenwerden von Erysipelas, das
den Kranken nicht weniger als drei Male heimsuchte. Auch ein von
Borelius mitgeteilter Fall von Verblutung ans dem Nabel am 12.
Tage nach der Geburt, zweifelsohne auf septischer Basis, ist nicht
ohne Interesse.
Eine andre Abteilung kasuistischer chirurgischer Mitteilungen
rührt von Alfred Svensson her und bringt Beiträge zu den Kopf
Verletzungen (Quetschwunde am Kopfe mit Schädeleindruck, snbdura-
1er Absceß mit eitriger Meningitis nach einer Hiebwunde auf den
Kopf), einen Fall von spontaner Gangrän des ganzen Beines nnd
Exarticulation mit günstigem Ausgang und einen Fall glücklich
operierter Hydromeningocele frontalis. Allgemeineren Inhalts sind
zvrei Abhandlungen von 6. Boiling, von denen die eine über Opera-
tionswunden ohne Dränageröhren handelt, während die zweite Bei«»
trttge zur plastischen Chirurgie in Bezug auf Hasenscharte nnd Lip-
penkrebs liefert. Erwähnenswert ist, daß der Verfasser statistiscb
zeigt, daß die Sterblichkeit der an Hasenscharte operierten Kinder
864 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 22.
nicbt viel die der Mortalität in dieser Lebensperiode übersteigt ond
dafi Boiling bei Labium leporinam die Schnittftihrang von LaDgen-
beek und J. Wolff kombiniert, so daß die Nafatlinie das Aaseeben
eines umgekehrten liegenden 8 bekommt. Blutleere wird dnreb zwei
Kautscbukplatten hergestellt. Das Zusammenreihen geschieht mit
Seide und Catgut, dann wird JodoformcoUodinm aufgepinselt Bei
Prominenz des Zwischenkiefer rät Boiling zur Verkleinerung durch
Wegpräparieren der Seitenteile. Von 9 durch Boiling operierten
Kindern mit koniplicierten Hasenscharten sind noch sieben ana Le-
ben, das jüngste über 1 Jahr alt. Boiling berichtet auch Über seine
Operationen von Palatum fissum, wobei er den weichen und harten
Gaumen stets in einer Sitzung operierte, und Aber 26 Fälle von
Lippenkrebs, wovon 2 nach S'/s Jahren lokal recidiv wurden, wäh-
rend in einem anderen die Lippe intakt blieb, dagegen Krebs in den
Unterkieferdrttseu auftrat Bei kleinen Lippenkrebsen operierte er
stets zur Erziehung besseren kosmischen Erfolges mit rectangnläreB
Schnitten.
. Reich ist wie immer auch die Physiologie, in erster Linie dorch
einen ausgezeichneten Aufsatz über die Entwicklung und die gegen-
wärtige Stellung der Physiologie, der die Antrittsvorlesung von
Magnus Blix bei Uebernabme der physiologischen Professur in Land
bildet, dann durch zahlreiche physiologisch-chemische Arbeiten von
Hammarsten und verschiedenen seiner Schüler. So handelt Lincoln
Paijkull über den Schleim der Galle, dessen Natur als Nucleoalbamin
er darlegt, und Helge Röd^n über die Einwirkung des Blutserum auf
die Coagulation der Milch durch Laab. Hammarsten selbst kommt
auf ein bereits im vorigen Jahre von Mörner behandeltes Thema
zurück, auf den Nahrungswert der eßbaren Schwämme, wobei er die
ganz bestimmt richtige Ansicht ausspricht, daft auch die durch die
neueren Untersuchungen veränderte Position der eßbaren Pilze in
der Reibe der Nahrungsmittel keinen Anlaß gebe, die Anbahnung
der Verwertung dieses Materials als Volksspeise für eine wertlose
Arbeit zu erachten.
Die pathologische Anatomie ist durch einen von R. Friberger
mitgeteilten Fall von Herzruptur mit Berstung des Pericardium and
Bluterguß in das Mediastinum vertreten. Reichhaltig ist der vor-
liegende Band an Aufsätzen, die in den Bereich der Pharmakologie
und der verwandten Displinen fallen, insbesondere an solchen bal-
neologischen Inhalts. Außer einem interessanten Reisebericht Fri-
stedts, der sich auf deutsche Verhältnisse bezieht, haben wir zwei
Aufsätze von Karl Hedbom über Blntegelkokons und die Brodfrüchte
von Südasien zu verzeichnen. Von balneologischen Artikeln sind ein
Upsala, Läkareförenings Förhandflngar. XXII. 855
Beriebt von M. Blix ttber die B rannen- und Badeanstalt zu Porla
und eine Mitteilung von Ekstrand ttber das Eisenwasser von Ttterän
in Jemtland hervorzuheben. Die Quelle steht nach ihrem Eisenge-
balte zwischen Lund und Porla, indem sie in 100,000 Teilen 3,66
Eisencarbonat enthält; doch scheint die Zusammensetzung nicht
ganz konstant zu sein, indem eine frühere Analyse sogar 5,46 Fe COs
lieferte, wonach sie reicher als Porla an Eisen sein würde. Es ist
jedenfalls darauf zu achten , ob diese Schwankungen in den einzel-
kien Monaten konstante siod, wie dies z. B. bei St. Möriz der Fall
ist oder ob überhaupt eine Abnahme von Fe in derselben stattfindet.
Besonders interessant ist noch eine größere Arbeit von Hjalmar
Oehrwall über Teneriffa als klimatischen Kurort, auf die eignen Er-
fahrungen des Verfassers gestützt, der diese Insel wegen eines Brust-
leidens aufsuchte. Der Aufsatz, der sowohl die meteorologischen als
die socialen Verhältnisse der Canarischen Inseln eingehend beleuch-
tet, ist ganz bestimmt von sehr praktischer Bedeutung, indem er
darthut, daß diejenigen Momente, welche der Insel Madera ihre Aus-
nahmestellung unter den klimatischen Kurorten verleihen, nämlich
die geringen Tages- und Jahresschwankungen der Temperatur und
die Regularität der meteorologischen Verhältnisse, Teneriffa in der*
selben Weise zukommen. Es kann kaum einem Zweifel unterliegen,
daß bei Zuzug guter Aerzte und Einrichtung von Hotels mit Pensio-
nen und Komfort Teneriffa bald Madera eine große Konkurrenz
bereiten würde, zumal wenn die Wohlfeilheit des Aufenthalts da-
durch keine Beeinträchtigung erlitte. Die Temperatur der Winter-
station Puerto de Orotova auf Teneriffa ist sogar um 2^ höher,
als diejenige von Funchal, die Luftfeuchtigkeit ist etwas gerinr
ger, ebenso die Zahl der Regentage, der Wind regelmäßiger, die
Landung leichter und bequemer, die Wege bedeutend besser und Aus-
flüge und Promenaden leichter, endlich auch Phthisis auf Teneriffa
seltener als in Madera. Wie auf letzterer ist auch hier ein Wech-
sel des Aufenthaltes im Sommer und Winter zweckmäßig, wobei Icod
de los Vinos und Lagnna sich besonders für die wärmere Jahres-
zeit eignen. Einen Nachteil hat Teneriffa übrigens mit Madera ge-
mein, den freilich für Schwerkranke sehr wohlthätigen Mangehan
Zerstreuung, der aber allerdings, sobald sich eine größere Zahl
Fremder dort niederläßt, nicht so schwer ins Gewicht fallen wird,
wie jetzt, wo wenigstens derjenige, der sich nicht selbst zu zer-
streuen weiß, für passende Gesellschaft selbst zu sorgen wohl thut.
Dafür entschädigt freilich der Umstand, daß schlechte Jahre, wie
man sie in alpinen Winterkurorten und an der Riviera oft bejam-
mern hört, hier ausgeschlossen sind. Der Aufsatz enthält ein sehr
856 Gott. gel. Anx. 1887. Nr. 22.
reichbaltiges VerzeichBis der Litteratar, worunter diverser spani-
Bcher Litteratar, die bei ans bisher wenig bekannt warde. End-
lich ist von baincologischen Arbeiten noch eine sehr gediegene
Abhandlung von 0. V. Petersson über die Behandlang scrophuldser
Kinder in Krankenhäusern an der Seekttste zu nennen, in welcher
die Aufmerksamkeit des schwedischen Publikums auf diese Kinder-
heilstätten und ihre Erfolge gelenkt wird. Es würde allerdings zu
wünschen sein, daß diese Institute an der langgestreckten Küste des
nordischen Königreichs Eingang finden, wie es ja auch die Ferien-
kolonien getban haben, Über deren wohlthätige Wirkung FetersBon
nach seinen Erfahrungen in Sätra am Schlüsse der Abhandlang Mit-
teilungen macht.
Eine Zierde des vorliegenden Bandes bildet endlich der an
Stiftungsfeste des ärztlichen Vereins von Upsala gehaltene Vortrag
von F. Lennmalm, in welchem der Redner einen Ueberblick über
die geschichtliche Entwicklung der Arzneiknnst in Schweden gibt.
Dieselbe ist insofern eine eigenartige, als die eigentliche schwedi-
sche Medicin sich erst außerordentlich spät entwickelte (im 16. and
17. Jahrhundert gab es in Schweden fast ausschließlich ausländische^
besonders deutsche Aerzte) und als der Gegensatz der Wundarznei-
künde und der internen Medicin kaum in einem anderen Lande in
so später Zeit noch so prägnant hervortritt, wie in Schweden, wo
erst 1797 die »chirurgische Societätc aufgehoben wurde. Die Be-
deutung der schwedischen Medicin als wesentlicher Teil des Oanzea,
wie sie die Gegenwart bietet und wovon auch der vorliegende Band
der Upsalaer Zeitschrift wiederum einen Beleg gibt, datiert erst ans
den Zeiten, wo auch die sociale Stellung der Aerzte in Schweden
eine bessere wurde. Es ist nicht allein a priori anzunehmen, son-
dern faktisch nachweisbar, daß in den Jahrhunderten, wo eben die
Schweden selbst die Heilkunst auswärtigen Doktoren und Barbieren
Oberließen und die Hörsäle der Professoren der Medicin in schwe-
dischen Universitäten leer blieben, die sociale Stellung der Aente
eine so wenig geachtete war, daß ein schwedischer Minister sich ge-
gen den Verdacht reinigen mußte, daß er Doktor der Medidn sei (I)
und außerdem die pecnniären Einnahmen aus der Ansübang der
Heilkunde nur höchst unbedeutend waren.
Der vorliegende Band enthält auch eine'wertvolle Beigabe von
Tafeln zu Lennmalms Abhandlung über Lateralsklerose und Boilings
Beiträgen zur plastischen Chirurgie.
Theodor Hasemann.
Für die Redaktion renntwortlich : Prof. Dr. SsekM, Direktor der Q«ti. g«L Abs.,
AeeeiMor der Königlichen GordlAckaft der Wieaenerhaften.
V0tlaff dm- DüUhch'aekiH \§riag9 -Bvckktmdhmfi.
Dmck d§r Di^UrieV^ekm ünit.-BnckdiudurH (Fr. VF. EatUmtrh
on'' .
867
Göttingische
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Nr. 23. 15. November 1887.
^fO^reis des Jahrganges: JL 24 (mit den »Nachrichten d. k. G. d. Wiss.«: JL11),
Preis der einzelnen Nummer nach Anzahl der Bogen: der Bogen 50 ^
Inhalt : Weiss, Lehrbuch der EialeHang in das Nene Testament. Von Bdttmawn. — Deutsche
Reichstagsakten. Vierter und fünfter Band. Von Kageltnacher, — Y olkmar, Paulos von Damaskus
bis zum Oalaterbrief. Von Orqfe.
= Eigenmächtiger Abdruclc von Artiiceln der G6tt. gei. Anzeigen verboten. =
WeiB, Bernhard, Lehrbuch der Einleitung in das Neue Testa-
ment. Berlin, Hertz. 1886. XIV u. 643 S, 8^
In seiDer Anzeige des vorliegenden Werkes macht A. Harnack
(Theologische Litteratarzeitnng 1886, S 554 f.) die zutreffende Be-
merkung: »Die Kritik am N. T. bat mit der Textkritik begonnen;
ihr ist dann die Kritik der Sammlung und endlich die Kritik der
einzelnen Schriften gefolgt. In derselben Reihenfolge scheinen sich
auch die sicheren Ergebnisse der Kritik festzustellen and zn Aner-
kennung zn gelangen. In Bezug auf die Textkritik ist das schon
in großem Umfange geschehen. Daß auch die Kanonsgeschichte —
wenigstens in gewissen Orundzügen — demnächst zu den Gebieten
gehören wird, über die kein Streit ist, das scheint mir diese neue
Einleitung zu verbürgen. c
Was nun die Behandlung der Textgeschichte in vorliegendem
Werke betrifft, so liegt dieselbe, da sie der Begriffsbestimmung der
ganzen Disciplin zufolge in dieser eigentlich ein hors d'oeuvre bildet,
vielmehr der Hermeneutik zuzuweisen wäre, nur in Form eines An-
hangs als ttbersichtliche und auch wenigstens für die Zwecke der
Studierenden (nicht aber der Facbgenossen) genügende Zusammen-
stellung der wesentlichsten Resultate vor. Positiv werthvoU und för-
derlich ist dagegen die Entstehungsgeschichte des neutestamentlichen
Kanons mit ihrer tapferen Polemik gegen »völlig geschichtslose Fic-
tionen« (S. 23) von Sammlungen neutestamentlicher Schriften, wie
G«tt. gel. Ans. 1887. Nr. 28. 59
85S Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 23.
sie nicbt bloß die traditionelle Theologie, sooderu aaeh Ewald aod
Tischendorf zu Harkt gebracht haben. Von einer geschlossenen
Sammlung yon Evangelien kann vor Mitte des 2. Jahrhunderts , von
einer kanonischen Wertung apostolischer Briefe auch zu Justins
Zeiten noch nicht die Rede sein. Aber die von Letzterem bezeogte
gottesdienstliche Lesung der »apostolischen Denkwürdigkeiten c mufite
zur Bildung eines Evangelienkanons führen. Da auch dieser sich
im Kampfe mit derOnosis nicht ausreichend erwies, trat den »Herm-
wortenc, wie sie in den Evangelien fixiert waren, die apostolische Lehr-
überlieferung, trat eben damit auch dem Evangelienkanon ein apo-
stolischer Kanon zur Seite, dessen Umfang 'sich freilich erst sehr
allmählich bestimmt abgegrenzt hat. Von einem Gesetze der Kanon-
bildung kann nur in sehr relativer Weise die Rede sein, da das
Princip der Apostolicität, welches ihr allein zu Grunde gelegen haben
könnte , um der mannigfachsten Ursachen willen jeder konsequenten
Durchführung ermangelte.
Gleichzeitig mit dem Werke von Weiß hat der Unterzeichnete
eine zweite Auflage seines eignen Lehrbuches der neutestamentlichen
Einleitung erscheinen lassen. Die Uebereinstimmung reicht gerade
in der Geschichte des Kanons weiter als der Dissensus. Dem Ver-
fasser kommt es freilich nur darauf an, den letzteren hervorzuheben.
Gleich in der Vorrede S. V scheint ihm meine Aeußerung, das
Christentum sei »Buchreligion« von Anfang gewesen, wogegen er
ein »Gottlob, daft dem nicht so war« ausspielt, den Gegensatz beider
Auffassungen am treffendsten und schärfsten auszudrücken. Alleia
jene Eigenschaft als »Buchreligion« hat ja auch nach meiner Dar-
stellung keinen anderen Sinn, als daß der Christenglaube nicht etwa
bloß auf die alttestamentliche Offenbarung, sondern auf ihre als in-
spiriert geltenden Schriftdenkmäler , auf den Offenbarungscodex des
Alten Testamentes sich stützt, welchem zunächst nur mündlich fiberlie-
ferte Herrnworte, erst sehr allmählich aber auch urchristliche Schriften
mit gleichem Ansprüche auf kanonische Dignität an die Seite ge-
treten sind. So bat meine Aeußerung selbst Nösgen (Theol. Litte-
ratnrblatt S. 67) richtig verstanden, und da auch Weiß dem darge-
legten Thatbestand sowohl nach seiner alttestamentlichen wie nach
seiner neutestamentlichen Kehrseite durchweg gerecht wird, so sehe
ich in der That nicht ein, wo der sachliche Wert seiner emphatischen
Bede zu suchen sei. Vielmehr besteht zwischen nns nur der Unter«
schied, daß mir »die Anfänge der neutestamentlichen Kanonbildnng«,
welche Weiß in den Anfang des 3. Jahrhunderts setzt (S. 76), ebenso
gut oder besser dem Ende des 2. Jahrhunderts zuzuweisen scheinen.
Damit hängt es zusammen, wenn ich sie mit der Entstehung der
WeiB, Lehrbuch der Einleitung in das Neue Testament. 859
katholischen Kirche in Verbindung bringe, was nach Weiß »bestimmt
bestritten werden mnß.< Da die Kirche das Subject ist, welches den
Kanon bildet, so ist sie freilich logischer Weise yorher da; wenn
man aber das Vorhandensein einer Kraft nur aus ihren Wirkungen
erkennt, so gewinnt die Behauptung der Gleichzeitigkeit um so mehr
Berechtigung, als ja nun doch einmal die Thatsache vorliegt, daß
die frühesten Spuren kanonischer Wertung neutestamenüicher
Schriften sich zeitlich unmittelbar an das erste Hervortreten des
Terminus »katholische Kirche« anschließen. Um einen gegenteiligen
Eindruck hervorzurufen, muß Weiß selbst das Muratorische Fragment
ohne jedweden positiven Beweis aus seiner, durch Selbstzeugnis be-
gründeten und fast von allen Forschern angenommenen, chronologi-
schen Stellung hinauswerfen (S. 78 »nichts hindert, auch bis in den
Anfang des dritten Jahrhunderts hinabzugehn«). Wie auf diesem
Punkte, so geht Weiß in skeptischer Kühnheit über meine Auf-
stellungen auch bezüglich der Stellung, welche der zweite Clemens-
brief (S. 34) und Melito von Sardes (S. 52) in der Kanongeschichte
einnehmen, hinaus, während andererseits bei ihm die Abweichungen
des syrischen Kanons von dem der Beichskirche thunlichst verdeckt
werden. Letzteres ermöglicht sich nur dadurch, daß wie Anderes
(z. B. das Indiculum Africanum), so auch die syrischen Didaskalien
in der Darstellung des Verfassers keine Stelle gefunden haben.
Mancherlei Indicien daftlr, daß auch in der griechischen und lateini-
schen Reichskirche der Kanonschluß auch im 5. Jahrhundert noch
keineswegs überall als definitive Thatsache hingenommen wurde,
werden zu rasch als gelehrte Anwandlungen Einzelner abgefertigt
(S. 101. 104). Wie sollte denn gerade dem Hieronymus bei seinen
bekannten Tendenzen eine »übertreibende Art« (vgl. auch S. 414.
448), solche Bedenken aufzufrischen und zu betonen, beizumessen
sein? Thatsächlich geht vielmehr unser Verfasser in apologetischer
Richtung hinter einen Besitzstand von geschichtlichem Wissen zurück,
welchen Hieronymus trotz aller orthodoxen Velleitäten nicht zu ver-
leugnen vermochte (vgl. auch S. 405. 469), wie er auch die Erträg-
nisse kritischer Beobachtungen verspielt, welche schon die Aloger
(S. 360), Clemens (S. 417) und Dionysius von Alexandria (S. 91.
361. 463 f. Ö92), Eusebius (S. 358) und Kosmas Indikopleustes (S. 100.
448) zu machen im Stande gewesen sind. Auffallend ist auch, wie
er sich für möglichste Abschwächung des römischen Einflusses auf
die Gestaltung des Kanons interessiert. »Schon darum (weil Gas-
siodor keiner päpstlichen Entscheidung erwähnt) kann das de-
cretum Oelasii de libris recipiendis et non recipiendis schwerlich
echt sein« (S. 106).
59*
860 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 23.
Die Hauptmasse des vorliegenden Werkes ist der »Eutstebangs-
geschichte der nentestamentlieben Schriften«, d. h. der s. g. speciellen
Einleitung gewidmet (S. 112—620). Hier, wo die Resoltate der
Kritik sieb allenthalben stoßen mit den flberliefernngsmäftigen An-
nahmen Ober Entstehangsweise, Verfasserschaft and Zweck neotesta-
mentlicher Bücher, sind wir nan allerdings fast darchgängig Anti-
poden. Von Weiß gilt matatis temporum ratione habita mntandis
dasselbe, was er seinerseits von dem katholischen Hag berichtet :
»er förderte zunächst in der allgemeinen Einleitung die Gescfaichte
des Kanon , die spezielle ist auf eine wissenschaftliche Apologie der
traditionellen Annahmen über den Ursprung der einzelnen Schriften
gerichtete (S. 7). Zu »überwiegend conservativen Resultaten« be-
kennt er sich (S. 17), indem er zugleich über mein entgegengesetzt
gerichtetes Buch das Urteil fUllt, dasselbe gebe »ein lehrreiches Ge-
samtbild des weit gehenden Skepticismus, zu dem diese (d. h. die
an die Tübinger sich anschließende, neuere kritische) Schale führt«
(S. 16). Mit deutlicher Beziehung darauf erklärt er ferner schon im
Vorwort sich selbst der Enthaltsamkeit nicht für fähig, sich »nur
zum Sprachrohr der verschiedenen Ansichten zu machen«; er halte
es auch »nicht für förderlich, den, der sich über diese Dinge anter-
richten will, nur vor einen Widerstreit der Meinungen za stellen,
ohne ihm auch nur versuchsweise einen Weg za zeigen , wie man
zur Lösung desselben gelangt«. Ob mit diesen etwas groben Strichen
mein Werk richtig charakterisiert ist, überlasse ich der Benrteflong
derjenigen, die es kennen und erlaube mir hier bloß die Gegenbe-
merkung, welcher alles Folgende zum Erweis dienen soll, daß ich
meinerseits die von Weiß gewählte Methode nicht für geeignet halte,
die studierende Jugend, für deren Gebrauch sein Buch bestimmt ist,
mit dem »Widerstreit der Meinungen« in jener allein förderlichen
und zulässigen Weise bekannt zu machen, die sie anleitet, nicht
auf des Meisters Worte zu schwören, sondern zu einem selbstständig
und redlich erworbenen Eigentume zu gelangen.
Ich habe in meinem Lehrbuche die Neuerung eingeführt, anter
der Ueberschrift »die protestantische Kriti& des Kanons« als Ueber-
gang vom allgemeinen zum besonderen Teile ein Kapitel über die
Beschaffenheit und den Werth der altkirchlichen Tradition und der
»Zeugnisse«, womit die herkömmliche Kritik gemeinhin operiert,
einzuschalten. Wie unerläßlich eine solche allgemeine Orientierang
ist, habe ich beim Studium des vorliegenden Werkes auf Schritt und
Tritt empfunden. Nur. in dem hier gebotenen Vacuum kann sich die
dem Verfasser geläufige Argumentation halten und bewegen: in der
ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts habe der Name eines Apostel«
WciB| Lehrbuch der Eiiüeitiuig in das Neue Testament. 861
an der Spitze einer Schrift dieser noch kein absonderliches Ansehen
zu verleihen vermocht, folglich sei aach nicht anzunehmen, daß da-
mals Schriften unter apostolischem Namen in Umlauf gesetzt worden
sind (S. 54. 319. 449). Abstrakte Theorien über den Begriff des
Pseudonymen müssen auch sonst als Maßstab für Beurteilung kon-
kreter Fälle dienen, wobei es unserem Kritiker nicht darauf ankommt,
auf zwei nebeneinanderstehenden Seiten zuerst von der Voraussetzung
auszugehn, daß »der Pseudonymus die einmal angenommene Rolle
auch zweckentsprechend durchgeführt«, also mit zielbewußter Absicht
gearbeitet haben würde (S. 316), bald darauf aber die »Naivetät
pseudonymer Schriftstellerei« , also das Gegenteil von zweckvollem
»Raffinement« bei ihm zu vermissen (S. 317). Unter Anwendung
eines so stumpfen kritischen Apparates ließen sich die ungeheuer-
lichsten Dinge, z. B. die Echtheit der dtdax^ '^^^ dnodioXfav und
des Barnabasbriefes , mit Leichtigkeit darthun. Aber wie des Ver-
fassers Lehrbuch über die »biblische Theologie des Neuen Testa-
mentes« trotz aller minutiösen Sorgfalt, womit die lehrhaften Ele-
mente des N. T. gleichsam in Reihe und Glied gebracht werden, daß
sie reinlich nebeneinander liegen wie die Steine in einer Hineralien-
sammluDg , jeder in seinem Schächtelchen , doch schon darum , weil
der Anschluß an die jüdische Vorarbeit, an die apokryphische und
pseudepigraphische Litteratur und an die Theologie der gleichzei-
tigen Synagoge fehlt, kein wahrhaft historisches Verständnis ver-
mittelt, so fehlt es in dem vorliegenden Seitenstücke zu jenem Lehr-
buche an Fühlung mit der an das Neue Testament unmittelbar sich
anschließenden Litteratur. Vorwärts wie rückwärts steht das hier
gebotene Wissen um das Neue Testament etwas isoliert und in sich
abgeschlossen da. Was faktisch geboten wird ist, wo es sich um
allgemeine Charakterisierung der Schriften und um Angabe ihres
Inhalts handelt, in der Regel alles Lobes würdig und trefflich ge-
eignet ^ den Anfänger zu orientieren. Ich bin überhaupt weit ent-
fernt davon, die Vorzüge der vorliegenden Arbeit zu verkennen. Das
Buch ist wie alle Leistungen .des Verfassers gut geschrieben; nur
ganz ausnahmsweise begegnen Sätze wie S. 194 mit 4 »auch« oder
wie S. 208 f. mit 3 »diese«. ^AHen Teilen des Stoffes wird eine
durchaus gleichmäßige Behandlung zu Teil. Was der Verfasser
überhaupt beherrscht, das beherrscht er auch sicher und vollständig.
Schwächen und Uebereilungen der gegnerischen Argumentationen
sind mit großem Geschicke aufgespürt und benutzt Die Darstellung
leidet nicht an Breite, aber noch weniger an zu großer Präcision.
Im Gegenteil bedingt z. B. die getrennte Behandlung der Apostel-
geschichte und des Lebens der Hauptapostel manche Wiederholungen.
862 Gott. gel. Adz. 1887. Nr. 23.
Ansfttbrliche Berichte Über den Lebensgang eines Petras, Johannes,
Paulas geboren meines Erachtens in die Geschichte des apostolischen
Zeitalters ; nicht aber in die Einleitung za ihren Schriften; ebenso
ist die Aasfbhrung über den gottgewirkten Charakter der Visionen
des Apokalyptikers S. 368 f. eine theologische Subtilität, in einem
historisch - kritischen Werke schwerlich am Platze. Meist aber ist
man immer bei der Sache — freilich auch fast durchgängig nur bei
der Sache, wie unser Verfasser sie sich eben vorstellt. Das Bach
steht mehr im Dienste seiner Lehrantorität, als daß es Solchen, welchen
diese Lehrantorität an sich eine ganz gleichgültige Sache ist, ein
Wegweiser sein könnte, um zu einem wenigstens vorläufig und anter
Vorbehalt weiterer Belehrung formulierten Urteile zu gelangen. Die
Methode besteht zumeist darin, daß der Verfasser seine eigene An-
sicht, auf deren Darlegung im voraus Alles angelegt ist, ausführlich
und siegesgewiß mitteilt, während abweichende Meinungen gelegent-
lich, zumal in den Noten, erwähnt, selten nach der Stärke ihrer
wirklichen Vertretung und Begründung charakterisiert, sondern nar
diesem oder jenem Kritiker gleichsam als Privateigentum auf die
Bechnung geschrieben und mit der einen oder andern quasi ex ca-
thedra gesprochenen Verwerfungsformel abgefertigt werden. Za
diesem Behufe hat sich Weiß eine Reihe von souveränen Wendangen
angewöhnt, die insofern zu beachten sind, als fast allemal, wo er
sie anwendet, der geneigte Leser voraussetzen darf, daß sehr schwer-
wiegende und genau präcisierte Oegengründe vorliegen, welche kennen
zu lernen und zu erwägen sich für solche immer lohnen wird, die
keinen Werth darauf legen, grade zu der Schule von B. Weiß ge-
rechnet zu werden. Aus der großen Zahl dieser charakteristischen
Warnungstafeln hebe ich nur diejenigen hervor, welche nicht bloß
ohne objektive Berechtigung sind, sondern am förderlichsten als Ein-
ladungen verstanden werden, den kurz abgewiesenen Ansichten weiter
nachzugehn: S. 52 »reine Einbildung«, S. 58 »völlig unerhebliche,
S. 63 »durchaus ungeschichtlich«, S. 82 »ganz unwahrscheinliche,
S. 90 »reine Vorurteile«, S. 133 »völlig haltlos«, S. 141 »ganz ver-
fehlt«, S. 147 »ganz aus der Luft gegrififen«, S. 153 »offenbarer Irr-
tum«, S. 158 »ganz willkttrlich« , S. 202 »völlig haltlos«, S. 235
»ganz vergeblich«, S. 243 »reines Vorurteil«, S. 306 »völlig unbe-
rechtigt«, S. 309 »völlig grundlos«, S. 388 »ganz haltlose Bebaop-
tung«, S. 327 »ganz vergeblich« , S. 335 »ganz undenkbar«, S. 338
»ganz unglaublich«, S. 341 »schlechthin unmöglich«, S. 343 »augen-
fällig unhaltbar«, S. 382 »völlig unhaltbar«, S. 406 »reine WillkQr«,
S. 412 »einfach conteztwidrigc^ S. 417 »reine Eintragung«, S. 421
»durchaus unhaltbar«, S. 425 »völlig nichtssagend«, S. 431 »gau
WeiB, Lehrbuch der Einleitung in das Neue Testament. 863
vergebliche, S. 442 »yOlIig grandiose Behauptung« und »ohne jeden
Grund«, S. 443 »völlig grundlose Unterstellung«, S. 455 »ganz ver-
fehlt«, S. 513 »völlig grundlose Annahme«, S. 564 »ganz erkünstelt«,
»ganz verfehlt« und »doch ganz erkünstelte , S. '567 »in sich selbst
unmöglich«, S. 582 »reine Unmöglichheit«, S. 587 »ganz verkehrt«,
S. 590 »ganz verfehlt«. Der Verfasser ist etwas mehr, als mit einer
wirklich kritischen Stimmung verträglich, davon überzeugt, daß er
»natürlich« (S. 220. 247. 471 u. f.) immer Recht haben, die An-
sichten seiner Gegner aber »natürlich völlig grundlos« (S. 433 f.)
sein müssen. Dasjenige Publikum, auf welches das vorliegende
Lehrbuch in erster Linie rechnet, wird freilich keine Zeit damit
verlieren, da, wo 49o deutlichen Winken zufolge nichts zu suchen ist,
doch etwas suchen zu wollen ; es wird vielmehr seinem Führer dank-
bar sein, daß er ihm deutlich gezeigt hat, wo allein das Heil zu
suchen ist. Wir befürchten nur, dasselbe Publikum werde in nicht
wenigen seiner Vertreter zu dem vom Verfasser angestrebten Ziele
auf noch kürzerem Wege zu gelangen wissen. Denn sein aner-
kennenswertes Bemühen, lediglich wissenschaftliche Methode zu üben
und gelten zu lassen, bringt es mit sich, dass der Student immerhin
recht mühselige Vergleichungen anstellen, auf recht gewundenen und
schmalen Pfaden sich bewegen und recht viele Anhaltspunkte für
ein so oft auf die Schneide des Messers gestelltes Urteil im Kopfe
haben muß, damit letzteres weder nach der Hechten, noch nach der
Linken ein Uebergewicht gewinne und herabgleite. Auch wird ihm
die Freude an den »positiven Resultaten«, die zuletzt lohnen und
auch von den Organen der entschieden rückläufigen Richtungen
(Evangelische Eirchenzeitung , Theologisches Litteraturblatt) bereits
anerkannt worden sind, geschmälert und getrübt durch so viele kri-
tische Anwandlungen, welchen der Verfasser, während er der »kriti-
schen Schule« auf allen Punkten am Zeuge flickt, selbst unterliegt.
Insofern steht kaum zu hoffen, sein Werk werde gewissen trägen
Instinkten und Velleitäten der studierenden Jugend, wie dieselbe
heutzutage bei der Mehrzahl nun einmal sich, gestaltet haben , eine
kräftige Remedur angedeihen lassen. So fern und so weit dies aber
möglich sein sollte, wird man sich dessen zu freuen haben und dem
Verfasser verdienten Dank zollen.
Etwas anders liegt die Sache , wenn ein rein wissenschaftlicher
Maßstab bei der Beurteilung entscheidend sein soll. Da abgesehen
von Apostelgeschichte, Korintherbriefen und Johannesbriefen des
Verfassers Urteile über die neutestamentlichen Bücher schon meist
eingehender, als hier möglich war, begründet vorliegen, wird der
Wert dieser zusammenfassenden Darstellung zunächst darin ge-
_ I
864 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 23.
SQcht nnd gefunden werden, daß sie eine den Aufstellangen der
»kritischen Schale« entgegentretende Totalanschaaang von dem
ganzen Prozesse gewährt, um dessen Erkenntnis es sich handelt
Das leistet sie anch in der That. Das Bach ist darchaos daranf
abgelegt, den Eindruck za hinterlassen, daß eindringendere und an*
befangenere Forschungen jenem > Geschieh tsbild der apostolischen
und nachapostolischen Zeit bis zar Entwicklung der katholischen
Kirche« (S. 15), wie es die Kritik aufgestellt hatte, ein- ftlr allemal
ein Ende bereitet haben. Unser Verfasser will nachgewiesen haben,
»daß die Tttbinger Vorstellung von einem Gegensatze des Paulos
und der Urapostel eine geschichtswidrige und die Darstellung der
Apostelgeschichte in allem Wesentlichen mit ihnen {den paalinischen
Briefen) wohl vereinbar ist« (S. 566). Wie nämlich Jesus selbst
»mit prinzipieller Ausschließlichkeit für Israel gewirkt hatte« (S. 125),
so haben auch seine unmittelbaren Jünger , die Urapostel , selbst
wenn sie für ihre Person eine freiere Stellung zum Gesetz innerlich
gewonnen hatten, nie daran gedacht, sich von demselben loszusagen
(S. 126). Noch sein Bruder Jakobus, welcher den seinen Namen
tragenden Brief wirklich geschrieben haben soll, versteht unter dem
»königlichen Gesetz der Freiheit« einfach das mosaische Gesetz ein-
schließlich der Ceremonialgebote ; dies folgt für Weiß S. 406 aus
der Jak. 2, 10 betretenden Solidarität des Gesetzes, als ob der nova
lex des Christentums eine solche nicht ebenso gut zugeschrieben
werden könnte. Wie gleichwohl selbst in urapostolischen Kreisen
die Erkenntnis von dem Ende des Gesetzes in Christus sich theore-
tisch ausbilden konnte (dafür soll nämlich S. 328 f. der Hebräer-
brief zeugen), so wurde die Reflexion darauf unumgänglich, seitdem
an die Stelle anfänglich nur ausnahmsweise vorkommender Heiden-
bekehrungen durch die Missionsreisen des Paulus Heidengemeinden
getreten waren (S. 128 f.). Freilich war anch dieser Paulus anfangs
noch ganz in der Weise der Urapostel unter den Juden missionierend
aufgetreten (S. 116. 118. 123 f.); aber »immer mehr« (S. 129) ist
er zum Heidenapostel und Verkündiger eines Evangeliums geworden,
»in welchem das Gesetz Israels und die Hoffnung auf die Vollen-
dung seiner nationalen Theokratie keine Stelle mehr hatte« (S. 130).
Um so ungeteilter konnten die Urapostel, nachdem sie eine solche
Bichtung in der Thätigkeit des Paulus als dessen gottgewollte Be-
stimmung erkannt hatten, sich der Mission unter Israel hingeben,
»die, so lange die Hoffnung auf die Gesammtbekehrung Israels noch
nicht aufgegeben war, ihre nächste und dringendste Pflicht blieb«
(S. 135). »Daß aber diese verschiedene Auffassung der Gesetzes-
frage je zu einem Conflict zwischen Paulus und den Uraposteln ge-
Weiß, Lehrbuch der £iüleituag ia das Neae Testament. 865
fuhrt, daß insbesondere letztere je die in den jerasalemisehen Ver-
handlungen ausgesprochene Anerkennung der Gesetzesfreiheit der
Heidenchristen zurückgenommen haben, läßt sich nicht nachweisen«
(S. 139). Selbst der Auftritt in Antiochia bedeutet nur den auf
Seiten des Jakobus und seiner Leute bestehenden Entschluß, um des
neuberufenen Gottesvolkes der Heiden willen ihrer gesetzlichen Pflicht
nichts zu vergeben (S. 137). Die Urgemeinde vollends wurde durch
diese Frage kaum berührt, da nur diejenigen, welche darüber freier
dachten, sich einer Wirksamkeit in solchen Gebieten der Diaspora
unterzogen haben werden, welche sie mit dort bereits bekehrten
Heiden in Berührung brachten (S. 139). Allerdings aber gab es in
Jerusalem eine pharisäisch gesinnte Minorität, welche schon auf dem s. g.
Apostelkonvente (bezüglich dessen es zwischen Gal. 2 und Act 15 nur
»angebliche Differenzen« S. 131 gibt) die bekehrten Heiden dem Gesetze
unterwürfig gemacht sehen wollten; aber grade diese Partei ist da-
mals von den Uraposteln und der Urgemeinde zurückgewiesen worden,
und Gal. 2, 3 bedeutet nur, daß man wenigstens »in dem Special-
falle mit Titus« den Paulus gern nachgiebiger gesehen hätte (vgl.
S. 132. 185). Auch in Galatien und Korinth haben diese Judaisten
keineswegs etwa in Jerusalem einen Kückhalt besessen (S. 182. 201),
und selbst von ihnen ist dem Paulus niemals das Apostelrecht ab-
gesprochen worden (S. 184 f. 202. 217). Ja die Urapostel sind
schließlich selbst zur Heidenmission fortgeschritten, als einerseits der
Tod des Paulus sie dazu nötigte, andererseits das Gottesgericht der
Zerstörung des Tempels, »darin sie die göttliche Weisung sahen,
daß die Zeit des alttestamentlichen Gesetzes vorüber seic (S. 139),
»jede Hoffnung auf die Gesammtbekehrung Israels vernichtetet
(S. 140).
Wie schon hier Alles darauf eingerichtet ist, aus den Resultaten
der Thätigkeit der Urapostel und des Paulus eine kontinuierliche Li-
nie zu bilden, so dient es demselben Zwecke, wenn nicht bloß das
Leben des Heidenapostels über das erkennbare und geschichtlich
wahrscheinliche Haß hinausgeführt wird, so daß sich auch für die
Pastoralbriefe Raum ergibt (S. 283/., 296 f.), sondern auch seiner
Innern Entwicklungsfähigkeit eine Tragweite verliehen wird (S. 116.
162 f. 172), in Folge welcher sein beweglicher Gedankengang sogar
von einem zum anderen Gegensatze fortschreiten (S. 178. 304. 465)
und schließlich mit dem überraschendsten Selbstentsagungsakte enden
konnte. Nur wenige Jahre hielt er sich auf der, erst im Kampf mit
den judaischen Eindringlingen erreichten (S. 182), principiellen Höhe
Qud durchgebildeten Klarheit ; schon die Epheser- und Kolosserbriefe
weisen mannigfache Verschiebungen auf, welche durch das Auf-.
866 Qött. gel. ABZ. 1887. Nr. 28.
tauchen neuer Zielpunkte der Polemik bedingt sind (S. 254 f.)« Kann
man darin zunächst noch eine Bereicherung des paulinischen Geistes
erkennen, so handelt es sich dagegen in den Pastoralbriefen um »ein
Zurücktreten der konkreten Vorstellungswelt, die wir bei Paulus ge-
wohnt sind, gegen eine abstraktere Ausdrucksweise« , um einen
»Rückgang aof die bereits in den Qemeinglauben übergegangenen
großen Hauptpunkte« (S. 305). Wir Andern sehen in den Anhalts-
punkten, welche die Pastoralbriefe für ein solches Urteil bieten, im
Verein mit so vielen sonstigen Zeichen ihrer Unechtheit (manches der-
selben »spottet jedes Erklärungsversuches« selbst bei Weiß S. 307)
einen Beweis mehr für die, durch die gesamte nachapostolische Lit-
teratur bestätigte, Thatsache, daß jenes Heidenchristentum, welches
Subjekt der werdenden katholischen Kirche geworden ist, unfähig
war, den Reichtum einer überdies schon von Haus aus so ganz in-
dividuell gearteten Gedankenwelt wie die paulinische zu fassen.
Den Geist, den sie begriff, stellt diese Christenheit wie in der Apo-
stelgeschichte, so in den Pastoralbriefen dar. Das selbst unserem
Kritiker sich aufdrängende »Hervortreten eines allgemein religiösen
Elementes gegen das specifisch-christliche, das auf gewisse, vielleicht
schon fest formulierte, Hauptpunkte reduciert erscheint« (S. 305), ist
eben durchaus der Geist des zweiten Jahrhunderts. Die Behaup-
tung aber, der Apostel selbst habe, je mehr er sein Ende heran-
nahen sah, darauf bedacht sein müssen, »seine Lehre immer mehr
auf den gemeinfaßlichsten Ausdruck zu bringen« (S. 306), beweist
nur, daß im Sehfelde dieses Gelehrten der so bestimmt gefärbte
Strom des Paulinismus nicht abgegrenzt erscheint gegenüber dem
Meere, darin er gleich so vielen anderen, von Haus aus gleichfalls
eigentümlich gestaltet gewesenen, Zuflüssen sich verliert. So ver-
kleidet sich ihm der Wansch, nichts von dem durch die Tradition
als paulinisch gestempelten Eigentum aufzugeben, in eine »wach-
sende Einsicht in den Reichtum und die Beweglichkeit des paulini-
sehen Geistes« (S. 314). Ganz dieselbe Art von Selbsttäuschung
kehrt wieder, wenn er dann, wie zwischen dem galiläischen Fischer
Johannes und dem Apokalyptiker (S. 359 f.), so auch zwischen die-
sem und dem Evangelisten (S. 592 ff. 610) und Briefsteller (S. 460.
465) gleichfalls Verbindungslinien zieht, die statt des weiten Bewußt-
seins eines unerhört gestaltungsreichen Jahrhunderts vielmehr das-
jenige einer einzelnen Persönlichkeit fHUen sollen, weil einmal der
Tradition es beliebt hat, jene Schriften mit der gleichen Etikette zu
versehen* Aehnliches gilt auch von der Rolle, welche Petrus bei
unserem Verfasser spielt. Die beiden diesem zugeschriebenen Briefe
fehlen bekanntlich noch im ältesten Kanonverzeichnis (Muratori«-
Weiß, Lehrbuch der Eiuleituug in das Neue Testament. 867
nnm). Dieses Faktum erkennt Weiß bezüglich des zweiten Briefes
ohne Weiteres an, da ihm derselbe zwar an sich weiter keine
Schmerzen bereitet (S. 446 »der zweite Brief läßt sich als eine
Schrift des Petras vollkommen begreifen«), aber doch um seiner
späten Bezeugung willen Bedenken erregt (S. 447 f ). Bleibt es hier
bei einem baud liquet, so zeigt sich unser Kritiker um so erpichter
auf Rettung des ersten Petrusbriefes, da mit dessen Echtheit seine
ganze Anschauung von dem so durchaus erfreulichen Stande der
Dinge zwischen beiden Hauptaposteln fällt. Mit zwei Ansätzen
wird zunächst die muratorische Gegeninstanz erstürmt und yernich-
tet. Zuerst (S. 80) ist es »sehr wohl möglich«, daß der Petras-
brief dennoch im Muratorianum gestanden habe, da ja dessen An-
fang (der übrigens bloß die beiden ersten Evangelien betrifft) fehlt;
unter Zurückweisung auf diese Stelle werden wir später (S. 431)
davon benachrichtigt, daß »er auch im muratorischen Kanon ur-
sprünglich unmöglich gefehlt haben kann«. Gewiß ein sehr nied-
liches Vorgehn und wenigstens nicht so rauh gewaltsam, wie wenn
dann derselbe Brief, welcher fortwährend seine Leser an ihr frühe-
res heidnisches Leben erinnert, im Widerspruche mit nahezu allen
Kritikern und Exegeten der Gegenwart durchaus an Judenchristen
gerichtet sein muß (S. 424 f.). Letztere Procedur hängt wieder da-
mit zusammen, daß der Brief im späteren Leben des Petrus nicht
wohl untergebracht werden kann (S. 434 f.). Da er nun aber doch
nach Kleinasien gerichtet ist, so erfährt die ganze Geschichte des
apostolischen Zeitalters bei Weiß eine folgenreiche Umbiegung.
Nicht Paulus ist es, auf welchen, wie man bisher gemeint hat, die
ersten Gemeindegründungen in den 1 Petr. 1 , 1 genannten Pro-
vinzen Kleinasiens zurückgehn, sondern schon vor ihm hat da-s
selbst, wie schon zuvor in Syrien und Cilicien (S. 119. 134),
auf fast zufällige Art von der Urgemeinde aus » Diasporamis-
sion« (S. 144) stattgefunden (S. 143. 179. 270. 379 f. 427), woran
sich namentlich Brüder Jesu wie Judas beteiligten. (S. 416). So
konnte auch Petrus Beziehungen mit den kleinasiatischen Ge-
meinden anknüpfen (S. 421. 433), und Paulus ist auch hier nur Fort-
setzer eines schon begonnenen Werkes. Die Instanz, daß der galt-
läische Fischer, der drQcififAatog xai IdimTfjg Act 4, 13 schwerlich
dazu gelangt ist, das A. T. nach LXX zu eitleren und einen grie-
chischen Griffel zu führen, wie er für unsre Briefe postuliert wer-
den muß, wird dahin erledigt, er habe zu LXX gegriffen, gerade
weil ihm bei mangelnder rabbinischer Bildung der Urtext ferner
lag. Als ob der Weg vom Aramäischen schneller zum Griechischen
führe, als zum Hebräischen, Galiläa aber ein zweisprachiges Land
868 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 23.
gewesen wäre, wie etwa Elsaß-Lothringen (gegen letzteren Aber-
glaaben vgl. Neabaaer in der Oxforder Stndia biblica S. 39 f.).
Bleibt immer noch die Haaptschwierigkeit im Reste: die längst
und allgemein bemerkteo, den ersten Petrasbrief vom ersten bis zum
letzten Vers durchziehenden, Reminiscenzen aas paalinischen Briefen,
die Anlehnungen an paalinische Lehrsprache and Lehrvorstellangen
— doppelt bedenklich, wenn doch »Paulas sich allerdings eine sehr
ausgeprägte Lehrsprache geschaffen hatc (S. 164), Petrus dagegen
»schwerlich der Mann war, eine feste Lebrsprache anszuprägenc
(S. 445). Hier also wird der Verfasser zu dem Verzweiflungsschritt
gedrängt, einmal die Parallele willkttrlich auf zwei Kapitel des R<S-
merbriefs zu beschränken, sodann aber eben darum wahrscheinlicher
zu finden, Paulas habe in diesen Kapiteln ausnahmsweise sich in
den Geleisen des Petras bewegt und dessen »Kernworte< sich ange-
eignet (S. 243. 27 L 428 f. 432), was zwar »Kritiker wie Holtzmannc
(S. 272) absurd nennen mögen, aber doch von einem Recen-
senten unseres Verfassers schon vor 30 Jahren wahrscheinlich befun-
den worden ist (S. 429). Selbstverständlich liegt mir der Versuch
fern, den Verfasser eines Bessern zu belehren hinsichtlich eines That-
bestandes, welcher jedem Laien, der die schon von de Wette ge-
botene Parallelentafel überblickt, sofort klar werden muß und hin-
sichtlich dessen auch in der That die gesamte Theologie unserer
Tage mit verschwindenden Ausnahmen einig geworden ist. Wer
die Anlehnung des Hebräerbriefes (S. 327) und des dritten Evange-
liums (S. 555) an Paulnsbriefe nicht bemerkt, der wird auch ttber
die noch gehänfteren Erscheioangen in den Petrasbriefen hinweg-
lesen können und es einem Kritiker wie »Holtzmann in seiner über-
treibenden Weise € (S. 595) überlassen, solchen Dingen weiter nachzu-
gehn. Aber seinen Petrus scheint er mir denn doch übertrieben
weit in der Welt herumzuftihren, wenn er ihn nicht bloß die Euphrat-
länder besuchen (S. 433), sondern auch nach der anderen Seite der
bekannten Welt bis Korinth (S. 197. 421), ja bis Rom reisen läßt
(S. 421 f.), während man sonst doch zwischen Babel und Rom nur
die Wahl gestellt erhält, je nachdem das Babylon 1 Petr. 5, 13 als
einfache geographische oder metaphorische Bezeichnung aufgefaßt
wird. Dazu nehme man die überaas dürftige und misverständlicbe
Behandlung der Petrussage! Die Ueberlieferung vom römischen
Aufenthalte des Petrus soll (vgl. S. 422) noch im Brief des Clemens
an Jakobus ohne jede Beziehung auf den Kampf mit dem Magier
auftreten und erst später zur weiteren Ausspinnung des Clementini-
sehen Kanons benutzt worden sein. »Auch geht daneben noch in
der praedicatio Petri die Vorstellung her, daß die beiden Apostel
Weiß, Lehrbuch der Einleitung in das Neue Testameut. 869
erst iD Rom mit ei Dander bekannt geworden, und wie in ibr^ «o
tritt aucb in den Acta Petri et Pauli die Tradition vom römisehen
Aufenthalt des Petras auf, obne daß in beiden etwas von seinem
Konflikt mit dem Magier erwähnt wird«. Irreführend ist hier schon
die Berufung auf die praedicatio Petri, da die citierte Notiz vielmehr
in der betrefifenden Stelle (bei Pseudo-Gyprian, de rebapt. 17) auf
die praedicatio Pauli zurückweist; höchstens kann es sich also um
eine praedicatio Petri et Pauli handeln. So nämlich laatete nach der
Vermutung Einiger, namentlich Hilgenfelds, der Titel einer Schrift
aus der Mitte des 2. Jahrhunderts. Da aber behufs ihrer Rekon-
struktion nur etwa ein Dutzend Fragmente mit Sicherheit zu Gebote
stehn, von welchen keines mehr den Titel praedicatio bietet, so ist
Yon vornherein mislich, zu behaupten, die Kämpfe mit dem Magier
seien in der praedicatio Petri zu finden oder nicht zu finden ge-
wesen; Hilgenfeld z. B. hat, je nachdem seine sonstigen Anschau-
ungen es bedingten, bald die eine, bald die andere Möglichkeit ver-
treten. Habe die betreffende Schrift nun aber diesen oder jenen
Titel geführt , darf die von Pseudocyprian als praedicatio Pauli ci-
tierte Stelle der schon dem Herakleon, dann den Alexandrinern be-
kannten Schrift praedicatio Petri zugeschlagen werden oder nicht
(letzteres behauptet z. B. A. Harnack), auf Orund der vorhandenen
Keste muß man ihr sicher mit Lipsius, Harnack u. A. einen katholi-
Bchen Charakter und nächste Verwandtschaft mit den gleichzeitigen
und ebenfalls katholisch gerichteten Acta Petri et Pauli zuschreiben.
In derjenigen späteren Redaktion dieses Schriftstücks, die wir noch
besitzen, bildet nun aber der Kampf des Petrus und des Paulus ge-
rade den Kern und Grundstock der ganzen Darstellung; man müßte
erst zwei Dritteile der Erzählung und eben damit die ganze Moti-
vierung des Märtyrertodes beider Apostel für spätere Interpolation
erklären, um die Behauptung von Weiß überhaupt begreiflich zu fin-
den; so wie sie dasteht, ist sie einfach haltlos. Falsch ist es aucb,
wenn nicht bloß Andreas von Gäsarea in Kappodocien (wofür S« 626
Kreta steht, wie S. 149 Rom für Athen), sondern auch sein späterer
Nachfolger Arethas in das 5. Jahrhundert verlegt worden (S. 40 und
99, oder wenn Lucas erst seit Nicephorns zum Maler geworden sein
soll (S. 554). Auch darf heute Ambrosiaster nicht mehr mit dem
Diakonns Hilarius identificiert werden (S. 626). Mit den Namen
sollten wir Alle es genauer nehmen; der Verfasser schreibt einmal
(S. 467) Planckf sonst aber stets PlanJc; durchgängig auch Wä^
stein^ Zacagni, Binky Herzberg^ Lcmann, Koenen und citiert Nier^
may er over de echthied (S. 615) statt Niermeyer over de echtheid.
Ifaier in Freiburg heißt Adalbert, nicht Adolf (S. 334). Amiantinue
870 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 23.
wird Dnickfebler sein (S. 633). UebrigeDS sind in dem angemeio
korrekt gedrackten Bache solcherlei Versehen selten. Doch schreibe
S. 7, 3. Ausg. 182^ statt 1H20, S. 279 Jahrb. 1812 staU 1872,
S. 323 Stein (1833. S8) statt (1833. 34) j S. 575 angedeutet, S. 586
Kanetyog, S. 632 Theol. 1868—83.
Straßburg i. E. H. Holtzmann.
Deutsche Beichstagsakten. Vierter und fünfter Band. [Deutsche Reicbs-
tagsakten unter König Ruprecht. Erste Abteilung 1400—1401. Zweite Ab-
teilung 1401—1405. Herausgegeben von Julius Weizsäcker]. Auf
Veranlassung Seiner Majestät des Königs von Bayern herausgegeben durch
die historische Kommission bei der Königlichen Akademie der Wissenschaf-
ten. Gotha, Friedrich Andreas Perthes 1882 und 1885. XKIII und 531,
IV und 853 Seiten. 4^
Mit dem 4. Bande treten die Deutschen Reichstagsakten in die
Zeit der Regierung Ruprechts ein, welcher 3 Bände bestimmt sind.
Diesem 1882 erschienenen nur die beiden Jahre 1400 — 1401 behan-
delnden Bande ist 1885 der zweite ans Ruprechts Zeit, der fünfte
der ganzen Reihe, gefolgt, der die Zeit von 1401—1405 amfaftt
Der Herausgeber ist, wie früher, Julius Weizsäcker, neben
dem jedoch Ernst Bernheim »einen großen und selbständigen
Anteil« an der Bearbeitung des vierten Bandes hat, in Folge dessen
die Einleitungen zu den einzelnen Tagen von dem jeweiligen Bear-
beiter oder auch von beiden gemeinsam unterzeichnet sind. Dieser
Band umfaßt die stattliche Anzahl von 414 Nummern, von denen
bisher 111 gänzlich unbekannt, 79 nur durch Regest oder gelegent-
liche kurze Erwähnungen bekannt waren.
Zu den Bearbeitern des vierten Bandes tritt mit dem fünften
noch Ludwig Quidde hinzu , der ebenso wie Bemheim yon
Weizsäcker als gleichberechtigter und gleichverantwortlicher (xenosse
vorgestellt wird; und die Verantwortlichkeit, welche alle drei in
gleicher Weise trifft, scheint auch schon äußerlich dadurch ang^en-
tet zu sein, daß in diesem Bande die Einleitungen zu den einzelnen
Tagen von keinem der Bearbeiter unterzeichnet sind. Dieser fünfte
Band umfaßt 499 Nummern; unter ihnen 233 völlig unbekannt, 89
noch bisher nicht gedruckt.
Die Wahl Ruprechts, untrennbar von der Absetzung Wenzeb^
ist mit den auf sie unmittelbar bezüglichen Aktenstücken schon im
dritten Bande der R. T. A. behandelt. Dort findet sich ein Brief
Ruprechts vom 9. November 1400 (Nr. 223), in welchem er Boni-
faz IX. seinen am 26. Oktober erfolgten Einzug in Frankfurt mei*
Deutsche Reichstagsakten. Vierter und fünfter Baud. 871
det nnd mögliebst bald eine feierliche Gesandtschaft zu senden ver-
spricht. Diese Gesandtschaft wird im December nach dem Tage zu
Mainz abgeordnet, und mit den anf sie bezüglichen StUcken beginnt
der vierte Band; die weiteren hieran sich anschließenden Verband-
langen mit der Kurie bis zur erfolgten Approbation im Jahre 1403
werden hier unmittelbar angeftigt.
Die Gesandten, die der König im December 1400 sofort, wie
erwähnt, nach dem Tage zu Mainz bevollmächtigt zum Papste zu
gehn , sind der Bischof Konrad v. Verden, der Graf Joflfrid v. Lei-
ningen, Domherr und Thesaurarias zu Köln, und der Probst Her-
mann Rode. Der Zweck der Gesandtschaft wird in dem Voll-
machtsschreiben vom 14. December 1400 (Nr. 1) nan ;klar bezeich-
net, nicht mehr wie früher nur leise angedeutet: es ist die Forde-
rung der Approbation der Person Ruprechts und die Zusage der
Kaiserkrone für ihn. Von den 3 zu dieser Gesandtschaft gehören-
den Stucken war nur eins unbekannt, nämlich das Geleit, das Boni-
faz am 8. Februar 1401 den drei Gesandten nach Rom hin aus-
stellt (Nr. 2); aber aus ihm ergibt sich die Möglichkeit, zumal auch
des Bischofs Rede vor dem Papst undatiert ist (Nr. 3), den Ver-
bandlungen dieser ersten Gesandtschaft einen festen Platz zuzuwei-
sen. Zu persönlichen Verhandlungen mit dem König bevollmächtigt
nun der Papst einen Gesandten, Antonius von Monte Gatino, der
mit Ruprechts Gesandten zusammen nach Deutschland geht Seine
zum Teil schon früher aus Raynaldus, ann. eccles. bekannte, hier
ganz mitgeteilte Instruktion (Nr. 5) gibt ganz ausführlich die For-
derungen des Papstes; außerdem führt er den ersten Approbations-
entwnrf mit sich (Nr. 6), der uns in einem bisher nicht bekannten
Schreiben eines Unbekannten an den Beichtiger Wenzels erhalten
ist Bezüglich der päpstlichen Instruktion sei mir hier die kurze
Bemerkung gestattet, daß man doch ungleich mehr, als bisher ge-
schehen, für die Beurteilung der päpstlichen Politik durch eine
scharfe Interpretation gewinnen kann, wenn man sich eben nicht,
wie es z. B. Höfler, Ruprecht von der Pfalz p. 230 gethan, einfach
Aber die Schwierigkeiten hinwegsetzt. — Der päpstliche Gesandte
kehrt schon im Mai 1401 wieder nach Rom zurück; als königlicher
Gesandter folgt ihm im Juli 1401 der Protonotar Albert nach Rom.
In der Einleitung zu dieser Gesandtschaft ist es dem Herausgeber
auffällig gewesen, daß wir für diesen Gesandten zwei Kredenzen
haben, vom 20. Juli (Nr. 10) und vom 16. August (Nr. 14) ; an zwei
verschiedene Gesandtschaften desselben sei nicht zu denken wegen
des kurzen Zeitraumes zwischen beiden Daten; gleichwohl sei in
der Kredenz vom 16. August davon die Rede, daß Albert »pridem«
872 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 23.
an den Papst geschickt sei »cum qnadam litera credencialic and
2war »de et super qaibnsdam certis ponctis dicte sanctitati v^tre
ex parte nostra referendis«, dann wieder zarOckgekommen sei und
wegen nener inzwischen anfgelanfener Dinge neae Informationen er-
halten habe. Der Herausgeber spricht nun die Vermutung ans, daß,
da für eine ältere Sendung kein Raum vorhanden sei, Albert seine
Reise angetreten habe cum credenciali Nr. 10, dafi er aber unter-
wegs umkehrte sich neue Instruktionen zu holen, die wohl nnr
mündlich erfolgten {de eisdem nosiris Uteris plenius informato). Von
diesen Erörterungen ist richtig, daß zwei Gesandtschaften Alberts
nicht möglich sind; die übrigen Annahmen sind nicht haltbar, weil
sie auf einer nicht ganz richtigen Interpretation des Briefes, den
Ruprecht am 16. August an Bonifaz richtet, beruhen, recessus kann
hier unmöglich, wie der Herausgeber will, Rückkehr bedeuten, son-
dern muß hier notwendig Fortgang, Abreise sein, wodurch anch das
dem Heransgeber auffällige pridem klar gestellt wird. In dem
Satze »que dicto magistro Alberto de eisdem nostris uteris plenios
informato commissimus dicte sanctitati vestre clarius declarandomc
hat der Herausgeber de eisdem nostris Uteris als einen zosammen-
gehörigen Begriff aufgefaßt, während von de nur eisdem abhängig
ist, wozu aus dem vorhergehenden aliqua sanctitati vestre inümanda
ein Substantiv zu ergänzen ist; Uteris nostris ist von informato ab-
hängig und bedeutet »einfach brieflich benachrichtigt«. Die Saehe stellt
sich vielmehr so dar, daß Albert im Juli direkt nach Rom abgereist
ist und daß er über das, was nach seiner Abreise (post recessum
dicti Älberti) dem König an wichtigen Dingen aufgelaufen, durch
Ruprecht brieflich genau unterrichtet ist, nm es dem Papst mitzu-
teilen.
Mit dieser Gesandtschaft Alberts kreuzt sich eine päpstliche,
die einen Approbationsentwurf mit sich brachte; eine Folge dieser
letzteren ist dann im Oktober 1401 die Entsendung des Bischofr
Konrad v. Verden und des Protonotars Nikolaus Buman , denen in
Rom wiederum ein Approbationsentwurf vorgelegt wird (Nr. 21), in
welchem der Papst schärfer wie zuvor seine Gewalt betont Niko-
laus Buman kehrt mit dem vom Papste bevollmächtigten Franciscus
von Montepnlciano zu Ruprecht im December zurück, während Kon-
rad in Rom bleibt und hier durch sein üppiges Leben Aufseben er-
regt; »era cestui un ricchissimo prelato, et molto riccamente vi
stava« sagt Jacopo Salviati von ihm. Der päpstliche Gesandte
bleibt bis in den Januar beim König (Nr. 40) und geht dann nach
Rom zurück. Mit ihm sollten eigentlich von Seiten des Königs Phi-
lipp von Falkenstein und Nikolaus Buman gehn (Nr. 28—38), aber
Deutsche Reichstagsftkten. Vierter and f&nfter Band. d7d
ea blieb bei dem Vorsatz, denn die sieh immer angUnstiger gestal-
tenden Verhältnisse — daß es nicht, wie der Herausgeber will, we-
gen sich eröffnender neuer Aussichten geschah, darüber vgl. R. T.
A. V., Nr. 73 ff. 100 — ließen den König den Entschluß fassen Ita-
lien zu verlassen und nach Deutschland zurückzukehren, wie er an
Eonrad v. Verden am 8. Januar 1402 schreibt Aber die Dinge än-
derten sich schnell; Ruprecht will wieder in Italien bleiben und
sendet die zuletzt erwähnten Gesandten Ende Januar 1402 nach
Rom ab. Bis Ende März bleiben dieselben dort und überbringen
dann des Papstes Bescheid an Ruprecht, der sich aber nun doch
seiner ganzen Verhältnisse wegen gezwungen sieht, Italien zu ver-
lassen. Konrad v. Verden bleibt als ständiger Gesandter in Rom.
Ueber die nun folgenden Verhandlungen erfahren wir leider nichts;
das einzige, was uns erhalten aus dieser Zeit, sind einige florentini-
sche Oesandtschaftsberichte aus den letzten Monaten von Konrads
Aufenthalt (Nr. 77^—77^). Konrad verläßt erst im Oktober 1402
Rom; seine Verwendung als Gesandter bei der Kurie hat hiermit
ihr Ende erreicht. Im folgenden Jahre sendet Ruprecht auf die ihm
durch Konrad gemachten Eröffnungen den Bischof Raban v. Speier
und Matthäus v. Chrochow nach Rom (Nr. 81—111) cf. R. T. A. V.
p. 357 ff, und nach längeren Verhandlungen kommen sie endlich zum
Ziele; sie leisten im Namen des Königs am 1. Oktober 1403 den
vom Papst verlangten Eid und erhalten die Approbationsbulle für
Ruprecht.
In kurzen Zügen ist dies der äußere Verlauf der Verhandlungen
mit der Kurie, wie sie sich aus den in diesem Bande mitgeteilten
Stücken ergeben. Zweifelsohne ist dieser den Approbationsverhand-
lungen mit der Kurie gewidmete Teil der am meisten Interesse er-
weckende des vierten Bandes. Von den 120 hierhin gehörenden
Stücken war ein sehr großer Teil schon anderweitig bekannt; was
aber für die Erkenntnis der päpstlichen Politik nach dem Thron-
wechsel in Deutschland trotzdem von Weizsäcker geleistet ist, das
wird jeder dankbar anerkennen, der Gelegenheit hat sich mit diesen
Dingen zu beschäftigen und ohne die R. T. A. sich auf ältere Publi-
kationen angewiesen sehen würde. Ein Vergleich z.B. mit Janssen,
Frankfurts Reichskorrespondenz, der im ersten Bande zum großen Teil
dasselbe Material beibringt, läßt das Gesagte klar jam den Tag treten.
Bei den päpstlichen Gesandtschaften habe ich verschiedene
Approbationsentwürfe angeführt; der erste bisher noch nicht be-
kannte ist, wie schon oben erwähnt, in einem undatierten Schreiben
eines Ungenannten an den Beichtiger Wenzels erhalten und kann
aotl. «d. Au. 1887. Hr. 88. 60
874 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 23.
wegen der Id demselben erwähnten Gesandtschaft des Äntonins de
Monte Gatino nur in die Zeit um den 25. März 1401 gesetzt wer-
den. Die übrigen drei Approbationsentwttrfe, wie die Balle selbst,
waren bekannt, aber man sah in den Entwürfen nnr verschiedene
Drucke der Bulle und in den sich findenden Abweichungen Fehler,
die sich eingeschlichen. Es ist nun das Verdienst Weizsäckers nach-
gewiesen zu haben, daß das Verhältnis nicht das erwähnte ist, son-
dern daß jede von den uns bekannten Formen ein von Seiten der
Kurie vorgelegter Entwurf ist*, deren jeder einen neuen Standpunkt
der kurialen Politik bedeutet. Es ist diese Errungenschaft von der
größten Wichtigkeit für die Beurteilung und Darstellung der Politik
Bonifaz IX. Femer haben die schon Janssen bekannten, aber von
ihm nicht verwerteten, im Pfalz. Eop. B. durehstrichenen, Stücke
(Nr. 28—30) durch die Aufnahme den ihnen gebührenden Platz er-
halten« — Unter Nr. 62 und 111 sind aus der von Ildefonso di
San Liugi in »Delizie degli eruditi Toscani XVIII.c veröffentlichten
»Gronica o memorie di Jacopo Salviati dair anno 1398 al 1411«
die auT diese Jahre bezüglichen Aufzeichnungen wieder abgedrnckt
Ergänzend möchte ich hier bemerken, daß mit Unrecht Höfler, Ba-
precht p. 267, das Verdienst für sich in Anspruch nimmt Salviatis
Ghronik für Ruprecht zuerst herangezogen zu haben, und mit Un-
recht Janssen I, p. 662 nt. ihm dies zugesteht; denn schon Sis-
mondi, Histoire des r^publiqnes italiennes du moyen &ge, hat für
diese Zeit, speciell für Ruprecht, Salviati benutzt. — Als Datiernngs-
ort für Nr. 46 ist Rom angenommen, während aus Nr. 46* unzwei-
felhaft hervorgeht, daß es nur Venedig sein kann. — Das Nr. 45
mitgeteilte Gutachten des Franz v. Garrara und der florentinischen
Gesandten kann ebenfalls unmöglich in Rom ausgestellt sein; ftr
Rom wird ebenso, wie in Nr. 46% Venedig zu setzen sein. — In
nt. 2 zu Nr. 45 werden Jacopo Salviati und Bartolomeo Popoleschi
als die in Frage kommenden Gesandten angeftihrt; gemeint können
aber nur Bnonaccorso Pitti, der am 20. Februar wieder nach Flo-
renz gieng, und die mit ihm beim Könige befindlichen Gesandten
sein. — Nr. 103 ist der Eid, den die Gesandten bei der Approba-
tion leisten mußten, mitgeteilt. Daß derselbe auf den 1. Oktober
1403 thatsächlich fällt, wie in nt. 2 als wahrscheinlich hingestellt
wird, folgt aus dem Briefe des Bischofs Raban v. Speier und Matthäus
V. Chrochow vom 1. Oktober 1403 (Nr. 106), wo es heißt: >and
haben (sc. „uf hude'') im zu stunde von uwern wegen gesworn
offenlich den eide nach innehält canonis „tibi domino"«.
An diesen unzweifelhaft anziehendsten Teil des vierten Bandes
Deutsche Reichstagsakten. Vierter und fünfter Band. 875
BohlieBen sich Stücke über das Verhalten der Städte anmittelbar
nach der Tbronveränderang (Nr. 112—132). Am 13. September 1400
findet eine Beratung der fränkischen Städte Rotbenbarg, Schwein-
fnrt, Windsheim, Weißenburg statt (Nr. 122—123). In demselben
Monate versammeln sieb anch die Bodensee- and schwäbischen Städte,
um gegenüber den Veränderangen im Reiche Stellang za nehmen;
Yersammlaugsort war Eonstanz, wo auch Gesandte Raprechts and
Wenzels erschienen. Als Datnm wird in den drei aaf diese Zasam-
menkunft bezüglichen Stücken (Nr. 124 — 126) jedesmal ein anderer
Tag angegeben, der 19., 21. and 14.' September. Der Widersprach
in den Datierangen in Nr. 124 and 125 erklärt sieb leicht; anders
jedoch ist es mit der Angabe in dem Schreiben des Rates von Rot-
weil an Straßbarg (Nr. 126), in welchem der 14. September als Tag
der Versammlang angegeben wird. In den R. T. A. wird die Frage,
wie es sich mit der Datierang verhalte, offen gelassen (p. 138 nt. 1) ;
tbatsächlich aber scheint der Heraasgeber sich mehr dem 14. Sep-
tember zazaneigen. Den Anfang der Versammlang schon aaf diesen
Termin anzasetzen scheint mir nicht richtig; die ganze Erklärang
bierfür ist sehr gezwangen. Wahrscheinlich ist es, wie ich meine,
daß dem Schreiber ein Versehen anterlaafen ist, daß er nämlich
schrieb »das Anser aidgenossen der stett erbern hotten amb den Bo-
densew bi enander gewesen sind af nehsten zinstag nach dnser
frowen tag nativitatis«, während er dafür schreiben wollte »af neh-
sten zinstag nach exaltationis cracis«; so wäre der Widersprach
zwischen Nr. 125 and 126 gehoben.
Mit Frankfart and Mainz tritt Ruprecht nach seiner Wahl za-
nächst in Unterhandlangen (Nr. 112 — 114); in einer Unterredang za
Alzei, bei der es sich zunächst am Unterstützang in einer Unterneh-
mang gegen Altenwolfstein handelte, wurde mit beiden Städten auch
über ihre Stellung zu den Veränderangen im Reiche verhandelt (vgl.
Nr. 118 »und naich den reden als uwer and unser frunde zu Alczei gebort
bant sich zu nndersprechen und zu ratslagen waz den steten in den
Sachen zu dun und vorczukeren sij«). Der nächste Schritt, den die
rheinischen Städte unternehmen, ist ein Tag zu Mainz am 8. Sep-
tember (Nr. 115 ff.), zu welchem unzweifelhaft das Nr. 120 mitge-
teilte Gutachten gehört, das »etliche wise gelerte große phaffen«
den Städten über die von ihnen einzunehmende Stellung gegeben.
Es folgt der Tag in Frankfurt. Frankfurt erkennt Ruprecht
noch nicht an; es verlangt, daß er, wie »von aldir gewest sie 6
Wochen und 3 Tage vor der Stadt lagern solle. In der Einleitung
^u diesem Tage findet sich eine dankenswerte Zusaromenstellang
60*
676 Oött. gel. Änz. 1887. Nr. 23.
dessoD, was sich zn der Frage, wie es sieb mit diesem Lager von
6 Wochen and 3 Tagen verhält, beibringen ließ, [[nzwischen bat
diese Frage eine genane Erörterung gefanden in der Arbeit von
Karl Scbellhaß, das KOnigslager vor Aachen und Frankfurt in sei-
ner rechtsgeschichtlichen Bedeatang. Berlin 1887]. Die aaf das
Lager bezüglichen Nachrichten, die Unterhandlangen Roprecbts mit
der Stadt ihn hereinzalassen, die Vermittlungsversache der im An-
fang des Oktober znm König Übergetretenen Städte (Nr. 157, 158)
Köln, Worms, Mainz nnd Speier, die Nachrichten ttber den Einzag
selbst nnd ttber die nach demselben erfolgenden Absagen Frankfurts
nnd anderer Städte an Wenzel, die während des Lagers erfolgenden
Anerkennungen : sie alle sind hier bei dem Tage von Frankfurt unter-
gebracht (Nr. 133 — 161). Die Mitteilung der Kosten Frankfurts, die
über die Feierlichkeiten bei Anwesenheit des Königs Aufschluß ge-
ben (Nr. 174), und die minder wichtigen Augsburgs besehließen den
Tag. Unter allen zu dem Tage von Frankfurt mitgeteilten StQckeo
finden sich nicht viele, die nicht schon bekannt waren, und gerade
die wichtigsten waren schon gedruckt; nicht bekannt war bisher
zum größten Teil der zu diesem Tage mitgeteilte städtische Brief-
wechsel (Nr. 162—172).
Der Tag zu Mainz im December 1400, die Krönung in Köln
im Januar 1401, die beiden Tage zu Nürnberg im Febroar-Män
nnd Mai 1401 und zu Mainz 29. Juni — 5. Juli (?) 1401 bilden
den ttbrigen Inhalt des Bandes. Der Tag zu Mainz im December
1400 bildet die Vorbereitung zum Krönungstage in Köln (Nr. 176
179); auf ihm werden die Reichsstände, die dem König noch nicht
gehuldigt hatten, sowohl deutsche, wie italienische aufgefordert das
bisher Versäumte nachzuholen. Auch die Schritte dem Papst gegen-
ttber sind hier jedenfalls erörtert worden. Zu der Werbung an die
lombardischen Herren nnd Städte (Nr. 188), die hier richtiger wie
bei Janssen I. p. 550 in die Zeit December bis Anfang Januar ge-
rttckt ist, ist unzweifelhaft richtig das Verzeichnis (Nr. 189) von
Reichsständen und auswärtigen Mächten, die zu Ruprecht halten,
gesetzt worden, und dafür, daß sich hierin schon Namen von solchen
finden, die noch nicht zu dieser Zeit gehuldigt hatten, wird die
naheliegende Erklärung gegeben. Urkunden, Ruprechts Anerkennung
in Deutschland und Italien betreflfend, sowie die städtischen Kosten
beschließen den Tag. Bei dem Krönungstage in Köln ist von be-
sonderem Interesse der allerdings schon aus den Städtechroniken be-
kannte Krönungsbericht (Nr. 205), in welchem genau ttber die beiden
Einritte des Königs am 5. und 7. Januar 1401 und ttber die städti-
Dentsche Reichstagsakten. Vierter und fünfter Band. 877
sehen Festlichkeiten berichtet wird. Im Ansohlnft an den ErSnangs-
tag werden Formeln des Huldignngseides mitgeteilt (Nr. 221— 229)|
die mit Ausnahme von Nr. 221 (Holdigangseid des Erzbiscbofs von
Köln) jedoch anderen Zeiten angehören ; die Belohn angen der drei
geistlichen Eurfttrsten, Verhandinngen mit den Oestreiohern, Meißen
nnd Hessen haben hier ihre Stellang gefanden. Aaf dem Tage za
EOln machen sich ferner französische Einflüsse bemerkbar. Schon
aaf dem Tage za Mainz waren Anerbietungen Frankreichs hervor-
getreten (Nr. 180) ; aach aaf dem Erönangstage war eine französi-
sche Qesandtscbafl anwesend, wie aus Ruprechts Anweisung fttr sei-
nen Sekretär Meister Albrecht, Pfarrer za St. Sobald in Nürnberg,
vom 6. Mai 1401 (Nr. 296) — R. T. A. IV, p. 234 wird fälschlich
auf Nr. 293 hingewiesen — sich ergibt. Ueber dieselbe erfahren
wir aus den mitgeteilten Stücken nichts; ihr Erfolg war allerdings,
wie wir sonst wissen, in Eöln nicht der gewünschte, und auf dem
späteren Tage zu Nürnberg im Mai 1401 wird die von Frankreich
gewünschte Vermittlerrolle zwischen Ruprecht nnd Wenzel definitiv
zurückgewiesen.
Auf dem ersten Tage zu Nürnberg im Februar und März 1401,
zu dem die auf das Verhältnis Nürnbergs zu Ruprecht bezüglichen,
zum großen Teil allerdings einer früheren Zeit angehörenden Stücke
(Nr. 243—253) gestellt sind, treten die Beziehungen zu Italien und
besonders zu Martin v. Aragonien (Nr. 264 — 268) in den Vorder-
grund. Ueber das Verhältnis zu Aachen und zu Wenzel werden die
vorhandenen Nachrichten mitgeteilt; auch die Verhandlungen über
den Mord Friedrichs von Braunschweig, der schon im December
1400 in Mainz (Nr. 190) verhandelt war, treten wieder in den
Vordergrund (Nr. 269 — 280), aber erledigt wird diese schwierige
Angelegenheit nicht, ebenso wenig, wie es auf dem Tage zu Nürn-
berg im Mai 1401 nnd nach demselben, als der Romzug schon be-
schlossen, dem Eönige gelang eine Versöhnung der Parteien herbei-
zuführen (Nr. 327—335).
Der in den Verhandlungen mit dem Papste so oft diskutierte
Romzug wurde nun von dem Eönig definitiv beschlossen, nnd auf
dem im Mai folgenden Tage zu Nürnberg wurde eine allgemeine
Bekanntmachung wegen des Zuges erlassen (Nr. 287); die bei die-
sem Tage befindlichen Verhandlungen mit Oesterreioh (Nr. 288—290),
den Schweizern (Nr. 292—293), den italienischen Städten und Her-
ren (Nr. 301—314), mit Aragonien und Sicilien (Nr. 315—318), sie
alle drehen sich besonders um diesen einen Punkt, der jetzt der
wichtigste ist, um den Zug über die Alpen. Interessant ist es zu
878 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 23.
beobachten, wie yerschieden das Verhalten Venedigs und Florenz
dem König gegenüber ist: denn während Florenz Bonifaz IX. auf
Rnprechts Seite zn ziehen sacht, während es zwischen Ruprecht,
Bonifaz und Ladislaus von Neapel einen Bund anstrebt and letzte-
ren sogar mit Raprecht verschwägern will, anf jeden Fall Rnprecht
aber in die italienischen Verhältnisse hineinzuziehen sacht, bewahrt
dagegen Venedig eine kühle reservierte Haitang dem KOnig gegen-
über, am es nicht mit Galeazzo za verderben.
In gleicher Weise, wie in Nürnberg, wird anf dem vom 29. Jani
bis 5. Jali (?) 1401 zo Mainz stattfindenden Tage, über den der bis-
her anbekannte Briefwechsel der Städte (Nr. 398—402) manchen
Anfschlaß gibt, lediglich über die Vorbereitangen znm Romzage
verhandelt. Hier in Mainz wird als Termin für die Sammlang der
Trappen der 8. September 1401 festgesetzt (Nr. 348 ff.) ; über die
Reichsstände, die zam Romzog aufgefordert wurden, ist ein aas-
ftthrliches Verzeichnis mitgeteilt (Nr. 387), ebenso die Leibwachen
des Königs und der Königin (Nr. 385. 386). Verhandlungen mit
Leopold von Oesterreich, mit den italienischen Staaten, mit Arago-
nien und Savoien über Hülfe zum Romzuge, in gleicher Weise solche
mit einzelnen Städten und Ständen in Deutschland (Nr. 370-'384)
sind die Folgen der Beschlüsse in Mainz über den Zug, dessen Ko-
sten Ruprecht abgesehen von seinem und der Königin persönlichen
Unterhalt auf monatlich gegen 79000 Gulden veranschlagen zu mtts*
sen glaubte (Nr. 391).
In kurzem ist dies der Inhalt des im vierten Bande der R. T. A.
Gebotenen. Um nun noch auf einiges zurückzukommen, so ist p. 186
nt. 1 verwiesen auf R. T. A. VIL Nr. 174 und 175; der Zweck die-
ser Verweisang ist aber absolut nicht ersichtlich. — Die undatierte
Werbang an die Lombarden (Nr. 188) hat wohl mit ziemlicher Sicher-
heit ihre richtige Stelle erhalten; die hierbei p. 217 nt. 3 erwähnten
Frankfurter Artikel sind vom 23. December 1397, nicht 1398, wie
hier angegeben wird. Wenn ferner p. 217 nt. 1 zu diesem Stück
gesagt wird: »Von der Krönung zu Achen wird den Lombarden
noch nicht in der Werbung berichtet«, so muß es für Achen selbst-
verständlich Köln heißen. — p. 227 nt. 2 wird das Regest eines
im Wien. H. H. St. A. Registr. B. Ruprechts C. fol. 18^ darchstri-
ebenen Briefes mitgeteilt, den Ruprecht an elsässisohe Städte richtet ;
derselbe ist hier datiert 1401 Dea 2 (Fr. n. Kathr.) Wiftenburg.
Statt 1401 muß es aber ganz sicher 1400 heißen; das Datum Frei-
tag nach Katharina ergibt für dies Jahr den 26. November, an
welchem Tage Ruprecht auch sonst in Weißenburg urkundet; vgl
Deatscbe Reichstagsakten. Vierter und fünfter Band. 879
Chmel Nr. 28 und R. T. A. V„ Nr. 192. Ein Drackfehler kann hier
also niobt aDgenommen werden. — Der undatierte Huldignngseid der
Bürger and Bnrgmannen zn Oppenheim, der R. T. A. V., Nr. 227 in
den Angast 1401 gesetzt wird, dürfte doeh wohl schon in den Sep-
tember 1400 zu setzen sein ; vgl. Chmel Nr. 9. ^— Die Fassang der
Inhaltsangabe von Nr. 250 ist nicht ganz scharf, da die hier ge-
nannten Städte nicht Ruprecht erst anerkennen wollen , sondern be-
reits anerkannt haben; darch diese ungenane Fassung steht dies
Regest in Widersprach mit dem za Nr. 229 (p. 227 nt. 5) Ausge-
führten. — p. 306 nt. 4 wird gesagt, daß der am 21. März 1400
zwischen Venedig and Galeazzo geschlossene Friede 14 Artikel um-
faßt habe; trotzdem wird in derselben nt. ein 15. Artikel angeführt!
— Das Schreiben des Andreas de Marinis an Ruprecht vom G.März
ohne Jahresangabe (Nr. 261) gehört weder, wie Janssen I. Nr. 1101
will, dem Jahre 1402 an, noch dem Jahre 1401, in welches es in
den R. T. A. gesetzt ist; der einzige Punkt, der in dem im übrigen
sehr nichtssagenden Schreiben zur Bestimmang des Jahres dienen
kann, ist übersehen worden. In demselben wird nämlich der kürz-
lich geschlossenen Vermählung des Pfalzgrafen Ludwig mit der
Tochter Heinrichs IV., Bianca, Erwähnung gethan {ad hec guoque
maxime facit pro celebrüate tuarum rerutn gerendarum rumor Uli
celsi conjugü ex liberis tui et regis Anglic nuper contracti). Die Hoch-
zeit fand am 6. Juli 1402 in Köln statt. 1401 und 1402 können
also beide nicht das richtige Jahr sein ; es wird vielmehr 1403 za
setzen sein, das auch zu dem sonstigen sehr allgemeinen Inhalt des
Schreibens stimmt; man maß bei der Annahme dieses Jahres eben
im Auge haben, daß nach dem am 3. September 1402 erfolgten Tode
Johann Galeazzos sich die Verhältnisse in Italien sehr zu Ruprechts
Gunsten geändert hatten. Daß Andreas de Marinis den ersten Zug
Ruprechts mit Schweigen übergeht, das wird wohl Niemanden Wun-
der nehmen. — Mit dem Widerspruche in der Datierung (Nr. 328)
9 von dem nehsten montage nach ansers herren liechamstage nehst-
knmpt aber achte tage, daz wirdit af sente Viti und Modesti tage
nestkumpt« weiß ich nichts zu beginnen; wahrscheinlich wird wohl,
wie Bemheim vorschlägt, für Montag zu setzen sein Mittwoch.
— Die undatierten Werbungen Ruprechts an Landgraf Hermann von
Hessen (Nr. 329) und die Herzoge Heinrich und Bernhard von
Braanschweig (Nr. 330) sind allgemein 1401 nach Mai 6 datiert.
Die Stellung im Codex weist, wie in nt. 1 zn Nr. 329 bemerkt
wird, auf Juli 1401 bin, und zwar werden beide Werbungen, wie
aus p. 449 nt. 3 hervorgeht, von der Werbung an Köln vom 5. Jali
880 Gott, geh Adz. 1887. Nr. 23.
1401 (Nr. 370) und an Oesterreich vom 10. Juli 1401 (Nr. 356)
eingeschlosseD. Den Mai macht der Inhalt von Nr. 329 darebau
nnwahrscheinlich ; die Briefe des Landgrafen Hermann vom 30. Mai
und 8. Jani (Nr. 331 nnd 332) gehören sicher einer früheren Zeit
an, als die erwähnten Werbungen (Nr. 329 nnd 330); der frflbeste
Termin wäre also der 8. Jnni. Ans beiden Werbungen geht aber
ziemlich deutlich hervor, daß die Beschlüsse des Tages za Mainz
schon gefaßt sind (vgl. Nr. 329 und besonders 330 »daz unser herre
der kunig nnsem herren von Mentze ietzunt auch gerne mit imme
bette über berg hininn gein Lamparten c). Der Tag zn Mainz ist
spätestens am 5. Juli beendet, denn am 6. Juli ist Ruprecht wieder
in Heidelberg (vgl. Ghmel Nr. 522 und R. T. A. V, Nr. 370 Anm. 1).
Die Stellung im Codex wird demnach ganz richtig sein, nnd fttr die
Datierung der beiden Werbungen die Zeit vom 5. — 10. Juli anzu-
setzen sein. —
Der ftinfte Band mit seinen 233 bisher gänzlich unbekannten
Stttcken übertrifft seine Vorgänger an Umfang ganz außerordentlich.
Ueberblickt man das im vorliegenden Bande vereinigte Material, so
muß man dankbar anerkennen« wie weit unsere Kenntnis über
Ruprecht durch das hier Gebotene gefordert wird nicht nur an nnd
für sich durch die große Menge des hier zu Tage geforderten bis-
her gänzlich unbekannten Materiales, sondern besonders dnrch die
treflSiche Bearbeitung; ich habe hier auch speciell die Einleitungen
im Auge.
Es wird der Band eröffnet mit den Stücken, die in dem Ab-
schnitt »Tag zu Augsburg: Vorbereitung der Italienischen Unter-
nehmung; im September 1401« zusammengestellt sind; unter den
hier mitgeteilten 206 Stttcken — abgesehen von denen, welche in
der Einleitung erwähnt werden — sind, wenn ich nicht irre, fast
die Hälfte bisher nicht bekannt Was die von den Herausgebern
gewählte allgemeine Bezeichnung »Tag zu Augsburg: Vorbereitung
der Italienischen Unternehmung; im September 1401« anbelangt, so
scheint mir dieselbe nicht glücklich gewählt zu sein, denn nnter
der Vorbereitung der Italienischen Unternehmung an und fttr sich wird
meines Erachtens kaum Jemand ohne weiteres das verstehn, was
hier darunter verstanden werden soll, nämlich die Krönung in Rom.
In dieser Beziehung ist allerdings das, was man gewöhnlich den
Zug Ruprechts nach Italien nennt, nur Vorbereitung f&r den KrO-
nungstag in Rom, aber dann durfte die Unternehmung nicht allge-
mein italienische genannt werden ; schief bleibt auf jeden Fall die
Bezeichnung.
Deatsclie ReichsUgsakten. Vierter und fiinfter Band. 881
Der Band beginnt mit den Anordnungen Rapreebts ftlr das
Reicb, von denen jedoeh nnr Nr. 1 nnd 2 in Angsburg erlassen
sind; die übrigen Erlasse Nr. 5—8 stammen sämtlich aas Italien
nnd bezieben sieb nicht allgemein anf das Reich , sondern anf spe-
ziell bairische Angelegenheiten, lieber das Verhältnis Rnprechts za
Florenz nnd Venedig erhalten wir darch das hier mitgeteilte Material
die wichtigsten Anfscblttsse; die auf sie beztlglicben Nachrichten,
die Briefe des Straßbarger Haafens (Nr. 190—206) geben eine will-
kommene Ergänzung zu dem, was in R* T. A. IV die oft versteckten
Andentangen in den Verhandlangen mit dem Papst nnr ahnen Heften.
Warum Ruprecht im Januar 1402 plötzlich Italien verlassen wollte,
das ersehen wir jetzt; er war des fortwährenden Handelns mtide
(cf. Nr. 27—84, 202—203). Wie kläglich die Lage Ruprechts war,
wie erbärmlich es vor allem mit seinen Finanzen bestellt war, das
geht erschreckend klar hervor aus den hier unter »Finanzielles« zu-
sammengestellten Stücken (Nr. 168—181), von welchen fttr uns der
wichtigsten eines, die Soldverscbreibungen Ruprechts für Dienste im
Lombardischen Feldzuge (Nr. 176), bisher nur durch ein Regest bei
Janssen I, Nv. 1087 bekannt war. Aber nicht nur durch den Zag
nach Italien ist diese so überaus peinliche und erniedrigende Lage
fttr Ruprecht herbeigeführt; denn wie tief er schon bei Beginn dieses
Unternehmens in Deutschland verschuldet war, darüber gibt ein
Einblick in die Pfälzischen Kopialbttcher ein grauenhaftes Bild, trotz-
dem dasselbe sicher nicht vollständig ist. In der ersten Hälfte des
Jahres 1401 blieb er an Leistungen, welche zum groften Teil wohl
fttr den böhmischen Krieg aufgewendet wurden, die Summe von
29000 Fl. schuldig; von Frankfort ließ er sich im Januar 1401 die
beiden nächstfälligen Reichssteuern vorausbezahlen, von Mechtild
von Spanheim, Markgräfin von Baden, borgte er im August 1401
24000 Fl. gegen Verpfändung von Bretheim und Wissenloch, und im
Februar 1401 beißt er Diether von Henschuhßheim, Herman von
Bodenstein, Contze Munichen von Rossenberg, seine Räthe, nnd
Mathis, seinen Schreiber, ihm auf jede Weise Geld zu verschaffen,
er gibt ihnen »vollen gewalt uns gelte ußzugewinnen wo sie mögen
und darumbe zu tedingen etc. und dasselbe gelte zu versichern mit
nnsern stoßen dienern und brieven oder anders wie sie dunket gut
sine. Wie dann vollends des Königs Lage ein Jahr später war,
als er in Padua selbst ohne Mittel die Gläubiger in Deutschland be-
friedigen sollte, das ersieht man aus der Anweisung an den Land-
schreiber von Amberg, in der er meint, »si ez daz die vierzigtusent
guldin zngelta, die itzunt dri wochen nach ostern mit des kunigs
882 Göit. ge]. Anz. 1887. Nr. 23.
von Engelland dochter kommen nnd gefallen soHent, gevallen werden
daz dann min herre herzog Ladewig die angriffe und davon bezale,
wo ez dann allernodest istc (Nr. 8, Art 4). Als er nach dem ganz-
liehen Mislingen seines Zages nach Deatschland zarttckkehren will,
da läAt er yorher den Erzbisohof Gregor von Salzbarg bitten , »daz
er ime lihen wolle zwolftasent galdin, daz er sin cleinod and aiU
berin geschirre damid gelosen m6ge nnd aach andere sin notlicb
geltschalde bestellen c (Nr. 209 Art. 10). Und die Forderungen,
welche er nach seiner Rttckkehr an die Städte stellte , waren nicht
gering; »nnd ist zu wissenc, heiBt es im Nürnberger Schenkbach,
»das unser herre der kflnig ein vordrang tete an gemein stette des
reichSy das sie hAlfen mit 40000 galdein von notdorft wegen des
reichs. und das geschah umb Michaelis anno etc. 2« (Nr. 323); und
mit ähnlichen Forderaogen kam er noch öfter.
Von den anf dem Kurftlrstentage za Mainz im Jani 1402 ver-
handelten Gegenständen ist der einzige, von welchem eine gesetz-
liche Regelung erhalten ist, das Mttnzwesen, in dem Goldmttnzgesetz
vom 23. Jani 1402. Der Mttnzfaß blieb hier derselbe, wie ihn in
Mainz 1399 die vier rheinischen Earftlrsten darcb einen neuen Mttnz-
receft festgesetzt hatten; Gulden zu 22 Vs Karat, 66 Galden auf die
Mark. Das Gepräge jedoch wurde ein anderes; an Stelle des Vier-
kompasses trat das Wappen des einzelnen Mttnzherren »unser ande
unserr korforsten munczmeistere sollent nn furbaz iglicher sins berrea
tzeichen und wapen off die galden, die er dann muntzen wirdet,
siechticlichen slahen und muntzen , nnd auch keins andern herren
zeichenc (Nr. 225). Als Grund fttr diese Abänderung hatte Hegel,
St. Chr. 1, 233 angegeben, es sei dies geschehen, »damit jeder ftlr
die Werthverringernng der Mttnze verantwortlich gemacht werden
könnec. Mit Recht wird jedoch meines Erachtens hiergegen geltend
gemacht (pag. 271), daß eine Maßregel in dem Gesetz Oberhaupt
nicht angeftlhrt wird, daß ferner der von Hegel angeführte Grund
schon deswegen nicht stichhaltig ist, weil thatsächlich schon eine
Prägung mit dem Wappen der einzelnen Mttnzherren, nämlich mitten
in dem Vierkompaß, vorhanden war, so daß schon vor Ruprechts
Mttnzgesetz sehr wohl ersehen werden konnte, wo der Ursprung einer
schlechten Prägung zu suchen sei. Einfacher und natttrlicher ist die
Erklärung der Herausgeber, daß es geschehen sei, um die neuen
Gulden yon den alten unterscheiden zu können.
Im Anschluß an dieses Gesetz hatten die Städte beschlossen
»daz igliche stat ire frunde mitmacht von der sache wegen uf sant
Margareten dag zu nacht nestkompt zu Mencze haben sollen, zu
Deatscbe Reiclistagsakteii. Vierter and fünfter Band. 883
sagen wie sie die galden fanden haben ^ nnd af ein ende za nber-
kommen, waz man nf iglicb gratd der golden, die za geringe fan-
den werden, za erfallange geben sollen and waz darander were naeh
marczal , also daz alle vorgeschriben ordenange and gesetze nf sant
Jaeobs dag nestkompt in allen steten angefangen and forbaßer fe-
steelieh gehalten werden« (Nr. 223. II. 3). Der städtische Mttnztag
erfolgte an dem festgesetzten Termin, am 13. Jali, in Mainz; die
Akten desselben sind Nr. 263—269 mitgeteilt. Anfter Nürnberg
(cf. Nr. 263) erschienen sicher alle Städte za demselben, and in
Nr. 268, das mit Recht zam 13. Joli 1402 gesetzt ist, haben wir
das Ratschlagen der Städteboten, wie man den Kars der bisherigen
Ooldmttnzen festsetzen solle. Als Fortsetzang dieses städtischen
Httnztages za Mainz ist der im Aagast 1402 za Worms abgehaltene
anznsehen, aaf dem einzelne za Mainz noch nicht erledigte Schwie-
rigkeiten geregelt warden (Nr. 270 — 74).
Za dem Mainzer Tage ist eine Straßbarger Münzprobe gesetzt
(Nr. 267), die samt dem »ratslagen, daz die Pfaffenlabe gerotslaget
hant von der gäldin münssen wegen« undatiert ist. Ob aber dieses
Stttck thatsächlich hierher za setzen sei, darüber sind den Heraas-
gebern Bedenken aafgestiegen ; ich meine mit Recht. Denn wenn
es im Ratschlagen der Städteboten gelegentlich des Mainzer Tages
heißt, daß man »dez konigs galden, die er zu Franckfart mit deme
adeler hait dan slahen, and unser herren der knrfursten galden af
deme Rine, die sie mit der vier herren wapen nnd Schilde bißher
hant dan slahen, die ire rechte gewiechte hant, vor foil vor einen
galden za werange nemen solle«, so maß das angünstige Resaltat,
das ans in der Straßbarger MOnzprobe vorliegt, überraschen, beson-
ders aber, wenn man die durch dieselbe gewonnenen Resultate mit
den Proben der anderen Städte vergleicht, die ungleich günstiger
sind. Während es z. B. in der Mttnzprobe von Nürnberg (Nr. 266)
heißt: >zam ersten vand man die guidein mit dem tripaz, die di vier
herren geslagen haben , 22 Va garad« , so lautet das Urteil über die-
selbe in der Straßbarger »also hant si fanden an eim guldin von
Beiern zu Heidelberg geslagen mit den drien kumpbas, das derselbe
guldin hat gehalten nüt me danne 18Vs gradus fSlliche und t&d dis
28 Vi pf.y die ime gebrist daz er nit fin ist« (1). Und ähnlich ist
das Verhältnis überall.
Dieser so bedeutende Unterschied zwischen dem Resultate der
Straßburger und dem der übrigen Proben ist jedenfalls sehr bedenk-
lich; fraglich muß es erscheinen, ob eine derartige Münzverschlech-
terung , wie sie uns in Nr. 267 entgegentritt , für diese Zeit anzu-
684 Odtt. gel An£. 1887. Kr. 23.
nehmen ist, ob diese Httnzprobe wirklich in das Jahr 1402 gehört.
Und ich meine diese Frage verneinen zu müssen, da mir vorläufig
dieser sich ergebende Widersprach anlOslich erscheint.
Anf diesem Mainzer Tage (Jani 1402) haben sicher Unterhand-
langen wegen der Tötang Herzogs Friedrich von Braanschweig statt-
gefanden (Nr. 228 — 233); ob dagegen inBezag auf die Anerkennung
darch Rudolf III. v. Sachsen hier verhandelt ist, das ist fraglich,
wenngleich die hier mitgeteilten Stttcke (Nr. 234^-235) jedenfalls
in diese Zeit gehören. Im übrigen sind bei diesem Karfttrstentage
das Verhältnis Rnprechts zu Aachen and dem Herzog Reinald von
Jttlich-Oeldern (Nr. 236—239 and Einleitung F) , sein Verhältnis za
Italien (Nr. 240—48) und Wenzel (Nr. 249—54) behandelt, ebenso
seine Beziehnngen zu Frankreich (Nr. 255) und za England (Nr. 256—
58), welch letztere sich besonders um die Heirat zwischen dem Pfalz-
grafen Ludwig and Bianca drehen.
Von Einzelheiten za den Tagen von Augsburg und Mainz be-
merke ich folgende. Die p. 74 nt. 8 erwähnte Begrüßangsr^de,
welche Petrus de Alvarotis am 20. November 1401 in Padua vor
Ruprecht hielt, ist schon gedruckt bei Duellins, Miscellanea I.
p. 131 £P. — Daft Nr. 89 ganz sicher zum 25. September 1401 ge-
hört, geht aus art. 2 hervor »darnach sollent ir im antwurten nnaers
herren des knnigs briff mit sinem majestat versigelt, darinne er im
gehütet den von Meylan anzagriffen und zu beschedigenc ; der hier
erwähnte Brief ist eben der vom 25. September an Franz von Car-
rara (Nr. 88). — Der Zeitraum für die Datierung von Nr. 207 ist
zu weit gefaßt. Als terminus a quo ist richtig der 14. April ange-
setzt, der aus der Erwähnung des an diesem Tage an Eonrad von
Verden gerichteten Schreibens folgt. Den terminus ad quem aber
unter Beziehung anf das Schreiben Ruprechts an verschiedene Forsten
vom 2. Mai 1402 auf dies Datum zu setzen ist nicht richtig, weil,
wie p. 282 nt. 1 ganz richtig hervorgehoben wird, Rupreeht bd
Absendung Bumans noch in Italien ist, was aus art 6 hervorgeht:
>so ist er (so. König) genzlich zu rate worden wiederumbe gein
Datschen landen zu ziehen«. Am 24. April befindet sich jedoch
Ruprecht schon wieder in Tirol, cf. Gbmel Nr. 1168/69; folglieh ist
dieser Tag der äußerste terminus ad quem. — Die Verweisung
p. 283 nt. 2 auf R. T. A. IV. Nr. 45 ist falsch ; das dort mitgeteilte
Outaehten des Franz von Carrara und der Florentinisohen Oesandten
ist vom 17. Januar 1402, während die hier in Frage kommende
Gesandtschaft erst in den Februar 1402 fällt; cf. Salviati pag. 199
»Memoria che adi 18. di Febbraio 1401 per elezione prima fatta
Deatsche Reichstagsakten. Vierter and fünfter Band. 886
per i noBtri Signori, et i loro CoUegj io andai per lo nostro magni-
fico Comane ... a Roma a Papa Bonifatio dodo ... et appresso
faroDo in nostra compagnia 2 Ambasciatori del Signore di Padova
etc.«. — Die nndatierte Instraktiou (Nr. 208) fUr einen Gesandten
an den Eorfttrsten von Köln ist 1402 zwischen April 14 und Mai 2
0. 0. datiert, weil dies Stück im Kodex numittelbar anf die könig-
liche Werbnng darch Nicolaus Buman an die Kurfürsten (Nr. 207)
folgt und sich im Inhalte darauf bezieht; als Gesandter, für den die
Instruktion bestimmt ist, ist darum auch Buman angenommen. Janssen
1. Nr. 1133 hat die Instruction in den August 1402 gesetzt. Ich
halte die Datierung der R. T. A. für richtig und will hier ergän-
zend auf etwas aufmerksam machen, das vielleicht zur Unterstützung
dieser Datierung dienen kann. Aus der Instruktion ersieht man, daß
zum König ein Gesandter gekommen ist »von der kuniginne nnd et-
lichen herren in Franckerich, mit namen her Stephann Smyeher«.
Derselben Gesandtschaft wird Erwähnung gethan R. T. A. V. Nr. 289/
90, 2 Instruktionen für Gesandte Ruprechts nach Frankreich; diese
gehören unzweifelhaft in die letzten Tage des Augusts 1402, und
deswegen hat sich Janssen 1. c. jedenfalls verleiten lassen Nr. 208
ebenfalls in diese Zeit zu setzen. Warum ich diese beiden Stücke
in diesem Zusammenhange anführe, ist Folgendes. Aus Nr. 289 und
290 erfahren wir, daß die Königin von Frankreich durch Smyeher
das Verlangen an Ruprecht gestellt hatte > daz er sin erber botschaft,
mit namen iren bruder herzog Ludewig gein Franckrich senden sollet.
Die Absicht Ruprechts Ludwig VIL von Baiern als Gesandten nach
Frankreich zu senden ist aber schon im April vorhanden, wie Franz
Ton Carrara am 15. April 1402 dem Dogen von Venedig, Michael
Steno mitteilt (V. Nr. 132). Vergegenwärtigt man sich nun, daß die
Sendung dieses Gesandten ausdrücklicher Wunsch der Königin von
Frankreich war, den sie durch Smyeher Ruprecht überbringen ließ,
80 darf man wohl ohne einen Fehler zu begehn die Ankunft
Smyehers bei Ruprecht vor dem 15. April annehmen. Gibt man
dies zu, so ist es wahrscheinlich, daß der geheime Auftrag an
Friedrich von Köln unmittelbar nach den Verhandlungen mit Smyeher
zu setzen ist, die, wie wir sahen, vor dem 15. April vor sich ge-
gangen sind. Der terminus a quo und ad quem werden also mit
der Beschränkung, wie oben für Nr. 207 angegeben, von den Her-
ausgebern richtig angenommen sein. Auch dieser Auftrag ist wohl
fUr Buman gewesen, dessen Abreise wohl bald nach dem 14. April
erfolgt ist Ob dieser Gesandte identisch ist mit dem Stephan
Smyeher, welcher in den Nürnberger Propinationen (R. T. A. IV,
^r. 285) erwähnt wird?
886 Gott. gel. Ans. 1887. Nr. 23.
Aaf den Mainzer folgt schon im August und September 1402
der königliche Fürsten- und Städtetag zu Nürnberg (Nr. 275 — 407).
Auf diesem Tage ist es, daß Ruprecht den Rat der ReicbsfUreten
und Städte wegen der Zumutungen des Papstes einholte. Eine Auf-
zeichnung seitens der Städteboten über die »artikele, die unfter beilger
vatter der babst gemutet hait, als sich unser here der konig ime
verbinden sweren und verbriefen solte über soliche gewonliche eide
die andere Romische konige bisher getan haut« (Nr. 282) ist hier
mitgeteilt Im übrigen trat Ruprecht mit großen Forderungen an
die Städte heran (Nr. 283 - 286) , da seine finanzielle Lage , wie
schon vorher erwähnt, äußerst ungünstig war. Eingehende Nach-
richten über die zum Teil allerdings späteren Verhandlungen über
die Ermordung Herzogs Friedrich von Braunschweig sind hier in
reichlicher Zahl zusammengestellt (cf. Einleitung E und Nr. 327—
41); ferner wird Ruprechts Verhältnis zu Frankreich, Italien, Eng-
land, den schwäbischen Städten und einer Anzahl Reicbsfflrsten er-
((rtert. Zu bemerken habe ich, daß die Einsetzung des Herzogs
Albrecht IV. von Oestreich zum Vikar in Ungarn nicht, wie p. 421
nt. 2 angegeben wird, am 16. August bezw. 14. September 1402 ge*
schehen ist, sondern am 16. August bezw. 17. September 1402.; ef.
Kurz, Albrecbt IV. p. 222. Die Verweisung auf p. 417 nt 2 ist
demnach in p. 417 nt. 3 zu ändern.
Die Mttnzfrage spielt auf dem Kurfürsten tage zu Boppard im
März 1404, der den Mittelpunkt für den nächsten Abschnitt bildet,
eine Hauptrolle (Nr. 408—422), denn er ist hauptsächlich deswegen
berufen, weil darüber Klage geführt wurde, daß die nach dem neuen
Gesetze vom 23. Juni 1402 (Nr. 225) geprägten Gulden schlecht
waren. Die hier mitgeteilten städtischen Münzproben (Nr. 410— 413),
welche undatiert sind, beziehen sich ohne Zweifel auf die nach dem
Gesetz von 1402 geprägten Goldmünzen und können sicher als zu
diesem Kurfürstentag gehörig angesehen werden, selbst wenn das
Datum ihrer Entstehung vielleicht schon etwas frllher anzusetzen ist
Die Abhülfe für diese Klagen wird nicht durch ein neues Gteseti
geschaffen; es tritt zwar eine neue Mttnzordnung an das Licht
(Nr. 414), aber es ist dieselbe kein königliches Gesetz, sondern Ru-
precht »als ein pfalzgrave bi Rine«, Johann von Mainz, Friedrich
von Köln, Werner von Trier »sin semptlich einer münze uberkonunen
von golde und von silber dun zu slahen in eime glichen werde etcc«
Es ist also lediglich ein Privatvertrag, den hier die 4 rheinischen
Kurfürsten zur Aufbesserung der Münze schlössen. Der Goldgnlden
ist darum auch der gleiche, wie im Gesetz vom Juni 1402, die Art
Deutsche Reichstagsakteo. Vierter und fünfter Band. 887
der Prägang blieb jedenfalls aaeb dieselbe, da über sie nichts ge-
sagt ist; nen aber ist die Einführung einer regelmäßigen Kontrolle.
Im Übrigen bilden einige die Anerkennung Ruprechts durch deutsche
Reichsstände betreffende Stücke (Nr. 415-17), die Kosten Frank-
furts (Nr. 418) und einige auf die königliche Mttnze zu Frankfurt
bezügliche Sachen (Nr. 419—22) den Schluß der zum Bopparder
Tage vereinigten Stticke.
Ein besonderer Abschnitt ist der Landfriedensthätigkeit Ruprechts
in Franken und der Wetterau gewidmet (Nr. 423 — 49). Bezüglich
derselben mag es genügend sein auf die ausführliche Einleitung zu
diesem Teile zu verweisen (pag. 578 ff.).
Die Reichstage zu Mainz im December 1404 und October 1405
bilden den Beschluß des 5. Bandes. Das Material zu dem ersteren
ist ungemein dürftig; »kein Einladungsschreiben, keine Aufzeich-
nung über die Verhandlungen, kein Gesandtschaftsbericht, keine Korre-
spondenz über Besuch ist uns erhalten; nur aus städtischen Rech-
nungen und aus nachfolgenden Verhandlungen erfahren wir von ihrt.
Mit bedeutenden Oeldforderungen an die Städte trat Ruprecht auf
diesem Tage wieder hervor; »und ist zu wissen, das unser herre
kunig Ruprecht aber ein mntnng tete an gemein stette des reichs,
si solten im zu hilfe komen mit anderhalbhunderttawsent guidein,
domit er des reichs nfltz schicken w61te« , heißt es im Nürnberger
Schenkbuch (Nr. 453). Zu diesem Tage sind in 5 Anhängen ver-
schiedene in diese Zeit gehörige Dinge behandelt ; zunächst die bald
nach dem Mainzer Tage erfolgende Besteuerung der Kurpf&lzischen
Lande (Nr. 458 — 62), deren Ertrag Ruprecht die Mittel gewähren
sollte, alles, was er verpfändet, wieder einzulösen. Verhandlungen
wegen der Verheiratung von Ruprechts Tochter Else mit Herzog
Friedrich von Oesterreich (Nr. 463—66), mit König Wenzel und auf
das Verhältnis zum Papst und Italien bezügliche Stücke folgen ; den
Beschluß der hier behandelten Dinge macht endlich die Versöhnung
über die Tötung Herzogs Friedrich von Braunschweig und der Fried-
berger Landfriede vom 18. März 1405.
Aufgefallen ist mir, daß p. 687 nt 1 die Frage offen ge-
lassen wird nach dem Todestage Procop's, indem nur die Angaben
von Aschbach, Gesch. K. Sigmund's L 209 und Palacky, Oesch. von
Böhmen HI, 1. 208 einander gegenüber gestellt werden. Die Diffe-
renz zwischen beiden ist aber zu beträchtlich, als daß sie nicht hätte
untersucht werden sollen; Aschbach hat allgemein Januar 1405 als
Termin für den Tod Procops, Palacky den 24. September 1405. Das
letztere Datum hat auch schon Engel, ungr. Gesch. IL 248, gegea
888 Qött. gel. Anz. 1887. Nr. 2S.
den Ascbbach 1. c. sich wendet. Aschbach stutzt sich bei seiner
Angabe auf Dinzenhofer, genealog. Tafeln der böhmischen Fürsten,
Tafel XV nach mährischen Urkanden. Dinzenhofer I. c. sagt aber
nur allgemein »Procop starb 1405« and führt hierfür als Beleg
Hübner, genealog. Tafeln und Pessina de Czechorod, Mars Moravieas
an. Ersterer hat nur allgemein 1405, bei letzterem heißt es pag. 447 :
>Eum (sc. Procopium) postea Sigismundus Branam abduci jnssit, nbi
ipso anno VIII. Calend. Octob. vita decessit«. Urkunden hat Pes-
sina verwertet, sonst würde seine Angabe keinen Wert haben, aber
wie Aschbach anf den Janaar hat kommen können ist anerfindlicb.
Der den Schluß des 5. Bandes bildende Reichstag zu Mainz im
Oktober 1405 wurde vom König, wie aus dem Aasscbreiben hervor-
geht, lediglich wegen des Marbaoher Bundes berufen, dessen Teil-
nehmer am 16. September 1405 (Nr. 490) Ruprecht von der Qrfln«
dang Mitteilung gemacht hatten. Der Tag verlief ohne jedes Re-
sultat, und schon für Januar 1406 schrieb der König einen neuen
aus. In einem besonderen Abschnitt ist das Verhältnis Ruprechts
zum Bischof von Straßburg erörtert. Unter den zu diesem Tage
mitgeteilten Stücken sind mehrere bisher nicht bekannte, darunter 3,
die auf die Entstehung des Marbacher Bandes neues Licht zu werfen
geeignet sind, und auf sie will ich kurz zum Schluß dieser Be-
sprechung eingehen. Diese 3 bisher nicht bekannten Stücke sind
Nr. 481 , 483 , 488 (I , la , II). Dieselben sind undatiert and , wie
sich aus manchem ergibt, nur Entwürfe. Daß alle 3 in die Zeit
Ruprechts zu setzen seien, ergab sich schon aus dem Umstände, daß
in allen derselbe erwähnt wird; daß sie zusammengehören, ver-
wandten Ursprungs sind, das ergibt eine Vergleichung leicht
Wie erwähnt gehören alle 3 Stücke in die Zeit Rnpreehts;
ferner zeigt eine Vergleichung mit der am 14. September 1405 aus*
gestellten Urkunde des Marbacher Bundes , daß die Teilnehmer
desselben dieselben sind, welche in diesen Entwürfen auftreten. Aus
einer Vergleichang der 3 Entwürfe anter sich ergibt es sich, daß
II (488) der jüngste ist; und vergleicht man ihn mit der Marbacher
Bandesurknnde y so sieht man, daß er derselben sehr nahe steht,
wenngleich es auch nicht an wesentlichen Aenderungen fehlt, und
besonders auch der Umstand eigentümlich berührt, daß der Wortlant
der Ausfertigung mit dem des Entwurfes wenig übereinstimmt. Je-
denfalls also ist es sicher, daß diese Entwürfe einer früheren Zeit
angehören , als die Marbarger Urkunde , daß die Zeit ihrer Entste-
hung vor den 14. September 1405 fällt; and da sie nicht nur nnge-
föhr dieselben Teilnehmer voraussetzen, sondern auch, wie erwähnt^
Deutsche Reichstagsakteo. Vierter and fünfter Band. 68^
inbaltlich mit der Mehrzahl der Artikel und mit der Tendenz des
Bandes tibereinstimmen , so können sie ohne Bedenken geradezu als
Entwürfe des Marbaeher Bundes bezeichnet werden.
Was non die Entstehung der 3 Entwürfe betrifft , so sind sie
znnäebst aus dem Strafiborger Archiv; wahrscheinlich ist es aoch,
daß sie in Straßburg geschrieben worden. Der nach der Annahme
der Herausgeber älteste Entwurf ist I (Nr. 481), der Entwurf eines
Bundes zwischen dem Markgrafen von Baden, dem Grafen Eberhard
von Württemberg, Straßburg und dem schwäbischen Städtebund. Der
Ort seiner Entstehung wird wohl in Straßbnrg zu suchen sein, denn
bei den Ausnehmungen, welche die Mitglieder des Bundes machen
werden, werden nur die der Straßburger berücksichtigt.
Ungefähr gleichzeitig oder doch nur wenig später fällt la
(Nr. 483), ein Entwarf einer Vereinigung des in I genannten Bundes
mit dem in la, dessen Mitglieder Johann von Mainz, nicht nament*
lieh genannte Herren und die Städte Mainz, Worms, Speier waren.
Bei der Ausarbeitung sind jedenfalls die schon im Bundesverhältnis
zu einanderstehenden schwäbischen Städte und Oraf Eberhard von
Württemberg beteiligt, denn bei der Bezeichnung der Städte, wohin
die Mahnung um Hülfe seitens der andern Partei gerichtet werden
sollte, werden hier nur Ulm und Stuttgart genannt, während es doch
zu erwarten wäre, daß alle 4 Verbündete gleichmäßig berücksichtigt
wären. Vollständig liegt la nicht mehr vor, denn es fehlen Bestim-
mungen, auf welche in dem Entwürfe selbst verwiesen wird.
Der Entwarf II (Nr. 488) weist dieselben Teilnehmer auf, wie
I; überhaupt erweist sich II als eine Umarbeitung von I, dessen
Grundstock unverändert fast beibehalten ist Später ist er unzweifel-
haft, denn Notizen, welche in I Veränderungen andeuten, finden sich
in II vorgenommen; eine bestimmte Tendenz jedoch bei der Umar-
beitung ist nicht wahrnehmbar. Was das Verhältnis von II zu la
anbelangt, so stehen die meisten Artikel, welche la gegenüber I
eigentümlich hatte, in II wieder, so daß es an sich nicht unmöglich
ist, daß la auf die Umarbeitung Einfluß gehabt, wenngleich der
Wortlaut sehr wenig ähnlich ist, und der Einfluß jedenfalls nur ein
geringer ist, denn wo innerhalb der allen 3 Entwürfen gemeinsamen
Bestandteile Verschiedenheiten zwischen I und II bestehen, stimmt
la meist mit dem ersteren, nie mit dem letzteren überein. Die Aus-
arbeitung des Entwurfs II ist jedenfalls unter dem Einfluß der
Bchwäbisohen Städte vor sich gegangen; hierauf weisen sowohl die
Ausnehmnngen, wie die Bestimmungen über den Austrag von Streitig-
keiten bin. Bezüglich der Ausnebmungen tritt zu denen Straßburgs
a«U. gol. Abs. 1687. Hr. 88. 61
890 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 23.
noch die binzq, (1^9 das Bttndois (vom 27. Angost 1395 jedenfaUs)
der schwäbischen Städte mit dem Grafen von Württemberg anage-
nommen wird (art 23a). Und die schwäbischen Städte machten
tbataächlich keine andere Ausnehmnng in der Marbacher Bnndesor-
künde. Bei den Bestimmungen ttber den Austrag von Streitigkeiten
findet sich gleichfalls ein schwäbischer Einfluß in II. In I wird fbr
Streitigkeiten unter allen Mitgliedern ein und dieselbe Norm festge-
setzt; in la fehlen derartige Bestimmungen. In II werden im allge-
meinen die Artikel von I beibehalten , jedoch bezüglich der even-
tuellen Streitigkeiten zwischen den schwäbischen Städten nnd den
beiden Fürsten soll nach einem früheren Vertrage entschieden werden
(art 17), womit unzweifelhaft der Bund vom 27. August 1395 ge-
meint ist
Diese Aenderung findet sich auch in der Ausführung beibehal-
ten; in derselben wird aber noch hinzugefügt, daß Streitigkeiten
zwischen dem Grafen und Harkgrafen auf Grund eines früheren
Vertrages derselben entschieden werden sollen. In gleicher Weise
sollen die Streitigkeiten zwischen dem Erzbischof von Mainz nnd
den andern Fürsten entschieden werden auf Grund eines Vertrages,
welchen der Erzbischof mit dem Markgrafen geschlossen (vom
11. September 1402).
Die ursprünglichen Bestimmungen in I. bleiben also nar für
die Streitigkeiten Strasburgs mit den schwäbischen Städten und den
Fürsten. Es ist also: Straßburger Ursprung in L, schwäbischer
Einfluß bei (I*^ und) II, eine gleichmäßige Berücksichtigung aller
Teilnehmer erst in der Ausfertigung.
Ist dies die Entwicklung, so bietet andererseits die Datienmg
der Entwürfe keinerlei Schwierigkeit Der äußerste terminus ad
qu^m, welcher angenommen werden kann, ist der 13. September,
da vom 14. September schon die Bundesurkunde datiert ist Für
den terminus a quo ist in I. ein Anhalt vorbanden, wenn hier der
Stadtmeister Gosse Burggrafe genannt wird. Die Stadtmeister
lösten sich in Straßhurg vierteljährlich ab ; der Vorgänger des Gosse
Burggrafe Ulrich Bock jun. wird in Stücken vom 21. April bis l.Jnli
als StUidtmeister angeführt, Gosse Burggrafe zuerst am 4. August
Nacb der erwähnten Dauer der Amtszeit muß also der Amtsantritt
desselben bald oach dem 1. Juli erfolgt sein ; darum kann rund der
1. Juli Ills terminus a quo bezeichnet werden. Diese allgemeine Da-
tieruiig ist von den Herausgebern unter Benutzung der Stadteliriefe
nocb genauer präzisiert, und sie kommen zu dem Resultat, daß I.
im Juli» I^ um den 11. August, II. zwischen dem 10L--12. September
entstanden sind.
Volkmar, Paulus von Damaskus bis zum Galaterbrief. 891
Es ist dies kurz das ResnlUtt der weitgedehnten Untersachnng.
H3q[>otbe8en häufen sieh hier auf einander, aber die Heransgeber
haben Recht, wenn sie dieselben wohlbegrttndet nennen. Eins wird
ans dem über die Entwürfe Mitgeteilten erhellen, daß die Initiative
zum Marbaeher Bunde kaum von Johann von Mainz ausgegangen
ist Wo aber die ersten Anfänge zu sucben sind, wer als geistiger
Urheber des Bundes anzusehen ist, ob etwa, wie die Heransgeber
anzunehmen scheinen, Straßburg, das wage ich nicht zu sagen;
vorläufig ist meiner Meinung nach das Resultat hierüber ein ledig-
lieh negatives in Bezug auf Johann. Weitere Aufschlösse hierttber
wird voraussichtlich der sechste Band der R. T. A. bringen; daß
es bald geschehen möge, mit diesem Wunsche und mit aufrichtigem
Danke gegen die Herausgeber für ihre mühevolle Arbeit will ich
schließen.
Berlin. Ernst Kagelmacher.
Yolkmar, Prof. D. Gustav, Paulus von Damaskus bis zum Oalater-
brief. Zürich, Schröder u. Meyer. 1887. YUI u. 120 S. 8^
Der größere Teil des Inhaltes dieser Schrift war schon ver-
öffentlicht, nämlich die erste Abhandlung: »Oeschichte des Ap.
Paulus und seiner Zeit von Damascus bis zum Galaterbrief,
in den Grundzttgen, nach ihm selbst und nach Lucasc in der
Schweiz« Tbeol. Zeitschr. 1884, und die zweite : »Ein Gang durch
die beiden Apostelgeschichten Neuen Testaments, im Be-
reiche des Apostelstreites« ebenda 1885. Es ist dankenswert, daß
V. von diesen beiden früher erschienenen Aufsätzen eine zweite re-
vidierte Ausgabe veranstaltet hat, da die genannte Zeitschrift ver-
hältnismäßig nur Wenigen zugänglich ist. Eine neue Zugabe ist
der dritte, der exegetisch ergänzende Teil, welcher einen »Gang
durch den Galaterbrief« enthält. — Durch die allmähliche
Entstehung der einzelnen Teile ist auch die Anlage des Ganzen
beeinflußt und zwar, wie hier gleich gesagt werden kann, in mis-
licber Weise. Nicht nur behandelt der zweite analytische und aus-
fahrende Teil im Wesentlichen dieselben Dinge wie der erste ein-
leitende nnd thetische, wodurch eine Menge von Wiederholungen
herbeigeführt werden. Sondern auch der Ueberblick Aber die ganze
Beweisführung wird dadurch wesentlich erschwert, daß die Grttüde
892 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 23.
für die einzelnen Behanptangen an den verschiedenen Stellen der
Arbeit erst zosammenznsachen sind. Treten wir dem Inhalte der
Schrift selbst näher, so gelangt V. in dem Bestreben, die erste
christliche Geschichte von Paulos an von dem ttber ihr schwebenden
Dunkel zu befreien und klar und einheitlich darzulegen, za ganz
neuen Resultaten. Die Grundlage für seine Untersuchungen sichert
er sich dadurch, daft er zunächst den vielfach unzuverlässigen Cha-
rakter der AG. nachzuweisen sucht Die AG. datiert naeb dem
Verf. ihrem Grunde nach zwar schon seit etwa 65, ist aber in ihrer
gegenwärtigen Gestalt eine Ueberarbeitung aus dem Anfange des
2. Jahrb. (S. 8). Eine ihm vorliegende ältere Erzählungsschrift Ober
Paulus' Leben, den sog. Wir-Bericht, der wohl schon bald nach des
Apostels Tode verfaßt war, hat der spätere Verf. des kanonischen
Geschichtswerkes bei seiner neuen dem Interesse der Eircheneini-
gung dienenden Bearbeitung nicht nur weitgehend benutzt, sondern
auch eingreifend geändert durch systematische Znsetznng, Umstel-
lung und Versttlmmelung (S. 23). Neben der AG. kommen als
Quelle in Betracht die 4 großen Paulus-Briefe, welche allein für das
apostolische Zeitalter die sicheren Schriftzeugen abgeben können.
Die Hauptpunkte der Geschichte, um die es dem Verf. bei seinen
mit dem gewohnten Scharfsinne geführten Untersuchungen zu than
ist, sind nun folgende: 1) Der Bericht der AG. über das Apostel-
concil steht in c. 15 an falscher Stelle. »Dies c. 15, 1 — 31 ist der
Hauptzwietrachtstifter und Verderber der Geschichte des Apostels
Paulus selbst und ihrer Chronologie von jeher gewesene. Es ist
eine »clerical paulinischet Phantasie des 2. Jahrhunderts. — Nach
dem im Uebrigen anders gearteten Vorgange von Wieseler hält
V. 18, 22 für die richtige Stelle für das von Paulus Gal. 2 ge-
schilderte Ereignis. Hier aber hat der spätere Pauliner den ihm
unliebsamen Zwischenfall unter der nichtssagenden Wendung der
Begrüßung der Gemeinde begraben. — 2) Der Galaterbrief ist 55
von Antiocbia aus geschrieben, wohin sich Paulus nach dein jem-
salemischen Goncil noch für 2 Jahre und mehrere Monate znrttek-
begab. — 3) Der Galaterbrief setzt nur einen Besuch des Apostels
bei den Oalatern und nur eine erstmalige Bethörung derselben
durch Gegner voraus. — Demgemäß ist die Geschichte von Da-
maskus bis zum Galbr. in Wirklichkeit nach V. folgendermaßen
verlaufen: Bekehrung vor Damaskus. Thätigkeit in Arabien und
Damaskus. Nach 3 Jahren erster Besuch in Jernsalem.
Vierzehnjährige Thätigkeit zunächst unter Juden und Heiden, später
vor Allem unter Heiden ; in diese Zeit fällt auch die Gründung der
Volkmar, Paulus von Damaskus bis zum Galaterbrief. 898
galatischen Gemeinden. Nun erat erfolgt der Apostelkonvent mit
der zweiten Reise des Panlns nach Jerusalem. Rück-
kehr des Paulus nach Antiochia, Sammlung einer Kollekte dort für
Jerusalem und persönliche Ueberbringung bei einer dritten Reise
des Apostels nach Jerusalem. Dankesbesnch des Petrus in
Antiochia und scharfer Zusammenstoß mit Panlns. Im Znsammen-
hange damit Beunruhigung und Bethörung der Oalater. Dadurch
veranlaftt 55 abgefaßter Brief des Paulus an die Galater von An-
tiochia aus. Der Erfolg des Briefes, der sich aus 1 Gor. 16, 1 er-
schließen läßt, veranlaßt 56 den Apostel zu dem schon geplanten
Besuche bei den Galatern (AG. 18, 23). — Das Uebrige kann hier
übergangen werden. Aus dem Mitgeteilten wird zur Genüge er-
sichtlich, wie ganz anders sich das Bild nach V. gestaltet im Ver-
gleiche mit der herkömmlichen Auffassung. Prüfen wir wenigstens
an einigen wichtigen Punkten, mit welchem Rechte V. die bisherig
gen Annahmen verwirft. Vorher aber dürfte noch ein Vorwurf ab-
gelehnt werden, den V. wiederholt erhebt, daß nämlich bewußt oder
unbewußt alle, die seiner Auffassung beizustimmen nicht geneigt
wären, unter dem Banne des Kanons ständen. In dieser Allge-
meinheit ausgesprochen ist solche Anklage übertrieben und unge«
recht.*- Vielmehr stehn den V.schen Sätzen ernste sachliche Beden-
ken entgegen. Hinsichtlich des ersten Hauptpunktes, der
falschen Stellung des Apostelconcils c. 15 statt c. 18, besteht bei V.
die Grundvoraussetzung, daß Paulus unmöglich die lange Zeit von
14 Jahren nur in Syrien und Gilicien und etwa noch in Pisidien
nnd Lycaonien (AG. 13. 14) könnte gewirkt haben. Diese Zeit
muß nach seiner Meinung unbedingt reicher ausgefüllt werden, d. h.
sie muß sich erstrecken bis zum Ende der größten Missionsreise bei
18, 17 (S. 71). Diese Annahme ist aber schließlich nur ein unbe-
gründetes Postulat des Verf. Denn 1) läßt das dreimalige iruita
Gal. 1, 18. 21; 2, 1 es als das Natürlichste wenn nicht einzig Mög-
liche erscheinen, daß Paulus hier genau der Reihe nach seine
Aufenthaltsorte vor und nach seinem ersten jerusalemischen Besuche
bis zu seinem zweiten angeben wollte. Kein unbefangener Leser
konnte auf den Gedanken kommen, daß in den 14 Jahren Gal. 2, 1
sich abgesehen von der eben 1, 21 angegebenen Wirksamkeit in
Syrien und Gilicien jener gewaltige Missionszug durch das übrige
Asien nnd Europa verberge. — 2) wird sich schwerlich beweisen
lassen, daß Paulus in Syrien und Gilicien nicht genug zu thnn ge-
habt habe während jener Zeit. Daß wir nicht so viel — in der
AG. nur ganz nebenbei etwas — davon hören, ist begreiflich, weil
894 G5tt. gel. Anz. 1887. Nr. 23.
dieses bescheidene Wirken in der Stille in be^änzter AasdebniiDg
in der späteren Erinnemng ganz znrttcktreten matte gegen die
weitbin siebtbaren, ancb äofterlicb mäcbtigen Miesionserfolge in der
großen Welt (Vgl. die feinen Bemerkungen Weizsäckers Ap. Zeit-
alter S. 84 f.). — Ein weiterer Hauptgrund des Verf. ist der , da0
die galatiscben Gemeinden, welche erst zur Zeit von A6. IG, 6 ge-
gründet worden seien, erst in dem Galaterbriefe von den Vorgängen
in Jerusalem und Antiochia das erste Wort erführen. Da nnn aber
Paulus dies, falls die Ereignisse schon stattgehabt hätten, ihnen bei
seinem persönlichen ersten Erscheinen unmöglich hätte verschweigen
können, mUftten eben jene Ereignisse hinter 16, 6 liegen. Auch
hier macht V. wiederum eine unrichtige Voraussetzung, daft nämlich
Paulus gleich bei der ersten Verkündigung jene gewichtigen Vor-
gänge hätte erwähnen mttssen. Das brauchte er nicht nur nicht,
sondern wird es auch sicherlich nicht gethan haben. Wozu sollte
er eine noch junge vom Kampfe unbertthrte Gemeinde hineinziehen
in das Gewirre und Getobe des Streites? Er wird ihnen ohne alle
Polemik das Evangelium, wie es ihm geoffenbart war, gepredigt
haben. Erst später trat an ihn die traurige Notwendigkeit heran,
seine Schöpfung gegen verläumderische Angriffe der Jndaisten si
verteidigen, und damit die Pflicht, seinen Gemeinden genauen Be-
scheid zu thun über das, was zwischen ihm und den Jernsalemem
vorgefallen war. — Endlich sei noch ein drittes Argument von V.
gewürdigt, das zugleich zum zweiten Hauptpunkt: der An-
setzung des Galbr. um Ö5 in Antiochia, überleitet Der Verf. ist
bei aller scharfen rücksichtslosen Kritik, die er an der AG. übt, der
unerschütterlichen Ueberzeugung, daß die 18, 22 erwähnte Reise nach
Jerusalem vom Verf. der AG. nicht aus der Luft gegriffen sein kann.
Denn das habe er einerseits ans keinem Grunde nötig gehabt, da
er schon 11,30 den Paulus dorthin mitziehen lieft, andrerseits merke
man, wie ihm dieser Hinaufzug 18, 22. 23 die größte .Verlegenheit
bereite. Allein die barmlose Notiz 18, 22 läßt sich doch aneh auf
anderem Wege leicht erklären. Der Verf. der AG. wird als selbst-
verständlicb angenommen haben, daß Paulus, von seiner großen
Missionsreise nach Antiochia zurückkehrend, nicht unterließ das be-
nachbarte Jerusalem aufzusuchen. Die Stelle 18, 22. 23 verfthrt
aber den Verf. noch zu weiteren gewagten Schlüssen. Obwohl V.
mit richtigem Blicke den durchaus sekundären Charakter der Be-
richterstattung 18, 18 ff. erkennt, hält er sowohl die Rückkehr des
Apostels nach Antiochia und einen längeren Aufenthalt dort (V.
weiß genaU) daß x^oVei^ nyi AG. 18, 33 einen Zeitraum von 2 Iah-
Volkmar, Paulus von Damaskus bis zum Galaterbrief. 895
reo und mehr als 3 Monaten thatsächlicb umfaßt hat) als die daran
sich anschließende Beise durch Galatien und Phrygien für acht hi-
storisch. Ja er wagt sogar, ans der 18, 23 stattfindenden Voran-
stellong von Galatien vor Phrygien (vgl. die Voranstellong von
Phrygien 16, 6) zu erraten, daß die Galater während seines letzten
Anfenthaltes in Antiocbia in erster Linie beunruhigt and in Gefahr
gebracht worden waren, weshalb nun Paalns bei ihnen seine Reise
zu »allen c Jüngern 18, 23 anhebt. Macht sich nicht hier der Verf.
desselben Verfahrens schuldig, das er nicht scharf genug bei seinen
Gegnern tadeln kann, daß sie nämlich die klaren Aussprüche des
Paulus deuten und zwingen nach den Angaben der AG.? Den farb-
losen Mitteilungen 16, 6 und 18, 23 zu Liebe wird das Bild verän-
dert, das wir uns nach den pauliniscben Briefen allein machen mtts-
sen. — Hinsichtlich des dritten Hauptpunktes wird V. wohl
noch am leichtesten mit seinen Darlegungen Gehör finden. Was er
gegen eine zweimalige BethOrung der Galater vor Abfassung des
paulinischen Briefes an sie vorbringt, ist in der That ernstester Er-
wägung wert. Nicht ohne Grund lassen sich Gal. 1, 6; 3, 1 ; 5, 8
fllr eine erstmalige Bethörnng ins Feld ftthreo. Daß wir dem Apo-
stel keine »aufgewärmte Medicine zutrauen dürfen, ist ebenfalls
richtig. Rätselhaft wäre auch gewiß, wenn dies Mal das Sehreiben
des Apostels mehr ausgerichtet hätte als sein lebendiges Wort
Allein wo besteht denn der Zwang zu der Annahme, daß es sich in
beiden Fällen um ganz dieselbe Behexung der Gemeinden gehan-
delt hätte, die Paulus beide Male in der gleichen Weise zu über-
winden gesucht hätte? Was hindert vorauszusetzen, daß der erste
Angriff der Gegner leichterer Natur war, und daß die persönliche
Anwesenheit des Apostels wieder Alles ins Klare brachte, daß erst
ein zweiter ernsterer Einbruch, hinter dem gewichtige einflußreiche
Größen standen, bedenkliche Folgen hatte? Einen solchen zweiten
erfolgreichen Versuch der Jndaisten, die paulinischen Schöpfungen
zu verderben, sehen wir uns aber trotz V.s Läugnen genötigt anzu-
nehmen. Die Stelle 5, 21 mag preisgegeben werden. Derartiges
konnte Paulus auch bei der ersten Verkündigung gleich betonen.
Schon schwerer wird man sich bei 1, 9 und 5, 3 von V. dahin belehren
lassen , daß ägn ndhv und ndhv sich auf die unmittelbar voran-
gegangene Behauptung beziehe. Eine solche Versicherung hat doch
in der That vielmehr Sinn, wenn sie schriftlich abgegeben die
mündliche bestätigt. So versichert der Apostel 1, 9 seinen Lesern
noch ein Mal schwarz auf weiß, daß sein mündliches Wort, 1, 8
picht etwa im Affekte gesprochen war, sondern seine innerste em-
896 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 23.
BteBte Ueberzeugung ist. VoIleDds an der Stelle 4, 13 muß die exe-
getische KuDSt V.8 Bcheitern, obwohl er gerade hier von ^eIegeti•
scher Fabel« nnd »Hachtsprnch reiner Selbstvergessenheit« in Bezug
auf abweichende Meinungen redet. Am wenigsten kann es dem
Verf. mit der Bernfung anf Rom. 1, 15 gelingen zu beweisen, daft
Paalüs svayysUistT^M anders als von der mUndlichen Predigt ge-
braucht habe, denn jene Stelle bezieht sich ja gerade anf die yom
Apostel beabsichtigte persönliche Predigt in Rom. Ebenso ist die
Deutung von to nqotsqov höchst gezwungen.
Im Einzelnen sei nur noch bemerkt, was schon angedeutet
wurde, daß V. aus Gal. 2, 10 eine wirkliche Kollektenreise des Apo-
stels nach Jerusalem herausliest. Statt der üblich angenommeoen
drei haben wir also vier Reisen nach Jerusalem zu zählen nach
den paulinischen Briefen. Diese hat die AG. sogar auf 6 gestd-
gert, wie V. mit Hülfe von AO. 24, 17 herausbringt. Nach allem
Gesagten wird sich die herkömmliche Auffassung noch behaupten
können neben und vor der neuen von Volkmar, die hauptsSchlieh
durch ihre Geschlossenheit geeignet ist Eindruck zu machen, wenn
sich auch bei näherem Zusehen die meisten Argumente nicht ab
stichhaltig erweisen. Immerhin sollte sich, obwohl auch der Ton,
dessen sich V. bedient, oft abstoßend wirken muß — vgl. z. B. S. 30
»ja, ftlr uns rührend, für Paulus um so erschütternder, zeigten aie
(die Galater) sich schon bereit, selbst die Beschneidong noch in
ihren alten Tagen auch auf sich zu nehmen«; ferner S. 103. 108 f.—}
Niemand von dem Studium des scharfsinnigen Buches abhalten
lassen.
Halle a. S. Ed. Gräfe.
Fftr dl« B«daktion Teraatwortlicli : Prof. Dr. BtchUlt Direktor d«r Odtt. gel. Am.,
AMenor der KAnigliolieii Oesellechaft der Winenflehftftea.
Ytfkig der Dkkriek*tehm YmU^-Budüumälmig.
Druck dir IHtUriek*9ehm Üni9.-Smekdrwilurm (t^. W. Xamkmf»
897
ööttingische
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
derKönigl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Nr. 24. 1. December 1887.
Preis des Jahrganges: tjfL 24 (mit den »Nachrichten d. k. 6. d. Wiss.«: JL 27).
^|2 ^^^^B ^^^ einzelnen Nammer nach Anzahl der Bogen: der Bogen 50 Sy
Inhalt: Die AbhAndliuigen der Ichw&n M-8af& in Aoswahl. Ileraosgeg. ron D i o t e ri e i. Von
MMer. — Quellen znr Geschichte der Stadt Worms. I. Teil. Band I. ; Urkunden zur Geschichte der
Stadt Speyer. Von ScMIU. — Zimmermann, Das Archir der Stadt Hermannstadt nnd der sächsi-
schen Nation. Ton /VrftecA.
== EJgenmäohtlger Abdruck von Artikeln der G5tt. gel. Anzeigen verboten. ^
Die Abhandlungen der Ichwän es-safft in Auswahl. Zum ersten
Mal aus arabischen Handschriften herausgegeben von Fr. Dieterici.
Leipzig, Hinrichs, 1886. XIX, 6S5, 2 [unpaginierte] SS. 8^
Die erste, 170 Seiten umfassende Lieferung von Dietericis Aus-
gabe der hauptsächlichsten Textstttcke aus den Abhandlungen der
»Lantern Brttder« ist von dem Unterzeichneten in Nr. 24 dieser
Blätter vom 1. December 1884 S. 953 ff. besprochen worden. Im
Hinblick auf einen in meiner damaligen Anzeige geäußerten Wunsch
spricht sich Dieterici über die Art des nunmehr vollendet vorliegen-
den Werkes in seinem Vorwort (S. XVII f.) ans wie folgt: »Der
Heransgabe dieser Texte liegt Cod. Paris. 1005 zu Grunde; vergli-
chen habe ich den Wiener Godd. \s\c[ Nr. 1 und den God. Oxford,
der unter Mathesis Marsch. [$ic] 189 verzeichnet und als über
tractatuum variorum de varus Matheseos partibns auct. Magriti Arab,
verzeichnet^) ist. Bei dieser Angabe ist nur der erste Theil des
Gesammtinhalts berücksichtigt. Die Unzahl von Lesarten in den
verschiedenen Handschriften, die offenbaren Verwirrungen bei den
stets mit ,;Wisse^' anfangenden Sätzen und den häufigen Lücken
würden dies Buch um etwa 10 Bogen erweitern. Dieses verbietet
sieb ans materiellen Rücksichten. Sehr zu beklagen ist dieser Ver-
1) 6^tü — soll wohl heißen bezeichnet, nämlich auf einem Vorsatzblatte
oder dergleichen in der Hs. selbst; denn im Bodleianischen Katalog I, 216 f.
steht eine vollkommen richtige Inhaltsangabe und nichts von obigen Worten.
Gdit. gal. Ans. 1887. Nr. 24. 62
898 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 24.
last nicht, bei den Editiones prineipes der arabigchen Literatar Ober-
wiegt das philologische Können beim Herausgeber, d. h. die sichere
Behandlung der Handschriften und Combinirung des Sinns bei nn-
dentlicher und fehlerhafter Schrift, das philologische Wissen der ein-
zelnen Lesarten. Unsere Handschriften in Europa sind zumeist von
unkundigen Lohnschreibern gemacht. Von wissenschaftlicher Kennt-
niss und Treue ist da wenig zu finden. Wie lange schon ist die na-
tionale Bildung im Osten verblichen! Da sitzt so ein stumpfer
Orientale an der Straßenecke und schreibt auf seinem Knie die
Werke der Wissenschaft, täglich muß er zwei Hefte fertigen um zu
leben, billige Manuscriptenwaare muß er liefern, von Wissenschaft
oder Akribie i«t da keine Ahnung, und all die Fehler, die er in
Leichtsinn oder Unverstand macht, sollen wir dann sorgfältig im
Druck vervielfältigen! Bei Dichtern mag man die sinngewährenden
Varianten angeben, da ist noch eine Tradition. Zu Fachwerken
gehören aber neben Sprachwissenschaft noc[h] andere Kenntnisse,
und die hat ein solcher Lohnschreiber nicht; ich kann daher diesen
[sie] Wunsch des Herrn Prof. Müller, der in den Götting. gel.
Anzeigen No. 24. 1884 den ersten Fascikel dieses Werks besprach
und dem ich für diese streng wissenschaftliche Arbeit meinen Dank
hiermit sage, nicht nachkommen. Auch haben die bedeutendsten
Autoren, wie de Sacy, Fleischer, Freitag [sic]^ Dozy, Ko-
segarten, Ahlwardt, bei ihren meisten Werken ähnlich ge-
dacht«.
Ich bin für die freundliche Art, in welcher Dieterici meine Be-
merkungen aufgenommen hat, viel zu erkenntlich, als daß ich obigen
Sätzen in der »schärferen Tonart« entgegentreten möchte, zn wel-
cher der eine oder der andere von ihnen mich ebenso verftihren
könnte, wie die Einreihung von Dozys Namen in eine Liste, die
gerade sein Verfahren bei der Herausgabe von Texten abzuweisen
bestimmt scheint — siehe Makkari, Abbadiden, Ibn Badrfin, Aitb
und so weiter. Ich begnüge mich, Dieterici darauf aufmerksam zu
machen, daß ich etwas so Ungereimtes, wie er sich darunter vor-
stellt, niemals verlangt habe: GGA. 1884 S. 962 steht — ich hebe
die entscheidenden Worte im Druck hervor — zu lesen : »Mehr noch
habe ich . . . die Angabe derjenigen Varianten vermißt, welche fur
die Gestaltung des Textes von Bedeutung sind^. Nun hatte er ja
freilich durchaus das Recht, auch diesem Wunsche die ErfflUong zu
versagen. Es ist ein öffentliches Geheimnis, welches an dieser Stelle
mit Schweigen zu ttbergehn kein Grund vorliegt, daß Dieterici in
selbstlosester Weise schon seit langer Zeit erhebliche Opfer gebracht
bat, um seinen Fachgenossen die Bekanntschaft mit den Schriften
j
Die Abhandlungen der Ichw&n e8-8af& in Auswahl. Herausg. von Dieterici. 899
der »Lauteren Brüder c zu yermittela, und je dankbarer wir solche
gemeiontttzige Thätigkeit anzuerkennen haben, um so eher darf er
erwarten, daß wir seine Gaben mit bescheidener Zurückhaltung ent-
gegennehmen nnd mit dem zufrieden sind, was die Verhältnisse ihm
zu spenden gestatten. Eine Forderung indessen ist es, die wir fest-
halten müssen, und zu der seine eigenen Worte, wie ich sie eben
mitgeteilt habe, uns noch besonders berechtigen: wir müssen in der
Gestalt des Textes selbst, wie er uns Yorgelegt wird, eine Art Ge-
währ finden, daft sich das »philologische Können«, das wir bei dem
Herausgeber voraussetzen, mit der > Akribie«, die als Pflicht auch
für sich Dieterici gelten lassen wird, zur Vollendung eines im We-
sentlichen richtigen und genauen Wortlautes verbündet hat. Ich
sage ausdrücklich im Wesentlichen; denn wer einmal selbst in größe-
rem Umfange Handschriften abgeschrieben und kollationiert hat,
weiß sehr gut, daß hier wie bei allem Menschenwerk Irrungen und
Nachlässigkeiten nur zu leicht unterlaufen, daß ebensowenig — den
Vergleich habe ich schon bei einer anderen Gelegenheit einmal ge-
braucht — es eine Kollation ohne Versehen wie ein Buch ohne
Druckfehler gibt. Ein solche Gewähr nun — ich muß es jetzt un-
umwunden aussprechen — fand ich vor drei Jahren in dem Texte
von Dietericis erstem Hefte nicht mit voller Deutlichkeit ausgeprägt,
und habe mir aus diesem Grunde damals seine Pariser Hauptband-
schrift nnd dazu eine von ihm nicht benutzte Oxforder kommen las-
sen , um auf Grund einer eigenen Vergleichung zu einem sicher be-
gründeten Urteile zu gelangen. Ich fand damals, wie ich durch Ab-
druck der betreffenden Lesarten belegt habe, daß Dietericis Text
von dem seiner eigenen Haupthandschrift an einer erheblichen An-
zahl von Stellen abwich, und die Uebereinstimmung jener Hand-
schrift mit der von ihr durchaus unabhängigen Oxforder war nicht
danach angethan, die Abweichungen durchaus gleichgiltig erscheinen
zu lassen. Trotzdem hielt ich es noch für geboten, mit einem end-
giltigen Urteile zurückzuhalten, weil ich mit der Möglichkeit rech-
nen mußte, daß weiteres, mir nicht zugängliches handschriftliches
Material wenigstens vieler Orten den Herausgeber zur Bevorzugung
einer anderen Lesart berechtigt haben konnte. Aus diesem Grunde
sprach ich den, wie ich auf Grund meiner Feststellung des hand-
schriftlichen Bestandes mit Nachdruck betonen muß, berechtigten
Wunsch aus, daß Dieterici durch Mitteilung seines Apparates ein
abschließendes Urteil ermöglichen wolle; und wenn ich hier eben
bereitwillig zugegeben habe, daß äußere Gründe ihn verhindern durf-
ten, einem solchen Wunsche Folge zu geben, so muß ich doch ge-
stehn, daß icfa zu einigem Ersätze daftlr eine Aeußerung darüber
62»
900 Gott. gel. An«. 1887. Nr. 24.
erwartet hatte, auf welcbe Weise ddd überhaupt die nnlängbare
Thatsache des Vorhandenseins wesentlicher Unterschiede zwischen
dem Drnck and der Hanpthandschrift zu erklären sei. Diesen Punkt
berührt Dieterici aber mit keinem Worte; wenn ich daher jetzt durch
die mir in höflichster Form, aber mit vollkommener Deutlichkeit
erteilte fin de non-recevoir mich genötigt sehe, zu meiner eigenen
Rechtfertigung die Thatsachen zusammenzustellen, welche auch bei der
näheren Untersuchung der Schlußlieferungen des Werkes die bei der
Betrachtung der ersten aufgetauchten Zweifel immer von neuem rege
machten, so wird Dieterici darin keine mutwillige Nörgelei, keine
misgUnstige Verkleinerung seiner von mir stets bereitwillig aner-
kannten Verdienste finden dürfen.
Zu einer solchen Zusammenstellung veranlaßt mich noch ein
Zweites. S. XVIII seiner Vorrede sagt Dieterici: »Was die Gegen-
wart versagt, mag die vorurtheilsfreiere Nachwelt leisten. Es wird
doch wohl einmal die Zeit kommen, in welcher wenigstens ein Theil
der Arabisten die culturhistorische Wichtigkeit der wissenschaftlichen
Bestrebungen der Araber würdigen wird, und daß auf dem von mir
angebahnten [sie] dereinst weiter geschafft werde, ist eine freudige
Hoffnung, die den Pfadfinder für alle Mühe und Enttäuschung trö-
stet«. Das stimmt mit den Ausführungen S. IV f. zusammen, welche
darauf hinauskommen, daß die arabischen Philologen der Jetztzeit
einige »bedeutende Historiker wie Dozy, Amari, Sprenger
u. a.€ ausgenommen, sich entgegen dem Spruche »der Buchstabe
tödtet, der Geist aber ist es, der lebendig macht« eigentlich nur um
Dichter, Scholastik und Grammatik kümmern, daß insbesondere »der
Literatur zweig der Philosophie fast ganz unbeachtet« geblieben
sei; »es ist kaum glaublich, daß seitdem Schmölders schon 1835
[sie] mit seinem „documenta phiiosophiae Arabum'^ hervortrat, dem
er dann seinen Essai 1842 folgen ließ, die Philosophie der Araber
nur wenig und nur sporadisch angebaut ist«. Und in ähnlichem
Sinne vernahmen wir schon 1878 Dietericis Klage im Vorwort zu
seinem Darwinismus (S. VIII): »Denn es ist nun einmal mein
Standpunkt , daß die Philologie sich nicht bloß mit Buchstaben und
Worten, sondern vorzüglich mit dem Geist der Culturvölker zu be-
fassen habe, und daß die Grammatik wie das Lexicon nicht Selbst-
zweck, sondern Mittel zu diesem Hauptzweck sind .... Diesen
Standpunkt geltend zu machen und die Araber als ein Glied in die
Kette der Culturvölker einzureihen, ist das Ziel wofür ich stritt und
wofür ich litt; denn die Buchstabier im Semitismus können das una
nimmer verzeihen : Der Buchstabe, meinen sie, macht lebendig, aber
der Geist tödtet, drum wenn jemand der geistigen Philologie zu-
Die Abbandlangen der Icbw&n es-safi in Answabl. Heransg. von Dieterici. 901
strebt: Anathema sit«. Ich will hier nicht erörtern, ob wirklich seit
Schmölders »die Philosophie der Araber nur wenig und nur spora-
disch angebaut« ist — schon die Namen Munck und Renan sprechen
nicht daftar — ; auch soll außer Frage bleiben, ob in der That heute
noch nicht einmal »ein Theil der Arabisten die culturhistorische
Wichtigkeit der wissenschaftlichen Bestrebungen der Araber wür-
digt« (v. Eremers Culturgeschichte erschien 1875 — 77); aber wovon ich
Dieterici gern tiberzeugen möchte, das ist die Richtigkeit meiner —
wie ich glaube auch von Anderen geteilten — Ansicht, daß die von
ihm übrigens vielleicht in zu trübem Lichte angeschaute Einfluß-
losigkeit seiner Schriften über die Lauteren Brüder in einigen unse-
rer wissenschaftlichen Kreise ihren Grund nicht sowohl in der Vor-
eingenommenheit oder Beschränktheit der Zeitgenossen, als in ge-
wissen Mängeln begründet ist, welche, ohne das Verdienst seiner
unermüdlichen Arbeit zu vernichten, doch den Erfolg derselben min-
dern, weil sie der wissenschaftlichen Ausnutzung des von ihm ge-
lieferten Stoffes im Wege stehn. Und, um es mit einem Worte zu
sagen: eben die allzuweit getriebene Verachtung des »Buchstabens
welcher tödtetc, bringt Dieterici und uns um einen, leider nicht
immer geringen Teil der Früchte seines Fleißes — wenn er sich
genötigt sieht, am Schlüsse seiner Vorrede sich über ungenügende
Anerkennung seiner Bestrebungen zu beschweren, so steht das in
einem inneren Zusammenhange mit der zu Anfang derselben hervor-
tretenden Abneigung, sich dem zu fügen, was er als schulmeister-
hafte Pedanterie in unserer wissenschaftlichen Methode zu verwer-
fen scheint.
Wie wenig es Dieterici der Mühe wert hält, im Einzelnen genau
zu sein, das erweist schon eine an sich unbedeutende, aber bezeich-
nende Kleinigkeit am Schlüsse seines diesmaligen Vorwortes (S. XIX).
Er sagt: »Der erste Bogen dieser Ausgabe hat leider aus Versehen
die dritte Correctur nicht durchgemacht, auch fehlte mir zu Anfang
der Codex Oxford. Ich gebe deshalb davon [sie] als Verbesserun-
gen ant — worauf 23 Verbesserungen zu S. 1 — 14 des Textes, und
dann, durch »Fernere eingeführt, noch 9 weitere zu S. 22—40 fol-
gen. Die letzteren sind sämtlich meiner Recension des ersten Hef-
tes entnommen; von der ersteren Reihe wiederholen zwei (zu 3, 7
und 6, 8) ein paar Aenderungen des oUaJUul f:^**^ zu Heft I, die ich
in meiner Recension (S. 964. 965) als den Handschriften wie dem
Zusammenhange zuwiderlaufend nachgewiesen hatte, fünf sind eben-
falls meiner Recension (S. 970) entnommen, und bei zweien von die-
sen (zu 6, 4 und 10, 14) ist es ihm begegnet, daß er statt meiner
Verbesserung seine unrichtige Vocalisation genau so, wie sie in sei-
902 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 24.
nem Texte stand, wiederholt. Daß sich die Sache wirklich so ver-
hält, ergibt sich einfach ans seiner Schreibang ^^/ (za 5, 3), mit
fehlendem Artikel wie bei mir S. 970: dort hatte ich zar Fortlas-
snng desselben ein Recht, da es mir auf die Beseitigang des fal-
sehen Te6dtd auf dem j von ^^yCJI des Textes ankam ; erscheint nun
als »Verbessernngc bei D. ^y, so wird bei Einsetzung desselben in
den Text ans dem ganzen Satze ein Unsinn, an welchen der Heraus-
geber niemals gedacht haben kann, und den zu erklären es keine
Möglichkeit gibt, außer daß D. eben meine Verbesserungen einfach,
ohne seinen Text zu vergleichen, nachgeschrieben und dabei also in
zwei Fällen statt der Verbesserung das zu Verbessernde wiederholt,
in einem dritten etwas für seinen Zusammenhang gänzlich unpas-
sendes herObergenommen hat. Ich verttble ihm dabei durchaus nicht,
daß er unter der Einführung »Ich gebe . . .«, ohne mich zu nennen,
32 Aenderungen aufführt, von denen 13 von mir herrühren — nie-
mand weiß besser als ich, daß einer absichtlichen Irreleitung des
Lesers selbst in einer solchen Nebensache D. gänzlich unfähig ist —
aber das ganze Verfahren und die bei demselben untergelaufenen
»Verböserungen c werfen ein deutliches Licht auf die Sorglosigkdt,
mit welcher er dem »tödtenden Buchstaben« den Rücken kehrt —
eine Sorglosigkeit, die leider anderer Orten Schlimmeres verschuldet
hat, als bei dieser unwichtigen Gelegenheit.
Ich will nicht behaupten, daß ausschließlich in dieser Sorglosig-
keit die Ursache liegt, wenn seine Uebersetzungen wie sein Text der
»Lauteren Brüder« nicht den allgemeinen Beifall gefunden haben,
den ihm persönlich, davon bin ich überzeugt, jeder Fachgenosse
nicht minder gegönnt hätte, als ich, der jüngere Mann, dem es stets
zur Genugthuung gereicht hat, dankbar zu den Leistungen der Ge-
neration aufzublicken, deren Vertretern ich meine wissenschaftliche
Bildung verdanke. Nicht wenig, mehr als Dieterici wird zugeben
wollen, trägt an dem Ausbleiben des Beifalls ohne Zweifel das Werk
der Lauteren Brüder selbst die Schuld. Neben manchen verständig
und gut geschriebenen Partien — Einiges aus der »Naturanschaunng«
hat noch vor kurzem meinem zoologischen Kollegen und Freunde
Chun lebhaftes Interesse abgewonnen — findet sich, bei einem der-
artigen Sammelwerke keineswegs auffallender Weise, Anderes, das
mehr als schwach genannt werden muß; der Abschnitt über die Ka-
tegorien z. B. ist von einer geradezu unerlaubten Oberflächlichkeit
und verdreht an mehr als einer Stelle (z. B. Text S68, 3—5 =
Kateg. IS"" 3 ff.; 868, 1 = 1%^ 18) den Sinn der aristotelischen Lehre
Die Abhandlungen der Ichw&n es-safft in Answahl. Herausg. von Dieterici. 903
in einer Weise, daß man klärlich sieht, wie wenig der Verfasser
anch nur zu einem leidlichen Verständnis derselben gelangt war ^).
Ich will diese schon von Landauer mehrfach hervorgehobenen und
auch in meiner vorigen Recension teilweise behandelten Mängel nicht
nochmals aasftlhrlich besprechen, nur um die Erlaubnis bitten, das
Urteil wörtlich anzuführen , welches ein Philosoph von Fach, mein
Freund Siebeck, nachdem er für seine >Oeschichte der Psychologie c
D.s Uebersetzungen aus den L. Br. dnrchgelesen, in folgende Sätze
zusammengefaßt hat: »Die psychologischen Anschauungen der L. Br.,
die im 11. Jahrhundert auch in Spanien') Eingang fanden, haben
auf die abendländische Wissenschaft besonders neben Avicenna und
Averroes allem Anschein nach wenig Einfluß gewonnen. Dies lag
jedenfalls daran, daß die > Brüder c nicht wie jene Philosophen vor-
wiegend Theoretiker und Systematiker waren, sondern im Orient als
Vertreter einer Art von praktischem common sense auftraten (was sie
übrigens nicht daran hinderte, allerhand astrologischen und anderen
in der Zeit liegenden Aberglauben zu teilen). Damit hängt der
durchweg eklektische Charakter ihrer theoretischen Sätze zu-
sammen, die Spekulation und Empirisches, Platonisches, Aristoteli-
sches und Medicinisches in bunter Mischung und lockerem Neben-
einander aufweisen. Ihr Hauptaugenmerk geht ersichtlich mehr auf
Anwendung des überlieferten Bestandes an Theorien zur Erklä-
rung von Erscheinungen des charakterologischen und socialen Le-
bens (sowie außerdem zur Begründung einer rationalistisch gerich-
teten Theologie). Ihre ganze Spekulation steht daher in oberster
Linie überall unter der Leitung nicht von theoretisch-wissenschaft-
lichen und spekulativ-theologischen, sondern von praktisch-anthropo-
logischen und den höheren Bedürfnissen des konkreten weltlichen
Lebens entnommenen Gesichtspunkten — Grund genug zur Erklä-
rung des Umstandes, daß ihre Lehren für die Zwecke der christli-
chen Scholastik wenig in Betracht kamen«. — Trotz allem dem
läugne ich keinen Augenblick, daß Dietericis Gedanke, die Schrif-
ten der L. Br. durch auszügliche Uebersetzungen und eine weiter
verkürzte Textausgabe, so weit nötig, allgemein zugänglich zu ma*
eben, ein durchaus berechtigter war: auch die populären Aufklärer
haben in der Geschichte ihre Bolle, und wahrlich keine, die an Ge-
1) Auch 851, 10 ist der Sinn von Porphyr. Isag. (Cod. Berolin. Peterm. 9
fol. 62 ult. — 63«) äoAerst ungeschickt wiedergegeben.
2) Daß auch im Orient noch in später Zeit die Abhandlungen der L. Br.
studiert wurden, ergibt sich, abgesehen von der großen Zahl der jungen Hss.,
sowie von der schon von Flügel (ZD&iG XIII, 3 Anm. 1) erwähnten Nachdichtung
des Lämfi, auch aus der Stelle in Wüstenfelds Fachr ed din S. 65 unten.
904 Gott. gel. Anz. 1887. No. 24.
wicht verliert, wenn man anfhört, wirkliche Philosophie dahinter za
BQchen. Und dazn kommt , daß in den Abhandlungen der L. Br.
sich mancherlei einzelne Mitteiinngen und Bemerkungen finden, welche
für uns von Wert sind M» mancherlei zufällige AeuBerungen, die aaf
die Verhältnisse der Zeit ein bezeichnendes Licht werfen '). Sehr
wertvoll ist ferner Dietericis Text für die Geschichte der arabischen
Sprache. Es finden sich mancherlei Wörter, die bisher in unseren
Wörterbüchern fehlen. So s^\yo Münzer 234, 4; ^Uw oder cC^
Mistfahrer 198. 19; 204, 9; 284, 7. 11; ^^y^ zunespältig 889, 17;
241, 5; eu^Oüi Qidr-Verfertiger 228 1. Z., welche Nisbe bekanntlich
als Laqab vorkommt und auch von Sujfiti im Lubb mit dem Vermerk
^Jüüt M ^\ angeführt wird; ^y^ad- = o>Ij>a> 229, 2; f^J^a^ (von
B^L<u> bei Dozy unter ^^aao^) 229, 4; ij^UT 229, 5 ; C$j\jak 289, 8 (wenn
nicht ^^Liofi zu schreiben ist); (j;^^am# Riemenschneider und ^^Ju)
IHcTmüchverkäufer 229, 13; oU5 Pflanzer 229, 20; (ip^Uai Verferiir
1) Dahin rechne ich z. B. die S. 365, 1 ff. über den Unterschied zwischen
der grammatischen und der logischen Terminologie. Zwar hin ich keinen Aogeo-
blick im Zweifel, daB auch die erstere ebenso wie die Anschauungen , auf denen
sie beruht, in vielen Punkten von den Begriffen der aristotelischen Logik aus-
geht ; nicht allein die Definitionen von Nomen und Yerbum (vgl. G u i d i , Bollettino
italiano degli studii orientali I, 1877, S. 438) sind auch meiner Meinung nach
aristotelisch, sondern noch manches andere, wie z. B. jp^«t = i^mri Ar. Hermen.
16^ 26 (wo es in der von Hoffmann herausgegebenen üebersetzung allerdings
durch o^ gegeben wird), \^KtSj = if^y&ic»^ (Hoffmann, Hermen. S. 210),
^\j vgl. J^L = avydiefÄos (ebd. 169), ^jomo^ aus JöL^ = W#off (ebd. 166),
^r^ = iij(*o (vgl' Arist. Hermen. 17» 10, wo Hoffmanns Uebersetzer wie sonst
f^JS) ; auch jUjmJ mag , wie es logisch zum Ausdruck der Kategorie ngoi u
dient, in seiner grammatischen Bedeutung der Entwicklung Porphyr, isag. c. 2
entstammen. Allerdings will ich diese Identificationen , welche den von Guidi
a. a. 0. aus der griechischen Grammatik gezogenen ergänzend zur Seite treten
könnten, noch nicht als endgiltig feststehend betrachten: das Vorkommen von
Liyö, \Ji,U^y = wnw<r»f (Hoffimann S. 191. 199), von ^L = ^dog (ebd. 212)
zeigt, wie leicht umgekehrt aus dem bereits ausgebildeten grammatischen Sprach-
gebrauch manche Ausdrücke wieder in die späteren üebersetzungen philosophi-
scher Schriften übergehn konnten. Erst eine Untersuchung, welche darauf aos-
gienge, Begriffe und Ausdrücke des Sibawaih mit der aristotelischen Logik zu
vergleichen, würde hier vollkommene Klarheit und vermutlich interessante Er-
gebnisse erzielen; die angezogenen Bemerkungen der Lauteren Brüder zeigen
jedenfalls, daS zu ihrer Zeit die Wege der Logik und Grammatik sich bereits
getrennt hatten.
2) Dahin rechne ich z. B. die Stelle 360, 6, wo zur Erläuterung eines vor-
her arabisch umschriebenen Begriffes ein penüches Wort dient.
Die Abhandlungen der Ichw&n es-saf^ in Answahl. Heransg. von Dieterici. 905
ger der 8^Laa£ genannten Schüsseln 330, 19; besonders natürlich anch
philosophische Ausdrücke, die zufällig wenigstens in den gangbaren
Wörterbüchern noch nicht verzeichnet sind, z. B. o'^^a£ itsgduiu^
354, 7; 356, 5; lUJLd l|»c (wofür in Zenkers Kategorien 35, 15
ÄlCLt) und ^ oW^fcTK 362, 9 {= Zenker ebd.); merkwürdig jü^,
sonst = HQOQ T»y für »«rcTi^a* (sonst ^^) 359, 3. 18; 361, 18; be-
sonders reiche Ausbeute aber gewähren die L. Br. in Bezug auf
Grammatik und Stilistik. Einem arabischen Puristen mnft beim Le-
sen die Haut schaudern ; wer nicht der Ansicht huldigt (die merk-
würdiger Weise neuerdings wieder von Orientalisten gehegt zu wer-
den scheint), daß es philologische Methode zu heißen verdiente,
wenn Jemand z. B. den Apuleius nach Seyfferts lateinischer Gramma-
tik verbessern wollte, der wird an solchen Erscheinungen seine
Freude haben. In den von mir durchgearbeiteten Teilen des Buches
ist mir als grammatisch, bezw. stilistisch merkwürdig Folgendes auf-
gefallen. Ein Indicativ ohne ^ ist I^JL^^i 193, 21 (neben dem durch
das Suffix gerechtfertigten iPy^^J^ 218, 10) ; 195, 16 steht; ^j^^y»*^
als Partie, pass, zu (jmLm, eine interessante Umbildung — oder ein
Druckfehler. Verwechslung von Nominativ und Accusativ kommt
öfter vor, z. B. 20S, 11 Lf>k»^3 (j^oju ^ ImidjA l^Juu Ij^Üüu l^Lo^ ^\i \iS
L^Ai^, wo die Rection von ^1^ unrichtig auf den folgenden Nomi-
nalsatz übertragen ist; 220, 4 J^ . . . L^ ^1^; 242, 21-243, 1
Jis^^ji vWt3 ^ . . . \Ö<^^ o'"'^^^^^ ^^3 v'y (beide Adjektiva sind
JL>>). Beginnende Wortzusammensetzung zeigt sich naturgemäß bei
den philosophischen Ausdrücken mit % wie ^^y^^ ^ nicht leuchtend
198, 12; (Nöldeke, Syr. Gramm. § 143). Bei der Idäfe ist der
Gebrauch des Artikels stark ins Schwanken geraten , nicht allein vor
Zahlwörtern (^Üüf JüuJt 355, 15 f.; i>L>Tt Xju^t 356, 14), sondern
auch in anderen Fällen, wie bL^I iU^Jüi^ i>U^*^t 360, 4 (statt
^i\) ; \jl\ Jjojm jii£ ^Uo*"^! 201, 5 (statt jÜJCüdt, s. unten). Auch
sonst zeigt sich Unsicherheit im Ausdruck der Determination; vgl.
xdjjkjSÜ^ juaA» (etwa das Gleich- und Ungleiche) 361, 4 und gar
^Uwi^^^U^ (statt ^t c5^l^0 360, 19, gegenüber dem richtigen
jfMüi\ ^3 jJäxl\ 361, 5. — Nach uf steht ^ für o 213, 12 ; o fehlt
überhaupt in diesem Falle an sehr zahlreichen Stellen (180, 3;
192, 5. 8. 10; 219, 18; 223, 20; 252, 6 u. s. w.). Anderswo steht
umgekehrt ö zur Erzielung einer leisen Steigerung, wo es zweck-
mäßiger gewesen wäre, 3 zu gebrauchen und das o der deutlicheren
906 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 24.
BezeichnuDg des durch den Anfang des Nachsatzes gebildeten Ein-
schnittes Yorzabehalten : so vJl^ 212, 15, wo der Sinn gebietet, den
Nachsatz erst mit U^$!C>t Z. 16 za beginnen. — Das vulgäre oÜ
statt ^j»M findet sich z. B. 238, 2. — In sehr bedenklicher Verfas-
sung zeigt sich der Stil der L. Br. in allem, was die Ueberein-
Stimmung von Genus, Numerus und Casus angeht; hier beobachtete
ich bei fortgesetzter LektUre eine mehr als saloppe Nachlässigkeit,
die meine zarten Gewissensbedenken in der vorigen Recennon
(GGA. 1884, S. 963 Anm. 1) mir jetzt selbst schlecht genng ange-
bracht erscheinen läßt. Die Möglichkeit, das Neutrum in vielen Fäl-
len ohne Unterschied durch Masculinum oder Femininum auszu-
drücken, die Neigung ein singularisches GoUectivum gleich einem
Pluralis fractus mit dem Femininum Singularis zu verbinden oder
umgekehrt, die Aehnlichkeit des JjioiJt jX4Jto mit einem als Subjekt
nach einem femininen Prädikat zu richtenden Pronomen substanti-
vum oder demonstrativum haben Ausdrucksweisen erzeugt, wie
äu/y.^ iClxy^ Jcyj g^ ^ji\ ^ ;^Uw^«^ 228, 13; o^\
gyUJS oV^t 358, 4; L^iOjü^ c>JüJI 856, 16; ^^L ^ ^^\^y
;;? J JLJy %^ 368, 9; 8;)^ ^ . . . ^\ 215, 2; l« ^jJüli . . . ^y
243, 7 ; und derartiges ist ziemlich häufig. Merkwürdig ist auch die
Verbindung A^\ JjuülLI ^iUo^'lit q^ 201, 4. 5, auf welche die gleich-
wertige Konstruktion L^t^ ^yXijiS |»U^*^i yj% eingewirkt zn haben
scheint. Sehr häufig steht ein Verbum im Masculinum unmittelbar
vor dem femininen Subjekt, z. B. L^jUU^ U^ Jlm^ 205, 10 ; ^S3y
*JIXä{ 237, 13; «5ÜLi- ^ 351, 9; ö^yö ^ 352, 5; ^3i\ Ji 852, 10
u. s. w. Starke Erschlaffung der ursprünglichen Sprachtriebe zeigen
Wortstellungen wie UJ aüwi L/ 216, 10 f. und aaäJu ^\.MSi\ ^ 195,6;
Vernachlässigung der Gasnsgleichheit bei der Apposition, wie
gj{ ^yuJ! fUäl yjLij\ i^ 360, 16 f.; Häufung von Partikeln vrie
^f L4/ 211,3 u. ö.; Setzung von ^i statt ^f, wie 240, 15 (umge-
kehrt ^5, wo ^'S deutlicher wäre, 351, 19), von U statt ^jwwjJ, wie
'is oW^' e!^' er U 351, 7 (Spitta § 198*), von U statt .^yXl\, wie
oli!^! yUJ c>^y^j^ U vJOu^l^ LT^^'^ ji^^ 231, 8. Wer das Buch
nach dieser Richtung vollständig durcharbeiten wollte, könnte reiche
Ausbeute für das Mittelarabische gewinnen, mfißte freilich seine
Sammlung sehr vollständig machen, da es an der Möglichkeit fehlt|
Die Abhandlungen der Ichw/ln es-safä in Auswahl. Herausg. von Dieterici. 907
im einzelnen Falle festzustellen, ob es die gesamte Ueberlieferung
oder nur die Lesart einer einzigen Handschrift ist, welche Dietericis
Text darstellt.
Erklärt sich trotz aller Ansbente, welche die L. Br. einem sorg-
fältigen Studium gewähren können, aus den zahlreichen Schwächen
ihrer Leistung die unzureichende Berücksichtigung, Über welche
Dieterici klagt, allerdings zum Teil, so kann doch auch der Art, in
welcher seine Uebersetzungen und die jetzige Ausgabe eingerichtet
und dnrchgeftlhrt sind, eine erhebliche Mitschuld nicht abgesprochen
werden.
Sein Stil ist, wie schon die oben angeführten Stellen darthun,
sorglos, mehr der gesprochnen und als solche durch Tonfall und
Ausdruck verdeutlichten Rede ähnlich, beim Lesen unbequem, ge-
legentlich unklar; bei der an sich zweckmäßigen Auflösung längerer
Perioden des arabischen Originals in kürzere Sätze ist vielfach die
Verbindung der einzelnen Glieder verloren gegangen, so daß man
sich den Zusammenhang der nebeneinandergestellten Hauptsätze erst
suchen muß. Wenn das für das Verständnis seitens unphilosophi-
scher Orientalisten wie nichtorientalistischer Philosophen wenig förder-
lich ist, so wird der Nachteil vermehrt durch das Fehlen von er-
läuternden Anmerkungen, die nur ganz ausnahmsweise an einzelnen
Stellen erscheinen. Ich will ein Beispiel anführen, das besonders ge-
eignet ist, diese Seite der Sache zu erläutern. Anthropologie S. 70, 10 ff.
heißt es von dem Zeitpunkte des Beginnes der embryonischen Ent-
wicklang: »so muß die Sonne in dieser Zeit in irgend einem Orade
und einer Minute eines der Sternzeichen stehn. Hat sie dann in
ihrem Lauf vier Monat von jenem Augenblick bis zum Ende der
vierten Sternburg vollendet, so hat sie vom Himmelsrund ein Dritt-
tbeil der Kreise durchschnitten. Dies ist in der Distanz (ihres Laufs)
das Maaß zwischen ihrem Hochpunkt und ihrem Hause. Dann hat
die Sonne vollständig die Naturen der Sternburgen, der dreifachen,
(d. i. je drei für ein Element), d. h. der Feuer-, Erd-, Luft- und Was-
serartigen ganz gespendet und sind dabei die Naturen der vier Ele-
mente der Zusammenfttgnng im Bau des Embryo eingemengt« u. s. w.
Anch wer aus der Vergleichung des Textes 175, 15 ff. entnimmt, daß
hier statt ^^Jüt zu lesen ist s.^cXil und demgemäß statt der Kreise
(was j^l^oJt heißen würde) gesetzt werden muß des (jährlichen) Um-
laufes, daß es statt vollständig . . . ganz gespendet heißen muß in
sich aufgenommen^ statt der Worte von der dreifachen bis Wasser
artigen vielmehr aus den Feuer-, Erd-, Luft- und Wasser-Dreiecken,
statt sind u. s. w. bis eingemengt vielmehr und dabei haben sich die
Naturen^ nämlich die vier Elemente bei der (wir würden sagen is^ur)
908 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 24.
Zusammenfügung des Baues des Embryos vermischt (oder gegenseitig
durchdrungen) — auch wer alle diese YerbesseraDgen vorgenommeii
hat, wird sich, sofern er kein gelernter Astrolog ist, noch immer kei-
nen Vers darauf machen können; auch die wiederholte Erwähnung
der »vier dreifachen Sternzeichen« 75, 3 wird ihn schwerlich klttger
machen. Um uns Rats zu erholen, greifen wir zn Dietericis »Pro-
pädeutik«, in welcher die Astrologie der L. Br. dargestellt ist In
der That finden wir daselbst S. 49 Folgendes: »Noch in einer ande-
ren Beziehung zerfallen diese Sternzeichen in vier Teile: 1. Die
Dreifachen, so feurig, heiß, trocken, östlich und von einer Natur
sind: Widder, Löwe, Bogen. 2. Die Dreifachen so stanbartig, kalt,
trocken, südlich, und von einer Natur sind: Stier, Aehre, Steinbock.
3. Die Dreifachen so luftartig, heiß, feucht, westlich und von einer
Natur sind: Zwillinge, Wage, Urne. 4. Die Dreifachen so wasser-
artig, kalt, feucht, nördlich und von einer Natur sind: Krebs, Scor-
pion, Fisch«. Sieht man sich diese Einteilung genau an, so kann
man allerdings die Bemerkung machen, daß die Sonne, wenn sie in
einem beliebigen Zeichen des Tierkreises ihren Lauf beginnend ge-
dacht wird, binnen vier Monaten immer vier Zeichen darcblanfen
muß, von welchen nach dem gegebenen Verzeichnis eins die Natur
des Feuers, eins die der Erde, eins die der Luft, eins die des Was-
sers hat. So nimmt sie in dieser Zeit die Naturen der vier Ele-
mente in sich auf, und da ihr die Herrschaft fiber den vierten Mo-
nat der embryonischen Entwicklung zukommt, tragen naturgemäß
diese Elemente in gegenseitiger Durchdringung zum Aufbau des
Embryo-Leibes gleichmäßig bei. Ueber die sachliche Schwierigkeit
wären wir damit glttcklich hinaus; fragt sich nur noch, was der
Name der »Dreifachen« zu bedeuten hat. Dieterici erklärt ihn
Anthr. 70 »d. i. je drei für ein Element« ; einen solchen Sinn kann
man aber doch nicht mit dem Worte drei/ocA verbinden, vielmehr
sind ja die Sterneeichen ihrer Natur nach eben t^facher Art. Er
hätte wenigstens Jireiheiten sagen mUssen, wenn er den astrologi-
schen Terminus Trig(me oder Triplidtäten (welches letztere Wort ihn
vermutlich auf Urtifache gebracht hat) nicht gebrauchen wollte. Im
Arabischen heißen sie einfach oUULaII »die Dreiecke«, und der Name
erklärt sich durch den Augenschein, wenn man sich die Peripherie
eines Kreises in zwölf gleiche Teile teilt, die Teilpnnkte der Reibe
nach mit den Zeichen des Tierkreises bezeichnet, und dann nach
der oben gegebenen Einteilung immer je drei (Widder-Löwe-Schfltze;
Stier- Jungfrau-Steinbock ; Zwillinge-Wage-Wassermann; Krebs-Seor-
pion-Fische) durch gerade Linien verbindet. Es entstehn dadurch in
Die Abhandlungen der Ichw&n es-saft in Auswahl. Herausg. von Dieterici. 909
der Figur vier gleichseitige Dreiecke , und nun kann man sich die
Sonne ihren Lanf beginnend denken, wo man will, sobald sie an
vier Zeichen vorüber ist, hat sie immer je eine Spitze aller vier
Dreiecke berührt und damit nach der astrologischen Theorie die Na-
tur des Feuers, der Erde, der Luft und des Wassers in sich aufge-
nommen. Das Alles weiß Dieterici so gut wie ich : im Glossar zur
»Propädeutik € steht S. 171 bei »dreifache (St.) oUUiU in Paren-
these Trigon; hätte er diesen feststehenden Terminus gebraucht,
Anthr. 70 auf Prop. 49 verwiesen und bei letzterer Stelle das Sach-
verhältnis kurz angedeutet, so hätte der Leser nicht nötig gehabt,
erst aus Loths Abhandlung über Eindi als Astrolog (Morgenl. Forsch.
268 Anm. 4) sich Aufklärung über Sache und Namen zu verschaffen.
Platz für solche erklärende Anmerkungen hätte sich durch weitere
zweckmäßige Kürzungen an den übersetzten Stücken unschwer schaf-
fen lassen.
Der Uebelstand, daß D. statt eines fertig vorhandenen wissen-
schaftlichen Terminus ein anderes Wort gebraucht, und dadurch eben-
falls das Verständnis erschwert, macht sich auch sonst geltend. In
logischen Schriften hat bekanntlich ^^ou« sehr verschiedene Bedeu-
tungen; es kann Sinn ^ Bedeutung ((ffifka^vdfMyov)^ dann Begriff
(qIjm gelegentlich Inhalt) besagen, und dient daneben z. B. in den
m
Kategorien zur Uebersetzung von ngäyfAa^ je nach dem Zusammen-
hang (ev. mit tcX^) auch von tovio und to avtö. Dieterici über-
setzt es in seiner Logik und Psych., ich kann nicht sagen ob stets,
aber jedenfalls in der Mehrzahl der Fälle durch Bedeutung^ während
meist Begriff der entsprechendere und uns ja auch geläufigere Aus-
druck wäre. Die ganzen Definitionen ebd. 23, 8—31 werden so-
wohl ans diesem Grunde unverständlich, als auch weil D. \^iuoy und
stf^uü durch Beschreibung 'und Eigenschaft übersetzt, statt durch At-
tribut und Prädikat (vgl. unten S. 919 f.). .^, das vielfach richtig als
Sterneeichen vorkommt, muß sich anderwärts AxiXQh Stemhurg wieder-
geben lassen ; gewölbt und gesenkt Log. u. Psych. 38, 8 sollte convex^
eoneav heißen u. s. w. In anderen Fällen, wo es sich nicht um
eigentliche Terminologie handelt, erhält eine Wendung durch allzn-
große Wörtlichkeit oder unglückliche Wahl des deutschen Ausdruckes
einen schiefen oder unpassenden Charakter; vgl. z. B. jJ'VI iXaojüI^
(Text 106, 17; 228, 2; 231, 4; 237, 4), das überall (Naturansch.
44, 17; Log. u. Psych. 88, 18; 91, 4 v. u.; 99, 30) im ursprüngli-
chen Ziel, dem Ureid nach u. ä. übersetzt ist, statt je nach dem
Zusammenhang durch nach der eigentlichen Absicht^ dem ersten (eigent-
lichen) Zwecke entsprechend. — So femer z. B. (ich stelle im Fol-
910 Gott. gel. Anz. 1887. Kr. 24.
genden der Kürze wegen immer D.8 Uebersetzang in karsiven Let-
tern voran, die meinige nach einem in gewöhnlicher Schrift folgen
lassend) Anthr. 67, 29 eart wird: dauernd bleibt | 67, 2 v. q« rei-
fende: verdauende | wachsende: mehrende | 67 1. Z. erste Thai: An-
fang des Schaffens | 68,19 Anordnung für: Beherrschung des | 69,1
Uebergewicht . . . tm Saturn: EinfluB . . . des S. | 70, 26 geschaf-
fen: fertig I 70, 8 v. u. entspricht dem Stemeeichen: stimmt mit der
Natur des St. überein | 92, 19 geringeres Leben: kurzer Lebens-
dauer. — In einem anderen Zusammenhange Anthr. 12, 21 Grund-
güge des Sinnlich wahrgenommenen : Eindrücke des sinnlich Wahr-
nehmbaren I 12, 6 v.u. Stellvertreter: Depotinhaber | 141.Z. IVudä-
säfte: Bonbons, Kuchen: Zuckerwerk — und ^L^ ist nicht einer
der Süßmehl [was ist das?] bereitety sondern einfach »Eneter«. —
Damit stimmt es überein, daß verschiedenartige Wendungen} einzelne
Worte wie ganze Sätze, wie es scheint, von ihm gar nicht selten
mehr nach augenblicklicher Vermutung als nach scharfem Erfassen
des Sinnes wiedergegeben werden. Eine ganze Sammlung von sol-
chen Fällen kann man sich aus Logik n. Psych. 89 ff. anlegen.
Es muß daselbst heißen: 89, 7 v. u. statt Eohrflechter : Verfertiger
von Hanfseilen | 90, 12 Händler und Aussteller: Mäkler and Kamel-
verleiher I 90, 18 V. u. Riemer und Spinner: Qerber und Weber |
90, 12 V. u. Controleure: Optiker | 91, 12 Pech: Aetzkalk | 91, 21
Seiden- [NB. es ist von Arbeiten im Feuer die Bede], Kessel-^ Gad-
ha[r]iOLrbeiter : Thonwaaren- (s. unten S. 918 Z. 24), Topf- and Schüs-
sel-Verfertiger I 92, 1 AcJcerer^ Bauer ^ Weber: Ackerbau, Baahand-
werk, Weberei | 94, 5 v. u. Binge und Kugeln^ die den Formen der
Sphären nachgebildet sind: Armillarsphären und Kugeln, welche die
Sphären darstellen (Himmelsgloben) | 95, 17 Kräuterkrämer: Par-
fttmeriehändler (NB. die ganze Pointe des Gegensatzes gegen die
Mistfahrer geht bei D.s Uebersetzung verloren) | 95, 15 v. a. Xe-
ben: Wohlbefinden | 97, 5 durch die Güte der Natur: in feblerloMf
Trefflichkeit | 97, 9 v. u., 5 v. u. ^ erlernt ein solches nicht: er übt
keine praktische Thätigkeit aus. — Anthr. 15, 6 UschfUße: Stahl-
beine (oder Bettfllße) | 15, 12 Wasserräder: im Text steht 194> 8
u^l^cXil \js> »Wirbelknochen« oder »Halsband der Wasserräder«
ob die Zähne des Zahnrades, welches an der Hauptachse des
Wasserrades sitzt? vgl. die Beschreibung der S&^ije bei Lane, Han-
ners und Customs ^ II 26. Ich sehe nachträglich, daß de Gk>eje in
Wüstenfelds Jacut V, 33 (Anmerkung zu I, 301, 15) statt des an
der betreffenden Stelle gedruckten ; 3- fttr die Bohren einer Wasser'-
leitung yf> als unregelmäßigen Plural von ^yjtP*" vorgeschlagen, and
Die Abhandlungen der Ichw&n es-safä in Aaswabl. Herausg. von Dieterici. 911
im Glossar der Bibl. geogr. IV, S. 225 aufrecht erhalten bat. Die
Bedeutung Leitungsröhren kann in der Jakutstelle keinem Zweifel
unterliegen; es fragt sich, ob sie auch auf unseren Zusammenhang
passen würde. Das Wort v^3i> ist nach Lane s. v. gleichbedeutend
mit xasLm, bei deren Beschreibung (Manners and Customs a. a. 0.
weitere Leitungsrohren nicht erwähnt werden; nach dem Wortlaute
des Textes der L. Br. müßten solche, weil von ^^Jl:f gefertigt und
mit der Zahnreihe eines Menschen verglichen, aus kurzen in oder an
einander gefügten Holz- oder Bambusrohren bestehn. Da aber
schwer auszumachen sein möchte, ob die Dfiläb, welche vor 800
Jahren im Irak üblich waren, den jetzigen S&kijen Aegyptens
vollkommen ähnlich gewesen sind, wird man darauf verzichten
müssen, unsern Text zur Erläuterung des Ausdrucks bei Jakut
zu verwerten, so nahe es liegt, das :3> oder . 3> in beiden Fäl-
len für identisch zu halten. | 15, 15 Drahtzieher: Dochtverfertiger |
15, 17 Schindungen: Geschwüre (oder »Wunden«, es kommt auf das
AJ^\ an, nicht auf die Haut) \ 15, 21 SchaufeU und Besenmacher :
m
Yerfertiger von Holz- und Eisenschaufeln (ein Besen ist doch nicht
mit einem Fingernagel zu vergleichen) | 15, 12 v. u. Spinnern : We-
bern I 15, 4 V. u. OeUr (was sind das für Leute?): Lackierer (oder
Dekorationsmaler) | 15 L Z. Zeichnern, Punktirem und Spielverferti-
gern: Malern, Bildhauern und Puppenverfertigern | 24, 14 aufstoßen:
sieden | 26, 1 1 sehr salzig \ scharf (wie Senf) | 80, 4 v. u. wie die
Schweine, Milben ^ Fliegen . . . so wird ein Käfer (Ghana fis) = Text
204, 6 ^UjjJ^\ JJU ^ii^ . . . vl^^^3 o'^^3^' ^'•'''ö Lr*LJLi.| J^^» was
zu übersetzen ist »wie die Mistkäfer und Badekäfer und Fliegen
• . ., 80 wird ein Mistkäferc u. s. w. Abgesehen davon, daß man
nicht sieht, weshalb zu Käfer der arabische Plural Chanafis^ bei
dem sich der Leser doch nichts denken kann, in Parenthese hinzu-
gefllgt wird, ist ^b^^ oUj ersichtlich aufs Geratewohl , und zwar
recht unglücklich, durch Milben wiedergegeben. Den Mohtt, der s. v.
^\Sjy hat S ^^ U ^\^ ^^yil i:!^ pUJUit y^ 4i^^ ^b^^ si;Uj
vjoiüt^ oUU^I, hatte Dieterici 1871 wohl noch nicht zur Verfügung ;
aber auch im türkischen Qämfis findet sich unter ^bj^ (welche von
beiden Yokalisationen richtig ist, kann ich nicht sagen) ^b^^ oLü
^J^yi i^JSo^ ^j^ j.Lr jjL^, j^ t^^jMA Z\^:> ; wie der wissen-
Bcbaftliche Name dieses Käfers lautet, konnte mein Freund Chun
nur nach der unbestimmten Beschreibung des Mohit nicht sagen
(vielleicht ist in Busseils Natural History of Aleppo , welches Buch
912 Oött. gel. Anz. 1887. Kr. 24.
in Königsberg nicht beschafft werden kann, Auskunft zu finden), es
steht aber nichts im Wege, eben »Badekäfer« zu übersetzen | 3l| 23
tvie die (concreten) Dinge : wie die unorganischen Körper | Sl, 13 f. q.
Dudelsack: Rohrflöte | 33, 19 gekoren zu den Körpern: sind die
schärfsten der Körper | 35, 5 hüden hinter denselben ein OewAe:
verzweigen sich in ihren äußersten Theilen. Ein mir gänzlich an-
begreifliches Quid pro quo ist Log. u. Psych. 40, 12 v. u. Wohn-
Stätte statt »Milcheimer c (Text 362, 1 ^Si^) — doch brechen wir
ab. Lediglich, damit Dieterici mir nicht entgegenhalte, daß nur der
»Buchstabiere sich bei solchen Kleinigkeiten aufzuhalten im Stande
sei, die für das Studium der Philosophie gleichgiltig scheinen köno*
ten, will ich noch zwei Fälle anführen, die wieder aufs Deutlichste
zeigen, was jeder Philologe sich täglich zu Gemüte führen sollte —
daß es keine Grenze zwischen dem Sprachlichen und Sachlichen gibt,
und daß jede Vernachlässigung des ersteren letzteres in Mitleiden-
schaft zieht. Log. u. Psych. 40, 4 v. u. flndet sich als Ueberschrift
eines Abschnittes Die Beziehung, und dieser Ausdruck wiederholt
sich im Folgenden mehrfach, ohne daß klar wird, was damit ge-
meint sein soll. Dem Philosophen, der seinen Aristoteles im Kopfe
hat, wird allerdings, liest er 41, 5 von a) einander entg^engeseM^
b) mit einander in Relation, c) im Sein und Nichtsein (vielmehr SEk
und (niQiia$g\ sofort klar sein, daß es sich nicht um Beziehung^ son-
dern um dvtix€Uf&at> handelt, und daß hierüber nach Kateg. 11^ 15 ff.,
allerdings sehr oberflächlich, abgehandelt wird; aber Unrecht tbSte
er, wollte er den so gänzlich irreleitenden Ausdruck Beziehung den
Lauteren Brüdern anrechnen: sie haben 362, 5 ganz richtig äJUIsII,
den stehenden Terminus für d9ftiue$a&a$ — hätte es Dieteriei der
Mühe wert geachtet, bei Uebersetzung des die Kategorien betreffen-
den Abschnittes Zenkers Ausgabe von Ishäqs ihn Uonein (nicht Ho-
neins, wie es Theol. d. Aristoteles, deutsch, S. V heißt) arabischem
Texte einmal durchzublättern, was ein »Buchstabiere wahrscheinlich
für angezeigt gehalten hätte, so wäre ihm S. 35, als Ueberschrift
ausgerückt und besonders abgesetzt, sofort in die Augen gesprungen —
o^UäXI ^ , will sagen negl dvuitB^ikivtav. In dem zweiten Falle bat
nicht minder das Misverständnis eines einzigen Wortes eine ganze
Gedankenentwicklung zerstört. D. übersetzt Log. u. Psych. 89, 6. 20 ;
40, 5 jüoL> durch Unterart statt durch specifisch Zukommendes oder
besondere Eigentümlichkeit {td$ov) und erhält nun dadurch über eine
Seite lang eine Reihe von Sätzen, deren Zusammenhang und Bedeo-
tung unverständlich ist. Ich möchte wenigstens wissen, was man
sich bei Folgendem zu denken habe (39, 5 v. u.): Die Gattung des
Relativen tritt, wenn sie mit ihrem Gegenstück in Rdation gesetzt
Die Abhandlungen der Ichwftn es-saf^ in Aaswahl. Herausg. von Dieterici. 91^
wird, ein in die Klasse der Sifbstanz und zwar in Hinsicht des Ac-
cidens aber nicht dem Wesen nach; nämlich insofern als die Substanz
durch die Accidens beschrieben ist^ die Acddens also Beschreibungen
für jene sind. Beschreibung ist aber eine Beschreibung für etwas
Beschriebenes und zwar eines durch die Beschreibung BeschreibbareUf
so une Vater — Vater des Sohnes und Sohn — Sohn des Vaters ist.
Eine Unterart dieser Gattung ist^ daß von den beiden in Relation
stehenden das Eine zwar dem Andern zugewandt ist^ sie sich aber
nicht verneinen y sondern beide in Beziehung (zu einem Dritten)
stehen (vgl, die relativen Begriffe: Bruder, Schwester —Vater). Im
Text (361, 11) steht vielmehr Folgendes: »DasOenas der Beziehung
nnterwirft, sobald bezogen wird, seinem Einflüsse sämtliche Genus
von der Seite des Accidens her, nicht dem Wesen nach, insofern die
Snbstanz ein durch die Accidenzen Bestimmtes, die Accidenzen Be-
stimmungen für dasselbe sind, die Bestimmung aber eine Bestimmung
ftlr ein Bestimmtes, das Bestimmte ein durch die Bestimmung Be-
stimmtes ist, gerade wie der Vater Vater des Sohnes, der Sohn Sohn
des Vaters ist. Die diesem Oenus [d. h. eben der Relation] eigene
Besonderheit ist, daß die beiden auf einander Bezogenen sich gegen-
seitig einschließen ohne daß sie sich aufheben [vgl. 362, 10] und
indem sie in der Relation zugleich sindc. Der Sinn der Auseinan-
dersetzung ist klar. Genus als solches kann zu Genus als solchem
nicht in Relation treten: Vater und Sohn sind in ihrem gegenseiti-
gen Verhältnis keine Genera, sondern Species des Genus Mensch.
Die einzige Art, auf die ein Genus Glied eines Relationsverhältnisses
werden kann, stellt sich im Verhältnis des Genus zu seinen Acciden-
zen dar — Bestimmtes: Bestimmendem = Vater zu Sohn. Eigen
ist ferner der Relation, daß beide Glieder sich gegenseitig bedingen
— denn Vater ist ja eben Vater nur, insofern ein Sohn vorhanden,
and umgekehrt, das Vatersein und Sohnsein existiert gleichzeitig
eben vermöge des Relationsverhältnisses. Dieterici ist augen-
scheinlich zur Einführung einer »Unterart« des Begriffes Rela-
tion durch die ganz richtige Bemerkung veranlaßt worden, daß
nach den aristotelischen Kategorien es allerdings Relationen gibt,
welche einander ausschließen, z. B. Tugend und Laster ; er hat aber
Übersehen, daß die L. Br. nicht von dem eventuellen Gegensatze
zweier Relationen, sondern von dem der beiden Glieder eines und
desselben Relationsverhältnisses sprechen. Einen solchen kann es
überhaupt nicht geben, die Tugend des Mannes kann nicht im Gegen-
satze zum Manne existieren, sondern nur an ihm, und beide exi-
stieren eben gleichzeitig in dem Begriffe ihrer gegenseitigen Rela-
tion. Daß hier nicht etwa die L. Br. selbst der Vorwarf der Un-
06H. gol. Am. 1687. Nr. 24. 63
914 Gott. gel. Änz. 1887. Nr. 24.
klarheit trifift, ergibt sieb, ganz abgegeben von dem ZoBammenhang
an dieser Stelle, sebon daraus, daß sie vorber als das id$oy der Be-
wegang gleichmäßig und ungleichmäßig bezeicbnen: wenn D. auch
das (L. u. Ps. 39, 6) übersetzt Die Unterart dieser Gattung ist gleich-
und ungleichmäßig^ so gäbe es also aacb Bewegungen, die weder gleich-
mäßig noeb ungleicbmäßig sind — das aber ist, wie er selbst za-
geben wird, ein Widersinn.
Anfänglicb batte ieb mir vorgenommen, zum Erweise dessen,
daß dureb jene verscbiedeneu, an sieb geringOlgig scbeinenden Un-
genauigkeiten der Uebersetzung , Sorglosigkeiten der Äuffassang,
Unacbtsamkeiten des Ausdruckes in einer nicbt geringen Anzahl tod
Fällen dem Leser das richtige Verständnis auch der wichtigeren
sachlichen Gesichtspunkte verkümmert wird, noch einige zosam-
menbängende Stellen aus D.s Uebersetzungen auszuheben und durch
Vergleichnng mit dem Texte zu beleuchten. Ich stelle sie zarttck,
da aus dem Bisherigen^ klar sein wird, das solche Fälle nachzu-
weisen keineswegs unmöglich ist, und da ich der hiermit abgegebe-
nen Versicherung, daß sie nicbt ganz selten vorkommen, jeden
Augenblick, wenn es verlangt wird, aus dem von mir gesammelten
Stoffe die tbatsäcblicheu Belege folgen lassen kann : es ist, soll diese
Anzeige nicbt selbst zu einem Buche auswachsen, nunmehr an der
Zeit, mich dem Texte zuzuwenden, wozu ich ja nicht allein durch
den Kopf dieser Anzeige, sondern auch durch meine eigenen Aeufie-
rungen (oben S. 900) verpflichtet bin. Mein Urteil über denselben,
wie ich es nach genauem Studium der Abschnitte S. Iv) — Ia», I\1 — l^öf ,
)*-fö -.i**if formulieren zu können glaube, ist dasselbe, welches ich
vor drei Jahren über das erste Heft gefällt habe: man versteht das
Sachliche im Allgemeinen leicht (wie mir ja der Text im Obigen
genügende Handhabe geboten bat, die früheren Uebersetzungen D.s
zu verbessern), aber im Einzelnen bleiben eine Menge Zweifel, de-
ren Lösung durch den Mangel eines Apparates in nur zu vielen
Fällen für mich wenigstens unmöglich ist; die Korrektheit des
Druckes und der Vokalisation bat sich gegen das erste Heft viel-
leicht etwas gemindert, reicht aber abgesehen von ein paar Seiten,
über welchen ein besonderer Unstern »die Herrschaft gehabte hat,
immerhin aus. Ich schreite sofort zum Erweise dieser Behauptun-
gen , indem ich bemerke, daß ich eine Anzahl von Stellen übergehe,
die mir zwar Bedenken erregen, zu denen aber Vermutungen aus-
zusprechen ich selbst, da mir die Lesarten der Mss. nicht zugänglich
sind, für zwecklos halte.
Text S. 173, 5 vi^u-aj^LÄJ: nach der Uebersetzung läutern
Die AbhandluDgen der Ichw&n es-safä in Auswahl. Herausg. von Dieterici. 915
m
(Anthr. 66, 3) war ich versucht vi^-^*»^^ zu ändern ; das wird
durch 178,8 widerraten, es muß also dahin gestellt Wei-
hen, ob wir hier D.'s Text oder seiner Uebersetzung zu
folgen haben | 174, 12: das Fehlen des Apparates gestattet
nicht zu entscheiden , ob statt ^ zu lesen ist \^ q< oder
xil , oder ob hinter «^U^ er noch einmal ^\J^ q^ gesetzt
werdenmuss|174,17f.; 176,lff.; 176,18; 177,11 'i^\^^j^ß\.
jaAiL»3j tj^ nach dem Zusammenhang und unter Verglei-
chung von 174,4; 176,3.5; 177,2.17 | 176,8 iUiL>.j,^ 1.
L|£JL>.j,; I 176, 11 ^^dt 1, ^\ I 176,18 ^^JJI 1. ij^S (vgl.
das folgende ^und hier S.907, 7 V.U.) 1176,20^-^«::^. l.LT*^ |188,
12 \^^^\ .bÄfi> J^ L--»J> ^\J> äUMjä. I^M^ S^y, hier sind wohl
zwei l^esarten a) Lr'j^ jUm3> L^iift^ ^^^ b) Jw© [j^S^ Lmj^ ^^^
J m
\j^^j\ Jjite- zusammengeflossen | 190, 9 ^f^ 1. g^]^. | 191, 7;
192,11; 210,6 oloUxll bezw. ^cf^ ist doch auch durch die
Bedeutung Wettlaufen kaum zu rechtfertigen ; es passt das
insbesondere nicht zu den ^Lüö. Es wird überall oü^UxIt,
bezw. ij^^ zu lesen sein nach 188, 11 unter Vergleichung
von 192,14 I 192, 2: vor L^^t fehlt etwas wie g J^\ oder
.gj, möglicher Weise auch nur^ (wie Z. 7. 9; 193, 7) | 192,
8 L^aC^w«: füge hinzu gUXl' jS>y^ nach der Uebersetzung
Anthr. 12, 11 v. u. | 193, 11 d^y^il fehlt in der Uebers.
Anthr. 14, 10, scheint Gegensatz zu iUJi J^XXjdJ, ob ^]^\'! \
193, 12 cW^i^t 1. cÄJÄ^iZ^I? Schwerlich hat man von v^
ein schon seiner anderweitigen Bedeutung wegen misver-
ständliches v^ abgeleitet | 193, 19 cnri^ UwJt 1. eÄs^^UwJJ
wie 204, 9 (234, 7. 11 v>C^) — in Bezug auf dies Wort
(oben S. 904) scheint D. sich etwas im Unklaren befunden
zu haben, da er Anthr. 31, 1 >>l«w durch das graziöse »Stink-
wind« überträgt | 198, 20 *UfiJt^ 1. jM\^ wie 228. 18 | 198,
11 Laaaso« : ob v-^^ jAC 3I U-äm» 3t einzuschieben (nach 197,
8)? I 199, 5 1. iuJufi^l I 199, 8 ^j^^ l ^^ y\ \ 199, 15 g^.:
füge hinzu luu \ 200, 10 er ^s^^ J'^^^ ^ uyÄJcÄ« *JÜbL;u^
SiXJLii iujijJl schwerlich richtig; vgl. Z. 12—14; 206, 6 f.;
ob danach ^c^\ >«uJt i cfc^ÄA^OU ^! sjuL^t iü^tyi »j juLuä^?
201, 6 iUii^Ä^ jÄ^^ : füge hinzu iUif^» ^ Ut^ (nach 204, 17 ;
63«
9IC Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 24.
Anthr. 26 1. Z.) | 203, 14 j^tfJüA ist sehr hart, ich vermute
jlxÄAi. Nachher fehlt vijelleicht etwas vor ^l3, vgl. Z. 20
203, 1 8 jJ*i^ . . ^^ . . 'mjS U^ ist doch wohl etwas zu stark
(vgl. indes oben S.90 5 f.), regelmäßig wäre jedenfalls jJLcB . . *S> t
206, 11 ok;*^ 1- ^^y^ i 207, 10 gLj^t ^\^o\ : glatter wäre
ö^ ol^"5« I 207, 15 L^ ^\J^ er ^^-^SiJj^ 1. 'iöU^ er L^ '^'^-^ä^^ i
208, 8 ff. ist in Unordnung, da die äu^^ eben der '^^^ s^,
nicht der H/öL zukommt. Vielleicht genügt es, das zweite
H^JuA ^^ von Z. 9 nach 8 (vor A's^) umzustellen, obgleich
der Ausdruck auch dann etwas schwerfallig bleibt | 208,
18 — 209, 2 ist hier in der Vocalisation und einer Lesart,
Anthr. 36, 10 v. u. in der Uebersetzung zu ändern. Man
lese 208, 1 8 jM (vgl. zur transitiven Construction Kateg. ed.
Zenker 18, 11^) und dazu jetzt Fleischer zu Dozy II, 91*
in den Sachs. Sitzungsber. 1884 S. 57), schreibe 209, 1
O W^ und übersetze »Deshalb ist auch das Sprachvermögen
»(vgl. 210, 13) verhindert, ein Urteil über etwas von dem
1) Wo Z. 12 statt ^Jiij natürlich ^. zu lesen. Ich gebe bei dieser
Gelegenheit noch einige Verbesserungen zu dem Texte von Zenker's Kate-
gorien an: 3, 10 oUSl^ 1. V | 8, 1 i^J | 11, 6 U qI^ I ^ *^^'
1. L^j I 12, 12 i^JLou füge hinzu ^^ | 12 1. Z. er 1. i | 13, 1
LfM^Äil ^5 wie 14, 1 | 13, 9 ^j^ 1. ^Ah oder qj^ | 10 *--ä3 ^
vgl. zu 1 I 16. 17 u»LcJI I 17, 21 streich J^ \ 23 füge vor
q5^. ein ^J^ und 1. tJ^ statt xi^ | 22, 13 *a>^ 1. v^--^ | 23,
5 V. u. 1. sU^'ii f^>Mi\ Lü^Ui* I 24, 3 lOUilä 1. auQls oder iäu^B (vgl.
Hoffmann, Hermen. 157») | 26, 11 ^J 1. ^ I 28, 2 ^jm^\ 1.
J^\ I 11—19; 29, 3—14 ^y^ 1. ^M | 30, 2 ^t 1. J>\ | 30, 20
^13 1. Lt^B| 31,5 ^:^b|8 SJo.5^1 12 j4» l.y^. | Id /ÖuL^\
23 6^y^\ I 32, 6 OuXJt [ 33, 6 o?;k ] 34, 2 »^ | 17^!; 35,
9 U 1. U I 20 er^3 I 38, 9 Ol^* 1. Ou? I 1 1 Q^blÄu | i 2 J^Ux^
1 5 hinter v^^ ist eine Lücke 1 1 9 q? dJi qI y^^t 1. ^i JJi» QL.'it
40, 3 ^ 1. *I? I 8 o' '^ 1. o'^ • I 11 0^» sij^^ 1. 3^ i^j^1 1
41, 20 q5Xj|42,14 J^UUj 1. J3lyuJ|44, 4 U4^l|45, 4 *>lXd UyJ
O^ I 10 (M>y i I 22 L4^ 1. U^l LhaS? I 46, 16 ^..y-iüü | 47, 17
^^ I 19 1. cXj»/ und JLs^'t I 48, 8 0^^ 1. Ouö | 1 1 v^raÜI | 13
si^Jo^ !3t I 19 1. ^jÄ^ü. und Ju^^ | 49, 10 1+IL^Ll | 1 1 L^w>uJüu.
Die Abhandlungen der Ichw&n es-safä. in Auswahl. Herausg. von Dieterici. 917
»Inhalte der wahrnehmbaren Dinge durch die Zunge der
»Kinder auszudrücken, weil [bei ihnen] das Denkvermögen
»ihren Inhalt nicht beurteilt noch genau verificiert hat.
»Wenn aber die Jahre des Wachstums vergangen sind,
»und der Mond das Regiment an Merkur, das Gestirn der
»vernünftigen Rede, abgegeben hat, wird das Kind des
»Ausdruckes und der Bezeichnung des Inhaltes der wahr-
»nehmbaren Dinge, welchen die Wahrnehmung der Ein-
»bildungskraft und dem Denkvermögen vermittelt, mächtig« |
210, 17 l^ 1. Lffei^ wie 223, 1 | 211,11 L^ wohl einfach
zu streichen (vgl. das Folgende) : die Uebersetzung Anthr.
39, 8 V. u. der Strahl zu dem Blick auf denselben scheitert
einfach daran, daß ^>ä weder gleich gL«-a noch generis fe-
minini ist ( 213, 16 q^. 1. ^i* | 214, 5 ^foJu^ 1. juia» | 217,12
bezieht sich auf 3, 15 (vgl. 219. 14) und ist also zu schrei-
ben u»yü« ^ l5^5 u^' 3^> i^^' rt^ I 218, 12 LKiäLüül (und
so Verkleinerungssucht Weltseele 44, 11 v. u. ; aber (jaäS VI
heißt »sich allmählich vermindern«) 1. ijaäLüüt | 218, 15 stimmt
nicht zu der Uebersetzung Weltseele 44. 6 v. u., in welcher
die Worte von L^^jJ bis 'i.xM^l\ iuuli-t fehlen, und dafür
das sind die Heere Gottes^ die eigentlichen Stellvertreter mehr
steht, was ein übles Licht auf die Willkür wirft, mit wel-
cher Dieterici seinen Text behandelt. Möglicher Weise
gehören die Worte 15 f. f>^^ bis \»tiju.b.ll iüuÖ-l oben Z. 11
liintcr iCuA^hil U — denn j^a^^ weist auf die Aufzählung
Z. 10 — 12 zurück, ein Schreiber konnte von SutA^IaJI leicht
auf fcAJtAA,hH springen, eine Nachtragung am Rande ebenso
leicht au falsche Stelle kommen, und \y^M*^ Z. 16 schließt
sich ganz passend an Ljäj^^ an. Aber was steht in den
Handschriften? | 219, 7 1^^.^^ . . . L^U. beide Male ^^ wenn
man nicht eine arge Nachlässigkeit der oben S. 906 bezeich-
neten Art gestatten will | 222, 7 q^ 1. l5^ | 8. 9. ^. l.^yücü |
14 ^^ 1. L^JU^- I 224, 8 ^t 1. ^^^\ d^ 1. >t I 11 ^%
1. o^b; danach ist die unmögliche Uebersetzung Weltseele
50 1. Z. als Gleichnisse und Mittel um dadurch uns zu den
geistigen nur von der Veriiunft faßbaren gelangen zu lassen
zu ändern in »als Gleichnisse, welche auf die übersinnli-
chen, speculativen deuten« | 224, 13 v$ zu streichen | 225,
7. 8 1. ^joJ und vjyü* 1 226, 7 hinter f\^ fehlt wohl etwas |
918 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 24.
228, 2 hinter ^:>^ ist einzuschieben VU^sUm^ (vgl. zur Sache
106. 17) I 228, 8 o^'J^:^ [«^ ^i^ d^^ unverständlichen Vo-
calen] 1. cJ^^^I^ (Uebersetzung Log. u. Psych. 88, 8 v. u.
richtig Knie) \ 228, 20 c^^Lj^LäU^ o^'^^^'^ c^vjtli^» mit der Ueber-
setzung (L. u. Ps. 89, 20) die Fackeler [1. »Feuerwerker«],
Brenner [l. »Heizer«], Leuchtenträger : also entweder ^.JxUm^
oder ^;;^:AUÄIt3, doch letzteres für mich weniger wahrschein-
lich, weil mir bisher nicht vorgekommen | 228, 21 ^^UasJI :
Uebersetzung (L. u. Ps. 89, 14) Walkern, buchstäblich rich-
tig, aber sachlich unmöglich. Will man nicht ein vorläu-
fig nicht nachgewiesenes, wegen der Homonymie mit Walr
ker unwahrscheinliches J^ zur Bezeichnung eines »Ver-
fertigers der >sj/a5 genannten Thongefasse« (über die jetzt
Dozy s. v. und Fleischer in den Sachs. Berichten 1885 S.
400 zu vergleichen) annehmen, so wird man nach 230, 19
statt ^^L^öäJ? schreiben müssen {:jsj^Jj:oi6\ \ 228, 21 {^)^^^^ 1.
^/ 1 229, 5 oLjÜJ o^ j£^\ ^/ju natürlich Glosse (es handelt
sich um Bast\ vgl. zu *^L^t Fihrist 240, 8 — ein Citat, das
ich dem sei. Loth verdanke) | 229, 6. 11. 13 ^LäU: ent-
weder l^L& U wie Z. 2/3. 4, oder (besser) ^Iä o^ wie Z.
15. 16; 228, 16/17 | 229, 11 0^\ 1. ^\f>\ \ 14—17 1. viermal
j^^ statt ^^, wenn kein Misbrauch der oben S. 906 berühr-
ten Freiheit angenommen wird | 280, 11 B»>LFÜt 1. b,® | 17
^ 1. vi;ulL- I 19 4^^«^!^ (vgl. oben S. 910 Z. 24) 1. ^vilj^lf oder
^.p^'i (228, 21 I 20 LpLS 1. V»? | ebd. 3^-h 1. iWj oder
^i- I 232, 3 ö\SJ\^ j\J^\ 1. ^o\oJ\^ H^LfüJ I 232, 1 4 f. kann so
nicht richtig sein, Wenn nicht etwas ausgefallen ist, ge-
nügt es vielleicht, Z. 16 ^ vor dem ersten ü»;»5l zu strei-
chen, oder (besser?) 15 statt o^t vielmehr o® zu vocalisieren.
Die Uebersetzung (Log. und Ps. 93, 19 — 22) ist paraphra-
sierend und ungenau, so daß sich über den handschriftli-
chen Befund auch aus ihr nichts weiter ersehen läßt | 283,
18 vor LjaJJ einzusetzen iCAft{<AJt | 19 desgl. ^ vor \^^i | 20
ääLuoJI : wegen des folgenden ^^^^üanJl vermute ich X&LoJt
(vgl. cÄrct^J 234, 4) I 234, 7 1. eÄs^U:^», und ebenso 10
^^U^t I 12 J* fy^i sehr, fyf J* (vgl. 233, 17 und Log. u.
Ps. 95, 1 6) 1 1 6 er 1. i^»- er (283, 1 7 ; 234, 7 ; 236, 9 u. ö.) \
Die Abhandlungen der Ichwän es-saßt in Auswahl. Herauig. Ton Dieterici. 919
285, 16 k«A* UüJ^ vXi vor ^ zu stellen | 19 g^J 1. "Jt | 237,
2 j.L>c>iU_j d^j^l^ : Log. u. Ps. 99, 7 das sich im Körper be-
wegende — also V^« i %? oder »iU uS^Js^t^? | 239, 5 Wt, 1.
31a I 240, 8 LjJU . . . L<iJU»- 1. U4" I 16 streich das y vor jy^Xx* |
242, 1 er 1- «5 I 11 r'^t 1. fM\ | 244, 10 l«-«^ : LfUj | 245,
12 iUj,y« l.iS!;y« nachCaspari* § 252; Spitta § 57» | 20 Jl^J :
am einfachsten wäre Jj^II (seil jU©); doch macht mich be-
denklich, daß auch 236, 7 (wo die Vocalisation gewis falsch
ist) d]y*^^^ steht, wo man JJLJtj erwartet (denn das voran-
gehende l5;I^' ist Singular). Man könnte an J|^! = JClIJt
denken, doch ist mir das aus verschiedenen Gründen zwei-
felhaft I 246, 17 streich uJLb^ | 247, 18 ^O^J : ob Jo^» ?
Das Wort fehlt in der Uebersetzung L. u. Ps. 11, 11 ; 6j^\
ist der gewöhnliche Terminus (Steinschneider, Alfarabi
S. 53) I 252, 13 l^^jfi^ 1. l^^^3 I 21 L^")« j\^\ : es ist viel-
mehr eine Bezeichnung für die Chalifen erforderlich, da
die ^Lmj^ bereits Z. 17 abgefunden sind, und es hier auf
die /Sfoatoleitung ankommt. Was aber gestanden hat, kann
ich nicht sagen || — 346, 1 8 jl;^ 1. y^ | 347, 6 ist ^ vor ^5^»
als vX^/ti zu vV^' wenig am Platz ; ob ^ i^O^S ? Jedenfalls
ist das alles Vordersatz (die Uebersetzung L. u. Ps. 21, 6 —
12 ist unklar); der Nachsatz beginnt Z. 7 mit ^^^-fwj | 348,
7 f^^ 1. ^^Ic^ I 12 (ijAo^l gUÄ>t^ hinter iy^\ zu stellen |
1 5 ob vor oiUi>i einzusetzen qI^ U wie 13? auch dann wäre
der Stil nicht eben schön; durch 16 könnte man sich ver-
sucht fühlen in 1 3 LiUx^-t ^ ^tf Ui'^ und in 1 5 unter Strei-
chung des ^ zu schreiben vj «^^, was durch die Ueber-
setzung (L. u. Ps. 22, 8 V. u.) wahrscheinlicher wird; nach
derselben ist auch Z. 8 statt U^ das passendere U^^ herzu-
stellen I 349, 9 o^L (jfiÄiU t^jv. xJLfi J^. J^ : die Vocalisa-
tion vJvAj. ist mir nur als Ausdruck einer gelinden Verzweif-
lung verständlich. Was die Unterscheidung zwischen vi^*j^
und iJ^ überhaupt besagen soll, ist zunächst unklar. In
der Grammatik werden beide Worte vielfach ohne Unter-
schied gebraucht; Ibn Ja'^isch sagt I, 366 1. Z. geradezu
O^^ c>oiüJ<3 Kft^t und bemerkt nur so nebenbei, daß Einige
y^yjfi in Bezug auf äußere Eigenschaften , wie kurz oder
920 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 24.
lang u. dergl. gebrauchen, 5^«^, wo eine Thätigkeit in Frage
komme, wie bei schlagend usw. ; Zamachschari selbst braucht
in der Regel nur ääaö, und y^i^ ist bei ihm 47, 9 f. nichts
als etwa »Beschreibung durch eine Käa©.« Beim Mohit wol-
len wir uns nicht aufhalten ; Ihn 'Aqil unterscheidet zwi-
schen beiden so, daß 'üja das einfache Adjectiv für sich ist
(wie VjL^? j^' usw.), «;^»Jo dasselbe in der Function des At-
tributes (i^^ i>^jj usw. ; s. die Stellen im Index von Die-
terici's Ausgabe): dies scheint er von Sibawaih zu haben
(vgl. Derenbourg's Text I, 168 f. 178 f. zu Anfang der Ab-
sätze). Ich kann der Sache jetzt nicht weiter nachgehen,
vermute aber, daß auch hier die Grammatik an die Liogik
angeknüpft hat. Diese zeigt in der Kategorienübersetzung
(Zenker 32, 19 u. ö.) v^-ä) als Aequivalent von X€ntiYOQ(a;
es liegt also nahe, an unserer Stelle es als xcmjyoQkt zu
fassen, und tJ^ von ihm als das einfache, auf kein xaS^
ov xatriyogaitai bezogene Adjectivum , also nQoaijyoQkt^) , zu
unterscheiden. Dann tritt der in der Uebersetzung (vgl.
oben) völlig verborgene Sinn des Gedankenganges an's
Licht : man begreift leicht, daß zu vä;*«j kein weiteres Wort
gebildet ist, das zu ihm in demselben Verhältnis stände,
wie äa^ zu v-aäöj; denn das, was den Begriff ausdrückt,
der von einem Subject prädiciert wird, ist eben dasselbe,
was als Attribut (ohne Ürteilsföllung) einfach für sich in's
Auge gefasst wird. In jedem Falle ist entweder (und das
drückt sich auch in D.'s Uebersetzung von 349, 9 f. aus)
der Satz von u^^ 349, 9 bis vJ^^b zu JjLaH Z. 8 herauf-
zunehmen, oder die Brüder haben sich hier noch bei Wei-
tem verkehrter ausgedrückt, als ohnehin oft genug in die-
sem Abschnitte, oder — das Heilmittel ist in einer unbe-
kannten handschriftlichen Lesart verborgen | 349, 2 t fehlt
hinter ^yoJt nach dem Zusammenhang wie nach der Ueber-
setzung (L. u. Ps. 24, 12 f.) etwa XfiU> ^\ L^^Lä,» *^ J^ y-J^?^
j^*ai\ xÄlÄi!?, und 350, 1 wird hinter ÄkaJ ein I^aa einzuschie-
ben sein I 350, 5 («ä^j^: das ^ (das ein griechisches xal auch
1) Vgl. dies Wort im Index zum Berliner Aristoteles; SteinUuJ,
Geschichte S. 202; Prantl, Geschichte (1. Aufl.) S. 439; vgl. 668, Anm.
34 und dazu Steinthal S. 287: Nachweisungen , welche ich, da mir ge-
genwärtig weder Steinthal noch Prantl zugänglich war, von Siebeck's
Freundlichkeit habe erbitten dürfen.
Die Abbandlungen der Icbwän es-safä in Aaswabl. Herausg. von Dleterici. 921
wiedergibt) gehört eigentlich vor \Jiyojl\ ; doch ist vielleicht
eben der Stil wieder einmal salopp | 350, 8 desgleichen
bei *^ '«A^, denn logisch wäre nur L^^ t«>^, und die Be-
ziehung auf den Jiifti von S^ geht doch kaum an | 860, 1 8
^jL:^ 1. fcr*> |352, 8; 366, 9 8^yö l.^yo (362, 9) | 363, 1 streich
v^-»<»*^*9 welches den Parallelismus beider Sätze zerstört
(die Worte Man ermrht Geistiges L. u. Ps. 28, 1 4 sind doch
wahrlich keine Uebersetzung von iuJl^^^! v«^-**jc<j Lf'^j^ LfilS !) |
363, 9 cj^>ÄJÜt 1. \j*Äii\ (so die Uebersetzung L. u. Ps. 29, 10,
die im Uebrigen allerdings kaum als richtig bezeichnet
werden kann) | 867, 5 ^y^JI 1. ö»*^' | 6 j^^ so mit einem
Sukün, das ich mir nicht erklären kann, da ich zwar weiß,
daß j^ Steine sind , die (vermuthlich damit irgendwie zu-
sammenhängende) Bedeutung Steine sei (Log. u. Ps. 34, 6
o
V. u.) für ein j^* aber mir nicht vorgekommen ist. Bis sie
nachgewiesen wird, ziehe ich es vor, statt *2^ zu lesen lA^ 1
867, 13 j^^ : dahinter hat die Uebersetzung (Log. u. Ps.
36, 15) noch und andere feste ^ wie denn 367, 19 ^\^\ in
der That erscheint; also ist Z. 13 wohl etwas ausgefal-
len 1 869. 18 >ä3 1. J^3 I 361, 18 f. OOUI und JO^t: 1.
nach J^\ vorher und 369, 2 LVJüuaj und Ou® 1 362, 1 JIäj
füge hinzu »I | 7 kJ,^\ 1. »i | ib y>\ 1. j>"3« , wenn nicht
der Artikel in Folge der oben S. 905 angedeuteten Nach-
lässigkeit fehlt.
Druckfehler in diesen Partien : 179, 4 1. v'-«*«'^!? | 193,
19 luu&j I 198, 4 UU>> I 205, 6 luJil | 212, 7 iuu.^t | 226,
20 Icyto^ I 229, 8 crU'i+^'i 1 280, 6 ^^ \ 16 vJÜJ^ | 233, 15
i^M*i I 19 >SIj2\ (statt i^U^I) I 234, 20 ole^JUait | 242, 6 \jiJ:^\
244, 4 oVi' I 260, 21 ^yü^^ | 252, 8 iüui=uJt || — 347, 4
kLl/ I 8 Ql». I 357, 1 6 £L*ö"!»5 | 358, 20 Xilil, | 360, 1 1 ^\^'i\i
361, 4 oLaXt.
Falsche Vocale (statt deren lieber gar keine ständen):
176, 11 U'' 1. ij> I 177, 5 )*i 1. > (der Sinn ist: »so fin-
det sein Austritt wider die naturgemässe Art statt«; die
Uebersetzung Anthr. 72, 10 läßt den Satz fort und bringt
dadurch einen schiefen Sinn heraus) | 178, 18 «j>**»Jj 1. %;
923 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 24.
Subject ist o-^M-ÄJt wie 175,18; 177,13; 178.16; vgl. oben S.
907, 5 V. u. Allerdings heißt vJb^^' nicht spenden oder derglei-
chen, sondern »in Empfang nehmen« | 193, 11 j^ 1. ^^ ;
199, 15 y^ hj^ I 201, 1 wL^l 1. ^2\ I 202, 14 jii> 1. JJL3-
(dessen Plural Ji> ist !) j 20 uiji- 1. Uä». | 210, 2 L^^Uy-j?
1. "3" I 8 8>i5 1. 8" I 221, 2 cfc«*^! 1. t&«i' I 224, 1 2 l».ji 1. U?-^ |
227, 15 sytA 1. Sjla I 229, 16 iü;üaJt sollte kein Tesdid ha-
ben I 231, 6 «Ulj'i 1. V I 231, 9 S. wozu '(^ usw.? Die
erste Form ^' thut s auch ; sollte aber D. das Passivum IV
meinen, so würde II erforderlich sein (vgl. z. B. Z. 5. 7,
232, 4 u. ö.) I 231, 16 Hi\Ö^\ 1. s^to^l | 234, 5 jl« 1. ^ ,
20 (>^^l^ 1. "i"" I 235, 3 yyaj> : die Finesse dieses Acc. traue
ich den 1j. Br. nicht zu | 238, 18 «>>^ 1. 8>>^. (schmerzlich;
s. Sure 2, 256!) | 241, 10 ^j^i 1. ^^^i oder ^viij | 14 wJ
1. 5" I 252, 2 L^yf 1. "*" | 252, 10 weshalb das vereinzelte
xlr statt des gewöhnlichen äi^? |1 347, 5 x«%/5 1. x» | 6
lJ,L*5 1. V ! 353, 20 l4iübL&, 1. V | 356, 17 L^l^ 1. L«]^ '| 362,
9 weshalb (»Ouüt statt des landläufigen ^kXaJ!?').
Zum Scblasse dieser Anzeige kaoD ich nur die Versicherang
wiederholen, daß meine Ausstellungen, habe ich sie heute auch etwas
deutlicher und nachdrücklicher formulieren müssen, als ich das vorige
Mal für zulässig hielt, keineswegs den Schluß nahelegen sollen, als
hielte ich Dietericis Arbeiten, Uebersetzungen wie Text, [für wertlos,
oder gar für gänzlich unbrauchbar. Brauchbar erscheint mir aller-
dings aus den angegebenen Gründen dieser in höherem Grade als
jene; da es sich bei den L. Br. nicht um epochemachende Philoso-
phen, sondern lediglich um die Vertreter einer immerhin interessan-
ten und wichtigen populär sein sollenden Aufklärung handelt, so
wird der des Arabischen Unkundige auch die Uebersetzungen mit
leidlichem Erfolge benutzen dürfen. Ich bin der Letzte, der an d^r
1) Hier muß ich einen lapsus j quem stupide feci^ gut machen : in mei-
ner vorigen Recension habe ich S. 963 (zu 2, 7) Dieterici belehrt, daß er
^\ hätte vokalisieren müssen : Praetorius hat mich daran erinnert , daß
nach meinem eignen üaspari (§ 536) ^t ganz richtig ist
Quellen zur Geschichte der Stadt Worms. I. Teil. Band I. 923
bedaaerlichen Verstimmang eines in mannigfacher Weise verdienten
älteren Faebgenossen teilnahmslos vorttbergienge, oder es — ganz
abgesehen von dem notwendigen Respekte vor jeder ehrlichen Ar-
beit — vergäße, daß ich selber, wie die allermeisten von ans, mit
Wasser koche nnd daß es bei weitem ehrenvoller ist, mit VeröfFent-
lichang von übersetzten Texten, die jedermann eine scharfe Kon-
trole ermöglichen, seine Haat zu Markte zu tragen, als tiefsinnige
Schätze unvokalisierten Nes^i's über die Menschheit auszuschütten —
aber, ganz abgesehen von den bereits angeführten Beweggründen,
habe ich noch einen Oesichtspunkt, der mir den Wunsch nahe legte,
es möchte Dieterici sich überzeugen lassen, daß sein Verfahren doch
schwere Nachteile mit sich bringt. Er verheißt uns S. XVIII seiner
Vorrede eine lexikalische Bestimmung der in seinen »und anderen
philosophischen arabischen Texten enthaltenen Sinne der Worte« und
eine Fixierung der »arabischen Termini mit den entsprechenden
griechischen, lateinischen und deutschen c — wird er mir wider-
sprechen, wenn ich mich dahin äußere, daß in einem solchen Werke
Dinge, wie seine Identifikation von ^UU und Bessidiung nicht vor-
kommen dürfen? Eine derartige Arbeit würde eins der dringend-
sten Bedürfnisse unserer Wissenschaft befriedigen; aber weit mehr
Unheil als Nutzen würde sie stiften, sähe sie von der gewissenhaf-
testen, ja pedantischsten Treue im Kleinen ab. Ich glaube aller-
dings, daß die unerläßliche Grundlage für ein Glossar der philoso-
phischen Termini des Arabischen eine erschöpfende Ausnutzung der
noch im Vatikan schlummernden Uebersetzungen der aristotelischen
Hauptwerke ist: indes kann schließlich ein nützlicher Anfang am
Ende auch ohne das gemacht werden. Aber wenn der Buchstabe
tödtet, der Geist lebendig macht, so heißt es doch auch Im Anfang
war das Wort^ und das Wort besteht aus Buchstaben, und der korog
steckt in dem Worte, das aus Buchstaben besteht.
Königsberg, 27. Mai 1887. A. Müller.
Quellen zur Geschichte der Stadt Worms auf Veranlassung und mit
Unterstützang des Herrn G. W. Hey], vormals Mitglied des deutschen Reichs-
tages herausgegeben durch H. Boos. I. Teil. Urkundenbuch. Band I.
627--1300. Berlin, Weidmann 1886. 695 SS. gr. S\
Urkunden zur Geschichte der Stadt Speyer dem historischen Verein
der Pfalz zu Speyer gewidmet von Heinrich Hilgard- Villard, gesammelt
und herausgegeben von Alfred Hilgard. Straßburg, Trübner 1885.
565 SS. 4^
Die Yorliegendea Werke verdanken der hochherzigen Gesinnung
zweier Männer ihre Entstehung, welche, geführt durch die Liebe zur
924 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 24.
Heimat, der stolzen Vergangenheit derselben ein Denkmal setzen
wollten. Diese bei uns in Dentscbland so selten opferwillige Ge-
sinnung muß vorab rühmend hervorgehoben werden, ehe wir zur
Prüfung der Werke selbst übergehn, welche uns lehren wird, daft
die gestellte Aufgabe eine würdige, die Lösung derselben eine
gute ist.
Die beiden bischöflichen Schwesterstädte Speyer und Worms
haben gute und böse Tage über sich gemeinsam hereinbrechen sehen.
So viel verwandte Züge dürften kaum in der Entwicklung zweier
anderen deutschen Städte sich wieder finden als hier. Wie sie einst
beide in der Entwicklung des deutschen Städtewesens voran schrit-
ten, hatten beide ihre Blüte schon beschlossen, als die Neuzeit an-
brach, beide vernichtete die Verwüstungslust der Franzosen im Jahre
1689. Aber trotz des Stadtbrandes ist es den Archiven der beiden
Städte besser ergangen als man befUrchtet hat. Die Speyerschen
Stadtarchivalien sind fast intakt uns überkommen, von den Worm-
sern hat sich auch das Meiste erhalten, nur die Archive der Klöster
sind hier viel lückenhafter als dort. Die Neuordnung des Stadt-
archivs zu Worms führte hier wichtiges Material noch zu Tage, was
s. Z. Arnold entgangen war.
Die Anlage eines städtischen Urkundenbuches ist hier wie
in Straßburg, dessen Urkundenbuch vielfach von beiden Werken zum
Vorbild genommen ist, durch die Bücksicht auf die Geschichte der
Bischöfe bedingt. Für die ältere Zeit, so lange die Stadt unter der
Herrschaft des Bischofs stand, ist eine absolut sichere Grenze nicht
zu ziehen. Das Speyerer Urkundenwerk hat seinen Rahmen mög-
lichst eng gespannt. Hier war ja durch das Urkundenbuch der Bi-
schöfe von Speier von Remling trotz dessen vielfacher Mängel ein
Teil der Aufgabe vorweg genommen, Boos hat viel weiter den Gre-
schicken der Bischöfe Rücksicht getragen, so daß selbst Regesten, in
denen nur der Name eines Wormser Bischofs vorkommt, Aufnahme
gefunden haben (z. B. Nr. 13—15).
Das Wormser Quellenwerk, mit dem wir uns zunächst be-
fassen wollen, ist nach einem großen Plan angelegt, außer dem Ur-
kundenbuch soll eine zweite Abteilung eine Auswahl von Akten des
15. und 16. Jahrhunderts bringen, eine dritte eine Sammlung des
wichtigsten chronikalischen Materiales. Beim Urkundenbuch sind
auch die sogenannten Privatnrkunden', besser »privatrechtlichen Ur-
kunden« in vollem Umfange, wie beim Straßburger Urkundenbuch
bis 1332, herangezogen, eine Quelle, die für unsere Kulturgeschichte
ja noch immer viel zu wenig benützt wird. Was in der reichen
Serie von Testamenten, Pfründen-, Begincnhaus^stiftungeu für die
Quellen xur Qeschicbte der Stadt Worms. T. Teil. Band I. 925
Entwicklong des religiösen Lebens gewonnen werden kann, ist hier
nicht der Platz auseinanderzasetzen. Der ungeheure Einfluß der
Bettelorden, das Widerstreben des Weltklerus gegen ihre Aufnahme,
ihre Konflikte mit den Stadtbehörden spiegeln sich klar in den ab-
gedruckten Urkunden, obschon die Archive der Dominikaner wie
Minoriten nur in geringen Bruchstücken auf uns gekommen sind.
Eine in dieser Beziehung für Speyer wichtige Urkunde ist — neben-
bei bemerkt — Hilgard entgangen-, es ist ein interessanter Vortrag
über die Ansiedlung der Miooriten in der Stadt selbst von Mai 1228,
aus dem hervorgeht, daß der Rat selbst sich sehr für die neuen
Mönche erwärmte. (Aus Staatsarchiv Luzern jetzt abgedruckt Eu-
bel, Gesch. der oberdeutschen Min. Provinz S. 200 Anm. 41}.
In der Nibelungenstadt wird jeder nach den Namen der Nibe-
lungenhelden suchen, der Name Oernot begegnet uns seit 1106 sehr
häufig, Giselher zuerst 1160, Nibelung schon 1106 und seitdem sehr
häufig, dahingegen sind mir Namen aus der höfischen Dichtung, wie
sie sich zahlreich in Straßburg finden, nicht aufgefallen. Mehr ent-
täuscht wird der Germanist sein, wenn er nach deutschen Urkunden
sucht, denn selbst der Bat hat noch nach 1283, wo uns die erste
deutsche Urkunde des Bischofs begegnet, alle seine Urkunden in
lateinischer Sprache ausgestellt. Auch in Speyer ist die lateinische
Sprache viel länger ausschließlich in den Urkunden angewendet
worden, als in Straßburg. Zuerst die Kanzlei des Königs hat hier
die deutsche Sprache eingebürgert. Die erste vom Rat allein aus-
gestellte deutsche Urkunde stammt hier gar erst von 1303 (Nr. 220).
Wenn hingegen seit 1262 der Straßburger Bat sich fast ausschließ-
lich der deutschen Sprache bedient, so kann man es also für Speyer
und Worms nicht einmal für die Zeit gleich nach 1300 behaupten.
An der Grenze, wo französische und deutsche Sprache aneinander
stießen, ist merkwürdiger Weise auch zuerst die betr. Sprache Ur-
knndensprache geworden, das gilt für das deutsche wie das fran-
zösische Sprachgebiet.
Für die Geschichte sind aber weit wichtiger, als die privat-
rechtlichen Urkunden, die öfl^entlich rechtlichen Urkunden, welche
das Verhältnis der Stadt Worms zu Beich und Bischof, Bündnisse
mit benachbarten Orten u. s. w. betrefi^en. Freilich war das Meiste
von diesen Urkunden schon veröffentlicht, aber hier erscheinen sie
alle durchweg in verbessertem Abdruck, und man mußte bisher das
Material aus einer großen Zahl von Schriften sich zusammensuchen,
was jetzt in sauberem Druck vereint vorliegt. Das Privileg Kaiser
Friedrichs I. von 1156 Oktober 20 erkläii; der Herausgeber nach
dem Vorgang von Stumpf für eine Fälschung aus dem Anfang des
926 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 24.
13. Jahrhunderts, dagegen wird E. Schanbe demnächst in der Zeit-
schrift für d. Geschichte des Oberrheins, N. Folge, wie mir scheint
schwerwiegende Gründe vorbringen. Sonst ist die angewandte Kri-
tik besonnen.
In den Editionsgrandsätzen folgt Boos den Sickelschen Normen,
jedoch — und das ist bei uns Deutschen ja selbstredend — mit
kleinen Abweichungen. Was die Zuverlässigkeit des Abdrucks an-
belangt, so war mir wenigstens eine Kollation der im Kopialbncb
des Klosters Schönau bei Heidelberg überlieferten Urkunden mög-
lich. Hie und da ist doch eine Flüchtigkeit unterlaufen, die sieh
auch bei Schreibung moderner Eigennamen (Hiltfgard, Wetgand) be-
merkbar macht. In Nr. 98 Z. 29 fehlt vor: Sporo: C{(mradus).
Z. 33 lies Ruder erus (!) statt JRudegerus, In Nr. 102 ist vom Heraus-
geber die Zeugenreihe aus dem Ablativ in den Nominativ überge-
führt. In Nr. 103 Z. 17 ist Ex statt Be eleriäs zu lesen, Z. 33
steht aber wirklich *Inibernusi^, woran ein scharfer Recensent An-
stoß nahm. In Nr. 120 Z. 15 lies consilii statt concilii, Z. 35 fehlt
hinter Bertolftis: de Hir/sberg, Heinricus. S. 93 Z. 2 ist zu lesen:
de Dirmenstein sacerdotes. In Nr. 92, das ich nach dem Original
verglich, ist Z. 6' sancti in Rudclfus decantis Ändree eingesetzt, das
im Or. fehlt, Z. 17 ist statt Duimkhart zu lesen Durinkkart. Die
Ergänzung in Z. 15 Johannes de ^^[inswlilre ist irrig, es ist erhalten
TT ... . swilre, die zwischenliegende Lücke mit in aber nicht aos-
gefüllt. Andere kleinere Lesefehler in anderen Urkunden über-
gehe ich.
Bedenken erregte mir auch die Fassung einiger Regesten, so
soll nach dem Kopfreg^st zu Nr. 62 es sich in der Urkunde um die
Veränderung des Schiffszolls in eine Abgabe in Tuch handeln, wäh-
rend von der Zusammenlegung der beiden Zölle in ein Amt gehan-
delt wird. In Nr. 107 Regest sind die gewöhnlichen »judices dele-
gati« des Papstes als Legaten bezeichnet. In Regest zu Nr. 115
steht »Kaiser« statt »König« Friedrich IL, in Nr. 134 mtlftte es
statt »an die römischen Bürger« heißen : »an Mathäus Widonis Mar-
roni und Genossen, römische Bürger«, die offenbar eine Wechsler-
gesellschaft bilden, welchen die päpstlichen Einkünfte aus Worms
verpfändet waren. Die Zeitbestimmung von Nr. 91 ist irrig, die
Urkunde liegt nicht um 1190, sondern nach 1191 Juni 17, da der
zu diesem Termin zuletzt vorkommende Ditherus als digne memorie
imperiälis aule cancellarius bezeichnet wird, also schon tot war.
Der Anhang bringt den Abdruck zweier Briefsammlungen. Von
der älteren aus dem 11. Jahrhundert (Codex Vatic. Palatin. 930),
die zuletzt Ewald und v. Pflugk-Harttung behandelten, sind nach den
Urkunden zur Geschichte der Stadt Speyer. 927
Drucken die auf Worms und seinen Klerus bezüglichen Stücke
wiederholt.
Im Anhang II veröffentlicht dann Boos einen Briefsteller, der
in Worms kurz nach 1240 entstanden zu sein scheint und uns in
einer Trierer Handschrift erhalten ist. Mone und Winkelmann hat-
ten einen kleinen Teil der Briefe (26) schon früher veröffentlicht,
hier sind sämtliche 66, wenn sie auch manchmal mit der Stadt
Worms nicht in direktem Bezug stehn, abgedruckt. Für die kultur-
historische Forschung sind die Briefe von hohem Interesse; über
die Wertschätzung als historische* Quellen ist aber meines Erachtens
der Heransgeber zu schnell hinweggegangen. Er meint, sie seien
unstreitig ächten Briefen entnommen. Für eine größere Anzahl
glaube ich es nachweisen zu können, daß sie nur Stilübungen sein
können. Selbstredend sind Nr. 1 und 2, eine Korrespondenz zwi-
schen der Fastnacht und der Fastenzeit, hierherzurechnen. Die-
ses alte Zeugnis für die ausgedehnte Feier der Fastnacht am Rhein
ist mehrfach — wie das auch im Text der Urkunden wohl vor-
kommt — durch Fragezeigen als undeutlich hingestellt, wo der
Text doch klar ist. Die witzige Einladung des Fastnachtfestes zu
der Hochzeit mit der domina gula, der Königin dieser Welt, »cum
qua sollempnes nuptias in commessationibus et ebrietatibus, in tin-
pano et choro, in cordis et organo ac universis ludorum seu dilecta-
tionum, quibus gaudet pruritus sensuum humanorum , generibus ex-
plicandas proponimus in proximo per tres dies continuos celebrarec
enthält bei unserer Zeichensetzung doch keine Schwierigkeit. Aber
auch die meisten andern Briefe sind Stilübungen, denn fast regel-
mäßig steht Brief und Antwort oder gar eine Gruppe zusammen^
BO 8 u. 9, 12 u. 13, 17 u. 18, 19—21, 22 u. 23, 27—30 u. s. w.
Wie sollten diese Briefgruppen (von allen möglichen Adressaten und
Absendern) zufällig in eine Hand kommen? Wie sollen unbedeu-
tende Schreiben von einem Wormser Bürger und einem benachbar-
ten Ritter, von denen doch gewiß keiner ein Koncept behielt, zu-
sammengekommen sein? Aber noch mehr, beide Korrespondenten
sind immer ausgezeichnete Lateiner : wie in den Humanisten-Zeiten
die Korrespondenten schlagfertig auf ein Citat ein anderes erwidern,
so auch hier. Sollte jemals ein Ritter auf die Idee gekommen sein,
in einem Briefe, mit dem er den Arzt zu seiner Oattin bittet, diesen
Entschluß damit zu motivieren, daß es nach Cato notwendig sei, die
dem Körper nötige Hülfe einem getreuen Arzte anzuvertrauen (Nr. 22) ?
Oder sollte gar ein Raubritter von einem Freunde sich Schiffe zu einem
Raubzuge erbeten haben, den er in schönem Periodenban damit mo-
tiviert, daß wer bei Zeiten nicht das Beispiel der Ameise naebge-
928 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 24.
ahmt babe, mit der Cikade zar Winterezeit Mangel ond Not teilen
müsse (Nr. 10)? Wie würden die westfäliseben Ministerialen des
Erzbiscbofs von Köln wobl ein Rondsebreiben dieses aofgenommen
baben, worin es von einem beabsicbtigten Znge des Herzogs von
Brabant gegen Küln beißt: »et sie tanta videtar velle Neoptolemas,
que vix expleret Acbilles« (Nr. 43)? Aus all' den Briefen spricht
nicht der Geist der Absender, nicht einmal der Geist der etwa als
Schreiber zu denkenden Weltgeistlichen, sondern der Geist der
Wormser Domschule, welche dnrcb die Briefe einen ziemlich hohen
Stand des lateinischen Unterrichts beweist Ich gebe zu, daft ein-
zelne Briefe wirklich so geschrieben sein könnten, die grofte Mehr-
zahl gibt aber falsche Voretellnngen von der Eigenart der Korre-
spondenz jener Tage. Aber auch als Produkte der Wormser Dom-
schule verlieren sie wenig an kulturhistorischem Interesse.
Das umfangreiche Register ist im Wesentlichen nach dem Muster
des von M. Baltzer zum Straßburger Urknndenbnch Band I gefer-
tigten gearbeitet. Auch das Register des Speyerer Urkundenbocbes
folgt diesem Beispiele.
In der äußeren Ausstattung und Form schließt sich ttberhaopl
die Urkunden zur Geschichte der Stadt Speyer eng an
das Straßburger an. Dem gewordenen Auftrage gemäß sind hier
von Hilgard die privatrechtlichen Urkunden nur in so weit heran-
gezogen, als sie eine Vervollständigung der Ratslisten bieteoi und
insofern auch öffentlich-rechtliche Momente der Forechung darbieten.
Eine andere Beschränkung gegenüber den Urkunden der Bisehöfe
besprachen wir schon oben.
Um so kräftiger treten in Folge dieser Einschränkung die po-
litischen Veränderungen in der Stadtverwaltung zu Tage, für die
uns eine unerwartete Urkundenfülle geboten wird. Und welche
Machtverschiebung liegt nicht zwischen den Jahren Kaiser Hein-
richs VI., unter dem nach Schaubes Untersuchungen (Ztschr. f. Ctesch.
d. Oberrbeins N. F. I) die Errichtung des Rates erfolgte, und dem
Revolntionsjabre 1349, das auch in Speyer die Rechte der (Geschlechter
schwächte und in welchem die Hausgenossen in die 14 Ztlnfte über-
geführt wurden! Mit dem Verzichtbrief der Hausgenossen schließt
das Werk.
Daß auch die Immunitätsprivilegien aufgenommen sind, ist
selbstverständlich — ihren Abdruck fand ich bei einer Probe kor-
rekt, von unbedeutenden Irrtümern abgesehen. Zu dem Privileg
Ottos I. von 969 Oktober 4 (Nr. 5. Stumpf Nr. 473) heißt es »Das
im General-Landes- Archiv zu Karlsruhe befindliche, von Dttnigi
1836 noch dort gesehene Original ist (wohl vor 1865) abhanden ge-
Urkunden zar Geschichte der Stadt Speyer. '929
kommen«. Diese ADgaben, welche auf die früheren Zustände unse-
res Archives ein schlechtes Licht werfen könnten, sind aber durch-
aus irrig; denn Dflmge Regesta S. 9 bez. 90 redet gar nicht von
einem Originale, erwähnt auch ganz gegen seine Gepflogenheit über-
haupt nichts von den Aeußerlichkeiten der Urkunde, so daß man
zu dem Schlüsse gezwungen ist, daß ein Original ihm nicht vor-
lag. Aber noch mehr: bei den andern noch heute vorhandenen Eö-
nigsurknuden ist in dem ältesten Speyerer Eopialbuch (dem liber
minor) von einer Hand um 1700 jeweils notiert: originale adest.
Bei dem Diplom von 969 findet sich dieses aber nicht, ein sprechen-
der Beweis dafür, daß es auch schon damals nicht mehr vorhan-
den war.
Schon für die zweite Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts be-
ginnt dann eine außerordentlich reiche Sammlung von Ratsverord-
nnngen. In Speyer ist ja nicht der Versuch einer generellen Kodi-
fikation des gültigen Rechtes gemacht worden, aber dafür sind uns
die einzelnen gesetzgebenden Akte in einer Vollständigkeit erhalten,
wie wohl in wenigen andern Städten, auch die Zunfturkunden sind
hier besser uns überliefert, wie sonst meist am Oberrhein. Ein An-
ting bringt die nicht chronologisch einreihbaren Stücke stadtrecht-
licher Aufzeichnung: Ratsantritt, Weistum über die bischöflichen
Aemter, Eide der Bürgerschaft u. s. w. , Polizei- Verordnungen, Zoll-
weistum, Auszüge aus dem Bürgerbuch und Achtbuch, dann schließ-
lich den historischen Bericht eines Hausgenossen über die Streitig-
keiten bei der Besetzung des Rates — man sieht also, daß auch
das Aktenmaterial bei Speier weit zurückgreift. Der rechtsgeschicht-
lichen Forschung ist hier ein ergibiges Feld geboten. Da ein Sach-
register nicht beigegeben ist, möchte ich gern auf den Einfluß, den
die geistlichen nach dem kanonischen Recht urteilenden Gerichte auf
die städtische Verwaltung ausübten, kurz hinweisen. Ist es schon
lehrreich den Protest der Stadt Speyer gegen das Vorgehn des Bi-
schofs Friedrich von 1294 (Nr. 183) ganz in den Geleisen der kirch-
lichen Gerichtsurkunden gehn zu sehen, so ist es wohl für diese
Zeit einzig in Deutschland, daß die Stadt Speyer 1321 für »omnes
causas ad ecciesiasticum forum spectantesc sich einen Syndikus auf
4 Jahre in der Person des magister Ulrich von Wegesode engagierte
(Nr. 339), an dessen Stelle aber schon im nächsten Jahre »magister
Heinricns de Fulda, utriusque juris professor« trat (Nr. 345), den
man sich auf 3 Jahre dingte.
Mit besonderem Interesse verfolgt man naturgemäß in den Ur-
kunden dieser beiden Bischofstädte die Geschichte ihrer Judenge-
meiuden, die ja an Alter und Bedeutung allen andern in Deutsch-
a«U. K«l. Am. 1887. Nr. 8i. 64
930 Gott. «[Ol. Anz. 1887. Nr. 24.
land aDsäßigen voraostehD. Bis vor Karzem hat das Speyeriache
Jadeoprivileg von 1090 als die wichtigste Qaelle der Geschichte der
Juden vor dem Beginne der Judenverfolgungen gegolten : durch einen
glücklichen Fund auf dem Kölner Stadtarchiv, der nebst andern
wichtigen Dokumenten zur Geschichte der Juden auch ein Privileg
Friedrichs I. fUr die Wormser Juden von 1157 April an den Tag
brachte, ist nun auf einmal durch die Untersuchungen von Höniger,
Breßlan und Stobbe (in Ztschr. f. Gesch. der Juden in Deutschland
Band I, 1887) das Vertrauen zu dem Speyrer Privileg Heinrichs IV.
erschüttert, so daß man es verzeihen möge, wenn hier einige für den
Wert unseres Speyerer Privilegs bisher unbeachtet gebliebene Momente
zur Sprache kommen. Die Differenzen zwischen dem neugefundenen
Privilege Friedrichs, das wiederum die Bestätigung eines älteren von
Kaiser Heinrich (IV. oder V.?) gegebenen ist, und dem Speyerer
von 1090 sind freilich von tiefgreifendster Art. Es ist ja ganz rich-
tig, daß, während das Wormser Privileg durchweg nur die eine Ge-
richtsbarkeit des Königs anerkennt, zu dessen Kammer sie gehören,
das Speyerer Privileg nichts von einem ausschließlichen Rechte der
königlichen Kammer an die Juden weiß, sondern es konkurriert
entweder die bischöfliche Gewalt oder sie ist ganz hier in die Stelle
des Königs eingerückt. Höniger geht nun von der Voraossetzung
aus, daß in beiden Städten Worms und Speyer die Entwicklung die
gleiche gewesen sei, und gelangt damit zu dem Schlüsse, daß das
Speyerer Privileg später im bischöflichen Interesse interpoliert ^;
nach Maßgabe der weiter entwickelten Zustände sei es etwa in der
zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts so interpoliert, daß es als
echte Urkunde nicht mehr angesprochen werden dürfe. Ist die
Voraussetzung Hönigers aber mit unseren sonstigen Quellenzeagnla-
sen zu vereinen? Keineswegs. Wir haben neben dem Privileg
Heinrichs IV. noch ein zweites Privileg für die Speyrer Juden and
zwar vom Bischof Rüdiger (gen. Huozmann) aus dem Jahre 1084,
also nur 6 Jahre älter. Wäre die Hönigersche Voraussetzung rich-
tig, daß die königlichen Rechte an die Juden erst im 13. Jahrhan-
derte an die Fürsten (und so auch an den Bischof von Speyer) ge-
kommen seien, so müßte die Existenz eines bischöflichen PrivilegB
an sich schon auffallen, die einzelnen Bestimmungen desselben wä-
ren aber vollends undenkbar. Der Bischof erzählt wie er bei dem
Ausbau des Dorfes Speyer zur Stadt zur Ehre der NengrOndong
auch die Juden gesammelt und ihnen von der übrigen Stadt ge-
trennte Wohnsitze angewiesen habe, et ne a pejoris (Hilgard ist d&
kuriose Lese- oder Druckfehler pecoris begegnet) turbe insoleneia
facile turharentur^ muro eos drcumdedi» Da wird ihnen vom Bi*
Urkunden der Geschichte der Stadt Speyer. 93!
schofe Kauf- und Wechselrecbt in Stadt und Hafen verliehen (Z. 37
iBt e regiane extra portmi an Stelle von portxm zu korrigieren).
Die Gerieb tsbarkeit in Streitigkeiten unter ibnen oder gegen sie
wird dem Arebisynagogns zugewiesen ; kann dieser sie niebt ent*
scbeiden, so gelangt die Saebe vor den Bisebof der Stadt oder sei-
nen Kämmerer. Zwar baben Höniger und Stobbe versuebt, bie und
da einen Gegensatz zwischen beiden Privilegien zu erweisen, allein
diese Widerspruche lassen sich wohl durch den dehnbaren Ausdruck
des kaiserlichen Privilegs beseitigen — und selbst wenn ein Gegen-
satz zwischen beiden Privilegien besteht, so bleibt doch auch in
dem RUdigerscben Privilege eine solche Summe von Rechten dem
Bischöfe vorbehalten, wie sie Höniger fUr das 11. Jahrhundert für
unmöglich erklärt. Ficht man (von kleineren Abänderungen des
Textes abgesehen) den Grundstock des kaiserlichen Privilegs an,
so muß man auch das bischöfliche flir eine Fälschung erklären, in
beiden ist der Bischof der allerdings sehr milde Beherrscher der
Juden. Wie hoch bedenklich es an sich schon ist, die Echtheit fast
der einzigen Quelle zur Geschichte der Juden zu bestreiten, weil
sie einer dritten zu widerstreiten scheint — hier haben wir aber
noch andere Beweise, daß die Hönigersche Voraussetzung falsch ist,
daß nicht auf die Macht des Königs die des Bischofs folgt, sondern
umgekehrt seit dem 13. Jahrhundert die Rechte des Bischofs ver-
schwinden, die des Königs wachsen. Eine direkte Bestätigung eines
Punktes des bischöflichen Privilegs liegt uns aus dem Jahre 1113
in einer leider von Hilgard nicht mit abgedruckten Urkunde Hein-
richs V. (Remling UBuch I, 89 Stumpf Nr. 3092) vor. Im bischöfli-
chen Judenrivilege beißt es, daß der von dem Judenviertel an das
Domkapitel zu zahlende Jahreszins sich auf 3Vs Pfd. Speyerer Mttnze
belaufe. In der Urkunde von 1113 wird nun aber ganz dieselbe
Summe angegeben. Und von ihr ist uns das Original noch erbal-
ten, sind wir nicht wie bei den beiden andern Urkunden auf ein
Kopialbucb von ca. 1282 angewiesen. 1265 redet dann noch der Bi-
schof von consueta nobis nomine imperii ac dictis Judeis sermda
(Hilgard nr. HO), dann verschwinden die bisehöflichen Rechte an
die Juden; die des Königs treten immer mehr hervor. In Worms
hingegen sind irgend welche bischöfliche Rechte an die Juden nie-
mals nachweisbar, weder früh noch spät; es ist das doch auch ein
Beweis, daß die Judengemeinden von Worms und Speyer ganz ver-
schiedenen Ursprung haben. Ich gebe gern zu, daß eine Reihe von
Verdachtsmomenten (auch gegen das bischöfliche Privileg) bestehn
bleiben, aber die bisherigen Forschungen kann ich als abschließend
nicht ansehen.
932 Gott. gel. Anx. 1887. Nr. 24.
Bei Vergleichnng des Druckes von Hilgard mit den Vorlagen
fand ich (von den oben angegebenen Fehlem) nur nnbedentende Irr-
tümer, auch das Register erwies sich als korrekt. Bei der Ortaer-
klärang ist mir nar Ein Versehen aufgefallen: Unter den SSStfidten,
mit deren Kontingenten Herzog Leopold 1320 vor Speyer lag (Nr.
328), wird auch aufgezählt: Menigen, das ist nicht das badisehe
Dorf Menningen, sondern die Stadt Mengen (wtirt O.A. Sanlgau).
Zuletzt möchte ich noch eine Frage der Technik der Urkunden-
editionen hervorheben, in welcher unsere besten Urkundenbücber
verschiedene Wege gehn, es ist die der Siegelbeschreibnngen. Wie
einzelne unserer besten Urkundenbücber noch heute nur die Zahl der
ursprünglichen und jetzt vorhandenen Siegel angeben, sind in an-
dern jetzt die sorgfältigsten Beschreibungen geboten. Boos wie Hil«
gard haben auf eine eingehende Beschreibung verzichtet, Hilgard
führt als Grund an, daß neben den allerbekanntesten Siege! der
Städte und deutschen Kaiser von fast allen andern nur unbedeutende
Fragmente vorliegen, — Boos hat die Bemerkungen knapp gehalten,
weil die meisten Wormser Urkunden teils früh ihre Siegel ganz ver-
loren haben, teils weil die Siegel nur noch fragmentarisch erhalten
sind. Von den wichtigsten Siegeln hofft er später eine Anzahl in
guten Abbildungen zu geben. Hilgard hat ganz auf die Besehrei-
bung verzichtet, Boos zum Teil, er gibt aber leider meist das Un-
wesentlichste an. Was für einen Wert hat es, wenn es heiftt, »die
6 an grünseidenen Bändern hängenden roten Wachssiegel« (Nr. S03)?
Die Farbe der Bänder ist ganz gleichgültig, aber wichtiger wären
die Umschriften und die Siegelbilder. Mehrfach ist freilich anch die
Legende gegeben, aber nicht immer richtig: an Nr. 245 Siegel des
Sanct Andreasstiftes zu Speyer liest Boos + T£ . SACEPANDOEA .
BVLIATA . FI6URAT . YDEA., das bleibt auch bei richtiger Le-
sung: 4' ^^ sacer Andrea hullata figurat ydea noch ziemlich anver-
ständlich, wenn nicht dabei gesagt ist, das im Siegel das Bild des
h. Andreas sich befindet. Aber nicht an den beiden vorliegenden
Urkundenwerken, deren Herausgeber für ihre Handlungsweise ja
nicht unwichtige Gründe vorgebracht haben, möchte ich die Behand-
lung der Frage kleben lassen, sondern ganz allgemein sie fllr alle
Urkundenbücber stellen. Bei Speyer, Worms und auch Straiburg
ist, weil hier sogleich bei dem Aufkommen der Benrkundungspraxis
sich einzelne Gewalten derselben bemächtigten (Stadt, geistliche Cte-
richte), die Zahl der siegelführenden Personen weit geringer, als im
rechtsrheinischen Gebiete, der Verlust, den wir haben, ist also nicht
so groß, wie er etwa bei einem Würzbürger Urkundenbuch wäre.
Das ganze Mittelalter hatte für die Urkundenprttfhng fiust nur
ürknnden znr Geschichte der Stadt Speyer. 93S
eiD Eriteriam: das Siegel. Wie einen Augapfel behütete man es
deshalb. Für viele unserer Forscher ist dieses Kriterium aber gar nicht
vorhanden. Aber ist denn nichts ftlr die Urkundenkritik ans den
Siegeln zu gewinnen? Bleiben wir bei einem Wormser Beispieie.
Nr. 88 enthält eine Verftlgung des Bischofs Konrad von Worms, von
1180, deren Schrift aber auf das 13. Jahrhundert hinweist. Die
Stylisierung ist nicht minder bedenklich. Wäre es da nicht an-
gezeigt gewesen, das erhaltene Siegel mit andern des Bischofs zu
vergleichen, anstatt nur die Legende mitzuteilen? Bei einer von
mir jttngst geführten Untersuchung über die großartige Urkunden-
fälschung von St Trudpert konnte die Untersuchung nur bis zu
einem Punkte geführt werden, über den wohl nur eine ordentliche
Beschreibung eines scheinbar ganz gleichgültigen Siegels hinweg-
helfen wird. Es stellte sich heraus, daß an Fälschungen angeblich
von allerhand Ausstellern nur Siegel von 3 Stempeln hiengen. Es
wäre nun wohl schon interessant zu wissen, ob die Stempel eigens
hiezu geschnitten wurden, oder wie die Siegel in unverdächtiger
Weise befestigt werden konnten, aber viel wichtiger wäre es zu
wissen, ob eine weitere Zahl von verdächtigen Urkunden, an denen
nur eins von diesen Stempeln sich findet, auch gefälscht ist. Das
wäre der Fall, wenn nur eine kleine Differenz zwischen dem hier
verwandten Stempel des Straßburger Domkapitelsiegel und dem zu
gleicher Zeit sonst benutzten sich erweisen läßt. An diesem Punkte
hängt die ganze weitere Behandlung. In der ganzen Litteratur sucht
man aber vergebens nach einer zuverlässigen Beschreibung des Sie<
gels. Die Zahl der Beispiele, wo die Urkundenkritik ganz auf die
Siegel angewiesen ist, ließe sich leicht vermehren; aber ich glaube,
diese beiden Beispiele genügen.
Bei der Vernachlässigung der Siegelbeschreibung verlieren wir
aber auch direkt und (bei der mit zunehmender Benutzung rasch
fortschreitenden Zerstörung der Siegel) oft unwiederbringlich histori-
sche Angaben, die nur aus den Worten und der Zeichensprache der
Siegel zu ersehen sind. Für den genealogischen Zusammenhang un-
serer Geschlechter, für die Bestimmung der Familienzugehörigkeit geist-
licher Würdenträger, für die Gründer und Herren einer Stadt 'legen
oft ja nur die Siegel Zeugnis ab. Wer gibt ein Wappen der Herren
von Zentern, ob aus ihnen Reinmar von Zweter, dessen Wappen
uns überliefert ist, entstammt? wer das eines von Owe, das mit
Hartmanns stimmte? In welchem Maße ist unsere Denkmälerstati-
stik auf die Beschreibung der Wappen angewiesen, und für die Wap-
penkunde sind die älteste und reinste Quelle ja die Siegell Was
gewinnt nicht die Hagiographie aus der Kenntnis unserer Konvent-
9S4 Gdtt. gel. Adz. 1887. Nr. 24.
Siegel, was bat ansere Kanstgeschiehte für einen Nutzen davon,
wenn Bauten, Trachten, Waffen n. s. w. nachgebildet sind. Ist es
nicht von hohem Werte zu wissen, daft das Siegel des St. Trinitatsstifks
in Speyer das ganz individualisierte (also offenbar genaue Ab-)BiId
dieser Kirche gibt? Was wir so aus den Siegeln erfahren können,
ist ja mitunter wenig genug; aber wieviel gewinnt denn ansere
Kenntnis aus dem Text mancher Urkunden? Die vornehme Igno-
rierung der Siegel fände ich erklärlich vor dem Auftreten eines so
besonnenen und eifrigen Forschers, wie der Fürst Hohenlohe- Waiden-
burg es war. Seitdem durch ihn aber die Sphragistik in wissen-
schaftliche Bahnen übergeführt ist, von denen ja freilich die meisten
»Heraldiker« Tag fttr Tag wieder abweichen, ist es ein offenbarer
bedauernswerter Mangel vieler unserer Urkundenbücher, wenn sie so
ganz und gar diese Seite der Edition vernachlässigen. Verschuldet
hat ihn wohl mehr die Scheu der Editoren sich in diese Httlfsdis-
ciplin einzuarbeiten, als das sichere Bewußtsein, die Siegel gehörten
nicht mit zu einer Urkundenedition. Hätten wir mehr streng gebil-
dete Forscher, die auch diesen Hilfsdisciplinen ihr Augenmerk zuge-
wandt hielten, so dürften schwerlich in unserer provinzialen Littera-
tur die kritiklosen Studien unserer Heraldiker und Genealogen sieh
so breit machen, wie sie es derzeit thun.
Karlsruhe. Aloys Schulte.
Zimmermann, Franz, Archivar, Das Archiv der Stadt Hermann-
Stadt und der s&chsischen Nation. Hermannstadt 1887, Verlag
des Archives. VI, 116 S. Q^.
Ueber die Zweckmäßigkeit des besonders in Frankreich und
Belgien seit einem halben Jahrhundert eingebürgerten Verfahrens,
die Bestände der Archive durch Veröffentlichung ihrer Repertorien
der Wissenschaft allgemein zugänglich zu machen, besteht wohl
heute auch in Deutschland kein Zweifel mehr. Dennoch sind wir in
dieser Beziehung hinter unseren westlichen Nachbarn noch weit zu-
rück: die Beschreibung einzelner stUdtischer und staatlicher Archive
in der jetzt über ein Jahrzehnt bestehenden Archivalischen Zeitschrift
Franz von Löhers wird von allen Beteiligten stets auf das Dank-
barste anerkannt werden, aber sie kann die Drucklegung der Re-
pertorien nicht ersetzen. Ein einziges städtisches Archiv in Deutsch-
Zimmermann, Das Archiv der Stadt Hermannstadt und der sächsisch. Nat. 935
land — allerdings eins der bedeutendsten — bat seit fünf Jahren
begonnen eine systematische Beschreibung zunächst seiner älteren
Urkundenvorräte in einer eigens zu diesem Zwecke begründeten Zeit-
schrift zu publicieren. Das Beispiel Külns hat kürzlich einen Wider-
hall im äußersten Südosten, in einer hart um ihre nationale Exi-
stenz ringenden Enklave deutscher Volkskraft unter Magyaren und
Rumänen, gefunden, im siebenbUrger Sachsenlande. Der Archivar
der Stadt Hermannstadt und der sächsischen Nation, Franz Zimmer-
mann, bietet uns in einem handlichen, auf gutem Papier geftlllig
ausgestatteten Oktavbande ein Verzeichnis des unter seiner Verwal-
tung stehenden Doppelarchivs, aus welchem jeder, der aus dieser
reichen Quelle siebenbttrgisch-sächsischer Landesgeschichte schöpfen
will, sich mit Leichtigkeit über das, was er daselbst vorfindet, orien-
tieren kann.
Das Archiv zerfällt in 4 Abteilungen: Urkunden, Akten, Proto-
koUbttcber und Rechnungsbücher. Die Urkunden werden durch das
Jahr 1526, die Katastrophe von Mohacz, in zwei ungleiche Hälften
geteilt, von denen die ältere, kleinere ca. 1800 Nummern umfaßt:
jede Abteilung gliedert sich wieder in weltliche und geistliche Ur-
kunden (nach den Ausstellern), in jener befinden sich fast 700 un-
garische Eönigsnrkunden (von 1203—1526), in dieser (nur) '14
päpstliche Bullen von 1322—1519: bei den mittelalterlichen Doku-
menten werden auch die aus derselben Zeit stammenden Rechnnngs-
bttcher und Fragmente von solchen und (18) »sonstige Archivalien c
beschrieben. Der zweiten Periode 1527 — 1700 gehören über 5000 Ur-
kunden an. Gering ist in beiden Abteilungen die Zahl der von fremden
(nicht Osterreichischen, ungarischen oder siebenbttrgischen) Ausstellern
herrührende Stücke. Das Endjahr der Urkunden bezeichnet den
Anfang der zweiten Abteilung, der Akten, welche in sechs Unterab-
teilungen gegliedert sind: 1. Hermannstädter Magistrats- und Uni-
versitäts-Akten 1701—84 resp. 1789. 2. Hermannstädter Hagistrats-
Akten 1790—1833. 3. Hermannstädter Kommunitäts-Akten vom 17.
Jahrhundert bis 1800. 4. Universitäts- Akten 1790-1849. 5. Komi-
tiats-Akten 1790—1849. 6. Hermannstädter Eomitats-Akten 1784—
1790. 13 Unterabteilungen umfaßt der 3. Abschnitt, die PrptokoU-
bücher : 1. Hermannstädter Ratsprotokollbücher 1522—1830 (der Be-
stand scheint, einer alten Zählung zufolge, früher noch weiter hinauf-
gereicht zu haben, möglich aber auch, daß unter jenen alten Signa-
turen früher mehrere, jetzt getrennte Abteilungen vereinigt waren).
2. Hermannstädter Eommunitätsprotokollbücher 1790—1810. 3. Pro-
tokoll bttcher des seit 1472 dem Hermannstädter Rat unterstellten
Stuhles Szelistye 1585-1828. 4 Protokollbücber des seit 1452 im
986 Gott. gel. A uz. 1B87. Kr. 24.
selben Verbältnis steheuden Stahles Talmesch 1732—1747. 5. Proto-
kolle der sächsischeD NatioDsaniversität 1544—1848 (auch hier viel-
leicht am Anfang früher vollständiger), an weiche sich die von 1861
— 1883 gedruckten Protokolle anschließen. 6. ProtokoUbUcher des
sächsischen Komitiates 1804—1849. 7. Geschäftsbücher der sächsi-
schen Nationalbuchhaltung 1805 — 1849. 8. Hermannstädter Komi-
tatsprotokoUbUcher 1784—1790. 9. SiebenbUrgische Landtagsartikel
und ProtokoUbttcher, auf einzelnen Blättern oder in Heften, seit 1622
hin und wieder Einzeldrucke, 1536 — 1841. 10. Teilungsbttcher, a)
der Stadt Hermannstadt 1573—1822. b) des Hermannstädter Stahles
1739-1802. 11. Hermannstädter NachbarschaftsbUcher, 1577-1878
(»eine der wichtigsten Quellen der Lokalgeschichtec, Qeschäftsbttcher
der 32 Bezirke der Stadt). 12. Hermannstädter Zanftbücher, von 13
Qe werken (was sind die zuerstgenannten Gsismenmacher?) von 1494
— 1886). (13.) Urbarien und Konskriptionen der Stadtgtlter. Die
vierte Abteilung, Rechnungen, gliedert sich in die Konsularrechnan-
gen, d. i. die Stadtrechnung im Allgemeinen, von 1494 — 1815 and
Wirtschaftsrechnungen von 25 städtischen Aemtern oder Betrieben
von 1350—1800, dieselben sind sehr genau mit Angabe des Rech-
nungslegenden für jedes Jahr verzeichnet, angehängt sind GeschQtz*
rechnungen 1552—1557 der kaiserlichen Truppen. Die folgenden 5
Abschnitte kann man füglich als einen Anhang bezeichnen: unter
Y werden 11 Handschriften (meist Abschriften und Sammlungen des
vorigen Jahrhunderts) beschrieben, VI zählt die Repertorien des Ar-
chivs auf, VII die handschriftlich oder gedruckt aufbewahrten Ge-
setzbücher, VIII gibt einen alphabetischen Katalog der 132 Nam-
mern starken Handbibliothek, IX die (sehr liberale) Benatzangsord-
nung. Mögen recht bald städtische Archive in Deutschland die
wissenschaftliche Forschung durch ähnliche Uebersichten über ihren
Bestand in so hervorragender Weise unterstützen, wie es hier von
jener deutschen Sprachinsel im fernen Südosten geschehen ist
Halle. M. Perlhaeh.
FiLr di« Bedaktion Tttraatvortlich : Prof. Dr. BtehUl, Dinktor dw Q«tt. gel. Abs.,
AtMtBor der Eöniglichan Oeaellschftft der WiseeiUMhaflen.
Vorlag dtr JHHmrieh^tehm Vwioft-BueMiandJmitff,
Dru^ dir DMtriek'tehm V'nit.-ßuehärM^trn (/V. ff. Xanimfr),
'U 'C
'/->'
987
Göttingische
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
derKönigl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Nr. 25. ^ 15. December 1887.
Preis des Jahrganges: JL 24 (mit den »Nachrichten d. k. G. d. Wiss.« : o^ 27).
Preis der einzelnen Nummer nach Anzahl der Bogen: der Bogen 50 ^
Inhalt: Standing er, Die Gesetze der Freiheit. I. Ton Zi^^to'. — ArchiT fftr Geechichte der
PUloiopliie heraaagegeben Ton Stein. I, l Von Ettcken. — F riedenebnr g, Der Reiehatag zn Speier 1626.
Tom Ymfaaur, ~ I. Jacob, Der Bematein bei den Arabern des Mittelaltert; II. Derselbe, Welche
Handelsartikel bezogen die Araber des Mittelalters ans den nordisch-baltisdien L&ndern? III. Derselbe,
Der nordisch-baltische Handel der Araber im Mittelalter. Von MtüOer. — t. d. Linde, Kaspar Hanser.
Von BchuUe. — Hy Tern at, Les actes des martyrs de TlSgypte etc. Yon d4 Lagardt,
= Efaenmiohtiger Abdruck von Artikeln der GStt. gel. Anzeigen verboten. ^
Staadinger, Franz, Dr., Gymnasiallehrer in Worms a. Rh., Die Gesetze
der Freiheit. Untersuchungen über die wissenschaftlichen Grundlagen
der Sittlichkeit, der Erkenntnis und der Gesellschaftsordnung. L Band. Das
Sittengesetz. Darmstadt, Verlag von L. Brill. 1887. — 7 Mark.
Es ist ein groß angelegtes Werk, dessen erster Band ans hier
vorliegt. Den Plan des Ganzen erkennt man aus dem Titel: indem
der Verfasser den Gesetzen der Freiheit nachgeht, die es ebenso gewiß
geben muß, »wie es allgemeine Gesetze des leiblichen Lebens giebt«,
hat er es mit drei Gebieten, drei Kreisen menschlichen Seins und
Lebens zu than, and so zerfällt sein Werk in drei Abteilangen, de-
ren erste das Sittengesetz oder die wissenschaftlichen Grandlagen der
Sittlichkeit untersacht, während die zweite von der Erkenntnis and
ihren Bedingangen, der dritte and letzte Teil von der Gesellschafts-
ordnung handeln soll. Von diesen drei Abteilungen fällt die mitt-
lere, scheinbar rein theoretische auf, und wir fragen, was solche er-
kenntniskritischen Erörterungen in diesem Zusammenhang wollen.
Darüber kann im Einzelnen freilich erst der zweite Band Aufschluß
geben; aber schon der vorliegende erste zeigt, inwiefern Staudinger
dieselben nötig bat. Man könnte nämlich, ohne ihm Unrecht zu
thun, seinen Standpunkt kurzweg als einen intellektualistischen bezeich-
nen, von einem ausgesprochenen Primat des Intellekts bei ihm reden.
Doch damit ist freilich noch nicht alles gesagt; denn intellektualistisch
ist eigentlich alle Philosophie, selbst die Systeme des WiUensprimats
Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 25. 65
988 Gott. gel. Adz. 1887. Nr. 26.
von Angustin bis Schopenhauer nicht ausgenoininen. Sehen wir des-
halb näher zu. Staudinger ist Empiriker genug, um bei seinen Un-
tersuchungen über die Freiheit nicht sofort auf die metaphysischen
Grundlagen derselben loszueilen, die er — bezeichnend genug —
»theoretische Freiheit« nennt; er begnügt sich zunächst mit dem
Bewußtsein der Freiheit als einer unläugbar vorhandenen That-
Sache, der »praktischen Freiheit«. Da nun aber dieses Bewußtsein
mit der Anerkennung eines unbedingt giltigen »Ursachsgesetzes« (sie)
in einen scheinbar unaufl<)slichen Widerspruch gerät, so gilt es,
einerseits »die erkennbaren geistigen Bestandteile dieses Bewußt-
seins« zu untersuchen, und andererseits darzulegen, wie wir dazu
kommen, ein solches Kausalitätsgesetz anzuerkennen und in welcher
Hinsicht demselben Geltung und Bedeutung beizumessen ist Die
Behandlung dieser Frage aber »setzt ihrerseits die Zergliederung der
gesamten Bedingungen unseres Erkennens voraus«; sie müssen also
eingehend untersucht werden. Doch nicht nur als Thema des zu
erwartenden zweiten Bandes, sondern, wie wir alsbald sehen wer-
den, schon innerhalb des ersten spielt das Erkennen und Wissen
eine so maßgebende Rolle auf dem Gebiete des Sittlichen, daß wir
in der That begreifen, warum Staudinger es für nötig hält, die wis-
senschaftlichen Grundlagen des Erkennens in den Kreis seiner Er-
örterungen über die Freiheit und ibre Gesetze zu ziehen.
Wie kommt er nun aber auf dasTbema des ersten Bandes, auf
das Sittengesetz? Etwas abrupt und äußerlich. Eigentlich müßte,
wie er selbst sagt, der Gang der Untersuchung zur Lösung jenes
thatsächlich gegebenen Widerspruchs ein anderer sein: »wir hätten
zunächst zu bestimmen, wodurch wir uns innerlich zum Wollen an-
getrieben wissen; zweitens, wozu uns dieses Wollen treibt; drittens,
ob die Ziele unseres Wollens ausführbar sind, und wie etwaige Hin-
dernisse beseitigt werden können ; viertens endlich, wie wir anseren
Willen so zu bestimmen und zu regeln vermögen, daß er einzig
solche ausführbare Ziele will«. Allein dabei würden die für die
Freiheitsfrage wichtigsten, die sittlichen Handlungen allzu sehr in
den Hintergrund gedrängt; und da diesen — es ist dies allerdings
eine gewaltige petitio principii — »ein Gebot zu Grunde liegt«, so
müssen wir dieses Gebot und dessen Einfluß auf den Willen zu-
nächst zum Gegenstande unserer Erörterungen machen, wenn wir die
Freiheitsfrage entscheiden wollen.
Bei dieser Untersuchung des Sittlichen, die ihren Ausgangspunkt
von der Thatsache sittlicher Beurteilung menschlicher Handlungen
nimmt, schlägt nnn der Verfasser nicht, wie er glaubt, das Verfah-
ren der exakten Naturwissenschaft, sondern von vorn berein Kanti-
Staudmger, Die Gesetze der Freiheit. I. 989
8che Wege ein, wenn er erklärt: wir wollen nicht wissen, was
sittlich sei, sondern zunächst nur, was sittlich sei. Es handelt
sich also am keinen bestimmten Inhalt, sondern lediglich um die
Form dieser sittlichen Beurteilung. Aber ob eine solche Scheidung
zwischen Form und Inhalt, ein solches Abstrahieren von allem
Inhalte möglich und durchführbar sei, wird nicht gefragt und auch
damit wieder eine petitio principii begangen. Aus jener von uns
in Anspruch genommenen Annahme eines Gebots als Grundlage des
Sittlichen und dieser rein formalistischen Fassung der Aufgabe folgt
dann das Grundproblem alles Sittlichen, das Staudinger so formu-
liert: »ich muß wollen, weil ich solle. Hierin liegt scheinbar ein
Widerspruch: wie kann ein Sollen in einem und demselben Bewußt-
sein zugleich ein Wollen sein? Von hier aus aber noch einmal ein
Sprung: auch wenn ein Gesetz dieser Art gefunden wird, so genttgt
das noch nicht; es muß »aus den in meinem Innern wohnenden
Kräften als allgemein verbindlich und maßgebend entwickelt wor-
dene, muß »als allgemein giltiger Maßstab für die sittliche Beurtei-
lung gelten« können. Erst wenn diese beiden Hauptpunkte erledigt
sind, ist weiter zu fragen, wie ein solches Gesetz thatsächlich wirkt
und welche anderen Bestimmungsgründe noch in mir vorhanden
sind, die — ein neuer Sprung, der auf eine dualistische Grund-
anschaunng hinweist — entweder jenem Gesetze dienstbar gemacht
oder von ihm beseitigt zu werden vermögen. Ist auch darauf
eine Antwort gegeben, dann erst kann zu dem Ausgangspunkte
zurückgegangen und gefragt werden: »wie ist Freiheit gegenüber
dem Sittengesetz möglich, und wie verhält sie sich zu diesem ?c
Man sieht, Standinger macht sich seine Aufgabe nicht leicht, indem
er so Frage auf Frage türmt und das Problem in seine Tiefen, in
seine innersten Schlupfwinkel verfolgt; aber das Gebäude, das er
auf der gegebenen Unterlage aufführt, verspricht doch nur demjenigen
Haltbarkeit, der die Fundamente hinnimmt, wie Staudinger sie legt.
Das wird man aber namentlich an Einem Punkte nicht thun können :
scheinbar bloß vorläufig geht er von der psychologischen Dreiteilung
in Denken, Fühlen und Wollen aus ; allein allmählich verfestigt sich
diese vorläufig angenommene Trennung, der Wille tritt in ein Ver-
hältnis der Abhängigfteit, Gefühl und Vorstellung in das des Gegen-
satzes, und so erhalten wir ein Spiel von seelischen Kräften, das
die Einheit des Ich doch recht bedenklich gefährdet.
Ein Sollen, das zugleich ein Wollen ist, kann niemals vom Gefühl
abhängen, weil an diesem nie ein Gebot im eigentlichen Sinne, nie
ein bewußtes Sollen enthalten ist. Mit diesem Machtsprnch beseitigt
Staudinger die Ansprüche des Gefühls auf die Herrschaft über den
65*
940 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 25.
Willen nnd die Ansprüche der OltlckBeligkeitslehre sowohl in ihrer
individnalistischen als in ihrer socialethischen Form. Damit enthfillt
sich uns aber zugleich auch, wie wir noch näher sehen werden, als
Grandlage dieser Bestreitung des Eudämonismus die alte Kantische
Lehre von der Unvereinbarkeit von Neigung und Pflicht, von Ge-
fühl und Sollen, die Ansicht, daß ich nicht sittlich handle, wenn ich
ans Neigung handle, und enthüllt sich weiter die Grundfrage naeh
einem Sollen, das zugleich ein Wollen ist, als eine auf dualistischem
Boden gewachsene. Schon in der Glückseligkeitslehre selbst findet
dagegen Staudinger als den gesuchten Verpflichtnngsgrund für unser
Handeln die vernünftige Ueberiegung, die Vorstellung eines be-
stimmten Zieles. Diese zweck- und zielsetzende Vernunft übernimmt
hinfort die Führung — unter zwei Voraussetzungen: einmal mufi
ich überzeugt sein, daß die gleichen Ursachen unter allen Umstän-
den die gleichen Wirkungen hervorbringen, und als zweites hängt
damit zusammen, daß die Einheit des Bewußtseins zum Bewußtsein
etwa vorhandener Widersprüche führt. Aus diesem »Bewußtsein des
Widerspruchs€, dessen Vorstellung meinen Willen erst hervorruft,
gewinnt Staudinger jenes gesuchte Sollen, das zugleich ein Wollen
ist, es liegt in der zwecksetzenden Vernunft: da ohne die Bestim-
mung des Willens zu den Mitteln der Zweck nicht erreicht wird, so
gebietet sie den Willen so zu bestimmen, daß der Endzweck erreicht
werde; wer den Zweck will, muß auch die Mittel wollen, das ist
ein rein formales und ist überdies ein notwendiges und allgemeines
Gebot; und es ist in gewissem Sinne schon ein sittliches Gebot,
denn der Wille ist gut oder böse, je nachdem er sich diesem Ver-
nunftgebot fügt oder nicht. Die praktische Vernunft wäre somit
bestimmt, wenn gleich Staudinger bei jenem Bewußtsein des Wider-
spruchs, auf das er ihr Gebot gründet, hart an der Klippe des Ge-
fühls, die er ja vermeiden will, vorbei oder — wie andere finden
dürften — recht derb auf dieselbe aufgefahren ist (S. 44 ff.). Auch
etwas wie einen Inhalt, soweit von einem solchen überhaupt geredet
werden darf, hätten wir für diese praktische Vernunft gefunden,
— doch wir sind noch nicht am Ziele.
Es handelt sich im Sittlichen nicht nur und nicht vor allem um
die Beurteilung der für einen beliebigen Zweck gewählten Mittel,
sondern um den Zweck und um die Zwecke selbst Da es aber eine
andere als die bereits gefundene Art sittlicher Beurteilung nicht. gibt,
so mufi man einen Zweck suchen, in Bezug auf den alle anderen
Zwecke die Stellung von Mitteln einnehmen; dann trifft für sie zu,
was zuvor von den Mitteln in ihrem Verhältnis zum Zweck gesagt
war. Auch zwischen Zwecken ist ein Widerspruch möglich; da-
gegen verlangt die Vernunft Uebereinstimmung unter den Zwecken,
StandiDger, Die Oesetze der Freiheit. I. 941
durch dieses Gebot wird sie zur Herrscherin über alle Zwecke.
So ergibt sich »das Gesetz der Uebereinstimmuog der Zwecke«:
die Rücksicht auf diese Uebereiustimmang, welche wir als eia not-
wendiges Mittel zur Erreichung aller Zwecke erkennen, wird selber
zum Zweck und damit zum Maßstab, an dem jeder einzelne Zweck
zu messen ist-, das ist der oberste Zweck, in Bezug auf den alle
andern als gut oder schlecht beurteilt werden und der selber unbe-
dingt gut genannt werden muß — der sittliche Zweck selber, rein
formal, unbedingt und allgemein, frei von Furcht oder Neigung, nicht
Sache des Gefiibis, dem ja zuvor schon die Thttre gewiesen wor-
den ist, sondern reines Vernunftgesetz.
Nun handelt es sich aber auch um die Anwendung dieser all-
gemeinen Formol auf besondere Fälle, um die Gestaltung der Le-
bensordnungen, welche nicht gegeben sind, sondern jenem Sittenge-
setz gemäß erst geschaffen werden müssen. Das gilt zunächst fUr
die Uebereinstimmung der Zwecke im einzelnen Menschen: dieser
muß für sich eine persönlich-sittliche Ordnung schaffen und muß diese
Ordnung selber zum Zweck, zum bewußten Zweck machen. Allein
wenn jeder nur für sich selber ein solches Reich der Ordnung schaffen
wollte ohne Rücksicht auf andere, so hätten wir ein »sittliches Man-
chestertum«. Daher gilt es bei den notwendig engen Beziehungen
des Menschen zum Menschen auch hier eine auf Gemeinschafts-
zwecke sich aufbauende Lebensordnung zu finden. Dabei kOnnen nicht
etwa vorübergehende, zufällige, partikulare Zwecke das letzte sein,
weil solchen der Charakter des Allgemeinen und Notwendigen fehlt;
es bedarf vielmehr einer Zweckgemeinschaft, die sich über die ganze
Menschheit erstreckt, und auch hier hat nur derjenige Zweck unbe-
dingt verpflichtende Kraft, welcher alle Gemeinschaftszwecke or-
ganisch ordnet und in Uebereinstimmung bringt. In einer solchen
Gemeinschaft sieht dann die Vernunft ein Gegenbild der eigenen
Ordnung, gleichsam ein Vernunftwesen höherer Art, das ihr darum
gebietet, weil und soweit sie jene Ordnung , die ja dem Einzelnen
immer schon als ein teilweise verwirklichtes gegenübertritt, auch
ihrerseits hätte erzeugen müssen, wenn sie vor diese Aufgabe ge-
stellt worden wäre.
In diesem Zusammenhang wird Standinger zu einer Kritik der
christlichen Moral und der durch das Christentum begründeten
Zweckgemeinschaft geführt. Mit dem, was er hier sagt, bin ich in
der Hauptsache durchaus einverstanden, so besonders, wenn er in
der Jenseitigkeit des Gottesreiches den Grundmangel sieht, aus dem
ein erseits die dogmatische Beschränkung und die Schwierigkeit einer
theoretischen, will sagen autonomen Begründung des Guten, anderer-
942 Gott. gel. Aux. 1887. Nr. 25.
seits die hinter der Absicht des Stifters allzuweit znrtIckbleibeDdeo
praktischen Leistungen der Kirche auf sittlichem Gebiete mit Not-
wendigkeit folgen. Interessant war es mir zu sehen, wie auch
Staudinger von der Ethik aus auf die Frage geftthrt wird: sind wir
noch Christen? Seine Antwort lautet: »wir gestehen, daß wir kei-
nen Wert darauf legen, ob man uns noch so nennen will
Eirchenchristen sind wir in keinem Falle mehr .... Wenn aber
das auch fernerhin christlich heißen soll, daß man ebenso wahr und
ebenso warm dem Guten nachstrebt, wie Christus, wenn es nicht
darauf ankommt, daß man seine Anschauungen, sondern nnr darauf,
daß man seine Absichten teilt: nun dann wollen wir uns, ob auch
unsere Vernunft zu anderen Ergebnissen ftthrt, dennoch getrost Chri-
sten nennen und nennen lassen (? !) und uns bestreben, der Jüngerschaft
Christi in der wahren Bedeutung des Wortes würdig zu werdenc.
Auch mit Kant setzt sich Staudinger auseinander. Er findet sein
Vernnnftgesetz dem kategorischen Imperativ Kants sehr nahe verwandt;
aber zweierlei hat er an diesem letzteren auszusetzen, einmal daß
»das Vernunftgesetz Kants aus der Pistole geschossen istc, weil
Kant nicht zu erklären vermag, »wie reine Vernunft praktisch sein
könnec; und fUrs andere, daß er — weni^tens in der Hauptsaehe
— über das sittliche Manchestertum nicht hinausgekommen ist, son-
dern geglaubt hat, »eine sittliche Gemeinschaft werde einfach da-
durch hergestellt, daß jeder für sich sittlich zu sein strebtec. Es ist
bezeichnend für Standi ngers eigenen Formalismus und Intellektualis-
mus, daß er andere Schwächen des Kantischen Sittengesetzes, die
viel direkter zu Tage treten, nicht gesehen hat
Seinerseits gibt er nun aber doch zu, daß das Vernnnftgesetz
an sich vollkommen leer und gegenstandslos wäre ohne Stoff, ohne
Antrieb zum Handeln, der in dem Gefühl von Lust und Schmerz
beruht. Das Zweckgesetz selbst ist unabhängig vom Gefühl, denn
es ist rein formal; aber wo es gilt, das Vernunftgesetz anzuwenden,
kommt diese Welt der Gefühle in ihrer sittlichen Bedeutung unter
dem Gesichtspunkt des Wertes zu ihrem Recht. Auch für den Wert-
begriff ist der Zweck bestimmend : alles hat nur soweit Wert, als es
einem Zwecke dient; von ihm hängen die Mittel, und die Zwecke
selbst hängen wieder von höheren Zwecken ab ; so werden wir auch
hier auf den alle andern bestimmenden höchsten und letzten Zweck
der Herstellung einer sittlichen Gemeinschaft geführt, so daß im
Sittengesetz selbst der allgemein giltige Beziehungsort und der un-
bedingte Maßstab für alle Werte zu finden ist. Für die Bedeutung
des Gefühls ergibt sich daraus Folgendes: in den Gefühlen als sol-
chen liegt ganz unmittelbar eine natürliche Wertschätzung; diese
Staudinger, Die Gesetze der Freiheit. I. 948
leitet vielfach richtig : was z. B. dem Körper frommt^ wird im allge-
meinen als angenehm, was ihm schadet, als anangenehm empfanden,
und so ist das Angenehme ein Zeichen des Zuträglichen, das Un-
angenehme weist auf ein Schädliches hin. Allein diese Leitung durch
Qeftlble ist keine unbedingt sichere, und darum muß das Gefühl der
Einsicht und Vernunft untergeordnet werden. Daher die (z. B.
christliche) Lehre von der möglichsten Unterdrückung und Nieder-
baltung der natürlichen Qefühle; allein da diese Unterdrückung Ar-
beit erfordert, so wäre es falsch, solche Arbeit unnötig aufzuwenden
und damit Kraft und Zeit anderen Zwecken zu entziehen. Deshalb
müssen vielmehr, wenn möglich, diese Gefühle im Dienste des sitt-
lichen Grundzwecks verwendet und wenn nötig, zu diesem Behuf,
statt unterdrückt, umgebildet werden. Darauf beruht der Takt, in-
dem die von der Vernunft geleiteten Gefühle allmählich wieder
durch die Macht der Gewohnheit zu unbewußten werden, die nun-
mehr auch für sich allein ganz sicher zu leiten vermögen; darauf
beruht aber andererseits auch die Notwendigkeit einer festen, ge-
schlossenen und zugleich richtigen Weltanschauung, die die Gefühls-
welt zweckentsprechend gestaltet. So wird hier dem Gefühl gegen-
über der Primat des Intellekts noch einmal statuiert, der Dualis-
mus nicht überwunden und dabei eine Forderung erhoben, welche
für die große Mehrheit der Menschen und für die Sittlichkeit dieser
Mehrheit nicht ohne ernste Bedenken ist. Gemildert wird das frei-
lich einigermaßen dadurch, daß wir uns dem Begriff des höchsten
Gutes nähern , wobei es sich ja nicht um vorhandene Wirklichkeit,
sondern nur noch um Ideale handelt.
Es würde an dieser Stelle zu weit führen, wollte ich mich mit
Staudinger über die Frage nach dem Wert eines solchen Ideals und
nach der Berechtigung der Aufstellung jenes Begriffes überhaupt
auseinandersetzen. Er glaubt jedenfalls, ein »höchstes Gut« nicht
entbehren zu können ; die auch bei ihm in diesem Zusammenhang nicht
fehlende Anwendung des Wortes »möglichst« aber zeigt, daß zwischen
diesem Ideal und der Wirklichkeit ein Widerspruch vorhanden ist, für
den Staudinger natürlich diese und nicht seinen Begriff verantwort-
lich macht; er nimmt an, daß ein Zustand nicht bloß wünschens«
wert, sondern auch möglich sei, in welchem eine sittliche Gemein-
schaft hergestellt wäre, worin »alle Einzelnen nach dem Vernunft-
gesetz vereinigt sind und eine reiche, sichere Erkenntnis and einen
sicher leitenden Geftthlsschatz entwickeln« und worin diese Einzel-
nen selbst »in vollkommener persönlicher Ausbildung, in einer dem
Yernunftgesetz gemäßen Gemeinschaft beisammen« sind.
Aus diesem Ideal nun, freilich einem »fernen, fernen Ideal«,
9U Gott. gel. Auz. 1887. Nr. 25.
dem nachzustreben jedem von der Vernnnft geboten ist, erwächst der
Begriff der Pflicht. Das höchste Oat soll realisiert werden: dasn
bedarf es eines Planes, der zunächst, wie jenes selbst nur ein Ideal-
plan ist and als solcher der Wirklichkeit gegenüber stete Umbildong
nötig hat. Und zagleich bedarf es noch eines zweiten »AnsfAb-
rangsplanes«, der die Mittel, namentlich auch zur Beseitigung d^
gegen die Darchftlhrang des Idealplans sich erhebenden Hindernisse^
anzogeben und zu bestimmen hat. Daher gilt es zuerst die Quellen
dieser Hindernisse zu kennen. Im wesentlichen findet Staudinger
drei Grappen solcher widersittlichen Einflüsse, die jenen Idealzustand
einer Uebereinstimmung aller Zwecke der ganzen Menschheit in
Wirklichkeit nicht zustande kommen lassen: 1) die mangelnde Er-
kenntnis, welche Afterideale und Wahnideale erzeugt Die Be-
sprechung dieser Verirrangen gehört zu den gelungensten Partieen
des Buches; namentlich treffend ist in ihrer Ettrze die Schilderung
des »Gefühls Wahns«, wozu Staudinger nicht nur den Optimismus
und den Pessimismus, sondern aoch die in der Ritschlschen Schale
beliebte »willkürliche Ableitung von Erkenntnis Wahrheiten aus Qe-
f tthlsinhalten « rechnet. Ein 2tes Hindernis der Yerwirklichang
des höchsten Gutes ist die vernunftwidrige Willensbestimmung, die
als Leidenschaft und Laster zu Tage tritt. In diesem Abschnitt
wird Staudinger — abgesehen von der misglttckten Unterscheidung
zwischen Leidenschaft und Lasterhaftigkeit (S. 310) — zum Vor-
wurf gemacht werden können, daß er die Macht und Bedeutsamkeit
des Bösen nicht genug betont habe; freilich holt er es bei seiner
Lehre von der Erlösung nach; aber ganz wird doch weder das, was
er hier sagt, noch die in einem früheren Abschoitt gegebene Schil-
derung von den verheerenden Wirkungen der »Rückbildung einer
Weltanschauung« auf schwache oder strebsame Charaktere jene
Lücke auszufüllen im Stande sein. Das 3te Hemmnis endlich ge-
gen die Realisierung des Idealzustands bildet die mangelhafte Ein-
richtung der sittlichen Lebensordnungen.
Indem nun gegen alle diese Hindernisse das Vernunftgebot sich
durchzusetzen strebt, das uns zuruft : »Ihr sollt eure Zwecke so ord-
nen, daß keiner derselben den andern zu durchkreuzen vermöge«,
erhalten wir den gesuchten Pflichtbegriff; und so kommt Staudinger
dazu, Pflichten im wahren Sinne des Wortes nur da gelten zu las-
sen, wo der Ausführung des als sittlich Erkannten wirkliche Hinder-
nisse entgegentreten, wo ein Kampf erforderlich ist. Er will es
freilich nicht Wort haben, daß er damit in jene sittliche Starrheit
verfalle, welche »mit Abscheu thut, was die Pflicht uns gebeut«;
denn er gibt ja zu, daß das als gut Erkannte mit unserer Neigung
Staudinger, Die Qesetze der Freiheit. I. 9^6
Übereinstimmen könne. Aber wenn er sagt, in diesem Falle könn-
ten wir niemals behaupten, daß das Vernnnftgebot hingereicht hätte,
nns entgegenstehenden Mächten gegenüber zu der betreffenden Hand-
lung anzutreiben, und wenn er von »gut im strengsten Sinne« redet,
so kommt er doch dem Kantischen Rigorismus zum Verwechseln
nahe, auch wenn er ihn nur auf die »sittliche Entscheidung« be-
schränkt und Neigung und Gefühl als Hilfstruppen bezeichnet, weiche
die Ausführung erleichtern.
Im weiteren wird dann Staudinger auf die Frage der Pflich-
tenkollision geführt, die ihm im wesentlichen ein Widerstreit zwi-
schen der eigenen Ueberzeugung und den Forderungen der jeweili-
gen durch Gesetz und Sitte geheiligten und gefestigten Gemein-
schaftsordnungen ist. Er sucht sie durch die Bestimmung zu lösen,
daß die Rücksicht auf den höchsten Zweck in jedem Fall den Aus-
schlag geben müsse. Damit steht er, wie er selbst sagt, auf dem
Boden des den Jesuiten zugeschriebenen Grundsatzes, daß der Zweck
die Mittel heilige. Staudinger ist nicht der erste und einzige Ethi-
ker, der denselben zu »retten« sucht: in jüngster Zeit that der pro-
testantische Theologe Biedermann dasselbe (Eine Ehrenrettung. Ausge-
wählte Vorträge und Aufsätze S. 434 ff.). Und in der That, der Jesui-
tismus ist nicht deshalb unsittlich, weil er diesen Grundsatz aufstellt,
sondern dieser Grundsatz wird es seinerseits erst in der Jesuiten-
moral, weil hier der höchste Zweck, der die Mittel heiligen soll,
nicht der sittliche, sondern ein äußerer ist, maior ecclesiae gloria,
die über alles andere, über das Innere der subjektiven Ueberzeugung
und über die objektiven Mächte der sittlichen Lebensgemeinschaft
gesetzt wird: nicht daß der Zweck die Mittel beherrscht, ist somit
das Falsche, sondern daß ein falscher Zweck sich zum höchsten, ein
bloßes Mittel sich zum Selbstzweck aufwirft, ist das Verhängnis-
volle; wie aber dann vollends im Einzelnen dieser Satz als methodus
dirigendae intentionis gebraucht oder vielmehr misbraucht wird, daran
braucht hier nur erinnert zu werden. Im übrigen aber lassen Stau-
dingers Erörterungen über den Widerstreit der Pflichten mehr noch
als an Biedermann an Harald Höffdings »Grundlage der humanen
Ethik« (1880) denken, der freilich principieller, weniger kasuistisch
zu Werke geht als Staudinger bei seiner »Abschätzung der Pflichten«.
Der ganze Abschnitt aber, der mit dem Konflikt zwischen Ideal
und Wirklichkeit begonnen hat, endigt mit der Aussicht auf eine
Vernunftentwicklnng, welche als wahres Erlösungsprincip der kirch-
lichen Erlösungslehre mit aller Entschiedenheit entgegengestellt wird :
eine stets steigende Macht der Vernunft muß die widersittlichen Ein-
flüsse endlich besiegen. Und daß diese Vernunftmacht wirklich zu-
946 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 25.
nimmt, zeigt die Geschichte and liegt überdies im Weseo des Vemnofk-
gesetzes selbst. Mit dieser optimistischen Hoffnung aaf den Sieg der
Vernanft, aaf eine unbegrenzt fortschreitende Befreiung der Menschheit
von Wahn und Sünde^ auf eine immer größere Erleichterung der sitt-
lichen Arbeit und eine immer wachsende Annäherung an das h5ehste
Out schließt der Verfasser seine Erörterungen über das Sittengesetz.
Und nun, nachdem er diesen Gang durch die Moral beendigt
hat, kehrt Staudinger zu dem anfänglichen Problem, von dem er
ausgegangen ist, zu der Freiheitsfrage zurück. In der vernunftge-
mäßen Gemeinschaft allein ist Freiheit möglich, diese ist also nur,
wo und soweit Sittlichkeit verwirklicht ist ; denn die praktische Frei-
heit ist nichts anderes als »das Bewußtsein der uneingeschränkten
Herrschaft der Vernunft auf dem ihr zugänglichen Gebiete«. Ob
aber damit nicht etwas in das Bewußtsein hineininterpretiert wird,
was der pantheistische Determinismus von den Stoikern herab bis
auf unsere Tage nicht darin finden kann, und ob der Satz: »der
Mensch ist nur dann frei, wo er spielend, d. i. kampflos das Rechte
thut« nicht Freiheit und Pflicht in einen Gegensatz zu einander
bringt, der für die Identität von Freiheit und Sittlichkeit bedenklich
wird und Staudingers Verhältois zu Kant plötzlich in einem neuen
Licht ezeigt, sei hier nur fragweise angedeutet; die Probe will nicht
recht stimmen, die ganze BeweisführuDg kommt nachträglich in ein
gefährliches Schwanken. Und daß Staudinger schon jetzt anch die
Frage nach der theoretischen Freiheit mit einiger Sicherheit ins
Auge fassen zu können oder vielmehr »in ihrem wesentlichsten
Kerne gelöst« glaubt und auf wenigen Seiten Recht und Unreeht
des Determinismus und Indeterminismus, wenn auch nur vorläufig,
gegen einander abwägen will, scheint mir vollends weder notwen-
dig noch auch nur klug von ihm zu sein ; er hätte wohl besser ge-
than, der Erörterung der Erlösungslehre sogleich das schöne Schluß-
kapitel folgen zu lassen, in dem er das Gesetz der Vernunft als
den alleinigen Erlöser, als eine höhere Macht feiert, von der wir
uns innerlich abhängig wissen und fühlen, und zu der wir doeh ein
Gefühl der Hingabe und des Vertrauens, ja geradezu Liebe empfin-
den ; diese liebevolle Hingabe an eine höhere Macht nennt man Re-
ligion; »somit sind (Freiheit und) Sittlichkeit und Religion nicht
(drei) zwei getrennte Dinge, sondern eins und dasselbe«. Hit der
Erinnerung an F. A. Lange schließt das Buch.
Ich habe von Anfang an auf eine Reihe von petitiones principii
in den Ausführungen Staudingers hingewiesen, es ist daher nicht not-
wendig, noch einmal darauf zurückzukommen ; auch meinen prind-
piellen Gegensatz gegen seine Fassung des Sittlichen habe ich da und
Staudinger , Die Gesetze der Freiheit. I. 947
dort darchblicken lassen; ihn näher za begründen ist natürlich nicht
Aufgabe der Kritik. Wohl aber mnß hier konstatiert werden, daß sich
jene petitiones im Laufe der Untersuchung durch den immer einseitiger
werdenden Intellektualismus und am Schluß durch eine mehr gefühls-
mäßige als konsequente und in die Tiefe gehende Lösung der Schwierig-
keiten im Begriff der Freiheit rächen ; nnd daß eine die Darstellung
vielfach beherrschende und beeinträchtigende Abstraktheit und Unan-
schanlichkeit der Ausführung damit zusammenhängt , ist ebenfalls
nicht zu verkennen. Allein ich würde Staudinger schweres Unrecht
thun, wollte ich damit schließen. Wir haben ja hier nur den ersten
Band; der zweite wird jene wissenschaftliche Weltanschauung be-
gründen und fnndamentieren müssen, die Staudinger für den Men-
schen fordert; da werden Schwierigkeiten, die jetzt nur kurz an-
und rasch weggedeutet werden, mit ihrer ganzen Wucht an ihn heran-
treten; und die Energie des Denkens und der Mut des Eindringens
in die Tiefe, die die Lektüre des ersten Bandes zu einer so erfreu-
lichen machen, werden ihn sicherlich das Bret da bohren lassen,
wo es am dicksten ist; im dritten Baude aber wird das konkrete
Leben, dem er näher treten muß, breiteren Raum beanspruchen und
manches unklar gebliebene wird dann erst Klarheit und Anschau-
lichkeit gewinnen, auch der Intellektualismus gewisse Korrekturen
sich gefallen lassen müssen. Darum muß das Urteil über das
Ganze noch in suspenso bleiben. Dagegen darf ich nicht ver-
säumen, hier noch besonders auf diejenigen Partieen des Buches
hinzuweisen, wo Staudinger auf konkrete Verhältnisse zu sprechen
kommt und ZeitstrOmungen oder typische Charaktere zu schildern
hat: dabei zeigt er einen solchen Mut ehrlicher Ueberzeugung, eine
solche Schärfe der Kritik, eine so feine Beobachtungsgabe, daß ge-
genüber dem an andern Stellen zu Tage tretenden Mangel an kon-
kreter Anschaulichkeit diese Abschnitte ganz besonders anregend
nnd erfreulich wirken. Und auch der Intellektualismus: er ist ja
eine Einseitigkeit, das Emotionelle der Sittlichkeit kommt zu kurz,
der menschlichen Natur widerfährt nicht ihr volles Recht; aber ge-
genüber den Plattheiten eines oberflächlichen Empirismus, der es
mit der Ableitung des Sittlichen gar zu leicht nimmt und die Para-
doxien desselben nicht einmal bemerkt, darf dieser Gesichtspunkt in
der Moral immer wieder geltend gemacht werden ; sonst läuft dieselbe
in der That Gefahr, über lauter Trieben und Naturgeftthlen, über
Gewöhnung und Anpassung nicht nur den Einfluß des Denkens nnd
der Vernunft, sondern am Ende das Sittliche selbst preiszugeben : das
wäre zwar vielleicht bequem, aber für die Menschheit ein übler Verlust
Straßburg i. E. Theobald Ziegler.
948 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 25.
Archiv für Geschichte der Philosophie in Gemeinschaft mit Her-
mann Diels, Wilhelm Dilthey, Benno Erdmann und Edaard Zeller herausge-
geben von Ludwig Stein. I, 1 (160 S.). Berlin, Georg Reimer 1887.
Da wir in Deufscbland der philosophischen Zeitschriften eher zn
viel als zu wenig besitzen, so ist beim ersten Anblick ein Zweifel
darüber möglich, ob ein neues Unternehmen notwendig und wfln-
sehenswert sei. Aber ein solcher Zweifel wird bei näherer Erwä-
gung des hier ins Auge gefaßten Zieles alsbald verschwinden. Von
den Spaltungen, welche heute durch die philosophische Arbeit geboi
wird die geschichtliche Erforschung der Philosophie am wenigsten
berührt; hier findet sich thatsächlich ein selbständiges Gebiet rei-
cher wissenschaftlicher Produktion; es verheißt erheblichen Nutzen,
wenn hervorragende, ja wir dUrfen sagen, die hervorragendsten Ge-
lehrten sich verbinden, sowohl um eigne Untersuchungen vorzu-
legen, als um über die gesamten Leistungen auf jenem Gebiete
sachkundig zu berichten. Es läßt sich erwarten, daß mit vereinten
Kräften bisheriger Zersplitterung entgegengearbeitet, gewonnene Ein-
sichten rascher wirksam gemacht, fruchtbare Anregungen gegeben
werden. Mit besonderer Freude begrüßen wir dabei die Ausbrei-
tung des Unternehmens über die Gesamtheit der Kulturvölker. Daß
auch die Leistungen der Anderen nicht in bloßem Vorsatz, sondern
thatsächlich zur vollen Würdigung gelangen, dafür wird dadurch
sichere Fürsorge getroffen, daß anerkannte Forscher der verschiede-
neu Völker über die Litteratur ihrer Nation eingehend berichten.
Warum wir das für so wichtig halten? Weil wir meinen, daß wir
Deutschen heute von den kleinen täglichen Begebenheiten bei un-
seren Nachbarn viel zu viel Notiz nehmen, von ihrer ernsten Arbeit
aber viel zu wenig. Im besondern auf philosophischem Gebiet fehlte
eine planmäßige Orientierung über das was draußen geschiebt; es
bedeutet eine wirkliche Bereicherung, wenn darin Wandel geschaf-
fen wird.
Was aber die thatsächliche Ausführung des Unternehmens an-
belangt, so zeigt das zunächst vorliegende Heft sie durchaus auf
der Höhe des Planes ; alles was geboten wird, ist gediegen und för-
derlich; dabei geht durch die gesamte Arbeit ein kräftiger Zug iri-
schen Lebens ; nirgends ein bloßes Aufspeichern, ein trocknes Neben-
einanderstellen, überall ein entschiedenes Auftreten und klares Aus-
sprechen. Vor aller weitern Charakteristik aber wird es sieb
empfehlen den reichen Inhalt in aller Kürze vorzuführen.
Den ersten Teil des Heftes bilden, dem allgemeinen Plan des
Unternehmens gemäß, eine Anzahl von Abhandlungen aus den ver-
schiedenen Gebieten der Geschichte der Philosophie. Zunächst gibt
Archiv für Geschichte der Philosophie herausgegeben von Stein. 949
der Altmeister der historisch-philosophischen Forschung Eduard Zel-
ler eine Untersuchung über die Ziele und Wege der Geschichte der
Philosophie, in jener klaren, umsichtigen und sachgemäßen Weise,
die alle kennen und hochschätzen.
Hermann Diels (»Zu Pherekydes von Syra«) bringt durch Her-
stellung der alten Ueberlieferung einfach und überzeugend Licht in
eine wichtige, sonst kaum verständliche Stelle des Pherekydes und
zeigt weiter eine fUr das Verhältnis der Denker bedeutsame Ab-
hängigkeit des Pherekydes von Anaximander.
Zu Anaximander selbst gibt einen interessanten Beitrag Theo-
bald Ziegler, indem er in der yielbesprochenen Stelle: iS *Sv di ^
yivsoiq iau %oTg ovat, xal x^v tp&oqdp elg tavza yiys(f3at xatct %d
X^cojy. dtdopat yäq avtä dint^v nal tictv rijg ddtxlag uatd t^v tov
XQovov Ta$»y unter t^g ddixiag nicht die Ungerechtigkeit der Dinge,
sondern die menschliche Ungerechtigkeit versteht und zur Verteidi-
gung dieser Auffassung die Flutsage bei Homer (II. XVI 384—393)
heranzieht.
Paul Tannery (»Sur le Secret dans T^cole de Pythagorec) bringt
scharfsinnige Untersuchungen über den Sinn der Bewahrung von
Geheimnissen und über die Gründe von Spaltungen innerhalb der
pythagoreischen Schule.
Eugen Pappenheim (»der Sitz der Schule der pyrrhoneischen
Skeptikerc) erörtert mit umsichtiger Kombination die Frage, in wel-
cher Stadt der Pyrrhonismus , der aller Wahrscheinlichkeit nach
mehrere Jahrhunderte in den Formen einer Schule bestanden bat,
seinen Sitz gehabt habe. Die Entscheidung fällt in erster Stelle für
Alexandria aus. Daß Aenesidem in Alexandria lehrte, steht durch
direkte Mitteilung fest; daß auch vor ihm jene Stadt der Schulsitz
gewesen sei , wird durch mehrfache Anhaltpunkte glaublich ge-
macht; unter seinen Nachfolgern ist zeitweilig eine Verlegung
eingetreten, vermutlich nach einem der östlichen Centren hellenischen
Lebens.
Die folgenden Abhandlungen führen in die Neuzeit Zuerst gibt
Ludwig Stein beachtenswerte Beiträge zur Genesis des Occasionalis-
mus. Da uns in den letzten Jahren litterarische Anzeigen wieder-
holt auf das Problem des Occasionalismus führten, so möge auch
hier eine etwas eingehende Erörterung gestattet sein. Der Verfasser
unterscheidet eine ältere Fassung des Occasionalismus, in der die
gegenseitige Einwirkung von Leib und Seele auf einen göttlichen
Urwillensakt zurückkomme, Gott also bei den einzelnen Wechsel-
wirkungen nur mittelbare Ursache sei, von der engern und eigent-
lichen Forschung, wonach jedesmal ein unmittelbares Eingreifen
950 Gott. gel. Aoz. 1887. Nr. 25.
göttlicher Vermittlang stattfinde; nur diese Form könne mit Recht
als Oceasionalismas bezeichnet werden. Von den einzelnen PereDn-
lichkeiten sei de la Forge ein Vertreter der altern Fassong, die
spätere erscheine zuerst bei Cordemoy, dessen Unabhängigkeit 7on
spätem Occasioualisten, im besondern von Geulincx, keinem Zweifel
unterliegen kann ; er wäre daher als der erste Occasionalist in stren-
gerem Sinne anzusehen.
In dieser Untersuchung hat unsere volle Zustimmung die Heraos-
hebung Gordemoys als eines selbständigen und eigenartigen Den-
kers; seine Forschungen machen durchaus den Eindruck orsprSng-
lieber Gedankenarbeit; auch erscheint es mir als beachtenswert, daft
Leibniz an der meines Wissens einzigen Stelle, wo er mehrere Oeca-
sionalisten neben einander aufführt, s. de ipsa natura 157 a (Erd-
mann), an erster Stelle Cordemoy nennt: Quam doctrinam Corde-
rooins, Forgaeus, et alii Cai tesiani cum proposuissent, Malebraneliins
in primis, pro acumine suo, orationis qnibusdam luminibus exorna-
vit. Aber die Unterscheidung jener Phasen, und mehr noch die
Zurechnung des de la Forge zur älteren Phase, stößt bei mir aof
Bedenken. Daß der Grundgedanke des Occasionalismus erst all-
mählich seine volle Schärfe gefunden hat, ist zweifellos; aber was
der Verfasser als ältere Fassung bezeichnet , könnte überhaupt nicht
mehr als Occasionalismus gelten; gehörte de la Forge hierher, so
wäre er aus der Keihe der Occasionalisten ganz zu streichen. Aber
die GrnndzUge dessen, was der Verfasser als bei Cordemoy nea ein-
tretend anführt, getraue ich mir auch bei de la Forge nachzowei-
sen, wenn auch die Sache sich hier in einem unfertigeren Zustande
befindet und der Vorzug klarerer Entwicklung und übersichtlicherer
Darstellung unzweifelhaft auf Seite Cordemoys verbleibt. Ich sehe
nicht, daß de la Forge ein kontinuierliches Wirken Gottes wie bei
aller Wechselwirkung der Dinge, so auch bei dem Verhältnis von
Leib und Seele für entbehrlich hält Auch bei ihm handelt es sich
nicht um einen ein für alle mal gefaßten Beschluß, sondern um ein
fortdauerndes Thun ; die bewegende Kraft bleibt wesentlich stets bei
Gott ; die besonderen Vorgänge und Entschlüsse haben nur das Ver-
mögen, das fortdauernde göttliche Wirken zu dieser besondem Leistung
zu determinieren; so sehr dabei eine Wechselwirkung von Körper
und Geist aufrecht gehalten wird, die göttliche Vermittlung ist an-
ausgesetzt erforderlich. Die entscheidende Untersuchung darfiber
findet sich im 16. Kapitel des tractatus de mente humana. Dort
heißt es an einer besonders bezeichnenden Stelle: Et quamvis hoe
pacto Dens sit causa universalis omnium motuum, qui fiunt in mundo,
non propterea tamen non agnosco corpora et mentes pro causis par-
Archiv für Geschichte der Philosophie herausgegeben von Stein. 951
ticalaribas eorundem ipBoram motuum, non qaod revera prodacant
aliquam qualitatem impressam , quemadmodum scholae explicant,
yernm qaod determineDt et obligent causam primam ad applicaDdam
vim snam et virtatem motricem ad corpora, in quae earn sine iis
non exercnisset, secuDdum modam, secundum quem gubernare de-
crevit corpora et Spiritus etc. . . .: et in hoc solo coosistit virtus,
quam corpora et mentes babent ad movendum. Atque ideo aeque
difficile est coraprehendcre, quomodo mens possit agere in corpus,
illndqne movere, ac concipere, quomodo unum corpus aliud impellat.
Ferner etwas weiter unten: Fostquam monstravimus earn unionem
coDsistere in commercio isto eaque depeudentia reciproca niotuumqne
corporis mentisque cogitationum, facile videre est eum, qui corpus et
mentem unire voluif, simul debuisse statuere et menti dare cogita-
tiones, quas observamus in ipsa ex occassione motuum sui corporis
esse, et determinare motus corporis ejus ad eum modum, qui requi-
ritur ad eos mentis voluntati subjiciendos. — Non tamen dicere
debes Denm esse, qui id omne agit, et corpus meutemque revera in
se invicem non agere; si enim corpus talem motum non habuisset,
mens nnnquara talem cogitationem habere potuisset, et si mens non
habuisset talem cogitationem, forte etiam corpus uunquam talem mo-
tum babuisset. Aber weil die Vorgänge notwendige Bedingungen
für einander sind, sind sie darum noch nicht vollgentlgende Ur-
sacben. Vielmehr gilt von de la Forge, wie auch Zeller (Sitzungs-
berichte der Berliner Akademie XXXI 683) bemerklich macht, ge-
nau dasselbe wie von Geulincx; die Meinung ist nicht die, »daß
Körper und Geist gar keine Einwirkung von einander erfahren,
sondern nur die, daß die Quelle der Kausalität, vermöge deren sie
eine solche erfahren, nicht in ihnen selbst liegec.
Ein zweiter Punkt, dem wir einiges hinzufügen möchten, sind
die Aeußerungen des Verfassers über das vielbesprochene Uhren-
gleichnis. Daß die kartesianische Schule jenes Bild oft verwandte,
ist richtig und unbestritten, aber im herkömmlichen Gebrauch be-
zieht es sich allein auf den Körper, so bei Descartes, so auch bei
Gordemoy in der breiten Ausführung der dritten Dissertation. Das
Charakteristische und Nene ist die sowohl bei Leibniz als bei Gen-
lincx stattfindende Uebertragung auf die Seele und ihr Verhältnis
zum Körper. Daß Leibniz das Bild in dieser Verwendung von Fou-
cher aufgenommen, ist mir nicht so zweifellos wie Berthold nnd
Zeller; vornehmlich weil der ganze Passus, in dem Foucher das
Bild vorträgt, weniger den Eindruck einer eignen Entwickelung als
den einer Rekapitulation eines von anderer Seite, also von Leibniz,
Vorgetragenen macht, sodann auch weil, bei aller Freiheit eines
952 Oött. gel. Anz. 1887. Nr. 25.
bildliehen Ausdrucks, in dem Bilde eine specifische Auffassung von der
Seele liegt, die ich eher Leibniz als Foucher zutrauen möchte. DaB
diese Wendung der Vergleichung auch in jener Zeit als eigentflm-
lieh und gewagt empfunden wurde, dafOr kann Bayle zum Zeugnis
dienen, s. diet. art. Rorarius not. h.: Enfin, comme il (d. b. Leibniz)
suppose avec beaucoup de raison, que toutes les ames sont simples
et indivisibles, on ne sfauroit comprendre qu'elles pnissent Stre
comparees ä une pendule ss. Bei solcher Sachlage bleibt das Zn-
sammentreffen von Geulincx und Leibniz in jener Wendung ein be-
merkenswertes Faktum. Ueberhaupt aber bietet die Gesamterschei-
nung des Occasionalismus mit ihrem Dualismus, Rationalismos nnd
bald auch Mysticismus noch manche Probleme; es ist zn wQnschen,
daß sie bald einmal als Ganzes Gegenstand einer eingehenden Unter-
suchung werde. Den Wert des hier gegebenen Beitrages erkennen
wir bereitwillig an.
Es folgt eine Untersuchung von Benno Erdmann: »Kant nnd
Hume um 1762«. Eine genaue Ermittelung der ersten Beräbrungen
Kants mit Hume ist .von Bedeutung wie für seine Gesamtentwiek-
lung, so im besonderen fUr das Verständnis der Tendenz seines
Hauptwerkes, der Kritik der reinen Vernunft. Zur Entscheidung
dieser Frage gewinnt der Verfasser eine reichere thatsächliche
Grundlage vornehmlich durch eine Untersuchung darüber, wie Kant
nahestehende Männer — Freunde und Schüler — sich in jener Zeit
zu Hume verhielten ; im besondern erweisen sich hier die Beziehun-
gen Herders zu Kant und zn Huroe als fruchtbar. Das Ergebnis
der gleich scharfsinnig wie umsichtig geführten Untersuchung ist,
daß Kant höchst wahrscheinlich schon Ende der fünfziger Jahre
Humes Essays gekannt hat, daß jedoch seine Schätzung des Philo-
sophen noch in den sechziger Jahren den moralistischen Essayisten,
nicht den metaphysischen Skeptiker und nicht den Religionspbilo-
sophen trifft.
Den letzten Aufsatz bildet ein sehr interessanter Bericht von
Ludwig Stein über die kürzlich in Halle aufgefundenen Leibniz-
briefe. Die Briefe zerfallen in drei Gruppen. Die erste (Brief 1 —
88) enthält die Originalbriefe von L. an Rudolf Christian Wagner,
Prof. der Mathematik in Helmstedt; die zweite (89—101) umfaftt
Originalbriefe L.s an verschiedene, zum Teil noch zu ennittelDde
Adressaten ; die dritte besteht in einer stattlichen Reihe abschrifUich
vorhandener Briefe von und an L., deren Originale zum größten
Teil verloren scheinen. An philosophischer Bedeutung wird die erste,
quantitativ erheblichste Gruppe von den beiden andern ttbertroffen.
Die Briefe an Wagner, mit denen sich die zunächst vorliegende Uq-
Archiv für Geschichte der Philosophie herausgegeben von Stein. 953
tensuchung beschäftigt^ handeln yornehmlich von mathematischen
und mechanischen Problemen, im besondern von der Rechenmaschine,
lassen gelegentlich aber auch auf L s allgemeinmenschliche und phi-
losophische Art Licht fallen. Indem er z. B. im Briefe 27 ein Di-
stichon zu einem Kupferstiche von ihm als übertrieben kräftigst ab-
lehnt, gibt er in dem Wunsche nach einer andern Unterschrift dent-
lich zu erkennen, worin er selbst seine Größe sieht: Materiam forte
daret, quod via infiniti aestiraaudi a me iiiveiita, et prima Elementa
aetemae veritatis, unde mentinm et dvpdfAsmv natura aperta est. Auch
finden sich verschiedene bedeutende Aeußernngen zur Naturphilosophie
und zur Physik. Als Leibniz von seinem ärztlichen Freunde Beh-
rens ein Diskurs zageschickt war de certitudine et difficultate artis
Medicae, meint er: »Wolle Gott die certitude wäre so groß als die
Difficoltät«. — £in weiterer Aufsatz soll die philosophisch ergiebi-
geren Briefe der zweiten Gruppe behandeln; daß diese ganze An-
gelegenheit bei dem Herausgeber in den besten Händen ist, zeigt
schon dieser erste Artikel augenscheinlich ; so sehen wir den weite-
ren Veröffentlichungen mit Spannung entgegen.
Der zweite Hauptteil des Archivs bringt Jahresberichte über die
gesamten Erscheinungen auf dem Gebiete der Geschichte der Philo-
Bophie; es berichten dieses Mal Diels über die Litteratnr der Vor-
Bokratiker, Freudenthal und Erdmann über die neuere Philosophie
bis auf Kant, Dilthey Über die Philosophie seit Kant, Bywater ttber
the Literature of Ancient Philosophy in England, Schurman über the
English Literature of Recent Philosophy, alles für das Jahr 1886.
Die Gestaltung dieser Jahresberichte hat unsern vollsten Beifall; die
Verfasser bringen nicht einen trocknen Auszug dessen, was geleistet,
sondern sie entwerfen davon ein lebendiges Bild, lassen das We-
sentliche und Nene kräftig heraustreten, fällen alsdann ein klares
und entschiedenes Urteil und geben endlich in Entwicklung ihrer
eignen Ueberzeugungen oft sehr wertvolle Winke fttr weitere Auf-
gaben und Arbeiten. So z. B. Diels zur altgriechischen Philosophie,
so Erdmann in den Bemerkungen über Leibniz, so Dilthey zur Ge-
schichte der neuern Aesthetik (gelegentlich einer Besprechung von
H. von Stein). Daher hat auch jedes Referat in Inhalt und Form
einen individuellen Charakter, das Ganze aber führt uns unmittel-
bar in die lebendige Arbeit der Gegenwart und treibt dazu, an dieser
Arbeit teilzunehmen. So steht der zweite Teil nicht äußerlich neben
dem ersten, sondern ergänzt sich mit ihm zu einem Gesamtbilde
dessen, was heute auf dem Gebiete der Geschichte der Philosophie
geschaffen und erstrebt wird.
So bringt das Archiv — mit der Gediegenheit aller einzelnen
OöiA, yel. Ans. 1887. Nr. U. 66
954 Gott. gel. A uz. 1887. Nr. 25.
Leistangen und dem Geschick der Anordoang durch den Heraus-
geber — die Eigentümlichkeit des gegenwärtigen Standes der For-
schung besonders deutlich zum Ausdruck. Weit zurück liegt hier
die spekulativ konstruierende Behandlung der Geschichte der Philo-
sophie, selbst allgemeinere Reflexionen principieller Art finden sich
nur in einzelnen Aufsätzen, entsprechend der Gesamtrichtung der
jetzigen Wissenschaft ist das Interesse vorwiegend der genauesten
Feststellung der Thatsachen und ihrer Zusammenhänge zugewandt,
auch auf diesem Gebiete ist die Forschung in das Stadium der
Exaktheit getreten.
Mit solcher Wendung sind weite Aufgaben eröffnet, gegen den
überkommenen Stand hat sich überaus vieles zu ergänzen, zu ver-
schärfen, zu berichtigen gefunden. Durchaus nicht blofi in Einzel-
heiten, sondern im Gesamtcbarakter hat sich das Bild der Entwick-
lung der Philosophie verwandelt; es ist gegenüber der frühem, viel
zu summarischen Ansicht reicher, verwickelter, feiner geworden. Die
Denker — und zwar nicht bloA die leitenden Geister, sondern alle
Teilnehmer der Arbeit — werden allseitig erforscht und in ihr Wer-
den und Wachsen begleitet, die Beziehungen unter den einzelnen
Persönlichkeiten werden aufgedeckt, die Lehren ebenso in ihre
Voraussetzungen wie in ihre Wirkungen verfolgt. Nicht mehr las-
sen sich jetzt die Ereignisse an einen einzigen glatt fortlaufenden
Faden reiben, auch die Neben- und Seitenbewegungen, die Hemmun-
gen und Widerstände gelangen zur Geltung, ein viel verschlungenes
Gewebe entfaltet sich vor unseren Augen. Nicht mehr erscheint
ferner die Philosophie in völlig selbstherrlicher Stellung, ihre Be-
dingtheit durch die anderen Wissenschaften wie durch das gesamte
Kulturleben gelangt zur Anerkennung und stellt mannigfachste Auf-
gaben.
Das alles erstreckt seine Wirkungen natürlich auch auf die Me-
thode. Jenen Anforderungen an die Weite und Breite der That-
sächlichkeit ist die direkte Beobachtung der Ueberlieferung keines-
wegs gewachsen; es gilt, sie durch Schlußfolgerung und Kombina-
tion zu ergänzen. So sehen wir weite Ketten gebildet, zerstreute
Notizen an einander gebracht, vereinzelte Daten durch geschickte
Einordnung zu erheblicher Bedeutung erhoben; oft muß die Hypo-
these voraneileu und neue Kombinationen wagen, aber über dem
Vorstoß vergißt sie nicht die Rückkehr, von willkürlichen und phan-
tastischen Wagnissen unterscheidet dieses Verfahren aufs schärfste
das stete Verlangen nach genauer Verifikation durch die Thatsachen.
In glänzender Entwicklung der Hermeneutik und der Kritik wird
das Bild im Einzelnen wie im Ganzen konkreter und präciser, die
Friedensburg, Der Reichstag zu Speier 1526. 955
Vcreinigang von Exaktheit, Scbarfsinn und Rombioation läßt die
ForscbuDg reiche Triunipbe feiern. So zeigt es in hervorragender
Leistung auch das Archiv.
Wir brauchen nach der obigen Erörterung die Bedeutung dieser
Bewegung nicht noch ausdrücklich anzuerkennen, und wir haben
keine Bedenken dagegen, daß das Archiv mit seinem engen Verhält-
nis zur Zeit in der Verfolgung jener Richtung seine Hauptaufgabe
sucht. Aber die Besorgnis vor einer Gefahr der Einseitigkeit kön-
nen wir eben bei unserem warmen Interesse fttr das Unternehmen
nicht unterdrücken, die Sorge vor der Gefahr, daß über der Ermit-
telung des Thatsächlichen die Behandlung des Gedankengehaltes zu-
rücktrete, daß über der Geschichte die Philosophie zu kurz komme.
Darum wünschen wir, daß die Fortführung des Unternehmens die
bisherigen Leistungen durch reichere Erörterung principieller Fragen
ergänze, sei es durch Gesamtwürdigungen großer Denker und des
Standes unserer Erkenntnis von ihnen, sei es durch Herausstellung
der treibenden Faktoren der geschichtlichen Bewegung, sei es durch
Anfweisnng der Innern Zusammenhänge der Epochen u. s. w.
Was immer aber an Wünschen sich erheben mag, das Ar-
chiv ist, so wie es vorliegt, der wärmsten Sympathie der Fachge-
nossen sicher. Es wird nicht nur im Einzelnen mannigfachsten Nutzen
stiften, sondern zu einer kräftigern Belebung und Zusammenfassung
des gesamten Gebietes führen , es wird mit seiner Stärkung strenger
Forschung und seinem Fernhalten alles Dilettantenhaften zur exak-
ten Gestaltung der gesamten Arbeit wirken. So müssen ihm alle
wissenschaftlichen Kreise das beste Gedeihen wünschen.
Jena. Rudolf Eucken.
Friedensburg, Walter, Der Reichstag zu Speier 1526 im Zusam-
menhang der politischen und kirchlichen Entwicklung Deutschlands im Refor-
mationszeitalter. (Historische Untersuchungen herausgegeben von J. J a s t r o w,
Heft V). Berlin, Qaertner (Heyfelder) 1887. XIV, 602 S.
Mit dem Auftreten der Versuche, dem deutschen Reiche eine
andere Verfassung zu geben, steigert sich am Ende des Mittelalters
die Wichtigkeit der allgemeinen Ständeversammlungen, die dann in
der folgenden, der s. g. Refoi*mationsepoche den Höhepunkt ihres
Ansehens nnd ihrer Bedeutung für die Geschicke der Nation er-
reichen. Die Reichstage sind die vornehmsten Stätten, wo zu-
mal im Beginn der soeben bezeichneten Epoche, solange nämlich
noch alles im Fluß and eine unwiderrufliche Trennung der Glau-
66*
956 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 25.
bensparteien noch nicht eingetreten ist — die refonnatorischen Be-
strebungen sich mit den ihnen entgegenlaofenden Richtangen mes-
sen and auseinander setzen. Und wennschon Gang und Ergebnis
der schleppenden, vielfach nnterbrochenen Verhandlangen der Reichs-
stände wohl bisweilen von mancherlei ZaftLlligkeiten oder Nichtig-
keiten abzuhängen scheint, and es ferner aach mit der Exekutive
im heiligen römischen Reiche, wie jedermann weiß, recht übel be-
stellt war, so ist doch nicht minder wahr, daft gerade die formlose,
nicht von einem strikten Majoritätsprincip beherrschte Art der Ver-
handlungen an den deutschen Reichstagen dieser Epoche es den im
Reiche vorherrschenden Tendenzen erleichterte, sieb aach an dieser
Stelle nach Haßgabe der ihnen innewohnenden Stärke vollaaf zar
Geltung zu bringen und ihren Stempel nicht minder den Reichsab-
schieden aufzudrücken, welche dann eben deshalb wiederum in leb-
haftester Wechselwirkung die weitere Entwicklung der Dinge im
Reiche beeinflußt haben.
Es waren Erwägungen solcher Art, die den Verf. veranlaßt ha-
ben , sich einer monographischen Darstellung des Reichstags zu
Speier vom Jahre 1526 zu unterziehen. Setzte er in diesem Werke
in gewisser Weise seine früheren Studien »Zur Vorgeschichte des
Gotha-Torgauischen Bündnisses der Evangelischen c fort, so bestimmte
ihn zur Wahl seines Themas im besonderen noch der Wunsch, es
möchte durch ihn endlich einmal volle Klarheit über die Tragweite
der Festsetzungen des Speierer Reichsabschiedes gewonnen und die
Kontroverse über die Bedeutung der entscheidenden Worte dieser
Akte endgültig aus der Welt geschadet werden. Denn, wiewohl be-
reits namhafte Kirchenlehrer früherer Zeit vor einer Ueberschätzung
der Festsetzungen des angezogenen Reichsabschiedes gewarnt, haben
doch zumal Darstellungen von protestantischer Seite bis in die
neueste Zeit hinein aus den Worten des Reichsabschiedes, daß sich
in Hinsicht des Wormser Edikts jeder Stand halten solle, wie er es
vor Gott und dem Kaiser verantworten möge, eine rechtliche Ge-
währleistung des Protestantismus herauslesen, in dem Abschied von
Speier also die rechtliche Grundlage des protestantischen Territorial-
kirchentums erkennen wollen. Indem Verf. diese Auffassung, nach-
dem er sich von ihrer Unrichtigkeit überzeugt, durch sein Werk zu
beseitigen wUnschte, ist ihm allerdings bis zu einem gewissen Grade
A. v. Kluckhohn zuvorgekommen, welcher in einer kurz vor Druck-
legung des in Rede stehenden Werkes erschienenen Skizze über den
Speirer Reichstag (Histor. Zeitschrift, N. F. Bd. 20 S. 193-218)
an die Beurteilung des fraglichen Abschiedes den richtigen Mafistab
angelegt und es unternommen hat, aus dem Gange der Verhandlon-
Friedensburg, Der Reichstag zu Speier 1526. 957
gen des Reichstags selbst den Sinn der scbließlicben Festsetzaogen
desselben berzaleiteu. Doch mag neben Klackbobns sammariscber
Betrachtang wohl auch noch die vorliegende ansftthrlicbe Arbeit ibre
Berechtigung haben, welche sozusagen den methodischen Beweis lie-
fern will, daß der Speierer Abscbied weit davon entfernt war, den
Evangelischen irgend welche definitive Oewährungen zu machen.
Ein derartiger Beweis konnte denn allerdings nur gestützt auf
ein mOglicbst umfassendes, relativ vollständiges Material angetreten
werden. Verf. hat daher, da das bisher bekannte, gedruckt vorlie-
gende Material außerordentlich dürftig und ganz ungenügend er-
schien, die Archive der hervorragenderen Stände aller Kurien zu
Rate gezogen und, wie eine S. 491 — 496 mitgeteilte Uebersicht tlber
die Bestände der benutzten Archive zeigt, eine nicht unerhebliche
Anzahl von Aktcnsammlungen zur Geschichte des Reichstages und
seiner Zeit zusammengebracht und ausgebeutet, auf deren Grund es
möglich schien, wiewohl man vieler Orten wünschen möchte, noch
genauer und eingehender über das Detail der Beratungen und die
bestimmenden Beweggründe in jedem einzelnen Fall unterrichtet zu
werden, eine innerlich wie äußerlich zusammenhängende Geschichte
des Reichstags zu geben. Und selbstverständlich beschränkte sich
die Forschung des Verf. nicht etwa auf das, was die bewegende
Frage der Zeit betrifft oder damit in irgend welcher Beziehung
steht; sondern soweit sich die Thätigkeit des Reichstags auch ande-
ren Gebieten, der Unterhaltung der Reichsbehörden, der Herstellung
von Ruhe, Ordnung und Frieden im Inneren, der Sicherung der
Grenzen vor den Türken u. s. w. zugewandt, haben auch diese Ge-
genstände die gebührende Berücksichtigung gefunden, und zwar um
so mehr als, wennschon die Ergebnisse der Speierer Verbandlungen
auf allen diesen Gebieten überaus dürftige, ja zum Teil ganz nich-
tig6 waren (wie z. B. die gegen den Großtürken gerichteten Be-
schlüsse, welche durch die zwei Tage nach dem Abschluß der Speie-
rer Verhandlungen erfolgende Entscheidungsschlacht von Mohacz
Tollkommen illusorisch gemacht wurden), doch die bezüglichen Be-
ratungen gelegentlich auf den Gang der Verhandlungen in der
kirchlich-religiösen Frage hemmend oder fördernd eingewirkt ha-
ben. Aber auch au sich selbst dürfen sie in einem vollständigen
Bilde der Reichstagsverhandlungen nicht fehlen. Und eben darauf
kam es dem Verfasser an, ein solches allseitig ausgeführtes Bild
zu liefern, wobei er sich mit der Hoffnung trug, daß eine ein-
gehende Darstellung eines Reichstages dieser Epoche bis zu
einem gewissen Grade für die Geschichte aller übrigen Reichstage
derselben Zeit typisch sein könnte, insoweit wenigstens, als es doch
95S Gott. gel. Aiiz. 1887. Nr. 25.
im wesentlichen dieselben Faktoren sind, die sich wesentlich nach
derselben Richtang hin in dieser ganzen Epoche der beginnenden
Keformatlonszeit geltend machen. Ebenso war fttr die Verfassangs-
geschichte des deutschen Reiches wie andererseits gelegentlich auch
für das weite Gebiet der sog. Kultargeschichte aus einer Darstellung,
wie sie Verf. zu geben versncht hat, einiger Gewinn zu erboffen.
Aber es konnte nun auch damit nicht gethan sein, lediglich die
Vorgänge zn zeichnen, welche sich am Orte des Reichstags während
der Dauer desselben abspielten. Die Potenzen, welche auf dem
Reichstage zasammeutreffen und deren Siohmessen and Sichaaseinan-
dersetzen den Gang der Verhandlangen bedingt, maßten auch aufter-
halb des Reichstags, zumal in den Territorien, eine jede sozusagen
in ihrer heimischen Atmosphäre, aufgesucht werden , die mannich-
fachen Interessen namentlich partikularer Art, welche neben den
universelleren Gesichtspunkteo die einzelnen maßgebenden Reichs-
stände bestimmten, mußten nachgewiesen und es mußte verfolgt
werden, mit welchen Gefühlen und Erwartungen ein jeder dem
Reichstage entgegensah, welche Maßnahmen im Angesichte desselben
vorbereitet wurden, kurzum, wie die Verhältnisse beschaffen waren,
welche der Reichstag vorfand, in welche er hineintraf. Nur so
konnte Verf. hoffen, die richtige Grundlage ftlr die Darstellung des
Reichstages selbst zu gewinnen. Er hat daher diesen Auseinander-
setzungen ein erstes, an Ergebnissen nicht unfruchtbares Bach
(»Kaiser und Reich« 8. 19 — 192) eingeräumt, dem er dann im zwei-
ten Buche (S. 193 —487) die Geschichte der Reichstagsverhandlungen
selbst folgen läßt. Den Schluß bildet neben der schon angefahrten
Uebersicht über das benutzte archivalische Material eine Aaswahl
wichtigerer Dokumente (S. 497 — 581), welche zum Teil auf die Hal-
tung einzelner Stände ein neues Licht werfen, zum Teil die bedent-
sameren Stadien der Reiebstagshandinngen veranschaulichen ; end-
lich folgt noch eine Bibliographie und ein ausführliches Register,
während eine detaillierte Inhaltsübersicht dem Texte vorangestellt ist.
Es sei gestattet, den Gang der Untersuchung und einige Ergeb-
nisse derselben mit wenigen Strichen zu skizzieren.
In erster Linie war die Politik des Kaisers und seines Brodere
und Vertreters in Deutschland, des Erzherzogs Ferdinand von Oester-
reich, zu erörtern, von deren Entschließungen die Berufung und das
Zustandekommen eines Reichstages zunächst abhieng. Karl V. selbst
zwar erscheint in diesen Jahren den deutschen Dingen nahezu gänz-
lich abgewandt; die Angelegenheiten der spanischen Monarchie and
das wechselnde Verhältnis zu Frankreich und den italienischen Staa-
ten nahmen ihn fast ausschließlich in Anspruch. Er Qberliefi die
Friedensburg , Der Reichstag zu Speier 1526. 959
Besorgung der deutechen Dinge dem Erzherzog, welcher die Wei-
sung hatte, wenn er schon nicht helfen könne, mindestens zu sor-
gen, daß das Uebel der Ketzerei und die Ungebundenheit im Reiche
nicht zunehme. Und wenigstens an dem guten Willen, dieser Wei-
sung nachzukommen, fehlte es Ferdinand nicht. Ihm lag die Auf-
rechterhaltnng der alten Formen in Kirche und Staat um so mehr
am Herzen, als er sich mittels derselben und in denselben zum rö-
mischen König aufzuschwingen gedachte. Die Evangelischen aber
betrachtete er — zumal seit dem Bauernkriege — als Verschwörer,
welche die Maske religiöser Reform vornähmen, um die Hassen für
sich zu gewinnen und mit diesen die alte Reichsverfassung ttber den
Haufen zu werfen. Diese angeblichen Umtriebe der Evangelischen
aber machten dem Prinzen um so mehr Sorge, als er sich auch der
geneigten Gesinnung der Kurfürsten keineswegs sicher sah und sich
Überhaupt nicht verhehlen konnte, daß die Decentralisation im Reiche
immer größere Fortschritte machte. Da fragte es sich denn, ob nicht
die Ansetzung eines Reichstages das geeignetste Mittel sein werde,
um derartigen Bestrebungen ein Halt zu gebieten, und in der That
nahm die Politik des Erzherzogs, besonders seit dem Bauernkrieg und
dem entscheidenden Obsiegen des Kaisers im Kampfe wider Frank-
reich, wiederholt einen Reichstag in Aussicht. Allein es war wohl zu er-
wägen, ob nicht etwa ein solcher, der in Abwesenheit des Kaisers ab-
gehalten wUrde — und die Aussicht den letzteren bald in Deutschland
zu sehen, verflüchtigte sich immer aufs neue — , statt die bestehen-
den Formen zu kräftigen, vielmehr den Neuerungstendenzen ThUr
und Thor öffnen würde; und was sollte geschehen, wenn auf dem
Reichstage selbst diese Bestrebungen die Oberhand gewinnen wür-
den? Dann schien für die Anhänger des Alten die letzte Position
im Reiche verloren. Dergestalt von verschiedenen Erwägungen hin-
und hergeworfen, schwankte Ferdinand lange Zeit, ob er die Be-
rufung eines Reichstages gutheißen solle. Endlich zwang ihn die
Tttrkengefahr, welche den österreichischen Landen immer näher zog,
und die Notwendigkeit, weitere Mittel zur Unterhaltung der Reichs-
behörden, des Regiments und des Kammergerichts, von den Ständen
bewilligt zu erhalten , den Reichstag vor sich gehn zu lassen ; für
den Notfall aber, wenn nämlich die evangelischen Tendenzen 'am
Reichstag überwiegen sollten, ließ sich der Erzherzog von dem Bru-
der mit einer — zunächst geheim gehaltenen — Weisung versehen,
welche im Namen des Kaisers jede Erörterung der schwebenden
Fragen untersagte und das strikteste Festhalten an dem kirchlichen
Herkommen in allen seinen Teilen verfügte und anbefahl. —
Verharrten die Häupter der Nation in einer derartig unaufricb-
960 Gott. gel. Aqz. 18Ö7. Nr. 25.
tigen, von krassester Selbstsucht eingegebenen Politik, so warde in-
zwischen das Reich von verschiedenartigen Strömangen hin* ond
herbewegt. Bereits machten sich Tendenzen bemerkbar, welche alt*
gläubige und neugläubige Stände in verschiedene, ja feindselige
Heerlager trennen zu sollen schienen. Dem Dessaaer Bündnis der
Katholiken stellte sich die Ootha-Magdebnrgische Vereinigung der
evangelischen Stände gegenüber, und namentlich Philipp von Hessen
vertrat schon in diesen Jahren mit hingebendem Eifer den Gedan*
ken eines festen Zusammenschlusses aller evangelischen Elemente
im Reiche zu Zwecken der Verteidigung wider die angriffslostigen
Gegner. Aber soweit kam man damals doch noch nicht; erst die
Vorgänge in Speier 1529 und der Angsburger Reichstag von 1530
haben die evangelischen Sonderbundsgedanken zur Reife gebracht
Noch verbargen sich die tiefer liegenden Kontraste zum größten
Teil , nur wenige vorschauende Geister ahnten die volle Bedeutung
des neuen Princips, welches mit Luther ins Leben getreten war, und
in dem allgemeinen Rufe nach Reformen fand sich damals noch die
große Mehrzahl aller, oder wenigstens der weltlichen Reichsstände
zusammen. Letzteres war zumal eine Nachwirkung des Bauernauf-
standes, welcher allen, die sehen wollteu, deutlich gezeigt hatte, wie
sehr eine Reform der socialen wie kirchlichen Verhältnisse not thäie.
Nicht nur die kleineren Herren im Reiche und die städtischen Ha*
gistrate, welche sozusagen unmittelbar von der Stimmung ihrer Unter-
thanen abhiengen und welche auch aus nächster Nähe Gelegenheit
hatten diese Stimmung kennen zu lernen, sahen ein, daft man auf
das Reformbedttrfnis des gemeinen Mannes Rücksicht nehmen müsse,
sondern auch bei den angesehensten und mächtigsten Fürsten, und
zwar gerade solchen, die im Kampfe gegen die Bauern das beste
gethan hatten, finden wir dieselben Qedanken maßgebend, so beson-
ders bei dem pfälzischen Hause. Der Kurfürst Ludwig von der
Pfalz warnte noch auf dem Speierer Reichstage immer und immer
wieder, man möge ja nicht versäumen, dem gemeinen Manne ent-
gegenzukommen, wenn man einer gefährlicheren Wiederholung der
Auftritte des Vorjahres entgehn wolle. Und des Kurfürsten Bruder
und einflußreichster Berater, Pfalzgraf Friedrich, entwarf Ende 1525
in einer S. 504 — 517 mitgeteilten Denkschrift ein detailliertes Pro-
gramm für eine einschneidende Reform in politischer, kirchlicher and
socialer Hinsicht.
Auf der anderen Seite gab es freilich auch Gegner jeglicher
Reform und starre Verteidiger des Herkommens; hier erscheint ne-
ben den mächtigen Herzogen Wilhelm und Ludwig von Baiem,
welche sich durch engen Anschluß an die so vielfach mit Abfall
Friedensburg, Der Reichstag zu Speier 1526. 961
bedrohte Kurie Vorteile im eigenen Lande ihrem Klerus gegenüber
zu versehaffen bemtiht waren , insbesondere der geistliche Stand.
Die Bischöfe hatten sich insgemein schon seit 1524 — hauptsächlich
unter Einfluß der Festsetzungen des Regensbarger kon vents — von
allen Beformtendenzen, welche einst auch einer ganzen Reihe von
ihnen nahe getreten waren, abgewandt; und der Bauernkrieg, wel-
cher die Stellung des geistlichen Standes von Grund aus bedrohte,
hatte sie nur um so mehr veranlaßt, im Anschluß an die alte Kirche,
mit der sie zu stebn und zu fallen meiuten, ihr Heil zu suchen.
Aber die Bischöfe genossen eben deswegen eines sehr geringen ^n»
Sehens bei ihren Mitständen; im Bauernkriege hatten sie das we*
nigste geleistet, waren aber in blutiger Bestrafung der Unterworfe-
nen am eifrigsten gewesen; auch ihr sittliches Verhalten, ihr geist-
licher Hochmut erregte Anstoß, virozu dann noch kam, daß im Laufe
des Jahres 1526 ein neuer Konflikt des Kaisers mit dem Papste
ausbrach, in Folge dessen die uatllrlichen Parteigänger des letzteren
im Reiche sich mit um so größerem Mistrauen betrachtet fanden.
Der Einfluß des geistlichen Elements auf die allgemeinen Reichsan-
gelegenheiten war daher nicht eben hoch anzuschlagen.
Aehnliches galt damals auch von einem anderen, gegen die Re-
form in die Wagschale fallenden Einfluß, nämlich dem des Kai-
sers. Wohl hatte, w^enn nicht der Erzherzog, der im Reiche gänz-
lich isoliert dastand, so doch Karl V. seine Partei unter den Für-
sten; allein die langjährige Abwesenheit des Kaisers ans Deutsch-
land, deren Ende noch immer nicht abzusehen war, und die Unklar-
heit über die schließlichen Ziele der kaiserlichen Politik ließen auch
diejenigen Elemente, welche, wie etwa der hochbegabte HohenzoUer
Kasimir von Brandenburg- Ansbach , ihr Augenmerk vor anderen auf
Karl gerichtet hatten, keineswegs als energische Gegner der Re-
formbestrebungen der Zeit erscheinen. Alles in Allem war die Re-
formpartei 80 stark, daß sie, wenigstens vereint mit der evangeli-
schen Richtung, d. h. den Anhängern einer Reform auf specifisch
religiösem Gebiete, unter den Reichsständen gerade in dieser Epoche
die Mehrheit für sich hatte, zumal eben unter der Gunst der oben
betonten Momente: der Nachwirkungen des Bauernkrieges, der Ab-
wesenheit des Kaisers und des erneuten Konflikts des letzteren mit
dem Papsttum. Und die beiden Richtungen, die der kirchlich-socia-
len nnd die der eigentlich religiösen Reform, giengen, wenn auch ihr
Ansgangspunkt ein anderer und ihre schließlichen Ziele verschiedene
waren, doch ein gutes Stück Weges mit einander; sie hatten viele
und wichtige Berührungspunkte, ja, noch mochte sich kaum zwischen
ihnen unterscheiden lassen. Wohl war es gerade der Spcierer
962 Gott. gel. Äoz. 1887. Nr. 25.
Beichstag von 1526, auf welchem die EvangeÜBchen zaerst ihr anter-
scbeidendes Programm auch äußerlich ins Werk za setzen sDchtoi,
wo Knrsachsen und Hessen mit Anhang und Begleitang in dieselben
Farben gekleidet, mit denselben Emblemen versehen sich zeig:ten,
wo sie an den Fasttagen der katholischen Kirche öffentlich Fleisch
speisten, wo sie durch ihre Prediger in ihren Herbergen öffentlich
bei jedermanns Zutritt das Evangelium predigen ließen. Und das
machte, wie nicht anders zu erwarten war, ein ganz nnermeftlicbes
Aufsehen und berührte manchen Beformfreund sehr unliebsam; aber
trotzdem geschah es, daß Philipp von Hessen, der persönlich eifrigste
unter allen Bekennern des Eyaogeliums zu Speier, bei der Wahl zom
s. g. großen Ausschuß, welcher die allgemeine Beform Yorbereiten
sollte, von allen die meisten Stimmen auf sich vereinigte and als
erster aus der Wahlurne der Fürstenkurie hervorgieng. Es war
klar, nicht die Evangelischen allein schickten den Landgrafen in
den Ausschuß, sondern der einundzwanzigjährige Fürst erschien der
gesamten Beformpartei als ihr begabtester Vertreter — ungeachtet
seiner Verletzung der alten Kirchengebote und seines specifisch evan-
gelischen Gebahrens.
Und auch sonst vollzogen sich die Ereignisse am Beichstage,
welcher unter ziemlich zahlreicher Beteiligung aller Stände am
25. Juni durch den Erzherzog eröffnet werden konnte, unter dem
beherrschenden Einfluß des Zusammengehens aller Beformfrennde.
Nur in den ersten Tagen der Speierer Verhandlungen, als die Häup-
ter der Evangelischen noch fern waren, hatte die Pfaffenpartei einen
Triumph errungen, indem man den ersten Artikel der kaiserlichen
Beichstagsproposition, der sich mit der kirchlich-religiösen Ange-
legenheit befaßte, sehr obenbin vorgenommen und dann gar be-
schlossen hatte, die s. g. geistlichen Misbräuche so lange von der
Tagesordnung abzusetzen, bis man über alle anderen Beratangs-
gegenstände ins Beine gekommen wäre, was natürlich darauf hinaus-
lief, sie überhaupt nicht vorzunehmen. Aber dieser Beschluß hatte
sich sogleich als undurchführbar herausgestellt; es hatte nnr am
4. Juli einer Darlegung der Städtekurie bedurft, welche die Halt-
losigkeit des durch das Wormser Edikt geschaffenen Zustandes im
Beiche in ein helles Licht stellte, um auch die höheren Stände sieh
für entschiedene Vornahme von Beformen erklären zu lassen. Fortan
schien Beform vor allem auf dem kirchlichen Gebiet das Losungswort
des Beichstags zu sein. Noch freilich wurde man wochenlang durch
die schier unvermeidlichen Bang- und Sessionsstreitigkeiten zwischeo
den Ständen, durch den Zwiespalt, der über die Umfrage bei des
Kurfürsten herrschte, durch die Eifersüchteleien der letzteren gegen-
Friedensburg, Der Reichstag zu Speier 1626. 963
über der Fdrsteukarie, sowie durcb das langsame Eintreffen mancher
Stände an gedeihlichen Beratungen gehindert, bis man endlich Ende
Juli energisch an die Vornahme der Reformen herantreten zu kön-
nen glaubte. Der erste Schritt hierzu war die Wahl jenes schon er-
wähnten Ausschnsses. Auch abgesehen aber von Landgraf Philipp
fielen diese Wahlen bei den Weltlichen so überwiegend reformfreund-
lich aus, daß die Stimmen der Deputierten der Qeistlichen dagegen
kaum in die Wagschale fallen konnten und die bedeutsamsten Fol-
gen zu gewärtigen gewesen wären, wenn der Ausschuß zu unge-
hinderter Wirksamkeit hätte gelangen dUrfen. Bei freier Verhand-
lung der Stände durfte man reformfreundlichen Beschlüssen des
Reichstags mit Sicherheit entgegensehen. Aber eben das war Erz-
herzog Ferdinand entschlossen, um jeden Preis, mit allen Mitteln zu
verhindern. So bedroht erschien ihm bereits die Sache der Kirche
und des Kaisertums, daß er es darauf ankommen ließ, das ganze
Werk des Reichstags zum Scheitern zu bringen. Die unmittelbare
Antwort Ferdinands nämlich auf die Ausschußwahlen der Stände
war die Mitteilung jener kaiserlichen Specialweisung, welche jede
Aenderung oder Modificierung des kirchlichen Herkommens und jede
darauf abzielende Beratung den Ständen kategorisch untersagte.
Schon am Tage nach der Ausschnßwahl trat Ferdinand mit dem
verhängnisvollen Dokument hervor, welches ebenso große üeber-
raschung wie Entrüstung erregte. Die Stände sahen ihr Unterneh-
men gescheitert, fast noch ehe es begonnen war. Kaum wurde der
gänzliche Abbruch der Verhandlungen vermieden : die schönen Hoff-
nungen aber, mit denen die Mehrzahl der Stände ebenso wie die
Unterthanen im ganzen Reiche dem Ausgang der Verhandlungen ent-
gegengesehen hatten, waren dahin. Bereits war klar, daß der
Reichstag zu positiven Ergebnissen nicht würde gelangen können,
da es der Loyalität der Stände widerstrebte, dem so deutlich aus-
gesprochenen Willen des Kaisers zuwider Festsetzungen zu treffen,
auf der anderen Seite aber die kirchlichen Zustände, wie sie sich
auf der Grundlage den dem Reiche vor fünf Jahren aufgedrängten
kaiserlichen Edikts von Worms gestaltet hatten, so zerfahren und
unhaltbar sich zeigten, daß eine Stellungnahme des Reichstags zu
Gunsten des verhängnisvollen Edikts gänzlich außerhalb des Bereichs
der Möglichkeit lag. Unter diesen Umständen gewann am Reichs-
tag ein Gedanke die Oberhand, der schon früher Vertreter gefunden
hatte, nämlich das Projekt einer Sendung an den Kaiser. Nament-
lich die Städte, welche vielfach die Sachlage richtiger beurteilten
als die übrigen Stände, hatten von vornherein ohne die Mitwirkung
des Kaisers keinen befriedigenden Ausgang des Reichstages erwar-
964 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 25.
tet; aber jetzt erst, Dachdem die Aassiebt, an der die Mehrheit der
Stände bis dabin festgehalten, bereits in Speier selbst za einer de-
finitiven Ordnung der kirchlichen Frage gelangen za können, ge-
schwunden war, drangen die Stände durch ; alle Kurien beschlossen,
den Kaiser von Reichswegen anzugehn, daß er mit Rttcksicht auf
die Notlage des Reicbs, die man ihm beweglich schildern wollte,
seine abiebnende Haltung in der Reformfrage niodificiere, für die
bisher geschehenen Uebertretungen des Wormser Edikts Indemnitit
gewähre und die Entscheidung der •schwebenden Fragen einem un-
ter seiner persönlichen Teilnahme in deutschen Landen abzuhalten-
den Generalkoncil oder einer freien Nationalversammlung aller
Stände deutscher Nation anbefehle. Hau hoflfte in der That auf den
Kaiser durch eine derartige einmütige Botschaft aller Stände Ein-
druck machen zu können. Wenn nicht die Notlage im Reiche, so
schienen die Schwierigkeiten, in welche Karls auswärtige Politik
sich aufs neue verstrickt fand, ihn gebieterisch darauf hinzuweisen,
der inneren Bewegung im deatscben Reiche gegenüber zu konnivie-
ren; zumal sein eben jetzt ausgesprochen feindseliges Verhältnis zum
Papst ließ hoffen, daß er geneigt sein würde, gegenwärtig mildere
Saiten aufzuziehen als zur Zeit der Abfassung jener Specialweisung,
welche schon im März des Jahres, da der Kaiser nach dem Madrider
Frieden im Zenith seiner Macht stand, aufgesetzt worden war. Wa-
ren das die Hoffnungen der Evangelischen und Reformfreunde, so
stimmten aber auch die Gegner — so namentlich der Erzherzog —
dem Gesandtscbaftsprojekt zu, durch welches sie wenigstens Zeit
gewannen und entschieden reformfreundlichen Beschlüssen, die sonst
vom Reichstag zu erwarten gewesen wären, vor der Hand noch
entgiengen.
Da war denn nun aber noch eins zu bedenken: wie sollte es
nämlich für die nächste Zeit — d. h. bis eine Entscheidung auf
dem Wege des Concils oder wie immer erfolge — im Reiche hin-
sichtlich des Wormser Edikts gehalten werden? Die Evangelischeil
drangen darauf, daß das Edikt solange außer Kraft gesetzt würde;
aber das war, zumal mit Rücksicht auf den Kaiser, nicht durchzu-
setzen. Man mußte ein Kompromis eingehn, welches seinen Aus-
druck in der Formel fand, es solle jeder Stand in Bezug auf das
Wormser Edikt sich so halten und so regieren, wie er es vor Gott
und dem Kaiser zu verantworten sich getraue. Verf. ist dem Ur-
sprung dieser berühmten Formel nachgegangen und hat dieselbe
zuerst bei den Kurfürsten gefunden. Als man diese von jener Spe-
cialweisung des Kaisers benachrichtigte, welche jede Aenderung des
Herkommens in den kirehlichen Dingen streng untersagte , aatwor*
Friedensburg, Der Beichstag zu Speier 1526. 965
teten sie dem Erzherzog: gegenwärtig werde über die kirchliche
Frage bei ihnen nicht verhandelt; wenn sie aber an dieselbe heran-
treten würden, so würden sie, der kaiserlichen Weisung eingedenk,
sich so verbalten, wie sie es vor Gott, dem Kaiser und dem Reiche
würden verantworten können. Die Formel erscheint also hier be-
reits in engster Beziehnng zu dem Verbot des Kaisers , kirchliche
Neuerungen einzuführen. Und das gleiche gilt von der entsprechen-
den Formel, welche sich im Reichsabschiede und in der Instruktion,
die man für die Gesandtschaft an den Kaiser aufsetzte, voi*findet.
Es ist nicht eben eine bündige Zusicherung strikten Gehormsams
gegen den Befehl des Kaisers; dazu waren in diesem entscheiden-
den Punkte die Evangelischen, deren ganze Stellung dadurch negiert
worden wäre, nicht zu bewegen ; aber die denkbar weiteste Annähe-
rnng an den Willen des Kaisers, die möglichste Rücksichtnahme auf
den so bestimmt ausgesprochenen Befehl des Herrschers wird doch
in jener Formel verheißen. Dazu kommt nun aber noch, daß es sich
bier ja nur um ganz provisorische Aufstellungen handelte. Nach
Lage der Umstände konnte man nicht entfernt daran denken, in den
beregten Worten etwas Dauerndes statuieren zu wollen. Jede defi-
nitive Ordnung auf dem kirchlichen Gebiet mußte — das war seit
der Kundwerdung der kaiserlichen fSpecialweisung die Ansicht aller
Stände — vorbehalten bleiben.
Aus alledem erhellt bereits zur Genüge, wie jene Auffassung
gänzlich in der Luft steht, welche von dem Speierer Reichsabschied
ein Reformationsrecht der Evangelischen datiert oder daraus irgend-
welche positive oder principielle Zugeständnisse für dieselben ableitet
Auch nicht einmal provisorische Duldung wurde den Evangelischen
gewährt — wenigstens nicht ausdrücklich und nicht weiter, als daß
man nicht darauf bestand, daß, wo Reformen bereits vorgenommen
wären, dieselben rückgängig gemacht würden. Im wesentlichen hatte
man den Neuerern in den fraglichen Worten des Reichstagsab-
schiedes nur so zu sagen eine Hinterthür geöffnet; man hatte sie in
die Lage gebracht, sich allenfalls darauf berufen zu dürfen, daß sie es
▼or Gott, vor ihrem Gewissen nicht verantworten könnten, das Worm-
ser Edikt nach seinem Wortlaut auszuführen; aber weiter zu gehn,
positive Neuerungen im Kirchenwesen vorzunehmen, gestattete ihnen
das in Speier abgeschlossene Kompromis nicht nur nicht, sondern
dasselbe verbot es ihnen sogar; denn ein solches Vorgehn wäre
offenbar vor dem Kaiser nicht zu verantworten gewesen. Aber auch
im übrigen setzt der Speierer Abschied die Erhaltung der Integrität
der katholischen Kirche voraus; in ihm wird ausdrücklieb erwähnt,
daß der Kaiser jede Aendernng in den kirchlichen Dingen untersagt
966 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 25.
habe, and zum Ueberflaß werden auch noch deni Klerus alle seiue
Rechte und Befugoisse gewährleistet.
An der vorstehenden, aus den begleitenden Umständen and der
Geschichte der Reichstagsverhandlungen gewonnenen Auffassnng des
Keichsabschiedes vom 27. August 1526 kann nun aber offenbar der
Umstand, daß die Protestanten im Jahre 1529 versucht haben , aas
jenen Worten eine gewisse Berechtigung für die von ihnen einge-
führten Neuerungen herzuleiten, eben so wenig irre machen wie die
Thatsache, daß Philipp von Hessen schon im Oktober 1526 sein
Land in aller Form zur evangelischen Lehre hinübcrgeftlhrt bat.
Das erstere erklärt sich einfach daraus, daß im Jahre 1529 die Aos-
sichten für die Evangelischen — wenigstens vor dem Forum des
Reichs — sich so ungünstig gestaltet hatten, daß der Wortlaut des
Abschiedes von 1526 ihnen immerhin noch den festesten Rückhalt
gegen die sie bedrohenden Gewalten zu gewähren schien. Und
wenn Landgraf Philipp schon zwei Monate nach der Abfassung des
Speierer Reichsabschiedes sich samt seiner Herrschaft der Reforma-
tion zugewandt, so hat er das eben nicht auf Grund , sondern trotz
dieses nämlichen Abschiedes gethan.
Freilich hat nun Philipps Handlungsweise nicht wenig daza bei-
getragen, die Beschlüsse des Speierer Reichstages illusorisch zu ma-
chen. Schon von vornherein mußte es sehr fraglich erscheinen, ob
dieselben ausführbar seien, d. h. ob es gelingen werde, die evange-
lische Bewegung auch nur vorläufig zum Stillstand zu bringen. Für
eine ganz kurze Zeit wäre das vielleicht möglich gewesen, aber dodi
auch für eine solche höchstens unter der Voraussetzung, daß alle
Obrigkeiten und maßgebenden Potenzen aufs eifrigste bemüht ge-
wesen wären, den Speierer Festsetzungen nachzukommen. Aber dem
war, wie wir eben sahen, durchaus nicht so; einer der angesehen-
sten und mächtigsten unter den evangelischen Fürsten setzte sieh
alsbald über das Speierer Kompromis hinweg. Noch mehr aber hatte
es zu sagen, daß von den in Betracht kommenden höchsten Gewalten,
zumal dem Kaiser, Jahre lang auch nicht die geringste Anstalt gemacht
wurde, das Provisorium des Reichsabschiedes durch ein Definitivam zn
ersetzen, d. h. ein allgemeines Eoncil oder eine freie Yersammlang der
deutschen Nation zur Entscheidung des kirchlich-religiösen Zwiespalts
zu Wege zu bringen. Ebenso wenig zeigte sich der Kaiser persönlich
geneigt, vermittelnden Tendenzen das Feld zu lassen: seine Haltang
den Evangelischen gegenüber ward nur immer schroffer. Da war
denn das Speierer Kompromis von 1526 nicht haltbar; anf allen
Punkten flutete die evangelische Bewegung darüber hinweg, nnd
wenn man sich noch auf die besprochene Wendung des Abschiedes be*
Jacob, Der Berustein bei den Arabern des Mittelalters. 967
rief) so geschab es jetzt allerdings iu dem Sinne, daß man erklärte, es
vor Gott nicht verantworten zu können, die in die Kirche eingerissenen
Misbräuche und die Entstellung und Hintansetzung der göttlichen
Weisungen noch länger zu dulden. Das war denn aber etwas ganz
anderes, als was man ursprünglich unter jener Formel verstand.
So ist der Speierer Reichstag von 1526 und der Abschied vom
27. August zwar eine bedeutsame Etappe der kirchlichen Entwick-
lung Deutschlands in jener entscheidungsvollen Epoche, und in man-
cher Beziehung ein Schritt vorwärts auf dem Wege, der, hauptsäch-
lich in Folge des starren Festhaltens des Kaisers an der alten Kirche,
zur unwiderruflichen Qlaubensspaltung unseres Vaterlandes führen
mußte, gewesen, aber die rechtliche Existenz des Protestantismus be-
ruht auf ihm in keiner Weise.
Göttingen. Walter Friedensburg.
I. Jacob, Georg, Der Bernstein bei den Arabern des Mittel-
alters. Berlin 1886. 12 S. 8^ [Nicht im Handel].
IL Jacob, Georg, Welche Handelsartikel bezogen die Araber
des Mittelalters aus den nordisch-baltischen Ländern?
Leipzig, Georg Bdhme 1886. 42 S. 8^ M. 1.20.
IIL Jacob, Georg, Der nordisch-baltische Handel der Araber
im Mittelalter. Leipzig, Georg Böhme 1887. 163 S. Q^ M. 4.
Die dritte und umfangreichste der hier zu besprechenden Schrif-
ten — die ich im Folgenden einfach mit den Ziffern I. IL III. be-
zeichnen will — ist im Januarhefte 1887 der »Oester reichischen Mo-
natsschrift für den Oriente von Herrn R. v. Scala ziemlich ungUn-
8tig beurteilt worden. Obwohl aber seine Ausstellungen an sich
nicht der Begründung entbehren, scheinen sie mir doch geeignet,
einen unrichtigen Eindruck von Jacobs Arbeit im Oanzen hervorzu-
bringen. Es tritt neben ihnen die Anerkennung des trotzdem Ge-
leisteten ziemlich zurück ; c^est le ton qui fait la musiqt4e, und ich
glaube, der Kritiker hat Lessings Mahnung, »gelinde und schmei-
chelnd« dem Anfänger zu begegnen, wohl nicht ganz mit Recht
anßer Acht gelassen. Nicht ganz mit Recht, da ich in Jacob eine
Kraft zu erkennen meine, der wir auf dem besonders von den deut-
schen Orientalisten allzulange vernachlässigten Gebiete der Realien
bedeutende Leistungen hoffentlich verdanken werden, und die bei
ihrer ersten, doch auch nicht geradezu misinngenen Aeußerung gänz-
lich zu entmutigen kaum wohlgethan sein dürfte. Jacob ist ein
t tichtiger Arabist, er bat die arabischen Geographen nach den Ge-
sichtspunkten, welcbe die Titel seiner Schriften andeuten, mit großem
968 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 26.
Fleiße, anerkennenswerter Genauigkeit und vollem Verständnisse
durcbgearbeitety mancherlei Stoffe aas einer großen Zahl von an-
dern, auch abendländischen Quellen herbeigeschafft , und unsere
Kenntnis an vielen Punkten über das hinaus gefördert, was in den
betreffenden Teilen der Einleitung zn Heyds bertlhmtem Werke ge-
geben ist. Ich werde versuchen, diesen Ergebnissen gerecht za wer-
den, ohne deshalb die vorhandenen Mängel zu beschönigen.
Wenig treten die letzteren in I und II hervor. I ist eine mit
großer Sauberkeit und gutem Urteile ausgeführte Studie, der wir den
Nachweis verdanken, daß unter ..Uc immer nur ambre gris za ver-
stehn ist, nie ambre jaune^ daß auch yM^.OüuM nicht Bernstein, son-
dern bernsteinähnliches Harz bedeutet, daß der wirkliche Bernstein
lediglich der L vl^ ist, welcher allerdings aus dem heutigen Railand
auf den bekannten nördlichen Handelsstraßen nach dem Orient ein*
geführt wurde, aber lange nicht in solchen Massen, als bisher, nach
noch von Heyd, angenommen worden ist. — In II werden die ein-
zelnen Handelsartikel : Sklaven und Sklavinnen, Vieh, Pelze, Leder,
Fischprodukte, Honig und Wachs, Produkte aus dem Pflanzenreicbei
Bernstein, Mineralien, industrielle Erzengnisse der Reihe nach durch-
gegangen, dabei überall die Originalstellen der arabischen Geogra-
phen angeführt und geprüft, manches Neue daraus gewonnen. Be-
sonders wertvoll ist der Abschnitt über die Pelztiere : der Verf. zeigt
sich auch über die zoologische Seite des Gegenstandes wohl unter-
richtet, und vermag zum ersten Male über schwarze und rote Ffichse,
über den von ihm als Wiesel bestimmten tit5U9, den nicht genau zu
identificierenden ^IS oder /^^, den Biber (von Frähn in (j^j^JOd \^j»syjj^
oder yXiÄ^ von Jacob in i^ erkannt) u. s. w. wirklich Genügendes
darzubieten. Nachträge zu dieser Arbeit finden sich noch III, 127 ff.;
es liegt in der Natur der Sache, daß jede weitere Lektüre hier Er-
gänzungen mit sich bringt, und man darf solche besonders noeh aus
gelegentlichen Angaben historischer Schriftsteller ^) erwarten — aber
es ist durchaus anzuerkennen, daß Jacobs Material so umfangreich
und so gut verarbeitet ist, wie man im Augenblicke nur verlangen
kann. Dasselbe gilt von III nur zum Teile. Das Baeh handelt in
einer Einleitung S. 7—17 vom Handel als Kütturträger im Auge-
meinen und Speeidlen^ S. 17—28 über die Enttoichlung des nordisck-
1) Solche werden, beil&nfig, auch über den Handel zwischen Nordafrika,
Spanien und Sicilien einerseits und den Christenstaaten andererseits, bei gehöri-
ger Ausnutzung, noch mehr Licht verbreiten, als J. in III zu bieten vermag,
vgl. unten S. 972. Eine gelegentliche Notiz, die den Verf. interessieren kann,
findet sich Ihn Abi Useibfa I, 136, 17.
Jacob, Der nordiscb-baltische Handel der Araber im Mittelalter. 969
baltischen Handels der Araber hinsichtUch ihrer Faktoren. Dann folgt
S. 29—71 ÄbsGhnüt 1: Die Münzfunde {Verbreitung der Münzfunde^
Heimat und Älter des Geldes^ dann nach Erörterang einiger Neben-
fragen Nachprägungen oder Barbarenmüneen^ unter ihnen ein Inedi-
tum aas Danzig mit Abbildung); derselbe schließt mit dem Hinweise,
daß ans den MUnzfunden allein ein richtiges Bild des nordisch-bal-
tischen Handels der Araber nicht entworfen werden kann, and leitet
somit von selbst über za Abschnitt 2: Handelsvölker und -wege.
Charakteristik des Handels (S. 72 — 125). Hier werden die Jaden,
Chazaren, Rfls, Normannen nach ihrem Anteil an der Handelsthätig-
keit charakterisiert; dann Ausgangspunkt und Wege des Verkehrs
studiert, wobei von den Völkern zweiten Ranges noch die Burtäs,
Wolgabulgaren, Slaven, das »Land Wisuc, Sibirien und der balti-
sche Norden zu ihrem Rechte kommen; eine Art Anhang bildet die
Besprechung der Handelsstraßen des Westens, die eigent-
lich dem Thema des Buches fremd ist, doch durch die Absicht moti-
viert werden kann, die äußeren Grenzen des nordisch-baltischen Han-
dels genauer festzustellen; der Schluß dieses Kapitels, welcher die
Möglichkeit eines Ettstenhandels zwischen Spanien und der Ostsee
untersucht, war jedenfalls in solchem Sinne notwendig. Endlich
wird noch die Frage, wie weit nun die muslimischen Kaufleute auf
ihren Reisen in die Länder des Nordens vordrangen, zu beantworten
versucht. Abschnitt 3: Handelsartikel gibt in dem Kapitel Export
Ergänzungen zu 11^ in dem Kapitel Import eine Zusammenstellung
orientalischer Erzeugnisse, die nachweislich bis zu den Gestaden des
baltischen Meeres gewandert sind; dabei wird freilich, besonders wo
die Lehnworte (Atlas, Damast u. s. w.) als Zeugnisse benutzt wer-
den, nicht gehörig unterschieden zwischen dem eigentlich nordisch-
baltischen Handel und dem, welcher seinen Weg ttber das Mittel-
meer nahm.
In fast allen Abschnitten auch dieser Schrift finden sich neue
Mitteilungen aus arabischen, häufig auch aus christlich-abendländi-
schen, nicht immer leicht zugänglichen Quellen, sowie Bemerkungen
und Darlegungen des Verf. selbst, die von großem Werte sind, oder
doch das Interesse des Lesers beanspruchen. Wenn trotzdem man
nicht den Eindruck erhält, daß Jacob hier seinen Vorwurf vollkom-
men bewältigt und die Untersuchung zu einem vorläufigen Abschlüsse
gebracht habe, so hat das zwei Grttnde: einmal, daß der von ihm
mit außerordentlichem Fleiße aus einer umfangreichen Lektüre ge-
wonnene Stofi^ doch noch nicht ttberall den Rahmen ausfüllt, welchen
das Thema des Buches vorzeichnet, dann aber, daß er es versäumt
hat, zwischen den verschiedenen Ländern, Völkern und Zeiten rein-
CN^ti pl. Aas. 1887. Nr. 25. 67
970 öött. gel. Anz. 1887. Nr. 25.
lieb zu scheiden and in die geschichtlichen Verhältnisse der einzel-
nen tiefer einzudringen. Beide Mängel haben ihren Grand darin,
daß er nicht in gleicher oder doch annähernder Weise, wie die geo-
graphische, so auch die historische Litteratar der Araber beherrscht,
and in der Geschichte des mittelalterlichen Orientes nicht darchweg
za Hause ist. Nun ist das ja freilich von einem jttngeren Gelehrten
gar nicht zu verlangen. Wer die sämtlichen bisher gedrackten ara-
bischen Historiker auch nur flüchtig einmal hintereinander darebl^en
wollte, könnte sich ruhig für ein Lustrum an seinen Stadiertiseh
festschrauben, und wie schwer es ist, aus dem zerstreuten Material
einen einigermaßen genügenden Ueberblick über die ganze Geschichte
des Orientes im Mittelalter sich zu verschaffen, weiß ich aus eigner
Erfahrung, nachdem ich in meinem »Islamc den Versuch gemacht
habe, lediglich im Großen und Ganzen den Stand unseres Wissens
auf diesem Gebiete darzustellen. Unter solchen Umständen hätte
Jacob, wenn er sich nicht dahin bescheiden wollte, nach dena Bei-
spiele Heyds in jahrzehntelanger, entsagungsvoller Arbeit das orien*
talistische Gegenstück zu dem Musterwerke dieses Gelehrten zu
schaffen, sich beschränken sollen, vorläufig in der Weise, die in I
und II ihm zu so vortrefflichen Ergebnissen verhelfen hatte, weiter
zu arbeiten und in einzelnen Monographien das allmählich za ^-
schöpfen, was er nun häufig nur an der Oberfläche gestreift hat
Es ist unnötig, hier auf die Mängel ausführlich einzugehn, die Herr
V. Scala bereits ziemlich scharf gerügt hat — insbesondere die
Schwächen in der Behandlung der Lehnworte und die Unznlänglich-
keit des numismatischen Teiles, dessen erschöpfendes Stadiam, sollte
das Buch einmal seinem Titel voll genügen, nicht mit den Bemer-
kungen S. 31 f. abgelehnt werden durfte: es macht doch einen et-
was störenden Eindruck, wenn z. B. in den Litteraturangaben Ober
die Münzfunde in Ostpreußen und Pommern außer Nennang von
ein paar Aufsätzen von Nessel mann und (unverdienter Weise) mir
jeder Hinweis auf die reichen Materialien fehlt, welche in den ver*
schiedenen Serien der jetzigen »Altpreußischen Monatsschriflc and
in den »Baltischen Studien« vergraben liegen, und wenn es S. 35
trocken heißt »Mecklenburg dürfte Pommern an Mttnzfanden nicht
erheblich nachstehen« — wo doch mindestens auf Frähns Notiz im
Bulletin scientifique X, 91 und auf die zahlreichen Fondnotisen
u. s. w. in den Jahrbüchern und Jahresberichten des Vereins f&r
mecklenburgische Geschichte hinzuweisen war. Ebenso bedaaerlich
ist aber der andere Mangel, der es verschuldet, wenn J., an zahl-
reichen Stellen genötigt, sich über historische Verhältnisse aosza-
sprechen, nicht aus voller Beherrschung des Materiales urteilt and
Jacob, Der nordisch-baltische Handel der Araber im Mittelalter. 971
daher Dinge zusammenwirft, die genaa zu trennen waren, and von
bekannten Einzelheiten aus durch unrichtiges Generalisieren zu
gänzlich schiefen oder gar falschen Sätzen gelangt. Das Schlimmste
in ersterer Beziehung ist, daß ihm die ganze Bevölkerung des Cba-
lifates einfach »die Araber« sind, und er nun fortwährend mit die-
sem Begriffe operiert, ganz gleich, ob die Araber der vorislamiscben
Zeit, die Bewohner Siciliens und Spaniens, die Irakier der Abba-
sidenzeit oder die persischen Unterthanen der Samaniden in Frage
kommen. Das Richtige ist ihm hier, wie die Bemerkungen S. 121
zeigen, nicht geradezu unbekannt; er zeigt auch S. 20 das ebenfalls
richtige, wenn auch dunkle Gefühl, daß man den Handel der Ost-
Jänder bis in die Sasanidenzeit zurttckzuverfoigen hat, aber er be-
ruhigt sein Gewissen auf Grund einer allzu weitgehenden Vorstel-
lung von der »Arabisierung der unterworfenen Völker« S. 21 f. mit
einigen Sätzen allgemeinen Inhalts, welche den historischen That-
sachen durchaus nicht entsprechen: ich will hier nur daran erinnern,
daß nach Bel&dhorts Ans&b zu Alts Zeiten auf dem Markte zu Kufa
persisch gesprochen wurde, daß am Hofe des Mansfir das Persische
dem Arabischen gleichberechtigt war (Ibn Abi Us. I, 152), daß T&hir,
wie seine von Tabart angeführten letzten Worte beweisen, im Privat-
leben sich des Persischen bediente, daß Ma'amfin sich persisch an-
singen ließ und daß bei den Samaniden, ganz abgesehen von der
Hoflitteratur, auch die Kanzleisprache persisch gewesen zu sein
scheint'). Es ist also unzulässig, die Rolle der Araber im östlichen
Handel weiter anszudehnen, als auf die von ihnen bewirkte Schaf-
fung eines einheitlichen Staatswesens, das aber seinerseits zur Zeit
der Samaniden, auf die es hier hauptsächlich ankommt, bereits voll-
ständig wieder in die Brüche gegangen war. Man kann diese Un-
terschiede der Zeiten und Nationen auBer Acht lassen, so lange es
sich um die Bestimmung von Pelztieren u. s. w. handelt, soll aber
der ganze muslimisch-nordische Handel geschildert werden, so muß
man das Bagdad Haruns und das Samarkand der Samaniden sorg-
fältig auseinanderhalten und sich aus historischen Quellen ein Bild
zu machen versuchen, wie die Handelsverbindungen da und dort
sich gestaltet haben können: ob das gelingt, ist freilich eine andere
Frage, aber die einfache Identifikation der verschiedenen Perioden
ist an sich unzulässig. Und wenn es S. 70 f., bei Anerkennung des
Bestehens eines Handels zwischen den spanisch-sicilischen Muslimen
und den abendländischen Christen heißt: »Der größte Teil der ara-
1) Denn Machmüds von Gazna Regierung hat sich in ihren Anfängen auch
noch des Persischen bedient; vgl. meinen Islam II, 61.
67 •
972 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 25.
bischen Fremdwörter in unserer Sprache ist anf dem westliches
Wege dnrch die Länder der Romanen zu uns gelangt Doch darf
dieser Umstand, zu dessen Erklärung man noch andere Faktoren
als allein den kommerziellen Verkehr heranziehen muft| uns nicht
verleiten ins andere Extrem zu yerfallen; jedenfalls war, wie ans
den Berichten der arabischen Geographen hervorgeht, die Ostiiebe
Handelsstraße von größerer Bedeutung; den Grund für diese Er-
scheinung haben wir bereits in dem Gegensatze zwischen Christen-
tum und Islam gefundene — so ist das in dieser Fassung irrefüh-
rend; die arabischen Fremdwörter sind ins Deutsche zu sehr ver-
schiedenen Perioden gelangt und auf sehr verschiedenen Weges
dazu, der Gegensatz zwischen Christentum und Islam hat im Zeit-
alter Abderrachm&ns III. und der Fatimiden, deren Truppen gele-
gentlich mit den Byzantinern gegen die Ottonen in Unteritalies
fochten, ganz gewiß dem Handel keine solchen Schwierigkeiten mehr
in den Weg gelegt, als in den ersten Jahrhunderten des Islams:
und dabei sehe ich von der späteren Zeit, in welcher nach den
eigenen Darlegungen des Verf. die Sache sich vollkommen amkehrtei
Überhaupt ab, um ihm keine Ansiebten zuzumuten, die er selbst
gewis nicht gehabt hat. Besonders auffallend ist die Vernachlässi-
gung des Unterschiedes zwischen den Verhältnissen verschiedener
Zeiten S. 66 f., wo man liest: »die langobardischen Mttnzen, welche
die Fürsten von Salerno seit Gisnlf I.< [reg. 933—978] »nach fati-
midischem Master (die demnach auf einen Seeverkehr mit Aegypten
hinweisen!) mit schiitischem Dogma prägten«. Ja, aber Sicilies
und das muslimische Unteritalien selbst waren ja seit 916 endgUtig
fatimidisch und seit dem Abgange des MoMzz nach Kairo (973) un-
mittelbar der ägyptischen Centralregierung unterstellt, ein lebhafter
Seeverkehr zwischen Sicilien und Aegypten in dieser Zeit also selbst-
verständlich — ganz abgesehen davon, daB er verschiedentlich di-
rekt bezeugt wird — , und welches andere als das fatimidische Geld
hätte also damals in Sicilien und Unteritalien kursieren sollen^)?
Dies leitet uns schon zu den Fällen tlber, wo J. durch Anfteracbt«-
lassen historischer Thatsachen zu unrichtigem Generalisieren veras-
laßt wird. Einen besonders unangenehmen Streich hat ihm in die-
ser Beziehung das bekannte Verbot gespielt, welches Omar gegen
das Unternehmen von Seefahrten erließ: wiederholt (S. 18. 118 f.)
spricht er von der dnrch dasselbe gehemmten Entwicklung der Nau-
tik bei den Arabern, und an der zweiten der angef&hrten SteUes
1) In Sicilien geprägte Münzen, die sich in nichts von den sonstigen faüiiii-
dischen unterscheiden, s. z. B. im Gatal. of Or. Coins in the Brit. Mus. VoL IT
Anfang passim.
Jacob, Der nordisch-baltische Handel der Araber im Mittelalter. 973
heiftt es denn : »Täriq konnte • . . nur 4 Schiffe auftreiben, nm sein
Heer nach Spanien überzusetzen .... Doch entwickelte sich eine
mnhammedanische Seemacht eigentlich erst nach der Vertreibung
der Mauren aus Spanien, die nun als heimatlose Eorsaren an den
christlichen Siegern Rache nahmen«. So viel Sätze, so viel Unrich-
tigkeiten. Ueber Tariq will ich nur auf meinen Islam I, 425 ver-
weisen, bemerkend, da0 seit Othmän und besonders Mo*äwija die
Araber im Osten große Flotten hatten; von der Zeit des Letzteren
ab findet man im Tabari fast unter jedem Jahre die Seerazzia gegen
die Byzantiner neben dem Landfeldzuge erwähnt. Vor der Vertrei-
bung der Mauren aus Spanien hatten Abderrachmän IIL und seine
Nachfolger ebenfalls große Flotten gehabt, Mugähid von Denia mit
seinen Eorsarenschiffen die Ettsten des halben Mittelmeers zur Ver-
zweiflung gebracht, war Almerta lange Zeit die erste Handelsstadt
des Westens gewesen; und wie sich Agiabiden und Fatimiden mit
ihren Schiffen von Sardinien bis über Kreta hinaus den Christen
furchtbar gemacht hatten, steht im Aman aasfUhrlich und danach
auch in meinem Islam kttrzer zu lesen. Diese mangelhafte Orien-
tierung in der Geschichte übt auch auf die Behandlung von Einzel-
heiten, denen J. anderwärts immer eine wohlthuende Oenauigkeit
widmet, gelegentlich einen üblen Einfloß. Schon II, 8 heißt es : »In
Palermo gab es nach Jäqfit ein Slaven- oder Sklavenviertel, je nach-
dem man übersetzen will; ich glaube allerdings, daß hier Siql&b in
der Bedeutung Bus d. i. Normannen steht«. Minime; was Saqälibe
im ganzen Westen bedeutet, wolle der Verf. aus Dozys Histoire
III, 59 (wo auch Einiges über Sklavenhandel) oder eventuell mei-
nem Islam I, 611 f.; II, 512 f. ersehen. Nun passiert es ja jedem,
daß er ab und zu derartige Lapsus begeht, über die er sich, wird er
darauf hingewiesen, selber wundert, und ich würde schon in dem
Bewußtsein, daß ich in meinem eben mehrfach citierten Islam einige
ganz insigne Stupiditäten habe drucken lassen. Derartiges gar in
einer Erstlingsarbeit sehr begreiflich finden: aber bei J. kommen
diese Dinge doch ein wenig oft vor — ich will die Beispiele nicht
häufen, muß aber es zu meinem Bedauern wiederholen, daß vorzüg-
lich die allgemeinen Sätze und Folgerungen, auf die er sich ein-
läßt, aus solchem Grande nur zu häufig falsch oder doch schief ge-
raten sind. Natürlich werden gerade diese in populären Abhand-
lungen und Kompendien bestens nachgeschrieben werden, die zahl-
reichen guten Einzelerkenntnisse dem größeren Publikum ifremd blei-
ben. Oanz vortrefflich ist es z. B., daß wir durch J. (schon I, 12;
dann III, 90) auf die Stelle Ja^^übts aufmerksam werden , wonach
Sevilla im J. 229 d. H. (844) durch Bus geplündert worden ist: es
974 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 25.
soll in der That Stasow nnd andern rassischen Qermanophoben
schwer werden zu behaupten, daß auch dies Finnen gewesen sind.
Ich ziehe absichtlich keine grOBere Zahl solcher gaten nnd richtig
verwerteten Fnnde ans: J.s Arbeiten müssen von denen, die sie an-
gehn, selbst gelesen werden. Allerdings ist, abgesehen von dem bis-
her Gesagten, noch Einiges andere für die Lesung störend. Man
hat den Eindruck, als ob der Verf., der sich mit rühmlicher Energie
in den Stoff hineingearbeitet und auch alle Detailfragen mit ein-
dringender, doch besonnener Kritik zu behandeln yerstanden hat,
sei es durch irgend welche äußere Verhältnisse (über die ich nichts
weiß), sei es durch jene begreifliche Ungeduld, die von langer und
mühsamer Arbeit endlich die Früchte einheimsen will, das Nieder-
schreiben und den Druck insbesondere von III zu überhasten yer-
leitet worden ist. Der Stil ist, obwohl J. schreiben kann, öfter
nachlässig, der Ausdruck nicht immer glücklich. Häufig finden sich
Nebenbemerkungen, die der Verf. bei genauerer Ueberlegung wohl
als überflüssig selbst getilgt haben würde: z. B. die Anmerkung *)
zu II, 32; III, 24; ferner III, 17 Anm.; 18 Anm.; >Fez eig. F&sc
S. 47 ; 59 Anm. (als ob nicht auch z. B. in Deutschland Münzen als
Schmuck getragen würden); 74 Anm. *); 76 den Satz überWttsten-
felds Schriften; 77 die Gegenüberstellung der französischen Ueber-
setzuug von Heyd's Levantehandel und des »deutschen Originalst
(woraus niemand entnehmen würde, daß auch die Verbesserungen
der ersteren meistens Heyd selbst verdankt werden); 78 Anm.; 85
Anm. ***) ; 100 Anm. *) ; 179 Anm. und vor Allem die Notiz S. 126
»V. Kremer (Oesterr. Handelsminister, ausgez. Arabist)«, welche
dem Leser zuzutrauen scheint, daß er einen unserer ersten Gelehrten
nicht kenne, außerdem nicht einmal richtig ist, da Baron Kremer
zum Heile unserer Wissenschaft und zur Ehre seines deutschen Na-
mens bei einer bekannten Veranlassung sein hohes Amt in die Hände
seines Monarchen zurückgegeben hat. Auch Belehrungen, wie die
über die verschiedenen Serien des Bulletin der Petersburger Akade*
mie (S. 43) kann jeder entbehren, der selbst wissenschaftlich arbei-
tet, und für Andere sind sie erst recht überflüssig. Dem entspre-
chen mancherlei sachliche Nachlässigkeiten, die mit der auf des
Verf. wirklichem Gebiete ihm eigenen Genauigkeit in merkwfirdigeffl
Widerspruche stehn. III, 91 legt er dem Autor des Fihrist xnr
Last, was jedenfalls nur Schuld der Schreiber ist; 99 findet sich die
schreckliche Anmerkung ***) zu Tadschik: »Iranischer Volksstamm« ;
118 der nicht weniger schreckliche Satz, daß »aus dem indischen
Brahmanen Sidipati in der arabischen Form des Märchens Sindbad
al-Bahrt geworden« — NB. als Siddhapati ^^Meister der 2!mbar€r
Jacob, Der nordisch-baltische Haadel der Araber im Mittelalter. 975
oder Weisen^ hat Benfej (Bnlletin hist-pbil. 1857, ^ Sept. =
Mil. as. Ill, 188) deD Namen Sindbad erklärt, nach welchem das
sonst nnter dem Namen der »Sieben Wezire« bekannte, wie alle
diese Erzählungen aus buddhistischen Kreisen stammende »Bach
Sindbade heißt, das mit dem »Sindbäd al-Bahric lediglich dnrch
eine vermutlich nur zufällige, möglicherweise erst auf islamischem
Boden erwachsene Namensähnlichkeit verknüpfl; ist. S. 135 thnt
mir J., dem ich sonst für seine sehr freundliche Haltung meinen
qualibuscunque Arbeiten gegenüber zu danken habe, Unrecht, wenn
er implicite sagt, ich habe in Bezzenbergers Beiträgen I, 294 das
Wort »Weine fUr semitisch erklärt. Allerdings ist seine Angabe
von mir durch einen Stilfehler zu Anfang des betreffenden Passus
verschuldet; aber 8 Zeilen weiter sage ich ausdrücklich »Es ist also
jedenfalls an einer indogermanischen Etymologie festzuhalten c. —
In den gleichen Zusammenhang gehört die große Anzahl von Druck-
d. h. nach Fleischers vortrefflicher Definition Schreib- oder Eor-
rekturfehlern — da haben wir, zum Teil mit unangenehmer Häufig-
keit, tafarisch, Littauen und lühauisch^ Ethymologie, einmal (II, 11)
^Arün statt Harun, und kleinerer Korrekturfehler gar viele, z. B.
III, 34 binnen 8 Zeilen Ermann statt Erman, Canite statt Carnitz
und Witenitz statt Witzmita (zu letzterem war Erman , Z. f. Num.
1879, 249 f. zu eitleren).
Wenn Jacob diese Anzeige liest, wird er vermutlich ausrufen
»Gott schütze mich vor meinen Freunden, mit meinen Feinden will
ich schon selber fertig werden c. An Letzterem zweifle ich bei sei-
ner Begabung und seiner Fähigkeit zum labor improbus keinen
Augenblick: mich aber hat es geärgert, daß diese erste, an sich be-
deutende Ernte gewissenhafter Studien, vermutlich eben durch Ueber-
bastung des Abschlusses, mit etlichem Mutterkorn versetzt worden
ist, das Manchen veranlassen kann, auch den guten Erdrusch fort-
zuwerfen. Und darum wäre es wahrlich schade. Denn ich wieder-
hole es: Viel Treffliches steckt in diesen Arbeiten, und der Verfasser
ist nach Kenntnissen, Urteil und Arbeitskraft befähigt, das AUer-
bervorragendste zu leisten. Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten
Stein auf ihn ; er aber gehe hin und arbeite fleißig weiter.
Ich schließe mit den üblichen Einzelbemerkungen zur Legitima-
tion des Recensenten. I, 6 kann man zu m^ die Notizen aus dem
Schatze von Quatremires Wissen (Sultans Maml. I, 2, 133) ver-
gleichen. — I, 10 und II, 31: Der »wächsernec Bernstein ist der
von feinen weißlichen Adern durchzogene, der »Eumsteinc, wie man
ihn in Ostpreußen nennt, der auch heute noch fUr wertvoller gilt,
als der glasartige goldgelbe. — 11^ 9: vgl« Fr. Müller in KB.
976 Oött. gel. Anz. 1887. Nr. 25.
II, 490. — II, 32: y^tJüy« = Eridanus bei Noweiri kann nicbt
als Verschreibung ans u^tOu^ erklärt werden, da c nie ftlr anlau-
tenden Vokal in Transskriptiooen ans dem Grieehiseb-STriaeheo
vorkommt. Es ist = ^Juß mit vorn weggefallenem t. — II, 38:
lieber b^^mmJü) ist Dozy-Engelmann jetzt veraltet, das Richtige steht
bei Dozy im Snppl^meut aax diet ar. s. v.; vgl. schon Weil,
Gesch. d. Cbal. II, 348. Es ist die hohe persische Mütze, welehe
seit Mansfir von den Cbalifen getragen wurde. — III, 99 N. •♦):
die von Gosche , Gbazzäl! S. 294 gesammelten Stellen ermOglieheD
doch wohl keine sichere Entscheidang Über die richtige Schreibung
des Namens. — III, 101. 104: zu ^y und ytL ist Fibr. 20 zn ver-
gleichen. — III, 117: die Schreibung Ihn Gbillikän scheint mir
durch die von Lane (Preface XIV) angezogene Autorität des Tag
el-*Arfis nicht gesichert. Zwar ist das gute Buch des Seijid Hnr-
ta(}a, wie so viele seines Gleichen, bis zum Pregel noch nicht vor-
gedrungen, aber ich habe ihn im Verdachte, daß er nur des lieben
Itb&' wegen auf dem i bestanden haben wird. Der Mann selbst
schrieb sich jedenfalls mit a: s. das Faksimile seines Autographs
bei Curetons Artikel im Journ. R. A. S. VI, 223 ff. — III, 119:
daß Kindi den Ptolemaens ins Arabische ttbersetzt habe, ist nicht rich-
tig. Wenricb sagt es zwar, und hatte noch ein Recht dazn, denn im
Kiftl steht (Ms. Berol. Or. fol. 493 f. 45^; Wiener Hs. Flügel 1162 f.
570 LAil*^ 0c>^3 liXc> tiSi ^jMi\ i1 ^^JO^Ü» idläj — wenn es aber
an der Stelle des Fibrist 268, 13, welche der l^iftt hier abschreibt,
heißt il,^ Jc>^^ tJs^ iüü ^yiJt il s^\i s^ Ji^j'm ^^oüUCir jjü
so sieht man, daß entweder der Excerptor des Kadi's oder ein Schrei-
ber von ^Üü auf ^Uü gesprungen ist und ein Anderer dann i^jujüt J£
in yjfXiS^\ aUü verändert bat. Kindi hat mehrfach für sich übersetzen
lassen^ aber schwerlicb selbst übersetzt. — III, 147: Richter 8, 21
heißt es zwar on'^bra "»n^is b:^ ^id« d'^i^nvn, aber wenn nachher V. 26
steht T» "i^^^i r'To ^Dbtt by« pÄnÄn »^nani nifinsm öwn-on pa ^rb
DH'^b'KUi '^^MISl "^fB^ tr^'SS^^ so liegt es doch nahe anzunehmen, daß
an der ersten Stelle einige Worte ausgefallen sind, und die Halb-
monde zum Schmucke der Könige gedient haben, nicht der Kamele
— trotzdem Quatremöre (Suit. Maml. I, 1, 253 zu 243) keinen An-
stoß gnommen hat.
Königsberg, 18. März 1887. A. Hfiller.
yon der Linde, Kaspar Hauser. 977
von der Linde, Antonius, Kaspar Hauser. Eine neugeschichtliche Le-
gende. 2 Bände. Wiesbaden, Chr. Limbarth 1887. 408 u. 416 S. 8^
Mit berechtigter SpanuuDg wird man das Werk des scbarfsinni-
gen ZerBtOrers der Coster- und anderer Legenden zur Hand nehmen,
trotzdem ja die Easpar-Hanser^Frage von so vielen Seiten beleach-
tet isty daS man wohl nicht auf ein zweibändiges Werk mit über
50 Druckbogen mehr gefaßt war. Und doch, so vielfach auch eine
ernste Kritik der Prüfung des Lebens dieses »Kindes von Europac
sich zugewandt hatte, es war doch immer jedesmal nur eine Seite
der Frage in Angriff genommen: bald handelte es sich um Kritiken
der Abstammnngskombinationen, bald nur um die Klarstellung des
früheren Lebens Kaspar Hausers. Hier liegt nun ein Werk vor, das
die ganze Entwicklung des Lebens Kaspar Hausers und ^ das ist
ja das Wichtigere — die der Ansichten und Hypothesen über ihn
mit einer tief einschneidenden Kritik zerlegt. Die bisherigen Ar-
beiten suchten einen Ast oder auch wohl den Stamm der Mythen-
bildung selbst zu treffen, v. der Linde entwurzelt sie, ja er hat
wohl dabei noch überflüssige Arbeit gethan.
Der Kern der ganzen Frage, ob Kaspar Hanser ein Schwindler
oder das Opfer eines Verbrechens war, liegt in der Untersuchung
seines Lebens von seinem ersten Auftreten an, als er am 26. Mai 1828 anf
dem Unschlittplatze zu Nürnberg auf zwei Nürnberger Bürger zugieng,
bis zn der Zeit, wo die gute Stadt Nürnberg in ihm das Opfer
eines »Mordes an der Seelec suchte. Eine sorgfältige gerichtliche
Prüfung dieser Zeit hat zuerst der Polizeirat Merker verlangt, des-
sen erfahrenes Urteil seine Zeit in den Wind schlug, und, wenn
auch später da noch vieles nachgeholt ist — die erste sorgsame
Prüfung, die kein noch so unscheinbares Detail aus dem Auge läßt,
die alle bisherigen kritischen Beobachtungen zusammenfaßt, sie liegt
uns erst hier vor. Feine Beobachter haben ja wohl schon die Züge
geistiger und körperlicher Thätigkeit gesammelt, welche bei einem
Menschen unmöglich sind, der eben erst aus langjährigem Kerker,
wie ihn Kaspar Hauser schildert, befreit ist. Aber auch da sind
noch manche Züge von v. d. Linde beigebracht; meines Wissens ist
z. B. nie darauf hingewiesen, wie Kaspar Hanser den Gebrauch der
Schelle kennt. Mit einer peinlichen Sorgfalt wird die Länge des
Weges berechnet, die der Eingekerkerte gerichtlich nachweisbar
gehn konnte; mit derselben Sorgfalt wird sein Anzug Stück für
Stück und die Sammlung von Andachtsbüchern und Gebeten, welche
er meist in seinem Hute trug, gemustert. Letztere weisen nacb|
was anch ans andern Umständen gefolgert wird, daß Kaspar Hanser
katholisch war.
978 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 25.
Der UmschwQDg im BeDehmen Kaspar Hausers, von seinem nr-
sprÜDglichen AuftreteD, wo er nur seine Heimat verschweigen wollte,
Reiter zu werden sich auf alle Weise bemühte, in das spätere, wo
andere fUr ihn ein Phantasma znsammeogedichtet hatten, dessen
allmähliches Wachstum er seinen ersten Notittgen zu Liebe förderte,
indem er einsah, daß er bei dem allseitigen Interesse, das man ihm
zuwandte, vortrefflich fuhr, — dieser Umschwung ist vorwiegend das
Werk von drei Männern, die mit einem Leichtsinn ohne Beispiel
ihre amtlichen Eigenschaften misbrauchten, und auf deren Konto der
größte Teil all des späteren Unfuges zu setzen ist. Die Quelle aller
Mythen war die Bekanntmachung, die der Bürgermeister Binder von
Ntirnberg am 7. Juli erließ. Sie griff weit in das Gebiet der gericht-
lichen Thätigkeit hinüber. Wenn auch in Folge dessen die Auflage
konfisciert wurde, so war ein Teil doch gerettet, nachgedruckt und
bald in alier Welt bekannt. Es ist und bleibt unbegreiflich, daß
damals nicht das Gerieht die Sache zur Hand nahm. Binder hatte
aber seinen Rückhalt an einer andern amtlichen Person, dem Ge-
richtsarzt Dr. Preu, dessen Gutachten wohl einzig in seiner Art da-
steht. Statt sorgfältiger Notierung des Befunds aller Abnormitäten,
die sich an Kasper Hanser vorfinden mußten, statt Aufführung der
einzelnen Beobachtungen, welche der Arzt an ihm gemacht, ein Ur*
teil über sein Vorleben ! Wo in aller Welt ist der Arzt zur Abgabe
dessen berufen? War so die Prüfung kopflos genug angefangen,
so konnte wohl schwerlich ein » Erzieher c gewonnen werden für
Kaspar Hauser, der weniger für ihn paßte, als Daumer. Mit einem
Gefühl des Entsetzens liest man heute seine Mitteilungen über Kaspar
Hauser, anstatt sorgfältiger, nüchterner Beobachtung über seine gei-
stigen und körperlichen Fähigkeiten zu geben, behandelte man ihn als
interessantes Objekt für »höhere« Studien, legte Daumer das in ihn
hinein, was er aus ihm herausfragen wollte. Dem Philosophen vom
Schlage Daumers war er das Kaninchen für seine medicinischen Ex-
perimente. Einer Zeit, die weniger nüchtern denkt, welche ereignis-
armer war als die unsere, setzte man nun die Kaspar-Hauser-Fabel
vor, die sie um so williger aufnahm, als das psychologische Inter-
esse für einen Menschen, dessen Seelenleben, gewaltsam zurückge-
halten, nun auf einmal emporschießt, im breiten Publikum damals
viel größer war, als es heute sein würde. Das Gericht hatte sich
nicht um die Sache gekümmert, was aber sonst amtlich nur irgend
zu der Sache in Berührung stand, hatte kritiklos die von ihnen selbst
geschaffene und aus Kaspar Hauser herausiuquirierte Fabel ans-
posaunt. Für alle Zeiten ist die Kopflosigkeit und der Unverstand
yoD der Linde, Kaspar Hauser. 979
der bayrischen Behörden fUr den später nachfolgenden Unfug ver-
antwortlich.
Dem Nachweis dieses Znsammenhanges sind die ersten Kapitel
des von der Lindeschen Baches gewidmet, und unseres Erachtens ist
der Beweis, dafi Kaspar Häuser zwar nicht als Schwindler nach
Ntlrnberg kam, dort aber ein solcher wurde, mit aller wünschens-
werten Sicherheit geführt. Jede Kritik gegen den sachlichen Inhalt
des Baches müßte sich gegen diese Kapitel wenden.
Einen kleinen Beitrag für die Oberflächlichkeit der Urteile Dau-
mers, den man bislang übersehen hat, glaube ich einschalten zu sol-
len. S. 73 reprodnciert v. d. Linde nach Daumer einen männlichen
Portraitkopf, der etwa znr Hälfte vollendet: Nase, Mund und Augen
sind fertig gezeichnet und sorgföltig schattiert, die Haare sind auch
wie der Hals und die Grundlinie des Kopfs angedeutet, jedoch nicht
fertig geworden. Jeder anbefangene Beobachter wird sagen, daß
diese Art der Schattieraug beweist, daß Kaspar Hauser eine Vorlage
nachzeichnete. Nun höre man aber Danmer: »Im November des
Jahres 1828 fand ich Hauser mit der Zeichnung eines männlichen
Kopfs beschäftigt. Er sagte mir, dieses Gesicht stehe, so wie er es
hier abzeichne, vor seinen Augen da. Als ich ihm bemerkte, daß
das eine Auge des Bildes nicht ganz nach der Richtung, wie das
andere, blicke, so sah er abwechselnd auf die Zeichnung und dann
nach der Gegend hin, in welcher der Kopf vor ihm schwebte , wie
wenn jemand ein Porträt sorgfältig mit dem vor ihm stehenden Ori-
ginale vergleicht. Hierauf sagte er, der Kopf schiele auch wirklich
80, wie er ihn gezeichnet habe. Er konnte wegen eintretender
Augenschmerzen das Bild nicht vollenden und machte erst nach
einiger Zeit unordentlich herabhängende Haare an demselben, deren
Zeichnung, von der er sagte, er habe sie nach verschwundener Vi-
sion ans ungewisser Erinnerung gemacht, von dem übrigen, besseren
Teile der Zeichnung sich merklich unterschied. Die Farbe der
Haare wußte er nicht mehr zu bestimmen. Es fragt sich indessen,
ob der Kopf, den in derselben Hauser sah und zeichnete, nichts als
ein Phantasiebild, oder ob es nicht vielmehr eine in Form der Vi-
sion hervorspringende Erinnerung aas seiner Kindheit gewesen.
Letzteres ist das wahrscheinlichere c. Nan auch darauf ist man
hereingefallen. Wir meinen aber, jeder nüchtern denkende Mann
hätte sich gesagt, so zeichnet man nur Vorlagen nach, das ist keine
Zeichnung nach der Natur, und hätte, was einem Gymnasialprofessor
doch so nahe liegt, um den Lügner zu ertappen, der ja so plötz-
lich Augenschmerzen bekommt, -- Kaspar Hausers Schreipmappey
Schublade, ev. Taschen visitiert, und, ich glaube, wir können noch
980 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 25.
heute sagcD, was für ein Porträt Danmer gefunden hätte. Denn nn-
yerkennbar scheinen mir die aasgeftihrten Partien auf ein Bild von
Schiller hinzuweisen , nur ist die Kopie za voll und jugendlich aus-
gefallen, auch zu breit im Verhältnis zur Höhe, aber das ist ftlr
einen Anfänger im Zeichnen ja bekanntlich das Schwerste, die Cha-
rakteristiken des Lebensalters genau wiederzugeben ; jeder Anfänger
hat die Neigung die Porträts zu voll und jugendlich zu machen.
Hätte Kaspar Hauser ein halbes Jahr nach seiner Befreiung aus der
Haft so gut nach der Natur oder vollends nach einer Vision
zeichnen können, ein Künstler von ganz herrorragender Begabnng
hätte in ihm gesteckt.
Aber wir stecken noch in den Anfängen unseres Werkes. Es
würde hier zu weit führen, wollten wir den Verfasser auf allen sei-
nen kritischen Gängen und gar auf seine vielfachen Ausfälle gegen
dritte und vierte folgen. Jedoch müssen wir wenigstens noch bis
zum Tode Kaspar Hausers den kritischen Gang des Buches im Auge
behalten. In den Fortgang der Angelegenheit ist nun leider anch
ein Kriminalist von hohem Ansehen verwickelt worden, Feuerbaeh.
So sprunghaft seine Stellungnahme ist, die im richtigen Moment
nicht eingreift, um später um so unvorsichtiger zuzufassen, — man
darf doch eins nicht vergessen, daß, wenn Feuerbach zeitlebens
schon ein reizbarer Mann war, seine Reizbarkeit sich zu jener
Zeit zu einer Stärke ausgebildet hatte, welche man aus jeder Zeile
seiner Sätze herausgreifen kann. Dieser Grad der Reizbarkeit raubte
ihm die Möglichkeit eine ruhige Untersuchung zu führen; in ihm siegte
dieses Mal die kombinierende Phantasie über den nüchternen kri-
tischen Verstand. Und welcher Kriminalist wäre nicht auch einmal
auf eine falsche Fährte geraten? In seiner Verurteilung ist der
Verf. doch wohl viel zu hart.
V. d. Lindes Prüfung des weiteren Lebens Kaspar Hausers, seine
Untersuchung des angeblichen Attentats vom 17. Okt 1829, wie das
im Ansbacher Hofgarten am 14. December 1833 sind in gleich sorg-
fältiger lückenloser Weise, wie in den ersten Kapiteln geführt
Hier ist das Material sowohl der Kaspar Vertrauen Schenkenden,
wie das der Gegner und Zweifler (Hickel, Meyer und am Ende anch
Stanhope) in vortrefflicher Weise dem Leser vorgeführt und benutzt
Aber auch mit Kaspar Hausers Tode hat v. d. Linde nicht ab-
geschlossen, sondern mit ihm betritt seine Darstellung das Gebiet der
Litteraturgeschichte — freilich eine dunkle übelbelenmdete Seiten-
gasse — und in gewissen Fällen auch das der Politik. Für den,
der den Kachweis der ersten Kapitel anerkennt, ist es freilieh über-
flüssig nachzuweisen, daß Kaspar Hauser kein Erbgroftherzog von
von der Linde, Kaspar Haaser. 981
Baden, kein Freiherr von Gattenberg, kein Napoleon II. und wie alle
die ihm angedichteten Stellungen heißen mögen, war, aber auch hier
ist Y. d. Linde von seinem Wege grtindlichster Forschung nicht ab-
gewichen. Seine Enthüllungen ttber den Zusammenhang der ver-
schiedenen Schriften, Über das Vorleben der Verfasser zeigen uns,
wer und wie man Kaspar-Hauser fabeln machte. In all diese Schmutz-
Winkel hineinschauen zu müssen ist nun freilich wohl für die meisten
der Leser gerade keine Freude. Wenn schon in den meisten Fällen
y. d. Lindes Urteil gerecht ist, so vergißt er doch zu oft, daß, nach-
dem alle zunächst beteiligten amtlichen Stellen in so unbegreiflich
leichtfertiger Weise ihr Urteil oder vielmehr ihre Phantasien sich
gebildet hatten, für alle späteren, die im bürgerlichen Leben gewohnt
sind dem amtlichen Urteile möglichst zu folgen, das ein Entschul-
digungsgrund ist. Gegen die Angriffe v. d. L. auf König Ludwig L
ist schon an anderem Orte Einspruch erhoben ; von ihm, der sich doch
auf die Informationen Feuerbachs und seiner Minister stützen mußte,
gilt das Gleiche, wie von allen denen, die keine Einsicht in das ge-
samte Material hatten und doch der edlen Dilettantensucbt, über
nsöglichst schwierige Fragen mit möglichst schlechten Mitteln arbeiten
zu wollen, nicht widerstehn konnten.
Das sich anschließende vierte Buch, »DerEaspar-Hauser-Mythasc
ist der Untersuchung des Vorlebens von Kaspar Hauser vor seinem
Erscheinen in Nürnberg gewidmet. Da wird vor allem auf die viel-
fachen Widersprüche in Hausers mündlichen und schriftlichen Aus-
sagen hingewiesen; aber, da mancherlei Wiederholungen sich er-
geben mußten, ist gerade dieses Buch das, was uns am Wenigsten
fesselt. Seinen Schluß bildet eine chronologische Uebersicht ttber
die Kaspar-Hanser-Litteratur. Sie endet mit der »Nr. 176. Und
aberabermals Kaspar Hauser. Frankfurter Kaspar-Moniteur 1887.
Ungedrnckte Artikelreihe von Kolbs Perisprit aus der vierten Di-
mensiont und damit beschließt das Werk, zuletzt noch einmal auch
seine unangenehmen Seiten, von denen wir gleich zu reden haben,
hervorkehrend.
Nicht auf den ersten Blick findet man in der breiten Darstellung
was von neuem Material durch v. d. Linde zum ersten Male auf den
Tisch zur Diskussion vorgelegt ist. Gleich zu Anfang ist jenes erste
Gutachten des Arztes, von dem wir oben sprachen, zum ersten Male
wieder benutzt. Der erste Band der Akten über' Kaspar Häuser,
der nach v. d. L. die Nürnberger Magistratsakten von 1828 enthal-
ten muß, konnte nach S. 19 Anm. 1 freilich auch von ihm nicht
benutzt werden. Aber auch für die spätere Zeit ist von dem Ver«
982 Qött. gel. Anz. 1887. Nr. 25.
fasscr aus deu Akten und uabenutzteii Papieren noch maucbes ge-
fanden.
Von hervorragendem Interesse ist eine Mitteilung ans Kaspar
Hausers Sehreibheften. Beim Attentat im Hofgarten soll der angeb-
liche Mörder dem Kaspar Hauser ein Benteichen mit einem in Spie-
gelschrift geschriebenen Zettel Überreicht haben, der auf S. 332/3
abgebildet ist. Da ist es nun von hohem Interesse zu erfahren, daft
in Kaspar Hausers Schreibhefken sich Uebnngen in Spiegelschrift
finden, ein Indicium mehr für die von v. d. Linde mit Tieiem Ge-
schick vertretene Ansicht, daß Kaspar Hauser auch dieses Selbst-
attentat lügnerisch als ein Attentat hinstellte. Andere pikante um-
fassende Aktenmitteilungen konnte der Verf. über die Entstehong
einzelner Kaspar-Hauser-Schriften machen, die wir hier ttbergehn
müssen.
Die Frage, ob nun Kaspar Hauser endlich von dem Bücher-
markt verschwinden wird oder nicht, ist schwer zu beantworten.
Das eine ist aber gewiß: daß nach der rückhaltlosen schneidigen
Kritik v. d. Lindes Niemand sich mehr an die Sache wagen wird,
der nicht mit dem ganzen Ernst und Pflichtgefühl eines ehrenhaften
Forschers an sie herangeht. Ein für alle Mal ist Kaspar Haoser
kein Feld mehr für sensationslustige Skribenten. Daß dieses er-
reicht wurde, liegt nun wohl nicht zum geringen Teil an der Linde-
Bchen Schreibweise, die uns sonst im höchsten Grade widerstrebt
Es ist gewiß, daß ein jeder, der einen solchen Haufen von Lug ond
Trug aufzudecken hat, dabei seiner Entrüstung nur schwer Zflgei
anlegen wird ; mir will es aber scheinen, als hätte v. d. Linde das
auch nicht einmal versucht. Milderungsgründe haben für ihn keine
Geltung, sein Urteil wird nur zu oft von pessimistischen Ansebau-
nngen getrübt. Noch mehr ist aber wohl zu bedauern die Sprache,
welche der Verf. führt. Seine Neigung zu burlesken Wendungen,
zu Witzen und Spaßen entfremden ihm den Leser schon auf
den ersten Seiten, und wenn vollends der Verfasser seine Ansich-
ten über Gegenstände, die gar nicht zum Hauptthema gehören,
in gleicher Leidenschaftlichkeit vorbringt, so ist das doch eine Zu-
mutung, die uns sonst in der gelehrten Litteratur nicht gemacht
wird, und gegen die Heigel jüngst mit vollem Rechte Protest er-
hoben hat
Zum Schlüsse glaube ich bemerken zu müssen, daß ich vorlie-
gendes Referat auf Wunsch der Redaktion übernahm. Vor Jahren
hätte man ja wohl die Worte eines badischen Beamten minder an*
schlagen können, als die eines andern — seit Mittelstädts zwingen-
der Beweisführung über Kaspar Hauser als angeblich
Hyvernat, Les actes des martyrs de TJ^gyptc tirt^s des manascrlts etc. I. 983
Prinzen bat aber nicbt mebr BadcOi soDdern, wie sehr richtig
v. d. Linde sagt, »Bayern ein sittliches Interesse an der Beseitigung
der landläufigen Hausergeschichte«.
Karlsruhe. Aioys Schulte.
Les actes des martyrs de T^gypte tir^s des manuscrits coptes de la biblioth^ae
vaticane et da musäe Borgia. Texte copte et traduction fran^aise par Henri
Hyvernat. Volume I. Paris, 1886.
Man weiß aus dem ersten Baude meiner Mittheilungen 202 seit
dem Juli 1884, daß die Propaganda fUr den Augustiner-Mönch Ciasca
neue koptische Typen hat schneiden heißen. Diese Typen kann
man seit 1885 im ersten Bande von Ciascas sacrorum bibliorum
fragmenta copto-sahidica musei borgiaui sich ansehen: sie sind von
Herrn Rayper in Genua (Ciasca xvii) den von mir in den Aegyptiaca
und der Catena benutzten — nicht immer glücklich — nachgebildet:
es wäre billiger und auch, nicht bloß was den Geldpunkt anlangt,
empfehlungswerther gewesen, die von mir vervollständigte Londoner
Schrift in London zu kaufen: ein großer Fortschritt ist, daß auch
eine Notenschrift desselben Zuges wie die Teitschrift beschafft wor>
den ist, die mir abgeht: ich bin fUr die Anmerkungen auf Idelers
Waare angewiesen.
Vater Ciasca scheint ftir das Aegyptische Ferien zu haben, was
für mich sehr empfindlich ist. An seiner Stelle druckt mit den Ty*
pen der Propaganda Henri Hyvernat. Es macht mir Freude, die
Aufmerksamkeit auf den ersten Band seines Werkes hinzulenken,
das ich nicht beurtheile, das ich nur anzeige. Le hui des Herrn
Herausgebers ist avant tout philologique, was — meine Onomastica^ vij,
meine Mittheilungen 2 372 — dazu beitragen wird, seinem Werke
einen etwas weniger minimalen Käuferkreis (natürlich denkt man
auch da nur an Bibliotheken) zu verschaffen, als ein theologischen
Untersuchungen dienendes Buch erwerben würde: allerdings hat
dann und wann auch ein Eirchenrath ein Interesse an Heiligenleben,
wie der in meinen Mittheilungen 1 381 ff. für die Nachwelt aufbewahrte.
Vorab ist es mit Dank anzuerkennen, daß Hyvernat den Weg
Francesco Rossis wandelt, und anspruchslos diejenigen Texte vor*
legt, die in seinem Wohnorte ihm bequem zur Hand sind, unsDeut^
sehen erst nach Aufwendung beträchtlicher Mittel zu Gebote stehn
würden. Hätte ich gewußt, daß FRossi die (afdischen Papyrus zu
Turin herausgeben wollte, so würde ich niemals Zeit, Geld und Kraft
an die Veröffentlichung der ^afdischen Uebertragung der Weisheiten
gewandt haben, zumal es, je schlechter die Handschrift erhalten ist^
984 Gatt. gel. Anz. 1887. No. 26.
desto mehr Moth thot, die Drackbogen ?or dem Imprimatar mit ihr
selbst zu vergleichen.
Ich T^Unsche freilich, daß auch in Neapel uns ein Aegyptologe
heranwachse, der uns die dort allein (Lord Zoache besitzt nur wenig
von ihnen) zu treffenden Werke des Senate und Besä herausgäbe.
Denn vorab kommen doch die Giassiker, nach diesen erst kommt der
große Haufen. Und kennte und Besä sind es, die bis anf Weiteres
fttr uns die neuAegyptische Sprache in ihrer Blüthe darstellen, womit
nattlrlich nicht gesagt werden soll, daß nicht in meinen Aegyptiaca
zum Tbeil archaischeres Aegyptisch steht als nach dem jetzt Bekann-
ten kennte und Besä uns bieten werden.
Hyvernats erster Band enthält die Akten:
Eusebitts Sohn des Basilides, otQot^ldtiig 23 Mechir.
Macarius » » » , aus Antiochien.
Apater und dessen Schwester Hp«^i, Kinder des atgatti'
Xdtiig Basilides. 28 Tböut
Pisnra (verwandt mit dem Martyrium des Ignatius).
Piröu und Athdm aus Tasempoti im Nomos Busiri. 8 EpSp.
lohannes der Priester und dessen Genosse Symeon. 11 Ep€p.
Ari, Priester zu ^etnnfi. 9 Me86r6.
Macrobins, Bischof von Psati. 2 Phamenöth.
Petrus von Alexandria. 29 Athdr.
Didymns.
Sarapamön.
Es würde mich freuen, wenn Hyvernat gelegentlich einen Bliek
in meine Arbeiten würfe : die von Hyvernat bearbeitete Litteratar ist
international, und ich bin seit frühester Jagend darauf aus, Lehnwörter
auszuscheiden, da nur nach Ausscheidung aUes Entlehnten das gewonnen
werden kann, worauf es der Wissenschaft schließlich allein ankommt,
Kenntnis in sich geschlossener Persönlichkeiten. Etwa 166 Ende er-
läutert sich SIC Akikeni aus § 1974 meiner armenischen Stadien.
Henri Hyvernat hat für seine Studien die Handschriften des Vatican
in beneidenswerther und ihm besonders gerne gegönnter Weise zar
Verfügung: er kann leicht zusammentragen, was wir, ohne Hand-
schriften arbeitend, unter fortwährendem Irren suchen müssen.
Unumgänglich ist, daß die Zeilen gezählt werden: meine Mit-
theilungen 2 243 unten.
Einen besonderen Dank haben wir Herrn Henri Hignard abza-
statten, der die Druckkosten des angezeigten Bandes bestritten hat.
Paul de Lagarde.
if'fir di« BedftkÜOB Twiatwortiicb : Prof. Dr. BtekUl, Direktor d«r GAU. g«l. Aas.«
Amtmox der Königliohen Gefelleehaft der WiaeeaMkafteii.
J$rkfg d$r JMUtrieh'sehm Tmkifft 'Btiehkmilmiff.
Drwik d4r JHtUrieVaekm UnH.-Buekdrmek^rH (IV, W, KoiHumr).
m
I
986
ööttingische
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Nr. 26. 31. December 1887.
Preis des Jahrganges: JH 24 (mit den »Nachrichten d. k. G. d. Wiss.« : •4127).
Preis der einzelnen Nummer nach Anzahl der Bogen: der Bogen 60 ^
Inhalt: Pf ersehe, PriTatrechiliche Abhandlnngen. Ton Merkd. — Hrnz», Ueber da« lege agere
pro tvtela. Yen ÜlMohd; — O r o s s , Daa Recht an der Pfrflnde. Von Jfo«f«r. - Politische Cor-
respondent der Stadt Straseborg im Zeitalter der Reformation. Bd. 11. Von Virdt. — Tolstoi,
die Stadtechalen , wihrend der Regierung der Kaiserin Katharina II. Uebersettt Ton Kftgelgen. Von
^ EigenMiohtifler Abdruck von Artikeln der GStt. gel. Anzeigen verboten. =
Pfersche, Emil, Dr., Privatrechtliche Abhandlungen. Die Eigen-
tumsklage, unredlicher Besitz. Die Erbschaftsklage. Erlangen, Deichert.
1886. 390 S. 8«.
Der innere Zasammenhang zwischen den drei Themata, welche '
der obige Titel einer neuerdings erschienenen Schrift namhaft macht,
wird darch die Absicht hergestellt, die Haftung des unredlichen Be-
sitzers fremder körperlicher Sachen an der Hand der römischen
Rechtsquellen zu bestimmen. Die drei jenen Aufgaben entsprechen-
den Abhandlnngen verhalten sich daher, zunächst im Allgemeinen
und kurz gesagt, folgendermaßen zu einander: in der ersten han-
delt es sich namentlich um den Nachweis, daß die verschiedenen
Prästationen fllr culpose Beschädigung des Streitgegenstandes, für
Fruchte desselben und fUr die s. g. ficta possessio, welche nachdem
Recht der Justinianischen Epoche als Inhalt der rei vindicatio be-
trachtet zu werden pflegen, noch zu klassischer Zeit sich zum Teil
nicht von selbst verstanden und überhaupt erst allmählich entstan-
den sind ; die zweite Abhandlung gibt den BegrifiP der malae fidei
possessio und macht den Versuch, den juristischen Charakter der Haf-
tungen des unredlichen Besitzers festzustellen; die dritte enthält eine
fast monographische Behandlung der Lehre von der hereditatis pe-
titio, deren Tendenz es namentlich ist, der üblichen Gleichstellung
dieser Klage mit der rei vindicatio den Boden zu entziehen. Fol-
gen wir dem Verfasser ins Einzelne!
U6tt. gel. Ans. ia»l. Nr. 2b. 68
986 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 26.
I. Von jenen .Nebenansprttcben oder >proces8ualen<, wie Bie
der Verfasser nennt (S. 11), welche dem auf Anerkennung des Eigen-
tums und Sachrestitution gerichteten »materiellrechtlichen« Haupt-
anspruch zur Seite stebn, ist nach des Verfassers Auffassung am
Frühsten im arbitrium litis aestimandae lediglich der Anspruch we-
gen culposer Beschädigung des Streitgegenstandes post litem con-
testatam in Betracht gekommen (S. 50). Jedoch die Auslegung der
vom Beklagten zu leistenden Kautionen (pro praede litis vindicia-
rum, später der cautio iudicatum solvi) führte auch die Haftung fär
gänzlichen Sach-Untergang sowie für bezogene und zu ziehende
Früchte — Alles post litem contestatam gerechnet — herbei. Erst im
Formularproceß fand man, daß die Berücksichtigung dieser praestanda
im officium iudicis gelegen sei (S. 31 u. 32).
Von den vorprocessualischen Vorgängen ließ man erst allmäh-
lich, und zwar ebenfalls auf Grund der Auslegung jener Kautionen,
das liti se obtulisse und — noch später — das dolo malo desioere
possidere mit der rei vindicatio geltend machen, während im letzte-
ren Falle eigentlich actio ad exhibendum erforderlich war (S. 59—
61, 1). Ersteres glaubt der Verfasser nach Demelius' Vorgang aaf
den Juristen Marcellus (D. 5, 3, 13, 13 D. 6, 1, 25) zurückführen zu
sollen (S. 40).
Wollte man dagegen vorprocessualische culpa in Betreff Be-
schädigung der Sache dem Beklagten imputieren oder einen Anspruch
auf vorher consumierte oder percipierte Früchte erheben , so mußte
man zu diesem Zweck Separatklage anstellen : dort actio legis Aqniliae
hier condictio respektive (wegen extantes fructns) besondere rei
vindicatio. Man konnte natürlich die beiden Fruchtklagen mit der
Hanptvindikation cumulieren und jedenfalls ist nach des Verfassers
Meinung die für die Justinianische Vindicatio geltende Selbstver-
ständlichkeit der Aquilischen Haftung auf eine gesetzliche Klagen-
häufung zurückzuführen (S. 56).
Die Haftung wegen vorprocessualer fructus percipiendi wird fllr
die klassische Zeit des römischen Rechts von dem Verfasser gänz-
lich in Abrede gestellt, wie dies Andere schon vor ihm gethan ha-
ben. (S. 75, s. 2. Abhandlung: S. 214—224).
Soweit die wesentlichsten Ergebnisse der ersten Abhandlang
(S. 27 — 95), welche übrigens noch interessante Ausführungen fiber
das interdictum quem fundum (§ 5) und die Stellung des Klägers
hinsichtlich der Beweislast (§ 7) darbietet; auf dieselben mag hier
nur hingewiesen sein.
Was nun jene Prästationsfragen angeht, so bewegt sich der
Verfasser bekanntlich auf höchst unsicherem Terrain, da die Qaellea
Pfersche, Privatreclitliche AbbandluDgeD. 98T
des römischen Rechts, nameDtlich in Betrefif der Distinktion ante and
post litem contestatam, schwer erkennbar sind. Die herrschende
Meinung ist im Ganzen geneigt, eine frühzeitigere Entwicklung des
o£Scium iudicis bei der dinglichen Klage anzunehmen, als der Ver-
fasser. Ihr gegenüber sieht er sich namentlich genötigt, die von ihm
angenommenen separaten Fruchtklagen auf fructus consnmpti^nnd
percepti eingehend zu verteidigen (S. 67—95). Er sucht zu diesem
Zweck das Beweismaterial durch den Hinweis auf andere dingliche
Klagen zu verstärken, bei deren keiner die Haftung für vorprocessua-
lische Früchte sicher sei (§ 14 S. 87 fg.)
Hag auch die letztere Erscheinung zum Teil auf Gründen be-
ruhen', die den einzelnen Aktionen eigentümlich sind, z. B. bei der
actio hypothecaria, wo die Früchte besonders mitverpfändet sein
müssen (S. 93—95), so ist doch unseres Erachtens durch die Aus-
führungen des Verfassers derjenige Grad von Wahrscheinlichkeit zu
Gunsten seiner Auffassung erreicht worden, welcher sich zun Zeit ir-
gend erreichen läßt. Fr. 62 D. 6, 1 (darüber s. S. 216 f ) läßt sich
wohl noch eher beseitigen, da in ihm in der That kein Hinweis auf
die Vor-Proceßzeit enthalten ist, als c. 5 C. 3, 32 vom Jahre 239.
Denn die Erklärung, daß letztere Stelle sich auf das interdictum
unde vi bezogen habe (S. 55 f.), befriedigt unvollkommen und läßt
sich durch den Hinweis auf ihre Uebereinstimmnng mit der 55 Jahre
jüngeren c. 4 G. 8, 4 nicht wahrscheinlich machen.
Die Berücksichtigung der Vorproceßzeit überhaupt — darin muß
dem Verfasser beigestimmt werden — ist sicherlich erst ein Werk
der allmählich schaffenden Jurisprudenz. Es würde die Ausführun-
gen des Verfassers unterstützt haben, wenn er noch schärfer, als
dies in seiner Abhandlung hervortritt, den Gegensatz des bonae und
des malae fidei possessor betont haben würde, deren verschiedene
Behandlung im Eigen tumsproceß ebenfalls erst im Lauf der Zeiten
sich ausbildete. So ist z. B. der bonae fidei possessor frühestens in
seinem Gesetz vom Jahre 294 (c. 22 C. 3, 32) für fractus ante litem
coDtestatam percepti (extantes) verantwortlich gemacht worden. Die
neuerdings wieder von Ozyhlarz-Glück Serie 41—42 L S. 561 f ver-
teidigte Beziehung dieser c. auf die hereditatis petitio möchten wir
ablehnen. Aber c. l C. Th. 4, 18 (a. 369), welche zu dieser Mei-
nung führte, ist doch ein Beleg für die Behandlung des »invasor
alienae rei praedove« im 4ten Jahrhundert (trotz Pfersche S. 218 f.).
lieber den Endpunkt der Entwickelung, d. h. über die Frage,
wann die Vindikation jene Prästationen als selbstverständliche ein-
schloß, spricht sich Pfersche nicht überall aus. Dieses Ziel immer
erst in Justinians Zeitalter zu suchen, dürfte aber doch nicht das
68 ♦
988 Oött. gel. Anz. 1887. Nr. 26.
Richtige sein. Pferscbes AusftthraDgen scheinen dies einige Mal
vorauszusetzen z. B. in Betreff der Aqailischen Beschädigung vor
litis contestatio. Noch weniger möchte dem Verfasser beizustimmen
sein, wenn er, wie in dem beispielsweise genannten Punkt, die Kon-
Sequenzen seiner geschichtlichen Auffassang (hier: Klagencumulation)
noch für das »moderne Rechte gezogen wissen will. Es mutet einen
heutigen Richter schwerlich anders als auffällig an, wenn es beißt:
»Der Ersatz der vorprocessualen Beschädigung kann nnr dann gleich-
zeitig mit der auf Grund des Eigentums verlangten Sach restitution
zuerkannt werden, wenn das Petit ausdrücklich und im ersten
Termin darauf gestellt wirdc (S. 56).
IL Die Ansichten des Verfassers über malae fidei possessio
gehn von der Vorstellang aus, daft in diesem Begriff nicht blofi ein
Wissens-, sondern auch ein Willens-Moment enthalten sei (S. 107 -
113). Ist die bona fides die Rücksicht auf die fremden Interessen
(S. 113—118), so besteht die mala fides in deren bewußter Außer-
achtlassung.
Man kann sich mit dieser Formulierang im Ganzen einverstan-
den erklären, obgleich sie für die römische Rechtsentwicklung zu
allgemein sein mag. Es dürfte z. B. unseres Erachtens vom Stand-
punkte des Historikers aus das scire rem alienam esse der Quellen
nicht als »zu eng« bezeichnet werden (S. 108), denn diese Worte
schildern den Ausgangspunkt und setzen den Normalfall, da die bonae
resp. malae fidei possessio zuerst mit dem Typus des bona resp.
mala fide emere identisch gewesen zu sein scheint.
Den Anspruch gegen den malae fidei possessor auf Herans-
gabe charakterisiert nun der Verfasser als einen obligatorischen
(actio in personam), der aber mit dem dinglichen verwandt sei.
Derselbe bilde daher eine »eigene Kategoriec (S. 24), nämlich den
»Eigentumsanspruch wegen unredlicher Vorenthaltung«, welcher ne»
ben die rein dinglichen Ansprüche wegeu Vorenthaltung und wegen
Störung trete (S. 252).
Zu dieser eigentümlichen Differenzierung kommt Verfasser auf
folgendem Wege. Schon im Eingang seiner Arbeit nimmt er Ver-
anlassung, insbesondere wegen der über den Begriff des »Anspruchs«
bestehenden wissenschaftlichen Unsicherheit, zu Fragen der allge-
meinen Rechtslehre Stellung zu nehmen. Er urgiert hier indessen
weniger den Begriff des »Anspruchs«, welchen er sich durch Zer-
legung des Inhaltes eines Rechtsatzes in Grund- und Hilfsnormen
zugänglicher zu machen glaubt — die Hilfsnormen geben die Fol-
gen der Verletzung der Grundnorm an: Befehle, Verpflichtungen:
und daraus resultieren die »Ansprüche« (S. 9). Vielmehr legt er
Pfersche, Privatrechtliche Abhandlungen. 989
besonderes Gewicht auf die Einteilung der Ansprüche »nach der
Passivlegitimation«, d. h. nach der Art, wie die >Qrandnorm< ver-
letzt wird (S. 20) : die actio in rem, findet er, setze nur voraus, daß
bei Klagerbebung die Grundnorm verletzt sei, frühere Vorgänge kä-
men nicht in Betracht. Bei den actiones in personam sei dies an-
ders und sie entsprängen entweder aus Uebertretung »relativer« ge-
bietender oder aus Verletzung absoluter verbietender Grunduormen
(S. 23 — 26). Ersterer Art gehören die gewöhnlichen Obligationen
ex contractu und quasi ex contractu, die Alimentations-, Exhibitions-
Obligation an, letzterer die Delikte und der Anspruch gegen den
malae fidei possessor. So gelangt in der That letzterer unter die
Obligationen.
Wir möchten doch bezweifeln, ob ein derartiges Gebilde zu den
ersprießlichen Resultaten gerechnet werden darf. In den Quellen
des römischen Rechts scheint ihm wenigstens jeder Anhalt zu man-
geln, nnd das Gleiche möchten wir behaupten von der Unter-
scheidung zwischen actio in rem (»dinglischer Anspruch«) und »pro-
cessuaiischer rei vindicatio«. Pf. beruft sich allerdings darauf, daß
es einerseits Vindikationen gebe, mit welchen nicht-dingliche An-
sprüche geltend gemacht würden (rei vind. gegen fictus possessor,
hered. petitio), andererseits dingliche Ansprüche, die nicht mit rei
vind. verfolgt werden (interdicta zum Schutz öfiTentlicher Sachen-,
interd. quod vi aut dam, actio quod metus causa) (S. 20—22).
Allein die scharfe Scheidung zwischen in rem nnd in personam
actiones scheint uns gerade eine Errungenschaft der römischen Ju-
risprudenz zu sein, die durch spätere Zwitterbildungen allerdings in
ihrem Bestand bedroht worden ist, aber nicht mehr von der moder-
nen Doktrin durch Beurteilung des historischen Zusammenhangs nach
dogmatischen Schemata gefährdet werden sollte.
Etwas Anderes ist es mit der Haftung für dolose Besitzaufgabe
vor dem Proceß. Hier, wo die Haftung sich nicht mehr auf den
Besitz des Beklagten gründet, also eine echt dingliche nicht mehr
ist, muß dem Verfasser zugegeben werden, daß nach älterem Recht
vielleicht ein Delikt angenommen wurde, wofür man allmählich einen
einfachen obligatorischen Anspruch — derselbe wird gelegentlich als
»Zustandsobligation« bezeichnet (S. 179. 227) — substituiert (S. 149
—50). Verfasser drückt das in seiner Weise so aus: es sei un-
merklich, d. h. »ohne Veränderung der äußeren gesetzlichen Sank-
tion« (S. 154) eine »relativ gebietende Norm« an Stelle der »allge-
mein verbietenden« gesetzt worden, ein Vorgang, welchen der Ver-
fasser auch bei andern auf dolo malo desinere possidere gegründe-
ten Aktionen (z. B. der a. depositi, der a. ad exhib. gegen argentarii)
990 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 26.
nachweisen zu können meint (S. 153 — 168), wie er sieh bei den
bonae-fidei-Eontrakten finde (S. 150 — 152). Der Verfasser Yerfehh
auch hier nicht, die praktischen Eonsequenzen des Abgehens Yon der
Deliktsobligation zu ziehen : den Inhalt des Ansprachs bildet jetzt
das möglicherweise immer noch einem Wechsel anterliegende Int^-
esse des Elägers an Stelle des nnyeränderlichen Inhalts einer De-
liktsklage (S. 178) ; der Eläger erspart den Beweis des dolosen Han-
delns selbst und vermag sich nunmehr auf den Nachweis, daft Be-
klagter iune gehabt habe und in mala fide war, zu besehränken
(S. 169. 250). Mit der letzteren Ansicht wird zwar der gewöhnli-
chen Meinung entgegen getreten. Aber der Verfasser hat in diesem
Punkte wohl Recht. Nur durfte er nicht außer Acht lassen, daft die
»Zustandsobligation« des qui dolo malo possidere desiit doch sehüeft-
licb auch nach seiner eigenen Meinung (S. 57 — 63) mit dinglieher
Elage geltend gemacht wurde. Zwischen dieser Veränderang und
dem soeben geschilderten Zustand scheint uns die geschichtliche Ver-
mittlung noch zu fehlen.
Die Eonkurrenzverhäitnisse zwischen rei vindicatio gegen einen
wirklichen Besitzer oder früheren fictus possessor nnd r. v. gegen den
späteren qui dolo malo possidere desiit — Verfasser nennt die Vindi-
kation gegen letzteren eine »anomale« — glaubt Verfasser ebenso be-
stimmmen zu sollen, wie diejenigen der »normalen« Vindikation gegen
den gegenwärtigen malae fidei possessor (S. 181) d. h. : die von jenem
erlangte Befriedigung schließe die »normale« Vindikation ans, wäh-
rend dem in letzterem Processe zuerst unterlegenen fictus nicht bloft
exceptio doli, sondern auch actio Publiciana in Betreff der Sache
und ein Anrecht auf Eantionsleistung Seitens des Elägers zastehe
(S. 200—208). Das letztere Resultat wird dadurch gewonnen, daft
die scheinbar widersprechenden fr. 69. 70 D. 6, 1 wieder anf das
interdictum unde vi gedeutet werden (S. 191 — 195).
Zum Schlüsse der zweiten Abhandlung ergeht sich Verfasser
noch des Weiteren über seine Meinung, daß wenigstens nach dem
Recht der klassischen Zeit die Veräußerung durch den malae fidei
possessor nicht unter den Begriff des furtum gebracht worden sei.
(S. 235—48). Von positiven Stützen für dieselbe findet er allerdings
nur fr. 7 § 11 D. 6, 2, wonach die Publicianische Elage bei >cal-
lido concilio« erfolgtem Verkauf nicht versagt wird.
III. Die dritte Abhandlung ist, wie gesagt, geschrieben na-
mentlich mit der Tendenz, die Verschiedenheiten der rei vindicatio
und der hereditatis petitio aufzuweisen. Die letztere gilt dem Ver-
fasser — mit Recht — nicht als eine reine actio in rem, nnd, daft
sie in den Quellen so genannt wird, fällt nicht ins Gewicht, wie dies
Pfersche, Privatrechtliche Abhandlungen. 991
überdies ans denjenigen Stellen selber hervorgeht, welche die »ge-
mischte Nature der Aktio anerkennen (S. 256. 257). Hierin liegt be-
reits ein Argument zu Gunsten der von dem Verfasser mit Ent-
schiedenheit bekämpften Annahme einer einheitlichen Natur jenes
Anspruchs. Er hält dafUr, daß die Vorstellung des Nachlasses als
nniversitas lediglich fUr die Behandlung der ruhenden Erbschaft und.
für den Erbschaftserwerb, auch den Erbschaftsverkauf, maßgebend
gewesen sei, für die Erbschaftsklage aber nicht, wenigstens nicht
in dem gleichen Sinne, wie in den ersteren Fällen (S. 264—266).
Wenn die Quellen — meint er — die hereditatis petitio bezeichnen
als eine auf das einheitliche Objekt der hereditas gerichtete und
durch die possessio pro berede vel pro possessore bedingte Aktio,
so sei dies eine durch die processualen Verhältnisse hervorgerufene
»Deukform und Ausdrucksweisec (S. 254). Wir haben also die
Aufgabe der Analyse gegenüber dieser allzu gedrungenen Synthese,
und vermittelst der Unterscheidung von processualen und materiell-
rechtlichen Rechtssätzen innerhalb der Lehre glaubt der Verfasser
die letztere besonders klären zu können (S. 278 fg. 381 fg.).
Der eigene Versuch des Verfassers, das Anwendungsgebiet der
Erbschaftsklage zu bezeichnen, läuft nun darauf hinaus, daß er die
Fälle unterscheidet, wo die her. pet. mit anderen Klagen konkur-
riert, und solchen, wo sie die einzige Klage aus dem Recht auf
den Nachlaß bildet. Ersterer Art sind die Singularansprttche gegen
»Erbschaftsschuldner« (S. 275), die auf sie bezüglichen Normen der
her. pet. gelten den Verfasser als »processuale«. Die Ansprüche der
zweiten Art, die eigentlichen »Erbschaftsansprüche«, setzen sich ihm
aus zwei Elementen zusammen: aus den Ansprüchen wegen Occu-
pation von Nachlaßobjekten und denjenigen aus Führung erbschaft-
licher Geschäfte ohne Auftrag. Er nennt die hierauf bezüglichen
Normen der hereditatis petitio »materiellrechtliche«.
Das Hauptinteresse wendet sich nun begreiflicherweise den An-
sprüchen jener zweiten Art zu. Von denen der ersteren werden nur
diejenigen ausgesondert, wo die her. pet. mit Deliktsklagen oder
condictio ob iniustam causam concurriert, Fälle der possessio pro
possessore, welche jedes Prlncips entbehrten (S. 297 — 301); in den
übrigen hänge die Anwendbarkeit der Erbschaftsklage vom Belieben
des Beklagten ab, der die exceptio praejndicii nicht entgegensetze
(S. 304 f.). Dagegen werden die Fälle der ausschließlichen her. pet.
in Voraussetzungen und Inhalt sorgfältig zu analysieren versucht.
Es würde zu weit führen, dem Verfasser an diesen Punkten ins
Detail zu folgen. Aber folgendes mag noch bemerkt werden. Sicher-
lich geht die Meinung derjenigen zu weit, welche den Gesichtspunkt
992 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 26.
der negotiorum gestio allein zn Hülfe nehmen wollen, um die Be-
sonderheiten der Haftung des possessor bei der her. pet. zn erklä-
ren (vgl. die Zusammenstellung in einer heryorragenden Tflbing^
Inaugural-Dissertation von Lammfromm, zur Geschichte der Brb-
Schaftsklage 1887 S. 2 N. 1). Indessen wird keineswegs zu läag-
nen sein, daß jener Qesichtspankt allmählich in die Lehre von der
her. pet. Eingang fand. Denn von dem Standpunkte aus, daß man
den Erbschaftsbesitzer gewissermaßen als Geschäftsführer des wah-
ren Erben betrachtete, läßt es sich in ansprechender Weise erklä-
ren, wenn im Laufe der Zeit die Universalklage immer weiter-
gehenden Haftungen erschlossen würde, während andererseits die
Stellung des bonae fidei possessor seit dem SC. Juvencianum sich
verbesserte.
Allein, gleichwie in der Geschichte jener Erweiterungen noch
Mancherlei dunkel ist und vermutlich bleibt, (s. die anerkennens-
werten Versuche in der oben erwähnten Dissertation), so durfte es
sich doch vor Allem noch darum handeln, die her. pet. in jener Hin-
sicht zu dem zweiten Teil des Ediktes de negotiis gestis (si quis
negotia quae cuisque cum is moritur fuerint) in Beziehung zu setzen.
Erst .wenn dieser Punkt geklärt wäre, würde sich über das Zn-
treffende und die Tragweite jenes Gestionsgesichtspunktes ein siche-
res Urteil fällen lassen. Vorerst ist man noch nicht im Stande, die
her. pet. und die der Erbschaft oder dem Erben erworbene actio
negot. gestor. directa gehörig auseinander zu halten , was auch für
praktische Konsequenzen (z. B. Pf. S. 3öO bei N. 2) von Bedeutung
sein würde.
Die Tendenz seiner Untersuchung : >eine feste und klare Unter-
scheidung des Eigentumsanspruchs und des Erbschaftsanspruchsc
(S. 382) hat der Verfasser erreicht, wenn er auch selbst nicht laug-
nen kann, daß trotzdem Nachbildungen des einen nach dem andern
erfolgt sind, wie die Haftung fUr dolus praeteritus zeigt (S. 60). Es
würde dankenswert gewesen sein, hätte er die Differenzen in noch
übersichtlicher Form gegeben, als dies in seiner Schrift gescfaehen
ist. Wenn er dagegen, wie einmal angedeutet wird (S. 286) , auch
für die her. pet. (wie für das interd. quor. honor.: S. 289) die An-
sicht bekämpfen möchte, als sei dieselbe durch »Berufung auf Sin-
gulartitel € auszuschließen, so scheint er diese Absicht mit Recht
wieder aufgegeben zu haben. Denn bei den Geschäften des Erb-
schaftsbesitzers, welche die Erbschaft objektiv berühren, verlangt er
selbst, daß der Besitzer das Geschäft in der Absicht ausfährte, fttr
sich »als Erben oder Occupanten« einen Vorteil zu erlangen (S. 357).
Auch jene Annahme für das interd. quor. bon. steht auf unsicherer
Basis.
Hraza, Ueber das lege agere pro tuiela. 998
Die Schrift, deren Betracbtang wir hiermit schließen , wird sich
als eine beachtenswerte Leistung in den von ihr berührten Gebieten
erweisen. Sind auch ihre Gedanken nicht darchgehends originelle^
sondern Weiterentwicklung schon vorhandener Anschannngen , so
wird doch das Ganze von einem wohlthnenden Geist der Einheit-
lichkeit in Zweck und Aasftlhrang getragen. Vielleicht könnte es
der Verfasser durch die äußerliche Anordnung manchmal dem Leser
leichter gemacht haben, die von ihm bloß recipierten Ideen von sei-
nen eigenen Neukonstruktionen, die Neubildung von der Naohbil*
dung zu unterscheiden.
Johannes Merkel
Hruza, Ernst, Dr., Professor des römischen Rechtes in Gzernowitz, Ueber das
lege agere pro tutela. Rechtsgeschichtliche Untersuchung. Erlangen.
Verlag von Andreas Deichert. 1887. 2 Bl. u. 79 S. in 8^
Zweck vorliegender Schrift ist die Deutung des einen der im
pr. J. de bis per qnos 4, 10 aufgeführten Ausnahmsfälle, in welchen
ein lege agere alieno nomine zulässig gewesen ist, nämlich des agere
pro tutela.
Nach § 1, Einleitung, (S. 1 — 15) heischt im teilweisen Gegensatze
zum Civilprocesse der klassischen Zeit die legis actio, daß die Partei
sie nur zur Geltendmachung ihrer eignen Rechtsverhältnisse ver-
wende, und sodann, daß die Partei sie persönlich vornehme, m. a. W.:
man darf weder alieno nomine, noch pro alio lege agere.
Die Beschränkung der legis actio auf ein eigenes Rechtsverhält*
nis der processierenden Person erklärt Verf. daraus, daß das Be-
dürfnis, dieselbe anf fremde Rechtsbeziehungen anzuwenden, zur Zeit
der Zwölftafelgesetzgebung keineswegs stark genug war, um den
Bruch mit der auch sonst die Vertretung ablehnenden Anschauung
des Civilrechts zu erzwingen, während später einer Aendernng durch
die iuris interpretatio die starren Formen des Verfahrens, insbesondere
die dem Gesetze selbst entnommenen Spruchformeln, entgegenstanden.
Mit Recht begrenzt übrigens Verf. die Ausschließung der Stellver-
tretung im lege agere auf die solenne mttndliche Parteibandlung in
iure, d. h. auf die eigentliche legis actio, hält dagegen eine Vertre-
tung in indicio auch im Legisactionenverfahren für durchaus zu-
lässig.
Rechtlich schutzlos war hiernach also nur derjenige, der die
solennen legis actiones in iure aus psychischen oder rechtlichen Grün-
den nicht vornehmen konnte.
994 Gölt. gel. Anz. 1887. Nr. 26.
Wo jedoch ein öffentlicbes Interesse an der Realität des Beebts-
scbutzes obwaltete, da mußte die Gesetzgebung Mittel nnd Wege
finden, trotz derartigen Gründen die ricbterlicbe Cognition herbei-
zaftthren. So erklären sieb die im pr. J. cit. anfgefObrten Fälle des
agere pro popaio, pro libertate, pro tntela nnd ex lege Hostilia:
bier stebt jedem Bttrger das Recbt za , in fremden Angelegenheiten
als Partei Proceß za führen. Aber diese Proceßftlbrang ist dadurch
wesentlich verschieden von dem alieno nomine agere des Repräsen-
tanten im Formularprocesse, daß das Urteil in merito nicht fbr oder
gegen den Popularkläger wirkt. Die Schriftformel des Formnlar-
proeesses nimmt neben der Recbtsbebauptnng auch die condemnatio
auf; so ist es möglich, die letztere auf eine andere Person za stel-
len, als ftlr welche die intentio gilt. Die Spruchformel des Legts-
actionenprocesses dagegen enthält nur eine intentio ; wo diese auf
ein eignes Recht der Partei lautet, da ist es schlechtbin ausge-
schlossen, daß das Urteil für Dritte Wirkung habe. Anders, wo sie
auf ein abstraktes Sein oder Geschehensollen geht: hier ist es äußer-
lich ermöglicht, daß das Urteil für Dritte wirke; und es kommt nnr
darauf an, ob diese Möglichkeit kraft gesetzlicher Sanktion zu recht-
licher Wirklichkeit gelangen kann. Wir werden unten sehen , daß
das Gleiche auch da gilt, wo die legis actio formell an einesponsio
mere praeiudicialis geknüpft wird, sofern jene sponsio sich auf das
Recht eines Dritten beziehen darf.
Ein Anhang (S. 15—21) bebandelt das »Agere alieno nomine
und agere pro alio«. Alieno nomine agere ist nach dem Verf. eine
die verschiedensten Fälle des Processierens auf Grund fremder We-
sensbestimmungen umfassende Bezeichnung, welche die negative Be-
grenzung ihres Gebietes durch die Anerkennung des suo nomine
agere im einzelnen Falle findet. Damit aber ein Processieren sno
nomine vorliege, muß der Klagegrund ein materiell und formell eig-
nes Rechtsverhältnis des Klägers oder des Beklagten (Verf. sagt
»Geklagten«) sein, gleichviel ob er in eignem oder in fremdem Inter-
esse eintritt. Allerdings nehmen Gai. IV, 82 und pr. J. 4, 10 eit
das alieno nomine agere in einer engern Bedeutung, nämlich vom
Processieren eines Vertreters; daß aber auch in diesen Stellen eine
weitere Bedeutung vorschwebe, zeige das velnti, mit dem die Auf-
zählung der gemeinten Fälle beginnt.
Pro alio agere bedeutet bald einen einzelnen Proceßakt vorneh-
men, bald einen ganzen Proceß führen, sofern in beiden Fällen die
Handlung des Einen unmittelbar für einen Andern Wirkung hat.
Mit der Verflüchtigung des Gegensatzes zwischen Advokatur and
Prokuratur haben auch die juristisch so scharf scheidenden Wendan-
Hruza, Ueber das logo agere pro tutela. 995
gen alieDo nomine agere and pro alio agere ibre teebniBche Bedeu-
tung eingebüßt.
§ 2 (S. 21—31) betrifft >L. 20 pr. D. 49, 1 de appell. und die
grieehiscbe Institutionenparapbrase zu pr. J. 4, 10«. Die erstere
Stelle bezeicbnet als Processieren alieno nomine die beiden Fälle des
postulare suspectum tutorem und das agere excusationem de nou re-
cipienda tutela. Der letztere Ausdruck beruht, wie Verf. überzeu-
gend darlegt, auf Interpolation, welche vermutlich dadurch veranlaßt
worden ist, daß Hodestinns von der, zu Justinians Zeit unprakti-
schen, nominatio potioris geredet hat. Auf jeden Fall aber liefert
1. 20 pr. cit. keinen Beitrag für die Hauptfrage, was unter dem pro
tutela agere in pr. J. 4, 10 zu verstehn sei, da das Recht der Ex-
cusation und der Nomination erst der Eaiserzeit angehört, und jene
1. 20 ebenso wie die von der suspecti accusatio handelnde 1. 1 § 14
D. quando app. 49, 4 Ulpians aus einer Zeit stammt, in der die le-
gis actiones mit den dort erörterten Fällen in keine Beziehung
kamen.
Die griechische Paraphrase des pr. J. cit. 4, 10 enthält über
das pro tutela agere zunächst die Angabe eines Thatbestandes, der
vollkommen auf den Nominationsproceß paßt: zwei streiten darüber,
wer Vormund sein solle, d. i., wen die Pflicht der Vormundschaft
treffe , wer potior sei. Dann folgt die Erklärung , wieso man hier
alieno nomine processiere, und zwar dahin: der Besiegte habe alieno
nomine processiert, weil er, wie der Ausgang des Processes zeige,
processiert habe für eine Tutel, d. h. im Interesse einer Tutel, die
ihm nicht zustehe, also nicht suo nomine. Irrig ist diese Erklärung
insofern, als sie die Entscheidung darüber, wer alieno nomine pro-
cessiert habe, vom Ausfalle des Processes abhängig macht; unkorrekt
ist sie ferner darin, daß ihr Ausdruck auf eine vindicatio tutelae hin-
weist, obwohl dies mit der vorangeschickten Angabe des Thatbe-
standes in Widerspruch steht, und dabei von einem alieno nomine
agere nicht die Rede sein könnte. Allein jene Anstöße verlieren ihr
Gewicht, wenn man die ganze Erklärung für die Zugehörigkeit des
bezeichneten Thatbestandes zu dem alieno nomine agere lediglich
als einen eigenen Gedanken des Verfassers der Paraphrase ansieht,
der auf mangelhafter Kenntnis des Institutes der nominatio potioris
beruht Sollte es übrigens befremden, daß die Aenßerung des Para-
phrasten auf eine Institution bezogen wird, welche erst Jahrhunderte
nach der lex Aebutia aufkam, so darf nicht übersehen werden, daß
derselbe nirgends von der Zeit der legis actiones redet, sondern da-
von, daß ndXa$ das alieno nomine agere unzulässig war, dieses nd^
la$ aber recht fttglich in die Zeit der klassischen Juristen verlegen
996 Gott. gel. An/.. 1887. Nr. 26.
konnte. Aucü aus der Paraphrase also läftt sich Aufklärang ttber
die Fälle des pro tatela agere der Legisactionenzeit nicht gewinneii.
§ 3. »Die herrschende Lehre. — Die BedQrfni6frage€ (S. 31 —
43) gibt eine Beurteilang derjenigen Auffassang des pro tatela
agere, welche darunter den Procefi des Tators nomine papilii yer*
steht, mag sie nun die Zulässigkeit einer derartigen Proceftvertre-
tung im Legisactionenprocesse auf infantes beschränken oder fbr
alle pnpilli sni iuris annehmen. Das Hauptgewicht legt diese Auf-
fassung auf das Bedürfnis. Indessen ist ein solches Bedürfnis nor
bei infantes anzuerkennen; bei pupilli infantia maiores genügte das
eigne Auftreten anctore tutore; obendrein begrenzte man zar Zeit
der Legisactionen die infantia wohl mit dem fari posse im natttrli-
eben Sinne. Das für die infantia in diesem Sinne anläagbare Be-
dürfnis jedoch läftt eine Schlußfolgerung auf das Vorhandensein
einer Proceßvertretung um so weniger zu, als noch in klassischer
Zeit, wie der Verf. scharfsinnig ausführt, der Rechtsgang vielfach
durch die infantia eines Beteiligten gehindert wurde, und auch sonst
Lücken in dem Organismus des älteren römischen Rechtes sieh fin-
den. Leider fehlt hier der Raum auf diese Ausftthrungen einzngebn.
§ 4. »Sprachliches; insbesondere Gellius noctes atticae V, 13,
§ 5c (S. 43-46) weist den Versuch Kellers zurück, durch Bezug-
nahme auf Gellius das agere pro tutela in pr. J. 4, 10 als agere
pro pupillo aufzufassen.
§ 5. »Rückschlüsse aus dem Klagrechte des Tators im Forma-
larprocesse« (S. 46—53) legt dar^ daß zu der von der herrschenden
Lehre in dem pro tutela agere zur Legisactionenzeit angenommenen
direkten Vertretung des Pupillen darch den Tutor die aas Gains
und aus den Digesten sich ergebende Weise jener Vertretang im
Formularprocesse, nämlich mittels Nameusumstellnng in der Formel,
eine Weise, welche noch gemäß dem edictum perpetuum Jalians das
eigne Klagrecht des Pupillen nicht konsumierte, schlechterdings nicht
paßt; daß vielmehr die Stellung des Tators im Formularprocesse nar
den Rückschluß gestattet, der Tutor habe im Legisactionenprocesse
für den Pupillen nicht klagen kOnnen.
§ 6. »Die Rolle des Tutors im Inofficiositätsprocesse des Pa-
pillen« (S. 53—67) bringt ein bisher unbenutztes Moment in die
Frage. Mehrere Stellen reden von der querela inofficiosi testamenti,
welche der Tutor pupilli nomine durchführt; zur Zeit der Verfasser
jener Stellen aber wurde die Querel durch legis actio verhandelt
Es scheint hiermit also der Beweis erbracht, daß im Legisactionen-
verfahren eine direkte Stellvertretung des Papillen dnrob den Tutor
thatsächlich vorgekommen ist. Eben diesen Beweis sacht nnn der
Hruza, Ueber das lege agere pro tutela. 997
Verf. zu entkräften, indem er die in den fraglichen Stellen erwähnte
Thätigkeit des Tutors anf eine bloße Beistandsebaft desselben bei
einer Klage des Pupillen deutet. Daß dieser Weg in unlösbare Ver-
wickelungen führt, zeigt schon die nichts weniger als durchsichtige
Darstellung des Verf.s. Vielleicht wäre er zu einer weit einfachem
Beseitigung der Schwierigkeit gelangt, wenn er nicht auffallend ge-
nug (s. namentlich S. 56 N. 7 und S. 59 Abs. 2) Folgendes außer
Acht gelassen hätte. Wenn die legis actio aus dem Rechte eines
Andern da unstatthaft war, wo ihre intentio eben dieses fremde
Recht hätte nennen müssen, so stand doch ihrer Anwendung da ein
formelles Bedenken nicht entgegen , wo sie auf Orund einer von der
Proceßpartei über das Dasein eines fremden Rechtes eingegangene
sponsio geschah: denn in solchem Falle lautete ihre intentio durch-
aus korrekt auf aio te mihi tot HS dare oportere. Nun aber ist es
in hohem Grade wahrscheinlich, daß die querela inoiBciosi stets durch
legis actio sacramento in personam ex sponsione verhandelt worden
ist. Wir brauchen also nur anzunehmen, daß der Prätor mittels der
gewöhnlichen Folgen des non uti oportet recte se defendere den
Beklagten nötigte, mit dem Tutor des in seinem Pfiichtteilsrechte
angeblich verletzten Pupillen eine sponsio darüber einzugehn, ob
jene Verletzung vorliege, so' haben wir einen durchaus klaren Fall
einer legis actio, die zwar nicht formell, durchaus aber der Sache
nach auf Grund eines fremden Rechtes und mit ausschließlicher
Wirkung für einen Dritten stattfand. Schon die in den fraglichen
Stellen erhaltene Gleichstellung der querela inofficiosi mit der, for-
mell ebenfalls proprio iure, i. e. iure civis erfolgenden, accnsatio
falsi testamenti nomine pnpilli in Beziehung auf die Indignität des
Tutors für die Zuwendungen in dem angefochtenen Testamente
macht diese Auffassung nahezu unabweisbar. Gewiß ist es richtig,
daß die Indignität . auch wegen einer erfolglosen querela inofficiosi
nicht bloß den Querulanten selbst betrifft, sondern auch dessen Bei-
stände ; ebenso daß nach 1. 2 § 1 De acc. 48, 2 seit Vespasian auch
ein Pupill wegen des Testamentes seines Vaters die accusatio falsi
erheben konnte; und ohne Zweifel stand bei deren Anstellung^und
Durchführung der Tutor ihm zur Seite. Nichtsdestoweniger ist es
höchstens als letzter Notbehelf erträglich, 1. 30 § 1 D. de inoff.
test 5, 2 und 1. 5 § 9 D. de his qnib. ut indign. 34, 9 auf eine
bloße Beistandschaft der Tutoren zu beziehen; und völlig gewalt-
sam ist es, in dieser Weise die 1. 22 eod. zu deuten. Hier
bringt Tryphoninus nicht etwa, wie Verf. meint, zur Unterstützung
der Behauptung, daß der Tutor durch die accusatio falsi und durch
die querela inofficiosi pupilli sni nomine für Zuwendungen ans dem
998 Qött. gel. Anz. 1887. Nr. 26.
erl'olgloB aDgefochtenen Testamente oicbt iodigous werde, Analogieo
bei, für welche immerhiD ein argnmentam a maiore ad minus ange-
nomnien werden dürfte; er stellt vielmehr unter dem nämlicheD Ge-
sichtspunkte: quia officii necessitas et tntoris fides excusata esse
debet, die beiden angeführten Fälle mit zwei anderen zusammen:
der Tutor, welcher zum Besten seines Papillen (pupilli sai nomine)
eine Kapitalanklage gegen den Freigelassenen seines eignen Vaters
erhebt, verwirkt dadurch nicht die bonorum possessio contra tabnlas
dieses Freigelassenen, wie ihn deswegen auch das calamniae indicinm
nicht trifft; und er unterliegt nicht dem Turpillianum Sctum, wenn
er nach erlangter Mündigkeit des Papillen eine dessen wegen (sab
nomine pupilli) erhobene Eriminalanklage nicht verfolgt. Tritt nan
der Tutor in diesen beiden Fällen, wie Verf. S. 62 ausdrücklich an-
erkennt, selbst als Proceßpartei auf, so muß dasselbe auch für den
uns hier angehenden Fall angenommen werden. Und wenn 1. 22
cit. i. f. sagt: deniqne pupillo relicta in eo testamento . . . pereunt:
adeo ille est accusator, is defensor et qaasi patronus — , so darf
darin keinesweges mit dem Verf. geradezu der Ausspruch gefanden
werden, daß der Pupill Proceßsubjekt, und der Tutor nur sein Bei*
stand sei. Dies wäre mehr als eine Plattheit! Im Gegenteil meint
der Jurist: obgleich formell der Tutor der Kläger ist, undzwarniebt
tutorio, sondern proprio nomine, so handelt es sich doch lediglich
um eine Angelegenheit des Pupillen, deren unerwünschte Neben-
wirkungen daher ausschließlich letztern treffen dürfen. So erhält auch
das vom Tutor gebrauchte quasi patronus seinen prägnanten Sinn
(vgl. auch 1. 1 § 14 D. quando app. 49, 4, welche den acensator
suspecti tutoris »quasi pupilli defensorem« nennt S. 70 f.); die Deu-
tung des Verf.s, wonach der den selbst auftretenden Pupill nnter-
stUtzende Autor nicht Patron im vollen Sinne, sondern nur in be-
schränkter Weise wäre, ist äußerst erkünstelt
§ 7. »Die postulatio suspecti tutoris« (S. 67—79) endlich gibt
die Begründung der vom Verf. schon zu Beginn seiner Darstellung
ausgesprochenen Ansiebt, das pro tutela agere kOnne keinen andern
Sinn haben, als im Interesse der Tutel, d. b. im Interesse ihres Be-
standes oder ihrer gedeihlichen Wirksamkeit klagen. Da nach den
vorangehenden Ausführungen hiermit ein Processieren des Tutors fttr
den Pupillen nicht gemeint sein kann, so bleibt als wirkliob gemein-
ter Fall nur die bereits von Rudorff unter Zustimmung Elenzes be-
zeichnete postulatio suspecti tutoris übrig.
Der Postulationsproceß ist nach dem Zeugnisse der Pandekten*
Juristen ein Givilproceß, der durch magistratisohe Kognition erledigt
wird. Daß er kein Strafproceß ist, ergibt sich aus der Zulftsaigkeit
GroB, Das Recht an der Pfründe 999
eines DefeDSors für den belangteu Tutor mit der Notwendigkeit der
cautio de rato^ während umgekehrt die Zulässigkeit eines Procura-
tors auf klägerischer Seite nur deshalb regelmäßig verworfen wird,
weil die Verurteilung infamiert; die Acbniichkeit mit den iudicia
publica liegt lediglich darin, daß jedem Bürger die postulatio
suspecti zusteht. Der Postulationsproceß des klassischen Rechtes be-
ruht auf dem edictum perpetuum. Doch ist uns bezeugt, daß das
suspecti crimen, wobei jedoch nicht an ein Strafverfahren zu denken
ist, aus den 12 Tafeln stammt. Diese wollen dem ungetreu befunde-
nen Tutor die ihm nach damaliger Auffassung als Recht zustehende
Tutel entzogen wissen ; und es ist kaum denkbar, daß dies der
arbiträren Willkür des Magistrates überlassen worden wäre. Es ist
vielmehr anzunehmen, daß hierzu ein gerichtliches Verfahren eintrat;
Verf. denkt nach Cic. de orat. 1, 38, 173: in causis centumviralibnSi
in qnibus — tutelarum iura — versentur — an das Centumviral-
gericht, etwa auch an die decemviri stlitibus iudicandis. Auf alle
Fälle war die Form des Verfahrens eine legis actio, ohne Zweifel
Sacramento. Unbedenklich aber darf die für die spätere Zeit be-
kundete Popularklage schon fUr die älteste Zeit angenommen wer-
den; der Postulant steht dabei im ganzen dem vindex in libertatem
ähnlich: wie dieser pro libcrtate, so processiert jener pro tutela.
Zuletzt ist auch die suspecti postulatio gleich dem Freiheitsprocesse
der magistratischen Cognition überwiesen worden.
Berichterstatter glaubt, der dargestellten Auslegung des pro *tu-
tela agere beistimmen zu sollen, und kann somit das Endergebnis
der Arbeit gutheißen. Mancherlei Einzelheiten, welche ihm zweifel-
haft| wo nicht bedenklich erschienen sind, müssen hier unberührt
bleiben.
Der Druck ist nicht frei von kleinen Satzfehlern ; als störend ist
jedoch nur zu verzeichnen S. 64 N. 33 Z. 1 v. o., wo statt 1. 2 G. 6, 5
zn lesen ist: 1. 2 C. 6, 35. Verwahrung sei übrigens eingelegt ge-
gen ein Absetzen wie »Inte-ressec (S. 9 Z. 2 und 3 v. u.) und »Res-
oriptc (S. 26 Z. 1 n. 2 v. o.).
Harburg. August Ubbelohde.
Grofi, Karl, Dr., K. E. Regierangsrat und o. o. Professor der Rechte an der
E. K Universität in Graz, Das Recht an der Pfründe. Zugleich
ein Beitrag zur Ermittlung des Ursprungs des jus ad rem. Graz, Leuschner
und Lubensky 1887. 818 S. 8^
Seitdem Bonifacins VIII. das Recht des Beneficiaten als ein
»jus in ipso beneficio» bezeichnet hat, ist die Frage nach dem We-
1000 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 26.
sen des Beneficiatenverhältnisses tod der kanonistischen Wissenschaft
vieifacb diskutiert worden. Es wurde bald als usus und Nieftbraacb,
bald als ein dem Nießbrauch ähnliches Rechtsinstitnt, als Lehen oder
lehenartiges Recht begriffen. Dem Beneficiaten wurde die eivilrecht-
liche Stellung des emphyteuta, des procurator in rem suam, des Vor-
munds, des Ehemanns zugewiesen, nicht selten wurden auch mehrere
Analogien zugleich benutzt »Ein eclatanterer Beweis€, so meint da-
her der Verf. S. 10, »daß eben keine einzige der herangezogenen
Analogien vollkommen paßt, kann wohl nicht leicht geboten werden,
als diese Ergänzung, resp. Korrektur der einen durch die andere, und
es liegt auf der Hand, daß auf diesem Wege für die juristische
Qualificieruug jenes jus in beneficio ebenso wenig gewonnen ist, als
mit denjenigen Darstellungen, welche von einer >qualiflcierten Nutz-
nießung« von einer über die Grenzen des Ususfructus hinausgehen-
den dinglichen Berechtigung des Beneficiaten reden, ohne sich um
die Frage zu bekümmern, ob durch diese »Qualifikation« oder durch
dieses Plus der herbeigeholte juristische Typus nicht wesentlich al-
teriert wird«. Einzelne Eanonisten verzichteten auf eine feste Rabri-
cierung, z. B. Richter -Dove, 0. Mejer, Httbler, Friedberg. Sie ent-
schlugen sich aber nach der Ansicht des Verf., S. 11, »damit auch
ganz der juristischen Bestimmung des in Rede stehenden »jos in
ipso beneficio«. Der Verf. erklärt, die kanonistische Jorispradenz
könne sich dieser Aufgabe nicht entziehen (S. 13), und seine Unter-
suchungen sind der Lösung derselben gewidmet Er selbst spricht
in der Einleitung S. 16 seine Absichten dahin ans: »Im Nach-
folgenden soll der Versuch gemacht werden, die herrschende Un-
klarheit und Unsicherheit in der Bestimmung der rechtlichen Stel-
lung, in welcher sich der Beneficiat zu seinem Beneficium befindet,
dadurch zu beheben, daß die allgemeine Auffassung, welche dies*
falls in der geschichtlichen Entwicklung des kirchlichen Beneficial'
Wesens hervortritt nnd insbesondere in der von der kanonistischen
Rechtswissenschaft gelieferten und im positiven kanonischen Reebte
stets festgehaltenen Konstruktion des »jus in re, jus in ipso beneficio«
zum Ausdruck kommt, festgestellt und darnach die juristische Natur
dieses Verhältnisses bestimmt wird«. Zn diesem Zweck behandelt
der Verf. im 1. Kap. »die selbständige Natur und Entwicklung der
kirchlichen Beneficien« (S. 21 — 93), im 2. Kap. »die juristische Kon-
struktion des Beneficiatenverhältnisses« (S. 94 — 222), im 3. Kap.
»das jus in re« (S. 222—273), im 4. Kap. »das jus ad rem« (S. 274.
— 301) und im ö. Kap. »den rechtlichen Charakter des Beneficiaten-
verhältnisses t (S. 302—310).
Pie Entwicklung der kirchlichen Beneficien fällt in das 4.-9.
GroB, Das Recht an der Pfründe. 1001
Jahrhundert. Der Verf« hat dieselbe S. 21 ff. näher beschriebeD and
die Selbständigkeit dieser Entwicklung betont. Insbesondere wies
er mit yielem Geschick die Annahme zurück, als seien die Benefi-
cien in Anlehnung an die beneficia militaria der späteren römischen
Kaiserzeit oder in Nachahmung des römischrechtlichen precarium
entstanden. Ebenso wenig haben sie die rechtliche Natur der mittel-
alterlichen precariae. Das Verhältnis des Klerikers zu dem ihm pro
stipendio verliehenen Kirchengut bezeichnet er mit Recht als ein
nach Grund und Inhalt ganz eigentumliches, welches von Anfang an
die Elemente für ein eigenartiges juristisches Gebilde in sich trug.
Die kirchlichen Beneficien sind insbesondere unabhängig vom ger-
manischen Beneficialwesen ins Leben getreten. Dasselbe hat auf
die Fortbildung und Festigung wohl Einfluß gettbt, aber Vorbild fUr
dieselben war es nicht.
Nachdem die unabhängig von jedem bestimmten Typus des Ci-
vilrechts auf rein kirchlichem Grunde entstandenen Beneficien be-
reits im 9. Jahrb. eine feste und bleibende Gestaltung und ihre tech-
nische Benennung erlangt hatten, sorgte das 10. und 11. Jahrh. für
die weitere Ausbildung und Ausbreitung. Die innere Durchbildung
und juristische Gestaltung jedoch begann erst im 12. Jahrh.', sie
wurde aber auch alsbald so eifrig und allseitig betrieben, daß die
diesbezügliche litteraturgeschichtliche Darstellung ein eigenes Buch
erfordert, wie denn auch hier der Schwerpunkt der G.schen Arbeit
zu suchen ist. Alle Wandlungen und Nuancierungen der wissen-
schaftlichen Erklärungsversuche sind hier mit peinlichster Sorgfalt
verzeichnet, jeder Wechsel der gesetzgeberischen Formulierung ist
beachtet, bis dann am Schluß die beiden hier in Betracht kommen-
den Begriffe des jus in re und jus ad rem aus dem entwicklungs-
geschichtlichen Reinigungsproceß geläutert hervortreten and im gel-
tenden Becht ihren Platz einnehmen.
Das Recht des Beneficiaten am Pfrttndegnt wurde anfangs wie
die anderweitigen Befugnisse des sacrum officium als Bestandteil der
im Amt verkörperten öffentlichen Kirchenverwaltung angesehen; als-
bald aber trat, wie dies auch auf andern Gebieten geschah, das Be-
streben hervor, dasselbe unter privatrechtliche Gesichtspunkte zu
bringen und nach solchen näher zu bestimmen (S. 175). Und zwar
war es die Kategorie des jus in re, welche die Herrschaft gewann,
jene Kategorie, welche die Glossatoren des römischen Rechts gerade
erst aufgestellt hatten (Landsberg, die Glosse des Accursins 82 ff.).
Goffredns de Trano (S. 125 ff.) ist, soweit wir sehen, der erste, wel-
cher das Beneficiatenverhältnis als ein jus in praebenda, jus in
ecclesia, als ein jus in re bezeichnete. Diese Qualificierung des Be-
Q«tl. g»l. Ans. 1887. Nr. M. 69
T002 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 26.
neficiateDverhältnisses erfolgte unter AnerkenouDg aller Kousequeu-
zen (139 ff.). Gegenstand des jas in re ist das Beneficium, d. h.
das Eirchenamt und die einzelnen Guter und Bezugsrechte , welche
mit demselben in dauernder Verbindung stebn. Es ist demnach ein
Komplex ziemlich verschiedenartiger Dinge, welcher von dem jus in
re ergriffen wird und worin die vermögensrechtliche Seite keines-
wegs ausschließliche oder allein maßgebende Bedeutung bat (S. 223).
Schon hieraus geht hervor, daß ein solches jus in re mit den ttbri-
gen jura in re nicht gleichartig sein kann. Das beneficium, an dem
das jus in re besteht, nennt der Beneficiat 9suum«, sein Recht kann
somit überhaupt beim jus in re aliena sein, abgesehen davon, daft
dieses jus in re auch nach seiner rein vermögensrechtlichen Seite
mit keinem anderen dinglichen Rechte identisch ist Es erscheint
als ein durchaus eigenartiges Gebilde. Dieser Beweis wird im 3.
Kapitel erbracht. Die Entwickelung des Pfrttnderechts war durch
die Rubricierung jus in re von vornherein in eine falsche Bahn ge-
wiesen. Mit den jura in re des Civilrecbts hat dieses Recht nichts
zu thun, und die Subsumtion unter dieses oder jenes dingliche
Recht, ususfructus, usus u. s. w. mußte sich als verfehlt erweisen«
Das Verhältnis des Beneficiaten zu seinem Beneficium konnte nnn
und nimmer ein bloß privatrechtliches Verhältnis werden, denn ein
sehr wichtiger Teil des Inhaltes dieses jus in re bezieht sich auf die
in dem Beneficium enthaltenen Amtsfnnktionen. Wie soll sich nan
ein Recht, dessen Objekt und dessen Inhalt einen so eminent öffent-
lichrecbtlichen Bestandteil aufweist, mit Emphyteusis, Nießbrauch ete.
auf eine Stufe stellen lassen? (S. 307). Und wenn wir die Be-
ziehung des Beneficiaten zu den Beneficialgütern allein ins Aage
fassen, so sucht der Verf. der Auffassung Bahn zu brechen (225 ff.),
daß die dem Beneficiaten gewährte rechtliche Macht quantitativ und
qualitativ verschieden ist. Vor allem ist dieser Inhalt des jus in re
nicht bloß Berechtigung, sondern auch Verpflichtung (S. 305), er
kann nur durch den im öffentlichen Recht vorgeschriebenen Ueber-
tragungsakt der zuständigen Autorität, niemals durch beliebige
Disposition des bisher Berechtigten begründet werden. Vermögens-
rechtliche Bedeutung und ökonomischer Wert kommt diesem Jos in re
wohl zu, aber das vermögensrechtliche Princip der Uebertragbarkeit ist
ihm fremd. Der Verf. kommt somit zu dem Schluß: >da8 jus in re
des Beneficiaten stellt sich als eine ganz eigenartige, von allen
sonstigen Erzeugnissen des Rechtslebens grundverschiedene Schöpfung
der kirchlichen Rechtsbildung dar. Hervorgegangen aus dem Be-
streben, die durch die geschichtliche Entwicklung des kirchlichoi
Beneficialwesens geschaffene Stellung des Beneficiaten rechtlieb bc-
GroB, Das Recht an der Pfründe. 10Ö3
Stimmt und sicher zq fundieren, wurde es gebildet nach dem Typus
des umfassendsten und intensivsten aller privatrechtlichen Herr-
schaftsverhältnisse, des Eigentums und ihm dadurch eine Gestalt ge-
geben, welche es zu einem dinglichen Rechte am Amte macht und
äußerlich unter die Formationen des Privatrechts bringt. Die privat-
rechtliche Macht seines Typus konnte aber in diesem seiner inner-
sten Natur nach öffentlichrechtlichen Verhältnisse niemals zu reinem
Ausdrucke kommen, sondern nur sinngemäße, nach der einen Seite
(in Bezug auf die Amtsfunktionen) nur ganz entfernte, nach der an-
dern Seite (in Bezug auf die Vermögensgüter des Beneficiums) je
nach der Beschaffenheit der diesfälligen Bestandteile seines Objektes
mehr oder weniger vollständige Anwendung finden und mußte da-
durch einen Charakter erlangen, der dem öffentlichen Rechte weit
näher steht, als dem Privatrechte. Das Beneficiatenver-
hältnis nach seiner heutigen Gestaltung i m kanoni-
schen Rechte ist zu bezeichnen als ein öffentlich
rechtliches Verhältnis, das aber wegen der in dem Bene-
ficium enthaltenen Vermögensgüter in eine nur für Privatrechts-
verhältnisse bestehende juristische Form gebracht ist; das jus in re
des Beneficiaten ist zu bezeichnen als ein Recht, das zwar einen
dem Eigentumsrechte nachgebildeten , also privatrechtlich formu-
lierten Inhalt hat, welcher jedoch wegen der im Beneficium ent-
haltenen öffentlichrechtlichen Bestandteile und wegen der durch das
öffentliche Recht gezogenen Schranken gerade in seinem privat-
rechtlichen Charakter wesentlich alteriert ist. Oeffentlichrechtliche
Natur des Verhältnisses und privatrechtlicher Charakter seiner For-
mulierung fließen in dem jus in beneficio in einander, gerade so wie
in seinem Objekte Amtsfunktionen und Vermögensgüter in untrenn-
bare Verbindung gebracht sind und machen dasselbe zu einem
Rechtsgebilde, welches einen aus privatrechtlichen und öffentlich-
rechtlichen Elementen zusammengesetzten Inhalt hat und sonst we-
der im Gebiet des öffentlichen, noch in dem des Privatrechts seines-
gleichen findete.
Der Verf. hat die aus der privatrechtlichen Fundierung des be-
neficiatischen Rechts sich ergebenden Unzuträglichkeiten scharf her-
vorgehoben und insbesondere die Anlehnung an die civilrechtliche
Kategorie des jus in re mit Erfolg zurückgewiesen. Dies rechnen
wir ihm zum Verdienst an. Wir hätten es aber für folgerichtiger
gehalten, wenn er noch weiter gegangen wäre und die mittelalter-
liche Rubricierung ganz beseitigt hätte. Ein jus in re, welches mit
dem bekannten jus in re nichts zu thun hat, hat den Anspruch auf
diese Charakterisierung verwirkt. »Ein jus sni generis, ein ganz
69»
1004 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 26.
eigeDartiges, yod allen sonstigen Rechtsbildangen wesentlich ver-
schiedenes Recht« (310) mnß von der Subsumtion unter einen mit
bestimmtem Inhalt ausgestatteten Rechtsbegrifif befreit werden. Sonst
haben wir ein jus in re, welches die Eigentümlichkeit besitzt, kein
jus in re zu sein.
Es liegt außer allem Zweifel, daß klagerechtliche Gesichtspunkte
die mittelalterliche Eanonistik ins Privatrechtslager getrieben haben.
Eine Verwaltungsgerichtsbarkeit war noch nicht entwickelt, fttr die
Geltendmachung öfifentiichrechtlicher Ansprtlche fehlte das besondere
Forum. Dieselben wurden in privatrechtlicher Form und daher
auch nach privatrechtlichem Gesichtspunkt entschieden. Wie der
Verf. selbst an einer anderen Stelle (130) mit Recht hervorhebt,
war im Mittelalter die Einteilung der Klagen der Grund für die
Einteilung der Rechte. Der Beneficiat war nun mangels verwal-
tungsrechtlicher Schutzvorrichtungen durch die »in rem actio ad
instar rei vindicationis« — nach Durantis sogar durch die rei vin-
dicatio schlechthin — durch die actio Publiciana und Interdicte
gesichert. Es stand nach der Auffassung der Zeit somit nichts
im Wege, sein Recht als ein dingliches Recht zu begreifen. Dem
gegenüber gilt es heute für ausgemacht, daß sich die Natar eines
Rechtes nicht nach der Art seiner Klage bestimmt Die nenere
Entwickelung hat sodann in der Ausbildung der Verwaltungsrecbts-
sprechung für den Schutz öffentlicher Rechte besser gesorgt, als es
die Givilklage vermochte. Wer heute in seiner Beneficiatenstellnng
angetastet wird, kommt nicht mit der rei vindicatio und actio nega-
toria, sondern sucht Abhilfe bei der vorgesetzten Verwaltungsbe-
hörde. Die Anerkennung eines Beschwerderechts im mittelalterlichen
kanonischen Recht hatte bereits sichere Ansatzpunkte für diese Ent-
wicklung geschaffen.
Der Kern des Beneficiarrechts ist publicistischer Natur, die An-
nahme eines wenn auch sui generis bezeichneten dinglichen Rechts
ist verfehlt. Daß dabei der Beneficiat auch noch privatrechtliche
Ansprüche hat, macht seine Stellung ebensowenig zn einer privat-
rechtlichen, als die Stellung der Staatsbeamten wegen der civil-
rechtlicben Verfolgbarkeit seines Gehaltes eine privatrechtliche wird.
In dem Beneficiatenverhältnis treffen verschiedene Momente zusam-
men, und es ist für das wissenschaftliche Begreifen wenig gewon-
nen, wenn wir dasselbe als ein Recht eigener Art proklamieren.
Wir müssen vielmehr die öffentliche und private Seite auseinander-
halten und auch diese Gebilde auf ihre Elemente analysieren. In
dieser Hinsicht dürften aber Richter-Dove, Friedberg und Mejer das
Richtige getroffen haben: die Vermögensrechte des Beneficiaten sind
bald dingliche, bald Forderungsrechte; sein dingliches Recht hin*
GroB , Das Recht an der Pfr&nde. 1005
wiederum wird dem Kerne nach als nsasfractas aufgefaßt werden
mÜBsen, welcher wegen der pnblicistisohen Atmosphäre, in welcher
er sich aufhält; nur qaalificiert ist. Daß die mittelalterliche Doktrin
anders verfahren ist, kann die heutige Behandlungsweise nicht mehr
beeinflnssen.
Wenn man die gesamte Rechtsstellung des Beneficiaten als jus
in re auffaßt, so muß man fragen: welches ist denn die Sache, an
welcher er Rechte besitzt? die Unsicherheit in der Frage der kirch-
lichen Eigentamsträgerschaft ließ nun bald ein wirkliches jus in re
aliena entstebn: hier war denn die joristische Person des beneficium
Eigentümer. Aber mehr noch erscheint dieses dingliche Recht als
ein Recht an eigener Sache: hier war denn der Beneficiat Eigen-
tümer oder befand sich doch in einer dem Eigentümer ähnlichen
Stellung. Der Verf. hat für ein quasidominiales Recht des Benefi-
ciaten zu viel Sympathie verraten. Es ist ihm kein volles civil-
rechtliches Eigentum, aber er behandelt es als solches, was sich ins-
besondere darin kund gibt, daß er ein anderweitiges wirkliches Eigen-
tum neben diesem sog. Beneficialeigentum nicht anerkennt. »Daß
sich mit derselben (d. h. seiner Charakterisierung des Inhalts des
jus in re) der gleichzeitige Bestand eines veritablen Eigentums-
rechtes an diesen Beneficialbestandteilen nicht verträgt, und daß es
somit an VermögensstUcken, welche das Objekt eines solchen jus in
re bilden, ein Eigentum im strengen civilrecbtlichen Sinne gar nicht
gibt, ist hiernach wohl zweifellose (S. 237). Wenn er aber fort-
fährt: »Allein es scheint mir Nichts weniger als ausgemacht, daß
jedes einzelne kirchliche Vermögensobjekt gerade seinen (civilrecbt-
lichen) Eigentümer haben muß«, so stehn dem sehr gewichtige
theoretische und praktische Erwägungen entgegen. Im Rechtsver-
kehr befindliche Sachen können wohl vorübergehend bald diesem
bald jenem mit ihrem ganzen oder teilweisen ökonomischen Wert zu-
geteilt sein. Nachdem aber einmal unser Recht die Idee des Privat-
eigentums als der höchsten Steigerung der Verfügungs- und Aus-
schlußbefugnis entwickelt hat, durch welche alle res in commercio
ergriffen werden, ist es eine logische Pflicht, über dem minder-
berechtigten Beneficiaten den vollberechtigten Eigentümer aufzu-
spüren. Die höchste Herrschaft über eine Sache ist das Eigentum;
will der Verf. über der Macht des Beneficiaten keine höhere Ver-
fügungsgewalt mehr anerkennen, so ist sie eben die höchste und
somit civilrechtliches Eigentum. Diese Konsequenz müßte somit ge-
zogen werden. In praktischer Hinsicht gebe ich aber zu bedenken:
wer soll bei einer Eigentumsauflassung an das Beneficium als Eigen-
tümer ins Grundbuch eingetragen werden? Es unterliegt keinem
Zweifel : das Beneficium selbst. Die Bechtssnbjektivität desselben
1006 Gott. gel. Anz. 1687. Nr. 26.
ist schon durch Innocenz IV. formaliert worden (Menrer, Begriff und
Eigentümer der heil. Sachen IL 169) und heate allüberall anerkannt
(ebend. IL 171 ff., 268 ff., 286 ff, 311 ff., 394 ff.). Mit dieser That-
Sache hätte sich der Verf. also noch abzufinden. Vollständig zweck-
los wird doch die Eigentumssubjektivität nicht entwickelt worden sein.
In diesem Zusammenhange sei noch auf einen andern Pnnkt
aufmerksam gemacht. Welches Recht ist für die Art und den Um-
fang der beneficiatischen Befugnisse maßgebend? Der Verf. ent-
scheidet sich zu Gunsten des Kirchenrechts. »So viel steht wohl
fest, daß die VermOgenschaften, aus welchen die Beneficien bestehn,
kirchliche Vermögenschaften sind und daß die Disposition über das
vorhandene (bereits erworbene) Kirchenvermögen in ganz eminentem
Sinne eine innere Angelegenheit der Kirche resp. Religionsgesell-
schaft bildet« (S. 17). Ich glaube aber, daß man hier wohl ans-
einanderhalten muß: die Kirche als Eigentümerin und die Kirche
als gesetzgebende Gewalt. Als Eigentümerin disponiert sie gewiß
über ihr Vermögen wie jeder andere Eigentümer — aber doch nur
in der Richtung der dafür erlassenen vermögensrechtlichen Normen.
Daß der Staat aber zur Erlassung der letzteren kompetent sei, glau-
ben wir in unserem »Begriff und Eigentümer der heil. Sachen«
L 6 — 158 bewiesen zu haben. Wenn die Staatsgesetzgebnng dieaes
Geschäft bis jetzt fast ausschließlich durch die Kirche besorgen
ließ, so hat sie darin sehr weise gehandelt; wir sehen auch keinen
Grund ein, daß dieses autonomische Recht in Zukunft verkürzt
werde, indes vermag dies an unserer grundsätzlichen Auffassung
nichts zu ändern.
Mit dem jus in re bezeichnet die Kanonistik die durch den
Uebertragungsakt des berechtigten kirchlichen Obern geschaffene
gesamte Rechtsbeziehung des Instituierten zu seinem Beneficinm.
Ruht dagegen die Bezeichnung des Kandidaten in der Hand eines
andern als des verleihungsberechtigten Oberen, so entsteht die
Frage: welche Rechtsstellung hat die durch designatio oder electio
für ein Amt in Aussicht genommene Person vor der Uebetragung?
Die Antwort lautet : er hat ein jus ad renu Dem Wesen dieses jos
ad rem nachzuspüren, hatte sich der Verf. gleichfalls zur Aufgabe
gesetzt, und wir können ihm die Anerkennung nicht versagen, daA
er dieselbe in vorzüglicher Weise gelöst hat. Nach Ziebarth und
V. Brünneck soll das jus ad rem als ein relativ-dingliches, d. h. nur
in einzelnen Beziehungen gegenüber bestimmten Personen dinglich
wirksames Recht von dem Feudisten Jacobus de Ravanis f 1296
erfunden und aus dem germanischen Lehenrecht ins Kirchenrecht
herübergenommen worden »eii:. Diese Auflassung, welcher sich
Hinschius System IL 652 angeschlossen hatte, wird vom Verf., nach-
Groß J Das Recht an der Pfründe. 1007
dem schon Hensler vom Standpunkt des deutschen Rechts Wider-
spruch erhoben hatte, erfolgreich bekämpft.
Er weist nach , 1. daß die technische Bezeichnung jus ad rem
durchaus nicht von Jacobus de Ravanis oder den italienischen Feu-
disten überhaupt erst erfunden wurde, sondern schon erheblich früher
in der kanonistischen Doktrin entstanden und eingewurzelt war.
2. Daß sich das absonderliche, eigentümliche Gepräge, welches das
jus ad rem der Feudisten und Kommentatoren des Civilrechts an
sich trägt, bereits in der von Innocenz IV. für sein jus ad peten-
dum beneficium gegebenen Konstruktion vorfindet (285 ff.).
Das auf kanonistischem Gebiet durch Innocenz IV. entwickelte
jus ad rem petendam trat naturgemäß in Gegensatz zum gerade fer-
tig gewordenen jus in re. »Mußte da nicht die häufige Verwendung
dieser gegensätzlichen Bezeichnungen: jus in re und jus ad rem pe-
tendam in der wissenschaftlichen Erörterung für sich allein schon
zur Abkürzung des letzteren Ausdrucks in jus ad rem geradezu
herausfordern ?€ (167). Es ist dem Verf. aber auch gelungen, den
Beweis direkt zu führen. Der Archidiakonns Guido de Baysio er-
wähnt in seinem Apparatus super sexto libro decretalium (1304 —
1313) ad c. 18 in VP 3, 4 y. in dignitatibus Innocenz IV. als den
Vater dieser Terminologie, »habes id, quod primus notaverat innoc.
supra de de offic. leg. dilectus (c. t. X de off. leg. 1, 30) seil, quod
quis habet jus in re ... et ad rem€ (S. 168). Weiter bezeugt der-
selbe ad c. 39 in VP 3, 4 y. ad dignitatem für seine Zeit, daß
diese Bezeichnungen die allgemeine Herrschaft errungen hatten
»Et sie habes. hie quod dici consuevit, habes jus in re et ad rem«
(168). Nach der Darstellung des Verf. ist dies sogar schon für die
Zeit des Durantis (1276) anzunehmen (169 u. 160 f.).
Welches ist nun der Inhalt dieses eigenartigen jus ad rem?
Der Untersuchung dieser Frage hat der Verf. besondere Sorgfalt
zugewandt, und man kann diese Partie als die bestgelungene be-
zeichnen.
Das Innocenz'sche jus ad rem petendam unterschied sich yon
dem jus in re des Beneficiaten in folgenden Punkten:
1. Dasselbe gewährte eine bloß persönliche Klage (S. 141).
2. Diese richtet sich nicht bloß gegen den Verleihungsberech-
tigten auf Uebertragung, sondern auch gegen die Wahlbe-
rechtigten auf >non yariarec, gegen jeden dritten ander-
weitig Instituierten sowie gegen jeden Besitzer (S. 141 f.).
Das ist allerdings eine merkwürdige actio personalis. Die Be-
ziehung des Institutionsberechtigten war nicht etwa eine bloß per-
sönliche zum yerleihungsberechtigten Obern, sondern ein yinculum
1008 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 26.
zwischen ihm und der betreffenden Kirche. Sie hatte Aehnlichkdt
mit dem matrimoniom initiatum. Das jas ad rem wirkt somit wie
das jas in re absolut, aber die Klagen gelten als persönlich mit
allen Konsequenzen, welche nach damaliger Lehre der Glossatoren
die bloßen actiones in personam nach sich ziehen (z. B. 144 N. 77).
Das Wesen dieses jus ad rem ist also ein dingliches Recht mit per-
sonlicher Klage. Bern. Gompostellanus gieng nun einen Schritt
weiter und erklärte die Klage des Qewählten ftir eine dingliche
Klage, eine in rem actio (152 f.). Das Beneficium, an welchem je-
mand das jus ad rem petendam zusteht, gilt ihm als verfangen, als
ein »beneficium affectum ita, quod non possit conferri alteri« (S. 154).
Die Klage ist wie das Recht von dinglich-absolutem Charakter.
Hiermit ist die darch Innocenz formulierte Zwitternatur beseitigt
und der dingliehe, absolute Charakter des jus ad rem klar and
entschieden ausgesprochen. Das jus in re und das jus ad rem
unterschieden sich daher zeitweilig nur dadurch, daß in dem letz-
teren (seit Dnrautis) auch diejenigen Ansprüche auf ein Beneficiom
aufgenommen wurden, welche nicht zur actio, sondern, wie z. B.
aus einem päpstlichen Reskript (litterae monitoriae, praeceptoriae,
executoriae), nur zu einer außerprocessualischen imploratio officii ja-
dicis führten. Das Recht des Gewählten und Präsentierten war
embryonaler Art, dasjenige des Instituierten und Konfirmierten
dagegen fertig wie das geborene Kind. Das Wesen dieser Rechte
war gleich und demgemäß auch die Klagen nicht verschieden.
Hiermit war man aber auf dem besten Wege, ganz verschiedene
Rechtsbeziehungen unter eine Formel zu bringen. So lange sich
die Lehre im privatrechtlichen Banne hielt, war es nicht mög-
lich, über diesen Gedankenkreis hinauszukommen. Gerade die pri-
vatrechtliche Konstruktion aber ist es, welche vor Allem zurückzu-
weisen ist, und dem Verf. gebührt das Verdienst, die in der neueren
Wissenschaft geschaffenen Ansatzpunkte für eine öffentlichrechtliche
Konstruktion energisch festgehalten zu haben. Das non resilire
posse a postulatione sive nominatione ist in erster Linie kein Recht
des postulatus sive nominatus, wenn es demselben auch zu gute
kommt, sondern nur eine Gebundenheit des kirchlichen Obern den
Verleihungsakt an dem Träger des jus ad rem vorzunehmen. Sein
sog. jus ist nur der Reflex der kirchenobrigkeit liehen
Verpflichtung. Hierin liegt der Schwerpunkt, und damit ist die
Stellung desjenigen, dem ein jus ad rem zageschrieben wird, als
eine Position öffentlich-rechtlichen Charakters gefaßt, die sich nicht
in einer privatrechtlichen actio, sondern im administrativen recur-
sus ad Superiorem und compelli posse per Superiorem bewährt.
Groß, Das Recht au der Pfründe. 1009
Sein Recht ist — wenn wir diese Bezeichnung überhaupt gebrau-
chen wollen — ein Recht publicistischer Art. Der Verf. führt
ganz richtig aus (S. 216 flf.): Die Subsumtion des Beneficiatenver-
hältnisses unter rein privatrechtliche Gesichtspunkte hatte schon
in der Konstruktion des jus in re zu keinem befriedigenden Re-
sultate geführt. Beim jus ad rem aber mußte sich der Wider-
spruch mit unabweisbaren Forderungen der verfassungsmäßigen Amts-
organisation besonders fühlbar machen. Als das jus in re fer-
tig war, mochte es sich ganz gut ausnehmen, die Position des Ge-
wählten oder Präsentierten als eine Art Vorstadium des jus in re
darzustellen. Aber praktisch konnte sich die Brauchbarkeit dieser
privatrechtlichen Formulierung auf die Dauer nicht bewähren. Vor
allem mußte man es fühlen, daß sich die actio ad petendum benefi-
cium gegen den Kirchenobern auf Erteilung der Konfirmation samt
all den darauf folgenden Schritten des Privatrechtswegs, wie Citation
des Obern vor den Richter, Verurteilung desselben, Exekution dieses
Urteils u. s. w. mit dem Verhältnis des Berechtigten und des Bene-
ficiums zum Kirchenobern durchaus nicht verträgt. Ein Klagerecht
aus dem jus ad rem gegen den dritten Besitzer mußte aber mit der
Befestigung der kirchlichen Administration hinfällig werden. Das
Beneficium ist kein Gegenstand des Handels und Verkehrs, so daß
es leicht in unberufenen Besitz gelangen könnte. Es bleibt auch in
der Vakanz unter der Obhut des Kirchenobern, welcher gegen jede
Besitzstörung ex officio vorzugehn hat, und auf administrativem Weg
dazu angehalten werden kann. Dieser Modus ist nicht bloß der
angemessenere, sondern auch der einfachere, er ist desgleichen siche-
rer und ausreichend. Und wenn es schließlich galt, das jus ad rem
gegen unberechtigtes Variieren oder gegen ein später entstandenes jus
in re zu behaupten, so gelangte der Träger jenes Rechtes wiederum
rascher und einfacher zum Ziel, wenn er bei dem kompetenten Vor-
gesetzten Beschwerde führte. »Es ist daher sehr begreiflich, daß
man auch in der Theorie die ganzen in dem jus ad rem steckenden
privatrechtlichen Elemente allmählich fallen ließ und das Verhält-
nis, zu dessen juristischer Formulierung dasselbe diente, lediglich
als ein Verhältnis öffentlichrechtlichen Charakters, kraft dessen nur
die Uebertragung des Beneficiums von dem kompetenten Kirchen-
obern im administrativen Wege gefordert werden kann, behandeltec
(S. 220. Vgl. auch 274 ff.).
Der Name und die Grundelemente des jus ad rem treten zuerst
in der kanonistischen Doktrin und zwar ganz selbständig auf. Von
hier erst fand dasselbe bei den Feudisten und Romanisten sinnge-
mäße Aufnahme (294 ff.). »Damit ist denn auch konstatiert, daß
1010 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 26.
das jus ad rem nicht lediglich aus einem MisverBtändnisse, sei es
nun des römischen, sei es des deatschen Rechts hervorgegangen ist
Der Ursprung des jus ad rem Überhaupt liegt hiernach vielmehr in
dem verkehrten Bestreben, ein seiner Natur und Wesenheit nach
öffentlichreclitliches Verhältnis unter privatrechtliche Gesichtsponkte
zu bringen und rein privatrechtlich zu gestalten«. So schlieit sich
der Verf. den Heuslerschen Untersuchungen mit großer Energie an,
und es ist zu erwarten, daß mit den Romanisten und Grermanisten
nunmehr auch die Kanonisten das jus ad rem ein für alle mal ad
acta legen.
Staats- und kirchenrechtliche Studien brachten uns zu der Er-
kenntnis, daß noch gar viele öffentlichrechtliche Verhältnisse im
privatrecblicben Banne liegen und ihrer Lösung harren. Bier ist
noch viel zu arbeiten. Möge man sich hierbei die peinliche Gewis-
senhaftigkeit des Verf. zum Muster nehmen! Ist seine Darsiellong
etwas ermüdend, so werden wir doch entschädigt durch die Sicher-
heit und Zuverlässigkeit der wissenschaftlichen Ergebnisse.
Breslau. Christian Mearer.
Politische Correspond enz der Stadt Strasburg im Zeitalter der
Reformation. 2. ßd. 1531—39. Bearbeitet von 0. Winkelmann.
Strasburg i/£. K. J. Trubner. 1887. XXXI u. 736 S. Lex. 8. Mark la
Der 2. Band der politischen Korrespondenz der Stadt StraAburg
umfaßt die Jahre 1531 — 39. Durch die darin mitgeteilten Briefe
und Akten wird unsere Kenntnis ttber diesen Zeitraum in der man-
nichfachsten Beziehung erweitert. Besonders unterrichtend aber sind
sie für die Geschichte des Schmalkaldischen Bundes. Ueber seine
Entwickelung, ttber die Orttnde für seine und die Politik der einzel-
nen Bundesglieder erhalten wir oft die überraschendsten AnfscblUsse.
Interessant ist es namentlich zu beobachten, welchen Einflaft der
dogmatische Gegensatz zwischen Sachsen und den Oberländern auf
die Gestaltung der politischen Verhältnisse ausgeübt hat
Kaum war der Bund geschlossen, so wurde auch schon sein
Bestehen durch die wiederholte Weigerung des Kurftirsten, die Schwei*
zer in denselben aufzunehmen, gefährdet. Die Oberländer lehnten
es infolge dessen trotz der Mahnungen Strasburgs ab, in die Bera-
tung der Bundesverfassung einzutreten. Erst nach der Katastrophe
von Kappel verstanden sie sich dazu. Ende des Jahres 31 konnten
endlich in Frankfurt die Grundzttge der Bundesverfassung vereinbart
Polit. Correspondenz d. Stadt Straßburg im Zeitalter d. Ref. Bd. IL 1011
werden. Es war die höchste Zeit ; denn schoD benutzten die Gegner
den dogmatischen Gegensatz anter den Verbündeten, um sie von ein-
ander zu trennen. Die ttber den Schweinfarter Tag handelnden
Aktenstücke zeigen, wie nahe sie diesem Ziele waren. Aber die Straß-
borger vereitelten ihren Plan, indem sie neben ihrer eignen die Säch-
sische Eonfession annahmen. Einiger als vorher forderten die Evan-
gelischen jetzt für alle, welche die Sächsische Eonfession annehmen
würden, vom Eaiser den Einschloß in den Frieden. Sachsen war schold,
daß die Evangelischen diese Forder ong in Nürnberg aufgaben. Was
sie dagegen eintauschten: das Versprechen des Eaisers, daß er dem
Eammergericht die Einstellung der Processe gegen die Evangelischen
anbefehlen werde, galt, wie wir aus der Eorrespondenz erfahren,
außer dem Landgrafen, auch Straßburg als nicht genügend. Letz-
teres gab seinen Widerspruch nur auf, weil es fürchtete, Sachsen
werde andernfalls allein seinen Frieden mit dem Eaiser machen.
Deutlicher als bisher erkennen wir aus der Eorrespondenz, wie wenig
in der That die Zusage des Eaisers für die Protestanten bedeutete.
Das Eammergericht konnte die Processe gegen die Evangelischen
ungehindert fortsetzen , und schon Anfang November 32 war man
sich in Straßburg darüber klar, daß den Evangelischen nichts ande-
res übrig bleibe, als das Gericht in Religionssachen ganz zu recu-
sieren.
Was die Gegner in Schweinfnrt und Nürnberg vergebens ver-
sucht hatten : die Evangelischen von einander zu trennen, das hätten
sie beinahe durch den Gadaner Vertrag erreicht. Durch jenen Arti-
kel, welcher die Sakramentierer und Wiedertäufer vom Frieden aus«
schloß, wurde das Mistrauen der Oberländer gegen die Sachsen im
höchsten Grade erregt. Das schroffe Auftreten der Lutheraner bei
der Reformation Württembergs, die Schwierigkeiten, welche der Eur-
fürst in bezug auf die Aufnahme Augsburgs in den Bund machte,
mußten ihren Argwohn, daß man sie vom Bunde ausschließen wolle,
noch bestärken. Ein Bruch schien unvermeidlich. Daß es nicht
dazu kam, verdankte man außer dem Landgrafen vornehmlich der
durch Sturm geleiteten klugen und umsichtigen Politik Straßburgs.
Man weiß, welchen Anteil Bucer an dieser Politik gehabt hat. Seine
oft geschmäheten Unionsbestrebungen werden durch die Eorrespon-
denz glänzend gerechtfertigt. Ohne seine aufopfernde und unermüd-
liche Thätigkeit wäre das politische Band, welches die Sachsen und
Oberländer nmscblang, wahrscheinlich zerrissen.
Aber wie sehr sich auch Straßburg um die Erhaltung des Bun-
des bemUhete, wir sehen es doch zugleich auch fUr den Fall gerü-
stet, daß jene Bemühungen vergeblich waren. Zwar das Projekt
1012 Gott. gel. Anz. 1887. Nr. 25.
eines Bandes zwischen Baiern , Würtemberg , Frankreich and den
Oberländern, von welchem wir hier zum ersten Mal Kenntnis erhalteOi
wies es kühl zurück. Dagegen aber plante Starm einen neuen Band
zwischen dem Landgrafen , Württemberg und den oberländischen
Städten. Bis in den Winter des Jahres 35 hinein wurde dieser
Plan aufs Ernstlichste erwogen. Erst nachdem der Kurfürst aaf dem
Tage zu Schmalkalden December 35 sich mit der Verlängerung des
Bundes und der Aufnahme neuer Mitglieder einverstanden erklärt
hatte , hört man nichts mehr davon. Wodurch der Kurfürst zur
Aenderung seiner Haltung bestimmt wurde, ist nicht recht klar.
Jedenfalls können die Zusicherungen König Ferdinands in dem so-
genannten Wienischen Artikel ihn nicht dazu bewogen haben. Die
Korrespondenz zeigt, daß die Bedeutung dieses Artikels bisher sehr
überschätzt ist. Noch einmal schien der theologische Gegensatz
zwischen Sachsen und den Oberländern Verwirrung anstiften zo wollen,
als die Evangelischen sich a. 37 abermals in Schmalkalden versam-
melt hatten, um über ihre Teilnahme an dem Koncil zu beraten and
die Botschaft des kaiserlichen Orators Held entgegenzunehmen. Es
erregte großen Argwohn bei den Oberländern, daß der Sächsische
Kanzler die Prediger zur Beratung darüber aufforderte, worin man
auf dem Koncil den Papisten etwa nachgeben könne. Später rief
es eine allgemeine Bestürzung unter ihnen hervor, als Luther in den
Schmalkaldischen Artikeln der Lehre vom Abendmahl eine f&r sie
unannehmbare Fassung gab. Indes Helds schroffes Auftreten trieb
die Evangelischen rasch wieder zusammen. Es bewirkte , daß die
Verhandlungen, welche nach dem Sinn des Kaisers die Protestanten
beruhigen sollten, das gerade entgegengesetzte Resultat hatten. Letz-
tere fühlten sich seit dieser Zeit mehr als je bedroht. Eifrig arbei-
teten sie daran, die Schlagfertigkeit des Bundes zu erhöhen und neue
Genossen zu gewinnen. Hessen und Straßburg dachten Anfang des
Jahres 38 sogar an Abschluß eines Freundschaftsvertrages mit Frank-
reich. Die Anregung dazu gab der in französischen Diensten ste-
hende Graf W. V. Fürstenberg, über dessen Thätigkeit die Korres-
pon4enz sehr merkwürdige Aufschlüsse gewährt. Straßburgs Be-
mühungen , die oberländischen Städte ' für deu Plan zu gewinnen,
waren indes vergebens.
Ein ungemein reichhaltiges Material liegt in der Korrespondenz
über die Verhandlungen vor, welche der Kaiser Frühjahr 39 in Frank-
furt dnrch den Erzbischof von Lunden mit den Protestanten eröffnen
hieß. Es ergibt sich daraus, daß diese Verhandlungen doch bei weitem
nicht ein so friedliches Gepräge trugen, wie man bisher geglaubt
bat. Vielmehr war die Lage eine äußerst gespannte. Im Norden
PoHt. Correspondenz d. Stadt StraBburg im Zeitalter d. Ref. Bd. II. 1013
sammelte sieh ein Hänfen Landsknechte und bedrohte, wie man an-
nahm, nicht ohne Einwilligung Lundens die Oebiete der protestan-
tischen Obrigkeiten. Im Süden unterhielt FUrstenberg mehrere tau-
send Mann, um sie beim Ausbrach des Krieges sofort den Evangeli-
schen zuzuführen. Mehr als einmal schien der Krieg unvermeidlich.
Mit dem* Resultat der laugen Verhandlungen war man in Straßburg
sehr wenig zufrieden ; aber Sturm sowohl wie der Landgraf meinten,
daß ein Waffenstillstand immer noch dem Ausbruch des Krieges
vorzuziehen sei.
Die Dauer des Friedens hing ganz davon ab, welches Verhält-
nis sich zwischen Karl und Franz feststellen würde. Straßburg
wurde hierüber durch seine Agenten und Freunde in Frankreich vor-
trefflich auf dem Laufenden erhalten. Ihre Berichte sowie der Um-
stand, daß Fürstenberg sich im Sommer des Jahres 39 eifrig be-
mühete, ein Bündnis zwischen Frankreich, Württemberg und den
Oberländern zu stände zu bringen, machten es wahrscheinlich, daß
Kaiser und König noch weit von einander seien. Am Ende des
Jahres aber versetzte die Nachricht von dem glänzenden Empfang,
welchen der König dem Kaiser bei seiner Beise durch Frankreich
bereitet hatte, die Protestanten in die äußerste Bestürzung. Als
Fttrstenberg bald darauf aus französischen Diensten schied, und sein
Nachfolger die früher Fürstenbergischen Knechte für Frankreich an-
zuwerben suchte, meinten die Straßburger, daß der Krieg schon vor
der Thür stehe. Rasch entschlossen wandten sie 2000 61d. daran,
um die Hauptleute ftlr die Evangelischen festzuhalten. Mit dem
Briefe, worin die Dreizehn dies dem Landgrafen mitteilen, schließt
die Sammlung.
Die Bearbeitung verdient das größte Lob. Der Korrespondenz
voran steht eine Einleitung, welche den Inhalt der Sammlung an-
giebt und dabei diejenigen Teile besonders hervorhebt, welche die
bisherige Anschauung wesentlich zu verändern geeignet scheinen.
Bei der Redaktion der Briefe und Aktenstücke ist das Wichtige und
minder Wichtige mit feinem Takt von einander geschieden. Ersteres
wird vollständig mitgeteilt, letzteres dagegen nur im Auszug. Oft
ist auch der Abdruck der Briefe von einer sich eng an den Text
der Akten anschließenden Darstellung unterbrochen, wodurch der
Inhalt ganzer Aktenkon volute, deren Abdruck unsere Kenntnis nur
wenig erweitert haben würde, auf wenige Seiten zusammengedrängt
wird. Anmerkungen unter dem Text versetzen uns in den Zusam-
menhang der Ereignisse und verweisen für die weitere Belehrung
auf die in Betracht kommenden Werke. Wesentlich erleichtert wird
die Benutzung auch durch Randnoten, welche auf diejenigen Stellen
I0I4 Gatt. gel. Anz. 1887. Nr. 25.
der Sammlang zarlickverweisen , die für die gerade vorliegende
Sache zn berücksichtigen sind. —
Das sprachliche Verständnis des Textes wird ebenfalls, wo es
nötig scheint, durch erklärende Anmerkungen vermittelt Vielleicht
hätte in dieser Beziehung manchmal noch etwas mehr geschehen
können. So enthalten z. B. Nr. 196 und 303 eine ganz unklare
Satzkonstruktion, welche der Erläuterung bedurft hätte. Im Einzel*
nen mag noch folgendes erwähnt werden: Bei den über den Schwein-
furter Tag handelnden Aktenstücken vermißt man ungern die Daten
am Kopf. S. 150 Z. 3 ist wohl »veijehenc zu lesen statt »verie-
henc ; S. 584 Z. 3 fUr das zweifelhafte »irgen« vielleicht >ir. mL<
S. 154 Nr. 148 ist unter »Eriechischen Weißenburg« nach dem Zu-
sammenhang Belgrad (Alba graeca oder Bnlgarorum) zu verstehen
und nicht Karlsburg in Siebenbürgen. S. 306 Z. 10 »angemaßter
Könige ist lapsus calami.
Der Druck ist im Ganzen sehr korrekt. Kleinere Versehen
kommen vor, sie sind aber als solche leicht kenntlich und thun dem
Verständnis keinen Eintrag. — Eine Ergänzung der Aktenstficke
bilden 2 Abhandlungen, wovon die letztere: Straßburgs Bemflhangeo
um die Wittenberger Goncordie, besonders wertvoll ist. Den SchloA
des Bandes macht das sorgftlltig gearbeitete Register von Herrn
Dr. Job. Fritz. So ist alles geschehen, um die Benutzung des Ban-
des so bequem als möglich zu machen. Wir wünschen, daß die
Wissenschaft ihren Dank für diese schöne Oabe durch fieiftige Aus-
nutzung der Korrespondenz an den Tag legt.
Weimar. H. Virck.
Tolstoi, D. A. Graf, Die Stadtscholen w&hrend der Regierung
der Kaiserin Katharina IT. Aus dem Rassischen übersetzt tob
P. V. Kugel gen. St. Petersburg, Buchdruckerei der Kaiserlichen Akademie
der Wissenschaften, 1887. 200 S. 8^
^ Dieses Buch feiert die Erinnerung der durch das kaiaerliebe
Statut vom 5. August 1786 erfolgten Gründung der russischen Volks-
schule. Lange Verhandlungen und Beratungen, weiche von der auf-
geklärten Kaiserin veranlaßt und eifrigst gefördert wurden, waren
vorangegangen; der »Barone Grimm und der spätere Fürst Karl
Dahlberg erscheinen unter den Beratern der Kaiserin ; aber schlieft-
lich nahm man die durch Felbiger in Oesterreich durchgeführte Or-
ganisation an. So bildet diese Periode der russischen Sehnige-
schichte einen Exkurs zur deutschen; denn nicht bloft die äußere
■" ' r
Tolstoi, Die Stadtschulen während der Regierang der Kaiserin Katharina II. 1015
Eiuricbtuiig der Felbigerschen VolkBScbule, Dicht bloß ihr systemati-
scher Aufbaa in Trivial-, Haupt- und Normalscbale , wurde aus
Oesterreich herübergenommen, auch die sogenannte Saganscbe, bes-
ser Hähnsche Buchstaben- und Tabellarmethode eignete man sich
mit begeistertem Eifer an. Wer die Zeit kennt, in welcher diese
Dinge sich vollzogen — es sind die der großen Revolution voraus-
gegangenen zwanzig Jahre — , wird sich nicht wundern über die
Geschäftigkeit, mit der man auch in Rußland Schulpläne entworfen,
und über die großen Hoffnungen, welche man auf diese Veranstal-
tungen zur Beförderung der Humanität und Aufklärung gesetzt hat,
aber auch nicht über den Mangel an Ausdauer und praktischem
Sinn , welcher vor der früher nicht recht erwogenen und doch so
wichtigen Geldfrage sich alsbald einstellte. Daß man durch Regle-
ments und Schulbücher den ersten Grund zur Hebung der Nation
glaubte legen zu müssen, hat sich zu allen Zeiten der Schulge-
scbichte wiederholt.
All diesem Dinge finden in dem sehr gut übersetzten Buche des
Grafen Tolstoi die eingehendste Darstellung. Auch die österreichi-
sche Schulreform ist genau geschildert. Hier und in den der Ge-
schichte der Pädagogik entnommenen Angaben finden sich einige
Ungenanigkeiten ; so hat z. B. Comenius schon vor seiner Ver-
bannung sich mit pädagogischen Fragen beschäftigt, und seine Di-
dactioa magna ist lange vor 1657 verfaßt worden. Das sind in-
dessen Kleinigkeiten; in allen Hauptsachen und besonders in den
die russische Schulgeschichte betreffenden Abschnitten ist, soweit
wir zu prüfen im Stande waren, alles genau und zuverlässig.
Karlsruhe. E. v. Sallwürk.
(Schluß des Jahrgangs 1887.)
/ •
Für die Redaktion yerantwortlich : Prof. Dr. Bechtd, Direktor der Gott. gel. Ans.
Assessor der Königlichen Gesellscliaft der Wissenscliaften.
Verlag der Bieterick* sehen Verlags-Buehhandlung.
Druck der Dieterkh* sehen Univ.'Buchdruckerei (W, JFV-. KaeHner).
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