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Full text of "Göttingische gelehrte Anzeigen"

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FROM  THE 

ICHABOD  TUCKER 
FUND 

ESTABLISHED  IN  1875  BY  THE 
BEQUEST  OF  ICHABOD  TUCKER, 
CLASS  OF  179],  AND  THE  GIFT  OF 
MRS.  NANCV  DAVIS  COLE,  OF 
SALEM 


Göttingische 


gelehrte  Anzeigen. 


Unter  der  Aufsicht  /2  ^  </y<^ 


der 


König].  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 


1887. 


Erster  Band. 


Göttingen. 
Dieterieb'sche  Verlags-BnchhaDdluDg. 

1887. 


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Yerzeichnis 

der  an   dem  Jahrgange  1887 

der 

GöttingiBchen  gelehrten  Anaeigen 

beteiligten  Mitarbeiter. 


Die  Zahlen  verweisen  anf  die  Seiten. 


Professor  Dr.  E.  G.  Aehelis  in  Marbnrg.    544. 

Professor  Dr.  A.  Bachmann  in  Prag.    383. 

Professor  Dr.  A.  Bezzenberger  in  Königsberg  i.  Fr.    413. 

Pastor  Dr.  J.  Biernatzki  in  Altona.    770. 

Dr.  C.  Brun  in  Biesbach  bei  Zürich.    73. 

Professor  Dr.  I.  Brans  in  Kiel.    649. 

Professor  Dr.  E.  Cohen  in  Greifswald.   662. 

Professor  Dr.  £.  Dobbert  in  Berlin.    257. 
Professor  Dr.  A.  von  Draffel  in  München.    449. 
Oberkonsistorialrat  Dr.  F.  D  tt  s  t  e  r  d  i  e  c  k  in  Hannover.    811. 
Professor  Dr.  R.  Encken  in  Jena.    948. 

Professor  Dr.  A.  P  o  n r  n  ie r  in  Prag.    352. 
Privatdocent  Dr.  W.  Friedensbnrg  in  Göttingen.    955. 

Landgerichtsrat  a.  D.  Dr.  L.  G  a  a  p  p ,  Privatdocent  in  Tübingen.  53. 
t Professor  Dr.  K.  Goedeke  in  Gi^ttingen.    445. 
fDr.  A.  von  Gonzenbach  in  Bern.     681. 

a* 


IV  Yerzeiclinis  der  Mitarbeiter. 

Professor  Dr.  W.  Gräfe  in  Halle  a.  8.    891. 

Professor  Dr.  E.  Hiller  in  Halle  a.  S.    401. 

Professor  Dr.  W.  H  ö  r  s  c  h  e  1  m  a  d  n  in  Dorpat.    594 

Professor  Dr.  H.  Holtzmann  in  Straßbnrg  i.  E.     1.  857. 

Stadtyikar  Dr.  L.  Horst  in  Golmar.    35. 

Professor  Dr.  Tb.  Husemann   in  Oöttingen.    575.    613.    715.  851. 

Professor  Dr.  H.  Jacob i  in  Kiel.    520. 

Professor  Dr.  E.  Tb.  von  Inama-Sternegg.    313. 

Prediger  Dr.  A.  Jttlicber  in  Rummelsbarg  bei  Berlin.    199.  563. 

Professor  Dr.  F.  Jnsti  in  Marburg.    98.  775. 

Professor  Dr.  J.  Kaftan  in  Berlin.    534. 

Dr.  E.  Kagelmacber  in  Berlin.    870. 

Oberlebrer  Dr.  0.  Kaufmann  in  Straßburg  i.  E.    237. 

Professor  Dr.  Tb.  Kolde  in  Erlangen.    5.  721. 

Professor  Dr.  W.  Krause  in  Göttingen.    226.  526. 

Oberlebrer  Dr.  J.  Krebs  in  Breslau.    626. 

Dr.  0.  Krebs  in  Hamburg.    744.  842. 

Privatdocent  Dr.  G.  Krttger  in  Gießen.    26. 

Professor  Dr.  P.  de  La  gar  de  in  Göttingen.    40.  289.  577.  983. 
Professor  Dr.  Tb.  Lipps  in  Bonn.    41. 
Professor  Dr.  J.  L  o  s  e  r  t  h  in  Gzernowitz.    398. 

Professor  Dr.  E.  Martin  in  Straßburg  i.  E.    77. 
Professor  Dr.  E.  Mayer  in  Wttrzburg.     151. 
Professor  Dr.  A.  Meitzen  in  Berlin.    66. 
Professor  Dr.  J.  Merkel  in  Göttingen.    985. 
Privatdocent  Dr.  Ob.  Meurer  in  Breslau.     999. 
Privatdocent  Dr.  H.  Meyer  in  Göttingen.    216.  675. 
Professor  Dr.  W.  M  ö  1 1  e  r  in  Kiel.    732. 
Professor  Dr.  A.  Mttller  in  Königsberg  i.  Pr.    897.  967. 

Professor  Dr.  E.  Nestle  in  Ulm  a.  Neckar.    207. 
Professor  Dr.  K.  J.  Neumann  in  Straßburg  i.  E.    273. 
Professor  Dr.  B.  Niese  in  Marburg.    825. 
Professor  Dr.  Tb.  Nöldeke  in  Straßburg  i.  Eis.    81. 

Bibliotbekar  Dr.  M.  Perlbacb  ip  Halle  a.  S.    777.  934. 
Oberlehrer  Dr.  J.  Plew  in  Straßburg  i.  El.     103. 


Yeraeichnis  der  IGtarbeiter.  Y 

Dr.  W.  Prellwitz  in  Königsberg  i.  Pr.    429. 

Professor  Dr.  H.  Beater  in  Göttingen.    529. 

Oberschalrat  Dr.   E.  yon  Sail wflrk   in   Karlsrahe  i.  Baden.    494. 

1014 
Professor  Dr.  G.  Schanz  in  Wtlrzbarg.    340. 
Geheimer  Arehivrat  Dr.  A.  Schalte  in  Karlsrahe  in  Baden.  923.  977. 
Professor  Dr.  0.  Seeck  in  Greifswald.     111.   497. 
Professor  Dr.  B.  Seaffert  in  Graz.    201. 
Professor  Dr.  W.  Sick  el  in  Marbarg.    818. 
Professor  Dr.  A.  Springer  in  Leipzig.    241. 
Arehivrat  P.  F.  Stalin  in  Stattgart.    836. 
Professor  Dr.  E.  Steindorff  in  Göttingen.     617. 
Professor  Dr.  E.  Stein mey er  in  Erlangen.    785. 
Professor  Dr.  A.  Stern  in  Zürich.    211.  359. 

Professor  Dr.  A.  Ubbelohde  in  Marbarg.    113.  993. 

Dr.  H.  Virck  in  Weimar.    1010. 

Professor  a.  D.  Dr.  B.  Westphal  in  Bflckebarg.    753. 

Professor  Dr.  Th.  Zachariae  in  Greifswald.    87. 

Dr.  jar.  et  phil.  K.  Zen  me  r,   Mitarbeiter  an   den  Monamenta  Ger- 

maniae  in  Berlin.    361. 
Professor  Dr.  Th.  Ziegler  in  Straßbarg  i.  Els.    937. 
Professor  Dr.  H.  Zimmer  in  Greifswald.    153. 


Verzeichnis 

der  besprochenen   Schriften. 


Die  Zahlen  verweuen  auf  die  Seiten. 


Anecdota  varia  graeca  et  latina  ediderant   R.  Schoell   et 
G.  Studenmnd. 
Vol.  L:   Anecdota  varia    graeca    edidit    Quilelinus 

Studemmd.    Berlin  1886.    [W.  Hörschelmann].  594 

Vol.  II:  Prodi  commentarioram  in  rem  publi- 
cam  Platonis  partes  ineditae.  Edidit  Rudolfus 
Schoell.    Berlin  1887.    [I.  BrunsJ.  649 

d'Arbois  de  Jubainville,  H.,  Essai  d'un  catalogue  de  la 
littöratnre  epiqae  de  Tlrlande.    Paris  1883.    [H.  Zimmer].        153 

Archiv  für  Oescbicbte  der  Philosophie.  In  Verbindung  mit 
H.  Diels,  W.  Dilthey,  B.  Erdmann,  E.  Zeller  heraasgegeben 
von  L.  Stein.    Band  I,  Heft  I.    Berlin  1887.    [B.  Eucken].      948 

Arkiv,  Nordiskt  medicinskt,  redigeradt  af  Dr.  Axel  Key. 
Band  XVIII.    Stockholm  1886.    [Tb.  Hasemann].  715 

Arsberättelse,  den  sjande ,  frän  Sabbatsbergs  Sjnkhus : 
Stockholm  för  1885,  lafgifven  af  Dr.  F.  W.  Warfvinge. 
Stockholm  1886.    [Tb.  Husemann].  613 

Ansoniiy  Decimi  Magni,  Bardigalensis  Opuscala  recensait 
R.  Peiper.    Leipzig  1886.    [0.  Seeck].  497 

Barthelemy,A.,  Gajastak  Abalish.  Texte  pehlevi  publiöpour 
la  premiere  fois  avec  traduction,  commentaire  et  lexique. 
Paris  1887.    [F.  Justi].  775 

Baunack,  Johannes  und  Theodor,   Studien  auf  dem  Gebiete 


Verzeichnis  der  besprochenen  Schriften.  YU 

des  Grieobischen  and  der  arischen  Sprachen.    Band  I,  Teil  I. 
Leipzig  1886.    [W.  Prellwitz].  429 

yan  Bebber,  W.  J.,  Handbuch  der  aastibenden  Witterangs- 
kunde.   Zwei  Teile.     Stuttgart  1885.  1886.    [H.  Meyer].  216 

Berg  er,  Hugo,  Geschichte  der  wissenschaftlichen  Erdkunde 
der  Griechen.  Erste  Abteilung:  die  Geographie  der  lonier. 
Leipzig  1887.    [K.  J.  Neumann].  273 

Berger-Levrault,  Oscar,  Catalogue  des  Alsatica  de  la 
Bibliothfeque  de  Oskar  Berger-Levrault.  Nancy  1886.  [G.  Kauf- 
mann]. 237 

Bernatz ik,  Edmund,  Rechtsprechung  und  materielle  Rechts* 
kraft.     Wien  1886.    [L.  Gaupp].  53 

Boos  —  siehe  Quellen  zur  Geschichte  der  Stadt  Worms. 

Budge,  Ernest  A.  Wallis,  The  Book  of  the  Bee.  The  Syriac 
Text  edited  from  the  manuscripts  in  London,  Oxford  and 
Munich  with  an  English  Translation.    Oxford  1886.  [E.  Nestle].    207 

Christie,  Richard  Copley,  The  Diary  and  Correspondence 
of  Dr.  John  Worthington.  Vol.  II.  Part.  II.  Chetham  So- 
ciety.   1886.    [A.  Stern].  359 

Collection  de  textes  pour  servir  ä  T^tude  et  ä  Tenseigne- 
ment  de  Thistoire.  —  Textes  relatifs  aux  institutions  privies 
et  publiques  aux  epoques  Merovingienne  et  Carol! ngienne, 
publies  par  Marcel  Thevenin.    Paris  1887.    [W.  Sickel].  818 

Correspondenz,  politische,  der  Stadt  Straßburg  im  Zeit- 
alter der  Reformation.  Band  II,  bearbeitet  von  0.  Winckel- 
ifkiwn.    Straßburg  1887.     [H.  Virck].  1010 

Dieterici,  Fr.,  Die  Abhandlungen  der  Ichwän  es-safä  in 
Auswahl.    Schlußlieferungen.    Leipzig  1886.    [A.  Müller].         897 

Ephraem  —  siehe  Lamy. 

E  u  b  e  1 ,  Eonrad ,  Geschichte  der  oberdeutschen  (Straßburger) 
Minoriten  Provinz.  Zwei  Teile.  Würzburg  1886.   [E.Goedeke].    445 

Far  rar,  Frederic  W.,  History  of  Interpretation.  London  1886. 
[H.  Holtzmann].  1 

Fester,  Richard,  Die  armierten  Stände  und  die  Reichskriegs- 
verfassung (1681-1697).   Frankfurt  a.  M.   1886.    fO.  Krebs].    744 


YJU  YerseichniB  der  beiprocheaeii  Schriften. 

FOrhandlingary  Upsala  Läkare,  redigeradt  af  R  F.  Fri- 
stedt.    Band  XXII.    Upsala  1887.    [Th.  HuBemaDn].  851 

Friedensbarg,  Walter,  Der  Reichstag  zn  Speyer  1526  im 
ZusammeDbaDge  der  politischeD  nod  kirchlichen  Entwicke« 
lang  Deatschlands  im  Beformationszeitalter.  Berlin  1887. 
[Selbfitanzeige].  955 

Gardiner,  Samnel  Bawson,  History  of  the  great  civil  war 
1642—1649.   Voll.    1642-1644.   London  1886.  [A.Stern].    211 

Geering,  Trangott ,  Handel  und  Industrie  der  Stadt  Basel. 
Basel  1886.    [G.  Schanz].  340 

GesSy  W.  F.,  Christi  Person  and  Werk.  Dritte  Abteilang. 
Basel  1887.    [F.  Dttsterdieck].  811 

GroB,  Karl,  Das Becht  der  Pfründe.  Graz  1887.   [Ch.Mearer].     999 

Gfildenpennig,  A.,  Geschichte  des  oströmischen  Reiches 
nnter  den  Kaisern  Arcadias  and  Theodosias  II.  Halle  1885. 
[0.  Seeck].  111 

Gwinn,  John,  On  a  Syriac  MS.  belonging  to  the  Collection 
of  Archbishof  Ussher.    Dnblin  1886.    [P.  de  Lagarde].  40 

Hang,  A.,  Eirchengeschichte  Deatschlands.  Teil  I.  Leipzig 
1887,    [W.  Möller].  732 

Haveti  Jalien,  Qaestions  Mörovingiennes.  I.  II.  HI.  Paris 
1885.    [E.  Zeamer].  361 

Herrmann,  W.,  Der  Verkehr  des  Christen  mit  Gott  im  An- 
schlösse an  Lather.    Stattgart  1886.    [J.  Kaftan].  534 

Hägard  —  siehe  Urkunden  znr  Geschichte  der  Stadt  Speyer. 

Hraza,  Ueber  das  lege  agere  pro  ttdda.  Erlangen  1887. 
[A.  Ubbelohde].  993 

Haber,  Alfons,  Geschichte  Oesterreichs.  Band  1  and  2. 
Gotha  1885.    [A.  Bachmann].  383 

Ha  her,  Eagen ,  System  and  Geschichte  des  schweizerischen 
Privatrechts.    Band  I.    Basel  1886.    [E.  Mayer].  151 

Hyvernat,  Henri ,  Les  actes  des  martyrs  de  T^gypte  tirte 
des  manascripts  coptes  de  la  biblioth^ae  vaticane  et  da 
masie  Borgia.    Vol.  I.    Paris  1886.    [P.  de  Lagarde].  983 

Jahresbericht,  zweiandsechzigster«  der  schlesischen  Ge- 
sellschaft ftir  yateriändische  Kaltar.  Jahrgang  1884.  Breslaa. 
[W.  Kraase].  226 


Verxeichiiis  der  besprochenen  Schriften.  IX 

Jakob,  Gtoorg,  Drei  Abfaandlangen  zar  Geschichte  des  Han- 
dels der  Araber  im  Mittelalter.    [A.  Malier].  967 
I.  Der  Bernstein  bei  den  Arabern  des  Mittelalters.  Berlin  1885. 
IL  Welche  Handelsartikel  bezogen  die  Araber  des  Mittelalters 

ans  den  nordisch-baltischen  Ländern?    Leipzig  1836. 
IIL  Der  nordisch-baltische  Handel  der  Araber  im  Mittelalter. 

Leipzig  1887. 

Joachim,  £.,  Die  Entwickelnng  des  Rheinbundes  vom  Jahre 
1658.    Leipzig  1886.    [0.  Krebs].  842 

jOlicher^  A.,  Die  Gleichnisreden  Jesu.  Erste  Hälfte.  Frei- 
burg im  Br.  1886.    [L.  Horst].  35 

Kehrbach  —  siehe  Monumenia. 

Keller,  Lndwig,  Die  Waldenser  nnd  die  deutschen  Bibel- 
übersetzungen.   Leipzig  1886.    [Tb.  Kolde].  5 

Khull  —  siehe  Plettere. 

Knot  he,  Hermann,  Schriften  über  die  Oberlausitz.  [A.Meitzen].      66 

Köhler,  Georg,  Die  Entwickelnng  des  Kriegswesens  nnd  der 
Kriegfflhrung  in  der  Bitterzeit.    Band  I  und  II.    [J.  Krebs].    626 

KOstlin,  H.  A.,  Geschichte  des  christlichen  Gottesdienstes. 
Freiburg  im.  Br.  1887.    [E.  C.  Achelis].  544 

Kddewey  —  siehe  Monumet^a. 

Kfihnan,  Richard,  Rhythmus  und  indische  Metrik.  Göttingen 
1887.    [H.  Jacobi].  520 

Kuntze,  Johannes  Emil,  Die  Obligationen  im  römischen  und 
im  heutigen  Rechte  und  das  ins  extraordinarium  der  römi- 
schen Kaiserzeit.    Leipzig  1886.    [A.  Ubbelohde].  113 

de  Lagarde,  Paul,  Probe  einer  neuen  Ausgabe  der  Ueber- 
setzungen  des  alten  Testaments.  Göttingen  1885.  —  Catenae 
in  eyangelia  aegyptiaoae  quae  supersnnt.  1886.  —  Norae 
psalterii  graeci  editionis  specimen.  1887.  —  Purim.  Ein 
Beitrag  zur  Geschichte  der  Religion.  1887.  —  Onomastica 
sacra.  Zweite  Ausgabe.  1887.  —  Mittheilungen.  Zweiter 
Band.   1887.    [Selbstanzeige].  577 

Laistner,  Ludwig,  Der  Archetypus  der  Nibelungen.  Mfln- 
cben  1886.    [E.  Martin].  77 

Lamprecbt,  Karl,  Deutsches  Wirthschaftsleben  im  Mittelalter. 
Drei  Bände.    Leipzig  1886.    [K.  Th.  von  Inama-Sternegg].      313 


X  Verzeichnis  der  besprochenen  Schriften. 

La  my,  Thomas  Josepbns,  Sancti  Ephraem  Syri  hymni  et 
sermones,   quos  e  codicibus  LondiDensibos,  Parisiensibus   et 

Oxoniensibns  descriptos  edidit,   latinitate  donavit  etc. 

Tomas  IL    Mecbliniae  1886.    [Tb.  Nöldeke].  81 

Lang,  Heinrieb  Otto,  Beiträge  zar  Eenntnis  der  Ernptiv- 
Gesteine  des  GbristiaDia-Silarbeckens.  Cbristiania  1886. 
[E.  Geben].  662 

von  der  Linde,  Antonius,  Kaspar  Haaser.  Zwei  Bände. 
Wiesbaden  1887.    [A.  Scbalte].  977 

Lessen,  Max,  Briefe  von  Andreas  Masias  and  seinen  Frean- 

den  1538—1573.    Leipzig  1886.    [J.  Losertb].  398 

Lucbaire,  Acbille,  Histoire  des  institations  monarcbiqaes  de 
la  France  soas  les  premiers  Gap^tiens.  Paris  1885.  [E.  Stein- 
dorflFJ.  617 

Ludwig,  Hermann,  Jobann  Georg  Kastner,  ein  elsässiscber 
Tondicbter,  Theoretiker  and  Musik forscber.  Sein  Werden 
und  Wirken,  Leipzig  1886.  Zwei  Teile  in  drei  Bänden. 
[J.  Plew].  103 

Luginbübl,,  Rudolf,  Philipp  Albert  Stapfer,  helvetischer  Mi- 
nister der  Künste    und  Wissenschaften  (1766 --1840).    Basel 

1885.  [A.  von  Gonzenbach].  681 

Luther,  Martin,  Werke,  kritische  Gesamtausgabe.  Band  III 
und  IV.    Weimar  1885.  1886.    [Tb.  Kolde].  721 

Mach,   E.,   Beiträge   zur    Analyse   der   Empfindungen.    Jena 

1886.  [Tb.  Lipps].  41 

Masius  —  siebe  Lassen. 

M6 langes,  nouveaux,  orientaux.  Paris  1886.  [P.  de  La- 
garde].  289 

Meyer,  Gustav,  Griechische  Grammatik.  Zweite  Auflage. 
Leipzig  1886.    [A.  Bezzenberger].  413 

Monumenta  Germaniae  Paedagogica.  Herausgegeben  von 
Karl  Kehrbach.  Band  I:  Braunschweigische  Schulordnungen 
von  den  ältesten  Zeiten  bis  zum  Jabre  1828,  mit  Einleitung, 
Anmerkungen,  Glossar  und  Register  berausgegeben  von  Frie- 
drich Koldewey.    Berlin  1886.    [E.  von  Sallwttrk].  494 

Monume]nta  medii  aevi  bistorica  res  gestas  Poloniae  illu- 
strantia.'    Tomus  IX.    Krakau  1886.    [M.  Peribacb].  777 

Pastor,  Ludwig,  Geschichte  der  Päpste  seit  dem  Ausgange 


Verzeichnis  der  besprochenen  Schriften.  XI 

deB   Mittelalters.     Band  I.     Freibarg   im   BreisgaD.    1886. 

[A.  Ton  Draffel].  449 

Petper  —  siehe  Ätisonitis. 

Perkins,  Charles,  Ghiberti  et  son  äcole.  Paris  1886. 
[C.  BrnnJ.  73 

Peshntan  Dastur  Behramji  Sanjana,  Ganjesh&jagin ,  An- 
darze  A'trepat  M&r&spand&n,  M&dig&ne  chatrang  and  An- 
darze  Ehnsroe  Eayat&n.  Bombay  and  Leipzig  1885. 
[F.  Jasti].  98 

Pfersche,  Emil,  Privatrechtliche  Abhandlangen.  Erlangen 
1886.    [J.  Merkel].  985 

Pick,  Bernhard,  Dr.  Martin  Luthers  »Ein'  feste  Barg  ist  an- 
ser  Oott«  in  21  Sprachen.    Chicago  1883.    [J.  Biernatzkij.      770 

Pischel  —  siehe  Rudrafa. 

P leisere,  der,  Tandareis  and  Flordibel,  heraasgegeben  von 
F.  Khdl.    Graz  1885.    [E.  Steinmeyer].  785 

Proclus  —  siehe  Änecdota  varia  graeca  et  latina. 

Q  a  eilen  zar  Geschichte  der  Stadt  Worms,  heraasgegeben  von 
H.  JBooSy  Teil  I,  Band  L    Berlin  1886.    [A.  Schulte].  923 

Beichstagsakten,  deutsche.  Band  IV  und  V.  Gotha  1882 
und  1885.    [E.  Kagelmacher].  870 

Reuter,  Hermann,  Augnstinische  Studien.  Gotha  1 887 .  [Selbst- 
anzeige]. 529 

Badrata's  Qrngäratilaka  and  Ruyyaka's  Sahrdayaltla.  With 
an  Introduction  and  Notes  edited  by  ü.  Pischd,  Kiel  1886. 
[Tb.  Zachariae].  87 

Schienther,  Paul,  Frau  Gottsched  und  die  bürgerliche  Ko- 
mödie.   Berlin  1886.    [B.  Seuffert].  201 

Schmidt,  F.  W.,  Kritische  Studien  zu  den  griechischen  Dra- 
matikern. Band  I:  zu  Aeschylos  und  Sophokles.  Berlin 
1886.    [E.  Hiller].  401 

Sehotl  —  siehe  Anecdota  varia  graeca  et  latina. 

Sol  tan,  Wilhelm,  Prolegomena  za  einer  römischen  Chrono- 
logie.   Berlin  1886.    [B.  Niese].  825 

Stalin,  Panl  Friedrich,  Geschichte  Württembergs.  Ersten 
Bandes  zweite  Hälfte.    Gotha  1887.    [Selbstanzeige].  836 


XII  Yerzeichnis  der  besprochenen  Schriften. 

Staodinger,  Franz,  Gesetze  der  Freiheit  Band  L  Darm- 
Btadt  1887.    [Th.  Ziegler].  937 

Stein  —  siehe  Archiv. 

Stern,  Alfred,  Abbandloogen  and  Aktenstüeke  znr  Gesehiehte 
der  preußischen  Reformzeit  1807—1815.  Leipzig  1885. 
[A.  Foamier].  352 

Sludemund  —  siehe  Änecdoia  varia  graeca  et  latina. 

S  t  a  d  e  r ,  B.,  Die  wichtigsten  Speisepilze.  Bern  1887.  [Th.  Ha* 
semann].  575 

Tandareis  und  Flardibel  —  siehe  PleuBre. 

Thevenin  —  siehe  Collection. 

T  h  0  d  e ,  Henry ,  Franz  von  Assisi  and  die  Anfange  der  Eanst 
der  Renaissance  in  Italien.     Berlin  1885.    [E.  Dobbert].  257 

Tolstoi,  D.  A.,  Die  Stadtschalen  während  der  Regierang  der 
Kaiserin  Katharina  II.  Uebersetzt  von  P.  v.  Kügdgen. 
St.  Petersbarg  1887.    [E.  v.  Sallwürk].  1014 

Urkanden  zar  Geschichte  der  Stadt  Speyer;  gesammelt 
and  heraasgegeben  von  Alfred  Hügard.  Straßbarg  1885. 
[A.  Schalte].  923 

Usener,  Hermann,  Altgriechischer  Versbaa.  Ein  Versach 
vergleichender  Metrik.    Bonn  1887.    [R.  Westphal].  753 

Usteri,  J.  M.,  Die  Selbstbezeichnang  Jesa  als  des  Measchen 
Sohn.    Zttrich  1886. 

—  —  —  Hinabgefahren  zar  Hölle.  Zürich  1886. 
[A.  Jtilieher].  199 

Vi  seh  er,  Eberhard,  Die  Offenbarang  Johannis,  eine  jüdische 
Apokalypse  in  christlicher  Bearbeitang.  Mit  einem  Nach- 
worte von  A.  Harnack.    Leipzig  1886.    [G.  Krüger].  26 

V  i  s  c  h  e  r ,  Robert,  Stadien  zar  Kanstgeschichte.  Stattgart  1886. 
[A.  Springer].  241 

Volk  mar,  Gastav,  Paalas  von  Damaskas  bis  zam  Galater- 
briefe.    Zürich  1887.    [E.  Gräfe].  891 

Weismann,  A.,  Die  Continaität  des  Keimplasmas  als  Grand- 
lage einer  Theorie  der  Vererbang.    Jena  1886.   [W.  Kraase].    526 

Weift,  Bernhard,  Lehrbach  der  Einleitang  in  das  Nene  Testa- 
ment.   Berlin  1886.    [H.  Holtzmano].  857 


Verzeichnis  der  besprocbenen  Schriften.  XIII 

Weizsäcker,  Karl,  Das  apostolische  Zeitalter  der  christ- 
lichen Kirche.    Freiburg  im  Br.  1886.    [A.  Jttlicher].  563 

Winkdmann  —  siehe  Politische  Correspondenz  der  Stadt 
Straftborg. 

Woeikof,  A.,  Die  Elimate  der  Erde.  Deutsche  Bearbeitung. 
Zwei  Teile.    Jena  1887.    [H.  Meyer].  675 

Zimmermann,  Franz,  Das  Archiv  der  Stadt  Hermannstadt 
and  der  sächsischen  Nation.  Hermannstadt  1887.  [M.  Perl- 
bach]. 934 


Üöttingische 


gelehrte  Anzeigen 


unter  der  Aufsicht 


derKönigl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften, 

Nr.  1.  ß  1.  Januar  1887. 


Preis  des  Jahrganges :  JIl  24  (mit  den  »Nachrichten  d.  k.  Q.  d.  Wiss.« :  »£  27). 
Preis  der  einzelnen  Nummer  nach  Anzahl  der  Bogen:  der  Bogen  50  ^ 

lakaU:  Far  rar.  History  of  Interpratatioii  Yon  SaUgmcmn.  —  Koller,  Die  Walctouer  md 
die  devtscboB  Bibelftbenotsimgeii.  Von  Koldi.  —  Yieeher,  Die  OJfeBbarang  Johumia.  Von  läügm; 
-'  J&lielier,  Die  Qloiclimgredoii  Jeoa.  I.  Von  Horst  —  Gwynn,  on  a  Syriac  MS.  bolonging  to 
Um  Colleetuni  of  Arehbiiliop  Uwhor.    Yon  de  LagardM, 

=  El0MHiehti9«r  Abdrack  von  Artikeln  der  QStt.  gel.  Anzeigen  verboten.  =   ' 

Farrar,  Frederic  W.,  History  of  interpretation.  Eight  lectures 
preached  before  the  university  of  Oxford  in  the  year  18d5.  London,  Mac- 
miUan  1886.    LI  o.  553  S.    8^ 

Der  durch  frühere  Werke  (Kommentare)  zu  Lukas  und  vom  He- 
brierbriefy  Lebensbilder  von  Jesus  und  von  Paulos,  ferner  Early  days 
of  Christianity  und  Messages  of  the  books)   rühmlich  bekannte  Ver- 
fasser, gegenwärtig  Archidiakonns  und  Kanonikus   von  Westminster, 
veröffentlicht  acht  Vorlesungen,  welche  der  Reihe  der  (apologetisch 
gerichteten)  Bampton  lectures  angehören.     Mit  der  bekannten  Breite 
Diid  rhetorischen  Haltung  englischer  Vorträge  versöhnt  einigermaBen 
die  höchst  achtungswerte  Belesenheit  und  Gelehrsamkeit,  von  wel- 
cher die  Noten  unter  dem  Text  und  am  Schlüsse  des  Buches  zeugen. 
Hier   findet  sich   eine  erdrückende  Menge  von  Stoff  zusammenge- 
tragen,  dessen  nur  teilweise  Verarbeitung  der  Text  der  Vorlesungen 
selbst  enthält.  Trotzdem  tragen  die  letzteren  vielfach  einen  mehr  skiz- 
xeiibaften  Charakter.    Auf  Vollständigkeit   und  GleichmäBigkeit   der 
DarsteUoog  verzichte  der  Verfasser  selbst,   wenn  er  selbst  bemerkt, 
daB  Ausleger  wie  Maldonatas,  Estius,  Cornelius  a  Lapide  (S.  VIII), 
ab»  auch  die  Soefatiaaer  (S.  383)  in  seiner  Darstellung  keine  Stelle 
gefanden  haben.    Aber  noch  mehr !  Auch  die  Exegese  der  Onostiker 
bleibt  unberOeksiehtigt,   obgleich  das  erste  Auftreten  einer  kircUi- 
ehen  Anslegong  und  Auslegungskusst  durch  den  Vorgang  jener  ur- 
säehlicb  bedingt  ist  und  sich  z.  B.  über  Herakleon  schon  etwas  sagen 

Göit.  fol.  Abs.  18S7.  Nr.  I.  1 


2  Gott.  ßfel.  Anz.  1887.  Nr.  1. 

ließe^  was  nicht  ohne  Belang  wäre.  Aber  aaeh  von  Größen  des 
J^irehlichen  Altertums  wie  Ambrosiaster,  Primasius,  Andreas  and 
Arethas  von  Gäsarea  erfahren  wir  nichts  oder  so  viel  wie  nichts; 
ttber  Andere,  wie  Victorinas  von  Plettaa,  die  Kappadocier,  Gyrillas 
von  Alexandria y  nnr  ganz  beiläufig  einiges  Unwesentliche,  ttber 
die  Meisten  nicht  genug  Konkretes  und  Charakteristisches  (man 
vgl.  z.  B.  was  S.  174  f.  über  Irenäus  ausgesagt  wird  mit  Harnacks 
Dogmengeschichte  I,  S.  441  f.),  während  von  dem,  was  mitgeteilt 
wird,  sehr  vieles  nur  in  einem  losen  Zasammenhang  mit  der  Exe- 
gese steht  Letztere  Bemerkung  gilt  nicht  bloß  von  der  ganzen  vier- 
ten Vorlesung,  welche  die  Scholastik  behandelt,  sondern  vielfach 
auch  schon  von  der  dritten,  der  Patristik  gewidmeten.  Daß  z.  B. 
die  dogmatische  Termini  zgtag  zuerst  bei  Theophil  us,  trinitas  zuerst 
bei  Tertullian  begegnen,  erfahren  wir  S.  171  und  368;  für  eine 
Geschichte  der  Auslegung  ist  beides  überhaupt  belanglos.  Wohl 
aber  wäre  von  Artemon  und  Theodotus  in  einer  Geschichte  der  Aus- 
legung ganz  Anderes  zu  erwarten  gewesen,  als  die  gelegentliche  Er- 
innerung an  ihren  Antitrinitarismus  (S.  263,  vgl.  hierüber  Harnack 
S.  577  f.).  Keine  Auskunft  empfängt  man  auch  über  immer  noch 
zur  Debatte  stehende  Detailfragen ,  wie  nach  dem  Kommentar,  wel- 
chen ein  gewisser  Heraklit  »zum  Apostel«  geschrieben  haben  soll 
(Enseb.  KG  V,  27),  nach  dem  Kommentar  des  Donatisten  Tichonius 
zur  Apokalypse  und  seinem  Verhältnis  zu  Victorinns  und  Hierony- 
mns,  nach  dem  Verfasser  und  Charakter  des  dem  Chrysostomus  zu- 
geschriebenen Opus  imperfectum  in  Matthaeum,  nach  den  vierbändi- 
gen AUegoriae,  welche  später  dem  Theophilus  von  Alexandria  oder 
gar  dem  von  Antiochia  zugeschrieben  worden  sind  u.  dgl.  mehr. 

Doch  kommen  wir  zur  Sache!  Der  Verfasser  kennt  eine  Menge 
falscher  Methoden  der  Auslegung;  er  zählt  als  solche  auf  die  hala- 
chische ,  kabbalistische ,  traditionelle,  hierarchische,  »inferentiale«, 
allegorische,  dogmatische,  naturalistische  (S.  XI).  Er  weiß,  daß  die 
Geschichte  der  Auslegung  eine  Geschichte  von  Irrtümern  ist  (S.  8. 162) ; 
er  bemüht  .sich  gleich  im  Eingang,  den  »causes  of  aberration« 
auf  die  Spur  zu  kommen  und  findet  dieselben  wesentlich  in  dem 
Umstände,  daß  die  christlichen  Ausleger  die  verhängnisvolle  Erb- 
schaft ihrer  Vorgänger  in  Jerusalem  und  Alexandria  angetreten  ha- 
ben (S.  11  f.).  In  derselben  Richtung  habe  ich  neulich  »das  Pro- 
blem der  Auslegung«  besprochen  in  der  Festschrift  zur  fünfhnndert- 
jährigen  Stiftungsfeier  der  Universität  Heidelberg,  veröffentlicht  von 
dem  historisch-philosophischen  Verein  zu  Heidelberg  1886,  S.  100 f.'). 

1)  S.  113  Z.  10  V.  o.  ist  eine  Zeile  ausgefallen:   »Kirchenväter  des  Qlaa- 
bens  gelebt,  es  hätten  die  heidnischen«. 


Farrar,  History  of  Interpretation.  S 

Die  gescbichtlicben  BedingangeD,  unter  welchen  die  Kirotie  an  die 
LOsnng  der  Aufgabe  herangetreten  ist,  brachten  es  nämlich  nnver- 
meidlich  mit  sich,  dail  diese  Aafgabe  zunächst  verkehrt  angeschrie- 
ben! das  ganze  Problem  gleichsam  mit  unsicherem  Schwerpunkt  auf 
den  Kopf  gestellt  angetroffen  wurde.  Warum  dies  der  Fall  war, 
und  wie  das  Problem  im  Lanfe  der  Zeiten  allmählich  umgedreht 
und  in  die  natürliche  Lage  gebracht,  eben  damit  aber  der  Lösung 
entgegengefllhrt  worden  ist:  das  und  nichts  anderes  ist  das  Thema 
einer  Geschichte  der  Auslegung.  Von  dieser  Sachlage  ist  auch  un- 
ser Verfasser  recht  wohl  unterrichtet.  Das  beweist  nicht  bloß  die 
erste  einleitende,  das  beweisen  namentlich  die  zweite  and  die  dritte 
Vorlesung,  welche  der  rabbinischen  und  der  alexandrinischen  Aus- 
legung gewidmet  sind  und  nicht  nur  das  Material  fttr  richtige  Be- 
urteilung dieser  Fehlgeburten  in  Masse  beibringen,  sondern  auch 
hinlängliche  Anleitung  zu  solcher  richtigen  Beurteilung  bieten.  Aber 
des  Materials  ist  nar  zu  viel,  und  die  Anleitung  zu  seiner  Zusam- 
menfassung im  »größten  Epitomator«,  wie  Hegel  den  Gedanken  ge- 
nannt hat,  erstickt  in  der  Massenhaftigkeit  des  Stoffs.  Beispiels- 
weise wird  mit  vollem  Recht  der  Widerspruch  betont,  daß  Irenäus 
die  Schäden  der  gnostischen  Exegese  aufgedeckt  hat,  aber  nur  um 
mit  seiner  eigenen  Auslegung  sofort  in  dieselbe  allegorische  Me- 
thode, die  er  bei  jener  bekämpft,  zurückzufallen  (S.  175).  Aber  es 
war  auch  zu  zeigen,  daß  dem  nicht  wohl  anders  sein  konnte.  Hätte 
der  Bischof  von  Lyon  sich  der  AUegorese  im  Grundsatze  entschla- 
gen wollen,  so  hätte  er  eben  nicht  der  Vorkämpfer  der  katholischen 
Kirche,  der  Mitbegründer  ihrer  Dogmatik  sein  können,  der  er  in 
Wirklichkeit  gewesen  ist.  Denn  der  Wortsinn  des  gesamten  Alten 
und  der  meisten  Teile  des  Neuen  Testaments  liefert  nun  einmal 
nichts,  was  sich  unmittelbar  für  jenes,  freilich  noch  recht  lose,  Ge- 
fbge  von  Glaubenssätzen  verwenden  ließe,  als  welches  das  werdende 
Dogma  bei  ihm  erscheint.  Denn  dieses  hat  bekanntlich  seine  War- 
zeln  nur  sehr  teilweise  im  Urchristentam,  in  viel  weiterem  Umfange 
dagegen  in  der  griechisch-römischen  Religionsphilosophie.  Somit 
mußte  auch  die  ex  regula  (vgl.  Iren.  II,  25,1)  fließende  Theologie 
unseres  Kirchenvaters,  wie  sie  prinoipiell  eine  dogmatisch  bedingte 
war,  so  auch  notwendig  eine  allegorische  sein.  Speciell  fttr  die 
neutestamentlichen  Schriften  aber  lag  die  dringlichste  Nötigung  zu 
einer  solchen,  ihren  historischen  Sinn  verdankelnden,  Interpretation 
in  ihrer  soeben  vollzogenen  und  von  Irenaens  mit  unter  den  Ersten 
vertretenen  Kanonisation,  in  den  auf  sie  übertragenen  dogmatischen 
Vorstellungen  der  gleichmäßigen  Inspiration,  der  absoluten  Sufficienz, 
der  dorchgängigen  inneren  Einheitlichkeit    Eine  Schrift  kanonisieren 

1* 


4  Gott,  jarel.  Anz.  1887.  Nr.  I. 

heißt  eben  gar  nichts  Anderes,  als  sie  zum  Objekt  allegorischer  Aus- 
legung erheben.  Aber  gerade  diese  Seite  an  der  Sache,  die  mit 
der  Oeschiehte  des  Kanons  zusammenhängt,  tritt  bei  unserem  Ver- 
fasser zurück  (vgl.  darüber  S.  llö  des  angeführten  Aufsatzes  und 
bei  Harnack  S.  276.  280  f.). 

An  dem  Mangel  an  Einsicht  in  diesen  Zusammenhang  hängt 
noch  Weiteres.  Man  kann  es  einem  Würdenträger  der  englischen 
Staatskirche  nicht  hoch  genug  anrechneu,  daft  er  es  vermag,  die 
Lehre  von  der  Inspiration  nicht  bloft  in  ihrer  völligen  Haltlosigkeit 
zu  erkennen,  sondern  ihr  auch,  wenigstens  in  ihrer  dogmatisch  kor- 
rekten Gestalt  als  Wort-Inspiration,  weil  sie  forthin  jede  ehrbare 
Exegese  im  Grundsätze  unmöglich  machen  würde,  offen  den  Krieg 
zn  erklären  (S.  XX  f.  336  f.,  339  f.  369  f.).  Nicht  an  sich  selbst  Offen- 
barung sei  die  Bibel,  sondern  ein  Buch ,  welches  Offenbarung  ent- 
hält in  Form  von  erhaltenen  Fragmenten  der  hebräischen  National- 
Htteratur  mit  daran  sich  schließenden  jüdischen  und  christlichen 
Anslänfem.  Er  ist  sich  bewußt,  damit  den  Interessen  der  Frömmig- 
keit nichts  zu  vergeben.  Und  kein  Zweifel  kann  bestehn  hinsicht- 
lich der  vollen  Aufrichtigkeit  dieses  Bewußtseins.  Auch  über  die 
bodenloseste  AUegorik  und  anderweitige  Verirrungen  kann  er  nicht 
berichten,  ohne  zum  Schlüsse  göttliche  Fortschritte  unter  den  mensch- 
lichen Rückschritten  zu  entdecken  (S.  157  f.  425 f.)!  Ja  die  ganze 
Krankheit,  deren  Verlauf  er  beschreibt,  schlägt  insofern  nach  Job.  11,4 
nur  zur  Ehre  Gottes  aus,  als  jedwedes  andere  Buch,  wenn  es  solche 
Ausleger,  wie  die  Bibel,  gefunden  hätte,  dadurch  notwendig  discre- 
ditiert  worden  wäre  (S.  IX.  8  f.  303  f.). 

Aber  eine  principiellere  Behandlung  wäre  doch  auch  gerade  in 
denjenigen  Teilen  des  Buches  zu  wünschen  gewesen,  welche  zeigen, 
wie  in  Folge  einer  methodischer  geübten  Auslegung  zuerst  die  Alle- 
gorese  fallen  mußte.  Dadurch  aber,  daß  dieselbe  protestantische 
Theorie,  welche  dies  leistete,  daneben  den  Korrelatbegriff  der  Inspi- 
ration nicht  bloß  festhalten,  sondern  noch  zu  steigern  unternahm, 
geriet  man  in  eine  im  Grundsatz  verfehlte  und  widerspruchsvolle 
Stellung.  Denn  gerade  die  buchstäbliche  Auslegung  mußte  auf  ein 
historisches  Verständnis  der  Schrift,  diese  aber  wieder  mit  Notwen- 
digkeit auf  historische  Kritik  führen.  Sobald  aber  einmal  das  Alte 
und  das  Neue  Testament  solcher  Gestalt  zur  Quellensammlung  für 
die  Geschichte  Israels  und  des  Urchristentums  geworden  waren,  tra- 
ten auch  die  einzelnen  Autoren  in  so  individueller  Abgrenzung  gegen 
und  neben  einander  auf,  daß  die  einheitliche  Urheberschaft  verloren 
gieng,  und  an  die  Stelle  der  inspirierten  Bibel  eine  litterarische  Be« 
wegnng  mit  vollkommen   menschlichem  Verlaufe   treten  mußte.    In 


Keller,  Die  Waldenser  nnd  die  deutschen  Bibelübersetznngfen«  5 

dieser  Richtuog  etwa  hätte  dem  etwas  diffasen  Gebalt  der  seohsten, 
riebeoten  nnd  acbten  Vorlesnog,  welebe  die  reformatorisehe,  naeh- 
reformatorisehe  nnd  moderne  Exegese  behandeln,  aber  vielfaeh  mehr 
einer  populären  Darstellung  der  protestantischen  Theologie  ähnlich 
sehen,  eine  strengere  Form  und  Fassung  zu  Teil  werden  mögen. 
Auch  die  zahllosen  Gitate  ans  englischen  Bischöfen  und  kirchlichen 
Wortf&hrem,  die  in  den  Text  eingeflochten  sind,  stören  wenigstens 
den  deutschen  Leser. 

Deutsche  Namen  begegnen  vielfach  in  falscher  Schreibung,  so 
Wetstein,  Ouerike,  Schröck,  Knrz.  Ebenso  dnrcbgehend  ist  die  Form 
Cassiodorus  gebraucht.  Die  ältere  Angabe  des  Todesjahrs  von  Valla 
S.  312  ist  längst  als  falsch  erwiesen.  Die  Zeit  des  Bncherius 
ist  S.  24  in  der  Note  mit  440,  im  Text  mit  450  angegeben.  Das 
S.  483  als  in  Wien  erschienen  bezeichnete  Buch  des  Adrianus  ist 
vielmehr  in  Augsburg  gedruckt  worden.  Das  nachS.24Bibl.  maxima 
patmm  VI,  S.  889  stehende  Buch  des  Tichonias  ist  vielmehr  ebend. 
S.  49  (besser  bei  Oallandi ,  Bibl.  vet.  patr.  VIII,  8.  107)  zu  finden. 
Sehleiermachers  Schriften  Ober  den  ersten  Timotheusbrief  und  über 
Lukas  sind  nicht,  wie  S.  411  steht,  1817  und  1824,  sondern  1807 
und  1817  erschienen,  und  zwar  unter  anderen  als  den  dort  ange- 
gebenen Titeln.  S.  409  ist  eine  Anmerkung  stehn  geblieben,  welche 
im  Text  keinen  Anhalt  hat,  aber  des  jüngeren  Fichte  »Speculative 
Theologiec  vom  Jahr  1846  auf  Rechnung  seines  Vaters  bringt. 
Offenbar  ist  die  Geschichte  der  deutschen  Theologie  der  Gegenwart 
am  wenigsten  anf  eine  Kritik  von  Seiten  dentscher  Fachgenossen 
berechnet.  Denn  solchen  dürfte  es  nicht  absonderlich  imponieren, 
wenn  erzählt  wird,  Lacordaire  habe  nach  dem  Studium  von  Strauß' 
Leben  Jesu  nur  zehn  Minuten  gebraucht,  um  sich  von  seinem 
Schrecken  zu  erholen  und  zu  lachen  (S.  415). 

Straftburg  i.  E.  H.  Holtzmann. 


Keller,  Ludwig,  Die  Waldenser  und  die  deutschen  Bibelüber- 
setzungen. Nebst  Beiträgen  zur  Geschiebte  der  Reformation.  Leipzig, 
S.  Hirzel  1886.    V  u.  189  S.    8^ 

Unter  den  historischen  Schriftstellern  dürfte  es  wenige  geben, 
die  sich  einer  solchen  Fruchtbarkeit  erfreuen  wie  L.  Keller.  Nach- 
dem derselbe,  wohl  durch  seine  amtliche  Stellung  am  Staatsarchiv 
zn  Münster  dazu  veranlaßt,  mit  seinem  Boche  über  die  Geschichte 
der  Wiedertäufer  und  ihres  Reichs  zu  Münster  (Münster  1880)  sich 
zoerst  der  Täufergeschichte  zugewandt,  sind  von  ihm  eine  ganze 
Beihe  denselben  Stoff  oder   naheliegende  Gebiete   berührende,  zum 


6  Gott.  pel.  Anz.  1887.  Nr.  1. 

Teil  umfassende  Arbeiten  erscbieqen,  und  mit  einem  wahrhaft  un- 
ermildlicben  Fleiße,  dessen  Energie  nur  noeb  dureb  die  Neigung, 
seine  Resultate  möglichst  schnell  zu  yeröffentlichen ,  überboten  wird, 
verfolgt  der  Verf.  seine  Ziele.  Und  Jedermann  wird  anerkennen 
müssen,  4aß  er  eine  ungewöhnliche  Belesenbeit  besitzt  und  manches 
halb  vergessene  Buch  an  das  Licht  gezogen,  und  was  dabei  das 
wichtigste  ist,  die  hochinteressante  Frage  nach  der  Entstehung  des 
Täufertums  von  neuem  in  Fluß  gebracht  hat.  Diesem  rastlosen 
Fleiß  entsprechen  freilich  die  Resultate  sehr  wenig.  Zwar  enthalten 
E.S  Schriften  des  Neuen  nicht  Weniges,  ja  sogar  überraschend  Viel, 
von  dem  aber  leider  gesagt  werden  muß,  daß  nur  der  allergeringste 
Teil  davon  der  Kritik  Stand  gehalten  hat.  Unglücklicherweise 
sieht  nun  aber  E.  nicht  nur  in  allen  denjenigen,  welche  ihm  nicht 
zustimmen,  seine  persönlichen  Gegner,  sondern  geradezu  Eetzer- 
richter,  die  unversöhnlichen,  intoleranten  Gegner  der  armen  tänfe- 
rischen  Gemeinden,  während  diejenigen,  welche  ihm  zustimmen,  als 
die  berufenen  und  kompetenten  Autoritäten  gepriesen  werden.  Un- 
ter diesen  Umständen  kommt  dann  freilich  der  Eritiker  in  eine 
höchst  bedenkliche  Lage.  Trotzdem  hat  Ref.  die  Unvorsichtigkeit 
begangen,  in  mehreren  Zeitschriften,  deren  Herausgeber  ihn  fHr 
kundig  hielten,  Besprechungen  von  Eellers  Büchern  erscheinen  zu 
lassen,  die,  wie  nicht  geläugnet  werden  soll,  im  Hinblick  auf  die 
sich  steigernde  Sicherheit,  mit  der  die  kühnsten  Hypothesen  als  be- 
wiesen hingestellt  wurden,  und  die  Leichtfertigkeit,  mit  der  beson- 
ders Referate  in  politischen  Zeitungen  dieselben  als  gesicherte  That- 
sachen  weiterverkündeten,  nach  und  nach  eine  gewisse,  übrigens 
durchaus  unpersönliche  Schärfe  annahmen.  Eine  Eritik  des  letzten 
größeren  Werkes:  »die  Reformation  und  die  älteren  Reformparteien« 
lehnte  ich  ab,  weil  mir  die  Lektüre  desselben  jede  Lust  benahm, 
mich  weiter  damit  zu  beschäftigen,  und  ich  an  die  Möglichkeit  einer 
wissenschaftlichen  Auseinandersetzung  mit  Eeller  nicht  mehr  zu 
glauben  vermochte.  Nur  seinen  ziemlich  gleichzeitig  in  dem  histo- 
rischen Jahrbuch  für  1885  erschienenen  Aufsatz:  »Jobann  v.  Stau- 
pitz  und  das  Waldensertnm«  glaubte  ich  beleuchten  zu  müssen,  weil 
er  einen  Gegenstand  betraf,  über  den  ich  selbst  eingehend  gehan- 
delt, und  ein  Schweigen  meinerseits  als  Zustimmung  hätte  gedeutet 
werden  können.  So  entstand  mein  Artikel:  »Johann  von  Staupitz, 
ein  Waldenser  und  ein  Wiedertäufer«  in  der  Zeitschrift  fUrEirchen- 
geschichte  Bd.  VH,  426  ff.,  in  dem  ich  mir  die  Aufgabe  stellte,  die 
unhistorische  Methode  des  Verfassers  einmal  rücksichtslos  aufzu- 
decken, und  ich  nach  eingehendster  Beweisführung  zuletzt  zu  dem, 
gegenüber   dem  von  mir   persönlich    geschätzten  Verfasser   ungern 


Keller,  Die  Waldenser  und  die  deutschen  Bibelübersetzungen.  7 

ausgesprocbenen y  aber  notwendigen  Urteile  kam,  daß  der  Verf. 
»sieb  in  einer  Weise  in  seine  Lieblingsgedanken  verstrickt  hat, 
die  ibn  zn  richtigem  historischen  Urteil  unfähig  gemacht  hatc.  Da- 
mit hoffte  ich  meine  Auseinandersetzangen  mit  Keller  abgeschlossen 
ZQ  haben,  indessen  nötigten  mich  die  maßlosen  und  verleumderischen 
Auslassungen  E.s  gegen  meine  Person,  dem  Wunsche  der  Redaktion 
dieser  Zeitschrift  nachzugeben  und  die  vorliegende  neue  Publikation 
einer  Besprechung  zn  unterziehen,  was  um  so  notwendiger  erscheint, 
als  es  des  entschiedensten  Protestes  gegen  die  vom  Verfasser  be- 
liebte Eampfesweise  bedarf. 

E.  erzählt  seinen  Lesern  im  ersten  Eapitel  seines  Buches,  daß, 
während  von  Seiten  der  > Historiker c  ^)  ihm  kein  einziges  unfreund- 
liches Urteil  bekannt  geworden,  »manche  und  zwar  sehr  kompetente 
Beurteiler  sogar  ihm  warme  Zustimmug  zu  erkennen  gegeben  habenc, 
—  er  verweist  dafür  u.  a.  auf  Hans  Prutz,  Qeorg  Weber,  G.  E(gelhaaf) 
und  H.  Boos  —  3>eine  Minorität  von  theologischen  Recensenten«  seine 
Arbeit  als  »angebliche  Forschungen c  bezeichnet  hätten,  wobei  der  Um- 
stand gewiß  auffiallend  sei,  »daß  die  Männer,  welche  dieses  Verdikt 
ausgesprochen  und  die  wissenschaftlichen  Organe,  welche  dasselbe 
publiciert  haben,  sämtlich  als  Vertreter  einer  Partei  und  zwar  einer 
ganz  bestimmten  konfessionellen  Richtung  der  lutherischen  Eirche 
bekannt  sind.  Welche  Partei  dies  ist,  wird  sofort  klar  werden, 
wenn  ich  unten  die  Namen  nenne,  die  hier  in  Betracht  kommen. 
Diejenigen  römisch-katholischen  Schriftsteller,  welche  ihr  Urteil  tlber 
mein  letztes  Buch  abgegeben  haben,  stimmen  mit  den  erwähnten 
Eritikern  vollkommen  ttbereiu  und  haben  sich  meist  darauf  be- 
schränkt die  Ansicht  von  jenen  zu  reproducieren  oder  einfach  darauf 
zu  verweisen«.  Ich  stehe  nicht  an,  unter  allen  Entdeckungen  Eel- 
lers  in  diesen  Sätzen  die  größte  zn  sehen,  die  mich  persönlich  um 
so  mehr  interessiert,  als  ich  mir  bisher  nicht  bewußt  war,  zu  irgend 
einer  kirchlichen  Partei  zu  gehören,  und  eine  solche  Zugehörigeit 
auch  bisher  noch  niemand  von  mir  behauptet  hat.  Nach  Eeller  die- 
nen also  der  streng-konfessionellen  derartig  katholisierenden  Partei, 
daß  die  katholischen  Schriftsteller  ihre  Resultate  ohne  Weiteres  ac- 
ceptieren  können,  die  von  Hamack  und  Schürer  herausgegebene 
tbeol.  Litteraturzeitung,  die  von  Brieger  unter  Mitwirkung  von  6ass, 
Reuter  und  Ritschi  herausgegebene  Zeitschrift  für  Eirchengeschichte, 
die  in  Verbindung    mit  6.  Baur,   Beyschlag   und   Wagenmann   von 


l)'DaB  der  Verfasser  Karl  Müller,  G.  Weizsäcker,  Tschackert,  Brieger  etc. 
lud  mich  als  »Uistorikerc  nicht  anerkennt,   weil  wir  Mitglieder   von  theologi- 
schen Fakultäten  sind,  werden  wir  in  Qeduld  zu  tragen  wissen. 


8  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  1. 

J.  Köstlin  nud  Riebm  herausgegebeueu  Theol.  Studieu   und  Kritiken 
und  —  wie  man  ans  dem  Nachtrag  gegen  Weizsäckers  ^)  Anzeige  in 
diesen  Blättern  schließen  maß,  last  not  least  —  die  Göttinger  Ge- 
lehrten Anzeigen.    Den  Beweis  dafUr  bieten   die  Namen  derjenigeni 
die  in  den  genannten  Zeitschriften   Herrn  Keller  zuzustimmen  nicht 
in  der  Lage  waren,  P.  Tschackert,  Karl  Müller,  G.  Weizsäcker  and 
meine  Wenigkeit.    Das  ist  in  der  That  so  spaßhaft,  daß  es  unrecht 
wäre,   die  Freude  daran    durch   irgend  eine  Bemerkung  zu  stören. 
Die  Sache  bekommt  jedoch   ein   anderes  Gesicht,   wenn  Keller  auf 
S.  17,  um  den  Standpunkt  jener  Männer,  speciell  aber  den  meinigen 
hinsichtlich   seiner   Konsequenzen   zu  charakterisieren,  sich  folgende 
Auslassungen,  die  hier  wieder  gegeben  werden  müssen,  erlaubt:  »Es 
war  mir  von  großem  Interesse  in  Carl  Hases  »»Handbuch  der  prote- 
stantischen Polemik  cc  eine  lebhafte  Misbilligung  der  in  den  prote- 
stantischen Kirchen  an   den  Wiedertäufern  vollzogenen  Exekationen 
zn  finden.  Hase  bezeichnet  dieselben  als  »»Justizmorde  des  re- 
ligiösen Fanatismus««  and  meint,  daß  dieselben  aus  der  Phan- 
tasie einer  »»allein  seligmachenden  lutherischen  und  [calvini- 
sehen' Kirche <<  entsprungen  seien.   Noch  interessanter  aber  war  mir, 
daß  ein  Mann  von  Hases  Ansehen  anerkennt,   wie  das  Gelüst  nach 
dem  Einschreiten   der  Staatsgewalt  in   der  lutherischen  and  calvini- 
schen Orthodoxie    sich  stets  za  erneuern  pflegt.     Hase  sagt  im  An- 
schluß an  die  obenerwähnten  Worte :  »»Nur  wo  mit  der  Rückkehr  zu 
altertümlicher  Orthodoxie  auch  das  katholische  Wesen  in  seiner  (des 
Protestantismus)   Mitte   wieder  mächtig   wird,   erneuert   sich   auch 
ein  Gelüste  nach  der  Macht  solcher  rettenden  Thaten!«« 
In  der  That  hat  ja  die  konfessionelle  Dogmatik   die  Waffen   einst- 
weilen nur  auf  dem  Fechtboden  niedergelegt;   im  Princip   wird  die 
Pflicht   der  Obrigkeit  zur  Ausmerznng  der   »Häretiker«   noch  heute 
aufrecht  erhalten.     Vielleicht  werfen  diese  Thatsachen  and  Aeuße- 
rnngen   auf  folgende  Stelle  der  Koldeschen  Polemik  ein  gewisses 
Licht.    Er  sagt  (Theol.  Lit.-Ztg.  vom  11.  Aug.  1883):   »»Wenn  Kel- 
lers überraschende  Beobachtung,  daß  die   Ideen  Denks  bis  zu  einem 
gewissen  Grade  siegreich  in  das  Bewußtsein  der  gebildeten  Mensch- 
heit übergegangen  sind  (S.  237  vgl  des  Verf.s  Aufsatz  in  den  Preuß. 
Jahrbb.  1882  S.  251)  wirklich  wahr  sein  sollte,   so   wird  die  gebil- 
dete  Menschheit,   zu   der   Referent  sich    dann    leider   nicht  zählen 
dürfke,  es  dem  Verfasser  Dank  wissen  müssen,  daß  er  ihr  zur  Er- 
kenntnis von  dem  wahren  Wesen  ihrer  Welt-  und  Gottesanschaaung 

1)  Vgl.  Keller  S.  175 :  Daß  der  betre£Pende  Theologe  innerhalb  derjenigen 
Kirche  steht,  deren  Urteil  über  die  »Ketzer«  ja  bekannt  ist,  n&mlich  der  luthe- 
rischen, wird,  wie  ich  hoffe,  sein  Urteil  nicht  allzusehr  beeinflußt  haben  u.  s.  w. 


Keller,  Die  Waldrnger  und  die  dentsclien  Bibelübersetzungen.  9 

verholfen  hat««,  —  so  Keller^)  der  daDo  weiter  noch  den  Nachweis 
▼ersnehty  daß  er  mit  den  Ideen  Denks  dessen  Gedanken  von  der 
Gewissensfreiheit  gemeint  habe,  während  ich,  wie  jedermann  aus 
dem  Gitierten  ersehen  kann,  von  der  gesaroten  Welt-  nnd  Gottes- 
ansehannng  Denks  sprach.  —  Welche  Gesinnung  nnd  welche  Ab- 
sichten E.  mit  diesen  Worten,  ohne  doch  den  Mnt  zu  haben,  es  offen 
aaBznspreeben,  mir  vorwerfen  will,  ist  leicht  zu  ersehen.  Hierauf 
überhaupt  etwas  antworten  zu  wollen,  wäre  nnwtir- 
dig.  Diese  Methode,  sich  eines  unbequemen  wissen- 
schaftlichen Gegners  durch  eine  verleumderische 
Denunciation,  die  ihn  verächtlich  machen  soll,  ent- 
ledigen zu  wollen,  richtet  sich  selbst,  und  nur,  um  die 
Meinung  nicht  aufkommen  zu  lassen,  als  wären  K.s  sachliche  Ent- 
gegnungen gegen  mich  stichhaltig  und  hätte  ich  ihm  Falsches  vor- 
geworfen, geheich,   wiewohl  mit  einiger  Ueberwindung,  auf  seine 

weiteren  Auslassungen  ein. 

Mit  sittlicher  Entrüstung  wirft  Keller  mir  vor,  daß  schon  der 
Titel  meines  Aufsatzes:  »Johann  von  Staupitz,  ein  Waldenser  und 
ein  Wiedertäufer«  eine,  wie  er  hoffe,  unbeabsichtigte  Irreleitung  de- 
rer sei,  die  meinen  Aufsatz,  aber  nicht  den  seinigen  lesen;  ich  hätte 
ihm  fälschlich  die  Absicht  untergeschoben,  nachzuweisen,  »daß  Stau- 
pitz nnd  Genossen  eine  Waldensergemeinde  bildeten« ,  einen  Satz, 
den  er  nirgends  geschrieben  habe.  Das  ist  allerdings  richtig,  daß 
Keller  diesen  Satz  nicht  geschrieben  hat,  was  ich  auch  nicht  ge- 
sagt habe;  gleichwohl  halte  ich  meine  Behauptung,  daß  jeder  Leser 
seines  Aufsatzes  wie   ich  die  üeberzeugung  haben  mußte,   daß  Kel- 

1)  Damit  vergleiche  man  folgende  für  Kellers  Kampfesweise  beachtenswerten 
Sätze:  »Eben  dasselbe  unerhörte  Proceßverfahren,  welches  einst  die  »Sektirerc 
aaf  den  Scheiterhaufen  gebracht  hat,  gilt  in  einzelnen  Kreisen  noch  heute  inso- 
fern als  zulässig,  als  man  noch  immer  gezwungen  werden  soll,  dieselben  Männer 
als  Richter  anzuerkennen,  die  an  dem  ProceB  als  Partei  im  höchsten  Grade  in- 
teressiert sind.  Die  Aburteilung  nach  den  Gesichtspunkten  einer  Theologie,  die, 
ohne  sich  selbst  aufzugeben,  ihre  alte  Auffassung  über  die  Ketzer  nicht  ändern 
könne,  mufi  ich  entschieden  und  nachdrücklich  zurückweisen c  S.  35.  Hierauf 
als  auf  die  »Zurückweisung  des  Urteils  seiner  Parteic  beruft  sich  Keller  dann 
auf  S.  176  gegenüber  C.  Weizsäcker.  Zu  meinem  Bedauern  hat  er  sich  übrigens 
die  Thatsache  entgehn  lassen,  daB  ich  vor  Kurzem  zwei  sich  mit  Sekten  befassende 
Schriften  habe  erscheinen  lassen:  »die  Heilsarmee«  Erlangen  1885  und  »der  Me- 
thodismus und  seine  Bekämpfung«.  Erlangen  1886.  Wie  bequem  würde  sich  schon 
der  Titel  der  letzteren  zum  Nachweis  meiner  ketzerrichterlichen  Tendenz  haben 
verwerten  lassen!  Ich  empfehle  ihm  übrigens  und  allen,  die  sich  dafür  inter- 
essieren, wie  ich  nnd  wohl  im  GroBen  und  Ganzen  sämtliche  evangelische  Theo- 
logen über  die  Behandlung  der  Sektierer  denken,  S.  38  ff.  der  zuletzt  genannten 
Schrift  SV  lesen. 


10  Gölt.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  1. 

1er  Staapitz  zum  Qenossen  der  Waldenser,  reap,  jener  Richtang,  die 
man  später  Wiedertänfer  nannte,  zu  machen  beabsichtigte,  vor  wie 
nach  aufrecht.  Keller  beruft  sich  dagegen  auf  folgenden  Satz :  »Es 
mag  sein,  daß  Staupitz  formell  keiner  in  sich  geschlossenen  Con- 
fession angehört  hat.  Aber  gleichwohl  hat  er  in  allen  principiellen 
Fragen  eine  ganz  bestimmte  religiöse  Richtung  vertreten,  eine  Rich- 
tung, welche  damals  weit  und  breit  Anhänger  besaß  und  die  sich 
stets  in  der  evangelischen  Kirche  erhalten  hatc.  Diese  eventuelle 
Entgegenstelinng  von  »Confession«  und  »Richtung«,  welche,  was 
keines  Nachweises  bedarf,  für  die  Zeit  des  Staupitz  gar  nicht  ver- 
wendbar, ist  thatsächlich  nur  ein  Spielen  mit  Worten  und  von  dem 
Verfasser  nur  noch  nachträglich  hervorgesucht,  denn  sein  ganzer 
Aufsatz  läuft  thatsächlich  darauf  hinaus  zu  erweisen,  daß  die  »reli- 
giöse Richtung«  des  Staupitz  die  der  Gottesfreunde  und  Walden- 
ser  war  (vgl.  S.  131  ff.).  Es  genügt  hier  zu  meiner  Rechtfertigung 
nur  daran  zu  erinnern,  daß  Keller  erklärt,  ich  hätte  in  meiner  Cha- 
rakteristik von  Staupitz  durch  die  Bemerkung:  »er  wollte  nur  ein 
Nachfolger  Christi  sein«,  einen  deutlichen  Fingerzeig  gegeben,  zu 
welcher  besonderen  Partei  Staupitz  zu  zählen  ist,  und  daran 
die  Erklärung  knüpft:  »Es  gibt  in  der  ganzen  deutschen  Kirchen- 
geschichte nur  Eine  religiöse  Richtung,  welche  die  Idee  von  der 
Nachfolge  Christi  so  sehr  zum  Mittelpunkt  ihres  Gedankenkreises 
gemacht  bat,  daß  sie  sich  selbst  zur  Unterscheidung  von  andern  Ge- 
meinschaften »»Nachfolger  Christi««  nannte. 

»Diese  Gemeinschaft  ist  diejenige,  welche  bis  zum  Beginn  der 
Reformation  den  Namen  »»Waldenser««  führte,  und  die  von  1525 
an  die  Bezeichnung  »»Wiedertäufer««  von  ihren  Gegnern  erhalten 
hat,  die  sich  selbst  aber  seit  dem  12.  Jahrhundert  einfach  »»Brüder«« 
nannte«. 

Und  hiernach  erlaube  ich  mir,  an  jeden  der  lesen  kann,  die 
Anfrage,  ob  es  »Leichtfertigkeit  der  Kritik«  oder  »Unwahrheit«  ist, 
wie  Keller  mir  vorzuwerfen  die  Liebenswürdigkeit  hat,  wenn  ich 
auf  Grund  dieser  Sätze  schrieb  (Zschr.  f.  K.  G.  VII,  427):  »die  Iden- 
tität von  Waldensern  und  Wiedertäufern  wird  von  vornherein  ange- 
nommen«. Eine  reine  Sophisterei  ist  es,  wenn  Keller  erklärt,  für 
Staupitz,  der  ja  schon  todt  war,  als  der  Name  aufkam,  die  Bezeich- 
nung »Wiedertäufer«  nicht  gebraucht  zu  haben,  und  mich,  der  ich 
ihm  (im  Titel  meines  Aufsatzes)  dies  untergelegt,  auffordert,  die  Stelle 
nachzuweisen,  wo  dies  geschehen.  Den  Namen  Wiedertäufer  konnte 
Keller  dem  Staupitz  natürlich  nicht  geben,  weil  er  denselben  ja  als 
ein  empörendes  Schimpfwort  ansieht,  und  was  ich  behauptet  habe, 
ist  auch  nur  das,  daß  er  ihn  zum  Mitgliede  derjenigen  Gemeinschaft 


Keller,  Die  Waldenser  und  die  deutschen  Bibelübersetzungen.  11 

gemacht,  »welche  bis  zum  Begion  der  Reformation  den  Namen  Wal- 
denser  führte  and  die  von  1525  an  die  Bezeichnung  » Wiedertäufer c 
?on  ihren  Gegnern  erhielt  (S.  429  f.)«.  Das  Recht  dazu  nehme  ich 
u.  a.  aus  folgenden  Sätzen  Kellers  (Hist.  Taschenbuch  S.  143).  »Es 
ist  Thatsache,  daß  eine  uralte  bis  etwa  um  das  Jahr  1560  verfolg- 
bare Tradition  der  Täufer  behauptet «  daß  Johann  von  Staupitz 
nebst  Hans  Denk,  Christian  Endtfelder  u.  a.  die  vornehmsten  Schrift- 
steller ihrer  Partei  gewesen  seienc  und  weiter  unten  S.  146:  »Es 
gibt  vielleicht  einzelne,  welche  trotz  aller  erwähnten  Thatsachen 
und  Verhältnisse  sich  nicht  entscbliefien  können,  den  Staupitz 
in  mehr  als  zufälligen  Zusammenhang  mit  den  Wal- 
densern  und  »Wiedertäufern«  zu  bringen.  Wie  aber, 
wenn  sich  der  unzweifelhafte  Beweis  erbringen  ließe,  daß  Staupitz 
persönlich  in  aller  Stille  Beziehungen  zu  solchen  Männern  unter- 
halten  bat,  deren  Namen  mit  den  »Sekten«  und  Ketzern  auf  das 
engste  verknüpft  sind?  Wird  es  dann  noch  möglich  sein  die  Rich- 
tigkeit der  täuferischen  Tradition  zu  bestreiten? 

Dieser  Nachweis  soll  in  den  folgenden  Bemerkungen  erbracht 
werden«.  —  —  Ich  weiß  nicht,  ob  jemand  aus  diesen  Sätzen  — 
man  nehme  dazu  den  Hinweis  auf  des  Staupitz  angebliche  Abneigung 
gegen  die  Kindertaufe  —  etwas  andres  lesen  kann  als  ich.  Ebenso 
steht  es  mit  Anton  Tücher,  bezüglich  dessen  Keller  allerdings  sagt 
—  was  er  in  der  Antikritik  allein  citiert:  »Ob  Anton  selbst  wie 
seine  Vorfahren,  formell  Mitglied  der  Nürnberger  Waldensergemeinde 
gewesen  ist,  läßt  sich  einstweilen  weder  beweisen  noch  widerlegen«, 
aber  fortfährt:  »Wer  die  Stärke  der  Tradition  in  einem  solchen  alt- 
angesessenen deutschen  Patriciergeschlecht  zu  beurteilen  weiß,  für 
den  ist  es,  mag  Anton  Tucher  formell  selbst  Waldenser  gewesen 
sein  oder  nicht,  zweifellos,  daß  er  die  religiösen  Ideen,  wie  sie  in 
seiner  Familie  üblich  waren ^);  geteilt  hat.  Und  denjenigen,  der 
dies  bestreiten  wollte,  wird,  wie  ich  glaube,  der  Umstand  wider- 
legen, daß  Tucher  nachweislich  gerade  solchen  Männern  seine  werk- 
thätige  Hülfe  zugewendet  hat,  die  heimlich  sich  in  dem  Verbände 
der  Waldensergemeinde  befanden«.  —  Ja  was  soll  denn  dies  alles  wie 
der  nachfolgende  Satz  mit  seiner  Behauptung,  daß  man  sehr  wohl 
Mitglied  der  Waldensergemeinde  sein   und  dabei  seinen  kirchlichen 

1)  Davon  weiß  man  nun  freilich  weiter  nichts,  als  daß  im  Jahre  1832  drei 
Tücher  als  Waldenser  unter  Anklage  standen,  vgl.  Haupt,  die  re].  Sekten  in 
Franken  S.  19.  Das  genügt  für  Keller,  um  zu  schreiben  (Histor.  Taschenb.  162): 
Anton  Tucher  war  im  Jahre  1457  geboren,  und  auch  sein  Vater  war  vielleicht 
Zeuge  der  Verfolgungen  gewesen,  denen  die  Gemeinde,  der  seine  Familie 
nach  alter  Tradition  angehörte,  im  Jahre  1899  ausgesetzt  gewesen  war. 


12  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  1. 

Pflichten  nachkommen  konnte,  als  das  Waldensertnm  Tnchers  glaublich 
zn  machen? 

Oeradezn  verblüffend  ist  aber  der  Mnt,  mit  dem  Keller  seine 
Aenßerangen  über  das  Waldensertam  Albrecht  Dttrers  ablängnet. 
Historisches  Tasch.  S.  163  ist  über  Dürer  zu  lesen:  »Die  Wahrheit 
ist,  daft  weder  die  latherische  Oemeinschaft,  wie  sie  seit  etwa  1522 
sich  gestaltet,  noch  die  katholische  Kirche  ein  Recht  hat,  ihn  für 
sich  in  Anspruch  zu  nehmen,  sondern  daß  seine  religiösen 
Ideen  mit  den  en  des  Waldenserthams  in  allen  wesent- 
lichen Punkten  zusammenfallen«.  Als  Beweis  dafür  wird 
angeführt,  daß  die  (wegen  ihrer  täuferischen  Ideen)  gefangenen  und 
später  ausgewiesenen  Maler  Hans  Sebald  Beheim  und  Barthel  Be- 
heim  sowie  Georg  Penz  gerade  die  tüchtigsten  Schüler  Dürers  ge- 
wesen sind,  worauf  es  weiter  heißt:  »Wenn  nun  jemand  die  Ansicht 
verteidigen  wollte,  daß  eine  so  nahe  Beziehung  zwischen  Schüler 
und  Meister,  die  gleichzeitig  in  derselben  Stadt  lebten,  dieselben 
Freunde  hatten  und  so  ähnliche  Schicksale  erlebten,  in  religiöser 
Richtung  verschiedene  Bahnen  gewandelt  seien,  so  müßte  er,  um 
hierfür  Glauben  zu  finden,  sehr  gewichtige  Beweisgründe  beizu- 
bringen im  Stande  sein«,  und  weiter  S.  165:  »Vielmehr  ist  Dürer 
seinem  waldensischen  Standpunkt,  den  er  bereits  vor  Lu- 
thers Auftreten  einnahm,  bis  an  seinen  Tod  treu  geblieben.  Man 
braucht  nur  Weniges  aus  der  großen  Literatur  der  Waldcnser 
und  des  Anabaptismus  gelesen  zu  haben,  um  in  Dürers  reli- 
giösen Erörterungen  sofort  die  Anklänge  daran  herauszufinden  etc.«  (! !) 
Und  der  Mann,  der  dies  geschrieben  hat,  wagt  mich  als  Lügner  an 
den  Pranger  stellen  zu  wollen,  weil  ich  behauptet  habe,  daß  Keller 
der  Welt  weismachen  will,  daß  Dürer  ein  Waldenser  und  ein  Wie- 
dertäufer gewesen,  und  fordert  von  mir  S.  34  des  vorliegenden  Bu- 
ches Zurücknahme  meiner  Behauptung  oder  Nachweis  der  betreffen- 
den Stelle,  widrigenfalls  er  sich  gezwungen  sehen  würde, 
mich  an  das  Wort  zu  erinnern:  »Du  sollst  nich  t  fal- 
sches Zeugniß  reden  wider  deinen  Nächsten«.  Das  be- 
greife wer  mag! 

Indessen  nötigt  die  Wichtigkeit,  welche  die  Sache  auch  für  die 
Kunstgeschichte  besitzt,  zumal  dafür  einiges  Neue  beigebracht  wer- 
den kann,  auch  auf  einen  weiteren  Punkt  einzugehn,  nämlich  die 
Frage,  ob  der  von  Dürer  als  guter  alter  Maler  charakterisierte  Mei- 
ster Sebald  Baumhauer,  der  zugleich  Kirchner  von  St.  Sebald  war, 
unter  den  als  Genossen  Denks  verhafteten  Sektierern  gewesen  sei  oder 
nicht.  Da  bisher  Niemand  etwas  davon  gewußt,  und  man  immer 
nur  von  den  drei  gottlosen  Malern  geredet  hat,   vgl.  Rosenberg, 


Keller,  Die  Waldenser  and  die  deatschen  Bibelübersetzungen.  13 

Sebald  u.  Bartbel  Behaim,  Leipzig  1875,  S.  5 ff.  134 f.  uud  Thau- 
sing,  Dürer,  Leipzig  1876,  S.  468,  so  konnte  ich  (übrigens  auch 
Andere,  die  Keller  gelesen),  als  auf  einmal  ohne  allen  und  jeden 
Nachweis  ein  Sebald  Baumhauer  als  Gefangener  auftauchte,  nur  die 
Vermatang  hegen,  daß  es  sich  um  eine  Verwechselung  mit  Sebald 
Behaim  handelte.  Nachdem  ich  mich  überzeugt  habe,  daß  ein  Se- 
bald Baumhauer  unter  den  Verhafteten  gewesen,  und  seine  Aussage 
anter  den  Proceßakten  im  Nürnberger  Ereisarcbiv  sich  noch  findet, 
gebe  ich  natürlich  gern  zu,  in  jenem  Punkte  Keller  mit  Unrecht 
einer  Gedankenlosigkeit  beschuldigt  zu  haben,  indessen  ist  denn  der 
betreffende  Seb.  Baumbauer  wirklich  der  Maler  and  Kirchner,  der 
mit  Dürer  Beziehungen  gehabt  hat  und  der  für  das  Waldensertam 
desselben  wie  des  Anton  Tucher  benutzt  wird  ?  Ich  war  nahe  daran, 
mich  schon  darauf  zu  stützen,  daß  Sebald  Baumhauer,  wie  z.  B.  im 
Künstlerlexikon  von  S.  Meyer  and  Lücke  III  S.  152  za  lesen,  schon 
im  Jahre  1517  gestorben  ist,  also  kaum  im  Jahre  1525  gefangen 
gehalten  werden  konnte.  Indessen  traute  ich  dieser  wahrscheinlich 
auf  Wald  an  Nttrub ergisches  Zion  1787  S.  19  fußenden  Notiz  nicht, 
and  kann  jetzt  aus  dem  Läutbuch  von  St.  Sebald^)  die  sichere  No- 
tiz beibringen,  daß  Baumhauer  im  Sommer  1533  gestorben  ist.  Aus 
den  Keller  bekannten  Aktenstücken^)  scheint  mir  deutlich  hervorza- 
gehn,  daß  die  darunter  befindliche  Aussage  Sebald  Baumhauers  nicht 
die  des  Kirchners  ist,  sondern  seines  gleichnamigen  Sohnes.  Veyt 
Virsperger,  einer  der  inquirierten  Zeugen,  gibt  in  seinem  die  gott- 
losen Maler  schwerbelastenden  Zeugnis  unter  Anderem  an:  »Es  geen 


1)  Buch  der  großen  toden  gelewt  zu  Sannd  Sebalt,  am  Freitag  in  der  Golt- 
f asten  vor  Michaelis  den  Achzehenden  tag  des  monats  Septembris  den  1617  Jar 
angefanngenc  (Pap.  H.  S.  des  germ.  Mus.  in  Nürnberg  Nr.  6277)  Bl.  89  fin- 
det sich  nnter  den  Gestorbenen  »Von  pfingsten  bis  exaltationis  Grucis  ^jm  Sep- 
tember« 1533  eingetragen  »Sebald  Baumhauer  maier  kirchner  zu  8.  Sebald«. 

2)  Tbansing  und  Rosenberg  haben  die  Episode  von  der  Vertreibung  der 
drei  Maler  (und  Denks)  wesentlich  auf  Grund  dessen,  was  Baader  (Beiträge  zur 
Knnstgesch.  Nürnbergs,  Nürnberg  1862.  Bd.  II,  79  1)  mitgeteilt,  dargestellt.  In- 
dessen ergibt  ein  Vergleich  mit  den  Griginalakten,  daB  Baader  sehr  willkührlich 
damit  umgegangen,  auch  sehr  wesentliche,  wie  die  Aussagen  von  Krug  und 
Baumhauer  übergangen.  Auf  Grund  des  in  den  verschiedensten  Stellen  sich  fin- 
denden (auch  Keller  längst  nicht  vollständig  bekannt  gewordenen)  reichhaltigea 
Mateiiales  läBt  sich  der  Proceß  der  drei  Maler  von  Jan.  1625  —  zum  6.  März, 
an  welchem  Tage  das  Gesuch  der  Ausgewiesenen  um  NachlaB  ihrer  Strafe  abge- 
lehnt wird,  in  allen  seinen  Phasen  verfolgen.  Da  Keller  sein  Versprechen,  die 
Aktenstücke  (besonders  das  Bekenntnis  Denks)  zu  veröffentlichen  und  die  Fäl- 
schung der  Verhörsaussagen  nachzuweisen,  bisher  nicht  erfüllt  hat,  nehme  ich 
an,  dal  er  darauf  verzichtet. 


14  Oött.  gel.  An«.  1887.  Nr.  1. 

anch  dise  zwen  braeder  mit  des  moDtzere  ond  karolstadt  bacblin 
ymb.  Und  es  sey  ein  Janger  bei  Inen  meister  sebald  kirch- 
ners  sone,  wer  wohlgethan  das  man  den  ?on  Inen  neme«.  Wenn 
nnn  unter  den  weiteren  Verhörsprotokollen  eines  mit  der  Ueber- 
schrift:  »Sebald  Banmbaaerc  sich  findet,  so  liegt  doch  wohl  nichts 
näher,  als  daß  dies  die  Aussage  jenes  Sohnes  des  Kirchners  ist,  den 
man  auf  die  obige  Denunciation  auch  verhört  hat,  und  dies  um  so 
mehr,  als  es  bei  der  Entschiedenheit,  mit  welcher  die  Geistlichkeit 
gegen  die  Angeschuldigten  auftrat,  nicht  wohl  denkbar  ist,  daß  Seb. 
Baumhauer  der  ältere  als  ttberführter  Anhänger  täuferischer  Lehren 
in  seinem  Eirchenamte  belassen  worden  wäre.  Und  daß  er  das- 
selbe bis  zu  seinem  Tode  innegehabt,  ergibt  das  Läutbuch,  welches 
bemerkt,  daß  fär  sein  Todtengeläute  nichts  bezahlt  worden  sei,  weil 
er  »der  kirchen  zugethan  gewest«.  Ob  ich  endlich  ein  Recht  hatte, 
Sebald  Baumhauer,  den  Maler,  einen  unbekannten  Mann  zu  nennen, 
wird  jeder  daraus  ermessen  können,  daß  trotz  der  von  Keller  ange- 
führten (übrigens  aus  Tuchers  Haushaltungsbuch  S.  141  einfach  her- 
Ubergenommenen)  Citate  niemand  etwas  mehr  von  ihm  weiß,  als  daß 
Dürer  ihn  einen  guten  alten  Maler  genannt  haben  soll,  und  daß  ihm 
vielleicht  mit  Recht  eine  in  der  ungarischen  Nationalgallerie  be- 
findliche Federzeichnung  zugeschrieben  werden  kann.  Sed  haec 
hactenus. 

Wenden  wir  uns  zu  den  neuen  Darlegungen  Kellers.  Die  Frage 
nach  dem  Codex  Teplensis  als  der  angeblichen  Waldenserbibel  und 
ihrem  Verhältnis  zu  den  vorlutherischen  deutschen  Bibelübersetzungen 
hatte  Keller  in  seiner  früheren  Schrift  nur  angeregt.  Sie  kam  in 
Fluß  durch  H.  Haupt  (die  deutsche  Bibelübersetzung  der  mittel- 
alterlichen Waldenser  in  dem  Codex  Teplensis  und  der  ersten  ge- 
druckten deutschen  Bibel  nachgewiesen  Würzburg  1885).  Ihm  ent- 
gegnete Fr.  Jostes  in  Münster  (die  Waldenser  und  die  vorlutheri- 
sche deutsche  Bibelübersetzung  Münster  1885)  mit  völliger  Zurück- 
weisung der  Keller-Hauptschen  Hypothese,  worauf  H.  Haupt  er- 
widerte mit  seiner  Schrift:  »der  waldensische  Ursprung  des  Codex 
Teplensis  und  der  vorlutherischen  deutschen  Bibeldrucke  gegen  die 
Angrifi^e  von  Dr.  Franz  Jostes.  Würzburg  1886« ,  welche  Schrift 
Jostes  zu  einer  Dnplik  veranlaßte  (der  Codex  Teplensis,  eine  neue 
Kritik  1886). 

Wie  interessant  es  nun  auch  wäre,  hier  den  Verhandlungen 
nacbzugehn,  so  muß  doch  davon  abgesehen  werden,  nur  so  viel  soll 
konstatiert  werden,  daß  auch  diejenigen,  die  zuerst  wie  Ref.  selbst 
geneigt  waren,  der  Keller-Hauptschen  Hypothese  beizupflichten,  der 
Sache   nach   den  Ausführungen  von  Jostes,   dessen  zweite  Schrift 


Keller,  Die  Waldenser  und  die  deutschen  Bibelübersetzungen.  15 

mich  aach  überzeugt  hat,  daß  die  ans  eiDzelnen  Spracheigeotttmlich- 
keilen  eDtnommenen  Argumente  Haupts  nicht  aufrecht  zu  erhalten 
sind)  jet7^t  ktthler  gegenttberstehu,  und  wenn  Karl  Müller,  wie  er 
yerspricbt  (Zeitschrift  für  Eirchengesch.  VIII,  506),  den  Nachweis  er- 
bringt, »daß  die  ganze  angebliche  waldensische  Litteratur  in  der 
Torhusitischen  Periode  ohne  Ausnahme  aus  katholischen  Kreisen 
stammt  und  niemals  waldensisch  gewesen  istc^  daß  also  auch  die 
romanischen  Bibeltexte,  die  zur  Vergleichung  herangezogen  werden, 
nur  qua  romanische  als  waldensisch  gelten,  so  würde  allerdings  die 
Unbaltbarkeit  der  Waldenserhypothese  in  der  Hauptschen  Form  klar- 
gelegt sein  ^).  Hier  darf  diese  Seite  der  Frage  um  so  mehr  dahin- 
gestellt sein,  als  Keller  in  dem  vorliegenden  Buche  andere  Gesichts- 
punkte in  den  Vordergrund  stellt.  Nach  seiner  Ansicht  verleiht  der 
Umstand,  »daft  auch  die  lutherische  Uebersetzung  in  vielen  wichti- 
gen Stücken  auf  die  altdeutsche  Bibel  zurückgeht,  der  in  Rede 
stehenden  Uebersetzung  des  Codex  Teplensis  noch  besondere  Bedeu* 
tung«.  Gewährsmänner  für  die  vermeintliche  Abhängigkeit  Luthers 
sind  ihm  G.  W.  Hopf  (Würdigung  der  lutherischen  Bibelverdent* 
schung  mit  Rücksicht  auf  ältere  und  neuere  Uebersetzungen.  Nürn- 
berg 1847  S.  33  ff.),  Job.  Geffken,  Bilderkatechismus.  Leipzig  1855 
S.  6  ff.  und  W.  Krafft  in  Bonn  in  seinem  Lutherprogramm  von  1883. 
Er  hätte  sich  auch  noch  auf  den  englischen  Prof.  Karl  Pierson  be- 
rufen können,  der  gegen  J.  Hutchinson  gelegentlich  einer  Bespre- 
chung von  Haupts  Broschüre  (vgl.  Academy  Sept.  26.  1885.  N.  699. 
700.  701.  702.  704)  mit  ebenso  viel  Selbstbewußtsein  als  Unkennt- 
nis von  Luthers  Entwicklungsgang  allen  Ernstes  behauptet:  »Luther 
so  far  from  translating  from  the  original  Greek  had  in  the  New 
Testament,  to  a  great  extent  merely  modernised  the  old  German  Vul- 
gate. The  September  Bible  was  only  a  natural  growth  out  of  the 
version  of  the  Codex  Teplensis  of  fourteenth  century«  schon  deshalbt 
weil  Luther  angeblich  erst  nach  Melanchthons  Ankunft  Griechisch  ge- 

1)  Nachdem  ich  dies  geschrieben,  kommt  mir  der  hochinteressante  Aufsatz 
Ton  Sam.  Berger  in  der  Bevue  historique  Tom.  XXXn  Nr.  63  (Sept.  Okt.  1886) 
zn  Gesicht.  Soweit  ich  als  Laie  in  Dingen  der  Sprachvergleichung  urteilen 
kann,  scheinen  mir  allerdings  die  Textverderbnisse  im  Cod.  Tepl.  bei  Act.  77, 34. 
Cap.  27,  7  u.  15  sich  in  überraschender  Weise  aus  einer  Abhängigkeit  vom  pro- 
ven^alischen  Texte  zn  erklären.  Bewahrheitete  sich  diese  Abhängigkeit,  wozu  wohl 
umfangreichere  Untersuchungen  nötig  wären,  dann  würde  also  weiter  zu  unter- 
suchen sein,  wie  ein  deutscher  Bibelübersetzer  zu  einem  proven^alischen  Text 
kam.  Daß  dies  durch  die  Waldenserhypothese  am  leichtesten  erklärt  würde, 
kann  keinem  Zweifel  unterliegen,  indessen  wird  man  gut  thun,  vor  einem  ab- 
schlieienden  Urteil  die  Ausführungen  Karl  Müllers  abzuwarten,  weshalb  ich  nicht 
darauf  eingehe. 


16  Oött.  ge).  Ans.  1887.  Nr.  l. 

lernt  habe,  was  er  sicher  schon  vorher  mit  Job.  Lang  (vgl.  Tb.  Kolde, 
M.  Luther  I,  89)  getrieben,  wobei  vielleicht  aoch  daran  za  erinnern  ist, 
daß  Hieronymas  Einser,  der  wahrscheinlich  von  Lather  etwas  mehr 
wußte  als  Pierson,  von  ihm  sagt,  er  sei  ^in  kurzen  jaren  so  geckisch 
und  greckisch  geworden,  das  er  sich  der  lateinischen  anszsprechnng 
schier  schämen  that  (Annotationes  Bl.  55^)€. 

Der  verdienstvolle  Geffken  wie  W.  EraflFt  haben  Proben  des  Zu- 
sammenstimmens  des  vorl ätherischen  und  des  lutherischen  Textes  ge- 
geben ,  um  zu  zeigen,  »dafi  Luther  an  der  deutschen  Vulgata,  die 
sich  schon  gebildet  hatte  (—  ein  gänzlich  unpassender  irrefUhrender 
Ausdruck)  oft  nur  wenig  zu  ändern  fand«.  Das  Richtige  hierüber 
scheint  mir  K.  Biltz  (lieber  die  gedruckte  vorlutherische  Deutsche 
Bibelübersetzung  in  Herrigs  Archiv  für  das  Studium  der  neueren 
Sprachen.  1879  S.  386 ff.)  auseinandergesetzt  zu  haben,  und  zieht 
man  die  Perikopen  ab,  wo,  wie  bei  manchen  anderen  beliebten  Bibel* 
bistorien,  sich  naturgemäß  durch  die  zahlreich  verbreiteten  Plenarien 
und  den  (allerdings  durchaus  nicht  wie  Erafft  annimmt  allgemeinen) 
kultischen  Gebrauch  ein  gewisser  Gleichklang  für  den  späteren 
Uebersetzer  fast  von  selbst  ergab,  so  finde  ich  den  Unterschied  doch 
so  groß,  daß  es  mir  unverständlich  ist,  wie  Keller  einfach  Paul 
de  Lagarde  zustimmen  kann,  wenn  er  sagt,  »daß  Luther  mindestens 
im  Neuen  Testamente  sie  (d.  h.  die  altdeutsche  Bibel)  seiner  in  aller 
Hast  auf  der  Wartburg  geschriebenen  Version  zu  Grunde  gelegt  bate 
(Gott.  gel.  Anz.  1885  Nr.  2.  S.  58).  Man  vergißt  dabei,  sich  einige 
sehr  wichtige  Fragen  zu  stellen:  nämlich  welche  Nachweise  haben 
wir  denn  für  die  wirkliche  Lesung  der  angeblich  so  weit  verbreite- 
ten deutschen  Bibeln  und  wie  weit  hat  man  sie  denn  überhaupt  in 
Wittenberg  gekannt  oder  benutzt?  Der  bekannte  Vers  aus  Sebastian 
Brants  Narrenschiff:  All  land  syat  jetz  voll  heiliger  geschrifft  etc., 
der  gewöhnlich  dafür  angezogen  wird  '),  ist  belanglos,  da  er  von 
deutschen  Bibeln  nicht  spricht  und  eher  dabei  an  die  lateinischen 
bekanntlich  bis  1500  in  98  Gesamtausgaben  verbreiteten  Bibeln  zu 
denken  sein  wird.  In  den  sehr  vielen  mir  bekannt  gewordenen  Brie- 
fen aus  der  Zeit  vor  der  Reformation  erinnere  ich  mich  nur  eine 
einzige  Stelle  gefunden  zu  haben,  wo  ein  wirkliches  Lesen 
der  deutschen  Bibel  zur  häuslichen  Erbauung  erwähnt  wird,  und  die 
Leserin  ist,  charakteristisch  genug,  eine  reiche  Patriciersfran,  Frau 
Peutinger  in  Augsburg '),   die   wohl   in   der  Lage  war,  das  thenre 

1)  Vgl.  Geffken,  S.  10  Krafft  8. 

2)  In  einem  bisher  ungedruckten  Briefe  des  Eonrad  Peutinger,  den  Horawits 
Erasmiana  III  Sitzungsber.  der  Wiener  Akademie  Bd.  102  S.  762  notiert  hat, 
Breslau  Stadtbibl.  Cod.  R.  264   epistol.   vir.  ill.   ad.  Er.  Nr.  116.    Ich  gebe  die 


Keller,  Die  Waldenser  und  die  deutachen  Bibelüberaetzangen.  17 

Bncb  sieb  zu  kaafeu,  waa  doch  nur  von  yerhältnismäßig  wenigen 
galt.  Ihr  zar  Seite  tritt  dann  allerdings  schon  nach  Bekanntwerden 
▼on  Luthers  Uebersetznng  Fraa  Argnla  von  Gmmbach  als  Kenne- 
rin einer  dentschen  Bibel,  wiederum  eine  wohlhabende  Fran  ^).  Da, 
wo  das  gröftte  litterarische  Bedürfnis  war,  in  den  KlOstern,  hat  man 
sicher  in  den  meisten  Fällen  die  lateinische  Bibel  vorgezogen ').  Die 
Bibeln,  deren  einzelne  Auflagen  gewiß  kaum  mehr  als  500  Exem- 
plare nmfaAt  haben  werden'),   waren    Prachtwerke   für  die  Hänser 

ganze  Stelle,  die  ein  schönes  Bild  von  dem  Leben  im  Peutingerschen  Hause  lie- 
fert, hier  wieder:  >D.  Desiderio  Roterodamo  etc.  Ghaonradus  Peutinger  Augu- 
stanus  .  .  .  ecce  quid  heri  actum,  erat  haec  dies  dominica  Adventns  Saluatoris 
nostri  seounda.  ocio  laxatus  Nomismatis  nostri  et  Historiae  Augustalis  Cornelii 
Taciti  lectione  me  oblectabar,  sedebat  prope  ab  alia  tamen  tabula  Goniunz  nostra 
Margarita  iiaec  tuas  noui  Testamenti  interpretaciones  Latinas:  simul  et  eiusdem 
relationem  Germanam  vetustam  admodum  nee  plane  eruditam  in  manibus  habe- 
bat, mos  me  ab  oblectamentis  Ulis  reuocauit  inquiens  lego  Matheum  capite  XX 
et  perspicio  Erasmum  nostrum  Matheo  quicquam  superaddidisse,  respondi  et 
quid :  illa  denuo :  at  ille  quae  neo  in  Germana  lingua  habentur  reficit,  moz  Euan- 
gelium  Mathei  quod  idem  Hieronymus  commentatus  ad  manum  erat,  Ybi  eciam 
Verba  illa  et  baptismo  quo  baptistor  baptistabimini.  non  reperiebantur :  ad  tuas 
annotaciones  cogebar,  e  quibus  quam  primum  a  te  edocti  vltra  Marcum  verba 
haec  eciam  in  Matheo  ab  Origene  et  Chrisostomo  atque  Yulgario  referri.  Tum 
ipaa  Toloit,  nt  Origenes  XU  et  Chrisostomus  LXVI  omilia  super  Matheum  lege* 
retnr,  ex  quibus  plane,  quae  e  graeco  restitueris  cognouimus.  tibi  spero  non  in- 
iocundum  f<fre  te  Praeceptorem  amplissimum  non  solum  me  sed  et  coniugem  in 
dies  docere.  ...  Ex  Augusta  Yindelicorum  V  idus  Decembris  Anno  salutis 
MDXXL«  Dabei  liegt  folgender  Zettel  von  der  Hand  der  Margareta  Peutinger: 
>Pote8tis  bibere  pocnlum  quod  ego  bibiturus  sum  et  baptismate  quo  baptizor  bap- 
tizari.  Dieunt  et  Possumus.  Ait  illis  Galicem  quidem  meum  bibetis  et  baptis- 
mate quo  ego  baptizor  baptizabimini,  sedere  autem  etc. 

mögend  ir  trincken  den  kelch,  den  ich  wird  trincken,  ynd  mit  dem  tawf  darin 
ich  getawft  ir  getawft  werden,  sy  sprachen  wir  mögen,  vnd  er  sprach  zu  in. 
wan  meinen  kelch  werden  ir  trincken.  Ynd  mit  dem  Tauf  darin  ich  getauft  ir 
getauft  werden  aber  zu  sitzen  etc. 

Gommunis  interpretatio  Germanica  hoc  solum  habet. 
Mögend  ir  trincken  den  kelch   den  ich  wird  trincken ,   sy  sprachen  wir  mögen, 
Yod  der  herr  sprach.    Ja  mein  kelch  werden  ir  trincken  etc.    hie  de  baptis- 
mate nihil. 

Margareta  Peutingerin  Augustana«.  (Die  Abschrift  verdanke  ich  der  Güte  des 
Herrn  Stadtbibliothekars  Dr.  Markgraf  in  Breslau). 

1)  Ygl.  Erafft  a.  a.  0.  S.  7.  Nach  Th.  Schott,  Dr.  Martin  Luther  und  die 
deatsehe  Bibel  Stuttgart  1888  S.  13  kostete  die  H.  Bibel  12  Gulden,  nach  jetzi- 
gem Geldwerte  etwa  250  Mark. 

2)  Doch  haben  natürlich  auch  die  Klöster  vielfach  deutsche  Bibeln  besessen. 
So  besitzt  die  Erlanger  Universitätsbibliothek  die  Bibel  von  1486  (also  nach 
Keller  ein  waldensischer  Text)  in  einem  Exemplar,  das  dem  Kloster  Heilsbronn 
angehört  hat. 

3)  Das  ist  schon  hoch  gegriffen,   wenn  die  Annahme  von  Lorck  ((EEandbuch 

«Ml.  g«l.  Aai.  1SS7.  Kr.  1.  2 


18  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  I. 

reicher  Leute,  und  es  mag  viele  gebildete  Leate  gegeben  haben,  die  nie 
eine  zn  Qesicht  bekommen.  Ich  bin  mir  wohl  bewußt,  daß  ein  ar- 
gamentam  e  silentio  nar  einen  zweifelhaften  Wert  hat,  aber  es  ist 
doch  zn  beachten,  daß  bis  zum  Jahre  1520  in  den  Wittenberger 
Kreisen,  soweit  ich  zu  sehen  vermag,  nichts  auf  die  Kenntnis  von 
deutschen  Bibeln,  geschweige  denn  ihre  Benutzung  hinweist.  Eine 
Anlehnung  an  vorhandene  deutsche  Uebersetzungen  bei  Luthers  er- 
ster Uebersetzungsprobe,  der  Uebersetzung  der  sieben  Bußpsalmen 
(Weimar  A.  I,  158  ff.),  wird  nach  einiger  Vergleichung  Niemand  be- 
haupten wollen,  und  wenn  Luther  in  der  Vorrede  schreibt :  »von  dem 
text  diszer  sieben  psalmen,  Ist  zu  wissen,  dass  derselb  yn  etlichen 
Versen  vmb  klerer  Vorstands  willen  über  die  gemeynen  translation 
nach  der  translation  sancti  Hieronymi  genomen  ist«,  so  ist  unter 
der  »gemeynen  translation«  natttrlich  die  Vulgata  zu  verstehn.  Be- 
merkenswert ist  ferner,  daß  Job.  Lang  in  Erfurt  in  der  Vorrede  zn 
seiner  Uebersetzaug  des  Evangeliums  Matthäi  vom  1.  Mai  1521  nur 
von  einer  Uebersetzung  der  Evangelien  ins  Deutsche  etwas  weiß, 
worunter  wohl  die  Plenarien  gemeint  sind.  Er  schreibt:  »Es  seint 
die  heyligen  Euangelien  vor  etlichen  jaren  in  die  deutsch  sprach 
aus  dem  latein  gesetzt  und  gewandelt,  aber  meines  vnd  viler  ande- 
rer gedanckens  nit  fast  fleisick  noch  eygentlich,  wie  auch  in  vnser 
lateinischen  gemeiner  translation  vil  befunden  wirt  etc.«  ^.  Ebenso 
fehlt  in  der  Widmung  zu  der  Uebersetzung  des  Johannesevangeliums, 
die  der  Pfarrer  und  Licentiat  Nicolaus  Krumpach  angefertigt, 
jede  Anspielung  auf  das  Vorhandensein  früherer  Uebersetzungen '). 
Gleichwohl  hat  man  in  Wittenberg  Kunde  von  deutschen  Bibeln  ge- 
habt. In  einer  bisher  für  die  Geschichte  von  Luthers  Bibelttber- 
setzung  nicht  verwerteten  Stelle')  in  Garlstadts  Schrift:  »Welche 
Bücher  biblisch  seint«  —  es  ist  dies  die  Anfang  November  1520  ge- 
schriebene Umarbeitung  der  lateinischen  Schrift  »de  canonicis  scri- 
ptnris«  —  gibt  Garlstadt  an:  »Nachdem  itzt,  wie  ich  bericht,  neue 
und  deutsche  Biblien  sollen  gedruckt  werden,  und  alle 
Ghristen^  Geistliche  und  Layen,  Gelarte  und  Ungelarte  die  heilige 
Schrift  zu  leszen  oder  hören  leszen  und  in  solchem  Vleisz  schuldig 
seint  das  sie  widderumb  andere  Christen  leren  mögen  und  wollen, 

der  Geschichte  der  Buchdruckerkunst  1882.  S.  57)  richtig  ist,  daB  die  gewöhn- 
lichste Stärke  der  Auflagen  im  15.  Jahrh.  275  Exemplare,  bei  popul&ren  Werken 
550  Exemplaren  gewesen  sei. 

1)  Vgl.  Biederer,  Nachrichten  zur  Kirchen-,  Gelehrten-,  und  Büchergesch.  I, 
252  f. 

2)  Ebendas.  S.  265  ff. 

3)  Obwohl  sie  Jäger,  Garlstadt  S.  108  ausdrücklich  markiert 


Keller,  Die  Waldenser  und  die  deutschen  Bibelübersetzungen.  19 

babe  ich«  etc.  Uieraus  geht  hervor,  daA  man  damab  mitten  im  arg- 
8ten  Kampfe  nnd  wohl  zu  Kampfzwecken  »neue  deutsche  Bibeln c 
auflgehn  lassen  wollte,  das  heißt  doch  wohl,  —  so  wird  man  auch 
scfalieften  müssen,  weil  Carlstadt  damit  seine  Absicht  von  der  Eano- 
nicität  der  einzelnen  Bücher  zu  schreiben,  motiviert  — ,  nicht  neue 
Drucke  der  alten  Uebersetznng ,  sondern  eine  neue  Uebersetzung, 
eine  solche  wie  Luther  auf  Drängen  der  Freunde  (quam  rem  postu- 
lant nostri  De  Wette  11^  116)  sie  vorhatte,  translatio  digna,  quae  a 
Christianis  legeretnr:  spero  enim  nos  meliorem  daturos  (quam  ha- 
beant  Latini)  nostrae  Germaniae  (De  Wette  II ,  128  f.).  Beachtet 
man,  wie  Luther  hier  seine  deutsche  Uebersetzung  in  Vergleich  stellt 
mit  der  lateinischen,  und  in  II,  116  seine  Uebersetzung  der  von 
Lang  aus  dem  Griechischen  angefertigten  an  die  Seite  stellt,  so  ist 
schwer  zu  verstehn,  wie  man  dazu  kommen  konnte,  zu  läugnen,  daß 
Luther  das  neue  Testament  ans  dem  Grundtezt  zu  tibersetzen  unter- 
nahm. Zudem  wissen  wir,  wie  abhängig  Luther  von  dem  ihm 
vorliegenden  griechischen  Text  des  Erasmus  resp.  des  Qerbelins 
war,  eine  Abhängigkeit,  die  so  weit  gieng,  daß  er  lediglich  auf 
seine  Autorität  hin  ohne  Btteksichtnahme  auf  die  ihm  natürlich 
auch  vorliegende  Vulgata  Worte  oder  ganze  Sätze,  obwohl  sie  in  der 
Vnigata  (und  in  den  vorlutherischen  Uebersetzungen)  standen,  nicht  mit 
flbersetzt  hat.  So  fehlt  z.  B.  nach  Erasmus  Apok.  XXI,  26  in  allen 
Originalausgaben  der  lutherischen  Uebersetzung  (vgl.  auch  hierzu 
F.  Delitzsch,  handschriftliche  Funde.  1861.  Hft.  1.  S.  51).  Ebenso 
steht  es  mit  I.  Job.  V,  8,  das  Luther  nach  seinem  Text  nicht  hat  (vgl. 
dagegen  Cod.  Tepl.). 

Das  stärkste  an  Unmethode  ist  es  wohl  aber,  wenn  Keller  im 
Anschluß  an  W.  Erafft  und  als  Beweis  für  die  Abhängigkeit  Luthers 
von  den  vorhandenen  deutschen  Bibeln  anführt,  daß  angeblich  Luther 
manche  Stellen  später  nach  der  »altdeutschen  Bibel  verbesserte c, 
anstatt  zu  erkennen,  daß  diese  angebliche  spätere  Verbesserung  nach 
jenen  Texten  eben  gerade  gegen  die  vermeintliche  ursprüngliche 
Abhängigkeit  spricht.  Dabei  will  ich  jedoch  bemerken,  daß  ich  es 
flir  keineswegs  ausgeschlossen  halte,  daß  Luther,  als  er  von  der 
Wartburg  zurückgekehrt  mit  seinen  Freunden  seine  Uebersetzung 
durchnahm,  auch  hin  und  wieder  die  eine  oder  die  andere  deutsche 
Uebersetzung  —  denn  daß  er  wenigstens  solche  gekannt  hat,  ist  höchst 
wahrscheinlich^)  —  zu  Rate  zog,  vielleicht  sogar  die  eine  oder  die 

1)  Denn  auf  deutsche  Uebersetzangen  wird  man  es  wohl  zu  beziehen  haben, 
wenn  Luther  schreibt :  Vides  nunc  quid  sit  interpretari,  et  cur  hactenus  a  nullo 
Sit  attenUtum,  qui  profiteretur  nomen  suum  De  Wette  II,  128.  Indessen  ist  es 
gar  nicht  nötig,  dabei  an  gedruckte  Bibelübersetzungen  zu  denken. 

2* 


20  Gott.  gel.  Anz.   1887.  Nr.  I. 

andere  Stelle  danach  gebessert  bat.  Waram  sollte  er  es  ancb  nicbt 
gethan  baben,  bat  er  doch  immer  za  lernen  gesncbt  and  es  nicbt 
unter  seiner  Wttrde  gebalten,  ancb  Verbesserangen  von  seinen  Fein- 
den anzanebmen  (vgl.  Riebm,  Lntber  als  Bibelübersetzer  Tb.  Stud. 
in  Erit  1883.  S.  301).  Aber  beweisen  läßt  sieb  aocb  bei  allen  An- 
klängen in  Rttcksicbt  auf  den  gänzlichen  Mangel  an  jedem  Hinweis 
daranf  die  Sache  nicbt,  and  man  sollte  doch  nicht  vergessen,  was 
dabei  doch  wobl  auch  in  Betracht  zu  ziehen  ist,  daß,  wenn  ich 
nicht  irre,  mit  einziger  Ausnahme  Wicels,  die  Oegner  von  dieser 
Abhängigkeit,  die  sie  sich  gewiß  nicht  würden  haben  entgehn  las* 
sen ,  nichts  wissen,  sondern  seine  Uebersetzung  als  neue  und 
selbständige  angesehen  haben. 

Indessen  die  ganze  Untersuchung  über  die  Abhängigkeit  Luthers 
von  den  früheren  Uebersetzungen,  resp.  dem  Cod.  Tepl.  soll  Keller 
nur  dazu  dienen,  um  ein  neues  Moment  für  den  ketzerischen  Ursprung 
des  Cod.  Teplensis  darauf  zu  gründen.  Hieronymus  Emser  bat  in 
seinen  Annotationes  über  Luthers  neues  Testament  (1523)  von  Lu- 
ther gesagt,  daß  er  »weder  unser  glaubwirdigen  noch  des  bocbgeler- 
ten  herrn  Erasmus  von  Roterdam  translation  allenthalben  nachge- 
gangen, Sondern  eins  durch  das  ander  gemenget  vnd  als  zu  vermuten 
ein  sonderlich  Wickleffisch  oder  Hussisch  exemplar  vor  im  gehabt 
etc.«  (Emser  Bl.  15  f.  der  Ausgabe  von  1529).  Da  nun  nach  Keller 
die  >Tepler  Verdolmetschung  eben  diejenigen  Lesungen  bietet,  welche 
Emser  (in  Luthers  Uebersetzung)  für  hussisch  und  pickardisch  er- 
klärt«, und  da  ferner  Emsers  Uebersetzung,  weil  durch  Herzog  Qeorg 
von  Sachsen  approbiert,  »der  Maßstab  (für  die  Katholicität)  aller 
zwischen  1450 — 1530  erschienenen  Uebersetzungen  so  lange  bleiben 
muß,  bis  eine  andere  deutsche  Verdolmetschung  nachgewiesen  ist, 
die  von  anerkannteren  Autoritäten,  als  Emser  es  war,  verfaßt  und 
von  höheren  katholischen  Stellen,  als  Herzog  Georg  sie  darstellt, 
approbiert  worden  sind«,  so  ergibt  sich  daraus,  daß  diejenigen  Ueber- 
setzungen, welche  die  von  Emser  als  ketzerisch  bezeichneten  Le- 
sungen enthalten,  auch  wirklich  ketzerische  sind. 

Wer  nun  weiß,  wie  Emser  seit  seiner  ersten  Fehde  mit  Luther 
im  Jahre  1519  darauf  bedacht  war,  ihn  als  Husiten  und  Pikharden 
zu  zeichnen,  und  wie  das  überhaupt  ein  beliebtes  Mittel  gegen  einen 
unbequemen  Gegner  war,  wird  sich  über  das  Manöver  desselben 
nicht  wundern.  Keller  nimmt  aber  Emsers  Vorwurf  ernst  und  glaubt 
wirklich,  daß  derselbe  von  dem  Vorhandensein  eines  von  Luther  be- 
nutzten husitisch  waldensiscben  Textes  überzeugt  gewesen  und  richtet 
im  Weiteren  seine  Untersuchung  mit  vielem  Fleiße  darauf,  nachzu- 
weisen, daß  die  von  Emser  bei  Luther  als  ketzerisch  gerügten  Le- 


Keller,  Die  Waldenser  und  die  deutschen  Bibelübersetzungen.  21 

sangen  auf  Uebereinstimmang  mit  dem  Cod.  Tepl.  resp.  den  vor 
1470  ausgegebenen  deatscben  Bibeln  beraben,  wodurch  nacb  den 
oben  angegebenen  Prämissen  der  ketzerische  Ursprung  seiner  Auf- 
fassung nach  erwiesen  wäre. 

Sollte  Emser  wirklich,  was  ich  nicht  für  wahrscheinlich  halte, 
Lutber  im  Ernste  die  Benutzung  einer  ketzerischen  Vorlage  haben 
Torwerfen  wollen,  so  könnte  dieselbe  doch  nur  entweder  in  einem 
ketzerischen  Vulgatatext,  etwa  demselben,  der  dem  Cod.  Tepl.  zu 
Grande  gelegen  haben  soll,  zu  soeben  sein,  oder  direkt  in  einer  der 
bisher  gebrauchten  deutschen  Bibelttbersetzungen.  Das  letztere  ist 
ausgeschlossen,  da  Emser  durchweg  Luthers  Uebersetzung  als  eine 
neue  anerkennt,  und  weil  nicht  einzusehen  ist,  warum  er,  wenn  er 
Luthers  Uebersetzung  fttr  ein  Plagiat  der  Mheren  Uebersetzungen, 
die  er,  wenn  nicht  alles  trügt,  sehr  wohl  gekannt  hat  ^),  ansah,  dies 
nicht  rund  heraus  gesagt  hat.  Es  bliebe  also  nur  das  andere  ttbrig, 
besonders  auf  Qrund  solcher  Stellen,  in  denen  Emser  ktthnlich  be- 
hauptet, was  freilich  sehr  häufig  gelogen  ist,  daß  etwas,  was  Luther 
Übersetze,  auch  im  griechischen  Texte  nicht  stehe  (z.  B.  Bl.  23.  58. 
121.  136*).  Das  Vorhandensein  eines  solchen  ketzerischen  Vulgata- 
textes  ist  zwar  nicht  unmöglich,  bis  jetzt  aber  nicht  nachgewiesen. 
Und  tbatsächlich  beruhen  die  Abweichungen,  die  Emser  rttgt,  abge* 
sehen  von  offenbaren,  größtenteils  auch  später  (oder  auch  sogar  schon 
im  Druckfehlerverzeichnis)  verbesserten  Uebersetzungsfehlem,  fast 
alle  auf  Luthers  Zurückgehn  auf  den  griechischen  Text,  oder  darauf, 
^  daß  er  den  griechischen  Text  eben  nicht  nach  Maßgabe  der  Vulgata 
wiedergibt. 

1)  Allerdings  findet  sich,  soweit  ich  sehe,  nur  eine  Hindeutung  auf  BL  55^, 
wo  Emser  gegen  Luthers  uebersetzung  »ein  königischerc  polemisiert  und  dafftr 
>ein  königlin«  gesetzt  wissen  will,  »nicht  das  grosz  daran  gelegen,  sondern  das 
die  vnseren  (!!)  die  bisher  getewsöht  haben,  Es  war  ein  königlin,  nit  verdacht 
werden,  als  betten  sie  das  Evangelion  nicht  recht  tewtschen  können«.  Nun  le- 
sen sowohl  der  Cod.  Tepl.  als  auch  die  gedruckten  Bibeln  ikti- 
niglin.  Von  dieser  Thatsache,  daE  Emser  hier  gegen  Luther 
für  die  Uebersetzung  der  ketzerischen  Bibeln  eintritt,  kann 
Keller  natürlich  keinen  Gebrauch  machen. 

2)  Einmal  versteigt  sich  Emser  sogar  zu  der  Behauptung,  daB  »das  Krie- 
ch i  s  c  h ,  daraus  Luther  dise  stell  verdolmetschet  hat,  von  den  ketzern  gefelscht 
worden  sei«.  (Hier  dürften  sich  für  Keller  weite  Perspektiven  ergeben).  Cha- 
rakteristisch ist  es  auch  für  Emsers  Verfahren,  wenn  er  zu  Matth.  20,  30  be- 
merkt: Warumb  hat  dan  Luther  das  wörtlein  »euch«  in  der  feder  stecken  las- 
sen? Antwortet  er,  darumb  das  es  im  kriechischen  text  auch  nicht  steet.  Dise 
antwurt  nem  ich  nit  an,  dann  er  dem  kriechischen  text  selbs  auch  nicht  allent- 
halben folget,  sondern  allein  wo  er  sein  fortel  ersihet  vnd  jm  zu  seinem  ketse- 
liadien  formen  dienstlich  ist. 


22  Gott.  gel.  Anz.  1887.  No.  1. 

Da  Emaer  c.  1400  Stellen  in  Luthers  Uebersetzang  des  neuen 
Testamentes  als  ketzerisch  aufweist,  wird  man  von  Keller  nicht  ver- 
langen,  daß  er  sie  alle  bespricht,  wohl  aber  konnte  man  von  ihm 
fordern,  daß  er  gerade  diejenigen  markiere,  in  denen  nach  der  bis- 
herigen Tradition  etwa  die  Sttcksicht  auf  waldensische  Besonderheit 
für  die  Uebersetzung  hätte  maßgebend  sein  können,  z.  B.  bei  den 
auf  die  Beichte  bezüglichen.  Bl.  20  wird  gerügt,  daß  Luther  Math.  8, 4 
ttbersetzt  »zu  einem  zeugniß  über  sie«  statt  wie  allerdings  richtiger 
wäre  —  »ihnen  zum  Zeugniß«,  und  wird  dies  ausdrücklich  damit 
motiviert,  daß  »Luther  den  text  nit  aus  vnser  noch  aus  Erasmus,  son- 
der aus  Bussen  exemplar  den  priestern  vnd  ider  beicht  zu  merckli- 
chem  nachteil  gefolget«  — :  der  Cod.  teplensis  hat  aber  »in  czu  ein- 
geczeng«.  Ebenso  sieht  Emser  (Bl.  58)  nur  eine  Abneigung  gegen 
die  Beichte,  wenn  Luther  Act  19,  18  i^ofMXoyovfksvo^  nicht  mit 
»beichten«  ttbersetzt,  was  die  kirchliche  Uebersetzung  sei.  Schlägt 
man  nun  den  ketzerischen  Cod.  Tepl.  auf,  so  findet  man  daselbst 
»si  beiachten«,  während  die  nach  Keller  im  kirchlichen  Sinne  ex- 
purgierte  IX.  Bibel  liest:  »bekennend  und  verkflndend  jre  that«. 
Bl.  22^  wird  getadelt,  daß  Luther  nicht  den  kleinen  (wie  es  auch 
im  Cod.  Tepl.  heißt,  denen  lutzein),  sondern  den  vnmttndigen  über« 
setzt  etc.  So  findet  Emser  ketzerische  TextftUschungen  gerade  an 
Stellen,  wo  Luther  ganz  anders  ttbersetzt  als  der  Cod.  Teplensis,  und 
zwar  gerade  an  solchen  Stellen,  wo  die  Uebersetzung  im  ketzeri- 
schen Sinne  verwendbar  gewesen  wäre,  z.  B.  Math.  13,  52.  Luther: 
Ein  jeglicher  schrifl^tgelerter,  der  zum  hymelreich  gelert  ist.  Emser 
will  haben :  Ein  jetzlicher  schrifftgelerter  im  hymel,  und  erklärt  Lu- 
thers Uebersetzung  daraus,  »das  das  kriechisch  daraus  Luther  dise 
Stele  verdolmetschet  hat,  von  den  iketzeren  gefelscht  worden  sey. 
Et  hoc  fortassis  ideo  quia  haeretici  non  dant  omnem  doctorem  esse 
in  regno  coelorum  idest,  in  ecclesia,  sed  dicunt  eos  qui  male  vivunt 
(quamvis  bene  doceant)  esse  extra  ecclesiam  quod  est  falsissimum. « 
Cod.  Tepl.:  ein  jeglich  schriber  gelerter  in  dem  reich  der  himel  (!) 
—  Math.  17,  2  ttbersetzt  Luther  (nach  dem  griechischen  Text): 
und  seine  kleider  wurden  weysz  als  ein  Hecht.  Emser:  »vnser  be- 
werter Text«,  —  der  nach  Keller  S.  83  im  Gegensatz  zum  Cod. 
Teplensis  und  zu  Luther  steht  —  »nit  als  ein  Hecht  sondern  als  der 
Schnee«.  Der  Cod.  Tepl.:  weisz  als  der  snee.  Ebenso  Verhaltes  sich 
mit  dem  Zusatz  bei  Math.  18,  35:  »seine  feyle«,  der  aber  sachlich 
irrelevant  ist,  dann  mit  der  Rttge  Emsers  bei  Math.  23,  1,  wo  Lu- 
ther »haben  sich  gesetzt«  Hest;  der  Cod.  Tepl.  wie  Emser  will 
»sazzen«.  Ebenso  Job.  8,  26  (dgx^v)^  Act.  2,  4.  Emser.  Bl.  60^. 
Auf  Bl.  58  tadelt  Emser,  daß  Luther,  natttrlich  nach  dem  ihm  vor- 


Keller,  Die  Waldenser  and  die  deutschen  Bibelübersetzungen.  23 

liegenden  griechischen  Text  von  Act.  13,  25  die  Worte  fortgelassen : 
Timait  enim  ne  forte  raperent  earn  Jadai  et  occiderent,  Et  ipse 
postea  ealamniam  sastineret,  tanqaam  acceptaras  pecuniam  —  »welche 
wort  Lnt.  all  in  seim  hussischen  Text  auch  nit  gefanden  hat«.  Der 
Cod.  Tepl.  hat  sie  nicht,  aber  die  spätem  deutschen  Bibeln.  Vgl. 
I  Kor.  2,  17  bei  Lnther  mit  Cod.  Tepl.  u.  Emser  89.  Ketzerisch  and 
ans  dem  »hassischen  Bnch«  ist  nach  Emser  Luthers  Uebersetzang 
von  2.  Kor.  5,  11,  weil  sie  gegen  den  Bann  und  die  Propheten  zu 
benatzen  wäre-,  die  von  Emser  Bl.  89^  als  richtig  angegebene  findet 
sich,  wie  gewöhnlich,  auch  im  Cod.  Tepl.  Ebenso  Gal.  I,  10  (Em- 
ser 91  f.).  Ebenso  steht  Eph.  5,  18  die  von  Emser  entgegen  dem 
hussischen  Bache  als  richtig  hingestellte  Lesart  im  Cod.  Tepl. 
Ebenso  in  der  wichtigen  Stelle  tö  (kvat^n^w  tovto  y^iya^  wo  der 
Cod.  Tepl.  wiedergibt:  Dise  heilicheit  ist  michel.  Ebenso  Phil.  4,3 
(Emser  96*),  ferner  1.  Thess.  4,  3;  1.  Petr.  1,  25  (Emser  111), 
Hebr.  8,6  (Emser  12P),  Apok.  8,  11;  9,  3;  21,  27  etc. 

Nach  dieser  Blumenlese  von  Stellen  —  es  sind  nur  solche  her- 
ausgegriffen, bei  denen  Emser  ausdrücklich  die  Phrase  gebraucht, 
daß  sie  wohl  aus  einem  hussischen  Texte  herrtihrten  —  wird  jeder 
ermessen  können,  was  davon  zu  halten  ist,  wenn  Keller  S.  83 
sehreibt:  »Sodann  ist  es  wichtig,  daß  die  Lesarten, 
welche  Emser  tadelt,  sich  zwar  im  Cod.  Teplensis 
und  den  ersten  gedruckten  deutschen  Bibeln,  aber 
nicht  mehr  in  den  Bibeldrucken,  die  seit  etwa  1470 
erschienen  sind,  finden,  daß  diese  letz  teren  vielmehr 
eben  diejenige  Version  bieten,  welche  Emser  im  Ge- 
gensatz zum  Codex  Teplensis  wie  zu  Luther  für  »un- 
seren Texte  erklärt.« 

Indessen  fQhrt  Keller  noch  eine  Reihe  Stellen  an,  deren  Be- 
weiskraft er  darin  findet,  »daß  sie  sich  sämmtlich  in  gleicher  Rich- 
tung bewegen«.  Emser  entrüstet  sich  darüber,  daß  Luther  Luk.  16, 20 
%daika  (v.  26  vnlg.  chaos)  mit  »Kluft«  übersetzt,  was  nur  aus  Ab- 
neigung gegen  die  Lehre  vom  Fegefeuer  geschehen  sei.  Luthers 
Uebersetzung  sei  demnach  nach  Emser  eine  Ketzerei,  noch  mehr 
aber  müsse  als  solche  erscheinen  die  Lesung  des  Cod.  Tepl.  »ein 
michel  vnderschiedung«,  und  daß  man  diese  als  solche  empfunden, 
ergebe  der  Umstand,  daß  die  »Expurgatoren  in  den  späteren,  deut- 
schen Bibeln  der  Ausdruck  in  vestenkeit«  resp.  Irrsal  umgeändert 
haben.  Dem  gegenüber  muß  nun  bemerkt  werden,  daß  Emser  ge- 
neigt ist,  in  Rücksicht  auf  das  griechische  Original,  Luthers  Ueber- 
setzung von  xädika  hingehn  zu  lassen,  wenn  er  nur  nicht  v.  22 
alsch  interpnngiert  hätte  und  den  Reichen  gleich  in  der  Hölle  be- 


24  Gatt.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  1. 

graben  werden  lieBe  (während  dag  ip  up  f dj  erst  za  dem  folgenden 
Satze  gehöre).  Und  ee  ist  offenbar^  daA  dieser  Sats  nnmittelbar  ge- 
gen die  Lehre  yom  Fegefeuer  verwendbar  war,  trotzdem  finden  wir 
nicht,  daß  man  in  diesem  Pnnkte  eine  »Expurgation €  in  den  späte- 
ren Bibeln  vorgenommen  hätte  %  und  wird  die  Aenderung  des  Wor- 
tes Unterschiedung  wohl  aneh  aus  anderen  Orilnden  erfolgt  sein. 
Noch  schwächer  ist  ein  2tes  Argument.  Luther  hat  offenbar  nieht 
genau  —  später  ist  eine  Aenderung  eingetreten  —  1  Kor.  11, 18— 19 
cxkffikaux  und  algiaetg  gleichmäßig  mit  »Spaltnngen<  ttbersetzt,  nach 
Emser  und  Keller  aus  Abneigung  gegen  das  Wort  »Ketzerei«,  was 
nattlrlich  lächerlich  ist.  Luther  hätte  ebensogut  »Sekte«  setzen  kön- 
nen, wie  er  Gal.  5,  20  für  algiat^  in  Uebereinstimmung  mit  der 
Vulgata  gesagt  hat.  Vgl.  Act.  5,  17.  Richtig  ist,  daß  der  Cod. 
Tepl.  dafür  »Irrthum«  setzt;  wie  wenig  aber  dabei  ein  dogmatischer 
Gedanke  Platz  gegriffen  hat,  geht  doch  wohl  deutlich  daraus  her- 
vor, daß  er  konstant  so  übersetzt,  auch  bei  den  verschiedenen  Be- 
deutungen, die  bekanntlich  alfta^g  im  neuen  Testamente  hat  z.  B.  auch 
Acta  24,  4  (wofür  die  angeblichen  Expurgatoren  schreiben:  irrsale) 
und  Act.  24, 14  (später :  die  sy  heißen  ein  ketzerei),  nur  Act  28, 22 
heißt  es  fttr  atgea^g^  vnlg.  secta :  Orden.  Wenn  spätere  Ueberarbeiter 
prägnantere  Ausdrücke  wählten,  so  werden  sie  denselben  Grund  da- 
für gehabt  haben,  der  dafür  maßgebend  war,  daß  in  der  späteren 
Lutherübersetzung  TA.  3, 10  für  einen  »abtrünnigen«,  einen  »ketze- 
rischen« Menschen  gesetzt  wurde.  Und  Kellers  ganze  Untersuchung 
über  diesen  Punkt  wird,  sagen  wir  milde  bedeutungslos,  wenn  man 
erwägt,  was  Keller,  an  dieser  Stelle  wenigstens,  mitzuteilen  vergessen 
zu  haben  scheint'"^),  daß  der  »waldensische«  Besitzer  des  Codex  un- 
ter den  Stiebworten  am  Rande  zu  Titas  3,  10  »Ketzer«  schreibt 
und  zu  Act.  XXIV,  14  »ketzrige«.  Das  nQwwv  tffevdog  bleibt  immer 
dies,  daß  Emser,  der  bei  seiner  Stellung  zu  Luther  allenthalben 
Ketzereien  wittert,  auch  als  Maßstab  für  die  Rechtgläubigkeit  des 
Cod.  Tepl.  angenommen  wird.  Es  würde  zu  weit  führen  und  ist 
auch  gänzlich  überflüssig,  zumal  im  Hinblick  auf  das  oben  über  die 
Uebereinstimmung  der  von  Emser  geforderten  Uebersetzung  und  des 
Cod.  Tepl.  Gesagte,  Kellers  weiteren  Ausführungen  nachzugehn  — 
ich  verweise  daÄlr  auch  auf  die  treffiche  Besprechung  im  Lit.  Cen- 

1)  Auch  macht  Emser  selbst  darauf  aufmerksam,  daß  erst  Erasmus  und  Fa- 
ber Stapulensis,  wie  er  will,  interpungieren.  Wie  wenig  übrigens  Emser  als  ap- 
probierter Richter  über  Lesarten  gelten  kann,  ergibt  der  Umstand,  da£  wie  früher 
noch  heute  in  der  Vulgata  interpungiert  wird  et  aepulttu  Bit  in  inferno, 

2)  Er  erw&hnt  es  nur  gelegentlich  später  8. 127,  übrigens  unter  Anerkennung 
des  Umstandes,  daft  diese  Anmerkungen  gleichzeitig  geschrieben  seien. 


Keller,  Die  Waldenser  und  die  deutschen  Bibelübersetzungen.  25 

tralblatt  1886  Nr.  30  nnd  auf  Eaweraus  Anzeige  im  Theol.  Litte- 
ratnrblatt  1886  Nr.  33;  nur  ein  Punkt  soll  noch  zur  Sprache  kom- 
men: Nach  Keller  unterscheidet  sich  die  Lehre  der  »Brüdergemein- 
den« wesentlich  in  Bezug  auf  die  Auffassung  der  Heiligen  von  der 
katholischen  Kirche.  Emser  tadelt  nun  bei  Luther,  daßerOffenb.  19, 5 
Qbersetzt  »Lobt  nnsern  Gott  und  alle  seine  Knechtet,  wo  er  nach 
der  Yulgata  hätte  setzen  sollen:  »alle  seine  Heiligen« ;  derCod.  Tepl. 
sagt  »AU  sein  knecht  sagt  lob  unserm  Gott« ;  die  lutbersche  Ueber- 
setzang  ist  hussisch,  folglich  auch  die  des  Cod.  Tepl,  und  dies  um 
so  mehr,  als  die  Expurgatoren  des  15.  Jahrb.,  welche  in  ihrer  »Vor- 
lage«, nämlich  den  ersten  Drucken,  diese  Uebersetzung  fanden,  Über- 
einstimmend das  Wort  »Heilige«  eingesetzt. 

Darauf  ist  zu  sagen,  daß  wie  Keller  leider  nicht  untersucht^) 
bat,  der  von  Luther  benutzte  Text  wie  heute  allgemein  liest  ndvtsg 
0«  dovloi  avtovy  also  ftlr  Luther  kein  dogmatischer  Grund  gegen  die 
Heiligen  vorlag,  und  daß  es  zu  viel  gesagt  ist,  daß  die  Expurga- 
toren ttbereinstimmend  den  Text  in  Emsers  Sinne  geändert  haben, 
indem  nach  den  Angaben  von  Klimesch  noch  die  XI.  deutsche  Bi- 
bel »All  sein  knecht«  liest,  während  allerdings  die  VL,  IX.  X.  and  XIV., 
die  ich  vergleichen  konnte,  »Alle  Heiligen«  lesen;  wir  werden  daher 
anzunehmen  haben,  daß  der  Vulgatatext,  der  dem  Cod.  Tepl.  zu 
Grunde  liegt,  dem  griechischen  Original  nach  servi  gelesen  hat, 
wie  denn  auch  z.  B.  die  von  Koberger  veranstaltete  Lyoner  Ausgabe 
der  Yulgata  von  1513  am  Sande  »servi«  als  gewöhnliche  Variante 
gibt.  Damit  fällt  natürlich  auch  hier  die  ketzerische  Tendenz  der 
Lesung  »alle  seine  knecht»,  die  sich  im  Cod.  Tepl.  und  den  ersten 
deutschen  Drucken  findet.  Doch  genug  davon.  Das  Mitgeteilte 
dürfte  wofil  zur  Genüge  darthun,  was  von  den  neuesten  Beweisen 
Kellers  ftlr  den  waldensischen  Ursprung  des  Cod.  Teplensis  zu 
halten  sei.  Ihm  weiter  auf  diesem  Gebiete  zu  folgen,  halte  ich  nicht 
fbr  nötig,  besonders  nicht  auf  den  Wegen  des  allmählichen  lieber- 
gangs  der  evangelischen  Gemeinden,  der  Gottesfreunde,  der  Walden- 
ser und  Wiedertäufer  ins  Freimaurertum,  denn,  wie  ich  gestehn 
muß,  ist  meine  Kenntnis  desselben  so  geringfügig,  daß  ich  nicht 
einmal  darüber  urteilen  kann,  ob  es  wirklich  sehr  merkwürdig  ist, 
wie  Keller  S.  170  meint,  daß  in  einem  alten  Ritual  der  Freimaurer 
»sich  Gtebräuche  finden,  welche  mit  denen  der  ältesten  apostolischen 
Gemeinden  übereinstimmen«  oder  ob  »es  als  Zufall  zu  betrachten, 
daß  schon  vor  vielen  Jahren  solche  Historiker,  welche  von  ganz  an- 

1)  Er  hat  dem  lügnerischen  Emser  einfach  geglaubt,   dafi  der  griechische 
Text  lese  »alle  seine  Heiligenc. 


26  Oött.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  1. 

deren  Aasgangspunkten  aas  diese  Fragen  antersaeht  babeoi  die 
nächsten  Geistesverwandten  der  Bauhütten  in  jenen  alten  Gemeinden 
erkannt  haben,  die  man  »Ketzer«  (Waldenser  oder  Katharer)  nannte. 
Und  hat  nicht  die  römische  Kirche  diese  Verwandtschaft  dadaroh 
praktisch  anerkannt,  daß  sie  die  Hütten  beider  in  derselben  Weise 
wie  die  alten  Christengemeinden  in  ihren  amtlichen  Erlassen  als 
Häretiker  anter  die  kirchlichen  Strafen  stellte?  Wer  wollte  da 
noch  dagegen  Einsprach  erheben!  Ich  beabsichtige  es  nicht  weiter 
zn  than. 

Erlangen.  Th.  Kolde. 


Vischer,  Eberhard,  Die  Offenbarung  Johannis,  eine  jüdische  Apo- 
kalypse in  christlicher  Bearbeitung.  Mit  einem  Nachwort  von  Adolf  Har- 
nack.    Leipzig.    J.  C.  Hinrichs'sche  Buchhandlung.     1886.     137  S.    8^ 

Gerade  ein  Jahr  ist  verstrichen,  seit  Jttlicher  an  dieser  Stelle 
das  Bach  von  Völter  Über  die  Entstehung  der  Apokalypse  einer  sehr 
scharfen,  aber  gerechten  Kritik  anterzogen  hat  Man  stand  anter 
dem  Eindrnck,  daß  die  Hypothese,  in  anserer  neutestamentlichen 
Apokalypse  verschiedene  Bestandteile  za  anterscheiden,  darch  Völter 
so  diskreditiert  sei,  daß  an  ihre  Wiederaafnahme  so  bald  nicht  ge- 
dacht werden  könne.  Und  doch  haben  wir  nan  bereits  einen  neoen 
Versuch  in  ähnlicher  Richtaog  zu  verzeichnen,  einen  Versach,  der 
-^  fügen  wir  das  gleich  hinza  —  vor  dem  Völterschen  so  gat  wie 
Alles  voraas  hat  and  die  al lerer nsteste  Beachtang  verdient 

Völter  hatte  seine  Hypothese  aaf  der  richtigen  Einsicht  basiert, 
daß  die  Offenbarang  Johannis,  wie  sie  ans  vorliegt,  nicht  von  Einem 
Verfasser  herrühren  könne:  und  zwar  unterschied  er  nan  vier  ver- 
schiedene Verfasser,  welche  zn  ganz  verschiedenen  Zeiten  arbeiteten, 
so  daß  unsere  heutige  Apokalypse  nach  ihm  erst  unter  Antoninas 
Pias  etwa  um  das  Jahr  140  fertig  gestellt  war.  Daß  das  Problem 
des  Buches  auf  diese  Weise  nicht  gelöst  werden  konnte,  hat  beson- 
ders Jülicher  und  unter  Hinweis  auf  den  durchaus  einheitlichen 
Sprachcharakter  der  Apokalypse  auch  Vischer  p.  2  Note  dargethan. 
Indessen  war  es  auf  jeden  Fall  ein  ersprießliches  Resultat  der  Völ- 
terschen  Untersnchung,  daß  die  Aufmerksamkeit  dadurch  aaf  die 
Frage  nach  der  Einheitlichkeit  des  Baches  gelenkt  worden  war. 
Lagen  doch  auch  für  den  oberflächlichen  Beobachter  genug  Momente 
vor,  welche  dieselbe  sehr  in  Frage  stellten.  Weizsäcker  hat  in  sei- 
nem »apostolischen  Zeitalterc  sich  mit  guten  Gründen  gegen  die 
Einheitlichkeit  entschieden,  ohne  jedoch  einen  eigenen  Erklärungs- 
versuch zu  bieten. 


Yischer,  Die  Offenbarung  Johannis.  27 

Einen  solchen  haben  wir  nun  in  dem  uns  vorliegenden  kleinen 
Schriftchen,  dessen  Verfasser  die  Frage  aufgenommen  hat,  ohne  noch 
von  Völlers  Buch  zu  wissen.  Das  Resultat,  zu  dem  er  nach  einer 
mit  der  gröftten  Sorgfalt  und  Umsicht  durchgeführten  Untersuchung 
kommt,  ist  kurz  gesagt  dieses:  die  cc.  4—22,  5  der  Offenbarung 
Johannis  sind  eine  jttdische  Apokalypse,  die  von  einem  Christen 
mit  ganz  geringen,  oft  in  einzelnen  Worten,  gelegentlich  in  kleinen 
Sätzen,  nur  dreimal  in  größeren  Einschiebungen  bestehenden  Zu- 
Sätzen  versehen  und  in  dieser  Form  für  die  christliche  Gemeinde 
brauchbar  gemacht  worden  ist.  Die  cc.  2  und  3,  welche  die  7 
Sendschreiben  an  die  Oemeinden  von  Kleinasien  enthalten,  sind  ihrem 
ganzen  Inhalt  nach  christlich,  während  von  c.  1  und  c.  22,  5  ff. 
nicht  mehr  sieher  ausgemacht  werden  kann,  wie  sich  die  jüdischen 
zu  den  christlichen  Bestandteilen  verhalten.  Da  c.  4,  1  ff.  nicht  den 
Anfang  der  jüdischen  Apokalypse  gebildet  haben  kann ,  so  nimmt 
Viseher  an,  daß  dieser  Anfang  mit  christlichen  Zuthaten  versetzt  in 
c.  1  verborgen  ist.  Ein  Gleiches  würde  beim  Schluß  der  Fall  sein, 
der  übrigens  überwiegend  fttr  christlich  zu  erklären  ist. 

Das  einleitende  Kapitel  geht  von  der  Beobachtung  ans, 
daß  alle  uns  erhaltenen  jüdischen  Apokalypsen  im  Laufe  der  Zeit 
Ueberarbeitungen  erfahren  haben,  sowie  von  der  weiteren,  daß  eine 
Reihe  jüdischer  Apokalypsen,  welche  im  Lauf  des  1.  und  2.  Jahr- 
hunderts in  den  Gebrauch  der  christlichen  Gemeinden  ttbergegangen 
sind,  bei  dieser  Gelegenheit  kürzere  oder  längere  Zusätze  erfahren 
haben.  Die  Annahme,  daß  es  unserer  Apokalypse  ähnlich  ergangen 
sein  möchte,  ist  daher  nicht  ohne  Weiteres  von  der  Hand  zu  weisen. 
Indessen  werden  die  Schwierigkeiten,  die  sich  der  Erklärung  des 
Buches  bieten,  nicht  sofort  durch  die  Annahme  hinweggeräumt,  daß 
die  Schrift  aus  mehreren  zu  verschiedenen  Zeiten  entstandenen 
Stücken  zusammengeschweißt  sei.  Diese  Schwierigkeiten  bestehn 
aber  darin,  daß  durch  die  ganze  Apokalypse  zwei  vollkommen  ver- 
schiedene Anschanungen  unvermittelt  neben  einander  her  laufen: 
die  eine,  welche  uns  das  Christentum  des  Verfassers  als  ein  völlig 
jüdisch  befangenes  erscheinen  läßt,  die  andere,  welche  von  einem 
universalen,  durch  Christus  bestimmten  Geist  zeugt.  Viseher  weist 
nach,  daß  kein  Exeget  diese  Schwierigkeiten  hat  heben  können, 
und  formuliert  demnach  das  Problem  seiner  Untersuchung  dahin,  ob 
nicht  der  Kern  des  Buches  eine  rein  jüdische  Schrift 
ist,  welche  erst  durch  eine  Ueberarbeitung  zn  einem 
christlichen  Offenbarungsbuche  umgewandelt  wor- 
den ist.  Daß  diese  Hypothese  noch  nicht  aufgestellt  worden  ist, 
ist  kein  Grund,   warum  man   nicht  jetzt  zu  ihr  greifen  soll,  zumal 


28  Gott.  gel.  Aoz.  1887.  Nr.  1. 

sie  alle  Schwierigkeiten  mit  einem  Schlage  za  lOeen  Tenprieht.  Ist 
doch  ein  ganz  paralleler  Versuch  nnter  Zustimmung  einer  Reihe  von 
kompetenten  Beurteilern  erst  vor  kurzem  an  den  Testamenten  der 
12  Patriarchen  angestellt  worden,  und  scheinen  sich  doch  die  An- 
zeichen zu  mehren,  daB  auch  unter  nichtapokalyptischeu  Schrift- 
stücken, welche  fttr  christlich  gelten,  sich  solche  finden,  die  man  als 
Umarbeitungen  jüdischer  Originale  zu  betrachten  hat.  Gtegen  den 
Einwurf,  daft  ein  wesentlich  jttdisches  Buch  nicht  in  dem  neutesta- 
mentiichen  Kanon  aufgenommen  sein  könne,  schützt  sich  Vischer 
durch  Hinweis  auf  das  hohe  Ansehen,  welches  gerade  jadische  Apo- 
kalypsen in  der  christlichen  Gemeinde  besaften  (vgl.  auch  die  escha- 
tologischen  Beden  Jesu  und  die  Untersuchungen  über  ihre  jüdische 
Grundlage),  was  z.  B.  bei  Papias  zu  der  wunderlichsten  Entstellung 
christlicher  Tradition,  die  wir  überhaupt  kennen,  geführt  hat 

In  c.  2  wendet  sich  nun  der  Verfasser  zur  »Grundlegung 
der  Lösungc.  Er  stellt  sich  die  Aufgabe,  den  Charakter  des  Bu- 
ches an  seinen  specifischen  Eigentümlichkeiten  festzustellen,  und 
glaubt  die  sichere  Grundlage  hierzu  in  c.  11  und  12  gefunden  zu 
haben.  Von  diesen  weist  er  ausführlich  nach,  daft  sie  bei  der  An- 
nahme eines  christlichen  Ursprungs  bisher  jeder  Erklärung  gespottet 
haben  und  spotten  mnftteo,  wenn  man  sich  nicht  auf  das  trügerische 
Gebiet  des  Allegorisierens  begibt,  auf  dem  man  Alles  beweisen 
kann,  aber  auch  sein  Gegenteil.  Es  zeigt  sich  zunächst,  daftc.  11, 1 
nnter  radc  tov  ^eov  xal  td  ^vCMi^tJQtop  srai  ol  TtQogMVPovvug  iv 
ait(f  nur  der  jüdische  Tempel  und  jüdische  Beter  verstanden  wer- 
den können.  Es  zeigt  sich  ferner,  daft  die  Erwartung  von  zwei 
Zeugen,  welche  das  Erscheinen  des  Messias  vorbereiten,  eine  den 
jüdischen  Apokalypsen  eigentümliche  Vorstellung,  dagegen  dem  Chri- 
stentum ganz  fremd  ist,  da  dasselbe  die  Weissagung,  daft  ein  grofter 
Prophet  dem  Messias  vorangehn  wird,  in  Johannes  dem  Täufer  er- 
füllt weift.  Hält  man  aber  daran  fest,  daß  ein  Christ  dieses  Kapitel 
schrieb,  so  muft  man  konsequenter  Weise  das  Erscheinen  der  beiden 
Zeugen  vor  das  zweite  Kommen  Christi  verlegen.  Dann  aber  er- 
scheint höchst  auffällig,  daß  des  ersten  Erscheinens  Christi  auf  Er- 
den nur  in  einem  kleinen  Nebensätzchen  (Vers  8^ :  ^ng  (seil.  ^  n6hg  ^ 
IkSfäXfi)  nahUak  nvsvgAauntSg  Sodofna  xal  Afy^mog,  onov  nal  b  xt/- 
Qkog  a^dtAv  ietavqui&fO  gedacht  wird.  Diesem  Christen  ist  die  Kreu- 
zigung des  Herrn  so  unwichtig,  daft  er  sie  nur  ganz  flüchtig  er- 
wähnt, und  daß  er  die  Stadt,  welche  den  Herrn  kreuzigen  ließ,  im 
Verhältnis  zu  Babel  sehr  milde  bestraft.  Wenn  man  nun  sieht,  daß 
Jerusalem  in  diesem  kleinen  Satze  als  Sodom  und  Aegypten  bezeich- 
net wird,  während   es  kurz  vorher  (v.  2)  noch  ayia  nok&g  genannt 


Yischer,  Die  Offenbarung  Johannis.  29 

wHrde,  BO  erweist  sieb  der  deo  Zasammenhang  in  auffälliger  Weise 
störende  Halbvers  als  Interpolation.  Das  ganze  Kapitel  aber  mit 
Ausnabme  vielleicht  der  Worte  xal  vot^  X^ifftov  avtov  in  v.  15  maß 
jfidiscb  sein  and  wird  nnr  anter  dieser  Voraassetzang  verständlich. 
Das  Gleiche  ist  nun  bei  c.  12  der  Fall.  Hier  soll  nach  gemeiner 
Aaffassang  die  Oebart  Christi  geschildert  sein.  Vischer  zeigt  die 
vollständige  Unmöglichkeit  dieser  Annahme,  bei  der  die  allgemein 
feststehenden  Tbatsachen  des  Lebens  Jesn  verfltlchtigt ,  resp.  ver- 
nichtet werden.  Vielmehr  stimmen  die  in  diesem  Kapitel  ausge- 
sprochenen Anschauungen  auf  das  genaueste  mit  denen  der  j tidischen 
Apokalypsen  zusammen,  und  sogar  für  die  Thatsache,  daft  der  Mes- 
sias bald  nach  seiner  Geburt  seiner  Mutter  entführt  wird,  hat  Vischer 
unter  Berufung  auf  Schttrer  ein  Analogen  aus  dem  jerusalemischen 
Talmud  beibringen  können.  Auch  in  c.  12  aber  erweist  sich  ein 
Vers,  der  Ute,  als  eingeschoben,  da  die  darin  vertretene  Anschau* 
ung  gar  nicht  zum  Zusammenhang  paßt. 

Es  läftt  sich  also  evident  machen,  daß  diese  Kapitel  ein  rein 
jüdisches  Stück  sind,  welches  nur  von  ein  paar  geringen,  leicht  aus- 
zuscheidenden Interpolationen  durchsetzt  ist  (S.  31).  Diese  Erkennt- 
nis aber  präjudiciert  für  den  Charakter  des  ganzen  Baches.  Denn 
das  Stück  c.  11,  15—12,  17  bildet  das  Herzstück  der  Apoka- 
lypse und  ist  von  den  übrigen  Teilen  durchaus  nicht  zu  trennen^ 
wie  man  angesichts  der  Schwierigkeiten  der  Erklärung  wohl  ver- 
sucht bat;  es  ist  der  Schlüssel  für  das  Verständnis  der  Weiterent- 
wicklung der  Endgescbichte.  Sind  diese  Kapitel  jüdisch,  so 
maß  es  das  ganze  Buch  sein;  und  der  Verfasser  hält  sich 
nunmehr  für  berechtigt,  seine  Frage  zu  formulieren:  was  ist  in  die* 
sem  jüdischen  Buche  christlich?  Er  hat  sich  durch  diesen  Gang 
sdner  Untersuchung  das  Recht  zu  der  Behauptung  gesichert,  daß 
die  Richtigkeit  seiner  Hypothese  unabhängig  sei  von  dem  noch  zu 
fftbrenden  Nachweis,  daß  jede  christliche  Stelle  den  Verdacht  der 
Interpolation  erweckt 

Diesen  Nachweis  führt  der  erste  Abschnitt  des  »Lösung  des 
Problems«  überschriebenen  dritten  Kapitels.  Abgesehen  von  e.  2 
und  3,  die  ohne  Zweifel  einen  christlichen  Verfasser  voraussetzen, 
dafür  aber  auch  mit  der  eigentlichen  Apokalypse  in  gar  keinem  in- 
neren Znsammenhang  stehn,  handelt  es  sich  um  folgende  Stellen: 
1)  die  größeren  Stücke  6,  9—14.  7,  9—17.  13,  9—10.  14,  1— & 
14,  12—13.  19,  9—10.  20,  4—6  (?).  21,  5b— 8.  22,  6—21  und 
e.  1  (über  die  beiden  letzten  Stücke  vgl.  oben);  2)  die  einzelnen 
Verse:  11,  8b.  12,  11.  16,  15.  17,  14.  19,  13b.  21,  14b;  3) 
kleine  Znsätze  in  5,  6.  8.   6,  1.  16.    9,  11.    11,  15.    12,  17.   13,  & 


30  Gott.  gel.  Ads.  1887.  Nr.  1. 

14,  10.    15,  3.    16,  16.   17,  6.   18,  20.  19,  7.  11.   21,  9.  22.  23.  27. 
22,  1.  3. 

Diese  Zusätze  bilden  nur  ungefähr  den  achten  Teil  des  ganzen 
Baches.  Die  Loslösang  derselben  stört  mit  Ausnahme  einer  Stelle 
(ö,  9—14)  den  Aufbau  der  Apokalypse  nicht:  dagegen  stören  die 
eingeschobenen  Worte  in  vielen  Fällen  die  Satzverbindung,  unter- 
scheiden sich  ttbrigens  in  Bezug  auf  den  allgemeinen  Sprachoharak- 
ter  nicht  wesentlich  von  der  Grundschrift.  Diese  Erscheinung  erklärt 
Vischer,  hauptsächlich  unter  Herbeiziehung  von  9,  11.  16,  16,  so- 
wie der  Deutung  der  Zahl  666  auf  Nero,  aus  der  Thatsache,  daB 
die  Apokalypse  dem  Bearbeiter  in  hebräischer  Sprache  vorlag  und 
von  ihm  erst  übersetzt  wurde. 

Die  unter  1)  genannten  Stücke  hat  Vischer  ausführlich  bespro- 
chen und  glaubt  besonders  durch  Ausscheidung  des  Abschnittes  7, 9 — 17 
eine  crux  interpretum  beseitigt  zu  haben.  Denn  bisher  wuftten  sieh 
die  Ausleger  bei  diesem  Abschnitt  wie  bei  c.  14,  1 — 5  nur  dadurch 
zu  helfen,  daB  sie  dieselben  als  »Ruhepunkte«  bezeichneten,  auch 
wohl  von  jenem  Stück  im  7.  Kapitel  behaupteten,  daß  es  ein  »pro- 
leptischer«  Ausblick  in  die  Zukunft  sei.  Besonders  lichtvoll  hat  Vi- 
scher hier  dargelegt,  wie  man  durch  diese  Abschnitte  in  die  Enge 
getrieben  wird,  sei  es  daB  man  in  dem  Verfasser  des  ganzen  Buches 
einen  Heidenchristen,  sei  es  einen  Judenchristen  sehen  will.  Da  wir 
indessen  gerade  an  diesen  Stellen  über  das  MaB  der  Ausscheidung 
nicht  überall  Vischers  Ansicht  sind,  so  mag  die  Besprechung  dieser 
Abschnitte  vorläufig  zurückgestellt  werden. 

Das  Resultat  ist,  daß  sämtliche  Stücke,  welche  auf  einen  christ- 
lichen Verfasser  zurückgeführt  werden  müssen,  nicht  Teile  der 
ursprünglichen  Schrift  sein  können;  sie  sind  vielmehr  lediglich  zu 
dem  Zwecke  eingefügt,  den  in  der  jüdischen  Apokalypse  gegebenen 
Stoff  für  die  christliche  Gemeinde  branchbar  zu  machen  (S.  71); 
das  christliche  Geftlhl  verlangte  solche  Zusätze  an  einer  Reihe  von 
Stellen,  und  man  darf  sich  nur  wandern,  daß  der  Ueberarbeiter 
überall  so  konservativ  verfahren  ist  (vgl.  die  Beibehaltung  von  7,  Iff. 
aber  auch  c.  13.  Vischer  S.  79.  85).  Die  Anschauungen,  die  in 
den  Zusätzen  niedergelegt  sind,  zeigen  Verwandtschaft  mit  der  pau- 
linischen,  aber  auch  der  johanneischen  Betrachtungsweise;  dazu 
sind  eine  ganze  Reihe  von  Sprüchen  eingefügt,  welche  stark  an  die 
nns  in  den  Evangelien  überlieferten  Aussprüche  des  historischen  Je- 
sus anklingen  (S.  74.  75). 

Im  zweiten  Abschnitt  des  dritten  Kapitels,  zugleich  dem  letzten, 
hat  Vischer  nochmals  den  >jüdischen  Charakter  der  Grund- 
sohr if  tc   an  jedem   einzelnen  Kapitel   des  Buches    nachgewiesen, 


Yischer,  Die  Offenbarung  Jobannis.  81 

wobei  vor  Allem  die  Ansftthrangen  über  das  13.  und  14.  Kapitel  za 
beachten  sind  (hiezu  vgl.  man  auch  Mommsen  röm.  Qesch.  V,  S.  520  ff.). 
Am  Schlüsse  weist  er  nochmals  nachdrücklich  auf  den  wahrhaft  po- 
sitiyen  Erfolg  seiner  scheinbar  so  negativen  Kritik  hin:  das  rache- 
scbnaubende  Bach,  das  im  strikten  Gegensatz  zu  Christi  Lehre  den 
Feindeshaß  predigt  und  die  Qier  nach  der  Besiegung  des  Feindes 
offen  zur  Schau  trägt,  es  ist  eben  jüdisch;  die  christlichen  Zusätze 
aber  müssen  den  schönsten  Zeugnissen  urchristlicher  Frömmigkeit 
beigezählt  werden  (p.  90).  Unser  christliches  Bewußtsein  fühlt  sich 
dadurch  wahrhaft  erleichtert;  denn  wie  die  Sache  bisher  lag,  hatte 
Luther  Recht,  wenn  er  sagte:  »mein  Geist  kann  sich  in  das  Buch 
nicht  schicken,  und  ist  mir  die  Ursach  gnug,  daft  ich  sein  nicht 
hoeb  achte,  daß  Christus  dariunen  wedder  gelehret  noch  erkannt 
wird,  welches  doch  zu  tun  fur  allen  Dingen  ein  Apostel  schuldig 
ist«  (vgl.  Vischer  p.  11). 

Der  Untersuchung  ist  zur  besseren  Uebersicht  ein  Abdruck  der 
Apokalypse  beigegeben,  und  zwar  so,  daß  zunächst  c.  4,  1 — 22,  5, 
indem  dabei  die  von  Vischer  als  christlich  bezeichneten  Stellen  mit 
gesperrten  Lettern  gesetzt  sind,  ganz  abgedruckt  werden,  dann  die 
christlichen  Stücke  für  sich  einschließlich  der  ersten  drei  Kapitel 
und  des  Schlusses. 

In  seinem  Nachwort  berichtet  Prof.  Harnack  über  die  Ent- 
stehung der  Arbeit,  deren  Verfasser  noch  Studiosus  der  Theologie 
ist,  und  betont,  daß  sich  sein  Anteil  an  derselben  auf  einzelne  Winke 
beschränke.  Er  fügt  endlich  noch  eine  Tabelle  von  Fragen  hinzu, 
die  sieh  unter  Voraussetzung  der  Richtigkeit  der  Vischerschen  Hypo- 
these teilweise  ganz  neu,  teilweise  in  neuer  Fragstellnng  aufdrängen. 

Denn  solche  Fragen  bleiben  genug  übrig,  und  der  Ver/iasser 
unserer  Untersuchung  ist  weit  entfernt  davon  es  zu  läugnen.  Wir 
sehen  aber  einen  großen  Vorzug  der  Vischerschen  Arbeit  darin,  daß 
er,  von  gelegentlichen  Andeutungen  abgesehen,  die  Besprechung  sol- 
cher Fragen  gänzlich  unterlassen  hat.  Sie  würde  seine  Unter- 
sucbung  unnötig  belastet,  vielleicht  verwirrt,  und  damit  dem  Resul- 
tat, auf  das  es  vor  Allem  ankam,  nur  geschadet  haben.  Aus  dem 
letzteren  Grunde  ist  es  auch  sehr  anzuerkennen,  daß  Vischer  auf  zu 
gewagte  Untersuchungen,  wie  etwa  die  Sichtung  der  christlichen 
und  jüdischen  Stücke  in  c.  1  und  22,  sich  nicht  eingelassen  hat: 
dieselben  wären  niemals  frei  von  Einwürfen  gewesen  und  hätten 
principiellen  Gegnern  unnötiger  Weise  Handhaben  zu  kleinen  Aus- 
stellungen gegeben,  die  man  dann  der  ganzen  Hypothese  zur  Last 
gelegt  haben  würde.    Diese  weise  Beschränkung,  aber  auch  nmsich- 


82  Gott.  gel.  Ans.  1887.  Nr.  1. 

tige  Beweisftthrang  sowie  exakte  Methode   zeichnen  Vischers  Arbeit 
vor  Allem  aas. 

Die  Frage  darf  aber  aufgeworfen  werden,  ob  Vischer  den  Um- 
fang der  Ansscheidnngen,  die  yorzunehmen  sind,  richtig  bestimmt 
hat.  Die  Antwort  wird  laaten :  im  Wesentlichen  ja.  Das  schließt 
aber  kleine  Meinangsverschiedenheiten  nicht  aus.  So  glaubt  Ref.  in 
Bezug  auf  die  oben  unter  Nr.  1)  verzeichneten  größeren  Einschie- 
bungen  einige  Modifikationen  vorschlagen  zu  dürfen.  Zeigt  nämlich 
die  überwiegende  Mehrzahl  der  Zusätze,  daß  sich  der  Bearbeiter  nur 
auf  ganz  kleine  Aenderungen  beschränkte,  so  wird  man  vielleicht 
den  Kanon  aufstellen  dürfen,  daß  man  bezüglich  des  Umfangs  der 
Ausscheidungen  möglichst  vorsichtig  sein,  d.  h.  Alles  so  lange  fttr 
jüdisch  halten  muß,  als  es  sich  nicht  unbedingt  als  christlich  auf- 
drängt Diesen  Kanon  hat  ja  auch  Vischer  befolgt;  auch  gibt  er 
zu,  daß  in  den  4  Abschnitten,  um  die  es  sich  wesentlich  handelt, 
5,  9-14;  7,  9—17;  14,  1—5;  20,  4—6  Vieles  enthalten  ist,  was 
recht  wohl  jüdisch  sein  kann.  Einerseits  aber  ist  es  sein  Grund- 
satz allzu  scharfsichtige  Ausscheidungen  zu  vermeiden,  dem  er  auch 
hier  treu  bleibt,  andrerseits  die  Beobachtung,  daß  sich  der  christ- 
liche Ueberarbeiter  gelegentlich  dem  Ausdruck  seiner  Grundschrift 
accommodiert  haben  könne.  In  5,  9 — 14  zwingt  eigentlich  Nichts 
zur  Auslösung  des  ganzen  Abschnittes.  Nimmt  man  an,  daß  in  den 
vorangegangenen  Versen  von  einem  litov  (oder  von  wem  immer)  ^) 
die  Bede  war,  welcher  das  Buch  öfi^nen  und  die  Siegel  lösen  kann, 
so  hat  es  doch  nichts  Auffallendes,  daß  zu  dessen  Lobpreis  jetzt  ein 
Lied  gesungen  wird,  zumal  dieser  Gesang  am  Schlüsse  wieder  in 
einen  Preis  des  xa&ijfMvog  inl  tov  dqovov^  d.  L  Gottes,  ausläuft. 
Die  Worte  enthalten  mit  Ausnahme  der  Verse  9  und  10,  deren  In- 
halt dem  veränderten  Subjekt  des  Lobpreises  entsprechend  stark 
umgearbeitet  ist,  Nichts,  was  nicht  jüdisch  sein  könnte.  Im  Gegen- 
teil, wenn  nur  die  Worte  vtal  up  dQvim  in  Vers  13  eingeschoben  sind, 
und  das  Subjekt  in  Vers  12  geändert  ist,  so  haben  wir  genau  das- 
selbe Verfahren,  das  der  Ueberarbeiter  auch  sonst  verfolgt.  Die 
Wiederholung  der  Schilderung  in  c.  4,  8.  9.  10  durch  Vers  14  (vgl. 
Vischer  p.  57)  kann  doch  nicht  auffallen.  Vor  Allem  aber  würde 
der  Anstoß  beseitigt,  daß  sich  an  dieser  Stelle  bei  Vischers  Aus- 
scheidung der  ursprüngliche  Wortlaut  nicht  mehr  herstellen  läßt. 
Die  Zusätze  an  dieser  Stelle  würden  sich  demnach  redncieren  auf: 
Vers  9  b.  10;  was  hier  gestanden  hat,  läßt  sich  nicht  sagen;  es  ist 

1)  Nach  6,  6  ist  es  höchst  wahrscheinlich,  daS  der  Löwe  an  Stelle  des 
Lammes  in  der  Grundschrift  stand.  Vischers  daran  geknüpfte  Vermutung  p.  58 
darf  freilich  nur  als  solche  aufgefaßt  werden;  dem  Ref.  erscheint  sie  gekünstelt. 


Vischer,  Die  Offenbarung  Jobannis.  38 

aber  möglicb,    dali   eiu  JN'ebeuHatz  luit    Sn  aach  in  der  Grandscbrift 
stand;   die  Worte  td  dgrtov  w  iff^paYpkiy^v   in  Vers  12;   and  na\  vß 
äqylm   in  Vers  13;   möglicberweise   ist  ancb  Ka$y^v  in  Vers  9  a  Zu- 
satz. —   Die   Stocke  7,  9 — 17    nnd    14,  1—5  scheidet   Visober  auf 
Grand   banptsäoblicb   der  Erwägung  ans,   daß   sie  der  Grandscbrift 
widersprecbende  Anscbaunngen   entbalten.     Der  jttdisobe  Apokalyp- 
tiker   kenne   nnr   die   144000  Versiegelten   ans  Israel;   von  Heiden, 
die  als  Gleicbbereebtigte  neben  den  Israeliten    am  Gottesreicbe  teil- 
nebmen  werden,  wisse  er  Nicbts.    Indessen:   von  einer  soleben  Teil- 
nabme   ist   docb   aucb   an  diesen  Stellen   die  Bede  niobt.    Vielmebr 
ist   nnr   die  Erwartung   aasgesprocben,   daA   die  Heiden  Gott  loben 
and  preisen  werden,  und  diese  Vorsteilang  bat  docb  nicbts  Befrem- 
dendes.    Es   würde    nichts  Anderes  aasgesagt   sein,  als   was   wir 
4  Esr.  13,  33.  34  finden,   wo  auch  von  einer  multitudo  ingens 
die  Rede  ist  and   es  vorher  beißt:   et  erü  quando  audierint  omnes 
genies  vocem  eius.    Daß  aber  in  Kap.  14  der  Apokalyptiker  noeb- 
mals  aaf  seine  144000  znrttckkommt,  bat  wiederum  nicbts  AuffalteiH 
des.;  nnr  sind  freilieb  die  näheren  Bestimmungen  derselben  in  Vers  4 
und  5  entschieden  ehristlich.     Die  Stelle  4  Esr.  13,  35:    ipse  autem 
stabit  super  cacumen  montis  Sion   enthält   zudem  eine  unse- 
rem Kap.  14,  1   so  verwandte  Vorstellung,  daß  man  sich  kaum  ent- 
schließen kann,   diesen  Vers  ganz   preiszugeben,   sondern  wiederum 
nur  die  ursprtingliobe  Bezeichnung  des  Messias  als  duroh  tA  dgrtoy 
verdrängt   erklären    mischte.     Sind    diese   Bemerkungen  richtig,   so 
würde  sich  der  Umfang  der  Interpolationen  in  7,9—17  auf  folgende 
Zusätze  beschränken:   die  Worte  fUQ$ßsßliiikirovg  öwXag  isvudg^   nal 
foiPMsg  hf  tatg  xsqfüv  aitmv  in  Vers  9,  die  sich  auch  (beachte  den 
Akkusativ  lu^ß^ßl^kivw^^   während   imätsq  vorangieng)  als  unge- 
schickt eingefttgt  erweisen;   toi  «uf  dqvim  in  Vers  10;    endlich    die 
Verse  13 — 17   ganz.     Sie  hängen   mit   der  Interpolation  in  Vers  9 
zusammen   nnd   sind   entschieden  cbristlieb.     Kap.  14,  1—5  wQrde 
folgende  Aenderungen  und  Znsätze  entbalten :   ti  aqptov  in  Vers  1 ; 
ebenda   die   Worte    aifi    «al   to  tv^a  %ov    ncnqoq  a^iu,  wo  an 
Stelle  des  ersten  aimi   möglicher  Weise  tov  ^soi  (vgl.  7,  2)   ge- 
standen bat;   endlich  Vers  4  und  b.     Am  verwiekeltsten  liegen  die 
Dinge   in  dem  Absohnitto  30,  4—6.     Viseber   bat   sieh   nicht    ent- 
aebieden,   ob  diese  Veras   ganz  ausinscbeiden   seien,   oder  nur  der 
Bl5rende  Zusuts  in  Vers  4  und  der  Vers  6.    Daß  von  diesen  beiden 
letzten  Sätzen  abgesehen,  die  siober  ebristlicb  sind,  die  Vorsteilang 
in  Vers  4  wak  5  nicht  jüdisch   sein   könne^    ist   nicbt  zu  erweisen 
(vgl.  Vischer  S.  70).    Attdrerseita  sebließl  sieb  Vers  7  vortrefflich  an 
S^  an^  während  er^  tf  rekt  aq  4  angescblessen,  eine  auffallende 

a»U.  gel.  Am.  1867.  Nr.  1.  3 


Si  OMI.  gel.  Ans.  1887.  Nr.  1. 

derbolnng  enthalten  wllrde.  Ferner  spricbt  gerade  die  offenbare 
Einsehiebnng  des  cbristlichen  Satzes  in  Vers  4  entschieden  flir 
die  UraprfliigHcbkeit  des  Übrigen  Teilee:  denn  das  Subjekt  olnM; 
ist  dadnrch  von  seinem  Prädikat  ganz  getrennt  worden.  Vielleicht 
sind  aber  ancb  die  Worte  xoi  ngifta  iäö&n  avvtJq  anaznacheideo, 
weil  sich  cinvtz  an  in'  avv>v(  anschlieüt,  der  Wechsel  des  Subjekts 
in  a^nvf  nnd  ai'toi^  aber  sebr  auffällig  scheint  —  Hit  Bezng  anf 
c.  1  and  22,  6  ff.  erscheint  ea  ancb  dem  Ref.  sieht  rätlich,  Über  das 
von  Viseber  Gesagte  hinanszngebn. 

An  einer  Stelle  mBchte  Kef.  eine  cbristliobe  Interpolation  ver- 
mntes,  anf  die  Vischer  nicht  eingegangen  ist.  Eap.  20,  14  enthält 
den  erlänternden  Znsatz:  oimt  6  vtävatot  «  dsvuQÖg  iauv  ^  itftvii 
mv  ntt««Jc.  Abgesehen  davon,  daß  dieser  Satz  den  Zasammenhang 
stOrt,  ist  es  nach  Vers  14a  sicher  nicht  im  Sinn  des  Verfasaers  i^o'- 
ira«!);  nnd  lUftv^  zn  identificieren,  nnd  der  ^ävamt  o  dtvftHQi  ist 
zudem  eine  Vorstellung,  die  sonst  nnr  den  christlichen  Stflcken 
eignet 

Ist  nun  diese  Frage  nach  dem  Umfang  der  Interpolationen  eine 
verbältnismäftig  unbedeutende,  so  erhebt  sich  eine  andere,  die  sehr 
wichtig  zn  sein  scheint  Sollen  wir  in  dem  Ueberarbeiter ,  dessen 
fast  beispiellose  Unbeholfenheit  Überall  hervortritt,  auch  den  Verfas- 
ser der  herrlichen  7  Sendschreiben  in  Eap.  2  und  3  sehen?  Zwar 
die  Anschauungen,  welche  in  den  Interpolationen  vorgetragen  wer- 
den, stimmen  recht  wohl  zu  denen  des  Briefschreihers ,  aber  die  An- 
nahme erscheint  doch  fast  nngebenerlich,  daß  derselbe  Mann,  wel> 
eher  in  fließendem  und  gutem  Griechisch  seine  Briefe  schrieb,  sich 
Ungeschicklichkeiten  zn  Schulden  kommen  ließ,  wie  etwa  die  Ein- 
Bchiebnng  in  c.  20,  4.  Die  letztere  erscheint  Überhaupt  rätselhaft 
nnd  wird  durch  die  Annahme  eines  hebräiBchen  Originale  fast  noch 
unverständlicher:  denn  der  Uebersetzer  dachte  doch  jedenfalls  grie- 
chisch, nnd  es  scheint  fast  andenkbar,  daü  er  sein  eigenes  SatE- 
gefBge  in  dieser  Weise  zerbrach. 

Von  den  sachlichen  Fragen,  die  sich  bei  Bewährung  Ton  Vi- 
scbers  Hypothese  ergeben  würden,  hat  Hamack  eine  ganze  Reihe 
genannt  In  ein  ganz  nenes  Licht  muft  jedenfalls  die  Frage  nach 
dem  Verhältnis  des  Ueberarbeitera  —  denn  nar  von  diesem  kann 
fürderbin  die  Rede  sein  —  zum  4ten  Evangelism  rücken.  Ein  Ver- 
wandtscbaftsverbältnia  zn  stataieren  scheint  nahezuliegen,  and  viel- 
leicht wtlrde  sieb  die  »jobanneische  Frage«  dahin  lösen,  daB  der 
Verfasser  des  4.  Evangeliums  und  unser  Ueberarbeiter,  die  nicht 
identisch  sein  kOnnen,  zum  >jobanDeiacben  Kreise«  gehörten,  eine 
Losung,  die  ancb  Weizsäcker  a.  a.  0.  p.  503  schon  angedentet  bat. 


Jnlicher,  Die  Gleichnlsredeii  Jesu.  85 

Mit  dem  »Johaonest  igt  dann  ohne  Zweifel  der  Apostel  gemeint. 
Sollte  der  Bearbeiter  wirklieh  in  Ephesas  za  suchen  sein,  so  wür- 
den anch  die  paulinischen  Anklänge  sich  erklären.  Die  zahlreichen 
Herrnworte  können  sehr  wohl  ans  der  Tradition  des  Apostels  Jo- 
bannes stammen;  und  wie  das  4te  Evangelium  unsere  Synoptiker 
kennt,  so  würde  auch  die  Bearbeitung  der  Apokalypse  Kenntnis 
derselben  voraussetzen.  Interessant  ist  auch  die  Beobachtung,  daB 
überall,  wo  Berührungen  von  jüdischen  Stellen  unserer  Apokalypse 
mit  anderen  neutestamentlichen  vorliegen  (woraus  man  eventuell 
einen  Beweis  gegen  Vischer  entnehmen  könnte),  die  letzteren 
selbst  eine  jüdische  Grundlage  haben;  in  den  christlichen 
Stücken  lassen  sich  aber  fast  Vers  für  Vers  .Gedanken-  oder  Wort- 
parallelen mit  Stellen  aus  den  Evangelien  oder  Briefen  nachweisen. 
Die  Fragen,  welche  Harnack  unter  1)  gesammelt  hat,  werden 
sieh  schwerlich  jemals  beantworten  lassen,  dagegen  wird  die  letzte 
nach  dem  Einfluß  des  Judentums  auf  das  älteste  Chri- 
stentum sicherlich  in  immer  schärfere  Beleuchtung  treten.  Daft 
Visehers  Arbeit  einen  wichtigen  Beitrag  dazu  liefert,  uns  einen  wei- 
teren Einblick  in  die  Tragweite  dieser  Frage  zu  ermöglichen,  ist 
ein  zwar  unbeabsichtigtes,  aber  sehr  bedeutendes  Verdienst  derselben. 

Gießen.  Gustav  Krüger. 


Jäiicfaer,  A.,  Prediger  in  Rnmmelsburg.  Die  Gleichnisreden  Jesu. 
Erste  H&lfte,  allgemeiner  Teil.  Akademische  Verlagsbachhandlong  von 
J.  C.  B.  Mohr  (Paul  Siebeck),  Freiburg  i.  Br.    1886.    291  S.    gr.  8«. 

Ein  vortreffliches  Buch,  das  sich  von  Anfang  bis  zu  Ende  mit 
großem  Interesse  liest,  warm,  lebendig  und  gut  geschrieben,  wenn 
anch  einmal  von  den  »hohlen  Augen  des  Sinnbildes,  welche  nicht 
ans  den  frischen  Erzählungen  der  Synoptiker  herausschauen«  die 
Rede  ist  oder  von  den  »hochgehenden  Wellen  der  AUegorese,  welche 
recht  viel  Sand  an  das  Ufer  des  ursprünglichen  Parabelbestandes 
hingewälzt  haben «^  etwas  breit,  aber  nicht  in  unangenehmer  Weise; 
ein  Bach,  das  Licht  und  Ordnung  in  ein  Gebiet  bringt,  auf  dem 
bisher  —  man  sollte  es  kaum  glauben  —  eine  arge  Verwirrung 
herrschte.  Die  Wahrheit,  welche  der  Verfasser  den  wissenschaftli- 
chen und  den  praktischen  Theologen  —  beiden  wird  sie  sehr  zu 
Oute  kommen  —  zu  Qemüte  führt,  ist  einfach  die,  daß  die  Gleich- 
nisse Jesu  eben  Gleichnisse  sind  und  keine  Allegorien,  daß  das  We- 
sen des  Gleichnisses  von  dem  der  Allegorie  grundverschieden  ist, 
daß  man   folglich   die  Gleichnisse  nicht  allegorisieren  dürfe.    Man 


36  Gott,  gel-  Anz.  1887.  Nr.  1. 

braucht  in  der  That  nar  den  ersten  besten  Kommentar  anfzuschla- 
gen,  um  zur  Einsieht  zu  gelangen,  wie  unsicher  das  Urteil  und  wie 
unklar  die  Begriffsbestimmung  —  wird  doch  oft  dieselbe  Erzählung 
bald  Gleichnis,  bald  allegorische  Erzählung  genannt  — ,  wie  schwan- 
kend, und  oft  auch,  wie  abenteuerlich  die  Exegese. 

Die  zweite  Hälfte  des  Buches  ist  noch  nicht  erschienen ;  sie 
soll  die  Auslegung  sämtlicher  einzelner  Gleichnisreden  Jesu  enthal- 
ten; in  der  vorliegenden  ersten  Hälfte  desselben,  dem  allgemeinen 
Teile,  behandelt  der  Verfasser  die  einschlägigen  Vorfragen  und 
setzt  sich  zur  Begründung  der  eigenen  Ansicht  mit  seinen  Vorgän- 
gern auf  demselben  Gebiete  auseinander. 

Sind  die  Gleichnisreden  Jesu  acht,  und  in  wie  weit  sind  sie  es.? 
Diese  Frage  mußte  sich  dem  Verfasser  zu  allererst  aufdrängen;  sie 
wird  im  ersten  Abschnitte  des  Buches  behandelt.  Das  Urteil  ist 
nüchtern  und  gesund.  Jttlicher  verwahrt  sich  mit  aller  Energie  ge- 
gen eine  in  extreme  Zweifelsucht  verfallende  Kritik,  welche  jedes 
Gefühl  für  Möglich  und  Unmöglich  und  somit  das  wichtigste  Erfor- 
dernis der  Kritik  verloren  habe,  erkennt  aber  an  und  führt  aus, 
daß  allerdings  die  Parabeln  der  Evangelien  nicht  unbedingt  den 
von  Jesu  gesprochenen  gleichzusetzen  seien.  Was  die  Evangelien 
bieten,  ist  offenbar  nur  eine  Auswahl  derselben,  nachdem  das  Gedächt- 
nis allein  sie  lange  Zeit  aufbewahrt  und  natürlich  alteriert  hatte.  Die 
Abweichungen  der  synoptischen  Becensionen  von  einander  erstrecken 
sich  nicht  bloß  auf  den  äußeren  Verlauf,  sondern  nicht  selten  auch 
auf  die  Deutung  ;  Anlaß  und  Zusammenhang  variieren  oft ;  die  Per- 
sönlichkeit, der  Standpunkt,  die  religiös-dogmatische  Anschauung 
der  Evangelisten  haben  ihren  Einfluß  dabei  ausgeübt.  Die  relative 
Authentie  steht  nichts  desto  weniger  fest;  die  Gleichnisse  gehören 
im  Allgemeinen  zu  dem  Sichersten  und  Bestüberlieferten,  was  wir 
an  Beden  Jesu  noch  besitzen. 

Im  zweiten  Abschnitt  handelt  der  Verfasser  vom  Wesen  der 
Gleichnisreden  Jesu.  Das  synoptische  Wort  nagaßokfi  entspricht  dem 
hebräischen  Maschal;  dies  aber  ist  ein  sehr  weiter  Begriff;  Einheit 
kann  in  die  darunter  zu  subsumierende  Stoffmasse  nur  gebracht 
werden,  wenn  der  Begriff  des  Vergleichens  die  Grundlage  bildet 
Maschal  ist  eine  Redeform,  welche  durch  Nebeneinanderstellung  von 
Gleichem,  durch  Vergleichung  zu  Stande  kommt.  In  der  apokry- 
phischen  Litteratur  kommt  der  Begriff  des  Dunkeln  und  Schwierigen 
hinzu;  bei  den  Evangelisten  ist  eben  dasselbe  der  Fall  Sie  ver- 
stebn  unter  nagaßolfj  nicht  bloß  eine  vergleichende  Bede,  sondern 
eine  Bede,  die  außerdem  dunkel  ist  und  der  Deutung  bedarf,  indem 
hinter  den  Worten  ferne  und  hochliegende  Gegenstände  sich  verber- 


Jälicher,  Die  Gleichnisreden  Jesu.  37 

geo^  welche  bei  der  Vergleichung  mit  ilirer  Httile  sich  als  derselben 
äbolieb  erweisen;  Wortlaut  und  Bedeatung  werden  als  zweierlei 
auseinander  gebalten;  mit  anderen  Worten,  die  Erangelisten,  wie 
die  ibnen  selbst,  nicbt  aber  Jesu  zasuscbreibenden  Deutungen  be- 
weisen, rttcken  die  Parabel  in  das  Gebiet  der  Allegorie.  Das  ist 
aber  ein  Fehler.  Schon  durch  den  Eingang  der  berühmtesten  Gleicb- 
niase:  das  Himmelreich  ist  ähnlich  einem  KOnige,  einem  Hausherrn, 
einem  Säemann,  einem  Senfkorn  u.  s.  w.,  wird  der  Leser  aufgefordert 
zu  Tergleicheu,  nicht  zu  ersetzen;  der  Säemann  ist  und  bleibt  ein 
Sämann,  der  König  nnd  der  Hansherr  ein  König  und  ein  Hausherr, 
der  ungerechte  Haushalter  ein  ungerechter  Haushaltet,  während  in 
der  Allegorie  Ezech.  17  der  Weinstock  das  Volk  Israel  ist  und  am 
wenigsten  ein  eigentlicher  Weinstock. 

Nun  unterscheidet  Jtilicher  in  den  Evangeliela  drei  Klassen  von 
Meschalim.  Zunächst  einfache  Gleichnisse:  Verauschaulichung  eines 
Satses  durch  Nebenstellung  eines  andern  ähnlichen  Satzes.  Diese 
Art  wird  definiert  als  »diejenige  Redefigur,  in  welcher  die  Wirkung 
eines  Satzes  (Gedankens)  gesichert  werden  soll  durch  Nebenstellung 
eines  ähnlichen,  einem  anderen  Gebiete  angehörigeb,  seiner  Wirkung 
gewissen  Satzes«,  während  die  Allegorie  diejenige  Redefignr  ist,  »in 
welcher  eine  zusammenhängende  Reihe  von  Begriffen  (ein  Satz  oder 
Satzkomplex)  dargestellt  wird  vermittelst  einer  zusammenhängenden 
Reihe  von  ähnlieben  Begriffen  aus  einem  anderen  Gebiet«.  Die  Vor* 
stnfe  der  Allegorie  ist  die  Metapher;  die  Voi'stufe  d^s  Gleichnisses 
die  Vergleichung. 

Eine  zweite  Klasse  bilden  die  Gleichnisse  in  erzählender  Form, 
welche  sich  von  dem  reinen  Gleichnis  nicht  mehr  unterscheiden  als 
die  allegorische  Erzählung  von  dem  allegorischen  Satz:  das  ist  die 
»Fabel«,  welche  definiert  wird  als  »diejenige  Redefignr,  in  welcher 
die  Wirkung  eines  Satzes  (Gedankens)  gesichert  werden  soll  durch 
Nebenstellung  einer  auf  anderem  Gebiet  ablaufenden,  ihrer  Wirkung 
gewissen,  et-dichteten  Geschichte,  deren  Gedankengerippe  dem  jenes 
Satzes  ähnlich  ist«.  Für  diese  neutestamentlichen  »Fabeln«  schlägt 
Verfasser,  zur  Bezeichnung  der  eigenartigen  Verhältnisse,  auf  die 
sie  sieh,  im  Vergleich  mit  den  meisten  anderwärtigen  Fabeln,  be- 
xiebetii  den  Namen  »Parabel«  im  engeren  Sinn  vor:  eine  nicht  eben 
gilekliehe  Wahl,  wohl  zur  Schonung  eines,  wenn  nicht  gerechtfer- 
tigten, 80  doch  gewiß  sehr  verbreiteten  Geftthls.  Es  wird  keine  Ge- 
legenheit versäumt,  dem  Leser  recht  klar  zu  machen,  daft  bei  der 
Parabel  von  Deutung  keine  Rede  sein  kann.  Sie  deutet,  und  kann 
oiebt  gedeitet  werden. 

Bine   dritte  Klasse  tadlich   bilden  solche  Erzählungen,   welche 


38  Gott.  gel.  Aoz.  1887.  Nr.  I. 

nicht  aaf  anderem  Gebiete  ablaufen,  sondern  anf  demselben,  anf 
dem  der  zn  richemde  Satz  liegt;  die  Geschichte  ist  ein  Beispiel  für 
den  zn  behauptenden  Satz.  Verfasser  nennt  den  Ilaschal  dieser  Gat- 
tung »BeispielerzählungCy  das  ist  eine  Erzählung,  welche  »einen  ali- 
gemeinen Satz  religiös-sittlichen  Charakters  in  dem  Kleide  eines 
Einzelfalles  €  vorführt.  Sie  verträgt  keine  Deutung ,  sie  ist  so  klar 
und  durchsichtig  wie  möglich,  sie  wttnscht  sich  nur  praktische  An- 
wendung. 

Daft  Jesus  in  diesen  naqaßoXai  keine  absonderliche  Lehr-  oder 
Bedeweise  f&r  sich  ersonnen  hat,  geht  aus  dem  Gesagten  hervor. 
Welchen  Zweck  verfolgte  er  aber  damit,  daft  er  die  Gleichnisrede 
so  häufig  anwandte?  Dies  der  dritte  vom  Verfasser  behandelte 
Punkt.  Nach  Markus  und  Lukas,  nicht  minder  aber  auch  nach 
Matthäus,  ist  der  Zweck  der  Parabelrede  Jesu  dem  Volk  das  Wort 
in  einer  Form  zu  vermitteln,  welche  die  Wahrheit  verheimlicht,  da- 
mit die  Verstoekung  des  Volks  durch  diese  Art  der  Verkündigung 
vollendet  werde.  Diese  Auffassung  Jttlichers  ist  exegetisch  unum- 
stöftlich;  ebenso  gewift  hat  er  darin  Becht,  daft  die  synoptische 
Theorie  anf  dem  fraglichen  Punkte  schlechterdings  aufgegeben  wer- 
den muft.  »Wer  eingesehen  hat,  daft  in  der  synoptischen  Auffassung 
vom  Wesen  der  Parabel  ein  Fehler  steckt,  und  wo  er  steckt,  der 
sieht  sofort  ein,  daft  aus  diesem  Fehler  sich  ein  weiterer,  bezüglich 
des  Zweckes  dieser  Beden,  ergeben  mufttec.  Bei  dem  Gebrauch  der 
verhfillten  Bede  muft  Jesus  einen  besonderen  Zweck  im  Auge  gehabt 
haben.  Die  Thatsache  des  nicht  gewonnenen,  in  seiner  Verstoekung 
beharrenden  Volkes  und  die  Propheten  gaben  die  Antwort.  Nein! 
wenn  Jesus  die  Parabel  anwendet,  so  geschieht  es  ganz  einfach,  um 
durch  diese  Form  die  Deutlichkeit  und  die  Ueberzeugungskraft  sei* 
ner  Gedanken  zu  erhöhen. 

Der  folgende  Abschnitt  handelt  von  dem  Wert  der  Gleichnis- 
reden Jesu ;  sie  sind  vielleicht  der  unersetzlichste  Teil  seiner  Lehre, 
der,  wo  wir  ihm  am  tiefsten  ins  Herz  hinein  sehen.  Nicht  genug 
kann  sich  der  Biograph  Jesu  —  und  nicht  minder  der  einfache 
Ghristenmensch,  der  sich  in  der  heiligen  Schrift  Erbauung  sucht  — 
in  die  Gleichnisse  vertiefen  und  hineinleben.  Der  alte  Satz,  der 
länger  als  tausend  Jahre  in  der  Kirche  gegolten :  iheologia  parabdica 
non  est  argumentativa,  ist  nur  ein  Bekenntnis  der  Bodenlosigkeit  der 
damaligen  Parabelexegese. 

Es  ist  interessant  zu  sehen,  wie  die  litterärische  Würdigung  der 
evangelischen  Gleichnisse  —  deren  Buhm  durch  die  Vergleichung 
mit  den  bnddistischen  und  haggadistischen  nicht  im  mindesten  beein- 
trächtigt wird  — '  durch   die  unrichtige  Auffassung  ihres  Wesens  be- 


Jülicher,  Die  Gleichnisreden  Jesu.  89 

einfiuAt  worden  ist;  die  meisten  Ansstellangen  fallen  mit  der  Ans- 
legangsmetbode,  auf  deren  Grand  sie  gemacht  worden  sind,  und  auch 
die  Gleichnisse  vom  ungerechten  Haashalter,  vom  ungerechten  Rich- 
ter, welche  Renan  za  dem  Aassprach  verleitet  haben,  daß  eine  angst« 
liebe  Moralität  in  den  Parabeln  Jesu  ihre  Rechnung  nicht  finde,  ver- 
lieren das  Anstößige,  das  ihnen  anzuhaften  scheint,  sobald  man  sich 
jeder  Allegorese  enthält  und  nur  den  Grundgedanken  herauszieht,  um 
ibn  sofort  für  das  religiöse  Leben  zu  verwenden.  Bei  dem  Satze, 
daft,  »wenn  manche  Fehler  in  Folge  unrichtiger  Auslegung  den  Bil- 
dern Christi  zur  Last  gelegt  worden,  die  wirklich  gerechtfertigten 
Vorwürfe  sich  durch  die  Kritik  erledigenc,  möchten  wir  den  Wunsch 
ansdrttcken,  daß  in  diesem  Stücke  nicht  des  Guten  zu  viel  geschehe. 

Wie  ist  es  nun  den  Parabeln  Jesu  ergangen,  sowohl  hinsichtlich 
der  Aufzeichnung  als  auch  der  Auslegung?  Dies  der  Gegenstand  der 
zwei  letzten  Abschnitte,  in  deren  ersterem  zum  Neuen ,  wie  auch 
sonst  hin  und  wieder  in  diesem  Buch,  manches  Alte  schon  berührte 
hinzukommt.  Bei  der  Aufzeichnung  der  Gleichnisse  läßt  sich  eine 
aasmalende  Richtung,  besonders  bei  Markus  und  Lukas,  wahrnehmen, 
und  eine  ausdeutende,  besonders  bei  Matthäus.  In  vielen  Fällen  wird 
es  kaum  möglich  sein  Ursprüngliches  und  Hinzugekommenes  za  un- 
terscheiden, zumal  wenn  nur  ein  Bericht  vorliegt  II  ne  faut  pas 
non  plus  vonloir  k  tout  prix  chercher  la  petite  bgte.  Sollte  wirklich 
Lakas  das  inl  td  ogfj  des  Matthäus  in  iv  t^  iQijfAfp  verändert  haben, 
»damit  noch  krasser  heraustrete,  wie  alles  Interesse  des  Hirten  durch 
die  Sorge  um  das  eine  verlorene  Schäflein  absorbiert  wird  und  ftlr 
die  anderen  selbst  die  Wüste  ihm  gut  genug  ist«?  Doch  der  Ver- 
fasser selbst  sagt:  »Hier  gilt  es  Vorsicht  üben  und  oft  nicht  ent- 
scheiden, um  nicht  anrichtig  za  entscheiden«. 

Bei  Johannes  fehlt  das  Gleichnis  fast  gänzlich;  seine  naQot(Ala$ 
sind  Allegorien;  sind  die  Gleichnisse  Geheimnisworte,  Rätselreden, 
80  gebührt  ihnen  auch  kein  Platz  in  dem  Evangelium,  welches  die 
vollkommene  Erkenntnis  zu  lehren  beabsichtigte.  Der  Begriff  der 
Gnosis  ist  auch  bei  dieser  Frage  im  Johannesevangelium  entschei- 
dend. Mit  Lukas  ist  die  Periode  der  Parabelaufzeichnung  geschlos- 
sen, es  folgt  die  Zeit  der  Parabelerklärung.  Erstaunliches  ist  auf 
diesem  Gebiete  geleistet  worden  ;  nur  der  einfache  Wortsinn  kam 
nicht  zu  seinem  Rechte.  Dem  Ghrysostomus  unter  den  Alten,  Calvin 
unter  den  Reformatoren,  van  Köstfeld  und  B.  Weiß  unter  den  Neuern 
verdankt  die  evangelische  Parabel  das  Beste,  während  heute  noch 
die  große  Mehrzahl  der  Exegeten  gewillt  ist  zu  deuten,  so  viel  sich 
bequem  deuten  läßt,  eine  kleine  Scbaar  sogar  die  Alles  deutende 
Bichtang  vertritt.     Dagegen  will  der  Verfasser  reagieren^  and  von 


40  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  1. 

den  drei  ttberbaapt  nur  mSglichen  Erklftrangsarten  der  Oleiohniwe, 
daß  man  Alles  allegoriBiere,  daß  man  die  HaapteacheD  allegorieierey 
daß  man  nichts  allegorisiere,  der  letzteren  zn  ihrem  guten  und  aas- 
schlieftlicben  Kecbte  verhelfen.  Za  diesem  Unternehmen  können  wir 
ihm  nur  G4ttck  wünschen.  Wir  zweifeln  nicht  daran,  daß  er  das 
Richtige  getroffen  habe,  und  wissen  ihm  Dank  ftlr  seine  durch- 
schlagende BeweisfQhrnng. 

Colmar.  L.  Horst 

John  Q  w  y  n  n ,  on  a  Syriac  MS.  belonging  to  the  Collection  of  Archbishop  Ussher. 
Dublin  1886.  (Sonderabzug  ans  den  Transactions  of  the  Royal  Irish  Aca- 
demy, Band  27). 

Ich  erlaube  mir  als  bekannt  anzunehmen,  daß  die  alte  syrische 
Uebersetzung  des  neuen  Testaments  den  Abschnitt  von  der  Ehe- 
brecherin (lohannes  7,53—8,11)  wie  die  vier  kleineren  katholischen 
Briefe  und  die  Apokalypse  nicht  enthält.  Von  diesen  Stücken  ist 
eine  syrische  Version  erst  durch  LdeDien  und  EPococke  veröffent- 
licht worden.  Herr  John  Qwynn  erweist  jetzt  in  einer  völlig  Über- 
zeugenden Auseinandersetzung, 

daS  1.  Erzbischof  Ussher  den  in  Aleppo  angesiedelten  Kaufmann  Thomas  Davies 

beauftragt  hat,  was  in  Widmanstadts  Drucke  des  syrischen  neuen  Testaments 

gegen  unsere  Recepta  fehle,  zu  beschaffen : 
dai  2.  jener  Davies  eine  Abschrift  der  gewünschten  Stücke  in  dem  Kloster  Qanno- 

btn  (so  schreibe:  Baedeker  Palaestina  *  408)  hat  anfertigen  heiSen: 
daß  8.  diese  Abschrift  in  der  Bibliothek  von  Trinity-College  zu  Dublin  noch  heute 

vorhanden  ist: 
daA  4.  LdeDieu  die  Perikope  von  der  Ehebrecherin  aus  eben  diesem  Manuscripte 

Usshers,  daft  Walton  sie  aus  LdeDieu's  Drucke  herausgegeben  hat. 

Herr  Gwynn,  der  musterhaft  genau  orientiert  ist,  würde  sich  ein  sehr 
großes  Verdienst  erwerben,  wenn  er  Alles  dem  alten  Syrer  Abgehende 
in  einem  eigenen  Bande  nach  den  Handschriften  zusammenfaBte.  Ich 
will  ihn  um  der  Sache  willen  auf  die  Aeaßerung  des  groften  Sealiger 
aufmerksam  machen,  die  in  meiner  Ausgabe  der  »vier  Evangelien, 
arabische  xvj'  schon  1864  mitgeteilt  worden  war:  Herr  Qwynn  wird 
dort  erfahren,  daA  Scaliger  dieselben  Wege  wie  Ussher  gewandelt 
ist.  Es  wird  sich  für  Herrn  Gwynn  vielleicht  lohnen,  auch  an  die 
königliche  Bibliothek  zn  Berlin  die  Bitte  um  Mittheilung  des  in  ihr 
etwa  Vorhandenen  zu  richten,  und  das  Buch  von  loh.  Wichelhaos 
de  novi  testamenti  versione  syriaca  antiqua,  Halle  1850,  so  geschmack- 
los und  nngelehrt  es  ist,  einzusehen:  der  unermüdlich  gefällige  Igoazio 
Guidi  würde  vern^ittdich  in  der  Bibliothek  der  Propaganda  und  in 
der  Vaticana  nach  Abschriften  forschen.  Paul  de  Lagarde. 

Fftr  di«  Badakliim  rcnuitvortlach :  Prof.  Dr.  B$ektd,  DIrikior  dn  Mtk  g«l.  Abi., 
Amman  der  KönigUeha»  QMttUaolwft  der  Wiaaenickalten. 
f$t1<V  der  DitUrich'Bckm  fmic^ -Bmhkamdhmg. 
IkMck  dn  mtamitVuikm  Dni9,-M¥ekdrm€tmm  (#V-.  W,  Kamkutr), 


Wivar 


41 


Göttingische 


gelehrte  Anzeigen 


anter  der  Aufsicht 


derKönigl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Nr.  2.  15.  Januar  1887. 


Preis  des  Jahrganges:  tM  24  (mit  den  »Nachrichten  d.  k.  G.  d.  Wies.«:  «4127). 
Preis  der  einzelnen  Nummer  nach  Anzahl  der  Bogen:  der  Bogen  60  ^ 

iBluklt:   Mach,   Beitrftge  sur  Analyse  dar  Empflndangen.  Yon  läppt.   —    Bernatsik,   Beeilt- 

•predmng  und  materielle   Beehtakraft.     Von   Oaupp,  —    Die  Oberlansiia  und  Hennann  Knothe.    Von 

JUtMit.  —    Perkins,   Ghiberti   ei  son  tfcole.     Yen  Bnm.  —    Laistner,  Der  Arcke^u  der 
Nibelnagen.    Von  MarUn. 

=  Elgeamiohtiger  Abdruck  von  Artikeln  der  Gott.  gel.  Anzeigen  verboten.  ^ 


Mach,  E.,  Beiträge  zur  Analyse  der  Empfindungen.     Jena  G.  Fi- 
scher 1886.    VI  u.  169  S.    S». 

Nicht  ein  Philosoph  von  Fach,  sondern  ein  Naturforscher  ist 
es,  der  in  der  bezeichneten  Schrift  philosophische  und  speciell  psy- 
chologische Einzelprobleme  aufstellt  und  zu  lösen  versucht.  Der- 
gleichen haben  wir  in  letzter  Zeit  öfter  erlebt.  Und  wir  Philosophen 
haben  im  Grunde  kein  Recht  uns  darüber  zu  beklagen.  Lange  ge- 
nug hat  die  Philosophie  tlber  der  Lösung  der  Welträtsel  und  dem 
Streit  um  »Principienc  die  Inangriffnahme  der  konkreten  Einzel- 
probleme, aus  deren  Lösung  sich  die  Principien  oft  genug  erst  er- 
geben konnten/ verabsäumt,  ja  mit  einer  Art  von  Verachtung  abge- 
wiesen. Und  auch  heute  noch  ist  dies  kein  völlig  überwundener 
Standpunkt.  Da  darf  sich  denn  die  Philosophie  nicht  wundern,  wenn 
diese  konkreten  Probleme,  wenn  also  der  vielleicht  nicht  idealere  aber 
dafür  gewissere  Frucht  versprechende  Teil  ihrer  Arbeit  von  andern 
libemommen  wird.  Und  noch  mehr.  Die  Philosophie  hat  der  Natur- 
wissenschaft für  die  Usurpation  sogar  Dank  zu  sagen.  Was  für  die 
Inangriffnahme  der  Probleme  vor  allem  erforderlich  ist,  nämlich 
Sinn  dafür,  Respekt  vor  der  einzelnen  Tbatsache  und  dem  eng  um- 
grenzten Gebiet  von  Erscheinungen,  und  Verständnis  für  ihre  Be- 
deutung, das  pflegt  der  Naturforscher  in  höherem  Grade  als  der 
principiengQwandte  Philosoph  mitzubringen.  Darin  kann  und  muft 
die  Philosophie  vom  Naturforscher  lernen. 

OHI.  g«l.  Aas.  1887.  Hr.  8.  4 


; 


42  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  2. 

Aber  wäre  es,  wenn  dem  so  ist,  nicht  besser,  jene  Probleme  ein- 
fach dem  Naturforscher  za  überlassen?  —  Ganz  gewiß  nicht.  Das 
Gebiet  des  seelischen  Lebens,  das  dürfen  wir  nicht  vergessen,  ist 
nun  einmal  ein  eigenartiges,  die  Konstatierung  und  Analyse  psychi- 
scher Thatsachen,  die  Feststellung  psychischer  Beziehungen  eine  be- 
sondere Art  geistiger  Arbeit,  die  darum  auch  eine  besondere  Art  der 
Uebang  und  Schulung  voraussetzt.  Jene  Eigenartigkeit  ist  der  Na- 
turforscher geneigt  zu  übersehen.  Ihm  erscheint  leicht  einfach,  was 
nicht  die  Schwierigkeiten  bietet,  die  Er  zu  beachten  und  zu  lösen 
geübt  ist.  Er  überträgt  am  Ende  Begriffe,  die  der  Eigenart  seines 
Gebietes  angepaßt  sind  auf  das  fremde,  ohne  sich  Rechenschaft  zu 
geben,  ob  sie  auch  da  am  Platze  sind.  —  Natürlich  rede  ich  hier 
nicht  von  den  Beidlebigen,  die  auf  dem  einen  und  dem  andern  Ge- 
biete zu  Hause  sind. 

Aus  den  bezeichneten  Umständen  ergibt  sich  ein  eigenartiges 
Gepräge  mancher  Arbeiten  aus  dem  Lager  der  philosophierenden 
Naturforscher.  Fast  überall  begegnen  wir  wertvollen  Thatsachen, 
einer  konkreten  Fassung  der  Probleme.  Achten  wir  aber  auf  die 
Lösungsversuche,  so  muß  gelegentlich  unser  Urteil  dahin  lauten,  daß 
so  einfach,  wie  der  Naturforscher  meint,  und  in  der  Richtung,  die 
er  einschlägt,  die  Lösung  sicher  nicht  gefunden  werden  kann. 

Zunächst  jener  Vorzug  ist  nun  auch  dem  Machschen  Buche 
eigen.  Die  Bedeutung  des  Vorzugs  erhöht  sich  noch  ,  wenn  man 
beachtet,  daß  es  dem  Verf  gelegentlich  nur  darauf  ankommt, 
eine  Thatsacbe  zu  konstatieren  oder  eine  Frage  zu  stellen.  Er 
bringt,  was  ihm  eben  als  Beitrag  zur  Analyse  der  Empfindungen 
geeignet  scheint.  Und  als  solcher  kann  ja  auch  die  bloße  That- 
sacbe oder  Frage  dienen.  Damit  ist  schon  gesagt,  daß  das  Ganze 
in  einigermaßen  freien  Bahnen  sich  bewegen  muß.  Ganz  erklärt 
sich  die  Freiheit  der  Anordnung,  wenn  man  erfährt,  daß  die  Schrift 
aus  einer  Zusammenfassung  und  Ergänzung  früherer,  gelegentlich 
angestellter  Arbeiten  und  zerstreuter  Publikationen  herorgegangen 
ist,  und  daß  die  Zusammenfassung  zunächst  zur  Selbstbelehrnng 
unternommen  wurde.  Die  Schrift  bekommt  noch  ein  eigenartiges, 
frisch  persönliches  Gepräge  durch  die  öftere  Beziehung  auf  eigene 
Erlebnisse. 

Die  p^'eciellen  Probleme,  um  die  es  sich  handelt,  gehören  dem 
Gebiet  des  Raumes,  der  Zeit,  und  der  Tonempfindung  an.  Den  Un- 
tCiSuchungen  gehn  voran  und  folgen  Erörterungen  allgemein  er- 
kenntnistheoretischer Natur.     Fassen   wir  zunächst  diese  ins  Auge. 

Ich  sagte  oben,  das  psychische  Gebiet  sei  ein  vom  physischen 
pecifisch    verschiedenes.     Dies  schließt   nicht    ans,    daß   dieselben 


Mach,  Beiträge  zur  Analyse  der  Empfindungen.  43 

ElemeDte,  die  Farbeo,  die  Töne,  der  Raum,  die  Bewegungen  etc. 
beiden  Gebieten  zugleich  angehören.  Der  Unterschied  liegt  nar 
darin,  daß  sie  auf  dem  einen  Gebiet  in  einen  anderen  Zusammen- 
hang hineingestellt  erscheinen,  als  auf  dem  andern.  Insofern  hat 
der  Verfasser  Recht,  wenn  er  die  Kluft  zwischen  Psychischem  und 
Physischem  läugnet. 

Alle  Erkenntnis  überhaupt,  so  erfahren  wir  weiter,  hat  zum  Ma- 
terial wenige  Gattungen  von  »Elementen«.  Außer  jenen  Inhalten 
sinnlicher  Empfindung  gehören  dazu  die  Inhalte  unseres  Bewußtseins, 
die  wir  speciell  dem  Ich  zuzurechnen  pflegen.  Aber  diese  Elemente 
sind  nur  alssolche,  nicht  als  Empfindungsinhalte,  nicht  als 
im  Bewußtsein  yorhandene  das  ursprüngliche  Material  des  Er- 
kennens  oder  das  unmittelbar  Gegebene.  Alle  Erkenntnis  geht  auf 
Yerkntlpfung  der  »Elemente«.  Aus  der  Verknüpfung  entsteht  dann 
erst  die  Welt  der  Körper  einerseits,  die  Welt  des  Ich  und  damit  die 
Empfindung,  d.  h.  die  Zugehörigkeit  zu  der  Welt  des  Ich,  andrer- 
seits. Uebrigens  gibt  es  nach  Mach  gar  keine  bestimmte  für  alle 
Fälle  zureichende  Abgrenzung  des  Ich  und  der  Körperwelt 

Auch  hinsichtlich  dieser,  von  mir  freier  reproducierten  Anschan- 
UDgen  bin  ich  mit  dem  Verf.  einverstanden.  Ich  selbst  habe  bei 
verschiedenen  Gelegenheiten')  angedeutet,  daß  mir  das  Ansgehn 
von  der  Empfindung,  vom  Bewußtsein,  überhaupt  vom  Subjekt,  als 
ein  Grundirrtum  der  Erkenntnislehre  gelte.  Mag  das  »Süß«,  das 
ich  empfinde,  noch  so  sehr  »Inhalt«  meiner  Empfindung  sein,  fttr 
mich  wird  es  dazu  doch  erst  auf  Grund  eines  Erkenntnisaktes,  einer 
denkenden  Bearbeitung  des  Gegebenen,  und  zwar  eben  der  Bear- 
beitung, durch  die  auch  andrerseits  das  Bewußtsein  der  Zugehörig- 
keit dieses  »Süß«  zur  objektiven  Welt  entsteht.  Durch  unser  Erken- 
nen differenziert  sich  überhaupt  die  Menge  des  einfach  G  e  g  e  b  e- 
nen  in  die  beiden  Welten  des  Ich  und  des  Nicht^Ich. 

Wie  nun  vollzieht  sich  für  Mach  die  Erkenntnisarbeit  ?  —  Auch 
darauf  bekommen  wir  eine,  dem  Psychologen  vielfach  fremdartig 
klingende,  aber  doch  der  Hauptsache  nach  zutreffende  Antwort. 
Das  Erkennen  ist  allgemein  gesagt  ein  »Anpassungsproceß  der  Ge- 
danken an  die  sinnlichen  Thatsachen«.  Angenommen  wir  haben 
zwei  Dinge  A  und  B  mit  einander  verbunden  gesehen,  und  diese 
Verbindung  in  unsern  Gedanken  nachgebildet,  so  suchen  wir  ge- 
wohnheitsmäßig die  gedankliche  Verbindung  auch  unter  etwas  ver- 
änderten Umständen  festzuhalten.  Ich  denke  B  hinzu  überall  wo  A 
auftritt     Darin    besteht   das    »Erkenntnisprincip    der    Continuität«. 

1)   Vgl.    meine    Besprechungen   der    erkenntnistheoretischen   Arbeiten  von 
T.  Schubert-Soldern  und  Yolkelt  in  Gott.  gel.  Anz.  1886  Nr.  S  u.  Nr.  9. 


I 

4* 


44  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  2. 

Begegnet  ans  dann  einmal  in  der  Erfahrung  eine  Verbindung,  die 
jener  gedanklichen  Verbindung  widerspricht,  so  empfinden  wir  das 
als  Störung,  und  die  Störung  bleibt,  bis  sich  eine  andere  Gewohnheit 
herausgebildet  hat,  die  auch  dieser  wahrgenommenen  Verbindung 
gerecht  wird.  Darin  besteht  das  »Princip  der  zureichenden  Be- 
stimmtheit oder  zureichenden  Differenzierung«.  In  der  Wechselwir- 
kung der  beiden  Principien,  in  der  beständigen  Umwandlung  von 
Gedanken  zum  Zweck  der  Anpassung  an  neue  Thatsachen,  eben 
damit  zugleich  im  Uebergang  von  solchen  Gedanken,  die  nur  einem 
engeren  Thatsachenkreis  sich  anpassen,  zu  solchen,  die  umfassendere 
Kraft  haben,  steigert  und  vollendet  sich  die  Erkenntnis. 

Diese  Angaben  wird  man  schwerlich  genügend  finden.  Vor 
allem  sind  die  Begriffe  der  Gewohnheit  und  der  Störung  der  Ge- 
wohnheit allzu  vage.  Nicht  um  Gewohnheit  handelt  es  sich,  sondern 
um  Notwendigkeit,  uud  nicht  um  Störung  der  Gewohnheit,  die  man 
um  des  damit  verbundenen  »intellektuellen  Unbehagens«  willen  lie- 
ber vermeidet,  sondern  um  Widerspruch,  den  zu  vollziehen  unmög- 
lich ist.  Dennoch  wird  man  aus  den  Erkenntnisprincipien  der  Kon- 
stanz und  der  zureichenden  Bestimmtheit  leicht  das  wirkliche  Grund- 
gesetz des  Denkens  herausfinden.  —  Offenbar  ist  fttr  den  Verfasser 
das  Denken  und  Erkenneo  nichts  anderes  als  die  Verbindung  von 
Vorstellungen  und  die  fortgehende  Ergänzung  und  Umwandlung  der 
vollzogenen  Verbindungen,  wie  sie  sich  auf  Grund  des  Associations- 
gesetzes  und  im  Kampf  der  Associationen  unter  einander  und  mit 
den  neu  hinzukommenden  Wahrnehmungen  in  uns  vollzieht.  Insbe- 
sondere kennt  er  keine  »objektive«  Kausalität,  d.  h.  kein  kausales 
Band,  das  von  der  Verknüpfung  unserer  Wahrnehmungen,  Vorstel- 
lungen, Gedanken  verschieden,  zwischen  den  wahrgenommenen  und 
vorgestellten  Objekten  selbst  vorhanden  gedacht  würde  oder  gedacht 
werden  müßte.  In  allem  dem  hat  der  Verf.,  wie  ich  denke,  völlig 
recht.  Auch  ich  meine,  daß  aus  dem  associativen  Vorstellungsmecha- 
nismus —  ich  bitte  allzu  scharfe  Kritiker  für  diesen  Ausdruck  um 
Entschuldigung  —  alle  Denkgesetze  und  »Kategorien«,  soweit  sie 
einen  klar  gedachten  Inhalt  haben,  ohne  weitere  Zuthat  sich  er- 
geben. Und  ich  meine  dies  nicht  nur,  sondern  ich  habe  auch  den 
Versuch  gemacht  sie  daraus  abzuleiten^). 

Dagegen  muß  ich  dem  Verfasser  widersprechen,  wenn  er  als 
das  letzte  Ziel  der  »Anpassung«  die  Nachbildung  der  zusammenge- 
hörigen »sinnlichen  Thatsachen«  bezeichnet,  dagegen  alle  Rückfüh- 
rung dieser  Thatsachen,  also  der  sogenannten  Erscheinungen  auf  ein 

1)  Vgl.  meine  »Orondthatsachen  des  Seelenlebens«.  Bonn  1888.   Absohn.  IV, 


Mach,  Beiträge  zur  Analyse  der  Empfindangen.  45 

jenseits  derselben  Hegendes  »An  sich«  zurückweist.  Jenen  Prin- 
cipien  der  Eonstanz  nnd  zureichenden  Bestimmtheit^  oder  wie  ich 
kfirzer  sagen  wUrde,  der  Gesetzmäßigkeit  unseres  Denkens ,  wird 
erst  genügt  durch  den  durchgängigen  gesetzmäßigen  Zusammenhang 
der  »sinnlichen  Thatsachen«.  Einen  solchen  finden  wir  aber  in  den 
sinnlichen  Thatsachen  und  ihrem  wahrnehmbaren  Zusammenhang 
nicht.  So  sind  wir  gezwungen,  die  Wahrnehmung  durch  etwas,  das 
jenseits  liegt,  durch  eine  Welt  an  sich,  die  der  Erscheinnngswelt  zu 
Grnnde  liegt,  zu  ergänzen. 

Von  den  erkenntnistheoretischen  Erörterungen  leitet  Mach  zu 
den  Einzeluntersuchungen  über,  indem  er  aus  jenen  einen  »For- 
Bchnngsgrundsatz«  ableitet,  der  beansprucht  fttr  diese  zu  gelten.  Es 
ist  der  Grundsatz  des  durchgängigen  Parallelismus  des  Psychischen 
und  Physischen.  So  nun  wie  der  Grundsatz  ursprünglich  gemeint 
ist»  nämlich  als  Grundsatz  fttr  die  Analyse  der  Empfindungen, 
wird  man  nicht  umhin  können,  ihm  zuzustimmen.  Empfindungen 
werden  zugehörige  Nervenprocesse  und  anders  gearteten  Empfindun- 
düngen  anders  geartete  Nervenprocesse  jederzeit  zu  Grunde  gelegt 
werden  müssen.  Unglücklicherweise  aber  hat  es  Mach  in  seiner 
ganzen  Schrift  nirgends  mit  Empfindungen  im  engeren  Sinne  zu 
thun.  Schon  die  wahrgenommenen  räumlichen  und  zeitlichen  Be- 
stimmungen sind  nicht  Empfindungen  wie  Blau  und  Bot,  sondern 
Formen,  angeschaute  Beziehungen  derselben  zu  einander.  Für  sie 
werden  wir  darum  naturgemäß  nicht,  wie  Mach  will,  eigene  Nerven- 
processe, sondern  vielmehr  Eigentümlichkeiten  der  Nervenprocesse, 
oder  der  daraus  hervorgehenden  Empfindungen,  nähere  Bestimmun- 
gen, Beziehungen  derselben  zu  einander  verantwortlich  machen  mtts* 
sen.  Noch  weniger  ist  das  Gefühl  der  Harmonie  oder  Disharmonie, 
oder  die  eigentümliche  Art,  wie  mir  zu  Mute  wird,  wenn  zwei  Töne 
zusammenklingen,  als  besondere  Empfindung  zu  bezeichnen.  Auch 
hier  handelt  es  sich  um  Beziehungen,  nicht  angeschaute,  aber  in 
unserm  Gefühl  sich  kundgebende  Beziehungen  zwischen  Empfindun- 
gen, denen  wiederum  eine  Beziehung  oder  ein  Verhältnis  der  Nerven- 
processe zu  einander  zu  Grunde  liegen  wird.  Endlich  darf  am  aller- 
wenigsten mit  Empfindung  verwechselt  werden,  unsere  bloße  Schätzung 
oder  Beurteilung  räumlicher  oder  zeitlicher  Verhältnisse.  Jede  solche 
Schätzung  oder  Beurteilung  muß  freilich  im  letzten  Grunde  auf 
Empfindungen  und  damit  auf  bestimmten  Nervenprocessen  beruhen ; 
sie  ist  aber  darum  doch  nicht  selbst  wiederum  eine  besondere 
Empfindung,  für  die  es  Sinn  hätte  einen  besonderen  Nervenproceß 
aufzusuchen.  Indem  Mach  alle  diese  Unterschiede  übersieht^  irrt  er 
von  vornherein  in  Bezug  auf  die  Richtung,   in  der  die  Lösung  der 


46  G5tt.  gel.  Adz.  1887.  Nr.  2. 

Probleme  gesacht  werden  muß.  Er  maß  darum  auch  die  Mittel  der 
LOsang  verfehlen.  Er  sacht  nach  Nervenprocessen  nnd  organischen 
Einrichtungen,  wo  es  sich  gar  nicht  um  solche  handelt,  sondern  nm 
Auffindung  von  Beziehangen  zwischen  Empfindungen  und  Aufzeigung 
der  Bedingungen,  unter  denen  ein  Urteil  zu  Stande  kommt,  oder 
der  mannigfachen  Erfahrungen,  auf  die  es  sich  grUndet. 

Von  der  bezeichneten  Verwechselung  gibt  gleich  die  erste  Mach- 
sche  Untersuchung  ein  deutliches  Beispiel.  Die  Gleichheit  räumli- 
cher Gebilde  wird,  wie  man  weiß,  nicht  unter  allen  Umständen 
gleich  leicht  erkannt.  Zwei  gleiche  gerade  Linien  etwa,  nm  das 
denkbar  einfachste  Beispiel  zu  wählen,  werden  leichter  als  solche 
erkannt,  wenn  sie  einander  parallel,  als  wenn  sie  verschieden  ge- 
richtet sind.  Wie  kommt  dies?  —  Damit  ist  ein  Problem  gestellt, 
das  so  gut  wie  jedes  andere  seine  Lösung  fordert. 

Mach  nun  meint  die  Lösung  zu  geben,  indem  er  die  Gleichheit 
der  parallelen  und  die  der  verschieden  gerichteten  Geraden  als  zwei 
verschiedene  Arten  der  Gleichheit  faßt,  jene  als  optische  oder  an- 
mittelbar empfundene,  diese  als  geometrische  durch  Abmessung  er- 
kannte. Und  er  hält  jene  empfundene  Gleichheit  für  ohne  weiteres 
gegeben  durch  die  Gleichheit  der  Augenbewegungen,  die  zum  Durch- 
laufen der  gleich  gerichteten  Linien  erforderlich  sind.  Natürlich 
geht  dies  nicht  an.  Jedes  Bewußtsein  der  Gleichheit,  auch  das  Be- 
wufltheitsein  der  Gleichheit  von  Augenbewegungen,  beruht  auf  Ver- 
gleichung,  und  jede  Vergleichung  ist  Uebertragung,  Abmessung, 
Versuch  ohne  Rest  zu  verschmelzen.  Der  Unterschied  besteht  nur 
darin,  daß  die  Vergleichung  bald  leichter  und  sicherer,  bald  weni- 
ger leicht  und  darum  weniger  sicher  ist.  Daß  es  sich  auch  hier 
lediglich  darum  handelt,  daß  die  Gleichheit  der  Richtungen  keine 
besondere  Art  der  Gleichheit  der  Linien,  sondern  nur  eine  besonders 
sichere  Vergleichung  derselben  bedingt,  konnte  Mach  leicht  daraus 
ersehen,  daß  ja  auch  die  Ungleichheit  der  Linien  bei  gleicher 
Richtung  leichter  erkannt  wird. 

Des  Verf.  »Weitere  Untersuchung  der  Raumempfindungen  €  be- 
ginnt mit  der  Versicherung:  »Daß  die  Raumempfindung  mit  motori- 
schen Processen  zusammenhängt,  wird  seit  langer  Zeit  nicht  mehr 
bestrittene.  Er  steigert  dann  seine  Behauptung  bis  zu  dem  Satze: 
»Der  Wille  Blickbewegungen  auszuführen ,  oder  die  Innervation 
ist  die  Raumempfindung  selbst«.  Natürlich  kann  dieser  letztere  Satz 
nicht  wörtlich  gemeint  sein.  Die  Innervation  ist  eben  die  Inner- 
vation und  weiter  nichts.  Inhalte  der  Raumwahrnehmung  sind  eckig 
oder  rund,  einen  Zoll  oder  einen  Meter  lang ;  dagegen  kann  von 
der  Innervation    nichts    dergleichen   gesagt   werden.     Innervationen 


Mach ,  Beiträge  zur  Analyse  der  Empfindungen.  47 

oder  genauer  iDDeryatioDsempfiodangen  setzen  sich  aber  auch  nicht 
in  Baumempfindungen  um.  Daran  hindert  schon  der  Umstand,  da0 
Innervationsempfindungen  nur  durch  ihre  Stärke  sich  unterscheideui 
also  ein  Kontinuum  von  einer  Dimension  bilden,  während  der 
Ranm  nnserer  Wahrnehmung  sich  zweier,  nach  Mach  sogar  dreier 
Dimensionen  erfreut.  Nur  die  Bewegungsempfindungen,  in  denen  zu 
den  Innervationen  verschiedenartige  Muskel-  und  Hantempfindungen 
hinzutreten,  könnten  dem  Baum  zu  Grunde  gelegt  werden.  Aber 
auch  dies  geht,  soweit  es  sich  um  den  Baum  der  Empfindung  oder 
besser  der  Wahrnehmung  handelt,  nicht  an.  Ich  bestreite  jene  »seit 
längerer  Zeit  nicht  mehr  bestrittenec  Annahme  durchaus. 

Aber  freilich  der  Baum,  mit  dem  es  die  »weitere  Untersuchungc 
zn  thun  hat,  ist  in  Wirklichkeit  gar  nicht  der  Baum  unserer  Wahr- 
nehmung, sondern  der  gedachte  Baum,  zu  dem  sich  jener  durch  er- 
fahrungsgemäße Interpretation  seiner  einzelnen  Bestimmungen  er- 
gänzt und  erweitert.  Und  dieser  gedachte  Baum  hängt  allerdings 
mit  Bewegungsempfindungen  zusammen ;  insofern  nämlich  Bewegungs- 
empfindungen als  Zeichen  oder  Auflbrderung  zum  Vollzug  dieser  oder 
jener  bestimmten  Interpretation  dienen.  Damit  ist  schon  gesagt, 
daß  jeder  Versuch  für  das  über  die  unmittelbare  Wahrnehmung 
hinausgehende  Bewußtsein  von  räumlichen  Beziehungen  und  räum- 
lichen Veränderungen  Bewegungen  verantwortlich  zu  machen,  nur 
insoweit  zu  einem  sicheren  Ziele  führen  kann,  als  zugleich  nachge- 
wiesen wird,  auf  Grund  welcher  Erfahrungen  diese  Bewegungen  zu 
Zeichen  für  jenes  Bewußtsein  werden  konnten ,  bzw.  werden  muß- 
ten. Da  Mach  jenes  Baumbewußtsein  als  Baumempfindung  faßt,  so 
unterläßt  er  natürlich  diesen  Hinweis.  Kein  Wunder,  wenn  dann 
gelegentlich  bei  genauerer  Prüfung  die  von  ihm  aufgezeigten  Be- 
wegungsempfindungen oder  Innervationen  zur  Vollbringung  der  ihnen 
zugedachten  Leistung  untauglich,  die  nicht  aufgezeigten,  sondern 
nur  postulierten  —  denn  auch  solche  fehlen  nicht  —  gänzlich  nich- 
tig erscheinen. 

Darum  halte  ich  doch  gerade  den  Inhalt  dieser  »weiteren  Unter- 
Buchung«  für  keineswegs  wertlos.  Mach  stellt  doch  die  Probleme 
und  gibt,  wenn  auch  zu  sichtendes,  Material  an  die  Hand.  Vor  allem 
sind  die  Versuche,  die  er  mitteilt,  geeignet,  den  Sachverhalt  in  hel- 
les Licht  zu  stellen. 

Den  Hauptgegenstand  der  Untersuchung  bilden  die  Bedingun- 
gen, unter  denen  wir  eine  wahrgenommene  Veränderung  der  räum- 
lichen Beziehungen  zwischen  uns  und  der  Außenwelt  bald  als  eine 
Bewegung  unseres  K()rpers  bald  als  eine  Bewegung  der  Objekte 
interpretieren,  oder  wie  Mach  sagt,  empfinden.    Voran  geht  die  Mit- 


48  Oött.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  2. 

teilüDg  eines  Falles  von  falscher  Lokalisatioo ,  den  ich  selbst  oft 
beobachtet  habe,  hier  aber  zum  ersten  Male  veröffentlicht  finde. 
Wenn  ich  von  einem  in  dankler  Umgebung  befindlichen  leachtenden 
Punkte  meinen  Blick  schnell  wegwende,  so  scheint  der  Punkt  einen 
schnell  verschwindenden  Lichtstreifen  nach  entgegengesetzter  Rich- 
tung zu  entsenden.  Dies  ist  das  Phänomen,  um  das  es  sich  han- 
delt. —  Ich  muß  mich  hier  begnügen  zu  bemerken,  dafi  jene  Inter- 
pretationen, auch  die  auffallendsten  unter  ihnen,  relativ  leicht  ver- 
ständlich werden,  wenn  man  sie  eben  als  erfahrungsgemäße  Inter- 
pretationen faßt,  und  daß  mir  dies  Phänomen  in  der  Hauptsache  auf 
eine  ürteilstäuschung  zurilckzugehn  scheint,  die  ich  in  meinen  »Psy- 
chologischen Studien  c  S.  26  gelegentlich  mitgeteilt  und  andeutungs- 
weise zu  erklären  versucht  habe.  Ich  beabsichtige  übrigens  über  die 
von  Mach  in  diesem  Abschnitt  behandelten  oder  angeregten  Pro- 
bleme an  anderer  Stelle  mich  eingehender  auszulassen. 

Derselbe  Gegensatz  zwischen  Mach  und  mir  stellt  sich  heraus 
bei  Betrachtung  der  Abhandlung  über  »Beziehungen  der  Gesichts- 
empfindungen zu  einander  und  zu  andern  psychischen  Processen«. 
Es  ist  darin  besonders  von  gewissen  Bedingungen  des  Tiefenbe- 
wußtseins, oder  wie  Mach  auch  hier  sagt,  der  Tiefenempfindung  die 
Rede.  Mach  sucht  die  Bedingungen  dieser  vermeintlichen  Empfin- 
dung in  verschiedenartigen  organischen  Einrichtungen  und  »Ge- 
wohnheiten des  Auges«,  von  denen  ich  teilweise  nicht  sehe,  worin 
sie  bestehn  oder  wie  sie  ihre  Aufgabe  erfüllen  sollten,  die  in  jedem 
Falle  in  diesem  Zusammenhang  nur  insoweit  Wert  haben,  als  sie  zu 
erfahrungsgemäßen  Anknüpfungspunkten  für  die  Interp;*etation  die- 
nen können,  durch  die  alles,  was  Tiefe,  Entfernung  vom  Auge,  Re- 
lief Form  des  Sehfeldes  heißt,  für  unser  Bewußtsein  erst  zu  Stande 
kommt 

Auf  die  Untersuchungen  über  die  räumlichen  Anschauungen 
folgt  eine  solche  über  die  »Empfindung«  der  Zeit.  Als  Zeit  empfun- 
den wird  nach  Mach  die  Arbeit  der  Aufmerksamkeit.  »Bei  ange- 
strengter Aufmerksamkeit  wird  uns  die  Zeit  lang,  bei  leichter  Be- 
schäftigung kurz«.  Zunächst  ist  diese  letztere  Behauptung  nicht 
ohne  Einschränkung  richtig.  Es  kann  geradezu  das  Umgekehrte 
stattfinden.  Wenn  ich  mit  großer  Aufmerksamkeit  eine  spannende 
Erzählung  lese,  so  verfliegt  mir  die  Zeit.  Wenn  ich  bald  dies,  bald 
jenes  in  Angriff  nehme,  aber  nichts  meine  Aufmerksamkeit  dauernd 
in  Anspruch  nimmt,  so  schleichen  die  Stunden.  Außerdem  verwech- 
selt hier  Mach  wiederum  Wahrnehmung  oder  »Empfindung«  und 
Schätzung.  Die  Zeit,  auf  die  ich  zurückblicke,  schätze  ich  nach 
dem,  was  ich   darin  gethan   oder  erlebt  habe.     Dagegen  macht  es 


Masch,  Beitr&ge  zar  Analyse  der  Empfindangen.  49 

keinen  Unterecbied  ilir  die  Zeitwahrnebmang,  ob  ich  den  Pendel* 
schlag  der  Uhr,  der  jetzt  vor  meinen  Obren  erklingt ,  mit  Anfmerk- 
samkeit  verfolge  oder  nnr  znfällig  höre.  Die  Zeitintervalle  werden 
dnrch  die  Aufmerksamkeit  nicht  größer  noch  kleiner. 

Wie  aber  verhält  es  sich  mit  der  Wahrnehmung  des  Nach- 
einander? Die  Empfindungen,  so  hören  wir,  welche  an  eine  größere 
Arbeit  der  Aufmerksamkeit  gekndpft  sind,  erscheinen  uns  als  die 
späteren.  Was  beißt  dies?  Erscheint  uns  eine  Empfindung  später, 
wenn  im  Momente  ihres  Auftretens  die  Kraft  der  Aufmerksamkeit 
schon  in  höherem  Maße  erschöpft  ist,  oder  wenn  sie  selbst  mit 
größerer  Aufmerksamkeit  vollzogen  wird?  Das  letztere  ist  unmög- 
lich. Die  ersten  Worte  einer  Rede  frappieren  mich,  reißen  mich  aus 
apathischer  Stimmung  auf,  dann  merke  ich,  daß  nichts  dahinter  ist, 
und  falle  wieder  in  meine  Apathie  zurtlck.  Darum  erscheinen  mir 
doch  die  Worte  als  die  späteren,  die  thatsäcblich  die  späteren  sind. 
Aber  auch  das  erstere  ist  unmöglich.  Um  gleich  das  Aeußerste  zu 
sagen:  Warum  erscheint  mir,  was  ich  morgens  bei  frischer  Kraft 
erlebe,  nicht  früher,  als  was  ich  am  Abend  zuvor  halb  schläfrig  er- 
lebt habe?  Darauf  kann  Mach  nicht  antworten,  das  am  Abend  Er* 
lebte  sei  eben  vorüber,  wenn  der  Morgen  mit  seinen  Erlebnissen  be- 
ginne. Denn  das  hieße  die  Theorie  aufgeben  und  das  tbatsäcbliche 
Nacheinander  der  Empfindungen  zum  Orund  der  Wahrnehmung  des 
Nacheinander  machen. 

In  der  That  muß  man  das  wirkliche  Nacheinander  der  Empfin* 
düngen  dem  Bewußtsein  des  Nacheinander  irgendwie  zu  Grunde 
legen.  Außerdem  muß  man  bedenken,  was  schon  oben  erwähnt 
wurde,  daß  die  Zeitempfindung  eben  nicht  eine  besondere  Empfin- 
dung, sondern  die  Wahrnehmung  einer  Beziehung  zwischen  Empfin- 
dungen ist.  Achtet  man  auf  beides,  so  weiß  ich  nicht,  welcher  an- 
dere psychologische  Grund  für  das  Bewußtsein  des  Nacheinander 
sich  sollte  ergeben  können,  als  der  von  mir  in  den  »Grundthatsacben 
des  Seelenlebens«  S.  588  f.  bezeichnete. 

Die  Seihe  der  Machschen  Untersuchungen  schließt  ein  Abschnitt 
über  die  Tonempfindungen.  Das  Hauptinteresse  beansprucht  die  Er- 
örterung über  die  »Empfindung«,  genauer  über  das  Gefühl,  das  die 
verschiedenen  Intervalle  als  solche,  also  abgesehen  von  ihrer  Ton- 
höhe charakterisiei*t.  Mach  weist  zunächst  die  Ilelmholtzsche  An- 
schauung ab,  und  wie  ich  denke  mit  Recht.  Nach  Helmholtz  sind 
die  verschiedenen  Intervalle  charakterisiert  durch  zusammenfallende 
Teiltöne.  So  fällt  bei  der  Terz  der  fünfte  Teilton  des  tieferen 
Klanges  mit  dem  vierten  des  höheren  zusammen.  Aber  dieser  flinfte 
und   vierte  Teilton   ist  bei  jeder  Lage  des  Intervalles   ein  anderer. 


60  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  2. 

Das  Zasammenfallen  der  TeiltOne  kann  also  nicht  die  Terz  als 
solche,  abgesehen  von  der  Lage  charakterisieren.  Das  Charakteri- 
stische maß  etwas  Gemeinsames,  bei  jeder  Terz  identisch  Wieder- 
kehrendes sein.    Worin  kann  dies  bestehen? 

Daranf  gewinnt  Mach  die  Antwort,  indem  er  folgende  dreifache 
Annahme  macht. 

Erstens.  Jedes  Endorgan  des  OehOrnerven  ist  zwar  zanächst 
and  TorzDgsweise  fähig  darch  Töne  von  einer  bestimmten  Schwin- 
gungszahl in  Schwingongeo  versetzt  zu  werden.  Zugleich  reagiert 
es  aber  auch  in  minderem  Grade  auf  solche  Töne,  deren  Schwin- 
gungszahlen das  Doppelte,  Dreifache  u.  s.  w.  oder  die  Hälfte  den 
dritten  Teil  u.  s.  w.  jener  Schwingnngszahl  betragen.  Heißt  also 
allgemein  JS,  das  Endorgan,  das  durch  einen  Ton  von  j9  Schwin- 
gungen zunächst  und  vorzugsweise  erregt  wird,  oder  kürzer  gesagt 
ist  R^  das  auf  den  Ton  von  p  Schwingungen  abgestimmte  oder  die- 
sem Ton  zugehörige  Endorgan,  so  erregt  derselbe  Ton  in  minderem 
Grade  auch  die  Endorgane  JS^,  R^  etc.  und  die  Organe  R^ ,  R^  etc. 

Zweitens.  Wird  ein  Endorgan  R^  durch  Schwingungsanzahlen 
2pi  3p  etc.  oder  ^p,  ^p  etc.  erregt,  so  entsteht  nicht  lediglich  die 
Empfindung,  die  entstehn  würde,  wenn  es  von  den  ihm  zugehörigen 
j> Schwingungen  getroffen  würde;  vielmehr  gesellt  sich  dazu  jedes- 
mal eine  eigene  Zusatzempfindung  Z„  Z^  etc.  bzw.  Z^ ,  Z^  etc.    Die 

Zusatzempfindungen  sind,  wie  schon  die  Indices  sagen,  andere,  je- 
nachdem  die  Zahl  der  Schwingungen,  die  das  Organ  treffen,  das 
Doppelte,  Dreifache  etc.  bzw.  die  Hälfte,  den  dritten  Teil  etc.  der 
Schwingungen  beträgt,  auf  die  das  Organ  abgestimmt  ist 

Drittens.  Die  Zusatzempfindungen  sind  an  sich  sehr  schwach, 
treten  aber  bei  Kombination  verschiedener  Töne  durch  Kontrast 
hervor. 

Nun  verhalten  sich  die  Schwingungsanzahlen  eines  Grundtones 
und  seiner  Terz  wie  4  und  5.  Macht  also  der  Grundton  4p,  so 
macht  die  Terz  6p  Schwingungen.  Diese  treffen  zunächst  die  Or- 
gane ü«,  und  ü,,.  Beide  Töne  erregen  aber  zugleich  das  Organ 
R^.  Dabei  erzeugen  sie  bzw.  die  Zusatzempfindungen  Z^  und  Z^. 
Ebenso  erregen  beide  das  Organ  R^^  und  erzeugen  auf  Grund  davon 
die  Zusatzempfindungen  ^  und  Z^.    Die  Zusatzempfindungen  Z^,  Z^ 

und  Zj,  Zj  treten,    wenn    die  beiden  Töne  4p   und  5  p   zusammen- 

treffen,  deutlicher  hervor  und   machen   das  Eigentümliche  der  Terz- 
verbindnng  im  Unterschied  von  jeder  andern  Tonverbindung  aus. 
Bei   dieser  Erklärung   wird  man   zunächst  bedenklich  finden. 


Mach,  Beiträge  zur  Analyse  der  Empfindungen.  51 

daß  sie  auf  einer  Verkettang  von  nicht  weniger  als  drei  eigens  za 
dem  Zweck  aasgedachten  Hypothesen  beruht.  Aber  darauf  lege  ich 
hier  kein  Gewicht.  Die  Erkläruug  ist  auch  abgesehen  davon  nur 
eine  scheinbare.  Sie  beruht,  wenn  mich  nicht  alles  täuscht,  auf 
einem  merkwürdigen  Versehen. 

Fassen  wir  die  Meinung  schärfer  ins  Auge.  Von  vornherein 
sind  die  beiden  Möglichkeiten:  Entweder  die  Eigentümlichkeit  der 
Zusatzempfindnng  Z^,  (A;  =  2,  3  etc.  oder  =  V»)  V»  etc.)  ist  lediglich 
dadurch  bedingt,  daß  irgend  ein  Endorgan  von  Schwingungen  ge- 
troffen wird,  deren  Anzahl  das  X;-fache  beträgt  von  der  dem  End- 
organ eigentlich  zugehörigen  Schwingungsanzahl;  oder  aber  jene 
Eigentümlichkeit  ist  auch  davon  abhängig,  welches  Endorgan  es 
ist,  das  von  dieser  i-fachen  Schwingungsanzahl  getroffen  wird.  Von 
diesen  beiden  Möglichkeiten  ist  die  zweite  für  Mach  durchaus  aus- 
geschlossen.    Die  Zusatzempfindungen  Z^,  Z^,  Z^^  Z^  bilden  ihm  ja 

das  Charakteristische  der  Terzverbindung,  abgesehen  von  der  höhe- 
ren oder  tieferen  Lage  der  Terz,  also  auch  abgesehen  davon,  welche 
Endorgane  getroffen  werden.  Ist  dem  aber  so*,  wie  kommt  Mach 
dazu,  beim  Znsammenklang  der  Töne  von  4j!)  und  bp  Schwingun- 
gen nur  die  Z  namhaft  zu  machen,  die  entstehn,  wenn  i2,  und  R^^^ 
von  4^)  und  bp  erregt  werden?  Warum  nicht  ebenso  diejenigen, 
die  durch  Erregung  der  JB  ^  ,  R^  etc.,  derJRj    ,  R^    etc.,  der  R^  R^^ 


■^p 


etc.,  endlich  der  Bj^^,  R^^^  etc.  erzeugt  werden,  bzw.  seiner  Theorie 
nach  erzeugt  werden  müssen? 

Um  es  kurz  zu  sagen:  die  Terzverbindung  ergibt  nach  Mach 
notwendig  die  Zusatzempfindungen  Z„  Z^  etc.  und  andrerseits  Z^,  Zi 

T      T 

etc.,  d.  h.  sie  ergibt  alle  möglichen  Zusatzempfindungen  überhaupt; 
sie  thut  dies  nicht  mehr  und  nicht  minder  als  die  Quarte,  Quinte, 
d.  h.  als  jedes  beliebige  Intervall.  Der  Terzverbindung  eigentüm- 
lich  ist   nur  der  Umstand,   daß  die  Z^,  Z^  und  ebenso  die  Z^^  Z ^ 

durch  Reizung  eines  und  desselben  Endorganes  nämlich  jene  durch 
Reizung  von  JB, ,  diese  durch  Reizung  von  R^^^  entstehn.  Da  es  itlr 
die  Beschaffenheit  der  Z  gleichgiltig  ist,  welches  Endorgan  sie  er- 
zengt;  so  gewinnt  die  Terzverbindung  aus  den  Z  überhaupt  nichts 
Eigentümliches. 

Nur  wo  es  sich  um  den  Zusammenklang  der  Töne  handelt,  wäre 
noch  ein  Ausweg  denkbar.  Die  Z^,  Z,,  könnte  man  sagen,  und 
ebenso   die   Z,,  Z^   werden  andere,  bekommen  dadurch,  dafi  sie 

T       T 

in  demselben  Nerven   gleichzeitig   entstehn,   das  Charakteristi-« 


62  Gott,  gel  Anz.  1887.  Nr.  2. 

sehe,  das  sie  an  sieb  nicht  haben.  Oder  genauer  gesprochen,  in- 
dem die  auf  die  Erzengang  von  Z^  und  Z^y  andrerseits  von  Z^  und  Z^ 

gerichteten  Reize  gleichzeitig  dasselbe  Endorgau  treffen ,  erzeugen 
sie  nicht  die  Z«,  Z^  bzw.  die  Z^^  Z^^   sondern  statt  derselben  ir- 

gend  welche  neuen  Empfindungen  E^y  bzw.  E^^  deren  Eigenart  auf 
dem  Zusammentreffen  eben  jener  Reize  beruht.  Offenbar  wären  aber 
unter  dieser  Voraussetzung  die  Z  überhaupt  flberflttssig;  und  die 
ganze  Hachsche  Theorie  bekäme  ein  anderes  Gesicht.  Nicht  die 
Zy  sondern  die  neuen  Empfindungen  E^  und  E^  wären  die  Kenn- 
zeichen  der  Terzverbindung.  Und  nicht  die  drei  Hypothesen  Machs, 
sondern  nur  die  erste  derselben  wäre  erforderlich.  Außerdem  wOrde 
der  Ausweg  eben  nur  für  den  Zusammenklang,  nicht  zugleich  für 
die  Tonfolge  Geltung  haben. 

Was  will  aber  überhaupt  das  ganze  Suchen  nach  einer  für  die 
Terz  charakteristischen  objektiven  Empfindung?  Ich  empfinde 
objektiv,  d.  h.  ich  höre  nichts  als  den  Grundton  und  die  Terz, 
wenn  sie  beide  zusammenklingen  oder  sich  folgen.  Ich  fühle  mich 
nur  zugleich  von  dem  Zusammenklang  oder  der  Folge  in  eigen- 
tümlicher Weise  angemutet  Solche  subjektiven  Gefühle  nun  pfle- 
gen in  der  Art,  wie  Empfindungen  sich  zu  einander  verbalten,  ihren 
Grund  zu  haben.  Darnach  wäre  das  Nächstliegende,  auch  das 
eigentümliche  Gefühl,  das  die  Terz  erweckt,  auf  ein  besonderes 
zwischen  beiden  bestehendes  Verhältnis  zurückzuführen. 

Auf  die  Frage  nun,  worin  dies  Verhältnis  bestehe,  antwortet  die 
alte  Theorie,  indem  sie  auf  das  Verhältnis  der  Schwingungszahlen 
verweist.  Vier  Schwingungen  des  Grundtones  koincidieren  mit  fttn- 
fen  der  Terz.  Diese  Antwort  scheint  auch  mir  noch  immer  die  ein- 
zig mögliche.  Ich  habe  aber  in  meinen  »Psychologischen  Studien c 
im  vierten  Aufsatze  ausführlich  gezeigt,  was  dies  Schwingungsver- 
hältnis für  das  Verhalten  der  Tonempfindungen  zu  einander  zu  be- 
deuten haben  könne.  Meine  Theorie  ist  angegriffen  worden;  auch 
Mach  erklärt  sich  dagegen,  weil  nicht  anzunehmen  sei,  daß  der 
Rhythmus  oder  die  Periodicität  der  Schwingungen  im  Nerven  be- 
stehn  bleibe.  Ich  gestehe  aber  die  Unmöglichkeit  noch  nicht  einzu- 
sehen. Zudem  kommt  es  lediglich  darauf  an,  daß  der  Rhythmus 
irgendwie  impercipierenden  Organ  wiederkehrt.  Und  diese 
Annahme  ist  nicht  ohne  thatsächlichen  Halt  Jedenfalls  kann  man 
nicht  umhin,  sie  zu  machen,  solange  es  nicht  gelingt  gewisse  auf 
die  Tonverbindungen  bezügliche  Fragen  auf  anderem  Wege  zu  be- 
antworten. 

Man  sieht,  der  Gegensatz  zwischen  Mach  und  mir  ist  hinsieht- 


Bernatxik,  Rechtsprechoog  und  materielle  Rechtskraft.  53 

lieh  der  ToDempfindung  wie  in  Bezug  auf  die  Raum-  und  Zeitan- 
sehaauDg  so  durchgreifend  wie  möglich.  Trotzdem  bleibe  ich  dabei 
den  »Beiträgen  zur  Analyse  der  Empfindungenc  ihren  Wert  zuzu- 
erkennen. Die  Schrift  hat  mich  nicht  nur  wegen  der  kühnen  Ori- 
ginalität der  Gedanken  überall  interessiert,  sondern  ich  habe  auch 
daraus  mehr  positive  Anregung  geschöpft  als  aus  manchem  umfas- 
senden psychologischen  Werke. 

Bonn  a.  Rh.  Th.  Lipps. 


Bernatzik,  Edmund,  Dr.,  Rechtsprechung  und  materielle  Rechts- 
kraft.   Yerwaltungsrechtliche  Studien.    Wien  1886.  Manz.   Xu.  826 S.  8\ 

I. 

Der  Verf.  betrachtet  es  als  eine  Aufgabe  der  Wissenschaft  des 
Verwaltungsrechts,  nicht  bloß  das  System  der  verwaltungsrechtlichen 
Institutionen  nach  den  realen  Grundlagen  der  Verwaltungsthätigkeit 
gegliedert  darzustellen,  wie  dies  in  den  neuerdings  sich  häufenden 
Systemen  des  Verwaltnngsrechts  geschieht,  sondern  vor  Allem  im 
Wege  juristischer  Dogmatik  die  im  Staat  vorhandenen  Rechtsnormen 
theoretisch  zu  Rechtssätzen  und  Rechtsinstituten  zu  entwickeln,  die 
einzelnen  zu  ihnen  hinführenden  Erscheinungen  vorsichtig  zu  gene- 
ralisieren und  die  so  gewonnenen  allgemeinen  Regeln  auf  die  realen 
Grundlagen  des  öffentlichen  Rechts  anzuwenden.  Auf  diesem  Wege 
der  Konstruktion  soll  durch  monographische  Bearbeitung  einzelner 
Partieen  des  allgemeinen  Teils  des  Verwaltungsrechts  unter  Verfol- 
gung der  gewonnenen  Rechtssätze  bis  in  die  feinsten  Adern  des 
öffentlichen  Rechtslebens  die  Grundlage  für  ein  den  Anforderungen 
des  letztern  entsprechendes  System  des  Verwaltungsrechts  erst  ge- 
schaffen werden.  In  dem  "vorliegenden  Buch  unterwirft  nun  B.  die 
Lehre  von  der  materiellen  Rechtskraft  im  Verwaltnngsrecht  einer 
höchst  scharfsinnigen  Untersuchung,  deren  Ergebnisse  als  Grund- 
lage dienen  für  eine  kritische  Beleuchtung  der  Rechtsprechung  der 
österreichischen  Verwaltungsbehörden  und  Verwaltnngsgerichte  be- 
zttglich  der  hier  einschlagenden  Fragen.  Scheinbar  als  selbständige 
Abhandlung,  in  der  That  aber  nur  zur  Feststellung  der  theoreti- 
schen Prämissen  des  Hauptthemas  werden  in  der  ersten  Studie  die 
verschiedenen  Thätigkeitsformen  der  Verwaltung  erörtert  und  wird 
insbesondere  versucht,  den  Begriff  der  Rechtsprechung  im  Gegen- 
sätze zur  Verwaltung  i.  e.  S.  festzustellen.  Dabei  wird  zwar  jede 
Erörterung  de  lege  ferenda   abgelehnt  und   nur  das  geltende  öster- 


54  Gott.  gel.  Änz.  1887.  Nr.  2. 

reichiscbe   Recht   als   Gegenstand  der  Darstellung  bezeichnet.     Da 
jedoch  die  Quellen  des  österreichischen   Verwaltangsrechts  —  insbe- 
sondere  das  Gesetz    vom  22.  Oktober  1875   Über    die  Verwaltungs- 
gerichte   und   das  Gesetz    vom  18.  April  1869   über   das  Verfahren 
Tor  dem  Reichsgericht  —  für   die  Feststellung   der  allgemeinen  Be- 
griffe wie  für  die  Lehre  von   der  Rechtskraft   insbesondere  nur  ge- 
ringe Ausbeute  gewähren,  so  ist  der  Verf.  überall  genötigt,  auf  die 
Natar   der  Sache   im   Sinne  einer  Analyse  der  allgemeinen   Grund- 
begriffe des  Rechts  zurttckzagehn  und  bewegt   sich    deshalb  bei  der 
Grundlegung    der    Begriffe   ganz   auf   dem    Boden   der  allgemeinen 
Rechtstheorie.    Eben  deshalb  verdient  das  Werk,  wenn  es  sich  auch 
in  den  Specialfragen   vorherrschend    mit    der  Konstruktion    der  Er- 
gebnisse der  österreichischen  Verwaltungsrechtsprechung  beschäftigt, 
auch   aaßerhalb   Oesterreichs   alle  Beachtung.     Die   Litteratur    des 
deutschen    Verwaltungsrechts    ist    sorgfältig   berücksichtigt ,    wobei 
übrigens  die  Kritik,    welche  der  Verf.  an   den  Begriffsbestimmungen 
der  neueren  Bearbeiter  mit  vieler  Schärfe  und  Folgerichtigkeit  aus- 
übt, wesentlich  bestimmt   sein  dürfte  durch  den  von  der  österreichi- 
schen Gesetzgebung  beeinflußten  Ausgangspunkt  des  Verf. 

Nach  B.  besteht  das  unterscheidende  Merkmal  zwischen  Recht- 
sprechung und  Verwaltung  nicht  in  der  judicierenden  Behörde  oder 
deren  Benennung,  sondern  nur  in  der  Form,  in  welcher  sich  die 
amtliche  Thätigkeit  vollzieht.  Eine  Unterscheidung  nach  den  ver- 
schiedenen Zwecken  dieser  Thätigkeit  wird  verworfen;  denn  Recht- 
sprechung wie  Verwaltung  ist  Erfüllung  der  Rechtsordnung,  sollte 
hiebei  auch  dem  Ermessen  noch  so  viel  Spielraum  gelassen  sein. 
Maßgebend  können  hiernach  nur  die  Mittel  sein,  durch  welche  die 
Imperative  der  Rechtsordnung  verwirklicht  werden.  Dies  geschieht 
teils  durch  abstrakte  Normierung  der  Thatbestände  in  Verwaltungs- 
verordnungen, teils  durch  Regelung  eines  konkreten  Thatbestandes, 
indem  die  Rechtsordnung  entweder  die  logische  Thätigkeit  ihrer 
Organe  oder  aber  deren  Willensthätigkeit  in  Anspruch  nimmt;  im 
ersteren  Falle  liegt  eine  logische  Funktion  (ein  Urteil  i.  e.  S.) 
vor,  welcher  der  Zweckbegriff  fremd  ist;  im  zweiten  soll  ein  vor- 
bedachter Zweck  erreicht  werden  (Verfügung).  Beschränkt  sieb 
das  Urteil  auf  die  Feststellung  faktischer  Vorgänge,  so  ist  es  Be- 
nrkundung,  wendet  es  aber  eine  abstrakte  Rechtsnorm  auf  den 
konkreten  Thatbestand  an,  so  ist  es  Entscheidung  und  wenn 
diese  Anwendung  von  einem  Gericht  ausgeht,  Urteil  i.  e.  S.  Die 
Verfügungen  sind  entweder  konstitutive  (Recht  schaffende,  bzw. 
Recht  vernichtende)  oder,  wenn  nämlich  der  verlangte  äußere  Erfolg 
erst  der  Thätigkeit  eines  Dritten  bedarf:  Befehle  (Gebote,  Verbote  etc.). 


Bernatzik,  Bechtsprechimg  and  materielle  Rechtskraft.  55 

Auf  diese  Differenz   der  Formen  administrativer  Tiiätigkeit  gründet 
sich  der  Begriff  der  Rechtsprechang. 

Abgelehnt  wird  insbesondere  die  Unterscheidung  zwischen  freiem 
Ermessen  und  Rechtsprechung,  da  auch  die  Rechtsprechung^  selbst 
diejenige  der  Gerichte,  innerhalb  des  Kreises  der  Rechtsanwendung 
freies  Ermessen  nicht  ausschließt,  andererseits  jede  Verwaltungs- 
fnnktion  auch  beim  freiesten  Ermessen  durch  Rechtsnormen  gebun- 
den ist,  sollten  diese  auch  nur  in  der  Vorschrift  bestehn,  im  wahren 
öffentlichen  Interesse  zu  handeln.  Die  Gleichstellung  der  freien 
Verwaltung  und  der  freien  Thätigkeit  des  Einzelnen  (Bahr,  Laband) 
läßt  sich  eben  deshalb  nicht  aufrecht  erhalten. 

Aber  auch  die  Kompetenz  von  Gerichtsbehörden  oder  die  sub- 
jektive Qualifikation  der  rechtsprechenden  Organe  ist  kein  Krite- 
rium der  Rechtsprechung,  da  die  erstere  auf  wandelbaren  Zweck- 
mäßigkeitsgründen beruht,  und  die  Auffassung,  daß  es  nur  eine 
Rechtsprechung  durch  die  Gerichte  gebe,  eine  petitio  principii  ist, 
herrührend  aus  der  Zeit,  wo  die  Gebundenheit  aller  Staatsorgane  an 
Rechtsnormen  noch  nicht  zur  Anerkennung  gelangt  war.  Dasselbe 
gilt  von  der  Ausstattung  der  zu  gewissen  Entscheidungen  berufenen 
Behörden,  seien  dies  nun  Gerichte  oder  Verwaltungs-Gerichte,  mit  be- 
sondern persönlichen  Garantien.  Denn  hierbei  würden  nur  die  außer- 
halb der  Verwaltung  selbst  stehenden  Instanzen,  nicht  aber  die  be- 
sonders qualificierte  Rechtsprechung  der  Verwaltungsbehörden  berück- 
sichtigt, welche  sich  im  Unterschied  von  der  Rechtsprechung  jener 
Kontroiinstanzen  nicht  mit  der  Rechtsverletzung  durch  die  Ver- 
waltung, sondern  mit  der  Anwendung  der  Rechtsnormen  auf  den 
konkreten  Thatbestand  zu  beschäftigen  haben.  Auch  diese  Thätig- 
keit kann  Rechtsprechung  sein,  sollte  die  Verwaltung  bei  dem  frag- 
lichen Akte  nebenher  auch  öffentliche  Interessen  zu  wahren  haben. 
Ebensowenig  kann  aber  auch  nach  B.  das  Gegenüberstehn  mehrerer 
Beteiligter  oder  die  Geltendmachung  der  Verletzung  eines  subjek- 
tiven Rechts  ein  Unterscheidungsmerkmal  bilden,  ersteres  nicht,  da 
im  Verwaltungsrecht  wie  im  Strafprocesse  die  kontradiktorische 
Form  ganz  in  den  Hintergrund  tritt,  und  das  Geständnis,  soweit 
öffentliche  Interessen  in  Frage  kommen,  keine  Bedeutung  bat,  letz- 
tere aber  schon  deshalb  nicht,  weil  die  —  in  Oesterreich  allein  in 
Frage  kommende  —  Rechtsbeschwerde  an  die  Verwaltungsgericbte 
nicht  die  Entscheidung  eines  Streits  über  eine  angeblich  von  der 
Verwaltungsbehörde  verübte  Rechtsverletzung  bezweckt ,  vielmehr 
hier  —  nach  vorgängiger  Nachprüfung  der  Sache  selbst  —  die 
Bechtsanschauung  des  Verwaltungsgerichtshofs  an  die  Stelle  der  an* 
gefochtenen  Sentenz  tritt,    und  weil   überdies  die  Entscheidung  der 


56  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  2. 

VerwaltaDgsiDstaDz  Rechtsprechung  sein  kann,  obgleich  ein  Rechts- 
mittel an  das  Verwaltangsgericht  nicht  eingelegt  worden  oder  nicht 
statthaft  ist.  Der  Begriff  der  Rechtsverletzung  erschöpft  hiernach 
die  Fälle  der  Rechtsprechung  nicht. 

Rechtsprechen  bedeutet  vielmehr  nach  B.  Aussprechen,  was  im 
konkreten  Fall  Rechtens  ist ,  also  Anwendung  einer  abstrakten 
Rechtsnorm  auf  einen  Thatbestand  behufs  Feststellung  eines  kon- 
kreten Rechtsverhältnisses.  Dies  muß  aber  zum  erkennbaren  Aus- 
druck gebracht  sein,  was  hier  wiederum  nur  möglich  ist,  wenn  die 
Feststellung  nach  gewissen,  von  der  Rechtsordnung  vorher  bestimm- 
ten Regeln  vor  sich  geht,  welche  die  Anwendung  der  Rechtsnorm 
ermöglichen  und  gewährleisten.  Rechtsprechung  ist  hiernach  jede 
nach  abstrakt  geregeltem  Verfahren  seitens  eines  vender 
Rechtsordnung  damit  beauftragten  behördlichen  Organs  vor 
sich  gehende  Erklärung,  mit  welcher  die  beabsichtigte  Feststel- 
lung eines  konkreten  Rechtsverhältnisses  zum  Aus- 
druck gebracht  wird.  Innerhalb  der  so  charakterisierten  Rechts- 
sprechung werden  dann  wieder  unterschieden  die  im  ordentlichen 
Instanzenzug  vor  sich  gehenden  »Meritalentscheidungenc  und  ande- 
rerseits die  Fälle,  wo  eine  durch  die  Verwaltung  begangene  Recht- 
verletzung seitens  einer  außerhalb  des  ordentlichen  Instanzenzugs 
stehenden  Behörde  —  nämlich  durch  die  ludicatur  der  Verwaltungs- 
gericbtshöfe  festgestellt  wird,  unter  welchen  B.  alle  Tribunale  mit 
gerichtlicher  Organisation  versteht,  welche  ttber  die  von  der  Ver- 
waltung begangenen  Rechtsverletzungen  entscheiden.  Jede  Ent« 
Scheidung  eines  Verwaltungsgerichtshofes  ist  Akt  der  Rechtsprechung, 
und  es  können  auf  diesem  Wege  »die  stumm  gebliebenen  Motive 
obrigkeitlicher  Akte  jeder  Art  in  der  Form  eigentlicher  Entschei- 
dung nachträglich  zum  Ausdruck  gelangen  €,  auch  wenn  früher  kein 
Akt  der  Rechtsprechung  vorlag.  »Die  Rechtsprechung  fängt  hier- 
nach nicht  erst  bei  dem  Verwaltungsgerichtshof  an,  es  gibt  aber 
Sachen,  wo  dies  der  Fall  ist,  nämlich  immer  dann,  wenn  im  In- 
stanzenzng  nicht  Recht  gesprochen ,  sondern  ein  einfacher  Ver- 
waltungsakt erlassen  wurde«.  Wesentlich  verschieden  von  dieser 
ludicatur  der  Verwaltungs-Gerichtshöfe  und  keine  Rechtsprechung 
ist  dagegen  die  Geltendmachung  des  Aufsichtsrechts  der  staatlichen 
Oberbehörden  durch  Sistierung  gesetzwidriger  Verwaltnngsakte,  teils 
deshalb,  weil  hier  das  entsprechende  Verfahren  nicht  vorausgeht, 
teils  weil  die  Aufsichtsbehörde  als  solche,  im  Unterschied  von  ihrer 
Funktion  als  Verwaltungsreknrsbehörde  nicht  den  Zweck  verfolgt, 
die  Sache  merital  zu  erledigen.  — 

B.  statuiert  hiernach  neben  der  Thätigkeit  der  Verwaltnngsge- 


Bernatzik,  Rechtsprechung  and  materielle  Rechtskraft.  57 

richte    noch   eine   besondere   rechtsprechende  Fanktion   der  Verwal- 
tungsbehörden.  Stellt  man  sich  auf  den  Standpunkt  der  lex  ferenda, 
80  dürfte   diese  Dreiteilung  —  einfache  Funktion   der   Verwaltungs- 
behörden, Rechtsprechung  derselben,   und  Akte   der   Verwaltungsge- 
richtsbarkeit —  erheblichen   Bedenken   unterliegen.     Zunächst  liegt 
es  nahe,  alle  Akte,  bei  welchen  die  Behörde  in  einem  besonders  ge- 
regelten Verfahren   über  ein  konkretes  Rechtsverhältnis  mit  der  Ab- 
sicht  der   Feststellnng    desselben   entscheidet,   der  Kompetenz   der 
Verwaltungsgerichte  zuzuweisen.   Allein  dies  würde  zu  einer  Trennung 
der  Verwaltungsfnnktion   ftthren,    welche  mit  den  öffentlichen  Inter- 
essen nicht  vereinbar  wäre  und  überdies  ein  ganz  eigentümlich  kon- 
struiertes Officialverfahren  erfordern  würde,   um  auch  in  Fällen,  wo 
eine  Mehrheit  von  Parteien   nicht   vorhanden  ist,   schon  in  der  un- 
teren Instanz  auf  Veranlassung  der   Verwaltungsbehörde   einen   Akt 
der  Rechtsprechung   durch   den    Verwaltungsgerichtshof  etc.  herbei- 
(bhren  zu  können.    Beläßt  man  dagegen  jene  rechtsprechende  Funk« 
tion  bei  den  Verwaltungsbehörden,   so  ist  nieht  einzusehen,   wie  un- 
ter Aufrechterhaltung  der  Einheit  des  Verwaltungsakts  innerhalb  des 
Verwaltungsverfahrens  selbst  für  die  in  Frage  stehenden  Feststellun- 
gen ein  zur  Ausscheidung   des  Rechtsprechungsaktes   von  den  übri- 
gen damit  verbundenen  Elementen   der  Verwaltungsthätigkeit  quali- 
fiziertes Verfahren  konstruiert  werden   soll,   um   den  bloß  als  Prä- 
misse  einer   Verfügung  dienenden   Denkakt   von  einem  förmlichen 
Akte  der  Rechtsprechung  in  objektiver  Weise  zu  unterscheiden,  eine 
Frage,  über  welche  B.  sehr  rasch  hinweggeht.    Man  ist  deshalb  ge- 
nötigt,  alle  Entscheidungen,   welche  nicht   schon   äußerlich  von  der 
Verwaltungsthätigkeit  im  engern  Sinne,  sei  es  nun  durch  Verweisung 
an   besondere   Organe   der  Rechtsprechung,   sei   es  bloß    durch  ein 
völlig  abgesondertes  Verfahren   getrennt  werden   können,   rechtlich 
als  Verwaltungsakte  aufzufassen,    so  daß  erst  durch  die  Erhebung 
der   Rechtsbeschwerde   an   den  Verwaltungsgerichtshof   die  in  dem 
bisher  einheitlichen  behördlichen  Akte  enthaltenen,  mit  reinen  Motiven 
der  Verwaltung,  insbesondre   mit  Fragen  des  sachgemäßen  Ermes- 
sens  vermischten  Elemente    der  Rechtsprechung  auch    formell   als 
solche   zur   Ausscheidung   gelangen,   dagegen  bis   dahin  die  Natur 
einer  Verwaltungsfnnktion  behalten,  was  umsoweniger  Bedenken  er- 
regen kann,    wenn   man    anerkennt,   daß  heutzutage   auch  die  Ver- 
waltung an  Rechtsnormen  gebunden   ist.     Der  Einwendung   von  B., 
daß    eine  Entscheidung,   welche   in  der  Instanz  der  Verwaltungsge- 
ricbtsbarkeit  Rechtsprechung  sei,  diesen  Charakter  auch  schon  in  der 
unteren  Instanz  —  der  Verwaltungsbehörde  —  gehabt  haben  müsse, 
liegt  zwar  der  richtige  Satz   zu  Grunde,   daß   auch  die  Verwaltung 

OftM.  f«l.  Am.  1887.  Kr.  8.  5 


68  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  2. 

Recbtsnormen  auf  konkrete  Tbatbestände  anzuwenden  hat,  allein 
diese  Funktion  ist  noch  nicht  Rechtsprechung ,  wie  B.  selbst  aner- 
kennty  wenn  er  sagt,  daß  auch  solche  Fälle,  bei  welchen  in  der  un- 
teren Instanz  ein  reiner  Verwaltungsakt  vorliegt,  nachträglich  vor 
dem  Verwaltungsgerichtshof  zu  einem  Rechtsprechungsakt  führen 
können.  Es  bedarf  nur  der  Erweiterung  dieses  Satzes  dahin,  daß 
dies  auch  dann  gilt,  wenn  ein  solcher  Verwaltungsakt  nach  vor- 
gängigem Gehör  einer  Partei  ergangen  ist,  weil  eben  derartige  Mo- 
dalitäten des  Verfahrens  innerhalb  der  Funktion  der  Verwaltungs- 
behörden noch  nicht  genügen,  um  einzelne  Elemente  ihrer  Thätig- 
keit  auch  formell  zu  Rechtsprechungsakten  zu  machen. 

Stellt  man  sich  dagegen  auf  den  Standpunkt  der  lex  lata,  so 
wäre  es  wohl  Sache  des  Verf.  gewesen,  den  Nachweis  zu  liefern, 
daß  für  diejenigen  Akte,  welche  nach  österreichischem,  bzw.  deut- 
schem Recht  nicht  in  den  Rahmen  der  Verwaltungsgerichtsbarkeit, 
wohl  aber  unter  den  allgemeinen  Begriff  der  Rechtsprechung  in  dem 
von  B.  deducierten  Sinn  fallen,  besondere  von  den  für  einfache  Ver- 
waltuugssachen  geltenden  Normen  abweichende  Bestimmungen  gelten, 
denn  nur  dann  war  er  berechtigt,  aus  letzteren  Normen  ein  von  der 
Verwaltungsgerichtsbarkeit  verschiedenes  Rechtsinstitut  der  Verwal- 
tungsrechtsprechung zu  konstruieren  ;  andernfalls  liegt  eine  theoreti- 
sche Abstraktion  vor,  zu  deren  Aufstellung  —  neben  der  These  von 
der  Gebundenheit  der  Verwaltung  an  Rechtsnormen  —  es  an  jeder 
Grundlage  fehlen  würde.  Diesen  Nachweis  hat  nun  aber  der  Verf. 
in  der  ersten  Abteilung  seines  Werkes  nicht  geführt.  Wohl  aber 
scheint  es  uns,  daß  derselbe  auf  seinen  weitereu  Begriff  der  Recht- 
sprechung durch  sein6  Untersuchung  über  die  Rechtskraft  hingeleitet 
wurde  und  dann  dasjenige,  was  ihm  dort  als  Postulat  entgegentrat, 
aus  einem  Elemente  der  Rechtskraft  zu  einem  selbständigen  Rechts- 
institut entwickelt  hat.  Soll  nämlich  die  materielle  Rechtskraft  nicht 
auf  verwaltungsgerichtliche  Urteile  beschränkt  werden,  sondern  auch 
in  solchen  Fällen  eintreten,  wo  die  Entscheidung  der  Verwaltungs- 
behörde ohne  vorgängige  Anrufung  des  Verwaltungsgerichtshofs  un- 
anfechtbar geworden ,  so  bedarf  es  einer  Ausscheidung  des  der 
Rechtskraft  fähigen  Inhalts  der  verwaltungsbehördlichen  Akte  und 
äußerer  Merkmale,  um  diesen  Inhalt  als  solchen  erkennbar  zu  ma- 
chen. Könnte  daher  aus  dem  positiven  Recht  nachgewiesen  wer- 
den, daß  auch  gewissen  Entscheidungen  der  Verwaltungsbehörden 
nicht  bloß  formelle,  sondern  materielle  Rechtskraft  zukommt,  so 
würde  dadurch  allerdings  der  von  B.  aufgestellte  Begriff  der  Recht- 
sprechung Realität  erlangen,  während  ohne  diesen  Nachweis  der 
Verf.  sich  in  einem  Zirkel  bewegt.  Damit  kommen  wir  zur  zweiten 
Stadie. 


Bcrnatzik  Rechtsprechimg  und  materielle  Rechtskraft.  59 

n. 

Id  den  Deneren  deutschen  und  österreichischen  Verwaltungsge- 
setzen fehlt  es,  wenn  man  von  der  im  württembergischen  Gesetz 
enthaltenen  generellen  Verweisung  auf  die  Givil-Proceß-Ordnung  ab- 
sieht, an  jeder  positiven  Normierung  der  Lehre  von  der  materiellen 
Rechtskraft  in  Verwaltungssachen.  Die  bisherige  verwaltungsrecht- 
liche Litteratur  aber  begnügte  sich  mit  mehr  oder  weniger  nichts- 
sagenden Formeln,  welche  die  Kluft  zwischen  materieller  Rechts- 
kraft und  diskretionärer  Wahrung  des  öffentlichen  Interesses  in  Ver- 
waltungs-Sachen  zu  überbrücken  suchten,  und  für  die  Rechtsanwen- 
dnng  ziemlich  wertlos  waren.  B.  will  daher  das  geltende  Recht 
unter  Anwendung  der  konstruktiven  Methode  analysieren  und  zu- 
gleich aus  der  communis  opinio  der  Praxis  das  grundlegende  Prin- 
cip  entwickeln,  um  so  die  unbewußt  wirkenden  Kräfte  zum  juristi- 
schen Bewußtsein  zu  bringen.  Doch  scheint  es  uns  bei  Betrachtung 
des  umfangreichen  Materials,  welches  der  Verf.  aus  der  Praxis  der 
österreichischen  Verwaltungs-Gerichte  und  Verwaltungs-Behörden 
beigebracht  und  einer  scharfen  und  freimütigen  Kritik  unterworfen 
hat,  als  ob  es  sich  hier  gegenüber  einer  (nicht  bloß  in  Oesterreich) 
ziemlich  ratlosen  und  in  Widersprüchen  aller  Art  sich  bewegenden 
Rechtsprechung  in  Wirklichkeit  mehr  um  die  Sichtung  jenes  Mate- 
rials vom  Standpunkte  der  Deduktionen  des  Verfassers  als  um  einen 
Aufbau   der   Lehre   auf   Grund   der  Praxis   handeln  dürfte. 

Rechtsprechung  und  materielle  Rechtskraft  sind  dem  Verf.  unzer- 
trennlich verknüpfte  Begriffe ;  denn  es  wird  Recht  gesprochen,  damit 
das  als  bestehend  anerkannte  Rechtsverhältnis  fortan  unanfechtbar 
bleibt.  Durch  das  Dispositionsrecht  der  Parteien  erklärt  sich  zwar  die 
Beschränkung  der  res  judicata  auf  die  Parteien  des  Givilprocesses, 
aber  nicht  die  materielle  Rechtskraft  selbst.  Auch  nicht  wegen  der 
wirklichen  oder  vorausgesetzten  Wahrheit  des  Judikats,  sondern  nur 
deshalb,  weil  im  Auftrag  der  Rechtsordnung  Recht  gesprochen  wird, 
muß  der  in  der  Sentenz  enthaltene  Schluß  als  bindend  anerkannt 
werden.  Da  hiernach  die  Bindung  durch  die  Rechtskraft  eine  not- 
wendige Folge  aus  dem  Begriff  der  Rechtsprechung  ist,  müssen  die 
Organe  der  letzteren  selbst,  wie  alle  Organe  der  öffentlichen  Ge- 
walt an  die  aus  dem  Judikat  entspringenden  Imperative  gebunden 
sein.  Dies  gilt  auch  gegenüber  den  öffentlichen  Interessen,  andern- 
falls wäre  die  materielle  Rechtskraft  eine  Illusion,  da  die  Frage,  ob 
öffentliche  Interessen  beteiligt  sind,  rein  Ermessenssache  ist,  welche 
sich  jeder  Rechtskontrolle  entzieht.  Nur  muß  die  Rechtsprechung  in 
Verwaltungssachen  so  organisiert  sein,  daß  gemeinschädliche  Ent- 
acheidungen  möglichst  ausgeschlossen  werden  und  eine  gewisse  Ka- 

5» 


60  Qött.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  2. 

tegorie  von  NichtigkeitsgrUnden  zur  Wahrung  der  öffentlichen  Inter- 
essen offen  gelassen  wird.  —  Voraussetzung  der  materiellen 
Rechtskraft  ist  wie  im  Civilrecht  Unanfechtbarkeit  der  Entschei- 
dung (sog.  formelle  Rechtskraft).  Durch  die  rechtskräftige  Ent- 
scheidung wird  auch  in  Yerwaltungssachen  keine  Novation  bewirkt, 
es  entsteht  jedoch  ein  neues  Rechtsverhältnis,  welches  dem  in  der 
Entscheidung  festgestellten  zur  Seite  tritt.  Nur  ein  Akt  der  Recht- 
sprechung, aber  auch  jeder  solche  Akt  erzeugt  materielle  Rechtskraft, 
alle  anderen  Verwaltungsakte  sind  derselben  nicht  fähige  wenn  sie 
auch  erzwiogbar,  bzw.  vollstreckbar  sind.  Auch  die  logischen  Schlüsse, 
welche  solche  Verwaltungsakte  (Verordnungen,  Beurkundungen,  Ver- 
fügungen) bedingen ,  entbehren  jeder  bindenden  Judikatswirkung 
und  können  dieselbe  nur  dadurch  erlangen,  daß  die  fraglichen  Prä- 
missen vorher  durch  einen  Akt  fixiert  worden,  welcher  als  Entschei- 
dung des  bedingenden  Rechtsverhältnisses  beabsichtigt  ist  und  als 
solche  auch  den  Parteien  entgegentritt.  Dies  gilt  namentlich  auch 
von  8.  g.  konstitutiven  Verfügungen  (z.  B.  Einweisung  in  eine  Ge- 
haltsklasse, Eoncessionen  etc.),  wobei  jedoch  die  Frage  des  Schutzes 
des  durch  einen  solchen  Akt  wohl  erworbenen  Rechts  von  der  ma- 
teriellen Rechtskraft  scharf  zu  unterscheiden  ist. 

Diese  Grundsätze  finden  auch  auf  die  Entscheidungen  der  Ver- 
waltnngs-Gerichtshöfe  Anwendung,  nur  daß  hier  der  Charakter  der 
Rechtsprechung  prägnanter  zum  Ausdruck  kommt.  Dabei  wird  her- 
vorgehoben, daß  die  Bindung  der  untern  Instanz  an  die  in  der  kas- 
sierenden Sentenz  des  Verwaltungs-Gerichtshofs  ausgesprochene 
Rechtsanschauung  von  der  materiellen  Rechtskraft  wesentlich  ver- 
schieden ist,  indem  letztere  das  konkrete  Rechtsverhältnis  selbst 
zum  Gegenstand  und  bindende  Wirkung  für  künftige  identische 
Streitigkeiten  hat,  beides  aber  bei  der  erwähnten  Bindung  an  die 
ausgesprochene  Rechtsanschauung  nicht  der  Fall  ist,  weshalb  auch 
die  bindende  Wirkung  verwaltungsgerichtlicher  Urteile  —  in  Oester- 
reich  —  nicht  aus  dieser  Vorschrift,  sondern  nur  aus  dem  Charak- 
ter jener  Entscheidungen  als  Akten  der  Rechtsprechung  abgeleitet 
werden  kann.  Gegenstand  der  Rechtskraft  ist  nur  das  Rechtsver- 
hältnis selbst,  nicht  die  thatsächliche  und  nicht  die  rechtliche  Fest- 
stellung für  sich.  Bei  der  Entscheidung  über  bedingende  (präjudi- 
cielle)  Rechtsverhältnisse  ist  maßgebend,  ob  solche  durch  einen  Akt 
der  Rechtsprechung  festgestellt  werden  wollten,  oder  ob  die  Ansicht 
der  Behörde  nur  ein  latentes  Motiv  der  behördlichen  Aktion  bildete. 
Präjudicialpunkte  einfacher  Verwaltungsakte  haben  schon  deshalb 
keine  Rechtskraft,  weil  der  bedingte  Akt  selbst  kein  Rechtsprnch 
ist;  (an  einer   andern  Stelle  wird   übrigens   auch   die  rechtskräftige 


Bernatzik,  Rechtsprechung  und  materielle  Rechtskraft.  61 

FeststelluDg  der  Prämissen  einfacher  Verwaltangsakte  zugelassen). 
Liegt  dagegen  ein  Recbtssprneb  vor,  so  ist  nach  den  konkreten  Um- 
ständen des  Falls  za  beurteilen,  ob  und  welche  bedingende  Recbts- 
yerbältnisse  durch  Entscheidung  festgestellt  werden  wollten  und  wel- 
che derselben  als  der  obrigkeitlichen  Feststellung  nicht  bedürfende 
Prämissen  einfach  dem  meritalen  Schlüsse  zu  Grunde  gelegt  wurden. 
Eines  Parteiantrags  im  Sinne  des  §  253  der  R.-G.-P.-0..  bedarf  es 
nicht,  da  in  Verwaltungssachen  die  reine  Verhandlungsmaxime  aus- 
geschlossen ist,  dagegen  ist  bei  einer  solchen  Feststellung  präjudi- 
cieller  Rechtsverhältnisse  die  materielle  Rechtskraft  derselben  davon 
abhängig,  daft  die  erkennende  Behörde  auch  zur  meritalen  Erledi- 
gung des  fraglichen  Verhältnisses  sachlich  kompetent  wäre.  Fehlt 
es  an  dieser  Voraussetzung,  so  ist  zwar  die  erkennende  Behörde 
zur  Entscheidung  der  Vorfrage  befugt  und  verpflichtet,  diese  Ent- 
scheidung erzeugt  aber  keine  Rechtskraft. 

Identität  des  Rechtsverhältnisses  liegt  vor,  wenn  bei 
mehreren  nach  einander  zur  Entscheidung  stehenden  Sachen  alle 
Individualisierungsmomente  (Subjekt ,  Objekt ,  Entstehungsgrund) 
gleich  sind.  Da  in  Verwaltungssachen  bezüglich  desjenigen,  was 
der  Feststellung  durch  Entscheidung  bedarf,  der  Parteiantrag  nicht 
maßgebend  ist,  so  muß  die  Entscheidung  über  das  Ganze  auch  ftir 
den  Teil,  die  Entscheidung  über  den  Teil  hinsichtlich  des  Ganzen 
Rechtskraft  begründen,  ebenso  die  Entscheidung  über  die  Neben- 
sache als  solche  auch  bezüglich  der  Hauptsache  und  umgekehrt. 

Was  die  subjektive  Wirkung  der  Rechtskraft  betri£ft,  so  sind 
zunächst  die  Behörden  durch  ihre  Entscheidungen  unbedingt  gebun- 
den. Dagegen  gibt  es  im  Verwaltungsrecht,  da  es  sich  hier  immer 
um  Verwirklichung  öffentlicher  Interessen  handelt,  keine  Parteien  im 
Sinne  des  Civilrechts,  sondern  nur  Beteiligte  oder  Interessenten, 
welchen  unter  gewissen  Voraussetzungen  die  Behörde  Partei- 
rechte  und  Pflichten  zuzuteilen  bat.  B.  unterscheidet  in  dieser 
Beziehung  faktische  Interessenten,  welche  zwar  durch  die 
Rechtsordnung  geschlitzt  sind,  aber  ohne  daß  dem  Einzelnen  ein 
durch  ihn  selbst  zu  realisierendes  subjektives  Recht  zukommt,  dann 
subjektive  Rechte,  welche  einen  Anspruch  auf  einen  bestimm- 
ten Inhalt  der  behördlichen  Entscheidung  gewähren,  endlich  —  zwi- 
schen diesen  beiden  Kategorien  stehend  —  die  rechtlichen  In- 
teressenten, welche  nur  das  Recht  auf  die  Beiziehung  zu  einem 
bestimmten  Verfahren ,  insbesondere  auf  rechtliches  Gehör ,  m.  a.  W. 
das  Recht  haben,  vor  der  Behörde  als  Partei  aufzutreten.  Jeder 
rechtliche  Interessent  soll  von  der  Behörde  von  Amtswegen  zur 
Partei   gemacht    werden.     Dies  folgt    aus   der  Pflicht   der 


62  Gott.  gel.  An».  1887.  Nr.  2. 

Sprachbehörde,  das  ganze  der  Entscheidaug  uoterätellte  Verhältois 
erschöpfend  zu  antersachen,  was  nicht  möglich  wäre,  wenn  Perso- 
nen, welchen  die  Rechtsordnung  Parteirechte  eingeräumt  wissen  will, 
präkludiert  würden.  Wurde  daher  die  Beiziehung  unterlassen,  so 
erzengt  die  Entscheidung  keine  Rechtskraft  gegen  einen  solchen 
rechtlichen  Interessenten.  Dagegen  werden  alle  bloß  faktischen  In- 
teressenten (—  welche  durch  die  verschiedenen  Organe  der  öffent- 
lichen Gewalt  ausschließlich  und  obligatorisch  vertreten  werden  — ) 
durch  die  Entscheidung  gebunden,  als  ob  sie  Partei  gewesen  wären. 
Die  öfi^entlich-rechtlichen  Entscheidungen  haben  hiernach  —  von  den 
rechtlichen  Interessenten  abgesehn  —  absolute  Kraft  gegen  Dritte. 
Diesen  Grundsatz  hat  schon  das  römische  Recht  bei  Urteilen  über 
Status  Verhältnisse  wegen  des  öffentlich  rechtlichen  Charakters  der- 
selben anerkannt,  und  die  Praxis  des  Mittelalters  hat  dies  dann  auf 
dem  Weg  der  Fiktion  durch  Aufstellung  sog.  Status  indifferentes  auf 
die  verschiedensten  öffentlich  rechtlichen  Verhältnisse  übertragen. 
Die  Wirkung  gegen  Dritte  ist  jedoch  davon  unabhängig,  ob  im  ein- 
zelnen Fall  die  öffentlichen  Interessen  in  irgend  einer  Form  ihre 
Vertretung  fanden.  Handelt  es  sich  um  solche  öffentliche  Interessen, 
deren  Vertretung  der  Staat,  weil  sie  nur  einen  engeren  Kreis  be- 
rühren, besondern  Selbstverwaltungskörpern  übeiiragen  hat,  so  hat 
zwar  auch  hier  der  Einzelne  bezüglich  der  fraglichen  Interessen  kein 
jus  agendi;  dagegen  erscheinen  nunmehr  jene  Organe  gegenüber  der 
Gesamtheit  als  Subjekte  rechtlicher  Interessen,  und  die  Entscheidung 
bindet,  wenn  diese  Organe  beigezogen  wurden,  alle  Genossen  des 
autonomen  Verbands  als  faktische  Interessenten.  Ist  ein  rechtlicher 
Interessent,  dessen  Interessen  schon  zur  Zeit  der  Entscheidung  vor- 
lag, nicht  zugezogen  worden,  so  hat  dies  ihm  gegenüber  relative 
Nullität  zur  Folge.  Wurde  das  Verfahren  nur  mit  einem  von  meh- 
reren rechtlichen  Interessenten  durchgeführt  und  sind  divergierende 
Feststellungen  mit  der  Natur  des  Rechtsverhältnisses  unvereinbar, 
so  wirkt  die  Vernichtung  der  Entscheidung  auch  auf  die  früher  Bei- 
gezogenen, während  das  Gegenteil  der  Fall  ist,  wenn  verschieden- 
artige Regelung  gegenüber  den  einzelnen  Beteiligten  denkbar  ist. 
Ist  für  die  Meritalentscheidung  ein  zwischen  andern  Parteien  be- 
stehendes Rechtsverhältnis  präjudiciell,  so  müssen,  wenn  über  die- 
ses Verhältnis  selbst  entschieden  werden,  letzteres  also  nicht  bloß 
die  logische  Prämisse  bilden  soll;  auch  die  hierbei  beteiligten  Per- 
sonen zur  Verhandlung  beigeladen  werden,  widrigenfalls  relative 
Nichtigkeit  der  Präjudicialentscheidung  eintreten  würde.  —  Entsteht 
dagegen  erst  nach  der  Entscheidung  aus  einem  bisher  bloß  fakti- 
schen ein  rechtliches  Interesse,   so  bleibt  der  nicht  zugezogene  zeit- 


Bernatzik,  Rechtsprechung  und  materielle  Rechtskraft,  63 

her  bloß  faktische  Interessent  an  die  Entscheidung  gebunden,  m. 
a.  W.  Jeder,  der  in  ein  öffentliches  Rechtsverhältnis  eintritt,  muß 
sich  den  Imperativen  aus  allen  gegen  den  Vorgänger  erlassenen 
Entscheidungen  unterwerfen,  und  zwar  nicht  auf  Grund  civilrecht- 
lieber  Succession,  sondern  weil  es  die  Natur  der  öffentlich-rechtli- 
chen Verhältnisse  mit  sich  bringt,  daß  sie  gegen  den  Subjekts- 
wechsel nicht  reagieren.  Oeffentliche  Lasten  gehn  deshalb,  ohne 
daß  es  der  Regel  nach  einer  grundbuchlichen  Eintragung  bedarf, 
auf  den  Nachfolger  im  Besitz  der  Sache  oder  des  Rechts  über. 

In  Deutschland  wie  in  Oesterreich  gilt  ferner  sowohl  fttr  die 
Gerichte  als  fttr  alle  andern  Behörden  auf  dem  Gebiet  des  Privat- 
rechts wie  des  öffentlichen  Rechts  der  Grundsatz,  daß  jede  Behörde 
konnexe  Rechtsverhältnisse,  auch  wenn  zu  deren  »meritalerc  Erle- 
digung eine  andere  Behörde  sachlich  zuständig  ist,  grundsätzlich 
selbst  zu  prüfen  und  incidenter  zu  entscheiden  berechtigt,  unter  Um- 
ständen auch  verpflichtet  ist,  und  kein  Gericht  und  keine  Verwal- 
tungsbehörde wegen  einer  in  einen  fremden  Ressort  fallenden  Vor- 
frage die  eigene  Zuständigkeit  verneinen  darf.  Solche  Incident- 
feststellungen  durch  sachlich  unzuständige  Behörden  entbehren  je- 
doch der  materiellen  Rechtskraft  und  können  keine  Rechtsverletzung 
enthalten,  weil  nur  durch  eine  Meritalerledigung,  nicht  durch  die  Mo- 
tive einer  Entscheidung  in  subjektive  Rechte  eingegriffen  wer- 
den kann. 

Kommt  dagegen  eine  bereits  von  der  sachlich  zuständigen  Be- 
hörde entschiedene  Sache  später  als  Präjudicialpunkt  vor  der  Be- 
hörde eines  andern  Ressorts  zur  Sprache,  so  muß  das  Postulat  der 
gegenseitigen  Unabhängigkeit  der  Behördensysteme  zurücktreten 
gegenüber  der  materiellen  Rechtskraft  der  von  der  zuständigen  Be- 
hörde gefällten  Entscheidung.  Dasselbe  Princip  gilt  auch  für  die 
Bindnng  der  Administration  durch  gerichtliche  Urteile.  Dagegen  ist 
jede  Behörde  befugt,  zu  prüfen,  ob  die  vorhandene  Entscheidung 
von  einer  sachlich  zuständigen  Behörde  ausgegangen  ist.  Nur  be- 
züglich der  gerichtlichen  Urteile  verlieren  —  nach  österreichischem 
Recht  —  die  Parteien  und  die  Verwaltung  mit  Eintritt  der  formellen 
Rechtskraft  die  Befugnis,  die  sachliche  Inkompetenz  geltend  zu  ma- 
chen. Eine  Entscheidung  kann  übrigens  bindende  Wirkung  für 
fremde  Ressorts  nur  haben,  soweit  sie  absolute  Kraft  besitzt,  mag  es 
sich  nun  um  Entscheidungen  der  Verwaltungsbehörden  oder  um  Urteile 
der  Civilgerichte  in  Strafsachen,  Statussachen,  Ehe,  Entmündigungs- 
sachen etc.  handeln,  wogegen  gerichtliche  Urteile  in  privatrechtlichen 
Verhältnissen  nur  inter  partes  wirken,  und  den  öffentlichen  Interessen 
gegenüber  einer  freien  Würdigung  ihres  inneren  Werts  unterliegen. 
JSisxe  Bindnng  der  Gerichte  durch  die  von  den  Verwaltungsbehörden 


64  Gott.  gel.  Adz.  1887.  Nr.  2. 

in  ihrem  Ressort  erlassenen  Entscheidungen  findet  jedoch  ausnahms- 
weise nicht  statt,  soweit  gegen  jene  Entscheidungen  der  Rechtsweg 
zugelassen  ist.  Verf.  beschäftigt  sich  bei  dieser  Gelegenheit  ein* 
gehend  mit  der  wenig  klaren  Bestimmung  des  österreichischen  Staats- 
grundgesetzes vom  21.  December  1867  A.  XV.,  und  kommt  dabei  zu 
dem  Resultat,  daß  dieselbe  ihrem  Wortlaut  nach  auf  einige  wenige 
Fälle  zu  beschränken  sei,  in  welchen  ausnahmsweise  durch  Gesetz 
den  Verwaltungsbehörden  die  vorläufige  Entscheidung  ttber  privat- 
rechtliche  Verhältnisse  (Streitigkeiten  von  Dienstboten,  Arbeitern  etc.) 
zugewiesen  sei.  Die  dargestellten  Grundsätze  werden  dann  schliefi- 
lich  von  B.  auch  angewendet  auf  die  Judicatur  in  Wahlangelegen- 
heiten, insbesondere  auf  die  Entscheidung  präjudicieller  Vorfragen 
bei  der  Wahlprtlfung.  Den  Schlufi  bildet  eine  sehr  beachtenswerte  Er- 
örterung fiber  die  Anfechtung  von  Akten  der  Rechtsprechung  in  Ver- 
waltungssachen, wobei  zwischen  den  vom  Verf.  so  benannten  »Nioh- 
tigkeitsgrttndenc  (Mängel  der  sachlichen  Zuständigkeit,  des  Ver- 
fahrens und  der  materiellen  Entscheidung  selbst)  und  den  Fällen  der 
Wiederaufnahme  unterschieden  wird.  Wir  müssen  uns  des  Raumes 
wegen  versagen,  auf  diese  Excurse  weiter  einzugehen. 

Bei  der  im  Vorstehenden  dargestellten  Theorie  fehlt  es  dem 
Verf.,  was  die  Funktion'  der  Verwaltungs-Gerichte  betrifft,  nicht 
an  Anknüpfungspunkten  in  der  deutschen  wie  in  der  österreichischen 
Gesetzgebung,  wogegen  die  Ausdehnung  dieser  Grundsätze  auf  die 
Funktionen  der  Verwaltungs-Behörden,  und  dies  ist  der  Kern- 
punkt der  ganzen  Ausführung,  einer  positiven  Grundlage  entbehrt, 
vielmehr  einzig  auf  dem  unter  I.  charakterisierten  Begriff  der  Recht- 
sprechung beruht.  Um  die  in  den  Willensakten  der  Verwaltungs- 
Behörden  zur  Einheit  verbundenen  Elemente  des  diskretionären  oder 
sachverständigen  Ermessens  nnd  der  Rechtsanwendung  auszuschei- 
den, bedarf  es,  wie  der  Verf.  selbst  anerkennt,  einer  äußerlich  her- 
vortretenden Sonderung  dieser  Elemente  umsomehr,  als  die  Abhängig- 
machung  solcher  rechtskraftfähiger  Feststellung  von  einem  Partei- 
antrag im  Sinne  des  §  253  der  R.-C.-P.-O.  bei  einem  großen  Teil 
der  in  Verwaltungssacben  vorkommenden  Vorentscheidungen  nicht 
durchfahrbar  ist.  Jener  Forderung  wird  nun,  soweit  die  Entschei- 
dung durch  Verwaltungsgerichte  erfolgt,  in  unzweideutiger  Weise 
entsprochen.  Innerhalb  des  Rahmens  der  Verwaltungsfunktion  da- 
gegen kann  der  von  Amtswegen  geäußerte  Wille  der  Behörde,  ein 
Rechtsverhältnis  mit  bindender  Judicatswirkung  zu  entscheiden,  oder 
aber  dasselbe  als  bloße  logische  Prämisse  der  Hauptentscheidung  zu 
behandeln,  noch  kein  genügendes  Kriterium  für  die  Rechtskraft- 
wirkung begründen,  ebensowenig  das  »abstrakt  geregelte  Verfahren«, 
sofern  dem  Verfasser  als  solches  schon  die  durch  Gesetz  vorge- 


Bernatzik,  Rechtsprechung  und  materielle  Rechtskraft.  65 

Behriebene  vorgäogige  VeroehmuDg  der  Beteiligten  ete.  genügt  Ge- 
rade die  scharfsinnige  Durohführnng  der  Theorie  des  Verf.  dürfte 
den  Beweis  erbringen,  daß  die  von  ihm  durch  Aasdehnang  des  Be- 
griffs der  Rechtsprechung  und  folgeweise  der  Rechtskraft  erstrebte 
Rechtssichernng  in  Ermangelung  eines  brauchbaren  Unterscheidungs- 
merkmals innerhalb  der  Aktion  der  Verwaltungsbehörden  in  das 
Gegenteil  —  eine  offenbare  Rechtsunsicherheit  umschlagen  müßte, 
indem  dadurch  die  Möglichkeit  gewährt  würde,  aus  den  Verfügun- 
gen etc.  der  Verwaltungsbehörden  im  Wege  der  Interpretation  (Er- 
hebung des  Feststellungswiilens  ans  den  Umständen  des  Falls)  nach- 
träglich Rechtsprechungsakte  und  Rechtskraftwirkung  zu  deducieren, 
wodurch  eben  so  sehr  die  Rechte  der  Verwaltung  wie  der  speciell 
Beteiligten  gefährdet  würden.  Man  wird  hiernach  festzuhalten  ha- 
ben, daß,  soweit  der  Gesetzgeber  eine  Ausdehnung  der  Funktion  der 
Verwaltungsgerichte  auf  Akte  der  Rechtsprechung  in  dem  weiteren 
Sinne  von  B.  mit  den  Interessen  der  freien  Verwaltungsthätigkeit 
nicht  für  vereinbar  hält,  auch  eine  Ausscheidung  der  in  der  einzel- 
nen Funktion  der  Verwaltungsbehörde  enthaltenen  Elemente  der 
Rechtsanwendung  im  Sinne  von  Rechtsfeststellung  zwar  theoretisch 
aber  nicht  praktisch,  d.  h.  nicht  mit  positiven  Rechtswirkungen,  zu- 
lässig ist  Es  muß  vielmehr  bezüglich  der  in  solchen  Verwaltungs- 
akten enthaltenen  Feststellung  von  Rechtsverhältnissen  ganz  das- 
jenige gelten,  was  B.  über  die  Feststellung  der  einem  fremden  Res- 
sort angehörigen  bedingenden  Rechtsverhältnisse  ausführt,  sie  bilden 
zwar  giltige  Prämissen  des  in  Frage  stehenden  Verwaltungsakts,  sie 
erzengen  aber  keine  selbständige  materielle  Rechtskraft.  Was  ins- 
besondere die  von  B.  als  Meritalentscheidungen  qualificierten  Recht- 
sprechnngsakte  der  Verwaltnngsinstanzen  betrifft,  so  dürfte  den  An- 
forderungen der  Rechtssicherheit  genügt  werden  durch  die  solchen 
Akten  nach  Haßgabe  des  positiven  Rechts  zukommende  s.  g.  for- 
melle Rechtskraft  und  Vollstreckbarkeit,  sowie  durch  die  Auffassung 
derselben  als  Entstehnngsgründe  wohl  erworbener  Rechte.  Zu  einem 
Akte  der  Rechtsprechung  wird  dagegen  die  auf  Feststellung  von 
Rechtsverhältnissen  gerichtete  Thätigkeit  der  Behörde  erst  dann, 
wenn  nicht  nur  ein  »abstrakt  geordnetes  Verfahrene  stattfand,  son- 
dern die  Entscheidung  auch  formell  losgetrennt  von  andern  Funk- 
tionen der  Verwaltung  von  einer  hiezu  berufenen  Behörde,  einem 
Verwaltungsgericht  im  weiteren  Sinn  ausgeht  Daß  nämlich  auch 
eine  Behörde,  welche  im  Uebrigen  als  Verwaltungsbehörde  fungiert, 
mit  einer  solchen  Funktion  der  Rechtsprechung  betraut  werden  kann, 
wie  dies  z.  B.  nach  dem  württembergischen  Gesetz  vom  16.  Dec« 
1876  bei  den  Ereisregierungen  und  allgemein  bezüglich  der  Aus- 
ftbong  der  Verwaltungsstrafgerichtsbarkeit  der  Fall  ist,  versteht  sich 


66  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  2. 

von  selbst.  Das  Entscheidende  ist  in  dieser  Beziehung  allerdings 
nicht  die  Bezeichnung  der  Behörde  als  »Gericht«,  wohl  aber  die  for- 
melle Trennung  der  Verwaltungsfunktion  von  der  Rechtsprechung 
bei  den  einzelnen  in  Frage  stehenden  Akten. 

Tübingen,  25.  Sept.  1886.  Ludwig  Gaupp. 


Die  Oberlaufiitz  und  Hermann  Knothe. 

Bereits  im  Jahre  1821  stellte  die  Oberlausitzische  Gesellschaft 
der  Wissenschaften  das  Preisthema:  Wie  ist  das  obeiiausitzische 
Landvolk  in  die  Verhältnisse  zu  den  Gutsherrn  gekommen,  in  wel* 
eben  es  im  Jahr  1815  war?  1822  wurde  der  ausgesetzte  Preis  so- 
gar verdoppelt,  gleichwohl  fand  sich  kein  Bewerber. 

Gegenwärtig  liegt  nun  auf  die  1883  erfolgte  Erneuerung  der 
Aufgabe  die  preisgekrönte  Schrift  vor: 

»Die  Stellung    der   Gutsuntert hauen   in  der  Ober- 
lausitz  zu   ihren   Gutsherrschaften    von  den  ältesten 
Zeiten  bis  zur  Ablösung  der  Zinsen   und  Dienste«   (Neues  Lau- 
sitzisches Magazin  Bd.  LXI  S.  159;  und  Separatabdr.  bei  War- 
natz und  Lehmann,  Dresden  1885.     150  S.    8.). 
Sie  ist  verfaßt  von  Hermann  Enothe,   und  für  den,   der  in 
der  Oberlausitz  bekannt  ist,   bedarf  es   kaum  der  Erwähnung,    daß 
schlechthin  Niemand    für   die  Aufgabe    besser    ausgerüstet    gewesen 
wäre,  und  daß  sie  auf  das  Zuverlässigste  und  Wohlbegründetste  und 
zugleich  in    durchaus  anschaulicher,  energisch  die  lebendigen  That- 
sachen  zusammenfassender  Weise  gelöst  ist. 

Enothe  beherrscht  das  gesamte  vorhandene  Material  in  einer 
solchen  Weise,  daß  er  kurz  sein  kann. 

Er  führt  in  markigen  Zügen  alles  Sichere  vor,  was  wir  von  der 
alten  Wendischen  Verfassung  des  Landes  Budissin,  das  die  Ober- 
lausitz umfaßte,  wissen,  stellt  die  deutsche  Eolonisation  desselben 
dar,  erörtert  den  Bauer  und  seine  Hufe,  seine  Zinsen,  Dienste  und 
Abgaben,  die  verschiedenen  Elassen,  die  Smurden,  Gärtner,  Häusler, 
Lassiten,  das  Dorfgericht  in  deutscher  und  wendischer  Gestalt,  die 
Dreidinge,  die  Dorfgemeinde,  die  Mannschaften,  endlich  die  Leistun- 
gen an  den  Landesherrn,  Schoß  und  Bede  und  deren  Ueberlassnng 
an  zahlreiche  Gntsherrschaften.  Daraus  ergibt  sich  ein  bis  in  die 
kleinsten  Details  ausgeführtes  und  belegtes  Bild  der  Entstehung  und 
Ausgestaltung  der  mittelalterlichen  Zustände  bis  gegen  den  Abschluß 
des  15ten  Jahrhunderts. 

Wie  in   ganz   Deutschland   liegt  auch   in  der  Oberlaasitz  der 


Die  Oberlaasitz  und  Hermann  Knothe.  67 

Wendepunkt  des  bäuerlichen  Daseins  in  der  überraschend  schnellen 
nnd  mächtigen  Entwickelang  des  Ständestaates  in  den  ersten  De- 
cennien  der  Neuzeit.  Aus  den  Fehderittern  wurde  Dienstadel,  die 
kleinen  festen  Höfe  erweiterten  sich  auf  wüsten  oder  gelegten 
Banernhufen  und  auf  Rodeland  zu  großen  Ackergtttern,  auch  die 
Forsten  schloß  der  Gutsherr  und  setzte  die  Bauern  als  Servitutare 
auf  ihren  Bedarf.  Dabei  aber  erregte  beide  Parteien  ein  verhäng- 
nisvoller Gegensatz  des  Rechtsbewußtseins.  Der  Gutsherr  betrachtete 
sich  als  Obereigentttmer  und  die  Bauern  mit  ihren  Gütern  nur  als 
gegen  Zinsen  und  die  ihm  nötigen  Dienstleistungen  beliehen.  Die 
Bauern  aber  bewahrten  das  Gedächtnis  ihrer  ganz  individuellen  Be- 
fiitzverhältnisse.  Viele  waren  Wenden  und  in  der  That  völlig 
Leibeigene  y  ihr  Stand  rührte  noch  aus  der  Slavenzeit  und  ans  der 
Kriegsbeute  her.  Andre  aber  waren  deutsche  Kolonisten,  anfäng- 
lich unzweifelhaft  als  freie  Leute  gekommen,  die  ihre  Güter  nach 
bestimmten  Vertragsbestimmungen  übernahmen,  und  in  der  Ober- 
Iaositz  sogar  auch  im  wesentlichen  der  landesherrlichen,  nicht  der 
gutsherrlichen,  Gerichtsbarkeit  unterstanden.  Dazwischen  lagen  frei- 
lich verschiedene  Arten  der  Leihe  und  des  Hofrechts,  und  die  Hö- 
rigkeits-  und  Gerichtsbarkeitsklassen  mischten  sich  allmählich  in  den 
einzelnen  Dörfern,  die  erst  nach  und  nach  aus  dem  früher  oft  ge- 
teilt und  zerstreut  verliehenen  und  vererbten  grundherrlichen  Besitz 
in  die  Hand  eines  einzigen  Dominialherrn  übergiengen. 

Indeß  fällt  die  deutsche  Ansiedelung  der  Oberlausitz  znm  Teil 
schon  lange  vor  die  Zeit  des  geregelten  Kolonisationsverfahrens,  das 
seit  Albrecht  dem  Bären  sich  nach  Osten  verbreitete.  Auch  für  die 
zweifellos  von  Deutschen  angelegten  Hagenhufen-Dörfer  des  soge- 
nannten Eigenschen  Landes  in  den  südlichen  Bergen  von  Mariastern 
sind  Austhuungsnrkunden  nicht  überliefert  und  wurden  schwerlich 
anfgenommen.  Der  Bauer  lebte  in  seinen  Gewohnheiten  und  war 
Herr  in  der  Flur  gewesen,  so  lange  der  Ritter  sich  nicht  um  die 
Wirtschaft  kümmerte.  Als  sich  aber  die  Zeit  änderte,  letzterer  nach 
seinen  Rechten  fragte,  und  sie  als  ObereigentUmer  mit  dem  Ver- 
dachte auszunutzen  begann,  daß  der  Bauer  sich  bisher  möglichst 
viele  UebergrifiFe  erlaubt  habe,  nahm  er,  der  ohnehin  übermächtige 
Grandherr,  seinen  Maßstab  nicht  an  den  freiesten,  sondern  an  den 
Unfreiesten  seiner  Unterthanen. 

Unglücklicherweise  fiel  die  Entscheidung  der  Streitfragen  im 
besten  Falle  in  die  Hände  römischrechtlich  urteilender  Richter.  Die 
Unklarheit  der  deutschrechtlichen  Besitzverhältoisse  erschien  als 
Barbarei,  die  Forderungen  der  Bauern  klangen  an  die  des  Bauern- 
krieges an.  Freies  Eigentum  des  Herrn,  Servitus  des  Bauern  schien 
der  natürlichste  Zustand.    Eine  Beweiserhebung  über  die  seit  rechts« 


68  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  2. 

verjährter  Zeit  stattgehabte  Uehnng  der  Rechte  und  Pflichten  für 
jeden  einzelnen  Banern  durchzuführen,  hätte  Menschenalter  und  mehr 
als  den  Wert  der  Güter  gekostet.  Es  wurde  deshalb  überall  der 
Gedanke  der  Observanz  geltend.  Was  dem  Einen  recht  ist^  ist  dem 
Änderen  billig,  was  Einige  leisteten,  dazu  wurden  Alle  verurteilt 

Die  Ungerechtigkeiten  und  schweren  Kämpfe,  die  daraus  ent- 
standen, fallen  schon  in  die  Zeit  der  umfangreichen  modernen  Ak- 
ten, und  diese  sind  für  viele  Orte  noch  vorhanden. 

Knothe  behandelt  deshalb  aus  zum  Teil  erschreckenden  gleich- 
zeitigen Berichten  die  Bedrückungen  der  Unterthanen  durch  ihre 
Herrschaften  und  die  Aufstände  der  Ersteren  gegen  die  Letzteren  zu 
Ende  des  15.  bis  Anfang  des  17.  Jahrhunderts,  schildert  dann  die 
Zeit  des  30jährigen  Krieges  und  die  theoretisch-praktische  Weiter- 
entwickelung der  Erbunterthänigkeit  vor  der  Mitte  des  17.  bis  zur 
Mitte  des  18.  Jahrhunderts,  und  gibt  schließlich  einen  Ueberblick 
über  die  Zeit  der  Aufklärung  und  die  endliche  Aufhebung  der  Erb- 
unterthänigkeit nebst  der  Ablösung  aller  Frohnen  von  der  Mitte  des 
18.  bis  zur  Mitte  des  19.  Jahrhunderts. 

Es  wäre  ein  Leichtes  eine  Menge  interessanter  und  ergreifender 
Bilder  aus  der  Darstellung  herauszuheben,  aber  es  müßte  mit  allen 
Einzelheiten  geschehen,  und  die  Schrift  ist  nicht  so  stark,  daß  sie 
nicht  Jeder  nach  seinem  specielien  Zweck  schnell  durchsuchen  könnte. 

Uns  liegt  eine  andere  Betrachtung  mehr  am  Herzen,  mit  der 
wir  auch  dem  Leser  in  höherem  Grade  zu  nutzen  meinen,  und  die 
uns  als  eine  angenehme  Pflicht  gegen  den  Autor  erscheint. 

Die  Schrift,  so  klein  und  knapp  sie  ist,  wäre  gar  nicht  mög- 
lich geworden,  wenn  sie  nicht  die  Früchte  eines  langen  reichen  Le- 
bens voll  Arbeit  vor  uns  ausschüttete.  Sie  ist  in  sehr  eigentümlicher 
Weise  mit  der  ganzen  Entwickelung  Knothes  als  Geschichtsschreiber 
der  Oberlausitz  verknüpft.  Aus  den  erregten  Processkämpfen  der 
Bauern  seines  oberlausitzischen  Heimatsortes  ist  sein  Interesse  an 
der  Geschichte  seines  engeren  Vaterlandes  hervorgegangen  und  er 
ist  ihr  mit  seinen  Studien  und  seinen  Arbeiten  bis  zur  Gegenwart 
treu  geblieben. 

Hermann  Knothe  ist  1821  in  Hirschfelde  bei  Zittau  ge- 
boren.   Sein  Vater  war  dort  Pastor. 

Der  Rat  zu  Zittau  hatte  bereits  1494  und  1506  Anteile  von 
Hirschfelde,  welche  bis  dahin  adlige  Besitzer  inne  gehabt  hatten, 
erkauft  und,  wie  die  Städte  auf  den  meisten  ihrer  Güter,  die  zuge- 
hörigen herrschaftlichen  Felder  und  Wiesen  ausgethan.  Das  heißt, 
es  erwarben  die  Bauern  und  Gärtner  des  Dorfes  zu  ihren  erblichen 
Grundstücken  jetzt  auch  Pachtgut,  Laßacker  oder  Laßwiesen,  hinzu. 
Es  war  nicht  üblich,  von  dem  Rechte,  den  Pachtzins  für  diese  Laß- 


Die  Oberlausitz  und  Hermann  Knotlic.  69 

acker  gelegentlich  za  erhöhen  oder  gar  das  Pachtverhältnisza  kün- 
digen ^  Gebrauch  zu  machen.  Die  Laßäcker  blieben  somit,  so  gut 
als  die  alten  Erbäcker,  nm  den  festen  nicht  wechselnden  Laßzins 
bei  den  betreffenden  Baner-  und  GärtnergrundstUcken ;  ja  den  mei- 
sten Hänslernahrangen  verliehen  bei  etwaigen  Verkäufen  die  zuge- 
hörigen Laßäcker  erst  einen  Geldwert,  den  sie  ohne  diese  nicht  ge« 
habt  hätten.  In  älterer  Zeit  blieb  den  Leuten  aber  das  Rechtsver- 
hältnis noch  bewußt.  1558  trat  noch  ein  Häusler  einem  andern 
einen  Wiesenplan  ab,  »der  einem  ehrbaren  Rathe  ist,  so  lange  es 
ein  ehrbarer  Rath  vergönnte,  um  einen  Zins,  wie  er  ihn  gegeben, 
»sofern  es  einem  ehrbaren  Rath  gefällt«.  Aehnlich  noch  ein  Ande- 
res 1562.  1570  aber  kaufte  der  Rat  das  gesamte  alte  Komthurvor- 
werk  der  Johanniterkommende  von  Hirschfelde,  und  that  alles  Land 
als  Laßgut  aus,  seitdem  enthielten  die  Schöppenbttcher  keinen 
ähnlichen  Vorbehalt  bei  den  Abtretungen  mehr.  Die  Laßgüter  gal- 
ten ebenso  gut  als  festes  Zubehör  der  Grundstücke,  wie  die  Erb- 
äcker,  und  der  Laßzins  wurde  bis  in  unser  Jahrhundert  nicht  ver- 
ändert. 

Am  17/3  1832  aber  erschien  das  wohlbekannte  sächsische  Ge- 
setz über  Ablösungen  und  Gemeinheitsteilungen,  nach  welchem  Jeder 
gegen  den  25fachen  Betrag  des  Geldwerts  der  abzulösenden  Leistung 
freier  Eigentümer  seiner  ländlichen  Grundstücke  werden  konnte. 
Die  beginnenden  Ablösungen  führten  auch  den  Zittauer  Rat  auf  die 
Untersuchung  der  Rechtsverhältnisse  seiner  Güter,  und  er  kündigte 
1836  den  sämtlichen  Inhabern  von  Laßäckern  zu  Hirschfelde  an, 
daß  nach  Ablauf  von  4  Jahren  der  bisherige  Laßzins  erhöht,  und 
künftighin  alle  4  Jahr  die  Aecker  neu  verpachtet  werden  sollten. 
Es  handelte  sich  um  507  Scheffel  Aecker  und  Wiesen,  die  bis  dahin 
nur  543V2  Thlr.  zahlten,  und  nun  gegen  alles  Herkommen  und  den 
Bauern  ganz  unbegreiflich  Pachtlicitationen  unterworfen  werden 
sollten,  voraussichtlich  auch  den  darauf  fundierten  Wirtschaften  ganz 
entzogen  werden  konnten.  Die  Aufregung  unter  den  Hirschfelder 
Banem  war  eine  sehr  große.  Schriftwechsel  aller  Art  trat  ein.  Der 
Process  wurde  eingeleitet  und  erst  1843  dahin  ausgeglichen,  daß  die 
Inhaber  ihre  bisherigen  Laßäcker  für  einen  Kaufpreis  von  20  Tha- 
lem  fttr  den  Scheffel  als  walzende  Grundstücke  überkamen  und  den 
bisherigen  Lafizins  als  ablösbaren  Erbzins  weiter  zahlten. 

Es  läßt  sich  ermessen,  wie  das  Pfarrhaus  in  die  Bewegung  die- 
ser 7  Jahre  hineingezogen  wurde.  Unablässig  mußte  der  Pastor 
Klagen  hören,  Rat  geben  und  Schriftstücke  verfassen.  Es  war  die 
Zeit,  in  der  H.  Knothe  vom  15jährigen  Gymnasiasten  zum  Studenten 
und  Kandidaten  heranreifte,  und  es  konnte  nicht  fehlen,  daß  ne- 
ben aeineiD  Stadium  die  Geschichte  seines  Geburtsortes   seine  Lieb- 


70  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  2. 

lingsbeBchäftignng  wurde  und  ihm  fast  wie  eine  PflicbterfttllaDg  er- 
schien. Er  war  auch  ganz  der  Meosch,  nicht  mit  solchen  Gedanken 
zn  tändeln,  sondern  von  sich  selbst  feste  Ergebnisse  zu  fordern. 
Deshalb  wurde  schon  1846  im  Lausitzer  Magazin  (S.  108)  als  seine 
erste  Arbeit:  »die  Johanniter  Commende  zu  Hirschfeldec  gedruckt; 
und  1851  erschien  »Die  Geschichte  des  Fleckens  Hirschfelde«  (Dres- 
den, Kunze).  Bald  folgten:  »Geschichte  der  Dörfer  Rohnau,  Rosen- 
thal und  Scharre  bei  Hirschfelde«  Zittau,  Pahl  1857),  »Geschichte 
der  Dörfer  Burkersdorf  und  Schlegel«  (Ebd.  1862),  »Geschichte  des 
Schleinitzer  Ländchens«  (Lausitzer  Mag.  1862,  S.  401),  »Die  Burg- 
grafen von  Dohna  auf  Königsbrück«  (Ebd.  1864  S.  1),  »Das  ritter- 
liche Geschlecht  der  Schaff  im  Meißen'schen  und  in  der  Oberlansitz« 
(Ebd.  S.  19),  »Die  ältesten  Besitzer  von  Pulsnitz«  (Ebd.  1865, 
S.  283),  »Die  Geschichte  der  Herrn  vonKamenz«  (Ebd.  1886,  S.  81). 

Inzwischen  war  Enothe  als  Lehrer  an  das  Eadetteninstitut  zu 
Dresden  berufen  worden,  und  dessen  Flucht  vor  dem  vordringenden 
preußischen  Heere  führte  ihn  1866  nach  Wien  und  Graz,  Episoden, 
die  er  kürzlich  erst  sehr  lebendig  geschildert  hat. 

Mit  seiner  Rückkehr  nahm  er  auch  die  alten  Arbeiten  wieder 
auf.  Er  verstand  es  sich  Zugang  zu  fast  noch  unbekannten  und 
sehr  ängstlich  gehüteten  Urkundenschätzen  zu  öffnen.  Daraus  gieng 
die  Geschichte  der  von  Hohberg  in  der  Oberlausitz  (Laus.  Mag. 
1868,  S.  350),  die  Geschichte  des  sogenannten  Eigerschen  Kreises 
dort  (Ebd.  1870  S.  1  und  Dresden,  Burdach  1870)  und  die  Urkund- 
liche Geschichte  des  Jungfrauenklosters  Mariastern  Cisterzienserordens 
(Ebd.  1871)  hervor. 

Vor  allem  aber  sammelte  er  unermüdlich  die  umfassenden  Be- 
weisstücke zu  zwei  Hauptarbeiten,  den  »urkundlichen  Grundlagen  zu 
einer  Rechtsgeschichte  der  Oberlausitz  von  ältester  Zeit  bis  Mitte 
des  16.  Jahrhunderts«  (Görlitz,  Remer  1877  und  Laus.  Mag.  1877) 
und  dem  umfangreichen  Werke:  »Geschichte  des  Oberlausitzer  Adels 
und  seiner  Güter«  vom  13.  bis  gegen  Ende  des  16.  Jahrhunderts 
(Leipzig,  Breitkopf  u.  Härtel  1879).  In  letzterem  behandelt  er  den 
Ursprung  des  Oberlausitzischen  Adels,  des  höheren  wie  des  niederen, 
seine  Stellung  zum  Landesherrn,  zur  Kirche  und  zu  den  Städten  und 
die  Kulturverhältnisse  im  allgemeinen,  gibt  die  Genealogie  von  200 
Adelsfamilien,  und  endlich  die  Beschreibung  der  Güter  des  Adels, 
der  großen  Herrschaften,  der  Weichbilde  der  Städte,  und  der  Be- 
sitzungen des  Bistums  Meißen  in  der  Oberlausitz.  Alles  dies  sind 
keineswegs  trockene  Verzeichnisse,  sondern  bei  aller  Knappheit  le- 
bendige, zweckbewußte  Schilderungen. 

Wir  haben  nicht  nötig  über  Knothes  weitere  litterarische  Thä^ 
tigkeit    noch   Vieles  zu   sagen,   die  Titel  seiner  Schriften  und  Ab- 


Die  Oborlansitz  ond  Hermann  Knothe.  71 

baDdlangen,  die  wir,  soweit  sie  uns  bekannt  sind^  am  Sebluß  an- 
fahren wollen,  überheben  uns  dessen.  Sie  zeigen  zugleich,  wie  nn- 
entwegt  Enothe  an  der  Idee  festgehalten  hat  und  festhält,  daß  es 
nützlicher  sei,  wenn  er  alle  seine  Kräfte  der  Ausbeute  seines  aller- 
dings fast  unerschöpflichen  Materials  über  die  Geschichte  der  Ober- 
lausitz zuwende,  als  sie  auf  entferntere  Aufgaben  zu  zersplittern. 
Wir  wissen,  daß  er  in  diesem  Gedanken  sogar  ablehnte,  das  Direk- 
torat des  Eönigl.  Staatsarchivs  zu  Dresden  zu  übernehmen,  obwohl 
er  in  dieser  Anstalt  seit  langen  Jahren  völlig  heimisch  ist  Große 
Bescheidenheit  und  der  Wunsch  sich  nur  auf  dem  ihm  ganz  sicher 
bekannten  Gebiete  zu  bewegen,  haben  ihn  stets  geleitet.  Dafür  hat 
er  aber  auch  das  Verdienst  und  die  innere  Befriedigung  zur  Aufhel- 
lung der  nach  ihren  nationalen  und  politischen  Schicksalen  und  nach 
der  Entwickelung  ihrer  Rechts-  und  Wirtschaftszustände  durchaus 
eigenartigen  Stellung  der  Oberlausitz  Hervorragendes  beigetragen  zu 
haben.  Möge  es  ihm  vergönnt  sein,  mit  gleicher  Rüstigkeit,  von  den 
uns  noch  verborgenen  Schätzen,  für  die  ihm  in  seiner  eindringenden 
Kenntnis  und  in  der  Anerkennung  seiner  Landsleute  die  wirksamste 
Wünschelrute  zu  Gebote  steht,  zu  unserer  Freude  und  Belehrung 
noch  recht  viele  zu  heben. 

Mit  unserer  Besprechung  wünschen  wir  insbesondere  die  lebhaft 
erwachten  kulturgeschichtlichen  Studien  auf  Knothe  und  die  Ober- 
laasitz  hinzuweisen.  Seit  Garpzow  und  Anton  besitzt  die  Oberlausitz 
eifrige  Freunde  ihrer  Geschichte,  laufende  historische  Zeitschriften 
und  durch  v.  Redern,  Hoffmann,  Neumann  und  Köhler  leicht  zu- 
gängliche Urkundensammlnngen.  Das  Lausitzer  Magazin  ist  reich 
an  Lokaldarstellungen.  Im  Anhalt  an  Knothes  Durcharbeitung  der 
historischen  Zustände  aber  lassen  sich  für  dieses  bestimmt  über- 
sichtliche Gebiet  die  kulturgeschichtlichen  Fragen  in  um  so  inter- 
essanteren allgemeinen  Zusammenhang  bringen,  als  die  Oberlausitz 
schon  seit  der  frühesten  Ottonenzeit  Gebiet  der  deutschen  Kolonisa- 
tion war,  mehr  als  irgend  eine  der  westlichen  Slavenlandschaften 
an  ursprünglichen  nationalen  Ueberresten  auf  unsere  Zeit  gebracht, 
und  unserem  Verständnisse  jener  Vergangenheit  eine  hinreichend 
sicher  zu  betretende  Brücke  erhalten  hat. 

Außer  den  erwähnten  sind  folgende  historische  Arbeiten  Herrn. 
Enotbes  zu  nennen: 

Die  Besitzungen  des  Bistums  Meißen  in  der  Oberlausitz  (v.  We- 
ber, Archiv  für  die  Sachs.  Gesch.  VI,  S.  159). 

Geschichte  der  Herrschaft  Hoyerswerda  bis  Ende  des  16.  Jahr- 
hunderts.   (Ebd.  X,  S.  237). 

Zur  ältesten  Geschichte  der  Stadt  Weißenberg.  (Ebd.  N.  F.  VI, 
8.  329). 


72  Gott.  geJ.  Anz.  1887.  Nr.  2. 

Zur  ältesten  Geschichte  der  Stadt  Bautzen  bis  zum  Jahre  1346 
(Ermisch,  N.  Archiv  f.  sächs.  Geschichte  V,  S.  73). 

Die  Stadt  Bautzen  im  Banne  des  Bischofs  von  Meißen.  (Ebd.  V, 
S.  309). 

Die  ältesten  Besitzer  von  Tttrchau  bei  Zittau.  (Laus.  Magaz. 
1884,  S.  338). 

Die  ältesten  Besitzer  der  Herrschaft  Gabel-Lämberg  in  Böhmen. 
(Ebd.  1885). 

Urkundenbuch  der  Städte  Eamenz  und  Löban.  (Leipzig,  Gie- 
secke  u.  Devrient  1883;  Cod.  diplom.  Saxon.  reg.  II,  Bd.  7). 

Die  von  Metzrade  in  der  Oberlausitz.    (Laus.  Mag.  1872,  S.  161). 

Die  Burggrafen  von  Dohna  auf  Grafenstein  (v.  Weber,  Archiv 
für  d.  Sachs.  Gesch.  N.  Folg.  I,  S.  201). 

Höherer  und  niederer  Adel   in   der  Oberlaasitz.     (Ebd.  IV,  24). 

Die  Berka  von  der  Duba  auf  Hohnstein,  Wildenstein,  Tollen- 
stein und  ihre  Beziehungen  zu  den  meißnischen  Fürsten.  (Ermiscb, 
Neues  Archiv  f.  sächs.  Gesch.  II,  S.  193). 

Die  Berka  von  der  Duba  auf  Mtthlberg.    (Ebd.  VI,  S.  190). 

Zur  Genealogie  der  Berka  v.  d.  Duba  aus  dem  Hanse  Mtlhl- 
stein.    (Mitth.  des  Nordböhmischen  Exkursionsklubs  VIII,  81). 

Zur  Geschichte  der  Germanisier ung  in  der  Oberlausitz,  (v.  We- 
ber, Archiv  fUr  sächs.  Gesch.). 

Die  verschiedenen  Klassen  slavischer  Höriger  in  den  Wettini- 
schen  Landen  während  der  Zeit  des  11.  bis  14.  Jahrh.  (Ermiscb, 
N.  Archiv  f.  s.  Gesch.  IV,  S.  1). 

Gab  es  zu  Görlitz  eine  Burg  und  Burggrafen?  (Laus.  Mag. 
1868,  S.  70). 

Die  Vereinbarungen  zwischen  König  Johann  von  Böhmen,  Her* 
zog  Heinrich  von  Jauer  und  Bischof  Withego  von  Meißen  auf  dem 
Schlosse  Voigtsberg  bei  Oelsnitz.  (v.  Weber,  Archiv  f.  s.  Gesch.  VIII, 
S.  266). 

Die  politischen  Beziehungen  zwischen  der  Oberlausitz  und 
Meißen.    (Ebd.  XII,  274). 

Die  verschiedenen  Benennungen  des  jetzigen  Markgraftnms 
Oberlausitz.    (Ebd.  N.  Folg.  I,  S.  63). 

Der  Anteil  der  Oberlausitz  an  den  Anföngen  des  30jährigen 
Krieges,  1618-1623.     (Laus.  Mag.  1880,  Dresden,   Burdach  1880). 

Die  Bemühungen  der  Oberlausitz  um  Erlangung  eines  Majestäts- 
briefes, 1609—1611.    (Laus.  Mag.  1880,  S.  96). 

Die  Landeswappen  der  Oberlausitz.  (Ermiscb,  N.  Archiv,  f. 
Sachs.  Gesch.  III,  S.  93). 

Zur  Presbyteriologie  des  Zittauer  Weichbildes  vor  der  Refor- 
mation.   (Laus.  Mag.  1872,  S.  190). 


Perkins,  Ghiberti  et  son  dcole.  78 

Beiubaiii    vou    Kameuz,    der    Stifter    des    Klosters  Mariastera 
(v.  Weber,  Archiv  f.  s.  Gesch.  IV,  S.  81). 

Geschichte   der  Pfarrei  Höda    bei  Budessin   bis  zar  Einftlhrang 
der  Reformation.    (Ebd.  V,  28). 

UntersnchuDgen   tiber   die   Meißner  Bistamsmatrikel,   soweit  sie 
die  Oberlausitz  betrifft.    (Laas.  Mag.  1880,  S.  278). 

Die   Franziskanerklöster  zn  Löbau    und  Kamenz.     (Dibeling  n. 
Lechler,  Zeitschrift  f.  sächs.  Kirchengeschichte  I,  S.  99). 

Die  Erzpriester  in  der  Oberlausitz.    (Ebd.  II,  33). 

Nachträge  zur  Presbyteriologie  des  Zittaner Weichbildes  vorder 
Reformation.    (Laus.  Mag.  1885,  S.  132). 

Zur  Geschichte  der  Feier  des  Gregoriusfestes  in  der  Oberlausitz. 
(Laus.  Mag.  1862,  Wissenschaftliche  Abendunterhaltungen  45). 

Der  Brtlderzoll    zu  Dresden  und  die  Burggrafen   zu  Dohna  auf 
Königsbrück.   (v.  Weber,  Archiv  f.  s.  Gesch.  I,  S.  425). 

Die  Archive  in  der  Oberlausitz.    (Archivalische  Zeitschrift  IV). 

Zur  Geschichte  der  Juden  in  der  Oberlausitz.  (Ermisch,  N.  Ar- 
chiv, f.  sächs.  Gesch.  II,  50). 

Geschichte  des  Tuchmacherhandwerks  in  der  Oberlausitz.  (Laus. 
Mag.  1882,  S.  241;  Dresden,  Burdach  1883). 

Berlin.  Meitzen. 

Ghiberti   et   son  ^cole.  Par  Charles  Perkins,   directeur  da  mns^e  de 

Boston,  correspondant  de  l'Institut  de  France.    Paris  1886.     Jules  Rouam, 

äditeur.   29,  citä  d'Antin.  1  volume  in  4*^.    150  pages.    ]^dition  tiräe  k  500 
exemplaires. 

Eine  Reihe  v?ichtiger  kunstgeschichtlicher  Werke,  unter  denen 
die  verschiedenen  Serien  der  Bibliothique  internationale  de  Vart 
wohl  den  hervorragendsten  Platz  einnehmen,  hat  uns  die  Officin  der 
Librairie  de  Tart  in  Paris  bereits  geschenkt.  Wir  verdanken  dersel- 
ben z.  B.  die  Biographie  Claude  Lorrains  aus  der  Feder  Mark  Pat- 
tisoDS,  diejenige  des  Luca  della  Robbia  von  Molinier  und  Cavallucci, 
eine  Monographie  über  den  Ursprung  des  Porzellans  von  Davillier, 
die  Geschichte  des  Kupferstichs  in  Italien  vor  Marc-Anton  von  Henri 
Delaborde  und  die  Vorläufer  der  Renaissance  von  Eugene  Mttntz. 
Das  Leben  Ghibertis  ist  eine  der  letzten  Publikationen  des  verdienst- 
vollen, unter  der  bewährten  Leitung  von  Müntz  stehenden  Unter- 
nehmen Rouams,  sein  Verfasser,  der  amerikanische  Kunsthistoriker 
Perkins,  längst  mit  dem  Bildhauer  der  bertihmten  Bronzethüren  des 
Florentiner  Baptisten  ums  vertraut.  Schon  in  seinem  Grund  legen- 
den Buche  über  die  »Tuscan  Sculptores«  ^)  war  er  Ghiberti  nahe 
getreten ;  was  er  uns  hier  bietet,  kann  als  die  Ausfahrung  der  damals 

1)  Im  ersten  Bande.    Englische  Ausgabe  von  1864.  S.  122—137. 

CMM.  fO.  Am.  1887.  Hr.  8.  6 


74  Gott.  gel.  Adz.  1887.  Nr.  2. 

auf  das  Papier  geworfenen  Studie  gelten.    Leider  wird  dem  »Gbiberti« 
kein  weiteres  Werk  des  unermüdlichen  Forschers  folgen,  da  derselbe 
durch  einen  seltenen  Unglücksfall  kürzlich  um  das  Leben  gekommen  ist* 
Das  Buch,  dessen  Inhalt  in  den  folgenden  Zeilen  mitgeteilt  wer- 
den soll,    besteht   aus  fünf  Kapiteln,   deren  jedes   ein  abgerundetes 
Bild   entwirft,   welches   mit    zahlreichen  Illustrationen   versehen    ist. 
Zunächst  spricht  der  Autor  vom  Ursprung  der  Familie,  aus  der  der 
Künstler,  dessen  Leben   in  die  Jahre  von  1378 — 1455  fällt,    hervor- 
gieng.     Er  war  der  legitime  Sohn   des  Gione  di  Ser   Bonaccorso  de 
Pelago    und   der  Madonna  Fiore,    die   sich    nach    dem    Tode  ihres 
Gatten  in  zweiter  Ehe  mit  dem  Goldschmied  Bartolo  di  Michele  ver- 
mählte.     Dem  Stiefvater  verdankte  Ghiberti  zum  Teil  seine  künst- 
lerische Ausbildung,   er  bekundete  seine  Anhänglichkeit    an   ihn  da- 
durch,  daß  er  an  der  zweiten  Thüre   der  Taufkirche   von  San  Gio- 
vanni in  Florenz   sein  Bildnis  anbrachte    und    sich    bisweilen    nach 
ihm  Lorenzo  di  Bartolo  nannte.     Dies    hatte    zur  Folge,    daß  er  in 
seinen   alten  Tagen,   als   es   sich    darum  handelte,    seine  politische 
Wählbarkeit    zu    hintertreiben,    von    seinen  Feinden   als  uneheliches 
Kind  denunciert  wurde.    Ghiberti  verlangte  am  29.  April  1444  eine 
amtliche  Untersuchung,    welche   so    sehr  zu   seinen  Gunsten  ausfiel, 
daß  es  unlogisch  wäre,  heute,  nach    mehr  als   400  Jahren,  an  dem 
Urteilsspruche   der  Richter   rütteln    zu  wollen.     Perkins  ist  Milanesi 
gegenüber,  der  in  seiner  Vasariausgabe  (Bd.  2,    S.  222,  Anmerk.  1) 
doch  noch  Zweifel  hegt,    vollkommen    im  Recht,  an  demselben  fest- 
zuhalten, denn  wir  kennen  die  Zeugen,  die  in  dem  unerhörten  Ver- 
leumdnngsprocesse  auftraten,  nicht  weiter,   und  die  summarische  Be- 
handlung der  Angelegenheit  in  den  noch  vorhandenen  Akten  schließt 
jede  für  Ghiberti  ungünstige  Aufi^assung  aus.    Stimme  ich  in  diesem 
Fall  vollkommen   mit  dem  Verfasser  überein,   so    kann  ich  dagegen 
seine    Meinung    in  Bezug  auf  das  Verhältnis  Ghibertis    zu   Filippo 
Brunelleschi  nicht  ganz  teilen.      Es  gereicht  Perkins  zur  Ehre,   daß 
er   dem  Gegner  Lorenzos    volle  Gerechtigkeit  widerfahren   läßt   und 
den    egoistischen   Zug   im  Charakter   des   Letzteren   in    das   rechte 
Licht  stellt,    allein   er    geht  zu  weit,  wenn  er  mit  Vasari  annimmt, 
daß  der  gewaltige  Baumeister  der  Kuppel  von   Sta.  Maria  del  Fiore 
durch  seine  Fürsprache   beim  Schiedsgericht    persönlich   zum   Siege 
seines  Widersachers    beigetragen   habe.     Es   wäre   das    von    einem 
Konkurrenten    eine    zu    unnatürliche  That  gewesen.     Und  Ghibertis 
Konkurrent  war  Brunellesco,   nicht   nur  im  Jahre  1402,    als  es  sich 
um  die  Bronzethüre  des  Baptisterium  handelte,  er  war  es  auch  spä- 
ter, als  die  Florentiner  ernstlich  den  Kuppelbau  ihres  Domes  in  An- 
griff nahmen.    Bekanntlich   gelang  es  ihm  erst  1443,    Ghiberti   aus 
dem  Felde  zu  schlagen  und  die  Oberleitung  ganz  an  sich  zu  ziehen, 


Perkins,  Ghiberti  et  son  ^cole.  75 

znm  Qlfick  fttr  die  Sache  selbst,  denn  Gbibertis  Leistnngen  in  der 
Architektur  standen  weit  unter  seinen  Leistungen  in  der  Bildhauer- 
kunst. So  zieht  sich  wie  ein  roter  Faden  durch  das  Leben  Bru- 
nellescos  und  Gbibertis  der  Streit  um  die  Führerschaft  in  dem  da- 
maligen Eunstleben  von  Florenz;  der  eine  sucht  den  andern  von 
dem  Gebiete  seiner  eigentlichen  Thätigkeit  zu  verdrängen,  beide 
holen  zu  dem  Zweck  ihre  Waffen  ans  der  Schmiede  des  Gegners. 
Den  Schwerpunkt  des  zweiten  Kapitels  bildet  die  Beschreibung 
der  28  Reliefs  der  von  1403 — 1424  gemeißelten  ersten  Bronzethttre, 
80  wie  die  Würdigung  der  Statuen  von  Or  San  Michele  und  der 
Basreliefs  am  Taufbecken  des  Baptisteriums  zu  Siena.  Die  Letzte- 
ren, welche  als  Bindeglied  zwischen  den  frühen  Arbeiten  Gbibertis 
und  seinen  spätem  gelten  können,  leiten  uns  zum  folgenden  Ab- 
schnitt über,  in  welchem  die  zweite  Thüre  ausführlich  besprochen 
wird.  Perkins  bekundet  hier  die  Sicherheit  seines  ästhetischen  Ur* 
teils.  Er  läßt  sich  nicht  irre  leiten  durch  das  berühmte,  in  mancher 
Hinsicht  ja  wahre  Wort,  »die  Bronzethüre  sei  würdig,  als  Pforte  des 
Paradieses  zu  dienen«,  sondern  hebt,  auf  dem  Laokoon  Lessings 
fußend,  auch  die  stilistischen  Schwächen  derselben  hervor.  Er  hätte 
übrigens  nicht  nötig  gehabt,  gerade  Lessing  zu  eitleren,  um  das  ma- 
lerische Princip  in  der  Bildhauerkunst  zu  bekämpfen,  er  hätte  einem 
Mann  des  Quattrocento,  keinem  geringeren  als  Leonardo  da  Vinci, 
das  Wort  erteilen  können.  Wenn  Leonardo  in  seinem  Buch  von  der 
Haierei  da,  wo  er  vom  Wettstreit  der  Malerei  mit  der  Bildhauerei 
bandelt,  sagt:  »Das  Belief  ist  ein  Mischding  zwischen  Malerei  und 
Skulptur,  die  Perspektive  ein  Glied  der  Malerei;  der  Bildhauer,  der 
sie  auf  seine  Kunst  anwendet,  macht  sich  zum  Malere  ^),  so  ist  damit 
der  Beweis  erbracht,  daß  schon  in  dem  Jahrhundert,  in  welchem 
die  zweite  Bronzethür  entstand,  die  Kritik  sich  gegen  Ghiberti 
regte,  und  daß  speciell  Leonardo,  der  hier  als  Vorläufer  Lessings 
gelten  darf,  über  die  Grenzen  der  bildenden  Künste  sich  vollkom- 
men klar  war.  Ohne  Zweifel  hat  Leonardo,  als  er  diese  Sätze  nieder- 
schrieb, an  Ghiberti  gedacht,  der,  so  groß  er  auch  in  der  Kunstge- 
schichte seines  Landes  dasteht,  doch,  man  darf  dies  nicht  verschwei- 
gen, die  Schuld  an  dem  frühen  Verfall  der  italienischen  Plastik 
trägt.  Er  hat  gesäet,  was  die  Bernini  und  Borromini  ernteten,  er 
hat  seine  Kunst  auf  eine  schiefe  Ebene  gestellt,  von  welcher  selbst 
der  Genius  eines  Michelangelo  sie  nicht  mehr  ablenken  konnte. 
XJnd  das  hat  er  gethan,  nicht  zum  geringsten  Teil,  um  der  Welt  zu 
zeigen,  daß  er  die  Gesetze  der  Perspektive,  welche  Brunellesco  wie- 
dergefunden, ebenso  gut  kenne  wie  sein  großer  Nebenbuhler. 

1)  Quellenschriften  für  Kanstgeschichte  des  Mittelalters  und  der  Beuaissance. 
Bd.  18,  S.  46  und  48. 


76  Gott  gel.  Anz.  1887.  Nr.  2. 

Die  zwei  letzten  Kapitel  umfassen   die  Thätigkeit  Ghibertis  als 
Goldschmied,  Kanstschriftsteller  und  Zeichner  von  Scheibenrissen,  und 
beschäftigen   sich   |mit    seiner   künstlerischen   Nachfolgerschaft;  ein 
Anhang   gibt   Aaszüge   aus   den   berühmten  Kommentaren   des  Mei- 
sters sowie  die  Uebersetznng   des   sehr   unklaren    und   nicht  einmal 
mit   absoluter  Sicherheit   auf  Ghiberti   selbst  zurückgehenden  Trak- 
tats  über  die  Architektur.    Wir    wollen   uns  bei  seinen  schriftstelle- 
rischen Leistungen   nicht    aufhalten  und   lieber  noch  kurz  sein  Ver- 
hältnis zur  Antike  berühren.    Wie   andere  Künstler  seiner  Zeit  hat 
auch  Ghiberti  fleißig  Antiken  gesammelt,   um  sich  an  ihnen  zu  bil- 
den.    Mit   Recht   weist  Perkins  darauf  hin,   wie   einzelne  Figuren 
seiner  Werke,  z.  B.  Isaak,  Samson,  welch'  letzterer  einem  Herai^Ies 
gleicht,  den  Stempel  der  Antike  an  sich  tragen,  und  Vasari  meldet, 
daß   die   Erben  Ghibertis    nach   seinem  Tode    »oltre  le  cose   di  sua 
mano,  molte  anticagUe  di  marmo  e  di  bronzo«  im  Atelier  vorfanden. 
Es  drängt  sich   uns  die  Frage   auf,    hat  Ghibetti   nicht  ebenso  wie 
Brunellesco,  der  auf  seiner  Konkurrenzarbeit  von  1402  nachweisbar 
das  Motiv  des  Dornausziehers  vom  Capitol  verwertete  (vgl.  Seite  13 
und  16),  bestimmte  Stücke  seiner  Sammlung   nachgebildet?   Perkins 
bleibt  uns  die  Antwort  auf  diese  Frage  schuldig,  obgleich  er  sie  im 
Texte  und  in  den  Illustrationen  streift.     Unter  den  Messer  Giovanni 
Gaddi   verkauften    Antiken   Ghibertis  befand    sich  auch  (cf.  S.  89) 
der  Torso  eines  Satyr,  ein  Werk  angeblich  aus  der  besten  griechischen 
Zeit,  das  heute  in  den  Uffizien  aufbewahrt  wird.    Gehn  wir  nun  die  20 
Statuetten  in  den  Nischen  der  zweiten  Bronzethür  des  Baptisteriums 
der  Beihe   nach    durch,   so   finden  wir,    daß   Jeremias   uns  mit  der 
Maske   eines   Sokrates   oder   Satyr  entgegentritt.     Ich    stelle   diese 
beiden  Thatsachen  neben  einander,    ohne  aus  ihnen  eine  Folgerung 
zu  ziehen,  nur  um  zu  zeigen,    wie  Ghiberti  sich  einläßlich  mit  dem 
Satyrtypus  beschäftigt  hat.     Jedenfalls  war  aber  sein  Verhältnis  zur 
Antike  ein  oberflächliches,  das  innerste  Wesen  des  hellenischen  Gei- 
stes vermochte    er    nicht   zu    ergründen.     Wäre   er  in  die  Tiefe  ge- 
drungen,  so   hätte   er    auf  seinen  Reliefs   die  mit  der  Plastik  nicht 
vereinbare   perspektivische  Verschiebung   der  Wandflächen  entschie- 
den vermieden. 

Ich  will  nicht  schließen  ohne  einige  nekrologische  Notizen  über 
den  Verfasser^).  Charles  Callahan  Perkins  starb  am  25.  Aug.  1886 
im  Alter  von  62  Jahren  zu  Windsor  in  Vermont  in  den  Vereinigten 
Staaten.  Ein  Sturz  aus  dem  Wagen  machte  dem  Leben  des  geistig 
und  körperlich  noch  frischen  Mannes  gewaltsam  ein  Ende.  Wie 
schon  der  »Ghiberti«    zeigt,    liegt   das  Hauptverdienst   von  Perkins 

1)  Cf.  C.  V.  F.  in  der  Kunstchronik  v.  16.  Dec.  1886.  Nr.  10  S.  167. 


Laistner,  Der  Archetypus  der  Nibelungen.  77 

in  seinen  Studien  über  die  italieniscbe  Skulptur.  Vier  Jabre  nacb 
der  VeröffentlicbuDg  des  bereits  erwäbnten  und  aufs  reicbste  mit 
Illustrationen  versebenen  zweibändigen  Werkes  über  die  »Tuscan 
Sculptorsc,  d.  b.  1868  erscbien  sein  Bncb  über  die  »Italian  Sculp- 
tors in  nortbern,  soutbern  and  eastern  Italy c,  und  1883  kam  von 
ibm  ein  »bistorical  bandbook  of  Italian  sculpture«  beraus.  Außer- 
dem nabm  er  in  Boston,  wo  er  Galleriedirektor  war,  Teil  an  der 
Grtlndung  des  »American  journal  of  Arcbeology«.  1869  wurde  Per- 
kins korrespondierendes  Mitglied  der  Akademie  der  scbönen  Künste 
zu  Paris;  die  Franzosen  betracbteten  ibn  als  einen  derlbrigen,  und 
Müntz  berief  ibn  kurz  vor  seinem  Tode  zum  Mitarbeiter  an  der  Bi- 
bliotbiqne  internationale  de  Tart.  Als  solcber  bätte  er  nocb  Man- 
ebes  leisten  können,  immerbin  aber  ist  das,  was  er  gewirkt  bat, 
hinreicbend,  um  seinen  Namen  auf  die  Nacbwelt  zu  überbringen. 
Wenn  aucb  vieles  in  den  Scbriften  von  Perkins  beute  überholt  ist 
und  veraltet  erscbeint,  so  bildet  ihr  Inhalt  im  Wesentlichen  doch  das 
Gemeingut  der  modernen  Wissenschaft. 

Zürich.  Carl  Brun. 


Laistner,  Ludwig,  Der  Archetypus  der  Nibelungen.  [Sonderabdruck 
der  Einleitung  zu  dem  Werke:  Das  Nibelungenlied  nach  der  Hobenems- 
l^Iünchener  Handschrift  in  pbototypiscber  Nachbildung].  München  1886. 
Yeriagsanstalt  f&r  Kunst  und  Wissenschaft,  vormals  Friedrich  Bruckmann. 
IV,  48  SS.    4«.     2  M.  40. 

Die  Nachbildung  der  bekannten  Nibelungenbandschrift  Ä  mit 
Beifügung  gut  gewählter  Stücke  aus  B  und  C  ist  ein  sehr  willkom- 
menes Werk  und  bei  dem  unvergleichlichen  Werte  des  Gedichtes 
aufrichtigen  Dankes  sicher.  Aus  der  Reproduktion  von  Ä  ersiebt 
man,  um  wie  vieles  genauer  die  verschiedenen  an  diesem  Manuskript 
beteiligten  Hände  in  Lachmanns  Ausgabe  als  in  der  von  Bartsch 
bestimmt  sind.  Aucb  das  für  die  Heptaden  so  wertvolle  Zeugnis, 
welches  die  von  R.  v.  Muth  bemerkte  Abirrung  des  Schreibers  von 
1282,*  auf  1289,*  bietet,  tritt  hier  klar  hervor. 

Die  als  Einleitung  dienende  Arbeit  von  L.  Laistner  bezieht  sich 
auf  die  Urschrift  des  Gedichts,  aus  welcher  Ä  direkt,  mehrere  andere 
Handschriften  durch  Vermittelung  nur  eines  einzigen  Zwischengliedes 
oder  vielleicht  ebenfalls  direkt  geflossen  sein  sollen.  Schon  diese 
Annahmen  werden  bedenklich  erscheinen.  Wie  viele  Gedichte  jener 
Zeit  sind  uns  nur  durch  späte  Handschriften,  z.  T.  nur  durch  Zeug- 
nisse bekannt,  und  über  die  Nibelungen  allein  soll  ein  verbältnis- 
mäßig  so  günstiges  Geschick  gewaltet  haben? 

Der  Verf.  bestimmt  nun  diese  Urhandschrift  überaus  genau,  nach 
Seiten-  und  Zeilenzahl  und  nacb  sonstiger  Einrichtung.     Vor  «Hem 


78  Gm.  gel.  Anz.   1887.  Nr.  2. 

aber  äußert  er  über  den  Ornnd  der  Hanptverschiedenbeit  zwiscben^ 
nnd  dem  gemeinen  Text  eine  Vermatung,  die  er  bis  ins  Einzelnste 
verfolgt 

Diese  Hanptverscbiedenheit  ist  die  Differenz  in  der  ZabI  der 
Stropben.  Ä  bat  bekanntlieb  63  Stropben  weniger  als  der  gemeine 
Text,  und  zwar  fallen  von  diesen  Strophen  bei  weitem  die  meisten, 
56,  in  eine  bestimmte  Partie  des  Oediebts,  zwischen  die  Strophen  325 
und  662  nach  der  Zählung  von  A,   in  Lachmanns  IV.  und  V.  Lied. 

Eine  Erklärung  dieser  Differenz  aus  äußerlichen  Gründen  hatte 
schon  Eonrad  Hofmann  1872  gegeben  in  den  Abhandlungen  der  K. 
Bayer.  Akademie  der  Wissenschaften  L  Kl.  XIL  Bd.,  1.  Abth.  Er 
vermutete,  daß  an  dieser  Stelle  der  Schreiber  von  J.  eine  ältere  kür- 
zere Hs.  des  Gedichts  benutzt  hätte,  aus  welcher  mehrere  Lagen  irgend- 
wie in  seine  Vorlage  gekommen  wären.  Dann  hätte  aber  auch  in 
den  übrigen  Partien  des  Gedichts,  wie  es  in  A  überliefert  ist,  die 
gleiche  Behandlung  des  Grundtextes,  wie  sie  die  Interpolatoren  hier 
vorgenommen  haben  sollen,  nachweisbar  sein  müssen.  Daß  auch  die 
Berechnung  der  bezüglichen  Lagen  nicht  ganz  stimmte,  zeigte  Rauten- 
berg Germania  17,431  ff. 

Laistner  nun  vermutet,  daß  die  Urbandschrift  allerdings  jene 
Strophen  schon  enthalten  habe,  daß  sie  aber  durch  einen  unglück- 
lichen Zufall,  eine  Uebergießung  mit  Dinte,  unlesbar  geworden  seien. 
A  babe  sie  dann  weggelassen,  dagegen  der  Verfasser  des  Textes» 
der  den  übrigen  Hss.  zu  Grunde  liegt,  an  ihrer  Stelle  neue,  teilweise 
schlechte  Strophen  eingesetzt. 

In  diesem  Falle  hätte  aber  wohl,  wenn  nicht  überall,  so  doch 
in  der  Regel  der  Text  von  A  Lücken  des  Sinnes  aufweisen  müssen: 
solche  zu  zeigen,  hat  sich  der  Verf.  nicht  bemüht. 

Er  begnügt  sich  mit  einer  überaus  künstlichen  Berechnung,  wie 
jener  unglückselige  Dintenerguß  gerade  diese,  weit  von  einander 
zerstreuten  Strophen  hätte  treffen  kOnnen. 

Dabei  legt  er  eine  Ansicht  über  den  Anfang  des  Gedichtes  zu 
Grunde,  deren  Stichhaltigkeit  hier  des  Näheren  geprüft  werden  möge. 

Die  erste  Strophe  fehlt  in  B  und  J\  die  letztere  Hs.  bat  außer- 
dem auch  die  Stropben  7 — 12.  16.  17  nicht.  Alle  diese  Strophen 
spricht  Laistner  dem  Original  ab.  1  nnd  17  haben  ganz  durchgereimte 
Cäsuren,  eine  » Modernisierung c,  die  das  Original,  d.  h.  A  im  Uebrigen, 
nicht  kenne.  Zugegeben,  daß  diese  Strophen  späterer  Zusatz  sein 
mögen  (sie  gehören  nach  Lachmann  den  Interpolatoren  an) ;  warum  soll 
aber  auch  Str.  16  fallen,  eine  in  jeder  Beziehung  untadelhafte,  ja 
für  den  Zusammenhang  kaum  entbehrliche  Strophe  ?  Und  sind  nicht 
7—12  wenigstens  ebenso  gut  wie  2—5?  Daß  J  wegläßt,  erkennt 
doch  Laistner  selbst  an,  indem  er  die  Strophe  19,  welche  in  J  fehlt, 


Laistner,  Der  Archetypus  der  Nibelungen.  79 

iD  d  aber  ebenso  yorhaudeu  ist  wie  1,  gelten  läßL  Und  sollte  nicht 
wie  Str.  19,  so  auch  1  der  Vorlage  von  Jd  angehören  ?  Wollte  man 
nach  äußeren  Gründen  für  diese  Lücken  im  Anfange  von  J  suchen, 
80  ließen  sich  wohl  solche  erdenken,  die  weit  weniger  wunderbar  wä- 
ren als  jener  ungeheure  und  doch  so  geschickt  verteilte  Diutenerguß. 
Standen  in  der  Vorlage  von  J  Str.  1—9  auf  der  ersten  Seite,  10—19 
(19  wie  in  Ä  vor  18  gestellt)  auf  der  Rückseite,  so  wäre  durch  eine 
Verletzung  des  ersten  Blattes  oben  und  unten,  für  welche  Brand, 
Wegreißen,  oder  auch  Beschmutzung  nach  Belieben  als  Grund  ge- 
dacht werden  können,  der  Wegfall  von  Str.  1  und  10  oben,  7 — 9 
und  16.  17.  19  unten  erklärt;  auch  11  und  12  könnte  [man  sich 
leicht  so  beschädigt  denken,  daß  der  Abschreiber  sie  lieber  ganz 
wegließ.  Aber  ich  möchte  ebenso  gut  auch  irgend  eine,  uns  jetzt 
unerdenkliche  Laune  des  Abschreibers  für  einen  möglichen  Grund 
dieser  Weglassungen  halten. 

Allzu  künstlich,  wie  Laistners  Annahme  für  die  Benutzung  der 
Urbandschrift,  scheint  mir  auch,  was  er  über  die  Entstehung  einiger 
uns  erhaltener  Handschriften  vermutet.  Die  Hss.  Db  bieten  einen 
Text,  der  bis  Str.  268  an  0,  von  da  ab  an  B  sich  anschließt; 
ebenso  wie  sie  auch  in  der  Klage  anfangs  den  modernisierten  Text 
enthalten ,  dann  plötzlich  zum  älteren  Ubergehn.  Hier  vermutet  nun 
Laistner  folgenden  Vorgang  (p.  2) :  »Der  Schreiber  von  D*  (bezeich- 
nen wir  so  die  Vorlage  von  Db)  sollte  oder  wollte  den  C-Text  lie- 
fern. Zur  Verfügung  stand  ihm  nur  ein  Vulgatatext  d.  Er  beschloß 
seiner  Abschrift  wenigstens  am  Schauende  den  Anschein  der  (7-Re- 
daktioD  zu  verleihen.  Zu  diesem  Behufe  entnahm  er  seiner  Vorlage 
d  diejenigen  Lagen,  welche  den  Anfang  der  zwei  Gedichte  enthielten, 
und  begab  sich  an  den  Ort,  wo  er  Einsicht  von  einem  C-Text  neh- 
men konnte,  notierte  sich  die  Abweichungen  und  stellte  mit  Hilfe 
dieser  Notizen,  welche  allerhand  Kleinigkeiten  unberücksichtigt  ließen, 
seine  Abschrift  her«.  Wie  viel  einfacher  ist  es  doch  anzunehmen, 
daß  der  oder  vielmehr  die  Abschreiber  von  D*,  nachdem  sie  gleich- 
zeitig den  Anfang  des  Liedes  und  der  Klage  geschrieben  hatten,  sich 
überzeugten,  nicht  der  Text  der  erstbenutzten  Handschrift,  sondern 
der  einer  anderen,  ihnen  vielleicht  erst  später  bekannt  gewordenen, 
sei  der  bessere. 

Notizen  an  den  Rand,  Lesarten  anderer  Hss.  und  Zusätze,  etwa 
als  Vorbereitung  einer  späteren  Verarbeitung,  nimmt  der  Verf.  mehr- 
fach an.  Ref.  bezweifelt  sehr,  daß  dies  Verfahren  überhaupt  im  Mit- 
telalter üblich  gewesen.  Eben  beschäftigt  mit  dem  Abschluß  seiner 
Ausgabe  des  Rofnan  de  Eenartj  dessen  Text  noch  viel  weiter  gehende 
Veränderungen  erfahren  hat  als  die  Nibelungen,  darf  er  sagen,  daß 
keine  einzige  der  hierher  gehörigen  Handschriften  derartige  kritische 


80  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  2. 

Notizen  zwischen  den  Zeilen  oder  am  Rande  zeigt.  Die  mittelalter- 
lichen Handschriften,  wenigstens  die  des  XIII.  Jahrhunderts  noch, 
waren  viel  za  kostbar,  als  daß  die  Schreiber  sich  hätten  eine  solche 
Verunzierung  gestatten  dürfen.  Einzelne  Glossen  oder  auch  absicht- 
liche Durchglossierung  mit  Worten,  die  zum  Verständnis  dienen  soll- 
ten, sollen  damit  nicht  geläugnet  sein. 

Uebrigens  ist  der  Verf.  auch  nicht  durchweg  genau  in  seinen 
Angaben.  S.  21  sagt  er,  daß  sämtliche  Hss.  der  D-Gruppe  in  fort- 
laufenden Zeilen  geschrieben  seien:  aber  b  setzt  die  Verse  ab. 

Kaum  weniger  als  die  Erörterungen  über  die  Hss.-verhältnisse 
werden  die  Vermutungen  Bedenken  erregen ,  welche  der  Verf.  über 
die  Herkunft  und  Entstehung  des  Gedichtes  äußert.  Die  Erhaltung 
der  meisten  Handschriften  in  Tyrol  oder  in  der  Nähe  wird  benutzt 
zu  einer  wieder  bis  in  das  geringste  Detail  durchgeführten  Hypo- 
these für  den  Ursprung  des  Werkes  in  Tyrol.  Woher  dann  die  ge- 
naue Kenntnis  nur  Oesterreichs,  die  Hervorhebung  Wiens?  Laistner 
begnügt  sich  auf  S.  47  gegen  diese  inneren  Gründe  auf  die  Aeuße- 
rungen  eines  Kritikers  hinzuweisen,  dessen  Ansichten  über  die  Hand- 
schriftenfrage doch  nicht  den  geringsten  Eindruck  auf  ihn  gemacht 
haben.  Auch  geht  er  hier  nicht  nur  über  den  sonst  von  ihm  ange- 
führten mitteldeutschen  Charakter  einer  Hs.  hinweg,  auch  die  mittel- 
niederländische Bearbeitung  bleibt  gänzlich  außer  Betracht. 

Die  Konjekturen  zum  Texte  im  Einzelnen  haben  denselben 
Grundzug:  erst  wird  die  Möglichkeit  eines  Versehens  erörtert,  ehe  er- 
wiesen ist,  daß  wirklich  ein  Verseben  stattgefunden  hat.  895,  1  will 
Laistner  lesen:  Von  zierlichem  siute  was  allea  sin  gewant.  Aber  er 
fühlt  wohl  selbst,  daß  der  Ausdruck  »ein  Kleid  ist  von  zierlicher 
Natc  uns  anstößig  sein  würde,  und  es  wohl  auch  früher  gewesen 
wäre;  und  fügt  deshalb  die  weitere  Konjektur  snite  bei. 

Laistner  schließt  mit  der  Hoffnung,  zwischen  »Liedkämpfen 
und  Notgestallcn«  einen  Mittelweg  eingeschlagen  zu  haben,  der  beide 
Gegner  zur  Versöhnung  führen  könne.  Es  ist  doch  sehr  zweifel- 
haft, ob  die  Verteidiger  von  C  die  Bezeichnung  dieses  Textes  als 
»Modernisiernngc  annehmen,  ob  Bartsch  in  die  gänzliche  Außer- 
achtlassung seiner  Hypothese  sich  fügen  werde.  Lachmanns  Anhän- 
ger aber  werden  gewiß  der  Ansicht  sein,  daß  eine  Untersuchung  des 
Inhalts  mehr  Gewicht  habe  als  eine  äußerliche  Betrachtung  der  Ueber- 
lieferungsform,  sei  diese  auch  scharfsinnig  angestellt  und  mit  hin- 
gebendem Fleiße  durchgeführt. 

Straßburg.  E.  Martin. 

Fftr  di«  Redaktion  Twanlirortlich :   Prof.  Dr.  B§ekUl,  Direktor  der  Q«tt.  gel.  Ans., 
ABeeasor  der  KAnigUcben  OeaeUschafk  der  WiMenediftften. 

ftriag  dtr  Düitriek'tehm  YnfkigB'Buekkimdhmff» 
J^nuk  dm'  DMmeh'Bdun  Un99.'BucMrudt0irtt  (JFV.  W,  Kautnti), 


nrrrw''  f 


i 


81 


Göttingische 

gelehrte  Anzeigen 

unter  der  Aufsicht 

der  Königl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Nr.  3.  1.  Febraar  1887. 


Preis  des  Jahrganges :  JH  24  (mit  den  »Nachrichten  d.  k.  G.  d.  Wiss.c :  «41  27). 
Preis  der  einzelnen  Nummer  nach  Anzahl  der  Bogen:  der  Bogen  60  ^ 

Inhalt :   L  a  in  y ,  Saneti  Eplmem  Syri  bymni  et  sermones.    Tom.  II.    Von  NSUUke.    —    Bndr^ta^i 
9rag«retilaka    and   Bnyyaka's  Salirdayalili  ed.   Pia  che  I.    Von  Zaeharias.  —    D.  Peshntan,  Gan. 
jaahAyagin  etc.     Von  Jmtt.  —    Lndwig,   Johann   Oeorg  Kästner,   ein  elsiasiBcher  Tondichter  etc. 
Ton    Bme.  —    Gftldenpennig,  Geschichte  dea  ostrOmischen  Reiches  nnter  den  Kaisern  Aroadins 
oad   Theodosins  II.    Von  Swdu 

=  Eigenniohtiger  Abdruck  von  Artikeln  der  66tt.  gel.  Anzeigen  verboten.  ^ 

Saneti  EphraemSyri  hymni  et  sermones,  quos  e  codicibus  Londinensibos, 
Parisiensibus  et  Ozoniensibns  descriptos,  edidit,  latinitate  donavit,  variis 
lectionibus  instrnxit,  notis  et  prolegomenis  illastravit  Thomas  Josephus 
Lamy.  Tomas  11.  Mechliniae,  Dessain  1886.  (XXHI  S.  und  832  Columnen 
in  Quart). 

Der  zweite  Band  dieser  großen  Nachlese  zu  der  Römischen 
Ausgabe^)  enthält  von  Werken  des  EphraYm  zunächst  einen  Teil 
seines  Bibelkommentars,  nämlich  die  Auslegung  des  Jesaias  von  da 
an,  wo  die  Römische  Ausgabe  damit  abbricht  (capp.  43—66),  von 
fbnf  kleinen  Propheten  und  von  den  Klageliedern.  Der  Herausgeber 
bemerkt  aber  mit  Recht ,  daß  diese ,  einer  Eatene  entnommenen, 
Seholien  nur  Bruchstücke  des  Werkes  sind.  Andrerseits  ist  aber 
auch  hier  wieder  Fremdes  eingemischt.  Wenn  zn  Jona  3,  4  nicht 
bloß  die  LXX,  sondern  auch  Aquila  und  Symmachus  citiert  werden, 
wenn  zn  Nahum  2,  11  der  hexaplarische  Text  neben  dem  der  Pe- 
Bchita  erscheint  und  ebenso,  wie  schon  der  Herausgeber  konstatiert, 
zu  Hab.  3,  3,  so  weist  das  mit  Notwendigkeit  auf  direkte  oder  in- 
direkte Benutzung  des  syrisch-hexaplarischen  Textes  hin,  der  erst 
im  Anfang  des  7ten  Jahrhunderts  n.  Chr.  entstanden  ist.  Auch  die 
Angaben  Aber  die  persönlichen  Verhältnisse  der  einzelnen  Prophe- 
ten in  den  Ueberschriften  mögen  zunächst  einer  hexaplarischen 
Handschrift  entnommen  sein,   wie  ja   auch  der  codex  Ambrosianus 

J,  y  1)  Siehe  diese  Blätter  1882,  29.  Nov.  (Stück  48). 

Odtt.  fei.  All.  1887.  Nr.  8.  7 


82  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  8. 

solche  BemerkuDgen  hat.  Was  nun  EphraYms  eigne  Erklärungen 
betrifft,  so  haben  sie  für  diese  Bücher  allerdings  nicht  das  Interesse 
wie  für  einige  andere.  Das  war  natürlich  von  vorn  herein  gewiß, 
daß  sie  uns  für  das  Verständnis  der  Propheten  selbst  nichts  Neues 
bieten  könnten,  sondern  nur  für  die  Geschichte  der  Auslegung. 

Er  folgen  einige  längere,  und  natürlich  weitschweifige,  paräne- 
tische  und  strafende  Memre.  In  einem  derselben  lesen  wir  eine 
krasse,  aber  im  Grunde  wenig  phantasiereiche  Schilderung  der  Hölle 
(365  ff.),  welcher  ich  meinerseits  die  entsprechenden  Stellen  im  Eor&n 
immer  noch  vorziehen  möchte.  In  eben  demselben  schildert  EphraYm 
das  Strafgericht  über  Sodom  und  hebt  dabei  besonders  hervor,  wie 
sehr  sich  die  Frauen  in  Sodom  durch  ihren  übertriebnen  Putz  — 
oder  durch  ihren  Putz  überhaupt  —  versündigt  hätten.  Er  tadelt 
dabei  u.  A.  die  Frauen,  welche  sich  ordentlich  die  Zähne  bürsten 
(S.  379)^):  man  weiß,  zu  welcher  Unsauberkeit  die  asketischen  Nei- 
gungen der  syrischen  Kirchen  später  geführt  haben  I  —  Der  letzte 
MSmrä  enthält  einige  merkwürdige  Hinweisungen  auf  allerlei  heid- 
nischen Aberglauben,  der  damals  noch  unter  den  mesopotamischen 
Christen  herrschte.  EphraYm  berichtet  über  den  Unfug,  der  mit 
Amuletten  getrieben  ward  (395.  411)^),  wie  noch  heute  bei  Musli- 
men und  Christen  des  Orients.  Er  erwähnt  die  Sitte,  bei  zauberi- 
schen Handlungen  mit  eignem  Blute  zu  schreiben  (S.  411):  »wer  mit 
dem  Blute  seines  Leibes  nur  ein  Iota  schreibt  und  in  ein  Schrift- 
stück einzeichnet,  der  bleibt  bei  Jannes  und  Jambres,  den  Namen- 
Zauberernc').  Diese  »Namen«,  mit  denen  gezaubert  wird,  finden 
sich  u.  A.  auch  bei  den  Mandäern  und  den  Abessiniern.  Sie  wer- 
den noch  419,  26  erwähnt.  397,  5  gibt  uns  EphraYm  auch  zwei 
Dämonen-  (resp.  Engel-)Namen,  wie  wir  solche  aus  litterarischen 
und  andern  Denkmälern  des  Orients  in  Fülle  kennen:  Rüfäel  und 
ItefüfdSl,  beides  natürlich  Entstellungen  von  Raphael  {R^äM)  in  be- 
kannter Art^).  Auch  die  geheimnisvollen  Waschungen  in  Quellen, 
gegen  die  er  an  mehreren  Stellen  eifert^),   werden  hier  wieder  ge- 


1)  »Welche  sich  viel  ihre  Zähne  abriebenc.  Der  Herausgeber  bringt  erst 
durch  die  üebersetzung  »quarum  dentes  nimio  studi  detersae  fuerant«  ein  »zu 
viele  hinein  und  schwächt  so  den  AnstoB. 

2)  Vgl.  die  Born.  Ausg.  n,  464  D.  UI,  671  B. 

8)  Der  Glaube,  da£  der  Kontrakt,  wodurch  man  sich  dem  Satan  zu  eigen 
gebe,  mit  eignem  Blute  zu  schreiben  sei,  ist  erst  aus  dem  IStcn  Jahrhundert  be- 
zeugt, s.  Boskoff,  Geschichte  des  Teufels  I,  347;  aber  etwas  Aehnliches  mu$ 
doch  schon  hier  gemeint  sein. 

4)  Der  Erzengel  heiBt  bei  den  Abessiniern  ja  selbst  RüfdH, 

5)  Siehe  die  Stellen  bei  Payne-Smith  col.  2588  unten. 


« 


Lamy,  Sancti  Ephraem  Syri  hymni  et  sennones.    Tom.  II.  83 

oaoDt  (395) ;  leider  läßt  uns  aach  die  etwas  genauere  Stelle  III,  666  f. 
(der  Rom.  Ansg.)  Doch  nicht  recht  das  Wesen  und  den  Ursprung  die* 
ses  Brauches  erkennen.  Selbstverständlich  verwirft  EphraYm  dies 
Treiben  nicht  als  Unsinn,  sondern  als  Gottlosigkeit,  da  er  mit  seiner 
ganzen  Zeit  an  die  Existenz  der  von  den  Beschwörern  angerufenen 
Dämonen  und  an  die  Wirksamkeit  der  Zauberei  auf  die  höllischen 
Mächte  so  fest  glaubt  wie  nur  Einer  der  Beschwörer  selbst. 

Den  größten  Teil  des  Bandes  nehmen  MedräschS  (strophische 
Lieder  zum  Singen)  ein,  zum  Teil  auf  Eirchenfeste ,  zum  Teil  auf 
Andres  bezüglich.  Einige  davon  sind  alphabetische  Akrosticha. 
Dazu  gehört  außer  den  vom  Heransgeber  als  solche  bezeichneten 
auch  der  551  ff.  Ein  Bruchstück  aus  einem  alphabetischen  Liede 
ist  575  f.  (von  1  bis  T\  und  3,  b);  vielleicht  ließen  sich  noch  mehr 
solche  nachweisen.  Ueberhanpt  sind,  wie  Hr.  Lamy  selbst  aner- 
kennt, manche  dieser  Hymnen  fragmentarisch.  In  ihrem  Wesen  un- 
terscheiden sie  sich  nicht  merklich  von  den  schon  bekannten.  An- 
genehm berührt  uns  allerdings,  daß  innerhalb  dieser  starren  Kirch- 
lichkeit  bei  den  Osterliedern  die  echt  menschliche  Freude  über  das 
Erwachen  der  Natur  im  Frühling  laut  wird. 

Dem  Ganzen  vorauf  schickt  Hr.  Lamy  das  Leben  EphraYms 
nach  der  Pariser  Handschrift.  Schon  Bickell  hatte  nachgewiesen, 
daß  der  Pariser  Text  starke  Abweichungen  von  dem  Vatikanischen 
zeigt,  der  im  3ten  Band  der  Römischen  Ausgabe  abgedruckt  ist, 
und  darunter  solche,  die  entschieden  Besseres  geben.  Somit  war 
die  Herausgabe  dieses  Textes  durchaus  gerechtfertigt.  Allerdings 
bietet  uns  auch  der  Pariser  Text  keine  neue  historische  Belehrung 
von  Belang.  Ist  ja  diese  Vita,  wenn  wir  das  Unwahrscheinliche 
nnd  das  ganz  Fabelhafte  abziehen,  überhaupt  sehr  arm  an  ge- 
sebichtlichen  Nachrichten.  EphraYm  hatte,  nattirlich  abgesehen  von 
den  schweren  Schicksalen  seiner  Vaterstadt  und  seines  Heimatlandes, 
ftlr  seine  Person  offenbar  wenig  große  Wechselfälle  erfahren,  und, 
als  er  berühmt  geworden  war,  wußte  man  schon  wenig  von  seinem 
früheren  Leben.  Der  Herausgeber  kombiniert  allerdings  die,  gewiß 
richtige,  Angabe,  daß  EphraYm  unter  Konstantin  geboren,  und  die, 
auch  ganz  glaubliche,  daß  er  im  Alter  von  18  Jahren  getauft  sei 
(23),  mit  der  Nachricht,  daß  er,  natürlich  als  Getaufter,  an  dem 
Concil  von  Nicaea  (325  n.  Chr.)  teilgenommen  habe,  und  bringt  so- 
mit seine  Geburt  noch  eben  im  ersten  Jahr  Konstantins  (beginnt  den 
24.  Juli  306)  unter.  Aber  das  ist  nicht  zulässig,  denn  EphraYms 
Anwesenheit  auf  dem  Concil  ist  hOchst  unwahrscheinlich ;  schwerlich 
findet  man  in  seinen  Schriften  ein  Wort  davon.  Ganz  erdichtet  ist 
sein  Aufenthalt   in  Aegypten.     Nicht   einmal  das  scheint  mir  vMlig 

7* 


84  Oött.  gel.  Anz.  1887.  Kr.  3. 

gewiß,  daß  der  syrische,  des  Griechischen  nDkondige  Diakon  wirk- 
lich mit  Basilius  von  Caesarea,  damals  wohl  dem  allerangesehen- 
sten  Kirchenfttrsten,  persönlich  zusammengekommen  ist.  Das  eigne 
Zeugnis  des  Basilius  geht  nicht  sicher  auf  EphraYm  (s.  Ö9  dieser 
Ausgabe),  und  die  Schlüsse  aus  dem  Encomium  auf  Basilius,  das 
dem  EphraYm  zugeschrieben  wird,  sind  sehr  anfechtbar.  Denn  gegen 
die  Echtheit  dieser,  nur  griechisch  vorhandenen,  Schrift  läßt  sich  Er- 
hebliches einwenden ,  wenn  sie  auch  die  Schule  jenes  Mannes  zeigt, 
und  vielleicht  die  Erweiterung  eines  echten  Werkes  ist.  Dies  En- 
comium geht  nämlich,  wie  mit  der  Vita  gegen  Lamy  und  Andre 
festzuhalten  ist,  nicht  auf  den  lebenden,  sondern  auf  den  schon  ver- 
storbenen Basilius  (f  1.  Jan.  379).  Von  diesem  ist  durchweg  in  der 
Vergangenheit  die  Rede  (sogleich  im  Anfang  imtrMonijaaQ),  Ebenso 
setzt  der  Verfasser  voraus,  daß  Kaiser  Valens  schon  todt  ist  (f  9.  Aug. 
378).  Einem  Lebenden  gegenüber  hätte  EphraYm  auch  schwerlich 
die  Farben  so  stark  aufgetragen.  Am  Schluß  wird  die  Fürbitte 
nicht  des  lebenden,  sondern  des  in  höhere  Regionen  entrückten  Hei- 
ligen erbeten.  Danach  kann  dies  Encomium  nicht  wohl  von  Ephral'm 
herrühren,  denn  es  ist,  darin  gebe  ich  wieder  Lamy  Recht,  sehr  un- 
wahrscheinlich, daß  dieser  deo  Basilius  überlebt  hat.  Die  einfache 
Notiz  der  Edessenischen  Chronik  und  des  Landschen  Chronographen 
(Anecd.  I,  15,  1),  sowie  des  sorgfältigen  Jacob  von  Edessa  (hier 
VIII  Anm.  2),  daß  EphraYm  im  Juni  373  gestorben  sei,  verdient 
vollen  Glauben,  zumal  dies  Datum  ursprünglich  auch  am  Schluß  der 
Vita  stand,  wie  zur  Hälfte  noch  im  römischen  Text;  denn  es  findet 
sich  in  dem  kurzen  Auszug  aus  jener  bei  Assem.  I,  25  f.  und  in 
dem  noch  kürzeren  Sachauschen  (hier  S.  VllI  f.).  Das  genaue  Da- 
tum ist  wohl  der,  am  besten  bezeugte,  9te  Juni ;  der  19te,  18te  oder 
15te  werden  auf  Entstellung  beruhen,  die  ja  bei  Zahlbuchstaben  nur 
allzu  leicht  vorkommt. 

Auf  alle  Fälle  ist  diese  Vita,  so  wenig  positiv  Brauchbares  sie 
gibt,  schon  sehr  alt,  bald  nach  EphraYms  Tode  geschrieben  und 
auch  sofort  in's  Griechische  übersetzt;  natürlich  mag  sich  die  Ur- 
gestalt  ein  wenig  auch  von  der  unterschieden  haben,  die  sich  dnrch 
kritische  Vergleichnng  der  beiden  uns  jetzt  bekannten  Texte  an- 
nähernd ermitteln  läßt.  Wenn  das  Encomium  des  Gregor  von  Nyssa 
auf  EphraYm  echt  ist,  so  scheint  schon  dieser  (f  394  oder  etwas 
später)  die  Vita  benutzt  zu  haben.  Allem  Anschein  nach  ist  das  bei 
Palladius  in  der  um  420  geschriebnen  historia  Laasiaca  (cap.  101) 
wirklich  der  Fall,  ebenso  bei  Theodoret  im  Philotheus  (c.  1)  wie 
in  der  Kirchengeschichte  und  bei  Sozomenus,  der  Späteren  zu  ge- 
schweigen.      Sozomenos   hat   316   allerdings  auch   das  »Testament« 


Lamy,  Sancti  Epbraem  Syri  hymni  et  sermones.    Tom.  II.  85 

EphraYms  benatzt ;  das  beweist  die  vollständige  Uebereinstimmong  in 
der  Aufzählung  der  Scbtller  EphraXms  mit  Einschluß  der  beiden  irr- 
gläubigen, im  Gegensatz  zur  Vita.  Uebrigens  hat  dieser  das  Testa- 
ment schon  selbst  als  Quelle  gedient*). 

Aus  der  Vita  hatte  Bickell  schon  einige  Stücke  herausgegeben. 
Ein  Vergleich  seines  Textes  mit  dem  bei  Lamy,  der  auf  einer  Ab- 
schrift Martins  beruht,  hat  das,  nicht  unerwartete,  Ergebnis,  daß  er- 
sterer  korrekter  ist.  So  hat  Bickell  nicht  den,  von  Lamy  auch  in 
der  Uebersetzung  wiedergegebnen,  Unsinn,  daß  Jovian  den  Julian  in 
Nisibis  begraben  habe  (23),  sondern  fttr  \=^  »er  begrübe  hat  er,  wie 
der  Römische  Text,  u^  »er  zog  vorüber«.  67,  5  hat  Bickell  richtig 
Ji\«flD  statt  |i^2axaD;  77  paen.  fiom,  statt  des  nichtsnutzigen  I^Qo.  Nach 
79,  11  fehlt  sogar  eine  ganze  Zeile,  welche  Bickell  gibt.  Und  so 
noch  einiges  Kleinere. 

Im  Ganzen  ist  der  syrische  Text  in  diesem  Bande  nicht  so 
nachlässig  gegeben  wie  im  ersten,  in  der  zweiten  Hälfte  sogar  durch 
die  genauere  Druckkorrektur,  für  die  wir  nach  der  Vorrede  dem 
Professor  Forget  zu  danken  haben,  wesentlich  besser;  aber  VieleS| 
was  ich  vom  ersten  Bande  gesagt  habe,  gilt  doch  leider  auch  vom 
zweiten.  Der  Unterschied  von  ^  und  l  ist  Hrn.  Lamy  immer  noch 
nicht  recht  klar  geworden,  und  auch  j^  und  d  werden  noch  gele- 
gentlich vertauscht  ^).  Die,  zum  Teil  sehr  alten,  Handschriften  zeigen 
sicher  nur  sehr  wenige  von  den  Sprachfehlern  des  Drucks;  der 
Herausgeber  hat  eben  durchaus  keinen  Sinn  fttr  grammatische  Rich- 
tigkeit. Bringt  er  es  doch  fertig,  sich  bei  IU4=»  U^  I^^ajlI  )xK;  (63,  25) 
zu  beruhigen  und  zu  übersetzen  >ne  plebs  avida  seducereturc :  er 
scheint  also  1^«^^^  als  »plebs«  aufzufassen,  dem  sein  attributives  Ad- 
jektiv im  Plural  vorangehe !  Natürlich  wird  die  Handschrift  \^  ha- 
ben, so  daß  es  heißt:  »daß  die  einftlltige  Schafheerde  nicht  in  Oe- 
fangenschaft  gerate«.  ^  und  ^  sind  ja  allerdings  in  Handschriften  oft 
kaum  zu  unterscheiden ;  so  ist  umgekehrt  35,  9  1;^  fttr  l\^  gelesen. 
Dagegen  nimmt  Hr.  Lamy  an  einer  völlig  korrekten  Form  807,  17 
Anstoß,  wie  das  beigefügte  (sie)  bezeugt.  —  Eine  htibsehe  Blumen- 
lese kleiner  Fehler,  von  denen  nur  ein  Druckversehen  in  den  Cor- 
rigenda berichtigt  wird,  zeigt  der  letzte  Absatz  von  col.  351. 

1)  Eine  gründliche  kritische  Untersuchung  des  Testamentes  auf  seine  echten 
und  unechten  Bestandteile  —  letztere  wohl  nicht  die  am  wenigsten  interessanten 
—  w&re  sehr  erwünscht.  Allerdings  müftten  daza  nicht  bloß  die  Römischen, 
sondern  aacb  die  von  0?erbeck  benutzten  Handschriften  noch  einmal  sorgfältig 
▼erglichen  werden. 

2)  Sollte  nicht  auch  das  unglückliche  ^o^^fiDiz»  261,  18  aus  dem  allein  rich- 
tigen ^9pDM3  durch  Verwechslung  der  Zischlaute  verlesen  sein? 


86  Gott  gel.  Anz.  1887.  Nr.  8. 

Sehr  viele  Fehler  lassen  sieh  leicht  berichtigen,  aber  das  gilt 
natürlich  nicht  von  allen,  und  eine  Nachvergleichang  der  Hand- 
schriften würde  gewiß  noch  Manches  richtig  stellen,  worüber  wir 
hinweglesen ;  jedenfalls  ließe  sich  auch  der  kritische  Apparat  daraus 
stark  vermehren. 

Die  Uebersetzong  habe  ich  auch  bei  diesem  Bande  nur  ziemlich 
selten  angesehen,  aber  dabei  ist  mir  doch  wieder  sehr  Wandersames 
aufgestoßen.  Daß  die  Henne  nicht  über  ihren  Küchlein  {pidlos\ 
sondern  über  ihren  Eiern  brütend  sitzt  (59),  sollte  auch  der  wissen, 
dem  es  unbekannt  ist,  daß  die  Syrer  die  Eier  »Töchterc  des  Vogels 
nennen.  —  Die  »tribus  Hernahe  J^^Mi  *****♦-  (230,  7)  erregte  Herrn 
Lamy  kein  Bedenken:  natürlich  ist  das  ^  in  2  Jod  aufzulösen  und 
Ikränäjai  S  zu  lesen  =  iXXoffvXoh  d.  i.  Philistäer.  —  250,  Str.  5 
leuchten  die  Oefen  der  Helden!  Allmählich  müßte  doch  ein  Editor 
syrischer  Werke  wissen,  daß  tannurd,  auch  »Panzer«  heißt  —  Für: 
»0  daß  doch  statt  (es  ist  wohl  «s^  ausgefallen)  der  äußeren  (irdi- 
schen) Schafheerde  die  innere  (geistliche)  behütet  würde!«  (357,  19) 
wird  sinnlos  übersetzt :  »Hisce  adhaereat  {^)  grex  temporalis ,  ser- 
vetur  (J'tfri^  grex  spiritaalis«.  —  Ein  aus  ^^^flQ»  verlesenes,  un- 
mögliches v!^  ^^^^  (385,  17)  soll  bedeuten  »mortem  evomnnt«.  — 
Der  Zusammenhang  zeigt,  daß  391,  2   t^^^  V^i^^  von  weichen  Stoffen 

zum  Lager  gesagt  ist,  daß  das  erste  Wort  also  ein  Fl.  von  \'^ 
ist^);  Lamy  aber  nimmt  das  ^  als  ^  und  verwandelt  die  weichen 
Wollstoffe  in  »vina  dulcia«.  —  o^ku  »gein  Reis«  (455  paen.)  über- 
setzt er  »Exaltaverat  se«,  als  könnte  das  Verb  sein  reflexives  Objekt- 
suffix annehmen  und  als  wäre  das  Imperfekt  ein  Perfekt.  — 
Jioai  ^  h^D  >mir  war  es  leid,  o  Herr«  {^aßßovpi  Marc.  10,  51, 
Job.  20,  16)  gibt  er  wieder  »molesta  mihi  fuit  mea  inflatio  (?)«; 
allerdings  wird  hier  ein  Fragezeichen  beigegeben.  Ebenso  begleitet 
ein  solches  bescheiden  die  geistreiche  üebersetzung  von  »Topf  und 
Horn«  (803  ult.)  durch  »viscera«.  Obwohl  hier  von  der  Oeschichte 
des  Propheten  Elias  die  Rede  ist,  kam  Hr.  Lamy  nicht  darauf,  daß 
Ephraim  vom  Mehltopf  und  vomOelhorn  der  Wittwe  1  Kön.  17, 12  ff. 
spricht.  Mit  diesem  Propheten  hat  er  überhaupt  Unglück.  Für 
11^  h^  (387,  26)  hat  die  Handschrift  sicher  Uyy  p  »Regen  und 
Thau«,  denn  Ephraim  hat  hier  1  Kön.  17,  1  im  Auge;  Lamy  aber 
übersetzt  »plnviam  mortiferam«  und  verbessert  demnach  in  den  Cor- 
rigenda Ato^  'P;  grammatisch  wäre  das  richtig,  aber  Sinn  hätte 
CS  auch  nicht.  —    Ich  zweifle  nicht,  daß  eine  systematische  Durch- 

1)  Wie  iXaaOj  »buntes  Zeng«  von  Ixao^  (bei  Onkelos  WX:  pJSj:»).    Beide 
Fülle  sind  in  meiner  syrischen  Grammatik  §  74  hinzuzufügen.  ' 


Riidrata's  f  rägftratilaka  and  Ruyyaka's  Sahrdayallla  ed.  Pischel.  87 

mnsterang  der  Ueberaetzang  Hunderte  von  VerstöOeii  ergeben 
würde. 

Dem  Bache  ist  eine  ziemlich  lange  Liste  von  Verbesserangen 
znm  ersten  Bande  angehängt,  die  aber  sicher  noch  nicht  ein  Drittel 
der  anch  ohne  neue  Kollation  der  Handschriften  leicht  zu  machen- 
den Korrekturen  enthält.  Dazu  sind  einige  dieser  Verbesserungen 
nicht  ganz  richtig,  z.  B.  muß  es  I,  247,  11  nicht  rV^,  sondern 
^t*3o  heißen,  and  andere  sind  entschieden  falsch :  so  ist  I,  355,  2 
jA^joa  pakkänithä  zu  lesen ;  627  Str.  28, 1  Sixy^,  _  Auch  von  den 
Korrekturen  zum  2ten  Bande  ist  die  zu  367,  16,  wo  der  Text  ganz 
in  Ordnung  ist,  und  die  schon  besprochne  zu  387,  26  unrichtig. 

Auf  dem  Umschlag  liest  man  den  Abdruck  des  Briefes,  welchen 
Leo  XIII  dem  Herausgeber  auf  die  Zusendung  des  ibm  dedicierten 
ersten  Bandes  geschrieben  hat.  Es  ist  wohl  nicht  zufällig,  daß  der 
fein  gebildete  Papst  zwar  den  Inhalt  von  EphraYms  Schriften  höch- 
lich lobt,  aber  von  dessen  Eleganz  und  dichterischer  Bedeutung 
ganz  schweigt 

StraAbarg  i.  E.  Th.  Nöldeke. 


Badrata'8  Qrng&ratilaka  and  Bayyaka*8  SahrdayaltU.  With  an 
Introduction  and  Notes  edited  by  Dr.  R.  Fisch  el.  Kiel,  G.  F.  Haeseler. 
1886.    pp.  32,  104.    8^ 

Zwei  kleine  Texte  aus  der  umfangreichen  Alamk&ra-Litteratur 
der  Inder  werden  hier  zum  ersten  Male  veröffentlicht.  Der  erste 
Text  ist  das  Qrngäratilaka  des  Budrata,  nicht  zu  verwechseln  mit 
dem  angeblich  von  Eälidäsa  verfaßten  Qrngäratilaka ,  das  Gilde* 
meister,  Bonn  1841,  herausgegeben  hat.  Das  Werk  des  Rudrata  ist 
meines  Wissens  zuerst  von  Aufrecht  im  ELatalog  der  Oxforder  San- 
skrithandschriften p.  209  kurz  beschrieben  worden:  es  behandelt  to 
nddog  iqmuKov  in  drei  Kapiteln.  Der  zweite  Text  ist  die  Sahrdaya- 
llla des  Ruyyaka  alias  Rncaka,  die  bisher  kaum  dem  Namen  nach 
bekannt  war. 

Den  Texten  hat  Fischöl  eine  längere  Einleitung  vorausge- 
schickt, in  der  er  sich  nicht  ausschließlich  fiber  das  Alter  und  die 
litterarische  Thätigkeit  des  Rudrata  und  Ruyyaka  verbreitet  Es 
werden  hier  tlberhaupt  eine  Anzahl  von  litterarhistorischen  Fragen, 
welche  das  Interesse  der  Sanskritphilologen  in  Anspruch  zu  nehmen 
geeignet  sind,  besprochen  und  gelöst  oder  wenigstens  ihrer  Lösung 
Daher  gebracht.  Kurz,  Fischöls  Arbeit  ist  ein  sehr  wichtiger  Bei- 
trag ZOT  Geschichte  der  Sanskritlitterator,  —  eine  Frucht  seiner  eio- 


88  Qött.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  3. 

gehenden  Stadien  aaf  dem  Oebiete  des  Alamk&ra^fistra ,  ans  denen 
unter  Anderem  schon  seine  reichen  Mitteil angen  in  'der  Recension 
von  Regnands  Rhitoriqne  Sanskrite  06 A.  1885  S.  757— 69  geflossen 
waren.  Es  ist  der  Zweck  der  vorliegenden  Anzeige,  anf  die  wich- 
tigsten Pankte  in  Fischöls  Einleitung  zu  seiner  Ausgabe  des  Ra- 
drata  und  Rayyaka  aufmerksam  zu  machen. 

Von  dem  Rhetoriker  Rudrata  sind  zwei  Werke  anf  uns  gekom- 
men, das  kleine  Qrngäratilaka  und  ein  größerer  Text,  derE&vy&lam- 
kära.  Um  die  Zeit  des  Rudrata  zu  bestimmen,  stellt  und  beantwor- 
tet Pischel  S.  6 ff.  die  Frage,  ob  die  Beispiele,  welche  in  den 
genannten  Werken  als  Belege  fttr  die  einzelnen  Regeln  angeftthrt 
werden,  von  Rudrata  selbst  gedichtet  oder  aus  älteren  Werken  ent- 
lehnt worden  sind.  Pischel  entscheidet  sich,  im  Anschluß  an  eine 
Vermutung  von  Peterson,  fttr  das  Erstere.  Die  älteren  Rhetoriker, 
zu  denen  auch  Rudrata  gehört,  waren  Theoretiker  und  Dichter  zu- 
gleich, sie  verfaßten  die  Beispiele  selbst  oder  entnahmen  sie  höch- 
stens ihren  eigenen  dichterischen  Kompositionen.  Der  ausführliche 
Beweis,  den  Pischel  fttr  seine  Behauptung  liefert,  kann  hier  nicht 
wiederholt  werden.  Ich  will  nur  auf  die  interessanten  Bemerkungen 
über  das  Ämarugataka  S.  9  ff.  aufmerksam  machen.  Dieses  Werk 
ist  schwerlich  in  seiner  ursprllnglichen  Gestalt  auf  uns  gekommen, 
obwohl  es  so  wie  es  jetzt  vorliegt  bereits  im  neunten  Jahrhunderte 
kursierte.  —  Wenn  aber  Rudrata  die  Beispiele  (nichrgana,  udäha^ 
rana)  in  seinen  beiden  rhetorischen  Werken  selbst  gedichtet  hat,  so 
sind  wir  berechtigt,  diese  Beispiele  zu  chronologischen  Zwecken  zu 
benutzen  (S.  11).  Rudrata  wird  älter  sein  als  die  Schriftsteller,  die 
seine  Beispiele  eitleren.  Nun  ist  der  älteste  Autor,  der  Verse  des 
Radrata  citiert,  Pratthärendur&ja,  der  Verfasser  eines  Kommentares 
zum  Udbhatälamk&ra.  Pratthftrendur&ja  aber  gehört,  wie  Pischel 
zeigt  (vgl.  schon  6GA.  1885  S.  764),  in  die  Mitte  des  zehnten  Jahr- 
hunderts.   Zu  dieser  Zeit   wurde  Rudrata   bereits   als   ein  'standard 

m 

writer*  betrachtet :  mithin  wird  er  spätestens  um  die  Mitte  des  neun- 
ten Jahrhunderts  gelebt  haben.  Daß  Rudrata  auch  nicht  viel  älter 
sein  kann,  zeigt  Pischel  in  einer  ziemlich  langen  Erörterang  —  die 
zagleich  den  wichtigsten  Teil  der  Einleitung  bildet  —  über  die  Zeit 
und  die  litterarische  Thätigkeit  der  älteren  Rhetoriker,  insbesondere 
des  Da^^in  und  des  V&mana. 

Räja^ekhara   sagt   in  einem  versus   memorialist),  der   in   der 

1)  Eine  ganze  Anzahl  solcher  veraas  memoriales  über  indische  Dichter  ist 
▼on  Aufrecht  und  neuerdings  von  Peterson  mitgeteilt  worden.  Diese  Verse  sind, 
wie  die  Verse  in  der  Einleitung  zum  Harshacarita,  sehr  wichtig  fUr  die  indische 
Litteratorgeschichte ;  die  in  ihn^n  enthaltene  Ueberlieferung  ist,  soweit  m«n  Ur- 


Kadrata's  Qmg&ratilaka  and  Ruyyaka's  Sahrdayalllft  ed.  Pischel.  89 

QftrDgadbarapaddbati  ^)  citiert  wird,  daß  'drei  Werke  von  Dandin  in 
den  drei  Welten  berühmt  Bind'.  Welches  sind  diese  drei  Werke? 
Nur  zwei  sind  allgemein  bekannt:  der  Kävyftdar^a  und  das  Da^a- 
knm&racarita.  Das  dritte  'berühmte  Werk'  des  Daijidin  ist  noch  auf- 
zufinden; oder  —  das  wäre  mOglich  —  Dandin  ist  der  wirkliche 
Verfasser  eines  berühmten  Sanskritwerkes,  das  unter  dem  Namen 
eines  anderen  Verfassers  geht.  Pischel  durchmustert  zunächst  die 
Werke,  die  außer  dem  Kävy&darQa,  und  Dagakumäracarita  noch  den 
Kamen  des  Dandin  tragen  und  zeigt,  daß  dieselben  entweder  fälsch- 
lich dem  Dandin  zugeschrieben  werden')  oder  mit  dem  K&vy&darfa 
und  Da^akumäracarita  nicht  auf  eine  Linie  gestellt  werden  können. 
Hierauf  führt  Pischel  den  66A.  1885  S.  765  versprochenen  Nach- 
weis, daß  Dandin  der  Verfasser  des  Dramas  Mfcchaka- 
tik&  ist').  Dieses  Drama  —  angeblich  von  König  Qfldraka  ver- 
faßt —  ist  allerdings  ein  Werk,  das  wir  dem  Dandin  zutrauen  und 
von  dem  wir  glauben  können,  daß  es  die  dritte  von  den  drei  berühmten 
Kompositionen  des  Dandin  in  dem  Verse  des  RäjaQekhara  ist  Pi- 
Bchels  Beweisführung  beruht  auf  der  Annahme,  daß  Dandin  die  Bei- 
spiele in  seinem  rhetorischen  Werke  K&vyfidar^a  selbst  gedichtet 
(vgl.  S.  7)  oder  doch  nur  seinen  eigenen  sonstigen  Kompositionen 
entlehnt  hat:  wie  z.  B.  Udbhata  im  Kävyälamkärasamgraha  Verse 
aus  seinem  Kumärasambhava  (Bühler,  Detailed  Report,  p.  65),  oder 
wie  der  ältere  Vägbhata  Verse  aus  seinem  Neminirvä^a  anführt 
(QGA.  1884  S.  306).  —  Dandin  K&vyädar^a  II,  362  gibt  den  be- 
kannten Vers  limpattva  (Ind.  Sprüche  ^  5853)  als  Beispiel  für  eine 
rhetorische  Figur.  Die  erste  Zeile  desselben  Verses  erscheint  noch 
an  einer  anderen  Stelle,  II,  226,  und  zwar  wird*  hier  eine  unge- 
wöhnlich  lange  Erörterung  daran  geknüpft.    Dandin  will,   offenbar 

teil  reicht ,  durchaus  zuverl&ssig  (vgl.  weiter  unten  S.  94  den  Vers  über  Euin&- 
rad&sa).  Der  Verfasser  dieser  versus  memoriales,  dieses  »Catalogue  of  Poets« 
(Peterson,  Report  for  1883—84,  p.  64),  Rdja^ekhara,  ist  wahrscheinlich  zu  un- 
terscheiden Ton  dem  Dramatiker  R&ja^ekhara:  vgl.  The  Academy  vol.  XXIX 
(1886)  p.  158,  und  Subh&shit&vali  (Bombay  1886),  Introduction,  p.  101.  Ich  be- 
merke das  wegen  Pischel,  Einleitung  zum  Rndrata,  S.  26  Anm.  1. 

1)  Sonderbar  liest  sich:  »lUja^ekhara's  Qärngadharapaddhatit ,  bei  Müiler- 
Gappeller,  Indien  in  seiner  weltgeschichtlichen  Bedeutung,  Leipzig  1884,  S.  286 
Anm.  119. 

2)  So  z.  B.  die  Chandoviciti.  Mit  ehandovieiti  K&vyftdar^a  I,  12  ist  allge- 
mein »Metrikc,  nicht  ein  bestimmtes  Werk  über  Metrik  gemeint,  vgl.  V&mana, 
KavyMamk&ravrtti  I,  8,  8.  7  und  dazu  Böhtlingks  kürzeres  Wörterbuch  unter 
ekandovieitt.    Anders  Jacobi  in  den  Indischen  Studien  XVII,  447;  ZDMG.XL,100. 

8)  Frfiher,  QGA.  1888  p.  1282  ff.,  hatte  Pischel  die  Vermutung  ausgesprochen, 
d^l^  B  h  &  s  a  der  Verfasser  der  Mrcchakatik&  sei. 


90  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  8. 

im  Gegensatz  zu  anderen  Rhetorikern,  beweisen,  daß  die  rhetorische 
Figur  tUpreJcshä  auch  mit  der  Partikel  iva^)  angedeutet ,  angezeigt 
{dyotitä)  werde.  Pischel  ist  nun  der  Ansicht,  daß  der  Vers  limpativa^ 
so  gut  wie  alle  anderen  Beispiele  im  E&vyädarQa,  von  Dandin  selbst 
herrührt.  Der  Vers  wird  auch  in  der  That  dem  Dandin  direkt  zu- 
geschrieben von  einem  verhältnismäßig  alten  Schriftsteller,  dem  oben 
erwähnten  Pratthärenduräja.  In  den  Anthologieen  wird  er  aller- 
dings dem  Vikramäditya  und  Mentha,  oder  ersterem  allein,  zuge- 
teilt; doch  das  zeigt  nur,  daß  der  wahre  Verfasser  des  Verses  schon 
frühe  in  Vergessenheit  geraten  ist ').  Wenn  aber  Dandin  im  Kavyä- 
darga  nur  seine  eigenen  Verse  citiert,  so  muß  er  der  Verfasser  des- 
jenigen Sanskritwerkes  sein,  in  welchem  der  Vers  limpativa^  wie  be- 
kannt, ebenfalls  irorkommt,  das  heißt  —  der  Mrcchakatikä. 

Es  läßt  sich  nicht  verkennen,  daß  Pischels  Annahme  viel  Be- 
stechendes hat.  So  erinnert  z.  B.  die  Schilderung  der  Sitten  in  der 
Mrcchakatikä  stark  an  das  Dagakum&racarita  des  Dandin.  Diesen 
Punkt  sowie  einige  andere,  die  geeignet  sind,  seine  Annahme  za 
unterstützen,  erörtert  Pischel  kurz  auf  S.  19  f.  und  wendet  sich  dann 
zu  V&mana.  Dieser  gehört  dem  südlichen  Indien  an,  wie  wahr- 
scheinlich auch  Da](^din.  Ob  Vämana  älter  oder  jünger  als  Dandin, 
oder  etwa  ein  Zeitgenosse  von  diesem  ist,  läßt  sich  nicht  bestimmen 
(S.  21).  Dagegen  weiß  man  jetzt  ziemlich  genau,  wann  Vämana 
gelebt  hat^).  Er  citiert  die  V&savadattä  des  Subandhu  und  die 
Eädambar!^)  des  Bä^a.  Folglich  kann  Vämana  nicht  älter  sein  als 
ca.  700  A.  D.    Daß  er  auch  nicht  viel  jünger  sein  kann,  wird  von 


1)  Die  von  Pischel  S.  21  Anm.  gegebene  Verbesserung  von  Cappellers  Text 
des  y&mana  E&vy.  lY,  8,  9  p.  49,  24  ist  von  mir  schon  früher  gegeben  worden 
in  den  GGA.  1880  S.  1021. 

2)  So  wird  der  bekannte  päda  varatanu  taifipravadanü  kukkutäf^  von  einer 
Autorität  dem  Eum&rad&sa,  von  einer  anderen  dem  Bh&ravi  zugeschrieben.  Vgl. 
weiter  unten  S.  98  ff. 

8)  Wo  mag  der  im  Kommentar  zum  Mankhakoga  citierte  Halbvers  kdvyd- 
lafßkdrahhür  urvi  vämaneneva  dhäritä  herstammen?  (Q&^vata,  Einleitung,  S.  XIV 
Anm.  1). 

4)  anularoti  bhagavato  näräi/anasya.  Ich  habe  diese  Stelle  zuerst  nachdrück- 
lich hervorgehoben  GGA.  1880,  S.  1020.  Ebendaselbst  S.  1019  habe  ich  darauf 
hingewiesen,  daB  die  Genetive  von  anukaroU  abhängen  (vgl.  E&vy&dar^a  II,  66), 
was  Cappeller  in  seiner  Uebersetzung  von  Vämanas  Stylregeln  S.  14  nicht  gese- 
hen hatte.  Die  Stelle  wird  auch  citiert  im  KItrakap&da  des  Saxpkshiptasära  (s. 
Bezzenbergers  Beitr&ge  V,  61)  und  in  Mallin&thas  Kommentar  zum  Kir&t&rjuntya 
YII,  28.  Aus  der  Kä  dam  hart  ist  die  Stelle  von  Borooah  angefahrt  worden 
zuerst  in  seiner  Higher  Sanskrit  Grammar  pp.  147.  152  (vorgedruckt  seinem 
English-Sanskrit  Dictionary  vol.  II,  Calcutta  1879). 


Rudrata's  ^rng&ratilaka  and  Ruyyaka's  Sahrdayalilä  ed.  Pischel.  91 

Pischel  S.  22  ff.  nachgewiesen.     Als   besonders  interessant  hebe  ich 
Piscbels  Mitteilungen    über  den  achten  Sarga  des  Kumärasanabhava 
berTor,  der  von  Vämana  an  drei  Stellen  citiert  wird,  was  ich,  wenn 
ich  nicht  irre,  zuerst,  gezeigt  habe  in  Bezzenbergers  Beiträgen  V,5l. 
Ich  weiß  nicht,    ob   Pischel   S.  24  die  Stellen,    die  von  den  Rheto- 
rikern aus  dem  achten  Sarga  angeführt  werden,  vollständig  zu  ge- 
ben beabsichtigt:  jedenfalls   fehlt   in  seiner  Zusammenstellung  Ku- 
m&rasambhava  VIII,  49.  51.79  =  Saras vattkanthäbbara^a  p.  308,3. 
343,  23.  305,  5;  s.  6GA.  1884  S.  309.     Vgl.   auch  meine  Beiträge 
zur  indischen  Lexikographie  S.  78.     Uebrigens   scheint  Pischel  im- 
mer noch  an  der  früher  von  ihm  vertretenen  Ansicht,  daß  der  achte 
Sarga  nicht  von  Eälidäsa  herrtlhrt,  festzuhalten.    Dem  sei  wie  ihm 
wolle:  die  Erwähnung   des  achten  Sarga  in  der  Eävy&Iamk&ravrtti 
kann  nus  nicht  hindern,   den  Vämana   für   älter    zu   halten    als  ca. 
1000  A.  D.  (V&manas  Stylregeln,  bearbeitet  von  C  Cappeller,  S.  IV). 
Dasselbe  gilt   von   der  Erwähnung   des   Eavirfija  '),  Vämana  Kävy. 
IVy  ly  10.    Den  Eaviräja  setzt  Pischel  in  den  Anfang  des  achten  Jahr- 
hunderts.    Was   Pischel   bei   dieser   Gelegenheit    über   das    vielbe- 
sprochene Datum  des  Dramatikers  Bäja^ekhara  vorbringt,  wird  wohl 
durch    die   neuesten   Mitteilungen   von   Peterson  im  Journal  of  the 
Bombay  Branch  of  the  Royal  Asiatic  Society  ttberholt  worden  sein. 
Ich  kann  das  hier  nur  andeuten,  da  mir  Petersons  Aufsatz  nicht  zu- 
gänglich  ist.     Doch   vgl.   einstweilen   The    Academy   XXIX,   153; 
Snbhashitävali,  Introduction,  p.  101. 

Auf  S.  26  kehrt  Pischel  zu  Rudrata  zurtlck.  Vämana  gehört 
in  das  achte  Jahrhundert.  Er  war  wahrscheinlich  ein  Zeitgenosse 
des  Udbbata,  den  Ealhai^a  in  die  Regierung  des  EOnigs  Jayäptda 
779—813  versetzt.  Nun  wird  Rudrata  überall  nach  Udbhata  ci- 
tiert  und  er  dürfte  daher  jünger  sein  als  Udbhata  und  Vämana, 
der  von  Rudratas  Beispielen  kein  einziges  anführt.  Somit  erhalten 
wir  als  Rudratas  Datum  wiederum  die  Mitte  des  neunten  Jahr- 
handerts. 

Ist  diese  Zeitbestimmung  und  Piscbels  Annahme,  daß  Rudrata 
die  Beispiele  selbst  gedichtet  hat,  richtig,  so  muß  die  sogenannte 
Dördliche  Recension  des  Pancatantra  später  entstanden  sein  als  ca. 
850  A.  D.  Es  findet  sich  nämlich  eine  Strophe  des  Rudrata  im  vier- 
ten Buche  des  Paficatantra,  und  zwar  eng  verwebt  mit  der  dort  er- 

1)  GQA.  1880,  S.  1015  hatte  ich  geäußert,  es  sei  zweifelhaft,  ob  mit  Eavi- 
rl^a  der  Dichter  des  R&ghavapändavtya  gemeint  sei  (und  nicht  vielmehr  irgend 
ein  anderer  Dichter).  Böhtlingk  im  kürzeren  Sanskritwörterbuch  geht  noch  wei- 
ter :  er  übersetzt  kavir^'a  Vämana  IV,  1,  10  mit  »Dichterfürst« ,  faSt  das  Wort 
also  gar  nicht  als  einen  Eigennamen. 


92  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  3. 

zählten  Geschichte.  Aach  die  Vetälapancaviri^atikft  in  der  Recen* 
sion  des  Qivadäsa  maß  jUnger  sein  als  Radrata,  da  sie  Strophen 
aas  dem  Qrngäratilaka  enthält.  Dasselbe  gilt  dann  aach  —  wie 
ich  hinzafügen  kann  —  von  der  Qakasaptati.  Denn  hier^  am 
Anfang  der  25.  Erzählang,  wird  die  Strophe  yatra  svedajalair  dUm 
Qrngärat.  I,  71  citiert,  wenigstens  in  der  Londoner  Handschrift| 
Sammlang  von  William  Jones,  No.  18. 

S.  27  zählt  Pischel  die  Werke  aaf,  die  denselben  Titel  führen, 
wie  das  Qrngäratilaka  des  Radrata.  Hieraaf  wendet  er  sich  za 
Rnyyaka,  der  eine  bedeutende  schriftstellerische  Thätigkeit  ent* 
faltet  hat  (S.  28).  Die  Zeit  des  Rayyaka  ist  schon  bestimmt  wor« 
den  von  BUhler  in  seinem  Detailed  Report.  Ihm  folgend  setzt  Pi- 
schel den  Rayyaka  in  den  Anfang  des  zwölften  Jahrhunderts. 
Schließlich  berichtet  er  über  die  Handschriften,  die  ihm  bei  der 
Heraasgabe  der  Texte  zu  Gebote  gestanden  haben.  — 

Mögen  aach  manche  von  den  Resultaten  Fischöls  später  ange- 
zweifelt and  umgestoßen  werden  —  er  ist  selbst  auf  Widersprach 
gefaßt  (S.  21  unten),  und  jeder  Tag  kann  neue  Entdeckungen  brin- 
gen — ,  so  läßt  sich  doch  nicht  läugnen,  daß  seine  Arbeit  wieder 
ein  tüchtiger  Schritt  vorwärts  ist.  Wenn  man  sich,  wie  Pischel  es 
gethan  hat,  bemüht,  von  einzelnen  sicheren  Anhaltspunkten  aus  die 
Zusammenhänge,  namentlich  die  Entlehnungen  des  einen  Werkes  aus 
dem  anderen,  nach  oben  und  nach  unten  zu  verfolgen,  dann  wird 
es  gewiß  allmählich  gelingen,  für  die  neuere  Sanskritlitteratur  eine 
genügende  Chronologie  aufzustellen^).  Sollte  es  aber  nicht  an  der 
Zeit  sein ,  erst  einmal  inne  zu  halten  und  die  bisher  gewonnenen 
Resultate  übersichtlich  zusammenzustellen  in  einem  Kompendium  der 
Sanskritlitteratur?  Was  für  ein  Stoff  hat  sich  nicht  aufgehäuft  in 
den  zahlreichen  Lists,  Reports,  Catalogues,  Classified  Indexes  u.  s.  w. 
seit  dem  Erscheinen  der  zweiten  Auflage  von  Webers  Vorlesungen 
über  indische  Litteraturgeschichte !  Ein  Kompendium  der  Sanskrit- 
litteratur —  das  von  einem  kompetenten  Gelehrten  hoffentlich  bald 
anternommen  werden  wird  —  ist  meines  Erachtens  dringend  erforder- 
lich für  ein  schnelleres  Vorwärtskommen  bei  der  Einzelforschung. 
Es  giebt  so  viele  litterarhistorische  Kleinigkeiten,  um  sie  so  zu  be- 
zeichnen, die  zwar  bekannt,  aber  doch  nicht  allgemein  genug  be- 
kannt sind,  und  deren  Kenntnis  für  diesen  oder  jenen  Forscher  unter 
Umständen  von  Wichtigkeit  sein  kann.  Zwei  solche  » Kleinigkeiten «, 
die  mir  während  der  Ausarbeitung  dieser  Anzeige  zufällig  vor  Augen 
kamen,  will  ich  hier  erwähnen.  Im  Mahäbhäshya  und  in  der  Kä^i- 
kfivrtti   werden  eine  Anzahl  von  Stellen   citiert,   die  den  Eindruck 

1)  Nach  Bad.  Roth,  Indische  Stadien  XIV  (1876)  398  f. 


Radrata's  (rng&ratilaka  and  Ruyyaka's  SahrdayalUft  ed.  Pischel.  93 

machen  y  als  seien  sie  der  sogenannten  klassischen  Sanskritlitteratur 
entnommen.  Es  lassen  sich  aber  nor  sehr  wenige  Stellen  aas  der 
uns  bekannten  Litteratar  nachweisen,  z.  B.  keine  einzige  Stelle  aas 
den  Dichtungen  des  Kälidäsa.  Da  ist  es  nan  interessant  za  sehen, 
daft  wenigstens  6ins  von  den  älteren  Eunstgedicbten  in  der  K&cikä 
bereits  citiert  wird:  dasKirätarjantya  des  Bhäravi,  wie  Kiel  horn ') 
vor  Kurzem  gezeigt  hat.  Es  ist  das  ein  neues  Zeugnis  für  das  be- 
kanntlich vergleichsweise  hohe  Alter  des  Bb&ravi.  —  Die  Zeit  des 
Kanstdichters  M&gha  ist,  soviel  ich  weiß,  noch  nicht  genau  bestimmt. 
Nach  Aufrecht  ZDM6.  27,  72  gehört  er  der  mittleren  Schule  indischer 
Kunstdichtung  an  und  dürfte  ein  jüngerer  Zeitgenosse  von  Bhava- 
bhfiti  sein  ').  Es  wäre  möglich  —  das  soll  hier  erwähnt  werden  — 
daft  eine  leicht  zu  übersehende  Notiz  in  Aufrechts  Catalogus  einmal 
za  einer  genaueren  Zeitbestimmung  benutzt  werden  kann:  Lib.  II. 
dist  112.  auctor  ad  Nyäsam,  Jinendrae  librum  grammaticum,  alludit 
(p.  118). 

Ich  möchte  jetzt  an  einem  Beispiel  zeigen,  wie  selbst  wohlun- 
terrichtete, mit  aufterordentlichen  Hülfsmitteln  arbeitende  Gelehrte  be- 
kannte Tbatsachen  übersehen  können,  weil  diese  nicht  allgemein  be- 
kannt sind,  weil  es  noch  an  einem  Kompendium  der  Sanskritlit- 
teratar  fehlt. 

Im  Mah&bh&shya  werden ,  wie  eben  bemerkt ,  eine  Anzahl  von 
Stellen')  citiert,  die  den  »klassischen«  Dichtungen  der  Inder  ent- 
nommen zu  sein  scheinen.  Zu  diesen  Stellen  —  Versen  oder  Vers- 
ieilen  —  gehört  auch  der  p&da 

varatanu  sampravadanti  hukkufah^ 
der,  wie  Aufrecht  zum  Ujjvaladatta  p.  150  zuerst  gezeigt  hat,  aas 
einer  Strophe  stammt,  die  mit  ayi  vijahihi  beginnt  (Indische  Sprüche^ 

1)  Indian  Antiquary  XIV,  327.  Die  in  der  £&^ik&  citierte  Stelle  Kirkt.  8, 14, 
kommt  auch  im  Samkshiptasftra  vor,  vgl.  fiezzenbergers  Beiträge  V,  56.  —  Auf 
ein  nicht  nachweisbares  Citat  aus  einem  älteren  Lexicon  in  der  K&^ikä  zu  P.  I, 
2,  S6  hat  Borooah  aufmerksam  gemacht  in  seiner  Comprehensive  Grammar  III,  1, 
Preface,  p.  46.  —  Es  ist  vielleicht  nicht  überflüssig,  wenn  ich  hier  anführe,  daS 
die  Worte  pradfyaiäm  DA^araihdya  Äfaithüi  Eä^.  P.  IV,  1,  95  (aach  bei  üjjva> 
ladatta  zu  ün.  n,  2)  einer  Strophe  entnommen  sind,  die  nach  Kätantra  p.  119 
also  lautet: 

tffaja  wakopaffi  kuUMrUindganaiq^ 

hhaja  9oadharmam  kuUikiritivarddhanam  \ 
praMa  ßvema  sabändhavä  vayaiih 

pradiyaidm  Ddfaratkäya  MaiihiU\[ 

2)  Vgl.  aach  Lassen,  Indische  Alterthnmskunde  IV,  807.  Jacobi  in  den  Ver- 
handlaDgen  des  5.  internationalen  Orientalistenkongresses  II,  2,  186 ;  ZDMG.  88, 
616 ;  Indische  Stadien  17,  444  f. 

b)  Neuerdings  zusammengestellt  von  Kielhorn,  Indian  Antiquary  XIV,  326. 


tu  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  3. 

562)  und  auch  sonst,  ganz  oder  teilweise,  öfters  angeführt  wird;  so 
z.  B.  der  erste  päda 

ayi  vijahihi  drdhopagühanam 
im  Ganaratnamahodadhi  p.  16,7.    In  den  Kommentaren  za  den  ho- 
monymischen Wörterbüchern  dient  der  dritte  päda 

arunaharodgama  esha  vartate 
als  Beispiel    fUr  aruna   in   der  Bedeatang  »Sonne«,  vgl.  meine  Bei- 
träge zur  indischen  Lex.  S.  38. 

Bis  vor  Kurzem  wußte  man  nicht ,  woher ,  aus  welchem  Werke 
oder  von  welchem  Dichter,  die  Strophe  ayi  vijahihi  stammt.  Sie 
mußte,  wie  so  viele  andere  anonym  citierte  Stellen,  für  dditsnotoq 
gelten.  Da  machte  Peterson  die  Entdeckung,  daß  diese  Strophe  in 
Kshemendras  Aucityälamkära  ^)  einem  bestimmten  Dichter,  dem  K  u- 
m&radäsa,  zugeschrieben  wird.  Diese  Entdeckung  ist  »mindestens 
sehr  interessante.  Sie  könnte  einmal  dazu  dienen,  die  Zeit  des  Ma- 
häbhäshya  zu  bestimmen  ....  Zunächst  fragt  es  sich  aber:  Wer 
ist  dieser  Kumäradäsa?  Hat  er  ein  bestimmtes  Werk  verfaßt  und 
ist  dieses  vielleicht  erhalten?  Ist  die  Zeit  des  Kumäradäsa  bekannt  ? 
—  Eine  Antwort  auf  diese  Fragen  gab  Peterson,  bald  nach  seiner 
ersten  Mitteilung  über  Kumäradäsa,  in  einer  Zuschrift  an  die  »Aca- 
demy« vom  24.  October  1885,  betitelt:  The  date  of  Kumäradäsa. 
Hier  wird  berichtet^),  daß  in  Jalhanas  Sfiktimuktävali,  einer  Antho- 
logie, der  folgende  Vers  des  oben  S.  89  genannten  Räja^ekhara 
vorkommt : 

Janakiharanam  kartunj  Raghuvange  sthite  sati  \ 
kavih  Kumdradäsag  ca  Rävanag  ca  yadi  kshamah  \\ 
Das  Werk  des  Kumäradäsa,  oder  wenigstens  eines  seiner  Werke, 
heißt  demnach  Jänaktharai^a.  Auch  ist  klar,  meint  Peterson, 
daß  Kumäradäsa  sein  Werk  später  als  Kälidäsa  geschrieben  haben 
muß.  Man  könnte  auch  sagen:  Kumäradäsa  und  Kälidäsa  waren 
Zeitgenossen.  Dieser  Schluß  liegt,  meine  ich,  ebenso  nahe. 
Irgendwelcher  Schluß  auf  Kumäradäsas  Zeit  ist  übrigens  nur  dann 
gestattet,  wenn  wir  annehmen,  daß  unter  dem  Raghuvanfa  in  dem 
Verse   des  Räjafekhara   das    bekannte  Mahäkävya  des  Kälidäsa  zu 

1)  The  Auchity&lamkära   of  Eshemendra,   with  a  Note  on  the  date  of  Pa- 

ta^ali by  Peter  Peterson,  Bombay  1885,  p.  3.  15.  22  (man  beachte  hier 

die  Worte:  Unfortunately  we  do  not  yet  know  Eum&rad&sa's  own  date). 

2)  P.  277a.  Wesentlich  dasselbe  findet  man  in  einem  Bericht  über  ein  Pa* 
per  read  before  the  Bombay  Branch  of  the  Boyal  Asiatic  Society  by  Professor 
Peterson :  Academy  vol.  XXIX  (1886),  p.  153 ;  und  in  der  Subh&shit&vali  of  Yal- 
labhadeva,  ed.  by  Peterson  and  Durg&pras&da,  Bombay  1886,  Introduction,  p.  24f. 
(Beachte  hier  p.  25 :  Nothing  is  known  of  Kum&rad&sa's  date).  Etwaige  weitere 
Mitteilungen  Petersons  über  Kum&rad&sa  sind  mir  nicht  bekannt  geworden. 


Kudrata's  ^rng&ratilaka  and  Ruyyaka's  SabrdayalHä  ed.  Pischel.  95 

verstebD  ist  Es  konnte  verschiedene  Raghavan^a  gegeben  haben, 
80  gnt  als  verschiedene  Werke  Namens  Eamärasambhava  existieren 
oder  doch  existiert  haben  (oben  S.  89). 

Ich  werde  jetzt  zeigen ,  daß  Petersons  Mitteilung  über  Eam&ra- 
d&sa,  so  interessant  and  dankenswert  sie  an  sich  auch  ist,  nichts 
Nenes  enthält.  Ein  Dichter  Eum&radasa  ist  längst  bekannt;  sein 
Gedicht  Jänaktharana  soll  sogar  erhalten  sein;  es  existiert  anch 
eine  bestimmte  Ueberlieferang  über  die  Zeit,  in  der  Enm&rad&sa  ge- 
lebt hat. 

James  d'Alwis  hat  in  seinem  Descriptive  Catalogue  of  Sanskrit, 
P&li  and  Sinhalese  literary  Works  (Colombo  1870)  p.  188  ff.  einen 
ziemlich  ausführlichen  Bericht  über  das  Jänaktharana  erstattet.  Das 
Wesentliche  daraus  habe  ich  mitgeteilt  in  den  Beiträgen  zur  Kunde 
der  indogermanischen  Sprachen,  herausgegeben  von  Bezzenberger, 
V  (1880)  S.  52.  Nach  James  d'Alwis  ist  das  Gedicht  nur  in  einer 
singhalesischen  »wörtlichen  Uebersetzungc  (sanna)  erhalten.  Doch 
lä0t  sich  der  Sanskrittext  daraus  wiederherstellen.  James  d'Alwis 
selbst  gibt  eine  Probe  von  zehn  Versen.  Als  der  Verfasser  des  Jä- 
naktharana wird  Eumäradäsa  oder  Kumäradhätnsena ,  König  von 
Ceylon  513 — 522  (s.  Lassen  IV,  293),  angegeben. 

Unabhängig  von  James  d'Alwis  (soweit  ich  jetzt  zu  sehen  ver- 
mag) hat  Rhys  Davids  neuerdings  über  Kumäradäsa  gehandelt  in 
der  Academy  XXIII  (1883)  p.  136.  Rhys  Davids  macht  hier,  in 
einer  Anzeige  von  Max  Müllers  »India«,  darauf  aufmerksam,  daß 
ein  interessanter,  übrigens  wohlbekannter  ^)  Synchronismus  von  Bh&o 
D&jt  und  Max  Müller  bei  der  Zeitbestimmung  des  Kälidäsa  übersehen 
worden  sei.  Die  »südlichen«  Buddhisten  nämlich  versetzen  den  Kä- 
lidäsa in  das  sechste  Jahrhundert  unserer  Zeitrechnung,  sie  machen 
ihn  zu  einem  Zeitgenossen  des  Königs  Kumäradäsa  von  Ceylon, 
lieber  Letzteren  speciell  bemerkt  Rhys  Davids :  At  that  time  [im  An- 
fang des  6.  Jahrb.]  there  was  reigning  in  Ceylon  a  king  named 
Knmäradäsa,  who  was  himself  a  celebrated  scholar  and  poet,  and 
the  author  of  a  Sanskrit  poem,  still  extant,  entitled  Jänaktharana» 
Was  die  Ceylonesen  über  den  Tod  des  Kälidäsa  und  Kumäradäsa 
berichten,  hat  Weber  nach  der  mir  nicht  zugänglichen  History  of 
Ceylon  von  William  Knighton,  vor  19  Jahren,  ausführlich  mitgeteilt 
in  der  ZDMG.  22,730;  früher,  aber  kürzer.  Lassen  in  der  Indischen 
Alterthumsknnde  lY,  293.    Die  älteste  Quelle ,  in  der  Rhys  Davids 

1)  Billiger  Weise  h&tte  Rhys  Davids  die  Leser  der  Academy  verweisen  sollen 
aal  Webers  YorlesuDgen  über  indische  Litteraturgeschichte*  S.  221  (in  der  eng- 
lischen Uebersetzong  p.  204)  Arno.  211. 


96  Gott.  gel.  Ans.  1887*  Kr.  8. 

die  ceylonesische  Ueberlieferang  gefnnden  hat,  ist  nach  der  Ansicht 
dieses  Gelehrten  nicht  älter  als  das  zwölfte  Jahrhundert 

Wenn  das  Jänakthara^a  einmal  heraasgegeben  sein  wird ,  so 
wird  es  sich  ja  zeigen,  ob  die  Strophe  ayi  vijahihi  darin  yorkommt 
oder  nicht 'J.  Zn  den  Stellen,  die  sonst  noch  aas  Kam&radfisa  oder 
dem  Jäoakihara^a  angefahrt  werden  (Snbh&shit&vali ,  Introduction, 
p.  24  f.),  füge  man  hinzu  die  Strophe  ^tf^up^a^a  smainamj  welche 
nach  KramadtQvara  aus  dem  Jänakthara^a  stammt:  dieselbe  Strophe 
wird  aus  »Raghu«  (sie)  citiert  in  der  Prayogaratnam&lä  des  Paru- 
shottama,  und  anonym  im  K&tantra  p.  291  (cfr.  p.  537)  und  im  Sa- 
rasvattkai^thäbharana  p.  40,  18.  Diese  Nachweise  sind,  bis  auf  den 
letzten,  von  mir  schon  gegeben  worden  in  Bezzenbergers  Beiträgen 
V,  52.  Mehrere  Fragmente  aus  Eum&rad&sa  und  dem  J&naktharana, 
die  in  Räyamnkntas  Kommentar  zum  Amarakofa  citiert  werden,  siehe 
bei  Aufrecht  ZDM6.  28,  118  ff.    Der  erste  päda  eines  dieser  Fragmente 

ravah  pragalbhähatabhensanibhavah 
wird  auch  von  Ujjvaladatta  zu  U9.  p.  106,  10,  und  zwar  aus  »Ku- 
m&ra«,  citiert.  In  diesem  Falle  ist  Enmära  s.  v.  a.  Eum&radäsa 
{Bhimasene  Bhtmavat)^  nicht,  wie  sonst  gewöhnlich  bei  Anführungen, 
8.  y.  a.  Eum&rasambhaya.  Ueber  Kumärad&sa  =.  Eumära  ygl.  auch 
die  Snbbäshitayali  1.  c. 

»Should  the  book  run  to  a  second  edition« ,  sagen  die  Heraus- 
geber der  Subhfishitävali ,  Preface,  p.  II,  »we  undertake  that  this 
part  of  it  [the  Introduction]  shall  show  that  the  editors  haye  ne- 
glected no  suggestion  of  improvement  which  may  have  reached 
theme.  Es  ist  demnach  zu  hoffen,  daß  in  einer  zweiten  Auflage  der 
Subh&shit&vali  das  hier  Vorgebrachte  Berücksichtigung  finden  wird. 
Ich  bemerke  noch,  daß  ich  Mittel  und  Wege  kenne,  die  Zeit  des  Eunst- 
dichters  Padmagupta  alicts  Parimala  (Subh&shitävali,  Introduction, 
p.  51  ff.)  ganz  genau  zu  bestimmen  —  so  genau  wie  es  eben  in  der 
indischen  Litteraturgeschichte  möglich  ist  Doch  muß  ich  das  einer 
besonderen  Arbeit  vorbehalten. 

Ich  hatte  mir  vorgenommen,  an  dieser  Stelle  auch  ein  Paar 
Worte  zu  sagen  über  die  (Dichterin?)  Räjyafr!')  in  Müller  -  Cappel- 

1)  Aber  selbst  wenn  sie  vorkäme ,  so  wäre  es  dennoch  möglich ,  daS  die  im 
Mah&bhäshya  citierten  Worte  varaianu  Bampravadanti  kukkufäf^  nicht  von  Kn- 
m&radäsa  selbst  gedichtet,  sondern  irgendwoher  von  ihm  entlehnt  worden  sind.  ^ 
Uebrigens  scheint  es  nicht  »allgemein  bekannt«  zu  sein,  daft  der  päda  varatanu 
XL  8.  w.  in  Räyamokutas  Kommentar  zum  Amarako^a  dem  Bhäravi  zugeschrieben 
wird:  s.  Aufrecht  in  der  ZDMG.  28,  116. 

2)  Sic!  Wohl  nur  Druckfehler,  wie  bei  Lassen  IV,bl7:  Bäjma^rt,  statt  Bä- 
jayrt.  —  Borooah,  der  in  seiner  Schrift:  Bhavabhüti  and  his  place  in  Sanskrit 
literature  (1878)  §  46  die  Stelle  RäjaUrangi^t  IV,  145  bespricht,  hält  Väkpatirlja 


Rudrata's  QrSgfiratilaka  and  Ruyyaka's  Sahrdayalflft  ed.  Pischel.  97 

lers  »iDdien«  S. 288,  sehe  indessen  aas  der Snbb&shitavali  I.e.  p. 95, 
daß  mir  Peterson  zuvorgekommen  ist.  Es  ist  in  der  That  unver- 
ständlich, wie  Jemand  angesichts  der  Mitteilungen  von  Bhandarkar 
(in  der  Vorrede  zam  Mälattmädhava  1876)  noch  von  einem  oder  ei- 
ner Rajya$rt  sprechen  kann. 

Ich  kehre  zn  Fischöls  Buch  zurück.  Die  Texte  sind  nach  vor- 
trefflichem handschriftlichen  Material  ediert.  Der  Umstand  allein, 
daß  Q&radä-Handschriften  ans  Kaschmir  benutzt  worden  sind,  bürgt 
für  die  Zuverlässigkeit  der  Texte.  In  den  kritischen  Anmerkungen 
werden  die  Varianten  und  gewisse,  nicht  allen  Handschriften  ge- 
meinsame Zusätze  gegeben.  Sehr  dankenswert  ist  das  Verzeichnis 
der  im  Qrngäratilaka  vorkommenden  Beispiele  S.  88 — 90. 

Den  Schluß  des  Buches  bilden  Noten  zunächst  zum  Rudrata. 
Hier  werden  einige  schwierige  oder  seltene  Ausdrücke  erklärt;  Pa- 
rallelstellen aus  den  rhetorischen  Büchern  —  soweit  letztere  im 
Druck  erschienen  sind  —  zu  den  einzelnen  Regeln  oder  Abschnitten 
aufgeführt;  endlich  werden  die  Werke  —  darunter  auch  solche  die 
nur  im  Manuscript  vorhanden  sind  —  namhaft  gemacht,  in  denen 
Beispiele  des  Rudrata  vorkommen.  Zu  diesen  Nachweisen  vermag 
ich  ans  meinen  eigenen  Sammlungen  keinen  hinzuzufügen,  mit  Aus- 
nahme der  oben  S.  92  genannten  Stelle  Qukasaptati  25. 

Zu  Fischöls  Note  (p.  101  f.)  über  die  zehn  oder  zwölf  Tcämä- 
vasthas  in  den  erotischen  und  rhetorischen  Schriften  der  Inder  be- 
merke ich,  daß  ich  hierüber  ausführlich  gehandelt  habe  —  was 
Tawney  (Uebersetzung  des  Kathäsaritsägara,  vol.  II  p.  304  n.)  merk- 
würdiger Weise  nicht  entgangen  ist  —  in  Bezzenbergers  Beiträgen  IV, 
373.  Dort  findet  man  damals  (1878)  noch  nicht  edierte  Werke,  wie 
das  Sarasvatika^thäbhara^a  undRudrata's  Qrngäratilaka,  bereits  an- 
gefahrt.   Vgl.  auch  VetälapancavinQatik4  ed.  Uhle  p.  174. 

Aus  den  Noten  zum  Ruyyaka  sei  die  Erörterung  über  die  rich- 
tige Schreibung  von  pushyaräga  »Topas«  hervorgehoben. 

Pischel  hat  sich  in  seinem  Buche  der  englischen  Sprache  be- 
dient. Möge  das  Buch  nun  auch  auAerhalb  Deutschlands  die  Beach« 
tung  finden,  die  ihm  gebührt. 

Königsberg  i.  Pr.  Th.  Zaohariae. 

fikr  einen  Titel  des  Bhavabhüti ,   Iftngnet  übrigens ,  daB  mit  Bhayabhüti  der  be- 
rflhmte  Dramatiker  gemeint  ist. 


littt.  goi.   Abs.   1887.  Kr.  I.  8 


98  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  3. 

Feshutan   Dastur   Behramji   Sanjana,    Ganjeshäyagän,    Andarze 

Atrepat  Märäspand&n,  Mädigäne  chatrang  and  AndarzeEhas- 
roe  Eavätän.  The  original  PehMText;  the  same  transliterated  in  Zend 
Characters  and  translated  into  the  Qujarati  and  English  Languages ;  a  Com- 
mentary and  a  Glossary  of  select  words.  Mr.  Otto  Harrassowitz,  Bookseller, 
Leipzig,  sole  agent  for  Enrope.  Bombay:  Printed  at  the  Doftnr  Ashkara 
Press  by  Rustomjee  Nowrozjee  Khambatta,  87  Cowasjee  Patell  Street,  Fort 
In  the  year  1254  of  Yezdezard  and  1885  of  Christ*). 

Der  gelehrte  Herausgeber  der  vier  hier  genannten  Stttcke  ist 
den  Freunden  der  zoroastrischen  Studien  vorteilhaft  bekannt  als  Ver- 
fasser einer  Pahlawigrammatik  (Bombay  1871)  und  Uebersetzer  und 
Herausgeber  des  Dinkard  (Bombay  1874—83).  Wie  dieses  grOfiere 
Werk  besteht  auch  das  vorliegende  aus  dem  Urtext  in  Pahlawi,  ei- 
ner vom  Verf.  vorgenommenen  Transscription  in  Zendschrift  (wobei 
jedoch  die  semitischen  Fremdwörter  nicht  in  ihre  persischen  Ae- 
quivalente  umgesetzt,  wie  in  sogenannten  Parsiwerken  der  Fall  ist, 
sondern  semitisch  gelesen  sind),  einer  englischen  und  Guzaratitlber- 
setzung,  einem  Verzeichnisse  der  ungewöhnlichen  oder  bisher  nicht 
bekannten  Pahlawi Wörter ,  sowie  einer  Vorrede  über  die  Stellung 
der  vier  Stttcke  in  der  Litteratur. 

Von  den  Texten  kannte  man  bereits  die  Titel  (s.  Hang,  Essays 
on  the  sacred  language  etc.  ed.  by  E.  W.  West  Lond.  1878,  S.  110. 
111).  Die  Uebersetzung  ist  sehr  frei,  bisweilen  paraphrastisch.  Die 
Stttcke  sind  moralischen  Inhalts  und  erhärten  aufs  neue  den  hohen 
sittlichen  Qehalt  der  persischen  Religion,  deren  genauere  Erkenntnis 
sie  indessen  nicht  fördern ;  es  würden  die  gelehrten  Dasturs  sich  in 
noch  höherem  Grade  den  Dank  der  europäischen  Forscher  verdienen, 
wenn  sie  das  was  von  Geschichte,  Geographie  und  sonstigem  Wis- 
senswttrdigen  in  ihren  noch  unbekannten  Manuscripten  erhalten  ist, 
veröffentlichen  wollten.  Freilich  ist  der  geschichtliche  Wert  dieser 
Pahlawi  werke  schon  deßhalb  fraglich  (man  sehe  z.  B.  die  verwirrte 
Uebersicht  der  persischen  Könige  im  Bahman  Jascht ,  West ,  Pahl. 
Texts  I,  199),  weil  viele  erst  lange  nach  dem  Untergang  des  sasa- 
nischen  Reiches  entstanden  sind,  wie  die  Erwähnung  des  Chalifen 
Mämün  (814 — 834)  in  der  Refutation  des  Ketzers  Abälisch  und  an- 
dere sichere  Thatsachen  zeigen  (West,  Pahl.  Texts  III,  XXVII),  oder 
wie  in  unserm  ersten  Stttck,  Ganj-i  fiäyigän,  die  elegische  Auslas- 
sung ttber  die  Vergänglichkeit  alles  irdischen,  selbst  der  heiligen 
Stätten  des  zoroastrischen  Glaubens  (män-i  magän,  S.  2,  Z.  4)  und 
des  (sasanischen)  Königreichs  gegenttber  der   alleinigen  Dauer  der 

1)  Obiges  Werk  ist  für  den  Preis  von  20  Reichsmark  bei  Herrn  Harrasso- 
witi,  Leipzig,  k&oflich. 


D.  PeshatED,  Ganjeshftyagftn,  etc.  d9 

Dinge  des  Frascbokereti  (2,  8)  d.  h.  der  Werke ,  welche  am  Tag 
des  Oerichts  von  der  Verdammung  erretten ,  erweist.  Dieses  6anj-i 
iäyigän  (in  der  alten  Handschrift  sähak an,  also  »königlicher  Schatz«) 
gibt  nach  einer  Einleitung  über  den  unterschied  von  vergänglichen 
und  ewigen  Gütern  eine  in  Katechismnsform  verfaßte  Erklärung  der 
wichtigsten  moralischen  Begriffe  und  deren  Ursprung  in  den  Seelen- 
kräften. Der  Kern  des  Werkes,  welchem  der  Eingang  und  der  nach 
dem  Katechismus  folgende  Schluß  (der  aus  dem  Parsi  zurückge- 
schrieben scheint,  worauf  u.  a.  die  Form  ö^pat  für  die  Brücke 
ömwat  hindeutet  §  133)  später  hinzugefügt  sein  mögen,  wird  aus 
der  Sasanidenzeit  stammen,  denn  wir  haben  hier  offenbar  einen  jener 
Fahlawitexte  vor  uns,  welche  Firdusi  zu  seinen  paraenetischen  Ein- 
schaltungen benutzt  hat  (Mohl,  Le  livre  des  rois  VI,  S.  V.  J.  Pizzi, 
Manuale  di  Letteratura  persiana.  Milano  1887,  S.  170).  Dastur 
Peschntan  hat  die  besonders  übereinstimmenden  Stellen  aus  dem 
Pand-nämeh  des  Buzurgmihr  bei  Firdusi  zum  Vergleich  ausgehoben 
(im  Livre  des  rois  VI,  364,  2463.  366,  2488.  368,  2509,  Stelle  über 
die  Diws).  Die  neupersische  Litteratur  hat  mehrere  Werke  zu  ver- 
zeichnen, welche  auf  die  Maximen  des  Buzurgmihr  zurückgehn,  wie 
das  Zafarnämeh,  das  Na^ihat-nämeh  (Bieu,  Catalogue  I,  52.  IV.  VII) 
und  das  von  Dastur  Peschutan  S.  X  erwähnte  Djawedän  chirad. 
Das  Manuscript,  aus  welchem  die  3  vom  Herausgeber  benutzten  Ko- 
pien stammen,  ist  angeblich  im  Jahre  1010  (indisches  Samvat  1067) 
von  einem  Erzpriester  (Peschwä)  in  Barotsch  für  seinen  Zögling  ge- 
sehrieben (vielleicht  verfaßt);  die  erste  Kopie  stammt  aus  dem  16. 
Jahrhundert,  die  andere  von  1761  und  1778. 

Ein  zweiter  Traktat,  Andarz-i  Atropät  Märaspandän,  enthält 
die  diesem  berühmten  in  der  Pahlawiglosse  zu  Wend.  4,  128  ge- 
nannten Dastur  in  den  Mund  gelegten  Lehren  für  seinen  Sohn  Zar- 
tnscht  (s.  Nöldekes  Tabari  457,  Z.  6).  Für  eine  genauere  Bestim- 
mung der  Abfassungszeit  findet  sich  kein  Anhalt. 

Dagegen  sind  geschichtliche  Notizen,  freilich  fraglicher  Art,  in 
der  Sehrift  über  das  Schachspiel  enthalten.  Dieselbe  wurde  be- 
reits 1854  vom  Herausgeber  in  einer  Bombayer  Wochenschrift  be- 
kannt gemacht.  Sie  ist  in  3  Handschriften  vorhanden,  deren  älteste 
1257  geschrieben  ist.  Leider  gibt  diese  Erzählung  nichts  was  un- 
sere Kenntnis  der  Geschichte  des  Spiels  erweitern  könnte,  denn  wir 
finden  über  seine  Verpflanzung  aus  Indien  nach  Persien  diejenige 
legendenhafte  Darstellung,  welche  wir  auch  bei  Firdusi  lesen  und 
welche  bereits  Ant.  von  der  Linde  (Geschichte  und  Litteratur  des 
Schachspiels  L  Berlin  1874,  S.  67)  als  unhistorisch  gekennzeichnet 
lutt    Da   zwischen   der   Einführung  des  Spiels  unter  Chosro   Ano- 

8* 


100  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  3. 

Bchirwän  (531 — 578)  und  der  AasbildoDg  der  Legende  geraome  Zeit 
yerflossen  sein  muß,  so  ist  es  schwer,  an  ein  hohes  Alter  der  Schrift 
zu  glauben.  DerRädja,  welcher  das  Schach  erfindet,  ist  bei  Mas  üdi 
Balhit,  bei  andern  ist  es  dessen  Wezlr  Qi^^ah  (Qaf^ah)  Sohn  des 
Dähir  (der  indische  Name  Tschatscha  kommt  zweimal  in  der  Räi- 
dynastie  in  Sind,  ein  Jahrhundert  später  als  Chosro,  vor,  Lassen, 
Ind.  Alt.  m,  595.  604.  631.  632.  Gildemeister,  ZDMG.  28,  695), 
in  unserm  Traktat  aber  Dewsäram  ((•^^-^•^,  vielleicht  richtiger  mit 
Unterdrückung  eines  Zeichens  Dewscharm  ^j^^^  zu  lesen),  welcher 
bei  Mas'üdi  als  Dabschilim  den  mit  dem  Schachspiel  gewöhnlich  zu- 
sammen genannten  Kalilah  und  Dironah  (s.  von  der  Linde  II,  473) 
verfaßt.  Der  Name  Dabschilim  (richtiger  wäre  zu  sprechen  Debh- 
schalm),  dessen  Identität  mit  Devagarman  eben  aus  diesem  Fabelbnch 
erhellt,  kommt  auch  in  der  Geschichte  des  Mahmud  von  Ghazna  vor 
(Lassen  III,  560.561),  und  Deva^arman  findet  sich  in  derGardabha- 
dynastie,  deren  Münzen  den  sasanischen  Typus  haben  (Prinsep  Es- 
says on  Ind.  Ant.  ed.  Thomas  1,341.  A.  Weber,  Ind.  Stud.  XV,  252), 
während  zu  Chosros  Zeit  die  Vallabhidynastie  herrschte  (seit  480). 
Fragen  wir  nach  der  Abfassungszeit  unsres  Traktats,  so  dürfte  der 
Name  des  Rädja  nicht  für  ein  höheres  Alter  beweisend  sein,  da  er 
aus  dem  Fabelbuch  entnommen  sein  köunte;  wohl  aber  dürfte  der 
Name  des  Spiels  Tschaturang  deßhalb  für  die  Abfassung  noch  zur 
Zeit  der  Sasaniden  sprechen,  weil  der  neupersische  Ausdruck  (wel- 
chen wir  ohne  Zweifel  vor  uns  haben  würden,  wenn  die  Schrift  erst 
in  das  Pahlawi  zurück  transscribiert  wäre)  schon  in  der  ältesten 
Stelle  (bei  Firdusi)  die  arabische  Form  Schatranj  g^^la-^  zeigt;  das 
Spiel  wurde  von  den  Arabern  in  Persien  erlernt  und  in  hohem  Grad 
ausgebildet,  sodaßdie  persischen  Schach  Wörter  in  arabischer  Umformung 
nach  Persien  zurückkehrten.  Auch  das  Kärnämak  des  Ardeschir  I, 
welches  Nöldeke  (Bezzenberger ,  Beiträge  zur  Kunde  d.  indog.  Spr. 
4,  1878,  S.  39)  in  die  Zeit  des  Chosro  Parwez  setzt,  hat  den  indi- 
schen Namen  Tschat(u)rang ;  auch  die  Guzaratisprache  kann  den 
letztern  nicht  geliefert  haben,  weil  auch  sie  das  Spiel  schetrang 
nennt.  Gegen  diese  Verlegung  in  die  spätere  Sasanidenzeit  dürften 
Bedenken  sprachlicher  Natur  nicht  sehr  ins  Gewicht  fallen,  wie  das 
Nebeneinanderstehn  der  Pahlawiform  wartaschn  und  der  neuem  gar- 
daschn  (auch  gartandk  aus  wart^^  bereits  in  der  üebersetznng  des 
Awesta  findet  man  gart  'rund'),  welche  das  Schriftchen  für  die  Um- 
drehung der  Planeten  und  die  Umwälzung  des  Himmels,  oder  wie 
D.  Peschustan  im  Glossar  erklärt,  für  die  Vorwärtsbewegung  und 
den  Rückgang  (der  Planeten)  anwendet;  oder  wie  die  neuere  Form 
Artachschir,  denn  obwohl  noch  der  letzte  König   dieses  Namens  aaf 


D.  Peshutan,  Ganjesbäyagän  etc.  101 

den  Münzen  Artachschatr  heißt,  so  dürfte  die  Erhaltung  dieser  nr- 
sprünglichen  Form  in  officiellem  Styl  eine  künstliche  sein.  Ein  neuer 
Name,  der  soviel  Ref.  bemerken  kann,  bei  A.  von  der  Linde  und 
seinen  sachverständigen  Kritikern  nicht  vorkommt,  ist  der  des  Mi- 
nisters des  Bädja,  Tätaritns  (D.  Peschutan :  Takhtaritas ;  aus  ©sodoi- 
Qiltog?).  Die  Stelle,  welche  den  Namen  der  Schachfigaren  enthält, 
lautet  wörtlich:  »Devafarman  hat  das  Tschaturang  auf  die  Weise 
des  Krieges  gleichsam  gemacht;  gleichwie  hier  sind  2  Generale 
(sar-ckudai)  gemacht  (geworden)  zum  König  (malka  d.  i.  schah)  als 
die  obersten  Ordner   {matachwar^   die  Lesart  scheint  ungenau,   denn 

wir  haben  offenbar  np.  ^a^  vor  uns,  im  Sinne  des  yXo  bei  Mas'üdi, 

B.  Gildemeister,  Scriptorum  Arabum  de  reb.  Ind.  loci,  Bonn  1838, 
S.  10,  nlt.  =  142,  Z.  5)  für  links  und  rechts  (fttr  beide  Flügel  des 
Heeres);  der  Wezir  {Farjm)  als  Anführer  der  Krieger  {arteUaran 
urspr.  Wagenkämpfer)  gleichsam,  das  Roß  als  Anführer  der  Reiter 
gleichsam,  der  Fußgänger  {jpiatdk)  als  das  Korps  des  Fußvolks 
gleichsam  vor  der  Schlachtlinie«.  Der  Name  des  Ruch,  welcher 
am  wichtigsten  sein  würde,  ist  nicht  genannt.  Ganz  ungeschichtlicb 
ist,  wenn  das  weit  ältere  Nardspiel  oder  Triktrak  dem  Buzurgmihr 
zugeschrieben  und  von  ihm  nur  nach  dem  ersten  Sasaniden  aus  An- 
erkennung seiner  Tüchtigkeit  und  Weisheit  New-artachscMr  benannt 
wird.  Dastur  Peschutan  liest  diese  Benennung  Wen-ar^asdar  (d  und 
i  haben  gleiche  Zeichen),  ohne  diesen  Ausdruck  zu  erklären.  Die- 
ses New  hat  dieselbe  Bedeutung  wie  in  dem  Städtenamen  New- 
schahpuhr  (Nöldekes  Tabari  59);  das  unter  Artachschatr  erfundne 
Spiel  konnte  ebenso  benannt  sein  wie  eine  von  ihm  erbaute  Stadt; 
ans  New-artachschir  scheint  das  neben  Nerd  besonders  von  den  Ju- 
den gebrauchte  Nerdschir  eher  entstanden  zu  sein  als  aus  Nerd- 
Ardeschir;  das  Wort  würde  eine  ähnliche  Kontraktion  erfahren  ha- 
ben wie  der  Name  der  Stadt  Weh-artachschir  in  Seleukia,  welche 
bei  den  arabischen  Geographen  Bahursir  u.  dgl.  heißt,  oder  wie 
Rew-artachschir,  arabisch  Rischahr,  mit  Anlehnung  an  schahr  (Stadt), 
Bahman-schir  (Forat  und  Obollah  gegenüber);  Bardasir  oder  Guwä- 
Bchir   (aus    Weh-Ardeschir,   heute   Kirman) ,   vgl.  Jaqut  jjJSi^A  ^^«44^ 

etc.  Wüstenfeld,  ZDMG.  18,  406.  Nöldeke  31,  149.  Tabari  10.  16. 
19.  Hontnm-Schindler,  Zeitechr.  d.  Ges.  f.  Erdk.  1881,  329.  Das 
Wort  n^  (aitpersisch  naiba)  dürfte  auch  in  dem  Titel  netoan-pat 
(oberster  Wezir,  eigentlich  Herr  der  Tapfern,  der  Helden)  enthalten 
sein,  welchen  D.  Peschutan  wenan-pat  liest  und  von  vain  (sehen) 
ableitet,  sodaß  er  den  Herrn  der  Sehenden,  Oberaufseher,  dann  Rat 
oder  Minister  bedeuten  würde,   etwa   mit  Bezug  auf  die  Kazdaxono^ 


102  Gott.  gel.  Anc.  1887.  Nr.  3. 

und  iif&aXikoi  des  Herodot  and  Xenophon.  Ganz  zoroastrisch  ist  die 
Erläaterang  des  Nardspiels  und  von  ähnlicher  Tendenz  wie  die 
Erklärung  des  Schachs  als  Planetenschach  und  Himmelskreisspiels 
bei  Mas^üdi  und  andern  (von  der  Linde  I,  108.  130),  in  dem  das 
Bret  der  Spendarmat  oder  dem  Genius  der  Erde,  die  30  Spielsteine 
{muhrak)  den  Tagen  und  Nächten  des  Monats,  ihre  Bewegungen  der- 
jenigen der  Planeten  gleichgesetzt,  auch  die  Steine  noch  mit  gewissen 
Begriffen  des  Avesta  in  Verbindung  gebracht  werden. 

Der  4.  Traktat  ist  die  Ermahnung  des  Ghosro  Anoschirwän  an 
seine  Hinister  und  Edlen,  nach  zwei  modernen  Handschriften. 

Zum  Schluß  einige  Einzelheiten.  Statt  ahiJimän  (Ganj.  §  169, 
S.  21,  Z.  4;  Transscr.  28,  Z.  9)  ist  richtiger  zu  schreiben:  %aneman^ 
wie  das  Glossar  wirklich  bietet.  —  In  einer  Note  zum  2.  Stttck 
S.  2  sucht  der  Verf.  die  Vorstellung  von  Trauen  des  Ahuramazda', 
einen  Ausdruck  anthropomorphischer  Bildersprache,  durch  eine  un- 
richtige Uebersetzung  aus  dem  Gab  Aiwisruthrema  zu  entfernen. 
Der  Text  ist  ohne  Schwierigkeit  und  läßt  nur  Eine  Deutung  zu.  — 
Im  3.  Stttck  ist  das  Pahlawiwort  gtischan  (awest.  varckni)  unrichtig 
durch  yuym  transscribiert.  —  Das  Wort,  welches  Dastur  Peschutan 
aoeamhurd  und  aoemeburd  transscribiert  und  durch  Diamant,  Gemme 
übersetzt  (Schachsp.  §  1,  Z.  4  Glossar  S.  2^)  und  für  eine  Zusam- 
mensetzung  von   hebräisch  yp^   (Kostbarkeiten)  und  neupersisch  ^ß 

(Stein)  hält,  ist  nichts  anderes  als  das  Wort  Smaragd;  die  Pahlawi- 
zeichen  ^jyiy^j^  müßten  uemuburt  gelesen  werden,  sie  scheinen  aber 

nicht  richtig  zu  sein,  denn  entweder  muß  man  eine  vom  arabischen 
zumurrud  oder  vom  syrischen  eemor^gdo  abgeleitete  Form  annehmen ; 
ersteres  ist  wahrscheinlicher,  und  man  müßte  wohl  uzm{bv)ur^d  (rus- 
sisch issumurd,  armenisch  emruxt)  verbessern,  wobei  hy  nur  eine  or- 
thographische Bezeichnung  des  scharf  artikulierten  m  wäre,  wie  das 
h  in  eVji^Vw  (heftig)   neben    dV»(V«o^.     Das  Vorkommen   dieser   aus 

dem  Arabischen  zu  erklärenden  Form  würde  gegen  ein  hohes  Alter 
des  Traktats  sprechen,  wenn  nicht  eine  spätere  Einführung  durch 
einen  Abschreiber  mOglich  wäre.  Das  Pahlawiwort  für  Rubin  (an 
derselben  Stelle)  liest  Verf.  yahüd  (arabisch),  während  offenbar  yo- 
hand  zu  sprechen  ist.  —  Afad  (awad,  Ganj.  §  69)  'bewundernswert, 
lobenswert'  wird  aus  hebr.  lyp  erklärt,  während  es  awest.  abda. 
neupersisch  Oo\  ist.  —  Kanpak  (karfä)  neupersisch  ä5^  (frommes 
Werk,  Gegensatz   von   «U?)   ist   nicht  mit  arabisch  ^Ly  verwandt, 

sondern  ist  sanskritisch  Mpa  und  deutsch  'Hülfe'.  —  Das  Wort  für 
Tanzer'  g^jj  {eareh,  S.  10)   ist   nicht  mit  hebräisch  rnt   (umgürten) 

verwandt,  sondern  awest.  israda.  —  Pahlawi  j^  (groß)  liest  Verf. 


Ludwig,   Johaim  Georg  Kästner,  ein  elsäBischer  Tondichter  etc.        103 


saiwar  and  erklärt  es  aas  mbi^,  hebräisch  9(0/tO]  es  ist  vielmehr 
$tapar  zn  lesen,  neapersisch  j^m,   awestisch  stawra,    griechisch  au- 

ßaQog.  So  ist  auch  stahmah  (Tyrannei)  kein  semitisches  Wort,  wie 
Verf.    annimmt,  sondern   neapersisch  <uJüU>,  «uaämI  (starker   Mann) 

und  Ju»  (ünterdrttckang) ;   derselben  Abkanft   ist  awestisch   itap'a, 

and  das  dentsche  Stahl  (altpreaßisch  staUa).  —  Sehöh  (Glanz, 
Würde)  ist  neapersisch  v^X&  and  übersetzt  im  Zend-Pahlawifarhang 

134,  5  das  alte  ainit%  was  im  Awesta  vielmehr  durch  pahlawi 
jujuJ'l  (Freisein  von  Bache)  wiedergegeben  wird;  die  Orandform 
wird  sJcau^a  gewesen  sein,  verwandt  mit  altdeutsch  sTcüwo  (Schat- 
ten), denn  Olanz  und  Schatten  werden  durch  dasselbe  Wort  ausge- 
drückt, armenisch  Siik'^  ist  Schatten  und  Glanz,  griechisch  cr«ia  und 
deatsch  Schemen  ist  mit  'scheinen'  verwandt. 

Marburg.  Ferd.  Justi. 


Ludwig,  Hermann,  Johann  Georg  Kästner,  ein  elsäSischer  Ton- 
dichter,  Theoretiker  nnd  Musikforscher.  Sein  Werden  and 
Wirken.    Leipzig  1886.    (Breitkopf  &  H&rtel).    2  Teile  in  8  Bänden. 

Selten  wird  wohl  ein  Buch  mit  größerem  Eopfschütteln  aufge- 
nommen sein,  als  das  vorliegende.  Drei  dicke  Bände  von  zusammen 
etwa  1300  Seiten  in  wahrhaft  glänzender  Ausstattung,  mit  einer  Fülle 
TOD  Buchzierungen  nach  den  besten  Mustern  der  Renaissance,  mit 
Photographien,  Faksimiles,  einer  Partiturbeilage  von  32  Seiten  — 
nnd  wem  ist  das  alles  gewidmet?  Einem  Manne,  der  bisher  kaum 
mehr  als  dem  Namen  nach  bekannt  gewesen  ist.  Liegt  hier  eine 
grofte  Ungerechtigkeit  der  Musiker  oder  ein  großer  Irrtum  des  Ver- 
fassers vor?  Doch  hören  wir  erst,  wie  der  Verf.  das  Werk  einführt. 
Er  deutet  zunächst  die  Erfüllung  einer  Pietätspflicht  an.  Darüber 
kann  hinweggegangen  werden.  Vor  den  Gefühlen  der  Angehörigen 
hat  die  Kritik  mit  schuldiger  Rücksicht  Halt  zu  machen.  Sie  darf 
sich  aber  auch  in  keiner  Weise  dadurch  abhalten  lassen,  das  Buch 
rein  sachlich  zn  schätzen.  Familienpietät  hat  auf  dem  Felde  der 
Litteratnr  keine  Stimme.  —  Sodann  wirft  der  Verf.  den  nationalen 
Gesichtspunkt  in  die  Wagschale.  Das  Buch  soll  »dem  verdienstvollen 
elsäßischen  Tondichter,  Theoretiker  und  Musikforscher  auch  in  der 
deutschen  Kunstwelt  den  ihm  gebührenden  Platz  erringen«,  ferner 
S.  5:  »Ein  echter,  bei  tiefer  musikalischer  Veranlaguog  mit  uner- 
müdlichem Streben,  staunenswertem  Fleiße  und  scharfer  Forschergabe 


104  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  8. 

ausgeBtatteter  Sohn  Alsas,  hat  J.  G.  Kästner  mit  der  Innerlichkeit 
deutschen  Gemüts  and  deutscher  Treue  sein  politisches  Vaterland 
Frankreich  geliebt.  Er  verstand  es,  sich  die  Feinheiten  französischer 
Bildung  anzueignen,  ohne  doch  in  der  geringsten  seiner  seltenen 
Geistes-  und  Herzenseigenschaften  die  alte  Stammesart  zu  verläugnen. 
So  gehört  der  schon  seit  bald  zwei  Jahrzehnten  Dahingegangene  zu 
den  geistig  eingebornen  Söhnen  des  wiedererstandenen  deutschen 
Reichs.  Auch  ihn  durch  liebevolle,  genauere  Kenntnis  seines  Wer- 
dens und  Wirkens  sich  voll  anzueignen,  dürfte  zu  den  neu  erwerbe^ 
nen  Pflichten  und  Bechten  Deutschlands  gegen  das  Reichsland  zu 
rechnen  seine  Zu  den  Rechten?  Wird  etwa  auch  auf  litterari- 
schem Gebiet  erst  durch  den  Waffensieg  das  Recht  der  Aneignung 
erworben?  Auf  die  Pflicht  komme  ich  hernach.  Was  zunächst  den 
Satz  betrifft,  daß  Kastner  ein  geistig  eingeborner  Sohn  des  neuen 
deutschen  Reichs  sei,  so  ist  mehr  als  fraglich,  ob  K.  selbst  nicht 
gegen  denselben  auf  das  äußerste  protestieren  würde.  Denn  er  war 
mit  Leib  und  Seele  Franzose.  Das  bedarf  keiner  Entschuldigung, 
wie  es  anderseits  auch  kein  Verdienst  ist,  daß  sein  Charakter  die 
germanischen  Merkmale  aufweist.  In  der  Einleitung  wird  die  Ent- 
stehung und  das  Wesen  dieser  zwiespältigen  elsäßischen  Eigenart, 
der  französischen  nationality  politique  und  der  germanischen  natio- 
nalite  morale,  mit  umfassender  Kenntnis  von  Land  und  Leuten  ein- 
gehend und  gut  geschildert,  und  diese  Darstellung,  welche  neben 
der  Schilderung  von  Paris  i.  J.  1835  das  Anziehendste  des  gan- 
zen Buchs  ist,  erfüllt  den  Nebenzweck,  in  Altdeutschland  das  Ver- 
ständnis für  den  elsäßischen  Volkscharakter  zu  fördern.  Ob  aber 
der  Hauptzweck  erreicht,  nämlich  für  Kastner  durch  den  Hinweis 
auf  seine  nationality  morale  in  Deutschland  Sympathie  erweckt  wird, 
ist  wiederum  mehr  als  fraglich.  Die  Musikgeschichte  wird  ihn,  so- 
weit sie  ihn  überhaupt  erwähnt,  immer  zu  den  Franzosen  rechnen 
müssen,  wie  dies  bisher  geschehen  ist.  Ebensowenig  wird  es  in 
Deutschland  besonderen  Eindruck  machen,  daß  K.  in  Frankreich  für 
Einführung  und  Verbreitung  deutscher  Musik  gewirkt  hat.  Einmal 
hat  K.  sehr  wenig  damit  erreicht,  und  das  Wenige  ist  durch  den 
Krieg  völlig  in  Vergessenheit  geraten.  Sodann  ist  es  für  die  deut- 
sche Musik  aber  auch  sehr  nebensächlich,  wie  sie  in  Paris  beurteilt 
wird.  Sie  ist  und  bleibt  nun  einmal  für  die  Franzosen,  diese  un- 
musikalische Nation,  zu  hoch,  ein  wahres  Buch  mit  sieben  Siegeln, 
das  zu  entsiegeln  weder  Fähigkeit  noch  Neigung  vorhanden  ist 
Musique  allemande  nennen  sie  ja  auch  eine  Musik,  die  ihnen  nicht 
gefällt,  und  die  Verspottung  der  Deutschen,  weil  sie  die  Musik  comme 
une  affaire  d'6tat  bebandeln,  ist  gleichfalls  bekannt.    Vor  allem  hat 


Ludwig,,  Johann  Georg  Kästner,  ein  elsäBischer  Tondichter  etc.         105 

der  Verf.  aber  darcbaus  nicht  erwiesen,  ob  denn  Kastner  selbst  wirk- 
lieh nmfassende  Kenntnis  und  eindriogendes  Verständnis  der  deat- 
schen  Musik  besessen  bat.  —  Qanz  gleiebgiltig  für  Deutschland  sind 
endlich  K.8  Verdienste  um  den  Musikunterricht  am  Pariser  Konser- 
vatorinm  und  um  die  französische  Militärmusik.  Der  Verf.  sagt  übrigens 
nichty  ob  diese  Verdienste  K.s  auch  heute  noch  in  Frankreich  aner- 
kannt werden  und  in  Geltung  sind.  Von  einer  Pflicht  Deutsch- 
lands, Kastner  genauer  kennen  zu  lernen,  kann  also  nur  dann  die 
Rede  sein,  wenn  K.s  Leistungen  in  Komposition,  Theorie  und  Qe- 
schichte  der  Musik  abgesehen  von  allen  nationalen  Gesichtspunkten, 
ttberhaupt  yon  jedem  relativen  Maßstabe,  von  hoher  allgemeiner 
Bedeutung  sind.  Sind  sie  das  nicht,  so  muß  das  Buch  in  dieser 
Ausdehnung  als  verfehlt  bezeichnet  werden,  und  höchstens  ein  kleiner 
Teil  verdiente  dann  als  Beitrag  zur  Kunstgeschichte  des  Elsaß,  bzw. 
Frankreichs,  die  Veröffentlichung.  Jene  allgemeine  Bedeutung  K.s 
ist  aber  nicht  vorhanden,  nach  keiner  der  angegebenen  Richtungen. 
Werfen  wir  zuerst  einen  Blick  auf  K.s  theoretische  Leistungen. 
Vorweg  muß  ich  bemerken,  daß  der  Verf.  nach  meiner  Meinung  auf 
einem  principiell  unrichtigen  musikalischen  Standpunkt  steht,  wenn 
er  in  Wagner,  Berlioz,  Liszt  eine  höhere  musikalische  Entwicklungs- 
stufe sieht,  als  in  Haydn,  Mozart,  Beethoven.  Damit  hängt  zusam- 
men, daß  der  Verf.  zu  den  drei  Grundfaktoren  rein  musikalischer 
Darstellung,  Melodie,  Harmonie  und  Rhythmus,  die  Instrumentation 
als  vierten  gleichberechtigten  Faktor  hinzufügt.  Das  läuft  auf  die 
Ansicht  hinaus,  daß  Instrumentationseffekte  einen  Mangel  an  jenen 
Dreien  zu  ersetzen  vermöchten.  Wenn  er  aber  gar  sagt,  daß  die 
Klassiker  in  der  Instrumentation  »unbewußte  das  Rechte  gefunden 
hätten,  womit  er  ihnen  in  der  Instrumentation  klare  Einsicht  und  be- 
wußte künstlerische  Absichten  abspricht,  so  muß  dies  als  durchaus 
üalsch  zurückgewiesen  werden.  Der  Verf.  hat  hier  nicht  zwischen 
angewandten  Principien  der  Instrumentation  und  theoretischer  Dar- 
stellung dieser  Principien  zum  Zwecke  der  Unterweisung  unterschieden. 
Alle  Instrumentation  beruht  auf  Erfahrung.  Von  ihr  giengen  die 
Meister  aus,  nnd  nachdem  sie  durch  Beobachtung  der  Natur  und 
Stadium  der  Errungenschaften  ihrer  Vorgänger  Herrschaft  erlangt 
hatten,  bereicherten  sie  die  Orchestersprache  durch  neue  geniale  Er- 
findungen, durch  erweiterte  Benutzung  der  einzelnen  Instrumente 
and  durch  neue  Kombinationen  und  Mischungen.  Zu  letzteren  schrit- 
ten sie  behntsam  fort,  unter  steter  Kontrole  der  inneren  Vorstellung 
durch  die  äußere  Wirkung,  und  gestanden  es  ohne  Eigensinn  durch 
Aenderungen  ein,  wenn  sie  sich  einmal  geirrt  hatten.  Daß  sie 
dabei  unbewußt  verfuhren,  hat  wohl  noch  niemals  jemand  ange« 


106  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  3. 

Dommen.  Es  fiel  ihnen  nnr  nicht  ein,  dnrch  Darstelinng  ihrer  Prin- 
cfpien  als  Lehrer  der  Instrumentation  aufzutreten.  Dazu  hatten  sie 
besseres  zu  thnn.  Sie  waren  wohl  überhaupt  der  Meinung,  daft  der 
lebendige  Verkehr  mit  Partituren  guter  Meister  die  Bnchdarstellung 
entbehrlich  mache.  Noch  weniger  wäre  es  ihnen  in  den  Sinn  g&* 
kommen,  die  Instrumentation  als  besonderen  musikalischen  Grund* 
faktor  anzusehen.  Ihre  Gedanken  sprangen  mit  der  instrumentalen 
Rtlstung  hervor,  und  nur  die  Ausführung  im  Einzelnen  blieb  der 
späteren  Arbeit  überlassen.  Bloße  Klangspielereien  mit  Orchester- 
effekten endlich  hätten  sie  fttr  ein  künstlerisches  Armutszeugnis  an- 
gesehen. —  Damit  soll  nun  nicht  gesagt  sein,  daß  in  der  Instrumen- 
tation dnrch  theoretische  Darstellung  gar  nichts  gelehrt  und  gelernt 
werden  kOnne.  Tonumfang,  Tongebiet  und  Spielart  der  einzelnen 
Instrumente  ist  Vorbereitung  zur  Instrumentation ;  Klangwirkung  und 
Mischung  der  Instrumente  können  jedoch  nur  demjenigen  mit  Nutzen 
demonstriert  werden,  welcher  die  Principien  bereits  durch  Partitur- 
Studien  und  Uebung  des  Gehörs  beherrscht.  So  kann  eine  Instru- 
mentationslehre wohl  Erleichterung  und  Anregung  gewähren,  nie- 
mals aber  die  wahren  Lehrbücher  der  Instrumentation,  Partituren 
und  Orchester,  ersetzen.  Eine  »künstlerische  That«  ist  also  in  jedem 
Falle  für  eine  Instrumentationslehre  eine  übertriebene  Bezeichnung. 
Nun  ist  außerdem  Kastners  Traits  gän^ral  dlnstrumentation  durch 
Berlioz'  Grand  Traitä  d'Instrumentation,  welcher  mehrfach  ins  deut- 
sche übersetzt  ist,  völlig  in  den  Schatten  gestellt.  Diese  Thatsache 
sucht  der  Verf.  dadurch  zu  parieren,  daß  er  für  einige  von  Berlioz 
zuerst  angewandte  Orchestereffekte  Kastner  die  Priorität  der  Erfin- 
dung wahrt,  und  daß  er  überhaupt  das  Werk  Kastners  als  Haupt- 
quelle Berlioz'  bezeichnet,  was  er  aber  gleich  darauf  so  einschränkt, 
daß  B.S  Originalität  unangefochten  bleibt  {U}  S.  149).  Daß  jedes 
Werk,  welches  einen  Gegenstand  irgendwie  fördert,  alle  früheren 
Leistungen  in  sich  aufgenommen  haben  muß,  versteht  sich  von  selbst. 
Aber  nicht  einmal  bei  seinem  Erscheinen  ist  K.s  Werk  mit  unge- 
teilter Anerkennung  aufgenommen,  vielmehr  heftig  angegriffen  wor- 
den, und  zwar  von  seinen  speciellen  Landsleuten,  was  der  Verf.  auf 
Neid  und  Gehässigkeit  zurückführt.  —  Noch  unbedeutender  sind  K.8 
übrige  theoretischen  Werke.  K.s  musikalische  Entwicklung  ist  eine 
sehr  unvollkommene  gewesen,  nicht  durch  seine  Schuld,  sondern 
durch  äußere  Verhältnisse.  Bis  zu  seinem  Abgange  nach  Paris  ist 
er  völliger  Autodidakt  gewesen,  womit  in  keiner  Kunst  etwas  zu  er- 
reichen ist.  In  Paris  erhielt  er  in  seinem  2öten  Lebensjahre  den  er- 
sten geordneten  theoretischen  Unterricht  von  Reicha.  Auch  dieser 
wird  vom  Verf.  offenbar  überschätzt.  Beichas  Methode  muß  nach  der 


Ludwig)  Johann  Georg  Kastner,  ein   elsäBischer  Tondichter  etc         107 

SehilderoDg  (IIi  S.  103  ff.)  ebenso  oberflächlich  gewesen  sein,  wie 
sein  kontrapanktisches  Wissen  und  Können  mangelhaft  war.  B.  fand 
alle  bis  auf  ihn  erschienenen  Werke  unklar,  d.h.  er  hat  sie  nicht 
verstanden.  Das  beweist  schon  sein  oft  und  »feierliche  geäußerter 
Hauptsatz:  »In  der  Vorbereitung  der  Quart  liegt  das  ganze  Geheim- 
nis eines  guten  Basses«.  Mit  solchem  Unsinn  konnte  ihn  sein  Schü- 
ler wohl  leicht  in  die  Enge  treiben,  aber  belehrt  wurde  er  dadurch 
nicht,  wie  die  Quart  zu  behandeln  sei.  Das  Geheimnis  eines  guten 
Basses  hätte  er  damit  freilich  auch  noch  nicht  besessen.  Im  Belang 
der  Fuge  bekämpft  Beicha  die  »allzustrengen  Theoretiker  und  die 
absoluten  Begeln«,  er  misbilligt  sie,  ohne  sie  zu  kennen.  Denn  er 
ist  nicht  im  Stande,  ein  Fugenthema  mit  Sicherheit  zu  beantworten. 
Doch  genug.  Ghernbinis  Haltung  gegen  Beicha  ist  hier  allein  völlig 
entscheidend,  und  wenn  Berlioz,  der  auch  Schüler  Beichas  war,  zu 
Ghembini  äußerte  je  n^aime  pcks  la  fugue,  so  galt  die  beißende  Ant- 
wort et  la  fugue  ne  vous  aime  pas  vielleicht  ebensosehr  dem  Leh- 
rer als  dem  Schüler.  Und  was  bezwecken  nun  sowohl  Beicha  wie 
Kastner  mit  ihren  theoretischen  Werken?  Sie  wollen  dem  Schüler 
Studien  ersparen,  dant  la  secher  esse  et  la  longue  duree  ont  souvent 
fait  nattre  le  decouragement.  Oft?  Das  mag  sein,  wenn  nämlich  der 
Schüler  kein  Urteil  hat,  oder  wenn  der  Lehrer  lehrt,  was  er  selbst 
nicht  kann.  Ist  dies  aber  beides  nicht  der  Fall,  so  ist  keine  Lehre 
ermutigender  und  befriedigender,  als  gerade  die  strengste  Schule, 
auf  welche  jener  Vorwurf  zielt,  nämlich  J.  Fux'  Gradus  ad  Par- 
nassum,  welches  Werk  durch  die  meisterhafte  Behandlung  H.  Bel- 
lermanns in  seinem  »Contrapunktc  erst  recht  fruchtbar  gemacht  wor- 
den ist.  Nur  von  diesem  Werke  gilt,  was  Kästner  von  seiner  Gram- 
maire  musicale  unrichtig  und  allzu  selbstgefällig  behauptet,  daß 
»alle,  welche  sich  gewissenhaft  damit  beschäftigt  haben,  mit  eigenen 
tondichterischen  Arbeiten  beginnen  können  und  überzeugt  sein  dür- 
fen, daß  eine  Menge  Komponisten  vor  ihnen  bezüglich  der  einschlä- 
gigen Kenntnisse  nichts  voraushabenc;  dann  müßte  es  heißen,  »daß 
sie  vor  andern  Komponisten  etwas  voraushaben«.  Das  können  aber 
nur  die  beurteilen,  welche  jene  Schule  wirklich  durchgemacht  haben. 
Man  erklärte  dieselbe,  wiewohl  alle  klassischen  Meister  in  ihr  gebil- 
det sind,  seit  dem  Auftauchen  der  Zukunftsmusik  für  Zopf,  mit  dem- 
selben Becht,  wie  wenn  etwa  der  Plastiker  plötzlich  die  Antike  für 
Zopf  erklären  wollte.  Mit  der  longue  duree  hat  es  allerdings  seine 
Bichtigkeit.  Die  Klage  ist  alt.  Schon  Fux  hat  aber  die  treffende 
Antwort  darauf  gegeben  (vgl.  Bellermann  a.  a.  0.  S.  166).  Ich  bin 
im  vorhergehenden  absichtlich  nicht  auf  Einzelheiten  eingegangen, 
sondern  habe  meinen  principiellen  Standpunkt  in  der  musikalischen 


108  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  3. 

Theorie  bezeichnet.  Denn  auf  die  bestimmte  ümgrenzang  eines  sol- 
chen kommt  es  an,  wenn  über  masik-theoretiscbe  Werke  bestimmt 
genrteilt  werden  soll.  Ich  glaube  danach  nicht,  daß  die  vom  Verf. 
angekündigte  deutsche  Bearbeitung  der  theoretischen  Werke  Kast- 
ners mein  ablehnendes  Urteil  durch  den  Erfolg  widerlegen  wird. 

Wir  kommen  zum  Komponisten.  Was  Kastner  alles  komponiert 
hat,  erfahren  wir  bis  auf  jeden  Walzer  und  Militärmarsch.  Sogar 
mit  denjenigen  Kompositionen  beschäftigt  sich  der  Verf.  aufs  aus- 
führlichste, welche  K.  selbst  vernichtet  hat.  Hier  steht  die  glorifi- 
zierende Tendenz  des  ganzen  Buchs  mit  den  Thatsachen  doch  in  so 
starkem  Widerspruch,  daß  der  bloße  Hinweis  darauf  zur  Widerlegung 
genügt.  Schon  zu  seinen  Lebzeiten  hat  Kastner  auch  nicht  einen 
einzigen,  sei  es  auch  nur  vorübergehenden,  Erfolg  errungen,  weder 
in  Paris,  noch  in  seiner  engeren  Heimat  Straßburg,  hier  merkwür- 
digerweise am  wenigsten.  Das  lassen  die  Preßstimmen  und  privaten 
brieflichen  Urteile  durch  die  schmeichelnde  Verhüllung  durchblicken  — 
ein  so  ungeheuerliches  Urteil,  wie  das  der  Oazette  musicale,  welche 
einmal  einen  Satz  Kastners  dem  letzten  Satz  der  neunten  Symphonie 
Beethovens  an  die  Seite  stellt,  hätte  der  Verf.  im  Interesse  seines 
Helden  doch  lieber  unterdrücken  sollen  —  ja  der  Verf.  muß  es  trotz 
alles  Sträubens  selbst  zugeben.  Sein  ganzes  Streben  geht  nun  da- 
hin, dieser  Thatsache  die  Spitze  abzubrechen.  Bald  ist  es  unge- 
nügende Einstudierung,  bald  schlechter  Text,  einmal  ein  ungeheizter 
Saal,  was  den  Erfolg  hindert,  zur  komischen  Oper  eignete  sich  K« 
nicht  wegen  seiner  nationality  morale,  die  Pariser  schalten  die  Kom- 
position une  musiqae  allemande  (ob  Deutschland  sie  als  solche  an- 
erkennen würde?);  er  galt  den  Parisern  überhaupt  als  Erudit  alle- 
mand ;  seine  theoretischen  Werke  sollen  »Voraussetzungen  geschaffen 
haben,  welche  die  Beurteilung  seiner  tondichterischen  Schöpfungen  in 
der  Folge  in  gewisser  Weise  (?)  beeinflussen  mußten«.  Außerdem 
soll  Berlioz  aus  Künstlerneid  und  Furcht  vor  K.s  Nebenbuhlerschaft 
die  komische  Oper  K.s  zu  Fall  gebracht  haben,  wofür  jedoch  nur 
das  Zeugnis  K.s  selbst  angeführt  wird.  Im  Ganzen  ist  es  aber 
schließlich  »die  Art  seiner  musikalischen  Veranlagung,  welche  seinem 
allgemeineren  Bekanntwerden  als  Masiker  im  Wege  stände  Er  war 
»gegen  moralische  Misklänge«  zu  empfindlich,  um  seine  Werke  in 
die  Oeffentlichkeit  zu  bringen.  »Er  konnte  sich  weder  zur  Benutzung 
der  in  dieser  Richtung  meist  allein  zum  Ziele  führenden  Druck- 
werke der  üblichen  Ränke,  Umtriebe  und  selbst  Leidenschaften,  noch 
der  ihm  zu  Gebot  stehenden  geldlichen  Mittel  und  einflußreichen 
Verbindungen  entschließen.     Seine  sittliche  Kraft  war  hier 


Ludwig,  Johann  Georg  Kästner,  ein  elsäftischer  Tondichter  etc.         109 

zugleich  seine  praktische  Schwäche.  Erfüllt  vom  Glau- 
ben an  das  Ideal,  selbst  durchsichtig  im  Handeln  und  Wollen,  hatte 
er  nach  kurzem  Versuch  den  Wettlauf  um  öffentliche  Erfolge  als 
Tondichter  eingestellte  Man  mag  von  den  Pariser  Musikzuständen 
Doch  so  gering  denken,  wozu  Grund  genug  vorbanden  ist,  aber  hier 
geschieht  doch  wohl  selbst  ihnen  Unrecht.  Daß  allein  durch  In- 
triguen,  Bestechungen  und  einflußreiche  Verbindungen  dort  musikali- 
sche Erfolge  errungen  werden,  die  Beschaffenheit  der  Werke  aber 
gar  nichts  vermag»  wird  dem  Verf.  schwerlich  jemand  glauben.  Was 
ferner  der  Glaube  an  das  Ideal  hier  soll,  ist  unverständlich.  Ist 
dieser  Glaube  unvereinbar  mit  praktischen  künstlerischen  Bestrebungen? 
Verlangt  der  Glaube  an  das  Ideal,  wenn  er  Wert  haben  soll,  nicht 
vielmehr  den  Kampf  für  dasselbe?  Doch  statt  auf  Gemeinplätze  einzu- 
gehn,  will  ich  die  Gegenfrage  stellen:  Läßt  das  ganze  Verhalten 
KjBy  seine  angebliche  praktische  Schwäche  bezüglich  des  öffentlichen 
Auftretens  als  Komponist,  nicht  auch  eine  ganz  andere  Auslegung 
zu?  Geht  diese  praktische  Schwäche  nicht  vielmehr  aus  Mutlosig- 
keit, aus  dem  unbestechlichen  Gefühl  der  künstlerischen  Schwä- 
che hervor,  einem  Gefühl,  welches  ihn  in  der  That  in  jüngeren  Jah- 
ren wiederholt  beschlichen  hat,  welches  aber  später  durch  die  Eigen- 
liebe zurückgedrängt  wurde?  Wie  ist  es  anders  zu  erklären,  daß 
er  sein  »Hauptwerk«,  eine  biblische  Oper  Le  dernier  roi  de  Jnda, 
nicht  einmal  hat  drucken  lassen?  Schon  die  Erzählung  der  Hand- 
lung, welche  20  Seiten  einnimmt,  ist  so  ermüdend,  daß  man  sich  nur 
mit  Anstrengung  hindurchwindet.  Der  Verf.  erklärt  das  für  »lieber- 
f&Ue  des  Beichtumsc  und  deutet  Notwendigkeit  der  Kürzung  an. 
Denn  nach  der  Behauptung  des  Verf.  besitzt  das  Werk  »in  seinen 
großartigen  musikalischen  Schönheiten  und  seinem  reichen  dramati- 
schen Leben  Unvergängliches  genug,  um  vollbegründeten  Anspruch, 
auf  der  Bühne  zu  uneingeschränkter  Wirkung  zu  gelangen,  fort- 
dauernd behaupten  zu  dürfen«.  K.  selbst  hat  nur  eine  Aufführung 
ausgewählter  Stücke  im  Konzertsaal  veranstaltet,  wo  der  mangelhaft 
geheizte  Saal  keinen  rechten  Eindruck  aufkommen  ließ.  Betrachtet 
man  aber  das  in  Partitur  mitgeteilte  Vokalsextett,  so  wird  man  den 
Grund  der  kalten  Aufnahme  in  der  Musik  suchen.  Etwas  platteres 
und  trivialeres,  als  dieses  Sextett,  welches  als  eine  musikalische 
Hauptnummer  bezeichnet  wird,  kann  man  sich  kaum  denken.  Wenn 
das  Uebrige  nicht  besser  ist,  so  wird  schwerlich  eine  Theaterleitung 
sich  bereit  finden  lassen,  dem  Buf  des  Verf.  Folge  zu  leisten  und 
die  Oper  zur  Aufführung  zu  bringen.  Wieder  sucht  der  Verf.  der 
Oper  dadurch  höhere  Bedeutung  zu  geben,  daß  er  Zedekia  zum  ür- 


110  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  8. 

bilde  Johanns  von  Leyden  im  Propheten  Meyerbeers  maeht.  M.  habe 
Kästner  bei  Rückgabe  der  Partitur  versichert  Ten  ai  fait  mon  pro- 
fii ;  ü  y  a  lä  dedans  une  foule  de  choses  neuves  ä  etudier.  Der  Ze- 
dekia  Kästners  sei  aber  »zweifellos  nachhaltigem  Anteil  za  erwer- 
ben berechtigt,  als  der  Johann  von  Leyden  Scribesc  Allerdings 
wird  für  den  letzteren  niemand  schwärmen.  Ob  aber  die  obigen 
Behauptungen  richtig  sind,  kann  nur  durch  die  Bühnenanfftthrnng 
erhärtet  werden.  Wie  kam  es  denn  nan  aber,  daß  auch  seine  spe- 
ciellen  Landsleute  im  Elsaß  sich  so  gleichgiltig  und  undankbar  ge- 
gen den  Komponisten  zeigten?  Er  komponierte  zum  Schlettstädter 
Sängerfest  1859  eine  Festkantate.  Dieselbe  wurde  aber  nicht  ein- 
studiert, sondern  mit  nur  einer  Probe  gesungen,  oder  vielmehr  ge- 
schwiegen ;  denn  von  den  750  Mitwirkenden  sangen  nicht  200.  Das 
Straßburger  Sängerfest  1863  brachte  K.  eine  neue  Erfahrung  des 
Undanks  von  Seiten  seiner  Landsleute,  welche  fast  nach  Verhöhnung 
aussieht  (IP  S.  215  ff.).  Die  ganze  Sache  wirft  ein  sehr  ttbles  Licht 
auf  den  Charakter  der  damaligen  elsäßischen  Musikvereine.  Durch 
»blaßen  Neide  allein  ist  dies  Verhalten  aber  nicht  zu  erklären. 
Waren  K.s  Kompositionen  wirklich  so  bedeutend,  wie  der  Verf.  ver- 
sichert, so  hätte  sich  nicht  bloß  in  der  Presse  und  in  einzelnen  Pri- 
vatbriefen die  Entrüstung  geäußert,  sondern  auch  in  den  Vereinen 
selbst  doch  mindestens  eine  für  den  Komponisten  wirkende  Minori- 
tät gefunden.  Ein  neuerdings  hier  in  Straßburg  wieder  zur  Auf- 
führung gebrachter  Männerchor  von  Kastner  beweist  aber,  daß  die 
obige  Voraussetzung  nicht  zutrifft.  — 

»Die  Eigenart  Kastners  als  Musikforscher  beruht,  wie  na- 
mentlich seine  Hauptschöpfungen  nach  dieser  Seite,  die  Livres-Par- 
titions,  darthun,  darin,  daß  derselbe  vollständig  aus  dem  Tondichter 
hervorgegangen  istc.  Diese  Livres- Partitions  haben  in  der  gesamten 
Litteratur  nicht  ihresgleichen.  Es  sind  Bücher,  d.  h.  historisch-phi- 
losophisch-litterarisch-musikalische Abhandlungen  und  Partituren  fttr 
Gesang  und  Orchester,  welche  den  Gegenstand  der  Abhandlung  mu- 
sikalisch bearbeiten.  Die  Gegenstände  sind:  Die  Toten  tanze, 
lieber  den  Ursprung  des  Männerchorgesangs,  üeber 
die  Soldatenlieder  der  französischen  Armee,  Die 
Aeolsharfe  oder  die  kosmische  Musik,  Pariser  Stim- 
men (d.  h.  Straßenrufe,  K.  gibt  sogar  eine  Geschichte  der 
Straßenrufe  vom  Mittelalter  bis  zur  Gegenwart),  die  Sirenen  (Aber 
die  wichtigsten  Bezauberungsmythen,  über  magische  Musik,  über 
Schwanengesang,  in  ihren  Beziehungen  zur  Geschichte,  Philosophie, 
Litteratur  und  schönen  Kunst) ,  endlich  Paremiohgie  musicdle  de  Iß 


OQldenpennig,  Oesch.  des  oström.  Belches  unter  den  Kaisern  Arcardins  etc.    111 

Imgue  frangaise  (etwa :  masikaliscbe  SprichwOrtererklärong,  über  die 
Sprichwörter,  deren  Bilder  aas  der  Musik  stammen).  Zu  den  Toten- 
tänzen kommt  ein  mosikalischer  Totentanz  für  Chor  and  Orcbestery 
za  der  Abbandlang  ttber  den  Männergesang  Männercböre,  za  den 
Tois  de  Paris  eine  bamoristisebe  Sympbonie  Les  cris  de  Paris  n.  s.  w. 
—  Aaf  diese  Abbandlangen  näber  einzagebn  vermeide  icb  absiebt- 
lieb,  weil  die  Kritik  bier  gar  za  leicbtes  Spiel  bat.  Za  soliden  lit- 
terariscben  Arbeiten  feblte  es  K.  an  der  nötigen  wissenscbaftlicben 
Dnrebbildang.  Die  Scbriften  bewegen  sieb  in  baltlosen  Verma- 
tangen,  veralteten  wissenscbaftlicben  Anscbaaangen,  starken  Irrtümern 
and  vor  allem  in  Pbrasen,  welcbe  ganz  aas  der  nationality  politique 
Kastners  stammen. 

Mag  Kastner  als  Menscb  die  vortrefflicbsten  Eigenscbaften  be- 
sessen baben,  als  Musiker  verdient  er  das  ihm  bier  erricbtete  Denk- 
mal nicbt,  und  die  tendenziöse  Uebertreibung  der  Darstellung  dient 
nar  dazu ,  das  Oegenteil  der  Absiebt  zu  bewirken.  Wer  zu  viel  be- 
weisen will,  beweist  gar  nichts. 

Straßbarg  i.  E.  J.  Plew. 


Galdenpennig,  A.y  Geschichf'te  des  oströmischen  Reiches  unter 
den  Kaisern  Arcadias  und  |Theodosias  IL  Halle  ,  Niemayer  1885. 
XIV  und  426  S. 

Von  dem  vorliegenden  Buche  habe  icb  nur  wenige  Seiten  ge- 
lesen, doch  genügen  sie  vollständig  zu  seiner  Beurteilung.  Die 
mäßigsten  Anforderungen,  welcbe  man  an  einen  Historiker  stellen 
kann,  sind  fraglos  diese :  er  muß  auf  dem  Gebiete,  welches  er  be- 
bandelt, erstens  die  Litteratur  kennen,  zweitens  die  Quellen,  drittens 
die  Sprache,  in  welcher  sie  geschrieben  sind.  Wie  G.  ihnen  ent- 
spricht, mögen  folgende  Thatsacben  zeigen. 

Im  ersten  Kapitel  wird  mehrere  Mal  der  dritte  Band  von 
Beeker-Marquardt,  Handbuch  der  römischen  Altertümer,  citiert.  Die- 
ser ist  längst  veraltet  und  schon  vor  dreizehn  Jahren  als  neue  Auf- 
lage desselben  Marquardts  Staatsverwaltung  erschienen.  Wenn  aber 
O.  dies  verbreitetste  aller  Handbücher  niebt  kennt,  so  kann  er 
▼on  der  Litteratur  seines  Faches  nicht  mehr  gelesen  haben,  als 
was  ihm  irgend  ein  glücklicher  oder  unglücklicher  Zufall  in  die 
Hände  spielte.  Daß  in  der  Uebersicht  der  Provinzen,  welche  das 
Buch  eröffnet,    Mommsens   Untersuchungen   über  die  Provinzen ver- 


i 


112  öött.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  3. 

zeichnisse  des  Veronensis  and  des  Polemins  Silvias  nicht  einmal  ge- 
nannt sind,  kann  also  gar  nicht  Wander  nehmen. 

Das  zweite  Kapitel  beginnt  mit  den  Worten:  »Der  Kaiser  Ar- 
cadias  oder,  wie  er  mit  vollem  Namen  heißt,  Flavias  Arcadias  Pias 
Felix4f.  Wer  in  Eckbels  Doctrina  namoram  oder  im  Corpus  Inscrip- 
tionum  aach  nur  fluchtig  geblättert  hat,  wird  wissen,  daß  Pias  Felix 
keine  Namen,  sondern  Bestandteile  des  Kaisertitels  sind.  Folglich 
sind  die  Münzen  und  Inschriften,  welche  in  der  römischen  Kaiser- 
geschichte zu  den  allerwichtigsten  Quellen  gehören,  dem  Verf.  so 
gut  wie  anbekannt. 

Seine  Sprachkenntnis  endlich  wird  durch  folgende  Stelle  ge- 
nügend charakterisiert  S.  34:  »Aus  Ambrosius  (ep.  I  57,  3:  aderat 
amplissimus  honore  magisterii  militaris  Baute  comes  et  Rumoridus, 
et  ipse  eiusdem  dignitatis,  gentilinm  nationnm  cultui  inserviens  a 
primis  pneritiae  suae  annis)  will  Seeck  schließen ,  daß  Baute  Christ 
war,  indem  er  sich  dabei  auf  den  Singularis  »inserviensc  stützt. 
Indes  beweist  derselbe  nichts,  weil  aach  das  gemeinsame  Prädikat 
»aderat«  singularisch  ist«. 

Wer  so  wenig  von  Litteratur,  Quellen  und  Sprache  weiß,  kann 
kaum  die  Absicht  gehegt,  geschweige  denn  erreicht  haben,  die  Wis- 
senschaft durch  irgend  ein  neues  Resultat  zu  bereichern.  Wenn 
aber  Güldenpennig  gehofft  haben  sollte,  das  schon  Bekannte  in 
schönerer  Form  zu  bieten,  so  hat  er  sich  auch  hierin  getäuscht. 
Wie  Styl  und  Darstellung  beschaffen  ist,  mag  dieses  Pröbchen  zei- 
gen S.  36 :  »Dazu  kam  gewiß  ein  hoher  Grad  persönlicher  Klugheit 
und  Gewandtheit,  Eigenschaften,  die  niemand  zur  Schande  gereichen, 
andererseits  aber  für  jemand ,  der  an  einem  intriguenreichen  Hofe 
seine  Laufbahn  machen  will,  ganz  unentbehrlich  sind«,  lieber  die 
historische  Auffassung  wird  man  bei  einem  Buche  dieser  Art  wohl 
ein  Urteil  nicht  verlangen. 

Greifswald.  Otto  Seeck. 


Fttr  ai0  Bedaktion  TwutworUieli :  Prof.  Dr.  B$chUl,  Direktor  dar  GMtt.  fd.  Abs.. 
AssesBor  der  Königlichen  GeaeUsduift  der  WiMenaelukfteB. 

f9rkig  ätr  JHtUrieh^iehm  Tmkigt  'BuehhcmtBmff, 

ttmek  im-  IH«itri€k'»ekm  üm9,'Bf»didnidur§i  (Fr.  W,  tamkmh 


fv»-«»»r. 


118 


Göttingische 


gelehrte  Anzeigen 


unter  der  Aufsicht 


der  Königl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Nr.  4.  15.  Febraar  1887. 


Preis  des  Jahrganges :  JL  24  (mit  den  »Nachrichten  d.  k.  G.  d.  Wiss.« :  JL  27). 
Preis  der  einzelnen  Nummer  nach  Anzahl  der  Bogen:  der  Bogen  50  ^ 

Ishftlt :  K  n  n  t  E  e ,  Die  Obligationen  im  römischen  and  im  heutigen  Recht  and  dM  ins  eztn- 
ordinarinm  der  römischen  Kaiierseit.  Von  Ubbtlohde.  —  Haber,  System  und  Geechiohte  dee  schwel- 
seciechen  Priratrechts.    I.    Ton  Maff&r. 

=  Eigennichtiger  Abdruck  von  Artikeln  der  68tt.  gel.  Anzeigen  verboten.  :=: 


K  u  n  t  z  e ,  Dr.  Johannes  Emil,  ord.  Prof.  d.  Rechtswissenschaft  a.  d.  Universität 
Leipzig,  Die  Obligationen  im  römischen  und  im  heutigen 
Recht  und  das  ius  extraordinär ium  der  römischen  Eaiser- 
zeit.  Zwei  Abhandlungen.  Leipzig,  J.  G.  Hinrichs'sche Buchhandlung.  1886. 
Vm  u.  399  S.    8^ 

Laut  der  EinleitoDg  (S.  1—11  §§  1—3)  beabsichtigt  der 
Verf.  zweierlei  zu  zeigen,  nämlich  einmal  an  der  Verarbeitung  des 
Obligationsbegriffs  das  Verhalten  der  römischen  Kechtswissenschaft 
der  Eaiserzeit  zn  einem  traditionellen  antiken  Stoffe,  and  sodann, 
>inwiefem  im  ius  privatum  nnd  publicum  ein  Hinausschreiten  ttber 
die  Linien  des  alten  römischen  Qedankensystems  erkennbar ,  auch 
den  Römern  selbst  schon  bewußt  gewesen  ist,  und  inwiefern  dieses 
Hinansschreiten  selbst  wieder  zu  einem  System  >  dem  jüngsten  in 
der  römischen  Rechtswelt,  gefährt  hat«  (S.  3f.)>  nämlich  dem  von 
ihm  behaupteten  Systeme  des  ius  extraordinarium.  Die  Obligatio 
aber  greift  er  za  dem  ersten  Zwecke  heraus,  weil  sie  in  der  Kaiser- 
zeit  »die  weitaus  hervorragendste  Gestalt,  die  Lieblingsfigur  der  rö- 
mischen Jurisprudenz,  der  unbestreitbare  Prototyp  in  der  immer  rei- 
cher sich  belebenden  Welt  der  Rechtsverhältnisse«  sei  (S.  4);  und 
weil  an  ihr  die  juristische  Meisterschaft  der  Römer  sich  am  höch- 
sten zeige,  kein  anderes  Volk  zu  einem  so  abgeklärten  Begriff  der 
Obligatio  gelangt  sei.  »Keine  Rechtskultur  wird  der  Obligatio  so, 
wie  sie  ist,  entbehren  können,   keine  Zeit  in   dieser  Richtung  voU- 

•«tt.  gel.  Au.  1887.  Hr.  4.  9 


114  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  4. 

kommneres  erfinden«.   Während  alle  übrigen  Begriffe  des  römischen 
Priyatrechts  mannigfach  gewandelt  worden  seien,  stehe  die  Obligatio 
fast  unangetastet  als  eine  fast  übergeschichtliche  Erscheinung.    »Wenn 
wir  hente  von  einer  den  Römern    anbekannten  obligatorischen  Sin- 
galarsuccession  (neben  Novation  und  Cession)  reden   und  im  moder- 
nen Girculationspapier  die  Obligatio   mit  einer  Art  Körper   (als  Ve- 
hikel  für    den  Verkehr)    ttberkleidet  haben,   so    geschieht  das  doch 
ganz    unbeschadet   der   Natur  der  Obligatio,  ja  dieselbe  ist  gerade 
durch  die  Hand  der  Römer  so  zweckmäßig  und  handlich  organisiert 
worden,  daß  sie  die  Begriffe   der  Singularsuccession  und   der  Nego- 
ciabilität  nicht  bloß  trefflich  zu   ertragen  vermag,    sondern  zu  ihrer 
präcisen   und   funktionsfähigen    Ausbildung   Motiv   und  Norm   gibtc 
(S.  5).    Endlich  zeige  die  Geschichte  der  Obligation  eine  Stufenfolge 
der  Entwickelung    »von  rohen  kindlichen  Anfängen  zu  reinster  und 
freiester  Höhe«,    eine  Stufenfolge  jedoch,   auf  deren  oberen  Staffeln ' 
»die  Römer  sich   nicht  mehr  in  der  Bahn   ihres   nationalen  Geistes 
fühlten   und    gleichsam    das   Programm    der   Klassicität    verließen« 
(S.  6  f.).    Hiermit  aber  ist  der  Grundgedanke  der  zweiten  Aufgabe 
des  Verf.s  berührt.    Die  Eaiserzeit  nämlich  habe  die  in  den,  zuletzt 
parallel  laufenden,  Linien  des  ins  civile  und  des  ins  honorarium  ge- 
zogene alte  klassische  Bahn   der  Rechtsgeschichte  zu  schmal  befun- 
den und  an  tausend  Punkten  die  alte  Ordnung  durchbrochen.     »Ne- 
ben der  antiken  Doppellinie  mußte   eine  dritte  Linie  gefunden  wer- 
den,  wenn    wirklich   in  der  Eaiserzeit  sich  eine  neue  Welt  ankün- 
digte und  vorbereitete,   denn    aus   lauter   Punkten  setzt  sich    keine 
Linie,   aus   bloßen  Ausnahmen    und    Unregelmäßigkeiten    setzt   sich 
nicht  eine  neue  Welt  zusammen«.     Man  zog  um   die  Kreislinie  des 
alten    Horizonts    »gleichsam   einen    neuen   weitern    Horizont- 
kreis in  koncentrischer  Umspannung«,  nämlich    die  Linie  des  ins 
extraordinarium ;   »erst  mit  (dessen)  Aufstellung  —   neben  dem  ins 
civile  und  honorarium  (ist)  das  Römertum  in   seine  volle  Ehre  ein- 
gesetzt« (S.  8).      »In    dem   ius  extraordinarium   ward    sich   für   das 
Privatrecht  Rom  seiner  Aufgabe  bewußt,  Ordner  und  Hort  nicht  mehr 
bloß  eines  nationalen  Kulturkreises,  sondern  einer  ganzen  Kulturwelt 
zu  sein«.     »Der  römische  miles  und  der  römische  servus  dieser  Zeit 
sind  die  beiden   Häupter,   welche  den   neuen    erweiterten   Horizont 
markieren«  (S.  9).    Bei  genauerer  Betrachtung   stelle  sich    zu  dem 
privatrechtlichen  ius  extraordinarium  auch  im   ius  publicum  der  Rö- 
mer ein  Seitenstück  dar.     »Was  der  filiusfamilias  miles   neben  dem 
paterfamilias,  das   war  der  Imperator    neben    dem  senatorisch-repu- 
blikanischen System«  (S.  11).  —  Uebrigens  erklärt  der  Verf.  in  der 
^chlußbetrachtung   ausdrücklich,    er   »habe   überhaupt  nichts   Neaei 


Eantze,  Die  Obligationen  im  römischen  und  im  heatigen  Recht  etc.      115 

sagen  wollen,  vielmehr  im  Wesentlichen  nur  in  (seinen)  Exkursen 
fiber  römisches  Recht  Gesagtes  wiederholte,  indem  er  eine  Anzahl 
jener  Exkurse  weiter  entwickelt»  und  in  Zusammenhang  gestellt 
habe  (S.  389). 

Die  erste  Abhandlung  (S.  12—244.  §§  4—50)  gibt  im  I.  Ka- 
pitel (S.  12—35  §§  4—8)  »die  Geschichte  der  Obligatioc. 

Das  IL  Kapitel  (S.  35-55  §§  9—12)  stellt  »die  Verbreitung 
der  Obligatioc  dar,  d.  h.  die  obligatorischen  Elemente  auf  dem  Bo- 
den des  Sachenrechts,  des  Familien-  und  Erbrechts,  in  den  übrigen 
Bechtsgebieten,  nämlich  im  Givilproceß,  Strafrecht,  Polizei-  und  Sa- 
kralwcsen,  sowie  im  Staatsrecht,  endlich  >die  Obligatio  aus  ange- 
borenen Bechtenc.  »Die  Obligatio  ist  die  jaristische  Gestalt  par 
excellence.  Sie  ist  eine  höhere  Art  von  Bechten,  die  den  Bömern 
nationalste  und  vollkommenste  Form  rechtlicher  Herrschaft.  Ihr 
gegenüber  erscheint  das  Sachenrecht  niedriger,  schwerfälliger,  irdischer ; 
man  kann  sagen:  dieses  ist  das  Erdgeschoß  im  Aufbau  des  Privat- 
rechts, die  Obligatio  aber  erhebt  sich  über  ihm  und  bildet  gleichsam 
den  bei  6tage,  d.  h.  das  obere  Stockwerk,  welches  freiere,  sonnigere^ 
mannichfaltigere  Bäume  und  Fächer  enthält  und  einen  weiteren  Aus- 
und  Umblick  gewährt«  (S.  54). 

Kapitel  III  (S.  56-89  §§  13—20)  behandelt  »Obligatio  und 
Anspruch«.  Der  Verf.  unterscheidet  (S.  69)  Ausübung,  Geltend- 
machung, Verfolgung  der  Bechte  als  drei  Begriflfsstufen :  Ausübung 
nennt  er  jeden  Gebrauch  der  Macht,  welche  den  Inhalt  des  Bechts 
bildet,  auch  einen  dispositiven  Akt,  d.  h.  einen  solchen,  bei  wel- 
chem nicht  Dritte  als  Verpflichtete  in  Frage  kommen,  z.  B.  Ein- 
räumung eines  dinglichen  Bechtes  seitens  des  Eigentümers,  Abtretung 
des  Eigentums,  Dereliktion;  —  Geltendmachung  ist  »diejenige  Macht- 
äußernng  nach  Außen,  welcher  eine  fremde  Pflicht  korrespondiert, 
also  welche  auf  einen  fremden  Willen  als  rechtlich  gebundenen  hin- 
überwirkt, ein  fremdes  Thnn  oder  Leisten  zum  Zweck  hat,«  also  nur 
die  contradiktorische  Ausübung,  geschehe  sie  außergerichtlich  oder 
gerichtlich;  —  Verfolgung  (der  Bechte)  endlich  die  gerichtliche 
Geltendmachung  und  zwar  sowohl  offensive  (Klage)  als  defensive 
(Einrede).  Auf  das  ganze  Gebiet  der  Geltendmachung  bezieht 
er  den  Anspruchsbegriff,  Anspruch  ist  ihm  das  Becht  im  Zustande 
der  Geltendmachung.  Insofern  decken  sich  ihm  Anspruch  und  actio. 
Während  jedoch  einerseits  ihm  in  dem  letzteren  Ausdrucke  Wind- 
sebeid  die  gerichtliche  Geltendmachung  zu  sehr  zu  accentuie- 
ren  scheint,  weist  er  anderseits  darauf  hin,  daß  actio  oft  auch  das 
Becht,  bez.  die  Obligatio  selbst,  samt  dem  gegenwärtigen  oder  zu- 
künftigen Ansprüche,  bedeute,  nicht  minder  aber  solche  Bechte,  welche 

9» 


116  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  4. 

gar  keiDen  Anspruch  aas  sich  erzeugen,  wie  z.  B.  das  Statusrecht, 
und  ferner  sehr  oft  geradezu  und  bloß  das  Recht,  bez.  den  Anspruch 
im  Zustande  der  gerichtlichen  Geltendmachung,  m.  a.  W.  die  Klage 
und  das  Proceßverfahren ;  ja  endlich  oft  auch  den  Angriff  vor  Ge- 
richt im  Unterschied  von  der  Verteidigung  (actioexceptio).  In  jedem 
Givilprocesse,  welcher  nicht  auf  Präjudicialklage  beruhe,  spitze  sich 
das  geltendgemachte  Recht  notwendig  in  einem  Ansprüche  zu,  wel- 
cher spätestens  in  der  condemnatio  zu  Tage  trete.  Im  Hinstreben 
des  Processes  auf  die  letztere  nehme  das  geltendgemachte  Recht 
die  Form  einer  Obligatio  an,  werde  einer  solchen  ähnlich.  Der  An- 
spruch sei  die  dem  Gegner  zugekehrte  Seite  des  Rechtes,  welche 
diesen  zu  entsprechendem  Thun  oder  Verhalten  aufrufen  solle. 
Dingliche  Ansprüche  seien  nicht  vor  der  Rechtsverletzung,  obligato- 
rische nicht  vor  Verfall  der  Schuld  da.  Von  einem  betagten  oder 
bedingten  Anspruch  sollte  man  gar  nicht  reden ,  sondern  nur  von 
einem  gegenwärtigen  und  einem  zukünftigen  (S.  80).  Zur  Anwen- 
dung komme  der  Ansprnchsbegriff  vor  allem  da,  wo  ein  Geltend- 
machungsakt  in  Frage  ist,  also  beim  Mahnen,  Klagen,  Excipieren, 
dem  Verlangen  nach  Aufrechnung.  Ferner  lassen  sich  die  venditio 
ususfructus,  die  cessio  nominis,  die  Schuldtibernahme,  auch  die  Erb- 
schaftsrestitution  ex  Scto  Trebelliano  unter  den  Gesichtspunkt  des 
Anspruchs  stellen,  nur  müsse  für  alle  diese  Fälle  hinzugefügt  wer- 
den, daß  actio  die  gerichtliche  und  außergerichtliche  Geltend- 
machung begreife;  und  für  Cession  und  Scbuldübernahme  vor  Ver- 
fall der  Schuld  sei  zu  beachten,  daß  sie  zukünftige  Ansprüche 
zum  Gegenstande  haben  (S.  82).  Ueberall,  wo  es  sich  um  Geltend- 
machung des  s.  g.  Interesse  handelt,  stehe  nicht  eigentlich  das 
Recht,  sondern  der  Anspruch  in  Frage,  denn  das  Recht  könne  und 
müsse  entschieden  sein,  bevor  das  Interesse  in  Frage  gezogen 
werde,  und  die  rechtlichen  Grundsätze  vom  Interesse  beziehen  sich 
auf  die  Frage,  ob  ein  Anspruch  und  wie  hoch  er  begründet  sei 
(S.  83).  Auch  für  den  Vergleich  (transactio)  habe  der  Anspruchs- 
begriff  Wert.  Regelmäßig  handle  es  sich  beim  Vergleich  nicht  um 
Rechte,  sondern  Ansprüche  (S.  83  f.).  Endlich  sei  das  Institut  der 
Verjährung  mit  dem  Anspruchsbegriff  in  Zusammenhang  zubrin- 
gen, m.  a.  W.  die  Verjährung  sei  eine  Frage  der  Geltendmachung, 
sie  nehme  nicht  eigentlich  das  Recht  selbst,  sondern  die  actio;  und 
sofern  es  bei  der  Obligatio  anders  sei,  beruhe  dies  auf  positivem 
Rechte,  nach  weltihem  aus  Zweckmäßigkeit  die  Verjährung  dem 
Schuldner  eine  perpetna  exceptio  gebe  (S.  84).  Sollte  es  aber  nicht 
vielmehr  dem  auf  ihrem  Zwecke  beruhenden  eigensten  Wesen  der 
Verjährung  entsprechen,  daß  ein  Forder ungsrecbt,  dessen  Klage  ver- 


Kuntze,  Die  Obligationen  im  römischen  mid  im  heutigen  Recht  etc.      117 

jährt  ist,  auch  sonst  auf  keine  Weise  (abgesehen  von  dem  etwa 
noch  nicht  verjährten  Pfandrechte)  wider  den  Willen  des  Schuld- 
ners geltend  gemacht  werden  kann  ?  —  Ans  dem  anfgestellten  An- 
spmchsbegriflfe  erhelle  der  Wert  des  cerium  fUr  die  römische  con- 
dictio :  die  intentio  sei  eine  certa,  wo  ans  ihr  sofort  und  unmittelbar 
sich  die  condemnatio  ergebe,  ro.  a.  W.,  wo  Becht  und  Anspruch  sich 
decken.  Incertum  dagegen  habe  vorgelegen,  wenn  nach  Entschei- 
dung des  Rechts  der  Richter  zwecks  der  condemnatio  noch  Inhalt 
und  Umfang  des  Anspruchs  zu  ermitteln  hatte  (S.  85 f.)  Ver- 
griffen ist  übrigens  als  Beispiel  eines  modernen  Falles,  wo  der  In- 
halt des  Rechts  mit  dem  Inhalt  des  Anspruchs  sich  deckt,  die  vin- 
dicatio, welche  einfach  auf  Herausgabe  der  Sache  geht.  —  Wie  An- 
spruch und  Elagrecht  nicht  identische  Begriffe  seien,  weil  der  An- 
spruch auch  auAergerichtlich  und  innerhalb  des  Processes  auch  ex- 
ceptivisch  geltend  gemacht  werden  könne,  so  gebe  es  auch  Ansprüche, 
welchen  kein  Elagrecht  zur  Seite  stehe,  nämlich  die  Natural- 
obligationen, die  schon  deshalb  nicht  mit  Windsoheid  fttr 
etwas  »durchaus  Anomales  und  Exceptionelles«  gehalten  werden 
durften,  weil  sie  bei  den  Römern  einen  großen  Raum  im  praktischen 
Leben  eingenommen  haben,  insbesondere  in  den  zahlreichen  Pecn- 
lienverhäitnissen  der  Haussöhne  und  Sklaven,  —  noch  weniger  aber, 
wenn  man  mit  dem  Verf.  annehme,  daß  ihr  Begriff  in  dem  durch 
Ulpian  vollendeten  Systeme  des  ins  naturale  eine  breite  dogma- 
tische Grundlage  habe  (S.  86).  Als  Geltendmachung  eines  Anspruchs 
lasse  sich  auch  die  Ausübung  des  ins  retentionis  auffassen;  und  wo 
die  Obligatio  nur  in  Gestalt  des  ins  retentionis  geltend  gemacht  wer- 
den könne,  da  nehmen  die  Quellen  nicht  einmal  eine  Naturalobliga- 
tion an;  in  der  That  liege  ein  auf  irgend  welchem  Rechte,  einer 
Obligatio  in  ganz  beschränktem  Sinne,  gegründeter  Anspruch  vor, 
welcher  retentionsweis  zur  Geltung  komme  (S.  87).  Im  Widerspruche 
zu  dieser  allerdings  durchaus  herrschenden  Ansicht  muß  Berichter- 
statter umgekehrt  den  Fall  des  Retentionsrechts  ohne  begleitendes 
Elagrecht  für  die  wirksamste  Art  der  Naturalobligationen  halten; 
außer  dem  unläugbar  besonders  kräftigen  Mittel  der  Retention  kom- 
men ftlr  sie  alle  übrigen  Wege  zur  Ausübung  einer  klaglosen  For* 
derung  in  Betracht:  die  Befriedigung  des  Anspruchs  kann  lediglich 
als  Schnidtilgung  behandelt  werden ;  das  zu  jenem  Zwecke  Geleistete 
unterliegt  nicht  der  condictio  indebiti;  der  Anspruch  bietet  eine  ge- 
eignete Grundlage  für  Constitutum,  Bürgschaft,  Pfandrecht,  Nova- 
tion ;  der  Berechtigte  wird  ihn  unter  seinen  Activa,  derjenige,  gegen 
welchen  er  geht^  unter  seinen  Passiva  zu  inventarisieren  haben;  es 
kommt  dazu,    daß  im  Laufe  des  Processes  die  Retention  sich  auch 


118  Gott.  gel.  Anz.  1887.  No.  4. 

heute  noch  nicht  selten  in  eine  Kompensation  verwandelt  Der  Um- 
stand, daß  die  uns  überlieferten  Brachstttcke  der  römischen  Rechts- 
anfzeichnangen  unsern  Ansprach  nicht  nataralis  obligatio  nennen, 
ist  völlig  gleichgültig  gegenüber  dem  anzweifelhaften  Wesen  dessel- 
ben. —  Sodann  gebe  es  Ansprüche,  welche  zwar  klagweis  auftreten 
können,  aber  nicht  in  selbständiger  Klage,  sondern  nur  als 
Anhang  za  einem  selbständigen  Petitam,  z.  B.  die  asurae  officio 
iadicis  praestandae  and  die  nicht  konsumierten  Früchte  in  der  Hand 
des  bonae  fidei  possessor.  Solche  Ansprüche  müssen  auf  ein  laten- 
tes Recht  zurückgeführt  werden,  Obligatio  in  einem  ganz  beschränk- 
ten Sinne,  aequitatis  vinculum  (S.  87  f.).  Anspruch  und  Klagrecht, 
welches  letztere  bei  den  Präjudicialklagen  ohne  Ansprach  vorkomme, 
leiten  sich  beide  real  aus  dem  Recht  ab;  sie  seien  das  geltend  zu 
machende  Recht  selbst  in  seiner  gegen  den  Verpflichteten  gerich- 
teten Kraftäußerung  inmitten  der  staatlichen  Ordnung  und  (besser 
wohl:  bezw.)  im  Einwirken  auf  die  Organe  des  Staatsschutzes. 
Doch  könne  der  Staat  seine  Hülfe  noch  im  Exekutionsstadium  ver- 
sagen, indem  er  gewisse  Sachen  des  Beklagten  von  der  Pfändung 
eximiere:  hier  liegen  Ansprüche  mit  beschränkter  Yollstreckbarkeit 
vor  (S.  88). 

Kap.  IV  (S.  90—125  §§  21—27)  beschäftigt  sich  mit  der 
>Struktur  der  Obligatioc.  Gehe  man,  um  zu  dieser  zu  gelangen,  von 
der  römischen  Proceßformel  aus,  so  erblicke  man  in  dem  Gegen- 
stücke zur  petitorischen  intentio  »rem  Titii  esse«,  welche  Sub- 
jekt und  Objekt  des  Rechtes  und  rechtliche  Abhängigkeit  des  einen 
von  dem  andern  ausdrücke,  nämlich  in  der  obligatorischen 
intentio  »Negidium  Aulo  dare  (facere)  oportet«,  ebenfalls  das  Subjekt 
des  Rechtes,  nicht  minder  aber  auch  in  der  daneben  genannten  Per- 
son das  Objekt,  um  welches  es  sich  bei  der  Obligatio  handle,  und 
in  dem  dare  oportet  die  Art  der  Gebundenheit,  d.  h.  der  Objekts- 
qualität eben  dieser  Person.  Zu  dem  gleichen  Ergebnisse  gelange 
man  vom  dogmatischen  Ausgangspunkte.  Ein  subjektives  Recht  sei 
Macht;  die  Macht  aber  als  reale  Existenz  müsse  sich  an  einem  Ob- 
jekte erweisen.  Obligatio  sei  die  Macht,  auf  einen  fremden  Willen, 
welcher  zu  einem  dem  Gläubiger  wertvollen  Erfolge  diesem  gebunden 
sei,  rechtlich  bestimmend  einzuwirken.  S.  96  ff.  Verf.  unterscheidet 
nunmehr  an  der  Obligatio  drei  Momente:  das  Obligationsob- 
jekt, den  Obligationsinhalt,  den  Leistungsgegenstand 
(S.  99.). 

Das  Obligationsobjekt  haben  wir  nach  ihm  in  der  Welt 
des  lebendigen  menschlichen  Willens  zu  suchen.  »Der 
menschliche  Wille  ist  eine  Realität« ;  »das  zeigt  sich  —  auch  dariui 


Eantze,  Die  Obligationen  im  römischen  und  im  heutigen  Recht  etc.      119 

daft  er  als  andaaemder  Zustand  der  Selbstbestimmoog  im  eigaen, 
wie  im  fremden  Interesse  auftreten  kann.  Ein  solcher  konstanter 
Selbstbestimmnngszastand  zeigt  sich  im  Schnldner.  Derselbe  empfin* 
det  die  Scbnld  als  eine  Fessel,  welche  ihn  gebunden  halte  (S.  100) 
^  »Die  Fessel  kann  ihm  so  lästig  —  werden,  daft  er  —  vielleioht 
zum  Aeuftersten,  zum  Selbstmord  sehreitet,  um  —  nicht  die  Last  von 
der  Seele,  sondern  —  die  Seele  von  der  Last  zu  trennen.  Beweis 
genug,  daß  nicht  bloß  ein  Gedanke,  sondern  eine  Kealität  vorhanden 
istc  (S.  101).  »Die  Obligatio  eine  Herrschaft  des  Willens  ttber  den 
Willen,  des  Wollenden  Aber  den  Wollenden c  (das.).  »Wie  scharf 
umrissen  steht  (den)  Gebilden  (des  germanischen  Begriffs  der 
»Schuld«)  gegenttber  die  römisch  geborene  Obligatio  mit  ihrer  Eon- 
centrierung  auf  einen  festen  Punkt  in  der  Willenssphäre  des  Schuld- 
ners, dessen  Persönlichkeit  im  Uebrigen  intakt  bleibt,  und  dessen 
Freiheit  gewahrt  ist  so  gewiß,  wie  die  Herausnahme  eines  Punktes 
ans  der  Unendlichkeit  die  Unendlichkeit  nicht  aufhebt  Dieser  Punkt 
ist  der  dem  Qläubigerwillen  unterworfene  Schuldnerwille,  das  Rechts- 
objekt der  Obligatio«.  —  Der  »Gläubiger  ist  berechtigt,  an  diesem 
Punkte  den  Schuldner  zu  halten«  u.  s.  w.  (S.  102).  Sollte  aber 
hieraus  nicht  unabweislich  folgen,  daß  eine  Obligation  nicht  vorhan- 
den sei,  so  lange  dem  Gläubiger  nicht  als  gegenwärtig  ein  Mittel 
zu  geböte  steht,  auf  den  indolenten  oder  gar  widerstrebenden  Wil- 
len des  Schuldners  bestimmend  einzuwirken  ?  oder  wäre  ein  Verhält- 
nis, welchem,  sei  es  zur  Zeit,  wie  der  betagten,  der  bedingten  Obli- 
gation, oder  gar  dauernd,  wie  der  Naturalobligation,  jedes  derartige 
Mittel  gebricht,  fUglich  noch  als  »Macht«,  als  »Herrschaft  ttber  den 
Willen  des  Schuldners«  zu  bezeichnen?  Denn  die  Möglichkeit,  auch 
solche  Obligationen  zu  cedieren,  zu  novieren  u.  s.  w.,  enthält  doch 
nimmer  eine  solche  Herrschaft:  entweder  erfordert  sie  einen  Willen 
des  Schuldners  überhaupt  nicht,  oder,  sie  setzt  ihn,  wo  sie  ihn  er- 
fordert, wie  z.  B.  beim  constitutum  debiti  proprii,  als  durchaus  spon- 
tanen voraus.  Nicht  einmal  die  Anfechtung  einer  Rechtshandlung 
wegen  Verkürzung  steht  einem  derartigen  Gläubiger  zu:  der  bloß 
naturaliter  berechtigte  hat  sie  nie,  der  Gläubiger  sub  die  nur,  nach- 
dem der  gegen  den  Schuldner  eröffnete  Konkurs  seine  Forderung 
zur  unbefristeten  umgestaltet  hat  Dieser  Einwurf  wird  nicht  im 
geringsten  dadurch  beseitigt,  daß  der  Verf.  sehr  nachdrücklich  als 
yermeintliche  Kehrseite  jener  Herrschaft  des  Gläubigers  ttber  den 
Willen  des  Schuldners  das  »WoUenmttssen«  des  letztern,  die  für  iha 
Yorhandene  rechtliche  necessitas  hervorhebt:  bevor  nicht  der  Gläu- 
biger infolge  der  »Willensbindung«  des  Schuldners  einen  »Anspruch«, 
d.  h.  ein  Mittel  hat,   seine  Forderung  geltend  zu  machen,   hat  er 


120  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  4. 

eine  Macbt,    eine  Herrschaft  über   den    Schuldner  willen  nicht;   jene 
neceesitas   kann    ohne   diese  Macht   des  Gläubigers  vorhanden  sein. 

Obligationsinhalt  nennt  Verf.  das  Moment,  wodurch  der 
von  ihm  als  Obligationsobjekt  bezeichnete  Wille  des  Schuldners  »in- 
dividuell erkennbar,  gleichsam  greifbar,  und  das  Verschwimmen  in 
dem  unterschiedslosen  Element  des  Willens  verhütet  wirdc  (S.  107). 
Jenes  Moment  >muB  sinnliche  Merkmale  an  sich  tragen,  denn  nur 
dadurch  kann  es  individualisierende  Kraft  haben.  Wie  aber  tritt 
der  Schuldnerwille,  welcher  gebunden  sein  soll,  in  die  Sinnlichkeit? 
Im  Augenblick  der  Entstehung  der  Obligatio;  da  auf  alle  Fälle. 
In  ihrem  Entstehungsgrund,  in  der  Ursprungsthatsache  also  indivi- 
dualisiert sich  die  Obligatio«  (S.  107).  »Diese  Ursprungs-  oder  Oe- 
nerativbestimmtheit«  heißt  für  den  Verf.  der  Obligationsinhalt, 
>weil  der  Schuldwille  im  Augenblick  der  Obligierung  sich  mit  ihm 
erfüllt  oder  sich  zu  seinem  Träger  macht«  (S.  107).  Wie  Verf.  be- 
hauptet, aber  mittels  der  dafür  beigebrachten  Quellenaussprttche 
schwerlieh  erweist,  hätten  die  Römer  dafür  die  Ausdrucke:  causa, 
debitum,  pecunia,  obligatio  gebraucht. 

Das  Leistungsobjekt  gehört  nach  dem  Verf.  S.  113  »nur 
äußerlich  zur  Obligatio  und  hat  nur  für  deren  Erfüllung  Wert.  Es 
ist  das  Medium  der  Erfüllung;  es  ist  die  Form,  welche  die  Obligatio 
in  einem  einzigen  Augenblicke,  im  Augenblicke  der  Erfüllung  an- 
nimmt; es  ist  der  Aufwand,  welchen  der  Schuldner  behufs  seiner 
Lösung  oder  Entlastung  macht,  und  welcher  mehr  oder  weniger  von 
seiner  WillkUhr,  vom  Zufall,  von  für  die  Obligatio  unwesentlichen 
Umständen  abhängig  ist  Sehr  oft  freilich  sind  Willkühr  und  Zufall 
dabei  in  sehr  enge  Grenzen  eingehegt,  so  namentlich,  wenn  die  Obli- 
gatio auf  dare  certam  rem  geht.  Hier  decken  sich  äußerlich  Obli- 
gationsinhalt und  Leistungsobjekt,  und  daher  ist  es  erklärlich,  daß 
die  Quellen  für  das  Leistangsobjekt  Ausdrücke  haben,  welche  an 
die  Bezeichnung  des  Obligationsinhalts  anklingen«. 

Die  dem  Wesen  der  Obligatio  entsprechende  Art  der  Zwangs- 
vollstreckung erblickt  Verf.  in  einem  Wege  der  Erzwingung  des 
Schnldnerwillens,  wie  ihn  das  altrömische  Recht  ausschließlich  in  der 
Personalexekution,  das  Recht  seit  der  lex  Poetelia  in  erster  Linie 
in  der  Exekution  an  den  universa  bona  des  Schuldners  kannte. 
Außerdem  sind  noch  verschiedene,  zum  Teil  schon  der  römischen 
Rechtsordnung,  zum  Teil  dem  modernen  Proceß  bekannte,  Mittel 
denkbar,  »welche  darauf  abzielen,  die  necessitas  faciendi  praktisch 
zu  verwirklichen  und  den  entgegengesetzten  Naturwillen  des  Schuld- 
ners rechtlich  zu  überwinden«  (S.  119).  Die  s.  g.  Specialexe- 
kution  dagegen  »greift  mit  Umgehung  der  Person  des  Schuldners 


Kuntze,  Die  Obligationen  im  römischen  und  im  heutigen  Recht  etc.      121 

anmittelbar  in  dessen  Yennögen,  —  nm  nicht  zn  sagen :  in  seine 
Tasche  —  nnd  holt  ein  einzelnes  Exekationsobjekt,  welches  für  den 
Glänbiger  mit  Beschlag  belegt,  versiegelt,  sequestriert,  abgepfändet, 
in  Gerichtsanfsicht  genommen,  verkauft  wirdc  Diese  Maßregel,  in 
welche  sich  die  Kömer  erst  während  der  Eaiserzeit  fanden,  »fällt  ans 
dem  Rahmen  des  ins  ordinarium  nod  gehOrt  in  das  System  des  ins 
extraordlnarinm«  (das.).  »Der  Befriedi  gnngszweck  tritt  hier 
in  erste  Linie«.  »Die  Herrschaft  Ober  die  Person  ist  damit  im  letz- 
ten Zipfelchen  preisgegeben,  nnd  aller  Accent  auf  den  ökonomi- 
schen, durch  Geld  repräsentablen  Wert  gelegt.  Heutzutage  ist  das 
der  herrschende  Oesichtspnnkt.  Der  persönliche  Ehrenpunkt  tritt 
zurück,  die  Forderungsfrage  ist  eine  Geldfrage«  (S.  120).  Aber 
war  nicht  im  Formnlarprocesse  die  condemnatio,  ohne  welche  hier 
Zwangsvollstreckung  niemals  eintreten  konnte,  stets  und  notwendig 
auf  Geld  gerichtet?  War  mithin  nicht  in  der  klassischen  Zeit  des 
römischen  Rechtes  eine  gerichtlich  geltend  gemachte  Obligation,  so- 
fern der  Schuldner  es  zur  Verurteilung  kommen  ließ,  in  viel  ent- 
schiedenerem Sinne  auf  eine  reine  Geldfrage  gestellt,  als  bei  uns? 
ja,  nach  der  Ansicht  der  Procnleianer  eine  obligatio  stricta  so 
sehr,  daß  selbst  die  Erfüllung  der  ursprünglichen  Verpflichtung  nach 
der  Litiscontestation  die  condemnatio  pecuniaria  nicht  mehr  abzu- 
wenden vermochte? 

Kap.  V  »Einige  Configurationen  der  Obligatio«  (S.  125 — 186 
§§  28—40)  erörtert  Novation  und  Eorrealität,  deren  innere  Verwandt- 
schaft Verf.  in  dem  Momente  der  »Identität  des  Obligations- 
inhalts« ttüT  die  bei  beiden  Instituten,  dort  snccessiv,  hier  simultan, 
vorhandene   >Mehrheit   der  Obligationen«  erblickt   (S.  126). 

»Die  Novation  ist  nicht  eine  besondere  Art  der  Begründungen, 
sondern  der  Aufhebungen  von  Obligationen«  (S.  130).  Ihr  »juri- 
stisch Charakteristisches  tritt  hervor,  wenn  wir  (sie)  als  eine  be- 
sondere Aufhebungsart  ins  Auge  fassen.  Warum?  Weil  hier  von 
den  Römern  angenommen  wurde,  daß  die  prior  obligatio  ipso  iure 
untergehe,  ohne  daß  ein  solenner  actus  contrarius  (acceptilatio)  oder 
wirkliche  solutio  stattfindet  Das  war  im  römischen  System  etwas 
Besonderes«  (S.  131).  »Aber  warum  entscheidet  die  neue  Obligatio 
dorch  ihr  bloßes  Dasein  das  Nichtdasein  der  alten  Obligatio?«  — 
»Die  innere  Berechtigung  kann  doch  unmöglich  in  etwas  Anderem 
liegen,  als  daß  durch  Entnahme  des  StofiB  der  alten  in  die  neue 
Obligatio  jene  entseelt  wird  und  stirbt«.  —  »Der  .Begrttndnngswille 
schafft  aus  der  alten  eine  neue  Obligatio,  nimmt  in  der  That  eine 
Verwandlung  vor  und  thut  das,  was  nicht  bloß  in  dem  Worte 
novatio   (oder   in    der  Wendung  obligationeni    mutare   (fr.  45  §  ] 


122  Gott.  gel.  Auz.  1887.  Nr.  4. 

mand.  (17,  1)  cf.  BerichtigaDgen  und  Zusätze)  aasgedrückt,  sondern 
aoeb  in  der  bekannten  Legaldefinition  (fr.  1  de  nov.  46, 2)  desselben 
mit  drastischer  nnd  nnmisverständlicher  Handgreiflichkeit  dargelegt 
wirdc  — :  idas  prins  debitam  wird  in  die  nene  Obligatio  transfan- 
diert  and  transferiert,  wie  ans  einem  Gefäß  in  das  andere,  und  jenes 
schrampft  damit  in  Nichts  zusammen,  einem  Ballon  vergleichbar, 
welchem  der  Luftinhalt  ausgepumpt  ist.  Weil  der  alten  Obligatio 
ihre  causa  geraubt  ist,  um  sie  für  die  neue  zu  verwenden,  darum 
bewirkt  der  Novationswille  die  Tilgung  der  alten  Obligatio,  und 
deckt  die  Form  des  Begrttndungswiilens  zugleich  den  unsolennen 
Tilgungswillen,  so  daß  er  civilrechtlich  wirken  kannc  (S.  132). 
»Freilich«,  fährt  Verf.  S.  133  fort,  »ist  der  Vorgang,  welcher  von 
mir  als  Verwendung  bezeichnet  wurde,  kein  einfacher,  denn  es  läßt 
sich  eine  causa  nicht  ohne  Weiteres  übertragen,  weil  jede  Obligatio 
ihre  causa  hat,  aber  sie  läßt  sich  in  der  Weise  ein-  und  um- 
schmelzen,  daß  sie  in  die  neue  formale  causa  aufgenommen  wird 
und  in  dieser  fortwirkt«.  Stellen  wir  statt  des  bei  seiner  Mehrdeu- 
tigkeit immerhin  leicht  verwirrenden  Ausdrucks  »causa«  den  im 
Sinne  desVerf.s  hier  gleich  bedeutenden  »Obligationsinhalt«  (S.  116) 
oder  noch  bezeichnender  den  Ausdruck  »Ursprungs-  oder  Generativ- 
bestimmtheit« (S.  108)  der  Obligation  ein,  so  wttrde  danach  also 
unter  Novation  »die  Ein-  und  Umschmelzung  der  Ursprungs-  oder 
Generativbestimmtheit  einer  alten  Obligation  in  diejenige  einer  neuen 
Obligation«  zu  denken  sein.  Ob  und  wie  weit  damit  Anderen  der 
Novationshergang  anschaulich  gemacht  wird,  muß  selbstverständlich 
dahin  gestellt  bleiben;  der  Berichterstatter  darf  aber  vielleicht  auf 
gütige  Nachsicht  hoflfen,  wenn  er  offen  bekennt,  daß  ihm  dafttr  das 
Verständnis  gebricht.  Hält  er  nämlich  an  der  platten  Thatsache 
fest,  daß  »eine  Obligation  völlig  bestimmt  (erscheint)  durch  die  Per- 
sonen des  Gläubigers  und  des  Schuldners,  durch  die  Leistung  (= 
Leistungsobjekt)  und  den  Entstehungsgrund«  (Mitteis,  die  Indi- 
vidualisierung der  Obligation  S.  5),  so  dünkt  ihn  schon  der  ein- 
fachste Fall  der  Novation,  nämlich  die  Novation  unter  den  Subjek- 
ten der  alten  Obligation  mit  Beibehaltung  des  ursprünglichen  Lei- 
stungsobjektes, einen  unlöslichen  Widerspruch  gegen  jene  Begriffs- 
bestimmung zu  enthalten,  weil  die  neue  Obligation  notwendig  einen 
andern  Entstehungsgrund  hat,  als  die  alte,  und  damit  eben  eine 
andere  »Ursprungs-  oder  Generativbestimmtheit«.  Vollends  aber 
eine  Novation  mit  Wechsel  der  Subjekte,  des  Leistungsobjektes! 
Sollte  es  also  inzwischen  nicht  geratener  sein,  die  hausbackene  Be- 
griffsbestimmung der  Novation  beizubehalten,  wonach  sie  die  Auf- 
hebung einer  Obligation  durch  Begründung  einer  neuen  ist  ?  —  Verf. 


Euntze,  Die  Obligationen  im  römischen  und  im  heutigen  Recht  etc.      123 

sagt  weiter:  »Nor  ein  abstrakter  Eontrahierungsakt  ist  yermögend, 
eine  alte  caasa  herttberzanehmen  und  gleicbsam  anfzafangen  (vgl. 
aoeh  §  30  S.  134 ff.);  onzweifelhaft  ist  das  die  Vorstellnng  Ulpians 
in  der  Legaldefinitionc.  Berichterstatter  will  nicht  betonen,  daft  er 
von  jener  Yorstellang  in  dieser  Definition  nicht  die  blasseste  Spar 
erblickt;  nm  so  mehr  aber  maß  er  das  Bedenken  erheben,  ob  nicht 
die  These  des  Verf.s  aaf  einer  Verwechselang  berahe.  Die  caasa 
der  neaen  Obligation  im  üblichen  Sinne,  die  caasa  novandi,  ist 
eine  besondere  Anwendung  der  caasa  solutionis.  Es  versteht  sich 
daher  ganz  ?on  selbst,  daß  diese  causa  nicht  verwirklicht  werden 
kann  mittels  einer  solchen  materiell  individualisierten  Obligation, 
deren  caasa  eine  andere  ist  als  die  solutionis  causa,  z.  B.  mittels 
einer  obligatio  venditi,  locati  u.  s.  w.  Aber  aach  eine  derartige  ma- 
teriell individaalisierte  Obligation  ist  zur  Novation  nicht  geeignet, 
deren  causa  zwar  die  caasa  solutionis  ist,  aber  die  causa  solntionis 
einer  erst  durch  Eingehang  dieser  Obligation  re,  z.  B.  dnrch  Em- 
pfang eines  Darlehns,  begründeten  Schuld.  Dagegen  steht  begriffs- 
mäßig nichts  im  Wege,  eine  materiell  individualisierte  Obligation 
gerade  auf  die  caasa  solutionis  einer  bereits  anderswie  entstandenen 
Schuld  zu  gründen.  Freilich  hat  das  römische  Civil  recht  dies 
nicht  gethan:  es  gibt  keinen  Konsensaalkontrakt  solchen  Inhalts. 
Wohl  aber  hat  das,  honorarische,  constitutum  debiti  eben  jene  causa 
solntionis.  Und  wenn  dasselbe  da,  wo  es  in  der  Absicht  eingegan- 
gen worden,  daß  aas  der  alten  Obligation  nicht  mehr  geklagt  wer- 
den soll,  diese  alte  Obligation  nicht  ipso  iure,  sondern  nur  ope  ex« 
ceptionis  pacti  de  non  petendo  unwirksam  machte  (3.  137  f.),  so 
folgt  das  nicht  so  wohl  aus  der  »diskreten«  Natar  der  obligatio  ex 
eonstitoto,  als  vielmehr  aus  ihrer  honorarischen  Natur,  wie  Verf. 
selbst  S.  160  anter  III  ganz  unbefangen  ausspricht.  Auch  kann 
unser  Schuldner  iussa  nostro  gegenüber  einem  Dritten  eine  aaf  einen 
speeifischen  Zweck  gerichtete  einseitige  Verpflichtung  recht  füglich 
ex  causa  nobis  solvendi  übernehmen ;  und  in  dieser  Weise  war  auch 
dem  ios  civile  die  Novation  durch  materiell  individualisiertes  6e« 
scbäft  nicht  völlig  fremd,  nämlich  in  der  dotis  dictio  seitens  des 
debitor  delegatus  der  Frau.  Es  sollte  darnach  nicht  bezweifelt  wer- 
den, daß  hente  die  Novation  aach  darch  formlosen  Schuldvertrag 
geschehen  kann:  dieses  ist  alsdann  eben  keio  abstrakter,  sondern 
ein  kraft  der  caasa  solutionis  prioris  debiti  materiell  charakterisier- 
ter, nicht,  wie  Verf.  S.  139  sagt,  ein  bezugnehmender  Formalakt. 
Das  Rätsel  der  Eorrealobligation  meint  Verf.  mit  der  Formel 
gelöst  zn  haben:  >Mehrheit  der  Obligationen,  Identität  des  Inhalts 
(in  seinem  Sinne  natürlich);  das  die  Obligationen  einende  Band  ist 


124  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  4. 

der  allen  gemeinsame  Obligationsinhaltc  (S.  153);  d.  h. 
»die  Ursprungs-  oder  GeneratiTbestimmtheit«  (S.  108).  Wie  sich 
freilich  die  Verschiedenheit  der  Obligationssabjekte  mit  dieser  iden- 
tischen Generativbestimmtheit  vertrage,  das  wird  nicht  gesagt.  — 
Es  werden  nun  nean  »grandlegende«  Qnellenanssprttche  mitgeteilt, 
»auf  welche  das  System  der  Gorrealobligation  wissenschaftlich  zu 
gründen  istc  (S.  156).  Mit  einer  einzigen  Ausnahme  werde  in  allen 
diesen  Stellen  »die  solutio  als  maftgebender  Gesichtspunkt,  als  proto- 
typischer Anfhebungsgrund  angeführt«.  Die  Rolle,  welche  die  so- 
lutio und  zwar  speciell  für  die  Eorrealobligation  spielt,  wird  darauf 
nicht  bloß  dogmatisch,  sondern  historisch  aufzufassen  gesucht.  Vor- 
weg wird  dabei  die  Meinung  abgewiesen,  es  strebe  die  Obligatio 
nach  Tilgung;  »denn  es  ist  ein  Mißgedanke,  als  Zweck  einer  le* 
bendigen  Potenz  Tod  oder  Selbstmord  hinzustellen«  (S.  157).  Es 
verhält  sich  vielmehr  folgendermaßen.  Ursprünglich  verlangten  die 
Römer  zur  Tilgung  einer  Obligatio  einen  contrarius  actus.  Für  die 
bonae  fidei  contractus  des  spätem  Civilrechts  entsprach  der  mutuns 
dissensus  diesem  Princip,  aber  es  kam  der  Erfttllungs-  oder  Zah- 
lungsakt  hinzu,  »denn  dieser,  indem  er  sich  aus  Hingabe  und  An- 
nahme zusammensetzt,  enthält  ja  zugleich  die  übereinstimmende  Ab- 
sicht der  Lösung  des  Obligationsnexus«  (S.  158).  Der  praktische 
oder  teleologische  Gesichtspunkt  der  Erfüllung  trat  somit  an  die 
Stelle  des  logischen  oder  konstruktiven  Gesichtspunktes  des  Eon- 
träraktes;  und  dieser  Gedanke  kam  dann  auch  zur  Herrschaft 
über  die  Obligationen  ex  stipulatu.  Auch  ihnen  gegenüber  erklärt 
man  die  Zahlung  (numeratio)  als  Lösung  (solutio);  solutio  erhielt 
den  Sinn  der  Zahlung  oder  Erfüllung.  »Man  nannte  die  Wirkung 
statt  der  Ursache,  und  konnte  endlich  von  da  aus  leicht  den  letz- 
ten Schritt  thun,  daß  man  den  natürlichen  Erfüllungs- 
akt als  den  wichtigsten  und  darum  vorbildlichen,  nor- 
malen Tilgnngsvorgang  hinstellte«  (S.  159).  In  diesem 
Sinne  drücke  es  Paulus  aus,  »daß  solutio  zwar  speciell  die  naturale 
Erfüllung  bedeute,  aber  dann  auch  alle  den  Obligationsinhalt  treffen- 
den Tilgungsgründe  begreife,  wenn  er  sagt:  Solutionis  verbum  per- 
tinet  ad  omnem  liberationem  quoquo  modo  factam,  magisque  ad 
substantiam  obligationis  refertur,  quam  ad  nummorum  solutionem« 
(das.).  Worauf  aber  gründet  sich  die  Befugnis,  der  Ausdruck  »sub- 
stantia obligationis«,  der  m.  W.  nichts  weiter  bedeutet  als  »Bestand 
der  Obligation«  durch  »Obligationsinhalt«  im  Sinne  des  Verf.s  wie- 
derzugeben? Für  ihn  versteht  es  sich  von  selbst;  und  indem  er  so- 
dann erklärt,  daß  acceptilatio  und  novatio  sich  unbestreitbar  auf  die 
Substanz,  den  Obligationsinbalt  beziehen,  so   ergibt  sich  ihm  weiter. 


Kuntze,  Die  Obligationen  im  römischen  and  im  heutigen  Recht  etc.      125 

daB  sie  als  Solntionssnrrogate  den  Gesamtnexas  der  Eorreal- 
obligatioD  aafbeben.  Entsprecheod  verhält  es  sich  mit  dem  ab*- 
ändemdeD  constitatam  and  dem  iasiorandam  liberatoriam  de  ipso 
coDtraetn  et  de  re:  sie  ergreifen  »den  Obligationsinhattc  (=s:  Ur- 
sprungs- oder  Oenerativbestimmtheit  der  Obligatio)  and  erledigen 
denselben.  Wie  sie  das  bewerkstelligen,  bleibt  freilich  dem  Bericht- 
erstatter gerade  so  anverständlich,  wie  bei  der  Novation;  verstand- 
lieh  dagegen  ist  es  ihm,  daß  alle  diese  Tilgangsgrttnde  den  Bestand, 
das  Dasein  des  Obligationsverhältnisses  (im  Gegensätze  za  der  Ver- 
pflichtuDg  oder  Berechtigung  einer  bestimmten  Person  daraas)  be- 
treffen. Hinsichtlich  der  Litiskontestation  zweifelt  Verf.  (S.  162) 
nicht,  daß  den  römischen  Juristen  der  klassischen  Zeit  die  Verglei- 
chnng  derselben  mit  der  solutio  ganz  vertraut  war.  »Ihren  tieferen 
Grund  hat  diese  Solntionsartigkeit  und  Solutionswirkang  der  Litis- 
contestation darin,  daß  sie  die  res  in  litem  deducta  ergreift 
und  der  ursprünglichen  obligatio  entziehtc  Bei  Erör- 
terung des  Erfordernisses  der  eadem  res  begegnet  S.  163  beiläufig 
das  Versehen,  daß  die  in  1.  22  D.  de  exe.  rei  iud.  44,  2  erwähnte 
personarum  matatio  bei  den  Klagen  gegen  die  Erben  des  Deposi* 
tars  auf  die  »erbrechtliche  Geteiltheit  der  nomina  hereditariac  za* 
rückgeftthrt  wird,  während  doch  die  obligatio  depositi  als  unteilbare 
ungeteilt  auf  sämtliche  Erben  des  Despositars  ttbergeht.  —  Die  con- 
fnsio  endlich  sei  nach  1.  71  D.  de  fideiuss.  46,  1  bald  der  solutio 
vergleichbar,  bald  nicht  (S.  164  f.).  —  In  gewissen  Fällen  haben  die 
Römer  die  Selbständigkeit  der  durch  eadem  pecnnia  verbundenen 
Obligationen  noch  gesteigert,  indem  sie  nicht  alle  Konsequenzen 
aus  der  Identität  der  pecunia  (res)  zogen,  sondern  den  Gläubiger 
gegen  die  nachteilige  Wirkung  der  mit  dem  einen  Schuldner  kon- 
testierten lis  in  Schutz  nahmen  durch  Aufstellung  des  Satzes:  reus 
non  litiscontestatione,  sed  solutione  liberatur.  Dieser  Satz  habe  für 
solche  Fälle  gegolten,  wo  die  Billigkeit  eine  Ausnahme  von  der 
strengen  Konsequenz  empfahl :  wenn  die  Solidarschuld  auf  dolus  oder 
culpa  beruhte  (S.  168  ff.).  Wie  aber  war  es,  wenn  mehrere  anab- 
hängig von  einander  die  Garantie  für  die  nämliche  Gefahr  über« 
nommen  hatten?  (vgl.  S.  129  za  N.  10)  eine  Frage,  welche  auch 
Mitteis  a.  a.  0.  S.  67  unbeantwortet  läßt.  —  Der  Verf.  ftthrt 
schließlich  aus,  daß  fflr  die  Gegenwart  der  Unterschied  zwischen 
Korrealität  und  einfacher  Solidarität  den  Boden  verloren  habe,  und 
nur  noch  aeqaitatis  oder  utilitatis  ratione  für  einzelne  Anwendangs- 
fälle  etwa  diese  oder  jene  Ausnahme  im  Einzelnen  durch  positive 
Bechtsvorschriften  beliebt  worden  sei  (3.  186).  Auf  diese  Betrach- 
tang näher  einzugebn,  mangelt  hier  der  Baum.    Doch  mag  Bericht* 


126  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  4. 

statter  nicht  unterlassen,  auch  jetzt,  wie  schon  bei  einer  frtthern  Ver* 
anlassang  in  diesen  Blättern  (1883  StUck  25.  26  S.  924  f.),  anf  die 
grofie  praktische  Bedentang  hinzuweisen,  welche  der  s.  E.  nach  I.  18 
D.  de  duob.  rei  45,  2  bei  Korrealschaldnern  ans  Vertrag  eintre- 
tenden Haftung  für  die  Widerrechtlichkeiten  des  Gorreus  zukommt. 
Nur  freilich  darf  dieselbe  nicht  auf  das  Wesen  der  Eorrealverbind- 
lichkeit  zurtickgeftthrt  werden,  sondern  darauf,  daß  jeder  Gorreus 
durch  seinen  Vertrag  die  Haftung  fttr  den  andern  übernimmt  (cf. 
Mitteis  a.  a.  0.  S.  95  Anm.  111).  Bei  correi  debendi  aus  Legat 
findet  sie  also  nicht  statt. 

Kap.  VI  (S.  186—206  §§  41—44)  betrifft  die  extraordinäre  Obli- 
gatio. Auch  die  Obligatio  hatte  laut  der  Aasftthrungen  des  Verf.8 
teil  an  dem  allmählichen  Umschwünge,  welcher  während  der  Eaiser- 
zeit  in  der  wirtschaftlichen  Wertschätzung  und  humanitären  Behand- 
lung der  Sklaven  stattfand.  Wie  das  ins  gentiam  schon  längst  Bür- 
ger und  Peregriuen  umschlang,  so  sei  jetzt  ein  Kechtsboden  Bedürf- 
nis geworden,  auf  welchem  auch  der  Sklav  sich  sicher,  geschützt 
und  anerkannt  fühlen  konnte.  Als  solcher  Kechtsboden  erscheine  das 
ins  naturale  Ulpians.  In  demselben  sei  gleichwohl  nur  ein  Teil  der 
neuen  Lebensordnungen  zusammengefaßt  gewesen;  viele  andere  Er- 
scheinungen haben  gleichfalls  eine  Placierung  im  System  bedurft. 
Gemeinsam  sei  ihnen  die  Abweichung  von  der  römischen  Tradition, 
das  Heraustreten  aus  dem  Rahmen  der  Nationalanschauung,  die  Er- 
hebung zu  einem  neuen  Gesichtskreis.  Habe  man  das  Erzeugnis  des 
römischen  Geistes  als  ordo  iaris  bezeichnen,  von  einem  ordinarium 
ins  reden  können ,  so  habe  sich  das  Neue  als  extraordinarium  ins 
gegenüberstellen  lassen.  Das  naturale  und  das  extraordinarium  ins 
sei  der  neuen  Zeit  als  das  ihr  Entsprechende  erschienen;  man  habe 
es  als  novum  ius  zusammengefaßt  (S.  186  ff.).  Nach  dem  letzten 
Aufflammen  des  nationalrömischen  Geistes  mit  Trajan  habe  sich  das 
ius  novum  seit  Hadrian  in  rascherem  Tempo  zur  Blüte  entwickelt 
In  diesen  Zusammenhang  gehöre  das  fideicommissnm  libertatis, 
durch  welches  der  Sklav  Gläubiger  eines  römischen  Bürgers  habe 
werden  und  sein  Recht  gerichtlich  geltend  machen  können.  Es  liege 
hier  also  eine  obligatio  iure  extraordinario  vor  (S.  188  f.).  Der  Aus- 
druck »libertas  servo  debetur«  freilich  dürfte  dies  nach  Ansicht  des 
Berichterstatters  ebenso  wenig  beweisen,  als  der  bekannte  Ausdruck 
»servitus  praedio  debeturc  ein  Forderungsrecht  des  herrschenden 
Grundstücks  erweiset.  Auch  der  vom  Sctum  Dasumianum  (1.  51 
§  6  D.  de  fideic.  Hb.  40,  5)  gebrauchte  Ausdruck  »oportet«  (perinde 
habeatur,  atque  si ,  ut  oportet ,  ex  causa  fideicommissi  manumissos 
esset)  beweist   nicht  das  Dasein   eines  Forderungsrechtes  fttr   den 


Euntze,  Die  Obligationen  im  rumischen  und  im  heutigen  Recht  etc.      127 

Sklaven,  sondern  nur  die  Notwendigkeit  der  Freilassang  für  den  Be- 
lasteten, genaa  das  Nämliche,   was  Marcellas   in   1.  50  D.  de  R.  N. 
23,  2  »necessitasc  nennt.   Denn  wenn  schon  ,beide  Ausdrücke  bäafig 
für  die  obligatorische  Verpflichtung    vorkommen,   so  fehlt  doch  viel 
daran,   daß  sie   nur   diese  bezeichnen    können.     Weiter   stellt  Verf. 
hierher  die  redemptio  suis  nnmmis,  welche  er  ebenfalls  als  obligatio 
iaris  extraordinarii  zwischen  servus  und  emptor   imaginarins  auffaßt 
(S.  190  f.).     Beide   Fälle   zusammen   nennt   er  wegen  ihres  Rechts- 
schutzes durch  cognitio  extraordinaria  »cognitionalis  obligatioc.    So- 
fern aber  die  hierin  erblickte  Obligation    nicht  etwas  specifisch  An- 
deres sein  soll,  als  das,  was   man  herkömmlich  Obligation  benennt, 
wie  verträgt  sie  sich  mit  dem  Satze  Ulpians  (1.9  §2  D.  de  statulib. 
40,  7):    »ea  enim  in  obligatione  consistere,  quae  pecunia  lui  prae- 
starique  possant,  libertas  autem  pecunia  lui  non  potest  nee  reparari 
potest,  quae  sententia  mihi  videtur  verac  — ?  (vgl.  S.  123  zu  N.  16). 
—  Neben   der  cognitionalis  obligatio  stehe    die  technisch  als  natu- 
ralis bezeichnete,   zwar   als  klaglose  von  geringerer  Kraft   als  jene, 
aber  thatsächiich  von  größerer  Bedeutung.    Hinsichtlich  ihrer  Aner- 
kennung im   römischen    Rechte   bleibt   Verf.    bei    der   schon  früher 
(Excnrse  2.  Aufl.  S.  373)  von  ihm  verfochtenen  Ansicht,  dieselbe  sei 
in  der  Republik  noch  nicht  zum  Bewußtsein  der  Juristen  gekommen ; 
vermutlich  sei  Labeo  der  Bahnbrecher  gewesen.   Allein  neue  Beweis- 
gründe bringt  er  dafür  nicht;  nnd  der  früher  von  ihm  in  1.  40  §  3 
D.  de  cond.  35,  1    angeführte    und  jetzt  S.  201    einfach  wiederholte 
ist,  wie  bereits  Mandry  Familiengüterrecht  I  S.  371,  N.  4  bemerkt 
hat,  völlig  unkräftig:   er  beweist  nichts  weiter,    als  daß  Servius  den 
Ausdruck  >deberec   für  eine  Naturalschuld  des  Herrn  an  den  Skla- 
ven nicht  zuließ,  —  was   um   so  weniger  überraschen  kann,   als  ja 
noch  Ulpian  ausspricht,  daß  nee  servus  quicquam  debere  potest,  nee 
servo  potest  deberi,  bei  Sklavenobligationen  vielmehr  der  Ausdruck 
nur   abusiv  gebraucht   werde   (1.  41  D.   de   pec.  15,  1  S.  198  nach 
N.  6),  wie  man  überhaupt  von  Natnralschuldnern  nur  minus  proprio, 
nur  per  abusionem  »debere«  sage  (I.  16  §  4  D.   de  fideiuss.  46,  1) ; 
nnd   als   er  die  Naturgläubiger  nicht    loco  creditorum  rechnet  (1.  10 
D.  de    V.   S.   50,   16,   cf.   Lenel    ed.    perp.  S.   63   N.    19).      Auf 
Tuberos   bekannte  Definition   des  Peculium   dagegen,    wonach   am 
Wertbetrage  dessen,   was   der  Sklav   domini   permissu  separatum  a 
rationibns  dominicis    habet,   abgesetzt  werden   muß,   si  quid  domini 
debetnr  (1.  5  §  4  D.  de  pec.  15,  1),   welcher  Servius   bereits  hinzu- 
gefügt hat:  et  si  quid  bis  debeatur,  qui  sunt  in  eins  potestate,  quo- 
uiam  hoc  quoque  domino  deberi  nemo  ambigit  (1.  9  §  3  eod.  s.  auch 
1.  17  1.  f.  eod.),   läßt  der  Verf.  sich  gar  nicht  ein,    wiewohl  Man- 


128  Gott.  gel.  An%.  1887.  Nr.  4. 

dry  a.  a.  0.  ihm  sehr  nachdrttcklich  die  1.  9  §  3  cit  entgegenge- 
balten  hat  (s.  auch  Peroice  Labeo  I  S.  131  za  N.  74).  Qauz  will- 
kttbrlich  erscheiDt  es,  wenn  der  Ansdrnck  »naturalis  obligatio«  auf 
das  ins  naturale  zurttckgefUhrt  wird  als  das  den  Römern  mit  den 
Sklaven  gemeinsame  Recht  (S.  191  f.).  Jedenfalls  ist  der  Ausdruck 
»naturalis  cognatioc  dafür  eine  bedenkliche  Stütze:  bei  ihm  handelt 
es  sich  ja  in  der  That  um  ein  durch  die  natürliche  Abstammung 
geknüpftes  Band,  wie  gerade  die  vom  Verf.  S.  194  N.  9  mitgeteilte 
1.  4  D.  si  tab.  test.  null.  38,  6  (Si  naturales  emancipati  et  adoptatt 
iternm  emancipati  sunt,  habent  ins  naturale  liberorum,  d.  h.  sie  wer- 
den nunmehr,  nachdem  sie  aus  der  fremden  Agnatenfamilie  ausge- 
schieden sind,  wieder  im  ordo  unde  liberi  berufen)  zeigt,  wo  der 
Ausdruck  »ins  naturale  liberorum«  sicher  nicht  bedeutet:  »das  na- 
türliche Recht  der  Kinder«,  sondern  »das  (prätorische)  Recht  der 
leiblichen  liberi«.  Vielmehr  hätte  die  technische  Bedeutung  des 
Ausdrucks  »liberi  naturales«  für  Konkubinenkinder  den  Verf.  dar- 
auf leiten  sollen,  daB  die  Römer  von  naturale  im  Gegensätze  zu 
»civile«  u.  a.  auch  bei  Forderungs Verhältnissen  da  sprechen,  wo  die 
Rechtsordnung  an  einen  Tbatbestand  zwar  nicht  die  vollste  denk- 
bare Wirkung,  immer  aber  doch  eine  gewisse  Wirkung  knüpft;  so 
z.  B.  auch  in  derjenigen  Bedeutung  des  Ausdrucks  »naturalis  pos- 
sessio«, womit  jeder  zur  Usucapion  nicht  geeignete  Besitz  gemeint 
ist  (vgl.  S.  195  N.  16).  Wie  erkünstelt,  aus  dem  Grunde,  weil  das 
Konkubinat  vorzüglich  im  Hinblick  auf  libertinae  geregelt  worden 
sei,  im  Begriffe  der  progenies  »naturalis«  einen  indirekten  Hinweis 
auf  den  Sklavenstand  zu  finden!  oder  in  dem  Ausspruche:  in  con- 
trahendis  matrimoniis  naturale  ins  et  pudor  inspiciendus  est  (1.  14. 
§  2  D.  de  R.  N.  23,  2),  womit  Paulus  das  Ehehindernis  der  servilis 
cognatio  begründet,  eine  enge  Beziehung  des  nomen  naturale  zu 
dem  Status  servitutis  zu  erblicken!  Ganz  befangen  in  der  Vorstel- 
lung, wonach  der  Ulpiansche  Begriff  des  ins  naturale,  nämlich  quod 
natura  omnia  animalia  docuit  (i.  1.  §  3  D.  de  J.  et  J.  1,  1),  mit 
dem  Sklavenstande  zusammenhängt,  trägt  Verf.  nicht  einmal  Beden- 
ken, die  von  Ulpian  selbst  gegebene  Bestimmung  des  nämlichen  Be- 
griffes, dessen  rechtliche  Erfassung  er  S.  342  als  »eine  schöpferische 
That  ersten  Ranges  und  die  großartigste  Leistung  der  klassischen 
Jurisprudenz«  hinstellt,  dadurch  erst  für  seine  Meinung  brauchbar 
zu  machen,  daß  er  ihre  auf  das  Tierreich  übergreifende  Formulie- 
rung für  eine  ungeschickte  oder  lieber  für  eine  traditionelle  erklärt. 
Denn  freilich  paßt  zu  seiner  Annahme  das  »omnia  animalia«  herz- 
lich schlecht!  Es  ist  zudem  falsch,  daß  Ulpian  das  ins  naturale  als 
ein  »Rechtsband«    neben   das  ius  gentium  stelle.     Allerdings  ge- 


Knntze,  Die  Obligationen  im  römischen  und  im  heutigen  Recht  etc.      129  I 

hören    zu    deo  animalia  neben  den  Tieren   and  den  freien  Menschen 
anch  die  Sklaven ;  allein  aus  dem  Ausdrucke  »matrimoniumt,  welchen 
Ulpian  als  Bezeichnung   fttr  die  maris  ac  feminae  coniunctio  unter 
Menschen  der   ebenfalls  unter  dem  ius  naturale  begriffenen  con- 
iunctio   maris  et  feminae   unter  Tieren  entgegenstellt,    und  wofQr 
obendrein  bei  dauernder  Geschlechtsverbindung  von  Sklaven  bekannt- 
lich contnbernium  gesagt  wurde,  —  so  wie  aus  der  Bemerkung  (1.  4 
eod.) :    iure  naturali  omnes  üben  nascuntur,  und :  uno  naturali  nomine 
homines  appellamnr,  —  ist  doch  noch  ganz  und  gar  nicht  »deutliche, 
daß  der  Jurist  unter  dem  ius  naturale  eine  jenseits  des  ius  gentium 
liegende,  »höhere,   ideale  und  gleichsam  tibergeschichtliche  Region« 
gemeint  habe,  welcher  als  einer  rechtlichen  Sklaven   und  Freie 
gemeinsam   angehören  (S.  195);    vielmehr   scheint  hiernach  das  ius 
naturale  nichts  weiter  zu  sein,   als  der  »Inbegriff  derjenigen  durch 
die    lex  naturae  gebotenen   Normen,    welche   die  auf  dem  appetitus 
(d.  h.  den  Menschen  und  Tieren  gemeinsamen  instinktiven  Kegungen) 
beruhenden  gegenseitigen  Beziehungen  der  beseelten  physischen  Ge- 
schöpfe  regeln«   (M.  Voigt  ins   nat.  I  S.  291),  —  also   ein  ftlr  das 
positive  Kecht  völlig   unbrauchbarer   Begriff.  —    Auch    ganz  abge- 
sehen von   des  Verf.  Deutung  des  ins  naturale,   erscheint  misglückt 
seine  Erklärung  der  naturalis  obligatio   des  Sklaven  in   1.  14  D.  de 
0.  et  A.  44,  7  (S.  198  f.).    Dieselbe  beruht  auf  der  Unterscheidung 
einer   dreifachen   Verpflichtungsfähigkeit,   nämlich   nach   ius   civile, 
nach  ius  honorarium  und  nach  ius  naturale  im  Sinne  des  Verf.s.   Ul- 
pian  meine,  daß  sowohl   nach   Civil-,  als  nach  Edictrecht  Sklaven 
durch  Delikt  verpfiichtungsfähig  seien ,   was   freilich    nicht  mit  den 
Worten    naturalis   obligatio  ausgedrückt  zu  werden  pflege;  auf  die- 
ser Verpflichtungsföhigkeit  ruhe  der  Satz:  noxa  caput  sequitur,  so- 
wie die  positive  Kegel,   daß   der  haftende  Sklav  nach  seiner  Frei- 
lassung  verklagt   werden    könne.     Die    Fähigkeit  des  Sklaven  zur 
kontraktlichen    Verpflichtung   und   Berechtigung  beruhe  auf  prätori- 
Bchem  Recht,  daher  könne  hier  von  einer   civilis  obligatio   nicht  die 
Bede  sein.     Dann  trete  der  Begriff  der  naturalis  obligatio  im  Sinn 
der  Eaiserzeit  hinzu,  und  die  Naturalobligationen  folgen  dem  Skla- 
ven auch  in  die  Freiheit.   Wie  seltsam  aber  würde  Ulpian  verfahren 
sein,   wenn   er   in  seiner  Darstellung  die  Möglichkeit  der  Verpflich- 
tung nach  ins  praetorium,   welche   doch   wesentliche  Grundlage   fttr 
das  Verständnis  seiner  Erörterung  bilden  würde,   mit  völligem  Still- 
schweigen übergangen  hätte! 

Kap.  VII  (S.  206--  244  §§  45—50)  bringt  unter  der  Ueberschrift : 
»Die  negoeiable  Skriptnrobligation«  zuerst  Betrachtungen  Ober  das 
Verhältnis  von  Novation   and  Cession.    Gemeinsam  ist  danach  bei- 

ßfttt.  pol.  Ans.  1887.  Nr.  4.  10 


130  Gott.  gel.  Jüii.  1887.  Nr.  i. 

den,  daß  sie  den  positiven  VermögeDSwert  einer  Obligation,  das  nomen, 
aaf  ein  neues  Subjekt  übertragen   können.     Während  aber  die  No- 
vation die  bisherige  Obligation  und  mit  derselben  deren  Accessionen 
opfert  (abgesehen,    wie   wohl    hinzugefügt  werden  mUBte,    von  dem 
auf  die   neue  Forderung   kraft  Vereinbarung    übergehenden  Pfand- 
rechte), dafür  jedoch  auch  die  Einreden  aus  der  Person  des  frühern 
Gläubigers  beseitigt,    läßt   die  Cession   die  Substanz  der  bisherigen 
Obligation  mit  deren  Accessionen  bestehn,  aber  auch  mit  den  Ein- 
reden aus  der  Person  des  Cedenten.   Dem  Vorteile  übrigens,  welchen 
die  Novation    dem   neuen  Gläubiger  dadurch  gewährt,   daß  sie  ihm 
eben  ein  neues,  von  den  Einreden  gegen  den  alten  Gläubiger  freies, 
Forderungsrecht  verschafft,  steht  der  Verkehrsanwendung  der  Nova- 
tion sehr  hinderlich  das  Erfordernis  der  Einwilligung  des  Schuldners 
gegenüber.    Diese  Unbequemlichkeit  trifft  die  Cession  nicht ;  bei  ihr 
ist  der  Schuldner  zur  Passivität  genötigt:   auf  Grund  seiner  Schuld 
an  den  Cedenten  hat  er  jetzt  dem  Cessionar  zu  leisten.   Hierin  liegt 
keine   Unbill   gegen    ihn,    »denn  sein    Schuldverhältnis   wird   nicht 
eigentlich  abgelöst  vom  bisherigen  ForderungsberechtigtcD,  die  Obli- 
gatio dem  Gläubiger  nicht  entfremdet.     Noch    immer  ist  sie  dessen 
Obligatio,   der  Cessionar   in    der  Geltendmachung  sein  Organ,   sein 
Vertreter.    Der  Cessionar   macht   also   im  Grunde  nicht  seine,   son- 
dern des  Cedenten  Obligatio  geltende.    Machte   er  die  codierte  For- 
derung wirklich  als  seine  Obligatio  geltend:  wie  in  aller  Welt  könnte 
es  da  gerechtfertigt  werden,  daß  der  Schuldner,  wenn  der  Cessionar 
sein  eigenes  Recht  geltend  macht,   auf  die  Person  des  Cedenten  zu- 
rückgreift uud  Einreden  aus  dessen  Person  herholt  ?€     »Wie  könnte 
er  das,  wenn  der  Cedent  kein  rechtliches  Verhältnis  mehr  zu  seiner 
Obligatio  hätte?«     »Hier   gibt   es   keine   andere    dogmatische  Hülfe 
als  die:  entweder  die  Identität  des  Cessionars  mit  dem  Cedenten  zu 
fingieren  —  zu  welcher  Fiktion  uns  die  Quellen  aber   nicht  berech- 
tigen — ,  oder  den  Gedanken   einer  abgeleiteten,  abgezweigten  Obli- 
gatio zu  setzen.     Die  Cession   ist  eine  obligatorische  Veräußerung, 
aber  nicht  der  dinglichen  Singularsuccession   adäquat,    sondern  eine 
konstitutive  Translation,    welche  eher   der  Servitntenbestellung  ähn- 
lich genannt  werden  kannc  (S.  209  f.).     Diese  Analogie   ist   sicher- 
lich ganz  verfehlt;  denn  einerseits  begründen  diejenigen  Mängel  am 
Rechte  des  Auetors,  welche  überhaupt  die  von  ihm  bestellte  Servitut 
beeinflussen,  unmittelbare  Mängel  dieser  Servitut  selbst,   während  es 
nach  Ansicht  des  Verf  s  hinsichtlich  der  abgezweigten  Obligatioc  des 
Cessionars  sich  umgekehrt  verhalten  soll;  anderseits  aber  behält  der 
Eigentümer,  welcher  seiner  Sache  eine  Servitut  auferlegt,   zweifellos 
ein  sehr  reales  Eigentumsrecht,  während  der  Cedent,  jedenfalls  nach 


Kuntze,  Die  Obligationen  im  tömischeii  und  im  heutigen  Hecht  etc.      131 

der  DenuDtiation  an  den  CeBSus,  tod  der  cedierten  Obligation  höch- 
stens den  leeren  Namen  zurückbehält,  aber  kein  irgendwie  wirk- 
sames Forderangsrecbt.  Es  ist  deshalb  nnbegreiflich,  wie  das  in 
Wahrheit  untergegangene  Forderangsrecbt  des  Gedenten  daza  dienen 
kann,  in  dessen  »Vermögenssphäre«  solche  Exceptionen  fortdauern 
zu  lassen,  welche  keine  weitere  Bedeutung  haben,  als  jenes,  nun- 
mehr in  dieser  Vermögenssphäre  wirksam  nicht  mehr  vorhandene, 
Forderungsrecht  zu  modificieren,  z.  B.  die  exceptio  pacti  de  non  pe- 
tendo. Wenn  aber  Verf.  behauptet,  es  sei  der  Cessionar  nicht  Singular- 
successor  des  Gedenten,  vielmehr  seine  Forderung  eine  abgeleitete,  wel- 
che aus  der  Stammobligatio  des  Gedenten  die  Normen  ihrer  Geltend- 
machung empfange  (S.  212),  so  hat  er  es  nicht  bloß  unterlassen, 
selbst  nur  eine  Andeutung  darüber  zu  geben,  wie  er  sich  den  Her- 
gang dieses  Normenempfangens  vorstellt,  durch  welches  gleichwohl 
die  Eigenschaften  der  abgeleiteten  Obligation  als  solcher  nicht  be- 
stimmt sein  sollen,  —  sondern  er  bringt  auch  statt  eines  Beweises 
fttr  jenen  angeblich  klassischen  Gedanken  in  der  That  nur  eine  rhe- 
torische petitio  principii  vor.  Oder  wäre  es  wirklich  etwas  Hehre- 
res, wenn  er  sagt,  der  Gedanke,  daß  die  Exceptionen  Anhängsel 
oder  Qualitäten  oder  Mängel  oder  Gebrechen  der  Obligatio  seien 
und  als  solche  der  Obligatio  auch  in  dem  neuen  Subjekte  anhafte- 
ten, schwebe  ganz  in  der  Luft,  sei  barbarisch  (S.  212)?  Dies  ist 
doch  wahrlich  nicht  mit  der  Bedewendung  dargethan,  der  Obligatio 
fehle  die  dingliche  Natur,  vermöge  deren  bei  der  dinglichen  Singu- 
larsuccession  der  Successor  sich  auch  ein  vom  Auetor  begründetes 
ins  in  re  aliena  gefallen  lassen  müsse;  sie  habe  keine  Sache  zum 
Objekt,  sie  hange  an  den  Personen.  Muß  man  anerkennen,  daß  un- 
geachtet der  persönlichen  Natur  der  Obligationen  der  Cessionar  ein 
zu  seinem  Vermögen  gehöriges  Forderungsrecht  auf  der  Grundlage 
des  bisher  dem  Gedenten  zuständigen  Forderungsrechtes  erhält,  so 
ist  schlechterdings  nicht  zu  verstehn,  weshalb  es  unmöglich  sein 
soll,  daß  auf  jenes  Forderungsrecht  des  Gessionars  sich  gleichzeitig 
und  notwendig  dieselben  Beschränkungen  übertragen,  welche  dem 
Stammrechte  des  Gedenten  anhalfteten,  es  müßten  denn  diese  Be- 
schränkungen, wie  z.  B.  das  auf  einer  persönlichen  Eigenschaft  des 
Gläubigers  beruhende  beneficium  competentiae,  eine  noch  engere  per- 
sönliche Beziehung  haben,  als  das  Forderungsrecht  selbst. 

Verwirft  nun  Verf.  die  von  vielen  in  der  Gession  angenommene 
Singnlarsuccession  in  Obligationen,  so  sucht  er  dafür  die  obligatori- 
sche Singularsuccession  als  ein  von  Novation  wie  von  Gession  ver- 
schiedenes, eigenartiges  Bechtsinstitut  aufzustellen,  und  zwar  zu- 
nächst  theoretisch  -  abstrakt     Seine   Singularsuccession  würde  das 

10* 


IS2  Gott.  gel.  Ai.z.  1887.  Nr.  4. 

Gleiche  leigten,  wie  die  Cession,  insofern  es  für  sie  der  Einwilligung 
des  Scbnldners  nicht  bedarf,   nnd  andrerseits   das  Gleiche,    wie  die 
Novation,  insofern  sie  »das  Recht  gänzlich  vom  bisherigen  Gläubiger 
ablöst,  nnd   den  neuen  Gläubiger  zum  selbständig  Berechtigten,   mit 
andern  Worten  zum  Subjekt  einer  ganz  eigenen  Obligation  machte 
(S.  204),  d.  h.  ihn  von  den  Einreden  ans  der  Person  des  alten  Gläu- 
bigers befreit.     Die  Rümer  haben   ein   solches  Institut  nicht  gehabt, 
Novation  und  Cession  genügten  ihrem  Mobilisierungstriebe«  (S.  216) 
im  Obligationenrechte;   auch    würden   sie  gefürchtet  haben,  daß  fttr 
ihren  Verkehr   der  Gewinn   durch   solche  Singularsuceession  gegen- 
tlber  der  Einbuße  an  Sicherheit    und  Zuverlässigkeit   zu  gering   sei, 
da   die   hierbei   ansreichende  Sicherheit   gewährende  Urkundenform 
ihnen    in   der  geeigneten  Anwendung  fremd  blieb.     Vor  allem  aber 
habe  der  obligatorischen  Singularsuceession  die  römische  Anschauung 
von   der   Obligatio    und   dem    Obligierungsakte    entgegengestanden. 
Die  Frage,    wie   der   in   der  Willensspbäre   des  zu  Verpflichtenden 
belegene  Gegenstand  gewonnen  werde,  »so  daß  er  etwas  Abgegrenz- 
tes, Konkretes,  eine  individualisierte  Realität  und  damit  eben  fähig 
wird,  den  Stoff  abzugeben  fttr  eine  Macht,    wie   sie   dem   Gläubiger 
eingeräumt  und  zugestanden  werden  soll«  (S.  218),  haben  die  Römer 
erledigt   unter  dem  Gesichtspunkte   des  Vertrages:    der  künftige 
Gläubiger   habe   dabei   thätig  werden    nnd   mitwirken,  ja  sogar  im 
Vordergrunde  stehn,  als  wahrer  Schöpfer   seines  Rechtes   erscheinen 
müssen. 

Bevor  der  Verf.  dazu  übergeht,  die  moderne  Rechtsbildung  zu 
erörtern,  welche  er  als  obligatorische  Singularsuceession  ansieht,  be- 
rührt er  noch  die  Frage,  ob  dieselbe  geeignet  sei ,  wie  die  Cession, 
die  Accessionen  der  Forderung  auf  den  Erwerber  der  letztern  mit 
zu  übertragen.  Er  bejaht  diese  Frage,  falls  die  Accession  Aufnahme 
in  die  Skriptur  finde  und  nicht  etwa  mit  höchst  persönlicher  Wir- 
kung begründet  worden  sei.  Freilich  gehe  die  Obligatio  als  dieses 
bestimmte  Rechtsindividuum  insofern  unter,  als  der  neue  Gläubiger 
eine  neue,  d.  h.  eigne  Obligatio  erwerbe  ;  allein  die  Accession  brauche 
keineswegs  gedacht  zu  werden  als  gebunden  an  die  rechtliche  Indi- 
vidualität der  Obligatio;  es  sei  nicht  nur  zulässig,  sondern  genauer, 
sie  mit  dem  Rechtsobjekt  der  Obligatio,  d.  h.  dem  Willen  des 
Schuldners,  verknüpft  zu  denken.  »Der  Pfandschuldner,  wie  der 
Zinsen  Versprecher,  erweitert  das  Haftnngsobjekt  (?) ,  welches  dem 
Gläubiger  unterthan  sein  soll ;  die  Gebundenheit  des  Pfandes  dient 
der  Gebundenheit  der  Person  nnd  geht  ganz  in  diesem  Dienste  auf. 
Dasselbe  (?)  ist  von  der  Zinsverbindlichkeit  zu  sagen.  Und  nicht 
minder  gesellt  sich  die  Haftung  des  Bürgen  und  die  Haftung  de9 


Kuntze ,  Die  Obligationen  im  römischen  und  im  heutigen  Recht.        133 

Pfandobjekts  des  intcicedierenden  Pfandbesteliers  so  anmittelbar  zu 
dem  Schuldwiilen  des  (Haapt-)SehaldDerSy  daß  das  Objekt  des  aeees- 
gorischen  RechtsverhältDisses  sieb  wie  eine  Pertinenz  an  das  Objekt 
des  Principalverhältnisses  hängte  (S.  221),  —  d.  h.  an  den  Willen 
des  Schuldners !  Berichterstatter  maß  abermals  bekennen,  daß  hier 
sein  Verständnis  aufhört.  Er  besorgt,  daß  die  Grundauffassung  eines 
praktischen  Verhältnisses,  welche  derartiger  Spekulationen  bedarf, 
fär  nnser  reales  Leben  ganz  und  gar  verfehlt  sei. 

Verf.  wendet  sich  nunmehr  zu  der  Skriptarobligation.  Im  Ge- 
gensatze zu  den  Römern  brauchen  wir  die  obligatorische  Singular- 
succession  wegen  der  Ausdehnung  unseres  Verkehrs  um  so  mehr, 
als  uns  das  bequeme  Erwerbs-  und  Obligierungsinstrument  fehlt,  das 
die  Römer  in  den  Sklaven  hatten.  Hinter  der  Beweglichkeit  des 
Eanfmannsgutes  darf  die  Obligatio,  dieses  Hauptorgan  der  Vermö- 
gensbeweglicbkeit,  nicht  zurttckstebn;  »die  Abhängigkeit  des  ur- 
sprünglichen Gläubigers  von  der  Einwilligung  seines  Schuldners  (bei 
der  Novation)  und  die  Exponiertheit  des  succedierenden  Reehtssub- 
jekts  gegenüber  ursprünglich  dem  Schuldner  zur  Seite  stehenden 
Einreden  (bei  der  Cession)  mußten  fallen«  (S.  223) ;  die  Obligatio 
mußte  fungibel  werden.  Unser  Verkehr  hat  sodann  zur  Befrie- 
digung dieses  Bedürfnisses  das  geeignete  Hülfsmittel  in  der  Ur- 
kunde. Kraft  ihrer  Verbindung  mit  dieser  nimmt  die  Obligatio 
teil  an  deren  sinnlicher  Erkennbarkeit  und  Identifiderbarkeit,  Hand- 
greiflichkeit und  Beweglichkeit.  Freilich  ist  es  nicht  »die  Obli- 
gatio selbst,  die  Obligatio  nach  ihrer  Substanz  als  Reehtsindi- 
viduum,  in  ihrer  Ganzheit  als  das  bestimmte  einzelne  Reehtsverhält- 
nis,  welebe  in  der  Urkunde  verkörpert  wurdec  (S.  225);  auch  würde 
es  nicht  genügen,  den  Obligationsinhalt  im  Sinne  des  Verf.s 
»als  in  das  Papier  versenkt  zu  denken«,  denn  dabei  bliebe  es  un- 
entschieden, »ob  die  Begebung  eine  Novation  oder  Singularsucoes- 
sion  bedeute,  da  ja  auch  die  Novation  den  Obligationsinhalt  unan- 
getastet läßt  und  transferiert.  Es  handelt  sich  ja  gerade  darum, 
daß  der  Gläubiger  frei  über  die  Forderung  zu  Gunsten  eines  Nach- 
folgers verfügen  kann,  und  der  Nachfolger  die  Forderung  ganz  als 
eigenes  Recht  und  mithin  exceptionsfrei  erwirbt.  Dies  leistet  —  die 
Begebung  (mit  der  Wirkung  der  Singularsuccession),  welche  die 
Identität  nicht  bloß  des  Obligationsinhalts,  sondern  des  Obligations- 
objekts zur  begriffichen  Voraussetzung  hat«  (S.  226).  »Das  Obli- 
gationsobjekt, d.  h.  der  Wille  des  Schuldners,  ist  also  das- 
jenige obligatorische  Clement,  welches,  als  die  Verbindung  mit  der 
Urkunde  eingehend,  in  diese  versetzt  und  eingesenkt  zu  denken  ist«. 
Der  Schuldner    »objektiviert  seinen  Schuldwiilen   in   der   Urkunde, 


134  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  4. 

diese  ist  mithin  Trägerin  des  Schuldwillens,  d.  h.  des  Rechtsobjekts 
der  Obligatio«  (S.  227).  Hiernach  ist  es  nicht  »verwnnderlich,  daft 
der  Schaldner  allein  den  entscheidenden  Akt  vollzieht,  daB  er  dem 
Bechtsobjekt  Beharrangskraft  einflößen  kann,  und  daß  er  es  darch 
die  Girkalationsbestimmung  unabhängig  macht  von  der  Person  des 
Gläubigers«  (das.).  »So  lange  der  Accent  auf  dem  Gläubiger  ruht, 
oder  aach  nur  beide  Kontrahenten  paritätisch  zusammenwirkend  ge- 
dacht werden,  verschwindet  mit  dem  Wegfall  des  Gläubigers  das 
Rechtsobjekt«  (=  Wille  des  Schuldners!)  »unaufhaltsam,  rettungs- 
los in  Nichts,  und  kann  also  von  Singularsuccession  keine  Bede  sein; 
sobald  aber  der  Accent  auf  den  Schuldner  hinüber  rttckt,  und  dessen 
einseitiger  Thätigkeit  Überlassen  ist,  den  Schuldwillen  zu  fassen  und 
zu  objektivieren ,  kann  es  dem  Schuldner  zukommen,  auch  die  Trag- 
weite seiner  Haftung  zu  bestimmen:  entweder  sie  auf  einen  be- 
stimmten Gläubiger  zu  beschränken,  oder  aber  auf  eine  beliebige 
Succession  von  Gläubigern  auszudehnen«  (S.  229).  »Der  Creator 
setzt  seinen  Willen  (den  Schnldnerwillen)  in  Bewegung  zu  dem 
Ende,  die  Obligatio  zu  erzeugen.  —  Aber  es  ist  nur  eine  Bethäti- 
gung  des  Willens,  welche  sich  in  der  einen  Handlung  erfüllt  und 
erschöpft;  sobald  diese  vollzogen  ist,  tritt  die  wollende  Person  in 
ihre  bisherige  Ruhe  zurück«  (S.  231  f.).  Aber  aus  der  Bewegung 
sei  eine  Urkunde  hervorgegangen,  und  diese  zeige  einen  gebundenen 
Willen,  den  Schuldwillen,  der  als  Objekt  ein  beharrendes,  dauerndes 
Etwas  sei. 

Von  den  bei  Windscheid  Fand.  II  §  291  Anm.  2  aufgezähl- 
ten fünf  Auffassungen  der  Cirkulationserscheinung  weiset  u.  E.  mit 
Fug  Verf.  zwei  von  vornherein  zurück,  nämlich  die  Auffassung  des 
Hergangs  als  Cession  und  diejenige,  wonach  ein  Forderungsrecht 
erst  mit  der  Präsentation  erwächst.  Entschieden  bekämpft  er  so- 
dann die  Auffassung,  wonach  das  Forderungsrecht  durch  den  Besitz- 
erwerb originär  für  jeden  Erwerber  entsteht.  Die  genetische  Ein- 
heit und  Ungeteiltheit  des  grundlegenden  Versprechens  führe  auf  die 
Kontinuität;  die  neuen  Gläubiger  rücken  ein  kraft  der  ursprüngli- 
chen Schulderklärung,  welche,  durch  die  successiven  Inhaber  fort- 
wirkend, diese  unter  einander  nicht  löse,  sondern  verbinde.  Dies 
dürfte  nur  eine  Umschreibung  des  tfaema  probandum  sein,  sicher 
kein  Beweis;  und  noch  weniger  liegt  ein  solcher  in  dem  angehäng- 
ten Bilde  eines  elektrischen  Funkens,  welcher  als  ununterbrochene 
Strömung  eine  Kette  in  einander  gefügter  Hände  durchlaufe.  Fer- 
ner zeige  im  Ordrepapier  der  Leitungsapparat  »Indossament«  den 
Znsammenhang  der  Leitung ;  die  hier  erforderte  formelle  Kontinnität 
müsse  aber  auch   bei  Inhaberpapieren  angenommen  werden^  wenn 


Kuntze,  Die  Obligationen  im  romisclien  und  im  heatigen  Recht  etc.     135 

• 

nicht  die  theoretieelie  Einheitlichkeit  des  Systems  der  Cirkulatious- 
papiere  verloren  gehn  soll.  Darf  man  jedoch,  nm  den  Schein  einer 
nicht  sachlich,  sondern  rein  spekulativ  geforderten  Einheitlichkeit  zu 
gewinnen,  sachliche  Unterschiede  einfach  übersehen?  Kraft  des 
Versprechens  an  Ordre  verpflichtet  sich  Aossteller  nnd  Acceptant 
soccessiv  dem  ersten  Empfänger  und  jedem  Indossatar;  kraft  der 
Ansstellong  eines  Inhaberpapieres  verpflichtet  sich  der  Aassteller  je- 
dem Inhaber.  In  keinem  beider  Fälle  snccediert  der  spätere  Erwer- 
ber in  das  Recht  des  vorigen:  im  erstem  nicht,  weil  in  der  Begrün- 
dung der  Verpflichtang  aus  einem  Ordrepapiere  zwischen  Aussteller 
bezw.  Acceptanten  einerseits  nnd  Remittenten  anderseits  beiderseits 
die  Erklärung  liegt,  daß  kraft  eines  Indossaments  an  Stelle  der  al- 
ten Obligation  eine  neue  zwischen  Aussteller  bezw.  Acceptanten  und 
Indossatar  treten  solle;  —  im  andern  Falle  nicht,  weil  ganz  unab- 
hängig von  irgend  einem  frühem  Inhaber  jeder  zum  Gläubiger  wird, 
welcher  den  Besitz  des  Papieres  erwirbt.  Wenn  Verf.  endlich 
meint,  die  Auffassung,  wonach  jeder  Besitzer  eines  Inhaberpapieres 
originär  das  Fordernngsrecht  erwerbe,  entziehe  dem  spätem  Gläu- 
biger die  obligatorischen  Accessionen,  so  ist  dafür  schwerlich  ein 
Grund  zu  erkennen.  So  gut  die  Hauptobligation  mit  dem  Besitze 
des  Papieres  erworben  wird,  so  gut  muß  auch  die  in  diesem  Papiere 
verbriefte  Zinsforderung  Bürgschaftsforderung  und  Pfandsicherheit 
damit  erworben  werden.  Verf.  kämpft  hier  gegen  einen  imaginären 
Gegner,  indem  er  wider  Stobbes  Auffassung  des  Indossamentes  als 
einer  novatorischen  Delegation  einen  Einwand  erhebt,  welcher  nur 
dann  am  Platze  wäre,  wenn  Inhaberpapier  und  O^drepapier  not- 
wendig unter  der  gleichen  Auffassung  stehn  müßten.  Bei  Recht- 
fertigung seiner  eignen  Auffassung,  wonach  die  Forderung  aus  einem 
Cirknlationspapiere  durch  Singularsuccession  erworben  wird,  und 
zwar  durch  einseitige  Besitzergreifung  seitens  des  Nachmanns,  hat 
Verf.  übersehen,  daß  damit  für  das  Inhaberpapier  den  von  ihm 
selbst  (S.  213)  aufgestellten  begrifflichen  Erfordernissen  der  Singu- 
larsuccession nicht  genüge  geschiebt,  insofern  das  Recht  des  Vor- 
manns durch  Dereliction  oder  durch  Verlust  des  Papieres  bereits  in 
einem  frühem  Augenblicke  beendigt  sein  kann,  als  in  welchem  das 
Recht  des  Nachmanns  entsteht.  Für  des  Verfs  Successionsbegriff 
scheint  es  überhaupt  verhängnisvoll  gewesen  >u  sein,  daß  er  die 
Bedeutung  nicht  gewürdigt  hat,  welche  dem  die  Succession  begrün- 
denden Rechtsverhältnisse  zwischen  Auetor  und  Successor  zukommt: 
es  hat  etwas  Widerstrebendes,  den  Dieb  eines  Inhaberpapieres  als 
Rechtsnachfolger  des  Bestohlenen  gelten  zu  lassen.  Und  sofem  wir 
gegenüber   dem  Verf.  daran  festhalten  dürfen,  daß  Einreden  gegen 


136  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  4. 

ein  Forderangsrecht  dieses  Fordern u'gsrecht  selbst  in  seinem  objek- 
tiven Bestände  modificiereni  nicbt  bloß  seine  Geltendmachung  seitens 
eines  bestimmten  Subjekts,  müssen  wir  eben  den  NichtUbergang  der 
Einreden  aus  der  Person  des  Vormanns  als  zwingende  Instanz  ge- 
gen die  Annahme  einer  Singalarsuccession  sowohl  beim  Inhaber- 
papiere als  beim  Ordrepapiere  anerkennen. 

Die  zweite  Abhandlung  (S.  245-399  §§  51—70)  betrifft  »das 
ins  extraordinarium  der  römischen  Eaiserzeit«.  Sie  wendet  sich 
hauptsächlich  gegen  die  Angriffe,  welche  die  Darstellung  dieses  Ge- 
genstandes in  des  Verf.s  Exkursen  durch  Wlassak,  kritische  Sta- 
dien zur  Theorie  der  römischen  Rechtsquellen  im  Zeitalter  der  klas- 
sischen  Juristen,  erlitten  hat.  Vermutlich  ist  es  eine  Laune  des  Zu- 
falls im  Verkehr  mit  dem  Sortimentsbuchhändler  gewesen,  wie  sie 
danach  also  auch  in  Leipzig  nicht  ausgeschlossen  zu  sein  scheint, 
was  dem  Verf.  die  Bekanntschaft  mit  der  im  November  1885  er- 
schienenen vom  Berichterstatter  besorgten  Fortsetzung  von  0.  E.  Hart- 
manns Ordo  indiciorum  vorenthalten  hat.  Infolge  davon  ist  Bericht- 
erstatter zu  seinem  Bedauern  um  die  ohne  Zweifel  höchst  lehrreiche 
Aeußerung  des  Verf.s  betreffs  der  dort  §§  39  ff.  vertretenen  Ansicht 
Hartmanns  über  das  ius  extraordinarium  gekommen.  Während  einer- 
seits der  Verf.  das  römische  Recht  der  Eaiserzeit  in  die  drei  neben 
einander  stehenden  Massen  des  ius  civile,  des  ius  honorarium  und 
des  ius  extraordinarium  zerlegt,  andrerseits  Wlassak  nur  die  Zwei- 
teilung in  ius  civile  und  ius  honorarium  gelten  läfit,  dagegen  das 
ius  extraordinarium  rein  processualisch  erklärt,  nimmt  dort  Bericht- 
erstatter mit  0.  B.  Hartmann  an,  daß  das  ius  extraordinarium,  d.  h. 
das  auf  Kaiserkonstitutionen  und  Senatusconsulten  und  der  an  die- 
selben sich  anschließenden  Praxis  beruhende  Recht,  nicht  als  gleich- 
berechtigtes Glied  neben  ius  civile  und  ius  honorarium  stehe,  viel- 
mehr diesen  nur  einzelne,  teils  sie  ergänzende,  teils  sie  als  Aus- 
nahmen durchbrechende,  Rechtssätze  und  Rechtsinstitute  hinzugefügt 
habe,  von  welchen  letzteren  nur  einzelne  weder  ius  civile  noch  ius 
honorarium  enthalten.  Und  diese  Auffassung  scheint  ihm  auch  durch 
die  vorliegenden  Ausführungen  des  Verfs  nicht  widerlegt. 

Der  grundsätzliche  Gegensatz  dieser  Ansichten  liegt,  soviel  Be- 
richterstatter zu  sehen  vermag,  in  der  Bestimmung  desjenigen  Um- 
standes,  kraft  dessen  ein  Rechtssatz,  ein  Rechtsinstitut  zu  einem 
Stücke  des  ius  extraordinarium  gestempelt  wird.  Wlassak  findet 
diesen  Umstand  ausschließlich  in  der  Form  der  processualischen 
Behandlnng,  0.  E.  Hartmann  in  der  Art  der  Rechtsquelle,  beide  also 
in  einer  gegenüber  dem  Rechtsstoffe  äußerlichen  Thatsache;  der 
Verf.  erblickt  ihn,   obschon   auch   er  der  Form  des  processualischen 


Euotzc,  Die  Obligationen  im  römischen  und  im  heutigen  Recht  etc.      137 

Verfahrens   und  iDsbesondere   der   Art    der  Recbtsqnelle  Bttcksicht 
Bchenkt  (vgl.  S.  280  f.  and  namentlich  die  Begriffsbestimmang  S.  281 
N.  3)  wesentlich  in  der  Stylart,  also  in  einer  Eigenschaft  des  Stoffes 
gelbst.    Wäre   nan   der   Ausdruck    »ius    extraordinarinm«   nicht   ein 
Qnellenansdrack,   so   mtißte  jedem  Rechtshistoriker   die   gleiche  Be- 
fugnis zuerkannt  werden,    denselben    nach   seinem  Ermessen  zu  ge- 
brauchen; und   lediglich    die   größere  sachliche  Angemessenheit  des 
Namens  zu  dem  damit  bezeichneten  lohalte  durfte  irgend  einem  der 
verschiedenen  Vorschläge,  jenen  Ausdruck  anzuwenden,  den  Vorzug 
verschaffen.     In  der   That  jedoch    handelt   es   sich  darum,   festzu- 
stellen, was   die  Quellen   unter   ins  extraordinarinm    verstehn;    und 
demnach  können  wir  nur  diejenige  Auffassung   als   die  richtige  gel- 
ten lassen»  welche  eben  die  quellenmäßige  Bedeutung  des  Ausdrucks 
trifft.    Damit  ist  es  Übrigens  recht  wohl  vereinbar,  von  ihrer  Quellen- 
mäftigkeit  abgesehen,   einer   abweichenden  Auffassung    insofern  eine 
innere  Berechtigung  zuzuerkennen,  als  dieselbe  auf  einen  tiefgreifen- 
den Gegensatz   in    dem  Wesen   der  Rechtsinstitute   hinweisen  sollte, 
welcher  die  ihm  gebührende  Beachtung   bisher   nicht  gefunden  hat. 
Verf.   behandelt   seine   Aufgabe   in   zwei    Kapiteln.     Das  erste 
derselben    (S.   245—303)     »Das   Allgemeinec    bezeichnet    zunächst 
(§  51)    »das  Thema«   und   skizziert   sodann   (§  52)   »die   bisherige 
Lehre«.    §  53  >die  Vorstufen    des  neuen  Systems«  unterscheidet  als 
Etappen  zu    dem    ins  extraordinarinm    im  Sinne   des  Verf.s  eine  re- 
publikanische   Vorstufe,   welche   der  privatrechtlichen  Souveränetät« 
des  paterfamilias  mittels  der  lex  Falcidia^)    und  der  Aufstellung  der 
querela   inofficiosi    testamenti    zuerst   eine   Schranke  zog,   und  eine 
Vorstufe  der  augustisch-tiberischen  Zeit,  welche  einen  Bruch  mit  der 
bisherigen  Rechtsordnung   in   den  leges  Julia    de  maritandis  ordini- 
bus,   Aelia  Sentia,  Julia  vicesimaria,   Fufia  Caninia,  lunia  Norbana, 
Claudia   de   legitima   agnatorum    tutela   mnlieris  bezeichnet.    Wlas- 
saks  Ansichten  werden  als  »Phantasien«  in  §  54  abgewiesen. 

1)  Wenn  Verf.  S.  258  zu  N.  3  die  Vermutung  aufstellt,  die  lex  Gincia  habe 
nicht  dem  Eigentümer  verboten,  zu  schenken,  sondern  nur  dem  Andern,  Schen- 
kungen anzunehmen,  so  steht  das  im  Widerspruch  mit  der  ganz  unverdächtigen 
Ueberlieferung  der  Vat.  fragm.  §  298,  welche  donare  capere  liceto  liest,  sowie  nicht 
minder  mit  dem  trümmerhaften  Anfange  der  Fragmente  Ulpians,  dessen  Beziehung 
auf  eben  diese  lex  kaum  abzulehnen  ist ;  hier  heißt  es :  si  plus  donatum  sit,  non  re- 
scindit.  Verf.  hat  nicht  beachtet,  daS  das  Gesetz  als  lex  imperfecta  unbedenk- 
lich das  Schenken  selbst  Verbieten  konnte;  als  lex  minus  quam  perfecta  h&tte 
es  das  natürlich  nicht  gekonnt,  ohne  seinen  Zweck  geradezu  umzukehren.  Viel- 
leicht war  es  diese  Fassnng,  welche  den  Proculeianem  Anlaß  bot,  die  Erfüllung 
eines  contra  legem  Cinciam  gegebenen  Schenkungsversprechens  für  durch  quamvis 
anfechtbar  zu  erklären,  quasi  popularis  sit  haec  exceptio  [sc.  legis  Cinciaej. 
Tat.  fragm.  §  266. 


138  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  4. 

In  §  55  folgen  »die  AnsBprttche  der  römiscben  Juristen«.  Von 
den  vierandzwanzig  abgedruckten  Stellen,  die  übrigens  zum  Teil 
Nichtjuristen,  zum  Teil  Gesetzen  und  Konstitntionen  angeboren,  be- 
ziehen sich  drei  Viertel,  nämlich  achtzehn,  gar  nicht  auf  den  Gegen- 
satz des  ins  ordinarium  und  extraordinarinm  im  Sinne  des  Verf.8. 
In  der  lex  de  imp.  Vespas.  lin.  13  geht  das  extra  ordinem  auf  eine 
von  der  regelmäßigen  Berücksichtigung  der  Magistratskandidaten 
abweichende;  —  bei  Frontin.  p.  16,  24  und  36  steht  ins  ordinariam, 
wie  auch  Verf.  S.  271  N.  6  bemerkt,  im  Gegensatze  zum  Verfahren 
vor  Feldmessern;  daß  dasselbe  Givilrecht  und  Interdictrecht  um- 
faßt, bedingt  durchaus  keinen  Gegensatz  zu  dem  ins  [extraordina- 
rinm im  fraglichen  Sinne;  —  bei  Sueton.  Claud.  15  ist  der  Gegen- 
satz des  ordinari  iuris,  d.  h.  des  vor  Geschworenen  im  rerum  actus 
zur  Entscheidung  gelangenden  Rechtes,  die  cognitio;  —  ebenso  bat 
das  extra  ordinem  in  1.  2  D.  ex  quib.  c.  mai.  4,  6  seinen  Gegensatz 
in  dem  an  den  rerum  actus  gebundenen  ins  dicere;  —  bei  Paul. 
R.  S.  3;  5,  18  ist  der  Gegensatz  zu  iure  ordinario  mindestens  ebenso 
gut  als  in  der  Zugehörigkeit  zu  dem  ins  extraordinarinm  in  der  sum- 
marischen und  provisorischen  Entscheidung  aus  diesem  Recbtsbehelfe 
zu  suchen ;  desgleichen  in  I.  15  §  4  D.  de  re  iud.  42,  1 ;  —  in  I.  32 
§  9  D.  de  recept.  4,  8  ist  der  Gegensatz  der  actio  ordinaria  das 
Verfahren  vor  einem  arbiter  ex  compromisso  sumptus ;  —  in  1.  2  D. 
de  fur.  baln.  47,  17  wie  in  I.  3  D.  de  priv.  del.  47,  1  und  ähnlich 
in  1.  3  D.  expil.  her.  47,  19  muß  als  Gegensatz  zu  dem  ad  ins  or- 
dinarium remittere  (ursprünglich  wohl  ad  forum  remittere)  vorzugs- 
weise gewiß  die  vom  rerum  actus  unabhängige  Aburteilung  des 
crimen  extraordinarinm  gedacht  worden;  —  in  I.  1  pr.  D.  si  tab. 
test.  null.  38,  6  bezeichnet  ordinarium  die  angemessene  Reihenfolge ; 
genau  das  Gleiche  das  ex  ordine  in  1.  1  D.  de  fid.  her.  pet.  5, 6  (vgl. 
1.  1  D.  de  poss.  her.  pet.  5,  5),  wofür  Verf.  S.  273  N.  18  höchst 
gewaltsam  extra  ordinem  als  auf  der  Hand  liegende  Lesart  setzen 
will ;  —  in  1.  1  §  2  D.  si  ventr.  nom.  25,  5  steht  ins  ordinarium  im 
Gegensatze  zum  Verfahren  praetoria  potestate  (extra  ordinem  i.  d.  S.) 
cf.  1.  1  §  2  D.  de  migr.  43,  32.  I.  3  pr.  §  1  D.  ne  vis  fiat  ei  43,  4. 
1.  6  §  27  D.  ut  in  poss.  36,  4;  —  in  1.  1  Cod.  de  ord.  cogn.  7,  19, 
aus  welcher  Verf.  freilich  die  entscheidenden  Worte  wegläßt,  ist  ius 
ordinarium  die  richtige  Reihenfolge  der  Processe ;  —  in  1.  5  Cod.  de 
priv.  fisci  7,  73  heißt  >extraordinario  iure«  krafb  fiskalischen  Privi- 
legs, ähnlich  wie  in  der  vom  Berichterstatter  im  Ordo  S.  549  aus 
Versehen  ausgelassenen  1.  12  D.  ut  in  poss.  legat.  34,  4  (Wlassak 
S.  88)  das  extraordinarinm  remedium  auf  ein  prätorisches  Dekret 
geht,  welches  kraft  eines  ius  singulare  den  Municipien  erteilt  wird, 
nnd  in  1.    16   pr.  D.  de  min.  4,  4  die  restitutio  propter  minorem 


EuDtze,  Die  Obligationen  im  römischen  und  im  heutigen  Hecht  etc.      130 

aetatem  extraordiDariam  auxiliam  beißt  (s.  anch  1.  10  D.  de  Carb.  ed. 
37,  10,  wo  ins  ordioariain  das  gewöhnlicbe  Becbt  der  bonornm  pos* 
^sessio  gegenüber  der  Carboniana  bonornm  possessio  bedeutet),  was 
Verf.  S.  331  §  63  irrig  bestreitet;  —  in  der  0.  E.  Hartmann  und 
dem  Berichterstatter  entgangenen  1.  7  Cod.  de  H.  v.  A.  V.  4,  39, 
welche  übrigens  Verf.  in  einer  nicht  korrekten  Fassang  gibt,  be« 
deutet  ordinarium  das  der  fest  bestimmten  Regel  Entsprechende 
also  den  logischen  Gegensatz  dessen,  was  von  den  besonderen  Um- 
ständen abhängt,  entsprechend  der  ordinaria  actio  in  der  in  den 
Berichtigungen  und  Zusätzen  zu  dieser  Stelle  noch  nachgefttgten  1.  5, 
Cod.  si  aliena  res  8,  15  (16),  nicht  aber,  wie  Verf.  S.  274  N.  21  für 
möglich  hält,  den  Gegensatz  zu  kaiserlicher  Nachhülfe.  Dagegen 
hat  Verf.  nicht  benutzt  die  ftir  sein  Beweisthema  besonders  geeigne- 
ten 1.  7  §  2  D.  de  off.  proc.  1,  16.  1.  2  §§  19  und  33  D.  de  0.  J. 
1,  2.  1.  1  Cod.  ubi  de  crimin.  3,  15.  Sueton.  Claud.  23  cf.  §  3.  J. 
de  Atil.  tut.  1,  20.  1.  50  D.  de  evict.  21,  2.  1.  7  D.  ad  Sc.  Silan. 
29,  5.  1.  1  Cod.  de  libert.  et  eor.  lib.  6,  7.  Ruhr.  D.  43,  1:  de  in- 
terdictis  sive  extraordinariis  actionibus,  quae  pro  bis  competunt.  Weit 
erheblicher  erscheinen,  abgesehen  freilich  immer  von  der  streitigen 
Bedeutung  des  Ausdrucks  »ins  extraordinarium«,  für  den  sachlichen 
Zweck  des  Verfs  diejenigen  Aussprüche  der  Quellen,  welche  sich 
auf  den  Gegensatz  des  ins  vetus  oder  pristinum  oder  antiquum  einer- 
seits nnd  des  ins  novum  oder  constitutum  oder  concessum  anderseits 
beziehen  (S.  276  ff.  unter  III).  Denn  sie  meinen  diesen  Gegensatz 
nicht  bloß  als  einen  zeitlichen,  der  ja  etwas  nur  Relatives  sein 
würde,  sondern  sicherlich  zugleich  und  wesentlich  als  einen  gegen- 
ständlichen, welchen  sie  ganz  ausdrücklich  auf  die  Verschiedenheit 
der  Rechtsquellen  zurückführen.  Allein  handelt  es  sich  hier  wirk- 
lich um  einen  Gegensatz  gleichwertiger  Rechtsmassen?  oder  nicht 
vielmehr  um  bestimmte  E  i  n  z  e  1  Vorschriften,  mittels  deren  das  alte 
Recht  abgeändert  worden  ist? 

Eben  auf  »die  Quellen  des  ins  extraordinarium«  gehn  dann  die 
§§  56  und  57  ein.  Es  sind  im  Gegensatze  einerseits  zu  den  leges 
und  plebiscita,  der  interpretatio  und  der  consuetndo,  der  tacita  ci- 
vinm  conventio,  als  den  Quellen  des  ins  civile,  andrerseits  zu  den, 
hier  nicht  weiter  in  Betrachtung  gezogenen,  edicta  magistratuum  als 
den  Quellen  des  ins  honorarium,  die  Senatus  consnlta  und  die  Con- 
stitutiones  principales.  Es  ist  nicht  zu  verkennen,  daß  die  Senatus 
consulta  und  die  Constitutiones  principales  nicht  selten  dem  ins  ci- 
vile entgegengestellt  werden. 

§  58  bespricht  »die  Litteratur  des  ins  extraordinarium«  bei  den 
Römern.  Verf.  vermutet,  daß  Papinians  Hauptverdienst  in  der  wis- 
senscbaftlichen  Durchdringung    des  ius   extraordinarium   zu  suchen 


140  Gott.    gel.  Anj5.  1887.  Nr.  4. 

sei;  nur  anter  dieser  Voraassetzang  erkläre  sieb  eigentlich  das  her- 
Yorragende,  einzigartige  Ansehen  dieses  gepriesensten  aller  römi- 
schen Juristen.  »Für  die  feine  Geistigkeit  des  Schriftstellers  Papi- 
nian  hatte  die  spätere  Zeit,  die  einen  Gains  zu  den  Koryphäen  rech- 
nete, keinen  Sinn«.  »Aber  wohl  war  es  die  kosmopolitische,  die 
römischen  Nationalschranken  durchbrechende  Art  des  ins  extraord., 
welche  der  Richtung  der  späteren  Eaiserzeit  entsprach.  Das  ins 
extraordinarinm  ward  nun  gewissermaßen  zur  Regel,  wie  die  extra- 
ordinaria  cognitio  zum  Ordinarproceß ;  was  Wunder  also,  daß  unter 
den  Koryphäen  der  am  höchsten  gepriesen  wurde,  welcher  dem  ins 
extraordinarinm  den  wissenschaftlichen  Stempel  aufgedrtlckt  hatte« 
(S.  294).  Wenn  Verf.  unbefangen  genug  ist,  dies  vorläufig  als  Hy- 
pothese zu  bezeichnen,  so  darf  Berichterstatter  gewiß  dieselbe  ebenso 
künstlich,  als  überflüssig  nennen.  Papinians  hervorragende  wissen- 
schaftliche Gediegenheit,  bei  seinen  Lebzeiten  gehoben  durch  die 
einflußreiche  Stellung  des  praefectus  praetorio^  welche  er  vor  allen  Ju- 
risten zuerst  bekleidet  hat,  nach  seinem  Tode  verklärt  durch  den 
in  der  Christenheit  des  Reiches  besonders  wirksamen  Märtyrernim* 
bns,  dürfte  ausreichender  Grund  für  Papinians  Ansehen  sein.  Jener 
Hypothese  aber  fehlt  schon  die  äußere  Grundlage,  bevor  nicht  nach- 
gewiesen ist,  daß  die  Römer  selbst  das  ins  extraordinarinm  als  ein 
den  Gebieten  des  ins  civile  und  des  ins  honorarium  nur  annähernd 
gleichartiges  Rechtsgebiet  anerkannt  haben. 

Daß  jedoch  dieser  Nachweis  unerschwinglich  sein  dürfte,  ergibt 
sich  aus  den  eignen  Ausführungen  des  Verf.s  in  §  59  »das  sekan- 
däre  Civil-  und  Honorarrecht«.  Unmöglich  nämlich  ist  es,  zu  ver- 
kennen, >daß  teils  Sota,  teils  Principales  Constitutiones  sich  mit  Stof- 
fen des  ins  ordinarium  beschäftigten«  (S.  296).  Für  die  bereits  von 
Huschke  bemerkte  Erscheinung  einer  von  Senat  oder  Princeps  aus- 
gehenden Ergänzung  des  ins  honorarium  hat  Wlassak  sich  des  Aus- 
drucks »sekundär-prätorisches  Recht«  bedient,  welchen  Verf.  auf  die 
gleiche  Erscheinung  hinsichtlich  des  Civilrechts  in  der  Bezeichnung 
»sekundär-civiles«  Recht  überträgt  Indem  er  nun  den  Inhalt  der- 
jenigen Sota  und  Constitutiones,  welche  eine  solche  Ergänzung  des 
ins  civile  oder  honorarium  bilden,  von  seinem  Begriffe  des  ins  extra- 
ordinarinm ausschließt,  hat  er  damit  nicht  nur  die  Begrenzung  die- 
ses Begriffes  von  dem  unter  allen  Umständen  mehr  oder  minder 
snbjektiven  StylgefOhle  abhängig  gemacht  (vgl.  S.  247  f ) ,  sondern, 
falls  Berichterstatter  recht  sieht,  geradezu  der  Ansicht  Wlassaks  den 
Boden  bereitet,  wonach  als  ins  extraordinarinm  nur  diejenigen  Rechts- 
bildnngen  der  Kaiserzeit  gelten,  für  welche  das  gerichtliche  Verfah- 
ren von  jeher  mittels  ausschließlich  magistratischer  Kognition  er- 
folgte.   Denn  sobald  nicht  mehr  lediglich  die  Art  der  Eecbtsqaelle 


Kuntze,  Die  Obligationen  im  römischen  und  im  heutigen  Recht  etc.      141 

über  die  Zugehörigkeit  einer  RecbtsbilduDg  zam  ins  extraordinarium 
eDtscheiden  soll,  wird  sich  kaom  ein  anderes  sicheres  Unterschei- 
dongsmerkmal  hierfür  gewinnen  lassen,  als  die  Anwendbarkeit  oder 
Niebtanwendbarkeit  der  fOr  das  ins  civile  oder  das  ins  honorarium 
aofgestellten  Formen  des  Rechtsschutzes. 

Indem    Verf.   auch    die    Rechtsbildungen    der  Jurisprudenz    der 
Kaiserzeit  je  nach  ihrem  Inhalte  entweder  dem   ins  ordinarium  oder 
dem  ius   extraordinarium    beizählt,    scheint   er  hinsichtlich  der  Ein- 
reihung  der   Innominatkontrakte  nicht  ganz   vorurteilslos    geblieben 
zu  sein.    Uniäugbar  haben  manche  römische  Juristen  einzelne  Fälle, 
namentlich  das  Schema  »facio,  ut  des«  nicht  für  Kontrakte  gehalten 
und  deshalb  da,  wo  ihnen  gleichwohl  statt  der  in  concreto  uuanwend- 
baren  condictio   ob  causam  dati  eine  Schadensersatzklage  billig   er- 
schien, bei  Dolus  des  Gegners  die  actio  de  dolo,  sonst  eine  actio  in 
factum,  d.  h.  ohne  Zweifel  eine  prätorische  Klage  mit  einer  intentio 
in    factum ,   gegeben.      So    noch    Paulus    nach    Julians   Vorgange. 
1.  5  §§  2  ff.  D.    de   praescr.  verb.  19,  5.    1.  7  §  2  i.  f.  D.   de  pact. 
2j  14  (nach  welcher  letztern  Stelle,   wie   schon    von   Cujacius  u.  A. 
bemerkt  worden   ist,  in  I.  5  §  2  cit.   das  Schlußwort   »civilem«  ge- 
strichen werden  muß,  vgl.  1.  15  eod.  i.  f.).    Soweit  jedoch  ein  römi- 
scher Jurist   einen   zur    Erfüllung   verpflichtenden  Vertrag   annahm, 
konnte    er   nicht  füglich   darüber   im  Zweifel  sein,    daß  es  sich  um 
einen  civil en  Schuldvertrag  handele,   welcher  mit  dem  »Prätoren- 
recbtc  schlechterdings    nichts   gemein   hatte.     Seltsam  genug  beruft 
sieh  dagegen  Verf.  S.  3C1    für  die  zwischen  contractus   und  pactum 
geteilte   Zwitternatnr   der    Innominatkontrakte    auf  die  seiner  Mei- 
nung nach  von  Labeo  oder  vielleicht  erst  von  Ulpian  für  einen  der- 
artigen Vertrag   in   1.  19  pr.  D.  de  praescr.  verb.  19,  5   gebrauchte 
Bezeichnung:  quasi  negotium  quoddam  inter  nos  gestum  proprii  con- 
tractus, während  offensichtlich   das  >  quasi  c  jener  Steile  die  ablativi 
absolut]  »negotio  quodam  —  gesto«  als  einen  verkürzten  Kausalsatz 
bezeichnen  soll,  in  keiner  Weise  aber  das  negotium  zu  einem  quasi- 
negotinm  machen  will ,   wie  ja   auch   der  nämliche  Ulpian  in  I.  15 
eod.  von  einer  eonventio  der  fraglichen  Art  sagt:  habet  in  se  nego- 
tium aliquod.     Eine  Uebertreibnng   dürfte   es  ferner  sein,    daß  der 
Aosdruek  actio  in  factum  civilis  mit  dem  alten   Maß   gemessen  eine 
eontradictio  in  adiecto  sei  (S.  303).    Gehört  es  denn  zum  repnblika- 
Dischen  Kontraktsbegriffe,  daß  ein  Kontrakt  einen  civilrechtlich  an- 
erkannten technischen  Namen  haben  müsse,   mit  welchem  bei  einer 
intentio  incerta  aus  diesem  Kontrakte   die  demonstratio  rei,  de  qua 
agitnr,  gemacht  werden  könne?    Wenn  aber  nicht,  so  war  es  ja  ganz 
anvermeidlich,  daß  der  Inhalt  einer  intentio  incerta  aus  einem  tech- 
Biseh    nicht    benannten  Kontrakte    statt    mittels  der   unanwendba- 


U2  Gott.  gel.  Ans:.  1887.  Nr.  L 

ren  demoDStratio  mittels  einer  tbatsächlichen  Angabe  der  im  Ein- 
zelfalle getroffenen  Vereinbarang,  in  factam,  die  erforderliche  Be- 
stimmtheit erhielt.  Wer  jedoch  sähe  nicht^  daß  dies  eine  an  sich 
recht  anerhebliche  Aeußerlichkeit  ist?  Daß  die  Innominatkontrakte 
ihrer  Zeit  etwas  Neues  gewesen  sind,  versteht  sich  freilich  ?on  selbst ; 
immerhin  aber  könnte  es  fraglich  bleiben,  ob  es  diese,  für  seine  Un- 
tersuchung mindestens  gleichgültige,  Thatsache  sei,  was  Qaius  in 
1.  22  D.  de  praescr.  verb.  19,  5  mit  dem  »quasi  de  novo  negotio« 
bezeichnen  wollte,  oder  nicht  vielmehr  einfach  das  Dasein  eines 
neuen,  d.  h.  eines  unter  der  vorher  von  ihm  genannten,  gebräuch- 
lichen, locatio  conductio  nicht  begriffenen,  ungewöhnlichen,  Geschäf- 
tes, wie  bereits  Brissonius  de  S.  ad  v.  novum  §  3  ed.  Hein,  an- 
nimmt. Ist  hiernach  aber  der  Innominatkontrakt  kein  Gemisch 
der  alten  Systeme,  d.  h.  des  ius  civile  und  des  ins  honorarium,  so 
kann  auch  seine  Aufstellnog  keine  Vorbereitung  des  Bruchs  mit  dem 
alten  Systeme,  kein  Vorrücken  des  römischen  Rechtstriebs  bis  an 
die  Grenzscheide  zwischen  ius  ordinarium  und  ius  extraordinarium 
(S.  303)  sein. 

Kap.  n  (S.  304—399  §§  60—70)  endlich  stellt  »die  einzelnen 
Zweige  des  neuen  Systems c  dar,  und  zwar  unter  I  »das  ius  extra- 
ordinarium im  engeren  Sinne«  (§§  60—64). 

§  60  erörtert  »die  materiell  rechtliche  Natur  desselben«.  Wie 
Cäsar  das  Pomerium  durchbrochen,  so  habe  der,  an  die  Stelle  des 
Gemeinde  Staates  getretene,  Nationalstaat  sich  angeschickt,  ein 
Welt  Staat  zu  werden.  Auch  im  Privatrechte  habe  sich  die  Masse 
dessen,  was  des  alten  Maßstabes  spottete,  so  beträchtlich  gehäuft, 
daß  mit  dem  Gedanken  vereinzelter  Ausnahmen  nicht  aus- 
zukommen gewesen  sei.  Was  die  Zeit  von  Augustus  bis  Aurelian  in 
juristischer  Beziehung  recht  eigentlich  auszeichne^  sei  das  s.  g.  ins 
extraordinarium.  Mit  dem,  was  gewöhnlich  zuerst  unter  ins  extraordina- 
rium gedacht  werde,  stehe  das  ins  naturale  und  das  ins  militare  in 
nächster  Verbindung;  auch  das  ius  publicum  zeige  einen  in  ent- 
sprechender Weise  über  den  alten  Rahmen  hinausgehenden  Entwick- 
lungsgang. Freilich  lasse  sich  für  das  Dasein  des  ius  extraordina- 
rium in  dem  hier  fraglichen  Sinne  nur  ein  Indicienbeweis  fttbren; 
und  zu  dessen  Würdigung  müsse  verlangt  werden,  daß  der  Leser  ge- 
schichtlichen Sinn  mitbringe. 

Dem  ius  extraordinarium  sei  das  Glück  eines  wissenschaftlichen 
Abschlusses  nicht  zuteil  geworden.  So  habe  es  die  durchbrochene 
Eischale  der  processualen  Hülle,  nämlich  der  extraordinaria  cognitio, 
am  jugendlichen  Körper  behalten;  in  Wahrheit  aber  sei  hier  nicht 
bloß  ein  neues  Proceß system,  sondern  eine  neue  Welt  materiel- 
ler Rechtsgebilde   zur   Entstehung  gekommen.     Insofern  aber  habe 


Kuntze,  Die  Obligationen  im  römischen  und  im  heutigen  Becht  etc.     143 

die  extraordinaria  cognitio  für  uds  eine  prototypiscbe  Bedeutung,  als 
wir  au  ihrer  Art  recht  deutlich  den  Grad  der  Abweichnug  des  neuen 
Systems  vom  alten  zu  ermessen  vermögen.  Während  die  im  ins  ho* 
Dorarium  organisierte  Masse  völlig  vom  Römertum  naturalisiert  ge- 
wesen sei,  machen  die  Gestalten  des  ius  extraordinarium  Risse  io 
das  alte  Gewebe.  So  nehme  der  Proceß  der  Kaiserzeit  Elemente 
der  Heimlichkeit  und  Schriftlichkeit  in  sich  auf;  der  Kognitional- 
proceß  lasse  die  Proceßcäsur  der  Litiskontestation  fallen  und  mache 
sich  los  von  der  Mitwirkung  des  Bürgers  im  Geschwornenamt.  Wie 
nun  dies  nicht  ohne  Wandelung  der  rechtlichen  Anschauungen  habe 
vor  sieh  gehn  können,  so  erkläre  sich  auch  die  Geltendmachung  der 
Scta  Macedonianum,  Velleianum,  Trebellianum,  der  epistola  D.  Ha- 
driani  u.  s.  w.  in  der  Form  der  exceptio  gegenüber  dem  reprobier- 
ten Thatbestande,  statt  in  der  Form  der  ipso  iure  eintretenden  Nich- 
tigkeit desselben,  innerlich  nur  daraus,  daß  das  neue  Recht  als  eine 
besondere  Schicht  von  den  alten  Rechtssystemen  unterschieden  wor- 
den sei.  Allein,  wenn  wirklich  die  Herkunft  des  Verbotes  aus  dem 
ias  extraordinarium  dessen  Geltendmachung  ope  exceptionis  bedingt 
bätte^  wie  erklärt  alsdann  Verf.,  daß  nach  den  Scta  Hosidianum 
und  Volusianum  verbotswidrige  venditiones  irritae,  d.  h.  nichtig, 
waren,  ebenso  nach  dem  Sctnm  vom  J.  122  n.  Chr.  (1.  41  §§  1  sqq. 
D.  de  legat  1)  verbotswidrige  Legate?  S.  auch  1.  46  §  2  D.  de 
J.  F.  49,  14  (wo  das  infirmato  contractu  vindicatur  auf  die  wndt- 
dicatio  seitens  des  Veräußerers  geht).  Und  wenn  es  nicht  bestritten 
werden  kann,  daß  die  eigentümliche  Form  der  exceptio  erst  dem 
durch  den  Prätor  gehandhabten  agere  per  formulas  angehört,  so 
muß  doch  behauptet  werden,  daß  solche  exceptiones,  die,  wie  die 
exceptio  legis  Cinciae,  ex  legibus  substantiam  capinnt,  dies  nur 
darum  thun,  und  thun  können,  weil  die  betreffende  lex  eine  perfecta 
nicht  war,  d.  h.  weil  sie  das  von  ihr  verbotene  Rechtsgeschäft  eben 
nicht  völlig  entkräften  wollte,  wie  es  daher  sicherlich  schon  im  Le- 
gisaktionen- Verfahren  eine  besondere  Form  der  auf  derartige  leges 
gestützten  Anfechtung  gegeben  hat.  Sollte  nicht  entsprechend  die 
bloß  exceptivische  Wirkung  eines  durch  Sctum  ausgesprochenen 
Verbotes  darauf  beruhen,  daß  das  Sctum  selbst  absolute  Nichtigkeit 
des  Verbotenen  nicht  wollte,  während  umgekehrt  da,  wo  diese  ge- 
wollt war,  Nichtigkeit  ipso  iure  eintrat?  und  ist  nicht  die  bloß 
exceptivische  Befreiung  des  heres  fiduciarius  ex  Trebelliano  die  not- 
wendige Folge  des  character  indelebilis  des  heres,  den  auch  das 
Trebellianum  nicht  beseitigt  hat?  (S.  317  zu  N.  42).  Demnach 
dürfte  einstweilen  wohl  eine  starke  Vermutung  auch  dafttr  streiten^ 
daß  die  bloß  exceptivische  Wirkung  des  beneficium  divisionis  nicht 
auf  der  Eonstitutionennatur  der  epistola  D.  Hadriani  beruht,  sondern 


144  Gott.  gel.  Adz.  1887.  Nr.  4. 

auf  sachlichem  Grande ,  wie  es  entsprechend  6ai.  4,  22  gegenüber 
der  korrupten  Lesart  von  3,  121  unzweifelhaft  beweist,  daß  auch 
die  lex  Fnria  de  sponsa  kraft  der  von  ihr  vorgeschriebenen  Eopf- 
teilang  unter  die  im  Augenblicke  der  Fälligkeit  vorhandenen  spon- 
sores  keinesweges  die  Schuld  auf  das  plus  quam  virilem  partem  ipso 
iure  aufhob,  vielmehr  als  minus  quam  perfecta  das  exigere  jenes 
plus  formell  gestattete. 

§  61  stellt  in  hervorragenden  Beispielen    »das  Recht  aus  Sena- 
tusconsultenc  dar,   welches  nach  Ansicht   des  Verf»   einen  principiell 
neuen   Charakter   trägt.     Als   derartige  Beispiele  sind  hier  genannt 
die  Scta   über    den   s.  g.   quasi-ususfructus ,   Neronianum,    Velleia- 
num    über    die    intercessio    mnlierum,   Macedonianum ,   Velleiannm 
ttber  die  assignatio  liberti,  Rubrianum,  Glaudianum   über  das  Advo- 
katenbonorar,  Apronianum,  Trebellianum,   Pegasianum,  TertuUiannm 
und  Orfitianum.    Gewiß  ist  dem  Verf.  darin  zuzustimmen,  daß  diese 
Senatuskonsulte  die  alte  Bahn  des  römischen  Rechts  verlassen.   Gleich- 
wohl muß  nachdrücklich  betont  werden,   daß  diejenigen  dieser  Scta, 
welche  nicht  bloß  negativ  wirken,  wie  das  Velleiannm  ttber  Frauen- 
intercession  und  das  Macedonianum,  sofern  ihr  Inhalt  in  das  ins  ci- 
vile schlägt,  mit  der  gleichen  formellen  Kraft  Recht  schaffen,  wie  es 
die  Volksschlüsse  gethan  haben.    Wer  ein  iure  civili,  d.  h.  nach  al- 
tem Civilrecht,    nichtiges  Legat  ex  Neroniano    erhält,  ist  ipso  iure 
Legatar,  d.  h.  er   hat  die  Klage  aus  einem  Damnationslegat  mit  in- 
tentio  in  ins  concepta; —  das  Kind  des  Patrons,  welchem  der  letztere 
ex  Velleiano  den  Liberten  assigniert,  ist  gerade  so  gut  civiler  Patron 
desselben,    wie   er   es   ohne  Assignation  geworden  sein  wttrde;   der 
Unterschied  seines  Rechtes  in  beiden  Fällen  ist  nur  ein  quantitativer, 
kein  qualitativer;   —   die    ex   Aproniano   von   ihren   Freigelassenen 
rite  eingesetzten  Gemeinden    wurden   heredes;  —   das  TertuUiannm 
und  Orfitianum  gewährten  nicht  minder  in  dem  Sinne  die  hereditas 
legitima,  daß  durch  sie   die  berechtigte  Person  quiritarisches  Eigen- 
tum der  Nachlaßsachen  erwarb,  Erbschaftsklagen   aktiv   und  passiv 
direkt  auf  sie  ttbergiengen  u.  s.  w.     Es   ist  in  der  That  nicht  ver- 
ständlich, wie  Verf.  S.  318  f.  N.  45.  dies  Letzte  bestreiten  mag>   in- 
dem er  die  vielfach   dafür   gebrauchten  Ausdrücke   »hereditas    legi- 
timac  »heredes  legitimic   in  dem  Sinne  von  Intestaterbfolge  ver- 
stehn  will,   was   in    den    meisten   Stellen   ganz   bedeutungslos   sein 
würde  nnd  z.  B.  in  I.  6  §  2  D.  de  A.  et  0.  H.  29,  2  als  Gegensatz 
der  in  §  1  erörterten  bonorum  possessio    gar   nicht  paßt.    Daß  das 
Trebellianum  eine  hereditas  secunda  nicht  begründete,   beruht   ganz 
folgerecht   auf  dem   Charakter  indelebilis   des  heres;   und   aus  dem 
nämlichen'  Grunde  vermochte   auch   die  erzwungene  Antretung   und 


Kuntze,  Die  Obligationen  im  römischen  und  im  heutigen  Recht  etc.     146 

Bestitntion   der  Erbsobaft   ex   Pegasiano   den  Fideikommissar  zam 
heres  Dicht  za  machen. 

§  62  bringt   »das  Gonstitutionenrecht«.     An   die  Spitze  ist  das 
Fideikommiß  gestellt.    Verf.  verteidigt  hier  mit  großer  Entschieden- 
heit den   Satz,    »daß  das  Fideicommissrecht  nicht  Prätorenrecht  istc 
(S.  322),  während  o.  W.  niemand  das  Gegenteil  behauptet  hat,  anoh 
Dicht  fttr  das  Universalfideikommiss.   In  der  That  kann  es  ja  keinem 
Zweifel  unterliegen,   daß  die  Klage  des  Fideikommissars  gegen  den 
heres  fidnciarius  auf  Erfüllung  des  Fideikommisses  die  extraordinaria 
fideioommissi  persecatio  ist.     Es  handelt  sich  lediglich  um  die  Wir- 
kung der  Erfüllung.    Während  bei   einem  Singularfideikommiss  die 
Leistung  einer   Nachlaßsache  oder  einer  dem  Belasteten   selbst  ge- 
hörigen Sache  den  Fideikommissar  zum  vollen  quiritarischen  Eigen- 
tümer macht,  oder,  wenn  jene  Sache  eine  res  mancipi  ist,   kraft  der 
mancipatio   oder  in  iure  cessio  oder  kraft  nachträglicher  usncapio 
immerhin  machen  kann,   vermag  Erfüllung   eines  Universalfideikom- 
misses,   wie  schon  oben  erwähnt,    wegen  der   UnzerstOrlichkeit  der 
Eigenschaft  eines  heres,  den  Fideikommissar  niemals  zum  heres  zu 
machen.    Gäbe  es  nun  Dach  ins  extraordinarium  eigentttmliche,    den 
actiones  hereditariae  entsprechende  Rechtsmittel    fttr   die  Universal- 
soccession,  so  würden  diese  möglicherweise  gerade  auch  auf  den  Uui- 
versalsuccessor   ex  Trebelliano   angewandt   worden   sein.    Derartige 
Rechtsmittel  aber  gibt  es  bekanntlich  nicht.    Das  Trebellianum  über- 
ließ daher  die  Aufstellung  der  geeigneten  Klagen  dem  Prätor,   wel- 
cher dieselben  im   Edikte  als    utiles    actiones    quasi  heredi   et  iu 
heredem  proponierte,  wie  Gai.  2,  253,  eine  vom  Verf.  nicht  berück- 
siditigte  Stelle,  ausdrücklich  sagt.   Zum  Ueberflnß  ftigt  dann  Gai.  4, 111 
hinzu,  daß  der  Prätor  bisweilen  auch  solche  Klagen;  welche  unmit- 
telbar vorher  als  actiones,  quae  ex  ipsius  inrisdictione  pendent,  in 
QDZweideutigen  Gegensatz  gesetzt  sind  zu  denjenigen,   quae  ex  lege 
senatusve  consultis  proficiscuntnr ,  unverjährbar  gebe,  und  als  Bei- 
spiele dafür  werden  genannt  eae,  quas  bonorum  possessoribus  ceteris- 
que,  qui  heredis  loco  sunt,  accommodat.    Die  Behauptung  des  Verf.s 
(S.  322),  es  sei  nicht  wahr,  daß  Gaius  dort  die  Klagen  des  Univer- 
salfideikommissars  zu  den  prätorisehen,  d.  h.  vom  Prätor  eingeftlhr- 
teo,  zähle,  ist  gegenüber  dem  Zusammenhange  dieser,   von  Wlassak 
S.  101  N.  8  angeführten,  Stelle  nur  unter  der  Anoabme  zu  begreifen, 
daß  er  jeneo  Znaammenhang  gänzlich   übersehen   und   dafür  sein 
Augenmerk  auf  eine  bei  Wlassak  von  ihm  grundlos  vermutete,  irrige 
Auslegung  von  accomodare  beschränkt  hat.    Ebenso    wenig  scheint 
ea  bezweifalt  werden   zu  dürfen ,  daß  in  1.  20  D.  fam.  eroisc.  10,  2 
and  in  1.  2  §  19  D.  pro  empt  41,  4  der  Ausdruck  »ceteri  honorarü 
oder  praetorii  snccessores«  auch  auf  den  unmittelbar  vorhergenann- 

(Hlt.  g«i.  Au.  1887.  Mr.  4.  11 


146  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  4. 

ten  Fideikommissar  geht,  cai  restitnta  est  hereditas  ex  Trebelliano 
Scto;  weoD  dagegen  in  I.  20  §  13  D.  de  H.  P.  5,  3  diejenigen,  qoi 
existiment  sibi  restitatam  bereditatem,  erst  nach  denen,  qui  bonornm 
possessores  se  existiment  vel  alias  instos  saccessores,  aufgeführt  wer- 
den, so  dürfte  Ulpian  darunter  solche  Fideikommissare  gemeint  ha- 
ben, denen  ex  Pegasiano,  d.  h.  ohne  den  Erfolg  der  Universalsuc- 
cession,  restituiert  worden  war  (vgl.  Francke  Comment.  S.  146  und 
S.  158  f.). 

Dann  erwähnt  Verf.  einige  Eonstitntionen,  welche  sich  auf  das 
fideicommissum  libertatis  und  die  iura  ingennitatis  bezieben.  Dabei 
ist  der  Inhalt  des  rescriptum  D.  Marci  über  die  addictio  bonorum 
libertatum  conservandarum  causa  insofern  ungenau  mitgeteilt,  als 
der  Sklav,  welcher  dieselbe  nachsuchen  kann,  einer  der  letztwillig 
freigelassenen  Sklaven  des  Erblassers  selbst  sein  muß,  und  die  ad- 
dictio an  einen  Freien  erst  durch  Gordian  (1.  6  Cod.  de  testam.  ma- 
num.  7,  2)  erlaubt  worden  ist  Uebrigens  zeigt  auch  dieser  Fall, 
daß  Vorschriften  des  ius  extraordinarinm  durch  den  Prätor  kraft  der 
Mittel  des  ius  honorarium  vollzogen  wurden:  es  ist  für  denjenigen, 
cui  bona  addicta  sunt,  keinesweges  ein  eigentümlicher  Recbtsmittel- 
apparat  aufgestellt  worden;  ebenso  wenig  wurde  er  heres,  ohne 
Zweifel  deshalb  nicht,  weil  die  addictio,  worauf  seine  Stellung  be- 
ruhte, durch  den  zuständigen  Magistrat  kraft  des  imperium  erfolgte, 
dieser  aber  heredem  facere  non  potest;  —  dagegen  heißt  es  von 
ihm  in  1.  4  §  21  D.  de  fid.  lib.  40,5:  bonorum  possessori  assimilari 
debet,  was  doch  kaum  etwas  Anderes  bedeuten  kann,  als  daß  ihm 
nnd  gegen  ihn  nach  Analogie  des  bonorum  possessor  vom  Juris- 
diktionsmagistrate utiles  actiones  gegeben  werden  müssen.  Propo- 
niert  waren  diese  freilich  nicht;  es  genügte,  sie  im  Einzelfalle  zu 
erteilen.  Wie  so  aber  aus  jener  Aeußerung  deutlich  erhellen  soll, 
daß  man  sich  außerhalb  der  Sphäre  des  ins  ordinarinm  im  Sinne  des 
Verf.s  befindet  (S.  288),  ist  hiernach  schwer  zu  verstehn.  Und  nicht 
deutlicher  erhellt  dies,  wenn  Paulus  in  Beziehung  auf  das  Ungültig- 
werden des  durch  Privileg  gestatteten  Quasi-Pupillartestaments  für 
den  filins  pubes  mutus  in  1.  43  pr.  D.  de  vnlg.  subst.  28,  6  sagt: 
ut,  quemadmodum  iure  civili  pubertate  finitnr  pupillare  testamen- 
tum,  ita  princeps  imitatus  sit  ius  in  eo,  qui  propter  infirmitatem  non 
potest  testari.  Denn  sicherlich  kommen  diesem  Quasi-Pupillartesta- 
mente  alle  Wirkungen  eines  civilrechtlich  gültigen  Testamentes  zu; 
ius  civile  bedeutet  hier  soviel  wie  ius  commune  im  Gegensätze  zum 
Privileg. 

Weiter  folgt  die  Quarta  D.  Pii,  welcher  die  durch  die  Jurispru- 
denz eingeführte  praeceptio  dotis  ex  lege  verglichen  wird;  das  de- 
cretum  in  1.  93  (92)  de  H.  J.  28,  5;  die  kaiserlichen  Transmissions- 


Kuntze,  Die  Obligationen  im  römischen  und  im  heutigen  Recht  etc.      147 

fälle  (1.  86  pr.  D.  de  A.  v.  0.  H.  29,  2.  I.  6  §  1.  1.  42  §  3  D.  de 
B.  L.  38,  2.  I.  11  Cod.  de  bis,  qaae  at  indigo.  6,  35.  1.  4  D.  de 
Scto  Sil.  29,  5.  cf.  1.  3  §§  30-32  eod.  S.  ferner  1.  12  D.  de  Garb- 
ed. 37,  10.  1.  1  §  1  D.  ad  Sc.  Tertall.  38,  17).  Hinßichtlich  der 
letzten  nimmt  Verf.  selbst  an,  daß  sie  »formell  an  die  in  integrum 
restitutio  angeschlossene  worden  seien  (S.  330),  d.  h.  doch  wobt, 
daß  den  Erben  des  Delaten  causa  cognita  die  Erwerbung  sei  es  der 
hereditas,  sei  es  der  bonorum  possessio  gewährt  wurde.  Beim  Un- 
tergange der  Delation  infolge  des  Sc.  Silanianum  bedurfte  es  gemäß 
einer  Konstitution  (wahrscheinlich  von  M.  Aurelius  I.  11  Cod.  1.  4  D. 
citt.)  vielleicht  nicht  einmal  der  i.  i.  restitutio:  die  Erben  des  De- 
laten hatten  die  erbschaftlichen  Klagen  ohne  weiteres  als  utiles  (of. 
Fr.  Schröder  in  v.  Jherings  Jahrb.  15  S.  435  f.).  lieber  die  Rechts- 
behelfe, mittels  deren  die  übrigen  Vorschriften  verwirklicht  wurden, 
läßt  sich  Yerf  nicht  aus;  sonst  wUrde  er  einräumen  müssen,  daß 
dieselben  mindestens  in  den  beiden  ersten  Fällen  dem  ins  civile  oder 
dem  ins  honorarium  angehörten:  der  Quarta  D.  Pii  dient  eine  per- 
sonalis actio  (1.  1  §  21  D.  de  collat.  37,  6),  ohne  Zweifel  eine  con- 
dictio ex  lege  (1.  uu.  D.  de  cond.  ex  lege.  13,  3);  der  praeceptio 
dotis  falls  der  filius  maritus  Miterbe  des  Gewalthabers  ist,  das  arbi- 
trium  familiae  erciscundae ,  falls  er  exherediert  ist ,  dasselbe  als 
otile  (1.  1  §  9  D.  de  dote  prael.  33,  4).  Aber  auch  im  Falle  der 
1.  93  cit  mußte,  sofern  die  dort  mitgeteilte  kaiserliche  Entscheidung 
einen  allgemein  anwendbaren  Recbtssatz  ausspricht,  ein  der  herkömm- 
lichen Rechtsordnung  sich  einfügendes  Verfahren  stattfinden;  Be- 
richterstatter meint,  der  in  dem  ersten  Testamente  Eingesetzte,  dessen 
irrig  angenommener  Tod  den  Erblasser  zur  Errichtung  eines  neuen 
Testamentes  veranlaßt  hatte,  habe  eine  bonorum  possessio  decretalis 
cum  re  erhalten,  bei  welcher  die  Vermächtnisse  des  zweiten  Testa- 
mentes aufrecht  erhalten  blieben  arg.  Val.  Max.  7,  7,  5.  Plin.  H.  N. 
7,  5,  4.    (Vgl.  Schröder  a.  a.  0.  S.  437). 

Die  »Fortsetzung«  in  §  63  berührt  das  ins  singulare  des  Fiscus 
»neben  dem  Fideikommiss  eine  zweite  Grundwurzel  des  ius  extraor- 
dinarium<  (S.  331);  das  ius  offerendi  et  succedendi  des  nachste- 
henden Pfandgläubigers;  den  Satz  »ipso  iure  compensatur«  ;  die  Ali- 
mentations-, Dotations-  und  Funerationspflicht ,  von  welcher  letzten 
übrigens  bemerkt  wird,  daß  sie  zum  Teil  in  das  Prätorenedikt  zu- 
rückreiche; die  adoptio  per  mnlierem;  die  Specialexekution  durch 
pignoris  capio  und  die  Appellation.  Es  bedarf  keiner  Ausführung 
parüber,  daß  manche  der  hier  aufgezählten  Rechtsbildungen  in  den 
gewöhnlichen  Formen  des  ius  civile  oder  honorarium  verwirklicht 
wurden  oder,  wie  z.  B.  das  in  einzelnen  Fällen  dem  Fiscus  ipso 
iure  zufallende  Eigentum,  genau  den  nämlichen  Inhalt  haben,  wie 


148  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  4. 

die  entsprecbeDden  iure  ordinario  entstandenen  Verbältnisse;  über 
die  Zagehörigkeit  anderer  aber  zum  ins  extraordinarinm  sieb  strei- 
ten ließe. 

§  64  endlicb  betrifft  »das  Jaristenreebt« ,  soweit  dasselbe  anf 
Anregung  der  Jarispradenz  selbst,  d.  b.  ebne  nachweisbare  Grund- 
lage im  Rechte  der  Scta  oder  der  Konstitutionen  Schöpfungen  ge- 
zeitigt haben  soll,  welche  von  denjenigen  des  alten  Römerrechts 
specifisch  verschieden  sind.  Als  solche  nennt  Verf.  die  potestas  usu- 
fructuarii,  worunter  er  den  Erwerb  des  Usufruktuars  durch  Rechts- 
geschäfte der  seinem  Nießbrauche  unterworfenen  Sklaven  versteht;  — 
das  Pfandprivilegium  wegen  in  rem  versio ;  —  die  Emphyteuse  oder 
vielmehr  das  ius  in  agro  vectigali ;  —  die  epistola  oder  cautio  inter 
praesentes  als  Surrogat  der  Stipulation ;  —  die  Erweiterung  der  ob- 
ligatorischen Stellvertretung  in  der  actio  quasi  institoria  und  dem 
Klagrechte  des  Principals  ohne  Cession  für  einzelne  Fälle,  wobei 
1.  1  §  18  D.  de  exerc.  act.  14,  1  falschlich  herangezogen  wird,  um 
den  Zusammenhang  der  Jurisprudenz  mit  dem  von  den  kaiserlichen 
Behörden  verfolgten  Systeme  zu  belegen,  während  doch  extra  ordi- 
nem  hier  die  Bedeutung  »ansnahmsweis«  bat;  —  das  Klagrecht  des 
Hanssohns  oder,  wie  Verf.  sagt,  dessen  persona  standi  in  iudicio, 
nach  I.  18  §  1  D.  de  iud.  5,  1,  eine  >Neuerung;  welche  ohne  Prä- 
cedenz  im  ius  ordinarium  war«,  wie  Verf.  S.  339  wohl  im  Hinblick 
auf  das  »extraordinario  iudicio«  der  Parallelstelle  1.  17  D.  de  R.  Cr. 
12,  1  meint,  welche  jedoch  nur  sagt,  daß  die  fragliche  Klage  unab- 
hängig vom  rerum  actus  stattfinde ;  —  endlich  die  divisio  patrimonii 
inter  liberos  nach  1.  20  §§  3.  5.  8.  I.  32.  1.  39  D.  fam.  ereisc.  10, 2. 
I.  30  §  3  D.  de  adim.  leg.  34,  1.  Selbst  wenn  einzuräumen  wäre, 
daß  alle  diese  Bildungen  dem  Juristenrechte  angehören,  was  u.  E. 
für  die  in  rem  actio  de  fnndo  vectigali  zu  bereiten  bleibt,  und  daß 
sie  aus  dem  Rahmen  des  ius  ordinarium  herausfielen ,  was  u.  E.  für 
keine  einzige  zugestanden  werden  kann,  so  läßt  sich  anderseits  gar 
nicht  leugnen,  daß  sie  samt  und  sonders  in  den  gewohnten  Formen 
des  ius  civile  oder  des  ius  honorarium  verwirklicht  werden. 

Dem  ius  extraordinarinm  i.  e.  S.  sind  in  §  65  unter  II  »das  ius 
naturale«  und  in  §  66  unter  III  »das  ius  militare«  angereiht.  Beide 
»haben  einen  gemeinsamen  Grundzug:  sie  tragen  dem  kosmopoliti- 
schen Bedürfniß  der  neuen  Zeit  Rechnung  und  thun  das  gewisser- 
maßen mit  Bewußtsein  und  systematisch«  (S.  341). 

Auf  das  über  das  ius  naturale  hier  Vorgetragene  brauchen  wir 
nach  dem  bereits  oben  Bemerkten  nicht  weiter  einzugehen.  Doch 
sei  hervorgehoben,  daß  wohl  nur  von  einer  vorgefaßten  Meinung  aus 
in  Redewendungen  wie :  inter  nos  cognationem  quandam  natura  con- 
stitnit,  libertas  est  naturalis  facultas  eins,  quod  cuique  facere  libet^ 


Eantze,  Die  Obligationen  im  römischen  nnd  im  heutigen  Recht  etc.     149 

qiias  (res)  —  mUura  vel  gentiam  ins  vel  mores  civitatis  commercio 
exnemnty  earnm  nulla  venditio  est  —  der  Hinweis  auf  ein  ins  naturale, 
nnd  vollends  im  Sinne  einer  Rechtsordnung,  zu  erblicken  ist. 

Hinsichtlich  des  ins  militare  bekämpft  Verf.  die  Ansicht,  das- 
selbe sei  »ein  Mosaik  von  Privilegien«,  auch  dttrfe  man  nicht  znei*st 
an  den  ßiusfamüias  miles  denken  (S.  349).  Vielmehr  handele  es 
sich  um  die  Persönlichkeit  des  miles  Romanus  überhaupt:  diese  sei 
duplex,  die  civile  und  die  militärische.  »Zwar  ist  es  schwer,  daß 
ein  Mensch  doppelt  sei;  aber  der  Imperator  hat  das  mit  seinem 
Machtwort  fertig  gebracht«  (S.  350).  In  der  libera  testamenti  factio 
des  miles  sind  zwei  Hauptgruppen  von  Rechtssätzen  zu  anterscheiden, 
die  eine  bezüglich  der  Form  der  Testamente,  die  andre  bezüglich 
des  Inhalts  derselben.  »Neben  der  neuen  Gestalt  des  paterfami- 
lias miles  erhebt  sich  die  ebenso  neue  Gestalt  des  ßiusfamüias 
müe8€  (S.  351).  Auffallend  ist  es  übrigens,  daß  Verf.  die  Verftt- 
gangsbefngnis  des  filiusfamilias  über  die  bona  castrensia  inter  vivos 
anf  Hadrian  zurückführt,  dagegen  der  einflaßreichen ,  die  wissen- 
schaftliche Auffassung  der  bona  castrensia  bedingenden,  Vorschrift 
dieses  Kaisers  nicht  erwähnt,  wonach  auch  der  filius  veteranus  über 
jene  bona  noch  testiren  kann. 

So  tief  aber  das  ins  militare  in  das  alte  Recht  einschneidet,  so 
wenig  darf  verkannt  werden,  daß  seine  privatrechtlichen  Vorschriften 
durchaus  in  den  alten  Formen  sich  vollziehen:  wer  aus  einem  Sol- 
datentestamente, selbst  aus  demjenigen  eines  filiusfamilias  über 
dessen  peculium  castrense,  erbt,  ist  gerade  so  gut  heres,  d.  h.  Erbe 
nach  ins  civile,  als  der  heres  aas  einem  Paganentestamente.  So 
sind  jene  Vorschriften  in  der  That  nur  eigenartige  Ausnahmsgestal- 
tnngen  zu  dem  hergebrachten  Systeme,  keinesweges  ein  selbständiges 
neues  neben  demselben,  wie  es  die  bonorum  possessio  neben  der 
bereditas  ist. 

Und  eben  diese  Unselbständigkeit  des  ins  extraordinarinm  be- 
stätigt der  von  einem  ius  tripertitum,  nämlich  civile,  praetorium,  ex 
constitutionibus,  redende  §  3  J.  de  test.  ord.  2,  10,  welchen  Verf. 
S.  274  als  eine,  allerdings  nicht  besonders  wertgeachtete,  Belegstelle 
seiner  Lehre  beibringt.  Ein  ordentliches  Privattestament  hat  es  ge- 
geben sowohl  nach  ius  civile  als  nach  ius  praetorium,  niemals  aber 
ein  solches  nach  ius  extraordinarinm:  die  dasselbe  betreffenden  Vor- 
Bchriften  dieses  letzten  Rechtes  haben  sich  gleichmäßig  auf  dvile 
wie  auf  prätorische  schriftliche  Testamente  bezogen;  und  so  ergab 
es  sich  mit  der  Verschmelzung  der  civilen  nnd  der  prätorischen 
Voraussetzungen  für  das  schriftliche  Testament  ganz  von  selbst,  daß 
neben  ihnen  auch  die  beide  ergänzenden  Vorschriften  des  Eon- 
stituiionenreebtes  in  Kraft  blieben. 


150  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  4. 

Unter  IV  folgt  »das  ius  publicum  des  Angnstnsc  (S.  353—387. 
§§  67 — 69),  auf  welches  der  Berichterstatter  nicht  eingeht ,  weil 
es  außerhalb  seines  Arbeitsfeldes  liegt. 

V.  »Schlußbetrachtung«  (S.  388-399.  §  70)  bringt  eine  Reihe 
inhaltsschwerer  Aussprüche  über  die  moderne  Rechtswissenschaft, 
welche  auch  nur  berichtend  zu  erwähnen,  der  ohnehin  außergewöhn* 
lieh  von  uns  beanspruchte  Raum  gebricht. 

Wir  haben  zu  den  dogmatischen  Ausführungen  der  ersten  Ab- 
handlung uns  fast  durchweg  ablehnend  verhalten  müssen,  und  ebenso 
zu  demjenigen,  was  Verf.  als  den  Schwerpunkt  der  zweiten  ansieht. 
Gleichwohl  verkennen  wir  weder  das  Anregende  seiner  Eonstruk- 
tionsversuche  auf  dem  Gebiete  des  Obligationenrechts,  noch  das  Ver- 
dienstliche seines  Bemühens,  die  Rechtsbildungen  der  Eaiserzeit  plan- 
mäßig auf  ihr  inneres  Verhältnis  zu  dem  der  Republik  entstammen- 
den Rechte  zu  prüfen.  Freilich  gelangen  wir  nach  den  Zusammen- 
stellungen des  Verf.s  in  Beziehung  auf  die  Gesamtschätzung  des  in  jenen 
Bildungen  enthaltenen  ius  novum  zu  einem  wesentlich  verschiedenen 
Ergebnisse,  als  er:  uns  wollen  nämlich  die  Neubildungen  andern  Styls 
quantitativ  wie  qualitativ  gegenüber  dem  Grundstyle  des  römischen 
Rechtes  immerhin  verhältnismäßig  unerheblich  erscheinen.  Selbst- 
verständlich waren  wir  es  einem  Gelehrten  von  des  Verf.s  Bedeutung 
schuldig,  sowohl  seine  eigne  Darstellung  im  Zusammenhange  zu  schil- 
dern ,  als  auch  unsre  abweichenden  Ansichten  ausreichend  zu  be- 
gründen. Was  wir  hier  gern  noch  betonen ,  daß  ist  die  jugendliche 
Wärme,  mit  welcher  Verf.  für  seinen  Gegenstand  erfüllt  ist.  Ihret- 
wegen mag  auch  die  mitunter  etwas  zu  persönliche  Polemik  gegen 
Wlassak  entschuldigt  sein ,  wie  sie  z.  B.  S.  257  N.  2  a.  E.,  S.  278, 
280,  303,  322  N.  8  und  S.  331  wohl  kaum  zum  Vorteile  der  Sache 
heraustritt. 

Schließlich  verzeichnen  wir  an  störenden  Druckfehlern  S.  80 
Z.  1  V.  n. :  ein  Komma  hinter  »ohne  Weiteres c ;  S.  253  Z.  11  v.  u.: 
»cognttio  naturalis«  statt  »cognatio  naturalise;  S.  318  N.  45:  Paul. 
4,  9,  1—3  statt  4,  10,  1—3;  S.  325  N.  16:  fr.  1  statt  fr.  4  §  2  de 
fideic.  lib.  40,  5;  S.  330  N.  34:  fr.  1  §  30.  32  statt  fr.  3  §  30.  32 
de  Scto  Sil.  29,  5;  das.  zu  N.  35  Z.  4  v.  o.  wo  es  statt  der  »Erstere 
(nämlich  Papinian)  fügt  einen  dritten  und  einen  vierten  Fall  hinzuc 
wohl  heißen  müßte:  »der  Erstere  fügt  einen  dritten,  der  Andere 
(nämlich  Ulpian)  einen  vierten  Fall  hinzu«,  und  das.  N.  35,  wo  die 
unter  allen  Umständen  falschen  Gitate  wohl  zu  ersetzen  sind  durch 
das  Citat:  1.  12  D.  de  Carb.  ed.  37,  10;  S.  340  N.  24:  fr.  39  eod. 
statt  fr.  39  §  1  eod. ;  das.  N.  25 :  fr.  20  §  2  statt  fr.  20  §  3  fam. 
ercisc.  10,  2. 

Marburg.  August  Ubbelohde. 


Haber,  System  und  Geschiebte  des  schweizerischen  Privatrechts.    I.  Bd.    151 

Haber,  Engen,   System  und   Geschichte   des  schweizerischen  Pri- 
vatrechts.   Erster  Band.    Basel.  Detloffs  Buchhandlung  1886.    767  S.   8^ 

Der  Verfasser  beabsichtigt  auf  Veranlassung  des  Schweizer  Ju- 
ristenvereins eine  vergleichende  Darstellung  der  kantonalen  Privat- 
rechte erscheinen  zu  lassen.  Dabei  gliedert  er  seinen  Stoff  in  ein 
System  des  geltenden  Rechtes  und  einen  Abriß  der  Kechtsgeschichte. 
Während  nun  aber  der  letztere  nicht  bloß  die  £ntwickelung  derjeni- 
gen Institute  besprechen  soll,  die  dem  heutigen  kantonalen  Privat- 
recht verblieben  sind,  sondern  auchjene  Einrichtungen  umfassen  wird, 
f&r  die  jetzt  das  Bundesprivatrecht  maßgebend  geworden  ist,  beschränkt 
sich  der  systematische  Teil  auf  dasjenige  in  den  Kantonen  geltende 
Privatrecht,  welches  nicht  der  Bundesgesetzgebung  entstammt.  Vom 
systematischen  Teil  liegt  nunmehr  der  erste  Band  vor,  der  Personen- 
und  Familienrecht  befaßt,  letzteres  abzüglich  des  Erbrechts.  —  Die 
Arbeit  ist  auch  für  den  deutschen  Juristen  von  großem  Interesse, 
wenn  man  schon  bei  uns  dem  recbtsgeschichtlichen  Teil  mit  noch 
größerer  Spannung  entgegensehen  wird:  haben  doch  bereits  Heuslers 
Institutionen  gezeigt,  daß  die  schweizerischen  Rechte  die  ungebro- 
chenste Entwickelung  des  alamanniscben  Rechts  aufweisen  und  ist 
hinwieder  dem  Bedürfnis  einer  gründlichen  Darstellung  derselben 
dnrch  die  zum  großen  Teil  veralteten  kantonalen  Rechtsgeschichten 
noch  nicht  genügt.  —  Für  die  vorliegende  dogmatische  Darstellung 
war  dem  Verfasser  offenbar  das  Verfahren  Roths  maßgebend.  Doch 
gilt  dies  nur  von  der  Einteilung  des  Stoffes  im  allgemeinen  und  von 
der  Genauigkeit,  mit  der  das  Detail  wiedergegeben  ist:  zuerst  sind 
in  knappen  Zügen  die  hauptsächlichsten  Aebnlichkeiten  und  Abwei- 
chungen mitgeteilt,  in  denen  sich  ein  Institut  für  die  vier  großen 
Schweizer  Rechtsgebiete:  das  Gebiet  des  österreichischen  Gesetzbuchs, 
des  französischen  Gesetzbuchs,  des  Zürcher  Gesetzbuchs  und  des  nicht 
kodificierten  Rechtes  darstellt.  Dann  werden  die  gewonnenen  Grund- 
sätze für  jeden  einzelnen  Kanton  genau  ausgeführt,  ohne  daß  sich 
der  Verfasser  mit  einer  Exemplifikation  auf  das  eine  oder  das  andere 
Recht  begnügte.  Allein  in  der  Detailausftthrung  spricht  Verf.  nicht 
selbst,  sondern  läßt  nahezu  immer  die  Quellen  reden.  Eine  selbst- 
ständige  Durcharbeitung  des  Detail  wird  fast  nirgends  geboten.  Da 
nun  aber  das  Detail  die  selbständigen  grundsätzlichen  Ausführungen 
des  Verfassers  weit  überwiegt,  so  kann  man  das  Werk  zunächst  nur 
bezeichnen  als  eine  Zusammenstellung  unverkürzt  oder  verkürzt  wie- 
dergegebener Artikel  der  schweizer  Gesetzbücher  unter  allerdings 
sehr  geschickt  gewählten  Rubriken.  Ein  Tadel  soll  darin  nicht  lie- 
gen. Jedenfalls  wird  das  Buch  sich  für  den  schweizer  Juristen  sehr 
brauchbar  erweisen,  wenn  es  in  der  That  so  vollständig  gearbeitet 
ist,  als  es  den  Anschein  hat.  Zu  einem  sichern  Urteil  über  diesen 
Punkt  ist  nur  ein  schweizer  Praktiker  berufen.  Auch  der  deutsche 
Jurist  wird  die  Arbeit  als  eine  sehr  erwünschte  systematische  Samm- 
lang der  schwer  zugänglichen  schweizer  Rechtsquellen  ansehen.  Was 
ihm  manchmal  —  mehr  als  dem  Schweizer  vielleicht  —  als  ein  Mangel 
erscheinen  mag,  daß  der  Verfasser  nicht  auch  die  einschlägigen  Bun- 
deagesetze  mitteilt,  das  erklärt  sich  aus  der  Tendenz  und  wohl  auch 
der  Entstehungsgeschichte  des  Buches.  —  Nur  der  Kritiker,  der  an^ 


152  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  4. 

zugeben  bat^  welebe  neuen  fertigen  Regaltate  sieb  fttr  die  Wissen- 
schaft des  deutschen  Rechts  aus  Buch  entnehmen  lassen,  ist  in 
einer  schlimmen  Lage,  denn  neue  konstruktive  Gedanken  sind  in  der 
Arbeit  fast  nicht  enthalten  und  können  nach  Absicht  des  Verfassers 
auch  nicht  enthalten  sein:  man  wird  dieselben  im  historischen  Teil 
suchen  müssen.  Eigentlich  bleibt  also  dem  Referenten  nur  die  An- 
zeige übrig,  daß  ein  ungemein  praktisches  Repertorium  des  kanto- 
nalen Privatrechts  erschienen  ist,  dann  ein  Hinweis  auf  die  beab- 
sichtigte Rechtsgeschichte.  Ein  einigermaßen  eingehender  Bericht 
wird  erst  nach  dem  Erscheinen  dieses  zweiten  Teiles  möglich  sein. 
Nur  auf  einen  Punkt  sei  gleich  heute  hingewiesen,  auf  das  eigen- 
tümliche Güterrecht,  wie  es  sich  in  Bern  und  ähnlich  in  Aargau,  Frei- 
burg und  Waadt  ausgebildet  bat.  Durch  die  Eheschließung  wird  hier 
der  Mann  Eigentümer  des  gesamten  ehelichen  Vermögens ;  im  Verhältnis 
zur  Frau  findet  eine  echte  Universalsuccession  unter  Lebenden  statt: 
die  Schulden  der  Frau  gehn  auf  den  Mann  über,  ohne  daß  die  Frau 
noch  persönlich  verhaftet  ist.  Die  Frau  ihrerseits  bat  nur  noch  ein 
persönliches  Forderungsrecht  auf  ihr  eingebrachtes  im  Fall  der  Auf- 
lösung der  Ehe,  oder  im  Fall  daß  der  Ehemann  in  Konkurs  gerät 
Wird  die  Ehe  durch  den  Tod  der  Frau  aufgelöst,  und  sind  keine 
Kinder  vorhanden,  so  fällt  die  Forderung  auf  Rückgabe  des  Frauen- 
guts weg.  Sind  Kinder  vorhanden,  so  fällt  die  Forderung  an  diese, 
die  Proprietät  bleibt  bei  dem  Manne.  Stirbt  der  Mann,  so  tritt  die 
überlebende  Frau,  wenn  sie  will,  in  die  Stellung  des  Mannes  ein. 
Huber  selbst  weist  darauf  bin,  daß  dieser  Güterstand,  der  sich  be- 
kanntlich im  österreichischen  bürgerlichen  Gesetzbuch  nicht  findet, 
die  konsequente  Fortentwicklung  altern  bernischen  Rechts  ist;  es  ist 
dabei  zunächst  an  §  43  der  Berner  Handveste  und  dann  an  die  ver- 
wandten elsässischen,  breisgauischen  und  schweizerischen  Rechte  zu 
denken  (Schröder  Gesch.  d.  eh.  Güterrechts  II,  2  S.  14  fi".).  Man  sieht : 
hier  wo  der  Mann  vollkommen  einseitig  auch  über  das  Immobiliar- 
vermögen der  Frau  disponiert,  bildet  sich  Alleineigentum  des  Ehe- 
manns aus.  Bekanntlich  hat  Dunker  (das  Gesamteigentum  S.  218 — 
231)  die  juristische  Natur  der  allgemeinen  Gütergemeinschaft  in  dem 
Alleineigentum  des  Ehemanns  gesucht.  Seine  Ansicht  ist  in  dieser 
Fassung  mit  Recht  verworfen  worden.  Allein  fraglich  ist  doch,  ob 
es  sich  nicht  empfiehlt  nach  dem  Vorgang  von  Huber  für  das 
deutsche  Recht  überhaupt  einen  Güterstand  des  Alleineigentums  des 
Mannes  auszuscheiden  und  diesem  eine  Anzahl  von  Rechten  zu  über- 
weisen, die  man  jetzt  gemeiniglich  zur  allgemeinen  Gütergemein- 
schaft rechnet:  nämlich  alle  Rechte,  nach  denen  der  Mann  freie  Ver- 
fügung über  die  von  seiner  Frau  eingebrachten  Grundstücke  hat 
(Schröder  II,  3  S.  234  ff.). 

Wttr^bnrg.  Dr.  Ernst  Mayer. 


9fa  dl«  S«daktioB  Termalirortlidi :  Prof.  Dr.  BtekUl,  Dimktor  dar  0«tl.  fei.  Ans.. 
▲flMtsor  der  KönigUebm  OeaellMliAlt  der  Wieeeinnhifteii. 

y$rltv  d0r  DifitrielCtekm  T§rkiif9'Bmekkamdtmv. 

i>i^MCI  d«r  DitUncVmAm  Uni9,'BwMnieUr§t  (Fr.  W.  Eemtiikm). 


16S 


Göttlngische 


gelehrte  Anzeigen 


unter  der  Aufsicht 


der  Königl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Nr.  5.  ß  1.  März  1887, 


Preis  des  Jahrganges :  JL  24  (mit  den  »Nachrichten  d.  k.  G.  d.  Wiss.« :  JL  27). 
Preis  der  einzelnen  Nummer  nach  Anzahl  der  Bogen:  der  Bogen  50  ^ 

Inhalt :  D'Arbois  de  JnbainTille,  Bswi  d'nii  catalogoe  de  la  litMratare  tfpiqne  de 
rirlaiide.  Tob  Zimmgr,  —  ü s t e r i ,  Die  Selbatbeseichniing  Jesu  ala  des  Heiuchen  Sohn ;  —  Der- 
selbe, Hiaab^efkhren  rar  H611e.    Ton  JüUelur. 

=  Eigomiohtiger  Abdruck  von  Artikeln  der  Gott.  gel.  Anzeigen  verboten.  = 


H.  D'Arhois  de  Juhainville,  Essai  d'un  catalogue  de  la  litto- 
ral nre  Opique  de  l'Iriande.  Präc^O  d'une  Otnde  sur  les  manoscrits 
en  langue  Irlandaise  conserves  dans  les  Des  Britanniqnes  et  sur  le  Conti- 
nent.   Paris,  E.  Thorin  1883.    GLY  und  282  S.    8^ 

In  dem  ersteo  Teil  seines  Werkes,  der  Introdaktion ,  handelt 
Herr  D'Arbois  (auf  Seite  XI— CLV)  in  zwölf  Kapiteln:  über  seine 
Mission  Litteraire  dans  les  lies  Britanniqnes  (1),  die  irisehen  Hand- 
scbriften  in  Cambridge  (2),  im  British  Mnsenm  in  London  (3),  in  der 
Bodleiana  in  Oxford  (4),  in  der  Bibliothek  der  Royal  Irish  Academy 
in  Dublin  (5),  im  Trinity  College  in  Dublin  (6),  im  Franziskaner 
Konvent  ebendaselbst  (7),  in  der  Handschriftensammlang  des  Lord 
Ashburnham  —  die  sogenannte  Stowe-Collection,  jetzt  in  Dublin  in 
der  Royal  Irish  Academy  deponiert  —  (8)  und  über  die  in  verschie- 
denen Bibliotheken  zerstreuten  Handschriften  (9);  des  Weiteren  (10) 
rekapituliert  er  in  chronologischer  Ordnung  die  besprochenen  Hand- 
schriften, verzeichnet  (11)  die  bekannten  Irischen  Handschriften  des 
Kontinents  und  schließt  (12)  mit  einer  allgemeinen  Uebersicht  der 
Handschriften  unter  dem  Gesichtspunkt  der  in  ihnen  behandelten 
Materien. 

Der  zweite  umfangreichere  Teil  des  Werkes  bringt  (auf  S.  1—257) 
einen  Katalog  der  epischen  Litteratur  Irlands,  soweit  uns 
solche  in  Irischer  Sprache  noch  erhalten  ist  oder  nachweislich 
vorhanden  war.     Wir  besitzen   nämlich   schon   in  einer  Hand- 

0«tt.  rel.  Aai.  1887.  Nr.  5.  12 


154  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  5. 

sc&rift  aas  der  Mitte  des  12ten  Jahrhunderts  ein  nach  sachlichen 
Gesichtspunkten  angeordnetes  Verzeichnis  der  bekannten  epischen 
Stoffe:  unter  einzelnen  Rubriken  wie  togla  (Zerstörungen),  tochmarca 
(Werbungen)  catha  (Kämpfe),  immrama  (Seefahrten),  fessa  (Feste), 
aitheda  (Entführungen),  airgne  (Plünderungen)  etc.  werden  187  Titel 
von  epischen  Erzählungen  vorgeführt.  Dieses  wichtige  Denkmal  ist 
nach  der  ältesten  Handschrift  (LL.  189b,  44— 190b,  8)  von  O'Cnrry 
ediert  (Lectures  on  the  Manuscript  Materials  of  the  ancient  Irish  hi- 
story S.  583—593)  und  nach  der  jüngeren  H.  3,  17  Col.  797  ff,  von 
O'Looney  (Proceedings  of  the  Royal  Irish  Academy  1879,  I,  215 — 
240):  beide  Gelehrte  haben  in  den  Anmerkungen  in  umfassendem 
Maße  festzustellen  versucht,  was  von  diesen  Erzählungen 
heutigen  Tags  noch  vorhanden  ist  und  auf  die  ihnen  be- 
kannten Handschriften  hingewiesen,  in  denen  diese  Erzählungen  sich 
finden.  Auf  einen  zweiten  Katalog  derart,  welcher  sich  in  mehre- 
ren Handschriften  des  15.  und  16.  Jahrhunderts  findet  und  eine  An- 
zahl neuer  Titel  bietet,  hat  O'Curry  (Manners  and  Customs  of  the 
ancient  Irish  II,  131  ff.)  hingewiesen:  abgedruckt  ist  derselbe  in  vor* 
stehend  genannter  Arbeit  S.  260 — 264.  —  Herr  D'Arbois  gibt  nun 
(S.  l<-257)  in  alphabetischer  Reihenfolge  die  in  diesen  Kata- 
logen genannten  Irischen  Titel  der  epischen  Stoffe  nebst  den  ihm 
sonst  noch  bekannt  gewordenen  Titeln  größerer  oder  kleinerer  epi- 
scher Erzählungen.  Unter  einem  jeden  Titel,  dem  eine  französische 
Uebersetzung  beigegeben  ist,  folgt  in  chronologischer  Beihen- 
folge  die  Aufzählung  der  Handschriften,  in  denen  das  Stttck  erhal- 
ten ist  und  zwar  bis  auf  die  vor  40  und  50  Jahren  verfertigten 
modernen  Abschriften  von  Handschriften  des  19.  Jahrb.  selbst ;  orien- 
tierende Notizen  darüber,  wo  von  Gelehrten  über  den  betreffenden 
Text  gehandelt  ist,  gehn  der  Aufzählung  der  Handschriften  voraus 
oder  folgen  derselben. 

Dieses  Werk  des  vielschreibenden  Herrn  D'Arbois  kann  nicht 
den  Anspruch  erheben,  als  eine  wissenschaftliche  Arbeit  betrachtet 
zu  werden,  da  dazu  jede  Vorbedingung  fehlt:  sowohl  die  skizzierte 
Einleitung  als  auch  der  Katalog  der  epischen  Litteratur  Irlands  sind 
nämlich  nicht  auf  einem  Studium  der  zahlreichen  Hand- 
schriften oder  auch  nur  einzelner  Hauptcodices  auf- 
gebaut, sondern  auf  Excerpten,  die  Herr  D'Arbois 
aus  den  vorhandenen  Katalogen  in  London,  Oxford, 
Dublin  machte;  auf  handschriftlichem  Studium  beruht  die  Arbeit 
des  Herrn  D'Arbois  nur  in  soweit  als  die  Kataloge  der  drei  Hanpt- 
sammlungen  —  British  Museum  in  Loftdon,  Royal  Irish  Academy 
und  Trinity  College  in  Dublin  —  noch  nicht   gedruckt  sind.    166 


I)'Arboi8  de  Jubainville,  Essai  d'un  catalogue  de  la  litt,  epique  de  I'Irlande.     155 

Irische  HandschrifteD  des  British  Mnseum  sind  von  dem  verstorbe- 
nen O'Gnrry  im  Jahre  1849  katalogisiert;  von  diesem  nngedrnckten 
Katalog  des  British  Mnseum  befindet  sich  eine  Abschrift  in  der 
Royal  Irish  Academy.  In  letzterem  Institut  befindet  sich  ein  hand- 
schriftlicher Katalog  in  13  Bänden  mit  6  Bänden  Indices  Über  559 
irische  Handschriften,  angefertigt  von  den  verstorbenen  O'Gnrry, 
O'Longan,  O'Beirne  Crowe.  Das  Trinity  College  endlich  weist  einen 
handschriftlichen  Katalog  O'Donovans  auf  über  54  irische  Hand- 
schriften. Unter  diesen  779  Handschriften  oder  794,  wenn  man  die 
15  Handschriften  der  Bodleiana  hinzu  nimmt,  die  in  gedruckten  Ka- 
talogen analysiert  sind,  befinden  sich  mehr  als  20,  von  denen  jede 
einzelne  durch  ihren  Umfang  und  die  Mannigfaltigkeit  des  Inhalts 
auch  nur  bei  flüchtiger  Durchsicht  vollauf  eine  Woche  in  Anspruch 
nimmt:  Herr  D'Arbois  hat  nicht  nur  die  794  Handschriften,  sondern 
sogar  953  in  der  Zeit  vom  6.  Juni  bis  21.  August  inclusive  Hin- 
und  Rückreise  (p.  XI)  »etudie«,  die  166  Handschriften  des  British 
Museums  in  dix  stances,  also  auf  jeden  Sitz  161  Daß  ein  Mann, 
der  nachgewiesener  Maßen  noch  mit  den  Elementen  der  irischen 
Grammatik  im  Kampf  liegt,  die  Handschriften  in  der  angegebenen 
Zeit  nicht  durchfliegen,  geschweige  denn  durcharbeiten  konnte,  liegt 
auf  der  Hand.  Herr  D'Arbois  hat  sich  denn  auch  in  der  That  dar- 
auf beschränkt,  aus  den  :  genannten  Katalogen  sich  Notizen  über 
Größe  und  Umfang  der  Handschriften,  wahrscheinliche  Zeit  der  Ab- 
fassung zu  machen  und  sieh  die  Titel  der  behandelten  Stoffe  mit 
der  in  den  Katalogen  beigefügten  englischen  Uebersetzung  des  Ti- 
tels notiert.  Aus  diesen  Notizen  hat  er  sein  Werk  zusammengestellt 
mit  Hinzuftlgung  dessen,  was  er  über  einzelne  Stoffe  in  der  ge- 
druckten Litteratur  bemerkt  fand. 

Der  Essai  d'un  catalogue  de  la  litt6rature  ^pique  de  l'Irlande 
ist  also  im  Wesentlichen  geschrieben  1)  ohne  Kenntnis  der 
epischen  Stoffe  selbst  und  2)  ohne  Kenntnis  der  Hand- 
schriften, in  denen  dieselben  erzählt  sind.  Die  Fehler,  die  dar- 
aus entspringen  müssen  und  die  sich  in  dem  Werk  des  Herrn 
D'Arbois  in  großer  Zahl  finden,  liegen  auf  der  Hand.  Unter  dem- 
selben Titel  werden  Handschriften  mit  Erzählungen  citiert,  die  nur 
den  Titel  gemeinsam  haben  und  vollständig  gleiche  Texte  finden 
sich  als  verschiedene  aufgeführt,  weil  die  Ueberschriften  verschieden 
sind.  Andererseits  geschieht  die  Aufzählung  der  Handschriften  un- 
ter jedem  Titel  völlig  kritiklos,  sieht  man  von  der  chronologischen 
Reihenfolge  ab,  die  sich  auf  Angaben  und  Vermutungen  der  Kata- 
loge gründet.  Die  Unterdrückung  jedes  nationalen  Lebens  in  Ir- 
land und   die  immer  größer  werdende  Verarmung  Irlands   seit  den 

12* 


156  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  5. 

Tagen  der  Elisabeth  und  Gromwells  erklären  es  hinlänglich,  daB 
die  Zahl  der  in  Irland  in  irischer  Sprache  bis  zu  Anfang 
dieses  Jahrhunderts  gedruckten  Bttcher  so  gat  wie  Null  ist,  wenn 
man  von  einigen  zu  kirchlichen  Zwecken  veröffentlichten  absieht. 
Gleichwohl  wurde  die  Irische  Sprache  und  vor  allem  die  epische 
Litt^ratur  des  Mittelalters  in  Irland  gepflegt:  die  Stelle  von  Druck- 
officinen  auf  dem  Kontinent  vertreten  Schreiberfamilien.  Belehrend 
ist,  daß  von  O'Clerys  FocUnr  no  Sanasan  nua  gedruckt  in  Löwen 
1643  in  Irland  kein  DruckexempUr  zu  finden  ist  —  das  Exemplar 
der  Franziskaner  in  Dublin  ist  vor  15  Jahren  aus  Rom  dorthin  ge- 
kommen — ,  dagegen  die  Royal  Irish  Academy  zahlreiche  >Mann- 
scripts«  dieses  Werks  besitzt,  d.  h.  Abschriften,  mehr  oder  minder 
vollständig,  angefertigt  im  vorigen  und  Anfang  dieses  Jahrhunderts 
von  Abschriften,  welche  direkt  oder  indirekt  auf  ein  gedrucktes 
Exemplar  zurückgehn.  Sie  repräsentieren  zweite,  dritte  oder  vierte 
Auflage.  Daß  diese  >Manuscriptsc  von  O'Clerys  Werk  gegenüber 
den  erhaltenen  Drnckexemplareu  wissenschaftlich  völlig  wertlos  sind, 
liegt  auf  der  Hand.  Gleich  wertlos  ist  eine  große  Anzahl,  ja 
man  kann  sagen  die  Hehrzahl  der  953  Handschriften,  welche  Herr 
D'Arbois  angeblich  »studiert«  hat.  Unter  den  559  katalogisierten 
Handschriften  der  Royal  Irish  Academy  in  Dublin  gibt  es  ungefähr 
bloß  25,  die  über  das  17.  Jahrhundert  hinaufgehn.  Die  übrigen  95 
oder  96  Procent  (534  Handschr.)  stammen  zum  größten  Teil  aus  der 
zweiten  Hälfte  des  vorigen  und  dem  Anfang  dieses  Jahrhunderts. 
Viel  günstiger  gestaltet  sich  zwar  das  Verhältnis  in  der  zweitgröß* 
ten  Sammlung  Irischer  Handschriften,  in  der  des  British  Museum, 
immerhin  ist  das  Verhältnis  141  Handschriften  aus  18.  und  beson- 
ders 19.  Jahrb.  unter  der  Gesamtzahl  166  absolut  wenig  gtlnstig. 
Gewiß  befinden  sich  unter  den  nahezu  700  Handschriften  aus  dem 
18.  und  19.  Jahrhundert  einzelne,  in  denen  neben  wertlosen  Kopien 
von  Texten  aus  den  erhaltenen  Vorlagen  hie  und  da  ein  in  äl- 
terer Zeit  sicher  vorhandener  aber  in  uns  erhaltenen  älteren  Hand- 
schriften nicht  überlieferter  Text  gerettet  ist,  wie  auch  nachweislich 
in  einzelnen  Fällen  durch  eine  solche  junge  Handschrift  uns  eine 
unabhängige  Recension  eines  beliebten  Textes  gerettet  ist,  die  sicher 
im  12.  Jahrb.  vorhanden  war:  dies  sind  jedoch  vereinzelte  Aus- 
nahmen, die  Mehrzahl  obiger  700  Handschriften  ist  fttr  wissenschaft- 
liche Herausgabe  eines  Textes  absolut  wertlos.  Zwischen 
diesem  handschriftlichen  Schund  und  den  wirklich  in 
Betracht  kommenden  Handschriften  macht  Herr  D'Ar- 
bois  keinen  Unterschied:  alles  rangiert  auf  derselben  Stufe. 
Ganz  natttriieh,   da  Herr  D'Arbois   in   der  Regel  weder  des  Inhalt 


D'Arbois  de  Jabainville,   Essai  d*un  catalogue  de  la  litt,  ^pique  de  I'Irlande.      157 

der  einzelnen  Erzählungen  kennt  noch  die  Handschriften,  die  er  als 
Quellen  citiert,  mehr  als  von  auAen  gesehen  hat. 

Ich  glaabe  es  wird  lehrreich  sein^  wenn  ich  einen  Artikel  aas 
dem  Catalogue  de  la  litt6ratare  ipiqae  de  Tlrlande  hersetze  und 
Kritik  daran  ttbe. 

Ägallamh  na  Senoraib  oa  Seanörach  >Dialogae  des  vi* 
eillardsc  Cycle  ossianiqae. 
Mannscrits: 

1)  XV«  siicle,  Oxford,  Bodleian  library ,  Rawlinson  B.  487  fol. 
12  v; 

2)  XV*  si6cle,  Livre  de  Lismore,  appartenant  an  dac  de  De- 
Yonsbire,  copie  d'  O'Cnrry.  R.  J.  A.,  23.  Q  (Academy,  39.  6),  fol. 
201—240; 

3)  XVI«  sifecle,  Franciscains  de  Dublin  (Ce  ms.  est  dijk  men* 
tionne  dans  Tinventaire  apris  d6eö8  de  Colgan,  mort  en  1658,  voir 
Gilbert  dans  Fourth  report  of  the  royal  commission  on  historical 
mss.,  1874,  p.  611,  col.  2); 

4)  1758,  British  Museum,  Egerton  211,  fol.  67  v; 

5)  1761,  B.  J.  A.  23.  C.  26  (H.  and  S.  167)  p.  153-176; 

6)  Vers  1772,  R.  J.  A.,  23.  N.  18  (Betham  35),  p.  63; 

7)  1799,  R.  J.  A.,  23.  G.  23  (Betham  4);  p.  1; 

8)  Commencement  dn  XIX^  sitole,  British  Museum,  Egerton 
175,  p.  81 ; 

9)  Commencement  du  XIX®  siöde,  R.  J.  A.,  23.  C.  6  (H.  and 
S.  84)  p.  119—404; 

10)  XIX'  sifecle,  British  Museum,  additional  18949; 

11)  XIX*  sifecle,  R.  J.  A.,  23.  E.  11  (Miscell.),  p.  405; 

12)  XIX»  sifede,  R.  J.  A.  23  N.  11  (Betham  18),  p.  160; 

13)  XIX«  si6cle,  R.  J.  A.,  23.  L.  22  (H.  and  S.  149); 
Traductions  mannscrites  en  anglais.  Tune  par  O'Longan,  Tautre 

par  O'Beirne  Crowe  dans  la  bibliothöque  de  la  R.  J.  A. 

Analyse  par  O'Gnrry,  Lectures  on  the  ms.  materials  of  ancient 
Irish  history,  p.  307 -- 312. 

Extraits  d'aprto  leLivre  de  Lismore;  ibidem,  p.  594 — 597  (avec 
facsimile  sous  la  cote  SS,  p.  16)  et  Manners  and  customs  of  the 
ancient  Irish,  t.  Ill,  p.  366.  Autre  extrait  d'aprfes  le  ms.  R.  J.  A. 
23.  E.  11,  chez  le  mdme  auteur:  Manners  and  customs  of  the  an- 
cient Irish,  t.  Ill,  p.  223—224,  note  805^). 

Der  in  Rede  stehende  Text  heißt  in  den  alten  Handschriften 
nur  AcciUam  na  senärach;  er  ist  nächst  Tain  bö  Cudlnge  der  um- 
fangreichste  Sagentext  des   irischen  Mittelalters  und  auch  einer  der 

1)  Die  Nummern  1—13  sind  ?on  mir  zugefügt. 


158  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  5. 

wichtigsten.  Bei  seiner  vollständigen  Vernachlässigang  habe  ich 
demselben  längst  vor  dem  Erscheinen  des  Katalog  des  Herrn  D'Ar- 
bois  meine  Aafmerksamkeit  zugewendet  and  zwar  an  der  Hand 
der  Handschriften  selbst.  Darnach  kann  ich  konstatieren,  dafi  in 
obigem  Verzeichnis  zwei  Handschriften  fehlen:  einmal  die  älteste 
und  wichtigste,  die  Oxforder  Laud  610  fol.  123a — 146b,  und 
zwischen  Numero  3  und  4  eine  Handschrift  im  Franziskanerkonvent 
geschrieben  1626  in  Löwen.  Beide  Quellen  fehlen,  weil 
sie  in  den  von  Herrn  D'Arbois  benutzten  Katalogen 
fehlen,  worauf  ich  im  Verlauf  zurück  komme. 

lieber  die  Frage,  ob  die  aufgezählten  13  Handschriften  alle 
einen  vollständigen,  eventuell  denselben  Text  enthalten,  oder  ob  ein- 
zelne nur  Teile  enthalten,  erfahren  wir  nichts:  Keine  einzige 
Handschrift  enthält  einen  vollständigen  Text,  ja 
nicht  einmal  aus  Benutzung  aller  läßt  sich  ein  sol- 
cher gewinnen;  eine  Thatsache,  die  nach  obiger  Aufzählung 
gewiß  Niemand  ahnt.  Mit  Ausnahme  von  1.  2.  3.  9.  13  enthalten 
alle  aufgezählten  Handschriften  nur  dürftige  Bruchstücke,  einzelne 
nicht  bis  an  V^oo  des  erhaltenen  Textes  reichend;  von  ihnen  ist  zu- 
dem 8  eine  Abschrift  von  4.  Unter  den  vollständigeren  Texten  ist 
der  in  9  aus  2  abgeschrieben,  wie  überhaupt  Alles,  was  in  9  steht, 
im  Anfang  dieses  Jahrhunderts  aus  der  1815  wieder  aufgefundenen 
Handschrift  2  stammt:  auch  10  geht  auf  dieselbe  zurück.  Als  von 
einander  unabhängig  bleiben  nur  1.  2.  3.  13  übrig,  wovon  1.  2.  3 
nebst  der  oben  erwähnten  Handschrift  Laud.  610  im  Wesentlichen 
denselben  Text  bieten  und  sich  so  ergänzen,  daß  aus  allen  4  sich 
bis  gegen  Ende  ein  Text  herstellen  läßt.  Der  Schluß  ist,  sofern 
nicht  neue  Handschriften  gefunden  werden,  unrettbar  verloren.  No.  13 
im  Anfang  und  Ende  unvollständig  bietet  eine  abweichende  Recen- 
sion, in  der  Ossian  eine  größere  Rolle  spielt.  In  der  Handschrift  2 
nun  (Book  of  Lismore),  in  der  unser  Text  fol.  201—240  steht,  fin- 
det sich  auf  fol.  194 — 200  ein  kürzerer  ohne Ueberschrift,  der  eine 
abweichende,  kürzere  Recension  desselben  Stof- 
fes repräsentiert,  welche  aber  nicht  eine  Abkürzung  der 
größeren  in  Laud.  610  sowie  1.  2.  3  vorliegenden  Erzählung  sein 
kann:  von  diesem  »kleinen c  Äcällam  na  Senörach,  wie  ich  vorläufig 
diese  Recension  in  Book  of  Lismore  fol.  194 — 200  nennen  möchte, 
könnte  vielleicht  No.  13  eine  Abschrift  sein. 

Demnach  stellt  sich  heraus,  daß  wissenschaftlich  Brauchbares 
so  gut  wie  Nichts  in  den  Angaben  des  Herrn  D'Arbois  bleibt;  auch 
seine  sonstigen  Bemerkungen  sind  unvollständig.  O'Curry  giebt  nicht 
nur  an  den  genannten  drei  Stellen  »extraits«  sondern  noch  Manners 


D'Arbois  de  Jabainville,  Essai  d'un  catalogue  de  la  litt,  dpiqae  de  Plrlande.     159 

and  Castoms  111,  169—170.  179.  323—324.  325.  328.  360—361.  377. 
379.  380.  Die  Angabe,  ans  welchen  Handschriften  O'Ourry  seine 
Anszilge  gibt,  beruht  natUriich  nicht  auf  Einsicht  des  Herrn  D'Ar- 
bois in  die  Handschriften,  sondern  ist  O'Cnrrys  Bach  entnommen. 

Wenn  sich  somit  Herrn  D'Arbois  Thätigkeit  bei  vorliegendem 
Werk  wesentlich  auf  Excerpieren  handschriftlicher  und  gedrackter 
Kataloge,  Anordnung  und  Zusammenstellung  der  Excerpte  beschränkt, 
also  eine  Thätigkeit  ist,  welche  ebenso  gut  von  Jemand  hätte  aus- 
geftlhrt  werden  können,  der  noch  weniger  vom  Irischen  versteht  als 
er  —  so  ist  damit  nicht  gesagt,  daß  eine  derartige,  wissenschaftlich 
wertlose  Arbeit  nicht  praktisch  von  Nutzen  sein  könnte.  Im  Gegen- 
teil, ich  stehe  nicht  an  zu  bekennen,  daft  eine  gewissenhafte 
und  zuverlässige  Kompilation  der  Art  des  Dankes  Aller  sicher 
sein  kann,  auch  derjenigen,  welche  durch  selbstständiges  Studium  der 
Quellen  in  zahlreichen  Fällen  solche  Katalogexcerpte  berichtigen  und 
ergänzen  können.  Der  Umfang  der  epischen  Stoffe  und  der  Quellen 
DÖthigen  beim  Quellenstudium,  sich  zu  beschränken;  ist  man  mit 
einem  umfaugreichen  Stoffe  oder  einem  Gyklus  von  solchen  beschäf- 
tigt, so  wird  man  häufig  durch  diese  oder  jene  Frage  auf  einen  an- 
deren hingelenkt:  dann  ist  es  nicht  nur  von  Interesse  sondern  von 
unzweifelhaftem  Nutzen  ein  solch  statistisches  Nachschlagewerk  zur 
Hand  zu  haben,  mag  es  an  sich  auch  noch  so  unvollkommen  und 
absolut  gemessen  wertlos  sein.  Die  vorläufige  und  unmaBgebliche 
Informierung  genügt  häufig  und  erspart  Zeit,  und  selbst  in  dem  Fall 
daft  man  sich  gezwungen  sieht  Über  selbige  hinauszugehen,  ist  sie 
eine  Erleichterung  der  Arbeit 

Freilich  wird  dieser  relative  Wert  einer  derartigen  Kompilation 
in  vorliegendem  Falle  dadurch  gedrückt,  daß  die  Ausnutzung  der 
Kataloge  weder  vollständig  noch  zuverlässig  ist.  Die  wichtigste  Hand- 
schrift fttr  die  ältere  epische  Litteratur  Irlands  ist  neben  den  beiden 
durch  Facsimile  allgemein  zugänglichen  Lebor  na  hnidre  (B.  J.  A.) 
und  Book  of  Leinster  (H.  2.  18,  Trinity  College,  Dublin)  anerkann- 
termaften  das  Yellow  Book  of  Lecan  (H.  2.  16,  T.  C.  D).  Der  wich- 
tigste und  umfangreichste  Text  des  älteren  Sagenkreises  Tain  bö 
Caälnge  findet  sich  in  genannten  drei  Handschriften  und  zwar,  wie 
ich  auf  Grund  von  Untersuchungen  behaupten  kann,  in  allen  dreien 
nicht  bloft  unabhängig  sondern  auch  in  abweichenden  Recensionen. 
Herr  D'Arbois  führt  S.  214.  215  wieder  15  Handschriften  aus  der 
Zeit  von  1100 — 1836  oder  noch  später  an,  von  denen  die  meisten 
ebenso  wertlos  sind  wie  bei  Äcällam  na  senörach^  aber  die  dritt- 
älteste und  an  Wert  keiner  nachstehende  H.  2.  16 
(Tellow  Book  of  Lecan)  fehlt!    Diese  Handschrift  gehört   zu   den 


160  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  5. 

katalogisierten  des  Trinity  College,  Herr  D'Arbois  spricht  S.  LXII-- 
LXIV  des  Langen  nnd  Breiten  über  sie,  als  ob  er  sie  wirklich  ge- 
sehen hätte.  Daß  in  dem  Katalog  der  älteste  nnd  umfangreichste 
Text  der  Handschrift  fehlen  sollte,  ist  nicht  glaublich.  Selbst  wenn 
dem  so  wäre,  müßte  Herr  D'Arbois  wissen ,  daß  diese  Handschrift 
eine  wichtige  Quelle  fttr  die  Tain  bö  Cüalnge  ist,  voransgesetzt  daß 
er  von  dem  genannten  Stoff  mehr  als  den  Titel  kennt:  nicht  nur  in 
der  dem  Facsimile  des  LU.  beigegebenen  Inhaltsangabe  dieser  Hand- 
schrift heißt  es  bei  Oelegenheit  Tain  bö  Oüalngi  »there  are  two  an- 
cient copies  of  it  in  the  library  of  Trinity  College  Dublin  —  one 
of  them,  in  MS.  H.  2.  16,  imperfect  at  the  beginning;  the  other, 
in  the  Book  of  Leinster,  H.  2.  18  is  perfect,  and  nearly  as  old  as 
the  present«  (p.  XVIII),  sondern  auch  O'Cnrry  handelt  Manners  and 
Customs  HI,  413  davon,  ja  er  gibt  sogar  1.  1.  425.  430  Besserungen 
aus  ihr  zu  dem  aus  Book  of  Leinster  gedruckten  Text. 

Wie  bodenlos  oberflächlich  Herr  D'Arbois  excerpiert  hat,  wird 
durch  eine  andere  Nummer  bewiesen.    Seite  138  lesen  wir: 

Fled  Bricrenn.  »Festin  de  Bricriuc.  Cycle  de  Conchobar  et 
et  Cfichulainn.  Cette  piice  paratt  identique  k  celle  qui  est  appeläe 
Feis  tige  Bricrenn  dans  la  Liste  B  1,  2,  3. 

Manuscrits : 

1)  Fin  du  XP  siicle,  Leabhar  na  hUidhre,  pag.  99,  col.  2; 

2)  XIV  sifccle  (?),  T.  C.  D.,  H.  2.  16,  col.  759—765 ; 

3)  XV"^  si6cle.  British  Museum,  Egerton  93,  fol.  29,  fragment; 

4)  XV'— XVP  siicle,  T.  C.  D.,  H.  4.  22,  fragment,  suivant 
O'Curry,  Lectures  on  the  manuscript  materials,  p.  194; 

5)  XVI«  sifecle,  T.  C.  D.,  H.  3.  17,  col.  683-710. 
Edition : 

Texte  iriandais  d'aprte  le  Leabhar  na  h  Uidhre,  et  TEgerton  93, 
chez  Windisch,  Irische  Texte,  p.  254—314.  Variantes  de  FEgerton 
93,  ibidem  p.  335— 336.  Extrait  de  T.  C.  D.  H.  2.  16,  ibidem  p.311. 
Variantes  de  T.  C.  D.  H.  3.  17,  ibidem  p.  330-335. 

Analyse  de  ce  morceau  chez  Windisch,  Irische  Texte,  p.  236 — 245. 

Wenn  man  nach  Vorstehendem  annehmen  wollte,  daft  Herr  D'Ar- 
bois den  von  Windisch  edierten  Text  kenne  oder  auch  nur  Win- 
dischs  Bemerkungen  über  denselben  gelesen  habe,  dann  würde  man 
sehr  irren.  Windisch  sagt  1.  1.  S.  236  ausdrücklich:  »Gänzlich 
verschiedenen  Inhalt  hat  der  Sagentext,  welcher  den  Titel 
flihrt  Fled  Bricrend  ocus  loinges  mac  nBtd  nBemmty  überliefert  im 
Oelben  Buch  von  Lecan  (H.  2. 16),  fol.  759 — 765«  und  der  »extrait«, 
den  Windisch  nach  Herrn  D'Arbois  ans  dieser  Handschrift  H.  2.  16 
gibt,  ist  eben  der  Anfang  des  total   verschiedenen    Tex- 


D'Arbois  de  Jubainville,  Essai  d'an  catulogae  de  la  litt,  ^pique  de  I'lrlande.    161 

'68.  Wenn  nun  Herr  D'Arbois  trotzdem  H.  2.  16  col.  759—765  als 
zweite  Qnelle  neben  Leabbar  na  hUidhre  citiert,  so  beweist  er  da- 
mit, daß  er  weder  den  einen  nocb  den  andern  Text  kennt  und  nicht 
einmal  gelesen  bat,  was  Windisch  schreibt!  In  Folge  dieses  Um- 
Standes  bringt  er  es  sogar  fertig  S.  173  folgenden  Artikel  zu  bieten : 
^Langes  mac  nDuü  Dermait  Navigation  on  exil  des  fils  de  Dal- 
Dermait.  Cycle  de  Conchobar  et  Gücbulainn.  C'est  nn  sous- 
titre  de  la  piice  intitul^e  Fled  Bricrenn  dans  le  manascritT.  C.  D., 
H.  2.  16,  col  759.  Cf.  Windiscb,  Irische  Texte,  p.  311«.  Doch 
damit  nicht  genug.  Windisch  bemerkt  an  der  angefahrten  Stelle 
(S.  236)  in  einer  Anmerkung:  »Nach  O'Gorry,  on  the  ms.  Mat.  p.  193 
und  194  finden  sich  außerdem  Fragmente  des  Fled  in  den  Hand- 
schriften H.  3.  17  (16.  Jahrb.)  und  H.  4.  22  (15.  Jahrb.)  Trin.  Coli. 
Dublin.  Allein  ich  erfahre  von  Prof.  O'Loonej,  daß  nur  erste- 
res  Ms.  diesen  Text  enthält,  letzteres  dagegen  ein  zweites 
Exemplar  des  Serglige  Conen  laind«.  Trotz  dieser  Angabe 
und  trotzdem,  daß  Windisch  Ir.  Texte  S.  325—330  die  Varianten 
aus  H.  4.  22  gibt  und  dadurch  thatsächlich  beweist,  daß  es  sich  um 
Serglige  Conculaind  handelt  --,  trotzdem  ftthrt  Herr  D'Arbois  diese 
Handschrift  als  vierte  Qnelle  zum  Fled  Bricrend  an!  Dies  hindert 
ihn  allerdings  nicht  50  Seiten  weiter  unter  dem  Stichwort  Serglige 
Conculaind  (S.  207)  als  zweite  Quelle  anzufahren  »XV»  sifecle,  T.  C.  D., 
H.  4.  22,  p.  89—104«  und  anzugeben,  daß  Windisch  die  Varianten 
an  eben  genanntem  Orte  gebe.  Es  bleiben  also  für  Fled  Bricrend 
die  Handschriften  1,  3,  5  und  zwar  sind  alle  drei  fragmentarisch, 
d.  h.  ohne  Schluß,  wie  aus  Wiudischs  Ausgabe  ersichtlich ;  wieso 
Herr  D'Arbois  demnach  dazu  kommt,  bloß  bei  3  zu  bemerken  »frag- 
ment«, ist  nicht  ersichtlich. 

Wenn  man  bedenkt,  daß  diese  Dinge  Herrn  D'Arbois  bei  einem 
der  umfangreichsten,  ältesten  und  wichtigsten  Texte  der  epischen 
Litteratur  begegnen,  einem  Texte,  der  zudem  mit  dem  gesamten 
erhaltenen  handschriftlichen  Material  durch  Facsimile  und  Druck 
pnblici  juris  gemacht  ist,  dann  kann  man  eine  Vorstellung  gewinnen 
davon,  was  sein  Katalog  bei  weniger  bekannten,  bis  jetzt  unedierten 
Stoffen  bietet.  Aber  durch  viel  Schlimmeres  als  die  nachgewiesene 
Oberflächlichkeit  wird  die  Nützlichkeit  der  Kompilation  noch  mehr 
herabgedrückt 

Wie  eingangs  bemerkt  ist  der  Katalog  (S.  1—257)  so  angelegt, 
daß  die  Irischen  Titel  der  einzelnen  größeren  oder  kleineren 
Erzählungen  und  Dichtungen  in  alphabetischer  Reihenfolge  vorgeführt 
werden  und  unter  jedem  Titel  das  gegeben  wird,  was  sich  auf  den 
Zetteln  des  Herrn  D'Arbois  findet,  die  dies  Stichwort   tragen.     Nun 


162  Gott.  gel.  Adz.  1887.  Nr.  6. 

finden  sich  in  den  Handschriften,  und  besonders  den  ältesten, 
epische  Erzählungen,  vor  Allem  aber  zahlreiche  epische  Dicbtangen, 
welche  Episoden  der  Heldensage  behandeln  und  keinen  Titel 
tragen  oder  nur  ein  Ossin  cecinä  und  Aehnliches.  Wie  verfährt  hier 
Herr  D'Arbois?  Er  läßt  in  seinem  Essay  d'nn  catalogue  de  la 
litt^ratare  6pique  de  Tlrlande  diese  Stoffe  einfach  weg!  Be- 
achtet man  nun  ferner:  in  den  Bänden  der  Ossianic  Society,  vor 
Allem  Band  4  und  6  (Dublin  1859.  1861),  ist  eine  ganze  Anzahl 
von  Ossianischen  Gedichten  publiciert  auf  Grund  von  Handschriften 
aus  dem  Jahr  1780,  1812  und  jüngeren,  und  diese  Gedichte  haben 
thatsächlich  meistens  kein  höheres  Alter;  in  dem  vierten  Bande  ge- 
nannter Zeitschrift  nennt  Standish  O'Grady  S.  17  ff.  eine  stattliehe 
Reihe  solcher  moderner  Gedichte  mit  Titeln  oder  charakteristi- 
schen Ueberschriften.  Alle  diese  Titel  moderner  Produktionen  so- 
wie die  veröffentlichten  Gedichte,  soweit  sie  Titel  haben, 
nimmt  Herr  D'Arbois  in  seinen  Katalog  auf  und  belegt  sie  aus  den 
jungen  Handschriften  des  British  Museum  und  der  Royal  Irish  Aca- 
demy, natürlich  auf  Grund  der  handschriftlichen  Kataloge  dieser  Bi- 
bliotheken. In  Folge  dieses  zweierlei  Maaßes,  welches  Herr  D'Ar- 
bois  für  gut  befindet  an  die  epischen  Stoffe  anzulegen,  ergibt  sich 
ftlr  sein  Werk  folgendes  wunderbare  Verhältnis :  während  das- 
selbe Dutzende  ganz  moderner  Stttcke  des  Ossian- 
sagen kreises  auffuhrt,  die  meistens  aus  Handschrif- 
ten von  1760 — 1840  stammen,  fehle  n  sämtliche  Ge- 
dichte des  LL.  aus  dem  Ossiansagenkreis,  also  einer 
Handschrift  von  1150  (z.  B.  LL.  204  a,  32  ff.,  192a,  61  ff., 
192b,  34  ff.,  297b,  41  ff.,  298b,  34  ff.,  193a,  34  ff.,  208a,  36  ff.,  154a, 
44  f.,  206b,  11  ff.,  208a,  7  ff.,  207b,  5  ff.,  208a,  24  ff.,  197a,  53  ff. 
und  andere),  mithin  fast  die  gesamten  übers  14.  Jahrh. 
hinausgehenden  Zeugnisse  für  den  Ossiansagenkreis. 
Das  einzige  Kriterium  ftlr  Aufnahme  eines  Textes  aus  der  epi- 
schen Litteratur  in  den  Catalogue  de  la  litt6rature  6pique  war  in 
diesem  wie  zahlreichen  anderen  Fällen,  die  Titelfrage:  trugen  sie  in 
den  excerpierten  Katalogen  einen  Titel,  so  wurden  sie  notiert,  wenn 
nicht  dann  nicht.  Wenn  man  bedenkt,  wie  leicht  es  gewesen  wäre, 
bei  genauerer  Durchsicht  auch  nur  der  Handschriftenkata- 
loge, die  namenlosen  Stoffe  zu  notieren  und  dann  unter  Rubriken 
wie  »Ossiansagenkreis,  Guchulinnsage«  oder  ähnlichen  aufzuführen^ 
dann  wird  man  eine  Vorstellung  bekommen  von  dem  Aufwand  gei- 
stiger Kräfte,   mit  dem  Herr  D'Arbois  sein  Werk  ausgeführt  hat^). 

1)  Einen  nach  vielen  Seiten  hin  interessanten  Beleg  dafür,  welche  Rolle  die 
»Titeüragec  für  Herrn  D'Arbois  spielte,  werden  wir  in  anderem  Zusammenhang 
kennen  lernen. 


D'Arbois  de  Jubainville,  Essai  d'un  catalogae  de  la  litt,  ^pique  de  Tlrlande.    163 

Durch  die  im  Vorhergehenden  anfgedeckte  oberfläohliche  nnd 
wenig  gewissenhafte  Arbeitsweise  des  Herrn  D'Arbois  wird  natttr- 
lieh  der  praktische  Wert  seiner  Kompilation  sehr  herabgedrttckt : 
etwas  besser  wie  gar  Nichts  ist  sie  immer  noch,  nnd  ich  würde  gern 
mit  der  Anerkennung  schließen.  Leider  macht  dies  Herr  D'Arbois 
selbst  unmöglich. 

Bei  dem  Verhältnis  seiner  Arbeit  zu  den  Katalogen   von  O'Do- 
Dovan,  O'Curry,  O'Beirne   Crowe,   O'Longan,   O'Grady  und  Atkinson 
(zum  Book  of  Leinster)   dUnkt   es   mir    nicht   nur   eine    Pflicht  der 
Dankbarkeit,   sondern    vor   allem   der  litt e rar isc^hen  E  hrlich- 
keit,   daß   der  Herr  D'Arbois   den  Sachverhalt  klar    darlegte.    Er 
mußte  auf  dem  Titel  unbedingt   angeben,   daß   seine  Arbeit  sich  im 
Wesentlichen   auf  die  Kataloge   genannter  Gelehrten  sttttze,    um  so 
mehr,  als  eine  solche  Angabe  von  vornherein  verhindert   hätte,   daß 
mehr  in  dem  Werk  gesucht  wird    als  es  bieten  kann.    Wenn  auch 
die  Kataloge  von  O'Donovan,  O'Curry,  O'Beirne  Crowe  und  0*Lon- 
gan  zur  freien  Benutzung   in  den  Bibliotheken  von  British  Museum, 
Trinity  College  und  Royal  Irish  Academy  ausstehn:  geistiges  Eigen- 
tum genannter  Männer  bleiben  sie  und  zwar  ist  dasselbe  um  so  hei- 
liger  zu    achten,   als   die    genannten   Verfasser   sämtlich  verstorben 
sind.     Der  Titel   von    Herrn    D'Arbois   Werk    entspricht  nicht 
den   Forderungen    der   litterarischen   Ehrlichkeit;  im 
Gegenteil,   er   sucht   durch   die    Angabe   »pr^c^dä  d'une  ätude 
sur  les  manuscrits   en    langue    irlandaise  conserves  dans 
les  lies  Britanniques   et  sur  le  Continent«  direkt  den  Eindruck  her- 
vorzurufen, als  ob  der  Catalogue  de  la  litterature  epique  de  Tlrlande 
auf  einem  Studium   der  irischen  Handschriften  selbst  beruhe.    Auch 
in  der  Vorrede,  die  sich  von  den  Cedern  des  Libanon  bis  zum  Ysop 
der  an  der  Wand  wächst,  verbreitet^  wird  mit  der  Wahrheit  hinterm 
Berge   gehalten;   zwar   gesteht   Herr  D'Arbois   (S.  VHI),   daß  sein 
Katalog  kein  »travail  complet«  sei  und  »bien  des  errenrs«  wohl  ent- 
halte,  aber   das  verschweigt  er,   daß   diese  Mängel   in    der  Anlage 
größtenteils  begründet   sind,   weil    er   nicht   Handschriften   studiert, 
sondern   Handschriften k a t a I o  g e.      Keine  Spur,    daß    ihm   beim 
Sehreiben  der  Vorrede  das  Gewissen  auch  nur  leise  geschlagen  habe. 
In  den    einzelnen  Kapiteln   der   Introduction  werden   natürlich  die 
vorhandenen  Kataloge    erwähnt,  ja   S.   XXIII   geht   Herr  D'Arbois 
soweit,  daß  er  beim  British  Museum  sagt:   >Dans  ce  grand  ätablis- 
sement,  j'ai   eu  pour  guide  le  catalogue  compost  en  1849  par 
Engine  O'Curry«.    Daß  man  in  einer  Bibliothek  den  Handschriften- 
katalog als  Führer  benutzt,   ist   so  selbstverständlich,   daß   aus  die- 
sem Geständnis   und    den  Bemerkungen  über   die  anderen  Kataloge 


164  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  5. 

gewiß  Niemand  auf  den  Gedanken  kommen  wird,  daß  Herrn  D'Ar- 
boiB'  Werk  fast  anssehließlich  auf  Notizen  nnd  Exeerpten  aas  den 
Katalogen  sich  aufbaue.  Damit  nun  aber  nicht  Jemand  durch  ein- 
fache Vergleichung  der  Arbeitstage  mit  der  Zahl  der  angeblich  be- 
nutzten Handschriften  doch  etwa  auf  einen  solchen  Gedanken 
komme,  dafür  weiß  der  gelehrte  Herr  zu  sorgen :  er  nimmt  aus  jeder 
der  Sammlungen  ein  Dutzend  oder  mehr  der  größeren  Handschriften 
aus  verschiedenen  Jahrhunderten  vor,  verbreitet  sich  in  der  Intro- 
duction über  Umfang,  Alter  der  einzelnen  Partien,  Inhalt  und  Wert 
der  wichtigeren  Texte  —  alles  natürlich  auf  Grund  der  Kataloge  — 
und  zwar  in  einer  Weise,  daß  ein  mit  den  Dingen  wenig  Vertrauter 
glauben  muß,  Herr  D'Arbois  habe  jede  einzelne  Handschrift  gemäß 
der  Horazischen  Regel  nocturna  versate  manu  varaate  diuma  behau« 
delt;  zur  Erhöhung  der  Glaubwürdigheit  fließt  mitten  ein  >parmi 
les  vingt-trois  manuscrits  du  XV«  et  du  XVIe  sifecle,  il  y  en  a  plu- 
sieurs  sur  lesqnels  je  suis  passe  tr&s-rapidement:  tels  sont«  etc.  (wer- 
den 7  aufgezählt)^);  an  einer  anderen  Stelle  zählt  er  die  Hand- 
schriften auf  dont  il  a  ätä  question  jusqn'ici  (es  sind  953),  und  nach- 
dem bemerkt  ist,  daß  die  Zahl  der  wirklich  vorhandenen  eine  viel 
größere  ist,  fährt  er  mit  den  Worten  fort  »parmi  les  manuscrits  que 
nous  avons  ätndi6s«  (S.  CHI),  was  nur  heißen  kann  »unter  den 
953  Handschriften  c;  im  Haupteile  des  Werkes,  dem  alphabetischen 
Katalog  der  epischen  Stoffe,  gibt  sich  Herr  D'Arbois  durch  Bemer- 
kungen aller  Art  den  Anschein,  als  ob  er  ganz  genau  wisse,  was 
hinter  den  Titeln  stecke,  und  er  die  Texte  in  den  Handschriften  ge- 
lesen habe:  für  denjenigen,  welcher  diesen  und  jenen  Text  wirklich 
gelesen  hat,  wirkt  der  Widerspruch  zwischen  den  Angaben  und  den 
Thatsachen  (vergl.  eben  das  über  Fled  -Brtcrenrf  beigebrachte  S.'^lßO) 
gewöhnlich  komisch,  die  Nichtkenner  werden  aber  sicher  überzeugt 

Kurz  Herr  D'Arbois  hat  die  einfachste  Pflicht  litterarischer  Ehr- 
lichkeit nicht  erfüllt,  nirgends  das  Verhältnis  seiner  Kompilation  zu 
vorhandenen  Arbeiten  meist  verstorbener  Männer  dargelegt;  im  Ge- 
genteil geht  sein  ganzes  Streben  von  Anfang  bis  Ende  dahin,  das 
Publikum  über  die  wahre  Grundlage  seines  Werkes  irre  zu  führen: 
dies  ist  mit  einem  Raffinement  ausgeführt,  welches  sich  nur  durch 
jahrelange  Praxis  erwerben  läßt,  wie  sie  Herr  D'Arbois  auf  dem 
Gebiete  der  keltischen  Studien  pflegt.  Gegenüber  einem  solchen 
unerhörten  Schmücken  mit  fremden  Federn  konstatiere  ich  also: 

1.    Herr  D'Arbois  hat  nur  diejenigen  Handschriften 

1)  Der  Unterschied  in  der  Benutzung  wird  wohl  darin  bestanden  haben, 
daß  Herr  D'Arbois  diese  Handschriften  nur  von  auBen  betrachtete,  die  anderen 
aber  aufmachte. 


D'Arbois  de  Jubainville,  Essai  d^un  catalogue  de  la  litt,  dpique  de  llrlande.    165 

»studiert«,  die  in  Katalogen  analysiert  sind  oder  de- 
ren Inhalt  aus  gedruckten  Werken  bekannt  ist. 

2.  Herr  D'Arbois  kennt  in  seinem  Catalogue  de 
la  litt^rature  äpique  de  Tlrlande  nur  das  aus  den  von 
ihm  »studierten«  Handschriften,  was  in  den  Katalogen 
Torkommt:  sind  letztere  lückenhaft,  so  fehlen  die  be- 
treffenden Stücke  auch  bei  ihm,  enthalten  sie  falsche 
Angaben,  so  bringt  er  selbige  ebenfalls. 

Der  Beweis  fUr  die  erstere  Behauptung  läßt  sich  bei  aufmerk- 
samer Lektüre  der  Introduction  trotz  aller  Verschleierungsversuche 
aus  den  Angaben  des  Herrn  D'Arbois  selbst  führen.  So  hat  er  z.  B. 
nach  seiner  Aufzählung  560  Handschriften  der  Royal  Irish  Academy 
benutzt,  und  auf  Seite  XLII — LV  verbreitet  er  sich  des  Ausführlichen 
in  der  geschilderten  Weise  über  die  größeren  und  wichtigeren  aus 
ihnen.  Diese  560  Handschriften  teilen  sich  nun  in  559  von  O'Cnrry, 
O'Lougan  und  O'Beirne  Crowe  katalogisierte  und  das  später  erst  in 
den  Besitz  der  Academy  gelangte  sogenannte  Book  of  Formoy.  »Le 
nombre  de  ceux  qui  ne  sont  pas  catalogues  est,  dit-on,  presque 
6gal.  Les  fonds  manqnent  k  l'Academie  pour  faire  continuer  cette 
utile  operation :  on  s'en  console  par  la  pens^e  que  les  manuscrits  non 
catalogues  sont  d6nn6s  d'inter§t.  Le  seul  mannscrit  impor- 
tant que  j'aie  remarquä  parmi  eux  est  le  livre  de  Fer- 
moyc  (S.  XLIV).  Wer  aus  den  letzten  Worten  den  Schluß  ziehen 
wollte,  daß  Herr  D'Arbois  die  ungefähr  500  nicht  katalogisierten 
Handschriften  untersucht  oder  auch  nur  flüchtig  studiert  habe,  der 
täuscht  sich:  das  Book  of  Fermoy  ist  darum  »seul important«,  »senl 
digne  de  notre  attention«  (p.  CHI),  weil  davon  ein  ziemlich 
ausführlicher  Katalog  vou  dem  früheren  Besitzer  desselben, 
Todd,  erschienen  ist  in  den  Proceedings  of  the  Royal  Irish 
Academy,  Irish  mss.  series  I,  S.  1 — 65!  Ajso  circa  1100  Hand- 
schriften besitzt  die  B.  Irish  Academy  in  Dublin,  von  ihnen  sind  559 
in  den  handsehriftlichen  Katalogen  analysiert  und  eine  in  Druck- 
schriften dieser  Institution:  Herr  D'Arbois  »studiert«  560  Hand- 
schriften aus  der  Sammlung,  nämlich  jene  559  und  jene  eine.  Der 
Gkisichtspunkt,  von  dem  Herr  D'Arbois  sich  leiten  ließ,  ist  klar;  in 
noch  helleres  Licht  wird  er  durch  folgende  Erwäguog  gerückt:  un- 
ter den  von  Herrn  D'Arbois  »studierten«  560  Handschriften  sind  un- 
gefähr 480,  schreibe  vier  Hundert  und  Achtzig,  welche  aus  der  Zeit 
von  1760 — 1830  stammen  und  von  denen  mindestens  die  Hälfte  voll- 
kommen wertlos  ist,  weil  sie  moderne  Auszüge  sind  aus  vorhandenen 
allgemein  zugänglichen  Pergamenthandschriften  oder  gar  Abschriften 
gedruckter  Texte.    Wertloser  können  die  ungefähr  500  nicht  katalo- 


166  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Kr.  5. 

gisierten  Handschriften  doch  nicht  sein,  im  Gegenteil  wird  gewiß 
manche  derselben  eine  zweite  oder  dritte  unabhängige  Kopie  jener 
modernen  Produktionen  bieten,  wie  sie  in  den  katologisierten  Hand- 
schriften der  Royal  Irish  Academy  und  des  British  Museum  aus  der 
Zeit  1760—1830  so  zahlreich  sind.  Also  Wert  oder  Unwert  der 
Handschrift  kommt  nicht  in  Frage,  ja  die  Handschrift  überhaupt 
nicht,  sondern  nur  ob  katalogisiert  oder  nicht. 

Höchst  unbequem  war  für  Herrn  D'Arbois  die  kleine  irische 
Handschriftensammlung  im  Franziskanerkloster  in  Dublin.  Sie  ist 
erst  Anfang  der  70er  Jahre  von  Rom  dorthin  gekommen  und  ent- 
hält die  dürftigen  Beste  der  schOnen  Irischen  Bibliothek,  welche 
Irische  Franziskaner  in  der  ersten  Hälfte  des  17.  Jahrh.  in  Löwen 
sammelten.  Zwar  sind  neben  dem  Katalog  der  vollständigen  Samm- 
lung, welcher  kurz  nach  Colgans  Tode  (1658)  aufgenommen  wurde, 
mehrere  jüngere  vorhanden,  so  besonders  der  Gilberts,  welcher  im 
Jahre  1873  angefertigt  wurde  und  die  kurz  vorher  nach  Dublin  ge- 
kommenen Beste  aufzählt  (gedruckt  in  Fourth  report  of  the  royal 
Commission  on  historical  manuscripts  p.  601  ff.) ;  aber  der  reichte 
für  Herrn  D'Arbois  Zwecke  nicht  aus,  da  er  nur  die  Handschriften 
aufzählt,  nicht  aber  den  Inhalt  und  die  einzelnen  Teile  mit  genügen- 
dem Detail  analysiert.  Stolz  bemerkt  daher  Herr  D'Arbois:  »Je  ne 
me  suis  pas  contente  de  ce  catalogue,  et  je  me  suis  rendu  au  con- 
vent des  Franciscains,  oü  j'ai  6ii  introduit  par  le  rev6rend  C.  Mehan, 
savant  pretre  catholique,  anquel  j'avais  et6  pr^ente  par  M.  W.  Hen- 
nessyt.  Gewiß  eine  respektable  Leistung,  wenn  ein  Gelehrter,  der 
in  der  Absicht  einen  Katalog  der  epischen  Stoffe  in  irischer  Sprache 
zu  verfassen  von  Paris  nach  Dublin  geschickt  ist,  sich  leibhaftig  in 
die  Bibliothek  der  Franziskaner  daselbst  begibt  und  sich  nicht  mit 
einem  ungenügenden  Katalog  begnügt,  der  um  billiges  in  Paris 
käuflich  ist  Wir  finden  also  Herrn  D'Arbois  einmal  wirklich  vis-a- 
vis  von  irischen  Handschriften.  Die  Art  und  Weise,  wie  er  sich  über 
diese  schwierige  Lage  hinweg  hilft,  ist  lehrreich  in  wissenschaftlicher 
Beziehung  und  lehrreich  hinsichtlich  des  Charakters  des  Mannes. 
Er  ßlhrt  in  direktem  Anschluß  an  die  eben  citierten  Worte  fort 
(p.  LXXIX) :  > J'ai  6t6  accueilli  avec  la  courtoisie  la  plus  parfaite, 
mais  les  röglements  du  monastire  out  rendu  tris  difficile  le  travail 
de  verification  auquel  je  voulais  me  livrer.  Les  manuscrits  venus 
de  Saint-Isidore  de  Bome  sont  enfermäs  dans  un  coffre-fort  dont 
le  p&re  gardien  ne  confie  k  personne  la  cli,  et  le  p6re  gardien  n'est 
ordinairement  visible  que  pendant  quelques  minutes  tout  les  jours, 
de  une  heure  k  une  heure  un  quart  environ.  Dans  ces  conditionSi 
il    est   ais^  d'obtenir  la   communication  d'un  manuscrit  qui  sort  da 


D'Arbois  de  JuJ^ainville,  Essai  d'un  catalogue  de  la  litt,  i^pique  de  llrlande.    167 

eoffre-fort;  on  le  lit  sons  la  sarveillance  incessante  d'an  religieux 
moins  occnpä  que  le  p6re  gardien,  et  qui  peat  tous  lea  joars,  avec 
aatant  de  devoaement  que  d'enna],  coDsacrer  quelques  heures  k  la 
garde  du  pr^cieux  manuscrit.  L'intervalle  d'une  heure  k  quatre  6tait 
celui  qui  m'avait  6te  fixe.  Mais  sons  Tempire  de  cette  r^glemeuta- 
tion,  il  n'ätait  pas  ais^  d'^tudier la colleetion  dans  son  ensemble. 
Les  nianuscrits  ne  sont  point  num^rotös;  ils  sont  d6poB^  dans  le 
eoffre-fort  sans  aucun  ordre,  m616s  m6me  k  des  imprimes  de  valenr 
m^dioere.  L'offre  que  j'ai  faite  de  lear  donner  les  cotes  dn  cata- 
logue de  M.  Gilbert  et  de  les  disposer  dans  Tordre  de  ces  cotes  a  et6 
rejetee»  Mon  travail  est  reste parcons^quentincomplet«. 
Fast  ebenso  viele  grobe  Unwahrheiten  als  Behauptungen!  Ich 
habe  zu  zwei  verschiedenen  Zeiten  (August-September  1878,  März- 
April  1885)  wochenlang  im  Franziskanerkloster  in  Dublin  gearbeitet 
und  hatte  keine  andere  Einführung  als  die  des  Herrn  D'Arbois, 
nämlich  eine  Empfehlungskarte  von  Hennessy.  Bei  ersterer  Gele- 
genheit fand  ich  Rev.  Theob.  Carey,  bei  letzterer  Bev.  N.  A.  Hill 
als  Bibliothekar  vor.  Von  beiden  mit  gleicher  Liebenswürdigkeit 
aufgenommen,  habe  ich  Tag  ein  Tag  aus  von  Morgens  9  bis  Abends  6 
oder  7  Uhr  —  ganz  nach  meinem  Behagen  —  ungestört  und  u  n- 
beaufsichtigt  gearbeitet.  Die  Bibliothek  des  Convents  ist  ein 
mäßig  großes  Studierzimmer,  worin  neben  Bücherregalen,  zwei  Ar- 
beitstischen ein  feuerfester  Schrank  steht,  der  mit  anderen  Wert- 
sachen auch  die  Handschriften  enthält  in  einer  Zahl  und  Umfang, 
daß  man  sie  bequem  unter  beiden  Armen  forttragen  kann.  Aus  die- 
sem Schrank  wurde  mir  gegeben,  resp.  ich  durfte  mir  in  Gegen- 
wart des  Bibliothekars  aussuchen,  was  ich  zur  Arbeit 
brauchte.  Den  Schlüssel  zum  Schrank  nahm  natürlich  der  Biblio- 
thekar an  sich,  der  sich  in  den  ersten  Tagen  mindestens  10  mal  am 
Tage  einstellte  oder  sich  erkundigeo  ließ,  ob  ich  eine  Handschrift 
oder  sonst  was  brauche.  Sobald  ich  das  Gewünschte  gefunden  hatte, 
habe  ich  tagelang  von  Morgens  9  bis  Abends  4  oder  5  gearbeitet 
durch  nichts  unterbrochen  als  durch  das  mir  gastlich  gebrachte 
Frühstück.  Ich  bemerke  zur  Charakteristik  noch  folgende  Einzel- 
heiten: 1878  wurde  mir  gestattet  gelegentlich  Sonntags  nach  12  Uhr 
zu  arbeiten,  ebenso  am  4.  Oktober,  dem  Tage  des  heil.  Franziskus, 
im  Oktober  habe  ich  in  den  Abendstunden  von  6—9  bei  Licht  O'Cle- 
rys  Sanasan  nüa  abgeschrieben;  1885  wurde  meinetwegen  im  März- 
April  fortwährend  die  Bibliothek  geheizt,  ich  habe  Gründonnerstag 
und  Gharfreitag  gearbeitet  und  in  liberalster  Weise  wurde  mir  auf 
meine  Bitte  Zutritt  für  ersten  Ostertag  nach  12  Uhr  zugesagt,  wovon 
ieb  keinen  Gebrauch  machte,  sondern  einer  Einladung  Dr.  Mac  Gar* 


168  Gott.  gel.  Änz.  1887.  Nr.  5. 

tbys  naeh  Macroom  folgte.  Ich  gehe  nar  höchst  nngern  aaf  diese 
persänlichen  Dinge  ein,  glaube  aber  gegenttber  den  anerhörten  Un- 
wahr heiteD,  die  Herr  D'Arbois  zum  Besten  gibt;  es  den  Franziskanern 
schuldig  zu  sein:  ich  habe  nirgends  so  angenehm  und  liberal  be- 
handelt gearbeitet  als  bei  ihnen.  Stokes  hat  öffentlich  seinen  Dank 
für  die  Liberalität  ausgesprochen,  die  er  in  der  Klosterbibliothek 
fand,  und  mir  ist  glaubwürdig  versichert,  daß  er  sowohl  wie  Hen- 
nessy  mehr  als  einmal  am  Sonntag  Nachmittag  im  Franziskaner- 
konvent über  Handschriften  saßen.  Die  Entrüstung  über  die  oben 
angeführte  Münchbausiade  des  Herrn  D'Arbois  ist  daher  in  Dublin 
nicht  bloß  bei  den  davon  betroffenen  Franziskanern  zu  treffen. 

Der  Grund,  warum  Herr  D'Arbois  zu  solchen  Unwahrheiten 
greift,  ist  klar:  er  wollte  damit  verdecken,  daß  er  unfähig  ist  mit 
Irischen  Handschriften  etwas  anzufangen;  weniger  verwerflich  wird 
seine  Handlungsweise  dadurch  nicht 

Man  ist  gespannt,  was  denn  überhaupt  bei  dem  Besuch  im  Fran- 
ziskanerkloster für  Herrn  D'Arbois  herausgekommen  ist.  Er  be- 
ginnt seine  auf  Autopsie  gegründeten  Mitteilungen 
damit,  daß  er  von  den  fünf  Seiten,  welche  er  den 
Handschriften  der  Franziskaner  widmet,  nahezu  eine 
Seite  auf  die  Beschreibung  eines  Ms.  verwendet,  das 
er  nicht  gesehen  hat  (S.  LXXXff.);  dann  spricht  er  mehr  als 
eine  Seite  von  einer  Handschrift  sehr  gelehrt,  über  die  er  sich  gar 
Notizen  will  gesammelt  haben,  »mais  les  notes  que  j'ai  recneillies 
n'ont  plus  d'ntilit6  depuis  que  M.  Zimmer  a  insert  un  travail  iden- 
tique,  et  mSme  sur  certains  points  plus  detaill6,  dans  ses  Keltische 
Studien,  p.  13 — 15c.  Doch  halt,  S.  LXXXIII  spricht  er  über  eine 
Handschrift,  die  im  Katalog  von  Gilbert  nicht  steht,  wohl  aber  im 
Nachlaß  Golgans  (1658)  erwähnt  wird:  ^ÄgaUamh  na  seneorach  Dia- 
logue  des  vieillards,  quatre-vingt-une  pages  num6rot^s,  dont  les 
quatre  premiers  manquent;  c'est  un  des  manuscrits  les  plus 
importants  de  ce  morceau,  dans  lequel  on  reconnidt  un  des  testes 
fondamentaux  du  cycle  ossianique«.  Nur  5  Zeilen,  gewiß  dürftig 
gegenüber  der  sonstigen  Redseligkeit,  und  was  sie  enthalten  ist 
größtenteils  ganz  falsch  oder  nur  halb  richtig. 

Die  Pergamenthandschrift,  die  auf  der  Außenseite  den  Titel 
Ägall.  na  seneorach  und  darunter  von  jüngerer  Hand  No.  12  trägt, 
beginnt  allerdings  scheinbar  mit  Seite  5,  aber  in  der  Handschrift 
lag  1878  und  1885  —  also  vor  und  nach  Herrn  D'Arbois  Anwesen- 
heit —  ein  Doppelpergamentblatt  von  derselben  Größe  wie  der  Co- 
dex, welches  den  fehlenden  Anfang  enthält:  Seite  5  be- 
ginnt mit  dodäinib  icarabatar  sin  aar  Patric  und  Seite  4b  Mitte  endet 


I 


D^Arbois  de  Jubainville,  Essai  d'lin  catalogue  de  la  litt,  dpique  de  I'Irlande.    169 

mit  mor  dodainib  icarabatarsin,  also  dem  Anfang  von  Seite  5.  Dann 
folgt  S.  4  b  noch  feuch  ar  do  laim  deis  cdeighthecir  finis  d.  h.  »schaue 
rechter  Hand  o  Leser,  wo  Fortsetzung  folgte ,  wodurch  sich  diese 
Blätter  als  beabsichtigte  alte  Ergänzung  der  wahrscheinlich  beschä- 
digten ersten  Blätter  ergeben.  Also  der  Anfang  fehlt  nicht 
Da  Seite  41  zweimal  gezählt  ist,  so  tritt  von  S.  42  die  seltene 
Erscheinung  ein,  daß  die  geraden  Zahlen  die  Vorderseite  der  Blätter 
bezeichnen,  mithin  S.  81  Rückseite  eines  Blattes  ist  und  die  Hand- 
schrift also  nicht  81,  sondern  82  Seiten  enthält  Da 
Herr  D'Arbois  nun  angibt,  daß  im  Anfang  4  Seiten  fehlen  —  was 
nicht  richtig  ist  —  so  muß  man  annehmen,  daß  die  Handschrift  am 
Schluß  vollständig  ist,  was  wieder  nicht  zutrifft  Sie  schließt  S.  81 
mit  den  Worten  Caide  taignedsin  imme  siut  a  Chats  Coraig  ar  Caäte 
ise  maigned.  Hätte  Herr  D'Arbois  eine  Ahnung  von  dem  Inhalt  dieses 
Fnndamentaltextes,  wie  man  aus  seinen  gelehrten  Worten  sowie  sei- 
nen Bemerkungen  S.  3.  4  eigentlich  schließen  muß,  so  müßte  er  wis- 
sen ,  daß  dies  nicht  Schluß  sein  kann :  es  entspricht  Book  of  Lis- 
more  fol.  239  b,  2  und  Laud.  610,  fol.  145  a,  1.  Es  folgt  denn  auch 
auf  S.  82  Fortsetzung  von  der  Hand  des  Schreibers,  wel- 
cher S.  1 — 4  ergänzte;  auch  diese  Fortsetzung  bringt  den  Schluß 
nicht:  sie  endet  mitten  auf  S.  83  erste  Spalte  mit  tainic  remhe 
iarsin  godorus  intsida  7  dorinne  lamach  mos  fior  et  cetera  gleich 
Land.  610,  fol.  145  a,  2.  Darunter  steht  ni  hfuü  ann  n^s  mö  re 
scriobh(adh)  don  cor  so  7  dam{eth)  dodheanmais  arndioihcheU  fair 
d.  h.  »für  jetzt  ist  nicht  mehr  zum  Schreiben  hierunter 
vorhanden  und  wenn  wäre,  dann  würden  wir  unsern 
Fleiß  darauf  verwendenc 

Es  läßt  sich  demnach  annehmen,  daß  von  einer  vollständigen 
Handschrift  des  AgäUamh  na  senorach  die  ersten  und  letzten  Blätter 
beschädigt,  resp.  abgerissen  waren ;  während  der  Anfang  (2  Blätter) 
wenigstens  erhalten  war,  so  daß  nur  die  beschädigten  Blätter  brauch- 
ten umgeschrieben  zu  werden,  waren  von  den  Schlußblättern  einige 
verloren  gegangen.  Von  der  Hand  des  Restaurators  der  Handschrift 
steht  auf  dem  gebliebenen  leeren  Baum  S.  4  b  Agsin  daibh  enrt  % 
agan  7  mobheandacht  fein  maille  reis  da  bar  nionsoigh{eadh)  7  cuirim 
fiaghnuisi  ar  dia  gid  nach  cöir  athögbhail  mfiagnuisi  acht  goro  deng- 
moHa  nach  me  is  ciontaighe  res  in  leabarso  aolcus  ata  scrU>btha  acht 
droch  metnbrum  7  beean  aimsire  etoa  (mit  Abkürzungszeichen  übero) 
bar  ncuine  for  MaoiUr  b{rü)c^  woraus  wir  sehen,  daß  die  Restaura- 
tion für  einen  Henry  O'Hagan  geschah  und  der  Schreiber  die  schlechte 
Schrift  entschuldigt. 

üeber  Schreiber,   resp.  Benutzer  der  Handschrift  selbst  ergibt 

Q^n,  gel.  Abi.  18S7.  Nr.  6.  13 


( 


( 


170  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  5. 

sich:  S.  13  unten  steht  misi  Concob.  o.  D  (nicht  Schreiber  der  Hand- 
Schrift),  S.  25  unten  Fiorifiduine  ma.  Firbis,  S.  56  von  jüngerer  Hand 
unten  1589  (5  unsicher),  S.  57  wieder  andere  Hand  misi  Morch,  o 
maoüochluin  (?)  dosgribso^  S.  65  unten  Manam  duid  ade  (xth{air) 
timna  iscoir  docrichnach  (adh)  nifath  dimda  modhol.  domtimna  istraih 
tindsgnama,  dasselbe  zwischen  erster  und  zweiter  Spalte  66  (nur 
mogol,  domtimna)  und  darunter  is  misi  Niall  O'Maoilechb  . . .  dosgri- 
obso  an  agaUaim  nasenorach  antaonud  la  deg  d.  h.  »ich  Niall  0*Ma- 
oilechb  . . .  schrieb  die  Unterhaitang  der  Alten  den  elften  Tage. 
Seite  83  steht  nach  der  angeführten  Klage  des  Restaurators  ein  Ge- 
dicht aus  zwei  Strophen  beginnend  üch  is  mairg  ön  och  is  fnairg 
atd  fdn  saoghol  ag  spairng\  ganz  unten  auf  der  Seite  lesen  wir  Mo 
mheallacht  ort  aPhinn,  darlind  ataoi  goholc  mar  nach  (?)  bfuart4stu 
regies,  ata  in  lebran  fein  goholc:  wenn  man  bedenkt,  daß  zahlreiche 
Episoden  des  Textes  von  den  galanten  Abenteuern  des  Finn  Mac 
Gumail,  Oisin,  Gailte  und  anderer  Helden  bandeln,  dann  wird  mao 
begreifen,  wie  ein  streng  denkender  Klosterbruder  in  asketischem 
Eifer  sich  zu  den  Worten  »Sei  verflucht  o  FingaU  konnte  hinreißen 
lassen  und  die  Handschrift  ein  »schlechtes  Buch«  nennt.  Auf  der 
nicht  paginierten  Umschlagsseite  stehn  zwei  dreistrophige  Gedichte 
beginnend  A  dhüibh  dil  in  ccluititi  angair  und  Dercc  anocht  cörr  mo 
cruit. 

Fttr  Kenntnis  und  Herausgabe  des  ältesten  zusammenhängenden 
Textes  des  Ossiansagenkreis  kommen,  wie  oben  S.  158  ausgeführt, 
überhaupt  nur  4  Handschriften  in  Betracht:  der  Herrn  D'Arbois  nn* 
bekannte  Text  in  Land  610,  fol.  123—146,  dann  Book  of  Lismore 
und  Bawl.  487,  endlich  in  letzter  Linie  die  in  Rede  stehende 
Franziskanerhandschrift.  Letzteres  darum,  weil  der  Schreiber  der 
Handschrift  die  schlichte  und  volkstümliche  Prosaerzählung  der  an- 
deren Handschriften  durch  geschmacklose  Häufung  von  schmücken- 
den Beiwörtern  und  ungeschickte  auf  Reminiscenzen  aus  anderen 
Texten  beruhenden  Redefloskeln  verunstaltet  hat. 

Vorstehender  Kommentar  zu  Herrn  D'Arbois'  Worten  (s.  oben 
S.  168)  wird  genügen,  um  des  Mannes  ganze  Hilfs-  und  Ratlosigkeit 
zu  zeigen  gegenüber  einer  irischen  Handschrift,  über  welche  Kata- 
löge  nichts  zum  Ausschreiben  bieten. 

Höchst  auffallend  ist,  daß  Herr  D'Arbois  unter  den  wenigen 
Handschriften  des  Franziskanerklosters  eine  nicht  erwähnt,  welche 
durch  Umfang  und  Dicke  schon  auffällt  und  auch  sachlich  von  ganz 
bedeutendem  Wert  ist.  Es  ist  eine  Papierhandschrift  in  groß-Oktay, 
welche  in  einem  alten  Bucheinband  liegt,  der  auf  der  Vorderseitd 
oben  :  anno,  unten :  1628  trägt.    Der  eigentliche  Papierumschlag  trägt 


D'Arbois  de  JabainTiIle,  Essai  d'an  catalogue  de  la  litt,  ^pique  de  I'lrlande.    171 

mehrere  Stempel  nod  die  Nummer  2.  Blatt  I  und  2  sind  zerrissen. 
Diese  Handschrift  enthält  auf  fol.  1  bis  129a  unten 
eine  getreue  Abschrift  der  eben  besprochenen  Agal- 
lamhandschrift  und  zwar  in  ihrem  restaurierten  Znstande :  sie 
endigt  dorinne  lafnh{ach)  mcLS  fSOrlt  es  fehlt  also  nur  et  cetera  der 
Vorlage.  Bei  schwer  lesbaren  Stellen  der  Vorlage  habe  ich  die  Ab- 
schrift öfters  mit  Erfolg  zu  Bate  gezogen,  dabei  auch  gefunden,  daß 
einzelne  Blätter  nachträglich  (d.  h.  nach  dem  Binden)  herausgeris- 
sen sind. 

Seite  129b  beginnt  Agso  duit  trachiad  aithger  ar  seüg  ddbi  ag 
Finn  mac  Cumaill  ar  Benn  Edair  »hiermit  hast  du  einen  kurzen 
Bericht  über  die  Jagd,  welche  durch  Fingal  in  Howth  standfandc  und 
des  Weiteren  wird  in  der  Inhaltsaugabe  mitgeteilt,  daß  die  Erzäh- 
lung auch  berichtet  mar  do  cuiredar  astech  go  crioch  Loehlann  iad 
(sc.  seclU  catha  na  Feine)  mar  do  sgriosadar  riogacht  Magnuia  nikör 
le  cungnamh  Oscair  mhic  Osin:  do  marbhse  an  Cailleach  dobith  ag 
aithbeochad  muintere  Maghnuis  mic  Bi  Loehlann^  d.  h.  wie  sie  hin- 
aus nach  Norwegen  schickten  die  6  Schaaren  der  Fenier,  wie  sie  das 
Seich  des  Magnus  mör  vernichten  mit  Hilfe  Oskars  des  Sohnes  des 
Ossian :  der  tötete  die  Jungfrau,  welche  das  Gefolge  des  Magnus  des 
Sohns  des  Königs  von  Lochland  wieder  erweckte«.  Die  Erzählung 
beginnt  Feachd  naon  daraibh  cronned  ag  ionadh  sdga  ar  Fionaib 
Eirion  ag  Fionn  mac  Cumail.  Eine  wunderbare  Mischung:  irische 
Sagenelemente  gemischt  mit  dem  historischen  König  Magnus  von 
Norwegen,  welcher  den  Versuch  Irland  in  gewohnter  Weise  auszu- 
plündern im  Jahre  1103  an  der  Küste  von  Ulsterland  mit  dem  Le- 
ben büßte;  dazu  die  nordisch-germanische  Hildensage,  denn  »die 
Jitngfrau,  welche  pflegte  dasGefolge  desMagnus  des 
Sohns  des  Königs  von  Lochland  wieder  zum  Leben  zu 
erweckenc  und  die  von  Oskar,  Ossians  Sohn  getötet 
wurde,  ist  sicher  die  nordgermanische  Hilde.  O'Grady 
f&hrt  (Ossianic  Soc.  3,  18)  ein  comhrac  Mhaghnuis  mhic  righ  Loch- 
latirn,  modernes  Gedicht  in  32  Strophen  und  ebendaselbst  ein  40- 
strophisches  Lied  an  betitelt:  Laoidh  Mhaghnuis  righ  Locfdainn; 
die  Handschriften  des  letzteren  gehn  nach  Herrn  D'Arbois  (S.  164) 
bis  1726  znrück. 

Nachdem  in  der  Handschrift  eine  Anzahl  Blätter  leer  gelassen 
ist,  beginnt  eine  neue  Paginiernng  bis  zu  Ende:  fol.  1—94.  Die- 
ser Teil  der  Handschrift  enthält  auf  fol.  1— 94a  Mitte 
die  stattliche  Zahl  von  69  Gedichten  aus  dem  Ossian- 
sagenkreis nnd  wird  vom  Schreiber  selbst  Duanaire  Finn   »Fin- 

18  • 


172  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  5. 

gals  Liederbuch c  genannt!   Folgendes  sind  die  Strophenanfänge  der 

einzelnen  Gedichte  fol. 

Eol  damh  senchus  feine  Finn  la 

Oumain  let  a  Oissin  fheü  2a 

Ä  chaorthuinn  Clüana  ferta  3b 

SgSla  catha  Chruinn  mhona  4b 

A  bhen  den  folcud  mochinn  6b 

Fuür  ar  naghaigh  aloch  luig  8a 

Maidim  inmhaidin  faglonn  9a 

Ceist  agam  ort  a  ChaoiUe  10a 

Mo  whallackt  ar  chloinn  Baoisgne  10b 

A  bhean  beir  let  moleine  10b 

Fiond  ße  ha  fer  goU  IIa 

Fegthar  teeh  Finn  anÄlmain  IIb 

Aonach  so  amaigh  eala  inrt  12b 

Fuaramar  seüg  iar  sanihuin  14a 

Sgriobh  sin  aBhrogain  sgribh  inn  15a 

Uchan  asgeUh  morXogh  reü  15b 

Siothdl  Chaüti  cUa  rosfuair  17  b 

Eüchtach  ingen  DermaUa  21b 

Anocht  ftr  deiredh  nafflan  22b 

A  doidimh  chMrckXn  inchluig  23b 

Claidktear  leibh  leab{aid)  Osguir  27b 

Abair  aOistn  nihic  Finn  29a 

Fleadh  rosfuair  Corbmac  öFionn  31b 

La  röbhamor  ar  stidbh  Truim  40a 

Dobhadhfisa  uair,   fa  foÜ  buidhecas  43a 

Mairg  ismuinter  do  cl^rchib  43a 

Trüagh  sin  aChaoilte  achara  43a 

TricLT  laoeh  dochuadhmor  dosheüg  43b 

Dfrgidh  bhar  sleagha  sealga  43b 

Gorta  chüle  crfdn  locha  43b 

A  muicidh  seolam  sasliäbh  44a 

Cruth  gadoir  agcnoc  na  rfogh  44a 

Codaü  began  began  beg  44b 

Abhean  labhrtis  rinn  anlaoidh  45a 

Uaihadh  damh  sa  coirtheso  45b 

Sgrfdbh  sin  aBrogain  sgribh  inn  50a 

Fiafraighis  Patraic  Macha  52a 

ALorchain  mheic  Luigdech  lain  52b 

A  Oisin  dUi  infert  dona  54a 

An  seisior  triür  attigim  ar  deisiol  57b 


D'Arbois  de  Jubainville,  Essai  d'uu  catalogue  de  la  litt,  äpique  de  Tlrlande.    173 

fol 
CUoiban  cuü  ctä  doroine  58a 

Ältd  ttdcha  tuaifhe  shuas  58b 

Agso  inföd  inarghein  Fionn  63a 

Cairdius  logha  rE  droing  danfsin  64b 

Innis  aOisin  echtaigh  65a 

Fiamain  mae  Faraigh  goftar  65b 

IsS  sud  colg  inlaoigh  lain  65b 

Derg  ruafhar  cloinne  Mama  68a 

A  OisfH  inraidhe  rinn  69a 

A  Oistn  fuirigh  ardta  70b 

Eirigh  suos  aOi^n  71b 

Eirigh  suOs  aOsgair  71b 

Faöidh  cluig  dochüäla  andruitn  deirg  72a 

Domhnach  lodmair  tar  luachair  72b 

Is  fada  anocht  anoil  Finn  73b 

Mairg  fuil  arhiarr{ad)  aSrain  73b 

A  Oi^n  isfada  doshuan  74b 

La  dandech{aidh)  Fiann  ndbfian  doseüg  ar  sliaibh  namban  fionn  75b 
La  da  rabJMmur  andün  bö  76a 

In  ceüala  tä  ftana  Finn  77a 

La  dandech(aidk)  Fionn  nabftan  doseilg  ar  beinn  6ulb(m)  ^Sar  78a 
La  dobf  sealg  slsibhe  Guülenn  78b 

Aithreos  caithreim  infirmoir  83b 

Leacht  Cruill  dochraidh  mochraidhe  85b 

La  daraibh  Fionn  ag  61  anAlmhain  86b 

In  cumhhain  let  aOisin  fhsü  87a 

La  daraibh  Padraie  andün  89b 

Dtibach  sin  abhenn  Ohüalann  abend  nan  uabhar  90b 

Cumain  liom  animirt,  dabi  ag  flaith  naffian  93b 

Wie  weit  einzelne  Lieder  dieser  Sammlung  sich  einerseits  mit 
den  in  >die  Unterbaltnng  der  Alten«  eingestreuten,  andererseits  mit 
solchen  in  der  schottischen  Sammlung  des  Dean  of  Lismore  (Mao- 
gregor) ans  dem  16.  Jahrhundert  teilweise  decken  und  berühren,  kann 
hier  nicht  untersucht  werden;  noch  weniger,  in  welchem  Verhält- 
nis moderne  ossianische  Gedichte  dazu  stehn:  ich  will  vorläufig  bloB 
auf  diese  Fundgrube  aufmerksam  gemacht  haben. 

Ueber  Zeit  und  Ort  der  Entstehung  dieser  wertvollen  bis  jetzt 
unbekannten  Handschrift  ergibt  sich  folgendes:  fol.  35b  unten  nennt 
sich  der  Schreiber  NiaU  gruamdha  OCathan  »Niall  O'Cathan  der 
saure  (bittere)«.  56a  unterer  Rand  steht  anoist^n  indeich  ...  la  tl. 
Seiptemper.  1626.  er  ich  in  ledbair  ouid  seo  7  go  ndena  dia  trocairi 


174  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  5. 

or  in  hfer  rosgribh  •/*  NiaU  gruamda  OCath.  cc.  7  air  fhir  in  Uub(uir) 
mar  incetna  ./.  Somairle  mac  Domnaül  rl.  Auf  den  4.  Oktober  und 
ein  FraDziskanerkloster  weist  die  Bemerkang  fol.  64b  unten  Änfugh 
trosgudhla  8.  Proindsios  mo  patrüin  bennaig  7  co  nguidh{edh)  sE  aar 
arson  dochum  De  nime,  amen,  Folio  90a  unten  steht  16.  Oktober 
1626;  fol.  97a  unten  2.  desemper  1626.  aLobhan  don  leabursa  da 
sgrtbh{aidh)se  NiaU  OCath,  Wir  sehen  also,  daß  die  Kopie  »der 
Unterredung  der  Alten«  im  Herbst  und  Winter  1626  von  einem 
Franziskaner  Niall  OCathain  dem  sauren  (herben)  in  Löwen  fttr 
einen  Somairle  mac  Domnaill  angefertigt  wurde. 

Der  Schreiber  der  zweiten  Hälfte,  der  Liedersammlung,  ist  ein 
anderer:  fol.  39b  Schluß  steht  vom  Schreiber  Agsin  duit  a  chaipt%n 
Samhairle  7  ni  fedium  niosa  mho  dosgriöbad  anuairsi  obhuaidhr{edh) 
in  cretha]  fol.  74a  Schluß  klagt  er,  daß  ihm  die  Vorlage  ausgegan- 
gen: Agsin  duit  ackaiptin  Samhairle  et  da  ffaghuinn  nt  badh  mo  in- 
nasin  do  Dtianaire  Finn  rE  na  sgrtob.  dodhenainn  daoibsi  e.  mist 
Aodh  ö  Docart{aigh)  dosgriobh.  anoisdin  in  12.  Fdmrnri  1627  Es 
muß  lange  gedauert  haben  bis  neues  Manuskript  in  seine  Hände 
kam  und  dann  nicht  viel,  denn  fol.  93a  unten  klagt  er  schon  wie- 
der Daffagainn  nt  b(adh)  mo  ina  affuarus  dosgribhAhuinn  iad,  anoisdin 
in  6.  Augustus  16ä7.  »Fingais  Liederbuch«  wurde  also  in  direktem 
Anschluß  an  den  ersten  Teil  der  Handschrift  im  Laufe  des  Jahres 
1627  geschrieben  und  zwar  mit  großen  Unterbrechungen,  da  dem 
Schreiber  Hugh  O'Doherty  die  Vorlage  nur  bruchstückweise  zugieng. 
Der  Auftraggeber  ist  Captain  Somhairle,  der  wohl  identisch  ist  mit 
Somairle  mac  Domnaill  im  ersten  Teil  der  Handschrift;  es  wird  da- 
durch wahrscheinlich,  daß  auch  der  zweite  Teil  in  Löwen  geschrie- 
ben ist. 

Die  vorkommenden  Namen  weisen  nach  Nord-Irland:  die  O'Do- 
hertys  sind  eine  seit  dem  12.  Jahrb.  in  den  Annalen  häufig  auf- 
tretende Ulsterfamilie,  ein  Cahir  O'Doherty  Lord  von  Innishowen 
(Country  Donegal)  erhob  1608  die  Fahne  des  Aufstandes  gegen  die 
Engländer.  Die  O'Eanes  {CfGathain)  sind  gleichfalls  ein  hochange- 
sehenes Geschlecht  in  Ulsterland,  das  noch  viel  häufiger  in  den  An- 
nalen erwähnt  wird  wie  die  O'Dohertys.  Der  Name  Somhairle  tritt 
in  den  Irischen  Annalen  zuerst  1083  auf,  in  welchem  Jahre  So^ 
mhairle  mac  Giollohrigde  als  König  der  Hebriden  stirbt.  Hier  auf 
den  Hebriden  halten  die  Somhairle  eine  mächtige  Herrschaft  bis 
Ende  des  15.  Jahrhunderts.  Ein  jüngerer  Somhairle  erwirbt  Argyle 
{Airer-Gaoidhedl)  und  wird  Ahnherr  der  angesehenen  Familien  der 
Mac  Donnell,  Mac  Dougall,  Mac  Hory,  bei  denen  der  Name  Som- 
hairle (englisch  Sorley)  häufig  auftritt    An  den  Kämpfen  der  mäch- 


D'Arbo  is  de  Jubainville,  Essai  d^un  catalogae  de  la  litt,  dpique  de  I'Irlande.     175 

tigen  Ulsterfamilieu  vom  12.  bis  15.  Jahrh.  nehmen  sie  eifrig  An- 
teil, sodaß  öfters  einzelne  Glieder  des  Clann-Somhairle  anf  entgegen- 
gesetzter Seite  kämpfen  (s.  Annalen  der  4  Meister  1366).  Ende  des 
14.  Jahrhunderts  fassen  sie  durch  Heirat  in  der  den  Hebriden  and 
Argyie  benachbarten  Ulstergrafschaft  Antrim  festen  Faß  and  gelan- 
gen dort  nach  and  nach  zu  großer  Macht  and  Besitz^)  Somhairle 
Buidhe  Mac  Domnaill  (Sorley  Boy  Mac  Donnell)  nnterwirft  sich  1573 
der  Königin  Elisabeth;  sein  zweiter  Sohn  wird  erster  Earl  of  Antrim. 
Ueber  den  »Captain  Sorley  Mac  Donnell  {Somhairle  Mac  DomnaiU), 
der  sich  »die  Unterhai tang  der  Alten c  and  »Fingais  Liederbach c 
1626  and  1627  von  den  Franziskanern  Neal  O'Kane  (Niall  O'Ca- 
thain)  and  Hagh  O'Doherty  {Aodh  O'Dochartaigh)  in  Löwen  ab- 
schreiben ließ,  weiß  ich  aas  den  mir  za  Gebote  stehenden  Qaellen 
Nichts  beizabringen.  VermatUch  gehörte  er  dem  Antrim-Zweige  der 
Mac  Donneils  an.  Jedenfalls  ist  die  Handschrift  ein  gewichtiges 
Zeugnis  für  das  Interesse,  welches  man  im  Anfang  des  17.  Jahrh. 
in  Ulster  am  Ossiansagenkreis  nahm  und  zwar  in  dem  Teile  der 
Provinz,  welcher  durch  viele  Fäden  an  das  nachbarliche  Argyie 
geknüpft  war,  wo  Dean  Macgregor  ein  Jahrhundert  früher  ein  ähn- 
liches »Liederbuch  Fingais«  aufzeichnete,  wie  es  Hugh  O'Doherty 
fttr  Eaptain  Sorley  Mac  Donnell  abschrieb. 

Fast   unmittelbar  auf   den  Schluß  des  Dtianaire  Finn  fol.  94a 
Mitte  folgt  von  jüngerer  Hand  ein  Gedicht,  in  dem  der  Schreiber 
persönliche  Erlebnisse  schildert.    Es  beginnt: 
Olc  mothuras  son  ö  Lundain  go  Cnoc  Samhruigh  aoibhinn  aird 
Fuanis  ainnsein  mur  nar  saoilios  began  aoibhnis  easbaid  graidh 
Doshaoüis  gombiad  sandUnsoin  faäte  romham  ar  son  De 
Mur  nar  saoilios  tOrla  damhsa  beg  fartor  dorn  amgar  S. 
Anf  fol.  94b  Mitte  steht  >to  Sister  Sumtisset  att  the  English  Qe- 
resan  (?)  in  hier*    Darunter 

»t70or  susier  Sumuset  in  de  English  Gresan  tot  Lier€. 
Durch  diesen  Nachweis  zweier  Handschriften  mit  dem  Text 
AgäUaimh  na  seanorach  in  der  Sammlung  der  Franziskaner  werden 
wir  in  den  Stand  gesetzt,  einen  Irrtum  im  Katalog  Gilberts  zu  be- 
richtigen. Gilbert  bringt  sämtliche  Handschriften  und  Fragmente 
solcher  in  der  Bibliothek  der  Franziskaner  zu  Dublin  unter  40  Num- 
mern, von  denen  26  Irisches  bieten.  Unter  ihnen  sollen  zwei  (die 
Nummern  4  und  29)   den  Text  benannt  ÄeaUam  in  da  st^ad  »die 


I 


I 

1)  Den  Stammbaum  dieser  Mac  Donnells  von  Antrim  gibt  O'Donovan  in  den  1 
Amnerkungen  zum  Jahr  1690   der  Annalen  der  vier  Meister  (Band  6,  S.  1892 

-1896).  \ 


176  Gott.  gel.  Auz.  1887.  Nr.  6. 

Unterhaltung  der  beiden  Weisen«  bieten.  Herr  D'Arbois  ftthrt  sie 
S.  5  unter  den  Quellen  zu  dem  genannten  Text  gewissenhaft  an, 
bemerkt  aber  »Je  n'ai  pas  eu  le  talent  de  les  tronver«.  Sehr  na- 
türlich, da  sich  unter  den  Handschriften  der  Franziskaner  Eopieen 
des  genannten  Textes  thatsächlich  nicht  finden.  Da  nuu;  wie  oben 
nachgewiesen,  2  Handschriften  mit  dem  Text  Äcallam  na  senaraeh 
vorhanden  sind,  welche  Gilbert  in  seinem  Katalog  nicht  kennt,  so 
werden  eben  die  2  Handschriften  Gilberts  mit  Äcallam  in  da  stMdy 
welche  in  der  Sammlung  weder  1878  noch  1885  waren,  mit  jenen 
identisch  sein:  beide  Texte  haben  allerdings  nicht  mehr  gemeinsam 
als  das  Wort  ÄcaUam  im  Titel,  was  aber  für  Leute,  die  weder 
den  einen  noch  den  andern  Text  kennen,  genügt  sie  zu  verwech- 
seln. Ich  weise  noch  darauf  hin,  daß  dabei  die  Anzahl  der  Hand- 
schriften dieselbe  bleibt  wie  in  Gilberts  Aufzählung  und  daß  die 
beiden  Handschriften  von  Äcallam  na  senorach  zu  den  Nummern 
passen,  welche  Gilbert  ihnen  gibt:  mit  No.  4  meint  er  die  erst  be- 
sprochene ältere  Pergamenthandschrift  und  mit  No.  29  die  Papier- 
handschrift von  1626  mit  dem  Duai%aire  Finn.  Es  überstieg  natür- 
lich die  Fähigkeiten  des  Herrn  D'Arbois  vis-ä-vis  den  genannten 
Handschriften  den  Irrtum  zu  erkennen,  zumal  auch  er  keinen  der 
beiden  Texte  selbst  kennt. 

Ich  hoffe  damit  genügend  gezeigt  zu  haben,  daß  genannter 
Herr  nur  diejenigen  Handschriften  studiert  hat,  welche  in  Katalogen 
analysiert  sind  oder  deren  Inhalt  aus  gedruckten  Werken  bekannt 
ist,  und  wende  mich  zum  zweiten  Teil  meiner  Behauptung,  daß  Herr 
D'Arbois  aus  den  von  ihm  »studierten«  Handschriften  nur  die  Texte, 
resp.  die  Titel  der  Texte  kennt,  welche  in  den  Katalogen  vor- 
kommen. 

Im  Jahre  1814  wurde  beim  Aufräumen  von  Trümmern  des  alten 
Gasteils  Lismore  in  der  Grafschaft  Waterford  in  Sttdirland  eine  um- 
fangreiche Pergamenthandschrift  des  15.  Jahrh.  aufgefunden.  Dies 
durch  die  vielen  epischen  Stofife  besonders  wichtige  Dokument  wird 
entweder  Book  of  Mac  Carthy  Biagh  (nach  dem  vermuteten  alten  Be- 
sitzer) oder  Book  of  Lismore  (nach  dem  Fundort)  genannt.  Der  Agent 
des  Herzogs  von  Devonshire,  dem  Lismore  gehört,  lieh  die  Hand- 
schrift bald  nach  ihrer  Auffindung  an  einen  gewissen  O'Flinn  in 
Cork,  welcher  sie  nach  gemachtem  Gebrauch  gebunden  zurück  er- 
stattete. Im  Jahre  1839  machte  O'Curry  eine  Facsimileabschrift  von 
der  Handschrift  für  die  Royal  Irish  Academy,  die  zudem  von  O'Do- 
novan  noch  genau  kollationiert  wurde  und  unter  23.  Q  (ancient  fond 
39.  6)  in  der  Handschriftensammlung  der  Academy  aufbewahrt  wird. 


D'Arbois  de  Jubainvilie,  Essai  d'on  catalogue  de  la  litt  ^pique  de  Tlrlande.    177 

Bei  dieser  Arbeit  wurde  es  O'Cnrry  zur  GewiAbeit,  daß  die  vielen 
feblendeo  Blätter  und  Lagen  ein  ganz  junger  Verlust  sein  müssen, 
erst  eingetreten  naeb  dem  Auffinden  der  HandBchrifty  also  ver- 
mntlieb  in  den  Jabren  1816—1820  in  Cork;  seinen Nacbforschungen 
gelang  es  (vergl.  Manusc.  Mater,  of  ancient  Irish  History  S.  197  ff.) 
zu  eruieren,  daß  in  Cork  und  Umgebung  aus  jener  Zeit  nicbt  nur 
vollkommene  Absebriften  von  Texten  existierten,  die  in  der  zurück- 
gelieferten Handschrift  verstümmelt  sind,  sondern  aucb  Absebriften 
von  Texten,  die  jetzt  ganz  in  ibr  feblten:  sie  waren  von  Micbel 
O'Longan  im  Jabr  1816  im  Haus  des  genannten  O'FIinn  von  dem 
Book  of  Lismore  gemacbt  worden ').  Im  Laufe  der  50er  Jabre 
tancbten  aucb  umfangreiche  Fragmente  der  alten  Handschrift  wieder 
auf,  mit  der  sie  schon  seit  einiger  Zeit  wieder  vereinigt  sind.  Nach 
O'Currys  Tode  gelangte  dann  eine  zweite  Facsimileabscbrift  des 
Book  of  Lismore  in  den  Besitz  der  Royal  Irish  Academy,  angefer- 
tigt von  Joseph  O'Longan,  dem  Sohn  Micbel  O'Longans.  Ein  Ver- 
gleich ergibt  sofort,  daß  dieses  zweite  Facsimile  wesent- 
lich ein  Facsimile  ist  der  im  Jahr  1839  fehlenden 
Blätter:  die  Abschrift  C'Currys  enthält  fol.  42-44;  47—70;  96— 
131;  148-175;  201—240  der  Handschrift,  die  O'Longans  dagegen 
fol 42— 44;  47—147;  176—200  bat  also  die  bei  OCurry  feh- 
lenden 66  folia  (71—95;  132—147;  176—200),  sodaß  durcb 
beide  die  Handschrift  von  fol.  47—240  vollständig  repräsentiert 
wird.  Da  O'Gurrys  und  O'Longans  Abschriften  Seiten-  und  Zeilen- 
getreue Facsimiles  sind,  dasjenige  O'Currys  gar  von  O'Donovan  nach- 
kollationiert ist,  so  können  beide,  soweit  es  sich  um  Kenntnisnahme 
des  Inhalts  der  Texte  handelt,  vollkommen  die  in  Privatbesitz  des 
Herzogs  von  Devonshire  befindliche  Handschrift  ersetzen. 

Herr  D'Arbois  war  also  vollauf  in  der  Lage,  diese  fUr  einen 
Katalog  der  epischen  Stoffe  Irlands  hOchst  wichtige  Handschrift  be- 
quem ausnutzen  zu  können.  Er  erwähnt  sie  im  9.  Kapitel  der  In- 
troduction (Mannscrits  Irlandais  conserves  dans  divers  collections), 
hat  sie  jedoch  nicht  in  den  Händen  gehabt :  >  on  en  trouve  deux  co- 
pies dans  la  bibliotbique  de  ia  Royal  Irish  Academy;  Tune  a  pour 
auteur   Joseph    O'Longan,   Tautre   est  de  la  main  d'O'Curry.    Elles 

1)  Eine  ganze  Anzahl  der  aus  der  »Sir  William  Betham  Collection«  stam- 
menden Handschriften  aus  den  Jahren  1815—1830,  welche  sich  in  der  R.  J.  A. 
befinden,  sind  Abschriften  und  Ezcerpte  aus  dem  Book  of  Lismore;  auch  ein- 
zelne aus  der  Sammlung  Hodg.  and  Smith  (z.  B.  23.  G.  6)  gehn  auf  sie  zurück. 
Alle  diese  jungen  Abschriften  sind  in  den  5  Bänden  Katalogen  beschrieben  und 
Herr  D'Arbois  verwendet  sie  daher  in  rührender  Umwisscnheit  als  selbständige 
Quellen  1 


178  Gott,  gel  Anz.  1887.  Nr.  6. 

offrent  de  notables  differences  qui  tiennent  k  ce  qa'elles  reprteentent 
denx  etats  diff6rents  de  ce  mannscrit  gravement  mntil6  par  des 
lectears  pen  d^licats.  Ce  manascrit,  präcieax  k  la  fois  poor  la 
littärature  r^Iigieose  et  pour  la  littörature  profane  de  Tlrlande,  est 
surtont  consider^  comme  important  au  point  de  vue  du  cycle  ossia- 
niqne«.  Da  Herr  D'Arbois  eingestandnermaßen  von  den  beiden  Ko- 
pien Kenntnis  bat,  auch  angeblich  weiß,  daß  sie  verschieden 
sind  und  so  beredt  den  Wert  der  Handschrift  schildert,  so  sollte 
man  glauben,  daß  er  dieselbe  aasgenutzt  habe.  Aus  dem  Werk  er- 
gibt sich:  Herr  D'Arbois  hat  sämtliche  in  dem  Facsimile 
O'Currys  stehende  epische  Stoffe  gewissenhaft  ver- 
zeichnet, also  die  auf  den  fol.  42—44;  47—70;  96-131;  148— 
175;  201  —  240  der  Handschrift  stehenden  und  zwar  immer  mit 
genauer  Angabe  der  folios  der  Handschrift;  dagegen 
kennt  Herr  D^Arbois  keinen  der  dem  Facsimile  O'Lon- 
gans  eigentümlichen  Stoffe,  also  der  auf  fol  71 — 95;  132 
—147;  176 — 200  stehenden,  auf  Grund  dieses  Facsimile. 

Die  Aufklärung  dieses  Kätsels  liegt  in  Folgendem:  unter  den 
katalogisierten  559  Handschriften  der  Royal  Irish  Academy 
befindet  sich  auch  23.  Q  (ancient  fond  39.  6)  d.  h.  O'Currys 
Facsimile  des  1839  vorhandenen  Teils  des  Book  of  Lismore,  wäh- 
rend O'Longans  Facsimile  zu  den  noch  unkatologisierten 
Handschriften  gehört;  es  sind  daher  nur  die  ans  dem  Kata- 
log bequem  abzuschreibenden  Titel  gegeben.  Mit  ge- 
wohnter Ehrlichkeit  hat  Herr  D'Arbois  natürlich  die  Thatsache 
verschwiegen,  daß  der  durch  O'Cnrrys  Facsimile  repräsentierte  Teil 
der  Handschrift  in  den  Katalogen  der  Academy  analysiert  ist 

Hiermit  sind  die  Leistungen  dieses  Gelehrten  hinsichtlich  des 
Book  of  Lismore  noch  nicht  erschöpft.  O'Cnrry  gibt  in  den  Lectures 
on  the  Ms.  Materials  p.  198  einen  Brief  von  Josep  Long  (wohl  Jo- 
seph O'Longan)  aus  Cork  vom  10.  Febr.  1848,  worin  derselbe 
W.  Hudson  eine  Handschrift  anbietet,  welche  enthalten  soll  various 
pieces  from  the  Book  of  Lismore.  Als  solche  werden  angeführt 
Forbuis  Dromma  Danihghoire,  Air  an  da  Fearmaighe^  Scä  Fiachna 
mic  Beataigy  Riaghail  do  righthib,  Scä  air  Chairbre  Cinncait  u.  A. 
In  Herrn  D'Arbois  Katalog  lesen  wir  nun  unter  dem  Titel  Forhais 
Dromma  Damgaire  als  älteste  Quelle:  XV®  si^cle,  Livre  de  Lismore, 
propri^tö  particuliftre,  dont  copie  par  O'Curry,  R.  J.  A.,  23.  Q,  fol. 
169 — 176c.  Unter  dem  Titel  Scsl  Fiachna  mic  Retaig  finden  wir 
als  einzige  Quelle  angegeben  (S.  198):  XV*  sifecle,  Livre  de  Lis- 
more, d'apris  O'Gurry,  Lectures  on  the  mannscript  materials 
p.  198c.    Endlich  ist    S.  182   bei  dem  Titel  Scd  air  Chaibre 


D*Arboi8  de  Jabainville,  Essai  d'an  catalogue  de  la  litt,  ^piqae  de  rirlande.    179 

CaU  auf  S.  182  yerwiesen  auf  Orgain  Cairpri  Cinn^Caitty  woselbst 
als  älteste  Quelle:  XV«  stiele,  Livre  de  Lismore,  sons  le  titre  de 
Scä  air  Chairbre  Cinn^Caity  sairant  O'Carry,  Lectures  on  the  manu- 
scripts materials,  p.  198c. 

Wie  man  sich  erinnert  enthält  O'Gurrys  Facsimile  fol.  148 — 175 
der  Handschrift,  dann  200-241;  die  Lücke  zwischen  beiden  Teilen, 
fol.  176 — 200f  füllt  O'Longans  Facsimile  aus :  aus  dem  Katalog  von 
O'Currys  Abschrift  stammt  daher  das  Gitat  unter  Forbais  Dromma 
Damgaire.  Es  gehört  nun  gewiß  nicht  viel  Kombinationsgabe  zu 
der  Vermutung,  daß  die  in  dem  angeführten  Briefe  hinter  Forbais 
Dromma  Damgaire  citierten  Texte  aus  Book  of  Lismore  in  der 
fol.  176  beginnenden  Lücke  standen,  also  in  O'Longans  Facsimile 
zu  suchen  sind.  Wenn  man  bedenkt,  daß  es  sich  in  dem  einen 
Fall  {Scd  Fiachna  mic  Betaig)  gar  um  die  einzige  Quelle  han- 
delt, dann  ist  doch  klar  vorgeschrieben,  was  zu  thun  war :  mag  nun 
Herr  D'Arbois  dies  aus  mangelndem  Verständnis  dessen,  worauf  es 
ankam  oder  ans  Unfähigkeit,  die  Texte  aufzufinden,  unterlassen  ha- 
ben —  eins  so  schlimm  wie's  andere. 

Noch  viel  stärker  ist  Herr  D'Arbois  bei  einem  anderen  Texte 
darauf  hingewiesen  worden,  ihn  in  dem  Teil  der  Handschrift  zu  su- 
chen, welcher  durch  O'Longans  Facsimile  repräsentiert  wird,  also  in 
dem  nicht  katalogisierten,  ohne  daß  er  dem  nachgekommen  wäre. 
Der  Text  Imthecht  na  tromdaime  muß  in  irgend  einer  Form  schon 
Ende  des  9.  Jahrb.  eine  bekannte  Erzählung  gewesen  sein,  wie 
schon  0*Curry  On  the  manners  and  customs  II,  89  sah.  Herr  D'Ar- 
bois belegt  ihn  (S.  156)  mit  5  Handschriften,  von  denen  die  älte- 
ste aus  dem  Jahr  1800  nnd  die  4  anderen  ans  der  ersten  Hälfte 
des  19.  Jahrhunderts  stammen,  nnd  fährt  dann  wörtlich  fort: 
»Edition,  texte  irlandais  avec  traduction  anglaise,  par  Owen  Gon- 
nellan,  dans  Transactions  of  the  Ossianic  Society  for  the  year  1857, 
vol.  V,  p.  1  —  129.  L'6diteur  dit  qu'il  reproduit  le  Livre 
de  Lismore,  manuscrit  attribu6  par  lui  au  quatorzi^me  si^cle,  et 
qnMl  appelle  anssi  Livre  de  Mac  Garthy  Riagh;  com- 
parez  ä  son  introduction,  p.  XXXIII— XXXIV,  la  note  de  la  page 
128.  II  s'est  aussi  servi,  comme  il  declare,  d'un  manuscrit  snr  pa- 
pier qui  avait  appartenu  k  M.  Lamb  de  Newtownhamilton«.  Con- 
nellan  gibt  an  der  citierten  Stelle  ausdrücklich  an,  daß  > Thomas 
Hewitt,  Esq.  of  Snmmerhill  House,  Gorkc  der  Besitzer  des  von  ihm 
benutzten  Book  of  Lismore  ist;  andererseits  berichtet  O'Gurry,  Ma- 
nnscript Materials  S.  198  —  eine  von  Herrn  D'Arbois  Seite  C  citierte 
und  sonst  mehrfach  ausgeschriebene  Stelle  — ,  daß  die  abhanden 
gekommenen  Teile   des  Book   of  Lismore  1854   in   den  Besitz  von 


180  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  5. 

»Thomas  Hewitt,  £q.  of  Sammer  bill  Honse,  near  Cork«  übergien- 
gen :  der  Text  muß  demnach  sicher  in  dem  darch  O'Longans  Facsi- 
mile repräsentierten  Teile  des  Book  of  Lismore  stehn.  Dies  ist  in 
der  That  der  Fall;  er  findet  sich  fol.  186a— 193b,  unter  dem  Titel 
Tromdam  Guaire  »die  lästige  Schaar  für  Quaire«. 

Das  Machwerk  des  Herrn  D'Arbois  durch  Hinzufügung  der  in 
dem  nicht  katalogisierten  Teile  der  Handschrift  noch  vorkommenden 
epischen  Stoffe  zu  vervollständigen,  wUrde  mich  zu  weit  abfuhren; 
bemerken  will  ich,  daß  fol.  87a,  1.  2  unter  Sgel  ar  Moling  die  LL. 
284a,  49  ff.  erzählte  Geschichte  sich  findet,  so  daß  für  das  vierte 
Gedicht  der  Kloster  S.  Pauler  Handschrift  {Isor  glan  isnem  imgrein) 
hier  ein  neuer  mittelirischer  Beleg  vorliegt. 

Herr  D'Arbois  hat  also  von  einer  der  wichtigsten  mittel- 
irischen Handschriften  für  epische  Stoffe,  deren  Benutzung  ihm  durch 
die  genannten  Facsimiles  geboten  war,  nur  die  Teile  in  seine 
Arbeit  mit  aufgenommen,  weichein  einem  Katalog 
analysiert  sind,  er  hat  sich  nicht  einmal  vergewissert,  ob  be- 
stimmte epische  Texte,  welche  in  verschiedenen  Werken  dieser 
Handschrift  zugewiesen  werden,  aber  in  dem  katalogisierten  Teile 
nicht  stehn,  ob  diese  Texte  in  dem  nicht  katalogisierten  Partien 
wirklich  vorkommen.  Dieser  Unfähigkeit  hat  er  die  Krone  aufge- 
setzt durch  die  Unehrlichkeit,  womit  er  das  Vorhandensein  des  von 
ihm  ausgeschriebenen  Katalogs  für  einen  Teil  der  Handschrift  ver- 
schweigt. Sich  selbst  übertroffen  hat  er  aber  durch  folgende  Prak- 
tik: S.  212  bietet  er  den  Artikel  *  Stair  ou  Sdair  na  Lumbardag 
histoire  des  Lombards  Manuscript:  XW^  sifecle,  Livre  de  Lismore, 
suivant  la  copie  de  Joseph  O'Longan,  R.  J.  A.,  3  Q, 
fol.  112r.€  Herr  D'Arbois  citiert  hier  einen  Text  aus  dem  Book  of 
Lismore  auf  Grund  von  O'Longans  Facsimile,  also  scheinbar  aas 
dem  nicht  katalogisierten  Teil  der  Handschrift,  er  müßte  demnach 
also  diesen  Teil  benutzt  haben.  Die  Beweisführung  ist  von  Seiten 
des  Herrn  D'Arbois  fein  angelegt ;  aber  nichts  ist  so  fein  gesponnen, 
es  kommt  ans  Licht.  Unser  Gelehrter  läßt  in  der  citierten  Stelle 
ans  Seite  G  seine  Leser  vollkommen  im  Dunkeln  über  das  Verhältnis 
der  durch  die  beiden  Facsimile  repräsentierten  Teile  der  Hand- 
schrift, er  sagt  bloß:  elles  offrent  de  notables  differences  qui  tien- 
nent  ä  ce  qu'elles  repr^entent  deux  ätats  diffärents  de  ce  manuserit 
gravement  mutilö.  Aus  dem  oben  S.  178  gegebenen  Inhalt  beider 
Facsimile  ergibt  sich,  daß  beide  fol.  42—44;  47 --70  und  96— 131 
gemeinsam  haben,  also  auch  das  fol.  112a  beginnende  Frag- 
ment Dosdair  na  Lumbard  andso.  Dasselbe  ist  daher  auch  in 
dem  von  Herrn  D'Arbois  geplünderten  Katalog  O'Carrys,  sei- 


D'Arbois  de  Jubainville,  Essai  d'un  catalogue  de  la  litt,  ^piquc  de  Plrlande.    181 

ner  einzigen  Quelle  verzeichnet  Wenn  man  bedenkt,  daß 
das  in  Rede  stehende  Stück,  das  einzige  aas  den  beiden  Facsi- 
miles gemeinsamen  Stücken  ist,  welches  Herr  D'Arbois  in  seine  Ar- 
beit aufnehmen  konnte  oder  vielmehr  aufnahm,  dann  kann  die  dar- 
gelegte Handlang  des  genannten  Herrn  —  also  Ausschreiben  des 
Titels  aus  dem  unehrlicherweise  verschwiegenen  vorhandenen  Kata- 
log zu  O'Currys  Facsimile  und  Gitieren  nach  dem  die  betreffenden 
Folios  gleichfalls  enthaltenden  aber  nicht  katalogisierten  Facsimile 
O'Longans  —  einen  Begriff  gaben  von  dem  Raffinement,  mit  dem 
er  die  simulierte  Benutzung  von  Handschriften  sucht  glaublich  zu 
machen. 

Höchst  lehrreich  für  die  am  Book  of  Lismore  nachgewiesene 
Thatsache,  daß  Herr  D'Arbois  aus  den  von  ihm  »studiertenc  Hand- 
schriften nur  die  Texte,  resp.  deren  Titel  kennt,  welche  in  vorhan- 
denen Katalogen  aufgeführt  werden,  sind  die  irischen  Handschriften 
der  Bodleiana  in  Oxford.  Ihre  Zahl  ist  sehr  gering  (15),  aber  durch 
Alter,  Inhalt  und  Umfang  sind  sie  wertvoll.  »lis  sont  d^crits  dans 
les  beaux  catalogues  imprimis  qui  sont  un  des  titres  de  gloire  de 
ce  grand  etablissement«,  sagt  Herr  D'Arbois  S.  XXXII.  Ich  muß 
leider  gestehn,  daß  diese  Kataloge,  soweit  sie  sich  auf  die  irischen 
Handschriften  erstrecken,  sehr  wenig  schon  sind:  sehr  wichtige 
Texte  der  Handschriften  fehlen  in  den  Katalogen 
vollständig  oder  sind  verkannt,  und  Herr  D'Arbois 
folgt  ihnen  unbesehen. 

>Le  Rawlinson  B.  512,  154  feuillets,  est  un  des  plus  importants 
mss.  littäraires  irlandais  qui  existente  sagt  er  Seite  XXXVI  und  wid- 
met der  Handschrift  und  ihrem  wertvollen  Inhalt  eine  ganze  Seite. 
Wie  weit  diese  Beschreibung  auf  Studium  der  Handschrift  selbst 
oder  auf  Studium  des  gedruckten  Katalogs  beruht,  möge  man  aus 
folgendem  beurteilen. 

Fol.  119a,  1  beginnt  ohne  Ueberschrift  eine  Erzählung:  Coeca 
rand  rogdb  in  ben  cdlrib  ingnad  forlar  atUige  do  Bran  mac  Febaü^ 
crdboi  ariffthech  Idn  dortgaib  annadfedatar  can  dolluid  inben  orcbatar 
indHss  duntai.  Issed  tossach  insceoü  »Fünfzig  Strophen  sang  das 
Weib  aus  den  unbekannten  Gefilden  auf  der  Flur  des  Hauses  dem 
Bran  mac  Febail,  als  sein  Königshaus  voll  von  Königen  war,  welche 
nicht  wußten,  woher  das  Weib  kam,  da  die  Burg  verschlossen  war. 
[I.  aroba  mit  H.  2.  16.  T.  G.  D].  Folgendes  ist  der  Beginn  der  Er- 
zählung«. Nun  folgt  bis  fol.  120b,2  Mitte  eine  vollständige 
Kopie  der  wunderschönen  Erzählung  von  Bran  mac 
Febails  Reise  in  das  Land  der  Feen    (tJr  nafnban)^  zur  In- 


1^2  Gott.  gel.  Anz.  1887.  No.  5. 

sei  der  Freude  (inis  subai  no  meid).  Als  er  endlich  durch  Sehnsucht 
eines  Gefährten  bestimmt  zurückkehrt,  da  erkennt  man  ihn  am  hei- 
mischen Strand  nicht  mehr:  in  den  alten  Erzählungen  wisse  man 
von  einer  Meerfahrt  des  Bran.  Der  Genosse,  der  ans  Land  gesetzt 
wird,  zerfällt  sofort  in  Staub,  als  ob  er  viele  hundert  Jahre  in  der 
Erde  gelegen.  »Er  (seil.  Bran)  erzählt  seine  Erlebnisse  alle  von 
Anfang  an  und  schrieb  diese  [vorher  angeftlhrten]  Strophen  in  Ogam 
und  sagte  ihnen  darauf  Lebewohl  und  von  seinen  weiteren  Erleb- 
nissen weiß  man  von  der  Stunde  an  nichts«. 

In  dem  Katalog  von  Bawl.  B  512  steht  nun  zu  fol.  119  und 
120:  »The  poem  of  >fifty  stanzas<,  prophetic«.  Der  Verfasser  des- 
selben (O'Grady)  las  ersichtlich  in  der  Handschrift  die  5  ersten 
Worte  »Fünfzig  Strophen  sang  das  Weib«  und  schrieb  hin  The  poem 
of  fifty  stanzas;  dann  warf  er  vermutlich  einen  Blick  auf  die  50 
Strophen  der  Fee,  mit  der  sie  Bran  verlockt,  und  da  er  wenig  da- 
von verstand,  setzte  er  hinzu  »prophetic«.  Herr  D'Arbois  trug  offen- 
bar kein  Verlangen  in  die  Handschrift  zu  sehen;  nach  der  Informa- 
tion des  Katalogs  handelte  es  sich  nicht  um  Episches,  der  Text  trug 
zudem  nicht  einmal  einen  Titel:  es  wurde  über  ihn  zur  Tagesord- 
nung übergegangen.  So  kommt  es,  daß  im  Catalogue  des  Herrn 
D'Arbois  unter  Echtra  Brain  mate  Febail  S.  105  die  in  erster 
Linie  in  Betracht  kommende  vollständige  Handschrift 
fehlt. 

Auf  fol.  120  b,  2  folgt  dann  ebenfalls  ohne  Ueberschrift  ein  ähn- 
licher Stoff  Echtra  Condla  Ruaid,  nicht  vollständig  wegen  der  Lücke 
zwischen  Blatt  120  und  121.  Auch  hier  fehlt  unsere  Hand- 
schrift bei  Herrn  D'Arbois  S.  109.  In  der  Handschrift  folgen  auf 
einander  117a-— 118a  Schluß  von  Tochtnarc  Emere,  118b,  1  Verba 
Scathaige  fri  Üoinculaindy  118  b,  2  For f ess  fer  Faigaey  119  a,  1 — 
120  b,  2  Imram  Brain,  120  b,  2  Echtra  Condla  Buaid.  Bis  fol.  119a 
sind  die  Angaben  des  Katalogs  richtig  und  da  hat  Herr  D'Arbois 
unter  den  betreffenden  Titel  richtig  Rawl.  B.  512;  wo  der  Katalog 
falsch  ist,  ist  auch  Herrn  D'Arbois  Weisheit  zu  Ende. 

Eine  wichtige  litterarhistorische  Notiz,  die,  weil  sie  im  Katalog 
fehlt,  auch  Herrn  D'Arbois  unbekannt  ist,  findet  sich  fol.  101a: 
hier  beginnt  der  Text  genannt  Baue  in  Scaih^  von  dem  Schreiber 
der  Handschrift  steht  quer  über  Kolumne  1  und  2:  Incip{ü)  dibaüe 
inscail  inso  arslicht  hisenlib(ur)  Duibdaleitius  ./.  coarpa  Pat{raic\ 
also  nach  der  Version  der  alten  Handschrift  des  Dnbdaleithius,  Nach- 
folger Patriks  ist  der  Text  geschrieben.  Nach  O'Curry  (Mannsc. 
Mat.  p.  19)  eitleren  die  Annalen  von  Ulster  zweimal  (962  und  1021) 
»the  book  of  Dubhdaleithe« ;  in   den   Annalen   von  Loch  Ce  wird 


D'Ärbois  de  Jubainville,  Essai  d'un  catalogae  de  la  litt,  epique  de  Tlrlande.    183 

gelegeDtlicb  einer  Begebenheit  des  Jahres  1021  hinzugefügt  sie  in  libra 
Duibhdhdleithe€.  Von  den  Dubdalethe  der  Annalen  der  4  Meister  ist 
der  eine  eomarba  Patriks  von  965 — 998  and  der  andere  von  1049 
— 1064.  Der  Urheber  des  lU>er  Dubdalethe^  welcher  in  den  Ulster- 
annalen  und  von  Loch  Ce  citiert  wird,  kann  nur  der  letztere  sein, 
wie  O'Gorry  und  Henessy  (Ann.  of  Loch  Ge,  I,  22  Anm.  2)  anneh- 
men; nothing  eise  is  known  regarding  the  book  at  present,  setzt 
Hennessy  hinzu.  Der  Text  {Baue  inScäH),  welcher  nach  der  Ver- 
sion in  dem  alten  Buch  des  Dubdaleithe  in  Raw.  B.  512  gegeben 
ist,  wird  schon  in  einem  der  chronologischen  Gedichte  Flann  Mai- 
nistrechs  in  LL.  132  a  49  citiert  (vergl.  O'Gurry  Man.  Mat.  S.  389), 
war  also,  da  Flann  1056  gestorben  ist,  zur  Zeit  des  genannten  Dub- 
daleithe (1049--1064)  sicher  wohl  bekannt  Von  der  Seite  steht 
also  nichts  im  Wege,  daß  unter  dem  senlibar  Duibdcdeitius  eine 
Handschrift  aus  der  Mitte  des  11.  Jahrh.  kann  gemeint  sein,  die 
mit  dem  liber  Duibhdhaleithe  der  Annalen  von  Loch  Ge  identisch 
sein  kann.  Darauf  möchte  ich  hinweisen,  daß  nicht  nur  die- 
ser Text,  sondern  auch  die  folgenden  Sagentexte  bis 
fol.  120  hin  auffallend  viel  altirische  Formen  be- 
wahrt haben:  ihm,  sich  (ei)  heißt  immer  döu  (z.  B.  101a,  1; 
102  a,  1;  103  a,  1;  104  b,  2;  105  b,  1),  der  Dat.  Sing,  der  o-Stämme 
heißt  di  neort  (zn  nert  102  a,  2),  di  otd  meda  (zu  ol  105  a,  1),  der 
Acc.  Plur.  laithiu  findet  sieh  101a,  1,  cauru  (zu  cor)  105  b,  1;  sceo 
f&r  Konjunktion  »und«  102a,  2;  cichis  ist  redupliciertes  ^-Futur  zu 
dngim  {cichis  archd  103  b,  1;  cf.  cinges  arcJiel  105  b,  1),  ebenso 
iurait  zo  orgim  (103  a,  2);  die  altir.  Konjunktion  cammaib  findet  sich 
als  camma  117  a,  cammaihh  117  b,  1;  für  feifiy  fadein  steht  cadein 
119b,  2  (ef.  cadesin  LU.  64b,  24.  73a,  21.  74b,  23).  Dies  sind 
Erscheinungen,  welche  auf  das  Irische  um  die  Wende 
des  8.  und  9.  Jahrh.  hinweisen  (vergl.  dau  in  der  Handschrift 
des  Kloster  St.  Paul,  im  Book  of  Armagh  und  im  ältesten  Teil  des 
Book  of  Deir).  Jedenfalls  ist  auf  den  genannten  folios  von  RawL 
B.  512  die  ältere  Sprache  unter  mittelirischer  Umschrift  getreuer 
bewahrt  als  in  irgend  einem  Text  der  um  200 — 300  Jahre  älteren 
Handschriften  Lebor  na  hUidre  und  Book  of  Leinster.  Auf  mehrere 
Vorlagen  deutet  eine  Bemerkung  105  a,  2  dofuitt  didaigir  Diarmait 
hiTdenmaig.  XVI.  bli.  no  XXX.  no  XIII.  sic  exemplaria  variantur. 
Bawl.  B.  502  ist  eine  andere  wichtige  irische  Handschrift  der 
Bodleiana;  ihre  ältesten  Teile  reichen  sogar  bis  ins  12.  Jahrhundert. 
Herr  D'Ärbois  hat  ihr,  entsprechend  ihrem  Wert,  Vl%  Seiten  Bespre* 
ehnng  gewidmet  (S.  XXXIII).  Woher  seine  Kenntnis  der  Hand- 
schrift stammt,  mag  man  daraus  schließen,   daß   nicht  weniger 


184  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  5. 

als  6  epische  Texte,   die  im  Katalog  der  Handschrift 
übersehen  sind,  auch  bei  ihm  fehlen. 

Gein  JBranduib  mic  Echdach  7  Äedain  mic  Gab,  insasis  fol.  47a|  2. 

Döluid  Diarfnait  meto  Cerbaü  feeht  naüe  fol.  47  b,  2  nnten. 
Im  Katalog  steht  »yarions  short   pieces   in   prose  and   verse  on  the 
kings  of  Leinster  fol.  47— 50b<,  damit  konnte  natürlich  Herr  D'Ar- 
bois  nichts  machen. 

Geinetnain  Find  mic  Cumaill  foL  70  b,  2. 

Tairired  nan  Dcssi  inso  fol.  72  a,  2  Mitte.  Es  ist  dies  derselbe 
Text,  von  dem  ein  größeres  Fragment  sich  LU.  53  a,  33— 54b  Ende 
findet  unter  dem  Titel  Tucait  innarha  nan  Dessi  im  Mwnain  inso 
nnd  der  Land^  610  fol.  99dff.  unter  De  Causis  torche  nan  DSssi 
innso  vorliegt.  Die  beiden  letzten  Quellen  kennt  Herr  D'Arbois 
S.  236,.  da  die  Kataloge  sie  bieten. 

Orguin  tri  mac  Biarmata  mic  Cerbaill  la  Mcelodran  ifothauch 
muilend  mic  Dimma  fol.  73b,  2.  Dieser  Text,  welcher  erzählt,  wie 
die  3  Söhne  Diarmaits  (Dunchad,  Gonall,  Maelodnr)  auf  einem  Raub- 
zug {forcreich)  von  Maelodran  O'Dimmse  verfolgt  in  einer  Mühle  um- 
kamen, findet  sich  auch  noch  Rawl.  512, 1 15b,  1  ohne  Ueberschrift 
Herr  D'Arbois  kennt  keine  der  Quellen,  ja  den  Stoff  überhaupt 
nicht. 

Die  schlimmste  Auslassung  in  Folge  der  Nichtkenntnis  nnd 
Nichtbenutzung  dieser  Handschrift  ist  aber  die,  daß  in  Herrn 
D'Arbois  Katalog  der  epischen  Stoffe  eines  der  ältesten  und  inter- 
essantesten Stücke  des  Ossiansagenkreises  fehlt.  Fol.  59  b,  2  steht 
zuerst  das  Qebet  des  Adomnan  zu  Golumba  dem  Aeltern  (Ädomnan 
mac  Ronain  rochachain  innorthainseo),  welches  Qoidelica  S.  173  von 
Stokes  aus  Liber  Hymnorum  abgedruckt  ist;  dann  folgt  auf  dersel- 
ben Spalte  ein  Gebet  Golumbas  selbst  (beginnt  Dia  ard  arUihar^ 
schließt  dia  do^rmrlisea)'^  hieran  schließt  ohne  Absatz  noch  in  der- 
selben Spalte  und  geht  bis  fol.  60  a,  1  erste  Hälfte  ein  Text  begin- 
nend Mac  Lese  mc  Ladain  aithech  und  endend  badescaidiu  osain 
mach;  hierauf  folgt  ein  Gebet  von  Cainech  an  Golumba  (Cainech 
dorigni  innorthainnse)  und  daran  schließt  ein  weiteres  {Cainech  beos 
dorigne  innorthainseo).  Der  zwischen  diesen  Gebeten  an 
Golumba  und  von  Golumba  stehende  Text  ohne  Ueber- 
schrift ist  eine  Erzählung  des  Ossiansagenkreis;  wie 
sie  eine  der  ältesten  ist,  so  auch  eine  der  interessantesten:  Fingal 
selbst  spielt  die  Hauptrolle  und  ihm  ist  ein  allitterierendes  Gedicht 
in  den  Mund  gelegt: 

Mac  Lese  mc.  Ladain  aithech  Meith  bui  hüegluch  Finn:  ise  ro- 
gab  narunnusa   sis.     Adaig   dosrala  7  Find  foleith  ondfein  icorthi 


"S 


D'Arbois  de  Jubainville,  Essai  d'un  catalogue  de  la  litt,  äpique  de  I'Irlande.    185 

Chuüt  hisl(eib)  Ghuäind,   corochart  Find   eseom  foriarair   usd  doib. 
Conidann  asbertsom  arnate$s(ed)  immach  doiarair  indu{sci): 

Fuitt  cobrath  ismo  indonenn  arcach  isob  cachetrice  an  idoch  Ian 
each  ath. 


Mat  muir  mor  cech  loch  hnn 
Met  taul  sceith  banna  dondlinn 
Meü  cuühi  cad^  laaihrach  Isig 
Nahdta  nlsta  dm 
Eoiad  reod  rota  gribb 
Congab  donenn  dar  each  leth 


isdrong  cechcuiri  gUr  gann 
met  moUchrocann  find  cecJi  slamm, 
eoirthe  cachreid  caul  cachmoin 
snechtai  Find^)  f&r  doroich  töin. 
iargleo  glicc  imchoirthi  Cuät 
cannaabair  nech  acht  fuit.  F. 


Asrubart  Find  babrec  do  7  rogaib  formdlad  (sic)   nastn  7  nas^n 
7  nanamser  7  rochachain  inso  sTs: 


Tanic  $am  slan  soer 
lAngid  ag  seng  sneid 
Canaid  cu :  ^)  ceol  m  bind  m  blaith 
Lengait  eoin  ciuin  cruaid^ 
Foss  no88  rogab  tess 
libid  tracht  find  fonn 
Fuam  ngaeth  baeth  barr. 
Bethid  graig  mtdntuad. 
Maidid  glass  forcechlus 
Tanic  sam  rofaith  gaim. 
Canaid  Ion  dron  dord 
Suanaid  ler  lonn  liac 
Tibid  grian  dor  cachtir 
Garit  coin  dailit  daim 


diambi  chen  caul  dor 
diamb^  rSid  ron  rfan, 
diambt  strnn  saimreid, 
7  daim  luaith  leith. 
gairdess  cctss  ctMn. 
diambi  hnn  ler  luath, 
dairi  duib  drumdaill. 
diambi  dincuan  caiU. 
bilech  doss  daire  glaiss 
gonü  coin  cuilinn  caiss. 
diambi  f{pr)bb  caiU  cerb, 
foling  iach  brec  bedc. 
dedlaid  lim  frisü  snan 
forbrit  brain  •  tanic  sam.  T. 


Aiberatsom  tra  ropoecen  dosom  techt  doiarair  indusci  7  rocengalt  Find 
lomnocht  eomatain  dochoirthi  Chuilt  connadbui  ißin  Find  badainiu  7 
hadescaidiu  osain  mach. 

Ist  die  allgemeiDe  Annabme  richtig,  daß  die  83  Pergament- 
blatter  YOD  Rawl.  B.  502  aas  dem  12.  Jahrb.  stammen,  also  so  alt 
sind  wie  das  Book  of  Leinster,  dann  haben  wir  in  dem  eben  ge- 
gebenen Text  die  älteste  erhaltene  vollständige  Erzäh- 
lung Yor  nns,  in  derFinn  selbst  auftritt.  Der  Anfang  die- 
ser Erzählung  liegt  mit  geringen  Varianten  LL.  208a,  36  —  51  Yor,  so- 
daft,  wenn  Rawl.  B.  502  auch  nicht  so  alt  sein  sollte  wie  man  annimmt, 
die  Erzählung  selbst  fttr  das  Jahr  1160  bezeugt  ist.  Der  Schreiber 
Yon  LL.  scheint  nicht  ^ehr  in  seiner  Vorlage  Yorgefunden  zu  haben 
als  er  gibt,  da  keine  Lttcke  in  LL.  angedeutet  ist.    Qewift  eine  der 

1)  Hier  beginnt  fol.  60  a,  1. 

2)  Vergleiche  coi  Fr.  Sg.  204,  eat  Revue  Gelt.  6,  201;  cäi  ./.  euach  ^Eukok) 
CCIery. 

9m.  fei.  Ans.  1887.  Nr.  5.  14 


186  Gott.  gel.  Anz.  1887.  lir.  6. 

wunderbarsten  Erscheinungen  ist  aber,  wie  in  Rawl.  B.  502  fol. 
59b,  2— 60a,  1  diese  Fingalerzählang  so  mitten  zwischen  die  Ge- 
bete des  Adomnan,  Cainech  und  Golumba  kommt.  Es  wäre  erklär- 
lich, wenn  sie  fol.  59  b,  2  zu  Ende  gienge,  dann  könnte  der  Schrei- 
ber nachträglich  einen  leergelassenen  Raum  damit  ausgefüllt  haben. 
Dies  ist  jedoch  nicht  möglich,  da  die  Erzählung  ohne  Zwischenraum 
sich  59b,  2  unten  an  das  Gebet  Columbas  anschließt,  auf  fol.  60a,  1 
gegen  Mitte  ohne  Absatz  von  dem  Gebete  Gainechs  gefolgt  wird, 
also  das  Ganze  vom  Gebet  Adomnans  bis  zum  Schluß  des  zweiten 
Gebetes  von  Cainech  ans  einem  Guß  geschrieben  ist:  wie  kommt 
Sani  unter  die  Propheten  möchte  man  fragen.  Die  Möglichkeit  liegt, 
wie  mir  scheint,  nur  vor,  daß  io  der  älteren  Vorlage  von  Bawl.  B. 
502  die  Fingalerzählung  eine  leergelasseue  Spalte  nachträglich  füllte 
und  der  Schreiber  von  Rawl.  B.  502  diese  Vorlage  kritiklos  ab- 
schrieb. 

Aus  der  vorliegenden  Erzählung  erfahren  wir,  daß  Fingal  eines 
Nachts  sich  allein  mit  einem  Genossen  seiner  fian  auf  Sliab  Guilind 
befand  und  denselben  aufforderte,  Wasser  suchen  zu  gehn.  Der 
weigerte  sich  dies  zu  thun  unter  dem  Vorgeben,  daß  es  grimmig 
kalt  sei  und  der  Sturm  heule,  was  er  dann  in  einem  dreistrophigen 
Gedicht  weiter  ausführt  [soweit  geht  das  Fragment  in  LL.].  Finn 
sagte,  dies  sei  nicht  wahr  und  begann  das  Wetter  und  die  Jahres- 
zeit zu  preisen:  in  7  Strophen  schildert  er  das  Wiedererwachen  der 
Natur  beim  Beginn  der  schönen  Jahreszeit.  Fingal  tritt  uns  hier 
gewissermaßen  in  der  Rolle  eines  lyrischen  Dichters  entgegen,  und 
dazu  stimmen  weitere  alte  Quellen.  Das  älteste  Zeugnis  für  Finn 
und  für  den  Ossiansagenkreis  überhaupt  haben  wir  meines  Wissens 
in  dem  Gommentar  zu  Dallän  Forgaills  Ämra  Coluim  Chülij  erhal- 
ten in  zwei  Handschriften,  die  um  1100  geschrieben  sind  (LU.  und 
Liber  Hymnorum  TGD);  hier  wird  zum  Beleg  einer  Erklärung  des 
Substantivs  rian  (die  Wogen,  Flut,  das  Meer)  ein  Lied  Fingais  an- 
geführt: ut  dixit  Find  hu  Baiscne 
Scel  lern  düib:  dordaid  dam,  snigid  gaim  rofaith  sam. 
Gäeth  ard  huar  isel  grian  gair  arrith  ruthach  rian, 

Boruad  rath  rocleth  cruthy  rogdb  gnath  giugrand  guth 

Bogdb  uMht  ete  m  aigre  r^,  e,  moscle.  Scd  lern  duib. 

Dies  kleine  lyrische  Gedicht  (LU.  Hb,  22—27 ;  Liber  Hymn. 
27  a  siehe  Goidelica  S.  165)  ist  das  gerade  Gegenstück  zu  dem  in 
Rawl.  B.  512:  es  schildert  die  Veränderung  in  der  Natur  beim  Ein- 
treten der  rauhen  Jahreszeit,  des  Winters,  dem  rofaith  gaim  in  er- 
sterem  entspricht  hier  rofaith  sam.  Dies  Gedicht  ist  unstreitig  eben- 
falls aus  einer  kleinen  Erzählung  genommen,  wie  wir  sie  in  Rawl. 
B.  512  kennen  lernten. 


IVArbois  de  Jubainville,  Essai  d'un  catalogue  de  la  litt,  äpique  de  Tlr lande.    187" 

Es  ergibt  sich  also,  daß  die  ältesten  erhaltenen  Er- 
zeagnisse  lyrischer  Profandichtung  in  irischer  Spra- 
che —  sieht  man  von  dem  kleinen  Stimmungsbild  im  Sanct  Gallener 
Priscian  p.  203.  204  ab  —  dem  Finn  (Fingal)  zugeschrieben 
werden:  »Winteranfange  und  »Sommeranfang«  könnte  man  die- 
selben überschreiben.  In  der  in  den  fünfziger  Jahren  des  15.  Jahr- 
hunderts geschriebenen  Oxforder  Handschrift  Land  610  liegt  von 
fol.  118a,  2 — 121b,  1  ein  umfangreiches  Fragment  vor  betitelt  >Ju- 
gendthaten  des  Finne  {Macgnimariha  Finn,  zuerst  abgedruckt  von 
O'Donovan  in  Ossianic  Society  4,  288  fif.,  vollständiger  von  K.  Meyer 
in  Revue  Celtique  5,  197  ff.),  welches  ganz  klar  eine  Nachahmung 
der  »Jugendthaten  des  Güchulinn«  ist  {Macgnimrada  Conculaind  LU. 
59  a,  6ff.  =  LL.  62  a,  19  ff.),  also  erst  aus  der  Zeit  stammen  kann, 
in  welcher  die  Gestalten  des  älteren  Sagenkreises,  vor  allem  Gü- 
chulinn, durch  den  jüngeren  Ossiansagenskreis  aus  der  Phantasie 
des  irischen  Volkes  verdrängt  wurden,  resp.  viele  von  ihnen  erzähl- 
ten Dinge  auf  die  Helden  des  Ossiansagenkreises  übertragen  wur- 
den. Es  scheint  mir  nicht  schwer,  die  Zeit  einigermaßen  zu  be- 
stimmen, in  welcher  diese  große  Revolution  in  der  bis  auf  den  heu- 
tigen Tag  die  Stoffe  der  Heldensage  mit  Liebe  pflegenden  irischen 
Volksseele  sich  vollzog.  Ein  Vergleich  des  Inhalts  der  großen  Sa- 
geuhandschriften  des  12.  Jahrhunderts  mit  denen  des  15.  Jahrhun- 
derts ist  lehrreich.  Vom  Lebor  na  Huidre  (um  1100  geschrieben) 
sind  134  Seiten  erhalten;  auf  die  Stoffe  des  älteren  Sagenkreises 
(Güchulinn,  Gonchobar)  kommen  davon  ungefähr  58  Seiten,  auf  die 
des  Ossiansagenkreises 4 resp.  6 Seiten  und  einGitat  (LU.  IIb,  22  ff.). 
Im  Book  of  Leinster  (geschrieben  um  1150)  hat  sich  das  Verhältnis 
schon  zu  Gunsten  des  Ossiansagenkreises  etwas  verschoben :  es  über- 
wiegt zwar  der  ältere  noch  bei  Weitem,  indem  mehr  als  100  Seiten 
dieser  Handschrift  mit  Erzählungen  aus  ihm  gefüllt  sind,  aber  die  Zahl 
der  meist  kurzen  Stücke  (Gedichte)  aus  dem  Ossiansagenkreis  steigt 
doch  auf  etwa  25  (gegen  4  oder  5  in  LU.)^).  Wie  ganz  anders 
sind  die  Handschriften  des  15.  Jahrhunderts  Laud.  610,  Rawl.  B.  487 
und  Book  of  Lismore:  in  ihnen  ist  das  Verhältnis  gerade  das  um- 

1)  Ganz  dasselbe  Verhältnis,  welches  LU.  und  LL.  hinsichtlich  der  Vertre- 
tong  der  Stoffe  des  Heroen-  und  des  Ossian-Sagenkreises  bieten,  ergibt  sich,  wenn 
man  die  187  Titel  des  Sachkatalogs  in  LL.  oder  die  des  zweiten  Katalogs  prüft. 
Gerade  der  Umstand,  daß  in  diesem  allgemeinen  Gesichtspunkt  kein  Unterschied 
zwischen  dem  LL-Sachkatalog  und  dem  Rawl-Sachkatalog  besteht,  spricht  mit 
dafür,  daft  letzterer,  obwohl  er  erst  in  Handschriften  des  15.  und  16.  Jahrh. 
Torliegt,  thats&chlich  das  durch  die  Erz&hlung  vorausgesetzte  Alter  hat  (Ende 
des  10.  Jahrb.). 

14  • 


188  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  6. 

gekehrte  wie  in  LU.  und  LL.  Dazu  kommen  zwei  wichtige  That- 
sachen.  Lü.  and  LL.  haben  grofie  umfangreiche  epische 
Erzählungen  aus  dem  älteren  Sagenkreis;  das  Wenige, 
was  sie  aus  dem  Ossiansagenkreis  bieten,  sind  kurze  Epi« 
soden,  Scenen,  Gedichte.  In  den  Handschriften  des  lö.Jahr- 
hunderts  haben  diese  Episoden  ihren  Rahmen  gefunden:  in  ihnen 
liegen  umfangreiche  Erzählungen  aus  dem  Ossiansagenkreis.  Dies 
die  eine  Beobachtung,  und  die  andere  ist  die:  die  Sprache,  in  der 
die  großen  Texte  des  älteren  Sagenkreises  in  LU.  und  LL.  vorlie- 
gen, selbst  in  jüngeren  Handschriften  wie  Rawl.  B.  512,  verrät  bei 
den  meisten  Texten  deutlich,  daß  es  sich  um  Umschriften  von  Tex- 
ten handelt,  deren  Aufzeichnung  sicher  ins  8.  und  9.  Jahrb.,  wenu 
nicht  früher  zurückgeht;  die  Sprache  aber,  in  der  die  umfangreichen 
Prosatexte  des  Ossiansagenkreises  in  Laud.  610,  Rawl.  B.  487 
und  Book  of  Lismore  vorliegen,  ist  sicher  keine  hundert  Jahr  älter 
als  die  Handschrift  selbst,  ist  das  Mittelirische  (Neuirische)  des  14. 
und  15.  Jahrhunderts. 

Ich  glaube  wir  dürfen  aus  den  mehr  angedeuteten  wie  ausge- 
führten Gründen  behaupten:  um  1100  und  im  12.  Jahrhundert  stan- 
den in  den  litterarisc  hen  Kreisen  Irlands  noch  die  Stoffe  des 
älteren  Sagenkreises  im  Vordergrunde  des  Interesses;  um  die  Mitte 
des  15.  Jahrb.  nahmen  die  Stoffe  des  Ossiansagenkreises  diese  Stelle 
ein.  Es  wird  daher  im  13.  und  14.  Jahrhundert  das  allmähliche 
Vordringen  der  Stoffe  der  älteren  Heldensage  in  diesen  Kreisen  ein- 
getreten sein,  was  zur  Voraussetzung  hat,  daß  dieser  Proceß  im 
Volke  zu  dieser  Zeit  schon  wesentlich  zum  Abschluß  gekom* 
men  war.  Wo  daher  von  da  an  noch  Handschriften  mit  Stoffen 
des  älteren  Sagenkreises  vorkommen,  da  sind  sie,  und  zwar  je  spä- 
ter sie  sind  um  so  mehr,  lediglich  das  Produkt  antiquarischen  Inter- 
esses, ein  Zeugnis  für  das  Studium  und  die  Pflege  irischen  Alter- 
tums; heutigen  Tags  ist  ja  fast  Alles,  was  von  Sagenelementen  im 
irischen  Volke  lebendig  ist,  in  den  Kreis  der  Ossiansage  hineinge- 
zogen. Den  Beginn  der  Bewegung  werden  wir  nach  dem  Bemerk- 
ten wohl  ins  12.  Jahrhundert  zu  setzen  haben. 

Gerade  wegen  dieser  Entwicklung  des  Ossiansagenkreises  wer- 
den wir  uns  hüten  müssen  das  Bild,  welches  wir  in  den  umfang- 
reichen Texten  des  15.  Jahrhunderts  von  den  hervorragendsten  Ge- 
stalten desselben  empfangen,  ohne  Weiteres  nm  einige  Jahrhunderte 
hinauf  zu  rücken,  etwa  auf  Finn,  Oisin  um  1100  zu  übertragen. 
Diese  Gefahr  liegt  so  nahe,  weil  man  mit  einiger  Sicherheit  glaubt 
annehmen  zu  dürfen,  daß  Gestalten  des  älteren  Sagenkreises  wie 
Cuchulinn,  wie  sie  in  Texten  des  12.  Jahrb.  auftreten,  wesentlich  so 


D'Arbois  de  Jubainville,  Essai  d*un  catalogue  de  la  litt,  ^pique  de  Flrlande.    189 

in  der  VolkspbantaBie  im  8.  und  9.  Jahrb.  lebendig  waren.  Der 
Finn  mac  Cnmail,  wie  er  in  den  Macgnitnartha,  in  Äcollatn  na  setuh 
rachy  in  Cath  Finntragha,  in  den  TesmoUa  Cormaic  ui  Cuinn  auf- 
tritt, darf  vor  der  Hand  bloß  der  Finn  des  15.  (oder  14.  Jahrh.) 
Bein,  ebenso  wie  der  Fingal  Maepbersons  nicht  wegen  der  Namens- 
identität mit  seinem  Than  und  Lassen  ins  15.  oder  gar  12.  Jahrh. 
darf  versetzt  werden.  Erst  wenn  eine  eingehende  Vergleichang  ge- 
zeigt hat,  wie  viel  alte  Sagenzüge  des  Cachalinnkreises  in  die  ge- 
nannten zusammenfassenden  Erzählungen  des  Ossiansagenkreises 
verwoben  sind  ^),  können  wir  von  dem  üebrigbleibenden  rückwärts 
schließen.  Die  Gestalt  des  Finn  mac  Gumaill  des  15.  Jahrh.  ist 
nun  in  ganz  hervorragendem  Maaße  im  Sinne  des  alten  Ulsterhelden 
Cucbttlinn  ausgearbeitet.  Bei  solchen  Umgestaltungen  kommt  es 
sehr  leicht  vor,  daß  alte  gewohnte  Züge  der  neuen  Gestalt  sehr 
schlecht  stehn  und  allerlei  Umdeutungen  und  Interpretationen  er- 
fahren: etwas  Derartiges  scheint  mir  mit  Finn  mac  Gnmail  vorge- 
gangen zu  sein.  In  den  erwähnten  Macgnimartha  Finn  wird 
eine  Reihe  von  Begebenheiten  gemeldet,  die  wie  die  Namensände- 
rung Deimne  in  Finn  u.  A.  sicher  Nachbildungen  der  Enabenthaten 
Cuchulinns  sind ;  dann  wird  erzählt,  wie  der  junge  Finn  zu  Finns- 
ces  an  die  Boine  geht,  um  die  Die  h  tkunst  zu  lernen,  wie  er 
bei  demselben  in  Besitz  prophetischer  Gabe  gelangt,  den  Namen 
Finn  erhält,  die  drei  Dinge  lernte,  welche  einen  ße  ausmachen  und 

1)  Ich  möchte  hier  aber  noch  besonders  betonen,  daB  nicht  nar  eine  Beihe 
Ton  Zügen  des  Guchalinnsagenkreises  auf  die  Gestalten  des  Ossiansagenkreises 
übertragen  ist,  wie  man  schon  yerschiedentlich  beobachtet  hat,  sondern  daft  die 
groften  Erzählungen  des  Ossiansagenkreises  selbst,  wie  sie  uns  in  den 
Handschriften  des  15.  Jahrh.  entgegentreten,  Nachahmungen  der  Hauptkomposi- 
tionen des  älteren  Sagenkreises  sind.  So  ist  die  Idee  die  Helden  Ossi  an  und 
Cailte  mac  Ronain  mit  Patrik  im  Leben  zusammen  zu  bringen,  wodurch  der 
Rahmen  für  Acallam  na  senorach  und  jüngere  Erzeugnisse  gegeben  wurde,  doch 
nur  eine  Yergröberung  der  alten  Erzählung  Siahureharpat  Coneulaind  (Lü.  113  a  ff.)» 
wonach  Guchulinn  dem  Patrik  leibhaftig  auf  seinem  Streitwagen  er- 
scheint, und  wie  in  der  alten  Erzählung  der  leibhaftig  erschienene  Cuchuünn 
aufgefordert  seine  und  seiner  Genossen  Thaten  erzählt  (Lü.  114  a,  87— 116  a,  26), 
so  Ossian  und  Cailte  die  Thaten  der  Fenier.  Der  zweite  Haupttezt  Cath  Finn" 
tragha  ist  als  Komposition  der  Tain  55  CSalnge  nachgeahmt:  dort  zieht  die 
ganze  Welt  gegen  Irland,  hier  ganz  Irland  gegen  Ulster ;  dort  zahlreiche  Kämpfe 
am  Strand,  hier  die  zahlreichen  Kämpfe  Cuchulinns  an  der  Forth ;  dort  die  Sen- 
dung um  Hülfe  an  Cormac,  hier  die  Sendung  Sualtams  zu  Conchobar  (LL.  93  a,  81  ff.) 
um  Ersatz;  beidemal  ist  die  Sendung  momentan  erfolglos;  in  beiden  Fällen 
Heranziehen  der  Hülfe  und  entscheidende  Schlacht.  DaB  die  Macgnimartha  Finn 
endlich  den  Magnimrada  Conculainn  nachgebildet  sind,  als  Ganzes  sowie  in  vie- 
len Einzelheiten  liegt  auf  der  Hand. 


190  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  5. 

als  Meisterstück  ein  Gedicht  verfertigte.  Dies  Gedicht  bebaD- 
delt  wie  dasjenige  in  Bawl.  B.  502  das  Erwachen  der 
gesamten  Natnr  im  FrUbsommer,  es  ist  in  demselben 
Metram  abgefaßt  und  zeigt  vielfache  Anklänge,  wie 
der  hier  folgende  Anfang  zeigt: 
Cäiemain  cain  ree  rosair  and  cucJU 

canait  luin  laid  lain  diambeüh  laigaig  ann. 

Gairid  cai  cruaid  dean         is  fochen  samh  sair 
Suidig  sine  serb  imme  cerb  caill  craib. 

Schon  O'Donovan  fiel  der  Umstand  auf  (Ossianic  Society  4,  302 
Anm.),  daß  kurz  hinter  einander  zwei  total  verschiedene  Be- 
richte darüber  folgen,  wie  der  junge  Deimne  zum  Namen  Finn  kam. 
Haben  wir  den  ersteren  nun  als  eine  Nachahmung  der  Guchulinn- 
geschichte  erkannt,  so  bleibt  der  zweite  als  der  der  Finnsage  eigen- 
tümliche. Er  liefert  uns  den  Schlüssel  zu  einer  älteren  Vorstellung 
von  Finn  als  der  im  15.  Jahrhundert  geläufigen,  und  diese  durch 
die  Guchulinnsage  noch  nicht  beeinflußte  ältere  Vorstellung  denkt 
sich  Finn  als  einen  vollen deten /SZa,  (Dichter),  stimmt 
also  zu  dem,  was  um  300  Jahre  und  mehr  ältere  Handschriften  uns 
thatsächlich  lehren. 

Wir  wenden  uns  wieder  den  Oxforder  Handschriften  zu.  Laud 
610  ist  eine  irische  Handschrift  des  15.  Jahrhunderts.  Sie  ist  zuerst 
eingehender  beschrieben  und  analysiert  von  Todd  in  den  Proceedings 
of  the  Boyal  Irish  Academy  für  1842—1843  S.  336—345;  der  so- 
genannte Katalog  von  H.  E.  Goxe  (Oxford  1858)  ist  nur  eine  Wie- 
dergabe dieser  Analyse,  und  Herrn  D'Arbois  Beschreibung  (S.  XXXVI 
— XXXIX)  sowie  die  gegebenen  Titel  faßen  auf  letzterer:  Die  Irr- 
tümer der  Toddschen  Arbeit  liegen  also  in  dem  Werk  des  Herrn 
D'Arbois  in  dritter  Auflage  vor. 

Bei  Todd  heißt  es  nun  in  der  Beschreibang  der  Handschrift 
(Proceedings  of  the  R.  J.  A.  1842-1843,  S.  345):  fol.  122  A  very 
important  tract  which  appears  from  the  handwriting  to  be  much 
more  ancient  than  any  other  part  of  the  volume,  containing  the  de- 
rivation of  names,  local  traditions  and  other  remarkable  circum- 
stances of  the  hills,  mountains,  rivers,  caves  and  monumental  re- 
mains in  Ireland,  more  especially  such  as  relate  to  the  deeds 
of  Finn  mac  Cui&ail  and  his  heroes.  There  is  an  imperfect 
copy  of  this  tract  in  the  book  of  Lismore.  —  fol.  127  a  a  Finian 
tale  entitled  the  Elopement  of  the  Daughter  of  the  King  of  Munster 
with  Oisin.  —  The  remainder  of  the  volume  is  occupied  with 
a  series  of  these  tales,  which  are   of  great  interest  and  im- 


D'Arbois  de  Jubainville,  Essai  d'un  catalogue  de  la  litt,  ^piqae  de  I'Irlande.     191 

portance.  Mauy  modern  copies  of  them  on  paper  are  preserved , 
especially  in  the  valuable  collection  of  Hodges  and  Smith;  but  with 
the  exception  of  the  fragment  in  the  book  of  Lismore,  the  p  r  e- 
sentYolume  is  the  only  vellomMS.  ofsuchtales  whose 
existense  is  knownc  Der  gedruckte  Katalog  wiederholt  diese 
Worte  mit  einigen  Ettrzangen.  Herr  D'Arbois  endlich,  nachdem  er 
an  der  Hand  des  Katalogs  bemerkt,  daß  von  fol.  118—121  die  Re- 
vue Gelt.  5,  197  abgedruckten  macgnimartha  Finn  stehn,  fährt  fort: 
»Le  reste  du  volume  [d.  h.  von  fol.  122  an],  qui  se  termine  au 
fol.  146,  est  occup6  par  des  histoires  ossianiques.  II  est  tris 
important  pour  F^tude  du  d6velloppement  de  ce  cycle,  qui  a  pris 
trös  tardivement  sa  forme  däfinitivec.  Wie  man  sieht,  Excerpt  und 
wörtliche  Uebersetzung! 

Welchen  Gebrauch  macht  nun  Herr  D'Arbois  in  seinem  Cata- 
logue de  la  litt6rature  ipique  de  Tlrlande  von  diesen  50  Folioseiten, 
also  mehr  als  dem  sechsten  Teil  der  ganzen  Handschrift,  die  er  >trös 
importantc  nennt  fttr  das  Studium  des  Ossiansagenkreises ?  Sie  exi- 
stieren fttr  ihn  nicht,  weil  ihm  der  Katalog  keinen 
Titel  zum  Abschreiben  bietet.  Unglaublich,  aber  wahr. 
Man  beachte  noch:  1)  Todd  gibt  in  der  von  Herrn  D'Arbois  ausge- 
schriebenen Analyse  der  Handschrift  ausdrücklich  an,  daß  many 
modern  copies  of  them  on  papers  are  preserved,  especially 
in  the  valuable  collection  of  Hadges  and  Smith;  2)  diese  valuable 
collection  of  Hodges  and  Smith  ist  jetzt  in  der  Royal  Irish  Academy 
und  diese  modernen,  zum  Teil  aus  dem  19.  Jahrb.  stammenden  Pa- 
pierhandschriften  sind  durch  O'Curry  katalogisiert ;  3)  Herr  D'Arbois 
schreibt  diesen  Katalog  O'Currys  aus  und  liefert,  wie  wir  oben  S.  157 
sahen,  zahlreiche  wertlose  Belege  aus  modernen  Handschriften  ;  4) 
Herr  D'Arbois  hat  nach  seinen  eigenen  Angaben  (S.  XI)  Oxford 
nach  den  irischen  Bibliotheken  besucht,  hatte  also  alle  Excerpte  aus 
den  Katalogen  O'Currys  —  und  der  Mann  hat  es  nicht  der 
Mtthe  wert  gehalten  oder  war  nicht  fähig  zu  konsta- 
tieren, ob  etwas  und  was  von  den  notierten  Produkten  aus  Hand- 
schriften des  19.  Jahrb.  in  der  Pergamenthandschrift  des  15.  belegt 
sei  Die  Erklärung  liegt  darin,  daß  Herr  D'Arbois  in  Wirklichkeit 
auch  nicht  weiß,  was  in  den  modernen  Dubliner  Handschriften  steht, 
sondern  nur  Titel  abgeschrieben  hat. 

Wie  groß  das  Körnchen  Wahrheit  ist,  welches  in  Todds  An- 
gaben ttber  fol.  122—146  von  Laud  610  steckt,  kann  man  leicht  aus 
nachfolgenden  näheren  Mitteilungen  ersehen.  Fol.  122  ist  von  fol. 
123—146  durch  Pergament,  Tinte  und  Schrift  geschieden,  wie  tlber- 
hanpt  in   Laud    610   Bruchstticke   zweier    wesentlich   gleichaltriger 


192  Gott.  gel.  Aaz.  1887.  Nr.  5. 

Handschriften  von  demselben  Format  vereinigt  sind:  fol.  122 
gehQrt  nun  anf  Grund  der  äußeren  Indicien  (Pergament,  Scbrift, 
Tinte)  unbedingt  mit  den  vorhergehenden  Blättern  zusammen  und 
ergibt  sich  inhaltlich  als  Fortsetzung  einer  fol.  121  b,  1  in  direktem 
Anschluß  an  das  Fragment  der  Macgnimatha  Finn  folgenden  Er- 
zählung ans  dem  Ossiansagenkreis.  Dieselbe  ist  ohne  Uebersobrift, 
hat  aber  Egerton  1782  fol.  24  b,  2  den  Titel  Temholta  Corbmic  ui 
Cuinn  7  aighed  Finn  mic  Cumaül  Dies  ist  schon  von  Kuno  Meyer 
in  der  Revue  Celt.  6,  190  bemerkt.  Der  Text  fehlt  vollständig  bei 
Herrn  D'Arbois.  Im  Anschluß  an  dieses  Aided  Finn,  welches  fol. 
122  by  2  Mitte  schließt,  folgt  dann  der  Anfang  einer  Finnerzählung 
beginnend  Artoidhecht  airsaigheckta  do  Fhinn  hua  Baiscne]  nach 
wenigen  Zeilen  endet  fol.  122  und  damit  brechen  die  Fragmente  des 
einen  Manuskripts  ab. 

Fol.  123 — 146  gehören  unstreitig  einer  anderen  Handschrift  an, 
aus  der  z.  B.  auch  die  Blätter  59 — 72  stammen,  welche  den  Feiire 
enthalten.  Als  ich  die  Handschrift  Laud.  610  zum  ersten  Mal  zu 
Gesicht  bekam  (1878),  da  hatte  ich  sofort  den  Eindruck,  daß  uns 
in  den  Blättern  59  ff.  und  123  ff.  Fragmente  einer  Handschrift  vor- 
liegen, welche  von  dem  Schreiber  des  Lebar  Brecc  geschrieben  ist 
Auch  bei  wiederholtem  Gebrauch  der  Handschrift  1885  ist  mir  der 
Eindruck  geblieben.  Ist  diese  Beobachtung  richtig,  dann  ergäbe 
sich  daraus,  daß  die  genannten  Teile  von  Laud  um  50  Jahre  älter 
sind  als  die  Handschrift,  aus  welcher  fol.  93— 122  und  andere  Teile 
stammen  (geschrieben  1453.  1454  cf.  fol.  58  b,  2).  Inhaltlich  nun 
repräsentieren  fol.  123^146  nicht  verschiedene  Erzählungen  aus 
dem  Ossiansagenkreis  wie  Todd  angibt,  sondern  sie  bieten  die 
am  Anfang  und  Ende  durch  Verlust  von  Blättern  et- 
was verstümmelte  älteste  Ueberlieferung  des  oft  ge- 
nannten Textes  Acallam  na  senorach.  Der  Anfang  fer  Muman 
andes  entspricht  Bawl.  B.  487,  fol.  23  b,  2  Zeile  18  von  oben  und 
Franciscan  Convent  fol.  31b,  Zeile  1.  In  Betracht  kommen  fttr  die- 
sen umfangreichsten  irischen  Sagentext  nur  4  Handschriften:  Laud. 
610,  fol.  123—146,  Rawl.  B.  487,  fol.  12—52,  Book  of  Lismore  fol. 
201—240,  Franciscan  Convent  No.  12,  S.  1—83.  Von  diesen  ist 
nur  die  an  letzter  Stelle  genannte  Handschrift  in  sich  vollständig; 
keine  jedoch  enthält  den  ganzen  Text  und  nicht  ein- 
mal aus  allen  4  Handschriften  läßt  sich  ein  solcher 
gewinnen:  In  Land  610  fehlen  im  Anfang  wohl  12  Blätter,  denn 
zwischen  fol.  123  und  124  sowie  zwischen  129  und  130  je  ein 
Blatt,  endlich  Schluß  (1  Blatt?);  in  Rawl.  B.  487  ist  fol.  12a  un- 
leserlich, zwischen  fol  12  und  13  fehlt  ein  Blatt,    ebenso  zwischen 


D'Arbois  de  JubainvUie,  Essai  d'un  catalogue  de  la  litt,  dpique  de  Flrlande.    193 

16  nnd  17«  zwiBchen  fol.  20  nnd  21  feblen  zwei  Blätter,  zwisohen 

fol.  38 and 39  fehlt  ein  Blatt,  endlich  eadigt  fol.  52b  =  Laad.  610, 

fol.  141a,  1,   80  daß   also   das    gesamte  Material   in  Land.  610  fol. 

141a,    1-146   in  Raw.  B.   487  fehlt;    Franciscan   Convent   No.  12 

geht   etwas  weiter  wie  Rawl.  B.  487,   aber   nicht   soweit  wie  Land 

610,  sondern  nur  bis  fol.  145  a,  2;   nur  Book   of  Lismore   geht   um 

eine  halbe  Spalte  weiter  als  Laud  610,  welche  Handschrift  fol.  240b,  2 

Mitte  des  Book  of  Lismore  endigt,   wogegen   in  letzterem  allerdings 

zwischen  fol.  239  und  240  ein  Blatt  fehlt.    Wir  sind  also,  abgesehen 

von  dem  fehlenden  Schloß,   in   dem    nicht   viel  verloren  sein   kann, 

im  Stande  einen  Text  aafzabauen,    der   sich  für  weite  Strecken  auf 

4  Handschriften  stützt,   für   kürzere   auf  3    respektive  2,   für   eine 

kürze  Strecke   (das  in  Book  of  Lismore  zwischen  fol.  239   und  240 

Fehlende)   auf  Laud  610  nnd    für  eine  halbe  Spalte   auf  Book  of 

Lismore  allein. 

Der  in  Rede  stehende  Text  ist  eine  Rahmenerzählung.  Die 
Idee,  Ossian  und  Cailte,  die  der  Vernichtungsschlacht  von  Oabair 
entronnenen  Fenierführer,  als  alte  Recken  mit  dem  200  Jahre  jün- 
geren Patrik  zusammen  zu  bringen,  liefert  den  Rahmen  zu  einer 
Sammlung  von  gegen  100  Einzelerzählungen.  Gemeinsam  und  ein» 
zeln  durchziehen  Cailte  und  Ossian  mit  Patrik  und  seiner  Beglei- 
tung Irland:  jeder  Hügel,  jeder  Wald,  jeder  See,  jeder  Wasserfall, 
jeder  Bach  hat  im  Munde  des  Volkes  seine  Oeschichte  und  diese 
Geschichten  werden  Cailte  oder  Ossian  den  Alten  in  den  Mund  ge- 
legt. Fast  alle  Ereignisse  stehn  mit  Finn  und  den  Thaten  der  Fe- 
nier  in  Beziehung.  Es  ist  begreiflich,  daß  viele  dieser  Erzählungen 
auch  außerhalb  des  rein  äußerlichen  Rahmens  vorkommen,  und  so 
sind  in  der  That  manche  der  in  jungen  Handschriften  vorliegenden 
Erzählungen  des  Ossiansagenkreises  mit  Einzelerzählungen  in  Acailam 
identisch.  Um  einen  Begriff  von  dem  Umfang  dieser  Rahmener- 
zählung zu  gebeU;  erwähne  ich,  daß  meine  Zusammenstellung  eines 
fortlaufenden  Textes  auf  Grund  der  genannten  4  Handschriften  allein 
501  enggeschriehene  Quartseiten  umfaßt,  ohne  die  Collationen. 

Ich  glaube  genügendes  Material  zum  Beweis  meiner  beiden  S.  165 
aufgestellten  Behauptungen  beigebracht  zu  haben.  Hat  aber  Herr 
lyArbois  nur  Titel  ans  Katalogen  excerpiert,  so  liegt  es  auf  der 
Hand,  daß  er  von  dem  Inhalt  noch  nicht  publicierter  epischer 
Texte  nur  soweit  eine  Ahnung  haben  kann,  als  sich  derselbe  aus 
den  benutzten  Katalogen  oder  Analysen  O'Cnrrys  und  anderer  in 
den  allgemein  zugänglichen  Hilfsmitteln  ersehen  läßt.    Welche  Feh* 


194  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  5. 

1er  daraus  eDtspriDgen  müssen,  darauf  habe  ieh  Seite  1 55  hingedeu- 
tet.   Ich  greife  einen  Beleg  heraus. 

S.  236  wird  der  Text  Tochondod  nan  Desi  o  Themraig  aufge- 
führt und  mit  2  Handschriften  belegt  (LU.  und  Laud  610). 

S.  253  findet  sich  ein  Text  Tacaü  caecJUa  Cormaic,  er  wird  mit 
H.  2.  15  T.  C.  D.  belegt 

S.  90  endlich  wird  Coecad  Cormaic  i  Temraig  mit  H.  3.  17 
T.  G.  D.  belegt.  Herr  D'Arbois  verweist  unter  Ti4caü  caechtä  auf 
Coecad  Cormaic  und  umgekehrt,  wohl  weil  in  beiden  Titeln  coecad 
Cormaic  vorkommt.  Beide  Texte  sind  nicht  nur  nnter  sich,  sondern 
auch  mit  TocJiomlod  nan  Desi  identisch  und  zu  den  4  Handschriften 
des  einen  Textes  kommt  noch  Rawl.  B.  502  fol.  72a,  2  (s.  oben 
S.  184)  und  zwar  als  Zweitälteste. 

Daß  Herr  D'Arbois  sich  in  diesem  und  vielen  anderen  Fällen 
geriert,  als  ob  er  wirklich  wisse,  was  hinter  den  Titeln  stecke,  wird 
man  nicht  auffallend  finden:  das  gehört  zur  übernommenen  Rolle. 
Selbst  der  harmloseste  wird  sich  nach  den  vorausgegangenen  Erör- 
terungen dadurch  nicht  täuschen  lassen,  um  so  weniger  als  ich  schon 
oben  S.  160  Gelegenheit  hatte  zu  zeigen,  daß  Herr  D'Arbois  von 
dem  Inhalt  eines  der  wichtigsten  und  umfangreichsten 
Texte  des  älteren  Sagenkreises  keine  Ahnung  hat, 
trotzdem  derselbe  in  Facsimile  und  einer  von  Analyse 
und  Wörterbuch  begleiteten  Ausgabe  vorliegt.  Die  Be- 
lege für  diese  Thatsachen  lassen  sich  häufen. 

Seite  156  lesen  wir  ^Imtheacht  na  Tromdhaimhe  aventures  de 
la  lourde  compagnie.  Cycle  deConchobar  et  Güchulinn«. 
Dann  folgt  die  Aufzählung  der  Handschriften  und  daran  schließen 
sich  die  oben  S.  179  angeführten  weiteren  Erläuterungen,  wonach 
Herrn  D'Arbois  die  1857  erschienene  Ausgabe  mit  englischer  lieber- 
Setzung  bekannt  ist.  Als  Hauptpersonen  der  Handlung  treten 
in  dem  Text  auf  der  bei  Golum  Gilles  Tode  (597  p.  G.)  noch  lebende 
Dallän  Forgaill,  sein  Nachfolger  in  der  Würde  eines  Ollam  der  be- 
kannte Seuchän  Torpeist  und  König  Guaire,  welcher  zwischen  622 
und  662  in  den  Annalen  auftritt:  die  Geschichte  spielt  um  630  am 
Hofe  Guaires  im  christianisierten  Irland  und  die  bekanntesten  Hei- 
ligen Irlands  des  6.  und  7.  Jahrb.  treten  auf  und  der  Text  soll  zum 
Gonchobar-  und  Güchulinnsagenkreis  gehören!  Wie  Herr  D'Arbois 
zu  dem  Unsinn  kam,  ist  klar.  In  dem  Text  wird  gegen  Schluß 
erzählt,  daß  dem  Senchän  Torpeist  und  den  um  ihn  versammel- 
ten Barden  als  Strafe  ftlr  ihren  Uebermut  von  Marbän  dem  Bru- 
der König  Guaires  aufgegeben  wurde,  eine  vollständige  Ver- 
sion der  Erzählung  Tain  bö  Cualnge  herbeizuschaffen,  was  ihnen 


D'Arbois  de  Jabainville,  Essai  d*im  catalogue  de  la  litt,  dpique  de  Tlrlande.    195 

aacb  entgiltig  gelingt  Es  ist  erklärlich,  daß  in  den  verschiedenen 
Bezugnahmen  O'Cnrrys  anf  Imthecht  na  tromdaime  dieses  Kapitel  in 
den  Vordergrund  tritt  eben  wegen  der  in  ihm  enthaltenen  litterar- 
historischen  Nachricht.  Nehmen  wir  nan  an :  Herr  D'Ärbois  hat  den 
seit  1857  mit  Uebersetzang  vorliegenden  Text  nicht  gelesen,  er  hat 
sich  ans  O'Gurrys  Analysen  ein  falsches  Bild  von  dem  Inhalt  des 
Textes  gebildet,  in  der  Flüchtigkeit  confandiert  er  »Erzählang  von 
dem  Wiederanffinden  einer  vollständigen  Version  der  Erzählang 
Tain  hö  Cudlngey  also  einer  Erzählung  des  älteren  Sagenkreisesc 
mit  »Erzählung  des  älteren  Sagenkreisesc  —  so  ist  begreiflich,  wie 
er  dazu  kam,  die  Erzählung  einer  Begebenheit  des  7.  Jahrb.  dem 
Gücbnlinnsagenkreis  zuzuweisen. 

Einen  weiteren  Beweis,  daß  Herr  D'Arbois  den  in  Rede  stehen- 
den Text  nicht  gelesen  hat,  geben  die  erläuternden  Worte,  die  er 
ihm  S.  157  widmet:  ^Uimtheacht  na  Tromdhainihe  est  un  d6ve- 
loppement  dela  pi6ce  plus  courte  intitul6e  Fallsigad  Tana  bo 
Cualnge  d6converte  de  Tepopee  connue  sous  le  nom  TaTn  bo  Cudlnge^. 
Dementsprechend  hat  er  S.  128  einen  Titel  Fallsigad  Tana  bo  Cualnge 
belegt  durch  LL.  245  und  knttpft  daran  die  erläuternde  Bemerkung : 
»La  composition  InUheacht  na  Tromdhaimke  en  est  un  döveloppe- 
mentc.  Hiermit  beweist  er  nebenbei,  daß  er  auch  diesen  Text 
wesentlich  nur  aus  den  Bemerkungen  O'Gurrys  Manuscript  Materials 
S.  29 — 30  kennt.  Wer  nämlich  den  Inhalt  von  Imthecht  na  trom- 
daime näher  kennt  und  dies  Stück  Fallsigud  Tana  bö  Cuainge  LL. 
245b  liest,  sieht  sofort,  daß  letzteres  nur  ein  Kapitel  aus 
der  Erzählung  Imthecht  na  tromdaime  i s  t  und  zwar  eben  das- 
jenige Kapitel,  in  welchem  erzählt  wird,  wie  es  dem  Senchän  und 
seinen  Barden  gelang,  in  den  Besitz  einer  vollständigen  Täinversion 
zu  gelangen.  Schon  der  Anfang  concomgartha  tra  fölid  Brenn  »es 
wurden  nun  zusammengerufen  die  Dichter  Irlands  (LL.  245b,  2) 
zeigt,  daß  es  sich  um  einen  Ausschnitt  aus  einer  Erzählung  han- 
deln muß.  Freilich,  die  Recension  von  Imthecht  na  tromdaime^  aus 
der  LL.  245  b,  1 — 29  ein  Kapitel  repräsentiert,  muß  von  der  uns  er- 
haltenen und  edierten  in  manchen  Punkten  abgewichen  sein.  In 
dem  Glossar  Cormacs  liegt  ein  anderes  Kapitel  aus  Imthecht  na 
tromdaime  unter  dem  Worte  priül  vor,  wie  schon  O'Gurry  Manners 
and  Customs  II,  89  sah,  das  uns  für  Ende  des  9.  Jahrb.  das  Vor- 
handensein des  Textes  bezeugt  und  zwar  in  einer  von  kirchlichen 
Tendenzen  weniger  beeinflußten  Redaktion  als  die  uns  aus  dem  15. 
Jahrh.  erhaltene.  Da  nun  gerade  die  Abweichung  des  Kapitels  LL. 
245  b,  1—29  von  dem  entsprechenden  in  der  erhaltenen  Recension 
darauf  beruht,  daß  es  von  den  dort  zu  Tage  tretenden  kirchlichen 
Einflössen  frei  ist^  so   werden  vriir  eben  in  LL.  245  b,  1—29   ein 


196  Gfitt.  gel.  Anx.  1887.  Nr.  5. 

weiteres  Zeugnis  für  die  ältere,  profane  Kecension  von  Imthecht  na 
trotndaime  betrachten  dürfen. 

Durch  das  Erscheinen  der  Facsimile  von  Lebor  na  hUidre 
(Dublin  1870)  und  Brook  of  Leinster  (Dublin  1880)  ist  Jeder  in  die 
gtlnstige  Lage  versetzt,  die  wichtigsten  und  umfangreichsten  Texte 
des  älteren  Sagenkreises  an  den  ältesten  Quellen  studieren  zu  kön- 
nen. Man  sollte  doch  meinen,  daß  Jemand,  der  den  Versuch  macht 
einen  Katalog  der  epischen  Stoffe  Irlands  zusammen  zu  stellen,  we- 
nigstens dasjenige  von  epischen  Stoffen  gelesen  hat,  was  in  diesen 
Facsimiles  Allen  zugänglich  ist.  Fttr  Herrn  D'Arbois  existieren 
diese  beiden  Handschriftenfaksimile  nur,  um  ans  den  beigegebenen 
Inhaltsverzeichnissen  Titel  auszuschreiben  und  Analysen  zu  plün- 
dern. Wo  eine  auf  Lektüre  gegründete  Kenntnis  eines  Textes  aas 
diesen  Faksimiles  erforderlich  ist,  da  hört  Herrn  D'Arbois  Weisheit 
anf.  Nicht  einmal  die  in  beiden  Handschriften,  Lü.  und 
LL.,  enthaltene  berühmteste  irische  Erzählung  der  Hel- 
densage Tain  bö  Gücdnge^  die  nationaler  Stolz  der  Ilias  oder  den 
Nibelungen  gleichstellt,  hat  er  gelesen,  wie  sich  nachweisen  läßt. 
Schon  in  den  beiden  ältesten  Handschriften  führen  Einzelepisoden 
dieses  Epos  besondere  Titel;  die  in  LL.  vorkommenden  Titel  hat 
O'Looney  in  den  Proceedings  of  the  Royal  Irish  Academy  1879, 
Band  I  p.  242  ff.  gesammelt.  Der  jüngere  der  beiden  Eingangs 
erwähnten  alten  Sachkataloge  zählt  neben  Tain  bö  Cualnge  in  an- 
derem Zusammenhang  Titel  von  Texten  auf,  die  nur  Einzelepisoden 
dieses  Epos  sein  können.  Jüngere  Handschriften  endlich  bieten  that- 
sächlich  solche  aus  dem  Zusammenhang  gerissene  Einzelerzählungen. 
Herr  D'Arbois  nimmt  natürlich  sämtliche  Titel  des  jüngeren  Kata- 
logs in  sein  alphabetisches  Verzeichnis,  daher  auch  die  von  Einzel- 
episoden der  Tain  bö  Cualngi.  Alle  Einzelepisoden  dieses  Epos  nun, 
welche  sich  auf  Grund  von  0*Looneys  Zusammenstellung  oder  in 
Folge  ihres  selbständigen  Auftretens  in  den  excerpierten  Katalogen 
als  Teile  der  Tain  bö  Cualnge  verifizieren  lassen,  weist  Herr  D'Ar- 
bois thatsächlich  als  solche  nach.  Wo  aber  die  beiden  Krücken 
fehlen  und  bloß  Kenntnis  der  Täin  weiter  helfen  konnte ,  da  heißt 
es  »cette  pi6ce  paratt  perdue«!  selbst  wenn  es  sich  um  eine  der  be- 
kanntesten Episoden  handelt.  So  stehn  gleich  im  Anfang  des  jün- 
geren Katalogs  (S.  260)  folgende  Titel  hinter  einander:  1.  caUUhgleo 
Cethirny  2.  mellgleo  nlliachy  3.  fiacalgleo  Fintain,  4.  airecar  narad^ 
5.  brisleach  muige  Murthemni,  6.  imslige  Glendamnach^  7.  cath  For- 
gairig  ocus  Irgairig^  8.  aus  in  Duib  Chuaingi  diatir,  9.  damgäl  ina 
tarb  M  tarbgae,  10.  tochustal  nJJlad.  Wer  die  Tain  bö  Cualnge  ge- 
lesen hat,  sieht  sofort,  daß  es  sich  um  .bekannte  Episoden  dieses 
Epos  bandelt.   Herr  D'Arbois  weist  auch  an  den  betreffenden  Stellen 


D'Arbois  de  Jubainville,  Essai  d^un  catalogue  de  la  litt,  epique  de  Hrlande.    197 

seines  Katalogs  die  obigen  Nammern  1 — 5^  sowie  8  —  10  richtig  nach  ; 
fbr  6  and  7  lassen  ihn  O'Looney  und  Eatalogexcerpte  im  Stich  und 
da  finden  wir :  S.  69  » Cath  forgairid  acus  Irgairig.  Liste  B.  C  e  1 1  e 
pi^ce  paratt  perduec;  S.  157  *imslige  Olenn  Amnaig  Marche 
de  Olenn  Amnach.  Liste  B.  La  localite  dont  il  est  question  ici 
paratt  etre  celle  dont  le  nom  est  ^crit  Glennamhnach ,  par  O'Dono- 
van,  Annais  I,  85  sous  i'an  du  monde  4981.  II  y  aurait  eu*  en  ce 
lieu,  ä  cette  date,  une  bataille;  mais  la  piöce  dont  il  s'agit  ici 
paratt  perdue«.  Unter  bristech  inor  maige  Murthentnej  also  Num- 
mer 5  in  obiger  Reihe,  bemerkt  er  richtig  (S.  47):  G'est  une  section 
du  Tain  bö  Cnalnge  und  gibt  richtig  LU.  p.  77  col.  2  und  LL.  p.  75, 
col.  2.  Hätte  er  nun  diese  Citate  nachgeschlagen  und  sich  die 
9 section  du  Tain«  angesehen,  so  wttrde  er  gefunden  haben,  daß  die- 
selbe zum  Schluß  erzählt,  wie  Ouehnlinn  so  mordete,  daß  die  Oe- 
fallenen  immer  zu  sechs  auf  dem  Schlachtfeld  lagen  (die  Nacken 
dreier  gegen  die  Fußsohlen  dreier),  und  daß  daher  die  Episode  auch 
den  Namen  sesrech  (Sechsheit)  breslige  führe:  7  issed  ires  ndfrime 
natana  ./•  sessrech  breslige  7  imslige  Glennamnach  7  incath 
forgarig-l  ir garig  (LU.  80b,  21  =  LL.  78a,  51),  d.  h.  und 
dies  ist  die  dritte  Unzäblbarkeit  der  Täin,  nämlich  Sessrech  breslige 
und  [die  beiden  andern  sind]  imslige  Olennamnach  und  caih  forgOrig 
0CU8  irgarig, 

Imslige  Glendamnaeh  wird  noch  LU.  73  a,  17  als  eine  Täin- 
episode  erwähnt  und  findet  sich  LL.  92  a,  1—44  (cf.  24)  erzählt 
Caih  Fargarig  7  Irgarig  wird  noch  erwähnt  LL.  95  a,  38.  44.  51; 
102b,  11;  103a,  23.  107a,  15  und  ist  die  Bezeichnung  der 
entscheidenden  Schlacht  in  derTäin,  LL.  101  b, 4— 103 b, 
18  erzählt.  Der  Ort,  wo  die  Schlacht  stattfand  wird  LL.  95  a,  41.46. 
96  a,  54  ff.  anchiSfemam  Mide  genannt,  in  Folge  dessen  gibt  O'Looney 
1.  I.  als  Episode  der  Täin  an  cath  na  tana  a  Slimain  Mide.  Es  ist 
also  Caßi  Forgarig  7  Irgarig  und  Cath  na  täna  i  Slemain  Mide  Be- 
zeichnung derselben  Episode;  ersteres  ist  die  Bezeichnung  der 
Handschrift,  letzteres  die  OXooneys;  unter  ersterem  Titel  sagt  Herr 
D'Arbois  »Cette  piöce  paratt  perdue«  (S.  69)  unter  letzterem  (S.  83) 
bemerkt  er  weise  »section  du  Tainc  und  gibt  sogar  LL.  95—103 
als  maiiBScrit  an!  O'Looney  wird  natürlich  in  gewohnter  Ehrlichkeit 
yerschwiegen.  Daftlr  erhalten  wir  ein  »cf.  Tochim  inna  mbuden 
iSlemain* ;  sieht  man  an  alphabetischer  Stelle  nach,  so  erfahren  wir 
(S»  224),  daß  dies  ebenfalls  ein  Titel  der  jüngeren  Liste  ist,  im 
Uebrigea  aber  >cf.  caih  na  tana  i  Slemain  Jtfidß«,  d.  h.  Herr  D'Ar- 
bois  weiß  nichts  mit  dem  Titel  anzufangen,  vermutet  aber  wegen 
iSkmain  Beziehungen.  Es  ist  dies  die  Bezeichnung  eines  der  Schlacht 
yorausgebenden  Abschnittes  und  muß  nach   LL.  97  a,  3   dem  Ab- 


lc  SelbstbezeichnuDg  Jesu  als  des  Menschen  Sohn. 


199 


•  -■  " !  '  ' '  IV* 


des  Lesers  bleibe  die  Entscheidung  darüber  vorbe- 
'harakteristiscbe  des  besprochenen  Werkes  ist:  die 

'retende  Unehrlichkeit  oder  die  Unfähigkeit  oder  die 

'»s  Herrn  D'Ärbois. 

H.  Zimmer. 


w      ^ 


iftA^Hs'  A  " 


Die  Selbstbezeichnung  Jesu   als   des  Menschen 
h,  Höhr  1886.    23  S.    ^^ 

abgefahren  zur  Hölle.  Eine  Wiedererwägung  der Schrift- 
tr.  3, 18—22  und  Kap.  4,  vers  6.  Zarich,  Höhr  1886.    58  S.  8^ 


-;^ 


fjT«- 


'isser  dieser  beiden  Abhandlungen  hat  sich  um  die  Re- 
schichte  anerkannte  Verdienste    erworben.      Auch  hier 
vielseitige  Belesenbeit,   grofie   Zuverlässigkeit  und  be- 
ist  der  Forschung.    Von  Druckfehlern  abgesehen  wüßte 
Namen  des  Clemens-Herausgebers   (S.  27.  55.  57)   Pott 
\  verbessern.     Die   Sprache  ist   nicht  sehr  durchsichtig; 
e  und  schwerfällig  gebaute  Sätze  erlegen  dem  Leser  un- 
i  Anstrengung  auf.     Doch  gebe  ich  der  zweiten  Schrift 
Qsicht  den  Vorzug.    Die  erste  will  den  Sinn   der  Selbst- 
Jesu   als  »Menschensohn«    feststellen  —  denn    daß  die- 
Jesum  selber  zurückgeht,  behauptet  der  Verf.  mit  Recht  — 
.ieht  dahin,  daß  Jesus   mit  dem  allerdings  unter  dem  Ein- 
Daniel   c.  7    gewählten  Namen   nicht  seine  göttliche  oder 
.'he  Natur,  sondern  seinen  einzigartigen   Beruf  habe  be- 
I  wollen,   in    »tiefsinniger  Hinweisung   auf  die  geschicht- 
ü^inpflanzung  des  Heils  in  die  Menschheit«.  Jesus 
;  dabei    an   seinen   eigentumlichen    Beruf,  wie  er 
durch    seine   Menschwerdung  (!)   bestimmte«.     Da 
J.  doch  mit  Vorstellungen  rechnen,  welche  der  kirchlichen  Dog- 
entlehnt  eine  streng  historische  Beantwortung  der  Frage  kaum 
iten,  ebenso  wenn   es  S.  18  vom   geschichtlichen  Menscbensohn 
,  daß  »er  als  sUndlos  schon  von  oben  gekommen  war«.     Der 
iiualfehler  scheint  mir  indessen,   daß  der  Verf.  unbedenklich  in 
in  überlieferten  Wort  (auch  denen   des  4.  Evangeliums),  wo  der 
.ischensohn«  erwähnt  wird,  ein  authentisches  Wort  Jesu  sieht,  als  ob 
t  die  Evangelisten  diesen  Titel  weggelassen  haben  könnten,  wo 
rsprünglich  stand  und  eingeschoben,  wo  ihn  ein  anderer  vertrat. 
st  die  Auslegung  des  Unkrautgleichnisses  Mt.  13,  37  ff.   behau- 
i\v  wie  ein  Stenogramm  einer  Rede  Jesu,  während  sie  sicher  das 
k    eines  Späteren   ist,    und  wenn  man  schon  da  viel  mehr  Vor- 
wünschte, so  ist  dies  vollends  der  Fall,  wenn  Usteri    »die  An- 
!iiDg  des   Namens   „Menscbensohn'^   in    allen   charakteristischen 
eu  sich  erklären«  will,  wenn  er  »in  jenen  Prädikaten«,  welche 
.dwo    mit  dem    Subjekt   »Menschensohn«    verbunden  sind,   eine 
'rhe    und    umfassende  Charakteristik  des  Sinnes,   in  dem  Jesus 
es  Menschen  Sohn  nannte,  entdeckt  und  aufzeigt.   Wenn  Mt.  12, 8 
rt:  des  Menschen  Sohn  ist  Herr  auch  des  Sabbaths,  so  macht 
■  aus :  Jesus  ist  Herr  über  den  Sabbath    »in  seiner  Eigenschaft 
ier  Sohn    des  Menschen,   der   frei  ist  und  frei  macht  u.  s.  w., 
'.c.  6,22  diejenigen  selig  heißen,  welche  sich  um  des  Menschen 
willen  schmähen  lassen,  so  erklärt  U.:  »Nur  ein  hoher  Name 


200  Göt(.  gel.  Adz.  1887.  Nr.  6. 

kann,  indem  er  Schmach  bringt,  beseligend  sein«.  Aber  wären  jene 
iSätze  Mt.  12  und  Lc.  6  weniger  richtig,  wenn  statt  Menschensobn 
Christas  dastände?  Den  Unterschied  zwischen  analytischen  and  syn- 
thetischen Urteilen  hat  Usteri  wohl  dem  Leser  einmal  ins  Gedächtnis 
zarückgerafen,  aber  nicht  sich:  darum  mögen  seine  Resultate  das 
Selbstbewußtsein  Jesu  überhaupt  trefifend  umschreiben,  das  ihn  zur 
Wahl  des  Namens  Menschensohn  treibende  Bewußtsein  umschreiben 
sie  nicht.  Und  auch  das  Erstere  muß  ich  bestreiten ;  wenigstens  ist 
mir  ein  Jesus  mit  so  dunklen  und  modern  angehauchten  Empfindun- 
gen über  seinen  Beruf  nicht  verständlich. 

Die  zweite,  rein  exegetische  Schrift  hingegen  ist  ein  sehr  för- 
dernder Beitrag  zur  Auslegung  der  katholischen  Briefe.  I  Petr.  3, 17 — 22 
unterwirft  der  Verf.  einer  gelehrten  und  eindringenden  Untersuchnng, 
deren  m.  E.  sicheres  Resultat  ist,  daß  der  Verf.  eine  Heilspredigt  des 
gestorbenen  Christus  im  Hades  als  den  Gedanken  von  v.  19  konsta- 
tiert. Den  Zusammenbang  weist  er  gut  nach,  wie  das  Beispiel  Christi 
die  Leser  ermuntern  solle  zum  Gutesthun  bei  allem  Leiden,  da  dies 
xQetvToy^  d.  h.  gar  segensreich  sei;  und  gewiß  lag  es  dem  Briefeteller 
nahe  bei  Christus  den  Segen  des  sttndlosen  Leidens  recht  ausgiebig 
zu  beschreiben.  Fast  zu  reichlich  setzt  sich  U.  hier  mit  seinen  Vor- 
gängern auseinander;  so  interessant  seine  Mitteilungen  aus  der  Ge- 
schichte der  Exegese  sind,  führen  sie  den  Leser  doch  bisweilen  in 
Gefahr  den  Faden  zu  verlieren.  Auch  über  »die  dogmatische  Situa- 
tion« der  Lehre  von  Christi  Höllenfahrt  handelt  er  im  Schlußabschnitt 
S.  53  ff.  besonnen,  wiewohl  ich  glaube,  man  muß  jene  Idee  mit  Weiß 
für  einen  Bestandteil  schon  des  ursprünglichen  apostolischen  x^Qvy/ut 
halten:  sie  ist  auf  dem  Boden  der  Vorstellung  ja  eine  notwendige 
Eonsequenz  des  Glaubens,  daß  Gott  alle  Menschen  in  Christo 
selig  machen  will.  Nur  darin  kann  ich  U.  wieder  nicht  beistim- 
men, daß  I  Petr.  4,  6  jede  Beziehung  auf  eine  »Hadespredigt  Christi 
an  alle  Todten«  entbehren  soll.  Seine  Auslegung  der  vexgoi  als  der 
inzwischen,  d.  h.  vor  der  Heilsvollendang  Gestorbenen,  denen  bei 
ihren  Lebzeiten  das  Evangelium  gebracht  worden  sei,  dünkt  mich 
übermäßig  gezwungen,  höchst  erstaunlich,  —  da  doch  der  Verf.  nach 
3,  19  einen  Besuch  Christi  im  Todtenreich  annimmt  und  eine  Be- 
schränkung desselben  auf  die  vornoachischen  Geschlechter  oder  ge- 
nauer auf  die  unbußfertigen  Zeitgenossen  Noahs  direkt  undenkbar 
ist,  vielmehr  eine  Pflicht  der  Gerechtigkeit  ihn  auf  alle  ysxQoi  aus- 
zudehnen —  und  durch  nichts  begründet,  da  das  erste  Glied  des  Ab- 
sichtssatzes in  V.  6  auch  von  U.  dem  zweiten  subordiniert,  also 
ihm  vorausgehend  gedacht  wird.  Nach  »Petrus«  hatte  die  Predigt 
Christi  im  Hades  den  Zweck  zu  bewirken,  daß  die  dort  gefangenen 
Geister  der  Verstorbenen  mit  ihm  in  den  Himmel  aufstiegen,  wenn 
anch  die  Leiber  noch  fortfuhren  unter  dem  Gericht,  d.  h.  in  der 
Auflösung  des  Grabes  sich  zu  befinden.  »Petrus«  liebt  scharfe  Anti- 
thesen, darum  hat  er  den  fver-Satz  etwas  misverständlich  gebildet;  die 
spätere  kirchliche  Theologie  hat  ihn  ganz  richtig  verstanden. 

Summelsburg  b.  Berlin.  Dr.  Jtilicher. 

—  - 

Fftr  die  Bedftktion  Tenntwortlioh :   Prof.  Dr.  BsckUl,  Direktor  der  0«tt.  gel.  Ans., 
Assesaor  der  Königlichen  OeeellBdiaft  der  WiMeneehaften. 
Teriag  dsr  IfüUrich'schm  fmioffa-Budüumähmg. 
JhMdt  d§r  DUUnaCickm  üni9,'Budidrwim4i  (Fr.  W.  Kaukm), 


t-'  »H.1.V  , 


201 


Göttingische 

gelehrte  Anzeigen 

anter  der  Aufsicht 

der  Königl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Nr.  6.  PfSlö.  März  1887. 


Preis  des  Jahrganges :  JL  24  (mit  den  »Nachrichten  d.  k.  G.  d.  Wiss.« :  tÄ  27). 
Preis  der  einzelnen  Nummer  nach  Anzahl  der  Bogen:  der  Bogen  60  ^ 

lohalt :  Sehleuther,  Fnn  Oottached  und  die  bflrgerliehe  Komödie.  Von  Seufftrt  -*  Budge, 
The  Book  of  the  Bee.  Yon  Nwäe.  —  Oardiner,  Hietory  of  the  great  ciTÜ  war  1642-1649.  Vol.  I. 
Yon  Bimn.  —  TanBehher,  Handbnch  dor  auSbenden  Wltterangibmde.  Yon  Jfiiyer.  —  Zweinnd- 
paehilfiter  Jahreeberieht  der  8ohleeischen  Geeellechaft  fb  Taterl&ndl«che  Knltor.  Yon  AhiMW.  — 
B«rger-LeTranlt,    Ckitalogae  dee  Alsatiea    de  la   Biblioih^ne    de    0.  Berger-LoTranlt.     Yon 

=  EI|Maiehtiger  Abdruck  von  Artikeln  dar  69tt.  gel.  Anzeigen  verboten.  = 

Seblenther,  Paul,  Frau  Gottsched  und  die  bürgerliche  Komödie. 
Ein  Kulturbild  aus  der  Zopfzeit.  Berlin,  W.  Hertz  (Bessersche  Buchhand- 
lung) 1886.    Vm  und  267  SS.    8^    M.  6. 

Die  Gottsched  verdient  eine  Biographie.  Schienther  hat  sich 
ihrer  mit  Kenntnis  and  mit  Liebe  angenommen.  Daß  er  dabei  der 
VersQchnng  erlag,  als  Ritter  einer  Fran  gegen  ihren  Gemahl  unge- 
recht zu  werden,  ist  in  diesem  Falle  doppelt  begreiflich.  »Wenn 
an  Gottsched  ttberhanpt  etwas  zu  rühmen  ist,  so  wäre  es,  nach  des 
Verf.s  Meinung,  die  Seßhaftigkeit  in  den  Btlchern«  S.  22.  Das 
dttnkt  mich  stark  aufgetragen.  Doch  es  handelt  sich  hier  nicht  um 
den  Wert  der  Gottschedschen  Pläne  und  Unternehmungen;  es  han- 
delt sich  um  die  Bolle,  die  er  als  Ehemann  spielt  Die  gemütlichen 
and  moralischen  Qualitäten  -des  Ehrgeizigen  sind  nicht  hoch  anzu- 
gchlagen.  Trotzdem,  der  Tyrann  seiner  Frau  war  er  nicht,  den 
Schi,  aus  ihm  macht.  Hat  er  sie  bis  zur  Erschöpfung  zur  Schrift- 
stellerei  gezwungen?  hat  er  ihre  freiere  Entfaltung  durch  seinen 
Regelkram  gehemmt?  hat  er  ihr  eheliches  Glück  gestört?  Die  letzte 
Frage  ist  zu  bejahen  vop  einem  ganz  bestimmten  ZA^onkte  an; 
man  sieht  die  Wendung  in  den  Briefen  der  Frau  gegen  Ende  1756 ; 
dahin  weist  auch  das  Geständnis  vom  Jahre  1762:  »sechs  Jahre 
lang  unzählige  Thränenc  (Briefe  3,  167).  Vorhenicann  ich  kein 
Zeichen  dafür  finden,  daft  sie  jene  Frage  nicht  verneint  hätte,  auch 
nicht  dalür,  daft  sie  sieb   das  eheliche  Leben   wesentlich   anders  er- 

(Mlt.  gel.  Ans.  1887.  Kr.  S.  15 


202  Gott.  gel.  Am..  1887.  Nr.  6. 

wartet  hätte,  als  Grottsched  es  gedacht  und  bereitet  hat.  Die  Ver- 
lobung war  anf  gegenseitige  Bewunderung  schriftstellerischer  Lei- 
stungen gegründet;  gemeinsame  Geistesarbeit  war  das  erwünschte 
und  erreichte  Ziel  der  Ehe  fttr  beide.  Aus  den  Briefen  der  Braut 
ist  wenig  anderes  zu  lesen,  als  daft  sie  ihre  höhere  Ausbildung  vom 
Gemahl  erwartet  Die  späteren  hinterlassen  nicht  den  Eindruck,  als 
ob  die  Schreiberin  wider  ihren  Willen  zu  arbeiten  gezwungen  wor* 
den  sei;  sie  hatte  selbst  das  Bedürfnis  nach  immer  neuer  Thätigkeit, 
und  wenn  sie  einmal,  da  sie  schon  kränkelt,  über  ihren  Platz  auf 
einer  Galeere  seufzt,  so  steht  nicht  dabei,  daß  ihr  Mann  sie  daran 
geschmiedet.  Sie  war  keineswegs  trotz  Schi.  S.  26  des  Ehrgeizes 
bar.  Sie  ward  nicht  durch  persönliche  Bescheidenheit  vom  Eintritte 
in  gelehrte  Gesellschaften  abgehalten,  sondern  weil  sie  überhaupt 
weibliche  Beteiligung  daran  misbilligte.  Ihr  Wort,  vor  der  Aufoabme 
der  Ziegler  sei  ihr  die  Ehre  zu  groB  gewesen,  darnach  zu  klein, 
ist  stolz.  Und  in  der  Vorrede  zur  Guardian-Uebersetzung  tritt  sie 
mit  Selbstbewußtsein  auf.  Sie  war  wirklich  nicht  »von  der  Selbst- 
liebe, diesem  so  wesentlichen  Stücke  der  menschlichen  Natur,  gänz- 
lich entblößte,  wenn  sie  auch  ebenso  gewiß  nicht  mehr  davon  be- 
saß, als  ihr  zustand.  Ich  möchte  daraus  nur  schließen,  daß  sie  eige- 
nen Trieb  zur  Bücherarbeit  hatte,  und  daß  es  ihr  eine  Genugthuung 
sein  mußte  und  war,  an  der  Seite  eines  so  lehrreichen  und  so  be- 
rühmten Mannes  zu  gehn.  Die  Bolle,  die  sie  durch  ihn,  und  dann 
allerdings  auch  durch  ihren  eigenen  Wert,  in  geselligen  und  littera- 
rischen Kreisen  spielte,  hat  Schi,  nicht  genügend  gezeichnet,  obwohl 
das  in  einem  »Eulturbildc  bestimmt  zu  erwarten  war.  Sie  hat  Be- 
friedigung darin  gefunden,  wie  ihr  die  Berührung  mit  fürstlichen 
Personen,  in  welche  sie  vornehmlich  als  Gattin  des  Herrn  Professors 
kam,  so  sehr  schmeichelte  als  ihm. 

Man  braucht  dabei  gar  nicht  zu  vergessen,  daß  sie  ein  »mun- 
terererc  Kopf  war  als  ihr  Gemahl,  der  seinen  Verstand  in  sehr  strenge 
Zucht  genommen  hatte.  Aber  sie  stellte  die  etwaigen  freieren  Re- 
gungen desselben  in  voller  Ueberzeugung  in  d6n  Dienst  der  An- 
sichten ihres  Mannes,  denen  sie  huldigte,  bevor  er  ihr  Bräutigam 
war.  Hätten  sie  sich  selbständig  oder  unter  anderer  Leitung  besser 
entfaltet,  wer  vermag  es  zu  behaupten  ?  Ihre  Gedichte  vor  der  Ver- 
lobung und  vor  der  Ehe  geben  dafür  keinen  Beweis;  sie  sind  wie 
ihre  damalige  Lektüre  »ganz  nach  Gottschedischem  Geschmackc 
S.  9^  Und  wie  viele  ihrer  Briefe,  die  nicht  ausgeschlossen,  welche 
vor  der  Heirat  liegen,  und  die  nicht,  in  denen  sie  sich  anf  den 
Wunsch  der  befreundeten  Adressatin  »ohne  Gepränge«,  ohne  zierlich 
gemalte  Anrede  gehn  ließ,  zeugen   denn  für  ein  stärkeres  Naturell^ 


Schlenther,  Frau  Gottsched  und  die  bürgerliche  Komödie.  20S 

Ar  eine  leichtere  Beweglichkeit?  Wie  selten  erreicht  sie  die  Be- 
wegtheit des  Briefes  ttber  den  Tod  ihrer  Matter?  Wie  selten  die 
Leidenschaft  der  Freundschaft,  die  z.  B.  2,  78  f.  einige  Funken 
sprüht?  Die  Briefe  der  Mutter  Haguedorn  sind  so  viel  natürlicher. 
Die  Gottsched  schreibt  ihre  Briefe  konventionell,  wie  eine  moralische 
Wochenschrift.  Die  Vorrednerin  Kunkel  stellt  sie  mit  Fug  und  Recht 
auf  eine  Stufe  mit  Briefromanen.  Es  spricht  mehr  Erziehung  aus 
ihnen  als  Natur.  Der  iadividuelien  Ztige,  die  den  Charakter  im 
kleinen  ausmalen,  sind  wenige.  Eine  jugendlich  bewegte  Seele  hat 
die  Schreiberin  nicht  gehabt  oder  sie  verdeckt  sie  sorgfältig.  Sie 
hat  ein  festes  Herz,  aber  seine  Gefühle  sind  verstandesmäftig  ein- 
geengt. Sie  meint  1,  32  »heftige  Gemütsbewegungen  lassen  sich 
wohl  empfinden,  aber  nicht  beschreiben«.  Sie  hilft  der  Unfähigkeit 
des  Ausdruckes  ihrer  Empfindungen  durch  häufige  Gitate  von  Ver- 
sen und  Aussprüchen  berühmter  Männer  nach.  Für  das  ruhig  ver- 
nünftige führt  sie  eine  gewandte  Feder;  sie  spricht  überlegt  und 
einfach;  sie  huldigt  nicht  dem  Modestyl,  »dem  falschen  Anstrich, 
den  ausgesuchten,  nichts  bedeutenden  Worten«  (1,  102);  und  sie 
besitzt  Humor,  mehr  noch  als  Witz.  Im  ganzen  aber  erheben  sich 
ihre  Briefe  nicht  viel  über  die,  welche  die  Runkel  von  einigen  an- 
dern am  Schlüsse  der  Sammlung  mitteilt 

Und  wenn  die  Kulmns-Gottsched  nun  hier  in  ihren  vertraulich- 
sten Aeußerungen  und  jederzeit  keine  besonders  kräftige  und  ori- 
ginelle Prägung  zeigt,  womit  soll  bewiesen  werden,  dat  diese  Prä- 
gung in  ihren  Druckwerken  durch  das  Gebot  ihres  Mannes  oder 
auch  nur  durch  ihre  Befangenheit  in  seinen  Ansichten  verwischt 
worden  sei  ?  Ueberdies  wissen  wir  ja,  daB  sie  sich  durchaus  nicht 
ganz  und  gar  vom  Gemahl  einschnüren  lieft;  sie  verehrt  Haller,  sie 
lehnt  Voltaire  stolz  ab,  sie  verachtet  Schönaich  u.  s.  w.  Aus  solchen 
Selbständigkeiten  gegenüber  den  Meinungen  ihres  Mannes  erhellt, 
daft  sie  nicht  so  völlig  geknechtet,  und  daft  es  also  nicht  Gottscheds 
Drnck,  sondern  Mangel  an  originaler  Kraft  war,  wenn  ihre  Produk- 
tion in  seinen  Geleisen  blieb.  Von  einigen  abweichenden  Ansichten, 
vom  Durchschauen,  ja  gelegentlichen  Ueberschauen  seiner  Ziele  bis 
zur  Fähigkeit  neuer  Darstellung  ist  ein  weiter  Sprung.  Hätte  sie 
ihn  zu  thun  vermocht,  so  hätte  sie  ihn  trotz  Gottsched  gethan. 
Woftte  sie  doch  hinter  seinem  Rücken  der  Runkel  Manuskripte  zu- 
zustellen. 

Sonaeh  kann  ich  die  geistige  Tyrannei  Gottscheds  so  hoch  nicht 
schätzen.  Frau  Louise  Adelgunde  Yictorie  war  seine  überzeugte 
Schalerin,  ja  sie  verdankte  ihre  Entwicklnng  seiner  Führung;  und 
wenn  ihr  Naturell  verbildet  war,  war  es  schon  vor  der  Verlobung 

lö* 


204  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  6. 

geschehen.  Für  den  ersten  Teil  seines  Baches  gewann  allerdings 
Schi,  darch  seine  Auffassung  des  Verhältnisses  einen  recht  wirkungs- 
YoUen  Effekt;  im  zweiten  Teile  läßt  er  ihn  bei  Seite  und  scheint 
überhaupt  Gottsched  höher  zu  stellen. 

Der  erste  Teil  gibt  die  Biographie  und  schildert  dabei  die  Ge- 
sinnung und  litterarische  Thätigkeit  der  Gottschedin  mit  Ausnahme 
der  Lustspiele.  Die  Einteilung  ist  außer  im  ersten  und  letzten  Ka- 
pitel dieses  Teiles  nicht  von  der  zeitlichen  Folge  genommen,  sondern 
nach  den  Meinungen  und  den  Beschäftigungen  der  Heldin.  Die 
Nachteile  solches  Vorgehens  scheinen  mir  die  Vorteile  zu  überwie- 
gen. Der  Verf.  bringt  sich  dadurch  um  die  Möglichkeit,  die  Ent- 
wicklung der  Gottsched  darzustellen,  und  der  Leser  bekommt  zwar 
einen  Ueberblick  über  ihre  Haupteigenschaften ,  verliert  aber  den 
Zusammenhang  des  Charakters.  Die  Unruhe  der  Darstellung  wird 
wesentlich  auch  durch  die  Manier  des  Verf.s  gesteigert,  zu  Gunsten 
effektvoller  Eingänge  der  Abschnitte  späte  Ereignisse  vorausza- 
greifen,  das  letzte  zuerst  zu  sagen.  So  setzt  er  mit  der  Vermählung 
der  Eulmus  ein  und  erzählt  dann  ihre  Mädchenzeit;  so  berichtet  er 
zu  Beginn  des  zweiten  Kapitels  ihren  Tod  und  trägt  in  sechs  Ka- 
piteln ihren  Lebenslauf  nach.  Und  so  werden  ihre  Werke  auch 
nicht  in  chronologischer  Ordnung  besprochen,  sondern  so  wie  sie  sich 
nach  inneren  oder  auch  nur  äußeren  Gesichtspunkten  zusammenreihen 
lasen ,  in  Kapitel  verteilt.  Schi,  sucht  Hlr  diese  Kapitel  sachlich 
bezeichnende  Ueberschriften  und  er  sucht  packende  Ueberschriften. 
Der  zweite  Abschnitt  gleich  ist  auf  der  gelehrten  Galeere  betitelt, 
ein  Wort,  das  die  Gottsched  gelegentlich  fallen  läßt;  dazu  halte 
man  Kolumnentitel  wie:  Das  geschickte  Kind,  Hangen  und  Bangen, 
Ideal  und  Wirklichkeit,  Die  beiden  Tabaksdosen  u.  s.  f.  Derlei  ist 
bezeichnend  ftlr  die  Darstell ungs weise  des  Verfs  und  leider  auch 
für  ihren  Geschmack.  Zur  Beleuchtung  des  letzteren  verweise  ich 
noch  auf  die  Phrase:  Professor  May  hatte  in  seinem  Wesen  etwas 
maifrisohes,  auf  die  witzelnde  Antithese:  Der  sterbende  Gato  lebte, 
der  lebende  Harlekin  sollte  sterben  u.  ähnl.  m.  Auch  so  manches 
über  die  Psychologie  des  Weibes  und  über  das  Verhältnis  von  Gat- 
ten ist  nur  dem  Bedürfnisse,  gemeiniglich  zu  unterhalten  oder  za 
reizen,  entwachsen.  Es  ist  ja  eine  schöne  Sache,  auch  als  gelehrter 
Forscher  —  denn  das  ist  Schi,  in  diesem  Buche  —  nicht  langweilig 
und  trocken  zu  sein,  und  sein  Stoff  fordert  eine  gewisse  Laune  her- 
aus. Aber  der  flotte  Styl  konnte  solcher  Schnörkel  entbehren  und 
würde  ohne  sie  die  Leser  gleichmäßiger  fesseln.  Gegen  diejenigen 
unter  ihnen,  welche  sich  mit  der  Sache,  für  die  er  sie  interessiert, 
näher  befassen  wollen,  wäre  es  rücksichtsvoller  gewesen,  Anmerknn- 


Schlenther,  Frau  Gottsclied  und  die  bürgerliche  Komödie.  205 

gen  beizufügen,  da  sie  jetzt  nur  in  Beilagen  ein  paar  Winke  über 
seine  Quellen  enthalten.  In  diesem  Falle,  wo  selbst  dem  Special- 
forscber  die  zerstreut  liegenden  Quellen  schwer  zugänglich  sind,  wo 
keine  Vorarbeiten  anderer  bereiten  Aufschluß  geben,  wäre  ein  ge- 
naues Citat  öfters  sehr  dankenswert,  ja  nötig  gewesen.  Nicht  zu- 
vörderst um  nachprüfen  zu  können,  auf  welche  Stelle  gerade  sich 
des  Verf.s  Ansicht  gründet,  mehr  noch  um  von  diesen  Stellen  aus 
zu  einer  Vervollständigang  des  Themas  zu  gelangen.  Denn  er- 
schöpfend ist  die  Biographie  nicht. 

Schi,  erklärt,  sein  Bemühen  gelte  weniger  der  Erforschung  und 
Vermebrang  des  litterarhistorischen  Materials,  als  vielmehr  ästheti- 
schen Beobachtungen.  Diese  Absicht  ist  bedauerlich.  Denn  es  ist 
unerläßlich,  daß  die  Teilnahme  der  Gottsched  an  Zeitschriften,  die 
Aufnahme  ihrer  Werke  in  der  Kritik  und  aaf  der  Btthne,  ihre  Stel- 
lang im  Leipzig-Zürchischen  Kampfe  untersucht  werde  und  manches 
andere,  was  Schi,  eben  so  nebenher  und  halb  oder  nicht  berührt. 
Und  ich  dächte  doch,  daß  sie  als  Recensentin  z.  B.  eine  Seite  ihres 
Wesens  zeigte,  die  Schi,  nicht  gesehen  hat.  Das  gate,  das  er  ge- 
leistet hat,  wird  nun  der  Feind  des  besseren  sein :  Nachlesen  zu  ma- 
chen ist  keine  verlockende  Aufgabe. 

Für  den  zweiten  größeren  Teil  seines  Buches,  welcher  dem  bür- 
gerlichen Prosalnstspiel  in  Obersachsen  gilt,  gleichfalls  den  Vorwurf 
der  UnVollständigkeit  zu  erheben,  wäre  ungerecht.  Hier  ist  die  Auf- 
gabe ungleich  schwieriger  und  umfassender,  der  Mangel  an  Vorar- 
beiten empfindlicher.  Schi,  führt  von  Gryphins  zu  Weise,  läßt  die 
Neubers  folgen,  führt  Gottsched  wie  einen  Mann  ein,  mit  dessen 
äußerer  Lage,  dessen  Ansichten  und  Absichten  der  Leser  noch  nicht 
im  ersten  Teile  vertraut  gemacht  worden  sei,  behandelt  Henrici  und 
König,  das  Verhältnis  des  Dresdener  Lustspieles  zum  Leipziger,  die 
Stellung  des  Harlekin,  dann  Reuter  und  Henrici  als  Pasqaillanten 
und  schließt  mit  dem  Streite  Straubes  und  J.  E.  Schlegels  über  Vers 
und  Prosa  in  der  Komödie  die  Vorgeschichte  der  Gottschedischen 
Lustspiele  ab.  Das  ist  eine  Skizze  in  übersichtlichen  Strichen,  de- 
ren selbständiger  Wert  dnrch  umfassendere  Komödienuntersuchung 
im  einzelnen  beeinträchtigt  werden  wird,  die  aber  sehr  wohl  auf  die 
Hauptsache,  die  Betrachtung  der  Lustspiele  der  Gottsched  vorbereitet 
Im  6.  Kapitel  ist  Schi,  bei  ihr  angelangt  und  behandelt  nun  unter 
der  Ueberschrift :  Talentprobe  ihre  Pietisterey  im  Fischbeinrock, 
wobei  wohl  die  Anmerkung  erwünscht  gewesen  wäre,  daß  davon  in 
der  ersten  Woche  der  Michaelismesse  1736  150  Exemplare  in  Leip- 
zig verkauft  wurden  und  daß  die  Gensur  auf  das  Werklein  fahn- 
dete (Grenzboten    1882.  1,  275),    dann  ihre  Uebersetzungen  —    der 


206  Gott-  gel.  Anz.  1887.  Nr.  6. 

Verweis  auf  Lessings  Dramaturgie  17  fehlt  aatfalleDder  Weise  — 
UDd  verweilt  bei  diesen  auch  noch  in  dem  Kapitel  mit  dem  Titel: 
Einrichtnng.  Wer  diese  and  die  nächsten  Eapitelstichworte :  der 
moralische  Satz  nnd  seine  Anwendung,  Typns  und  Charakter,  der 
Knoten  betrachtet,  sieht  nnn  anch  deatlicher,  wie  Schi,  seine  yer- 
sprochenen  ästhetischen  Beobachtungen  anstellt.  Er  geht  jedesmal 
von  Gottscheds  Theorie  aus  nnd  zeigt,  wie  die  Dichtung  der  Frau 
Gottsched  derselben  gerecht  wird.  Diese  Art  von  Untersuchung  ist 
fruchtbar,  nur  daft  auch  sie  das  Urteil  über  die  Entwicklung  der 
Gottsched  erschwert  nnd  die  Bilder  ihrer  einzelnen  Komödien,  die 
doch  wenigen  alle  und  genan  bekannt  sind,  nicht  ganz  deutlich  zeigt. 
Man  muft  sich  aus  den  Kapiteln  die  Züge  zusammensuchen.  Immerhin 
ttbersteigt  hier  der  Gewinn  den  Schaden,  zumal  Schi,  hiebei  der 
geschichtlichen  Folge  einige  Rechnung  trägt  In  diesen  Abschnitten 
liegt  die  nachhaltigste  Förderung,  welche  die  litterarhistorische  For- 
schnng  aus  Schl.s  Buch  erfährt.    Das  ist  sein  Kern. 

Schi,  geht  freilich  in  seiner  Beobachtung,  wie  die  Theorie  in 
Praxis  umgesetzt  wird,  so  einseitig  vor,  daß  er  dem  Geschichtsfor-' 
scher  auch  hier  nicht  überall  genug  thut,  z.  B.  den  Witzling  zn 
knrz  abgefertigt  nnd  seine  litterarischen  Bezüge  nur  durch  eine  No- 
tiz S.  204  andeutet  Aber  der  Litterarhistoriker  wird  sich  eben 
überall  in  das  Buch  Nachträge  einschreiben  müssen,  so  viel  Förde- 
rung er  daraus  erfährt.  So  z.  B.  zum  dritten  Kapitel  den  Inhalt  der 
Vorrede  zum  Guardian,  auf  welche  die  Gottsched  selbst  (Briefe  2,  265) 
Gewicht  legt  Er  wird  ihre  Gedichte  doch  näher  betrachten  als  in  der 
summarischen  Behandlung  Schl.s  geschieht  und  daraus  z.  B.  ihre 
Ablehnung  des  Brockes  (Gedichte  S.  113)  und  des  Schwulstes 
(S.  45  ff.)  notieren,  welch  letzteres  auf  der  Gegen  den  Schwulst  über- 
schriebenen  Seite  45  Schi,  so  gut  wie  die  Stelle  in  den  Briefen  1, 102 
hätte  anziehen  sollen.  Er  wird  hier  und  oft,  gerade  weil  das  Buch 
ein  Kulturbild  entwerfen  will,  die  Gottsched  an  der  Ziegler  und 
Zäunemann  nnd  andern  poetischen  Zeitgenossinnen  messen,  wie  er 
ienm  1.  Elapitel  die  Anforderungen  Gottscheds  und  seine  Urteile  über 
die  Braut  mit  den  Aeufterungen  anderer  Zeitgenossen  vergleichen  und 
anmerken  wird,  daft  sie,  mit  Ausnahme  Hallers,  auch  nicht  über  den 
Preis  der  Klugheit,  Munterkeit,  Tugend,  Schönheit,  des  Fleißes  hin- 
ausgekommen sind ;  ja  ein  Blick  in  das  wohlverdiente  Ehrengedächt- 
nis der  seligen  Frau  Hofrätin  Maria  Henrietta  Trillerin  von  1754 
wird  ihn  zu  einer  besseren  Würdigung  des  Gottschedischen  Ehren- 
males veranlassen.  Er  wird  zn  dem  6.  Kapitel  über  die  Panthea 
sich  erinnern,  daft  in  demselben  Jahre  1756,  in  welchem  die  Gott- 
sched die  zweite  Bearbeitung  jenes  Trauerspieles  unternahm ,  anch 


Badge,  The  Book  of  the  Bee.  207 

Wieland  in  Zürich  denselben  Stoff  dramatiscb  za  gestalten  begann; 
ohne  daß  er  jedoch  von  seiner,  darch  Bodmer  recensierten  Vorgän- 
gerin etwas  entlehnte,  wenn  man  nach  der  ans  dem  Plane  erwach- 
senen moralischen  Oeschichte  Araspes  und  Panthea  anf  die  erste 
Konception  znrUckschließen  darf.  Er  wird  sich  in  demselben  Ka- 
pitel erinnerni  daß  der  Schwabe  Wieland  seinen  Cyrns  anf  Friedrich 
den  Großen  anwendete,  während  die  Danzigerin  ihre  gute  Meinung 
Yon  dem  PrenßenkOnig  (Gedichte  S.  101)  bald  änderte  und  seine 
»Ehrbegierdec  verständnislos  beseufzte.  Und  er  wird  aus  jeder 
Yergleiohung  einen  Standpunkt  gewinnen,  von  dem  aus  er  den  Cha- 
rakter der  Gottsched  und  die  Kultur  ihrer  Zeit  und  ihres  Ortes 
stärker  beleuchtet  sieht  als  bei  Schi.  Dort  wo  von  den  ans  dem 
Französischen  ttbersetzten  Komödien  und  von  ihrer  Vergröberung 
durch  die  Gottsched  die  Rede  ist,  wird  er  fragen,  wie  andere  Zeit- 
genossen derlei  Übertragen,  wird  dabei  an  die  realistische  Dialekt- 
seene  in  der  Pietisterey  und  die  Unflätereien  in  der  HausfranzOsin 
sich  erinnern  und  bedenken,  ob  nicht  in  diesen  Derbheiten  ein  Gha« 
rakterzug  der  Gottsched  unverfälscht  zu  Tage  tritt  und  also  der 
Versuch  SchLs,  ihre  Feinftthligkeit  zu  retten  S.  98  f.  eine  verfehlte 
Künstelei  ist.  Aus  der  neuesten  Litteratur  wird  er  nachtragen,  daß 
Baculard  d'Ärnaud  sich  1751  mit  der  Uebersetznng  eines  Lust- 
spieles des  Gottsched  befaßte  (Zs.  f.  vgl.  Litteraturgeschichte  1, 150  ff.). 
Und  so  wird  jeder  Leser  des  Buches,  der  mit  der  Zeit  einigermaßen 
yertraut  ist,  und  gar  der,  dem  die  Litteratur  der  Komödie  jener 
Epoche  besser  gegenwärtig  und  zur  Hand  ist  als  mir,  Zweifel  und 
Zusätze  beischreiben.  Trotzdem  wird  jeder  das  Buch  gebrauchen 
und  besonders  die  Beiträge  zur  Geschichte  des  deutschen  Lust- 
spieles dankbar  benutzen. 

Graz.  Bernhard  Seuffert. 


Budge,  Ernest  A.  Wallis,  M.A.,  The  Book  of  the  Bee.  The  Syriac  Text 
edited  from  the  mannscripts  in  London,  Oxford  and  Munich  with  an  English 
Translation.  Oxford  at  the  Clarendon  Press  1886.  XYI.  166  180  SS.  4^ 
2  Facsimile.  Auch  unter  dem  Titel  Anecdota  Oxoniensia.  Semitic 
Series.    Vol.  I.    Fart  II. 

Der  kleinste  Teil  dieses  stattlichen  Bandes  stammt  ans  der 
Bodleiana  oder  sonst  einer  Ozforder  Bibliothek;  eigentlich  nur  10 
Seiten  des  arabischen  Anhangs  und  eine  Reihe  Anmerkungen  unter 
der  englischen  Uebersetznng;  auch  der  Herausgeber  ist  ein  Garn-* 
bridgeman,  ebenso  derjenige,  dem  das  Buch  gewidmet  ist,  W.  Wright, 


208  Gott.    gel.  Anas.  1887.  Nr.  6. 

der  auch  den  arabischen  Anhaug  bearbeitete  und  vom  G-anzen  eine 
Korrektur  las:  am  so  dankenswerter,  daß  die  Delegierten  der  Cla- 
rendon Press  dasselbe  nnter  die  Anecdota  Oxoniensia  aufge- 
nommen. An  unserer  Freude  über  das  Erscheinen  des  Werks  än- 
dert auch  der  Umstand  nichts,  daß  dasselbe  seinem  Inhalt  nach  schon 
bekannt  war.  J.  M.  Schönfelder  hatte  1866  in  Bamberg  eine  latei- 
nische Uebersetzung  des  Buchs  veröffentlicht,  die  auf  der  einen  der 
unserer  Ausgabe  zu  Grunde  liegenden  Hss.,  der  Hilnchener,  beruhte. 
Aber  abgesehen  davon,  daß  diese  Uebersetzung  in  mancher  Hinsicht 
fehlerhaft  war  —  Budge  führt  gelegentlich  einige  Proben  an,  die 
vor  20  Jahren  allerdings  eher  entschuldbar  waren  als  heute  — :  das 
Werk  scheint  in  dieser  lateinischen  Uebersetzung  verhältnismäßig 
wenig  bekannt  geworden  zu  sein;  Ref.  erinnert  sich  wenigstens 
nicht,  viele  Beziehungen  auf  dasselbe  gefunden  zu  haben,  auch 
nicht  bei  Gegenständen  und  Autoren,  wo  man  solche  hätte  erwarten 
können.  Und  jetzt  bekommen  wir,  neben  einer  trefflichen  Ueber- 
setzung, das  Original,  und  zwar  in  sehr  guter  Gestalt.  Zwar  stammt 
die  älteste  der  3  Hss.  erst  aus  dem  Jahr  1569  (nicht  59  S.  III, 
letzte  Zeile),  die  zweite  aus  dem  Anfang  des  18.  Jahrhunderts,  und 
derselben  Zeit  gehört  wahrscheinlich  auch  die  Münchener  an,  ob- 
gleich sie  im  Münchener  Katalog  (1875)  noch  mit  Schönfelder  ins 
14.  Jahrb.  versetzt  wird  (ein  treffliches  Facsimile  dieser  und  der 
ersten  aus  der  Bibliothek  der  Asiatic  Society  vor  dem  Text).  Die 
Vaticana  hätte  eine  noch  um  100  Jahre  ältere  Hs.  geboten.  Aber 
einmal  lebte  der  Verf.,  den  Ebedejsn  in  seinem  Katalog  der  orien- 
talischen Schriftsteller  als  letzten  vor  seiner  Zeit  anführt,  erst  um 
1222,  und  sodann  war  der  sündige  Knecht  und  fehlerhafte  Elias, 
dem  wir  die  erste  Hds.  danken,  ein  überaus  pünktlicher  Mann,  wie 
manche  seiner  Bandbemerkungen  bezeugen ;  ähnlich  der  Schreiber 
der  zweiten,  der  auch  sonst  bekannte  Homo  von  Alkosch.  Nur  eine 
Stelle  im  letzten  Kapitel  (nur  in  A  erhalten)  mußte  der  Herausgeber, 
als  zur  Zeit  unverständlich,  unttbersetzt  lassen;  an  einigen  andern 
kann  man  über  den  Text  etwas  zweifelhaft  sein ,  namentlich  wo  es 
sich  um  die  Schreibung  fremder  Namen  handelt,  z.  B.  c.  22  Völker- 
tafel, c.  49  die  70  Jünger  Christi,  c.  54  die  22  Völker,  welche 
Alexander  im  Norden  eingeschlossen ;  aber  auch  hier  sind  wir  nicht 
sicher,  wie  weit  dem  Verf.  selbst  noch  die  richtigen  Formen  zuge- 
kommen waren.  Bei  der  Völkertafel  hat  übrigens  der  Herausgeber, 
der  sonst  eine  sehr  umfassende  Litteraturkenntnis  zeigt,  sich  eine 
Quelle  entgehn  lassen,  Lagardes  Praetermissa  244 f.;  dadurch 
hätte  sich  die  Stelle  38,  1  des  syrischen  Textes  und  eine  Reihe  von 
Namen  (Keniter,   Kenisiter,  Thebäer,   Lacedämonier)  sofort  richtig 


Badge ,  The  Book  of  the  Bee.  209 

sielieu  lasen.  Dasselbe  Werk  94,  20  ff.  hätte  anch  zur  Gescbiehte 
der  30  Silberlinge  beigezogen  werden  können.  Dies  üebersehen  ist 
aber  nm  so  eher  begreiflich,  als  diese  Ton  Lagarde  veröffentlichten 
Texte  f ttr  die  nenen  Teile  des  Thesaurus  nicht  excerpiert worden 
ZQ  sein  scheinen;  Namen  wie  U^,  )^;2dgd  hätten  sofort  auf  diese 
Quelle  führen  mttssen,  wären  sie  im  Thes.  zu  finden  gewesen  (ähn- 
lich fehlen  dort  anch  die  vielen  (geographischen)  Namen  ans  Hoff- 
manns syrischen  Märtyrerakten).  Auch  noch  einige  andere  Anstände 
hätten  sich  dnrch  Rückgang  auf  weitere  Quellen  erledigen  lassen, 
z.  B.  die  Anmerkung  6  S.  69  über  die  syrische  Wiedergabe  des 
griechischen  xtica^»  xataxwcag  in  Epiphanius,  oder  S.  121,  Anm.  3, 
dai  unter  den  Namen  der  griechischen  Bibelttbersetzer  aus  dem 
Stamm  Asser  ftlschlich  Johannes,  Jonathan  stehe ;  ebenso  hat  ja 
auch  der  syrische  Epiphanius  (bei  Lagarde  nach  einer  Hs. 
ans  dem  Jahr  650)  und  die  Urquelle,  der  griechische  Aristeas.  Be- 
sonders zahlreich  sind  die  Varianten  zu  den  12  Namen  der  Weisen 
ans  dem  Morgenland ;  zwei  Listen  in  meiner  syrischen  Porta ;  eine 
Verweisung  auf  v.  Gutschmid,  Rheinisches  Museum  19  (1863)  169 
wäre  hier  fttr  manchen  Leser  gewifi  besonders  erwttnscht  gewesen. 
Dankenswert  ist  das  Glossar  S.  11—15;  hinter  dem  unerklärt  geblie- 
benen Wort  S.  48, 11 :  Moses  sei  )k«q:^  der  Tochter  Pharaohs  genannt 
worden,  wird  iK^^a  Findling  stecken.  Doch  genug  des  Sprach- 
lichen, obgleich  noch  manches  Interessante  herauszuheben  wäre,  wie 
die  Anmerkung  über  den  männlichen  und  weiblichen  Gebrauch  von 
ktp00  and  dergleichen. 

Unser  Hauptinteresse  erfordert  der  Inhalt  des  Buches.     Es  ist 
eine   mit   BienenfleiB   zusammengetragene   Sammlung    alles   dessen, 
was  einem  syrischen  Theologen  im  Anfang  des  13.  Jahrb.  zur  Bibel 
alten    und   neuen  Testaments   wissenswert   oder  erklärungsbedttrftig 
schien,  mit  Weltschöpfung   und  Paradies   beginnend   und   mit  der 
Frage  nach  der  Ewigkeit  der  Höllenstrafen  oder  der  Wiederbringnng 
aller  Dinge  schlieSend.    Noch  heute  beschäftigt  sich  eine  eigene  Fa- 
kultät unserer  Universitäten  großenteils  mit  demselben  Buch  und  es 
ist  nicht  gerade  sehr  erfreulich  zu  sehen,  wie  viele  der  exegetischen 
und  dogmatischen  Fragen,  die  den  syrischen  Metropoliten  von  Basra 
vor  600  Jahren  beschäftigten,  zum  Teil  heute  noch  auf  der  Tages- 
ordnung stehn.    Andere  freilich   sind  verschwunden,  nicht  weil  sie 
endgttltig  gelöst  wären ;  man  ist  nur  bescheidener  geworden  und  hat 
einsehen  gelernt,  daft    wir  über  vieles,   was  die  fromme  Phantasie 
jener  Zeiten   wissen  wollte   und  zu  wissen   glaubte,  einfach  nichts 
wissen  könne.    Eben  hier  erhebt  sich  nun  aber  die  interessante,  bis 
jetzt  kaom  aufgeworfene  Frage:  wie  entstanden  jene  vermeintlichen 


210  Gott.  gel.  Am.  1887.  Nr.  tf. 

EeoDtnisse?  Unser  Salomo  weiB  z.  B.  von  Zwillingsschwestern  von 
Kain  ODd  Abel,  die  Kelemath  und  Leboda  bieBen,  erkennt  die 
Eltern  des  Melcbisedek  Mal  ach  and  Jozadak,  die  Entstehnng 
der  Magie  zur  Zeit  Nahors,  den  Namen  der  Tochter  Pharaohs,  die 
Moses  rettete,  Shipor,  nach  andern  Tharmesis,  den  desAegyp- 
ters,  den  Moses  erschlag,  Pethkom,  oder  ans  dem  N.  T.  weift  er, 
daß  die  Fraa,  welche  zu  Bethlehem  helfen  sollte,  Salome  hieft, 
nicht  Hadjok,  wie  die  Ketzer  sagen,  daß  7  Hirten,  deren  Namen 
er  kennt,  die  Weihnachtsbotscbaft  erhielten,  daß  die  namentlich  ver- 
zeichneten 12  Weisen  aas  dem  Morgenland  in  dem  Stern  die  Weis- 
sagung des  Zar  a  dost  d.  i.  Barach  erfüllt  sahen.  Die  2  Jünger, 
welche  Johannes  za  Jesa  sandte,  waren  Stephanas  and  Ana- 
nias, die  Tochter  der  Herodias  hieß  Bozia  (nach  andern  wie  ihre 
Matter)  and  brach  auf  dem  Eis  rettangslos  bis  an  den  Hals  ein,  daß 
man  ihr  den  Kopf  abschneiden  maßte.  Er  verfolgt  die  Geschichte 
des  Krenzesholzes  vom  Paradies  bis  Golgatha,  die  der  30  Silber- 
linge  von  Abraham  bis  Jadas  Iscbarioth;  er  weiß  genan,  wo  die  12 
Apostel  wirkten  and  begraben  liegen;  welche  verheiratet  waren, 
darunter  auch  Paulus;  wie  die  70  Jünger  Jesa  hießen  und  derglei- 
chen. Wober  weiß  er  das  alles?  Zum  Teil  nennt  er  uns  seine 
Quellen,  solche  die  uns  noch  erhalten  und  andere,  die  ons  nicht 
mehr  oder  zur  Zeit  noch  nicht  wieder  zugänglich  sind ;  einmal  weist 
er  auch  ausdrücklich  auf  mündliche  Tradition  hin  im  Unterschied 
von  der  schriftlichen  (S.  103  über  die  Herkunft  des  Ghrjsam). 
Andere  Quellen  wissen  diese  Dinge  auch,  teils  ebenso  wie  unser 
Gewährsmann,  teils  in  anderer  Form.  Man  vergleiche,  um  nur  2 
Beispiele  herauszuheben,  die  mittelalterlichen  Holzschnitte  za  der 
History  of  the  Gross,  die  von  Dibdin  in  der  Bibliotheca 
Spenceriana  nachgebildet  wurden,  nnd  die  Fortsetzung  dieser 
Legende  vom  Verf.  der  Briefe  aus  der  HOlle,  and  hinsichtlich  der 
Magier  die  von  Brentano  heraasgegebenen  Betrachtungen  der  gott- 
seligen Anna  Katharina  Emmerich«  Wie  haben  diese  oft  so  sinn- 
vollen, manchmal  aber  auch  recht  abgeschmackten  kirchlichen  and 
biblischen  Legenden  sich  verbreitet?  und  weiter  zurück,  wie  ist 
deren  Entstehung  zu  denken?  Zar  Beantwortung  solober  Fragen 
liegen  bis  jetzt  kaum  Versuche  vor,  nar  für  die  Apostellegenden 
neostens  das  meisterhafte  Werk  von  Lipsius.  lieber  Märchen,  Volks- 
lieder, Volksepen  und  deren  Entstehung  hat  man  ganz  anders  den- 
ken gelernt,  als  noch  vor  kurzer  Zeit;  über  die  Entstehung  von 
Mythen  and  Legenden  ist  aach  nach  Straaß  das  rechte  Wort  noch 
zu  sprechen.  Der  Heraasgeber  hat  in  den  Anmerkimgen  nnter  sei- 
ner Uebersetzung   mannigfach   aaf  Parallelen,   insbesondere  anf  di 


Gardiner,  History  of  the  great  civil  war  1642—1649.    Vol.  I.  211 

Scbatzhöhle  hingewiesen;  ich  fUge  noch  einige  Kleinigkeiten 
bei.  Zn  dem  Ober  das  Paradies  bemerkten  konnte  auch  Moses  bar 
Kepha  de  Paradiso,  zu  Nicodemas  Land  Anecd.  Syr.  III,  za  dem 
Metropolitenverzeichnis  Gariel  citiert  werden  (der  letzte,  Mar  Simon, 
lebt  nach  G.  U77,  nicht  1507,  wie  S.  119,  A.  6).  S.  122  ist  in 
der  Uebersetzung  bei  dem  Haas  des  Antoninas  die  Jahrszahl  (20) 
ansgefallen;  S.  148  n.  2  ist  die  Lesart  aus  C  anverständlich.  Za 
der  Anm.  S.  124,  5  daß  Methodias,  den  Salomo  zum  Bischof  von 
Rom  macht,  in  Olympas  and  Tyras  Biscbof  gewesen,  ist  der  Ex- 
kurs Aber  den  Bischofssitz  des  Methodias  in  Zahns  Studien  zn  Ja- 
stinns  Martyr  (ZfKG.  8,  15—20)  za  vergleichen.  In  den  synchroni- 
stischen Tabellen  ist  S.  123  der  Aasdrack  »dies  15.  Jahr  des 
Gbosraa«  bemerkenswert ;  anf  ihren  Ursprang  habe  ich  diese  chro- 
nologischen Tabellen  nicht  geprüft.  Besonderes  Interesse  gewährt 
eine  Yergleichnng  der  apokalyptischen  Partien  mit  den  parallelen 
der  gleichzeitigen  abendländischen  Litteratar;  hier  steht  Eaisertam 
and  Papsttam,  dort  der  Islam  im  Vordergrand;  aber  wie  viel  Be- 
rtthrangspankte  im  einzelnen.  Nach  allen  Seiten  lassen  sich  die  Fä- 
den ziehen;  machte  das  Bach  zn  den  vielseitigen  Forschnngen  an- 
regen, za  denen  Anlaß  zn  geben  es  in  der  That  geeignet  ist.  Ein 
Stellenverzeichnis  and  ein  sehr  sorgfältiges  Register  erleichtert  sei- 
nen Gebranch. 

Ulm  a.  D.  E.  Nestle. 


Gardiner,  Samnel,  Rawson,  History  of  the  great  civil  war  1642 — 
164  9.  Vol.  L  1642—1644.  London,  Longmans,  Green  and  Go.  1886.  XXX 
und  522  S.    8^ 

Zwei  Jahre  Qrst  sind  verflossen,  seit  die  früheren  Werke  S. 
Rawson  Gardiners,  die  sich  anf  die  englische  Geschichte  vom  Jahre 
1603  bis  znm  Jahre  1642  erstrecken,  in  zehn  Bänden  znsammenge- 
faAt  nns  vorliegen,  and  schon  können  wir  ans  glücklich  schätzen 
aas  derselben  Hand  die  Fortsetzung,  einen  ersten  stattlichen  Band 
der  Geschichte  des  Bürgerkrieges,  za  empfangen.  Es  gehört  die 
ganze  Eoncentration  aaf  einen  einzigen  Gegenstand,  die  in  Jahr- 
zehnten erworbene  anvergleichliche  Kenntnis  aller  mit  ihm  znsam- 
menhängenden  Fragen,  endlich  der  Reichtum  an  Hilfsmitteln  dazu, 
wie  ihn  London  dem  Forscher  aafs  bequemste  darbietet,  um  es  dem 
Verfasser  möglich  zu  machen,  ohne  die  Feder  abzusetzen,  sofort  in 
der  Behandlai^  seines  großen  Themas  fortzufahren.  Wenn  ein  Band 
von  mehr  als  500  Seiten  zwei  Jahre  des  Bürgerkriegs  behandelt,  so 


212  üött.  gel.  An/.  1887.  Nr.  6. 

kann  man  sich  schon  vorstellen^  daß  hier  die  Ereignisse  Tag  für 
Tag  mit  einer  Genauigkeit  verfolgt  werden,  wie  sie  bisher  in  kei- 
nem früheren  Werke,  das  sich  mit  dieser  Epoche  beschäftigt,  anzn- 
treffen  ist.  Auch  hat  keines  eine  so  breite  Grundlage  zeitgenössi- 
scher Berichte  wie  das  vorliegende.  Von  den  allgemein  zagängli- 
chen  oiBciellen  Aktenstücken,  gedruckten  Memoiren  u.  a.  zu  schwei- 
gen: ist  hier  die  große  Flugschriftensammlung  des  Britischen  Mu- 
seum, die  unter  den  Namen  »Kings  Tracts«  einen  so  wohl  begrün- 
deten Ruf  hat,  und  darunter  die  Masse  der  »Zeitungen«  kritisch 
und  systematisch  ausgenützt.  Eben  da  boten  sich  ein  paar  hand- 
schriftliche Tagebücher  von  Mitgliedern  des  Parlamentes  und  ein 
Teil  der  wichtigen  Manuskripte,  die  Warburton,  weil  er  Chiffriertes 
nicht  immer  zu  entziffern  wußte,  durchaus  nicht  genügend,  für  sein 
Werk  »Memoirs  of  Prince  Rupert  and  the  Cavaliers«  verwertet  hat. 
Die  Papiere  des  »Committee  beider  Königreiche«,  in  dessen  Händen 
die  gemeinsame  englisch-schottische  Kriegführung  gegen  den  KOnig 
ruhte,  im  Record-Office  sind  leider  nicht  vollständig,  haben  aber 
doch  auch  R.  Gardiner  gute  Dienste  geleistet.  Die  Depeschen  des 
venetianischen  Gesandten,  in  Kopie  gleichfalls  in  London  aufbe- 
wahrt, sowie  andere  diplomatische  Berichte,  z.  B.  die  französischen, 
ergaben  eine  nicht  zu  verachtende  Ausbeute.  In  Oxford  war  ein  ge- 
naues Studium  der  Carte  Mss.  in  der  Bodleiana  unentbehrlich,  um 
den  Gang  der  Irischen  Dinge  zu  verfolgen.  Eben  da  finden  sich 
die  Tanner-  und  Clarendon  Mss.,  die  zum  Teil  über  die  Politik  der 
royalistischen  Partei  die  besten  Aufschlüsse  geben.  Endlich  darf 
man  nicht  vergessen,  daß  manche  wichtige  Veröffentlichung  der 
Camden-Society,  deren  Direktor  S.  R.  Gardiner  ist,  in  den  letzten 
Jahren  ihm  als  Vorarbeit  für  sein  Geschichtswerk  dienen  könnte, 
wie  z.  B.  das  im  Jahre  1883  erschienene  Heft:  »A  secret  negotia- 
tion with  Charles  the  first  1643.  1644«,  dessen  Herausgabe  man  der 
kundigen  und  geschulten  Gemahlin  des  Verfassers  verdankt. 

So  groß  und  so  verschiedenartig  die  Masse  des  benutzten  Qnellen- 
materiales  auch  ist,  wird  der  Verfasser  doch  niemals  von  ihm  er- 
drückt Er  ermöglicht  dem  Leser  durch  die  Noten  unter  dem  Texte 
ihn  Schritt  für  Schritt  zu  kontrollieren,  aber  seine  Darstellung  be- 
wegt sich  in  vollkommener  Freiheit.  Bei  voller  Beherrschung  der 
Einzelheiten  läßt  sie  immer  die  großen  Gesichtspunkte  hervortreten. 
Zu  diesen  gehört  vor  allem  die  Durchführung  des  Gedankens,  daß 
die  kirchliche  Frage,  weit  mehr  noch  als  die  politische,  die  Geister 
trennte,  den  Bürgerkrieg  unvermeidlich  machte  und  während  des 
Bürgerkrieges  die  erste  Rolle  spielte.  Es  handelte  sich  in  erster 
Linie  darum,  ob  der  Puritanismus  ein  Lebenselement  des  englischen 


Gardiner,  History  of  the  great  civil  war  1642—1649.    Vol.  L         218 

Volkes  bleiben  sollte,  und  die  luusendei  »für  die  der  Paritanismns 
die  Stimme  Oottes  selbst  wart,  die  bereit  waren  für  diesen  Glauben 
zu  sterben,  wollten  ebensowenig  aaf  parlamentarische  Majoritäten 
wie  aaf  die  königliche  Prärogative  Rtlcksicht  nehmen,  wenn  es  galt 
ihr  religiöses  und  kirchliches  Ideal  za  vertheidigen.  Daft  Karl  L 
biefUr  vollkommen  das  Verständnis  abgieng,  war  die  Haaptnrsache 
seines  Verhängnisses.  An  zahlreichen  Stellen  dieses  Bandes  wird 
die  »doppelte  Politikc,  die  Verfolgung  von  zwei  einander  wider- 
streitenden Plänen,  auf  die  sich  der  Meister  der  Intrigae  gegenüber 
der  paritanischen  Energie  and  Leidenschaft  glaabte  verlassen  za 
können,  vorzüglich  aaseinandergesetzt.  Besonders  aaf  seine  Ver- 
handlungen mit  den  irischen  Rebellen  fällt  neues  Licht,  und  es  wird 
unwiderleglich  dargethan,  daft  die  Furcht,  die  katholisch-celtischen 
Hilfstruppen  des  Königs  aaf  englischem  Boden  erscheinen  zu  sehn 
für  die  Gegner  Karls  die  beste  Bandesgenossin  war.  Es  kann 
nicht  fehlen,  daA  der  Verfasser  bei  diesem  Anlaft  die  allgemeinen 
Fragen,  die  heute  wieder  brennend  sind,  über  das  Verhältnis  Eng- 
lands zur  grünen  Insel  berührt.  Aber  er  spricht  als  Historiker,  nicht 
als  Politiker.  Er  erkennt  die  Thatsache,  daß  von  den  Irländera 
der  damaligen  Zeit  das  Banner  der  Nationalität  entfaltet  wurde,  an, 
aber  er  kommt  zu  dem  Schlüsse,  daft  keine  englische  Partei  im 
siebzehnten  Jahrhundert  die  Organisation  einer  rein  irischen  Regie- 
rang zugestehn  wollte  und  zugestehn  konnte.  Zu  den  neuen  Ent- 
bttUnngen  über  die  Absichten  des  Königs  gehört  auch  der  Bericht 
über  die  mit  dem  König  von  Dänemark  gepflogenen  Unterhandlun- 
gen. Es  kann  kein  Zweifel  daran  sein,  daft  für  die  Gewährung  dä- 
niBcher  Hilfe  die  Abtretung  der  Orkney-  und  Shetlandinseln  zuge- 
standen war.  Hier  wie  bei  anderen  wichtigen  Verhandlungen  tritt 
die  Königin  Henriette  Marie  als  treibende  Kraft  hervor.  Die  Fein- 
heit und  Lebenswahrheit,  über  die  der  Historiker  bei  der  Schilde- 
niDg  ihrer  Persönlichkeit  gebietet,  erinnert  an  die  PinselfUhrung 
van  Dyks.  Ein  Gleiches  läftt  sich  von  seiner  Charakterisierung  des 
Prinzen  Rupert,  Newcastles,  Falklands  u.  a.  sagen,  die  der  royali- 
stischen  Partei  angehören. 

Was  die  andere  Seite  betrifift,  so  wird  der  Verfasser  der  Gröfte 
des  Puritanismus  vollkommen  gerecht,  ohne  deshalb  seine  Einseitig- 
keit and  Härten  zu  übersehen.  Insonderheit  findet  der  schottische 
Presbyterianismus,  bei  seinem  Versuche  in  England  Propaganda  für 
sich  zu  machen,  in  ihm  einen  strengen  Beurteiler.  Die  Auseinander- 
setzung, daft  die  politische  and  sociale  Entwicklang  des  englischen 
Volkes  dem  kirchlichen  Systeme  >  des.  nordischen  Naohbarreiohes 
ganz  und  gar   widerstrebte,   gehört  zu  den  vorzüglichsten  des  vor- 


214  GöU.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  6. 

liegenden  Bandes.  Nicht  minder  in  die  Tiefe  gehend  sind  die 
Darlegungen  des  13.  nnd  14.  Kapitels  ttber  den  entstehenden  Ge- 
gensatz von  Presbyterianern  and  Independenten ,  sowie  ttber  die 
Frage  der  Gewissensfreiheit.  Zu  dem  vielen  Nenen,  was  uns  hier 
geboten  wird,  gehört  u.  a.  der  Hinweis  anf  eine  merkwürdige  ano- 
nyme Flagschrift:  »Liberty  of  Goncience  or  the  sole  means  to 
obtain  peace  and  troth«,  die  schon  vier  Monate  vor  Roger  Williams' 
»Bloody  Tenent«  erschienen  ist.  Sie  ist  eine  der  merkwürdig- 
sten Erzeugnisse  der  Epoche  ^  das  der  unbekannte  Verfasser  in 
seiner  Forderung  unbedingter  Gewissensfreiheit  mit  dem  Gründer 
von  Rhode-Island  übereinstimmt  Die  bisherigen  Forscher  haben 
sie  aber  nicht  beachtet^).  Dagegen  vermisse  ich  eine  Erwähnung 
der  Petition  der  Brownisten  ans  dem  Jahre  1641  (s.  Barclay:  The 
inner  life  of  the  religious  societies  of  the  commonwealth  S.  476),  in 
welcher  bereits  der  beachtenswerte  Satz  vorkommt:  »Whether  it 
were  not  more  convenient  for  the  state  and  more  grateful  to  the 
subjects  to  tolerate  aU  professions  whatsoever  every  one  being  left  to 
use  his  oum  conscience  none  to  he  punished  or  persecuted  for  it*. 

Von  den  politischen  Größen  der  parlamentarischen  Partei  tritt 
John  Pym  in  das  hellste  Licht.  Das  abschließende  Urteil,  welches 
nach  der  Erzählung  seines  Todes  über  ihn  gefällt  wird,  ist  ein  hi- 
storiographisches  Meisterstück.  Hier  erbebt  sich  die  Darstellung  des 
Verfassers  zur  Höhe  hinreißender  Beredsamkeit  nnd  wetteifert  mit 
den  besten  Mustern.  Dasselbe  läßt  sich  von  dem  Nekrologe  John 
Hampdens  sagen,  dessen  letzter  Brief  aus  den  »Barrington  Mss^c 
zum  ersten  Male  mitgeteilt,  nebst  manchem  anderen  Funde  zur  Ver- 
vollständigung des  Bildes  beiträgt,  das  man  sich  von  dem  edlen 
Kämpfer  um's  Recht  zu  maehen  hat.  Auch  ein  dritter  großer  Par- 
lamentarier, Henry  Vane,  gewinnt  nach  den  Mitteilungen  dieses  Ban- 
des für  den  Nachlebenden  an  Deutlichkeit  der  Züge.  Höchst  beaeh- 
tenswert  ist  namentlich  die  hier  meines  Wissens  zum  ersten  Male 
festgestellte  Thatsache,  daß  Vane  bei  seiner  Mission  in's  Lager  von 
York  (Juni  1644)  den  geheimen  Auftrag  hatte,  die  Führer  der  be- 
waffneten Macht  fllr  die  Idee  der  Absetzung  Karls  L  zu  gewinnen, 
eine  Idee,  die  schon  im  Frühling  d.  J.  bei  den  radikalen  Politikern 
in  London  aufgetaucht  war.  Die  Schotten,  Fairfax  und  Manchester 
sprachen  sich  entschieden  dagegen  aus.  Von  Cromwell  läßt  sich  nnr 
vermuten,  daß  er  auf  Vanes  Seite  trat,  was  denn  viel  zur  weiteren 
Erklärung  der  bald  darauf  entstehenden  Konflikte  im  parlamentari- 
schen Heere  beitragen  würde. 

1)  S.  B.  Qardiner  hatte  auf  diese  Flugschrift  schon  aufmerksam  gemacht  in 
»The  £n|lish  historical  reWew«  No.  1.  1889. 


Gardiner,  History  of  the  great  ei?il  war  1642—1649.    Vol.  I.  215 

Mit  Cromwell   tritt  das   grüßte   militärische  Talent  auf,   dessen 
Tbätigkeit  in    diesem   Bande   za   schildern    war.     Die  Gefahr  war 
nicht  gering,  ihn  zum  Mittelpunkte  der  Erzählung  zu  machen.  Aber 
der  Verfasser  hat  sie  sehr  wohl  yermieden.    Die  übrigen  Heerführer, 
sowohl   der  königlichen   wie   der  parlamentarischen  Partei,   werden 
nach  Verdienst  gewürdigt.     Wie   viel  bisher  Unbekanntes,   um  nur 
zwei  Namen   herauszugreifen,   über  die  Leistungen   von  Essex  und 
Waller  beigebracht  wird,  kann   nur  derjenige   ganz  ermessen,    der 
sich  die  Mühe  nimmt,  die  ausführlichsten  früheren  Darstellungen  der 
ersten  Jahre  des  Bürgerkrieges  mit  derjenigen   S.   R  Gardiners   zu 
vergleichen.    Sie  bleiben  alle  hinter  der  seinigen  zurück,  in  der  die 
Zusammensetzung  der  Armeen,   die  Einwirkung  der  politischen  Ab- 
wandlungen und  der  finanziellen  Schwierigkeiten   auf  den  Gang  des 
Krieges,  die  strategischen  Bewegungen   und  die  einzelnen  Gefechts- 
bilder mit  unübertroffener  Klarheit  aus   oft  sehr  verwirrten  Notizen 
herausgearbeitet   und   dem  Leser   zur  Anschauung  gebracht  werden. 
Der  Verf.  spricht  im  Vorworte   mit  zu    großer  Bescheidenheit   von 
diesen  Partieen   des   vorliegenden  Bandes.     Wer,   wie  er,   über  die 
reichste  Kenntnis  des  Materiales  verfügt   und   sich  noch  dazu  durch 
Besichtigung  der  in  Betracht  kommenden  Oertlichkeiten   eine  unmit- 
telbare Vorstellung   des  Schauplatzes   der  kriegerischen    Ereignisse 
zu  verschaffen  gewußt  hat,  bedarf  keiner  Entschuldigung  gegenüber 
den   Militärschriflstellem   von   Beruf,  wenn  er    es    unternimmt  ihr 
eigenstes  Gebiet  zu  betreten.     Eine   große  Zahl  sehr  sorgfältig  ge- 
arbeiteter Karten  kommt  der  Darstellung  im  Texte  zu  Hilfe. 

Alles  in  allem  kann  man  sich  glücklich  schätzen,  die  historische 
Litteratnr  durch  den  Anfang  eines  Werkes  bereichert  zu  sehen,  bei 
dem  die  Begabung  des  Darstellers  der  Größe  des  Gegenstandes  ganz 
und  gar  entspricht.  Auch  braucht  man  nicht  zu  fürchten,  daß  die 
Vollendung  dieses  Werkes  auf  unbestimmte  Zeit  hinausgeschoben  sei. 
Der  Verfasser  ist  mitten  in  der  Fortführung  seiner  Arbeit  begriffen, 
er  rechnet  darauf  mit  zwei  weiteren  Bänden  bis  zum  Ende  des  Bür- 
gerkrieges in  seiner  Erzählung  zu  gelangen,  und  so  dürfen  wir  hof- 
fen, in  einigen  Jahren  das  Ganze  in  fertiger  Gestalt  zu  besitzen. 

Bern.  Alfred  Stern. 


216  Gott.  gel.  Auz.  1887.  Nr.  6. 

▼  an  Bebber,  Dr.,  W.  J.,  AbteilungB vorstand  der  deutschen  Seewarte,  Hand- 
buch der  ausübenden  Witterangskunde,  Geschichte  und  gegen- 
wärtiger Zustand  der  Wetterprognose.  Zwei  Teile.  Stuttgart,  Verlag  von 
Ferd.  Enke.  I.  Teil:  Geschichte  der  Wetterprognose,  1886,  X,  892  S.  mit 
12  Holzschnitten;  II.  Teil:  Gegenwärtiger  Zustand  der  Wetterprognose  mit 
einem  Vorwort  von  Buys-Ballot.  1886.  X,  508  S.  mit  I  Wolkentafel  und 
66  Holzschnitten. 

Zur  Abfassung  eines  Handbuches  der  ausübenden  Witternngs- 
knnde  war  von  den  deutschen  Meteorologen  wobl  kaum  einer  be- 
rufener als  der  langjährige  Vorstand  der  III.  Abteilang  der  deat- 
scben  Seewarte  ^  deren  Aufgabe  in  der  Pflege  der  Witterungskande, 
der  Kttstenmeteorologie  und  des  Sturmwarnuugswesens  in  Deutsch- 
land besteht;  so  ist  denn  auch  das  vorliegende  Werk,  das  in  der 
ganzen  meteorologischen  Litteratur  einzig  dastehti   ein  vortreffliches. 

Das  Werk  zerfällt  in  zwei  Teile: 

I.Teil:  Geschichte  der  Wetterprognose.  Von  jeher 
ist  die  Aufstellung  einer  verläßlichen  Wetterprognose  eins  der  Haupt- 
ziele meteorologischer  Forschung  gewesen.  Die  hier  gegebene 
Oeschichte  der  Wetterprognose  ist  daher  für  lange  Perioden  eine 
Geschichte  der  Meteorologie  selbst,  für  eine  vollständige  Geschichte 
dieser  Wissenschaft  bedarf  es  nur  noch  relativ  geringer  Erweiterun- 
gen, welche  jetzt  keine  erheblichen  Schwierigkeiten  mehr  haben. 

Die  Neigung  des  Menschen,  die  Ursachen  für  die  ihm  uner- 
klärlich erscheinenden  Vorkommnisse  außerhalb  der  Erde  zu  suchen, 
führte  zum  Glauben  an  willkuriicbe  Einflüsse  höherer  Wesen  und 
übernatürlicher  Kräfte  auf  die  Witternngserscheinungen.  Die  nicht 
zu  verkennenden  periodischen  Aenderungen  der  Temperatur  mit  der 
Aenderung  der  Stellung  der  Sonne  gegen  die  Erde  verleitete,  durch 
Analogieschlüsse,  zur  Astrometeorologie.  Diese  beiden  Ansichten  ha- 
ben das  ganze  Altertum  und  Mittelalter  hindurch  die  Meteorologie 
beherrscht  und  jeden  Fortschritt  dieser  Wissenschaft  unmöglich  ge- 
macht Die  Ueberzeugung,  daß  die  Witterungserscheinangen  aaßer 
von  der  Sonne  nur  durch  irdische  Kräfte  bedingt  werden,  bat  sich 
nur  langsam  Bahn  gebrochen,  sie  gehört  der  Neuzeit  an. 

Der  Glaube  an  die  Beeinflussung  des  Wetters  durch  die  Götter 
ist  allen  Völkern,  wenigstens  in  ihrer  Kindheit,  gemein,  er  ist  meist 
harmlosester  Natur.  Weit  schlimmer  ist  die  Wirkung  der  Dämonen; 
denn  sie  haben  die  unglückliche  Fähigkeit  ihre  Verderben  wirken- 
den Kräite  auf  ihnen  ergebene  Menschen  übertragen  zu  können. 
Zahllose  Hexen  haben  wegen  Wettermachens  den  Scheiterhaufen  be- 
steigen müssen.  Nachdem  der  Verf.  im  ersten  Kapitel  die  bezügli- 
chen   Ansichten    der  Israeliten,    Griechen,   Römer,    Inder,  Aegypter, 


▼an  Bebber,  Handbuch  der  ausübenden  Witterungskunde.  217 

Chaldäer  und  der  altnordischeo  Völker  besprochen  bat,  wendet  er 
sich  im  zweiten  Abschnitte  zu  den  ersten  Bestrebungen  die  Witte- 
rangserscheinnngen  wissenschaftlich  zu  erklären,  zur  Astrometeoro- 
logie,  indem  er  von  derselben  die  Mondmeteorologie  für  das  folgende 
Kapitel  abtrennt.  Die  Geschichte  und  Verbreitung  der  Astrometeo- 
rologie  wird  von  den  ältesten  Zeiten  her  betrachtet,  dabei  werden 
die  Ansichten  der  hervorragendsten  oder  doch  bekanntesten  Astrolo- 
gen durch  Auszüge  ans  deren  Schriften  erläutert  Als  Erster,  der 
einen  Fortschritt  anbahnte,  muß  der  Nürnberger  Astronom  Johannes 
Werner  (1468 — 1528)  genannt  werden;  denn  er  machte  zuerst  den 
Versuch  die  nach  astrologischen  Principien  abgeleiteten  Wetter- 
prognosen mit  den  thatsächlich  eintretenden  Verhältnissen  zu  ver- 
gleichen. Ihm  folgte  Tycho  Brahe  und  viele  Andere.  Fortgesetzte 
Kritik  der  Astrometeorologie  durch  die  Erfahrung  mußte  die  ein- 
sichtavollen  Köpfe  jener  Zeit  zu  der  Ueberzeugung  bringen,  daß 
alle  astrometeorologischen  Principien  unhaltbar  seien,  aber  mancherlei 
zum  Teil  äußere  Gründe  hielten  den  Durchbruch  dieser  Meinung 
noch  lange  zurück.  Von  Kepler  z.  B.  dürfte  es  feststehn,  »daß  er 
mit  sich  darüber  im  Klaren  war,  was  von  der  Astrologie  zu  hal- 
ten sei,  aber  der  Umstand,  daß  er  beständig  mit  Nahrungssorgen  zu 
kämpfen  hatte,  war  der  Beweggrund  nebenher  auch  astrologische 
Künste  auszuüben,  wenn  dieses  auch  jedenfalls  mit  großem  Wider- 
willen geschähe.  Im  Volke  fand  die  Astrometeorologie  namentlich 
durch  die  Kalender  Verbreitung,  unter  denen  die  sog.  hundertjähri- 
gen, deren  Aera  in  der  zweiten  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts  be- 
ginnt, nicht  zu  vergessen  sind.  Erst  durch  die  Erfindung  der  me- 
teorologischen Instrumente  wurde  die  Astrometeorologie,  wenigstens 
in  wissenschaftlichen  Kreisen  zu  Fall  gebracht  Dem  allmählich 
durchdringenden  Gopernikanischen  Weltsysteme  darf  man  nach  der 
Meinung  des  Bef.  doch  wohl  keinen  großen  Einfluß  zugestehn ;  denn 
in  der  Astrologie  kommt  es  weniger  auf  die  Gesetze  der  relativen 
Bewegung  der  Himmelskörper  an  als  auf  die  Konstellation  der  Ge- 
stirne. ~  Wie  sehr  man  noch  am  Ende  des  vorigen  Jahrhunderts 
in  den  Banden  der  Astrometeorologie  lag,  beweist  am  besten  eine 
Ton  der  Münchener  meteorologischen  Gesellschaft  1781  gestellte  Preis- 
anfgabe,  welche  nach  den  Ursachen  der  Barometerschwankungen 
fragte.  Zwei  Lösungen  dieser  Frage  wurden  mit  goldenen  Medaillen 
gekrönt,  beide  führten  die  Aenderungen  des  Barometerstandes  auf 
die  Wirkungen  von  Sonne,  Mond  und  der  Planeten  und  deren  Kon- 
stellation zurück.  Die  dritte  nur  durch  eine  silberne  Medaille  aus- 
gezeichnete Arbeit  bestreitet  den  direkten  Einfluß  der  Himmelskör- 
per; wenn  ein  solcher  vorhanden    wäre,  so  müsse    er   nach   dem 

i^Mi.  gel.  Abb.  1887.  Nr.  6.  16 


218  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  6. 

NewtoDSchen  Gesetze  bestimmbar  sein,  and  könne  dann  nicht  mehr 
als  V8>  Linie  betragen;  der  Verfasser  war  ein  Physiker,  Joseph 
Stark  mit  Namen. 

Diese  ersten  Kapitel  des  vorliegenden  Baches  sind  der  Natar 
des  Inhalts  gemäß  mehr  schildernder  and  erzählender  Artj  der  Cha- 
rakter des  Werkes  ändert  sich  im  Folgenden,  wo  es  sich  am  die 
kritische  Darstellang  der  Ansichten  über  den  Einfluß  des  Mondes 
and  der  Sonnenflecken  auf  das  Wetter  handelt,  ganz  wesentlich. 
Diese  Ansichten  sind  nicht  nur  in  den  sog.  Baaernregeln  ausgespro- 
chen, sie  sind  auch  in  tiberaas  zahlreichen  wissenschaftlichen  Ab- 
handlangen durch  instrumentelle  Beobachtangsreihen  oder  durch  ma- 
thematische Berechnungen  zu  begründen  und  zu  widerlegen  versucht. 
Bei  der  Besprechung  dieses  Streites  beschränkt  sich  der  Verfasser 
nicht  auf  die  Mitteilung  und  Abwägung  der  Ansichten  der  einzelnen 
Forscher,  sondern  er  gibt  auch,  wofür  ihm  besonderer  Dank  ge- 
bührt, in  zahlreichen  Tabellen  das  zum  Teil  schwer  zugängliche  Ma- 
terial, welches  die  Gründe  fllr  und  wider  enthält.  Der  Reihe  nach 
werden  zunächst  die  Untersuchungen  über  den  Einfluß  des  Mondes 
auf  den  Luftdruck,  die  Witternngsänderung  überhaupt,  die  Nieder- 
schläge, die  Bewölkung,  die  Gewitter,  den  Wind  und  der  kalorische 
Einfluß  des  Mondes  in  streng  wissenschaftlicher  Weise  diskutiert  und 
die  Resultate  schließlich  in  7  Paragraphen  resümiert.  Daroach  kann 
ein  Einfluß  des  Mondes  auf  die  Atmosphäre  zwar  nicht  geläugnet 
werden,  doch  ist  er  immer  geringer,  als  daß  er  durch  unsere  bis- 
herigen instrumentellen  Hülfsmittel  mit  Sicherheit  hätte  nachgewiesen 
werden  können;  für  die  Wetterprognose  ist  er  ohne  jeden  Belang, 
so  daß  die  Versuche,  ihn  für  diese  zu  verwerten,  »den  astrologi- 
schen Bestrebungen  fast  gleich  zu  achten«  sind.  Zwar  glaubt  der 
Verf.  selbst  nicht,  daß  der  bekannte  Ausspruch  des  alten  Lichten- 
berg »Der  Mond  sollte  zwar  keinen  Einfluß  auf  das  Wetter  habeni 
er  hat  aber  einen«  beim  Volke  in  absehbarer  Zeit  an  Ansehen  ver- 
lieren werde,  beim  wissenschaftlichen  Publikum  aber  wird  die  vor- 
liegende Untersuchung  der  Mondmeteorologie,  soweit  sie  sich  aaf 
die  Wetterprognose  bezieht,  den  Todesstoß  versetzen. 

In  den  beiden  folgenden  Kapiteln  wird  der  vermeintliche  Ein- 
fluß der  Kometen  and  Meteorite  kurz  abgethan.  Die  Vermutungi 
daß  die  Meteorite  die  Witterungsverhältnisse  der  Erde  berühren, 
ist  zuerst  von  Erman  und  St.  Claire-Deville  ausgesprochen  worden. 
Es  treten  nämlich  um  die  Zeit  des  7.  Febr.  und  11.  Mai  dieAugust- 
und  November-Asteroiden  beim  Durchgang  der  Erde  durch  ihre  zwei- 
ten Knoten  mit  der  Sonne  in  Konjunktion,  und  man  könnte  vermaten^ 
daß  diese  Asteroiden  einen  merklichen  Teil  der  von  der  Sonne  in  der 


van  Bebber,  Handbach  der  ausübenden  Witterangskunde.  219 

Biohtang  nach  der  Erde  hin  ausgestrahlten  Wärme  absorbierten  und 
80  Kälterttckfälle  bedingten.  Diese  Eälterückfälle  wurden  daun  auch 
aus  langjährigen  Beobachtungen  als  thatsächlich  vorhanden  bestä- 
tigt. Sie  .haben  aber  doch  wohl  einen  andern  Grund.  Nachdem 
sich  auch  die  Ansichten  von  Mädler  und  Dove  als  unhaltbar  erwie- 
sen, haben  in  neuester  Zeit  Aßmann  und  v.  Bezold  jene  Rückfälle 
der  Temperatur  in  engsten  Znsammenhang  mit  einer  bestimmten 
Luftdruckverteilung  gebracht.  Eine  Erklärung  der  Thatsacben  ist 
damit  natürlich  noch  nicht  gegeben,  aber  die  Frage  ist  jetzt  auf  ein 
anderes,  viel  aligemeineres  Gebiet  hinübergeführt,  auf  das  nach  den 
Ursachen  der  Ortsveräoderung  der  barometrischen  Maxima  und  Mi- 
nima. Daß  man  hier  auf  dem  rechten  Wege  zu  einer  Erklärung 
ist,  dafür  scheint  mir  eine  Untersuchung  von  Eraukenhagen  (Meteo- 
rologische Zeitschrift  1,  p.  11,  1884)  zu  sprechen,  nach  welcher  die 
ebenfalls  mit  großer  Regelmäßigkeit  im  Juni  eintretenden  Kälte- 
rttckfälle an  eine  ähnliche  sonst  außergewöhnliche  Luftdruckverteilung 
gebunden  erscheinen. 

Im  folgenden  Kapitel  erfährt  die  Wirkung  der  Sonnenflecken 
auf  die  Atmosphäre,  auf  welche  zuerst  Meldrum  und  Lockyer  die 
Meteorologen  hingewiesen  haben,  eine  ebenso  ausführliche  Behand- 
lung wie  in  Kap.  III  die  des  Mondes.  Das  Resultat,  zu  dem  der 
Verf.  gelangt,  ist  auch  hier  ein  negatives.  Ein  Zusammenhang  zwi- 
schen der  Häufigkeit  der  Sonnenflecken  und  den  Witterungsände- 
rungen ist  wohl  nicht  zu  läugnen,  bei  unserer  jetzigen  Kenntnis  der 
Verhältnisse  ist  aber  nicht  daran  zu  denken,  die  Periodicität  der 
Sonnenflecken  für  die  Vorhersagung  des  künftigen  Wetters  nutzbar 
zu  machen.  Die  Perioden  der  einzelnen  meteorologischen  Phäno- 
mene erscheinen  häufig  gegen  die  der  Sonnenflecken  etwas  verscho- 
ben, und  es  ist  nicht  unwahrscheinlich,  daß  beide  von  einer  gemein- 
samen oder  von  mehreren  gleichzeitig  wirkenden  Ursachen  abhängen. 
Jedenfalls  bedarf  es  hier  noch  eingehender  Studien,  für  welche  die 
einschlägigen  Untersuchungen  von  KOppen  als  Muster  dienen  dürften. 

Nach  alle  dem  erscheinen  also  z.  Z.  kosmische  Phänomene  für 
die  Wetterprognose  unbrauchbar.  Wenn  trotzdem  der  Glaube  an 
kosmische  Einflüsse  auf  das  Wetter  noch  immer  besteht  und  noch 
lange  bestebn  wird,  so  liegt  das  vornehmlich  daran,  daß  das  Ein- 
treffen einer  auf  diesen  Glauben  basierten  Prognose  mit  rührendster 
Treue  im  Gedächtnis  bewahrt  zu  werden  pflegt,  während  ein  Fehl- 
schlagen entweder  gar  nicht  beachtet  wird,  oder  doch  bald  der  Ver- 
gessenheit anbeim  fällt.  Eine  rationelle  Prognose  kann  sich  nur  auf 
Beobachtungen  innerhalb  der  Atmosphäre  stützen.  Der  Verf.  be- 
spricht daher  kurz  die  Bedeutung  der  Bauernregeln,  der  Loos-  oder 

16* 


220  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  6. 

Noteltage/  das  Barometer  als  Wetterglas,  als  welches  es  besonders 
durch  Otto  von  Gaericke  bekannt  wurde,  und  die  Hygrometerprogno- 
sen der  neuesten  Zeit,  um  dann  im  achten  Kapitel  zur  Entwickelung 
der  neueren  Meteorologie  zu  gelangen.  Charakteristisch  ist  der  mo- 
dernen Meteorologie  das  gemeinsame  Beobachten  nach  demselben 
Principe.  Es  ist  das  Verdienst  des  Karlsruher  Prof.  Böckmann, 
1778  zuerst  die  Notwendigkeit  gemeinsamer  Arbeit  zahlreicher  Be- 
obachter nach  denselben  Grundsätzen  betont  zu  haben,  wenn  es 
ihm  auch  nicht  möglich  war,  seine  Ideen  zu  realisieren.  Das  blieb 
der  Societas  meteorologica  palatina,  1780 — 1792,  vorbehalten;  sie 
hat  sich  durch  die  Ausstattung  zahlreicher  meteorologischer  Stationen 
in  Europa,  Amerika  und  Grönland  mit  genau  yerglichenen  Instru- 
menten, durch  die  Fürsorge,  daß  an  allen  Orten  nach  denselben  In- 
struktionen beobachtet  wurde,  und  durch  die  Publikation  eben  dieser 
Beobachtungen  unvergänglichen  Ruhm  erworben.  Da  die  Meteorologie 
wie  keine  andere  Wissenschaft  auf  die  Mitwirkung  Zahlreicher  an- 
gewiesen ist,  so  mußte  sie  unter  dem  Einflüsse  der  politischen  Wirren 
im  letzten  Jahrzehnt  des  vorigen  Jahrhunderts  und  der  sich  an- 
schließenden napoleonischen  Kriege  verktlmmem ,  erst  nachdem 
Europa  der  Frieden  wiedergegeben  war,  konnte  sie  zu  neuem  Le- 
ben erblühen.  Allmählich  haben  sich  die  meteorologischen  Beobach- 
tungssysteme mehr  und  mehr  ausgebreitet,  und  heute  finden  wir  über 
alle  civilisierten  Staaten  der  Welt  (die  Türkei  und  Griechenland 
ausgenommen)  ein  mehr  oder  weniger  dichtmaschiges  Netz  meteoro- 
logischer Stationen  ausgebreitet.  Die  Verarbeitung  des  durch  Beob- 
achtung gewonnenen  Materials  war  lange  Zeit  hindurch  eine  stati- 
stisch-geographische;  die  wissenschaftlichen  Meteorologen  verfolgten 
fast  ausschließlich  klimatologische  Ziele,  für  alle  Orte  der  Erde  die 
durchschnittlichen  atmosphärischen  Verhältnisse  zu  kennen,  erschien 
als  das  Ideal  der  Meteorologen,  nur  ausnahmsweise  fanden  besondere 
Erscheinungen  (heftige  Stürme,  strenge  Kälte  etc.)  ein  besonderes 
Studium,  das  dann  nicht  verfehlte  zu  wichtigen  Entdeckungen  An- 
laß zu  geben.  Wie  Kopp  treffend  bemerkt,  man  studierte  das  Wet- 
ter wie  es  in  der  Vergangenheit  gewesen  war,  während  sich  heute 
die  Mehrzahl  der  Meteorologen  mit  dem  Wetter  beschäftigt,  wie  es 
ist  und  wie  es  voraussichtlich  sein  wird.  Dieser  Umschwung  trat 
ein,  sobald  es  gelang  die  Telegraphic  der  Wetterberichterstattung 
dienstbar  zu  machen.  Die  heutige  meteorologische  Forschung  mit 
ihrem  Streben,  dem  praktischen  Leben,  namentlich  der  Seefahrt  und 
Landwirtschaft,  nützlich  zu  sein,  setzt  ein  internationales  Zusammen- 
wirken voraus ;  wie  dieses  durch  meteorologische  Kongresse  und  Kon«- 
ferenzen  herbeigefllhrt  worden  ist,  und  wie   sich  die  telegraphiscbe 


van  Bebber,  Handbuch  der  ausübenden  Witterungskunde.  221 

Wetterb  erichterstattiiDg  in  den  einzelnen  Staaten  Enropas,  Asiens 
nnd  Amerikas  entwickelt  hat,  ist  der  Inhalt  der  beiden  Schloßkapitel 
des  ersten  Bandes  des  vorliegenden  Werkes. 

üeberblickt  man  die  Entwickelung  der  Meteorologie,  so  glaube 
ich,  wird  man  die  Geschichte  dieser  Wissenschaft  am  besten  in  zwei 
große  Epochen  teilen,  von  denen  die  erste  vom  grauen  Altertum  bis 
in  die  Mitte  des  17.  Jahrhunderts  reicht,  sie  ist  die  Zeit  der  meteo- 
rologischen Beobachtung  ohne  instrnmentelle  Httlfsmittel.  Die  zweite 
Epoche  erstreckt  sich  von  da  bis  in  unsere  Tage,  sie  ist  die  Zeit 
instrumenteller  Beobachtung  und  der  Zurttckflihrung  der  atmosphäri- 
schen Erscheinungen  auf  physikalische  Gesetze.  Diese  Epoche  zer- 
fällt in  drei  Perioden  1)  bis  1780  die  Zeit  der  Bestrebungen  Ein- 
zelner; 2)  1780 — 1860,  die  Zeit  vorwiegend  statistisch-geographischer 
Studien  auf  Grund  des  nach  gemeinsamen  Principien  gewonnenen, 
an  Centralstellen  gesammelten  und  von  hier  aus  publicierten  Mate- 
rials (was  in  diesem  Zeitabschnitt  geleistet  worden  ist,  das  ist  der 
Inhalt  von  E.  E.  Schmudis  Lehrbuch  der  Meteorologie) ;  3)  1860  bis 
heute,  die  Zeit  vorwiegend  synoptischer  Studien  mit  Hülfe  täglicher 
Wetterkarten  oder  auch  die  Zeit  der  wissenschaftlichen  Wetter- 
prognose auf  Grund  telegraphischer  Berichterstattung.  Selbstver- 
ständlich werden  auch  in  dieser  Zeit  die  klimatologischen  Unter- 
suchungen fortgesetzt,  und  es  ist  wohl  wahrscheinlich,  daß  sie  mit 
der  Zeit  wieder  etwas  mehr  aus  dem  Hintergrunde,  in  den  sie  angen- 
blicklich  durch  die  praktischen  Anforderungen  an  die  Meteorologie 
gedrängt  sind,  hervortreten  werden. 

IL  Teil:  Gegenwärtiger  Zustand  der  Wetter- 
prognose. Im  ersten  Hauptabschnitte  des  zweiten  Bandes  wird 
der  gegenwärtige  Zustand  der  Wettertelegraphie  dargelegt  und  daran 
Vorschläge  zur  Verbesserung  derselben  geknüpft.  Dieses  Kapitel 
hat  auch  fttr  den  Laien  ein  großes  Interesse,  denn  es  gestattet  einen 
Einblick  in  einen  Hauptteil  der  Thätigkeit  der  großen  Central* 
institute,  indem  es  eine  Vorstellung  gibt  von  dem  telegraphischen 
Verkehr  dieser  Anstalten  und  der  Verarbeitung  des  Depeschenma- 
terials, wovon  sich  der  Uneingeweihte  nur  ein  h(3chst  mangelhaftes, 
wenn  nicht  ganz  falsches  Bild  zu  machen  pflegt.  Die  Vorschläge 
zur  Verbesserung  unserer  telegraphischen  Berichterstattung  verdie- 
nen ganz  besondere  Beachtung;  es  wäre  sehr  zu  wünschen,  daß 
dieselben  eine  lebhafte  Diskussion  hervorriefen,  wodurch  sie  ohne 
Zweifel  gefordert  werden  wtlrden. 

Das  amerikanische  System  übertrifift  die  europäischen  durch  die 
Exaktheit,  mit  welcher  es  fanktioniert,  ganz  bedeutend.  Der  Grund 
hierfür  liegt  in  den  reichen  Mitteln,  über  welche  das  Signal  OfSce  vcr^ 


222  Gdtt.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  6. 

fügt  (im  Jahre  1881—82  beliefen  sich  die  Ansgaben  aaf  rand  1022000 
Doli.),  in  der  straffen  Disciplin  (die  meteorologischen  Beobachtangen 
bilden  den  Friedensdienst  der  Militär-Telegraphenabteilang) ,  in  den 
gesetzlichen  Verpflichtangen  sämtlicher  Telegraphenverwaltangen  ge- 
genüber dem  Signal  Office,  und  endlich  in  dem  Umstände,  daß  man  sich 
fast  ganz  aaf  inländische  Berichte  beschränken  kann.  Charakteristisch 
ist  dem  amerikanischen  Wetterdienste  ferner  die  rasche  Verbreitong 
der  Beobachtnngsergebnisse  durch  das  >Circait  System«  über  das 
ganze  Land.  Der  Entwickelang  der  Wettertelegraphie  in  Earopa  steht 
ein  anüberwindliches  Hindernis  entgegen :  die  Centralanstalten,  insbe- 
sondere die  des  Kontinentes,  bedürfen  nicht  nar  inländischer,  sondern 
auch  ausländischer  Berichte,  es  müssen  also  die  Telegraphenverwal- 
tangen verschiedener  Länder  zusammenwirken.  Wenn  aber  auch 
dieses  Hemmnis  bestehn  bleibt,  es  läßt  sich  doch  manches  verbessern. 
Was  auf  dem  Kontinente  angestrebt  werden  muß,  ist  nach  der  Mei- 
nung des  Ref.  nicht  allein  eine  pünktlichere  Berichterstattung  an 
die  Centralstellen,  es  muß  auch  für  eine  raschere  und  weitere  Ver- 
breitung der  Beobachtungsergebnisse  gesorgt  werden.  Es  dürfte  sich 
empfehlen  im  Großen  und  Ganzen  das  amerikanische  System  zum 
Muster  zu  nehmen.  Bislang  werden  die  Wetterberichte  bei  uns  als 
Staats-  oder  Dienstdepeschen  befördert  und  wirken  so  während  län- 
gerer Zeit  störend  auf  den  öffentlichen  Verkehr.  Ich  glaube,  es  ist 
eher  eine  Verminderung  als  eine  Steigerung  dieser  Störung,  wenn 
die  betreffenden  Telegraphenlinien  für  wenigstens  zwei  kurze  Mo- 
mente ausschließlich  für  die  Wetterberichterstattung  reserviert  blie- 
ben, zumal  einer  dieser  Zeitpunkte  in  die  Nacht  fallen  kann.  Als- 
dann aber  müßten  die  Beobachtungen  nach  Simultanzeit  angestellt 
werden.  Daraus  ergibt  sich  für  die  Mehrzahl  der  meteorologischen 
Stationen,  welche  gleichzeitig  klimatologischen  Zwecken  dienen,  eine 
Verdoppelung  der  Arbeit;  bei  dem  regen  Eifer  aber,  den  die  mei- 
sten meteorologischen  Beobachter  schon  durch  lange  Zeit  an  den 
Tag  gelegt  haben,  wird  dieses  Hindernis  mit  ziemlich  geringen  Mit- 
teln zu  überwinden  sein.  Weniger  leicht  wird  es  sein,  die  verschie- 
denen Centralstellen  Europas  zur  Annahme  derselben  Beobachtungs- 
termine  zu  bestimmen;  man  erinnere  sich  nur,  welche  Mühe  es  ge- 
kostet hat,  die  Annahme  eines  internationalen  Nullmeridians  durch- 
zusetzen, obwohl  hier  noch  nicht  einmal  praktische  Fragen,  die  aus 
den  Bedürfnissen  des  großen  Publikums  entspringen,  in  Frage  ka- 
men. Es  wäre  aber  auch  schon  ein  Fortschritt,  wenn  nur  an  allen 
Stationen  desselben  Netzes  nach  Simultanzeit  beobachtet  würde.  Man 
hätte  dann  nur  an  den  Grenzen  der  verschiedenen  nationalen  Sy- 
steme Sprünge,  die  leicht  zu  berücksichtigen  wären.     Da  man  doch 


van  Bebber,  Handbuch  der  ausübenden  Witterungskonde.  223 

über  kurz  oder  lang  m  Simaltanbeobachtangeii  wird  flbergebn  mils- 
sen,  80  möge  man  diesen  Zeitpunkt  niebt  za  weit  binansscbieben.  — 
Einen  weiteren  Fortschritt  in  der  Wettertelegraphie,  der  nnbedingt 
angestrebt  werden  maß,  sehe  ich,  wie  schon  gesagt,  in  der  AnsbiK 
dnng  der  Berichterstattung  von  Seiten  der  Gentralstellen  an  das 
Publikum.  Man  kann  nicht  behaupten,  daß  diese  heute,  in  Deutsch- 
land wenigstens,  ausreichend  wäre;  das  liegt  aber  nicht  an  der 
Centralstelle,  sondern  an  den  Telegraphenbehörden.  Zur  Zeit  ge- 
langen bei  uns,  mit  Ausschluß  der  Küstengebiete,  die  Beobachtungs- 
resultate nur  durch  die  größeren  Zeitungen  (1880  im  deutschen 
Reiche  durch  wahrscheinlich  nur  59)  in  das  Publikum  (die  autogra- 
pbischen  Wetterberichte  kommen  viel  zu  spät)  und  zwar  meist  in 
Gestalt  von  Tabellen,  die  für  die  Mehrzahl  der  Leser  ganz  unver- 
ständlich, weil  unübersichtlich  sind,  zudem  kommen  diese  Zeitungen 
zn  spät  in  die  Hände  der  meisten  Interessenten.  Es  ist  zu  verwun- 
dern, daß  trotzdem  unsere  Bevölkerung  noch  einen  so  lebhaften  Anteil 
an  den  Bestrebungen  der  Meteorologen  nimmt  Unstreitig  würde 
dieses  Interesse,  dessen  die  Meteorologie  wie  wenige  andere  Wissen- 
sehaften  bedarf,  außerordentlich  gehoben  werden,  wenn  sich  die  Te- 
legraphenverwaltungen entschließen  wollten  vielleicht  nach  einem 
den  amerikanischen  Circuits  ähnlichen  Systeme  die  Beobachtungs- 
ergebnisse einmal  täglich  an  eine  größere  Anzahl  von  Stationen  des 
Reiches  portofrei  oder  doch  gegen  ein  mäßiges  Entgeld  zu  über- 
mitteln, wo  sie  dann  von  Amtswegen  durch  Anschlag  und  kartogra- 
phische Darstellung  bekannt  gemacht,  und  von  wo  sie  auch  recht- 
zeitig weiter  verbreitet  werden  könnten.  Im  Wesentlichen  dürfte 
ein  derartiger  telegraphischer  Wetterdienst  auch  den  Wünschen  des 
Verf.  entsprechen.  Daß  er  durchführbar  ist,  beweist  Nord-Amerika. 
Das  zweite  Kapitel  ist  das  wichtigste  des  ganzen  Bandes;  es 
bebandelt  die  Grundzüge  der  ausübenden  Witterungskunde.  Die 
klimatischen  Konstanten,  deren  Kenntnis  für  die  Aufstellung  einer 
rationellen  Prognose  unerläßlich  ist,  finden  in  allen  neueren  Lehr- 
bttehern  der  Meteorologie  und  Klimatologie  eine  mehr  oder  weniger 
aasfttbrliche  Behandlung,  der  Verf.  konnte  also  mit  wenigen  Wor- 
ten, nur  das  Wichtigste  hervorhebend,  über  dieselben  hinweg 
gebn.  Um  so  eingehender  werden  die  barometrischen  Maxima  und 
Minima,  die  ja  nach  den  modernen  Anschauungen  das  Wetter  be- 
herrschen, untersucht.  Herr  van  Bebber  findet  sich  hier  auf  seinem 
eigensten  Forschungsgebiete.  Unsere  Kenntnisse  von  den  Eigen- 
schaften und  dem  Verhalten  der  barometrischen  Maxima  sind  noch 
in  mehrfacher  Beziehung  mangelhaft,  da  ihre  statistische  und  karto- 
graphische  Behandlung    mancherlei    eigentümliche    Scbwierigkeitea 


224  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  6. 

hat,  die  bei  dem  Studiam  der  Depressionen  nicht,  oder  doch  nar  in 
weit  geringerem  Maße  hervortreten,  diese  sind  uns  daher  weit  bes- 
ser bekannt  als  jene.  Zwischen  den  tropischen  Wirbelstttrmen  and 
den  Windsystemen,  welche  in  unseren  Breiten  den  barometrischen 
Depressionsgebieten  zugehören,  besteht  nur  ein  gradueller  Unter- 
schied. Der  Verf.  gibt  daher  an  dieser  Stelle  zunächst  einen  histo* 
risch-kritischen  Ueberblick  über  die  älteren  Stnrmtheorien ;  ausführ- 
licher wird  die  Dovesche  Theorie  besprochen,  welche  sich  in  Europa 
eines  derartigen  Ansehens  erfreute,  daß  hier  die  genialen  Unter- 
suchungen William  Ferrels  mehr  als  zwanzig  Jahre  so  gut  wie  un- 
beachtet blieben.  In  großen  Zügen  wird  alsdann  die  moderne  Oy- 
donentheorie  dargestellt,  und  noch  einiger  anderer  neueren  Theo- 
rien Erwähnung  gethan,  von  denen  uns  die  von  Faye  besondere  Be- 
achtung zu  verdienen  scheint,  weil  sie  die  Cydonen  der  unteren 
Luftschichten  in  Zusammenhang  mit  der  allgemeinen  atmosphärischen 
Cirkulation  zu  bringen  versucht^).  Die  Untersuchungen  von  Miller- 
Hauenfels  bleiben  unberücksichtigt. 

Die  nächsten  Abschnitte  bringen  eine  ausführliche  Darstellung 
der  Konstitution  der  europäischen  Cyclonen  an  der  Hand  der  Wind- 
und  Wolkenbeobachtungen.  Eine  genaue  Untersuchung  der  Vertei- 
lung der  meteorologischen  Elemente  in  den  Cyclonen  haben  wir  bis- 
lang nur  für  solche,  welche  das  Gebiet  der  Ostsee  betreten,  bezüg- 
liche Studien  für  Binnenlandstationen  sind  noch  nicht  angestellt,  ob- 
wohl sie  von  besonderem  Interesse  sein  dürften.  Darauf  wird  die 
geographische  Verbreitung  mit  ihrer  jährlichen  Periode  in  Europa 
betrachtet,  die  Tiefe,  Veränderlichkeit,  das  Entstehn  und  Verschwin- 
den der  Depressionen  besprochen  und  dann  zu  dem  wichtigen  Ab- 
schnitte über  die  Fortpflanzung  der  barometrischen  Minima  überge- 
gangen, an  welchen  sich  die  Behandlung  der  »typischen  Witterangs- 
erscheinungen c  anschließt.  Diese  Untersuchungen  stützen  sich  vor- 
nehmlich auf  eine  Statistik  der  Cyclonen  von  1876 — 80  nach  den 
Wetterkarten  der  Seewarte;  sie  ganz  zu  würdigen  ist  wohl  nur  der 
im  Stande,  dem  es  vergönnt  ist,  auf  Grund  der  täglichen  Wetter- 
karten selbst  regelmäßig  Prognosen  aufzustellen.  Es  wäre  zu  wün- 
schen gewesen,  daß  der  Verf.  seinem  Werke  an  geeigneter  Stelle 
Köppens  vortreffliche  Karte,  die  Häufigkeit  der  mittleren  Zug- 
straßen der  barometrischen  Minima  darstellend,  einverleibt  hätte. 
Dies  Kapitel  wird  zu  zahlreichen  Untersuchungen  Anlaß  geben. 

Kap.  III  gibt  eine  Anleitung  zur  Aufstellung  von  Wetterprogno- 

1)  Vergl.  hierzu  auch  den  kürzlich  erschienenen  Anfsatz  von  Werner  Siemens 
Wiedemanns  Ann.  d.  Phys.  u.  Chem.  28  p.  263,  1886. 


van  Bebber,  Handbuch  der  ausübenden  Witterungskupde.  225 

sen  aaf  Grand  der  Wetterkarten  bei  Benutzang  der  typischen  Er- 
scheinungen. 

Die  im  Voraufgehenden  enthaltenen  Untersnchangen  beziehen 
sich  in  erster  Linie  aaf  die  Abhängigkeit  des  Wetters  and  seiner 
Aenderangen  von  der  Laftdrackverteilang ,  wie  sie  sich  in  Deutsch- 
land geltend  macht.  Aehnliche  Bestrebungen  sind  auch  in  Frank- 
reich,  Großbritannien  und  Italien  zu  Tage  getreten.  Aus  der  Be- 
sprechung, welche  der  Verf.  diesen  angedeihen  läßt,  gewinnt  man 
den  Eindruck,  daß  sie  dem  hier  ausführlich  mitgeteilten  Systeme  an 
Einfachheit  und  Uebersichtlichkeit  nachstehn.  Namentlich  erscheint 
das  System  von  Poinear6,  welches  für  Nordfrankreich  gelten  soll, 
sehr  kompliciert  und,  wenn  man  die  kurze  Zeit  der  Beobachtungen, 
auf  welche  sich  dasselbe  stützt,  in  Betracht  zieht,  auch  wohl  etwas 
zu  detailliert 

In  neuerer  Zeit  hat  sich  ein  ziemlich  lebhafter  Streit  um  die 
Bedeutung  lokaler  Beobachtungen  für  die  Wetterprognose  erhoben, 
indem  behauptet  wurde,  die  Kenntnis  der  allgemeinen  Wetterlage 
sei  für  eine  lokale  Prognose  ziemlich  wertlos.  Es  versteht  sich  von 
selbst,  daß  der  Verf.  dieser  Ansicht  nicht  beipflichten  kann ;  dennoch 
bat  auch  für  ihn  die  Beachtung  lokaler  Wetterangaben  eine  ge- 
wisse Bedeutung,  aber  vornehmlich  in  anderer  Hinsicht  als  man  ge- 
wöhnlich anzunehmen  pflegt  (Kap.  V,  S.  384).  »Meiner  Ansicht 
nach  besteht  aber  der  Wert  der  Anwendung  dieser  lokalen  Anzeichen 
auf  die  Prognose  insbesondere  darin,  daß  wir  unter  dem  frischen 
Eindrucke  der  Witterungserscheinungen  die  Aendernngstendenzen  am 
Orte  intensiver  verfolgen  und  ein  gegründetes  Urteil  darüber  ge- 
winnen können,  in  welcher  Weise  sich  die  Veränderungen  der  all- 
gemeinen Wetterlage  für  die  betreffende  Gegend  vollziehen  werden«. 
Folgen  dann  einige  Winke,  wie  bei  Zugrundelegung  der  Wetter- 
karten die  beobachteten  Aenderungen  der  meteorologischen  Elemente 
namentlich  des  Wolkenhimmels  (Clement  Ley,  Richter)  von  Wert 
sein  können. 

Eine  vorurteilsfreie  Prüfung  der  gestellten  Prognosen  an  der 
Erfahrung  ist  fttr  die  Entwickelung  der  Prognose  ebenso  wichtig, 
wie  sie  schwierig  ist,  wir  müssen  daher  dem  Verf.  Dank  wissen, 
diesen  Gegenstand  nicht  übergangen  zu  haben.  Wir  lernen  in 
Kap.  VI  die  von  der  See  warte  früher  (bis  I.Jan.  1886)  und  die  jetzt 
befolgte  Methode  kennen,  welche  letztere,  von  Koppen  ersonnen,  den 
Vorzug  hat,  von  jeder  Willktthr  frei  zu  sein. 

In  Kap.  VII  behandelt  der  Verf.  die  Frage  nach  der  Möglich- 
keit einer  Wetterprognose  auf  längere  Zeit  voraus.  Wenn  man  von 
einer  Berechnung  des   mutmaßlichen  Wetters  der  Zukunft  aus  dem 


226  Gott.  gel.  Auz.  1887.  Nr.  6. 

Witterangscbarakter  der  verflosseneD  Zeit  nach  den  Orundsätzen  der 
Wahrscheinlichkeitsrechnnng  (Kap.  VIII)  absieht,  so  erfordert  eine 
derartige  Prognose  eine  wenigstens  angenäherte  Kenntnis  der  Laft- 
drackverteilang  über  dem  Ostlichen  Teile  des  atlantischen  Oceans. 
Um  diese  za  erhalten,  hat  Hoffmeyer  vorgeschlagen  eine  regelmäßige 
telegraphische  Berichterstattung  von  Grönland,  den  Far  Öern,  Island 
und  den  Azoren  anzustreben,  ein  Projekt,  das  lebhaften  Beifall  ge- 
funden hat  und  seitdem  wiederholt  ventiliert  wurde,  das  aber  vor 
allem  eine  telegraphische  Verbindung  jener  Punkte  mit  dem  Kon- 
tinente voraussetzt,  die  wohl  noch  lange  auf  sich  warten  lassen  wird. 

Die  räumliche  Verteilung  gleichzeitiger  Niederschläge  und  die 
Möglichkeit  einer  hierauf  gegründeten  Einteilung  eines  gegebenen 
Gebietes  in  Prognosenbezirke  bilden  das  Schlußkapitel,  das  noch 
sehr  der  Ergänzung  bedarf,  da  bezQgliche  Untersuchungen  bislang  nur 
für  Württemberg  und  Bayern  ausgeführt  wurden. 

Angehängt  sind  dem  Werke  sodann  noch  ein  Abschnitt  über 
das  Manöverieren  der  Seeschiffe  bei  Stürmen  mit  praktischen  Regeln 
für  Seeleute  in  tropischen  Wirbelstttrmen  und  eine  Anzahl  meteoro- 
logischer Hülfstabellen.  Ein  Namen-  und  Sachregister  findet  sich 
am  Ende  des  zweiten  Bandes. 

Das  vorliegende  Werk  erhält  noch  einen  besondem  Wert  durch 
die  ausführlichen  Litteraturnachweise.  Dürfen  wir  noch  einen  Wunsch 
aussprechen,  so  ist  es  der,  daß  in  einer  neuen  Auflage  diese  Citate 
nicht  an  das  Ende  der  Bände,  sondern  direkt  unter  den  Text  ge- 
stellt werden;  die  Benutzung  derselben  wird  bequemer  und  die  Dar- 
stellung dadurch  gewiß  nicht  gestört. 

Göttingen.  Hugo  Meyer. 


Zweinndsechzigster  Jahresbericht  der  Schlesischen  Gesell- 
schaft für  yaterl&ndische  Gnltur.  Jahrgang  1884.  8^  XLII  und 
402  S.    Breslau,  Aderholz. 

Wie  früher  zerfiillt  der  Jahresbericht  in  einen  allgemeinen  Teil 
and  in  Einzelberichte  über  die  Thätigkeit  der  verschiedenen  Sektionen. 

Medicinische  Sektion.  (S.  1 — 160).  In  dieser  Sektion  hielt 
Voltolini  einen  Vortrag  über  Taberkniose  des  Ganmensegels 
und  des  Kehlkopfes,  demonstrierte  daher  stammende  Tuberkel- 
Bacillen  und  gab  Veranlassung  zn  einer  Discussion  über  die  Tuber- 
kulose überhaupt.  Bekanntlich  hat  Virchow  die  Forderung  gestellt, 
zwischen  einer  baeillären  and  einer  nicht-bacillären  Form  der  Tuber- 
kalose  zu  unterscheiden.    Ponfick  (S.  19)  will  dagegen  nur  das  als 


Zweiondsechzigster  Jahresbericht  d.  Schlesisch.  Ges.  für  vaterländische  Eultor.    227 

Taberkulose  betraebten,  was  mit  der  Anwesenheit  der  speeifisehen 
Baeillen  von  vornherein  verbunden  und  erfahrnngsgemäS  dnreh  sie 
hervorgerafen  ist.  Die  secandären  miliaren  Knötchen ,  welche  man 
bei  Tieren  z.  B.  dnrch  Injektion  von  Zinnober  oder  Glaspalver  unter 
die  Haut  erzeugen  kann,  würden  also  nicht  unter  diese  Definition 
fallen.  Lassen  wir  das  aber  hier  bei  Seite  und  abstrahieren  wir  auch 
von  einem  technischen  Bedenken.  Wenn  man  in  irgend  einem  der 
Luft  fortwährend  zugänglichen  Geschwür  in  der  Mund-Pharynx- 
bohle  oder  im  Kehlkopf  feine  stäbchenförmige  Bacillen  antrifft, 
mögen  sie  sich  nun  färben  resp.  entfärben  lassen  oder  nicht,  so  kann 
man  doch  hieraus  unmöglich  die  Diagnose  auf  Tuberkelbacillen  ab- 
leiten. Denn  es  gibt  viele  indifferente  aber  vollkommen  ähnlich  aus- 
sehende Bacillen,  wie  schon  sehr  lange  bekannt  ist.  Die  Praktiker 
aber  sind  sich  dieser  Fehlerquelle  um  so  weniger  bewußt,  weil  sie 
die  letztgenannten  Bacillen  gewöhnlich  gar  nicht  einmal  kennen. 
Lassen  wir  jedoch,  wie  gesagt,  das  bei  Seite,  so  resultiert  eine 
enorme  Abweichung  von  den  seit  Alters  her  gangbaren  Vorstellungen. 
Man  weiß  oder  glaubte  zu  wissen,  daß  die  Tuberkulose  zwar  erblich 
ist,  aber  nicht  ansteckend.  Nach  der  Entdeckung  von  R.  Koch  sollte 
man  nun  bei  einer  baciilären  Krankheit  gerade  das  Umgekehrte  er- 
warten. Bacillen  sollten  anstecken  wie  die  Gholerabacillen  und  nicht 
erblich  sein,  so  wenig  wie  etwa  die  Krätzmilbe.  Vor  der  Ent- 
deckung der  letzteren  hielten  ja  manche  Aerzte  auch  die  Krätze  ftlr 
erblich,  weil  sie  bei  Eltern  und  deren  Kindern  gleichzeitig  beobach- 
tet wurde.  In  Betreff  der  Erblichkeit  der  Tuberkulose  hilft  man  sich 
jetzt  bekanntlich  dnrch  die  Annahme,  daß  zwar  nicht  die  Bacillen 
erblich  sind,  aber  eine  anatomische  Disposition:  schmaler  Brust- 
kasten, gebengte  Rücken  Wirbelsäule,  Neigung  zu  Katarrhen  und  da- 
durch bedingte  leichtere  Vulnerabilität  der  Bronchialschleimhaut  und 
der  Lungen,  in  welche  die  Bakterien  am  leichtesten  einwandern 
können,  wenn  die  schützenden  Epithelüberzüge  durch  Katarrh  lä- 
diert sind.  Man  könnte  sich  auch  auf  die  Untersuchungen  von  Jani 
berufen,  der  in  den  Hoden  und  der  Prostata  sowie  andererseits  in 
den  Eileitern  von  Lungenschwindsüchtigen  Tuberkelbacillen  aufge- 
funden hat,  so  daß  wenigstens  doch  eine  Möglichkeit  gegeben  ist, 
die  letzteren  möchten  schon  zur  Zeit  der  Zeugung  oder  später  auf 
dem  Wege  des  Blutkreislaufes  durch  die  Placenta  in  das  Ei  hinein- 
gelangen (Ref.).  In  Bezug  auf  die  Ansteckungsfähigkeit  dagegen 
ist  die  Sache  nicht  nur  schwieriger,  sondern  zugleich  von  eminente- 
ster praktischer  Bedeutung.  Vielleicht  ein  Drittel  aller  Gestorbenen 
gebt  an  Tuberkulose  zu  Grunde,  die  Sputa  der  Kranken  enthalten 
notorisch  Bacillen,  man  müßte  also ,   wenn  die  Ansteckungsfähigkeit 


228  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  6. 

eine  erhebliche  ist,  eigentlich  schon  von  Seiten  des  Staates  anf  ün- 
schädlichmachang  des  Aaswarfes,  wo  der  Taberkalöse  geht  nnd 
steht,  dringen.  Von  den  Konsequenzen  für  die  zahlreichen  Taber- 
knlösen  auf  den  Sälen  großer  Krankenhänser,  in  Eororten  wie  Me- 
ran,  Nizza  nnd  in  eigenen  Heilanstalten  für  Tuberkulose  ganz  za 
schweigen.  Voltolini  nun  bestreitet  principiell  die  Ansteckangsfähig- 
keit.  Er  beruft  sich  auf  die  Seltenheit  der  gleichzeitigen  oder  sac- 
cessiven  Erkrankung  von  Ehegatten,  auf  die  Immunität  der  Kran- 
kenwärter in  jenen  Anstalten,  auf  die  Möglichkeit  eines  zufälligen 
Zusammentreffens  oder  gleichzeitiger  hereditärer  Belastung  bei  einer 
an  sich  so  häufigen  Krankheit  u.  s.  w.  Ferner  wird  aus  denThier- 
experimenten  mit  Koch  der  Schluß  gezogen,  daß  die  Tuberkulose 
eben  nur  dann  ansteckend  sei,  wenn  sie  eingeimpft,  die  Bacillen  also 
unter  die  Haut  gebracht  werden,  gerade  wie  z.  B.  die  Syphilis  oder 
Intermittens,  weil  es  Gerhardt  gelang,  von  einem  bei  einem  Wechsel- 
fieberkranken entstandenen  Herpesbläschen  die  Intermittens  überzu- 
impfen.  Auch  meint  Voltolini,  daß  trotz  der  zahlreichen  Impfungen 
durch  zufällige  Verletzungen  bei  Sektionen  doch  die  betreffenden 
Aerzte  nicht  tuberkulös  geworden  wären.  Im  Ganzen  läuft  die  De- 
duktion darauf  hinaus:  weil  trotz  tausendjähriger  Erfahrung,  trotz 
der  Millionen  von  Bacillen ,  welche  an  Versammlungsorten  der 
Schwindsüchtigen  täglich  ausgehustet  werden  und  noch  im  getrock- 
neten staubförmigen  Zustande  überimpfbar  sind,  die  Ansteckungs- 
f&higkeit  der  Tuberkulose  bisher  nicht  erkannt  worden  ist,  so  — 
sind  die  Tuberkel- Bacillen  nur  als  gleichsam  zufällige  Ansiedler  auf 
den  tuberkulösen  Geschwüren,  in  den  Kavernen  n.  s.  w.  zu  betrach- 
ten. Dagegen  sagt  Koch  mit  Recht :  ein  solches  Ansiedeln  kann  doch 
nicht  nur  eine  Marotte  dieser  Krankheit  sein. 

Wollner  (S.  21—37)  sprach  über  Diabetes  und  seine  Kur  in 
Karlsbad.  Die  Krankheit  ist  unheilbar,  kann  aber  längere  Inter- 
missionen,  bis  zu  vier  Jahren  z.  B..  machen.  Unter  210  Diabetikern 
fanden  sich  20,  die  niemals  an  vermehrtem  Durstgeftthl  oder  ver- 
stärkter Hamabsonderung  litten.  Katarakte  kamen  in  4%,  Amblyo- 
pie in  5  o/o,  Retinitis  in  3%  vor.  Der  höchste  Zuckergehalt  des 
Harnes  betrug  10  %•  Golezowski  (1883)  fand  die  ersteren  Procent- 
zahlen viel  höher,  z.  B.  31%  Katarakten;  die  Differenz  würde  sich 
durch  die  Annahme  erklären,  daß  sich  die  letztere  französische  Sta- 
tistik vorzugsweise  aus  schweren  Fällen  zusammensetzt,  während  die 
leichteren  in  Folge  der  weniger  sorgfältigen  Untersuchung  übersehen 
worden  sind  (Ref.).  Wollner  sieht  dagegen  eine  Art  von  wissen- 
schaftlichem Chauvinismus  darin,  der  sich  in  Angriffen  anf  die  deut« 
sehe  Ophthalmologie  geäuftert  haben  mag,  der  aber  doch  die  Zah- 


ZweiundsecLzigster  Jahresbericht  d.  Schlesisch.  Ges.  für  vaterländische  Kultur.    229 

leo  an  sieh  kaum  beeinflassen  köuote.  Förster  erklärte,  daß  es  über- 
haupt nicht  möglieh  sei,  bei  älteren  Leuten  zu  entscheiden,  ob  man 
eine  diabetische  oder  eine  einfach  senile  Katarakt  vor  sich  habe, 
die  Statistik  sei  hierbei  also  immer  mit  Unsicherheit  behaftet.  — 
Störungen  der  Geschlechtsfunktionen  konstatierte  Wollner  nur  bei 
ca.  20%.  Interessant  ist  es,  daß  Karlsbad  den  Zuckergehalt  vor- 
flbergehend  herabsetzt,  obgleich  allen  dort  tlblichen,  sowie  auch  den 
Diätregeln  ftlr  Diabetiker  von  den  Kranken  Hohn  gesprochen  wurde. 
Wie  thöricht  die  ersteren  Regeln  sind  und  vielleicht  nur  den  Hotel- 
besitzern zu  Gute  kommen,  da  eine  solche  sog.  Kurdiät  im  Großen 
sich  billig  liefern  läßt,  scheint  man  nach  und  nach  auch  an  den 
Badeorten  selbst  einzusehen.  Dem  entsprechend  will  Wollner  die 
Ernährung  des  Diabetikers  höchstens  vorübergehend  durch  strikte 
Fleischkost,  im  Allgemeinen  aber  durch  gemischte  Kost  mit  vorwie- 
gender Berücksichtigung  stickstoffhaltiger  Nahrungsmittel  bewerk- 
stelligen, sogar  ohne  Roggenbrot  ganz  zu  verbieten.  Trotz  reich- 
licher Stärkmehl  haltiger  Kost  ließ  sich  der  Zuckerverlust  in  leichte- 
ren Krankheitsfällen  zurückdrücken ,  wenn  energische  Muskelan- 
strengungen, wie  Bergbesteigungen  mit  einer  Trinkkur  kombiniert 
wurden.  Vielleicht  wäre  es  thunlich,  die  letztere  das  ganze  Jahr 
oder  doch  Monate  hindurch  fortzusetzen. 

In  der  Diskussion  heben  noch  Ponfick  die  Kombination  mit 
Lungen nekrose,  Berger  mit  physischen  und  nervösen  Symptomen, 
Asch  mit  Furunkulose  hervor,  welche  letztere  Kombination  Neißer 
für  mehr  zufällig  ansehen  wollte.  —  Da  der  Harn  ohne  Zncker- 
reaktion  darzubieten  im  Anfange  der  Krankheit  oder  bei  Inter- 
missionen  nicht  selten  ein  hohes  specifisches  Gewicht  zu  zeigen  fort- 
fährt, so  läßt  sich  vermuten,  daß  hieran  noch  besondere,  abnorme 
Stoffwechselprodukte  Schuld  seien. 

Magnus  (S.  50 — 63)  sprach  über  die  Blennorrhoea  neona- 
torum. Der  Schaden,  welchen  der  Nationalwohlstand  oder  der 
Staat  durch  das  Erblinden  eines  Kindes  erleidet,  ist  auf  fast  12,000 
Mark  zu  veranschlagen.  Eine  rechtzeitige  ärztliche  Behandlung 
würde  oftmals  das  Unglück  der  Erblindung  haben  beseitigen  kön- 
nen und  schon  deshalb  erscheint  eine  größere  Sorgfalt  in  Betreff 
der  Prophylaxis  dieser  verhütbaren  Krankheit  lohnend  zu  sein.  Da 
die  letztere  jedenfalls  von  der  Mutter  auf  das  Kind  übertragen  wird, 
die  blennorrhoischen  Erblindungen  aber  ungefähr  25  7o  der  ver- 
meidbaren  ausmachen,  so  hielt  Jani  in  der  Diskussion  es  für  not- 
wendig, den  Hebammen  ihre  Verantworlichkeit  klar  zu  machen^  in- 
dem sie  sich  durch  eigene  Kurversuche,  Unterlassung  der  ihnen  auf- 
SKuIegenden  Anmeldung  der  Krankheit  u.  s.  w.  einer  fahrlässigen^  im 


230  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  6. 

Maximnm  mit  drei  Jahren  Geföngnis  zu  ahndenden  Körper?erletznng 
schuldig  machen  würden. 

Neißer  (S.  66—67)  demonstrierte  einen  sog.  Bärenmenschen, 
nämlich  einen  Fall  abnormer  Behaarang  bei  einem  13jährigen  Kna- 
ben. Der  ganze  Körper  ist  mit  feinen,  weichen  Wollhaaren  sehr 
dicht  besetzt,  am  meisten  das  Gesicht;  wie  gewöhnlich  besteht  ein 
Defekt  der  Zahnentwickelang,  so  daß  nar  fttnf  Zähne  vorhanden 
sind.  Diese  Behaarung  ist  als  eine  Entwickelungshemmung  zu  be- 
trachten, indem  das  embryonale,  in  den  sechs  letzten  Schwanger^- 
Schaftsmonaten  normal  sich  entwickelnde  Haarkleid  bei  diesen  Fäl- 
len, von  denen  etwa  23  bisher  bekannt  geworden  sind,  sich  nicht 
abgestoßen  hat,  um  durch  die  bleibenden  Haare  ersetzt  zu  werden- 
Dem  entspricht  die  vorzugsweise  im  Gesicht  hervortretende  Behaa- 
rung, ferner  die  mikroskopische  Beschaffenheit  derselben.  Die  Haare 
sind  wie  die  embryonalen  Haare  fein,  pigmentarm  und  marklos,  sog« 
Rindenhaare. 

Berger  (S.  70 — 75)  besprach  die  Tabes  dorsal  is.  Im  Ini- 
tialstadium sind  die  lancinierenden  Schmerzen  das  wichtigste,  nur 
in  14,5 7o  fehlende  Symptom;  ohne  tabische  Grundlage  kommen 
solche  durchaus  nicht  häufig  vor.  Nicht  nur  der  Patellarsehnen- 
reflex,  sondern  auch  der  Achillessehnenreflex  fehlen  später  regelmäßig. 
Harnblasensymptome,  insbesondere  ohne  nachweisbaren  Grund  im 
Mannesalter  auftretende  Enuresis  nocturna  sind  häufig.  Die  initia- 
len Neuralgien  können  unter  dem  Bilde  einer  heftigen  Migraine  auf- 
treten.   Auch  die  sog.  reflektorische  Pupillenstarre  ist  zu  beachten. 

Born  (S.  75—85)  hat  seine  Studien  über  die  Entwickelung 
der  Froscheier,  speciell  über  den  Einfluß  der  Schwere,  auf 
dieselbe  fortgesetzt.  Bekanntlich  hatte  Pflüger  (1883)  eine  direkte, 
richtende  Wirkung  der  Schwerkraft  auf  die  Teilung  der  Eier  resp. 
der  Zellen  überhaupt  aus  seinen  Versuchen  gefolgert.  Born  dagegen 
erkennt  nur  eine,  freilich  auch  interessante,  indirekte  Wirkung  an, 
die  bedingt  ist  durch  die  excentrische  Lage  und  das  ohne  Zweifel 
geringere  specifische  Gewicht  des  Kernes  (Keimbläschens)  in  dem 
speciellen  Falle  des  befruchteten  Froscheies.  Nach  Pflüger  ist  durch 
die  Verlagerung  des  hellen  Eipoles  in  bestimmter  Weise  die  spätere 
Medianebene  des  Embryo  festgestellt;  Born  formuliert  die  Sache  so, 
daß  letztere  immer  durch  den  vertikalen  Meridian  geht,  welcher  die 
höchste  Erhebung  des  weißen  Kreises  (in  seiner  späteren  Stellung) 
trifft.  Diese  Stelle  ist  zugleich  diejenige,  wo  später  die  Blastoporoa 
zuerst  auftritt.  Bonx  kam  gleichzeitig  und  unabhängig  in  Bezug  auf 
die  Lage  der  späteren  Medienebene  an  normalen  Eiern  von  Rana 
esculenta   zu  denselben    Resultaten    wie    Born,   der   in    Zwangslage 


Zweinndsechzigster  Jahresbericht  d.  Schlesisch.  Ges.  fur  vaterländische  Kultur.    231 

fixierte  Eier  nntersucbte.  Das  Merkwürdige  ist  dabei,  daß  trotz  der 
durch  VerlageruDg  der  Eier  herbeigeführten,  erheblichen  Störungen 
in  der  Verteilung  des  Eimateriales  sich  schließlich  doch  normale  Kaul- 
quappen entwickeln.  Auch  die  Willkür,  mit  der  man  die  Richtung 
der  Medianebene  ändern  kann,  macht  das  Problem  der  Entwickelung 
durchaus  nicht  leichter  verständlich,  denn  die  Sicherheit  in  der  Ver- 
erbung nicht  bloß  der  großen  (zoologischen)  Familiencharaktere, 
sondern  der  kleinsten  Eigentümlichkeiten  der  Art  und  selbst  des  In- 
dividuum hat  immer  dazu  geführt,  eine  möglichst  frühzeitige,  spe- 
cielle,  örtlich  feste  Austeilung  des  Eimateriales  je  nach  seinen  zu- 
künftigen Bestimmungen  anzunehmen.  Die  experimentellen  Erfah- 
rungen zeigen  sich  dieser  bekanntlich  von  His  betonten  Auffassung 
nicht  günstig,  doch  werden  weitere  Untersuchungen  erforderlich  sein. 
In  der  Diskussion  stellte  Roux  auch  solche  in  Aussicht  über  die 
Frage,  ob  die  Richtung  von  vorn  nach  hinten  beim  künftigen  Em- 
bryo schon  im  unbefruchteten  Froschei  fest  gegeben  ist,  oder  ob 
dieselbe  erst  nach  der  Befruchtung  bestimmt  wird. 

Ponfick  (S.  104—108)  hielt  einen  sehr  interessanten  Vortrag 
über  Actinomykose  ohne  Actinomyces  (Strahlenpilz).  Von 
dieser  neuen,  nicht  sehr  angenehmen  Krankheit,  die  dem  größeren 
Publikum  noch  ziemlich  unbekannt  ist,  kamen  Ponfick  drei  weitere 
Fälle  vor  und  es  stellte  sich  dabei  heraus,  daß  große  Zerstörungen 
in  den  Organen,  die  der  Pilz  veranlaßt,  den  letzteren  selbst  so  weit 
zu  Grunde  richten  können,  daß  nur  bei  genauester  Nachforschung 
noch  Reste  von  demselben  zu  entdecken  sind.  Daraus  folgt  ohne 
Weiteres,  daß  ein  Uebersehenwerden  leicht  möglich  ist  und  ferner- 
weit, daß  diese  Pilzkrankheit  viel  häufiger  auftritt,  als  man  bisher 
vorauszusetzen  geneigt  war.  Auch  Wolff  (S.  113—121)  teilte  einen 
ähnlichen  Fall  mit,  bei  welchem  der  Kranke  anfangs  eine  Arsenik- 
vergiftung  sich  zugezogen  zu  haben  glaubte,  und  Soltmann  (S.  127 
— 128)  wies  zum  ersten  Male  die  Einwanderung  auf  dem  Wege 
einer  verschluckten  Garbe  der  Mäusegerste,  Hordeum  neurinum  nach. 

Im  Anschluß  an  seine  erwähnte  Darstellung  der  Tabes  dor- 
sal is  (S.  230)  hat  Berger  (S.  138—140)  auch  die  Beziehungen  der- 
selben zur  Syphilis  erörtert.  Während  man  seit  Hippokrates  die 
sog.  Rückenmarksschwindsuoht  mit  Excessen  in  Verbindung  zu  brin- 
gen pflegte,  läugnete  Leyden  die  Aetiologie  der  Syphilis  für  die 
Tabes  durchaus.  Berger  konstatierte  unter  100  Fällen  43mal  Sy- 
philis nnd  zwar  betrug  die  durchschnittliche  Zeitdauer  zwischen  der 
Infektion  nnd  der  Entwickelung  der  Tabes  8,4  Jahre.  Ein  sehr 
charakteristischer  Fall  wurde  von  ihm  bei  einem  74jährigen  Manne 
beobachtet.    Andere  Ursachen  der  Tabes  behalten  darum  doch  ihr^ 


232  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  6. 

Bedeutung ;  43  %  vorausgegangene  Syphilis  bei  Nicfat-Tabetischen 
wtirde  aber  unerhört  sein  und  einer  antisyphilitischen  Behandlung 
der  Tabes  namentlich  in  deren  Anfange  das  Wort  zu  reden  sein. 

Fränkel  (S.  142 — 148)  erörterte  die  Wirkungen  des  damals  neuen 
Anästhesiernngsmittel,  des  Cocains,  auf  die  Schleimhäute  und 
empfiehlt  dasselbe  außerdem,  wenn  die  Reflexerregbarkeit  herabge- 
setzt werden  solle.  Ebenfalls  Landmann  (S.  148 — 154)  benutzte  die- 
selbe Substanz  Tielfach  in  der  Augenheilkunde  als  Narkoticum  und 
Anästheticum  f&r  die  Eonjunktiva,  bei  kleinen  Operationen  am 
Auge  u.  s.  w.  Nach  Fränkel  ist  es  besonders  in  der  Zahntechnik 
zu  empfehlen,  um  die  freiliegende  Pulpa  abzustumpfen,  wozu  man 
bisher  meistens  Arsenik  u.  dergl.  zu  gebrauchen  pflegte. 

Ponfick  (S.  154 — 157)  demonstrierte  die  bekannte  in  Deutsch- 
land herumreisende  Mikrocephalin,  Margarethe  Becker,  das 
Mädchen  mit  dem  Vogelkopfe.  Seit  G.  Vogt  derartige  Mikrocephalen 
als  Affenmenschen  bezeichnete  und  auch  schon  früher  haben  sie 
stets  das  Interesse  des  großen  Publikum  wachgerufen,  das  die  zahl- 
reichen analogen,  in  Irrenhäusern  oder  Idiotenanstalten  detiuierten 
Fälle  nicht  kennen  kann.  Um  dies  zu  erläutern  muß  Ref.  ein  we- 
nig weiter  darauf  eingehn.  'Blödsinnige,  Idioten,  Cretins  und  Mikro- 
cephalen sind  keineswegs  Synonyme.  Der  Blödsinn  kann  ange- 
boren oder  erworben,  nämlich  als  Ausgang  von  Geisteskrankheiten 
entstanden  sein.  Idiotie  ist  angeborener  Blödsinn.  Von  der  Idiotie 
bat  man  seit  langer  Zeit  den  Gretininismus  abgeschieden,  charakte- 
risiert durch  sein  endemisches  Vorkommen,  meist  in  Gebirgsthälern, 
durch  das  Vorhandensein  eines  mehr  oder  weniger  starken  Kropfes 
und  durch  die  frühzeitige  oder  embryonale  Verknöchernng  der  Syn- 
chondrosis basilaris,  wodurch  die  Schädelbasis  zu  kurz  wird.  Als 
Mikrocephalie  bezeichnen  die  Irrenärzte  jede  erhebliche  Verklei- 
nerung des  Schädels  und  Gehirnes;  jeder  Mikrocephale  leidet  an 
angeborenem  Blödsinn,  aber  keineswegs  ist  jeder  Idiot  zugleich  mi- 
krocephal.  Vielmehr  läßt  sich  eine  Reihe  bilden  von  unbedeuten- 
den Verkleinerungen,  den  Minimalmaßen  der  Schädelgröße  bei  Ge- 
sunden entsprechend,  bis  zu  den  ausgesprochensten  Mikrocephalen, 
deren  Köpfe  solchen  von  ganz  jungen  Kindern  gleichkommen.  Die 
geistige  Störung  geht  keineswegs  der  Wachstumshemmung  des  Schä- 
dels  parallel,  man  sieht  aber  so  viel,  daß  es  sich  um  pathologische 
Processe,  namentlich  Entzündungen,  Wassersucht  u.  desgl.  des  Ge- 
hirnes handelt.  Die  Mikrocephalie  steht  also  einer  scheinbar  ent- 
gegengesetzten Erkrankung,  dem  Hydrocephalus  oder  Wasserkopf 
ganz  nahe  und  femer  den  nicht-lebensfähigen  Misbildungen,  die  als 
Eynocephali,  Hundsköpfe,   Hemikranie  u.  s.  w.,  endlich   als   Spina 


Zweiundsechzigster  Jahresbericht  d.  Schlesisch.  Ges.  für  vaterländische  Kultur.    233 

bifida,  bezeichnet  werden.  Alles  das  bildet  offenbar  nur  Eine  Reihe 
von  Erkrankungen,  so  merkwürdig  das  auch  sei,  und  stets  ist  das 
Gehirn  das  primär  erkrankte  Organ.  Die  geistige  Störung  bei  Mi- 
kroeephalie  zeigt  oft,  aber  nicht  immer,  neben  dem  selbstverständli- 
chen Blödsinn  verschiedenen  Grades  bei  intakter  Sinnesthätigkeit 
noch  Tobsucht,  d.  h.  motorische  Erregung  geringeren  Grades,  auch 
nicht  selten  geschlechtliche  Erregung.  Sind  die  Kranken  nun  noch 
ein  wenig  erziehungsfähig,  so  werden  sie  in  Idiotenanstalten  ge- 
bracht und  misbräuchlicher  Weiss  hier  und  da  sogar  konfirmiert 
Sind  sie  tobstlchtig,  störend,  geschlechtlich  erregt  oder,  wie  so  sehr 
häufig,  unreinlich,  so  kommen  sie  ebenfalls  in  Anstalten.  In  Privat- 
pflege können  nur  solche  asserviert  werden,  bei  denen  von  Allem 
diesen  nichts  zutrifft,  und  wenn  sie  dann  noch  recht  kleine  Köpfe 
haben  —  so  werden  sie  auf  Reisen  zur  Schau  gestellt  und  gelten 
als  Affenmenschen.  Daß  die  Margarethe  Becker  ganz  und  gar  in 
jene  gewöhnliche  Reihe  gehört,  zeigt  der  Sektionsbefund  bei  ihrer 
Schwester:  es  war  nämlich  von  acht  Geschwistern  die  Hälfte  mikro- 
cephal.  Die  Schwester  Helene  wurde  etwa  10  Jahre  alt,  ihr  Gehirn 
zeigte  sich  in  eine  Art  häutigen  Sackes  verwandelt  und  durch  Flüs- 
sigkeit ersetzt,  sein  Gewicht  betrug  nur  etwa  360  g.  Die  Ohren  der 
Margarethe  sind  relativ  groß,  stehn  weit  ab,  die  Augen  irren  unstet 
umher.  Letzteres  deutet  auf  Tobsucht  im  psychiatrischen  Sinne, 
d.  b.  erhöhte  motorische  Erregung;  das  Verhalten  des  äußeren  Ohres 
zeigt,  daß  die  embryonalen  Schlundspalten  keine  wesentlichen  Stö- 
rungen erlitten  hatten,  denn  das  Ohr  bildet  sich  aus  der  zweiten 
Spalte.  Anders  bei  den  Cretins,  wo  die  ebenfalls  von  Schlundspal- 
ten abzuleitende  Schilddrttse  abnorm  groß  ist  und  an  der  Schädel- 
basis frühzeitige  knöcherne  Verwachsungen  stattfanden:  offenbar 
sind  beim  Embryo  in  dem  Niveau  der  Schlundspalten  und  Nacken- 
krttmmung  pathologische  Störungen  vorhanden  gewesen.  Aus  dem 
Gesagten  geht  wohl  zur  Genüge  hervor,  was  den  Psychiatern  eben- 
falls hinreichend  bekannt  war,  daß  bei  der  Mikrocephalie  von  Ata- 
vismus, von  einem  Rückschlag  auf  Entwickeinngsstufen,  die  zwischen 
Mensch  und  Affe  stehn  sollten,  gar  keine  Rede  sein  kann. 

Bachwald  (S.  157 — 160)  sprach  über  und  empfahl  warm  den 
Kephir  oder  eigentlich  den  Kapir.  Dies  ist  ein  durch  Gährung 
ans  Milch  wie  Kumyss  bereitetes,  angenehm  schmeckendes  Getränk; 
dasselbe  enthält  Alkohol,  Kohlensäure,  Milchsäure  und  Peptone,  in 
welche  das  Casein  und  Albumin  der  Milch  zum  Teil  verwandelt  wird. 
Zur  Bereitung  des  Kapir  dient  am  Kaukasus  eine  aus  graupenähn- 
lichen Kömern  bestehende  Hefe,  die  sich  aus  Hefezellen  der  Gat- 

Q9tt,  gel.  Am.  1887.  Nr.  6.  17 


234  Qött.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  e. 

tang  SacefaaromyceB  und  einer  Baoterie,  Dispora  caacasica  Bach- 
wald, zaBammensetzt.  Der  Eephir  wird  aos  dieser  Hefe  allein  dar- 
gestellt. 

Sektion  für  öffentliche  Gesundheitspflege  (S.  160 — 
217).  Schon  im  Eingange  des  Berichtes  findet  sich  ein  ausführli- 
cher Nekrolog  (S.  I— XXVII)  Heinrich  Robert  Göpperts.  Dieser 
Nestor  nnter  den  deutschen  Botanikerti  war  am  25.  Juli  1800  zu 
Sprottaa  geboren;  er  starb  am  18.  Mai  1884.  Der  schlesischen  Ge- 
sellschaft widmete  er  eine  ausgedehnte  Teilnahme  und  noch  dieser 
Bericht  enthält  (S.  161—168)  einen  Vortrag  Goepperts  ttber  den 
Haasschwamm,  Merulius  lacrymans,  der  in  Breslau  sehr  viel 
Sehaden  anrichtet.  Alle  Gegenmittel  wie  Imprägnierungen,  Aetz- 
roittel^  Geheimmittel,  welche  in  den  Zeitungen  angepriesen  werden, 
sind  Yolikommen  nutzlos.  Trockene  Luft  kann  der  Pilz  nicht  yer- 
tragen^  es  wird  also  Ventilation  anzuwenden  sein,  ferner  als  Vor* 
bauungsmittel  Vermeidung  der  Ausfüllung  des  Raumes  unterhalb  der 
Fuftböden  mit  altem  Bauschutt,  der  so  vielerlei  schädliche  Pilze  ent- 
hält (was  das  Publikum  von  den  Baumeistern  erzwingen  sollte)  and 
Verbrennung  allen  inficierien  Holz  Werkes. 

Goho  (S.  173—177)  teilte  die  Geschichte  einer  wörtlich  abge- 
schriebenen Hygiene  des  Auges  mit  Im  Jahre  1 800  erschien 
die  erste  Auflage  der  »Pflege  gesunder  und  geschwächter  Ange&c 
von  dem  berühmten  Augenarzt  F.  Beer  in  Wien.  Dieses  Buch  über^ 
setzte  der  Leibarzt  des  E&nigs  August  Stanislaus  von  Polen,  F.  L. 
de  la  Fontaine  1801  für  ein  polnisches  Journal,  Dziennik  z  dromia 
unter  dem  Titel:  »0  chi^robach  oczu«  (lieber  die  Krankheiten  der 
Augen)  ins  Polnische.  De  la  Fontaine  starb  1812  in  russischer  Ge- 
fangenschaft, in  seinem  Nachlafi  fand  sich  ein  deutsches  Manuskript 
v<H',  eine  Abschrift  jenes  Beerschen  Baches  mit  einzelfien  Anslassan» 
gen  und  wahrscheinlich  ohne  Titel.  Dieses  Manuskript  hat  nun 
F.  K.  Liohtettstädt ,  damals  Professor  der  Medicin  in  Breslau,  1824, 
anter  dem  Titel :  9Ueib«*  den  vernünftigen  Gebrauch  und  die  Pflege 
der  Angen«  inel.  der  Beerschen  Vorrede  bei  Kern  i«  Breslaa  drueken 
lassen,  und  -später  nochmals  in  den  »hinterlassenen  Scfarifte«  vott 
F.  L*  de  la  Fontaine«  herausgegeben.  Der  Heransgeber  handelte 
offenbar  bona  fide,  aber  de  la  Fontaitie  ließ  in  der  polnischen  Uebet* 
Setzung  das  Beersche  »ich«  stebn,  so  daft  der  Leser  glauben  nmftteii 
die  betreffenden  Beobachtungen  seien  solche  des  Uebersetzers.  Auf* 
fallend  ist  noch,  daft  die  polnische  Zeitschrift  das  Beersche  Original 
ohne  jene  Auslassungen  wiedergibt  Da  Beer  1821  gestorben  war> 
so  konnte  er  keinen  Protest  mehr  erkebeti.     Ein  anak^s  Plagiat 


Zweiundsechzigster  Jahresbericht  d.  Schlesiscb.  Ges.  fQr  vaterländische  Koltor.    235 

warde  in  der  Diskassion,  wie  Förster  bemerkte,  von  Letzterem  1862 
naobg^wiesen.  Das  Lebrbacb  der  Aagenheilkande  von  J.  J.  Plenk 
ist  nämltob  von  dem  Engländer  Rowley  großenteils  wörtlich  Über- 
setzt and  als  sein  eigenes  Werk  herausgegeben  ;  merkwürdiger  Weise 
erschien  dann  1792  eine  deutsche  Rttckttbersetzang  aas  dem  Eng-* 
lisehen. 

Biermer  (S.  184—199)  hielt  einen  Itegeren,  sehr  zeitgemäßen 
Vortrag  ttber  die  Cholera.  Aach  hier  wie  bei  der  Taberknlose 
(S.  227)  wollen  die  alten  Anschaanngen  sieh  nicht  ohne  Weiteres 
der  Eoehsehen  Eatdeckang  von  Eommabacillen  accommodieren. 
Petteakofer  hatte  seit  1854  die  Kontagiosität  der  Cholera  geläagnet 
und  sie  fllr  eine  dnroh  den  Boden  mitgeteilte  Inf^tionskrankheit 
erklärt.  Seitdem  knüpfen  sich  im  großen  Pabiikam  allerlei  mysti-* 
sehe  Ideen  an  den  Namen  des  Grundwassers  an,  obschon  Petten- 
kofer  anfs  Bestimmteste  die  Verbreitung  der  Cholera  durch  das 
Trinkwasser  in  Abrede  nahm*  Als  nan  Koch  Cholerabacillen  in  in- 
dischen Wasserbassins,  Tanks,  freilebend  nachwies,  kamen  die  nnbe- 
stimmten  Theorien  Pettenkofers  noch  mehr  ins  Gedränge,  als  sie  es 
fttr  die  eiBsichtsvoUen  Pathologen,  beispielsweise  Virchow,  von  An- 
fang an  gewesen  waren.  In  der  Diskussion  erhob  sieh  sofort  För- 
ster, um  aus  der  Thatsache,  daß  in  manche  kleinere  und  grOßere 
Orte  die  Cholera  öfters  eingeschleppt  ist,  ohne  eine  Epidemie  ui  er- 
zengen, die  Folgerung  zu  ziehen,  hiervon  müsse  das  Trinkwasser  die 
Ursache  sein.  Z.  B.  die  Städte:  Polnisch-Lissa,  Glogau,  Lauban, 
Pleß,  Bybnik,  Grünberg,  Neumarkt,  Zobten,  Tarnowitz,  Karlsbad, 
Jena,  Crossen,  Belpern  u.  s.  w.  haben  sich  jener  anscheinenden  Im- 
munität erfreut  und  wurden  gleichzeitig  durch  gutes  Quellwasser 
versorgt.  (In  diesem  Sinne  könnte  man  auch  Göttingen  fttr  immun 
erklären,  denn  daselbst  wurde  1851  die  Cholera  in  das  akademische 
Hospital  eingeschleppt,  ohne  sich  in  der  Stadt  zu  verbreiten,  Bef.). 
Indessen  scheint  vom  Standpunkt  der  bacillären  Anschauungen  eine 
andere  Erklärungs weise  aufgesucht  werden  zu  müssen.  Wenn  man 
as  die  enormen  Verheerungen  denkt,  welche  die  Krankheit  in  Süd- 
frankreich seit  ihrer  letzten  Eimschleppung  (1884)  nach  Tonion,  fer- 
ner in  Neapel  und  das  Jahr  darauf  ita  Spanien  anrichtete,  während 
sie  ifi  Paris  und  jetzt  (1886)  am  adriatischen  Meer  nur  kleine  Epi- 
demien zn  veranlassen  vermochte,  so  könnte  man  glauben,  der  tro- 
pische Cholerapilz  vertrage  das  nördliche  Klima  nicht,  er  vegetiere 
unter  unseren  Breiten  im  Triqkwasser  oder  feuchten  Boden  nur 
kflsuneflieh,  wovon  es  abhängig  sei,  daß  die  Cholera  in  Europa 
Mili>  nickt  statioBär  geworden  ist.    So  plausibel  dies  klingt,  möchte 


236  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  6. 

Ref.  doch  noch  auf  einen  wesentlichen  Unterschied  hinweisen.  An- 
fangs sucht  man  überall  die  Krankheit  za  vertuschen,  schon  am 
dem  Fremdenverkehr  nicht  zu  schaden  oder  die  Börsencourse  nicht 
zu  deprimieren.  Man  zieht  mit  den  Mitteln  der  Apotheke  oder  mit 
Räucherungen  und  Processionen  dagegen  zu  Felde,  nngefilhr  wie 
beim  Ausbruche  eines  feuerspeienden  Berges,  malträtiert  auch  wohl 
die  Aerzte.  Später,  wenn  die  Ruhe  zurückkehrt  und  die  Vernunft 
in  ihre  Rechte  tritt,  beseitigt  man,  nach  staatlicher  Vorschrift 
oder  so  zn  sagen  instinktmäfiig ,  die  Abgänge  von  den  Kran- 
ken, verbrennt  deren  Wäsche,  beobachtet  eine  skrupulöse  Reinlich- 
keit und  das  Resultat  ist  die  Zurückdrückung  der  Epidemie  auf 
eine  kleine  Anzahl  von  Fällen,  die  kaum  noch  diesen  Namen  ver- 
dienen. 

Was  die  Prophylaxis  nach  dem  Ausbruch  der  Epidemie  anlangt,  so 
empfiehlt  Biermer,  wo  es  angeht,  schleunige  Entfernung  vom  Cholera- 
heerde.  Ferner  Vermeidung  von  Diätfehlern,  Reinlichkeit,  Ventilation 
der  Wohnungen,  Qennßvon  Rotwein,  Beachtung  jeder  Verdauungsstö- 
rung, während  es  specifische  Vorbau ungsmittel  nicht  gibt.  —  Sollte  die 
Cholera  zu  irgend  einer  Zeit  nach  Deutschland  übergreifen,  so  wird 
sich  ohne  Zweifel  das  Reichsgesundheitsamt  mit  populären  Beleh- 
rungen befassen;  bis  dahin  macht  Ref.  nur  auf  eine  Folgerung  ans 
der  Bacterientheorie  aufmerksam.  Pilze,  auch  der  Cholerapilz  kön- 
nen das  Kochen  nicht  vertragen  —  so  wenig  wie  z.  B.  die  Trichi- 
nen —  man  darf  also  nichts  ungekocht  und  weder  Milch  noch  Obst 
aus  Händen  genießen,  bei  denen  man  nicht  sicher  ist,  ob  die  Verkäufer 
nicht  bereits  an  Cholera-Diarrhöe  leiden  oder  mit  solchen  Kranken 
in  Berührung  gekommen  sind.  Denn  leider  ist  es  eine  Thatsache, 
die  freilich  für  den  Sachverständigen  begreiflich  genug  ist,  daß  auch 
der  sauberste  Mensch  unachtsam  zu  werden  anfängt,  wenn  er  öfters 
im  Tage  von  Diarrhöe  überrascht  wird.  Sapienti  sat!  Absperrun- 
gen, Quarantänen,  die  gebräuchlichen  Desinfektionen,  Gossenspülun- 
gen sind  nicht  nur  nutzlos,  sondern  meist  direkt  schädlich,  weil  sie 
eine  trügerische  Sicherheit  verleihen,  die  Spülungen  außerdem,  weil 
sie  zufällig  in  die  Gossen  gelangte  Cholerapilze  am  Leben  erhalten 
und  verbreiten,  die  sonst  bald  vertrocknet  wären. 

Bei  dem  Umfang,  den  diesmal  die  medicinischen  Berichte  er- 
langt haben,  bedauert  Ref.,  auf  die  Wiedergabe  von  Vorträgen  aus 
den  übrigen  Sektionen  heute  verzichten  zu  müssen.  Nur  seien  die 
Nekrologe  noch  erwähnt:  von  Göppert,  dessen  Lithographie  als 
Titelbild  den  Band  ziert,  von  G.  H.  von  Buffer,  C.  L.  F.  von  Witt- 
ken, H.  Friedberg,  F.  F.  Graf  von  Pfeil,  H.  Straka,  J.  Promnits, 


Berger-Levranlt,  Gatal.  d.  Alsatica  de  la  Biblioth^ae  de  0.  Berger-Leyraalt.    237 

6.  F.  F.  Eberiy,  J,  L.  A.  Weudt,  H.  NeumauD,  J.  Steinitz,  G.  ü. 
TOD  Boguslawski,  J.  O.  Droysen  und  Jalius  Goboheim.  lieber  Göp- 
pert  baben  Heidenbain  and  Gohn  (S.  II — XXVII),  über  Cobnbeitn 
bat  PoDfick  (S.  128—138)  gesprocben  und  des  Letzteren  Verdienste 
nm  die  patbologiscbe  Anatomie  sowie  seine  litterarisehe  Thätigkeit 
aasfUbrlieh  gewürdigt. 

W.  Kranse. 


Berger-Levraalt,  Oscar,  Catalogue  des  Alsatica  de  la  Biblio- 
tb^que  de  Oskar  Berger-Levraalt.  Nancy.  Imprimerie  Berger- 
LeYraalt  et  G^.    1886. 

Niebt  leicht  wird  man  einer  äbniichen  Pnblikation  begegnen,  sie 
ist  wirklieb  in  vieler  Beziebnng  einzig  in  ibrer  Art.  Der  ebemalige 
Inbaber  und  Leiter  der  großen  Druckerei  und  Bucbhandlang  Berger- 
Levranlt  zu  Straßbarg  in  Elsaß,  (jetzt  B.  Scbultz  &  Co.),  der  nacb 
den  Ereignissen  des  Jabres  1870  für  Frankreich  optierte,  sich  auf 
die  Filiale  des  Geschäfts  in  Nancy  und  dann  überhaupt  vom  Ge- 
schäftsleben zurückzog,  hat  seine  Muße  benutzt,  nm  einen  Katalog 
all  der  Druckwerke  herzustellen,  welche  von  der  Gründung  der 
Buchhandlung  durch  F.  W.  Schmuck  1675,  der  dann  bald  eine 
Eupferdruckerei  und  Buchdruckerei  angefügt  wurde,  bis  zum  Jahre 
1870  aas  dem  Geschäft  bervorgegangen  sind.  Zunächst  im  Ganzen 
betrachtet,  machen  diese  7  Hefte  von  zusammen  etwa  1000  Seiten 
scbarfen  aber  engen  Druckes  ^)  einen  bedeutenden  Eindruck.  Welche 
Fülle  der  Arbeit  ist  hier  vereinigt,  welch  eine  Arbeit  der  Schrift- 
steller, welch  ein  Unternehmungsgeist  des  Herausgebers!  Und  wenn 
man  nun  etwas  Näheres  weiß  von  der  Familiengeschichte  dieses  Ge- 
schäfts, wie  sie  der  Pfarrer  Ratbgeber  in  der  Landeszeitung  von 
Elsaß-Lothringen  (1884)  Gemeindezeitung  Nro.  11  u.  12  auf  Grund 
von  Material  erzählt  hat,  das  ihm  ein  langjähriger  Beamter  des 
großen  Hauses  lieferte,  so  steigert  sich  dieser  Eindruck  zu  ehrfurchts- 
vollem Respekt  vor  diesem  Hanse,  in  welchem  echter  Bürgersinn 
und  männliche  Thatkraft  Generationen  hindurch  in  immer  neuen 
Formen  sich  entfalteten.  Wir  Deutsche  sind  viel  zu  sehr  ein  Volk 
der  Gelehrsamkeit  und  des  Beamtentums,  wir  suchen  die  Größe  zu 

1)  Es  ist  eine  bedeutend  erweiterte  Aasgabe   des  1883  yeröfientlichten  Ka- 
talogs. 


238  Gott.  gel.  Änz.  1887.  Nr.  6. 

sehr  bei  den  Dekorationen,  den  Titeln  and  den  Reeensionen,  es  ist 
wirklich  nioht  nnntttz,  bei  solcher  Gelegenheit  einmal  energisch  dar- 
auf hinzuweisen,  daß  in  dem  Tbun  und  Treiben  des  Geschäfts- 
mannes, wenn  es  sich  irgend  über  das  Maß  des  kümmerlichen  Brod- 
erwerbs erheben  soll,  regelmäßig  eine  ganz  andere  Kraft  des  Gel- 
stes  und  des  Herzens  aufgewendet  werden  muß  als  in  der  Thätig- 
keit  der  Gelehrten  und  der  Beamten,  wie  sie  [im  Durchschnitt  ver- 
läuft. Diesen  ist  der  Tisch  immer  gedeckt,  und  mit  den  Jahren 
kommen  die  Ehren  —  im  Geschäft  wiU  alles  erkämpft  sein.  Hier 
ist  nun  ein  Ueberblick  über  die  Arbeit  einer  solchen  Familie,  die 
noch  dazu  zwei  Jahrhunderte  hindurch  ihr  Geschäft  auf  einer  be- 
deutenden Hohe  zu  halten  wußte.  Die  Namen  des  Hauses  wechsel- 
ten, weil  mebripals  di^  Schwiegers($bne  die  Weitßrfllhrang  tiber- 
nahmen. Der  Gründer  war  F.  W.  Schmuck,  ?oa  dem  es  an  den 
Bruder  G.  F.  Schmuck  kam,  von  dem  übernahm  es  der  aus  Kempten 
zugewanderte  Gbristmaun,  dessen  Sohn  nahm  seinen  Schwager 
Levranlt,  der  aus  Lotbringen  kam,  in  das  Geschäft,  der  es  seit  1771 
allein  führte.  Bis  1850  hieß  dann  die  Firma  »Buchhandlung  und 
Bnehdruckerei  Levrault«.  Der  älteste  Sohn  dieses  Levrault  war  ein 
ungemein  bedeutender  Mensch.  Das  Zeitalter  der  Revolution  trug 
ihn  an  die  Spitze  der  gemäßigten  Freibeitsfreonde,  er  mußte  deshalb 
flüchte^  vor  den  Schergen  der  Schreckensmänner,  die  es  ihm  namentlich 
nicht  vergaßen,  daß  er  mit  rücksichtslosem  Mute  für  den  Maire  Dietrich 
eingetreten  war,  gewann  dann  aber,  nachdem  er  1795  von  der  Liste 
der  Emigranten  gestrichen  war  und  zurückkehren  durfte,  eine  Stel- 
lung in  der  Stadt  wie  sie  selten  einem  Bürger  gewährt  wird.  Im 
Jahre  1809  wurde  er  zu  anderen  Ehrenämtern  noch  zum  Inspectenr 
d'Acad^mie  ernannt,  erhielt  1810  den  Ehrendoktor  der  philosophi- 
schen Fakultät  und  wurde  1818  Rektor  der  Akademie.  Dazu  war 
er  auch  Präfektnrrat  und  Efogar  die  Präfektur  selbst  wurde  ihm  an- 
geboten. Dies  Amt  lehnte  er  jedoch  ab,  denn  selbst  seine  riesige 
Arbeitskraft  mußte  erliegen,  als  er  diese  und  andere  wichtige  Aem- 
ter  noch  nebe^  der  Leitung  seines  großen  Geschäfts  verwaltete. 
Nur  die  strengste  Zeiteinteilung  konnte  ihm  über  diese  Arbeitsftille 
hinweghelfen.  Sein  T&gewerk  begann  4*/«  Uhr  früh,  von  5 — 7  be- 
redete er  mit  seiner  Frau  nnd  seinem  Bruder  die  Angelegenheiten 
des  Geschäfts,  von  7—8  erteilte  er  Audienzen  in  persönlichen  Ange- 
legenheiten^ dann  nach  kurzem  Frül^ßtücl^  in  das  Bureau,  wo  er,  einis 
kurze  Mittagspause  abgerechnet,  bis  zum  Abendessen  arbeitete.  Dann 
folgten  einige  Stunden  der  Erholniig  bis  10  Uhr^  dann  wieder  Ar- 
beit bis  Mitternacht.    Seine  Fran  nnd  seine  Brüder  waren  ihm  9f^ 


Berger-Levraalt,  Catal.  d.  Alsatica  de  la  Biblioth^que  d.  0.  Berger-Leyrault.    239 

gezeichnete  Oehülfen.  Die  Fraa  war  eine  Tochter  des  straBboi^er 
ProfesBorB  Schertz.  Sie  war  Protestantin  nnd  Lerrault  lieft  denn 
aach  die  Kinder  dieser  Ehe,  zwei  Töchter,  protestantisch  erziehen. 
Bis  dahin  war  das  Haas  katholisch  gewesen,  führte  auch  den  Titel 
eines  »Bnchdrackers  der  katholischen  Universität  und  des  bischöf- 
lichen Seminariamst.  Die  eine  Tochter  vermählte  sich  mit  Friedrich 
Berger  aas  Mümpelgard,  dw  aber  früh  (1837)  starb,  and  da  aach 
der  jtlngere  Levraolt  gestorben  war,  so  wnrde  das  Geschäft  von  den 
beiden  verwittweten  Fraaen  geführt.  Die  Matter  Levraalt-Schertz 
leitete  die  Bacbhandlaog ,  die  Tochter,  Fraa  Berger,  leitete  die 
Drackerei  mit  der  Firma  Berger-Levraalt.  1850  gieng  dann,  nach 
dem  Tode  der  GroAmatter  die  Leitang  des  Haoses  an  den  Sohn  der 
Fraa  Berger-Levraalt,  Oskar  Berger-Levraalt  über,  dea  Verfasser 
des  vorliegenden  Katalogs. 

Die  Bachhandlong  hat  Seln^iften  aller  Art  veröffentlicht.  So 
enthält  das  7.  Heft  Pablications  aoa  alsatiqaes  1676—1815  anter 
den  Babriken  1)  Histoire,  Geographie,  2)  B6volition,  3)  Gravares, 
4)  Beligion  catboliqae,  5)  Instraction  a.  s.  w.  Material  zo  einer  Ge- 
schichte der  Litteratar,  der  socialen  Bewegangen  a.  s.  w.,  das  za 
den  mannigfaltigsten  Beobachtangea  auffordert.  Noch  reicher  ist  das 
6.  Heft,  das  Pablikationen  des  18.  Jahrhanderts  nmfaftt  and  neben 
zahlreichen  wissenschaftlichen  Pablikationen  aach  Singataritäten  ent- 
hält, die  den  Kattarhistoriker  auf  manche  längst  vergessene  Spar 
leiten  können.  So  die  Bampleriana  p.  212  f.  Eine  ganz  anfier- 
ordentliche  Bedeatong  für  die  historische  Forschang  gewinnt  aber 
dieser  Katalog  darcfa  die  Hefte  1—5,  vor  allem  darch  die  Hefte 
2 — b^  welche  die  Ordonnanzen  der  französischen  Yerwaltong  ver- 
zeichnen, denn  vom  12.  December  1681  bis  zam  September  1870 
war  dies  Hans  der  Drncker  der  franaösisehea  Verwaltung^),  nnd  es 
worden  alle  Erlasse,  welche  für  Frankreich  allgemein  ergiengen, 
anfter  in  Paris  zagleiob  and  nar  noch  in  Straßbarg  in  diesem  Hanse 
gedrackt  and  zwar  regelmäßig  in  beiden  Sprachen.  Aaßerdem  war- 
den alle  von  der  Provinzialverwaltnng  aasgehenden  Erlasse  hier 
gedrackt 

Es  fehlen  nnr  die  Erlasse  des  Conseil  Soaverain  d* Alsace,  die 
in  Colmar  gedrackt  warden.  Nan  hatte  dieser  Gerichtshof  gleich 
den  alten  Parlamenten  aach  gewisse  Befognisse  der  Gesetzgebang 

1)  A  dater  du  12  d^cembre  1681  et  en  toül  cas  nous  ftvons  continue  ä  6tre 
les  Imprimeurs  de  rAdnünistratioa  josqu'en  septembre  1870  schreibt  mir  Herr 
O.  Berger-LeYraalt. 


240  Gott.  gel.  Äuz.  1887.  Ko.  6. 

und  Verwaltung,  aber  die  eigentliche  Verwaltung  gieng  doch  von 
Paris  und  der  Intendance  d'Alsace  aus.  Die  Thätigkeit  dieses  In- 
tendanten umfaßte  den  Handel,  das  Gewerbe,  die  Zünfte  und  son- 
stigen Korporationen,  die  öffentlichen  Straßen,  die  Schiffahrt,  das 
Militärwesen  —  kurz  alle  Zweige,  und  so  bietet  denn  diese  Zusam- 
menstellung der  Verfügungen  ein  ungemein  reiches  Material  zur  Ge- 
schichte der  Ansichten  und  der  Richtungen  in  allen  Zweigen  des 
thätigen  Lebens,  und  im  Ganzen  genommen  ein  Regestenwerk  über 
die  allgemeine  Verwaltung  Frankreichs  und  der  Provinzialverwaltung 
des  Elsaß  im  Besonderen.  Ich  wüßte  nicht,  daß  ein  ähnliches  Hülfs- 
mittel  für  irgend  ein  Land  geboten  würde.  Wer  sollte  sich  auch 
der  Mühe  unterziehen,  die  zum  Affichieren  bestimmten  Bekannt- 
machungen durchzugehn,  im  Regest  zusammenzufassen  und  dies 
drucken  zu  lassen?  Es  läuft  da  viel  Unbedeutendes  mit  unter,  allein 
da  hier  nun  die  Liebe  zur  Geschichte  des  Hauses  den  geeigneten 
Mann  dazu  veranlaßte,  der  auch  die  großen  Kosten  nicht  scheute, 
diesen  Katalog  mit  jener  Sauberkeit  und  Eleganz  zu  drucken,  welche 
den  traditionellen  Ruhm  des  Hauses  bildet,  so  ist  hier  eine  unge- 
mein nützliche  Arbeit  entstanden.  Für  einige  Jahre  sind  nur  wenig 
Bekanntmachungen  verzeichnet,  da  wird  also  manches  verloren  sein, 
ohne  daß  die  angestrengten  Bemühungen  des  Autors  die  Spur  da- 
von finden  konnten:  aber  was  hier  geboten  wird  ist  trotzdem  er- 
staunlich viel.  Herr  Berger-Levrault  hat  sich  durch  diese  Publika- 
tion ein  wesentliches  Verdienst  um  die  Forschung  auf  dem  Gebiet 
der  Geschichte  Frankreichs,  im  Besonderen  aber  des  Elsaß  und  vor 
allem  der  Stadt  Straßburg  erworben  und  zugleich  dem  Andenken 
seines  Hauses  und  dem  straßburger  Bürgertum  Überhaupt  ein  un- 
vergleichliches Denkmal  gesetzt.  Der  rechte  Dank  aber  wird  ihm 
abgestattet  werden,  wenn  die  Specialforschung  dies  Httlfsmittel  nun 
ausgiebig  benutzt  und  wo  dies  möglich  ist  ergänzt 

Straßburg  i.  E.  Dr.  G.  Kaufmann. 


FQr  die  Bodaktion  T«rantwortlich :   Prof.  Dr.  Bsehtd,  Direktor  der  OAtt.  gel.  Ans., 
ÄBsemor  der  Königlieben  OesellecliafI  der  WieaeneehafteB. 

Yerloff  dtr  J)iHmieh*9ehm  Ytrtagt-BueMumdlmiff, 

Drudt  dtr  IHämriek*aehm  Univ^'Buekdnidurei  (Fr.  W,  Koit^»). 


'm/itm^  . 


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1 


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\    /  241 


GöttingTsclie 


gelehrte  Anzeigen 


unter  der  Anfsicht 


derKönigl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Nr.  7.  g'ß  1.  April  1887. 


Preis  des  Jahrganges :  JL  24  (mit  den  >Nachrichten  d.  k.  G.  d.  Wiss.c :  JL  27). 
Preis  der  einzelnen  Nummer  nach  Anzahl  der  Bogen:  der  Bogen  60  ^ 

Inluat:  Yi scher,  Stadien  rar  Euutgeaobichte.  Von  Sgrirngm,  —  Tli  ode,  Franz  Ton  Assin 
md  die  Anfinge  der  Knnsl  der  Bennissnnce  in  Italien.  Von  JMib^rt  —  Berg  er,  Geechiclito  der 
wJMMisdhnttlichen  Krdlninde  der  Griechen.  I.    Von  Hwmmm, 

=  Eigeiinichtiger  Abdraok  von  Artikeln  der  Q8tt.  gel.  Anzeigen  verboten.  = 


Viecher,  Bobert,  Studien  zur  Kunstgeschichte.    Stuttgart,  Verlag  von 
Adolf  Bonz  &  Comp.  1886.    IX,  680  S.   8<>. 

Der  Verfasser  hat  vor  einiger  Zeit  in  einer  zornigen,  gegen 
Weltmann,  Janitschek  o.  a.  gerichteten  Streitschrift  das  Ideal  eines 
Ennsthistorikers  aufgestellt.  »Nar  ein  lebendiger  philosophisch  darch- 
klärter  Empirismos  wird  Dasjenige  erfassen,  was  eigentlich  ein 
Bildwerk  will,  was  der  Kunst  nnd  ihrer  Bewegung  zu  Grunde  liegt«. 
Daran  kntipfte  er  eine  herbe  Kritik  der  gegenwärtig  in  der  Kunst- 
gesehiehte  herrschenden  Methode.  Er  nennt  die  Forscher,  welche 
der  ästhetischen  Betrachtung  keinen  weiten  Baum  in  der  historischen 
Untersuchung  gönnen:  »Streblinge,  welchen  der  blaurote  Truthahn- 
klunker über  die  Nase  herabwächst  und  welche  wider  alles  kollern, 
was  bei  Mutter  Philosophie  in  die  Kost  gegangen  ist«;  er  schildert 
sie  weiter  als  »Affen  der  Kalendermacher,  Anstreicher  und  Traktat- 
schreiber  des  Mittelalters«.  In  dem  vorliegenden  Buche  ist  Vischer 
seinem  Programm,  aber  auch  seiner  Abneigung  gegen  die  exakte 
Knnstforschung  treu  geblieben.  Thausings  Dttrerwerk  erscheint  ihm 
»als  ein  trauriges  Exempel  daftlr,  wie  sehr  in  der  Kunstgeschichte 
einseitiges  Getttpfel  mit  äußeren  Merkmalen  und  faktischen  Umstän- 
den, advokatisch  klflgelnde  Zersetzung  und  Kombination  irreftihren 
kann.  Seine  Betrachtung  klebt  fast  durchweg  unfrei  am  Einzelnen, 
und  vermag  sieh  nicht  zur  Erfassung  von  Dttrers  Kunst  aufzu- 
lebwingen«.    Noch   schlimmer  fährt  Morelli,   »ein  russischer  Bilder- 

GMt.  «Ol.  Aas.  1887.  Nr.  7.  18 


242  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  7. 

keonerc  (!)  weg.  »Er  stößt  dnrch  geschwätzige  salbungsvolle  Eitel- 
keit ab  und  trägt  gegen  Aesthetik,  des  Beifalls  moderner  Eurzköpfe 
gewiß,  ein  ironisch  wegwerfendes  Verhalten  zar  Schau,  ohne  zu 
wissen,  daß  er  damit  einen  unstatthaften  Mangel  an  Intelligenz  und 
Wissen  verrät«.  In  diesen  Klagen  über  die  angeblich  schroffe  Ein- 
seitigkeit der  gegenwärtigen  Kunstforschung  steht  der  Verfasser 
nicht  allein.  Sie  klingen  auch  sonst,  namentlich  bei  Theologen,  häufig 
an  und  gipfeln  in  dem  Bedauern,  daß  die  Kunstgeschichte  den  gei- 
stigen Qehalt  der  Bildwerke  nicht  genügend  hervorhebe,  nicht  tief 
genug  in  die  Seele  des  Künstlers  dringe.  Gustav  Portigs  »Ange- 
wandte Aesthetik«  geht  von  den  gleichen  Grundsätzen  aus  und  ver- 
folgt ähnliche  Zielpunkte  wie  Vischer.  Ob  wohl  immer  nur  böser 
Wille  oder  die  den  Kunsthistorikern  wiederholt  an  den  Kopf  ge- 
worfene Unwissenheit  ihr  zurückhaltendes  Wesen  gegenüber  der 
Aesthetik  verschuldet  haben?  Es  könnte  das  Beispiel  der  rein  po- 
litischen Geschichtschreibung  angerufen  werden.  Die  Kunstge- 
schichte steht  zur  Aesthetik  in  einem  verwandten  Verhältnisse,  wie 
die  Staatengeschichte  zur  Politik.  Der  früheren  engen  Verbindung 
folgte  eine  vollkommene  Trennung.  Wohl  muß  jeder  Historiker  po- 
litische Bildung  besitzen;  ihr  Erwerb  ist  eine  wesentliche  Voraus- 
setzung seiner  Thätigkeit  als  Geschichtsschreiber.  Er  läßt  aber 
nicht  seine  politische  Ueberzeugung  auf  sein  historisches  Urteil  be- 
stimmend wirken,  er  bescheidet  sich,  wahrhaftig  zu  erzählen,  wie 
die  Dinge  in  der  staatlichen  Welt  sich  ereigneten  und  entwickelten. 
Ranke  und  Sybel  standen  zu  einander  in  deutlich  ausgeprägtem  po- 
litischem Gegensatze.  Das  hinderte  aber  den  jüngeren  Mann  nicht, 
die  Methode  der  Geschichtsschreibung  von  dem  alten  Meister  anzu- 
nehmen, sich  als  dessen  Schüler  zu  bekennen.  Wenn  die  Kunstge- 
schichte in  unseren  Tagen  den  gleichen  Weg  einschlug,  auf  die 
wahrhaftige  Erzählung  den  Hauptnachdruck  legte  und  die  Zumutung 
von  sich  abwehrte,  außerdem  noch  zu  lehren  und  zu  bestimmten 
ästhetischen  Ansichten  zu  bekehren,  so  geschah  dieses  nicht  will- 
kürlich, aus  persönlicher  Laune,  sondern  weil  die  allgemeine  wis- 
senschaftliche Strömung  dazu  drängte.  Ob  dieselbe  im  Laufe  der 
Zeit  von  einer  anderen  wird  abgelöst  werden?  Darüber  mag  die 
Zukunft  entscheiden.  Eine  ewige  Geltung  der  jetzt  herrschenden 
Methode  behauptet  Niemand,  wohl  aber  muß  jedermann  zugeben, 
daß  ihr  die  Geschichtschreibung  große  Fortschritte  verdankt.  Und 
auch  die  Kunstgeschichte  hat  durch  den  Anschluß  an  die  strenge 
historische  Methode  viel  gewonnen.  Sie  gebietet  seitdem  über  eine 
stattliche  Beihe  gesicherter  Thatsachen,  welche  doch  auch  für  eine 
ästhetische   Betrachtungsweise   die    unabweisbare  Grundlage  bilden. 


Yischer,  Studien  zur  Eonstgeschichte.  243 

Das  früher  herrschende  Vertrauen  zur  ästhetischen  Leitung  warde 
vornehmlich  darch  zwei  Erfahrungen  erschüttert.  Unter  der  Firma: 
ästhetische  Würdigung  eines  Kunstwerkes  schmuggelten  sich  nur  zu 
hftnfig  zubillige  Eindrücke  einer  beliebigen  Betrachtung  in  die 
Kunstgeschichte  ein.  Stammen  solche  Herzensergüsse  von  einem 
wohl  unterrichteten,  geistreichen  Manne,  so  nimmt  man  sie  mit  Dank 
entgegen  und  liest  sie  mit  Vergnügen.  Das  ist  leider  durchaus  nicht 
immer  der  Fall.  Außerdem  aber  wird  durch  das  Vorschieben  sub- 
jektiver, der  augenblicklichen  Stimmung  des  Betrachters  entsprunge- 
ner Ansichten  der  historische  Standpunkt  leicht  verrückt  Bei  einem 
alten  Bildwerke  handelt  es  sich  in  erster  Linie  gar  nicht  darum, 
ob  es  uns  noch  heute  gefalle.  Gewiß  muß  dasselbe  auf  seinen 
künstlerischen  Gehalt  geprüft  werden.  Wir  fragen  nach  der  Ab- 
sicht und  dem  Ziele  des  Schöpfers,  forschen  nach  den  Mitteln,  mit 
deren  Hilfe  er  seine  Absicht  verwirklicht,  und  untersuchen,  ob  er  das 
Ziel  erreicht  oder  in  welchem  Maße  er  sich  demselben  wenigstens 
genähert  hat.  Wir  gehn  dabei  von  dem  überlieferten  oder  selb- 
ständig gefundenen  Gegenstande  der  Darstellung  aus,  stellen  die 
Form  fest,  welche  der  Gedanke  in  der  Phantasie  des  Künstlers 
empfängt,  verfolgen  die  Entwickelnng  des  Werkes  wenn  möglich 
vom  ersten  Entwürfe  bis  zur  endgiltigen  Gestalt,  wiederholen  im 
Geiste  gleichsam  den  ganzen  schöpferischen  Proceß.  Aus  dem 
Werke  heraus  bemühen  wir  uns  seine  ästhetische  Bedeutung  zu  er- 
fassen. Wir  spüren  dann  dem  Eindrucke  desselben  auf  die  Zeitge- 
nossen und  dem  Einflüsse  auf  die  Kunstgenossen  nach.  Fanden 
jene  ihre  Ideale  in  dem  Werke  wiedergegeben?  Haben  diese  in 
ihm  eine  neue  Seite  der  Auffassung  oder  Formgebung  erblickt,  wo- 
durch die  Kunst  in  andere  Bahnen  gelenkt  wurde?  Auf  diese  Art 
vorgehend,  legen  wir  an  den  Künstler  und  seine  Schöpfung  keinen 
fremden  Maßstab  an ;  wohl  aber  droht  die  Gefahr  einer  falschen  Be- 
urteilung, wenn  wir  von  Stimmungen  und  Strömungen  einer  ganz 
anderen  Zeit,  insbesondere  der  Gegenwart  den  Ausgangspunkt  neh- 
men. Der  Künstler  hat  nur  für  seine  Zeit  und  seine  Welt  gearbei- 
tet; das  darf  auch  die  ästhetische  Betrachtung  nicht  vergessen.  So- 
bald die  Aesthetik  das  Gebiet  der  allgemeinen  Gesetze  verläßt  und 
die  lebendige  künstlerische  Phantasie  zu  schildern  unternimmt,  er- 
scheint sie  einem  großen  Wechsel  und  Wandel  in  der  Beurteilung 
derselben  unterworfen.  Sie  formuliert  nicht  mehr  Grundsätze,  son- 
dern spricht  Ansichten  aus,  auf  welche  die  mannigfachsten  äußeren 
Umstände,  der  gerade  herrschende  Geschmack,  die  von  den  Künst- 
lern eingeschlagene  Richtung,  neue  Entdeckungen  u.  s.  w.  bedeuten- 
den Einfluß  üben.    Wie  wogte  nur  im  Laufe  der  letzten  Menschen- 

18* 


244  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  7. 

alter  die  ästfaetische  Wertschätzung  der  alten  Künstler  aaf  and  nie- 
der I  So  lange  die  Aesthetik  im  Banne  romantischer  Anschanangen 
stand,  galt  selbstverständlich  als  der  größte  Farbendichter  Correggio. 
Seitdem  die  realistische  Richtung  in  der  Malerei  siegte,  mußte  Cor- 
reggio den  Thron  an  Franz  Hals  und  Velasquez  abtreten.  Bekannt 
ist  auch  das  wiederholt  schwankende  Urteil  über  die  Praeraphae- 
liten  und  die  italienische  Kunst  des  siebzehnten  Jahrhunderts,  über 
die  Gothik  und  die  Benaissance,  von  dem  Preise  und  Tadel,  wel- 
cher abwechselnd  einzelne  Künstler  traf,  gar  nicht  zu  reden.  Aehn- 
liche  Schwankungen  zeigte  auch  die  ästhetische  Kritik  der  helleni- 
schen Kunst  gegenüber.  Man  kann  auf  solche  Beobachtungen  ge- 
stützt, die  Regel  aufstellen:  Die  ästhetische  Kritik  ist  solchen  Künst- 
lern und  Kunstwerken  der  Vergangenheit  am  günstigsten  gestimmt, 
welche  entweder  mit  der  gegenwärtigen  Richtung  zusammenhängen 
oder  von  dieser  unmittelbar  verwertet  werden  können.  Sie  ist  nicht 
notwendig  parteiisch  aber  gewöhnlich  subjektiv  gefärbt 

Der  Einwand,  daß  sich  diese  Klagen  vorwiegend  auf  einen 
Misbrauch  der  Wissenschaft,  auf  die  populäre,  von  Dilettanten  be- 
triebene Aesthetik  beziehe,  soll  gelten.  Aber  auch  das  Auftreten 
der  wissenschaftlichen  Aesthetik  bei  künstlerischen  Fragen  weckte 
einzelne  Bedenken.  Auf  das  Recht  wahrer  Spekulation  fußend  liebte 
sie  es,  die  Begriffe  als  selbstthätig  einzuführen.  Sie  ließ  bereits  im 
Kreise  derselben  alle  Bewegungen,  die  ganze  Entwickelung  der 
Schönheitswelt  sich  vollziehen.  Die  Geschichte  lieferte  nur  die  Bei- 
spiele des  inneren  Begriffslebens  und  gab  die  praktische  Probe  auf 
die  Richtigkeit  des  im  Reiche  der  Ideen  sich  abspielenden  Processes« 
Damit  steht  aber  die  Aufgabe  des  Historikers,  auf  dem  Boden  der 
greifbaren  Wirklichkeit  den  Gang  der  Dinge  zu  zeichnen,  aus  dem 
Zusammenwirken  realer  Faktoren  die  Entwickelung  der  Ereignisse 
zu  erklären,  in  argem  Widerspruche.  Die  lebendigen  Persönlich- 
keiten, welche  die  Bestrebungen  der  Zeitgenossen  kraftvoll  zusam- 
menfassen oder  mutig  in  neue  Bahnen  lenken,  kann  der  Historiker 
nicht  missen.    Ohne  Heroenkultus  gibt  es  keine  Geschichtschreibung. 

Das  sind  die  Hauptbedenken,  welche  gegen  die  Ansprüche  der 
Aesthetik^  der  Kunstgeschichte  den  Weg  zu  weisen  und  ihr  den 
Stempel  der  reinen  Wissenschaft  aufzudrücken,  erhoben  werden. 
Sie  entstammen  nicht  einem  grundsätzlichen  Hasse,  sondern  bittereOi 
im  Laufe  mehrerer  Menschenalter  gesammelten  Erfahrungen.  Sollte 
es  z.  B.  dem  Verfasser  der  »Studien  zur  Kunstgeschichte«  gelingen, 
diese  Bedenken  zu  heben,  sollte  er  sich  als  feinsinniger  Psychologe 
in  der  Schilderung  der  Künstlergestalten  bewahren  und  den  Beweis 
liefern,  daß  seine  Begriffsbestimmungen   nicht  den  Thatsacben  Ge- 


Vischer,  Studien  zur  Eonstgeschichte.  245 

wait  anthiin,  dieselben  vielmehr  in  ein  reines  Licht  stellen,  so  kann 
er  des  Dankes  aller  Kunsthistoriker  gewiß  sein.  Darauf  hin  haben 
wir  Vischers  Buch  zu  prüfen.  Leicht  macht  er  uns  das  Geschäft 
nicht.  In  einer  gelegentlichen  Bemerkung  ttber  E.  Gh.  Plancks  »(be- 
setz und  Ziel  der  neuen  Kunstentwicklunge  klagt  Yischer^  die 
Schrift  sei  schwer  zu  lesen.  Das  Gleiche  gilt  auch  von  seinen  Stu- 
dien. Vischer  steht  mit  seiner  Muttersprache  zuweilen  auf  recht  ge- 
spanntem Fuße.  Ein  akademisch  gebildeter  Mann  sollte  den  folgen- 
den Satz  doch  nicht  drucken  lassen:  »Es  waren  zuvOrderst  drei 
Meister,  welche  mit  voller  Macht  auf  ihn  einv^irkten  und  zur  Reife 
gelangen  ließen«.  Wenn  nicht  fehlerhaft,  so  doch  unklar  ist  die 
Konstruktion  des  Satzes:  »Stumm  hingegeben  glauben  wir  um  so 
inniger  zu  erfassen«.  Große  Schwierigkeiten  bereitet  dem  Leser  auch 
der  Umstand,  daß  dem  Verfasser  der  vorhandene  Sprachschatz  nicht 
genügt,  er  sehr  häufig  nur  in  neuen  oder  seltsamen  Wendungen  und 
Wortbildungen  den  richtigen  Ausdruck  fllr  seine  Meinungen  findet. 
Wir  stoßen  auf  ornamentiv,  Individuation,  Getheil  und  Getheilwerk 
der  menschlichen  Physis,  fremdendes  Antlitz,  inkräftig  erscheinende 
Gebilde,  gedrange  Beine,  knUppelhaft  verholperte  und  quallete  For- 
men, bäumige  Gestalten,  zügig  ausgreifende  Richtung  u.  s.  w.  Nie- 
mand bestreitet  einem  Schriftsteller  das  Recht  freier  Wortbildung. 
Dasselbe  wird  nur  an  eine  einzige  Voraussetzung  gebunden:  den 
Schein  der  Naturnotwendigkeit.  Der  Leser  muß  die  üeberzeugung 
gewinnen,  daß  er  es  mit  einer  urkräftigen  Persönlichkeit  zu  thun 
hat,  welche  sich  durch  die  Schranken  des  Sprachgebrauches  nicht 
hemmen  läßt  oder  daß  die  neuen  und  originellen  Gedanken  unwill- 
kOhrlich  auch  ungewöhnliche  Wortformen  schaffen.  Leider  gewinnen 
wir  aus  Vischers  Studien  nicht  diesen  Eindruck.  Gar  häufig  müssen 
wir  vielmehr  fragen,  ob  die  sonderbaren  Wendungen  und  Worter- 
findungen der  unmittelbare  Erguß  eines  kühnen  Originalgeistes  sind, 
oder  ob  nicht  vielmehr  nur  bekannte  ältere  Vorbilder  mühsam  nachge- 
ahmt werden,  ob  es  in  der  That  die  Notwendigkeit  erheischte,  die 
Ansichten  des  Verfassers  in  die  von  ihm  beliebten  Wortformen  zu 
kleiden  und  ob  endlich  durch  das  den  Urteilen  umgelegte  spekula- 
tive Gewand  die  Wissenschaft  der  Kunstgeschichte  eine  namhafte 
Bereicherung  erfahren  hat? 

Der  erste  Aufsatz,  zur  Kritik  mittelalterlicher  Kunst  betitelt, 
stellt  sich  die  Aufgabe  den  »Byzantinismus  im  gebräuchlichen  styl- 
kritischen Sinne  des  Wortes«  zu  erklären.  Unter  Byzantinismus 
wird  »der  extreme  Schematismus,  welcher  so  weite  Strecken  des 
mittelalterlichen  Kunstgebietes  beherrscht«,  verstanden.  Der  Ver« 
fasser  kehrt   demnach  zu  dem  Standpunkte  zurück,   welchen   Fr. 


246  Qött.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  7. 

Schlegel  und  Boisseräe  am  Anfange  des  Jahrhunderts  eingenommen 
hatten.    Aach  ihnen  galt   der  Byzantinismus   im  Mittelalter  vorherr- 
schend und   der  Mangel   an  Natürlichkeit  durch   das  Feierliche  und 
Strengwürdevolle   aufgewogen,   auch    sie   leiteten   den  im  Mittelalter 
herrschenden  Styl  von  oströmischen  Einflüssen  ab.     Ist  diese  histo- 
rische Ableitung,   die  Unterwürfigkeit   des  Mittelalters   unter  die  by- 
zantinischen Vorbilder   richtig?    Der   Verfasser   behauptet   diese! be, 
beweist  sie  aber  nicht.    Und   doch  wäre  eine  solche  Beweisführung 
in   Angesicht    der   gegenwärtig    vorherrschenden   entgegengesetzten 
Anschauungen  wohl  am  Platze  gewesen.    Einen  Satz  wie  folgenden : 
»daß  seit  dem  Bilderstreite  im  8.  Jahrhunderte  eine  starke  Einwan- 
derung von  oströmischen  Künstlern  in  Italien  stattfand,  ist  mehr  als 
wahrscheinliche  kann  selbst  der  Verfasser   nicht  als  ernsten  Beweis 
gelten  lassen.    Die  andere  Behauptung,  der  Byzantinismus  oder  der 
extreme  Schematismus   bilde  ein    Wahrzeichen   der   mittelalterlichen 
Kunst,    erinnert    an    den   Satz,   welcher   ehedem    in  populären  Ge- 
schichtsbüchern zu  lesen  war :  Die  politischen  und  socialen  Zustände 
im  Mittelalter  wurden  durch   das  Feudalwesen  bestimmt.     In  dieser 
allgemeinen  Fassung  ist  beides  falsch.     Um  dem  Byzantinismus  als 
dem  herrschenden  Princip  in  der  mittelalterlichen  Kunst  den  Schein 
der  Wahrheit  zu   verleihen,   werden  ganze  Reihen   kunsthistorischer 
Thatsachen  übersehen,    andere  willkürlich  ausgewählt  und    zusam- 
men gestellt.     Der  Verfasser   lehnt   sich   in  seiner  Schilderung  des 
byzantinischen  Styles  an  Semper  an.    Aber  dieser  scharfsinnige  For- 
scher beschränkt  ganz  richtig  die  »Flächenstereometriet  auf  die  lo- 
kal byzantinische  Kunst.    Für  die  »Malerei  des  Westens«  im  Mittel- 
alter  stellt   er   einen    principiellen    Gegensatz   fest.     Sie   tritt    »mit 
ihrem    ersten  Flügelschlage    instinktmäßig   ihren  alten  Kursus,  ihre 
frühere  plastische  Richtung  wieder   an«.     Dadurch  daß  Vischer   die 
Raumschranken  niederwirft,  raubt  er  seiner  stylkritischen  Betrachtung 
den  wissenschaftlichen  Wert. 

Um  den  Leser  in  den  Stand  zu  setzen,  sich  ein  selbständiges 
Urteil  über  Vischers  Studie  zu  bilden,  lassen  wir  den  Gedankengang 
des  Verfassers  in  seinen  eigenen  Worten  folgen.  Die  in  ihrer  Sinn- 
lichkeit unterbundene  Phantasie  fand  ihren  adäquaten  Ausdruck  in 
der  Mosaiktechnik.  Die  Feierlichkeit  und  statuarische  Gemessen- 
heit wurde  durch  die  Herwendung  der  Figuren  zur  Vorderansicht 
bedeutsam  gemacht  und  der  Charakter  feierlicher  Objektivität  der  so 
subjektiv  uns  zugewendeten  Gestalten  noch  durch  das  unpersönliche 
Gepräge  der  künstlerischen  Genesis  verstärkt.  (Der  Verfasser  will 
damit  sagen,  daß  der  Entwurf  und  die  technische  Ausführung  bei 
Mosaikbildern    wie  in  vielen  andern  Kunstgattungen  verschiedenen 


Yischer,  Stadien  zur  Kunstgeschichte.  247 

Händen  anvertraat  sind).  Die  höchste  Wirkung  erzielt  die  mnsivi- 
Bche  Kunst  da,  »wo  der  Bildschmuck  als  strenge  Folgerung  ans  dem 
architektonischen  Geftige  und  in  sich  selbst  architekturähnlich  er- 
scheint vermöge  der  hoch  einfachen  und  klaren  Gesetzmäßigkeit 
symmetrischer  Konstellation  und  einfachster  Gliederung  in  parallel 
untereinander  gereihte  Serien«.  Nachdem  uns  der  Verfasser  über 
das  Wesen  der  Mosaikmalerei,  Formalisierung  der  Menschengestalt 
nach  Analogie  des  Flachmusters,  aufgeklärt,  und  diesen  Zug  durch 
das  Citat  aus  Wilhelm  Busch:  »Die  bösen  Buben  von  Korinth  platt 
gewalzt  wie  Kuchen  sind«,  erläutert  hat,  versichert  er,  daß  auch  die 
eigentliche  Malerei  in  Wandbildern  und  Miniaturen  zur  selben  Zeit, 
schon  im  7.  Jahrhundert,  demselben  Geschmack  huldigte,  wobei  er 
nns  leider  die  doch  so  wünschenswerten  Belege  vorenthält,  und  stellt 
die  Vermutung  auf,  daß  die  Mosaizisten  auch  als  Wand-  und  Tafel- 
maler auftraten  und  Miniatoren  und  Emailtechniker  sich  ihrer  Muster 
bedient  haben  mögen.  Die  eingehende  Untersuchung  wenigstens  der 
Miniaturen  lehrt  bekanntlich  das  Gegenteil  und  beweist,  daß  sowohl 
die  byzantinische  wie  die  karolingisch-ottonische  Malerei  in  Aus- 
gangspunkt, Formengebung  und  Ziel  technisch  wie  künstlerisch  von 
der  Mosaikmalerei  verschieden  waren,  alles  andere  eher  als  eine 
Formalisierung  der  Menschengestalt  anstrebten.  Ebenso  beruht  es 
anf  einem  Irrtum,  wenn  der  Verfasser  behauptet,  daß  die  byzantini- 
niscbe  Malerei  in  dem  Zeitraum  zwischen  dem  9.  und  14.  Jahrhun- 
dert im  äußersten  Maße  unter  die  Herrschaft  der  Flächendekoration 
geraten  und  dem  Wesen  derselben  konform  geworden  sei.  Schon 
das  Zusammenfassen  von  fünf  Jahrhunderten  zu  einer  einheitlichen 
Periode  verrät,  daß  dem  Verfasser  die  mannigfachen  Strömungen, 
welche  neben  und  nach  einander  auftauchten,  unbekannt  geblieben 
sind.  Einzelheiten,  welche  zum  Widerspruch  reizen,  wie  die  über- 
treibende Behauptung  von  dem  Einflüsse  des  Schreibstyles ,  nament- 
lich des  irischen  auf  die  deutsche  Malerei,  der  sich  nur  in  der  Ini- 
tialenornamentik äußert,  die  Gegenüberstellung  der  am  Rheine  herr- 
schenden Richtung  und  der  Gemälde  in  —  S.  Gereon  zu  Köln,  die 
Schilderung  der  byzantinischen  Architektur:  »mehr  Princip  und  Maß- 
regel als  lebendige  Geberde,  gleichsam  mehr  strategischer  als  takti- 
scher Gewinne,  mögen  auf  sich  beruhen  und  nur  noch  der  ab- 
schließende Satz  hervorgehoben  werden,  in  welchem  die  Thatsache, 
daß  die  Natur  des  Stoffes  auf  die  künstlerische  Behandlung  einwirkt 
und  derselben  feste  Schranken  setzt,  in  folgender  Weise  gefaßt 
wird:  »Wenn  wir  als  Substrat  der  Kunst  den  von  ihr  verwendeten 
Stoff  ins  Auge  fassen,  so  können  wir  sagen :  Der  Byzantinismus  un- 
terwirft wie  alle  junge  Kunst  das  Bild   der  organischen  Gestalt  den 


248  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  7. 

Bedingungen  des  Anorganischen  und  läßt  sie  somit  halbwegs  blofl 
als  ein  Ding,  als  eine  Sache  erscheinen.  Verstehen  wir  anter  Sub- 
strat weiter  den  an  sich  schon  künstlerisch  geformten  Oegenstand, 
welcher  mit  einem  Anhang  verziert  wird,  das  örtliche  Unterlager,  so 
können  wir  den  Satz  aufstellen:  Die  menschliche  Qestalt  wird  dem 
GefUge  dieses  Substrates  stylistisch  angeformt,  so  daB  sie  also  halb- 
wegs bloß  dekorativ,  architektonisch,  keramisch,  verhäng-  und  tafel- 
artig, deckelhaffc,  kapselmäßig,  schlußgerecht  erscheintc.  Das  ist 
nach  Vischer  der  stylkritische  Begriff  des  Byzantinismus. 

Stützt  sich  der  Verfasser  in  dem  Aufsatze  über  die  mittelalter- 
liche Kunst  vornehmlich  auf  Hotho  und  Semper,  so  wählt  er  in  der 
Studie  über  Raphael  Crowe  und  Cavalcaselle  zu  Führern.  Er  belastet 
die  Kunsthistoriker  mit  dem  Vorwurfe,  »daß  ihnen  die  Frage  nach 
dem  Logos  und  Pnenma  in  Raphaels  Kunst  fast  ganz  abhanden  ge- 
kommen  sei,  sie  den  centralen  Geist  im  Umkreis  seiner  Leistungen, 
den  inneren  Raphael  Raphaels  nur  flüchtig  anstreifen«.  Der  Tadel 
würde  stärker  haften,  wenn  nur  der  Verfasser  selbst  sich  auf  kunst« 
historischem  Gebiete  mit  größerer  Sicherheit  bewegte.  Er  stellt  die 
Jugendentwickelung  Raphaels  so  dar:  Der  zehnjährige  Knabe  mag 
zu  Perugino  nach  Perugia  in  die  Lehre  gebracht  worden  sein.  Pe- 
ruginos  Einfluß  auf  seine  Entwickelung  war  offenbar  die  erste  und 
nachhaltigste.  In  Perugia  aber,  wird  zwei  Seiten  weiter  erzählt, 
stand  in  Abwesenheit  Peruginos  seit  c.  1495  der  »trockene«  Pintu- 
ricchio  der  Werkstätte  als  Geschäftsführer  vor.  Wie  steht  es  dann 
mit  dem  ersten  persönlichen  Einfluß  Peruginos?  Wieder  einige  Sei- 
ten weiter  werden  wir  belehrt,  daß  Timoteo  Viti,  wenn  nicht  Ra- 
phaels Lehrer,  so  doch  sein  bahnweisender  und  vorbildlicher  Ratgeber 
war.  Auch  des  Kunstkenners  harren  mannigfache  Ueberraschungen. 
Das  florentiner  Selbstbildnis  und  das  Frauenporträt  in  der  Tribuna 
atmen  etwas  vom  Geiste  bolognesisch-ferraresischer  Kunst  und  sind 
sicher  um  1500  entstanden.  Logos  und  Pneuma  in  Raphaels  Kunst 
lassen  sich  nach  dem  Verfasser  nur  durch  eine  »rege,  erfahrungs- 
reiche Wanderzeit«  erklären.  »Schon  zwischen  1499  und  1503 
dürfte  er  manchen  Ausflog  gemacht  haben,  jedoch  besonders  zwi- 
schen 1503  und  1508  war  sein  Leben  offenbar  ein  örtlich  wie  gei- 
stig hochbewegtes.  Aus  gewissen  Gründen  halte  ich  die  Hypothese 
für  geboten,  daß  er  Besuche  in  Florenz  und  Rom,  Bologna,  Ferrara, 
Padua ,  Orvieto ,  Monteoliveto,  Borge  S.  Sepolcro,  Castiglione  fioren- 
tino,  Cortona  machte  und  zwar  wohl  die  meisten  vor  dem  Jahre 
1504«.  Auch  nach  Venedig  läßt  Vischer  den  jugendlichen  Raphael 
reisen,  um  das  Breviarium  des  Kardinal  Grimani  zu  studieren  und 
aus  diesem  (vom  Verfasser  c,  1475    angesetzten)   niederländischen 


Vischer,  Studien  zur  Kunstgeschichte.  ^^ 

Prachtwerke  die  Anregangen  fttr  den  Petersburger  h.  Gtoorg  and  die 
Mttnchener  Mad.  Tempi  holen.  »Wollte  ich,  heiBt  es  S.  101>  alle  nur 
dem  Namen  nach  nennen,  welche  namentlich  in  der  Zeit  seiner  flo« 
rentiner  Periode  nachweisbar  auf  Raphael  einwirkten,  so  gäbe  es  ein 
ermüdend  langes  Begisterc.  Vischer  begnügt  sich  daher  mit  der 
Nennnng  Masaceios,  Leonardos  and  Fra  Bartolomeos  und  hebt  nur 
die  Änregangen  hervor,  welche  Raphael  von  der  antiken  Plastik  and 
den  Sknlptaren  eines  Ghiberti,  Donatello,  Robbia,  Andrea  Sansovino 
n.  a.  empfieng.  Wir  fragen  nicht,  wie  sich  der  Verfasser  eigentlich 
den  Bildnngsgang  eines  einfachen  Malerlehrlings  and  Gesellen  am 
Ende  des  15.  Jahrhunderts  denkt,  ob  diese  Stadienreisen  kreuz  und 
quer  durch  Italien  nicht  allzustark  an  moderne  Touristenfahrten  er- 
innern — ,  ob  es  glaublich  ist,  daß  ein  unbekannter  junger  Mensch 
im  Hause  eines  Eirchenftlrsten  gemächlich  dessen  Bflcher  durch- 
blätterte? Wohl  aber  mttssen  wir  die  Forderung  stellen,  daft  diese 
Datzendeinflflsse  auch  im  Einzelnen  nachgewiesen  werden.  Crowe 
and  Cavalcaselle  schienen  in  der  Einflaßtheorie,  welche  die  künstleri- 
sche Individualität  vollkommen  verflüchtigt,  bereits  das  Menschen- 
mögliche geleistet  zu  haben.  Hier  werden  sie  aber  noch  weit  über- 
troffen. In  demselben  MaAe  maß  sich  auch  der  Widerspruch  gegen 
ein  solches  Verfahren  verschärfen.  Es  genügt  durchaus  nicht,  daß 
man  sich  auf  »gewisse  Gründe«  beruft  oder  auf  allgemeine  Aehn- 
Uchkeiten  hinweist.  Die  sogenannte  Balgzoologie  hat  in  früheren 
Zeiten  auf  Grund  allgemeiner  äußerer  Aehnlichkeiten  die  Gattungen 
and  Arten  der  Tiere  zusammengestellt.  Erst  als  man  von  dieser 
Methode  abgieng,  die  innere  Verwandtschaft  im  Einzelnen  nachwies 
and  anschaulich  machte,  konnte  an  einen  wissenschaftlichen  Aufbau 
der  Zoologie  gedacht  werden.  Auch  in  der  Kunstgeschichte  gilt  es, 
den  gleichen  Fortschritt  anzubahnen.  Wer  den  Einfluß  eines  Künst- 
lers auf  die  anderen  behauptet,  von  dem  verlangen  wir,  daß  er  die 
besonderen  Beziehungen  im  Einzelnen  darlege,  wie  sich  Gestalt  mit 
Gestalt,  Gruppe  mit  Gruppe  deckt,  die  Zeichnung  in  diesem  oder 
jenem  Teile  wiederholt,  überzeugend  uns  vorführe.  Wir  fordern  fer- 
ner Gewißheit  darüber,  ob  nicht  die  Verwandtschaft  auf  einer  ge- 
meinsamen Tradition  beruhe,  ob  nicht  der  Gegenstand  der  Darstellung 
eine  Aehnlichkeit  der  letzteren  von  selbst  schon  bedinge.  Wenn 
%.  B.  Vischer  behauptet,  der  Petersburger  h.  Georg  sei  von  einer 
Miniatur  in  Brevier  Grimanis  abhängig  und  stimme  mit  der  letzteren 
blähst  anffallend  überein,  nur  der  Mantel  wäre  anders  geworfen,  das 
Pferd  anders  gewendet,  die  Königin  anders  gestellt,  der  Drache  an- 
ders gezeichnet,  der  Hintergrund  anders  entworfen,  der  Lanzenstoß 
anders  geführt,  so  verwechselt  er  einfach  die  Aehnlichkeit  der  Schil- 


250  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  7. 

derung,  welcbe  ans  der  Gleichheit  des  Gegenstandes  entspringt,  mit 
der  Verwandtschaft,  welche  aaf  dem  Einflasse  eines  Bildwerkes  anf 
das  andere  beruht.  Alle  Darstellangen  des  Ritter  Georg  müssen  un- 
ter sich  eine  gewisse  Aehnlichkeit  aufweisen.  Wie  schwankend 
solche  Annahmen  von  künstlerischen  Einwirkungen  sind,  ersiebt  man 
daraus,  daß  Crowe  und  Galcaselle  den  h.  Georg  Raphaels  mit 
einem  Relief  Donatellos  in  Zusammenhang  bringen. 

Vischer  führt  noch  ein  zweites  Beispiel  von  künstlerischen  Wech- 
selbeziehungen an.  Er  leitet  die  Gruppe  der  knieenden  Jünglinge 
hinter  dem  Papste  Gregorins  in  der  Disputa  und  die  Zuschauer  aaf 
dem  Pfeilersockel  in  der  Heliodorfreske  von  Paduaner  Reliefs  Dona- 
tellos ab.  >Die  urwüchsige,  heiß  gährende  Leidenschaftlichkeit  Do- 
natellos muß  Raphaels  schlummernden  Sinn  für  Dramatik,  fttr  feste 
energische  Befeuerung  und  Spannung  der  szenischen  Organe  vne 
Feuerlärm  wachgerufen  haben«.  Nun  stellt  [sich  die  Sache  bei  ge- 
nauerer Vergleichung  so  dar,  daß  nur  die  aligemeinen  Motive  über- 
einstimmen, alle  Einzelheiten :  Haltung,  Bewegung,  Wendung  der 
Köpfe,  Zeichnung  der  Leiber  u.  s.  w.  abweichen.  Das  allgemeine 
Motiv  wurde  aber  schon  durch  den  Gegenstand  der  Darstellung  unmittel- 
bar gegeben.  Wenn  man  Raphael  nicht  einer  jämmerlichen  Gedan- 
kenlosigkeit beschuldigen  will,  so  muß  man  anerkennen,  daß  er,  so- 
bald ihm  die  bestimmte  Aufgabe  vorlag,  von  selbst  auf  die  erwähn- 
ten Gruppen  kommen  mußte. 

In  dem  einen  Falle  schildert  Raphael  das  Wunder,  welches  sich 
im  Vorräume  des  Tempels  ereignete.  Staunen  und  Schrecken  mit 
Neugierde  gemischt  bemächtigt  sich  des  Volkes,  als  es  den  himmli- 
schen Reiter  gegen  den  Tempelräuber  anstürmen  gewahrt.  Diesen 
Wiederschein  der  Handlung  breiter  auszumalen  bildete  die  Aufgabe 
des  Künstlers  und  zwar  mit  Rücksicht  auf  den  gegebenen  Ranm. 
Da  der  Volkshaufe  nicht  in  die  Handlung  eingreift,  mußte  Raphael 
denselben  etwas  zur  Seite  schieben.  Aus  der  Nebenhalle  drängen 
sich  Menschen  heran,  die  Pfeiler  und  Säulen  der  Halle  gewähren 
den  Geängstigten  Schutz.  Was  lag  da  näher,  als  einzelne  der  Kühn- 
sten und  Neugierigsten  noch  über  der  Frauengruppe  anzubringen, 
welche  den  Sockel  emporkletterten,  an  der  Säule  sich  halten  (was 
sie  bei  Donatello  nicht  thun)  und  auf  diese  Weise  rascher  den 
Ueberblick  über  die  Scene  gewinnen?  Gerade  so  ist  in  der  Disputa 
die  Gruppe  der  Knieenden  durch  die  Komposition  bedingt.  Die 
Stimmung  der  Hauptfigur  (h.  Gregorius)  verlangt  notwendig  eine 
verwandte  Umgebung,  die  andächtige  Begeisterung  in  der  Haupt- 
person mußte  in  den  nächsten  Nebenpersonen  nachklingen.  So  er- 
scheinen die  knieenden  Jünglinge  als   ein  untrennbarer  Bestandteil 


Yischer,  Stadien  zur  Kanstgeschicbte.  251 

der  Gedankenreihe,  welche  wir  bei  Raphael  lebendig  and  klar  ge- 
faßt voranssetzen  rnttssen,  als  er  an  das  Werk  schritt.  In  der  That 
lernen  wir  die  Grnppe  bereits  auf  der  vom  Verfasser  nicht  erwähnten 
Windsorzeichnung,  einem  der  frühesten  Entwürfe  zur  Disputa,  ken- 
nen, aber  erst  nur  im  Keime;  auf  dem  bekannten  Blatte  im  Städel- 
schen  Museum  ist  sie  dann  reicher  entwickelt,  mit  ihrer  Umgebung 
in  einen  noch  engeren  auch  formalen  Zusammenhang  gebracht  wor- 
den. Dieses  langsame  stetige  Wachsen  des  Motivs  weist  darauf 
hin,  daft  es  selbständig  der  Phantasie  des  Künstlers  entstammt  und 
nicht  aus  einem  fremden  Werke  mechanisch  herübergenommen  wurde. 

In  diesen  beiden  Fällen  deutet  der  Verfasser  die  Richtung  des 
von  ihm  behaupteten  Einflusses  genau  an  und  macht  dadurch  eine 
sachliche  Erörterung  möglich.  Wenn  er  in  anderen  Fällen  sich  mit 
dem  Bekenntnisse  begnügt,  dieses  Werk  und  dieser  Meister  wecke 
in  ihm  Erinnerungen  an  jenes  Werk  und  an  jenen  Meister,  so  setzt 
er  einer  ruhigen  Verständigung  die  engsten  Grenzen.  Jedermann 
weiß  aus  täglicher  Erfahrung,  wie  schwankend,  trügerisch  und  von 
Zufälligkeiten  abhängig  solche  Erinnerungen  sind.  Sollte  die  Vorliebe, 
ans  allgemeinen  Aehnlichkeiten  auf  den  Ursprung  eines  Werkes  zu 
schließen,  die  Berufung  auf  mehr  oder  weniger  dunkle  und  unklare 
Erinnerungen,  sich  noch  weiter  steigern,  so  werden  die  Vertreter  der 
anderen  Wissenschaften  als  Motto  für  kunsthistorische  Schriften 
wahrscheinlich  die  Unterredung  Hamlets  mit  Polonius  vorschlagen: 
Seht  ihr  die  Wolke  dort,  beinahe  in  Gestalt  eines  Kameeis?  — 
Beim  Himmel,  sie  sieht  auch  wirklich  aus  wie  ein  Kameel.  —  Mich 
dünkt,  sie  sieht  aus  wie  ein  Wiesel.  —  Sie  hat  den  Rücken  eines 
Wiesels.  —  Oder  wie  ein  Walfisch?  —  Ganz  wie  ein  Walfisch! 

Vischer  ereifert  sich  gegen  die  »unsinnige  Annahme«  eines  un- 
bekannten Kunsthistorikers,  Raphael  sei  ein  eklektischer  Klassicist 
gewesen.  Empfangen  wir  aber  eine  andere  Vorstellung  von  Ra- 
phael, wenn  wir  wiederholt  von  den  vielen  »Bezugsquellen«  hören, 
welchen  er  »allerlei  wertvolle  Gestaltungsmotive  entnahm«,  von  dem 
»Amalgamieren  der  Errungenschaften  gewisser  Meister«,  von  der 
»Konsumtion  von  Anregungsfaktoren«  und  lesen,  daß  Raphael  »aus 
einem  tiefen  Bedürfnis  seiner  Natur  eine  gewisse  Einbegleichung 
der  distrakten  Intentionen  und  Methoden  vollbringt,  von  welchen 
die  Renaissance  bewegt  war«  ?  Allerdings  wird  die  Konsumtion  als 
eine  organische  bezeichnet  und  hervorgehoben,  daß  er  die  »Anre- 
gnngsstoffe  pflanzenhaft  gedeihlich  verarbeitete«.  Immer  bleibt  der 
Eindruck  stärkster  Abhängigkeit  von  fremden  Meistern.  Gerade  die 
reiche  Empfänglichkeit  Raphaels  legt  dem  Forscher  die  Pflicht  auf, 
auch  die   anderen  Seiten  in  seiner   Natur,  den  festen  Kern  dersel- 


252  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  r. 

ben  klar  darzulegen  und  ein  genaues  Bild  seiner  psyehologischen 
Entwickelnng  in  deutlichen  Linien  zu  zeichnen.  Was  uns  der  Ver- 
fasser in  dieser  Hinsicht  bietet,  reicht  nicht  ans.  Als  Merkmal  fttr 
die  florentiner  Periode  hebt  er  die  »leichte,  von  der  Erscheinung  in 
flüssigstem  Bapport  beseelte  Pinselschrift  hervor,  welche  immer  in 
wachem  Anschluß  den  gegebenen  Formen  folgt«.  Zum  tieferen  Ver- 
ständnis Raphaels  gelangen  wir  sodann  nach  der  Meinung  des  Ver- 
fassers durch  folgende  Sätze:  »Raphael  einigt  klassische  und  roman- 
tische Eunstideale,  antike  Göttersinnlichkeit,  platonischen  Hochsinn 
und  christliche  moderne  Gemtttsvertiefung«.  Es  glückt  Raphael  »bis 
zu  einem  gewissen  Grade  eine  Vermittlung  des  Eolorismus  mit  streng 
plastischer  Behandlung«.  »In  der  kühlen,  keuschen  Flut  der  kasta- 
lischen  Quelle,  im  zarten  Himmelsäther  seine  Gestalten  vom  Irdi- 
schen so  rein  zu  baden  und  so  streng  ins  Allgemeine,  ürbildliche 
zu  läutern  wie  ein  Phidias,  dies  konnte  bei  allem  Adel  nicht  seine 
Absicht  sein«.  Als  Grundeigenschaften  seiner  Kunst  erkennen  wir 
»die  seelenvolle  Natur  und  naturvoUe  Seele«.  Raphaels  Psyche  ist 
»hochgeartet,  edel,  wohlgethan,  von  normalem  Gleichmaß  in  sich 
selber,  genial  und  glücklich  organisiert«,  sein  künstlerisches  Verhal- 
ten« oifenäugig  und  ruhesam  schwebend«.  »Die  sixtinische  Madonna 
hinschwebend  aus  dem  Himmel  entzückter,  seliger  Anschauung  ist 
—  Raphael,  Symbol  seiner  Seele«.  Nur  die  in  der  letzten  Zeit  auf- 
tauchende Neigung  »zum  morphologischen  Folgern«  stört  zuweilen 
die  Wirkung.  Sonst  aber  läßt  sich  sein  Wesen  so  zusammenfassen: 
»Raphaels  warme  und  willktthrfreie  Subjektivität  schafift  wahre  Ob- 
jektivität.   Seine  klassische  Kunst  ist  lebendige  That«. 

Die  dritte  größere  stylkritische  Studie  ist  Dürer  gewidmet 
Der  Verfasser  holt  weit  aus.  Er  beginnt  mit  einer  Schilderung  der 
romanischen  Malerei,  leider  ohne  die  Denkmäler  zu  bezeichnen,  an 
welchen  er  seine  Beobachtungen  machte.  »An  dominierenden  Stellen, 
wie  inmitten  desTympanons  und  der  Concha  bleibt  noch  die  herge- 
brachte (byzantinische)  Zucht  bestehn,  aber  in  den  Seitenteilen  sehen 
wir  eine  so  zu  sagen  »geworfene  und  geschlenkerte,  schusselhafte 
Formengebung«.  Die  Ursachen  dieser  stylistiscben  Eigentümlichkeit 
findet  er  teils  in  den  Werkstätten  der  Miniatoren  und  Schreibezeich- 
ner, teils  im  Wesen  der  Erzgießerkunst  und  Freskomalerei.  Da  aber 
die  romanische  Malerei  sich  fast  ausschließlich  in  Miniatur-  und 
Fresko-  (Wand-)Malerei  bethätigt,  so  erfahren  wir  aus  Vischers  Dar- 
legung nur,  daß  die  Eigentümlichkeit  der  Miniatur-  und  Fresko- 
malerei durch  die  Miniatur-  und  Freskomalerei  bedingt  wurde.  Auch 
in  der  Formensprache  der  Gothik  findet  er  noch  sehr  viel  Byzanti- 
nisches, doch  spricht  uns  in  den  Heiligengestalten  ein  subjektives 


4 


Yischer,  Studien  zur  Kunstgescbichte.  253 

Ffiblen  an.  Er  erläatert  dieses  VerhältDis  darch  folgendes  Bild:  Es 
ist,  als  ob  der  emaillierte  Schild  des  byzantinischen  Himmels  trans- 
parent würde  nnd  liebeverwandte  Wesen  erblicken  ließe,  in  einem 
Strahlenmeere  bräntliche  Himmelsgestalten,  atmend  in  zarter  Jagend 
aber  erst  mit  nnerfaßlichem  verklärtem  Leibe«.  Den  Maßstab  zum 
Urteile  ttber  die  Eycksche  Schale  entlehnt  er  von  den  oberen  Ge- 
stalten des  Genter  AlUtres.  Den  Eindruck,  welchen  er  von  einem 
einzelnen  Werke  empfangen  hat,  generalisiert  er  nach  der  bei  ihm 
nun  einmal  herrschenden  Sitte  and  überträgt  ihn  in  die  begrifOiiche 
Form.  Nor  so  kann  man  die  Behanptang,  daß  die  Eycksche  Kunst 
schlicht  monamental  sei,  die  Oertlichkeit  von  ihr  als  »einbegleichen- 
der Schirm  und  Hort  der  heiligen  Scenenc  erfaßt  werde  nnd  daß  die 
deutsche  Malerei  »im  Unterschiede  von  der  flandrischen  Kunst   bald 

«.  mit  Vorliebe   bewegtere  Vorgänge  zu  schildern«  versuche,   erklären. 

Gehören  denn  Roger  von  der  Weyden,  Bouts  u.  a.  Niederländer  zur 

V  deotschen   Schule?    In    die  Nähe   Dtlrers   bringt   uns   endlich    die 

Schilderung  der  deutschen  Kunst  im  15.  Jahrhundert,  welche  der 
Verfasser  nicht  ganz  zutreffend  als  spätgothische  Kunst  bezeichnet. 
Diese  Benennung  deutet  immerhin  eine  Abhängigkeit  von  der  Ar- 
chitektur an,  welche  denn  doch  nicht  so  schlechtweg  von  der  Ma- 
lerei behauptet  werden  kann.  Das  15.  Jahrhundert  gehört  zu  den 
schwierigsten  Kapiteln  in  der  deutschen  Kunstgeschichte,  nicht  nur 
weil  noch  manche  Gebiete  hier  der  genauen  Durchforschung  harren, 
sondern  auch  wegen  seines  zwiespältigen  Wesens,  da  es  gleichzeitig 
den  Abschluß  einer  Kunstperiode  und  den  Anfang  eines  neuen 
Knnstlebens  bedeutet.  Diese  Schwierigkeiten  spiegeln  sich  auch  in 
der  Behandlung  deutlich  wieder,  welche  der  Gegenstand  in  den  Stu- 
dien erföhrt.  Daß  wir  hier  noch  häufiger  als  sonst  auf  dunkle 
Wendangeo,  wie  z.  B.  das  »Streben  nach  optischer  Polyphonic«  in 
der  Spätgothik,  die  »mit  dem  Fidelbogen  gezogenen  Konturen« 
stoßen,  bat  nicht  viel  za  sagen.  Der  Verfasser  kann  vom  Leser  ver- 
langen, daß  dieser  sich  in  seine  Ansdrucksweise  hineinlebe.  Ver- 
wirrend wirkt  aber  die  Sitte  Vischers,  seine  Eindrucke  in  einem 
Wortbilde  wiederzugeben  nnd  das  letztere  sodann  wie  einen  stren- 
gen Begriff  zu  fassen ,  von  ihm  zu  weiterer  historischer  Entwicke- 
lang den  anmittelbaren  Ausgangspunkt  zu  nehmen.  »Wir  finden, 
versichert  Vischer,  in  der  Spätgothik  gleichsam  den  stylisierten 
dentschen  Wald  und  seine  Seele:  das  Märchen.  —  Die  Erinnerung, 
daß  die  spätgothische  Phantasie  so  innig  mit  dem  Wald  zusammen- 
hängt, führt  uns  auf  das  gebräuchlichste  Material  altdeutscher  Kunst, 
auf  das  Holz,  auf  die  Tttchtigkeit  damaliger  Zimmerleute,  Schreiner^ 
Drechsler  und  Schnitzer«.    Darauf  folgt  unmittelbar  eine  Erörterung 


k 


2&4  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  7. 

der  »holzmäßigen  Richtung«,  welche  mit  der  malerischen  und  me- 
tallotechnischen  zusammen  die  Kunst  am  Ende  des  15.  Jahrhun- 
derts charakterisiert. 

Die  historischen  Thatsachen  in  Dürers  Leben  werden  nur  kurz 
berührt.  Von  einem  der  groben  Gesellen  Wohlgemuths  »dürfte« 
Dürer  in  die  Kunst  Schongauers  eingeführt  worden  sein.  Außer 
Schongauer  übte  dann  der  Amsterdamer  Meister  von  1480,  »offenbar 
ein  Rheinschwabe,  welcher  von  der  Schongauerschen  Tradition  aus- 
gieng«  den  größten  Einfluß  auf  den  Jüngling.  Man  muß  annehmen, 
daß  Dürer  im  Jahre  1795,  also  sehr  bald  nach  seiner  Hochzeit  eine 
kurze  Reise  nach  Venedig  unternommen.  Diese  Anführungen  mögen 
genügen.  Von  größerem  Gewichte  sind  gewiß  auch  in  den  Augen 
des  Verfassers  die  stylkritischen  Ausführungen.  Er  läßt  sich  dabei 
von  dem  Grundsatze  der  »stofflichen  Metamorphose  der  Phantasie« 
leiten.  Das  Material,  welches  der  Künstler  bearbeitet,  erscheint  als 
Zug  in  seiner  Phantasie  wieder,  bekundend  daß  »wir  ein  Auszug 
aller  Kräfte  sind«;  der  Geist  nimmt  die  Natur  des  Stoffes,  mit  wel- 
chem er  sich  beschäftigt,  an.  Daher  spricht  Vischer  von  einer  »Me- 
tallphantasie« bei  Pollajuolo  u.  a.  Auch  Dürer  besitzt  dieselbe. 
»Die  Bearbeitung  der  Metallfläche  mit  dem  Stichel  weckt  in  ihm 
eine  qualitativ  übereinstimmende  Kraft  gediegenster  Verarbeitung. 
Der  Reiz  seiner  Stiche  ist  ein  metallischer  in  dem  übertragenen  Sinn 
der  Spiegelung  menschlichen  Wesens  im  rein  Formalen  und  Anor- 
ganischen. Das  in  ihnen  enthaltene  Künstlertum  gemahnt  selber  so 
gedrang  und  schneidig  wie  Erz  und  Eisen«.  Vischer  führt  noch 
weitere  Beispiele  der  stofflichen  Metamorphose  an.  —  In  dem  Stiche 
des  Einhorn,  dessen  Kopf  »eine  urgründliche  Feuergewalt  verkündet«, 
hat  Dürer  »den  antediluvianischen  Granitgehalt  seiner  eigenen  Ge- 
nialität an  den  Tag  gelegt«.  Wenn  er  Roßschweife,  Vogelschwingen 
besonders  Adlergefieder  zeichnet,  so  feiert  seine  Phantasie  die  »ho* 
mogensten  Triumphe«.  »Das  Adlergemüt  altdeutschen  Wesens  ist  ihm 
selber  eigen«.  Persönlich  sprechen  wieder  in  anderer  Weise  ein- 
zelne Zeichnungen  und  Holzschnitte  zu  uns.  »Das  Eichenknorrige, 
Bemooste,  Rindenmürbe,  Föhrenmilde  seiner  Linienführung  hat  etwas 
Väterliches«.  Aber  auch  eine  lederne  Phantasie  muß  Dürer  zuge- 
sprochen werden.  Nürnberg  war  nach  Vischers  Untersuchungen  ein 
»höheres  Reutlingen  mit  ziemlich  großem  Gerber  viertel,  wo  es  stark 
nach  Loh  riecht  und  man  ein  sonderliches  Gefallen  an  Wasserstiefeln, 
Schweinslederfolianten,  Dudelsäcken,  ledernen  Strümpfe  u.  dgl.  hat«. 
»Dürers  angeborene  und  namentlich  in  Verbindung  mit  dem  Hand- 
werk der  Holzschneider  erstarkte  Art  treibt  zu  diesem  ihr  genehmen 
Stoffgepräge   hin«.     Auch   seine   Kreidezeichnungen   »enthalten   oft 


Vischcr,  Studieu  zur  Eunstgescliiclite.  255 

darcbweg,  selbst  im  Nackten  einen  Anklang  an  zerfeuchtetes  Leder 
oder  Bchrnndigen  Feaerschwamm«.  Das  Wort  »Anklang«  weckt  im 
Verfasser  einen  neuen  Gedankenkreis.  £r  nennt  solche  Wiedergabe 
des  zerfencbteten  Leders  »Baßgeigenstreiche« ,  im  Gegensatze  zu 
»fein  gezogenen  Violintönen«,  durch  welche  »die  vornehm  flatternde 
Bewegtheit«  von  Seide  und  Leinwand  ausgedrückt  wird. 

Von  dieser  »Stoffsinnigkeit«  Dürers  läßt  aber  der  Verfasser  doch 
auch  Ausnahmen  gelten.  Als  Dürer  in  dem  Kupferstiche:  das  große 
Pferd  »den  latschigen  Viechkerl  in  grotesk  antikisierender  Rüstung 
gezeichnet  hatte,  mag  er  sich  mit  kindlichen  Freudeblicken  gesagt 
haben:  Das  ist  ein  netter  Kerl!«  Hier  findet  also  keine  stofiQiche 
Metamorphose  der  Phantasie  statt,  sondern  der  Künstler  steht  frei 
und  unabhängig  dem  Gegenstande,  dem  latschigen  Viechkerl  gegen- 
über, ohne  seine  Natur  anzunehmen. 

Nachdem  Vischer  festgestellt,  daß  Dürers  Kunst  »aus  einem 
schwungvollen  Schweifen,  aus  spontanem  Flugspielen  des  inneren 
Sinnes«  hervorgegangen  ist  und  daß  das  »Ineinanderspielen  von  Le- 
benstreue und  abstrakter  Ornamentalisierung«  ihn  (wie  Veit  Stoß) 
charakterisiere,  wirft  er  die  Frage  auf,  wer  wohl  der  eigentliche 
Lehrer  Dürers  gewesen  sei?  Die  Antwort  wird  am  Schlüsse  einer 
längeren  Studie  über  Wohlgemut  gegeben.  Dürers  erster  Lehrer 
war  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  ein  Unbekannter.  Von  Wohlge- 
muth hat  er  nur  »einen  starken  sensorischen  Einfluß«  erfahren. 
Zahlreiche  Vermutungen  werden  aufgestellt,  um  dem  großen  X.  auf 
die  Spur  zu  kommen.  Keine  bringt  aber  auf  die  richtige  Fährte.  Der 
Verfasser  hätte  sich  viel  Mühe  sparen  können,  wenn  er  von  dem 
Satze  ausgegangen  wäre,  welchen  er  resigniert  am  Schluß  der  Studie 
ausspricht;  »Das  Beste  zu  Dürers  Entwickelung  konnte  nur  dieser 
selbst  gethan  haben ;  das  eigentliche  Wesen  der  Kunst  läßt  sich 
nicht  lehren«.  Jeder  Unbefangene  weiß,  daß  Dürer  vor  seiner  er- 
sten italienischen  Reise  nur  eine  handwerkmäßige  Ausbildung  em- 
pfangen hatte,  seine  künstlerische  Bichtung,  welcher  er  sodann 
zeitlebens  treu  blieb,  zuerst  durch  die  Kunde  von  den  richtigen 
Maßen  und  Verhältnissen  bestimmt  wurde. 

In  dem  Aufsatze  über  Wohlgemuth  und  den  folgenden  Studien 
betritt  der  Verfasser  das  engere  Gebiet  der  Kunstkritik  und  Kunst- 
geschichte. Auch  hier  regen  sich  gegen  einzelne  Behauptungen  und 
gegen  die  Methode  Bedenken.  Aus  der  Angabe,  daß  ein  Wohlge- 
muth 1451  am  Ulmer  Dome  arbeitete,  folgert  er  Beziehungen  des 
Nürnberger  Michael  Wohlgemuth  zu  Ulm.  Der  Umstand,  daß  ein 
Schwager  des  Hans  Schühlein  in  Nürnberg  als  Maler  ansäßig  war, 
wird  benutzt,  um  die  behauptete  Styl  Verwandtschaft  zwischen  Wohl- 


256  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  7. 

gemath  und  Schüblein  erklären  zn  helfen.  Solche  grandiose  Ver- 
matangen  bilden  doch  nimmermehr  die  richtigen  Bausteine  za  einer 
wissenschaftlichen  Kunstgeschichte.  Ebenso  sträubt  sich  die  beson- 
nene Forschung  einen  im  J.  1522  thätigen  tiroler  Maler  ohne  wei- 
teres zum  Schüler  des  1474  verstorbenen  Squarcione  zu  stempeln. 
Die  Freude  an  Hypothesen  kommt  auch  in  der  kritischen  Schilde- 
rung der  tiroler  Kunst  stark  zum  Vorschein.  Dieselben  lassen  sich, 
wie  billig  zugegeben  wird,  nicht  völlig  vermeiden ;  nicht  minder  häufig 
muß  man  in  einem  Lande,  in  welchem  sich  zwei  große  Volksstämme 
berühren  und  kreuzen^  auf  Einflüsse  mannigfacher  Art  stoßen.  Wenn 
nun  aber  behauptet  wird,  daß  die  Tiroler  Kunst  im  Zeitraum  von 
1470  bis  1530  einerseits  unter  dem  Einflüsse  von  Squarcione,  Man- 
tegna,  Cossai  den  Vivarini  und  Bellini,  Liberale  di'  Jacomo,  Pisa- 
nello  und  anderen  Veronesen,  von  Verrocchio,  Leonardo  stand,  anderer- 
seits die  Einwirkung  von  Schühlein,  Zeitblom,  Strigel,  Schaffner, 
Burgkmair,  Giltlinger,  Muschgat,  Baidung,  Grien,  Schäuffelin,  P.  Vi- 
scher,  Wolgemut,  Dürer,  Hans  von  Kulmbach,  Altdorfer,  Ostendorfer, 
Schoreel  erfuhr,  so  ist  dieses  Stelldichein  von  so  vielen  Italienern, 
Deutschen  und  Niederländern  auf  dem  doch  eng  begrenzten  Tiroler 
Boden  eine  so  außerordentliche,  in  der  Kunstgeschichte  einzig  da- 
stehende Thatsache,  daß  wir  dringend  den  Nachweis  dieser  bunt  ge- 
würfelten Einflüsse  wünschen  müssen.  Der  Verfasser  begnügt  sich 
leider  nur  mit  einer  summarischen  Angabe  derselben.  Er  nennt 
z.  B.  die  Gemälde  in  der  Pfarrkirche  zu  Terlan  (aus  dem  16.  Jahr- 
hunderte?) bald  »ziemlich  giotteskc^  bald  »hoch  giotteskc,  findet 
eben  dort  Anklänge  an  Spinello  Aretino,  weist  aber  gleichzeitig  auf 
Altichieri  und  d'Avanzo  hin,  er^  charakterisiert  ein  Bild  in  der  Angs- 
burger  Gallerie,  welches  der  älteren  Augsburger  Schule  bisher  zuge- 
schrieben wurde,  also:  »tirolisch,  entfernte  Beziehung  zum  Meister 
M.  R.,  vorn  knieender  Apostel  filippes  K.<,  ein  anderes  Gemälde 
ebendort :  »tirolisch ,  das  dicknäsige  Gesicht  der  Madonna  erinnert 
an  Gossa;  ihr  Gewand  ist  noch  ziemlich  vaneyckischc  u.  s.  w.  Die- 
ses genügsame  Anrufen  subjektiver  Eindrücke  und  beiläufiger  Erin- 
nerungen verringert  gar  sehr  die  wissenschaftliche  Brauchbarkeit  der 
Bilderbeschreibungen.  Vielleicht  legt  der  Verfasser  selbst  keinen 
großen  Wert  auf  seine  historischen  Specialarbeiten.  Aber  auch  in 
Bezug  auf  die  stylkritischen  Abhandlungen  muß  man  bei  allem  Wohl« 
wollen  für  den  Verfasser  und  alier  Anerkennung  seines  Fleißes  be- 
kennen, daß  er  seine  Absicht,  zwischen  der  Kunstgeschichte  und  der 
spekulativen  Aesthetik  eine  feste  Brücke  zu  schlagen,  nicht  er- 
reicht hat. 

Leipzig.  Anton  Springer. 


Thode ,  Franz  von  Assisi  a.  d.  Anfänge  d.  Kunst  d.  Renaissance  in  Italien.    257 

Thode,  Henry,  Franz  von  As  sisi  and  die  Anfänge  der  Kunst  der 
Renaissance  in  Italien.  Mit  Illustrationen.  Berlin,  G.  Grotesche  Ver- 
lagsbuchhandlung 1885.    Xn,  57S  S.    8^ 

Die  italieDische  Kunst  des  15.  und  der  ersten  Hälfte  des  16. 
Jahrbunderts,  die  Kunst  der  Renaissance,  hat  ihre  Warzeln  and 
Keime  in  den  beiden  vorangegangenen  Jahrhunderten.  Diesen  An* 
fangen  jener  großartigen  Kunstblttte  nachzugehn,  bietet  einen  un- 
gemeinen Reiz,  zu  gleicher  Zeit  aber  auch  große  Schwierigkeiten. 
Der  Reiz  der  Aufgabe  springt  sofort  ins  Auge,  sobald  man  erwägt, 
daß  es  sich  hier  um  die  Erforschung  der  frühesten  Aeußerangen 
einer  später  zur  höchsten  Vollendung  gediehenen  Entwickelung  han- 
delt. Die  Schwierigkeiten  aber  sind  von  mancherlei  Art:  hier  gilt 
es  den  noch  unscheinbaren  Keim  des  neuen  Lebens  mitten  in  der 
innerlich  absterbenden,  aber  äußerlich  noch  mit  Wucht  auftretenden 
älteren  Kanstweise  aufzusuchen;  dort  sind  diejenigen  Momente  in 
den  der  Kunst  benachbarten,  aber  auch  in  scheinbar  weit  abliegen- 
den Gebieten  des  übrigen  Kulturlebens  zu  erforschen,  welche  auf 
die  Entstehung  und  Fortentwickelung  des  neuen  Kunstideales  ein- 
gewirkt haben.  Dazu  kommt,  daß  wir  von  den  persönlichen  Ver- 
hältnissen der  Künstler  des  13.  und  14.  Jahrhunderts  nur  geringe 
Kunde  haben  und  mithin  die  Oefahr  nahe  liegt,  daß  beim  Erläutern 
der  Entstehung  ihrer  Werke  die  Individualität  der  Urheber  nicht 
zur  Genüge  in  Rechnung  gebracht  wird ;  macht  doch  so  mancher  an 
sich  gewiß  gerechtfertigte  Versuch,  den  Einfluß  allgemeiner  Kultur- 
verhältnisse  auf  die  Entstehung  eines  Kunstwerkes  zu  ergründen  und 
darzustellen,  den  Eindruck,  als  meinte  der  Forscher,  er  könne  und 
müsse  das  betreffende  Werk,  so  daß  kein  Rest  übrig  bleibe,  als  ein 
Produkt  jener  Verhältnisse  erklären. 

Henry  Thode  hat  die  Kunst  der  werdenden  Renaissance,  so- 
weit sie  zu  Franz  von  Assisi  und  dem  von  ihm  begründeten  Orden 
in  Beziehung  steht,  zum  Hauptgegenstande  seiner  Darstellung  ge- 
macht, nur  hier  und  da  werden  auch  Ausblicke  in  das  15.  und  16. 
Jahrhundert  gethan. 

Das  Werk  zerfällt  in  zwei  Teile,  deren  erster  ein  Lebensbild 
und  eine  Charakteristik  des  Franciskus  bietet,  sowie  seinen  Einfluß 
auf  die  Malerei,  Skulptur  und  Architektur  in  Italien  schildert,  wäh- 
rend der  zweite  von  dem  Franziskanertum  und  dessen  Bedeutung 
für  die  italienische  Kunst  handelt.  Ein  Anhang  enthält  neben  wich- 
tigem kunstgeschichtlichen  Material  eine  Kritik  der  Quellen  zur  Ge- 
schichte des  Franz. 

Thode  schildert  das  Leben  des  Ordensstifters  mit  nahezu 
glühender  Begeisterung  für   das  Wesen   desselben.     Als  Grundlage 

QM.  gel.  Au.  1887.  Hr.  7.  19 


268  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  7. 

dieot  ihm  hauptsächlich  die  sogen.  »I.  vitac  des  Thomas  von  CeIanO| 
»die  (von  allen  frühen  Lebensbeschreibungen)  den  größten  Ansprach 
auf  Glaubwürdigkeit  hat  und  deren  Schreibweise  einfach  und  natür- 
lich istc. 

Ueber  der  Bewunderung  seines  Helden  vergißt  der  Verfasser 
nicht,  auf  die  Vorgänger  des  Franz  in  der  Verinnerlichung  des  re- 
ligiösen Lebens  sowie  in  der  Volkstümlichkeit  des  Wirkens  gegen- 
über den  damals  herrschenden,  »von  den  eigentlichen  Berufspflichten 
abziehenden  politischen  und  zugleich  weltlich  sinnlichen  Interessen 
der  Geistlichen«  hinzuweisen.  So  wird  er  namentlich  dem  Petrus 
Waldus  gerecht,  wie  er  denn  auch  einen  direkten  Einfluß  der  Wal- 
denser  auf  Franz  von  Assisi,  besonders  bezüglich  der  Auffassung 
von  dem  freien  Rechte  der  Predigt  der  heiligen  Schrift,  sehr  wahr- 
scheinlich gemacht  hat.  Auf  welche  Weise  diese  Einwirkung  statt- 
gefunden hat,  läßt  sich  freilich  nicht  mit  Sicherheit  angeben,  aber 
der  Verfasser  entnimmt  seinen  Quellen  einen  Fingerzeig  dafür: 
stammte  doch  die  Mutter  des  Franz  aller  Vermutung  nach  aus  dem 
Süden  Frankreichs,  stand  doch  der  Vater  in  Geschäftsbeziehung  zu 
diesem  Lande  und  ist  doch  von  dem  Sohne  bezeugt,  daß  er  gern 
»auf  gallisch  sang«,  was  ihm  wohl  auch  den  Beinamen  »Francesco« 
eintrug,   der   bald   seinen  Taufnamen  Giovanni  gänzlich  verdrängte. 

Trefflich  charakterisiert  der  Verfasser  die  Volkstümlichkeit  des 
im  tiefsten  Gemütsleben  wurzelnden  Wesens  seines  Helden.  »Weil 
Alles  Natur  in  seiner  Rede,  Alles  Empfindung  war,  und  diese  Em- 
pfindung aus  dem  reinsten,  von  Liebe  zu  Gott  und  den  Menschen 
überströmenden  Herzen  kam,  mußte  er  eine  Wirkung  auf  die  Zu- 
hörer ausüben,  die  wir  uns  gar  nicht  groß  genug  vorstellen  können«. 
»Franciskus  ist  durchaus  Gefühlsmensch.  Alle  seine  Empfindungen 
konnten  so  ursprünglich,  so  stark  und  einheitlich  sich  nur  geltend 
machen,  weil  sie  durch  keine,  Zweifel  anregende  Verstandeskritik 
schon  im  Entstehn  gehindert  wurden«.  .  .  »Sein  Leben  ist  ein 
großer  Dithyrambus  auf  das  Gefühl.  Darin  allein  liegt  die  Erklä- 
rung für  seinen  gewaltigen  Einfluß«. 

Dieses  gefühlsinnige  Wesen  des  Franciskus  tritt  in  besonders 
schlagendes  Licht  bei  einem  Vergleiche  mit  seinem  Zeitgenossen 
Dominikus.  Ueberans  treffend  hat  Dante  den  Unterschied  zwischen 
den  beiden  Ordensstiftern  im  11.  Gesang  des  Paradieses  bezeichnet, 
wo  geschildert  wird,  wie  Gott  der  Braut  Christi  (der  Ejrche)  zwei 
Führer  verordnet  habe:  »der  Eine  war  an  Gluten  ganz  seraphiscfai 
der  Andre  war  auf  Erden  schon  an  Weisheit  ein  Abglanz  von  dem 
Licht  der  Cherubimi.  Mit  Recht  dehnt  Hettner  (»Die  Dominikaner 
in  der  Kunstgeschichte  des  14.  nnd  15.  Jahrhunderts«,  in   den  Ital. 


Thode,  Franz  yon  Assisi  u.  d.  Anfange  d.  Kunst  d.  Renaissance  in  Italien.    259 

Studien  S.  99)  diesen  Gegensatz  aneb  auf  die  beiden  Orden  ans,  in* 
dem  er  sagt:  »Die  Franziskaner  traebten  nach  Innerlichkeit  and 
buAfertiger  Erwecknng ;  die  Dominikaner  nach  Festsetzung  und  Anf- 
rechterbaltung  der  strengen  Kirchenlehre  und  Eirchenzacht.  Die 
Franziskaner  sind  mystische  Schwärmer,  nnyergangliche  Andachts- 
lieder sind  von  ihnen  aasgegangen;  die  Dominikaner  sind  die  Mei- 
ster der  Scholastik  und  die  nnerbittlichen  Schergen  der  Inquisition«. 

Von  besonderer  Bedeutung  fflr  die  Frage  nach  dem  Einfluß  des 
Franziskus  auf  die  bildende  Kunst  ist  neben  der  Gefühlswärme  im 
Allgemeinen  seine  Liebe  zur  Natur.  Tiere,  Pflanzen,  Sterne,  Sonne 
und  Mond  waren  ihm  »Brttder  und  Schwestern«.  »In  der  ganzen 
Natur  sah  er  nur  den  Abglanz  der  Allmacht  und  Herrlichkeit  Got- 
tes«. Dem  einzigen  Liede,  welches  von  Franziskas  selbst  auf  uns 
gekommen,  dem  Gedichte  von  der  Sonne,  liegt  diese  Begeisterung 
tfXr  die  Natur  zum  Grunde.  Ein  wesentliches  Moment  in  der  sich 
allmählich  anbahnenden  Renaissance-Kunst  ist  aber  auch  ein  innige- 
res Verhalten  zur  Natur,  das  wachsende  Verständnis  fttr  dieselbe 
Wie  weit  ist  hier  die  bildende  Kunst  dem  Franziskus  zu  Dank  ver- 
pflichtet? 

Thode  faBt  in  dem  Kapitel:  »Franz  und  die  Kunst«  die  Seg- 
nungen zusammen,  welche  der  letzteren  durch  Franziskus  gebracht 
worden.  Er  teilt  uns  hier  bereits  die  Hauptergebnisse  der  dann  fol- 
genden Specialuntersuchungen  mit  Diesen  läßt  er  sodann  einen 
Sehlnßabschnitt  folgen,  dessen  kunstgeschichtliche  Betrachtungen  als 
eine  Ergänzung  des  oben  genannten  Kapitels  betrachtet  werden 
können. 

Des  Verfassers  Gedankengang  ist,  möglichst  mit  seinen  eigenen 
Worten  wiedergegeben,  in  Kürze  folgender: 

Franz  hat  den  geheimen  und  noch  verborgenen  Drang  der  Zeit 
zur  Natur  der  Menschheit  zum  Bewußtsein  gebracht,  er  hat  das  bis 
dahin  unter  geistiger  Bevormundung  gehaltene  individuelle  Gefühl 
befreit  und  ihm  für  alle  Zeiten  die  selbständige  Berechtigung  er- 
worben. Sein  Christentum  predigte  die  Gleichheit  der  Menschen  vor 
Oott  and  das  direkte  persönliche  Verhältnis  jedes  einzelnen  Men- 
schen zum  Schöpfer.  Die  Religion  der  Franziskaner  fand  als  Re- 
ligion des  Bürgertums  eine  dankbare  Aufnahme  in  den  Städten. 
Hand  in  Hand  sind  die  Bürger  and  Bettelmönche  mit  einander  groß 
geworden,  durch  sie  beide  auch  die  Kunst,  zwischen  Predigt  und 
Kunst  entwickelte  sich  die  innigste  Wechselbeziehung.  Durch  Fran- 
ziskas ward  der  Mensch  Christus  in  den  Vordergrund  gerückt. 
Indem  er  die  Geheimnisse  des  christlichen  Glaubens  in  den  natürli- 
chen Vorgängen  von  Christi  irdischem  Lebenswandel  veranschaulicht 

19* 


260  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  7. 

sab,  bat  er  den  alten  Stoff  der  cbristlicben  Legende  als  einen  gleich- 
sam ganz  neuen  der  Kunst  zugeführt.  Da  nun  Christus  als  leibli- 
cher Bruder  der  Vertraute  und  Freund  jedes  Einzelnen  geworden 
war,  konnte,  ja  mußte  auch  der  Künstler  ihn  als  solchen  in  der  er- 
habenen Einfalt  menschlicher  Natürlichkeit  schildern.  Da  malte 
dann  Giotto  seine  lebensfrischen,  ungezwungenen  Fresken  in  der 
Arena  zu  Padua  —  kurz,  erstand  die  Kunst  der  Renaissance.  Tos- 
kana, aber  auch  nur  dieses  wird  im  XIII.  Jahrhundert  der  Aus- 
gangspunkt der  neuen  Kunstbewegung.  Die  Lebenskraft  aber  der 
toskanischen  Kunst,  die  durch  Franz  bewegt  wird,  sich  zu  äußern, 
liegt  in  dem  starken  Gefühl  für  die  Natur.  Was  die  Antike  beige- 
tragen zu  der  Entwickelung  ist  nichts  als  eine  formelle  Anweisung 
und  praktische  Belehrung.  Fast  unbewußt  wenden  sich  die  ersten 
großen  Heister  der  Kindheitszeit  der  Kunst,  Niccolö  Pisano  und 
Giotto,  um  Rat  an  die  Denkmäler  des  Altertums,  ohne  doch  genü- 
gend darauf  vorbereitet  zu  sein,  aus  denselben  wirklich  großen 
Nutzen  ziehen  zu  können.  Mag  auch  im  Einzelnen  der  Bildhauer 
und  Maler  antiken  Vorbildern  manchen  praktischen  Hinweis  ver- 
danken, im  Großen  und  Ganzen  geht  er  doch  unbekümmert  in  der 
seit  dem  13.  Jahrhundert  vorgeschriebenen  Bahn  vorwärts,  bis  das  Ziel 
in  Raphaels  und  Michelangelos  Werken  erreicht  ist.  Was  aber  die- 
ser ganzen  Entwickelung  gemeinsam  ist,  eine,  Religion  und  Natur 
in  harmonischen  Einklang  setzende  Anschauung,  wurzelt  in  Franz 
von  Assisi.  Malerei  und  Plastik  beginnen  in  der  Mitte  des  13.  Jahr- 
hunderts sich  zu  regen.  Nur  der  Mangel  eingehender  Kenntnis  hat 
es  bisher  verhindert,  daß  man  neben  den  Werken  der  Pisani  die 
Elemente  der  neuen  künstlerischen  Auffassung  auch  in  den  Bildern 
ihrer  Zeitgenossen  entdeckte.  Am  faßlichsten  sind  sie  in  den  Dar- 
stellungen des  Franz  und  seiner  Legende  zu  sehen.  Diese  werden 
gewissermaßen  die  Vorschule  der  neuen  Malerei.  Das  allgemeine 
Verlangen  nach  bildlicher  Verherrlichung  des  Heiligen  bietet  den 
Künstlern  einen  neuen,  großen  und  dankbaren  Stoff.  Da  für  den- 
selben keine  von  Alters  her  geheiligte  Tradition  zu  berücksichtigen 
war,  wurde  der  Maler  direkt  auf  die  Beobachtung  des  Lebens  hin- 
gewiesen. 

Vor  Thode  ist  bereits  wiederholt  auf  die  Bedeutung  des  Fran- 
ziskus und  seines  Ordens  für  die  bildende  Kunst  hingewiesen  wor- 
den. In  meiner  Studie  über  Giotto  (Kunst  und  Künstler  des  Mittel- 
alters und  der  Neuzeit,  herausgegeben  von  Dohme)  brachte  auch  ich 
den  Fortschritt  der  italienischen  Malerei  nach  der  Seite  tieferen 
Seelenausdruckes    hin   mit  der  durch  Franz   und  seinen  Orden  nen 


Thode,  Franz  von  Assisi  u.  d.  Anfänge  d.  Ennst  d.  Renaissance  in  Italien.    261 

belebten  religiösen  Empfindung  in  Verbindung  und  bob  die  Bedeu- 
tung der  Thatsache  hervor,  daß  die  ktlnBtlerische  Darstellung  der 
Legende  des  Heiligen  neue,  der  Nation  ans  Herz  greifende  Kompo- 
sitionen und  neue  Typen  ins  Leben  rief,  die  nicht  unter  dem  Banne 
der  alten  kirchlichen  Tradition  standen.  In  besonders  eindringlicher 
Art  wies  sodann  Hettner  in  seinem  schönen  Aufsatze:  »Die  Fran- 
ziskaner in  der  Kunstgeschichte«  (Kleine  Schriften,  S.  312  ff.)  auf 
die  durchgreifende  Verinnerlichung  und  Durchgeistignng  der  künst- 
lerischen Motive  hin,  welche  dem  vertieften  Innenleben  der  Fran- 
ziskaner zu  danken  sei.  Thode  hat  das  Verdienst,  den  Einwirkun- 
gen, welche  das  Gefühlsleben  des  Franziskus  und  die  Begeisterung 
für  ihn,  welche  ferner  die  gesamte  Lebensauffassung  und  Thätigkeit 
der  Franziskaner,  vor  Allem  ihre  Dichtung  und  Predigt,  auf  die 
bildende  Kunst  geübt,  mit  größter  Sorgfalt  bis  ins  Einzelne  nachge- 
gangen zu  sein. 

Bei  der  eingehenden  Analyse  von  Giottos  Fresken  in  der  Ober- 
kirche von  S.  Francesco  zu  Assisi,  welche  die  Legende  des  Heiligen 
zum  Gegenstande  haben,  teilt  der  Verfasser  Schritt  für  Schritt,  un- 
ter Berücksichtigung  der  älteren  Quellen,  diejenigen  Stellen  aus  Bo- 
naventuras »Vita«  mit,  die  den  einzelnen  Bildern  zum  Grunde  lie- 
gen, und  erleichtert  hierdurch  dem  künftigen  Beschauer  das  Eindrin- 
gen in  diese  Kompositionen,  sowie  in  das  künstlerische  Schaffen  des 
großen  Meisters.  Er  wird  hier  durchweg  der  Gediegenheit  von 
Giottos  Kompositionsweise  und  (in  der  zusammenfassenden  Betrach- 
tung auf  S.  185)  der  Art  seiner  Begabung  mit  den  Worten  gerecht: 
>Giotto  hatte  die  glücklichste  Anlage  des  Genies  in  der  Wiege  er- 
halten, er  ist  von  vornherein  bestimmt  gewesen,  die  Natur  und  das 
menschliche  Sein  in  derselben  mit  anderem  Blicke  zu  erfassen,  als 
die  Künstler  vor  ihm«. 

Daß  die  Giotto  in  seiner  Jugend  zu  Teil  gewordene  Aufgabe, 
die  Legende  des  so  volkstümlichen  Heiligen  darzustellen,  ihn  in  sei- 
ner Entwickelung  mächtig  gefordert  haben  wird,  ist  nicht  zu  be- 
zweifeln. Die  Dichtung  der  Franziskaner  hat  aber  auch  auf  seine 
Schilderung  des  Lebens  Jesu  ihren  Einfluß  ausgeübt.  Ein  lehrreiches 
Kapitel  in  dem  zweiten  Teil  des  Thodeschen  Buches,  »Die  künstle- 
rische Neugestaltung  der  christlichen  Darstellungen«  Oberschrieben, 
versucht  meist  mit  Glück  diesen  Einfluß  im  Einzelnen  nachzuweisen. 
Schon  Hettner  hatte  auf  die  Bedeutung  hingewiesen,  welche  in  dieser 
Beziehung  Bonaventuras  berühmtes  Buch  »Meditationes  Vitae  Christi« 
besitzt,  dieses  Werk,  welches  die  überlieferten  Begebenheiten  indi- 
vidueller ausmalt  und  einen  feinen  Blick  und  sinniges  Verständnis 
für  die  Seelenbewegungen  der  Handelnden  bekundet     Hettner  hatte 


262  Gött.  gel.  Anj5.  1887.  Nr.  7. 

besonders  an  zwei  Beispielen:  dem  Foftkaft  bei  der  Anbetung  der 
Könige  nnd  jenen  Bildern,  welche  die  Madonna  vor  dem  Christus- 
kinde  knieend  darstellen  ^)y  die  Einwirkung  Bonaventuras  nachge- 
wiesen. Thode  bringt  auch  fUr  eine  große  Anzahl  anderer  Darstel- 
lungen aus  dem  Leben  und  Leiden  Christi  die  betreffenden  Stellen 
aus  derselben  Quelle  bei,  indem  er  mit  der  ihm  eigenen  anerkennens- 
werten Vorsicht  bemerkt:  er  wolle  damit  nicht  behaupten,  daß  die 
angeführten  litterarischen  Stellen  direkt  bestimmend  für  die  Kunst- 
werke gewesen  seien,  er  wolle  vielmehr  mit  denselben  nur  auf  die 
besonders  durch  die  Predigt  verbreiteten  maßgebenden  allgemeinen 
Anschauungen  hinweisen. 

Das  befruchtende  Element  bei  der  Entstehung  der  großen 
christlichen  Kunst  sieht  Thode  in  der  »Geftthlsherrschaft  einer  sub- 
jektiven Religionsanschauung«,  wie  sie  eben  dem  Franziskus  eigen 
war;  als  gleichsam  empfangendes  Element  bei  jenem  Processe 
erscheint  ihm  die  ursprüngliche,  eingeborene  künstlerische  Anlage 
des  toskanischen  Volksstammes,  als  dritter  Faktor  kommen  die 
günstigen  äußeren  Umstände  dieses  Volksstammes  hinzu,  in  denen 
die  Bedingung  der  gedeihlichen  Entwickelung  liege. 

Doch  wohl  zu  ausschließlich  wird  hier  das  religiöse  Element  als 
der  die  neuere  italienische  Kunst  befruchtende  Faktor  betont.  Steht 
diese  Kunst  auch  noch  Jahrhunderte  hindurch  wesentlich  im  Dienste 
der  Kirche,  hat,  wie  wir  oben  sahen,  das  gesteigerte  subjektiv  re- 
ligiöse Verhalten  des  Franziskus  und  der  Seinen  große  Verdienste 
um  die  Kirchenmalerei,  so  dringen  doch  etwa  seit  der  Mitte  des 
13.  Jahrhunderts  je  länger  je  mehr  auch  die  specifisch  weltlichen 
Elemente  der  ganz  allmählich  aus  dem  Bannkreise  der  Kirche  tre- 
tenden italienischen  Kultur  in  die  Kunst  dieses  Volkes.  Bereits  im 
Jahre  1260  vollendete  Niccolo  Pisano  seine  Kanzel  für  das  Baptiste- 
rium  zu  Pisa,  deren  Skulpturen  nicht  nur  nach  der  Seite  der  Form- 
gebung, sondern  auch  bezüglich  des  Inhalts  und  des  Ausdruckes 
einen  starken  Einfluß  der  Antike  zeigen.  Ist  es  ihm  hier  auch 
noch  nicht  gelungen,  das  antike  Element  mit  dem  Ideengehalte  der 
von  ihm  behandelten  religiösen  Gegenstände  innig  zu  verschmelzen, 
so  wird  man    doch  bei  einem  Blicke  auf  die  weitere  Entwickelung 

1)  Mit  Recht  bemerkt  Thode,  daß  nicht  Gentile  da  Fabriano,  wie  Hettner 
meint,  dieses  Motiv  zuerst  angewendet  habe.  Doch  wurde  der  betreffende  Schritt 
auch  nicht,  wie  Thode  glaubt,  erst  am  Ende  des  14.  Jahrh.  gethan,  die  neben  der 
Krippe  knieende  Maria  findet  sich  vielmehr  bereits  in  einem  der,  dem  Taddeo 
Gaddi  zugeschriebenen,  kleinen  Bilder  von  den  Sakristei-Schranken  der  Kirche 
S.  Croce  in  der  Sammlang  der  Florentiner  Akademie.  Auch  Joseph  ist  hier 
knieend  dargestellt. 


Thode,  Fraaz  von  Assisi  a.  d.  Anfinge  d.  Kunst  d.  Renaissance  in  Italien.    263 

der  Keuai&Bance  es  nicht  in  Absede  stellen  könnea,  daß  jenes  antike 
Element,  wie  in  der  Litteratar,  so  aneh  in  der  Kunst  fortan  einer 
der  bedentendsten  befraehtenden  Faktoren  war. 

Aber  auch  Giottos  Kunst  ist  vielfach  weltlieh  gefärbt.  Thode 
legt,  wie  wir  sahen,  ein  großes  Gewicht  auf  die  Begeisterung  des 
Franziskus  für  die  Natur.  Wenn  auch  Giotto  die  Natur  wieder  zu 
Ehren  bringt,  so  geschieht  es  doch  wesentlich  in  einer  andern  Weise. 
Das  Verhalten  des  Franz  zu  den  Gestirnen,  zur  Landschaft,  zum 
Tierreiche  hatte,  nach  den  Berichten  der  Legenden  zu  urteilen,  et- 
was Schwärmerisches,  Empfindsames,  Ueberschwängliches,  ich  möchte 
sagen  Weibliches  an  sich,  wie  ja  das  ganze  Wesen  des  Franziskus 
—  auch  nach  Thodes  Auffassung  —  in  Gefühl  aufgeht.  In  den  Ma- 
lereien Giottos  bewundern  wir  aber  vor  Allem  den  energischen, 
männlichen  Sinn,  bei  welchem  Denken  und  Fühlen  im  Gleichgewicht 
sind.  Seine  Naturauffassung  macht  auf  uns  den  Eindruck,  daß  doch 
noch  ganz  andere  Momente,  als  jene  allgemeine  Begeisterung  des 
Franziskus  fttr  alles  Geschaffene,  ihm  das  Auge  für  die  Wirklichkeit 
geschärft  haben.  Seiner  glänzenden  Beobachtungsgabe  liegt  vor 
Allem  ein  klarer  Verstand  zum  Grunde,  wie  denn  auch  die  meisten 
jener  Anekdoten,  welche  schon  frühe  über  Giotto  im  Gange  waren, 
und  in  denen  sich  denn  doch  etwas  von  seinem  wirklichen  Wesen 
spiegeln  möchte,  sein  scharfes  Denken  betonen. 

In  der  romantischen,  »prärafaelitischenc  Kunstepoche  unseres 
Jahrhunderts  hat  Rumohr  ^)  ein  hartes  Urteil  über  Giotto  gefällt:  er 
sei  gleichgültig  gewesen  gegen  die  Würde  der  von  ihm  dargestellten 
Gegenstände,  seine  Bichtung  habe  den  ernsten  Sinn  der  vorangehen- 
den Kunstbestrebungen  verdrängt,  er  habe  die  Richtung  seiner  Vor- 
gänger auf  edle  Ausbildung  heiliger  und  göttlicher  Charaktere,  wenn 
auch  nicht  ganz  aufgegeben,  doch  hintangesetzt,  hingegen  die  italie- 
nische Malerei  zur  Darstellung  von  Handlungen  und  Affekten  hinüber- 
gelenkt, in  denen  .  .  .  das  Burleske  neben  dem  Pathetischen  Raum 
üand.  Diese  erbitterten  Vorwürfe  eines  so  feinen  Kunstkenners,  wie 
Bumohr  es  war,  erklären  sich,  wie  mir  scheint,  durch  den  Umstand, 
daß  er  die  starken  Keime  einer  Verweltlichung  der  Kunst  in  Giottos 
Werken  empfand.  Wer  die  seit  Giotto  ganz  allmählich  sich  voll- 
ziehende Emancipation  der  Kunst  von  der  Kirche,  ja  von  der  Reli- 
gion, beklagt,  verfährt  ganz  folgerichtig,  wenn  er  Giotto  tadelt.  In 
seiner  Kunst  ist  eben  bereits  etwas  von  jenem  weltlichen  Zuge  der 
Renaissance-Kultur,  und  so  vermag  ich  denn  diese  Kunst  nicht  in 
dem  Maße,  wie  Thode  es  tbut,  als  Ausdruck  des  Franziskanertums  anzu- 
sehen.   Wohl  aber  weist  die  italienische  Kunstgeschichte  einen  Meister 

1)  Italienisclie  Forschungen  II,  S.  89 ff.,  »lieber  Giotto«. 


264  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  7. 

anf,  der  wie  ein  ins  Eünstleriscbe  übersetzter  Franziskas  erscheint: 
Fra  Angelico  da  Fiesole,  und  mit  Recht  sagt  Thode,  es  lebe  des 
Franz  Empfindang  fast  in  jeder  der  Figuren  dieses  Meisters,  »der, 
wenn  irgend  einer,  »seraphisch  ganz  von  Glnthen«,  daza  bestimmt 
schien,  das  Wesen  des  Heiligen  ganz  nacbzaempfindenc. 

Vergleicht  man  nun  die  holdseligen  in  Andacht  aufgelösten  En- 
gel, Jünglinge,  Frauen  des  frommen  Malers,  seine  sanften  Männer 
und  Greise,  deren  stets  geftthlsinnige,  ja  nicht  selten  empfindsame 
Blicke  und  Gebärden  den  Gedanken  an  männliche  Eraftentfaltung 
oder  an  eine  Verschiedenheit  der  Charaktere  kaum  aufkommen  las- 
sen, mit  der  der  Wirklichkeit  abgelauschten  reichen  Mannigfaltig- 
keit der  durch  Giotto  geschaflfenen,  meist  von  Willenskraft  strotzen- 
den, leidenschaftlichen  Charaktere,  so  wird  man  sich  dessen  bewußt, 
daß  dort  allerdings  die  Empfindungsweise  des  Franziskus  vor- 
herrscht, hier  aber  eine  Gedanken-  und  Gefühlswelt  sich  ofiTenbart, 
die  sich  aus  noch  ganz  anderen  Elementen  zusammensetzt.  Vor 
Allem  da,  wo  Giotto  und  Fiesole  Seelenschmerz  darzustellen  haben, 
macht  sich  der  tief  gehende  Unterschied  in  dem  Denken  und  Em- 
pfinden beider  Künstler  bemerkbar:  während  in  Fiesoles  Beweinung 
Christi  (in  der  Sammlung  der  Akademie  zu  Florenz)  die  Angehöri- 
gen Jesu  trotz  ihrer  tiefen  Trauer  gottergeben  erscheinen,  hat  das 
leidenschaftliche  Gebahren  derselben  in  Giottos  gleichnamigem  Bilde 
in  der  Arena  zu  Padua  mit  religiösem  Empfinden  schlechterdings 
nichts  zu  thun.  Hier  bricht  die  Verzweiflung  mit  elementarer  Ge- 
walt hervor;  selbst  die,  wie  eine  Schaar  aufgescheuchter  Vögel,  in 
der  Luft  umherflatternden  Engel  nehmen  an  dieser  trostlosen  Stim- 
mung Teil.  Wir  haben  es  mit  einer  rein  menschlichen,  hinreißenden 
Tragödie  zu  thun,  die  uns  wohl  an  das  leidenschaftliche  Pathos  der 
Elagegesänge  antiker  Trauerspiele,  nicht  aber  an  die  christliche  De- 
mut eines  Franziskus  gemahnt. 

Thode  hat  sich  allerdings  nicht  die  Aufgabe  gestellt,  eine  Ge- 
schichte der  Anfänge  der  Renaissance-Kunst  im  Ganzen  zu  schrei- 
ben, sein  Ziel  war  vielmehr  die  Darlegung  der  Einflüsse  des  Fran- 
ziskanertums  auf  diese  werdende  italienische  Kunst,  und  dieses  Ziel 
hat  er  im  Einzelnen  in  glänzender  Weise  erreicht,  aber  beim  Lesen 
seines  Buches  komme  ich  von  dem  Eindruck  nicht  frei,  daß  er  in 
der  Gesamtauffassung  jenes  Verhältnisses  über  das  Ziel  hinaus- 
gegangen. 

Thode  fuhrt  ja  freilich,  wie  wir  sahen,  dort,  wo  er  zusammen- 
fassend von  der  Entstehung  der  Renaissance-Kunst  spricht,  als  einen 
der  drei  seiner  Meinung  nach  hierbei   in  Betracht  kommenden  Fak- 


Thode,  Franz  von  Assisi  u.  d.  Anfänge  d.  Kunst  d.  Renaissance  in  Italien.    266 

toren,  die  günstigen  äußeren  Umstände  des  toskanischen  Volks^ 
Stammes  an,  in  denen  die  Bedingung  der  gedeihlichen  Entwickelnng 
liege.  Da  aber  dieser  Gedanke  nicht  weiter  aasgefbhrt  wird,  ver- 
schwindet er  so  gänzlich  hinter  den  eingehenden  Erörterungen  ttber 
die  Einwirkung  des  Franziskanertnms  auf  die  werdende  italienische 
Kunst,  daß  beim  Leser  der  Eindruck  zurückbleibt,  nach  der  Mei- 
nung des  Verfassers  habe  doch  eigentlich  Franziskus  hier  fast  das 
ausschließliche  Verdienst,  und  jene  günstigen  äußeren  Umstände  hät- 
ten nur  im  Verein  mit  der  künstlerischen  Anlage  des  toskanischen 
Volksstammes  einen  fruchtbaren  Boden  für  den  vom  Franziskaner- 
tnm  ausgestreuten  Samen  geschaffen. 

Dieser  Eindruck  wird  noch  dadurch  verstärkt,  daß  der  Verfasser 
auch  in  der  Geschichte  der  italienischen  Dichtung  dem  Franziskus 
eine  geradezu  vorherrschende  Stellung  anweist,  hat  doch  seiner  Mei- 
nung nach  die  religiöse  Begeisterung,  die  von  Franziskus  ausge- 
gangen, die  Divina  commedia  Dantes,  »dieses  erhabene  Lied  zur  Ver- 
herrlichung der  himmlischen  Liebe«,  hervorgerufen.  Es  liegt  mir 
ganz  fern,  den  Einfluß  des  Franziskanertums  auf  Dante  in  Abrede 
stellen  zu  wollen.  Wie  die  Weltanschauung  des  Thomas  von  Aquino, 
so  kommt  ohne  Zweifel  auch  die  Mystik  des  von  Dante  im  11.  Ge- 
sang des  Paradieses  mit  warmen  Worten  gefeierten  Franziskus  und 
der  Seinen  in  der  großen  Dichtung  zum  Ausdruck.  Aber  wie  zahl- 
reiche andere  Elemente  in  Dantes  Denken  und  Fühlen,  die  mit  der 
Gedanken-  und  Gefühlswelt  der  Bettelorden  nicht  das  mindeste  za 
thnn  haben,  mußten  zusammenwirken,  um  diese  gewaltige  Dichtung 
zu  ermöglichen:  ein  offenes  Auge  und  ein  offener  Sinn  für  die  welt- 
lichen Dinge-,  Liebe  zum  Weibe;  glühender  Patriotismus;  politische 
Leidenschaft;  gründliche  Kenntnis  der  römischen  Litteratur  und  Be- 
geisterung für  dieselbe  u.  s.  w.  Wie  fühlt  man  es  doch  immer  wie- 
der aus  der  »göttlichen  Eomödiec  heraus,  daß  ihr  Urheber  mitten 
im  vollen  Leben  seiner  Zeit  stand,  wie  spürt  man  da  die  scharfe 
Luft,  welche  das  politisch  und  social  erregte,  von  inneren  Kämpfen 
durchtobte,  die  verschiedenartigsten  Bildungselemente  geistlicher  und 
weltlicher  Natur  allmählich  zu  einer  neuen  Art  der  Kultur  verar- 
beitende Florenz  durchzog!  So  kann  ich  denn  Thode  nicht  Recht 
geben,  wenn  er  sagt^  die  mystische  Dichtung  der  Franziskaner  habe 
der  Divina  commedia  den  eigentlich  künstlerischen  ewigen  Gehalt 
verliehen.  Auch  hier,  wie  in  der  bildenden  Kunst,  liegen  die  Dinge 
nicht  so  einfach.  Und  Dante  selbst  hat  nicht  etwa  auf  den  Fran- 
ziskaner Jacopone  da  Todi  als  seinen  » Vorläufer c  hingewiesen,  er 
nennt  vielmehr  voller  Begeisterung  den  Vergil  seinen  Meister,  seinen 
Vater,    dem   er   zu   seinem  Heile   sich  ergeben  (Inf.  I,  85;   Purgat 


2^  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  7. 

XXX,  49)|  nnd  bezeichnet  daDn  wieder  mit  demselben  Ehrennameii 
den  Dichter  Gaido  Goinicelü  (Pargat.  XXVI,  97—114).  Spricht 
Dante  hier  diesem  seinem  Vorbilde  in  der  Liebespoesie  den  Dank  in 
warmen  Worten  aus,  so  ist  sein  Gefühl  für  das,  was  er  seinem  Vor- 
gänger bezüglich  der  Popularisierung  und  Einführung  des  Altertums 
in  die  nationale  Litteratnr,  was  er  Brnnetto  Latini  verdankt,  nicht 
minder  lebhaft  Denn  gewiß  war  es  ihm  Ernst  mit  jenen  schönen 
pietätvollen  Worten,  welche  er  an  den  geliebten  Lehrer  richtet: 
»Se  fosse  pleno  tutto  '1  mio  dimando, 

— voi  non  sareste  ancora 

Deir  nmana  natura  posto  in  bando: 
Chi  in  la  mente  m'  h  fitta,  ed  or  m'  accuora 
La  cara  e  buona  imagine  paterna 
Di  voi,  quando  nel  mondo  ad  ora  ad  ora 
M'  insegnavate  come  l'uom  s'eterna: 

E  quant'  io  V  abbo  in  grado,  mentr'  io  vivo 

Convien  che  nella  mia  lingua  si  scerna.    (Inf.  XV,  79  sq.). 

Es  ist  hier  nicht  meine  Aufgabe,  alle  die  verschiedenen  Bil- 
dnngselemente  zn  analysieren,  mit  denen  die  geistige  Atmosphäre 
erfüllt  war,  ans  welcher  heraus  ein  Dante,  ein  Giotto  ihre  unsterb- 
lichen Werke  schufen.  In  einem  Buche  aber,  welches  die  Anfänge 
der  Kunst  der  Renaissance  zum  Gegenstande  hat  und  die  hiebei  in 
Betracht  kommenden  religiösen  Anregungen  so  eingehend  bespricht, 
yermisse  ich  den  Hinweis  auf  diejenigen  außerhalb  der  Sphäre  des 
religiösen  Lebens  liegenden  Momente  der  damaligen  Kultur,  welche 
ebenfalls  auf  die  Kunst  eingewirkt  haben.  Die  Folge  der  Unter- 
lassung eines  solches  Hinweises  ist  eben  der  Eindruck,  als  genügte, 
des  Verfassers  Meinung  nach,  unter  Voraussetzung  der  angeborenen 
hohen  dichterischen  oder  künstlerischen  Begabung  eines  Dante,  eines 
Giotto,  das  Franziskanertum,  um  Werke  wie  die  göttliche  Komödie 
oder  die  Fresken  in  der  Arena  ins  Leben  zu  rufen.  Dazu  stimmt 
denn  auch  der  Ausspruch:  »Fast  zur  Gewißheit  wird  die  Ahnung, 
daS  dem  Franziskus  der  beste  Teil  der  neuen  Geistesrichtung  in 
Italien  zu  verdanken  ist,  betrachten  wir  die  künstlerischen  Aenße- 
mngen  derselben  c 

Thode  unterschätzt  ferner,  wie  mir  scheint,  gegenüber  dem  neuen 
Geftthlsgehalt,  der  durch  Franziskus  in  die  Kunst  gekommen,  die 
Vorgänge  auf  formal  künstlerischem  Gebiete,  welche  es  erst  einem 
Giotto  ermöglichten,  das  Leben  Christi  so  zu  schildern,  wie  er  es 
in  der  Arena  that ;  namentlich  wird  er  der  gewaltigen  Umgestaltung 
der  Knnst,  welche  Niccolö  Pisanos  Zurückgreifen  auf  die  Antike  be- 


Thode,  Franz  von  Assisi  u.  d.  Anfänge  d.  Kunst  d.  Renaissance  in  Italien.    267 

wirkte,  nicht  gerecht.  Ich  kann  ihm  nicht  zustimmen,  wenn  er 
sagt,  Niccolö  Pisano  habe  fast  anbewaßt  sich  an  die  Denkmäler  des 
Altertums  um  Rat  gewendet,  ohne  daß  es  ihm  wirklich  großen  Nutzen 
gebracht  hätte,  lehren  doch  vielmehr  Niccolös  Werke  mit  den  zahl- 
reichen der  Antike  entnommenen  Motiven  und  Oestalten,  daß  er 
sich  dessen  klar  bewußt  war,  was  er  that,  als  er  zu  dieser  lange 
vergessenen  Quelle  kttnstleriscber  Wahrheit  und  Schönheit  zurück- 
kehrte ;  und  hat  doch  dieses  sein  Studium  der  Antike  der  Kunst  erst 
wieder  gleichsam  die  Binde  von  den  Augen  genommen,  welche  sie 
80  lange  verhindert  hatte,  der  Natur  ins  Antlitz  zu  schauen.  An  der 
Hand  dieser  Lehrmeisterin  kamen  die  Pisaner  Bildhauer  dazu,  die 
menschliche  Figur  wieder  plastisch  zu  gestalten,  bewegungs-  und 
ausdrucksfähig  zu  machen.  Thode  ist  uns  den  Beweis  fUr  die  Be- 
hauptung schuldig  geblieben,  daß  die  Elemente  der  neuen  künstleri- 
schen Auffassung  auch  in  den  Gemälden  der  Zeitgenossen  der 
Pisani  vorhanden  seien,  wohlverstanden  solchen  Malereien,  die  von 
der  großen  Neuerung  des  Niccolö  Pisano  und  seiner  Schule  unbeein- 
flußt waren.  Wenn  es  jenes  großen  Fortschrittes  in  der  Darstellung 
des  menschlichen  Körpers,  welchen  die  Pisani  vollzogen,  nicht  be- 
durft hätte,  um  auch  die  Malerei  erst  wieder  in  den  Stand  zu  setzen, 
subjektives  Empfinden  zu  veranschaulichen,  wie  kommt  es  dann,  daß 
die  frühesten  künstlerischen  Darstellungen  des  Franziskus  und  sei- 
ner Legende,  welche  Thode  in  dankenswerter  Vollständigkeit  uns 
vorführt,  noch  so  gar  nichts  Individuelles  zeigen!  Und  doch  muß 
Franziskus  und  das  damals  noch  junge  Franziskanertnm  in  jenen 
Jahrzehnten  viel  begeisternder  gewirkt  haben,  als  in  der  Zeit,  da 
Giotto  malte,  einer  Zeit,  in  welcher  bereits  viele  Misbräuohe  und 
Schäden  in  den  Bettelorden  offenkundig  geworden  waren,  und  die 
Begeisterung  für  das  Princip  derselben,  welche  Franziskus  durch- 
glüht hatte,  sich  eine  so  herbe  Kritik  gefallen  lassen  mußte,  wie  sie 
sich  in  dem  bekannten  Gedichte  desselben  Giotto  findet,  jener  Can- 
zone ^),  die  den  Gedanken  nahe  legt,  Giotto  habe  sich  hier  dafür  ent- 
schädigen wollen,  daß  er  in  seinem  Bilde  der  Vermählnng  des  Franzis- 
kus mit  der  Armut  die  letztere  dem  ihm  gegebenen  Programm  gemäß 
als  Künstler  habe  feiern  müssen,  während  er  als  Mensch  ganz  anders 
ttber  sie  dachte. 

Vermag  ich  Thode  in  Betreff  der  Gesamtauffassung  des  Verhält- 
nisses des  Franziskus  zur  italienischen  Kunst  aus  den  angeführten 
Gründen  nicht  beizustimmen,  kann  ich  nicht  mit  ihm  der  italieni- 
schen Kunstgeschichte  des  13.  und  14.  Jahrhunderts  gleichsam  die 
Ueberschrift:  Die  Epoche   des  Franziskanertums   geben,   so   pflichte 

1)  Neuerdings  wieder  abgedruckt  in  der  Yasari- Ausgabe  von  Milanesi.  I,  426. 


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Ismng  eines  «olche»  m  ^ 

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Oder  die  FrMten  ">«'_*    .p„,  , 


V  9-.  -..«* 


t  (1.  Renaissance  in  Italien.    269 

)we  and  Cavalcaselle  haben 
iterkirche  wie   in   der  Ober- 
en stylistischen  Untersacbung 
i  ihrer  epochemachendeD  Ge- 
[  die  Grundlage   für  alle  fer- 
)er  noch  so  manche  Frage   zu 
reulich,  daß  ein  so  gründlicher 
liam  dieser   für  die  Entwicke- 
L-hen   als  auch  der  sienesischen 
fte    and    die  Ergebnisse  seiner 
:ider,  die  Ansichten  seiner  Yor- 
•r    Weise   dem  Leser   vorführte. 
sei  ungelöst,  aber  ist  doch,  wie 
ickt. 

i'kirche   betrifft,   so   sei  zunächst 
.1  Langhause   der   Unterkirche  be- 
nde   des  Franziskus  eine  größere 
lie  Bedeutung  beilegt,   als  es  bis- 
oits  hier  der  neue,  durch  Franzis- 
>1T  befreiend   auf  den  Künstler  ge- 
ehr  von    dem  Schematismus  der  äl- 
spreche   von  Naturbeobachtung,   so 
/mzelnen    noch   sei.     So  weist  denn 
.    er    die  Bezeichnung    »Meister   des 
bedeutsame  Stellung    unter  den  Vor- 
an.    Seine  Hand  glaubt  er  auch   in 
zu  haben,  so  namentlich  in  dem  Bilde 
on   S.  Maria   degli  Angeli   bei  Assisi 
Margaritone  zugeschriebenen  Crucifix 
um  Jahre  1272;   auch    das  Crucifix  in 
V'  von  S.  Francesco   in  Assisi   meint  er 
iichkeit    zuweisen  zu    dürfen.    Die  den 
idern   im  Langhause   gegenüber  befind- 
11  Jesu  schreibt  Thode  wegen  der  größe- 
Darstellung  und  des  Fortschritts  in  der 
t  einem  Künstler  zu,  der  zwischen  dem 
nd  Cimabue  mitten  inne  stehe,  ja  er  hält 
.^  wir  es  hier  bereits   mit   einem  Jugend- 
n  haben.    Crowe  und  Cavalcaselle  hatten 
ere  Entstehnngszeit  angenommen  und  die- 
reien  in  S.  Pietro  in  Grado  in  Zusammen- 
auch  einen  Fortschritt  in  der  Bewegung 


270  Gott.  gel.  Adz.  1887.  Nr.  7. 

und  GruppieroDg  anerkennen.  Jedenfalls  hat  Tbode  hier  eine  wich- 
tige Frage  berührt.  Sollte  sich  seine  Auffassung  bewähren,  so  wtirde 
nachstehende  Angabe  Vasaris  Aber  Cimabne  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  ihre  Rechtfertigung  finden:  »dove  (sc.  in  Assisi)  in  compagnia 
d'alcuni  maestri  greci,  dipinse  nella  chiesa  di  sotto  di  San  Fran- 
cesco parte  delle  volte,  e  nelle  facciate  la  vita  di  Ges&  Cristo  e 
quella  di  San  Francesco;  nelle  quali  pitture  passö  di  gran  lunga 
que'  pittori  grecic  ').    (Vasari,  ed.  Milanesi  I,  252). 

Wenn  es  mir  erst  nach  einem  erneuerten  Besuche  Assisis  mög- 
lich sein  wird,  zu  dieser  Frage  Stellung  zu  nehmen,  kann  ich  bereits 
gegenwärtig  dem  Verfasser  bezüglich  seiner  Auffassung  des  Verhält- 
nisses der  Malereien  in  der  Sakraments-  oder  Nikolaus-Kapelle  und 
in  der  Magdalenen-Kapelle  zu  Giotto  vollständig  zustimmen.  Die 
Fresken  beider  Kapellen  stehn  in  der  That  der  Kunst  Giottos  ganz 
nahe.  Auch  darin  dürfte  der  Verfasser  das  Richtige  treffen,  daß  er 
die  Bilder  der  Nikolaus-Kapelle  mit  dem  früheren  Styl  Giottos  in 
Zusammenhang  bringt  und  es  für  das  wahrscheinlichste  hält,  es  habe 
hier  ein  ganz  früher  Schüler  Giottos  nach  Entwürfen  seines  Meisters 
in  den  ersten  Jahrzehnten  des  14.  Jahrhunderts  gearbeitet.  Die 
nahe  Verwandtschaft  dieser  Bilder  mit  Giottos  Kunst  hatten  auch 
schon  Crowe  und  Gavalcaselle  mit  den  Worten:  kein  Maler  habe 
sich  bis  dahin  erfolgreicher  und  zugleich  enger  an  Giotto  gehalten 
als  dieser,  anerkannt.  Die  Malereien  der  Magdalenen-Kapelle  in 
ihrer  breiteren,  monumentaleren  Kompositionsweise,  der  größeren 
Sicherheit  der  Zeichnung,  der  feineren  Vollendung  im  Einzelnen 
weisen,  wie  Thode  mit  Recht  bemerkt,  auf  die  Zeit  der  Arenafresken 
hin,  mit  denen  nicht  allein  einzelne  Kompositionen ,  sondern  auch 
die  Typen  die  nächste  Berührung  zeigen.  Ich  halte  es  mit  Thode 
für  das  Wahrscheinlichste,  daß  hier  Giotto  selbst,  vielleicht  unter 
Beteiligung  eines  begabten  Schülers,  gearbeitet  hat.  So  würde  sieh 
auch  die  Verwandtschaft  mit  Giottos  allegorischen  Bildern  über  dem 
Hauptaltar  noch  einfacher  erklären,  wie  wenn  man  mit  Crowe  und 
Gavalcaselle  als  Urheber  der  Magdalenenbilder  den  Gehilfen 
Giottos  bei  den  allegorischen  Deckenbildern  annimmt. 

Da  auch  die  Scenen  aus  dem  Leben  Jesu  und  aus  der  Legende 
des  Franziskus  in  dem  nördlichen  Querschiffe  auf  das  Engste  mit 
der  Kunst  Giottos  zusammenhängen,  so  wird  man  Thode  nur  Recht 
geben  können,  wenn  er  alle  diese  Fresken  auf  einen  geistigen 
Urheber,  auf  Giotto,  zurückführt.   Und  eben  so  kann  man  ihm  darin 

1)  Da£  Vasari  auch  hier  griechische  Maler  thätig  sein  l&£t,  hängt  mit  seiner 
unbegründeten  Auffassung  von  dem  Betriebe  der  vorcimabuesken  Kunst  in  Italien 
ausschliefilich  durch  byzantinische  Meister  zusammen. 


Thode,  Franz  von  Assisi  u.  d.  An&nge  d.  Kunst  d.  Renaissance  in  Italien.    271 

beipflichten,  daß  sich  in  ihnen  Giottos  Entwickelang  im  Allgemeinen 
erfassen  läßt:  in  der  Nikolaas-Kapelle  der  Uebergang  von  dem 
jagendlichen  Style  der  Oberkirche  zu  einem  reiferen,  etwa  dem  der 
Arenabilder  entsprechenden,  wie  ihn  die  Magdalenen-Kapelle  zeigt, 
in  den  Qaerscbifffresken  eine  Milderang  and  Umwandlung  za  einer 
liebenswürdig  graciOseren  Aaffassang. 

Die  Darstellangen  aas  dem  Leiden  Jesu  im  südlichen  Quer- 
schiff,  welche  Growe  and  Gavalcaselle  dem  Pietro  Lorenzetti  za- 
schreiben,  hält  Thode  fUr  das  Werk  eines  diesem  sehr  nahe  stehen- 
den Schillers.  Ich  maß  auch  noch  gegenwärtig  meine  früher  (Die 
sienesische  Malerschale,  bei  Dohme,  Kunst  und  Künstler  S.  47)  aus- 
gesprochene, aus  der  Verwandtschaft  dieser  Bilder  mit  denjenigen 
in  S.  Francesco  zu  Siena  hergeleitete  Ansicht  aafrecht  erhalten,  wo- 
nach wir  es  hier  mit  einer  in  naher  Beziehung  zu  Ambrnogio 
Lorenzetti  stehenden  Arbeit  zu  thun  haben. 

Gehn  wir  nun  zu  den  Malereien  in  der  Oberkirche  über!  Hier 
stimmt  Thode  in  Betreff  der  Darstellangen  aus  der  Legende  des 
Franziskus  mit  der,  in  meiner  Studie  über  Giotto  ausgesprochenen 
Ansicht  ttberein,  wonach  der  ganze  Gyklus  diesem  Meister  zuzu- 
schreiben sei.  Dafür,  daß  ein  und  derselbe  Künstler  alle  28  Bilder 
geschaffen,  spricht  Alles:  Kompositions  weise ,  1^7po°y  Gewandung, 
Architektur,  Technik. 

Das  Ergebnis,  zu  welchem  das  eingehende  Studium  der  dem 
Cimabue  und  seiner  Schale  zugeschriebenen  übrigen  Bilder  der  Ober- 
kirche den  Verfasser  geführt  bat,  ist  folgendes:  das  Qnerschiff  und 
der  Chor  seien  bis  aaf  wenige  Teile  von  Cimabue  selbst,  das  Lang- 
haas durchweg  nur  von  Schülern  desselben  gemalt  worden.  Unter 
den  Arbeiten  der  letzteren,  den  Darstellungen  aus  dem  alten  und 
neuen  Testamente,  aber  machen  sich  im  Großen  und  Ganzen  zwei 
yersehiedene  Riebtungen  geltend:  eine  ältere,  die,  den  Styl  des 
Cimabue  abschwächend,  seine  Schule  verrate,  und  eine  jüngere,  die 
ganz  neue  Elemente  in  Komposition,  wie  Formenbildung  und  Tech- 
nik bringe.  Die  Bilder  dieser  jüngeren  Richtung  —  die  Scenen  aus 
dem  Leben  Jakobs  und  Josephs,  die  Beweinung  Christi,  die  Himmel- 
fahrt und  das  Pfingstfest,  die  Heiligen  im  Eingangsbogen  und  die 
Kirchenväter  an  der  Decke,  sowie  auch  die  kreisförmigen  Bilder  an 
der  Eingangswand  —  seien  wegen  ihrer  Verwandtschaft  mit  dem 
Franziskus-Cyklns  bereits  Giotto  zuzuweisen. 

Daß  in  den  soeben  aufgeführten  Malereien  eine  neue  künstleri- 
sche Kraft  zu  spüren  ist,  muß  zugegeben  werden.  Mit  Recht  betont 
Thode  das  starke  antike  Element,  das  sich  in  der  maßvollen  Be- 
wegung der  Figuren,   so  wie   in  der  Gewandbehandinng ,  besonders 


272  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  7. 

bei  deu  Jakobsbildern  nnd  bei  den  FraneDgestalten  im  Hintergrunde 
der  Beweinung,  auf  das  Entsebiedenste  bemerkbar  macht  ^).  Auch 
dieses  bat  der  Verfasser  ricbtig  beobachtet,  daß  neben  den  offen- 
bar direkt  der  Antike  entnommenen  Zügen  in  einigen  der  hier  in 
Betracht  kommenden  Bilder  noch  zahlreiche  Anklänge  an  die  tra- 
ditionelle, cimabneske  Darstellungsweise  sich  finden.  Ja,  ich  muß 
gestehn,  daß  die  mit  der  byzantinischen  Kunst  eng  zusammenhän- 
genden dttstern  Gesichts-Typen  in  dem  Bilde,  das  uns  die  vor  Joseph 
knieenden  Brüder  zeigt,  sowie  die  wiederum  anders  bebandelten, 
aber  auch  von  byzantinischem  Einfluß  zeugenden  Köpfe  in  den 
Fresken  an  der  Eingangswand:  der  Himmelfahrt  Christi  und  der 
Ausgießung  des  heiligen  Geistes,  sich  so  stark  von  der  Auffassungs- 
weise der  Jakobsbilder  unterscheiden,  daß  ich  für  alle  diese  Male- 
reien einen  und  denselben  Urheber  kaum  annehmen  kann.  Eine 
gewisse  Abhängigkeit  der  Giottoschen  »Beweinnng  Christie  zu  Padua 
von  dem  gleichnamigen  Bilde  in  Assisi  hatte  ich  bereits  in  meiner 
Studie  über  Giotto  betont;  dagegen  aber,  daß  Giotto  das  letztere 
gemalt,  spricht,  auch  abgesehen  von  den  ganz  abweichenden  Typen, 
der  Umstand,  daß  hier  die  beiden  mittleren  der  im  Hintergrunde 
stehenden  Figuren  von  dem  tragischen  Vorgange  nicht  irgend  be- 
rührt erscheinen,  bloße  Fttllfiguren  sind,  wie  wir  solche  nirgend  bei 
Giotto  finden  ^).  Daß  der  jugendliche  Giotto  an  den  unzweifelhaft 
yorgeschrittenen  zuletzt  genannten  Bildern,  daß  er  namentlich  auch 
an  der  dramatisch  bewegten  Hauptgruppe  der  > Beweinung c  gelernt, 
ist  mir  unzweifelhaft,  von  dem  durch  Thode  angenommenen  direkten 
Uebergang  zu  den  Franziskusbildern  habe  ich  mich  aber  nicht  über- 
zeugen können. 

Ich  breche  hier  ab.  Thodes  Buch  geht  auf  so  zahlreiche  Denk- 
mäler und  kunstgeschichtlich  wichtige  Fragen  ein,  daß  aus  der  wei- 
teren Besprechung  seiner  Ansichten  leicht  wieder  ein  Bach  ent- 
Btehn  könnte. 

Der  Leser  wird  durch   die  lebhafte,  überall   von  Begeisterung 

1)  Bereits  Crowe  und  Gavalcaselle  hatten  auf  die  antiken  Anklänge  in  den 
Jakobsbildern,  sowie  die  Fortschritte,  die  sich  in  den  letzten  Malereien  der  bei- 
den Gyklen  einstellen,  hingewiesen. 

2)  Treffend  bemerkt  Tikkanen  in  seiner  gediegenen  und  geistreichen  Schrift: 
Der  malerische  Styl  Giottos,  Helsingfors  1884 :  Giotto  stellte  sich  vor,  welche 
Eindrücke  die  in  den  Legenden  beschriebenen  Ereignisse  den  Anwesenden  veror- 
sacht  haben  mafiteu,  machte  diese  Eindrücke  durch  Geberden  und  Mienen  äuBer- 
lieh  sichtbar  und  übersetzte  so  in  echt  künstlerischer  Weise  die  Worte  der  Le- 
gende  ins  Bild. 


Berger,  Geschichte  der  wissenschaftlichen  Erdkande  der  Griechen.  I.     273 

für  die  Aufgabe  getragene  Darstellnngsweise  des  Verfassers  in  die 
Gedankengänge  desselben  hineingezogen.  An  solchen  Stellen,  wo 
sich  der  Verfasser  mit  Meinungen,  die  von  den  seinigen  abweichen, 
auseinandersetzt,  geschieht  es  mit  einem  so  gründlichen  Eingehn  auf 
die  Gedanken  des  Gegners  und  in  einem  so  urbanen  Tone,  daft  man 
sogleich  die  Ueberzeugung  gewinnt,  dem  Verfasser  komme  es  nur 
auf  die  Sache  an. 

Durch  Thodes  Buch  ist  unsere  kunstgeschichtliche  Litteratur  um 
ein  durchaus  tOcbtiges  Werk  bereichert  worden. 

Berlin.  E.  Dobbert. 

Berg  er,  Hugo,  Dr.,  Geschichte  der  wissenschaftlichen  Erdkunde 
der  Griechen.  Erste  Ahtheilung.  Die  Geographie  der  lonier.  Leipzig, 
Yerlag  von  Yeit  &  Comp.    1887.    XII,  145  S.    8*». 

Die  von  Johann  Heinrich  Voß  begründete  Geschichte  der  grie- 
chischen Geographie  schien  der  Stagnation  verfallen,  als  die  Unter- 
suchungen von  Mtlllenhoff  und  Berger  fast  gleichzeitig  neues  Leben 
brachten.  Müllenhoffs  Avien  erschloß  uns  die  älteste  Kunde  von 
Westeuropa,  aber  seine  Behandlung  der  alexandrinischen  Systeme 
war  bereits  in  dem  Augenblicke ,  wo  sie  das  Tageslicht  erblickte, 
durch  den  Hipparch  von  Berger  überholt.  Müllenhoffs  >  offenes  Be- 
kenntnis« in  den  Nachträgen  zur  deutschen  Altertumskunde  I  500  f. 
gereicht  ihm  selbst  und  Berger  zur  Ehre.  Nach  zehnjährigen  Vor- 
arbeiten einer  fast  unbeschränkten  und  auf  das  Gewissenhafteste  be- 
nutzten Muße  konnte  Berger  1880  dem  Hipparch  seinen  Eratosthenes 
folgen  lassen,  ein  Werk,  das  wohl  in  Einzelheiten  Ergänzungen  und 
Aenderungen  erfahren  mag,  als  Ganzes  aber  dauern  wird  und  voraus- 
sichtlich noch  lange  den  Mittelpunkt  der  auf  die  systematische  Geo- 
graphie der  Griechen  gerichteten  Studien  bilden  wird.  Was  man  an 
den  genannten  beiden  Fragmentsammlungen  vermissen  konnte,  war 
der  Umstand,  daß  kein  Versuch  gemacht  war,  die  Fülle  der  wohl- 
geordneten Einzelheiten  zu  concentriertem  Ueberblick  zusammenzu- 
fassen. Bergers  Aufsatz  »Zur  Entwickelang  der  Geographie  der 
Erdkugel  bei  den  Hellenenc,  1880  in  den  Grenzboten  erschienen, 
konnte  bei  seiner  durch  den  Charakter  der  Zeitschrift  gebotenen 
Knappheit  einen  vollständigen  Ersatz  dafür  nicht  bieten ;  aber  dieser 
Aufsatz  mußte  den  Wunsch  erwecken,  in  ausgeführter  Darstellung  zu 
erhalten,  was  hier  in  Kürze  angedeutet  war.  Wir  freuen  uns,  daß 
es  einem  einsichtigen  Verleger  gelungen  ist,  Berger  zu  einer  Zusam- 
menfassung der  Resultate  fast  zwanzigjähriger  Studien  zu  bewegen; 
heute    liegt    das    erste    Stück    des    ausgereiften    Werkes  vor  uns. 

Was  Berger  uns  in  historischer  Behandlung  vorführt,  ist  nicht 
die  Gesamtheit  alles  dessen,  was  man  bisher  Geographie  der  Grie- 
chen genannt  hat.    Die  Geschichte  der  griechischen  Länderkunde  ist 

QttL  gtl.  Ans.  1S87.  Nr.  7.  20 


274  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  7. 

iD  bewußter  Absicht  ausgeschlosseO)  die  Oeschichte  der  Eotdeckan- 
gen  nur  soweit  behandelt,  als  ihre  Resnltate  fär  die  GrandzUge  des 
Eartenentwarfes  in  Betracht  kommen.  Nach  brieflicher  Verständi- 
gung mit  Berger  bin  ich  dessen  sicher,  daß  es  die  Zustimmung  zu 
einer  von  mehreren  Geographen  der  Gegenwart  gebilligten  Begriffs- 
bestimmung erklären  soll,  wenn  Bergers  Buch  der  Länderkunde  ihre 
Stelle  außerhalb  des  Gebietes  anweist,  dessen  Behandlung  der  Titel 
verspricht.  Es  ist  nicht  meines  Amtes,  die  Zugehörigkeit  oder  die 
Geschiedenheit  der  Länderkunde  von  der  Geographie  zu  diskutieren ; 
auch  bestreite  ich  niemandem  das  Recht,  die  Geschichte  eines  in 
moderner  Weise  abgegrenzten  Gebietes  der  Wissenschaft  zu  schreiben. 
Aber  danach  muß  allerdings  gefragt  werden,  ob  Berger  mit  der 
Ausschließung  der  Länderkunde  die  Absicht  der  Griechen  selbst  ge- 
troffen hat  Ich  suche  vergeblich  in  dem  Buche  eine  Bestimmung 
dessen,  was  die  Griechen  unter  Geographie  verstanden  haben ;  die 
Bemerkung  auf  S.  2  A.  1  und  2  kann  in  keiner  Weise  genügen. 

Im  sechsten  Jahrhundert  und  einem  großen  Teil  des  fünften 
kann  man  bei  den  Griechen  wohl  von  Wissenschaft,  aber  noch  nicht 
von  Einzelwissenschaften  reden.  Die  l(noQia  umfaßt  das  ganze  Ge- 
biet der  Beobachtung,  der  wirklichen  und  der  vermeintlichen  Ueber- 
lieferung;  was  über  die  Beobachtung  hinausgeht  ist  (ftXoco(fla.  Erd- 
beschreibung und  Geschichte  gehören  in  gleicher  Weise  in  das  Ge- 
biet der  tctoQliXy  der  Erkundung.  Die  Gestalt  der  Erde  aber  und 
ihre  Stellung  in  der  Welt  zu  bestimmen,  reichte  keine  Erkundung  ans. 
Diese  Fragen  beantwortete  der  Mythos  und  nach  und  neben  ihm  die 
Philosophie.  So  sind  geographische  Elemente  auf  den  beiden  großen 
Gebieten  geistiger  Thätigkeit  zu  finden ;  zur  Eiuheit  eines  selbstän- 
digen Zweiges  wissenschaftlicher  Erkenntniß  sind  sie  n  icht  verbunden. 

Innerhalb  der  Uftoqia  aber  hat  man  bereits  zeitig  eine  Schei- 
dung der  geographischen  und  historischen  Elemente  versucht. 
Aber  obwohl  man  Periegesen  und  Genealogien  als  getrennte  Werke 
schrieb,  war  es  nicht  möglich,  eine  rein  sachliche  Sonderung  durch- 
zuführen. Die  Barbarengeschichte,  die  Völkerkunde  fügte  sich  bes- 
ser in  den  periegetischen  Bahmen;  ihre  Einfügung  in  das  genealo- 
gische Schema  ist  nicht  ursprünglich.  In  noch  engere  Verbindung 
treten  Länderkunde  und  Geschichte  in  der  einheitlichen  Darstellung 
Herodots.  Diese  Verbindung  ist,  im  Gegensatze  zu  der  großen  Hasse 
römischer  Historiographie,  ein  charakteristisches  Merkmal  der  grie- 
chischen Geschichtschreibung  geblieben,  das  auch  dem  Werke  des 
Thukydides  nicht  fehlt. 

Das  sicherste  Zeichen  einer  bestimmten  Unterscheidung  bietet 
immer  das  Vorhandensein  eines  terminus  technicus.  Das  Wort  r^oh- 
f^atpla  bez.  yswyqdfpoQ  und  yemyQaqiiia  ist  aber  in  der  voralexandri- 


Berger,  Geschichte  der  wissenschaftlicheD  Erdkunde  der  Griechen.   I.    275 

nischcD  Litteratnr  überhaupt  nicht  nacbzuweiseD ;  ebensowenig  x^* 
QojTQOipia^  %ono3$(f(a  oder  ein  anderer  ähnlicher  terminus  ^).  Und  man 
darf  sich  hier  nicht  auf  die  Lückenhaftigkeit  unserer  Ueberliefernng 
berufen.  Wäre  ein  solches  Wort  vorhanden  gewesen,  so  stände  es 
bei  Aristoteles.  Einmal  findet  sich  allerdings  r^mrqa^iia  in  dem 
aristotelischen  corpus,  —  aber  in  dem  bekanntlich  nicht  aristoteli- 
schen, späten  Schriftchen  nsgl  HoCfAov  3  p.  393  b  20.  Aristoteles 
selbst  braucht  ^^g  neqiodoq  von  der  Karte  (met.  I  13  p.  350a  15.  16; 
II  5  p.  362b  12)  und  der  litterarischen  Behandlung  (pol.  II  3 
p.  1262a  18.  19).  Erst  im  Zeitalter  der  alexandriniscben  Wissen- 
schaft findet  sich  das  Wort  r^aiygatpia  gebraucht.  Nach  Strabon 
I  1,  2  G  2  hatte  Hipparch  den  Homer  als  ^Qx^ir^ttj^  tijg  ysarga^ 
q>$9t^g  ilkmiqtoq  bezeichnet;  aber  schon  vor  ihm  Eratosthenes.  Daß 
das  Citat  bei  Strabon  I  1, 1  G  1  sich  auch  im  Wortlaut  eng  an  Era- 
tosthenes anlehnt,  ist  an  sich  deutlich  und  wird  dadurch  nur  ge- 
wisser, daß  dem  3a^^ijaapteg  bei  Strabon  hoXfA^ae  bei  dem  von 
Strabon  unabhängigen  Agathemeros  (I  1)  entspricht.  Vor  Allem 
aber  lautete  der  Titel  des  eratosthenischen  Werkes  ysmyQafptud 
(Strabon  I  2,  21  C  29). 

Ich  kann  mich  des  Gedankens  nicht  erwehren,  daß  eben  Era- 
tosthenes den  terminus  geschaffen  hat ,  der  durch  den  Titel  seines 
Werkes  weite  Verbreitung  finden  mußte.  Daß  Dikaiarchos  hierin 
nicht  sein  Vorgänger  gewesen,  erkennt  man  daraus,  daß  derselbe 
noch  die  alte  Bezeichnung  nsqiodog  yijg  bietet.  Auf  jeden  Fall  läßt 
sich  erkennen,  worauf  Eratosthenes  das  neue  Wort  bezogen  wissen 
wollte.  Es  handelt  sich  bei  ihm  um  die  Vorbedingungen  und  die 
Ausführung  der  Karte.  Als  Pioniere  der  Geographie  nennt  Era- 
tosthenes bei  Strabon  I  1,  1  G  1  Homer,  Anaximander  und  Heka- 
taios.  Die  beiden  letzteren  haben  Erdkarten  entworfen ;  das  legt 
den  Gedanken  nahe,  daß  Homer  hier  wesentlich  wegen  des  Schildes 
des  Achilleus  erwähnt  wird,  wo  Hephaistos 

iy  fkiy  yatav  St€V^\  iv  d'  ovgavöv,  iv  dh  &dXa(f<rav  (2  483). 
Die  Daten  für  die  Ausführung  dieser  Karte  mochte  dann  ein  jeder  in 
den  homerischen  Gedichten  suchen.  Meiner  Meinung  nach  ist  also  der 
eratosthenische  rfwygdifog  lediglich  der  Kartenzeichner,  Y^wyqatpia  der 
Kartenentwurf.  Die  yBfayqaffk^d  des  Eratosthenes  sind  eben  die 
»Lehre  vom  Kartenentwurf«.  Die  Karte  selbst  behält  natürlich  die 
Bezeichnung  nival^.  Zu  genauerer  Bestimmung  aber  brauchte  man 
nun  nicht  mehr  nival^  iv  taS  y^q  andarrig  nsqlodog  ipstitfAfjtOy  y^g  ne- 
qiodog  ndtfijg  oder  ntvaueg,   iv   dtg  y^g  nsqlodoi  eta^v  zu  sagen ;  jetzt 

1)  Der  Ausdruck  tonoyqatpia  bei  Strab.  Vm  1,  3  C  334  ist  Dicht  ephorisch, 
sondern  strabonisch.  Die  Absicht  des  Ephoros  klarzulegen  bedient  sich  Strabon 
seiner  eigenen  Sprache. 

20* 


276  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  7. 

genttgt  es,    von   einem  r^9»}^Q^(ftxdg  ntva^  (Strabon  II  5,  13  G   118) 
zu  reden. 

Womöglich  noch  bestimmter  als  bei  Eratosthenes  zielt  bei  sei- 
nem Gegner  Hipparch  alles  aaf  die  Konstruktion  der  Karte  hin. 
Der  wesentliche  Teil  des  Bergerschen  Buches,  die  Kapitel  über  die 
äaßere  Begrenzung  der  ionischen  Erdkarte,  die  Einteilung  der  Oiku- 
mene,  über  das  innere  Kartenbild  und  der  Beschluß  nehmen  genan 
dieselbe  Richtung.  Bergers  Stoffabgrenzung  würde  demgemäß  der 
eratosthenisch-hipparchischen  und  m.  E.  ursprünglichen  Begriffsbe- 
stimmung der  Geographie  entsprechen,  wenn  sie  sich  hierauf  be- 
schränkt hätte.  Aber  das  Kapitel  über  die  Spuren  der  physischen 
Geographie  fügt  sich  nicht  in  diesen  Rahmen. 

Welchen  Einfluß  die  eratosthenische  Begriffsbestimmung  gewon- 
nen hat,  erkennen  wir  daraus,  daß  die  ptolemäische  Definition  sich 
fast  vollständig  mit  ihr  deckt.  ^  r^<oyQa<fia,  sagt  Ptolemaios,  f»^ 
[Hjüig  ifSu  dh&  yQa(frjg  tov  »autliif$fA4vov  %^g  ;'$(  (Asgovg,  Eine  Diffe- 
renz tritt  nur  insofern  ein,  als  bei  Eratosthenes  offenbar  die  Her- 
stellung jeder  Karte  unter  den  Begriff  der  r^cayqafpta  fällt,  während 
Ptolemaios  bereits  zwischen  geographischen  und  chorographischen 
Karten  scheidet.  Letztere  unterscheiden  sich  von  ersteren  durch  die 
Berücksichtigung  des  Details;  eben  diese  ist  es,  welche  Cborographie 
und  Geographie  von  einander  trennt.  Bereits  Strabon  kennt  die 
Unterscheidung  des  x^Q^yQ^V^*^^  ntva^  vom  yewygaffixog  ^).  Das 
Wort  xiaqoygaifia  kann  ich  nicht  früher  als  bei  Polybios  nachweisen : 
daß  Strabon  X  3,  5  G  465  den  Wortlaut  des  Polybios  erhalten  hat, 
sagt  er  selbst,  und  seine  Aussage  findet  in  der  Vergleichung  mit 
Polyb.  I  36  f.  ihre  Bestätigung.  Die  eigenste  Aufgabe  der  xfaqoyit^' 
<pia  ist  nach  Polybios  nsql  d^iastag  xotkav  xai  d^actfukdtwv  zu  handeln; 
es  ist  die  specielle  Länderbeschreibung.  Ich  wage  es  nicht,  auch 
diesen  terminus  bereits  auf  Eratosthenes  zurückzuführen;  ich  finde 
ihn  bei  Strabon  nur  in  solchen  Stücken,  die  polybische  Gedanken 
weiterspinnen.  Aber  nachdem  einmal  Eratosthenes  seinen  terminus 
geschaffen  hatte,  lag  es  nahe,  die  verwandten,  von  ihm  ausge- 
schlossenen Gebiete  ebenfalls  unter  einem  einheitlichen  Namen  zu 
begreifen.  Nur  in  einer  Beziehung  glaube  ich  einen  verschiedenen 
Entwickelungsgang  beider  termini  annehmen  zu  sollen.  Die  yemyQatfla 
ist  ursprünglich  lediglich  die  Herstellung  der  bildlichen  Erdzeichnung, 
und  daraus  entwickelt  sich  erst  die  Bedeutung  der  redenden,  die 
Karte  erklärenden  Erdbeschreibung.  Der  terminus  x^ü^YQ^V^  da- 
gegen gebt  von  der  ausführlichen  litterarischen  Länderbeschreibung 
ans,  wie  sie  bereits  vorhanden  war,  während  es  detaillierte  Länder- 

1)  Frick,  Fleckeisens  Jabrbb.  123  (1881)  S.  650  ff.  die  notxiXfiata  finden  ihre 
3chl»gende  Parallele  bei  Ptol.  I  1  p.  6,  11.  12  und  p.  6,  2  Müller. 


Berger,  Geschichte  der  wissenschaftlichen  Erdkunde  der  Griechen.   I.     277 

karten  offenbar  noch  gar  nicht  gab.  Erst  im  Fortgang  der  römi- 
schen Herrschaft  hat  dann  die  Straßenkarte  der  ysmyqcttpia  aach  die- 
ses chorographische  Komplement  verschafft. 

Es  maß  also  zugestanden  werden,  daß  die  Terminologie  der 
nacheratosthenischen  Zeit  Geographie  und  Länderkunde  unterschei- 
det; was  Polybios  in  Exkursen  seiner  pragmatischen  Geschichte  be- 
handelt, hat  er  selbst  nicht  als  Geographie,  sondern  als  Chorographie 
bezeichnet.  Wie  Ptolemaios  zeigt,  ist  diese  Scheidung  auch  in  der 
Folge  nicht  vergessen  worden.  Aber  daß  auch  Strabon  >den  Unter- 
schied anerkennec,  meint  Groskard  I  13  in  gewisser  Beziehung  mit 
Unrecht.  Strabon  kennt  wohl  diese  Unterscheidung,  aber  sie  ist 
ihm  keine  Norm.  Man  führe  nicht  dagegen  an,  daß  seine  Gegen- 
fiberstellnng  des  r^mrQatpixdg  und  des  x^Q^rQ^V*^^^  nivalg  ja  von  je- 
ner Trennung  ausgeht;  denn  hier  hat  Strabon  offenbar  übliche  Aus- 
drücke wiedergegeben.  Für  seine  eigene  Grandanschauung  ist  viel- 
mehr Folgendes  charakteristisch.  Der  Inhalt  seines  Werkes  ist  be- 
kanntlich überwiegend  Länderkande,  und  eben  darin  beruht  seine 
Stärke;  trotz  alledem  hat  er  sein  Werk  remrQcef^ud  genannt.  Das 
lehrt  ganz  unzweifelhaft,  daß  er  an  eine  Gegenüberstellung  nicht  im 
Entferntesten  gedacht  hat.  Wohl  versteht  auch  er  Chorographie  von 
der  ausgeführten  Beschreibung;  aber  er  subsumiert  dieselbe  unter 
dem  höheren  und  umfassenderen  Begriffe.  So  sind  die  verwandten 
Stücke,  die  im  Anfang  in  der  latogla  and  der  (p^Xoaoipia  zu  suchen 
waren,  nunmehr  znr  Einheit  zusammengezogen.  Und  man  kann  die- 
ser Zusammenfassung  ihre  Bedeutung  nicht  bestreiten,  wenn  man  er- 
wägt, daß  A.  V.  Humboldt  und  Karl  Ritter  den  umfassenden  strabo- 
nischen  Begriff  der  Geographie  anerkannten. 

Die  Anfänge  der  physischen  Geographie,  sofern  man  von  ihren 
Objekten  nicht  bloß  staunend  als  n^qi  ^av^atsitav  dxovaikdxmv  redet,  ge- 
hören nun  unzweifelhaft  nicht  in  die  Geographie  eratosthenischer  Be- 
stimmung, sondern  in  die  Chorographie,  die  Länderkunde.  Dieselbe 
gibt  zunächst  wohl  3i<r€t^  %6nmv  und  dtaczfjfAata,  aber  daß  sie  dar- 
auf nicht  beschränkt  ist,  zeigt  auch  die  Definition  des  Ptolemaios 
(I  1  p.  5,  2  Müller),  wonach  sie  mehr  negl  td  noiov  als  %d  nottop 
xmv  »ataTaaoofiSvmy  r^veva$.  Ebenso  ist  deutlich,  daß  die  Fülle  phy- 
sikalischer Notizen,  die  bei  Strabon  stehn,  nicht  dem  geographischen, 
sondern  dem  chorographischen  Teile  alexandrinischer  Scheidung  ent- 
stammen. 

Beurteilt  man  nun  die  Stoffbegrenzung  Bergers  nach  den  eben 
konstatierten  Thatsachen,  so  ist  deutlich,  daß  sie  sich  der  alexandri- 
nischen  Einteilung  nicht  fügt.  Sie  würde  ihr  allerdings  entsprechen, 
wenn  das  Kapitel  über  die  Anfänge  der  physischen  Geographie  bei 
den  Griechen  fehlte.   Dagegen  deckt  die  Auswahl  Bergers  sich  aller- 


278  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  7. 

dings  in  anderer  Weise  und  ohne  es  beabsichtigt  zu  haben  mit  einer 
Einteilung  der  Griechen  selbst,  mit  der  alten  Scheidung  von  IozoqUi 
und  (ptloaog>ia.  Denn  unter  letztere  fällt  die  physische  Oeographie, 
und  die  Objekte  der  iatogla  sind  von  Berger  nur  insoweit  behandelt, 
als  sie  der  if$loao(pla  zur  Grundlage  dienen.  So  wird  denn  Bergers 
von  modernen  Gesichtspunkten  ausgehende  Stoffbegrenzung  sich  bis 
auf  die  Zeit  des  Aristoteles  auch  mit  der  griechischen  Scheidung 
decken;  der  alexandrinischen  Gegenüberstellung  von  r^ci^rgafpia  und 
X^QorQa(fla  wird  sie  aber  nicht  mehr  entsprechen,  da  die  physische 
Geographie  eben  zur  Ghorographie  gehört,  und  Berger  mit  ihrer  Be- 
handlung ttber  den  Rahmen  der  alexandrinischen  y^^YQ^V^^  hinaus- 
geht. Aber  wir  wollen  uns  dessen  freuen,  daß  wir  nunmehr  erwar- 
ten können,  wenigstens  einen  Teil  der  x^Q^VQ^V^^  iQ  Bergers  Dar- 
stellung zu  erhalten. 

Eine  Geschichte  der  physischen  Weltanschauung  des  Altertums, 
wie  sie  Humboldt  in  großen  Zügen  entworfen  hat,  wird  wohl  jedem 
als  das  höchste  Ziel  vorschweben,  das  hier  zu  erreichen  ist.  Ich 
weiß  nicht,  ob  in  der  Gegenwart  irgend  jemand  für  die  Lösung  die- 
ser Aufgabe  besser  vorbereitet  ist  als  Berger.  Auf  jeden  Fall  wird 
uns  sein  Werk  der  erreichbaren  Lösung  erheblich  nähern. 

Die  ältesten  kosmologischen  und  geographischen  Vorstellungen 
der  Griechen  haben  wir  unzweifelhaft  in  ihrem  Mythos  zu  suchen 
und  aus  den  homerischen  Gedichten  zu  erkennen.  Ein  psychologi- 
scher Unterschied  der  ältesten  Spekulation  und  der  mythenbildenden 
Phantasie  ist  kaum  zu  finden ;  auf  jeden  Fall  hat  die  älteste  Philo- 
sophie der  Griechen  an  die  Vorstellungen  des  Mythos  angeknüpft. 
Nicht  ohne  guten  Grund  hat  Zeller  die  griechische  Religion  als  eine 
Quelle  griechischer  Philosophie  behandelt,  und  Berger  hätte  m.  E. 
diesem  Beispiele  folgen  sollen.  Das  gleiche  Recht,  das  der  Lehre 
Anaximanders  von  der  Erdgestalt  sorgfältige  Erörterung  verschafft 
hat,  kann  ohne  Zweifel  auch  die  Angabe  des  Aristoteles  geltend 
machen,  der  zu  Folge  Thaies  die  Erde  auf  dem  Wasser  schwimmen 
ließ.  Die  äußeren  und  inneren  Gründe,  welche  dafür  sprechen,  daß 
Anaximander  die  Erde  ftir  eine  kreisförmige  Platte  von  mäßiger 
Dicke  erklärte,  macht  Berger  in  überzeugender  Weise  geltend.  Wenn 
er  aber  eine  weitgehende  Unabhängigkeit  Anaximanders  von  der  mythi- 
schen Vorstellung  behauptet,  so  vermag  ich  ihm  hierin  nicht  zu  folgen. 
Ich  bekenne,  nicht  recht  einzusehen,  welch  ein  Unterschied  zwischen 
einer  kreisförmigen  Platte  von  mäßiger  Dicke  und  einer  dicken 
Scheibe  besteht,  als  welche  sich  nach  J.  H.  Voßens  Darlegung  die 
homerischen  Gedichte  die  Erde  vorstellen.  Berger,  der  die  Abhängig- 
keit der  anaximandrischen  Karte  von  dem  runden,  durch  die  Gestalt 
des  Horizontes  bedingten,   homerischen  Erdbilde  richtig  konstatiert, 


Berger,  Geschichte  der  wisseuschaftlichen  Erdkunde  der  Griecheu.    I.    279 

wttrde  hiergegen  wohl  nichts  einzuwenden  haben,  wenn  er  dieselben 
Ansehannngen  von  der  allmählichen  Losli^snng  des  wissenschaftlichen 
Denkens  von  der  mythischen  Vorstellung  hegte,  in  denen  ich  mich 
mit  hervorragenden  Forschern  einig  weiß.  Die  kosmologischen  Vor- 
stellungen des  Mythos  müssen  uns  aber  den  Thaies  ebenso  gut  wie 
den  Anaximander  erklären  helfen;  ich  glaube  nicht,  daß  man  ein 
Recht  hat  anzunehmen,  Thaies  habe  sich  die  auf  dem  Wasser  schwim- 
mende Erde  als  etwas  anderes  als  eine  dicke  Scheibe  vorgestellt. 
Mit  Homer  hätte  ich  die  Geschichte  der  griechischen  Erdkunde  be- 
gonnen, und  von  dort  aus  wäre  ich  zu  Thaies  und  Anaximander 
fortgeschritten.  Als  Begründer  der  wissenschaftlichen  Geographie  hat 
Berger  den  Anaximander  doch  wohl  nur  unter  dem  Einflüsse  des 
Eratosthenes  bezeichnet.  Eratosthenes  nannte  ihn  auch  mit  vollem 
Bechte,  von  dem  homerischen  Hephaistos  abgesehen,  an  erster  Stelle, 
aber  als  r^iarqdqoq  in  seinem  Sinne,  d.  h.  als  ersten  Kartenzeichner  ^). 
Dieser  Ruhm,  und  das  ist  kein  kleiner,  möge  ihm  bleiben. 

In  dem  ersten  vorliegenden  Hefte  behandelt  Berger  die  Geogra- 
phie der  lonier  d.  h.  die  Geschichte  der  griechischen  Geographie,  so- 
weit dieselbe  durch  die  ionische  Philosophie  bedingt  ist.  Im  zweiten 
Hefte  soll  zunächst  der  Einfluß  der  pythagorischen  Lehre  von  der 
Engelgestalt  der  Erde  in  ihrer  mächtigen  Wirksamkeit  nachgewiesen 
werden.  Ich  halte  es  für  ein  großes  Verdienst  von  Berger,  den  Ein- 
fluß der  Philosophie  mit  Energie  betont  und  zum  Princip  der  Ein- 
teilung gemacht  zu  haben.  Die  Behandlung  der  ionischen  Geographie 
erörtert  die  äußere  Begrenzung  der  Erdkarte,  die  Einteilung  der 
Oikumene,  das  innere  Eartenbild  und  die  Spuren  der  physischen 
Geographie,  um  mit  einem  Ausblick  auf  Demokrit  und  Herodot  zu 
schließen.    Betrachten  wir  zunächst  den 

I.  Abschnitt,  die  äußere  Begrenzung  der  ionischen 
Erdkarte  S.  1—51.  Daß  die  älteste  Philosophie  ihr  Erdbild  in 
den  großen  Zügen  der  naiven  Vorstellung  entlehnt  hat,  habe  ich  be- 
reits bemerkt.  Berger  sucht  nun  die  Umgrenzung  des  Oikumenen- 
bildes  auf  der  ältesten  Karte  festzustellen  und  die  Gründe  zu  erken- 
nen, auf  denen  diese  Umgrenzung  beruhte.  Bei  wiederholter  Lektüre 
ist  mir  immer  deutlicher  geworden,  daß  Bergers  Darstellung  mit  dem 
Worte  Oikumene  operiert,  als  ob  über  den  begrifflichen  Inhalt  dieses 
Wortes  und  das  Alter  des  Begriffes  allgemeine  und  bewußte  Ueber- 
einstimmung  herrschte.  Mehrfach  führen  gelegentliche  Bemerkungen 
Bergers  bis  dicht  vor  die  Frage,  die  auch  einmal  S.  9  beiläufig 
aufgeworfen  wird,    aber  keine  geschlossene    Antwort  findet.     Von 

1)  Das  18t  auch  für  Berger  S.  53  zu  beachten.  Auch  Hekataios  verdankt 
die  Stellung,  welche  EratOBthenes  ihm  in  der  Geschichte  der  Geographie  anweist, 
seiner  Karte,  wonach  Berger  S.  65  zu  berichtigen  ist. 


280  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  7. 

einer  Oiknmene  konnte  nur  im  Gegensatze  zu  einer  unbewohnten 
Erde  geredet  werden.  Ein  solcher  Oegensatz  konnte  vielleicht  von 
der  mythischen  Vorstellung  seinen  Ausgang  nehmen.  Von  dieser  aber 
abgesehen  konnte  er  entweder  durch  die  Erfahrung  gewonnen  wer- 
den, falls  dieselbe  faktische  Grenzen  der  menschlichen  Siedelungen 
aufwies,  oder  er  war  auf  Grund  mathematisch-naturwissenschaftlicher 
Spekulationen  zu  erschließen. 

Wenn  der  Fluß  Okeanos  die  Erde  rings  umströmte,  so  wird  es 
uns  nicht  leicht,  von  der  Frage  nach  dem  jenseitigen  Ufer  desselben 
abzusehen,  und  man  kann  auch  nicht  behaupten,  daß  die  homerischen 
Zeiten  sich  keine  Gedanken  darum  gemacht  hätten.  Das  Todtenreich, 
der  Hades,  liegt  auf  dem  jenseitigen  Ufer  des  Stromes,  nicht,  wie 
Voß  gemeint  hat,  auf  der  dem  Ocean  zugekehrten  Seite  der  Erde, 
auf  der  die  lebendigen  Menschen  wohnen  ^).  Im  Anschluß  an  diese 
Vorstellungen  hätte  der  Begriff  der  oltovfkivfi  vielleicht  entstehn  können 
als  Bezeichnung  fUr  die  vom  Okeanos  umströmte  Erde.  Hiervon 
aber  abgesehen  mußte  Wort  und  Begriff  sich  bilden  im  Zusammen- 
hang mit  der  Lehre  von  der  Kugelgestalt  der  Erde  und  der  parme- 
nideischen  Zonentheorie.  Auf  dem  Grunde  dieser  Lehre  stehend  hat 
man  die  Bewohnbarkeit  der  ganzen  Kugel  als  eine  Unmöglichkeit 
bezeichnet.  Endlich  hat  man,  wie  der  Empirismus  der  Spekulation 
ja  immer  nachhinkt,  angefangen,  faktische  Grenzen ')  des  bewohnten 
Landes  im  Norden  und  im  Süden  zu  ermitteln. 

Es  ist  notwendig  und  nützlich,  die  Verschiedenheit  dieser  Wege 
zu  erkennen  und  festzuhalten,  wenn  auch  der  Versuch,  eine  so  ge- 
naue Präcisierung  zu  gewinnen,  wie  der  terminus  r^<oyQa(fla  sie  ge* 
stattet,  angesichts  der  Trttmmerhaftigkeit  der  älteren  Litteratur,  fttr 
welche  Aristoteles  hier  nicht  entschädigt,  kaum  unternommen  werden 
darf.  Daß  bereits  Anaximander  den  Ausdruck  otxovfAivtj  gebraucht 
habe,  läßt  sich  aus  Aristoteles  Meteorologie,  die  in  den  Ausdrücken 
ihrer  eigenen  Zeit  redet,  nicht  entnehmen,  so  recht  auch  Berger  S.  10 
daran  thut,  Anaximanders  Karte  in  die  von  Aristoteles  getadelten 
einzuschließen.  Die  Wahrscheinlichkeit  spricht  daftlr,  die  bewußte 
Formulierung  des  Begriffes  und  die  Bildung  eines  terminus  erst  auf 
die  Nötigung  der  parmenideischen  Lehre  zurückzuführen.  Wollte 
man  aber  Begriff  und  Wort  otnovfAiytj  doch  bereits  bei  Anaximander 
voraussetzen,  so  könnte  bei  ihm  lediglich  die  Vorstellung  des  home- 
rischen Erdbildes  in  Betracht  kommen.  Denn  der  Fluß  Okeanos  er- 
möglicht immerhin  die  Vorstellung  einer  Oikumene.  Tritt  aber  das 
Weltmeer  an  die  Stelle  des  Flusses,  so  schwindet  der  Gedanke    an 

1)  Dafi  die  Kimmerier  nicht   in  den  ursprünglichen  Zusammenhang  gehören, 
ist  evident;  v.  Wilamowitz,  Homer.  Unters.  S.  165. 

2)  Berger  S.  84. 


Berger,  Geschichte  der  wissenschaftlichen  Erdkunde  der  Griechen.   I.    281 

das  andere  Ufer  und  damit  der  Gegensatz,  ohne  welchen  der  frag- 
liche Begriff  eben  nicht  entstehn  konnte  ^), 

Der  Zusammenhang   des  die   Erde   rings  umgebenden  Wassers 
!  verstand  sieh  ganz  von  selbst  und  bedurfte  keines  Beweises,  so  lange 

I  man   am   Flusse   Okeanos')    festhielt.     Daß   die  Betrachtungsweise 

für  diesen  mythischen  Begriff  keinen  Platz  mehr  gehabt  habe,  hat 
Berger  S.  15  f.  meines  Erachteus  nicht  erwiesen.  Denn  daraus,  daß 
Anaximander  die  x^dXaaaa  für  den  Ueberrest  t^g  ngtavtiQ  v/Qotfitoc 
erklärte  (doxogr.  p.  494  Diels),  folgt  ja  nicht  im  Mindesten,  daß  er 
den  Okeanos  in  anderer  Weise  als  die  FIttsse  zur  ^aXatfca  in  Be- 
ziehung setzte').  Und  wie  nsqii  »lyv  y^v  doxogr.  494,  5  aufzufassen 
I  ist,  zeigt  deutlich    die  von  Diels  A.  4  citierte  Stelle  aus  Aristoteles 

met.  II  2  p.  355  a  21.  Wirklich  erschüttert  wurde  die  mythische 
Vorstellung  vom  Okeanos  erst  durch  die  Fahrten  der  Phönicier  außer- 
halb der  Säulen.  Den  Ursprung  dieser  Fahrten  zu  datieren  sind  wir 
aber  bekanntlich  nicht  im  Stande ;  wir  können  nur  sagen,  daß  man- 
nichfache  Versuche  vorhergehn  mußten,  ehe  Expeditionen  von  solcher 
Ausdehnung  möglich  wurden,  wie  der  alte  Periplus  des  Avienus  sie 
voraussetzt.  Indirekt  gewonnene  Kunde  von  dem  Ocean  mochten 
die  Fahrten  der  Phokäer  bringen.  Daß  Anaximander  die  mythische 
Vorstellung  vom  Okeanos  aufgegeben  habe,  würde  nur  dann  mit  Si- 
cherheit behauptet  werden  können,  wenn  der  Nachweis  möglich  wäre, 
daß  die  Resultate  dieser  westlichen  Fahrten  ihm  bekannt  geworden 
seien  und  einen  Einfluß  auf  i  hn  gewonnen  hätten.  Eine 
sichere  Entscheidung  wird  ans  dem  vorhandenen  Materiale  ftlr  Ana- 
ximander nicht  direkt  zu  gewinnen  sein ;  es  fragt  sich,  ob  uns  nicht 
doch  Herodot  indirekt  dazu  verhilft.  Mit  größerer  Bestimmtheit  lehne 
ich  aber  Bergers  Vermutung  auf  S.  30  ab,  nach  der  die  Erzählung 
des  Aristeas  von  Prokonnesos  auf  eine  dunkele  Kunde  der  Ostsee 
dentet.  Herodot  IV  13  führt  in  eine  ganz  andere  Richtung  und  nicht 
bis  zum  Weltmeer ;  der  ursprüngliche  Bericht  wird  den  Okeanos  ge- 
nannt und  den  Strom  gemeint  haben.  Allmählich  haben  die  ionischen 
Geographen  allerdings  eine  wirkliche  Kunde  vom  äußeren  Weltmeer 
gewonnen,  welche  den  Glauben  an  den  Okeanosstrom  schließlich  ver- 
nichten mußte.  Auf  die  Entdeckung  des  atlantischen  Oceans  hat  Ber- 
,  ger  nicht  genauer  eingehn  wollen.    Für  den  Eridanos  waren  v.  Wi- 

I-  lamowitz  und  Robert,  Hermes  XVIII  (1883)  S.  426  ff.,  sowie  Knaacks 

i  qnaestiones  Phaethonteae,  Berlin  1886,   noch   zu  benutzen.    Bergers 

1)  Die  platouische  Dichtung  des  Atlantis  kommt  in  der  Entwickelungsreihe 
des  auf  die  Erkenntnis  der  Wirklichkeit  gerichteten  naiv-mythologischen  und 
spekulierenden  Denkens  überhaupt  nicht  in  Betracht. 

2)  Üeber  die  UfAyti  des  Helios  handelt  Berger  S.  84  in  gelehrter  Weise. 
Entgangen  ist  ihm  Bergk,  Geburt  der  Athene  (opusc.  II  S.  665  £f.). 

8)  Griechische  Anschauungen  über  die  Natur  der  Flüsse  bei  Berger  S.  67 1 


282  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  7. 

Skepticismus  in  der  Eassiteri  den  frage  (S.  29  f.)  zu  teilen  bin  ich 
nicht  im  Stande;  allerdings  bin  ich  der  Meinung,  daß  die  richtige 
Interpretation  der  entscheidenden  Stellen  des  Avien  sich  weder  bei 
MUllenhoff  noch  bei  Unger  findet,  nm  von  den  Scillyinseln  ganz  za 
schweigen. 

Meine  Anschauung  von  der  Entwickelung  der  Okeanoslehre 
stimmt  in  wesentlichen  Stücken  mit  der  von  Berger  Oberein,  deckt 
sich  aber  nicht  mit  derselben.  Das  mythische  Erdbild  gab  den 
Strom  Okeanos,  der  die  ganze  Erde  umkreiste.  Die  Entdeckung  des 
Weltmeeres  zwang  allmählich  dazu,  die  Vorstellung  von  dem  weit- 
umgürtenden  Strome  aufzugeben  und  an  seine  Stelle  ein  umgebendes 
Meer  zu  setzen.  Der  ungestörte  Zusammenhang  dieses  Außenmeeres 
aber  wurde  aus  der  alten  Okeanoslehre  einfach  übernommen.  Mit 
Herodot  beginnt  der  Zweifel  sich  zu  regen  und  eine  empirische  Be- 
gründung des  Zusammenhanges  zu  verlangen.  Dieselbe  wird  nun  in 
der  That  versucht,  aber  erst  in  Folge  dieses  Zweifels  und  nicht 
vorher.  Von  Herodots  Bestrebungen,  soweit  dieselben  sich  in  die- 
ser Richtung  bewegen,  hat  Berger  eine  Charakteristik  entworfen,  die 
ich  durchaus  für  richtig  halte.  Auch  an  seiner  Besprechung  der  Fahrt 
der  Phönicier  um  Libyen  und  der  Expedition  des  Skylax  möchte  ich 
keine  wesentliche  Aenderung  in  Vorschlag  bringen.  Was  ich  in  mei- 
nen letzten  Vorlesungen  darüber  vorgetragen  habe,  berührt  sich  eng 
mit  Bergers  Resultaten,  aber  seine  Auseinandersetzung  ist  genauer 
durchgeführt.  Ueber  den  Magier  des  Herakleides  Pontikos  wird  Ber- 
ger wohl  keine  günstigere  Meinung  haben  als  die  im  Philologus  45 
(1886)  S.  385  vorgetragene.  Ueber  die  Fahrtrichtung  des  Skylax 
hätte  Berger  S.  48,  5  die  m.  E.  richtige  Bemerkung  im  Hermes  VI 
(1872)  S.  461  lesen  sollen.  Ueber  Damastes  würde  ich  mich  im 
Philol.  Anz.  16  (1886)  S.  217  anders  geäußert  haben,  wenn  ich  mich 
einer  mir  wohlbekannten  Angabe  des  Aristoteles  (meteor.  II  1,  10) 
zur  rechten  Zeit  erinnert  hätte. 

Als  Ganzes  in  hohem  Grade  überzeugend,  wenn  auch  vielleicht 
nicht  in  allen  Einzelheiten  unanfechtbar  ist  Bergers  Nachweis  von  der 
allmählichen  Schließung  des  Mittelmeeres.  Daß  die  Kenntnis  von  der 
Geschlossenheit  dieses  Beckens  in  den  ältesten  Zeiten  nicht  voraus- 
gesetzt werden  darf,  war  allerdings  schon  mehrfach  bemerkt  worden. 
Aber  Berger  fUhrt  den  Nachweis,  wie  die  allmähliche  Ausdehnung  des 
geographischen  Horizontes  mehr  und  mehr  dort  Küsten  nachwies,  wo 
man  Anfangs  ungehinderte  Wasserfahrt  erwartet  hatte.  So  konnte  die 
Karte  der  lonier  schließlich  einen  zusammenhängenden  Umriß  der 
Länder  um  das  Mittelmeer  gewinnen. 

Auf  die  Frage  nach  der  geographischen  Homerexegese  des  Alter- 
tums Aihrt  Berger  mit  seiner  Bemerkung  über  den  Exokeanismos  auf 


Berger,  Geschichte  der  wisseoschaftlicheo  Erdkunde  der  Griechen.   I.     28S 

S.  15.  Er  verweist  anf  die  Behandlang  dieser  Frage  in  seinem  Era- 
tosthenes. Indessen  trage  ich  Bedenken,  die  dort  geführte  üntersn- 
chang  in  allen  Resultaten  zu  aeceptieren.  Mir  scheint,  als  ob  man 
fiber  die  Begriffe  des  i^ioxBavtafAÖg  und  itttomafkog  noch  nicht  zur  er- 
^vünschten  Klarheit  gelangt  ist,  wenn  man  den  Exokeanismos  wie 
Berger  S.  15  definiert  und  (Erat.  S.  26)  die  alexandrinischen  Gramma- 
tiker, Krates  von  Mallos  und  Strabon  als  Exokeanisten  zusammenfaßt. 

Dem,  der  die  homerische  Darstellung  der  Irrfahrten  des  Odysseus 
als  Einheit  auffaßt  und  erklärt,  sollte  unserer  Meinung  nach  die  Frage, 
ob  und  in  wieweit  Homer  diese  Fahrten  in  den  Ocean  versetzt  hat, 
keine  besonderen  Schwierigkeiten  bieten  können.  Auf  dem  Okeanos 
wird  lediglich  die  Fahrt  unternommen,  welche  den  Odysseus  von 
Aiaie  zu  den  Eimmeriern  und  dem  Hades  hinführt.  Auf  der  Rück- 
fahrt verläßt  Odysseus  die  Flut  des  Okeanos  und  gelangt  zur  ^a- 
Xaaffa  und  der  Insel  Aiaie.  Die  Homerexegese  des  Altertums  hat 
die  Okeanosfahrt  indessen  nicht  durchweg  darauf  beschränken  wol- 
len, sondern  sich  dadurch  freie  Hand  geschaffen,  daß  sie  Od.  ir  1.  2 
auf  eigene  Weise  deutete.  Krates  (bei  Strabon  I  1,  7  G  5)  machte 
geltend,  Odysseus  habe  nicht  den  ganzen  Okeanos,  sondern  nur  einen 
Teil  desselben,  den  ^dog  tixsavoto  verlassen.  Wie  zeitig  man  bereits 
den  Odysseus  in  den  Okeanos  gelangen  ließ,  erkennen  wir  aus  der 
Polemik  des  Polybios  (bei  Strabon  I  2,  17  G  25)  gegen  einen  Exo- 
keanismos, der  gleich  die  erste  Gelegenheit  benutzte.  Auf  der  Heim- 
fahrt von  Troia  bis  Maleia  gekommen  (&  80)  wird  Odysseus  vom 
Boreas  verschlagen  und  gelangt  nach  neun  Tagen  zu  den  Lotophagen. 
Polybios  weist  die  Ansetzung  der  Lotophagen  am  Okeanos  damit  ab, 
daß  die  neun  Tage  nicht  ausgereicht  hätten,  den  Odysseus  von  Maleia 
bis  zum  Okeanos  zu  führen. 

Unter  Exokeanismos  müßten  wir  demgemäß  zunächst  die  Lehre 
verstehn ,  welche  die  homerische  Darstellung  nicht  bloß  bei  der 
Hadesfahrt  auf  eine  Okeanosfahrt  bezog.  Indessen  wie  die  Exoke- 
anisten thunlichst  viel  zu  erobern  suchten,  so  bestritten  ihre  (}egner 
schließlich  sogar  die  Ansetzung  der  Kimmerierfahrt  im  Ocean;  den- 
teten  jene  die  Flnth  des  Okeanos,  die  Odysseus  verlassen,  nur  als 
einen  Teil  des  Oceans,  so  erklärten  diese  (bei  Strabon  I.  2,  10  G. 
21),  hier  habe  Homer  mit  dem  Okeanos  vielmehr  den  Pontes  ätnuQ 
aXXoy  uvä  dxtavov  gemeint.  Jetzt  wird  man  es  begreiflich  finden, 
wenn  man  alle,  die  zur  Deutung  der  Odysseusfahrten  das  Weltmeer 
überhaupt  verwandten,  als  Exokeanisten  bezeichnete. 

Indessen  dieser  Streit  über  die  Ansetzung  dieser  Fahrten  im 
Ocean  oder  in  der  ^dXaaaa  ist  ein  häuslicher  Streit  der  Stoiker 
und  derer,  die  der  stoischen  Homerexegese  folgten.  Exokeanisten 
und  »Tbalattistenc  steht  Eratosthenes   in   gleicher  Weise   ablehnend 


284  Gott.  «el.  Anz.  1887.  Nr.  7. 


3' 


gegenüber.  Wenn  er  die  Lokalisiernng  der  Odyssensfahrten  dem 
überließ,  der  den  Riemer  fassen  könnte,  der  den  Scblanch  der  Winde 
genäht ,  so  lehnte  er  eben  jede  Lokalisiernng  ab.  Wenn  er  dem 
Homer  bereits  die  Kenntnis  von  Sicilien  nnd  Italien  absprach,  nm 
wie  viel  sicherer  die  des  Weltmeers!  Ueberhanpt  aber  habe  der 
Dichter  gar  nicht  beabsichtigt,  die  Irrfahrt  iv  yywQifjkotg  tönoig  anzu- 
setzen (Strabon  I.  1,  14  C.  23).  Nor  dagegen  wollte  Eratosthenes 
(bei  Strabon  I.  2,  19  G.  26)  sich  nicht  erklären,  daß  der  Dichter 
wohl  die  Absicht  gehabt  habe,  den  Odyssens  in  den  westlichen 
Gegenden  omherirren  zn  lassen,  aber  er  habe  diese  Absicht  nicht 
festgehalten  nnd  durchgeftlhrt,  teils  wegen  des  geringen  Umfanges 
seiner  geographischen  Kenntnisse^),  teils  in  poetischer  Richtung  auf 
das  Wunderbare. 

Man  sieht  deutlich,  welch  tiefe  Kluft  den  Eratosthenes  von  den 
Exokeanisten  trennt,  eine  viel  tiefere  als  die,  weiche  Exokeanisten 
und  Thalattisten  von  einander  scheidet.  Den  Eratosthenes  und  die 
ihm  folgenden  Alexandriner  gleichwohl,  wie  das  Berger  thut,  nuter 
den  Exokeanisten  zu  subsumieren ,  dazu  wttrde  man  sich  nur  dann 
entschließen,  wenn  unzweifelhafte  Zeugnisse  dies  verbürgten.  Das 
ist  aber  nicht  der  Fall.  Denn  mit  Apollodor  bei  Strabon  I.  2,  36 
C.  44  und  VII.  3,  6  G.  299  hat  es ,  wie  wir  sehen  werden ,  eine 
andere  Bewandtnis. 

Wenn  Eratosthenes  es  ausgesprochen,  daß  Homer  nicht  einmal 
beabsichtigt  habe  ip  ypooQtfAOtg  tönoig  nouXv  t^p  nldp^v^  so  läßt  er  of- 
fenbar den  Dichter  die  fraglichen  Lokalitäten  in  unbestimmte  Ferne 
rücken.  Auf  diese  von  Eratosthenes  begründete  Ansicht  be- 
zieht sich  das  ixtonl^etp  der  Scholien  zur  Odyssee;  begreiflicher 
Weise  ist  Aristarch^)  auch  hierin  dem  Eratosthenes  gefolgt.  Der 
ixtomafidg  ist  also  von  dem  i^coxeaPkafAog  durchaus  verschieden. 

Bei  Strabon  I.  2,  10  G  21  aber  finden  wir  offenbar  das  Be- 
streben ,  Ektopismos  und  Exokeanismos  mit  einander  auszugleichen ; 
auch  eine  Fahrt  im  Pontes  habe  der  Dichter  ruhig  als  Okeanosfahrt 
bezeichnen  können,  denn  damals  hätte  man  Leute,  die  nach  dem 
Pontos  gefahren  wären,  in  gleicher  Weise  für  intetomtffikSvot  ansehen 
können,  wie  solche,  welche  Ober  die  Säulen  des  Herakles  hinausge- 
kommen. Die  Frage,  ob  wir  diese  Harmonistik  erst  dem  Strabon 
selber     oder    bereits    einem    seiner    Vorgänger   zuschreiben    sollen, 

1)  Innerhalb  deren  aber  auch  nach  Eratosthenes  die  Syrte  gelegen  hat  und 
insofern  liegen  konnte,  als  Eratosthenes  eine  frühe  Bekanntschaft  der  Griechen 
mit  derselben  sehr  wohl  auf  ein  Yerschlagenwerden  griechischer  Schiffer  bei  der 
Fahrt  um  Maleia  zurückführen  konnte ;  vgl.  auch  y.  Wilamowitz,  Hom.  Unters.  S.  164. 

2)  Daft  bei  Gellius  XIV  6,  3  utrum  i¥  r^  Hcta  &ald6^  üüxes  erraverit  xaf 
'AgicraQxoy  an  iy  tp  l^ta  xarä  K^dtn%a  die  Fragsteiiung  falsch  ist,  brauche  ich 
wohl  ebensowenig  erst  zu  zeigen,  wie  den  Weg,  der  zu  dem  Irrtum  gefuhrt  hat. 


Berger,  Geschichte  der  wissenschaftlichen  Erdkunde  der  Griechen.   I.    285 

läßt  sich  m.  E.  noch  beantworten.  Schon  oben  habe  ich  auf  zwei 
strabonische  Stellen  hingewiesen,  welche  beide  ein  und  dieselbe 
apollodorische  Notiz  wiedergeben,  VII.  3,  6  C.  299  genauer  und  in 
höherem  Grade  das  Verständnis  fördernd  als  I.  2,  36  G.  44.  Hier 
tlbt  Apollodor  an  Kallimachos  Kritik  und  glaubt  das  in  eratostheni- 
scbem  Sinne  zu  thun;  er  tadelt  den  Kallimachos,  weil  dieser  Gaudos 
für  die  Insel  der  Kalypso  und  Kerkyra  für  Scheria  erklärt  hatte. 
Dem  hätte  Eratosthenes  allerdings  schwerlich  zugestimmt,  aber  nicht 
wegen  des  Exokeanismos ,  wie  wir  an  beiden  Stellen  lesen,  sondern 
wegen  des  sich  nicht  einmal  an  die  Wirklichkeit  bindenden  Ekto« 
pismos.  Was  aber  den  Apollodor  anlangt,  so  ist  es  gewiß  nicht 
zufällig,  daß  wir  in  den  Schollen  zur  Odyssee,  die  sonst  vom  i*to- 
mofko^  reden ,  zu  d  556  just  über  die  Insel  der  Kalypso  bemerkt 
finden :  di^Xov  nd*  tovtov,  on  ^{«»««ota»  ^  Pijaog  606 ;  wir  würden  ixu- 
tomctat  erwarten.  Aber  die  Lesart  H^toxustat  ist  auch  nicht  zu  halten, 
denn  iioixi^B&p  heißt  nicht  dasselbe  wie  ixzoniJlß^p  und  hat  überhaupt 
keine  Bedeutung,  welche  in  diesen  Zusammenhang  paßt ;  aus  Lehrs, 
Arist.  244^,  ersehe  ich,  daß  Hecker  in  durchaus  zu  billigender  Weise 
iiai*€dp^ota$  geschrieben  hat.  Wir  sehen,  Strabon  hat  an  beiden 
Stellen  den  Apollodor  richtig  wiedergegeben.  Wir  werden  demge- 
mäß geneigt  sein,  auch  bei  Strabon  I.  2,  10  G.  21  die  Annäherung 
des  Exokeanismos  und  Ektopismos  auf  Apollodor  zurückzuführen. 
Und  in  dieser  Vermutung  werden  wir  dadurch  bestärkt,  daß  L  2,  10 
C.  21  offenbar  mit  1. 2, 39.  40  C.  45  f.  zusammengehört,  dessen  apollo- 
dorischen Ursprung  bereits  Niese ,  Rhein.  Mus.  32, 308  erkannt  hat  ^). 
Auf  Apollodor  würden  wir  also  diesen  Versuch  einer  Vereinigung 
•alexaudrinischer  und  stoischer  Homerexegese  zurückzuführen  haben. 
Und  eine  solche  Harmonistik  kann  bei  einem  Manne  nicht  befremden, 
der,  wie  Diels,  Rhein.  Mus.  31,  6  mit  Recht  betont,  zugleich  den 
Philologen  Aristarch  und  den  Stoiker  Diogenes  aus  Seleukeia  gehört 
und  den  Gegensatz  wirklich  vereinigt  hat. 

Ich  würde  gern  noch  zu  mancher  Stelle  dieses  Kapitels  meine 
Zustimmung  äußern  oder  meinen  Widerspruch  begründen,  aber  an 
eine  yollständige  und  gleichmäßige  Auseinandersetzung  kann  ich  in 
dieser  Recension  ja  doch  nicht  denken.  Ich  muß  mich  auf  das  Not- 
wendigste beschränken. 

Der  IL  Abschnit,  über  die  Einteilung  der  Oiku- 
m  e  n  e,  behandelt  auf  S.  51 — 74  die  Scheidung  der  Erdteile.  Daß 
der  ionischen  Zweiteilung  der  Erde  ebenso  wie  der  eratosthenischen 
die  Rücksicht  auf  die   klimatischen   Differenzen  zu  Grunde  liege, 

1)  Auch  C.  224  y.  2, 6  EndC)  wo  fQr  ixronnffAuiv  ixnme/46p  zu  schreiben  sein 
Wird,  ist  apollodorisch.  Das  nicht  sehr  weit  vor  dieser  Stelle  befindliche  apollo- 
doriscbe  Out  ist  Nieses  Aufmerksamkeit  (a.  a.  0.  S.289)  dagegen  nicht  entgangen. 


286  Gott.    gel.  Auz.  1887.  Nr.  7. 

nimmt  Berger  gewiß  mit  gatem  Recht  an ;  daß  Mittelmeer  and  Pon- 
tes die  Scheide  bilden ,  leuchtet  ebenso  ein ,  wie  daß  diese  Scheide 
später  in  der  Maeotis  fortgesetzt  wurde  und  schließlich  zur  Tanais* 
grenze  führte.  Daß  die  Maeotisgrenze  überhaupt  älter  sei,  als  die 
Phasisgrenze,  wird  Berger  wohl  selbst  nicht  annehmen  wollen  ;  aber 
sein  Bestreben,  sie  als  altionisch  hinzustellen,  ist  mir  verständlich, 
weil  diese  Ansetzung  auf  der  reflectierenden  Durchführung  eines  be- 
stimmten Princips  beruht.  Bewiesen  hat  nun  freilich  Berger  diese 
Grenze  erst  für  Hippokrates;  aber  sie  findet  sich  bereits  bei  Heka- 
taios  fg.  164 — 167  Kl.  auf  das  unzweideutigste.  Diesen  Beweis  hat 
sich  Berger  offenbar  nur  darum  entgehn  lassen,  weil  er  den  Heka- 
taiosfragmenten  überhaupt  nicht  recht  traut ;  aber  daß  ich  in  Ueber- 
einstimmung  mit  A.  v.  Qutschmid,  Nöldeke,  Niese  und  anderen  Oe- 
lehrten  dieses  Mistrauen  für  unbegründet  halte,  habe  ich  bereits 
früher  ausgesprochen,  üeber  die  eigentümliche,  uns  zuerst  bei 
Sallust  begegnende  Teilung  der  Oikumene,  welche  ebenfalls  nur 
Asien  und  Europa  kennt,  Libyen  aber  nicht  zu  Asien,  sondern  zu 
Europa  rechnet,  hat  Berger  S.  53  A.,  59  A.  2,  66  A.  5.  zwar  nichts 
Falsches  gesagt,  aber  er  hat  sie  doch  eigentlich  unerklärt  gelassen. 
Die  Bemerkung ,  daß  diese  Teilung  sich  auf  den  Meridian  Tanais- 
Nil  gründe,  ist  zwar  richtig,  obwohl  Sallust  als  Orenze  nicht  den 
Nil,  sondern  den  Katabathmos  nennt;  denn  letzteres  ist  doch  nur 
geschehen,  um  Aegypten  nicht  zu  zerreissen.  Aber  die  Frage,  wie 
man  denn  dazu  gekommen  sei ,  einen  Meridian ,  der  weder  wie  das 
Meer  eine  natürliche  Grenze  bildet  noch  wie  das  Diaphragma  sich 
an  eine  solche  anlehnt,  zur  Scheide  zu  machen,  ist  nicht  einmal  auf- 
geworfen, geschweige  denn  beantwortet.  Ich  kann  mir  diese  salin- 
stische  Scheidung  lediglich  als  ein  Kompromiß  erklären.  Man  stand 
unter  dem  starken  Eindruck  der  eratosthenischen  Zweiteilnng  und 
wollte  doch  die  Bezeichnung  der  Erdteile  nicht  aufgeben.  Ohne 
weiteres  zur  altionischen  Scheidung  zurückzukehren  war  aber  mis- 
lieh.  Nach  den  geographischen  Kenntnissen  der  Zeit  nahm  Asien 
allerdings  die  eine  Hälfte  der  Oikumene  ein,  aber  nicht  die  südliche, 
sondern  die  östliche,  und  zwar  ohne  Libyen.  Man  sah  sich  demge- 
mäß nicht  in  der  Lage ,  Libyen  zu  Asien  zu  rechnen ;  man  mußte 
es  zusammen  mit  Europa  die  andere  Hälfte  bilden  lassen.  Diese 
Hälfte  bekam  als  Ganzes  aber  natürlich  den  Namen  Europa  und 
nicht  Libyen,  denn  in  der  altionischen  Scheidung  waren  eben  Asien 
und  Europa  einander  entgegengesetzt  und  Libyen  nur  ein  Sonder- 
abscbnitt.  Ein  solcher  blieb  es,  aber  nunmehr  vor  Europa.  Der 
späteren  Zeit  des  Altertums  blieb  es  vorbehalten,  auch  für  diese 
Teilung  der  Oikumene  in  eine  östliche  und  westliche  Hälfte  natür- 
liche Gründe  zu  suchen,  aber  plausible  nicht  zu  finden.  —  Auch  auf 


Berger,  Geschichte  der  wissenschaftlichen  Erdkande  der  Griechen.   I.    287 

m 

die  Namen  der  Erdteile  iLommt  Berger  zu  sprechen.  Die  neuesten 
Behandlangen  derselben  konnten  ihm  wohl  erst  z.  T.  bekannt  sein, 
die  Ton  Bannack,  Beiträge  zur  altgriech.  Onomatologie,  studia  Nico- 
laitana  S.  21  f.  und  Studien  auf  dem  Geb.  der  griecb.  und  arischen 
Sprachen  I.  1.  S.  68  f.,  sowie  die  von  Maspero,  die  mir  bis  jetzt 
nur  in  dem  Referate  der  Berliner  philol.  Wochenschrift  vom  13.  Nor. 
1886  Sp.  1455  f.  zugänglich  gewesen  ist.  Fttr  seine  Besprechung 
des  Prokop  auf  S.  51.  71  ff.  würde  Berger  aus  Jungs  verdienstlicher 
Abhandlung  in  den  Wiener  Studien  V.  (1883)  S.  85  ff.  für  seine  Zwecke 
keinen  Nutzen  gezogen  haben,  auch  wenn  sie  ihm  bekannt  gewe- 
sen wäre. 

Im  III.  Abschnitt  (S.  75—92)  sammelt  und  sichtet  Berger 
mit  Sorgfalt  und  Vorsicht  die  Notizen,  auf  die  wir  fUr  eine  Vorstel- 
lung von  dem  innern  Kartenbilde  der  lonier  angewiesen 
sind.  Sehr  berechtigt  ist  seine  Kritik  an  Klausens  Hekataioskarte ; 
übrigens  ist  Klausen  auch  in  der  Ordnung  der  Hekataiosfragmente 
sehr  mit  Unrecht  dem  Skylax  gefolgt.  Mir  ist  bekannt,  in  welcher 
Weise  A.  v.  Outschmid,  dessen  vorzeitiges  Ende  wir  beklagen,  sich 
den  hekataeischen  Periplus  angeordnet  dachte.  Gutschmids  Begrtln- 
dung  kenne  ich  nicht;  indessen  wird  man  wohl  nicht  fehl  gehn^ 
wenn  man  dieselbe  in  solchen  Fragmenten  wie  75,  79  u.  a.  sncht^ 
die  zwei  Namen  nennen  und  dadurch  die  Fahrtrichtung  verraten. 

An  eine  große  Mannichfaltigkeit  ionischer  Karten  vermag  ich 
nicht  mit  Berger  zu  glauben,  und  wer  mit  mir  der  Meinung  ist,  daft 
Eratosthenes  in  seinem  Ueberblick  über  die  Geschichte  der  griechi- 
schen Geographie  lediglich  eine  Geschichte  der  Kartographie  gegeben 
hat,  für  deren  Rekonstruktion  auch  Agathemeros  Dienste  leistet,  der 
wird  nicht  ohne  Weiteres  viele  Kartentypen  statuieren  wollen.  Na- 
türlich soll  damit  nicht  im  Entferntesten  das  Vorhandensein  einer 
gröfleren  Anzahl  von  Exemplaren  ionischer  Karten  bestritten  werden; 
nur  werden  dieselben  eine  ganz  beschränkte  Anzahl  von  Typen 
wiedergegeben  haben ').  Bei  diesem  meinem  Standpunkte  kann  ich 
nicht  wohl  zweifeln ,  wessen  Karte  Aristagoras  mit  nach  Sparta  ge- 
bracht habe,   und  ich  kann  das  um   so  weniger,  wenn  ich  erwäge, 

1)  Beiläufig  sei  eine  Bemerkung  Über  eine  der  spätesten  Karten  des  Alter- 
tums, die  Bavennatische,  gestattet.  Soeben  kommt  mir  Nr.  12  des  lit.  Central- 
blatts  von  1887  zu  Gesicht,  das  Sp.  887  f.  eine  Recension  von  Berger  bietet. 
Ich  mnfi  danach  mit  der  Möglichkeit  rechnen,  dafi  eine  Bemerkung  meiner  Re- 
cension von  Schweders  Ravennas  im  philo!.  Anz.  17  (1887)  S.  75  f.  misverstanden 
worden  ist  oder  misverstanden  werden  kann.  Natürlich  habe  ich  nur  sagen 
wollen,  daB  die  Richtigkeit  der  Schwederschen  Construction  vorausgesetzt,  die 
eigentümliche  Art  der  Stundenteilung  erst  vom  Ravennaten  herrührt.  Da- 
rauf aber,  da£  Karten  mit  Stundeneinteilung  des  Oikumenenrandes  viel  älter  sind 
und  bereits  von  PHnias  erwähnt  werden,  war  ich  längst  aufmerksam  geworden, 
eben  durch  Bergers  früheren  Hinweise. 


288  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  7. 

aus  welcher  Qaelle  Herodots  Daretellang  des  ionischen  Anfstandes 
geflossen  ist.  Den  Umsturz  der  ionischen  Karte  leitet  Berger  neben 
der  Lehre  vom  Easpischen  ISee  hauptsächlich  von  der  fortschreitenden 
Kunde  des  Perserreiches  ab.  Erwägt  man  aber,  daß  der  Gesichts- 
kreis eines  Hauptvertreters  der  ionischen  Geographie,  des  Hekataios, 
sich  bereits  bis  zum  Indus  erstreckte ,  so  wird  man  lediglich  an  den 
Nordosten,  d.  h.  ausschließlich  an  das  Kaspische  Meer  denken  dürfen. 
Daß  die  Erkenntnis  von  der  Geschlossenheit  dieses  Meeres  sich  von 
Herodot  bis  Aristoteles  und  Alexander  in  Geltung  erhalten  hat,  habe 
ich  früher  nachgewiesen  und  erkennt  auch  Berger  an.  Ganz  allein 
auf  die  Wirkung  dieser  Lehre  wird  man  Bergers  Motivierung  auf 
S.  81  beschränken  milssen. 

Geradezu  als  ein  erster  Wurf  muß  der  IV.  Abschnitt  (S. 
93 — 136)  bezeichnet  werden,  der  den  Spuren  der  physischen 
Geographie  der  lonier  nachgeht.  Vorarbeiten  von  Bedeutung 
konnte  Berger  hier  eigentlich  nur  für  die  Nilschwelie  benutzen: 
unter  den  benutzten  aber  vermißt  man  ungern  die  Untersuchung  von 
Diels  über  Seneca  und  Lucan  (Abb.  d.  Berl.  Ak.  v.  J.  1885).  Dem 
Beichtum  dieses  Kapitels  kann  ein  Referat  unmöglich  gerecht  wer- 
den; es  wird  ja  ohnehin  ein  jeder,  der  etwas  von  griechischer  Geo- 
graphie lernen  will,  Bergers  Buch  lesen  und  studieren.  Mit  gespann- 
ter Erwartung  wird  man  einer  diesem  Abschnitt  analogen  Behand- 
lung Strabons  und  Senecas  im  dritten  Hefte  entgegensehen. 

Auf  den  Einfluß,  den  die  Veränderung  des  griechischen  Den- 
kens in  der  zweiten  Hälfte  des  fünften  Jahrhunderts  auf  die  ionische 
Geographie  ausüben  mußte,  hat  Berger  m.  E.  ebenso  richtig  wie  da- 
rauf hingewiesen,  daß  dieser  Einfluß  sich  bereits  bei  Herodot  geltend 
mache.  Auch  das  ist  mit  gutem  Grunde  als  Herodots  Verdienst  be- 
zeichnet, daß  er  in  richtiger  Würdigung  der  Bedeutung  der  Länder- 
kunde für  die  Geschichte  beide  in  seiner  Darstellung  vereinigte. 
Das  moderne  Urteil  über  Herodot  als  Geographen  wird  von  der 
Stellung  beeinflußt  bleiben,  die  der  Kritiker  zu  der  Länderkunde  ein- 
nimmt; ich  will  daher  lieber  nicht  erörtern,  ob  Berger  dem  Herodot 
vollkommen  gerecht  geworden  ist,  und  ob  er  Grund  hat,  ihm  den 
Charakter  eines  Geographen  abzustreiten.  Ein  yseaygafpog  in  des 
Wortes  eratosthenischer   Bedeutung   ist  er  allerdings  nicht  gewesen. 

Hoffen  wir,  daß  die  Fortsetzung  dieses  grundlegenden  Werkes 
über  die  Geographie  der  Griechen  nicht  lange  auf  sich  warten  lasse; 
bei  Berger  gilt  es,  nicht  zum  Zögern  zu  raten,  sondern  zum  Ab- 
schluß zu  drängen.  Zunächt  aber  wollen  wir  uns  an  dem  Gebotenen 
erfreuen  nnd  dafür  danken!  tl  di  nov  ^vaynaa^inksv  totg  avtotg 
dpuliystVj  otg  fkdXkOta  inaxoXov&ovfkBV  tLwi  älla^  6bI  avyyvwfAi/p  S%(BhV. 
ov  ydq  ngouBttat  ngog  dnaptag  dpuiJyetVy  dkXa  tovq  fniv  noXXoig 
idv^  qU  f*^di  duolovv^ttv  d^toy,  ixtivovg  di  dtattdv,  ovQ  dy  totg  nXei^ 
otOkQ  KawkQx^dßuvtag  iofjbsv  insl  oids  ngdg  änavtaq  ipkijotsoipf^tv  a|*oy, 
nqiq  * Eqatoci^ivii  dh  Hai  floastdcir^oy  xal  'Innagxoy  aal  UoXvßMV  ual 
ällavQ  totovtovg  naloy. 

Straßburg  i.  E.  K.  J.  Neumann. 

Fftr  die  Bedftkiioii  TerantwortUcli :   Prof.  Dr.  BgehM,  Direktor  der  Gott.  gel.  Ans., 
Aneaeor  der  Königlichen  Oeselliohnft  der  WiaeeMohnften. 
Y4rl<iff  dm-  DttUneh'sehtn  Yeriofft -Bfiehkemdlimg. 
Vnui  dtr  Difttrick*9ch§n  ünw,'Bmckdimdm$i  (F)r,  W,  XamtHm). 


^fi^i/ven^ 


1 
\ 


289 


/ 


GÖttingisehe 


gelehrte  Anzeigen 


unter  der  Ao&icht 


derKönigl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

>^Nr.  8.  15.  April  1887. 


Preis  des  Jahrganges :  JH  24  (mit  den  >Nachrichten  d.  k.  G.  d.  Wiss.« :  Jl^  27). 
Preis  der  einzelnen  Nummer  nach  Anzahl  der  Bogen:  der  Bogen  60  ^ 

Inhftlt :  Nonveanx  m^anges  orientanx.    Von  Btid  ds  Lagard«. 

z^  Bgennäohtiger  Abdruck  von  Artikeln  der  G9tt  gel.  Anzeigen  verboten.  =: 


Noaveauz  m^anges  orientanx.  M^moires,  teztes  et  traductions  publics  par  les 
professeurs  de  P^cole  speciale  des  langues  orientales  Vivantes  &  l'occasion  du 
septi&me  congr^s  international  des  orientalistes  r^nni  ä  Vienne  (Septembre 
1886).    Paris  1886,  xiv  600  Seiten  gröftestes  Oktav. 

Ous&ma  ibnMounlddhi  un  ^mir  Syrien  au  premier  si^le  des  croisades  (1095—1188) 
par  Hartwig  D^renbourg.  Beuxi^me  partie,  texte  arabe  de  l'autobiographie 
d'Oasäma,  publik  d'apr^s  le  manuscrit  de  l'Escurial.  Paris  1886,  xii  184  Sei- 
ten grdBestes  Oktav. 

Note  sur  quelques  mots  de  la  langue  des  Francs  au  douzi^me  siäcle  d'apr^s  le 
texte  arabe  de  l'autobiographie  d'Ous&ma  ihn  Mounlkidh,  par  Hartwig  Bären- 
bourg.    Paris  1887.    20  Seiten  größestes  Oktav. 

A.  Carri^re,  un  ancien  glossaire  latin-armänien  (von  der  äcole  des  langues  orien- 
tales Vivantes  Herrn  J-B.  Emin  in  Moskau  zur  solennitä  du  jubilä  cinquant^ 
naire  gewidmet).    20  Seiten  gröBestes  Oktav. 
Von  Paul  de  Lagard  e. 

Die  Herren,  welche  an  der  icole  spteiale  des  langnes  orientales 
Vivantes  zn  Paris  angestellt  sind,  haben  dem  zu  Wien  versammelten 
siebenten  Orientalistenkongresse  einen  stattlichen  Band  überreicht,  in 
welchem  Texte  der  von  ihnen  gelehrten  Sprachen,  wie  Abhandlangen 
Aber  die  Schrift  nnd  Litteratnr  dieser  Idiome  veröffentlicht  werden. 
Wer  Vieles  bringt,  wird  Allen  Etwas  bringen:  aber  er  kann  nicht 
erwarten,  daß  ein  einzelner  Mann,  der  za  einer  Anzeige  einer  solche 
woXvjcoüukoq  6oipla  vorführenden  Arbeit  aufgefordert  wird,  mehr 
thae,  als  anf  das  Ganze  aufmerksam  machen,  und  die  seinen  Studien 
nSber  liegenden  Stücke  der  Sammlung  für  seine  Besprechung  heraus- 

0«tt.  gel.  Au.  1887.  Nr.  8.  21 


290  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  8. 

greifen.  Ich  lasse  also  das  Türkische,  Malaiische,  NeaOriechische  ^), 
Serbische,  Anoamitische,  Chinesische,  Tamnlische,  Romanische,  Japa- 
nische, ja  selbst  das  Persische  des  Bandes  unbeachtet,  und  beschäf- 
tige mich  nnr  mit  den  Aufsätzen  der  Herren  Garri^re,  HD^renbourg 
und  Hondas,  ziehe  aber  einige  den  in  dem  Bande  der  ecole  des  lan- 
gues  orientales  Vivantes  veröffentlichten  Abhandlungen  der  Herren 
Garriire  und  Därenbonrg  parallel  laufende,  für  sich  erschienene  Ar- 
beiten derselben  mit  in  den  Kreis  meiner  Betrachtung. 

Ehe  ich  aber  Ober  den  Inhalt  der  von  mir  zur  Besprechung  aus- 
gewählten Stücke  etwas  sage,  muß  ich  meiner  Bewunderung  der 
Form  Ausdruck  geben,  in  der  jener  Band  uns  vorgelegt  wird.  Die 
Imprimerie  nationale  hat  mit  Fuge  unter  die  Norm  jedes  Bogens 
ein  »imprimerie  nationale«  gesetzt.  Ich  muß  freilich  auf  einen  Feh- 
ler des  Drucks  aufmerksam  machen:  die  Schwärze  zieht  sich  ge- 
legentlich mehr  oder  weniger  ab.  Was  Deutsche  (aber  Symmicta  1 
101, 43),  Engländer  und  Amerikaner  können,  werden  auch  die  Fran- 
zosen fertig  bringen.  In  Amerika  erscheinen  selbst  Zeitschriften  — 
ich  nenne  nur  das  zufällig  auf  meinem  Tische  liegende  Andover 
Review  — ,  ohne  daß  die  eine  Seite  auf  der  gegenüberstehenden  sich 
in  umgekehrtem  Bilde  wiederholt.  So  schlimm  wie  in  den  ersten 
Bänden  von  Dozys  Cataloge  der  Leydener  Handschriften  tritt  die 
Krankheit  in  den  Nouveaux  melanges  nicht  auf  —  jenen  Katalog  mag 
ich  als  Eigenthum  gar  nicht  in  meinem  Hause  leiden  — ,  aber  ver- 
drießlich ist  auch  der  von  mir  besprochene  Band  hier  und  da  anzu- 
schauen. Uneingeschränktes  Lob  hingegen  verdienen  die  angewandten 
Typen.  Zu  nicht  kleinem  Tbeile  sind  dieselben  alter  Besitz  der  Anstalt: 
die  r6publique  fran^aise  lebt  vom  Erbe  der  Monarchie,  und  zu  diesem 
Erbe  gehören  die  Lettern,  mit  denen  sie  die  Bücher  ihrer  Gelehrten 
setzt,  gehört  auch  die  Einrichtung,  daß  die  Staatsdruckerei  nicht  un- 
ter der  Leitung  von  Handwerkern,  sondern  unter  der  Aufsicht  von 
Gelehrten  steht.  Als  ich  im  October  1877  griechische  Typen  von 
der  Imprimerie   nationale   kaufen   wollte,   war  das   mir  zugehende 


1)  Ich  hebe  aus  der  im  ersten  Viertel  des  vorigen  Jahrhunderts  verfaBten 
Beiseheschreibung  des  Ba0ilt*oc  Baraji^c  (Seite  287)  die  Terse  hervor,  welche 
von  Berlin  handeln:  t;^;  MitQovaiag  9  fitiTQonoJag,  j&vaxtoe  9  xad^edga  liege  nicht 
in  MnQovüia: 

xdiftQoy  <fiy  ilyat  cfi  fAhtt^6vf  dlXä  aj^sdoy  xat  fieya, 

ilg  ndyra  tagatoraroy,  Mmglty  myo/ÄaOftiyoy, 

xai  Tolf  bgtaift  ytyttat  nolXd  ^yantifiiyoy. 
Ein  Urtheil,  das  die  Anspruchslosigkeit  des  guten  Bacilttos  erweisen  wird.     Das 
x^g$findQt  des  Verses  989  ist  natürlich  \*jt)i  (meine   gesammelten  Abhandlungen 
54  226)  =:  fui^fiu^utp  armenische  Studien  §  443. 


Noaveaaz  m^anges  orienUux.  291 

Antwortschreiben  von  keinem  Geringeren  als  Herrn  Haar6aa  unter- 
zeichnet, neben  dem  jetzt,  so  yiel  ich  weiß,  Herr  Joseph  Dörenboarg 
wirkt:  früher  haben  Reinaud  und  Silvestre  de  Sacy  über  die  Drackerei 
za  befehlen  gehabt,  and  die  Leistungen  sind  denn  ancb  danach  ge- 
wesen, und  sie  sind  noch  danach.  Es  wQrde  gewis  nicht  schaden, 
wenn  Deutschland  in  diesem  Punkte  der  alten,  frtth  geeinigten  Eul- 
tumation  nachstrebte:  ich  weiß  ein  Lied  von  den  Nöthen  zu  singen, 
die  bei  uns  ein  »Orientalistc  auszustehn  hat.  Meine  vergleichende 
Grammatik  der  semitischen  Sprachen  kann  ich  nirgends  drucken :  sy- 
rische Texte  habe  ich  mit  hebräischen,  neuAegyptische  mit  lateinischen 
Buchstaben  herausgeben  mttssen,  danach  allerdings  der  überaus  gü- 
tigen Kritik  meiner  Gönner  von  der  Zunft  dafür  zu  genießen  gehabt 
Für  meine  Bibliotheca  syriaca  die  nöthigen  Typen  zu  beschaffen,  bin 
ich  außer  Stande.  So  etwas  freut  einen  alten  Menschen  nicht,  der 
sein  Lebtag  nicht  das  Seine  gesucht  hat,  und  der  abschließen  möchte. 
Zohrab,  so  bekannt  durch  seine  Ausgabe  der  armenischen  Bibel 
und  der  armenischen  Uebersetzung  der  Chronik  des  Ensebius,  hatte 
dem  vierten  Bande  seines  Oktavdruckes  der  Bibel  einen  jon-A^f-uf^ 
mumaum&uiiittlbi^JmmlA^u  beigefügt,  der  die  armenische  Uebertragung 
des  Sirach,  des  dritten  (bei  uns  vierten)  Buches  des  Ezdras,  des  Ge- 
betes des  Manasses,  des  Briefes  der  Eorinthier  (oder  des  Stephanus) 
an  den  Paulus  *) ,  den  ^ßA^ftum  {^ntl^iuithnu  und  mqirpu  \^p-iuti^ 
vorführt  Ich  habe  zwei  der  hier  aufgezählten  Schriften  benutzt, 
Zohrabs  Einleitung  aber  nie  gelesen ,  und  so  erst  jetzt  durch  Herrn 
Carriere  erfahren,  daß  Zohrab  in  ihr  schon  im  Jahre  1805  die 
Herausgabe  anderer  tritokanonischer  Stücke  der  Bibel  als  die  in  sei- 
nem jmdrinLuti^  enthalten  sind,  in  Aussicht  gestellt  hat  Die  arme- 
nische Uebersetzung  des  Testaments  der  zwölf  Patriarchen  und  der 
Geschichte  der  Asseneth  liegt  Herrn  Carriöre  in  einem  von  Zohrabs 
Hand  geschriebenen  Manuscripte  vor:  aus  demselben  theilt  er  uns 
ftirs  Erste  nur  ein  Stück  aus  der  Geschichte  der  Asseneth  mit  Seit 
die  nouveaux  melanges  orientaux  erschienen  sind,  hat  in  einer  Ber- 
liner Promotionsschrift  Herr  Gustav  Oppenheim  die  fabula  losephi 
et  Asenethae  apocrypha  e  libro  syriaco  latine  versa  herausgegeben. 
Was  Herr  Oppenheim  gesammelt  hat,   muß   mit  dem  von  Fabricius 

1)  Da  ich  nicht  die  Muße  gehabt  habe,  die  über  die  Pseudepigraphen  des 
neuen  Testaments  erwachsene  Litteratur  zn  verfolgen,  ich  aber  sicher  sein  darf, 
eine  Ladung  der  üblichen  Urbanit&ten  zageführt  zu  bekommen,  wenn  ich  nicht 
durchaus  Bescheid  weiß,  enthalte  ich  mich,  mehr  zu  geben.  Einen  Artikel 
>Pseudepigraphen  des  neuen  Testaments«  bringt  die  Realencyclopädie  für  prote- 
stantische Theologie  und  Kirche  nicht,  ich  vermag  also  nichts  zu  citieren,  als 
dieser  Realencyclopädie  ersten  Band  527,  der,  1877  erschienen,  gewis  schon  der 
Nachträge  bedarf. 

21  • 


292  Gdtt.  gel.  Ans.  1887.  Nr.  8. 

und  von  Herrn  Carriire  Zasammengetragenen  verglichen  werden, 
vor  Allem  aber  müssen  wir  die  Texte  selbst  erhalten.  Herr  Dill- 
mann waßte  1 883,  als  er  seineQ  Artikel  in  der  Realencyclopädie  fUr 
protestantische  Theologie  nnd  Kirche  12  366  schrieb,  nicht,  daß  Herr 
Land  Eine  der  syrisch  vorhandenen  Gestalten  der  Asseneth-Ioseph- 
Sage  schon  1870  herausgegeben  hatte:  Herr  Dillmann  nennt  was 
ihm  ans  Fabricius  bekannt  ist,  »sicher  christlichen  Ursprungs,  von 
einem  müßigen  Kopfe  geschrieben,  doch  nicht  ohne  alles  höhere 
Streben«  —  eine  recht  schulmeisterliche  Werthung  — ,  Herr  Noeldeke 
nrtheilt  im  literarischen  Gentralblatte  1871,  1  von  dem  die  &ja>)?  \h.^t^ 
enthaltenden  ersten  Buche  des  von  Land  vorgelegten  Werks  »das  Meiste 
hätte  wohl  ohne  Schaden  verloren  gehn  können«.  Ich  bin  leider 
auch  hier  anderer  Ansicht  als  die  tonangebenden  Kritiker  unsrer 
Tage:  alles  Einzelne  ist  als  Einzelnes  freilich  ohne  Gewicht,  als 
Glied  eines  größeren  Ganzen  gewinnt  es  eine  Bedeutung,  die  freilich 
nur  der  Historiker,  nicht  der  Chronist  und  nicht  derjenige  versteht, 
dem  die  Thatsachen  der  Geschichte  nur  »Eideshelfer«,  wie  man  jetzt 
sagt,  für  seine  Dogmatik  sind.  Herr  Sachau  gibt  in  seiner  der 
Academy  1871,292 — 294  einverleibten  Besprechung  von  Lands  Anee- 
dota  nichts  was  uns  hier  interessierte.  Herr  Carriöre  —  neben 
Baumgartner  die  einzige  Hoffnung  d^rer,  die  vom  Studium  des  Ar- 
menischen Nutzen  für  die  Wissenschaft  erwarten  —  zeigt  sich  schon 
so  gut  über  die  einschlagende  Litteratur  unterrichtet,  daß  er  un- 
schwer was  er  noch  nicht  zur  Hand  hat,  wird  beschaffen  können: 
ich  bitte  ihn  nicht  um  Abhandlungen  über  die  Texte,  sondern  um 
die  Texte  selbst,  zunächst  die  armenischen,  die  ganz  gedruckt  wer- 
den müssen.  Alle  Beziehungen  auf  Fabricias  und  ähnliche  Werke 
sind  meines  Erachtens  zu  vermeiden:  sie  verunzieren  nur  das  Buch. 
Was  kein  Tadel  für  den  hochachtbaren  Fabricius  sein  soll,  aber  ein 
Tadel  für  diejenigen  ist,  die  durch  ihre  Faulheit  uns  zwingen,  noch 
heute  den  Fabricius  zu  eitleren.  Urtheilen  darf  über  diese  Litteratur 
nur  derjenige,  dem  sie  vollständig  vorliegen  wird.  Möglich,  daß  ich 
Muße  finde,  über  die  aus  dem  Syrischen  stammenden  Stücke  der  ar- 
menischen Litteratur  einiges  des  Lesens  Werthe  vorzulegen:  sehr 
wahrscheinlich  ist  es  freilich  nicht. 

Eine  dem  Seminare  in  Autun  gehörige,  um  das  Jahr  900  ge- 
schriebene Hieronymushandschrift  bot  Herrn  Omont  verba  seu  dictio- 
nes  Armeniorum,  lateinisch  und  armenisch.  Da  die  Schriftzttge  die 
lateinischen  sind,  haben  wir  in  dieser  Liste  eine  Urkunde  vor  uns, 
die  uns  wie  nichts  anderes  über  die  vor  dem  Jahre  900  irgendwo 
übliche  Aussprache  des  Armenischen  unterrichtet.  Herr  Garriire  hebt 
mit  Becht  den  Werth  dieser  Belehrung  hervor. 


Noareatix  m^anges  orientanz.  298 

leb  sehrieb  im  November  1853  in  meinem  Hefte  »zur  Urgeschichte 
der  Armenier  €   919:   »so   viel  ist  klar,   daß  die  Aspiratae  h^^^zü 
den  Mediis  p  f  t  herabgesunken  sind,  und  daft  die  Sprache,  um  ihr 
Gefühl  von  der  Verschiedenheit  dieses  ans  u  ir  ir  verstümmelten  und 
des  nrsprttnglichen,  dem  sr^  it  ^  entsprechenden,  p  ^  'f  knnd  zn  thnn, 
angefangen,  jenes   nrsprtlngliche  p  ^  ^  in  if  4  «  zn    verschieben, 
diese  Verschiebnng  aber  za  großer  Unbequemlichkeit  von  nns  armen 
Etymologen   nicht   dnrcbgefUhrt    hat«.     Ich   gab  dann  Beispiele  des 
Schwankens.    1866  nnd  1883  behauptete  ich    (gesammelte  Abhand- 
inngen 30,  Mittheiinngen  1  156),  »daß  die  Armenier  in  dem  hier  ge- 
schilderten Processe,  nachdem  ihre  Sprache  durch  die  Schrift  fixiert 
worden   war,   in   der   Art   weiter   fortgeschritten   sind,   daß   sie  die 
ß  y  8,  welche   sie   in  der  Schrift  nicht  mehr  verschieben  konnten, 
in  der  Aussprache  verschoben  haben,  also  statt  ß  y  8  wenigstens  in 
gewissen  Gegenden  Armeniens  x  x  t  sprechen,  was  zu  schreiben  sie 
durch  das  Herkommen    gehindert   wordene.     Ich   argumentierte  aus 
der  Thatsache,  daß  die  Armenier  selbst  an  verschiedenen  Orten  jetzt 
dieselben  Schriflzeichen  verschieden  aussprechen ,  daß  Procopius  einen 
Ort  Ba{ßsQ8aj  Cedrenus  ihn  naixsgrs  nennt,  daß  älteres  ^ovvv  später 
als  Tvßivfj  auftritt,  gegen  die  Möglichkeit,  das  Originalalphabet  der 
Armenier   durch   eine    » Transcription  c    zu   ersetzen.     Wenn  ich  zur 
Zunft  gehörte,   würde  man   nicht  unterlassen  haben,  idie  Tragweite 
dieser  1853  und  1866  nicht  auf  der  Oberfläche  liegenden  Bemerkun- 
gen anzuerkennen.    Der  Fund  der  Herren  Omont   und   Garriire  be* 
stätigt  was  ich  vor  so  langer  Zeit  schon  behauptet  habe.    Schon  vor 
dem  Jahre  900  treffen  wir  p  als  p,  q.  als  c  ch  kc,  f  als  g  k  ch  c,  m 
als  d  t:   wir  treffen   schon   die  von  Schroeder   als  die  normale  ver- 
zeichnete Aussprache  des  n  als  ue,  während  n  doch  unweigerlich  ur- 
sprünglich das  griechische  o  ist.    Ich  bin  in  der  Lage,  Ein  Wort  nach- 
zuweisen, in  dem  vermuthlich  schon  lange  vor  dem  Jahre  900  4  ^Is 
g  gesprochen  worden  ist.     Die  Hauptstadt  Gappadociens,   die  später 
Gaesarea  genannt  wurde,  hieß  ursprünglich  Md^axa  =  \fut^m^^  also 
Maiak:  meine  armenischen  Studien  §  1402.     Herr  Jacob  Levy  ver- 
zeichnet in    seinem  großen  Wörterbuche  3  14  62   den  Namen   einer 
eappadocischen  Stadt  MTAtt  =  K^na,  für  den  er  des  Herrn  Neubauer 
geographic   du  Talmoud  318  319   citiert.     Herr  Levy  hat  nicht  für 
nöthig  erachtet,  Herrn  Neubauers  Arbeit   genau   zu   benutzen:   Herr 
Neubauer  —  was   ihm   1868   vorgeworfen   wurde,   bat   seiner  Zeit 
HEwald  in  unsem  Anzeigen  erwähnt  —  fand   nicht   für  nöthig,  als 
er  über  Cappadoeien  handelte,  Saint-Martins  m^moires  sur  FArminie 
an  den  durch  das  Register  leicht  zu  beschaffenden  Stellen  einzusehen, 
ans  denen  er  über  Xf^iu^m^  D"iif«fiu^  VT'^ZIf'^  Wb2!l!'k  Mi^axa  Aus- 


294  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  8. 

knnft  erbalten  hätte.  Mitaoia  StraboB  iß  2, 7  erweist,  neben  W'*mJ■ul^ 
nnd  K^Hs  gestellt ,  Alles,  'was  ieh  hier  erweisen  will.  Bis  anf  Wei- 
teres halte  ieh  KMIS  für  die  richtige  Form,  und  meine,  dies  sei  Md- 
laxa  IPumAiu^,  aber  schon  mit  der  Verschiebang  des  4  in  y-  Herr 
Levy  citiert  nan  n^^^^na  34  gegen  Ende,  also  43 '  19  des  Stettiner, 
144  ^  3  des  herrlichen  Wilnaer  DrDcks :  im  Talmnd  erscheint  das 
cappadocische  VQTü  als  ein  Ort,  an  dem  Strafrechtsprocesse  ihren  Aas- 
trag fanden,  was  aaf  Caesarea  pa6t.  Leider  haben  die  Jaden  noch 
immer  nicht  begriffen,  daß  sie  vor  allen  Dingen  eine  nach  den  Re- 
geln der  modernen  Philologie  gearbeitete  Aasgabe  der  Talmade  her- 
zastellen  haben,  wenn  sie  für  ihre  Nation  einen  Platz  in  der  Wis- 
senschaft der  Geschichte  beansprachen  wollen:  zar  Zeit  schwebt 
meines  Erachtens  noch  recht  Vieles,  was  ttber  die  Chronologie  des 
Talmads  and  der  an  den  Talmnd  sich  anlehnenden  oder  angelehnten 
Schriften  amläaft,  in  der  Lnft.   Also  wie  alt  ist  das  >  in  K^T»? 

Herr  Hartwig  Därenboarg  hat  in  den  Melanges  orientanz  aas 
yaü\  HJ^j>  des  von  1125  bis  1201  lebenden  Imädaldtn  den  ttber 
Usäma  ibn  Manqic}  handelnden  Abschnitt,  er  hat  in  einem  eignen 
Bande  die  Aatobiographie  des  üsäma  heraasgegeben :  in  einem  klei- 
nen Hefte  bietet  er  lexikographische  Bemerkangen  za  jener  Aato- 
biographie. 

Was  ich  ttber  diese  drei  Arbeiten  za  sagen  habe,  maß  ich  mit 
dem  Bekenntnisse  großer  Unwissenheit  anheben.  Der  Usäma  ibn 
Manqi4,  dem  HD6renboarg  so  viel  Fleiß  gewidmet  hat,  war  mir  bis 
1886  nnr  aas  Weils  Geschichte  der  Chalifen  8  297  nnd  ans  Beiskes 
Abalfidä  8  532  bekannt,  bei  welchen  Schriftstellern  er  sich  höchst 
nnvortheilhaft  aasnimmt. 

Wie  ich  nan  an  einem  schlechten  Bache  irgend  etwas  Lobens- 
werthes,  so  sache  ich  an  einem  vortreflEiichen  Bache  —  nnd  vortreff- 
lich sind  die  beiden  Texte  D6renboargs  —  etwas  was  ich  tadeln 
maß :  denn  mitunter  bin  sogar  ich  abstrakt.  Ich  will  aber  meinen 
Tadel  freandlich  einkleiden,  and  mache  daher  Herrn  D^renboarg  aaf 
das  WohlwolIcD  aufmerksam,  mit  dem  39,20  sein  Usfima  einen  Ko- 
ranschreiber behandelt  hat,  der  die  (j^U^-t  ond  JijS^\  des  Koran 
(Noeldeke,  Geschichte  des  Qor&ns,  323)  sorgfältig  angegeben  hatte. 
Will  D^renboarg  sich  nicht  —  hoffentlich  tritt  das  Bedürfnis  erst 
nach  langen  Jahren  fleißigen  Schaffens  ein  —  einen  ähnlichen 
SCr^t  fUXÄjwl  von  dem  sichern,  juÄi"  ^^  v^aS^  ^  ?  Er  hat  ja  dem 
Slbawaifai  so  schön  die  Zeilen  gezählt:  waram  nicht  anch  dem  alten 
Recken  Usäma?  Ich  habe,  am  genaa  eitleren  za  können,  Alles  mit 
der  Feder  darchnameriert:  daß  mir  das  Freade  gemacht  habe,  kann 
ich  nicht  behanpten:  es  that  dies  nicht,  da  es  erstens  Zeit  kostete, 


Nonveaox  m^anges  orientanz.  295 

da  es  zweitens  das  schön  ausgestattete,  mir  sogar  in  einem  Schreib- 
papierexemplare zugegangene  Bach  nicht  verschönerte. 

Die  Gedichte  Usämas  erinnern  mich  an  die  des  Abd  Fir&s: 
genaa  gelesen  habe  ich  sie  nicht,  desto  genauer  zwei  bis  drei  Male 
die  Antobiographie,  die  recht  ein  Bach  nach  meinem  Herzen  ist, 
von  einem  klagen  nnd  in  seiner  Art  gaten  Manne  verfaßt,  der  un- 
bändig offenherzig  nnd  wahrhaftig,  rein  sachlich  und  durchaus  naiv 
schreibt,  und,  ohne  es  zu  wollen,  das  Leben,  das  im  zwölften  Jahr- 
hunderte in  Goelesyrien  und  dessen  Nachbarländern  gelebt  wurde,  in 
einer  Anschaulichkeit  uns  vorführt,  die  geradezu  in  Erstaunen  setzt. 
Dabei  ist  das  Buch  eine  Fundgrube  für  den  Lexikographen,  auch 
den  an  erster  Stelle  den  Interessen  der  Theologie  gehorchenden 
Lexikographen  meines  Schlages.  Ich  glaube,  die  Entdeckung  dieser 
Autobiographie  sei  für  Hartwig  Dörenbourg  das  ihm  von  der  Vor- 
sehung für  seinen  Stbawaihi  gezahlte  Honorar :  Stbawaihi  ist  freilich 
selbst  schon  eine  Gottesgabe,  nur  eine  schwerer  als  üsäma  zu  ver- 
dauende. 

Völkerpsychologie  —  schon  der  Name  flößt  Grauen  ein  — ,  wer 
will  Ober  sie  reden,  der  nicht  wenigstens  bei  zwei  Völkern  Sprache, 
Litteratur,  Recht,  Religion  und  einige  der  zahllosen  X  der  den  beiden 
Völkern  angehörigen  Individuen  durch  vertrautesten  Umgang  kennt, 
der  nicht  versteht,  die  ihm  entgegentretenden  Individuen  als  Sym- 
ptome oder  als  Typen  oder  als  Bahnbrecher  zu  begreifen?  Nur  in 
Preußen,  und  zwar  erst,  nachdem  die  Paedagogik  Hegel-Altenstein- 
Scbulze-Wieses  einerseits,  nachdem  die  Zeitungspresse  andrerseits 
zwei  Menscbenalter  hindurch  Alles  schabionisiert  und  langweilig  ge- 
macht hatte,  konnte  der  verwegene  Gedanke,  Völkerpsychologie  zu 
lehren,  in  eines  Menschen  Hirn  entstehn.  Ich  habe  jetzt  wenigstens 
Villehardouins  Geschichte  der  Eroberung  Gonstantinopels  und  vor 
Allem  Joinvilles  Geschichte  des  heiligen  Louis  gelesen,  um  einen 
Maßstab  ftlr  die  Beurtfaeilung  Usämas  zu  gewinnen:  ich  werde  das 
unschätzbare  Aktenstück  so  bald  nicht  aus  der  Hand  lassen. 

Usäma  ist  selbst  eine  Person,  und  darum  spricht  er  auch  ttber 
andere  Personen  mit  Verständnis.  Obwohl  ich  in  meinem  Durste 
nach  Konkretem  die  Schriften  der  arabischen  Aerzte  nnd  Botaniker 
verschlinge,  wie  die  armen  Seelen  das  Blut  der  von  Odysseus  ge- 
schlachteten ft^Aa,  habe  ich  von  ^^LLu  ^t  [js>yj^)j  dessen  Taqwtm 
iB  meiner  Sammlung  steht,  keine  Vorstellung  gehabt,  bis  von  diesem 
Usäma  dem  &iMvrivbv  xAqtipov  Blut,  und  mit  dem  Blute  Leben  ge- 


1)  Ibn  Abt  UgaibiA  241,  Wüstenfeld  §  133,  LeClerc  1  489.     Interessant  ist 
was  Usäma  97,  19  ff.  über  die  christlichen  Aerzte  seiner  Zeit  erzählt. 


296  Oött.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  8. 

geben  worden  ist.  Sogar  Hnmor  zeigt  ÜB&ma :  man  lese  nur  138, 5  ff. 
die  Geschichte  von  dem  fast  handertjährigen  Mütterchen,  das  sich 
über  den  Eäsegemch  des  von  ihm  gewaschenen  Mandil  beklagt,  and, 
wie  Usäma  nachsieht,  darauf  ertappt  wird,  statt  der  Seife  ein  Stück 
Käse  zam  Waschen  zu  verwenden :  oder  aber  82;  9  ff.  die  Geschichte 
von  dem  Panther  —  ich  bitte  die  Gerechten  nm  Verzeihung,  wenn 
das  nicht  der  zoologisch  richtige  Namen  des  Thieres  ist  — ,  der  ans 
Versehen  einen  der  fränkischen  Satane,  Sir  Adam,  tot  springt,  und 
zur  Belohnung  von  den  Bauern  seines  Bezirks  der  am  heiligen 
Kriege  betheiligte  Panther,  oü^b^t  ^4jÜI,  genannt  wird.  Joinville  er- 
zählt §  196  von  einem  Araber,  den  unser  Kaiser  Friedrich  der  zweite 
zum  Ritter  geschlagen,  und  fttgt  §  198  hinzu:  £n  sa  baniere  portoit 
les  armes  l'empereour  qui  Tavoit  fait  chevalier:  sa  baniere  estoit 
bandle:  en  Tune  des  bandes  estoient  les  armes  Tempereour  qui  Tavoit 
fait  chevalier,  en  Tautre  estoient  les  armes  le  soudanc  de  Halape, 
en  l'autre  bände  estoient  les  au  soudanc  de  Babiloine.  Dem  ent- 
spricht bei  Usäma  97  ff.,  daß  ein  fränkischer  Ritter  aus  dem  Heere 
Fulcos  [des  Fünften,  Grafen  von  Anjou,  Königs  von  Jerusalem : 
HDerenbourg  Note  10]  sich  mit  Us&ma  bis  zur  Brüderschaft  befreun- 
den, und  als  er  nach  Europa  zurückkehren  will,  dem  Fürsten  von 
äaizar  vorschlagen  kann,  den  eigenen  Sohn  zur  Ausbildung  des  Ver- 
standes und  der  Rittertngend  ihm  als  Genossen  für  den  vierzehnjährigen 
Knaben,  den  er  selbst  zu  Hause  hatte,  mitzugeben.  Usfima  lehnt 
das  Anerbieten  mit  Rücksicht  auf  des  Knaben  GroBmutter,  die  an 
ihm  hange,  ab,  und  der  Franke  räth,  der  alten  Frau  nicht  zu  wider- 
streben. 

HDerenbourg  spricht  am  Ende  der  Vorrede  verständig  über  die 
Nothwendigkeit,  ein  arabisches  Wörterbuch  aus  den  arabischen 
Schriftstellern,  nicht  aus  den  Originalwörterbüchem ,  zusammenzu- 
tragen. Durch  eine  günstige  Fügung  bin  ich  schon  1845  oder  1846 
mit  Avicenna  bekannt  geworden:  ERoedigers  beste  (und  im  Grunde 
einzige)  Abhandlung  über  einzelne  Theile  der  arabischen  Bibel  wies 
mich,  wie  auch  meine  Studien  zur  Kritik  des  Bibeltextes  dies  thaten, 
auf  die  arabischen  Bibelversionen,  die  ich  noch  heute  für  hervor- 
ragend wichtig  ansehe,  und  von  denen  ich  einzelne  Stücke  selbst 
herausgegeben  habe:  koptisch-arabische  und  syrisch-arabische  Glos- 
sare hoffe  ich  noch  auszubeuten.  Die  Hauptsache  wird  sein,  daB 
die  auszuziehenden  Schriftsteller  verständig  gewählt,  und  daß  sie 
schlechterdings  vollständig  verbucht  werden.  Ich  habe,  nachdem  ich 
bei  Rückert  als  einziger,  einen  Winter  hindurch  fast  täglich  auf 
Stunden  kommender  Schüler  die  Hamäsa  gelesen  hatte,  geglaubt, 
daß  die  ältesten  Dichter  uns  das  Semitischste  des  Arabischen  bieten 


NoQveaax  m^anges  orientanx.  297 

würden:  ich  bin  von  diesem  Glauben  längst  znrftckgekonunen,  nnd 
meine,  daß  die  Bibelttbersetzangen  der  iU^  Avicenna,  der  aas  dem 
Syrischen  (nicht  ans  dem  Griechischen)  gedolmetschte  Dioscorides,  Da- 
mtrfy  Ibn  Baitär,  Maidän!,  daß  Reisebeschreibungen  und  Uebertra- 
gangen  griechischer  Aatoren,  vor  Allem  die  des  Galenas,  zanächst 
in  Angriff  za  nehmen  seien.  Weder  des  Korans  noch  auch  der  wirk- 
lich oder  angeblich  alten  Dichter  können  wir  entrathen,  am  allerwe- 
nigsten des  Korans :  im  Ernste  für  diejenigen  belehrend,  die  sich  einem 
aasgedehnten  Stadiam  der  arabischen  Sprache  and  Litteratar  wid- 
men wollen,  sind  nar  die  genannten  Stücke.  Und  Bücher  wie  die 
Antobiographie  Usämas  schließen  sich  ihnen  anroittelbar  an.  Die 
Originalwörterbücher  der  Araber  haben  ans  das  Fachwerk  bereits 
geliefert,  in  das  hinein  gesammelt  werden  maß^). 

1)  Ich  benutze  diese  Stelle,  am  eine  Parallele  drucken  zu  heißen.  Was  links 
steht,  habe  in  den  persischen  Studien  65  Ich  geschrieben :  was  man  rechter  Hand 
lesen  wird,  rührt  von  Herrn  Noeldeke  her,  und  steht  in  der  im  literarischen 
Centralblatte  1884  Spalte  888  gedruckten  Anzeige  jener  meiner  Studien : 

Wohl  aber  hebe  ich  hervor,   daB  Üebrigens  hieBe  es  die  Lösung  der 

...  ein  persisches  Wörterbuch  nicht  Aufgabe  ins  unabsehbare  verschieben, 
allein  durch  Zusammenstellung  und  Sich-  wenn  man  warten  wollte,  bis  alle  etwa 
tung  des  in  den  im  Oriente  verfaBten  brauchbaren  persischen  Werke  dieser 
Wörterbüchern  enthaltenen  Stoffes  zu  Art  [Wörterbücher]  gedruckt  vorl&gen. 
Stande  kommen  darf :  daB  vielmehr  diese  Die  Hauptsache  muB  unseres  Erachtens 
Bücher  nur  das  Fachwerk  liefern  sol-  für  den  Verfasser  eines  persischen  Lexi- 
len,  in  welches  das  aus  der  Beobach-  kons  doch  die  sein,  daB  er  die  Schrift- 
tung  des  Sprachgebrauchs  der  freilich  steller  selbst,  vor  Allem  das  Schäh- 
erst  noch  herauszugebenden  persischen  näme,  gründlich  und  umsichtig  ausbeu- 
Elassiker  gewonnene  Material  eingeord-  tet.  Besonders  erwünscht  wäre  die 
net  wird.  Durchforschung  alter  Prosawerke,    in 

guten  alten  Handschriften. 

Man  wird  billig  eine  Kritik  bewundern,  die  als  Berichtigung  eines  Schrift- 
stellers dem  mit  dem  kritisierten  Buche  unbekannten  Publikum  die  Ansichten  des 
Beurtheilten  auftischt,  und  aus  Eigenem  nur  einen  Fehler  hinzufügt.  Denn  aus 
dem  Schähnäma  wird  man  etwa  zwei  Fünftel  des  Wortschatzes  der  neupersischen 
Sprache  erhalten:  drei  Fünftel  werden  fehlen.  Herr  Noeldeke  hält  freilich  auch 
>yertratttheit  mit  dem  Sanskrit«  für  eine  dem  »Iranisten«  nöthige  Eigenschaft. 
Er  wird  die  Verantwortung  für  diese  Ansicht  um  so  leichter  tragen,  als  er  an 
der  Universität  Kiel  nach  Ausweis  der  amtlichen  Vorlesungsverzeichnisse  selbst, 
und  zwar  in  denselben  Semestern,  in  denen  er  auch  Arabisch  las,  publice,  Sanskrit 
gelehrt  hat:  ich  bin,  nachdem  ich  nun  43  Jahre  lang  Persisch  treibe,  gewis,  daB 
das  Sanskrit  mir  für  das  NeuPersische  (von  diesem  allein  handeln  Meine  persi- 
schen Stadien)  so  gat  wie  nichts  helfen  würde.  Auch  um  Chaucer  und  Shake* 
speare  zu  verstehn,  brauche  ich  Boehtlingk-Eoth  und  den  Pänini  meines  Erach- 
tens nicht:  oder  hat  AWvSchlegel  den  Shakespeare  nur  deshalb  so  gut  über- 
setzt, weil  er  dereinst  das  Bäm&yana  herausgeben  sollte?  Das  NeuPersische  ist 
allerdings  eine  indogermanische  Sprache,  steht  aber,  obwohl  es  sich  schon  in  den 
Tagen  des  Etesias  gebildet  hat,  virtuell  auf  Einer  Stufe  mit  dem  NeuEnglischen. 


298  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  8. 

Zn  Herrn  D^renbonrgs  Aufsätze  fiber  die  fränkischen  Wörter,  die 
Usäma  braucht,  will  ich  einen  Nachtrag  geben,  der  eigentlich  kein 
Nachtrag  ist:  ich  bespreche  eine  weitgewanderte  Vokabel,  die  auch 
bei  XJsäma  vorkommt:  34,17  (wo  falsch  vokalisiert  wird)  41,17 
49,7  63,17  74,26  75,5  76,6  92,3  7  und  wohl  auch  an  andern 
Stellen,  die  ich  in  der  Freude  des  Lesens  nicht  aufgezeichnet  haben 
werde,  erscheint  als  Name  eines  Kleidungsstückes  JüLcf^.  Freytag 
hieß  4  32  ^  [aber  3  439  ^],  wo  er  die  Vokabel  durch  zwei  Stellen  belegte, 
und  für  persisch  erklärte,  kuzägand  aussprechen.  Aus  IGolius  (meine 
persischen  Studien  7)  hatte  EGastle  schon  1669  im  lexicon  persicum 
453  JJ^\yi'  =  kaiägand  aufgeführt  als  tegumentum  lecti,  pec. 
multo  gossipio  intersutum :  thorax  multo  cotto  "^^  et  serico  infarctus, 
sine  ferro,  quo  in  hello  uti  solebant.  Dies  war  von  Heninsky  wie- 
derholt worden :  in  dessen  anderer  Ausgabe  4  73  ^  k^ei&^send  er- 
scheint =  stragulum  seu  tegumentum  lecti,  pec.  multo  gossipio  in- 
tersutum: thorax  multo  cotto  "^^  seu  gossipio  et  serico  crudo  infar- 
ctus, quo  in  hello  sub  lorica  uti  solent.  4  33  ^  bietet  Heninsky  ' 
vJOctt  ^  als  species  vestis  ex  serico  viliori,  quae  sub  lorica  tem- 
pore belli  gestari  solet.  Unter  JOcty  nennt  RDozy  Supplement  2 
462  ^  indem  er  ein  Paar  Beläge  gibt,  das  ihm  durch  Vullers  [2  828  '^]  be- 
kannt gewordene  J^Xi.Wd'  =  esp^ce  de  jaqnette  rembourr^e  et  piqu^e, 
en  coton  ou  en  soie,  dont  on  se  sert  en  guise  de  cuirasse.  Er 
merkt  nicht,  daß  ^  der  Vokabel  das  von  ihm  2  342  ^  ungenügend 
behandelte  j3  ist.  Ich  las  1865  meinem  Amtsgenossen  BLangkavel 
zu  Liebe  die  Hamburger  Handschrift  des  *^  ^  U  [EMeyer  Geschichte 
der  Botanik  3  239—245,  Häg!  Kalfa  §  11278],  und  lernte  aus  ihr 
was  ich  1866  in  den  gesammelten  Abhandlungen  V  mitgetheilt  habe, 
und  aus  ihnen  Herr  ESachau  zu  Gawältq!  124,  5  wiederholte,  daß 
jd  die  aus  dem  Cocon  nach  dem  Ausschlupfe  des  Schmetterlings  ge- 
sponnene, («^^<^t  [persisch  {«A^yf  =  luuipint^iTy  armenische  Studien 
§  175]  die  aus  dem  noch  unversehrten  Cocon  bereitete  Seide  ist. 
Hiervon,  wie  auch  von  des  Canes  3  354  seda  en  bruto  jä,  hat  BDozy 
Kenntnis  nicht  genommen:  auch  WOstenfelds  Qazwtn!  2  434,  10 
Jä\  «>3v>  =  Seidenwurm  kennt  er  nicht.  Hein  Pedro  de  Alcala  bietet 
mir  413  *  39  texedor  cazi^  =  jtj3  [=  venditore  di  seta,  Angelas  a 
S^Ioseph  gazophylacium  390]  und  413 '2  texedora  caziza  =  H^\ß. 
Nun  ist  j3,  wie  der  Farhang  i  Bastd!  2  148, 13  lehrt,  aus  dem  per- 
sischen ^  =  ^y  entstanden:  Gawälfqt  124,5  nennt  das  Stammwort 
von  jS  nicht  ausdrücklich,  was  auch  Gauhart  434  und  der  aus  Gau- 
bart schöpfende  Kafäg^t  180,  3  nicht  thun.  Das  bei  den  Armeniern 
dem  ^  =:  '^  entsprechende  ^mq^  (meine  armenischen  Studien  §  1072) 


Noaveanx  melanges  orientaux.  299 

setzt  das  Venediger  Wörterbncb  1  1030  ^  neben  das  franzOsisebe 
[von  Diez  nicbt  bebandelte]  gaze  zn  scbreibende,  »gasec,  und  ftthrt 
Stellen  an,  in  denen  in  der  That,  wie  k^  ^  U  erwarten  läßt ,  ^m^ 
L  muipinLA  L  Jm^  L  f^M^pq^  neben  einander  genannt  werden :  ver- 
gleiche Firdanst  Gaai&6d  13  [Yullers  zwingt,  da  er  keine  lebenden 
Kolnmnentitel  gibt,   daneben   »leidener  Ausgabe  1  23«  za  citieren!] 

Bei  P  wird  PSmith,  der  P  schon  unter  »)/^<  472  genannt  hat,  seiner 
Zeit  natttrlich  von  allem  was  ich  eben  beigebracht  habe,  nichts  wis- 
sen. Die  ÄJ^L  der  Araber  führte  schon  ECastle  397  auf  =  vestis  ex 
serico  facta,  in  primis  cradiore,  qaod  j3»  dicitur :  Ganhart  sagt  nur 
V^uÜt  er  LT^  ^j^W^I-  RDozy  schwieg  1845  im  Dictionnaire  und 
1877  im  Supplement.  ji.\^  oder  icb  bedeutet  »mit  der  Seidenart  gaz 
verbunden«:  die  X^j^li  ist  vielleicht  für  die  Friedenszeiten  das  ge- 
wesen, was  der  juct^  für  Eriegsläufte  war. 

Von  ?^  =  g^  bilden  die  Perser  ^  ^f  =  ^  ^-T: 
diese  Wörter  bedeuten  eine  mit  Florettseide  oder  Baumwolle  ausge- 
stopfte Decke,  die  man  im  Kriege  über  Pferde,  Elepbanten  und  auch 
Menschen  breitet.  Aus  Vullers  kann  in  diesem  Falle  und  sonst  nur 
lernen  wer  Persisch  liest:  so  verweise  ich  auf  Meninsky  ^  4  36  ^ 
JvHammer  hat  in  den  Wiener  Jahrbttchern  125  159  von  dem  (von 
ihm  nicht  als  Ableitung  von  ^  erkannten)  ^^j^  das  mittelhoch- 
deutsche Geziem  hergeleitet:  ich  habe  diesen  Einfall  gutgläubig  in 
meinen  gesammelten  Abhandlungen  60'  verbreiten  helfen.  Aber  Ham- 
mer hat  sein  Geziem  nur  ans  dem  von  ihm  (was  ich  damals  in 
meinen  Auszügen  nicht  notiert  hatte)  daneben  angeführten  geziemiert 
[von  cimiire!]  erschlossen:  kein  von  mir  eingesehenes  Wörterbuch, 
kein  des  mittelhochDeutschen  genau  kundiger  Kollege  kennt  ein  Ge- 
ziem. Ich  erwähne  dies  natürlich  nicht  nur,  um  einen  alten  Fehler 
von  mir  gut  zu  machen  —  1866  war  ich  noch  nicht  mistrauisch  ge- 
nug — ,  sondern  auch,  weil  ka^m  kaum  =  kagtn  kaitn  das  von 
mir  erläuterte  jOfitjl'  weiter  zu  erklären  helfen  können. 

Ich  füge  aus  Rudolfs  von  Wagner  Handbuche  der  Technologie  " 
775  776  hier  ein,  daß  durch  das  Herausbrechen  des  Schmetterlings 
[aus  dem  Gocon]  der  Zusammenhang  des  Seidenfadens  zerstört  wer- 
den wUrde,  und  dnrchbissene  Gocons  nur  einen  geringen  Werth  ha- 
ben, und  daß  derjenige  Theil  des  Seidenwurmgespinstes,  welcher  sich 
nicbt  abhaspeln  läßt  [also  auch  die  Seide  der  vom  Schmetterlinge 
durchbissenen  Cocons]  auf  Florettseide  verarbeitet  wird.  Diese 
Florettseide  also  ist  es,  die  ^  =  ji^  =  jä  =  P  =  fiu^^  =  gaze 


300  Oött.  gel.  Ans.  1887.  Nr.  8. 

genannt  wird.  Nnnmebr  ist  erwiesen,  daft  OJJA^  =  \\x£\\  ^  »mit 
Florettseide  ausgestopft  (wattiert«)  bedeutet.  [Langlte  za  Ghardin  4 162.] 
Darch  die  Erenzzttge  ist  sXiJA^  nach  Enropa  gekommen.  Alwin 
Schnitz  spricht  in  dem  Bache  über  das  höfische  Leben  zur  Zeit  der 
Minnesinger  2  32  vom  kasagän  Wolframs  von  Eschenbach  (die  bei- 
den Stellen,  die  er  anführt,  stehn  auch  in  WMflllers  mittelhochdent- 
schem  Wörterbache  1  791)  und  dem  gasygan  Henris  aus  Valencien- 
nes (Godefroy  gibt  4  243 '  für  gasygan  nur  den  von  Schultz  ange- 
zogenen Belag).  Kasagän  =  gasygan  ist  yXkiS^^  =  kaz&gand  selbst. 
Die  neufranzösische  Form  der  Vokabel  lautet  casaqain,  das  WMniler 
neben  kasagän  gestellt  hat  Aus  casaquin  [kaum^^iy  FRa&!dt2 148, 8] 
ist  casaque  dadurch  entstanden,  daß  man  »ine  für  yerkleinernd,  und 
darum  unstatthaft,  anzusehen  anfieng,  was  erst  geschehen  konnte, 
als  der  Ursprung  des  Wortes  vergessen  war.  Aus  der  neuen  Aus- 
gabe des  La  Garne  de  Sainte  Palaye  3  259  —  vielleicht  hat  das 
schon  in  der  alten  gestanden  —  lerne  ich,  daft  »casaqui  justaucorps 
est  un  mot  languedocien,  ainsi  traduit  par  Borel  au  mot  Beguines«. 
Die  Acadämie  hält  casaquin  für  ein  diminntif,  casaque  f&r  die  Ur- 
form, wie  denn  auch  die  Spanier  zur  Zeit  casaquin  als  Verkleine- 
rungs-,  casacon  als  Vergrößerungsform  von  casaca  empfinden,  wäh- 
rend meines  Erachtens  casaquilla  —  eine  alte  Verkleinerungsform  von 
casaquin  —  erweist,  daß  casaquin  eine  Verkleinerungsform  nicht  ist : 
woraus  dann  folgt,  daß  casaca  im  Spanischen  dasselbe  ist  was  cas- 
sock im  Englischen  und  casacca  im  Italienischen,  nämlich  ein  aus 
dem  französischen  casaque  entstandenes  Fremdwort.  Man  hört  und 
liest  voltar  casacca  wie  volver  casaca,  weil  die  Franzosen  tourner 
casaque  »zu  einer  andern  Fahne  schwören c  sagen.  Die  Acad6mie  er- 
klärt casaquin  durch  espice  de  d6shabilI6  court,  qu'on  porte  pour  sa 
commodity.*  il  ne  se  dit  gaire  aujourd'hui  qae  d'an  vetement  ä  l'usage 
des  femmes  du  peuple  ou  de  la  campagne :  sie  erklärt  casaque  durch 
Sorte  d'habillement  dont  on  se  sert  comme  d'nn  manteau,  et  qui  a 
ordinairement  des  manches  fort  larges.  Diez  lehrt  in  der  Gramma- 
tik* 2  339,  was  fttr  mich  gegen  die  Acadömie  spricht,  das  Suffix 
»ine  habe  im  Französischen  kaum  noch  »diminutive  Kräfte.  Da  der 
casaquin  ein  ungefüges  Kleidungsstück  war,  lag  es  nahe,  das  schein- 
bare Suffix,  das  unpassend  schien,  und  altmodisch  klang,  abzuwerfen, 
und  aus  casaquin  casaque  zu  bilden.  Die  Italiener  besitzen  meiner 
Meinung  nach  ein  casachina,  dem  ich  im  Augenblicke  nicht  nach- 
kommen kann :  wie  es  sich  mit  dem  von  DuCange  2  246  ^  aus  einer 
italienischen  Urkunde  des  Jahres  1227  nachgewiesenen  cazeta  verhält, 
überlasse  ich  denen  zu  ermitteln,  welche  die  Urschrift  der  Urkunde 
vergleichen  können. 


Noaveatiz  m^anges  orientaux.  801 

Za  meinen  Gunsten  muß  ich  noch  Folgendes  anführen:  ich  be- 
danre,  Qnicherats  histoire  da  costame  en  France  (1878)  nicht  ein- 
sehen ZQ  können.  Der  Siear  da  Bellen  räth  bei  GDaniel,  histoire 
'  de  la  milice  f ran^oise  [Amsterdam  1724],  1  288 :  il  les  faut  armer 
k  era  et  sans  casaqnes:  car  cela  a  bien  plas  belle  monstre,  et  ponnra 
qae  la  cairasse  soit  bonne  et  forte,  il  nimporte  du  reste.  Erstens  folgt 
hieraus,  daß  fttr  da  Bellen  die  casaqae  noch  genau  der  cXJw&iy  war, 
das  unter  dem  Panzer  getragene  wattierte  Eleid,  in  dem  man  sich 
auch  zeigen  konnte,  nachdem  der  Panzer  abgelegt  worden  war,  also 
dasselbe  was  Fauchet  bei  Daniel  1  281  gobisson^)  nennt,  an  yßte- 
ment  long,  jnsques  sur  les  cuisses,  et  contrepoint6 ,  über  den  man 
den  »auber,.  hauberc  oder  die  »brugnec  zog.  Die  Entwickelung  der 
Bedeutungen  des  Wortes  casaque  geht  dann  ihre  eigenen  Wege :  Da- 
niels Ausdruck  [irgendwo]  >au  lieu  de  casaque  un  mandiU  will  ich  er- 
wähnen, weil  der  Zusammenhang  der  mir  jetzt  unfindbaren  Stelle 
lehrt,  daß  die  casaque  schwerer  als  der  mandil  ist:  sonst  verweise 
ich  auf  das  von  Daniel  2  158  Beigebrachte,  und  erwähne,  daß  ca- 
saque auch  geradezu  Soldat  ist :  d'Aubignä  bei  Daniel  1  343  schreibt 
>les  casaques  cramoisies  et  blanches  se  s6parirentc.  Wer  sich  ge- 
nauer  über  das  xiXriiut  bei  den  Alten  unterrichten  will,  lese  die  Ab- 
handlung des  Papadopulo  Vretos  in  den  mömoires  des  savants  Stran- 
gers der  nouvelle  academic  des  inscriptions  vom  Jahre  1842. 

Da  es  für  kleine  Leute  immer  räthlich  ist,  an  den  durch  allge- 
meine Bewunderung  der  Menge  gegen  die  Kritik  gesicherten  großen 
Gelehrten  nicht  vorbeizugehn,  erwähne  ich,  daß  FDiez  das  nach  meiner 
Ansicht  aus  casaquin  =  Ju^tj^  verstümmelte  casaque  unter  casacca 
Yoncasa  »Htttte«  ableitet:  eine  lange  Ueberjacke  wäre  also  ein>Hütt- 

1)  Gamboison  NdeWailly  zu  Joinville  Seite  463,  gambeso  und  dessen  Neben- 
formen bei  DuCange  4  20'  21  ^  gonblg  mit  der  Mehrheit  ganlbi^  =  jubon,  ve- 
stido  naevo  mein  Pedro  de  Alcala  280'  8.  RDozy  hat  im  Supplement  2  228' 
dies  gonbi^  als  jLJLä  erkannt,  und  das  spanische  gambax  [schreibe  gambaj]  da- 
neben gestellt :  gamboison  nennt  er  in  seinem  gelehrten  Artikel  nicht.  PdeGayan- 
gos  (bei  Diez^l55  citiert)  hatte,  ohne  Nutzen  für  ASchultz  das  höfische  Leben 
2  32,  gambeso  für  ;LaJL£  erklärt.  Die  Endung  >on«  ist  ebenso  falsch  zugesetzt, 
wie  die  Endung  »in«  aus  casequin  falsch  weggelassen  worden  ist.  Was  ASchultz 
2  42  gibt,  bedarf  wohl  noch  näherer  Prüfung,  ebenso,  nur  in  anderer  Weise,  was 
PhCluver  bei  DuCange  4  21'  Mitte  sagt.  ThYatke  besprach  unlängst  in  seinem 
höchst  interessanten  Buche  Culturbilder  aus  AltEngland  261  das  Doublet,  das 
bombasted  =  gefQttert  war,  und  zwar  mit  mehreren  Pfunden  »bombast«.  Bei 
DuCange 4  21'  trifft  man  gambesatus  im  Sinne  jenes  bombasted,  aber  —  wie  ich 
glaube,  irrthümlich  —  mit  gambeso  in  Verbindung  gebracht.  Auf  jeden  Fall  ist 
unser  Bombast  aus  jenem  englischen  Worte  zu  erläutern.  Guiot  de  Provins  hat 
sich,  als  er  Bible  1688  [San  Marte  Parcivalstudien  1]  f^ves  &  tout  le  gainbais 
schrieb,  nicht  träumen  lassen,  da£  er  jLaä  verwendete. 


302  Qött.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  8. 

leio«  oder  »Httttchenc:  ich  bin  in  Luthers  and  BAaerbacbs  Schriften 
nicht  genng  zu  Hause,  um  zu  wissen,  welches  Diminutivsuffix  ich 
als  guter  Deutscher  hier  anzuwenden  habe.  Uebrigens  hat  Diez  diese 
Weisheit  aus  Menage  abgeschrieben,  der  die  Meinung  Labb^  anftlhrt, 
casaque  stamme  entweder  aus  sagum  oder  aus  casa.  Etwas  mehr 
Gelehrsamkeit  als  diesem  Liebliuge  der  »Neusprachlerc  zur  Verfü- 
gung stand,  würde  ermöglicht  haben,  Philo  zur  Unterstützung  zu  ci- 
tieren.  Zu  Anfange  der  Schrift  nagl  g^W  t&v  slg  &v6iag  (2  238 
Mangey  =  573, 8  Tourneboeuf)  sagt  Philo  aly&v  Tcal  tQl%eg  xat  do(fai, 
öwvipaLvöiisvai  xb  xal  ffvQQajctöiisvaij  ipoQiftal  ysyivMiv  bSomdQoig 
oixiaty  xal  (idXiöta  rotg  iv  ötQatsiaig^  o9g  i^o  xöXemg  iv  i)%atd'(fGi 
SicctQißsLv  ivayxd^ovöLv  at  xQstac  tä  noklA.  Theologen  kennen  diese 
Stelle  und  die  entsprechende  des  Isidorus  origines  t^  21  aus  dem 
dictionary  of  christian  antiquities  1  293:  bei  Kraus  2  205  findet 
man  Philo   wie  in  jenem  dictionary  citiert,  und  einiges  Neue. 

Usäma  jagt  öfters  den  j^*^.y  also  den  "ymn^  Deuteron.  14,5 
Begn.  y  5,3.  In  den  gesammelten  Abhandlungen  52  hatte  ich  vor 
21  Jahren  aus  Moses  Korena5i  615, 10  jmJhjpuiStmii  angeführt,  und 
juidhjp  =  niüTT)  gesetzt:  ich  hatte  1877  in  den  armenischen  Studien 
§  1546  aus  dem  y  gefolgert,  daß  )99XLm^  in  GHoffmanns  Glosse  4448 
in  fiQxiw^  umzuschreiben  sei.  Daß  davon  trotz  meiner  Register  in 
dem  1879  erschienenen  Buche  des  Herrn  Hommel  »Namen  der  Säuge- 
thiere  bei  den  südsemitiscben  Völkern«  333  392,  in  Gesenius-Mtthlau- 
Volck  ®,  von  PSmith  und  RDozy  keine  Notiz  genommen  wird,  ist  en 
rfegle:  Herr  Hommel  hat  das  Verdieust,  zuerst  auf  CRGonders  Teot- 
work  in  Palestine  1  172  verwiesen  zu  haben:  darum  nennen  auch 
die  Herren  Mtthlau  und  Volck  ^  den  Herrn  Hommel,  und  nicht  den  das 
Entscheidende  bringenden  Conder  selbst.  jkixL^  ;)^*^-  EWslb  aus  Ni- 
sibis  (meine  Praetermissa)  42,  64.  Jene  Stelle  des  Moses  Korena5i 
mögen  die  Herren  in  der  Whiston,  mit  einer  lateinischen  Uebersetznng 
versehenen  Ausgabe  366  nachlesen,  und  aus  dem  Venediger  Wörter- 
buche  die  schon  von  LaCroze  gebrachte  Thatsache  kennen  lernen, 
daß  j«"%/»  lob  39, 1  tQayelaipogy  Deuteron.  14,  5  6pv|  wiedergibt 
daß  es  bei  Moses  Korenasi  ß  78  [Whiston  :=  81  Seite  163,  8  Ve- 
nedig 1843]  vorkommt,  wo  neben  jutJhi,ftmg  die  Varianten  jitfi/iui./Nu^ 
und  juiJopttig^  und  bei  Philo  Exodus  ß  101  [Seite  533  Aucher]. 
Durch  Gonder  wissen  wir ,  daß  der  jy^-^.  noch  heute  in  den  Waldun- 
gen des  Garmel  lebt,  durch  Usäma  (141,4  6  158,1  3  161,  2),  daß  er 
im  zwölften  Jahrhunderte  in  Goelesyrien  und  Mesopotamien  gejagt 
wurde,  durch  die  Armenier,  daß  sein  Name  auch  ihnen  bekannt  war, 
durch  Begn.  7  5,  3  endlich ,  daß  er  in  Salomons  Tagen  neben  bnit 
und  ^yi  als  tägliche  Speise  genannt  werden  konnte,  das  Reh  neben 


Noaveftox  m^aages  orientaux.  303 

dem  Hirsche  und  der  Gazelle:  ich  bin  »einer,  der  nicht  Zoologe  Bein 
will«,  mithin  mit  Fuge  für  seine  vielleicht  gegen  die  Titulaturen  der 
Zoologen  begangenen  Verstöße  denunciiert  werden  darf.  Das  sind 
nicht  bloße  Notizen:  wer  eine  Ahnnng  von  vergleichender  Grammatik 
der  semitischen  Sprachen  hat,  wird  einsehen,  daß  die  Verbreitung 
eines  Wortes  der  Form  J^üb  interessiert:  wer  IGuidis  Aufsatz  della 
sede  primitiva  dei  popoli  semitici  (1879)  und  des  verstorbenen  Rut- 
gers Buch  de  echtheid  van  het  tweede  gedeelte  van  Jesaja  gelesen 
hat,  wird  wissen ,  was  aus  der  Localisierung  eines  Thiernamens  — 
unter  Umständen  —  für  die  Geschichtsforschung  sich  ergibt. 

yu>  (Usäma  92,18  160,7  und  sonst)  hätte  von  Herrn  Dären- 
bonrg  in  seiner  »Note«  genannt  werden  müssen,  da  es  als  sacre  und 
sagro  in  die  romanischen  Sprachen  übergegangen  ist.  SBochart  hie- 
rozoicon  2  2, 19  [dritter  Band  267, 53  Leusdens,  1692]  hatte  das  ro- 
manische sacre  sagro  als  ß^  erkannt,  was  GMenage  annahm,  En- 
gelmann-Dozy  338  billigten,  FDiez  ^  279  in  der  für  ihn  charakteristi- 
schen Urtheilslosigkeit  ablehnte.  Ohne  von  Diez  zu  wissen,  folgte 
ihm  SFränkel,  die  aramäischen  Fremdwörter  im  Arabischen  115/116, 
unter  Berufung  auf  VHehn,  Kulturpflanzen  und  Hausthiere  ^  495  (er 
citiert  »537«).  Pedro  de  Alcala  166  ^  29  zeigt  m  in  Spanien. 
Wollte  nicht  Herr  Hehn ,  bevor  er  lateinisches  »sacer«  und  deutsches 
»Weibe«  als  »Uebersetzung«  von  U^aJi  [^f&f,  meine  Reliquiae  iuris 
eccles.  graece  xxiv!],  und  jenes  »sacer«  als  Original  von  yüo  an- 
spräche, lieber  erst  »sacer  =  Weihe  =  f£^|«  aus  alten  Texten  belegen, 
und  untersuchen,  ob  mit  Falken  zu  jagen  europäisch  oder  asiatisch 
ist?  losephs  von  Hammer  Falknerklee  zu  studieren  wäre  rathsam, 
mindestens  um  aus  xxij  des  Buches  zu  lernen,  daß  Abulfidä  5  376, 2 
(Reiske)  yU/d  und  .Jüd  unterscheidet,  also  jki^  =  jäJuM,  was  nicht 
persisch,  sondern  altaisch  ist  (chinesisch  song  eulh),  mit  yuo  nichts 
zn  schaffen  hat.  Auch  was  Langlfes  zu  Chardin  8  128  und  Quatre- 
m6re  zu  Makrfzts  Mamlouks  1  91 — 95  anmerkten,  muß  kennen  wer 
über  Juo  und  ^J^  mitreden  will.  Wäre  yu^  nnsemitisch,  so  dürfte 
das  türkische  ß^  (Meninsky  ^  2  306  %  immer  noch  eher  als  »sacerc 
sein  Original  sein,  da  die  Sitte  mit  Stoßvögeln  zu  jagen  aus  Hoch- 
Asien  stammt:  ^c^yL^  Hammer  Falknerklee  xxiv.   Svy%ov(fiov. 

Noch  erwähne  ich,  daß  Usäma  142,  6  160,  13  und  sonst  den 
vj^AL,  also  nieX's&iuli,  in  Syrien  jagt  (meine  »Mittheilungen«  2  16), 
und  daß  er  141, 7  bei  Paneas  einen  v'^P^  ^^^  einem  Baume  sitzen 
siebt  (die  Endung,  meine  Semitica  1 46) :  ich  gedenke  des  ^J^j  v^ 
Usäma  92, 18  156,  2  166, 11  und  sonst,  den  RDozy  Supplement  1 594  ^ 
nicht  belegt,  und  der  als  {ayigiov  (DuCange  455/466)  bei  den  By- 
zantinern, als  sarap^  bei  den  Slaven  umläuft:  siehe  die  Urkunde  in 


304  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  8. 

PJ^afariks  ^)  slaviscben  Alterthümern  2  692, 1  der  deutschen  lieber- 
setznog.  Ausdrttcklich  bemerke  ich,  daß  Usäma  156,  2  diese  Hunde 
ans  griechischem  Gebiete  kommen  läßt,  daß  also,  trotz  des  t,  ^ayi- 
Qiov  oder  aber  das  angeführte  slavische  Wort  fflr  das  Arabische  die 
Vorlage  ist.  Die  Urkunde  Safariks  ist  vom  äußersten  Interesse  fttr 
das  in  meinen  > Mittheilungen«  2  72  73  Besprochene:  das  ^ayi^wv 
gleicht  in  ihr  den  Tataren.  Uebrigens  ist  das  ttlrkische  ^  Meninsky ' 
8  150  ^  als  das  Original  des  slavischen,  zu  den  Byzantinern  und  von 
diesen  zu  den  Arabern  gewanderten  Wortes  \^U^\  anzusehen.  J^y  ist 
nach  Hammer,  Falknerklee  xxiv,  Windhund,  nicht  Spürhund  ^).  Herr 
Hommel  schweigt. 

Unverständlich  ist  mir,  wie  Hartwig  D^renbourg  so  oft  (106, 14 
148,  5  8  15  17  und  sonst)  jaj^  hat  drucken  können.  Der  Herausgeber 
des  Stbawaihi  weiß  natürlich  Vieles  was  ich  nicht  weiß :  aber  wo  ich 
in  meinen  Hülfsmitteln  suche,  fehlt  l;b,  und  erklärbar  ist  es  mir 
auch  nicht,  während  ^Ll  alltäglich,  und  wie  jb^^  gebildet  ist.  Bei 
.y  darf  man  natürlich  nicht,  wie  Freytag  1 172  ^  thut,  an^lf  »Freunde 
denken :  FSmith  504  belehrt  uns  unter  yLp  [Elias  aus  Nisibis  8  »= 
22, 86  meiner  Praetermissa],  daß  J^ja  aus  ^bjL  verderbt  sei :  Quatre- 
mfere  Makrizi  1  ^  251  gibt  nicht  genug :  etwas  mehr  steht  in  meinen 
gesammelten  Abhandlungen  21,  vgl.  die  armenischen  Studien  §  316. 

Ich  denke,  Hartwig  Derenbonrg  werde  auf  die  Wichtigkeit  sei- 
nes Usäma  genügend  aufmerksam  gemacht  finden:  die  das  große 
Wort  führenden  Rationalisten  und  » Darwinisten  c  unter  unseren  mit  dem 
Morgenlande  beschäftigten  Gelehrten  dürften  vielleicht  zugeben,  daß 
ein  Theologe,  itoXka  %kay%%'£lg  aväyxyj  in  aller  Eile  wandernd,  am 
Wege  manches  aufliest,  was  ftlr  die  Vertreter  anderer  Wissenschaften 
von  einigem  Werthe  ist. 

Ich  wende  mich  jetzt  zu  dem  Aufsatze  des  Herrn  OHoudas  sur 
r6criture  maghräbine. 

Dem  Herrn  Hondas  gilt  als  eine  nach  den  Untersuchungen  Sacys 
unumstößliche  Wahrheit,  daß  man  sich  schon  im  Jahre  600  in  den 
arabischen  Kanzeleien  der  Nas^iSchrift  bedient  hat:  aber  auf  den 
hohen  Schulen  des  Islam,  meint  Herr  Houdas  (88  oben)  habe  man 
das  Näslet  nicht  vor  der  Reform  des  Ihn  Muqla  in  Gebranch  ge- 
nommen :  auf  der  Universität  Qairnwän  (die  Stadt  Qairuw&n  hatte 
Uqba  [Weil,  Geschichte  der  Chalifen,  1  283  284  286  287]  im  Jahre 
55  der  Flucht  [T&qfit  4  213,  15]   gegründet),  auf  der  Universität 

1)  BeUftnfig  merke  ich  für  Slavisten  an,  daB  mir  das  vonMiklosich  im  Jahre 
1850  verzeichnete  sepRl,  das  auch  als  3'BRp'B  und  aCRp'B  auftritt,  ^dylmmot^ 
das  arabische  ^«^1  zu  sein  scheint. 

2)  Aber  bei  DuCange:  tä  (ayd^nt  ra  dy^j^vtvorta  tiiy  oHfAf^v  ruip  nt^dintfa^. 


NoQTeanz  m^anges  orientaoz.  306 

Qairaw&n  sei  noch  am  909  (89  Mitte,  91  Ende)  das  Edft  der  alten 
Oelehrtenwelt  geschrieben  worden,  nnd  ans  diesem  allmählich  der 
von  uns  maghrebinisch  genannte  Ductus  entstanden:  in  Qairnw&n 
müsse  man  chercher  les  formes  primitives  de  Fäcritare  employee  dans 
tont  le  Maghreb  (87  Ende). 

Ich  schiebe  hier  ein,  daß  die  Brttder  Ihn  Maqla  —  man  weiß 
nicht  genan,  welchem  der  beiden  die  Einführung  der  uns  geläufigen 
arabischen  Schrift  verdankt  wird  —  um  925  blühten:  der  Aeltere 
lebte  von  886  bis  940,  der  Jüngere  von  892  bis  949:  ich  erinnere 
daran,  daß  Ihn  al  Baww&b  das  Werk  des  Ihn  Muqla  noch  verbes- 
sert hat:  Slanes  Uebersetzung  des  Ihn  Kallik&n  2  282  331  8  270. 
Ueber  den  u^^^MOlt  ,b^,  den  MacGuckin  nicht  zu  deuten  wußte,  jetzt 
BDozy  Supplement  3  665 :  schon  EGastle  heptaglottum  2327  hätte 
nicht  zu  verachtende  Dienste  geleistet 

ThNöldeke,  Geschichte  des  Qorans^)  329,  hatte  1860  demNaskt 

1)  Als  ich,  um  dem  Herrn  Hondas  in  keiner  Weise  Unrecht  zu  thun,  dies 
lange  nicht  zur  Hand  genommene  Buch  wieder  einmal  durchlief,  traf  ich  am, 
Rande  der  Seite  270  die  Behauptung,  das  hebräische  und  aramaeische  *^  habe 
>wie  die  mit  Suffixen  verbundenen  Formen  zeigen,  eigentlich  ^*|y«  gelautet.  Hätte 
Herr  Nöldeke  dies  bedacht,  als  er  gegen  meine  Deutung  des  Wortes  bK  zu  Felde 
zog,  so  würde  er  sich  und  mir  das  in  meinen  Symmicta  2  101 — 103  Auseinander- 
gesetzte, und  sich  eine  groBe  Niederlage  erspart  haben.  Meine  Probe  einer  neuen 
Ausgabe  der  lateinischen  Üebersetzungen  des  alten  Testaments  48:  die  dort  von 
mir  gegebene  Deutung  des  ji^  findet  ihre  Bestätigung  durch  ein  von  Herrn 
SFränkel,  die  aramäischen  Fremdwörter  im  Arabischen  131,  nicht  verstandene 
Vokabel.  qU  »Pflugsterze  hat  mit  ^  taaifOQ  {mJluU  armenische  Studien  §  71) 
nichts  zu  schaffen :  es  stammt  von  ^  wie  j^^  von  ^t ,  wie  TytD  von  ;^^y. 
Wenn  Nathan  1(^^  =  1HQ  =»  HK  setzt,  so  hat  er,  ohne  es  zu  wissen,  die  he- 
bräische Yocabel  richtig  aufzufassen  gelehrt,  und  der  Regn.a  13,21  stehenden 
Vocalisation  zu  Gunsten  der  bei  Isaias  2, 4  und  sonst  vorkommenden  den  Garaus 
gemacht.  nM  gehört  zu  XMH  ▼^e  qU  zu  ^\:  vergleiche  meine  Mittheilungen  1 
64—68.  Das  syrische  ^  (Gastellus-Michaelis  771)  wird  für  ^uo  stehn,  und  = 
rp^  sein:  Elias  in  meinen  Praetermissa  27,  15 

9PH  ist  nach  lulius  Pollux  a  252  to  cr^ovi^  [tdv  dffotQov]  oxfif^cov,  fast  genau  das, 
was  die  Araber  qU,  die  Hebräer  nM  nennen  —  Ableitungen  der  Wurzel  ^^^ : 
Geopon  8,  14  entspricht  Jj^  haeo  dem  wtt  des  Originals  ß  23, 14.  Unmöglich 
wäre  nicht,  daS  vph  mit  qU  und  fy^  ss  j^k"*  desselben  Stammes  wäre,  dann 
nämlich  nicht  unmöglich,  wenn  die  eisernen  Pflugschaaren  einmal  nicht  in  Hellas 
verfertigt,  sondern  irgendwoher  durch  semitisch  redende  Händler  nach  Hellas  ge- 
bracht worden  wären. 

Es  sei  gestattet,  Herrn  Fränkels  Buch  an  Einer  Stelle  'aus  Castles  Hepta- 
glottom  zu  verbessern,  um,  ich  weifi  nicht  zum  wie  vielsten  Male  nutzlos,  auf 
Castles  Werk  hinzuweisen.  Herr  Fränkel  nennt  277  ^^yti^  »ein  sehr  schwieriges 
Wort«,  und  erkennt  darin  »flosA«:  »wieso  aber  grade  das  Osterüest  speciell  das 
„Gebet*'   genannt   wurde,  weiB   ich   nicht   zu   sagen«.     ^2{^   verdankt  sein  g 

a«tt.  gel.  Au.  1887.  Nr.  8.  22 


306  Odtt.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  8. 

nachgesagt,  daß  man  es  schon  vor  dem  Ende  des  vierten  Jahrhun- 
derts der  Flucht,  also  vor  1009,  »zum  Bttcherschreiben  nnd  im  ge- 
meinen Leben«  gebrapcht  habe.  Die  arabischen  Tafeln  der  Oriental 
Series  der  Palaeographical  Society  zeigen  Nask!  (5)  in  einem  Passe 
des  Jahres  750,  (96)  in  einem  Exodas  des  zehnten  Jahrhunderts,  (96) 
in  einem  960  zu  Mosul  vollendeten  Exemplare  des  (^JoJtlt^  ^3Uüt  v*^*^) 
(60)  in  einem  974  zu  Samarqand  geschriebenen  \^Si\  q1^«>  AlFara- 
bis,  (60)  in  einem  990  zu  Bagdad  gefertigten  Diwane  des  Abu  0älib, 
(21)  in  einem  993  in  Aegypten  kopierten  Lucas,  wie  sie  Efift  (19) 
in  einer  Genealogie  des  achten  Jahrhunderts,  und  sogenanntes  kufi- 
sches Nask!  allerwärtsher,  und  durchaus  nicht  nur  in  Koranen,  vor- 
führen. 

Herr  Houdas  hat  die  Darstellung  der  Schriftgeschichte  nicht  ge- 
kannt, die  Herr  von  Eremer  in  seiner  Kulturgeschichte  des  Orients 
unter  den  Chalifen  2  313  bis  315  schon  1877  gegeben  hat:  was  in 
einem  allerdings  nicht  gut  redigierten  Satze  Herr  von  Kremer  314 
behauptet,  entspricht  meiner  eignen  Anschauung  von  der  Sache: 
'»Spanien,  das  politisch  vom  Mutterlande  getrennt  war,  bewahrte  sei- 
nen eigenen  Schriftzug ,  der  sich  bis  jetzt  in  WestAfrica  erhalten 
bat«.  Es  wird  Herrn  Houdas  nicht  schwer  fallen,  was  Herr  von  Kre- 
mer beigebracht  hat,  und  das,  was  ich  gleich  beibringen  werde,  zur  Er- 
gänzung seiner  eignen  Darstellung  zu  benutzen,  da  er  87  (99)  aner- 
kennt, daß  Qairuwän  der  Sitz  der  Mälikiten  gewesen,  und  daß  von 
Qairuwän  aus  die  M&likiten  den  ganzen  Westen,  auch  Spanien,  so- 
weit dies  dem  Isl&m  anhieng,  für  ihre  Rechts*  und  Glanbensanscbau- 
ungen  gewonnen  haben. 

Die  Iren  schreiben  noch  heute  als  nationallrisch  die  im  Wesent- 
lichen auch  den  Angelsachsen  einst  geläufigen  Buchstaben  (über  de- 
ren Herkunft  ich  nichts  ausgesagt  haben  will),  weil  ihnen  keine  nor- 
mannische Eroberung,  wie  1066  den  Angelsachsen,  normannisch-fran- 
zösischen Ductus  gebracht  hat.  Den  Besitz  sogenannter  maghrebini- 
scher  Schrift  dankt  der  Westen  nicht  Qairuwän,  sondern  dem  Um- 
stände, daß  im  Maghreb  Umayyaden  weiter  herrschten,  als  im  Osten 

allerdings  dem  Glauben,  daS  es  von  )x:d  =  Uu  herstamme:   in  Wahrheit  ist  die 

Wurzel  v£>ju,  die  ECastle  404  reichlich  belegt. 

Erpen  Galat.  1,  1   ol^^^t  ^^  q«  ^JJu  ^yttgw  avtoy  i*  ytxgtui^, 

„       Corinth,  a  15,  4  15  16  Goloss  2,  12   e^juit  ny^e^ij. 
Polygl.  Act  4, 38  28,  6  Rom.  1,  4  v^ljuit  aVairfacr*^ 

e^wJbJI  1^  {\iyju  aya<naffts  Erpen  Hebr.6,  2)  MI  Nacht  4  889, 11  [Habicht] 
Auferstehongstag :  ich  bemerke ,  daS  schon  Castle  (mit  falschem  Citate)  sich  auf 
den  Qoran  berufen  hat,  aus  dem  mit  der  Hülfe  Willmets  und  Flügels  ^^^^jlJI  p^ 
[22, 5]  80, 56  wie  Ctytu.!^  6, 29  zn  nennen  ist. 


Nonveaux  melanges  orientanx.  307 

die  Abbasiden  das  Scepter  ergri£fen  hatten.  Daß  die  im  Westen  re- 
gierenden Umayyaden  gerne  eine  der  in  dem  ihnen  feindliehen  Osten 
angenommenen  Rechtsauffassung  entgegenstehende  Theologie  und 
Jurisprudenz,  so  zu  sagen  als  Staatstbeologie  und  Staatsjurisprudenz, 
unter  sich  wirken  sahen,  war  —  beweisen  kann  ich  es  nicht  — 
selbstverständlich:  so  brutal  war  der  Staat  damals  noch  nicht,  nicht 
in  der  Idee,  die  er  freilich  schon  anbefahl  und  aufzwang ,  das  den 
Staat  Zusammenhaltende  zu  erblicken.  Die  im  Grunde  von  vorne 
herein  unmögliche  Gemeinsamkeit  der  Entwickelung  der  islamischen 
Länder  wurde  750  durch  die  Schlacht  am  großen  Zab  in  aller  Welt 
Augen  unmöglich  gemacht.  Von  Marwän  des  zweiten  Nachfolger  an 
entwickelten  sich  die  beiden  Hälften  des  Gebiets  selbstständig.  Ana- 
log erwuchs  später  eine  persische  Schrift,  als  Erän  nicht  mehr  im 
Machtbereiche  des  von  kräftigen  Abbäsiden  beherrschten  Bagd&4 
lag.  Ich  sollte  meinen,  daß  auch  das  türkische  Reich  einen  eigenen 
Scbriftzug  hervorgebildet  habe.  Kann  man  doch  sogar,  was  heute 
im  Königreiche  Sachsen  zu  Papiere  gebracht  wird,  noch  in  unserer 
Alles  gleich  machenden  Zeit  auf  den  ersten  Blick  als  königlich  säch- 
sisches Schriftstück  erkennen. 

Man  wolle  mir  nicht  verübeln,  daß  ich  hier  auf  zwei  mich  als 
Theologen  —  denn  etwas  anderes  bin  ich  nicht,  und  mein  Interesse  für 
alle  Dinge  hat  seinen  Mittelpunkt  in  meiner  Theologie  —  daß  ich 
auf  zwei  mich  als  Theologen  interessierende  Thatsachen  aufmerksam 
mache. 

Dem  Ezdras  wird  ^)  nachgesagt,  er  habe  den  Canon  der  Juden 
aus  Einer  Schriftart  in  eine  andere  umgeschrieben.  Sollte  Ezdras  dabei 
von  etwas  Anderem  als  dem  Wunsche  geleitet  worden  sein,  das  jüdi- 
sche Volk  von  den  stammverwandten  Nachbarvölkern  zu  scheiden? 
Dieses  Streben,  zu  trennen,  bat  ja  in  der  Speisegesetzgebung  bereits 
IDMichaelis  erkannt:  Gesammtausgabe  meiner  deutschen  Schriften 
32Ö.  Ich  habe  schon  als  Religionslehrer  der  Untersecunda  am  Werder- 
schen  Gymnasium,  nachher  in  Göttingen  in  meinen  Vorlesungen  über 
die  Genesis  und  in  der  Einleitung  in  das  alte  Testament  regelmäßig 
gezeigt,  daß  im  Hexateuche  der  durch  das  Labyrinth  leitende  Faden 
der  Bericht  darüber  ist,  wie  von  Gott  immer  wenigere  Erwählte  aus 
dem  Menschengeschlechte  ausgesondert  werden,  und  wie  in  Israel 
selbst  schließlich  die  D^^V^nfi  oder  Pharisäer,  »die  Ausgesonderten c, 
»sieh  Aussondernden  €  als  Endpunkt  der  Entwickelung  erscheinen: 
ich  meinte  damit  zu  erweisen,  daß  die  Entstehung  des  Hexateuchs 
als   eines  Ganzen  in   die  Zeit  der  Entstehung   des  PharisäerOrdens 

1)  Origcnes  in  meinem  novae  psalterii  graeci  editionis  specimen  9^. 


'•,•»■ 


308  Oött.  gel.  Ans.  1887.  Nr.  8. 

falle.  In  den  Znsammenhang  dieser  von  mir  lange  ehe  1869  Qraf 
seinen  bekannten  Aufsatz  in  des  Herrn  Herx  Archiv  schrieb,  öffent^ 
lieh  und  privatim  geschilderten  Anschaaungen  scheint  mir  zu  pas- 
sen,  daß  der  damals  Israel  leitende  Mann  die  innere  Scheidung  aach 
mit  dadurch  äußerlich  anschaulich  machte,  daß  er  eine  neue  Schrift 
einführte :  diese  Schrift  mußte  nattlrlicb  von  des  Ezdras  Hanptgegnern, 
den  Samaritern,  abgelehnt  werden.  Der  »Epiphanius«,  der  über  die 
Edelsteine  des  Hohenpriesterschildes  schrieb,  nennt  21ö,  indem  er  diese 
Aenderung  der  von  GHoffmann  in  des  Herrn  Stade  Zeitschrift  1  334 
— 336  aus  fTi  (meine  armenischen  Studien  §  2274')  erklärten  dees- 
sion-  oder  deessenon-  in  die  somahirenus-Schrift  (ich  deute  n'^lni'ö  ^fib) 
berichtet,  den  Ezdras  »volens  discernere  Israel  a  relliquis  gentibus, 
ut  genus  Habrahae  non  videretnr  esse  permixtum  cum  habitatoribus 
terrae«.  Nun,  der  Erfolg  hat  des  Ezdras  Werk  gekrönt:  die  Schei- 
dung ist  noch  hente,  nach  2350  Jahren,  vollkommen. 

Nicht  so  geflissentlich  hat  man  die  Schrift  in  Syrien  geändert: 
allein  daß  syrische  lacobiten  anders  als  syrische  Nestorianer  schrei- 
ben, kommt  deutlichst  davon  her,  daß  lacobiten  und  Nestorianer  sich 

getrennt  von  einander  gegen  den  Tod  wehrten'). 

* 

1)  In  des  Herrn  ThNoeldeke  syrischer  Grammatik  §  1  steht  aber  die  sy- 
rische Schrift  nicht  Alles,  was  man  dort  über  dieselbe  gesagt  erwarten  moBte: 
einigermaßen  orientiert  HerrRDnval  in  seinem  zweiten  Kapitel.  Es  wäre  immer- 
hin hübsch  gewesen,  wenn  Assemanis  BO  3'  878  mit  ihrem  Berichte  über  JUL^'«^£d) 
=  mQoyyvhi  und  I^^^jl^  )j,*«flD  (der  lacobiten  und  Maroniten),  wenn  desselben  As- 
semani  BO  2  352  Auszüge  über  den  1299  die  seit  hundert  Jahren  auf  dem  \q^ 
xf>^  ill  Abnahme  gekommene  »Estrangelo«  Schrift  erneuenden  lohannes  von  Qar- 
tamtn  auch  Anföngern  genannt  worden  wären:  wir  sollen  von  den  Studierenden 
doch  nicht  Glauben  heischen,  sollen  sie  unter  keinen  Umständen  aus  anderen  als 
den  ersten  Quellen  trinken  lassen.  Für  die  beiden  Grammatiker  der  syrischen 
Sprache,  die  am  30  September  1880  und  1881  erscheinen  ließen,  würde  es  sich 
vielleicht  empfohlen  haben,  von  den  von  mir  am  12  Juni  1879  herausgegebenen 
Praetermissa  95,  78 — 96,  81  Kenntnis  zu  nehmen,  in  denen  von  den  sieben 
Schriftarten  der  Syrer  die  Rede  ist:  dieselben  heiften  l>^.u>,  l^vao,  (x^ffio,  jL;^) 
[Briefschrift?  Fihrist  1  16,  19],  i\o;yip),  )i5&..s^  und  (von  einem  Kloster  J'«»^) 
jA^^n^  )1V^.    Mit   dem  beregten  Abschnitte  ist  PSmith  804  2739  zu  vergleichen. 

Nicht  einmal,  wenn  von  persönlichen  Freunden  der  tonangebenden  Leute  auf 
die  von  mir  herausgegebenen  Urkunden  ausdrücklich  aufmerksam  gemacht  wird, 
nimmt  man  von  diesen  Urkunden  Kenntnis:  mit  meinen  sogenannten  Ansichten 
möchte  man  in  seiner  Selbstgenügsamkeit  meinethalben  verfahren  wie  man  verf&hrt. 
GHofiinann  hat  im  literarischen  Centralblatte  1879,  1708  auf  die  im  neunten  Jahr- 
hunderte geschriebene  Grammatik  des  Isö  bar  Nun  als  die  Quelle  der  hier  in  Be- 
tracht kommenden,  von  mir  veröffentlichten  Nachricht  verwiesen,  und  Khayyäth 
Syri  Orientales  143  citiert:  Herr  Nestle  hat  in  der  theologischen  Literaturzeitung 
1879,  539  die  in  Rede  stehende  Notiz  hervorgehoben.  Aber  wie  PSmith  en  rägle 
nicht  einträgt  was  ich  bringe  und  brachte,  wie  Herr  Budge  (Nestle  GK}A  1887, 


Nouveaux  mdlanges  orientaux.  309 

UDerklärt  ist  noch,  waram  gerade  Aktenstficke  der  Verwaltang 
schon  660  in  Naskt  geschrieben  worden  sind:  freilich  kennen  wir, 
so  viel  ich  (Nicht- Arabist)  weiß,  nur  Aktenstücke  der  islamischen 
Verwaltang  Aegyptens.  Ich  wage  anf  die  Gefahr  hin,  in  die  Hände 
eines  Gerechten  zu  fallen,  die  Vermuthung,  daß  die  arabische  Regie- 
rang Aegyptens  dem  Islam  nicht  angehörende,  also  christliche,  Ara- 
ber za  Schreiberdiensten  herangezogen  hat:  dann  wäre  das  Naskt, 
sage  ich  einmal  nabatätschen  Urspranges,  das  Küfi  die  erst  allmäh- 
lich häufiger  angewandte  plampe  Schrift  von  Mekka  ond  Medtna. 
1855  hat  Herr  FySpiegel  ZDMG  9  191  daran  gedacht,  das  awesti- 
sche  na^ka  (=  ^)umo)  aas  np^'^  »transcriptam«  herzaleiten:  er  hat 
den  Gedanken  noch  1860  in  dem  Bache  »die  traditionelle  Literator 
der  Parsen«  438  wiederholt.  Ich  habe  1856,  zu  welcher  Zeit  ich 
bei  38  Unterrichts- und  8  mit  wenigen  Pfenningen  besoldeten  Turnanf- 
sichtsstanden  —  der  gnädigen  Ueberwachang  der  hohen  and  höchsten 
Behörden  hatte  ich  mich  dabei  dankbarlichst  zu  erfreaen  —  nicht 
in  der  Lage  war,  viele  Bttcher  zu  lesen,  ohne  von  des  Herrn  von  Spie- 
gel Aeaflerung  zu  wissen,  in  den  Beliquiae  iuris  ecdesiastici  anti* 
qoissimae  graece  ix  gefragt,  ob  iCJcw3  =  l^coo^  und  das  zo  diesem 
gehörende  awestische  na^ka  nicht  ägyptischer  Herkunft  seien:  wie 
sich  ii«.|g^r  za  na|o^,  aaor^  zu  jjlk«.^,  ^^z^  ^^  n^oT-  verhalte  (ich 
schrieb  damals  »ortum  est  ex«),  könne  ein  ni^csS  nocs6  aus  c&j6  cj6«j 
entstehn:  nciu;6i-e&oA  iipavrög  sei  belegbar.  Da  GHoffmann  ZDMG 
32  760  Spiegels  und  meine  Aeußerungen  übersehen  hat,  soll  Herr 
^Fränkel  (die  aramäischen  Fremdwörter  im  Arabischen,  251)  ent- 
schuldigt sein,  wenn  er  von  Herrn  von  Spiegel  und  mir  nichts  weiß, 
zumal  er  dadurch,  daß  er  nnoiS  ans  einer  nabatäischen  Inschrift  nach- 
weist, meine  unabhängig  von  dieser  Thatsache  gemachte  Vermuthung 
bestätigen  hilft,  daß  Naskt  die  arabische  Schrift  bedeutet,  wie  Naba- 
täer  sie  im  Rohre  hatten.  Ueber  die  Nabatäer  lese  man  Noeldeke 
ZDMG  25  122—128.  Nabatäer  konnten  660  in  Aegypten  sehr  wohl 
von  den  harthändigen  Raufbolden  des  Isl&m  als  Schreiber  angestellt 
werden:  nach  Qairuwan  ist  kaum  je  ein  Nabatäer  gekommen:  dort 
maßten  Uqbas  Soldaten  sich  helfen,  so  gut  sie  es  vermochten,   und 

208  209),  ein  Schüler  WWrights,  meine  Praetermissa,  Fragmenta  und  Materia- 
lien nicht  kennt,  Bücher  von  denen  in  Cambridge  mindestens  siebenzehn  Exem- 
plare vorhanden  sind,  so  schweigen  die  Herren  Noeldeke  und  Duval  über  die  ein- 
zige ausdrückliche  ältere  Angabe  über  die  syrische  Schrift ,  die  es  gibt ,  da  ich 
sie  zugänglich  gemacht  habe.  Wenn  ich  dem  Herrn  Roensch  nicht  meine  Gene- 
sis seiner  Zeit  als  Geschenk  in  das  Haus  geschickt  hätte,  würden  er  und  seine 
Gehülfen  nie  gemerkt  haben,  was  in  dieser  Genesis  für  das  Buch  der  lubiläen 
steckt 


810  Gott.  gel.  Ans.  1887.  Nr.  8. 

deshalb  schrieb  man  im  Maghreb  die  den  n'ittnoia  der  Nabatäer 
fremde  plampe  Eoranschrift,  das  Eüft. 

Außerordentlich  geistvoll  ist  es,  am  dies  beiläufig  zu  erwähnen 
—  die  Semasiologie  der  semitischen  Sprachen  wird  noch  lange  unge- 
schrieben bleiben  — ,  daß  ;^^\  nicht  allein  Abschrift,  sondern  auch 
Seelenwanderung  und  Plagiat  bedeutet.  Nur  muß  man  das  cum  grano 
salis  verstehn.  Meine  Seele  wenigstens  ist  nicht  in  natura  in  die- 
jenigen ttbergewandert,  die  meine  Arbeiten  abgeschrieben  haben: 
die  ihr  da  zur  Verfügung  gestellten  Lokale  wären  ihr  zu  unsauber. 
Die  Bedeutung  Plagiat  belegt  BDozy  aus  Mehreus  Bhetorik  der  Araber 
146  199:  fc^^'  »einer  der  die  fiBxsiiinixmöLg  lehrt«  ist  aus  Pocockes 
Specimen  219  und  ^ahrastäni  249,15—250,2  433,13-15  449,7 
bekannt  genug:  ^Llj  Gurgänt  oU^yü  72,3.  Besser  freilich  (ikstav- 
6(D(uka)6ig  als  {utsfif'öxaiötgj  Clemens  von  Alexandrien  217,  38 
268,51/52  Sylburgs. 

Ich  führe  als  weitere  Bestätigung  meiner  Ansicht  von  der  Ent- 
stehung des  Nas^i  und  des  Eüft,  die  ich  als  verschiedenen  Gegenden 
entsprungen  betrachte,  den  Werth  an,  den  in  ihnen  die  Buchstaben 
als  Zahlzeichen  haben.  Die  Formel  lautet  nach  FvDombay,  gram- 
matica  linguae  mauro-arabicae  6,  hinter  ^^JS  im  Maghreb  ^jakM^ 
^Jkäis  iX^  y^yanj ,  während  das  Naskt  ^^  Ä^  v£>u&J  ^jasüLm  hat. 
Das  heißt,  es  bedeutet 


im  Naskt  y»      60, 

magrabiniscb    300 : 

{jo      90, 

60: 

0»    800, 

90: 

Jb    900, 

800: 

t  1000» 

900: 

ja,    300, 

1000: 

Auch  für  die  vergleichende  Grammatik  der  semitischen  Sprachen 
ist  die  Thatsache  wichtig.  D  (meine  Mittheilungen  1 68  69  152)  wird 
im  Naskt  durch  (^,  im  Küft  durch  o?  vertreten,  f  dort  durch  yo, 
hier  durch  ^,  10  dort  durch  ^,  hier  durch  ^:  im  Efift  ist  ^^  ein 
neuer,  im  Nasl|^t  ein  alter  Laut.  Der  für  die  Geschichte  der  semi- 
tischen Schrift  erheblichen  Verschiedenheit  weiter  nachzugehn,  ist 
nicht  dieses  Orts. 

Herr  Hondas  macht  96  darauf  aufmerksam,  daß  das  Efift  avec 
un  qalam  en  pointe,  das  Nas^i  avec  un  roseau  geschrieben  werden 
mttsse,  dont  Textr^mitd  präsente  une  section  rectiligne  taili^e  en 
biseau  et  k  arStes  vives.  Noch  heute  sind  nach  ihm  im  Maghreb 
les  roseaux  taillös  en  pointe,  während  im  Osten  le  qalam  a  un  bec 
plat  et  taillä  en  biseau.  Herr  Hondas  versichert  98,  im  Maghreb 
könne  man  sich  die  ftir  die  Nas^ischrift   nöthigen  Rohre   gar  nicht 


Noayeanx  melanges  orientaux.  311 

verscliaffen.  Man  bescbaue  den  biseaa  anf  Herbins  von  Herrn 
IPNLand  Anecdota  syriaca  1  wiederbolter  Tafel,  und  lese  über  den 
^^ß  den  Fifarist  1  20, 26 — 21,  5 :  woza  dies  wichtige  Bach  heraus- 
gegeben worden  ist,  habe  ich  bislang  noch  nicht  erfahren:  Niemand 
benutzt  es,  und  dabei  steht  doch  nicht  »PdeLagarde«  auf  dem  TiteL 
Es  versteht  sich  von  selbst,  daß  die  Weiterentwickelung  des  Eüft 
▼on  dem  Materiale  abhängig  ist,  anf  das,  wie  von  den  Werkzeugen, 
mit  denen  es  geschrieben  wurde.    Chardin  von  Langl^s  4  273 — 284. 

Ich  setze  aus  RGaldwells  comparative  grammar  of  the  Dra- 
vidian  family  of  languages  ^67  folgendes  aus  des  Herrn  Beames 
Buch  Uebernommene  zur  Erläuterung  her:  The  Oriyas  and  all  the 
populations  living  on  the  coast  of  the  Bay  of  Bengal  write  on  the 
Tfilpatra,  or  leaf  of  the  fan-palm,  or  palmyra  (Borassus  flabelliformis). 
The  leaf  of  this  tree  is  like  a  gigantic  fan,  and  is  split  up  into 
strips  about  two  inches  in  breadth  or  less,  according  to  the  size  of 
the  leaf,  each  strip  being  one  naturally-formed  fold  of  the  fan.  On 
these  leaves,  when  dried  and  cut  inter  proper  lengths,  they  write 
with  an  iron  style,  or  Lekhani,  having  a  very  fine  sharp  point.  Now, 
it  is  evident  that  if  the  long,  straight,  horizontal  mäträ,  or  top  line 
of  the  Deva-n&gart  alphabet,  were  used ,  the  style  in  forming  it 
would  split  the  leaf,  because,  being  a  palm,  it  has  a  longitudinal 
fibre,  going  from  the  stalk  to  the  point.  Moreover,  the  style  being 
held  in  the  right  hand  and  the  leaf  in  the  left,  the  thumb  of  the 
left  hand  serves  as  a  fulcrum  on  which  the  style  moves,  and  thus 
naturally  imparts  a  circular  form  to  the  letters. 

Ich  gestatte  mir  zum  Schlüsse,  um  meinen  Oönnern  an  einer 
recht  augenfälligen  Stelle  Gelegenheit  zur  Erweisung  ihres  Wohl- 
wollens zu  geben,  eine  Frage  in  Betreff  des  Wortes  xdxvQog  zu 
stellen.  Dasselbe  ist  bis  jetzt,  so  viel  ich  weiß,  noch  nicht  erklärt. 
Herr  von  Eremer  berichtete  1877  in  seiner  Gultnrgeschichte  des 
Orients  unter  den  Ghalifen2  305  > Der  Hauptsitz  der  Papyrusindustrie 
war  im  Delta,  und  zwar  in  dem  Städtchen  Bura,  einem  Ettstenorte 
des  Bezirks  von  Damiette.  Hier  ward  die  Papyruspflanze,  die  ver- 
muthlich  im  nahen  MenzalehSee  in  großer  Menge  wuchs,  verarbeitet| 
und  dann  in  den  Handel  gebrachte.  Herr  von  Eremer  beruft  sich 
auf  »Ja'kuby  126  127«.  Er  meint  des  jüngeren  Juynboll  qIjJLJI  vl^ 
(Leiden  1861):  dies  Buch  des  ^.^^ibu  gehört  in  das  zehnte  Jahrhun- 
dert Von  »derot  Hauptsitze  lese  ich  in  ihm  nichts:  die  Worte  lau- 
ten 126, 16  vLtyul  L^  j^-  J^LyO  JsF  o^j^\  >-U  J*  ^^uis^  ^^  8^50 
g,^t  jüt^  =  und  Büra,  und  dies  ist  ein  fester  Platz  am  Gestade  des 
Heeres,  im  Bezirke  von  Damiette :  in  ihm  werden  Eleider  und  xiftm 
verfertigt :  127, 1  u^lyü!  Ljj  ^^  k^jo^^  L(J  JLfi^.  iubJa»^  =  und  [zwi- 


312  Gott.  gel.  Ans.  1887.  Nr.  & 

sehen  y^\  Täqflt  1  166,  10  (and  gelegentlich  sonst)  und  Alexandria 
liegend]  die  Stadt,  die  Wasimat  heißt,  in  der  x^if^fi^  verfertigt  wer- 
den. Wastm  Yäqflts  4  929,  7  scheint  mir  der  Lage  nach  nicht  zu 
passen:  die  amtliche  Statistik  des  Reichs  des  Khedive  habe  ich  im 
Augenblicke  nicht  zur  Hand.  Aber  Ein  Hauptsitz  der  Papyrusaus- 
fuhr wird  Bdra  sicher  gewesen  sein.  Wer  schafft  den  alten  Namen 
des  Ortes?  Yäqfit  1  755,17  meldet,  daß  nach  Bfira  gewisse  Tar- 
banbinden  und  gewisse  Fische  genannt  wurden.  Letztere  bespricht 
SdeSacy  Relation  de  l'Egypte  par  Abdallatif  281  287,  ÜJSeetzen 
Reisen  3  497  (mugil  cephalus  ist  ein  Meerfisch:  Herr  Fleischer  in  der 
musterhaft  schlecht  eingerichteten,  registerlosen  Ausgabe  des  wichti- 
gen Werks  weiß  4  517  nur  Abdallatif  zu  eitleren),  mein  Pedro  de 
Alcala  345^  22  pece  pescado  generalmente  bur  büri  (meine  Mitthei- 
lungen 2  11—15,  die  sich  schon  ergänzen  ließen):  über  die  Turbanbin* 
den  ans  Bdra  sagt  RDozy  nichts.  Konnten  gewisse  Salzfische  und 
gewisse  Turbanbinden  Bfirische  heißen,  weil  sie  aus  Bfira  stammten, 
so  konnte  auch  der  aus  den  Rohren  des  bei  Bfira  gelegenen  Men- 
zaleSees  gefertigte  Schreibstoff  als  n^-ikorp..*  bezeichnet  werden« 
n&^nori'  =  üatpvo'&ciog  zeigt  dieselbe  Bildung:  fitiÄ  Kb  =  nd.«.juLox« 
die  dem  Ammon  gehörigen  (=  Thebäer)  lehrt  die  Mehrheit  kennen. 
Wer  mir  gegen  meinen  Einfall  spricht,  ist  kein  Geringerer  als  Theo- 
phrast,  der  Geschichte  d  8,  2  drei  Arten  des  Rohres  nennt ,  Ttinvqogj 
6aQi  (cgo^pi?  Peyron  304:  j:|^o  ist  nach  Bragsch  ^oo-fq),  6  fivdffiov^. 
Siehe  EQuatremöre  m^moires  sur  TEgypte  526  unter  Pa  usw.  Bfira, 
dessen  B  den  des  P  entbehrenden  Arabern  gedankt  werden  wird, 
scheint  jetzt  untergegangen :  es  kann  ebensowohl  einst  bedeutend 
gewesen  sein,  wie  ^Akai6a  =  Halaesa  auf  der  Nordküste  Siciliens, 
das  als  ntr^bK  in  der  Völkertafel  Sicilien  vertritt  ^).  ^^  stammt  aus 
dem  Griechischen. 

16  März  1887.  Paul  de  Lagarde. 

1)  Cum  illa  sit  haec  insulai  quae  undiqae  exitus  maritimos  habeat,  quid  ex 
ceteris  locis  exportatum  putatis?  quid  Agrigento,  quid  Lilybaeo  [^^2^77»  ara- 
mäisch: PSmith  1908],  quid  Panormo  L*"^^^^,  kann  auch  aramäisch  sein],  quid 
Thermis,  quid  Halaesa,  quid  Catina  [nr^pi  aramäisch],  quid....?  Cicero  gegen 
Verres  ß  75  (185). 


Fftr  die  Badaktion  ▼«tsntwortlieh :  Prof.  Dr.  B§cktd,  Direktor  dar  Odtt.  gel.  Abs., 
Aeseaaor  der  KfinSgliehen  Geselleckaft  der  WieaenickAften. 

Ytriag  der  DitUrieüCaehm  ymiaot'BwMtcmdhmg. 

VrMck  d§r  DUUn'ch'ackm   Vm'v.-Bnchärudcnei  (fr.  H'.  KaeaiMer). 


y^i 


V 


813 


Göttingische 

gelehrte  Anzeigen 

uDter  der  Aufsicht 

derKönigl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Nr.  9.  1.  Mai  1887. 


Preis  des  Jahrganges:  JL  24  (mit  den  »Nachrichten  d.  k.  G.  d.  Wies.«:  UK  27). 
(^'  Preis  der  einzelnen  Nammer  nach  Anzahl  der  Bogen:  der  Bogen  50  ^ 

IbImU:  Lanpreclit,  DeotsobM  WirteeluifUileben  im  Mittelalter.  —  Von  «.  btamO'^tmtgg. 
Oeering,  Hendel  und  Indnetrie  der  Stadt  Basel.  Yen  Bcheuis,  —  Stern,  Abhandlvngen  und  Jkk- 
tenitfteke  inr  Oeeebichte  der  preveeiecben  Befomueit  Von  FüimUer.  —  Cbristle,  Tbe  Diary  and 
Correependenee  ef  Dr.  Jobn  Wortbington.    Yol.  I.  Part  II.    Von  8t§m, 

=  EifiaMiohtIger  AMrnok  von  Artikeln  iler  60tt.  gel.  Anzeigen  verboten.  = 


Lamprecht,  S[arl,  Deutsches  Wirtschaftsleben  im  Mittelalter. 
Untersachungen  über  die  Entwicklung  der  materiellen  Kultur  des  platten 
Landes  auf  Grund  der  Quellen  zunächst  des  Mosellandes.  I.  Band :  Dar- 
stellung. XYI  und  1640  S.  n.  Band:  Statistisches  Material.  Quellenkunde. 
X  und  784  8.  m.  Band :  Quellensammlung.  X  und  608  S.  Mit  18  Karten. 
Leipzig,  Verlag  von  Alphons  Dürr,  1886. 

Das  von  langer  Hand  vorbereitete,  von  den  Freanden  des  Ver- 
fiuBsers  und  der  von  ihm  gepflegten  Stadien  mit  lebhaftem  Interesse 
erwartete  Werk  liegt  nunmehr  in  drei  Bänden ,  von  denen  der  erste 
vneder  in  zwei  starke  Halbbände  zerfällt^  abgesohlossen  vor.  Mit 
seinen  mehr  als  3000  Seiten  ist  es  schon  ganz  äußerst  genommen 
eine  imposante  Erscheinung;  wie  sie  nur  äufterlich  selten  mit  einem 
Male  und  von  einem  einzigen  Autor  herrtthrend  auf  dem  Bücher- 
märkte vorkommen  mag,  und  gibt  in  dieser  Art  Zeugnis  von  der 
Leistungsfähigkeit;  aber  auch  von  dem  hingebenden  Interesse  einer 
deutschen  Verlagsfirma  für  ein  großartiges  wissenschaftliches  Unter- 
nehmen. Mit  seiner  auf  vieljähriger  Sammlung,  Durchforschung  und 
Gliederung  eines  ungeheuer  reichen  Materials  beruhenden  Vielseitig- 
keit, Reichhaltigkeit  und  Vertiefung  in  alle  wissenschaftlich  wichtigen 
Probleme  der  mittelalterlichen  Wirtschaftsgeschichte  innerhalb  des 
der  Arbeit  gesteckten  Rahmens  ist  das  Werk  ein  höchst  ehrenvolles 
Zeugnis  deutschen  Fleißes,  deutscher  Qrttndlichkeit  und  Umsicht 
verbunden  mit  hoher  geistiger   Kraft,   die  an  dem  schweren  Werke 

OAtt.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  9.  23 


ÖU  Oött.  gel.  Änz.  1887.  No.  d. 

nicht  erlahmt  und  sich  den  vollen  Umblick  nnd  Ausblick  nicht  trü- 
ben läßt  darch  die  Fülle  der  konkreten  Tbatsachen  und  die  Massen- 
haftigkeit  des  sich  herandrängenden  Materials.   Mit  seiner  von  inni- 
ger Verehrung  und  Dankbarkeit  diktierten  Widmung  an  den  Geheim- 
rat Dr.  jur.  Gustav  von  Mevissen,  Mitglied  des  preußischen  Herren- 
hauses und  des  Staatsrats,  den  unermüdlichen  und  opferwilligen  För- 
derer und  Berater  des  ganzen  Unternehmens,  ist  das  Werk  ein  schö- 
nes Denkmal  gemeinnützigen  Sinnes  im  Bereiche  der  Wissenschaft, 
das  um  so  freudiger  begrüßt,  um  so  höber  geschätzt  zu  werden  ver- 
dient, als  sich  so  großartige  Opferwilligkeit   gerade   auf  diesem  Ge- 
biete in  Deutschland  bisher    leider   noch   selten  bethätigt  hat    Und 
mit  der  energischen  und  zielbewußten  Art  endlich,  mit  welcher  diese 
drei  Faktoren  des  Werkes,  Gönner,  Autor  und  Verleger,  jeder  seine 
ganze  Kraft  für  die  Lösung  des  wirtschaftsgeschichtlichen  Problems 
eingesetzt  hat,  liefert  das  Werk  den  lebendigen  und  höchst  wirksamen 
Beweis  von  der  Notwendigkeit  und  Wichtigkeit  der  wirtschaftsgeschicht- 
lichen Durchforschung  des  deutschen  Volkslebens  wie  der  historischen 
Nationalökonomie  überhaupt,  und  zeugt  von  der  Fruchtbarkeit  der 
Anregungen,   welche   die   zu   neuem  Leben    erwachte  wirtschaftsge- 
schichtliche Forschung  schon  jetzt  dem  Studium  der  Geschichte  wie 
der  Nationalökonomie  gegeben  hat.     Es   sind  aber  auch  gerade  bei 
Karl  Lamprecht  die  beiden  Qualitäten   des  Historikers   und  des  Na- 
tionalökonomen in  einer  Weise  entwickelt  und  in  eins  verschmolzen 
wie  nicht  leicht  bei  einem  zweiten  der  jetzt  lebenden  Forschen   Wie 
er  sich  schon  in  seinen  »Beiträgen  zur  Geschichte  des  französischen 
Wirtschaftslebens  im  11.  Jahrhundert«  (Schmollers  staatswissenschaft- 
liche Forschungen  I,  3,  1878)  für   dieses   Gebiet   gleichsam   präde- 
stiniert bewährt  hat,  so  zeigen  ihn  auch  seine  zahlreichen  späteren, 
zumeist  in  rheinischen  Zeitschriften  enthaltenen  Arbeiten  ebenso  sehr 
als  gründlichen  Kenner  und  selbständigen  Kritiker  der  deutschen  Ge- 
sehichtsquellen  wie  als  geschulten  Nationalökonomen  und  Socialpoli- 
tiker;  ja  es  läßt  sich  wohl  sagen,   daß  er  es  verstanden  hat,   seine 
eigne   wissenschaftliche  Wirksamkeit  gleichsam   zu   einem  Central- 
und  Sammelpunkt   der   ganzen    wirtschaftsgeschichtlichen  Arbeit  in 
Deutschland  zu  machen;   ihm   verdanken   wir  zunächst   die  muster- 
haften und  schon  ganz  unentbehrlich  gewordenen  Jabresttbersichten 
über  die  Fortschritte  der   deutschen  wirtschaftsgeschichtlichen  For- 
schung,  welche   er   im  Verein  mit  Höniger  seit  einigen  Jahren  in 
Conrads  Jahrbüchern  für  Nationalökonomie  und  Statistik  publiciert 
und  womit  er  den  Ueberblick  über   die  noch  immer  sehr  zerstreute 
Litteratur  nnd  dadurch  zweifellos  auch  den   einheitlichen  Fortschritt 
dieser  ganzen  Richtung  wesentlich  gefördert  hat 


Lamprcctit,  Deutsches  "Wirtschaftsleben  im  Mittelalter.  316 

Ueber  die  Gesicbtspankte,  welche  far  den  Gesamtplan  and  die 
Richtung  der  vorliegenden  Untersachangen  maßgebend  waren,  spricht 
sich  der  Verfasser  selbst  eingehend  aas.  »Nach  dem  lebhaften  Er- 
wachen wirtschaftsgeschichtlicher  Forschang  neben  den  älteren  Dis- 
eiplinen  der  Rechts-  und  Verfassungsgeschichte  maß  es  nanmehr  dar- 
auf ankommen,  nicht  einseitig  za  werden,  weder  wirtschaftliche  noch 
jaristische,  noch  auch  sociale  und  politische  Fragen  speciell  in  den 
Vordergrand  zu  drängen ;  vielmehr  ist  jetzt  die  Aufgabe  zn  stellen, 
die  materielle  Ealtar  in  ihrer  Gesamtheit  als  Ziel  der  historischen 
Forschang  za  erfassen,  soweit  sich  diese  Forschang  flberhaapt  den 
realen  Dingen  im  Gegensatz  zur  Erforschung  der  idealen  Entwick- 
lungsfaktoren des  Glaubens,  der  Wissenschaft  und  der  Kunst  beson- 
ders zuwendete.  Dieses  eine  Geschichte  der  materiellen  Kultur  im 
weitesten  Sinne  umfassende  Programm  konnte  natürlich  nur  schritt- 
weise und  Stück  für  Stück  in  Angriff  genommen  und  einer  Erledi- 
gung zugeführt  werden.  Ganz  besonders  wünschenswert  vom  prak- 
tischen wie  vom  wissenschaftlichen  Standpunkte  aus  schien  dem 
Verfasser  eine  solch  umfassende  und  vielseitige  Behandlung  für  die 
Entwiekelungsgeschichte  der  realen  Kultur  des  platten  Landes  mit 
besonderer  Beschränkung  auf  das  Mittelalter  des  alten  Deutschland, 
wie  sich  eine  solche  teils  aus  dem  bisherigen  Stande  der  Forschang, 
teils  aus  dem  Bedürfnisse  einer  Koncentration  und  möglichsten  Ver- 
tiefung der  Forschung  ergab.  Daß  er  bei  der  Auswahl  eines  engeren 
Bezirkes  und  damit  eines  begrenzteren  Qnellenmaterials  für  seine 
Studien  gerade  auf  das  Land  an  Mosel  und  Mittelrhein  verfiel,  wird 
nicht  nur  mit  dem  berufismäßigen  Aufenthaltsort  des  Verfassers,  son- 
dern auch  mit  seiner  hinlänglichen  Orientierung  über  die  Quellen  der 
deutschen  Wirtschaftsgeschichte  überhaupt  zu  erklären  sein ;  die  Wahl 
hat  sich  übrigens  als  richtig  getroffen  bewährt;  30,000  Urkunden 
mehrere  Tausende  von  Weistümern  und  mehre  Hunderte  von  Urbaren 
boten  der  Forschung  auch  noch  auf  diesem  beschränktem  Gebiete  ein 
ergiebiges  Feld.  So  sind  diese  Untersuchungen,  principiell  ganz  uni- 
versell gedacht,  doch  stofflich,  räumlich  und  zeitlich  begrenzt;  aber 
die  Idee  des  Ganzen  ist  damit  nicht  preisgegeben;  sie  hat  schon  in 
der  Aufstellung  eines  für  die  Fortsetzung  der  Studien  berechneten 
Programms  gewirkt;  sie  ist  auch  in  der  vorliegenden  begrenzten 
Bearbeitung  Überall  als  roter  Faden  erkennbar. 

Ueber  die  Weiterführung  des  großen  Gesamtplans  informiert  der 
Verfasser  selbst:  »nachdem  ich  die  Forschungen  zur  mittelalterlichen 
Wirtschaftogeschichte  des  platten  Landes,  besonders  an  Mosel  und 
Mittelrhein  begonnen  hatte,  ergab  sich  die  Möglichkeit,  den  Plan  fttr 
eine  diesen  Studien  analoge  Bearbeitung  der  mittelalterlichen  Wirt- 

23* 


816  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  9. 

scbaftsgeschiobte  der  Städte,  mit  besonderer  Rttcksicbt  auf  KOln  za 
entwerfen.     Man   konnte   in   dieser  Hinsicht   vier  einzelne  Themata 
als  besonderer  Untersachnng  wert  bezeichnen :  die  Anfänge  des  Bttr- 
gertams  and  der  Stadtverfassung  darzulegen  anf  Grand  der  Schreins- 
karten; die  Entwickelang  der  Stadtverfassung  und  Stadtverwaltang 
im   14.  und   15.  Jahrhundert  mit   besonderer   Berücksichtigung   der 
Finanzen;   die  Entfaltung  des  selbständigen   bQrgerlichen  Lebens  in 
Handel  und  Industrie ;  endlich  die  Darstellung  einer  groftbOrgerlichen 
Privatwirtschaft   des  späteren  Mittel  alters  €.     Die  Arbeiten  sind,  wie 
Lamprecht  berichtet,  bereits  in  Angriff  genommen,  so  daß  sich  damit 
schon  diese  neae  Wirtschaftsgeschichte  des  Mittelalters  fiber  .die  bei- 
den Hauptriebtungen,   die   agrarisch-territoriale   und   die  industriell- 
nnd  kommerziell-städtische  verbreiten  und,  wenigstens  für  die  Bhein- 
gegenden   auch   so   ziemlich   das  ganze  von  Lamprecht   entworfene 
Programm  erschöpfen  wird.  Neuerdings  ist  nun  aber  von  Lamprecht 
auch  der  Gedanke  einer  Wirtschaftsgeschichte   der  niederrheinischen 
Länder  seit  etwa  dem  16.  Jahrhundert,  unter  genauerer  Untersuchung 
namentlich  des  preuBischen  Einflusses  angeregt  and  der  Stadienplan 
für  eine  solche  Arbeit  in  seinen  OrundzUgen   fertig  gestellt  worden. 
Es  eröffnet  sich  damit  die  Aussicht  auf  den  völligen  AbschluS  einer 
eingehenden  rheinischen  Wirtschaftsgeschichte  von  den  ältesten  Zeiten 
bis  zur  Gegenwart  —  auf  die  erste  voll   durchgeftthrte  Wirtschafla- 
geschichte für  ein  deutsches  Land  Überhaupt. 

In  diese  große  und  verheißungsvolle  Perspektive  maßten  wir  vor- 
erst das  vorliegende  Werk  stellen,  um  seine  eigene  Bedeutung,  seine 
innere  Struktur  und  seine  Zielpunkte  als  Glied  einer  großen  Auf- 
gabe richtig  beurteilen  und  so  den  richtigen  Maßstab  für  seine  Wert* 
Schätzung  im  Ganzen  gewinnen  zu  können.  In  diesem  Znsammen- 
hang ergibt  sich  auch  sofort  das  Verständnis  ftir  die  Gliederung  des 
in  der  Darstellung  des  L  Bandes  behandelten  Stoffs  in  seinen  Haupt- 
teilen: 1.  Recht  und  Wirtschaft  zur  fränkischen  Stammeszeit.  2. 
Land  und  Leute  im  Verlauf  der  geschichtlichen  Entwickelung  an  der 
Mosel.  3.  Die  Entwickelung  der  Landesverbände  und  der  autonom- 
genossenschaftlichen Wirtschaftsverfassung.  4.  Die  Agrarverfassung. 
5.  Die  Entwickelung  der  Landeskultur.  6.  Die  Wirtschaftsorgani- 
sation des  Großgrundbesitzes.  7.  Grundherrlichkeit  und  Vogtei  als 
Formen  halbstaatlicher  Gewalt  und  Fermente  socialer  Schiehtung« 
8.  Zur  Entwickelungsgeschichte  der  Landesgewalt.  Die  Belege  und 
Grundlagen  ftir  alle  diese  Untersuchungen,  so  weit  sie  nicht  in  die 
Darstellung  selbst  verwoben  sind,  bilden  den  Inhalt  der  weiteren 
zwei  Bände,  von  denen  der  eine  die  Bearbeitang  des  statistischen 
Materials,  sowie  eine  erschöpfende  Quellenkunde  zur  Wirtschaftsge* 


Lamprecbt,  Deutsches  Wirtschaftsleben  im  Mittelalter.  317 

schichte  des  Hosellandes  enthält  und  zugleich  eine  Einleitung  zar 
Qaellensammlang  bildet^  welche  den  S.Band  aasschlieftlich  {fX\\%  and 
mit  wenigen  Ausnahmen  nur  Inedita  enthält;  sie  ist  übrigens  nicht 
als  Urkundenbuch  zur  Wirtschaftsgeschichte  des  Hosellandes  im 
Sinne  eines  Gegenstücks  zu  anderen  Sammlungen  gedacht,  sondern 
sie  ist  nur  eine  fttr  die  hier  vorgenommenen  Untersuchungen  unum- 
gängliche Ergänzung  zu  den  vorhandenen  Urkundenbflchern  und  als 
solche  fllr  sich  allein  schon  von  großem  bleibenden  Wert. 


Indem  wir  uns  nach  diesen  allgemein  orientierenden  Bemerkun- 
gen zu  der  Darstellung  Lamprechts  in  ihren  einzelnen  Partieen  wen- 
den, müssen  wir  es  uns  versagen  einen  erschöpfenden  Bericht  über 
alle  in  dem  Buche  bebandelten  Fragen  der  deutschen  Wirtschafts- 
geschichte zu  geben.  Doch  soll  die  Stellung  des  Verfassers  zu 
einer  Beihe  wichtiger  Probleme  markiert  werden,  wo  er  entweder 
einer  herrschenden  oder  doch  verbreiteten  Auffassung  entgegentritt, 
oder  wo  er  neue  bisher  noch  nicht  beachtete  Momente  der  histori- 
schen Entwickelung  oder  neue  Gesichtspunkte  für  ihre  Beurteilung 
zur  Geltung  zu  bringen  sich  bemüht.  Es  wird  sich  daraus  schlieB- 
lieh  doch  auch  ein  Urteil  über  die  Gesamtauffassnng  ergeben,  welche 
der  Verfasser  von  dem  Charakter  der  mittelalterlichen  Volkswirt» 
Schaft  und  ihren  Entwickelnngstendenzen  vertritt. 

In  dem  ersten  Kapitel:  Recht  und  Wirtschaft  zur  frän- 
kischen Stammeszeit  behandelt  der  Verfasser  die  äußeren  For- 
men des  Wirtschaftslebens,  die  gegenseitigen  Beziehungen  von  Recht 
und  Wirtschaft,  die  Entwickelung  der  Stände  und  des  Staates  vor- 
wiegend nach  den  Bechtsaufzeichnungen  der  lex  Salica  und  der  ver- 
wandten LL.  Rib.  Cham.  Angl.  et  Wenn.,  deren  EinfluB  auf  die  ge- 
samte reale  Kultur  der  Wirtschafts-  und  Machtbeziehnngen  für  diese 
älteste  Zeit  gewift  nicht  unterschätzt  werden  darf,  wenn  wir  auch 
zugestehn  müssen,  daß  auch  andre  nur  quellenmäßig  nicht  zu  ver- 
folgende Faktoren  hierbei  in  entscheidender  Weise  mitgewirkt  haben. 
Alle  fränkischen  Rechte  bieten  Rechtssysteme  der  übermächtigen  Ur- 
produktion. Die  gesamte  Entwickelung  der  realen  Kultur  ist  ange- 
knüpft an  die  Einrichtungen,  die  Ansiedelungen  und  die  Organisation 
des  Landbans.  Aber  wir  vermögen  diese  beiden  Angelpunkte  des 
vollen  Verständnisses  jener  ältesten  Zeit  aus  den  Volksrechten  nicht 
mit  genügender  Deutlichkeit  zu  erkennen.  Schon  bei  der  Frage  der 
Ansiedel ungsformen  zeigt  sich  das.  Lamprecht  hält  sich  trotz,  oder 
vielleicht  gerade  wegen  der  eingehenden  Untersuchungen,  die  er  dem 
Gegenstande  gewidmet  hat  (»die  ältesten  Nachrichten  über  das  Hof- 
und  Dorf  system,  speciell  am  Niederrhein  €  in  der  Zeitschrift  des  Ber- 


818  Gott.  gel.  Auss.  1887.  Nr.  9. 

gischen  Gescbichtsyereins  16,  192  ff.)  sehr  reserviert.  »Das  Dorf  der 
fränkischen  Stammeszeit  darf  man  sich  nicht  den  ans  geläufigen  Vor* 
stellangen  entsprechend  denken,  namentlich  kann  es  nicht  nach  einer 
noch  immer  beliebten  Anschaaang  im  schroffen  Gegensatz  zam  Ans- 
baa  ganzer  Gegenden  im  Einzelbofsystem  gefaßt  werden.  Der  Aas- 
drack  villa  in  der  lex  Salica  bedentet  eine  Ansiedelung  von  einem 
oder  mehreren  Höfen  und  ist  daher  auf  das  Hofsystem  und  das 
Dorfsystem  gleich  anwendbare  Lamprecht  stellt  sich  damit,  wie 
mir  scheint  mit  Recht,  gegen  Schröder  (Zeitschr.  d.  Savigny-Stif- 
tang  II,  49),  der  die  Existenz  von  Hofanlagen  neben  den  Dorfan- 
lagen zu  stark  in  Zweifel  zog  und  mir  bei  dieser  (Gelegenheit  im- 
putierte, ich  hätte  (Wirtschaftsgeschichte  I  43  f.)  ein  ausschließendes 
Hofsystem  bei  den  Saliern  behauptet,  während  ich  doch  nur  bewei- 
sen wollte,  daß  man  die  Stellen  der  1.  Sal.,  in  welchen  der  villa 
Erwähnung  geschieht,  im  Einzelnen  sehr  wohl  mit  Hofsystem  ver- 
einen könne.  Ich  bin  also  nicht,  wie  Schröder  (1.  c.  p.  49)  sagt, 
den  Beweis  schuldig  geblieben,  da  ich  Überhaupt  nichts  anderes  be- 
weisen wollte,  als  daß  den  Franken  wie  den  Alamannen  keine  be- 
stimmte Ansiedelungsform,  wenigstens  keine  scharf  ausgeprägte, 
eigentttmlich  war.  —  Auch  in  der  Frage  der  salischen  Agrarverfas- 
sung  steht  Lamprecht  der  von  mir  vertretenen  Auffassung  viel  näher 
als  der  entgegengesetzten  Schröders.  Wenn  letzterer  (I.  c.  S.  53) 
den  Gegensatz  des  Sallands  und  des  /eidgemeinschaftlichen  Landes 
in  Ed.  Chilp.  c.  3  einerseits,  1.  Sal.  tit.  59  §  5  späterer  Redaktion 
andererseits  erblickt  und  mit  uneigentlichem  Salland,  das  aus  den  in 
herrschaftlichen  Besitz  erst  nach  Entstehung  bäuerlichen  Privat- 
eigentums übergegangenen  Dorfhufen  entstanden  sein  soll,  eine  ganz 
willktlrliche  Kategorie  schafft,  so  macht  Lamprecht  mit  Recht  gel- 
tend, daß  sich  der  spätere  Begriff  Herrenland  ungezwungen  aus  deiH 
Begriff:  volksrechtliches  Salland  =  zu  einer  sors  gehöriges  Land 
entwickelt;  auch  meine  Auffassung  (Wirtsch.  Gesch.  I  p.44),  wonach 
campus  und  ager  in  der  fränkischen  Zeit  wohl  allgemein  schon  als 
Ackerland  in  Sondereigentum  zu  verstehn  sind,  wird  durch  die  neue- 
ren Untersuchungen  von  Lamprecht  (I,  13)  im  Wesentlichen  bestä- 
tigt, während  Schröder  (1.  c.  59)  die  verschiedenen  bezüglichen  Stellen 
der  1.  SaL  willkürlich  bald  auf  Salland  in  seinem  Sinne,  bald  auf 
Gemeinland  bezieht.  Wenn  Lamprecht  trotzdem  der  Idee  einer  Feld- 
gemeinschaft den  Markgenossen  im  rechtlichen  Sinne  größere  Eon- 
cessionen  macht,  als  sich  aus  der  1.  Sal.  begründen  lassen,  so  mag 
er  ja  ftlr  die  älteste  fränkische  Stammeszeit  immerhin  im  Rechte 
sein;  die  Entwickelung ,  welche  die  fränkische  Agrarverfassun^  auf 
Grund  des  Gesetzes  genommen  hat,  spricht  aber  doch  wohl  entschie- 


Lamprecht,  Deutsches  Wirtschaftsleben  im  Mittelalter.  819 

den  genug  zq  GuDsten  der  Annabme  eines  dem  Grandeigentam  deut- 
seher  Auffassung  schon  sehr  nahestehenden  Rechts  der  tfarkgenossen 
an  ihrem  Lose  sowohl  wie  an  anderweitig  erworbenem  Grundbesitz, 
der  dann  allerdings,  wie  Lamprecht  richtig  bemerkt,  auch  im  5.-8. 
Jahrhundert  mit  nichten  frei  war  von  allen  durch  Volksrecht  und 
Staatsanschauung  auferlegten  Fesseln. 

In  dem  zweiten  Abschnitt:  Land  und  Leute  im  Verlaufe 
der  geschichtlichen  Entwicklung  an  der  Mosel  wird  zu- 
erst der  differenzierende  Einfluß  von  Natur  und  Geschichte  auf  die 
ländliche  Kultur  durch  das  ganze  Mittelalter  hindurch  untersuchti 
sodann  in  »Waldwnchs  und  Neubruch«  die  ursprüngliche  Ausdehnung 
und  Lichtung  des  Waldes,  Charakter  und  Ausdehnung  des  Neubruchs 
nach  seiner  rechtlichen  und  wirtschaftlichen  Seite  eingehend  erörtert. 
Die  interessanteste  und  wohl  auch  principiell  bedeutendste  Ausftth- 
rung  dieses  Kapitels  ist  unstreitig  der  durch  Schröder  neuerdings 
wieder  mehr  betonten  Frage  des  Bodenregals  gewidmet  Die  Lehre 
vom  Bodenregal  in  der  Ausdehnung  und  Intensität,  wie  sie  Schröder 
in  der  Zeitschr.  der  Savigny-Stiftung  II  entwickelt,  ist  nicht  nur 
nach  dessen  eigenem  Zugeständnis  aus  den  Quellen  der  fränkischen 
Stammeszeit  nicht  strikte  zu  erweisen,  sondern  auch  mit  der  socialen 
und  wirtschaftlichen  Entwickelung  des  deutschen  Volkes  nicht  ver- 
einbar. Es  setzt  eine  viel  stärkere  Gewalt  der  fränkischen  Könige 
voraus,  als  wir  sie  thatsächlich  geübt  finden ,  eine  viel  strammere 
Organisation  der  Verwaltung,  eine  wesentlich  geringere  Bedeutung 
der  altgermanischen  Freiheit,  die  sich  ja  vor  allem  auf  freiem  Grund 
und  Boden  behauptet;  und  in  seinen  Konsequenzen  wttrde  es  zu 
einer  politischen  Verfassung  ähnlich  dem  normannischen  Lehensstaat 
in  England,  zu  einer  den  slavischen  ähnlichen  socialen  Struktur  der 
Gemeinden  geführt  haben,  während  von  alle  dem  in  der  älteren 
deutseben  Wirtschaftsgeschichte  durchaus  keine  Spur  vorzufinden  ist 
Das  eroberte  Land  stand  allerdings,  wie  es  war,  zur  Verftlgung  des 
erobernden  Volkes,  und  der  König  als  der  Führer  des  Volkes  machte 
seine  Macht  auch  bei  der  Verteilung  geltend;  aber  ihm  stand  doch 
andererseits  von  Anfang  an  die  Macht  eines  social  wohlgefügten 
Volkstums  gegenüber,  das,  wie  es  um  die  Gewinnung  neuer  Land- 
striche willen  aasgezogen  war,  sich  das  natürliche  Recht  auf  das 
Landlos  für  jeden  Freien  auch  durch  Königsmacht  nicht  entwinden 
lieft.  Die  scheinbare  Parallele  dieser  Verbältnisse  in  den  ostdeut- 
schen Kolonialgebieten  trifft  nicht  zu,  denn  hier  wandert  nicht  ein 
ganzes  Volk  am  neue  Sitze  zu  gewinnen;  hier  erobert  der  König 
mit  seinem  Heere  als  Mehrer  des  Reiches.  Hier  werden  Beneficial- 
Verhältnisse  begründet  durch  die  Anerkennung  guter  Dienste,   dort 


820  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  9. 

wird  ein  Staatswesen  begründet  durch  ein  siegreiches  Volk,  das  sich 
seine  neue  Heimat  als  gutes  Recht  eignet.  Lamprecht  ist  geneigt 
die  theoretische  nnd  ursprüngliche  Konstruktion  des  Bodenregals,  als 
ein  hoheitliches  Eigentum,  bzw.  Obereigentum  des  Königs  an  nr* 
sprttnglich  allem  Lande  seines  Territoriums,  auch  dem  in  Privat- 
eigentum tibergegangenen,  anzuerkennen;  im  übrigen  scheint  auch 
ihm  die  besondere  Betonung  des  königlichen  Verfltgungsreohtes  über 
alles  Qrundeigen  auch  in  späterer  Zeit,  bei  den  geringen  Spuren, 
welche  die  Quellen  hier  von  ihm  aufweisen,  doch  nicht  völlig  ge- 
rechtfertigt; »die  Praxis  gestaltete  sich  so  aus,  daß  der  König  min- 
destens seit  spätmerowingischer  Zeit  fiechte  an  reinem  Privateigen 
auf  Grund  des  Bodenregals  nur  noch  in  Ausnahmefällen  geltend 
machte.  »Spätestens  um  die  Wende  des  früheren  und  späteren  Mit- 
telalters gehörte  das  alte  Bodenregai  seiner  rechtlichen  Konstruktion 
nach  endgültig  zu  den  Rechtsaltertttmemc.  Diese  Beschränkungen 
des  Bodenregols  stimmen  besser,  als  dessen  principielle  Anerkennung 
zu  dem  Satze  Lamprechts,  daft  der  König  im  salischen  Gesetz  noch 
nicht  der  Träger  der  Staatsgewalt,  noch  nicht  der  Herr  der  Rechts- 
bildung, daß  das  Volk  noch  souverain  ist;  sie  finden  ihre  ergänzende 
Erläuterung  in  der  Bemerkung,  daß  dem  König  frühzeitig  die  Exe- 
kutive des  Volkswillens  zugefallen  ist,  und  daß  er  damit  das 
Recht  hatte,  über  das  rechtlich  noch  nicht  vergebene  Land  zu  ver- 
fügen und  mit  Berücksichtigung  der  aus  politischen  Gründen  aufge- 
richteten Schranken  des  Rechtsschutzes  für  das  Privateigentum  auch 
von  diesem  Leistungen  zu  verlangen  und  Hoheitsrechte  auf  demsel- 
ben geltend  zu  machen. 

In  dem  dritten  der  »Entwicklung  der  Landesverbände 
nnd  der  autonom-genossenschaftlichen  Wirtschafts- 
verfassnngc  gewidmeten  Abschnitte  scheint  uns  die  sehr  umsich- 
tig und  an  vielfach  ganz  neuem  Material  durchgeführte  Untersuchung 
über  die  Zenderei  nicht  nur  die  originellste,  sondern  auch  principiell 
wichtigste  zu  sein.  Speciell  ist  die  Bedeutung  der  Zenderei  für  die 
Ausgestaltung  des  Wirtschaftsverbandes  hier  wohl  zum  ersten  Mal 
mit  voller  Klarheit  dargelegt  und  damit  das  Bild  der  markgenossen- 
schaftlichen Organisation  um  einen  seiner  wesentlichsten  Züge  be- 
reichert worden.  Zu  der  auch  bisher  wohl  schon  unbestrittenen  An- 
nahme einer  Identität  der  Hundertschaftsbezirke  mit  den  autonomen 
Wirtschaftsbezirken  der  ältesten  Zeit,  d.  h.  den  ersten  Ansiedelungs- 
und Anbauabgrenzungen  tritt  nun  nach  den  Ausführungen  von  Lam- 
precht auch  die  Identität  der  aus  den  älteren  Hundertschaften  entstan- 
denen Zendereien  als  Untergerichten  mit  einer  Art  von  Markgenossen- 
schaften zweiten  Ranges  hinzu,  welche  sich  aus  den  von  ihm  ange- 


Lamprecht,  Deatsehes  Wirtschaftsleben  im  Mittelalter.  821 

segnen  Quellen  mit  großer  Dentliehkeit  als  Zendereimarkgenossen- 
schaften  abheben.  Eine  reiche  Flllle  von  Nachrichten,  wie  eie  ge* 
rade  die  Qaellen  des  Mosellandes  darbieten,  läßt  ersehen,  daß  diese 
Eigenschaft  der  Zenderei  und  in  ihr  des  gewöhnlichen  (Unter-)Ge- 
richts  als  Mark  ganz  regniär  war.  Dieses  Zusammenfallen  war  nach 
Lampreeht  geradezu  obligatorisch.  Die  Notwendigkeit  ist  in  dem 
überwiegenden  Charakter  des  Zenders  als  genossenschaftlichen  Ge- 
meindebeamten begründet  Der  Zender  wird  von  der  Gemeinde  ge- 
wählt, er  ist  der  Vertreter  ihrer  Autonomie  in  der  Wirtschaftsver- 
waltung; wo  er  seine  Bedeutung  nicht  verloren  hat  (z.  B.  grund- 
herrlich  geworden  ist)  läßt  er  sich  außerhalb  einer  Markgenossen- 
sehaft  überhaupt  nicht  denken.  Für  die  Beurteilung  der  Größe  die- 
ser Sicndereimarken  gewinnt  Lamprecht  durch  sehr  sorgsame  Unter- 
suchung der  über  die  Lokalitäten  der  einzelnen  Marken  vorhandenen 
Angaben  das  sehr  wichtige  Ergebnis,  daß  die  Marken  der  karolin- 
gischen  Zeit  noch  durchschnittlich  groß  genug  waren,  um  mit  den 
späteren  Zendereibezirken  identificiert  wenden  zu  müssen.  »Mau 
wird  daher  mit  der  Behauptung  nicht  fehl  gehn,  daß  noch  bis  zum 
Schlüsse  des  ersten  Jahrtausends  unserer  Zeitrechnung  die  Heeres- 
und Gerichts-,  sowie  die  Wirtschaftsverfassung  der  Regel  nach  in 
denselben  Verbänden  nnd  Bezirken  lokalisiert  war;  die  Zenderei- 
mark  war  bis  dahin  die  erste  und  letzte  allgemein  entwickelte  Ema- 
nation des  ursprünglich  allein  vorhandenen  Wirtschaftsbezirks  der 
Hundertschaften.  Bei  fortschreitender  Intensität  der  Wirtschaft  konnte 
allerdings  diese  Organisation  nicht  mehr  genügen.  Die  Gerichtsver- 
fassung allerdings  machte  bei  den  Zendereien  Halt  und  gewann  in 
ihnen  eine  letzte  allgemein  durchgeführte  Bezirkseinteilung,  welche, 
wenn  auch  unter  mannigfachen  Aenderungen  der  Gerichtsorganisa* 
tion  und  des  Proceßrechts,  doch  sogar  für  die  Bevölkerungshöhe  des 
späteren  Mittelalters  noch  ausreichte.  Aber  die  Wirtschaftsverfassung 
griff  tiefer.  Bei  ihr  ergaben  sich  mit  der  höheren  Entwickelung  der 
Landeskultur  stets  zunehmende  Emanationen,  welche  nun  nicht  mehr 
in  zugleich  staatlich-gerichtlichen,  sondern  in  allein  genossenschaft- 
lich-wirtschaftlichen Verbänden  und  Bezirken  zum  Ausdruck  gelang- 
ten«. Dieser  Proceß  der  Ausbildung  rein  wirtschaftlicher  Verbände 
nnd  zwar  namentlich  der  Ortsgemeinde,  der  Samtgemeinde  und  der 
Partikniarmarkgenossenschaft  setzt  nach  den  Quellen  des  Mosellandes 
spätestens  im  11.  Jahrhundert  ein,  manifestiert  sich  zunächst  in 
Harkstreitigkeiten  und  folgender  Begelung  der  Marknutzung,  um 
dann  spätestens  seit  der  zweiten  Hälfte  des  13.  Jahrhunderts  in  Ge- 
meinheitsteilungen eine  weitere  folgenschwere  Etappe  zu  erreichen, 
deren  Abschluß  über  die  Zeit  des  Mittelalters   hinaus  zu  verfolgen 


322  Gott.  gel.  An/.  1887.  Nr.  9. 

ist  Qnd  erst  in  unserer  Zeit  unter  dem  Einfluß  der'  Gesetzgebung 
Über  die  Oemeinheitsteilnng  ihren  Abscbluß  findet.  Die  Einsehrän- 
kung,  welche  man  dieser  Theorie  von  der  Entwiekelung  der  Wirt- 
schaftsverbände zu  machen  sich  veranlaßt  sehen  kann  ,  sind  zum 
großen  Teil  von  Lamprecht  selbst  schon  gemacht.  Er  weist  insbesondre 
darauf  hin,  daß  schon  vor  dem  vollen  Herabsinken  der  alten  mark- 
genossenschaftlichen Verfassung  auf  diese  räumlich  kleineren  Ver- 
bände im  Ileimgerede  eine  embryonale  Ortsverfassung  bestand,  wo- 
mit  jedenfalls  die  Ansätze  der  wirtschaftlichen  Lokalverwaltung  bis 
in  die  spätere  karolingische  Zeit  hinaufgerückt  werden  müssen. 
Ebenso  ist  es  schon  nach  der  Art  der  Beweisführung  bei  Lamprecht 
ganz  ausgeschlossen ,  diese  Entwiekelung  unbedingt  auch  für  andere 
Oebiete  anzunehmen,  wo  sich  einerseits  die  Zendereimark  gar  nicht, 
die  Hundertschaftsmark  aber  ausschließlich  nur  in  ihrer  Projicierung 
aufgrundherrliche  Verhältnisse  darthun  läßt;  endlich  ist  auch  die 
von  Lamprecht  selbst  genau  entwickelte  aristokratisch-grnndherrliche 
Lokalverwaltung  in  Zusammenhang  mit  der  stellenweise?  schon  sehr 
früh  durchgeführten  Entwiekelung  eines  grundherrlichen  Obereigen- 
thums  an  Allmenden  auf  die  Ausbildung  lokaler  Wirtschaftsverbände 
der  Markhörigen  geführt  worden,  welche  vielleicht  doch  auch  zur  Er- 
klärung des  vielfach  gänzlichen  Fehlens  einer  Zwischenbildnng,  wie 
sie  die  Zendereimark  darstellt,  hervorgehoben  zu  werden  verdient. 

Eine  höchst  interessante,  auf  ebenso  reichem 'wie  neuem  Mate- 
rial beruhende  Untersuchung  ist  in  dem  4.  Abschnitte  »die  Agrar- 
verfassungc  den  vielbesprochenen  »Eönigshufen«  gewidmet 
Nachdem  der  Verfasser  die  verschiedenen  im  Moselgebiete  vorkom- 
menden Hufenformen  beschrieben,  stellt  er  zunächst  die  urkundlichen 
über  das  Vorkommen  und  die  Beschaffenheit  der  Königshnfen 
aus  dem  10. — 13.  Jahrhundert  verfügbaren  Nachrichten  zusam- 
men und  gelangt  dadurch  zu  einer  ziemlich  sicheren  Charakteristik 
dieser  Hufenform.  Die  Eönigshufen  sind  darnach  mit  aller  Sicher- 
heit als  Rotthufen  zu  erkennen.^'^Sie  entstammen  ferner  ursprünglich 
sämmtlich  königlichem  Besitz.  Später  verflacht  sich  freilich  der  Be- 
griff; auch  andere  besonders  große  Botthufen  von  120-- 160  Morgen 
werden  nun  wohl  Eönigshufen  genannt,  woraus  Lamprecht  wieder 
zurttckschließt,  daß  fttr  die  alte  Eönigshufe  des  10.— 12.  Jahrb.  neben 
ihrer  Derivation  aus  Eönigsgut  auch  eine  besondere  Größe  (eben 
von  120 — 160  Morgen)  notwendig  erforderlich  war.  Die  Natflrlich- 
keit  dieser  Hufenart  in  dieser  Zeit  beruht  nach  Lamprecht  darauf, 
daß  man  bei  wachsender  Bevölkerung  nothwendig  zum  Ausbau 
schreiten  mußte:  ein  solcher  Ausbau  konnte  aber  nur  dann  prospe- 
rieren, wenn  er  die  Mühen  der  ersten  Anlage  und  die     Folgen  eines 


Lamprecht,  Deutsches  Wirtschaftsleben  im  Mittelalter.  323 

zunächst  sehr  extensirea  Aasbaues  gegenüber  der  Intensität  der 
alten  Kaltaren  durch  eine  wesentliche  Vergrößerung  des  Areals  ge- 
genüber der  gewöhnlichen  Besiedlungsanlage  gedeckt  erhielt.  Aber 
eben  in  Folge  dieser  ganz  allgemein  gültigen  Veranlassung  für  die 
Entstehung  größerer  Rotthufen  ist  die  Königshufe  keineswegs  die 
einzige  sich  hier  ergebende  und  damit  singular  dastehende  Bildung; 
sie  ist  vielmehr  nur  die  besondere  fiskalische  Rotthufe. 

Die  Einfügung  der  Eönigshufen  in  die  alte  Flurverfassnng  ist 
im  Moselgebiete  nur  selten  in  der  Weise  erfolgt,  daß  neue  Rotthufen-» 
dörfer  angelegt  wurden ;  vor  dem  Dorfsystem  hat  die  Königshufe 
wie  überhaupt  die  Rotthufe  das  Hofsystem  bevorzugt.  Dabei  ist  je- 
doch der  Unterschied  zu  beobachten,  daß  man  in  den  Ardennen  in 
Gewannen  mit  obligater  Verteilung  der  einzelnen  Streifen  an  die  zu  Ein- 
zelwirtschaften  entwickelten  Hofsplissen  rodete ;  an  Saar  und  Rhein 
dagegen  ist  in  großen  Stücken,  welche  man  Blöcke  nennen  kann, 
Yon  jedem  Hofspliß  für  sich  gerodet  worden.  Zu  diesem  Resultat 
ist  Lamprecht  durch  ein  eingehendes  Studium  der  Flarkarten  geführt, 
von  denen  auch  mehrere  sehr  charakteristische  Beispiele  beigestellt 
sind ;  auch  die  Autorität  Meitzens,  wohl  des  genauesten  Kenners  der 
deutschen  Flurverfassung,  wird  für  diese  Auffassung  eine  gewichtige 
Stütze,  um  so  mehr  als  derselbe  selbst  erst  durch  die  mit  Lamprecht 
gemeinsam  durchgeführte  Durchforschung  der  Katasterkarten  von  Lo« 
kalitäten,  in  denen  Königshufen  örtlich  festgestellt  sind,  zur  lieber- 
Zeugung  gekommen  ist,  daß  dieselben  auch  in  Einzelhöfen  ausgethan 
wurden.  Dieses  zunächst  für  die  Königshufe,  wie  mir  scheint,  genü- 
gend sichergestellte  Ergebnis  verspricht  ftlr  die  genauere  Feststel- 
lung der  Bedeutung,  welche  der  kolonisatorischen  Thätigkeit  der 
Könige  beizumessen  ist,  von  größerer  allgemeiner  Tragweite  zu 
werden.  Insbesondre  wird  dadurch  Licht  verbreitet  über  den  Cha- 
rakter der  in  der  Ostmark  und  in  Steiermark  zahlreich  auftretenden 
Königshufen.  Die  in  der  fiskalischen  Rotthufe  hervortretende  Eigen- 
tümlichkeit, mit  der  virga  regalis  aufgemessen  und  überwiegend  au- 
ßerhalb des  bisherigen  Dorfverbandes  in  Bauerschaften  nach  Hofsy- 
stem organisiert  zu  werden,  mag  auch  bei  der  kolonisatorischen  Be- 
siedelung  dieser  neu  erworbenen  Reichsgebiete,  über  welche  ja  der 
König  zunächst  als  Fiskalland  verfügte,  traditionell  fortgewirkt  haben. 
So  erklären  sich  vor  allem  schon  jene  zahlreichen  Verleihungen  von 
mansi  regales  mit  nur  ungeftlhrer  Ortsbestimmung  (z.  B.  1025  Steier. 
U.  B.  I  n.  45,  1041  n.  50,  1049  n.  97,  114  n.  95  und  98;  1011 
Mon  V.  Boic.  VI  p.  158  u.  o.),  neben  welchen  verhältnißmäßig  selten 
direkte  Beziehungen  von  Königshufen  zu  vorhandenen  Dörfern  vor- 
kommen; auch   die  von  Meitzen   (bei  Lamprecht  I  353)  erwähnten 


324  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  9. 

KatasterkarieD  von  Stillfried  an  der  March  mit  ihren  aDregelm&Aigen 
Gewannen  nnd  Blöcken  bei  nrknndlich  sichergestellten  Königshafen 
lassen  in  der  That  keine  andere  Deutang  zu,  als  daß  hier  eine  cnrtis 
mit  dazugehörigen,  in  Einzelhöfen  angelegten  Hafen  bestand,  wie  sie 
ganz  ähnlich  in  einer  Urk.  Otto  III  v.  J.  970  fUr  das  Erzstift  Salz- 
barg bezeagt  ist :  cartem  ad  .  .  .  Nidrinhof  nominatam  et  50  regales 
hobas  ad  eandem  curtem  pertinentes  pariterque  at  oontigaam  et  ad- 
iacens  eidem  cnrti  nemas  Susil.  Ist  ja  doch  auch  in  den  nach  Wald- 
and  Marsch hafen  angelegten  Kolonistendörfern  das  ökonomische  Prin- 
zip des  Hofsystems  zur  Geltung  gekommen;  warom  sollte  die  Macht 
dieses  reformatorischen  Gedankens  sich,  besonders  im  Gebirgslande 
und  anter  dem  zielbewaßten  Eingreifen  der  königlichen  Gewalt,  nicht 
aach  in  Ausgestaltang  des  reinen  Hofsystems  bei  den  Königshafen 
geltend  gemacht  haben? 

Eine  weitere  in  die  Fragen  der  Agrarverfassang  tief  eingrei- 
fende Untersuchung  betrifft  den  Allmendeausbau  und  insbesondre  die 
Charakteristik  des  Beundeausbaues.  »Die  Bennde  war 
ihrem  eigentlichen  und  ursprünglichen  Charakter  nach  eine  jtingere 
auf  Rodung  beruhende  agrarische  Institution:  sie  war  vom  Grund- 
herrn allein  in  Beschlag  belegtes  und  aufgewonnenes  umfangreicheres 
Stttck  der  Allmende,  etwa  in  sonstiger  GewanngröBe«.  »Neben  der 
Rodung  bestand  freilich  von  jeher ,  aber  zunächst  doch  nur  fttr  sehr 
vereinzelte  Fälle,  eine  zweite  Möglichkeit  für  die  Einrichtung  von 
Beunden:  der  Grundherr  konnte  eine  Gewanne  des  Hufenlandes  ganz 
in  seine  Hand  bringen  und  nun  aus  der  Gewanne  eine  Beunde  ma- 
chen«. Die  Beunden  konnten  daher  sehr  wohl  an  den  verschieden- 
sten Stellen  der  Flur  liegen  und  ebenso  konnten  die  verschiedensten 
Kulturen  im  Beundebau  vorkommen.  »Es  begreift  sich,  daß  eine  so 
eigenthOmliche  Sonderbildung,  wirtschaftlich  noch  dazu  fast  aus- 
schließlich an  die  Sonderstellung  der  Grundherrschaft  gebunden,  zur 
Ausbildung  eines  dem  gemeinen  Markrechte  entgegentretenden  Rechts 
führen  mußte.  Schon  äußerlich  schied  sich  die  Beunde  durchaus  von 
der  gemeinen  Mark  ab.  Sie  war  stets  genau  abgegrenzt,  und  der 
äußeren  Selbständigkeit  entsprach  die  rechtliche;  die  Beunde  war 
stets  AUod,  sie  konnte  frei  verliehen  und  veräußert  werden.  Diese 
Selbständigkeit  ging  so  weit,  daß  man  die  Beunden  zusammen  mit 
der  Hofstätte  als  Haupt  des  Gutes  ansah ,  zu  welchem  der  ttbrige 
Besitz  die  Pertinenz  bildet.  Zur  rechtlichen  Freiheit  kam  die  wirt- 
schaftliche Immunität;  die  Beunde  war  nicht  nur  aus  der^Mark  son- 
dern auch  aus  dem  markgenossenschaftlichen  Nexus  von  Rechten 
nnd  Pflichten  geschieden :  die  Beunden  waren  geradezu  grundherrliche 
Enklaven  im  Gebiete  der  autonomen  Wirtschaftsverfassung  der  Dorf- 


Lamprecht,  Deatsches  Wirtschaftsleben  im  Mittelalter.  826 

genossen.  Vergegenwärtigt  man  sich  dazn  noch  die  anAerordentlich 
weite  Anedehnnng  der  Benndewirtschaft,  welche  mit  der  grundberr- 
lichen  Organisation  aach  bis  in  entlegenere  Landesteile  vordrang, 
80  wird  man  die  große  Bedentong  der  Beande  fttr  die  Entwicklang 
der  Agrarverfassang  nicht  verkennen  dürfen.  Das  um  so  mehr,  als 
sich  ftar  die  Beunde  zugleich  auch  eine  besondere  Wirtschaftsform 
ausbildete.  Die  Beunden  wurden  in  Frondienst  bestellt:  gerade  anf 
diesen  Frondienst  hin  ist  die  Bennderodang  vor  sich  gegangen ;  nnd 
es  war  nan  zugleich  im  Charakter  der  Beunde  wie  der  Hofgenossen- 
sohaft  nothwendig  begründet,  daft  diesen  Arbeitskräften  fttr  den  Be- 
undbau  eine  besondere  Organisation  gegeben  wurde.  In  der  That 
ist  der  Charakter  des  Benndebaus  eine  Betriebsgemeinschaft  der 
gmndhOrigen  Arbeitskräfte.  Diese  Konstruktion  der  Beundefronen 
als  Kollektivfronen  ist  übrigens  keine  allein  dastehende  Erscheinung 
in  der  Geschichte  der  Grundherrschaft;  im  Grunde  waren  alle  grund- 
hörigen  Leistungen  in  diesem  Sinne  gedacht«.  Diese  aus  den  Quellen 
des  Mosellandes  geschöpfte  Auffassung  der  Beande  als  einer  aus- 
schließlich grandherrlichen  Institution  stimmt  zwar  nicht  ttberein  mit 
der  Entwicklung  des  Bennderechts ,  wie  wir  sie  aus  süddeutschen 
Quellen  kennen,  wo  es  vielmehr  mit  Einödrecht  überhaupt  ideutifi- 
eiert,  also  auch  den  Dorfgenossen  zugestanden  ist  (vgl.  mein  »Hof- 
system« S.  79  ff.) ;  soweit  jedoch  ihre  Bedeutung  fttr  die  grundherr- 
schaftliche Entwickelung  reicht,  ist  sie  gewiß  zutreffend  geschildert 
Der  Einfluß  des  Beundeausbaues  auf  die  Gestaltung  und  die  Wirt- 
schaftsführung des  Sallandes  einerseits,  und  der  »Gehöferschaften« 
andererseits  ist  unstreitig  ein  mächtiger  gewesen  und  hat  sich  insbe« 
sondre  in  der  Geschichte  des  Sallands  vom  10.-14.  Jahrhundert  sehr 
fühlbar  gemacht  Lamprecht  erkennt  selbst  ausdrücklich  an ,  daß 
BeundestOcke  mit  dem  alten  Salgute  verbunden  wurden  wie 
überhaupt  eine  Verschmelzung  von  Salland  und  Beundeland  sowohl 
vom  Standpunkt  der  Agrarverfassung  als  auch  vom  Standpunkt  der 
Domanialwirtschaft  aus  zu  beobachten  sei.  Allerdings  ist  dadureh 
der  Verfall  der  Sallandswirtschaft  nicht  aufgehalten  worden;  aber 
fttr  die  ältere  Zeit  mindestens  hat  der  zunehmende  Beundeausbaa 
unzweifelhaft  zu  einer  vorübergehenden  Vergrößerung  des  Sallands 
geftthrt,  während  im  späteren  Mittelalter  gewiß  die  Zerschlagung 
des  Sallands  und  des  Beundelandes  zum  Zwecke  der  Verleihung  ge- 
gen Zins  oder  Ertragsanteil  der  Veränderung  der  Agrarverfassung 
nach  dieser  Seite  hin  ihre  Signatur  aufdrückt.  Für  die  Karolingische 
Zeit  ist  das  Vorkonunen  von  Beundestücken  im  Sinne  von  Lamprecht 
wohl  schon  unbedingt  anzunehmen,  und  es  würde  sich  vielleicht  eine 
Korrektor  der  Vorstellungen  von  der  Größe  des  eigentlichen  SaU 


326  Gott.  gel.  Anz.  1867.  Nr.  9. 

lands  daraus  ergeben,  wenn  über  den  Umfang  der  Beande  fttr  diese 
Zeit  irgend  genauere  Anbaltspunkte  zu  Gebote  ständen ;  da  aber, 
wie  Lampreeht  selbst  zugesteht,  ihre  Zahl  nicht  groß  und  ihr  Cha- 
rakter noch  sehr  unbestimmt  ist,  Überdies  der  Ausdruck  terra  sota- 
ricia  schon  frühzeitig  fttr  Beunde  gebraucht  erscheint,  so  bleibt  zur 
Charakterisierung  des  Herrenlandes  im  Gegensatz  zum  ansgethanen 
Zinslande  wohl  kein  andrer  Ausweg  übrig  als  eben  die  im  Ganzen 
doch  zutreffende  nur  nicht  hinlänglich  präcise  Znsammenfassung  von 
Salland  und  Beundeland,  wie  ich  sie  (Wirtschaftsgeschichte  1, 307  ff.) 
zur  Bestimmung  der  Größen  Verhältnisse  des  Sallands  angewandt  habe. 
Elndlich  sei  in  diesem  Zusammenhang  auch  noch  der  Unter- 
suchung über  die  Gehöferschaften  gedacht ,  welche  ihre  ei- 
gentliche Bedeutung  ja  gerade  innerhalb  des  von  Lamprecht  haupt- 
sächlich berücksichtigten  Moselgebietes  haben.  Bekanntlich  ist  das 
wissenschafUiche  Interesse  an  diesen  eigentümlichen  agrarischen 
Bildungen  besonders  geweckt  worden  durch  Hanssens  sorgfältige 
Schilderung  der  Gehöferschaften  (Erbgenossenschaften)  im  Reg.  B. 
Trier  (Abb.  der  Berliner  Akademie  d.  W.  1863  nebst  Nachträgen 
in  seinen  Agrarhist.  Abb.  II.  1884).  Er  bestimmt  nicht  nur  den 
Charakter  dieser  bis  in  unsre  Zeit  hereinragender  GehOferscbaften 
»als  agrarische  Genossenschaften  mit  dem  Gesammteigentum  ihres 
ganzen  Grundbesitzes  an  Feldgärten,  Aeckern,  Wiesen,  Wildlände- 
reien  und  Waldungen  unter  periodischem  Wechsel  der  Interessanten 
in  der  privaten  Nutzung  der  Ländereien  auf  Grund  erneuter  Verlo- 
sungen, soweit  nicht  eine  gemeinsame  Nutzung  derselben  statttfindetc, 
sondern  er  erblickt  in  diesen  Gehöferschaften  auch  Reste  der  urzeit* 
liehen  Agrar Verfassung,  speciell  der  in  derselben  bestehenden  abso- 
luten Feldgemeinschaft.  In  direktem  Widerspruch  damit  sucht  nun 
Lamprecht  die  Auffassung  zu  begründen ,  daß  die  Gehöferschaft  eine 
auf  und  aus  grundherrlichem  Boden  erwachsende  Gemeinschaft  ist: 
keine  Fortsetzung  und  kein  Ueberrest  germanischer  Feldgemein- 
schaft, sondern  vielmehr  eine  relativ  junge  Bildung,  welche  fttr  das 
Verständnis  urzeitlicher  Zustände  nur  wegen  gewisser  Einzelanalo* 
gien  von  Wichtigkeit  sein  könnte.  Speciell  glaubt  Lamprecht  die 
Gehöferschaftswirtschaft  an  jene  von  ursprünglicher  Betriebsgemein- 
schaft im  hofgenossenschaftlichen  Nexus  zu  voller  Feldgemeinschaft 
fortentwickelte  und  später  meist  zu  Gesammteigentum  unter  privater 
Nutzung  der  Ländereien  auf  Grund  erneuter  Verlosungen  abgeblaftte 
Benndewirtschaft  anknüpfen  zu  kOnnen,  von  welcher  im  Vorange^ 
gangenen  die  Rede  war.  Den  Beweis  fttr  diese  ganz  neue  originelle 
Auffassung  sucht  Lamprecht  .vor  allem  aus  dem  Charakter  der  6e- 
böferschaft  selbst,  so  wie  ihn  Haussen  vornemlich  aus  den  bis  auf 


Lamprecht,  Deutsches  Wirtschafsleben  im  Mittelalter.  827 

unser  Jahrhundert  gekommenen  Resten  fixiert  hat,  zn  erbringen. 
Er  konstatiert  zunächst,  daft  in  den  bisher  über  die  (Jehöferschaften 
bekannten  Daten  keinerlei  Anhalt  vorliegt,  welcher  einen  Wider- 
sprach gegen  die  von  ihm  behaoptete  Entstehnngsweise  gestattete« 
Dagegen  gibt  es  eine  Anzahl  schwerwiegender,  noch  beute  vorhan- 
dener Tatsachen,  welche  nur  zum  Beundecharakter  des  GehOfer- 
schaftslandee,  aber  in  keiner  Weise  zu  einer  altgermanischen  Feld- 
gemeinschaft passen.  Hierher  gehört  zuvSrderst  die  Bestimmung, 
daft  nicht  einmal  Wohnsitz  im  Dorfe  zur  Teilnahme  an  der  OehS* 
ferechaft  notwendig  ist;  namentlich  aber  die  folgenden  drei  von 
Haussen  selbst  als  mit  seiner  Theorie  völlig  unvereinbar  erklärten 
Erscheinungen:  1.  Die  Differenz  zwischen  Allmende  (Gemeindegut) 
und  Gehöferschaftsland  an  Orten  wo  GehOferschaften  sind  ;  2.  Die 
Tatsache,  daft  das  Areal  einer  einzelnen  Gehöferschaf  häufig  in  mehreren 
Gemeidefiuren  liegt,  während  andrerseits  in  einer  Anzahl  von  Ge- 
markungen mehrere  Gehöferschaften  nebeneinander  bestehen ;  3.  Die 
Tatsache,  daft  Hochwald  nie  im  Gehöferschafts-,  sondern  mit  ganz 
geringfllgigen  Ausnahmen  im  Gemeindebesitz  ist.  AuBerdem  treten 
in  der  Verfassung  der  GehOferschaften  noch  eine  grofte  Anzahl  von 
Einzelheiten  auf,  welche  unter  der  Betrachtung  der  GehOferschaft  als 
höriger  Benndegemeinschaft  ein  ttberraschendes  Licht  empfangen. 
So  z.  B.  die  Benennung  der  ideellen  Anteile  der  Gehöfer  als  Zins 
oder  Schaft,  als  Pflug  oder  Rute;  auf  die  beiden  letzteren  Ausdrucke 
konnte  man  erst  zu  einer  Zeit  verfallen,  welche  schon  die  Auflösung 
der  Hnfenverfassung  sah.  (?)  Nirgends  sind  die  Anteile  nach  Hafen 
veranlagt.  Vereinzelt  wenigstens  ist  die  Weidenutzung  der  Gehöfer- 
schaftsländereien  den  Gehöfern  ausschlieftlicb  zugesprochen ;  auf 
manchen  GehOferschaften  lastete  sogar  noch  die  ursprünglich  (?) 
grundherrliche  Pflicht  den  Stier  für  die  Ortsgemeinde  zu  halten. 
Auch  die  Tatsache,  daft  die  GehOferschaften  noch  heutzutage  fast  gar 
keine  Organisation  aufweisen,  zeigt,  wie  wenig  die  Geböferschaft  in 
die  Ortsgemeinde  aufgieng,  wie  sie  sich  vielmehr  in  der  Ablösung 
aus  einem  ftlr  sie  autoritativen ,  grundherrlichen  Verband ,  der  einst 
ihre  Behörden  gestellt  hatte,  bildete.  Neben  diesen  aus  dem  jetzt 
noch  erkennbaren  Bestände  der  GehOferschaften  abgeleiteten  Grün- 
den gegen  die  Annahme  einer  altmarkgenossenschaftlichen  Feldge- 
meinschaft der  Gehörerschaften  fahrt  Lamprecht  auch  noch  den 
direkten  Beweis  aus  geschichtlichen  Ueberlieferungen  zu  Gunsten 
der  Entstehung  der  GehOferschaften  aus  der  Beundegemeinschaft. 
Dieser  Uebergang  war  ein  yerhältnismäftig  einfacher:  es  bedurfte 
nur  einer  Uebergabe  des  Beundenackers  an  die  Hofgenossenschaft 
%nT  Eigenknltnr  mit  der  Konsequenz  der   allmäligen  Auflösung  des 


328  Gott.  gel.  Anz.  1687.  Nr.  9. 

alten  groDdherrlieben  Beondenexas  und  einer  dementspreebenden 
Umwandlnng  der  hörigen  BetriebBgemeinscbafl  zur  FeldgemeiDBchaft 
d.  b.  zur  Eigentamsgemeinscbaft  mit  anfänglicbem  Qesammtbetrieb. 
Dafi  die  Grundberrschaft  Salland  der  Hofgenossenscbaft  übergibt,  ist 
darch  mebrere  Beispiele  ans  verhältnismäftig  frttber  Zeit  belegt ;  mit 
Beginn  des  13.  Jabrbnnderts  löst  sieb  aneb  allmäblicb  der  Zasammen- 
bang  der  grandberrlichen  alten  Beandewirtscbaft :  die  Bennden  werden 
an  die  Hofgenossenscbaft  gegen  einen  Jahreszins  erblioh  verliehen. 
Die  Beibehaltung  des  Gesammteigentnms  und  bisweilen  der  Betriebs- 
gemeinsobaft  nach  Uebergang  der  Beunden  in  das  erbzinslichCy 
später  freie  Eigentum  der  Geh(^ferscbaft  erklärt  sich  in  vielen  Fällen 
einfach  daraus,  daB  die  mit  diesen  Systemen  verbundene  Art  des  Anbaues 
für  die  Aussenfelder,  auf  denen  die  Beunden  zumeist  lagen,  eben  die  tech- 
nisch ratsamste  war.  Aber  auch  die  Steuergemeinschaft,  in  welcher  die 
Gehöferschaften  zunächst  verblieben,  mußte  auf  die  Beibehaltung  auch  der 
Betriebsgemeinschaft  bezw.  des  Gesamteigentums  EinfltfA  haben ;  für  alle 
diese  Vorgänge  liefern  insbesondere  die  Weistümer  des  Mosellandes 
zahlreiche  Belege.  Die  Entstehung  der  Gehöferschaften  steht  also 
nach  Lamprecht  im  engsten  Zusammenhang  mit  dem  Verfall  der  al- 
ten grundherrlichen  Eigenwirtschaft:  »sobald  nur  die  Grundherr* 
schauen  ihre  alte  feste  Geschlossenheit  zu  verlieren  beginnen,  treten 
Nachrichten  auf,  welche  auf  das  Emporkommen  geböferschaftlicher 
Bildungen  deuten,  und  um  die  Wende  des  12.  und  13.  Jahrb.,  in 
der  ersten  offenkundigen  Verfallzeit  der  Grundherrschaft,  ergibt  eine 
klare  Ueberlieferung  die  ersten  selbständigen  bofgenossenscbafllichen 
Beundefeldgemeinschaftenc.  Mit  diesem  Schlufiergebnis  der  Erörte- 
rung über  das  Wesen  der  Gehöferschaft  wird  man  sich,  wie  wir  glau- 
ben, allgemein  einverstanden  erklären  können.  Die  Charakteristik 
der  Gehöferschaften  als  Reste  alter  markgenossenschaftlioher  Feldge- 
meinschaft war  ja  doch  von  Anfang  an  nichts  als  eine  ganz  unge- 
ftlbre  Vermutung  ohne  jeden  Versuch  einer  streng  historischen  Be- 
weisftlhrung  und  ohne  nähere  Kenntnis  des  Zustandes  jener  Stufe 
der  Agrar Verfassung,  als  deren  Ueberrest  man  die  Gehöferschaft  in 
einem  Anflug  von  Romantik  anzusehen  geneigt  war.  Hier  ist  zum 
ersten  Mal  das  ganze  verfügbare  Quellenmaterial  herangezogen,  Ur- 
Jkunden  und  WeistUmer,  Urbare  und  Flurkarten;  hier  ist  zum  ersten 
Mal  die  singulare  Erscheinung  der  Gehöferschaft  in  ihrem  Zusam- 
menhang mit  Feldgemeinschaft  und  Allmende,  mit  grundherrlieher 
Beunde-  und  Medemwirtschaft  betrachtet ,  so  daB  jede  Abirrung  auf 
das  Gebiet  anderweitiger  bekannter  Erscheinungen  sieh  von  selbst 
verbot.  Indem  Lamprecht  die  Gehöferschaft  voll  und  rttckbaltslos 
der  gTundberrscbaftlicben  Wirtschaftsverfassung   einordnet,  löst  sich 


Lamprecht,  Üentsches  Wirtschaftslebeo  im  Mittelalter.  329 

nieht  nor  einfach  and  leicht  das  scheinbare  Rätsel,  welches  der  Wirt- 
sehaftsgesehiehte  gestellt  schien,  sondern  es  schlieBt  sich  damit  auch 
der  Kreis  der  an  das  Problem  der  spätem  Entwickelnng  der  Qmnd- 
herrschaften  sich  anreihenden  Fragen  in  Bezag  auf  die  antonome 
Lokalverwaltung  agrarischer  Interessen  in  der  spätem  Markgemeinde 
in  Überraschend  günstiger  Weise  ab.  Vermögen  wir  aaeh  die  ans- 
sehlieBliche  Bedeutung  der  Beunde  fttr  die  Entstehung  der  Gehöfer* 
Schaft  an  dieser  Stelle  ebensowenig  wie  früher  den  scharf  formulier- 
ten.  Gegensatz  der  Beunde  zum  eigentlichen  Salland  ohne  eine  ge- 
wisse Einschränkung  anzunehmen  (die  von  Lamprecht  selbst  aus 
Lac.  ÜB.  I  367  v.J.  1149  angeführte  Urkunde  spricht  hier  eine  nicht 
undeutliche  Sprache),  so  bleibt  doch  in  der  Hauptsache  der  Beweis 
des  grundherrlichen  Ursprungs  der  Gehöferschaft  vollkommen  ge- 
lungen und  bestätigt  an  der  Hand  von  Quellen,  die  mir  nicht  zur 
Verfügung  waren,  die  Vermutung,  welche  ich  aus  allgemeinen  Er- 
wägungen fiber  die  gesamte  Entwickelnng  der  Agrarverfassung  schon 
vor  Jahren  in  den  Jahrb.  f.  Nationalök.  und  Statistik  ausgesprochen 
habe. 

In  dem  fltnften  Kapitel  fiber  die  Entwickelnng  der  Lan- 
deskultur ist  wohl  die  wichtigste  Untersuchung  der  Gttterbewegung 
im  Mittelalter  und  der  daraus  resultierenden  Verteilung  der  Boden- 
nutzung zugewandt  Nicht  nur,  daft  eine  genauere  Kenntnis  der 
GrOftenverhältnisse  der  einzelnen  Arten  von  Landgütern  und  ihres 
gegenseitigen  Verhältnisses  an  sich  schon  fttr  die  Beurteilung  der 
Faktoren  der  Bodenkultur  von  groBer  Tragweite  ist,  so  zeigt  sich 
auch  die  fortschreitende  Belastung  der  Bodennutzung  gerade  von  der 
Art  der  Gflterbewegung  und  Gttterverteilung  in  entscheidender  Weise 
beeinfluftt  Das  Hauptagens  für  die  Geschichte  der  Bodenverteilung 
liegt  natttrlich  in  der  Entwickelnng  des  Privatrechts  und  innerhalb 
desselben  wieder  in  der  Entfaltung  des  Immobiliarerbrechts,  im  Mittel- 
alter um  so  mehr,  als  seine  Strenge  in  dieser  Epoche  noch  das  ge- 
sammte  sonstige  Privatrecht  in  viel  weitergehender  Weise  als  heut- 
zutage beeinfluftte.  Im  Charakter  des  alten  fränkischen  Erbrechts 
war  schon  die  Tendenz  zur  unablässig  weitergreifenden  Zersplitterung 
der  Bodenbenutzung  und  des  Landeigens  gegeben ;  von  einer  vielfach 
behaupteten  alten  Marklosung  als  Hemmnis  der  VeräuBerung  ist  aber 
ebensowenig  eine  Spur  aufzufinden,  wie  fiberhaupt  von  einer  mark- 
genossenschaftlicben  Beschränkung  der  Gttterbewegung.  Diese  Ten- 
denz muBte  voll  wirksam  werden,  sobald  der  Ausbau  des  Landes 
soweit  vorgeschritten  war,  daft  jttngere  Söhne  nicht  mehr  aufterhalb 
des  Erbrechts  unter  Auswanderang  neue  Hufen  auf  Bottland  erwerben 
konnten.    Gemäftigt  wurde  diese  Tendenz   fUr  die  faktische  Boden- 

OW.  gel.  Abk.  1897.  Nr.  9.  24 


330  Öött.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  Ö. 

Dntzaog  dadurch,  daft  man  Realabteilangen  so  weit  als  möglich  ver- 
mied nod  das  Erbenwart-  und  Beisprnchrecht  als  Nachklang  alter 
Qrnndsätze  der  Familienerbfolge  wieder  mehr  in  Aufnahme  brachte. 
Aber  doch  konnte  sie  die  immer  wachsende  Zersplitterung  der  Bo- 
dennutzung nicht  aufhalten,  wie  sie  sich  innerhalb  des  Allodialver* 
mOgens,  spätestens  seit  Ende  des  12.  Jahrhunderts  ausbildete.  Qe- 
genttber  dieser  Tendenz  der  sog.  vorfälligen  Gttter  ergeben  sich 
allerdings  bei  den  sog.  hinterfälligen  QUtern  mit  abgeleitetem  Eigen- 
tum einige  Besonderheiten.  Zwar  war  im  Ganzen  und  Großen  das 
materielle  Recht  der  hinterfälligen  Güter,  soweit  es  hier  in  Frage 
kommt,  dem  Rechte  der  vorfälligen  Gtlter  so  ziemlich  konform  ent- 
wickelt. Aber  doch  hatten  die  hinterfälligen  Güter  eine  allgemeine 
Grundlage  für  ihre  Verkehrsfähigkeit  von  singulärer  Art.  Zunächst 
ist  es  hiefttr  schon  richtig,  daß  gegenüber  einer  beständigen  Ab- 
nahme des  echten  Eigens  der  Bestand  des  abgeleiteten  ein  rasches 
Wachstum  zeigt.  Alle  diese  hinterfälligen  Liegenschaften  aber,  das 
Lehengut,  das  Zinsgut  und  das  Vogteigut  unterlagen  bei  Teilung, 
Veräußerung  und  Vererbung  einer  besonderen  Einwirkung  des  Ober- 
eigentttmers,  durch  welche  die  Ausbildung  eines  besonderen  Rechts 
der  hinterfälligen  Liegenschaften  in  diesen  Beziehungen  veranlaßt 
wird.  Noch  im  späteren  Mittelalter,  wo  doch  die  Rechte  der  Ober- 
eigentümer schon  mehr  zurücktraten,  blieb  doch  auf  dem  platten 
Lande  ihr  Zustimmungsrecht  bei  allen  wesentlichen  Veränderungen 
im  Schicksal  des  hinterfälligen  Eigens  bestehn.  Freilich  bewirkte 
nun  dieses  Einmischnngsrecht  nicht  durchgängig  eine  Erschwerung 
im  Güterverkehr;  höchstens  in  den  daraus  abgeleiteten  Besitz  Verän- 
derungsabgaben kann  ein  allgemeines  Hemmnis  aber  von  doch  nur 
geringfügiger  Wirksamkeit  gesehen  werden.  Im  übrigen  machte  sich 
auch  bei  den  hinterfälligen  Gütern  die  gewohnheitsmäße  Erbfolge 
geltend,  ja  sie  war  weithin  sogar  im  Interesse  des  Obereigentümers 
selbst  gelegen ;  nicht  selten  war  dadurch  Gelegenheit  die  Einnahmen 
zu  erhöhen,  indem  auf  alle  Splissen  früherer  Vollgüter  große  Teile 
der  alten  Lasten  jedesmal  vollinhaltlich  und  selbständig  übertragen 
wurden.  Nichtsdestoweniger  ergab  sich  doch  aus  dem  Verhältnis  des 
Obereigentums  von  selbst  eine  Grenze  fbr  diese  Teilbarkeit  und  Ver- 
vielfältigung der  Abgaben  eben  in  der  Leistungsfähigkeit  der  hinter- 
fälligen Liegenschaften  selbst.  Zugleich  bewirkte  die  Zersplitterung 
der  Vollgttter  die  organisatorische  Zusammenfassung  der  Teilgttter 
für  die  Leistung  der  gesammten  Lasten  des  zu  Grunde  liegenden 
Stammgutes  und  die  Feststellung  von  Minimalgrößen  für  die  ersteren. 
Andrerseits  hatte  die  Abänderung  der  alten  Erbfolgeordnung,  wo  sie 
|m  Interesse  der  Obereigentümer  lag,  die  singulare  Bildung  der  sog. 


Lampreclit,  Deutsches  Wirtschaftsleben  im  Mittelalter.  331 

Stock-  oder  Scbaftgttter  im  Gefolge,  welche  im  Sinne  der  Indivi- 
dnalsnecesBioD  wieder  za  einer  Beschränkung  der  Verkehrsfreiheit 
der  Gflter  führte.  Das  aber  ist  doch  vor  dem  13.  Jahrhundert  kaum 
anzunehmen  und  hängt  sichtlich  mit  der  vollen  Badioierung  der  vog- 
teilichen  Lasten  und  mit  dem  Verfall  der  Hnfenverfassung  zusammen. 
Als  eines  noch  besonders  bedeutsamen  Faktors  für  die  Entwickelnng 
der  LandnntzuDgsverteilung  gedenkt  Lamprecbt  schlieBlich  noch  des 
kirchlichen  Rechts  der  toten  Hand.  Dieses  Recht  untersagt  bekannt- 
lieh im  Allgemeinen  die  Veräufterung  kirchlicher  Liegenschaften ;  es 
läAt  eine  Veräufterung  nur  bei  evidentem  Nutzen  zur  Arrondierung 
und  zu  anderen  Zwecken  zu ;  selbst  der  Tausch  ist  nur  unter  be- 
sonderen Bedingungen  zulässig.  Dieses  Recht  der  toten  Hand  bil- 
dete also  ein  ganz  wesensentliches  Hemmnis  für  die  Mobilisierung 
der  Liegenschaften  und  somit  fttr  die  Verteilung  des  Grund  und 
Bodens  und  seiner  Nutzung;  es  macht  sich  denn  auch  schon  frtth- 
zeitig  eine  gewisse  Abneigung  der  Laienwelt  gegen  diesen  unbeweg- 
liehen  Besitz  der  toten  Hand  geltend;  bald  kam  man  zu  völligen 
Erwerbsverboten  an  Liegenschaften  für  dieselbe.  Seit  der  Mitte  des 
13.  Jahrb.  war  der  Einfluft  der  toten  Hand  auf  die  Gttterbewegung, 
abgesehen  von  der  Einwirkung  ihres  einmal  vorhandenen  großen 
Besitzes,  erschtlttert ,  seit  dem  14.  Jahrb.  war  er  gebrochen,  wenn- 
gleich die  Wirkung  auf  die  Mobilisierung  des  Grundbesitzes  in  dieser 
Zeit  noch  wenig  zu  beobachten  ist  Andrerseits  ist  freilich  auch  der 
Einfluft  nicht  zu  ttbersehen,  welchen  die  Kirche  durch  Begünstigung 
der  Testierfreiheit  und  durch  die  besondem  fttr  kirchliche  Schen- 
kungen erwirkten  Erleichterungen  des  Gttterverkehres  auf  die  Mo- 
bilisiernng  des  alten  Gttterbestandes  ausgeübt  hat.  Den  Gesammt- 
affekt  dieser  gesammten  mittelalterlichen  Entwickelnng  der  Vertei- 
lung des  Grundbesitzes  und  der  Bodennutzung  faftt  Lamprecht  da- 
hin zusammen,  daft  ein  Uebergang  vom  reinen  Hufenanban  zu  klei- 
neren Landgütern  einerseits,  zu  etwas  grOfteren  aber  gleichwohl 
nicht  ttbergroften  Herrenhöfen  andrerseits  stattfand  und  in  den  Schaft- 
gtttern  eine  eigne  Kategorie  gröfterer  Bauerngüter  enstand,  neben 
welchen  auch  noch  eine  Anzahl  gröfterer  Allodialgttter  auf  hochkul- 
tiviertem Boden  erhalten  blieb.  Diese  Mischung  gröfterer  und  klei- 
nerer Landgüter  war  im  Allgemeinen  dem  Fortschritte  der  Landes* 
knltur  im  Moselgebiete  entschieden  günstig,  ja  es  ist  fttr  die  natür- 
tiehen  Vorbedingungen  dieses  Gebietes  eine  bessere  Verteilung  der 
Bodennutzung,  als  die  während  des  Mittelalters  historisch  erwachsene, 
im  Ganzen  wohl  nicht  denkbar. 

Das  sechste  Kapitel  über  »die  Wirtschaftsorganisation 
des  GroAgrundbesitzes  bietet  in  seinem    ersten   Abschnitte 

24* 


Sdä  6ött.  gel.  Adz.  1887.  Kr.  d. 

im  Wesentlichen  eine  wertvolle  Ergänzung  nnd  Weiterftthrang  der 
bisher  in  der  deutschen  Wirtschaftsgeschichte  gewonnenen  Anscbau- 
nngen  über   die  Bildang  nnd  den  Charakter  des  GroBgrundbesitses 
im  Mittelalter.    Es  ttberrascht  dabei  yielleicht  einigermaften,  daft  der 
Verf.,  nachdem  er  die  Vorgänge    der  Bildang   geistlicher  nnd  welt- 
licher Groftgmndbesitzangen    zuerst   analysiert,   schlieftlich   doch  zu 
dem  Urteile  gelangt,  daß  die  Unterschiede  dieser  doppelten  Bestre- 
bungen nicht  so  groß  sind  als  das  nach  den  beiderseitigen  Ausgangs- 
punkten  wohl  hätte  erwartet  werden   können.    Weltlicher  wie  geist- 
licher Besitz  war  bis   zum  11.  Jahrb.,   der  eine   durch  Besiedelungi 
der  andere  durch  Schenkung,   völlig  ausgeweitet  und  nahezu  abge» 
schlössen;   weltlicher  wie   geistlicher  Besitz  erlebte  vom  12.  bis  14. 
Jahrb.  in  Hofanlagen  eine  Nachblttthe  des  Erwerbs,  welche  zugleich 
mit    der   Einfahrung  ausgedehnterer    Hofwirtsohaft   verknüpft   war. 
Selbst   die   größere  Kohärenz   des  Laienbesitzes,   welche   man   des- 
halb vermuten  möchte ,   weil    die  Kirche  im  Zufall  vornemlich   der 
Schenkungen,    der  Laienadel  mit  der  bewußten  Absicht  kolonisato- 
rischer Erweiterung  erwarb,   scheint   keine  bedeutende   gewesen  zu 
sein;  die  positiven  Nachrichten   ergeben   auch  für  den  Grundbesitz 
des    Laienadels    einen   ziemlich  weitgehenden  Streucharakter.     Mag 
dieses  Urteil  nach  der  Lage  der  Quellen  des  Moselgebietes  auch  im 
Großen  als  zutreffend  anerkannt  werden ,   so  bleibt  doch  der  große 
Unterschied    bestehn,  welcher  sich  in   den   Organisationstendenzen 
zwischen  weltlichem  und  geistlichem  Großgrundbesitz  zeigt,  und  sich 
insbesondre  durch   größeres  Salland  der   ersteren,   durch  reicheres 
Zinsland  der  letzteren,  besonders  der  Elosterherrschaften  charakteri- 
siert Andererseits  unterschätzt  Lamprecht  doch  auch  unter  dem  Ein« 
drucke  der   zahlreichen  Einzelnachrichten   über  Streubesitz  die  auf 
bessere  Anordnung  und  Zweckbestimmung   der  großgrnndberrliohen 
Besitzstflcke    gerichteten    Veränderungen   in    der   Organisation   der 
Wirtschaft.    Schon  die  auch  von  ihm   anerkannte  Veränderung   der 
Erwerbsarten,  besonders  die  für  den  geistlichen  Besitz  wichtige  Thal- 
sache, daß  die  Schenkungen  mit  der  Zeit  seltener  werden ,  während 
Kauf,   Tauschund   andere  Erwerbsarten,   welche   den   Grundherrn 
mehr  Ingerenz  verstatten,  zunehmen ,  ist  hierfttr  ein  wichtiger  Um* 
stand;  waren  die  kirchlichen  Institute   an  dieser  Veränderung  aieh 
nnr  passiv,  nicht  aktiv  beteiligt,  so  haben  sie  doch  dadurch  erst  Ge- 
legenheit bekommen,   bei  Gutserwerbungen   auf  die  Interessen   der 
Wirtschaftsorganisation  Bflcksicht  zu  nehmen.     Und  daß  durch  Ar» 
rondierung  und  Gutstäusche  nicht  nur  viel  geleistet,  sondern  der  Guts- 
bestand geradezu  massenhaft  geändert  wurde,  dafttr  liefert  ja  doch  so 
ziemlieh  jedes  Urkundenbuch  für  die  Zeit  vom  10 — 13.  Jahrb.  schla- 


Lamprecht,  Deutschem  Wirtschaftsleben  im  Mittelalter.  388 

genden  Beweis.  Aach  Bonst  wohl  ist  Lamprecht  geneigt,  die  Bedeo- 
tung  der  QroßgrQDdherrschaft  ftlr  die  Organisation  der  volkswirtsobaft- 
liehen  Kräfte  ftlr  unbedeutend  zu  halten;  insbesondere  eine  steigen* 
Specialisierung  der  Dienste  und  Abgaben  will  er  nicht  zugeben,  die 
Gewährung  Ton  Saatgetreide  und  Ausstattung  der  ZiQ3gttter  mit 
Inventar,  sowie  die  freie  Wahl  der  Wertform  der  Leistungen  durch 
die  Grundhörigen  siebt  er  nur  als  singulare  Vorkommnisse  an,  welche 
keine  durchschlagende  Bedeutung  für  eine  einheitlichere  Organisation 
der  Groftwirtschaft  gehabt  haben.  Es  wird  sich  nun  allerdings  bei 
der  Kargheit  der  Ueberlieferungen  vielleicht  nie  entscheiden  lassen, 
ob  wir  es  hier  mit  mehr  oder  weniger  häufig  vorkommenden  Ver« 
hältnissen  zu  thun  haben ;  genug  an  dem ,  daft  sie  nicht  eben  nur 
vereinzelt  sind,  und  daft  sie  erst  in  der  Zeit  einer  bewuBten  grund- 
herrschaftlichen Organisation  überhaupt  auftreten. 

Wird  sich  in  dieser  Art  in  Bezug  auf  die  Bildung  der  groften 
Grandherrschaften  und  den  Gesamtcharakter  ihrer  volkswirschaftli- 
eben  Wirksamkeit  wenigstens  für  die  ältere  Zeit  doch  im  Groften  und 
Ganzen  die  Auffassung  aufrecht  erhalten  lassen,  welcher  ich  (Wirt- 
schaftsgeschichte I  278 — 427)  Ausdruck  gegeben  habe,  so  ist  andrer- 
seits die  Charakteristik,  welche  Lamprecht  innerhalb  des  Groftgrnnd- 
besitzes  speciell  von  der  fiskalischen  Lokalverwaltung  entwirft,  and 
seine  Betonung  der  Verschiedenheit  zwischen  dieser  und  der  aristo- 
kratisch-grundherrlichen Lokalverwaltung  zweifellos  vollkommen  be- 
rechtigt und  geeignet  die  Vorstellungen  von  der  grundherrschafttichen 
Wirtschaftsverfassung  flberhanpt  wesentlich  zu  bereichern  und  zu  be- 
richtigen. Die  karolingische  Fiskalverfassung  hat  darnach  keine 
Parallele  in  der  aristokratischen  Grundherrschaft.  Gegenüber  so  aus- 
gedehnten Unterverwaltungen,  wie  es  die  der  Fisci  waren,  und  bei 
so  wenig  ausgebildeten  Verkehrsverhältnissen  wie  den  karolingischen 
konnte  die  Centralverwaltung  im  wesentlichen  nur  in  Rechnungs* 
und  allgemeiner  Verwaltungskontrole  bestehn;  der  Schwerpunkt  der 
Verwaltung  und  Bewirtschaftung  muftte  dagegen  im  Ganzen  und 
Groften  auf  den  einzelnen  Fisci  selbst  liegen.  Es  war  mithin  die 
Aufgabe,  jeden  Fiskus  zu  einer  thunlichst  kräftigen  Einheit  ausza- 
gestalten,  an  die  Spitze  desselben  also  einen  besonders  umsichtigen 
und  besonders  verantwortungsftlhigen  Beamten  zu  setzen ;  unter  die- 
sem Beamten  und  von  ihm  abhängig  konnte  dann  die  weitere  Aus- 
gestaltung der  Fiskusverwaltung  im  Einzelnen  vor  sich  gehn.  Dieser 
Beamte  war  der  Judex,  stets  ein  freier  Mann,  wohlbegtttert  and 
mächtig;  in  seiner  Hand  koncentrierte  sich  die  ganze  Verwaltang 
des  Domänialbezirks :  die  obere  Wirtschaftsverwaltung,  die  Rechts- 
pflege and  die  Polizei ;   der  Bezirk  war  also  von  der  gewOhnlicben 


S34  Gott  gel  Auz.  1887.  Nr.  9. 

HondertBchaftsverfassang  eximiert  and  bildete  für  sich  wie  einen 
eignen  Wirtschafts-  so  auch  einen  eignen  Gericbtssprengel  Den. 
weitreichenden  Befugnissen  des  Jadex  stehn  dann  die  einzelnen  ihm 
sämtlich  zar  Recbnnngslage  verpflichteten  Lokalbetriebe  gegenüber, 
teils  allgen^ein  landwirtschaftliche,  die  Fronhöfe ,  teils  Sonderbetriebe 
wie  die  Forstrerwaltang  a.  a.  An  der  Spitze  aller  dieser  Betriebe 
standen  Subalterne,  Juniores  des  Judex,  wie  der  Maior  an  der  Spitze 
des  Fronhofes,  der  Forestarius  an  der  Spitze  einer  lokalen  Forstver- 
waltnng,  lauter  Ministeriale  niedrer  Gattung,  Dieser  Verwaltangsor- 
ganisation  der  Fiskalbezirke  hat  die  aristokratische  Grandherrschaft 
nichts  Gleichwertiges  an  die  Seite  zu  stellen ;  es  ^bt  hier  keine  hö- 
here Klasse  von  grnndherrlichen  lokalen  Verwaltnngsbeamten  als 
die  Meier  der  einzelnen  Fronhöfe;  nur  in  dem  Yiztum  oder  Propst 
der  größten  geistlichen  and  weltlichen  Grundherrschaften  ist  eine  ge- 
wisse Analogie  mit  dem  Judex  der  Fiskalverwaltung  zu  finden;  sie 
gehören  aber  nicht  der  Lokalverwaltung  an,  sondern  sind  nar  Ver- 
treter der  rechtlichen  Interessen  des  Grundherrn  zumeist  als  Immuni- 
tätsherrn. So  bereitwillig  und  dankbar  nun  aber  auch  dieses  Resultat 
der  sorgsamsten  Analyse  der  grundherrschaftlichen  Verwaltungsein- 
richtungen  bei  Lamprecht  anzuerkennen  ist,  so  wird  doch  auch  zu 
konstatieren  sein,  daß  in  dem  Fehlen  der  eigentlichen  lokalen  Ver- 
waltungsbehörde die  einzige  wesentliche  Verschiedenheit  der  aristo- 
kratischen gegenüber  der  fiskalischen  Gutsorganisation  besteht.  Und 
so  weitragend  dieser  Unterschied  für  die  Geschichte  der  Verwaltung 
sein  mag,  —  die  eigentliche  Betriebsorganisation  der  Grundherr- 
schaften ist  doch  kaum  sehr  erheblich  davon  berührt  worden.  Denn 
in  der  eigentlichen  Villenverfassung,  der  Wirtschaftsorganisation  des 
Fronhofs  mit  seinen  zugeteilten  Hufen  und  mit  seinem  Sal-  und 
Beundeland,  lag  doch  der  Schwerpunkt  der  produktiven  Arbeit  dieser 
Wirtschaften,  gleichmäßig  bei  den  königlichen  Domänen  wie  bei  dem, 
immerhin  viel  mehr  zerstreuten,  Besitz  der  geistlichen  und  weltlichen 
Herrn.  Der  Meier  wird  allerwege  eine  sehr  maßgebende  Bolle  fttr 
die  Wirtschaftsftihrang  und  ihre  Erträge  gespielt  haben,  mag  im 
Uebrigen  die  Centralisation  der  Verwaltung  eine  vollständige,  in  der 
Hand  des  Grundherrn  selbst  gelegen,  oder  durch  die  Zwischenstufe 
des  judex  eine  mehr  gegliederte  gewesen  sein.  Es  wird  Lamprecht 
anbedingt  zuzugeben  sein,  daß  die  aristokratische  Grundherrschaft 
die  Einrichtnng  des  Fiskalbezirks  nicht  nachgeahmt  hat,  bei  ihrer 
relativ  geringeren  Ausdehnung,  schlechteren  Arrondierung  und  gerin- 
gerem Maße  von  öffentlicher  Gewalt  auch  nachznahmen  gar  nicht  in 
der  Lage  war;  in  der  Organisation  der  Fronhöfe  mit  ihren  Meiern 
and  sonstigen  Ministerialen,  mit  ihrem  Salland  and  zugeteilten  Zins- 


Lamprecht,  Deutsches  Wirtschaftsleben  im  Mittelalter.  335 

land,  in  der  Organisation  ihrer  Specialbetriebe  und  ihrer  gewerblichen 
Arbeit  zeigt  sie  dennoch  in  der  Zeit  vom  9.  Jahrb.  an  so  viel  ver- 
wandte Zttge  mit  der  k?$niglichen  Villenverwaltang ,  daS  eine  Her- 
tlbemahme  leitender  Gedanken  dieser  in  die  Ordnung  jener  doch 
auBer  Zweifel  scheint,  und  daB  sich  scblieftlich  aas  dieser  wenn- 
gleich anvollkommnen  Nachahmung  der  Verwaltungseinrichtungen  im 
Verlaufe  der  Zeit  Propsteien,  Oberschultheißenämter  und  ähnliche 
OfBcien  mit  einem  den  Kompetenzen  des  fiskalischen  Judex  nahe  ver- 
wandten Inhalt  ihres  Amtes  entwickeln  konnten ,  wie  das  am  Ende 
doch  in  den  zu  landesherrlichen  Territorien  herangewachsenen  Grund- 
herrschaften vielfach  beobachtet  werden  kann,  das  spricht  doch  auch 
daflElr,  daß  die  aristokratische  Grundherrschaft  den  Geist  der  könig- 
lichen Wirtschaftsorganisation  wohl  erfaßt  und  in  jahrhundertelanger 
Ausgestaltung  wirksam  erhalten  hat. 

In  dem  siebenten  Abschnitte  werden  die  Grundherrlichkeit 
und  Vogtei  als  Formen  halbstaatlicher  Gewalt  undFer- 
mente  socialer  Schichtung  in  Überaus  anschaulicher  und  viel- 
fach origineller  Weise  vorgeführt.  Vertretungsgewalt  vor  Gericht 
und  Obereigentnm  sind  die  Basis  der  Grundherrlichkeit,  wie  sie  etwa 
seit  Beginn  des  10.  Jahr,  in  jedem  Fronhofe  vorliegt;  unter  ihrem 
Einwirken  verschmelzen  die  Verhältnisse  der  unfreien,  minderfreien 
und  vollfreien  Bevölkerung  der  karolingischen  Grundherrschaft  nun- 
mehr völlig  zur  Grundhörigkeit  des  eigentlichen  Mittelalters :  aus  ihrer 
Ausgestaltung  zu  besonderen  Institutionen  erwächst  die  specifisch 
grnndherrliche  Verfassung.  Allmendeobereigentum  dagegen  und  Im- 
munität sind  nur,  allerdings  kostbare,  Zugaben  jeder  späteren,  wahr- 
haft bedeutenden  Grundherrschaft,  sie  runden  deren  Charakter  ab, 
ohne  ftar  die  Grundherrlichkeit  wesentliche  Erfordernisse  zu  sein. 
Daft  sie  trotzdem  in  den  meisten  Fällen  hinzutraten  und  damit  der 
einfachen  Grundherrlichkeit  eine  weitaus  größere  Bedeutung  gaben, 
erkennt  Laroprecht  nichtsdestoweniger  unumwunden  an :  insbesondere 
von  den  markgenossenschaftlichen  Rechten  fllhrt  er  selbst  des  nä- 
heren aus,  wie  es  die  Grundherrn  etappenweise,  bald  früher  bald 
später,  zur  vollen  Entwickelung  eines  Obereigentums  an  den  All- 
menden derjenigen  Marken  brachten,  in  welchen  Fronhöfe  von  ihnen 
gelegen  waren.  Bis  zum  12.  Jahrb.  war  der  Erwerb  eines  solchen 
Obereigentums  schon  weitreichend  durchgeführt,  und  auf  dieser  Basis 
entwickelte  sich  nun  ein  besonderes  grundherrliches  AUmenderecht, 
dessen  Ausgestaltung  bis  zum  Schlüsse  des  13.  Jahrb.  im  wesentU- 
ohen  abgeschlossen  wurde.  Daß  dieser  Entwickelungsproceß  schon 
in  der  ELaroIingerzeit  begann,  wird  wohl  nicht  zu  bestreiten  sein;  es 
ist  aber  ein  Misverständnis  von  Lamprecht,  wenn  er  meine  auf  dieses 


336  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  9. 

Verhältnis  sich  beziehenden  Ansftthrangen  (Aasbildang  der  groftea 
Qrandberrscbaften  S.  65 ,  101)  dahin  versteht,  als  hätte  ich  den 
Proceß  bereits  mit  dem  9.  Jahrb.  als  abgeschlossen,  die  Markgenos- 
senschaft in  dieser  Zeit  schon  ganz  in  Hofgenossenschaft  nmgewan* 
delt  bezeichnet.  Vielmehr  ist  in  diesen  Stellen  nur  der  nnzweifel- 
haften  Tbatsache  Ausdruck  gegeben ,  daB  die  Grundherrn  sich  früh- 
zeitig die  Marken  ftlr  ihre  ökonomischen  Interessen  dienstbar  za 
machen  und  sich  als  faktische  Herrn  der  Mark  zu  gerieren  begannen, 
und  daß  sie  andrerseits  den  hofgenossenschaftlichen  Verband  da,  wo 
sie  in  einer  Mark  diese  Macht  errangen,  an  die  Stelle  des  alten 
markgenossenschaftlichen  setzten ,  wobei  ich  aber  ausdrücklich  her- 
vorgehoben habe,  daß  in  der  Earolingerzeit  nur  Spuren  einer  solchen 
Wirksamkeit  vorhanden  sind,  während  die  Ausbildung  eines  eignen 
Hofrechts  und  damit  natürlich  auch  die  Ersetzung  der  Markgenossen- 
schaft älterer  Struktur  durch  eine  neue  grundhörige  Bildung  schon 
wesentlich  einer  späteren  Zeit  angehört 

Ein  letztes  großes  Hauptthema  erörtert  Lamprecht  im  VIII.  Ea* 
pitel  »zur  Entwickelungsgeschichte  der  Landesgewalt, 
nnd  zwar,  wie  wir  gleich  hinzufügen  wollen,  mit  besonders  glttekli- 
chem  Erfolge.  Zwar  stellten  sich  gerade  dieser  Aufgabe  besondere, 
äußere  und  innere  Schwierigkeiten  entgegen;  schon  der  hierfür  brauch- 
bare Quellenstoff  war  ein  beschränkter,  im  Wesentlichen  nur  zur 
Geschichte  des  Kurfürstentums  Trier  verfügbar,  das  nicht  den  be- 
günstigten Entwickelungscentren  der  Landesgewalt  angehörte.  Auch 
war  es  durch  die  grundsätzliche  Beschränkung  des  ganzen  Werkes 
auf  das  Mittelalter  verwehrt,  den  ganzen  Proceß  der  Bildung  der 
Landesgewalt  bis  zu  seinem  Abschlüsse  zu  verfolgen,  daher  insbe* 
sondere  auch  später  erst  wichtig  gewordene  Bildungsmomente  auf 
ihre  Wurzeln  zurückzuverfolgen ;  andrerseits  aber  war  durch  die  Be- 
schränkung des  Werkes  auf  ein  deutsches  Territorium  die  erschö- 
pfende Darstellung  des  Einflusses  der  Reichsgewalt,  durch  die  beson- 
dere Betonung  der  materiellen  Kultur  des  platten  Landes  der  volle 
Ausblick  auf  städtisches  Wesen  in  seiner  Bedeutung  für  die  Ausbil- 
dung der  Landesgewalt  behindert.  Das  aber,  was  nun  in  dieser  man- 
nigfachen Beschränkung  zu  leisten  war,  die  Klarlegung  der  im  Be- 
reiche der  Kultur  des  platten  Landes  liegenden  Potenzen  und  ihre 
differente  Wirksamkeit  ftlr  die  Bildung  eines  großen  landesherrlichen 
Territoriums,  sowie  der  Organisation  dieser  Landesverwaltung  selbst, 
das  ist  Lampreeht  doch  in  hohem  Maße  gelungen.  Und  wenn  wir 
bedenken,  daß  gerade  diese  mittelalterliche  Vorgeschichte  der  Lan- 
desherrschaft noch  am  meisten  der  Aufhellung  bedarf,  und  andrer- 
seits nicht  übersehen,  daß  ftlr  diese  erste  Periode  ihrer  Geschichte 


Lamprecht,  Deutsches  Wirtschaftsleben  im  Mittelalter.  837 

doch  Orandherrlichkeit ,  Vogtei  und  Lebnaherlicbkeit  nebst  der  ei- 
gentttmlicb  entwickelten,  aber  wesentlicb  docb  immer  noch  auf  nicht- 
Btädtisoben  Fundamenten  rahenden  Eriegsgewalt  die  eigentlichen 
Faktoren  der  Territorialgewalt  waren ,  so  werden  wir  auch  ttber  die 
allgemeine  Bedentnng  dieser  Specialantersachnng  für  die  deutsche 
Wirtschafts-  und  Verwaltangsgescbicbte  nicht  geringfügig  arteilen 
können.  Es  scheint  ans  dabei  ganz  besonders  verdienstlich  die  Art 
und  Weise,  in  welcher  Lamprecht  den  Parallelismas  entwickelt,  in 
welchem  eben  diese  genannten  Momente  für  die  Entwickelang  der 
Landesgewalt  und  ftlr  den  Umbau  der  socialen  Ordnnng  wirksam  ge- 
wesen sind.  In  der  That  wäre  wohl  das  Streben  der  grOftten  Qrand- 
faerm  nach  der  vollen  Landesherrsehaft  nicht  znm  Ziele  gelangt, 
wenn  nicht  die  parallele  Entwickelong  der  ständisehen  Verhältnisse 
sie  so  begünstigt  hätte.  Insbesondere  ist  hier  die  Rolle  der  Mini- 
sterialität,  der  kri^erischen  wie  der  unkriegerischen,  bedeutsam,  welche 
Lamprecht  mit  Recht  so  besonders  in's  Licht  gerückt  hat  Vielleicht 
hätte  aber  diese  Seite  der  ganzen  Entwickelung  auch  aus  den  Quellen 
des  Mosellandes  noch  anschaulicher  hervortreten  können,  wenn  Lam- 
precht etwas  näher  auf  die  Wechselbeziehungen  eingegangen  wäre, 
welche  zwischen  den  seit  dem  10.  Jahrhundert  gegründeten 
Burgstädten  und  dem  platten  Lande  bestanden.  Die  Besatzung  der 
für  die  Anfänge  der  Landesgewalt  so  hervorragend  wichtigen  Bargen 
bestand  ja  doch  vomemlich  aas  Eriegsdienstmannen,  welche  mit  ihrer 
neuen  Bedienstung  keineswegs  den  Zusammenhang  mit  dem  platten 
Lande  verloren.  Vielmehr  zogen  sie  aus  demselben,  wo  sie  selbst 
und  ihre  Familien  mit  Lehen  und  Beneficien  begütert  waren,  die 
wirtschaftliche  Kraft,  mit  deren  Hilfe  sie  sich  dann  in  den  aufkei- 
menden Bargstädten  als  social  bevorzugte  Klasse  mindestens  ebenso 
sehr  als  mittelst  ihrer  militärischen  Organisation  behaupteten.  Wirt- 
schaftliche Beziehungen  sind  damit  zwischen  Stadt  und  Land  ange- 
knüpft worden,  wie  sie  vordem  nie  bestanden;  der  Landbevölkerung 
guter  Absatz  ihrer  Prodakte,  der  Stadtbevölkerung  reiche  Zufuhren 
und  ein  stets  belebter  Markt;  beide  Vorteile  aber  zunächst  in  der 
Hand  eben  der  ritterschafllichen  Familien,  von  denen  ein  Teil 
mit  dem  Pfluge,  der  andere  mit  dem  Schwerte  die  sociale  Führer- 
rolle erkämpfte,  mit  der  sie  dann  die  ganze  Bevölkerung  in  die  Ge- 
walt ihrer  Herrn,  der  Landesherm,  brachten. 


Wir  müssen  uns  angesichts  des  groBen  Reichtums  an  Einzel- 
untersuchnngen,  welche  der  I.  Band  des  Lamprechtschen  Werkes 
bietet,  mit  diesen  Stichproben  begnügen,  können  aber  nicht  unter- 
lasse%  noch  besonders  hervorzuheben,  dafl  wohl  kein  irgend  belang- 


338  Gott.  gel.  Adk.  1887.  Nr.  9. 

reiches  Moment  der   agrarischen  Entwickelang  des  Mittelalters  ohne 
Beachtung,    kein   principiell   wichtiges   Verhältnis   ohne  eingebende 
selbständige  Untersachnng  geblieben  ist.    Das  Werk  wird  weit  ttber 
den  Kreis  des  eigentlichen  Forschungsgebietes  des  Verf.  hinaus    fttr 
die  weitere  Entwickelung   der  deutschen,  ja   wohl  der   Wii-tschafts- 
geschichte  Überhaupt  von  fruchtbarster  Wirksamkeit  sein,   wie  es  ja 
auch  keineswegs  aus  den  partikularen  Quellen  des  Mosellandes  allein, 
sondern  mit  vollem  historisch-nationalökonomischen  Verständnis  aus 
den  geschichtsquellen  des   deutschen  Lebens  Überhaupt  geschöpft  ist. 
Zum  Schluß   sei    noch  des  außerordentlich  reichen  statistischen 
und  urkundlichen  Materials  gedacht,  welches  der  Verf.  für  seine  Be- 
arbeitung des  deutschen  Wirtschaftslebens  im  Mittelalter  gesammelt 
und   in  zwei   starken  Bänden   seinem   Werke  beigegeben  hat.    Die 
Schwierigkeit  aus  den  Urkunden  und  Akten  des  Mittelalters  statisti- 
sches Robmaterial   zu   gewinnen,   ist  den  Forschern  auf  diesem  Ge- 
biete ebenso  bekannt,  wie  das  Bedürfnis  nach  dieser  exakten  Unter- 
lage wirtschaftlicher   Forschung  allgemein   anerkannt  ist.    Da  ist  es 
denn   ein  um  so   größeres  Verdienst  Lamprechts,   nicht  nur  die  un- 
wegsamen Pfade,  welche  zu  diesem  Material  führen,  unverdrossen  auf- 
gesucht und   alles  Brauchbare  mit  Bienenfleiß  gesammelt  zu   haben, 
sondern  durch   seine  musterhafte  Bearbeitung  nach  statistischer  Me- 
thode  zugleich   den   Stoff  fruchtbar   für  seine  eigentlichste  Aufgabe 
und  die  Wege  gangbar  auch  für  seine  Nachfolger  gemacht  zu  haben. 
Wir  messen  diesem  statistischen  Teile   eine  eminent  methodologische 
Bedeutung  bei;  alle  künftige  wirtschaftsgeschichtliche  Forschung  wird 
hier  in  die  Schule  gehn  müssen,  und  das  ist  um  so  wichtiger,  als  ja 
gerade  diese  Richtung  der  Forschung  kaum  eingeschlagen,  geschweige 
denn  schon  viel  verfolgt  ist.    Der  Kreis  von  Thatsachen  der  mittel- 
alterlichen Kultur,  auf  deren  Erforschung  sich  die  statistische  Methode 
anwenden  läßt,  ist  naturgemäß   ein  beschränkter.     Am  ehesten  noch 
ist  die  Preisgeschichte  bis  jetzt  dadurch  gefördert  worden,  und  auch 
bei  Lamprecht  spielt  diese  Seite  der  historischen  Statistik  eine  große 
Rolle,   um   so  mehr,  als  sie  auf  der  breiten  Grundlage  eingehender 
Ausftihrungen  ttber  Verkehrsmittel,  Verkehrsbewegung  und  Zölle,  über 
Mttnze,  Maß  und  Gewicht  entwickelt  wird.    Immerhin  bleibt  es  be- 
merkenswert, daß  sich   in   dem   ganzen  reichen  Quellenschatz   des 
Mosellandes  keine  preisgeschichtliche  Quelle  erhalten  hat,  welche  nur 
annähernd  etwa'  mit  den  Eton-  und  Oxfordlisten  oder  mit  den  schö- 
nen Preisverzeichnissen  von  Orleans,  Braunschweig  und  anderen  Orten 
sich  vergleichen  ließe.    Größere,  einheitliche  Preisreihen  fehlen  daher 
gänzlich  in  Lamprechts  statistischem  Material   und   mit  einiger  Ent- 
täuschung haben  wir,  trotz  des  reichlichen  Details ,  diesen  Abschnitt 


Lamprecht,  Deutsches  Wirtschaftsleben  im  Mittelalter.  339 

als  einoD  der  am  wenigst  frachtbaren  des  ganzen  Werkes  gelesen. 
Wie  ganz  anders  baut  sich  da  Bogers  history  of  agrioaltare  and 
prices  in  England  gerade  aas  dem  preisstatistischem  Material  auf! 
Aach  die  Bevölkerangsstatistik  geht  beinahe  leer  ans;  Lamprecht 
yersnoht  zwar  fttr  die  verschiedenen  Perioden  des  Mittelalters  den 
Znwaohscoefficienten  ans  allen  ihm  zn  Gebote  stehenden  Anhalts- 
punkten zu  ermitteln  and  nimmt  ihn  an : 

fttr  das  Jahr  cca  900  mit  3,5  Procent 

-      .        •       -  1000    -     1,8 

.      .        -       .  1100    -    2,26      - 

....  1200  -  2,9 
Aber  eigentlich  bevölkerangsstatistische  Qaellen  hat  er  doch  nicht  zn 
erschlieften  vermocht  and  anch  die  als  Redaktionsfaktoren  etwa  ver- 
wendbaren Verhältnisse  sind  statistisch  nicht  genügend  festgestellt, 
um  darauf  eine  Rechnung  begründen  zn  können.  Dagegen  ist  das 
statistische  Verfahren  mit  ebenso  viel  Umsicht  wie  Erfolg  angewen* 
det  zur  Beleuchtung  der  Geschichte  der  Besiedelung  und  des  Ans- 
baues  durch  tabellarische  Nachweisung  der  gleichzeitig  vorkommen- 
den Ortsnamen  mit  Rücksicht  auf  ihre  neuzeitliche  Verteilung  und 
Bevölkerung,  femer  zur  Geschichte  des  Grundbesitzes  durch  statisti- 
sche Bearbeitung  der  wichtigsten  Urbare  von  Prüm,  Mettlacb, 
St  Maximin  und  Trier,  woraus  auch  auf  die  Parcellierung,  Vertei- 
Inng  und  Belastung  des  Grundbesitzes  vielfach  Licht  verbreitet  wird. 
Die  Quellenkunde  sodann,  welche  die  andere  Hälfte  des 
2.  Bandes  einnimmt  und  sich  über  Weistum  und  Urbar  als  die  Haupt- 
qnellen  der  Wirtschaftsgeschichte  des  platten  Landes  i.  A.,  dann  über 
die  einzelnen  territorialen  Quellenkreise  mit  voller  kritischer  Sorg- 
falt verbreitet,  beweist  nur  aufs  Neue  die  sorgsame  und  erschöpfende 
Vorbereitung,  mit  welcher  der  Verfasser  an  seine  Aufgabe  herange- 
treten ist 

Der  dritte  Band  endlich  enthält  eine  Quellensammlung  und 
zwar  282  Stücke  Verwaltnngsnrkunden  und  26  Stttcke  statistische 
und  kalkulatorische  Quellen,  letztere  zumeist  Einnahmen-  und  Aqs- 
gabenregister,  zu  welchen  Dr.  N.  van  Werveke  in  Luxemburg  das 
schöne  Urbar  der  Grafschaft  Luxemburg  (1306—1317)  beigesteuert 
hat  Es  sind  fast  durchaus  Inedita,  welche  hier  geboten  werden; 
nur  sehr  wenige  schon  früher  gedruckte  wichtige  Urkunden,  für 
welche  wegen  ihrer  bisherigen  mangelhaften  Veröffentlichung  eine 
nene  Edition  notwendig  war,  finden  sich  darunter.  Weistümer  und 
Urbare  fehlen  fast  gänzlich,  weil  ihre  Edition  der  Gesellschaft  für 
rheinische  Geschichtsknnde  vorbehalten  ist  Die  Sammlung  der^Ver- 
waltungsurkunden  bietet  für  manche  besonders  wichtige  wirtschafte 


340  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  9. 

liehe  Verhältnisse  z.  B.  die  Geschichte  der  Pachtformen,  die  Ent- 
stehungsgeschichte der  Territorialverwaltung  im  Sinne  des  Beamten- 
staates ganze  Entwickelungsreihen  oder  doch  hervorragende  charak- 
teristische Beweisstücke. 

SchlieBlich  sei  noch  der  im  I.  Bande  enthaltenen  Chronik  der 
elementaren  Ereignisse  gedacht,  welche  sich  eigentlich  der  Urkunden- 
Sammlung  anschließt ,  insoferne  der  Verf.  dabei  den  gewiB  sehr  ge- 
rechtfertigten Grundsatz  befolgt,  nicht  nur  das  Datum  selbst,  sondern 
die  quellenmäßige  Fassung  desselben  mitzuteilen.  Es  zeigt  sich  eben 
bei  jeder  Gelegenheit ,  wie  gewissenhaft,  in  wahrhaft  historischem 
Geiste,  der  Verf.  seine  Aufgabe  erfaßt  und  durchgefdhrt  hat  Wir 
können  uns  aufrichtig  eines  Werkes  freuen,  das  ebenso  großartig  in 
seiner  Anlage  wie  tüchtig  in  seiner  Durchführung  die  Position  der 
wirtschaflsgeschichtiichen  Forschung  wesentlich  gefestigt  hat  und 
damit  gewiß  auch  erheblich  dazu  beitragen  wird,  ihre  Zukunft  hoff- 
nungsvoll und  erfolgreich  zu  gestalten. 

Wien.  Dr.  von  Inama^Sternegg. 


Oeering,  Trangott,  Handel  und  Industrie  der  Stadt  Basel.  Zunft- 
wesen and  Wirthscbaftsgeschichte  bis  zam  Ende  des  17.  Jahrhunderts  aus 
den  Archiven  dargestellt.  Basel  1886.  Druck  and  Verlag  von  Felix  Schnei- 
der (Adolf  Geering).    XVI  u.  678  S.    8<>. 

Das  vorliegende  Buch,  obwohl  ein  Erstlingswerk,  kann  den  An- 
spruch erheben,  die  Wirtschaftsgeschichte  um  ein  gutes  Stttck  ge- 
fördert zu  haben.  Der  Verfasser  hat  ein  erstaunlieh  grofies  archi- 
valisches  Material  verarbeitet,  er  ist  auch  nationalOkonomisch  genug 
geschult,  um  zu  wissen,  worauf  es  ankommt;  es  fehlt  ihm  nicht  an 
Gesichtspunkten,  er  weiß  Fragen  zu  stellen  und  sie  auch  zu  beant- 
worten. Basel  bot  freilich  ein  sehr  dankbares  Feld  zu  Untersuchun- 
gen teils  wegen  seiner  reichen  und  in  seltener  Vollständigkeit  erhal* 
tenen  archivalischen  Schätze,  teils  wegen  der  wertvollen  Vorarbeiten, 
wie  sie  Häusler,  Fechter,  Arnold,  Schönberg,  Ochs  u.  A.  geliefert 
haben,  so  daft  der  Verf.  auf  Nebengebieten,  wie  z.  B.  bezüglich  der 
Baseler  Verfassungsgeschichte,  guter  Berater  nicht  entbehrte. 

Den  Hauptwert  des  Geeringschen  Werkes  möchten  wir  darin  er- 
blicken, daft  es  nicht  ein  Bruchstdck,  nicht  ein  einzelnes  Gewerbe 
herausgreift,  sondern  den  Versuch  macht,  die  gesamte  wirtschaftliche 
Entwicklung  des  eigenartigen  Baseler  Gemeinwesens  bloft  zu  legen 
und  zwar  so,  daft  an  die  wirtschaftlichen  Einrichtungen  angeknüpft 
und  den  treibenden  Kräften  nachgegangen  wird,  welche  Umgestal- 


Geering,  Handel  und  ladastrie  der  Stadt  Basel.  Sil 

tangen  vorbereiten  und  dnrcbsetzen.  Das  ist  ja  aacb  der  Pankt^  der 
uns  Nationaldkonomen  intereasiert ;  antiqaariscbe  EiDzelbeiten  können 
ons  wenig  nützen. 

Es  wäre  undankbar,  wollte  man  in  Anbetracht  dessen,  was  uns 
der  Verf.  im  Ganzen  bietet,  am  Einzelnen  nörgeln.  In  den  meisten 
Stocken  ist  ohnehin  ohne  Kenntnis  der  Qaellen  selbst  eine  Kritik 
gar  nicht  mOglich,  wird  also  erst  za  Tage  treten,  wenn  das  Baseler 
Wirtschaftsleben  noch  weiter  nntersucht  wird.  Wir  wollen  es  auch 
nicht  betonen,  daB  in  der  Darstellung  manchmal  das  Detail  die  lei- 
tenden Gedanken  etwas  drückt,  daß  manche  Seiten,  wie  der  lieber« 
gang  von  Handwerk  in  Hans-  und  Fabrikindostrie,  and  die  Verhält- 
nisse der  letztern  noch  frachtbarer  hätten  gemacht  werden  kOnneUi 
daft  hie  ond  da  die  einschlägige  Litteratar  nicht  gekannt  wird ;  wor- 
auf es  z.  B.  zurückzuführen  sein  dürfte,  wenn  Geering  S.  592  be* 
hauptet,  von  den  Refugiantenindustrien  wisse  man  in  Deutschland 
wenig  oder  nichts,  sie  blieben  als  unwesentlich  oder  undeutsch  bei 
Seite  liegen.  Wohl  aber  scheint  es  nns  am  Platz,  wenn  wir  eine 
kurze  Skizze  geben,  um  klar  zu  stellen,  was  der  Verf.  Neues  ge- 
bracht hat 

Gleich  das  erste  Kapitel  über  die  Entstehung  des  Baseler  Zunft* 
Wesens  ist  sehr  wertroll.  Die  Darlegung  des  Verf.  macht  einen 
überzeugenden  Eindruck  und  bestätigt  in  der  Hauptsache  die  Nitzsch 
und  Fecbterschen  Forschungen.  Die  Basier  Zünfte  sind  ans  dem 
bischöflichen  Herrenhof  heryorgewachsen ;  im  10.  und  IL  Jahrb. 
ward  mit  dem  privaten  Hofrecht  gebrochen,  aus  dem  Hof  ward  eine 
öffentliche  Stadt,  der  Bischof  aus  einem  Hofherrn  ein  Stadtherr,  das 
Verwaltungssystem  aus  einem  privaten  ein  Öffentliches.  Das  geschah 
durch  Eröffnung  der  gratia  emendi  et  vendendi,  die  wahrscheinlich 
den  Ottonischen  Privilegien  nachfolgte.  Die  Fürsorge  des  Meiers 
und  der  Officialen  verwandelte  sich  in  die  Marktpolizei  und  Hand* 
habung  der  wenigen  Reste  hofrechtlicher  Leistungen.  Die  Vermin* 
derung  der  letztern  erschien  als  finanzpolitische  Weisheit,  der  Aus« 
fall  wurde  durch  die  Abgaben  der  groften  Zahl  neu  Zuwandernder 
aufgewogen.  Das  Interesse  von  Stadt  und  Bischof  verschmolz  immer 
enger  mit  einander,  es  entstand  unter  dem  Segen  der  neuen  Gewerbe- 
freibeit;  Wettbewerb,  ein  Markt,  eine  Summe  feinerer  Wertbegriffe, 
eine  Menge  gebundener  Kraft  wurde  durch  das  Freigeben  des  städti- 
schen Verkehrs  gelOst.  Die  Organisation  von  Handwerkern  alten 
Styls  verschwand  übrigens  mit  der  gratia  keineswegs,  im  Gegenteil 
^t  jeder  neu  zuwandernde  Handwerksgenosse  in  die  8  oder  9  oiB* 
dellen  Handwerke  ein.  Die  neu  entstehenden  Handwerke  hatten 
dagegen  nniprtng^ich  k^ine  Organisation,  die  gratia  stand  auch  ihnen 


ä42  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  9. 

offen,  aber  sie  war  nicht  an  die  Zogehörigkeit  zu  einer  hofrechtlicben 
Genosflenschaft  geknüpft  —  es  waren  offene  Handwerke;  die  Ge- 
richtsbarkeit übte  der  Probst  zu  St.  Bernhard,  sie  war  der  alten 
bofrechtlichen  des  Vnllicis  nnd  der  Officialen  nachgebildet.  Die 
Aemter  waren  yomehmer  als  die  offenen  Handwerke,  welche  schon 
ihr  Wohnsitz  in  den  damaligen  Vorstädten  zn  einem  niedrigen  Stande 
stempelte ;  die  offenen  Handwerke  hatten  dafür  den  Vorzng  größerer 
Beweglichkeit.  Die  Znnftbildnng  bei  diesen  setzte  nur  an  den  kirch- 
lichen Brüderschaften  (»Seelenheilversicherangsgesellschaftenc)  an; 
es  entstand  das  Bewußtsein  der  Solidarität ,  man  traf  auch  gemein- 
same Verabredangen  über  gewerbliche  Dinge  (Condictum  inter  se  fe- 
cerunt) ;  die  widerwiltigen  außerhalb  Stehenden  suchte  man  zu  zwin- 
gen und  setzte  beim  Bischof  durch,  daß  die  gratia  an  das  Eondikt 
der  Handwerker  geknüpft  wurde.  Vom  privaten  Verein  erhob  sich 
die  Bruderschaft  so  zu  einer  öffentlichen  Zwangsgenossenschaft  Von 
den  Gewerbeordnungen  der  OfBcia  unterschieden  sich  die  Eondikte 
der  offenen  Handwerke  formell  darin,  daß  sie  auf  autonomer  Initia- 
tive der  Handwerksgemeinde  beruhten.  Aber  in  dieser  Autonomie, 
meint  der  Verf.,  sei  noch  durchaus  kein  Vorzug  vor  den  officia  zu 
erblicken.  Die  neuen  Handwerke  streben  zunächst  durchaus  nicht 
etwa  nach  persönlicher  Freiheit,  sondern  im  Gegenteil  sie  streben, 
um  Anteil  an  dem  noch  ministeriellen  Bat  zu  erhalten,  in  das  Hof- 
recht des  Bischofs  hinein,  sie  suchen  die  Leitung  eines  Officialen 
nach.  Dem  Ministerial  lagen  die  Einrichtung  der  neuen  Zunft,  so- 
wie etwa  nötig  werdenden  Verfassungsänderungen  ob;  die  eigent- 
liche Aufsicht  erhält  ein  Meister,  er  ist  der  dienende  Gehülfe  des 
Ministeriais,  er  ist  aber  Handwerksgenosse,  während  er  bei  den  Of- 
ficia Ritter  oder  Achtbürger  war. 

Wir  können  dem  Verf.  hier  nicht  weiter  folgen  in  seiner  licht- 
vollen Darstellung  der  weitem  Fortbildung  und  des  Zusammenhangs 
der  Frage  mit  der  Entwicklung  der  Stadtverfassung.  Entscheidend 
war,  daß  der  Bischof  die  Hülfe  der  Handwerker  gegen  seine  Geg- 
ner brauchte  und  damit  den  Grund  zu  einer  der  autonomsten  Znnft- 
herrschaften  in  ganz  Deutschland  legte.  Auch  auf  das,  was  uns  der 
Verf.  über  die  Ansiedlung  der  alten  Officia  und  der  Zünfte,  fiber 
ihre  Einfügung  in  den  städtischen  Verfassungsorganismus  mitteilt, 
können  wir  nicht  eingehn.  Es  sei  nur  bemerkt,  daß  letztere  inso- 
fern sehr  wichtig  war,  als  die  Zahl  der  Zünfte,  seit  ein  integrieren- 
des Element  des  Rats  aus  ihnen  hervorgieng,  nicht  mehr  beliebig 
vermehrbar  war,  weshalb  es  bei  den  15  bleibt;  neu  auftauchende 
Handwerke  werden  den  bestehenden  angegliedert,  die  meisten  den 
Krämern,   welche  bisher  ihre  Produkte   importiert  hatten.     Dieser 


GeeriDg,  Handel  ond  Industrie  der  Stadt  Basel.  843 

Umstand  scheint  mir  anfterordeutlich  wichtig:  der  Zosammenschlnft 
der  Qewerbe  in  wenige  Groppen  hielt  doch  eine  Masse  Streitigkeiten 
nnd  Unbequemlichkeiten  ferne,  gestattete  eine  gröftere  Beweglich- 
keit Diese  wurde  noch  erhöht  durch  die  in  Basel  häufig  yorkom- 
mende  Doppelzünftigkeit,  die  wie  ein  roter  Faden  die  jeweils  auf- 
tauchenden Gestaltnngstendenzen  durchzieht  und  begleitet. 

Ueber  die  Zunftverfassung  von  1356—1526  unterrichtet  uns  der 
Verfasser  im  2.  Kapitel.  Wir  erfahren  über  Bedingungen  der  ZUnf- 
tigkeity  Znnftkauf  und  Aufnahme,  zünftige  Pflichten,  Wachen  und 
Reisen,  zünftige  Rechte,  Bruderschaft,  Vorstand,  Zunft-  und  Stuben- 
knecht, Rechnungswesen,  Zunftgerichtsbarkeit,  Teilzünfte  neues  De- 
tail verknüpft  mit  kulturhistorischen  Notizen.  Doch  kommt  ftlr  die 
Entwicklung  im  Ganzen  so  sehr  viel  nicht  heraus.  Im  Gegensatz 
zu  ähnlichen  Darstellungen  ist  immerhin  wertvoll  die  zeitliche  und 
örtliche  Einheit,  welche  die  Darstellung  umspannt;  auch  ist  recht 
interessant,  was  über  Burgrecht,  Strafmaß  und  manches  Andere  ge- 
sagt wird.  In  ersterer  Hinsicht  mag  hervorgehoben  werden,  daft  in 
Basel  das  Bürgerrecht  ursprünglich  nicht  Bedingung  der  Zttnftigkeit 
war;  im  Gegenteil  gleichwie  die  Handwerker  seit  der  gratia  2 — ^3 
Jahrhunderte  gebraucht,  um  sich  vom  alten  Hofrecht  zu  emancipieren, 
so  wuchsen  sie  auch  nur  ganz  allmählich  etwa  von  1260—1350  in 
das  Bürgerrecht  hinein.  Die  meisten  eroberten  das  Bürgerrecht  erst 
nach  mehrjährigem  zünftigen  Aufenthalt  durch  die  Teilnahme  an 
einem  Kriegszuge.  Später  trat  Burgrechtszwang  ein,  und  nur  aas- 
nahmsweise  erhielt  ein.  Nichtbürger  eine  Zunft;  noch  später  z.  B. 
1700/16  wurde  das  Bürgerrecht  aus  Eonkurrenzfnrcht  zeitweilig  ge- 
schlossen. Was  die  Zunftstrafen  betrifft,  so  hat  der  Verf.  eine 
hübsche  Beobachtung  bezüglich  des  Strafmaßes  gemacht;  er  zeigt, 
wie  allgemein  der  5  ß  Bann  herrschte  und  wie  dies  der  germani- 
schen Rechtsauschauung  entsprach,  wonach  es  eben  nur  zwei  Dinge 
gab;  entweder  im  Rechtsschutz  stehn  oder  den  Frieden  verwirkt 
haben.  Mit  dem  Eindringen  des  römischen  Rechts  gieng  der  5  ß  Bann 
in  Stücke;  die  Strafen  wurden  bis  zu  einem  ziemlich  hoch  gegriffe- 
nen Maximum  beweglich. 

Ein  sehr  instruktives  Kapitel  ist  wieder  das  dritte:  die  Grund-^ 
lagen  des  Verkehrs  im  Mittelalter.  In  das  dunkele  Gebiet  wird 
einiges  Licht  gebracht,  wenn  schon  die  gesamte  Urproduktion  und 
der  ihr  dienende  Handel  unberücksichtigt  blieben.  Was  uns  vom 
Transitwesen  und  Transitzoll,  von  den  StraBen  und  ihrem  Verkehr 
von  Basel  aus,  vom  Straßenzwang,  Zollwesen  am  Rhein,  vom  mittel* 
alterlichen  Rechnen,  Schreiben,  Geld  und  Kredit  erzählt  wird,  ist 
^in   acbtungswerter  Versuch.      Die  wertvollste  Partie   ist  aber  un- 


SU  Gott.  gel.  Auz.  1887.  Nr.  9. 

Streitig  das  über  das  Eaufhans  Mitgeteilte.  Ohne  dasselbe  kann 
man  allerdings  den  mittelalterlichen  Verkehr  Basels  kaam  begreifen. 
Das  Kaufhaas  gab  dem  Zunftwesen  die  Möglichkeit  den  namentlich 
in  Folge  der  DoppelzUnftigkeit  etwas  lose  organisierten  Handel  in 
sein  System  einzufügen.  Hier  verschafft  es  seinen  lokalen  und  ge- 
werblichen Sonderrechten  die  Herrschaft  ttber  Import  und  Export 
Das  Kaufhans  war  in  Folge  des  Eaufhanszwangs  der  einzige  Markt 
der  Fremden  en  gros  sowohl  als  en  detail;  der  Verkehr  mit  Gästen 
deckte  sich  nach  dieser  Seite  mit  dem  Eaufhausverkehr  tiberhanpt 
Oeschäfte  mit  Fremden  ausgenommen  Detaileinkänfe  in  Basler  Kauf- 
läden kamen  in  der  Stadt  Überhaupt  nicht  vor  aufterhalb  des  Kauf- 
hauses. Zu  diesem  absoluten  Kaufhanszwang  der  Fremden  kam  der 
Kaufhauszwang  der  heimischen  Kaufleute  für  allen  Engrosumsatz, 
kam  ferner  ihre  Beschränkung  auf  das  Angebot  fremder  Produkte. 
Der  interne  Umsatz  von  Rohstoffen  lag  außer  ihrem  Bereich;  jedes 
Handwerk  erhielt  auf  seine  Rohstoffe  für  24  Stunden  den  Vorkauf, 
nachher  zuweilen  noch  ein  Zngrecht.  Jeder  durfte  nur  soviel  kau- 
fen,  als  er  selbst  zu  verarbeiten  gedachte.  Wiederverkauf  war  streng- 
stens untersagt.  Konnte  einer  nicht  alles  verarbeiten,  so  durfte  er 
den  Rest  an  einen  andern  abgeben^  aber  ohne  Mehrschatz,  zu  dem 
Preise,  den  er  selbst  bezahlt  hatte.  Aller  Import  durfte  nur  einmal 
en  gros  umgesetzt  werden;  die  verteuernde  kaufmännische  Zwi- 
schenband  wurde  zurückgedrängt  Zttnftisches  und  fiskalisches  Inter* 
esse  reichten  sich  im  Kaufhaus  die  Hand.  Nach  diesen  grundlegen- 
den Kapiteln  werden  in  acht  weiteren  die  Oeschicke,  die  Handel  und 
Industrie  von  1356  bis  Ende  des  17.  Jahrhunderts  erfahren  haben, 
im  Einzelnen  dargelegt  Es  ist  unmöglich,  auch  nur  entfernt  den 
Reichtum,  der  sich  uns  bietet,  zu  erschlicAen. 

Die  erste  Epoche  (1356 — 1430)  zeigt  uns  Basel  auf  seiner  poli- 
tischen Höhe.  Damals  gewann  der  Rat  vom  Bischof  die  öffentlichen 
Hobeitsrechte  —  1373  die  des  Verkehrs,  1386  die  derVogtei  —und 
die  beiden  wichtigsten  Landgebiete,  Kleinbasel  und  die  Landschaft, 
ein  Territorium,  wie  es  damals  keine  andere  Freistadt  besaB.  Die 
Finanzwirtschaft  wird  eine  reichere.  Die  Wirtschaftspolitik  aber  be* 
ginnt  mehr  und  mehr  die  Handelsinteressen  zu  vernachlässigen,  er- 
hält immer  schärfer  einen  handwerklichen  Charakter.  Der  Rat  ver* 
leiht  seinen  Oewerben  durch  staatliche  Regelung  den  Charakter  von 
konkurrenzfähiger  Exportindustrie.  In  der  Steuer-  und  Zollpolitik 
kam  natürlich  der  Umschwung  zum  Ausdruck.  Die  Handwerker  be- 
säten seit  1382  die  politische  Macht  und  suchten  der  vereinten  In- 
telligenz der  Handelzttnfte  und  der  so  nahe  verwandten  Patricier- 
staben  die  Spitze  zu  bieten.    Wie  sich  die  aufsteigende  Entwicklung 


Geeriog,  Handel  and  tiidafltrie  der  Sfadt  Basel.  345 

der  iDdustriellen  Prodaktion  des  15.  Jabrhnnderts  vollzog,  sticht  der 
Verfasser  an  der  Hand  der  Geschichte  der  vier  wichtigen  Zttnfte  zum 
Sehlltssel,  znm  Safran,  zn  Gerbern  nnd  Webern  im  Einzelnen  darzu- 
legen. Namentlich  die  Erämerznnft  znm  Safran  läftt  gewissermaften 
Yor  unsern  Aagen  das  Umsichgreifen  neuer  Gewerbe  sich  abspielen. 
Sie  erscheint  so  recht  als  die  Zunft  der  Mode  und  des  Geschmacks, 
deren  Beruf  es  ist,  den  Bedtirfniskreis  der  Einwohnerschaft  zu  er- 
weitem und  zu  heben.  Sie  brachte  die  zahllosen  Artikel  aus  der 
Fremde.  Der  gewöhnliche  Gang  war  aber  dann  der,  daA  der  Im- 
port auBer  Konkurrenz  trat,  sobald  der  betreffende  Artikel  in  der 
Stadt  produciert  wurde.  Den  unerbittlichen  Ausschlag  gab  eben  die 
Kostspieligkeit  und  Schwerfälligkeit  des  mittelalterlichen  Transports 
und  Verkehrs.  Darin  lag  der  beste  Schutzwall.  Es  ist  die  Ansiebt 
des  Verf.  nicht  unwahrscheinlich,  daß  der  Krämer  oft  gleich  selbst 
einen  Knecht  mitbrachte,  von  dem  er  und  seine  Kinder  die  Technik 
erlernten;  das  Beispiel  fand  Nachahmung,  selbständige  Meister  tha- 
ten  sich  auf,  das  neue  Handwerk  war  begründet.  So  kam  es,  daA 
nach  und  nach  42  Gewerbe  und  Handwerke  der  Krämerzunft  sich 
beigesellen  und  daraus  erklärt  sich  auch  die  unorganische  Zusam- 
menfassung mancher  Gewerbe,  wie  daß  die  Rotgießer,  Riegler,  Nad- 
1er,  Spengler  zu  den  Krämern  und  nicht  zu  den  Schmieden  gehören. 

Anders  lagen  die  Verhältnisse  znm  Teil  in  der  Textilindustrie; 
da  waren  die  Konkurrenten  vor  der  Tbttre.  Kamen,  wie  im  untern 
Elsaß,  die  Vorteile  der  Großproduction  und  billige  Preise  des  Roh- 
produkts dazu,  so  war  ein  Unterbieten  möglich,  wie  denn  auch  die 
Baseler  Grautttcher  an  dieser  Konkurrenz  sich  verbluteten. 

Die  ZunftTcrhältnisse  der  Textilgewerbe  und  des  Handels  sind 
in  Basel  sehr  verwickelte,  es  ergaben  sich  manche  Abweichungen 
von  den  Forschungen  Schmollers.  Der  Verf.  vermochte  auch  eine 
Lttcke  auszufällen,  die  in  dem  großen  Bild,  das  Schmoller  von  der 
oberrheinischen  Textilgeschichte  entworfen  hat,  geblieben  ist;  es  be- 
trifft dies  die  Leinen-  und  Baamwollweberei.  Basel  war  relativ  stark 
in  der  ersteren  von  1268—1380,  in  der  letzteren  bis  1500.  Die 
Banmwollweberei  war  durch  die  Mauren  aus  dem  Orient  nach  Sici- 
lien  nnd  Spanien  gedrungen,  von  da  im  18.  und  14.  nach  Ober- 
Halien,  Frankfurt,  Ulm,  Konstanz,  Augsburg.  Auch  Basel  beteiligte 
sieh  an  dem  billigen  Modeartikel,  es  war  der  Baseler  Schttrlitz 
(Barchent).  Die  Krämer  brachen  auch  hier  wieder  mit  ihrem  Im- 
port die  Bahn,  der  Rat  untersttttzte  in  mehrfacher  Weise  die  Bewe-* 
gung;  gleichwohl  wollte  die  Sache  sieh  zunächst  nicht  recht  ent- 
wickeln. Während  die  Leineweber  Lohnwerker,  d.  h.  Hausindustrielle 
waren,  sind  die  Baumwollweber  Eigenwerker,  sie  kaufen  sich  ihre 

a«ii.  f«l.  Ani.  1887.  Nr.  9.  25 


^46  6ött.    geL  Adk.  1887.  Nr.  d. 

Baumwolle  selbsti  weben  auf  Vorrat,  den  sie  dann  an  fremde  oder 
heimische  Eanflente  absetzen ;  es  fehlte  der  Organisator  des  Absatzes. 
Mit  dem  znnfthand werklichen  Kleinbetriebsprincip  war  es  nicht  mehr 
gethan.  Um  eine  Exportindustrie  im  großen  Styl  aufzubringen, 
wäre  es  nötig  gewesen,  ähnlich  wie  in  Ulm  und  Augsburg,  die  We- 
ber vom  Lande  heranzuziehen,  der  Handelsstand  war  aber  nicht 
mächtig  genug,  um  da  den  Widerstand  der  Weberzunft  zu  über- 
winden. 

Ein  5.  und  6.  Kapitel  sind  der  wirtschaftlichen  Bedeutung  des 
Eoncils  (1431 — 49)  und  der  Renaissance  gewidmet  Ein  Eoncil  war 
die  stärkste  Konjunktur,  die  sich  für  das  gesamte  Wirtschaftsleben 
einer  mittelalterlichen  Stadt  denken  läßt.  Die  gesamte  Bauindustrie 
erhielt  einen  mächtigen  Impuls,  das  Mietswesen  bildete  sich  aus,  die 
Gasthäuser  mehrten  sich  (früher  3,  1433  dagegen  20);  die  Werts- 
verhältnisse des  Grundbesitzes  erfuhren  starke  Wandlung.  Der  Be- 
darf nach  Waaren  wuchs.  Soweit  der  Import  in  Betracht  kam,  über- 
ließ man  in  Basel  die  günstigen  Chancen  meist  fremden  Spekulan- 
ten; die  Kaufleute  und  Krämer  Basels  standen  eben  in  Folge  der 
städtischen  Wirtschaftspolitik  nicht  auf  der  Höhe.  Dagegen  profi- 
tierte das  Handwerk  und  der  Detailhandel.  Die  Technik  zeigt  ent- 
schiedene Fortschritte,  durch  die  Fremden  werden  ganz  neue  Arten 
der  Produktion  vermittelt,  ebenso  treten  eine  Masse  Arbeitsteilungen 
auf ;  es  zeigt  sich  dies  namentlich  auch  in  der  Textilindustrie.  Es 
wurde  ferner  auch  die  älteste  der  »freien  Künste«  Basels  begründet, 
es  war  dies  die  Papierindustrie  und  zwar  geschah  es  —  ein  in  der 
Indnstriegeschichte  Basels  seltener  Fall  •—  durch  die  Initiative  eines 
Baselers,  Namens  Halbisen.  Es  war  mit  diesem  ersten  kapitalistisch 
unbeschränkten  Betriebe  der  Keim  gelegt,  der  später  in  Verbindung 
mit  dem  Handelsstand  in  der  Seidenindustrie  zur  Sprengung  des 
Zunftwesens  führte.  Daß  das  Koncil  auch  im  Geld-  und  Kredit- 
wesen erhebliche  Neuerungen  nach  Basel  bringen  mußte,  liegt  auf 
der  Hand.  Der  Wechsel  bürgerte  sich  mehr  ein  und  zeitweise  war 
Basel  natürlich  der  beste  Markt  für  Edelmetall.  Nach  der  hoch- 
gehenden Konjunktur,  die  das  Koncil  gebracht,  folgte  mit  seiner 
Auflösung  ein  schwerer  Bückschlag,  verstärkt  durch  Pest  (1439) 
Hungersnot  (1438),  Innern  und  äußern  Krieg  (1443—49).  Auch 
social  und  politisch  sank  Basel,  besonders  in  Folge  des  Wegzugs 
des  größten  Teils  seines  Adels  (1445/49) ;  den  bürgerlichen  Regenten 
fehlten  die  großen  Gesichtspunkte,  wie  sie  ihnen  die  Zeit  Karls  des 
Kühnen  stellte.  Man  versäumte  die  Gelegenheit  zu  Gebietserweite- 
rungen, welehe  Basel  zur  Königin  des  oberrheinischen  Verkehrs  ge-* 
macht   und  die  Unterthanenstädte  zu  Dörfern  herabgedrückt   hätten, 


Öeering,  Handel  und  Industrie  der  Stadt  Öasel.  ^üt 

Oleichwohl  zeigt  sieb  bald  wieder  ein  Auf bittben  der  Gewerbe  haupt- 
säehlich  in  Folge  der  Renaissance,  die  in  Basel  etwa  1460 — 1520 
sich  geltend  macht.  Italienische  Mode,  Bedtlrfnisse  und  Luxusartikel 
halten  ihren  Einzug.  Der  Sinn  ftir  die  Form  wird  geweckt,  man 
hat  ein  Bedürfnis  nach  geschmackvoller  Gestaltung,  nach  organischer 
Belebung  der  täglichen  Gebrauchsgegenstände.  Man  kann  dies 
deutlich  beobachten  an  dem  Einfloß,  »den  diese  StrOmung  auf  die 
Weberei  übte.  Der  Schttrlitz,  der  bereits  auf  dem  Aussterbeetat 
stand,  erhielt  einen  mächtigen  Impuls,  als  er  animale  Ornamente 
und  Mehrfarbigkeit  aufnahm  und  so  zum  Vogelschttrlitz  wurde. 
Allein  auch  jetzt  wird  der  Versuch,  das  Land  mit  in  die  Textil- 
industrie zu  ziehen  und  nach  dem  Vorgang  Ulms  und  Straßburgs 
Basel  zu  einem  Gentrum  der  Textilindustrie  zu  machen  abgewehrt 
Die  Basler  Weberei  bleibt  Handwerk,  und  es  schien  überhaupt  in 
Basel  Alles  sich  so  zu  gestalten,  daß  es  wie  Isny,  Memmingen,  Bi- 
berach und  so  viele  ehemals  blühende  Reichsstädte  in  mittelalterli- 
chen Verhältnissen  stehn  bleibend  zur  Bedeutungslosigkeit  eines  Dor* 
fes  herabsinken  sollte.  Die  Vorteile  seiner  Lage,  sein  Transit,  seine 
freien  Künste,  Papierer  und  Buchdrucker  in  Verbindung  mit  Univer- 
sität (1460)  und  Messe  (1471)  hielten  es  selbst  während  der  Zeit 
des  ausgesprochensten  Handwerksregiments  auf  einem  höhern  Ni- 
veau. Der  Verf.  gibt  hier  eine  Geschichte  der  Basler  Papierindustrie 
und  Buchdruckerei,  wobei  er  vielverbreitete  Irrtümer  namentlich  be- 
züglich der  Gallizianen  definitiv  beseitigt.  Die  Papierer  und  Buch- 
drucker standen  außerhalb  des  Zunftwesens,  sie  bedeuteten  wie  schon 
oben  erwähnt  die  erste  Durchbrechung  des  sonst  festgeschlossenen 
Bings,  aber  sie  wiesen  der  wirtschaftlichen  Regsamkeit,  dem  kauf- 
männischen Unternehmnngsgeiste  neue  Bahnen.  Von  innen  heraus 
das  Zunftwesen  erfassend  und  durchdringend  geschah  das  Gleiche 
durch  die  Errichtung  einer  Messe.  Der  kaufmännische  Geist  gewann 
an  Terrain.  Für  die  Zeit '  der  Messe  stand  es  Jedermann  frei  zu 
handeln,  womit  er  wollte.  Die  Messen  machten  die  Handwerker 
vorübergehend  zu  Kanfleuten  und  Krämern.  Sie  waren  dem  Zunft- 
wesen nicht  nur  stets  eine  heilsame  Medicin,  sondern  sie  bildeten 
zugleich  den  Heerd  der  ganzen  modernen  Gewerbefreiheit  Die 
Messe  brachte  den  starken  städtischen  Handwerken  durch  die  Reci- 
'  procität  der  fremden  Märkte  weit  mehr  Vorteil  als  Schaden.  Die 
Märkte  und  Messen  der  Landstädte  wurden  in  kurzer  Zeit  ihre  ge- 
winnreichsten Absatzgebiete.  Je  länger  die  Handwerker  die  neue 
Gewerbefreiheit  kosteten,  um  so  mehr  Gteschmack  fanden  sie  daran. 
Die  neue  Wendung  führte  aber  zu  Reibungen  und  principiellen  Er- 
örterungen namentlich  gegenüber  den  durch  den  Handelsbetrieb  der 

2b* 


d4d  Gott.  gel.  Adz.  1887.  Nr.  9. 

Handwerker  geschädigten  kleinen  Eanflente.  Diese  Beeinträcbtigang 
des  Detailbandeis  durch  Märkte  und  Messen  führte  den  Import  einer- 
seits zu  Versuchen,  neue  Bedürfnisse  zu  wecken,  andererseits  zum 
Engroshandel.  Die  Messen  boten  Gelegenheit  zu  Importspekulatio« 
nen.  Das  Kapitel  verstärkte  sich  wie  im  Buchhandel  durch  die 
Form  der  Gesellschaft  und  es  tauchen  die  ersten  kaufmännischen 
Monopole  auf.  Das  war  dann  auch  der  Punkt,  an  dem  das  Refor- 
mationszeitalter einsetzte,  wie  es  sich  denn  auch  gegen  die  am  Ka- 
pitalismus beteiligten  oberen  Stände,  den  Klerus  und  das  Patriciat 
und  die  Ausgelassenheit  der  Renaissanceperiode  wendet. 

Diese  Zeit  (1501 — 52)  bebandelt  der  Verfasser  im  7.  Kapitel. 
Die  Befreiung  der  Geister  im  16.  Jahrb.  war  bekanntlich  umgeben 
von  Unruhen  der  untern  Bevölkerungsscbicbteu.  Die  Landbevölke- 
rung begann  ihre  Menschenrechte  aus  dem  Schutte  feudaler  Tradi- 
tionen zu  eruieren,  ebenso  machten  sich  in  den  Städten  große  so- 
ciale Klassenkämpfe  geltend.  Die  geistige  Gleichheitstheorie  der 
Reformation  wurde  auf  das  materielle  und  gesellschaftliche  Leben 
Übertragen,  ein  kommunistischer  Zug  machte  sich  in  den  breiten 
Massen  geltend.  Es  ist  sehr  verdienstlich,  daß  der  Verf.  ftir  Basel 
diese  Bewegung  näher  untersucht  und  im  Gegensatz  zu  Vorgängern 
ihre  volle  Bedeutung  erst  erkannt  hat.  Sie  kam  zum  Ausdruck  in 
der  Wirtschaftsordnung  von  1521.  Das  durch  den  Kapitalismus  be- 
drohte Kleinbetriebsprincip  wurde  bewußt  zur  Geltung  gebracht. 
Der  Kaufmann  mußte  noch  mehr  zurücktreten.  Er  war  nur  dazu 
da,  dringende  Lücken  der  heimischen  Produktion  durch  seinen  Im- 
port auszufüllen.  Konkurrieren  darf  er  mit  den  heimischen  Produ- 
eenten  überhaupt  nicht  mehr.  Das  Verkaufsrecht  des  Handwerkers 
auf  die  Produkte  der  eigenen  Hand  wird  erweitert  zu  einem  Ver- 
kaufsmonopol auf  die  ganze  Branche.  Selbst,  wenn  er  schlecht  und 
thener  arbeitet,  bleibt  ihm  der  Absatz  gesichert.  Der  Kaufmann  ist 
entweder  gezwungen,  das  Angebot  ganz  dem  lokalen  Handwerk  za 
überlassen  oder  doch  seine  Waaren  nur  theurer  zu  verkaufen.  Den 
Krämern  z.  B.,  welche  mit  nürnbergischen  fragenden  Pfennwerten 
nrngehn  oder  Gürtel  führen,  wird  der  Import  von  gesprengter  Ar- 
beit auf  Leder  und  von  Gürteln  aus  Nürnberg  und  Ungarn  aus^ 
drücklich  untersagt,  sie  sollen  ihre  Gürtel  von  den  Gürtlern  in  Ba- 
sel und  sonst  nirgends  kaufen.  Dem  Handel  blieben  seine  specifi- 
sehen  Gebiete,  feines  Wolltuch,  Seide  und  Brokat,  Gewürze  und 
einige  Pfennwerte;  allein  auch  da  sachte  man  den  zünftigen  Klein- 
betrieb durchzuführen,  man  teilte  den  Zunftzwang  jeder  der  beiden 
Handelszünfle  in  2  oder  9  sich  gegenseitig  ausschließende  Branchen, 
eine   künstUebe    Arbeitsteilung    wurde    dem    Handel   aufoctroyiert« 


GeeriDg ,  Handel  uud  Industrie  der  Stadt  Basel.  349 

Weiter  wnrde  die  Doppelzttnftigkeit,  ferner  die  Association  zwischen 
VerschiedenzttDftigeDy  sowie  die  Association  in  einem  nnd  demselben 
Gewerbe,  aaAer  zwischen  Vater  nnd  Sohn,  verboten.  »Mttftiggän- 
gerne,  d.  h.  Nicbtgewerbetreibenden  blieb  die  Eommandite  innerhalb 
ihrer  Zanft  gestattet  Mit  Gewalt  wurde  alles  auf  das  mittlere  wirt- 
schaftliche Niveau  herabgedrttckt 

Dem  Charakter  der  Bewegung  entsprach  es,  wenn  man  auch 
der  gesamten  Elosterarbeit  zu  leibe  gieng,  den  Handel  mit  den  Ju- 
den verbot,  den  Geldwechsel  verstaatlichte.  Allein  der  Sieg  des 
Handwerksregiments  war  nur  ein  äußerlicher.  Die  volle  Durchfüh- 
rung war  überhaupt  nie  gelungen.  Der  Handel,  zu  allen  Zeiten  die 
natürliche  wirtschaftliche  Großmacht  Basels,  konnte  nicht  dauernd 
unterliegen;  mit  elementarer  Kraft  rang  er  sich  wieder  durch.  Nach 
zwei  Jahrzehnten  war  die  Opposition  so  erstarkt,  daß  sie  die  ge- 
werblichen Errungenschaften  der  Beformationsjahre  zu  beseitigen 
vermochte.  Die  kapitalistische  Arbeitsvereinigung,  Doppelztinftigkeit, 
Association  und  Eommandite  hielten  wieder  ihren  Einzug,  die  Juden 
wurden  wieder  zugelassen.  Es  brach  eben  eine  neue  Zeit  an,  fttr 
welche  das  Eleinbetriebsprincip  nnd  der  rein  lokale  Charakter  des 
Zunftwesens  unzureichend  wurde.  In  Basel  zwar  dauert  in  Folge 
der  Befruchtung  der  Renaissance,  des  Verschontbleibens  vom  Krieg, 
des  Anwachsens  der  Bevölkerung  namentlich  durch  die  Befugianten 
die  Blute  des  Handwerks  noch  bis  etwa  1650;  allein  dem  aufmerk- 
samen Beobachter  können  die  vielen  Regungen,  die  eine  andere  Ge- 
staltung vorbereiteten,  nicht  entgehn. 

Ein  trefSiches  Bild  von  diesen  allerwärts  eintretenden  Verkehrs- 
ändemngen  entwirft  der  Verf.  im  8.  Eapitel,  indem  er  an  die  Auto- 
biographie des  Tuchhändlers  Andreas  Ryff  (1550—1603)  anknüpft, 
der  so  ganz  seine  Zeit  auf  sich  einwirken  ließ  und  mit  ihr  Schritt 
zu  halten  suchte.  Der  größere  Gesichtskreis,  die  größer  werdenden 
Verhältnisse  in  der  Technik  und  Struktur  des  Handels,  so  daß  es 
nötig  wurde,  »auf  den  Handel  zu  studieren«,  das  Emporbltihen  des 
Engros-  und  Kommissionsgeschäfts  treten  in  vollster  Deutlichkeit  uns 
entgegen.  Zu  diesem  sich  vorbereitenden  Umschwung  kam  ein  an- 
derer Faktor,  der  ftlr  die  spätere  Entwicklung  Basels  ausschlaggebend 
wurde.  Es  war  die  in  Folge  der  gegenreformatorischen  Ereignisse 
namentlich  aus  Frankreich  her  erfolgte  Zuwanderung. 

Der  Verf.  untersucht  eingehend  im  9.  nnd  10.  Eapitel  diese 
Verhältnisse.  Die  Fltlchtlinge  traten  allenthalben  als  Begründer 
neuer  Industrien  auf,  die  Industrie  der  Schweiz  ist  ohne  diese  Be- 
wegung gar  nicht  zu  verstehn.  Die  schweizerische  Uhrenindustrie 
z.  B.  begann  1587  mit  der  Ankunft  des  Burgunders  Charles  Cousin 


350  Qött.  gel.  Auz.  1887,  Nr.  9. 

iD  Genf;  die  Spitzeoklöppelei  von  Neucbätel  ist  ein  echtes  Refagian- 
tengewerbe,  in  Basel  waren  die,  wie  uns  der  Verf.  dnrch  ein  Ge- 
sellenbach nachweist,  Samt-  und  Passementweberei  fast  ganz,  die 
Stricker,  Lederbereiter,  Seidenfärber  zum  großem  Teil  Befagianten- 
gewerbe.  Die  Refagiantenpolitik  der  Stadt  war  ttbrigens  eine  sehr 
kluge.  Basel  sah  nicht  auf  die  Zahl,  am  so  mehr  aber  aof  die 
Qualität.  Während  Zürich  mit  seiner  Exklusivität  in  Bezog  anf  das 
Yollbttrgertnm  seinen  altbttrgerlichen  Indastriellen  eine  starke  Ar- 
beiterbevölkerung  heranzog,  ja  gleich  Bern  und  Waadt  von  armen 
Arbeitern  ft^rmlich  Überflutet  warde,  wußte  Basel  mit  seiner  Ableh- 
nung des  Hintersassentums ,  aber  leichteren,  jedoch  vorsichtig  ge- 
handhabten Bilrgerrechtsgewährang  die  Elite  an  sich  zu  ziehen.  Es 
worden  nur  Leute  zugelassen,  an  denen  der  heimische  Handwerker 
etwas  zu  verdienen  fand,  femer  solche,  die  der  Stadt  neoe  wirt- 
schaftliche oder  bedeotende  geistige  Kräfte  zuzufahren  im  Stande 
waren.  Für  reiche  and  gelehrte  Flüchtlinge  wnrde  Basel  der  Sam- 
melpunkt. Diesem  Verhalten  dankt  Basel  seine  kulturhistorische  and 
wirtschaftliche  Bedeutung  während  der  folgenden  Jahrhunderte,  sein 
heutiges  Patriciat.  Weit  über  die  Hälfte  der  heutigen  großen  Basler 
Firmen  tragen,  vielfach  allerdings  unkenntlich  verdeutscht,  in  ihren 
Namen  den  welschen  Ursprung  zur  Schao.  An  die  Stelle,  die  der 
eingeborne  Adel  des  Mittelalters  1529  leer  gelassen,  haben  sich  in 
Basel  verhältnismäßig  wenige  Altbürgergeschlechter  emporgearbeitet, 
es  sind  vielmehr  die  vornehmen  evangelischen  Flüchtlinge  in  die 
Lücke  eingerückt;  sie  waren  keine  »Müßiggänger«,  wie  dereinst  die 
Ritter,  das  Kapital,  das  sie  der  Stadt  zubrachten,  haben  sie  ohne 
falschen  Standesdünkel,  formell  dem  gemeinen  Bürger  sich  gleich- 
stellend, in  indastriellen  und  Handelsunternehmuogen  fruchtbar  ge- 
macht, so  daß  es  nie  aas  ihren  Händen  kam,  sondern  von  Geschlecht 
zu  Geschlecht  nunmehr  in  der  zehnten  Generation  gedieh  und  ge- 
äufnet  wurde.  Bei  keiner  andern  Stadt  deutscher  Zunge  trägt  die 
heutige  Gesellschaft  noch  so  sehr  die  Reminiscenzen  an  die  große 
Refugiantenzeit  in  sich.  Auf  das  reiche  Detail,  das  der  Verf.  hin- 
sichtlich des  Einflusses  der  Refugianten  auf  die  Entwicklung  der 
Gewerbe  bringt,  kann  hier  nicht  eingegangen  werden.  Glänzende 
Seiten  haben  sie  mit  ihrer  überlegenen  Kultur  aufgezeigt,  aber  sie 
brachten  auch  in  das  Basler  Gewerbsleben  den  Kapitalismus  als  et- 
was abgeschlossenes  Fertiges  mit  allen  Konsequenzen,  insonderheit 
mit  seinen  socialen  Unterschieden.  Wie  sich  ihnen  die  vornehme 
Lebenshaltung  von  selbst  verstand,  so  auch  die  Existenz  großer 
dienstbarer  Volksmassen.  Namentlich  die  Italiener  waren  an  das 
industrielle  Proletariat  schon  von  Jugend  auf  gewöhnt.     Neben   den 


Geering,  Handel  and  Industrie  der  Stadt  Basel.  851 

AnfllDgen  des  vierten  Standes,  bildete  sich  damals  auch  der  Grund- 
stock der  blflbenden  Hansmannfaktar  der  Landschaft  Basel,  indem 
viele  welsche  SeidenmttUer  nnd  Seidenfärber,  Samtweber  und  Passe- 
menter  auf  dem  Land  sich  ansiedelten,  auf  diese  Weise  sich  leichter 
ernährten  und  die  Beengungen,  die  den  Basler  Verlegern  auferlegt 
waren,  umgehn  halfen.  Dieser  Ansatz  wurde  für  die  künftige  Zeit 
außerordentlich  wichtig;  denn  in  der  gesunden  Verbindung  von 
Landarbeit  und  Handerwerb  liegt  das  eigentliche  Geheimnis  der  un- 
verwüstlichen Lebenskraft  der  schweizerischen  Industrien. 

Es  ist  das  letzte  Kapitel,  in  welchem  der  Verf.  das  Umsich- 
greifen der  Haus-  und  Fabrikindustrie  an  einer  Reihe  von  Industrie- 
zweigen (Stricken,  Landweberei,  Strumpffabrikation,  lederne  Hand- 
schuhe, Tabak),  die  Verschiebungen  in  denselben  und  die  Zwiste, 
die  mit  den  alten  Zünften  daraus  entsprangen,  zur  Darstellung 
bringt  Der  schwerste  und  entscheidende  Kampf  spielte  sich  ab,  als 
in  der  Bandweberei  der  Kunststuhl  aufkam  und  das  allerdings  be- 
reits hausindustriell  betriebene  Passamentergewerbe  zersetzte.  Der 
Kunststuhl  siegte.  Das  herrschende  Zunftwesen  wurde  seitdem  durch 
die  Fabriken  und  Hausindustrien  nach  allen  Seiten  hin  durchbrochen. 
Aus  der  lokal  zünftigen  Produktionsweise  war  Basel  in  den  freien 
Wettbewerb  des  Weltmarktes  eingetreten.  Bei  dem  Uebergang  war 
ihm  die  äußere  Lage  günstig  gewesen.  Im  17.  Jahrb.  war  Frank- 
reich in  der  industriellen  Produktion  tonangebend,  wie  es  früher 
Italien  gewesen  war.  Deutschland  war  durch  den  30jährigen  Krieg 
geknickt.  Frankreich  sah  es  als  eine  Domäne  für  seine  Industrie 
an,  während  es  sich  gegen  außen  abschloß.  Basel  war  das  kein 
Hindernis,  seine  Entwicklung  beruhte  vielmehr  auf  der  Verdrängung 
französischer  Produkte  auf  dem  deutschen  Markt ;  der  kürzere  Trans- 
port gab  ihm  einen  Vorsprung. 

Damit  hat  der  Verf.  die  Darstellung  so  weit  geführt,  daß  die 
Wurzeln  der  wirtschaftlichen  Bedeutung  Basels  zu  erkennen  sind. 
Erfreulich  ist,  daß  bis  auf  heute  der  ideale  Hauch,  der  das  Refugian- 
tentum  umgab,  in  Basel  nicht  verloren  gegangen  ist.  Die  Mehrzahl 
der  Basler  Fabrikanten  hat  zu  keiner  Zeit  die  Arbeiter  als  reine 
Exploitationsobjekte  angesehen,  sondern  stets  den  Sinn  für  Gemein- 
wohl und  Humanität  bewahrt 

Wir  schließen  mit  dem  Wunsche,  daß  der  Verf.  noch  recht  viel 
ähnliche  fruchtbare  Studien  zu  Tage  fOrdem  mOge. 

Würzburg.  Georg  Schanz. 


862  Gott.  gel.  Auz.  Ib87.  Nr.  9. 

Stern«  Alfred,  Abhandlungen  und  Aktenitücke  zur  Gegchichte 
der  preuBischen  Beformzeit  1807—1815.  Leipzig,  1885,  Duncker 
und  Humblot,  YIII  und  410  S.    8^ 

An  verBchiedeneD  Orten:  in  der  »Historischen  Zeitochrift«,  in 
den  Göttinger  »Nachrichten c,  in  den  »Forschungen  sar  deutschen 
Qeschichte«^  in  der  »Revue  bistorique«,  der  »Deotsohen  Revnec  nnd 
der  »Qegenwartc  hat  Alfred  Stern  die  meisten  der  Aufsätze  mitge- 
teilt, die  er  jetzt  mit  neuen  Früchten  seines  SammelfleiBes  zu  einem 
stattlichen  Bande  vereinigt  vorlegt  —  gewiB  allen  denen  zu  Dank, 
die  es  von  Tag  zu  Tag  mehr  als  ein  Unerschwingliches  erkennen, 
die  zahllosen  Abhandlungen  in  Evidenz  zu  halten,  denen  Zeitungen 
nnd  Wochenschriften,  fachmännische  nnd  nicht  fachmännische  Bevnen 
gastlich  Raum  gewähren.  Der  Verf.  hatte  ursprunglich  den  Plan  —  und 
wie  die  Vorrede  andeutet,  hat  er  ihn  noch  nicht  aufgegeben  —  »eine 
zusammenhängende  Geschichte  der  preußischen  Beformzeit  zu  schrei- 
ben€.  Wir  haben  demnach,  was  er  hier  bietet,  als  Vorstudien  zu  einem 
grOBeren  Werke  anzusehen,  welches  bestimmt  zu  sein  scheint,  mit 
den  Forschungen  Dunckers  und  Bankes,  Treitschkes  und  Hassels  in 
Konkurrenz  zu  treten.  An  Material  fttr  eine  solche  neue  Unterneh* 
mung  ist  allerdings  ebensowenig  ein  Mangel  als  an  Lttcken  in  un- 
serer Kenntnis,  die  ausgefüllt,  an  dunklen  Partien,  die  noch  aufge- 
hellt werden  müssen ,  wovon  sich  Jeder,  der  dieser  Epoche  deut- 
scher Geschichte  näher  trat,  leicht  überzeugen  konnte. 

Gleich  die  erste  der  neun  Abhandlungen:  »Der  Sturz  des 
Freiherrn  vom  Stein  im  Jahre  1808  und  der  Tugend- 
bund« erörtert  eine  solche  noch  unaufgeklärte  Fraga  Diese  Studie 
war  bisher  noch  nicht  veröffentlicht  worden;  nur  die  Beilagen  zum 
Teil  bekannt.  Darin  ist  das  Thema,  wie  der  große  Beformmi nister 
zu  Fall  kam,  mit  der  größten  kritischen  Sorgfalt  behandelt.  Und 
dennoch  kann  das  Besultat  noch  nicht  als  ein  endgiltiges  bezeichnet 
werden.  War  es  nur  jener  Brief  an  Wittgenstein  vom  15.  August 
1808,  der  Stein  den  Haß  Napoleons  und  dadurch  mittelbar  seine 
Entlassung  zuzog?  oder  war  es  eine  Intrigue  der  preußischen  Be- 
formfeinde,  welche  den  Sturz  des  Ministers  endgiltig  herbeiführte? 
Stern  registriert  die  Zeugnisse  für  Beides,  um  schließlich  ein  Zu- 
sammenwirken von  beiden  Seiten,  entsprechend  den  Worten  des 
Grafen  Goetzen:  »Stein  fiel  durch  Kabale  von  innen  und  außenc 
anzunehmen.  Stein  selbst  bezeugte  dies,  so  z.  B.  auf  einem  Bündel 
von  Aktenstücken  aus  dieser  Zeit,  dem  er  die  Aufschrift  gab:  »Ver- 
drängen aus  dem  Dienst  durch  Napoleon,  Davoust,  Daru,  die  Ka- 
bale des  H.  Minister  von  Voß,  Fürst  Hatzfeld  u.  A.  und  die  Schwäche 
des  Ministers  Grafen  von  Goltzc     Hierher  gehört  auch  noch   eine 


Stern ,  Abhandlangen  a.  Aktenstücke  sur  Geschichte  d.  preaft.  Reformzeit.    353 

Stelle  jenes  Briefes  an  Hardenberg,  aus  Prag  vom  Joli  1811  datiert^ 
den  Ooldscbmidt  in  der  »Histor.  Zeitschrift«,  46,  188  mitgeteilt 
hat:  »Rappelez-Yous  sealement  les  miserables  petits  ressorts  qu'on  a 
fait  jener  ponr  me  perdre  en  1808«.  Die  Rolle,  welche  Voß  dabei 
spielte^  ist  von  Stern  an  der  Hand  von  Berichten  desselben  an  Kö- 
nig Friedrich  Wilhelm  III.  vom  14.  November  und  4.  December 
nachgewiesen,  die  im  Anhang  unter  anderen  bezüglichen  Schrifl- 
stttcken  mitgeteilt  sind.  Aber  auch  damit  ist  noch  nicht  Alles  er- 
klärt Die  Oberhofmeisterin  von  Voß,  die  Tante  der  Gemahlin 
SchOns,  eines  der  Gehilfen  und  Gesinnungsgenossen  Steins,  hat  Ober 
diese  Dinge  Aufzeichnungen  gemacht,  die  sich,  nach  der  Versiche- 
rung der  derzeitigen  Besitzerin  derselben,  »nicht  zur  Veröffentlichung 
eignen«.  Wir  vermuten,  daß  darin  die  Haltung,  weiche  Königin  Louise 
gegen  Stein  annahm,  zur  Sprache  kommt,  der  Stern  nur  wenig  Be- 
achtung schenkt.  Hoffentlich  werden  die  Erinnerungen  der  geist- 
vollen Frau  nicht  für  immer  der  Forschung  vorenthalten  bleiben. 

In  einem  der  beiden  von  Stern  mitgeteilten  Briefe  von  Voß  an 
den  König,  d.  i.  in  demjenigen  vom  14.  November  1808,  ist  von  einer 
»revolutionären  Gesellschaft  in  den  preußischen  Staaten<  die  Rede; 
sie  sei  von  Schriftstellern  und  Beamten  gegründet  und  habe  der 
französischen  Regierung  ewigen  Haß  geschworen,  die  französischen 
Behörden  seien  von  ihrer  Existenz  unterrichtet  und  setzen  alles  in's 
Werk,  um  ihre  geheimen  Absichten  zu  erforschen.  Das  war ,  nach 
Steins  Vermutung,  der  Königsberger  sittlich-wissenschaftliche  Verein 
mit  seinen  Filialen,  den  man  mit  dem  Namen  »Tugendbund«  be- 
legte. In  einem  der  Zweigvereine,  dem  Berliner,  soll  die  Erwartung 
ausgesprochen  worden  sein,  binnen  kurzem  in  Preußen  einen  »con- 
stitutionellen  König«  zu  haben.  Mit  diesem  Vereine  brachte  man 
Steins  Reformsystem  in  Beziehung,  und  seitdem  ist  Stein  für  das 
geheime  Oberhaupt  des  Tugendbundes  gehalten  worden,  auch  noch 
zu  einer  Zeit,  als  sich  der  harmlose,  königstreue  Verein  auf  den 
Befehl  des  Monarchen  Ende  1809  bereits  gehorsam  aufgelöst  hatte. 
Ref.  bat  diesen  Gegenstand,  parallel  mit  Stern,  in  einer  Abhand- 
lung »Zur  Geschichte  des  Tugendbnndes«  (Historische  Studien  und 
Skizzen  1885,  S.  302—330)  untersucht  und  an  der  Hand  authenti- 
scher Dokumente  den  Nachweis  geftihrt,  daß  Stein  dem  Königsber- 
ger Verein  nicht  nur  ferne  stand,  sondern  ihn  sogar  bekämpfte  und 
dessen  Auflösung  in  Vorschlag  brachte  ^).    Danach  wird  Sterns  Mei- 

1)  Zu  den  Ton  M.  Lebmann  (Enesebeck  und  Schön,  S.  118  f.)  registrierten 
Quellenstellen  für  Steins  Abneigung  gegen  den  Bund  vergl.  man  auch  das 
Gneisenaasche  Gutachten  vom  December  1811  bei  Oncken,  Oestreich  und  Preußen 
L  300. 


854  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  9. 

nang,  »Stein  babe  eine  Zeit  lang  geglaubt,  den  Tngendbnnd  benotsen 
zn  können c  (S.  27)  zn  berichtigen  sein.  Ich  möchte  es  auch  nicht 
auf  den  Tngenbund  zarQckfflhren,  wenn  Boyen ,  der  allerdings  ein ' 
Mitglied  desselben  war,  am  29.  September  1808  dem  Könige  die 
Berufung  eines  Landtages  aus  Volksvertretern  Yorschlug,  wie  Hassel 
1.  288  und  im  Anschluß  an  ihn  Stern  (S.  25)  meinen.  Dieser  Ge- 
danke findet  seine  Vertretung  vielmehr  in  jener  geheimen  Königs* 
berger  Gesellschaft,  welcher  auch  Stein  angehörte  und  über  die 
wir  erst  durch  Schöns  Selbstbiographie  bestimmte  Kenntnis  erhalten 
haben.  »Bald  nachdem  wir  uns  in  Königsberg  im  Sommer  1808 
geordnet  hatten  —  erzählt  Schön  —  errichteten  wir  auf  Boeckners, 
des  Feldprobstes,  Vorschlag  einen  geheimen  Bund.  Boeckner,  Stein, 
Sttvern,  Scharnhorst,  Nicolovius,  Gneisenau,  wenn  ich  nicht  irre 
Grolmann,  und  ich  bildeten  den  Bund.  Wir  hatten  uns  durch  Hand- 
schlag verpflichtet,  ohne  daß  etwas  wiedergeschrieben  werden  durfte, 
Mittel  zu  suchen,  durch  welche  die  Schmach,  welche  auf  unserem 
Vaterlande  hafte,  entfernt  werden  könne.  Wir  kamen  in  jeder 
Woche  an  einem  anderen  Orte  zusammen  u.  s.  w.c.  (Weitere  Bei- 
träge und  Nachträge  zu  den  Papieren  Th.  v.  Schöns  S.  61  f.  und 
Aus  den  Papieren  Schöns  4.  571  ohne  Grolmann).  Es  kann  nicht 
Übersehen  werden,  daß  genau  dieselben  Namen,  den  Steins  ausge- 
nommen, unter  dem  von  Pertz  (Steins  Leben  IL  250—257)  mitge- 
teilten Dokumente  stehn,  in  welchem  dem  Minister  Torgeschlagen 
wird,  der  König  solle  wegen  der  Ratifikation  oder  Nichtratifikation 
des  Vertrages  mit  Frankreich  »das  Volk  in  seinen  zu  berufenden 
Stellvertretern  €  befragen,  dann  sei  der  Monarch  außer  Haftung,  die 
Nation  habe  eine  Sache  mit  ihrem  Oberhaupte  und  müsse  tragen, 
was  aus  ihrem  Entschluß  folge.  Das  Schriftstück  ist  vom  14.  Ok* 
tober  datiert;  kurze  Zeit  darauf  trug  Stein  auf  die  Auflösung  des 
Tugendbundes  an.  (Histor.  Studien  und  Skizzen,  S.  317  Anmerk.) 
Man  sieht  also,  die  Ansicht,  daß  Stein  mit  dem  Tugendbnnd  in  Verbin- 
dung, dessen  Stifter  gar  oder  geheimes  Oberhaupt  gewesen  sei,  ist  ent- 
standen trotz  der  entschiedensten  Gegnerschaft  des  Ministers  gegen 
die  Königsberger  Doktrinäre.  Ich  habe  in  der  angeftlhrten  Studie 
(S.  327)  den  Versuch  gemacht,  das  Aufkommen  jener  irrigen  Mei- 
nung folgendermaßen  zu  erklären:  »Da  man  die  heimlichen  insur* 
rektionellen  Konventikel  nicht  kannte,  welche  damals  ganz  unab- 
hängig vom  Tugendbunde  in  und  außerhalb  Preußens  bestanden  und 
mit  denen  Stein  und  seine  Gesinnungsgenossen  thatsächlich  in  Be- 
ziehung waren,  dagegen  um  so  mehr  von  jenem  Vereine  gesprochen 
wurde,  so  war  es  natürlich,  daß  man  in  der  öffentlichen  Meinung 
die  geheime  Wirksamkeit  des  Tugendbnndes  überschätzte  •  .  .    Man 


Stern,  Abhandlungen  u.  Aktenstücke  zur  Geschichte  d.  preuB.  Reformzeit.    365 

nannte  scblieftlicb  Tagendbnnd,  was  gar  nicht  Tugendband  war  and 
bezeichnete  mit  dem  Namen  insgesamt  alle  die  national  and  patrio- 
tisch Gesinnten,  die  Stein,  Scharnhorsty  Qneisenan  etc.«  —  »Es  bleibt 
za  nntersochen  —  sagt  Stern  S.  27  —  ob  nicht  dieser  Wahn  sehr 
viel  dazu  beigetragen  hat,  —  nach  der  Entlassung  Steins  von  sei- 
nem Posten  auch  noch  jenes  Aechtangsdekret  anf  sein  Haupt  herab- 
zuziehen, das  ihn  fUr  vogelfrei  erklärte,  und  zum  heimatlosen 
Flflchtling  machte«.  Stern  läßt  die  Frage  offen.  Sie  läßt  sich  be- 
antworten. Schön  erzählt:  »Einige  Wochen  später  (nach  Steins 
Entlassung)  kam  leider  die  Nachricht,  daß  Stein  seine  Unvorsich- 
tigkeit so  weit  getrieben  habe,  daß  Napoleon  noch  spätere 
Briefe  von  ihm  habe  auffangen  können  und  daß  er  geächtet  sei. 
Ob  die  Wut  Napoleons  nicht  von  Berlin  aus  angeregt  sein  mag, 
mag  dahin  gestellt  bleiben«  (Weitere  Beiträge  S.  61).  Der  erste 
Teil  dieser  Mitteilung  wird  durch  zwei  Briefe  bestätigt,  die  Stern 
im  9.  Abschnitte  seines  Buches  abgedruckt  hat.  In  dem  einen,  wel« 
eher  bisher  nur  in  deutscher  Uebersetzung  bekannt  war,  schreibt 
Napoleon,  das  Aechtungsdekret  begleitend,  am  16.  December  1808 
an  Ghampagny:  Stein  fahre  fort  Ȋ  manigancer  avec  les  Anglais 
de  chim6riques  com  plots  centre  la  conf£d6ration  du  Rhin«.  Im  zweiten 
meldet  Ghampagny  an  S.  Marsan  in  Berlin :  der  Kaiser  sei  unterrichtet 
worden  »que  M.  de  Stein,  dont  les  premieres  manoeuvres  ont  itA 
divoilöes,  continue  d'entretenir  des  intelligences  avec  les  Anglais  et 
travaille  en  secret  k  exciter  des  troubles  dans  les  ötats  conf&därte 
du  Rhin.«  (Stern  S.  269  f.).  Von  dem  Wunsche  Napoleons,  Stein 
nicht  mehr  an  der  Spitze  der  preußischen  Regierung  zu  sehen,  bis 
znr  Aechtung  and  leiblichen  Bedrohung  desselben  ist  ein  großer 
Schritt,  den  die  Hofintrigue  allein  nicht  erklärlich  macht.  Man 
muß  hier  nnwillktlrlich  an  Verrat  denken,  durch  den  die  Franzosen 
in  den  Besitz  dieser  spätem  Briefe  gelangten,  ein  Oedanke,  der 
sich  Übrigens  schon  bei  dem  ersten  Schreiben  an  Wittgenstein  einstellt 
und  den  man  nicht  leicht  los  wird. 

Gleichfalls  neu  ist  die  achte  Abhandlung:  »Di«  Entstehang 
des  Ediktes  vom  11.  März  1812  betreffend  die  bürger- 
lichen Verhältnisse  der  Jaden  im  preußischen  Staate«. 
Dem  Verf.  erscheint  die  Entstehungsgeschichte  des  Gesetzes  betref- 
fend die  bürgerlichen  Verhältnisse  der  Juden  vom  März  1812  sehr 
stiefmütterlich  behandelt,  and  auch  von  L.  Geiger  in  seiner  Ge- 
schichte der  Juden  in  Berlin  nur  in  beschränktem  Maße  dargestellt, 
da  demselben  die  Akten  des  Staatskanzleramtes  zwar  behufs  Durch- 
forscbung  aber  nicht  behufs  freier  Verwertang  zur  Verftlgung  ge- 
standen hatten.    Bei  Stern  fiel  diese  Einschränkang  hinweg,  and  er 


356  Gott.  gel.  Änz.  1887.  Nr.  9. 

nnterDimmt  es  nun  zn  zeigen,  »wie  es  allmählich  Schritt  fbr  Schritt 
unter  heftigen  Meinnngskämpfen«  zur  Annahme  nnd  Promalgation 
des  Ediktes  kam.  Stein  hat  die  Jaden  in  seiner  Selbstbiographie 
nnter  seine  persönlichen  Feinde  gezählt.  Die  Städteordnnng  hatte 
ihre  besonderen  staatsbürgerlichen  Verhältnisse,  denen  der  christlichen 
Bevölkerung  ungleich,  nicht  geändert.  Doch  wurde  schon  1808 
daran  gedacht,  »das  staatsbürgerliche  Verhältnis  der  jüdischen  Na- 
tion angemessener  zu  stellen c.  Minister  vonSchrötter  hatte  einen  be- 
züglichen Befehl  vom  Könige  erhalten  und  beauftragte  seinerseits 
den  Eriminalrat  Brand  in  Königsberg,  ein  Mittel  zu  ersinnen,  um 
die  Juden  »zwar  unblutig,  jedoch  auf  einmal  todtznschlagenc.  Der 
Brandsche  Entwurf  von  Oktober  1808  ist  der  erste  in  einer  gan- 
zen  Reihe,  die  Stern  analysiert  Er  diente  einem  Berichte  Schrot- 
ters  vom  Ende  1808  zur  Grundlage ,  welcher  dann  sämtlichen  De- 
partements zur  Begutachtung  überwiesen  wurde.  In  der  Hauptsache : 
»daft  der  bisherige  Zustand  der  Absonderung  und  Unterdrückung 
der  Juden  nicht  fortdauere,  sondern  nnter  gewissen  Restriktionen 
eine  Einbürgerung  der  Juden  und  Oleicbstellung  der  Rechte  nnd 
Pflichten  zwischen  ihnen  und  den  Christen  stattfinden  müsse«,  waren 
alle  Ressorts  einig,  nur  im  Detail  giengen  die  Meinungen  aus- 
einander, wobei  die  von  W.  v.  Humboldt  dirigierte  Sektion  für  Kul- 
tur nnd  Unterricht  den  vorgeschrittensten  Standpunkt  einnahm. 
Die  Gutachten  liefen  erst  im  Sommer  1810  ein.  Im  selben  Jahre  über- 
nahm Hardenberg  das  Ministerium,  fand  aber  erst  1811  Zeit  nnd 
AnlaB,  sich  mit  der  Sache  zu  beschäftigen.  Im  Januar  dieses  Jah- 
res wurde  ein  neuer  Gesetzentwurf  angefertigt.  Dieser  ist  Stern 
nicht  bekannt  geworden ,  wohl  aber  zwei  von  dem  Tribunalsrat 
Pfeiffer  und  dem  jüdischen  Stadtrat  Friedländer  darüber  gelieferte 
Elaborate,  die  er  im  Wesentlichen  mitteilt  Bald  aber  wurden 
die  Vorbereitungsarbeitnngen  neuerdings  unterbrochen.  Erst  im 
Febrnar  1812  arbeitete  Pfeiffer  einen  neuen  Entwurf  aus.  Dieser 
mit  den  Bemerkungen  und  Aenderungen  des  Justizministers  und  des 
Staatskanzlers  -*-  der  Letztere  äußerte  sich  zumeist  im  Sinne  der 
Rechtsgleichheit  —  gab  endlich  die  Grundlage  fttr  das  Gesetz,  wel* 
ches  Friedrich  Wilhelm  III.  am  11.  März  vollzog.  Die  Excerpte 
nnd  Analysen  der  Aktenstücke,  welche  Stern  darbietet,  liefern  einen 
willkommenen  Beitrag  zum  Studium  dieser  Frage,  dessen  sich  auch 
die  heutige  Zeit  nicht  entschlägt.  Kur  wäre  es  wünschenswert  ge- 
wesen, einen  gewissen  antijüdischen  Zug  verzeichnet  zu  finden,  der 
zn  jener  Zeit  in  der  öffentlichen  Meinung  nicht  fehlte  und  seit  Stein 
die  deutsche  Nationalbewegung  begleitet  hat  In  der  Abhandlung 
findet  sich  bierfür  nur  ein  einziges  Zeugnis :  die  Klage  der  Stände 


Stern,  Abhandlaugen  a.  Aktenstacke  zar  Geschichte  d.  preafl.  Reformzeit    857 

des  Lebnsschen,  Storkowscben  and  Bresko wachen  EreiBes  yom  J. 
1811  ttber  den  »neumodischen  Jadenstaatc.  In  den  Depeschen 
S.  Marsans  dagegen,  z.  B.  in  der  vom  18.  August  1811,  ist  von 
dieser  antisemitischen  Tendenz  unter  den  nationalen  Patrioten  die 
Bede:  »il  est  assez  singulier  que  ranimositä  centre  les  juifs  soit 
un  caractöre  distinctif  des  soeiät^  secr&tes  ailemandes«  (Stern 
S.  333). 

In  dem  neunten  Abschnitte  des  vorliegenden  Buches  »P  r  euften 
und  Frankreich  1809  — 1813c  bietet  der  Verf.  urkundliche 
Mitteilungen  aus  dem  Archive  des  Ministeriums  des  Auswärtigen  zu 
Paris,  zumeist  die  Berichte  St.  Marsans  aus  Berlin  vom  Januar  1809 
bis  zum  April  1813.  Der  Botschafter  Napoleons  am  preußischen 
Hofe  war  so  wenig  Franzose  als  sein  Herr.  Er  hatte  ehedem  dem 
KSnig  von  Sardinien  gedient  und  war  —  wie  Stern  in  einer  dan- 
kenswerten biographischen  Skizze  nach  neuen  Quellen  zu  erzählen 
weift  —  erst  1805  dem  schmeichelhaften  Rufe  des  Kaisers  gefolgt 
Die  Revolution  in  ihrer  republikanischen  sowohl  als  imperialistischen 
Periode  hat  immer  Wert  darauf  gelegt,  durch  ein  gewisses  form- 
gewandtes aristokratisches  Element  nach  außen  vertreten  zu  sein. 
Ein  völlig  gefügiges  Werkzeug  hatte  man  jedoch  in  St.  Marsan 
nicht  gewonnen.  Gleich  bei  der  Aechtung  Steins  trat  dies  zu  Tage. 
Er  warnte  den  Verfolgten  und  ließ  ihn  entweichen.  Er  ist  im  Jahre 
1811  lange  nicht  von  der  kriegerischen  Wendung  in  Preußen  tiberzeugt 
und  wird  auch  zwei  Jahre  später  über  den  bereits  erfolgten  System- 
wechsel bis  zum  letzten  Augenblicke  von  Hardenberg  getäuscht  Kapo- 
leon ließ  sich  denn  auch  lieber  von  dem  Botschaftssekretär  LefebvrCi 
der  schwärzer  sah,  berichten  und  vertraute  den  Mitteilungen  des  west- 
fälischen Gesandten  Baron  Linden  mehr  als  denen  seines  eigenen  Ver- 
treters. Gleichwohl  enthalten  die  Depeschen  St.  Marsans  viel  Wertvolles 
und  ergänzen  die  unvergänglichen  Arbeiten  Dunekers  und  Rankes  ttber 
Preußen  zur  Zeit  der  französischen  Hegemonie  in  erwünschter  Weise« 
Aus  ihnen  wurde  Stern  z.  B.  darüber  belehrt,  daß  der  bisher  für 
echt  gehaltene  Rapport  Champagnys  an  Napoleon  vom  16.  November 
1810  und  der  darin  enthaltene  Plan  zur  Vernichtung  Preußens  eine 
Fälschung  sei.  Die  Untersuchung  hierttber,  zuerst  in  den  »For- 
schungen zur  Deutschen  Geschichtet  mitgeteilt,  ist  in  das  neue 
Buch  ah  vierte  Abhandlung  wiedet  aiifgenommen.  Stern  thut  wohl 
daran,  im  Anschluß  an  eine  Stelle  in  Ernoufs  Maret  zu  bemerkenf 
daß,  wenn  man  auch  dieses  Dokument  ins  Bereich  der  Fabel  zu  verwei- 
sen habe,  deshalb  über  die  zeitweiligen  Absichten  Napoleons  in  Bezug 
auf  das  Schicksal  Preußens  noch   nicht  das  letzte  Wort  gesproobea 


35a  Gott.  gel.  Adz.  1887.  Nr.  9. 

Bei.  Hierher  würde  n.  A.  ein  Brief  gehören,  der  den  spaDiflcben 
Qaerillas  in  die  Hände  fiel,  im  Goarrier  de  Loadres  von  1811  ab- 
gedruckt und  über  Prag  nach  Berlin  bekannt  wurde ,  des  Inhalts, 
daft  Berthier  mit  PreuBen  beschenkt  werden  sollte.  Aber  auch  sonst 
enthalten  St  Marsans  Berichte  wertvolle  Beiträge  zur  Zeitgeschichte. 
Vor  Allem  interessant  —  von  Stern  bruchstttckweise  in  der  Revoe 
historique  bereits  mitgeteilt  —  sind  die  Bemerkungen  über  die  »Sektec 
der  Franzosenfeinde,  die  »Tngendfrennde«,  die  »deutschen  Jakobiner c 
und  wie  sonst  die  Partei  der  nationalen  Unabhängigen  genannt 
wird.  In  den  Berichten  vom  15.  Fehrnar  1810  und  vom  14.  August 
1811  ist  sogar  von  zwei  Parteien,  der  »antifranzOsischen«  und  der 
»revolutionären«,  in  Preußen  die  Rede,  welche  Letztere  gleichfalls 
Frankreich  feindlich  und  durch  die  herrschenden  Umstände  mit  der 
Ersteren  verbunden  sei  (S.  307  und  332).  Soweit  geht  allerdings 
St.  Marsan  nicht,  wie  der  französische  Konsul  GI6rambault  in  Königs- 
berg, welcher  Blücher,  Scharnhorst,  Auerswald,  Chasot,  Schill  n.  A. 
nicht  nur  zum  Tugendbund  zählt,  sondern  ihnen  auch  noch  die  Absicht 
zuschreibt,  die  Krone  Preußens  von  Friedrich  Wilhelm  III.  auf  Stein 
übertragen  zu  wollen.  Stern  scheint  mir  aber  doch  S.  290  Anm.  2 
eine  gewisse  Tendenz  gegen  den  herrschenden  König  zu  unter- 
schätzen. Sie  war  vorhanden.  Was  Wessenberg  am  26.  Juni  1809 
an  Stadion  berichtet,  wird  durch  die  Bemerkung  von  Harnisch,  Mein 
Lebensmorgen,  S.  220,  bestätigt:  »In  einem  Gedanken,  das  muß  ich 
bekennen,  mochten  einige  von  uns  zu  weit  gehn,  nämlich  in  dem, 
daß  wenn  unser  König  zur  rechten  Zeit  für  das  Vaterland  nicht  vor- 
gehn  werde,  dann  wohl  sein  Bruder  dies  thun  würdec.  Unter  den 
St.  Marsanschen  Depeschen  seien  noch  besonders  hervorgehoben: 
die  vom  14.  Februar  1810  mit  den  Aeußerungen  des  Königs  über 
Stein  und  Hardenberg  und  seine  persönliche  Abneigung  gegen  Jenen 
(S.  306),  die  vom  14.  August  1811  mit  der  Nachricht,  daß  und  in 
welchem  Maße  der  Kronprinz  den  Antifranzosen  feindselig  gesinnt  sei 
(S.  330),  die  vom  27.  August  1811,  mit  dem  kriegerisch  klingenden 
Ausspruch  Hardenbergs,  welcher  bisher  von  Lefebvre  nicht  ganz  wort- 
getreu wiedergegeben  wurde  (S.  333),  die  vom  24.  December  181 1  über 
die  Werdersche  Konspiration  (S.  370),  über  welche  übrigens  außer  den 
von  Stern  citierten  noch^ein  eingehender  Bericht  von  Nostiz  (mitge- 
teilt von  E.  Guglia  in  der  Oesterreichischen  Rundschau  I.  426)  vor- 
liegt, ferner  die  vom  30.  Januar  1812  mit  der  Denkschrift  Hatzfelds 
über  die  Franzosenfeinde,  welche  St.  Marsan  selbst  »übertrieben« 
nennt  (S.  371),  die  vom  6.  und  24.  März  1812  über  die  Demissionen 
preußischer  OfBciere,  worin  Wittgenstein  als  einer  der  eifrigsten  Par- 


Christie,  The  Diary  and  Correspondence  of  I>r.  John  Worthington.    11.  2.     359 

tisane  FraDkreichs  erscheint  (S.  385  f.),  die  Tom  Jani,  Jali  and 
Anglist  1812  ttber  die  Affaire  Grnner  und  dessen  Arretierung  in 
Prag  (S.  389  ff.) ,  in  denen  Hardenberg  nicht  eben  im  schönsten 
Lichte  erscheint,  and  die  wir  gerne  etwas  weniger  gekürzt  mitge- 
teilt gesehen  hätten.  Erwähnenswert  sind  aach  die  Depeschen 
vom  Janaar  1813  ttber  die  Schwenkang  York's,  welche  das  bisher 
hierüber  Bekannte  ergänzen ,  die  vom  4.  März  über  die  preuftischen 
Freiwilligen  and  die  letzte  vom  10.  April  1813,  welche  St.  Marsans 
Auffassung  zum  Ausdruck  bringt,  daß  »nicht  Alezander  und  nicht 
Friedrich  Wilhelm  den  Krieg  mache,  sondern  die  Stein,  Blücher, 
Scharnhorst,  Tettenborn  und  eine  Menge  von  ehrgeizigen  Aufwieg- 
lern, deren  erste  Opfer  ihre  eigenen  Souveräne  sein  würden,  wenn 
sie  im  Felde  Erfolg  haben  sollten.  Dann  würde  man  Deutschland 
in  einen  Zustand  verfallen  sehen,  wie  derjenige  Frankreichs  von 
1793  war,  nur  mit  einigen  von  dem  Unterschiede  des  Nationalcharak- 
ters diktierten  Nuancen  c  So  sehr  war  die  Ansicht  des  Gesandten 
von  den  Einflüsterungen  der  Voß  und  Hatzfeldt  und  Wittgenstein 
beherrscht,  die  sich  später  bekanntlich  auch  im  eigenen  Lager  OehOr 
verschafft  haben. 

Die  fünfte  Studie  »Zur  Geschichte  der  Mission  Scharnhorsts 
nach  Wien  im  Jahre  1811«  ist  den  Fachmännern  schon  bekannt; 
desgleichen  Abschnitt  6:  »die  Sitzungsprotokolle  der  interimistischen 
Landesrepräsentation  Preußens  1812— 1815c  und  Abschnitt  7:  »Ge- 
schichte der  preuftischen  Verfassungsfrage  1807 — 1815«.  Wir  wol- 
len deshalb  hier  nicht  näher  auf  deren  Inhalt  eingehn.  Nur  ne- 
benbei sei  angemerkt,  daß  in  der  Abhandlung  über  Soharnhorst's 
Sendung  der  Rat,  den  Metternich  dem  Abgesandten  gab,  Preaßen 
möge  sich  an  Baßland  anschließen  (Duncker,  Preußen  während  der 
französischen  Occupation  S.  422)  als  charakteristisch  für  die  Politik 
dieses  Staatsmannes  nicht  hätte  unterdrückt  werden  sollen. 

Prag.  August  Foumier. 


Christie,  Bich&rd  Copley,  The  Diary  and  Correspondence  of  Dr. 
John  Worthington.  Vol.  U.  Part.  11.  Printed  for  the  Chetham  Society 
1886.    a* 

Mit  diesem  zweiten  Teil  des  zweiten  Bandes  von  Worthingtons 
Tagebuch  und  Briefwechsel  gelangt  ein  Werk  zu  seinem  Ende,  das 
man  als  eine  wahre  Fundgrube  für  die  englische,  wenn  nicht  in  ge- 
wissem Sinne  für  die  europäische  Qelehrtengeschichte  einiger  De- 
eennien  des  siebzehnten  Jahrhunderts  betrachten  kann.    John  Wor- 


1 


360  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  9. 


thiDgton,  w&brend  des  Protektorates  Haster  des  Jesus-Üoltege  in 
Cambridge,  bat  selbst  aaf  seinem  eigenen  Arbeitsfelde,  dem  tbeolo- 
giscben,  zwar  nichts  Originelles  von  Bedeutung  bervorgebraebt,  aber 
sein  reges  wissenscbaftlicbes  Interesse  wie  seine  trefflieben  Cbarak- 
tereigenschaften  machten  ihn  znm  Mittelpunkte  eines  Kreises  von 
Freunden,  deren  Korrespondenz  mit  ihm  sich  ttber  weite  Gebiete  er- 
streckt. Das  Vielseitigste  unter  ihnen  war  unzweifelhaft  jener  nach  ^ 
England  verschlagene  Deutsche  Samuel  Hartlib,  dessen  Beziehungen 
zu  Milton,  Hobbes,  Boyle,  Gomenius,  Oldenburg,  Gassendi  n.  a.  be- 
kannt sind  (s.  den  Artikel  Samuel  Hartlib  in  der  Allgemeinen  Deut- 
schen Biographie  und  die  daselbst  angeführte  Litteratur  sowie  den 
Aufsatz  von  Althaus  im  Historischen  Taschenbuch  1884).  Durch  ihn  i 
wurde  Worthington  auch  mit  John  Durie  (Duraens)  in  Beziehung  j 
gesetzt,  dessen  Bestrebungen,  eine  Union  zwischen  Reformierten 
und  Lutheranern  herbeizuführen  eine  so  große  Rolle  in  der  Kirchen- 
gesehichte  der  damaligen  Zeit  spielen. 

Der  ursprüngliche  Herausgeber  von  Worthingtons  Tagebuch  und 
Korrespondenz,  der  gelehrte  James  Grossley,  welcher  1847  den  ersten 
Band,    1855  den   ersten  Teil  des   zweiten   Bandes   erscheinen   lieft,  *     •! 

hatte  die  Absicht  am  Schlüsse  des  Werkes  Biographieen  der  drei 
genannten  Männer,  Worthington,  Hartlib,  Durie  hinzuzufügen.  Sein 
Tod  hat  leider  die  Ausführung  dieser  Absicht  vereitelt  Richard 
Copley  Christie,  der  Fortsetzer  seines  Werkes  und  sein  Nachfolger 
auf  dem  Präsidentenstuhle  der  Chetham-Society,  hat  sich  damit  be- 
gnügt den  fehlenden  Rest  des  Manuskriptes  zum  Abdruck  zu  bringen 
und  mit  Anmerkungen  auszustatten,  die  wie  diejenigen  der  voran- 
gebenden Teile  Zeugnis  von  außerordentlicher  Sorgfalt  ablegen. 
Den  Hanptstoff  dieses  ScbluBbandes  bildet,  die  Korrespondenz  mit 
Henry  More  und  N.  Ingelo.  Wie  mancherlei  neue  litterarische  Er- 
scheinungen, wie  viele  bekannte  Persönlichkeiten  der  gelehrten,  ge* 
legentlich  auch  der  politischen  Welt  in  ihren  und  anderer  hier  mit- 
geteilten Briefen  berührt  werden,  läßt  sich  erschöpfend  nicht  angeben. 
Nur,  um  ein  paar  Beispiele  herauszugreifen  sei  auf  die  Erwähnung 
L.  Meyers  von  Amsterdam,  des  Freundes  Spinozas  (S.  280),  Hobbes 
(S.  288  u.  s.  w.),  Lauderdale  (S.  340)  hingewiesen. 

Bern.  Alfred  Stern. 


Fikr  die  Bedaktion  ▼•rantwortlkh :  Prof.  Dr.  B^ehtAt  Direktor  der  GAtt.  gel.  Abs., 
Awenor  der  KftnifHehen  Oeeelleeliftft  der  Wieeeaichftftea. 
Y«Hao  dm  DitUiich*ickm  Vtrkv^-B^düumdkmff. 
Dntdt  dir  JHtUrteKiOkm  üni9.-0HdidrMdtir$i  (t)r,  W.  Etmkmh 


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361 


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Göttingische 

gelehrte  Anzeigen 

anter  der  Aafisicht 

derKönigl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

^Nr.  10.  15.  Mai  1887. 

Preis  des  Jahrganges:  UK  24  (mit  den  »Nachrichten  d.  k.  G.  d.  Wiss.«:  e4S27}. 
Preis  der  einzelnen  Nummer  nach  Anzahl  der  Bogen:  der  Bogen  60^ 

Inlialt: 'Havet«  Qoeaüoiifl  MtSrovingiennM.  Ton  Ztumer.  —  Hub  er,  Oeeeliicbte  Oester- 
niohs.  Bftfld  1  «ad  2.  Von  Badmaam.  —  L  o  s  8  e  n ,  Briefe  tod  AndreM  MaefoB  und  aeinen  Freun- 
den.   Ton  Loatrtk. 

=  Eigennächtiger  Abdruck  von  Artikeln  der  GStt.  gel.  Anzeigen  verboten.  ^ 

Hayet,  Julien,  Questions  M^rovingiennes.  I.  La  formnle:  N.  rex 
Francorum  v.  inl.  (dazu  M.  Pirenne,  La  formule  N.  rex  Francorum  v.  inl. 
in  'Compte  rendu  de  la  commission  royale  d'histoire'  XTTT,  nd.  2,  4me  sdrie. 
Bnixelles  1886*.  8^.  —  II.  Les  d^couvertes  de  Jerome  Vignier.  —  m.  La 
date  d'un  manuscrit  de  Luxeuil.  Paris  1886.  (Besonders  abgedruckt  aus 
der  Biblioth^HO  de  l'äcole  des  chartes  XLVI).    8^. 

Von  den  drei  Abhandlungen,  welche  J.  Havet  nnter  dem  obigen 
Titel  yerSfPentlicht  hat,  verdienen  namentlich  die  beiden  ersten  im 
vollen  Mafte  die  Beachtang,  welche  sie  bei  den  Fachgenossen  ge- 
funden habet).  Die  Besultate  sind  überraschend.  Lange  herrschende 
Irrtümer,  zum  Teil  von  sehr  tiefgreifender  Bedeatung,  sind  widerlegt 
nnd  zwar  meist  mit  so  einfachen  und,  wie  ich  meine,  zwingenden 
Gründen,  daB  man  sich  nachträglich  kaum  so  sehr  über  die  aufge- 
deckten Thatsaehen  wundert,  als  vielmehr  darüber,  daß  dieselben  so 
lange  vermocht  haben,  sich  den  prüfenden  Blicken  der  Forscher  zu 
entziehen,  Das  kann  natürlich  dem  kritischen  Scharfblick ,  wie  der 
treffliehen  Darstellung  des  Verfassers  nur  zur  Ehrö  gereichen.  Wenn 
d^mgemM'  die  folgende  Besprechung  der  einzelnen  Abhandlungen 
sieh  zumeist  als  ein  zustimteeiides  Referat  erweisen  wird,  so  glaube 
ieb  do^b"'  air'  einzelnen  Punkten  die  Beweisführung  des  Verfassers 
einächränken  oder  erweitem  zu  kt3nnen.  Wie  ich  aber  hoffen  darf, 
hierdurch  im-  Ganten  die'  Sicherheit  d'er  Resultate  zu  verstärken,  so 
^ube  ich  aueh  einzelne  Einwände,  welche  (Seither  gegen  Havets 
AusfHbiUnjgen  erhoben  sind,  als  unzutreffend  erweisen  zu  künnen. 

OMt.  gel.  Aas.  1887.  Nr.  10.  26 


862  Gott.  gel.  Anx.  1887.  Nr.  10. 

L  La  formale:  N.  rex  Francornm  t.  inl. 
Das  Beweistbema  dieser  ersten  Abhaodlang  ist  folgendes:  Die 
Formel  N.  rex  Francarum  v.  inl.  in  den  Inskriptionen  der  Mero- 
winger-Diplome  ist  nicht,  wie  bisher  geschehen,  N.  rex  IV.  vir  in- 
lusterj  sondern  N.  rex  Fr.  viris  inlt*stribfis  za  lesen.  Das  haupt- 
sächlichste Argument  ist:  Eeins  der  erhaltenen  Original-Diplome 
hat  ausgeschrieben  vir  inluster^  sondern  alle  haben  entweder  Ab-* 
kttrzungen,  welche  die  Endungen  zweifelhaft  lassen,  oder  ausdrück- 
lich viris  inlustribuSy  teils  ausgeschrieben,  teils  so  abgekOrzt,  daA 
diese  Lesart  unzweifelhaft  bleibt  22  Stücke  haben  t;.  inl.  oder 
V.  inU,j  7  dagegen  viris  inlustribus  oder  unverkennbare  Abkürzungen 
dafür,  und  3  Stücke,  nach  Havet,  Abkürzungszeichen,  welche  eben- 
falls eher  so,  denn  vir  itduster  lesen  lassen.  Nach  dem  einfachen 
Grundsätze  der  Palaeographie,  daft  zweifelhafte  Abkürzungen  so  auf- 
zulösen sind,  wie  in  analogen  Fällen  vollständig  ausgeschrieben 
wird,  schlieftt  Havet,  daß  r.  «n2.  und  v.  inU.  nicht  vir  inluster^  son- 
dern nur  viris  inlustrüms  aufgelöst  werden  darf.  Nicht  auf  den  Kö- 
nig bezieht  sich  also  der  Titel,  sondern  auf  die  Beamten,  an  welche 
der  Erlaß  gerichtet  ist  Die  Formel  ist  eine  vollständige  Inscriptio 
mit  Adressant  und  Adressat,  angemessen  dem  Briefcharakter,  wel- 
chen die  Diplome  tragen.  Der  Titel  vir  ivluster  für  den  König  ist 
nicht  merowingisch ,  sondern  karolingisch.  Er  ist  von  der  Kanzlei 
der  Hausmeier,  welche  ihn  führten,  für  das  arnulfingische  Oe- 
schlecht,  auch  nachdem  es  die  Königswürde  angenommen  hatte,  noch 
eine  Zeit  lang  beibehalten.  Dadurch  gewöhnten  sich  die  späteren 
Abschreiber  auch  in  den  Merowinger-Diplomen  v.  ifU.  als  vir  in- 
luster  aufzulösen  und  auf  den  König  zu  beziehen,  und  dadurch 
wieder  sind  die  Editoren  der  letzten  Jahrhunderte  zu  einem  gleichen 
Verfahren  veranlaßt 

Havets  Verdienst  ist  zuerst  klargestellt  zu  haben,  daß  kein  ein- 
ziges Original-Diplom  das  bisher  als  regelmäßig  geltende  vir  itduster 
hat  und  demnach  kein  Grund  vorhanden  ist;  diese  Form  als  Regel 
anzusehen,  neben  welcher  die  schon  früher  beobachteten  Fälle  mit 
viris  inlustribus  als  Ausnahmen  zu  erklären  wären.  Merkwürdig  ge- 
nug hat  man  sich  mit  diesen  vermeintlichen  Ausnahmen  bisher  ab- 
zufinden gesucht,  indem  man  den  Dativ  Pluralis  teils  wirklich  auf 
die  Beamten  bezog,  an  welche  das  Diplom  sich  wendet,  teils  ein 
Misverständnis  der  Kanzlei  annahm,  welche  über  die  Konstruk- 
tion im  Unklaren  gewesen  sei,  und  trotz  des  Dativ  Pluralis  das 
Prädikat  habe  auf  den  König  beziehen  wollen.  Auch  Bef.  hat  sich 
früher  ausdrücklich  dieser  Ansicht  angeschlossen,  sieht  sich  aber 
genötigt  jetzt  die  Seltsamkeit  derselben  unumwunden  anzuerkennen. 


Havet,  QaestioDS  M^roviugienues.  B63 

Dreierlei  Fälle  nahm  man  also  an:  1.  vir  inluster  steht  hinter 
rex  Francorum  in  der  Inscriptio  der  Diplome  als  Titel  des  Königs. 
2.  An  derselben  Stelle  steht  statt  dessen  viris  inlustribuSy  seiner 
Form  gemäß  als  Titel  der  Beamten,  an  welche  der  ErlaB  gerichtet 
ist.  3.  Es  steht  zwar  wie  im  2ten  Falle  viris  inlustrihus^  dies 
ist  aber  dennoch,  wie  im  ersten,  nicht  auf  die  Beamten  zu  be- 
ziehen, sondern  als  Titel  des  Königs  zu  rex  Francorum  zu  neh- 
men. Ist  es  schon  sehr  unwahrscheinlich,  daß  derselbe  Titel  an 
derselben  hervorragenden  Stelle  an  der  Spitze  der  Diplome  bald 
dem  Könige,  bald  nicht  ihm,  sondern  seinen  Beamten  beigelegt 
wird,  80  ist  es  im  höchsten  Grade  die  Annahme  des  dritten  Falles. 
Und  doch  lag  gerade  hierfür  ein  scheinbar  sicheres  Beispiel  Tor  in 
dem  Diplom  Ghilperichs  II.  (Mon.  Germ.  DD.  Merov.  ed.  K.  Pertz 
Nr.  82),  welches  die  Inscriptio  hat:  Ch.  rex  Francorum  viris  inH- 
strdms  omnis  tilenariis  Masiliensis.  Weil  man  nicht  annehmen 
wollte;  daß  den  Zöllnern  ein  Titel  beigelegt  worden  sei,  welchen  auch 
der  König  führte,  glaubte  man  hier  das  Prädikat  trotz  der  nach 
Casus  und  Numerus  widersprechenden  Form  auf  den  König  beziehen 
zu  mtlssen.  Nachdem  nun  die  Voraussetzung,  daß  der  König  diesen 
Titel  sich  *  in  der  Inscriptio  der  Diplome  beigelegt  habe,  als  unbe- 
gründet nachgewiesen  ist,  dürfen  wir  mit  Havet  wohl  umgekehrt 
aus  dieser  Stelle  die  Unwahrscheinlichkeit  der  Annahme  folgern, 
daß  der  König  selbst  einen  Titel  geführt  haben  sollte ,  den  er  allen 
seinen  Beamten  und,  wenn  auch  vereinzelt,  sogar  den  Zöllnern 
beilegte  (p.  14). 

Was  die  Originaldiplome  ergeben,  findet  Havet  mit  Recht  auch 
in  den  merowingischen  Formeln  und  andern  Quellen  bestätigt:  der 
König  führt  nicht  den  Titel  vir  vnluster^  wohl  aber  seine  Beamten; 
und  wenn  man  die  Verleihung  der  Konsulswürde  an  König  Chlodo- 
vech  durch  Kaiser  Anastasius  mit  jenem  römischen  Titel  in  Verbin- 
dung gebracht  hat,  so  erinnert  der  Verfasser  daran,  daß  den  Kon- 
suln das  Prädikat  darissimius  zukam. 

Nur  eine  Stelle,  welche  Havet  nicht  berücksichtigt  hat,  könnte 
man  etwa  mit  Waitz,  Verfassungsgeschichte  11,  1,  S.  187,  A.  3,  be- 
nutzen, um  die  frühere  Annahme  zu  stützen ,  nämlich  die  in  der 
Exhortatio  ad  Francorum  regem  enthaltenen  Worte:  0  rex  Franco- 
rum  inluster  (Digot,  Histoire  du  royaume  d'Austrasie  III,  p.  352). 
Doch  ist  hier  zu  beachten,  daß  nicht  vir  inluster  steht  und  der  Ver- 
fasser an  dieser  Stelle  wohl  ebensowenig  eine  officielle  Titulatur 
anwenden  wollte,  als  wenn  er  den  König  rex  nobüissime  (p.  349) 
oder  dükissime  rex  (p.  353)  anredet. 

Noch    eine   Bemerkung  möchte  ich    hinzuftlgen.     Gewiß  ist  es 

26* 


364  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  10. 

kritisch  darcbaw  gerechtfertigt,  wenn  Havet  seine  Untersachnng 
zunächst  aaif  die  ei'haltenen  Originaldiplome  gründet  Ich  glaube 
aber  auch  das  ist  zu  beachten,  daß  selbst  eine  Anzahl  der  nur  ab- 
schriftlich überlieferten  Diplome  nicht  vir  inlustery  sondern  aasdrück- 
lieh  viris  inLustribus  aufweist.  Es  sind  das  in  der  Ausgabe  von 
E.  Pertz  die  Nummern  28.  29.  40.  44.  52.  86.  91.  96.  Dazu  kommen 
noch  zwei  Stücke,  welche  mehr  der  Formel  Marculfs  I,  2  entspre- 
chen, Nr.  95:  Theuderkus  rex  Francorum  viris  apostoUcis  patribus 
episcopis  nee  non  et  inlustribus  viris  dudbus  — ,  und  Nr.  97:  Chü' 
dericus  rex  Fr.  viro  indiio  Karolomanno  —  viris  apostolicis  patribus 
nostri»  necnon  et  imperataribus  (lies :  inlustribus)  viris  omnibtis  cami- 
tibfiSm  Genau  den  Fällen,  wo  das  Diplom  an  mehrere  Beamte  ge- 
richtet ist,  entsprechen  Nr.  2;5  und  42,  welche  nur  einen  einzelnen 
als  Adressaten  bezeichen :  jY^  rex  Francorum  viro  ifUustri,  und  mit 
Auslassung  des  viro  auch  Nr.  62.  Ebenso  haben  auch  neuere  Her- 
ausgeber in  dem  Original  Nr.  20  (Letronne  Nr.  9)  gelesen;  ich 
kann  nicht  entscheiden  ob  mit  Recht.  Jedenfalls  genügen  aber  die 
übrigen  Fälle  schon,  um  das  von  Havet  gewonnene  Resultat  etwa 
so  ZU:  formulieren :  In  der  Formel  N.  rex  Francorum  v.  inL  in  me- 
rowingischen  Diplomen  sind  die  beiden  letzten  Wortzeichen  in  der 
Bagel  viris  init^stribuSf  und  wenn  ausnahmsweise  das  Diplom  nur 
an  einen  einzelnen  Beamten,  gerichtet  ist,  viro  ihlustri  zu  lesen. 

Gegen  Havels  Ausführungen  hat  M.  Pirenne  in  der  in  derUeber- 
scbrift  mit  angefühlten  Abhandlung  einige  Einwände  erhoben.  Pirenne 
verkennt  keineswegs  das  Gewicht  der  von  Havet  geltend  gemachten 
Gründe,  ist  aber  der  Meinung,  daß  die  neue  Annahme  Schwierig- 
keiten^ die  Begründung  einige  schwache  Seiten  darbiete,  und  hält 
mit  Recht  die  Sache  für  wichtig  genug,  um  alle  etwa  entgegen^ 
stehenden  Momente  in  sorgfältige  Erwägung  zu  ziehen.  Zunächst 
glaubt  Pirenne  auf  Grund  der  Facsimiles  bei  Letronne  die  drei 
DipJoiM)  in  denen  Havet  in  den  Originalen  v.  inL  mit  Abkürzungen 
zeichen  gelesen  hat  und  viris  itdusiribus  auflösen  will,  zu  den  221 
Stücken  stellen  zu  sollen,  welche  v.  inl.  oder  v.  mU.  haben  und  die 
Auflösnng  zweifelhaft  lassen.  Soweit  ich  ohne  Einfiicht,  der  Origi« 
naJe  urteilen  darf,  möchte  ich.  hierin  Pirenne  zustimmen«  Wenn  aber 
somit  auch,  die  Zahl  der  direkt  für  den  Dativ  Pluralis  zeugende« 
Diplome  von  IQ  gegen  22  auf  7  gegen  25  neutrale  redueiert  weir- 
den  mufi^  so  ändert  das  an  der  Hauptsache  nichts.  Es  bleibt  auoh 
dabei  der  entscheidende  Umstand  bestehn,  daß  kein  Original  ausge- 
schrieben vir  iniuster  hat,  daß-  dagegen  alle  Originale,  welche  nicht 
unbestimmt  abkürzen,  viris  ifdustribus  haben.  Nun  bemerkt  aber  Pi«r 
renne   in  allen  Stücken  der  letztera  Art   he»Mid^re  Eigentümlich* 


Havet,  Questions  M^rovingiennes.  S6Ö 

keiten.  Während  in  alien  Diplomen,  welche  hinter  rex  Franaorum 
die  abgekürzte  Form  t;.  inl.  aufweisen,  dieser  Titel  auch  äoßerliöh 
durch  verlängerte  Schrift  und  folgenden  Absatz  als  zn  rex  Franco- 
rwn  gehörig  bezeichnet  wird,  sind  in  vier  von  jenen  sieben  Fällen 
(Letronne  Nr.  3.  5.  19  and  40)  die  Worte  viribtis  i^^lMgtHibus  von 
rex  Fr.  getrennt  and  an  den  Anfang  des  Eontextes  der  Urkande 
gesetzt;  in  einem  5ten  Falle  (Nr.  17)  ist  dagegen  nicht  nar  viris 
inhLstribua  mit  gleichfalls  verlängerter  Schrift  anmittelbar  hinter 
re^  Fr.  gestellt,  sondern  ebenso  anch  noch  die  Aufzählung  der  ein- 
zelnen Beamtenkategorien,  während  in  einem  6ten  Falle  (Nr.  7)  ebenso 
eigentämlich  die  verlängerte  Schrift  überhaupt  nicht  angewandt  ist 
Diese  6  Stücke  charakterisieren  sich  also  sämtlich  durch  über- 
raschende Abweichangen  vom  merowingiscfaen  Kanzleigebraaehe. 
Nur  das  7te  Stück  mit  trim  mlustrüms  (Nr.  89)  scheint  tadelA^i; 
aber,  wie  Pirenne  noieinft,  scheint  es  nur  so.  Während  nämlich  in 
den  sechs  übrigen  Fällen  mit  visris  iniMStrüms  diesem  Titel  stets 
noch  eine  nähere  Bezeichnung  der  Beamten  folgt,  fehlt  diese  in  Nr. 
39.  Also  bildet  dieses  Sttlok  wieder  eine  Ausnahme  von  einer  kon- 
stanten BegeL 

Ich  halte  diese  ganze  Argumentation,  welche,  wie  wir  sehen 
werden,  darauf  hinausläuft,  6  Stücke  zn  beanstanden,  weil  sie  eine 
gewisse  Eigentümlichkeit  haben,  und  das  7te,  weil  es  eben  diese 
Eigentümlichkeit  nicht  hat,  für  nicht  zutreffend.  Richtig  führt  Pi- 
renne eine  gemeinsame  Eigentümlichkeit  jener  6  vom  Kanzleigebrauch 
abweicheaden  Fälle  an,  bemerkt  aber  nicht,  daft  in  dieser  gemein^ 
samen  Eigentümlichkeit  eben  der  gemeinsame  Grund  jener  Ab^ 
weichnngen  liegt  Bestand  die  Inskription  nur  aus  N.  rex  Fr.  f). 
inl,  so  war  es  durchaus  natürlich  dieselbe,  wie  regelmäßig  geschieht, 
von  dem  übrigen  Inhalt  der  Urkunde  auch  in  der  änfteren  Erschein 
nung  zu  trennen  und  mit  der  Arenga  oder  Narratio  in  der  gew9hn« 
liehen  Teztsehrift  eine  neue  Zeile  zu  beginnen.  Folgten  aber  den 
Worten  viris  iiUustrüms  noch  andere  im  gleichen  Casus,  welche  diese 
ffiri  inluetres  noch  näher  bezeichneten  oder  durch  Hinzuftlgung  an- 
derer Personen  ergänzten,  so  war  man  gezwungen  entweder  [die 
ganze  erweiterte  Inscriptio  vom  Texte  äuAerlich  za  unterscheiden, 
wie  in  Nr.  17  geschehen  ist,  oder  auf  äufterliche  Unterscheidung 
etwa  durch  Anwendung  verlängerter  Schrift  für  die  ganze  Inscriptio 
zo  verzichten,  wie  in  Nr.  7  geschehen  ist,  oder  endlich,  wie  in  den 
übrigen  Fällen  geschieht,  die  Inscriptio  zu  teilen.  Teilte  man  aber, 
so  lag  es  durchaus  nahe,  nur  den  E()nigBnamen  und  Titel  mit  ver- 
längerter Schrift  in  die  erste  Zeile  zu  setzen  und  alles  übrige,  also 
die  Dative,  in  gewöhnlicher  Schrift   an   den  Anfang  des  Textes  zu 


366  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  10. 

stellen.  Diese,  wie  mir  scheint,  anabweisbare ,  Erklftrang  gibt  zu- 
gleich die  Antwort  auf  die  Frage,  weshalb  gerade  vorzagsweise  in 
diesen  Fällen  das  viris  inhtstribus  nicht  abgekürzt  wird,  sondern 
aasgescbrieben.  Allein  mit  davorstehendem  N.  rex  Fr.  als  Inscriptio 
gesetzt,  brauchten  Casus  und  Numerus  des  v.  »nZ.  als  selbstverständ- 
lich nicht  ausgeschrieben  zu  werden.  Folgten  aber  diesen  Dativen 
Pluralis  noch  mehrere  koordinierte,  so  wäre  es  seltsam  gewesen, 
wenn  man  die  ersten  hätte  abkürzen  wollen,  da  man  es  doch  bei 
den  übrigen  ohne  undeutlich  zu  werden,  nicht  durfte.  Daft  aber  der 
Schreiber  nicht  etwa  nur  durch  die  folgenden  Dative  verleitet  wurde 
auch  V.  inl.  in  diesen  Casus  zu  setzen,  zeigt  nunmehr  auf  das  deut- 
lichste jener  7te  Fall ,  wo  viris  inlt^stribus  auch  ohne  folgende  Da- 
tive steht.  Pirenne  meint  (p.  8),  es  scheine,  daß  die  Schreiber, 
welche  dem  Könige  in  der  Regel  den  Titel  vir  inluster  beilegten, 
in  den  Fällen,  wo  das  Schreiben  mit  einer  Adresse  an  Beamte  ver- 
sehen wurde,  welche  ihrerseits  Anspruch  auf  den  Titel  vir  iniiister 
hatten,  diesen  Titel  ihnen  gegeben,  dagegen  dem  Könige  genommen 
hätten.  Das  Unwahrscheinliche  dieses  Hin-  und  Herschiebens  des- 
selben Titels  zwischen  dem  Könige  und  seinen  Beamten  liegt  auf 
der  Hand.  Eine  solche  Kanzleiregel  wäre  unerklärlich,  während 
unsere  Annahme  für  Alles  die  einfachste  Erklärung  bietet. 

Auch  Marculfs  Formeln  sprechen  nicht,  wie  Pirenne  p.  9  meint, 
gegen  Havets  Ansicht.  Könnte  es  in  I,  29  scheinen,  als  hätte  Mar- 
culf, was  er  sonst  nie  thut,  dem  Könige  den  Titel  vir  inlustris  bei- 
gelegt, so  dürfen  wir  diese  einzige  Ausnahme  angesichts  der  That- 
sache,  daß  unsere  Handschriften  sämtlich  nicht  über  die  karolingi- 
sche  Zeit  zurttckgehn,  aus  Verderbnis  des  Textes  erklären  ^).  Kei- 
neswegs aber  ersetzt  Marcnlf  die  Formel  N.  rex  Francorum  v.  inl. 
immer  kurz  durch  ill.  rex'^  vielmehr  steht  niemals  iUe  rex  allein, 
sondern  stets  ist  noch  der  notwendige  dem  i;.  ifd.  der  Diplome  ent- 
sprechende Dativ  dazu  gesetzt.  Daß  hierbei  vir  inluster  fast  nur 
erscheint,  wo  ein  Comes  genannt  wird^  trägt  bei  dem  Charakter  des 
Werkes,  welches  die  Segeln  der  königlichen  Kanzlei  nur  im  Großen 
und  Ganzen  kennt  und  befolgt,  wenig  aus. 

Auch  der  weitere  Einwand,  welchen  Pirenne  erbebt,  daß  nicht 
t;.  ifU.  sondern  t;.  inlbus  die  Abkürzung  ftlr  viris  inlustribus  gewesen 
zu  sein  scheine,  ist  kaum  von  Bedeutung.  In  v.  inUms  sind  die  für 
die  Endung  ausschlaggebenden  Buchstaben  so  deutlich  ausgeschrieben, 
daß  hier  im  Sinne  unserer  Frage  gar  keine  Abkürzung  vorliegt. 
Eben  darum  handelt  es  sich,  ob  auch  die  Abkürzungen,  welche  keine 
Elemente  der  Endungen   enthalten,  so  aufzulösen  sind.    Daß  aber, 

1)  Eine  Handschrift,  freilich  nor  B,  hat  auch  hier  mro  inhuire. 


Ha  vet,  Qaestions  M^rovingiennes.  367 

weil  V.  inlbus  nur  viris  inlustribus  aufgelöst  werden  kann,  eine  an- 
dere Abbreviatur  nicht  auch  noch  dasselbe  bedeuten  könnte,  wird 
Niemand  behaupten  und  ebensowenig,  daß  t;.  inl.  an  sich  nur  in 
vir  inluster  aufgelöst  werden  dürfe.  Zeigen  das  doch  schon  die  Bei- 
spiele, welche  Pirenne,  p.  10,  n.  1,  gerade  ftlr  die  Auflösung  vir  in^ 
luster  anführt :  Signum  f  v.  inl.  Radoberto  .  .  .  Signum  f  t;.  inl.  Er- 
menrico  . . .  (Letronne  8  =  E.  Pertz  Nr.  19).  Gerade  hier  kann  v.  inl. 
nicht  vir  inltistep-  sondern  nur  entsprechend  den  dazu  gehörigen 
Eigennamen  viro  inlustri  (fttr  viri  inlustris)  aufgelöst  werden^). 

Ebensowenig  vermag  ich  Pirenne  zuzugeben,  daß  eine  Adresse 
N.  rex  Fr.  viris  inlustribus  bei  den  Placita  -  Urkunden  ein  Nonsens 
sein  würde.  Freilich  wurden  diese  den  Parteien  im  Eönigsgericht 
übergeben,  und  nicht  unmittelbar  »mm  inlustribus*.  Letzteres  war 
aber  auch  sonst  oft  nicht  der  Fall  z.  B.  bei  Zollprivilegien ;  wie  durch 
diese  der  König  sich  erst,  wenn  der  Besitzer  des  Privilegs  von  dem- 
selben dem  Beamten  gegenüber  Gebrauch  macht,  an  diesen  wendet, 
so  kann  man  auch  annehmen,  daß  die  Adresse  der  Placita  sich  an 
die  Richter  wende,  denen  gegenüber  etwa  die  Partei  von  der  Ur- 
kunde Gebrauch  zu  machen  hat.  Briefcharakter  haben  auch  die  Pla- 
eita,  wie  schon  die  in  den  Originalen  häufig  beigefügte  Formel: 
»Bene  valetec  zeigt  (z.  B.  E.  Pertz  Nr.  59.  60.  64),  welche  sich  nicht 
auf  die  Parteien  im  Gericht  beziehen  kann,  da  diese  im  Eontexte 
nicht  angeredet,   sondern  nur   in  dritter  Person  erwähnt  werden. 

Endlich  aber  findet  Pirenne  in  einigen  Stücken  den  positiven 
Beweis,  daß  die  merowingischen  Eönige  den  Titel  vir  inluster  ge- 
führt hätten.  Freilich  seien  diese  Texte  nicht  im  Original  erhalten, 
doch  der  Art,  daß  die  Beziehung  auf  den  Eönig  nicht  erst  durch 
einen  Fehler  des  Eopisten  hineingekommen  sein  könne.  Es  sind 
dies  Fälle,  wo  in  der  Inscriptio  erst  vir  inluster  hinter  dem  Königs- 
titel, dann  noch  einmal  in  der  Anrede  der  Beamten  inlustribus  viris 
steht.  Von  den  drei  von  Pirenne  angeführten  Stücken  gehört  aber 
eins,  Marculfi  Addit.  2  (cf.  Coli.  Flav.  69),  der  karolingischen  Zeit  an. 
Es  ist  dies  die  karolingische  Ueberarbeitung  der  merowingischen 
Formel  Marc.  Suppl.  1,  welche  im  bemerkenswerten  Gegensatz  zu 
der  Ueberarbeitung  ganz  den  merowingischen  Originaldiplomen  ent- 
sprechend nie  rex  Francorum  viris  inlustribus  bietet  Ebenso  ist 
ein  zweites  dieser  Stücke,  das  angebliche  Diplom  Chlotars  I,  Par- 
dessns  No.  136,  bei  E.  Pertz  Spur.  9,  p.  125,  welches  Sickel,  Beiträge 
z.  Diplomatik  III,  S.  195  für  nur  sprachlich  emendiert  erklärte,  wohl 
sicher  mit  Waitz ,   Verf.  Gesch.  II,  2,  S.  14,  n.  1.   S.  42,  n.  fbr  un- 

1)  Auch  fOr  die  den  Namen  folgenden  Titel  mt^far  domus  and  domesHeuB  ist 
die  in  den  Drucken  gew&hlte  Nominativform  nach  dem  Facsimile  nicht  berechtigt. 


366  Oött.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  10. 

echt  oder  mindestens  überarbeitet  zu  halten ,  und  zwar  Ist  es  grade 
die  Inscriptio,  w:elche  zu  Verdacht  Veranlassung  gibt.  Das  dritte 
Stück  endlich;  das  Diplom  Dagoberts  für  Kesbach,  Pard.  Nr.  270^ 
ist  durch  Marculfe  nach  diesem  Diplom  verfaßte  Formel  I,  2  zu 
kontrolieren.  Das  Diplom  ist  ediert  von  Mabillon  aas  einem  angeb- 
lichen Original,  welches  aber  kein  Original  gewesen  sein  kann,  da 
der  Text,  wie  die  Vergleichung  mit  dem  Marcalfs  ergibt,  schlechter 
ist  als  der  eines  Ghartulars  des  XUL  Jahrb.  Dieses  enth&lt  leider 
nur  die  2.  Hälfte,  so  daß  der  erstere  Teil  textlich  nicht  besonders 
sicher  ist.  Der  Text  jenes  angeblichen  Originals  lautet  nun  aller- 
dings: Dagöbercihus  rex  Francorum  vir  inltister  apostolids  patribm 
nostris  dominis  episcopis  et  ülustribus  viris  dudbus  u.  s.  w.  Marcnlf 
aber  schreibt  richtiger:  llle  rex  viris  apostolids  patribuB  nostris  neo- 
f^(m  et  inlustribtAS  viris  Uli  comUe  u.  s.  w. ,  und  aus  dieser  Fassung 
erklärt  sich  leicht  die  des  Diplomentextes,  wenn  man  annimmt,  daß 
durch  das  Versehen  oder  die  vermeintliche  Korrektur  eines  karolin- 
gischen  Abschreibers  vir,  itd.  ans  viris  geändert  sei. 

Den  besten  Beweis  für  die  Existenz  des  Tit^  vir  itdtister  für 
den  merowingischen  König  erblickt  Pirenne  darin,  daß  auch  die  er* 
sten  Karolinger  bis  774  denselben  führten.  Denn  entschieden  falsch 
sei ,  was  Havet  meine ,  daß  das  karolingisohe  Urkundenwesen  vom 
merovingischen  wesentlich  verschieden  sei.  Havets  Behauptang  geht 
thatsächlich  nicht  ganz  so  weit,  sondern  nur  dahin,  daß  die  Kanzlri 
eine  Umwandlung  erlitten  habe  und  die  karolingischen  Diplome  sich 
merklich  von  den  merowingischen  unterschieden.  Das  ist  unbestreit- 
bar richtig  und  durch  die  von  Havet  p.  13  angeführten  Tbatsachen 
ausreichend  begründet.  Und  wenn  Pirenne  sich  für  seine  Behaup- 
tung auf  Ausführungen  Sickels  beruft,  welche  darthun,  daß  die 
Kanzlei  der  Arnulfinger,  als  sie  königlich  wurde,  sich  in  manchen 
Dingen  mehr  dem  Gebrauch  der  merowingischen  Kanzlei  angeschlossen 
hat,  so  steht  das  nicht  im  Widerspruch  mit  der  Annahme  großer 
Verschiedenheiten,  welche  ja  auch  Sickel  anerkennt  und  hervorhebt. 
(Vgl.  z.  B.  Sickel,  Acta  Karol.  I,  8.  193.  213.  214.  219).  Havets 
Annahme,  daß  die  Kanzlei  der  Arnulfinger  den  Titel  für  das  könig- 
lich gewordene  Geschlecht  von  früher  her  beibehalten  habe,  ist  also 
durchaus  zulässig. 

Die  Kritik  Pirennes  dürfte  demnach  das  Resultat  Havets  nicht 
erschüttert  haben  ^). 

1)  Da  das  Manuskript  dieser  Anzeige  schon  vor  längerer  Zeit  abgeschickt 
wurde,  konnte  ich  die  ebenfalls  gegen  Hayet  gerichteten  Ausführungen  H.  Bress- 
aus  im  N.  Archiv  Xu  S.  363  ff.,  die  mich  nicht  zu  überzeugen  vermögen,  im 
yprstehenden  nicht  mehr  berücksichtigen,  ebensowenig  Havets  Entgegnung  im 
neuesten  Hefte  der  »Biblioth^ue  de  P^le  des  chartesc. 


H&vet,  Questions  M^rovingiennes.  9^^ 

n.    Les  .dicoQvertes  de  Jerome  Vignier. 

Diese  zweite  AbbandluDg  geht  von  der  BeobaefatoDg  ans,  daA 
die  Glaubwürdigkeit  einer  Reihe  hOchst  wichtiger  Denkmäler  der 
Herowingerzeit  lediglieh  auf  dem  Zeagnis  eines  einzelnen  Mannes, 
des  1661  verstorbenen  Priesters  yom  Oratoriam  Jöröme  Vignier  rnht. 
Keiner  vor  ihm  hat  sie  gekannt.  Nur  Er  hat  die  Handschriften  ge- 
geben, nnd  naeh  ihm  Keiner  eine  Spar  davon  aufgefunden.  Diese 
auffallende  Gleichartigkeit  der  Ueberliefernng  macht  die  Entdeckun- 
gen Vigniers  im  hohen  Grade  verdächtig.  Eine  nähere  Prüfung  der 
einzelnen  Texte,  welche  die  Mehrzahl  derselben  als  unecht  erkennen 
läßt,  bestätigt  den  Verdacht  und  ftthrt  zu  der  Ueberzeugung ,  daß 
diese  Entdeckungen  samt  und  sonders  Fälschungen  Vigniers  sind. 

Die  Mehrzahl  der  hier  in  Frage  kommenden  Stücke  hat  nach 
Vigniers  Tode  sein  Freund  D'Achery  aus  dessen  hinterlassenen  Pa- 
pieren im  5.  Bande  des  Spicilegium  natürlich  bona  fide  herausge- 
geben. Dies  sind:  1.  Das  Testament  des  Bischofs  Perpetuus  von 
Tours  vom  Jahre  475  (Pardessus,  Diplomata  Nr.  49).  2.  Die  Grab- 
sdirift  desselben  Perpetuus.  3.  Die  Schenkungsurkunden  Ghlo- 
dovechs  für  St.  Mesmin,  die  sogenannte  Fundatio  Miciacensis  (K. 
Pertz,  Dipl.  Mer.  nr.  1).  4.  Das  Beligionsgespräch  zu  Lyon  vor 
König  Gundobad  vom  Jahre  499,  die  sog.  Collatio  episcoporum 
(Spie.  V,  p.  110),  und  5.  Briefe  von  Bischöfen  und  Päpsten,  welche  als 
Appendix  ad  miscellanea  epistolarum  p.  578  ff.  gedruckt  sind.  Es 
sind  dies  Briefe  des  Bischofs  Lupus  von  Troyes  an  ApoUinaris  Si- 
donius  vom  Jahre  472,  des  Papstes  Gelasius  an  Bischof  Busticus 
oder  Rusticius  von  Lyon  vom  25.  Jan.  494  (Reg.  Pont.  ed.  2.  nr.  634), 
des  Papstes  Anastasius  IL  an  König  Chlodovech  vom  Jahre  497 
(Reg.  Pont.  nr.  745),  des  Papstes  Symmachus  an  Avitus  von  Vienne 
vom  13.  Oct.  501  (Reg.  Pont.  nr.  756).  Die  Texte  selbst  sind  bei 
Havet  sämtlich  genau  nnd  vollständig  wieder  abgedruckt. 

Der  §  2  beginnt  mit  der  Kritik  des  Testaments  des  Perpetuus. 
Folgende  Gründe  macht  Havet  gegen  die  Echtheit  geltend. 

.  Erstens  besteht  ein  Widerspruch  zwischen  der  Naebrioht  Gre- 
gors von  Tours  über  das  Testament  und  Vigniers  Texte.  Nach 
Gregor  war  der  Bischof  reich  begütert  per  muUas  civüaies  und  ver- 
machte, was  er  in  den  einzelnen  civihUes  besaß,  den  dortigra  Kirchen 
(His^  Fr.  X,  31,  M.  G.  SS.  Merov.  I,  444  sq.).  Wäre  Vigniers  Text 
echt,  so  müßte  Gregor  die  in  demselben  genannten  Parochialkirchen 
kleiner  Städte  der  Umgegend  von  Tours  gemeint  und  diese  als  civi- 
totes  bezeichnet  haben,  während  dieses  Wort  im  VL  Jahrhundert 
sonst  ausschließlich  zur  Bezeichnung  der  Dioecesanbauptstadt  nnd 
fhres  Gebietes  gebraucht  wird.  Die  einzige  wirkliche  dvitas  aber 
§llf^  ßregors  Spraehgebrauph,  weleb»  der  Text  des  Testamentes 


370  öött.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  10. 

nennt,  würde  Tours  sein ,  so  daft  das  Gregor  bekannte  ecbte  Testa* 
ment  nicht  dem  Texte  Vigniers  entsprochen  haben  kann.  Sehr  wohl 
aber  konnte  ein  Fälscher  des  XVII.  Jahrhunderts  Gregors  Ausdruck 
civüates  irrig  von  kleinen  Städten  der  Umgegend  verstehn,  wie  denn 
auch  eine  1668  erschienene  Uebersetzung  des  Gregor  diesen  Fehler 
begeht. 

Zweitens  entspricht  das  Testament  nicht  dem  zu  Perpetuus  Zeit 
in  Galiien  geltenden  römischen  Rechte.  Es  war  dies  das  vorjusti- 
nianische  Recht,  wie  es  einige  Jahrzehnte  später  in  der  vom  Gothen- 
könig  Alarich  II.  veranstalteten  Sammlung,  dem  sogenannten  Brevia- 
rinm  fixiert  wurde.  Nach  diesem  älteren  römischen  Rechte  sollten 
diejenigen  Legate  und  Freilassungen,  welche  im  Testamente  dem 
wesentlichsten  Teile  desselben ,  der  Erbeinsetznng ,  vorhergiengen, 
nichtig  sein,  die  Erbeinsetzung  also  den  Legaten  und  Freilassungen 
vorhergehn.  Im  Testamente  des  Perpetuus  steht  dagegen  die 
Erbeinsetzung  ganz  am  Schluß  hinter  allen  Legaten  und  Freilassun- 
gen, was  erst  durch  eine  Konstitution  Jnstinians  vom  Jahre  528  Air 
zulässig  erklärt  wurde.  Ferner  verlangte  das  damalige  römische 
Recht  die  Nennung  von  certae  personae  als  Erben.  In  unserem  Texte 
dagegen  bezeichnet  der  Testator  ganz  allgemein  die  Armen  und  Be- 
dürftigen als  Erben:  Vos  pauper  es  Christi^  egeni,  mendici,  aegriy  vi- 
äuaey  orphani,  vos  inquatn  heredis  meos  scribo^  dico^  statuo.  Das  wi- 
derstreitet also  einer  Regel,  für  welche  wiederum  erst  Justinian  528 
oder  529  eine  Ausnahme  zu  Gunsten  der  Armen  zugelassen  hat. 
Endlich  verlangte  das  damalige  Recht  auch  für  die  Legate  certae 
personae  als  Legatare  und  certae  res  als  Gegenstand  der  Vermächt- 
nisse. Auch  dieser  Forderung  entspricht  nicht,  wenn  im  Testamente 
des  Perpetuus  der  Bischof  seinen  Schuldnern  alles  das  vermacht, 
was  sie  ihm  am  Tage  seines  Todes  schuldig  sein  würden,  nnd  wenn 
er  an  anderer  Stelle  seinem  künftigen  Nachfolger  im  Amte  Gegen- 
stände vermacht,  welche  dieser  sich  aus  der  Hinterlassenschaft  aus- 
wählen soll.  Auch  hier  ist  wieder  die  Beschränkung,  wie  man  aus 
einer  Institutionen  -  Stelle  vermuten  darf,  erst  durch  Justinian  auf- 
gehoben. 

Sonach  würde  das  vorliegende  Testament  nicht  dem  am  Ende 
V.  Jahrhunderts  in  Gallien  herrschenden  Rechte,  sondern  vielmehr 
dem  späteren  justinianischen  Rechte,  welches  zudem  erst  nach  Jahr- 
hunderten in  Frankreich  Eingang  erhielt,  entsprechen. 

Weitere  Kriterien  der  Unechtbeit  findet  Havet  in  der  Sprache, 
zunächst  in  einzelnen  Ausdrücken.  So  ist  das  Wort  mansus^  wenn 
auch  nicht,  wie  der  Verfasser  meint,  erst  seit  der  karolingischen 
Zeit,  so  doch  nicht  vor  dem  VII.  Jahrhundert  mit  einiger  Sicherheit 
nachzuweisen  (vgl.  Neues  Archiv  XI,  S.  331).    In  eine  viel  jüngere 


Havel,  Qaestions  H^rovingiennes.  371 

Zeit  aber  weist  der  Ausdruck:  aervUus  ad  heredes  transmissibüis  et 
gMxUica. 

Die  Ortsnamen ,  welche  im  Gegensatze  zu  der  Mehrzahl  der  äl- 
teren Testamente  sehr  spärlich  vorkommen,  zeigen  einige  Formen, 
die  für  das  Y.  Jahrhundert  unmöglich  sind.  So  Proülium^  MoMeiutn^ 
Preslaiumy  Banibasicacaj  Orbonay  welche  teils  frei  erfunden,  teils  ans 
modernen  Ortsnamen  in  unrichtiger  Weise  zurttckgebildet  sind.  End- 
lich macht  Havet  den  ganz  ttberschwänglich  religiösen  Styl,  das 
Uebermaß  der  erbaulichen  Betrachtungen  gegen  die  Echtheit  geltend. 
Andere  nicht  weniger  fromme  Bischöfe  jener  Zeit  reden  in  ihren 
Testamenten  die  dem  bürgerlichen  Geschäfte  angemessene  Sprache, 
während  dieses  sich  so  lese,  daß  man  oft  glaube,  eine  Predigt  zu  hören. 

Dieser  Beweisführung  kann  ich  mich  im  Großen  und  Ganzen 
ntkr  anschließen.  Doch  in  einem  Punkte  glaube  ich  sie  einschrän- 
ken, in  einer  Richtung  dagegen  noch  erweitern  zu  sollen. 

Mit  Recht  erblickt  Havet  in  der  ganz  unbestimmten  Weise,  wie 
die  Armen  und  Elenden  im  Allgemeinen  zu  Erben  eingesetzt  wer- 
den, ein  wesentliches  Merkmal  der  Unechtheit  dieses  angeblich  vor- 
justinianischen  Testaments.  Es  verstößt  das  nicht  nur  gegen  das 
geschriebene  Recht  jener  Zeit,  sondern  findet  sich  auch  in  keinem 
der  uns  erhaltenen  älteren  gallischen  Testamente.  Dagegen  dürfen 
wir  die  Legate  an  incertae  personae  nicht  mit  Havet  als  Grund  ge- 
gen die  Echtheit  anführen,  da  sich  solche  auch  in  anderen,  unzwei- 
felhaft echten  Testamenten  finden.  So  enthält  das  Testament  des 
heiligen  Remigius  vom  Jahre  533,  Pardessus  Nr.  118,  und  das  des 
Bischofs  Caesarius  von  Arles  ebenso  wie  die  Fälschung  Vermächt- 
nisse an  den  Amtsnachfolger:  futuro  episcapo  successari  meo  amphir 
halum  dOmm  rdinquo,  a.  a.  0.  I,  p.  81 ;  saneto  et  domino  meo  ponti- 
fidj  qui  mihi  indigno  digne  successerit  —  indumenta  paschcdia  etc. 
dimisero,  p.  105.  Beide  Stellen  entspreehen  nicht  weniger  als  die 
von  Havet  aus  der  Fälschung  hervorgehobenen:  Tibi  fratri  et  con- 
sacerdoti  carissimOy  de  quo  Dominus  providebit  regendae  post  diseessum 
meum  ecdesiaSf  do  u.  s.  w.  der  von  Gains  als  Beispiel  fttr  unzuläs- 
sige Legate  an  incertae  personae  angeftlhrten  Bezeichnung  des  Le- 
gatars :  Qui  post  testamentum  scriptum  primi  cansules  designati  erunt. 
Auch  im  Testament  des  Aredius  und  der  Pelagia,  Pard.  Nr.  180,  wird 
in  ähnlicher  Weise  an  Personen  legiert,  welche  nach  dieser  Auffas- 
sung als  incertae  gelten  müßten.  Die  Hälfte  eines  Gutes  soll  der 
Erbe  —  der  heil.  Martin  von  Tours  —  haben,  die  andere  Hälfte 
erhalten  die  Mönche  von  Attano:  monachos  quas  ibi  Deus  per  nos 
peecatores  esse  ordinavit  aut  in  antea  Deus  ordinäre  jusserit  Weitere 
Beispiele  finden  sich  im  Testamente  des  Bischofs  Bertram  von  Le 


372  öött.  gel.  An«.  1887.  Nr.  10. 

Mans  vom  Jahre  615,  Pardessus  Nr.  230,  I  p.  197  sqq.,  wo  z.  B. 
p.  207  im  letzten  Absätze  dem  unbekannten  künftigen  Bischof,  dem 
ebenfalls  noch  unbestimmten  ei-nstigen  Archidiakon  and  den  Armen  Le- 
gate yermacht  werden,  deren  Gegenstilnde  sogar  tnm  Teil  als  incertae 
res  zu  charakterisieren  sein  würden.  An  eine  Eiawirknng  des  ja- 
stinianiftchen  Rechts  ist  in  allen  diesen  Fällen  nicht  zu  denken,  yiel- 
mehr  haben  wir  es  hier  wohl  mit  einer  den  Beformen  Jastinians 
parallelen  Entwicklung  im  Occident  zu  thun.  Die  Praxis  durchbrach 
die  Sehranken  des  geschriebenen  Rechts  hier  etwa  um  dieselbe  Zeit, 
wo  Justinian  durch  die  gesetzliche  Aufhebung  derselben  dem  glei- 
chen Bedürfnisse  der  2ieit  und  nametttlich  dem  Interesse  der  Kirche 
und  der  kirchlieben  Wohltbätigkeitsansialteo  entsprach. 

Können  wir  so  einerseits  die  Legate  an  incertae  personae  nicht 
als  Merkmal  der  Fälschung  gelten  lassen,  so  nennen  wir  dagegdn 
noch  als  wichtiges  Kriterium  der  Unechtheit  die  Abwesenheit  fast 
aller  Formeln,  welche  seit  dem  vierten  Jahrhundert  bis  in  die  ka- 
rolingische  Zeit  hinein  den  Testamenten  eigentümlich  sind.  Ich 
hebe  nur  einige  der  charakteristisehsten  and  liäufigsten  hervor.  Ver 
allem  fehlt  die  Kodieillarklausel ,  welche  seliiOiQ  Ulpian,  I.  3,  D.  de 
testamento  militis  29,  3,  als  üblich  in  den  Testamenten  der  CivU- 
personen  bezeicbnet,  «nd  die  vom  Testament  des  heil.  Gregor  von 
Nazianz  an  die  vorhandenen  Testamente,  soweit  sie  uns  in  den  in 
Frage  kommenden  Teilen  vollständig  überliefert  sind,  bis  zum  VIL 
Jahrhundert  sämtlich,  vom  VII.  Jahrhundert  an  bis  zum  Verschwin- 
deo  der  römischen  Testamentsformel  meistens  esthalteD.  Die  Formel 
lautet  in  den  besser  redigierten  Stücken  im  Wesentlichen  etwa :  quad 
(iestamentum)  si  jure  civüi  vel  praelorio  vdlere  nequiverit  etiam  ab 
intestate  vice  codiceUorum  valere  vöto,  und  findet  sich  —  in  einzelnen 
Stücken  allerdings  verstümmelt  und  entstellt  —  in  folgenden  Te- 
stamenten: Test.  Gregorii*  Naz.  a.  389  bei  Spangenberg,  Tabnlae 
p.  76 sqq.;  in  sämtlichen  Testamenten  des  Ravennatischen  Protokolls 
(von  474—552)  bei  Marini,  I  papiri  dipl.  Nr.  72,  p.  110—115  (bei 
Spangenberg  p.  97.  99.  101.  103.  107.  110;  Test.  S.  Bemigii  a.  533, 
Pardessus  Nr.  118;  Test  Caesarii  Areiat.  a  542,  Pard.  Nr.  139; 
Test  Aredii  et  Pelagiae  a  571,  Pard.  Nr,  180;  Test.  Bertramni  epis- 
oopi  Genom,  a.  615,  Pard.  Nr.  230;  Test  Burgundofarae  a.  632, 
Pard.  Nr.  257;  Test  Hadoindi  ep.  Genom,  a.  642,  Pard.  Nr.  300; 
Test  Abbonis  a.  739,  Pard.  Nr.  559;  Test  Remigii  ep.  Argent 
a.  778,  StraAb.  ÜB.  I,  p.  H  (echtl);  Test  Bogerii  comitis  a.  785, 
Habillon,  Ann.  ord.  S.  Ben.  II,  p.  711.  Form.  Visigoth.  Nr.  21.  23. 
Ebenso  fehlt  die  Fideikomissklausel,  welche  ungefähr  lautet:  quod 
cuique  hoc  testamento   dedero,  lega/vero  darwae  iussero,  id  ut  detur^ 


Havel,  Questions  MdroTiDgieimes.  373 

fiat,  praeskiur^  fidei  heyedis  mei  C09wnüta.  Aaeh  diese  finctet  sich  im 
Wesentliehen  in  der  Mehrzahl  der  älteren  Testamente,  nämlich  im 
fiavennater  Protokoll ,  Spangenberg  p.  97.  99.  103.  107;  Pardessos 
Nr.  118.  139.  18a  300.  559,  Test,  filii  Iddanae  a.  619,  Pard. 
Nr.  413,  nnd  entstellt  bei  Marculf  II,  17,  darnach  im  Test.  Wideradi 
a.  721,  Pard.  Nr.  514,  und  in  der  wieder  hieraus  abgeleiteten  For- 
mel Collectio  Flavin,  c.  8  (M.  G.  Form.  p.  476).  Ferner  fehlt  die 
Exheredatio:  ceteri  (ceteraeve)  amnes  exheredes  sunto^  welche  in  den 
älteren  Testamenten  entsprechend  den  rechtlichen  Bestimmungen 
regelmäftig  der  Erbeinsetznng  hinzugefügt  wird.  Sie  findet  sich  im 
Tegtameate  des  heil.  Gregor  von  Naaianz,  Spangenb.  p.  73,  in 
Pard.  Nr.  118.  139.  230.  413.  559,  im  Test  Erminethrudis  a.  700 
Pajrd.  Nr.  452  (II,  p.  258),  Marcnlf  II,  17  und  fehlt  in  dem  Ravennater 
Protokolle  sicher  nur,  weil  die  dort  angeführten  Testamente  sämt- 
lich aar  bis  zur  Erbeinsetzung  mitgeteilt  sind.  Ebenso  mag  es  sich 
mit  der  Korrektur-Klausel  verhalten,  welche  schon. zu  Ulpians  Zei- 
tea  den  Testamenten  angehängt  zu  werden  pflegte  und  damals  lau- 
tete: lüuraa^  i$idmHones^  superductiones  ipse  feci  (1.  1,  §  1,  D.  de 
his  quae  in  testamento  delentur  28,  4) ;  vgl.  Test.  Dasumii  bei  Bruns, 
Fontes  ed.  4.  p.  231.  In  den  merowingischen  Testamenten  beginnt 
dieselbe  regelmäBig  und  mit  nur  geringen  Variationen:  si  qua  lüura 
vd  earaxatura  inventae  fuerint^  woran  sich  dann  a  me  factae  sunt 
oder  ein  gleichbedeutender  Satz  schließt;  so  Pard.  Nr.  118.  180. 
2aa  413.  450.  559;  Test  Irminae  a.  698,  Pard.  Nr.  449;  im  Test. 
Grimoais,  Mittelrhein.  Urkb.  I,  Nr.  6,  S.  7 ;  und  mit  Erwähnung  der 
superductümea  der  altrömischen  Formel  bei  Marculf  II,  17.  Endlich 
aber  nm  nur  da«  noch  hervorzuheben,  enthalten  fast  alle  die  ange- 
führten Testamente  und  Testamentsformeln  im  Eingang  die  Erklä- 
rung, daB  der  Testator  sana  mente  integroque  consilio  handle,  im 
Wordaat  mit  nur  geringen  Modifikaüomen.    Auch  das  fehlt  hier. 

Es  fällt  gewiß  gegen  die  Echtheit  des  Testaments  des  Perp^ 
tnas  schwer  in  die  Wagschale,  daß  sich  in  demselben  von  all  die- 
sea  häufigen  und  charakteristischen  römischen  Formeln  nicht  Eine: 
findet,  während  maur  doch  gerade  in  diesem  angeblich  ältesten' 
aller  gallisohen  Testamente  noch  einen  stärkeren  Einfluß  dw  römi- 
schen Formen  erwarten  sollte.  Was  von  den  Formeln ,  welche'  der 
Verfasser  benutzt  hat,  um  seiner  Fälschung  römisphes  Kolorit  za 
geben,  etwa  den  echten  Testamenten  entspricht,  ist  auAer  der  her^ 
dis  institutio  die  Freilassungsfbrmel :  volo  liberos  esse  liberasque. 
Dag  ist  aber  auch  alles.  Denn  was  sonst  noch  an  vermeintlich  ech- 
ten Formeln  verwendet'  ist,  ist  nur  geeignet  den  Fälscher  zu  ver- 
raten.   Dahin<  gehört  vor  Allem  das  bis  zur  Ermüdung  wiederholte ; 


374  Gott.  gel.  Am.  1887.  Nr.  10. 

doj  lego.  Freilich  ist  das  die  echte  alte  Formel  des  römischen  Le- 
gats; doch  gerade  diese  kommt  so  in  dieser  knappen  Form  wohl 
ip  den  Schriften  der  klassischen  Juristen;  nicht  aber  in  den  späteren 
gallischen  Testamenten  vor.  Selbst  wenn  man  die  Möglichkeit  za- 
geben wollte,  daß  die  Formel  zu  des  Perpetuns  Zeiten  noch  üblich 
gewesen,  bald  darauf  aber  außer  Gebrauch  gekommen  wäre,  so 
zeigt  doch  die  Art  der  Anwendung,  daß  der  Verfasser  von  der  Be- 
deutung dieser  Formel  eine  so  ungenügende  Kenntnis  hatte,  wie  wir 
sie  im  fünften  Jahrhundert  nicht  voraussetzen  dürfen.  Benutzt  er 
doch  diese  Formel  des  römischen  Legats,  um  den  Angehörigen  der 
Kirche  den  Frieden  Jesu  Christi  zu  erteilen:  preshüereSj  draconibus 
et  dericis  ecdesiae^  meae  pacem  domini  nostri  Jesu  Christi  do,  lego 
Amen.  Wie  hier  der  Verfasser  durch  unrichtige  Anwendung  einer 
römischen  Formel  ein  wohl  einzig  dastehendes  Legat  schuf  —  that- 
sächlich  mochte  dem  Fälscher  die  eigentümliche  Invokation  an  der 
Spitze  des  Testaments  des  Gaesarius  von  Arles  vorschweben:  Pax 
ecclesiae  Ärelatensi  Pard.  Nr.  139  —  so  zeigt  er  sich  auch  sonst 
nicht  gerade  glücklich  in  seinen  Versuchen  durch  Einstreuen  von 
Wendungen,  welche  an  alte  Formeln  anklingen,  seinem  Machwerk 
römisches  Kolorit  zu  geben.  Worte  wie  rogo^  volo,  statuo^  ratum  esse 
iübeo  sind  oft  in  ganz  sinnloser  Weise  eingefügt.  Endlich  aber  ist 
die  Anweisung  an  Delmatius  das  vorliegende  Exemplar  des  Testa- 
ments aufzubewahren  und  mit  einem  anderswo  deponierten  Exem- 
plare zum  Grafen  Agilo  —  ein  echtes  Testament  jener  Zeit  mußte 
die  Kurie  nennen  —  zu  bringen,  damit  dieser  es  eröffne  und  verlese, 
innerhalb  der  also  verschlossen  gedachten  Urkunde  sinnlos  und  in 
echten  Testamenten  unerhört.  Denn  auch  die  Testamente  der  bei- 
den Bischöfe  von  Le  Mans,  Bertram  und  Hadoin,  enthalten  nicht, 
wie  Savigny,  Geschichte  des  römischen  Rechts  im  MA.  II,  118  f. 
meint,  die  Vorschrift  das  Testament  nach  dem  Tode  der  Testatoren 
vor  der  Kurie  zu  eröffnen,  sondern  das  eine,  Pard.  Nr.  230,  enthält 
im  Text  die  Vorschrift,  das  Testament  nach  erfolgter  Eröffnung  der 
Kurie  zur  Eintragung  in  die  Gesta  vorzulegen,  das  andere,  Pard. 
Nr.  300,  dieselbe  Anweisung  in  einem  beigeftigten  besonderen  Mandat 

Hiermit  hoffe  ich  dem  Resultat,  daß  das  Testament  des  Per- 
petuns eine  Fälschung  ist,  an  Sicherheit  reichlich  ersetzt  zu  haben, 
was  demselben  durch  Beseitigung  eines  nicht  stichhaltigen  Grundes 
etwa  entzogen  sein  könnte. 

Dem  Testamente  reiht  sich  das  in  §  3  besprochene  Epitaphium 
des  Perpetuus  als  zweites  der  von  Vignier  »entdecktenc  Stücke  an. 
Verdacht  erregt  hier  neben  der  Nachahmung  eines  Wortspiels  ans 
einem   ebenfalls  auf  Perpetuus  bezüglichen  Gedichte  des  Apollinaris 


Hayet,  Questions  Merovingiennes.  S75 

Sidonios  die  Uebereinstimmang  mit  dem  falschen  Testamente.    Für 
sich  betrachtet  konnte  das  Stück,  wie  Havet  bemerkt,  echt  sein. 

Im  folgenden  Absohnitt,  §  4,  beschäftigt  sich  der  Verfasser  mit 
der  angeblichen  Schenknngsarkande  Chlodovechs  fttr  Miciacom 
(Micy).  Früher  schon  sind  vereinzelte  Zweifel  an  der  Echtheit  des 
Diploms  lant  geworden,  aber  seit  Mabillon  nnd  wohl  vor  allem  auf 
seine  Autorität  hin  ist  dasselbe  nicht  mehr  angefochten.  Während 
zwei  andere  denselben  Gegenstand  behandelnde  Urkunden  längst 
als  mittelalterliche  Fälschungen  erkannt  waren,  weil  die  Fälscher 
sich  späterer  Formulare  bedient  hatten,  blieb  diese  viel  gröbere  Fäl- 
Bchnn'g,  vielleicht  gerade  weil  sie  gänzlich  frei  komponiert  ist  und 
zwar  so,  daft  sie  weder  mit  anderen  merowingischen  noch  mit  spä- 
teren Diplomen,  noch  tlberhaupt  mit  Urkunden  irgend  einer  Zeit 
Aehnlichkeit  hat,  als  echt  anerkannt.  Wohl  mancher  schon  mag, 
wie  auch  Ref.,  das  Monstrum  mit  stillen  Zweifeln  betrachtet  haben, 
ohne  sich  näher  mit  dem  rätselhaften  Wesen  einzulassen,  und  wird 
es  mit  ihm  Havet  danken,  daft  er  das  Rätsel  gelöst,  das  Stack  als 
Produkt  eines  Betrügers  erwiesen  hat.  Der  Beweis  geht  mit  sol- 
cher Sorgfalt  auf  alle  in  Betracht  kommenden  Einzelheiten  ein,  daft 
der  plumpen  Fälschung  damit  fast  zu  viel  Ehre  geschieht 

Wenngleich  in  allen  Fällen  die  Reinigung  des  Qnellenbestandes 
von  Fälschungen  ein  verdienstliches  Werk  ist,  so  ist  doppelt  er- 
freulich, wenn  dadurch  mehr  eine  Störung,  ein  Hindernis  ftlr  unsere 
Erkenntnis  beseitigt  wird,  als  eine  wenn  auch  nur  anscheinend 
wertvolle  Quelle.  Mit  dem  Diplom  Chlodovechs  verlieren  wir,  aufter 
dem  Bewufttsein  ein  solches  zu  besitzen,  wenig.  Wohl  kein  echtes 
Diplom  hat  der  Forschung  so  wenig  Material  geboten  wie  diese  Fäl- 
schung, und  ähnlich  verhält  es  sich  mit  dem  Testament  des  Perpe- 
tuus gegenüber  den  äufterst  wertvollen  echten  Testamenten  des 
sechsten  und  siebenten  Jahrhunderts. 

Ganz  anders  freilich  liegt  die  Sache  bei  dem  Gegenstand  des 
§  5,  der  sog.  GoUatio  episcoporum,  einem  Berichte  über  ein  angebli- 
ches Religionsgespräch,  welches  im  Jahre  499  vor  König  Gundobad 
zu  Lyon  stattgefunden  haben  soll.  Wesentliche  sonst  unbekannte 
Thatsachen  erfahren  wir  allerdings  auch  aus  diesem  Stücke  nicht, 
doch  um  mit  den  von  Havet  angeführten  Worten  Bindings  zu  re- 
den: >selten  schildert  eine  Quelle  die  gesamte  Lage  in  einem  be- 
stimmten Moment  in  so  drastischer  Weise«.  Leider  ist  aber  auch 
hier  anzuerkennen,  daft  wir  es  lediglich  mit  der  Erfindung  eines 
Fälschers  zu  thun  haben,  mit  einer  Fälschung,  die  freilich  im 
Gegensatze  zu  dem  Diplom  Chlodovechs  als  eine  überaus  geschickte 
m  bezeichnen  ist.    Havets  gewichtigste  Gründe  gegen  die  Echtheit 


376  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  10. 

sind  diese:  1.  Als  Bischof  von  Lyon  erscb^iDt  id  der  CoUatio  sobon 
Stephanas,  während  sein  Vorgänger  Rusticias  erst  502  starb ,  was 
zn  Vigniers  Zeiten  noch  nicht  bekannt  war.  2.  Als  gegenwärtig 
nennt  das  Schriftstück  die  Bischöfe  von  Vienne,  Arles,  Valence  und 
Marseille.  Die  Namen  der  beiden  ersten  Bischöfe,  die  auch  sonst 
bekannt  sind,  werden  genannt.  Es  wäre  non  von  Interesse  gewesen, 
auch  die  der  beiden  letzteren  za  erfithren^  die  man  heute  noch  eben- 
sowenig wie  zu  Vigniers  Zeiten  aus  anderen  Quellen  kennt.  Hier 
aber  wurde  plötzlich  die  Handschrift,  welche  sonst  alles  deutlich 
erkennen  ließ,  unleserlich,  so  daß  die  beiden  Nameti  und  merkwür- 
diger Weise  nur  diese  wichtigen  Namen  nicht  zu  entziffern  waren, 
und  Vignier  in  seiner  Abschrift  Punkte  setzen  mußte.  Offenbar 
fttrchtete  der  Fälscher  sich  durch  fingierte  Namen,  die  jeden  Tag 
durch  Auffindung  einer  echten  Quelle  widerlegt  werden  konnten,  der 
Gefahr  der  Entdeckung  auszusetzen  und  zog  deshalb  die  neutralen 
Punkte  vor. 

Zu  den  tibrigen  Qrttuden,  welche  neben  diesen  beiden  mehr 
zurticktreten,  möchte  ich  noch  die  Nachricht  der  Gollatio  fQgen,  daß 
»Arianer«  Buße  gethan  hätten  und  »getauft«  wiären,  da  die  Wie- 
derholung der  Taufe  an  Arianem  verboten  war.  Loening,  Gesch.  d. 
deutschen  Kirchenrechts  I,  S.  556,  N.  2,  glaubte  hier  entweder  eine 
Textverderbnis  {baptismaü  für  chrismati)  annehmen,  oder  an  noch- 
»ungetaufte  Arianer«  denken  zu  müssen.  Die  einfachste  Erklärung 
gibt  wohl  auch  hier  die  Annahme  der  Fälschung. 

Die  fünf  Briefe,  welche  in  §  6  besprochen  werden,  bieten  z.  T. 
weniger  Angriffspunkte  dar,  doch  reicht,  was  Havet  beibringt,  fast 
bei  allen  aus  um  den  Verdacht,  den  ihre  Provenienz  erregt,  zu  be- 
stätigen. 

In  dem  Briefe  des  Bischofs  Leontius  an  den  Papst  Hilarius 
wird  letzterer  mit  »tu«  angeredet,  was  in  Briefen  abendländischer 
Bischöfe  jener  Zeit  ohne  Beispiel  ist  Daß  der  Brief  eine  Lücke 
ausfüllt,  indem  er  einem  echten  Antwortschreiben  des  Papstes 
(Reg.  Pontif.  Nr.  553)  entspricht,  kann  ihn  aus  dem  Grunde  nicht- 
glaubwürdiger  machen,  weil  dieses  Antwortschreiben  zu  Vigniers  Zeiten 
bereits  allgemein  bekannt  war  und  die  Handhabe  zur  Fälschung 
darbieten  konnte.  Ich  möchte  aber  noch  hinzüftigen,  daß  der  Brief 
merkwürdiger  Weise  nicht  nur  im  Inhalt  der  Antwort  entspricht,  son- 
dern auch  in  einer  Aeußerlichkeit.  Beide  haben  kein  Monatsdatnm. 
Das  päpstliche  Schreiben  ist,  was  verhältnismäßig  selten,  ohne  Mo^ 
natsdatum  überliefert.  Vignier  findet  die  Antwort,  deren  Datum 
wenigstens  Aufschluß  geben  mußte  über  den  terminus  ad  quem  jenes 
Papstbriefes.     Doch  hier    geht   es  gerade   wie    bei  jenen  Bischofs- 


HiiTft,  Questions  Märovingiennes.  377 

namen:  alles  andere  war  deutlich  zu  lesen,  nur  bei  den  Monats- 
namen selbst  versagte  das  Mannskript  Ein  Ealendenzeicfaen  war 
noch  sichtbar,  der  Name  selbst  aber  mußte  wieder  durch  Punkte  er- 
setzt werden.  Der  sonst  so  glückliche  >Entdeokerc  zog  es  offenbar 
vor  in  solchen  heiklen  Dingen  lieber  ein  ganz  anfiklliges  Mißgeschiok 
zu  haben,  als  die  gelehrte  Welt  durch  thatsächlich  neue  und  wert- 
Yolle  Angaben  zn  erfreuen,  welche  durch  eine  wirkliche  Entdeckung 
so  leicht  als  Schwindel  entlarvt  werden  konnten.  Freilich  war  es 
wenig  vorsichtig  in  beiden  Fällen  genau  denselben  Kunstgriff  zu 
benutzen,  denn  dadurch  hat  er  uns  ein  wertvolles  Beweismittel  ftlr 
die  Identität  des  Fälschers  beider  Stttcke  in  die  Hand  gegeben. 

Der  zweite  Brief,  der  des  Bischofis  Lupus  von  Troyes  an  Apol- 
linaris  Sidonins  ist  ganz  im  eleganten  Style  des  Adressaten  ge- 
schrieben. Die  Adresse  ist  genau  den  Briefen  nachgebildet,  welche 
Sidonius  an  Lupus  gerichtet  hat.  Der  Fälscher  versteht  aber  nicht 
nur  Formeln  genau  nachzuschreiben ;  er  kann  sie  auch  frei  umbilden. 
Dabei  passiert  es  ihm  denn,  daft  er  bei  der  Umgestaltung  der 
Schlußformel  jener  Briefe :  Memor  nostri  esse  dignare ,  domine  papa^ 
den  Lupus  gerade  die  Worte  wählen  läßt,  mit  welchen  er  im  Te- 
stamente des  Perpetuus  in  so  auffälliger  Weise  den  Testator  seine 
Legatare  ermahnen  läßt:  Memor  esto  mei.  Darauf,  daß  der  Brief 
im  Style  sehr  von  einem  Schreiben,  welches  Lupus,  von  dem  wir 
sonst  nichts  haben,  gemeinsam  mit  einem  andern  Bischof  erlassen 
hat,  abweicht,  möchte  ich  dagegen  nicht  allzu  großes  Gewicht  legen. 

Der  dritte  Brief,  von  Pabst  Gelasius  an  Bischof  Rusticus  von 
Lyon  gerichtet,  ist  datiert  vom  25.  Jan.  494,  was  Havet  mit  Recht 
als  auffallend  bezeichnet,  da  der  Pabst  noch  im  August  desselben 
Jahres  den  Bischof  von  Arles  ersucht,  den  gallischen  Bischöfen  den 
Antritt  seines  Pontifikats  anzuzeigen.  In  der  Schlußformel  findet 
sich  eine  Unregelmäßigkeit.  Es  heißt  dort:  Deus  praestat  te  inr 
eolumem^  während  alle  echten  Pabstbriefe  jener  Zeit  custodial  statt 
praestat  haben.  Daß  auf  keine  Thatsachen  Bezug  genommen  wird, 
wdehe  einem  Fälscher  des  siebzehnten  Jahrhunderts  nicht  bekannt 
sein  konnten,  weist  Havet  im  Einzelnen  nach. 

Die  wenigsten  Angriffspunkte  bietet  der  vierte  Brief,  das  Ora^ 
tnlatioBSSchreiben  des  Pabstes  Anastasius  an  König  Ghlodovech. 
Als  ungewöhnlich  bezeichnet  Havet,  daß  der  König  beständig  mit 
»tue  angeredet  wird.  Ich  möchte  hinzufdgen,  daß  dem  nachdrück- 
lichen »Tuum«,  womit  in  gesuchter  Weise  dieser  Brief  an  Chlodo- 
veeh  beginnt,  so  genau  das  ebenso  auffällige  »Tibi«  entspricht,  mit 
welchem  das  gefälschte  Diplom  des  Königs  anfängt,   daß  wir  darin 

OMi.  ff«L  Abs.  1887.  Ir.  18.  27 


878  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  10. 

wobl   ein   Zeichen    für   die  gleiche  Fabrik   beider  Stücke  erblicken 
dürfen. 

Im  fünften  and  letzten  der  von  D'Achery  ans  Vigniers  Papieren 
Teröffentlichteo  Briefe,  einem  Schreiben  des  Pabstes  Symmachns  an 
Avitas  von  Vienne  vom  Jahre  501,  findet  sich  wieder  eine  Ton  der 
echten  Grußformel  Deus  te  incolumem  custodiat  abweichende  Fassung : 
Deu8  te  incolumem  8  er  vet  Viel  verdächtigender  ist  aber  dasDatam 
dieses  Briefes,  da  von  den  zwei  angefahrten  Konsuln  des  Jahres 
(Avieno  et  Pompejo  coss.)  der  eine,  Pompejns,  im  Abendlande  gar 
nicht  bekannt  geworden  ist,  und  demgemäß  in  Italien  und  Gallien 
echte  Datierungen  nar  Avienus  nennen.  Schon  Rossi  hat  deshalb 
das  Datum  für  interpoliert  gehalten.  Nachdem  jetzt  die  lieber- 
lieferung  dieses  Stückes  klargestellt  ist,  dürfen  wir  darin  vielmehr 
mit  Havet  ein  Zeugnis  für  die  Fälschung  des  Ganzen  erblicken. 

Das  Ergebnis  der  Prüfung  der  einzelnen  Stücke  ist  also :  das 
Testament  des  Perpetuus  und  das  Diplom  Ohlodovechs  sind  grobe 
Fälschungen,  und  auch  die  übrigen  Stücke  sind  bis  auf  das  Epita- 
phium und  den  Brief  des  Anastasius,  die  nur  geringere  Auffällig- 
keiten enthalten,  durch  ihren  Inhalt  in  hohem  Grade  verdächtig. 
Da  nun  von  allen  diesen  Stücken  nur  Vignier  die  handschriftlichen 
Vorlagen  gesehen  haben  will,  Niemand  vor  ihm  etwas  von  ihnen 
gewußt  oder  nach  ihm  eine  Spur  davon  entdeckt  hat,  und  da  ferner 
mehrfach  dieselben  Eigentümlichkeiten  in  verschiedenen  Stücken  wie- 
derkehren, und  auf  ein  und  dieselbe  Fabrik  deuten,  (vgl.  zu  dem 
oben  gelegentlich  Bemerkten  die  Zusammenstellung  bei  Havet  p.  61, 
n.  2)  so  ist  der  von  Havet  gezogene  Schluß  gar  nicht  abzuweisen, 
daß  alle  diese  Stücke  gefälscht  sind  und  zwar  von  keinem  andern 
als  eben  dem  Entdecker:  J6röme  Vignier. 

Dadurch  wird  aber  alles  verdächtig,  was  nur  auf  Vigniers  Au- 
torität beruht  und  so  auch  ein  bisher  für  sehr  wichtig  gehaltenes 
Stück,  das  Bruchstück  der  älteren  Lebensbeschreibung  der  heiligen 
Odilie,  dessen  Glaubwürdigkeit  Havet  im  §  7  prüft.  Das  Stück  ist 
in  einem  anonymen,  aber  bald  nach  dem  Erscheinen  als  Vigniers 
Werk  bekannt  gewordenen  Buche:  Le  vSritable  arigine  des  tris^ttlu^ 
stres  maisons  ff  Alsace,  de  Lorraine,  ffÄutriche  Paris  1649,  zuerst 
veröffentlicht.  Der  Verfasser  gibt  von  der  Auffindung  des  Fragments 
in  anschaulicher  Darstellung  einen  eingehenden  Bericht,  der  nur  den 
einen  Fehler  hat,  stark  an  die  Auffindungsgeschichten,  mit  welchen 
mittelalterliche  Fälscher  ihre  Produkte  zu  empfehlen  pflegten,  zn  er- 
innern. Und  ebensowenig  wie  dieser  Bericht  ist  der  Inhalt  des 
Stückes  selbst  geeignet,  Vertrauen  zu  erwecken. 

Vignier  fand,  nach  seiner  Erzählung,  eine  Handschrift  oder  viel« 


Havel,  Questions  M^roviugiennes.  S79 

mehr  die  Ueberreste  einer  solchen,  von  welcher  nur  5  bis  6  Blätter 
gnt  erhalten  waren,  alles  Uebrige  aber  so  von  Moder  and  WarmfraB 
zerstört,  daA  sich  vom  Inhalt  nichts  mehr  erkennen  ließ.  Gerade 
jene  wenigen  Blätter  enthalten  nur  eine  ganz  erstaunliche  FttUe  von 
wichtigen  genealogischen  Anfschlttssen,  and  zwar  gerade  die,  welche 
Yignier  gebraachte.  Reste  einer  Widmang  an  Bischof  Gerhard  von 
Tool  bezeagen,  daß  die  heilige  Odilie  and  Leo  IX.  za  dem  Vorfah- 
ren jenes  Gerhard  aas  dem  Hause  der  Grafen  von  Vaudemont  ge- 
hören, und  das  Fragment  der  Vita  gibt  innerhalb  einer  ganz  kurzen 
Episode  die  vollständigste  Aoskanft  über  die  Eltern,  die  Geschwister 
und  deren  Kinder  und  Enkel.  Von  der  ünglanbhaftigkeit  dieses 
»lieblichen  Zufalls  überzeugt  vielleicht  am  wirksamsten  eine  Za- 
gammenstellung  der  genealogischen  Notizen  in  der  Fassung  des  Tex- 
tes selbst :  dux  Ethko  et  Srustoinda  uxor  eius  —  OdUia  earum  fUia 
—  ]^hico  duXy  Ädalbertus  dux^  Ethicoms  et  Brusunndae  ghriosiS' 
sima  progenies  —  n^otes  tarn  Ethiconis  cuius  ßii  fuerunt  episeopus 
Jrgentinensis  aeguivocus  et  AJbericus^  comes  ^  quam  ÄdälberH  liberi 
Eberaardus  scUicet  et  lAutfredus  sed  etiam  HugoniSy  qui  ante  parentes 
suos  defunctus  erat  —  Eberardus  ÄWerid  comitis  fiUi.  —  Hehr  kann 
man  von  einem  wenige  Seiten  umfassenden  Bruchstück  nicht  ver* 
langen :  Wie  auf  einem  Theaterzettel  werden  die  verwandtschaftlichen 
Beziehungen  der  auftretenden  Personen  knapp  und  klar  angegeben. 
Sicher  haben  wir  mit  Havet  hier  nur  eine  weitere  Fälschung  Vig- 
niers  zu  registrieren. 

Julien  Havets  Kritik  hat,  wie  nicht  anders  zu  erwarten  war, 
fast  allgemeine  Zustimmung  gefunden.  W.  Wattenbach  hat  bereits 
einen  Nachtrag  geliefert,  der  sehr  geeignet  ist,  die  Fälscherqualität 
Vigniers  zu  bestätigen.  Die  Mou.  Germ.  SS.  XIII,  p.  245  abge- 
druckte Genealogie  ist  eine  anerkannte  Fälschung,  deren  Verfasser 
man  jedoch  bisher  im  Mittelalter  suchte.  Wattenbach  macht  nun  im 
Neuen  Archiv  XI,  S.  631  darauf  aufmerksam,  daß  es  Vignier  ge* 
Wesen,  von  welchem  der  erste  Herausgeber  dieses  Stück  erhalten 
hat  Femer  hat  der  Abb6  Pierre  Batifoll  in  einem  Aufsatze  im 
Bulletin  critique  VII,  p.  155  sq.  wahrscheinlich  gemacht,  daß  Vignier 
auch  als  der  Urheber  der  gefälschten  Epistel  des  Theonas  an  Lucian, 
Spicilegium  XII,  p.  545  sqq.  zu  betrachten  ist.  Beide  Nachträge 
sind  in  der  Biblioth^que  de  T^ole  des  chartes  t.  XLVII,  1886  von 
J.  Havet  nochmals  zam  Abdruck  gebracht,  der  erstere  in  französi- 
scher Debersetzung. 

Widerspruch  hat,  so  viel  ich  sehe,  bis  jetzt  nur  der  gelehrte 
Herausgeber  des  Avitus,  Professor  R.  Peiper,  in  seiner  Recension  in 
der  Deutschen   Litteratur-Zeitung   VII    (1866)  S.  298  sq.  erhoben, 

27* 


d80  Qött.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  10. 

Derselbe  meint,  von  einigen  der  von  Havet  besprochenen  Stttcke  sei 
die  Echtfaeit  längst  mit  gaten  Qrttnden  angezweifelt  worden,  wie  ?om 
Testament  des  Perpetuus.  Falls  sieh  diese  Bemerkung  nicht  anf 
eine  Aeufternng  ?on  Waitz,  Altdeutsche  Hufe  S.  14  beziehen  soll, 
wo  jedoch  die  Urkunde  als  »an  sich  unverdächtige  bezeichnet  wird, 
ist  es  mir  nicht  gelungen  zu  finden,  wo  diese  Zweifel  ausgesprochen 
sind.  In  jedem  Falle  haben  dieselben  auf  die  herrschende  Ansicht 
keinen  Einfluß  geübt.  Zugegeben  wird  von  Peiper  nur,  daß  dieses 
Testament  und  die  Urkunde  Chlodovechs  einer  späteren  Zeit  ange- 
hören. Die  Darstellung  Havets  soll  aber  gegen  dessen  Absicht  zu 
der  Annahme  führen,  daß  wir  es  mit  Fälschungen  des  elften  oder 
zwölften  Jahrhunderts  zu  thun  haben.  Bei  den  anderen  Stücken  sei 
selbst  ein  solches  Resultat  nicht  erreicht.  —  Ich  meinesteils  sehe 
keine  Möglichkeit  diese  Aufstellungen  zu  begründen  und  gegenüber 
dem  erdrückenden  Beweismaterial  Vignier  von  der  Anklage  der 
Fälschung  freizusprechen.  Wenn  aber  Peiper  zur  Entlastung  Vig- 
niers  behauptet,  den  Brief  des  Papstes  Symmachus  an  Avitus  (Nr.  33, 
ed.  Peiper  p.  63)  habe  D'Achery  gar  nicht  von  Vignier,  sondern  von 
ChifSet  erhalten,  so  ist  das  offenbar  unrichtig.  In  der  ersten  von 
D'Achery  selbst  besorgten  Ausgabe  des  Spicilegium  sind  die  fünf 
von  Vignier  herrührenden  Briefe,  darunter  dieser  als  letzter,  beson- 
ders als  Appendix  den  übrigen  Briefen  angehängt.  Die  Vorrede 
des  fünften  Bandes  gibt  dazu  ausdrücklich  an,  daß  der  Herausgeber 
diese  Stücke  von  B.  Vignier,  dem  Bruder  des  damals  bereits  ver- 
storbenen Jöröme  Vignier,  welcher  auch  die  übrigen  Sachen  aus 
dem  Nachlaß  an  D'Achery  auslieferte,  erhalten  hätte,  und  das  In- 
haltsverzeichnis  enthält  p.  36  nach  AnfUhrung  der  fünf  Briefe  noch- 
mals die  deutliche  Angabe :  Hujus  appendids  epistolae  e  schedis  Hie' 
ran.  VigneriU.  Peipers  irrige  Behauptung  dürfte  auf  einen  Fehler 
der  zweiten  lange  nach  D'Acherys  Tode  veranstalteten  Ausgabe  des 
Spicilegium  zurückzuführen  sein.  Dort  sind  diese  fUnf  Briefe  unter 
die  übrigen  eingereiht,  und  dabei  ist  der  Brief  des  Symmachus  durch 
ein  leicht  erklärliches  Versehen  mit  der  Randnote:  Idem  commtmi- 
cavit  versehen.  Der  Bearbeiter  übersah,  daß  unmittelbar  vorher  ein 
Stück  mit  der  Quellenangabe:  Franc.  Chiffl.  S.  J.  comm.  geht,  wel* 
ches  die  Reihe  der  von  Vignier  herrührenden  und  mit  Vignerius 
eamm.  bezeichneten  Stücke  unterbricht.  Maßgebend  sind  natürlich 
nur  D'Acherys  eigene  ausdrückliche  Angaben  in  der  ersten  Ausgabe. 
Gewiß  müßte  man  es  mit  Peiper  bedauern,  wenn  auf  unzarei* 
chende  Gründe  hin  ein  von  vielen  seiner  Zeitgenossen  und  besonders 
von  D'Achery  so  hochgeschätzter  Mann,  nach  Jahrhunderten  als  Fäl- 
scher gebraudmarkt  würde.    Leider  kann  man  aber  in  unserem  Fall^ 


Havel,  Questions  M^roTingieimes.  881 

nar  bedauern,  daft  ea  einem  Fälscher  gelungen  ist,  nicht  nur  seine  Zeit- 
genossen, sondern  Jahrhunderte  lang  die  gelehrte  Welt  bis  tief  in 
unsere  so  kritische  Zeit  hinein  tlber  seinen  wissenschaftlichen  Char 
rakter  und  die  wahre  Natnr  seiner  Entdeckungen  zu  täuschen. 

Uebrigens  urteilten  nicht  alle,  welche  Vignier  persönlich  ge- 
kannt haben,  so  günstig  über  ihn  wie  D'Achery.  A.  Ingold  hat  in 
den  M^moires  historiques,  critiques  et  litt^nüres  de  Bruys,  Paris 
1702,  in  12^  ein  sehr  abweichendes  urteil  gefunden  und  kttrzlieh 
im  Bulletin  critique  VII,  1886,  p.  477  yerOffentlicfat.  Ein  Zeitge- 
nosse berichtet  in  den  Borboniana  am  Ende  des  zweiten  Bandes 
der  Mimoires  ttber  das  Oratoire  de  Saint-Honori  zu  Paris:  »i{  y  a 
dans  un  certain  pere^  qui  autrefois  a  Hi  huguenot^  nomme  le  P.  Vig^ 
fiiery  qui  est  un  grand,  excellent  et  hardi  menteur.  D*au 
on  du  par  ironiei  >ȣe9  virites  du  Phre  Vignier^  les  promenades  de 
M.  de  Bourbon,  la  science  du  P.  Gomer,  la  consciense  du  P.  Bonnet.€ 
Also  im  Kreise  der  nächsten  Genossen  Vigniers  war  die  Verlogen* 
heit  dieses  »großen,  hervorragenden  und  ktthnen  Lttgners«  sprich- 
wörtlich! Diesem  Urteil  gegenüber  wird  wohl  Niemand  mehr  mit 
Peiper  befürchten,  daB  unserem  Oratoristen- Pater  Unrecht  geschieht, 
wenn  er  als  Fälscher  gebrandmarkt  wird.  Wichtig  aber  ist  jene 
Mitteilung  Ingolds  vor  Allem  deshalb,  weil  sie  ein  scharfes  Schlag- 
licht auf  die  Motire  der  Fälschungen  wirft.  Havet,  tder  mit  Recht 
hervorhebt,  daft  als  Triebfeder  des  Fälschers  nicht  wohl  irgend  ein 
materielles  Interesse  angenommen  werden  könne,  meint  auf  Orund 
einer  Stelle,  wo  Vignier  mit  Bezug  auf  die  »Collatioc  sagt:  Quo  pio 
lectori  ÜQBl^g  moveatur  nobisque  gratuletury  qui  thesaurum  isterum  mt- 
nime  wundemus^  es  habe  ihn  Streben  nach  litterarischem  Ruhme  ge- 
leitet. Ich  möchte  dagegen  nach  jener  Nachricht  annehmen,  daft 
Vignier  ein  Lügner  von  Profession,  eine  Art  Httnchhausen  gewesen 
ist,  welcher  log  um  der  Lttge  willen,  und  f&lschte  aus  Lust  an  der 
Täuschung,  ja  der  sich  nicht  begnügte  seine  Mitmenschen  so  lange 
er  lebte  zu  belttgen,  sondern  auch  noch  nach  seinem  Tode  seine 
gelehrten  Freunde  mittels  seines  litterarischen  Nachlasses  am  Narren- 
seile fahren  wollte. 

ni.    La  date  d'un  manuscrit  de  Luxueil. 

Dieses  dritte  Stttck  der  >  Questions«  enthält  eine  chronologische  Ab- 
handlung, welche  im  Anschluft  an  Krnschs  Korrektur  der  Merowinger- 
Chronologie  das  genau  bezeichnete  Datum  der  in  Luxenil  geschrie- 
benen von  Mabillon  bereits  benutzten,  aber  erst  kürzlich  von  Herrn 
J.  Delisle  wiederaufgefnndenen  Handschrift  der  Homilien  des  heil. 
Augustin  feststellt  und   die  sich  daraus  ergebenden  Schlüsse  zieht 


382  G6tt.  gel.  Ans.  1887.  Nr.  10. 

Das  Datam  lautet:  Ea^leoitum  opus  favente  Domino  apud  coentMum 
Lussovium  anno  duodecimo  reges  Chlolhachariiy  indicüone  tercia  de* 
cima^  anno  quadragesimo  patris  nostri  feliciter  peracti.  Mabillon  be- 
zog das  Datam  anf  Ghlotachar  IL,  and  zwar  auf  das  zwölfte  Jahr 
seiner  BegieriiDg  in  BurgoDd  (625),  welches  der  dreizehnten  Indik-> 
tion  entspricht  Havet  zeigt  jedoch  in  Aasftthrnngen,  welche  sich 
in  der  Hauptsache  mit  gleichzeitigen  des  Ref.  decken  (siehe  Nenes 
Archiv  XI,  S.  358),  daß  die  Regiemngsjahre  der  merowingischen 
Könige,  d.  h.  die  Anni  regni  schlechtweg,  stets  fttr  die  ganze  Re- 
gierangszeit darchgezählt  und  nicht  ftlr  jeden  Landesteil  besonders 
berechnet  worden,  wie  es  ja  anch  der  Anffassang  des  regnum  Fran-' 
corum  als  einer  Einheit  entsprach.  Da  aber  Ghlotachar  IL  in  sei« 
nem  zwölften  Regierangsjahre  noch  nicht  über  Bargand  herrschte, 
in  Ohlotachars  I.  zwölftem  Jahre  aber  Lazeail  noch  nicht  bestand,  kann 
nnr  Ghlotachar  III.  gemeint  sein.  Andere  Qaellen  ergeben  nnn, 
daß  Ghlotachar  IIL  entweder  in  der  Zeit  vom  2.  Janaar  bis  10.  März 
oder  in  der  vom  IL  September  bis  zum  16.  November  des  Jahres 
657  König  geworden  ist.  Mit  der  ersten  Annahme  stimmt  das  Da- 
tam der  Handschrift  von  Lnxeuil  nicht  ttberein,  da  dann  kein  Teil 
des  zwölften  Regierangsjahres  mit  der  dreizehnten  Indiktion  zasam-» 
menfallen  würde;  dies  geschieht  aber  bei  der  zweiten  Annahme  in 
der  Zeit  vom  1.  Sept.  669  bis  zn  dem  zwischen  dem  10.  Sept.  and 
15.  Nov.  desselben  Jahres  liegenden  Regiernngsantritte.  Darans  er- 
gibt sich  ferner  mit  Hülfe  anderer  Nachrichten,  daß  Ghlotachar  IIL 
in  der  Zeit  vom  11.  März  bis  15.  Mai  673  gestorben  ist  and  der 
Tod  seines  Nachfolgers,  Ghilderichs  IL  and  damit  der  Regierangs- 
antritt Theadericbs  HL  in  die  Zeit  vom  11.  Sept.  bis  14.  Dec.  675 
fällt.  Für  die  Geschichte  des  Klosters  selbst  ergibt  sich  aaßerdem 
eine  Berichtigung  der  Regierangszeit  des  Abtes  Waidebert  (629  bis 
2.  Mai  670). 

Die  drei  im  Vorstehenden  besprochenen  Abhandlangen  gehören 
trotz  ihres  geringen  änßeren  Umfanges  za  dem  wertvollsten  was  in 
nnserer  Zeit  über  die  Merowingerzeit  veröffentlicht  ist.  Hoffen  wir, 
daß  die  Reihe  der  »Qaestions  M6rovingiennes<  noch  nicht  er- 
schöpft ist  ^). 

1)  Diese  Ho£fhung  hat  sieb  iazwischen  erfallt  durch  eine  die  Urkunden  für 
S.  Galais  behandelnde  Fortsetzung  der  Questions  im  neuesten  Hefte  der  »Biblio- 
th^ue  de  l'^ole  des  chartes«. 

Berlin.  K.  Zeamer. 


Haber,  Geschiebte  Oesterreicbs.    Baud  1  und  2.  383 

Haber,  Alfona,  Gescliichte  Oesterreicbs.    Band  1  and  2.    Gotba  1885, 
Andreas  Pertbes.    XXYII  and  618;  XVm  and  539  SS.    8^ 

Bei  nioht  allza  vielBeitiger  moDographisoher  Thätigkeit  hat  es 
auch  in  letzter  2^eit  an  zaBammenfasBenden  Darstellangen  der  Ge- 
Bchicbte  des  OsterreichiBcheD  Staates  nicht  gefehlt.  Za  M.  Bttdiü- 
gers  trefflichem,  leider  nur  den  Zeitraam  vor  1055  behandelndem 
Bache  sind,  abgesehen  von  populär  geschriebenen  Werken,  binnen 
kaam  zehn  Jahren  drei  Bearbeitungen  der  österreichischen  Gesamt- 
geschichte gekommen,  denen  früheren  Arbeiten  gegenüber  ihre  be- 
sondere Stellung  und  Bedeutung  eingeräumt  werden  muß.  In  seiner 
»Geschichte  Oesterreicbs  mit  besonderer  Bttcksicht  auf  Eultnrge- 
schichtec,  2  Bände,  Wien  1874,  faßte  erst  F.  Mayer  (Graz)  das  seit 
zwei  Decennien  von  der  Einzelforschung  Geleistete  methodisch  und 
liohtroU  zusammen,  um,  wenn  auch  abhängig  von  seinem  Materiale, 
kaum  irgendwo  selbständig  vorwärts  dringend,  ja  sogar  nicht  immer 
auf  voller  Höhe,  hier  den  nutzbringenden  Einblick  in  den  Stand  die- 
ser wissenschaftlichen  Aufgabe,  dort  das  gefällige  Lesebuch  zu  bie- 
ten. Ihm  folgte  F.  Krones  mit  dem  »Handbuch  der  Geschichte 
Oesterreicbs  von  der  ältesten  bis  neuesten  Zeitc,  5  Bände,  Berlin 
1876 — 1879.  Krones  hatte  die  vielen  und  weitklaffenden  Lttcken 
erkannt  und  strebte  nun  mit  seltener  Schaffenskraft  und  Arbeits* 
freudigkeit,  vor  allem  seine  erstaunliche  Belesenheit  in  Quellen  und 
Litteratur  glänzend  bewährend,  sie  selbständig  auszufttllen;  daß  er 
sich  schönen  Erfolges  zu  erfreuen  hatte,  soweit  es  bei  einem  der- 
artigen schwierigen  und  ersten  Versuche  möglich  war  und  nament- 
lich ungflnstige  äußere  Verhältnisse,  welche  die  Gleichmäßigkeit  und 
Einheitlichkeit  des  Werkes  beeinträchtigten,  gestatteten,  muß  mit 
Recht  hervorgehoben  werden.  Als  dritter  gesellt  sich  jetzt,  wie  oben 
ersichtlich,  A.  Huber  hinzu.  Ihm  gilt  es,  das  von  den  früheren  Ge- 
leistete sorgsam  prüfend  und  verwertend,  gestützt  auf  eigene  lang- 
jährige Thätigkeit  auf  diesem  Gebiete,  die  von  Krones  vielfach  im 
einzelnen  erreichte  Höhe  zur  Eigenschaft  des  Ganzen  zu  erheben, 
und,  damit  seinem  Werke  die  wissenschaftliche  Harmonie  leihend, 
andererseits  mit  dem  Schatze  des  inneren  Gehaltes  den  Vorzug  gleich- 
mäßiger und  gewählter  Darstellungsform  zu  verbinden.  In  hohem 
Grade,  reichlicher  noch,  als  man  namentlich  letzteres  erwarten  konnte^ 
ist  ihm  beides  bisher  geglückt.  Hubers  österreichische  Geschichte 
gehört,  soweit  sie  erschienen,  zu  jenen  bemerkenswerten  Leistungen, 
an  denen  der  fachmännische  Berichterstatter  viel  leichter  dies  oder 
jenes  findet,  das  zu  tadeln  ist,  als  er  hier  der  Pflicht  genügt,  durch 
Hervorhebung  der  in  Fülle  gebrachten  neuen  Anschauungen  und 
Forschungsergebnisse,  kurz  der  Vorzüge  der  Arbeit,   dem  Autor  die 


884  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  10. 

verdiente  Änerkenoang  kundzageben*  Wenn  Befer.  trotzdem  sich 
begnügt,  einfach  zu  betonen,  daß  er  die  neueste  österreichische  Ge- 
schichte würdigt,  wie  wohl  nur  wenige,  und  daftir  seine  Aufmerksam- 
keit einigen  Streitfragen  zuwenden  will,  so  hoflFt  er  durch  die  der 
Tendenz  der  »gelehrten  Anzeigenc  entsprechende  Absieht,  wo  mög- 
lich zur  Lösung  jener  beizutragen,  entschuldigt  zu  sein. 

Es  ist  gewiß  bezeichnend,  daß  trotz  der  langen  Beihe  der 
»österreichischen  Geschichten«  bisher  unter  den  Historikern  eine 
Einigung  über  den  Begriff  der  österreichischen  Geschichte  und  die 
dem  entsprechende  Gliederung  derselben  nicht  erfolgt  ist.  Es  steht 
dies  in  direktem  Znsammenhange  mit  den  divergierenden  Anschau- 
ungen über  das  Entstehn,  die  Lebensbedingungen,  die  Aufgaben  der 
Monarchie,  ebenso  aber  mit  der  Art  der  Auffassung  ihrer  früheren 
Geschicke  und  dem  Festhalten  an  sich  zum  Teile  geradezu  widerspre- 
chenden Principien,  nach  denen  die  Verfassung  und  Verwaltung  Oester- 
reichs  in  der  Gegenwart  organisiert  werden  soll.  Ob  da  der  Staats- 
mann den  Historiker  oder  dieser  jenen  im  Stiche  läßt  oder  in  un- 
billigem Maße,  fördernd  oder  hemmend,  beeinflußt,  bleibe  hier  uner- 
örtert.  Im  allgemeinen  erzeugt  aber,  sowie  denn  der  Mensch  in 
allem  das  Maß  der  Dinge  von  sich  selbst  nimmt,  die  politische  Spal- 
tung die  Parteigeschichtschreibung,  über  die,  so  sehr  die  hehre  Auf- 
gabe, die  Wahrheit  überall  zu  suchen  und  zu  sagen,  bestehn  bleiben 
muß,  dem  Mitlebenden  und  Mitkämpfenden  sich  zu  erheben,  nur 
schwer  und  selten  gelingt.  Aber  wird  denn  auch  in  unserem  vom 
Streite  zerrissenen  Zeitalter,  jene  erste  Bedingung  wissenschaftlicher 
Thätigkeit  immer  vorausgesetzt,  nationale  Geschichtschreibung  ohne 
die  ernsteste  Prüfung  und  triftige  Gründe  zu  verwerfen  sein? 

Huber  sagt  (Bd.  1,  Vorrede  VI):  »Oesterreich  ist  nicht  ein 
Baum,  der  von  einem  Grundstöcke  aus  immer  mächtiger  werdende 
Aeste  und  Blätter  getrieben  hat,  sondern  eine  Verbindung  von  drei 
ursprünglich  getrennten  Gebäuden,  aus  denen  erst  eine  Beihe  von 
Baumeistern  ein  einheitliches  architektonisches  Werk  zu  schaffen  be- 
müht wart.  »Wer  die  Entwickelung  Oesterreichs  seit  1526  verstehn 
will,  der  muß  tiefer  dringen,  muß  zu  ergründen  suchen,  wie  die  Ein- 
zelstaaten, welche  damals  zu  einer  losen  Einheit  verbunden  wurden» 
entstanden  und  fortgebildet  worden  sind.  Daher  beginnt  die 
Geschichte  Oesterreichs  im  zehnten  Jahrhunderte,  wo  sowohl  in  Un- 
garn und  Böhmen  geordnete  einheitliche  Beiche  entstanden  sind,  als 
auch  die  baierische  Ostmark  oder  Oesterreich  gegründet  worden  ist, 
an  welche  sich  nach  und  nach  im  Laufe  mehrerer  Jahrhunderte  die 
übrigen  südostdeutschen  Länder  angeschlossen  haben c.  Die  Zuge- 
ständnisse, welche  die  Anhänger  des  historischen  Beehtes  in  Oester- 


Huber  ,  Qeschichte  Oesterreicbs*    B»Dd  1  und  2,  9B5 

reich,  die  Männer  des  OsterreichiBchen  Föderalismas  nnn  auch  aaf  dem 
Gebiete  vaterländischer  Geschichte  ans  diesen  Sätzen  herauslesen 
werden,  die  Stelle,  an  der  sie  stehn,  sihd  zu  gewichtig,  als  daß 
Ref.  sich  ihnen  gegenüber  mit  dem  Hinweise  auf  die  gelegentlich 
einer  Anzeige  von  F.  Erones,  Grundriß  der  österreichischen  Ge- 
schichte, Lief.  1,  in  der  Zeitschrift  für  die  österreichischen  Gymna- 
sien, 1881,  S.  338  gemachten  Bemerkungen  begnügen  könnte^),  als 
daß  er  es  unterlassen  möchte,  auch  hier  wieder  hervorzuheben,  daß, 
sowie  jegliches  staatliche  Gebilde  eben  nur  als  Einheit  gefaßt  wer- 
den kann,  falls  man  nicht  vom  Wesen  des  Staates  überhaupt  ab- 
sehen will ,  so  auch  die  Erfassung  und  Darstellung  des  Einheitsge- 
dankens, die  Voranstellung  der  staatenbildenden  und  erhaltenden 
Momente  in  materieller  und  ethischer  Hinsicht  für  die  Zeichnung  sei- 
ner Geschichte  maßgebend  sein  müssen.  Was  gilt  aber  da  unbe- 
stritten von  Oesterreich?  Ist  es  Phrase  oder  historische  Wahrheit, 
daß  die  Wiege  der  europäischen  Großmacht  Oesterreich,  der  heutigen 
österreichisch-ungarischen  Monarchie,  und  nicht  bloß  des  deutsch- 
österreichischen Staates  der  Babenberger  und  Habsburger  im  Donau- 
tbale  stand?  Kuht  nicht  sein  Schwerpunkt  bis  1867  unverrückt  auf 
den  deutschen  Alpenländem,  in  den  Millionen  deutscher  Bevölkerung 
mit  den  durch  sie  repräsentierten  Elementen  vorschreitender  Kultur? 
Ist  Oesterreich  geworden,  indem  man  die  böhmischen  oder  ungari- 
schen Institutionen  zu  Beichseinrichtungen  ausbaute,  oder  indem  der 
Von  Kaiser  Maximilian  nach  französisch-burgnndischem  Muster  und 
der  Eigenart  des  Länder  einheitlich  und  allseitig  organisierte  Staat 
Deutschösterreich  seine  Centralbehörden  sich  ausgestalten  ließ  zu 
Organen,  welche  das  ganze  Beich  Ferdinand  I.  u.  s.  w.  umfassend 
zu  den  mächtigsten  Mitteln  und  Kennzeichen  des  Einheitsstaates 
wurden?  Nicht  daß  Böhmen  und  ein  Teil  Ungarns  mit  Deutsch- 
österreich vereinigt  ward  —  das  war  ja  wiederholt  ganz  oder  ähn- 
lich ebenso  früher  geschehen,  machte  Oesterreich  zum  Großstaate, 
leitete  seit  1526  für  dasselbe  neue  Geschicke  ein,  sondern  daß  die 
vereinigte  und  organisierte  deutsch-österreichische  Ländermasse,  und 
daß  deren  deutsches  Fürstenhaus,  zugleich  in  Burgund,  Spanien,  Neapel 
u.  8.  w.  herrschend,  nun  die  Kraft  besaß,  jene  Landschaften  festzu- 
halten und  wenigstens  die  Errichtung  der  dringendsten  gesamtstaatlichen 
Behörden   zu   vollbringen.     Damit   dieser  Organismus   aber  bestehe, 

1)  Mit  groBem  Vergnügen  ersehe  ich  hinterher  aus  der  soeben  erschienenen 
Besprechung  eben  des  Huberschen  Werkes  darch  Krones,  (Zeitschr.  f.  die  österr. 
Gymnasien  1887,  S.  67—64,  daS  E.  nun  im  wesentlichen  hinsichtlich  dieser  Dinge 
mit  mir  übereinstimmt. 


386  05tt.  gel.  An«.  1887.  Nr.  10. 

Wurzel  fasse,  das  Ganze  staatlich  gedeihe,  gehörte  dazu  durch  Jahr- 
hunderte der  unmittelbare  Zusammenhang  mit,  ja  die  Führung  im 
deutschen  Reiche.  Im  Wesentlichen  erwächst  aus  altösterreichi- 
sehen  und  reichsdeutschen  Elementen,  trotz  aller  Beeinflussung  und 
Anteilnahme  seitens  slavischer,  ungarischer,  italienischer,  auch  spani« 
scher  und  niederländisch-burgundischer  Geschlechter,  der  neuOster- 
reichiscbe  Adel,  die  österreichische  Diplomatie  und  das  österreichi- 
sche Heer,  die  österreichische  Beamtenschaft.  Es  ist  ein  jahrhun- 
dertelanger Proceß,  der  noch  lange  nicht  abgeschlossen  ist,  dessen 
Wesen  und  Tendenz  aber  unmöglich  verkannt  werden  kann.  Die 
Aufgabe,  welche  hier  zu  leisten,  ist  gewiß  eine  ungeheure,  der  Störun- 
gen sind  mannigfaltige  und  mächtige;  aber  dem  Historiker  vor 
Allem  sollte  es  erspart  sein,  den  Stillstand  als  Norm,  die  Hemmun- 
gen als  organisch  anzusehen. 

Huber  begründet  die  eingehende  Berücksichtigung  der  Ge- 
schichte, namentlich  Böhmens  und  Ungarns  vor  ihrer  Vereinigung 
mit  Deutschösterreich,  weiter  auch  damit,  daß  »doch  auch  früher 
mannigfache  freundschaftliche  und  friedliche  Beziehungen  derselben 
mit  Oesterreich  eintreten«  (I  Vorrede  VII).  Dem  gegenüber  genügt 
es  wohl,  darauf  hinzuweisen,  daß  der  Einfluß  der  baierischen  und 
allgemein  deutschen  Verhältnisse  auf  die  Geschicke  Oesterreichs  vor 
1500  ungleich  maßgebender  und  vielseitiger  war,  als  jener  des  böh- 
mischen oder  ungarischen  Reiches.  Stellt  man  nun  deswegen  die  For- 
derung, daß  —  von  der  genauen  Charakterisierung  der  Verfassungs- 
verhältnisse abgesehen,  die  für  die  Erkenntnis  des  Werdens  der 
deutsch-österreichischen  Territorien  und  ihres  Zusammenwachsens 
zum  deutsch-österreichischen  Verfassungsstaate  Max  I.  unerläßlich 
ist  —  die  eingehendere  Behandlung  der  allgemeinen  deutschen  und 
besonders  der  baierischen  Geschichte  ein  integrierender  Bestandteil 
der  österreichischen  Geschichte  sei?  Hat  man  nicht  vielmehr  das 
Recht,  jene  Kapitel  der  böhmischen  und  ungarischen  Geschichte,  in 
welchem  sie  als  Biographie  selbständiger  Reicbsbildungen  mit  eige- 
nem Recht,  eigener  Dynastie,  eigener  Nationalität  erscheint,  der  ja 
erfreulicherweise  nicht  zu  wenig  entwickelten  und  selbstbewußten 
Provinzialgeschichtschreibung  zuzuweisen?  Soll  man  sich  in  einer 
Geschichte  Oesterreichs  nicht  lieber  auf  die  Klarlegung  der  politi- 
schen und  materiellen  Lage  jener  Länder  und  Reiche  zur  Zeit  ihrer 
Vereinigung  mit  den  alten  habsburgischen  Hauslanden,  auf  die  aller- 
dings möglichst  allseitige  Betonung  ihrer  Bedeutung  für  die  Einrich- 
tung und  Weiterbildung  des  Oesterreichs  Ferdinands  I.  beschränken^ 
am  von  nun  an,  da  es  mit  den  wesentlichen  Momenten  einer  Mon- 
archie ausgestattet  ist,  auch  darnach  seine  Geschichte  zu  schreiben? 


i 


Huber,  Geschichte  Oesterrefchs     Band  1  and  2.  387 

Seheint  es  aber  somit  nicht  allza  schwer,  den  richtigen  Weg 
für  die  Darstellang  der  Geschichte  Oesterreiohs  vor  1526  za  finden, 
so  maß  freilich  für  die  nachfolgende  Periode  bis  1765  etwa,  oder 
besser  bis  za  den  Reformen  Maria  Theresias  and  Josephs  IL,  ein  Wei- 
teres zagestanden  werden :  Eben  weil  die  Neaerwerbungen  von  1526/7 
za  bedeatend  waren,  als  daß,  gestutzt  aaf  den  alten  deotsch-Oster- 
reiehischen  Haasbesitz  n.  s.  w.,  die  für  das  Ganze  za  {schaffenden 
Neninstitutionen  rasch  und  allseitig  aasgebaat  werden  konnten,  als 
daß  das  staatbildende  deutsche  Element  den  mächtigen  Körper  ent- 
sprechend za  durchdringen  vermochte,  wird  auch  für  diese  Epoche 
—  und  ganz  und  gar  ist  sie  ja  bis  heute  nicht  abgeschlossen  — 
die  Geschichte  der  Dynastie  und  der  von  ihr  beherrschten  Länder 
noch  nicht  durchaus  identisch  mit  der  Entwicklung  des  Osterreichi- 
schen Staates  jener  Periode,  dessen  und  nur  dessen  Biographie 
die  »österreichische  Geschichte«  ist.  Die  besondere  Entwicklung 
der  Provinzen  und  Länder  der  Monarchie,  deren  Umfang  zudem  we- 
sentliche  Aendernngen  erfährt,  bleibt  während  dieser  Epoche  eine  so 
reiche,  daß  neben  der  Reichsgeschichte  immer  noch  die  Provinzial- 
geschichte  berechtigten  Raum  erhält  und  behauptet.  Um  so  mehr 
wird  ein  einheitlich  aufgebautes  und  damit  allein  ttbersichtliches  und 
zugleich  lesbares  Werk  über  österreichische  Geschichte,  bei  strenger 
Beobachtung  der  Forderungen  voller  Wissenschaftlichkeit,  auch  wäh- 
rend dieser  Periode  seiner  oben  gekennzeichneten  besonderen  Auf- 
gabe  nacbgehn   können. 

Aehnliohe  Erwägungen  haben  nun  zwar  wiederholt  zum  Betreten 
des  bezeichneten  Weges  geführt;  konsequent  gewandelt  ist  ihn  Nie- 
mand. F.  Mayer  hält  ihn  fUr  die  ältere  Periode  betreffs  der  Alpen- 
länder, wo  er  gerade  minder  berechtigt  ist,  fest,  schenkt  uns  aber 
hinterher  keinen  der  Borschiwojs  und  Stefans.  Hnber  empfindet  das 
Unthnnliche,  dreimal  —  und  wenn  man  konsequent  ist,  muß  man  es 
noch  öfter  — ,  von  vorne  anzufangen;  er  entgeht  dem  durch  die 
Nebeneinanderstellung  des  Stoffes,  den  er  zu  diesem  Zwecke  in 
kleine  Abschnitte  gliedert.  Aber  inhaltlich  haben  diese  rasch  auf 
einander  folgenden  Kapitel  gewöhnlich  blutwenig  Zusammenhang, 
und  von  einer  Einheitlichkeit  der  Erzählung,  sie  mag  im  Einzelnen 
sehr  klar  und  gefeilt  sein,  ist  oft  genug  nicht  zu  reden.  Dazu 
kommt,  daß  H.  vielfach  direkt  auf  der  eigenen  bisher  nirgends  ver- 
werteten Forschung  steht.  Es  ist  dies  gewiß  ein  bedeutender  Vor- 
zag seines  Werkes.  Wer  aber  weiß,  wie  schon  die  Notwendigkeit, 
das  neu  Behauptete  wenigstens  im  Wesentlichen  zu  begründen,  zn 
größerer  Breite  ftlhrt,  and  daß  wir  in  der  Finderfreade  leicht  etwas 


888  Oött.  gel.  Aas.  1887.  Nr.  10. 

mehr  als  gerade  nötig  von  nnserer  Forsch  ang  in  die  Darstellang 
einfließen  lassen,  der  wird  sich  über  die  Aasdehnang,  in  welcher 
z.  B.  die  nngarische  Geschichte  in  den  beiden  yorliegenden  Bänden 
H.s  bebandelt  ist,  nicht  wandern. 

Za  mehr  materiellen  Fragen  übergehend,  widersteht  Refer,  der 
Yersachung,  seine  an  anderer  Stelle  Torgebrachten  Ansehaaangen 
über  den  Zusammenhang  der  ayarisch-slavischen  und  bajavarischen 
Einwanderang,  soweit  sie  von  H.  nicht  verwertet  erscheinen,  hier 
neaerdings  zn  begründen;  auch  sind  es  mehr  Momente  von  anter- 
geordneter  Bedeutang,  in  denen  der  Verfasser  noch  nicht  völlig  die 
Ansehaaangen  des  Refer,  teilt,  lieber  die  Entstehung  des  Landes 
Ob  der  Ems  and  das  Rechtsverfahren  König  Radolfs  gegen  Otto- 
kar IL  mit  Böhmen  1274 — 76  za  sprechen,  hat  Refer,  anlängst  in 
der  Zeitschrift  für  die  österreichischen  Gymnasien  die  Gelegenheit 
wahrgenommen;  daraus  erhellt  aach,  in  wie  weit  er  bezüglich  die* 
ser  Punkte  anderer  Meinung  als  der  Verfasser  ist.  Ueber  eine  Diffe- 
renz in  der  Auffassung  der  inneren  böhmischen  Zustände  nach  1431 
wird  endlich  besser  bei  der  Anzeige  des  dritten  Bandes  zu  handeln 
sein.  Dagegen  fordert  die  Darstellung  der  Nachfolge  Herzog  Spi- 
tighniews  IL  in  Böhmen  nach  seinem  Vater  Bretislaw  I.  zu  einigen 
Bemerkungen  heraus.  Bfetislaws  auf  dem  Todtenbette  geäußerten 
» Wnnscbe  gemäße,  schreibt  Huber  I  222,  »der  übrigens  nur 
den  bisherigen  Thronfolgeverhältnissen  entsprach, 
erkannten  die  Böhmen  seinen  ältesten  Sohn  Spitighniew 
als  Herzog  an,  worauf  er  im  März  1055  auch  von  Heinrich  HI. 
mit  seinem  Lande  belehnt  wurde«.  Er  fügt  (ebd.  Anm.  1)  hinza, 
es  sei  Loserths  Verdienst,  darch  seine  Schrift  »Das  angebliche  Se- 
nioratsgesetz  des  Herzogs  Bretislaw  I.  und  die  böhmische  Succession 
in  die  Zeit  des  nationalen  Herzogtums«  (Arch.  f.  österr.  Gesch.  Bd. 
LXIV,  1882),  »der  lange  geglaubten  aber  durch  den  allein  ma£- 
gebenden  Bericht  des  Gosmas  IL  13  f.  nicht  begründeten  Mythe  von 
der  Einführung  eines  neuen  Erbfolgegesetzes  durch  Bretislaw  u.  s.  w. 
ein  Ende  gemacht  und  überhaupt  die  Art  der  Besetznng  des  Thro- 
nes und  die  den  deutschen  Verhältnissen  analoge  Mischung  von 
Erbrecht  und  Wahlrecht  ans  den  Quellen  dargelegt  zu  habenc. 
Refer,  hat  seinerzeit  die  Loserthsche  Darstellung  um  so  mehr  durch- 
genommen, als  es  darin  an  offener  (S.  14)  und  versteckter  (S.  17, 
37,  41,  45,  61)  Polemik  gegen  die  vom  Refer,  in  der  Zeitschrift  f. 
d.  österr.  Gymn.,  Bd.  29,  S.  840—847  vorgebrachten  bezüglichen 
Anschauungen  nicht  fehlt  Ref.  fand  aber  in  der  Loserthschen  Ar- 
beit neben   manchen   richtigen   und  beachtenswerten    Bemerkungen 


Huber,  Geschichte  Oesterreichs.     Band  1  und  2.  889 

ttber  die  NominatioD,  KoDfirmaiion  und  Inthronisatioo  der  böhmischen 
Herzoge  (S.  67  ff.  des  Separatabdruckes)  die  BeweisftIhraDg  gegen 
die  Qttltigkeit  des  Bfetislawschen  Erbfolgegesetzes  nicht  gelungen; 
daB  Loserth  zudem  ganz  übersehen  hatte,  wie  das  Verhältnis  des 
böhmischen  Adels,  ja  des  ganzen  Landtages  dem  Landesberrn  gegen- 
über zn  verschiedenen  Zeiten  sehr  verschieden  war,  daß  seine  Schrift 
an  Widersprüchen,  an  irrigen  Interpretationen  keinen  Mangel  leidet, 
daft  er  hier  an  bedentsamen  Belegen  vorübergeht  nnd  dort  mit 
feinstem  Ohre  das  Gras  wachsen  hört,  lieft  Refer,  erwarten,  daft  die 
»Resaltate«  der  Loserthschen  Schrift  schwerlich  viele  Oläubige  fin- 
den würden.  Die  Zustimmung  H.8  belehrt  mich  eines  Andern,  und 
ich  sehe  mich  genötigt,  über  die  Loserthsche  Beweisftthrnng  ein- 
gehender zu  handeln  nnd  fllr  die  oben  dagegen  gemachten  Bemer- 
kungen die  Belege  beizubringen. 

Der  Kernpunkt  der  Streitfrage  ist  der:  hat  Herzog  Bretislaw 
bezüglich  der  Nachfolge  Verfügungen  getroffen,  welche  eine  neue 
Ordnung  dieser  Sache  bedeuteten?  Mit  dem  Beweise  für  oder  gegen 
diesen  Satz  ist  die  ganze  Kontroverse  erledigt.  Man  wird  im  allge- 
meinen einem  Forscher  nicht  vorschreiben  wollen,  auf  welchem  Wege 
er  die  Wahrheit  finden  will,  die  Form  seiner  Darlegung  bleibt  ohne- 
hin  sein  Eigentum;  aber  es  mnft  doch  der  Kritik  erlaubt  sein,  zn 
prüfen,  ob  der  eingeschlagene  Weg  zweckmäftig  gewählt  war.  Das 
ist  nun  bei  L.  entschieden  nicht  der  Fall.  Es  galt  ihm  zunächst, 
den  Nachweis  zu  erbringen,  daft  das  Seniorat  bereits  vor  1055  in 
Böhmen  in  Geltung  war.  Hat  L.  eine  solche  Rechtsanschauung  in 
Böhmen  oder  doch  eine  entsprechende  Rechtsübnng  dargethan?  Be* 
hauptet  hat  er  wohl  S.  29  »diese  Succession  (das  Seniorat)  bestand 
in  Böhmen  nnd  Mähren,  aber  in  einer  das  Wahlrecht  der  Groften 
nicht  präjttdicierlichen  Weise ,  schon  seit  nahezu  200  Jahren  z  a 
Rechte.  Aber  die  Beispiele  fflr  das  Vorrecht  des  Alters,  die 
er  S.  60 — 61,  an  ganz  anderer  Stelle,  aus  der  böhmischen  Geschichte 
anführt,  gelten  insgesamt  für  die  Zeit  nach  Bretislaw  (übrigens  hin- 
dert dieses  Vorrecht  L.  nicht,  ebendort  S.  60  wieder  zu  sagen:  »Im 
allgemeinen  gelten  die  Spröftlinge  aus  dem  Prschemyslidenstamme  un» 
ter  einander  als  gleicht.  Wie  es  aber  überhaupt  mit  diesem  »Vor* 
rechtec  bei  den  Böhmen  (Ozechen)  und  den  andern  Slaven  stand, 
hat  schon  Palacky,  Gesch.  v.  Böhmen  I  163 — 164,  richtig  ansgefOhrt: 
»Fast  in  allen  slavischen  Ländern  sah  man,  früher  oder  später,  bei 
vermehrter  Anzahl  der  Nachkommen  des  regierenden  Hauses,  das 
Staatsgebiet  durch  das  Paragium  in  kleine  Fürstentümer  zerfallen, 
deren  Besitzer,   die  Teilfürsten,  dem  Groftfürsten,  ab  dem  Aeltesten 


890  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  10. 

des  Hauses,  za  Trene  und  Gehorsam  verpflichtet  waren.  Die 
Wurde  des  Großfürsten  wurde  jedoch  nicht  immer 
nach  Alter  und  Erstgeburt  vererbt;  meist  war  sie  an  den 
Besitz  der  Hauptstadt  des  Landes  geknüpft  und  wurde  auch  durch 
Wahl  oft  auf  den  Jüngsten  des  Hauses  übertragen*)«.  Das  ist 
doch  etwas  ganz  anderes  als  das  später  in  Böhmen  gehandhabte 
und  dem  Herzoge  Bretislaw  zugeschriebene  Gesetz ,  welches  jeder- 
zeit dem  den  Jahren  nach  Aeltesten  den  Prager  Herzogsstuhl  zuweist, 
Böhmen  ungeteilt  läßt,  die  jüngeren  zu  versorgenden  Fürsten  nach 
Mähren  weist.  Eher  läßt  sich  das  Gegenteil  von  Loserths  Behauptung 
stützen:  die  Libuschasage  wird  man  nur  als  Lokalsage  des  um  den 
Wyschebrad  herum  angesiedelten  Namens  ansehen  dürfen:  wenn  aber 
nach  ihr  die  jüngste  der  Töchter  Eroks  die  Herrscherin  des  Landes 
ist,  muß  ein  so  Iches  Verhältnis  wohl  der  Reebtsanschauung  des  berr- 
sehenden  Stammes  der  Czechen  entsprochen  haben;  Gosmas, 
der  nach  den  Zeiten  Bretislaws  jede  Verletzung  der  Senioratserb- 
folge  hervorhebt,  läßt  die  ähnlichen  Fälle  zur  Zeit  der  Söhne  Bo- 
leslaws  IL  in  dieser  Hinsicht  ungetadelt.  Und  will  denn  nicht 
L.  selbst  aus  den  Annales  Hildesheimenses  zu  1034  folgern,  daß  da* 
mals  zwei  Brüder  in  Böhmen  von  einander  unabhängig  ge- 
herrscht hätten?  (S.  21).  Wo  bliebe  da  das  Seniorat?  Freilich  hat 
er  die  bezügliche  Stelle  unrichtig  interpretiert.  Und  sagt  er  nicht 
S.  20:  »Eine  solche  Teilung,  wie  sie  im  Jahre  1034  und  vielleicht 
auch  schon  1002  stattgefunden,  ist  nun  wesentlich  verschie« 
den  von  der  Zuteilung  einzelner  Distrikte  in  der  Form  von  Para- 
gien«,  d.  i.  doch  von  dem  Seniorate?  Und  gesteht  er  nicht  selbst 
zu,  daß  Cosmas  »dieses  Recht  (des  Seniorats)  für  die  Zeiten  vor 
Bretislaw  nicht  kennt«  (S.  29)  ?  Im  Ganzen  erhellt  aus  dem  Vor- 
hergehenden klar,  daß  die  Rechtsanschauungen  und  die  Feststellung 
bei  der  Thronfolge  in  Böhmen  vor  Bretislaw  nicht  jenen  entspre« 
eben,  die  man  auf  Bretislaw  I.  zurückfahrt  und  als  Senoratserbfolge 
bezeichnet 

Aber  nach  Loserth  und  Huber  ist  eine  derartige  Verfügung 
Bretislaws  nicht  hinlänglich  bezeugt  I  Vielleicht  doch.  Refer,  hat  an 
der  oben  bezeichneten  Stelle  S.  842  ausgeführt,  daß  Cosmas  nicht 
bloß  mit  seinem  Berichte  über  die  Sterbescene  in  Chrudim  unsere 
Quelle  ist.  »Er  berichtet  weitere  Anordnungen  Bretislaws  zu 
1054  oder  früher,  die  darauf  hindeuten,  daß  B.  rechtzeitig  sein  Haus 
bestellte ;  den  Frieden  mit  Polen  (ebdt),  die  Versorgung  seiner  jün» 

1)  Die  dafikr  von  Palacky  1.  c.  (Wilzen)  and  Loserth  S.  61  (Mähren)  gebrach* 
ten  Beispiele  können  leicht  vermehrt  werden. 


Haber,  Geschichte  Oesterreichs.    Band  1  und  2.  391 

gerep  Söhne  mit  Teilen  Mährens  (p.  77  bei  Pertz,  Sc.  rer.  Germ.  IX) 
und  Maßregeln  bezüglich  seines  ältesten  Sohnes,  den  er  bei  sich  in  Böh- 
men behält  und  inzwischen  mit  Saaz  aasstattet  Mit  vollem  Rechte 
darf  mit  Palacky  daraus  geschlossen  werden  y  daß  Bretislaw  auch 
das  wichtigste  zn  thnn  nicht  versäumt  haben  wird,  die  Feststel- 
lung der  Thronfolge,  die  Zuweisung  der  Herzogswürde  an  den  erst- 
geborenen Spitighniew;  denn  nur  so  erlangt  die  Versorgung  der 
jttngeren  Söhne  in  Mähren  Sinn  und  Bedeutungt.  Dabei  bleibt  es 
doch  sehr  begreiflich,  daß  Bretislaw  im  Angesichte  des  Todes  in 
schwerer  Sorge  um  die  Eintracht  seiner  Söhne  und  die  Zukunft  des 
Reiches  es  angezeigt  findet,  die  anwesenden  Edlen  zu  ermahnen  und 
KU  beschwören,  ttber  die  Einhaltung  der  gemachten  Ordnungen  zu 
wachen:  obtestor  (vos)  fidei  vestre  per  sacramentum,  quatenus  inter 
meos  natos  sive  nepotes  semper  major  natu  summum  jus  et  solium 
obtineat  in  principatu.  Cosmas  ist  auch  noch  für  diese  Zeit,  wie 
der  Vergleich  mit  den  Annal.  Hildesh.  zeigt,  keineswegs  im  Detail 
verläßlich:  so  bekamen,  weil  er  des  Herzogs  eigentliche  (frühere) 
Verfügung  nicht  kannte,  bei  ihm  des  Herzogs  letzte  Worte  jene  obige 
Fassung.  Nun  sucht  freilich  Loserth  darznthun  (S.  15 — 16),  daß  »der 
Friedensschluß  mit  Polen  gar  nicht  unter  jenen  Gesichtspunkt  ge- 
stellt werden  könne,  welcher  auf  das  Ende  Bretislaws  hinweist; 
»derselbe  erfolgte  vielmehr  im  J.  1054  unter  der  Einflußnahme  und 
auf  den  Wunsch  des  Kaisers«.  Los.  hat  dabei  Einiges  übersehen: 
1.  Hatte  der  Kaiser  1041  die  Ordnung  im  Osten  getroffen  und  stand 
es  auch  sonst,  nach  seiner  Stellung  zn  Böhmen  und  Polen  ihm  zn, 
wenn  es  hier  zum  Streite  kam,  zu  intervenieren.  2.  Hatte  er  dies 
bereits  1043,  1046  und  wohl  auch  später,  aber  ohne  Erfolg,  gethan 
(Annal.  Altah.  ad.  ann.  1043,  1046,  1050;  Loserth  S.  16).  3.  Ge- 
lang der  Vergleich  1054  nur,  indem  der  Böhmenherzog  nach- 
gab und  auf  das  streitige  Gebiet  gegen  einen  Zins  verzichtete.  Wer 
bringt  da  den  Frieden  zustande,  der  Kaiser  oder  der  Herzog?  Noch 
viel  übler  sieht  es  mit  Loserths  Kritik  jener  Stellen  des  Cosmas  aus,  in 
denen  er  von  einer  früheren  (vor  1055  fallenden)  Versorgung  der 
jttngeren  Söhne  B.s  berichtet.  Loserth  sucht  darznthun,  daß  die 
Vergabung  Mährens  schon  »viel  frühere,  als  1054,  an  Bfetislaws 
jüngere  Söhne  erfolgte.  Cosmas  sage:  regnum  Moravie,  quad  pater 
ejus  olim  inier  fiUos  suos  dividens  etc.  — ,  das  deute  doch  auf  die  Zeit 
vor  1053  oder  1054.  Daß  Spitighniew  schon  lange  vor  1055  in 
Saaz  waltete,  erkenne  man  auch  sonst;  weil  Comas  sagt,  Spitigh* 
jiiew  habe  sich,  bereits  Herr  von  Saaz,  eine  von  der  Aebtissin  zu 
St  Georg  erlittene  Beleidigung   tief  eingeprägt,  scheine  er  >anza* 


392 


Gott.  gel.  Ans.  1887.  Nr.  10. 


deuten  €^  daA  jene  Beleidigung  doeh  schon  geranme  Zeit  Tor  dem 
Regierungsantritte  des  Herzogs  sieh  zugetragen  habe ;  hat  aber  aUa 
mente^  von  Vergil  (vgl.  Aen.  I  26)  bis  Cosmas,  je  die  Intensität  oder 
die  Dauer  des  Affektes  bezeichnet?  Gegen  solche  Düfteleien  aof 
die  Latinität  des  Cosmas  hin  und  das,  was  er  »anzudeutenc  »scbeintc  ^\ 
gentigt  es  auf  das  Lebensalter  der  jungen  Fürsten  hinzuweisen :  der 
älteste  war  Beginn  1055,  wie  Loserth  S.  17  selbst,  zu  anderem 
Zwecke  freilich,  ausführt,  23  Jahre,  die  drei  jüngeren  also  wohl 
zwischen  17  und  22;  und  denen  soll  Bfetislaw  schon  vor  Jah- 
ren, vor  1054  oder  1053,  Mähren  übergeben  haben?  Mähren,  dem 
Loserth  sogar  »eine  selbständige  Verwaltungc  (S.  19)  zugesteht? 
Uebrigens  was  lag  denn  schließlich  daran,  ob  Bretislaw  früher 
oder  später  seine  Ordnung  getroffen  haben  mag,  wenn  nur  diese 
selbst  feststeht.  Hat  der  Herzog  den  Jüngeren  früher  zugeteilt,  was 
er  ihnen  zu  geben  willens  war,  so  hat  er  doch  mindestens  zu  glei- 
cher Zeit  betreffs  des  Aeltesten  verfügt.  Nicht  das  Jahr,  sondern 
der  innere  Zusammenhang  dieser  Maßregeln  ist  ausschlaggebend. 
L.  bestreitet  hier  ebenso  Nebenargumente,  wie  er  völlig  überflüssiges 
vornimmt,  wenn  er  einen  bezüglichen  Reichstag  Böhmens  und 
Mährens  in  der  Form  und  mit  den  Rechten  späterer  Reichstage 
bekämpft  Diese  Frage  sollte  doch  wohl  nach  meinen  Darlegungen, 
die  sich  übrigens  nur  mit  den  Anschauungen  Anderer  (z.  B.  To- 
meks)  decken,  erledigt  sein  (Zeitschr.  f.  die  österr.  Oymnas.  1.  c. 
843—844). 

Es  bleibt  noch  übrig,  zwei  Gründe  zn  würdigen,  mit  denen  L, 
die  Einsetzung  der  Bretislawschen  Senioraterbfolge  bestreitet:  gegen 
sie  spreche  das  Wahlrecht  der  Großen  und  der  Umstand,  daß  Böh* 
men  auch  nach  Bi'etislaw  Teilfttrstentümer  aufzuweisen  hatte. 

Was  die  Entstehung  des  »Wahlrechtes«  der  böhmischen  Großen 
anbelangt,  so  führt  es  Loserth  zurück  auf  die  Begründung  der 
Alleinherrschaft  der  Premydliden  im  ganzen  Lande;  das  Resultat 
dieses  Processes,  der  zum  Teil  in  friedlicher  Weise  (?)  sich 
vollzogen  habe,  zum  Teil  in  schweren  Kämpfen,  sei,  »daß  die 
einzelnen  Stämme  Böhmens  das  gemeinsame  Oberhaupt  aus  dem 
Geschleohte  der  Premydliden  wähltenc  Diese  Vorstellung  von  der 
Aufrichtung  einer  Alleinherrschaft  über  die  (14?)  Stämme  Böhmens 
und  die  daraus  gezogene  Folgerung  ist  ganz  unhistorisch.  »Wer 
Staaten  (die  in  demselben  Lande  liegen  und  dieselbe  Sprache  haben) 
erobert,  muß  zwei  Dinge  beobachten,  wenn  er  sie  erhalten  will,  ein* 

1)  Man  vergl.  damit,  was  Los.  S.  39  and  43  von  dem  Unwerte  des  von  Cos- 
mas En&hlten  »noch  Über  die  erste  Hälfte  des  11.  Jahrhunderts  hinaosc  sagt 


I 


Huber  ,  Qe^bicWfe  ÖfeStfer^ehs.    Bäiltf  1  und  2.  39^' 

mäH,  äM  dag  Blnt  met  ahen  PüM^rt  atltettfimv  .  .  .  üä^  nilhn  17. 
UaethUym  (Priilci>p^  6ap.  III) ;  ä"  b^Jzeiitnet  eä'  (mt  cäji.  6^  ä^ 

E/an  «Md  Kh^b<^it«  h^U,  »^lle  )MbeDbtAs«6r  Mt'd  Eif<jtstf6ht?^  ivtf 

B^fne  MlHebt  2tt  veri[ri6hteD€.    So  lErU  ^s  dignn  auc'b  j^erkeiir  de^'  Fafl 

gd'^ene^  vdK^  DavM  cMtd  Pftaraä^^cb-  l^is   atrf  MoiMW  Vdn  If&Gfreti 

(sr.  PriWfna)  tthd    die  ^fsi^i^  in  ^ir/  BBbüie^  ^bi^endüA  Ttettty^- 

\vdm.     Ei  ifaag  da  Uie  and'  di£  ixMbit  i^m  SLVtt  eiihAal  ^ftlM^ 

g^W^Sen  j^tin;   dieser  und'  jeb6r  GegAeY  miiMe  Wotil  z^^itti^e'iK^ 

gesdftme  ^6täM  oi&r  debkM  gicb  doi'cfr  Ktbgbelt,  Wie  d^F  SkwWiS 

ge^   BoVecAaw  f.   von  BChmeD ;   abeV  da»  Ettdergebbid*  watr ,   \<r!e 

überall',  Wo  man  dfe-Saföbhige  erka'tfnte,  so  ^öH  in  Bt)hääti :  dibJ  ab^- 

soMie  JNMtenigewaU.    N^trif  wai"  bter,   wAe^  L.   trStte'  genttner  riAW- 

Bt^fäitt  sIrileDV  di^  9acbla|^e  ^:  atieb  itiK^ectfeii^ai/  fililiitleii  ßttl?- 

iiM»W  gM  offenbäf   nrsf^ffngf^ch  jtui«  Wäbl^cbV  def  FaibffiobAll^-' 

Bf^j  Wile  es  dt^  patril&i<ebElii^che  Eni^iekltttig   M(  sieb  bravibVe'  (v^l/ 

mA«r  I  59.  59) ;   ^§  sebidfneii  di^er  Fiftnnieilv^rMfDdö'  dei^  Qm^ 

noob   dre«  iteM^U  A^W  ^Mik^yd1id«n  ^eWes)^   2a   (s^ehi;   die   S^ä^l^, 

Tepte  üföd  Wrteiowetz  (vgl  Gobmw  üb^  die^  Bi'böbttüg"  Bf etfWaW  T. 

1.  e.  pl  66).    Die^  WablreeUt  des  GaniätfeÜ  Wntd^  tiMmi'  bedbtf- 

timgslo^;  9oMld  d6r  Oaük^rert  2&m  Laiüd^rarMeä,   öi',  lblsV/6^  di» 

Hltfüpt  Cities   SMmtbes,   tnui  ^errü  all&i' StHibtt^  des  Cati^efif  nWdf 

E4^eMtlfti»  nngeb^ti^t  aiAfat^reiöbidti  B^dlte^  titid  Ab^kbi/lfei^  M6tit 

nw)  Rebble' wurde ;  et^  Wurde  ebeneft)  zirr^  ^cfbfältlbsefü  Portn,    Wie  jtf 

attcb  dfer  Laadtäglä  den  befi^söglieben  Wünsieb^n  ^göiitlbe^  Wiflenldy^ 

wurden:  (Zefftebr.  f:  d.  ö«fferr;  SyninÄö.  2i9,  843).     IMc»'  gflt  riirtüf'- 

lieh'  a«tf  V^Hkonttn^enSten   f^t  die  Zirft'  linttitfSeflbat^  äaißtf  ^eUdl^ati^ 

def  Binbdftfeätei^fe,  <!A^  m^^  EOm  nnd^  Mitf^  de^  Xr.  «^iVrbtttderl^. 

Attdef0WWde  die  SMbe,  als  unter  BfetlslaMf^  Enk^Ib   die  Thrbb'^ 

küttpfo  be^il^,  äli^  oft  gemg  dbi^  Vei^n^t/  äMtetis  ^f äibJ^lälidii^tibW 

FtMit€tti^  genihcbt'  wnr^;  das  Heriiogthnr  2b  eifan^eftf,  obnö^  Vom'  (^-' 

8etK9  dsnrif  bbftiftftf  zu  se?ä.     Da   nindtetr  diö^  KiAs<ir  odei'  die  g^ 

w%mtett<9tf  Q¥i[»Sißtt'/  -^  1^*  imt^Tt  Waf'fiT,  Wemf  ii!a!n  bekM  ^Wa^n  — , 

dta^nlMigctede  Rechfl  et^1Ȋb ;  jd  tffter  mab'  iA>eir  an  dle^  Binffafilnabnie 

der  ei^oisir  ä;peHl#rt9,  dtlticb'  Qfo&tebettiM  und'  Bttretf  Me"  ei^katfftb  öder' 

UAobntK^  desto  m^bf  ^l^gmef  sWh  ibre^  Bedeutung  und'  ib'^  ffeäftk 

n^yi^nraler  Hft^bftSdfkuiig    eitf  frgMdWte    enttfötteid'^d^  V^ttttii' 
der  OfoBeii  tfi^ettt*  eiM'eMeitf. 

Uebi^r  dH  dieb  eiMMie«  cM^  BJäf.  Hel¥b  L6t  aW  abd^r^f  SlUHe'' 
zMp  MwMflfe.    Hil#  büt'  ^ ,  Mm^  htifs  B^cfMAArMfg  i'ih  Eitf^tf  1- 

a«M.  fei.  Am.  1887.  Nr.  10.  28 


S94  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  10. 

neu    als  onzareichend  darznthnn,  sofort   zugleich   die  eigenen  An- 
scbanangen  entwickelt.     Nar  Eines  sei  noch  erwähnt.     Los.  gesteht 
zn,   daß  Cosmas  von   einer  Wahl   der  Herzoge   in  der  älteren  Zeit 
(von  jener  in  der  Libuschasage  abgesehen)  nichts  weiß  und  offenbar 
an   eine   solche  nicht   geglaubt  hat    (S.  37).     Die  S.  38   angeführte 
Stelle  ans  Gumpold.  vita  St.  Venceslai :  Quidam  gentis  iUius  progenie 
clafiar  ac  potencia  in  cives  eminencior^  Zpugtignew  nomine  principatus 
regimen    sub  regis  dominatu  impendens   (M.   6.  SS.   VI  214)   sagt 
doch  von  einer  Wahl  gar  nichts;   und  wenn   es  ebenda  von  Wenzel 
heißt:  Favoräbüi popuhrum  assensu  in  paterni  ducatus  successianem 
ddectus  et  in  prindpalis  sedem  dignitatis   est  devatus,  so  wird  hier, 
wo  ein  Unmündiger  im  »väterlichen  Herzogsamte«    »nnter  Zu* 
Stimmung   der    Bevölkerung«   nachfolgt,   Niemand   im  Zweifel   sein, 
welches  Moment  für  die  Nachfolge  maßgebend  war,  ob  das  Erbrecht 
des  Fürsten   oder   ein  Wahlrecht   der   Großen.     Das   ist  nun  unser 
Quellenmaterial.    Wie  kann  L.  da  (S.  37)  sagen:  »daß  die  Herzöge 
Böhmens,  von  Spitighniew  angefangen,  durch  Wahl  zu  ihrem  Amte 
gelangten,   läßt  sich   nach  dem  vorhandenen  Quellenmateriale 
nicht  gut   bezweifeln«?!    Aber  Loserth,  der  S.  37  Cosmas'  Stellung 
hierin  »charakteristisch«  findet,  erklärt  dieselbe  S.  39  für  bedeutungs- 
los, denn  Cosmas'  Erörterungen  für  diese  Zeit    »haben  nur  sehr  ge- 
ringen Wert«,  ja  sie  sind  (S.  42)   selbst   »für  die  erste  Hälfte  des 
eilften  Jahrhunderts  und  noch  darüber  hinaus«,  »entweder  ganz  falsch 
oder  doch    mit  vielen  unrichtigen  Notizen   vermengt«.     Den  Beweis 
für  das  Wahlrecht  der  Großen  nach  Bretislaw  stützt  L.  namentlich 
auf  die  Erklärungen  Herzog  Sobieslaws  I  1026  Kaiser  Lothar  gegen- 
über, und  Kaiser  Friedrich  Barbarossas  1173  König  Wladislaw  gegen- 
über.   L.   hat  dabei  ganz  übersehen,  daß  bei  beiden  Gelegenheiten 
ganz  bestimmte  Absichten  die  Sprechenden  leiteten:  1126  gilt  es  bei 
Herzog  Sobieslaw,  dem  Ansprüche  des  Kaisers  das  im  Lande  gültige 
Nachfolgerecht  (nicht   ein  Wahlrecht   der  Großen,   wie  Loserth  die 
Stelle  auffaßt)  entgegenzustellen.    1173  ist  der  Kaiser  entschlossen, 
gegen  alte  Zusagen  die  Nachfolge  in  Böhmen  dem  Herzoge  Friedrich 
zu  nehmen ;  als  Grund  macht  er  geltend,  daß  dessen  Erhebung  erfolgt 
sei,  indem  der  König  ^ßitrni  suum  ad  injuriam  nobis  inconsuUis  stä}» 
stituit€ ;  neben  der  Beleidigung,  die  man  ihm  zugefügt,  weist  er  auch 
hin  auf  die  fehlende  Gutheißung  dieses  Thronwechsels  in  Böhmen. 
Daß  der  Kaiser   hier   eine  Gewalthat   auch   noch  durch  andere  Mo- 
mente zu  entschuldigen  und  zu  rechtfertigen  sucht,  als  durch  die  Ver- 
letzung seiner  Majestät,  wem  ist  dies  auffallend  ?    Und  wer  hat  sich 
je  weniger  um  das  böhmische  Fürstenrecht  oder  gar  ein  »Wahlrecht 


Haber  ,  Geschichte  Oesterreichs.    Band  1  und  2.  395 

der  Großen  BöhmenBc  (1179,  1182,  1187  and  auch  schon  1158)  ge- 
kümmert, als  der  gewaltige  Stanfer? 

Ich  komme  zu  jenem  weitern  Einwände.  >FaIl8  Bretislaw 
Anordnungen  bezüglich  der  Nachfolge  getroffen  hatc,  sagt  L.  S.  29, 
>so  sind  dieselben  nicht  dahin  gegangen,  daß  das  Teilfdrstentam  in 
Böhmen  ttberhanpt  abgeschafft  werde,  denn  Teilfttrstentümer  sind 
daselbst  anch  nach  Bretislaw,  sobald  dies  überhaupt  möglich  ist, 
nachweisbare.  Hier  wäre  zunächst  ein  Einwand  vom  Standpunkte 
der  gemeinen  Logik  zu  erheben:  daraus,  das  ein  Gesetz  nicht  be- 
folgt wird,  folgt  noch  lange  nicht,  daß  es  auch  nicht  erlassen  wurde. 
Doch  wir  wollen  die  Sache  selbst  vornehmen.  Es  ist  sicher,  daß 
auch  nach  Bretislaw  Teile  Böhmens  an  Premjsliden  gegeben  wur- 
den. Aber  die  Gründe  und  Umstände  waren  andere,  als  L.  meint. 
Bretislaw  hat  zwar  die  bisher  schwankende  Nachfolge  in  der  an- 
gedeuteten Weise  geordnet,  indem  er  vor  allem  die  eigenen  Söhne 
und  die  Burggrafen  und  königlichen  Dienstleute  dafür  verpflichtete 
—  anders  läßt  sich  nach  den  damaligen  Verfassungsverhältnissen 
in  Böhmen  diese  Ordnung  nicht  verstehn  —  und  noch  auf  dem 
Todbette  mahnte,  daran  festzuhalten  —  seit  dieser  Zeit  gilt  des 
Cosmas  Satz:  justida  enim  erat  Boemorum,  ut  semper  inter  prin- 
cipes  eorum  major  natu  solio  potiretur  in  principatu^  (1.  c.  p.  108; 
vgl.  pag.  155),  seitdem  folgt  auch  stets  der  Aelteste,  er  mag  nun  bis- 
her wie  immer  versorgt  sein,  oder  wird  doch,  falls  das  Gesetz  darin 
verletzt  wird,  das  Recht  des  ältesten  hervorgekehrt  (vgl.  Zeitschr.  f. 
d.  österr.  Gymnas.  1.  c.  879—886 ;  Loserth  selbst  S.  59  ff.),  —  aber 
in  einem  Punkte  war  das  Gesetz  schwer  durchzuführen  und  ist  es 
nur  wenige  Male  wirklich  durchgeführt  worden:  betreffs  der  Neuauf- 
teilung während  bei  jeder  Neubesetzung  des  böhmischen  Fürsten- 
stuhles. In  den  uns  bekannten  Bestimmungen  über  das  Seniorat  gibt 
es  nämlich  eine  Lücke.  Was  sollte  mit  den  Nachkommen  Spitigh- 
niews  II.  (und  der  später  regierenden  Herzoge  Böhmens)  geschehen, 
wenn  der  Prager  Herzog  starb  und  nun  nicht  sein  Sohn  oder  Bru- 
der, sondern  ein  entfernter  Verwandter,  etwa  einer  der  mährischen 
Vettern,  der  Aelteste  war  und  somit  im  Herzogtume  nachzufolgen 
hatte?  Es  gibt  hier  nur  zwei  Möglichkeiten:  entweder  hat  Bretislaw 
den  Mangel  übersehen,  was  man  nicht  wohl  annehmen  wird ;  oder  er 
hat  vorausgesetzt,  daß  bei  jeder  Thronbesteigung  und  je  nach  Be- 
dürfnis der  Großherzog  von  Prag  die  regierungsfllhigen  Verwandten 
in  Mähren,  so  wie  er  selbst  es  gethan,  versorgen  werde.  Nun  haben 
in  der  That  solche  Neuaufteilungen  Mährens  stattgefunden.  Im 
Jahre  1062    gab   der  neue   Herzog  Wratislaw  IL,  bisher  Fürst  von 


S96  Qftt.  ;^,1.  A^z.  1887.  Nr.  ^. 

Eonrad  nnd  Otto,  die  allein  ^Ivm^^B  iiÄbiw  flw  f<om  ^repfyfriif^p- 
JV9^P(9  jp^e^  Awprucb  fif\iebfifä  komm.  4^^wJich^  Yerfitewigcft  itrafen 
/eben  nqcl^  liyra.d,i3l^w  fl.  AoJibsi^  i.  f.  ^87,  al»  J9ein  Brf4e^  XHjto  ^- 
j8t9f be^  »w^r;  Bßm$  ^fe.tialav  Jl  1093,  J099  und  ßU»  «aw  B^^« 
,<^ef  McWpJlg^^^en  i^nbftl?.^  4«»  ?ra^  fl^erzogstp^lw-  Aber  wfi 
^ro^  Schyi^riigikeiliWi  ste^te^  laich  dew  WK*  Wtgpgen:  df»  wfffik" 
,sei)i<j»9  2*W  ,^er  zu  .Ue]te^e^4.en  FfjeipyflUdei^  ujgi.^  noc^  ^^ji/ebr,  4*i« 
4^  ip  Mäl^^ej;!  1Q62  eijy^esie^^t^^  Ftlr^ten  pup  t!tn4  Konr;^  und  d^ 
jei^  l^achjl^ompve»;  ,wiejyohl  o^  Ur^^eebt,  eineo  Jbt^o^iji^ef  Aji8(»r|9ph 
fl!^  4^,V  Alleip^.i»itz  M^föuß  beha^pjtetep;  jyiorin  siß  9Ji/)b  gegeoa^g 
loi|;  ^pr  S^^aft  unte^^l^^ten  i^d  durpb  4ie  ^uti^  in  Böbme^  ji^r 
^elt.i^ng  gql^ngo^Qdßp  leb^srecb^tlic)»^^  4nfBcbauungi^p  gefördert  sabeu. 
pj^rj^  yprvmi^tfi  »pho»  JOS/  pnjg  Vnijjajj^^,  4I9  er,  des«^  QQ^e 
jf^yi^^  jt^ja^ewaohsen  ^^reif^  i^^ph  4piu  Tp4.q  Aoiu^  Qrp%s 
0,^9  i^  OIn(#*^er  P^Jwt  «pfuj^jf»  ;Ziy^fj^gjel^pr^ne;9  IJlwtrug,  «cfaUpj^ 
Jjph  dopjf  ^cht  zjm  Zi/el^  zft  gplangp^.  S,eiff  Nefl[e  Friied^icb,  Sohn 
3piti^|}0ie^  I^.,  blieb  o\mß  hwd  tfoij^  a))pr  B^^erjt^ui^g  und  ol^wp)il 
§icb  pogar  d^f  Papst  fjtlr  ibQ  vierwe#ete:  ^Y^atjsl^w  ItberU^  ^bm 
fi(^p|i  ppipeqa  JSpcbl^  nicbtp  ypn  ^öbfjien,  dip  OJbejijne  dul^pteji^  k^e 
^an^^i^roi^g  ii;^  ^Hhrep.  So  war  pß  aueb  vpiterbif):  vor  die  WfM 
f!^tp%  4efP  ßobpe,  dßjtn  BrQ.djDr,  der  alß  junior  j^^t  4ie  l^acbfolge 
ip  Böhn^en  uii4  sisitens  4^  Otfiopen  un4  I^unidij^e  nicbta  in  Mäbren 
^u  ^.offen  bf^te;  w  Land  wd  I^ßuii^o  gjou-  n^pbtil  z|i  fibprlapsen,  o4er 
ihppn  Tejlß  des  böbmiscben  Ilauptlaade^^  freilich  entgegen  der  I^- 
tpn);jon  des  Abuberrn  und  ^m  Ii^tereaae  der  Contr^}gßW9lt,  zu^u- 
jveißen,  griffen  djijß  jörpßfeerzoge  docb  wieder,  wie  begfeiflic^;  m  i^^v^ 
let^tjß^ap.  So  wenig  e^  an  Verpuji^t^ep  febl^,  ,9ber  tfähreo  frei  z^  vei- 
plgen,  po  oft  pfemydjidi^iche  Frfpzep  flberbaifpt  ohne  Land  blipb^, 
so  wppig  w^ug^^lt  es  darum  im  12.  nifd  13.  J^brbpp4ertp  ^^  Bpi- 
^piplßp,  dat  Söjjpen  und  Brttdprn  dpf  Hprzoge  Teile  Qjtibmeps  zuge- 
wipsQQ  )f er4p9.  Nur  b.e4putet  di^  nipt^t»  gegen  4&9  einsfigie  Pfipeip. 
Vop  dei^  sebr  yieiep  £inwendnpge«»,  die  fßßer^  4^  ^ßtf^^^  4(9r 
Erzä)flpj)jß  ^^ppifH  wip  pa^prlipb  erhoben  werden  t^Qpneu,  sejyeq  bipr 
nur  wepig.e  gebri^pht;  w.eH  sip  viieHeipb^  ^i^berpe  fnterpipe  be^p- 
9prucben  Qflrfep.  Wpnp  p.  (I  45)  ^a^t,  ^Mangel  u»4  Npt  l)p^og«p 
den  (Q8j;gpjei^-)könig  fljeodoipir  um  d^e  Jajif  473  peiQ  Vp)k  ^j^s 
d§jB  yprw^stp^pp  Pppppjpn  Pbef  die  Sayp  in  das  99tr(}mia«bp  Bpfch 
zu  ftlhrp^,  upf  4jQin9p)t)en  \i\er  |i)es9ere  Wo)iU6itze  ^u  verscbaffei^f,  so 
ii^  die9  jpipdp9tiens  uogenau.  Spif  453  galt  Fannon^pp  auch  den 
yöll|grn  des  ßpfallppep  Pftp^fw^reicbe^  wip4pj'  alß  Tpif  46|  J^n^pprlnffis 


Huber,  Q€9chiohte  Oesterreiclw.    Band  1  und  2.  d97 

ijffifitifm^  De  Qioih.  f.  fy.  oprig.  et  reb*  ge#.  cap.  50 :  CMi  . .  ^  9o- 
AKMip  r^jmo  4^rra^  j)eteri6  . . .  occipimles  Pcknmicm)'  Vgl.  Arcb.  f. 
fif^TT.  £[e«cL  L;H,  1B4.  Q^enii  no«  d^n  Ajignben  I  49  (vg4,  I  60, 
Ai»9f  1)  .ttber  dpe  Awieboniig  des  Ay«repr6veb«8  »bis  ao  dag  £r^ 
ge)Hrge<i  und  zv4J  acboo  unter  4eia  epsten  Chakan,  also  no^  ipn 
15,  J/l)i^banderte ,  ftn*  äiß  Bew^eguag  der  Moen  ciim}  frtth^eo  B6v(>I- 
^rjBOg  Böbmeog  bei«  $cfal«0  yer^oobt  wird,  ao  anag  man  diese  Zu- 
r,|liekhaltaiW  g^m  gejteii  lassen;  ^eov  aber  BL  (I  i64)  ohne  weitere 
jB€£^ttn4QAg  iiß  frJlAkische  Völkertafel  mk  MttUenhoff  noch  imwfif 
^ü^iseheM  510  und  524  entstanden  glaubt,  so  gijl;  4ieae  ZeiJib^stjvir 
mQ9g  #P  liefer.  feeute  ooeh  wehr  als  vor  acU;  Jabren  (Fgi-  Sitf^b. 
der  kais.  Akadem.  in  Wien,  91.  Bd.  865)  fUr  eine  der  vielen  iM^lt- 
losen  hjsi^jorjscjl^en  Anfstellangen  des  aosgezeichneten  (Jreipiani- 
sten.  Was  H.  (I  91)  0.  Ettmmel,  Anfänge  des  deutschen  Lebens  in 
Oesterreich,  292,  über  die  Lage  der  deutschen  Kolonisten  im  Slaven- 
lande  entnimmt,  hat  beinahe  mit  denselben  Worten  schon  der  treff- 
liche Justus  Moser  geschrieben.  Als  Urheimat  der  Kroaten  läßt 
ßpber  {l  59,  An;D.  1)  mit  Recht  Galizien  picl^t  geltep;  4er  czecbi* 
^e  «od  ebensio  der  deutsche  Oalimil  lassen  erkennen,  daS  schon  das 
beginnende  14.  Jahrhundert  von  einer  nördlichen  Heimat  der  Kroa- 
ten nichts  wußte.  Die  Aufstellung,  daS  die  Babenberger  schwäbi- 
«ßjb^n  UrsiHTQnges  /leien,  ist  nicht  so  neu,  wie  H.  (I  (74  und  IfitteiU 
des  InstU.  f.  österr.  KJeschichtsforsch.  II  374  ff.)  mdnt.  Schon  J. 
Coßpiiiljanus  sagt  (Austria  9 — 10):  i^Im^qHus  (sei),  tifarekio  Äustriae) 
iMo  duciti49  erat  Suevorumf^  was  sich  auch  in  Heuteri  Dßlf.  praep. 
Arnb.  Schrift  De  Habsb.  (Anstriac.)  origine,  Antyeipiae  1598,  vrie- 
derbpft  0ndet  (c.  2^y.  37):  ^Leopcldus  .  .  .  e  famUia  Bäbmbergica,  ß 
ß^evi$  0fia€.  Qeg^  4ie  Ang^e  H.s,  welche  Jierzog  Bi^etislaw  I. 
^m  Sphpe  >eip|3s  /icböppn  Banernmäiilshensc  maebt  (I  168),  he- 
fp^ke  icfa  neuerdings,  daß  Boieon  pacfa  Cosmae  (I  36)  nur  di^  Frap 
ifiß  BAoe^  ^rpsjna  geweisen  sein  kann.  Zivar  köwto  die  maßgebende 
Angabe:  fptße  fuU  ^ßsina  apch  bedeqten  »die  4a9i  K-  (als  L^b- 
eigene)  gehörte« ;  aber  4ic  Stelle  selbst  upd  pocb  ppehr  4ic  nacb6>)- 
gend^n  AusfttlirQffgca  4eß  Cpsn^^,  es  sei  in  Böhmen  überbMF^  PV^bte 
besonderes  gewesep,  w|9pn  eiq^sr  dem  andern  4ic  Frpii  «^egpabp^, 
as^ingen  zu  epit^rer  InterprptMion.  Die  S^ndeserb^bung,  4i#  l^esina 
gel(egep^li^  pr^hr,  ist  ^ns  (Jen  Quellen  nieh(;  ^9  begrtt94an;  4<l!> 
Boieffa  Bj^erin  war,  zisi^t  apph  ihre  ßejicbi^igung  (Wäsf^bßwaapbw) ; 
das  Bauern  m  ä  d  c  h  e  n  stammt  aps  deini  czechisphen  IHlimil  (eiap.  ^I^I 
13  ff.),  den  hier  der  deptsche  Uebersetzer  yöUig  misFers^d  (sedmä 
flietvkß):    Auch  mit  dem  ?^ra^p#  Wftcel^  (Bub^r  I  ?^)i  4w  8«l9n 


898  Gott,  gel  Anz.  1867.  Nr.  10. 

Palacky  Geschichte  von  Böhmen  I  358  ff.  bringt  ^  ist  nichts  zu  ma- 
chen; der  »comes  Wakoc  findet  sich  erst  bei  Joh.  von  Marignola 
(vgl.  Font.  rer.  Bohem.  III,  Prag  1882,  549),  also  im  14.  Jahrb.,  and 
bei  einem  Fremden ;  Marignolas  Quelle,  Gosmas,  sagt  nar :  et  coniinuo 
(Stiatpluk)  cum  $uo  comitatu  vertens  iter  Moraviam  sie  fatur  Wacek 
ad  comitem  (Font.  rer.  Bohemic.  II  152  ad  ann.  1005),  wo  natürlich 
comes  ebensowenig  »Gräfe  bedeatet,  als  comitattts  »Grafschaft« ;  Grafen 
gab  es  ja  in  Böhmen  nicht  bis  auf  die  Schlicke  und  Gattensteine,  and 
sie  hatten  ihre  Titel  anderswoher.  Doch  genug.  Es  bedarf  kaum 
der  Erwähnung,  daß  durch  derlei  geringfügige  Ausstellungen  das 
oben  dem  Werke  Hubers  gespendete  Lob  keinerlei  Einschränkung 
erfahren  soll. 

Prag.  Adolf  Bachmann. 


LoBsen,  Max,  Dr.,  Briefe  von  Andreas  Masius  und  seinen  Freun- 
den 1538—1573.  [Pnblicationen  der  Gesellschaft  fur  Rheinische  Geschichts- 
künde.  11.  Bd.].  Leipzig  1886.  Verlag  von  Alphons  Dürr.  XX.  und 
687  S.    8°. 

Man  hat  Masius  mit  Recht  immer  als  einen  der  hervorragend- 
sten Gelehrten  des  sechszehnten  Jahrhunderts  und  namentlich  als 
Exegeten  des  Alten  Testamentes  hochgeschätzt  nnd  wußte,  daß  er  in 
der  Kenntnis  des  Hebräischen,  Arabischen  nnd  Syrischen  kaum  je- 
manden seines  gleichen  hatte.  Er  war  einer  der  verdienstvollsten 
Mitarbeiter  an  der  großen  bei  Plantin  gedruckten  Polyglottenbibel ; 
seine  syrische  Grammatik  und  sein  syiscbes  Wörterbuch,  die  1571/2 
erschienen,  dienten  bis  in  das  siebzehnte  Jahrhundert  als  Grundlagen 
für  syrische  Sprachstudien  und  sein  bedeutendstes  Werk,  die  hebräisch- 
griechische Ausgabe  des  Buches  Josua  —  dieselbe  kam  wegen  eini- 
ger freien  Aeußerungen  auf  den  Index  —  ist  wiederholt  aufgelegt 
worden.  Die  vorliegenden  Briefe  zeigen  uns  Masius  im  Verkehr  mit 
den  namhaftesten  Gelehrten  seiner  Zeit  und  gewähren  in  Folge  des- 
sen einen  Einblick  in  die  geistigen  Bewegungen  dieser  Jahre. 

Weniger  als  die  litterarische  ist  bisher  die  politische  Tbätigkeit 
des  Masius  gewürdigt  worden.  Erst  die  Arbeiten  Kellers  nnd  Los- 
sens  haben  anf  diese  etwas  Licht  geworfen ;  namentlich  muß  man  es 
der  Gesellschaft  für  Rheinische  Geschichtskunde  zum  Verdienst  an- 
rechnen, daß  sie  in  ihrer  Denkschrift  vom  Mai  1881  unter  den  zur 
Veröffentlichung  geeigneten  »Literalien  c  auch  die  im  Staatsarchiv  zu 


Lossen,  Briefe  von  Andreas  Masiiis  und  seinen  Freunden.  399 

DflBseldorf  yerwahrten  Berichte  des  Agenten  zu  Rom,  Andreas  Ma- 
8108,  an  den  Herzog  von  Jttlich-Gleve-Berg  verzeichnete.  Die  Edition 
derselben  konnte  kaum  in  bessere  Hände  als  die  Lossens  gelegt 
werden,  da  sich  derselbe  bereits  in  seinem  Kölnischen  Kriege  (S.  235  ff.) 
mit  der  politischen  Thätigkeit  des  Masias  in  dessen  letzten  Jahren 
beschäftigt  nnd  in  der  Allg.  D.  Biographie  (XX.  S.  659—562)  des- 
sen Leben  geschildert  hatte.  Lessen  hat  Übrigens  nicht  bloft  die 
Dttsseldorfer  Archivalien,  sondern  auch  die  sonstigen  gedruckten  and 
nngedrnckten  Briefe  von  and  an  Masias  einer  umfassenden  Durch- 
sicht unterzogen  und  dieselben  nach  der  politischen  Wirksamkeit  der 
letzteren  in  drei  Teile:  1538-1548  (Nr.  1—22,  S.  1—26),  1548— 
1558  (Nr.  23—224,  S.  27—309)  und  1558—1573  (Nr.  225-362, 
S.  310—515)  geteilt.  Masias  war  nämlich,  nachdem  er  noch  in 
jungen  Jahren  eine  Lehrstelle  an  der  Artistenfakultät  zu  Löwen,  wo 
er  auch  seine  Studien  gemacht,  bekleidet  hatte,  1537  im  Alter  von 
23  Jahren  als  Sekretär  in  die  Dienste  des  kaiserlichen  Rates  und  frühe- 
ren Erzbischofs  von  Lund  getreten.  Nach  dessen  Tode  (1548)  wirkte 
er  als  Agent  deutscher  Fürsten,  namentlich  des  Herzogs  Wilhelm 
von  Cleve  und  Friedrichs  IL  von  der  Pfalz.  Im  Jahre  1558  wurde 
er  Rat  des  ersteren  und  ließ  sich  in  dem  (damals  clevischen)  Städt- 
chen Zevenaar  nieder,  wo  er  1573  starb.  Schon  als  Sekretär  Wee- 
ze's  war  er  viel  herumgekommen;  namentlich  weilte  er  schon  da- 
mals und  dann  als  selbständiger  Agent  oft  und  lange  in  Rom  nnd 
yerkehrte  daselbst  mit  vielen  humanistisch  gebildeten  Männern,  un- 
ter denen  sich  die  Kardinäle  Morone,  Gervino  (später  Marcellus  IL), 
Maffeo,  Sirleti  und  Commendone  befanden.  Unter  diesen  Umständen 
darf  es  nicht  Wunder  nehmen,  daß  die  Masiusbriefe  fUr  die  Oe- 
schichte  seiner  Zeit  im  Allgemeinen  und  die  Cleves  insbesondere  von 
großer  Wichtigkeit  sind:  Der  schmalkaldische  Krieg,  das  Koncil 
von  Trient,  die  letzten  Kämpfe  Karls  V.,  die  Unruhen  in  den  Nie- 
derlanden, die  Hugenottenkriege  u.  d,  werden  gestreift.  Als  Agent 
des  Herzogs  von  Cleve  suchte  er  in  Rom  den  Bestrebungen  seines 
Herrn,  die  auf  eine  eigene  Kirchenreformation  und  namentlich  auf 
die  Gewährung  des  Laienkelches  gerichtet  waren,  die  Billigung  des 
Papstes  zu  verschaffen,  was  ihm  jedoch  ebensowenig  gelang,  wie  die 
Oenehmigung  zur  Errichtung  der  Universität  in  Duisburg. 

Von  den  Briefen  des  Masius  und  seiner  Freunde  war  bisher  nur 
ein  verhältnismäßig  kleiner  Teil  —  das  meiste  als  Epistolae  Pala- 
tinae  (im  VII.  Bd.  der  Acta  Acad.  Theodoro-Palatinae)  —  gedruckt. 
Lessen  hat  von  diesen  in  Kttrze  den  Inhalt  verzeichnet  und  eine 
jReihe  Verbesserungen  und  Ergänzungen  angeftlgt    Einige  aus  den 


4Ö0  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  W. 

Jaft¥€tf  1568—1673  sfammende  Briefe  ttad  AkWnmtSdke  —  cüe  W^ 
it^e»  zv^is^is^  dfe  MffnstereY  Eoadjaterfrage  —  Bii^cf  t<yA  KelfeV 
(PM>)ik.  ktm  den  Pr.  Sttotsarch.  IX)  nrifgefeftt  wot^a.  Loileii' 
koBDte  aBcb"  zu  diesetf  einzelne  Yerbessernngetf  b^IVk^ingeA.  Die  Bis- 
her nngedruekteik'  Briefe  staMtaen  mn  det  llftin^fiAer  Hof^  vM  SUkah- 
brbttetbek,  dem  MUncböer  Reiehsarehlv,  Aeri  Sfftatsarchivenf  tri  DVli- 
s«Moi^f,  M^iDster  and  Stuttgart,  deiA  ftfrMfieh  T^^rn-  und  Tniflf- 
8^b«ti  A^ebiv'  zn^  R^etidbürg  aiktt  der  EDam^ii^i^  8tadl6iblMtbek. 

Di«  safeftKoheil'  Anssteünngen',  die  man  M  d^iii  tvltbef  nuMfteii 
kttm,'  firiM  im  Oänfzen  «lerlieblicb.  Der  »FebeAffek  fiber'  das  Le- 
ben- de»  Andreas  MaEÄts«,  ein  (an  einfgeA  Stellen  verb^sbertfeiO  Wtto- 
ddraödruek  d<eB  ÄTtikels  dei^  Allg.  D.  6iogr.  M  ivt  knapp  gehalfen. 
So  war  z.  B.  die<  dfplomatisetbe  Thätij^keff!  de«  MaÜns  in  deMen 
letzten  Lebensjabren,'  #elbbe'  Lossei^  idr  seinem^  K5tnis^be#  Krieg 
(Sk*  235—230)  i»  trefflflober  Weise  geseMklert  bitft,  ni6M  So*  flffJef- 
mtMterKcb'  za  bebaiid>elit>,  wie  es  bier  gescUebetii  istf.  Die  Aitegabe  alis 
sofobe  ist  (bis  auf  Verein^dte  Dnickfeblieff)  korrekt;  Vön>  AM  üütfloi 
iMikttk  änd  ntiloserlfeb  gewordenen  Stellen*  kött<ttten  einsMM  ergttnzf 
werden ;  soKwer  versMndllcbe,  znmeist  dtatoktMbe  Wttrfei'  Wenden 
(iti  Kiammem)  erklärt,  doch-  ist  der  Heraiasgebeir  hiefitt  etWais  za 
weM  ^egan^en :  dato  Wotli  dar  ^  #ag1l  Wbz.  wage  wirtf  aä'  vii^  SMkfti 
SS.  106.  34t.  248.  376  erklftrt  Naob  meiner  Meidttng  w^  eine^ 
Erklänmgi  hier  ebenso  ttberflfissig,  wie  bei>  den  WöH^b  M^  ^ 
kaum  (Si  346)v  sessm  =b«  zn  essen*  (S.  254),  side^  ^  s6ilhe^  (8: 266), 
tür^  =»  Tb«viAe,  i^e^  ^  Red^e  a.  a.  e^reichmi)  S.  317  ist  ni(6M  nn^ 
versländlfeb  Md^  he^igei^abimsr  S.  236  niobt  nnritebtig.'  Anob  die 
SieRb  (bez.  das  Wort)  nomina  omiMent^  sed  redeHiu$  (!)  serfi^abui^ 
btttte  ieb  «iottt  beanrstandet.  Ist  reädiU»s  als  Sclr^fehlef  bemän- 
grit^  dann«  waren  amcb  t'K^Oy  n.  ai  «Is  solche  zu  beteiebnerf;  redü^ 
tu9>  ist  tttrigens:  d4«  nobb  ms  dem  Itf«  A.  Obei^mnttieBe  Porbl/ 

Fasi  jbdenf  Briefe  ist  ein  ansftibriieber  Kotumeatar  beigaben, 
\vt  welcbMB  die  in  den<  Briefen  genannten  Persönlielikeiten  fbstgi^ 
sfelH  odiBf  BriäntemngeB  des  Sucbverbultes^  gegeben  werde».  DM 
Bmßstor  ist  iliit  großer  Genauigkeit  ansgeairb^diM. 

6zembwitz&  J.  Losertli. 


ftt  die  Svdakttdif  tttanlmrdrfHdi :  Phtf.  Dr.  SbdkM,  Bü^Hor  Arfr  Mtt.  ga.  A^., 
kmmwit  d«r  IKai^Udien  OiMMUaehaift  der  Wiüumdwften. 
Jwlag  der  JHtimie/Caehm  Tirkiif§'B¥düumdim^, 
JMMt  d^  l>t^Ühihlftdkmi  Vft»:'9itdldt^Mitr0^(W.  WlMmkkikhi 


401 


Göttingische 

gelehrte  Anzeigen 

unter  der  Aufsicht 

derKönigl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

/^Nr.  11.  1,  Jmii  1887. 

Preis  des  Jahrganges :  JL  24  (mit  den  9Nachrichten  d.  k.  G.  d.  Wiss.« :  Jü  27). 
Preis  der  einzelnen  Nammer  nach  Anzahl  der  Bogen:  der  Bogen  60  ^ 


Inhalt:  Schmidt,  Kritische  Studien  in  den  griechischen  Drun»tlken.  Bändig  Ton  J98fr. 
^  Meyer,  Griechische  Gnounfttik.  Zweite  Anflage.  Von  Settmubirger.  —  Bannnek,  Stadien  anf 
den  Gebiete  des  Griechischen  nnd  der  arischen  Sprache«.  I.  Band,  erster  Teil.  Yen  IViSwAk  — 
Enbel,  Geschichte  der  oberdentschen  (Strassbnrger)  Minoriten-ProTinL  Yon  Ootitkt.  —  BrUiranff. 
▼on  NMek§.  —    Erwidernnp.    Ton  d$  Lagarda. 

=  Eigenmäohtiger  Abdruck  vor  Artikeln  der  G5tt.  gel.  Amelgen  verboten.  =r 

Schmidt,  F.  W.,  Dr.,  Oberschalrat  nnd  Direktor  des  Gymn.  Carol,  zn  Neu- 
strelitz,  Kritische  Studien  zn  den  griechischen  Dramatikern 
nebst  einem  Anhang  zur  Kritik  der  Anthologie.  Band  L  Zu  Aeschylos  nnd 
Sophokles.    Berlin,  Weidmannsche  Buchhandlung  1886.  XTV  und  282  S.  8^ 

Vorliegendes  Bach  ist  eine  acbtnngswerte  Leistung,  die  auf 
liebevoller  nnd  sorgfältiger  Beschäftigang  mit  den  grieobiseben  Tra^ 
gikem  nnd  anf  genauer  Kenntnis  derselben  bembt.  Der  Inbalt 
ist  znm  weitaus  größten  Teile  neu ;  einiges  ist  bereits  frttber  in  zwei 
Programm-Abbandlangen  von  Nenstrelitz  (»Eritiscbe  Miscellen«  1860. 
»Satnra  criticac  1874)  nnd  in  Bd.  111  und  113  der  Fleckeisenscbeti 
Jabrbttcber  yeröffentlicbt  and  bier  wiederbolt.  Der  Verfasser  gibt 
VerbessernngsYorscbläge  zn  einer  sebr  großen  Zabl  von  Stellen  deb 
Aescbylos  and  Sopbokles;  gelegentlicb  werden  ancb  Stellen  ändert 
Antoren  znm  Gegenstände  kritiscber  Versnobe  gemacbt  Von  den 
letzteren  erscbeinen  mebrere,  wenn  ancb  nicbt  sicber,  so  doch^a^«- 
sprecbend,  ebenso  ancb  mancbe  anter  den  Eonjektnren  zn  den  ¥^^ 
menten  der  Tragiker.  Eine  Anzabl  von  Stellen  der  Art  9A^ 
man  z.  B.  von  Wecklein  in  der  Berliner  pbilol.  Wocbenscb!rift 
1887  S.  325  f.  anfgezäblt.  Was  die  erbaltenen  Dramen  des  AeboAjf <- 
los  nnd  Sopbokles  anlangt,  anf  die  sieb  der  größte  nnd  die  Wikt^ 
zabl  der  Pbilologen  jedenfalls  am  meisten  interessierende  Teil" ditei^ei^ 
Bandes  beziebt,  so  hat  mir  keine  der  hier  vom  Verf.  TorgesdUlkjgö^ 
nen   Aendemngen  (ancb   nicbt  die  v^ti  Wecklein   gebilligte!!)  *deb 

0«tt.  gel.  Am.  1887.  Nr.  11.  29 


46i  Oott.  gel.  Anz.  1887.  Kr.  II. 

entschiedenen  Eindruck  großer  Wahrscheinlichkeit  gemacht:  indessen 
soll  damit  kein  den  Verf.  speciell  treffender  Vorwurf  ausgesprochen 
sein,  da  es  eine  allbekannte  Thatsache  ist,  daft  von  den  zahlreichen 
Konjekturen,  die  in  gegenwärtiger  Zeit  zu  diesen  «vierzehn  Dichtan- 
gen  gemacht  werden,  die  überwiegende  Mehrzahl  von  niemandem 
auBer  von  den  Urhebern  für  richtig  gehalten  wird.  Bei  manchen 
mit  Sicherheit  nicht  zu  heilenden  Stellen  gebe  ich  übrigens  zu,  daft 
die  Vorschläge  des  Verf.  ebenso  gut  resp.  nicht  schlechter  sind, 
als  die  vorher  gemachten  Emendationsversache.  Scharfsinnig  aas- 
gedacht ist  mehreres.  Den  eigentlichen  Nutzen  des  Boches  er- 
kenne ich  nicht  so  sehr  in  den  darin  enthaltenen  neuen  Konjek- 
turen, als  vielmehr  einmal  in  seinen  reichen  sprachlichen  Sammlan- 
gen, die  von  der  Gelehrsamkeit  ond  Belesenheit  des  Verf.  ein  rühm- 
liches Zeugnis  ablegen,  sodann  in  der  richtigen  Widerlegang,  die 
vielfach  den  Ansichten  anderer  zu  Teil  wird  (wohlgelangen  ist  z.  B. 
die  Rechtfertigung  der  Ueberlieferung  an  den  Stellen  Aesch.  Hik. 
507  [Weckl.]  Soph.  El.  573.  651.  1235.  Trach-  259. 1247.  Philokt  271. 
Aristoph.  Pax.  522),  endlich  darin,  daft  die  eindringenden  Bemer- 
kungen des  Verf.  häafig  Anlaft  geben,  den  von  ihm  behandelten  Stellen 
eine  sorgfältigere  Erwägung  zuzuwenden,  auffallende  Erscheinungen 
semasiologischer,  syntaktischer  und  inhaltlicher  Art  mit  größerer  Be- 
stimmtheit und  Schärfe  hervorzuheben  als  es  bisher  geschehen  ist 
Nur  befinde  ich  mich  hierbei  sehr  häafig  insofern  in  Widerspruch 
mit  dem  Verf.,  als  dieser  (vielfach  nach  dem  Vorgange  anderer) 
eine  Korruptel  annimmt,  während  meiner  Meinung  nach  das  auf- 
fallende der  Ueberlieferung  sich  rechtfertigen  oder  mindestens  ent- 
schuldigen läftt.  Der  Verf.  stellt,  wie  mir  scheint,  an  die  Dichter- 
sprache viel  zu  sehr  die  Anforderungen  strenger  Regelmäftigkeit  und 
peinlichster  Logik,  erkennt  das,  was  man  als  dichterische  Freiheit 
zu  bezeichnen  pflegt  (womit  freilich  auch  starker  Misbrauch  getrie- 
ben wird)  viel  zu  wenig  an.  Sprachliche  Singularitäten  hält  er  öf- 
ter ftlr  unmöglich,  auch  wo  sie  sich  durch  Analogieen  hinlänglich 
verteidigen  lassen.  So  steht  z.  B.  Aesch.  Hik.  385  (Weckl.)  tvxii^ 
iUXv  {%J%^  in  der  Bedeutung  »Glücke) :  Schmidt  fUhrt  selbst  aus 
Euripides  die  Verbindungen  vq ^  «VX9C  atpaa^o»^  ^XV^  laßstv^  ^ydXa 
iXsJv  an:  trotzdem  verdächtigt  er  die  Ueberlieferung,  weil  sich  ge- 
rade diese  specielle  Verbindung  sonst  nicht  findet.  Das  gleiche 
gilt  von  der  Konstruktion  von  cS^rra  Csii^  mit  dem  Genetiv  Agam.  632, 
oder  auf  dem  Gebiete  der  Formenlehre  von  der  in  den  Trimetem 
Choeph.  738  und  Kritias  fr.  1,  18  überlieferten  offenen  Form  v6oi 
(worüber  von  Gtorth  in  Cnrtius'  Studien  zur  griech.  u.  lat.  Gramm. 
1,  2  8.  234  im  Zusammenhang  gehandelt  ist)  u.  s.  w. 


ScBmidt,  Kritische  Studien  su  den  griecliiscben  Dramatikern.    Band  1.    40^ 

Aach  darin  weiche  ich  yom  Verf.  ab,  daB  er  (auch  hierin  mit 
anderen  Gelehrten  tibereinstimmend)  die  Texte  der  griechischen 
Tragödien  auch  in  den  Dialogpartieen  durchweg  fttr  viel  stärker 
korrupt  hält  als  ich.  Eine  große  Zahl  seiner  Aenderungen  liegt  von 
der  Ueberlieferang  weit  ab.  So  z.  B.,  um  bei  einem  Stttcke  zu 
bleiben.  Soph.  Oed.  Tyr.  360  hiQq  Hy^  statt  ixfu$Q4  A^^av,  420 
nav  nofl  oi%  ictat  (jbSlti  statt  notog  ovx  idta^  hfujv,  441  ci  ravT^ 
dyndiCiB$g  ä  /»'  ^gs  »al  fkiyav  statt  foiavi:'  ovsidhC  otq  i(k*  tigijcstg 
fkfyay,  598  iSr  yäg  vv)i6ty  igwüi,  ndvi  iv  t^iP  ivk  statt  fö  Tfäg  fv- 
%(kXv  avioig  änav  iv%aid^  Sp$j  608  dijlov  «T  iXi^xov  statt  j^mfi^  ö' 
dd^hf,  677  col  ikkv  doxmv  dXXoXoq  statt  üov  fkiv  tvxfiiv  dfvmtoq^  725 
«X3  ikiqiikvav  statt  x^^^^vs'  igcvpq^  1031  iifxd%o$g  itn^  Htsitälj^ogiaxoy^f 
1084  f.  ot'x  dp  iiik^otfjkt  ug  dv&gmnog  o«  'dn  /n^  iufka&etv  Iwoy  yi" 
vog  statt  ovx  dv  i^SXi^otfA^  Su  not*  älXog  tSats  fii}  ixpad^stv  %oi^6v 
yivog,  1293  ndvtwg  d*  dgwffig  statt  ^dfk^g  fs  fjkirto$f  und  so  auch 
sonst.  In  der  Regel  wird  zwar  bei  derartigen  Vorschlägen  ein  Ver- 
SQch  gemacht,  die  Entstehung  der  Eorrnptel  zu  begründen;  aber  die 
Art,  wie  dies  geschiebt,  ist  allzu  künstlich ,  um  glaubhaft  zu  er- 
scheinen. Ich  kann  nicht  umhin,  die  treffenden  Worte,  die  der 
Yerf.  S.  IX  f.  gegen  die  kritischen  Versuche  anderer  vorbringt ,  auf 
einen  guten  Teil  seiner  eigenen  anzuwenden.  Gewiß  gibt  es  auch 
in  den  Dialogpartieen  korrupte  Stellen,  bei  denen  man  mit  der  An- 
nahme einer  leichteren  Verderbnis  nicht  auskommt;  aber  ich  wüßte 
nicht,  in  welcher  Zeit  und  auf  welche  Weise  die  Texte  eine  so 
durchgreifende,  massenhafte  und  gründliche  Verwüstung  erfahren 
haben  sollten,  wie  sie  der  Verf.  annimmt.  Es  scheint  mir,  als  wenn 
derselbe  den  auf  die  Textesgeschichte  und  den  Thatbestand  unserer 
üeberlieferung  bezüglichen  Fragen  nicht  ganz  die  nötige  Aufmerk- 
samkeit zugewendet  habe.  S.  157  bemerkt  er  über  einen  Vers,  den 
er  für  verdorben  hält:  »allerdings  kannte  Suidas  unseren  Vers 
schon  in  der  uns  vorliegenden  Form,  indessen  dies  Zeugnis  wiegt 
nicht  so  schwer,  daß  wir  eine  offenbare  Ungereimtheit  mit  in  den 
Kauf  nehmen  müßten«.  (Es  wird  alsdann  auf  eine  Bemerkung 
Kaucks  über  die  Kritiklosigkeit  des  Suidas  verwiesen).  Hiernach 
scheint  also  der  Verf.  zu  glauben,  die  schwereren  Verderbnisse  un- 
serer Tragikertexte  gehörten,  wenigstens  zu  einem  großen  Teile,  erst 
der  Zeit  nach  Suidas  an !  Zu  Aesch.  Sept.  295  wird  bemerkt :  ȟber- 
liefert ist  neben  nmfAduay  auch  flYMATÜN^  wodurch  uns  PETMA- 
TQN  nahe  gelegt  wird«.  Mir  ist  von  jener  »Üeberlieferung«  nichts 
bekannt 

Anerkennung  verdient  der  maßvolle^  ruhige  und  stets  sachliche 
Ton,  der  in  dem  Buche  herrscht.     Auch   will  ich  nicht  unterlasse^ 

29* 


404  Gott.  gd.  Abs.  1887.  Nr.  II. 

hervorznbebeOy  daA  der  Verf.,  wie  er  ä.  X  bemerkt ,  von  dem  Au- 
spmcbe  weit  entfernt  ist,  ttberall  das  richtige  za  bieten;  vielfacb 
will  er  sieb  mit  dem  Zngeständnis  begnttgen,  daB  das  dargebotene 
»einen  gewissen  Orad  von  Wabrscbeinlichkeit  für  sieb  babe«.  Nicbt 
selten  wird  man  ibm  freilieb  nicbt  nnr  dieses  Zngeständnis  versa- 
gen, sondern  ancb  behaupten  müssen ,  daß  seine  Eonjektaren  ans 
formalen  oder  inbaltlicben  Grtinden  geradezu  anstattbaft  sind.  Man- 
ches der  Art  ist  von  Wecklein  nachgewiesen  worden.  Ich  will  auf 
diese  Seite  der  Kritik  nicht  weiter  eingehn,  dagegen  eine  Anzahl 
von  Bedenken  gegen  die  Textes-Ueberlieferang  der  erhaltenen  Ae- 
scbyleiscben  und  Sopbokleischen  Tragödien,  die  ich  hier  zuerst  gel- 
tend gemacht  finde,  einer  kurzen  Besprechung  unterziehen. 

Oefter  bringt  der  Verf.  gegen  die  handschriftliche  Lesart  im 
Grunde  weiter  nichts  vor,  als  daß  er  irgend  welches  ästhetische 
Misbehagen  an  ihr  empfindet  Aesch.  Hik.  464  macht  noXXmv  auf 
ihn  »den  Eindruck  eines  äußerst  mattherzigen  Attributs«  (es  wird 
^iXmv  vorgeschlagen);  ebenso  klingt  ihm  Soph.  EI.  562  das  Attri- 
but sroirov  »allzu  mattberzig«  {jib^&w  naxovgroQ  dvdqo^).  Gboeph. 
256  ist  der  Ausdruck  i^koiaq  x^^Q^^  »ttber  die  Maßen  nttchtem  und 
farblos«  {ii*otaQ  ^a^^Tb^).  Choeph.  922  ist  das  »kühl  warnende« 
oga  nicht  am  Orte  (<i  nat).  Agam.  1669  ist  insl  näga  »völlig  in- 
haltlos« (ita$(  /  ^Q^'  Trachin.  536  klingt  otfM$  9  oduiu  »über- 
aus ungeschickt«,  und  die  Rede  wird  dadurch  »höchst  ungelenk« 
(plffav  oinMj.  Agam.  520  klingt  q^iXov  u^Qvua  im  Munde  des  He- 
rolds »nicht  geziemend«  (^emy  mijqvxo).  Oed.  Col.  817  hat  die 
sprachliche  Form  »etwas  geschraubtes  und  unnatürliches«  (not 6p  %$ 
iffoy).  Pers.  455  klingt  ^EXX^vmv  wegen  des  vorhergebenden  ix&qol 
»höchst  befremdlich«  {Bi%BiQm%ov  £v  uBivmv  äyqav).  Auf  Zustim- 
mung in  Betreff  der  Annahme  einer  Eorrnptel  wird  der  Verf.  in 
diesen  und  ähnlichen  Fällen  natürlich  nur  bei  solchen  rechnen  kön- 
nen, die  seine  Empfindung  teilen;  aber  auch  von  diesen  werden 
viele  der  Ansicht  sein,  daß  es  unzulässig  sei,  wegen  eines  derartigen 
ästhetischen  Anstoßes,  der  sich  moderner  Empfindung  aufdrängt,  auf 
eine  Verderbnis  der  üeberlieferung  zu  schließen,  einmal  darum,  weil 
sich  unser  Empfinden  mit  dem  der  alten  Athener  nicht  notwendig 
zu  decken  braucht,  und  sodann  darum,  weil  auch  den  größten  Dich- 
tem dies  und  jenes  minder  gelingt.  (Auf  eine  Kritik  von  Schmidts 
Konjekturen  will  ich  mich,  wie  schon  bemerkt,  nicht  einlassen).  An 
anderen  Stellen  wird  irgend  welcher  direkte  Tadel  gegen  den  Wort- 
laut der  üeberlieferung  gar  nicht  vorgebracht ;  eine  Aenderung  wird 
nur  darum  vorgeschlagen,  weil  sie  dem  Verf.  besser  gefällt,  indem 
dadurch  entweder  eine  Uebereinstimmung  des  Ausdrucks  mit  anderen 


Sohmidt,  EritiBche  Studien  su  den  griechischen  Dramatikern.    Band  1.    406 

Stellen  erzielt  wird,  oder  der  Dichter  um  eine  in  der  Ueberliefernng 
nicht  vorhandene  Schönheit  oder  Feinheit  bereichert  werden  soll 
oder  dgl.  mehr.  So  wird  z.  B.  vorgeschlagen  Hik.  493  inhqq$(p&^ 
statt  änoQQ$q>&^,  weil  ein  Verbam  wünschenswert  sei,  »welches 
deutlicher  und  bestimmter  den  Sinn  einer  feindlichen  Tendenz  zam 
Ansdrack  brächte«.  531  tdfMä  statt  taiwy  damit  anf  das  zarttck- 
gewiesen  werde,  was  Pelasgos  vorher  als  seine  Aufgabe  bezeichnet 
bat  Agam.  557  sindtfAwg  statt  söfuttäg,  weil  man  den  Begriff 
»gttnstig,  glückliche  erwarte  (S.  91).  845  tvx^  statt  Wxf,  weil  er- 
steres  dem  Verf.  >angem.essener  dünkt«.  1114  hält  er  statt  niXst 
»in  Bttckblick  auf  V.  1093  und  1C96  für  richtiger  tslet  oder  auch 
ntlqt,  1630  ndvta  %oh  statt  ndv^  dnd  ohne  Angabe  eines  Orun- 
des.  Choeph.  282  itpakvs  als  »terminus  technicus«  statt  itpmvs^. 
Aias  64  scheint  dem  Verf.  äyn^v  statt  Sxmv  »weit  angemessener  und 
sinngemäßer«.  £1.  878  co^  nagovtf  iqqq  statt  dansq  ihsoqqq,  weil 
es  »im  Interesse  des  Gedankens  liege,  den  Oegensatz  noch  schärfer 
hervortreten  zu  lassen«.  Oed.  Tyr.  930  vatokq  statt  r^yo$t*  {r^voif 
Wecklein),  weil  ersteres  durch  »die  unmittelbare  Verbindung  mit 
Ihv  dXßio§^€  empfohlen  werde.  1074  sollen  die  Ausdrücke  dyQiag 
und  4i^^^  ^zu  dem  Schluß  berechtigen«,  daB  Ivaa^g  statt  Xvntig 
vom  Dichter  geschrieben  worden  sei.  Antig.  183  rifM<i$  statt  Xiym 
»in  Hinblick  auf  Stellen  wie  Aesch.  Fers.  501  und  Eur.  Andr.  210« 
(hinzugefügt  wird:  »sowie  in  der  Erwägung,  daB  auch  sonst  eine 
Vertauschung  von  Xiyatv  und  riftsty  vorgekommen  ist«,  was  hoffent- 
lich kein  Or  und  zur  Aenderung  sein  soll).  517  ov  ydq  tftdovlog 
statt  od  r^Q  u  dovlog,  weil  dadurch  »der  Gegensatz  an  Schroffheit 
gewinnen  würde«.  Oed.  Gol.  1093  erscheint  dmlovg  dqmrovg 
statt  dhnldg  dqmydg  »wegen  der  Stellung  vor  dem  Inf.  (äolsty  weit 
natürlicher«.  Trach.  942  natQög  %9%oiSfSijg  ii  statt  ncpt^ig  t*  ln^i- 
yfC  t*  ohne  Begründung. 

Anderes  erfordert  eine  etwas  eingehendere  Widerlegung.  Aesch. 
Prom.  V.  27  behauptet  Schmidt,  ov — nm  könnte  nur  dann  stehn, 
wenn  Hephästos  einen  bestimmten,  für  Prometheus  später  erst  er- 
scheinenden Better  im  Auge  hätte,  und  schlägt  deshalb  coh  statt  nm 
vor.  Mit  Unrecht:  vgl.  die  Anmerkung  Weckleins.  —  Agam. 
V.  554  iSnXjnqdg  9  anovtmv  %ohqdvmv  ixX^g  wiag.  Der  Anstofi, 
den  Schmidt  an  der  Ueberliefernng  nimmt,  scheint  mir  nicht  ge- 
gründet Denn  die  Vermutung,  daß  während  Agamemnons  Abwesen- 
heit die  Argiver  von  feindlicher  Seite  irgendwie  bedrängt  worden 
seien,  liegt  für  den  Herold  nach  den  vorhergehenden  Worten  des 
Chors  nicht  allzu  ferne,  und  für  eine  derartige  Situation  (die  sicher- 
lich eine  f^Xdf^n  ist)   gibt  die   Ueberliefernng  einen  angemessenen 


406  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  11. 

Äusdriick.  —  Weshalb  V.  877  gfiQs$  in  dem  Sinne  »eine  solche  Recht- 
fertigang  führt  keinen  Trag  mit  siehe  falsch  sein  soll,  ist  nicht  ein- 
zusehen. Der  Yerf.  sagt,  der  Sinn  der  Worte  sei  »eine  derartige 
a»ijtp$^  birgt  keinen  listigen  Anschlag  in  siehe  und  will  daher 
xqiqfsh  schreiben.  Damit  wird,  was  bewiesen  werden  sollte,  ohne 
weiteres  angenommen.  —  V.  1066  wird  an  oi  fAÖhg  Anstoß  genom- 
men and  statt  dessen  yermatet  tovfAov  ^.  Aber  od  ftoXtg  mit  der 
Erklärung  Schneidewins  ist  schon  an  sich  ohne  Bedenken  and  wird 
überdies  geschützt  darch  Ear.  Hei.  334.  —  Choeph.  V.  226  gno- 
qäv  statt  hqav.  Die  Sparen  von  Orestes'  Anwesenheit  haben  die 
Gedanken  der  Elektra  aaf  ihn  gerichtet,  was  sie  in  lebhafter  länge- 
rer Bede  kand  that;  kann  hiernach  Orestes  nicht  sagen,  sein .  Bild 
sei  vor  ihrer  Seele  emporgestiegen?  and  kann  dies  der  Dichter  nicht 
mit  den  Werten  idonug  dgav  i^i  aasdrttcken?  —  V.  514  xivova^ 
statt  upmif.  Daß  dvijusotov  nd^og  fttr  denjenigen  gesagt  wird,  dessen 
Geschick  ein  dprjxsatov  nd^og  gewesen  ist,  der  also  gewissermaßen 
den  Gegenstand  des  nd&og  bildet,  ist  eine  Freiheit,  für  welche  es 
nicht  an  Analogieen  fehlt.  —  V.  544  ^QOfAßtf  t*  Sikv^sv  atfMt- 
Tog  »oipdv  ydXa  (S.  38),  weil  tfiXov  ein  »ziemlich  müßiges  Attri- 
batc  sei,  fifi«ScF  dem  V.  531  voraafgehenden  andaw  zu  wenig  ent- 
spreche, und  der  Aorist  passender  Weise  erst  mit  V.  545  einzutreten 
habe.  Daß  das  Attribut  ^iXov  (mit  Bezug  auf  den  Säugling,  ygL 
y.  541.  513.  547  f.)  müßiger  sei  als  viele  andere  Epitheta  der  Dich- 
tersprache, kann  ich  nicht  zugeben.  ifAeiiev,  von  der  beim  Sangen 
bewirkten  Vereinigung  von  Blut  und  Milch,  ist  ohne  Bedenken,  und 
ebenso  der  Aorist,  da  die  Verwundung  das  entscheidende  Moment 
ist.  —  V.  650  inavttS  statt  tS  not  näl,  weil  zu  (kdX  aid^^g  ein 
Verbum  vermißt  werde.  Der  Gebrauch  von  i^dV  av&tg  ohne  Ver- 
bum  nach  einer  Interjektion  ist  bekannt;  ihn  nach  einem  Vokativ 
für  unstatthaft  zu  erklären  erscheint  willkürlich.  —  V.  770  verwirft 
Schmidt  mit  Recht  die  Erklärung  des  Scholiasten  (pQorstg  cv  =  xal- 
Q€$g.  Aber  seine  Aenderuog  f  av  r*  svqiqukv  ist  überflüssig,  denn 
die  Ueberlieferung  gestattet  auch  eine  andere  Erklärung:  vgl.  die 
Anmerkungen  von  Blomfield,  Klausen  und  Paley.  —  V.  850  ndq- 
«»j»'  iliy^at  t^  sv  ^iXm  tdv  aryeXov:  denn  es  komme  weniger  dar- 
auf an,  daß  Aegisthos  den  ^iyog  sich  selbst  ansehe,  als  daß  er  ihn 
genauer  befrage:  ein  iXiyxskv  habe  noch  nicht  stattgefunden,  so  daß 
das  Adverbium  av  nicht  recht  passend  erscheine;  endlich  sei  eine 
Berücksichtigung  der  Mahnung  iam  naqsX&sXv  am  Orte.  Die  Mah- 
nung wird  berücksichtigt  durch  die  That;  daß  es  auch  in  Worten 
geschehe,  erscheint  mir  vollkommen  überflüssig.  Weshalb  Aegisthos 
nicht  sagen  soll,   er  wolle  den  Boten   »sehen    und  befragenc  (wenn 


Schmidt,  Kritische  Stadien  sa  den  griechischen  DramatikenL    Band  1.    407 

auch  nattlrlich  das  letztere  die  Hauptsache  ist),  verstehe  ich  nicht 
ai  endlich  ist  hier  nicht  Partikel  der  Wiederholang,  sondern  des 
Gegensatzes:  derselbe  findet  statt  zwischen  der  genaueren  Kenntnis, 
die  sich  Aegisthos  verschaffen  will,  und  der  Unklarheit,  in  der  er 
sich  bis  jetzt  noch  befindet.  —  V.  896  f.  ßqVinv  yala  oüX.  if.  $iStQ. 
ndXa$,  weil  das  Trinken  nicht  gleichzeitig  mit  dem  Schlammern  des 
Kindes  stattfinden  konnte.  Dieser  Einwand  scheint  mir  kleinlich ;  die 
Zeit,  während  welcher  das  Kind  an  der  Brost  der  Matter  gelegen  hat, 
wird  als  einheitlich  anfgefaSt  —  V.  931  ikBlimv  statt  noXX^v^ 
weil  der  Chor  »einen  Doppelmord  nicht  mit  noXXd  idfkctta  bezeich- 
nen kann«.  Das  that  er  aach  gar  nicht:  vgl.  die  Erklärer.  — 
V.  1045  sdnotfikmg  statt  ihntwg:  dieses  schicke  sich  nicht  f&r  den 
vorliegenden  Gedanken,  »in  welchem  aaf  den  Segen  hingewiesen 
wird,  welcher  die  That  dem  Lande  gebracht  habe«.  Ganz  recht: 
aber  dies  geschieht  schon  za  Genüge  im  vorhergehenden  Verse. 
In  sdnsuSg  liegt  eine  Anerkennang  der  Klngheit  and  Gewandtheit, 
mit  der  das  Unternehmen  ins  Werk  gesetzt  warde  ond  in  Folge 
deren  es,  ohne  aaf  Hindernisse  and  aaf  Widerstand  za  stoBen,  aas- 
geführt  werden  konnte.  —  Aehnlich  verhält  es  sich  mit  dem  AnstoB, 
den  Schmidt  Eamen.  V.  718  an  ov  Xaxaay  nimmt,  wofür  er  oi  xcr- 
Xm^  vorschlägt.  Es  komme  hier,  sagt  er,  daranf  an,  daft  ApoUon  in 
seiner  Eigenschaft  als  ikävthQ  za  blatigem  Werke  seine  Hand  biete; 
die  sich  hierin  offenbarende  Entweihnng  seines  göttlichen  Berafes 
werde  vom  Chor  verarteilt.  Dieser  Gedanke  ist  in  V.  719  klar  aas- 
gedrückt; daß  die  Sache  nicht  zum  Wirkangskreise  des  Gottes  ge- 
höre, wofür  0^  Xaxoiv  ein  ganz  angemessener  Aasdrack  ist,  dient 
dazn,  den  Vorwarf  za  verstärken.  —  An  der  Stelle  Eam.  V.  753  f. 
nimmt  Schmidt,  aafter  den  schon  von  Anderen  geltend  gemachten 
Bedenken,  aach  den  Anstoß,  daß  za  tvm^i  der  Begriff  /»mc  fehle. 
Allein  yvmiki^  braacht  nicht  in  dem  Sinne  von  tp^g^o^  genonmien  zn 
werden;  vgl.  Paley.  —  Soph.  AiasV.  324  erhebt  Schmidt  gegen 
die  Ueberlieferang  den  Einwand,  daß  es  »hier  nicht  aaf  eine  Um- 
wandlang eines  edlen  Menschen  in  einen  unedlen  ankommtc  Aber 
was  ist  an  dem  Gedanken  anpassend :  »wer  sich  undankbar  zeigt, 
hört  damit  aaf,  ein  edler  Mensch  za  seine,  vorausgesetzt  daß  er  bis 
dahin  ein  solcher  gewesen.  Diese  Voraussetzung  aber  ist  darum  voll- 
kommen am  Platze,  weil  trotz  der  allgemeinen  Fassung  des  Satzes 
die  Beziehung  auf  Aias  unverkennbar  ist.  ytypBodu^  ist  bekanntlich 
von  «ft^cr«  öfter  nur  wenig  verschieden:  vgl.  EUendt  Lex.  SophocL 
S.  147  a.  —  V.  781  f.  will  Schmidt  die  Versanftlnge  ntymek  und 
T$vuqoq  mit  einander  vertauschen.  Dies  halte  ich  für  eine  Ver- 
schlechterung.    Steht   nämlich  zwischen  6  di  und  TiiuQo^  das  ver- 


40B  QOtt.  gel.  Alz.  1887.  $fr.  11. 

bun  finitanii  so  ist  i  Pronomen  and  Tsvhqoq  wird  epezegetisch  bin  za- 
gefttgt;  dies  recbtfertigt  sieb  (znmal  in  einer  Erzäblang)  dnrcb  den 
Gebraneb  des  Epos.     Weit  anstößiger  scbeint  mir  die  Wortstellang 
o  <r  €iMg  ii  SÖQug  TevMQog  [m  xvl.  —  V.  1195  ist  der  Anstoß,  den 
Scbmidt  an  ids$isy  nimmt   (wofür  er  Stsvisv  verlangt)  gereebtfer- 
tigt,  wenn  man,  was  offenbar  ancb  Scbmidt  tbut,   anter  dem  nstvog 
dv^Q  den  Urbeber  des  trojaniscben  Krieges  yerstebt    Allein  bei  der 
Erklärang  Wolff's  ist  Sdei^w  ebne  Bedenken.  —  Elektra  V.  291f. 
Wenn  Elytämnestra  die  Elektra  mit  den  Worten  verwOnsebt  »a«(S$ 
oAoio    ikfidi  &   ix,  yowv   noti  tmv  vvv  clnaXlcl^€$ap  ol  »ätm  O^soi,  so 
ist  der  Sinn  unverkennbar  der,  daß  sie  stets  in  der  gleicben  trost- 
losen Stimmang  bleiben,  stets  in  gleiober  Weise  Anlaß  zum  Jammer 
baben  möge.     Scbmidt,  ancb  bier  die  Worte  allza  sebr   pressend, 
nimmt  Anstoß  an  to^^y  weil  gerade  die  lauten  Klagen  es  seien,  die 
den  TTnwilien  der  Klytämnestra  bervorriefen,  und  will  nov^av  statt 
^oo9K  —  V.  564  widerlegt  Schmidt  zwar  die  bei  Sobneidewin-Naaok 
stehende  Erklärang  von  %d  noUa,  aber  nicht  die  Hermannsche,  fttr 
welche   die  Bemerkangen  von  Partsob  Physik.  Geogr.  von  Griech. 
S«  106  f.  Anm.  8  zu  vergleichen  sind.    Das  von  allen  Herausgebern 
aufgenommene  no*pdg  ist  die  Schreibung  der  ersten  Hand  des  Lau- 
rentianus ;  wenn  Schmidt  ancb  in  dem  Umstände,  daß  jttngere  Hand* 
Schriften  no$v^g  bieten  und  der  Schreiber   der  Scholien  des  Laur. 
nohvä^  in  no$r^g  geändert  hat,  ein  Anzeichen  fttr  eine  Korruptel  er- 
kennen zu  dürfen  glaubt,  so  wird  ihm  darin  wohl  kein  Sachkundi- 
ger zustimmen   (er   will    toXfk^Q   änotva  statt  no^vdQ  tot   noUä 
schreiben).  —  Mit  Becht  bemerkt  Schmidt  V.  620f.  stehe  %ovwo  dqä¥ 
und  aiitxfiä  nQclrfMux  von  dem  Verbalten  der   Elektra   überhaupt 
Diesen  allgemeineren  Bezug  kann  aber  Elektra  ihrer  Bede  bereits 
V.  618  geben.     Der   Anstoß,  den   hier  Scbmidt  an  ngdaam  nimmt 
(dafttr  9Qcliio\  ist  daher  nicht  gerechtfertigt.  —  Gegen  die  Ueber- 
liefemng  von  V.  628 f.    erhebt  Schmidt  einen   doppelten   Einwand: 
nach  den  Worten  nQÖg  oQr^v  i*9^QV  ^^   ^^^  Erklärungsgrund  des 
Zornes,  daß  Elektra  von  der  Erlaubnis   frei  zu  reden  Gebranch  ge- 
macht habe,  eigentlich  »nur  angedeutet«   und  erst  aus  dem  folgen- 
den Satzgliede  cid*  inUnatuu  nlmv  zu  entnehmen;  dieses  aber  sei 
^matt  nachhinkend«,     lieber  letzteres   läßt  sich  nicht  streiten;  daß 
aber  Elekra  von  jener  Erlaubnis  den  ausgiebigsten  Gebranch  ge- 
macht hat,  stand  dem  Publikum  noch  in  so  lebhafter  und  unmittel- 
barer Erinnerung,   daß  der  Sinn  der  (in  koncessivem  Sinne  stehen- 
den) Worte  ik8&6taa  %tX.  jedem  klar  sein  mußte.    (Schmidt  will  oiff 
ifk  otn  ändern  und  gM&ataa  zu  odn  inkttaacu  ziehen,  wobei  das  Asyn- 
deton nicht  angemessen  erscheint).  —  Mehrfache  Bedenken  änßert 


Scbmidt,  Kritische  Studien  zu  den  griechischeD  Dramatiken.    Band  1.    409 

Schmidt  gegen  im  uslsim  V.  632 ;  die  Frage  sei  bereohtigt,  warum 
Elektra  mit  solchem  Eifer  zur  Darbringnng  des  Opfers  auffordere; 
zu  befehlen  habe  Elektra  nichts;  ein  derartiges  Asyndeton  verrate 
an  anderen  Stellen  eine  gewisse  Gemtttserregnng,  Ton  der  hier  nichts 
zur  verspttren  sei;  endlich  seien  es  sonst  immer  sinnverwandte 
Worte»  die  zu  derartigen  Verbindungen  zusammenträten.  Der  erste 
Punkt  erledigt  sich  meines  Erachtens  dadurch,  daft  die  Aufforderung 
mit  Ironie  ausgesprochen  wird,  der  zweite  dadurch,  daft  »sl€vs$y 
nicht  vollständig  unserem  »befehlen«  entspricht:  vgl.  H.  Schmidt 
Synonymik  der  gr.  Spr.  1  S.  203 f.;  von  einer  Qemtttserregung  ist 
an  manchen  der  von  Schmidt  mit  dankenswertem  Fleifte  gesammel- 
ten Stellen  (z.  B.  Aias  59)  noch  weniger  wahrzunehmen  als  hier; 
sinnverwandt  endlich  sind  die  zwei  Begriffe  doch  auch  an  unserer 
Stelle,  insofern  sie  sich  beide  auf  die  zustimmende  Einwirkung  be- 
zieheUi  die  jemand  auf  die  Handlung  eines  anderen  ausObt;  daft  die 
Differenz  eine  gröftere  ist  als  anderswo,  ist  zuzugeben,  genUgt  aber, 
wie  mir  scheint,  nicht  zur  Annahme  einer  Eorruptel  (Schmidt  hält 
für  das  ursprüngliche  im  a*,  iniilog  ^s.)  —  656  nimmt  Schmidt  an 
ndü$w  Anstoft  und  schlägt  vor  m^  Snaaov  ^^av.  Durch  die  Hin- 
zuftigung  von  nächv  will  der  Dichter  die  Elytämnestra ,  im  Gegen- 
satze zu  dem  vorhergegangenen  schroffen  Auftreten  gegen  Elektra, 
ihre  Liebe  zum  Oatten  und  zu  den  ihr  nicht  feindlich  gesinnten 
Kindern  mit  besonderem  Nachdruck  hervorheben  lassen.  Zur  Athe- 
tese  von  V.  653  f.  liegt  ein  zwingender  Grund  nicht  vor.  —  Die 
Frage  äq'  i%H  xailcDc;  V.  790  ist  meiner  Meinung  nach  von  Wunder 
nicht  richtig  mit  den  Worten  »nonne  egregie  tneeum  actum  estc 
übersetzt  worden;  der  Begriff  »mecum«  ist  nicht  ausgedrückt  (an- 
ders 816),  und  seine  Ergänzung  erscheint  nicht  geboten.  Elektra 
stellt  die  gegenwärtige  Situation  als  schlechthin  schmachvoll,  in  Wi- 
derspruch mit  der  göttlichen  Gerechtigkeit  stehend,  hin.  nov  xiA 
%i9Bc9a$  taSta,  n9v  &  alvtXv  ml.  fragt  in  ähnlicher  Stimmung  Phi- 
loktet  y.  451.  Dieser  bitteren  Frage  gibt  Elytämnestra  eine  andere 
Wendung,  indem  sie  an  Stelle  des  unpersönlichen  Gebrauchs  von 
uaXm^  9%sk  den  persönlichen  setzt.  Hält  man  diese  Auffassung  fllr 
statthaft,  so  liegt  zu  Schmidts  Aenderung  iq*  Sxm  nalm^  kein  Grund 
vor.  —  y.  902  hält  Schmidt  ta'Aaira  ftlr  unstatthaft,  weil  Ghiyso* 
themis  nicht  schmerzlich  bewegt  sei,  und  vermutet  statt  dessen  so« 
|ii}y«  Allein  aus  Aristophanes  sehen  wir,  daft  in  der  attischen  Um- 
gangssprache sowohl  die  yokative  tdhzy  tdXmva  wie  die  Nomina- 
tive talaq  %ala§9a  nicht  selten  zum  Ausdruck  einer  erregteren  leb- 
hafteren Stimmung  dienten,  auch  ohne  dafi  dieselbe  eine  irgendwie 
sobmerzUehe  war.    ygl.  Pax  544.  Av.  1260.  1646.  Lys.  102.  910. 


410  Gott.  gel.  Anz.  1887.  No.  II. 

914.  Thesm.  559.  Ban.  559.  926.  Ekkl.  124.  242.  658.  919.  Plal 
706.  1055.  (Soph.  Oed.  Col.  318).  —  Ud verständlich  ist  mir  die  Be- 
hanptungy  in  V.  1054  sei  durch  die  Hinzufttgnng  von  xal  »die  Vor- 
aussetzang  angedeutet,  daft  der  Gedanke  an  einen  Versuch  wirklich 
aufgestiegen  oder  Gegenstand  einer  Erwägung  geworden  sei«,  wäh- 
rend dies  bei  der  vorgeschlagenen  Aendernng  ndqta  statt  na\  %b 
nicht  der  Fall  sein  soll.  —  V.  1036  ist  bei  ngofAti&ta^  cov  die  Assi- 
milation nicht  streng  logisch,  läßt  sich  aber,  wie  mir  scheint,  da- 
durch rechtfertigen,  daß  der  Gedanke  vorschwebt,  das  VerhalteUi 
wozu  Chrysothemis  die  Elektra  veranlassen  wolle,  sei  nicht  ehrlos, 
sondern  ein  solches,  wie  es  der  nqo^fi^ia^  die  sie  für  Elektra  hegt, 
entspreche,  d.  h.  ein  solches,  bei  dem  diese  nicht  dem  Verderben  und 
Tode  ausgesetzt  sein  werde.  Schmidt  hält  dies  fttr  unmöglich  und 
schreibt  daher  1035  lic  äuf^tag  Sxp  —  Ebenso  wenig  vermag  ich 
den  Anstoß,  wegen  dessen  Schmidt  V.  1066  (pigovaa  vslx^  schrei- 
ben will,  zu  teilen.  Der  Chor  erklärt  das  Verhalten  der  Chry- 
sothemis  gegen  den  toten  Vater  für  pietätlos,  wirft  ihr  vor,  die 
Elektra  im  Stich  zu  lassen  und  prophezeiht  ihr  Bestrafung;  man  ist 
hiernach,  wie  mir  scheint,  nicht  berechtigt,  den  Ausdruck  ivetdij  für 
unpassend  zu  erklären.  —  V.  1209  f.  hat  die  Störung  der  Sticho- 
mythie  Analogieen :  vgl.  Wolff,  oi  (p^f$'  idcsiv  steht  nicht  wie  Phi- 
lokt  817,  sondern  es  ist  zu  idasiv  das  Objekt  mit  dem  Infinitiv 
[S%nv\  dessen  Begriff  sich  aus  der  Situation  von  selbst  ergibt,  zu 
ergänzen:  vgl.  Oed.  Col.  1135.  «a^^^c  wird  von  den  Herausgebern 
richtig  erklärt.  Damit  dürften  wohl  die  Gründe  zu  Schmidts  ge- 
waltsamer und  wenig  ansprechender  Aenderung  OP.  ool  9ijf^\  iaC9¥. 
ai  ndl$v  Xiym.  iki&B^*  HA.  'OgSetay  t^t; a^g  »al  tnsQij<fOfka$  ti^qag 
wegfallen.  —  V.  1296  bestreitet  Schmidt  mit  Becht  Wolffs  Erklärung 
von  ovvm:  aber  die  Auffassung  von  Nauck  und  Campbell  erscheint 
nicht  unzulässig  (die  Ellipse  ist  nicht  härter  als  z.  B.  die  nach  %l  di 
Oed.  Tyr.  1056),  so  daß  zu  dem  freilich  bestechenden  Vorschlage  von 
Blaydes  und  Schmidt  (oqd)  eine  zwingende  Notwendigkeit  nicht 
vorliegt.  —  Unklar  ist  mir  der  Anstoß  geblieben,  den  Schmidt  Oed. 
Tyr.  V.  296  an  dqüvu  nimmt  und  wegen  dessen  er  dqäv  u  schrei- 
ben will.  (»Wenn  jemand  die  That  ohne  Furcht  begeht,  so  läßt  er 
sich  auch  durch  ein  Wort  nicht  in  Schrecken  setzen c)  —  594  oi  y^Q 
statt  ot/iiM.  Aber  ein  derartiges  Asyndeton  ist  wiederum  keineswegs 
auf  erregtere  Stellen  beschränkt ;  vgl.  Ziel  de  asyndeto  apud  Sophoclem 
S.  9.  —  In  dem  Scholion  zu  635  ist  ifklovs^noi^tB^  nichts  weiter  als 
Erklärung  von  US^a  mvovvtsq  uaud:  weder  dieses  Scholion,  noch  (waa 
auch  Schmidt  anerkennt)  der  Fehler  im  Lanrentianus  geben  zu  der 
sprachlich  sehr  bedenklichen   Aenderung  Iöm  PHuoimg  nand  eine 


Schmidt,  Kritische  Stadien  zn  den  griechischen  Dramatikern«    Band  1.    411 

BerechtigQDg.  —  V.  676  verlangt  Schmidt  den  Begriff  des  Ver- 
kenneng bestimmt  aasgedrttckt  and  hält  die  Aenderang  ttol  fkip  douiir 
d Ho  tog  ftlr  »fast  nnabweisbarc.  Aach  hier  erseheint  mir  seine 
Behandlangsweise  allza  peinlich;  ein  Verkennen  ist  immer  aach  ein 
Nichtkennen,  nämlich  ein  Nichtkennen  der  wahren  Eigenschaften 
eines  Menschen.  Der  Dichter  konnte  anbeschadet  der  Deatlichkeit 
den  weiteren  Begriff  statt  des  engeren  setzen.  Aach  der  Gegensatz 
zwischen  den  beiden  Satzgliedern  war  für  jeden  einigermaßen  den- 
kenden Hörer  anyerkennbar.  —  937  soll  geändert  werden  Ijöattd 
/  iv  ndSg  cT  oix]  ^f*'  dcxdXXot  cT  lamq.  Soviel  ich  sehe,  ohne 
irgendwie  genflgende  Gründe.  Wenn  der  Bote  V.  934  den  Gatten 
der  lokaste  erwähnt  hat,  so  kann  er  denselben  doch  939,  nachdem 
er  nnr  zwei  Verse  dazwischen  gesprochen  hat,  ohne  alle  Zweideatig- 
keit  darch  aitov  bezeichnen.  Weshalb  es  bei  der  Ueberlieferang 
AnstoB  erregen  soll,  daß  nicht  schon  vorher  speciell  die  Freade  der 
lokaste  hervorgehoben  ist,  verstehe  ich  nicht.  Daß  das  Ableben 
von  Oedipns'  vermeintlichem  Vater  anch  die  Teilnahme  der  lokaste 
erregen  werde,  darf,  nach  Schneidewins  richtiger  Bemerkang,  der 
Bote  voranssetzen.  Daß  sich  endlich  in  V.  937  die  Wirkung  der 
Partikel  äv  aach  aaf  das  unmittelbar  vorhergehende  ^do^o  erstreckt, 
läßt  sich  darch  analoge  Stellen  hinlänglich  rechtfertigen.  —  1013 
verlangt  Schmidt  tovto  dij  f*'  del  tpoßst  oder  (da  ihm  dtt  »nicht  recht 
zusagte)  tovtd  f»'  itrti  dtj  (poßovv^  weil  der  Sinn  der  Stelle  »einer 
Beziehung  zur  Zukunft  widerstrebec.  Durchaus  nicht :  denn  Oedipns 
wehrt  den  Gedanken  des  Boten  ab,  daß  von  nun  an  Eorinth  dauernd 
oder  zeitweilig  sein  Herrscher-  und  Wohnsitz  sein  werde:  s.  939  f. 
1006  f.  1010  ff.  Fttr  das  Präsens  neben  stg  äst  vgl.  z.  B.  Eur.  Or.  207. 
—  V.  1286  ^onfi  statt  ^oXfl,  Schmidt  fragt:  »wie  kann  derChor- 
f&hrer  jetzt  an  einen  Ruhepunkt  in  dem  Leiden  des  Oedipns  den- 
ken?«. Die  für  mich  vollkommen  befriedigende  Antwort  hierauf  er- 
teilt die  Note  Wolffs.  Wenn  hiemach  der  Chor  eine  oxoXij  glaubt 
annehmen  zu  dttrfen,  so  kann  er  auch  fragen,  von  welcher  Art  die- 
selbe sei.  —  V.  1292  ndvtmq  d*  dgmr^q  statt  ^o»>9(  r'  fkiy%o$. 
Ich  glaube,  daß  ^cifM^  von  Sophokles  hier  weder  in  der  Bedeutung 
»Sttttzec  noch  in  der  Bedeutung  »forte  auxilium«  gebraucht  ist,  son- 
dern im  eigentlichen  Sinne.  »He  needs  some  one  to  lend  him 
strength  and  guidance,  for  his  calamity  is  greater  than  can  be 
bomec  Übersetzt  Campbell.  —  Antig.  V.  1214  ist  aaiv$$  allerdings 
ein  auffallender  Ausdruck;  derselbe  findet  indessen  darin  seine  Erklä- 
rung, daß  es  die  Stimme  des  geliebten  Sohnes  ist,  die  an 
Kreons  Ohr  dringt.  Schmidt  (S.  275)  hält  fttr  das  ursprtingliohe 
nmddg  /$?  Udvs^   9&6rrog.  —  Oed.  Gol.  V.  326  dt^^  i/m  statt 


412  QOtt.  gel.  Abs.  1887.  Nr.  11. 

SsfkßQoy.  davuifop  ist  daram  bereobtigt,  weil  Ismene  die  Jabre,  die 
sie  znsammen  mit  Vater  and  Scb wester  in  Tbeben  verbracbt  bat 
nnd  die  von  der  Gegenwart  dnrcb  einen  längeren  Zwisebenraam 
getrennt  sind,  als  zeitlicbe  Einbeit  znsammenfassen  und  der  jetzt 
eingetretenen  Wiedervereinigang  gegenüberstellen  kann.  Daß  das 
barmlose  bei  Sophokles  bäofige  Wort  bier  »bOcbst  prosaisch  klinge<| 
wird  dem  Verfasser  scbwerlicb  jemand  zagestebn.  —  V.  907  yiy  f 
ovaiUQ  avtÖQ  ^slq  rdpMv^  bI<s^19b  y^v  statt  fot)^  v.  slaijX&*  s^mv. 
Der  Anstoß,  den  Schmidt  an  den  Worten  toi^g  vofAOvg  B%m¥  nimmt, 
durfte  sich  erledigen,  wenn  man  den  Aasdrack  in  demselben  Sinne 
faßt,  in  welchem  sich  z.  B.  Ai.  548  iv  voftotg  na%q6g  findet  Schlechte 
VQikOk^  in  diesem  Sinne,  hatte  Kreon,  als  er  ins  attische  Land  kam, 
wie  sich  durch  sein  Verfahren  gezeigt  bat  Fttr  den  folgenden  Vers 
ist  dann  ro/io»,  was  kein  Bedenken  bietet,  in  etwas  anderem  Sinne 
za  nehmen.  Die  Ergänzung  des  lokalen  Begriffs  za  ihs^X&B  ist 
ebenso  selbstverständlich  wie  Oed.  Tyr.  319  oder  EI.  685.  700.  — 
V.  1344  IvfMpiQovwg  statt  \vv&iXov%og,  weil  letzteres  nnr  »eine  Be- 
zeichnung der  Geneigtbeitc  enthalte  und  dies  zu  wenig  sei.  Daß 
aber  in  ivv9ilshv  mehr  als  eine  bloße  Geneigtheit  liegt,  zeigt  z.  B. 
die  Anwendung  des  Wortes  Arist  Av.  851.  —  V.  1381  hält  Schmidt 
ddin^ika  mal  ^qoywq  für  falsch,  weil  »eine  derartige  Verbindnngc 
(soll  wohl  heißen  »diese  Verbindung«)  sich  sonst  nicht  finde  und 
weil  auch  daraus,  daß  Bergk  V.  1382  mit  Recht  d^q6vo^  in  voikOkg 
geändert  habe,  auf  eine  Verwechselung  der  beiden  Versbälften  zu 
schließen  sei.  Er  vermutet  daher  ddfkovg  statt  d^övovg.  Die  Ar- 
gumentation bat  fttr  den  nichts  überzeugendes,  der  Bergks  Konjek- 
tur fttr  unberechtigt  hält  und  an  dem  einmaligen  Vorkommen  einer 
'Verbindung,  fttr  die  es  an  Analogieen  nicht  fehlt,  keinen  Anstoß 
nimmt  —  Der  Sinn  von  Trach.  V.  1131  soll  nach  Schmidt  sein: 
»du  verkflndigst  ein  Wunder,  woran  man  nicht  glauben 
kannc.  Da  aber  der  letztere  Gedanke,  wie  er  mit  Recht  bemerkt, 
in  dkd  nanmv  nicht  liegen  kann,  so  vermutet  er  statt  dessen  d$d 
neviSr.  Es  ist  natürlich,  daß  die  Nachricht  von  dem  unerwarteten 
und  seinem  Anlasse  nach  zunächst  noch  unverständlichen  Ereignisse 
den  Herakles  in  Staunen  versetzt  und  er  daher  dasselbe  als  ein  ttqag 
bezeichnet  Aber  kein  Grund  liegt  fttr  ihn  vor,  die  Angabe  rundweg 
fttr  eine  Lttge  zu  erklären.  Der  Zusatz  did  xcutmp  bezieht  sich  auf 
das  unerwünschte  der  Nachricht:  Herakles  ist,  wie  wir  sogleich  aus 
seinen  nächsten  Worten  erfahren,  zornig,  daß  er  nicht  selbst  die 
Strafe  vollstrecken  konnte.  —  V.  1201  f.  steht  in  freier  Weise  mit 
persönlicher  Wendung,  ficyod  &  iym  ml,  statt  »die  von  mir  veran* 
laßte  Strafe  wird  dich  erwarten«  (vgl  1239  f.),  und  dqatog  steht  nn- 


Meyer,  Griecliische  Grammatik.    Zweite  Auflage.  413 

gewöhnlich,  aber  ohne  Verletzung  eines  Sprachgesetzes,  snbstantivisch. 
Hält  man  diese  beiden  Freiheiten  ftlr  statthaft,  so  ist  die  Stelle  ohne 
Anstoft.  nai  viq&sv  äv  ist  mit  dem  folgenden  zn  verbinden;  nai  ist 
einfach  dämm  hinzugeftlgt,  weil  der  strafende  Rächer  einer  Misse- 
that  in  der  Regel  ein  Lebender  ist.  Schmidt  will  schreiben :  si  di 
f*^y  daifkfAV  &  Udo  xäxmd'BV  Sv  mX,  —  V.  1204  wird  onoXa 
dnrch  Stellen  wie  Oed.  Tyr.  1076  oder  Oed.  Col.  1347  geschützt; 
der  Sinn  des  einfachen  Relativs  nnd  der  Qaalitätsbegriff  sind  darin 
vereinigt.  Die  ȟndentlichkeitc,  wegen  deren  Schmidt  inoXa  in 
&  fsoi  YB  ändern  will,  war  für  den  einigermaßen  anfmerksamen  HO- 
rer  nicht  vorhanden.  —  Pbilokt.  V.  440  schlägt  Schmidt  vor 
yhdatSfi  di  ds^vov  xal  t/ß6g>M^  ti  viv  »VQst  oder  xal  q>6gfO$a§  vvv 
niQ$.  Mit  Unrecht  erklärt  er  das  Prädikat  aoipov  in  der  Schilderang 
des  Thersites  fOr  unpassend,  r^ciaoy  dstyog  ual  ao(p6g  gibt  das  ho- 
merische i^yvg  ^r^Q^^i  B  246  wieder:  die  Neueren  halten  diesen 
Ansdruck  teils  für  ironisch,  teils  für  das  Zugeständnis  eines  wirkli- 
chen Vorzugs ;  jedenfalls  hindert  nichts,  dem  Sophokles  die  letztere 
AufTassung  beizulegen.  Uebrigens  wissen  wir  auch  nicht,  wie  Ther- 
sites in  der  Aethiopis  geschildert  war:  Sxa^qs  2og>o*l^g  tu  imtt^ 
Mmhf.  Daß  die  beiden  syntaktischen  Singularitäten  der  Stelle  keine 
zwingenden  Orflnde  zur  Annahme  einer  Eorruptel  sind,  stellt  auch 
Schmidt  nicht  in  Abrede. 

Halle,  im  März  1887.  E.  Hiller. 


Meyer,  Gustav,  Griechische  Grammatik.  Zweite  Auflage.  Leipzig,  Druck  und 
Verlag  von  Breitkopf  &  Härtel.  1886.  XXXVI  nnd  652  S.  8^  [A.  u.  d. 
T.:  Bibliothek  indogermanischer  Grammatiken.    Band  in.] 

Der  Titel  »Grammatik«,  welchen  dies  Werk  ftthrt,  ist  in  einem 
sehr  eingeschränkten  Sinn  zu  verstehn,  denn  es  fehlt  ihm  die  Lehre 
von  der  Betonung,  von  der  Wortbildung  und  von  der  Syntax  der 
griechischen  Sprache.  Aber  trotzdem  stehe  ich  nicht  an,  es  für  die 
beste  griechische  Grammatik  zu  erklären,  welche  wir  haben.  Die 
Grammatiken  Buttmanns,  ErOgers  und  auch  Etthners  Oberragt  es 
weit,  weil  es,  und  zwar  im  allgemeinen  in  beifallswerter  Weise, 
komparativ  gehalten  nnd  auf  den  griechischen  Inschriften  aufgebaut 
ist,  nnd  vor  derjenigen  Brugmanns,  die  allerdings  sehr  viel,  aber 
darum  durchaus  nicht  jedem  etwas  bringt,  hat  es  reicheres  Material, 
grOftere  Grttndlichkeit,  bessere  Darstellung  und  weniger  jnnggram- 
matische  Einseitigkeit  voraus.  Frei  von  der  letzteren  ist  es  aller- 
dings durchaus  nicht,  aber  dieselbe  tritt  nach  meiner  Empfindung 


4T4  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  II. 

bei  dem  Hrn.  Verfasser  nicht  in  verletzender  Weise  hervor  and  ist 
bei  ihm  offenbar  nicht  Folge  eines  bösen  Willens,  sondern  einer  wis- 
senschaftlichen Gewöhnung,  die  mir  ganz  verständlich  ist.  Die 
Jnuggrammatiker  folgen  eben  alle  emporgehobenen  Hauptes  ihrem 
Stern  and  anterscheiden  sich  nar  dadarch  von  einander,  daft  die 
einen  von  ihnen  —  ond  hierzu  rechne  ich  den  Hrn.  Verfasser  — 
den  ihnen  entgegenkommenden  einen  Blick  zuwerfen  und  aus  dem 
Wege  gehn,  die  anderen  aber  diese  anrennen. 

Von  der  ersten  Auflage  dieses  Werkes  unterscheidet  sich  die 
vorliegende  zweite  durch  eine  Menge  von  Aenderungen  und  Zu- 
sätzen und,  in  Folge  dessen,  durch  eine  erheblich  größere  Seiten- 
zahl (552  gegen  464  S.)-  Wer  die  Arbeiten  des  Hrn.  Verfassers 
kennt,  wird  hiernach  nicht  zweifeln,  daft  diese  zweite  Auflage  er- 
heblich wertvoller  ist,  als  ihre,  übrigens  auch  schon  sehr  anerken- 
nenswerte Vorgängerin,  und  ich  freue  mich  um  so  mehr,  dies  be- 
stätigen zu  können,  je  häufiger  mir  die  Darstellung  des  Hrn.  Ver- 
fassers Anlaft  zu  Ausstellungen  gibt.  Die  Fortschritte,  welche  die 
Wissenschaft  in  den  letzten  sechs  Jahren  gemacht  hat,  sind  in  ihr 
fleißig  berttcksichtigt  und  hin  und  wieder  durch  selbständige  Bemer- 
kungen vervollständigt  und  vertieft,  und  mancher  Irrtum  der  ersten 
Auflage  ist  in  ihr  ausgemerzt.  Das  Lob,  welches  Gollitz  der  letzte- 
ren gespendet  hat,  daft  sie  nämlich  »im  allgemeinen  ein  getreues 
Bild  des  jetzigen  Standpunktes  der  griechischen  Grammatik  lieferte 
(Beitr.  z.  K.  d.  ig.  Sprachen  VII  175)  darf  demnach  dieser  neuen 
Auflage  in  erhöhtem  Mafte  gezollt  werden. 

Indem  ich  mich  nun  den  Einzelheiten  des  Werkes  zuwende,  be- 
tone ich,  daft  ich  nur  einen  Teil  dessen,  was  ich  dazu  zu  bemerken 
habe,  hier  zur  Sprache  bringen  kann,  und  daft  der  Widerspruch, 
welchen  ich  dem  Hrn.  Verfasser  im  folgenden  wiederholt  entgegen- 
stellen werde,  teilweise  nur  durch  die  Verschiedenheit  seines  und 
meines  principiellen  Standpunktes  bedingt  ist  und  insofern  nicht  als 
Tadel  aufgefaßt  werden  darf.  Auf  diese  Verschiedenheit  selbst  ein- 
zugehn,  halte  ich  für  unnötig,  da  ihre  Diskussion  erhebliches  neues 
kaum  zu  Tage  fördern  würde  ^),  und  da  die  Lehrsätze  der  jung- 
grammatischen Richtung  in  dieser  Grammatik  nicht  in  den  Vorder- 
grund gestellt  sind. 

1)  Im  Vorbeigehn  möchte  ich  mir  nur  die  Frage  erlauben,  warum  es  im  Go- 
tischen .wohl  ßanuh,  ßammuh,  ßatuh,  aber  z.  B.  hoanoh,  hoammeh^  hvarjatoh 
hdftt.  Man  wird  erwidern,  dai  fanuh  u.  s.  w.  spätere  Formationen  seien,  und 
ich  will  das  gern  annehmen;  aber  dann  finden  sich  doch  altertümlichere  und 
jüngere  Qestaltongen  einer  grammatischen  Bildongsweise  in  einer  und  derselben 
sprachlichen  Periode  neben  einander. 


Meyer,  Griechisofae  Grannnatilc.    Zweite  Auflage.  415 

Bei  der  BeBprechung  der  YokalreibeD  (S.  4  ff.)  Termisse  ich 
aaBer  einem  Hinweis  auf  die  fleißige  Arbeit  Bloomfields  Americ.  Jour- 
nal of  Philology  I  281  (»The  'Ablaut'  of  greek  roots  which  show 
variation  between  e  and  oc)  die  Würdigung  von  dv^q:  dy^^vmq^ 
igiim:  dfjKp-^Qktnog,  oQog:  dnQ'tioQf$a  u.  s.  w.  (vgl.  ved.  an-anuhrtya^ 
lit  skdn-skoniai  n.  s.  w.).  Der  Ablaut,  welcher  in  solchen  Fällen 
erscheint  und  bekanntlich  vollkommen  geregelt  ist,  beruht  offenbar 
je  auf  dem  betreffenden  kurzen  Vokal.  Ob  bd-äroQ  fttr  die  Zurttck- 
ftthrung  von  äym  auf  eine  starke  Wurzelform  by  (S.  52,  62)  zu  ver- 
werten ist,  erscheint  hiemach  zweifelhaft. 

S.  12  (Anm.  zu  §  11)  heiftt  es:  »Nasalis  und  Liquida  sonans 
stehn  von  Haus  aus  n  u  r  in  unbetonten  Silben  c  Vielleicht  ist  die- 
ser Satz  richtig,  vielleicht  aber  auch  nicht.  Da  nämlich  sowohl  ein 
Nasal  wie  eine  Liquide  den  Ton  tragen  kann,  so  ist  die  Ursprttng- 
lichkeit  von  z.  B.  indogerm.  v^qos  durchaus  nicht  undenkbar.  Ein 
Lautkomplex  vdqos  konnte  an  drei  Stellen  betont  werden:  vilqasj 
veTqos  (vgl.  lit  mlkas),  vdqos.  Aus  vePqos  und  velqös  mußte  sich 
aber  gleichmäßig  vlqos  ergeben^). 

An  derselben  Stelle  wird  TSKtalyen  aus  ^uxtnioS  erklärt  (vgl. 
S.  14,  23,  456).  Ich  habe  mich  dagegen  schon  anderswo  (Beitr.  z. 
E.  d.  ig.  Sprachen  X  72,  vgl.  das.  VII  73)  ausgesprochen  und  will 
diesen  Widerspruch  hier  etwas  ausführen.    Man  vgl.: 

fuatyu  ßaqivm  \  {^nkavim  *ßaqvvim 

intäva 


ivm  ßaqivm  \  i^ntavi»  *ßaqvvim 

Iva  ißdq^va  f  ==^  {  *imct¥Ca  *ißaqwaa 


1)  Beiläufig  mögen  hier  ein  paar  andere  den  indogerm.  Accent  betreffende 
Bemerkungen  Raam  finden.  1)  Die  vedischen  Verkürzungen  und  Dehnungen  stehn 
teilweise  vielleicht  mit  der  indogerm.  Verschiedenheit  von  Akut  und  Gircumfler 
in  Zosammenhang.  Man  beachte :  paurd  (Voc.  Dual.,  gr.  t»),  avasU  (Instr.  Sg., 
lit  i),  pardkdat  (Abi.  Sg.,  gr.  »[c]),  gaam  (Acc.  Sg.,  gr.  ßwp),  dettnaam  (Gen.  P)., 
gr.  »r),  ntitf  (gr.  vvH),  dhartdü  (wie  A.  Kuhn  las)  (Gen.  Sg.,  lit  Sa).  2)  Die  Re> 
gel  Bechtels,  daß  die  urgerm.  Verschärfung  von  /  vor  unmittelbar  folgendem  in- 
dogerm. Accent  eingetreten,  bei  unmittelbar  vorausgehenden  unterblieben  sei 
(Getting.  Nachr.  1885  S.  235),  wird  von  Brate  Beitr.  z.  E.  d.  ig.  Sprachen  Xm  33, 
wie  mir  scheint  mit  Becht,  auf  den  Kopf  gestellt.  Nehmen  wir  an,  dafi  nicht 
got  priJB  nach  ßreis,  sondern  an.  priggja  (ahd.  ihriio)  nach  ^9ggja  (as.  iueio^ 
ahd.  stftt^'o)  sich  gerichtet  habe,  so  erhalten  wir  urgerm.  fr^jt  =  gr.  iqmp^ 
lit  trijfi  (ved.  trlnim)  und  urgerm.  tüa{dd)Je  =  ved.  dväyo9  (gr.  dvoZt^,  lit  dveju), 
Tva{dd]fi  wäre  hiernach  ein  alter  Gen.  Dual.,  der  die  Endung  des  Gen.  PI.  an- 
genommen, aber  seine  ursprüngliche  Betonung  bewahrt  hat.  8)  Der  Name  Frigg 
beweist  nichts  für  Bechtels  Annahme,  da  es  skr.  priyd  gegenftberstehn  kann,  wie 
an.  ßur$  dem  ahd.  durri  (Grimm  Mythol.  '  S.  488),  B6act  Bon,  9oa»y  dem  A^\ 
^pf.  Der  >-  von  Wheeler  und  Prellwitz  (Gott.  gel.  Anz.  1886  S.  760)  ftbrigens 
jBUi  Becht  bestrittene  —  »Nominalaccent«  kam  eben  auch  im  Germanischen  vor, 


4li  Gatt.  gel.  Am.  1887.  Nr.  U. 

bei  dem  Hm.  Verfasser  nicbt  in  verletzender  Weise  hervor  nnd  ist 
bei  ifam  offenbar  nicbt  Folge  eines  bösen  Willens,  sondern  einer  wia- 
senschaftlichen  GewObnang,  die  mir  ganz  verständlich  ist.  Die 
Jouggrammatiker  folgen  eben  alle  emporgehobenen  Hanptes  ihrem 
Stern  nnd  nnterscheiden  sich  nnr  dadnrch  von  einander,  daft  die 
einen  von  ihnen  —  and  hierza  r"»*-"»  '-^  '*""  ""•  Vi.rf<.<ui«i-  _ 
deo  ihnen  entgegenkommenden  ein 
Wege  gehn,  die  anderen  aber  diest 

Von  der  ersten  Auflage  diesf 
vorliegende  zweite  durch  eine  M< 
Sätzen  and,  in  Folge  deasen,  dnr 
zahl  (552  gegen  464  S.).  Wer  di 
kennt,  wird  hiernach  nicht  zweife 
heblich  wertvoller  ist,  als  ihre,  Hb 
Denswerte  Vorgängerin,  nnd  ich  i 
stätigen  ZQ  kSnnen,  je  häufiger  D 
fassere  Anlaft  zu  Ausstellungen  gi 
Wissenschaft  in  den  letzten  sechs 
fleiftig  berücksichtigt  nnd  hin  und 
fcnngen  vervollständigt  und  vertieft 
Auflage  ist  in  ihr  ausgemerzt.  Dai 
ren  gespendet  hat,  daft  sie  nämli 
Bild  des  jetzigen  Standpunktes  dei 
(Beitr.  z.  K.  d.  ig.  Sprachen  VII  1 
Auflage  in  erbShtem  UaBe  gezollt 

Indem  ich  mich  nun  den  Binz< 
tone  ich,  daB  ich  nnr  eiuen  Teil  di 
habe,  hier  znr  Sprache  bringen  k 
welchen  ich  dem  Hrn.  Verfasser  in 
stellen  werde,  teilweise  nnr  dnrct 
meines  principiellen  Standpunktes  1 
Tadel  Bufgefaftt  werden  darf.  Auf 
zugehn,  halte  ich  fUr  unnötig,  da 
kaum  zu  Tage  flirdem  würde  *), 
grammatischen  Richtung  in  dieser 
grnnd  gestellt  sind. 

1)  Im  Torbeigelin  möchte  tcli  mir  ni 
tisclien  .TOhl  ßanuk,   ßammuh,  ßatuh, 
heilt.    Hui  vird  erwideni,  dftt  famuh 
iah  will   du    gern   umehmen;    ftber    d& 
jüngere  Qeataltnngeii  einer  gramm&tiach 
■prachüchett  Periode  neben  einander. 


Meyer,  Griechische  Qrammatilc.    Zweite  Auflage.  417 

ZU  erklären  und  anzanebmen,  daA  der  AnBgaDg  der  letzteren  den  der 
ersteren  in  großem  Umfange  verdrängt  habe  (?gl.  as.  dagas,  dages  n.  a.). 

Bei  inta-y  lat  Odin-  (S.  25)  wäre  wobl  aacb  Benfey  Qnantitäts- 
▼ersebiedenbeiten  V^  1  S.  16  ff.  zn  erwäbnen  gewesen. 

Zu  S.  25  §  21  nnd  S.  419  verweise  icb  auf  Mttller  Fragm.  bist, 
graec.  IV  478:  >lyto$  %&¥  ^Imvmv  .  .  •  .  %d  inofkarw  v  ipvldnov(A€ 
(sc.  in  nsno$iapta$,  ysyspiartai).  Dies  -cn^tai  entspriebt  dem  activ. 
'oyu  (•6(r»),  wie  -aiiM  dem  aetiv.  -au  (ätu).  -avtak,  ^vtvu  sind  nur 
zeitlicb  von  -atuh,  •au  verschieden  und  zwar  jünger  als  diese.  Die 
letzteren  stammen  ans  der  Zeit,  in  welcher  das  thematische  a  des 
Perfekts*)  noch Schwä war  (also  -«»  =:  -"-v»,  -ata*  s=  -''-kto*),  die 
ersteren  aas  derjenigen,  in  welcher  dasselbe  bereits  zum  volltonen- 
den a  geworden  war  (also  -am  ss  -a*f^i,  -avsa*  ss  -a-yfca).  — 
Daft  ioh|  obwohl  kein  Junggrammatiker,  die  Zurttckfitbrung  von 
l-M*  auf  idg.  |-iUi,  von  i-äOh  auf  idg.  s-^i ')  nnd  des  optativiscben 
-«•ono  auf  "i/^  für  Verstöfte  gegen  die  Lautgesetze  halte,  bemerke  ich 
nnr  beiläufig. 

Das  a  von  f^efirM,  tQätpmy  tqä%m^  fftQcl^m  wird  S.  27  fär  »not- 
wendig hysterogen«  erklärt,  »da  den  nur  mit  dem  thematischen  Vo- 
kal gebildeten  Präsensstämmen  e  zukommt«.  Seine  notwendige  Kor- 
rektur erhält  dieser  Satz  durch  S.  443  §  499  B),  wo  sich  der  Hr. 
Verf.  nur  etwas  ansf&hrlicber  ttber  die  s.  g.  VI  Eonjngationsklasse 
hätte  aussprechen  sollen. 

Was  r^  und  r^  betrifft  (S.  30),  so  entspricht  das  erstere  dem 
skr.  ha,  asl.  £e,  altlit.  ge^  das  letztere  dem  skr.  Ai,  lit.  prenft.  gi\ 
skr.  gha  ist  gleich  avest  9a(-/),  asl.  go,  altlit.  preuft.  ga.  Zweifelhaft 
bleiben  hiemach  nnr  german.  -%,  ^a-,  abd.  -gi  *)  nnd  lit  gu. 

Unter  »unregelmäftige  Vertretung  von  o«  (S.  31),  wo  ich  die 
an  anderer  Stelle  erwähnten  Wörter  ißdtfMJuovta^  figrarw  vermisse, 
heiftt  es  im  Ansohlnft   an  das  pampbyliscbe  twigüömwi   »Esl.  proti 


1)  Nach  dem  Hm.  Verf.  S.  481  §  551  freilich  »ist  das  Perfektom  Ursprung« 
lieh  eine  unthematische  Bildungc  nnd  »im  Activum  durch  Eintritt  eines  analo- 
gisch entstandenen  -a-  Alteration  des  ursprünglichen  Verhältnisses  ;eingetretenc. 
Wer  aber  kein  Analogieschw&rmer  ist,  wird  dem  einen  nackten  Widerspruch  ent- 
gegensetzen und  das  perfektische  a  mit  dem  entsprechenden  skr.  i  und  german. 
u  identifideren. 

2)  U[»  ist  vielmehr  von  einer  Basis  /[«]«-  ans  gebildet,  die  bereits  von  Fick 
mit  an.  tru-  identificiert  ist  (Beitr.  VU.  171  f.),  und  auf  welcher  auch  das  dor. 
Particip  kriTMi  und  1«^,  Ion  bei  Herodot  beruhen.  Verschieden  von  dieser  Basis 
sind  l[<r]«-  in  Up  (skr.  Uam)  und  l[f]a-,  Iv-  in  Iftf-d«  (lat.  era»), 

8)  —ffi  »ecce«  Holtsmann  Isidor  15,  25.  26.  •  für  •  wie  in  den  einsilbigen 
yt6,  ick,  miehf 

«Ml.  gel.  Ami.  1SS7.  Hr.  11.  80 


418  GAU.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  11. 

It  pari-  ambr.  pur-  scheioen  anf  o  zn  weisen.  EigeDtttmlieh  ist  lit. 
presa  gegen,  wieder,  lett.  pretti^  n.  s.  w.  Lit  prese  liegt  aber  von 
lett.  pretij  asl.  proü  himmelweit  ab ,  and  das  letztere  läfit  sich  nach 
Ausweis  seiner  slavischen  Reflexe  nicht  anf  *porti  zartlckftthren« 

Zu  vno  und  ina-  (S.  33  Anm.  zn  §  26,  S.  63  Anm.  2  S.  74  [wo  die 
unrichtige  Proportion  «anf:  ua%d  &=  vn6:  ina-'^)  gesellt  sich  jetzt 
die  ionische  Form  inv^  vorkommend  in  der  in  den  Notizie  degli 
scavi  com.  all'  academia  dei  Lincei  1884  p.  352  ff.  ^)  veröffentlichten 
und  behandelten  kymaeischen  Grabinschrift:  HVPVT^IKI^IN^ITOV- 
TOI^NO^HVPV  .  •  .  .  —  Wie  diese  Form  und  änv  oder  «an;  zu 
erklären  sei,  weiß  ich  nicht,  aber  jedenfalls  ist  sie  sehr  wertvoll  und 
berichtigt  manches,  was  über  xatd^  xa%i  u.  s.  w.  (vgl  damit  lett  lit. 
sai  lit  su^  lit  gai  gu  u.  s.  w.)  gesagt  ist 

S.  37  §  32  war  neben  apyiav  das  S.  506  erwähnte  im&Oar 
u.  a.  (Daniel  Beitr.  z.  E.  d.  ig.  Sprachen  VI  246)  zu  nennen. 

S.  40  Anm.  1  heißt  es:  »Sie  [sc.  die  Wurzelformen  nk^,  ng^i, 
fQfl  u.  s.  w.]  sind  nach  der  gewöhnlichen  Ansicht  durch  Metathesis 
aus  solchen  Wurzeln  entstanden,  wo  ein  kurzer  Vokal  zwischen  der 
Explosiva  und  dem  Sonanten  steht,  z.  B.  nl^  aus  nel.  In  den  mei- 
sten Fällen  müßte  die  Metathesis  bereits  idg.  sein,  wie  bei  nX^  ngti 
yvif  %Xfi  tQ^.  Die  Annahme  der  Metathesis  macht  nicht  unbedeutende 
Schwierigkeiten;  deshalb  hat  Brugmann  in  einer  eingehenden  und 
sorgfältigen  Erörterung  MU.  1, 1  ff.  diese  Erklärung  durch  eine  an- 
dere zu  ersetzen  gesucht,  nach  welcher  17  ein  an  die  schwache  Wur- 
zelform {nl  nX)  angetretenes  Suffix  wäre«.  Ich  verweise  dem  gegen- 
ttber  nicht  sowohl  auf  meine  Auseinandersetzung  6QA.  1879  S.  670  ff., 
und  auf  Fick  das.  1881  S.  1425  ff.,  als  auf  Benfey  Kieler  Monats- 
schrift 1854  S.  34,  OGA.  1865  S.  1379,  Gott  Nachr.  1873  S.  403. 
Ein  Junggrammatiker,  der  diese  Aeußerungen  Benfeys  liest,  wird 
zugeben  müssen,  daß  »der  Leipziger  Sprachforscherkreis  von  1876 
und  1877«  doch  wirklich  einiges  von  auswärts  hätten  lernen  kön- 
nen. Brugmanns  Suffix  a  begegnet  außer  an  den  von  ihm  genann- 
ten Stellen  übrigens  auch  bei  Justi  Handbuch  S.  366  §  113  a). 

S.  54  ist  gesagt:  »Da  dies  -*a  in  auffallender  Weise  mit  dem 
-i  Acc.  'im  gewisser  altindischer  Femininbildungen  sowie  mit  den 
übrigens  als  ';a-Stämme  flektierenden  Nominativen  auf  -I  im  Germa- 
nischen und  Slavolettischen  übereinstimmt,  was  zuerst  Sievers,  Paul 
und  Braune's  Beitr.  5,  136  ff.  hervorgehoben  hat  .  .  .c  Sievers  zu- 
erst hervorgehoben  hat?   Wer   nichts  von  der  Sache  versteht,  wird 

1)  Jetzt  auch  von  Bechtel  Die  loschriften  des  ionischen  Dialekts  No.  3  a. 
TOVT^'I  halte  ich  nicht  für  das  Adverb  «otmi;,  sondern  f&r  Dat  Sing,  «s  «r^ijr- 
vgl.  htov&a  Bechtel  a.  a.  0.  No.  18  Z.  17. 


Meyer,  Griechische  Grammatik.    Zweite  Auflage.  419 

hiernach  gewiB  annehmen,  daft  vor  Sievers  und  seineu  Freunden 
Überhaupt  noch  nichts  nachgewiesen  ist  Ich  verweise  beispiels- 
weise auf  Ebel  E.  Zs.  VI  214,  L.  Heyer  das.  S.  386,  Schleicher 
Formenlehre  d.  ksl.  Sprache  S.  168  Anm. 

Die  Annahme,  daft  ufkäam,  no$^<rm  aus  ^ufkäjeamy  *nouJ€C»  ent- 
standen seien  (S.59),  ist  durch  die  Schrift  von  E.  F.  Johannson  De 
derivatis  verbis  contractis  linguae  graecae,  Upsalae  1886,  jetzt  hof- 
fentlich ans  der  Welt  gebracht. 

In  lo(ppid$aj  lo(prtg  steht  o  nicht  für  a  (S.  64),  sondern  für  v, 
d.  h.  diese  WOrter  sind  »=  XvjyUMy  lv%¥iQ  (Moritz  Schmidt  E.  Zs. 
IX  366). 

Die  Etymologie  *Bqi>vvvi  =  ai.  saromyu-  (S.  67)  hätte  auch  nicht 
mit  einem  Fragezeichen  angeftihrt  werden  sollen.  Wohl  aber  konnte 
auf  die  etwaige  Beziehong  von  ^Eqtvvvq  zu  dem  maked.  ^Aqdvufh 
(Legerlotz  E.  Zs.  VIII 418,  Fick  das.  XXII 200)  and  osk.  Jceri  armtik[a%\ 
(Bttoheler  Osk.  Bleitafel  S.  6,  Bugge  Altit  Stud.  S.  5)  hingewiesen 
werden. 

S.  69  vermisse  ich  unter  den  dialektischen  Belegen  für  i  »s  « 
lakon.  d$ffovQa  (erwähnt  S.  103  und  S.  199),  tlg^og'  &4Qovg.  KQ^ng 
Hesych  und  auch  das  S.  130  Anm.  zu  §  115,  S.  198  Anm.  zu  § 
193  angeftlhrte  bOot.  nQ^ar^Ug. 

Weshalb  S.  73  bei  der  Besprechnng  von  nvnXog  der  unvermeid- 
liche Osthoff,  nicht  aber  Sievers  PBr.  Beitr.  V  149  und  Collitz  Beitr. 
z.  E.  d.  ig.  Sprachen  III  209  Anm.  citiert   sind,   verstehe   ich  nicht 

0.  Curtius'  Erklärung  von  voaog  voviTog  ist  nicht  nur  sehr  zwei- 
felhaft (S.  90),  sondern  unrichtig.  Novüog^  att.  voaog  steht  für 
*[&\popwfog  und  gehört  zu  an.  snauät  »stripped,  bereft,  poorc,  sney^ 
(KUgr  »destitotec,  nhd.  schnöde  (vgl.  uXovkgi  skr.  ^ont,  »oJ^,  n^X^: 
an.  hoM  und  Beitr.  z.  E.  d.  ig.  Sprachen  VII  65  f.). 

S.  105—106  wäre  es  gut  gewesen,  l&wtn^  Collitz  Sammlung 
No.  41  (Beitr.  z.  E.  d.  ig.  Sprachen  VI  71)  als  inschriftlichen  Be- 
leg ftbr  kypr.  o  statt  v  anzuführen. 

Zu  •  fttr  V  (S.  106 f.)  trage  ich  nach:  irffMr**  X^Hc  nvq$vog  .... 
(M.  Schmidt  E.  Zs.  IX  365)  und  Uft^ikaxog  Rhein.  Mus.  XXXV  358. 
Zweekmäftig  wäre  es  wohl  gewesen,  auf  aUufAvautg  u.  s.  w.  S.  75 
zu  verweisen.  —  Ist  aha  richtig  und  steht  es  fbr  crtwo,  so  entspricht 
ihm  genau  lett.  ßüka. 

Allzu  lückenhaft  ist  §  98  »prothetische  Vocalec.  Oar  nicht  be- 
legt ist  hier  die  Prothese  vor  y :   dvfJQ,   oyndog  ^).    Ferner  sind  gar 

1)  In  hrkt,  lp9fta  und  Srv|  ist  nicht  Prothese  angenommen,  sondern  ivpia 
ist  auf  ein  *hwn^  *Snwn  inr&ckgef&hrt  (S.  879)«  und  Iro^,  ipvf  (nicht  aber 
hrim)  sind  in  §  97  d)  »Vocalentfaltnng  zwischen  Nasal  und  Gonsonantc  (welche 
ich  gftnilich  leugne)  untergebracht. 

80* 


420  O^tt.  gel.  Ans.  1887.  Nr.  It. 

nicht  erwähnt  die  —  wirklichen  oder  scheinbaren  —  Fälle  des  ä- 
nnd  f-Vorschlags  (vgl  Froehde  Beitr.  z.  E.  d.  ig.  Sprachen  VII  327  ff.). 
Endlich  vermisse  ich  die  Beispiele:  danig^  dtnaXvCm  (neben  (ftaivC»), 
dfHQdfnm  and  datQamj  (neben  (fUQomj^  ütqond),  danJQ,  äfkaqtdvm 
(neben  ikwqoq\  dfidm,  dqnal^,  dqh&^oq^  iqi&m^  Sqswa^  iqc&i^y  ^Qf^i 
dlandim  (neben  XandJ^m),  dlii^»^  dhutt^,  dXiym^  dlrty^tfiog,  iXfk§pg 
(lif$iP&sg'  SXfHy&eg.  nd<p§o§  Hesych),  dpdm,  äpMm,  dpi^m^  dpiffu^ 
dpta&mj  eh^tg  (got.  vans),  svldna^  dystq^^  fysigm,  o<nhri  {(nlqrytg) 
n.  a.  Einige,  vermatlich  auch  hier  anznschliefiende  Wörter,  wie 
dvM,  ik&etp^  hat  der  Hr.  Verf.  in  anderem  Sinne  besprochen.  VfHpa- 
log,  das  er  nicht  erwähnt  hat,  und  ovofAa,  opvlS  haben  ihren  vorge- 
schlagenen Vokal  schon  in  vorgriechischer  Zeit  erhalten.  In  Hin- 
blick anf  ihre  Lantstnfe  nnd  aaf  d(ftqan^  neben  tnsQonfj  and  tngond 
erscheint  mir  die  Annahme  Ficks  QOA.  1881  S.  1448,  daß  »der 
Vokalvorschlag  des  Griechischen  arsprttnglich  nar  vor  solchen  Silben 
eintrat,  welche  nrsprttngliches  Schwä  aasstieften«,  sehr  beachtenswert. 
—  Beiläafig  bemerke  ich  hier  noch,  daß  die  Etymologie  iUrog:  lit. 
ligä  (S.  114)  meines  Wissens  von  mir  herrührt  (Beitr.  z.  E.  d.  ig. 
Sprachen  IV  332),  daß  ich  {avV')€oxiA6g  (S.  115)  fttr  redapliciert 
halte  (vgl.  das.  VII  72),  and  daß  (m^xo^  »Ehebrecherc  (S.  114)  sei- 
ner Bedentang  nach  nar  verständlich  wird,  ^wenn  man  es  ähnlich 
wie  ndö^  (Fick  Cartias  Stad.  Vm  313)  erklärt,  ihm  also  ein  *f^^x^ 
oder  dgl.  »weibliche  Schäme  (vgl.  lit.  miz^  and  küs^endris)  za 
Ornnde  legt. 

S.  169  fehlt  anter  »Cap.  IIIc  in  der  Litteratar  tiber  das  grand- 
sprachliche I  die  aasgezeichnete  Arbeit  Fortanatows  Beitr.  z.  E.  d. 
ig.  Sprachen  VI  215. 

Dagegen,  daß  »nrsprttngliches  idg.  anlantendes  r,  soweit  es  nicht 
za  l  geworden  ist  wie  in  den  Warzeln  Xtn,  hx,  Ivn,  im  Griechischen 
stets  einen  Vokal  vor  sich  entwickelt  bate  (S.  173),  sprechen  aaßer 
^dnvg  —  daß  lat  räpa,  slav.  r^a,  lit.  röpe,  d.  riibe  aas  dem  Gri^ 
chischen  entlehnt  seien,  ist  laatlich  doch  sehr  anwahrscheinlioh  — 
aaeh  ^i^^a  (Beitr.  z.  E.  d«  ig.  Sprachen  IV  354)  and  ^oio/mm 
(de  Saassare  Systeme  S.  169). 

Aiin^w  filr  später  als  vinXov  za  erklären  (S.  178)  verbieten  letL 
leTcseha,  lit  ''UMÜ  (GGA.  1885  S.  928). 

unter  den  inschriftlichen  Belegen  für  v  statt  l  (S.  178  §  170) 
fehlt  das  korkyräische  iv&dv  (s.  jetzt  Blass  Beitr.  z.  E.  d.  ig.  Spra- 
ehen  Xn  190). 

Statt  der  in  Note  1  zn  S.  183  mitgeteilten  Etymologie  von 
*Aifito^U^  hätte  lieber  aaf  lat.  farduSj  hordus  hingewiesen  werden 
aoüen. 


Meyer,  Griechische  Orammatik.    Zweite  Auflage.  421 

Anm.  2  zu  S.  183  scheint  mir  etwas  zn  kurz  gefaltt  zu  sein; 
YgL  z.  B.  öxv^ijai:  omvq&oIIj  Mo^kßqm  (Hesycb):  MoQfMi  n.  a. 

Wenn  für  das  v  von  töv  Entstehnng  aus  tn  behauptet  wird 
(S.  184,  296),  so  muB*  auch  das  n  von  lit.  tdny  got.  pana  hierauf 
zurttckgefhhrt  werden.  Mehr  als  vermutungsweise  läAt  sich  jene 
Entstehung  nicht  annehmen. 

'Onxa  soll  nicht  aus  onpa,  sondern  aus  S»a  *a  entstanden  sein 
(S.  192).  Aber  woraus  ist  xduMii  (lit.  ssikti)  entstanden?  Vgl.  S.  276 
§  285  {ylvMna^  iuxog,  idxxog,  (hkuxoQ^  niXäuxor). 

»Wo  sonst  vor  hellen  Vokalen  n  erscheint,  ist  dies  an  die 
Stelle  von  t  aus  Formen  getreten,  die  .vor  dunklen  Vokalen  oder  vor 
Konsonanten  das  n  lautgesetzlich  hatten«  (S.  192  §  187).  (}egen 
diese  Auffassung  habe  ich  mich  Beitr.  z.  E.  d.  ig.  Sprachen  VI  236 
Anm.  2  gewendet,  und  in  gleichem  Sinne  wie  ich,  aber  erst  später 
hat  dies  auchBrugmann  gethan.  In  der  Anmerkung  zu  der  citierten 
Stelle  ist  dieser  aber  allein  erwähnt.  Ein  solches  Versehwiegen« 
werden  ist  nicht  angenehm,  aber  immer  noch  angenehmer,  als  die 
Citierweise  Brugmanns  Morphol.  Unters.  IV  411  Anm.  1,  die  ich  für 
nicht  gentlemanlike  halte. 

Wäre  es  richtig,  daß  dvdtram  auf  ^pavam^f^  beruhe,  was  oft  be- 
hauptet, aber  in  Hinblick  auf  die  Stammform  pavan^  und  lat  pro* 
vinda  unsicher  ist,  und  daß  nqoiaaoikm  eine  Ableitung  von  Tv^tatfc 
sei  (Ascoli  Erit.  Studien  S.  332  Anm.  14,  vgl.  jedoch  Fiek  Beitr.  z. 
E.  d.  ig.  Sprachen  VIII  330) ,  so  ließe  sich  z.  B.  nXiiaam  (S.  201) 
auf  *nli]rtj6$  zurückführen  (vgl.  nijv:  nitSiSHv  Mekler  Beiträge  z. 
Bildung  d.  griech.  Verbums,  Dorpat  1887,  S.  19  und  skr.  ]/pa:ypat 
IV).  In  derselben  Weise  habe  ich  vkfaoika$  und  mlnaok  zu  erklären 
versucht  (60A.  1879  S.  562),  was  der  Hr.  Verf.  nicht  erwähnt  Er 
weist  dafür  aber  wiederholt  (S.  260,  444,  453)  darauf  hin ,  daß  Hn 
Osthoff  mioffw  als  fiuvaiw  und  vlcüofka^  als  vf^ogtofKr*  auffasse,  was 
ich  meinerseits  wegen  inqiva  und  des  (a)»  von  hlaioikm  ftlr  lautgesetz- 
lich unerlaubt  halte.  Freilich  scheinen  des  Hrn.  Verf.s  und  meine 
Ansichten  über  griechische  Lautgesetze  zum  Teil  entgegengesetzt  zu 
sein.  Ich  vermute  dies  wegen  der  Anmerkung  zu  S.  408,  wo  über 
meine  Erklärung  von  q>iqs^q  geurteilt  ist,  sie  »stehe  mit  feststehen- 
den Thatsachen  der  griechischen  Lautlehre  in  direktem  Widerspruch  c^ 
während  ich  dieselbe  der  Hauptsache  nach  ftlr  tadellos  halte  und 
die  Zurückführung  von  ^iqs^q  auf  *(fiqBa^  aus  dem  Grunde  bean- 
stande, welchen  GoUitz  Anzeiger  f.  deutsch»  Altertum  V  342  und 
Bechtel  Philol.  Anzeiger  1886  S.  18  dagegen  bereits  geltend  gemacht 
haben. 

QtXm  und  yoilfCo»   habe  ich  keineswegs,   wie  es  nach  S.  204 


422  Gott.  gel.  Ans.  1887.  Nr.  11. 

scheint,  kurzerhand  za  ahd.  geil^  lit  gaüüs  gestellt,  sondern  zn  »der 
Wnrzel  ghdlf  auf  der  nach  J.  Schmidt  Voo.  11  467  ahd.  geü  n.  s.  w, 
beruhen«. 

S.  215  §  212  konnte  i^^'  if$öl$vn%QOQ  X=  n^^  ofkoXsvxtQog?) 
Bnll.  d.  corresp.  hell.  IV  288  erwähnt  werden. 

Bei  den  Verbis  auf  -  aC«  (S.  217  f.)  bitte  ich  Fick  Vgl.  Wör- 
terb.  ^  II  1000  and  Stokes  Beitr.  z.  E.  d.  ig.  Sprachen  XI  158  tu 
vergleichen.  Die  ir.  Denominativa  auf  -aigim  erinnern  aach  an  skr. 
hhisajydti,  av.  baishaeyatc^ca. 

Gegen  die  Erklärung  von  *ji»^paü  aus  ^ji^ifvaöde  (S.  219, 
262,  275)  spricht  aufter  fitffo^s  und  x^f^Üfi  (hinsichtlich  dessen  Be- 
tonung ich  Herodian  mehr  glaube  als  Hrn.  Osthoff  und  seinem  Ge- 
währsmann), die  man  nur  im  Wege  der  Eabinetsjustiz  zum  schwei- 
gen bringen  kann,  aufter  igaifi  (in  dem  man  seines  Begriffs  wegen 
ebenso  wenig  einen  Acc.  Plnr.  suchen  darf,  wie  in  /u^aCs  und  xa- 
fioC«),  die  sonstige,  von  Bechtel  Beitr.  z.  E.  d.  ig.  Sprachen  X  286 
besprochene  Behandlung  von  0  -[-  Media  im  Griechischen  und  beson- 
ders, wie  Bechtel  treffend  betont  hat,  aldiofka$.  In  inschriftlichen 
Schreibungen  wie  GeoJ^atog  (daneben  QsoaJ^otog)  sehe  ich  nur  graphi- 
sche Versuche  die  Lautgruppe  0d  zu  bezeichnen ;  von  dem  C  des 
durch  die  ganze  Gräcität  gehenden  M^aC§  läfit  sich  dies  aber  na- 
türlich nicht  annehmen.  —  Die  ZurttckfQhrung  von  xccnrfc  auf  ^nct^- 
ifwQ  (S.  286)  ist,  beiläufig  bemerkt,  durchaus  nicht  notwendig;  vgl. 
lett.  sists  und  Fick  Beitr.  z.  E.  d.  ig.  Sprachen  VIII  330. 

Die  Annahme,  daß  in  ^I4lvira$^  iUlvao  die  Eonserviernng  des 
a  der  Anlehnung  an  Formen  konsonantisch  auslautender  Stämme  wie 
rirQttt/ßa^  zu  verdanken  sei,  und  vom  Perfektum  aus  die  Analogie 
auch  auf  die  häufig  reduplicierten  Präsentia  der  Eonjugation  auf  •/** 
gewirkt  haben  mOgec  (S.  222,  vgl.  S.  417)  ist  sehr  hart  Weshalb 
sind  -<rcw,  ^ao  nicht  auf  demselben  Wege  auch  in  die  «-Eonjugation 
gedrungen,  der  doch  auch  zahlreiche  reduplicierte  Praesentia  ange- 
hören? Die  Betrachtung  von 
ifiqsm  (ai.  bhdrase)  %l3saa$  (ai.  dhatsi) 

li/ffa*  (ai.  vifdse)  hi^sao  (ai.  [ä]dhaUhi8) 

hi&ov  (ai.  ödhatihas)  tt&stro  (ai.  dadhisvd) 

inev  (ai.  sdcasvä)  Xilvao  {Bi.vavrtsvay  Yg\.  mumugdhS) 

f»^^  (ai.  dddhase)  iUlvffo  (ai.  sußupO^ 

u9sto  (ai.  dädhifhas)  natQdö$  (lit  akmewisü) 

iXvöao  (aL  dboähisthds)  ddf$o^c$  (lit.  hrasatäse) 

^ot  (ai.  usäsi)  datsvq 

nQdffop  (aus  '^npsdv) 


Meyer,  QriecbiBche  Gr&mmatik.    Zweite  Auflage*  428 

legt  die  Verrnntang  nahe,  daft  inlautendes  s,  äbnlieh  wie  ;\  im 
Griechischen  ursprünglich  nur  nach  yorausgehendem  Accent  einge- 
btlBt  sei.    Ein  vollständiger  Beweis  hierfür  lälilt  sich  aber  nicht  führen. 

Bei  der  Besprechung  des  Bhotacismus  (S.  227  ff.)  vermisse  ich 
das  befremdliche  ^iy^*  ü^na  Hesych. 

Daft  r  vor  f»  als  gutturaler  Nasal  ausgesprochen  sei  (S.  271)  ist 
vor  Westphal  (1870)  bereits  von  Ebel  E.  Zs.  XUI  (1864)  264 
vermutet  (später  von  Havet  M^m.  de  ia  soc.  de  ling.  IV  [1880]  276). 
Außer  z.  B.  ninleyi^at^  worin  der  Hr.  Verf.  eine  Analogiebildung 
nach  iJlsyfkat  sehen  will,  scheinen  mir  dafttr  namentlich  H^lsyfäa$ 
und  8tfq>$jrfka^  (neben  i^-tlijlsyxto  und  Süip^yntai)  zu  sprechen. 

Qegen  S.273  Anm.  1  erwidere  ich,  daß  von  einem  »Erklärungs- 
versuche gar  keine  Rede  sein  kann;  an  der  citierten  Stelle  sind  nur 
die  nun  einmal  bestehenden  Thatsachen  konstatiert. 

S.  281  §  290' (vgl.  S.  90  ff.)  beißt  es:  »Geminierte  Liquiden  und 
Nasale,  besonders  solche,  die  aus  der  Verbindung  des  einfachen  Lau- 
tes  mit  /  hervorgegangen  sind,  werden  im  attischen  und  vereinzelt 
im  homerischen  Dialekt  häufig  vereinfacht,  ohne  daft  dabei  eine 
yerlängernde  Wirkung  auf  den  vorhergehenden  Vokal  ausgeübt  wird 
.  .  .  Att.  diQff  neben  lesb.  diQQa  dor.  di/Qcl  ion.  dstqij  und  »oqij  .  .  . 
neben  dor.  ntoQa  hom.  xovq^  thessal.  »off a  legen  wegen  ihres  17 
übrigens  die  Erwägung  nahe ,  ob  sie  (und  ebenso  die  andern  hier- 
her gehörigen  Formeu)  nicht  direkt  aus  digj^  »öqJ^  entstanden 
sindc.  Nur  die  letztere  Auffassung  ist  zuzugeben.  Beruhte  di(n  auf 
*i^Q9H»  i^vog  auf  *iipvog  n.  s.  w.,  so  verstände  man,  in  Hinblick  auf 
sMtstva^  oUttqag  u.  s.  w. ,  die  Entstehung  von  di^,  liivoq  über- 
haupt nicht. 

Die  neueste  Behandlung  des  homer,  ddgot^ta  ist  nicht  von 
Giemm  (S.  285  Anm.),  sondern,  soviel  ich  weiß,  von  Benfey  Vedica 
und  Linguistica  S.  220  =  Gott.  Nachr.  1880  S.  299. 

Zu  S.  294  bemerke  ich,  daß  eine  Spur  des  Ablativausganges  d 
(der  Hr.  Verf.  schreibt  dafür  t\  vgl.  darüber  M.  Müller  Essays  IV  415 
der  Uebersetzung)  sich  möglicherweise  in  dem  vielleicht  rustiken 
boot  onmx  Collitz  Samml.  No.  1145  erhalten  hat  Da  im  böotischen 
Dialekt  da  als  vt  erscheint  (vgl.  uofk$vnlfjbePo$  u.  dgl.),  so  muftte  hier 
für  inmd^g  inmit  und  weiter,  da  tt  im  Auslaut  nicht  sprechbar  war, 
Snmt  eintreten.  Wäre  dies  sicher,  was  es  aber  natürlich  nicht  ist, 
so  wäre  damit  bewiesen,  daß  das  g  von  »aiUig,  oitmQ  u.s.w.  bereits 
in  einer  Zeit  eintrat,  in  welcher  das  -d  des  Ablativs  teilweise  noch 
gesprochen  wurde. 

Bei  ddg,  ^^g  u.  s.  w.  (S.  295,  496),  deren  von  Brugmann  ge- 
gebene Erklärung   in  der  Hauptsache  jedenfalls  zutrifft,  ist  es  viel- 


424  Q6%i.  gel.  Ans.  1887.  Nr.  11. 

leicbt  gaij  an  die  Regel  der  Sanskritgrammatik  za  erinnern,  daA  da^ 
äha  zur  Bildang  der  Conjonctive  Praes.  nnd  Imperil  aaeh  das 
Bchwache  Thema  annehmen  können  (Benfey  VoUeL  Gramm.  §  811 
3)  Bem.). 

DaB  die  b(k>ti8chen  Kosenamen  auf  -»  anslantendes  (  und 
zwar  zunächst  vor  tönenden  Laoten  verloren  haben  (S.  296),  ist  be- 
reits von  mir  Beitr.  z.  E.  d.  ig.  Sprachen  VII  74  bemerkt  Anders 
sind  sie  von  Blass  Rhein.  Hos.  XXXVI  604  ff.  beurteilt  Beides  hat 
der  Hr.  Verf.  nicht  erwähnt 

TSnot€$p,  ^cwv^  ßefiXfiwv  (S.  298—9)  sind  nieht  eigentlich  Aas* 
nahmen  von  der  Regel,  daft  das  v  iipshfwtnxov  an  kontrahierte  Ver- 
baiformen  nicht  tritt;  sie  reflektieren  vielmehr  die  Zeit,  in  welcher 
die  betr.  Eontraktion  noch  nicht  vollzogen  war.  —  Die  Behandlang 
des  ¥  ifpsXMVQunov  hätte  ich  übrigens  etwas  eingehender  gewflnseht 
Ich  vermisse  darin  z.  B.  einen  Hinweis  daraaf,  dalt  dieser  paragogi- 
sche  Laat  im  Eyprischen  nicht  vorzukommen  scheint  Der  Dativ 
ndfkv  Beitr.  z.  E.  d.  ig.  Sprachen  VI  143  ist  durch  Deecke  selbst 
Collitz  Samml.  No.  31,  32  wieder  beseitigt. 

Zu  S.  304  und  327  sei  wenigstens  an  das  *An6Um,  "ÜiriUm 
der  Inschriften  von  Naukratis  (Ernest  A.  Gardner  Inscriptions  from 
Naukratis  p.  9 ;  vgl  G.  Hirschfeld  Rhein.  Mus.  XLH  209  ff.)  erinnert 
Bechtel  Die  Inschriften  des  ionischen  Dialekts  S.  153  f.  bezweifelt 
mit  Recht  die  Richtigkeit  der  Lesung.  —  S.  328  §  338  war  neben 
Wdn^'  aia  zu  erwähnen. 

S.  310  wttrde  ich  unter  den  Litteratnrnachweisen  zu  »1.  Stämme 
auf  -»•  und  -ii-c  auch  Benfey  Vocativ  S.  56  ff.  genannt  haben. 

S.  318  ff.  (§  327)  ist  gerade  diejenige  Erklärung  der  Maskulina 
auf  -la,  -fifCi  welche  mir  die  richtigste  zu  sein  scheint  (Fick  Beitr. 
z.  E.  d.  ig.  Sprachen  III  159,  vgl.  meine  Bemerkungen  das.  S.  174) 
nicht  erwähnt.  Aus  einem  innotä  —  die  Bedeutung  »Ritterschaft« 
»Reiterei«  und  die  von  Delbrttck  angenommene  Begriffisentwicklung 
schwebt  ganz  in  der  Luft  ~  hätte  man  gewiA  kein  lrm6%a  gebildet : 
die  chronologische  Betrachtung  der  betr.  Wortgruppe  ftthrt  auf  die 
gerade  entgegengesetzte  Annahme.  Daft  a^x^ij^a  (man  beachte  den 
Accent!),  lnnA%a  u.  s.  w.  eigentlich  Vocative  seien,  ist  eine  An- 
nahme, mit  der  ich  nicht  rechnen  kann.  Sind  etwa  änar^a  und 
lUq^lkva  auch  alte  Vocative? 

Bei  der  Besprechung  von  idcn-,  ^nuw^  u.  s.  w.  (S.  325)  hätte 
Fick  Beitr.  z.  E.  d.  ig.  Sprachen  V  183  (vgl  de  Saussure  M^oire 
S.  27  f.)  wohl  Erwähnung  verdient ;  bei  derjenigen  der  pelasgiotischen 
Genitive  auf  o*  (S.  334),  die  —  wie  schon  von  Ebel  E.  Zs.  XIII 446  ff. 
—  für  genitivisch  gebrauchte  Lokative  erklärt  nnd  mit  lat  eq%i  ver- 


Meyer,  Griechische  Grammatik.    Zweite  Auflage.  425 

glichen  werden,  war  anf  Mahlow  Die  langen  Vokale  S.  37  (ygl. 
Stolz  Lat.  Gramm.  S.  209)  Bezog  zn  nehmen,  wo  die  Auffassung 
von  equi  als  Locativ  von  J.  Sobmidt  widerlegt  ist.  Bei  der  Bolle^ 
welche  man  jetzt  dem  Satzsandhi  zuzuweisen  pflegt^  ist  die  Ansicht 
Lagebils  Fleckeisens  Jabrbtlcher  Soppl.-Bnd.  XII  216  f.  und  Ficks 
Odyssee  S.  29,  daft  jene  tbessaliscben  Genitive  aus  solchen  anf  -o»o 
▼or  Vokalen  entstanden  seien,  daß  ihr  Ausgang  also  als  -o*'  aufzu* 
fassen  sei,  mindestens  sehr  zeitgemäft. 

Die  kyprischen  Genitive  auf  -«v  (S.  334)  baben,  wie  mir  scheint, 
im  Auslaut  c  oder  *  verloren  und  sind  dem  arkad.  tc$pi^  dem  thessal. 
toipsog  zur  Seite  zu  stellen;  ibre  Endung  ist  dann  ==  -m-v[«]« 

Was  ttber  den  Gen.  Sing,  der  männlichen  fi-Stämme  gelehrt  ist 
(§  346),  ist  nacb  den  wertvollen  Mitteilungen  Becbtels  Beitr.  z.  E. 
d»  ig»  Sprachen  X  280  ff.  zum  Teil  sehr  wesentlich  zu  berichtigen. 
Daft  diese  Genitive  mit  dem  Suffix  sjo  gebildet  seien,  ist  erst  noch 
zu  beweisen. 

Daft  die  »männlichen  Locative  auf  -•«  als  eine,  wenn  auch  alte, 
so  doch  speciell  griechiscbe  Analogiebildung  aufgefaftt  werden  müs- 
sen, die  sich  durch  Einführung  des  der  Mebrzahl  der  anderen  Kasus 
gemeinsamen  stammauslautenden  o  an  Stelle  von  altem  -»  gescho- 
ben bat«  (S.  341  §  352),  ist  nicht  zuzugeben;  -o»  kam  von  Haus 
aus  den  barytonierten,  -m  (vgl  nst^  %^vb%,  avuX  u.  s.  w.)  den  oxyto- 
nierten  betr.  Locativen  zu.  Das  Slavische  (}qei  u.  s.  w.,  vgl.  CoUitz 
Beitr.  z.  E.  d.  ig.  Sprachen  III  203  Anm.)  bestätigt  die  Endung  -o». 

Wenn  die  attischen  Accusative  Plur.  ho^Uk,  ^9X^k>  ßaif$kttg 
u.  s.  w.  wirklieh  Nominativformen  wären  (§  360—62),  so  hätten  die 
Atbener  einfach  nicht  griechisch  deklinieren  können.  Wir  baben  in 
diesen  Formen  vielmehr  echte  Accusative  auf  -sg  anzuerkennen,  die 
wohl  auch  in  got  baürgs^  bisüands  zu  erkennen  sind  (über  den  lit. 
Acc  Plur.  asamenes  Eurschat  Gram.  §  739  enthalte  ich  mich  des 
Urteils,  dantes  Z.  Gesch.  d.  lit.  Sprache  S.  140  kann  latinisiert  sein). 
Ob  man  dagegen  in  den  vereinzelten  dialektischen  Fällen  isnatiuh 
ifsff  ihicaov$^  u.  s.  w.  (S.  348  §  365,  wo  el.  nlttovBi^  und  phthiot 
ma^QBi  Collitz  Sammlung  No.  1172,  1448  fehlen)  fehlerhaft  gesetzte 
Nom.  Plur.  annehmen  soll,  lasse  ich  dahin  gestellt  sein. 

Die  femininischen  Dativendungen  -a»c,  -mtfn,  h^ic,  -f*(»  sollen 
Analogiebildungen  nach  bez.  ^o^,  -oitn  sein  (S.  359).  Das  entspricht 
nicht  ganz  den  Ergebnissen  der  vergleichenden  Grammatik  (s.  Mahlow 
Die  langen  Vokale  S.  101). 

9ln  den  Adverbien  auf  dorisch  -«  ionisch-attisch  -if  sieht  man 
allgemein  Instrumentale  von  -A-Stämmen  (ved.  dhara  lit  mergä)^ 
S.  364  §  388.  Die  »abweichende  Ansicht  von  Mahlow«  a.  a.  0.  S.  131 


426  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  11. 

hat  nach  einer  Anmerkung  zn  dieser  Stelle  >  nicht  das  mindeste 
Ueberzeagendec.  Nach  meiner  Meinung  enthalten  die  betr.  Ansfllh- 
rangen  Mahlows  mehreres  sehr  bemerkenswerte,  and  ich  stimme 
ihnen  insofern  za,  als  ich  äfk&  n.  s.  w.  mit  lit  dewo  (vgl.  dewo[pt\) 
yerbinde.  Lit  mergä  steht  f&r  mergq  (Beitr.  z.  E.  d.  ig.  Sprachen 
X  313  f.),  ist  also  von  ä(Mä,  nqv^a  n.  s.  w.  aaf  alle  Fälle  fern  zu 
halten. 

Anlaß  zar  Bildung  der  Komparative  auf  -aittqo^  soll  das  vom 
Adverb  ndla^  gebildete  naXaiteqoq  gegeben  haben;  nach  dem  Vor- 
bild naXaitsqoq :  nalatog  seien  dann  fsqattsqoq^  (SxoXai/uQog  neben  ys^ 
QMog,  axolatog  geschaffen,  und  später  sei  dann  -cUtsQog  gewisser- 
maßen als  6m  Suffix  angefügt  worden:  taaitsgog^  luttaitBqog  u.  s.  w. 
(S.  372).  Beruht  aber  nalaitsQog  auf  ndlah,  so  kann  doch  fiketfat^ 
wQog  auf  *fAiaM  (vgl.  fisaa^-noXiog)  beruhen  und  braucht  durchaus 
keine  Analogiebildung  zu  sein,  so  können  die  Steigerungsformen  auf 
-aksgog^  -akatog  Überhaupt  von  Adverbien  auf  -m  ausgegangen  sein, 
deren  Vergleichnng  mit  den  litauischen  auf  -ai  sehr  nahe  liegt. 

Bei  tirog,  tiva  (S.  400)  würde  ich  Ascoli  Vorlesungen  S.  77  er- 
wähnt haben. 

S.  404  §  444  heißt  es:  »Auch  im  Griechischen  hat  sich  die  En- 
dung -fft*  mehrfach  über  den  ihr  ursprünglich  nur  zukommenden 
Kreis  hinaus  verbreitet  1)  Im  Aeolischen  sind  die  abgeleiteten 
Verba  in  ausgedehnter  Weise  in  die  Analogie  der  Verba  auf  -/im 
übergeführt  worden,  so  ndlfifi^  tptl^fM  .  .  .«.  Diese  Formen  fallen 
aber  vollkommen  in  die  alten  Grenzen  des  Gebrauchs  von  -/»•;  so- 
bald xaXtj^  (ftlii  als  Präsensstämme  verwendet  wurden,  war  ihre  Bil- 
dung gegeben.  —  Weiter  wird  a.  a.  0.  bemerkt,  -jm  sei  in  den  Gon- 
jnnctiv  der  «o-Konjugation  eingedrungen.  Hierbei  —  vgl.  auch  die 
III  Sing.  Konj.  dyija^^  Xaßfitrt  u.  s.  w.  —  thut  man  gut,  sich  daran 
zu  erinnern,  daß  der  Konj.  Aor.  im  Sanskrit  Vorliebe  für  die  Prä- 
sensendungen zeigt. 

»Secundär  war  ursprünglich  -t,  nach  griechischem  Auslautsgesetze 
geschwunden:  iipsqe  für  *S-(p€QS'% €  (§454).  Ich  betone  wie- 
derholt (vgl.  Beitr.  z.  K.  d.  ig.  Sprachen  II  135),  daß  -t  mit  Nichts 
bewiesen  ist,  und  daß  ihm  das  Italische  widerspricht  (vgl.  Bugge  K.  Zs. 
XXII  401  und  jetzt  wieder  fheßaked  Bficheler  Rhein.  Mus.  XLII.  317). 

Die   Gleichung  -/u£^a  =  skr.  -mahi  (S.  418  §  468)  ist  meines' 
Wissens  zuerst  von  Lepsius  Paläographie   als  Mittel  f.  d.  Sprachfor- 
schung (1834)  S.  54  aufgestellt 

Ob  das  Augment  von  Anfang  an  ein  notwendiger  Bestandteil 
der  Präterita  war,  wird  unter  Verweisung  auf  G.  Curtius  Verbnm  '  I 
136  f.  —   wo  dasselbe  aber  gerade   für  einen  solchen  notwendigen 


Meyer,  Qriechiscke  Orammatik.    Zweite  Aaflage.  427 

BeBtandteil  erklärt  wird  —  als  anentachieden  hingestellt  (S.  421). 
Ob  die  Verbindung  der  Präterita  mit  dem  Augment  von  Hans  ans 
notwendig  war^  will  ich  nicht  beurteilen;  jedenfalls  aber  war  die- 
selbe,  wie  der  Oegensatz  hgs^oy:  tit^oipa  zeigt,  ursprttnglioh  eine 
ganz  lose. 

Wieso  ««tt-  »liegen« 9  Ma-  »bewegen«,  igx^-  unsicher  sind 
(S.  434),  sehe  ich  nicht  ein;  Aber  ««a-  und  iQxa-  ygl.  Fick  GGA. 
1881  S.  1426,  1432. 

Bei  der  Besprechung  der  reduplicierenden  Eonjugationsklasse 
(S.  435  ff.)  unterscheidet  der  Hr.  Verf.  rednplicierte  Präsentia  1)  vo* 
kaiisch  auslautender  Wurzeln,  2)  konsonantisch  auslautender  Wurzeln 
nnd  führt  unter  2)  auf:  nl§knXaf$€V^  nifknQtifMt,  Twpqdvm  und  vermu- 
tungsweise Uf-,  tXa.  Ich  verstehe  diese  Unterscheidung  nicht,  da 
ich  in  niiknlapav  ebenso  wenig  wie  in  n^qdvtn  u.  s.  w.  konsonan- 
tischen Wurzelanslaut  finden  kann.  Hätte  der  Hr.  Verf.  hier  Übri- 
gens Recht,  so  wttBte  ich  nicht,  wie  er  den  Unterschied  von  z.  B. 
nufudvak  und  ylyvoikM  (welchem  er  ]/^«v  zu  Grunde  legt  [S.  443], 
während  ich  es  auf  y^vs  zurflckftthre)  erklären  könnte.  Im  flbrigen 
kann  ich  nicht  umhin,  meiner  Verwunderung  darüber  Ausdruck  zu 
geben,  daß  ein  so  einsichtiger  Sprachforscher  wie  der  Hr.  Verf.  sich 
von  der  Vorstellung  von  »Wurzeln  auf  Gonsonantenc  nicht  frei  ma- 
chen kann,  deren  Unrichtigkeit  vor  mehr  als  fünfzig  Jahren  schon 
Lepsius  a.  a.  0.  S.  66  eingesehen  hat. 

Ob  sich  wegen  mvm  annehmen  läßt,  daß  inlautendes  ny» 
zu  mm  werden  konnte  (S.  444),  ist  doch  äußerst  fraglich. 

Die  Unterscheidung  der  Verba  auf  -ay«  in  solche  mit  nasalier- 
ter und  solche  mit  nicht  nasalierter  Wurzelsilbe  (S.  447  f.)  ist  vor- 
läufig äußerlich  und  zwecklos.  Wie  ntsv&dvm  auf  «cv^ct ,  so  sind 
S§yyäpmy  Xafxdvtö^  lafMßdyw^  hikndvm,  nvv&dvoiMM$^  %uyddvm  auf  lal 
fingOy  preuß.  -lankeij  ags.  Umpan^  tat.  linqtw^  lit  fttindu,  lat.  -hendo 
zu  beziehen.  Die  Präsentia  auf  -apm  scheinen  also  durchweg  ganz 
gleich  gebildet,  und  jene  Verschiedenheit  scheint  nur  die  Folge  der 
Verschiedenheit  der  betr.  Wurzelformen  zu  sein.  Daß  die  baltischen 
Verba  auf  -inu  und  »inäju  an  die  griechischen  auf  •avm  und  "ovam 
erinnern,  habe  ich  schon  wiederholt  bemerkt;  auf  die  Aehnlichkeit 
zwischen  lav&dvm  u.  s.  w.  und  lett  rAnu  (»»  *randnUy  lit.  randA\ 
Prät  radu)  u.  s.  w.  hat  bereits  Bielenstein  Lett  Sprache  I  348  auf- 
merksam gemacht;  auch  lat  danunty  obinunty  prodnmnty  redmumtj 
neguinontj  soUnunty  ferinunt  (Neue  Formenlehre  II '  412  f.)  fordern 
Berttcksichtigung.  —  Kkxdvm  ist  nicht  reduplieiert ;  vgl  tV^uwo* 
tif^.  Slaßsv.  flv$ynBv  Hesych  und  Beitr.  z.  E.  d.  ig.  Sprachen  II 191 1 
VIU  380,  E.  Zs.  XXV  61. 


428  Gott  gel.  Aju.  1887.  Hx.  11. 

Die  Intensiya,  Boweit  er  sie  flberbaapt  erwähnt  hat,  hat  der  Hr. 
Verf.  unter  »VI.  Jod-CIasse«  §  513  ff.  and  zwar  zum  Teil  als  Deno- 
minativa  eingeschachtelt.  Diese  schöne,  alte  Bildangsweise  kommt 
in  seiner  Darstellung  also  sehr  schlecht  weg,  während  sie  eine  be- 
sondere and  eingehende  Behandlang  verlangte.  Man  betrachte  nar 
im-vfivim  (skr.  ffäyat)^  nainpc^vm  (skr.  jangamyate)^  ikaq^kaiqm  (skr. 
marmrjya\  nliknqmik  (skr.  pamphulyate)  and  da^ddllw,  no^wnim  a.  s.  w. 
Was  das  #  der  letzten  Verba  betrifft,  so  beziehe  ich  es  —  ebenso 
wie  das  t,  i  Yon  ai.  kanikradydmanay  varivartydniana  —  aof  das  Saffix 
jo  der  s.  g.  Intensiva  II;  das  cfa*<  von  daiddXlw  «»  datdaljm  wäre 
hiernach  in  <fa-*-  zu  zerlegen  and  nar  in  da-  die  Reduplikation  der 
Wurzelsilbe  zu  sehen. 

7|oy,  intaor  und  dgl.  Aoriste  (S.  466  §  532)  halte  ich  nicht  fttr 
Analogiebildungen,  sondern  stelle  sie  zu  ved.  Aoristformen  wie 
ydkaatäm. 

Daft  der  Hr.  Verf.  in  §  535  Brugmanns  Erklärung  des  Aor.  auf 
-^9V  wie  etwas  ganz  selbstverständliches  vorträgt,  bedauere  ich  sehr. 
Nach  meiner  Ansicht  ist  dieselbe  so  falsch  wie  nur  möglich  (vgl. 
GGA.  1879  S.  675).  Das  nicht-passivische  korkyr.  notf^&ff  ist  nicht 
erwähnt. 

Daft  die  ZurttckfQhrung  von  fkspwj  /afuS  auf  ^/mi^coi«,  *f(xiks<sim 
(S.  470  f.)  unsicher  ist  —  ich  lege  *iMV66iA,  *r^fu(fm  zu  Grunde  — 
ist  bereits  mehrfach  von  anderer  Seite  bemerkt. 

lieber  den  Fortfall  der  Reduplikation  (S.  480)  habe  ich  GGA. 
1879  S.  818,  also  vor  J.  Schmidt  und  Osthoff  gehandelt 

Nach  S.  489  §  559  »muft  das  Perfektum  auf  -ara  als  eine  speci- 
fisch  griechische  Neubildung  gelten  c.  Der  Gegenbeweis  ist  von  mir 
Beitr.  z.E.  d.ig.  Sprachen  V318,  Bugge  das.  X  112  ff.,  Bartholomae 
das.  XII  84,  K.  Zs.  XXVII  355,  Ar.  Forschungen  II  64  Anm.  ge- 
ftlhrt  Auf  italischem  Boden  scheinen  mir  auch  die  Bildungen  auf 
'<undU'S  (faeundtiSy  fScundus,  iracundtiSy  jücunduSf  verecufidus)^  ver- 
glichen mit  denjenigen  auf  -bunduSy  auf  das  i-Perfektam  zu  be- 
ziehen zu  sein. 

Die  Formen  der  II  Sg.  Aor.  I  Imper.  Med.  auf  ca$  (S.  498) 
halte  ich  ftlr  nichts  anderes,  als  die  gewöhnlichen  Infinitive  Aor.  I 
Act  (was  zögernd  bereits  Thurneysen  E.  Zs.  XXVII  178  vermutet 
hat).  Ihre  mediale  Verwendung  verdanken  sie  dem  äufteren  Zusam- 
mentreffen ihrer  Endung  mit  der  medialen  Personalendung  o<a;  die 
Zurttckziehung  des  Accentes  erfolgte  in  ihnen  im  Anschluß  an  die 
II  Sg.  Aor.  I  Imper.  Act  auf  -tfov  und  weiterhin  an  den  Vocativ 
dem  der  Imperativ  als  Bnfwort  nahe  steht 

Was  ttber  die  Endungen  der  III  Plur.  Imper.  Act  gesagt  ist 


Batmack,  Studien  anf  dem  Gebiete  d.  Griecbiaeben  n.  d.  arischen  Sprachen.  1. 1.   429 

(S.  498  f.  §  577),  bedauere  ich  nnr  zum  kleinsten  Teile  annehmea 
zn  können.  Dnrch  die  Bernfong  anf  Brngmann  Morpbol.  Unter* 
snchnngen  I  163  ff.  wird  es  nicht  nnterstfltst,  denn  Brngmann  ist 
ftlr  einen  Nicht-Jonggrammatiker  keine  Autorität,  nnd  seine  eitierten 
Anseinandersetznngen  enthalten  nichts,  als  das  scbablonenmäftige 
jnnggrammatische  Raisonnement ,  mit  dem  alles  widerlegt  und  alles 
bewiesen  werden  kann.  Die  Endnng  -vtmr  identificiere  ich  mit  skr. 
-^am  nnd  -vtm  mit  ved.  -ntat  (Benfey  Pluralbildungen  S.  33,  Schlei- 
cher Gompendinm  '  S.  667).  Aus  -vf4»(cf)  -|-  (fav  entstand  -rtm^mf, 
das  in  Hinblick  auf  die  grofte  Verbreitung,  welche  die  Endnng  -oav 
gefunden  hat,  für  Brngmanns  Zwecke  nichts  beweisen  kann. 

Die  II  nnd  III  Sg.  Praes.  Eonj.  Act.  (S.  409  f.,  502)  scheint 
mir  im  Griechischen  je  mit  doppeltem  Ausgang,  mit  nnd  ohne  *  sub- 
scriptnm  vorgekommen  zn  sein.  In  den  Endungen  -i}c  (-jftf-^a), 
-jf  (H}-(n)  sehe  ich  die  regelrechten  conjunctivischen  Gegenstflcke  zu 
den  indicatiyischen  Endungen  •s$g,  -«» ;  in  Hf c,  *t  mit  anderen  die  zn 
indicativiscb  *'9g,  *-•  (vgl.  got  -i^,  -ip  n.  a.).  Die  Annahme  Ton 
Analogiebildungen  ist  auch  hier  unnötig  nnd  wttrde  die  klaren  und 
natQrlichen  Verhältnisse  der  Sprache  nur  stören. 

S.  516  §  602  war  zu  erwähnen,  daft  Usener  Fleckeisens  Jahr- 
bücher XXIV  (1878)  55  die  Suffizform  -mona  in  Namen  wie  7crfif- 
vog^  ^jÜMi^jv^  finden  will. 

S.  516  §  603  ist  aus  dem  Hesiodischen  4pau$6g  geschlossen,  daB 
die  Grundform  des  Verbaladjektiv-Suffixes  -lio-c  -w*o-c  gewesen  sei 
Dabei  ist  zn  beachten,  daft  nur  das  unregelmäßig  betonte  ^omoc 
*isfo-c  zeigt,  und  daft  datiog^  ^tttog^  viprattog  sich  von  ihm  anfter 
durch  das  Fehlen  des  *  durch  ihre  Betonung  unterscheiden.  Jatiog 
n.  8.  w.  einerseits  und  tpatsiog  andrerseits  sind  demnach  treffende 
Belege  ftlr  die  von  Fick  Beitr.  z.  E.  d.  ig.  Sprachen  IX  317  aufge* 
stellte  Regel. 

Königsberg  L  Pr.  A.  Bezzenberger. 


Baunack,  Joh.  u.  Theod.,  Studien  auf  dem  Gebiete  des  Orieehischen 
und  der  arischen  Sprachen.  I.  Band,  erster  Teil.  Leipiig,  Verlag 
?on  S.  Hiriel  1886.    X  und  218  S.    8^ 

Der  erste  Teil  der  »Studienc,  welche  die  Brüder  Bannack  her- 
anszugeben  beabsichtigen,  stammt  ganz  von  Johannes  Bannack  her 
nnd  enthält  I.  »Analektenc,  IL  »Inschriften  aus  dem  Asklepieion  zn 
Epidanrosc,  ni.  Nachträge  nnd  Indices.  Die  Analekten,  welehe 
»fast  flberalt  an  eigene  frühere  Arbeiten  anknüpfen  c,  sind  zum  Teil 


480  Gdtt.  gel.  Ans.  1887.  Nr.  II. 

lose  aneinander  gereihte  Bemerkungen  zu  den  griecbiscben  Dialekt- 
inschriften und  zu  HesychinSy  znm  Teil  Etymologien.  Eine  Vorstel- 
lung von  der  Art  und  dem  Werte  derselben  werde  ich  dem  Leser 
besser  und  unparteiischer  als  durch  einzelne  Beispiele  dadurch  yer- 
schafifen,  daft  ich  sämtliche  Punkte  eines  grOfteren  Abschnittes  be- 
spreche. Dazu  wähle  ich  die  »Thessalicac  S.  18 — 24,  weil  ich  auf 
diesem  Gebiete,  in  welches  meine  eigene  Erstlingsarbeit  fällt,  mir 
am  ehesten  ein  Urteil  zutrauen  darf  und  weil  ich  dabei  zugleich 
meine  Arbeit  gegen  B.  verteidigen  und  ihre  Rechte  wahren  will. 

In  No.  I.  der  Thessalica  gibt  B.  seine  Ansicht  über  den  Namen 
der  Thessaler,  welche  sich  selbst  Dst^aXoh  nannten,  bei  den  Booten 
0s%%aXoi^  den  Attikern  Q^nalot^  gemeiniglich  Bsöüalot  hieften. 
B.  freilich  hält  0st%aX6q  auch  für  thessalisch :  ^Tovfk  0$tutXoiv  In- 
schrift von  Phalanna,  Fick,  Bezzenb.  Beitr.  5  825«  ist  sein  Beleg. 
Die  fragliche  Inschrift  steht  jetzt  Gollitz'  Samml.  unter  No.  371,  und 
Lolling,  welcher  sie  nach  Heuzey  wieder  gelesen  und  Mitt  d.  deutsch, 
arch.  Inst.  VII  z.  S.  224  ein  Facsimile  gegeben  hat,  schreibt  den 
Schlnft  der  dritten  Zeile  [%\d[o\viq  M  dQWQ[a^]  (Bef.  de  dial. 
Thess.  30  cre^^[(ac]).  Früher  war  die  Lesung  dieser  Stelle  so  nn* 
sicher,  daft  Fick  »fof»  if6v%alo[v\  ss  f»/»  OsvmJimv  oder  foSf»  0«ffa- 
Mv*  Tcrmuten  konnte.  Fick  selbst  erwähnt  nun  in  der  neuen 
Ausgabe  diese  Vermutung  gar  nicht  mehr,  B.  aber  citiert  sie  in 
allem  Ernst  als  Beleg  für  ^BtiaXoQ.  Offeubar  hat  er  sich  nicht  die 
Mtthe  genommen,  nachzusehen,  was  fttr  eine  »Inschrift  von  Pha- 
lannac  das  eigentlich  wäre.  Als  Grundform  f&r  den  Namen  der 
Landschaft  nimmt  B.  *nst%aUa  an.  Um  nun  »so  verschiedene  Formen 
wie  Iln&aUa  und  QenaJSa  zu  vereinigen»  bedarf  es  . . .  des  Namens 
09la  als  Mittelformt.  »Während  /7«f^-aiU(«  offenbar  erst  aus  dem 
masculinen  Stamme  net^-alo-  abgeleitet  ist,  geht  0&la  aas  dem  aner- 
weiterten {n§t&',  Ui^'  vgl.  G.  Hey  er  §  210),  synkopierten  Stamme 
hervor«.  »<Z>Ma-  verhält  sich  zu  *ns&-ia  sr  f*(a:  d/i-fa,  *a(«)fftlo«. 
—  Die  Ansetzung  von  *[]€&',  *ns&la  neben  n$t9^ahh^  d.  h.  doch, 
die  Annahme  eines  Wandels  von  %&  zu  &,  wird  durch  das  Citat 
G.  Heyer  ^  §  210  geschützt.  An  dieser  Stelle  handelt  Heyer  von 
der  (späten)  Lauterscheinung  der  Affrikation  der  Aspiraten,  infolge 
deren  bisweilen  td^  fttr  9  und  tv  eintreten  soll  (s.  unten).  B.  aber 
läftt  9  aus  %&  entstehn,  das  Citat  hat  also  gar  keinen  Sinn  und  die 
Ansetzung  von  *ne&la  14t  nicht  gerechtfertigt.  Daft  tf^^ö,  hom. 
0d^itl  wegen  der  Verschiedenheit  der  Quantitäten  mit  fkiä  nicht  anf 
eine  Stufe  gestellt  werden  darf,  wie  B.  es  thut,  braucht  kaum  be- 
merkt zu  werden.  Indessen  auch  wenn  Bs  Ansicht  ttber  O^la 
sprachlich  ganz  ohneAnstoft  wäre,  so  wäre  sie  deswegen  nm  nicbll 


Baanack,  Stndien  auf  dem  Gebiete  d.  Griechiselieii  u.  d.  arischen  Sprachen.  I.  1.    431 

riehtiger.  Das  aralte  O^iii  nämlicb,  die  Heimat  des  Achill,  bestand 
lange  unter  diesem  Namen,  ehe  die  Thessaler  in  ihre  späteren  Sitze 
wanderten.  Dies  geschah  bekanntlich  erst  nach  Homer,  der  sie  noch 
gar  nicht  kennt.  Deswegen  darf  man  0^itt  nicht  mit  dem  Namen 
der  Thessaler  in  Zusammenhang  bringen,  und  B.  verstößt  somit  ge- 
gen die  wichtigsten  sprachlichen  und  sachlichen  Momente,  um  die 
Mittelform  0^ta  zu  gewinnen.  Mit  ihr  fällt  alles,  was  er  ttber  ®*<7- 
aaXog  u.  s.  w.  sagt  und  ich  konnte  es  fttglich  ttbergehn.  Indes  der 
Leser  soll  ja  B.  kennen  lernen!  Das  Etymon  von  flst&aXog  soll 
(boot.)  ninaq$q  »vier«  sein.  »Danach  scheint  mir  der  Name  auf  die 
tstQcldsg  hinzuweisen,  deren  besondere  Namen  zum  Teil  aus  dem 
Voll-  und  Eurznamen  {0sfraaX$wT$g  und  0&njiuc)  zum  Teil  aus  neuen 
Stämmen  (IleXaifywug  und  ^EauaKong)  nach  Sonderung  des  einge-* 
wanderten  Stammes  in  vier  Isopolitien  sich  bildeten.«  —  Also  zuerst 
ist  das  Ganze  (dessen  älterer  Name  verloren  gieng?)  nach  seiner 
Teilung  in  vier  Teile  benannt  worden,  dann  zwei  dieser  Teile  nach 
dem  Ganzen !  Diese  Annahme  könnte  kaum  unwahrscheinlicher  sein, 
auch  wenn  wir  nicht  durch  Aristoteles  wüßten,  daß  die  Teilung  erst 
von  Aleuas  Pyrrhos  herrührt,  also,  welches  dessen  Zeitalter  auch 
gewesen  sein  mag,  sicherlich  nicht  so  alt  ist,  wie  der  Name  der 
Thessaler.  Die  Erklärung  der  Lautübergänge,  welche  seine  Vermu- 
tung anzunehmen  nötigt,  macht  B.  sich  sehr  leicht  »Die  Entwicke- 
ungsreihe  /70fT-,  /7ct^-,  ns&'  hat  in  ^Aviig,  *A%&'ig,  ^A&^ym  (Stud. 
NicoL  27)  u.  a.  ihre  Analogien.«  —  In  der  That  gibt  es  eine  Beihe 
jinigj  ^A%&tg^  *A&ijyak  ebenso  wenig  wie  i7«ff-,  Utt^-,  ns&^.  An 
der  von  ihm  genannten  Stelle  erklärt  B.  ^Atn^j  als  »Wasserland« 
aus  einem  verlorenen  ßnja^  von  welchem  er  Spuren  im  Griechischen 
nachweisen  zu  können  glaubt.  Aber  darauf  läßt  *Atu*^  sich  nieht 
zurückführen,  weil  dann  nothwendig  eine  Nebenform  *A(fü$nij  in  an- 
deren Dialekten  (z.  B.  im  Ion.)  und  auch  im  Attischen  selbst  zu 
erwarten  wäre  (G.  Meyer  §  282).  Zu  *A%wtij  soll  nun  *Attlg  gehö* 
ren,  hieraus  ^Ax^ig  und  daraus  ^A&^ya$  geworden  sein.  ^Anlg* 
*A9%vm  bei  Hesychius  ist  aber  der  einzige  Beleg  für  die  Form,  die 
B.  zur  Grundlage  seiner  Erklärung  macht.  Das  ist  doch  mehr  wie 
bedenklieb!  Natürlich  muß  man  die  älteste  Form  zu  Grunde  legen: 
'A&^rcu.  Hierzu  ist  ^Ax&ig  »das  Land,  die  Sprache,  die  Geschichte 
nnd  die  €k)ttin  von  Athen«  regelrechte  Kurzform,  wie  tit^ti  zu  t»- 
9^vn  (Wurzel  ^),  imztpig  zu  tnatpvXif^  äatQ^g  zu  dütgayalog.  Nicht 
Vereinfachung  des  «^  zu  i^  liegt  in  *A^^ra$:  ^At&ig^  u&^rii:  tlrC^ 
vor,  sondern  die  Verdoppelung  des  Konsonanten  bei  Kurznamenbil- 
dung,  die  ja  so  häufig  ist.  Von  der  »Aspirierung  der  Doppelkonso- 
nanz  «Y«  in  ^AiStg  ist  also  auch  keine  Bede^  sondern  *A%nM^  ist  von 


432  Gott.  gel.  Ans.  1887.  Kr.  11. 

*j4&^pa$,  ^At&lg  ganz  zu  trennen.  Jenes  einzige  ^Axüq*  *A&^va$ 
Hes.  ist  entweder  zu  ^Aruxii  Kurzform  oder  es  verdankt  seinen  Ur- 
sprung der  Zurttckftlbrung  von  ^At&ig  auf  ^jimxij,  welehe  sehon  bei 
den  Alten  wie  bei  den  Neueren  bisher  ttblich  gewesen  ist.  Deshalb 
darf  ich  fttr  diesen  Irrtum  B.  nicht  allein  verantwortlich  machen. 
Auch  z.  B.  0.  Meyer  §  210  nimmt  fttr  *ji%3^  und  BstSaUg  Verwan- 
delnng  von  fr  in  t^  an.  Sonst  kann  er  nur  %h9er'  flam»y  aus  He- 
sychins  anführen.  Von  diesem  aber  weiß  man  nicht,  in  welcher  Zeit 
es  entstanden  ist,  und  mit  Ilst&aldg  läßt  es  sich  nicht  vergleichen, 
weil  sein  td^  (rt)  auf  «t  zurückgeht.  Die  Beispiele  Meyers  für  den- 
selben Vorgang  bei  Labialen  und  Gutturalen  können  auch  nur  höch- 
stens das  zeigen,  daß  er  ganz  vereinzelt  möglich  war ;  *Ang>$a¥6^  ist 
nicht  griechisch,  än(pag,  dlmpvg^  ßanx^mg  etymologisch  unklar.  Wei- 
tere Beispiele  hat  Meyer  nicht  und  B.  ftihrt  die  seinigen  bloß  unter 
dem  Rande  an.  Dtti^etig,  Iht^igy  Iln&oq,  thess.  Hi&ovrB^og  u.  a. 
sollen  mit  [Knaq^  IUftaXog  u.  a.  auf  den  Stamm  miv-  zurückgehn. 
Die  Namen  mit  &  aber  gehören  ohne  Zweifei  zu  nst^m,  idg.  bheidhöj 
dessen  zwiefache  Aspirata  boot  Ol^mv  GoUitz'  Samml.  850  zu  be- 
wahren scheint.  n$t&tvg,  Fln&iq  u.  s.  w.  zeigen  die  Verdoppelung 
des  ^  wie  *At9iq,  tlf^f.  Ebenso  gehören  IlXat&lg,  nXav&hv  zu 
nladatvfi  {nla&dvfi)  und  daß  IlXdtmv  mit  ihnen  etwas  gemein  hat^ 
wird  B.  erst  beweisen  müssen.  So  gibt  es  für  das  Verhältnis  n&n-x 
üet&'i  /7c^-  in  der  That  keine  Analogien.  Um  B.s  Methode  weiter 
zu  schildern,  gebe  ich  seine  eigenen  Worte  wieder :  »Ausgehend  von 
der  Ueberzengnng,  daß  gegenüber  nixd^aXoq  [so!]  von  den  Formen 
Oßvt-aUq  und  &st%'aX6q  nur  die  letztere  die  jüngere  sein  kann, 
denke  ich  mir,  daß,  als  O^Um  regelrecht  [1]  Eurzname  geworden 
war,  *n%%%aUay  die  ursprüngliche  Form  des  Vollnamens,  an  den  An- 
laut jener  Bildung  sich  anglich,  daß  also  aus  *n§w9^alla  ein  (»«tr- 
^aUa  dem  0&ta  zuliebe  gebildet  wurde  und  dieses  0e%%aUa  die  Ba- 
sis ftlr  das  gewöhnliche  Oetw-^Xia  abgäbe  So  sehen  wir  hier  in 
No.  I.  B.  unter  schweren  Verstößen  gegen  geschichtliche  Thatsachen 
altes  und  junges  ohne  alle  Kritik  durcheinander  werfen,  falsch  eitle- 
ren, Analogieen,  die  gar  keine  sind,  als  Beweise  anftihren,  dazu 
die  abenteuerlichsten  Analogiebildungen  annehmen  und  schließlich 
dem  Leser  seine  ȟeberzeugungc  anstelle  eines  Beweises  bieten. 

De  dial  Thess.  S.  26  habe  ich  auch  einen  Versuch  gemaeht| 
die  genannten  Namensformen  auf  ihre  Qrundform  zurückzuftlhren. 
Als  solche  stellte  ich  *%ps9jaXoq  auf,  woraus  sich  alle  überlieferten 
Formen  erklären,  wenn  man  annimmt,  daß  thess.  tt^,  die  reine  aspi- 
rata  geminata,  auf  ^9;  zurückgeht  Hierauf  scheint  auch  thess. 
Bat^inag  as  att  Ban««f  c  zn  weisen.    Diese  Erklärung  erwähnt  B» 


Bannack,  Studien  auf  dem  Gebiete  d.  Griecliisclieii  n.  d.  arischen  Sprachen.  1. 1.    433 

S.  20  unter  dem  Rande:  »Oanz  anders  Fiek  nnd  Prellwitz  p.  26c. 
Soviel  ich  weiB,  bat  Fiek  nirgends  tiber  den  Kamen  der  Tbessaler 
gesprochen  nnd  ich  maß  verrnnten,  daft  B.s  Irrtnm  folgendem  Satz 
meiner  Arbeit  entstammt :  radicem  igitar  ghedh  habemns,  qnae  in  no- 
^ocy  ^d(Hf6if^a$  latet,  quae  Fickins  .  .  .  cnm  Qermanico  bufjan  .  .  . 
comparatc.  Trifft  diese  Vermotang  zn,  so  läftt  sie  B.  nicht  gerade 
als  einen  aufmerksamen  Leser  erscheinen. 

In  No.  II  der  Thessalica  heiftt  es :  »Die  beiden  Namen  FoXl-tvac 
nnd  roXX-iyatoQ  .  .  .  auf  den  von  Fiek  unter  No.  1307  publicierten 
Inschriften  ([^ifotofuxxoc]  FoUiPMog  |  [ro]lUvag  ^Aotoikdxstoq  \  Kgccun-- 
nog  rolXira^g)  stelle  ich  zn  Fel-tag,  FslX-lag^  FslX-w.  Vgl.  z.  B. 
einmal  (!)  Johfoi  ftlr  Jeltpoi  .  .  .c.  Zunächst  ist  FolUtfa^og  neben 
FolUvag  kein  zweiter  Name,  sondern  das  regelmäßige  thessalische 
patronymische  Adjektiv,  welches  den  Genetivus  vertritt.  Was  aber 
die  Sache  betrifft,  so  heißt  das  Verfahren  B.8  doch  nichts  anderes, 
als  ein  unbekanntes  X  durch  ein  ebenso  nnbekanntes  Y  erklären 
wollen.  Jolq^oi  kommt  einmal  vor  und  seine  Entstehung  ist  unklar, 
ebenso  die  von  Fsl-tag.  Wenn  dieses  z.  B.  aus  ^A-yH^aog  entstanden 
ist,  wogegen  sich  sprachlich  nichts  einwenden  läßt,  so  ist  Bj9  Ver- 
mutung falsch. 

III.  Für  »"Exvofoc«  werden  zwei  Möglichkeiten  der  Entstehung 
angefahrt.  Da  die  Lesung  unrichtig  ist,  gehe  ich  gleich  zu  der  hier 
angeknüpften  Note  Aber.  Sie  beginnt:  »Prellwitz  p.  5  S^xy^^^^  ^^ 
nichts  ist€.  Welchen  Sinn  dieser  Relativsatz  auch  haben  mag,  an 
der  Lesung  Ssjiyaio^  muß  festgehalten  werden.  Dieser  Name  steht 
nämlich,  auf.  der  (linken)  Schmalseite  einer  Marmorplatte,  deren  beide 
Kanten  nicht  unversehrt  sind;  Lolling  Mitt  d.  deutsch,  a.  Inst  Vm, 
p.  104  =  Fiek,  Oollitz'  Samml.  1329  IIb.  Die  erste  Zeile  zeigt  .  . 
YPO  .,  die  zweite  unversehrt  0Mnnoh^  darunter  steht  EYJAM  und 
unter  dem  •  von  0Mnno$  ein  rechts  zerstörtes  o:  C.  Die  rechte 
Kante  ist  also  hier  abgeschlagen,  jedenfalls  unleserlich.  Da  die  vor- 
hergehende und  die  folgende  Zeile  {SEXNAIOF)  Aber  das  C  der 
dritten  hinaus  noch  einen  Buchstaben  haben,  so  ist  kein  Zweifel,  daß 
der  unversehrte  Stein  noch  Platz  fUr  S  bot  Deswegen  hat  Lolling  3 
Evd0fi^[og]  I  4  S§xif€uo$  geschrieben,  der  die  Inschrift  allein  gesehen 
hat  Der  Schreibung  Fieks  3  Biiafko  \  4  g  ^Exya$o$  kann  ich  mich 
schon  deswegen  nicht  anschließen,  weil  mir  die  Abtrennung  des  S 
allein  auf  die  andere  Zeile  bedenklich  scheint.  Auf  jeden  Fall  hätte 
B.  nicht  mich,  sondern  Lolling  citieren  sollen.  Umgekehrt  hätte  ich 
z.  B.  gewünscht,  daß  er  für  fwp9$QdM0y[tBg]  nicht  »Mitteil.  d.  deutsch, 
arch.  Inst  VII  346c,  sondern  meine  Arbeit  S.  2  f.  citierte,  weil  hier 
}ene  Form  zum  ersten  Male  ergänzt  nnd  erkannt  ist 

06ti.  f«l.  Au.  1687.  Nr.  11.  31 


484  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  II. 

Aber  B.  fährt  in  jener  Note  mit  dem  besprochenen  Anfang  fort: 
»Im   ganzen   enthält  seine   Arbeit   viel  Oates.    Doch  ist  sie  leider 
recht  unzuverlässig.    Von  S.  6 — 14   kann  ich  genaue  eingaben  bei- 
bringen :   ich    zähle  55  Korrekturen,   auf  S.  12  z.  B.  10,   auf  S.  14 
gar  19.    In  §  4   werden    die  Beispiele  für  Ableitungen  von  GiQCog 
angefahrt:   warum    fehlt    Oequiwog   60    und    Qiqaovv  50?    Mit  der 
Ueberlieferung  ist  ganz  willkürlich  verfahren :  die  Genitive  der  Steine 
sind  meist  in  den  Nominativ  verwandelt,  S.  14  wird  bald  der  Nomi- 
nativ, bald  der  Genitiv  citiert;  JalU6v[K^oQ  hat  das  Zeichen  der  Er- 
gänzung,  aber    vier   Zeilen   weiter  steht  NtuLoXaoq  statt  [iViiicJdilaoc 
345, 82,    wie    denn   auf   den   in  Rede   stehenden  Seiten   sonst  kein 
Elammerzeichen  angewendet  worden  ist ;  S.  6  wird  jQäa%a^  st.  Jga- 
a<ito(  citiert,  aberS.  14  iatnaas  (richtiger  Siftnaff)]  S.  11  (Mitte)  wird 
id'avs  angeführt,  während  der  Stein  äni^avs  hat,  dahinter  aber  oVi- 
di^ne  mit  der  Präposition;  S.  11  Z.  23  v.  o.  gehört  das  boot.  Citat 
zu  489  19/20;  es  hat  also  danach  erst  488,  45.  92  zu  folgen;  S  14 
Z.  15  steht  ^a(p$iafAipag  345.  14  (17.  41),   während  es  doch  ^af>»- 
iaiA^vag   345.   9.   40,   tpaifiiaa&ikv  345,  14,    itpäy^iJui   345,  17,  41 
heißen  muß.    Und   diese  Proben  von  Inkonsequenz   und  Ungenauig- 
keit  ließen  sich  noch  vermehren  I«    Ich  bitte  den  freundlichen  Leser 
mit  mir  das  Gewicht   und  die  Wahrheit    dieser  Vorwürfe  zu    unter- 
suchen.   Jqdtnaq  fOr  jQdaczag  ist  ein  Druckfehler  und  ich  gestehe, 
daß   es    deren   leider  mehr    und  schlimmere   in  meiner  Arbeit  gibt. 
Dieser  ist  unschädlich,  da  es  sich  an  der  betreffenden  Stelle  nur  um 
die  Entstehung    des   Namens    aus   *A^dqd<naq  handelt.    Im  übrigen 
spreche  ich  auf  den  von  B.  herangezogenen  Seiten  über  die  Vokale 
des  Thessalischen  und   führe  z.  B.  unter  ä  §  9  die  Stämme  an,   wo 
thessalisches  ä  gegenüber  attischem  17    erscheint.     Dabei   hatte   ich 
ursprünglich  alle  Belege  für  diese  Stämme  gesammelt;  weil  ich  aber 
einsah,  daß  Vollständigkeit  hier  gar  keinen  denkbaren  Zweck  haben 
kann,  so  strich  ich  vor  dem  Druck  den  größten  Teil  der  Citate  weg. 
Dadurch   ist   es   nun   leider  gekommen,   daß  die  gebliebenen  Citate 
zwar  immer   noch  richtig   den  besprochenen  Stamm,    die  behandelte 
Lauterscheinung  belegen,  aber   nicht  mehr  genau  die  Form,   welche 
als  Beispiel  angeführt  wird.   Z.  B.  für  *ddfAog  fähre  ich  an  ^JafMQ- 
Xc»o(  1323  ...  EidafAog  345 5s. 66. ss  alia«  und  von  diesen  Citaten  zu 
Evdafkog  ist  keines  richtig:   345,52    (bis)   u.  56  steht  Evdafuiog,  82 
EvdafMdag,  während  EvdafAog  z.  B.  in  der  oben  erwähnten  Inschrift 
1329  IIb,  8  steht,  was  man  bei  mir  nun  gar  nicht  findet.    Ich  ge- 
stehe ein,  daß  diese  Art  ungenau  und  deshalb  fehlerhaft  ist     Aber 
derartig  sind  auch  nur  alle  die  »Proben  von  Inconsequenz  und  Un- 
genanigkeit«,  die  B.  gibt.    Bei  a^av«,  ivi^sws  handelt  es  sich  am 


Baanack,  Stadien  anf  dem  Gebiete  d.  Griechischen  a.  d.  arischen  Sprachen.  L  1.    48& 

das  €  des  Schiasses  and  nicht  am  die  Präposition,  ttber  welche  §40 
Aafschluß  gibt;  bei  ipaqn^af$4vag  a.  s.  w.  bloB  am  das  a,  nicht  die 
Verbalformen,  welche  §  37,  Kap.  V  besprochen  werden;  bei  Niuo-- 
Xaog  steht  aaßer  dem  von  B.  erwähnten  Gitat  noch  ein  anderes  345, 82, 
wo  keine  Verstttmmelang  des  Steines  vorliegt;  die  boot.  Gitate  be- 
legen alle  nar  die  Konstraktion  von  nsXox^at  mit  nagd  c.  acc. ,  ihre 
Reihenfolge  ist  also  gleichgiltig.  Qiqüovv  345, 55  kann  za  den  tlbri- 
gen  von  mir  genannten  Belegen  hinzafttgen,  wer  hier  Vollständigkeit 
fflr  wünschenswert  hält.  Qsqaimo^  dagegen,  dessen  Fehlen  B.  aach 
tadelt,  darf  gar  nicht  aafgeftthrt  werden,  weil  es  neben  dem  von  mir 
genannten  ®$Qaiaq  34566  kein  neaes  Beispiel  ist,  ebenso  wenig  wie 
FolXivaq  and  roXUvmo^  zwei  Namen  sind.  QsQirSag  HstaUatog  ist 
der  Vater  des  rietaXiag  GsQaia^og,  Os^aiag  and  OsgaSmog  gehn  also 
aof  dieselbe  Person.  —  Ich  habe  mir  nicht  die  Mtthe  gemacht,  B. 
alle  Gitate  nachzaschlagen,  weil  ich  meinen  Fehler  keineswegs  da- 
darch  geringer  za  machen  glaabe,  daß  ich  ihm  eben  denselben  nach- 
weise. Aber  als  Gariosam  führe  ich  an  —  vielleicht  hat  es  der  Le- 
sef  schon  bemerkt  —  daß  eben  das  Wort  bei  B.,  an  welches  diese 
Note  anknüpft,  jene  tadelnswerte  »Verwandelang  des  Oenetivs  in  den 
Nominative  aafweist:  nicht 'Eji^a* o  ^  hat  der  Stein,  sondern  {S)€xvalo$\ 
B.S  Anraerkang  hat  noch  einen  zweiten  Teil:  »Daneben  gibts 
aach  noch  genag  des  Seltsamen  and  Unrichtigen:  p.  12  schließt 
P.  aas  ^OziXvxog  aaf  einen  „obtasam  fascamqae  sonam^'  des  oc ;  — 
Aber  S.  39  n.  führe  ich  die  mir  während  desDrnckes  meiner  Arbeit 
von  Fick  gütigst  mitgeteilte  Verbesserang  OIoXvuoq  an,  welche  B. 
nar  verdankelt,  wenn  er  S.  22  daneben  aach  ^OgoXvuog  für  möglich 
hält.  —  »p.  9  Z.  21  wird  kypr.  MaU&$jav  aas  dem  bekannten  Fal- 
sifikat (Hans  Voigt  Bezz.  Beitr.  IX,  167)  angeführte ;  ^  Erstlich 
habe  ich  für  die  genannte  Form  zwei  Gitate  gegeben,  nämlich  aach 
die  Inschrift  von  Idalion  60  Z.  27,  was  B.  verschweigt,  and  zwei- 
tens bezeichnet  Voigt  selbst  seine  Vermatang,  daß  die  von  mir  an 
zweiter  Stelle  citierte  Inschrift  von  Thremithas  123s  gefälscht  sei, 
keineswegs  als  sicher:  »Ich  verkenne  nicht,  daß  meine  Hypothese 
einer  Fälschang  mancherlei  bedenkliches  hat«  sagt  er  S.  169,  and 
deshalb  ist  es  anrichtig,  von  einem  »bekannten  Falsifikat«  za  reden, 
wie  B.  thot.  —  »p.  13  liest  man  boot.  @»oi;tI^ov  st^fiv  (ODI.502,2)« 
—  ist  Drnckfehler  —  »ferner  Mvaa^y^vog  ==  ^yevBog^  während  doch 
Meister  GDI  za  No.  497,  532  and  557  konstatiert,  daß  Wegfall  des 
Iota  nicht  anzanehmen  ist«;  —  Erstlich  stehn  die  betreffenden 
AeaBerangen  Meisters  nicht  bei  den  genannten  Nammern,  sondern 
erst  in  den  Nachträgen,  zweitens  berührt  mich  die  erste  Stelle  gar 
nicht     Hier  sagt  Meister,    daß    nach   Latiscbew  aaf  dem  Steine 

31* 


436  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  II. 

laQaQx^öptmv  steht  und  nicht,  wie  Decharme  gelesen  hatte,  laQaQxd^- 
Tüiv.  Drittens  aber  ist  es  interessant  zn  erfahren,  was  B.  unter 
» konstatieren  €  versteht.  Im  Nachtr.  zu  532  und  557  erklärt  Meister 
nämlich,  daß  er  jetzt  Sirog  (für  SiPtog)  und  Mvaa$yivog  (für  yiweog) 
nicht  mehr  auf  die  Gr.  Dial.  I,  246  angegebene  Art  entschuldige 
und  das  &  hinter  p  eingesetzt  wissen  wolle.  Das  ist  doch  nichts  als 
eine  Konjektur,  für  B.also  ist  konstatieren  soviel  wie  konjicieren! 
Daß  die  Konjektur  falsch,  ist  mir  sehr  wahrscheinlich.  Auch 
O.  Meyer  ^  §  147  bleibt  bei  der  alten  Ansicht,  schreibt  freilich  auch 
noch  laQaQxovt^y.  —  B.S  nächster  Tadel  überbietet  den  eben  be- 
sprochenen noch  an  Grundlosigkeit,  wenn  das  möglich  ist;  »p.  11 
erßlhrt  man  nichts  über  das  Zahlenverhältnis  von  Klio-:  KUo-^t 
Dem  gegenüber  stelle  ich  fest,  daß  S.  11  von  mir  bemerkt  wird,  in 
den  Inschriften  von  Metropolis,  Pherae  und  Krannon  —  die  Beispiele 
führe  ich  sämtlich  auf  —  sei  »*  ante  vocalem  pro  ec  geschrieben. 
»Ceteris  in  titniis  semper  s  legitur«.  Dies  genügt  B.  nicht  und  er 
will  speciell  über  das  »Zahlenverhältnis  von  KJUo-:  KX€0€  etwas 
genaues  erfahren.  Beabsichtigt  er  aus  der  Angabe  über  das  zufäl- 
lige Vorkommen  von  Namen  mit  KXso-  auf  den  bisher  gefundenen 
thess.  Inschriften  eine  ganz  besondere  Wissenschaft  zu  ziehen  ?  Wes- 
wegen will  er  von  den  Namen  mit  @£o-,  die  doch  auch  nicht  selten 
sind,  gar  nichts  wissen?  Ich  meinesteils  gestehe,  daß  ich  mir  von 
dieser  Forschungsmethode  nichts  verspreche  und  daß  ich  den  von 
ihm  gerügten  Mangel  weder  für  »seltsame,  noch  für  »unrichtig« 
halte,  wohl  aber  sein  Verlangen  für  beides. 

So  gelangen  wir  zu  dem  letzten  Vorwurf,  den  B.  mir  macht: 
»p.  12  ist  die  Annahme  von  ^Avta*  als  erstem  Kompositionsgliede 
sicher  falsch :  ''Avtoxog  hat  regelmäßigen  Verlust  des  Iota  und  *Av%U 
oxog  ist  jünger,  vgl.  att.  nsq^  vor  Vokalen  (neQtidfjne ;  I.  v.  G.  68), 
UoXvdv^fig  nach  noXv-{/)dpai  (regelrecht  rXvn-av&ig  GDI.  973  n.  a.)«« 
—  Es  ist  wahr,  daß  meine  Vermutung,  durch  welche  ich  die  An- 
nahme »falscher  Analogiebildung«  überflüssig  zu  machen  suchte,  sich 
nicht  direkt  beweisen  läßt.  Jedenfalls  aber  können  B.s  Andeutun- 
gen, die  vielleicht  selbst  unrichtig  sind,  sie  auch  nicht  widerlegen. 
B.  schließt  seine  Anmerkung  mit  folgenden  Worten:  »Doch  genug. 
Ohne  beständige  Kontrolle  bis  in's  Einzelnste  ist  das  Buch  nicht  zn 
gebrauchen«.  Ich  hoffe,  der  freundliche  Leser  meiner  Rechtfertigung 
wird  diesen  Satz  mit  mir  auf  diejenigen  Benutzer  einschränken, 
welche  in  den  Arbeiten  andrer  nichts  als  Citatsammlungen  sehen, 
die  sie  ohne  jede  weitere  Rücksicht  auf  den  Inhalt  für  eigene  Lei- 
stungen ausschreiben  zu  können  wünschen.  —  Gelernt  habe  ich  aus 
B.S  langer  Anmerkung  nichts  und  bei  der  Oberflächlichkeit  und  Grund* 


Baoiiack,  Stadien  auf  dem  Gebiete  d.  Griechiscliea  u.  d.  arisclieu  Sprachen.  1. 1.  437 

losigkeit  des  grSfiten  Teiles  seiner  Vorwürfe  moftte  auch  meine  Ant- 
wort anf  sie  unfrachtbar  sein;  ich  würde  sie  mir  und  dem  Leser 
erspart  haben,  wenn  B.  einen  weniger  herausfordernden  Ton  ange- 
schlagen hätte.  Uebrigens  bemerke  ich,  daft  die  Vergleicbung  der 
Citate  von  S.  6 — 14  mit  dem  Heisterschen  Wortregister  die  Haupt- 
mtihe  gewesen  ist,  welche  B.  meiner  Arbeit  gewidmet  hat.  E^  wird 
sich  im  folgenden  zeigen,  daß  er  gewisse  Ergebnisse  derselben  zu 
seinem  eigenen  Schaden  nicht  yerwertet  hat. 

No.  IV  der  Thessalica  stellt  den  Namen  Konßldmoq  zu  delph. 
Kdßwv  und  vergleicht  wegen  der  Schreibung  boot.  Minyao.  Doch 
ist  diese  Parallele  nicht  unbedenklich,  da  durch  die  Schreibung  ity 
flir  TY  im  Eigennamen,  »unzweideutiger  als  in  MEITIJAS  der  Laut 
einer  einfachen  Fortis  (im  Gegensatz  zur  Lautgruppe  yY  ==  '^)  be- 
zeichnet wurde«  (Meister  I,  266)  und  deswegen  da  eine  bestimmte 
Absicht  vorgelegen  haben  kann,  die  bei  nß  für  ßß  nicht  denkbar 
ist  Xdßßßtog  326  I  84,  K  zeigt  neben  boot.  Xdßag  auch  ßß.  Daher 
halte  ich  an  meiner  Erklärung  jenes  Namens  aus  KonqidaM^  fest, 
vrelche  B.  gar  nicht  erwähnt.  Xdßße^og  (Xdßag)  stellt  sieh  so  zu 
Xaßg-lag,  Zum  Schluß  heiftt  es  bei  B.:  »Während  das  t  von  xatd 
im  Homer  sich  sonst  jedem  beliebigen  Konsonanten  assimiliert,  schreibt 
man  »dt^avc,  9tav&d^a$:  verhält  es  sich  etwa  ebenso  mit  Ba%9^inag 
326  II,  19,  steckt  etwa  ßa»V'  darin?  Vgl.  Bd»$fmog€.  —  Daft 
Aspirata  geminata  in  guter  Zeit  überhaupt  fast  nie  geschrieben  wird, 
sollte  B.  doch  bekannt  sein!  Die  Vergleicbung  mit  Bd&knmg  samt 
dem  att.  Bandxfig,  welches  B.  nicht  kennt,  findet  sich  bereits  bei 
mir  S.  28.  Ebenso  im  wesentlichen  alles,  was  in  No.  Y  über  Kqov^ 
xipag  und  Xen.  Hell.  II,  3,  1  gesagt  wird  S.  16  n.  Nr.  VI  ttber 
Otokvxov  (OloXvnov  Fick)  kam  schon  oben  zur  Sprache. 

VII.  meint  B.,  der  »wunderliche  Name  0auäQ€  repräsentiere  »im 
ganzen  etwa  <2>a»»o-aeAfcc«  Ich  habe  ihn  S.  3  von  q>au^  »dieLinsec 
hergeleitet,  wie  thess.  SMogdsla,  welches  Lolling  in  SnoÖQsia  ändern 
wollte,  von  cnoqodov^  axogöop  »der  Lauche  Das  erwähnt  B.  nicht 
—  VIIL  »Das  zweimalige  ^avvtUoy  .  .  .  (sonst  (Poicxioc;  Liv.  36,13 
Phaes^tn)  könnte  man  als  eine  erwünschte  Bestätigung  für  Assimi- 
lation von  0t  zu  rr  ansehen,  welche  ich  Stud.  Nie.  50  in  'jinvXa  340, 
^jimPülag  332  sachte«.  Aber  B.  sieht  in  diesen  Namen  jetzt  doch 
lieber  seinen  Stamm  *daaa~  (»Wasser«)  belegt.  —  Beides  ist  gleich 
falsch«  Wie  Oavtümv  mit  OakCtdg  zusammenhängt,  ist  gänzlich  nn* 
klar  wegen  des  av  ftlr  a*  ebenso,  wie  wegen  des  t%  ftir  crr.  Für  Icj^ 
welche  dem  tsa  in  jenem  daau'-  zu  Orunde  liegen  würde ,  zeigt  das 
Tbessalische  wie  für  ^  immer  <i<r,  nie  t%\  (de  dial.  Thess.  §  24).  Aber 
B.    fahrt  mich  selbst  als  Stütze  seiner  Vermutung  an:   »Gegen  Er- 


438  Qött  gel.  Anz.  1887.  Nr.  11. 

klärnng  daroh  Assimilation  ans  x%  spricht,  wie  Prellwitz  33  selbst 
anftthrty  nolvonttoq  345,  75  a.  a.c.  Diese  Bemerkung  ist  wieder  ganz 
unrichtig  and  ein  nener  Beweis  fHr  die  Oberflächlichkeit  und  Gedan- 
kenlosigkeit B.s.  A.  a.  0.  spreche  ich  über  die  Assimulation  von 
xt  und  m  zu  t%  in  d%%äq^  ABtüvatoq,  *A%^6v€$to^  u.  a.  und  fahre 
fort:  Atque  üa  omne  tr  Thessdlicum  expUeandum  est.  Atuoq  igitur 
pro  "Anuoq,  AttvXaq  340  pro  An%o^  Atuvav  pro  ^AtüvaVy  nt  *Ain*ij 
pro  *Axu«il.  Cave  antem  pates  banc  assimnlationem  semper  factam 
esse,  sf.  DoXvomoq^  KlsomoXsfjkogt.  Hiemit  stimmt  S.  28  »Qaotiens 
n  apud  Thessalos  invenitar,  assimulatione  ex  *t  vel  tit  natnm  estc. 
B.  freilich  bindet  sich  hieran  nicht,  wie  er  überhaupt  fremde  Mei- 
nungen nie  widerlegt;  aber  daß  er  mich  zu  Gunsten  jener  Vermutung 
anfährt,  ist  mehr  als  seltsam.  IX.  XoQQiovystog  wird  auf  x^Q^^  zu- 
rttckgeftthrt.  X.  »Bvxivav  ist  ggr.  gen.  zu  BvMipag  .  .  .  mit  böoti- 
scher  Orthographie  ...  für  fotutvag^.  HOchst  unwahrscheinlich. 
XI.  * Baa-avUiog  .  •  .  setzt  fllr's  Sprachgefllhl  ein  ißaaa  yoraust. 
Diese  kurze  Bemerkung  ist  ausgezeichnet,  aber  abgesehen  von  dem 
unsicheren  XoQQtovmog  in  der  That  das  einzige  beifallswttrdige  Nene 
in  B.S  »Thessalicac.  Denn  die  Erklärang  von  f*sifnod$  in  No.  XII. 
ist  auch  gänzlich  verfehlt. 

Der  erste  Teil  dieser  thessalischen  Konjunktion  ist  stets  mit 
fkiifq>a  kret.  f$4(na,  f^Btisg  verglichen  worden.  Dieses  fuvag  I.  v.  G. 
IX,  48  zerlegt  B.  (J.  v.  G.  544)  in  fAstu-gj  sieht  in  lutts  ^i<ns  und 
erklärt  dies  aus  fkixqh  »und  dem  dialektisch  so  geläufigen  Stfis,  assi- 
miliert Stut  und  lisa-  in  fA€onod$  soll  aus  (i^ixQ^  ^k  entstanden  sein. 
Hierbei  ist,  abgesehen  von  der  Schwierigkeit  /i^x^*  — Ibts  zu  fkitns 
zusammenrücken  zu  lassen,  noch  mehreres  falsch.  Allerdings  haben 
diese  irrigen  Ansichten  nicht  erst  bei  Baunack  ihren  Ursprung  und 
dehnen  sich  weiter  ans.  Man  hat  Sme  mit  lat.  tisque  ai.  acchä  (Bloom- 
field  Am.  J.  VI  41  f.)  und  abulg.  eäte  (Burda  K.  Beitr.  VI.  89  f.)  ver- 
glichen und  damit  sau  für  ein  sehr  altes  Wort  erklärt.  Aber  das 
delphische  und  lokrische  ipts  (Cauer  Del  *  2044o,  229  An)  zeigen 
meiner  Meinung  nach  doch,  daß  vielmehr  die  frühere  Erklärung  aus 
ipg  -f  ts  die  richtige  ist.  Denn  da  jene  Dialekte  ivg  (ctg)  nicht  ken- 
nen, sondern  ip  c.  acc.  dafür  brauchen,  bilden  sie  ip-ts.  Wäre  Am 
vorgriechisch,  so  wäre  die  gleichmäßige  Verteilung  von  igy  S<fn  und 
^,  Bv%6  ganz  unerklärlich.  Auch  das  Böotische  kennt  ig  nicht  und 
daraus  folgt,  daß  boot.  Sm  —  ftir  andere  Dialekte  ist  diese  Form  nicht 
belegt  —  nicht  aus  icts  entstanden  sein  kann,  wie  Meister  u.  a.  mei- 
nen, sondern  aus  Swe.  Dafür  spricht  auch,  daß  Uebergang  von  m 
zu  f%  auf  boot  Inschriften  erst  in  sehr  später  Zeit  zu  belegen  ist 
(Meister  I,  265),   und   andrerseits   aus  Svte  sehr   wohl  Stu  werden 


Baonack,  Stadien  anf  dem  Gebiete  d.  Qriechisclien  u.  d.  arischen  Sprachen.  L 1.  439 

konnte,  wie  fynatfi^  zn  innatft^  geworden  ist.  Das  hat  vor  langer 
Zeit  schon  Ftthrer  gesehen.  Da  non  das  Thessalische  weder  Stfu 
noch  ig  oder  ttg  kennt,  kann  fMC-  nicht  auf  die  von  B.  vermutete 
Weise  entstanden  sein. 

Im  zweiten  Teil  von  fMCnodi  siebt  B.  den  Accasativns  nod  -f-  * 
ans  id  =  ai.  id.  Dafür  führt  er  an,  dafi  im  Thessalischen  nolag  xs 
ftlr  oftotai  äy,  nouui  ans  noS  m  (so  schon  de  dial.  Thess.  24  n.)  für 
Sn,  also  »das  Interrogativnm  für  das  Relativnm  gebrancht  ist«.  Das 
ist  auch  falsch.  De  dial.  Thess.  40  f.  nenne  ich  die  Stellen,  wo  der 
Artikel  relativisch  gebrancht  wird  und  fahre  fort:  ^Belativi  compositi 
loco  semper  interrogativnm  ponitnr«,  also  nicht  für  das  einfache  Re- 
lativnm, welches  B.  doch  für  seine  Erklärung  von  fkstinodt  =  etg  i 
allein  brauchen  kann.  Endlich  wird  die  Affigierung  des  »  an  nod 
durch  ai.  yada  id  u.  ähnl.  nicht  genttgend  geschtjitzt. 

Auch  hier  ist  aber  nicht  bloß  B.s  eigene  Ansicht  falsch,  sondern 
er  verschweigt  wieder  die  richtige  Erklärung,  die  in  einem  Buche 
gegeben  ist,  welches  er  doch  kennen  muß.  Bticheler  das  Recht  von 
Gortjn  p.  8  bemerkt :  ftitt'  ig  ,  .  .  wofttr  ark.  fi^of ,  nächst  verwandt 
mit  fMTft,  (Ai<fq>a,  thess.  fjie<fnod$,  in  welchem  ftstd  und  die  daftlr  in 
Gortyn  wie  sonst  gebrauchte  Präposition  nsdd,  die  Elemente  beider, 
komponiert  sind«.  Da  ich  auf  dieselbe  Erklärung  im  wesentlichen 
auch  verfallen  bin,  so  sei  es  mir  hier  gestattet,  meine  Gründe  für 
diese  Ansicht  vorzubringen,  wobei  ich  noch  einige  andere  Präpositio- 
nen besprechen  muß.  Mstsnodh  ist  aus  zwei  Präpositionen  zusam- 
mengesetzt wie  unser  »ftt^«,  ahd.  unei^  unza^  mhd.  unz^  untee.  Das 
Griechische  kennt  solche  Verbindungen  auch:  f*ixQ^^  ^^^»  ^^c»  nQ6g^ 
kret.  fiM  ig  und  so  auch  Sau  not  mehrmals  in  der  trözenischen  In- 
schrift Cauer  DeP  6221.88.  Auch  dieses  not  ist  von  B.  falsch  er- 
klärt (L  V.  G.  23).  Es  findet  sich  außer  auf  Inschriften  der  Argolis 
im  boot,  noidhuog  Collitz  Samml.  307,  s^),  delph.  FIotvQdntog  Gauer 
deP  219  s,  *Evdv(Snonq6niog  212  2-8,  im  Lokrischen  not  top  fdotov 
Collitz  Samml.  1479  B  u  und  ist  auch  im  Eorkyreischen  not  tofk  .  , 
CIG.  1838a8,  not  tat  CIG.  1840i7  =  Dittenberger  Syll.  320  anzuer- 
kennen, obwohl  Blass  B.  B.  XII  p.  193  und  196  n:o<t>  schreibt 
Denn  daß  daneben  not  vorkommt,  ist  nicht  auffällig,  da  sich  in  Epi- 
dauros  dasselbe  findet.  Hier  hat  sich  der  Gebrauch  der  ursprünglich 
ganz  verschiedenen  Präpositionen  so  geordnet,  daß  in  der  Regel  not 
vor  Konsonanten,  vor  Vokalen  not  steht,  wie  B.  S.  120  richtig  be- 
merkt.    Ausnahmen   sind    nur    nonßXitpag,    nounoQ€Vo[fAi9^ov]    und 

1)  Aach  im  £ypr.  gibt  es  einen  Beleg,  wenn  Meister  (Berliner  philolog. 
Wochenschr.  1886.  S.  1604)  Nro.  230  der  Gollitzschen  Samml.  mit  Recht  no»  ti^ 
tanm  liest. 


440  Qött.  gel  Anz.  1887.  Nr.  11. 

noiputxoptk.  Batmack  schrieb  früher  mit  Eabbadias  a.  a.  diese  Prä- 
position  Twt,  jetzt  not,  da  die  Einsilbigkeit  durch  den  Vers  des  Isyl- 
los  bewiesen  wird:  not  ff  ^AffnXän$oy  iqvetSh  ilcciag  ^fUQog>Hlov 
(v.  20).  Auch  dies  ist  nicht  richtig,  da  die  beiden  bisher  allerdings 
verkannten  Stellen,  wo  diese  Präposition  in  alten  Texten  überliefert 
wird,  not  haben:  Et  M.  678,  44  ist  folgendes  Zeugnis  des  ApoUo- 
nius  Dyskolus  erhalten:  not  naqd  l^gyslotg  dvin  tov  noji,  d^cuqicsk 
%ov  T,  sha  avpodtp.  nsQl  na&wv.  Nur  so  lange  man  keine  inschrift- 
lichen Belege  ftlr  arg.  not  =  no%t  hatte,  durfte  die  Konjektur  Syi- 
burgs  no&i  und  &  ftlr  nou  und  «  Beifall  finden.  Auch  in  dem  Ora- 
kel an  die  Tirynthier^  welches  Stephanns  Byz.  in  leider  ganz  ver- 
stümmelter Gestalt  unter  ^AXutg  ttberliefert,  ist  not  w  =  nQog  ob  :  not 
tv  Xaßwv  xal  not  %v  »a^Sim  xai  not  tv  oUtii<fir  8%fAv  ^Ahia  %s  *€xXija&a$ 
(vgl.  Ahrens  II,  364).  Auf  die  Erklärungen  von  not,  welche  B. 
IvG.  23  und  andere  gegeben  haben,  wonach  die  Präposition  auf 
griechischem  Boden  aus  no%i  entstanden  sein  soll,  gehe  ich  nicht 
ein.  Sie  werden  allein  durch  den  Accent  von  not  widerlegt  Nur 
bemerke  ich,  daß  die  Bemühung  so  vieler  Gelehrten,  die  verschiede- 
nen dialektischen  Formen  der  griechischen  Präpositionen  alle  aus 
einer  Grundform  durch  griechische  Lautgesetze  abzuleiten,  von  Grund 
aus  verfehlt  ist.  Vor  allem  sind  hier  die  verwandten  Sprachen  zu 
befragen  und  diese  zeigen  einen  erstaunlichen  Reichtum  an  präposi- 
tionalen  Formen,  welche  ohne  Zweifel  einst  nebeneinander  bestanden 
haben.  Von  diesem  alten  Reichtum  haben  nun  die  Dialekte  manches 
erhalten,  was  die  Schriftsprache  verloren  hat  Für  not  hat  das 
Richtige  bereits  Bechtel  zu  Collitz  Samml.  n.  1479  ausgesprochen. 
Es  entspricht  genau  dem  lettischen  jpl  und  weiter  dem  lit  jn,  wel- 
ches sieh  mit  m  in  miCw  (J.  Schmidt  E.  Z.  XXVI  23)  deckt  Vol- 
leren Anlaut  neben  pi  zeigt  ai.  api,  gr.  int,  neben  pi  lit  qpä  und 
diesem  letzteren  vergleicht  sich  wieder  inei,  die  Konjunktion.  Die 
Ausdrücke  ngö^ea^g,  praepositio,  trvrdecffM^^  conjunctio  sind  bekannt- 
lich rein  äußerlich  und  es  besteht  in  Wahrheit  ursprünglich  kein 
Unterschied  darin,  ob  diese  »Richtungsadverbien«  oder  »Verhältnis- 
wörter« zu  einem  einzelnen  Worte  oder  zu  einem  Satzgefüge  hinzu- 
treten. Vgl.  Grassmann  E.  Z.  XXIII.  559  ff.  Auch  nog  ist  nicht 
auf  griechischem  Boden  aus  noii  entstanden.  Ich  habe  es  de  dial. 
Thess.  54  n.  mit  lit.  pas^  lat  pos-t  (pos-sideo)  verglichen.  Wenn 
Bechtel  Bezzb.  B.  X  287  ff.  nog  aus  *nötc  erklärt,  so  ist  das  sehr 
möglich,  nur  muß  man  den  Vorgang  seiner  Entstehung  in  eine  vor- 
griechische Periode  setzen,  was  lat  ab-s  (a^),  sas,  osk.  cuf  (Bechtel 
a.  a«  0.)  got  U8  aus  ud-{-  s  (nach  Bezzzenberger ;  ai.  ud,  kypr.  t! 
8.  unten)  als  möglich  zeigen.    So  erklärt  sich  auch  f^o-  in  fMcmocf», 


Baunack,  Studien  auf  dem  Gebiete  d.  Griechischen  u.  d.  arischen  Sprachen.  LI.    441 

fibiina,  fkiOipa  als  §$st  -f  C»  welches  sich  zu  §$sta  stellty  wie  ntlg  zu 
na%i  and  nsvd. 

Denn  auch  dieser  Präposition  muß  wieder  zn  ihrem  Rechte  ver- 
holfen  werden.  Die  Grammatiker  (Meister  I,  117)  nennen  sie  äoliscb 
für  fketd.  Belegt  ist  sie  freilich  nur  in  dem  koischen  Monatsnamen 
üstaYBitviOQy  'Vo;^  während  im  Lesbischen  neda  für  fA€td  erscheint. 
Deswegen  aber  die  Graramatikerttberlieferung  unberücksichtigt  zu  las- 
sen und  für  Ustaysttv^og  eine  Vermischung  von  Usda-  (dessen  Verhan- 
densein  in  Kos  nicht  einmal  feststeht)  mit  Meta-yttTPio^  anzunehmen, 
ist  unerlaubt.  Wie  sich  kret.  noQtt  zu  pamph.  ncgt-^id^ue  (GoUitz 
Samml.  1261)  osk.  pert^  wie  ngari  zu  lett.  preU^  pretim  (pretm  =  gr. 
*nQ€ta\  nqoQ  zn  äol.  nqi^  (Meister  I,  44 ;  für  nQi%q\  iv^  ivi  zu  iv^  so 
verhält  sieb  no'd  zu  ns%d  und,  fahre  ich  fort,  auch  nodk  in  iktcnoi^ 
zu  nedd.  Daß  die  Präpositionen  so  häufig  e-  und  o-Färbung  neben- 
einander zeigen,  wie  auch  inat  neben  lit.  api^  beruht  auf  ihrer  leicht 
yeränderlichen  Stellung  und  Betonung  und  auf  ihrer  Abkunft  von 
einsilbigen  Stämmen,  die  ja  jene  Vokalverschiedenheit  auch  zeigen 
(Gott  gel.  Anz.  1886.  764).  Es  ist  klar,  daß  etymologisch  (utd, 
netdj  ntdd  und  ihre  Verwandtschaften  nichts  mit  einander  zn  thun 
haben.  Man  könnte  alle  drei  »Richtungsadverbien <  Wurzeln  zu- 
weisen, welche  eine  Bewegung  nach  einem  Ziele  sehr  lebhaft  aus- 
drücken: fHtd  zu  mitto^  lit  mdü  »werfet,  mtd  zu  nHofkM^  peto  nnd 
nsdd  zu  ai.  pad  fallen,  hinzugehn  u.  a.  (Gnrtius  Grdz.  ^  245). 

Doch  kehren  wir  zu  Baunack  zurück,  dessen  »Thessalicac  der 
Leser  ganz  kennen  gelernt  hat.  Die  übrigen  Abschnitte  seines  Ba- 
ches sind  nicht  viel  besser.  Ueberall  zeigt  sich  derselbe  Mangel  an 
Schärfe  und  genauer  Beweisführung,  dieselbe  Vernachlässigung  wich- 
tiger und  nahe  liegender  Momente.  Dazu  tritt  noch  die  eigentüm- 
liche Art,  mit  welcher  B.  ihm  unbequeme  Ansichten  anderer  einfach 
verschweigt  und  auch  Vorgänger  in  seiner  eigenen  Meinung  gar 
nicht  nennt  Seine  »Cyprica«  S.  16—18  geben  hauptsächlich  eine 
Besprechung  der  kypr.  Präposition  v  und  ihre  Vergleichung  mit 
»arischem  ud-,  w  (d.  i,  ud'{-  s)< ,  aber  mit  keiner  Silbe  wird  er- 
wähnt, daß  eben  diese  Vergleichung  sich  schon  auf  S.  117  vonBrng- 
manns  Gn  Gr.  findet,  obwohl  er  auf  die  nämliche  Seite  dieses  Bu- 
ches ein  wenig  später  (S.  23)  selbst  verweist*). 

Bei  der  Erklärung  des  Namens  der  Dichterin  Wampm,  Sang>m 
aus  ^Vaks^iXa  (S.  56  ff.)  wird  der  ähnliche  Name  des  attischen 
Demos  V^aq>lda$  (Wachsmut  Hell.  Altert.  II,  i.  S.  436)  gar  nicht  er- 
wähnt, obwohl  ein  Zusammenhang  doch  nicht  unmüglich  erscheint 

1)  Beide  haben  auch   die  unrichtige  Erklärung  von  abaktr.  U8  aus  ud  +  9; 
Tgl.  vielmehr  Bezzenberger  Kuhns  Beitr.  VUL  8.  863  ff. 


442  Gdtt.  gel.  Ans.  1887.  Nr.  II. 

S.  66  wird  *A(pQ$x^  von  ^Atfqodttfi  hergeleitet  mit  Beziehung  auf 
den  ÄBtarte-Aphroditekult  der  Karthager.  »Unter  *J[(pQttij  verstand 
das  Altertum  nur  das  Oebiet  von  Earthagoc  beginnt  der  Abschnitt; 
freilich:  nur  die  römische  Provinz  Africa,  Denn  der  Ausdruck 
*A<pQ$Mij  (^AtfQinavoQ  n.  ä.)  findet  sich  erst  in  der  Zeit  des  römischen 
Einflusses  und  Griechen  wie  Römer  bezeugen,  daß  die  Oriechen 
»Africac  vorher  Libyen  genannt  hatten:  z.  B.  Plin.  h.  n.  5,  1:  Afri- 
cam  Graeci  Libyam  appellavere.  Wäre  der  Name  Africa  griechischer 
Entstehung,  so  müßten  lat.  Afer^  Africa  griechische  Lehnwörter  sein, 
und  daß  das  a  und  das  f  dieser  Wörter  eine  solche  Annahme  in 
gleicher  Weise  verbieten ,  ist  B.  gar  nicht  in  den  Sinn  gekommen. 
Derselbe  Einwand  widerlegt  seine  Etymologie  von  Eianavia  S.  74 
(stg  IJavtay  (>Colonialbesitz<)  nXstvl) 

S.  69  ff.  wiederholt  B.  die  Zusammenstellung  von  ElUi(h)M  mit 
iXtv^m,  die  bei  alten  und  neuen  Etymologen  bisher  die  herrschende 
gewesen  ist.  Nur  faßt  B.  die  Göttin  nicht  als  »die  Kommende«  auf 
(nagd  td  iXsv3m  to  naQaylPia&at.  Hrdn.  II,  499.  24  oder  anders: 
naqd  td  ilev^av  elg  gfwg  d&  avt^g  %ä  uKtöficra  EU  Gud.) ,  sondern 
mit  Meister  als  die  »welche  das  Kind  gebracht  hat  oder  bringt« 
von  dem  transitiven  (kret.)  ilfv^m  ich  bringe.  B.  versucht  einge- 
hender als  seine  Vorgänger  eine  lautliche  Ableitung  der  vielen  sehr 
verschiedenen  Formen  zu  geben.  Aber  ganz  vergeblich.  Denn  wenn 
er,  um  das  alte  €$  der  zweiten  Silbe  (für  welches  <;  erst  durch  Ita- 
cismns  eintritt)  zu  erklären,  sagt:  *Elij^vta  »wird  zn 'Elsi&vta^  auch 
im  Monatsnamen  ^Elsi&vaifav  (Bischoff,  Leipz.  Stud.  VII,  408),  vgl. 
tidskua  för  xi&fina  (z.  B.  CIA.  403,  27  ;  'Eif.^Aqx.  1884,  p.  138  Z.44),« 
so  wird  gewiß  niemand,  der  sich  durch  die  vielen  Citate  nicht  blen- 
den läßt,  diese  einzige  Analogie,  die  das  nur  scheinbar  ist,  flir  einen 
Beweis  halten.  Es  fehlt  hier  noch  ein  Gitat  aus  G.  Meyer's  grie- 
chischer Grammatik,  welche  B.  sonst  so  gerne  heranzieht;  §  71, 
S.  86  der  2.  Auflage  heißt  es:  *zi^€t*a  ist  aus  %i&^»a  nicht  auf 
lautlichem  Wege  entstanden,  sondern  durch  die  Analogie  von  sha 
hervorgerufen :  ^xa  :  eha  =  S&tjxa :  %i^e$»a€.  Dazu  kommt ,  daß  B. 
sich  um  die  Belege  der  einzelnen  Formen  gar  nicht  kttmmert,  son- 
dern diese  einfach  aus  Wörner  (Sprachwissenschaftl.  Abhandl.  Leipz. 
1874)  abschreibt,  dessen  Unzuverlässigkeit  und  Unvollständigkeit  ich 
Gott  gel.  Anz.  1886,  S.  763  ff.  dargetan  habe.  An  derselben  Stelle 
habe  ich  gelegenlich  der  Wörter  auf  -vta  eine  neue  Erklärung  von 
Etlit'OvMc  als  »der  in  der  Bedrängnis  schnellen«  gegeben.  Ich  führe 
als  Ergänzung  der  Belege  noch  folgende  boot.  Formen  an:  Etit&k/ 
Collitz  Samml.  Nacbtr.  406  nio,  ElXs$&$ifi  ebd.  747  ci^s  nnd*Eh^$ofSif 
ebd.  406  ms.    Dieselben  enthalten  lediglich  die  Bestätigung  meiner 


Baufiack,  Stadien  auf  dem  Gebiete  d.  Griechischen  u.  d.  arischen  Sprachen.  I.  1.  443 

Ansicht  ttber  den  zweiten  Teil  Im  ersten  Bestandteile  «tX«i-  sehe  ioh  den 
Lok.  Sg.  eines  im  hes.  eXksa  belegten  *elXog^  das  von  $iXlt»  abzuleiten  ist 
Neben  diesem  Verbam  kommt  auch  etkXmy  Mim,  liXiw^  iXlta  vor  und  dazu 
gehören  tiXsdg,  eXXfj,  IX^,  lX$rh  ^^Xiitaog  (Onrtius  Ordz.  568  ff.)  Zu  dem  hier 
öfters  erscheinenden  *  und  dem  attisch  genannten  Asper  von  ttXXm 
stimmen  auffällig  die  Namensformen,  welche  auf  einigen  attischen 
Darstellungen  der  von  Eileithyia  unterstützten  Geburt  der  Athena 
aus  dem  Haupte  des  Zeus  erscheinen:  Die  Vase  des  Brit.  Mus.  No. 
564,  abgeb.  Monnm.  ined.  III,  tav.  XLIV  (6.  Jahrb.),  zeigt  neben 
HEPA,  nO^ElAON  u.  a.  HIAEIGVA;  Brit.  Mus.  No. 741  abgeb.  Gerb. 
Vasenb.  1, 3.  4  steht  linksläufig  HIAFIOVA  (cf.  Löscbcke  Arch.  Z.  1876 
Bd.  34,  S.  118;  der  Katalog  des  Brit.  Mus.  giebt  HIAEI<t>VA;  Ended. 
5.  Jahrb.)  Neben  diesem  ^IXsl^va  zeigt  eine  Vase,  welche  attische 
Nachahmung  einer  korinthischen  Vorlage  ist  (daher  z.  B.  ABEVZ ; 
vgl.  Löscbcke  a.  a.  0.  S.  HO;  im  Berlin.  Antiqu.  No.  1074,  Furt- 
wängler  1 ,  242)  BFl^EIOVA  d.  i.  'EXsi&va.  Hier  liegen  also  die 
gleichen  Lantverhältnisse  vor,  wie  in  BlXXiA^  iXfi,  Ihyi  u.  s.  w.,  doch 
gestehe  ich,  daft  ich  zu  einem  klaren  Verständnis  dieser  Formen  nicht 
vordringen  kann.  B.  hätte  aber  kaum  jene  Erklärung  in  Schutz  ge- 
nommen, wenn  er  diese  alten  Formen  gekannt  hätte. 

Der  zweite  Teil  des  vorliegenden  Buches  bringt  die  Inschriften 
aus  dem  Asklepieion  von  Epidauros,  welche  P.  Eabbadias  in  der 
^EipinktQi^  dgxa^oXtrintj  1883—85  veröffentlicht  hat.  Der  Abdruck  ist, 
soviel  ich  sehe,  genau  und  Bemerkungen  anderer  Gelehrten,  die  sich 
inzwischen  allerdings  wieder  vermehrt  haben,  sind  fttr  den  Text  be- 
rttcksichtigt.  Von  B.  selbst  rühren  einige  gute  Ergänzungen  der  ver- 
stümmelten Inschriften  und  die  sachlichen  und  sprachlichen  Anmer- 
merkungen  her.  Die  letzten  nehmen  auch  hier  den  breitesten  Raum 
ein;  sie  sind  ihrem  ganzen  Charakter  nach  denen  des  ersten  Teiles 
entsprechend.  Als  Beispiel  führe  ich  eine  Anmerkung  zu  der  Inschrift 
des  Julius  Apellas  an.  (B.  No.  60,  S.  110  ff.  =^  *E^.  dqx.  83,  227 
SS  von  Wilamowitz-MöUendorf,  Isyllos  von  Fpidauros.  Philol.  Unters. 
XI.  Heft,  S.  116  ff.)  Dieser  karische  Sophist  suchte  und  fand  wäh- 
rend oder  nach  der  Regierung  des  Antoninus  Pius  Heilung  in  Epidau- 
ros and  schrieb  die  Geschichte  seiner  Heilung  natürlich  in  seiner 
Sprache )  d.  b.  der  gebildeten  Sprache  seiner  Zeit,  auf.  Trotzdem 
entdeckt  B.  bei  ihm  »eine  recht  interessante«,  dialektische  Form: 
X^eifAcvoi,  welches  der  Stein  Z.  20  bietet,  soll  zu  xQ^(r&a$  gehören 
und  mit  der  Schreibung  €$  fttr  17,  »wie  lokr.  MaX6lfi€Pog€  genau  dem 
kret  xQ^f^^og  GIG.  2554,  I,  61  entsprechen !  Dass  in  der  vierten  Zeile 
Apellas  das  Part.  pr.  zu  xQ^^^^*  xQ^f^^^s  bildet,  daß  sonst  in  der 
Inschrift  nie  et  fttr  17,  aber   fast  stets   fttr  i  geschrieben  wird,  daft 


444  Gott.  gel.  Änz.  1887.  Nr.  11. 

also  ancb  nsxQs^pLsvog  Z.  18  nicht  zn  x9^^^^  gehören  kann,  daBder 
Sinn  in  der  Verbindung  {p)ä7w$  Kai  aialp  iu%qe^fkiyoq  and  xif^ifurog 
f$iv  %oU  oXal  ual  fai*<*>  yanv(fi)  iygm  ^lyt^aa,  XovfAfvoQ  di  av*  fi- 
yifia  es  notwendig  macht,  diese  Formen  von  xQUc&a$  abzuleiten, 
alles  das  bemerkt  B.  gar  nicht!  Er  merkt  es  nicht,  trotzdem  von 
Wilamowitz  nicht  nur  die  richtige  Uebersetznng  »sich  abreibenc,  sondern 
ancb  die  notwendige  Verbessernng  xQBMfjuroc  gegeben  hatte,  welche 
B.  ohne  weiteres  darch  die  Worte  »entschieden  mit  Unrecht«  abtun 
zu  können  glaubt,  ohne  sich  um  ihr  Verständnis  zu  bemühen  '). 

Im  Anschluß  an  den  Päan  des  Isyllos  giebt  B.  Etymologieen  zn 
na$ij€9yy  *An6XXmv  und  *AanXdmo^^  die  ich  nicht  weiter  besprechen 
wilL  Ich  mache  B.  nur  darauf  aufmerksam,  dafi  die  Thessaler  durch- 
aus  nicht  »nur«  die  Präposition  an  für  dno  kennen  (de  dial.  Theos. 
46),  und  daß  er  das  Verhältnis  von  lAniXlmv  zu  ^AnoXXtav  gänzlich 
auf  den  Kopf  stellt,  wenn  er  sagt:  »jQngere  Zeiten  erneuerten  in 
Yolksetymologischer  Art  durch  *AniXX«av  den  ursprtinglichen  Sinn,  an  den 
diese  dorische  Form  wegen  ihres  Anklanges  an  dnsXäv  mehr  er- 
innert, als  ^An6XXmv€.  Denn  ^AniXXmv  ist  weder  ausschließlich  do- 
risch, noch  in  »jüngeren  Zeiten«  gebräuchlich,  im  Gegenteil  außer 
in  Personennamen  nur  in  den  ältesten  Inschriften  belegbar.  Ich  ver- 
weise auf  die  Belege,  welche  ich  Bezz.  Beitr.  IX.  327  ff.  gegeben, 
wo  ich  in  den  verschiedenen  Formen  dieses  Götternamens  alte  Stamm- 
abstufung nachgewiesen  habe.  G.Meyer  ^  S.  33  stimmt  im  wesent- 
lichen bei.  Jetzt  sind  an  neuen  Belegen  besonders  kypr.  *An€lXm$^$ 
(Deecke  Berl.  philol.  Wochenscbr.  1886  S.  217)  und  ion.  ^AniXXmr$ 
(Naukratis  I,  Plate  XXXII,  104,  E.  Gardner)  zu  nennen.  —  Bei 
seiner  gänzlich  haltlosen  Etymologie  von  Asklepios  erwähnt  und  be- 
rücksichtigt B.  gar  nicht  die  wertvollen  Bemerkungen ,  welche  von 
Wilamowitz  an  die  Stelle  des  Isyllos  inttiX^tr^v  di  viv  AfyXag  futtffoq 
*Aa»Xdnkov  iiv6(kai$  *An6Xhoy  (S.  92  ff.)  geknüpft  hat. 

Königsberg  i.  Pr.  Walter  Prellwitz. 

1)  Die  Inschrift  ist  an  Schreibfehlem  nicht  arm  und  es  wäre  deswegen  ver- 
fehlt, j|f^<*^firo(  mit  Oewalt  zn  yerteidigen.  Daher  mnS  auch  der  Einfall,  es 
könnte  hier  zunächst  <  und  t«  nach  *  geschwunden  {j^l  -  XQ***  Hes.)  and  nach 
der  Analogie  dieser  Formen  auch  o  getilgt  sein,  unterdröckt  werden.  Auch  bei 
Luc.  Alex,  haben  in  dem  Verse: 

die  besseren  Hdss.  /^»«fr^ff»  statt  0»  xQ*o&tt§, 


* 


Enbel ,  Geschichte  der  oberdeutschen  (StraCburger)  Minoriten-Provinz.    446 

Geschichte  der  oberdeutschen  (Straiburger)  Minoriten*Provinx.  Mit 
Unterstützung  der  Görres-Gesellschaft  herausgegeben  von  Konrad  Enbel, 
Mitglied  dieser  Provinz  im  Konvente  zu  Warzburg.  Erster  Theil :  Text. 
Zweiter  Theil :  Anmerkungen.    Würzburg,  1686.    YIII  und  408  S.    8^ 

Eine  sehr  will^ommne  Gabe,  zunächst  für  den  EirchenfaiBtoriker, 
dem  hier  aas  gründlichem  Studium  sowohl  der  gedruckten  als  der 
archiyalischen  Quellen  eine  umfassende  Darstellung  des  im  Titel  an- 
gezeigten Themas  geboten  wird ;  sodann  aber  auch  für  den  Litterar- 
historiker,  da  viele  bedeatende  Namen  und  Mitglieder  des  Francis- 
canerordens  alter  nnd  neuer  Zeit  in  der  deutschen  Litteratar  anf- 
treten,  die  hier  ans  nea  erschlossnen  Quellen  genauer  geschildert 
werden,  als  bisher  geschehen  konnte.  Es  ist  besonders  auf  das  auf- 
merksam zu  machen,  was  E.  29  f.  nnd  251  f.  über  Berthold  von  Be- 
gensbarg  mitgeteilt  ist.  Die  päpstliche  Balle,  darch  welche  Albert 
dem  Gr.  die  Kreazpredigt  aufgetragen  worden,  war  bisher  nor  dem 
Argument  nach  bekannt  (Potthast  M.  18491);  hier  wird  dieselbe 
ihrem  ganzen  Wortlaute  nach  mitgeteilt  Sie  hat  sich  als  In- 
sert einer  Urkunde  Alberts  erhalten,  in  welcher  dieser  Qehttlfen  za 
seiner  Kreazpredigt  bestellt.  Einer  dieser  Gehfllfen  war  der  be- 
rühmte Prediger  Brader  Berthold  von  Regensbarg,  dessen  Gedächt- 
nistag auf  den  14.  Dec.  (1272)  festgestellt  wird.  »Berthold,  beißt 
es  S.  30  f.,  hinterließ,  abgesehen  von  zweifelhaften  deatschen  Schrif- 
ten, folgende  lateinische  Werke:  1.  De  religiös»  vit»  institatione, 
2.  Expositio  Apocalypsis  S.  Johannis  Apostoli,  3.  Predigten.  Wäh- 
rend jedoch  die  beiden  ersten  Schriften  bis  jetzt  nicht  wieder  anfge- 
fnnden  wurden ,  sind  gemäß  der  sorgsamen  Forschung  von  Jakob 
folgende  Predigtwerke  von  ihm  in  einzelnen  oder  mehreren  Codices 
erhalten:  1.  Rasticanus  de  Dominicis,  2.  Rusticanus  de  Sanctis,  3. 
Commune  Sanctorum  Rusticani,  4.  Sermones  ad  Religiöses  et  quos- 
dam  alios,  5.  Sermones  speciales  sive  extravagantes.  Durch  den 
verdienstvollen  Forscher  P.  Fidelis  a  Fanna  0.  S.  Fr.,  der  den  bis- 
her unbekannten  Prolog  Br.  Bertholds  zu  seinen  Sonntagspredigten 
aufgefunden,  sind  wir  endgiltig  aufgeklärt  ttber  dessen  nächsten  An- 
laß zur  Niederschreibang  seiner  Predigten  (in  lateinischer  Sprache, 
während  sie  in  deutscher  gehalten  wurden).  In  diesem  Vorwort 
klagt  nämlich  Br.  Berthold  darüber,  daß  seine  Predigten  von  wenig 
anterrichteten  ZuhOrern  aufgezeichnet  worden,  wobei  viele  Irrtflmer 
sich  eingeschlichen  hätten.  Er  habe  sich  deshalb  genötigt  gesehen, 
seine  Predigten  selbst  niederzuschreiben ,  damit  nach  diesen  lateini- 
schen Aufzeichnungen  die  deatschen  Nachschriften  berichtigt  werden 
möchten  nnd  die  Irrtümer  nicht  unter  das  Volk  kämen«.  P.  Eabel 
berichtet  in   gleicher  Quellenmäßigkeit  ttber  David  von  Aagsbarg, 


446  Gott.  gel.  Ans.  1887.  Nr.  11. 

Lamprecht  von  Regensburg  und  andre  hervorragende  Mitglieder  des 
Ordens,  S.  31  ff.  Interessante  Untersachnngen  sind  über  Jobann 
Pauli,  den  Verf.  von  »Schimpf  und  Ernste  and  Heransgeber  von 
Oeilerschen  Predigten,  geführt,  der  hier  von  dem  Paal  Pfeddersheimer 
bestimmt  gesondert  wird,  mit  dem  ihn  E.  Veith  nnd  nach  ihm  alle 
Lit.-Historiker  zusammengeworfen  war.  »Aus  der  ohne  Zweifel  ver- 
lässigen Angabe  Huebers  (Dreif.  Chronik  S.  563  ff.),  der  den  Jo- 
bannes Pauli  wohl  kennt,  ergibt  sich  nicht  der  geringste  Anhalts- 
punkt, daß  Paul  Pfeddersheimer  zuerst  Eonventual,  dann  Observant, 
dann  wieder  Eonventual  geworden  ist,  was  doch  bei  der  Annahme 
seiner  Identität  mit  Johannes  Pauli  der  Fall  sein  mttftte,  da  letzte- 
rer 1479  als  Eonventual  erscheint,  ersterer  aber  1499  als  Observant. 
Direkt  spricht  aber  gegen  diese  Identität  der  Umstand,  daß  der 
Uebertritt  des  Paul  Pfeddersheimer  zu  den  Eonventualen  im  Jahre 
1508  und  bezw.  1509  erfolgte,  während  doch  Johannes  Pauli  von 
1506  bis  1510  als  Guardian  des  Eonventualenklosters  Strasburg  er- 
scheint Es  ist  aber  auch  nicht  anzunehmen,  daß  Johannes  Pauli 
mit  Paulus  Pfeddersheimer  wenigstens  das  gemeinsam  gehabt  habe, 
daß  er  gleich  diesem  ein  getaufter  Jude  war.  Denn  es  existiert  hie- 
für  kein  weiterer  Anhaltspunkt  als  jene  tHerzensergießung,  durch 
welche  sein  erbitterter  Gegner  Peter  Wickgram  (Neffe  Geiler's)  sei- 
nem Zorne  ttber  die  von  Joh.  Pauli  (angeblich  interpoliert)  heraus- 
gegebenen Predigten  Geiler's  Luft  machte;  diese  hier  gemeinte  An- 
spielung auf  Pauli's  Judaismus  läßt  sich  aber  wohl  »in  einem  figür- 
lichen Sinne  deuten,  als  ob  Pauli  dabei  nur  nach  unredlichem  Ge- 
winne gestrebt  habe«.  Weitere  Mitteilungen  aus  dem  anziehend  ge- 
schriebenen Werke  gestattet  der  zugemessene  Raum  nicht. 

E.  Goedeke. 


Erklärung. 

Die  von  Herrn  Professor  de  Lagarde  in  Nr.  8  dieser  Anzeigen 
S.  297  Anm.  gebrachte  Zusammenstellung  einiger  Sätze  aus  seinen 
»persischen  Studien«  und  aus  meiner  Besprechung  derselben  im  »li- 
terarischen Centralbiatt«  sowie  die  darin  geknüpfte  ironische  Bemer- 
kung sind  geeignet,  einen  bösen  Schein  auf  mich  zu  werfen.  Zur 
Klarstellung  der  Sache  gebe  ich  hier  meine  Worte  unverktirzt  und 
in  ihrem  vollen  Zusammenhang  und  stelle  Lagardes  Worte  wieder 
daneben.    Was  oben  S.  297  fehlt|  schließe  ich  in  eckige  Klammern. 


Ndldeke,  Erklärung.  447 

Lit.  Centrabl.  1884,  21.  Juni,  Sp.  888. 
[Lagarde  bespricht  dann,  wie  es  mög- 
lich werde,  zu  einem  wirklich  guten 
persischen  Lexikon  für  Europäer  zu 
gelangen.  Vollkommen  stimmen  wir 
darin  mit  ihm  Überein,  daB  ein  solches 
nicht  auf  einige  in  Indien  verfaßte  Wör- 
terbficher  gebaut  werden  darf,  eben  weil 
dieselben  sehr  viel  Falsches  und  Zwei- 
felhaftes enthalten.  Ob  die  noch  auf- 
zutreibenden altern  persischen  Wörter- 
bücher sehr  vollständig  und  genau  sind, 
bedarf  erst  der  Untersuchung.  Eine  so 
vorzügliche  lexikalische  Grundlage,  wie 
Dschauhart  für  den  arabischen  Wort- 
schatz, hat  es  sicher  für  den  persischen 

auch  nicht   anntüiernd  jemals  gegeben.]  Lagarde,  Pers.  Studien  166. 

Üebrigens  hiefie  es  die  Lösung  der  Auf-    Wol  aber  hebe  ich  hervor,  daß  ...  ein 
gäbe  ins  Unabsehbare  verschieben,  wenn    persisches  Wörterbuch  nicht  allein  durch 
man  warten  wollte,  bis  alle  etwa  brauch-    Zusammenstellung  und   Sichtung  der  in 
baren  persischen  Werke  dieser  Art  [in    den  im  Oriente  verfaßten  Wörterbüchern 
guten  Ausgaben]  gedruckt  vorlägen.   Die    enthaltenen   Stoffes   zu  stände  kommen 
Hauptsache  muß  unseres  Erachtens  für    darf :    daß  vielmer  diese    bücher    nur 
den  Verf.  eines  persischen  Lexikons  doch    das  fachwerk  liefern  sollen,  in  welches 
die  sein,  daß  er  die  Schriftsteller  selbst,    das  aus  der  beobachtung  des  sprachge- 
vor  Allem  das  Schähnäme,  gründlich  und    brauchs   der  freilich  erst  noch  heraus- 
umsichtig    ausbeutet.       Besonders    er-    zugebenden  persischen  klassiker  gewon- 
wünscht  wäre  die  Durchforschung  alter    neue  material  eingeordnet  wird. 
Prosawerke  [wie  des  persischen  Tabart], 
in  guten  alten  Handschriften  [,  wie  der 
Qothaer.    Aber  wir  behaupten,  daß  der 
rechte  Mann  sogar  schon  aus  den  bis 
jetzt  gedruckten  persischen  Texten  zwar 
kein  vollkommenes,  aber  ein  sehr  gutes 
Lexikon  herstellen  könnte:  es  müßte  nur 
eben  der  rechte  Mann  seinl] 

Lagardes  Bemerkung  zu  seiner  Zasammenstellaog  lautet: 

Man  wird  billig  eine  Kritik  bewundern,  die  als  Berichtigung  eines  Schriftstellers 
dem  mit  dem  kritisierten  Buche  unbekannten  Publikum  die  Ansichten  des  Beur- 
theilten  auftischt,  und  aus  Eigenem  nur  einen  Fehler  hinzufügt.  Denn  aus  dem 
Schähnäma  wird  man  etwa  zwei  Fünftel  des  Wortschatzes  der  neupersischen 
Sprache  erhalten:  drei  Fünftel  werden  fehlen. 

Man  flieht  nun  aber  1)  was  ich  hier  sage,  tritt  nicht  als  »Be- 
richtigang«  des  besprochenen  Buches  auf,  2)  der  Sinn  meiner  Worte 
ist  nicht  so  weit  mit  dem  der  Lagardischen  identisch,  wie  er  behanp- 
tet.  Ich  messe  den  lexikalischen  Arbeiten  der  arabischen  Philologen, 
welche  anch  in  Zukunft  die  Grandlage  unsrer  arabischen  Wörter- 
bQcher  bleiben  müssen,  einen  weit  höheren  Wert  bei  als  denen  der 
persischen,  and  rede  gar  nicht  davon,  daB^der  Stoff  der  persischen 
Originallexika  als  Fachwerk  fttr  ansre  künftigen  persischen  Wör- 
terbücher za  verwenden  ist.  Lagarde  will  ferner  nar  den  Sprach- 
gebranch  der  »Klassikerc  berücksichtigen,  woranter  man  herkömm- 
licher Weise  die  berühmten  Dichter  and  sonstigen  Belletristen  ver- 
steht; ich  weise   nachdrücklich   auf  die  alten  Prosawerke  hin,  na- 


448  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  11. 

meatlicb  aaf  das  älteste  größere  Bach  in  neupersischer  Sprache,  den 
persischcD  Tabar!.  Daß  freilich  das  Scb&hn&me  auch  für  den  persi- 
schen Lexikographen  das  allerwichtigste  Werk  ist,  meine  ich  heute 
nochj  obwohl  Lagarde  das  als  einen  »Fehler«  bezeichnet. 

Straßbarg  i.  E.  den  11.  Mai  1887.  Th.  Nöldeke. 

Erwiderung. 

Weon  Herr  Professor  Köldeke  erklärt,  die  von  mir  an  angeführter  Stelle 
wiederholten  Sätze  nicht  als  »Berichtigangc  angesehen  wissen  za  wollen,  so  ist 
eine  Abwehr  unnöthig. 

Classiker  in  des  Wortes  eigenster  Bedeutung  sind  diejenigen  Schriftsteller, 
die  dem  Qedanken-  und  Gefühlsinhalte  einer  bestimmten  Epoche  einen  in  der 
Form  vollendeten  Ausdruck  geben.  Classiker  in  diesem  Sinne  hat  Persien  sehr 
wenige.  Firdusi  mit  Einem,  Nisami  mit  drei,  Sadi  mit  zwei  Werken  von  vie- 
len, Omar  Kayy&m,  Dscheläleddtn,  Hafis,  Dschami  —  dann  sind  wir  fertig. 
Und  für  das  Wörterbuch  —  nicht  die  Phraseologie  •—  ist  von  diesen  auSer  Fir- 
dusi nur  Nisami  von  Belang.  Da  Niemand  ein  Recht  hatte  zu  der  Annahme, 
daB  ich  diesen  Sachverhalt  nicht  mindestens  ebenso  gut  wie  irgend  ein  anderer 
Zeitgenosse  kenne,  so  ergab  sich  von  selbst,  daS  ich  das  Wort  Klassiker  in  einem 
weiteren  Sinne  verstanden  habe:  man  redet  ja  unter  Umständen  auch  von  Kir- 
chenvätern in  einem  weiteren  Sinne  als  dem  nur  die  bekannten  Acht  umfassen- 
den. Auch  die  persische  Uebersetzung  Tabaris  und  ähnliche,  mir  wohl  bekannte, 
zum  Thei!  vor  Jahren  von  mir  kopierte  Bücher  liefern  das  nicht,  was  uns  not 
die  Wörterbücher  der  Eingeborenen  gewähren,  Kenntnis  der  im  gewöhnlichen 
Leben  (der  Techniker)  umlaufenden  persischen  Vokabeln.  Trotz  der  Einrede 
Nöldekes  bleibe  ich  bei  der  Aussage  stehn,  daß  drei  Fünftel  des  Sprachguts  uns 
nur  durch  die  einheimischen  Lexikographen  bekannt  sind,  deren  Quellen  für  ans 
nicht  mehr  oder  noch  nicht  wieder  fließen. 

Was  ich  über  das  Schähnäma  geschrieben  habe,  bitte  ich  bei  mir  selbst 
nachzulesen.  Ich  habe  gar  nicht  in  Abrede  gestellt,  daß  unter  den  Texten  das 
Schähnäma  der  wichtigste  ist,  sondern  nur,  daß  es  für  den  Lexikographen  als 
Quelle  ausreiche.  Ich  meine,  erst  müsse  ein  Lexikograph  dieVokabebi  in  Reihe 
und  Glied  stehn  haben,  ehe  er  Beläge  aus  »Klassikern«  für  sie  sammelt:  ich  wie- 
derhole es,  daß  drei  Fünftel  der  vorhandenen  persischen  Vokabeln  im  Schähnäma 
nicht  vorkommen. 

Oöttingen  14.  5.  1887.  Paal  de  Lagarde. 


Fiki  die  Badaktion  Teraatwortlick :  Prof.  Dr.  B^htd,  Direktor  der  Oött.  gel.  Ans., 
AfaesBor  der  Königlichen  Gesellecliaft  der  WiseensehafteB. 
T^rlae  der  J)üUHeh*9chm  YurU^ 'BvehhoMOmtg, 
Dmek  der  DieUriOetehm  Üni9,-B«ehdr%€i§rei  (Fr,  W.  Mauitm). 


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9 


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lUL  2:.  vay/ 


Gröttingische 


gelehrte  Anzeigen 


unter  der  Aufsicht 


derKönigl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Nr.  12.  10.  Juni  1887. 


Preis  des  Jahrganges :  UK  24  (mit  den  »Nachrichten  d.  k.  G.  d.  Wiss.c :  Ji  27). 
Preis  der  einzelnen  Nummer  nach  Anzahl  der  Bogen:  der  Bogen  50  ^ 

Inhalt:  Paitor,  Oesdiiehte  der  Pftpite  seit  dem  Aoagtug  des  Mittelalters.    I.    Von  «.  JhttffA. 
—  MoiiniBeBta  Oenuaiae  Paedagogiea.    I.    Von  «.  Seäkoürk. 

=  Qfienniftciitlger  Abdruck  von  Artikeln  der  G6tt.  gel.  Anzeigen  verboten.  = 


Pastor,  Ludwig,  Dr.,  a.  o.  Professor  der  Geschichte  an  der  Universit&t  Inns- 
bruck, Geschichte  der  P&pste  seit  dem  Ausgang  des  Mittel- 
alters. Mit  Benutzung  des  p&pstlichen  Geheim- Archives  und  vieler  anderen 
groBen  Archive  bearbeitet.  Freiburg  i.  Er.  Herder  1886.  Bd.  I.  ym,  728  S.  8^ 

Neben  dem  angeftlhrten  Gesamttitel  seines  großen  Werkes, 
welehes  in  sechs  Bänden  erscheinen  soll,  hat  der  Verfasser  dem 
vorliegenden  ersten  Bande  einen  besonderen  Titel  gegeben:  »Oe- 
schiehte  der  Päpste  im  Zeitalter  der  Renaissance  bis  znr  Wahl 
Pias  IL«.  Aus  der  Vorrede  ist  zu  ersehen ,  daß  die  ursprüngliche 
Absicht  war,  auch  noch  die  Regierung  des  Piccolomini  in  diesem  er- 
sten Bande  znr  Darstellung  zu  bringen ;  aber  die  Rücksicht  auf  des- 
sen Umfang  bot  Veranlassung,  diese  Aufgabe  dem  zweiten  Bande 
zuzuweisen.  Der  Verf.  nimmt  für  sich  in  Anspruch,  daß  er  »von  der 
Mitte  des  fünfzehnten  Jahrhunderts  an,  welche  die  Wende  zwischen 
zwei  großen  Zeitaltern  und  das  eigentliche  Ende  des  Mittelalters 
bezeichne,  systematisch  die  Römischen  Archive  durchforscht 
habe«;  dabei  sei  ihm  klar  geworden,  daß  das  Wort  von  Pertz: 
<Petri  Schlüssel  sind  noch  jetzt  die  Schlüssel  des  Mittelalters'  auch 
für  die  neuere  Zeit  Geltung  habe.  Diese  neuere  Zeit  betrachtet 
er  als  sein  Arbeitsfeld.  Wenn  man  nun  mit  Pastor,  S.  460,  den 
Fall  Eonstantinopels  als  Grenzscheide  annimmt,  so  hat  P.  von  den 
vierhundert  Jahren,  welche  er  durchforschen  will,  bis  jetzt  nur  fünf 
Jahre  bearbeitet,  und  ein  Decennium,  wenn,  der  von  P.  oben  gewähl- 

0«tt.  gal.  Ans.  1887.  Nr.  12.  32 


450  Gott.  gel.  Adz.  1887.  Kr.  12. 

ten  Einteilang  entsprechend,  die  Tbronbesteignng  Nikolans  V.  als 
Anfang  genommen  wird.  Man  darf  demnach  zweifeln,  ob  der  Ver- 
fasser sich  fttr  die  Fortsetzung  seiner  Arbeit  einen  Plan  festgestellt 
hat.  Doch  mag  er  dieses  mit  sich  selbst  abmachen.  In  dem  bis 
jetzt  vorliegenden  Bande  begreift  je  ein  Bach,  das  dritte  und  vierte, 
nur  ein  einziges  Pontifikat,  Nikolaus  V.  und  Calixt  III,  während  in 
dem  zweiten  Buche  zwei  Päpste,  Martin  V.  und  Engen  IV. ,  abge- 
handelt werden.  Das  erste  Buch  umfaßt  die  Zeit  von  1305 — 1417, 
und  ist  nicht  mehr  nach  Pontifikaten  eingeteilt,  sondern  bespricht  in 
drei  Kapiteln:  1)  Die  Päpste  in  Avignon,  2)  Das  Schisma  und  die 
großen  häretischen  Bewegungen,  3)  Die  Synoden  von  Pisa  und  Kon- 
stanz. Eine  Einleitung  ist  der  litterarischen  Renaissance  in  Italien 
gewidmet,  welche  P.  in  die  falsche  heidnische  nnd  die  wahre  christ- 
liche einteilt  Das  Vorwort  rechtfertigt  das  Erscheinen  des  Werkes 
durch  den  Hinweis  auf  Rankes  »vielgelesenes  Werk,  welches  den 
Ruf  dieses  bedeutendsten  von  allen  protestantischen  Historikern 
Deutschlands  begründete,  aber  im  Wesentlichen  den  Standpunkt  der 
Forschung  in  den  Jahren  1834—1836  bezeichnete.  Da  Ranke  nur 
»die  Päpste  im  sechzehnten  und  siebzehnten  Jahrhundert«  schildern 
wollte,  nach  Pastors  Bemerkung  in  der  Vorrede  aber  auch  der  zweite 
Band  seines  Werkes  sich  noch  mit  dem  15.  Jahrhundert  beschäftigen 
wird,  so  dürfte  diese  Oegenüberstellung  »Ranke-Pastor«  kaum 
als  glücklich  gewählt  erscheinen,  ganz  abgesehen  von  —  einer  an- 
deren sich  aufdrängenden  Frage. 

In  der  Vorrede  gibt  der  Verfasser  einen  Bericht  über  die  wich- 
tigsten Archive,  welche  er  durchforscht  hat.  An  erster  Stelle  steht 
das  durch  Leo  XIII.  eröffnete  päpstliche  Oeheimarchiv  und  andere 
Archive  geistlicher  Behörden  zu  Rom,  welche  bisher  der  historischen 
Forschung  fast  vollständig  verschlossen  waren:  das  Konsistorial- 
archiv^),  die  Archive  des  Lateran,  der  Inquisition;  der  Propaganda, 
der  sixtinischen  Kapelle,  der  Sekretarie  der  Breven.  Auch  die  Va- 
tikanische Bibliothek  und  die  Bibliothek  von  S.  Peter  wurden  ausge- 
beutet, zugleich  die  übrigen  Römischen  Sammlungen  untersucht. 
Nicht  minder  wandte  P.  seine  Aufmerksamkeit  den  wichtigsten  Ar- 
chiven und  Bibliotheken  in  den  anderen  Städten  Italiens  zu,  er 
rühmt  die  großartige  diplomatische  Korrespondenz  der  Sforza  im 
Mailänder  Archiv,  deren  Lücken  er  in  der  Ambrosianischen  Biblio- 
thek und   in  der  Nationalbibliothek   zu  Paris  ausfüllte,   und  die  an- 

1)  Dieses  Archiv  bespricht  auch  A.  Gottlob  im  Görres  Jahrbach  VI,  271« 
£r  steht  in  Widersprach  za  F.,  mit  dem  er  nar  darin  übereinstimmt,  da£  sich 
der  Eingang  zu  dem  Archir  in  dem  Damasushof  befindet.  P.  hebt  hervor,  daB 
er  sich  seine  Notizen  'unter  Schwierigkeiten  und  Hindernissen'  aller  Art  machte. 


Pastor,  Geschiclite  der  Päpste  seit  dem  Ausgang  des  Mittelalters.   I.    451 

geahute  Ftille  von  größtenteils  noch  unbekannlen  Akten,  welche  er 
in  Florenz,  Siena,  Bologna,  Venedig  and  Mantaa  gefanden  habe. 
Aach  in  Frankreich  and  Deatschland  sachte  er  nach  Ergänzangen 
and  »hatte  die  Freade,  an  manchen  Orten,  z.  B.  in  Aix  in  der  Pro- 
vence, sowie  in  Trier  schöne  and  wertvolle  Fände  za  ma- 
chenc.  Die  Uebersicht  über  die  f&r  diesen  ersten  Band  benatzten 
Archive  and  Bibliotheken  füllt  sechs  Spalten,  das  Verzeichnis  der 
Litteratar  zweiandzwanzig  Seiten,  anter  dem  Text  finden  sich  Gitate 
aas  Handschriften  and  Dracken,  darnnter  manchen  teils  in  Wirklich- 
keit, teils  angeblich  seltenen,  in  reicher  Fülle,  im  Anhang  sind  in  86 
Nummern  Aktenstücke,  sowie  einzelne  Aasführangen  über  ganze 
Handschriftengrappen  beigefügt,  kurz  —  man  gewinnt  den  Eindruck, 
als  ob  der  Verfasser,  der  Größe  seiner  Aafgabe  entsprechend,  die 
ausgedehntesten  und  gründlichsten  Stadien  gemacht  habe.  Auch  für 
die  ersten  Abteilungen  ist  auf  handschriftliche  Studien  verwiesen; 
von  den  86  Nummern  des  Anhangs  beziehen  sich  30  auf  die  Zeit 
vor  1447,  welche  demnach  auch  nicht  zu  kurz  gekommen  ist 

P.  ist  ein  Schüler  von  Janssen.  Auch  bei  Janssen  berührt  es 
keineswegs  angenehm,  daß  in  die  Erzählung  Stücke  aas  den  Wer- 
ken anderer,  mit  Vorliebe  als  »protestantische  bezeichneter  Autoren 
verwebt  werden.  Janssen  braucht  bei  derartigen  Entlehnungen  An- 
führungszeichen, bei  Pastor  geschieht  dies  in  der  Regel  nicht.  Wäre 
es  erfolgt,  so  würde  jedem  Leser  die  Möglichkeit  geboten  sein,  den 
kompilatorischen  Charakter  der  »Geschichte  der  Päpste«  sofort  za 
erkennen.  Die  einfach  aus  anderen  Werken  erborgten  Absätze  sind 
außerordentlich  zahlreich;  es  kommt  vor,  daß  P.  rahig  ganze  Seiten 
aus  dem  einen  Autor  abschreibt,  am  dann  einem  anderen  das  Wort 
za  geben.  Es  leuchtet  ein,  daß  bei  einem  solchen  Verfahren  ein 
wirkliches  Durchdringen  des  Stoffes  nicht  einmal  versucht  werden 
kann,  es  treten  Widersprüche  der  seltsamsten  Art  za  Tage,  da  Aa- 
toren  sehr  verschiedener  Art  ausgeschrieben  sind.  Auf  Stellen  aas 
Höfler  folgen  Aasschnitte  aus  Reumont,  Qregorovias,  Wattenbach, 
Jakob  Burkhardt,  G.  Voigt,  auch  Rohrbacher-Enöpfler  und  Franz 
Eraas  kommen  zur  Geltung  neben  Aschbachs  Eirchenlexikon  and 
E.  A.  Menzel ;  ja  selbst  Gsell-Fels  wird  nicht  verschmäht,  und  wäre 
es  auch  nur,  um  S.  168  die  geschmacklose  Phrase  anzubringen,  daß 
»die  Geschichte  der  Engelsburg  ein  Rombild  in  der  camera  obscura 
sei«.  Es  dürfte  nicht  übertrieben  sein,  wenn  ich  behaupte,  daß 
zwei  Drittel  des  Buches  aus  wörtlichen  Bntlehnungen  von  neaeren 
Antoren  bestehn.  Es  Allt  dies  äußerlich  nicht  in  die  Augen,  ob- 
gleich Pastor  meistens  die  benatzten  Schriftsteller  in  einer  Anmer- 
kung anführt,  zuweilen    ist  gesagt:    »Das  Obige  wörtlich   nach  N.c, 

32* 


452f  Gott.  gel.  An«.  1887.  Nr.  12. 

aber  Niemand  wird  z.  B.  ahnen,  daß  auf  S.  60 — 61  ein  mehr  ate 
eine  Seite  groAer  Ansschnitt  aus  Höfler  steht,  welcher  mit  den  Wor« 
ten:  >Und  ferner«  lose  mit  einer  Entlehnung  aas  Körting  verknüpft 
ist  Auf  S.  408  folgt  P.  in  der  Schilderung  Nikolaus  V.  wörtlich 
Gregorovius,  VII,  509 : 

Gregoroyius  VII,  606:  Pastor  S.  408: 

Der  Thätigkeit  des  Copirens  ging  der-    Vespasiano  de  Bisticci  nennt  eine  lange 
selbe  Eifer  des  üebersetzens  zur  Seite.    Reihe  von  üebersetzongen ,  welche  der 
Dies   var   die  edelste  Leidenschaft  des    *edlen   Leidenschaft   Nicolaas'  Y.'  ihre 
Papstes  und   ihr   verdankt  das  Abend-    Entstehung  verdanken.     Damals  zuerst 
land  die  Bekanntschaft  mit  einer  groften    wurden  Herodot,  Thucydides,  Xenophon, 
Zahl  griechischer  Autoren.    Damals  zu-    Polybius,  Diodor,  Appian,  Philo,  Theo- 
erst   wurden   Herodot   und  Thucydides,    phrast  und  Ptolemäus  der  Wissenschaft 
Xenophon,   Polybius   und  Diodor,  Ap-    zugänglich  gemacht.     Mit  unbeschreib- 
pian,  Philo,  Theophrast  und  Ptolemäus    lieber  Lust   schöpfte  man   die   helleni- 
der  Wissenschaft  zugänglich  gemacht,    sehe  Weisheit  aus  den  Quellen  selbst. 
Auch   übertrug  man  viele  Schriften  des 
Aristoteles  und  Piaton  jetzt  erst  aus 
dem  Urtext   ins   Lateinische,  nachdem 
sie  in   der  Zeit  der  Hohenstaufen  nur 
durch  Vermittlung  arabischer  Texte  hie 
und  da  bekannt  geworden  waren.    Mit 
unbeschreiblicher  Lust  schöpfte  man  die 
hellenische  Weisheit   ans   den  Quellen 
selbst. 

P.  verweist  aber  nur  auf  dessen  Vorlage,  den  Vespasiano  de  Bisticci; 
im  Uebrigen  bemächtigt  er  sich  der  Worte  des  deutschen  Schriftstel- 
lers ,  allerdings  unter  Fortlassung  eines  sehr  wichtigen  Satzes. 
Wir  werden  aber  dafür  entschädigt.  Der  ausgelassene  Satz  kommt 
auf  S.  410,  wo  Pastor  Keumont  III,  1,  329  abschreibt,  in  etwas  an- 
derer Form  zur  Gteltung. 

Reumont  S.  329:  Pastor  S.  410: 
Selbst  von  Aristoteles  kann  man  sagen.  Damals  erst  ist  das  Verständnis  des 
daß  das  Verständnis  seiner  Schriften  Aristoteles  durchgedrungen,  dessen 
erst  in  jener  Zeit  durchdrang,  welche  Schriften  man  nun  frei  von  der  Ver- 
sie  in  ihrer  wahren  Gestalt  frei  von  der  hüUung  der  Araber  und  Scho- 
Verhüllung  des  Mittelalters  em-  lastiker  empfing.  Die  bis  dahin  nur 
pfing.  Die  bis  dahin  nur  aus  Eompen-  aus  Kompendien  geschöpfte  KenntniA 
dien  geschöpfte  Kenntnis  der  griechi-  der  griechischen  Geschichte  wurde  zu- 
sehen Geschichte  wurde  zugleich  mit  gleich  mit  jener  der  Historiker  geför- 
jener  der  Historiker  gefördert.  Thucy-  dert ;  Thucydides ,  Herodot,  Diodor,  Po- 
dides,  Herodot,  Diodor,  Polybids,  Xeno-  lybius,  Xenophon,  Plutarch,  Arrian, 
phon,  Plutarch,  Arrian,  Appian,  Strabo  Appian,  Strabo  n,  A.  wurden  um  die 
u.  A.  wurden  um  die  Mitte  des  Jahr-  Mitte  des  Jahrhunderts  ganz  oder  theil- 
hunderts  ganz  oder  theilweiae  übertra-  weise  übertragen.     Diese  Uebertragun- 


Pastor,  Geschichte  der  Päpste  seit  dem  Ausgang  des  Mittelalters.   I.     453 

gen.  Diese  üebertragangen  lieBen  meist  gen  liefien  meist  sowohl  in  Besag  auf 

so  in  Bezug  auf  Treue,  wie  auf  den  la-  Treue  wie  auf  den  lateinischen  Aus- 

teinischen  Ausdruck  viel  zu  wünschen  druck  viel  zu  wünschen  übrig,  aber  es 

übrig,    aber   es   war   doch  eine  unend-  war  doch  eine  unendliche  Bereicherung 

liehe  Bereicherung    des   wissenschaftli-  des    wissenschaftlichen   Materials   und 

chen  Materials  und  geistigen  Reichthums,  geistigen  Beichthums,  namentlich  eine 

namentlich  eine  Aufforderung  zu  voll-  Aufforderung    zu    vollkommenerer  An- 

kommnerer    Aneignung.      Von    Ueber-  eignung. 
Setzungen  poetischer  Werke  hören  wir 
wenig. 

Es  ist  schon  nicht  gerade  erbaalicb,  zu  sehen,  daß  P.  karz  nach 
einander  aas  verschiedenen  SchriftBtellern  zweimal  ziemlich  dasselbe 
abschreibt;  aber  besonders  charakteristisch  ist  die  Art  der  Verwer- 
tung der  Renmont'schen  Stelle,  ßenmont  hatte  ausgeffihrt,  daß  die 
Frtlchte  der  Thätigkeit  des  Papstes  Nikolaus  »nach  einer  Seite  hin 
bedeatendy  auf  der  anderen  zweifelhaft«  seien.  Das  vierzehnte  Jahr- 
hundert habe  den  Eifer  für  Sprache  ond  Litteratur  geweckt,  aber  die 
Kenntnis  beider  sei  wenig  verbreitet,  darum  der  Wunsch  nach  Ueber- 
setzungen  berechtigt  gewesen;  biefttr  habe  Nikolaus  V.  eifrig  ge- 
wirkt. Nun  schildert  Reumont  den  Einfluß  Platen's,  dann  folgt  das 
Obige.  Es  leuchtet  ein,  wie  P.  durchaus  lückenhaft  die  Ausfahrung 
Renmonts  wiedergibt,  indem  er  sie  anreiht  an  eine  nnglttckliche  Ver- 
arbeitung des  Körting'schen  Gedankens,  daß  es  besser  gewesen  wäre, 
wenn  sich  die  humanistische  Bildung  auf  das  Hellenentum,  statt  auf 
das  Römertum  gegründet  hätte.  P.  hat  die  ziemlich  zahlreichen 
Stellen,  wo  Körting  diese  Thatsache  beklagt  und  die  Hofl^nung  aus- 
spricht, daß  künftige  Generationen  sein  Ideal  verwirklichen,  gesam- 
melt und  macht  daraus  das  Folgende:  »Die  bisherige  Ignorierung 
des  Altertums  war  gleichsam  ein  Erbübel  der  Früh  -  Renaissance. 
Daß  Papst  Nikolaus  dieser  Einseitigkeit  entgegentrat, 
kann  nur  freudig  begrüßt  werden.  Die  ganze  spätere  Entwicklung 
wäre  eine  andere  geworden,  wenn  es  gelangen  wäre,  die  humani- 
stische Bildung  vorwiegend  auf  das  Hellenentum  statt  auf  das  ver- 
sankene  Römertum  zu  gründen.«  Es  braucht  wohl  kaam  bemerkt 
zu  werden,  das  Körting  nichts  von  diesen  angeblichen  Plänen  des 
Papstes  Nikolaus  gesagt  hat;  er  betont  gegenüber  der  mangelnden 
Kenntnis  Petrarca's  die  Verdienste,  welche  sich  Boccaccio  am 
das  Griechische  erworben  habe.  Und  Pastor  schiebt  dem  Oberhaapte 
der  lateinischen  Christenheit,  demselben  Papste,  welcher  vorzüglich 
aaf  Herstellang  lateinischer  Uebersetzungen  griechischer  Autoren^) 

1)  Die  von  Cochläus  edierte  dem  Papste  Nikolaus  gewidmete  üehersetzung 
des  hl.  Ghrysostomus  durch  Lilius  Tifernas  durfte  auch  neben  der  des  Traver- 
sari  genannt  werden. 


454  Gott.  gel.  Ans.  1887.  Nr.  12. 

hinarbeitete,  ohne  jeden  Schatten  eines  Nachweises  derlei  Gedanken 
nnter.  Aber  freilich  bietet  er  seinen  Lesern  noch  andere  urteile 
ttber  denselben  Nikolaus  V.  Auf  S.  396  schreibt  er,  im  Anschlag  an 
Beumont  S.  383,  von  Vegio's  Schilderung  des  Tempels  des  Probus,  vgl. 
Oregorovius  I,  93,  welchen  Nikolaus V.  einreißen  ließ.  P.  fährt  fort: 
> Die  Gerechtigkeit  erfordert ,  hier  hervorzuheben ,  daß  Papst 
Nikolaus  im  Uebrigen  großen  Respekt  vor  den  Erinnerungen  der 
alten  Basilika  und  angelegentliche  Sorge  fttr  die  Werke  seiner  Vor- 
gänger zeigtet,  und  weist  dann  darauf  hin,  daß  Nikolaus  ttber  die 
Erhaltung  der  Porphyrplatten  des  alten  Fußbodens  gewacht  und  das 
Grab  Innocenz  VII.  [!]  hergestellt  habe.  Und  in  demselben  Athem 
erzählt  er,  daß  der  Papst  die  in  altchristlichen  Gräbern  gefundenen 
Schmucksachen  einschmelzen  ließ. 

Zuweilen  unterläßt  P.,  wenn  er  neuere  Autoren  abschreibt,  sogar 
die  kurzen  Gitate,  welche  er  meist  gibt;  es  scheint  hierbei  eine  ge- 
wisse Tendenz  obzuwalten.  Das  Buch  von  Janus  wird  Öfter  citiert; 
wenn  es  dort  von  einer  Schrift  heißt,  sie  sei  um  1450  verfaßt,  so 
weist  P.  auf  die  Ansicht  hin,  daß  vielleicht  das  Jahr  1449  richtiger 
sei;  derartige  nichtige  und  kleinliche  Polemik  treibt  er  gegen  Janus; 
wenn  er  ihn  aber  wirklich  benutzt,  vermeidet  P.  .dies  anzugeben. 
Man  vergleiche  z.  B. 

Janas  8.  354  :  Pastor  S.  806: 

Als  Friedrich  III.  im  Jahre  1462  die  Als  n&  ml  ich  Friedrich  III  im  Jahre 

Kaiserkrone  aus  den  Händen  des  Papstes  1452  die  Kaiserkrone  aus  den  Händen 

empfing ,  konnte  Enea  Silvio  in  seiner  des  Papstes  empfing,  konnte  Enea  Silvio 

Gegenwart  erklären :  ein  anderer  Kaiser  Piccolomini  in  seinem  Namen  und 

würde  wohl  ein  Konzil  begehrt  haben,  seiner  Gegenwart  erklären :  Ein  anderer 

aber  das  beste   Konzil   sei   der  Papst  Kaiser  würde  wohl  ein  Konzil  begehrt 

mit  den  Kardinälen.  haben,  aber  das  beste  Konzil  sei  der 

Papst  mit  den  Kardinälen. 

Janus  citiert  richtig:  »Aeneae  Sylvii  hist.  Frid.  III  in  Eollar 
Analecta  II,  317c,  Pastor:  Aeneae  Silvii  bist.  Frid.  III,  317,  was 
natürlich  ungenau  ist.  P.  meint,  die  Aeußerung  Piccolomini's  kenn- 
zeichne die  Umwandlung  der  Ideen  unter  den  Zeitgenossen,  welche 
sich  zum  Teil  mit  überraschender  Schnelligkeit  vollzog,  indem  an 
Stelle  der  Begeisterung  fttr  ein  Konzil  vielmehr  Unlust  getreten  sei, 
das  päpstliche  Ansehen  sich  befestigt  habe.  Bei  Janus  ist  die  Er- 
zählung der  Schlußstein  der  Erzählung,  wie  Friedrich  III.,  beraten 
von  Piccolomini,  sich  dem  Papste  verkauft  habe.  Hätte  P.  in  Wirk- 
lichkeit die  citierte  Quelle  oder  auch  Voigt  II,  53  nachgesehen,  so 
würde  er  wohl  schwerlich  auf  sie  hingewiesen  haben.  Die  ganze 
Bede  fehlt,  nach  V.  Bayer,  in  der  ersten  Redaktion  des  Werks.  Sie 
ist   ausschließlich    zu   brauchen,    um    den   Charakter   des   späteren 


Pastor,  Gescliichte  der  Päpste  seit  dem  Ausgange  des  Mittelalters.  I.     455 

Pins  II.    zu  zeiehnen,  welcher,   wie  auch  Voigt  Bchon   bemerktOi 
die  Bede  selbst  Dachträglich  angefertigt  hat. 

Während  Janas  darauf  hinweist,  daß  diejenigen  Männer,  welchen 
die  Beform  der  Kirche  am  Herzen  lag,  ihre  Hoffnungen  nicht  auf 
den  Papst,  sondern  auf  ein  künftiges  Konzil  setzten ,  vertritt  unser 
Autor  die  entgegengesetzte  Ansicht:  »Das Wort  ,Konzil'  das  so  viel 
Verwirrung  angerichtet,  begann  seine  Zauberkraft  mehr  und  mehr 
zu  Terlierenc  Zwar  treffliche  Männer  hätten  noch  daran  festgehalten, 
so:  Jakob  von  Jüterbogk,  aber:  »Es  war  ein  Gltlck,  daft  die  Mehr- 
zahl der  Zeitgenossen  nicht  also  dachtcc 

Der  als  Vertreter  jener  erstgenanten  Ansicht  allein  genannte 
Jakob  V.  Jüterbogk  wird  von  P.  auf  S.  303 — 304  besprochen  ^).  Von 
seiner  Schrift  ,De  Septem  statibus^  wird  gesagt,  daß  sie  wegen  »wilder 
Leidenschaftlichkeit  und  düsterer  Hoffnungslosigkeit«  sich  sehr  un- 
vorteilhaft von  der  Denkschrift  unterscheide,  aus  welcher  S.  303  Mit- 
teilungen gemacht  werden.  Dies  Urteil  gewann  P.,  indem  Kellners 
Ansicht  etwas  verschärft  wurde,  die  Schrift  selbst  bat  er  nicht  durch- 
gesehen; sonst  könnte  er  nicht  sagen:  »Kellner  (323)  und  Gieseler 
setzen  die  Abfassung  dieser  Schrift  in  das  Jahr  1449^),  während 
Janus  (264)  sie  als  ,um  1450^  geschrieben  bezeichnete ,  weil  Jakob 
selbst  schreibt:  Gaudet  quideni  nostris  temporibus^  scüicet  nunc  de 
anno  Domini  1449  ecdesia  de  unico  et  indubitatopastore,  scüicet  Nico- 
loa  papa  V.  Nur  eine  einzige  Stelle,  eben  diejenige,  auf  welche 
Janus  hingewiesen  hatte,  schlug  P.  auf  und  verdrehte  sie. 

Jakob  Tgl.  Janas  864:  Pastor  304: 

Mihi  vix  credibile  videtur,  poase  eccle-  Keine  Nation   unter   den   Gl&ubigen 

siam  generalem  reformari  nisi  curia  Ho-    stellt  der  Reformation  solchen  Wider- 
mana  fuerit  ante  reformata.  Quod  tarnen    stand  entgegen,  wie  die  italienische,  und 
quam  difficile  nt^  curstu  temporum  prae-    zwar  aus  Hoffnung  auf  Beförderung,  Ge- 
seniiwn  mantfestat,  cum  nuUa  gens  aut    winn  und  zeitlichen  Nutzen,  aus  Furcht 
na^io  ßdeUum  tantam  renstentiam  faeiat    vor  Verlust  der  Würden. 
reformatumi  uilius    ecclesiaet  ncut  natio 
ItaUifet  alii  eis  applau  dentesy  spe 
promotionis  aut  lucri  aut  temporalis  com' 
modi  aut  iimore  ammissionis   dignitatum 
ligati, 

P.  erklärt,  die  Schuld  fttr  das  Erlahmen  des  anfänglichen 
Beformeifers  falle  weniger  auf  Nikolaus  V,  als  auf  seine  italienische 
Umgebung.  Auf  S.  303  hatte  er  sogar  behauptet,  daß  Jakob  von 
Jflterbogk  auf  Nikolaus  V.  »viel  gehalten   habe,  von   dem  mehrere 

1)  Vgl.  Kellner  in  der  Tübinger  Quartalsch.  1866 ,  S.  888  u.  Pastor  S.  804. 
Die  Erörterung  über  die  Abfassungszeit  ist  bei  beiden  verfehlt. 

2)  EeUner  sagt  übrigens  S.  839,  die  Schrift   sei  Jedenfalls  nach  1449  ge- 
sehrieben. 


466  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  12. 

seiner  Schriften  approbiert  worden  seienc  Der  Nachweis  für  das 
erstere  fehlt,  ich  wtißte  ans  Jakobs  Schriften  kein  günstiges  Urteil 
über  Nikolaus  V.  beizubringen.  Voigt  sagt  I,  409  mit  Recht ,  daft 
»Nikolaus  als  Vater  der  Kirche  auf  dem  Wege  seiner  Vorgänger 
fortwandelte c ;  bei  P.  S.  280  ist  Parentucelli's  Wahl  »einer  der  wich* 
tigsten  Wendepunkte  in  der  Geschichte  des  römischen  Papsttums, 
die  christliche  Renaissance  besteigt  den  Throne.  Was  die  Appro- 
bation von  Schriften  durch  den  Papst  angeht,  so  ist  daraus  kein 
Schluß  zu  ziehen  auf  die  Gesinnung  Jakobs  selbst.  Die  von  P.  S.  303 
angeführten  Stellen  beweisen  nur,  das  ftir  einzelne  von  Jakobs 
Schriften  die  Approbation  des  Papstes  Nikolaus  erwirkt  wurde,  wie 
dies  auch  bei  Galixt  HI.  geschah,  vgl.  Hain  9329  u.  9330.  Persön- 
liche Beziehungen  folgen  daraus  nicht. 

Jakob  von  Jttterbogk  ist  übrigens  der  einzige  auf  Seite  der 
konciliaren  Partei  stehende  Schriftsteller,  welchen  P.  erwähnt.  Ihm, 
dem  für  die  extreme  konciliare  Idee  Begeisterten  wird  Geiler  v.  Eai- 
sersberg  entgegen  gestellt,  der  am  besten  die  Stimmung  der  »Mehr- 
zahl der  Zeitgenossen  —  welche  glücklicher  Weise  anders  gesinnt 
waren,  als  der  Erfurter  Earthänser  —  Ausdruck  gegeben  habe«. 
Dieser  Hinweis  ist  sehr  unglücklich.  In  Wirklichkeit  ist  in  der  be- 
trefiPenden  Predigt  Geilers  gesagt,  daft  die  Versammlung  der  ganzen 
Christenheit  iküs  wann  der  bapst  Manien  berüffle  die  geistlichen  und 
toeUlichen  prdaten,  als  weit  die  gane  weit  isU^  sich  nach  den  Amei- 
sen richten  solle.  Geiler  fordert  u.  A.:  »Die  omeisen  thun  die  ding 
all  an  ein  lerer,  niemant  fürt  sie  da,  allein  Got.  Also  Got  der  hK 
Geist  sol  die  leren  in  einem  consilio  und  sunst  niemans«,  und  klagt 
daß  die  Reformation  unmöglich  sei  und  es  in  der  Christenheit  nicht 
besser  werden  könne,  wegen  der  Verderbtheit  der  Häupter  wie  der 
Unterthanen.  Geiler  betont  die  Schwierigkeit  einer  allgemeinen  Re- 
form. Eine  Besserung  im  kleinen  Kreise  sei  leicht,  aber  ein  gemein 
reformaeton  der  ganteen  Cristenheü^  das  ist  hart  und  schwer  und 
kein  consilium  hat  es  mögen  betrachten  und  weg  mögen  finden.  TVa- 
runib^  das  wil  ich  dir  sagen,  du  sihest  was  grossen  hosten  und  arbeit 
daruff  gaty  wan  man  nur  ein  dosier  sol  reformieren :  So  mues  man  vor 
gu  dem  bapst  urlob  nemen  und  zudem  hönig.  Aber  wanmandie 
döster  difformiert,  so  bedarf  es  sein  luter  nüt^  das  ist  iderman  erlaubt^ 
yederman  thut  es  von  ihm  sdbert.  Dann  folgt  die  von  P.  angefahrte 
Stelle  über  die  erfolglosen  Bemühungen  des  Basler  Koncils.  Und  dar- 
auf hin  will  P.  den  Geiler  zu  einem  Gegner  der  konciliaren  Ideen, 
zum  Anhänger  des  Papalismus  machen?  Wenn  irgend  welche  Hoff- 
nung auf  Reform  noch  gehegt  werden  könnte,  so  wäre  dieselbe  auf 
einEoncil  zu  setzen,  aber  ich  verzweifele  —  das  ist  nach  meiner  Mei- 


Pastor,  Geschichte  der  F&pste  seit  dem  Ausgang  des  Mittelalters.  I.      457 

nuDg  der  (bedanke  Geilers,  der  in  seiner  ganzen  Ansftlhrang  von 
dem  Papste  nar  spricht,  um  ihn  als  denjenigen  zu  bezeichnen,  wel- 
cher die  Reform  erschwere.  Wenn  Pastor  nach  den  Quellen  gear- 
beitet hätte,  so  würde  er  zudem  gesehen  haben,  daß  Oeiler  an 
der  betreffenden  Stelle  den  Formicarins  Niders  vor  sich  hatte: 

Nider  I,  7:    .  Geiler  fol.  21  u.  22,  (vgl.  P.  305): 

8i  enitn  proM^nie  genwali  eondUo   in  Im  consilium  9U  Banl  da  ist  ein  man 

BanUa   in   annis  sex  nee  unum  quidem  [eben  Nider]  sechs  ganzer  jar  aüein  oh 

fragüis    ssxus    monasterium    cooperanie  dem   stuck  gewesen,  wie   man  kunt  ein 

etiam   seeulari  consulatu  reformari  po^-  gante  reformation  machen  in  der  eristen- 

tuity    propter  quarundam  inhabitantium  heit  und  wart  dennocht  nUt  daraus,  w  t  •- 

mtam  malivolam  ei  eisdem  astantem  m-  wol   sun  st  vil    guts   da    gemacht 

viOam,   quid,   queso,   sperandum  est  de  ward,    als   grosse  kriege   und  blutver* 

virorum  nohilium  vel  Uteratorum  solle-  giessen  wider  die  Hussen  wart  abgestellt. 

gOs  qui   ruinas  et   deformitates  suas  in  Aber  aus    dem  punetsn  wart    nüt  und 

spi9-itualibus  exeunies  domibus  non  modo  waren  sechs  ganur  jar   darob  gewesen* 

armis  calibeis,  sed  etiam,  quae  deteriora  .  .  .  Das  ganz  consilium  tu  Basel  was 

sunt,  verbalibus  et  ligneis  possunt  defen-  nit  so  mechtig,  daz  es  möcht  ein  frauen^ 

dere  f  closter  reformiren  in  einer  etat,  wan  die 

sta$  hielt  es  mit  den  frauen,  wie  woli  da  ein  consilium  die  ganz  Cristsnhsü  r«- 
formiren  . . .  Darumb  so  stoss  ein  isgUeter  sein  haupi  in  ein  winkst  in  ein  loch . . . 

Und  da  wundert  sich  P.,  daS  dem  Biographen  Oeilers,  Dacheax, 
diese  abgeschriebene  Stelle  entgangen  sei!  Man  sollte  denken,  es 
sei  gerade  sehr  bezeichnend,  wie  Geiler,  völlig  von  Pessimismus  er- 
füllt, seinen  Kopf  in  ein  Loch  steckt,  während  Nider  in  dem  Formi- 
carius  sowohl  dem  Eonstanzer  als  dem  Basler  Eoncil  einige  Erfolge 
zuerkennt  und  in  der  Schrift  'De  reformatio ne  religiosorum'.  Bouquet 
S.  219,  folgendes  niederschrieb:  sunt  guidam  simpliceSy  qui  ecdesiam 
in  omni  fere  statu  lapsam  graviter  putant  per  unum  concilium  gene- 
rale posse  reformari  totaiüer.  Bona  plura  facere  potest,  non  ambigo^ 
generale  concämm^  sed  non  simul  reformare  omnia.  Opus  hoc  non  est 
unvus  concilii^  sed  dierum  plurium^  et  fortassis  numguam  hoc  fiä^  sicut 
et  in  retractis  iam  temporibus  numquam  ecclesia  diu  stetit  sine  defor^ 
matis  et  persecutoribus.  Und  während  P.  auf  S.  303  eifrig  behaup- 
tet, daB  Jakob  v.  Jttterbogk  die  Zeit  Nikolaus  V.  nicht  angeklagt 
habe,  and  Engen  des  vierten  Pontifikat  preisgibt,  will  er  auf 
S.  267  den  Leser  glauben  machen,  daß  Eugen  IV.  den  Plan  gehabt 
habe,  alle  Klöster  zu  reformieren  und  erzählt  uns :  >  Eugen  IV.  nahm 
die  Beform  der  Kirche  in  der  unter  den  damaligen  Verhältnissen 
einzig  möglichen  und  ersprieBlichen  Art  und  Weise  in  Angriff  durch 
Verbessemng  nnd  Begenerirung  der  Orden  und  dann  auch  des  Cle- 
ms«. Wenn  Eugen  IV.  auf  dem  Koncil  zu  Fdrrara  erklärte,  daft  er 
selbst  sein  und  der  Seinigen  Verhalten  dem  Urteil  der  Väter  unter- 
werfe, nnd  zugleich  diese  ermahnte,  selbst  ein  gutes  Beispiel  zu  ge- 


458  Gott.  gel.  Adz.  1867.  Nr.  12. 

ben,  80  wird  wofal  gewiß  kein  Unbefangener  in  dieser  auf  die  Stirn- 
mang  der  Eoncilsteilnebmer  berecbneten  Wendung  etwas  anderes  als 
eine  rbetorisebe  Phrase  finden.  Der  Römer  Gecconi  hatte  jedenfalls 
mehr  Veranlassung,  Eugen  IV.  gegen  die  Verdächtigung  zu  vertei- 
digen, als  habe  er  damit  sich  demQthig  dem  Eoncilsurteil  unterwor- 
fen, als  Pastor  mit  Hefele  ttber  das  treffliche  Wort  des  Pap- 
stes in  Jubel  auszubrechen,  »denn  des  Geredes  war  bei  Vielen 
übergenug,  aber  Thaten  wollten  nicht  zum  Vorschein  kommen; 
darum  hatte  Eugen  schon  früher  den  Baselern  geschrieben,  nicht 
Worte  seien  nöthig,  sondern  Thaten,  gutes  Beispiel«.  Trefflich  sind 
die  leeren  Worte,  weil  ein  Papst  sie  sagt,  aber  die  Basler  werden 
hart  beurteilt,  weil  sie  nur  Worte  gehabt  hätten!  Und  auf  S.  30 
schreibt  er  dann  wieder  aus  der  Universalgeschichte  von  Rohrbacher- 
Knöpfler  ab:  »Eine  Zeit,  die  ihre  Fehler  in  solcher  Weise  durch- 
schaut und  erkennt,  gehört  gewiß  nicht  zu  den  schlimmsten.  Wenn 
bei  dem  einzelnen  Individuum  die  klare  Erkenntnis  der  Fehler  der 
erste  Schritt  zur  Besserung  ist,  so  wird  dies  auch  bei  ganzen  Men- 
schenklassen,  Nationen  und  schließlich  der  Kirche  selbst  nicht  an- 
ders sein.  Diese  Erkenntnis  war  vorhanden,  »der  erste  und  noth- 
wendigste  Schritt  zur  Besserung  war  mithin  bereits  gethanc 
Der  ehrliche  Nider  war  anderer  Ansicht.  Vgl.  De  ref.  relig.  II, 
cap.  9:  Vix  reperitur  äliquis  adeo  maltiSy  quin  reformationem  fieri 
Jxmum  opus  esse  affirmet  .  .  .  Cum  autem  reformatio  in  isto  ordine^ 
vel  in  isto  coUegio  attentatur  .  .  .  illico  tales  murmurant. 

Die  über  das  Verhältnis  des  Papsttums  zur  Reformfrage  han- 
delnden Stellen,  welche  bisher  angeführt  wurden,  zeigen  in  ihrer 
wirklichen  Fassung,  daß  Janus  durchaus  recht  hat,  wenn  er  S.  359 
schreibt:  »Es  währte  nach  dem  Unglttcksjahre  1446  geraume  Zeit, 
bis  man  in  Deutschland  erkannte,  daß  es  mit  den  Goncilien  und 
den  auf  sie  gesetzten  HofiPnungen  einer  Verbesserung  der  Kirche 
vorbei  seic.  P.  reiht  dem  schon  oben  erwähnten  Ausspruch  Enea 
Sylvios  die  Behauptung  an:  »Die  Opposition  gegen  das  Papstthum 
hat  noch  zu  wiederholten  Malen  mit  dem  Schreckbild  einer  allge- 
meinen Kirchenversammlung  gedroht,  aber  diese  Drohungen  blieben 
ohne  Erfolge.  Dann  bespricht  er  aber  nur  die  »wahnsinnige 
Idee^)  des  abenteuernden  Prälaten,  der  sich  Erzbischof  von  Krain 
nanntec  —  eine  Episode  aus  viel  späterer  Zeit,  die  hier  zu  erwäh- 
nen nicht  der  mindeste  Grund  vorlag,  schon  deshalb ,  weil  dieselbe 
noch  nicht  gentlgend  erforscht  ist;  P.  selbst  verweist  hierfür  auf  den 
zweiten  Band  seines  Werkes.    Nicht  hier,  wo  es  am  Platze  gewesen 

1)  Diese  geschmackvolle  Wendung  stammt   aus  der  Kirchengescbichte  von 
Kraus. 


Pastor,  Geschichte  der  P&pste  seit  dem  Ausgang  des  Mittelalters.    I.     459 

wäre,  erfahren  wir  von  der  Forderung  eines  in  Frankreich  abznhal- 
tenden  Eoncils,  welche  von  Frankreich  1450  erhoben,  und  die  da- 
durch beseitigt  wurde,  daß  Enea  Sylvio,  der,  vgl.  P.  S.  16,  im  Jahre 
1448  zum  Urteilen  ttber  die  Eonstantinische  Schenkung  ein  Eoncil 
gewtlnscht  hatte,  ein  Eoncil  in  Deutschland  im  Namen  Friedrichs  III. 
verlangte  nnd  so  dem  Papste  die  Möglichkeit  bot,  das  eine  wie  das 
andere  zu  vermeiden.  Es  wird  dies  bloß  als  ein  Ereignis  erwähnt, 
welches  dem  Papste  Nikolaus  die  Freude  des  Jubeljahres  gestört 
habe,  ebenso  wie  der  Wirrwarr  des  Volks  auf  einer  Tiberbrttcke, 
wobei  eine  Anzahl  Menschen  umkam.  Auf  S.  449  bei  Besprechung 
der  angeblich  so  segensreichen  Legationsreise  des  Nikolaus  von 
Cues  erfahren  wir,  daß  die  Briefe  des  Earthäusers  Yincenz  v.  Ax- 
baoh  einen  Einblick  gewähren  »in  die  fanatisch  antirömische 
Stimmung  Vieler  in  Sttddeutschlandc,  aber  P.  verschweigt  uns  den 
Inhalt,  und  sagt  uns  nicht,  daß  Vincenz  dringend  nach  einem  Eoncil 
verlangte,  welches  Rom  unbedingt  verweigerte,  und  daß  er  die  Beseiti* 
gung  der  Eoncil  ien  für  schlimmer  erklärte  als  die  Hussische  E^tzcrei. 
Auf  S.  346  bietet  P.  uns  die  aus  dem  Zusammenhang  gerissen  aller- 
dings ziemlich  unglücklich  erscheinende  Bemerkung  des  Vincenz,  daß 
die  Gegner  des  Cues,  d.  h.  eben  Vincenz,  dem  Manne  nicht  trauten,  weil 
er  Eardinal  war,  während  doch  guter  Grund  vorlag,  dem  Ueberläufer 
gegenüber,  welcher  Eardinal  geworden,  sich  zurückzuhalten.  Janus 
hatte  vom  Vincenz  v.  Axbach  ebenso  wie  von  dem  Earthäuser  Dio« 
nys  aus  Ryckel  schlagende  Stellen  angeführt,  P.  erzählt  uns,  daß 
bisher  »wenig  beachtet  aber  doch  recht  bemerkenswerthc  sei,  daß 
gewisse  Ereise  gegen  den  Cusanus  opponierten;  er  spricht  von 
»Doktrinären,  welche  die  Reform  nur  durch  einOoncil  wollten« 
und  sagt  uns  nicht,  wie  Ryckel  über  den  Papst  und  die  Eurie  sich 
geäußert  hat.  Auf  S.  539  und  540  erfahren  wir  von  dem  Streite 
zwischen  der  Universität  Paris  und  dem  Papste  über  den  Türken- 
zehnten, wobei  erstere  auch  auf  ein  allgemeines  Eoncil  provocierte; 
und  in  demselben  Aktenstücke,  Nr.  76  bei  P.,  wo  dieses  erwähnt  ist, 
erfahren  wir,  daß  des  Arragoniers  Gesandter  ebenfalls  an  ein  Eoncil 
appellierte,  worauf  der  Papst  denselben  bannte  und  dem  Eönige 
schrieb :  Sciat  tua  Majestas^  guod  papa  seit  deponere  reges.  Auf  S.  306 
schreibt  P.  Maurenbrecher  nach,  daß  das  Papalsystem  mit  Glanz 
nnd  mit  Pomp  seine  Auferstehung  feierte,  S.  312  versichert  er,  daß 
die  Wiedererstarkung  der  päpstlichen  Gewalt  nicht  bloß  eine 
äußerliche  war,  sondern  auch  innerlich  die  Stellung  des  Papst- 
tums neu  gekräftigt  wurde.  »Unzählige  wandten  sich  mit  Abscheu 
von  den  antipäpstlichen  Doktrinen,  die  in  Eonstanz  und  Basel  trium- 
phirt  hatten,  ab,  und   der  alten  Lehre  von  der  monarchischen 


460  G&tt.  gel.  Adz.  1887.  Nr.  12. 

VerfaBsnng  der  Eircbe  und  den  unveräußerlichen  Rechten 
des  heiligen  Sluhles  von  Neuem  zuc  S.  313  gibt  er  dann  allerdings, 
sich  an  Bänke  anlehnend  und  zugleich  ihn  verdrehend,  wieder  zu, 
daß  die  antipäpstliche  Opposition  gerade  in  Deutschland  nicht 
innerlich  Überwunden  wurde,  nachdem  er  vorher  aus  Wattenbachs 
Papstgesehichte  ^)  S.  283  eine  Stelle  über  die  ernste  und  tiefreligiOse 
Stimmung  der  zweiten  Hälfte  des  15.  Jahrhunderts,  wie  er  sagt,  am 
so  lieber  entlehnt  hatte,  »weil  derselbe  über  jeden  Verdacht,  die 
kirchlichen  Dinge  allzu  günstig  anzusehen,  erhaben  istc  P. 
bricht  sein  Citat  ab  vor  dem  Satze  Wattenbachs:  »Auch  der  Aber- 
glaube ist  in  vollster  BIttthe.  Der  Ablaßhandel  geht  prächtig  .... 
Sehr  in  Bechnung  zu  ziehen  ist,  daß  man  diesseits  der  Alpen  außer- 
ordentlich wenig  vom  Papste  wußte  und  erfuhr ;  es  ist  ganz  erstaun- 
lich, wie  wenig  in  den  Chroniken  des  15.  Jahrhunderts  von  ihm  die 
Bede  ist.  Daß  nicht  alles  war,  wie  es  sein  sollte,  wußte  man  wohl, 
betrachtete  es  aber  als  eine  vorübergebende  von  Qott  zugelassene 
Entartung  .  .  .  Eine  Zeitlang  hielt  am  römischen  Hofe  noch  die 
Nachwirkung  des  Concils  vor;  man  hütete  sich  vor  zu  grobem  Aer- 
gemiß,  aber  bald  genug  ist  doch  diese  heilsame  Scheu  wieder  ver- 
flogen«. Wie  soll  man  das  Verfahren  nennen,  welches  in  dieser 
Weise  bei  den  Lesern  eine  ganz  falsche  Auffassung  über  das,  was 
ein  namhafter  Schriftsteller  gesagt  hat,  hervorrufen  will,  und  gleich- 
zeitig diese  [angebliche  Auffassung  als  ein  Zugeständnifl,  welches 
derselbe  wider  Willen  habe  machen  müssen,  bezeichnet? 

S.  306  erzählt  uns  P.  von  der  »Wiederherstellung  des  päpstli- 
chen Ansehens«  unter  Nikolaus  V.  Die  Persönlichkeit  des  regieren- 
den Papstes  und  seine  ersten  Amtshandlungen,  so  behauptet  P.;  wa- 
ren wohl  geeignet,  auch  heftige  Gegner  mit  dem  Papsttum  zu  ver- 
söhnen, die  allgemeine  Abspannung  nach  den  vergeblichen  Versuchen 
des  kirchlichen  Parlamentarismus  kam  dem  Bömischen  Stuhle  zu 
gute,   und   endlich   feierte   die  theologische   Litteratur   einen  neuen 

1)  Die  Watteobachsche  Aasführung  weist  gewiB  mit  Becbt  auf  Thomas 
V.  Kempen  hin;  ob  aber  die  Kirchenbauten  und  Wallfahrten  ohne  Weiteres  in 
diesem  Sinne  verwertet  werden  dürfen,  scheint  mir  nicht  zweifellos.  P.  ruft  S.  278 
sogar  die  Kirchenbauten  des  üppigen  Kardinals  Estouteville  als  Zeugen  dafür  an, 
»daS  ihm  ein  gewisser  kirchlicher  Sinn  nicht  fehlte«  t  Es  wäre  zu  wänschen, 
daS  die  Bangesohichte  der  stattlichen  Dome,  welche  Wattenbach  im  Auge  hat, 
einmal  genau  in  finanzieller  Beziehung  untersucht  würde.  Ob  sich  dann  nicht 
manche  Aehnlichkeit  ergeben  würde  mit  der  Gegenwart,  wo  in  den  Sakristeien 
Kirchenbauloose  ausgeboten,  und  schwerlich  immer  in  religiösem  Sinne  gekauft 
werden?  Rosi^res*  Ausführungen  in  derHistoire  dela  Sociätä  fran^aise  du  Moyen- 
Age  n,  191  sind  in  dieser  Beziehung  entschieden  sehr  beachtenswert,  so  wenig 
ToUst&ndig  auch  das  Bild  ist ,  welches  er  bietet. 


Pastor,  Geschichte  der  P&pste  seit  dem  Ausgang  des  Mittelalters.   I.     4SI 

Aufschwang.  Ob  P.  bei  jenen  »ersten  Amtsbandlnngen«  wobl  die 
Anffbrdernng  des  Papstes  an  Frankreich  im  Auge  bat,  sieb  Savoyens 
zu  bemftcbtigen  ^),  welches  der  Papst  ihm  geschenkt  hatte,  freilich 
ohne  damit  bei  dem  so  großmütig  von  dem  Vater  der  Christenheit 
bedachten  Franzosen  Anklang  zu  finden?  Nachgedacht  hat  P.  wohl 
tLberbanpt  sehr  wenig, .  als  er  die  gesammelten  Lesefrttcbte  über  die 
Wahl  und  Regierung  Nikolaus'  V.  an  einander  reihte. 

Auf  S.  287  fg.  erfahren  wir  von  der  »christlichen,  wahrhaft  idea- 
lenc  Gesinnung  Nikolaus  V.,  der  »als  Vertreter  der  christlichen  Re- 
naissance wahrhaft  innerlich  demütbig  gewesen  sei«,  über  die  Wahl 
werden  uns  die  Ausspruche  von  Zeitgenossen  mitgeteilt,  welche  sie 
dem  unmittelbaren  Eingreifen  Gottes  zuschreiben,  obgleich  doch  ein 
Vergleich  mit  anderen  unmittelbar  nach  einer  Papstwahl  abgegange- 
nen Rtfmischen  Depeschen  zeigt,  daß  die  ersten  Gesandtschaftsbe- 
richte,  welche  gar  leicht  zu  allgemeiner  Kenntnis  gelangten,  fast 
durchweg  den  Neugewählten  mit  Jubel  preisen.  Jeder  kritische  Hi- 
storiker muß  sie  mit  Mistrauen  ansehen,  lieber  Alexander  VL 
schreibt  Valori,  der  Florentiner  Gesandte,  in  einem  zweiten  Schrei- 
ben: io  can  ogni  homo  universalmente  lodo  questa  promotione  et  mo- 
atromene  cofUento  assaif  währender  in  dem  ersten  kurz  hingewor- 
fenen Briefe  gesagt  hatte:  daß  Alexander  ^e  state  creato  etpublicato 
canonicamcnte  per  gratia  di  Bio  et  deüo  Spirito  Sancto\  Nach  P. 
war  die  Wahl  Parentucellis  für  Alle  eine  Ueberraschung.  Aber  Ve- 
spaciano  da  Bisticci  erzählt  uns  von  einem  Traume  des  in  das  Konklave 
eingetretenen  Parentncelli,  wonach  ihm  Eugen  IV.  die  Tiara  ver- 
sprochen haben  soll.  Daß  Parentncelli  gleich  tlber  das  angebliche 
Gesicht  sprach,  deutet  doch  gewiß  an,  daß  er  nach  der  Tiara  strebte 
und  auf  dieselbe  hoffte,  einen  andern  Zweck,  als  sie  ihm  zu  ver- 
schaffen, konnte  diese  Erzählung  nicht  haben;  wir  htfren  zudem,  daß 
die  Rede,  welche  Parentucelli  bei  Eugens  IV.  Leichenfeier  hielt,  die 
Kardinäle  bestimmte,  ihm  die  Stimme  zu  geben  —  alle  diese  Dinge 
lesen  wir  an  verschiedenen  Stellen  auch  bei  P.,  und  da  wird  uns 
eine  Wendung  des  Kardinals  von  Portugal  mitgeteilt,  der  gesagt 
haben  soll :  'Gott  hat  einen  Papst  gewählt,  nicht  die  Kardinäle'. 
Diese  Beurteilung  der  Wahl  hat  P.  selbst  aus  den  Quellen  geschöpft, 
sobald  er  aber  die  Regierungsthätigkeit  Nikolaus  V.  schildert,  begibt 
er  sich  S.  291  in  Abhängigkeit  von  Reumont  III,  1,  116:  »In  der 
That  trat  Nikolaus  V.  gleich  nach  seiner  Erhebung  auf  den  heiligen 
Stuhl  als  ein  Friedens  fürst  auf,  nach  dem  Vorgange  dessen, 
welcher  Petrus  die  Scbltlssel  übergeben  hatte,  die  er,  der  kein  Adels- 
wappen  besaß,  als  sein  Wappen  annahm  mit  der  schönen  Devise: 
1)  Vgl.  Pastor  S.  295. 


462  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Hr.  12. 

»Bereit  ist  mein  Herz  o  Herr!«  Und  auf  S.  315  lesen  wir  dann 
über  den  Friedensfürsten,  nnzweifelbaft  der  Wahrheit  gemäBer,  daft 
der  Papst  nnr  dnreh  Begünstigung  von  Streitigkeiten  zwischen  den 
Nachbarn  sich  selbst  den  Frieden  yerschalSte.  P.  benutzt  hier  einen 
anderen  Schriftsteller :  Q.  Voigt  I,  408.  Ein  anderes  Stück  von  Voigt 
ib.  wird  S.  474  eingeflickt. 

Auf  S.  285  erfahren  wir  dann  auch  von  dem  schnellen  Auf- 
brausen, der  Hastigkeit  und  Heftigkeit  jenes  FriedensfGlrsten ;  es 
wird  uns  von  dem  Befehl  einer  schnellen  Hinrichtung,  an  den  der 
Papst  nach  dem  einen  Bericht  sich  am  anderen  Tage  nicht  mehr 
erinnerte,  den  er  nach  einer  anderen  Meldung  ernstlich  bereute,  nur 
in  einer  Note  des  Anhangs  S.  679  berichtet;  der  Stelle  bei  Voigt 
S.  407,  welche  hierüber  handelt,  entnimmt  unser  Forscher  nur  die 
Nachricht  von  der  Liebhaberei  des  Papstes  für  fremde  und  gute 
Weine,  nachdem  er  dieser  Meldung  schon  auf  der  vorhergehenden 
Seite  jede  schlimme  Bedeutung  genommen  hatte  durch  die  Nach* 
rieht,  daß  diese  Weine  nur  für  die  in  Rom  zu  bewirtenden  Herren 
aus  Frankreich,  Deutschland  und  England  bestimmt  gewesen  seien. 
Und  während  die  Gesandten  des  Deutschordens  und  ebenso  Poggio 
über  den  Papst  spotten,  weil  er  in  ängstlicher  Furcht  zur  Zeit  der 
Pest  aus  Rom  floh  und  die  Annäherung  an  seinen  Aufenthaltsort 
mit  strengster  Strafe  bedrohte,  belehrt  P.  S.  332  seine  Leser,  daB 
der  Vater  des  Papstes  im  Jahre  1399  als  Arzt  bei  der  Pest  zu  Lueca 
gewirkt  habe,  bald  darauf  gestorben  sei  und  wahrscheinlich 
als  Opfer  seines  Berufes  der  Seuche  zum  Opfer  gefallen  sei^).  Es  ist 
dieser  angebliche  Tod  an  der  Pest  lediglich  Vermutung,  der  spätere 
Papst  war  wahrscheinlich  1397  (nach  P.)  geboren,  hatte  also  un- 
möglich einen  unmittelbaren  Eindruck  von  dem  Tode  des  Vaters, 
falls  dieser  bei  der  Pest  starb,  und  da  schreibt  P.,  daB  Voigt  mit 
Unrecht  die  ungewöhnliche  Todesfurcht  Nikolaus'  V.  durch  dessen 
übermäßige  Lebenslust  zu  erklären  suche,  und  unter  Hinweis  auf 
Martins  V.  gleiches  Verhalten  preist  er,  unter  Berufung  auf  Haeser,  den 
Fortschritt,  welchen  in  der  Pestlehre  die  Ansteckungstheorie  be- 
deute.   P.  meint:  »Es  ist  nicht  zu  sagen,  wie  viele  Menschenleben 

1)  Diese  Behauptung  steht  übrigens  ziemlich  in  der  Luft.  Wir  wissen,  d&S 
der  Rat  von  Lucca  am  81.  Mai  1400  beschloS,  der  MagUUr  Bartkolotnatus  [es 
folgt  eine  kleine  Lücke  in  dem  Protokoll]  de  Sarzana  prohus  et  expertus  drutieu» 
sei  auf  ein  Jahr  mit  100  Goldgulden  Gehalt  anzustellen,  dummodo  veniat  kUra 
vtgtnU  dies  proximoe  futuros  a  die  praeseniaiae  eleetionis  inchoandoe;  Sforza  8. 84. 
Andererseits  wird  dessen  Gattin  Andreola  am  1.  Nov.  1401  als  Wittwe  bezeich- 
net. Daraus  folgert  Sforza  S.  89,  daß  derselbe  an  der  Pest  gestorben  sei.  Wie 
aber,  wenn  Bartolomeo  von  dem  ehrenvollen  aber  gefährlichen  Anerbieten  keinen 
Gebrauch  gemacht  hätte? 


Fastor,  Geschiolite  der  P&pste  seit  dem  Ausgang  des  Mittelalters.    I.    463 

durch  die  Absperrang,  selbst  bei  ihrer  höchst  maogelhaften  Anwen- 
daog  im  vierzehnten  und  fünfzehnten  Jahrhundert,  erhalten  worden 
sind«.  Das  ist  ein  Satz,  mit  welchem  auch  Pettenkofer  einverstanden 
sein  würde,  wenn  man  ihn  wörtlich  nimmt.  Was  aber  diese  ganze 
Ausführung  bezüglich  Nikolaus'  V.  beweisen  soll,  der  nur  sein  eigenes 
Leben  schützen  wollte,  ist  unerfindlich ;  die  Zeitgenossen  Nikolaus'  V. 
würden  jedenfalls  einem  Papste,  der  den  heimgesuchten  Kranken  bei- 
gestanden hätte,  statt  sie  zu  fliehen,  ebenso  zugejubelt  haben,  wie 
dies  in  unseren  Tagen  bei  dem  Könige  von  Italien  der  Fall  war, 
als  er,  unbekümmert  um  die  auch  jetzt  noch  ungeklärten  Theorien 
der  Medicin,  der  Cholera  nach  Neapel  entgegen  reiste,  ja  wie  es 
teilweise  schon  bei  Leo  XIIL  geschah,  als  dieser  ein  Gholeraspital 
zu  Born  vorsorglich  einrichtete.  S.  483  urteilt  P.  jedenfalls  viel 
vernünftiger:  »Aus  der  Neigung  zur  Kränklichkeit  dürfte  sich  die 
ängstliche  Sorge  für  seine  Gesundheit  am  leichtesten  erklären«. 

Um  den  Aufschwung  der  theologischen  Wissenschaften  unter 
Nikolaus  V.  zu  belegen,  verweist  P.  S.  306  vor  Allem  auf  den  Spa- 
nier Torquemada,  welchen  er  bereits  auf  S.  276  als  den  unzwei- 
felhaft gelehrtesten  Theologen  des  Kardinals-Kollegiums  gefeiert 
hatte.  P.  schreibt  aus  einer  unbedeutenden  aber  fleißigen  Würz- 
burger Preisschrift  von  Lederer  die  Uebersetznng  einer  Stelle  der 
Vorrede  Torquemadas  ab,  ohne  sie  mit  dem  Urtext  zu  vergleichen  ^) 
und  macht  dann  eine  Anmerkung,  welche  charakteristisch  ist.  P. 
schreibt:  »Die  von  Lederer  und  Schwane  vertretene  Ansicht,  Tor- 
quemada sei  bezüglich  der  Stellung  der  Bischöfe  zum  Papste  zu 
weit  gegangen,  ist  nicht  haltbar;  s.  A.  Langhorst  in  den  Laa- 
eher  Stimmen  1879  II,  447—462.  Wer  diese  Jesuitenzeitschrift 
nicht  kennt,  bleibt  im  Zweifel,  in  welcher  Richtang  sich  Torque- 
mada,  nach  P.,  zu  weit  vorgewagt  haben  soll.  Der  Aufsatz  von 
Langhorst,  welchem  sich  P.  anschließt,  bekämpft  besonders  die  Schrift 
von  Lederer,  weil  dort  die  Ansicht  ausgesprochen  ist,  Torquemada  habe 
den  Bischöfen  zu  wenig  Selbständigkeit  gegenüber  dem  Papste  zu- 
erkannt Der  Jesuit  führt  aus ,  daß  vielmehr  Torquemada  den  be- 
sten Kommentar  zu  den  Vatikanischen  Dekreten  liefere,  daB  dessen 
Behauptung :  gpwd  iota  jurisdiäionis  potestas  äliorum  praelatorum  de 
lege  communi  derivcUur  a  papa  durchaus  der  orthodoxen  Lehre  ent- 
spreche, und  daß  die  Ansicht  jener  Theologen,  welche  meinten,  Tor- 
quemada gehe   in   der  Degradierung  der  Bischöfe   noch   weiter  als 

1)  Ich  betone  dies,  weil  in  Wirklichkeit  Torquemada  sich  gegen  die  schür* 
kischen  Gegner  wendet,  qui  diabolico  instineiu  .  .  •  faUa  dogmata  .  .  p§mieiotu 
autihuB  iniroduxerunt,  Lederer  spricht  Yon  Leuten,  welche  falsche  Dogmen 
jKor  Geltong  bringen  wollten. 


46i  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  IfL 

das  Vatikanam,  nicht   zutreffend   sei^).     Und  so  gelangt  P.  daza, 
das  Urteil  Schwabs  in  folgender  Weise  nmzagestalten : 

Schwab  Gerson.  S.  749  :  Pastor  S.  808 : 
Alle  die  Willkür,  die  sich  ältere  Gano-  Die  tiefgreifende  Bedeatang  Ton  Tor- 
nisten in  der  Deatnng  einzelner  Schrift-  quemada's  Werk,  das  überaus  reich- 
ond  Vaterstellen  erlaubten,  die  Kühn-  haltig  an  gelehrtem  Material  und  mit 
heit  des  Ton  ftufierlich  logischer  Conse-  scharfen  logischen  Gegen[sic  l]beweisen 
quenz  begleiteten  syllogistischen  Baison-  gefüllt  ist,  trat  in  der  Folgezeit  immer 
nements,  ein  advokatenmäßiges  schar-  deutlicher  herror;  er  ist  bis  in  das 
fes  Spähen  nach  jeder  wirklichen  oder  achtzehnte  Jahrhundert  hinein  für  alle 
blos  scheinbaren  Blöße  des  Gegners,  Vertheidiger  des  apostolischen 
das  dogmatische  Absehen  von  aller  ge-  Stuhles  eine  der  wichtigsten  litera- 
schichtlichen  Entwicklung,  ein  reiches  rischen  Fundgruben  geblieben.  [Lederer 
ftir  jede  Gelegenheit  zu  Gebote  stehen-  hatte  gesagt,  daß  alle  Verehrer  der 
des  gelehrtes  Material,  und  jenes  sichere  mittelalterlichen  Papalhoheit  Torque- 
Auftreten,  wie  es  die  Gewißheit  wenig-  madas  Werk  Werth  beilegten,  aber 
stens  äußeren  Erfolges  gewährt,  bildet  keiner  es  kritisch  besprochen  habe], 
das  Eigenthümliche  seiner  Arbeiten. 

Das  ist  es,  was  wir  über  den  Kardinal  Torqaemada  erfahren,  wel- 
cher es  übernahm,  alle  die  des  Papstes  Ansprüche  bekämpfenden 
Eanonisten  niederzuwerfen.  Ueber  andere,  im  Sinne  and  auf  Be- 
fehl der  Päpste  schreibende  Eanonisten  erfahren  wir  bei  F.  so  gut 
wie  niehts.  Von  den  Männern,  welche  gegen  die  »falschen  Goncil»- 
Ideen«  schrieben,  nennt  er  noch  drei :  Bodericus  Sancias  de  Arevalo, 
Capistran  und  Monte.  Bezüglich  Gapistrans  erhalten  wir  bloß  einen 
Hinweis  auf  Wadding,  ohne  daß  die  ZweifeP)  über  die  Antorschaft 
des  dem  Gapistrano  zugeschriebenen  Werkes  'De  potestate'  gelöst 
würden;  Ober  den  Bischof  von  Brescia  Piero  del  Monte  und  über 
Bodericus  Sancias  de  Arevalo  werden  dürftige  Mitteilangen  aas 
bisher  angedruckten  Werken  gemacht,  während  P.  sich  am  das,  was 
die  beiden,  von  der  Kurie  abhängigen  Autoren  in  ihren  gedruckten 
Werken  gesagt  haben,  gar  nicht  kümmert.  Und  doch  wäre  es  wohl 
der  Mühe  wert  gewesen,  uns  Mitteilung  zu  machen  von  den  schar- 
fen Urteilen,  welche  Bodericus  in  seinem  Speculum  vitae  II,  20 
über  den  kirchlichen  Zustand  seiner  Zeit  fällt ,  derselbe  Mann ,  der 
von  dem  päpstlichen  Stuhle  sagt:  tanta  est  sublimitas  et  eminentiaj 
tanta  immensitas  td  nullus  mortalium  nedum  comprehendere  aut  saus 
exprimerey  sed  nee  cogüare  posset ;  II,  1.  Von  der  in  der  Luccaschen 
Bibliothek  vorhandenen  Hs.  des  Monte  hätte  man  ebenfalls  etwas  an- 
deres zu  erfahren  gewünscht,  als  die  Marginalnotiz,  welche  P.,  ohne 
deren  Autor  (Felinus)  zu  kennen,  mitteilt'). 

1)  Pastor  macht  auch  im  Görresjahrbuch  1887  Dittrich  zum  Vorwurf,  daß 
er,  in  seiner  Arbeit  über  Gontarini,  bezüglich  Torquemada's  nur  Lederer,  nicht 
aber  jenen  Aufsatz  von  Langhorst  benutzt  habet 

2)  Vgl.  Schalte  U,  819. 

8)  Vgl.  Schulte  n,  819.    F.  begrfiBt  die  falsche  Auflösung  des  von  Monte 


Pastor,  Gescldclite  der  tUpuie  seit  dem  Ausgang  des  Mittelalters.  I.    465 

Ebenso  wie  hinsichtlich  der  Doktrin  Troquemadas  sucht  sich 
P.  f&r  die  Schilderung  einiger  anderen  historischen  Thatsachen  Au- 
toren strengster  karialistischer  Observanz  ans,  um  ihnen  nachzu- 
schreiben. 8.  221  gibt  P.  als  Inhalt  der  Bulle  Eugens  IV  vom 
15.  Dec.  1433  an,  daft  der  Papst  die  Baseler  Synode  als  ökumenisch 
begonnen  und  fortgesetzt  anerkannte,  mit  Vorbehalt  seiner 
und  des  apostolischen  Stuhles  Rechte.  Und  P.  f&gt 
hinzu:  »Die  Bulle,  welche  diese  wichtigen,  jedoch  keineswegs 
eine  ausdrückliche  Bestätigung  der  früheren  papstfeindlic&en  Syno- 
dalbeschlüsse enthaltenden  Zugeständnisse  machte,  gieng  bis  an 
die  äufterste  Grenze  des  Möglichen;  sie  ist  dem  Papste 
gleichsam  abgepreßt  worden  durch  die  Gefahren,  welche  zu  die- 
ser Zeit  seine  Stellung  in  Italien  anf  das  Aeufterste  bedrohtenc. 
Torquemada,  anf  welchen  P.  verweist,  erklärt  die  Bulle  fttr  nichtig, 
weil  sie  erzwungen  sei,  P.  folgt  demselben  nur  auf  halbem  Wege 
mit  seinem  unbestimmten  Ausspruch:  gleichsam  abgepreßt,  da  er 
wohl  einsah,  daß  von  einem  wirklichen  Zwang  im  Ernste  nicht  ge- 
sprochen werden  kann.  Ich  will  mich  nicht  darauf  einlassen,  das 
aus  Phillips  entlehnte  Urteil  über  die  Bedentang  jener  auch  nach 
P.  wichtigen  Anerkennung  des  Basler  Eoncils  zu  erörtern;  nach 
P.  schließt  Eugens  Bulle  nicht  die  Anerkennung  der  erlassenen  De- 
krete in  sich,  sondern  soll  etwa  nur  besagen,  daß  eine  Versammlang 
vorhanden  sei,  die  sich  selbst  für  ein  Koncil  halte,  obgleich  jeder, 
der  so  deutet,  sich  hüten  dürfte,  den  Wortlaut,  wie  er  z.  B.  bei 
Gieseler  II,  4,  S*  67  steht,  dem  Leser  mitzuteilen.  Aber  die  Frage 
möchte  ich  stellen,  ob  P.  gewußt  hat  oder  nicht,  daß  er  den  Inhalt 
der  Bulle  fälschte,  indem  er  Phillips  folgte;  ob  es  ihm  unbekannt 
war,  daß  Phillips  irrtümlich  den  die  Klausel :  'Mit  Vorbehalt  etc.'  ent- 
haltenden Text  der  von  dem  Papste  dem  Koncil  vorgelegten,  aber  von 
diesem  als  ungenügend  zurückgewiesenen  Bulle  fllr  die  echte  end- 
gültige Fassung  hielt?  Phillips  ließ  sich  in  seiner  Ansicht  nicht 
dadurch  stören,  daß,  wie  er  sagt,  jene  Klausel  in  manchen  Aus- 
gaben vers  eh  wunden  sei,  die  Akten  des  Konoils   sie  nicht  ent- 

gefthrten  Beinamens  Briziensis  als  »Bischof  von  Brizenc  bei  Schulte  II,  817 
mit  einem  Ansmfnngszeichen,  obgleich  doch  die  Bemerkung  über  den  Münchner 
Handschriftenkatalog  zeigte,  daß  Schulte  richtig  an  Brescia  dachte.  Er  beachtet 
aber  nicht,  daß  er  in  Widerspruch  ger&t  mit  der  Angabe  Schuhes,  wenn  er  die 
Schrift  contra  imjmgnaiores  sedis  apostolicae  an  Nikolaus  Y.  gerichtet  sein  l&Bt, 
statt  an  Eugen  lY.  Die  you  Schulte  Anm.  7  angeführte  Stelle  aus  dem  Reper- 
torium  Montes  beweist,  daß  auch  die  Schrift  de  pote$iate  Eomani  pontifieia  früher 
abgefaSt  ist,  als  das  Bepertorium,  welches  nach  Eugens  IV.  Tode  geschrieben 
wurde.    [Schulte  kehrt  in  Folge  Schreibfehlers  das  Verhältnis  um]. 

CMU.  fei.  Abi.  1887.  Kr.  18.  89 


466  Gott.  gel.  Adz.  1887.  Nr.  12. 

bielteoy  aber  er  weist  doch  wenigstens  auf  diesen  Umstand  hin. 
Anders  P.!  Wer  gläubig  unseren  Autor  liest,  erfährt  hiervon  nichts, 
obgleich  inzwischen  doch  auch  Hefele  VII,  562  gesagt  hatte,  daft 
in  der  Bulle  vom  15.  Dec.  1433  »die  Bedingung,  die  Eugen  in  der 
früheren  Bulle  gestellt  hatte,  daß  die  Basler  zuvor  Alles  zurückneh- 
men müßten,  was  sie  gegen  ihn  und  seine  Anhänger  getban,  ans* 
gelassen  ist«.  Zudem  ist  bei  Gecconi  Concilio  di  Firenze,  Nr.  18, 
die  Bulle  in  derjenigen  Fassung  zum  Abdruck  gebracht  worden, 
welche  Phillips  als  die  interpolierte  betrachtet  hat,  und  außerdem 
liegt  ein  Schreiben  Eugens  IV.  an  Kaiser  Sigismund  vor,  worin  es 
beißt:  Voluimus  potius  cedere  de  iure  nostro  tut  contemplatione  ei 
pro  salute  fideiiutn,  quam  perstare  in  conservanda  dignitate  et  auctori- 
täte  nostra  et  apostolicae  sedis.  Alles  das  ignoriert  P.  Ich  sehe  mich 
vergeblich  nach  einem  Ausweg  um,  das  Pastorsche  Verfahren  in 
halbwegs  glimpflicher  Weise  zu  erklären,  wenn  man  annimmt,  daß 
er  wirklich  über  das,  was  er  niederschrieb,  nachdachte.  Aber  man 
wird  richtiger  P.  nicht  im  Ernste  für  das,  was  er  zusammen  schreibt, 
verantwortlich  machen.  Auf  S.  291  entnimmt  er  aus  Ghristophes 
Geschichte  der  Päpste  den  Satz:  »Engen  IV.  hat  die  Feinde  der 
Kirche  hart  und  unversöhnlich  aufLeben  und  Tod  bekämpfte, 
während  er  S.  232  geschrieben  hatte:  »Weder  Eugens  Nachgie- 
bigkeit, noch  seine  trostlose  Lage  waren  im  Stande  die  erbitter- 
ten Feinde,  welche  das  Papsttum  in  Basel  hatte,  milder  zu  stimmen«. 

Auf  S.  300  bespricht  P.  die  Aufhebung  des  Schismas.  »Niko- 
laus V.  ging,  —  so  sagt  er  —  in  seiner  Friedensliebe  bis«  an  die 
äußerste  Grenze,  weiter  sogar,  als  der  Billigste  hoffen  durfte«.  Daß 
nicht  Nikolaus,  sondern  das  Koncil,  wie  P.  sich  ausdrückt,  die 
Form  wahrte,  d.  h.  daß  alle  Maßregeln  der  Römischen  Päpste 
gegen  die  bisher  als  Schismatiker  und  Ketzer  bezeichneten  Anhän- 
ger Felix'  V.  für  ungültig  erklärt  wurden,  in  den  römischen  Regi- 
stern getilgt  werden  sollten,  und  erat  nachdem  diese  Bulle  ^)  ergan- 
gen war,  die  weiteren  entgegenkommenden  Schritte  des  Koncils  und 
des  Gegenpapstes  erfolgten,  war  allerdings  insofern  eine  Formsache, 
als  Nikolaus  die  Anerkennung  schließlich  in  der  Obedienz  des  Pap- 
stes Felix  erlangte,  aber  ich  sollte  meinen,  in  dieser  Weise  sollten 
sich  nicht  diejenigen  ausdrücken,  welche  die  Oberhoheit  des  Papstes 
über  das  Koncil  als  ein  Grunddogma  zu  verehren  vorgeben. 

Wie  verfährt  P.  bei  der  Beurteilung  des  Schismas  vom  Jahre 
1378!   S.  96  behauptet  er:   »Dieser  Mann  [der  Erzbischof  von  Bari] 

1)  P.  verweist  wegen  des  Datums  anf  Hefele,  and  man  darf  somit  wohl  an- 
nehmen, daS  es  ihm  unbekannt  geblieben  ist,  daB  Georgius  S.  64  bereits  dasselbe 
richtig  gestellt,  aber  freilich  zugleich  die  Bulle  als  apokryph  verworfen  hatte. 


Pastor,  Geschichte  der  F&pste  seit  dem  Ausgang  des  Mittelalters.   I.      467 

warde  am  8.  April  1378  zur  höchaten  Würde  erhoben ;  er  nahm  den 
Kamen  Urban  VI.  an.«  Dann  beißt  es,  indem  ein  neuer  Absatz  be- 
ginnt: »Naeh  der  Wahl  entstand  in  Folge  eines  MiSver- 
ständnisses  eine  entsetzliche  Verwirrung«.  Möchte  man  nur  an- 
nehmen können,  daß  dem  Verf.  selbst  nur  ein  Misverständnis  be- 
gegnet sei,  wenn  er  sagt,  daß  seinem  Berichte  der  von  ihm  als 
vortrefflich  bezeichnete  Aufsatz  von  Lindner  zu  Grunde  liege. 
Lindner  sagt  natürlich  nichts  von  einem  »Mißverständniß«  ,  sondern 
meldet  nach  den  besten  Quellen  von  dem  Drucke,  der  durch  die 
Römer  schon  vom  Beginne  des  Konklaves  an  auf  die  Kardinäle  aus- 
geübt wurde,  er  berichtet,  wie  die  Kardinäle  bei  dem  gewaltsamen 
Eindringen  des  Volkes  in  das  Konklave  den  alten  Tibaldescbi  als 
Papst  begrüßten ,  wie  der  Erzbischof  von  Bari  selbst  am  Tage 
nach  der  Sprengung  des  Konklaves  erklärte,  bevor  die  Kardinäle 
nochmals  seine  Wahl  als  gültig  und  kanonisch  anerkannt  hätten, 
könne  er  sich  nicht  als  Papst  betrachten.  Lindner  betont  aus- 
drücklich, daß  erst  nachher  der  Gewählte  den  Namen  Urban 
annahm.  Den  Verlauf  der  Wahl  erzählt  Lindner  in  ganz  anderer 
Weise  als  Pastor,  während  dieser  Lindners  Urteil  über  deren  Gültig- 
keit allerdings  in  richtiger  Weise  abschreibt.  Es  geht  dahin,  daß 
die  Wahl  kanonisch  gewesen,  aber  die  Entstellung  dieses  Sachver- 
haltes leicht  möglich  gewesen  sei.  Pastor  fügt  den  Satz  hinzu,  daß 
die  ausgezeichnetsten  Juristen  jener  Zeit  sich  in  ausführlichen  Gut- 
achten in  jenem  Sinne  ausgesprochen  hätten.  Das  letztere  ist  rich- 
tig, aber,  wer  gewissenhaft  ist,  hat  die  Pflicht  hinzuzufügen,  daß 
auch  Gutachten  in  entgegengesetztem  Sinne  vorliegen.  Um  aber 
das  Urteil:  die  Wahl  war  gültig!  auszusprechen,  fehlt  uns,  wie  ich 
glaube,  jede  Berechtigung.  Ich  glaube,  auch  P.  würde  sich  doch 
bedenken,  den  übertreibenden  Ausspruch  des  Kardinals  d'Aigrefeuille, 
daß  seit  Petrus  Niemand  mit  mehr  Recht  Papst  gewesen  sei,  sich 
anzueignen.  Von  welchem^  Augenblicke  an  ist  die  Wahl  zu  datie- 
ren? Konnte  durch  eine  spätere  Zustimmung  der  Kardinäle,  die 
außerhalb  eines  Konklaves  erfolgte,  die  unter  Sturm  und  Drang  er- 
folgte Abstimmung  im  Konklave  zu  rechtlicher  Gültigkeit  gebracht 
werden?  Darf  man  über  die  Erklärung  des  Kardinals  Orsini,  wel- 
eher  vor  der  Wahl  erklärt  hatte,  man  könne  angesichts  der  toben- 
den Menge  nicht  frei  wählen,  deshalb  zur  Tagesordnung  ttbergehn, 
weil  auch  er  später  sich  bestimmen  ließ,  unter  dem  andauernden 
Eindrucke  der  Furcht  die  Wahl  Urbans  anzuerkennen?  Ich  sollte 
denken,  daß  man  doch  untersuchen  müßte,  ob  nicht  die  Bestimmung 
der  39.  Sessio  des  Konstanzer  Konoils,  welche  einer  späteren  Zu- 
stimmung zu  einer  unter  dem  Eindruck  der  Furcht  erfolgten  Wahl 

33* 


4ß8  ,         Gdtt.  gd.  Adx.  1887.  Xr.  12. 

jede  Bedeutang  aberkennt,  einen  in  damaliger  Zeit  im  allgemeinen 
Bechtflbewnfttsein  liegenden  Grundsatz  aussprach.  Was  will  es  be- 
deuten, wenn  jetzt  Juristen  und  Historiker,  nach  einer  noch  immer 
Lttcken  lassenden  Feststellung  der  thatsäcblichen  Vorgänge,  den 
Menschen  des  14  Jahrhunderts  gegenüber  behaupten  wollen,  daft 
die  Wahl  gültig  gewesen  sei,  da  doch  die  Wähler  selbst  dies  später 
auf  das  entschiedenste  bestreiten?  Aegidins  Bellamera  behauptet» 
daft  die  Kardinäle,  welche  zwei  Monate  Urban  VI.  gehorcht  hatten, 
eine  Todsünde  begangen  hätten,  sie  seien  schuldiger,  als  der  an- 
gebliche Papst,  weil  sie  ihn  zu  der  Usurpation  der  Tiara  Ycrleiteten. 
Wer  will  sagen,  daft  die  Behauptung  der  Kardinäle,  die  Todesfurcht 
habe  während  dieser  Zeit  bei  ihnen  fortgedauert,  unwahr  sei?  Hätte 
der  bei  dem  Eindringen  des  Volkes  in  das  Konklave  adorierte  Ti- 
baldeschi  die  Verwegenheit  besessen,  sich  als  Papst  zu  behaupten, 
so  würden  zweifelsohne  genug  Kanonisten  sich  erheben,  welche  uns 
nachwiesen,  daft  das  Wesen  der  Papstwahl  in  der  Adoration  liege, 
daft  man  es  hier  mit  einer  Inspirationswahl  zu  thun  habe,  und  ihr 
gegenüber  die  vorhergehende  Abstimmung  keine  Bedeutung  bean- 
spruchen könne.  Auch  derjenige,  welcher  es  für  unwahrscheinlich 
hält,  daß  die  Furcht  bei  den  Kardinälen  zwei  Monate  lang  fort- 
wirkte, und  vielmehr  der  Ansicht  ist,  dafi  die  unlautersten  Motive 
bei  denselben  mitwirkten,  würde  doch  in  Verlegenheit  sein,  wenn 
er  beweisen  sollte,  daft  von  Furcht  keine  Rede  sein  dürfe. 

S.  44  erzählt  P.  seinen  Lesern,  daft  die  ebenso  einseitige  wie 
kurzsichtige  Auffassung,  als  sei  die  ganze  Bewegung  der  Renaissance 
vom  Uebel,  nicht  als  diejenige  der  katholischen  Kirche  betrachtet 
werden  dürfe.  »Wie  im  ganzen  Mittelalter,  so  zeigte  sich  auch 
jetzt  die  Kirche  wieder  als  Förderin  eines  jeden  gedeihlichen  gei- 
stigen Fortschritts,  als  die  Schtttzerin  aller  wahren  Bildung  und  Ci- 
vilisation. Sie  gestattete  den  Anhängern  der  Renaissance  die  denk- 
bar gröftte  Freiheit,  eine  Freiheit,  die  von  einer  Zeit,  welche  die 
Einheit  des  Glaubens  verloren,  nur  schwer  begriffen  werden  kann. 
Nur  einmal  ist  das  Oberhaupt  der  Kirche  in  der  Periode,  welche 
hier  zur  Darstellung  kommen  soll,  direkt  gegen  die  falsche  Re- 
naissance eingeschrittene.  Man  sollte  danach  meinen,  P.  sei  durchaus 
einverstanden  mit  dieser  angeblichen  Haltung  der  Kirche,  d.  h.  der 
Päpste,  und  man  greift  damit  insofern  nicht  fehl,  als  in  Pastors 
Vorlage,  der  er  hier  nachschreibt,  allerdings  diese  Ansicht  ausge- 
sprochen ist.  Es  ist  hier  Körting,  welcher  die  Freiheit  rühmt,  wel- 
che die  Humanisten  an  dem  Orte  fanden,  wo  sie  nach  seiner  Mei- 
nung eher  die  Folterkammer  der  Inquisition  erwarten  mußten.  An 
einer  anderen  Stelle  aber,  S.  34,  erzählt  dann  P.  gleichsam  ent- 


Pastor,  Geschichte  der  Päpste  seit  dem  Aasgang  des  Mittelalters.    I.    469 

flcbnidigend :  »Die  Wachsamkeit  der  kirchlicben  Organe  zu  tänscben, 
war  um  so  leichter^  als  es  meist  sehr  schwer  za  bestimmen  war,  wo 
die  Spielerei  mit  dem  Heidentbnm  bedenklieb  wnrde«.  Und  ferner: 
»Die  Nachsicht  der  kirchlichen  Würdenträger  gegenüber  der  falschen 
Renaissance  wird  erst  ganz  yerständlich ,  wenn  man  in  Betracht 
zieht,  daft  die  genügend  gekennzeichneten  gefährlichen  Tendenzen 
nicht  die  allein  herrschenden  waren.  Neben  der  falschen  stand  die 
wahre  christliche  Renaissancec ,  als  deren  Vertreter  F.  dann  neben 
dem  Papste  selbst  acht  Männer  aufzählt.  Zn  der  Verherrlichung 
des  Ambrogio  Traversari  wird  eine  Stelle  des  »protestantischen 
Schriftstellersc  Meiners  herangezogen,  dessen  Blick  noch  nicht  durch 
Einzelforschnngen  getrübt  war,  während  F.  der  eingehenden  Schil- 
derung Voigts  nur  die  Stelle  entnimmt  S.  37  :  »Seine  gelehrten  Ar- 
beiten bezogen  sich  meist  auf  die  griechischen  Schriftsteller;  auf 
diesem  Gebiete  war  er  an  Bttcherreichthum  und  Kenntnis  unstreitig 
der  Erstec.  In  einer  Anmerkung  wird  dabei  hervorgehoben,  daß 
Voigt  keiner  Vorliebe  für  Traversari  beschuldigt  werden 
könne.  Von  der  Fersönlichkeit  Traversaris  kann  man  sich  aber  nur 
dann  ein  richtiges  Bild  machen,  wenn  gesagt  wird,  daß  er  mit 
Poggio  in  vertrauter  Verbindung  stand,  und  mit  demselben  Briefe 
wechselte,  die  man  einem  Ordensmanne  jetzt  nicht  zutrauen  wUrde. 
Bei  einem  anderen  Anhänger  der  »christlichen,  wahren  Renaissance«, 
Maffeo  Vegio,  wird  S.  38  von  einer  »Sinnesänderung«  gesprochen, 
welche  die  Eonfessionen  Augustins  hervorgerufen  haben  sollen.  Nach 
dieser  Wendung  kann  der  Leser  wenigstens  das  richtige  vermuten, 
ttber  die  ungeschminkte  Wahrheit  muß  man  bei  Voigt  Auskunft  sn* 
eben.  Wenn  nicht  dieser,  sondern  verschiedene  andere  Autoren  ci- 
tiert  werden  bei  der  Besprechung  Carlo  Marsupinis,  so  liegt  dies 
wohl  daran,  daß  Voigt  I,  316  erzählte,  wie  dieser  Mann  in  der 
Kirche  S.  Croce  zu  Florenz  mit  allem  Fompe  beigesetzt  wurde,  ob- 
schon  er  auf  dem  Totenbette  die  Sterbesakramente  abgelehnt  hatte. 
Wer  diese  Thatsache  sich  gegenwärtig  hält,  wird  wohl  kaum  dem 
Wunsche  Poggios,  in  eben  jener  Franziskanerkirche  sein  Grab  zn 
finden,  die  Bedeutung  zusprechen,  welche  F.  S.  28,  oder  vielmehr 
sein  Gewährsmann  Norrenberg,  ihm  zuschreibt,  in  der  irrigen  Vor- 
aussetzung, daß  das  Florentiner  Pantheon  in  jener  Zeit  nach  ähnli- 
chen Grundsätzen  behandelt  worden  sei,  wie  gegenüber  Viktor  Hugo 
der  Invalidendom.  Pastor  spricht  von  der  Leichenfeier  Marsupinis 
ebensowenig  als  von  dessen  schönem  Denkmal,  welches  in  jener  Kirche 
dem  Leonardo  Brunis  gegenflberstebt;  nur  Leonardo  Bruni  vnrd  ge- 
priesen, weil  er  der  Kirche  aufrichtig  zngethan  war,  sein  Begräbnis 
wird  im  Anschluß  an  Voigt  beschrieben  mit  einer  charakteristisohen 


470  OAtt.  gel.  ABZ.  1887.  Nr.  12. 

Variante.  Voigt  hatte  gesagt:  »die  Prioren  beschlossen  auf  den 
Vorschlag  einiger  gelehrter  Männer  den  groSen  Todten  nach  Sitte 
der  Alten  zu  ebrenc.  Die  gesperrten  Worte  ersetzt  P.  dnrch: 
'anf  außerordentliche  Weise'. 

Sehr  sonderbares  leistet  P.  aach  hinsichtlich  L.  Vallas.  Er  be- 
spricht S.  407  die  Bernfang  Vallas  nach  Born  in  teilweise  wörtlichem 
Anschlaft  an  Voigt  II,  89  anter  Verschweigang  der  Thatsache,  daft 
Kardinal  Bessarion  es  war,  der  ihn  dorthin  za  kommen  einlud;  P. 
schreibt:  »Der  Papst  daldete,  daft  ein  solcher  Mann  sich  in  Born 
einfand,  and  ernannte  ihn  sogar  zum  apostolischen  Skriptorc.  Aof 
S.  505  erzählt  er,  Voigt  II,  92  amschreibend ,  aber  nicht  aaf  ihn, 
sondern  nar  aaf  die  von  jenem  citierten  Gewährsmänner  verweisend, 
von  Vallas  Befttrderong  zu  kirchlichen  Warden  anter  Galixt  III. 
Und  damit  möge  man  vergleichen,  was  P.  aaf  S.  20,  Gregorovias 
misverstehend,  mit  Bezag  anf  Vallas  Arbeit  Ober  die  Schenkung 
Konstantins  niederschreibt : 

Oregorovios  S.  686:  F.  S.  20: 

Die  Äbbandlang  wurde  heimlich  ver-  Wenn  die  Curie  dem  Pamphlet  eifrig 
breitet,  die  römische  Curie  stellte  ihr  nachstellte,  so  erfüllte  sie  damit  nur 
eifrig  nach,  so  daB  sie  selten  wurde,  eine  Pflicht  der  Selbsterhaltung.  Jede 
Erst  Hütten  entdeckte  sie  wieder.  andere   Regierung  würde    in    gleicher 

Weise  gehandelt  haben,  denn  Yalla 
forderte  die  Römer  auf,  den  Papst,  fort- 
zujagen, ja  er  macht  sogar  die  Andeu- 
tung dai  es  erlaubt  sei,  ihn  umzubringen. 

In  einer  Anmerkung  schreibt  er  dann,  darchaas  znstimmendy  ans 
Ottos  Bach  des  Gochläas  Behaoptong  ab,  Vallas  Bach  würde  nicht 
verworfen  worden  sein,  weno  er  nar  die  Echtheit  der  Schenkung 
bekämpft  und  nicht  zugleich  den  apostolischen  Stahl  geschmäht 
hätte.  Er  verschweigt  aber  die  an  derselben  Stelle  bei  Otto  er- 
wähnte Thatsache,  daB  Cochläas  selbst  dem  Fränkischen  Ritter  die 
Abschrift  von  Vallas  Schrift  zar  Veröffentlichang  Obermittelt  hatte, 
allerdings  nicht  ohne  ttber  dieses  sein  Beginnen  etwas  Enieschlottem 
za  empfinden :  credo  equidem  verissima  esse  quae  scripsit  Laurentius^ 
vereor  tarnen^  ne  tuio  edi  queaniy  at  Huttenus  anathema  twn  farmidat; 
et  indignum  mihi  videtur  ut  Veritas  a  veritaiis  gladio  prohibeaiur. 
Za  der  Zeit  des  Gochläas  wie  mehrere  Jahrzehnte  vorher  und  nach- 
her gab  es  eben  eifrige  and  mächtige  Eanonisten,  welche  jeden  ver- 
ketzerten, der  die  Echtheit  oder  aach  nar  die  GOltigkeit  der  Schen- 
kang  zu  bestreiten  wagte;  dies  hatte  Gregorovias  im  Aage,  wenn  er 
von  Nachstellangen  sprach,  die  gegen  das  Bach  gerichtet  wurden. 
Dagegen  maft  man  sagen,  daft  »die  Guriec  dorchaus  pflichtvergessen 
war,  falls  P.  Recht  hat  mit  seiner  Behaoptung,  daft  die  Pflicht  der 


Pastor,  Geschichte  der  Päpste  seit  dem  Ausgang  des  Mittelalters.  I.      471 

SelbsterbaltODg  die  Yerfolgang  des  Yallascben  Buches  forderte ;  denn 
amtlich  geschah  vor  1554  lediglich  nichts  gegen  dasselbe,  P.  ist  hier 
mit  seiner  Annahme  eben  in  Irrtum  geraten,  da  er  Qregorovins 
nicht  richtig  verstand^),  während  er,  wie  erwähnt,  an  der  oben 
S.  468  angeführten  Stelle,  wo  er  die  Freiheit  preist,  die  man  den 
Humanisten  ließ,  ebenfalls  die  Thatsachen  getreu  berichtet  hatte. 

Hinsichtlich  des  angeblichen  Verbots  des  Hermaphroditus  von 
Beecadelii  durch  Eugen  IV  folgt  P.  wenigstens  getreu  seiner  Vor- 
lage 6.  Voigt,  welcher  einer  gelegentlichen  Erwähnung  des  Vespa- 
siano  da  Bisticci  Glauben  schenkte.  Besser  vermeidet  man  mit 
Keusch,  Index  I,  38,  ein  bestimmtes  Urteil,  vgl  P.  S.  415;  jeden- 
fklls  wird  Vespasianos  Bericht  Über  Cesarinis  Verhalten  auch  an- 
ders KU  deuten  sein,  als  es  von  P.  geschieht. 

Während  P.  den  Päpsten  ihre  Lässigkeit  und  Nachsicht  bei 
Ausübung  der  Gensur  gegen  unsittliche  und  unkircbliche  Schriften 
zum  Vorwurf  macht,  befleißigt  er  sich  bei  der  Erzählung  von  dem 
Wirken  der  Inquisition  einer  gewissen  Znrückhaltung.  Er  spricht 
davon  in  Ausdrücken,  welche  zeigen ,  daß  er  sich  doch  schämen 
würde,  dieselbe  offen  zu  verteidigen.  Auf  S.  124  hören  wir,  daß 
der  Inquisitor  sich  seines  Lebens  nicht  mehr  sicher  fUhlt,  die  Hülfe 
der  weltlichen  Macht  gegen  die  mit  Mord  und  Brand  drohenden 
Ketzer  anruft;  das  Einschreiten  gegen  die  Häretiker  wird  als  Not- 
wehr bezeichnet  (S.  128).  Auf  S.  311  heißt  es:  »Die  Wiedererstar- 
kung  der  päpstlichen  Macht  zeigte  sich  unter  Nikolaus  V.  auch  in 
den  Anstrengungen  der  kirchlichen  Autorität  zur  Ausrottung 
der  Ketzereien.  Der  Papst  entfaltete  in  dieser  Hinsicht  eine  sehr 
ausgedehnte  Thätigkeit«;  »in  Burgund  mußte  Nikolaus  gegen  Irr- 
lehren über  Ablaß  und  Beichte  einschreiten c.  »Fast  durch  die  ganze 
Regierung  des  Papstes  hindurch  ziehen  sich  seine  Anstrengun- 
gen gegen  die  in  Italien  in  größerer  Anzahl  auftretenden  Frati- 
cellenc.  Daß  P.  auf  diesen  Punkt  nicht  näher  eingeht,  will  er  mit 
der  Bemerkung,  daß  eine  Zusammenstellung  der  Nachrichten  über 
die  häretische  Bewegung  jener  Zeit  fehle,  und  ein  höchst  verdienst- 
liches Unternehmen  sein  würde,  wohl  halbwegs  entschuldigen.  Es 
wäre  indessen  wohl  eine  Aufgabe  des  Historiographen  der  Päpste 
gewesen,  die  entsetzlichen  Folgen  der  »Anstrengungenc  der  Päpste 
und  ihrer  Henkersknechte  offen  zu  beleuchten,  anstatt  sie  mit 
glimpflichen  Worten  zu  verhüllen  und  den  unschuldigen  Leser  mit 
einer  Gitatenflut  zu   ttberschtttten    und  im  Uebrigen   in  glücklicher 

1)  Das  Richtige  haben  DöIIinger  Papstfabeln  S.  104  und  Reusch  Index  1, 227 
ausdrücklich  ausgesprochen;  aber  auch  bei  Yahien  und  Voigt  steht  nichts,  wo- 
durch Pastors  Behauptung  sich  rechtfertigen  lieBe. 


472  Gott.  gel.  Ans.  1887.  Nr.  12. 

Unwissenheit  zu  belassen.  Der  Leser  des  Pastorschen  Werkes  er- 
fährt auch  nichts  von  dem  Scheiterhaufen,  welchen  Engen  lY.  —  in 
der  Zeit  vor  jener  oben  erwähnten  Wiedererstarknng  —  dem  Gar- 
meliten  Thomas  Gonecte  bereiten  lieft,  weil  er  die  Laster  der  Curie 
zn  scharf  gegeißelt  hatte '). 

Mit  kaum  glanblicher  Sorglosigkeit  nrteilt  P.  auch  ttber  die 
auBerordentlich  wichtige  Frage,  wie  sich  die  Päpste  zn  der  Nach« 
folgefrage  in  Neapel  stellten. 

Pastor  erzählt  anf  S.  249  im  AnschluB  an  Gregorovins,  daft 
Papst  Engen  die  Fähigkeit  des  Bastards  Ferrante  anf  den  Thron 
von  Neapel  zn  steigen  ausdrücklich  anerkannt  habe.  Als  P.  später 
fand,  daft  Galixt  IIL  die  Belehnung  verweigerte,  und  zugleich  ans 
Voigt  III,  22  ersah,  daß  jenes  Dokument  Eugens  nicht  bekannt  sei, 
ist  er  sofort  bei  der  Hand  mit  dem  Satze:  »Juristisch  wird  sich  der 
von  dem  Papste  eingenommene  Standpunkt  kaum  anfechten  lassen, 
da  nach  langobardischem  Lehensreeht,  das  Galixtus  unzweifel- 
haft im  Auge  hatte  [!],  auch  der  Legitimierte  nicht  Lehenserbe  ist, 
und  eine  ausnahmsweise  Anerkennung  der  Successionsf&higkeit 
Ferrantes  nicht  vorliegt«;  er  fttgt  die  Note  hinzu:  »Aeneas  Sylvius 
behauptet  dies  allerdings,  aber  das  Dokument  ist  nie  znm  Vorschein 
gekommen.  Hiernach  ist  meine  Angabe  S.  249  zu  berichtigen«. 
Kecken  Mutes  widerspricht  er  hier  Gregorovius  und  Voigt;  ohne  je- 
den Grund:  im  Nachtrag,  S.  712,  heiftt  es  dann  wieder  zu  S.  572: 
»Eugen  IV.  hatte  die  Successionsfähigkeit  Ferrantes  ausdrttcklicb 
anerkannt.  Galixtus  III.  scheint  von  der  Ansicht  ausgegangen  zn 
sein,  daft  er  durch  diese  Verfügung  seines  Vorgängers  nicht  gebun- 
den seic.  Der  P.  Ehrle  hatte  ihn  anf  die  Urkunde,  die  in  den  päpst- 
lichen Begesten  verzeichnet  ist[l],  hingewiesen.  Wie  soll  man  zn 
einem  Autor  Vertrauen  fassen,  der  in  dieser  Weise  sein  Urteil  jeden 
Augenblick  in  aller  Unbefangenheit  umgestaltet? 

Ein  Schriftsteller,  welcher  sich,  wie  P.,  in  ausgedehnter  Weise  der 
Gedanken  wie  der  Worte  anderer  Forscher  bemächtigt,  hätte  gewift 
allen  Grund,  ihnen  gegenüber  recht  bescheiden  anfzutreten.  Aber 
das  Gegenteil  ist  der  Fall.  Er  'polemisiert  gegen  sie  in  wortklau- 
bemder  Weise: 

Die  Behauptung  von  Gregorovius,  mit  Eugen  IV.  beginne  die 
Beihe  der  Benaissance-Päpste,  ist  nicht  richtig.  P.  behauptet 
dagegen:  »Eugen  IV.  vermittelte  recht  eigentlich  den  Ueber- 
gang  zu  diesen  Päpsten,  Engen  hat  in  gewisser  Hinsicht  sei- 
nem groften  Nachfolger   die  Wege  bereitete     »Auf  Eugen  IV.  ttbte 

1)  Vgl.  Janufl  374. 


Pastor,  Geschichte  der  Päpste  seit  dem  Ausgang  des  Mittelalters.  I.      473 

der  lange  Aufenthalt  in  Florenz,  dem  damaligen  Mittelpunkte 
der  BenaiBsanee  tiefen  Einflnft  auBt.  3.  268,  269.  GregoroviuB 
wird  alB  ein  SchriflBteller  bezeichnet,  der  im  Allgemeinen  nicht  leicht 
KD  Gunsten  eines  Papstes  sieh  ausspriebt,  S.  202,  der  ganz  auf  Sei- 
ten der  Florentiner  steht,  S.  92,  ein  principieller  Gegner  des  Papst- 
tums ist  Wattenbach  sieht  sich  S.  312  als  leidenschaftlichen  Geg- 
ner des  Papsttums  bezeichnet,  S.  20  heißt  es  von  Gregorovius,  daA 
er  bezüglich  der  weltliehen  Herrschaft  der  Päpste  ungefähr  auf  dem- 
selben Standpunkte  stehe,  wie  Valla. 

lieber  Voigt  urteilt  P.,  an  Reumont  sich  anschliefiend,  daA  des- 
sen Werk  nber  Pius  IL  durch  maßlose  Härte  des  Urteils 
entstellt  sei;  dabei  bezeichnet  P.  den  Brief,  worin  Enea  seine  sittli- 
chen Anschauungen  darlegt,  als  »berüchtigte,  während  Voigt 
sagt,  'derselbe  habe  eine  wahrhafte  Berähmtheit  erlangt,  zumal  bei 
den  Feinden  des  Papstthums'.  An  dieser  Stelle  überbietet  also  P. 
an  Schärfe  den  Ausdruck  Voigts,  um  dann  auf  der  folgenden  Seite 
das  »ruhige  und  maßvolle«  Urteil  des  Geschichtschreibers  der  Stadt 
Bom  —  er  meint  Reumont  —  wiederzugeben,  welcher  sich  in  allge- 
meinen Redewendungen  über  die  Mislichkeit  eines  Parteiwechsels 
ergeht,  und  die  unbewiesene  Behauptung  aufstellt,  daß  es  nicht 
bloß  persönliche  Gründe  gewesen  seien,  welche  Enea  zum  Ueber- 
tritt  von  dem  Baseler«  Eoncilspapst  in  die  Reichskanzlei  bestimmt 
hätten.  Wie  konnte  P.  wagen,  Reumont  nachzuschreiben,  daß  man 
die  »vertrautesten  Briefe«  gegen  Enea  verwerte,  während  doch  Voigt 
I,  285  gerade  geltend  gemacht  hatte,  daß  Enea  selbst  deren  Ver- 
breitung betrieb  und  seine  Freude  daran  hatte!  Bei  Piccolomini 
handelt  es  sich  nicht  um  einen  Wechsel  in  der  Gesinnung,  die 
Frage,  welche  man  stellen  und  auch  beantworten  muß,  ist  die,  ob 
seine  dogmatischen  und  sittlichen  Retraktationen  ernst  gemeint  wa- 
ren oder  nicht,  ob  sie  Heuchelei  oder  Wahrheit  waren?  Man  m?$ge 
doch  nur  die Ausfiihrungen  Pastors  über  das  mit  der  Zeit  erfolgte 
Eintreten  einer  großen  Sinnesänderung  bei  Enea,  einer 
ernsteren  Lebensauffassung,  wobei  er  dann  noch  längere 
Zeit  gezögert  habe,  Priester  zu  werden,  mit  der  Thatsache  zusam- 
men halten,  daß  er  1344  die  den  Terenz  nachahmende  Komödie 
Chrysos  schrieb.  Die  Anrede,  welche  Enea  an  Eugen  IV.  im  Jahre 
1345  hielt,  sowie  des  Papstes  Antwort  gibt  P.  S.  259  einfach  in  der 
Voigtschen  Uebersetzung  wieder,  aber  während  Voigt  urteilt,  Enea 
habe  nicht  als  Gesandter,  sondern  als  ein  Bekehrter,  der  Verzeihung 
erbittet,  gesprochen,  zieht  Pastor  es  vor,  auf  die  von  Enöpfler  bear- 
beitete Rohrbachersche  Eirchengeschichte  zu  verweisen,  wo  es  heißt, 
die  Abbitte  sei  die  »Sprache  eines  in  Kriegsgefangenschaft  gerathe» 


474  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  12. 

nen  Helden«.  Und  wenn  dieser  Held  seine  früheren  Gesinnungs- 
genossen als  ^animalia  spnrca  atqne  probrosa'  bezeichnet,  so  ver- 
schweigen das  die  Herren  Pastor  und  Genossen  —  ob  aas  densel- 
ben Gründen  der  Sanftmut,  welche  über  die  Härte  Voigts  erschrickt, 
der  den  kecken  Apostaten  mit  dem  richtigen  Namen  bezeichnet,  weil 
er  die  eigene  Vergangenheit  mit  Ftißen  tritt?  Es  soll  indessen  nicht 
verschwiegen  werden,  daß  P.  aaf  S.  588  sich  wenigstens  mit  Ent- 
schiedenheit gegen  die  tollen  Versuche  Alexander  VI.  rein  zu  wa- 
schen erklärt.  Er  nennt  diese  Versuche  des  Dominikaners  Ollivier 
nnd  Leonettis  »eine  unwürdige  Verdrehung  der  geschichtlichen 
Wahrheit*.    Vgl.  unten  S.  491. 

Die  bisherigen  Erörterungen  Über  den  Text  des  Pastorschen 
Buches  dürften  gentigen,  um  die  Leichtfertigkeit  zu  beweisen,  mit 
welcher  P.  sein  Buch  zusammen  geschrieben  hat,  und  man  wird  nicht 
von  mir  verlangen,  daß  ich  den  gleichen  Nachweis  auch  bezüglich 
der  oben  nicht  berührten  Abschnitte  führe.  Auf  Verlangen  steht  er 
zu  Diensten.  Ueberall  macht  man  die  Wahrnehmung,  daß  P.  die 
Titel  der  gedruckten  Litteratur  in  großem  Umfange  kennt,  aber  der 
Herstellung  seines  Buches  kein  gründliches  Studium  vorausgehn 
ließ,  sondern  nur  im  Fluge  die  Stellen  aufschnappte,  welche  ihm 
paßten,  ohne  Rücksieht  auf  ihre  Glaubwürdigkeit,  ohne  Rücksicht 
auf  die  Widersprüche,  in  welche  er  sich  verwickelte. 

Es  erübrigt  uns  noch,  die  handschriftlichen  Studien  Pastors  ins 
Auge  zu  fassen.  Auch  in  dieser  Beziehung  erfüllt  das  Buch  nicht 
das,  was  man  nach  der  Vorrede  erwarten  durfte.  P.  arbeitete  so 
ungewöhnlich  flüchtig,  daß  er  keine  Zeit  hatte.  Wichtiges  von  Un- 
wichtigem zu  unterscheiden,  oder  vielmehr  nach  wirklich  bedeuten- 
den Quellen  zu  suchen.  Der  Verf.  versteht  unter  der  Benutzung 
einer  Bibliothek  etwas  ganz  anderes,  als  andere  Leute.  Wenn  er 
ans  dem  gedruckten  Katalog  einer  Bibliothek  sich  einige  Notizen 
gemacht  hat,  so  ist  dies  hinreichende  Veranlassung  für  ihn,  diese 
Bibliothek  als  eine  benutzte  zu  bezeichnen.  Aber  auch  aus  den  Bi- 
bliotheken und  Archiven,  aus  denen  er  wirklich  Aktenstücke  mit- 
teilt, hat  er  bis  jetzt  —  für  die  Zukunft  verspricht  er  gar  manches 
—  im  Ganzen  wenig  von  Belang  veröffentlicht  und  wenn  er  inter- 
essante Aktenstücke  mitteilt,  so  verwertet  er  sie  mehrfach  unrichtig. 

Die  meisten,  22,  lieferte  Mailand,  dem  Vatikanische  Archiv  ent- 
stammen 19,  Aix,  Mantua  und  Siena,  die  Bibliothek  Ghigi  sind  eben- 
falls ausgiebiger  vertreten.  Ich  gebe  einen  Ueberblick  über  die  im 
Anhange  abgedruckten  86  Nummern. 

Nr.  1  und  2  sind  geschäftsmäßige  Breven,  welche  Gregor  XI. 
absandte,  das  eine,  um  den  Pompejns  Trogus  zu  erlangen,  von  dem 


Pastor,  Geschiclite  der  P&pste  seit  dem  Ausgang  des  Mittelalters.    I.      476 

das  Gerücht  gieng,  daß  man  ibn  in  Vercelli  aufgefunden  habe,  das 
andere,  nm  f&r  die  päpstliche  Bibliothek  ans  der  Sorbonne  eine  Ab- 
schrift von  Ciceros  Briefen  za  erwirken.  FUr  das  übrigens  gar  nicht 
bestrittene  humanistische  Interesse  des  Papstes  läßt  sich  hieraus  na- 
türlich keineswegs  irgend  eine  Folgernng  ziehen,  wie  F.  dies  than 
möchte.  Es  ist  die  Frage,  auf  wessen  Veranlassung  die  Nachfor- 
schung nach  dem  Trogns  erfolgte.  Derselbe  war  bereits  früher  von 
Salutato  gesucht  worden,  ist  aber  bis  auf  den  heutigen  Tag  nicht 
aufgefunden  worden.  Daß  der  Papst  selbst  sich  dafür  interessierte, 
wird  man  ans  der  —  über  das  unbekannte  Buch  —  gebrauchten 
Bedewendung:  Hber  nimium  est  sensibus  nostris  acceptus,  et  lange 
accqptior^  si  eum  praesentiälüer  haberemus  kaum  folgern  dürfen. 

Der  erbitterte  Streit  des  Papstes  Gregor  gegen  Florenz  erhält 
keine  neue  Beleuchtung  durch  Nr.  3,  ein  Begleitschreiben,  womit  die 
päpstliche  Kundgebung  dem  gegen  Florenz  so  feindlich  gesinnten 
Lucca  übermittelt  wurde,  eher  konnte  es  gerechtfertigt  erscheinen, 
die  Thatsache  mitzuteilen,  welche  aus  Nr.  7  hervorgeht,  daß  der 
Papst  einem  Abte  in  Venedig  befahl,  die  Sentenz  zur  Nachtzeit 
heimlich  an  den  Thüren  der  Markuskirche  anzuschlagen.  Die  Num- 
mern 4 — 6  kannte  man  schon  früher.   Die  Texte  wimmeln  von  Fehlern. 

Nr.  8  ist  von  Bedeutung;  sie  führt  die  Ansichten,  bei  P. 
S.  92,  über  die  »weise  Politik«  Gregors  XI.  in  dem  Streite  mit  Flo- 
renz auf  das  richtige  Maß  zurück;  der  Papst  mußte  bloß  klagen, 
daß  seine  auch  nach  P.  »furchtbar  strengen«  Maßregeln  gegen  den 
Handel  von  Florenz  in  Neapel  keine  Ausführung  fänden,  das  Inter- 
dikt, wie  gegen  Pisa  und  Genua,  gegen  die  Königin  von  Neapel  zu 
verhängen,  wagte  er  nicht ^).  Man  kann  daraus  sehen,  wie  Gregor 
nicht  »aus  Liebe  zum  Frieden«,  sondern  aus  Not  sich  zu  Verhand- 
lungen entschloß,  S.  93;  auf  der  vorhergehenden  Seite  hatte  P.  ge- 
sagt: »Kein  Wunder,  daß  Gregor  XL,  statt  auf  die  milden  Vor- 
schläge der  h.  Catarina  von  Siena  zu  hören,  den  Kampf  mit  seinen 
unerbittlichen  Gegnern,  welche  zuletzt  selbst  das  Interdikt 
nicht  mehr  beachteten,  energisch  weiterführte^. 

Wenn  Gregor,  Nr.  9,  seinen  zur  Friedensunterhandlung  mit  Flo- 
renz abgeschickten  Legaten,  wie  er  selbst  sagt,  um  nicht  die  An- 
sprüche der  Gegner  zu  steigern,  darüber  beruhigt,  daß  die  Meldun- 

1)  Vgl.  Grcgorovius  VI,  458. 

2)  S.  98  verweist  P.  für  einen  aus  Oregorovias  S.  468  abgeschriebenen  Satz 
auf  eine  noch  angedruckte  Depesche.  Die  das  Blutbad  von  Cesena  yerurteilende 
Stelle  der  Chronik  von  Bologna  lautet :  Nsrone  nan  ne  eommise  mat  una  «t  faita^ 
ehe  ^asi  la  gente  non  voleva  piu  credere  nh  in  papa  ni  in  eardinaii:  perehi 
quesie  erano  cose  da  uscire  di  fede ;  P.  übersetzt  S.  91  'weil  diese  Dinge  mit  dem 
Glauben  nichts  au  thnn  hfttten'  [i\ 


476  aött.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  12. 

gen  TOD  eiDem  Aufstände  in  Korn  nnbegründet  seien ,  so  rechtfertigt 
dies  doch  nicht  den  Pastorschen  Satz  S.  93 :  »Kurz  vor  seinem  Tode 
konnte  Gregor  den  Römern  dasZengniß  geben,  daß  die  Ver- 
hältnisse ihrer  Stadt  kaum  jemals  friedlicher  gewesen  seien,  als  in 
dem  vergangenen  Winter«.  Daß  Antonius  Malavolti,  wahrscheinlich 
auf  der  Folter,  Geständnisse  bezüglich  einer  Verschwörung  machte, 
ist  zweifellos,  daß  die  Flucht  des  Lucas  (Savelli)  damit  im  Znsam- 
menhang stand,  wahrscheinlich.  Der  Papst  fttbrt  als  Zeichen  der 
guten  Stimmung  der  Römer  nur  an,  daß  das  Volk,  d.  h.  doch  wohl 
der  Magistrat  auf  dem  Kapitol,  einstimmig  die  Todesstrafe  Über  Ma- 
lavolti  verhängte,  und  bei  seiner  Hinrichtung  kein  Aufruhr  ausbrach. 
Man  sieht,  der  Papst  gibt  sich  keiner  Täuschung  hin  und  hätte  ge- 
wiß nicht  den  S.  93  aus  Gregorovius  abgeschriebenen  Satz,  fOr  den 
Anm.  8  sich  doch  auf  eine  Depesche  beruft,  über  die  Aussöhnung 
der  Römer  mit  dem  päpstlichen  Regiment  mit  P.  durch  die  Worte 
ergänzt:  >Der  Papst  wurde  mit  Freuden  empfangen«.  Die  De* 
peschen  Christofs  von  Piacenza  an  den  Herzog  von  Mantua  während 
der  wichtigen  Sedisvakanz  1378,  Nr.  10  u.  11,  sowie  die  kurz  nach- 
her geschriebene  Nr.  12  bringen  uns  gar  keine  sachliche  Aufklä- 
rung, wenn  man  nicht  auf  die  Feststellung  einiger  unwesentlicher 
Daten  Gewicht  legen  will;  der  Gesandte  hatte  in  Rom  augenschein- 
lich nicht  so  gute  Verbindungen  sich  zu  verschaffen  gewußt,  wie  er 
in  Avignon  besessen  hatte,  von  wo  er  einen  Brief  schrieb,  welchen 
P.  S.  89  nach  Osio's  Abdruck  benutzen  konnte,  denn  über  das  Ver- 
hältnis Urbans  zu  Johanna  von  Neapel  war  Christof  entschieden 
nicht  genau  unterrichtet.  Von  dem  Inhalte  der  Depeschen  über  die 
Thronbesteigung  Urbans  VI.  kann  man  sich  indessen  wenigstens 
nach  der  Wiedergabe  Pastors  eine  richtige  Vorstellung  machen,  wäh- 
rend dies  ziemlich  unmöglich  ist  bei  der  Aktengruppe  Nr.  23 — 30, 
welche  Briefe  des  Abts  von  S.  Galgano  an  Siena  über  die  letzten 
Wochen  Engens  IV.  enthält.  P.  hat  einzelne  Stücke  der  Briefe  als 
Anmerkungen  unter  dem  Texte  mitgeteilt,  man  empfängt  kein  Ge- 
samtbild von  dem  Inhalt  jedes  Briefes.  Aber  auch  wenn  dieses  der 
Fall  wäre,  würden  wir  über  die  damals  geführten  interessanten  Ver- 
handlungen der  Deutschen  Gesandten  vielleicht  nichts  Neues  aus 
ihnen  erfahren,  denn  nach  den  durch  P.  gegebenen  Stücken  zu 
schließen,  bewegen  sich  die  Mitteilungen  des  Abtes  auf  der  Oberfläche. 
Wenn  man  allerdings  sieht,  wie  P.  über  jene  Eonkordatsbesprechun- 
gen  hinweggeht,  uns  nicht  einmal,  S.  261,  mitteilt,  daß  es  sich  da- 
mals nm  die  Dekrete  Frequens  und  Sacrosancta  handelte,  wenn  er 
uns  sogar  von  der  vereinbarten  Fassung  nichts  näheres  sagt,  son- 
dern auf  Hefele  verweist,  und  nns  nur  von  dem  Salvatorinm,  dessen 


Pastor,  Geschichte  der  P&pste  seit  dem  Ausgang  des  Mittelalters.  I.     477 

Gebeimbaltang  er  zudem  verschweigt,  einen  angeDttgenden  Aaszag 
gibt,  so  würde  man  ibm  zatraaen  dürfen,  daß  er  aach  die  Wiebtig- 
keit  etwaiger  bieraaf  bezüglicher  Aeaßerangen  in  des  Abtes  De- 
peschen übersehen  hätte  ^).  Aas  einer  Anmerkang  S.  262  kann  aller- 
dings ersehen  werden,  was  P.  über  jene  AbmachuDg  Eugens  in  sei- 
nem Innern  denkt.  Er  sagt:  »Oewissensaogst  hätte  der  Papst  über 
die  den  Deutschen  bewilligten  weitgehenden  Concessionen  haben 
können;  eben  deshalb  aber  hatte  er  das  erwähnte  wichtige  Salva- 
toriom  vom  5.  Februar  erlassen«.  Das  ist  das  Urteil  Pastors  über 
die  geheime  Zurücknahme  eines  öffentlichen  Zageständnisses  von 
Seiten  des  Papstes.  Und  doch  würden  gerade  die  Gesichtspunkte, 
welche  die  bisherigen  Forscher  zu  einer  milderen  Beurteilung  dieses 
Verhaltens  Eagens  IV.  bestimmten,  wesentlich  erschüttert  werden, 
wenn  die  Depeschen  des  Abtes  von  Oalgano  die  Wahrheit  sagten. 
Voigt  II,  394  weist  zur  Rechtfertigung  jenes  Gewissensvorbebaltes 
bin  auf  >die  todesbangen  Zweifel  eines  Herzens,  das  seinen  letzten 
Scblägen  entgegen  zittert«,  der  Abt  von  S.  Galgano  schreibt  am 
IL  Februar,  daß  seit  seinem  letzten  Briefe  [vom  23.  Jan.?]  das  Be- 
finden des  Papstes  sich  andauernd  gebessert,  der  Papst  gestern  ein 
Konsistorium  gehalten  habe  und  fast  fieberfrei  sei,  und  der  in  Folge 
der  schweren  Krankheit  noch  vorhandene  Schwächezustand  täglich  sich 
bessere,  so  daß  man  auf  baldige  völlige  Herstellung  rechne.  Und  P. 
erwähnt  dazu  in  einer  Note  einen  Brief  des  Kardinals  von  Aquileja, 
welcher  sagt  quod  verum  fuit  S*^  S,  aliquot  superioribus  didms 
egrotasse^  et  aliquante  gravius^  quam  ceteris  temporibus  consue* 
verii;  dies  könnte  in  gleicher  Richtung  verwertet  werden.  Von 
deutscher  Seite  liegen  freilich  andere  Aeußerungen  vor,  und  es  ist 
denkbar,  daß  jene  nach  Siena  gerichteten  Meldungen  einer  be- 
stimmten Tendenz  dienten,  aber  so  viel  dürfte  doch  aus  dem  von  P. 
Mitgeteilten  hervorgebn,  daß  man  nicht  mehr  in  der  bisherigen  ver- 
trauenden Weise  mit  der  schweren  Krankheit  des  Papstes  rechnen 
darf.  Die  Möglichkeit,  daß  man  diese  an  der  Kurie  eben  zum 
Zwecke  des  Salvatoriums  den  Deutschen  gegenüber  übertrieb,  dürfte 
nicht  von  der  Hand  zu  weisen  sein. 

In  Nr.  13  wird  ein  bereits  in  Uebersetzong  bekanntes  Stück 
aus  einem  Traktat  Lignanos  im  Urtext  abgedruckt,  Nr.  14  gibt  sehr 
flüchtige  Notizen  über  einige  römische  Handschriften,  welche  das 
Schisma  bebandeln.  In  Nr.  15  rechtfertigt  P.  die  Sonderbarkeit,  daß 
er  Langensteins  Gedicht  Fro  pace  nicht  nach  dem  Drucke  v.  d.  Hardts, 
sondern  nach  der  Abschrift  einer  Breslauer  Handschrift  citiert;  P. 

1)  P.  citiert  S.  261  Martine  a.  Mansi,  in  Wirklichkeit  dürfte  er  Raynald 
benvtzt  hahen,  aas  welchem  er  wenigsteoB  das  irrige  Citat  in  Anm.  6  entnom- 
men bat;  die  Stelle  steht  S  18»  nicht  17. 


478  Gott.  gel.  Adz.  1887.  Nr.  12. 

selbst  weist  auf  eine  auch  Ascfabach  I,  384  bekannte  Wiener  Hs. 
hin,  welche  einen  teilweise  besseren,  jedenfalls  einen  vollständigeren 
Text,  als  die  Breslauer  Hs.  biete,  and  zngleieh  bemerkt  er,  daft  in 
der  Breslaner  am  Anfang  64  Zeilen  stehn,  welche  im  Drucke  fehlen. 
Aber!  »die  Wiener  Hs.  konnte  er  leider  nicht  untersachen« ,  der 
(angeblich  seltene!)  Druck  war  ihm  unzugänglich,  und  so  zog  er 
es  vor,  stets  auf  die  Breslaner  Hs.  zu  verweisen,  teilt  uns  aber  nichts 
mit,  was  nicht  im  Drucke  sich  auch  vorfindet.  Hätte  er  sich  die- 
sen —  ein  dünnes  Heftchen  —  verschafft,  so  würde  er  sich  die  für  die 
meisten  Leser  doch  bedeutungslosen  Verweisungen  auf  jene  Hand- 
schrift erspart  haben,  und  die  ganze  völlig  wertlose  Ausführung 
Nn  15  würde   unterblieben    sein. 

Nr.  16  erzählt  uns  einiges  über  die  Einrichtung  des  Konsisto- 
rialarchivs,  durch  welches  P.  eine  Anzahl  von  Daten  berichtigen 
konnte,  wie  er  denn  überhaupt  in  Bezug  hierauf  einen  ganz  beson- 
deren Eifer  entwickelt.  Er  kann  weitläufig  erörtern,  ob  ein  Papst 
um  6  oder  7  Uhr  gestorben  sei,  ob  er  am  28.  oder  29.  nach  Rom 
gekommen  sei.  Wenig  glücklich  ist  er  bei  dem  Versuche  gewesen 
das  Datum  eines  angeblich  in  Rom  unter  Martin  V.  abgehaltenen 
Jubiläums  festzustellen.  Er  beweist  zu  viel,  wenn  er  gegenüber  de- 
nen, welche  dieThatsacbe  völlig  bezweifeln,  behauptet,  daft  dasselbe 
nicht  einmal  schwach  besucht  gewesen  sei.  Glaubt  er  denn  wirk- 
lich, daß  sich  in  unseren  Quellen  nicht  mehr  Nachrichten  erhalten 
haben  müßten,  wenn  das  Jubiläum  in  der  That,  etwa  wie  das  von 
1450,  ein  »wichtiges  Ereignisc  gewesen  wäre? 

Von  den  Nummern  18 — 20  wird  man  gerne  Kenntnis  nehmen. 
In  Nr.  18  versucht  Martin  V.  die  Befreiung  des  Französischen 
Kanzlers,  Bischofs  von  Clermont,  bei  Karl  von  Bourbon  durchzu- 
setzen; irrig  dürfte  aber  sein,  daß  P.  dies  nur  als  eine  Maßregel 
zur  Anfrechthaltnng  der  kirchlichen  Freiheit  auffaßt;  er  erzählt  uns 
nichts  von  den  politischen  Verhältnissen,  welche  die  Gefangennahme 
bewirkten.  Nr.  19  gibt  uns  in  dem  Briefe  des  Kardinals  Oorrer  ein 
lebendiges  Bild  von  den  römischen  Verhältnissen  nach  dem  Tode 
Martins  V.,  und  nicht  minder  interessant  ist  der  Brief  Nr.  20,  eine 
Aeußerung  über  die  Gefangennahme  des  Kardinals  Vittelleschi  von 
dem  Thäter  selbst.  Nr.  21  dagegen  war  bereits  aus  Gregorovins 
genügend  bekannt,  und  Nr.  22  meldet  uns  nichts  neues.  Es  ist  ein 
Schreiben  an  Bologna  mit  den  üblichen  Lobesphrasen  über  den  Bi- 
sehof dieser  Stadt,  den  späteren  Papst  Nikolaus  V.  Der  päpstliche 
Erlaß,  der  den  Bessarion  zum  Legaten  in  Bologna  ernennt,  Nr.  31, 
soll  ebenso  wie  ein  auf  S.  319  abgedrucktes  Breve,  worin  der  Stadt 
diese  Ernennung  mitgeteilt  wird,  nach  P.  Absicht  die  falsche  An- 
sicht beseitigen,  daß  erst  ein  Jahr  später  Bessarion  sein  Amt  ange- 


Pastor,  Geschichte  der  Päpste  seit  dem  Ausgang  des  Mittelalters.  I.      479 

treten  habe,  welche  in  Ersch  and  Graber,  sowie  in  der  zweiten  Auf- 
lage des  Freiburger  Eirchenlexikons  aasgesprochen  sei.  Aber  Vab* 
len  hat  in  seiner  Biographie  Vallas  bereits  ganz  richtig  das  Jahr 
1450  angegeben,  es  wäre  also  wegen  der  falschen  Angaben  in  zwei 
Sammelwerken,  Ton  denen  das  letztere  notorisch  aaf  sehr  niedriger 
Stufe  steht,  wohl  kaum  ein  solches  Aufgebot  erforderlich  gewesen. 
Von  dem  päpstlichen  Bre?e  wäre  der  Teil,  welcher  Bessarions  Voll- 
machten enthielt,  (»lange  juristische  Formelnc  nach  P.)  wahrschein* 
lieb  interessanter  gewesen,  als  das  von  P.  mitgeteilte  Stück,  welches 
die  bloße  Ernennung  bietet. 

Durch  Nr.  32,  33  und  47,  päpstliche  Erlasse  zu  Gunsten  der 
Johanniter,  ferner  durch  das  Bundschreiben  im  Interesse  des  Königs 
von  Cypern')  Nr.  31  will  P.,  anknüpfend  an  eine  Abhandlung 
von  F.  Kayser,  im  ultramontanen  Görres-Jahrbuch  VI,  nachweisen, 
daß  Papst  Nikolaus  V.  mit  Eifer  den  Schutz  der  Christenheit  gegen 
die  Türken  sich  habe  angelegen  sein  lassen.  Dieser  Aufsatz  eines 
wohlmeinenden  Dilettanten,  welcher  ein  paar  Bände  des  päpstlichen 
Bnllarinms  durchgemustert  hat  und  nun  naiv  meint,  er  könne  damit 
die  Auffassung  von  Voigt  und  Gregorovius,  —  diese  nimmt  Kayser 
aufs  Korn  —  umstoßen,  verdient  keine  ernsthafte  Berücksichtigung. 
Solche  Schriften  sind  aber  ein  Labsal  für  unseren  Autor  I  Er 
hält  es  nicht  für  nötig,  sich  mit  dem  Urteil  Voigts  II,  90  über  die 
wahre  Bedeutung  der  TürkenbuUen  des  Papstes  aaseinanderzusetzen, 
und  neben  dem  Gelehrten  des  Görres-Jahrbuchs  wird  sogar  ein 
Reumont,  der  sonst  so  gern  benutzt  wird,  nicht  zum  Worte  gelassen. 
Beumont  erwähnt  III,  1,  386  einen  Brief  des  von  P.  doch  jedenfalls 
sehr  hochgeschätzten  Capistrano:  »Alle  Fürsten,  alle  Welt  sagt  ein- 
stimmig: wie  sollen  wir  Schweiß,  Güter,  unserer  Kinder  Brod  gegen 
die  Türken  aufs  Spiel  setzen,  wenn  der  oberste  Pontifex  in  Thür- 
men  und  Mauern,  Kalk  und  Steinen  den  Schatz  des  h.  Petrus  auf- 
gehn  läßt,  den  er  zur  Verteidigung  des  heiligen  Glaubens  verwen- 
den solltet.  Von  den  Aeußerungen  des  dem  Papste  so  ergebenen 
Poggio,  auf  welche  Voigt  eben  an  der  von  Kayser  angegriffenen 
Stelle  verweist,  war  doch  auch  Notiz  zu  nehmen,  und  wie  durfte 
Kayser  von  dem  Briefe  des  Enea  Sylvio  vom  12.  Juli  1453  nur  die 
letzten  Worte  anführen  und  damit  den  Sinn  umkehren,  und  P.  ihn 
ganz  verschweigen?  Wie  darf  P.  S.  454  die  von  dem  Humanisten 
Manetti  dem  sterbenden  Papste  in  den  Mund  gelegte  Bede  ein  Zeug- 

1)  Der  Abdrack  ist  mit  so  übermäßigen  Lücken  vorgenommen,  daß  man  an- 
nehmen möchte,  ursprünglich  habe  der  Verf.  des  Auszugs  nur  an  eine  Verwer- 
tung im  Texte  gedacht.  Nach  S.  YIU  ist  vielleicht  Dr.  Gottlob  hiefür  haftbar 
m  machen. 


I 

"      480  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  12. 


BIS  Denoen,  welches  der  Papst  selbst  im  Angesicht  der 
Ewigkeit  abgab? 

Trotz  dieses  geflissentlichen  Verschweigens  wichtiger  Zeugnisse 
ist  P.  doch  bloß  auf  S.  443  mit  Eayser  der  Ansicht,  es  sei  erwie- 
sen, daß  man  Nikolans  V.  mit  Unrecht  grober  Yernachlässignng  des 
Krieges  gegen  die  Unglänbigen  beschnldige.  Auf  S.  453  ist  gesagt, 
daß  die  Nachrichten  »leider  höchst  Ittckenhaft  seien  und  sich  wider- 
sprächenc.  Dort,  S.  443,  spricht  P,  als  seine  Ueberzeagang  ans, 
daß  es  des  Papstes  Pflicht  war,  die  Darchftthrang  der  Union  als 
Bedingung  für  die  Untersttttzang  Eonstantinopels  zo  fordern ,  aof 
S.  448  schreibt  er  Frommann  nach,  daß  der  Papst  sich  damit  be- 
gnügte, daß  der  Schein  gewahrt  wurde,  gibt  zustimmend  nach 
einer  von  Frommann  nachgewiesenen  Komischen  Handschrift  Aus- 
züge aus  einer  Abhandlung,  welche  gegenüber  der  obigen  Behaup* 
tung,  daß  den  Schismatikern  keine  Hülfe  zu  gewähren  sei,  u.  a. 
Opportunitätsgründe  geltend  macht:  melius  est  Oraecos  tolerare^  sictd 
meretrices  ecclesia  tolerat  propter  tnaiora  mala  vUanda. 

Auf  S.  339  preist  P.,  daß  er  das  Glück  hatte,  im  Mailänder 
und  Florentiner  Archiv  neue  Berichte  aufzufinden  über  das  durch 
übermäßiges  Gedränge  veranlaßte  Unglück,  welches  bei  Gelegenheit 
des  Jubiläums  1450  auf  der  Engelsbrücke  am  19.  Dec.  1450  vor- 
kam. Gregorovius  hatte  sehr  mit  Recht  nur  zwei  Zeilen  darüber  ge- 
schrieben, P.  sagt,  daß  fast  alle  Chroniken  Italiens  das  Ereignis  er- 
wähnten, er  verzeichnet  kurz  3  Berichte  von  Augenzeugen,  und  fttgt 
selbst  zwei  neue  Nr.  34  und  35,  von  Männern  hinzu,  welche  damals 
der  eine  in  Rom,  der  andere  in  Florenz  weilten.  Es  ist  dies  für 
den  Geschicbtschreiber  der  Päpste  ungefähr  das  gleiche  Beginneni 
als  wenn  man  die  Ringtheaterkatastrophe  in  einer  Oesterreichischen 
Geschichte  behandeln  wollte!  P.  freilich  behauptet:  »Das  schreck- 
liche Ereignis  schlug  dem  väterlichen  Herzen  des  Papstes  eine 
langhin  blutende  Wundec,  läßt  den  Papst  in  eine  Art  Trübsinn 
verfallen,  zerrupft  mit  Eifer,  aber  allerdings  mit  Recht,  eine  Eoldesche 
unglückliche  Stylblüte,  vgl.  Luther  S.  4,  verneint  aber  mit  Unrecht 
sofort  die  Frage,  ob  der  Papst  nicht  selbst  die  Schuld  getragen 
habe.  Um  des  päpstlichen  Segens  willen  waren  die  Volksmassen 
zusammen  geströmt  Indem  dieser  plötzlich  abgesagt  wurde,  und  in 
Folge  dessen  die  Massen  plötzlich  über  die  Brücke  zurückeilten  und 
hier  nicht  freie  Bahn,  sondern  ihnen  entgegenkommende  Reiter  vor- 
fanden, trat  die  Verwirrung  ein.  Wer,  wie  P.  es  thut,  dem  Papste 
persönlich  die  Fürsorge  für  die  Pilger  rühmend  zu  Gute  schreibt, 
sollte  sich  doch  hüten  denselben  hier  sofort  freizusprechen  mit  dem 
Hinweis  auf  die  von  Nikolans  V.   verbesserten  römischen  Straßen! 


Pastor,  Geschiciite  der  Päpste  seit  dem  Aasgang  des  Mittelalters.  I.    Wl 

Man  maß  ein  römischeB  kirchliches  Volksfest  gesehen  haben,  um  sich 
einen  Begriff  za  machen,  welche  Wirkung  ein  Gegenbefehl,  wie  der 
von  Nikolaas  erlassene,  haben  kann. 

Nr.  36,  38,  39,  40  and  41  sind  Vollmachts-  und  Beglaubigangs- 
schreiben  für  die  Kardinäle  Estouteville  and  Gusa.  Nr.  36  ist  die 
Vollmacht  Nicolaus,  y.  Casa;  über  den  Zweck  von  Estoutevilles 
Sendung  Nr.  38  muß  man  bei  Reumont  III,  1,  255,  aaf  den  P.  in 
einer  Note  bloß  verweist,  die  Auskunft  holen,  daß  er  die  prag- 
matische Sanktion  beseitigen  sollte;  P.  spricht  von  Beform  der  Dom- 
kapitel, bezeichnet  als  des  Kardinals  Hauptaufgabe  die  Herstellung 
des  Friedens  zwischen  England  und  Frankreich,  und  von  Estonte- 
villes  Thätigkeit  für  den  Ruf  der  hingerichteten  Jeanne  d'Arc  nach 
6.  Görres;  jenen  Punkt  verschweigt  er. 

Vielleicht  liegt  dies  indessen  daran,  daß  es  unserem  Historiker 
nicht  darum  zu  thun  war,  ttber  die  politische  Thätigkeit  seiner 
Päpste  ein  allseitiges  Bild  zu  geben.  Von  den  Beziehungen  der 
Kurie  zu  Frankreich  und  England  erfährt  man  sehr  wenig.  Aber 
auch  in  der  Schilderung  des  Verhältnisses  zu  Deutschland  sind  große 
Lücken.  Von  dem  Eingreifen  des  Papstes  in  den  Streit  zwischen 
Friedrich  III.  und  den  österreichischen  Ständen  ist  in  dem  Texte  bei 
Pastor  gar  nicht  die  Rede,  obgleich  es  in  der  Geschichte  Nikolaus  V, 
eine  hervorragende  Bedeutung  hat.  Die  entschiedene  Parteinahme 
des  Papstes  für  Friedrich  III.,  zu  dessen  Gunsten  Bann  und  Inter- 
dikt aufgeboten  wurden,  wogegen  dann  die  Appellation  an  ein  Kon- 
cil  von  seinen  Gegnern  ins  Auge  gefaßt  wurde,  erklärt  auch  die 
Haltung  Friedrichs  in  den  kirchlichen  Fragen.  Das  wird  auch  P. 
klar  geworden  sein,  als  er  durch  Dr.  Gottlob  Abschrift  von  zwei 
päpstlichen  Erlassen  erhielt,  die  an  den  Kardinal  Cusanus  gerichtet 
waren,  der  in  diesen  Streitigkeiten  vermitteln  sollte.  Nur  in  einer 
Note  S.  366  brachte  er  dann  eine  hierauf  bezügliche  kurze  und 
nichtssagende  Notiz  an,  muß  aber  sonst  zur  Erklärung  der  Akten- 
stücke Nr.  40  und  41  auf  Voigt  II,  78  verweisen,  den  er  nicht  ein- 
mal so  weit  gelesen  hat,  um  zu  sehen,  daß  an  den  Bischof  von 
Siena  ein  anderer  päpstlicher  Erlaß  am  22.  Okt.  1452  abgieng,  and 
Bomit  seine  Bemerkung,  welche  die  Auszüge  Gottlobs  fttr  dessen  et- 
waige Auslassung  verantwortlich  macht,  sehr  überflüssig  war. 

Die  Aktenstücke  Nr.  42—46  und  49  behandeln  die  Verschwö- 
rung Porcaros.  Ohne  jeden  Wert  ist,  daß  der  Verf.  in  Nr.  42  eine 
Anzahl  von  Handschriften  notiert,  in  denen  sich  angebliche  Reden 
Porcaros  fanden.  Ueber  die  Echtheit  urteilt  P.  nicht,  verzeichnet 
nur  die  sich  gegenüberstehenden  Meinungen.     Der  Verlauf  der  Ver- 

9«U.  ^el.  Am.  1887.  Hr.  IS.  84 


462  QÖtt.  gel.  ABZ.  1887.  Nr.  12. 

schwOrnng  ist  ziemlich  bekannt,  aber  P.  sagt  mit  Becht,  daB  man 
über  die  Mitbeteiligten  noch  nicht  klar  sehe.  Seine  »Gestae  Nr.  44 
sind  wohl  »notata  in  [oder  >ex<]  confessione  eornm  (nach  Tortur)€. 
[P.  liest  nova  in  confnsionem !]  aber  jedenfalls  nicht  das  ursprüng- 
liche Protokoll.  Beachtenswert  ist  der  Brief  des  Kardinals  Calan- 
drini,  welcher  behauptet,  es  habe  sich  bei  dem  Aufstände  nicht  um 
Geldgewinn  oder  um  die  Freiheit  der  Stadt,  sondern  geradezu  um 
die  Religion  Christi  gehandelt.  Das  macht  die  ganze  Angelegen- 
heit wo  möglich  noch  dunkler. 

Nr.  48  berichtet  über  die  Haltung  Genuas  nach  Eintreffen  der 
Nachricht  von  dem  Verluste  von  Eonstantinopel,  50  and  51  sind 
Briefe  an  den  Mailänder  Herzog  über  die  Maßregeln,  welche  man 
in  Rom  traf,  um  eine  Versammlung,  die  über  den  Frieden  Italiens 
beraten  sollte,  zusammenzubringen  und  so  eine  Aktion  gegen  die 
Türken  zu  ermöglichen,  welche  der  Papst  durch  eine  Kreuzzugsbulle 
ins  Leben  zu  rufen  suchte.  Die  Berichte  gehn  von  Männern  aus, 
welche  dem  den  Papst  beherrschenden  Arragonier  feindlich  gegen- 
überstanden, sie  verändern  nicht  das  Bild,  welches  wir  bisher  von 
der  Stellung  des  Papstes  haben,  fügen  aber  eine  Menge  interessan- 
ter Züge  hinzu.  P.  selbst  gibt  hier,  im  Anschluß  an  Gregorovius, 
zu,  daß  der  Papst  die  Türken-  wie  die  Friedensfrage  lau  betrieb 
ihn  interessierte  es  die  griechischen  Bücher  vor  den  Türken  zu  ret- 
ten, da  hatte  er  Erfolge,  welche  aber  nicht  mit  Erlassen,  wie  Nr. 
52,  sondern  darch  Aufwand  von  Geldmitteln  erreicht  wurden.  Nr.  53 
verzeichnet  eine  Meldung  des  Podestä  von  S.  Donino  an  Fr.  Sforza 
nach  Aeußerungen  eines  Reisenden  über  ein  am  Vatikanischen  Hofe 
umlaufendes  Gerücht  von  einer  gefährlichen  Erkrankung  des  Pap- 
stes. Man  sollte  denken,  daß  bezüglich  des  körperlichen  Befindens 
doch  etwas  zuverlässigere  Nachrichten  aufzutreiben  gewesen  wären. 
P.  hat  deren  in  der  That  auch  in  hinlänglicher  Zahl  gesammelt,  sie 
aber  an  verschiedenen  Stellen  seines  Baches  angebracht.  S.  342  er- 
krankt Nikolaus  V.  wegen  des  Unglücks  auf  der  Engelsbrücke  an 
Melancholie,  S.  437  und  484  wird  die  Empörung  Porcaros,  an  letz- 
terer Stelle  auch  der  Fall  von  Konstantinopel  als  nachteilig  für  die 
Gesundheit  des  Papstes  bezeichnet,  wir  hören  bei  P.  von  Seelen- 
leiden, welche  sich  zu  körperlichen  gesellten.  Bezüglich  des  Auf- 
standes von  Porcaro  dürfte  darauf  hinzuweisen  sein ,  daß  Sforzas 
Gesandter  am  7.  Jan.  1453,  eben  nach  P.  484,  von  einer  seit  einem 
Jahre  oder  8  Monaten  bei  dem  Papste  wahrnehmbaren  Veränderung 
spricht,  welche  durch  seine  Krankheit,  aber  auch  durch  andere 
Gründe  veranlaßt  sei.  Wer  die  auf  8.  475  und  484  fg.  angeführten 
Quellenstellen  zusammen  nimmt,  wird  finden,  daß  Nikolaus  V.  seit 
I 


Fastor,  Geschichte  der  Pftpste  seit  iem  Aasgang  des  Mittelalters,   t     488 

1450  zeitweilig  Gicht-  und  Fieberanfälle  hatte,  sich  sonst  aber  meist 
den  Geschäften  widmen  konnte. 

Nr.  54  ist  ein  Bericht  des  Gesandten  der  Republik  Venedig  in 
Siena,  Francesco  Gontarini.  Aas  dem  in  dem  BOcherverzeichnisse 
fehlenden  Bache  Malavolti  Historia  de  Sanesi,  III,  44,  welches 
in  Venedig  erschien,  hätte  P.  genaaer  ersehen  können,  in  welchem 
Zasammenhang  der  bei  Georgias  und  P.  als  kleine  Episode  erschei- 
nende Streit  zwischen  dem  Grafen  Everso  y.  Anguillare  und  Spoleto 
einerseits  und  Norcia  andererseits  mit  der  Politik  von  Siena,  Florenz 
and  König  Alfonso  stand,  und  welche  thätige  Bolle  Francesco  Gon- 
tarini in  allen  diesen  Streitigkeiten  spielte.  Aber  auch  aas  Geor- 
gias wird  klar,  was  es  mit  dem  Verräter  Angelo  Boncone,  welchen 
Nikolaus  nebst  2  Schwiegersöhnen  hinrichten  ließ,  für  eine  Bewandt- 
nis hatte.  Der  Papst  behauptete,  Roncone  hätte  dem  von  Norcia 
ungefährdet  nach  seinen  Besitzungen  entkommenen  Grafen  Everso 
den  Weg  verlegen  können  und  dies  wegen  verwandtschaftlicher 
Bttcksichten  nicht  gethan.  So  Gontarini*  Der  Gesandte  Sforzas  in 
Florenz  schreibt,  man  kenne  die  Sache  nicht  genau,  und  ebenso- 
wenig den  Grund,  zuerst  habe  sich  eine  von  Boncone  besessene 
Burg  in  der  Mark  empört,  Boncone  sei  nach  Bom  gegangen  und 
habe  sich  sehr  beschwert,  darauf  sei  er  hingerichtet  worden,  und 
nun  behaupteten  die  Anhänger  des  Papstes,  er  habe  ein  Attentat 
gegen  Leben  und  Staat  des  Papstes  geplant.  Georgius  macht  dar- 
auf aufmerksam,  daß  die  Versöhnung  des  Papstes  mit  Everso  am 
5.  Aug.  1454  erfolgte  und  es  demgemäß  unwahrscheinlich  sei,  daß 
man  im  Oktober  noch  eine  Hinrichtung  vorgenommen  haben  sollte, 
weil  ein  Heerführer  denselben  habe  entkommen  lassen.  Georgius 
läugnet  darauf  hin  die  ganze  Sache.  Gontarini  begrüßt  die  Nach- 
richt von  der  Hinrichtung  mit  Freuden,  weil  er  daraus  auf  eine  un- 
günstige Stimmung  des  Papstes  gegen  Everso  schließen,  vielleicht 
eine  Unterstützung  Sienas  durch  den  Papst  erwarten  zu  können 
meint.  Auch  Gontarini  setzt  also  die  Versöhnung  mit  Everso  eben- 
falls voraus.  Untersucht  man  alle  Zeugnisse,  so  werden  wir  zu  der 
Annahme  geführt,  daß  der  Tod  Boncones  einer  Tyrannenlaune  ent- 
sprang, welche  Niemand  zu  erklären  wußte,  aber  Jeder  zu  erklären 
suchte,  der  eine  durch  den  Hinweis  auf  ein  militärisches  oder  Ma- 
jestätsverbrechen, der  andere  durch  Trunkenheit  oder  Uebereilung 
des  Urteilssprechers. 

Von  dem  Briefe  Enea  Sylvios,  Nr.  55,  gibt  uns  Voigt  II,  134, 
135  viel  ausführlichere  Nachricht,  als  P.,  welcher  ihn  nach  der  von 
Voigt  benutzten  Hs.  abdruckt,  aber  im  Texte  doch  nur  Voigt  S.  135 
abzuschreiben  weiß.    Die  Stelle  Voigt  S.  135,   worin  Voigt  die  Be- 

34» 


4S4:  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  12. 

stechaog    des  Trierer  Erzbischofs   dem  Papste  anrät,    wird   vod  P. 
nicht  verwertet,  aber  im  Abdruck  doch  getrea  mitgeteilt 

Die  Aktenstücke  Nr.  56—61  behandeln  die  letzten  Tage  Niko- 
laus' V.  und  das  Konklave  Oalixt  III.  Beachtenswert  ist  Nr.  56, 
die  beiden  folgenden  Sttlcke,  Berichte  Contarinis  ans  Siena,  sind 
dagegen  unerheblich;  Nr.  59  u.  60  sind  bereits  von  Petrucelli  della 
Gattina  verwertet,  Nr.  61  ist  ebenfalls  von  Belang.  Es  spricht  sich 
darin  eine  sehr  nüchterne  Beurteilung  der  Eonklavevorgänge  aus, 
wir  erkennen  die  Einwirkungen  der  Gesandten  der  verschiedenen 
italienischen  Mächte  auf  die  im  Konklave  versammelten  Kardinäle. 
Obgleich  P.  diese  Berichte  kennt  und  teilweise  auch  mitteilt  —  P. 
spricht  S.  494  von  den  wertvollen  Berichten  des  Nicodemns 
V.  Pontremoli  —  sieht  es  bei  P.s  Schilderung  des  Konklaves  so  aus, 
als  ob  dasselbe  von  aller  Welt  abgeschnitten  gewesen  sei,  während 
die  Gesandten  sich  selbst  rühmen,  wie  sie  auf  die  Kardinäle  ein- 
wirkten. S.  496  redet  P.  von  dürftigen  Andeutungen  in  einzelnen 
Gesandtschaftsdepeschen.  Er  gibt  wörtlich  nach  Voigt  II,  157, 
der  vor  Petrucelli  schrieb,  die  Meldung  von  Gapranicas  Kandidatur 
wieder,  verschweigt  aber  die  Behauptung  Sanseverinos  ^),  der  die 
Wahl  des  Galixt  dem  Einfluß  Alfonsos  von  Neapel  zuschreibt.  Statt 
dessen  erbaut  P.  seine  Leser  mit  einer  angeblichen  Prophezeiung 
des  Dominikaners  Yincenz  Ferrerio,  welcher  dem  Alfonso  Borja,  eben 
Galixt,  in  einer  Predigt  die  Tiara  in  Aussicht  gestellt  haben  soll. 
»Gläubig  habe  Borja  seit  diesem  Augenblick  an  der  merkwürdi- 
gen Prophezeiung  festgehaltene,  sie  häufig  seinen  Freunden  erzählt, 
und  es  sei,  nachdem  die  Weissagung  in  Erfüllung  gegangen,  [siclj 
eine  der  ersten  Sorgen  seines  Pontifikats  gewesen.  Ferrer  die  Ehre 
der  Altäre  zuzuerkennen:  am  29.  Juni  1455  fand  die  feierliche  Ka- 
nonisation  des  redegewaltigen  Dominikaners  statt«.  Wer  die  Ge- 
schichte der  Päpste  schreibt,  sollte  doch  wissen,  wie  in  einem  Zeit- 
alter, wo  die  Astrologen  den  wunderglänbigen  Theologen  in  die 
Hände  arbeiteten,  derlei  Prophezeiungen  an  der  Tagesordnung  wa- 
ren, es  dürfte  in  der  Renaissancezeit  wenige  Päpste  geben,  von  de- 
nen nach  ihrer  Erhebung  nicht  ähnliches  behauptet  worden  wäre. 
S.  284  lehnt  P.  selbst  die  Glaubwürdigkeit  ähnlicher  Weissagungen 
bezüglich  Nikolaus'  V.  ab.  Er  möge  nur  einmal  die  Schrift  des 
Hofastrologen  Pauls  III.,  des  Bischofs  Lucas  Gauricus,  ansehen,  wel- 
cher 1552  dem  Kardinal  Gervino,  dem  1555  gewählten  Marcellus  II. 
die  Tiara   nach   dem   Horoskop  vorhersagte.     Enttäuschungen,  wie 

1)  Bd  Petracelli  I,  268.  Auf  S.  569  wird  bei  P.  beiläufig  erw&hnt,  daS 
König  Alfonso  »sich  rahmen  konnte,  den  allerweaentlichsten  Anteil  an  dem 
Emporsteigen  des  Papstes  zu  haben«. 


Pastor,  Geschichte  der  Päpste  seit  dem  Ausgang  des  Mittelalters.  I.    485 

816^  nach  Niders  Formicarias  II,  3,  z.  B.  ein  Dominikaner  in  Eon- 
stanz erfahr,  welcher  meinte,  sein  Tranm  Papst  zn  werden  mttsse  in 
Erfttllang  gehn,  als  gerade  in  der  Stadt  am  Bodensee  drei  Päpste 
fielen  und  ein  neuer  zn  wählen  war,  warden  selten  überliefert. 
Wenn  P.  hier  sich  den  Anschein  gibt,  als  lege  er  der  Weissagung 
des  heiliggesprochenen  Dominikaners  einen  gewissen  Wert  bei,  be- 
streitet er  an  einer  anderen  Stelle  dessen  Olaubwürdigkeit  ~  freilich 
ohne  es  zu  wissen.  Aaf  S.  120  preist  er  »den  ehrlichen  hessischen 
Gelehrten«  Heinrich  von  Langenstein,  den  angesehensten  deutschen 
Theologen  jener  Zeit«  [Gitat  nach  DOllinger  Weissagungsglaabe  352], 
weil  er,  den  Standpunkt  der  weltberühmten  Theologenschale  teilend, 
den  Abt  Joachim  für  einen  Konjekturenmacher  erkläre,  und  die  »da- 
mals grassierende  Prophezeiungssucht  des  Telesphorus  bekämpft 
habe«.  In  dem  Prolog  des  Telesphorus  aber  ist  ausdrücklich  auf 
Ferrer  »unseren  Ordensbruder«  für  die  Behauptung  verwiesen,  daft 
der  Antichrist  aus  Deutschland  kommen  werde.  Dies  hätte  P.  auch 
schon  ans  Döllinger  S.  270  ersehen  können.  Hätte  er  dies  gewaßt| 
sowie  daß  noch  1516  der  loquisitor  und  der  Patriarch  von  Venedig 
den  Druck  des  Telesphorus  erlaubten,  so  würde  er  wohl  die  eine 
oder  die  andere  Stelle  abgeändert  haben.  Welche?  das  ist  schwer 
zn  sagen.  Jedenfalls  würde  wohl  die  Behauptung  S.  120  über  die 
Verwertung  der  Weissagungen  durch  häretische  Parteien  et- 
was abgeschwächt  worden  sein. 

P.  rühmt  sich  des  Papstes  Calixt  für  Ferrer  ausgestellte  Bulle 
in  einer  Münchner  Hs.  gefunden  zu  haben ;  er  schreibt  darüber  wei- 
ter: »Die  Kanonisationsbulle  ist  nicht  in  den  Regesten  des  päpstli- 
chen Geheimarchivs  eingetragen,  in  Folge  dessen  entstanden  Zwei- 
fel, weshalb  Pius  IL  eine  neue  Bulle  erließ«.  In  der  betreffenden 
Hs.  ist  aber  der  Abschrift  jener  angeblichen  Galixtinischen  Bulle  die 
von  Pius  erlassene  unmittelbar  angefügt,  im  Katalog  allerdings  nicht 
aufgeführt.  Sie  ergieng  ne  pro  60,  quod  super  canonizactone  ac  aliis 
praemissis  eiusdem  praedecessoris  Ktercte,  eius  superveniente  öbitu^ 
mini  me  confectae  fuerunt^  in  posterum  valeat  de  huiusmodi  ca- 
nonieacione  et  aliis  praemissis  quotnodolibet  haesitari.  Wie  kam  es, 
daß  Pius  II.  als  Grund  der  unterbliebenen  Ausfertigung  den  super- 
veniens  obitus  [6.  Aug.  1458]  anführt  und  von  einer  ausgespro- 
chenen Kanonisation  durch  Calixt  überhaupt  nichts  zn  wissen 
scheint?  Sollte  es  nicht  denkbar  sein,  daß  die  während  des  Schisma 
von  Ferrer  eingenommene  Parteistellung,  vgl.  P.  S.  110,  den  Papst 
Calixt  bedenklich  machte?  Jedenfalls  hätte  P.,  wenn  er  über  diese 
Kanonisation  sprechen  wollte,  auf  die  Quellen  zurüokgehn  mflsseni 
anstatt  Bzovius,  Eohard    nnd  Wadding  zu  folgen.     Ich  fürchte  frei 


486  Gott.  gel.  Ans.  1887.  Nr.  12. 

lieb,  daß  P.  bei  näherem  EiDgebn  auf  die  Oeschichte  des  Heiligen 
yielleicht  niebt  mebr  mit  solcher  Begeisterung  von  demselben  spre- 
chen würde'). 

Nr.  62  ist  eine  Bitte  um  freien  Durchzug  fttr  Bodrigo  Borgia 
und  Bologneser  Gesandte,  welche  Papst  Calixt  —  an  Bologna 
selbst  gerichtet  haben  soll;  indessen  muß  in  der  Ueberschrift  ein 
Schreibfehler  stecken.  Genauere  Untersuchung  überlasse  ich  den 
Forschern  über  die  päpstliche  Kanzlei,  sachlich  ist  das  Schreiben 
ohne  jeden  Wert,  auch  unserem  Autor  dient  es  nur  um  gegenüber 
dem  »phantasiereichen«  Clement  nachzuweisen,  daß  Bodrigo  nicht 
erst  1456  nach  Italien  kam. 

In  Nr.  63  haben  wir  ein  Bruchstück  von  einem  Briefe  des  mai- 
ländischen  Gesandten  an  seinen  Herrn.  Dieser  glaubt  augenschein- 
lich etwas  ganz  Neues  zu  melden,  wenn  er  berichtet,  daß  die  Be- 
ziehungen zwischen  dem  Neapolitaner  Alfonso  und  dem  spanischen 
Papste  nicht  mehr  so  gut  seien,  wie  man  annahm  :  der  aus  des  Kö- 
nigs Dienst  in  den   des  Papstes   übergetretene   erste   Sekretär  des 

1)  Bei  dieser  Gelegenheit  erhalten  wir  noch  einen  niedlichen  Einblick  in  P.b 
Arbeitsweise.  Er  schreibt  Döllinger  ab,  fügt  nur  die  mit  der  Wirklichkeit  durch- 
aus nicht  übereinstimmende  Behauptung  bei ,  dafi  die  zahlreichen  Handschriften 
bezeugten,  wie  der  Telesphoras  von  allen  ähnlichen  Schriften  die  weiteste  Ver- 
breitung gefunden  hätten.  Von  solchen  Handschriften  notiert  nun  P.  S.  120  und 
im  Nachtrag  eine  hübsche  Zahl,  er  bemerkt  dazu:  Nach  Döllinger  ist  die 
Schrift  1515  in  Venedig  gedruckt  worden,  aber  diese  (auch  mir  unzugäng- 
liche) Ausgabe  ist  so  selten,  daß  die  Neueren  sie  nur  aus  Handschriften  ken- 
nen. Jeder  Leser  wird  über  den  FleiB  staunen,  mit  dem  der  Verf.  sich  nach 
den  Handschriften  umsah,  während  Döllinger  bequem  den  Druck  benutzen  konnte. 
Indessen  auch  der  zweite  Teil  des  Satzes  ist  aus  Döllinger  abgeschrieben,  Pastor 
gehören  nur  die  drei  eingeklammerten  Worte,  und  er  ließ  die  bei  Döllinger 
stehende  Aufzählung  jener  Neueren:  >Papenbroich  uud  Mosheimc  fort.  Damit 
meinte  er  jedenfalls  nichts  Bedenkliches  zu  thun,  denn  weshalb  sollte  ein  Aus- 
spruch, der  in  Döllingers  Aufsatz  richtig  war,  nicht  auch  in  Pastors  Munde  seine 
Wahrheit  behalten  ?  Ein  seltsames  Misgeschick,  daß  diesmal  wirklich  ein  solcher 
Fall  vorliegt.  Seit  Döllinger  seine  Abhandlung  auf  Grund  des  Venetianer  Drucks 
schrieb,  ist  nämlich  von  Fr.  v.  Bezold  mit  Benutzung  der  auch  von  P.  ange- 
führten Münchner  Handschriften  nachgewiesen  worden,  daß  diese,  und  somit  wohl 
auch  die  übrigen  von  P.  erwähnten,  einen  von  dem  Venetianer  Druck  wesentlich 
verschiedenen  Text  darbieten,  welchen  die  Druckausgabe  wegen  politischer  Ten- 
denzen im  Jahre  1515  abänderte.  Bei  diesem  SachverhäUnis  muß  natürlich 
der  Hinweis  auf  die  zahlreichen  Handschriften,  welche  P.  anfuhrt,  da  ihm  — 
wie  den  Neueren  1  —  der  Druck  nicht  zugänglich  gewesen  sei,  erheiternd  wirken, 
üebrigens  besitzt  die  Münchner  Staatsbibliothek  drei  Exemplare  —  2  verschie- 
dene Drucke  —  der  Venetianer  Ausgabe,  so  daß  der  Ausspruch  über  dessen 
Seltenheit  nur  in  Beziehung  auf  jene  eben  von  Döllinger  angeführten  Schriftsteller 
am  Platze  ist.    Vgl.  Sitzungsberichte  der  Bayerischen  Akad.  1884,  S.  566. 


Pastor,  Geschichte  der  Päpste  seit  dem  Ausgang  des  Mittelalters.   I.    487 

Papstes  hatte  ihm  zwei  Briefe  gezeigt,  die  ihm  sein  früherer  Herr 
geschrieben,  worin  er  beauftragt  wurde,  den  schläfrigen  Papst  zum 
Türkenkriege  anzaspornen.  Man  mag  hierin  ein  ernstes  Anzeichen 
der  zwischen  Alfonso  und  Calizt  sich  entspinnenden  Entfremdung 
und  zugleich  der  Annäherung  des  Neapolitaners  an  Sforza  sehen, 
aber  keineswegs  darf  man  mit  P.  S.  569  den  Uebermut  Alfonsos 
einer  persönlichen  Beleidigung  des  Papstes  anklagen,  fflr  dessen 
Augen  der  Brief  wohl  nicht  bestimmt  war.  Und  ist  es  nicht  sehr 
wenig  am  Platze,  wenn  P.  sagt,  daß  der  Wunsch  Alfonsos,  das  Bis- 
tum Valencia  möge  einem  seiner  Verwandten  gegeben  werden,  nicht 
bestätigt  werden  konnte  wegen  Jugend  und  Unwissenheit  des 
Kandidaten,  während  natürlich  derlei  Einwendungen  dem  Papste 
nicht  in  den  Sinn  kamen,  wenn  es  sich  um  die  Beförderung  seiner 
eigenen  Nepoten  handelte?  Und  was  soll  es  heißen,  daß  P.  in  dem 
Texte  von  der  päpstlichen  Ablehnung  des  Wunsches  Alfonsos  nach 
Belehnung  mit  Ankona  emphatisch  sagt:  »Galixtus  war  nicht  ge- 
willt, aus  Liebe  zu  seinem  früheren  Herrn  seine  Pflicht  zu  ver- 
letzency  während  nur  in  der  Anmerkung  von  der  doch  viel  wichtige- 
ren Weigerung,  die  Investitur  mit  Neapel  zu  erneuern,  die  Rede  ist? 
Ist  es  nicht  die  Pflicht  des  Historikers,  dem  Leser  zu  sagen,  ob  er 
den  Ausspruch  des  Gesandten  von  Neapel,  nur  in  dem  Ehrgeiz  der 
Borgia  sei  die  Erklärung  für  Galixts  Auftreten  gegen  Alfonso  zu 
suchen,  für  eine  Verläumdung  oder  für  Wahrheit  hält? 

Eine  ganze  Gruppe  von  Aktenstücken  Nr.  65,  66,  68 — 76  be- 
zieht sich  auf  das  Verhältnis  Calixts  zur  Türkenfrage.  P.  erzählt 
uns  auf  S.  518,  wer  die  »in  38  starken  Bänden  zerstreuten 
Akten  im  päpstlichen  Geheimarchiv  einsehe,  müsse  staunen  über  die 
großartige  Wirksamkeit  des  alten  kränklichen  Papstes  in  dieser  Hin- 
sicht« ;  S.  531  erfahren  wir,  daß  einige  Bände  eben  dieses  Archivs, 
welche  des  päpstlichen  Schatzmeisters  Einnahmen  und  Ausgaben  für 
die  Flotte  enthielten,  weder  1879  noch  1883  aufzufinden  waren,  und 
deshalb  bis  zum  Wiederauftauchen  dieser  Bände  ein  abschließen- 
des Urteil  über  die  Ausgaben  Galixt  III.  nicht  zu  gewinnen  sei; 
auf  S.  584  behauptet  P.,  daß  die  Breven  Calixt  III.  überhaupt  nur 
sehr  unvollständig  erhalten  seien.  Durch  die  beiden  letzten  Aus« 
Sprüche  wird  der  erste  doch  wohl  sehr  wesentlich  beschränkt,  denn 
es  kann  ja  nicht  auf  volltönende  Phrasen  in  Bullen  und  Breven, 
welche  zum  Türkenkrieg  aufiforderten,  ankommen,  sondern  lediglich 
darauf,  was  Galixt  für  den  Krieg  zusammenbrachte,  und  ob  er  das 
mit  Ablässen  und  Steuern  beschaffte  Geld  wirklich  für  den  ange- 
kündigten Zweck  verwandte.  Ein  nüchterner  Forscher  wird  von 
dem  Ergebnis  dieser  Untersuchung  es   abhängen  lassen,  ob  er  sich 


488  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  12. 

P.  aoflcblieBt,  wenn  dieser  verkfindet  S.  512:  »Das  Papstiham  allein 
begriff  die  Größe  des  Moments.  Während  rings  nmber  Alles  von 
partikularen  Interessen  beherrsebt  wurde,  zeigte  es  sieb  von  Neuem 
als  die  universellste  und  konservativste  Maebt  der  Welt.  Die  Erb- 
weisbeit  Roms  wUrdigte  die  ganze  Gröie  der  Gefabr  u.  s.  w.c;  fer- 
ner »Mit  Calixt  III.  war  der  recbte  Mann  an  die  Spitze  gestellt 
wordene. 

Aus  der  bereits  oben  berttbrten  Depesebe  Nr.  63  gebt  hervor, 
daft  im  Sommer  1455  Alfonso,  ob  mit  Beebt  oder  Unrecht,  dem 
Papste  vielmehr  Saumseligkeit  Schuld  gab.  Das  wurde  zwar  bald 
nachher  entschieden  anders,  der  alte  Papst  redete  und '  schrieb  so 
viel  er  konnte  gegen  die  Türken.  Um  das  zu  beweisen,  bedurfte  es 
kaum  eines  Neudruck^  des  bereits  durch  Ennen  bekannten  Breves 
Nr.  64,  worin  die  Universität  und  Stadt  Köln  zur  Unterstützung  des 
nach  Frankreich  abgesandten  Kardinals  Alain  aufgefordert  wird, 
noch  des  Berichtes  Nr.  65  ttber  die  Feierlichkeit  der  Verleihung  des 
Kreuzes  an  einige  Legaten,  wobei  der  Papst  Thränen  der  Bttbrung 
vergoß.  Castiglione  urteilt:  Der  Papst  hat  gltthenden  Eifer  gegen 
den  Türken,  und  es  ist  sehr  schade,  daß  er  gehemmt  wird,  beson- 
ders durch  das  Uoternehmen  Piccininos*)€;  gegen  dessen  Sbldner- 
haufen  erklärte  der  Papst  eben  so  auftreten  zu  wollen,  wie  gegen 
die  Tflrken.  P.  selbst  teilt  uns  mit,  daß  die  vom  Papste  mit  dem 
Befehl  ttber  die  wenigen  Schiffe  betrauten  Prälaten,  anstatt  die  Tür- 
ken zu  bekämpfen,  BanbzUge  gegen  die  Genuesen  unternahmen. 
Nr.  68  enthält  die  Absetzung  des  Bischofs  von  Tarragona  und  seiner 
Genossen ;  auch  der  Admiral  Kardinal  Scarampo  entsprach  nicht  den 
päpstlichen  Befehlen,  Nr.  70  und  Nr.  73,  Kardinal  Alain,  der  Kreuz- 
zugslegat in  Fraukreich  wurde  vom  Papste  mehrfach  scharf  getadelt, 
Nr.  74,  und  der  gegen  Piccinino  befehligende  Ventimiglia  mußte 
ebenfalls  ein  Tadelsbreve  hinnehmen,  ganz  zu  schweigen  von  den 
bei  P.  584  augeführten  scheltenden  Schreiben  an  zahlreiche  Prä- 
laten. Gewiß  trifft  hinsichtlich  der  auch  von  P.  584  betonten 
Schwierigkeiten  der  Ausspruch  Voigts  II,  775  zu,  »daß  auch  die 
besten  Absichten  eines  Papstes  schmutzig  wurden  unter  den  curialen 
und  mönchischen  Händen,  die  ihre  AnsftthruDg  zu  durchlaufen  hatte, 
und  daß  mit  ihnen  die  Fürsten  im  Zugreifen  wetteiferten«,  aber  es 
muß  doch  die  Frage  aufgeworfen  werden,  ob  denn  die  Zeitgenossen 

1)  P.  hat  S.  517  den. Satz:  [S.  S^]  ha  ferventüsimo  detiderio  contra  h 
Tureho,  et  *^  grande  peccato  che  se  li  posta  impedimento,  maxime  per  queeto  fatio 
del  conte  Jaeopo  übersetzt:  Galixtus  hat  das  allergröSte  Verlangen  den  Türken 
Widerstand  zu  leisten;  wer  ihm  hierin  Hindemisse  bereitet,  begeht  eine  große 
Büade.  [l]    S.  525  Z.  4  ist  wohl  1455  statt  1456  zu  lesen. 


Pastor,  Geschichte  des  Päpste  seit  dem  Aasgang  des  Mittelalters.  I.    489 

Zutrauen  auf  eiuen  Erfolg  des  vom  Papste  so  eifrig  betriebenen 
Unternehmens  setzen,  ja  ob  sie  an  den  uneigennützigen  Eifer  der 
päpstlichen  Kreuzzugspredigt  glauben  konnten.  Was  wollte  es  be- 
deuten, wenn  der  Papst,  P.  552,  dem  Gesandten  Mailands  beteuerte, 
er  sei  bereit,  ftlr  das  gemeinsame  Wohl  zu  sterben,  auch  wenn  er 
sich  in  Qe fangen schaft  begeben  müsse,  und  zugleich  erklärte, 
er  wolle  um  keinen  Preis  Rom  verlassen,  selbst  wenn  er  hier  der 
Pest  erliegen  sollte!  Waren  dies  nicht  zusammenhangslose  Beden 
des  altersschwachen  Papstes,  und  kann  nicht  das  Mitleid,  welches 
der  Gesandte  dem  Papste  widmete,  einen  anderen  Sinn  haben,  als 
P.  annimmt?  Der  Papst  sprach  sich  dagegen  aus,  daß  die  Rhodiser 
Ritter  von  den  Einkünften  des  Franz(}si sehen  Zehnten  unterstützt 
würden,  er  meinte  für  jene  sei  genug  geschehen,  alles  komme  darauf 
an,  daß  die  päpstliche  Flotte  unterstützt  werde.  P.  selbst  schreibt 
S.  535,  daß  die  Erwartungen,  welche  Galixt  von  seiner  Flotte  hegte, 
Angesichts  der  geringen  Zahl  der  Schiffe  übertrieben  waren;  als 
die  Flotte  wirklich  endlich  segelte,  war  Rhodus,  der  Sitz  der  Jo- 
hanniter ihr  erstes  Ziel,  Nr.  75.  War  es  nicht  eine  allzu  optimisti- 
sche Auffassung,  wenn  der  Papst,  P.  528,  schrieb,  ein  paar  Schiffe, 
die  in  der  Nähe  von  Ragnsa  erschienen,  würden  den  Mut  der  Un- 
garn neu  belebt  haben  ?  P.  S.  546  eignet  sich  den  Ausspruch  Voigts 
an,  daß  der  zu  diesen  abgesandte  päpstliche  Legat  Carvajal  ihnen 
nichts  gebracht  habe  als  Ablaß  für  Alle,  welche  die  Waffen  gegen 
die  Türken  ergreifen  würden,  und  Versprechungen,  die  schon  oft 
genug  getäuscht ;  sollte  man  da  am  Ende  schon  mitjubeln,  wenn  in 
Rom  wegen  der  bloßen  Ernennung  eines  Legaten  zum  Admiral  der 
Türkenflotte  ein  Fest  abgehalten  wurde?  Der  Bereich  der  Thätig- 
keit  dieses  Legaten  wurde  außerordentlich  weit  gesteckt,  so  daß 
man  wohl  Grund  hatte  an  Erobernngspläne  des  Papstes,  oder  der 
Seinen,  zu  denken,  zumal  wenn  man  sah,  daß  die  »Missethäter«, 
welche  zuerst  an  der  Spitze  der  Flotte  gestanden  und  diese  gegen  die 
Genuesen  verwandt  hatten,  bald  begnadigt  worden  waren  und  auch 
ferner  in  päpstlichen  Diensten  bleiben  durften.  Fordert  es  nicht 
geradezu  den  Spott  heraus,  wenn  der  Papst  darauf  hinwies,  wie 
schnell  er  seine  Flotte  abgeschickt  habe,  um  die  Feinde  an  der 
Donau  abzuziehen,  und  dann  hinzufügte,  bereits  sei  der  Legat  in 
—  Neapel  und  werde  in  wenigen  Tagen  nach  Eonstantinopel  se- 
geln?^) Zu  dieser  Fahrt  nach  Eonstantinopel  drängte  der  Papst 
den  Legaten  Scarampo  fortwährend,  er  schrieb,   wie  der  Mailänder 

1)  Pastor  S.  538.     Die  Chronologie  der   Bremen  ist  noch  vielfach  in  Un- 
ordnung. 


490  Gott.  gel.  Auz.  1887.  Nr.  12. 

Gesandte  sagt,  tausend  Mal,  daß  er  überzeugt  sei;  der  ganze  Islam 
müsse  bei  seinen  Lebzeiten  vernichtet  werden.  P.  selbst  findet  S.  557, 
daß  übertriebene  Pläne  dieser  Art  in  fast  allen  Breven  dieser  Zeit 
bis  zur  Ermüdung  wiederholt  werden.  Man  wird  zugeben,  daß  die- 
ser fanatische,  die  wirkliche  Sachlage  übersehende  Eifer  auf  ruhig 
überlegende  Politiker  eher  abschreckende  als  aufmunternde  Wirkung 
üben  mußte.  Dazu  kam,  daß  die  Beziehungen  des  Papstes  zu  Al- 
fonso fortdauerten,  und  gerade  bei  dem  Fiottenunternehmen  die 
Mitwirkung  desselben  Alfonso  gewünscht  wurde,  welcher  den  an- 
fänglich von  den  päpstlichen  Anführern  geübten  Misbrauch  veran- 
laßt hatte.  Wie  endlich  der  Legat  Scarampo  nach  langem  Zögern 
angewiesen  wurde,  nicht  länger  auf  Alfonso  zu  warten,  sprach  der 
Papst  es  ofi^en  aus,  daß  es  ihn  freue,  jetzt  Italien  von  diesem  Skor- 
pion befreit  zu  sehen;  Nr.  73;  das  gewährte  gewiß  keinen  günsti- 
gen Einblick  in  die  Verhältnisse  an  der  Kurie,  wo  die  Nepoten  den 
Kardinal  Scarampo  sich  vom  Halse  zu  schafi^en  wünschten,  lieber 
Frankreichs  Haltung  mit  dem  Urteil:  »unwürdig  einer  christlichen 
Macht«  abzusprechen,  P.  536,  ist  unglaublich  naiv ;  P.  erwähnt 
selbst,  S.  538,  daß  der  päpstliche  Kreuzzugslegat  Alain  zugleich  die 
Aufhebung  der  pragmatischen  Sanktion  betreiben  sollte,  die  päpst- 
lichen Ansprüche  stießen  auf  grundsätzlichen  Widerstand,  man  darf 
nicht  von  Lässigkeit  reden.  Die  Franzosen  waren  gewiß  nicht  min- 
der von  den  Gedanken  beseelt,  welche  die  deutschen  Kurfürsten  zu 
Frankfurt  aussprechen  ließen ,  als  sie  auf  die  wüste  Wirtschaft  der 
Nepoten  hinwiesen,  welche  man  nicht  mit  Geld  unterstützen  wolle, 
und  daraufhin  den  Zehnten  weigerten. 

P.  S.  563  spricht  hier  von  »Schmähungen«  gegen  den  apostoli- 
schen Stuhl,  aber  was  er  selbst  über  den  Nepotismus  Calixt  III.  er- 
zählt, S.  585,  genügt,  um  das  Mistrauen  gegen  die  päpstliche  Krenz- 
zugspredigt  zu  erklären,  ganz  abgesehen  von  den  Misbräuchen,  die, 
wie  P.  S.  520  salbungsvoll  sagt,  bei  jeder  menschlichen  Institution 
sich  einschlichen.  P.  vergißt  leider  uns  zu  sagen ,  was  er  bei  dem 
damaligen  Ablaßhandel  für  gebräuchlich  hielt,  ob  er  der  Meinung 
ist,  daß  nur  wenn  falsche  Sammler  auftraten,  oder  wenn  die  aufge- 
stellten Prediger  Unterschlagungen  verübten,  ein  Misbrauch  vorlag, 
oder  ob  er  einen  solchen  auch  dann  für  gegeben  erachtet,  wenn  man 
dem  Volke  vorlog,  das  Geld  solle  nicht  nach  Rom  gehn  ^).  P.  S.  700 
scheint  geneigt  die  Beteuerungen  des  Papstes,  alles  an  ihn  gelangte 
Geld  sei  für  die  paar  Schiffe,  welche  man  Flotte  nannte,  verwandt 
worden,  zu  glauben;  er  beruft  sich  auf  Moser,   der  die  Kostspielig- 

1)  Vgl.  Voigt  n,  176. 


Pastor,  Qeschichte  der  Päpste  seit  dem  Ausgang  des  Mittelalters.   I.     491 

keit  eines  Seekrieges  betont  babe.  Ein  bestimmter  Beweis  läßt  sich 
in  solcben  Dingen  nicht  führen,  unzweifelhaft  ist,  daß  die  Zeitge- 
nossen dem  Papste  vielfach  hierin  nicht  geglaubt  haben.  Sah  sich 
doch  der  Papst  sogar  veranlaßt,  dem  Augustinerorden  bei  Strafe  des 
Bannes  zu  befehlen,  sich  eifrig  der  Ablaßpredigt  und  der  Geld- 
sammlung zu  widmen;  Nr.  69.  Daß  allerdings  der  Sieg  bei  Belgrad 
in  Rom  nicht  mindere  Freude  hervorrief,  als  in  Venedig,  was  durch 
Nr.  71  und  72  dargethan  werden  soll,  wird  Jedermann  glauben. 

P.  druckt  das  Ernennangsbreve  für  den  Kardinal  Bodrigo  Bor- 
gia^) ab,  Nr.  67,  welches  uns  nichts  von  dem  Widerstand  der  Kar- 
dinäle sagt,  sondern  deren  Zustimmung  notiert.  Darüber  wird  man 
sich  nicht  wundern.  Durch  ein  Urteil  Hergenröthers  —  P.  sagt: 
»das  von  einem  deutschen  Kardinal  des  19.  Jahrhunderts  gefällte  Ur- 
theii  mag  hart  erscheinen,  ist  aber  vollkommen  berechtigte  — 
gewinnt  P.  den  Mat,  den  späteren  Papst  als  einen  sittenlosen  und 
lasterhaften  Menschen  zu  bezeichnen.  Er  verzeichnet  in  Nr.  79  eine 
Anzahl  Gnadenerweisungen  Galixts  an  seine  Nepoten,  auf  S.  «588 
weist  er  darauf  hin,  daß  aus  der  Zeit  dieses  Papstes  ungünstige 
Zeugnisse  über  Rodrigos  Wandel  nicht  vorlägen,  und  bei  der  Straf- 
predigt, welche  Pius  II.  an  denselben  richtete,  müchte  er  meinen, 
daß  Rodrigo  noch  nicht  Priester  gewesen  sei  ^).  Die  Frage  ist  wohl 
ziemlich  gleichgiltig,  da  feststeht,  daß  nicht  einmal  der  Besitz  der 
höchsten  Würde  der  Christenheit  einen  Sinneswechsel  bei  Rodrigo 
hervorbrachte. 

Nr.  80—82  führen  uns  in  die  bereits  oben  erwähnte  Politik  ge- 
gen Neapel  ein,  welches  Calixt  wohl  sicher  seinen  Nepoten  zudachte ; 
darüber  finden  wir  hier  auch  noch  einige  Nachrichten  von  Interesse. 


1)  Pastors  Behauptung  S.  586  über  dessen  früheren  Namen  ist  wohl  nach 
Thuasne  Burchardi  Diarium,  III,  457,  n,  zu  modificieren. 

2)  P.  fuhrt  S.  589  eine,  wie  er  meint,  hiefür  in  Betracht  kommende  Urkunde 
des  Vatikanischen  Archivs  (von  Calixt  oder  Pins  ?)  an :  Roderico  eoneeditur  facultas 
coneedendi  pro  8b  vel  al,  familiaribus  suis  semel  iamsn  in  mortis  articulo  remis* 
sionem  omnium  peccatorum  und  meint,  das  heweise  nichts,  denn  rsmissio  psecato- 
rum  bedeute  hier  SterheablaS,  da  jeder  Priester  einen  Sterbenden  absolvieren 
kann.  Diese  Erklärung  verstehe  ich  nicht.  Meint  P.,  daß  jeder  päpstliche  Bann 
im  Angesichte  des  Todes  aufhöre,  jeder  Priester  bei  Todesgefahr  eben  so  viel 
vermöge,  als  der  Papst,  und  dieser  sich  das  Absolvieren  für  diesen  Fall  nicht 
vorbehalten^  könne?  Das  möchte  doch  kaum  die  Meinung  Pastors  sein.  Aber 
auch  dann  würde  der  obige  Wortlaut  doch  besagen,  daB  auf  Bodrigos  Vollmacht 
die  remissio  peccatorum  zurückzuführen  sei.  Ich  bin  übrigens  der  Meinung,  daß 
statt  tarnen  vielleicht  tantum  zu  lesen  ist,  und  sollten  nicht  die  Worte  semst  in 
vita  et  ausgefallen  sein?  Vgl.  P.  S.  662.  In  der  Stelle  S.  591  Anm.  3  wird,  um 
sie  verständlich  zu  machen  uretra  statt  ureehia  zu  lesen  sein. 


492  Oött.  gel.  Aoz.  1887.  Nr.  12. 

Die  Angaben  in  Nr.  81  ttber  den  Fand  einer,  prachtvoll  gekleide- 
ten antiken  Leiche,  deren  Goldschmack  Calixt  in  die  MQnze  schickte, 
obgleich  auch  die  Kanoniker  von  S.  Peter  Ansprach  daraaf  mach- 
ten, sind  bezüglich  des  Goldwertes  wohl  etwas  übertrieben. 

Als  nach  Alfonsos  Tode  zwischen  Calixt  and  seiner  Sippe  ge- 
gen Ferrando  ein  Krieg  geplant  wurde,  den  der  Papst  mit  geistlichen 
and  weltlichen  Waffen  za  fuhren  gedachte,  trat  ein  plötzlicher  Wech- 
sel ein  darch  Galixts  Tod.  Was  waren  jetzt  die  Borgia  und  alle 
Catalanen!  Wer  kümmerte  sich  noch  um  den  toten  Papst!  Den  da- 
maligen Znstand  Roms  schildern  die  Depeschen  Nr.  83—85. 

Nicht  mit  der  Schilderung  dieser  Schreckenstage  wollte  P.  sein 
Bach  beenden.  Nr.  86  bietet  einen  Brief  des  mailänder  Gesandten 
ttber  den  Tod  Capranieas,  welcher  sich  noch  zu  Lebzeiten  Galixts 
bei  Sforza  um  dessen  Unterstützung  zur  Erlangung  der  Tiara  be- 
worben hatte').  Davon  sagt  P.  nichts,  sondern  erbaat  seine  Leser 
mit  einer  Lobeshjmne  auf  den  Kardinal,  dem  nach  P.  Meinung  die 
höchste  Würde  sicher  zugefallen  wäre,  wenn  er  länger  gelebt  hätte. 
Diesmal  erinnert  er  sich  nicht  an  das  römische  SprOchwort :  Wer  als 
Papst  ins  Konklave  geht,  kommt  als  Kardinal  heraus. 

Nach  dem  Gesagten  wird  es  nicht  überraschen,  daß  auch  die  Texte 
vielfach  mangelhaft  wiedergegeben  sind.  Neben  der  vielfach  unge- 
nügenden Kenntnis  des  Verfassers  im  Lesen  liegt  der  Grund  vor 
Allem  in  der  Flüchtigkeit,  mit  der  er  die  zahlreichen  ihm  unter  die 
Hände  kommenden  Akten  durchmusterte.  Er  siebt  z.  B.  von  dem 
Cod.  Vatic.  4167  die  ersten  und  die  letzten  Zeilen  an  und  schreibt 
S.  413:  »Auch  geschichtliche  Akten  wurden  auf  Befehl  Nikolaus  V. 
kopiert.  So  fand  ich  in  Cod.  Vat.  4167  die  Akten  des  unter  Mar- 
tin L  in  Bom  abgehaltenen  Concils  auf  Befehl  des  Papstes  durch 
Piero  de  Godi  1453  kopiert  {per  Fetrum  de  Oodis  de  Vicentia  etc. 
1453  de  mense  Januario*).  Im  Nachtrag  lädt  er  ein  die  Worte :  'auf 
Befehl  etc.'  zu  streichen;  er  hatte  in  Tommasinis  Aufsatz  im  Ar- 
chivio  di  storia  Romana  gefunden,  daß  in  der  Hs.  sehr  viel  andere 
Dinge  stehn,  von  Godi  aber  nichts,  als  der  von  Perlbach  edierte 
.Dialog  mit  einer  Ueberschrift,  welche  anscheinend  der  dem  Papste 
günstigen  Stimmung  sehr  widerspricht:  Äd  laudem  Bei  et  Nicolai 
papae  quinti  (s)  uperbiam  ambitionein  —  hier  bricht  Tommasini  ab  ^). 
Richtiger  hätte  P.  wohl  seine  ganze  Anmerkung  gestrichen,  denn 
mit   der  von  ihm  vorgeschlagenen  Beseitigung  der  wenigen  Worte 

1)  Petruoelli  I,  278. 

2)  SpaBhaft  ist,  daB  der  Verf.  S.  308  in  UebereinstimmuBg  mit  Tommasini, 
aber  genauer  als  dieser,  also  wohl  nach  einem  Vatikanischen  Katalog  die  in  der 
betreffenden  Bs.  enthaltene  Schrift  des  Zamorensis  f.  121—174  anfthrt. 


'         Fastor,  Geschichte  der  F&pste  seit  dem  Ausgang  des  Mittelalters.  I.     493 

ist  oar  erreicht,  daß  seine  Behaaptang  yöliig  in  der  Luft  steht.  Man 
kann  wohl  mit  Bestimmtheit  sagen,  daß  die  ganze  Handschrift  viel 
jünger  ist. 

Von  falschen  Lesarten  möge  man  berichtigen:  Nr.  9  Z.  6  1. 
sicut  St.  sie,  Z.  18  vobis  st.  nobis,  Z.  19  vestros  st.  vero^  S.  668  Z.  6 
tantum  st.  tarnen^  Nr.  53  Z.  4  poterne  st.  pote  na,  Z.  7  che  st.  cum. 
S.  627  Z.  4  V.  n.  inclusum  st.  interdusumy  S.  629  Z.  22  coUiMio  st 
collisio,  Z.  23  in^r  st  in,  Z.  25  ecantra  st  contra. 

Ich  habe  mich  bemüht,  die  Punkte  hervorzuheben,  wo  durch  das 
Hervorziehen  neuer  Akten  ans  den  Archiven  unsere  Kenntnis  geför- 
dert worden  ist.  Das  Gesamturteil  über  den  Herausgeber  P.  kann 
indessen  nicht  viel  günstiger  ausfallen,  als  das  über  die  Forschung  und 
Darstellung.  Nirgends  gewinnt  man  den  Eindruck,  daß  P.  mit  Gründ- 
lichkeit einer  Frage  nachgegangen  ist,  überall  hat  er  herumgenascht, 
aber  bis  jetzt  wenig  Honig  zu  Tage  gefördert 

Indem  ich  von  dem  unerfreulichen  Buche  Abschied  nehme,  muß 
ich  darauf  hinweisen,  daß  mein  ungünstiges  Urteil  im  Widerspruch 
steht  mit  allen  mir  bisher  bekannt  gewordenen  sehr  zahlreichen  Kri- 
tiken. Um  von  der  ultramontanen  Presse  ganz  abzusehen,  so  be- 
wundert das  Archivio  storico  Italiano  die  deutsche  Arbeitskraft  und 
Akribie,  das  Literarische '  Centralblatt  stellt  unsern  Autor  seinem 
Lehrer  Janssen  als  Muster  der  Unparteilichkeit  vor,  und  die  Frank- 
farter  Zeitung  ist  mit  der  Nationalzeitung  einig  in  Worten  der  An- 
erkennung. Mit  einer  Vollständigkeit,  welche  wohl  nur  unter  Bei- 
hülfe des  Autors  selbst  zu  erreichen  war,  sind  die  bis  zum  Beginn 
dieses  Jahres  erschienenen  Kritiken  in  einem  Aufsatze  der  histor. 
pol.  Blätter  S.  377  aufgezählt,  und  es  wird  daraus  folgende  Summe 
gezogen:  »Die  Urteile  stimmen,  mehr  oder  weniger  unumwunden 
darin  ttberein,  daß  diese  Leistung  Pastors  sich  als  wissenschaft- 
lich gleichwertig  den  Schöpfungen  Rankes  und  Janssens  [I]  an  die 
Seite  stellt«.  Bonghi  soll  über  Pastors  Buch  an  de  Rossi  gesagt 
haben:  »Wenn  die  Katholiken  so  gründlich  arbeiten,  wie  Pastor, 
dann  maß  man  Achtung  vor  ihrer  Wissenschaft  haben,  nnd  Beleb- 
rang annehmen«.  Ich  habe  mich  vergeblich  bemüht,  in  demPastor- 
Bchen  Buche  selbst  eine  Erklärung  für  diese  Erscheinung  zu  finden; 
gegenüber  dem  einstimmigen  Lobe  hielt  ich  es  für  erforderlich,  mein 
abweichendes  Urteil  ausführlicher  zu  begründen.  Das  möge  die  nn- 
gewObnliche  Länge  dieser  Kritik  erklären. 

München.  v.  Droffel. 


494  Gott.  gel.  Auz.  1887.  Nr.  12. 

Monumenta  Germaniae  Paedagogica.  Schnlordnungen ,  Schulbücher 
und  pädagogische  Miscellaneen  aus  den  Ländern  deutscher  Zunge  —  unter  Mit- 
wirkung einer  Anzahl  von  Fachgelehrten  herausgegeben  von  Dr.  Karl  Kehr- 
bach. Band  I:  Braunschweigische  Schulordnungen  von  den  älte- 
sten Zeiten  bis  zum  Jahre  1828,  mit  Einleitung,  Anmerkungen,  Glossar  und 
Register  herausgegeben  von  Prof.  D.  Dr.  Friedrich  Koldewey.  1.  Bd. 
(Schulordnungen  der  Stadt  Braunschweig).  Berlin,  Hofmann  u.  Comp.,  1886. 
CGV,  602  S.  und  4  Tabellen.    20  Mk. 

Als  vor  nahezD  vier  Jahren  der  Heraasgeber  der  Monnmenta 
GermaDiaePaedagogica  der  Gelehrten-  und  Schalwelt  Deutsch- 
lands seinen  Plan  vorlegte,  durfte  man  trotz  Eehrbachs  erprobtem 
Redaktionsgeschick  wohl  die  Frage  aufwerfen,  ob  ein  so  umfassen- 
des Unternehmen  der  durchaus  erforderlichen  Teilnahme  der  inter- 
essierten Kreise  sich  versichert  halten  könne;  denn  bis  heute  ist  die 
Schulgeschichte  nur  selten  von  eigentlich  wissenschaftlichen  Stand- 
punkten aus  behandelt  worden,  und  für  eine  grundsätzliche  Verwer* 
tung  derselben  in  der  Geschichte  der  pädagogischen  Ideen  haben 
wir  in  Deutschland  fast  kein  Beispiel.  Nun  ist  der  erste  Band  des 
großartigen  Werks  in  unsere  Hände  gekommen  und  ein  zweiter  und 
dritter,  welche  allerdings  das  höchste  Interesse  erregen  werden,  sind, 
wie  man  uns  mitteilt,  zur  Ausgabe  fertig.  Die  Aufnahme  dieser  er- 
sten Probe  wird  für  den  Fortgang  dieser  Veröffentlichungen  vielleicht 
um  so  mehr  maßgebend  sein,  da  unterdessen  die  deutschen  Regie- 
rungen um  thatkräftige  Förderung  derselben  durch  Vermittelnng  einer 
auf  der  Philologenversammlung  in  Gießen  gewählten  Kommission  an- 
gegangen worden  sind  und  ja  wohl  zu  erwarten  steht,  daß  wenigstens 
das  Maß  der  erwarteten  Beihilfe  von  dem  Urteil  abhängen  werde, 
welches  über  diese  ersten  Bände  gefällt  wird.  So  ist  es  wohl  auch 
unsere  Pflicht,  über  den  uns  vorliegenden  ersten  Teil  der  Arbeit  von 
Koldewey  eingehender  zu  berichten. 

Das  Schulwesen  der  Stadt  Braunschweig  hat  sich  ganz  so  ent- 
wickelt wie  das  der  anderen  Städte  des  protestantischen  Norddeatsch- 
lands,  ohne  zu  irgendeiner  Zeit  besonders  bemerkenswerte  Gestal- 
tungen aufzuweisen.  Indessen  ist  es  dem  sorgfältigen  Herausgeber 
der  vorliegenden  Schulordnungen  doch  gelungen,  einzelne  Züge  die- 
ser Entwickelung  durch  genaues  Eingehn  auf  die  ihm  zu  Gebote 
stehenden  Urkunden  heller  zu  beleuchten.  So  ist  es  gewiß  richtig, 
daß  das  Streben  der  Stadtgemeinden,  neben  den  der  geistlichen  Be- 
hörde unterstehenden  Schulen  eigene  zu  gründen,  nicht  ans  Unzu- 
friedenheit mit  der  diesen  Schulen  durch  den  Klerus  gegebenen  Ein- 
richtung entsprungen  ist.  Es  hat  dazu  in  Braunschweig  zu  An- 
fang des  fünfzehnten  Jahrhunderts  eine  Reihe  ganz  äußerlicher  Um- 
stände gefuhrt,  so  daß  nach  dem  vom  Papst  Johann  XXIII.  erteilten 
Privilegium  das  Verlangen  der  Stadt  dahin  geht,  daß  apud  quamlibet 


Monnmenfa  Gennamae  Faedagogica.    I.  495 

sancti  Martini  et  sanctae  Gathennac  ecclesiarum  huiusmodi  const- 
miles  scolae  hdbeantur  (S.  14).  Das  hiDdert  freilich  nicht,  in  der 
Errichtung  dieser  Schalen  auch  ein  Zeichen  der  wachsenden  Bedea- 
tung  nnd  des  sich  hebenden  Selbstbewußtseins  der  deutschen  Städte 
zu  sehen.  Im  nächsten  Jahrhundert  hat  Bugenhagen  für  die  städti- 
schen Schulen  Braunschweigs  eine  Schulordnung  aufgestellt,  welche 
einige  eigentümliche  Züge  trägt,  im  ganzen  aber  den  Charakter  der 
reformatorischeu  Lateinschule  deutlich  ausprägt  (S.  25  ff.).  Gegen 
Ende  des  sechzehnten  Jahrhunderts  verfallen  auch  diese  Schulen. 
Die  Thatsache  ist  bekannt  und  nicht  bloß  für  Braunschweig  erwie- 
sen; die  Gründe  derselben  leuchten  aber  aus  Koldeweys  Darstellung 
und  Mitteilungen  besonders  deutlich  hervor.  Das  Schulamt  lag  in 
den  Händen  von  Theologen,  welche  von  da  aus  den  Weg  und  die  Ge- 
legenheit zum  begehrteren  Kirchenamt  suchten ;  die  Schularbeit  diente 
so  sehr  kirchlichen  Zwecken,  daß  die  Bewältigung  der  vorgeschrie- 
benen, mäßigen  Lehrpensen  auch  davon  abhieng,  daß  nicht  zu  viele 
Leichenbegängnisse  vorkamen,  an  denen  die  Schulen  sich  ordnungs- 
mäßig zu  beteiligen  hatten ;  die  Schnlzucht  war  rein  klösterlich,  der 
Schulunterricht  trotz  aller  humanistischen  Neuerungen  noch  im  Banne 
der  Scholastik.  Das  Bedürfnis  nach  besserer  Ordnung  des  Unter- 
richts war  im  Anfange  des  siebzehnten  Jahrhunderts  ein  sehr  leb- 
haftes; von  Ueberbttrdung  der  Schüler  sprach  man  schon  damals 
(S.  151),  aber  eine  eigentlich  pädagogische  Behandlung  der  erkann- 
ten Uebelstände  trat  damals  so  wenig  ein  wie  heute.  So  hörten 
denn  die  Klagen  nicht  auf,  und  mit  den  Schulen  sanken  auch  die 
Lehrer  herunter,  die  sich  »auf  das  gesö£P  begaben €,  während  ihre 
»Hausfrauenc  weit  über  ihren  Stand  gekleidet  waren  (S.  180  v.  J. 
1621).  Die  Schüler  aber  betrugen  sich  so,  daß  »Schulzucht  and 
Yiehezuchtc  nicht  mehr  zu  unterscheiden  waren  (S.  163  v.  J.  1599). 
Im  Jahr  1671  wurde  die  Stadt  herzoglich.  Die  Verhältnisse  der  Zeit 
beleuchtet  recht  grell  der  Umstand,  daß  einer  der  ersten  Beweise 
der  Fürsorge  der  neuen  Regierung  die  Gründung  eines  Waisenhauses 
war,  wie  in  jenen  Jahren  auch  anderswo  durch  ähnliche  Maßregeln 
der  Grund  zu  geordneteren  Zuständen  in  den  städtischen  Bevölke- 
rungen gelegt  wurde.  Auch  die  höheren  Schulen  hoben  sich  wieder 
nnter  tüchtigen  Kektoren;  für  den  Elementarunterricht  sorgten  die 
oft  verfolgten,  schließlich  aber  als  ein  notwendiges  Uebel  geduldeten 
Winkel-  und  Klippschulen.  Bald  macht  sich  der  Einfluß  des  Halle- 
Bchen  Pietismus  geltend:  um  1751  wird  mit  dem  Waisenbaus  ein  in 
Franckeschem  Sinne  eingerichtetes  Lehrerseminar  verbunden.  Auch 
eine  Realschule  entstand  nnter  gleichem  Einfluß  in  jener  Zeit,  und 
damit  nichts  zur  reichen  pädagogischen  Musterkarte  des  Jahrhun- 
derts fehle,  rief  der  Herzog  Karl  L  nach  dem  Plane  des  Hofpredi- 


496  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  I2f. 

gers  und  späteren  Abtes  Jernsalem  eine  Fflrstenscbule  ins  Leben, 
das  Collegium  Garolinam.  Für  die  genaae,  durchaas  objektiv  ge- 
haltene Darstellung  der  Qeschicbte  dieser  Anstalt,  ans  weicher  die 
1862  eröffnete  Polytechnische  Schule  herausgewachsen  ist,  danken 
wir  dem  Verfasser  insbesondere. 

Auch  die  Bewegung  der  Philanthropen  berührt  Braunschweig 
vorübergehend;  Campe  war  eine  Zeit  lang  Mitglied  der  brannschwei- 
giscben  OberschulbehOrde.  Man  denkt  auch  an  die  Errichtung  eines 
seminarium  philologicum ;  doch  glaubte  man,  mit  Stipendien  auf  die- 
sem Gebiete  alles  Erforderliche  gethan  zu  haben.  Bedeutender  war 
die  Einwirkung,  welche  der  neue  philologische  Humanismus  auf  die 
höheren  Schulen  Braunschweigs  ausübte;  Heusinger  und  Scheffler, 
der  erste  Karl  Lachmanns  Lehrer,  brachten  die  Qymnasien  der  Stadt 
zu  bedeutender  Blüte.  Die  Zeit  des  westfälischen  Königtums  war 
für  das  gesamte  Schulwesen  sehr  ungünstig.  Bedeutsam  ist  erst 
wieder  die  Gründung  eines  Privatrealgymnasinms  im  Jahr  1825  durch 
Brandes.  Die  zwei  Jahre  darauf  begonnene  Neuordnung  des  ganzen 
braunschweigischen  Schulwesens  hat  wohlweislich  auch  diese  glück- 
liche Schöpfung  in  ihren  Kreis  hereingezogen.  Für  die  in  unseren 
Tagen  sich  entfaltenden  Bestrebungen,  eine  einheitliche  Form  der 
höheren  Schule  zu  finden,  ist  die  Organisation  des  braunschweigi- 
schen Gesamtgymnasinms  von  hohem  Interesse.  Die  Fehler  und  Un- 
klarheiten, die  man  damals  in  Braunschweig  verschuldet  hat,  dürf- 
ten heute  zur  Lehre  und  Warnung  dienen. 

Der  Kenner  der  deutschen  Schulgeschichte  wird  in  Koldeweys 
Buch  keine  von  den  Stufen  vermissen,  durch  weiche  das  deutsche 
höhere  Schulwesen  zu  seinen  heutigen  Zuständen  gelangt  ist.  Zu 
einem  genauen  Studium  derselben  wird  aber  gerade  diese  sorgfältige 
und  eingehende  Darstellung  und  Urkundensammlung  sich  besonders 
empfehlen.  In  der  Art  der  Behandlung  der  letzteren  sind  die  von 
Kehrbach  aufgestellten  Redaktionsgrundsätze  maßgebend  gewesen; 
mancher  Leser  wird  das  Verfahren  zu  umständlich  finden:  an  Ge- 
nauigkeit und  Zuverlässigkeit  übertri£ft  das  Buch  die  meisten  Schnl- 
geschichten.  Nur  in  einem  Punkte-  sind  wir  mit  Koldeweys  Be- 
handlung nicht  einverstanden.  Koldewey  hat  sich  nicht  entschlieften 
können,  »genau  die  Schreibweise  und  Zeichensetzung  der  Vorlagen 
wiederzugeben«  (S.  CLIV).  Er  schreibt  aber  doch:  ecclesie^  consti- 
tuciOf  ymo^  ydonrns^  consweverunt^  sollefnpnis  u.  s.  w.  Hier  hätte 
nach  der  einen  oder  nach  der  anderen  Seite  hin  eine  Entscheidung 
getroffen  werden  müssen.  Wer  die  auch  sprachlich  interessanten 
und  teilweise  vortre£Sich  geschriebenen  niederdeutschen  Urkunden 
des  Buches  liest,  wird  im  Zweifel  sein,  ob  er  auch  in  sprachlichen 
Dingen  auf  vollständige  Zuverlässigkeit  der  Wiedergabe  zählen  kann. 

Dieser  Einwand  kann  indessen  den  Wert  der  Veröffentlichung 
80  wenig  beeinträchtigen,  daß  mit  Sicherheit  erwartet  werden  darf, 
man  werde  nach  diesem  ersten  Bande  der  Monumenta  Germaniae 
Paedagogica  dieselben  allseitig  der  Unterstützung  und  Förderung  würdig 
finden,  ohne  welche  sie  ihr  hoch  gestecktes  Ziel  nicht  erreichen  können« 

Karlsruhe.  E.  v.  Sallwürk. 

FOr  die  Bedaktion  Teruktwortlieh :   Prof.  Dr.  B$eht§t,  Direktor  der  GOtt.  gel.  Am., 
▲flMBior  der  Edniglicben  OeeeUachaffc  der  WieaeiiMiwfkeii. 


Cröttingische 


gelehrte  Anzeigen. 


Unter  der  Aufsicht 


der 


Königl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 


1887. 


Zweiter  Band. 


Göttingen. 
Dieterich'gcbe  Verlags-Bnchbandlang. 

1887. 


9 


i^rii^ii)  ■ 


m 


Göttingische 


gelehrte  Anzeigen 

anter  der  Aufsicht 

derKönigl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Nr.  13.  ß  20.  Juni  1887. 

Preis  des  Jahrganges :  J^  24  (mit  den  »Nachrichten  d.  k.  G.  d.  Wiss.« :  UK  27) 
Preis  der  einzelnen  Nummer  nach  Anzahl  der  Bogen:  der  Bogen  50  ^ 

Inhalt :  Ansoniaf  rec.  P  e  i  p  e  r.  Yan  EhtdL  —  K  fl  h  n  a  n ,  BhytlimTis  und  Indiselte  Metrik. 
Von  Jacobi.  —  Weismann,  Die  Continnit&t  des  Keimplasmas  als  Grundlage  einer  Theorie  der  YeJ^• 
orbong.    Yen  Krana«. 

=  Qgenmaohtlger  Abdruck  von  Artikeln  der  G5tt.  gel.  Anzeigen  verboten.  = 

Decimi    Magni    Aasonii    Burdigalensis    Opuscula    recensnit  R.  Peiper. 
Leipzig,  Teubner  1886.    GXXVIU  und  656  S.    8<>. 

Seit  Lacbmann  sind  wir  gev^obnt,  fttr  jedes  erhaltene  Werk  der 
antiken  Litteratar  nach  einem  Urcodex  zu  suchen,  d.  h.  nach  einer  allen 
Handschriften  gemeinsamen  Quelle,  die  Yon  dem  Originalmanuskript 
des  Autors  verschieden  war.  An  sich  ist  diese  Voraussetzung  keines- 
wegs notwendig.  Da  viele  Schriften  des  Altertums  sich  gleich  nach 
ihrem  Erscheinen  über  fast  alle  Provinzen  des  römischen  Reiches 
verbreiteten,  und  manche  davon  uns  in  hunderten  von  Abschriften 
vorliegen,  die  teils  in  Frankreich  und  Irland,  teils  in  Italien  und 
Spanien  entstanden  sind,  so  ist  die  Wahrscheinlichkeit  sogar  viel 
großer,  daß  einzelne  derselben  durch  von  einander  unabhängige  Mit- 
telglieder auf  das  eigene  Exemplar  des  Verfassers  oder  selbst  auf 
verschiedene  Recensionen  desselben  zurttckgehn  werden.  Wenn  sich 
dies  in  der  großen  Mehrzahl  der  Fälle  mit  Sicherheit  widerlegen 
läßt,  so  dürfte  der  Qrund  dafür  wohl  nur  in  der  philologischen  Thä- 
tigkeit  des  vierten  und  fünften  Jahrhunderts  zu  suchen  sein.  Nach 
dem  Zeugnis  zahlreicher  Subscriptionen  ist  damals  der  Text  der 
meisten  Schriftsteller,  welche  überhaupt  noch  gelesen  wurden,  einer 
durchgreifenden  Revision  unterzogen  worden,  und  wer  sich  in  der 
Folgezeit  eine  neue  Abschrift  fertigen  ließ,  der  suchte  sich  dazu  eine 
jener  Ausgaben  zu  verschaffen,  welche  zwar  interpolierter,  doch  eben 
darum  auch  lesbarer  waren  als  die  älteren  Handschriften  mit  ihren 

Q9%%.  gelr  Au.  1867.  Sr.  U.  35 


496  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  13. 

unberührten  Korruptelen.  Auf  diese  Weise  ist  das  Exemplar  der 
Symmacbi  fär  die  erste  Dekade  des  Livias,  die  Recension  des  Ha- 
Yortius  fttr  den  Horaz  zum  Urcodex  geworden,  und  ähnlich  wird 
jene  Einheitlichkeit  der  Ueberlieferung  sich  bei  den  meisten  Autoren 
erklären  lassen,  welche  dem  vierten  Jahrhundert  yoransliegen.  Bei 
den  späteren  dagegen  fällt  dieser  Orund  weg;  daß  die  Handschrif- 
ten jedes  einzelnen  von  ihnen  alle  auf  einen  gemeinsamen  Urcodex 
zurttckgehn,  bleibt  darum  zwar  noch  immer  möglich;  doch  bedarf 
dies  in  jedem  Falle  des  Beweises.  Als  Präsumption  ist  diese  An- 
nahme durchaus  nicht  gestattet,  sondern  die  allgemeine  Wahrschein- 
lichkeit spricht  eher  dagegen. 

Daß  dieser  generelle  Unterschied  in  der  Ueberlieferung  der  vor- 
und  nachconstantinischen  Autoren  besteht,  hat  Peiper  nicht  beachtet. 
Er  will  für  seinen  Ausonius  um  jeden  Preis  einen  Urcodex  haben,  und 
zwar  nicht  nur  für  jedes  einzelne  Gedicht,  sondern  fttr  die  Gesamt- 
werke. Welche  Gründe  ihn  dazu  veranlaßt  haben  und  wie  er  sich 
jenen  Urcodex  denkt,  ist  mir  nicht  ganz  klar  geworden,  denn  leicht 
zu  verstehn  ist  es  nicht.  Was  ich  verstanden  zu  haben  glaube,  soll 
das  folgende  Referat  wiedergeben. 

Nach  Peiper  hat  Ausonius  in  den  Jahren  383  und  390  zwei 
Gesamtausgaben  seiner  Werke  publioiert,  deren  erste  dem  Syagrius, 
die  zweite  dem  Kaiser  Theodosius  gewidmet  war.  Doch  nicht  in 
vollem  Maße  verdienten  sie  den  Namen  von  Gesamtausgaben. 

Castum  esse  decet  piam  poetam 
ipsum,  versiculos  nihil  necesse  est. 

Diesen  Grundsatz  Gatulls  erkennt  auch  Ausonius  ausdrücklich  als 
den  seinen  an  (Cento  8;  epigr.  25,  7;  39  Peiper);  trotzdem  soll  er 
nicht  nur  alles  Zweideutige,  sondern  auch  die  ganz  unschuldi- 
gen Erotika  von  seiner  Sammlung  ausgeschlossen  haben.  Es  ist 
nicht  selten,  daß  man  im  Alter  den  Uebermut  früherer  Jahre  verur- 
teilt; aber  bei  unserem  Dichter  trat  gerade  das  Gegenteil  ein.  Als 
er  schon  an  der  Schwelle  des  Grabes  stand,  fand  er  plötzlich  wie- 
der Gefallen  an  all  dem  Schmutz,  welchen  er  früher  der  Veröffent- 
lichung unwert  geachtet  hatte,  und  begann  ihn  eifrig  zusammenzu- 
tragen, um  ihn  einer  dritten,  der  ersten  wirklichen  Gesamtausgabe 
seiner  Schriften  einzuverleiben.  Dieser  legte  er  die  zweite  in  der 
Weise  zu  Grunde,  daß  er  ihre  Anordnung  im  Ganzen  beibehielt  und 
die  neu  hinzugekommenen  Stücke  an  den  passend  scheinenden  Stel- 
len einschob.  Noch  stand  er  aber  in  den  Anfängen  dieser  Arbeit, 
als  der  Tod  ihn  ereilte.  Seine  Erben  verstanden  das  Werk  nicht 
abzuschließen,  sondern  hängten  diejenigen  Schriften,  denen  ihr  Platz 
durch  den  Dichter  selbst  noch  nicht  angewiesen  war,  als   bunt  zu- 


Ausonias  rec.  Peiper.  iW 

sammengewttrfelte  Maese  den  Uebrigen  an.  So  entstand  ein  Boch| 
dessen  erste  Hälfte  die  dem  Theodosios  gewidmete  Sammlang  darch 
einige  wenige  Einschiebsel  vermehrt  reprodacierte  und  vortrefflich 
geordnet  war,  während  in  der  zweiten  die  Mehrzahl  der  seit  390 
entstandenen'  Schriften,  die  Erotika  nnd  was  sonst  in  die  ersten  Aas- 
gaben nicht  aufgenommen  war ,  ohne  jede  Ordnang  nebeneinander 
standen.  Aas  diesem  Bache  soll  dann  der  Urcodex  nnserer  sämt- 
lichen Ansoniashandschriften  hergeleitet  sein. 

Womit  Peiper  diese  Ansicht  begründet,  bin  ich  außer  Stande 
anzngeben,  da  ich,  wie  schon  gesagt,  seine  Argamentation  nur  sehr 
unvollständig  begriffen  habe.  Fragen  wir  uns  also  lieber,  welche 
Gründe  erforderlich  wären,  um  eine  so  künstliche  Hypothese  za 
rechtfertigen.  Von  den  beiden  ersten  Ausgaben  hat  sich  nach  Pei- 
pers  eigener  Meinung  nichts  unmittelbar  erhalten ;  über  ihre  Existenz 
könnte  nur  eine  direkte  Ueberlieferung  Nachricht  geben,  und  eine 
solche  meint  er  denn  auch  wirklich  in  den  beiden  Dedikationsge^ 
dichten  des  Vossianus  zu  finden.  Doch  von  diesen  sohlieftt  das  erste, 
an  Syagrius  gerichtete  mit  den  Versen: 

Sic  etiam  nostro  praefatos  habebere  libro, 
difierat  ut  nihilo,  alt  tuas  anne  meas. 

Hier  ist  von  Einem  Buche  die  Bede.  Die  Gedichtsammlung,  welche 
Ausonius  dem  Freunde  widmete,  muß  folglich  so  klein  gewesen  sein, 
daß  sie  einer  Einteilang  in  mehrere  Bücher  nicht  bedurfte.  Da  nun 
der  Umfang  seiner  Schriften  im  Jahre  383  schon  weit  über  das 
Maß  hinausgewachsen  war,  welches  die  antike  Sitte  einem  Mono- 
biblon  za  setzen  pflegte,  so  kann  hier  von  einer  Gesamtausgabe  gar 
nicht  die  Bede  sein.  Nicht  viel  besser  steht  es  mit  der  zweiten, 
welche  der  Dichter  dem  Theodosius  gewidmet  haben  soll.  Uns  ist 
ein  Brief  des  Kaisers  überliefert,  worin  er  Ausonius  um  Uebersen- 
dung  seiner  Schriften  bittet,  und  als  Antwort  darauf  ein  Gedicht, 
das  die  Zusage  enthält.  Es  unterliegt  also  freilich  keinem  Zweifel, 
daß  unser  Poet  einmal  ein  Prachtexemplar  seiner  sämtlichen  Werke 
hat  anfertigen  und  seinem  hohen  Gönner  zustellen  lassen.  Doch 
höchst  wahrscheinlich  hat  dasselbe  ein  sehr  stilles  Dasein  in  der 
kaiserlichen  Bibliothek  geführt;  daß  jemals  Abschriften  davon  ge- 
nommen und  durch  den  Buchhandel  verbreitet  wären,  läßt  sich  wenig- 
stens durch  nichts  belegen.  Mithin  wissen  wir  von  einer  Gesamt- 
ausgabe des  Ausonius,  die  er  selbst  zum  Abschluß  gebracht  hätte, 
gar  nichts;  soweit  Peipers  Hypothese  eine  solche  voraussetzt,  steht 
sie  völlig  in  der  Luft. 

Was  übrig  bleibt,  ist  jene  Ausgabe,  die  in  ihrem  ersten  Teil 
noch   von  dem  Dichter  sellMBt  geordnet  sein  soll,   im  zweiten  nicht 

36* 


gob  Gott.  gel.  Adz.  1687.  ]^r.  IB. 

mehr.  Worauf  kann  sich  diese  Annahme  gründen,  als  aaf  den  Zu- 
stand der  Handschriften?  Danach  sollte  man  meinen,  daß  wir  we- 
nigstens einzelne  besäßen,  in  deren  Anfangsteilen  die  klar  durchge- 
führte Anordnung  mit  dem  wüsten  Durcheinander  des  Schlusses  in 
au£fälligem  Gegensätze  stände.  Statt  dessen  ist  nach  Peipers  eige- 
ner Behauptung  die  Reihenfolge,  welche  Ausonius  selbst  seinen  Wer- 
ken gegeben  hat,  in  keiner  einzigen  erhalten.  Woher  weiß  er  also, 
daß  eine  solche  ursprüngliche  Ordnung  je  existiert  hat? 

Freilich  erklärt  er,  dieselbe  lasse  sich  aus  dem  Vossianus  noch 
deutlich  erkennen.  Wie  sollte  dies  aber  möglich  sein',  da  Peiper, 
um  jene  vorausgesetzte  Ordnung  herbeizuführen,  die  Gedichte  dieser 
Handschrift  fast  ebenso  rücksichtslos  umstellen  muß,  wie  die  aller 
übrigen?  Er  meint,  an  dieser  Verwirrung  seien  Blattverstellungen 
schuld.  Wäre  dies  richtig,  so  müßte  sich  in  den  Verszahlen  der 
angeblich  an  falsche  Stellen  geratenen  Stücke  eine  gewisse  Gleich- 
mäßigkeit nachweisen  lassen,  da  ja  der  Umfang  der  Blätter  und 
Quaternionen  des  Urcodex  hier  von  Einfluß  gewesen  sein  müßte. 
Doch  davon  ist  gar  nicht  die  Bede,  oder  wenigstens  hat  Peiper 
keinen  Versuch  gemacht,  den  erforderlichen  Beweis  zu  führen,  lieber- 
dies  kommt  es  kein  einziges  Mal  vor,  daß  Teile  desselben  Gedichtes 
oder  auch  nur  Teile  desselben  Gedichtcyclns  auseinandergerissen 
sind,  wie  dies  bei  so  zahlreichen  Blattverstellungen  doch  unver- 
meidlich wäre.  Also  nicht  nur  im  Vossianus  ist  die  Anordnung,  für 
welche  er  der  einzige  Zeuge  sein  soll,  ganz  unkenntlich,  sondern  es 
findet  sich  darin  auch  nicht  die  leiseste  Spur,  daß  sie  jemals  in  ir- 
gend einem  präsumierten  Urcodex  vorhanden  gewesen  sei. 

Doch  geben  wir  auch  zu,  daß  Peipers  Augen  schärfer  seien  als 
die  unseren,  und  daß  die  Reihenfolge,  welche  er  postuliert,  sich  im 
Vossianus  noch  erkennen  lasse,  so  ist  selbst  unter  dieser  Voraus- 
setzung sein  Beweis  doch  erst  halb  geführt-,  zu  der  Ordnung  im 
ersten  Teile  der  Handschrift  müßte  die  Unordnung  im  zweiten  tre- 
ten. Statt  dessen  ist  nach  Peiper  der  Vossianus,  abgesehen  von  je- 
nen Blattverstellungen,  von  Anfang  bis  zu  Ende  wohlgeordnet;  die 
verwirrte  Reihenfolge  findet  sich  in  einer  ganz  andern  Handschrif- 
tenklasse, deren  Hauptvertreter  der  Tilianus  ist.  Peiper  nimmt  des- 
wegen an,  der  Urcodex  sei  in  zwei  Stücke  zerrissen  worden,  und 
jede  Klasse  sei  nur  die  Abschrift  einer  seiner  Hälften.  Daß  das 
Princip  der  Anordnung  in  beiden  ganz  verschieden  sei,  behauptet  er 
selbst;  eben  darauf  beruht  ja  seine  Annahme,  daß  die  Ausgabe  der 
Gesamtwerke  nur  zum  Teil  von  Ausonius  besorgt  worden  sei.  Wo 
bleiben  da  die  Kennzeichen,  aus  denen  der  ursprüngliche  Zusammen- 
hang der  beiden  Klassen  sich  ergeben  soll? 


Ansonras  rec.  Peiper.  601 

Mehrere  Gedichte  finden  sich  in  beiden  wieder.  Darans  müßte 
Peiper  schlieften,  daß  in  jener  Qesamtansgabe  des  Ansonias  dieselben 
Werke  zweimal  gestanden  hätten ;  doch  hilft  er  sich  auf  andere 
Weise.  Nachdem  die  Vorlage  des  Vossianus  aus  der  ersten  Hälfte 
des  zerrissenen  Urcodex  abgeschrieben  war,  soll  derselbe  noch  wei- 
ter zerstückelt  und  einzelne  Fetzen  wieder  mit  der  zweiten  Hälfte 
vereinigt  sein.  Unter  diesen  Fetzen  kann  man  doch  kaum  etwas 
anderes  verstehn  als  Quaternionen  oder  Blätter.  Nun  befinden  sich 
aber  darunter  so  kleine  Stttcke,  wie  die  Aerumnae  Hercnlis,  welche 
nur  zwölf  Verse  zählen.  Wie  sollen  wir  uns  das  Format  eines  Ur- 
codex denken,  der  so  minime  Blätter  enthielt? 

Das  Fastenepigramm  ist  im  Vossianus  dem  Hesperius,  im  Tilia- 
nus  dem  Gregorins  gewidmet,  das  Technopaegnion  dort  dem  Paca- 
tus,  hier  dem  Paulinus;  das  letztere  trägt  in  beiden  Handschriften- 
klassen sogar  eine  verschiedene  Dedikationsepistel.  Wie  läßt  sich 
dies  mit  der  Fetzentheorie  Peipers  vereinigen? 

Die  Klasse  des  Tilianus  enthält  an  zweiter  Stelle  das  folgende 
Epigramm : 

Est  quod  mane  legas,  est  et  quod  vespere;  laetis 

seria  miscuimus,  tempore  ut  placeant. 
non  onus  vitae  color  est  nee  carminis  unus 

lector;  habet  tempas  pagina  quaeque  suum. 
hoc  mitrata  Venus,  prohat  hoc  galeata  Minerva, 

Stoicus  has  partes,  has  Epicuras  agit. 
salva  mihi  veterum  maneat  dum  regula  morum, 

plaudat  permissis  sobria  musa  iocis. 

Offenbar  ist  dies  das  Einleitungsgedicht  zu  einer  größeren  Samm- 
lung mannigfachen  Inhalts.  In  dieser  Handschriftenklasse  sind  aber 
nur  die  drei  letzten  Verse  erhalten;  den  Anfang  des  Epigramms 
kennen  wir  aus  anderer  Quelle.  Da  also  hier  eine  Lttcke  in  der  Ur- 
handschrift  des  Tilianus  war,  welche  doch  wohl  durch  den  Verlust 
oder  die  Zerstörung  eines  Blattes  hervorgerufen  sein  wird,  so  ist  es  sehr 
wahrscheinlich,  daß  sie  nicht  nur  die  fünf  Anfangsverse  des  ange- 
führten Gedichtes  verschlungen  hat,  sondern  auch  den  SchluB  des 
vorhergehenden.  Dieses  preist  in  seinen  erhaltenen  Versen  den  Gra- 
tian  als  Pfleger  der  Musen;  es  ist  wohl  mehr  als  Vermutung,  daß 
ein  Lob  dieser  Art  ursprünglich  die  Einleitung  zur  Dedikation  der 
Sammlung  bildete.  Also  der  Urcodex  der  Tilianusgruppe  begann 
mit  einem  Widmungsgedicht  an  den  Kaiser,  darauf  folgte  die  kurze 
poetische  Inhaltsangabe,  welche  wir  oben  haben  abdrucken  lassen. 
Und  eine  Handschrift,  welche  einen  so  passenden  Anfang  hatte,  sollte 
das  abgerissene  Schlußstück  eines  verlorenen  Urcodex  gewesen  sein ? 
Doch   damit   sind   die   Unwahrscheinlichkeiten  der  Peiperschen 


602  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  18. 

Hypothese  noch  nicht  erschöpft.  In  einer  Gesamtausgabe  des  Aasonius 
kann  sein  Hauptwerk  am  wenigsten  gefehlt  haben ;  nichtsdestoweniger 
steht  die  Mosella  weder  im  Vossianas  noch  im  Tilianns.  Nattlrlioh  soll 
anch  sie  auf  einem  Fetzen  gestanden  haben,  der  sich  ans  der  all- 
umfassenden Urhandschrift  losgelöst  hatte«  An  der  Stelle,  wo  Peiper 
im  Yossianns  die  Lücke  ansetzt,  fehlt  weder  der  SchluB  des  ihr 
Yorhergehenden,  noch  der  Anfang  des  folgenden  Gedichtes.  Jener 
Fetzen  hatte  also  wieder  die  merkwürdige  Eigentümlichkeit,  daß  er 
gerade  mit  dem  Anfang  eines  Gedichtes  begann  und  mit  dem 
Schlüsse  eines  andern  endete.  Alles  dies  sollen  wir  glauben,  nur 
damit  dem  Ausonius,  wie  dem  Horaz  sein  Urcodex  und  seine  Gesamt- 
ausgabe zu  Teil  werde. 

Wir  würden  uns  bei  der  Widerlegung  nicht  so  lange  aufgehal- 
ten haben,  wenn  nicht  Peipers  Hypothese,  obgleich  in  Einzelheiten 
bestritten,  doch  in  ihrer  Gesamtheit  die  ganze  Ausoniuskritik  be- 
herrschte. Schenkls  Ausgabe  steht  völlig  unter  ihrem  EinfluB,  und 
selbst  Brandes,  der  sie  in  vielen  Punkten  mit  Scharfsinn  und  Glück 
bekämpft  hat,  konnte  sich  ihrem  Banne  nicht  gänzlich  entziehen. 
Dem  gegenüber  mufite  namentlich  der  Satz  scharf  und  klar  hervor- 
gehoben werden,  daß  wir  von  einer  Gesamtausgabe  des  Dichters 
nicht  das  Geringste  wissen  und  wissen  können.  Wenn  je  eine  exi- 
stiert hat,  was  ich  für  sehr  unwahrscheinlich  halte,  so  ist  sie  auf 
unsere  üeberlieferung  ohne  jeden  Einfluß  geblieben. 

Wie  also  ist  die  höchst  eigentümliche  und  sehr  interessante  Ge- 
stalt der  Ausoniasüberlieferung  zu  erklären?  Um  hierauf  die  Ant- 
wort zu  geben,  müssen  wir  zuvörderst  untersuchen,  wie  man  im 
vierten  Jahrhundert  überhaupt  zu  publicieren  pflegte,  und  wie  na- 
mentlich Ausonius  seine  Schriften  publiciert  hat. 

Selbst  in  der  schönsten  Blütezeit  der  römischon  Dichtkunst  war 
das  litterarische  Interesse  nicht  so  rege  und  allgemein,  die  Schätzung 
litterarischer  Verdienste  nicht  so.  hoch,  wie  im  vierten  Jahrhundert 
Dem  Kaiser  ein  lesbares  Buch  zu  widmen,  war  das  sicherste  Mittel| 
um  schnell  zu  Ehren  und  Würden  emporzusteigen,  und  Männer  nie- 
drigster Geburt  wurden  selbst  von  den  adelstolzesten  Häuptern  des 
römischen  Senats  nicht  als  Emporkömmlinge  betrachtet,  wenn  sie, 
wie  Aurelius  Victor  oder  unser  Ausonius,  sich  litterarisch  legitimiert 
hatten.  In  der  Aristokratie  sämtlicher  Provinzen,  vor  allem  aber 
bei  Hofe,  war  die  Schöngeisterei  so  zur  Mode  geworden,  daß  selbst 
die  barbarischen  Generale  sich  der  allgemeinen  Strömung  nicht  zu 
entziehen  wagten.  Bichomer  und  Baute,  deren  Bildung  gewiß  nicht 
ausreichte,  nm  ihnen  das  Verständnis  für  den  Beiz  Symmachiani- 
scher  und  Libanischer  Bedeschnitzel  zu  eröffnen,  sorgten  doch  daftir. 


Ausonias  rec.  Peiper.  603 

daft  es  ihnen  nicht  an  ansehnlichen  Panegyrikern  fehle,  und  bemüh- 
ten sich  eifrig  nm  litterariscb  berühmte  Korrespondenten.  Jedes 
Produkt  einer  anerkannten  Größe,  mochte  es  anch  noch  so  unbedeu- 
tend sein,  suchte  man  sich  so  schnell  als  möglich  zu  verschaffen,  um 
es  gebührend  zu  bewundern  und  zuerst  den  Freunden  mitzuteilen. 
Den  kleinen  Briefchen  des  Symmachns  jagte  man,  trotz  ihrer  un- 
glaublichen Inhaltlos! gkeit,  mit  solchem  Eifer  nach,  dafi  man  seinen 
Boten  auf  den  Straßen  auflauerte,  um  Sendungen,  die  an  andere  ge- 
richtet waren,  abzufangen  und  eiligst  davon  Abschriften  zu  nehmen 
(Symm.  ep.  II48  quae^  tU  confidOy  tarn  tradita  sunt;  nisi  forte  denuo 
aliquis  ex  urbanis  divüHms  insessor  viarutn  scripta  nostra  furaverü). 
Auf  diese  Weise  muß  sich  in  den  Bibliotheken  der  Litteraturfreunde 
neben  den  Bücherrollen  auch  eine  ganze  Anzahl  einzelner  Zettelchen 
angesammelt  haben;  denn  nur  in  dieser  Form  ließen  sich  Briefe, 
wie  die  des  Symmachus,  Epigramme,  litterarische  Kleinigkeiten  aller 
Art,  denen  man  doch  einen  großen  Wert  beilegte,  leicht  zusammen- 
tragen und  aufbewahren. 

Hieraus  ergibt  sich,  wie  wir  uns  das  erste  Bekanntwerden  der 
kleinen  und  kleinsten  Schriften  auch  bei  Ausonius  zu  denken  haben. 
Die  Episteln  haben  natürlich  ganz  dasselbe  Schicksal  gehabt,  wie 
die  Symmachianischen :  sie  wurden  dem  Adressaten  zugestellt,  von 
ihm  aufbewahrt  und  seinen  Freunden  in  Abschrift  mitgeteilt  oder 
wenigstens  vorgelesen.  Diese  Form  der  Verbreitung  war  für  Epi- 
gramme und  versus  memoriales  zwar  ungeeignet;  doch  ein  so  eitler 
Mensch,  wie  Ausonius,  wird  sich  gewiß  bestrebt  haben,  auch  diese 
Früchte  seiner  Muse  so  schnell  wie  möglich  an  den  Mann  zu  brin- 
gen, und  die  Gelegenheit  dazu  konnte  ihm  nicht  fehlen.  Wenn  er 
bei  der  Tafel  des  Kaisers  oder  beim  Gastmahle  saß,  wird  gewiß  ir- 
gend einer  der  Anwesenden  die  Höflichkeit  gehabt  haben,  den  be- 
rühmten Dichter  nach  seinen  neuesten  Erzeugnissen  zu  fragen,  und 
nach  einigem  bescheidenen  Sträuben  wird  Ausonius  sein  Schreib- 
täfelchen hervorgeholt  und  eine  oder  die  andere  Kleinigkeit  vorge- 
lesen haben.  Selbstverständlich  folgte  dem  Vortrage  der  Excellenz 
begeisterter  Beifall;  die  Eifrigsten  baten  sich  Abschriften  aus,  und 
diese  Zettel  wanderten  in  ihre  Bibliotheken  zu  den  übrigen  Kleinig- 
keiten ähnlicher  Art. 

Hat  diese  Form  der  Verbreitung  auf  unsere  Ausoniusüberliefe- 
rung  irgend  einen  Einfluß  geübt?  Daß  diese  Frage  sich  nicht  ohne 
Weiteres  von  der  Hand  weisen  läßt,  ist  klar;  doch  sie  abschließend 
zu  beantworten,  vermag  ich  nicht,  da  ich  von  den  in  Betracht  kom- 
menden Handschriften  fast  keine  selbst  gesehen  habe  und  nur  von 
sehr  wenigen    mir    ausreichende   Beschreibungen    zugänglich   sind. 


504  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  13. 

Immerhin  gewährt  schon   das   von  Peiper   and  Scbenkl   mitgeteilte 
Material  in  dieser  Beziehung  interessante  AufschlHsse. 

Besonders  lehrreich  ist  der  Briefwechsel  mit  Panlions.  Dieser 
zerfällt  in  zwei  große  Massen,  von  denen  die  eine  (23—26  Peiper) 
nur  in  der  Gruppe  des  Tilianus,  die  andere  (27 — 31)  in  mehreren 
von  einander  unabhängigen  Handschriften  erhalten  ist  Die  Reihen- 
folge der  Briefe  ist  in  den  einzelnen  Textesqnellen  folgende: 

1)  Parisinus  8500:  31  a.b.*)  30a. b.  31c.  28.  27 a.b.  29.  Es 
fehlt  der  Schluß  von  31  o  von  V.  285  an. 

2)  Paris.  2122  und  Bruxell.  10703/5:  29.31b.  28.  30 ab.  27  a.b. 
31  c.    Es  fehlt  31  a. 

3)  Vossianus:  29.  27 a.b.  28.  30a.  31c. a.b.    Es  fehlt  30b. 

4)  Paris.  7558:  29.  28.30a.  31c.  27b.  31  a.b.  Es  fehlen 
27  a.  30  b. 

5)  Harleianus  2613:  28.  27  a.  b-V.  122.  31  a.  b.  30  a.  b.  31  c— 
V.  166.    Es  fehlen  29,  27  b  V.  123—132,  31c  V.  167—331. 

6)  Außerdem  ist  29  noch  in  mehreren  Handschriften  allein  über- 
liefert. 

Sehen  wir  von  der  sechsten  Gruppe  ab,  so  ist  der  Bestand  der 
Sammlung  überall  ziemlich  der  gleiche,  doch  jedesmal  fehlt  minde- 
stens Ein  Stück,  und  zwar  fast  jedesmal  ein  anderes,  und  immer  ist 
die  Reihenfolge  verschieden.  Daß  in  den  Handschriften,  aus  wel- 
chen unsere  Textesquellen  hergeleitet  sind,  Blätter  ausgefallen  oder 
verstellt  gewesen  wären,  läßt  sich,  außer  beim  ersten  Parisinus  und 
beim  Harleianus,  unmöglich  annehmen ;  denn  die  Stücke,  welche  fehlen 
oder  ihren  Platz  gewechselt  haben,  sind  ja  nicht  Fragmente,  son- 
dern ganze,  in  sich  abgeschlossene  Gedichte,  und  niemals  ist  eine 
Handschrift  so  angeordnet,  daß  der  Abschnitt  des  Sinnes  immer  mit 
dem  Ende  des  Blattes  zusammenfiele.  Auch  an  absichtliche  Aus- 
lassungen und  Aenderungen  der  Keihenfolge  läßt  sich  kaum  denken, 
da  gar  kein  Grund  dafür  zu  finden  ist.  So  bleibt  für  diese  ver- 
schiedene Anordnung  der  Briefe  meines  Erachtens  nur  Eine  Erklä- 
rung übrig:  Die  Urquelle  unserer  Handschriften  war  nicht  ein  zu- 
sammenhängender Codex,  sondern  ein  Convolut  einzelner  Blätter, 
deren  jedes  nur  Ein  Gedicht  enthielt,  d.  h.  es  war  eine  Zettelsamm- 
lung,  wie  wir  sie  oben  charakterisiert  haben. 

Wo  sich  in  Sammelhandschriften  vereinzelte  Ausonische  Stücke 
finden,  da  nimmt  man  gewöhnlich  an,  sie  seien  aus  den  größeren 
Corpora  excerpiert.    Mitunter  wird  dies  richtig  sein,  doch  sollte  man 

1)  Mit  a,  b,  e  bezeichne  ich  diejenigen  Teile  der  von  Peiper  zusammenge- 
faSten  Stücke,  welche  sich  entweder  durch  Wechsel  des  Versmaßes  oder  durch 
neue  Ueberschriften  oder  durch  beides  von  einander  sondern. 


Ausonius  rec.  Peiper.  605 

in  jedem  Falle  auch  die  zweite  Möglichkeit  nicht  auBer  Betracht 
lassen,  daß  jene  Miscellancodices  ans  Zettelsammlangen  entstanden 
sind.  Dies  za  erforschen,  wäre  vom  höchsten  Interesse,  da  aller 
Wahrscheinlichkeit  nach  gerade  die  ältesten  Redaktionen  der  einzel- 
nen Schriftchen  ans  in  dieser  Form  erhalten  sein  durften.  Als  Aq- 
sonins  sich  endlich  zu  einer  wirklichen  Edition  seines  Griphus  ent- 
schloß, schrieb  er  darüber  an  Symmachas:  iste  nugator  libeUi^s  iam 
diu  secreta  quidem,  sed  vtdgi  ledione  laceratus  perveniet  tandem  in 
manus  tu(is.  Also  ehe  der  Dichter  die  letzte  Feile  an  sein  Werk- 
chen anlegte,  nm  es  der  Oeffentliehkeit  zu  übergeben,  waren  schon 
zahlreiche  Abschriften  davon  verbreitet.  So  wird  es  auch  mit  den 
andern  Gedichten  gegangen  sein,  und  wenn  sie  überhaupt  in  ihrer 
frühesten  Gestalt  auf  uns  gekommen  sind,  könnte  dies  nur  durch 
jene  Zettelsammlungen  geschehen  sein.  Daß  die  Hoffnung  nicht  ver- 
geblich ist,  in  den  Miscellanhandschriften  jene  ersten  Recensionen 
wiederzufinden,  scheint  sich  mir  namentlich  aus  der  Ueberlieferung 
der  Oratio  matutina  zu  ergeben. 

Diese  ist  uns  in  fUnf  von  einander  gänzlich  unabhängigen  Quel- 
len erhalten^):  1)  und  2)  in  den  beiden  Corpora  des  Vossianus  und 
des  Tilianns,  3)  im  Parisinus  7558  verbunden  mit  dem  Briefwechsel 
des  Ausonius  und  Paulinus,  4)  im  Cantabrigiensis  zusammen  mit  dem 
Technopaegnion,  5)  im  Parisinus  18275  verbunden  mit  einer  Anzahl 
kleinerer  Gedichte  des  Ausonius^).  In  der  letzten  dieser  Hand- 
schriften stehn  nur  die  Verse  58 — 78,  doch  so  geordnet,  daß  der 
Anfangsvers  an  den  Schluß  gestellt  ist.  Das  ganze  Fragment  lautet 
hier  also  folgendermaßen: 

Nil  metaam  cupiamqae  nihil:  satis  hoc  rear  esse, 
60  quod  satis  est!  nil  turpe  velim  nee  causa  pudoris 

sim  mihi!   non  faciam  cuiqaam,  quae  tempore  eodem 

nolim  facta  mihi!   nee  vero  crimine  laedar 

nee  maculer  dubio:  paulum  distare  videtur 

suspectus  vereque  reus,  mala  posse  facultas 
65  nulla  sit  et  bene  posse  adsit  tranquilla  potestas! 

sim  tenni  victu  atque  habitu,  sim  carus  amicis 

et  semper  genitor  sine  vulnere  nominis  huins! 

1)  Vielleicht  sind  es  auch  mehr;  doch  von  den  Handschriften,  welche  nach 
Peiper  (praef.  p.  LXXX)  das  Gebet  allein  enthalten,  weiß  ich  nichts  als  die 
Namen,  und  vermag  daher  nicht  zu  entscheiden,  ob  sie  eine  unabhängige  Ueber- 
lieferung repräsentieren. 

2)  Daß  diese  Handschrift  einen  Auszug  aus  der  Sammlung  des  Tilianns 
enthalte  (Peiper,  die  handschr.  Ueberlieferung  des  Ausonius  S.  275),  ist  nur  fär 
den  ersten  Teil  ihrer  Ausoniana  richtig.  Die  Oratio  ist  aus  anderer  Quelle  hin- 
zugefügt, wie  ihre  Lesarten,  die  meistens  mit  dem  Vossianus  gegen  die  Gruppe 
des  Tilianns  gehn,  klärlich  beweisen. 


506  Gott.  gel.  An«.  1887.  Nr.  13. 

noii  auimo  doieam,  noa  corpore;  cancta  raeüs 

faogantur  membra  officiis ;  nee  sandos  ollis 
70  partibns  amissom  quidqaam  desideret  usna! 

pace  froar,  secunis  agam,  miracala  terrae 

nalla  potem^  suprema  dii  cum  vonerit  hora, 

nee  timeat  mortem  bene  conscia  vita  nee  opteti 

puros  et  occaltis  cnm  te  indalgente  videbor, 
75  omnia  despiciam,  fuerit  cam  sola  yoluptas 

indicium  sperare  tuum!  quod  dam  saa  differt 

tempora  cunctanturque  dies,  procul  exiges  aevo 
78  iusidiatorem  blandis  erroribus  anguem. 
58  da,  pater,  haec  nostro  fieri  rata  Tota  precatu! 

Daß  UDS  hier  kein  z afällig  aas  seinem  Zusammenhange  ge- 
rissenes Fragment  vorliegt,  ist  aaf  den  ersten  Blick  klar.  Schon 
allein  die  Umstellong  von  Vers  58,  welcher  im  Parisinas  das  ganze 
Gebet  sehr  passend  abschließt,  würde  beweisen,  daß  derjenige,  wel- 
cher es  so  niederschrieb,  die  Absicht  hatte,  ein  Ganzes  zu  bieten. 
Und  wirklich  ist  es  das  geworden :  wer  die  Oratio  matutina  in  ihrer 
andern  Gestalt  nicht  kennt,  wird  hier  weder  Anfang  noch  Schlaft 
vermissen.  Sollte  irgend  ein  Schreiber  dies  Stflck  ans  dem  voll- 
ständigen Gedicht  excerpiert  nnd  so  meisterlich  abgerundet  haben? 
Die  Schreiber  des  Mittelalters  w*aren  alle  mehr  oder  weniger  Theo- 
logen, und  einem  solchen  hätten  die  weggelassenen  Teile  in  ihrer 
stark  dogmatischen  Färbung  wahrscheinlich  viel  besser  gefallen,  als 
die  einfache  Lebensweisheit  dieser  Bitte.  Schwerlich  also  hätte  er 
sie  vor  dem  übrigen  Gebet  so  sehr  bevorzugt,  um  sie  allein  in  sei- 
nen Sammelcodex  aufzunehmen.  Hingegen  ist  es  sehr  wohl  mög- 
lich, daß  Ansonius  selbst  das  Gedicht  ursprünglich  in  dieser  kürze- 
ren Fassung  geschrieben  hat,  und  daß  der  gegenwärtige  Anfang  und 
Schloß  spätere  Erweiterungen  sind. 

Auch  in    der  folgenden  Recension,   welche  uns  die  Familie  des 

Tilianus  repräsentiert,  fehlen  noch  neun  Verse  8—16: 

ipse  opifex  rerum,  rebus  caasa  ipse  creandis, 

ipse  dei  verbum,  verbam  deos,  anticipator 
10  mandi,  qaem  facturus  erat;  generatus  in  illo 

tempore,  quo  tempns  nondnm  fuit;  editus  ante 

quam  iubar  et  rutilus  caelum  inlustraret  Eous; 

quo  sine  nil  actum,  per  quem  facta  omnia;  cuius 

in  caelo  solium,  cui  subdita  terra  sedenti 
15  et  mare  et  obscurae  chaos  insuperabile  noctis; 

inrequies,  cuncta  ipse  movens,  yegetator  inertum. 

Der  Tilianus   liest  also   an  der  betreffenden  Stelle  folgendermaften : 

cemere  quem  solus  coramque  audire  iubentem 
7  fas  habet  et  patriam  propter  considere  dextram 
17  non  genito  genitore  deus,  qui  fraude  superbi 
offensus  populi  gentes  in  regna  vocavit, 
stirpis  adoptivae  meliore  propage  colendus. 


Aasonius  rec.  Peiper.  607 

Das  Fehlen  jener  nenn  Verse  bewirkt  also  gar  keine  erkennbare 
Lttcke,  ein  unerklärlicher  Zufall,  wenn  sie  nur  durch  die  Zerstörung 
des  ürcodex  oder  durch  Schreiberversehen  ausgefallen  wären.  Noch 
weniger  aber  darf  man  an  absichtliche  Tilgun|^  denken,  denn  wel- 
cher Grund  hätte  diese  veranlassen  können?  Als  Zusatz  des  Dich- 
ters dagegen  sind  jene  Verse  sehr  leicht  zu  erklären.  Das  ganze 
Gebet  ist  an  Gott  den  Vater  gerichtet;  in  der  Recension  des  Tilia- 
nns  wird  des  Sohnes  nur  nebenher  gedacht.  Zu  einer  Zeit,  in  wel- 
cher das  Verhältnis  der  beiden  göttlichen  Personen  die  brennende 
Frage  des  Tages  bildete,  konnten  eifrige  Theologen  hierin  leicht  e^ 
was  wie  versteckten  Arianismus  wittern.  Ihre  Bedenken  zu  beschwich- 
tigen, wird  Ausonius  jenen  kurzen,  aber  vollständigen  Abriß  der  or- 
thodoxen Christologie  eingeschoben  haben,  welchen  die  fraglichen 
neun  Verse  enthalten. 

Zuerst  begegnen  uns  dieselben  im  Gantabrigensis,  welcher  aufier- 
dem   noch   eine   sehr  bemerkenswerte  Korrektur  der  älteren  lieber- 
lieferung  enthält.    Vers  84  lautet  in  der  Gruppe  des  Tilianus: 
Consona  quem  celebrat  modalato  carmine  plebes. 

Dagegen  im  Vossianus: 

Consona  quem  celebrant  modulati  carmina  David. 

und  in  der  Paulinussammlung: 

Mystica  quem  celebrant  modulati  carmina  David. 

Im  Catabrigiensis  endlich  stehn  die  Versionen  des  Tilianus  und  Vossia- 
nus neben  einander.  Auf  den  ersten  Blick  möchte  man  daraus 
schließen,  daß  er  auf  einer  Handschrift  beruhe,  in  welcher  die  bei- 
den Becensionen  contaminiert  waren;  doch  nähere  Prüfung  seiner 
übrigen  Lesarten  erweist  dies  als  irrig.  Denn  überall  sonst  geht  er 
mit  dem  Tilianus;  nirgend  ist  die  leiseste  Spur  einer  Korrektur  aus 
dem  Vossianus  oder  einer  verwandten  Handschrift  zu  entdecken. 
Wir  werden  also  vermuten  dürfen,  daß  der  Gantabrigiensis  aus  dem- 
jenigen Einzelexemplar  der  Oratio  geflossen  ist,  in  welchem  jene 
theologischen  Korrekturen  zuerst  an  den  Rand  geschrieben  waren: 
denn  wenn  als  würdiger  Lobsänger  Christi  an  die  Stelle  der  gläu- 
bigen Menge  der  Priesterkönig  gesetzt  ist,  so  hat  auch  dies  einen 
stark  hierarchisch-dogmatischen  Beigeschmack. 

Eine  Beihe  neuer  Korrekturen  zeigt  die  Paulinussammlung,  von 
denen  vnr  nur  Eine  hervorheben  wollen.  Der  erste  Vers  hatte  im 
Tilianus  und  Gantabrigiensis  folgenden  Wortlaut: 

Omnipotens,  quem  mente  colo,  pater  uniee  rerum. 

Wenn  Gott  Vater  hier  als  einziger  Erzeuger  aller  Dinge  angere- 
det wurde,  so  konnte  man  dahinter  die  ketzerische  Ansicht  vermu- 


508  Gott.  gel.  Anz.  1887.  No.  13. 

tea,  als  wenn  Gott  Sohn  an  der  Weltschöpfang  keinen  Teil  gehabt 
habe.    Die  PaulinasBammlang  schreibt  daher: 

Omoipotes,  solo  mentis  mihi  cognite  cultu. 

Es  ist  klar,  daß  das^^t^^n  mente  coh  hier  nur  in  eine  breitere  Form 
gezerrt  ist,  um  dadurch  den  Schlußteil  des  Verses  ttberfltissig  zu  ma- 
chen. Ich  halte  es  für  recht  wahrscheinlich,  daß  die  Aenderungen 
dieser  Recension  von  dem  frommen  Paulinus,  dem  Freunde  und  Ver- 
wandten des  Dichters,  herrühren. 

Der  Vossianus  contaminiert  die  Lesarten  des  Cantabrigiensis  und 
der  Panlinussammlung;  Neues  bietet  er  innerhalb  des  Gebetes  selbst 
nicht  mehr,  wohl  aber  hat  er  es  in  einen  neuen  Znsammenhang  ein- 
geordnet. Es  steht  hier  in  einem  Gyclus  von  Gedichten ,  welche  die 
Geschäfte  des  ganzen  Tages  schildern.  Daß  es  ursprünglich  in  die- 
sen hineingehöre  und  in  den  bisher  besprochenen  Handschriften  nur 
aus  ihm  herausgerissen  sei,  halte  ich  für  sehr  unwahrscheinlich. 
Schon  daß  der  Vossianus  die  allerjüngste  Form  des  Textes  zeigt, 
würde  dem  widersprechen.  Das  Einzige,  was  sich  mit  einigem  Fug 
zu  Gunsten  dieser  Ansicht  geltend  machen  läßt,  ist  die  Ueberschrift: 
oratio  matutinaj  welche  das  Gedicht  auch  im  Tilianus  und  Cantabri- 
giensis trägt.  Doch  warum  sollte  Ausonius  ein  Gebet,  das  er  viel- 
leicht thatsächlich  jeden  Morgen  hersagte,  nicht  auch  selbständig 
unter  dem  Titel  »Morgengebett  niedergeschrieben  und  seinen  Freun- 
den mitgeteilt  haben? 

Ein  anderes  Zeichen  dafür,  daß  wir  in  den  Zettelsammlungen 
die  ursprünglichste  Form  der  Gedichte  zu  suchen  haben,  gewährt 
der  Einleitungsbrief  des  ludus  Septem  sapientum.  Das  Schriftchen 
findet  sich  außer  im  Vossianus  auch  im  Parisinus  8500,  der  uns  in 
seiner  wirren  Mischung  aller  möglichen  Ausoniana  und  Prudentiana 
den  ausgeschütteten  Zettelkasten  wohl  am  deutlichsten  erkennen 
läßt.  In  jener  Epistel  fordert  der  Dichter  den  Pacatus  auf,  er  möge 
an  seinem  Werke  strenge  Gensur  üben  und  es  durch  seine  Strei- 
chungen ebenso  verschönen,  wie  Aristarch  und  Zenodot  am  Homer 
gethan  hätten.    Die  Stelle  heißt  im  Parisinns: 

Pone  obelos  igitur  pariorum  stemmata^)  vatnm: 

palmas,  non  culpas  esse  putabo  meas, 
et  correcta  magis  quam  condemnata  vocabo, 
adponet  docti  quae  mihi  lima  viri. 

Dagegen  im  Vossianus: 

Pone  obelos  igitur:  primorum  stemma  vocabo, 
adponet  docti  quae  mihi  lima  viri. 

1)  Warum  Peiper  hier  die  Aenderung  des  Ugoletus:  stigmata  in  den  Text 
gesetzt  hat,  ist  mir  unerfindlich.  Wie  man  aus  Forcellini  ersehen  kann,  bedeutet 
siemma  im  späten  Latein  auch  den  Ehrenkranz. 


Ansomus  rec.  helper.  609^ 

Von  einer  Lttcke  kann  hier  nicht  die  Rede  sein.  Wenn  die  beiden 
Mittelyerse  einfach  ausgefallen  wären,  könnte  der  Zusammenhang 
nicht  so  ungetrübt  erscheinen.  Eine  Korrektur  des  Autors  ist  um 
so  eher  vorauszusetzen,  als  derOedanke  im  Parisinus  äußerst  schief 
ausgedrückt  ist.  Was  Pacatus  verdammte  (condemnata),  konnte  doch 
unmöglich  für  den  Dichter  zum  Ehrenzeichen  werden,  schon  weil  er 
es  streichen  mußte  und  es  folglich  für  jeden  künftigen  Leser  un- 
sichtbar wurde.  Dies  fühlt  Ausonius  selbst  und  spielt  daher  im  letz- 
ten Verse  das  Streichen  in's  positive  Bessern  hinüber.  Doch  auch 
hierfür  ist  die  Form  sehr  ungeschickt  gewählt.  »Was  mir  deine 
Feile  hinzufügt  {adponet)^  werde  ich  nicht  sowohl  für  verdammt,  als 
für  verbessert  halten«.  Das  ist  der  haare  Unsinn,  doch  nichts  desto 
weniger  hat  Ausonius  zweifellos  so  geschrieben;  freilich  auch  mit 
gutem  Grunde  in  der  zweiten  Auflage  den  ärgsten  Widerspruch  ge- 
tilgt, obgleich  damit  der  schiefe  Gedanke  noch  keineswegs  gerade 
gerückt  ist. 

Wo  der  Tilianus  und  die  übrigen  Handschriften  vom  Vossianus 
erheblich  abweichen,  sind  ihre  Lesarten  fast  immer  schlechter;  doch 
wenn  Peiper  daraus  schließt,  jene  müßten  interpoliert  sein,  so  ist 
dies  ein  großer  Irrtum.  Denn  vorausgesetzt,  daß  der  Dichter  nicht 
ganz  urteilslos  verfahren  ist,  müssen  die  Aenderungen  einer  späteren 
Recension  doch  naturgemäß  in  ihrer  Mehrzahl  Besserungen  sein. 
Daß  dies  übrigens  nicht  ausnahmslos  der  Fall  war,  zeigt  das  Epi- 
cedion.    Hier  schreibt  die  Gruppe  des  Tilianus  V.  37  ff.  : 

Coniagium  per  lustra  novem,  sine  crimine  consors, ') 

anum  habai;  gnatos  tri»  numero  genui, 
maximas  ad  sammum  culmen  pervenit  bonorum, 
praefectus  Gallis  et  Libyae  et  Latio. 

Dies  ist  ungenau,  denn  der  alte  Ausonius  hatte  vier  Kinder  gehabt; 
doch  da  die  älteste  Tochter  schon  als  Säugling  gestorben  war,  lange 
ehe  das  Bewußtsein  im  Dichter  selbst  erwachte,  war  es  mensch- 
lich und  poetisch  ganz  gerechtfertigt,  von  ihr  zu  schweigen.  Auch 
in  den  Parentalien  scheint  sie  Ausonius  anfangs  vergessen  zu  haben. 
Denn  wenn  eine  so  nahe  Verwandte  erst  an  vorletzter  Stelle,  nach 
allen  Vettern,  Basen  und  Schwägern,  ihren  Platz  gefunden  hat,  so 
läßt  sich  dies  wohl  kaum  auf  andere  Weise  erklären.  Ebenso  be- 
rechtigt ist  es,  daß  der  Dichter  über  die  Schicksale  seiner  anderen 
Geschwister,  welche  in  der  Dunkelheit  gelebt  hatten  und  gestorben 
waren,   mit  Stillschweigen   hinweggeht,   da  hier,   wo  es  galt,   den 

1)  Unzweifelhaft  ist  censors,  nicht  mit  der  zweiten  Hand  des  Yossianufl 
Concors  zu  schreiben;  sine  erimine  eonsors  ist  ein  Ehemann,  dem  man  keine  Un- 
treue vorwerfen  kann. 


510  Gott.  gel.  Aoz.  1887.  Nr.  10. 

Rohm  seines  Vaters  za  preisen,  nur  derjenige  Sobn  einer  ansfübrli- 
cheren  Schilderang  bedurfte,  welcber  seinem  Erzeager  Rabm  ge- 
bracht batte.  Oegen  die  Ueberlieferung  des  Tilianus  ist  also  gar 
nichts  einzuwenden ,  aber  freilich  begreift  man,  warum  Ausonius  sein 
Gedieht  in  der  Sammlung  des  Vossianus  folgendermaßen  vervollstän- 
digt hat: 

Goninginm  per  lustra  novem,  sine  crimine  consors, 

anum  habui,  gnatos  quatiuor  edidimus. 
prima  obiit  lactans,  at  qui  fait  ultimas  aeri, 

pubertate  rudi  non  rudis  interiit. 
maximus  ad  summam  etc. 

Der  Dichter  bat  seine  Ungenauigkeit  gut  gemacht,  um  dafttr  in  die 
trockenste  Pedanterie  zu  verfallen.  Doch  mag  man  auch  darüber 
streiten,  ob  guaUtMr  edtdimt^s  oder  tris  numero  genui  die  bessere 
Lesart  sei:  daß  keine  von  beiden  die  Interpolation  eines  mittelalter- 
lichen Schreibers  sein  kann,  bedarf  wahrlich  keines  Beweises. 

Doch  wir  haben  unserem  Thema  vorgegriffen.  Wir  wollten  von 
den  antiken  Ausgaben  des  Ausonius  reden  und  sind  bis  jetzt  nur  zu 
den  Zettelsammlungen  gelangt,  denen  dieser  Namen  jedenfalls  nicht 
zukommt.  Unter  den  Ausgaben  im  engeren  Sinne  lassen  sich  zwei 
Formen  unterscheiden,  die  wir,  da  es  an  einem  technischen  Aus- 
drack  fehlt,  die  verschämte  und  die  offene  nennen  wollen.  Ftir  beide 
Arten  gewährt  Sulpicius  Severus  wohl  die  bezeichnendsten  Beispiele. 
Seine  Vita  Sancti  Martini  beginnt  also :  Severus  Desiderio  fratri  ca- 
rissimo.  ego  quidem^  frater  unanimiSj  HbeUum^  quem  de  vüa  sancti  Martini 
scripseram,  scheda  sua  premere  et  intra  damesticos  parietes  cohibere 
decreveramj  gma,  ut  sum  natura  infirmissimus,  iudida  hutnana  vitor 
banty  ne,  quad  fore  arbiträr,  sermo  incuUior  legentibus  displiceret  am- 
niumque  reprehensionis  dignissimus  iudicarer^  qui  materiem  disertis 
merito  seriptoribus  reservandam  inpudens  occupassem:  sed  petenti  tibi 
saepius  negare  nan  potui.  quid  enim  esset,  quad  non  amori  tuo  vd 
cum  detrimento  mei  pudoris  inpenderem?  verumtamen  ea  tibi  fiduda 
libeUum  edidi,  qua  nülli  a  te  prodendum  reor,  quia  id  spopondisti.  sed 
vereor,  ne  tu  ei  ianua  sis  futurus  et  emissus  semel  revocari  non  queat. 
$tfod  si  acciderit  et  ab  dliquibus  eum  legi  videris^  bona  venia  id  a  lec^ 
taribus  postüläbiSf  ut  res  potius  quam  verba  perpendant  et  aequo  animo 
ferant^  si  aures  eorum  vitiost^  forsitan  sermo  percuUrit.  Also  Seve- 
rus Übergibt  dem  Freunde  sein  Buch,  nachdem  dieser  gelobt  hat,  es 
keinem  zu  zeigen;  doch  setzt  der  Verfasser  gleich  voraus,  daft  er 
sein  Versprechen  nicht  halten  werde,  und  trifft  deshalb  seine  Be- 
stimmungen, was  in  diesem  Falle  dem  Leser  kundzuthun  sei.  In 
den  Episteln  und  Dialogen   spricht  er  dann  mehrmals  seine  Freade 


Aasonius  rec*  Peiper.  511 

über  die  weite  Verbreitung  seines  Baches  aus;  daft  er  diese  nur 
einer  Indiscretion  des  Desiderias  zu  danken  hätte,  wenn  die  Vor- 
rede ernst  gemeint  wäre,  fällt  ihm  dabei  gar  nicht  ein.  Die  Heu- 
chelei liegt  hier  offen  zu  Tage  ^). 

Oanz  anders  lautet  die  Vorrede  der  Chronik:  Res  a  mundi 
exordia  sacris  litteris  editas  breviter  constringere  et  cum  distinctione 
temporum  usque  ad  nostram  memoriam  carptim  dicere  adgressus  sum^ 
multis  id  a  me  et  studiose  efflagitantibus.  Hier  versteckt 
sich  die  Publikation  nicht  mehr  hinter  den  Vertrauens  brach  eines 
Freundes,  sondern  der  Verfasser  spricht  es  deutlich  aus,  daß  sein 
Bach  für  einen  weiten  Kreis  bestimmt  sei. 

Fragen  wir  nun  nach  dem  praktischen  Unterschiede  dieser  bei- 
den Publikationsarten,  so  dürfte  er  sich  dabin  bestimmen  lassen :  Im 
ersten  Falle  schickt  der  Autor  sein  Bach  einem  Freunde  mit  dem 
stillschweigenden  Auftrag,  für  die  Verbreitung  desselben  zu  sorgen; 
im  zweiten  übernimmt  er  diese  Sorge  selbst.  Jetzt  wird  man  es 
yerstehn,  warum  wir  das  Exemplar  seiner  Oesamtwerke,  welches 
Ausonias  dem  Theodosius  übersandte,  nicht  als  Ausgabe  gelten 
Heften,  wie  wir  es  gethan  hätten,  wenn  der  Adressat  Syagrius  oder 
Pacatus  gewesen  wäre.  Einem  Privatmanne,  dem  dafür  die  Ehre 
der  Dedikation  zu  Teil  wurde,  konnte  man  es  wohl  zumuten,  daft 
er  Becitationen  veranstaltete  und  die  Verhandlungen  mit  Abschrei- 
bern und  Buchhändlern  betrieb,  nicht  aber  dem  Kaiser. 

Welche  dieser  beiden  Formen  in  jedem  Falle  angewandt  wurde, 
ist  für  unsere  Ueberlieferung  keineswegs  gleichgiltig.  Mit  der  Zu- 
sendung an  einen  Freund  war  meist  auch  die  Bitte  verbunden,  das 
Buch  zu  korrigieren,  und  wir  wissen  aus  Aasonins'  eigenem  Bei- 
spiel, dafi  ihr  manchmal  und  vielleicht  immer  Folge  geleistet  wurde '). 
Die  verschämte  Ausgabe  war  also  meist  eine  interpolierte,  während 
bei  der  offenen  das  Werk  ganz  so,  wie  es  aus  den  Händen  des 'Au- 
tors kam,  der  Vervielfältigung  übergeben  wurde.  Denn  daß  Publi- 
kation im  vierten  Jahrhundert,  so  gut  wie  heute  und  in  der  ersten 
Kaiserzeit,  nichts  anderes  bedeutete,  als  Uebergabe  des  Baches  an 
den  Buchhändler,  liegt  in  der  Natur  der  Sache,  und  was  man  da- 
gegen anzuführen  pi9egt,  bedeutet  sehr  wenig.  Wenn  der  Kaiser 
den  Ausonius   selbst   um   Zusendung   seiner  Schriften   bat  und  dies 

1)  Hieraus  ergibt  sich  auch,  was  von  »des  Aasonius  Klage  über  die  Indis- 
cretion eines  Freundes,  der  ein  Gedicht  ohne  seine  Zustimmung  in  weiteren  Kreisen 
verbreitet  hatte«,  zu  halten  ist. 

2)  Epist.  26.  De  quo  ojntseulo,  ut  tubes,  faeiam ;  exquisiUm  unieerea  limabop 
et  quanme  per  te  manue  summa  contigerit,  caelum  superßuae  expolUionis  adhibeho^ 
moffis  ut  tibi  paream,  quam  ut  per/eetis  aliquid  adiciam. 


612  Öötf.  gel.  An«.  1887.  Nr.  13. 

zwar,  wie  er  ansdrttcklich  hervorhebt,  in  einem  eigenhändigen  Briefe 
(familiaremque  sermonem  autographum  ad  te  transmitterem)  ^  so  ge- 
schah es,  nm  dem  Dichter  eine  Ehre  zu  erweisen,  nicht  weil  das 
Gewünschte  nicht  auch  käuflich  zu  haben  gewesen  wäre.  Sjmma- 
chns  beklagt  sich,  daß  ihm  Ansonius  kein  Exemplar  d^r  Moseila 
zageschickt  habe,  nnd  schreibt,  er  kenne  das  Gedieht  durch  die 
Güte  anderer  {alioruin  benignüate);  doch  offenbar  liegt  ihm  daran, 
von  dem  litterarischen  Ereignis  recht  schnelle  Kunde  zu  erhalten, 
und  da  das  Büchlein  zuerst  in  Gallien  veröffentlicht  war,  mußte  es 
einige  Zeit  dauern,  bis  auch  der  stadtrömische  Buchhandel  sich  sei- 
ner bemächtigte.  Die  Dedikationsexemplare,  welche  an  Freunde 
versandt  wurden,  langten  natürlich  früher  an,  und  eins  von  diesen 
war  es,  das  sich  Symmachus  verschafft  hatte. 

Auch  Ausonius  hat  beide  Arten  von  Ausgaben  angewandt.  Die 
offenen  sind  daran  kenntlich,  daß  sie  entweder,  wie  die  Moseila,  gar 
keine  Vorrede  haben  oder  daß  diese  direkt  an  den  Leser  gerichtet 
ist;  die  verschämten  sind  an  Freunde  und  Verwandte  überschrieben 
und  die  Dedikationsepistel  enthält  meist  die  Bitte,  das  Büchlein  zu 
verbessern,  und  wenn  es  der  Veröffentlichung  unwert  scheine,  es  ganz 
zu  unterdrücken.  Als  Beispiel  sei  das  Einleitungsgedicht  der  Epi- 
grammensammlung des  Vossianus  angeführt,  dessen  Schlußverse  fol- 
gendermaßen lauten: 

Hoius  (seil.  Proculi)  in  arbitrio  est,  seu  te  (seil,  libram)  iavenes- 

cere  cedro 

seu  iubeat  duris  vermibus  esse  cibam. 
huie  ego,  quod  nobis  snperest  ignobilis  oti, 

depute,  siye  legat,  quae  daboj  sive  tegat. 

Auch  hier  also  ist  die  Publikation  von  dem  Ermessen  des  Freundes 
abhängig  gemacht,  was,  wenn  es  gleich  natürlich  nur  Phrase  ist, 
doch  klärlich  zeigt,  daß  sie  seiner  Mühverwaltung  überlassen  blieb. 
Doch  der  Dichter  hatte  es  mit  seinen  Publikationen  zu  eilig. 
Der  eitle  Mann  mochte  nicht  warten,  bis  er  ein  Convolut  von  Ge- 
dichten beisammen  hatte,  das  des  buchhändlerischen  Vertriebes 
lohnte.  Seine  Einzelausgaben  kleiner  Cyclen  umfaßten  selten  mehr 
als  200  Verse ,  oft  viel  weniger ;  sie  gehörten  daher  eigentlich  in 
die  Zettelkasten  und  werden  in  diesen  auch  meist  ihr  Ende  gefun- 
den haben ;  denn  der  Buchhandel  hat  sich  zu  keiner  Zeit  gern  mit 
den  kleinsten  Kleinigkeiten  befaßt.  So  wird  bei  den  meisten  jener 
Schriftchen  die  Verbreitung  hinter  den  Erwartungen  des  Dichters 
zurückgeblieben  sein,  nnd  dies  mag  ihn  veranlaßt  haben,  endlich 
eine  größere  Menge  derselben  in  Einem  Bande  zusammen  heraus* 
zugeben. 


Adsooinv  rec.  Peiper.  61 S 

Daß  die  SammlaDg  des  Tilianns  schon  383,  also  mindesfens  zeliD 
Jahre  vor  dem  Tode  des  Dichters,  abgeschlossen  ist,  hat  Brandes 
schlagend  erwiesen;  trotzdem  stimmt  anch  Er  der  Meinung  Peipers 
bei,  daß  sie  nicht  von  Aasonius  selbst  herrtthren  könne.  Der  ein- 
zige Grund  dafür  ist,  daß  Peiper  die  Anordnung  der  Werke  schlecht 
findet ;  doch  warum  sollte  der  Geschmack  des  Dichters  nicht  ein  an- 
derer gewesen  sein?  Es  ist  wahr,  Stücke,  die  dem  Sinne  nach  zu- 
sammen gehören,  sind  oft  auseinandergerissen;  aber  ich  erinnere 
mich,  daß  selbst  ein  moderner  Recensent  Eaibels  Epigrammata 
Graeca  deshalb  tadelte,  weil  das  Zusammengehörige  zusammensteht: 
es  sei  doch  gar  zu  langweilig,  siebenhundert  Grabschriften  hinter 
einander  zu  lesen.  So  thöricht  dieser  Vorwurf  bei  einer  wissen- 
schaftlichen Sammlung  ist,  bei  einer  solchen,  welche  nur  dem  ästhe- 
tischen Genüsse  dienen  soll,  würde  er  seine  volle  Berechtigung  ha- 
ben. Von  Zusammengehörigkeit  kann  bei  poetischen  Kleinigkeiten, 
wie  die  Werke  des  Ausonius  es  sind,  doch  nur  insofern  die  Rede 
sein,  als  sie  dieselben  oder  ähnliche  Themata  behandeln,  und  in 
diesem  Falle  konnte  es  oft  sogar  geboten  sein,  sie  nicht  zu  nahe 
bei  einander  stehn  zu  lassen,  weil  sie  sonst  einförmig  hätten  wirken 
müssen.  Der  Gedanken  verrat  des  Ausonius  war  mehr  als  dürftig; 
so  wenig  umfangreich  seine  Produktion  auch  war,  vermochte  er  sie 
doch  nicht  zu  bestreiten,  ohne  immer  wieder  mit  andern  Worten  das- 
selbe zu  sagen.  Unter  Umständen  kann  es  seinen  Reiz  haben,  den 
gleichen  Gedanken  in  immer  neuen  Formen  ausgeprägt  zu  sehn ;  wo 
der  Dichter  ho£fen  konnte,  diese  Wirkung  zu  erreichen,  stehn  auch 
im  Tilianus  Stücke  desselben  Inhalts  neben  einander,  wie  die  Epi- 
grammenserien auf  den  Rhetor  Rufns  und  auf  den  Silvius  Bonus 
zeigen.  Doch  meist  ist  die  Wiederholung  eine  reine  Folge  der  Gei- 
stesarmut, und  diese  ließ  sich  am  ehesten  verhüllen,  wenn  man,  mit 
der  Vergeßlichkeit  des  Lesers  rechnend,  das  Gleiche  auseinander 
rückte. 

Daß  die  Sammlung  des  Tilianus  nach  diesem  Princip  im  Gan- 
zen sehr  verständig  geordnet  ist,  läßt  sich  nicht  verkennen.  Auf 
Dedikation  (26  Peiper)  und  Inhaltsangabe  (25)  folgen  die  Epigramme, 
welche  die  Herrscherfamilie  verherrlichen  (27 — 30);  nur  eins  ist  aus 
dieser  Reihe  herausgerissen  und  an  eine  spätere  Stelle  gerückt,  die 
Anrede  des  Danuvius  an  den  Kaiser  (31);  offenbar  weil  ein  Gedicht 
ganz  gleichen  Inhalts  schon  vorausgegangen  war  (28).  Aus  dem- 
selben Grunde  sind  48  und  49,  53  und  54,  57  und  58,  8  und  60 
möglichst  weit  auseinander  gestellt  Auch  sonst  zeigt  sich  in  der 
Gruppierung  der  Gedichte  meist  dichterische  Absicht,  namentlich  ein 
sehr  bewußtes  Rechnen    mit   der  Kontrastwirkung.    Auf  die  Grab- 

ß«M.  gel«  Abi.  1887.  Nr.  18.  36 


5U  öött.  gel  küK.  1887.  Nr.  IS. 

Schrift  eines  GlUcklicheD  (VI  31)  folgt  die  ErmahnaDg  zar  Beschei- 
denheit (2j;  nachdem  ein  Künstler  getadelt  ist,  daft  er  die  Echo  zu 
malen  versucht  habe  (32),  wird  ein  anderer  gelobt,  der  Gelegenheit 
nnd  Reue  trefiSich  dargestellt  hatte  (33);  zwei  Gedichte  reihen  sich 
an,  welche  schildern,  wie  die  Gelegenheit  benatzt  oder  nicht  benatzt, 
die  Reue  vermieden  oder  zu  spät  gekommen  sei,  das  erste  die  Grab- 
schrift einer  Matrone,  die  schon  mit  sechzehn  Jahren  alles  Frauen- 
glück aasgekostet  hatte  (VI  35),  das  zweite  an  ein  Mädchen  gerich- 
tet, das  im  Alter  die  Liebe  vergeblich  sacht,  welche  sie  in  der  Ja- 
gend verschmäht  hatte  (34).  Auf  ein  schlüpfriges  Epigramm  (38) 
folgt  die  Versicherung;  daB  die  Frau  des  Dichters  ihn  doch  ftir 
keusch  halte,  möge  er  auch  noch  so  viele  LaYden  und  Glyceren  be- 
singen (39).  An  andern  Stellen  scheint  auf  die  Anordnung  der  Ge- 
dichte die  zeitliche  Folge  ihrer  Entstehung  von  Einfluß  gewesen  zu 
sein.  So  steht  hinter  dem  Ostergebet  (III  2)  ein  Brief,  der  unmit- 
telbar vor  Ostern  geschrieben  ist  (Epist.  IV  9),  dann  ein  zweiter, 
welcher  des  Festes  als  kürzlich  gefeiert  erwähnt  (VI  17),  und  ein 
dritter  aus  Saintes  datierter  (VII),  wo  Ausonius  damals  die  Oster- 
tage  zugebracht  hatte  (Vgl.  IV  3).  Auf  Epistula  XXIII,  welche  im 
December  abgösandt  ist,  folgt  XIII,  die  von  einem  verspäteten  Neu- 
jahrsgeschenke  redet.  Keiner  anfter  dem  Dichter  selbst  konnte  an 
verschiedene  Empfänger  gerichtete  Briefe  nach  der  Zeitfolge  ordnen ; 
denn  daß  ein  fremder  Eompilator  und  noch  dazu  ein  solcher,  wel- 
cher die  Gedichte  der  Sammlung  ohne  alle  Ueberlegung  wirr  durch- 
einander warf,  gleichwohl  an  ihnen  chronologische  Studien  getrieben 
habe,  liegt  doch  außer  aller  Wahrscheinlichkeit. 

Daß  die  beiden  ersten  Gedichte  des  Tilianus  den  Zweck  haben, 
eine  größere  Sammlung  zu  eröfl^nen,  ist  zweifellos  (vgl.  S.  501) ;  doch 
wäre  es  allerdings  an  sich  nicht  unmöglich,  daß  sie  ursprünglich 
als  Einleitung  einer  ganz  andern  Sammlung  verfaßt  wären  und  nur 
durch  einen  Eompilator  ihre  jetzige  Stelle  erhalten  hätten  ^).  Ließe 
sich  aber  erweisen,  daß  sie  zu  eben  derselben  Zeit  gedichtet  sind, 
in  welcher  das  Corpus  des  Tilianus  abgeschlossen  wurde,  so  wäre 
damit  die  Frage  entschieden;  ein  Zweifel  daran,  daß  Ausonius  es 
selbst  zusammengestellt  habe,  wäre  meines  Erachtens  nicht  mehr 
möglich.    Nun  heißt  es  in  dem  Dedikationsgedicht  von  dem  Eiiiser: 

qai  proelia  Mosis 
temperat  et  OeUeum  moderator  Apolline  Martern, 
arma  inter  Chunoique  truces  furtoque  nocentes 
SauromataSy  quantum  cessat  de  tempore  belli, 
indulget  Clariis  tantum  inter  castra  Camenis. 

1)  Bei  den  Eiuleitungsgedichten  des  Vossianus  ist  dies  thatsächlich  der  Fall, 
da  sie  beide  viel  älter  sind,  als  der  Abschluß  der  Sammlung. 


Afuonias  rec.  Peiper/  515 

Hier  sind  als  Feinde  des  Kaisers  Goten,  Hannen  und  Sarmaten  ge- 
nannt, also  ausschließlich  Völker,  welche  an  der  antern  and  mittleren 
Denan  haasten;  von  den  Alamannen  and  den  sonstigen  Anwohnern 
der  Rheingrenze  ist  gar  nicht  die  Rede.  Daraus  folgt,  daß  dies  Ge- 
dicht nach  dem  Jahre  378  verfaßt  sein  muß,  da  diejenigen  Herrscher, 
in  deren  unmittelbarem  Dienst  Ausonius  stand,  bis  dahin  ihre  glän- 
zendsten Erfolge  alle  am  Rhein  erfochten  hatten.  Nun  finden  wir 
im  Jahre  382  Oratian  in  Italien ;  im  Juli  war  er  bis  nach  Vimina- 
cium  an  die  untere  Donau  vorgerückt  (Cod.  Theod.  XII  1,  89)*); 
erst  im  November  ist  er  wieder  nach  Mailand  zurückgekehrt  (Cod. 
Theod.  I  6,  8),  doch  bereitet  er  den  Winter  über  einen  neaen  Feld- 
zag in  die  Illyrischen  Provinzen  vor  (Cod.  Theod.  XI  16,  15  quibtts 
expedüionis  lUyricae  pro  necessitate  vel  tempore  utilitas  adiuvatur). 
Zur  Ausführung  ist  dieser  zwar  nicht  gekommen,  da  im  Sommer  des 
nächsten  Jahres  der  Aufstand  des  Maximus  den  Kaiser  nach  Gallien 
zurückrief;  doch  immerhin  zeigt  das  Angeführte  zur  Genüge,  daß 
wer  im  Jahre  382  oder  383  die  kriegerischen  Verdienste  Gratians 
feiern  wollte,  in  erster  Linie  an  seine  Unternehmungen  gegen  die 
DonauvOlker  denken  mußte.  Daß  das  Dedikationsepigramm  in  die 
allerletzte  Zeit  des  Kaisers  fällt,  verrät  auch  ein  anderes  Zeichen. 
Zar  Zeit  der  Abfassung  desselben  war  er  eben  mit  einem  Epos  be- 
schäftigt, welches  den  Kampf  des  Achill  und  der  Penthesilea  schildern 
sollte.  Wenn  dieses  zum  Abschluß  gekommen  und  der  Oeffentlichkeit 
übergeben  worden  wäre,  so  würde  dies  in  der  reichen  Litteratur  jener 
Zeit  gewiß  nicht  die  einzige  Erwähnung  des  kaiserlichen  Gedichtes 
sein ;  wir  würden  Lobpreisungen  desselben  auch  an  anderer  Stelle  be- 
gegnen müssen.  Es  ist,  wenn  auch  nicht  sicher,  so  doch  sehr  wahr- 
scheinlich, daß  Gratian  durch  den  Tod  an  seiner  Vollendung  ver- 
hindert wurde.  Soweit  also  das  fragliche  Epigramm  chronologische 
Merkmale  bietet,  weisen  diese  auf  das  Jahr  383,  und  eben  demsel- 
ben Jahre  gehören  auch  sonst  die  jüngsten  Gedichte  des  Tilianus  an. 
Die  Sammlung,  welche  in  dieser  und  den  verwandten  Hand- 
schriften erhalten  ist,  sollte  keine  Gesamtausgabe  des  Dichters  bie- 
ten, denn  die  Moseila  und  manches  andere  Werk,  welches  sicher  vor 
383  entstanden   ist,   fehlen   darin.     Wahrscheinlich  sollten  nur  die- 

1)  Was  ich  in  meiner  Symmachosausgabe  (S.  CXI)  über  die  Datierung  dieses 
Gesetses  gehabt  habe,  ist  einer  Korrektur  bedürftig.  Das  Tagdatum  wird  bestä- 
tigt darch  ein  zweites  Fragment  desselben  Gesetzes  (I  10, 1),  dessen  Zugehörigkeit 
ich  damals  noch  nicht  erkannt  hatte.  Wie  die  eigentümliche  Jahresbezeichnung 
SU  erklären  sei,  weiB  ich  zwar  noch  immer  nicht,  doch  die  Frage  der  Postcon* 
salate  ist  noch  dorchaos  nicht  absehlieiend  gel^t,  und  einer  wahrscheinlichen 
Hypothese  zu  Liebe  darf  man  ein  doppelt  überliefertes  Datum  nicht  anfechten, 

36* 


616  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  18. 

jenigen  Schriften  anfgenommeD  werdeu,  welche  bis  dahin  entweder 
noch  gar  nicht  veröffentlicht  waren  oder  nach  der  Meinung  des 
Dichters  noch  nicht  die  genügende  Verbreitung  gefunden  hatten. 
Die  Auswahl  dürfte  also  eine  rein  zufällige  sein,  in  der  man  ein 
Princip  nicht  suchen  darf 

Wie  Brandes  gezeigt  und  auch  Peiper  anerkannt  hat,  ist  die 
Sammlung  des  Vossianus  erst  nach  dem  Tode  des  Ausonius  zum 
Abschluß  gekommen  ^) ;  doch  läßt  sich  die  Zeit  ihrer  Veröffentlichung 
vielleicht  noch  etwas  enger  umschreiben.  Der  Herausgeber,  in  dem 
man  mit  großer  Wahrscheinlichkeit  Hesperius,  den  Sohn  des  Dichters, 
vermutet,  hat  zwei  Briefe  des  Symmachns  mit  in  das  Corpus  auf- 
genommen, aus  keinem  andern  Gründe,  als  weil  sie  das  Lob  des 
Ausonius  und  seiner  Verwandtschaft  sangen.  Noch  viel  ehrenvoller 
mußte  die  Anerkennung  eines  Kaisers  sein,  aber  der  Brief  des  Theo- 
dosius,  welcher  sie  in  der  schmeichelhaftesten  Weise  aussprach,  ist 
weggelassen.  Zu  der  Zeit,  in  welcher  die  Ausgabe  veranstaltet 
wurde,  kann  es  also  nicht  für  einen  Ruhm  gegolten  haben,  wenn 
man  zu  Theodosius  in  nahen  persönlichen  Beziehungen  gestanden 
hatte;  ein  gewisses  Odium  muß  an  der  Person  dieses  Kaisers  gehaf- 
tet haben.  Daß  die  Antwort  des  Ausonius  an  ihn  in  der  Sammlung 
enthalten  ist,  wird  man  als  Gegenbeweis  nicht  anführen  wollen. 
Was  von  dem  Dichter  selbst  herrührte,  gehörte  in  das  Corpus  seiner 
nachgelassenen  Werke  notwendig  hinein,  doch  ob  man  an  ihn  ge- 
richtete Schriften  anderer  aufnahm  oder  nicht,  darüber  entschieden 
die  Umstände.  Die  Thätigkeit  des  Herausgebers  kann  also  weder 
unter  Theodosius  noch  unter  seine  Söhne  fallen,  sondern  nur  in  die 
kurze  Zwischenregierung  des  Eugenius  (392—394).  Dies  wäre 
schon  an  sich  wahrscheinlich,  da  man  eine  solche  Sammlung  am 
natürlichsten  der  Zeit  zuschreiben  wird,  welche  dem  Tode  des  Dich- 
ters unmittelbar  folgte,  und  das  letzte  Lebenszeichen,  welches  wir 
von  ihm  besitzen,  dem  Jahre  393  angehört.  Das  Jahr  der  Ausgabe 
wird  also  394  sein.' 

Auch  der  Vossianus  enthält  nicht  die  sämtlichen  Werke;  auch 
diese  Sammlung  scheint  nur  bestimmt  gewesen  zu  sein,   neben  dem 

1)  Daraus  erklärt  sich;  auch,  das  die  Dedikationsgedichte  beide  &lter  sind 
als  der  AbschloS  der  Sammlang,  also  aach  nicht  zu  dem  Zwecke  gemacht  sein 
können,  dieselbe  einzuleiten.  Der  Herausgeber  hat  sie  aus  ihrem  ursprünglichen 
Zusammenhange  losgelöst  und  an  die  Spitze  seiner  Ausgabe  gestellt,  um  so  fikr 
diese  eine  passende  Eröffnung  zu  schaflEen.  Daft  ein  Teil  der  Ausgabe  noch  Ton 
Ausonius  selbst  geordnet  sei,  ist  möglich,  aber  nichts  zwingt  zu  dieser  Annahme. 
Warum  h&tte  nicht  auch  der  Sohn  des  Dichters  eine  verst&ndige  Anordnung  her* 
stellen  können? 


Attsonius  rec.  Peiper.  517 

bisher  UDpablicierten  dasjenige  aufzunehmen,  was  im  Bachhandel 
selten  war.  Daher  fehlt  die  Mosella  and  in  der  Hauptsache  auch 
diejenigen  Stücke,  welche  die  Tilianusgrappe  enthält.  Die  Ausnah- 
men, welche  wir  im  Folgenden  aufzählen  werden,  erklären  sich  meist 
daraus,  daß  von  den  betreffenden  Schriften  neue,  erweiterte  oder 
verbesserte  Redaktionen  vorlagen,  welche  eine  zweite  Auflage  wün- 
schenswert machten. 

Von  der  Oratio  matutina  haben  wir  schon  S.  505  ff.  in  anderem 
Zusammenhange  geredet;  ebenso  von  dem  Epicedion,  das  außerdem 
S.  509  f.  angeführten  Distichon  im  Tilianns  noch  der  Vorrede  und 
der  Verse  13—16,  19—26,  29—34  entbehrt,  ohne  daß  dadurch  eine 
bemerkbare  Lttcke  entstände. 

Die  Grabschriften,  welche  sich  im  Tilianus  über  die  Epigramme 
^  zerstreut  fanden,   sind  im  Vossianus  zusammengefaßt,   vermehrt  und 
den  Epitaphien  der  trojanischen  Helden  angereiht  worden. 

Die  Aerumnae  Herculis  standen  dort  vereinzelt,  hier  sind  sie  in 
eine  zusammenhängende  Gruppe  anderer  Versus  memoriales  aufge- 
nommen. 

Das  Technopaegnion  beginnt  in  den  beiden  Handschriftenklassen 
mit  verschiedenen  Dedikationsepisteln  ^)  und  hat  auch  sonst  im  Vos- 
sianus sehr  wesentliche  Veränderungen  erfahren. 

Die  Gaesares  sind  auf  mehr  als  das  Doppelte  ihres  früheren 
Umfanges  erweitert  worden. 

Das  Anfangsepigramm  der  Fasten  ist  im  Tilianus  an  Gregorius, 
im  Vossianus  an  Hesperius  gerichtet,  und  der  Person  der  verschiede- 
nen Adressaten  gemäß  erscheint  ein  Vers  (9)  in  verschiedener  Ge- 
stalt. Die  Schlußepigramme  haben  in  den  beiden  Recensionen  gar 
nichts  mit  einander  gemein. 

Ohne  sichtbaren  Grund  wiederholt  sind  nur  die  Versus  pascha- 
les,  der  Griphus,  der  Protrepticus,  zwei  Episteln  (4  und  14)  und  die 
meisten  Epigramme.  Dies  wird  ein  Versehen  des  Herausgebers  sein, 
das  sich  leicht  genug  erklärt;  denn  daß  er  den  Inhalt  der  älteren 
Sammlung  vollständig  im  Kopfe  hatte,  kann  man  bei  der  großen 
Mannigfaltigkeit  derselben   wahrlich   nicht  von  ihm  verlangen,  und 

1)  Wenn  im  Tilianus  trotz  der  Dedikation  an  Paalinus  sich  der  Vers  findet : 
Pacato  ut  studeat  ludua  mens,  Mto  operi  dux,  80  ist  daraus  wohl  zu  schlieSeD, 
daft  das  Qedicht  gleichzeitig  an  Pacatas  und  Paulinus  versandt  wurde.  Der 
Schreibersklave  des  Dichters  wird  den  Fehler  begangen  haben,  den  Namen,  wel- 
cher in  dem  einen  Dedikationsexemplar  stand,  gegen  die  Absicht  des  Ausonius  auch 
in  dem  andern  zu  wiederholen.  Der  Ausgabe  von  888  wurde  dann  das  an  Pau- 
linus gerichtete  Exemplar  zu  Grunde  gelegt,  der  Erweiterung,  welche  in  den 
Vossianus  aufgenommen  ist,  das  an  Pacatus  versandte. 


618  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  13. 

das  Nachschlagen  wurde  ihm  durch  die  wenig  ttbersichtliche  Anord- 
nung der  Gedichte  sehr  erschwert. 

Uebrigens  hat  es  mit  den  Epigrammen  noch  eine  ganz  heson- 
dere  Bewandtnis.  Der  Tilianus  enthält  etwa  100,  der  Vossianus  nur 
22,  und  diese  finden  sich  fast  alle  in  jenem  so  gut  wie  unverändert 
wieder.  Nur  zwei  machen  eine  Ausnahme,  doch  bei  dem  äußerst 
lückenhaften  Zustande  der  Tilianusgruppe  ist  es  sehr  wohl  möglieb, 
daß  diese  irgendwo  ausgefallen  sind.  Da  nun  jene  zweiundzwanzig 
Gedichtchen  des  Vossianus  ein  wohl  abgerundetes  kleines  Corpus 
mit  eigener  Dedikationsepistel  bilden,  so  halte  ich  es  für  sehr  wahr- 
scheinlich, daß  sie  ursprünglich  gesondert  herausgegeben  und  erst 
später  durch  den  Dichter  selbst  zerstreut  und  in  die  Tilianusausgabe 
eingeordnet  sind.  Hier  wäre  also  der  Ausnahmefall  zu  verzeichnen, 
daß  uns  der  Vossianus  die  ältere  Redaktion  bewahrt  hat  Wahr- 
scheinlich empfieng  Hesperius  diese  kleine  Sammlung  von  seinem 
Landsmanne  Proculus  Gregorius,  dem  sie  gewidmet  ist,  und  ohne 
zu  bemerken,  daß  die  Epigramme  derselben  schon  in  der  früheren 
Ausgabe  Verwendung  gefunden  hatten,  nahm  er  das  ganze  Büchlein 
unverändert  in  die  seine  auf. 

Die  modernen  Ausgaben  des  Ausonius  zeigen  ein  stetes  Schwan- 
ken in  der  Reihenfolge  der  einzelnen  Schriften,  wodurch  natürlich 
das  eitleren  und  das  Auffinden  früherer  Citate  sehr  erschwert  wird. 
Jeder  Herausgeber  müht  sich  auf  seine  Weise,  die  Ordnung  der  hy- 
pothetischen Gesamtausgabe  herzustellen,  wobei  jeder  die  ganz  un- 
motivierte Voraussetzung  macht,  daß  diejenige  Reihenfolge,  welche 
ihm  die  vernünftigste  scheint,  auch  die  vom  Dichter  gewollte  sein 
müsse.  War  denn  der  geschmacklose  Schulfuchs  von  Burdigala 
wirklich  ein  so  großer  Geist,  daß  er  nur  das  Vernünftigste  hätte 
wählen  können?  Und  welcher  Zusammenhang  ist  vernünftig  bei 
einzelnen,  zu  verschiedenen  Zeiten  entstandenen  Gedichtchen^die  ihrer 
ganzen  Natur  nach  zusammenhanglos  sind?  All  dies  willkürliche  Mei- 
nen und  Raten  muß  aufhören,  sobald  man  anerkennt,  daß  von  den 
beiden  Corpora  des  Ausonius  das  eine  auf  den  Dichter  selbst,  das 
andere  auf  seinen  Sohn  und  Erben  zurückgeht,  daß  also  beide 
authentische  Ausgaben  darstellen.  Mag  ihre  Anordnung  gut 
oder  schlecht  sein,  das  Besserwissen  moderner  Herausgeber  hat  an 
ihr  nicht  zu  rühren. 

Eine  neue  Ausgabe  des  Ausonius,  welche  noch  immer  Bedürfnis 
bleibt,  hätte  also  an  die  Spitze  die  Moseila  mit  dem  Symmachusbrief 
zu  stellen.  Diese  trägt  zwar  im  St.  Gallensis  und  im  Bruxellensis 
die  Ueberschrift:  Incipiunt  excerpta  de  cpusculis  Decimi  Magni 
Äusoniiy  MoseUa,  Danach  scheint  es,  als  wenn  sie,  sei  es  vom  Dich- 


Ansoniiis  rec.  Peiper.  519 

ter  selbst,  sei  es  in  spftterer  Zeit,  was  ich  fttr  wahrscheinlieher 
halte,  auch  einmal  in  ein  größeres  Gorpas  des  Aasonius  eingeord* 
net  war.  Doch  dieses  ist  ans  zweifellos  verloren,  and  da  das  Qe- 
dicht  schon  im  Jahre  370  in  einer  Sonderaasgabe  erschienen 
war,  mag  der  neae  Heraasgeber  immerhin  so  verfahren,  als 
ob  er  diese  reprodacieren  könnte.  Hieran  hat  sich  die  Samm- 
lung von  383  vollständig  and  in  ihrer  überlieferten  Reihenfolge  an- 
zuschließen, endlich  ebenso  die  Sammlung  des  Vossianus.  Daß  auf 
diese  Weise  mehreres  doppelt  geboten  werden  mtlAte,  hat  gar  keine 
Bedenken.  Auch  in  den  beiden  Briefsammlungen  des  Cicero  stehn 
einzelne  Stücke  zweimal,  ohne  daß  je  ein  Heraasgeber  daran  ge- 
dacht hätte,  sie  das  eine  Mal  zu  tilgen.  Wird  doch  so  unendlich 
viel  Ueberflttssiges  gedruckt:  warum  sollte  nicht  ein  Verleger  die 
Kosten  fttr  einen  Bogen  mehr  hergeben,  wenn  dadurch  zwei  antike 
Ausgaben  in  ihrer  Integrität  herzustellen  sind?  Am  Rande  müßte 
überall  sorgfältig  bemerkt  werden,  welche  Stücke  uns  außerhalb  der 
beiden  Hauptcorpora  in  den  Zettelsammlungen  überliefert  sind.  Die 
wesentlichen  Abweichungen  früherer  Recensionen  dürften  nicht 
im  Wüste  des  kritischen  Apparates  verschwinden,  sondern  ihnen 
müßte  eine  besondere  Rubrik  unmittelbar  unter  dem  Texte  einge- 
räumt werden.  Auf  diese  Weise  würden  wir  einen  Dichter,  der  trotz 
seiner  Geistesarmut  doch  historisch  und  litterarhistorisch  das  höchste 
Interesse  erregt,  erst  wirklich  kenuen  lernen.  Hoffentlich  beschenkt 
uns  Brandes,  der  ja  ohnehin  für  den  Ausonius  schon  viel  gethan 
hat,  mit  einer  Ausgabe  dieser  Art. 

Peiper  hat  sich  durch  seine  überaus  fleißige  Sammlung  des  um- 
fangreichen Apparates  unstreitig  ein  großes  Verdienst  erworben,  doch 
im  Uebrigen  wird  sein  Aasonius  künftigen  Herausgebern  nur  als  Bei- 
spiel dienen  können,  wie  sie  es  nicht  machen  sollen.  Er  versteht 
es  meisterlich,  die  Benutzung  seiner  Arbeit  zu  erschweren.  Der  kri- 
tische Apparat  ist  im  höchsten  Maße  unübersichtlich,  weil  keine  Ver- 
wechslung von  e  und  ae^  voü  ci  und  ti  dem  Leser  geschenkt  wird, 
weil  V  bald  den  Vossianus,  bald  den  Vaticanus  bedeutet,  P  bald 
den  Parisinus  8500,  bald  den  Parisinus  4887  oder  7558,  R  bald  den 
Regius,  bald  den  Rhenaugiensis,  bald  den  Parisinus  9347  u.  dgl.  m. 
In  derartigen  Aeußerlichkeiten  muß  ein  Herausgeber  die  größte  Sorg- 
falt anwenden,  weil  er  immer  damit  zu  rechnen  hat,  daß  neunzig 
Procent  derjenigen,  welche  seine  Arbeit  gebrauchen,  sie  nicht  stu- 
dieren, sondern  nur  nachschlagen  wollen,  und  folglich  einer  leichten 
und  schnellen  Orientierung  dringend  bedürfen.  Die  Textgestaltung 
ist,  wie  die  Anordnung  der  Gedichte,  von  dem  Irrtum  beherrscht, 
daß  Ausonius  ein  großer  Dichter  gewesen  sei  und  daß  man  ihm 


520  Gott.  gel.  Änz.  1887.  Nr.  13. 

folglich  nichts  zatraoen  kODne,  was  poetisch  oder  logisch  zu  verwer- 
fen sei.  So  hat  Peiper  allein  in  den  230  Versen  des  Lndas  nicht 
weniger  als  sechsmal  den  Hiatns  heraaskorrigiert  and  anch  sonst  die 
metrischen  Schnitzer  sorgfältig  beseitigt,  als  wenn  sie  nicht  Aaso- 
nius,  wie  so  viele  andere  seiner  Zeitgenossen,  sehr  wohl  begangen 
haben  könnte.  Daß  sowohl  hier,  als  auch  in  allen  andern  Stttcken, 
die  uns  in  zwei  Recensionen  erhalten  sind,  die  Eonjekturalkritik, 
wenn  auch  vielleicht  nicht  ganz  auszuschließen,  so  doch  auf  das 
allerbescheidenste  Maß  zu  beschränken  sei,  konnte  er  freilich  nicht 
beherzigen,  da  er  die  Doppelrecensionen  ja  überhaupt  so  viel  wie  mög- 
lich zu  negieren  sucht. 

Von  den  Resultaten  Peipers  wird  jedes  einzelne  noch  einer  sehr 
sorgfältigen  Revision  zu  unterziehen  sein,  ehe  die  Wissenschaft 
es  hinnehmen  kann.  Auch  daß  die  Epigramme,  welche  er  in  den 
Anhang  verweist,  wirklich  von  Georg  Morula  und  nicht  von  Auso- 
nius  oder  einem  seiner  Zeitgenossen  herrtthren,  scheint  mir  höchst 
zweifelhaft.  Schon  ihr  lückenhafter  und  korrumpierter  Zustand  be- 
weist meines  Erachtens,  daß  sie  nicht  unmittelbar  vor  ihrer  Druck- 
legung gedichtet  sind,  sondern  eine  tausendjährige  Ueberlieferung 
hinter  sich  haben.  Die  Fehler,  welche  Peiper  ihnen  vorwirft,  halte 
ich  alle  für  ganz  Ausonianisch,  also  nur  für  Beweise  ihrer  Echtheit. 
Doch  hierüber  wage  ich  kein  abschließendes  Urteil  zu  ftlllen;  eine 
zweite  vorurteilsfreie  Prüfung  wird  dazu  erforderlich  sein.  Aber 
daß  eine  solche  überhaupt  möglich  ist,  daß  wir  die  Fragen  stellen 
können,  deren  Beantwortung  eine  wirklich  befriedigende  Ausgabe 
des  Dichters  voraussetzt,  haben  wir  zum  größten  Teil  Peipers  fleißi- 
ger und  mühevoller  Sammelarbeit  zu  verdanken,  und  dies  Verdienst 
soll  ihm  nicht  geschmälert  werden. 

Greifswald.  Otto  Seeck. 


Eühnau,  Richard,  Dr.,  Rhythmas  und  Indische  Metrik.     Eine  Entgeg- 
nung.   Göttingen.    Vandenhoeck  und  Rnprechts  Verlag.    24  S.   S\  M.  0,80. 

Dieses  Schriftchen  enthält  eine  in  sachlichem  Tone  gehaltene 
Entgegnung  auf  Prof.  Oldenburg's  (Deutsche  Litteraturzeitung  1887 
p.  196)  und  meine  (siehe  diese  Anzeigen  1886  p.  961  ff.)  Anzeigen 
seines  Buches  über  die  Trishtubh  und  Jagatt-Familie.  Dr.  Eühnau 
legt  darin  nochmals  seinen  Standpunkt  klar.  Nach  ihm  ist  der  Rhyth- 
mus, beruhend  auf  dem  Unterschied  von  gehobenen  und  gesenkten 
Silben  (Thesis  und  Arsis),  keine  Eigentümlichkeit  der  griechischen 
Metrik,  sondern  die  Grundlage  aller  Metrik.    Er  habe  versucht,  den 


Euhoan,  Bhythmus  und  Indische  Metrik.  621 

Rbythmns  in  der  indischen  Metrik  anfzadecken.  Wenn  man  die  Me- 
trik ohne  Rttckflicht  aof  den  Rbythmns  behandele,  so  begebe  man 
sich  anf  den  längst  überwundenen  Standpunkt,  den  einst  G.  Her- 
mann mit  Rücksicht  anf  die  griechische  Metrik  eingenommen  habe. 
Diesen  überwundenen  Standpunkt  nehmen  wir,  seine  Gegner,  ein,  deren 
schiefes  Urteil  Etthnau  sich  nur  daraus  zu  erklären  vermag,  daA 
wir  »mit  dem  großen  Umschwünge  unbekannt  geblieben  sind,  wel- 
chen die  metrische  Wissenschaft  auf  dem  Gebiete  der  europäischen 
Sprachen,  insbesondere  der  griechischen  in  der  zweiten  Hälfte  unse- 
res Jahrhunderts  erfahren  hat«. 

Nun  will  ich  gerne  Herrn  Dr.  Kühnau  zugeben,  daft  ich  keine 
so  eingehende  Kenntnis  der  griechischen  Metrik  besitze  wie  er.  Aber 
die  Principien  glaube  ich  zu  kennen,  und  vielfache  Besprechungen 
mit  einem  gründlichen  Kenner  der  griechischen  Metrik,  Professor 
Stahl  in  Münster,  führten  uns  zur  Ueberzeugung ,  daß  die  indische 
Metrik  etwas  durchaus  anders  geartetes  sei,  und  daß  die  griechische 
Rhythmik  nicht  der  richtige  Standpunkt  zu  ihrem  Verständnis  sei. 
Diese  Ansicht  spricht  auch  Oldenberg  in  seiner  Beurteilung  des 
Kühnauschen  Versuches  aus.  Ich  war  aber  bereits  früher  noch  wei- 
ter gegangen  und  hatte  die  Ueberzeugung  ausgesprochen,  daß  im 
Gegensatz  zu  der  griechischen  Metrik  den  Indern  der  principielle 
Unterschied  von  Arsis  und  Thesis  unbekannt  sei.  Zunächst  glaubte 
ich  noch,  daß  es  einen  Ictus  in  der  indischen  Musik  gäbe  (der 
ägh&ta  im  Tfila).  Doch  sehe  ich,  wie  ich  in  diesen  Anzeigen  p.  962 
dargelegt  habe,  mich  jetzt  genötigt,  auch  der  indischen  Musik  den 
Gegensatz  von  guten  und  schlechten  Taktteilen,  von  Arsis  und  The- 
sis, abzusprechen.  Der  T&la  ist  lediglich  Zeitmaß  {hshanädirupo 
yoA  kälahf  sa  pränatvena  Mrtyate,  gUddes  tu  mitim  hurvan  sa  evä 
"ydti  tälatäm)f  oder  wie  Tagore  sagt,  der  Takt  ist  das  für  die  Mu- 
sik, was  die  Prosodie  für  die  Poesie  ist.  Die  Zeit  wird  genau  durch 
das  Taktschlagen  gemessen,  aber  rhythmische  Betonung  hängt  nicht 
damit  zusammen.  Wenn  Tagore  über  seine  Noten  das  Zeichen  des 
Ägh&ta  und  Vir&ma  setzt,  so  bedeutet  das  nur,  daß  die  betreffende 
Note  mit  dem  äghäta^  dem  Schlage  auf  den  mridanga  zusammenfällt, 
nicht  aber,  daß  sie  größere  Stärke  hat.  Denn  wäre  die  relative 
Stärke  des  Tones  von  principieller  Bedeutung  gewesen,  so  würden 
die  indischen  Musiker,  deren  Theorie  ja  nicht  etwa  nur  in  Bruch- 
stücken, sondern  in  vollständigen  Darstellungen  vorliegt,  sich  über 
diesen  Punkt  wohl  ausgesprochen  haben  ^).    Bisher  habe  ich  vergeb- 

1)  Dr.  Kühnau  (p.  10  Note)  sagt,  daß  von  dem  Yerh&ltnisse,  in  dem  »strokec 
und  »kM<  zum  Vortrage  stehn,  die  Entscheidung  der  Frage  abhänge,  ob  die  In- 
der Thesis  und  Arsis  gehabt  haben.    »Gerade  über  diesen  Punkt  wünschte  ich 


622  Gott.  gel.  Anz.  1867.  Nr.  13. 

lieb  Dach  derlei  Bestimm angen  geflucht,  und  nach  dem,  was  ieh  yon 
Professor  Bhandarkar  in  Erfahrung  bringen  konnte  nnd  mitgeteilt 
habe,  wird  man  vergeblich  danach  suchen.  Es  entspricht  also  der 
indische  Gesang  in  Bezug  auf  die  mangelnde  rhythmische  Betonung 
unserer  Orgelmusik,  nur  dad  wir  bei  letzterer  die  fehlende  Betonung 
innerlich  ergänzen,  weil  wir  nun  einmal  alle  Musik  rhythmisch  auf- 
zufassen gewohnt  sind.  Der  Inder  dagegen  thut  das  nicht;  seine 
Musik  ist  uurhythmisch  (im  modernen  Sinne) ').  Doch  wenn  der 
Inder  das  rhythmische  Oeftthl,  sei  es  nicht  entwickelt,  sei  es  yerlo* 
ren  hat,  so  hat  er  ein  um  so  feineres,  uns  abgehendes  Gefühl  f&r 
Zeitmessung  erworben.  Er  faßt  Zeitintervalle  mit  großer  Sicherheit 
genau  aof,  ohne  daß  ihm  dieselben  durch  rhythmische  Gliederung 
markiert  werden.  Hält  man  dies  fest,  so  wird  die  Entwicklung  der 
indischen  Metrik  in  der  Äry&  und  Doha,  welche  Versmaße  man  ak 
Vertreter  zweier  auf  einander  folgenden  Stufen  hinstellen  kann,  ohne 
weiteres  klar.  In  der  Äry&  ist  das  Zeitmaß  die  Einheit  von  vier 
Moren  (Gai^a);  in  der  Doha  folgen  auf  einander  Gruppen  von  6,  4, 
3  Moren,  dann  von  6,  4,  1  Moren.  Innerhalb  der  Gruppen  können 
nach  bestimmten  Regeln  je  zwei  Moren  zu  einer  Länge  zusammen* 
gezogen  werden.  Ist  es  nun  wahr,  daß  die  Inder  auch  ohne  andere 
Unterstützung  Zeitintervalle  scharf  nnd  richtig  auffaßten,  so  mußten 
sie  in  Versen,  deren  Bau  nur  durch  eine  bestimmte  Zeitmessung  ge- 
regelt ist,  sofort  die  Gesetzmäßigkeit  herausfählen  ^).  Uns  dagegen, 
die  wir  auch  in  die  indischen  Verse,  wie  in  unsere  Orgelmusik,  den 
fehlenden  Rhythmus  hineintragen  wollen,  bleiben  sie  unverständlich. 
Denn  wie  will  man  in  die  Doha,  von  der  man  noch  nicht  einmal 
ein  Schema  aufzeichnen  kann,  einen  Rhythmus  hineinbringen?  Eher 
ließe  sich  bei  der  Äryä  vermuten,  daß  die  erste  Mora  jedes  Ga](^a 
betont  sei.  Ich  befragte  daher  Prof.  Bhandarkar  auch  nach  diesem 
Punkte.    Er  versicherte  mir  aber,   daß  man  aus  nichts  heraushören 

recht  genau  unterrichtet  zu  seiu«.  Das  wQnschte  ich  auch.  Aber  Prof.  Bhan- 
darkar hat  nicht  die  Theorie  der  Musik  studiert,  und  so  muSte  ich  mich  bei  sei- 
ner bestimmten  Erklärung  zufrieden  geben,  daS  welcher  Unterschied  auch  immer 
zwischen  »strokec  und  ^lakU  bestände,  derselbe  nicht  auf.  einem  Unterschied 
der  Betonung  beruhe. 

1)  Es  sei,  wenn  auch  nicht  hierhin  gehörend,  als  eine  weitere  Eigentümlich- 
keit der  indischen  Musik  erwähnt,  daS  sie  nur  das  Ugato,  kein  staccato  kennt. 

2)  Westpbal,  griechische  Rhythmik'  p.  44  sagt:  9Solche  der  Zeit  nach  meß- 
bare YersfÜfie  gibt  es  in  der  recitierten  Poesie  nicht«.  Wenn  wir  für  die  Aryä 
und  Doha  das  Gegenteil  statuieren,  so  ist  zu  beachten,  daß  diese  Verse,  wie  sie 
ursprünglich  für  den  Gesang  bestimmt  waren  (daher  der  Name  Gäthä),  so  auch 
jetzt  noch  immer,  sei  es  in  bestimmter  Melodie,  sei  es  mit  selbst  gewählter  Mo- 
dulation singend  vorgetragen  werden. 


Kähnau,  RhytTimus  und  Indische  Metrik.  523 

kOnne^  wo  ein  neuer  Ga^a  beginne^  noch  daB  irgend  eine  Stelle  in 
den  ?er8chiedenen  Ga^a  an  sieb  den  Ton  trage.  Ich  babe  nan  nach 
seinem  Vortrag  (in  Recitativ)  in  der  bekannten  Strophe  im  Eingange 
der  (Jakuntala  die  betonten  Silben  genaa  notiert,  wie  folgt:  ^) 

Sparüoshad  vidtisMm         na  sSdhu  mdnye  prayögavijnSnam{mfn) 

balavdd  api  gikshitänäm  ätmany  aprdtyayam  cetahQiaka), 
Man  siebt,  es  herrscht  hier  lediglich  die  Wortbetonnng,  wie  sie  anch 
Air  die  Prosa  gilt  (cf.  Bühler,  Elementarcursas  des  Sansskrit,  Schrift- 
tafel p.  2).  Bhandarkar  sagte  und  bewies  es  thatsächlich,  daß  sie 
genan  fttblten,  wo  in  einer  Äry&,  wie  in  jeder  andern  Versart,  ein 
Fehler  stecke,  ohne  daß  sie  dieselbe  auch  nur  in  Gedanken  scan- 
dierten.  (Ueberhaupt  war  ihm  das  Scandieren  eine  mühsame,  weil 
ungewohnte  Arbeit).  —  Wo  ich  also  erwarten  konnte,  den  musika- 
lischen oder  metrischen  Ictus  zu  fassen,  überall  griff  ich  ins  Leere. 
So  bestätigte  sich  mir  in  oft  wiederholten  Gesprächen  mit  einem 
Eingeborenen,  daß  den  Indern  der  Unterschied  zwischen  Arsis  und 
The4us  unbekannt  sei. 

Nach  obigen  Auseinandersetzungen  wird  es  klar  sein,  daB  ich 
meinen  Standpunkt  in  der  Beurteilung  der  indischen  Metrik  nach 
vorsichtigen  Stadien  und  nicht  aus  Unkenntnis  der  Fortschritte  der 
europäischen  Metrik  eingenommen  habe.  Mein  Standpunkt  konnte, 
da  ich  den  Gegensatz  zwischen  Arsis  und  Thesis  auBer  Acht  lassen 
muBte,  kein  anderer,  als  etwa  der  G.  Hermanns  mit  Bezug  auf  die 
griechische  Metrik,  sein.  Die  von  mir  gebrauchten  metrischen  Ter- 
mini haben  also  keinen  weiteren  Sinn ,  als  den  ihnen  G.  Hermann 
beilegte.  Dr.  Kühnau  hat  daher  leichtes  Spiel,  wenn  er  mich  in 
schreienden  Widerspruch  verwickeln  will,  indem  er  meine  Ausdrücke 
in  aristoxenischem  Sinne  deutet,  bei  mir,  der  den  Unterschied  von 
Arsis  und  Thesis  nicht  gelten  lassen  kann !  Spreche  ich  von  Rhyth- 
mus, so  meine  ich  natürlich  nicht  gesetzmäßigen  Wechsel  von  Arsis 
und  Thesis«  sondern  eine  gewisse  Beihenfolge  in  einer  prosodischen 
Reihe.  Eatalektischer  P&da  bedeutet  bei  mir  nicht,  daß  »die  letzte 
sprachliche  Arsis  unterdrückt  istc,  sondern  daß,  bei  sonstiger  Gleich- 
heit zweier  P&da,  der  katalektiscbe  um  eine  Silbe  kürzer  ist  als  der 
akatalektische.  Eine  solche  Uebertragung  von  termini  technici  hat 
•ihr  mißliches;  aber  wir  müssen  nun  einmal  uns  derselben  Ausdrücke 
bedienen,  um  ähnliche  Erscheinungen  auf  indischem  und  abendlän- 
dischem Gebiete  zu  bezeichnen,  mögen  sie  auch  nicht  auf  derselben 
Grundlage  ruhn. 

Was  nun  meine  Behandlung  der  indischen  Metrik  betrifft,  so  ist 

1)  In  many  glaubte  ich  schwebende  Betonung  zu  hören.    Die  Endsilbe  jedes 
Halbverses  irurde  in  eigentümlicherweise  so  geEogen,  dai  der  Gaya  yoII  wurde. 


524  Qött.  gel.  Anz.  1B87.  Nr.  13. 

dietteibe  nicht  so  willkürlich  wie  Dr.  Etthnan  meint  Ich  sah  bald 
ein,  daß  anf  den  T&la,  das  nächste  Analogen  zu  nnserem  Takte, 
eine  Theorie  der  indischen  Metrik  sich  nicht  anfbauen  Hefte.  Fflr 
gewisse  Vermäße  ergab  sich  als  Princip,  nach  dem  die  Reihen  ge- 
baut sind,  die  Gana-Einteiinng.  Daft  diesem  Principe  auch  über  die 
eigentlichen  Ganacchandas  hinaus  Bedeutung  zukomme,  habe  ich 
früher  gezeigt.  In  älterer  Zeit  galt  wahrscheinlich  die  Zusammen- 
fassung von  je  vier  Silben  zu  aneinander  gereihten  Gruppen',  die 
aber,  um  sich  von  einander  abzuheben,  nach  möglichst  entgegenge- 
setzter Gestaltung  der  Prosodie  strebten.  Aber  für  die  meisten  der 
sogenannten  künstlichen  Metra  (der  meisten  Samavritta)  fehlte  jeg- 
licher Schlüssel.  Da  war  nun  der  einzige  methodische  Weg,  der 
überall  eingeschlagen  werden  rouft,  wo  man  über  die  Thatsachen 
hinaus  zu  einem  tieferen  Yerständuis  derselben  gelangen  will,  der, 
daft  ich  Aehnliches  möglichst  zusammenzustellen  suchte  und  von  der 
Aehnlichkeit  auf  Verwandtschaft  schloß.  In  manchen  Fällen  war 
dies  Vorgehen  nun  eben  nicht  so,  »wie  wenn  man  von  der  äußeren 
Aehnlichkeit  zweier  Menschen  schließen  wollte,  daß  sie  Vater  und 
Sohn  oder  Brüder  sind«.  Von  meiner  Erklärung  des  Vait&ltya  aus 
der  Jagatt  sagt  Eühnau,  daß  sie  »nichts  als  eine  mechanische  Ope- 
ration ist,  wo  Silben  beliebig  von  einem  Schema  abgerissen  und 
einem  anderen  hinzugefügt  werdent.  Gerade  hier  haben  wir  den 
festen  Anhaltspunkt,  daß  Trishtnbh,  Jagatt  und  Anushtubh  die  ein- 
zig zeitlich  vor  dem  Vaitallya  liegenden  Metra  sind,  und  daß  also 
zwischen  ihnen  als  den  möglichen  » Vätern c  gewählt  werden  muß. 
Da  nun  das  älteste  Schema  des  Vaitältya  mit  dem  der  Jagatt  bis 
auf  den  vorne  fehlenden  Teil  von  abwechselnd  3  und  1  Silbe  aufe 
genaueste  übereinstimmt,  so  müßte  man  blind  sein,  wenn  man  in 
dem  Vaitältya  nicht  den  »Sohne  der  Jagatt  erkennen  wollte.  —  Na- 
türlich kann  zufällige  Aehnlichkeit  zu  irrigen  Schlüssen  verleiten; 
so  lange  wir  noch  im  »Vorhofe«  der  indischen  Metrik  stehn,  müssen 
wir  einen  solchen  Irrtum  mit  in  den  Kauf  nehmen.  Größer  aber  ist 
die  Gefahr  zu  irren,  wenn  man  ein  nicht  in  der  indischen  Metrik 
gefundenes  Princip  (also  die  Rhythmik)  von  außen  in  sie  hinein- 
trägt. Auf  seinen  Rhythmus  vertrauend  sagt  Eühnau  p.  4,  daß  Va- 
santatilakä  und  Trishtubh  (Indravajrä)  durchaus  von  einander  zu 
scheiden  sind.  Nun  dürfte  weniges  sicherer  sein,  als  daß  ersteres  ■ 
Metrum  aus  letzterem  entstanden  ist.  Denn  außer  den  früher  ange- 
gebenen Gründen  spricht  für  die  enge  Verwandtschaft  beider  Metra, 
daß  in  ihnen  die  Quantität  der  letzten  Silbe,  auch  der  ungraden 
P&da  (also  nicht  nur  am  Schlüsse  der  Halb  verse),  anceps  ist,  wäh- 
rend dieselbe  in  fast  allen  anderen  Metren  bestimmt  ist,  d.  L  lang 


Kühnau,  Bhythmtis  und  Indische  Metrik.  525 

sein  muß.  Eine  solche,  anter  den  gegebenen  VerbältniBBen  änßerst 
bedeutsame  Uebereinstimmang  spricht  laut  zu  Gunsten  der  Verwandt- 
schaft von  Vasantatilakä  und  Indravajrä.  Welchen  Wert  hat  da- 
gegen die  »rhythmische«  Betrachtungsweise,  wenn  sie  uns  zwingt,  so 
offenbar  zusammengehöriges  von  einander  zu  scheiden? 

Doch  kehren  wir  zum  Schlnsse  zu  Dr.  Ktthnans  Behandlungs* 
weise  der  indischen  Metrik  zurück.  Will  man  auch  den  von  mir 
eingenommenen  Standpunkt  nicht  sofort  zu  dem  seinigen  machen,  son- 
dern das  Vorhandensein  des  Rhythmus  in  aller  Poesie  als  a  priori  fest- 
stehend betrachten,  so  finde  ich  nicht,  daß  Dr.  Ktthnau  die  auf  die- 
ser Basis  gegen  seinen  Versuch  erhobenen  Einwürfe  in  seiner  Ent- 
gegnung entkräftigt.  Denn  es  wird  wohl  auch  von  eben  denselben, 
welche  a  priori  Rhythmus  in  jeder  Poesie  voraussetzen ,  zugegeben 
werden,  daß  das  rhythmische  Gefühl  nicht  überall  gleich  fein  ent- 
wickelt ist.  Daß  es  sich  bei  den  Griechen  so  entwickelt  hat,  mag 
zum  Teile  daher  kommen,  daß  es  von  Haus  aus  bei  ihnen  stärker 
ausgebildet  war,  zum  Teil  aber  wurde  diese  Entwicklung  dadurch 
begünstigt,  daß  ihre  ältesten  volkstümlichen  Versmaße  einen  scharf 
ausgeprägten,  klaren  Rhythmus  hatten.  Bei  den  Indern  dagegen  sind 
die  einfachen  daktylischen  und  anapästischen,  trochäischen  und  iam- 
bischen  Versmaße,  an  denen  das  Gefühl  für  Rhythmus  hätte  sich 
ausbilden  und  erstarken  können,  keineswegs  die  ursprünglichen,  son- 
dern wenig  beliebte  Eunstprodukte  einer  späteren  Zeit.  Es  fehlten 
also  bei  ihnen  die  Bedingungen,  um  wie  die  Griechen  zu  einer  fein- 
fühligen Rhythmik  zu  gelangen.  Trotzdem  behandelt  Dr.  Kühnau 
ihre  ersten  Versmaße,  die  vedischen,  so  wie  ein  Ghorgesang  der 
griechischen  Tragödie  bebandelt  werden  muß.  Für  ihn  scheint  das 
rhythmische  Gefühl  nicht  nar  als  Keim,  sondern  in  seiner  höchsten 
Entwicklung,  die  es  zur  Blütezeit  der  griechischen  Poesie  zeigte, 
allen  Menschen  angeboren  zu  sein.  Darum  ist  ihm  auch  die.aristo- 
zenische  Rhythmik  der  einzig  passende  Schlüssel  zum  Verständnis 
der  indischen  Metrik,  den  man  nur  aus  Unkenntnis  beiseite  lassen 
kann.  Auch  wir  kennen  einigermaßen  diesen  Schlüssel:  sein  Bart 
ist  kraus,  doch  hebt  er  nicht  die  Riegel. 

KieL  Hermann  Jacobi. 


626  Gott.  gel.  Ans.  1887.  Nr.  13. 

Weismann,  A.,  Dr.,  Die  Gontinuit&t  des  Eeimplasmas  als  Grand- 
lage einer  Theorie  der  Vererbung.    Jena,  G.  Fischer.  Yln.  122S.  8^ 

Die  Schrift  des  Verfassers:  »Ueber  Leben  ond  Tode,  welche  in 
diesen  Blättern  frtther  (Jahrg.  1884.  S.  350)  bereits  angezeigt  wurde, 
hat  eine  Reihe  von  Publikationen  veranlaftt,  bei  denen  die  Diskus- 
sionen zwischen  dem  Verf.  und  Virchow  jedenfalls  die  wichtigsten 
sein  dürften.  Wie  es  bei  fundamentalen  Fragen  zu  gehn  pflegt, 
warden  eine  Menge  scheinbar  seitab  liegender  Dinge  hineingezogen, 
nnd  schließlich  hängt  noch  die  Frage  nach  der  Akklimatisierungs- 
fähigkeit der  Europäer  und  speciell  der  Deutschen  in  tropischen  Ko- 
lonien mit  obigem  Thema  zusammen.  Die  Akklimatisationsfrage 
aber  ist  sogar  im  Parlamente  zwischen  dem  Reichskanzler  Fftrsten 
Bismarck  und  Virchow  erOrtert  worden. 

Um  zunächst  bei  letzterer  stehn  zu  bleiben,  so  scheint  es  ein- 
leuchtend, daß  diejenigen  eingewanderten  Kolonisten  in  den  Tropen 
am  längsten  leben  und  die  meisten  Kinder  haben  werden,  welche 
dem  Klima  am  besten  widerstehn.  Vererbt  sich  diese  Eigenschaft 
auf  die  Kinder,  so  muß  sich  nach  und  nach,  reine  Inzucht  voraus- 
gesetzt,  eine  dem  Klima  mehr  oder  minder  vollkommen  angepaßte 
Rasse  herausbilden,  während  die  Schwächeren  unter  den  Einwande- 
rern ohne  Nachkommenschaft  zu  Grunde  gehn.  Das  ist  offenbar  die 
Konsequenz  der  Descendenztheorie,  und  die  Frage  ist  nur,  ob  die 
Erfahrung  mit  der  Theorie  übereinstimmt.  Die  Praxis  scheint  nun 
zu  lehren,  daß  europäische  Auswanderer  sich  unter  den  Tropen  als 
Rasse  nicht  erhalten  können,  wenn  nicht  fortwährend  vom  Mutter- 
lande  her  das  Blut  aufgefrischt  wird. 

Wie  dem  sei,  so  kann  man  die  Wirkung  der  Auffrischung  jeden- 
falls an  Tieren  studieren.  W.  läugnet  aber,  daß  die  Konjugation 
gleichsam  die  Bedeutung  eines  Verjtlngungsprocesses  haben  kOnne. 
Dies  folge  aus  der  Thatsache,  daß  die  Parthenogenesis  bei  man- 
chen Arten  die  einzige  Fortpflanzungsform  ist,  ohne  daß  wir  Ab- 
nahme der  Fruchtbarkeit  bemerken  könnten.  Vielmehr  erscheint  der 
sexuelle  Fortpflanzungsmodus  deshalb  von  Bedeutung,  insofern  durch 
diesen  allein  der  unermeßliche  Vorteil  der  Anpassungsfähigkeit  der 
Art  an  neue  Existenzbedingungen  beibehalten  werden  konnte.  Sc- 
lectionsprocesse  im  eigentlichen  Sinne,  solche  nämlich,  die  neue 
Charaktere  liefern,  sind  nicht  möglich  bei  Arten  mit  ungeschlechtli- 
cher Fortpflanzung.  Wegen  der  Mischung  der  Vererbnngstendenzen 
verschiedener  Keime,  um  es  kurz  auszudrücken,  deren  Anzahl  be- 
reits in  der  sechsten  Generation  auf  32  angewachsen  ist,  resultiert 
aus  der  sexuellen  Fortpflanzung  die  erbliche  individuelle  Variabili- 
tät, wie  die  Theorie  sie  braucht  zur  Verwandlung  der  Arten  auf  dem 


Weismann,  Die  Gontinnität  d.  EeimpTasmas  als  Grundlage  einer  Theorie  etc.    527 

Wege  der  natttriichen  AuBlese.  Und  bei  der  Befrochtnog  findet  nicbt 
nur  eine  Verschmelzung  des  männlieben  and  weiblicben  Vorkernes 
statt,  sondern  die  Fadensehleifen;  welcbe  jeder  Toehterkern  bei  der 
indirekten  Eernvermebrong  erbält,  teilen  sich  der  Länge  nach.  In 
Folge  davon  kommt  jedem  Toehterkern  bei  jeder  Eernteilang  gleich 
viel  Eernsabstanz  vom  Vater  wie  von  der  Matter  za;  dabei  braocht 
aber  die  Qualität  des  elterlichen  Kernplasma  keineswegs  auf  beiden 
Seiten  stets  die  gleiche  zn  sein.  Fflr  die  Theorie  der  Parthenoge- 
nesis erschien  es  von  Bedeutnng  zu  wissen^  ob  bei  solchen  Eiern 
ein  Richtnngskörperchen  ausgestoßen  wird  oder  nicht,  nnd  W.  fand, 
dafi  dies  bei  den  parthenogenetischen  Sommereiern  von  Daphniden 
in  der  That  der  Fall  ist.  Schon  von  A.  Braun  (1856)  war  die  ge- 
schlechtliche Fortpflanzung  als  Generationswechsel  aufgefaßt.  Nach 
W.  kann  man  sie  als  Konjugation  von  zwei  einzelligen  Wesen  be- 
trachten (der  Eizelle  und  der  Samenzelle),  durch  welche  der  Grund 
gelegt  wird  zum  Aufbau  eines  vielzelligen  Individuum,  das  dann 
seinerseits  auf  ungeschlechtlichem  Weg  wieder  einzellige  Individuen 
(Samen-  und  Eizellen)  hervorbringt.  Das,  was  bisher  als  ein  Ge- 
Bcblechtsindividttum  betrachtet  wurde,  wäre  dann  nur  die  geschlechts- 
lose Amme,  welche  ihrerseits  erst  die  einzellige  Geschlechtsgenera- 
tion hervorbrächte,  die  Samen-  und  Eizellen,  sei  es  daß  ein  und  die- 
selbe Amme  beide  Arten  erzeugt,  sei  es  daß  die  Ammenform  —  wie 
beim  Menschen  und  allen  höheren  Metazoen  —  dimorph  ist  (männ- 
liche und  weibliche  Individuen),  nnd  dann  also  entweder  nur  Samen- 
oder nur  Eizellen  hervorbringt. 

Die  Zumutung,  selbst  eine  geschlechtslose  Amme  zu  sein,  wenn 
auch  die  Species  dimorph  ist,  wird  den  meisten  Menschen  wenig 
einleuchten,  und  auch  W.  ist  nicht  geneigt,  ohne  Weiteres  die  Frage 
SU  bejahen,  ob  die  Geschlechtszellen  der  Metazoen  einzelligen  Orga- 
nismen entsprechen  u.  s.  w.  Vielmehr  zieht  W.  die  Vorstellung  vor, 
daß  bei  den  Metazoen  eine  unendliche  Kette  von  Einzelligen  vor- 
liegt, die  Keimzellen,  von  denen  jede  Generation  ein  ungeschlecht- 
liches Metazoenindividuum  von  sich  abspaltet  oder  als  Knospe  hervor- 
sprossen läßt.  Jedenfalls  läuft  hier  neben  der  unendlichen  Kette 
einzelliger  Generationen  eine  entsprechende  Anzahl  Individuen  höhe- 
rer Ordnung  (vielzellige  Individuen)  einher,  welche  nicht,  wie  die 
Einzelligen,  unmittelbar  auseinander  hervorgehn,  sondern  nur  durch 
Vermittelnag  der  Einzelligen.  Diese  Individuen  höherer  Ordnung 
allein  haben  ein  physiologisches  Ende,  einen  natttriichen  Tod,  die 
einzelligen  Generationen  (die  Keimzellen)  sind  poteatia  ebenso  nn- 
sterblich  wie  die  Protozoen  oder  sonstige  selbständige  einzellige  Or- 
ganismen,  denn   sie  gehn  niemals  in  ihrer  Knospe,   dem  Metazoon 


628  Oött.  gel.  Ads.  1887.  Nr.  19. 

auf,  sondern  spalten  sie  nor  von  sich  ab,  nm  dann  im  Inneren  der- 
selben nnter  ihrem  Schutz  nnd  ihrer  Ernähmng  weiter  zn  leben. 

Zn  der  vielfach  und  aach  von  W.  diskutierten  Vererbung  ktfnst- 
lieh  erzeugter  Epilepsie  bei  Meerschweinchen  (Brown-S^uard,  1857 ; 
Obersteiner,  1875)  ist  zu  bemerken,  daßW.  dieselbe  nicht  als  siche- 
ren Beweis  fttr  die  Vererbung  erworbener  Krankheiten  angef&hrt 
wissen  will.  Nicht  weil  die  Thatsache  der  Uebertragung  der  Krank- 
heit unsicher  wäre,  sondern  weil  dieselbe  möglicherweise  gar  nicht 
auf  Vererbung  beruhe,  sondern  etwa  auf  Ansteckung  des  Keimes, 
z.  B.  durch  Hikrobienl 

Entgegengesetzter  Meinung,  was  die  letztere,  wenig  pathologi- 
sche Hypothese  betrifft,  ist  Ziegler.  Derselbe  bezweifelt  ganz  ein- 
fach die  betreffende  Thatsache  und  meint,  die  in  Ställen  detinierten 
Meerschweinchen  seien  äußerst  reizbare  und  nervöse  Tiere,  welche 
sehr  leicht  und  durch  geringfügige  Eingriffe  in  epileptische  Zustände 
verfallen  können. 

Virchow  hat  in  einem  sehr  lesenswerten  Aufsatz  ttber  Descen- 
denz  und  Pathologie  (Archiv  f.  pathol.  Anatomie,  Bd.  103.  1886) 
besonders  hervorgehoben,  daß  nicht  jeder  pathologische  Zustand  eine 
Krankheit  sei,  ein  Knochenbruch  so  wenig  als  ein  Buckel  oder  eine 
Schntlrleber.  Da  Misbildungen  sonder  Zweifel  vererbt  werden  kön- 
nen, so  muß  man  ohne  Weiteres  die  Möglichkeit  pathologischer 
Rassen  zngestehn:  Mops,  Bulldog,  das  Hollenhuhn  sind  die  bekann- 
testen Beispiele.  Ob  nun  die  Vererbung  auf  dem  Wege  monogener 
oder  amysigoner  (geschlechtlicher)  Zeugung  zu  stände  kommt  — 
nach  Weismann  nur  bei  letzterer  —  ändert  an  der  Betrachtung  gar 
nichts.  Die  Anpassung  oder  Regulation  der  Störung  muß  sich  mit 
der  Vererbung  kombinieren ;  erst  dadurch  nimmt  das  neue  Verhältnis 
einen  neuen  Typus  an.  Bei  der  Akklimatisation  beruht  darauf  der 
so  wichtige,  von  V.  in  den  Vordergrund  gestellte  Unterschied  zwi- 
schen Akklimatisation  des  Individuum  und  Akklimatisation  der  Fa* 
milie  oder  im  weiteren  Sinne  der  Rasse. 

Ref.  hat  im  Vorstehenden  versucht,  so  weit  es  thunlich  war  ein 
Bild  der  schwebenden  Fragen  zu  geben;  in  Bezug  auf  des  Verfas- 
sers specielle  Ansichten  und  Ausführungen  muß  ganz  auf  das  Origi- 
nal verwiesen  werden.  Druck  und  Ausstattung  sind  vortrefflich,  wie 
man  es  bei  dem  betreffenden  Verleger  gewohnt  ist 

W.  Krause. 

Fttr  die  Redaktion  Tera&twortUch :  Prof.  Dr.  B$ektd,  Direktor  der  Q6U,  gel.  Abs., 
Aieeepor  der  KOnigUolien  Oeaellechafi  der  WiMenechafteft. 

ftrkv  am  DitUrieh*aehm  TmIßfft'JkieMumdhmff, 


Mircixc/ 


629 


Göttingische 


gelehrte  Anzeigen 


unter  der  Aufsicht 


derKönigl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Nr.  14.  ^  1.  Juü  1887. 


Preis  des  Jahrganges :  «41  24  (mit  den  »Nachrichten  d.  k.  G.  d.  Wiss.« :  t£  27). 
Preis  der  einzelnen  Nummer  nach  Anzahl  der  Bogen:  der  Bogen  60  ^ 


Inhalt:  Beater,  Aa^siiniBche  Stadten.  Vom  F«t/<Mwr.  —  Herrmann,  Der  Verkehr  des 
Christen  mit  Gott  im  Anschloss  an  Lnthtr.  Von  Ktftia^  —  K  d  ■  1 1  i  n  ,  Geschichte  dee  christlichen 
Gottesdienstes  etc.  Von  AcheUs.  —  Weissfteker,  Das  apostolische  Zeitalter  der  christlichen  Kirche. 
Von  JOichtr.  —    Stnder,  Die  wlohtigbten  Speisepilse.    Von  Sttasnumn. 

=  Eigenmächtiger  Abdrucic  von  Artiiiein  der  66tt.  gei.  Anzeigen  verboten.  = 


Beater,  Hermann,  Augustinische  Studien.   Gotha  1887.    F.  A.  Perthes, 
ym  und  516  SS.    8^ 

Die  fünf  ersten  Stadien,  welche  das  Bach  enthält,  werden  jetzt 
nicht  zam  ersten  Male  pabliciert,  sondern  waren  bereits  in  Briegers 
Zeitochrift  fttr  Eirchengeschichte  Bd.  IV,  Y,  VI,  VII,  VHI,  abgedrackt, 
erscheinen  aber  hier  stellenweise  verändert  and  vermehrt. 

Dieselben  sind  insgesamt  nicht  durch  irgendwelche  schriftstelle- 
rische Begehrlichkeit,  welche  ich  überhaupt  nicht  kenne  (s.  die  Vor- 
rede zu  meiner  »Geschichte  der  religiösen  Aufklärnng  im  Mittel- 
alter« Berlin  1875  Bd.  I  S.  IX),  motiviert,  sondern  die  Abfassung 
ist,  ich  möchte  sagen,  mir  aufgenötigt  durch  die  Erkenntnis,  daß 
es  darauf  ankomme,  Irrtümer  zu  berichtigen,  welche  das  rechte  Ver- 
ständnis der  Lehre  Augustins  hindern.  —  Alle  (abgesehen  von  der 
siebenten)  tragen  dem  Titel  entsprechend  den  Charakter  der  metho- 
dischen Untersuchung,  der  Beweisführung ,  schließen  aber  mit 
präciser  Formulierung  der  gewonnenen  Resultate.  — 

Die  erste  Studie  S.  4—46  »Die  Lehre  von  der  Kirche 
nnd  die  Motive  des  Pelagianischen  Streits«  prüft  das 
Recht  der  Ansicht,  der  letzte  Qrund  des  Gegensatzes  des  Augusti- 
nismus  und  Pelagianismus  sei  in  der  Lehre  von  der  Kirche  zu 
erkennen,  die  Central-Idee  in  Augustins  Denken,  die  speciellen 
an  ti  pelagianischen  Lehren  von  der  Notwendigkeit  der  Kindertaufe, 
von  der  Erbsünde  u.  s.  w.  seien   durch  jene   begründet,   aus  jener 

OOtt.  gel.  Am.  1887.  Hr.  14.  37 


680  Gott.  gel.  Adz.  1887.  Nr.  14. 

abgeleitet.  Meine  aaf  genauer  Qaellen-Analyse  sieb  basierende  Er- 
örterung beweist  die  Unhaitbarkeit  derselben,  zeigt  dagegen  den 
Begriff  der  Gnade  als  den  die  streitenden  Parteien  zaböchst  schei- 
denden auf.  —  »Die  Kirche  ist  die  Voranssetzung  des  Denkens 
Angnstins,  die  dasselbe  beherrschende  Gentralidee  aber  der  Ge- 
danke von  der  gratia  ChristU. 

Die  zweite  Studie  S.  47—105  trägt  den  Titel  Zur  Frage 
nach  dem  Verhältnis  der  Lehre  von  der  Kirche  zu  der 
Lehre  von  der  prädestinatianischen  Gnade.  Nitzsch 
und  Andere  haben  erklärt,  daß  beide  Lehren  sich  wohl  mit  einan- 
der vertrugen,  wenn  man  nur  erwäge,  daß  die  Zahl  der  Erwählten 
als  in  die  Kirche  als  externa  communio  sacramentorum  (in  die  ver- 
fassungsmäßig und  liturgisch  eingerichtete  historisch-katholische 
Kirche)  sicher  eingeschlossen  von  dem  Verfasser  gedacht  wttrde. 
Ich  habe  dagegen  darzulegen  gesucht,  daß  in  den  Stellen,  an  wel- 
chen der  prädestinatianische  Gedanke  streng  durchgeführt  ist,  die- 
ses Eingeschlossensein  verkannt  wird,  —  daß  die  prädestinatianische 
und  die  katholische  Tendenz  Angnstins,  die  Lehre  von  den  Gnaden- 
mitteln der  historischen  Kirche  und  die  Lehre  von  der  gegen 
alle  historischen  Vermittelungen  sich  gleichgültig  verhaltenden  über- 
historischen Gnade  in  Widerstreit  sind,  —  daß  der  letztere  verhüllt 
wird  vornehmlich  durch  die  Oscillation  zwischen  einer  Zweiheit 
von  Kirchenbegriffen.  »Vieles  vulgär  Katholische  ist  durch  Augustin 
umgestimmt,  aber  längst  nicht  alles.  Manches  hat  sich  nicht  sowohl 
dieser  Umstimmung  entzogen,  als  es  vielmehr  die  auktoritative  Posi- 
tion geblieben,  eine  ihn  beherrschende  Macht  geworden  ist«  (S.  102). 

In  der  dritten  Studie  S.  106—152  »Die  Kirche  das 
Reich  Gottesc  gehe  ich  aus  von  der  Stelle  de  civitate  Dei  lib. XX 
cap.  IX,  welche  in  neuerer  Zeit  zu  dem  Urteil  verführt  hat,  Aug.  erkläre 
die  von  den  Bischöfen  regierte  Kirche  für  das  Reich  Gottes, — 
dureh  ihn  sei  die  hierarchische  Tendenz  Cyprians  noch  gesteigert. 
Ich  habe  gezeigt,  daß  dasselbe  auf  einer  falschen  Interpretation  des 
Textes  beruhe,  in  dem  richtig  interpretierten  dagegen  der  ganz  an- 
dere Gedanke  sich  finde,  die  Kirche  »als  communio  sanctorum  ist 
das  Reich  Gottes«,  —  ich  habe  weiter  diesen  durch  Vergleichung 
des  weiteren  hierhergehörigen  Quellenmaterials  als  den  acht  Augn- 
stinischen  darzulegen  mich  bemüht;  —  ferner  die  Lehre  von  dem 
Staate  erörtert,  die  U  n  richtigkeit  der  Ansicht,  der  letztere  gelte  ihm 
als  der  Organismus  der  Sünde,  bewiesen  und  mit  einer  kurzen  Ex- 
position der  Lehre  von  dem  Verhältnisse  der  Kirche  zum  Staate  ge- 
schlossen. 

Die  vierte  Studie  S.  153 — ^230   »Augustin  und  der   ka« 


Seater,  Angustinisclie  Stndien.  6SI 

thoiische  Orient«  enthält  ein  Mebreres  als  Mancher  beim  Lesen 
dieser  Ueberschrift  erwarten  wird.  Sie  erforscht  das  Verhältnis  des 
Orients  (ttber  den  Konvent  in  Jernsalem  im  J.  415.  S.  153—163) 
zum  Occident  znr  Zeit  Angnstins,  zeigt,  daß  er  nnd  seine  Zeitge- 
nossen nur  von  einer  in  beiden  Reichshälften  existierenden  katho- 
lischen Kirche,  nichts  aber  von  einer  selbständigen  »griechischen 
Kirche«  wußten,  ermittelt  die  Kenntnis  der  griechischen  Sprache  im 
Occidente,  insbesondere  den  Umfang  der  des  Angustin  selbst,  nnter- 
sncht  die  Trinitätslehre  nnd  Christologie  desselben  (und  des  Ambro- 
sins)  znm  Zweck  der  Beantwortung  der  Frage,  wie  sich  diese  Lehr- 
begriife  zu  den  entsprechenden  griechischen  verhalten  und  kommt 
zu  dem  Ergebnisse,  daß  jene  so  wenig  abhängig  seien  von  den  letz- 
teren, daß  vielmehr  gesagt  werden  müsse,  das  Ghalcedonische  Glau- 
bensdekret erkläre  sich  nur  aus  charakteristischen  Einwirkungen  des 
Occidents  auf  den  Orient.  Angustin  (nebst  Ambrosins)  ist  zeitweilig 
in  gewissen' kirchlichen  Kreisen  im  Orient  hochangesehen  gewesen; 
nichtsdestoweniger  hat  er  den  spätem  delSnitiven  Bruch  des  Occi- 
dents mit  dem  Orient  wider  Willen  vorbereitet 

Die  fttnfte  S.  231—358  ist  tiberschrieben:  »Der  Episkopat 
und  die  Kirche.  Der  Episkopat  nnd  der  rOmische 
Stahl.  Das  Koncil  und  die  Tradition.  —  Die  Infalli- 
bilität«.  Um  eine  Vorstellung  von  dem  Inhalte  zu  geben,  welchen 
ich  in  Betracht  des  mir  zugemessenen  Baums  nicht  darlegen  kann, 
erlaube  ieh  mir  wenigstens  einige  Besultate  (s.  oben  S.  529  Z.  8  v.  u.) 
mitzuteilen.  —  Im  Vergleiche  zu  der  Lehre  des  Cyprian  ist  in  der 
Angnstins  das  Hierarchisch-Episkopalistische  erheblich  ermäßigt,  der 
Episkopat  als  Kirchenamt  längst  nicht  so  betont  wie  bei  jenem,  — 
wie  es  denn  in  dieser  Zeit  kaum  einen  Schriftsteller  gibt,  der  we- 
niger hierarchisch  gesinnt,  weniger  kirchenpolitisch  interessiert 
gewesen.  Nirgends  wird  die  Unterwerfung  unter  den  Bischof  als 
Bedingung  der  Gliedschaft  an  der  -Kirche  in  den  Vordergrund  ge- 
rflckt,  —  nirgends  der  Unterschied  zwischen  Klerus  und  Laien  scharf 
betont,  im  Oegenteil  von  demselben  an  mehr  als  an  einer  Stelle  ganz 
abgesehen,  dagegen  die  Idee  des  allgemeinen  Priestertums  wieder- 
holt in  ergreifender  Weise  verkündigt.  —  Die  Lehre  von  dem  Sa- 
cramentum  ordinis,  welche  nnser  Schriftsteller  begründet  hat,  ist 
nicht  durch  hierarchische  Interessen,  nicht  durch  irgend  welche  dog- 
matische Gupidität  motiviert,  sondern  durch  die  Tendenz  Donatisti- 
sehe  Konsequenzen  abzuschneiden,  für  den  Katholicismus  unschäd- 
lich zu  machen,  durch  Opportunitätsrttoksichten.  Es  läßt  sich  keine 
Stelle  bei  Aog.  ausmitteln,  welche  bewiese,  daß  diese  Lehre  von  ihm 
selbst  znr  Steigerung  der  priesterlichen  Würde  im  Unterschiede  von 

37* 


532  Oött.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  14. 

dem  Stande  der  Laien  verwendet  worden.  —  Alle  Bischöfe  als  Nach- 
folger der  Apostel  gelten  ihm  im  Qroften  nnd  Ganzen  als  koordi- 
niert. Petras  wird  betrachtet  als  Repräsentant  der  einander  gleich- 
stehenden Bischöfe,  aber  anch  der  schwachen  Christen.  Nichtsdesto- 
weniger nennt  ihn  A.  mehrfach  den  ersten  der  Apostel  nnd  schreibt 
dem  römischen  Bischof  als  dessen  Nachfolger  im  Interesse  der  Ein* 
heit  der  Kirche  eine  relativ  höhere  Autorität  nach  Bang  and 
Macht  zn.  Der  Umfang  der  Jarisdiktion  wird  aber  nirgends  des 
Näheren  beschrieben.  —  Die  sedes  apostolica  in  Rom  gilt  ihm  als 
eine  angesehene  Trägerin  der  Lehrtradition.  Es  kommen  Stellen 
vor,  in  welchen  ihr  die  (infallibele)  Entscheidung  in  Lehrstreitig- 
keiten zageschrieben  za  werden  scheint.  Ja  ei  nz  eine  Stellen 
sprechen  die  Anerkennung  des  Rechts  derselben  wirklich  aus.  Die- 
selben können  aber  nicht  als  ausreichende  Beweise  dafttr  verwendet 
werden,  daß  A.  die  Lehre  von  der  römischen  Infallibiiität  mit  vol- 
lem Bewußtsein  vertrete,  weil  andere  ganz  anders  lautende  Er- 
klärungen denselben  entgegenstehn.  —  Der  Satz  de  baptismo  lib.  II 
cap.  Ill  §  4,  in  welchem  das  emendari  des  froheren  Koncils  durch 
das  spätere  ausgesagt  wird,  mit  den  Principien  des  Eatbolicismus 
nicht  vereinbar,  ist  von  A.  nicht  mit  Bewußtsein  als  ein  principieller, 
allgemeiner  ausgesprochen,  sondern  aus  Opportunitätsrttcksichten  zu 
erklären.  —  Die  Idee  der  Infallibiiität  der  Kirche  gehört  zu  Augu- 
stins  vulgär  katholischen  Grundvoraussetzungen,  ist  nirgends 
ausdrücklich  erörtert.  Darum  kann  er  nicht  das  Bcdttrfnis  haben 
die  legitime  Form  der  allerhöchsten  Repräsentation  der  Kirche 
theoretisch  zu  bestimmen.  —  Der  Episkopat  und  die  sedes  aposto- 
lica romana,  sämtliche  relativ  koordinierte  sedes  apostolicae  gelten 
als  Repräsentationen  der  (infallibelen)  Kirche;  aber  keine  dieser 
Größen  bildet,  nicht  alle  zusammengenommen  bilden  die  (infallibele) 
Repräsentation  der  (infallibelen)  Kirche.  Diese  hat  kein  unbedingt 
sicheres,  sie  u n zweifelhaft  repräsentierendes  anstaltliches  Organ. 
In  Bezug  auf  die  sechste  Studie  S.  359—478  »Weltliches 
und  geistliches  Leben  (Möncbthum).  Weltliche  und 
kirchliche  (geistliche)  Wissenschaft  (Mystik)€  will  ich 
ebenso  verfahren.  Dem  weltlichen  und  geistlichen  Leben  im  Diesseits 
steht  gegenüber  das  Leben  im  Jenseits,  das  eigentliche,  das  se- 
lige Leben.  Die  absolute  Seligkeit  und  die  Existenz  im  Dies- 
seits schließen  sich  aus.  —  Das  Verlangen  nach  einer  Anticipa- 
tion des  Anteils  an  dem  jenseitigen  ewigen  Leben  bewegt  freilich 
Augustins  Seele,  wird  aber  doch  abgewiesen;  der  Gedanke  an  eine 
Vergottung  hat  sich  ihm  ebenfalls  aufgedrängt,  ist  aber  von  ihm 
nicht  im  Dienste  einer  systematischen  Mystik  verwendet  —  Es  wird 


Beater,  Angnstiniscbe  Stadien.  533 

eingeräumt,  daß  das  ewi{;e  Leben  beziehungsweise  sehen  im  dies- 
seitigen Glauben  (nicht  mit  Hilfe  mystischer  Ekstasen)  genossen 
werden  könne.  —  Die  ethische  Weltbetrachtung  ist  überwiegend 
pessimistisch.  Daneben  bemerken  wir  eine  durch  metaphysische 
und  ästhetische  Interessen  begrtlndete  optimistische  Tendenz. — 
Wenngleich  im  Allgemeinen  »die  Weite  nach  Maßgabe  der  vulgär 
katholischen  Gedanken  in  negativer  Weise  beurteilt  wird :  so  fin- 
den sich  doch  Ansätze  zu  einer  positiven  Würdigung  »des  Welt- 
lichen« z.  B.  des  weltlichen  Besitzes,  des  Staates.  Aber  die  negie- 
renden Neigungen  bleiben  doch  im  Uebergewichte.  Aug.  vermag 
trotz  der  relativen  Anerkennung  des  Staats  als  Reichsinstituts  den 
nationalen  Patriotismus  nicht  zu  schätzen.  Wenngleich  er  den  Zu- 
stand der  (christlichen  und  heidnischen)  Gesellschaft  im  römischen 
Beiche  tief  beklagt,  die  Notwendigkeit  einer  Beform  anerkennt:  so 
weiß  er  doch  keine  Anwendung  zu  einer  praktischen  Methode  der- 
selben anzugeben,  da  die  Ausübung  nicht  ohne  Beteiligung  an  den 
verderbten  gesellschaftlichen  Zuständen  möglich,  diese  aber  see- 
lengefährlich wäre.  Daher  ist  die  Weltflucht  die  Aufgabe  der 
eigentlichen  Christen,  —  das  geistlich -asketische  Leben  das 
Ideal.  Dasselbe  soll  auch  nach  Augnstin  durch  die  vulgäre  katho- 
lischen consilia  evangelica  (Armut,  Yirginität)  geregelt  werden.  Er 
fordert  das  sinnlich  praktische  Beobachten  derselben  und  bezeichnet 
das  als  ein  höheres  Verdienst  erwerbendes;  aber  die  Sicherheit  die- 
ser Forderung  wird  erschüttert  durch  jene  ganz  anders  gearteten 
Gedanken,  welche  zu  den  Wurzeln  einer  tiefsinnigen,  geistvollen  Kritik 
der  damaligen  Zustände  des  asketischen  Lebens  werden,  —  durch 
die  Gedanken  von  dem  einzigen  Werte  der  —  freilich  nur  durch 
den  katholischen  Glauben  ( —  ein  an  und  für  sich  Sittliches 
gibt  es  nicht  — )  ermöglichten  sittlichen  Gesinnung,  welche  das  Feh- 
len der  Handlang  ersetzen  kann.  —  Lediglich  die  Zugehörigkeit 
des  Einzelnen  zu  der  Klasse  derer,  welche  die  vita  consiliorum  auf 
sich  genommen  haben,  gibt  keine  Garantie  für  den  sittlichen  Wert 
dieser  Zugehörigen.  Das  votum  votorum  ist  die  unbedingte  Selbst- 
verläugnung,  das  Selbstopfer  S.  399,  420;  die  ächte  Nachfolge, 
die  durch  dieses  zu  leistende.  Das  »Folge  mir  nach c  Matth.  XIX,  21 
setzt  voraus  die  Gesinnung,  welche  Jesus  sich  selbst  beilegt 
Matth.  XI  21.  S.  378.  399.  Das  Mönchtum  ist  von  Aug.  gefördert  in 
der  Absicht,  dasselbe  mit  der  Kirche  zu  verbinden.  —  Gott  gilt  als 
»das  höchste  Gut«  (nirgends  findet  sich  die  Aussage,  die  Kirche 
sei  das  höchste  Gut);  aber  die  aus  diesem  Satze  mit  Notwendigkeit 
sich  ergebenden  Konsequenzen  werden  nicht  gezogen.  Trotzdem 
daß   Aug.    das    theoretische   Erkennen    im   Vergleich   zu   dem 


534  Gatt.  gel.  Ans.  1887.  Nr.  14. 

praktischen  Willen  zu  beToreagen,  —  die  Erkenntnis  als  das 
Ziel  des  Menschenlebens  darzostellen  geneigt  ist,  hat  er  doch  die- 
ser Neigung  nicht  unbedingt  nachgegeben,  die  Bewohner  der  Klö- 
ster nicht  vornehmlich  dazu  angeleitet,  sich  der  Kontemplation  za 
widmen.  —  Man  kann  ihn  als  den  Begrflnder  einer  christlich  katho- 
lischen Philosophie  im  Occidente,  als  Verteidiger  des  Gedankens  be- 
trachten, alle  Wissenschaft  sei  nnr  nm  der  Kirche  willen.  Gleich- 
wohl hat  er  niemals  das  Bedürfnis  in  sich  ersticken  kOnnen,  eine 
selbständige  (also  nicht-geistliche)  Wissenschaft  zn  fordern. 

Die  siebente  Studie  S.  479— 516  »Zur  Würdigung  der 
Stellung  Augustins  in  der  Geschichte  der  Kirchec  bil- 
det den  SchluB  des  Buchs.  Die  in  demselben  publicierten  Unter- 
suchungen werden  den  Fachgenossen  dargeboten  mit  dem  Wunsche, 
daß  sie  dieselben  »als  an  sie  gerichtete  Fragen  beurteilen  wollen, 
ob  die  ausgewählten  Probleme  etwa  so  gelöst  werden  können,  wie 
sie  hier  gelöst  sindc,  —  »Nicht  sowohl  zu  belehren  als  bessere  Be- 
lehrungen zu  veranlassen  ist  Zweck  dieser  Publikation«  (S.  3).  Aber 
die  letzteren  können  freilich  auch  nur  erteilt  werden  durch  dasselbe 
Mittel,  welches  hier  verwendet  ist  —  durch  den  Beweis. 

Hermann  Renter. 


Herrmann,  W.,  Professor  in  Marburg,  Der  Verkehr  des  Christen  mit 
Gott  im  Anschluß  an  Luther  dargestellt.  Stuttgart  1886,  Cotta.  IV, 
207  S.    8«. 

Zum  Ausgangspunkt  seiner  Betrachtungen  nimmt  der  Verf.  den 
Umstand,  daß  gegen  die  Theologie  Ritschis  und  seiner  Schüler  die 
verschiedensten,  ja  einander  direkt  widersprechenden  Einwände  er- 
hoben werden.  Daraus  schließt  er,  daß  es  eine  religiöse  Stimmung 
ist,  welche  die  sonst  so  verschieden  denkenden  Gegner  in  der  Op- 
position gegen  Ritschi  einigt  Und  zwar  eine  Stimmung,  die  als 
eine  Abart  mystischer  Religiosität  begriffen  werden  müsse,  da  es  in 
ihr  darauf  abgesehen  sei,  das  Verhältnis  zu  Gott  auf  sinnliche  Weise 
zn  erleben,  nämlich  so,  daß  diese  Erlebnisse  bestimmte  zeitlich  ab- 
gegrenzte Momente  ausfüllen.  Im  Gegensatz  hierzu  denjenigen  Ver- 
kehr mit  Gott  darzustellen  und  zu  rechtfertigen,  zu  welchem  Luther 
durch  das  Verständnis  Jesu  Christi  gekommen  war,  ist  die  Aufgabe, 
die  Herrmann  sich  stellt  Denn  eben  diese  selbe  Auffassung  des 
Verkehrs  mit  Gott  bilde  den  Mittelpunkt  der  Ritschrschen  Theologie. 
Durch  eine  klare  Zeichnung  desselben  hofft  er  die  Gegner  zu  nöti- 
gen, sich  unzweideutig  Ober  ihre  Stellung  auszusprechen  —  was  dann 
zugleich  einer  zukünftigen  Verständigung  dienen  würde. 


Herrmann,  Der  Verkehr  des  Christen  mit  Gott  im  Anschlufi  an  Luther.    535 

Das  erste  Kapitel  handelt  von  dem  Verkehr  Gottes  mit 
uns.  Derselbe  ist  angekotlpft  nnd  wird  innerhalb  der  christlichen 
Gemeinde  vermittelt  durch  die  Erscheinung  Jesu  Christi.  Denn  wer 
von  dieser  innerlich  getroffen  wird,  gewinnt  daraus  den  Gedanken 
einer  Macht,  welche  der  Welt  gegenüber  Recht  behalten  muß,  d.  h. 
den  Gedanken  Gottes ;  er  lernt  zugleich  in  der  Gesinnung  Christi  die 
Gesinnung  Gottes  gegen  uns  als  die  Liebe  kennen,  welche  die  Stln- 
den  vergibt;  er  schöpft  endlich  aus  der  Thatsache,  daß  dieser  Mensch 
zu  unserer  Welt  gehört,  die  Zuversicht,  daß  das  Gute  in  ihr  siegen 
muß,  und  lernt  dadurch  sich  der  Teilnahme  am  Guten  freuen.  So 
wird  der  Verkehr  durch  Christum  von  Gott  angeknüpft  Das  Wort 
vermittelt  ihn  dem  Einzelnen,  das  Sakrament,  indem  es  als  sichtbares 
Zeichen  das  Wort  und  seine  Verheißung  unterstützt,  überdies  und 
vor  allem  das  allgemeine,  worin  jenes  eingeschlossen  ist,  seine  Stel- 
lung in  der  christlichen  Gemeinde.  Auch  die  Gottheit  Christi  muß 
in  diesem  Zusammenhang  verstanden  werden,  dahin  nämlich,  daß 
Christus  der  ist,  durch  welchen  der  Verkehr  Gottes  mit  uns  vermit- 
telt wird.  Die  alten  Lehren  von  den  zwei  Naturen  und  von  der  Sa- 
tisfaktion wissen  seine  Erscheinung  dagegen  nur  als  Voraussetzung 
des  Heils  und  des  Verkehrs  mit  Gott  zu  deuten.  Kein  Wunder  da* 
her,  daß  die  Gegner,  welche  diese  (katholische)  Ansicht  festhalten, 
sie  nun  durch  die  Bemühung  ergänzen,  auf  selbstgewählten  Wegen 
der  Phantasie  zu  einem  wirklichen  Verkehr  mit  Gott  zu  gelangen. 
Wenn  sie  das  richtige  evangelische  Verständnis  des  durch  Christum 
vermittelten  Verkehrs  mit  Gott  befolgten,  würden  sie  aller  solcher 
Surrogate  entbehren  können. 

Das  zweite  Kapitel  schildert  unsern  Verkehr  mit  Gott 
Er  vollzieht  sich  im  Gebet.  Aber  die  Voraussetzung  des  christlichen 
Gebets  ist  der  Glaube,  der  Christum  ergriffen  hat,  weshalb  weiterhin 
auch  der  Glaube  selbst  als  unser  Verkehr  mit  Gott  bezeichnet  wird. 
Besonders  von  diesem  Glauben  handelt  daher  das  zweite  Kapitel. 
Auf  den  sittlichen  Zusammenhang,  in  welchem  er  entsteht,  wird  hin- 
gewiesen, sein  Wesen  als  Vertrauen  auf  die  Gnade  Gottes  in  Christo 
wird  betont  und  das  Verlangen  der  Gegner  nach  mystischen  Erre- 
gungen daraus  abgeleitet,  daß  sie  sich  über  den  scholastischen  Be- 
griff eines  Lehren  aneignenden  Glaubens  nicht  zu  erheben  vermögeni 
welcher  Glaube  freilich  keinen  Verkehr  mit  Gott  begründet  Weiter 
wird  dieser  im  rechten  Glauben  erlebte  Verkehr  mit  Gott  als  Ge- 
wißheit der  Sündenvergebung  und  Freiheit  von  der  Welt  geschildert : 
auch  die  Liebe  zu  Gott  wird  nur  richtig  verstanden,  wenn  man  sie 
als  das  ehrfurchtsvolle  Vertrauen  auf  Gott  dem  Glauben  einordnet 
Besonders  aber  gehört  das  sittliche  Handeln  auf  die  Welt  gleichfalls 


636  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  14. 

in  den  ZosammenhaDg  nnseres  Verkehre  mit  Gott,  wie  sich  ergibt, 
wenn  man  den  evangelischen  Orandsatz,  daft  das  gate  Werk  die 
Fracht  des  Glaubens  ist,  richtig  versteht,  d.  h.  erkennt,  daß  im  Glau- 
ben nicht  bloß  die  Kraft  des  gaten  Handelns  (was  Lather  einseitig 
betont),  sondern  auch  das  Motiv  desselben  gegeben  ist.  Denn  dann 
ergibt  sich,  daß  wir  in  unserem  sittlichen  Handeln  niemals  der  im 
Glauben  gegebenen  Beziehung  zu  Gott  durch  Christum  entbehren 
können,  folglich  auch  in  diesem  Handeln  mit  Gott  verkehren.  End- 
lich kehrt  die  Betrachtung  zum  Gebet  zurtlck,  um  auf  solche  Er- 
kenntnis des  Glaubens  sie  zu  wiederholen,  daß  das  Gebet  aus  dem 
Glauben  kommen  muß,  aber  auch  zu  fordern,  daß  das  Wachstum  im 
Glauben,  welches  sich  durch  das  Gebet  vollzieht,  nicht  stille 
stehn  darf. 

»Die  Gedanken  des  Glaubens«  ist  das  dritte  Kapitel 
überschrieben,  welches  zeigt,  daß  diese  Gedanken  entwertet  werden, 
wenn  man  sie  für  Daten  des  objektiven  Denkens  oder  Erkennens 
nimmt,  wie  das  im  hergebrachten  theologischen  Betrieb  geschieht: 
sie  sind  vielmehr  göttlichen  Ureprungs,  weil  sie  sich  auf  den  Ver- 
kehr mit  Gott  beziehen,  welchen  der  Glaube  an  Christum  begründet. 
Und  zwar  vollzieht  sich  die  Betrachtung  namentlich  wieder  im  Ge- 
gensatz gegen  die  herrschende  Theologie.  Als  Beispiele  diene  der 
Vorsehungsglaube,  die  Wiedergeburt  und  das  mit  Christo  in  Gott 
verborgene  Leben  des  Christen.  Herrmann  schließt,  indem  er  es  als 
Grundsatz  ausspricht,  daß  die  Theologie  keine  andere  Aufgabe  habe 
als  die  Gedanken  des  Glaubens  zu  formulieren  und  den  Glauben 
selbst  —  als  ganzes  genommen  —  wissenschaftlich  zu  rechtfer- 
tigen. — 

Der  Schwerpunkt  dieser  Betrachtungen  liegt  im  eraten  und  zwei- 
ten Kapitel.  Was  im  dritten  Kapitel  entwickelt  wird,  berührt  ein 
Thema,  über  welches  sich  gerade  Herrmann  schon  zu  wiederholten 
Malen  ausgesprochen  hat.  Freilich  ist  auch,  was  die  ersten  Kapitel 
bringen,  in  seinen  Grundgedanken  nichts  neues.  Das  kann  es  auch 
nicht  sein,  weil  es  sich  um  die  Darstellung  und  Verteidigung  eines 
schon  gegebenen  theologischen  Standpunktes  handelt.  Die  bekann- 
ten Gedanken  treten  aber  schon  dadurch  in  eine  neue  Beleuchtung^ 
daß  sie  durchweg  im  Anschluß  an  Luther,  wie  auch  der  Titel  aus- 
drücklich hervorhebt,  vorgetragen  werden.  Ueberdies  ist  manches 
einzelne  in  dieser  Fassung  überhaupt  neu,  und  die  Gesamtdaratellung 
unterecheidet  sich  nicht  unwesentlich  von  den  früheren  Erörterungen 
Herrmanns  über  die  gleichen  Fragen.  Meiner  Ansicht  nach  verdient 
aber  diese  neue  Darstellung  den  Vorzug  vor  der  früheren.  Denn 
wenn   in  dem   früher   von   Herrmann   dargelegten   Veratändnis  des 


Herrmann,  Der  Verkehr  des  Christen  mit  Qott  im  AnschluB  an  Luther.    637 

Cbristentams  das  sittliche  Moment  einseitig  hervorgehoben  wird,  so 
ist  das  hier  nicht  mehr  der  Fall.  Und  das  hängt  doch  wohl  nicht 
bloß  mit  der  verschiedenen  Themastell ang  zusammen,  sondern  läßt 
anf  eine  Weiterbildnng  der  theologischen  Ansicht  in  dieser  Richtung 
schließen.  Den  Inhalt  der  christlichen  Frömmigkeit,  als  deren  Form- 
bestimmtheit die  in  der  christlichen  Gemeinde  erlebte  Bechtfertigang 
und  Versöhnung  gefaßt  wird,  stellte  er  frtlher  so  dar,  daß  beides, 
das  sittliche  Handeln  im  Gottesreich  und  die  religiöse  Freiheit  von 
der  Welt,  neben  einander  zu  stehn  kam.  Jetzt  wird  man  dagegen 
von  einer  übergreifenden  Bedeutung  reden  dürfen,  welche  auch  ab- 
gesehen von  der  Rechtfertigung  dem  religiösen  Momente  beigelegt 
wird.  So  schon  wenn  im  Anschluß  an  Luther  nachdrücklich  betont 
wird,  daß  dem  Christen  die  Kraft  zum  guten  Handeln  aus  dem 
Glauben  fließt.  Ganz  besonders  tritt  es  aber  in  der  Entwicklung 
S.  142  ff.  hervor,  wo  gezeigt  wird,  daß  der  Gottesglaube  den  Chri- 
sten durch  die  Not  trägt,  in  welche  ihn  die  Notwendigkeit  des  Gu- 
ten versetzt,  die  ihn  zuerst  erkältend  berührt.  Das  ist  entschieden 
eine  andere  Betrachtungsweise  als  die,  welche  in  dem  sittlichen 
Handeln  als  solchem  die  Seligkeit  finden  lehrt,  und  welche  das 
ttberweltliche  und  übernatürliche,  von  dem  der  christliche  Glaube  zu 
sagen  weiß,  geradezu  mit  dem  sittlichen  identificiert.  Und  zwar  ist 
diese  Veränderung  eine  Verbesserung.  Man  wird  gegen  die  hier 
entwickelte  Auffassung  des  Verkehrs  des  Christen  mit  Gott  den  Vor- 
wurf des  einseitigen  Moralismus  nicht  mehr  erheben  können.  Zwar 
war  dieser  Vorwurf  auch  früher  eine  Uebertreibung,  aber  eben  doch 
Uebertreibung  eines  an  und  für  sich  nicht  grundlosen  Bedenkens. 
Jetzt  dagegen  ist  er  gegenstandslos  geworden,  wie  denn  Niemand 
die  Betrachtungen  des  Verf.s  wird  lesen  können,  ohne  einen  lebhaf- 
ten Eindruck  von  der  freudigen  Energie  zu  erhalten,  mit  welcher 
er  nicht  bloß  einen  theologischen  Standpunkt,  sondern  eine  religiöse 
Position  und  zwar  die  des  evangelischen  Christentums  vertritt 

Eine  andere  Frage  ist,  ob  die  Darstellung  des  Verf.s  nun  auch 
völlig  der  Sache,  um  die  es  sich  handelt,  entspricht.  Der  Grund- 
gedanke freilich,  daß  es  für  den  evangelischen  Christen  keinen  an- 
dern Verkehr  mit  Gott  geben  kann  als  den,  der  sich  im  Glauben  an 
die  Offenbarung  Gottes  in  Christo  vollzieht  und  daraus  je  und  je 
entwickelt,  dieser  Grundgedanke  scheint  mir  über  allen  Zweifel  er- 
haben zu  sein.  Ebenso  steht  außer  Frage,  daß  Rechtfertigung  oder 
Sündenvergebung  (wenn  nicht  immer  zeitlich  so  doch  principiell) 
unter  den  Gaben  Gottes  voransteht,  die  der  Glaube  ans  der  Offen- 
barung und  durch  sie  d.  h.  durch  Christum  empfängt.  Aber  wenn 
wir  nun  nach  dem  weiteren  Inhalt  des  Glaubens  und  damit  gleich- 


638  Gott  gel.  Anz.  1887.  Nr.  14. 

sam  nach  der  Substanz  der  eyangeligchen  Frömmigkeit   frageüi  ge- 
nügt es  dann,  bei  den  von  Herrmann  entwickelten  Vorstellangskreisen 
stebn  zu  bleiben?    Ich  setze  voraaS;   daß   wir   in  diesem  Inhalt  ein 
religiöses  und  sittliches  Moment  zu  unterscheiden  haben.    Ich  nehme 
ferner  an,  daß  auch  Herrmann  die  übergreifende  Bedeutung  des  re- 
ligiösen Momentes  anerkennt:  beides  steht  nicht  neben  einander  und 
wechselt  mit  einander  ab,  sondern  ist  in  der  Weise  innerlich  verbun- 
den, daß  das  sittliche  Handeln   seinen   Ausgangs-  und   Zielpunkt  in 
der  religiösen  Zugehörigkeit    zu  Oott   hat,   deren  der  Olaube  durch 
Christum  gewiß  ist    Uod  nun  lautet  meine  Frage  so :  ob  es  wirklich 
der  Sache   entspricht,   dies  religiöse  Moment   außer   und   neben  der 
Rechtfertigung   als  Freiheit  von  der  Welt  zu  bezeichnen?    Offenbar 
tritt  nämlich  so  gerade  dies  Moment  in  den  Mittelpunkt  der  christ- 
lichen Frömmigkeit.     Diese  Zugehörigkeit  zu  Gott  durch  den  Glau- 
ben an  Christum   ist  es,   in   welche  die  Rechtfertigung  den  Christen 
versetzt,  und  wiederum   ist   sie  es,   aus  welcher  ihm  beides  kommt, 
die  Kraft  den  Willen  Gottes   in   der  Welt   zu  thun  und  durch  einen 
lebendigen    Yorsehungsglauben   (mit   allem    was   er  einschließt)   die 
Welt  zu  überwinden.    Aber  das  heißt  doch,  daß  wir  es  hier  mit  dem 
zu  thun  haben,  was  wie  nichts  andres  die  Substanz  der  christlichen 
Frömmigkeit  ausmacht.    Dies   nun   aber  als  etwas  unsagbares  ohne 
nähere  Bestimmung  zu  lassen  scheint  mir  ebenso  unthunlich  wie  das 
andere,  das  ganze    nach  einem  Teil    desselben  als  Freiheit  von  der 
Welt  zu  bezeichnen  oder  wieder  nur  durch  den  allgemeinen,  die  Ge- 
samthaltung des  Christen  charakterisierenden  Ausdruck  des  Vertrauens 
auf  Gott   zu   bestimmen.    Ersteres  würde  zudem  der  von  Herrmann 
mit  Recht  vertretenen  Forderung  widersprechen,   daß  die  christliche 
Frömmigkeit  sich   an  bestimmte  Gedanken   zu  halten  hat  und  nicht 
in  verschwommenen  Gefühlen  hängen   bleiben  darf.    Hieraus  folgere 
ich,  daß  das  Verständnis  der  christlichen  Frömmigkeit  erst  vollstän- 
dig wird,  wenn  auch  dies,  das  wichtigste  Moment  derselben,  an  einem 
bestimmten  biblischen  Verstell  ungsk  reis  nachgewiesen  und  mittelst  des- 
selben  formuliert   ist.     Und  daß  Herrmann  das  nicht  versucht  hat, 
erscheint  mir  als  ein  Mangel  seiner  Betrachtungen,  der  sich  nament- 
lich darin  äußert,  daß  es  an  derjenigen  einheitlichen  Zusammenfas- 
sung  und  Gliederung   aller  in  Betracht  kommenden  Elemente  fehlt, 
welche  zu  ei  reichen  die  Sache  erlaubt  hätte. 

Was  für  ein  Vorstellungskreis  an  den  damit  bezeichneten  Ort 
gehört,  will  und  kann  ich  hier  nicht  im  einzelnen  erörtern.  Ich 
habe  früher  zu  zeigen  versucht,  daß  uns  derselbe  gegeben  ist  in  der 
apostolischen  Verkündigung  von  dem  slg  Xgtavi^j  in  welchem  allOi 
die  an  ihn  glauben,  mit  ihm  als  dem  verklärten  Haupt  zur  Einheit 


Herrmann,  Der  Verkehr  des  Christen  mit  Gott  im  Anschlui  an  Luther.    639 

eines  Lebens  in  Einem  Leibe  verbanden  sind.  Und  jedenfalls  läßt 
sieb  von  dieser  centralen  Anschanang  ans  alles,  was  die  Eigentum- 
liebkeit  christlicher  Frömmigkeit  aasmacht  and  bestimmt,  einheitlich 
zasammenfassen,  während  Herrmann  eines  nach  and  neben  dem  an- 
dern aafzazählen  genötigt  ist.  Ebenso  ist  es  dieser  Vorstellangs- 
kreis,  welcher  als  die  Fortsetzang  der  Reichspredigt  Jesa  im  Mittel- 
pankt  der  gesamten  apostolischen  Verktlndigang  steht.  Herrmann 
irrt  gar  sehr,  wenn  er  den  hierher  gehörigen  Aussprach  des  Apo- 
stels über  das  mit  Christo  in  Gott  verborgene  Leben  der  Christen 
als  ein  gelegentliches  »schönes  Worte  wertet,  wie  denn  auch  seine 
Aoslegang  desselben  kaum  den  Beifall  eines  Kundigen  finden  wird: 
was  dahinter  liegt  and  was  ich  gelegentlich,  in  diesem  Wort  zu- 
sammengefaßt, Ritschi  and  ihm  gegenüber  als  den  Mittelpunkt  der 
christlichen  Frömmigkeit  bezeichnet  habe,  ist  einfach,  and  zwar  zu- 
nächst in  einem  eschatologischen  Zusammenhang,  die  breite  Mitte  der 
paalinischen  and  aller  apostolischen  Verkündigung.  Und  es  ist  heute 
noch  geeignet,  der  leitende  Oedanke  in  aller  christlichen  Dogmatik 
and  Predigt  zu  sein,  weil  unsere  veränderte  Aaffassang  vom  Zeit- 
pnnkt  des  Endes  den  Kern  der  Sache  nicht  berührt,  sobald  nur  der 
transscendente  Zielpunkt  aller  christlichen  Frömmigkeit  energisch 
festgehalten  wird.  Endlich  mag  aach  darauf  verwiesen  werden,  daß 
diese  Anschauung  nicht  minder  den  abendländischen  Eatholicismus 
beherrscht,  sofern  derselbe  seine  Wertschätzung  der  Kirche  daraus 
rechtfertigt,  daß  eben  die  Kirche  Christus  sei.  In  der  That  muß 
man  diesem  Gedanken  nachgehn,  um  zu  verstehn,  daß  der  Katholi- 
cismus  Christentum  ist,  so  wenig  man  sich  verhehlen  darf,  daß  an- 
dererseits die  Gleichsetzung  der  hierarchischen  Anstaltskirche  mit  Chri- 
stus die  große  Unwahrheit  des  Katholicismus  aasmacht.  Und  viel- 
leicht werden  wir  unser  evangelisches  Christentam  erst  dann  zur 
völligen  Ausgestaltung  gebracht  haben,  wenn  bei  uns  alles  in  der- 
selben Weise  aaf  diese  große  mystische  Anschauung  von  Christo  be- 
zogen ist,  wie  sich  dort  alles  auf  die  mit  Christo  identificierte  An- 
staltskircbe  bezieht 

Aber  dies  alles  gehört  nicht  anmittelbar  hierher.  Es  za  er- 
wähnen schien  mir  unerläßlich,  weil  ich  betonen  möchte,  daß  die 
Geltendmachung  dieses  Yorstellungskreises  gerade  auch  das  zuläng- 
liche Mittel  für  den  von  Herrmann  verfolgten  Zweck  gewesen  wäre, 
dafür  nämlich,  die  mystischen  Velleitäten  moderner  Gläubigkeit  zu 
bekämpfen.  Denn  nichts  ist  geeigneter,  einem  Irrtum  entgegenzu- 
wirken als  die  Wahrheit,  welche  er  entstellt.  Diese  Wahrheit  ist 
aber  hier  die  eben  erwähnte  Idee  von  der  Einheit  aller  Gläubigen 
mit  Christo.    Man  kann  darauf  hin  allen,  welche  mystische  Phanta- 


640  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  14. 

sien  im  Christentum  befürworten,  entgegenhalten,  daß  das,  was  sie 
zu  bieten  haben,  gerade  unter  dem  von  ihnen  selbst  hochgehaltenen 
Gesichtspunkt  in  keiner  Weise  an  den  apostolischen  Gedanken  von 
der  im  Glauben  gesetzten  Einheit  mit  Christo  heranreicht,  daft 
aber,  wenn  von  dieser  Einheit  abstrahiert  wird,  und  der  einzelne  seine 
Beziehung  zu  Christo  als  einzelnem  vergegenwärtigt,  dem  göttlichen 
Haupt  des  Leibes  gegenüber  nicht  nachlässige  Vertraulichkeit,  son- 
dern nur  heilige  Ehrfurcht  am  Platz  ist,  und  daß  es  endlich,  wenn 
die  Vorstellung  von  dem  verklärten  Haupt  der  Gemeinde  bestimmter 
gestaltet  werden  soll,  hierfür  auf  evangelischem  Boden  kein  andres 
legitimes  Mittel  als  das  geschichtliche  Lebensbild  Jesu  gibt,  während 
alle  Irrgänge  einer  zuchtlosen  religiösen  Phantasie  schlechthin  aus- 
geschlossen bleiben  müssen.  Ein  solches  Entgegenkommen  scheint 
mir  den  bestimmtesten  und  wirksamsten  Widerspruch  zu  enthalten. 
Was  aber  das  Wort  »mystische  betrifft ,  so  bekenne  ich  offen,  daß 
ich  die  Abneigung  gegen  dasselbe  bei  Ritschi,  Herrmann  und  an- 
dern nicht  zu  teilen  vermag,  ja  daß  ich  sie  nicht  ganz  verstehe.  Es 
ist  doch  einfach  eine  Thatsache,  daß  es  längst  gebräuchlich  ist,  das 
Wort  in  einem  weiteren  als  dem  ursprünglichen  Sinn  für  solche  re- 
ligiöse Erfahrungen  zu  gebrauchen,  die  sich  weniger  au  Reflexions- 
Vorstellungen  als  an  bildliche  Anschauungen  halten  und  eine  kräf- 
tige Erregung  weniger  des  Intellekts  als  des  fühlend-woUenden  Gei- 
stes einsehließen,  wie  auch,  daß  ein  bestimmtes  Wort  für  diese  Sache 
kaum  entbehrlich  ist.  Daher  halte  ich  für  richtig,  bei  dem  Ge- 
brauch desselben  zu  verbleiben,  zumal  die  Ablehnung  dessen  von  der 
andern  Seite  als  Verläugnung  des  innerlichen  Charakters  der  christ- 
lichen Frömmigkeit  verstanden  wird,  den  doch  Herrmann  selbst  in 
keiner  Weise  verläugnet  wissen  will. 

Dazu  füge  ich  eine  Bemerkung  über  einen  andern  Punkt 
des  von  Herrmann  befolgten  Sprachgebrauchs.  Er  scheint  mir  das 
Wort  »Vorsehungsglaube«  in  einem  zu  weiten  Sinn  zu  nehmen,  in- 
dem er  es  geradezu  für  die  fides  specialis  gebraucht.  Das  kann 
aber  nur  dazu  dienen,  Misverständnisse  hervorzurufen,  da  es  dem 
eingebürgerten  Sprachgebrauch  widerspricht.  Auch  fordert  die  Sache 
zwischen  der  fides  specialis,  die  sich  auf  Wort  und  Sakrament  rich- 
tet, und  dem  Vorsehungsglanben  zu  unterscheiden.  Der  Unterschied 
ist  der,  daß  der  äußere  Vorgang,  in  welchem  uns  Wort  und  Sakra- 
ment entgegentritt,  uns  Christum  nahe  bringt  und  so  den  Glauben 
an  ihn  nährt  oder  diesem  Glauben  eine  Bürgschaft  vermittelt,  wäh- 
rend die  äußeren  Vorgänge,  die  uns  zum  Mittel  der  Seligkeit  wer- 
den, in  dem  wir  sie  uns  durch  den  Vorsehungsglauben  unterwerfen, 
diese  Bedeutung  nur  da  gewinnen,  wo  der  Glaube  an  Christum  schon 


Herrmann,  Der  Verkehr  des  Christen  mit  Gott  im  AnscbU'ß  an  Luther.    641 

lebeudig  ist.  Dori;  int  der  äußere  Vorgang  das  Mittel,  wodurch  Gott 
den  Olanben  weckt  oder  nährt,  hier  ist  der  Glaube  an  Christum  das 
Mittel,  wodurch  wir  des  äußeren  Vorgangs  innerlich  Herr  werden. 
Das  ist  aber  zweierlei.  Und  der  Sprachgebrauch  darf  diesen  Unter- 
schied nicht  verwischen. 

Außer  den  mystischen  Liebhabereien  der  von  ihm  bekämpften 
Gegner  hat  Herrmann  auch  hier  wieder  ihre  Vorliebe  fttr  die  wis- 
senschaftliche Erkenntnis  der  Glaubensobjekte ,  wie  sie  in  der  über- 
lieferten Theologie  versucht  wird,  als  Gegensatz  im  Auge.  Auch 
was  dies  betrifft,  möchte  ich  aber  den  Ausführungen  der  vorliegen- 
den Schrift  den  Vorzug  vor  den  früheren  geben.  Es  wird  hier  mit 
aller  nur  wünschenswerten  Deutlichkeit  betont,  daß  der  Glaube  und 
daher  die  Glaubenslehre  sich  auf  die  Offenbarung  stützt,  während 
das  Sitt^ngesetz  sachgemäß  als  ein  Hauptstttck  im  Inhalt  der  Offen- 
barung in  Betracht  gezogen  wird.  Die  Bedeutung  der  Lehre  in  der 
evangelischen  Kirche,  das  Mittel  für  die  Pflege  der  Frömmigkeit  zu 
sein,  tritt  überall  als  das  Hauptinteresse,  das  sich  an  sie  knüpft, 
hervor.  Und  die  Aufgabe  der  Dogmatik  wird  ganz  richtig  darauf 
beschränkt,  die  Gedanken  des  Glaubens  mit  wissenschaftlicher  Ge- 
nauigkeit zu  entwickeln:  daneben  tritt  als  ein  anderes  die  Aufgabe, 
den  Glauben  selbst  wissenschaftlich  zu  rechtfertigen.  Gerade  dies 
halte  ich  für  den  Vorzug  der  hier  gegebenen  Ausführungen,  daß  die 
Wiedergabe  der  Glaubensgedanken  und  folglich  die  darin  geübte 
Fassung  der  dogmatischen  Aufgaben  dem  Beweis  gegenüber  selb- 
ständig bleibt.  Die  Bedeutung,  welche  die  an  Kant  orientierte 
Philosophie  des  Verfassers  dem  religiösen  Glauben  anweist,  die  Vor- 
stellungskreise des  theoretischen  Erkennens  und  des  auf  dem  Sitten- 
gesetz beruhenden  persönlichen  Lebens  zu  verknüpfen,  tritt  beschei- 
den in  den  Hintergrund  und  beeinträchtigt  die  Gedanken  des  Glau- 
bens nicht.  Das  mag  nun  mit  der  verschiedenen  Themastellung 
früher  und  jetzt  zusammenhängen.  Ein  Vorzug  ist  es  jedenfalls. 
Und  ich  würde  dem  Verf.  gern  geschenkt  haben,  was  er  S.  23  über 
die  Bedeutung  des  Absoluten  für  die  wissenschaftliche  Forschung 
bemerkt,  da  dieser  Gedanke,  den  ich  nicht  für  richtig  halte,  nur 
einen  überflüssigen  Haken  abgibt,  an  den  sich  die  Anklage  auf  Dua- 
lismus u.  s.  w.  wieder  anhängen  kann. 

Scheint  mir  aber  so,  was  der  Verfasser  in  dieser  zweiten  Be- 
ziehung vorbringt,  volle  Billigung  zu  verdienen,  so  weiß  ich  nun 
doch  nicht,  ob  es  die  Gegner  befriedigen  wird,  und  ob  nicht  in  die- 
sem Interesse  ein  weiteres  hätte  geschehen  können.  Es  ist,  wenn  ich 
recht  urteile,  ein  doppeltes,  was  die  Gegner  von  der  Rechten  gegen 
den  von   Herrmann   in   dieser   Frage   vertretenen  Standpunkt  ein« 


5i2  Gatt.  gel.  Anz.  1887.  Kr.  14. 

nimmt.  Einmal  wollen  sie  das  Dogma  in  Beiner  fiberlieferten  Form 
z.  B.  die  Zweinatnrenlehre  nicht  aufgeben.  Diesem  Verlangen  kann 
man  nnn  freilich  nicht  entgegenkommen.  Wer  eingesehen  hat,  daft 
die  fraglichen  Lehren  einer  andern  als  der  in  der  Schrift  begründe- 
ten nnd  für  die  Kirche  der  Reformation  maßgebenden  Auffassung 
des  Heils  entsprungen  sind,  kann  um  der  evangelischen  Wahrheit 
willen  jene  Lehren  nicht  in  der  überlieferten  Gestalt  gelten  lassen. 
Da  bleibt  nur  übrig  fleißig  darzuthnn,  daft  hier  eine  solche  Inkon- 
gruenz obwaltet,  und  von  der  Thatsache,  daft  auch  die  Gegner  das 
evangelische  Ideal  der  Frömmigkeit  anerkennen  nnd  üben,  zu  hof- 
fen, daft  ihr  Eifer  um  die  überlieferte  Lehrform  allmählich  erlahmen 
wird.  Ich  glaube  aber,  daß  noch  etwas  anderes  nnd  allgemeineres 
im  Spiel  ist.  Man  flirchtet,  daß  die  Forderung,  es  in  der  Dogmatik 
statt  auf  eine  Objekte  Erkenntnis  des  Glaubensinhalts  auf  eine  wis- 
senschaftliche genaue  Erkenntnis  des  Glaubens  abzusehen,  einen  gan- 
zen oder  doch  einen  halben  Verzicht  auf  die  objektive  Wahrheit 
dieses  Glaubens  einschließt:  dagegen  aber  sträubt  man  sich  mit 
Recht,  weil  ein  solcher  Verzicht  sich  allerdings  mit  dem  christlichen 
Glauben  nicht  vertragen  würde.  Und  dem  gegenüber  scheint  es  mir 
Pflicht  und  im  Interesse  der  Sache  dringend  geboten,  bei  jeder  Ver- 
handlung über  die  Frage  nachdrücklich  zu  betonen,  daft  etwas  der- 
artiges nicht  gemeint  ist  und  nicht  gemeint  sein  kann.  Ja,  ich 
stehe  nicht  an,  den  Nachweis,  daß  die  christliche  Glaubenserkennt- 
nis den  Abschluß  unsrer  gesamten  Erkenntnis  bildet,  als  eine  drin- 
gende Aufgabe  zu  bezeichnen,  welche  die  Theologie  nach  wie  vor 
nicht  aus  den  Augen  verlieren  darf.  Denn  nur  indem  sie  diese 
Aufgabe  stellt  und  zu  lösen  sucht,  kann  sie  dem  entscheidenden 
Interesse  genügen,  das  sich  für  die  Kirche  an  die  Wahrheit  des  in 
ihr  verkündigten  Glaubens  knüpft.  Es  wird  sich  aber  darum  han- 
deln, die  Aufgabe  so  zu  lösen,  daß  die  Glaube nserkenntnis  in 
ihrer  eigentümlichen  Art  unangetastet  bleibt.  Und  dafi  das  kein 
aussichtsloses  Unternehmen  ist,  ergibt  sich  daraus,  daß  eine  f&r  uns 
mit  Kant  anhebende  veränderte  Beurteilung  des  gesamten  Erkennens 
die  Voraussetzungen  enthält,  unter  welchen  die  alte  Aufgabe  auf 
diese  neue,  dem  religiösen  Fortschritt  der  Reformation  entsprechende 
Weise  gelöst  werden  kann.  Ist  dies  nun  richtig,  dann  wird  in  einem 
wissenschaftlichen  Beweis  ftlr  die  Wahrheit  des  christlichen  Glau- 
bens vor  allem  gezeigt  werden  müssen,  daß  und  weshalb  wir  den 
Absohluft  nnsres  gesamten  Erkennens  in  einem  praktisch  bedingten 
Glauben  zu  suchen  haben.  Ich  würde  dies  als  das  erste  nnd  wieh- 
tigste  Stück  des  Beweises  bezeichnen  und  in  einem  zweiten  die  bei- 
den von  Herrmann  genannten  Momente  dahin  zusammenfassen^  daS 


Herrmann,  Der  Verkehr  des  Christen  mit  Gott  im  Anschlufi  an  Luther.    643 

weiter  gezeigt  werden  müsse,  wie  nur  der  christliche  Glaube  den 
Forderungen  der  Vernunft  an  einen  die  menschliche  Erkenntnis 
vollendenden  praktischen  Olanben  genüge.  Indessen  —  das  ist  nicht 
eigentlich  eine  Differenz.  Herrmann  hat  bei  seiner  Formulierung 
der  Aufgabe  jenes  von  mir  als  das  erste  und  wichtigste  Stück  des 
Beweises  bezeichnete  Moment  jedenfalls  vorausgesetzt,  wie  er  sich 
denn  selber  gerade  darum  in  seinen  früheren  Untersuchungen  sehr 
eifrig  bemüht  hat  Die  Differenz  besteht  nur  darin,  daß  wir  die 
Aufgabe,  die  uns  beiden  im  wesentlichen  als  die  gleiche  vorschwebt, 
auf  verschiedene  Weise  angreifen  zu  sollen  meinen.  Für  meine 
Ansicht  habe  ich  aber  in  diesem  Zusammenhang  nur  geltend  zu 
machen,  daß  sie  mir  geeigneter  erscheint,  alle  berechtigten  Beden- 
ken der  Gegner  gegen  die  von  uns  vertretene  Fassung  der  dogma- 
tischen Aufgabe  niederzuschlagen. 

Endlich  erwähne  ich  noch,  daß  die  Form  der  Herrmannschen 
Polemik  nicht  geeignet  ist,  eine  Verständigung  mit  den  Gegnern 
herbeizuftlhren.  Sein  Tadel  ist  nach  meinem  Gefühl  in  der  Regel 
verletzend,  und  das  von  ihm  den  Gegnern  gelegentlich  gespendete 
Lob  ist  es  erst  recht.  Dabei  ist  er  selbst  nicht  vorsichtig,  wo  er 
auf  fremde  Urteile  eingeht.  Das  habe  aoch  ich  in  der  Anmerkung 
S.  30  zu  erfahren  bekommen.  Denn  wenn  er  hier  meine  Einwände 
gegen  sein  früheres  Buch  dahin  interpretiert,  ich  hätte  ihm  vorge- 
worfen, daß  er  das  Christentum  von  fremden  Ideen  abhängig  mache, 
so  ist  das  einfach  nicht  richtig.  Ich  habe  nur  gesagt,  daß  er  durch 
die  Anlehnung  an  Kant  zu  einer  einseitigen  Betonung  des  ethischen 
Moments  im  Christentum  gekommen  sei  und  sich  dadurch  das  Ver- 
ständnis desselben  beeinträchtigt  habe.  Das  ist  aber  nach  wie  vor 
meine  Meinung;  daß  er  selbst  in  dieser  neuen  Schrift  davon  zurück- 
kommt, halte  ich  ftlr  einen  wesentlichen  Vorzug  derselben.  Vollends 
das  Misverständnis  Kants,  das  ich  »begangene  haben  soll,  und  das 
er  hier  schon  zum  zweiten  Mal  öffentlich  rügt,  existiert  lediglich  in 
seiner  Phantasie.  Wer  sich  aber  über  Misverständnisse  anderer  be- 
klagt und  sie  in  dieser  Art  tadelt,  sollte  sich  doch  vorher  dessen 
vergewissern,  daß  sie  wirklich  existieren. 

Berlin  im  Januar  1887.  Eaftan. 


Ml  Gott.  gel.  Aq2.  1887.  Nr.  14. 

Eöstlin,  H.  A.,  Geschichte  des  christlichen  Gottesdienstes  etc. 
Freiburg  i.  Br.  1887.    J.  C.  B.  Mohr.    263  S.   8^ 

Der  QedaDke,  eine  Geschiebte  des  christlichen  Gottesdienstes  in 
Form  eines  Kompendiums  für  Vorlesungen  und  SeminarUbungen  zu 
schreiben,  ist  sehr  glücklich.  Der  allerdings  nicht  festbegrenzte 
Stoff,  welchen  man  den  Studierenden  der  praktischen  Theologie  un- 
ter dem  Namen  der  »Liturgik«  zu  bieten  pflegt,  würde  hier  unter 
dem  Gesichtspunkt  geschichtlicher  Entwicklung  vorgetragen  werden 
und  damit  seine  geschichtliche  Wertung  empfangen.  An  einem  der- 
artigen Werke  fehlt  es  noch  in  der  That;  denn  das  inhaltreiche 
Werk  von  H.  Alt:  Der  christliche  Gultus,  welches  allein  in  Betracht 
kommen  könnte,  ist  zu  umfangreich  und  zu  kompilatorisch  gearbei- 
tet, als  daß  es  jenen  Mangel  auszufüllen  vermöchte. 

Das  vorliegende  Buch  Eöstlins  ist  klar  und  übersichtlich  ge- 
gliedert: In  drei  durch  die  Natur  der  Sache  gegebene  Hauptab- 
schnitte wird  der  Stoff  eingeteilt.  Der  erste  behandelt  den  alt- 
christlichen Gottesdienst  in  den  Unterabteilungen  des  Gottes- 
dienstes im  apostolischen  und  nachapostolischen  Zeitalter 
und  des  Gottesdienstes  in  der  altkatholischen  Kirche;  der 
zweite  bespricht  den  katholischen  Gottesdienst  in  zwei  Ab- 
schnitten den  der  griechischen  und  den  der  römischen  Kirche; 
der  dritte  Hauptabschnitt  handelt  von  dem  evangelischen 
Gottesdienst,  um  in  drei  Unterabteilungen  den  der  lutherischen 
und  den  der  reformierten  Kirche  darzustellen  und  in  der  letz- 
ten Unterabteilung  über  den  Verfall  und  die  Wiederherstellung  des 
evangelischen  Gottesdienstes  im  18.  und  19.  Jahrb.  zu  handeln. 

Ein  großer  Sammelfleiß  tritt  in  den  reichhaltigen  Litteratnr- 
Angaben  zu  Tage.  Um  so  mehr  fällt  es  freilich  auf,  daß  an  einigen 
Stellen  geradezu  klaffende  Lücken  sich  finden.  So  werden  z.  B, 
S.  23  unter  dem  Titel:  »Litteraturc  (der  »Lehre  der  zwölf  Apostel«) 
nur  sieben  Schriften  aufgeführt;  in  den  an  letzter  Stelle  angeführ- 
ten Aufsätzen  Harnacks  in  der  Tb.  Lit.  Ztg.  1886  Nr.  12  und  15 
[wozu  eine  dritte  Abhandlung  in  1887  Nr.  2  hinzugetreten  ist]  wird 
dagegen  bemerkt,  daß  Ph.  Schaff:  The  oldest  Church  Manual  called 
the  Teaching  of  the  XII  Apostles.  New-Tork,  2.  ed.  (bis  März  1886) 
etwa  200  Schriften  über  die  J$dax^  namhaft  macht,  wozu  Harnack 
noch  20  andere  hinzufügt.  So  werden  S.  41  ff.  bei  Gelegenheit  der 
Arkandisciplin  in  der  altkatholischen  Kirche  zwar  die  Disser- 
tationen von  Frommann  (1833)  und  R.  Rothe  (1841),  sowie  die  Auf- 
säize  von  Credner  (1844)  und  Hefele  (1846)  citiert ;  daß  aber  R.  Rothe 
es  ist,  welcher  den  organischen  Znsammenhang  der  Arkandisciplin 
pnd  der  Proselytentaufe  zuerst  nachgewiesen  hat,  dem  dann  Credner 


Eostlin,  Geschichte  des  christlichen  Gottesdienstes  etc.  646 

ergänzend  folgte,  während  Tb.  Harnack  (der  cbristliche  Gemeinde- 
gottesdienfit  im  apostolischen  und  altkatholischen  Zeitalter  1854, 
S.  1  ff),  neuerdings  von  G.  N.  Bonwetsch  (in  Eahnis  Zeitschr.  f.  d. 
histor.  Theol.  1873  S.  203 ff.)  unterstützt,  die  Unabhängigkeit  bei- 
der Institutionen  von  einander  zu  erweisen  suchte,  bis  endlich 
G.  von  Zezschwitz  (System  der  christlich  kirchlichen  Eatechetik  I 
(1863)  S.  154  ff.  180  ff.  und  Herzogs  Tb.  B.E.  «  I  (1877)  S.  637  ff.) 
für  die  Auffassung  Kothes  eintrat  und  die  Untersuchung  in  den  von 
Bothe  eingeschlagenen  Bahnen  zu  einem  vorläufigen  Abschluß  brachte, 
findet  sich  nicht,  auch  nicht  andeutungsweise,  erwähnt.  Auffallender 
noch  tritt  solche  Lücke  in  dem  Abschnitt  S.  71  ff.  »der  gottesdienst- 
liche Baum«  hervor.  Der  Herr  Verfasser  entwickelt  seine  Ansicht 
über  die  Entstehung  der  altchristlichen  Basilika  im  Anschluß  an 
Chr.  E.  Jos.  Bunsen  (die  Basiliken  des  christlichen  Roms  u.  s.  w. 
München  1842):  das  Vorbild  derselben  sei  die  forensische  Basilika 
der  Bömer.  Außer  Bunsen  wird  als  Vertreter  derselben  An- 
sicht nicht  etwa  Glem.  Brockhaus  (Herzogs  Th.  R.  E.  '  II  (1878) 
S.  135  ff.),  sondern  Zestermann  (de  basilicis  1847;  erweiterte  deut- 
sche Bearbeitung  unter  dem  Titel:  die  antiken  und  die  christlichen 
Basiliken.  Leipzig  1847)  angeführt,  obgleich  Zestermann  in  ausge- 
sprochenem Gegensatz  zu  Bunsen  die  christliche  Basilika  als 
> hervorgegangen  aus  christlichem  Bedürfnisse  und  aus  christlichem 
Geiste«  zu  erweisen  sucht.  Die  neuen  Meinungen  von  F.  X.  Kraus, 
welcher  Martigny  folgend  die  Basilika  für  eine  Verbindung  der  rö- 
mischen Gerichts-  und  Markthalle  und  der  sogenannten  Katakomben- 
Kapelle  hält ;  von  Weingärtner,  der  sie  aus  heidnischem  Tempel  und 
dem  antiken  Privathause  zusammengesetzt  sein  läßt;  vonLübke,  der 
sich  für  eine  Verschmelzung  der  Gerichtsbasilika  und  des  antiken 
Privathauses  entscheidet  u.  s.  w.  werden  auch  nicht  einmal  genannt, 
und  der  gegenwärtige  Stand  der  Forschung,  welcher  von  den  hete- 
rogenen Viktor  Schnitze  (Christi.  Kunstblatt  1882  S.  117  ff.)  und 
Dehio  (Sitzungsberichte  der  Histor.  Klasse  der  königl.  bayr.  Akad. 
derWiss.  1882  II  S.  300— 341;  vgLBrieger,  Ztschr.  f.  Kgesch.  1883 
Bd.  VI  Hft.  1  S.  122  ff.)  einerseits  und  andrerseits  von  Konrad  Lange 
»Haus  und  Halle«  1885  vertreten  wird,  bleibt  dem  Leser  verborgen. 
Die  beiden  erstgenannten  Forscher  kommen  darin  überein,  daß  als 
Vorbild  der  christlichen  Basilika  lediglich  das  antike  Privat- 
bans anzusehen  sei;  sie  differieren  jedoch  darin,  daß  V.  Schnitze 
nur  das  Peristylium,  Dehio  das  ganze  Privathaus  in  Anspruch  nimmt, 
während  Lange,  auf  Bunsen  zurückgehend,  mit  großem  wissenschaft- 
lichen Apparat  die  Herkunft  der  christl.  Basilika  aus  der  antiken 
Kaufhalle  (Marktbasilika)  begründet. 

9ött.  gel.  Am.  1887.  Nr.  U.  38 


646  Gfött.  gel.  Anz.  1887.  1fr.  14. 

In  formeller  Beziehung  ferner  fällt  es  auf,  daß  die  Quellen 
überall  fast  nnr  citiert  werden,  mit  Ausnahme  der  Quellen  für  die 
nächapostolische  Kirche,  welche  ausgeschrieben  sind;  befremdender 
ist,  daß  die  Citate  in  völliger  Willkür  dann  in  der  Quellensprache, 
dann  in  deutscher  Uebersetzung  dargeboten  werden.  So  finden  wir 
S.  18  ein  Wort  Augustins  in  deutscher  Uebersetzung,  S.  20.  23 
Clem.  Rom.  ad  Gor.  I  c.  59— 61  undignat.  adSmyrn.  griechisch, 
dagegen  S.  24—28  Jkdax^  VII— XII  deutsch,  während  S.  28 ff. 
Justin  Apol.  I,  65—67  wieder  griechisch  steht;  die  Liturgie  aus 
Const,  ap.  II  —  der  Herr  Verf.  schreibt  ständig  falsch  Ap.  Const 
—  wird  S.  46ff.  in  griechischer,  die  aus  Const.  Ap.  VIII 
S.  53 ff.  in  deutscher  Sprache  mitgeteilt;  S.  67  finden  wir  Conc 
Nie.  can.  18  in  griechischer,  Conc.  Laod.  can.  15  ff.  in  deut- 
scher Sprache,  und  S.  111  folgt  auf  Caes.  Arel.  hom.  12  in  la- 
teinischer Sprache  der  30.  Canon  der  Synode  von  Agde  in 
deutscher  Sprache  u.  s.  w. 

Der  Titel  des  Buches  verspricht  mehr  als  der  Inhalt  bietet 
Zum  »christlichen  Gottesdienste  würde  doch  z.  B.  der  des  heutigen 
Altkatholicismus,  der  altlutherischen  Kirche,  der  auf  reformiertem  Ge- 
biet so  zahlreichen  Denominationen  (Methodisten,  Baptisten  u.  s.  w.) 
gehören ,  auch  müßten  die  Haupteigentümlichkeiten  der  Kulte  in  den 
verschiedenen  Landeskirchen  Erwähnung  finden;  aber  von  dem  AI* 
leü  erfahren  wir  nichts.  Doch  an  dem  Titel  allein  liegt's  nicht;  un- 
ter der  Rubrik:  »Quellen  und  Litteraturc  für  den  Gottesdienst  der 
reformierten  Kirche  (S.  191  ff.)  finden  wir  zwar  die  Litteratur  ange- 
geben fnt  deü  Kultus  nach  Zwingli  und  Oekolampad,  nach  Calvin 
und  a  Lasco,  für  den  der  schottischen ,  der  holländischen,  der  eng- 
lischen Kirche,  der  Freikirche  (?  welcher  unter  den  vielen?)  und 
der  Irvingianer;  aber  in  der  Darstellung  wird  die  schottische,  die 
holländische  Kirche,  die  Freikirchen  und  der  Kultus  der  Irvingianer 
völlig  übergangen.  Dieselbe  Unvollständigkeit,  bezw.  Willkür  in 
der  Auswahl  des  Stoffes  tritt  auch  in  der  Behandlung  der  einzelnen 
Bestandteile  des  Kultus  hervor;  eine  Belehrung  beispielsweise  über 
das  für  deü  christlichen  Kultus  so  überaus  wichtige  Perikopenwesen 
und  seine  Geschichte  suchen  wir  vergebens.  Mit  großem  Interesse 
zwar  und  gerne  folgen  wir  der  Darstellung  des  Herrn  Verfassers, 
welche  derselbe  über  die  Entwicklung  der  kirchlichen  Musik 
(S.  88  ff.,  126  ff.,  179  ff.,  252  ff.)  uns  bietet ;  der  Autor  der  »Ge* 
schichte  der  Musik  im  Umritt«  (3.  Aufl.  1884)  wird  ohne  Frage  nur 
tüchtiges  geben,  und  dem  begeisterten  Musiker  rechnen  wir  es  nicht 
allzu  hoch  an,  wenn  er  mit  Vorliebe  von  der  »heiligen  Tonkunst« 
redet  und  S.  185  die  wohl  nicht  ganz  nüchterne  Behauptung  wagt, 
der  Eirchenohor  sei  derjenige  Teil  der  Gemeinde,   »dem  vom  (leiste 


Köstlin,  Oeschichte  des  christlichen  Gottesdienstes  etc.  647 

Qottes  die  Gabe,  den  Herrn  in  höheren  Zangen  zu  preisen,  verliehen 
sei«.  Allein  um  so  mehr  hätte  erwartet  werden  dürfen,  daß  Ober 
die  Entwicklang  des  Kirchenliedes,  sowohl  des  rOmisch  katholi- 
schen lateinischen  in  den  Hymnen  and  Seqaenzen  a.  s.  w.,  ftlr  welches 
neuerdings  so  reiche  Quellen  flieSen,  als  besonders  des  evangelischen 
deatschen,  mehr  als  vereinzelte  dürftige  Bemerkungen  gegeben  wären* 
lieber  die  Entwicklung  des  Kirchenjahres  finden  wir  allerdings 
mehr;  allein  teils  ist  die  Darstellung  nicht  unanfechtbar  —  z.  B. 
p.  118:  »von  den  Anfangs  werten  des  Introitus  [der  Messe]  haben 
viele  Sonntage  ihren  Namen  erhalten«;  es  werden  sämtliche  bezüg- 
liche Sonntage  mit  willkürlicher  Auslassung  des  Sonntags  Bogate 
aufgezählt  und  das  Begister  wird  mit  unverständlichem  »n.  s.  f.c 
geschlossen,  als  ob  noch  andere  Sonntage  als  die  der  Quadragesimal- 
zeit  und  der  Quinquagesimalzeit  individuelle  Namen  trügen  —^  teils 
fehlt  eine  zusammenhängende  und  lückenlose  (z.  B.  das  Verhältnis 
des  christlichen  Sonntags  zum  jüdischen  Sabbath  berücksichtigende) 
Behandlung.  Er  liegt  auch  wohl  kein  sachlicher  Grund  vor, 
weshalb  S.  76  die  Gewandung  der  Liturgen  in  der  grieo bi- 
so hen  Kirche  ausführlich  mitgeteilt,  auch  die  liturgische  Kleidung 
in  der  englischen  Kirche  wenigstens  kurz  (S.  214)  erwähnt 
wird,  dagegen  der  Leser  über  die  liturgischen  Gewänder  beim  r^ 
mischen  Gottesdienst  und  in  dem  evangelischen  Kultus  in  Un- 
wissenheit gelassen  wird.  DaA  ebenfalls  die  liturgischen  Farben 
und  ihre  Verwendung  in  den  Kirchenzeiten  nicht  berührt  werden, 
sei  nur  beiläufig  erwähnt.  — 

Doch  sehen  wir  die  Gabe  des  Herrn  Verfii  im  Einzelnen  näher 
an.  Von  der  » Einleitung  c,  die  der  Herr  Verf.  seiner  Darstellung 
S.  3  vorausschickt,  hätten  wir  eine  Erörterung  vornehmlich  über  das 
Wesen  und  die  Notwendigkeit  des  Gottesdienstes  ftlr  Konstituie- 
rung und  Pflege  des  Oemeindebewufttseins  gewünscht;  und  es  er- 
scheint zu  sehr  als  itio  medias  in  res,  wenn  nur  eine  Bechtfertigung 
der  Teilung  des  Werkes  in  die  genannten  drei  Hauptabschnitte  ge- 
boten wird  durch  den  Satz,  daft  im  Kultus  sich  die  geistige  Phy- 
siognomie abpräge  und  verfestige,  welche  der  kirchlichen  Entwick- 
lung und  dem  kirchlichen  Bewußtsein  bestimmter  Epochen  und  Völ- 
kergruppen eigne.  Auf  die  Epochen  und  Völkergruppen  scheint  es 
uns  in  der  Gestaltung  des  Kultus  weniger  anzukommen,  als  auf  die 
konfessionelle  Bestimmtheit  der  verschiedenen  kirchlichen  Gemein- 
schaften, und  eine  Abprägung  der  geistigen  (besser  wohl:  religiösen) 
Physiognomie  wird  der  Kultus  nur  in  dem  Falle  sein,  wenn  er  sich 
ohne  Beeinflussung  von  fremdartigen  Nebenrücksichten  gestaltet  und 
entwickelt.    Daft  dies  aber  durchaus  nicht  immer  der  Fall  ist,  räumt 

88* 


ß48  Öött.  gel.  Anz.  1887.  Kr.  14. 

der  Herr  Verf.  am  Schlaft  der  karzen  »Einleitangc  und  im  weiteren 
Verfolg  des  Werkes  hinsichtlich  des  latherischen  Kaltas  selbst  ein. 
Den  ersten  Hauptabschnitt:  »der  altchristliche  Gottesdienste 
beginnt  der  Herr  Verf.  mit  einer  kurzen  Charakteristik  des  aposto- 
lischen and  nachapostolischen  Gottesdienstes  einerseits,  des  altkatho- 
lischen  andrerseits.  Dort  trage  der  Gottesdienst  den  Charakter 
einer  spontanen  Lebensäaßerang  des  neuen  Glaubensgeistes,  des  na- 
türlichen und  freien  Ausdrucks  des  Verhältnisses  Gottes  zur  Ge- 
meinde und  der  Gemeinde  zu  Gott,  hier  den  des  pflichtmäftigen  Be- 
kenntnisses, der  an  und  fllr  sich  wertvollen  Leistung.  Der  Herr 
Verf.  verwahrt  sich  S.  7  zwar  gegen  die  Verwertung  seines  ersten 
Satzes  zu  gunsten  der  Auffassung,  als  ob  die  Gottesdienstform  der 
apostolischen  und  nachapostolischen  Zeit  das  Normativ  aller  folgen- 
den Kultusbildungen  sein  mtlsse,  was  allerdings  ans  der  Darstellung 
des  Herrn  Verf.s  notwendig  sich  ergibt.  Allein  auch  aus  anderem 
Grunde  ist  die  Charakteristik  zu  beanstanden.  Man  braucht  nur 
die  Schilderung  Justins  M.  in  der  Apol.  I,  65  ff.,  in  welcher  der  Herr 
Verf.  selbst  apostolische  Tradition  erkennt,  mit  dem  synagogalen 
Gottesdienst,  wie  denselben  Schürer:  »Geschichte  des  jüdischen  Volks 
im  Zeitalter  Jesu  Christi«  II  (1884)  S.  375 ff.  darstellt,  zu  verglei- 
chen, um  die  synagogale  Tradition,  welche  der  Herr  Verf. 
ganz  außer  Betracht  läßt,  als  einen  Hauptfaktor  fttr  die  Gestaltung 
des  altchristlichen  Gottesdienstes  zu  erkennen. 

In  der  Darstellung  des  Gottesdienstes  im  apostolischen  Zeitalter 
bespricht  der  Herr  Verf.  a.  die  Quelle,  b.  das  Princip  des  Kultus. 
Dieser  letztgenannte  Abschnitt  nimmt  die  Aufmerksamkeit  besonders 
in  Anspruch.  Drei  Principien  werden  namhaft  gemacht  1)  das  der 
Erbauung  (olxodofA^)^  2)  das  der  Ordnung  und  Wohlanstän- 
digkeit, 3)  das  der  Pietät  gegen  die  apostolische  Ueberliefe- 
rung  und  das  der  Gesamtheit  Gemeinsame.  Es  bleibe  unerörtert,  ob 
es  wohlgethan  sei,  den  Zweck  des  Gottesdienstes,  die  Erbauung, 
mit  einem  höchst  allgemeinen  und  nichts  weniger  als  specifischen 
Gesetz  der  Form  und  einem  Gesichtspunkt  der  inhaltlichen  Aus- 
wahl unter  dem  Namen  »Principe  zusammenzufassen;  schwerer  wiegt 
es,  daß  ttber  den  hochwichtigen  und  der  Miskennung  so  sehr  aus* 
gesetzten  Begriff  der  »Erbauungc  (ohodofkff)  so  gut  wie  nichts 
gesagt  wird,  obgleich  Bassermann  in  der  Zeitschr.  fttr  prakt.  Theo- 
logie IV  (1882)  S.  1  ff.  die  Frage  durch  eine  umsichtige  Abhandlung 
wieder  in  Fluß  gebracht  hat.  Denn  was  S.  8  Anm.  1  angeführt 
wird,  daß  die  oUodofAij  Ausdruck  und  Förderung  der  lor$x^  latgeia  sei, 
wie  S.  30,  daß  sie  teils  ethisch,  teils  religiös,  oder  S.  220,  daß  sie 
Förderung  des  Glaubenslebens  nach  Erkenntnis,  Wille  und  Gemüt 
9ei|  wird   doch   nicht  als  Erläuterung  des  Begriffs  anzusehen  sein^ 


Eöstlin,  Ge8cbichte  des  christlichen  Gottesdienstes  etc.  549 

nm  so  weniger,  als  der  Herr  Verf.  darch  seine  durchgängige  Unter- 
scbeidnng  der  beiden  Teile  des  Gottesdienstes  in  einen  »der  Er- 
bannngc  dienenden  nnd  in  den  der  Encharistie  stets  wieder  aaf  fal- 
sche Fährte  verführt.  Aber  aach  das  dritte  »Principe,  das  der  Pie- 
tät gegen  die  apostolische  Ueberliefernng  and  das  der  Gesamtheit 
Oemeinsame,  dürfte  anfechtbar  sein ;  denn  die  Pietät  gegen  die  apo- 
stolische Ueberliefernng  wird  nnr  durch  Act.  15  nnd  den  Ansdrack 
ovyfj&sta  in  1  Gor.  11,  16  gestützt,  den  der  Herr  Verf.  darauf  be- 
zieht, daß  die  Bedeckung  des  Hauptes  der  Frauen  im  Gottesdienste 
u.  s.  w.  auf  des  Apostels  Wunsch  von  »den  Gemeinden  Gottes«  be- 
obachtet werde,  und  die  Pietät  gegen  das  der  Gesamtheit  Gemein- 
same soll  sich  einerseits  im  Liebesmahl,  andrerseits  in  den  Liebes- 
steuern geäußert  haben ;  allein  jenes  ist  doch  durch  die  beigebrach- 
ten Gitate  nicht  bewiesen  als  »Principe  des  Gottesdienstes,  und  die- 
ses dürfte  der  »spontanen  Lebensäußerung«  des  Gemeindegeistes  und 
der  Stiftung  des  Herrn  mehr  als  der  Pietät  zuzuschreiben  sein.  Aber 
auch  das  rechnet  der  Herr  Verf.  zu  dem  Princip  des  Kultus  im  apo- 
stolischen Zeitalter  überhaupt,  daß  die  äußere  Leitung  des  Gottes- 
dienstes in  der  Hand  der  Apostel  gelegen  habe,  und  daß  (alleini- 
ger) Gegenstand  der  Anbetung  Christus  gewesen  sei.  Beides  wird 
wohl  auf  einen  lapsus  calami  zurückzuführen  sein,  da  der  Herr  Verf. 
doch  unmöglich  der  Meinung  sein  kann,  daß  in  jeder  Gemeinde  der 
apostolischen  Zeit  einer  der  zwölf  (bezw.  dreizehn)  Apostel  (denn 
nur  von  diesen  ist  die  Rede)  ständig  anwesend  gewesen  sei,  und  da 
er  S.  13  die  Leitung  der  gottesdienstlichen  Versammlungen  in  den 
heiden-christlichen  Gemeinden  in  die  Hände  der  Gemeinde  selbst  ver- 
legt, welche  diese  (?)  Leitung  durch  die  mit  den  Charismen  der 
nvßiqvf^itiq  Begabten  (?)  ausgeführt  habe;  und  für  die  Behauptung, 
Christus  sei  (alleiniger)  Gegenstand  der  Anbetung,  führt  der  Herr 
Verf.  selbst  u.  a.  Act.  4,  31  (soll  heißen:  4,  24 ff.)  an,  was  seine 
Behauptung  direkt  widerlegt. 

Auf  die  Darstellung  des  »Princips«  folgt  S.  10  ff.  die  »Ordnung« 
des  Gottesdienstes,  zuerst  in  den  judenchristlichen,  dann  in 
den  heidenehristlichen  Gemeinden.  Von  der  Ordnung  des  Got- 
tesdienstes innerhalb  der  judenchristlichen  Gemeinden  wissen 
wir  nun  außerordentlich  wenig.  Was  der  Herr  Verf.  außer  den  Zu- 
sammenkünften im  Tempel  von  Jerusalem  über  die  Gliederung  des 
Erbauungsgottesdienstes  in  Gebet,  Lektion,  Auslegung,  Segen  be- 
richtet, ist  durch  einen  Bückschluß  aus  Apoc.  1.  4.  5  ff.  gewonnen, 
und  auch  hier  ist  übersehen,  daß  diese  Gliederung  die  des  herkömm- 
lichen Synagogengottesdienstes  war.  Noch  schwächer  begründet 
dürfte  die  Darstellung  der  Feier  des  hl.  Abendmahles  in  der  juden- 
christlichen,  besonders  in  der  jerusalemischen  Gemeinde  sein.    Die 


650  Qött.  ge).  Anz.  1887.  Nr.  14. 

einzige  Stelle,  worauf  sieb  der  Herr  VerfaBser  für  seine  Sobildernng 
zu  stützen  vermag,    ist  Act.  2,  46.  47:   ua^  ^fkiQar  .  .  .  nlAvti^ 
%8  *a%^  otuov  ägvov,  iksuXafkßayor  tgoq^g  iv   dyaXX$aif$$  nal  afpeXo- 
fi^M   »a^dtoc,    alpovrtsg  tdr  ^Biv  xal  S%ovt6q   xdqiv  nqiq  öXav  «ii^ 
Xaop.    Die  Voraassetznng  ist,  daft  jene  »lda$g  tov  ägtov  die  spe- 
eifische  Feier  des  bl.  Mables  Jesa  bezeicbne,  was  docb  (vgl.  C.  Weiz* 
säcker:    das   apostoliscbe   Zeitalter    der    cbristlieben   Eircbe    1886 
S.  43 ff.)  nicbt  obne  weiteres  feststebt,    and  aas  dem  Aasdnick  al* 
vbXVj  welcber   mit  evXoretp,  sv%aq^(SuXv,  ifipstp  aas  Mt.  26,  26 — ^30 
zasammengestellt   wird,   ist   der  kttbne  Schlaft   gezogen,   daft  diese 
Feier  von  Anfang  an  »nmschlossen  gewesen  sei  von  Gebet  and  Lob- 
gesang«.   Wir  bezweifeln   nicbt,   daß    es   sieb   mit  der  Feier  des 
bl.  Mables  wirklieb  so  verbalten  babe,   das   ist  vielmebr  ratione  rei 
sebr  wabrscbeinlicb.    Nor   die  exegetiscbe  Beweisftlbrang  beanstan- 
den wir.    Denn  der  Wortlaut  Act.  2,  47  erlaubt  nicbt,  das  alravvtsq 
%ir  &Biv  mit  der  Handlang  der  »AoVk  tov  ägtov  als   diese  und  nur 
diese  begleitendes  Moment  zu  verbinden,  ebensowenig  wie  das  'xot^- 
TSQ  x^9^^  *^^-    Atif  diese  Handlang   zu  bescbränken  ist;   und  dafi  in 
dem  Worte  alyetp  sowenig  wie  in  stJloretr  und  sixaq^oiBXv   ein  Lob- 
gesang  ausgedrückt  werden    soll,   lebrt  scbon  Luc.  24,  51  ff.     So 
bleibt  für  den  »Lob  g  es  an  g«  nur  das  ti/tivct»^  übrig;  scbadenur,  daft 
das  von  der  Oemeindefeier  nicbt  bericbtet  wird.   Hiermit  scbwebt 
aber  aucb  das,  was  Eöstlin  über  die  musikaliscbe  Bescbaffenbeit  der 
Oesänge   mitteilt,   völlig   in   der   Luft.     An   wirklieben   Spuren 
des  Oemeindegesanges  in  der   apostoliscben  Eircbe   feblt   es   nicbt; 
der  Herr  Verf.  gebt  ibnen  jedoch   nicbt  nacb.     Dabin  geboren  jene 
Hymnenstttcke  wie  I.Tim.  3,  16;  dabin  die  Erwähnung  von  tpalfkot^ 
£fftVo»,  Mal   npsvfAannai  Gol.  3,  16   (Epb.  5,  19).     Der   Herr   Verf. 
notiert   diese   drei  Liedarten   allerdings   S.  18;   aber  worin  sie  be- 
stebn  und  worin   sie  sieb  von  einander  untersobeiden,   erfahren  wir 
nicbt,  obschon  die  richtige  Deutung  seit  Luther  feststeht  (Eirchen- 
postille,   Predigt   über   die   Ep.   des  5.  Sonntags  nacb  Epipb.  Erl. 
Ausg.  ^  8,  S.  84  ff.). 

Eine  der  oben  erwähnten  ähnliche  Willkür  tritt  uns  in  der  Ord- 
nung des  Gottesdienstes  in  den  heidencbristlicben  Gemeinden  entgegen. 
Der  Herr  Verf.  nennt  —  in  gewissem  Anscbluft  an  die  wertvollen 
Abbandlungen  von  Seyerlen:  der  christliche  Eultus  im  apost  ZA. 
(Ztschr.  f.  prakt.  Tb.  1881,  S.  222—240.  289—327)  —  nach  1.  Cor. 
14,  26  vier  Haupt  formen  (besser:  Hauptmittel)  der  gegen- 
seitigen Erbauung:  tffai^koq^  d^axi}^  dnondlvfff$i  (nqotpiftala)  und 
rXmiUfa.  Unter  tf/alfAog  (npdXXstv)  versteht  Eöstlin  Gebet,  das  teils 
Bitt-  {nqoi^xi)}  teils  Lobgebet  {tpalftog  im  engem  Sinne  (IGor. 
149l6[?  wohl26]),  teils  Dankgebet  (sikarht^sixi«fi<fdal Gor.  U,  11) 


Eöstlio ,  Geschichte  des  christlichen  Gottesdienstes  etc.  55t 

sei.  Allein  1)  kennt  1  Cor.  14  den  Unterachied  zwischen  f/falindg 
im  weiteren  und  im  engeren  Sinne  nicht;  2)  ist  ngogsvxii  nicht 
Bitte  {diii<f$g)  sondern  Gebet  überhaupt;  3)  gibt  1  Cor.  14 
nicht  die  geringste  Veranlassang,  ngogevxij,  evloyta,  tf^aXfidg  unter 
den  allgemeinen  Begriff  tpalikog  zu  subsumieren ;  4)  ist  yfaX/kdg  nicht 
Oebety  sondern  ein  Psalm,  der  gesungen  wurde  (vgl.  Heinrici  z. 
d.  St.  Eöstlin  selbst  nennt  S.  18  die  tfßaXfkoi  unter  den  >Formen 
des  heiligen  Gesang  esc).  Wenn  aber  der  Herr  Verf.  S.  17  hinzu- 
fbgty  in  tpaXfAÖg  habe  die  denkende  Betrachtung  (t^ovg)  vor- 
gewogen, so  ist  5)  zu  erwidern,  daß  der  Apostel  1  Cor.  14,  15 
zwei  Arten  des  ^äXXs$v  kennt:  f^  nvsvfHxu  und  im  vol.  Auch 
das  dürfte  nicht  richtig  sein,  daß  &•  17  das  yXniaismq  laleXv  als  be- 
sonderes Mittel  der  Erbauung  im  Unterschied  von  tpalfkig,  ngog- 
svxij  u.  s.  w.  angeführt  wird;  denn  das  nQogt^x^a&at ^  tpdXXskV^ 
$vxaii$ituXv  u.  s.  w.  t^  nyevfAati  ist  eben  ein  yXuScaahq  XaXsXv 
(so  auch  Seyerlen  a.  a.  0.  S.  310).  Eigentümlich  ist  der  hohe  Wert, 
den  der  Herr  Verf.  im  Gegensatz  zu  dem  Apostel  Paulas  (1.  Cor. 
14,  5  ff.  bis  19)  der  Glossolalie]  beilegt  (S.  17);  und  die  Behaup- 
tung, daß  die  jnbilatio,  von  der  Augustin ,  Enarr.  in  Psalm.  Ps.  92 
conc.  1,  redet,  diese  Nachwirkung  der  Glossolalie,  das  »Element  der 
ans  religiöser  Ergriffenheit  heraus  schaffenden  künstlerischen  Intuition, 
die  heilige  Tonkunst,  die  künstlerisch  stylisierte  und  geordnete  Form 
für  die  Ergießung  der  genialen  Ergriffenheit«  sei,  möchte  wiederum 
doch  lebhaft  zu  bezweifeln  sein. 

Es  würde  ohne  Frage  zu  weit  führen,  wenn  wir  in  der  bisheri- 
gen Weise  das  vorliegende  Werk  durchzunehmen  fortfahren  wollten. 
Die  Nötigung  dazu  ist  um  so  weniger  gegeben,  als  es  sich  nicht 
um  die  principielle  Auffassung  und  Beurteilung  der  geschichtlichen 
Erscheinungen,  sondern  nur  um  den  Nachweis  ungenauer  Darstellung 
bisher  gehandelt  hat.  Indem  wir  die  Geltendmachung  einiger  prin- 
cipiellen  Gesichtspunkte  auf  den  Schluß  dieses  Referates  zurück- 
stellen, möge  es  gestattet  sein,  das  lebhafte  Interesse  an  der  Gabe 
des  Herrn  Verfs  dadurch  zu  erweisen,  daß  hervorragende  Punkte, 
die  einer  Korrektur  bedürftig  erscheinen,  ans  den  folgenden  Ab- 
schnitten des  Buches  in  der  Kürze  notiert  werden.  Wohl  nur  als 
lapsus  calami  ist  die  Behauptung  S.  31  zu  beurteilen,  daß  nach  der 
»Lehre  der  Apostel«  Subjekt  der  Erbauung  in  erster  Linie  »immer 
noch«  (?  vgl.  S.  9!)  die  Propheten  und  Apostel  gewesen  seien. 
—  Jkdaxij  Kap.  12  widerspricht  dem.  S.  43  heißt  es  ungenau,  die 
Nichtgetauften  hätten  vor  dem  Beginn  der  Eucharistie  die 
Versammlung  verlassen  müssen,  während  S.  47  Const,  ap.  II,  57  an- 
geführt vrird,  daß  schon  das  allgemeine  Kirchengebet  fand  fi)y  v8y 


552  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  14. 

natri%oviktv(av  %a\  %riv  t&v  (Astavoovptuy  S^odov  stattgefanden  habe« 
Auch  was  S.  43  über  die  Katechamenatsstnfen  des  4.  tind  5.  Jahr- 
hunderts gesagt  wird,  entspricht  nicht  dem  geschichtlichen  Befund 
(y.  Zezschwitz,  System  der  ehr.  kirchl.  Katechetik  I  (1863)  S.  108  ff.). 
S.  44  entsteht  der  Schein ,  als  ob  der  Freitag  jeder  Woche  als 
ndtsxa  ctavQwfftfiop y  der  Sonntag  jeder  Woche  als  ndaxa  dva' 
ctdis^lkov  gefeiert  worden  sei.  Ferner:  das  Verzeichnis  der  Quellen 
für  den  Gottesdienst  der  griechisch-katholischen  Kirche  S.  64  beginnt 
mit  dem  Satze:  »schriftliche  Aufzeichnung  der  vollständigen  Liturgie 
ist  vor  dem  5.  Jahrb.  nicht  anzunehmenc;  daß  der  Herr  Verf.  dies 
als  allgemeine,  nicht  nur  auf  die  griechisch-katholische  Kirche, 
welche  ja  selbst  erst  mit  dem  5.  Jahrb.  beginnt,  bezügliche  That- 
sache  darstellen  will,  erhellt  aus  den  Argumenten,  welche  u.  a.  den 
Canones  der  Synode  von  Hippo  (393)  und  denen  von  Carthago  (407), 
sowie  Gregor  v.  Tours  de  vita  patr.  c.  16  entnommen  sind.  Gleich- 
wohl sind  bereits  fttr  die  Periode  der  altkatholischen  Kirche  S.  38 
sowohl  die  vollständige  Liturgie  aus  Const.  Ap.  II  (3.  Jahrb.)  und 
die  vollständige  Liturgie  aus  Const.  Ap.  VIII  (4.  Jahrb.)  vom  Herrn 
Verf.  selbst  mitgeteilt.  -  S.  49  fehlt  die  Notiz,  daß  die  Praefatio : 
sursum  corda,  babemus  ad  Dominum  ihren  Ursprung  bereits  vor  der 
Mitte  des  3.  Jahrb.  habe,  da  Cyprian  de  orat.  dom.  c.  31  sie  als 
üblich  notiert.  An  kleinen  Versehen  bemerken  wir  S.  78  das  über 
den  Sonnabend  als  Tag  des  Begräbnisses  Christi  und  als  Gedächt- 
nistag der  Schöpfung  Gesagte;  S.  106  die  Bemerkung  über  den 
Taufritus  des  üntertauchens,  der  bis  ins  10.  Jahrb.  geherrscht  habe 
(vgl.  dagegen  Jtdaxij  C.  VII);  S.  107  die  Bezeichnung  des  goti- 
schen als  germanischen  Styls;  S.  108  enthält  der  Abschnitt 
»B.  Die  Kultnszeitenc  eine  Reihe  von  Ungenauigkeiten ;  S.  112 
wird  der  Ausdruck  lectio  continua  als  eine  lectio  erklärt,  welche  vom 
Presbyter  bestimmt  werde.  Die  Sitte,  daß  mehrere  Altäre  in  der 
Kirche  errichtet  werden,  hätte  S.  105  einer  Erklärung  bedurft.  Das 
Verzeichnis  der  Quellen  für  den  Gottesdienst  der  römisch  katholi- 
schen Kirche  (S.  95  flf.)  berücksichtigt  unter  A.  den  Provincialkir- 
chen  die  afrikanische,  gallikanische ,  spanische  (mozarabische)  und 
die  englische,  während  unter  B.  die  Quellen  für  die  römische  Litur- 
gie (d.  h.  doch  die  für  die  italische  Provincial kirche  geltende, 
hernach  als  allgemein  gültig  erklärte  Liturgie)  genannt  werden.  In 
der  Verwertung  der  Quellen  unter  C.  »die  Gliederung  des  Gottesdien- 
stes« wird  jedoch  zwar  über  die  afrikanische,  die  gallikanische,  die 
spanische,  aber  nicht  über  die  englische,  sondern  über  die  mailändische 
Liturgie  gehandelt  und  uno  tenore  ohne  irgend  bezeichnende  üeber- 
Bchrift  der  vollständige  römische  Meßritus  dargelegt,   und  an  diese 


Eöstlin,  Geschiclite  des  christlklien  Gottesdienstes  etc.  553 

Darlegung  schlieBt  sich,  wiederam  nno  tenore,  eine  Erörterung  ttber  den 
liturgiBchen  Vortrag,  den  Kirchengesang,  die  Notenschrift  u.  s.  w.  bis 
zum  Jahre  1883.  So  dankenswert  diese  Erörterung  besonders  fttr  den 
Hosiker  ex  professo  ist,  so  wird  das  Fehlen  der  Oekonomie  des  Bu- 
ches in  diesem  Abschnitt  dadurch  doch  nicht  aufgewogen,  und  die 
UnVollständigkeit  der  Darlegung  (z.  B.  ttber  die  Arten  der  Messe 
S.  114  [vgl.  Herzog  Th.  R.  E.  «  IX,  S.  638  ff.]  nicht  gerechtfertigt. 
In  Bezug  auf  die  Gliederung  des  Gottesdienstes  in  der  evangelischen 
Kirche  machen  wir  darauf  aufmerksam,  daß  beispielsweise  die 
so  bezeichnenden  und  wichtigen  Spende  formein  beim  heiligen 
Abendmahl  vollständig  nur  bei  Darstellung  der  Liturgie  des  a  Lasco 
und  der  der  anglikanischen  Kirche  mitgeteilt  werden,  also  die,  deren 
Kenntnisnahme  doch  erst  in  zweiter  Linie  unseres  Interesses  steht, 
dagegen  ttber  die  lutherischen  Spendeformeln  und  die  der  refor- 
mierten Kirche  erfahren  wir  nichts.  Um  anderes  zu  ttbergehn ,  sei 
endlich  noch  der  geschichtliche  Irrtum  erwähnt,  daß  (S.  212)  die 
Uebersetzung  der  Psalmen  durch  Ambr.  Lobwasser  (1573)  »das  Grund- 
buch und  der  Grundstock  des  reformierten  Kirchengesanges  geblie- 
ben sei«.  Das  ist  für  die  reformierten  Gemeinden  des  Rbeinlandes 
—  und  hier  ist  doch  der  Hauptsitz  der  reformierten  Kirche  Deutsch- 
lands —  nicht  der  Fall.  Vielmehr  sind  die  Lobwasserschen  Psalmen 
durch  die  hervorragend  gelungene  Bearbeitung  der  Psalmen  von 
Matthias  Jorissen  (1739—1823),  welche  1798  in  Wesel  erschien,  ver- 
drängt worden  (vergl.  Max  Goebel,  Gesch.  d.  christl.  Lebens  in  der 
rhein.-westf.  evangelischen  Kirche  Bd.  III  (herausg.  von  Th.  Link 
1860)  S.  65  ff.).  Endlich  sei  es  gestattet  zu  den  am  Schluß  des 
Buches  verzeichneten  »sinnstörenden«  Druckfehlern  noch  folgende  zu 
notieren:  S.  4  Z.  7  v.  o.  1724  statt  182^\  S.  32  Z.  12  v.  u.  JusH- 
nu8  statt  Justin%U8\  S.  38  Z.  18  v.  o.  Hippolytus  statt  Hypölütis; 
8.  49,  Z.  10  V.  0.  ßaciXe$oy  statt  dßaikstov ;  S.  67,  Z.  17  v.  o.  o/fcrre 
statt  offeree  S.  154,  Z.  16  v.  u.  1526  statt  1528 \  S.  163  Z.  20  v.  o. 
honum  statt  banam]  S.  169,  Z.  10  v.  o.  dankbare  statt  dankare; 
S.  181,  Z.  10  V.  u.  Herman  statt  Hermann]  S.  189,  Z.  11  v.  n. 
Gerhardt  statt  Gerhard;  S.  222  Z.  15  v.  o.  Franche  statt  Franke. 

Aus  den  Erörterungen,  welche,  wie  oben  bemerkt  ist,  eine  mehr 
principielle  Besprechung  wttnschenswert  erscheinen  lassen,  nehmen 
wir  zwei  heraas,  weil  die  Klarheit  ttber  die  darin  behandelten  Ge- 
genstände für  die  liturgische  Zukunft  der  evangelischen  Kirche  in 
Deutschland  von  hervorragender  Bedeutung  sind:  wir  meinen  die 
Beurteilung  von  Luthers  liturgischen  Gedanken  und  praktischen  für 
die  Folgezeit  vorbildlichen  Einrichtungen,  und  die  Bedeutung  und 
Stellung  des  Chorgesangs  im  evangelischen  Gottesdienst. 


654  Gott.  gel.  Anz.  t887.  Nr.  14. 

Bei  der  hohen  Verebning,  die  den  Herrn  Verf.  gegenüber  der 
Person  nnd  der  religiösen  Genialität  Luthers  erfüllt  and  in  welcher 
der  Referent  ihm  nichts  nachgeben  möchte,  ist  es  gewiß  nicht  leicht, 
eine  nttchterne  und  kritisch-abwägende  Stellang  aaoh  den  litnrgi- 
sehen  Qedanken  Luthers  gegenüber  zu  bewahren.  Und  doch  würde 
gerade  hier  eine  eindringende  Kritik  in  heryorragendem  Matte  ge- 
fordert sein;  ohne  dieselbe  wird  sich  kaam  ein  klares  Bild  von  Lu- 
thers Gedanken  entwerfen  lassen.  Die  Aeußerungen  Luthers  über 
den  inneren  Gottesdienst,  —  die  große  Bedeutung  derselben  hof- 
fen wir  bald  an  anderem  Orte  darzutbun  —  lassen  wir  hier  billig 
außer  Betracht,  obgleich  sie  in  seine  Erörterungen  über  den  äuße- 
ren, den  kultischen,  Gottesdienst  sich  häufig  genug  eindrängen;  sie 
bleiben  bei  Seite,  weil  sie  hier  nur  Verwirrung  anrichten  können. 
Wir  bezweifeln  nicht,  daß  Luthers  Ansicht  durch  das  Wort  des 
Herrn  Verf.8  (S.  154)  getroffen  werde,  daß  in  dem  Maße,  als  die 
Gemeinde  zur  vollen  Reife  heranwachse,  sich  der  Kultus  vergeistige 
und  selbst  überflüssig  machen  müsse;  in  der  »Deutschen 
Messe«  1526  liegt  diese  Ansicht  klar  zu  Tage.  Wir  wollen  nicht 
fragen,  wie  dem  gegenüber  der  Herr  Verf.,  welcher  jene  Anschauung 
durchaus  zu  billigen  scheint,  S.  159  vom  »Gottesdienst  im  vollen 
und  wahren  Sinne,  wie  ihn  nur  die  gereiften,  streng  genommen  nur 
die  vollendeten  Christen  halten  können c,  zu  reden  vermag.  Von 
den  Voraussetzungen  aus,  welche  jener  Ansicht  zu  gründe  liegen, 
haben  »vollendetec  Christen  überhaupt  keinen  kultischen  Gottesdienst 
mehr.  Welches  sind  aber  jene  Voraussetzungen?  Vor  allem  die, 
daß  Luther  den  konkreten  in  den  Vorurteilen  und  Traditionen  der 
römischen  Kirche  erzogenen  Gemeinden  gegenüber  den  Kultus 
nur  als  heilspädagogische  Einrichtung  zu  werten  vermag; 
gerade  in  seinen  praktischen  liturgischen  Darlegungen  kommt  Luther 
—  begreiflich  genug  —  von  dem  römischen  Sauerteige,  daß  die 
Kirche  primo  loco  Heils  an  st  alt  sei  (Melanthon,  Heilsschule), 
nicht  los,  und  daraus  folgt  die  Auffassung  des  Kultus  als  heils- 
pädagogische  Einrichtung  von  selbst.  Diese  Voraussetzung  steht 
bei  Luther  friedlich  neben  dem  evangelischen  Kirchenbegriff, 
wie  derselbe  theoretisch  und  bekenntnismäßig  in  einer  Reihe  von 
Schriften  von  1520 — 1530  nnd  später  noch  dargelegt  ist,  und  wie 
derselbe  im  Art.  VII  der  Conf.  Aug.  seinen  klassischen  Ausdruck 
erhalten  hat  (vgl.  die  betreffenden  Abschnitte  in  J.  Köstlin,  Lnthers 
Theologie  2.  Ausg.  1883,  2  BB.  und  den  Artikel  desselben  Verf.s 
in  Herzogs  Th.  R  E.  ^  VII,  685  ff.).  Mit  dieser  Voraussetzung  hängt 
dann  bei  Luther  die  andere  zusammen,  daß  ihm  das  Objekt  dieser 
Pädagogie  nicht  die  Kirche   oder  die  Gemeinde  als  solche ,  sondern 


Eöstlin,  Geschichte  des  christlichen  Gfottesdienstes  etc.  666 

die  einzelnen  Christen  in  ihrer  Vereinzelang  sind.  Denn  den 
Gegensatz,  den  die  römische  Earche  zwischen  Klerns  and  Laien  auf- 
gerichtet hatte,  erkannte  Luther  niemals  an,  er  konnte  deshalb  aach 
die  Gemeinde  als  solche,  die  Laiengemeinde,  nicht,  wie  die  römische 
Kirche  that,  in  bleibender  Unmündigkeit  and  Erzieh angsbedürftig- 
keit,  in  ewigem  Katechumenat  sieb  denken ;  seine  liturgische  An- 
Behauung  war  ein  Notbehelf  den  traurigen  Zuständen  der  Christenheit 
gegenüber,  und  lieB  sich  auf  evangelischem  Boden  eben  nicht  konse- 
quent durchfuhren.  Daher  denn  der  Gedanke,  daß  die  Pädagogie 
in  demselben  Maße  tlberflUssig  sei,  wie  die  Christen  heranreifen,  daß 
also  auch  der  Kultas  überflüssig  werde;  daher  aber  auch  die  be- 
denkliche Aenßernng  im  Großen  Eatech.  zum  IIL  Gebot  (Erl.  Ausg.  ^ 
Bd.  21,  48),  daß  die  Teilnahme  am  Kultus  nicht  für  »verständige 
und  gelehrte«  Christen  geboten  sei,  sondern  nur  für  das  geringe 
unwissende  Volk,  eine  Aeußerung,  die  bekanntlich  bis  heute  eine 
verhängnisvolle  Tragweite  entfaltet  hat,  um  so  mehr,  als  der  pä- 
dagogische Charakter  des  Kultus  in  der  Entwicklung  der  lather. 
Kirche  festgehalten  wurde.  So  ist  denn  folgerichtig  die  Teilnahme 
des  Einzelnen  am  Kultus  der  Gemeinde  ein  testimonium  paupertatis, 
und  der  fromme,  der  Vollendung  sich  entgegensehnende  Sinn  trägt 
sich  mit  dem  Wunsche,  daß  doch  bald  alle  Kultusttbung  aufhöre, 
etwa  in  demselben  Verstände,  wie  man  sich  nach  der  Zeit  sehnt,  in 
der  es  keine  Gefängnisse  u.  dgl.  mehr  auf  Erden  gibt.  Luther  selbst 
bat  den  Fehler  gefühlt,  daß  der  Kultus  nur  pädagogischen  Zwecken 
dienen  solle;  aber  da  er  dem  großen,  innerlich  noch  ganz  römi- 
schen Haufen  die  Pädagogie  nicht  entziehen  konnte,  so  geriet  er 
—  und  es  ist  bezeichnend,  daß  das  zuerst  und  am  kräftigsten  in 
der  liturgischen  Schrift  der  »Deutschen  Messe«  geschieht  —  auf 
den  Gedanken,  ernste  Christen  zu  sammeln  aus  dem  großen  Haufen, 
damit  diese  einen  Kultus  ohne  pädagogischen  Zweck  einrichteten, 
dessen  Grondbestandteile  einerseits  Wort  Gottes  und  Sakrament,  an- 
drerseits Gebet  seien,  der  also,  wie  man  es  seit  der  Apol.  Conf. 
wohl  nennt,  ans  sakramentalen  und  sakrificiellen  Funktio- 
nen besteht.  Hier  sind  nun  in  der  That  durch  Luther  selbst  die 
Grundelemente  des  evangelischen  Kultus  gegeben,  und  auf  diesen 
Grandelementen  hat  sich  die  Ordnung  und  Gliederung  des  evange- 
lischen Kuhns  aufzubauen.  Lediglich  der  evangelische  Begriff 
des  Knltns,  welcher  sich  aus  dem  evangelischen  Kirchen- 
begriff ergibt,  darf  das  Entscheidende  in  der  Konstruktion  der 
Liturgie  sein,  wodurch  jedoch  selbstredend  keineswegs  ausgeschlos- 
sen ist,  daß  alle  Elemente  des  christliehen  Kultus,  welche  die  Ge- 
Bobiehte  produciert  hat,   verwertet  werden,   wofern  sie   nicht   nar 


566  Qött.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  14. 

Dicht  wider-evangelisch  sind,  sondern  sofern  sie  der  Darstellang  des 
evangelischen  Gottesdienstes  positiv  dienen,  dem  evangelischen  Be- 
griff des  Knltns  dienen.  Es  ist  offenbar  kein  evangelisch-principiel- 
les  Werk,  daß  Lntber  (vgl.  bes.  formala  Missae  et  comm.  1523  and 
Deutsche  Messe  1526)  die  römische  Messe  vornimmt  and  nar  das 
streicht,  was  wider  evangelisch  ist,  and  alles  am  des  Herkommens 
willen  and  der  Schwachheit  der  römisch  erzogenen  Masse  willen 
stehn  läßt,  was  nar  nicht  dem  Evangeliam  widerspricht.  Lather  soll 
deshalb  kein  Vorwarf  treffen;  er  hatte  mit  äaßerst  widrigen  Ver- 
hältnissen zn  rechnen;  aber  daß  ans  solchem  Verfahren  ein  evan- 
gelischer Ealtas  aas  einem  Gaß  nicht  entstehn  kann,  ist  deut- 
lich, und  daß  die  gesamte  liturgische  Entwicklung  in  der  evangeli- 
schen Kirche  an  dem  Fehler  dieses  Verfahrens  bis  heute  krankt,  ist 
leider  auch  deutlich  genug.  Nicht  aus  »Pietät«,  wie  der  Herr  Verf. 
es  darstellt,  sondern  ans  Eoncession  gegen  die  an  das  Herkommen 
so  völlig  gebundenen  Gemeinden  hat  Luther  die  Messe  nur  »gerei- 
nigt«, ohne  Hand  anzulegen,  sie  von  Grund  aus  neu  zu  bauen;  wie 
gerne  hätte  er  es  gethan!  »Es  erharre  seiner  Zeit«,  das  war  seine 
BernhiguDg  bei  der  Unzufriedenheit  mit  dem  bestehenden  Periko- 
penwesen  —  nicht  nur  in  der  form.  Missae  gibt  Luther  dieser  Un- 
zufriedenheit Ausdruck,  vgl.  auch  die  Klagen  in  seiner  Kirchenpo- 
stille  Eri.  Ausg.  *  8,  14.  267  ff.;  11,  103;  12,  266  u.  s.  w.  — ,  bei 
seinem  Mismnt  gegen  beibehaltene  Cärimonien,  z.  B.,  daß  sich  der 
»Priestert  zum  Altar  wende  und  dem  Volke  den  Bttcken  kehre 
(Deutsche  Messe).  Wie  sehr  Luther  innerlich  an  die  Rücksicht  auf 
die  faktischen  Zustände  gebunden  war,  geht  besonders  klar  ans  der 
Stellung  und  Bedeutung  hervor,  welche  er  der  Predigt  in  der  Glie- 
derung des  Gottesdienstes  gibt.  Wir  denken  namentlich  an  das 
Wort  aus  der  form.  Missae:  »aptius  ante  missam  fiat,  quod  Evange- 
liam sit  vox  elafnans  in  deserto  et  vocans  ad  fidem  infidel€8€.  Das 
ist  durchaus  römische  Wertung  der  Predigt,  welche  eine  ofuiia 
nicht  kennt,  die  den  Glauben  voraussetzt  und  zu  Brüdern  redet, 
sondern  nur  ein  nffQvrf^a,  eine  Missionspredigt  an  die  Unwissenden, 
an  die  Ungläubigen  oder  Noch-nicht-gläubigen.  Daß  Luther  solcher 
Predigt  das  Glaubensbekenntnis  vorausgehn  läßt,  ist  in  der  That 
nur  wieder  daraus  zu  verstehn,  daß  Luther  es  nicht  als  Glaubens- 
bekenntis  der  Gemeinde  faßt,  sondern  der  Heils  a  n  s  t  a  1 1 ,  wel- 
che die  Gemeinde  erst  zum  Glauben  erziehen  will.  Aber  auch  in 
den  Aeußerungen,  welche  Luther  bei  andern  Gelegenheiten  über  die 
Stellung  nnd  Notwendigkeit  der  Predigt  gethan  hat  —  wir  beschrän- 
ken uns  hier  anf  die  Anführungen  Köstlins  S.  157  ff.  — ,  tritt  im- 
mer wieder  der  pädagogische   Gesichtspunkt   in  den  Vordergrund| 


Kösilin,  Geschichte  deer  christlichen  Gottesdienstes  etc.  557 

das  Bedürfais  der  Gemeinde,  »belehrt  and  vermahnte  zu  werden; 
das  kann  nach  Lather  aach  der  einzelne  Christ  an  sich  selbst  even- 
tuell besorgen,  in  der  Kirche  geschieht  es  nur  öffentlich,  »damit 
die  Leute  von  Gottes  Willen  unterrichtet  werdent.  Also  für 
den,  der  unterrichtet  ist  und  der  Belehrung  seitens  des  Pfarrers 
nicht  bedarf,  ist '  die  Predigt,  ist  der  Gottesdienst  überflüssig,  und 
die,  welche  daran  teilnehmen,  bekennen  damit,  daß  sie  der  Beleh- 
rung durch  Andere  ^bedürftig  sind;  es  ist  der  Gang  in  die  Kirche 
ein  Gang  der  Demütigung,  nicht  vor  Gott,  sondern  vor  den  Men- 
schen, welche  »belehren,  vermahnen  und  unterrichtenc. 

Es  wird  nicht  möglich  sein,  die  Idee  des  Kultus  im  evangeli- 
schen Sinne  zu  fassen  und  in  der  Liturgie  durchzuführen,  es  sei 
denn,  daß  man  mit  dem  evangelischen  Begriff  der  Kirche  Ernst 
mache,  wie  er  bekenntnismäßig  in  den  Augustana  vor  Allem  vor* 
liegt  Die  Kirche  ist  eben  nicht  in  erster  Linie  Heilsanstalt; 
sie  kennt  principiell  den  Unterschied  zwischen  Christen  erster  Klasse 
(Klerus)  und  Christen  zweiter  Klasse  (Laien)  nicht.  Die  Kirche  ist 
in  erster  Linie  Heils  gem einsch  aft,  und  alle  ihre  Glieder  ge- 
hören dieser  Heilsgemeinschaft  an.  Allerdings  ist  ein  Unterschied 
da  zwischen  der  ecdesia  proprie  diäa  und  der  ecdesia  lote  dictOj  wie 
Melanthon  ihn  formuliert,  oder  zwischen  der  ecdesia  visibüis  und 
der  ecdesia  invisibiliSf  wie  die  spätere  Formulierung  im  Anschluß  an 
eine  Zwinglische  Terminologie  lautet  Allein  auch  dieser  Unterschied 
ist  nicht  der  von  Christen  erster  Klasse  (die  Gläubigen)  und  von 
Christen  zweiter  Klasse  (die  Ungläubigen  und  Schwachglänbigen), 
es  ist  nicht  der  Unterschied  zweier  koncentrischen  Kreise,  so  daß 
die  ecdesia  invisibilis  in  der  ecdesia  visibüis  als  Teil  derselben  ent- 
halten wäre  —  das  ist  der  Kirchenbegriff  des  Pietismus,  der  sich 
freilich  schon  lange  vor  Spener  angebahnt  hat  •»,  sondern  die 
ecdesia  visünlis  und  die  ecdesia  invisü)üis  sind  nicht  zwei  verschie* 
dene  Subjekte,  sie  sind  ein  und  dasselbe  Subjekt;  visibüis  ist  das 
Subjekt  der  ecdesia  in  seiner  Erscheinung,  invisibüis  in  seinem 
Wesensbestand.  Durch  die  efficacia  verbi  Divini  ist  dieser  We- 
sensbestand vorhanden  überall,  wo  das  Wort  Gottes  verkündet  wird, 
und  ob  dieser  Wesensbestand  der  Gläubigen  auch  nur  in  einigen 
Wenigen  lebendig  vorhanden  wäre,  so  geben  doch  diese  einige  We* 
nige  der  ganzen  ecdesia  visibüis^  dem  ganzen  Haufen  der  getauf* 
ten  Christen,  ihren  Charakter  als  ecdesia  und  in  irgend  einem 
Maße  nehmen  alle  Glieder  der  ecdesia  visibüis  an  diesem  Wesens- 
bestände  teil.  —  Was  ist  nun  der  Kultus,  der  Gottesdienst?  Er  ist 
die  Darstellung  des  religiösen  Lebens  derKirche,  oder 
da  das  Ganze  der  Kirche  aus  Ganzen,  den  Gemeinden,  besteht,  des 


558  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  14. 

religiösen  LiebeDfl  der  Gemeinde.  Nicht  des  religiösen  Lebens 
der  Bummierten  zufälligen  Einzelnen,  welche  die  Gemeinde  bilden, 
sondern  der  Gemeinde,  der  Kirche  als  solcher,  ihres  Wesens* 
bestände 8.  In  dem  Gemeindegottesdienst  kommen  nicht  die  Ein- 
zelnen als  solche,  sondern  als  Glieder  des  organischen  Ganzen,  der 
Gemeinde,  in  Betracht.  In  der  Predigt  sollen  nicht  die  Einzelnen 
ermahnt,  nnterrichtet,  belehrt  werden,  sondern  das  Wort  Gottes  soll 
der  Gemeinde  verkttndet  werden;  aber  nicht  als  ein  fremdes  oder 
vergessenes,  nicht  als  ein  nur  äußerlich  an  die  Gemeinde  heran- 
kommendes und  herangebrachtes  etwa  von  Personen,  die  eine  Mitt* 
lerrolle  zwischen  Gott  und  der  Gemeinde  spielten,  sondern  als  das 
Wort  Gottes,  welches  die  Gemeinde  bereits  hat  und  welches  sie  in 
ihrem  Wesen  konstituiert.  Das  Wort  Gottes,  welches  sie  hat,  tritt 
ihr  in  Aussprache  durch  den  von  ihr  Beauftragten,  der  daher  in 
ihrem  Namen,  im  Namen  der  ecclesia  invisibüis  redet,  objektiviert  ent- 
gegen; der  Christenglaube,  die  Ghristenhoffnung ,  die  Christenliebe 
wird  der  Gemeinde  gezeigt,  welche  Christenglaube,  ChristenhoffBung 
Christenliebe  hat,  und  die  Wirkung  dieser  Objektivierung  ist  Stär- 
kung, Reinigung  oder  auch  Erweckung  des  Christenglaubens,  der 
Christenhoffnung,  der  Christenliebe.  In  dieser  Wirkung,  also  in 
zweiter  Linie,  tritt  der,  wenn  man  ihn  so  nennen  will,  pädago- 
gische Charakter  des  Kultus,  der  Charakter  der  Kirche  als  Heils- 
anstalt  hervor;  aber  das,  was  die  Pädagogie  ttbt,  ist  nicht  eine 
Summe  von  Christen  erster  Klasse,  nicht  ein  Klerus  im  römischen 
Sinne,  sondern  es  ist  die  Gemeinde  selbst  als  ecclesia  invisAäü^  in 
ihrem  das  Ganze  durchdringenden  Wesensbestande;  das,  woran  die 
Pädagogie  geübt  wird,  sind  nicht  Christen  zweiter  Klasse,  nicht  eine 
Laienschaft,  die  zeitlebens  im  Katechumenate  verbliebe,  sondern  es  ist 
dasselbe  Subjekt  als  Objekt,  doch  nicht  als  ecclesia  invisUnliSj  son- 
dern als  ecclesia  vi8Ü)ilis.  —  Wir  haben  hier  nicht  darüber  zu  han- 
deln, daft  der  Wesensbestand  der  Gemeinde,  daß  die  ecclesia  invisi- 
biliSj  seine  Norm  und  seine  Lebensquelle  in  dem  objektiven  Worte 
Gottes  hat;  auch  nicht  darüber,  daft  der  Prediger  der  Gemeinde  an 
dies  objektive  Wort  Gottes  gebunden  ist  und  mit  dem  Worte,  das 
er  predigt,  eins  sein  muß  als  Mund  Gottes,  weil  er  anders  nicht  das 
Wort  Gottes,  das  die  Gemeinde  hat,  objektiviert  geben  kann  als 
Mund  der  Gemeinde ;  die  Behauptung  des  Pietismus ,  die  der  Herr 
Verf.  S.  223  tadelnd  anführt,  hat  eben  darin  ihr  unanfechtbares 
Recht,  daft  »geistliches  Leben  zu  wecken  nur  derjenige  im  Stande 
sei,  der  selbst  geistliches  Leben  in  sich  trägtc.  Nur  über  den  an* 
dern  Teil  des  Gottesdienstes,  welcher  die  sakrificiellen  Funktion 
pen  umfaßt,  noch  eine  kurze  Bemerkung.    In  diesem,  dem  Kirchen- 


Köstlin,  Geschichte  des  christlichen  Gottesdienstes  etc.  559 

liede,  dem  Gebet,  dem  Bekenntnifl,  tritt  der  Charakter  des  Ealtas 
als  Darstellung  des  religiösen  Lebens  der  Kirche  von  vorn- 
herein so  deutlich  hervor,  daß  eine  Erörterung  unnötig  erscheint. 
Allein  es  ist  zu  betonen,  daß  auch  dieser  Teil  des  Kultus  in  seiner 
Wirkung  denselben  pädadogischen  Charakter  trägt,  wie  je- 
ner erste  Teil.  Durch  das  Gebet  wird  das  Gebetsleben  befruchtet, 
durch  das  Bekenntnis  das  Glaubensleben  gefestigt  Aber  auch  hier 
ist  die  Pädagogie  lediglich  die  Wirkung  des  Kultus,  nicht  das 
Wesen,  das  Wesen  ist  die  Darstellung  des  religiösen  Lebens 
und  beruht  darauf,  daß  die  Kirche  in  ihrem  Wesen  eben  Heils  ge- 
meinschaft,  erst  in  der  Wirkung  ihrer  Lebensäußerungen  Heils- 
anstalt ist. 

Der  Herr  Verf.  spricht  an  mehreren  Stellen  seines  Buches 
(S.  3.  S.  145)  die  Ueberzeugnng  aus,  welche  wir  durchaus  teilen, 
daß  die  richtige  liturgische  Form  für  den  evangelischen  Kultus  noch 
erst  gefunden  werden  mttßte.  Worin  aber  sucht  er  die  notwendige 
Reform  ?  Nach  S.  145  fordert  er  »größere  Bethätigung  der  Gemein- 
den und  ausgedehntere  Berücksichtigung  der  Elemente  der  Andacht 
und  der  Anbetungc.  Es  wird  nicht  angegeben,  worin  die  Elemente 
der  Andacht  und  Anbetung  bestehn  sollen ;  ist's  vielleicht  reichere 
Verwendung  des  Kirchenchors,  was  der  Herr  Verf.  im  Auge  hat,  so 
werden  wir  später  darauf  zurückkommen.  Daß  aber  die  Gemeinde 
nicht  genügend  bethätigt  sei,  geht  aus  den  Liturgieen  der  preußi- 
schen Agende,  der  bayrischen  evangelischen  Kirche  und  der  mecklen- 
burger Kirche,  welche  S.  246  ff.  mitgeteilt  werden,  doch  nicht  her- 
vor. Doch  vielleicht  ist's  die  Konstruktion  des  Gottesdienstes,  »die 
Zusammenschweißung  des  Wortdienstes  und  des  HL  Abendmahlsc, 
welche  S.  173  die  crux  unserer  Liturgie  genannt  wird,  die  der  Herr 
Verf.  geändert  haben  will?  Wir  stimmen  bei,  daß  die  Liturgie  des 
Hauptgottesdienstes  so  konstruiert  werden  müsse,  daß  die  Feier  des 
hl.  Abendmahls  nicht  als  die  Vollendung  des  Gottesdienstes  erscheine, 
also  daß  ohne  diese  Feier  der  Hauptgottesdienst  ein  Torso  sei. 
Allein  wie  stimmt  damit  das  Lob,  welches  der  Herr  Verf.  S.  198 
der  lutherischen  Liturgie  im  Gegensatz  zu  der  reformierten  Ordnung 
des  Gottesdienstes  zollt,  daß  dort  principiell  das  hl.  Abendmahl  den 
Höhepunkt  des  Gottesdienstes  bilde,  daß  darum  Luther  es  bei  der 
Einfassung  des  ganzen  Gottesdienstes  in  die  Communio,  in  die  Eu- 
charistie, belasse?  Dies  Letztere  ist  überdies  nicht  vollkommen  rieh* 
tig.  Schon  in  seiner  »Ordnung  des  Gottesdienstes«  sagt  Luther: 
»Will  nun  jemand  alsdann  (nach  der  Predigt)  das  Sakrament 
empfahen,  dem  lasse  man's  geben,  wie  man  das  alles  kann  wohl 
unter  einander   nach  Gelegenheit   der  Zeit  und  Personen  schicken«« 


6e0  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Kr.  14. 

Noch  dentlicber  redet  Lather  in  seinem  »Sermon  von  dem  Sakrament 
des  Leibes  und  Blutes  Christi,  wider  die  Schwarmgeister c  (Erl.  Aasg. 
29,  345 ff.):  >Es  ist  aber  ein  Unterschied  da:  wenn  ich  seinen  Tod 
predige,  das  ist  eine  öffentliche  Predigt  in  der  Gemeine, 
darin  ich  niemand  sonderlich  gebe,  wer  es  faßt,  der  fassets; 
aber  wenn  ich  das  Sakrament  reiche,  so  eigene  ich  solches 
dem  sonderlich  zn,  der  es  nimpt,  schenke  ihm  Christas  Leib 
und  Blut,  daß  er  habe  Vergebang  der  Sünde,  darch  seinen  Tod 
erworben  and  in  der  Gemeine  gepredigt  Das  ist  etwas  mehr, 
denn  die  gemeine  Predigt.  Denn  wiewohl  in  der  Predigt 
eben  das  ist,  das  da  ist  im  Sakrament,  and  wieder- 
um b,  ist  doch  darüber  das  Vorteil,  daft  'er  hie  auf  gewisse  Person 
deutet«.  In  diesen  und  ähnlichen  Aeafterangen  tritt  Luther  offenbar 
für  eine  Scheidung  der  Feier  des  hl.  Abendmahles  von  der  Ordnung 
des  Hauptgottesdienstes  als  solchen  ein;  freilich  nicht,  weil  beides 
»eine  Znsammenschweiftnng«  von  heterogenen  Dingen  wäre  —  das 
was  die  Predigt  gibt,  ist  vielmehr  dasselbe,  was  im  Sakrament  ge- 
geben wird  —,  wohl  aber,  weil  der  Natur  der  Sache  noch  die  Pre- 
digt Sache  der  Gemeinde,  die  Feier  des  hl.  Abendmahles  Sache 
der  bedürftigen  Einzelnen  ist.  Der  Gottesdienst  bedarf  allerdings 
einer  solchen  Konstruktion,  daß  derselbe  auch  ohne  Abendmahlsfeier 
ein  in  sich  abgeschlossenes  Ganzes  bilde,  daß  aber  die  hinzukom- 
mende Abendmahlsliturgie  nicht  als  ein  Zweites,  oder  gar  Fremdes 
empfunden  werde,  sondern  als  eine  harmonisch  sich  anschließende 
Fortführung  des  Vollendeten  zu  neuer  Vollendung  erscheine.  Vor 
allem  aber  bedarf  es  einer  Klarheit  über  Wesen  und  Zweck  des 
evangelischen  Kultus  auf  Grund  des  evangelischen  Kirchenbegriffes 
und  einer  Durchführung  der  Idee  des  Kultus  durch  seine  gesamte 
Gliederung. 

Endlich  sei  noch  ein  Wort  gestattet  über  die  in  unsem  Tagen 
so  viel  behandelte  Frage  über  die  Verwendung  des  Kirchen- 
chors, des  Chorgesanges  im  Gottesdienst  Es  ist  in  hohem 
Grade  erfreulich,  bei  einem  so  enthusiasmierten  Freunde  der  Musik 
so  nüchternem  Urteile  zu  begegnen,  wie  wir  es  S.  180  finden.  »Der 
evangelische  (Gottesdienst  bedarf  an  und  für  sich  des  musikalischen 
Schmuckes  nicht«.  Weshalb  wird  denn  im  Gottesdienst  gesungen? 
Lediglich  aus  Zweckmäßigkeitsgründen.  »Der  Gesang  ist  die  na- 
türlichste Form  des  gemeinsamen  (und  gleichzeitigen)  Vortrags  der 
Gemeindet.  Das  Gemeinsame  und  Gleichzeitige  könnte  in  abstracto 
auch  gesprochen  werden;  aber  »weil  es  leichter  ist,  geordnet 
zusammen  zu  singen,  als  geordnet  zusammen  zu  sprechen,  so  empfiehlt 
^ich  der  Gesangesvortrag  unter  dem  Gesichtspunkt  der  Wohlanstän- 


Eöstlin,  Geschichte  des  christlichen  Gottesdienstes  etc.  561 

digkeit  und  Ordanngc.    Wir  gebn  noch  einen  Schritt  weiter,  als  der 
Herr  Verf.     Soll   die  gemeinsame  und   gleichzeitige  Aeaßerung  der 
gemeinsamen  Anbetang ,    des  gemeinsamen    Bekenntnisses   wirklich 
gemeinsam  and  so  bethätigt  werden,  daß  die  Würde  des  Bekennt- 
nisses und  Oebetes  and  die  Einheit  der  Gemeinde  im   Bekenntnis 
und  Gebet  zum  Ausdruck  kommt,  so  ist  Gesang  unentbehrlich  und 
zwar  ein  solcher  Gesang,  welcher  durch  die  Harmonie  der  Töne  und 
durch  den  Charakter  der   Musik   beides,  die  Würde  des  Gegenstan- 
des  und  die  Einheit   der  Gemeinde,   möglichst  vollkommen  darstellt. 
Also  Gesang,  mögliebst  schöner,   vollkommner  Gesang  der  Gemeinde 
ist  zu  erzielen,   nicht  um   eines  musikalischen  Genusses,   oder   einer 
musikalischen  Leistung  willen,  sondern  um  des  Kultus  willen,   damit 
der  Kultus  wahrhafte  Darstellung  des  religiösen   Lebens   der  Kirche, 
der  Gemeinde  sei.    Selbstverständlich   darf  die  Gemeinsamkeit  nicht 
im  Interesse   der  Schönheit  beschränkt   werden,   so  daß  man  Nicht- 
Sängern das  Mitsingen  untersagen   dürfte,   sondern   die  gemeinsame 
Aeußerung  ist  die  Sache,    der  Gesang   nur  die  Form,   und   die  Auf- 
gabe ist  es,  die  Form  in  den  Dienst   der  Sache   zu   stellen,   so  daß 
die  Sache  um  so  völliger  als  das,  was  sie  ist,  erscheine.   Wer  ist  nun 
das  Subjekt  des  Gesanges?    Natürlich  nur  die,  um  deren  gleich- 
zeitige und  gemeinsame  Aeußerung   es  sich  handelt.    Also  nicht  der 
Liturg  —  dessen    Gesang   hat  keinen   Sinn    — ,   sondern  nur   die 
Gemeinde.    Was  soll  denn  nnn  der  Kirchenchor,  der  Ghorgesang 
im  Unterschied  vom   Gemeindegesang?    Es  ist  wiederum  hoch   er- 
freulich, daß  der  Herr  Verf.  den  Gedanken  Schöberleins,    dem  selbst 
Th.  Harnack  beistimmt,  von  dem  Chor  als  dem  Vertreter  der  idealen 
oder  der   himmlischen  Gemeinde,  durchaus  abweist;  auch  den  neue- 
sten Gedanken,  daß  ein  Kuabenchor,  zu  beiden  Seiten  des  Liturgen 
postiert,  den  Liturgen  (der  übrigens  gegenwärtig  bleibt)  zu  vertreten 
habe  bei  kürzeren  Sätzen,   die  gesprochen   etwas  abrupt  erscheinen, 
wird  der  Herr  Verf.  gewiß  nicht  billigen,  aus  dem  einfachen  Grunde, 
weil  dieser  Gedanke  kein  liturgischer,  sondern  ein  rein  ästhetischer 
ist,  also  im  Gottesdienst  der  evangelischen  Gemeinde  keinerlei  Recht 
der  Existenz   hat.    Zwei    Aufgaben   erteilt  der  Herr  Verfasser  dem 
Kirchenchore.     Er  soll  das  musikalische  Gewissen  der  Ge- 
meinde wach  erhalten,  das  Ohr  schärfen   und  das  Verständnis  üben, 
und    er    soll    der  musikalische   Führer   der   Gemeinde   sein. 
Wir   halten  den  Ausdruck   »musikalisches  Gewissen  der  Gemeindet 
ftlr  verfehlt,   da   die  Gemeinde  nicht  eine  Gesellschaft  von  Sängern 
ist  und   weder   musikalischen  Beruf,   noch  masikalische  Pflicht  hat, 
also  auch  nicht  ein  musikalisches  Gewissen  haben   kann.    Soll  aber 
der  Ausdruck  andeuten ,   daß  an   den   Produktionen   des  Chors  die 

a«it.  gel  Au.  1887.  Nr.  14.  39 


602!  Ofött.  gel.  Aue.  1887.  Kr.  U, 

Gemeinde  zu  Herzen  nehmen  soll,  wie  sie  eigentlich  singen  mQSte, 
aber  natürlich  weder  singen  kann  noch  jemals  wird   singen  können, 
so  wird   die  gottesdienstliche  Versammlang   zn   einer  Gesangschnle, 
und  der  Chor  hat  keine  liturgische,   sondern  lediglich   eine  mnsika- 
lische  Aufgabe.     Ohne  Frage  wird   der  Herr  Verf.  diese  Stellung 
des  Chors  abweisen,  wie  derselbe  auch  den  Gedanken  abweist,   daß 
der  Chor   statt  der  Gemeinde  funktioniere.     Indem   aber   der  Herr 
Verf.   hinzufügt,  das  selbständige  Hervortreten   des  Chors   erscheine 
durch  den  Gesichtspunkt   der  gegenseitigen  Selbsterbauang  gerecht- 
fertigt, so  schwebt  ihm  offenbar  eine  organische  Gliederung  der  Ge- 
meinde in  ChOre  der  Eatechumenen,  der  Jungfrauen,  der  Jünglinge, 
der  Männer,  der  Frauen  u.  dgl.  vor,  wie  sie  die  altchristliche  Kirche 
gekannt  hat ;  aber  durch  Teilung  der  Gemeinde  in  sangeskundigen  Chor 
und  sangesnnknndige  Menge  wird  nach  einem  dem  Gottesdienst  ganz 
fremdartigen  Gesichtspunkt  eine  Organisation  der  Gemeinde  erstrebt. 
Es  scheint  der  Bemühung  des  Herrn  Verf.s  in  der  That  eine  lieber- 
Schätzung  des  Eunstgesangs  im  Gottesdienst,  eine  Vermischung  der 
religiösen  Erhebung  und  der  musikalischen  Erregung  zu   gründe  zn 
liegen.    Referent  ist  der  Ansicht,  daß  die  Beschlüsse  der  Eisenacher 
Eirchenkonferenz  von  1886,   die  S.  253  mitgeteilt  werden,  Verwer- 
tung der  Eirchenchöre  betreffend,   vornehmlich  in   dem  dritten  und 
vierten    Paragraphen     grundlegende    Beachtong    verdienen.      Der 
dritte  Paragraph  lautet:   ».  .  .  dem  Chor   darf  nicht   zugewiesen 
werden,  was  an  liturgischen  Gesängen  der  Gemeinde  zukommt.    Ein 
großer  Gewinn  ist  es,   wenn  die  Glieder  des  Chors  sich  künftig  bei 
dem   einstimmigen  Choral  und   liturgischen  Gesang   beteiligen  und 
insonderheit  schwierigere  oder  weniger  bekannte  Melodien  einführen 
helfen €k     Das  wird  die   erste  und   vornehmste  Aufgabe  des  Chors 
sein,  und  er  braucht  sich  solches  Eantordienstes  wahrlich   nicht  zn 
schämen.    Aus  dem  vierten  Paragraphen  notieren   wir   den  Satz: 
»daß   die  mehrstimmigen  Chorgesänge   namentlich  auch  bei  liturgi- 
schen Gottesdiensten  und  Festandachten  in  größerem  Maße  Verwer- 
tung finden  können«.    Gewiß,  dort  können  dieselben  auch  ein  selb- 
ständiges Hervortreten  beanspruchen,  weil   es  sich  da  nicht  um  Ge- 
meindegottesdienst im  strengeren  Sinne,  sondern  um  eitie  Mischart 
von  kirchlichem  Eoncert  und  Gottesdienst  handelt,  welcher  an  ihrem 
Orte  das  Recht  der  Existenz  nicht  bestritten  werden  soll.    Freilich 
will  die  Eisenacher  Eonferenz  mehr;  sie  will,  daß  »die  mehrstimmi* 
gen    Chorgesäkige   in   die  Liturgie   organisch   eingegliedert  werden 
sollen«.    Das  lautet  recht  gut:   die  Schwierigkeit,  für  welche  Refe- 
rent vorläufig  noch   keine  vollbefriedigende  Lösung  kennt,  ist  nur 
die,  solche  Stellen,  wo  sie  organisch   einzugliedern   sind,  ausfindig 


Weizsäcker,  Das  apostolische  Zeitalter  der  christlicben  Kirche.         6ßS 

ZU  machen,  da  ja  der  Chor  eine  liturgische  Idee  eben 
nicht  repräsentiert,  die  er  im  Unterschied  von  der  Gemeinde 
und  dem  Liturgen  geltend  machen  kOnnte.  Bevor  eine  solche  li- 
turgische vom  Chor  repräsentierte  Idee  gefunden  ist,  wird  es  wohl- 
gethan  sein,  den  Chor  außer  bei  besonderen  koncertartigen  Veran- 
lassungen seine  Wirksamkeit  auf  den  verheißungsvollen  Kantordienst 
beschränken  zu  lassen  und  alle  »AusschmOckungc  der  Liturgie  mit 
fremden  Federn  keuscher  Weise  zu  vermeiden,  selbst  auf  die  Gefahr 
hin,  daß  das  am  Aesthetisieren  krankende  Geschlecht  unserer  Tage 
behaupten  sollte,  im  Eoncertsaal  sich  schöner  zu  >erbauen«,  als  in 
der  Kirche.  — 

Beim  Rückblick  auf  den  durchlaufenen  kritischen  Weg  drängt 
der  Wunsch  sich  auf,  daß  der  gute  Gedanke  des  Herrn  Verf.8,  den 
Studierenden  der  Theologie  eine  Geschichte  des  evangelischen  Got- 
tesdienstes in  die  Hand  zu  geben,  durch  Benutzung  auch  des  hier 
dargebotenen  kritischen  Materials  gute  Frflchte  zeitigen  möge. 

Marburg.  Achelis. 


Weizsäcker,  C,  Das  apostolische  Zeitalter  der  christlichen 
Kirche.  Freiburg  i.  Br.  1886.  Akademische  Yerlagsbuchhandlung  von 
J.  G.  B.  Mohr  (Panl  Siebeck).    VUI  and  698  S.    gr.  8^    14  Mk. 

Vor  uns  liegt  ein  Buch,  fast  700  Seiten  umfassend,  ohne  jede 
Vorrede,  ohne  Register,  ohne  Anmerkungen  unter  dem  Text,  ohne 
alle  direkte  Rücksichtnahme  auf  abweichende  Ansichten:  kein  mo- 
demer Name  begegnet  uns  darin  außer  einem  dreimaligen  »ed.  Har- 
nack«  bei  der  jttngst  entdeckten  »Apostellehre«  (S.  601.  602.  615). 
C.  Weizsäcker  durfte  sich  diese  vornehme  Außergewöhnlichkeit  ge- 
statten; zudem  offenbaren  sich  bei  genauerer  Bekanntschaft  mit  sei- 
nem Buche  die  scheinbaren  Mängel  als  Vorzüge.  Denn  eine  Vor- 
rede wäre  hier  ein  Ueberfluß;  was  zur  Sache  zu  sagen  war,  hat  er 
im  Buche  selber  gesagt,  und  über  seine  Person  braucht  er  nichts 
mehr  zu  sagen.  Den  gelehrten  Gebrauch  einen  Teil  des  Stoffes  dem 
Text  zu  entziehen  und  in  einer  Fülle  von  Anmerkungen  nebenher- 
zuschieben hat  Weizs.  nie  geliebt ;  schon  in  seinen  früheren  Arbeiten 
auf  neutestamentlichem  Gebiete,  gleichviel  ob  sie  in  Buchform  er- 
schienen wie  die  »Untersuchungen  über  die  evangelische  Geschichte« 
(1864)  oder  als  Abhandlungen  in  den  »Jahrbüchern  für  deutsche 
Theologie«  sind  dieselben  sehr  selten;  hier  hat  er  sie  .principiell  aus- 
geschlossen, jedenfalls  weil  er  nur  das  Unentbehrliche  zu  geben  ge^ 

39  • 


664  Oött.  gel.  Ant.  1887.  Nr.  14. 

dachte,  and  das  gehört  in  den  Text  hinein.  Selbst  das  Fehlen  jedes 
Registers  wird  beabsichtigt  sein;  der  Verfasser  will  nicht  ein  Nach- 
scblagebach  liefern,  in  welchem  man  gelegentlich  über  den  einen 
oder  den  andern  Gegenstand  sich  Rats  erholt,  er  hat  ein  streng  ge- 
schlossenes Ganzes  geschaffen,  von  dem  er  erwartet  und  yerlangt, 
daß  es  als  Ganzes  gelesen  und  genossen  werde;  er  hat  einen  Bau 
aufgeführt,  dessen  einzelne  Teile  durchaus  an  ihrem  Orte  und  in 
ihrem  Verhältnis  zum  Uebrigen  betrachtet  werden  müssen,  um  rich- 
tig gewürdigt  zu  werden.  Und  wenn  er  jede  Polemik  gegen  fremde 
Standpunkte  vermieden  hat,  so  ist  er  vor  dem  Verdachte  gesichert, 
als  ob  er  nicht  kannte,  was  gegen  seine  Resultate  geltend  gemacht 
worden  ist  oder  als  ob  er  es  einer  gründlichen  Widerlegung  nicht 
für  wert  achtete,  aber  unter  dem  bunten  Vielerlei  einer  fortwähren- 
den Auseinandersetzung  mit  abweichenden  Hypothesen  und  Aus- 
legungen hätte  die  Durchsichtigkeit  seines  Vortrags  leiden  müssen 
und  die  Aufmerksamkeit  des  Lesers  wäre  von  der  Hauptsache  ab- 
gezogen worden.  Er  fühlt  sich  als  Geschichtsschreiber,  der  Resul- 
tate liefern,  Bilder  zeichnen  soll,  nicht  aber  den  Weg  beschreiben, 
auf  welchem  man  zu  diesen  Resultaten  gelangt  ist,  oder  in  die 
Werkstatt  einführen,  in  welcher  Hunderte,  Berafene  und  Unberufene, 
mit  den  Vorarbeiten  zu  solchem  Werk  beschäftigt  sind.  Weizsäckers 
Buch  ist  nichts  weniger  als  ein  Konkurrenzunternehmen  zu  Lechlers 
in  so  vieler  Hinsicht  verdienstlichem  Apostel,  und  Nachapostol.  Zeit- 
alter '  1885;  denn  während  bei  diesem  die  polemische  Tendenz  vor- 
wiegt, die  Absicht  die  Thesen  der  Tübinger  Schule  Schritt  vor 
Schritt  durch  genaue  Prüfung  umzustoßen,  will  Weizsäcker  lediglich 
positiv  die  eigene  Auffassung  vom  apostolischen  Zeitalter  zur  Dar- 
stellung bringen.  Wer  über  den  heutigen  Stand  der  Forschung 
orientiert  sein  und  erfahren  will,  welche  Auslegungen  derzeit  für 
jede  einzelne  Thatsache  in  jenen  Quellen  und  von  welchen  Gelehr- 
ten vertreten  werden,  mit  welchen  Argumenten  die  verschiedenen 
Hypothesen  sich  verteidigen  und  angegriffen  werden,  der  darf  sich 
freilich  nicht  an  Weizs.  wenden.  Dagegen  findet  man  dort,  was 
schwieriger  und  noch  bedeutender  ist,  ein  Bild  der  apostolischen 
Zeit,  wie  es  nur  eine  Meisterhand  von  der  Höbe  der  heutigen  For- 
schung aus  entwerfen  kann.  Den  Einfluß  fremder  Arbeit  und  den 
daher  geschöpften  Gewinn  will  Weizs.  nicht  etwa  verläugnen;  auch 
wenn  Wendungen  wie  S.  434:  »Viele  begnügen  sich  damit  anzu- 
nehmenc  ganz  fehlten,  würde  der  Sachkundige  fortwährend  ein  stil- 
les Zwiegespräch  des  Verfassers  mit  seinen  Mitarbeitern  belauscheui 
Sätze  antreffen,  welche  unmittelbar  die  Antwort  enthalten  auf  be* 
Stimmte  gegneriscbe  Argumente. 


Weizs&cker,  Das  apostolisclie  Zeitalter  der  christlichen  Kirche.         565 

Heines  Erachtens  hat  er  seine  Aufgabe  in  bewondernswUrdiger 
Weise  gelöst  und  ein  klassisches  Werk  geschaffen ,  ein  Werk,  das 
za  den  hervorragendsten  Leistungen  der  theologischen  Wissenschaft 
in  unserm  Jahrhundert  gezählt  werden  wird.  Es  ist  in  einem  Style 
geschrieben,  der,  ohne  alle  gesuchte  Eleganz,  anschauliche  Fülle  mit 
Präcision  glücklich  verbindet;  bisher  hat  sich  Weizs.  noch  nirgends 
so  als  Meister  der  Form  bewiesen;  kaum  irgendwo  nimmt  der  Le- 
ser Anstoß  an  einem  ungelenken  Satze;  trotz  der  größten  Einfach- 
heit und  Ruhe  fesselt  die  Darstellung  und  erhebt  das  Interesse  nicht 
selten  zu  förmlicher  Spannung.  Da  aller  gelehrte  Kleinkram  fort- 
gelassen ist,  und  selbst  griechische  termini  nie  ohne  Uebersetzung 
und  Erklärung  auftreten,  kann  jeder  gebildete  Leser  ohne  außerge- 
wöhnliche Anstrengung  sich  den  Genuß  des  geistvollen  Buches  ge- 
währen. Vortrefflich  gelungen  ist  auch  die  Verteilung  des  Stoffs  in 
die  5  Hauptabschnitte  und  die  Gruppierung  im  Einzelnen,  Wieder- 
holungen sind  fast  gänzlich  vermieden,  und  wo  sie  einmal  nötig 
werden,  weiß  der  Verfasser  gewiß  durch  den  Zusammenhang  das 
bereits  Bekannte  in  ein  anderes  Licht  zu  rücken.  Und  wenn  ein 
glänzender  Scharfsinn,  feine  Kombinationsgabe,  strenge  Nüchtern- 
heit und  Genauigkeit  anerkannte  Tugenden  Weizsäckers  sind,  so 
wird  an  diesem  Werke  auch  der  Gegner  die  Vollständigkeit  be- 
wundern müssen,  welche  selbst  das  entlegenste  Material,  soweit  es 
nutzbar  ist,  benutzt  und  keinen  Strich  fortgelassen  hat,  der  zur  Ver- 
deutlichung des  Bildes  irgendwie  dienen  konnte. 

Unter  dem  apostolischen  Zeitalter  im  engeren  Sinne  versteht 
Weizs.  die  Zeit  von  der  Gründung  der  Gemeinde  an  bis  etwa  70 
n.  Chr.  d.  i.  bis  zum  Tode  der  Apostel  Paulus  und  Petrus,  im  wei- 
teren Sinne  bis  zum  Tode  des  Johannes,  der  ungefähr  mit  dem 
Ende  des  ersten  Jahrhunderts  nach  Christus  zusammenfällt.  Denn 
daß  der  Apostel  Johannes  in  Kleinasien,  speciell  in  Ephesus  das 
vernichtete  Werk  des  Paulus  neu  angegriffen  und  eine  Kirche  mit 
eigentümlichem  Geistesgepräge  gestiftet  hat,  daß  er  unter  Domitian 
nach  Patmos  verbannt  worden  und  in  hohem  Alter,  bewundert  von 
einem  Kreise  gleichgesinnter  Schüler,  gestorben  ist,  glaubt  Weizs. 
nicht  bezweifeln  zu  dürfen.  Daher  könnte  sein  Buch  den  Titel  tra- 
gen: die  christliche  Kirche  bis  etwa  zum  Jahre  100  n.  Chr.  Was 
nach  dieser  Zeit  entstanden  ist,  interessiert  ihn  hier  nicht  weiter 
außer  soweit  darin  Nachrichten  über  die  frühere  Periode  enthalten 
sind,  daher  die  Pastoralbriefe  nur  flüchtig  besprochen  werden  und 
vollends  der  2.  Petrus-  und  der  Judasbrief  nicht  einmal  so  viel  Be- 
rücksichtigung finden  wie  z.  B.  der  Hirt  des  Hermas  oder  die  Schrif- 


566  Gott,  gel  Aas.  1887.  Kr.  li. 

ten  des  Xärlyren  Jostiniu.  Hingegen  gebt  der  VerC  auf  den  soge- 
nannten  enten  Clemensbrief,  der  noeb  im  ent^i  Jahrb.  n  Rom  ge- 
sehrieben  worden  ist,  mindestens  so  genau  ein  wie  anf  den  Hebrier- 
brief,  obwohl  derselbe  nicht  in  den  Kanon  bineingekonunen  ist; 
und  auch  die  Angaben  der  freilich  späteren  »Lehre  der  12  AposteU 
nntzt  er  in  den  Abschnitten  fiber  Yerfassang,  (Gottesdienst  und  Sitte 
gebttbrend  ans.  Mancher  wird  über  Mangel  an  fester  chronologi- 
scher Begrenzung  klagen.  Die  Klage  ist  im  Blick  anf  das  gesamte 
Werk  begreiflich;  denn  Jahreszahlen  begegnen  darin  &nierst  selten, 
nnd  die  Datiemngeo  sind  nahezu  sämtlich  nur  ungefähre  (eigentlich 
ist  das  Jahr  52  fflr  das  >  ApostelconciU  die  einzige  Ausnahme),  aber 
die  Schuld  trägt  nicht  der  Geschichtsschreiber  jener  Zeit,  sondern  der 
Zustand  unsrer  Quellen.  Mir  scheint  Weizs.  sich  ein  Verdienst  zu 
erwerben  durch  seine  Zurückhaltung  gegenüber  der  auf  konserrati* 
Ter  wie  »kritischer«  Seite  (man  denke  nur  an  Volkmars  Tabellen!) 
beliebten  Festlegang  ganz  Ungewisser  Dinge:  wir  können  wohl  mit 
leidlicher  Sicherheit  angeben,  zu  welcher  Zeit  der  Jakobusbrief  noch 
nicht  geschrieben  war,  oder  welche  Erfahrungen  der  Verfasser  der 
Apostelgeschichte  hinter  sich  haben  mu0:  ein  bestimmtes  Jahr  fBr 
sie  anzusetzen  ist  und  bleibt  Anmaänng.  Und  wie  nach  dieser 
Richtung,  so  tlbt  Weizs.  auch  nach  anderer  hin  eine  Vielen  unge* 
wohnte  und  unbequeme  Skepsis  ganz  besonders  gegenüber  den  ge- 
schichtlichen Bttchero  des  N.  T.  —  aber  krankt  die  Theologie  nicht 
noch  in  allen  Lagern  so  schwer  an  dem  Orundschaden ,  auf  die- 
sem dunklen  Gebiet  alles  sicher  wissen  zu  wollen?  Unermfldlich 
macht  Weizs.  durch  allerlei  Wendungen  seinen  Leser  auf  die  yer- 
schiedenen  Grade  der  Sicherheit  aufmerksam,  welche  fttr  seine  Re- 
sultate in  Ansprach  zu  nehmen  sind,  deutlich  unterscheidet  er  das 
Zweifellose  von  dem  bloß  Wahrscheinlichen  nnd  das  wieder  von 
solchem,  was  bloß  mit  einigem, Grande  vermutet  werden  kann.  Un- 
befangener ist  die  Methode  wahrhaft  geschichtlicher  Forschung  auf 
die  NTliche  ond  verwandte  Litteratur  noch  nicht  angewendet  wor- 
den; keinerlei  Wunsch  zieht  den  Verf.  zu  negativen  oder  positiven 
Resultaten  hinüber.  Und  wenn  die  Resultate,  an  dem  Hergebrach- 
ten gemessen,  Überwiegend  negative  geworden  sind,  so  kann  nur 
blinde  Wnt  den  angebeuren  Fortschritt  längnen,  den  Weizs.  tlber 
den  großen  Altmeister  der  Kritik  F.  Chr.  Baur  und  dessen  etwa  ver- 
gleichbares Werk,  den  »Paulus«,  hinaus  gemacht  hat.  Ich  rede  noch 
gar  nicht  von  den  zahlreichen  Berichtigungen  in  Einzelheiten,  aber 
wie  fi'ei  ist  Weizs.  von  dem  »Intellectnalismus«,  welchen  man  der 
alten  Tttbinger  Schule   nicht  ohne   Grund  vorgeworfen,  wie  ferne 


Weizsäcker,  Das  apostolische  Zeitalter  der  christlichen  Kirche.         667 

liegt  ihm  das  Streben  sieb  eine  Bewegung  dnreb  Gegensätze  im 
Urcbristentam  zarecbtzaconstrnieren ,  wie  freadig  anerkannt  wird 
jetzt  die  MOglicbkeit  der  mannicbfaltigsten  Bildungen  im  jttdisoben 
wie  im  heidnischen  Ghristentam!  Aerger  konnte  deswegen  der  ohn- 
mäobtige  Ingrimm  der  angeblich  »positiven c  Kreise  sich  nicht  ver- 
greifen als  mit  der  Behaaptang,  Weizs.  Arbeit  enthalte  aaAer  dem 
aus  Baur  »und  ähnlichen  Werkenc  Bekannten  »wenig  Neues«  und 
da  seine  Kritik  »den  ausgeprägten  Charakter  unwissenschaftlicher 
Willktlr  und  Launenhaftigkeit  an  der  Stirn  trage«  ^  bezeichne  sein 
Werk  weder  einen  weiteren  Fortschritt,  noch  liefere  es  eine  so- 
lidere Begründung.  Wir  wollen  dem  dunklen  Freunde  der  theologi- 
schen Wissenschaft,  der  in  P.  Egers  Theol.  Litteratur-Bericht  (April 
1887  8.  77  f.)  sogar  »um  des  Gewissens  und  der  Wissenschaft  wil- 
len protestieren«  mufi  gegen  Weizsäckers  durch  und  durch  »will- 
kürliche«, auf  »die  subjektivsten  Hypothesen«  bauende,  voreinge- 
nommene »Tendenzschriftstellerei«,  nur  bemerken,  daß  sein  und  sei- 
ner Gewissensgenossen  klares  Auge  dazu  gehört,  um  von  Weizs. 
»die  biblischen  Autoren  sämtlich  als  kindische  Schwärmer  oder  als 
bewußte  oder  unbewußte  Fälscher  behandelt«  zu  sehen;  ein  halb- 
wegs Vorurteilsloser  kann  durch  die  Lektüre  dieses  Buches  nur  zu 
liebevollem  Verständnis  der  biblischen  Autoren  und  zu  tiefer  Ver- 
ehrung vor  ihnen  geführt  werden ;  eine  höhere  Wertung  jedes  Worts 
z.  B.  in  den  paulinischen  Briefen  und  der  ganzen  Persönlichkeit  des 
Paulus,  ein  gerechteres,  umsichtig  milderes  Urteil  über  den  Petrus 
wüßte  ich  mir  gar  nicht  vorzustellen.  Wahr  iät  nur,  daß  Weizs. 
eine  durchgreifende,  vor  keinem  Resultat  erschreckende  Kritik  übt;  er 
beginnt  gleich  mit  der  Erklärung,  daß  betreffs  Jesu  Auferstehung 
geschichtlich  nichts  weiter  bewiesen  werden  kann,  als  daß  die  Jün- 
ger Erscheinungen  Jesu  gehabt;  welche  Realität  dem  zu  Grundege- 
legen habe,  das  zu  entscheiden  sei  Sache  des  Glaubens.  Wessen 
Glaube  nun  unabhängig  ist  von  den  Ergebnissen  wissenschaftlicher, 
geschichtlicher  Forschong  uifd  wer  Gerechtigkeits-  und  Wahrheits- 
sinn genug  besitzt,  um  christliche  Quellen  auch  als  evangelischer 
Christ  doch  mit  dem  gleichen  Maße  zu  messen  wie  irgendeine  indi- 
sche oder  muhammedanische  Quelle  oder  die  Akten  irgend  eines 
katholischen  Heiligen,  den  werden  diese  Eingangserwägungen  Weiz- 
säckers durchaus  befriedigen,  und  nicht  einmal  darin  wird  er  eine 
Inkonsequenz  erblicken,  daß  Weizs.  einen  ursächlichen  Zusammen- 
hang zwischen  den  einzelnen  Christnserscheinungen  in  ICor.  15  an- 
nimmt. Denn  daß,  nachdem  in  Petrus  der  erste  Anstoß  zu  dieser 
großen  Bewegung  gegeben  war,  dieUebrigen  für  ähnliche  Erlebnisse 


568  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  14. 

ganz  anders  als  vorher  disponiert  waren,  ist  nicht  eine  »subjektive 
Auffassung«,  sondern  eine  unanfechtbare  psychologische  Thatsache. 
Oder  wenn  Weizs.  jetzt  für  undenkbar  erklärt,  daß  das  vierte  Evan- 
gelium von  einem  Urapostel  verfaßt  worden,  so  zeigt  sich  angesichts 
seines  früheren  entgegenstehenden  Urteils  ebensowenig,  daß  er  jetzt 
etwas  Willkürliches  behauptet,  wie  daß  diese  Frage  überhaupt  nicht 
»eine  rein  historische«  sei,  sondern  nur  daß  das  Gewicht  der  gegen 
die  Echtheit  sprechenden  Gründe  doch  ein  ungeheures  sein  muß, 
wenn  das  jahrelange  Widerstreben  eines  so  vorsichtigen  und  weit- 
blickenden Forschers  durch  sie  zuletzt  gebrochen  worden  ist. 

Indes  wird  Weizs.  am  wenigsten   die  Diskussion  über  das  apo- 
stolische Zeitalter   nun  für  geschlossen  erachten.     Ein  Buch,  das  so 
zahlreiche  Probleme  berührt   und   auf  so  selbständigen  Bahnen  sei- 
nem Ziele  zustrebt,  erweckt  notwendig  Widerspruch.   Aber  der  Zwei- 
fel an  Einzelnem    darf  die   dankbare   Anerkennung  des    vielfachen 
Neuen    und   Guten   nicht   aufheben    oder  verkümmern.    Wenn  man 
nämlich  unter  Neuem  nicht  bloß  solche  Dinge  versteht,  wie  die  Her- 
leitung des  Galaterbriefs  aus  türkischer  Quelle,  oder  die  Behauptung, 
daß  der  2.  Petrusbrief  die  älteste  und  einzig  echte  Schrift  des  N.T. 
sei,  so  enthält  dieses  Werk  mehr  Neues,  als  man  auf  einem  so  viel 
beackerten  Felde  Überhaupt  noch  erwarten  konnte.    Es  ist  staunens- 
wert, wie  Weizs.  seit  25  Jahren  durch  die  Vertiefung  in  seinen  Stoff 
trotz  der  fruchtbaren  Anfänge  immer  noch  gewachsen  ist,  wie  bereit 
er   geblieben   ist   hinzuzulernen    und  sich   zu  verbessern.    Nirgends 
haben  seine  früheren  Arbeiten  fttr  ihn  einen  Anflug  von  kanonischer 
Geltung.    In  einer  Reihe  von    höchst  bedeutsamen  Abhandlungen   in 
den  Jahrbüchern    für   deutsche  Theologie   hatte  er  über  die  meisten 
Fragen    der   NTlichen   Wissenschaft  mehr   oder   minder  ausführlich 
seine  Ansicht  kundthun   müssen:    vieles   davon    kann  er  aufrechter- 
halten, aber  wo  er  es  in  dem  abschließenden  Werke  verwendet,  ge- 
schieht es  nie  in  monotoner  Abhängigkeit   vom    Buchstaben,   immer 
bereichert,  geklärt,   erweitert.     Seine 'Uebersetzung   des  N.  T.s  war 
besonders  in  2.  Aufl.  (s.  diese  Blätter  1883  Stück  24  S.  737  ff.)  eine 
fast  vollkommene  Leistung;  jetzt  bedient  sich  Weizs.  häufig  dersel- 
ben, und  wo  er  von  ihr  abweicht,  betrifft  es  meist  Kleinigkeiten  wie 
Wortstellung  u.  dergl.,   bisweilen   aber   hat  er  auch  absichtlich  den 
dortigen  Wortlaut  geändert,  und  dann  zeigt  sich  immer  ein  Resultat 
noch   eingehenderer  Untersuchung:    z.  B.   Phil.  4,  3    übersetzte  er 
ryijo$€  avvivre    1882  durch    »Du  lauterer  Genosse«,  jetzt  findet  er 
(S.  245 — 247)  darin  einen  Mann,  mit  Namen  Synzygos  angeredet. 
Von  Weizsäckers  Ergebnissen  in  kritischen  Fragen  erwähne  ich 


Weizsäcker ,  Das  apostolische  Zeitalter  der  christlichen  Kirche.        560 

hier  einige  aas  diesem  oder  jenem  Qrnnde  eharakteristiscbe.  Für 
eebte  Panlasbriefe  hält  er  außer  den  bekannten  vieren  den  ersten 
an  die  Thessalonicber  und  den  an  die  Pbilipper,  obwohl  er  ein  Ver- 
ständnis auch  für  die  Zweifel  an  der  Authentie  der  letzteren  be- 
sitzt (S.  250) ;  beim  Eolosserbriefe  überwiegt  das  Anstößige  ihm  doch 
zu  stark  (S.  190.  254.  560  ff.  595  f.  693).  Daher  er  ihn  fttr  gleich- 
zeitig mit  dem  sicher  unechten  Epheser-  (Laodicener-)Briefe  und  zu 
dessen  Ergänzung  geschrieben  ansieht,  vom  Eolosserbrief  aber  sei 
das  Schicksal  des  Philemonbriefes  (S.  190  hätte  dieser  erwähnt 
werden  sollen!)  nicht  loszulösen  (S.  565.  686).  Den  2.  Thessaloni- 
cherbrief  vermag  er  innerhalb  des  ersten  Jahrhunderts  nicht  zu  be- 
greifen; in  den  Pastoralbriefen,  unter  welchen  der  2.  später  als  der 
1.  ist,  findet  er  schon  die  großen  gnostischen  Systeme  bekämpft. 
Seine  Ansichten  über  den  Hebräerbrief  sind  denen  Overbecks  sehr 
nahe  verwandt;  den  Jakobusbrief  hält  er  für  ein  Produkt  der  Ur- 
gemeinde  aus  der  Zeit  nach  Jerusalems  Zerstörung,  in  ihm  eine  Po- 
lemik gegen  des  Paulus  Galater-  und  Römerbrief.  Erst  in  der 
Trajanzeit  entstand  der  1.  Petrasbrief.  Die  3  Johannesbriefe,  na- 
mentlich der  erste,  stehn  nicht  bloß  zeitlich  hinter  dem  Johannes- 
evangelium, sie  stellen  auch  eine  gewisse  Verflachung  seiner  Ideen 
dar.  Den  neueren  Interpolationshypothesen  ist  er  wenig  gewogen; 
nur  Rom.  16,  25 — 27  gibt  er  auf,  während  er  die  vorangehenden 
Verse  des  16.  Kapitels  nach  wie  vor  ftlr  ein  Schreiben  des  Apostels 
nach  Epbesus  erklärt,  welches  mit  dem  Römerbrief  ursprünglich 
nichts  als  Ort  und  Zeit  der  Abfassung  gemein  hatte :  sonst  nimmt  er 
im  Römerbriefe  Alles  als  genuin,  auch  das  15.  Kapitel,  und  ebenso 
kommt  er  in  den  Korintherbriefen  —  11  Gor.  6,14—7,  1  nicht  etwa 
ausgenommen  —  ohne  jede  Einschubshypothese  aus.  Mehrere  Pan- 
lusbriefe  sind  frühe  verschollen  (S.  189),  wahrscheinlich  einige  an 
die  Philipper  (S.  244),  jedenfalls  zwei  nach  Corinth,  von  denen 
einer  vor,  einer  nach  unserm  ersten  Gorintherbriefe  geschrieben 
war  (S.  300—302).  Wie  Weizs.  die  Briefe  des  Paulus  behandelt, 
ihren  inneren  Oehalt  darlegt,  aus  ihren  Worten  heraus  das  Bild  der 
Zustände  in  den  betreffenden  Gemeinden  entwirft,  das  ist  unüber- 
trefflich; der  Abschnitt  über  Paulus  und  die  Gorinthier  ist  einer  der 
glänzendsten  im  ganzen  Werke,  und  man  faßt  es  kaum,  welch'  eine 
Fülle  von  Anschauungen  über  die  ephesinischen  Verhältnisse  sein 
Scharfblick  den  scheinbar  so  dürren  Grnßreihen  in  Römer  16  zu 
entlocken  versteht.  Ueberhaupt  ist  Paulus,  den  Weizs.  mit  Recht  den 
»Mittelpunkt  der  apostolischen  Zeit«  nennt,  mit  der  eingehendsten 
Sorgfalt  behandelt,  ein  feiner  Ueberblick    über    die  paulinische  Ge- 


670  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  14. 

dankenwelt  geliefert,  das  Bleibende  aas  seinem  Wirken  gebührend 
neben  dem  Unverstandenen  hervorgehoben  (S.  150  f.)  and  in  wenig 
Strichen  eine  Charakteristik  seines  Wesens  an  and  für  sich  and  im 
Verhältnisse  za  Jesas  gegeben,  die  in  jedem  Worte  wahr  and  be- 
deatend  zugleich  ist.  —  Die  Geschichte  der  paalinischen  Missionen 
aber  and  seiner  Gefangenschaft  ist  noch  nie  so  abweichend  vom  Be- 
richt der  Apostelgeschichte  erzählt  worden.  Während  Weizs.  der 
Wirquelle  —  er  scheint  geneigt  sie  aaf  Timotheos  zarllckzaftthren 
—  absolaten  Glaaben  schenkt  ^),  wertet  er  die  meisten  ttbrigen  Nach- 
richten der  Acta  höchst  niedrig,  ohne  jedoch  dem  Verfasser  dersel- 
ben, der  aach  Verfasser  des  3.  Evangeliams  ist  (c.  100  n.  Chr.), 
jede  anderweite  Qnelle  abzusprechen.  Die  schriftstellerische  Eanst 
dieses  Mannes  schlägt  er  nicht  gering  an,  traat  ihm  aach  Kenntnis 
nnd  Benatzang  griechischer  Litteratar  (wie  Josephos)  za,  aber  seine 
Anschaaangen  lagen  za  weit  ab  von  der  Wirklichkeit  der  za  be- 
schreibenden Gedanken,  Verhältnisse  and  Vorgänge,  als  daß  er  ihnen 
hätte  gerecht  werden  können.  Was  daram  in  der  Apostelgeschichte 
nicht  darch  bestimmte  Merkmale  seine  Abkunft  aas  guter  Quelle 
verrät,  das  wagt  Weizs.  zur  Feststellung  des  geschichtlichen  Thatbe- 
standes  nicht  herbeizuziehen,  und  zwar  im  zweiten,  paalinischen  Teil 
so  wenig  wie  im  ersten  Teil  über  die  Urgemeinde.  Hier  scheint  er 
mir  in  seiner  Behutsamkeit  bisweilen  zu  weit  zu  gehn.  Nicht  ein- 
mal die  »erste  Missionsreise«  macht  ihm,  und  wäre  es  nur  in  der 
Reihenfolge  der  Stationen,  einen  vertrauenerweckenden  Eindruck, 
die  Identität  des  jerusalemischen  Silas  Act.  15,  22  mit  dem  Paalas- 
begleiter  Silvanus  ist  ihm  sehr  zweifelhaft;  in  Act.  15  sieht  er  den 
Galaterbrief  polemisch  benutzt  (S.  182).  Doch  ist  gerade  hier  Weiz- 
säckers Verdienst  das^  zum  ersten  Male  ganz  konsequente  Kritik  an 
dieser  Geschichtsquelle  gettbt  zu  haben,  und  dazu  gehört  es  auch 
Darstellungen  fallen  zu  lassen,  die  an  und  für  sich  nichts  unmög- 
liches oder  Phantastisches  enthalten.  So  gestehe  ich  von  den  Ein- 
wendungen gegen  den  apostelgeschichtlichen  Bericht  über  die  Ge- 
fangenschaft Pauli  in  Cäsarea  fast  gewonnen  zu  sein;  nach  Weizs. 
ist  daran   beinahe   nicht«   Historisches    und   der  Apostel,   nachdem 

1)  Nebenbei  bemerkt  liefert  ein  Recensent  Weizsäckers,  Prof.  Zdckler,  einen 
Beweis,  wie  genau  er  das  von  ihm  getadelte  Werk  gelesen  hat,  da  er  in  seinem 
j&ngsten  Pamphlet  S.  SO  versichert,  daB  »kein  namhafter  Schriftforscher  mehr< 
diese  monströse  Annahme  —  über  die  Glaubwürdigkeit  des  Verf.  der  Wirquelle 
und  seine  Verschiedenheit  vom  Verf.  der  Apostelgeschichte  -—  vertrete.  Nor 
halte  man  das  nicht  für  die  einzige  Unwahrheit  in  Zöcklers  Angaben  über  Weizs. 
und  andere  »negative«  Forscher. 


WeizB&cker,  Das  apostolische  Zeitalter  der  christlichen  Kirche.         671 

seine  freie  MissiooBthätigkeit  bis  61  n.  Gbr.  gewährt  batte^  wabr- 
scheiolicb  erst  noter  Festns  gefangen  genommen  und  alsbald  nach 
Rom  transportiert  worden.  Sehr  einleuchtend  ist  auch  die  Auffas- 
sung, welche  Weizs.  von  der  Persönlichkeit  und  Bedeutung  des 
Stephanus  im  Anschluß  an  Act.  6.  7  entwickelt.  Von  einer  zweiten 
Gefangenschaft  des  Paulus  will  er  natürlich  nichts  wissen,  um  so 
interessanter  ist,  wie  er  die  Tradition  von  Petri  Hinricbtung  in 
Born  verteidigt. 

Reich  an  Eigentümlichem  sind  vielleicht  vor  allem  die  Ab- 
schnitte, welche  die  synoptischen  Evangelien  und  die  jobanneische 
Litteratur  bebandeln.  So  nachahmenswert  mir  die  behutsame,  fast 
skeptische  Stellung  erscheint,  welche  Weizs.  auf  dem  erstgenannten 
Gebiet  gegen  alle  die  bekannten  Lösungsversuche  einnimmt,  wie  er 
sieb  darauf  beschränkt,  eine  nur  ganz  allgemeine  Vorstellung  von 
dem  allmählichen  Heranwachsen  dieser  Kompositionen  zu  geben  und 
so  untadelig  diese  Grundztige  sein  werden,  so  vielfach  ftthlt  man 
sich  doch  hier  zu  Einwendungen  herausgefordert  Daß  jetzt  nach 
Weizs.  das  Mattbäusevangelium  zuerst  unter  allen,  und  zwar  auf 
syrischem  Boden,  fertig  geworden  sein  soll,  dann  erst  von  Mt  ab- 
hängig zu  Rom  Marcus  und  endlich  das  die  beiden  anderen  voraus- 
setzende wohl  auch  römische  (oder  asiatische?  S.  492)  Lucasevan- 
gelium, wird  Viele  mit  Betrübnis  erfüllen,  bedeutet  indes  nicht  so 
viel,  da  anerkannt  wird,  daß  Marcus  am  reinsten  die  Ordnung  dar- 
stelle, welche  den  Synoptikern  überhaupt  zu  Grunde  liegt  und  ge- 
gen Holsten  entschieden  betont  wird,  daß  hier  nie  der  ganze  That- 
bestand  aus  der  Benutzung  des  Vorgängers  durch  den  Nachfolger 
erklärt  werden  könne.  Auch  wird  aufgeräumt  mit  alt-  und  jung- 
tübingischen  Hellsehereien  über  die  riesigen  Gegensätze  zwischen 
Mt.,  Mc.  und  Lc.  in  der  dogmatischen  Position:  sie  sind  alle  drei 
Universalisten,  wenn  auch  in  verschiedener  Schattierung.  Daß  in 
der  Formulierung  ihrer  Stoffe  allerhand  ZuiUIle  mitspielen,  daß  wir 
uns  nicht  einmal  einbildeu  dürfen  alles  in  diesen  Evangelien  tref- 
fend zu  verstebn  —  wie  viele  Anspielungen  auf  Lokales  und  vor- 
übergehende Verbältnisse  in  der  Gemeinde  müssen  uns  dunkel  blei- 
ben! —  konnte  nicht  kräftiger  betont  werden,  und  die  Ausführun- 
gen über  die  Motive,  unter  deren  Wirkung  nach  und  nach  die  Aus- 
sprüche Jesu,  dann  seine  Thaten  autoritative  Fassung  bekamen,  wie 
bei  der  Bildung  der  christlichen  Halacba  und  Haggada  entschei- 
dender als  das  Scbriftlichwerden  das  Gebundenwerden  der  üeber- 
lieferuDg  ist,  werden  sieb  weithin  Beifall  erzwingen:  aber  im  Ein- 
zelnen scheint  mir  Weizs.  den  Einfluß  der  Gemeinde  auf  den  lieber- 


572  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  14. 

lieferangsstoff  zn  UberschätzeD  and  oft,  wenn  ein  RedestOck  viel- 
leicht im  Hinblick  anf  ein  später  zu  Tage  getretenes  Bedürfnis  der 
Oemeinde  entstanden  oder  umgebildet  worden  sein  könnte,  aneh 
gleich  za  statuieren,  daß  es  so  entstanden  sei.  Was  er  z.B.  S. 399 
namhaft  macht,  um  die  Parabeln  Mt.  20,  Iff.  und  21,  28  ff.  Jesu 
abzusprechen,  genügt  mir  keinenfalls  zum  Erweise,  und  so  gern  ich 
zugebe,  daft  Mc.  4,  26  ff.  einer  späteren  Zeit  angehören  könnte,  so 
wenig  leuchtet  mir  ein,  daß  es  »ganz  sichere  (S.  379)  derselben  an- 
gehört. 

Der  Abschnitt  S.  493 — 565  führt  uns  den  Apostel  Johannes  vor, 
wie  er  in  Asien,  vorzüglich  Ephesus,  nachdem  die  paulinische  Kir- 
chengründnng  dort  verunglückt  war,  eine  ganz  eigenartige,  vom 
Judaismus  freie  und  doch  wieder  jüdisch  beeinflußte  Form  des  Chri- 
stentums verbreitet  und  Haupt  einer  Schule  wird,  welche  nach  seinem 
Tode  die  johanneischen  Schriften  hervorgebracht  hat.  Also  ist  für 
Weizs.  die  Apokalypse  erst  gegen  100  fertig  geworden;  doch  findet 
er  in  ihr  Bestandteile,  welche  schon  zwischen  64  und  66  geschrie- 
ben sein  müssen.  Seine  Kritik  ist  ganz  geeignet,  jeden  Leser  das 
Vertrauen  zur  Einheit  der  Apokalypse  verlieren  zn  lassen,  weniger 
ihn  für  die  Hypothesen  Weizsäckers  über  deren  Entstehungsgeschichte 
zu  gewinnen ;  man  hat  da  den  Eindruck  des  sehr  Eomplicierten 
und  Unnatürlichen.  Mit  der  neuen  Vischerschen  Hypothese  konnte 
Weizsäcker  sich  noch  nicht  auseinandersetzen;  seine  Resultate  wei- 
chen sehr  weit  von  denen  Vischers  ab;  und  ich  bekenne,  daß  ich 
ganz  für  den  Weg  gewonnen  bin,  auf  dem  der  jüngere  Forscher  das 
Problem  der  Offenbarung  Job.  so  einfach  zu  lösen  versucht.  Jeden* 
falls  aber  sind  die  vorsichtigen  Vermutungen  Weizsäckers  über  die 
einzelnen  Bestandteile  des  rätselhaften  Buches  mit  den  luftigen  Be- 
stimmungen seines  Schülers  D.  Völter  gar  nicht  zu  vergleichen.  — 
Das  Johannesevangelium  bleibt  mir  eigentlich  auch  bei  Weizsäcker 
ein  Rätsel.  Daß  es  geraume  Zeit  »weniger  als  Geschichtserzäb- 
lung,  vielmehr  als  Lehrschrift  angesehen  wordene  (S.  558)  ist 
doch  eine  schwer  vollziehbare  Vorstellung,  es  bleibt  da  überhaupt 
Vieles  in  der  Schwebe,  z.  B.  wann  es  nun  eigentlich  geschrieben 
sei  und  ob  auf  Grund  aller  drei  Synoptiker;  daß  das  ganze  »ein 
großes  haggadisches  Lehrstück«  (S.  536)  sei,  ist  ja  gewiß  richtig, 
allein  wie  dasselbe  von  einem  Vertrauten  eines  der  Donnersöhne  so 
pneumatisch-philosophisch  abgefaßt  werden  konnte,  will  einem  nicht 
einleuchten.  Manches  deutet  Weizs.  merkwürdig  kühn,  so  die  An- 
rede Jesu  an  den  Petrus  in  Job.  21,  einem  Nachtrag  »von  hohem 
Altertum  €  (S.  485),  welche  dafttr  sprechen  soll,  daß  Petrus'  Märty- 


Weizsäcker,  Das  apostolische  Zeitalter  der  christlichen  Kirche.         579 

rertod  an  einem  anderen  Orte  als  dem  seiner  früheren  Wirksamkeit 
Btattgefnnden,  daß  er  in  zwei  Stufen  über  seinen  Beruf  als  Leiter  der 
Urgemeinde  hinausgeführt  worden  und  zuletzt  der  paulinisehen  Mis- 
sion gefolgt  ist  —  sogar  der  Wechsel  von  aQvta  und  nqoßdua  soll 
hier  bedeutungsvoll  sein!  An  anderen  Stellen  wird  nicht  ganz  klar, 
wie  Weizs.  sie  verstehn  will  z.  B.  Job.  10,  8  (S.  541):  immerhinist 
auch  hier  des  Lehrreichen  und  Sicheren  noch  mehr  als  des  Bedenk- 
lichen und  ganz  Ungewissen. 

Niemand,  der  Interesse  am  Neuen  Testamente  nimmt,  wird  ohne 
Gewinn  von  diesem  Buche  scheiden.  Selbst  an  exegetisch  wertvol- 
len Bemerkungen  ist  es  nicht  arm,  vgl.  die  mustergültige  Auslegung 
von  Rom.  1,  6  (S.  422)  oder  von  I  Cor.  9,  20  f.  (S.  327.  424)  oder 
über  das  i&fiqkoikdxnoa  I  Gor.  15,  32  (S.  337  f.).  Der  Gedankengang 
in  Pauli  Strafrede  zu  Antiochien  Gal.  2,  14  ff.  wird  S.  166  ff.  glän- 
zend rekonstruiert;  und  Dinge  wie  die  Taufe  für  Tote  (I  Gor.  15) 
werden  mit  einer  heute  noch  seltenen  Unbefangenheit  besprochen. 
An  diesem  Lobe  wird  dadurch  nichts  geändert,  daß  manchmal  wie 
S.  609  aus  den  Präpositionen  in  Gal.  1,  1  ovx  än^  dv&quinmv  oidi 
d§'  äv&qmnov  doch  zu  viel  erschlossen  wird.  Mögen  dann  z.  B.  die 
Motive  der  tpfvdddeXtfo^  auf  dem  Apostelconcil  wohl  zu  ungünstig 
erklärt  werden  —  im  Ganzen  tritt  uns  ein  psychologischer  Scharf- 
blick und  eine  liebevolle  Billigkeit  im  Urteil  über  Personen  und 
Verhältnisse  entgegen,  wie  sie  nur  große  Historiker  besitzen,  und 
die  Reife  des  Werks  offenbart  sich  am  besten  in  der  großartigen 
Einheitlichkeit  der  Auffassung,  die  das  Ganze  durchzieht:  vergebens 
sucht  man  in  einem  Teile  eine  Erklärung,  der  an  andrer  Stelle  eine 
abweichende  zur  Seite  träte;  auch  der  Feind  kann  nicht  läugneui 
das  Buch  ist  aus  einem  Guß,  ein  in  allen  Teilen  wohl  zusammen- 
stimmendes Bild.  Nie  zuvor  ist  die  Geschichte  der  apostolischen 
Zeit  geschrieben  worden  mit  solcher  Vereinigung  großer  Gesichts^ 
punkte  und  der  sorgfältigsten  Beachtung  des  Kleinsten.  Darum  ist 
diese  Geschichte  so  frei  von  aller  Einseitigkeit;  wenn  der  Verfasser 
es  auch  —  unsers  Erachtens  mit  Recht  —  dem  Geschichtsschreiber 
des  2.  Jahrhunderts  überläßt,  wie  er  an  dieses  Buch  anknüpfen  will, 
ob  er  nach  derselben  Methode  verfahren  kann,  so  hat  er  aus  Ver- 
gangenheit, Folgezeit  und  außerchristlicher  Gegenwart  herangezogen^ 
was  irgend  zur  Beleuchtung  seines  Gegenstandes  nutzbar  war.  War* 
nende  Erscheinungen  im  Judentum  werden  nicht  unbeachtet  gelas* 
sen,  Analogien  in  den  heidnischen  Kultvereinen  getreulich  registriert 
(S.  570.  630.  691)  —  sehr  wertvoll  ist  auch  die  häufigere  Einwei- 
sung (z.  B.  S.  451)  darauf,  wie  wichtig  das  Altertum  einer  Religion 


674  Gott.  gel.  Änz.  1887.  Nr.  14. 

damals  war,  um  ihr  Ansehen  und  Anziehongskraft  zu  verschaffen 
und  von  welchem  Einfluß  diese  Thatsache  sein  maßte  auf  das  Ver- 
hältnis der  Kirche  zum  Alten  Testament  —  aber  den  besten  Beweis 
für  die  Richtigkeit  seiner  Geschichtsanffassang  liefert  er  doch  da- 
darch,  daß  er  im  großen  Ganzen  die  Erscheinangen  in  der  ältesten 
Christenheit  ans  ihr  selber  begreift,  ohne  ZnhOlfenahme  fremder 
Einflüsse,  gar  schOn  ist  immer  wieder  das  Freischaffende,  das  Ueber- 
reiche,  Selbständige  in  der  Gemeinde  hervorgehoben,  beim  Gottes- 
dienstlichen  nicht  minder  (S.  566)  wie  bei  Theologie  und  Sitte  nnd 
Verfassung.  Es  ist  doch  wahrlich  kein  »negativesc  Ergebnis,  wenn 
ein  Mann  wie  Weizsäcker,  der  eine  so  schonangslose  Kritik  an  allen 
Quellen  übt,  der  auch  ohne  Bedenken  die  Beschränktheiten  einräumt 
z.  B.  im  Urteil  des  Paulus  über  die  Ehe  (S.  691),  wenn  der  (S.  646) 
die  christliche  Sittlichkeit  gegen  den  Vorwurf  der  Heteronomie  ver- 
teidigen kann  und  überhaupt  einsteht  für  die  Idealität  der  neuen 
Grundsätze  und  ihre  Freiheit  von  Mönchischem  wie  von  Fanatismus. 
Mag  also  in  hundert  Einzelheiten  Weizsäcker  korrigiert  werden 
können  —  die  Quellen  gewähren  dort  leider  in  dem  EJeinen  so 
selten  volle  Sicherheit  —  die  großen  Hauptzttge  der  Geschichte  des 
apostolischen  Zeitalters  hat  er  festgestellt  und  darin  wird  er  zur 
Ehre  der  Kirche  Recht  behalten.  Doch  selbst  wenn  das  nicht  sein 
sollte,  wäre  sein  Buch  unschätzbar:  als  Ausgangspunkt  für  neue 
methodische  Einzelforschnng:  alle  Detailfragen  lassen  sich  viel  leich- 
ter und  erfolgreicher  behandeln,  wenn  einmal  gezeigt'  worden  ist, 
wie  sie  unter  einander  und  mit  dem  Ganzen  zusammenhangen  nnd 
von  welchem  Einfluß  ihre  Lösung  auf  die  verschiedensten  Gebiete 
sein  wird,  resp.  von  wie  vielen  anderen  Erwägungen  höherer  Art 
dieselbe  doch  schließlich  abhängt. 

Zum  Schluß  erlaube  ich  mir  noch  auf  einige  geringfügigere 
Verseben,  größtenteil  erst  beim  Druck  —  der  übrigens  im  Allge- 
meinen höchst  korrekt  ist  —  herbeigeführt,  kurz  hinzuweisen. 
S.  476  wird  Suetons  Abfassung  der  Kaiserbiographieen  ins  Jahr  104 
verlegt,  was  sicher  um  15  Jahre  zu  früh  gegriffen  ist;  doch  bemerke 
ich  gegenüber  dem  Recensenten,  der  diesen  Irrtum  schon  gerttgt 
hat,  daß  er  kein  Recht  hat,  den  Sueton  in  den  Details  seines  Bu- 
ches im  stillen  Gegensatz  zum  Verfasser  der  Apostelgeschichte  einen 
»80  mangelhaft  unterrichteten  späten  Schriftsteller«  zu  nennen. 
S.  616  Z.  17  lies  »Propheten«  statt  »Apostel«,  S.  216  Z.  10  v.  u. 
»Cilicien«  statt  »Sicilien«,  S.  282  Z.  18  »geschlechtlichen«  st  »ge«* 
seilschaftlichen«  S.  39  Z.  16  »Synagoge«  st.  »Synode«,  S.  669  Z.  22 
»Gnade«  st.  »Gemeinde«  des  Evangeliums,  S.  657  Z.  1  v.  u.  »ihre« 


Stader,  Die  wichtigsten  Speisepilse.  575 

Statt  des  zweiten  »hierc;  S.  614  Z.  7  v.u.  fehlt  hinter  »woblancbc  ein 
»niehtc  und  in  der  folgenden  Zeile  1.  >beic  st.  mache.  Bei  den  Citaten 
erscheint  mir  die  Schreibweise  11, 13—5  (statt  13—15)  z.  B.  S.  169  doch 
als  wanderlicbe  Sparsamkeit,  erheblichere  Veranlassung  zu  Verbesse- 
rungen böte  da  etwa  S.  20  Z.  2  v.  n.  >5,  12—6,  42t  in  »5,  12—16.  42c  ; 
S.  67  Z.  4  V.  u.  »9,  11.  39c  in  »9,  11.  21,  39€;  S.  98  Z.  6  v.  u. 
>I  Kor.  1,4c  in  »8,4c;  S.  139  Z.  1  »2,  25c  in  »8,  25c;  S.  217  Z.5 
V.  0.  »14,  17c  in  »17,  17c,  ibid.  Z.  9  »18,  18c  in  »18,  11c  und 
Z.10  »18,8c  in  »19,8c;  8. 230 Z.  7  v.o.  »2, 3c in  »3,3c;  ibid.  Z.15 
»5, 11c  in  »5,  Ic;  desgl.  S.  284  Z.  14;  S.  316  Z.  2  v.  u.  »2,  14— 
3,  17c  in  »1,  15—2,  17c;  S.  405  Z.  23  Lc.  »16c  in  »15c;  S.  466 
Z.  18  V.  u.  »25,  17.  25.  31c  in  »25,  18.  25.  26,  31c;  S.  589  Z.  5 
>12,  23c  in  »14,  23c;  S.  643  Z.ll  v.u.  Vis.  »III,  7c  in  »III, 9, 7c; 
S.  679  Ueberschrift  »579c  in  »679c. 

Rummelsbnrg  b.  Berlin.  Ad.  Jttlicber. 


Studer,  B.,  Apotheker  in  Bern,  Die  wichtigsten  Speisepilze.  Nach 
der  Natur  gemalt  und  heschriehen.  Bern,  Schmidt,  Francke  ä  Co.  1887. 
24  Seiten  in  Oktav  und  10  Tafeln. 

Die  erste  Veranlassung  zu  diesem  ungeachtet  seines  nur  ge- 
ringen Umfanges  außerordentlich  nützliehen  und  wertvollen  Buchs 
ist  unstreitig  die  im  Jahre  1884  in  Bern  vorgekommene  Vergiftung 
von  sieben  Personen  durch  den  Genuß  von  Amanita  phalloides,  bei 
welcher  Gelegenheit  Studer  auch  eine  Abbildung  dieses  in  Frank- 
reich und  in  Italien  seit  lange  mit  Recht  gefUrchteten  Giftpilzes  in 
den  Mitteilungen  der  Naturforscher-Gesellschaft  in  Bern  gab.  Die 
übrigens  schon  früher  von  mehreren  Autoren,  z.  B.  M.  H.  Wagner 
(der  Schwämmesammler.  1867),  mit  Nutzen  verfolgte  Idee,  durch  gute 
kolorierte  Abbildungen  der  hauptsächlichsten  Nahrungspilze  dem 
Volke  das  allerdings  in  seinem  Nahmngswerte  lange  überschätzte, 
immerhin  aber  bedeutungsvolle  Speisematerial,  welches  die  eft« 
baren  Schwämme  liefern,  in  einer  Weise  zugänglich  zu  machen,  daß 
keine  Gefahr  vor  Vergiftung  besteht,  ist  nur  zu  billigen.  Den  für 
die  Erfüllung  dieses  Zweckes  wichtigsten  Faktor,  die  Beschränkung 
auf  das  Allernotwendigste,  sowohl  in  Bezug  auf  die  abzubildenden 
Species  als  auf  den  Text,  hat  Studer  unseres  Grachtens  richtig  ge- 
würdigt  Er  beschränkt  sich  auf  die  gewöhnlichsten  Pilze  der 
Schweizer  Flora,  nämlich  den  Champignon,   von  dem  er  auch  die 


576  Gott.  gel.  Adz.  1887.  Nr.  14. 

Treibbeetvarietät  abbildet ,  den  echten  Reizker,  den  EierBchwanoini, 
Steinpilz,  Semmelpilz,  Stoppelschwamm,  den  gelben  nnd  roten  Hirsch- 
schwamm,  die  Spitzmorchel  und  Speisemorchel.  Diese  Beschränkung 
ist  offenbar  in  Rücksicht  auf  die  Berner  Pilzflora  gemacht,  wobei 
alle  nor  selten  vorkommenden  eßbaren  Arten  ausgelassen  sind, 
während  allerdings  fUr  unsre  nordwestdeutschen  Verhältnisse  und 
noch  mehr  für  Mittel-  und  Suddeutschland  oder  für  Oesterreich  ge- 
wiß noch  verschiedene  Arten  mehr,  bei  denen  Vergiftung  durch  Ver- 
wechslung mit  giftigen  Arten  nicht  zu  beftlrchten  ist,  zweckmäßig 
abgebildet  wären,  wie  die  diversen  Lycoperdonarten,  Fistulina,  Ma- 
rasmius  oreades,  und  einige  andere.  Von  dem  Stoppelschwamm  hat 
der  Verfasser  nur  die  von  Harzer  als  Hydnnm  repandum  var.  flavi- 
dum  beschriebene  gelbe  Varietät  abgebildet,  die  bei  uns  kaum  so 
häufig  ist  als  die  weißliche  (Harzer,  T.  XXIII).  Im  Uebrigen  sind 
die  Tafeln  außerordentlich  gut  ausgeführt,  so  daß  sie  die  zweite 
Vorbedingung  erfttllen,  von  welcher  die  Brauchbarkeit  eines  Werks 
tiber  Speisepilze  abhängt,  und  sich  in  dieser  Beziehung  sehr  vor- 
teilhaft von  einzelnen  neueren  Publikationen  unterscheiden,  bei  de- 
nen selbst  der  Hykologe  manchmal  nicht  weiß,  was  der  Autor  zu 
zeichnen  beabsichtigt  hat.  Von  Giftpilzen  ist  bei  Studer  nur  die 
Amanita  phalloides  abgebildet,  und  zwar  die  weiße  Varietät,  um  sie 
von  Champignon  zu  unterscheiden.  Obschon  wir  der  Ansicht  sind, 
daß  in  einem  Buche  fiber  Speisepilze  Abbildungen  von  Giftpilzen 
überhaupt  entbehrlich  sind,  mag  es  doch  gerechtfertigt  sein,  gerade 
diesen  Pilz  näher  zu  charakterisieren,  weil  merkwürdiger  Weise 
diese  allergefährlicbste  Species,  die,  wie  Studer  richtig  sagt,  dreimal 
mehr  tödliche  Vergiftungen  hervorgerufen  hat,  wie  alle  anderen 
Giftpilze  zusammen,  beim  Volke  kaum  bekannt  ist.  Es  ist  auffällig, 
daß  beim  Volke  die  giftige  Wirkung  des  Fliegenpilzes  und  dieser 
Pilz  selbst  ganz  genau  bekannt  sind,  während  man  von  dem 
schlimmsten  und  deletersten  Giftpilze  nichts  weiß  und  andrerseits  Ar- 
ten zu  Schreckgespensten  gemacht  und  mit  einschüchternden  Be- 
nennungen, deutschen,  wie  Hordpilz,  und  lateinischen,  wie  Lactarins 
neeator,  L.  turpis  u.  a.,  belegt  hat,  ohne  daß  dieselben  überhaupt 
schädliche  Wirkungen  haben. 

Tb.  Httsemann. 


F«r  die  SedAktion  TerantwortUch :   Prof.  Dr.  BiekM,  Direktor  der  CMtt.  fl^el.  Ans., 
▲eeeMor  der  Königlichen  Oesellecbaft  der  WiMenaek*flen. 

F#rbV  d0r  JHtUtich'ickm  Vmit4f9 'BuehkmuBmng. 

Z^Mcl  dsr  DMmriOt'aehm  üni9.'Suekärmcktr€i  (fr,  B'.  Xat^lmtr), 


'[P{/VV^'^- 


^ 


/         -     'S. 


/  ^'  I-  ^\     7      1 P  * »  7 

I      vM-y  /   lot./ 

Göitnrgische 

gelehrte  Anzeigen 

nnter  der  Aufsicht 

der  Königl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften, 

Nr.  15.  15.  Juli  1887. 

Preis  des  Jahrganges :  JL  24  (mit  den  »Nachrichten  d.  k.  G.  d.  Wiss.« :  «^  27). 
Preis  der  einzelnen  Nummer  nach  Anzahl  der  Bogen:  der  Bogen  50  ^ 

Inhalt:  Paul  de  Lagarde ,  SelbstaioeiRe  seiner  leisten  Schriften.  —  Sehoell-Stude- 
mand.  Anecdota.  Bd.  I.  Yon  Ho&rscMman»,  —  Xrsberftttelse  fran  Sabbatebergs  Sjakhns  i  Stockholm 
for  1886.    Yon  Hmenuum. 

=  Eigenmächtiger  Abdruck  von  Artikeln  der  G8tt.  gel.  Anzeigen  verboten.  = 

Prohe  einer  neuen  Ausgabe  der  lateinischen  üebersetzungen  des  alten  Testaments. 

1886.    48  Seiten  Oktav. 
Catenae  in  evangelia  aegyptiacae  quae  supersunt.   1886.   yiii  244  Seiten  Quart. 
Novae  psalterii  graeci  editionis  specimen.    1887.    40  Seiten  Quart. 
Purim.   Ein  Beitrag  zur  Geschichte  der  Religion.    1887.    68  Seiten  Quart. 
Onomastica  sacra.    Zweite  Ausgabe.    1887. 
Mittheilungen.    Zweiter  Band.    1887.    388  Seiten  Oktav. 

'  von  Paul  de  Lagarde. 

Es  macht  mir  wenig  Frende,  über  das  Vorbandensein  meiner 
letzten,  selbstverständlicb  der  Theologie  dienenden  Arbeiten  in  eigener 
Person  berichten  zn  milssen.  Wer  anter  dem  harten,  vor  16  Jahren 
in  den  Symmicta  1  78,  26  27  gefällten  Urtheile  steht,  geht  in  immer 
rascherem  Tempo  bergab:  wer,  wie  ich,  unter  Anstrengung  aller 
seiner  Kräfte  die  Wahrheit,  wenn  auch  oft  genng  erfolglos,  sacht,  geht 
berganf:  so  entferne  ich  mich  von  nicht  wenigen  derer,  für  die  ich 
za  arbeiten  scheine,  naturgemäß  immer  mehr.  Da  ist  das  Ignorieren 
des  unbequemen  Mannes  die  angezeigte  Waffe,  die  ich  heut  pariere. 

lieber  die  Gesammtausgabe  meiner  deutschen  Schriften  und  tlber 
eine  kleine  Sammlung  meiner  Gedichte  zu  sprechen  ist  unnöthig :  flir 
jene  Schriften  habe  ich  einen  recht  großen,  recht  dankbaren  und  stets 
wachsenden  Leserkreis.  Was  in  der  deutschen  Studentenzeitung  ver- 
ständig und  ausführlich  schon  am  7  März  1885  ff.,  was  unlängst  am 
21  Mai  1887  in  der  allgemeinen  deutschen  Uniyersitätszeitung  zu  Ber- 
lin, am  24  Hai  1887  in  der  Eronstädter  Zeitung  den  Siebenbttrgenii 

a«tt.  g«l.  Ana.  1887.  Vr.  Ifi.  40 


578  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  16. 

am  5  Juni  1887  in  ihrem  Tagblatte  den  Mainzern,  and  so  weiter 
nnd  so  weiter,  ohne  jedes  Znthun  seines  Verfassers  empfohlen,  was 
in  dem  Blatte,  das  in  Wien  die  Bolle  der  norddeatschen  allgemeinen 
Zeitung  spielt,  non  sine  dts,  am  12  Febraar  1887  mit  Schmatze  be- 
worfen wird,  was  die  Ehre  hat,  den  rois  de  T^poqae  höchlichst  za 
misfallen,  das  kommt  schon  darch  die  Welt,  ohne  daft  sein  Verfasser 
selbst  es  za  nennen  nöthig  hätte.  Der  dem  Wichtigsten  was  ich  zu 
bieten  habe,  von  der  Jagend  gespendete  Beifall  maß  mich  trösten, 
wenn  die  Zanft  mit  der  ihr  eigenthOmlichen ,  wissentlichen  Verleag- 
nang  der  Wahrheit  an  meinen  wissenschaftlichen  Arbeiten  vorbeigeht. 
Daft  Sabatier  die  Beste  der  alten  lateinischen  Uebersetznngen 
der  Bibel  gesammelt  hat,  dürfte  vielleicht  sogar  einigen  Mitgliedern 
der  Zanft  vom  Hörensagen  bekannt  sein.  Wie  völlig  fremd  das  Bach 
selbst  den  anerkannten  Wortführern  der  Zunft  ist,  erhellt  aus  folgenden 
Thatsachen.  In  dem  im  Januar  1874  erschienenen  Psalterium  der 
Herren  CvTischendorf,  FzDelitzsch,  SBaer  wurde  (iv  der  Vorrede)  ver- 
sichert, daft  Tischendorf  für  die  von  Hieronymus  ans  dem  hebräischen 
Originale  gemachte  Uebersetzung  des  Psalters  den  apparatus  Saba- 
tiers  perpendit,  nnd  mit  aus  ihm  acri  iudicio  den  Text  des  Hierony- 
mus recognovit.  Nun  beschäftigt  sich  Sabatier  in  seinem  großen 
Werke  nur  mit  den  aus  der  Septuaginta,  also  nicht  mit  den  aus  dem 
Hebräischen  geflossenen  lateinischen  Bibeln,  nur  für  diese  hat  er 
einen  apparatus:  das  Psalterium  iuxta  Hebraeos  Hieronymi  gibt  er 
nur  als  Zugabe,  nach  seines  Ordensgenossen  Martianay  Texte,  und 
ohne  jeden  apparatus.  Jene  Versicherung  war  — ja  was  war  sie?  Der 
Eirchenrath  und  Professor  der  Exegese  des  alten  Testaments,  jetzige 
Akademiker,  Herr  ESchrader,  der  de  Wettes  Einleitung  in  das  alte 
Testament  neu  herausgegeben  hat,  hielt  gleichwohl  für  angezeigt,  am 
11  April  1874  (das  recensierte  Buch  wurde  am  20  Januar  1874  ver- 
schickt) in  einer  Besprechung  jenes  Psalterium  in  der  Jenaer  Litera- 
turzeitung drucken  zu  heißen: 

insbesondere  übernahm  es  GTischendorf  auf  Grand  des  Textes  Yallarsis 

[der  so  gut  wie  ganz  und  gar  den  Text  Martianays,  nicht  einen  eige- 
nen Text  gibt] 

und  QDter  Hinzuziehung  des  Codex  Amiatinus 

[der  für  jeden  mäAig  orientierten  Forscher  ein  contaminatissimus  ist] 

sowie  auch  der  Varianten  Sabatiers 

[die  zu  dem  herauszugebenden  Werke  gar  nicht  existieren] 

den  hieronymianischen  Text  zu  edieren,  eine  Aufgabe,  deren  sich  der  hoch- 
yerdiente  Falaeograph  mit  gewohnter  Sorgfalt  entledigte. 

Man  mag  aus  dieser  Becension  ermessen,   wie  wenig  den  deut- 
schen > Theologen c  die  Noth wendigkeit  einleuchten   wird,   Sabatiers 


Paul  de  Lagatde,  Selbstanzeige  seiner  letzten  Schriften.  679 

ibneo  dnrchans  nnbekannteB  Werk  nea  zu  arbeiten.  Der  einzige,  der 
sich  außer  ERanke  in  Dentschland  mit  einer  Weiterftthrang  der  Sta- 
dien Sabatiers  nutzbar  beschäftigte,  war  Leo  Ziegler.  Vorjahren  hatte 
in  der  Schweiz  OFFritzscbe  eine  Probe  einer  Neubearbeitung  gegeben: 
in  England  sind  vieler  wackeren  Männer  Gedanken  dieser  wichtigen 
Aufgabe  zugewandt:  ich  habe  dieselbe  seit  über  dreifiig  Jahren  nicht 
aus  den  Augen  verloren,  und  redlich  gesammelt.  War  doch  flir  mich 
der  Text  des  Westens  der  unentbehrliche  Prüfstein,  an  dem  ich  die 
Echtheit  und  das  Alter  der  Lesarten  des  Ostens  nntersuchte.  Nun 
ist  eine  erhebliche  Schwierigkeit  die,  daß  die  in  Betracht  kommenden 
Handschriften  fast  alle  uralt,  oft  auch  noch  ans  anderen  Gründen  als 
dem  des  höchsten  Alters  TcaiiiijXia,  also  nur  in  den  sie  bewahrenden 
Bibliotheken  oder  gar  Kirchen  an  Ort  und  Stelle  einzusehen  sind. 
Man  muß  mithin  reisen,  und  muß,  um  reisen  zu  können,  große  Mittel 
besitzen,  man  darf  kein  Universitätsarat  bekleiden:  was  mache  ich 
zum  Beispiel  mit  Universitätsferien  für  Bom?  Also,  deutsch  gespro* 
eben,  alte  Handschriften  sind  für  uns  unbenutzbar,  nnd  Kritiken  von 

der  Art  der  von  den  Herren os  (meine  Mittheilnngen  1  [171]  381 — 

384)  nnd  DKaufmann  (ebenda  2  280  281)  geschriebenen  blühen  je- 
dem nicht  bei  einer  general-mutual-praise-insnrance-company  Versi- 
cherten zu,  der,  wie  ich  das  gethan  habe,  —  nothgedrungen  —  sich 
auf  den  andern  Theil  des  Sabatier,  die  Testimonia,  beschränkt  loh 
bin  der  Meinung,  daß  praktischer  als  ich  meine  Probe  eingerichtet 
habe,  die  Sache  sich  nicht  einrichten  lasse.  Ich  besitze  das  Mate- 
rial ,  die  ganze  Bibel  in  der  Weise  vorzulegen ,  in  der  ich  in  der 
Probe  Psalm  a—i^  vorgelegt  habe:  mein  Material  ist  sogar  seit  dem 
Erscheinen  dieser  Probe  durch  die  so  sorgfältig  bearbeiteten,  neu  er- 
schienenen Texte  der  Wiener  Akademie  nnd  durch  Anderes  in  er- 
freulichster Weise  vermehrbar  geworden.  Ich  habe  aber  das  Gefühl 
des  Ekels  —  man  verstehe  mich  wohl,  des  Ekels  —  über  die  die- 
sen grundnöthigen  Studien  von  der  Zunft  gewidmete  Theilnahmlosig- 
keit  nicht  überwinden  können,  nnd  habe  darum  abgebrochen.  Die 
pars  prior  meines  Lucian  erschien  im  August  1883;  bis  hente  (26 
Juni  1887)  sind  von  diesem  Buche  204  Exemplare  abgesetzt  worden: 
an  eine  große  Universität,  an  der  drei  Individuen  über  das  alte  Te- 
stament opinieren,  kein  einziges.  Was  sollte  da  ein  neuer  Sabatier? 
der  doch,  noch  mehr  als  Lucian  und  als  @,  nur  Mittel  znm  Zwecke 
wäre,  Mittel  nämlich  zu  dem  Zwecke,  ®  herzustellen.  Es  versteht 
sich  ja  auch  von  selbst,  daß  Menschen,  die  nicht  wissenschaftliche 
Wahrheit  suchen,  sundern  als  Advokaten  einen  Prozess  zn  führen  nur 
ternommen  haben ,  auf  Abhörung  ihnen  für  ihren  Prozess  nnd  die 
Ueberredung  der  Richter  nnd  der  Geschworenen  niobto  nützender  ZeQ- 

40» 


580  Gott.  gel.  Ans.  1887.  Nr.  16. 

gen  verzichten.    Das  liegt  im  Handwerke,  und  ist  bei  Handwerkern 
durchaus  in  der  Ordnung. 

Die  Gatene  zu  den  Evangelien  ist  ans  einer  Handschrift  des 
Lord  Zonche  herausgegeben,  die  mir  der  Besitzer  mit  echt  englischer 
Hochherzigkeit  zur  Verftlgung  gestellt  hat. 

Das  Erste,  was  ich  in  Betreff  dieses  Buches  zu  thun  habe,  ist, 
daß  ich  dem  erlauchten  Besitzer  des  Codex  auch  öffentlich  (brieflich 
ist  es  längst  geschehen)  ftir  die  in  meiner  Vorrede  vorliegende  Ent- 
stellung seines  Namens  um  Entschuldigung  bitte.  Lord  Zouches  Na- 
men (so  von  ihm  selbst  geschrieben)  trat  in  Briefen  englischer  Gor- 
respondenten  mit  einem  Male  ohne  das  schlieftende  E  auf:  da  wir 
nun  Guericke  für  Guerike,  Wulker  für  WUlcker,  Ghwolson  für  Ghwol- 
söhn  haben  erscheinen  sehen,  konnte  fttglich  auch  Zonch  fttr  Zouche 
von  dem  Herrn  Träger  des  Namens  selbst  beliebt  worden  sein.  Seine 
Lordschaft  mochte  ich  nicht  fragen:  ein  ausdrücklich  mit  Erkundi- 
gungen beauftragter  —  studierter,  gelehrter  —  Eogländer  schrieb 
ausdrücklich  zurück,  »Zonche  sei  richtig,  und  verführte  mich  so  zu 
einer  groben  Ungezogenheit,  die  mir,  als  ich  wieder  einen  Brief  mei- 
nes freundlichen  Gönners  erhielt,  peinlich  genug  war,  und  es  noch 
heute  ist.  Den  Namen  meines  erbärmlichen  Informators  werde  ich 
unter  Umständen  öffentlich  nennen:  vor  solchem  Gesellen  muft  man 
warnen. 

Die  Handschrift,  aus  der  ich  herausgegeben  habe,  war  von  dem 
Vater  des  gegenwärtigen  Besitzers,  dem  Hon.  B.  Gnrzon,  der  natür- 
lich selbst  Koptisch  nicht  verstand,  auf  Grund  der  Aussagen  eines 
französisch  schreibenden  Gelehrten,  in  das  Jahr  395  n.  Ghr.  gesetzt 
worden.  Nachdem  WWright  öffentlich  seinen  Unglauben  an  diese 
Datierung  ausgesprochen,  und  aus  der  im  Godex  häufigen  Nennung 
des  Severus  von  Antiochia  gerechtfertigt  hatte,  äußerte  sich  der  Bi- 
schof von  Durham  über  das  Werk,  ohne  das  Rechte  zu  treffen.  Die 
Handschrift  ist  vom  Schreiber  selbst  datiert,  und  zwar  aus  605  der 
Märtyrer,  also  888/889  nach  Ghristus.  Wer  die  datierten  bohairi- 
schen  Handschriften  des  Vatican  gesehen  hat,  könnte  das  Alter  auch 
^hne  diese  geflissentliche  Angabe  bestimmen:  bevor  ich  das  Datum 
gefunden,  setzte  ich  den  Godex  nach  dem  Facsimile  in  das  zehnte 
Jahrhundert. 

Die  Handschrift  ist  in  der  abscheulichsten  Weise  verbunden,  was 
mir  viel  Mühe,  Zeit  und  Geld  gekostet  hat  Auf  ihren  256  Blättern 
stehn  große  Stücke  der  bohairischen  Uebersetzung  der  Evangelien, 
•mit  einer  aus  Ghrysostomus ,  Gyrillus,  Severus  von  Antiochia  und 
Titns  [von  Bostra]  zusammengetragenen  Erklärung.  Seltener  werden 
andere  Väter  benutzt:  Athanasius,  Basilius,  Glemens  von  Born,  Gyrill 


Paul  de  Lagarde,  Selbstanseige  seiner  lelaten  Schriften.  681 

▼on  Jernsalem,  Didymns,  Epiphanias,  Eaagrios,  Ensebins,  mehrere 
Qregore,  Irenaeas,  Severianas  von  Gabala.    Man  sehe  mein  Register. 

Der  Styl  des  Bnchs  ist  noch  got,  der  Text  der  Evangelien  ^)  alt : 
derselbe  wird  für  meine  Aasgabe  des  koptischen  neaen  Testaments 
benatzt  werden.  Den  Dieben  gegenttber  sind  die  nöthigen  Vorbehalte 
gemacht.  Es  sind  von  dem  am  6  März  1886  erschienenen,  ganz  anf 
meine  Kosten  gedrackten  Bache  bis  heate  27  Exemplare  verkaaft: 
mir  fällt  nicht  ein,  meine  Arbeit  von  dem  ersten  besten  Indnstrie- 
ritter,  als  ob  sie  herrenloses  Gat  sei,  aasplttndem  za  lassen.  Wonach 
sich  zn  achten.    Vergleiche  die  Vorrede  zam  Hartzt. 

FOr  Jeden,  der  aoch  nar  das  allerkleinste  MaB  von  Einsicht  be* 
sitzt,   and  noch  irgend  einer  Begang  des  Gewissens  fähig  ist,   maß 

1)  Von  ganz  besonderem  Interesse  für  mich  war  die  Auslegung  des  Yater- 
nnsers.  Herr  Staatsrath  Leo  Meyer  hat  NGGW  1886,  245—269  über  den  <SpToc 
iirio6aioc  gehandelt,  ohne  Yon  dem  Kenntnis  genommen  zu  haben,  was  der  Bischof 
von  Dnrham,  JBLightfoot,  in  seiner  1871  nnd  1872  erschienenen  [ganz  yergrÜfie- 
nen]  Schrift  on  a  fresh  revision  of  the  English  New  Testament  über  den  Vor- 
wurf seiner  Abhandlung  vorgetragen  hat:  ein  dem  Herrn  Meyer  »nahe  befreun* 
deter,  sehr  namhafter  Orientalistc  [Herr  ThNoeldeke  ?],  wuBte,  als  er  ihm  Aus- 
kunft gab,  ebenfalls  von  Lightfoots  Arbeit  nichts:  von  Suicers  Artikel  ^7no6a(oc 
vermuthlich  ebenfalls  nichts.  Daß  die  Herren  Meyer  und  Noeldeke  keine  Theo- 
logen sind,  ist  ja  bekannt,  so  daß  eine  ausdrückliche  Erinnerung  an  das  in  dem 
Schriftchen  »die  revidierte  Luther bibel«  9  10  von  mir  Vorgebrachte,  wie  an  die  in 
Gappadocien  und  NordAfrica  umlaufende  Gestalt  des  Gebets  (Gregor  von  Nyssa  1 
787^  ff.  der  Pariser  Ausgabe  von  1688,  Tertullian  gegen  Marcion  h  26)  vielleicht 
am  Platze  ist  Moderne  Schriftsteller,  die  nicht  bei  einem  Ringe  versichert  sind, 
müssen  sich  freilich  gefallen  lassen,  daB  man  ihnen  Einzelheiten  aus  ihren  Ar- 
beiten herauspflückt:  das  Vaterunser  zu  deuten  sollte  doch  Niemand  unterneh- 
men, der  nicht  über  das  Ganze  desselben  eine  Anschauung,  und  nicht  einen  Ein- 
blick in  die  Geschichte  dieses  Gebets  erworben  hat.  Wenn  Herr  Meyer  246  schreibt 
»so  bleiben  wir  also  genöthigt,  auf  rein  griechischem  Boden  vorw&rts  zu  gehende, 
und  269  auf  den  »aram&ischen  Ausdruck«  hinweist,  der  dem  inio^aioc  zu  Grunde 
liege,  so  ist  das  ein  Widerspruch.  Der  Gedanke  durfte  auch  NichtTheologen 
kommen,  nach  ausdrücklichen  Zeugnissen  über  das  Original  des  imo\}tsioi  zu  fra- 
gen. Der  Bohairier  (diese  Gatene  18,  82)  nenmiR  n*re  p«^c^  =  unser  Brot 
für  morgen,  der  Qftidier  (Woides  Appendix  7)  nenoeiR  cT-nirjf)  was  Woide  »pa- 
nem  nostrum  venturum«  überträgt  (er  h&tte  dreist  t6v  fA^ovt«  schreiben  dürfen): 
dies  vergleiche  man  —  alt  genug  ist  es,  und  die  Verschiedenheit  des  Bohairiers 
und  des  Qatdl  beweisender  als  die  Identität  —  mit  Hieronymus  7  34^  (der  ech- 
ten Vallarsiana):  in  evangelio  quod  appellatur  secundum  Hebraeos,  pro  supersub- 
stantiali  pane  repperi  mahar  [zwei  Hdss  moar ,  andere  maar],  quod  dicitur  cra- 
stinum.  In  der  neunten,  von  den  Herren  Staatsr&then  Mühlau  und  Voick  besorgten 
Ausgabe  des  Gesenius  steht  nniD  »morgen«  1  468,  in  Gastle-Michaelis  t«*30  B 
498,  bei  JLevy  '  ^pD  8  ^2^  Vergleiche  die  zweite  Bulaker  Ausgabe  der  tausend 
und  einen  Nacht  4  288,  16:  der  Bedarf  für  morgen  wird  morgen  kommen  =3 
^^  S  v^  ^^    '^j'    ^^9^F^  Matth.  6,  25  ist  weder  icpovotiv  noch  npooeuxeodau 


B82  G5tt.  gel.  Ans.  1887.  Nr.  15. 

es  zur  Zeit  nnmöglich  seio,  das  alte  Testament  anszniegen,  über  die 
Beligion  der  alten  Israeliten  sich  zn  änßern,  die  sogenannten  isago- 
gischen  Fragen  zu  besprechen^  wenn  er  nicht  fttr  seinen  Privatge- 
branch  vorher  den  Text  dieses  alten  Testaments  kritisch  festgestellt 
hat:  wie  er  das  von  heute  anf  morgen  machen  will,  kann  ich  freilich 
nicht  sagen,  and  ich  weift  anf  diesem  Gebiete  doch  so  leidlich  Bescheid. 
Wenn  sich  ein  Vertreter  der  classischen  Philologie  unterstände,  des 
Plinius  Naturgeschichte  aus  einer  getreuen  Wiederholung  der  1469 
von  Hans  aus  Speier  besorgten  Ausgabe  zu  erklären,  ohne  von  Her- 
molaus Barbaras  und  den  vielen  in  Handschriften  und  Parallelen  be- 
stehenden, zur  Emendation  des  Schriftstellers  dienlichen  Httlfsmitteln 
Gebrauch  zu  machen,  so  würde  die  Fakultät,  welche  von  einem  sol- 
chen Subjekte  verunziert  würde,  beim  vorgesetzten  Minister  wegen 
der  Entferaung  des  Burschen  vorstellig  werden.  Die  »Theologen« 
legen  Jahr  aus  Jahr  ein  den  Canon  der  Juden  ans,  ohne  im  Minde- 
sten sich  um  die  Verläßlichkeit  des  ausgelegten  Textes  gekümmert 
zu  haben:  die  sich  am  Nettesten  Vorkommenden  unter  ihnen  naschen 
dann  und  wann  an  den  Materialien  des  systematisch  zu  bearbeiten- 
den kritischen  Apparats.  Dafür  haben  sie  freilich  die  > höhere«  Kri- 
tik, die  Gesinnung  und  die  Dogmatik.  Ein  Artikel  wie  der  des  Pro- 
fessor GFMoore  im  Andover  Review  1887,  93  ff.  ist  in  Deutschland 
meines  Erachtens,  wenn  nicht  unmöglich,  so  doch  allen  den  das  Wort 
führenden  »Sachverständigen«  verschiedener  Tendenz  gegenüber  ohne 
jeden  Erfolg.  In  GroflBritannien  ist  der  Sinn  für  Wahrhaftigkeit  bei 
den  Theologen  wenigstens  dem  neuen  Testamente  gegenüber  vorhan- 
den: man  sehe  nur  die  mühseligen  Arbeiten  der  Oxforder  Gelehrten 
an.  Ich  hatte  1884  eine  große  Ausgabe  des  Psalters  in  Arbeit,  grie- 
chisch, lateinisch,  mit  kritischem  Gommentare  zum  Originale,  dessen 
fünfundzwanzig  erste  Lieder  ich  bereits  hatte  absetzen  heißen,  als, 
von  WWright  angemeldet,  TbKAbbot  in  Dublin  mir  von  einem  dem 
letztgenannten  Unternehmen  ähnlichen  Werke  schrieb,  das  er  selbst  in 
das  Auge  gefaßt  habe.  Ich  bin  darauf  hin  (mein  Brief  vom  6  Oktober 
1884  theilt  dies  noch  nicht  mit)  von  der  Ausführung  meines  Planes 
abgestanden*,  und  habe  (vermuthlich  in  Folge  des  von  dem  berühm- 
ten Herrn  Abraham  Berliner  [meine  Mittheilnngen  3  285]  an  mir 
entdeckten  Neides)  meine  schon  gedrackteu  Textbogen  kassiert,  ohne 
daß  bislang  von  Herrn  Abbot  auch  nur  eine  Zeile  veröffentlicht  wor- 
den wäre:  mein  Opfer  scheint  umsonst  gebracht  worden  zn  sein. 
Schließlich  bin  ich  auf  den  Gedanken  gekommen,  meiner  Septuaginta 
den  nöthigen  Apparat  beizugeben.  Wie  ich  mir  die  Arbeit  gedacht 
habe,  zeigt  mein  Specimen.  Dasselbe  ist  anfänglich  in  dem  Quart 
der  Catena  gesetzt,  nachmals,   als  ich  meinen  Mnth  dem  bekannten 


Panl  de  Lagarde,  Selbstanseige  seiner.  letiten  Schriften.  588 

Pablioum  gegenüber  erlahmen  fühlte,  —  anf  meine  Kosten  (and  bil- 
lig war  die  Geschichte  nicht)  —  in  das  Format  der  Abhandlangen 
nnserer  Gesellschaft  der  Wissenschaften  ambrocben,  and  fflr  1,80  Mark 
der  Nicbtachtnng  der  Zanft  »prostitaiertc  worden.  Zn  lernen  wird 
vielleicht  das  Eine  oder  Andere  aas  dem  Hefte  sein.  2, 18  schreibe 
qua  fttr  quae:  34,  13  von  anten  nndVK  für  näStitt  (die  Schrift  der 
Semiten  ist  nicht  daranf  eingerichtet,  darch  den  heatigen  Bachdrack 
vervielfältigt  za  werden). 

Mir  macht  es  Spaß,  an  Einem  Beispiele  zn  zeigen,  daß  doch 
Manches  anf  einen  richtigen  Text  —  beispielsweise  der  Psalmen  — 
ankommt.  In  dem  za  besprechenden  Falle  lehrt  die  in  ®  stehende 
richtige  Lesart,  daß  der  Psalm  nicht  am  169,  sondern  701  vor  Christas 
geschrieben  ist.  Die  Seligkeit  hängt  nattlrlich  fttr  Niemanden  an  diesei' 
Einsicht:  einem  Theologen  dürfte  sie  nicht  anwichtig  scheinen. 

Man  weiß ,  daß  Psalm  44 ,  20^  ts^it?  tapttl  gelesen  wird  =  an 
einem  Schakalplatze.  An  diesen  Ansdrack  heftete  FHitzig  folgende 
»höhere  Kritik c: 

Eignet  das  Schriftsttück  also  der  makkabäischen  Zeit,  so  kann 
es  sich  nar  noch  am  den  besonderen  Vorgang  innerhalb  dieser 
Periode  fragen,  anf  welchen  dasselbe  Bezag  nimmt  Eine  Schlacht 
ist  verloren  worden ,  aas  der  ttbrigens  der  jüdische  Anftlhrer, 
welcher  hier  spricht, 
[ein  preußischer  General  wtlrde  nach  einer  Niederlage  kaam  Verse 
machen,  am  allerwenigsten  Verse,  wie  die  im  Psalm  44  stehenden] 

entkam,  and  es  läßt  sich  keine  andere  passende  Beziehang  absehn 
[für  Hitzig  nämlich  nicht], 

als  jene  Niederlage  des  loseph  and  Azarias  1  Maccab.  5,  56 — 

62.    Ihr  Ort  war  die  Gegend  von  lamnia,  derjenige*  im  Psalm 

ist  (Vers  20)  eine  Stätte  der  Schakale:  für  die  Erinnerang  nnn 

daran ,  daß  dort  an  der  philistäisch-danitischen  Grenze  Simson* 

einst  seine  300  Fttchse,  d.  i.  Schakale  .  .  . 

[Fachs  ist,   entschaldige  der  Herr,  nicht  Schakal:   II?  =s  'k>u  (trotz 

Herrn  Fleischer  bei  Herrn  JLevy  2  265  noch  1879  TTT^)  =  ^^W  ^\ 

(wozo  D*^»)  nicht  ^T{l6  »:  "^jjl  =  yJLna] 

fieng,   hat  Hapfeld  nar  —  ein  Aasrafangszeichen.      Aber  noch 
Hasselqaist  fand  den  Schakal  hänfig  zwischen  loppe  and  Ram- 

leb* and  znfolge*  von  Seetzen  (Reisen  2  68)  soll  er  »in 

erstaanlicher  Menge«  da  gewesen  sein. 
[Seetzen  — 1806 —  schreibt:  Die  Tschakale,  die  sich  vormals  in  er- 
staanender*  Menge  am  R&mle  aafgehalten  haben  sollen,  müssen  sich 
seitdem  sehr  vermindert  haben.  Wenigstens  hatte  ich  keine  Gelegen- 
heit aach  nar  Einen  za  sehen,  oder  des  Nachts  schreien  za  hOren.] 


684  €Httt.  gel.  Arn.  1887.  Nr.  16. 

Die  Gegend  konnte  somit  passend  vor  andern  Stätte  der  Scha- 
kale heißen:  irgendwo  aach  mafi  der  Ort  des  Treffens  gewesen 
sein : 
[wie  weise:  aber  der  Psalm  redet  von  gar  keinem  Treffen] 

wohin  nnn  verlegt  dasselbe  der  Mann 
[Hnpfeld] , 

welcher,  ohne  besser  za  machen,  tadelt? 
Hier  ergießt  die  in  meinen  Mittbeilangen  3  297  genannte  Tonne  ihr 
würziges  Naß. 

Nnn  übersetzt  aber  ®  jenes  D'^an  durch  xaxaösmgy  das  heißt,  er 
hat  D'^DKti  vorgefunden  (Ezechiel  24,12),  in  dem  ihm  lfi(  nicht  Lese- 
mutter war:  vergleiche  Isa.  3,  26  ^3K  taiCBivmd^ifovtMj  Threni  2,5 
tWt^  n^^ttl*)  taitBivovndvi^  xal  tataytsi,v(oiidvi^.  Ezdras  12, 13  wird 
l'^srn  y^^  von  Lucian  ^riyil  rov  dgaxovtogy  von  ®  xtiyij  x&v  6vk&v 
ttbersetzt:  Letzterer  fand  also  "p^nn,  und  deutete  ^)i.  Die  Phrase 
ü^^r\  Dpttä  nd'n  ist  artikellos  wie  Begn.  y  22,  27  die  andere  b'^dKn 
frb  Dnb  und  leremias  8,  14  die  dritte  mh  "^  ^^ßtn,  und  der  ge- 
meinte Ort  ist  Jerusalem,  in  dem  Ezechias  von  Sennacherib  einge- 
schlossen war:  vergleiche 

Psalm  44,  17  Sj-nÄW  t|nrro      Isaias  37,  12  ^^W  bs  tiK  mr^  Toto 

önnb  nb«  'i««  Tnrw 

Isaias  37,  23  WnV}  Pjem  "^  inK 
Isaias  37,  24  '^sh»  Wonn  V'^»  TÄ 
Das  '^1^'^!  Q*!^?  spricht  nicht  gegen  die  Zeit  des  Ezechias,  in 
der  ludaea  voll  Juden,  Samaria  voll  Samariter  war,  wie  in  der  Mao- 
cabäer  Tagen.  Psalm  44,  18  rtthmt  die  Jabwetreue  des  Volks:  das 
paßt  auf  die  Zeit  des  Ezechias:  der  Psalm  fällt  auf  den  Tag  vou 
Isaias  37,  14>). 

1)  Psalm  46  gehört  nach  Isaias  37, 86.  npil  1D''W»1  I»»«  37,  36  =  ni3sS 
*)pl  ^salm  46,  6.  Psalm  46,  9  ist  t3(2f  ^on  niDB^  vielleicht  aus  dem  yorherge- 
henden  Dtt^  entstanden :  ni  ist  zu  n&*)D  zu  ergänzen.  Die  That  Gottes  war  keine 
1^^^,  kein  orj^eiov,  keine  Bestätigung  f&r  Glaubende,  sondern  ein  n^lO»  ^^^  '^' 
pac  für  Nicht-Glaubende :  meine  armmtischen  Studien  §  24^.  Unbegreiflich,  daS 
aus  i&  nicht  längst  nfilD  hergestellt  ist. 

Seit  1878,  in  welchem  Jahre  ich  das  erste  Heft  meiner  Semitica  herausgab, 
ist  die  Grundlage  für  das  Verständnis  von  Isaias  7  gelegt.  Die  TtuTj)  ist  des 
Achaz  Königin.     Ezechias  war,   wenn  man  Regn.  S  18,  13  und  2  zusammenhält,  | 

701,  als  Sennacherib  vor  lerusalem  erschien,  rund  24  -f-  15  =  39  Jahre  alt,  also  | 

740  geboren.  Isaias  7,  1  wird  nicht  genau  datiert:  ich  werde  mich  hüten,  mich 
in  die  Händel  der  Assyriologen  zu  mischen.  Jene  24  +  15  Jahre  als  richtig 
vorausgesetzt,  träfe  des  Sohnes  der  noSy  C^eburt  auf  740,  wenn  Ezechias  dieser 
mühjf  ^^^  ^B^'    I^Aun  verstände  man  auf  einmal  den  Kehrvers  des  Psalms  46 


Paul  de  Lagarde,  Selbstanzeige  aeiner  leUten  Sohriften.  686 

Da  man  heat  zu  Tage  immer  auf  ttbelsfcen  Willen  bei  den  Le- 
sern reehnen  muß;  verwahre  ich  mich  —  am  mir  eine  Antikritik  za 
ersparen  —  schon  jetzt  gegen  die  Unterstellong,  als  ob  ich  die  von  @2@ 
gebotenen  Varianten  stets  dem  Texte  äRs  vorziebcn  wolle,  and  mache 
daraaf  aufmerksam,  daß  man  @  müsse  lesen  können,  ehe  man  ihn  ver- 
wendet: etwa  Psalm  75,  6  ist  xaxä  tov  ^sov  »=  ^^,  vgl.  Nam. 
12,  8  21,7  lob  19, 18  Psalm  50,20  78, 19  and  Deut.  32, 4  Begn.  a 
2,  2  KKircher  1269.  Ich  verwahre  mich  aach  gegen  die  andere 
Unterstellang,  als  ob  der  wahre  Text  ohne  gelegentlich  gegen  alle  Zeu- 
gen angehende  Gonjectur  gefunden  werden  könne.  Ich  setze  zum 
Beispiel  ohne  Bedenken  Psalm  50,  23  aus  Vers  14  "in:  ü)iWm  flir 
trj*!!  taten,  und  52,3  aus  Vers  9*  3Ä,  9*  S  TJ«:?  aha  fllr'nlaan  TVSyi^ 
wie  48i  3  l(W)  für  l^ta  (Hafis  385,  2'  der  Zählung  Sudis,  deutsch 
von  Bflckert  in  meinen  Symmicta  1  182:  vgl.  Psalm  69,14  Isa.49,  8 
58,5  61,2),  und  bedaure,  daß  ich  die  nach  50,21  fehlende  nrwr\ 
nicht  schaffen  kann.  Vieles  im  Canon  der  Juden  ist  hoffnungslos 
verderbt. 

Die  Abhandlung  über  Purim  versucht  den  Namen  Purim  als  aus 
persischem  Fröharan  entstellt  zu  erweisen:  was  über  den  Kalender 
der  Perser  gesagt  wird,  empfehle  ich  der  Prüfung  aller  derer,  die 
in  der  Geschichte  etwas  mehr  sehen  als  Notizen,  und  die  vom  Alter- 
thume  mehr  erwarten,  als  einen  nachtschwarzen  Rahmen,  von  dem 
das  Bild  ihrer  eigenen,  in  freundlicher  Aufklärung  und  mit  Menschen- 
liebe flbernähtem  Hasse  lenchtender  Persönlichkeit  gehoben  wird.  »Wie 
wir  es  dann  so  herrlich  weit  gebracht«.  Das  mit  Vokalen  verseh- 
bare Cicero-Hebräisch  der  akademischen  Druckerei  stammt  aus  der 
Periode  der  Lias:  im  Reindrucke  gibt  das  abgenutzte  Zeug  mitunter 

mit  seinem  ^^t^y  nM3^  TiyiV'  Jahwe,  der  Alles  was  er  yerheiSen  hat,  werden 
läßt  (davon  tr&gt  er  ja  den  Namen),  hat  vor  der  Geburt  unseres  Königs  ihm  den 
Namen  Emmanuel  beilegen  heiten:  jetzt  zeigt  sich,  daS  7^  *ÜDU*  ^^  ^^^^  ^o 
tiefsinnig  and  correct  wie  das  7')nB^  =  {jtrcaTCB^uxeuiJi^ov  Psalm  1,  S  =  aas  Car* 
rhae  nach  Ghanaan,  von  da  nach  Aegypten,  von  Aegypten  abermals  nach  Cha- 
naan,  dann  nach  Babylonien,  und  ein  drittes  Mal  nach  Ghanaan  „verpflanzt*^. 
Aber  selbst  wenn  nicht  Ezechias  der  Emmanuel  genannte  Sohn  der  T\u7\J  w&re, 
die  Signatur  der  Epoche  des  Isaias  sind  die  S&tze  2W  ItW  ^^^  hwi210)jt  und 
unser  Psalm  wiese  durch  seinen  Kehrvers  doch  auf  jenes  alte  Wort  des  Isaias, 
des  Davididen. 

Jene  Berechnung  däucht  mich  so  gewis  wie  die  andere,  in  meinen  Vorlesun- 
gen vorgetragene,  daß  die  Tempelweihe  des  Psalm  30  die  unter  Darius  den  Ersten 
fallende  ist,  und  daB  die  70  Jahre  Exil  von  dem  Aufhören  des  Opferfeuers  586 
bis  zu  dem  Wiederanzünden  dieses  Feuers  im  Jahre  616  laufen:  ein  Theologe 
sieht  das  Elend  in  dem  Fehlen  der  geistigen  Heimath,  nicht  in  dem  Verluste  des 
irdischen  Vaterlandes.  Auf  Zustimmung  der  Herren  Dillmann  und  Noeldeke  habe 
ich  hierf&r  natürlich  nicht  zu  rechnen :  doch  das  schadet  wenig. 


586  Gott.  gel.  Ans.  1887.  Nr.  15. 

Punkte  her,  die  in  den  Correctnrbogen,  mttde  wie  sie  waren ,  nicht 
anfBtanden,  and  umgekehrt:  nm  der  Kritiker  willen,  denen  die  Wahr- 
heit heilig  ist  y  bemerke  ich ,  daB  es  56, 5  '^^P ,  nicht  '^'n!!?  heiften 
mnft.  Jetzt  werden  nun  vermnthlich  unsere  neuen  (Drngulinschen) 
Gorpustypen  den  Einen  Punkt  des  >^  nicht  in  allen  Abdrücken  der 
Bogen  zeigen.  Also  Veranlassung  zu  tadeln  bleibt  zu  ihrer  Freude 
jenen  Gelehrten  dennoch.  Einer  nicht  entschuldbaren  Flüchtigkeit  ist 
die  falsche  Bubricierung  44,  23  24  entsprangen :  natürlich  gehören 
zur  Nummer  5  bei  den  Juden  »Vögel  und  Fischec,  während  die 
Landthiere  vor  den  »Menschen«  genannt  werden  müssen.  Die  Rech- 
nung wird  dadarch  noch  ungünstiger  für  die  jüdische  Urkunde,  die 
Thatsache  ist  selbstverständlich  nach  meinem  Psalterium  Hieronymi 
163  (oben)  weiter  auszuführen. 

Als  mein  Heft  erschienen  war,  wies  mir  QHoffmann  unter  dem 
30  Juni  1887  ans  Assemanis  BO  8  2,  23  h««QA  als  convivia  Mago- 
rum  Seleuciae  nach:  über  den  Wechsel  von  n  und  n  handele  NOl- 
deke,  mandäische  Grammatik  59  ff.  Den  Mohtt  alMohtt  besitze  ich 
als  ein  dankenswerthes  Oeschenk  meines  Schülers  WRSmith:  ich 
hatte  ihn  thörichter  Weise  über  ^  nicht  nachgeschlagen,  und  trage 
hier  aus  ihm  nach,  worauf  GHoffmann  mich  aufmerksam  gemacht 
(2  1638): 

Diese  Tradition  nachzuweisen,  habe  ich  jetzt  keine  Mnfte:  ich 
bitte  nur,  von  Lane  1333^  zu  lernen,  daß  der  Jj^  der  Kleider  eine 
charakteristisch  jüdische,  den  Arabern  misfallende  Sitte  war.  Die- 
selbe ist  zu  den  Juden  —  was  sehr  für  meine  Auffassung  des  ^ 
paftt  —  von  den  Persern  gekommen:  Freytag  2  301  genügt  zum  Er- 
weise, daß  i^Xm  aus  «t«>JUM  oder  «^oami  entstanden  ist:  vermuthlich  ist 
H^IjüyM  (Dozy,  dictionnaire  des  vStemens  201)  irgendwie  verwandt 
Das  von  Kafägt  118  besprochene  Wort  ist  bereits  von  Oauhart  rich- 
tig aufgefaßt  worden.  Ich  hoffe,  die  interessante  Vokabel  in  ande- 
rem Zasammenhange  ausführlich  bebandeln  zu  können:  man  muß 
tief  in  die  Realien  eingehn ,  um  die  Worte  zu  verstehn. 

Ich  habe  Veranlassung  zu  der  Erklärung,  daß  ich  26'  meiner 
Abhandlung,  wie  eigentlich  was  ich  geschrieben  habe,  hätte  ohne 
eine  Erinnerung  meinerseits  zeigen  sollen,  recht  viele  Parallelen  zu 
der  von  Bfirünt  erzählten  Geschichte  kenne.  Ich  esse  nicht  gerne 
lactuca  virosa,  daher  diese  Warnung  für  die  Freande  derselben. 

Paul  Haupt  hat  mich,  nachdem  er  meinen  Aufsatz  gelesen,  darauf 
aufmerksam  gemacht,  daß  nach  Herrn  EMeyer,  Geschichte  des  Alter- 
thums  1  506,  »das  Avesta  ans  Ende^  nicht  an  den  Anfang  der  Reli- 


Paal  de  Lagarde,  Selbstanzeige  seiner  letzten  Schriften.  587 

gioDsentwicklciDg  gehörte:  »es  wird  in  der  späteren  Arsakidenzeit, 
und  zwar  yennnthlich  zanächst  in  dem*  bekanntlich  unter  eignen 
Königen  stehenden  Persis,  ttber  dessen*  Geschichte  in  dieser  Zeit 
wir  leider  gar  nichts  wissen,  entstanden,  unter  den  Sasaniden  zum 
Abschluß  gebracht  seine  Vergleiche  meine  Mittlieilungen  1  149 
(Mitte)  [Anfang  1883],  Beiträge  10,18  (»nach  Lucullns«)  18,33  25, 
20  28,25  46,7  [1868],  gesammelte  Abhandlungen  45,10  46,2'  62,8 
180,12  [1866].  Haupt  verweist  mich  in  Betreff  des  cilicischen  San- 
des auf  SASraiths  eben  erschienenes  Buch  »die  Keilinschriften  Asur- 
banipals  (668 — 626  vor  Christus)€,  in  dem  in  einem  Texte  Sarda- 
napals  16  =  17,  75  Sandasarmg  als  König  Giliciens  genannt  wird, 
in  welchem  Namen  wohl  Udvdrig  stecke.  Haupt  citiert  mir  weiter 
EMeyers  Aufsatz  ZDMG  81  736—740. 

Einige  Leser  meiner  Abhandlang  tlber  Pnrim  haben  dieselbe 
schwierig  gefunden:  es  liegt  mir  daran,  den  diesen  Lesern  gleich- 
werthigen  Personen  einen  Leitfaden  für  das  Studium  meiner  Schrift 
zu  geben. 

Das  Buch  Esther  liegt  uns  in  mehr  als  .Einer  Gestalt  vor :  wei- 
tere Formen  der  Sage  sind  uns  —  nicht  als  eigene  Bücher  —  bei 
arabischen  Schriftstellern  erhalten. 

Der  Name  Purim,  der  in  dem  canonischen  Buche  Esther  nicht 
ausreichend  motiviert  wird,  ist  uns  als  Purim,  Fuhr,  Ful^r,  OgovQcUa, 
OovQÖaia  bekannt,  die  beiden  letzt  genannten  Vokabeln  sind  ara- 
mäische Plurale.  OQovgaia  findet  sich  auch  bei  losephus.  Das  ara- 
bische Ffir  bedeutet  das  Neujahrsfest.  Richtig  wird  nur  diejenige 
Deutung  Einer  dieser  Formen  sein,  die  auch  den  Übrigen  mit  gerecht 
wird. 

Der  persische  Kalender  hat  sich  im  Laufe  der  Jahrhunderte 
verschiedentlich  geändert.  In  Einer  seiner  Kedactionen  sind  die 
Farwardtgfin  (das  Fest  der  Farwar  oder  der  den  Individuen  des 
menschlichen  Geschlechts  zu  Grunde  liegenden  Ideen)  das  Neujahrs- 
fest. Der  Name  Farward  =  Farwar  =  Frawa&i  lautet  in  Einem 
eranischen  Dialekte  Frohar. 

Dies  Frohar  ist  meiner  Ueberzeugung  nach  as  Fuhr  Fnkr  Fdr. 

Der  Kalender  der  Perser,  der  jetzt  ganz  oder  zum  Theil  noch 
gilt,  ist  in  dem  Reiche  der  Achaemeniden ,  deren  Inschriften  andere 
Monatsnamen  als  die  heute  üblichen  zeigen,  nicht  gebraucht  worden. 

Dieser  jetzt  geltende  persische  Kalender  ist  ein  d'€oXoy(y6ii$vov 
der  SasanidenZeit,  dessen  Bedeutung  sich  errathen  läßt. 

Aber  dieser  Kalender  hat  recht  zahlreiche  ältere  Bestandtheile 
in  sich  aufgenommen:  zu  diesen  gehört  die  echt  zoroastrische  Lehre 
von  den  Perioden  der  Schöpfung,  welche  schon  in  Genesis  1,  um  450 


688  Gott,  geh  Ans.  1887.  Nr.  16. 

vor  GbriBttts,  bekämpft,  also  als  vorbanden  voraosgeeetzt  wird:  zu 
diesen  gebort  aacb  der  Glaube  an  die  Farwar,  der  eine  Qrnndveste 
der  Weltanscbaonng  Zoroasters  ist. 

In  einer  im  Talmud  erhaltenen,  also  in  die  Epoche  der  letzten 
Arsaciden  oder  der  Sasaniden  gehörigen  Liste  der  persischen  Hanpt- 
feste  erscheinen  Nansardi  (das  Nenjahrsfest) ,  Ttrag&n  (Ttrfest,  im 
vierten  Monate),  Mt^Qaxava  (Mitbrasfest,  im  siebenten  Monate),  end- 
lich "p^nita  oder  psi'itt.  Letzteres  scheint  bis  auf  weiteres  mit  dem  Ffir 
Fuhr  Fuhr  der  Araber,  also  mit  den  D'^^'lfi,  OavgScua^  9(fovQ€cuc  der 
Juden  identisch :  ich  deute  F[rjöhar&n  ^  Farwar[djfest,  das  danach  in 
der  (unbekannten)  Heimath  jener  Liste  noch  nicht  Neujahrsfest  gewescA 
wäre,  sondern  den  alten  Platz  im  achten  Monate  des  persischen  Jah- 
res inne  gehabt  hätte.  Nehmen  wir  dies  an,  so  ist  die  Reihenfolge 
der  vom  Talmud  genannten  (groften)  Feste  der  Perser  der  Folge  der 
Monate  entsprechend. 

Das  Farwar[d]fest ,  das  ein  Totenfest  eigenthfimlicher  Art  war, 
gieng  nach  Armenien  über,  natürlich  unter  den  Arsaciden,  die  in 
Armenien  eine  Secundogenitnr  hatten.  Der  Name  wurde  dort  um* 
gedeutet:  der  Monat  H&otiz  ist  der  Monat  der  Frddtan  s=s  t&v  vbq- 
xdQoyi/:  HBotiz  ist  ein  Genetivus  Pluralis,  hBot  »=  fröd. 

Kein  wirklich  gefeiertes  Fest  dauert  irgendwo  und  irgendwann 
in  der  ursprünglichen  Gestalt.  Ostern,  Pfingsten,  Weihnachten  haben 
eine  lange  Geschichte:  aus  ihrer  jetzt  in  Deutschland  gültigen  Be- 
deutung darf  man  nicht  auf  ihren  ersten  Sinn  scblieften.  Was  von 
ihnen ,  gilt  auch  von  den  Heiligenfesten ,  gilt  überall.  Darum  kann 
auch  Purim  einer  altEranischeu  Feier  seinen  Ursprung  verdanken, 
ohne  bei  den  Juden  den  Sinn  dieser  altEranischeu  Feier  zu  haben. 

Aber  Purim  —  der  Mardochaeustag  —  wird  in  den  verschiede- 
nen die  Geschichte  der  Esther  behandelnden  Schriftstücken  nicht  als 
Fest,  und  nicht  als  eine  Thatsache  der  Geschichte  behandelt.  Jene 
Schriftstücke  sind  rein  willkührliche  Compositionen,  zur  Erheiterung 
der  sich  ihrer  bedienenden  Juden  bestimmt,  und  darum  gerade  den 
schlechtesten  Seiten  in  der  Natur  dieser  Juden  zu  gefallen  trachtend. 
Diese  Schriftstücke  sind  mit  den  Arbeiten  der  von  Lucian  in  der 
AXtfi^g  t6to(fia  verspotteten  Romanschreiber  und  Novellisten  des 
späteren  Hellenismus  gleichwerthig,  vielleicht  auch  ungefähr  gleich- 
zeitig. 

Die  Onomastica  sacra  erschienen  zum  ersten  Male  im  Jahre  1870. 
Sie  sollten  sowohl  meiner  Ausgabe  der  LXX  wie  meinen  Studien  se- 
mitischer Grammatik  dienen.  Das  mühseligster  Arbeit  bis  zum  Bande 
volle  Buch  ist  unbeachtet  geblieben,  der  gröAeste  Tbeil  der  Auflage 
an  preuftische  Gymnasien  verschenkt  worden ,  in  deren  Bibliotheken 


Paul  de  Lagarde,  Selbstanzeige  flreiner  letzten  Schriften.  589 

68  seitdem  so  nogenatzt  gestanden  hat  and  weiter  stehn  wird  —  ne- 
ben Lneian  nnd  vielem  andern  —  wie  ein  Nicol  oder  ein  Perrot- 
scher  Gasofen  bei  den  Anwohnern  des  Gap  Horn  stehn  würde.  Kein 
Mensch  hat  mir  je  für  die  beschwerliche  Gitiernng  der  Bibelstellen 
nnd  fttr  die  Register  gedankt. 

Jetzt  ist  zum  ersten  Male  des  Easebius  Bach  über  die  Orte  Pa- 
laestinas  aas  dem  Archetypus  aller  unsrer  Abschriften  herausgegeben 
worden.  Woraufhin  Gustav  Parthey  in  die  Berliner  Akademie  ge- 
wählt worden  ist,  weiß  ich  nicht:  unter  allen  mir  bekannten  Arbei- 
ten des  Mannes  ist  die  mit  Larsow  zusammen  verttbte  Ausgabe  des 
beregten  Buches  des  Eusebius  wohl  die  erbärmlichste:  man  kann 
das  schon  daraus  schließen,  daß  sie  von  den  »Theologent  so  viel 
»gebraucht«  wird.  Eusebius  folgt  der  Reihenfolge  der  biblischen 
Bücher:  nur  wenn  diese  Reihenfolge  bewahrt  wird,  wissen  wir  von 
welchem  Orte  Eusebius  redet:  Parthey  -  Larsow  haben  Alles  in  die 
alphabetische  Reihenfolge  umgestellt.  Wenn  Parthey  die  römische 
Handschrift  verglichen  hat,  so  weiß  ich  nicht  was  vergleichen  heißt. 
Mein  Register  ist  in  Folge  meiner  Collation  um  viele  Namen  erleich- 
tert, um  einige  bereichert  worden.  Erst  jetzt  wird  man  anfangen 
können,  das  —  übrigens  sehr  überschätzte  —  Buch  für  die  Wissen- 
schaft zu  benutzen.  Der  lateinische  Theil  der  ersten  Ausgabe  ist 
im  wesentlichen  unverändert,  verbessert  nur  dadurch,  daß  die  An- 
merkungen, welche  früher  um  der  Unfähigkeit  der  Göttinger  Setzer 
'Willen  in  den  zweiten  Band  gebracht  worden  waren,  jetzt,  da  ich 
reichlich  gute  Setzer  erzogen  habe,  unter  dem  Texte  stehn.  Daß 
sehr  viele  alte  Handschriften  der  lateinischen  Stücke  vorhanden  nnd 
von  mir  nicht  benutzt  sind,  weiß  ich  selbst.    Oben  579,  14  ff. 

Wider  Willen  habe  ich  bei  diesem  Werke  den  am  Ende  des  er- 
sten Bandes  meiner  Mittheilungen  und  sonst  für  die  Nachwelt  auf- 
bewahrten Herren  eine  Freude  gemacht.  Ich  hatte  eigentlich  —  aus 
taktischen  Gründen  —  die  Absicht,  die  Onomastica  als  einen  Theil 
einer  größeren,  aus  drei  Bänden  bestehenden  Sammlung  iMonu- 
menta«  erscheinen  zu  lassen.  In  diesem  Denken  ist  der  Druck  des 
Bandes  mit  einer  schon  in  den  Actis  Sanctorum  veröffentlichten,  von 
mir  nach  dem  einzigen  vorhandenen,  in  der  Barberiniana  zu  Rom  auf- 
bewahrten Codex  revidierten  Vita  Gregorii  Armeni  begonnen  worden : 
Agathangelus  sollte  den  zweiten,  die  Acten  der  Ripsima  sollten  den 
dritten  Band  beginnen.  Ich  wünschte  dadurch,  daß  ich  die  drei  nur 
in  Vergleichung  mit  einander  zu  benutzenden  Stücke  in  drei  Bände 
vertheilte,  das  Lesen  derselben  zu  erleichtern.  Ich  konnte  den  Plan 
nicht  darchftthren ,  und  obgemeldete  Herren  werden  nun  gerne  die 
Gelegenheit  zu  einem  Tadel  darüber  benutzen ,  daß  in  den  Onoma- 


690  Q6tt.  gel.  Adz.  1887.  Nr.  15. 

stica  sacra  ein  nicht  in  dieselben  gehöriges  Stück  steht.  Wenn 
meine  Bücher  mir  die  auf  sie  verwendeten  Kosten  wieder  einbräch- 
ten, würde  ich  —  des  mögen  jene  Leute  versichert  sein  —  die  er- 
sten anderthalb  Bogen  haben  Umdrucken  heißen. 

In  den  Onomastica  steht  sehr  viel  Wichtiges,  aber  man  muß  et- 
was wissen,  um  es  finden  zu  können,  und  man  muß  sich  sehr  ernst- 
licher Arbeit  unterziehen,  um  das  Gefundene  zu  nützen.  Unsere 
Exegeten  des  alten  Testaments  aber  können  nichts  leiden  was  sich 
nicht  naschen  läßt,  und  haben  gar  nicht  die  Absicht  zu  wissen,  son- 
dern wollen  irgend  welche  dogmatische  Latwerge  kochen. 

Der  Plan,  jene  Monumenta  vorzulegen,  ist  nicht  aufgegeben 
worden. 

Die  Arbeit  des  Herausgebens  ist  durch  meine  Onomastica  nicht 
gethan,  sondern  angefangen:  ich  lege  nur  einiges  Material  vor,  des- 
sen der  Arbeiter  nicht  entrathen  kann.  Die  Accente  sind  nicht  zuver- 
lässig. In  sich  folgerichtig  ist  die  Behandlung  des  Textes  nicht  durch- 
weg: wer  aus  den  auf  den  einzelnen  Bogen  vermerkten  Zeitangaben 
ersehen  will,  über  wie  lange  Zeit  der  Druck  sich  in  Folge  der  per- 
sönlichen Verhältnisse  des  Herausgebers  hingeschleppt  hat,  wird  dies 
entschuldigen.  Vom  Juni  1885  bis  zum  August  1887,  wann  es  eben 
gieng  I ! 

Der  zweite  Band  der  Mittheilungen  enthält  erstens  eine  Reihe  von 
mir  in  Zeitschriften  geschriebene  Artikel,  auf  die  ich  sowohl  wegen 
ihres  Inhalts,  als  weil  sie  für  mich  charakteristisch  sind,  Werth  lege. 

Er  enthält  zweitens  —  wie  auch  der  erste  Band  dies  that  — 
bisher  noch  nicht  bekannt  gewordene  Arbeiten.  Nämlich  1.  Erinne- 
rungen an  Friedrich  Rückert:  2.  Lipman  Zunz  und  seine  Verehrer: 
3.  ein  Eine  Seite  langes  Corollarium  zu  dem  oben  besprochenen  Spe- 
cimen :  4.  des  Hieronymus  Uebertragung  der  griechischen  Uebersetzung 
des  lob:  5.  Juden  und  Indogermanen,  eine  Studie  nach  dem  Leben: 
6.  aus  Prolegomenis  zu  einer  vergleichenden  Grammatik  des  Hebräi- 
schen, Arabischen  und  Aramäischen.  233  der  388  Seiten  sind  nur 
in  diesem  Bande  zu  finden. 

Davon  ist  1  das  nnanstößigste ,  4  das  unvollkommenste  Stück: 
ersteres  mit  Symmicta  1  177  ff.  zusammenzuhalten. 

Hieronymus  hat  die  alte  griechische  Uebersetzung  des  lob  in 
das  Lateinische  übertragen.  Von  dieser  dem  Septnagintakritiker  un- 
entbehrlichen Arbeit  sind  meines  Wissens  nur  zwei  Abschriften  be- 
kannt, deren  erste  in  Oxford  liegt,  deren  andere  ich  in  Tours  wie- 
dergefunden habe.  Eine  musterhaft  sorgfältige  Abschrift  des  Oxfor- 
der Codex  hat  mir  Herr  Professor  Driver  zum  Geschenke  gemacht, 
eine   Vergleichung   des  Mannscripts    von  Marmoutier-Tonrs  LDelisle 


Paul  de  Lagarde,  Selbstanzeige  seiner  letzten  Schriften.  591 

mit  oft  erprobter  Güte  durch  Herrn  Goudere  für  mich  anfertigen 
heiften.  Die  Ansgabe  Martianays  erwies  sich  als  ganz  nnzuverlässig, 
die  Hand  des  Hieronymns  als  vorläufig  nicht  herstellbar.  Ein  wich- 
tiger Schritt  vorwärts  ist  gemacht:  wir  wissen  jetzt  was  die  zwei 
erhaltenen  Handschriften  bieten,  auch  an  Asterisken  und  Obelen. 

Die  Stttcke  2  und  5  beziehen  sich  auf  einander.  Es  hatte  drei 
Rabbinern  gefallen,  die  Promotionsschrift  meines  Schttlers  Ludwig 
Techen  zu  einem  Angriffe  auf  mich  zu  benutzen :  denn  Techen  war 
nur  Vorwand.  Dieser  Angriff  wäre  danach  angetban  gewesen ,  den 
Staatsanwalt  mit  den  Herren  bekannt  zu  machen.  Ich  hielt  es  ftlr 
der  Sache  förderlicher,  statt  das  formelle  Recht  anzurufen,  sachlich 
zu  verfahren,  und  den  verstorbenen  Lipman  Zunz,  den  Teeben  ver- 
unglimpft haben  sollte,  einem  gröfieren  Publicum  vorzustellen.  Ich 
schicke,  mich  an  das  gegen  Techen  Gesagte  erinnernd,  ein  Paar 
Worte  vorauf,  um  meine  Ansichten  über  Promotionsschriften  anzuge- 
ben und  zu  erklären.  Es  ist  bekanntlich  frtther  Brauch  gewesen, 
die  Promotionsschriften  von  dem  Praeses  des  Verfahrens,  einem  P.  P.  0., 
verfassen,  von  dem  Promovenden,  der  als  Respondens  auftrat,  nur  in 
öffentlicher  Disputation  unter  des  Verfassers  Schutze  vertheidigen  zu 
lassen.  Da  bekam  man  natürlich  nur  mehr  oder  weniger  gute  Ar- 
beiten als  Dissertationen.  In  dem  dritten  Viertel  unsres  Jahrhunderts 
wurde  es  wenigstens  in  gewissen  Kreisen  tiblich ,  dem  Promovenden 
das  Thema  zu  stellen,  und  des  Promovenden  Versuche  so  lauge  in 
einem  Seminare  oder  einer  sogenannten  Gesellschaft  zu  besprecben 
und  durch  des  jungen  Mannes  Gommilitonen  besprechen  zu  heißen, 
bis  etwas  Vorzügliches  hergestellt  war.  Nach  meiner  Ueberzeugung 
stammt  die  Unmöglichkeit ,  in  der  wir  uns  zur  Zeit  finden ,  Univer- 
sitätsprofessuren,  die  sich  mit  Geisteswissenschaften  abzugeben  haben 
—  von  den  Naturwissenschaften  darf  ich  nicht  reden  — ,  wirklich 
gut  zu  besetzen,  gar  sehr  mit  von  den  ausgezeichneten  Dissertationen 
der  ihrem  Lebensalter  nach  jetzt  in  Betracht  kommenden  Philologen 
und  Historiker  her.  Wer  als  Student  alle  Kraft  zweier  Jahre  auf 
die  Bearbeitung  eines  nothwendiger  Weise  ganz  speziellen  Themas 
verwendet,  wird,  da  die  Hülfe  ja  nicht  zu  fehlen  pflegt,  in  den  mei- 
sten Fällen  eine  gute  Arbeit  liefern,  aber  eine  Orientierung  über  das 
ganze  Gtebiet  seiner  Wissenschaft  nicht  gewinnen,  und  an  allgemeiner 
Bildung  Mangel  leiden.  Nehmen  wir  etwa  an,  Jemand  sammele  als  Sta- 
dent  griechische  Papyri  (Kaufurkunden  and  Aebniiches)  oder  Regesten 
eines  Hochstifts,  so  hört  er  damit  auf,  ein  Historiker  zu  sein :  er  wird 
ein  branchbarer,  fUr  die  Gesammtwissenschaft  anders  denn  als  Hand- 
langer nicht  zu  verwendender  Tagelöhner  werden.  Ich  stelle  in  Folge 
dieser  meiner  Ansichten  und  Erfahrungen  meinen  Scbttlern  stets  The» 


692  Gott.  gel.  Ans.  1887.  Kr.  16. 

mata,  die  sie  nicht  sehr  belasten ,  nnd  ich  helfe  ihnen  niemals :  mit 
den  Dissertationen  einer  Fakultät  mnS  es  meines  Erachtens  wie  mit 
den  Abbandinngen  einer  Zeitschrift  gehalten  werden:  eine  Fakultät 
ist  wie  eine  Redaction  für  nichts  verantwortlich  als  dafttr,  daft  das 
Gelieferte  von  Methode^  Fleift  und  cogoitio  cogniti  zenge:  fttr  Alles 
Einzelne  steht  der  Verfasser  selbst  ein,  wie  man  denn  die  Menschen 
gar  nicht  früh  genng  darauf  hinweisen  kann,  daft  sie  für  alles  was 
sie  thnn,  ganz  allein  aafznkommen  haben.  Wohin  wttrde  es  führen, 
wenn  wir  Ordinarien  jeden  Satz,  jedes  Citat  der  von  ans  gebilligten 
Dissertationen  selbst  za  verantworten  hätten  ?  Ich  wttrde  nie  wieder 
eine  Dissertation  annehmen,  wenn  solche  verrttckte  Forderung  von 
andern  als  Rabbinern  an  mich  gestellt  wttrde.  Techen  sollte  sagen, 
was  in  zwei  Goettinger  Handschriften  stehe:  weiter  reichte  sein  Auf- 
trag nicht:  diesen  Auftrag  hater,  so  gut  er  konnte,  gut  erledigt  DaB 
er  ttber  Zanz  so  urtheilte  wie  er  geurtheilt  hat,  ttberraschte  und  er- 
freute mich:  ich  sah  daraus,  daß  der  junge  Mann  selbstständig  und 
richtig  (das  heiftt,  nicht  nach  irgend  welcher  vorgefaßten  Meinung, 
sondern  sachgemäß)  zu  denken  verstand.  In  Beantwortung  der  ge* 
gen  Techen,  mich  und  meine  Fakultät  gerichteten,  geradezu  pöbel- 
haften Angriffe  habe  ich  nun  Proben  aus  des  augeblich  mit  Unrecht 
niedrig  gewertheten  Zunz  Uebersetzungen  der  synagogalen  Poesie 
vorgelegt,  welche  Proben  jeder  Bierzeitung  Ehre  machen  wttrden. 
Der  Leeer  mag  entscheiden,  ob  Ich  Recht  habe  oder  die  drei  Rabbiner. 

Die  Poesien  des  verstorbenen  Zunz  waren  von  Herrn  Abraham 
Berliner  als  etwas  ganz  besonders  Nettes  neu  gedruckt  worden  —  ge- 
wis  ein  wonderguter  Beweis  fttr  die  Urtheilslosigkeit  des  Herrn  Ber- 
liner und  seines  Kreises  — :  so  kam  es,  daß  ich  mich  auch  mit  Herrn 
Berliner  zu  beschäftigen  hatte.  Zufälliger  Weise  gelangte,  als  ich 
den  Aufsatz  schrieb,  in  einer  in  New  York  veröffentlichten  Schrift  fol- 
gender Satz  des  Herrn  Akademiker  Dillmann  mir  zu  Gesichte: 

Obwohl  es  an  einer  kritischen  Aasgabe  der  LXX  und  der  Tar- 

gume  zu  den  Nebiim  und  Eetobim,  sowie  des  Targnms  Jonathan 

zum  Pentateuch  noch  fehlt 

Darin  lag  implicite  deutlich  ausgesprochen,  daß  wir  vom  soge- 
nannten Targum  des  Onkelos  eine  »kritischec  Ausgabe  besitzen.  Als 
solche  konnte  nach  Lage  der  Verbältnisse  Herr  Dillmann  nur  das 
Machwerk  jenes  Herrn  Berliner  bezeichnen  wollen,  mit  dem  ich  mich 
bei  Gelegenheit  der  Besprechung  Znnzens  gerade  zu  beschäftigen  ge» 
habt  hatte.  Das  Urtbeil  war  so  ungeheuerlich  falsch,  daß  icb  es  fUr 
Pflicht  hielt,  ttber  diese  so  von  einem  auf  einer  Höhe  stehenden 
Manne  gelobte  Ausgabe  des  Onkelos  die  Wahrheit  zu  sagen,  leh 
fasse  was  ich  gesagt  habe,  gerne  noch  einmal  kurz  zusammen: 


Paul  de  Lagarde,  SelbstaDzeige  seiner  leisten  Schriften.  598 

Herr  Berliner  hat  gar  keine  eigene  Aasgabe  des  Targam  Onke- 
los  gegeben,  sondern  er  bat  eine  1557  in  Sabbioneta  veranstaltete 
Aasgabe  Bachstab  fBr  Bachstab  and  Vocal  für  Vocal  abgedrackt| 
wenigstens  sie  so  abdracken  wollen. 

Diese  Aasgabe  von  Sabbioneta  ist  mit  Nichten  der  Archetypus 
des  OnkeloSy  sondern  eine,  nicht  im  Vaterlande  des  »Onkelo8«|  Pa- 
laestina,  sondern  in  Babylonien,  and  nicht  in  der  Zeit  des  Onkelos, 
sondern  vier  bis  fttnf  Jahrhanderte  nach  dieser  Zeit  veranstaltete  »Re- 
censionc  in  dem  technischen  Sinne  des  Wortes  »Recension« ,  also, 
wenn  aach  nicht  ohne  allen  Werth,  so  doch  mit  Nichten  das  was  wir 
brauchen.    Herrn  Dillmanns  Genügsamkeit  werden  Kenner  nicht  theilen. 

Selbst  diese  »Recension«  konnte  and  mnBte  genaaer  vorgelegt 
werden  als  Herr  Berliner  gethan,  der  nicht  alle  ihm  zagänglichen 
Httlfsmittel  benatzt  hat,  aber  so  that,  als  habe  er  sie  benntzt. 

Der  Variantenband  des  Herrn  Berliner,  zam  großen  Theil  mit 
Allotriis  and  zwar  mit  tendenziös  gefärbten  AUotriis  angefllllt,  aagen- 
scheinlich  von  einem  völlig  angebildeten  and  angeschalten  Menschen 
gearbeitet,  ist  ohne  irgend  erheblichen  Werth. 

Für  eine  Wiederholang  der  Ansgabe  von  Sabbioneta  konnte  man  ein 
anderes,  recht  billiges  and  sehr  genaaes  Verfahren  der  Reprodaction 
anwenden,  and  den  Typendrack  sparen:  für  den  anderen  Band  des 
Herrn  Berliner  Mittel  aas  der  Staatskasse  aufzuwenden  ist  ein  ebenso 
grober  Unfug  wie  für  die  Revision  der  Lutherbibel  solche  Mittel  aufzu- 
wenden: von  da  zum  Ankaufe  der  Moabitica  ist  nicht  allzu  weit 

Herr  Dillmann  hat  sich  schlimm  kompromittiert,  als  er  jene  Ar- 
beit zu  unterstützen  rieth,  und  als  er  noch  lange  nach  ihrem  Er- 
scheinen jenes  oben  abgedruckte  lobende  Urtheil  über  dieselbe  ab- 
gab. Aach  Herr  Noeldeke  würde  arg  kompromittiert  sein,  wenn  er 
—  was  Herr  Berliner  behauptet,  ich  leugne  —  wie  Herr  Dillmann 
geurtheilt  hätte. 

Darauf  die  übliche  sittliche  Entrüstung.  Ihre  Waffen:  Schmutz, 
Schmutz,  Schmutz  — ,  nicht  einmal  origineller  Schmutz.  Ich  höre 
aas  jeder  Zeile  von  Berliners  Pasquill  den  Satz  heraus,  welchen  ein 
Dichter  modernster  »Synagogalpoesie«,  Jacob  Eorew,  in  seinem  »Pu- 
rimspiele«  60  dem  Mardochaeus  in  den  Mund  legt:  »ich  hab"ne  groAei 
mächtige  Nekome«. 

Nun,  ich  habe  im  Interesse  des  deutschen  Vaterlandes  geant- 
wortet. Wie,  mag  man  selbst  nachlesen.  An  Deutlichkeit  wenigstens 
fehlt  es  nicht,  und  von  niederem  Gesichtspunkte  aus  ist  das  nicht 
gesehen  was  ich  gezeichnet  habe.  Das  deutsche  Volk  soll  erkennen, 
was  es  an  dem  Herrn  Berliner,  dessen  Gönnern  und  Vorbildern  besitzt 

Auf  das  was  ich  aus  den  oben   genannten  Prolegomenis  mitge- 

Qftii.  ftl.  AM,  1887.  Nr.  16.  41 


694  Gott.  gel.  Aoz.  1887.  Nr.  16. 

theilt  habe,  lege  ich  großes  Crewicht.  Für  die  ToDaDgebendeii  ist  es 
nicht  geschrieben:  denn  ich  arbeite  nur  für  Leute,  die  noch  lernen 
können  and  lernen  wollen.  Der  Aufsatz  über  die  in  drei  semitischen 
Sprachen  übliche  Bildung  der  Nomina,  zu  dem  jene  Prolegomena  als 
Einleitung  dienen  sollten,  wird,  so  Gott  will,  noch  im  laufenden 
Jahre  in  den  Abhandlungen  der  königlichen  Gesellschaft  der  Wissen- 
schaften erscheinen. 

Ausdrücklich  merke  ich  an,  daß  nur  eine  bestimmte  Anzahl  des 
zweiten  Bandes  der  Mittheilungen  einzeln  abgegeben  wird:  so  wie 
diese  abgesetzt  ist,  wird  man  die  beiden  Bände  nur  noch  zusammen 
erhalten  können. 

Die  Aufsätze  über  ROckert  und  Zunz,  so  wie  der  über  Juden 
und  Indogermanen  sind  auch  in  Sonderdrucken  zu  beziehen. 

26.  6.  1887.  Paul  de  Lagarde. 


Anecdota  Varia  Graeca  et  Latina  edid.  R.  Schoell  et  Giiil.  Stademand. 
Band  L:  Anecdota  Varia  Graeca  musica  metrica  grammatica  edidit 
Gnilelmns  Studemund.    Berolini,  apud  Weidmannos,  MDCGCLXXXVL 

Unter  diesem  Specialtitel  ist  der  erste  Band  der  seit  Jahren  von 
R.  Schoell  und  W.  Studemund  vorbereiteten  Anecdota  Varia  Graeca 
et  Latina  erschienen.  Der  Inhalt  ist  zum  größten  Teile  metrisch. 
Der  erste  Hauptteil  (p.  1—30)  enthält  die  Tres  caoones  harmonici, 
ed.  A.  Stamm;  der  fünfte  (p.  257 — 283)  die  Anonymi  Laurentiani 
duodecim  deorum  epitheta,  edidit  G.  Studemund.  Außerdem  sind  die 
unten  zu  nennenden  Tractatus  de  vocibus  animalium  und  mehreres 
kleinere  Nicht-metrische  eingelegt.  Alles  in  hohem  Grade  anregeod 
und  fruchtbar;  aber  die  Hauptmasse  des  ganzen  Bandes  gehört  der 
metrischen  Litteratur  an. 

Im  Jahre  1880  vereinigten  sich  Studemund  und  der  Unterzeich- 
nete zu  gemeinsamer  Herausgabe  eines  Corpus  Metricorum  Graeco- 
rum:  Studemund  hatte  die  italienischen,  der  Unterzeichnete  die  eng- 
lischen und  französischen  Bibliotheken  daraufhin  ausgebeutet.  Die 
von  mir  im  Codex  Saibantianus  gefundene  und  wegen  ihrer  litterar- 
historischen  Stellung  so  überaus  wichtige  Exegesis  zu  Hephaestions 
Enchiridion  wollte  ich  sofort  drucken  lassen,  weil  die  (von  mir 
dann  im  Rheinischen  Museum  36  dargelegten)  Beziehungen  der  ver- 
schiedenen Scholienkomplexe  zu  einander  nur  an  der  Hand  der  Exe- 
gesis verstanden  werden  konnten.  Auf  Studemunds  Aufforderung, 
sie  in  seinen  Anecdota  herauszugeben,  gieng  ich  ein.  Er  seinerseits 
wollte  den  bisher  nur  z.  T.   bekannten   Anonymus  Ambrosianus  in 


Schoell-Studemund,  Anecdota.   B.  I.  595 

unverkürzter  Gestalt  hinzufügen.  Das  Corpus  selbst  wollten  wir  ge- 
meinschaftlich bearbeiten.  Die  zwei  genannten  Schriften  bilden  jetzt 
den  zweiten  und  vierten  Abschnitt  des  Bandes;  p.  31 — 96  und 
p.  211—256.  Als  dritten  Abschnitt  hat  Stndemund  auf  p.  97—209 
jetzt  eine  »Appendix  de  codicibus  aliquot  italicis  ad  Hephaestionem 
et  Choerobosci  Exegeein  pertinentibus«  hinzugefügt.  Unter  diesem 
Titel  ist  eine  ganze  Reihe  von  sehr  verschiedenen,  sehr  wertvollen, 
bisher  teils  ungedruckten  teils  ganz  ungenügend  gedruckten  metri- 
schen Texten  zusammengefaßt.  Eingeschaltet  sind  hier  als  wichtige 
Beigabe  die  Tractatus  de  vocibus  animalinm  p.  101—105;  (dazu  ge- 
hört auch  284 — 290).  —  Diese  metrischen  Texte  hatte  auch  ich 
aus  französischen  und  englischen  Handschriften  kopiert,  bez.  kol- 
lationiert. Nur  einige  Kleinigkeiten,  wie  z.  B.  die  17  Verse  des 
Michael  Psellus  (p.  198),  fehlten  mir.  Von  den  pariser  Sachen  hat 
Studemund  Vieles  jetzt  durch  Gundermann  kollationieren  lassen. 
Dieses  und  gar  manches  Andere,  eng  zur  Sache  Gehörige,  hätte 
ich  beisteuern  können,  wenn  ich  von  dem  bevorstehenden  Erscheinen 
dieser  Texte  —  überhaupt  irgendwelche  Kenntnis  gehabt  hätte.  Da 
das  nicht  der  Fall  gewesen  ist,  bleibt  mir  nur  übrig,  denjenigen  Teil 
meiner  Materialien,  der  noch  nicht  verwertet  ist,  gelegentlich  in  Form 

von  Kollationen  erscheinen  zu  lassen.  — 

Im  Einzelnen  verteilen  sich  die  metrischen  Schriften,  die  der 
Band  enthält,  auf  fast  alle  Gebiete  der  metrischen  Litteratur^  ange- 
fangen vom  Text  des  Hephaestio  selbst  bis  zu  recht  späten  byzan- 
tinischen Schriften.  Ich  beginne  die  Besprechung  mit  dem  Enchiri- 
dion und  den  Schollen. 

I.    Hephaestio  und  seine  Scholiasten. 

Auf  p.  106 — 110  berichtet  Studemund  über  den  Ambrosianus 
J  8  ord.  sup.  (A),  die  beste  Handschrift,  die  vom  Enchiridion  über- 
haupt existiert,  und  p.  ill — 117  (Kap.  III)  werden  sämtliche  Dich- 
terstellen getreu  nach  dem  A  abgedruckt.  Bei  der  großen  Zahl  und 
dem  unvergleichlichen  Wert  dieser  Fragmente  ist  es  sehr  dankens- 
wert, daß  die  beste  Recension,  in  der  sie  überhaupt  erhalten  sind, 
schon  jetzt  jedem  zugänglich  gemacht  wird,  bevor  die  neue  Aus- 
gabe des  Hephaestio  den  ganzen  Apparat  darbietet.  Für  diese  Dich- 
terverse wird  A  stets  maßgebend  sein;  denn  A  ist  der  beste  Vertre- 
ter der  besten  Handschriftenklasse.  Für  den  Text  des  Hephaestio 
aber  und  die  Scholia  können  wir  mit  A  allein  nicht  auskommen, 
lieber  die  Handschriften  des  H.  im  Allgemeinen  habe  ich  im  Rhei- 
nischen Museum  36,  262  f.  und  274  f.  gehandelt.  Wir  haben  drei 
Gruppen:   1)  die  beste  Klasse  (X),     Von  dieser  glaubte  ich  damals 


696  Gott  gel.  Anz.  1887.  Nr.  16. 

6  selbstfindige  Vertreter  namhaft  machen  za  kOnnen;  jetzt  sind  es 
nur  noch  drei.  Daß  der  Saibantianus  and  der  Venetns  Marcianns 
483  (E)  einen  im  Ganzen  identischen  Text  böten,  konnte  ich 
mit  Bezugnahme  anf  die  i^^rv^^g  schon  B.  M.  36,  299  aussprechen. 
Daß  der  Saibantianus  eine  Kopie  von  K  sei,  erkannte  Studemnnd, 
als  er  die  Kollation  des  K  zur  ganzen  Exegesis  erhielt.  Daß  aber 
auch  K.  selbst  in  den  Hephaestionea  aus  A  abgeschrieben  sei,  wurde 
Ton  Studemund  und  mir  1883  nach  gemeinsamer  Durcharbeitung 
des  betreffenden  Materials  konstatiert.  So  bleiben  denn  von  den 
frtther  genannten  fttnf  Handschriften  als  selbständige  Zeugen  nur 
drei  nach:  A,  der  Gantabrigiensis  Univ.  Dd  XI  70  (G)  und  der  Pa- 
risinns 2881  (P).  P  und  G,  die  ich  kollationiert  habe,  stehn  in 
einem  engeren  Verhältnis  zu  einander  als  zu  A  und  sind  von  A 
unabhängig.  Sie  können  daher  nicht  entbehrt  werden.  Der  große 
Vorzug,  den  A  vor  ihnen  voraus  hat,  zeigt  sich  aber  an  den  Dich- 
terversen am  deutlichsten.  Wir  besitzen  2)  die  Klasse  der  Turne- 
biana  and  des  Gaisfordschen  Meermannianus.  Sie  ist  durchweg  in- 
terpoliert, aber  aus  einem  Exemplar  der  besten  Klasse,  das  gewisse 
Vorzüge  hatte.  Im  Text  des  Hephaestio  p.  4,  1 — 2  W.  hat  nur  diese 
Klasse  das  richtige  KATAETPOnOYC  {xatd  e  tgonovq).  während  die 
beiden  andern  Klassen  mit  offenbarer  Verschreibnng  KAIABIPAJIÜG 
(xfltl  äsi  ^qdUdg)  bieten.  In  den  Scholia  A  aber  hat  diese  Klasse  ein 
erhebliches  Plus  vor  X  voraus ;  davon  gleich  mehr.  Endlieh  gibt  es 
3)  die  Klasse  der  schlechten  Handschriften,  die  zahlreichste  von 
allen;  sie  hat  nur  einen  geschichtlichen  Wert,  insofern  viele  falsche 
Lesarten  späterer  Hetriker  sich  ans  ihrem  Texte  herleiten  lassen. 
Die  Scholia  A  fehlen  in  dieser  Klasse  ganz;  dagegen  stehn  die 
Scholia  B  außer  in  der  ersten  Klasse  (X)  auch  in  dieser,  und  zwar 
hier  in  zwei  verschiedenen  Becensionen  (Y  und  Z). 

Wenden  wir  uns  zu  den  Scholien.  Wie  schlecht  es  früher 
mit  diesen  bestellt  war,  habe  ich  im  R.  M.  36  gezeigt.  Die  Scholia 
B  waren  in  den  Ausgaben  so  beispiellos  verstümmelt,  daß  man  über 
sie  schlechterdings  nicht  instruiert  war;  die  Litteraturgeschichte  ar- 
beitete hier  mit  Phantasiegebilden,  denen  in  der  Ueberlieferung  gar 
Nichts  entsprach.  Die  Scholia  A  waren,  wie  sich  herausstellte,  bis- 
her nur  nach  der  obengenannten  zweiten  Handschriftenklasse  gedruckt 
worden.  Turnebus  hatte  ein  Exemplar  dieser  Gruppe  zu  Grunde  gelegt ; 
sein  Text  war  die  Vulgata.  Einiges  Wenige  war  im  Einzelnen  aus 
S  nnd  P  hier  eingeflickt  worden ;  aber  im  Ganzen  repräsentierten  die 
gedruckten  Texte  durchaus  die  interpolierte  Klasse.  Hier  mußte  ra- 
dikal vorgegangen  werden.  Nachdem  ich  (Dorpat  1882)  die  Scholia 
B   in  authentischer  Form   herausgegeben  hatte,   hat  Studemund  nun 


Schoell-Studemund,  Anecdota.   B.  I.  597 

p.  118—152  (Eap.  IV)  die  gesamten  Scholia  A  so  dracken  lassen, 
wie  sie  in  der  besten  Klasse  (X)  erbalten  sind.  Zu  Ornnde  liegt 
natUrlicb  A.  Da  er  aber  oft  beschädigt  oder  überklebt  ist,  ergänzt 
ihn  die  Abschrift  K^  Eine  spätere  Hand  in  K  (E^)  hat  nach  einer 
geringwertigen  Vorlage  korrigiert  and  Manches  hinzngefttgt  Hierzu 
kommt  dann  Q,  d.  i.  der  Ambrosianas  Q  5  ord.  snp.,  in  welchem 
die  Scholia  A  ohne  das  Enchiridion  selbst  enthalten  sind.  Im  Rhein. 
Mus.  36,  276  berichtete  ich,  daß  das  im  Parisinas  2881  so  wäre; 
Q  war  damals  noch  nicht  bekannt  Wir  haben  also  zwei  Hand- 
schriften, die  —  auf  das  Engste  mit  einander  verwandt,  wie  sieh 
nnten  zeigen  wird  —  aach  die  Scholia  A  beide  in  dieser  Oestalt 
bieten.  Aas  A  K  Q  hat  Stodemand  nan  die  Scholia  A  gedruckt. 
P  and  G  sind  nicht  verwertet  worden. 

Es  ist  für  alle  auf  die  Metriker  bezüglichen  Untersachungen  ein 
Vorteil,  daß  jetzt  die  gute  Recension  der  Soholien  überhaupt  zum 
Druck  gelaugt  ist.  Das  Fehlen  von  P  und  G  ist  dem  gegenüber 
von  geringerer  Bedeutung.  Für  alle  Forschung  ist  jetzt  eine  feste 
Basis  gewonnen.  Aach  ist  es  durchaus  za  billigen,  daft  der  erste 
Abdruck  dieser  Fassung  streng  konservativ  ist. 

Wie  verhält  es  sich  aber  nun  mit  der  interpolierten  Klasse?  Ist 
sie  völlig  wertlos?  Kann  sie  gänzlich  bei  Seite  gelassen  werden? 
Oder  muß  sie  bei  der  definitiven  Scholienausgabe  mit  berücksichtigt 
werden?  eventuell  in  welchem  Umfang?  Diese  Frage  maß  jetzt 
aufgeworfen  werden.  —  Ich  habe  zwei  Handschriften  dieser  Klasse 
kollationiert,  den  Oaisfordschen  Meermannianus  (M)  und  den  Pari- 
sinas 2676  (J);  vgl.  R.  M.  36,  263.  Neben  diesen  zweien  erwiesen 
sich  die  andern,  die  es  mir  gelang  za  ermitteln^  als  wertlos.  Ich 
nenne  diese  Recension  der  Kürze  halber  M.  Die  Vergleichung  von 
X  (d.  i.  AKQ  und  —  füge  ich  hinzu  —  PG)  undM  ergibt  im  We- 
sentlichen folgendes  Resultat:  die  Vorlage  von  M  war  inhaltlich 
reicher  als  die  jetzt  erhaltenen  Vertreter  von  X.  M  hat  einzelne 
Scholien  von  Bedeutung,  die  dem  X  gänzlich  fehlen  und  die  auf  gute 
Quellen  zurückgehn.  In  der  Vorlage  von  X  gab  es  überhaupt  nach 
dem  zehnten  Kapitel  keine  Scholien  mehr.  In  M  reichen  sie  bis  ans 
Ende.  Folgendes  ist  bemerkenswert:  Westphal  bespricht  in  der  Me- 
trik IF  223  f.  »die  antike  Asynarteten-Theorie«.  Dieselbe  beruht, 
abgesehen  von  einer  dürftigen  Notiz  bei  Mari  us  Victorinns  p.  142, 
auf  dem  Scholion  zu  Hephaestio  ed.  Westphal  p.  201,  15—202,6. 
Dieses  ganze  Scholion  steht  in  M  und  fehlt  in  X.  Ebenso  verhält 
es  sich  mit  p.  211,  24—215,  26,  wo  interessante  Bemerkungen  über 
die  iSVY*€xvfjkiva  und  dnfftfpaivovta  gemacht  werden,  und  mit  p.  208, 3 
—16  (nqwifi  ^^^  dsvtiqa  dvund&B^a).     Zu   beachten  ist  auch,   daB 


B98  Gott.  gel.  Adz.  1887.  Nr.  15. 

wir  p.  203,  21  in  einem  M-Scholion  ein  Fragment  des  Eupoiis 
lesen  (fr.  236  Eoek),  welches  sonst  nirgends  überliefert  ist.  Das 
Gesagte  gentigt,  um  darzuthan,  daß  das  Pias  in  M  zum  Teil  wertvoll 
ist  and  in  der  abschließenden  Ausgabe  auf  keinen  Fall  ausgelassen 
werden  darf.  Auf  der  andern  Seite  ist  aber  zu  betonen,  daß  dieser 
wertvollen  Partieen  sehr  wenige  sind,  und  das  Meiste  in  Analysen 
der  betreffenden  Versmaße  und  weitläufigen  Paraphrasen  besteht, 
die  Jeder  sich  selbst  machen  konnte,  ohne  alte  Quellen  zu  besitzen. 
Da  aber  das  Urteil  über  wichtig  und  unwichtig  subjektiv  ist,  wird 
man  üoch  nicht  umhin  können  in  der  definitiven  Ausgabe  den  gan- 
zen Mehrbestand  von  M  zum  Abdruck  zu  bringen,  etwa  mit  kleine- 
ren Typen  oder  als  Appendix.  Hierbei  darf  man  nicht  vergessen, 
daß  die  ganze  Scbolienmasse,  auch  wie  sie  in  X  vorliegt,  ein  recht 
armseliges  und  dürftiges  Produkt  ist,  daß  auch  hier  einige  wenige 
GoldkOrner  unter  einer  Masse  von  Spreu  verborgen  sind.  Auch  hier 
ist  Vieles  so  simpel,  daß  jeder  Leser  es  selbst  ersinnen  konnte.  — 
Was  nun  die  Stellen  anlangt,  die  sowohl  in  X  als  auch  in  M  über- 
liefert sind,  so  ist  hier  fast  immer  die  Fassung  M  offenbar  aus  der 
X  herausgearbeitet.  Auch  hier  finden  sich  aber  in  M  einzelne  Zn- 
sätze, die  ursprünglich  zu  sein  scheinen.  — 

Es  wurde  schon  oben  bemerkt,  daß  in  K  eine  zweite  Hand  aus 
einer  andern  Vorlage  Mehreres  aufgenommen  hat.  Ich  kann  nun  hinzu- 
fügen, daß  diese  Znsätze  auf  eine  Quelle  zurttckgehn,  die  sich  mit  M 
berührt.  Die  Hälfte  etwa  der  Zusätze  steht  auch  in  M,  und  zwar  ist 
es  entschieden  die  bessere  Hälfte.  Für  die  Kapitel  11  bis  zum  Schluß, 
wo  wir  nur  K ',  aber  nicht  A  K^  Q  haben,  setze  ich  alle  Stellen  hierher, 
die  K'  mit  M  gemeinsam  hat;  der  Stern  bedeutet,  daß  M  dasselbe 
besser  oder  ausfUhrlicher  bietet:  von  p.  150  bis  152  bei  Studemund 
sind  es  die  folgenden  Scholien:  Ad  pag.  86,  21*;  87,  12;  89,  6; 
93,  1;  98,  1—2*  (in  M  steht  hier  das  ausführliche  Scholion  208,  3 
—16  W.,  von  dem  oben  die  Rede  war) ;  99,  1 ;  106,  1 ;  107,  1 ; 
107,  10;    109,  1;    110,  4*;    110,  7*;    112,  1  und  2*;    122,  11*.  — 

Wann  ist  diese  Ueberarbeitung  der  Scholien  und  —  fügen  wir 
hinzu  —  des  Hephaestio  vorgenommen  worden?  Die  Zeit  läßt  sich 
ungefähr  bestimmen.  Zunächst  kennt  der  Bearbeiter  die  Exegesis 
des  Choeroboscus,  und  zwar  ganz  wie  wir  unter  dem  Namen  der 
ilg^ytiaig  schlechthin.  Diese  Thatsache  ist  von  Interesse ;  ich  kenne 
bis  jetzt  kein  anderes  Citat  der  Art.  Hephaestio  p.  8,  10  W.  lehrt, 
daß  mnta  und  liquida  dann  keine  no&v^  machen,  wenn  die  muta  das 
Ende  der  ersten  und  die  liquida  der  Anfang  der  zweiten  Silbe  ist. 
Dazu  sagt  unser  Scholiast  in  MJ  p.  110,  3  W. :  oSote  sha^  aito 
nntct  dhd<s%a<s^v  Sfilovou*  ovtm  ya^  i  iiijr^^^^  yifit.    Gemeint 


Schoell-Stademand,  Anecdota.   B.  I.  699 

ist  die  iiijr^^^^  p.  47,  16:  idp  yctQ  ifuv  iv  d$a(f%etfteg^  oi  no$otü$ 
niHVijy^  ats  d^  tov  d$aati}fAccto^  iv  tm  d^axm^tfiskv  td  trvf^pwya  fuiCo^og 
Yivoikivov  etc.    Wir  wissen  also,   daß  dieser  interpoliereDde  Scholiast 
nach  dem  Verfasser  der  Exegesis,  d.  h.  nach  dem  sechsten  Jahrhun- 
dert lebte.    Aber  das  genügt  nicht.    Wir  müssen  ihn  noch  viel  wei- 
ter herabrttcken.     Ich   kann  das  im  Einzelnen    hier  nicht  ausfahren. 
Nor   so    viel    möchte    ich  ganz  kurz  bemerken:   alle   mir  bekannten 
Handschriften,  die.  diese  Recension  des  Hephaestio  nnd  der  Scholia  A 
haben,    enthalten  vor  dem  Hephaestio  eine  Menge   metrischer  Trak- 
tate,  die  —  an  sich  völlig   wertlos  —    doch   ein   litterarhistorisches 
Interesse   haben.     Sie  stehn    nämlich    zum   weitaas  größten  Teil  in 
engster  Beziehung  zu  unserem  Pseudo-Draco,  so  daß  sie  Seiten  lang 
dasselbe  bieten.    Aber   es   sind    weder   diese  Traktate    aus  Pseudo- 
Draco  ,   noch    der  letztere  ans  jenen  abgeschrieben ;  sondern  beide 
benutzen  eine  gemeinsame  Vorlage,   mit   der   sie   verschieden  ope- 
rieren.    Diese  Vorlage  hat  wieder  ihrerseits  unter  Anderem  Scholien 
zu  Dionysius  Thrax    ausgeschrieben.     Ich    kann    das   hier  nur  kurz 
andeuten  und  behalte  mir  den  genaueren  Nachweis   für  eine  andere 
Gelegenheit  vor.  —  Ich  vermute  nun,   daß  der  Redaktor  dieses  me- 
trischen Konglomerates,  der  seine  trivialen  Vorlagen  mit  noch  trivia- 
leren Scholien  ausstattet,  derselbe  Mann  ist,   von  dem  die  jetzt  vor- 
liegende Redaktion   des  Hephaestio   und    der  Scholia  A  in   M  her- 
stammt.   Es   erklärt   sich    dann   auch  folgende  Tbatsache   sehr  ein- 
fach: die  Scholia  A  p.  93,  23— ICO,  2W.  enthalten  eine  prosodische 
Partie,    die   mit  Pseudo-Draco   p.  117  f.   im    Wesentlichen    identisch 
ist.     Ich    glaube  nicht,   daß   sie   aus  unserem  Pseudo-Draco   abge- 
schrieben ist,  sondern  daß  auch  hier  beide  eine  gemeinsame  Vorlage 
wiedergeben.   Eben  diese  ist  es  wohl,  die  der  Scholiast  meint,  wenn 
er  uns  p.  99, 30  auf  den  Kvgtog  Mavovi^X  verweist,  den  Westphal  im 
Anschluß  an  Bergk  für  Manuel  Moschopulus  erklärte  (Metrik  I  ^  137). 
Wie  dem  auch   sei,   diese  Redaktion   gehört  der  spätesten  Zeit   an. 
Wenn  in  Ihr  trotzdem  einiges  Oute  vorkommt,  so  haben  wir  festzu- 
halten, daß  da|  ursprünglich  zu  Grunde  liegende  Exemplar  des  He- 
phaestio und  der  Scholia  A  selbständig  war  und  die  jetzt  vorhandenen 
Vertreter  der  Klasse  X  in  mancher  Beziehung  übertraf.     Auch  dür- 
fen wir  nicht  vergessen,  daß  zwischen  diesem  Exemplare  und  unserem 
Redaktor  Mittelglieder   gewesen    sein   können,    von   denen  wir  jetzt 
Nichts  mehr  wissen.  — 

Soviel  von  den  Scholia  A.  Auch  für  die  Scholia  B  fällt  Einiges 
Ab.  Auf  p.  107  f.  gibt  Stodemund  die  Varianten  des  A  zu  dem  Teil 
der  Scholia  B,  der  in  X  erhalten  ist;  und  p.  108  f.  druckt  er  aus  A 
die  32  M{isterverse  ab,   die  für  die  32  ifx^i^ata  des  Hexameters  als 


600  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  15. 

Beispiel  dienen.  Sie  folgen  auf  den  §  6  der  Scholia  B  (nsgl  (fx^jf^a- 
toq)  in  allen  Exemplaren  der  Klasse  X,  also  auch  in  P,  0  und  C; 
sie  fehlen  in  den  Klassen  Z  und  Y,  soweit  ich  die  Exemplare  der 
zwei  letzteren  Klassen  untersucht  habe. 

Zu  den  Hephaestio-Scholien  im  weiteren  Sinne  gehört  auch  die 
anonym  überlieferte  ^El^ilt^Ck^  elg  tö  %ov  ^HtpahCtimvo^  iy 
%6$qldhQv^  die  p.  33 — 96  zam  ersten  Mal  herausgegeben  wird, 
üeber  sie  wäre  eigentlich  viel  zu  sagen;  nur  ungern  verzichte  ich 
auf  eine  eingehendere  Besprechung  dieses  für  die  Geschichte 
der  griechischen  Metrik  hochwichtigen  Buches.  Doch  will  ich  mich 
hier  auf  einige  wenige  Bemerkungen  beschränken.  Mit  dieser  Schrift 
ist  es  eigen  gegangen.  Im  Jahre  1874  machte  ich  (De  Dionysii 
Thr.  interpr.  vet.  p.  48  f.)  zuerst  darauf  aufmerksam ,  daß  es  einst 
einen  Kommentar  des  Choeroboscus  zum  irx^tQi3$ov  Hephaestios  ge- 
geben habe.  Die  Geschichte  der  Grammatik  und  der  Metrik  hatte 
das  übersehen.  Da  es  nun  allbekannt  war,  daß  derselbe  Verfasser 
einen  Kommentar  zu  Dionysius  Thrax  geschrieben  hatte,  und  in  bei- 
den Scholienmaßen  Partieen  vorkamen,  die  auf  eine  gemeinsame 
Quelle  zurückgiengen,  so  vermutete  ich,  daß  Choeroboscus  diese  ge- 
meinsame Quelle  sei,  und  er  in  dem  metrischen  Kommentar  den 
grammatischen  ausgeschrieben  habe.  Wie  groß  mußte  nun  meine 
Ueberraschung  sein,  als  ich  bei  der  Untersuchung  des  Saibantiauus 
zuerst  einen  einheitlichen  Kommentar  zu  Hephaestio  vorfand,  von 
dessen  Existenz  bisher  Niemand  eine  Ahnung  gehabt  hatte;  dann 
aber  bald  erkannte,  daß  eben  dieses  der  früher  notificierte  und  ver- 
loren geglaubte  Kommentar  des  Choeroboscus  sei!  Die  Hauptstelleo 
dafür  sind  in  der  neuen  Ausgabe  p.  48,  13  f  eha  xa»  ö%i>  ta  Idr» 

iSetx&^i  tfifP  &€4f  iv  vdf  ns^l  ^fiikdtmv.  Und  bei  Choeroboscus  in  den 
Dictata  in  dem  Abschnitt  über  das  Verbum  heißt  es  II  p.  553,  28: 
elxöuog  avv  nal  %6  nimmna  ndi  HixtijfkM  ttS  Xoytp  fi^c  »o^yfj^  dvfdt- 
nXa<f$dcSfiaar.  nsQi  %ljg  xotv^g  trvXlaß^g  xag'  dxqißs^uv  iv  %o%i;  fiitgotQ 
^HqiakCiUavog  fta^fjcofAe^a.  Ferner  steht  in  der  Exegesis  p.  44,  21  f.: 
oiu  yctQ  €l€f$  (pvtfei  fiaugal  ^  aV  na\  17  ör  öiipd^ojryoty  dXX\  dq  xal  iv 
t£  ruqi  tovwy  dsinvvtai,  avtcu  nqdq  Sva  ^fAtovp  ixovc$  XQ^^^^f  *?^ 
ipvct^  ykaxqäg  dvo  ixovCfi^^  o&er  Mal  ini  tiXovg  ovca$  ixovch  noXXnxtg 
top  QonaQoivtoPoy  ffopov.  Also  ir  %w  nsQi  tdvcov  will  der  Verfasser 
das  gelehrt  haben.  Bei  Choeroboscus  im  zweiten  Bande  der  Dictata 
in  dem  Abschnitt  nsQi  ttSv  iv  %alq  nuiaect  ToVcoylesen  wirp.  400, 8f. : 
tattmv  i^ctQ  (d.  h.  a$  und  ot)  ini  tiXovg  oiomv  noXXdxtg  nqonaQol^v- 
ys%a$  17  Xift^j  olov  . . . .,  Innd^  avii  xotv^g  naqaXaikßdvovzak  xdi  nqög 
tva  fffMOVv  xQ^vov  ixovtr^r.     Und   nun  folgt  eine  eingehende  Erörte- 


Schoell-Stodemond ,  Aneedota.  B.  I.  601 

rung  eben  bierttber.  Diese  Stellen  zeigen,  daß  wir  es  mit  einem 
ftlr  beide  Bfleher  gemeinsame?  Autor  za  tbnn  haben.  Man  darf  also 
als  den  Verfasser  des  anonymen  Kommentares  Ghoeroboscas  ansehen. 
Auf  der  andern  Seite  ist  es  höchst  wahrscheinlich,  daß  die  Schrift 
des  Ghoeroboscas  selbst  eine  spätere  Ueberarbeitang  erfahren  hat. 
Liegt  nns  doch  noch  heute  die  Exegesis  in  zwei,  z.  T.  recht  weit 
auseinandergehenden  Recensionen  vor. 

Auch  in  Betreff  der  Ueberlieferung  unseres  Textes  ist  Manches 
unerwartet  und  überraschend  gewesen.  Als  ich  die  ^Sifr^^'^c  im  Sai- 
bantianus  gefunden  hatte  und  mich  nach  weiteren  Textquellen  um- 
sah, fiel  mir  bald  der  Venetus  Marcianus  483  auf,  aus  dem  Einzel- 
nes ediert  war,  was  bis  auf  die  kleinsten  Accentfehler  mit  dem  Sai- 
bantianus  fibereinstimmte.  Aus  Hilgards  freundlichen  Mitteilungen 
ersah  ich  dann,  daß  sowohl  der  Inhalt  als  auch  die  Textgestalt  bei- 
der Handschriften  sich  so  vollkommen  deckte  (Rh.  Mus.  36,  299). 
Ein  vorläufiger  Abdruck  des  S  sollte  in  den  Aneedota  erscheinen; 
für  die  definitive  Ausgabe  im  Corpus  wollte  Studemund  den  Venetus 
(K)  vergleichen.  Statt  dessen  beschaffte  Studemund  schon  1881, 
gleich  nachdem  der  Text  des  S  gesetzt  war,  noch  vor  dem  Erschei- 
nen desselben  die  Kollation  des  K,  und  fand  nun,  daß  S  eine  di- 
rekte Kopie  von  K  sei,  ein  Resultat,  das  nicht  zu  bezweifeln  ist. 
Zwar  ist  die  Ausbeute  ans  K  für  den  Text  selbst  ganz  gering 
gewesen;  indessen  ändert  das  nichts  an  der  Thatsache,  daß  wir  uns 
nun  an  K  zu  halten  haben.  In  diesem  Sinne  wurde  der  Apparat  im 
Jahre  1881  umgestaltet  und  umgesetzt,  und  in  dieser  Fassung  stand 
der  fertige  Satz  einige  Jahre.  Als  er  dann  endlich  im  Jahre  1884 
definitiv  abgezogen  werden  sollte,  wurde  Studemund  auf  ein  Blatt 
aufmerksam,  auf  dem  er  vor  Jahren  Stücke  eines  anonymen  metri- 
schen Werkes  ans  dem  Vaticanus  14  (U)  abgeschrieben  hatte,  und 
*—  es  war  das  kein  anderes  als  die  irvr^^*^*  Die  Kollation  des  U, 
auf  Studemunds  Bitte  von  Man  besorgt,  langte  noch  an  und  wurde 
nun  nachträglich  in  den  seit  langer  Zeit  fertiggestellten  Satz  hinein- 
gearbeitet. So  ist  der  jetzt  gedruckt  vorliegende  Text  entstanden : 
eine  Reihe  von  Ueberraschungen,  mehrfache  Umgestaltungen  des 
bereits  gesetzten  Textes.  Natürlich  ist  das  auf  die  Textgestaltung 
von  Einfluß  gewesen.  Der  in  letzter  Stunde  gefundene  U  ist  that- 
sächlich  die  wichtigste  von  allen  Handschriften.  Hier  ist  eine  ganz 
andere  Recension  der  Schrift  erhalten,  von  der  des  K  wesentlich 
verschieden.  Jetzt,  wo  das  ganze  Material  vorliegt,  würde  man  U 
noch  viel  mehr  Einfluß  auf  die  Textgestaltung  einräumen,  als  damals 
möglich  war.  Wie  wir  die  Verschiedenheit  zu  erklären  haben,  ist 
eine  Frage.     Man    kann  mit  Studemund  an  andere  Kollegia  oder 


602  Gott.  gel.  Ans.  1887.  Nr.  16. 

Kollegienhefte  des  Choeroboscus  denken;  man  kann  aber  ancb  eine 
Bearbeitung  darch  einen  Anderen  in  Erwägung  ziehen,  wofür  Einiges 
zu  sprechen  scheint.     Doch  davon  ein  ander  Mal. 

II.    Der  Venetas  Marcianas  483  und  der  Saibanti anas. 

Von  den  übrigen  Metrica  hebe  ich  vor  Allem  den  Codex  Venetas 
Marcianas  483  (E)  hervor,  lieber  ihn  handelt  Stndemund  p.  165 — 
198.  Bei  der  Gelegenheit  wird  p.  170—184  Helias  und  p.  185—188 
Pseudo-Herodian  herausgegeben,  beide  mit  Benutzung  anderer  Hand- 
schriften. Zu  diesen  anderen  gehören  zwei,  von  denen  unten  die 
Bede  sein  wird,  D  und  Q.  E  ist  aber  z.  T.  verstümmelt.  Nach  fo- 
lium 63  sind  hier  7  Blätter  ausgefallen.  Den  Text  derselben  be- 
sitzen wir  also  nur  in  der  Eopie,  dem  Saibautianus.  Es  sind  das 
diejenigen  Stücke  des  S,  die  ich  im  Rhein.  Mus.  36,  284  als 
5,  a — e  bezeichnet  habe;  die  Lücke  beginnt  mitten  in  5,  a.  Ich 
werde  im  Folgenden  den  Inhalt  des  S  für  diese  Partie  genau  be- 
zeichnen, und  seine  Lesarten  da  hinzufügen,  wo  das  erforderlich  er- 
scheint. Da  der  in  E  erhaltene  Anfang  des  ersten  Stückes  dort 
die  Nummer  VI  trägt,  nenne  ich  dieses  VI,  1  und  die  in  E  fehlen- 
den Eapitel  VI,  2  u.  s.  w.;   mit  VII    tritt    dann  E    wieder  ein. 

VI,  1.  fol.  52'-53'.  Der  Traktat  über  die  Versfüße,  den 
Studemund  p.  98 — 101  als  §  3  aus  U  (Vaticanus  14)  und  z.  T.  aus 
E  herausgibt.  Der  Text  beginnt  in  S  wie  in  E  erst  p.  99^  1  mit 
den  Worten:  /7ot'c  i<ft$  no^mv  xal  noadSv  avllaßtSv  üvv^ec^  slq 
BvnQsm^  (Tx^fi^a.  Am  Rande  steht  in  S :  IIsqI  nodmv  aXXu>g.  Mit  den 
Worten  eiaii'  ol  nev  bricht  p.  100,  50  E  ab.  S  bietet  hier  folgende 
kleine  Abweichungen  vom  gedruckten  Text:  50.  ff]  ontw  \\  51.  Iß'] 
XF  II  TetQdwg  yäg  okw  \\  ij  Jjrro^,  ohne  ot  \\  52.  inl  rovc  ^  \\  52.  äX- 
Xovg  —  53.  ?<f ]  dXXovQ  ovo,  dig  tgiavtadvo  (!)  l^f  ||  53.  %ov]  %6  ||  55. 
d$cX&sXv  II  dq  fehlt  ||  Btnofiev  \\  56~-57.  dvM  avtovc  \\  101,  1  ^i/f] 
Qod'  II  av  fehlt  ||  ovv   fehlt  ||   2.  vnofpigovtai]  if(f>tatavta$  \\  ß']  ovo  jj  nal 

tQHwXXctßovQ  Y  II  3.  TQiCvvdito^  (Tvv&eto^  II  JU17  di  II  Nach  4  stehn  in 
S  noch  einige  Worte,  die  in  ü  und  folglich  im  gedruckten  Text 
ganz  fehlen :  ndXty  di  tsrgaaijXXaßog^  äna^  wv  <StjVx^6toq^  itiqav  im- 

VI,  2.  fol.  53^—53^  folgt  ohne  Titel  und  ohne  jegliche  Abtei- 
lang das  Eapitel  über  die  Namen  der  Füße,  welches  St.  p.  205 
-207, 17  als  §  1*  aus  U  und  C  (Chisianus  R  IV,  11),  den  Mangelsdorf 
hier  nicht  vollständig  abgedruckt  hat,  herausgibt.  Ich  gebe  die  Va- 
rianten des  S  sämtlich;  nur  ganz  einfache  Accentverschreibungen 
lasse  ich  fort:  p.  205,  Z.  1.    HsqI  öp.  %.  /i*.]  fehlt  ||  2,  al  di  oPOfMxa(a$ 


Schoell-Stndemiiiid,  Anecdota.   B.  L  608 

attmv  fivoikda&fiaav  ||  3.  TJeql  nvQQi%tov  am  Rande  ||  6.  in§\  ntgi  ta  t^X^ 
II  aXXmg  n  ual  ||  7.  ovy  avXXaß^v  öiaXdaaovciP  \\  9.  ot^oc]  ovtog  di  \\  10. 
naxdnvxtov  jj  206, 1.  %d  naXovfuva  nvQQtaxct  f^itga  nottt  \\  3.  inl  deCfAct 
(Dicht  diCfka )  II  4.  nstgdifOQOV  (nicht  nstgofpoga)  x^Q^ova  xa&ogjkiva 
{na&,  mit  Abkürzung  geschrieben)  ||  ö.  negl  tgoxotfov  am  Rande  || 
XaXdv  II  nat  ys  oiv  dgxtXoxog  \\  6.  ^eafjKov  ||  7.  Sgllij  ntj  d^%^  ||  10.  negl 
idfüßov  am  Rande  ||  i  Idfj^ßog  fj  and  Idfjbß^q  r^^  neXeov  v^eganaivtfg  ^ 
and  Idfjkßfi^  t^^  inayttjadati^  InnaiyaxTog  ygctv^  ^g  8(paiffdftsvog  t^C 
andtfi^q  6  Inntival^  i(f'  ^g  SnXvVBV  if  ygavq  tci  igta.  15 — 16.  dgVf$€P 
%s  XiXov  nvvog,  S^v  m  uivtavgov  atfiffnoq.  ina^ifotigtav  iov  ixf*  atof^d' 
ttav  II  17.  Xo^dogfi%kx6v  jj  18.  mgl  (Trrovdelov  am  Rande  ||*0  (i7tovdftog\\ 
tatg  fehlt  II  19.  anivdofuhv  ||  t.  fAvdfjba$g  (Terpander  fr.  3  B)  ||  noai  ||  Aiy- 
toifg  II  23.  nsgl  daxtvXov  am  Rande  ||  "H  and  %wv  danttvXfav  i  dairn;- 
Xog  o^q  II  24.  novgfitag  (paalv  H  did  to  negl  Kovgov  ovta  tov  dla  \\  207, 1. 
rov  fehlt  II  4.  X6rc9  \\  8.  laa  (!)  ||  10.  Xoroo  ||  11.  t^v  fehlt  ||  12.  tov  ip] 

fco  iy  II  Xö/io  II  13.  top  tgttOk  nataXsintiten  \\  16 — 17.  to  d$*  avtof^  yt- 
V€dg  ual  ngdl^e^g  ijgvioov  uataXiynv  || 

VI,  3.    fol.    öS""— 54«:    Tlcgl    na^wv    tov    daxtvX^ttov    (die 

Ueberschrift  am  Rande),     fld&tf  tov  damvXov  S^ —    'fd  tiXog 

fAelovgop  X4y€ta$;  nnd  am  Rande  dazu  von  derselben  Hand:  wg  iv 
tw  Tgwsg  d*  iggiyf^üav  6nmg  Xdov  aioXop  6(p$p\  Das  Ganze  ist  ge- 
druckt von  Gaisford  im  Hephastio  II  p.  195,  Anm.  X,  1  Kolumne 
Zeile  1—32.  Die  Varianten  des  S  sind  ganz  unbedeutend:  16.  Ugdv'\ 
Igov  II  22.  Vfiag  ts  \\  23.  d^  tw  iXXstnop  \\  26.  afo]  ato  oder  atg,  un- 
deutlich II  29.  td  f\\.  Der  Traktat  kehrt  fast  wörtlich  wieder  im 
Pseudo-Hephaestio  §  1 1  >»  nnd  §  26. 

VI,  4.  fol.  54'  folgt  hier  (wie  im  Pseudo-Hephaestio  auf  §  26): 
Xalgst  di  fkdXtfna  etc.,  gleich  Pseudo-Hephaestio  §  27.  Aus  S  hat 
dieses  gedruckt  Gaisford  a.  a.  0.,  1.  Kolumne  Zeile  32  bis  2.  Ko- 
lumne Zeile  31  avp^nrat  nodi.  Die  Abweichungen  des  S  von 
Pseudo-Hephaestio  §  27  sind  ganz  ohne  Belang:  2.  noi^g  ikfidslg] 
natd  ftifdip  \\  3.  ip  m]  \\  8.  wg]    tig  Sp   ttd  ||  tXij]  tXet  {tX  undeutlich) 

II   10.   anijgT$fncu  ydg   aXfi&tag  eig  ||  11.   t^p  ip  tg$x^  II   ^^  fehlt   || 
12.  /ui|f  fiiO$\  ikifkOk  II  psiucai  II    14.  otap\  St$  \\  fi^igfj  toi  Xoyov  ||  ffH  tnix» 

II  16.  Big  titagtop  \\  ddutvXop  ||  19.  c9(f«  iutiptc  ||  20.  fj  ipapij(Taa&a$ 
XaXenij   dh   (abgekürzt)  dr,fAov  (abgekürzt)  (jri^iui^c  ||  22.  Xvntt]  iXXsinm 

II  td  ilS^g\  —  In  S  folgt  auf  die  Worte  19.  fA^gog  Xoyov  ip  avrw]  im 
Text  selbst :  iMffouXacto^  Si  tlaip,  oaoh  xatd  td  f/bi(fop  nd&og  u  exovtfip, 
fig  tö  »/?$  iT  elg  AUXovt,  Und  am  Rande  ist  mit  einem  Verweis  auf 
ip  avtm  das  nachgetragen,  was  auch  im  Ps.-Hephaestio  den  Schluß 
bildet:  Ag%6  i^tipm  —  avp^nta§  nodi. 


604  Gott.  gel.  Anz.  1887.  No.  16. 

VI,  5.  fo].  54':  2%txo$  ikhqm  (sol)  ygafAfkaunap  &' '  ta^ßtndy, 
tqo%att6v,  daxTvXtxdifj  dvanatot^xdv,  xoQiafj^ßtxöVf  dv%k(Snaaunöv^  Imv^uov 
and  fAtll^ovoQ ,  ifovixov  dj^  iXdacovoQy  na^wvinov,  ^tjiOQ$xol  otlxot' 
KOfjkfAa^  nmXov^  neqiodoq,  dta(poQä  di  yQaikfkaunmy  nqoq  td  ^ijtOQ^nd  jo 
(toi  S)  ta  fill'  YQafAfj^atiitd  Ka%d  fi^yed-OQ  (svvlütaad'a^  aviXaßwVy  tä  di 
^^Togtxd  natd  nottotiixa,  — 

VI,  6.  fol.  54^*— 56'.  Unter  der  interessanten  Ueberschrift : 
^Eyqdiffi  int  naXaiov  ßkßXiov  neq^ixovtoq  %^v  fQafkfka' 
x^n^v  Jtovvaiov  folgt  hier  der  bekannte  Traktat  über  die  vier 
Haupt-Versmaße  der  byzantinischen  Metrik,  das  iambische,  das  heroi- 
sche, das  elegische,  das  anakreonteische.  Der  Titel  wird  hübsch 
illustriert  durch  die  beim  iambischen  Versmaße  beigefügte  Bemerkung: 
tovto  öi  %d  fjkitgoy  ovm  hlnc  Jiovvaiog^  dkV  ^fietc;  did  %^y  twv  vimv 
(ß(f4Xnay  nqoasdriKaf$€v,  Diese  Recension  des  Traktats,  die  den 
»Scholia  B«  §  12  und  dem  Chisianus  §  12  engverwandt  ist,  steht 
jetzt  in  den  Anecdota  Varia  I  p.  153 — 158  (§§  1»— 4*),  aus  dem  Pa- 
risinus 2881  (D)  und  dem  Ambrosianns  Q  5  ord.  sup.  geschöpft. 
In  diesen  beiden  Handschriften  fehlt  aber  —  wie  ich  hinzufüge  — 
der  Anfang:  Solches  lehren  die  anderen  Metriker,  Solches  lehrt  der 
Codex  S,  wo  nicht  nur  die  wertvolle  Ueberschrift,  sondern  auch  die 
ganz  sollenne  Beschreibung  des  jambischen  Trimeters  erhalten  ist. 
Ich  schalte  daher  vor  §  1*  bei  Stndemund  Folgendes  ein:  §  1  «. 
TIsqI  tov  iafAß$xov  fAdzQov  (am  Rande).  Der  Text  nuterschei* 
det  sich  vom  Chisianus  §  12,  I  an  folgenden  Stellen:  1.  T6  iagj^ßt- 
xdp  fiizQOP  Scu  f/b^v  i^df$€tQOV  »al  avto  ö^MQtXtat  si^  ovo,  to  fiiv 
ydg  avtov  (NB.  »al  avro  stammt  wohl  aus  einer  Recension,  wo  der 
daktylische  Hexameter  diesem  »iambischen  Hexameter  €  vorangieng) 
II  5.  x^^^^^^  ^^^  h&t  S  II  6.  t^v  ngd  riXovg  tlva^  ßgaxBlav  ||  .  Auf 
die  Schlußworte  des  Chis.:  oUyo^  nav  dgxaltav  ixgijoavto'  folgt  ähn- 
lich wie  in  den  Scholia  B  §  12,  p.  18,  9  —  10  meiner  Ausgabe:  Ji- 
;i(«7a*  dl  ir  fiiv  %^  ngmti^  ßdtfB^  Xafkßov  xal  cnovdttov ,  iv  di  t^  dev^ 
%Sgq  Xafkßov  fkdyov^  iv  di  %rj  tgitfi  la($ßov  ual  anovdsXov '  naxd  fäifä^aiy 
%^g  ngtdtfi^^  iv  dh  tf^  wtdgtri  fiovov  lafißov  xatä  ftifätiatv  %^g  df^vti^ 
gag,  iv  di  t^  nifAnzfi  ndXtv  %d  toi  ngwiov,  iv  di  t^  imfi  ta(Aßov  ^ 
nvggix^ov,  %  l  ß.  Ttvig  di  d$a$gov(ftv  etg  dvo  tov  Idfkßov  %dq  x^Q^^j 
xa\  %dq  f/b^v  nsggttrdg  tag  di  dgtiovg  xaXovctv.  »al  nsgtvräg  fhhv  ivo- 
fidJ^otiiXk  tijV  ngwttjVy  t^v  tgltt^v^  tijv  niikTit^v,  dgtiovg  di  t^v  dsvtigav^ 
«iji'  T6tdg%9iv,  t^v  futtjv,  — 

Soweit  die  Lücke  in  D  Q.  Es  folgen  nun  wie  dort  die  §§  1*— 
4«;  aber  der  Anfang  ist  anders:  'iafsßog  di  ixX^^fj  v6  f^itgov^  insineg 
ol  vßglj^ovteg  nvdg  xal  Xoidogstv  ßovXöfuvot  etc.  Die  übrigen  kleinen 
Abweichungen  des  S  von  DQ  werde  ich  hier  nicht  notieren. 


Scboell-Stiidemuiid ,  Anecdota.  B.  I.  605 

VI,  7.  fol. 56* — 58'.  Die  ganzen  »Appendices  I  und  lie  zu 
He  lias,  p.  177  bis  zum  SehlnB  in  den  Anecd.  Var.  (p.  81  Zeile  3 
von  unten  bis  znm  Schloß  bei  De  Furia).  Auch  in  DQ  folgt  dieses 
Stück,  aber  wiedernm  am  Anfang  verstümmelt;  es  fehlt  Alles  bis 
p.  178,  Zeile  4  von  unten:  ^gato  f  dd^^vfj.  Die  drei  Titel  lauten 
in  S:  FIbqI  (Wv^iijtffmg  (am  Rande)  p.  177,  'Onmg  ylvstm  td  inti  xuaXd 
p.  180,  IJfQi  %mv  iv  aiixoig  na^iSv  (am  Bande)  p.  184.  — 

VI,  8.  fol.  58':  ^Hguidtarov  nsgl  tftix^y  iti^  IS^sw^. 
In  S  kehrt  anf  fol.  149'  diese  Schrift  noch  einmal  wieder  (vgl. 
Rhein.  Mus.  36,  285).  An  letzterer  Stelle,  wo  auch  K  erhalten  ist, 
haben  wir  die  gute,  an  ersterer  (fol.  58')  die  schlechte  Ueberliefe- 
rung,  die  n.  a.  auch  in  D  Q  vorlieo:t.  Ihre  Lesarten  sind  in  Stude- 
munds  Apparat  Anecd.  Var.  I,  185—188  schon  überreichlich  berück- 
sichtigt worden. 

VI,  9.  fol.  58^:  Uegl  toftmv  und  *Ex4gm^  nsgl  nodcSv  (soll 
beißen:  rojucoK;  beide  Titel  am  Rande).  Aus  DQ  abgedruckt  Anecd. 
Var.  I  158  f. 

VI,  10  und  11.  fol.  58'»-59«:  Tov  aitov  negl  nodmv  ig^ 
liffvtia  und  Jkovv^lov  negl  nodwv  (am  Rande).  Hit  Be- 
nutzung meiner  Kollation  gedruckt  Anecd.  Var.  I,  160  —  162. 

VI,  12.  fol.  59^:  fligl  öajctvXtnov  f^itgov.  =  Pseodo-He- 
phaestio  §  25.  S  stimmt  dort  mit  M  überein  in  den  Nummern  !• 
da»TvX$9d¥,  2.  in$,  4.  tov  ö^  ovx  otxanq  l^'»»';  dazu  8.  i^a.  Außer- 
dem hat  S  in  Zeile  lO— 11  das  falsche  dXiyoavHaßötegoy  und  in 
Zeile  12  das  richtige  iklfinny.  — 

VII.»)  fol.  60»— 64':  Der  me  trisch-rhetor  ische  Trak- 
tat.     Von  hier  an  ist  K  wieder  vorhanden.  — 

VII.^)  fol.  64':  Ein  kurzes  Kapitel  über  die  nd3§i  des  Hexa- 
meters, das  Studemund  p.  166  nicht  erwähnt,  das  aber  nach  p.  90 
Anm.  2  auch  in  K  auf  den  Traktat  folgt.  — 

III.    Der  Parisinus  2881. 

Der  Codex  Parisinus  2881  ist  von  mir  (vgl.  Rhein.  Mus.  36,264 
und  276)  als  diejenige  Pariser  Handschrift  rekognosciert  worden,  die 
Gaisford  bei  seinem  Hephaestio  benutzt  hat,  ohne  sie  genauer  zu 
bezeichnen.  Diese  Handschrift  hat  aber  ein  hervorragendes  Inter- 
esse. Sie  gehört  zu  den  vornehmsten  Repräsentanten  einer  Art  me- 
trischer Sammelbände,  wie  wir  sie  zahlreich,  aber  von  sehr  verschie- 
denem Werte  besitzen.  Mir  schienen  unter  allen  englischen  und 
französischen  Handschriften  der  Saibantianus  und  der  Parisinus  2881 
in  dieser  Hinsicht  den  ersten  Rang  einzunehmen.  Von  dem  Saiban- 
tianus  und   dessen  Original,  dem  Venetus  K^  war  soeben  die  Rede. 


606  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  15. 

Den  Parisinus  2881  hatte  ich,  wie  den  Saibantianus,  vollständig  ko- 
piert, resp.  kollationiert.  Studeniund  bat  jetzt  mehrere  einzelne 
Stucke  aus  ihm  durch  Hrn.  Gundermann  kollationieren  lassen  und 
herausgegeben.  Er  nennt  ihn  D.  Die  Handschrift  ist  aber  sowohl 
an  sich  als  auch  in  ihrem  Verhältnis  zu  ES  so  wichtig,  daß  einige 
genauere  Angaben  durchaus  notwendig  erscheinen. 

Der  Parisinus  2881  ist  eine  Papierhandschrift  in  klein  Oktav 
und  enthält  auf  164  folia  folgende  Schriften: 

I.  Das  metrische  Lehrgedicht  des  Joannes  Tzetzes,  das 
Gramer  An.  Ox.  Ill  302  f.  herausgegeben  hat.  In  E  ist  dasselbe 
No.  IX. 

IL  IIL  fol.  19^—24':  Den  Traktat  negl  %ov  ^ gtatKov  fki- 
tgov,  den  De  Furia  p.  42,  7—- 46,  29,  und  die  Epitome  aas 
Trieb  a ,  die  derselbe  p.  47,  1  —  52,  19  herausgegeben  hat;  nur 
hört  D  schon  52,  17  mit  den  Worten  fot^ov  öi  ou  iy$o§  %mv  auf; 
und  am  Rande  steht  l$inBh.  —  In  E  sind  das  die  Nummern  X 
und  XL 

IV.  fol.  25'— 36^  Es  folgen  in  D  die  »Scholia  B<  zu 
Hephaestio  in  der  besten  Oestalt  (X)  (=  E  II);  in  dieser  Fassung 
brechen  die  »Scholia  B<  mitten  im  Satze  ab  (p.  IS,  3  meiner  Aus- 
gäbe).  In  D  steht  hier  leinen  und  es  folgen  4  leere  Blätter,  bis 
40^  inclusive. 

V.  fol.  41'— 63^  Hephaestio's  iyxsiqidiov  ohne  Scho- 
llen (In  E  No.  III).  Von  fol.  63^  ist  ein  Drittel  leer  gelassen,  and 
dabei  steht:  tv  ifiXov  Xsinsi,  — 

Es  folgen  nun  in  D  auf  fol.  63^—95«  dieselben  Stücke  and  in 
derselben  Reihenfolge  wie  sie  im  S  fol.  54^ — 79'  jetzt  stehn  (5,  b—e; 
6;  7  in  der  Beschreibung  des  S  Rhein.  Mus.  36,  285)  und  wie  sie  in 
E  vor  Entstehung  der  oben  beschriebenen  Lücke  einst  gestanden  ha- 
ben; in  E  S  sind  es  (unter  Berdcksichtigung  des  oben  p.  602  f.  über 

5  Gesagten)  die  StUcke  VI,  6—12.  VII— XIV.  Im  Einzelnen  sind 
es  folgende  Traktate: 

VI.  fol.  63" — 66':  lieber  die  vier  Hauptmetra  der  By- 
zantiner (VI,  6  in  S).  Gedruckt  A  need.  Var.  I  153-158,  §§  1»— 4«. 
Nur  fehlen  in  D  die  ersten  6  Worte  des  §  1\  —  Dieser  Teil  schließt 
am  Anfang  von  fol.  66';  der  Rest  der  Seite  ist  leer. 

VIL  fol.  66"" -68''  (?):  Die  »Appendices«  I  und  II  des  Hei i as, 
am  Anfang  lückenhaft;  Aneed.  Var.  I  178,  Zeile  4  von  nnten  ^qa%o 

6  da^vff  -  184  Schluß  (In  S  VI,  7).  — 

VIIL  fol.  6.s^:  Pseudo-Herodian  (In  S  VI,  8).  — 
IX.  fol.  69':   flsQl  %o(Aiäv.  *E%iQmg  negl  %Qfkmr.    Gedruckt 
Anecd.  Var.  I  p.  158  f.  (In  S  VI,  9).  - 


Schoell-Studemund,  Anecdota.   B.  I.  607 

X.  XI.  IJegl  nod cSv  igfkfjycia  ood  (fol.  69°)  J$oPV(fiov 
nsQl  nodiSv.  Ebenda  p.  160-162.  (In  S  VI,  10  und  11).  —  In 
D  ist  hieraaf  eine  Lticke  von  Vs  Seite.  In  S  steht  an  dieser  Stelle 
VI,  12,  d.i.  Usgl  SaHtvltxov  ftitgov  (vgl.  oben  S.  605);  da  das 
Vorhergehende  und  Folgende  in  D  und  S  gleich  ist,  hat  wohl  auch 
in  der  Vorlage  von  D  dieses  Stück  gestanden. 

XII.  fol.  71'— 7 6^  Der  m  etrisch-r  het  orische  Trak- 
tat.    Hier  tritt  wieder  E  ein  (No.  VII  in  E). 

XIII.  Ueber  die  nd&ij  des  Hexameter,  abgedruckt  weiter 
unten  p.  608.  In  S  folgt  dieses  Stück  auf  das  vorige  und  (nach  Anecd. 
Var.  I  90  Anm.  2)  auch  in  E,  sowie  im  Ambros.  C  156  ord.  inf. 
(Hinter  VII  in  E).  - 

XIV.  fol.  75*— 95^  Trieb  a ,  cvvo^p^q  wv  ivvia  fkitgmv.  (E 
No.  VIII).  —  Die  Nummern  VI  bis  XIV  folgen  also  in  D  so  auf 
einander  wie  in  ES.  — 

XV.  fol.  96'— ISS"".  Das  Lehrgedicht  desisaak  Tzetzes 
ttber  die  pindarischen  Metra  (Gramer  Anecd.  Par.  I  59 — 162)  (E 
No.  XIV).  -     Die  folia  139  und  140  sind  leer.  — 

XVI.  XVII.  fol.  141'— 142«:  Ein  Auszug  aus  Hepbaestio, 
der  als  Einleitung  vorausgeht  der  (fol.  143' — 149«)  metrischen  Ana- 
lyse der  pindarischen  Strophen,  and  zwar  von  der  zweiten 
olympischen  Ode  bis  zur  ersten  pythischen.  Vor  dem  Anfang  der 
zweiten  olympischen  ist  eine  halbe  Seite  leer,  und  vor  der  Lticke 
stebt  auf  fol.  143'  oben :  %6  (j^itgov  tovto  tov  ßtpddgov  vfkdgxsk  tgtag. 
tg$dQ  di  i(fn  noiinjta,  iv  ä  atgofp^  dvtiatgo(pog  aal  inmdog,  —  Auf 
fol.  149«  unten  steht:  7a>aVvov  und  ein  Zeichen,  das  typographisch 
sieb  nicht  wiedergeben  läßt,  vielleicht  =  xov  ^a  (??). — 

XVIIL  fol.  150'-156'  (?):  Akßaviov  in^ctoUfkat  (I)  x«- 
gaxT^gsQ. 

XIX.  156«:    De  gl    tofkwy.      TofA^  di  iöup  sdngsn^g  dnagti^ 

XX.  fol.  157'~164«:    die  Scholia  A  zu  Hephaestio.  — 
Vergleichen  wir  diesen  Bestand  des  Codex  D  mit  dem  von  E  S, 

so  zeigt  sich,  wie  nah  verwandt  die  beiden  Sammlungen  sind.  Und 
zwar  reicht  diese  Verwandtschaft  vom  Anfang  beider  Handschriften 
bis  zur  Nnmmer  XIV  in  E  =  XV  in  D ;  was  darauf  folgt,  ist  jeder 
einzelnen  eigentümlich.  Im  Uebrigen  ist  E  S  reicher;  er  bat  die 
Stocke  IV,  V,  VI,  1—5.  und  XII-XIII  allein;  die  übrigen  sind  in 
D  so  geordnet,  daß  IX — XI  an  der  Spitze  stehn.  Die  Nummern  des 
ES  folgen  also  in  D  so  auf  einander: 
1)  IX,  X,  XL 

2)  n,  m,  VI,  6-12,  VII,  VIII,  XIV. 


606  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  15. 

Auf  der  andern  Seite  steht  D  in  der  ailernächsten  Beziehung 
znm  Ambrosianns  Q  5  ord.  sup.,  über  den  Studemnnd  Anecd.  Var.  I 
152  f.  berichtet  (Q).  Die  Reihenfolge  der  Stücke  erscheint  hier  viel- 
fach verändert.  Aber  der  Text  in  Q  ist  dem  in  D  nächstverwandt 
Vor  allen  Dingen  aber  ist  es  diesen  beiden  Handschriften  —  soweit 
man  bis  jetzt  das  Material  übersieht  —  allein  eigentümlich,  daft  sie 
die  Scheuen  A  zu  Hephaestio  nicht  beim  Texte  selbst  als  Rand- 
oder Interlinearscholien  bieten,  sondern  als  selbständiges  vom  Texte 
ganz  getrenntes  Buch. 

Vergleichen  wir  den  Inhalt  von  D  und  Q,  so  ergibt  sich  Folgendes: 

Q  I  (Tricha)  =  D  XIV. 

Q  II  (Die  4  byzantinischen  Metra)  =  D  VI. 

Q  III  (Helias)  ==  D  VII. 

Q  IV  (Herodian)  ==  D  VIII. 

Q  V  {nsQl  toiiwv)  »=  D  IX. 

Q  VI  {Dtql  noÖÄv  igf»^yeia)  =  D  X. 

Q  VII  (Jtowoiov  nsQl  nodwr)  =  D  XI. 

Q  VIII  (Isaac  Tzetzes)  =  D  XV. 

Q  IX  (Metrische  Piudarscholien :  Einleitung  und  Scholien  zu 
Olymp.  II  bis  Pyth.  I;  für  Olymp.  I  ist  eine  Lücke  gelassen.  Das 
Ganze  offenbar  identisch  mit)  =  D  XVI  und  XVII. 

Q  X  (Scholia  A  zu  Hephaestio)  =  D  XX. 

Q  XI  (Libanius)  =  D  XVIII. 

Es  folgen  in  Q  Coluthus  und  Tryphiodor,  die  D  nicht  hat  Es 
fehlt  also  der  ganze  Anfang  des  D,  dessen  Nummern  I— V  (d.  h. 
Joannes  Tzetzes,  der  kleine  Tricha,  Scholia  B  und  Hephaestio  selbst), 
ferner  XII,  XIII  (der  metrisch-rhetorische  Traktat  und  die  /7a^f), 
endlich  XIX  (das  kleine  Stückchen  Hegi  tofiwv)^  welches  in  D  auf 
Libanius  folgt;  wobei  zu  beachten  ist,  daß  in  Q  vor  Libanius  drei 
folia  leer  gelassen  sind. 

Was  die  Reihenfolge  betrifft,  so  hatQ  nur  das  Stück  XIV  des  D 
vorangestellt  und  am  Schluß  XVIII  (Libanius)  hinter  XX  (Scholia  A) 
gesetzt  Sonst  ist  auch  die  Reihenfolge  genau  dieselbe,  d.  h.  I)  XIV. 
2)  VI— XL  XV-XVIL  XX.    3)  XVIII. 

Es  ist  klar,  daß  Q  und  D  zum  mindesten  Kopieen  ein  und  der- 
selben Vorlage  sind,  was  auch  der  Text  da,  wo  ich  beide  verglei- 
chen kann,  bestätigt 

Ich  lasse  nun  die  Nummer  XIII  des  D  hier  folgen.  Kollatio- 
niert ist  außerdem  S  (vgl.  oben  p.  605): 

Daptdg  di  f^ivgov  Ijf  nd^fj  ctai^  ttatd  fAhf  nXeo^aOfkop  tgla  »al 
xai'  iXlettpty  tQia.  natd  fiiv  nleovaofkov  stot  vat^a  *  nqoni^aXov 
td  nqi  fi^c  %ov  aiixov  Msq^ak^^  b%ov  fkiar  ntq^ca^p  cvXlaß^r^  «(  ti 


Schoell-Stademand,  Anecdota.    B.  L  609 

J»C  o  tav9^  mQfuwvt  {pqpuuvs  P  S)  natd  ifqiva  nal  uaut  ^f$dv 
(A  193  u.  Ö.)  *€tl  ta  ofio#a.    nQO»oiX$ov  %d  »a%ä  fiiaov  %ov  ctlxop 

fi^^v$v  ä^9  x^sd  </7fili|^{adtfa»  ^Ax^Xrio^  (A  1)  ual  td 

&wQ^*ag  ^^rdg  ts  di/tmt^  dftfpl  tnff^&imv  (B  544)  uai  %ä  SfioiflR» 
d  o  Xhxo  ovqo  v  to  fAaxgoaxsXdg^  fo  nsgl  %4Xog  Sxov  nsq^tw^v  ffvXXa-* 
ß^Py  f  dnXfSg  ty  iu  (n;i^*Ci/<'««(,  mg  to 

KdcioQa  v^'  Innddafkoy  <xa)  nv^  aya&dv  FloXvdstjnea'^  (f  237)  iroi 

KvuXmtff  «gf  nl«  oft^or  (ofoF  S)  ^fr«»  ifdy^g  {fdysp  SP,  in  P  COr- 
reetam)  dwdgofMa  (-(Aa$a  S)  x^^a  (*  347).  fa  <)d  traf'  SXXet^^v  %av%a* 
d  ni  (f  a  Xov  to  iv  d^^xi  ^tixov  Xetnoy  cvXXaß^^  f  in  Mo^yiJQ  cvXXa^ 
ß^g  f  anXmg^  tig  to 

ig  ^dff  td  V*  idyta  td  if  IfSCo^va  ngd  if  idvta  (A  70)  nal  td 

in$$dtj  p^ag  ts  xal  iXX^tfnovtop  tuopto  (V^2).  f$€  <r6  x  Xa  (ttop 
(^»Xavtnor  P)  %d  natd  fiiaov  Mior  ifvXXaß^gj  ijf  »over  no§VifVj  «if  sfnoPf 
^  f^dtiiv,  f0(  to 

ßriv*  {ßifi  P)  c{(  aioXov  nlvtd  deSfuxta^  td  3i  ntxavov  (E  60) 
ndi  to  («d  om.  P) 

wtQVvc  dl  yiqovta  naq^tafkivfi  inhaa^  (T  249)  (asiovgop  td 
ofiotmg  tovtotg  Sp  (corrig.  ip)  tu  teXtvtaUf  nodi  avXXaß^g  ipÖBtp 
(corrig.  ipdiop\  tig  td 

Tqweg  &  iQQfytiCop  iml  Hop  {Mop  PS)  alöXop  Stpip  (M  208) 
nal  td  ofAOta,  — 

Id  mehrfacher  Beziehang  ist  yod  Interesse  die  Nummer  XVI  des 
D,  ein  Auszug  ans  Hephaestlo«  der  der  Analyse  pindariseher  Stro* 
phen  vorausgeht.  lob  drucke  ihn  aus  D ;  selbstverständliche  Accent- 
Verbesserungen  lasse  ich  unerwähnt.    Er  lautet  wie  folgt: 

Td  iafäßtndp  fkitqop  natd  (tip  tag  ruQttidg  X^Q^^i  ^/OVP  d  <^'> 
na\  h\  dixfjat  iafAßop  tQlßqaxyp  anopdeXop  ddntvXop  dpdna$(noPy  natd 
dl  tdg  dgtiovg^  tovtiitu  devtiqap  utdQtipf  nal  tnttjp,  taf$ßop  tqißqaxw 
nal  dpdna$ötop,  — 

To  tQOxaSnöP  (kitqop  natd  fitip  tag  niQ&tftfdg  x^Q^^  di^sta^  tQO^ 
XaTop  tqißqaxvp  nal  ddntvXop^  natd  dl  tdg  dqtUwg  tovtWfg  ts  (vi  D) 
nal  anopöitop  nal  dpdnaKfwop,  — 

Td  dantvhndp  ikitqop  d4x^ta$  daittvXovg  nal  ffnopdtlovg  natd  nä^ 
aav  x^Q^^  nX^p  tijg  tsXiVtalag'  inl  tattf/g  64,  ei  fAiP  dmatdX^ntoP 
tttj,  ödntvXop  i^Bk  ^  <d»a>  tijp  ddkdifoqop  ngi^ndp^  st  dl  xafoi^M»- 
ndp,  td  dvf  aitov  ftBfAStmfAipa  ^  (tf  D)  ovXXaß^,  nal  nataXtjnnndp  stg 
diCvXXaßop  naXettu$^  f  (if  D)  dvo  fSvXXaßaXg^  nal  naX$Xta$  nataXffnU' 
nop  itg  cvXXaßijp.  inhf^fi^op  di  td  ij^dfutgop  natai^nundp  sig  d$(fvXXa' 
ßop  td  Xs/dfABPOP  inog,  wg  ^ia^p^p  dstös*  (A  1)  -— 

a«U.  gol.  Aat.  18S7.  Nr.  15.  42 


To  oioAfx^y  (a2«ft2>«otf>D)  td^(ti  D)^  m4v  frfiSmr  %«  ^od»  li/»  (a  D) 

^  x^i^nxd»'  dic^  TO  4it(i(poq9V^  %^^  ifvXlaßl^j  $1  icnv  dxamiXiixtov^  cl  öi 
WHÜL^nuxdv  ci^,  iauß  (!)  ««i  «a  J«  <at/fOtf>  i»ißfkum^kiva    st^  i^lkaßov 

%6v  xciQ^^o  (X^Q^  ^^  I))  Mivc^vu  Halji^tftu  {nd  idffifat  !>)*  (Ale,  fr. 
46,  1  B.).  - 

To  dvcinakfftHU^  ncffd  fmtsav  x^iQo^  d4xs9m  ifmvdi^^y  d^tdnffttnoy, 

ddxmXov..  «led  di  ait^i  v«r  Mi^  fi$^  «aw)  cnrCt^r^aN  drnt^^vi^ivw}'  hn^Q^ 
xatakfjutov  elg  dttnUXaßoy,  vneQuavdl^xtov  et^  avUmß^M,  dumtdXtixwovi, 
xavali^ntixiy  et^  dygüAaßov,  xatmkifmsmäy  el;  mUiMß^v^  ßQuxV'^^'^^f' 
Nfox.    irUtHifAor  di  iv  adttS  ti  u%qdpiAtQü¥  xmtaJ^nmxiu  dq  wUttßijy, 

St^  iym,  %ä  dUai,  aXiyfov.  f^y&ovv,  xal  (r<o.  (pqoovy^,  {ompK  QOtfdu^  D) 
v$ydßAa%d!.    (Aristoph»  Wolken  962)^ 

Mfkin%Q9t  n^ig  tag  ktfkßtxdg.  coc  inhtw  <K.  &%s  nn^aAt^xunov  imWj  th 
nawiajh^  ^i^moifM  [^]  i^ß%x^  [m  ^^^l  Mrr  tmy  ifStiyag  o»,  di 
%QO(faV  (fr.  lyr.  adesp.  70  B.)],  f  sU  dfAfpißgaxvH,  olc  ,o^«  Mg  «j*  y^ 
vetJ^ßg'  (AriBtopb.  fr.  10  Kook)  f  ^  ßamxitov  Ak4  ^  dd^d^oq^y,  tig 
^daxQvosao.  ay  t'  itpU^.  asy  aixßdy*  (Anacr.  fr.  31  B),  ij  dg  (faxtv* 
Xqv  f  4g  uQfi^iiy  dnx  «d  ddkd<pQQffy  %^g  uUv^img,  <«»£  «^4  X$dy. 
%mv  a^ivog  oi.  dh  %HQtp»i>.  ^Avau^ifm  di.  im^fßi»^^  \^  nqmtfiy  ov^ 
ivyia3^  iu  ^ftgdx^g  nai  läfkßpv  nok^^a^  **-  oi^$v  Urmg  nfid  xo^mt/k^it 
xdy  inlij^ii  ncttd  A^y^y^*  imXXoy  rdQ.fQQX^<»^ß*»oy$  oftti^  naXfXffi^tu 
äy^f^Xf  — ,  qfQy  %ß  ^dyan^^o^k^^  (dyanjito,  pkM  D)  d^  ng^  "(XXvfk.  noy 
n99gvy^04  tf«  novgi^H  {Hwigiatc  Hy  (AnactT-  fr.  34,  I  B.).  ^^ 

7M  dyu0ua(mniy  t^y  fi^y  a  avCyyhy  ex^  %g9nof$4yi^  n^nd  tiy 
ngoTsgoy  noda  elg  td  tiaaaga  axi^ftata  td  d^fvllaßa,  «die  di  iy  fUa^ 
Mi^agdc  dy%^nm^i^g^  «^  d^  tsi^vtc^^w,  9ni%^  icüx  d»ßtdl^*tog 
iui^ß^i^y^  id9(  di  dveff^iayiivu  tntg  ia§kßixMk,  qv  i^dyw  (#«rfy  D)  %%y 
ngoSt^y  fSv^vylay  8X€$  tgenofkiyfiy  xcad  fQ#f.  ngdugoy  iprodd,  iXlA  sol 
<f^v>  uxjg  iaftßinatg  inofkif^iy*  S<fH  di  jf«  Hßl  id0tvi^  ^.  n^itegog 
now  etg  tgtßgcix^^'  ^^^  ^Q^  ^  di^k$tgQy  «•^mpcmifo»'.  Wfo*  4il  ^w^^ 
«Q^  r  ^^jC  i  ikokyiiaig  (fn  lyr.  iidesp«  79,  1>  B.) 

TV  (f^  ^f«»«)'»«^!^  bW^  sxet  tgia^  td  te  ng^t^iy  wal  td  /JanxcMi- 

xdy  uai  to  nahikßaxxshaxov,  duya  xal  dixoytat  Mtfi^g  stg  tohg  xalov- 
Ikivovg  natwyag.  imttjdevovct  di  Sy$Oh  uSy  nonitdiy  tovg  ngtitovg 
naiwyag   (es  folgt  twy  noifjtwy^   aber  aasgestribhen)   nagalafj^ßdy$$y 


Sehoell-SlQdaMBd»  Aaeedetii.  B.  L  611 

•vnt  «^  /loilv^^vAilfvo»'  ftff^ofMf^ey  iii^(toMM»^  (<iv»^n^^<»tf»^  'richtig 
H«ph«68tio)*  ^m  n4h  94»  Alf  J^Ae^fio^.  ^imfvii  (^iPtH^^  D)«  dtuxijj 
(Aristopb.  (t.  liO  Kook) 

ixety  ohy  inX  danwhnov'    jfiü&  Sys.  xtuXiiO,  §§»  &^a  teg  J$4q'  (Alc- 

man  /n  45,  1  6»)»    ma%aifiiitutd  6iy   00»  fA^mmfkipov   exß^   {8%Pi  fkSfk, 

darüber  y  ß  D)  tiv  wlavtcaot^  noi^ ,  oto¥  i^  Utpßntw'  ,k«^k  & 

vftfK  ^a  xa^  i^n^  «TJ  /a^.  ^(^('  (Sappbo  fr.  103  B>X  'c^*'  ^^  ^g^l* 

XaßoQ  ^  d  noi^  6  avvhüMV  {cvvk^nAv  D)  ti  ykixqov^  dvvatiot^  u€^  ikhqd 

dvo  0vXlaßd€  shtu  td  Mct^al^nfMtöy^   <iXov  ini  ikmtuhxdC*    Jp  di  Ba. 

vovtfm.  dffg^  (Archil,  fr.  104,  2  B.)-    ivtav&a  ydq   17  d^q  (d^q  D)  ftvl- 

laß^    ävii    dantvlov    usttcu    XQ^ftvilhißov,   inl  di  uSp  tOMVuiiV  td  fkiv 

nagA  avXlafi^v  uaXsttiu  mtudi^uMiff  $ig  SufiHetßov  {diovXlaßkty  D), 

td  iM  nofd  6vQ  avlXaßa^  ««JUVfa»  nautl^nn^p  vIc   o^XXetßijy.  figa^V" 

ttatdhinta  di  »altttak,  oCa  in  d^nodUf^  iiü  tiX^ViiXtf  nodi p€fk$iwtn$^ 

otov  inl  iaf$ßiwov  (so    Hepbaestio,   lafkßlm  D)*  ^uy^  ait**   (ai*  ^  D) 

1^  of  {0$  D).   »ov  tip-  Kaifi*  alnnm*  (fr%   lyr.  adesp.  45  B.)   iptai^a 

ydg  i  ^fflnn»^  novg  dptl  SXtf^  laf^ßtu^g  »eUcu  i^noHa^^  W  ij  tgl/A€9gop. 

vnsgtmmXfitna   di,   Stfa   ngd%   tä  tsXtifj^  ngwiXaßßdvOwh  ß4(0Q  trodd^^ 

ohp  inl  lafAß$Mov*  ^ftXt^iu  %d  ftt'  Sg^p  mt*  fktrig^  %4  w5v*  X*^^^  tdv\ 

dvpooai  d^    nal   d$avXXdß^   nagsnsvuv  inouiP  iudvsgo^  {infix^gOP  D) 

%mv  i¥  %^  Ksvtvyiq  nodwp  tggavXXaßog  \-ßop  D)   9  otov  in'  ivana^ot^ 

MOV'    Jf   (oid'   D)  "Ag-   m/u««  ä  (na  D)'    nögtn'  (Telesilla  fr.  1  B.)» 

fot/fo  ydg  ngdg    wf   iXonXijgtf   avCvylq  dutvXXaßow  eax9  tdv  (%i  D)   f6- 

XevtaXoy,   — 

T6  tmp$Mdp   (kitgop   6&n6¥   itfn,    %d  #*^r   dnd  fui^opoi  «i  &  dvf 
0 
iXctfUfovo};  {'OÖ6V  D).  (ftpH9txtx$  otv  nal  xa^  äitd  SfHntop  avpti&sta$ 

di    ttal    ngdt;  «<rg  tgoxaUdg  (fp^vykc^^    tig   cVfkßätpHp  (inotsXst<f9a$  i» 

toitmp  naitdpag  u  ntx\  y\  imtgitoi)^  f  {Mo  D)  *ai  9,  $1  filv  ydg  and 

paKoPO%  BXti  «dl  ti  fT^cJff  TC^g^  ^^  tgox^iiOP  dt^^^h  ^ohst  top  näimpa 

<a>   —uuu,  tatd  di  Hjp  6$ttigap   x^H^^   ne^fJ^^ov    foi  tgoxohv  yU 

pstat  o  &  initgttOQ  ^.    it  di  an'  iXatraoPog  €«f  xal  ^  a  x^9^ 

^^  T^oxtttoy  dixita^^  nöi^t  tip  Ssdtegop  inltgiiOP  —  ^  —  — ^  tgoxcctov 

a  «ofd  t^p  dovtigap  ftigaP  n€$tl^iPOV  dn&nXtUm  6  y  naimp 

ict$<p>  o%s  ^  ik^p  tgitfj  nmtoPhnil  ftvpa$getta$  elg  naX$(Aßaxx9$op,  %ijg  Si 
inkifsgofkipff^  tgoxatu^g  t  ngdtsgog  Xvetat  aU  tgißgaxvp.  df/^nimovat  di 
nal  ol  fkoXottol  ip  tov%o$g:  dU!  ip  totq  dnd  fMl^opog  iwpucoXg  inl  %mp 


KJ    \J 


ei2  Oött.  gel.  Ans.  1887.  Nr.  16. 

änd  fkBlißvog uu,  df^  iXaMoroQ  \j\j .  — 

Ji%s%ah  %i  n$viaQtn6p  hu%oqi€tp^ß^nov  natä  t^v  d  xaaQav  dvtUma^ 
CtoVj  ncttd  %^v  devtigav  %OQiay^ov^  uatd  v^v  tgltifv  taftßov  srnri  <rt»A- 
Jiaßij¥  ddhdtpoqov^  Aq  cha^  td  Slotf  ipöeuattvllaßop,  öJop  ^6  fAOvaayi' 
tag  fM  naXst'  xoq$v'  fSaC  (Pind.  fr.  93  B.).  — 

Tö  di  Safup$Kdv  uatd  ndvtct  to  aitJ  ifn$'  nXi)v  Mcnci  t^p  d  x^- 
Qav  dixB%a$  i?Ktl  dputfnd<ftov  üvj^vyiar  tqox^tnifv  f  i^dtnifiOP  _  u  —  u 

^  imdai/fAoy  ovtmg  «.u ,  diHs  %i   nagöp  ßiXuov  slvat  Sanq'iudp 

^  n^vdaqinöv,   — 

0^  Xsin^  (!)  iy%avS^  (wohl  ans  iptaD^a  korrigiert)  wc  juo*  donate. 

Vf. 

Atif  eine  Würdigung  der  einzelnen  jetzt  zum  ersten  Mal  erschei- 
nenden metrischen  Texte  kann  ich  hier  nicht  eingehn.  Es  würde 
das  die  Grenzen,  einer  Besprechung  —  wenn  sie  auch  noch  so  weit 
gesteckt  wären  —  überschreiten.  Es  genüge  der  Hinweis  darauf, 
dafi  wir  im  vierten  Hauptabschnitt  (p.  211 — 237)  jetzt  endlich  den 
Anonymus  Ambrosianus  vollständig  besitzen ;  und  zwar  ist 
p.  213—221  und  232,  11  bis  zum  Schluß  neu.  Durch  die  Oefällig- 
keit  eines  philologischen  Freundes  besitze  ich  seit  Jahren  den  grOß> 
ten  Teil  des  jetzt  neu  hinzukommenden  Textes  in  einer  zuverlässi- 
gen Abschrift  und  weift  den  Wert  gerade  dieses  metrischen  Werk- 
chens zu  schätzen.  Eine  zweite  Handschrift  desselben  scheint  nicht 
zu  existieren.  Die  Appendix  zu  diesem  Texte  (p.  237 — 247)  ist  an- 
deren Geistes  Kind:  das  sind  sehr  gewöhnliche  Besprechungen  der 
den  Byzantinern  geläufigsten  Dinge,  Besprechungen  die  man  aas 
Bandschriften  noch  beliebig  vermehren  kann.  Ein  hübscher  Fund 
ist  dagegen  der  Anonymus  Berolinensis  über  die  zwei-  bis 
sechssylbigen  VersfÜfte,  der  gerade  noch  in  den  Corrigenda  et  ad- 
denda ein  Plätzchen  gefunden  hat  (p.  293-— 298):  Eine  Liste  der 
zwei-  bis  sechssylbigen  Versfttfie)  nahe  verwandt  mit  Dio- 
medeSi  im  16ten  Jahrhundert  niedergeschrieben.  Die  litterarhistori- 
sehen  Beziehungen,  die  Studemund  p.  293  andeutet,  verdienen  wei- 
teres Nachspüren.  Was  hat  Micyllus  faktisch  benutzt?^  Das  muft 
ermittelt  werden.  Dieser  ganze  Anonymus  Berolinensis,  aus  dem  wir 
natürlich  materiell  nicht  viel  lernen,  ist  doch  für  den  Kenner  der 
metrischen  Litteratnr  eine  Ueberraschnng. 

Von  den  übrigen  dem  dritten  Hauptabschnitte  angehörigen 
Schriften  verweise  ich  besonders  auf  den  Neudruck  des  He  lias 
M  0  n  ac  b  u  s  (p.  167 — 184).  Der  frühere  Druck  beruhte  auf  der  schlech- 


Anberättelse  fr&n  Sabbataberg^  SJnkbas.  VII.  618 

ten  HandBcbriftenklasBe,  die  den  Text  bis  zur  totalen  ünlesbarkeit 
verball  borate.  Wer  lernen  will,  wie  weit  die  Textverbunznng  in 
Handsobriften  gebn  kann,  der  vergleiehe  die  beiden  Oestalten  diesefl 
Bncbea  mit  einander. 

Anf  den  Text  der  einzelnen  Traktate  einzagehn,  ist  mir  bier 
unmöglich.  leb  werde  das  an  anderer  Stelle  thnn.  Aeafterst  wert- 
volle Beiträge  zur  Textgestaltnng  im  Einzelnen  verdanke  ich  brief- 
lichen Mitteilungen  des  Herrn  Akademiker  A.  Nanck.  Ebenso  macht 
er  mich  daranf  aufmerksam,  daft  die  p.  198  edierten  Verse  des 
Psellas  negl  toS  taftßixov  fkitgov  »in  teilweise  schlechterer,  teilweise 
besserer  Gestalte  von  ihm  gedruckt  worden  sind  in  den  Melanges 
Gr^o-Rom.  II  p.  492  f.  und  vor  ihm  von  Piccolos  Sappl.  k  TAntbol. 
p.  218 f.;  feraer  daft  im  Codex  Hilferdingii  (cf.  Melanges  Gr,  R.) 
als  18ter  Vers  auf  die  17  in  den  Anecdota  V.  gedruckten  derselbe 
Vers  folgt,  der  in  den  Anecdota  V.  p  193  aus  dem  Venetns  K  ge* 
druckt  wird: 

Mai  1887.  W.  Hoerschelmann. 


Arsberftttelse  (den  sjande)  fr&n  Sabbatsbergs  Sjakhus  i  Stockbolm  för  1885, 
afgifven  af  Dr.  F.  W.  Warfvinge,  SJakhusets  Direktor  och  Oefverlftkare 
vid  dess  medicinska  afdelning.  Stockholm,  Isaak  Marcus  Bocktryekeri-Ak- 
tiebolag.     1886.    170  Seiten  in  Oktav. 

Der  vorliegende  Jahresbericht  enthält  auBer  statistischen  Notizen 
ttber  den  Erankenbestand  in  dem  großen  Stockholmer  Hospitale  und 
seinen  verschiedenen  Abteilungen  verschiedene  höchst  interessante  Ab- 
handlungen, die  sich  anf  Beobachtungen  in  der  medicinischen  und 
chirurgischen  Abteilung  beziehen.  Zwei  dieser  Aufsätze  rtthren  von 
dem  Direktor  der  Anstalt  her;  darunter  ^ie  bereits  fttr  das  Vorjahr 
in  Aussicht  genommene,  aber  wegen  verspäteten  Druckes  zurückge- 
stellte Arbeit  tiber  die  antipyretische  Behandlung ,  anf  welche  man 
um  so  mehr  gespannt  sein  konnte,  als  Warfvinge  in  Bezug  auf  diese 
seit  langen  Jahren  einen  selbständigen  Weg  gegangen  ist.  Er  hat 
sich  in  verschiedenen  frttheren  Aufsätzen  als  einen  Oegner  der  von 
Liebermeister  aufgestellten  und  bei  uns  ziemlich  allgemein  geglaubten 
Theorie  der  deleteren  Aktion  hoher  Fiebertemperaturen  erwiesen, 
und  wenn  er  sich  anf  Krankenversuche  mit  den  in  den  letzten  Jah- 


SU  aott.  fek  Aas.  1887.  lür.  Mi. 

reo  10  größerer  AAzabl  ao%etfeteneii  sog.  Atttipyi^tiM  «itigelasseii 
bat,  Bo  war  nictit  seine  Absicht,  das  Fieber  als  Todesursache  z«  be-> 
käflApfea,  SMiderD  anter  deo  bekaBnÜich  ja  meist  anefa  (tolniswidrig 
wirkenden  Antipyretica  ein  Mittel  zn  finden,  das  «ineB  besonderen 
Einfloß  aof  diese  oder  jene  lufektioa  bedingeade  Noxe  iiafterte  and 
dieselbe  ftlr  den  OrgaDisuns  weniger  gefäbrlicb  snachle.  Waifviiige 
ist  ein  entschiedener  Gegner  d^  Ealtwasserbebandlang  des  Ty[»hvB 
som  Zweck  der  Herabsetzung  der  Körpertemperatar,  obsebon  er  eine 
stimulierende  und  roboriereude  Wirkung  von  abkühlenden  Bädern 
auf  das  Neirensystem  nicht  in  Abrede  nimmt,  und  erklärt  die  me- 
dikameatöse  Antipyrese  für  bedeutend  einfacher,  beqaemer  und  si- 
cherer als  die  hydropathische.  In  Bezug  auf  die  einzeloen  Anti^iy« 
retica  betont  er  die  lange  Dauer  der  allerdings  spät  zur  Gtoltnng 
kommenden  Wirkong  des  Chinins,  wobei  er  die  günstige  Aktien  bei 
typischen  und  nicht  typischen  Infektionskrankheiten  jedoch  nicht 
auf  den  antitbermischen  Efl^ekt,  sondern  auf  die  antiseptiscfaen  Eigen- 
Schäften  in  Bezug  auf  das  Kontagium  selbst  surttekführt  Die  fieber- 
herabsetzende Wirkung  der  Salicylsäure  nennt  Warfvinge  eine  ra- 
schere, aber  weniger  dauernde;  wirkliche  HeilefiPekte  gab  ihm  das 
Mittel  nur  bei  Rheumatismus  acutus,  nicht  beim  exanthematischen 
und  Abdominaltyphus.  Eine  sehr  große  Erfahrung  hat  Warfvinge 
über  die  Wirkung  der  Karbolsäure  bei  Typhus  abdominalis,  wo  er 
zu  dem  Resultate  gekommen  ist,  daß  das  Verfahren  der  Karbolsäure- 
klystiere,  abgesehen  von  den  deutlichen,  wenn  auch  nicht  ttberaua 
großen  antipyretischen  Effekten,  ausgesprochene  Wirkung  auf  den 
Krankheitsproceß  hat,  den  es  mildert,  abkürzt  und  weniger  gefähr- 
lieh  macht  Als  besonders  auffällig  bezeichnet  der  schwedische  Pa- 
thologe die  durch  Karbolsäore  bedingte  Besserung  der  Apathie  und 
die  Abkürzung  der  mittleren  Dauer,  die  in  178  Fällen  nur  23,1  Tage 
gegen  28,4  bei  expectativer  Behandlung  (331  Fälle)  betrag.  Aller- 
dings kamen  11  (ca.  6,8  Procent)  Todesfälle  vor,  jedoch  nur  2  in 
Folge  der  Infektion,  in  den  übrigen  neun  dagegen  in  Folge  von 
Komplikationen  oder  von  Nachkrankheiten.  Hydroehinon  und  Re- 
sorcin  lieferten  zwar  rasche,  aber  kurze  Fieberabfälle,  auch  keine 
Besserung  des  Allgemeinbefindens,  das  namentlich  bei  Resorcin  ein 
sehr  schlechtes  war;  doch  ist  allerdings  in  Folge  dieser  Erfahrungen 
das  Beobachtungsmaterial  ein  geringes.  Thymol  wurde  in  Klystie- 
ren  sehr  gut  und  lange  ertragen,  in  einem  Falle  sogar  65  Tage; 
der  Effekt  war  aber  schwächer  als  beim  Phenol  und  eine  Abkür- 
zung des  Verlaufes  im  Typhus  nicht  ersichtlich;  Naphthalin  war 
ancb  ohne  antithermischen  Einfluß.     Der  antipyretincbe  fiftkt  des 


Arsber&tMse-  Mb  SabbaMerg»  SJikhus.  YU.  615 

OktB^tiB*  war  »war  ein  mebr  daaerndev,  aber  afibedeutendeiF  und 
wenig  either;  der  Krank heitsverlau^  warde  dadurch  nicht  verktlret; 
Id  Bezug  aaf  Rairin-  u«id  Antipyrin  beetätigte  WarfVioge  die  deut« 
sehen  Erftthrvogen,  welche  das  letztere  wegen  der  länger  daaeraden 
Apyrexie  «ad  des  Mangelns  sekaadärer  Fröste  als  weit  zweekmäftige^ 
res  Medikament  erscheinen  lassen.  Die  Letaiitätsverhältnisse  ieien 
beim  Antipyrin  Ewar  nicht  sehr  günstig  aas,  doch  sind  von  den  7 
Todesfällen  wohl  3  abatiziehen,  bei  denen  Antipyrin  nor  1 — 3  Tage 
angewendet  werden  konnte.  In  Being  auf  das  Thaltin  hält  er  die 
Darreiebang  kleiner  Dosen  nach  diem  Vorgange  von  Ehrlich  nnd 
La^aer  im  AUeminaltyphns  fllr  die  geeignetste,  aoeh  schreibt  er 
dem  Ifittel  einigen  Einflnft  auf  den  Krankheits?erl«Qf  bei  Rheuma* 
tismas  acnlns,  bei  Intermittens  and-  yielleioht  sogar  bei  Erysipelas 
zn.  Besonders  die  Erfahrangea  mit  dem  letzteren  Mittel,  dann  die 
längst  bekannten  Effekte  des  Chinin  bei  Malariainfektion  nnd  der 
SaUcylsänre  bei  akuten  Rheumatismas,  sowie  die  der  Karbolsäore 
im  Typhas,  begründen  die  Ansicht  des  Verfassers,  daA  es  sich  bei 
der  Heilwirkong  der  Antipyretica  nicht  sowohl  am  deren  antither- 
mischen-  Effekt,  als  am  eine  speoifiscbo  Wirkang  aaf  das  Kontagium 
handle,  so  daß  es  als  die  Anf^gabe  der  M«dicin  erscheine,  nicht  anti» 
pyretische  and  anti bakterielle  Mittel  ttberhaopt  zu  Sachen,  sondera> 
solche,  welche  ftlr  jede  einselne  Krankheit  besondere  Wirkang  be- 
sitzen. 

Ein  zweiter  Aofsatz  WarfVinges  behandelt  die  Therapie  derMe^ 
Dingitis  toberoalosa  mittelst  Jodoform,  die  im  Sabbatsberger  Kranken- 
haase  so  yorzttglicbe  Resultate  gegeben  hat,  daß  es  notwendig  wird, 
auch  bet  oas  Ton  diesen  Beobachtungen  Akt  zu  nehmen.  Es  han- 
delt sich  um  5  Fälle  einer  bekanntlich  bisher  nahezu  h^ffnungelosen 
Affektion  durch  Eiareiben  einer  starken  Jodoformsalbe  (1 : 6)  auf  den 
Fasierteii'  Kopf  and  Bedecken  desselben  mit  einer  Mtttze  aus  imper«- 
meablem  Taft  Daß  das  angewendete  Verfahren,  bei  welchem  dia 
fragliehe  Einreibung  2  mal  täglich  yorgenommen  wird,  erst  bei  län- 
gerer Dauer  Resultate  gibt,  ist  a  priori  selbstverständlieh,  nnd  man 
wird  sich  daher  nicht  wandern,  wenn  wir  dasselbe  auf  30  bsw.  32 
Tage  ia  aw.ei  Fällen  aasgedehnt  finden.  Ueberrascht  wird  aber  ein 
Jeder  sein,  daß  die  fünf  von  Warfvinge  damit  behandelten  Fälle  eben 
sämtliche  Fälle  waren,  die  im  Krankenhause  vorkamen,  so  daß  also 
ein  Miserfolg  bei  keinem  beobachtet  wurde.  Die  schwedische  Litte- 
ratnr  bat  übrigens  noch,  zwei  weitere  Fälle  von  Nilsson  und  Sondin, 
in  denen  das  Jodoform  schon  nach  weit  kürzerer  Zeit  wirkte,  auf- 
zuweisen.    Daß  es  sich   uo)   diagpostiscbe  Fehler  handele,  ist  ja 


1 


616  Q6U.  gel.  Ans.  1887.  Nr.  16. 

a  priori  nndeokbar  and  nmch  DorcblesuDg  der  beigefUgten  EraDken- 
gescbichteD  Warfvinges  wird  gewift  Niemand  das  za  bebaupten  wa- 
gen. Der  Verfasser  weist  Übrigens  darauf  bin,  daft  aocb  scbon  Mo- 
lescbott,  als  er  1878  das  Jodoform  empfabi,  anter  Anwendang  ?on 
Jodoformcollodium  und  Jodoformsalbe  in  ö  Fällen  von  tabercolöser 
Meningitis  drei  günstig  verlaufen  sah.  Unbekannt  scbeinen  dem 
Herrn  Verfasser  die  ebenfalls  sebr  günstigen  Erfahrungen  von  Coes- 
feld (Deutscbe  med.  Wocbenscbrift  1881.  Nr.  37.  S.  405)  über  Jodo- 
formcollodium bei  Meniogitis  taberculosa  geblieben  zu  sein. 

Eine  Abbandlang  von  Dr.  P.  Söderberg  über  blutige  operative 
Behandlung  der  Fractura  patellae  teilt  zwei  auf  der  cbirurgiscben 
Abteilung  des  Hospitals  operativ  0^ehandelte  Fälle  von  Kniescheiben- 
brach  mit,  wobei  jedoch  nur  einmal,  in  einem  ganz  frischen  Falle,  gün- 
stiger Erfolg  vorbanden  war.  Ein  grofter  Teil  des  Aufsatzes  ist  der 
Besprechung  der  ausländischen  Litteratur  über  diesen  Gegenstand 
gewidmet,  welche  ebenfalls  einen  wesentlichen  Unterschied  der  Heil- 
resaltate  bei  frischen  und  alten  Fällen  konstatiert  Wenn  man  be- 
denkt, daft  im  Allgemeinen  bei  frischen  Fällen  überhaupt  ein  ope- 
rativer blutiger  Eingriff  unnötig  ist  und  daft  bei  alten  Frakturen 
mit  Adhäsion  der  Hinterfläche  der  Fragmente  mit  der  hinteren 
Kapselwand  nur  wenig  Hoffnung  auf  Erfolg  ist,  so  wird  man  die 
Operation  auf  leicht  operierbare  Fälle  alter  Frakturen  beschränken 
müssen,  die  möglicherweise  bessere  Resultate  geben,  als  sie  die 
gegenwärtige  Statistik  aufzuweisen  hat. 

Endlich  enthält  der  vorliegende  Bericht  noch  eine  Mitteilung 
des  mit  den  Obduktionen  des  großen  Krankenhauses  betrauten  Pro- 
fessors Gurt  Wallis  über  einen  Fall  von  progressiver  Muskelatropbie, 
die  bei  einem  an  Empyem  Behandelten  zufällig  konstatiert  wurde, 
und  bei  welchem  die  Sektion  hochgradige  Atrophie  der  vorderen 
Höruer  im  Cervicalteile  des  Rückenmarks  and  starke  symmetrische 
Erweiterung   des   Gentralkanals  konstatierte. 

Die  äufteren  Verhältnisse  des  Krankenhauses  sind  gegen  das 
Vorjahr  wenig  verändert ;  doch  war  die  Zahl  der  Bebandelten  (3054) 
um  fast  300  mehr  als  im  Vorjahre. 

Tb.  Husemann. 


Fttr  die  Bedaktion  T«nBtirortUcli :   Prof.  Dr.  Bsekid,  Direktor  4«r  Q9U.  f  ol.  Abs., 
AcMoaor  der^  Königlichen  Oeeellscheil  der  WieMnechaften. 

fnüiff  im  IHtimüitiAm  Timhyt  -B^Mmußmug» 

DrmA  im  JHtimiek'tekm  Utnin^'Bmghinukmsi  (Jr.  H.  MamiMO* 


A  0  7  ' 

/ 


[      SEP  7    löB/ 

Göttingische 

gelehrte  Anzeigen 

anter  der  Aufsicht 

derKönigl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Nr.  16.  1.  August  1887. 


Preis  des  Jahrganges :  JL  24  (mit  den  »Nachrichten  d.  k.  G.  d.  Wiss.« :  JL  27). 
Preis  der  einzelnen  Nummer  nach  Anzahl  der  Bogen:  der  Bogen  60  ^ 

Inhalt:  Lnehaire,  Histoire  des  instiintions  monarcliiqiiM  de  la  France  bovb  les  premiers 
Capetiens.  Ton  SUtHdoiff.  —  Kohl  er,  Die  Sntwickelnng  des  Kriegswesens  und  der  EriegfOhrang 
in  der  Bitteneit     1.  H.    Ton  Ertbe. 

=  Eigenmächtiger  Abdmoic  von  Artil(ein  der  G5tt  gel.  Anzeigen  verboten.  = 


Lnchaire,  Achille,  Histoire  des  institutions  monarchiques  de  la 
France  sous  les  premiers  Capetiens  (Mämoires  et  documents), 
ü^tttdes  sur  les  actes  de  Louis  VII.  Paris,  Alphonse  Picard,  ^diteur,  1886. 
Yin  u.  680  S.  8^  mit  sechs  Tafeln. 

Das  zweibändige  Geschichtswerk,  worauf  der  Titel  Bezug  nimmt, 
ist  im  J.  1383  (PariS;  Alphons  Picard)  erschienen.  Die  »Etudes«, 
denen  diese  Anzeige  gilt,  sind  bald  gefolgt  und  werden  von  dem 
gelehrten  Verfasser  im  Vorwort  charakterisiert  als  eine  notwendige 
Ergänzung  seiner  verfassungsgeschichtlichen  Arbeit  Diese  hat  nach 
einem  Rückblick  auf  die  Vorfahren  Hugo  Capets  und  auf  die  Vor- 
läufer des  capetingischen  Königtums  die  Geschichte  der  französi- 
schen Monarchie  in  den  zwei  Jahrhunderten  von  König  Hugo  bis 
zur  Thronbesteigung  von  Philipp  IL  August  (987 — 1180)  zum  Gegen- 
stand, das  Interesse  koncentriert  sich  jedoch  vorzugsweise  und  durch- 
aus sachgemäift  auf  die  Verfassung,  worin  sich  die  Monarchie  unter 
Ludwig  VIL  (1137—1180),  dem  Vater  und  Vorgänger  des  Siegers 
von  Bouvines,  befand.  Das  Bild  aber,  welches  die  »Histoire  des  in* 
stitntions  monarchiquesc  von  der  königlichen  Gewalt  entwirft,  wie 
Ludwig  VII.  sie  in  einer  langen  aber  keineswegs  ruhmvollen  Re- 
gierung handhabte,  ist  vor  allem  deshalb  als  besonders  treu  zu 
rtthmen,  weil  die  Darstellung  ein  urkundliches  Gepräge  trägt  und 
weil  der  verfassungsgeschichtlichen  Verwertung  der  Urkunden  und 
sonstigen  Erlasse  des  Königs  ein   umfassendes   und  eindringendes 

Qm.  gel  Au.  1887.  Kr.  10.  43 


618  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  16. 

Studium  dieses  reichen  Quellenstofifes  in  diplomatisch-kritischer  Rich- 
tung zur  Seite  gegangen  ist.  Das  urkundliche  Material  hat  sich  auch 
in  diesem  Falle  als  das  sicherste  Fundament  der  Verfassungsge- 
schichte bewährt  und  zwar  ein  Bestand  von  Akten,  der  an  Reich- 
haltigkeit die  bisher  bekannte  Ueberlieferung  weit  übertrifft,  Dank 
den  Nachforschungen,  welche  der  Verf.  in  den  handschriftlichea 
Schätzen  vornehmlich  der  Pariser  Sammlungen  aber  auch  in  zahl- 
reichen Departementalarchiven  eifrig  und  mit  schönem  Erfolge  ange- 
stellt bat.  Einige  dieser  neuen  Funde  sind  von  Herrn  Luchaire  in 
dem  lehrreichen  Anhang  seiner  »Histoire  des  institutionsc  T.  11, 
p.  293  ff.  bereits  mitgeteilt  worden.  Indessen  was  er  hier  darbietet 
an  >Actes  in^dits  de  Louis  VII.c  ist  nur  ein  kleiner  Teil  des  sehr 
bedeutenden  Gesamtvorrates;  die  vollständige  Publicierung  mußte 
einem  besonderen  Werke  —  eben  den  nun  vorliegenden  »fitudesc  — 
vorbehalten  bleiben  und  nahe  lag  dann  der  Gedanke  mit  der  Edi- 
tion von  Inedita  eine  Beschreibung  des  den  einzelnen  Akten  zu 
Grunde  liegenden  Urkundenwesens  zu  verbinden  —  eine  Kombina- 
tion, welche  sich  auch  vom  litterarischen  Standpunkte  aus  empfeh- 
len mußte.  Denn  nicht  nur,  daß  der  Verf.  auf  diese  Weise  in  die 
Lage  kam  sein  eigenes  verfassnngsgeschichtliches  Werk  zu  ergän- 
zen und  zu  vertiefen,  sondern  außerdem  gewann  er  den  Anschluß 
an  das  Hauptwerk  der  neueren  französischen  Specialdiplomatik  und 
Regestenlitteratur,  an  Leopold  Delisle,  Catalogue  des  actes  de  Phi- 
lippe-Auguste (Paris  1856):  er  wurde  Delisles  Fortsetzer  in  rück- 
läufiger Richtung. 

Die  zu  einem  stattlichen  Bande  vereinigten  »^tudesc  bestehn 
aus  drei  Hauptstücken:  aus  einer  specialdiplomatisohen  Abhandlung 
(Garactöres  des  actes  de  Louis  VII.  p.  1 — 78),  ans  Regesten  (Cata- 
logue p.  79—348)  und  einer  Sammlung  von  Akten,  die  bisher  noch 
gar  nicht  oder  nur  bruchstückweise  ediert  waren  (Actes  inidits 
p.  349—464).  Die  diplomatische  Theorie  wird  in  sieben  Kapiteln 
vorgetragen  und  betrifft  die  Einteilung  der  Akten  in  drei  Arten: 
»actes  solennels  ou  chartes,  actes  semi-solennels,  mandements  et 
lettres  proprement  dites«,  eine  Reihe  von  Formeln  in  den  Diktaten 
derselben,  die  für  die  Datierung  maßgebende  Zeitrechnung  und  ver- 
wandte Materien,  um  in  Kap.  VII  (Examen  critique  des  prindpaux 
actes  irr^liers,  suspects  on  faux  attribuös  4  Louis  VII.)  mit  einem 
wertvollen  Beitrag  zur  Kritik  der  einschlägigen  Urkunden  abzu- 
schließen. Dem  Inhalte  wie  der  Einrichtung  nach  berührt  sich  diese 
Abteilung  der  »j^tudes«  nahe  mit  Delisles  » Introduction  c,  deckt  sieh 
aber  nicht  völlig  mit  derselben,  sondern  bietet  in  einer  Hinsieht  we* 
niger,  in  anderer  mehr  als  jene.    Das  Minns  beruht  darauf,  daß  die 


Luchaire,  Hist.  d.  instit.  monarchiqaes  de  la  France  8.  I.  prem.  Cap^tiens.     619 

meisten  der  haDdscbriftlicben  Qaellen,  ans  denen  Luehaire  fttr  sein 
AktenverzeicbniB  geschöpft  hat,  mit  zahlreichen  von  Delisle  für  seine 
Zwecke  benatzten  und  tlbersiohtlich  geordneten  Handschriften  (Gata- 
logae  des  actes  de  Ph.  A.  p.  545  ff.  Table  des  cartulaires  etc.)  iden- 
tisch sind.  Um  nun  nicht  dort  Gesagtes  zu  wiederholen,  bat  L.  auf 
eine  orientierende  Erörterung  der  Quellen  Überhaupt  verzichtet :  eine 
»Indication  des  sources«,  wie  D.  sie  für  sein  Gebiet,  Introduction 
p.  VI.  ff.  gegeben,  findet  sich  bei  ihm  nicht;  die  bezüglichen  hand- 
schriftlichen Quellen  werden  im  »Catalogue  analytique«  unter  jedem 
Regest  nach  der  zur  Zeit  geltenden  archivalischen  oder  bibliotheka- 
rischen Signatur  verzeichnet  und  wer  sich  genauer  über  sie  unter- 
richten  will,  muß  auf  Delisles  Tabelle  zurückgreifen.  Andererseits 
hat  Lucbaire  die  den  Akten  Ludwigs  VII.  anhaftenden  und  fttr  die 
Kritik  derselben  wichtigen  Merkmale  bedeutend  eingehender  b.- 
bandelt  als  Delisle  die  in  der  Kanzlei  des  Königs  Ph.-Aug.  herrschen- 
den Normen  und  Gebräuche:  während  D.,  soweit  es  sich  um  die 
äußeren  Merkmale  seiner  Akten  handelte,  im  Wesentlichen  nur 
die  Besiegelung  berücksichtigte,  hat  L.  in  dem  entsprechenden  Ka- 
pitel (p.  69 — 81)  der  Siegelbeschreibung  ausführliche  Bemerkungen 
über  Schreibmaterial,  Schrift  und  Monogramme  vorausgeschickt.  Auf 
diese  seine  »observations  palöograpbiques  et  sigillographiquesc,  wel- 
che sich  durch  Klarheit  und  Genauigkeit  auszeichnen,  beziehen  sich 
am  Schlüsse  des  Werks  sechs  Tafeln,  deren  Inhalt  dazu  bestimmt 
ist  die  Beschreibungen  des  Textes  durch  eine  Auswahl  von  Beispie* 
len  zu  erläutern.  Angefertigt  nach  der  in  Frankreich  besonders  be- 
liebten Methode  des  Sonnenkupferstichs  (Heliogravure  Dnjardin)  sind 
diese  Reproduktionen  in  der  That  zweckentsprechend:  die  Auswahl 
ist  so  getroffen,  daß  man  nicht  nur  von  der  durchschnittlich  herr- 
schenden Ordnung,  sondern  auch  von  der  innerhalb  derselben  zu- 
lässigen Mannichfaltigkeit  der  Formen  eine  deutliche  Vorstellung 
bekommt.  Die  auf  Tafel  I  und  II  vollständig  abgebildeten  Origi- 
nalurkunden (Catalogue  analytique  Nr.  156.  608,  83)  repräsentieren 
je  eine  von  den  drei  Klassen,  aus  denen  die  Gesamtheit  der  Akten 
Ludwigs  VII.  besteht:  Nr.  156  ist  ein  Mandat,  Nr.  608  ein  min- 
der feierliches  Diplom  (littera,  acte  semi-solennel),  Nr.  83 
ein  feierliches  Diplom  (Acte  solennel  ou  Charte).  Den  Unter- 
schied zwischen  der  verlängerten  Schrift,  wie  man  sie  in  der  ersten 
Zeile  der  »chartac  anzuwenden  pflegte,  und  der  runden,  aber  diplo- 
matisch stylisierten  Minuskel,  worin  der  übrige  Teil  der  Urkunde 
geschrieben  wurde,  exemplificiert  Tafel  III  an  sieben  Schriftproben 
verschiedener  Herkunft :  sie  sind  so  geordnet,  daß  für  beide  Arten  von 
Schrift  gewisae  Abstufungen  der  GrOBe  und  der  Form,  welche  der 

43* 


62a  Gott.  gel.  Ans.  1887.  Nr.  1^. 

Verf.  im  ersten  Teil  p.  70  ff.  beschrieben  hat,  saceessive  zur  An- 
schaanng  kommen.  Man  orientiert  sich  aber  auf  dieser  an  sich  in- 
teressanten and  instruktiven  Schrifttafel  nicht  so  leicht  und  bequem 
als  wünschenswert  ist,  weil  der  Verf.  die  Originale  seiner  Abbildun- 
gen nur  mit  ihrer  archivalischen  Signatur  bezeichnet  ohne  ihre 
Stelle  innerhalb  seines  »Catalogue  analytiquec  anzugeben.  Bezugs 
nähme  auf  die  entsprechende  Regestennummer  fehlt  auch  auf  Tafel 
IV  und  V  mit  Abbildungen  von  zehn  Monogrammen.  Zur  Ausftil- 
lung  dieser  fttr  jeden  Benutzer  empfindlichen  Lttcke  möge  deshalb 
eine  derartige  Reduktion  hier  Platz  finden.  Die  Schriftproben  auf 
T.  III  gehören  zu  Catal.  anal.  Nr.  246  (a.  1149),  Nr.  155  (a.  1145), 
Nr.  669  (a.  1174),  Nr.  96  (a.  1142),  Nr.  137  (a.  1144),  Nr.  72  (a.  1140), 
Nr.  457  (a.  1162).  Die  Monogramme  auf  T.  IV  gehören  zu  Nr.  253 
(a.  1150),  Nr.  763  (a.  1179),  Nr.  457  (a.  1162),  Nr.  72  (a.  1140), 
Nr.  464  (a.  1162);  diejenigen  auf  T.  V  zu  Nr.  19  (a.  1138),  Nr.  571 
(a.  1169),  Nr.  8  (a.  1137),  Nr.  166  (a.  1146),  Nr.  762  (a.  1179). 

Die  Abbildungen  von  Siegeln  Ludwigs  VII.  auf  T.  VI  entbeh- 
ren leider  jeglicher  Signatur.  Die  beiden  gröBeren  repräsentieren 
die  meistgebrauchte  Form  des  Königssiegels  aus  der  Periode  von 
1137^1154:  oben  ist  die  Vorderseite,  unten  die  Rückseite  (Rttck- 
Siegel  Nr.  1)  abgebildet.  Auf  den  beiden  kleineren  Bildern  in  der 
Mitte  der  Tafel  sind  die  späteren  Rttcksiegel  des  Königs  dargestellt: 
links  (vom  Beschauer)  das  zweite  vom  J.  1174,  rechts  das  dritte 
vom  J.  1175.  Den  früheren  Capetingern  war  der  Gebrauch  der 
Rttcksiegel  fremd:  erst  unter  Ludwig  VII.  und  zwar  gleich  bei  der 
Thronbesteigung  ist  er  eingeführt  worden. 

Unter  den  Ausführungen,  welche  innere  Merkmale  betreffen, 
verdient  das  Kapitel,  worin  der  Verf.  die  Ergebnisse  seiner  diplo- 
matisch-chronologischen Untersuchungen  niedergelegt  und  diese  zum 
Teil  in  extenso  mitgeteilt  hat  (Des  notations  chronologiques  dans  les 
actes  de  Louis  VII.  p.  25  ff.  ^)  als  besonders  wertvoll  hervorgehoben 
zu  werden.  Die  Zeitrechnung,  wie  sie  in  der  Kanzlei  Lud- 
wigs VII.  gehandhabt  wurde,  besteht,  soweit  es  sich  um  die  Jahres- 
bestimmung handelt,  aus  dem  Inkarnationsjahr  und  dem  Regierungs- 
jahr. Für  jenes  ist  als  Jahresanfang  Ostern  nachweisbar ;  die  übri- 
gen und  anderswo  üblichen  Epochen,  vornehmlich  der  Jahresanbng 

1)  Eine  Vorstudie  dazu  ist  die  Abhandlung  tou  A.  Luchaire,  Sor  la 
Chronologie  des  documents  et  des  faits  relatifs  k  Pbistoire  de  Louis  VEL  pen- 
dant rannte  1150,  Annales  de  la  facuM  dee  LeUres  de  Bordeaux^  IV  (1882) 
p.  284  ff.  Herr  Luchaire  ist  »professeur  k  la  faculty  des  Jettres  de  Bordeauzc 
und  dirigiert  das  dortige  Seminar  für  mittelalterliche  Palaeographie  und  Diplo* 
matik  (la  conference  de  pal^ographie  et  de  diplomatique  du  moyen  &ge). 


Lnchaire,  Hist.  d.  instit.  monarchiqnes  de  la  France  8.  I.  prem.  Gap^tiens.     621 

am  1.  Jannar  Bind  als  aoBgeschlossen  za  betrachten.  Was  die  Be- 
rechnnng  nnd  Umsetzung  des  Begiernngsjahres  angeht,  so  ist  zu 
nnterscheiden  zwischen  der  Zeit  vor  nnd  nach  1142:  zeigt  die 
Berechnnngsweise  während  der  ersten  fttnf  Jahre  der  Regierang  eine 
große  Mannichfaltigkeit,  indem  mindestens  drei,  vielleicht  vier  Epo- 
chen simultan  Gültigkeit  hatten,  so  wurde  sie  später  bedeutend  ver- 
einfacht: aus  der  Tabelle  auf  p.  31  geht  hervor,  daß  der  Modus  D 
(Epoche  des  1.  August  1137),  schon  während  des  ersten  Zeitraums 
stark  bevorzugt,  den  Datiernngsgebrauch  von  1143  ab  fast  ausschließ- 
lich beherrscht.  Die  übrigen  Epochen  A  (1131  Oktober  25),  B 
(1134  Januar),  C  (1135  November),  welcher  überhaupt  problematisch 
ist,  kommen  nur  noch  sporadisch  vor.  Die  in  anderen  Gebieten  des 
damaligen  Urkundenwesens  fest  eingebürgerte  Indiktionenrechnung 
und  die  übrigen  Rubriken  der  Ostertafel:  Epakten  und  Eonkurren- 
ten, welche  z.  B.  in  dem  Datierungsgebrauche  der  erzbischOflichen 
Kanzlei  von  Trier  während  des  zwölften  Jahrhunderts  eine  große 
Rolle  spielen,  sind  zur  Datierung  von  Akten  Ludwigs  VII.  nur  neben- 
bei und  ausnahmsweise  gebraucht  worden.  Einige  wenige  Einzel- 
fälle der  Art  hat  der  Verf.  p.  41  zusammengestellt  Ebendort  kon- 
statiert er  auch,  daß  die  Zahl  der  Urkunden,  die  außer  den  Jahres- 
bestimmungen ein  Monatsdatum  aufweisen,  außerordentlich  gering 
ist  Mandate  und  Briefe  entbehren  der  Datierung  überhaupt  (p.  5); 
Datierung  allein  nach  dem  Inkarnationsjahr  ist  die  Regel  bei  den 
minder  feierlichen  Diplomen  (p.  5);  in  der  Kategorie  der  feierlichen 
Diplome  (chartae)  tritt  das  Regierungsjahr  hinzu,  aber  nur  aus- 
nahmsweise wird  der  Monatstag  angegeben  und  von  den  circa  fünf- 
zehn Fällen,  welche  der  Verf.  unter  mehreren  Hunderten  von  »chartaec 
gefunden  hat,  nehmen  die  meisten  auch  sonst  eine  Ausnahmestellung 
ein:  »la  plupart  de  ces  chartes  —  heißt  es  p.  41  —  rentrent  dans 
la  elasse  des  actes  irräguliers,  suspects  ou  fauxc. 

Unter  solchen  Umständen  war  nicht  nur  die  Ermittelung  des 
Datierungsgesetzes,  es  war  auch  die  Reducierung  der  urkundlichen 
Daten  auf  die  heutige  Zeitrechnung  mit  besonderen  Schwierigkeiten 
verbunden:  um  so  anerkennungswerter,  daß  der  Verf.  seine  Aufgabe 
auch  in  diesem  Stücke  so  exakt  wie  möglich  gelöst  hat.  Die  mei- 
sten Reduktionen,  wie  sie  uns  in  dem  »Catalogue  analytique«  ent- 
gegentreten, sind  approximativer  Natur:  sie  bestehn  je  aus  einem 
terminus  a  quo  und  einem  terminus  ad  quem,  welche  durchschnitt- 
lich um  mehrere  Monate  von  einander  entfernt  sind.  Aber  an  die- 
ser Unbestimmtheit  ist  der  Verf.  unschuldig;  sie  ist  ein  Uebelstand, 
den  die  erwähnten  Eigenschaften  des  Datierungsgebrauchs  unver- 
meidlich maehten. 


622  Gatt.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  16. 

Die  Lehre  von   dem  Formelwesen   ist  in  Kap.  II  (Des  for- 
males employees   dans   les  actes  de  Lonis  VII.)  p.  9  ff.   verbältois- 
mäftig  knrz  behandelt   worden.     Vollständig  ist  die  ErOrterang  nar 
in   Betreff  der  Formeln,  welche   wir  nach  deotschem  Branche   ab 
Protokoll  zusammenfassen.     Unter   den  Eontextformeln  hat 
der  Verf.   eine  Auswahl   getroffen:  er   beschränkt   sich   darauf  die 
vom  Recbtsinhalte   unabhängigen   und   in   diesem   Sinne  allgemein- 
gültigen Formeln   wie  Promnlgatio,   Petitio,  Strafandrohungen,  Cor- 
roboratio   u.  ä.   zu  besprechen ;   alle  diejenigen  Formeln,   welche  je 
nach  der  Besonderheit   des   lohaltes   variieren   und  demgemäß  nur 
kategorienweise  beschrieben  werden  können,  läßt  er  außer  Betracht 
Aber   auf  dem  so  beschränkten  Gebiete  hat  er  Tüchtiges  geleistet: 
seine  Formelanalysen   sind  gründlich,  präcis  und  gut  geordnet    Za 
den   für    die  Klasse  der  feierlichen  Diplome   (chartae)  specifischea 
Merkmalen  gehört  die  berühmte  Formel,  worin  auf  die  Anwesenheit 
nnd  die  Unterschriften  (signa)  von  vier  hohen  Hofbeamten:   äopifetf 
huticuiariuSf  camerarius^  constabülarius  Bezug  genommen  wird,  wäh- 
rend die  den  Kanzler  betreffende  Behändigungsformel :   Data  (sei* 
ten  datum)  per  manum  N.  cancellarii  nicht  nur  in  feierlichen  Diplo- 
men, sondern  auch  in  minder  feierlichen  vorzukommen  pflegt    Von 
jener  (la  formule   indiquant   Tassistance  des  grands  oiBciers)    ist  in 
§  16,  p.  20  ff.,  von  dieser   (la  formule  relative  au  chancelier)    ist  in 
§  18,  p.  22  ff.  die  Rede.     Das  wichtige  Kapitel  von   der  Geschichte 
nnd  dem  Personalbestande    der  Kanzlei   unter  Ludwig  VII.   wird  in 
§  18  nur  leicht  gestreift;   erst  später  verbreitet  der  Verf.  sich  aus- 
führlich über  diesen  Gegenstand,  nämlich  in  dem  Abschnitte,   worin 
er  die  höchsten  Beamten  des  Königs,   soviele   ihrer   an  der  Ausstel- 
lung seiner  Diplome  permanent,  wenn  auch  meist  nur  nominell  be- 
teiligt wurden ,    einer  eingehenden  Betrachtung  unterzieht   nnd  jede 
Kategorie  für  sich  durchnimmt,  an  erster  Stelle  den  Truchsess  oder 
Seneschalk,   p.  44  ff.,   an   letzter   den  Kanzler,  p.  Ö2  ff.     Der  Verf. 
stützt  sich  dabei  auf  eine  seiner  früheren  Arbeiten    »Remarques   snr 
la  succession  des  Grands-Officiers   de   la  courronne  qui  ont  souscrit 
les  diplömes  de  Louis  VI.  et  Louis  VII  Paris   1881c.     In    Einzel- 
heiten verbessert   ist  der  Inhalt  dieser  Abhandlung,   soweit  er  sich 
auf  die  hohen  Kronbeamten   und   speciell   auf  die   Kanzler   Lud- 
wigs VIL  bezieht,  in  die  »i^tndesc  p.  44  ff.  übergegangen.   Indessen 
als  Darlegung  der  Verhältnisse,    welche  die  historische  Stellung  der 
Kanzlei  Ludwigs  VIII.  bestimmt    nnd  den  Zusammenhang  derselben 
mit  den  entsprechenden  Einrichtungen   am  Hofe   der  früheren  Cape- 
tinger  genetisch  vermittelt  haben,  behält  jene  Abhandlung  ihren  Wert 
neben  den  »Etudes«.    Und  dasselbe  gilt  von  dem  Kapitel,  welches 


Lnchaire,  Hist.  d.  instit  monarchiqaes  de  la  France  s.  I.  prem.  Gap^tiens.     623 

Herr  Lnchaire  der  Geschichte  der  altfranzösischeD  EOnigskanzIei  bis 
anf  Philipp  Angnst  in  seiner  »Histoire  des  institutions  T.  L  p.  181  ff. 
gewidmet  hat:  vor  allem  die  Einrichtung  der  königlichen  Kapelle 
und  das  Verhältnis  derselben  zur  Kanzlei,  wie  es  unter  Ludwig  VII. 
fortbestand,  werden  dort  vortrefflich  auseinandergesetzt. 

Aus  dem  ersten  Hauptteil  der  »j^tudesc  ist  nur  noch  das  fünfte 
Kapitel  hervorzuheben :  in  diesem  ^Tableau  chronologique  des  säjours 
de  Louis  VII.«  p.  62  ff.  nebst  Ergänzungen  p.  624,  hat  der  Verf., 
um  das  Itinerar  des  Königs  so  vollständig  und  genau  wie  mög- 
lich festzustellen ,  nicht  nur  die  aktenmäßigen  Zeit-  und  Ortsangaben, 
sondern  auch  einschlägige  Daten  der  erzählenden  Geschichtsquellen 
(les  chroniques)  gesammelt  und  verwertet.  Dagegen  sind  die  er- 
zählenden Geschichtsquellen  von  dem  zweiten  Hauptteil  der  >&tudes« 
principiell  ausgeschlossen :  im  Einklang  mit  der  Idee  und  dem  Zweck 
des  Werkes  besteht  der  »Catalogue  analytique  des  actes  de  Louis  VII.« 
nur  aus  Urkundenregesten.  lieber  die  Einrichtung  bemerkt 
der  Verf.  im  Vorworte  (Avertissement  p.  VI):  »Nous  n'avons  com- 
pris  d'ailleurs  dans  ce  catalogue  que  les  actes  et  les  lettres  certaine- 
ment  6manes  de  la  chancellerie  de  Louis  VII.  et  exp6di6s  au  nom 
de  ce  roi«.  Aber  diese  Anktlndigung  trifft  nicht  zu;  tbatsächlich 
steht  es  so,  daß  der  Katalog  nicht  nur  die  echten  Urkunden,  son- 
dern auch  Stücke  von  zweifelhafter  Echtheit  und  Fälschungen  ent- 
hält :  man  sehe  Nr.  31  (suspect),  266  (faux),  328  (faux),  431  (suspect) 
und  so  fort.  Bei  der  ExtrahieruDg  der  Regesten  aus  den  Akten  ist 
der  Verf.  verständig  und  sorgfältig  zu  Werke  gegangen.  Hinsicht- 
lich der  materiellen  Beschaffenheit  der  Regesten  ist  er  von  seinem 
Vorbilde,  dem  Catalogue  des  actes  de  Ph.- Aug.  abgewichen:  wäh- 
rend Delisle  in  dem  Streben  nach  knapper  Reduktion  des  Urkunden- 
inhalts sehr  weit,  hin  und  wieder  wohl  etwas  zu  weit  gegangen  ist, 
hat  Herr  Luchaire  sich  größerer  Ausführlichkeit  befleißigt  nach  dem 
im  Vorworte  aufgestellten  Grundsatz,  daß  das  Regest  reproducieren 
soll  »les  details  essentids  de  la  Charte  et  tcus  les  noms  de  lieux  et 
de  personnes«.  In  formeller  Beziehung  dagegen,  was  die  Anord- 
nung des  einzelnen  Regests  und  das  Beiwerk  der  Textquellen  wie 
der  Ausgaben  angeht,  hat  Luchaire  sich  genau  nach  dem  Verfahren 
Delisles  gerichtet,  und  auch  das  gereicht  der  eigenen  Leistung  zum 
Vorteil.  Der  Fortschritt,  den  die  »^tudesc  in  der  hülfswissenschaft- 
Hchen  und  quellenkritischen  Litteratur  zur  Geschichte  Frankreichs 
während  des  zwölften  Jahrhunderts  überhaupt  bezeichnen,  ist  be- 
deutend: in  erster  Linie  und  hauptsächlich  beruht  er  auf  den  Re- 
gesten, dem  »Catalogue  analytique«  der  Urkunden  und  der  anderen 
Akten  Ludwigs  VII. 


624  Gott.  gel.  Anx.  1887.  Nr.  16. 

Mit  dieser  Bemerkung  soll  übrigens  das  Verdienstliche  der  drit- 
ten Hauptabteilung  durchaus  nicht  geschmälert  werden.    Die  Summe 
der  Trades  inedits€  beläuft  sich  auf  179   (zu  798  Nummern  der  Be- 
gesten),  sämtlich  neu  in  dem  Sinne ,  daß  der  Herausgeber  von  kei- 
nem Stücke  einen  vollständigen  Abdruck   nachweisen   konnte.     Nur 
einige  wenige,  wenn  ich  richtig  zähle :  sechs,  sind  in  den  bisherigen 
Ausgaben  durch  Fragmente  vertreten.     Auf  Originalurkunden  gehn 
14  Abdrücke  zurück:  Nr.  41,  82,  89,  103,  104,  112,  205,  307,  394, 
400,  567,  622,  717,  764 ;  in  zwei  Fällen,  Nr.  415  und  436,  bat  der 
Heransgeber  die  Originalität  der  Urschrift  als  zweifelhaft  bezeich- 
net; abgesehen  hiervon  beruhen   die  Texte  der  Sammlung  auf  Ein- 
zelkopien oder  EopialbOchern.     Wiederholt  kommt  es  vor,   daft  zur 
Edition  eine  sekundäre  Quelle   benutzt   wurde,   obwohl  der  Heraus- 
geber unter  dem  entsprechenden  Bögest  des   »Catalogue  analytique« 
Nr.  281,   397,  667    das   Original  als   noch    vorhanden  notiert  hat. 
Man   darf  also   erwarten,   daß   das  numerische  Verhältnis  zwischen 
ursprünglichen  und  abgeleiteten  Texten   sich   später  zu  Gunsten  der 
ersteren  Kategorie  noch   etwas  verändern  wird.     Was  die  Editions- 
weise betrifft,  so  machen  die  Texte,   wie  der  Herausgeber  sie  dar- 
bietet,  im   allgemeinen   einen   günstigen  Eindruck.    Ueber  die  von 
ihm   befolgten   Grundsätze   hat    er  sich    nicht  geäuBert,   aber  auch 
ohnedies  erkennt  man   leicht,  daß  Regeln  befolgt  wurden,   welche 
mit  den  in  Deutschland  herrschenden   Editionsgrundsätzen  verwandt 
sind.     Nur   ein   paar  Unebenheiten    sind   mir  aufgefallen.    In   dem 
Texte   der   ersten   Originalurkunde,   welche   die   Sammlung  enthält, 
Nr.  41  hat  der  Herausgeber   zwei  äußere  Merkmale:   die  Abkürzun- 
gen und  die  Länge  der  Zeilen  durch  den  Druck  markiert,   und  die- 
ses Verfahren   ist   dann  auch   in   der  Folge  wiederholt  zur  Anwen- 
dung gekommen,  z.  B.  in  Nr.  103,  307,  394  u.  a.,  aber  nicht  kon- 
sequent:  so   sind   die  Texte   Nr.  82,   89,  205  in  'der  gewöhnlichen 
Weise  gedruckt,  obwohl  sie,  wie  es  scheint,  vom  Herausgeber  selbst 
aus  den  Originalurkunden   transskribiert  wurden.     In  Nr.  104  (Ab- 
druck nach  dem  Or.,  »communique  par  M.  Pellissier,  archiviste  de  la 
Marne«)  unterblieb  nicht  nur  die  Markierung  der  Abbreviaturen  und 
der  Zeilen,  sondern  auch  die  Auflösung  der  Siglen:  G.  Catalaunensis 
qnscopi  =  Gaufridi   G.   qp.   und  L.   ahbatis  heati  Petri  de  ManH- 
bus  B=s   Ludovid   dbbatis    etc.      In   Nr.   419    (nach    einer    Kopie) 
schwankt  die  Reproduktion   der  Sigle   G.  ==   Gerardus  principles 
zwischen  unverändertem  Abdruck  und  Auflösung. 

Ueber  den  Wert  und  die  Bedeutung  der  in  extenso  mitgeteilten 
Aktenstocke  urteilt  der  Herausgeber  in  dem  Vorworte  (Avertissement 
p.  VI):  »Ces  documents  sont  loin  d'avoir  Timportance  de  ceux  qui 


Luchaire,  Hist.  d.  instit.  mooarcbiqaes  de  la  France  a.  h  prem.  Capdiiemi.     625 

ont  6t6  insiris  k  la  Ad  da  Catalogue   des  odes  de  Philippe  Augustex 
mais   ils   pr^eDtent   näanmoins   quelqne    int£r6t   ponr   rhistoire   oa 
pour  la  dipIomatiqae€.     Diesem  Urteile   schließe   ich  mich  an  unter 
Hinweis  auf  einige  von  den  interessanteren  Bestandteilen  der  Samm- 
lang.  Nr.  330  gibt  einen  Beitrag  zur  Rechtsgeschichte  der  damaligen 
Eönigsarkande :  anläßlich  eines  Einzelfalles  wird  in  der  Arenga  die- 
ses Diploms  die  allgemeine  Regel  aafgestellt:  gesta  et  contractus  in- 
ter homines  scilicet  et  Dei  servos  ne  aliqua  possint  in  posterum  per- 
verti  aut  temerari  versutiaj  regis  debent  sigillo   et  testimonio  commu- 
niri€.    In  Nr.  394  wird  dem  Seneschalk  (dapifer)   and  dem  Kanzler 
eine  Jarisdiktion    beigelegt,   die   dem  Wortlaute    der  Urkande   nach 
mit  der  vom  Könige  selbst  gehandhabten  konkurriert :  ^Ejusdem  da- 
mus  hospiteSf  si  quidam  in  querelam  venerint^  solummodo  per  nos  aut 
per  dapiferum  nostrum  aut  per  cancellarium  nostrum  justiciamfacient€. 
In  Wirklichkeit  handelte  es  sich  um  Vertretung  des  Königs  im  höch- 
sten Gericht  auf  Orund  permanenter  Delegation.     Vgl.   A.  Lucbaire, 
Histoire   des  institutions  T.  I,   p.  175,  197,  309.     Als   ein  urkundli- 
ches Zeugnis  für  die  am  Hofe  herrschende  Idee    des  Erbkönigtums, 
wie  sie,  mächtig  bereits  unter  Ludwig  VII.,  in  der  nächsten  Folge- 
zeit vollständig  zum  Siege  kommen   sollte,    ist   Nr.  718   bemerkens- 
wert;  Nr.  205   vermehrt  die  Urkunden   über  die  Beziehungen  jenes 
Königs  zu  den  Tempelherrn  (milites  Templi  Domini);  durch  Nr.  191, 
262,  682  gewinnt  man  neue  Einblicke   in  den  Fortgang  des  Pilger- 
wesens, welches  vor  wie  nach  dem  zweiten  Kreuzzuge  viel  dazu  bei- 
trug,  daß   die  Verbindung  zwischen   Frankreich    und  dem  heiligen 
Lande  nicht  nur  aufrechterhalten,  sondern   auch  bescmders  eng  ge- 
staltet wurde. 

Im  Anhange  finden  sich  außer  den  Tafeln,  von  denen  schon 
die  Rede  war:  ein  Register  der  Orts-  und  Personennamen  (p.  465 — 
523),  fttr  dessen  Anordnung  nicht  die  urkundlichen  Formen,  sondern 
die  ihnen  entsprechenden  modernen  Benennungen  maßgebend  ge- 
wesen sind;  eine  Zusammenstellang  von  Ergänzungen  und  Berich- 
tigungen (p.  524—527)  und  ein  Fehlerverzeichnis  (Errata  p.  528), 
welches  noch  vermehrt  werden  kann.  S.  98,  Z.  2  v.  u.  I.  Louis  VII. 
anstatt:  Louis  XIL;  S.  382  Z.  3  v.  o.  1.  sicut  dictum  est  anstatt: 
sivut  dictum  est.  —  Die  typographische  Ausstattung  ist  zweckmäßig 
und  gefällig. 

E.  Steindorff. 


626  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  16 

Köhler«  G.,  Generalmajor  z.  D.  Die  Entwickelang  des  Kriegswesen« 
und  der  Kriegführang  in  der  Bitterzeit.  Erster  Band:  Kriegs- 
geschichtliches von  Mitte  des  11.  bis  Mitte  des  18.  Jahrhunderts,  mit  15  li- 
thographischen Karten  und  Plänen.  Zweiter  Band:  Kriegsgeschichtliches 
Yon  Mitte  des  13.  Jahrhanderts  bis  zu  den  Hussitenkriegen,  mit  16  Pl&nen. 
Breslau,  W.  Köbner  1886.    I  XL  und  519,  II  XXYII  und  800  S.    gr.  8^ 

Der  Verf.  sucht  den  Haupt  wert  der  vorläufig  erschienenen  bei- 
den Teile  seines  anf  drei  Bände  berechneten  Werkes  darin ,  daß  es 
ttber  eine  Periode  von  vier  Jahrhunderten  in  einer  der  wichtigsten 
Richtungen  des  Lebens  der  Völker  Licht  verbreitet  und  daft  es  der 
Geschichtsschreibung  für  die  behandelte  Zeit  eine  sichere  Grundlage 
zur  Beurteilung  kriegerischer  Vorgänge  und  politischer  Situationen 
gewährt,  lieber  den  Wert  seines  Werkes  fttr  Militärs  spricht  er  sich 
dahin  ans,  daß  der  jüngere  Officier  aus  der  älteren  Eriegskanst 
nichts  zu  seiner  praktischen  Ausbildung  lernen,  der  ältere  wissen* 
scbaftlich  gebildete  Officier  dagegen  ttber  die  Gefahr  einseitiger 
herrschender  Systeme  der  Gegenwart  dadurch  Aufklärung  erhalten 
werde.  »Die  einfachen  Grundsätze  der  Kriegführung  bleiben  fttr 
alle  Zeiten  dieselben,  und  sie  treten  in  ihrer  einfachsten  Form  ge- 
rade da  hervor,  wo  die  Mittel  für  die  Kriegführung  die  einfachsten 
sind«.  Schärfer  wie  je  in  den  neueren  Kriegen  drttcke  sich  der  Un- 
terschied der  auf  einander  folgenden  und  der  gleichzeitigen  Verwen* 
dung  der  Kräfte,  sowie  die  Kombinierung  beider  Methoden  in  der 
Schlacht  aus.  Der  Verf.  wählt  und  arbeitet  die  Schlachten  und  Be- 
lagerungen nur  in  Beziehung  auf  die  Taktik  aus ,  damit  sie  als 
Quelle  fUr  deren  Erkenntnis  dienen;  er  zieht  auch  ganze  Feldzttge, 
welche  zu  diesem  Zwecke  beitragen,  heran  und  schließt  bei  seiner 
Darstellung  der  Schlachten  des  Mittelalters  diejenigen  aus,  ttber 
welche  die  Quellen  zu  spärlich  fließen,  oder  solche,  bei  denen  — 
wie  bei  den  meisten  Schlachten  der  Krenzzttge  —  eine  genaue 
Kenntnis  des  Terrains,  namentlich  der  Marschrichtung  der  Heere 
vor  und  ihrer  Stellung  am  Beginn  der  Schlacht  fehlt.  Wie  gewissen- 
haft und  strengkritisch  er  dabei  zu  Werke  gegangen,  bekundet  sein 
Ausspruch,  daß  fUr  ihn  eine  Beschreibung  der  Sohlachten  von  Niko- 
polis  und  Warna  erst  nach  dem  Erscheinen  des  bekannten  Kanitz'- 
schen  Buches  mit  den  genauen  Karten  ttber  Bulgarien  möglich  ge- 
worden sei.  Fttr  seinen  Zweck,  eine  Grundlage  für  unsere  Kenntnis 
ttber  die  Taktik  des  Mittelalters  zu  gewinnen,  hält  der  Verf.  bloße 
Studien  ttber  eine  Schlacht  nicht  fttr  ausreichend,  er  gibt  daher  kri- 
tische, ausführliche  Darstellungen.  Aus  einer  möglichst  großen  Zahl 
derselben  leitet  er  dann  allgemeine  Grundsätze  ab;  die  Kriegsge- 
schichte, bemerkt  er,  ist  nur  belehrend|  wenn  man  sie  in  ihrer  Tiefe 


Köhler»  D.  Entwickel.  d.  Kriegswesens  a.  d.  Kriegführung  i.  d.  Bitterz.  L  ü.     627 

anfsacbt  and  nicht  an  einzelnen  beransgegnifenen  Stellen  verwertet. 
Diese  Anwendung  der  induktiven  Methode,  die  Ref.  schon  an  ande- 
rer Stelle  empfohlen,  wird  jeder  Sachkenner  nur  billigen  müssen. 

Die  Darstellung  der  Schlachten  beginnt  mit  der  Mitte  des  11. 
Jahrhunderts.  Um  diese  Zeit  sei  das  Lehnswesen  zu  einem  gewissen 
Abschloß  gelangt  und  hebe  sich  deutlich  von  den  früheren  Zeiten 
ab.  Zwischen  dieser  Periode  und  dem  Anfange  der  Hussitenkriege, 
in  denen  die  Feuerwaffen  ihren  ersten  Einfloß  auf  die  Umgestaltung 
der  Taktik  ausüben,'  liege  »die  Ritterzeit«,  die  natürliche  Begren- 
zung seines  Werkes.  Während  die  ersten  beiden  Bände,  wie  schon 
der  Titel  besagt,  Kriegsgeschichtliches,  d.  h.  die  genauen,  umfassen* 
den  Beschreibungen  fast  aller  Schlachten  aus  jenen  vier  Jahrhun- 
derten  bringen,  soll  der  dritte  Band  gleichsam  eine  Art  Znsammen- 
fassung seiner  Vorgänger  bilden,  die  Resultate  der  dort  geschilder- 
ten Vorgänge  geben  und  die  Entwickelung  der  einzelnen  Zweige  der 
Kriegskunst  darstellen. 

Von  besonderem  Interesse  ist  was  der  Verf.  übet  die  Gründe 
berichtet,  die  ihn  zur  Abfassung  der  vorliegenden  Arbeit  bewogen. 
Nachdem  er  für  seine  Schrift  »über  den  Einfloß  der  Feuerwaffen  auf 
die  Taktik«  die  Kriegsgeschichte  der  letzten  vier  Jahrhunderte  gründ- 
lich aus  den  Quellen  studiert,  strebte  er  danach  einen  Ueberblick 
über  die  der  Anwendung  der  Feuerwaffen  unmittelbar  vorausgehende 
Zeit  zu  gewinnen.  Zu  seinem  Erstaunen  suchte  er  vergebens  nach 
Autoritäten  für  diese  Zeitperiode,  er  fand  dies  Oebiet  von  der  Mili- 
tär-Litteratur  wenig  angebaut,  von  den  Historikern  auffallend  ver- 
nachlässigt. Was  die  Beschäftigung  der  Ofiiciere  mit  älterer  Kriegs- 
geschichte betrifft,  so  darf  uns  des  Verf.s  Unzufriedenheit  darüber 
nicht  Wunder  nehmen;  man  könnte  dieselbe  Klage  auch  für  spätere 
Jahrhunderte  erheben.  Die  Hauptschuld  liegt  wohl  daran,  daß  bis 
vor  nicht  allzulanger  Zeit  die  Quellen  teilweis  noch  unaufgedeckt 
lagen,  ihre  kritische  Benutzung  in  heutiger  Weise  der  damaligen 
Forschongsmethode  auch  nicht  geläufig  war.  Wie  anders  würde 
z.  B.  Heilmann  seine  militärischen  Betrachtungen  übei;  den  SOjähri- 
gen  Krieg,  wie  Glausewitz  seinen  Essay  über  die  Feldzüge  Gustav 
Adolfs  heute  nach  dem  Erscheinen  von  Droysens,  Helbigs,  Wittichs 
u.  a.  Arbeiten  geschrieben  haben!  Anders  steht  die  Sache  mit  den 
Historikern,  die  über  das  Mittelalter  berichten.  Bei  ihnen  hätte  K. 
wohl  einen  Teil  der  von  ihm  vergeblich  gesuchten  Vorarbeiten  fin- 
den müssen.  Als  er  sich  auch  darin  getäoscht  sah,  gelangte  er  zu 
dem  Urteile:  Es  ist  kein  Oeheimnis,  daß  der  Historiker  für  gewöhn- 
lich ohne  alle  Vorbereitung  an  die  Darstellung  kriegerischer  Vor- 


628  Gott  gel.  Anz.  1887.  Kr.  16. 

gauge  geht  [richtiger  vielleicht :  bisher  gegangen  ist  *)],  indes  die 
akademische  SchuIoDg  allein  genügt  nicht  znr  Entzifferung  der  mi- 
litärischen Qaellenschriften  einer  entlegenen  Zeit. 

Damit  gelangen  wir  nan  anch  an  den  Punkt,  dem  die  gegen 
50  Seiten  langen  Vorreden  beider  Bände  gewidmet  sind,  za  der  Po- 
lemik, in  welche  K.  schon  früher  nach  Veröffentlichung  einzelner  in 
Form  von  Monographieen  erschienener  Schlachtbeschreibungen  mit 
einigen  Historikern  geriet.  Wenn  er  dabei  stellenweise  einen  ge- 
reizten Ton  anschlägt',  so  dürfen  wir  nicht  vergessen,  daB  er  durch 
die  mit  Selbstbewußtsein  ex  cathedra  vorgetragenen,  keinen  Wider- 
spruch duldenden  und  für  sein  militärisches  Verständnis  doch  oft 
unbegreiflichen  Aussprüche  seiner  Gegner,  sowie  durch  manches  an- 
dere dazu  gereizt  wurde ;  z.  B.  auch  dadurch ,  daß  abßUlige  Be- 
sprechungen seiner  Publikationen  in  Zeitschriften  erschienen,  die 
keine  Entgegnung  von  ihm  aufnahmen.  Nachdem  er  Jahre  lang  die 
gründlichsten  Quellenstudien  gemacht,  gerade  durch  seine  militäri- 
sche Auffassung  der  Quellen  in  Gegensatz  zu  den  landläufigen,  wie 
eine  ewige  Krankheit  sich  fortschleppenden  falschen  Anschauungen 
über  Kriegswesen  und  Schlachtenverlauf  im  Mittelalter  getreten  war, 
warfen  ihm  seine  Gegner  unrichtige  Auffassung,  mangelhaftes  Ver- 
ständnis, willkürliche  Deutung  der  Quellen  vor,  nannten  seine  Ar- 
beiten unhistorisch,  dilettantisch,  behandelten  ihn  »mit  einem  Worte 
wie  einen  Schulknaben  c.  Selbst  das  Lob,  das  sie  ihm  stellenweise 
spendeten,  trug  einen  gehässigen  Zug;  er  hatte  nach  dem  einen 
wohl  den  Verlauf  einer  Schlacht  »im  ganzen  sicher  gestellt«,  sonst 
aber  doch  nur  »manches  richtig  gesehen«.  Kein  Wunder,  daß  bei 
einer  solchen  »Entfesselung  der  Leidenschaften«  aueh  des  Verf.8 
Sprache  bisweilen  scharf  und  verletzend  wird  und  daß  er  in  der 
Hitze  des  Gefechts  mitunter  wohl  auch  über  das  Ziel  hinaus- 
schießt^.   Im  übrigen  wird  man  seiner  Versicherung  unbedingt  bci- 

1)  Eef.  verweist  hier  nur  auf  die  anch  in  militArischer  Beziehung  moBter- 
haft  nnd  tadellos  geschriebenen  Werke  des  jüngeren  Droysen  über  Oosta?  Adolf 
und  Bernhard  von  Weimar. 

2)  Dazu  rechne  ich,  daß  er  einem  geachteten  Historiker  [I,  XIV]  auffallen- 
den Mangel  an  historischer  Methode  zuschreibt.  Man  kann  in  einem  besonderen 
Falle  wegen  mangelhaften  militärischen  Verständnisses  über  Deutung  der  Quel- 
len vielleicht  abweichender  Meinung,  ja  im  Festhalten  einer  irrtümlichen  Ansicht 
vielleicht  sehr  eigensinnig  und  doch  sonst  ein  vortrefflich  geschulter  Historiker 
sein.  Die  frühesten  Berichte,  daran  ist  gewiß  festzuhalten,  sind  die  treuesten 
und  grundlegendsten.  Das  schließt  natürlich  nicht  aus,  daS  durch  zufällige  Um- 
stände einmal  eine  spätere  Relation  besonders  für  den  Verlauf  einer  Schlacht 
genauere  und  zuverlässigere  Nachrichten  bringt,  namentlich  wenn  der  Zeitunter- 
schied so  geringfügig  ist  wie  hier. 


Köhler,  D.  Entwickel.  d.  Kriegswesens  o.  d.  Kriegführung  i.  d.  Ritterz.  I.  II.   629 

pflichten  kOnnen,  daB  ihm   die  Polemik  aafgezwangen  wurde,  daB 
ihm  nichts  anderes  ttbrig  blieb  als  den  Kampf  aufzunehmen  und  daB 
ihm  »die  unangenehme  Pflicht«   erwuchs   auf  seinem  Wege  zu  be- 
harren.   Wenn  E.  einmal  äuBert,   der  heftige  [Gegensatz  der  ledig- 
lich akademisch  geschulten  Professoren  zu  seinen  Forschungsergeb- 
nissen beweise  ihm  die  Schwierigkeit  des  Verständnisses  für  kriege- 
rische Angelegenheiten  des  Mittelalters,  so  pflichtet  Ref.  aus  eigener 
Erfahrung  bezüglich  eines  späteren  Jahrhunderts  heraus  diesem  Aus«. 
Spruche  im  vollsten  MaBe  bei.    Nicht   mit  dem  Studium  der  Quellen 
über  eine  Schlacht  mufi  man  deren  Bearbeitnug  beginnen ,  sondern 
mit  dem  Sichversenken  in  die  allgemeine  Kriegsgeschichte  der  Zeit 
Erst  muß  man  mit  den  kriegerischen  Vorbegriffen  einer  Epoche  ver- 
traut sein,  zunächst  eine  militärische  Grundlage  ftlr  das  Verständnis 
der  Quellen  überhaupt  gewonnen  haben,  ehe  man  an  letztere  selbst 
geht    Da  die  Berichte  je  nach  Partei-  und  Lebensstellung  der  Ver- 
fasser verschieden  ausfallen  werden,  da  ein  in  kriegerischen  Dingen 
völlig  nnerfahrener  Klosterbruder  den  Verlauf  eines  Kampfes  in  an- 
derer Art  schildern  wird  als  ein  ritterlicher  Mann  der  Zeit,  dem  die 
Ausdrücke   für   Kampf  und  Schlacht  geläufig  sind,  so  gehört  eben 
anter  Umständen  ein  militärisch  geschultes  Auge  dazu,  um  in  Bezug 
auf  Notizen  über  Terrain,  Bewaffnung,  Anmarsch,  Aufstellung  u.  a. 
das  Richtige  aus  scheinbar  verworrenen  Mitteilungen  herauszulesen. 
Gewisse  militärische  Vorgänge,    wie   daB  man  ein  Gefecht  nicht  in 
der  Marschordnung  annehmen   wird  u.  a.,  gehorchen   dem  Gesetze 
der  eigenen  Schwere,   wenn  sie  sich  im  Laufe  der  Jahrhunderte  nur 
unwesentlich  verändern,   wenn  sie  für  Marathon,   für  das  Marchfeld, 
für  Metz  annähernd   dieselben  bleiben.    Andrerseits  wird  auch  die 
bestimmteste  Versicherung   einer  sonst  unanfechtbaren  Quelle   über 
Vorgänge,  die  heut  und  zu  allen  Zeiten  militärisch  anausführbar  and 
unmöglich  sind,  als  Irrtum  bezeichnet  werden  müssen.    Unsere  aka- 
demischen Lehrer  erklären  ihren   Hörern   die  verwickelten   gesell- 
schafUicben,  politischen   oder  staatsrechtlichen  Begriffe   des  Mittel- 
alters, sie  tragen  ihnen  über  Lehnswesen  and  kirchliche  Angelegen- 
heiten, über   den   Gang  der   Beichsverwaltung,  die  Einkünfte  aus 
Staat  and  Domänen,  über  das  Aufkommen   der  Städte,   die  Eni- 
wickelang  der  Zünfte  and   tausend  andere  Dinge  vor  und  wissen 
dabei  recht  wohl,  welche  jahrelangen  fleißigen  Stadien  zu  einem  tie- 
feren Eindringen  in  all  diese  Materien  gehören.    Nur  über  das  mit« 
telalterliche  Kriegswesen  sind  sie  anderer  Meinung.     Für  Wehrver- 
fassung,  Taktik,  Bewaffiiang,   Znsammensetzung   der  Heere   nach 
verschiedenen  Truppengattungen,  für  Maschinenwesen;  Belagerungen 
p,  8.  w.  hat  jeder  das  Privileginm  des  Verständnisses,  daza  gehören 


680  Gott.  gel.  Ans.  1887.  Nr.  16. 

keine  oder  geringe  Vorstudien,  das  i»t  alles  so  eiufacb.  Nein!  Wie 
ein  für  die  politisehen  Verhältnisse  des  Mittelalters  gesebnltes  Aage 
ganz  anderes  in  den  Urkunden  finden  wird  als  ein  ungeübtes,  genau 
80  wird  und  muß  es  auch  in  militärischen  Angelegenheiten  der  Fall 
sein.  »Daß  ich  aus  den  Quellen,  so  weit  sie  sich  auf  Kriegsge- 
schichte beziehen,  mehr  herauslese  als  andere  Leute,  liegt  in  der 
Natur  der  Sache«  äußert  der  Verf.  einmal  mit  gerechtem  Stolze.  An 
anderer  Stelle  schreibt  er,  erst  das  volle  Verständnis  f&r  das  Wesen 
der  in  den  einzelnen  Berichten  genannten  Kämpfergattnngen  des 
Mittelalters  ftihre  zu  einer  richtigen  Auffassung  der  Kriegsgeschichte ; 
erst  eine  völlige  Vertrautheit  mit  den  Grundsätzen  mittelalterlicher 
Kriegführung  mache  zu  Zeiten  auch  die  Stellungnahme  eines  Für- 
sten in  der  politischen  Geschichte  ganz  begreiflich.  Man  wird  ihm 
die  Richtigkeit  dieser  Aussprüche  schwerlich  bestreiten  können. 

Ref.  gibt  im  folgenden  eine  Inhaltsübersicht  Ober  die  in  beiden 
Bänden  enthaltenen  Schlachten,  Feldzüge  und  Belagerungen ;  um  sie 
auf  ihre  Zuverlässigkeit  und  die  Wahrheit  der  Darstellung  hin  ge- 
nan  und  abschließend  zu  prüfen,  bedürfte  man,  wie  schon  von  an- 
derer Seite  hervorgehoben  wurde,  wenigstens  ebenso  jahrelanger  Ar- 
beit als  der  Verf.  darauf  verwendet  hat.  Für  alle  in  der  Folge  an- 
geführten Schlachten  sei  hier  noch  bemerkt,  daß  darin  nicht  bloß 
der  Verlauf  des  eigentlichen  Kampfes  geschildert  wird,  sondern  auch 
die  der  Entscheidung  vorausgehenden  Momente  erzählt  und  die  zwi- 
schen den  einzelnen  Schlachten  liegenden  Ereignisse  übersichtlich 
zusammengestellt  sind.  Bei  allen  Schlachten  sind  ferner  die  Quel- 
len ausführlich  angegeben  und  orientierende  Pläne  oder  Ueber- 
sichtskarten,  z.  T.  mehrere  für  eine  Darstellung,  beigefügt  worden. 
Die  Ausstattung  des  Werkes  ist  geschmackvoll  und  würdig;  leider 
wimmelt  es  darin  von  Druckfehlern.  Der  Verf.  gibt  am  Schlüsse 
beider  Bände  mehrere  Seiten  von  »Verbesserungenc,  wie  er  es  gut- 
mütig nennt.  Viele  dabei  nicht  genannte  [so  I  479  22.  März  statt 
22.  August,  II  229  11.  Juni  st.  11.  Juli,  II  302  24.  September  st 
28.  Sept  u.  8.  w.]  wirken  doch  recht  störend.  Der  Verleger  läßt 
seine  wissenschaftlichen  Bücher  seit  Jahren  in  den  kleinsten  Städten 
der  Provinz  drucken,  z.  T.  in  Drnckereien,  die  nicht  einmal  die  nö- 
tigen Typen  wie  n  oder  f  besitzen.  Ob  der  dadurch  erzielte  Ge- 
winn die  damit  verbundene  notwendige  Verschlechternng  der  Bücher 
aufwiegt,  erscheint  fraglich. 


Den  ersten  Band  eröffnet  die  Schlacht  bei  Senlae* 
Hastings  (1066,  3  Pläne),  deren  Darstellung  »durch  ein  Vergleichs- 
weis  ungemein  reiches  QuellenmateriaU  unterstützt  wird.    Der  Verf, 


Köhler,  D.  Entwickel.  d.  Kriegswesens   n.  d.  Kriegführung  i.  d.  Ritterz.  I.  IL  631 

schildert  ^cscbaffenheit,  Zasammensetzang,  Kampfart,  Stärke  der 
englischen  Streitkräfte  zur  Zeit  Haralds,  gibt  eine  Beschreibung  des 
Terrains  and  weist  auf  den  im  damaligen  englischen  Volke  zu  Tage 
tretenden  Mangel  an  kriegerischem  Geiste  und  Aufschwung  bin. 
Dann  zeigt  er,  daß  das  normannisch-französische  Heer  kein  Lehns-, 
auch  nur  z.  T.  ein  Söldnerheer  war  und  sich  zumeist  aus  den  in 
der  Hoffnung  auf  reichen  Landerwerb  in  England  aus  verschiedenen 
Teilen  Frankreichs  herbeigeströmten  Fürsten  und  Rittern  mit  ihren 
Gefolgschaften  zusammensetzte.  Er  bespricht  deren  Zahl,  Bewaff- 
nung, Schlachtordnung,  charakterisiert  die  Eigenschaften  Haralds 
und  Wilhelms  und  erzählt  die  Vorgeschichte  des  Kampfes,  sowie  die 
Landung  der  Normannen.  Die  Beschreibung  des  eigentlichen  Schlacht- 
yerlaufs  ist  von  großer  Anschaulichkeit  und  an  vielen  Stellen  durch 
Heranziehung  bisher  nicht  voll  gewürdigter  oder  ganz  übersehener 
wichtiger  Quellennotizen  völlig  nen^).  Am  Schluß  wird  eine  an- 
nähernde Berechnung  der  Verluste  und  eine  zusammenfassende  Be- 
trachtung gegeben,  wonach  »Geschlossenheit  der  Truppe  schon  zn 
jener  Zeit  das  oberste  Princip  war«.  In  der  Beschreibung  der  Be- 
lagerung von  Grema  (1159 — 1160)  ist  besonders  die  Schilde- 
rung der  verschiedenen  Belagerungswerkzeuge  und  ihrer  Thätigkeit 
von  Interesse.  Die  Schlacht  bei  Legnano  (1176)  wird  mit 
einer  Darstellung  der  militärischen  und  politischen  Vorgänge  in 
Oberitalien  (1175)  und  des  Anmarsches  der  deutschen  Streitkräfte 
im  Frühjahr  von  1176,  ferner  mit  einer  Beschreibung  der  ritterlichen 
Bewaffnung  nach  Quellen  der  Zeit  eingeleitet.  Darauf  erzählt  der 
Verf.,  wie  sich  die  Heere  auf  dem  Marsche  begegneten  und  zur 
Schlacht  ordneten;  er  betont  dabei  im  Gegensatz  zu  anderen  Bear- 
beitern der  Kriegsgeschichte  des  Mittelalters  die  Bildung  der  einzel- 
nen Haufen  zum  Keil,  wenigstens  an  der  Spitze  des  Haufens.  Man- 
gel an  Reserven  und  die  far  jene  Tage  unerwartete  und  ungewöhn- 
lich feste  Haltung  des  Mailänder  Fußvolks  führten  den  Sieg  der 
Italiener  herbei.  Ausführlicheres  erfahren  wir  über  die  Schlacht 
bei  Mar  et  (1213,  ein  Plan).  Wer  sich  überzeugen  will,  mit  wel- 
cher Gründlichkeit,  mit  welch'  gewissenhaftem  Fleiß  der  Verfasser 
gearbeitet  hat,  der  mag  die  der  Darstellung  vorausgehende  fast 

1)  Auch  hier  ist  E.  wegen  falscher  Aufiassnng  einer  Stelle  des  Wido  neuer- 
dings angegriffen  worden.  Man  wirft  ihm  vor,  Worte  der  Quelle,  die  auf  das 
Hervorbrechen  des  rechten  englischen  Flügels  gehn  sollen,  in  falsche  Beziehung 
zu  Harald  gebracht  zu  haben.  Bef.  findet,  daft  hier  Deutung  der  schwerver- 
ständlichen Stelle  gegen  Deutung  steht.  Zu  Ungunsten  des  Verf.  spricht  es  aber 
gewiß  nicht,  daft  die  der  genannten  Stelle  (Conspicit  nt  —  V.  429)  unmittelbar 
vorausgehenden  sechs  Zeilen  des  Gedichts  das  Herausbrechen  der  Engländer  ans 
ihrer  festen  Stellung  schon  ziemlich  ausführlich  erzählen. 


632  Oött.  gel.  A&z.  1887.  Nr.  16. 

zwei  Seiten  lange  Aufzäblang  der  von  ihm  benutzten  lateinischen, 
französischen  und  spanischen  Quellen  in  Augenschein  nehmen.  Es 
ist  diese  Schlacht  aus  den  Albigenserkriegen  neuerdings  auch  von 
dem  Franzosen  Henri  Delpech  beschrieben  worden^  dem  E.  schon 
früher  schwerwiegende  Versehen  nachgewiesen  hatte.  Der  Schlacht 
geht  eine  Schilderung  der  Oertlichkeit  und  der  Stärkeverhältnisse 
beider  Heere  voran.  Die  Niederlage  der  1800  spanischen  Bitter 
durch  die  nur  800  Ritter  starken  Streitkräfte  des  Grafen  Simon  von 
Montfort  erklärt  der  Verf.  mit  der  besseren  Bewaffnung  und  der 
ttberlegenen  Taktik  der  Franzosen.  Die  Spanier  hatten  bisher  gegen 
die  leichter  bewaffneten  Mauren  zwar  schon  in  tiefen  Haufen,  aber 
durchaus  nicht  in  der  festen,  geschlossenen  Ordnung  gefochten,  wie 
sie  ihnen  seitens  der  Franzosen  bei  Muret  so  verderbenbringend 
gegenttbertrat  Der  als  Fußsoldat  kämpfende  freie  Btlrger,  der  bei 
Legnano  Barbarossas  Bittern  mit  Erfolg  die  Spitze  geboten,  unter- 
liegt hier  noch  dem  der  Zahl  nach  viel  schwächeren  Bitter.  Die 
Schlacht  hatte  die  Folge,  daß  Spanien  seine  Absichten  auf  Langue- 
doc  aufgeben  und  dasselbe  den  von  Erfolg  gekrönten  Aneignungs- 
versuohen  Frankreichs  überlassen  mußte.  Die  nächste  Schilderung 
des  Verf.  ist  der  Schlacht  bei  Bouvines  (27.  Juli  1214,  1  Taf.) 
gewidmet,  der  glänzendsten  Leistung  des  im  Lauf  des  13.  Jahrhun- 
derts einen  so  mächtigen  Aufschwung  nehmenden  militärischen  Gei- 
stes der  Franzosen.  »Sie  bildet  den  Schlußstein  der  Erfolge  König 
Philipp  Augusts  von  Frankreich,  sie  stärkte  das  Nationalbewußtsein, 
das  Gefühl  der  Zusammengehörigkeit  der  bis  dahin  vielfach  getrenn- 
ten Teile  des  Landes  in  einer  Weise,  daß  das  moderne  Frankreich 
eigentlich  erst  daraus  hervorgegangen  istc  Nachdem  der  Verf.  eine 
kurze  Vorgeschichte  der  zum  endlichen  Zusammenstoße  führenden 
politischen  und  militärischen  Ereignisse  gegeben,  schildert  er  die 
Terrainverhältnisse  des  Schlachtfeldes,  die  Stärke  beider  Heere, 
ihre  Schlachtordnung  (die  der  Franzosen  bestand  aus  9  Haufen  in 
3  Treffen  zu  je  3  H.)  unter  Zugrundelegung  und  Erklärung  einer 
Stelle  aus  Wilhelm  dem  Briten.  Aus  der  Darstellung  des  eigentli- 
chen Kampfes  sind  der  wirksame  Vorstoß  des  deutschen  Fußvolks 
gegen  die  französischen  Kommunen,  wodurch  König  Philipp  in  Le- 
bensgefahr geriet,  und  die  Tapferkeit  der  westfälischen  Grafen  be- 
sonders hervorzuheben.  Die  Schlacht  verlief  treffenweis ,  in  succes- 
siven  Angriffen;  sie  weist  ferner  eine  in  mittelalterlichen  Schlachten 
sonst  selten  vorkommende  Art  von  Eingreifen  durch  den  Bischof  Garin 
von  Senlis  während  der  Schlacht  auf.  Der  Widerstand  der  Verbttndeten 
war  aller  Orten  so  nachhaltig,  daß  er  die  ihnen  entgegenstehenden  Kräfte 
des  Siegers  völlig  absorbierte  und  ihm  die  Bildung  einer  Beserve  od^r 


Köhler,  D.  Entwickel.  d.  Kriegswesens  u.  d.  KriegföhroDg  i.  d.  Ritterz.  I.  ü.  683 

die  VerwendoDg  irgeudwelcber  darch  Flacht  nnd  Niederlage  des 
Gegners  frei  gewordener  Abteilangen  an  anderen  Stellen  des  Schlacht- 
feldes unmöglich  machte.  Den  endlichen  Sieg  der  Franzosen  ent- 
schied auch  hier  die  größere  Geschlossenheit  ihrer  zumeist  aus  den 
königlichen  Ministerialen  bestehenden  Schlachthanfen,  die  bessere 
Handhabung  ihrer  Waffen  und  Pferde,  sowie  ihre  Ueberlegenheit  an 
Schwerbewaffneten,  d.  h.  Rittern;  auch  machten  sich  diese  Vorteile 
auf  allen  Punkten  des  Schlachtfeldes  gleichzeitig  geltend.  Am 
Schluß  zeigt  der  Verf.,  wie  im  Gegensatz  zu  Bouvines  das  Vorhan- 
densein YOH  Reserven  bei  Muret  und  auf  dem  Marchfelde  eine  fiber 
die  bloße  Schlachtordnung  weit  hinausgehende  Leitung  des  Kam- 
pfes ermöglichte.  Den  Kern,  die  Hauptarbeit  des  ersten  Bandes 
bildet  der  nun  folgende  Abschnitt:  Der  Krieg  Kaiser  Frie- 
drichs II.  gegen  den  lombardischen  Bund  und  den 
Papst  von  1236  bis  1250>). 

Diese  Arbeit  zählt  allein  276  Seiten  und  bildet  also  gleichsam 
ein  Buch  für  sich.  Voraus  geht  ihr  eine  Einleitung  fiber  die  Kriegs- 
und Wehrverfassung  Kaiser  Friedrichs  IL  und  der  lombardischen 
Städte,  ans  der  wir  erfahren,  daß  die  Teilnahme  Deutschlands  an 
den  Lombardenkriegen  Friedrichs  eine  geringe  war  und  eine  eigent- 
liche Reichsheerfahrt  nicht  zustande  kam.  Die  zu  Anfang  des  13* 
Jahrhunderts  in  Deutschland  ganz  dnrchgeffihrte  Lehnskriegsverfas- 
sung,  der  Kriegsdienst  außerhalb  des  Reichs  wird  ausführlich  be- 
sprochen und  mitgeteilt,  welche  Teile  der  Bevölkerung  zur  Reichs- 
heerfahrt verpflichtet  waren.  Der  Verf.  weist  in  klarer  und  über- 
zeugender Weise  nach,  daß  dem  Kaiser  nur  in  den  Jahren  1236 — 
1239  Hilfe  aus  Deutschland  zukam  und  daß  die  Dienstzeit  dieser 
verhältnismäßig  geringen  Mannschaften  ziemlich  genau  drei  Monate 
betrug.  In  dieser  kurzen  Zeit  war  in  einem  Kriege,  der  fast  nur 
aus  langwierigen  Belagerungen  bestand,  natürlich  nicht  viel  zu  lei- 
sten. Während  Friedrich  Barbarossa  »durch  reichliche  Donative  und 
Abkommen  mit  den  einzelnen  Fttrstenc  größere  Heere  aufbrachte 
und  sie  länger  im  Felde  erhielt,  war  Friedrich  II.  hauptsächlich  auf 
Söldner  angewiesen ;  er  bezog  sie  aus  Deutschland  oder  entnahm 
sie  den  Vasallen  seines  Königreichs  Sicilien.  K.  vergleicht  nun  das 
Einkonunen  des  Kaisers  mit  den  Kosten  ffir  seine  Heere  und  zeigt, 
daß  Friedrich  mit  seiner  Haupteinnahme,  der  Kollekte,  nur  etwa 
1000  Ritter  zu  erhalten  imstande  gewesen  wäre.  >Es  entzieht  sich 
völlig  unserer  Einsicht,  wie  Friedrich  während  des  lang  andauern- 
den Krieges  die  Mittel  hat  aufbringen  können«.    Dementsprechend 

1)  (6  Karten,  danmter  2  Pl&ne  zur  Belagerung  von  Yiterbo  and  Parma). 

0OU.  ^el.  Abi.  1887.  Kr.  16.  44 


634  G«U.  geL  Ans.  Ida?.  Nr.  16« 

war  die  Stärke  seiner  Heefe  niemlds  bedeatend;  eia  Heer  wie  das* 
Barbaroflsas'  vof  -Mailand'  (1168)  •  hat  er  nie  zu- sammeln  termocbt ' 
Der  Verf.  gibt  darauf  ein  bOehit  <  anriehendes  Bild  von  der  Ueber- 
ffthrang  des  sieilischeb  Feiidalstaates  durch  Friedrieh  IL  in  den  mo- 
dernen Beamtenstaat  und  von  der  militärischen  Organisation  des 
Königreichs.  Zur  Erklärung  einiger  schwerverständlieher  Bestimmun- 
gen Friedrichs  ttber  Lehnsverleihungen  zieht  K.  die  gleichartigen 
Verhältnisse  im  Ordeosstaate  PreuBen  heran.  Dann  erfahren  wir 
ttber  die  Verpflichtungen  der  Edelleute,  der  Städte  und  der  Landbe- 
völkerung zur  Landesverteidigung)  ttber  Namen  und  Lage  der  zum 
Schutze  des. Reichs  im  Nordwesten  dienenden  Burgen.  Da  ein  von 
Norden  aus  gegen  Neapel  operierender  Feind  auf  bestimmte  Straften 
angewiesen  war,  so  erörtert  der  Verf.  die  für  Anlage  von  Befesti- 
gungen an  ihnen  maßgebenden  Gesichtspunkte  des  Kaisers,  der  auch 
in  anderer  Beziehung,  durch  Waffenfabriken,  Anlegung  von  Ge- 
stüten, Unterhaltung  einer  Flotte  n.  a.  für  die  Sicherheit  des  Landes 
sorgte.  Sein  Hauptziel  war*  eine  enge  Verbindung  -seines  König- 
reichs Sidlien  mit  dem  übrigen  Italien.  Was  das  Kriegswesen  der 
lombaftKsohen  Städte  betrifFt,  so  besaßen  letztere  damals  noch  eine 
durchaus  kriegsgettbte,  au»  Reiterei  und  Fnßtruppen  l)e8tehende  Mi-' 
Hz ;  einzelne  Städte  —  wie  Pavia  —  konnten  3000  Reiter  ntid 
15,000  Mann  Fußtruppen  aufbringen.  Alle  Bürger  vom  18.  bis  zum 
70.  Jahre  waren  heerespflicbtig  und  hatten  Bewaffnung,  AusrQstnng, 
Verpflegung  selbst  zu  bestreiten.  An  der  Spitzel  jeder  Stadt  stand 
ein  Podesta,  der  vom  Volke  gewählte  Senateren  (Anziani)  und  Ka- 
pitäne oder  Bannerherm  (Gonfalonieri)  znr  Seite  hatte.  Der  Adel 
des  LandgebietB  und  der  wohlhabende  Bttrgerstand  diente  in  Roß, 
der  Hauptteil  der  Bürgerschaft  käapfke  zn  Fuß,  die  Aermeren  ver- 
wandte man  als  Handwerker  oder  Vastatoren.  Die  Mannschaft  gHe* 
derte  sich  nach  lokalen-  Einteilungen  in  Viertel  und  Sechstel,  Auf* 
gebot  und  Abmarsch  der  Truppen  war  genau  geregdt,  Vergefaeik 
dagegen  wurden  streng  bestraft;  auch  Söldner  wurden  von  den 
Städten  verwandt.  Die  Gesamtzahl  der  Streiter  des  lombardischen 
Bundes  sollte  nach  einer  Festsetznng  aus  dem  Jahre  1331  10,000 
Mann  zu  Fuß,  dOOO  Reiter  und  1500  SohAtzen  betragen.  Als  Sann 
melpunkt  in  der  Schlacht  diente  daaOaroeeio,  das  mit  seinem  Mast- 
baume weithin  sichtbare  Bundeshetli^tam ;  auf  ihm  befand  sich  auch' 
die  Kri^sglocke,  deren  Klang  im  stanbi&nfwiiMlnden  Getümmel  der 
Schlacht  den  Verbündeten  den  Platz  des  Heerwagens  verriet 

Nach  diesen  teils  neoen,  teils  schon' bekbnnteny  Bhtn  in  dan- 
kenswerter Weise  zusammengestellten  allgemeinen  Bemerkungen  über 
die  Kriegsgeschichte  jener  Zeit  geht  der  Verf.  nun  zur  Schilderung 


Köhler,  D.  Entwickel.  d.  Kriegswesens  a.  d.  Kriegführung  i.  d.  Ritterz.  I.  11.  635 

der  'kriegerisch'eD  BegebeDbeiten  der  einzelnen  J^bre  Von  1236  bis 
1250  über.  Bei  der  Reicbhaltigkeit  des  Stoffes  h'ilt  es  scbwer  dem 
Verf.  hier  aucb  tiür  andeutangsweise  za  foljgeii;  hervorgehoben 
werde  nur  das  prägnante,  ttbersicbtiiche'  Kapitel:  »Ausbrach  des 
Krieges«,  die  Vorgeschichte  der  Schlacht  von  Cortenuova 
(1237)  und  die  höchst  verdienstvolle  Auseinandersetzung  Über  die 
taktischen  Gliederungen,  die' Stärkeverhältnisse  der  Heere,  die  ritter- 
liche Bewaffnung  der  ^eit,  ferner  die  verfehlte!  Belagerang  Brescias 
von  1338,  die  im  folgenden  JaWe  zu  spät  unternommene  Bewegung 
Friedrichs  gegen  Mailand,  die  politisch  wie  militärisch  nicht  zu 
rechtfertigende  Aufhebung '  der  Belagerung  Bolognas  nach  der  See- 
schlacht vom  3.  Mai  1241,  die  ausführlich  erzählte  Belagerung  von 
Viterbo  (1243),  Friedrichs  Unthätigkeit  im  Jahre  1244.  Von  1246' 
an  verschlimmert  sich  des  Kaisers  Lage  darch  die  Wahl  eines  Gegen- 
kOnigs  in  Deatscbland  und  die  stärker  fühlbar  werdende  Thätigkeit 
des  Papstes  in  Italien,  durch  den  Abfall  von  Parma,  der  seine  ein- 
zige Verbindungslinie  mit  Mittel-  and  Unteritalien  gefährdete,  durch 
die  vergebliche,  von  K.  vorzüglich  geschilderte  Belagerung  dieser 
Stadt  und  die  Gefangennahme  König  Enzios  bei  Fossalta.  Selbst 
die  Erfolge  des  Jahres  1250  änderten  an  dieser  unglücklichen  Sach- 
lage im  großen  und  ganzen  nicht  viel.  Demgemäß  fallen  aach  die 
sehr  lehrreichen  Betrachtungen  des  Verf.s  am  Abschluß  dieser  gan- 
zen Epoche  für  die  Gesamtbeurteilnng  Friedrichs  11,  nicht  günstig 
aus,  und  man  wird  seinen  Ausführungen  am  so  mehr  zustimmen 
müssen,  als  er  andererseits  dem  Kaiser  in  der  Anlage  and  Durch- 
ffihrang  der  Schlacht  bei  Cortenuova  militärischen  Blick  zuerkennt 
nnd  ihm  nacb  den  Unfällen  von  Parma  das  Zeagnis  hoher  That- 
nnd  Spannkraft  nicht  versagt.  In  sehr  überzeagender  Weise  führt 
E.  aas,  daß  die  geringen  Erfolge  Friedrichs  in ,  dem  Gegensatze 
zwischen  dem  Lehnswesen  and  den  realen  Verhältnissen  der  Zeit 
begründet  liegen.  Mit  der  Entwickelang  der  italienischen  Städte  za 
selbständigen  Kommanen  tritt  ein  ganz  neues  nnd  vor  allem  aach 
militärisches  Element  auf,  der  zu  Fuß  kämpfende  freie  Bürger. 
Friedrich  It.,  ganz  in  den  exclusiven  Anschauungen  des  schon  zucht- 
loser Werdenden  Bittertums  aufgegangen,  erkennt  die  hohe  Beden- 
ttmg  desselben  nicbt,  entbehrt  es  zu  seinem  Schaden  bei  den  Be- 
lägerängen, könnte  »mit  seiner.  Beiterei  selbst  in  Gegenwart  von 
l^ruppen,  äie  den  seinen  an  Qualität  weit  nachstanden,  nicht  einen 
Flaß  öder  Graben,  wenn  er  auch  überbrückt  war,  überschreiten«. 
Es  fäflif  ferner  auf,  daß  der  E!aiser  bei  seinen  Belagerangen  von  den 
sonst  wirkünjgsiroflen  Minen  nnd  Vpni  dem  Feuerwerfen  ans  Schleu- 
dermascbitieh  6o  Wenig  GebraacH  macht.     Er  zog  es  {(berhaupt  vor, 

44* 


686  Gott.  gel.  Adz.  1887.  Nr.  \6. 

statt  der  »ihm  langweiligen«  förmlicben  Belagerang  die  sogenannte 
Depopulation,  die  Verwttstang  des  Stadtgebiets  anzuwenden ;  während 
einer  Belagerang  erkundigte  er  sieb  einmal  nacb  dem  Namen  der  ver- 
schiedenen Maschinen.  Andere  militärische  Fehler  Friedrichs ,  wie 
die  Unterlassang  seines  Vorhabens  gegen  Mailand  im  Jahre  1238, 
die  Nicbtbertlcksicbtigang  Brescias  1239  oder  Bolognas  1242 ,  den 
anterbliebenen  Entsatzversach  Ferraras  a.  s.  w.  erklärt  E.  aas  der 
dem  Kaiser  eigenen  Leidenschaftlichkeit,  seinem  Mangel  an  Festig- 
keit and  Aasdaaer  and  seiner  häufig  fehlerhaften  Politik  gegenüber 
dem  Papsttume. 

Die  Belagerung  von  Carcassone  (1240,  eine  Taf.)  wird 
durch  eine  genaue  Schilderung  der  damaligen  Oertlichkeit  eingeleitet, 
die  Belagerung  selbst  nach  dem  Berichte  des  Seneschalls  Guillanme 
des  Ormes  erzählt.  Sie  ist  dadurch  wichtig,  daß  sie  über  den  Stand 
der  Belagerungskunst  des  13.  Jahrhunderts,  Aber  die  Leistungen  im 
Minenkriege  seitens  der  Angreifenden  and  der  Verteidiger  und  Ober 
die  Bedeutung  der  Armbrust  im  Festangskriege  Aufschluß  gibL 
Für  die  Darstellung  der  Schlacht  bei  Benevent  (1266,  2  Taf.) 
beschränkt  sich  E.  auf  das  rein  Militärische.  Er  erzählt ,  daß  Karl 
von  Anjoa  nicht  nur  seine  provengalischen  Vasallen  durch  Soldzah- 
lung und  Aussicht  auf  Erwerb  von  Landbesitz  zur  Teilnahme  an 
seinem  Zuge  bewog,  sondern  auch  in  ganz  Frankreich  zahlreiche 
Werbeplätze  errichten  ließ,  auf  denen  Ritter  und  berittene  Armbrost- 
schützen durch  bekannte  Eriegsbanptleute  gegen  Sold  in  Dienst  ge- 
nommen wurden.  Nach  Ankunft  der  Franzosen  um  Rom  nahm  Man- 
fred die  militärisch  nicht  za  rechtfertigende  Anfstellang  bei  Capua 
statt  bei  Geprano,  von  wo  er  die  hier  in  Betracht  kommenden  drei 
von  Norden  her  nacb  dem  Königreich  Neapel  führenden  Straßen  am 
leichtesten  beherrscht  hätte,  zersplitterte  durch  unnütze  Detachierung 
seine  Armee  und  begieng,  nachdem  das  feste  San  Germano  durch 
einen  unglaublichen  Glücksfall  in  Karls  Hände  gefallen,  den  Fehler, 
seine  Truppen  nördlich  von  Benevent  mit  demCaloreflufi  im  Rücken 
aufzustellen.  Letzteres  bestimmte  die  militärischen  Berater  Karls 
zu  sofortigem  Angriffe.  Die  Schlachtordnung  beider  Heere  and  der 
Verlauf  des  Kampfes  werden  sehr  anschaulich  geschildert  In  der 
Schlußbetrachtung  hebt  der  Verf.  den  einfachen  Gang  der  Schlacht 
hervor.  In  9  Haufen  wie  bei  Bouvines  waren  die  Franzosen  ange- 
rückt; König  Karl  zog  sie  behufs  besserer  Leitung  and  üebersicbt 
in  5  zusammen,  die  in  3  Treffen  fochten.  Die  Schlacht  verlief  nun* 
mehr  nicht  flügel-,  sondern  treffenweise.  »Für  diese  successive  Ge- 
fechtsmethode ist  die  Schlacht  von  Benevent  höchst  lehrreiche.  Sie 
war  es  nach  dem  Verf.  auch  in  Beziehung  auf  das  die  Herren  sq 


Köhler,  D.  Entwickel.  d.  Kriegswesens  n.  d.  Kriegf&hnmg  i.  d.  Ritterz.  L  II.   637 

FqB  in  den  Kampf  begleitende  Oefolge  der  Bitter ,  auf  das  wegen 
Znsammenhaltens  der  Ordnung  in  den  Hänfen  von  den  Rittern  ein- 
geschlagene langsame  Tempo  im  Reiten,  die  feste  Geschlossenheit 
der  Hänfen  und  die  » doppelte  <  Rüstung  bei  den  Deutschen.  Die 
Sehlacht  bei  Tagliacozzo  >)  (1268,  ein  Plan)  bildet  die  letzte 
Monographie  dieses  Bandes.  Obwohl  räumlich  nicht  sehr  umfang- 
reich, hat  sie  dem  Verf.  gewis  von  allen  Schlachtbeschreibungen  des 
ersten  Teils  die  meiste  Mtthe  und  vielleicht  auch  den  größten  Aerger 
verursacht.  Mit  ihrer  Darstellung  gehn  nämlich  zwei  schon  früher 
erschienene  Arbeiten  des  yerf.s  parallel;  beide  wurden  durch  die 
Polemik  hervorgerufen ,  in  welche  K.  mit  Ficker  über  die  Marsch- 
richtung Karls  und  Konradins  vor  der  Schlacht  verwickelt  wurde. 
Ficker  versteifte  sich  auf  das  in  Karls  Bericht  an  den  Papst  (vom 

23.  August)  vorkommende  Wort  Monies  Charchii  und  preßte  nun  alle 
übrigen  Nachrichten  gewaltsam  zusammen,  um  den  eigentlichen  Ver- 
lauf des  Kampfes  in  die  Gegend  zwischen  dem  Monte  Garce  und 
der  »Burg«  Ovindoli,  eine  fbr  Ritterschlachten  ganz  ungeeignete  ber- 
gige Stelle  zu  versetzen.  Dabei  kommt  es  ihm,  derK.  willkürliches 
Umspringen  mit  den  Quellen  vorwirft,  nicht  darauf  an,  ein  im  Au- 
gust unbedingt  wasserloses  Gebirgsrinnsal  als  Fluß  Riale  zu  bezeich- 
nen und  die  Lage  der  Villa  Pentium  entgegen  der  bestimmten  Quel- 
lenangabe auf  dem  rechten  Ufer  des  Imele  zu  suchen.  K.  legt  da- 
gegen den  Hauptwert  auf  Karls  Bericht  an   die  Stadt  Padua  (vom 

24.  August),  worin  nicht  der  Monte  Garce,  sondern  ein  Monte  Taucio 
angeführt  wird,  wie  E.  und  vor  ihm  schon  Raumer  annimmt,  der 
in  Folge  des  Sieges  neugetaufte  heutige  Monte  Feiice.  Mit  der  An- 
nahme des  Verf.s  läßt  sich  die  Wichtigkeit  der  Brücke  über  den 
Imele,  die  1275  von  Karl  auf  dem  Schlachtfelde  errichtete  Kapelle 
S.  Maria  de  Vittoria,  die  für  den  Gegner  bei  Scurcola  unsichtbare 
Aufstellung  der  französischen  Reserven  östlich  des  M.  Feiice,  der 
Kampf  in  der  Palentinischen  Ebene  n.  s.  w.  sehr  gut  vereinigen ;  auch 
fällt  das  zwecklose  Linksausbiegen  Konradins,  seine  Annahme  der 
Schlacht  mitten  im  Gebirge,  Karls  Preisgeben  der  fruchtbaren  mar- 
sfschen  Ebene  n.  a.  fort,  Hypothesen,  zu  denen  F.  nur  des  Wortes 
Charchii  halber  kommt,  das  Karl  von  Anjon  doch  in  seinem  Schrei- 
ben vom  folgenden  Tage  selber  geändert  hat.  Daß  K.  ferner  mit 
dem  viel  näher  an  Avezzano  gelegenen  Ovinuli  gegenüber  Fickers 
Annahme  von  Ovindoli  das  Richtige  getroffen,  steht  dem  Ref.  aufler 
allem  Zweifel.  Die  Existenz  der  näher  an  Karls  Anmarschlinie  lie- 
genden Burg  Ovinuli    für  jene  Zeit  steht  urkundlich  fest,   während 

1)  Richtiger  »die  Schlacht  auf  dem  PalentiiiiBchen  Felde  hei  Albe«  (E.) 


638  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  16. 

Fickers  Ansicht  doch  vorzugsweise  aof  der  Thatsache  berabt,  daB 
es  beute  noeb  einen  Ort  0?indoli  in  der  Nähe  des  Schlachtfeldes 
(IV2  Meilen  entfernt!)  gibt.  Auf  die  übrigen  Differenzpunkte ,  die 
Aufstellang  Karls  bei  Ceprano  n.  a.  kann  leider  hier  nicht  einge- 
gangen werden.  Wie  lehrreich  und  aufklärend  im  tlbrigen  die  Ter- 
rainschilderung,  die  Vorgeschichte  und  der  Verlauf  der  Schlacht  (na- 
mentlich der  Hinweis  auf  die  griechischen  Vorbildern  entlehnte 
Schlachtordnung  der  Franzosen)  ausgefallen  sind,  braucht  nach  dem, 
was  über  die  yorhergehenden  Schlachten  bemerkt  wurde,' kaum  her- 
vorgehoben zu  werden.  Ein  Anhang  enthält  den  Nachweis,  daA 
Villani  für  die  Beschreibung  der  Schlachten  bei  Benevent  undTaglia- 
cozzo  den  Bicordano  Malespini  zur  Grundlage  hat  und  damit  die 
Berichte  des  Primatus  verbindet,  ferner  Karls  Berichte  an  den  Papst 
und  an  Padua^  letzteren,  auf  den  K.  besonderen  Wert  legt,  weil  er 
einen  Tag  nach  der  Schlacht,  also  nicht  in  der  ersten  Kampfesaof- 
regung  geschrieben  ist,  auch  in  deutscher  Sprache. 

Der  zweite  Band  beginnt  mit  der  längeren  Abhandlang: 
Der  zweite  große  Aufstand  der  Preußen  gegen  den 
deutschen  Orden  (1260 — 1274,  eine  Taf.)  In  Verbindung  mit 
drei  anderen  umfassenden  kriegsgeschichtlicben  Aufsätzen  aus  der 
Ordensgeschichte  hat  diese  Arbeit  für  den  zweiten  Band  des  Verf. 
fast  dieselbe  Bedeutung  wie  die  Qeschichte  der  Feldzüge  Friedrichs  II. 
im  ersten  Teile  seines  Werkes ;  sie  bildet  ein  Buch,  eine  militärische 
Studie  fUr  sich.  Die  Einleitung  enthält  die  Schilderung  des  Kriegs- 
schauplatzes, der  Bewohner,  ihres  kriegerischen  Auftretens,  ihrer  mi- 
litärischen Stärke,  der  ersten  Kämpfe  des  Ordens,  seiner  Beziehungen 
zu  Polen,  der  Zustände  im  Ordenslande  selbst,  der  Bewaffnung,  Tak- 
tik der  Ritter,  der  Ordensburgen.  Aus  der  Erzählung  des  Aufstan- 
des sei  auf  die  Niederlage  des  Ordens  bei  Dnrben  (1260)  und  den 
dadurch  veranlaßten  Abfall  von  Kurland  und  der  eigentlichen  preußi- 
schen Stämme  hingewiesen.  Der  Verf.  unterscheidet  in  dem  fünf- 
zehnjährigen Kampfe  3  Perioden,  die  für  den  Orden  unheilvollen 
Jahre  1260—1264,  den  Zeitraum  von  1265—1268,  in  dem  die  Kräfte 
der  Ordensritter  ^urch  Hilfe  auswärtiger  Fürsten  verstärkt  wurden 
und  den  Preußen  die  Wage  hielten ,  und  die  ein  allmähliches  Ueber- 
gewicht  der  Ritter,  die  Ermattang  der  Aufständischen  verratenden 
Jahre  1270—1274.  Aus  den  Schlußbetrachtungen  ergibt  sich,  daß 
der  Aufstand  an  dem  Mangel  einheitlicher  Leitung  der  kriegerischen 
Operationen  seitens  der  Eingeborenen  sowie  daran  scheiterte,  daß 
es  den  Preußen  nicht  gelang  die  Verbindangen  des  Ordens  mit  der 
See  zu  unterbrechen.  Durch  die  Unterwerfung  Samlands  und  die 
Anlegung  fester  Burgen  daselbst  umfaßte  der  Orden  nicht  nur  einen 


Köhler,  D.  Entwickel.  d.  Kriegswesens  d.  d.  Kri^^hnmg  i.  d.  Ritterz.  I.  n.  639 

Teil  der  prenBiBchen  Landsehafteii  im  Bflcken ,  sondern  beherrsehte 
anoh  die  Schifffahrt  auf  beiden  Haflb  nnd  sicherte  so  seine  West- 
grense  dnreh  die  Verbindang  mit  der  Weichsel. 

Die  Schlacht  anf  dem  Marchfelde  (1278,  eine  Taf.)  ist 
fbr  K.  eine  ebenso  dornenvolle  Arbeit  geworden  wie  die  von  Taglia- 
cozzo  im  ersten  Bande.  Nach  ihrer  schon  frOher  von  ihm  veröffent- 
lichten Schilderung  entspann  sich  zwischen  ihm  nnd  einigen  öster- 
reichischen Universitätsprofessoren  eine  heftige  Utterarische  Fehde. 
Es  gewann  darin  fast  den  Anschein,  als  ob  diese  Schlacht  von  letz- 
teren als  eine  Art  nationales  Geheimnis  betrachtet  werde^  zn  dessen 
Aafhellang  die  Kräfte  eines  Ausländers  nicht  aasreichten.  Aach  bot 
sie  om  so  mehr  Gelegenheit  zn  Angriffen  gegen  E«,  als  die  darüber 
Aoskonft  gebenden  Nachrichten  in  starkem  Misverhältnis  za  der 
Wichtigkeit  des  Ereignisses  stehn  and  ohne  Zahilfenahme  von  Kom- 
binatioaen  aas  den  arsprttnglichen  Berichten  eine  Darstellong  ganz 
anvollkommen  ansfiillen  oder  anmöglich  werden  würde.  Wer  wie 
Bissen  flberhanpt  jeden  Baohstaben  einer  Scfalachtenschilderang  aas 
den  QaeUen  belegen  möchte,  der  maA,  weil  das  ebensowohl  far  das 
Mittelalter  wie  für  die  Neazeit  anmöglich  ist,  von  vornherein  auf 
eine,  solche  Arbeit  verzichten.  Ohne  Kombinationen,  ohne  »militäri- 
sche Erwägnngenc  nnd  »Moeaikarbeitc,  ohne  »geistige  Verarbeitang 
des  Qaellenmaterials  and  infolgedessen  ohne  Komposition  c  geht  es 
weder  für  die  Schlacht  anf  dem  Marchfelde  noch  fliir  die  von  Kö- 
niggrätz  oder  Sedan  ab ;  es  kommt  nar  daraaf  an,  ob  diese  Kombi- 
nationen eine  sichere  Unterlage  in  den  vorhandenen  Berichten  fin- 
den. Dabei  spielt  allerdings  »das  anerzogene  militärische  Empfinden 
des  Sichtigen«,  wie  es  K.  nennt,  eine  große  Bolle  and  mit  Behanp- 
tangen,  dafi  der  geschalte  Historiker  den  Mangel  an  militärischem 
Verständnis  eben  darob  seine  Schnlang  reichlich  ersetze ,  ist  es  nicht 
gethan.  Bezttglich  der  Streitfrage  ttber  den  Wert  der  Chronik  von 
JKi)lmar  verweist  Bef.  hier  aof  seine  in  der  Einleitang  za  dieser  In- 
haltsangabe bereits  mitgeteilte  Ansieht  ttber  Qaellenbenatzang.  Die 
Schlachtordnang  beider  Heere  and  der  Gang  der  Schlacht  wird  von 
K.  klar  and  tibersichtlich  beschrieben.  Die  leichten  angarischea  Bo- 
genschfltzen  eröffneten  den  Kampf,  während  Badolf  mit  seinem 
zweiten  and  dritten  Treffen  sttdlich  des  Weidenbachs  zarttckblieb. 
Um  weitere  Fortschritte  za  erzielen,  sendet  er  den  Ungarn  sein 
zweites  Treffen,  die  Oesterreicher,  nach;  es  stöBt  anf  das  2.  böhmi- 
sche Treffen,  die  Deutschen,  in  Ottokars  Heere,  dessen  1.  —  die 
Böhmen  and  Mähren  —  nnterdes  von  dem  angarischen  Adel  gewor- 
fen worden  ist.  Es  würde  allen  militärischen  Begriffen  jener  Zeit 
widersprechen, .  wenn  .das  2«.  Treffen  Rudolfs,  erst  die  böhmischen 


640  Gött.  gel.  Adz.  1887.  Nr.  16. 

Gegner  in  Ottokars  erstem  Treffen  zerstrent  haben  sollte  nnd  dann, 
wie  nach  solchem  Handgemenge  nicht  anders  möglich,  anfgelSet,  aus- 
einander gekommen,  kurz  in  loser  Ordnung  den  geschlossenen  Reihen 
des  2.  (dentscben)  Treffens  in  Ottokars  Heere  entgegengetreten  wäre. 
Die  Böhmen  nnd  Mähren  mttssen  also  vorher  darch  die  Ungarn  za- 
rttckgeworfen  worden  sein.  Ebenso  ttberzeagend  schildert  E.  Radolfs 
Ueberschreiten  des  Weidenbachs,  die  Ursachen  dazn,  den  hartnäcki- 
gen, durch  das  Eintreffen  des  3.  böhmischen  (von  Polen  gebildeten) 
Treffens  hervorgerufenen  Kampf  —  darauf  aufmerksam  gemacht  zu 
haben,  ist  ein  besonderes  Verdienst  Köhlers  —  und  den  jetzt  erst 
verständlichen,  zur  Entscheidung  ftthrenden  Flankenangriff  der  Re- 
serve des  Kapellers.  Die  Schlacht  bei  Worringen  (1288, 
1  Taf.),  hauptsächlich  nach  dem  kritisch  benutzten  Berichte  van  Hee- 
lus  erzählt  und  daher  mit  manch  charakteristischen  Einzelheiten 
(auch  ttber  Rüstung  und  Bewaffnung  der  Zeit)  ausgestattet,  wurde 
ebenfalls  in  der  Dreitreffenstellung  durchgefochten.  Sie  bietet  ein 
besonderes  Interesse  dadurch,  daß  die  schon  bei  Muret  und  Taglia- 
cozzo  erfolgte  Bildung  und  Verwendung  einer  Reserve,  die  ziemlich 
bestimmt  griechischen  Ursprungs  war,  hier  scheinbar  ganz  selbstän- 
dig auftritt  und  daß  das  bei  Worringen  geübte  System  von  Angriff 
und  Verteidigung  für  die  späteren  Schlachten  bei  Mtthldorf  und  Tan- 
nenberg Vorbild  wird.  Auch  in  der  Schlachtordnung  Bajazids  bei 
Nikopolis  läßt  sich  der  griechische  Ursprung  erkennen.  Die  Schlacht 
bei  Oö  11  heim  (1298,  1  Taf.),  »die  Normalschlacht  auf  dem  Ge- 
biete mittelalterlicher  Taktik«,  enthält  eine  umfassende  Erzählung 
der  Vorgeschichte  des  Zusammenstoßes,  eine  genaue  Terrainschilde- 
gerung  nnd  das  ausfBhrliche  Verzeichnis  der  vornehmsten  Ritter  in 
den  beiden  nicht  zahlreichen  Heeren.  Der  Verf.  hält  sich  bei  der 
Darstellung  der  eigentlichen  Schlacht  besonders  an  die  Steirer  Reim- 
chronik. Da  die  Quellen  sonst  spärlich  fließen,  so  war  eine  scharfe 
Kritik  derseben  geboten;  wie  gewissenhaft  sie  der  Verf.  geübt  bat, 
beweist  die  Note  auf  S.  214—215.  Die  Schlachten  bei  Cour- 
tray (1312)  und  Mons-en-Pev61e  (1304,  je  1  Taf.)  stehn  in 
engem  Zusammenhange;  sie  fanden  beide  zwischen  der  französischen 
Ritterschaft  und  dem  lediglich  aus  Fußvolk  gebildeten  Heere  der 
Flamänder  statt.  Wie  einst  bei  Legnano  die  Mailänder  Bürger  den 
deutsehen  Rittern,  so  brachten  die  flämischen  Fußtrnppen  der  fran- 
zösischen Ritterschaft  bei  Courtray  eine  entscheidende  Niederlage 
bei.  Man  darf  sich  die  wehrpflichtigen  Mannschaften  der  flämischen 
Städte  nicht  als  undisciplinierte,  zusammengelaufene  Massen  vorstel- 
len; sie  waren  organisiert,  zu  taktischen  Körpern  verbunden  und 
wurden  von  tüchtigen,  kriegserfahrenen  Männern  der  Zeit  befehligt. 


Köhler,  D.  Entwickel.  d.  Kriegsweaens  o.  d.  Kriegfiihrung  i.  d.  Bitterz.  L  TL  641 

E.  gibt  Aasftthrlieberes  über  ibre  OrganisatioD,  Bewaffnang,  ibre  Oe- 
fecbtsstellang  in  tiefe  Hänfen.  Die  fVanzOsische  Ritterschaft,  obwobl 
änfterlicb  nocb  dieselbe,  die  im  13.  Jahrbnndert  so  groBe  Trinmpbe 
über  Dentscbe,  Engländer,  Spanier  nnd  Italiener  erfochten,  hatte 
doch  »dnrch  den  excentrischen  Geist  der  Chevalerie  in  ihrer  Ver- 
wendbarkeit im  Kriege  gelitten«,  war  der  veränderten  Taktik  ihrer 
Oegner  zn  wenig  gefolgt.  Das  Heer  der  Franzosen  bei  Coartray 
weist  anch  die  zu  Fnft  kämpfende,  aber  von  den  Bittern  verachtete 
nnd  wenig  znr  Geltung  kommende  Miliz  der  Kommunen,  ferner  ita- 
lienische Armbmstschtttzen  nnd  die  sogenannten  Bideanz  oder  Bi- 
dets auf,  in  ihrer  eigentümlichen  Bewaffnung  und  Fechtweise  eine 
'  der  interessantesten  Erscheinungen  für  die  Entwicklung  des  Fußvolks 
im  Mittelalter.  Es  waren  ursprünglich  spanische  SOldner  zu  Fuß,  wie 
sie  sich  in  den  Kämpfen  mit  den  Mauren  herausgebildet  hatten;  ihr 
Führer  Rüdiger  von  Flor  gab  im  Jahre  1303  den  ersten  Anlaß  zur 
Begründung  des  italienischen  Condottieriwesens  ^).  Sehr  fesselnd  ist, 
was  in  der  Darstellung  der  Schlacht  bei  Mons-en-Pev6le  Ober  die 
auf  griechischen  Ursprung  zurückzuführende  Verwendung  von  Wa- 
genburgen zur  Deckung  des  Rückens  und  über  die  Umformungen 
bemerkt  ist,  die  König  Philipp  IV.  zwischen  beiden  Schlachten  im 
französischen  Heerwesen  eintreten  ließ.  Aus  dem  Umstände,  daß  die 
französischen  Ritter  bei  Courtray  eine  vollständige  Niederlage  er- 
litten und  schon  zwei  Jahre  darauf  dem  Sieger  mit  Erfolg  wider- 
standen, zieht  K.  den  Schluß,  daß  das  Fußvolk  seine  Stellung  gegen 
die  Ritterschaft  zwar  behaupten,  aber  keine  Entscheidung  herbeizu- 
führen vermochte,  wenn  der  Gegner  dasselbe  von  allen  Seiten  um- 
schloß, ermüdete  und  namentlich  nicht  in  ungünstigem  Terrain  wie 
bei  Gourtray  aussichtslose  Angriffe  dagegen  unternahm.  Ausftllle 
der  Fußkämpfer  gegen  Ritter  wie  bei  Senlac  und  Courtray,  bei  de- 
nen Ordnung  und  Geschlossenheit  verloren  giengen,  schlugen  in 
Niederlagen  um.  Die  das  Auftreten  der  flämischen  Infanterie  kenn- 
zeichnende tumultuarische  Art^  ihr  Mangel  an  Disciplin  verhinderten 
ihre  weitere  Fortentwickelnng ,  ihre  »Gestaltung  zu  mustergiltigen, 
Vorbildern,  wie  es  bei  den  Schweizern  der  Fall  war.  Nur  in  der 
Verteidigung,  durch  sorgfältige  Benutzung  der  Bodenbeschaffenbeit 
war  sie  überhaupt  imstande  der  Ritterschaft  zu  widerstehnc.  Mit 
Recht  weist  K.  darauf  hin,  daß  die  Städte  ihre  politische  Bedeutung 
nicht  allein  durch  ihre  Mauern  und  ihr  Fußvolk,  sondern  vorzugs- 
weise durch  ihre  reicheren  Hilfsmittel,  durch  das  Einsetzen  der  gan- 

1)  üeber  die  wachsende  Bedeutung  dieser  Condottieri,  namentlich  über  ihren 
Kampf  mit  König  Ruprecht  bei  Brescia  (1401)  hätte  Ref.  gern  etwas  Näheres 
erfahren. 


642  Gdtt.  gel.  An».  1887.  Np.  16. 

zeo  Volkskraft  erlangt  haben ;  ihr  gegenüber  wies  das  LehnsBystem 
nur  spärlich  vorhandene  Kräfte  anf. 

Ueber  Ort  und  Gang  der  Schlacht  bei  Mtthldorf  (1322, 
eine  Taf.)  geben  die  Quellen  keine  befriedigende  Anakanft.  Sie  ge- 
hört,  wie  der  Verf.  bemerkt,  zn  den  Sehlachten,  die  rom  Standpunkte 
einer  skeptiBchen  Kritik  wegen  Mangelhaftigkeit  der  Qnellen  eben- 
sowenig einer  Darsteilong  fähig  sind  wie  irgend  eine  des  Mittel- 
alters, falls  hier  nicht  Verständnis  für  militärische  Dinge  and  Kennt- 
nis der  ttblichen  Taktik  vermittelnd  eintreten  and  diese  Mängel  er- 
setzen helfen.  K.  ftthrt-den  »ganz  bestimmten«  Nachweis,  daft  Kö- 
nig Ludwig  bis  zum  27.  September  die  Straße  Landshut-Erharting 
nicht  verlassen  konnte  und  daß  er  das  bairische  Heer  am  27.  bis 
Dornberg  zurücknahm.  Der  eingehenden  Terrainschilderang  folgt 
die  Bestimmung  der  Lage  des  Schlachtfeldes  aof  der  Vehwiese  zwi- 
schen Isen  and  Inn  and  die  Beschreibung  der  Schlachtordnung  bei- 
der Heere.  »Mit  unverzeihlicher  Saumseligkeit«  hatte  Friedrich 
d.  Seh.  die  günstige  Gelegenheit,  in  den  Tagen  vom  15.  bis  26.  Sep- 
tember sich  auf  die  noch  schwachen  Baiern  zu  werfen  versäumt  und 
wurde  nun  vom  Erscheinen  König  Ludwigs,  der  das  bei  Erharting 
ßtehende  österreichische  Heer  nmgieng  und  es  gleichzeitig  vom  Mn- 
l^en  Ufer  der  Isen  aus  in  der  Front  bedrohte,  sowie  dessen  Bttck- 
zog  über  den  Inn  jetzt  unmöglich  machte,  völlig  Überrascht.  Der 
Qinweis  des  Verf.  auf  das  Ueberschreiten  der  Isen  durch  das  bairi- 
sche Fußvolk  und  dessen  im  Verein  mit  den  bairischen  Bittern  an- 
terpommener,  die  letzten  Kräfte  Friedrichs  aufzehrender  Kampf  läßt 
jetzt  erst  verstehn,  wie  der  Stoß  des  Borggrafbn  von  Nürnberg  in 
4ie  linke  Flanke  der  Oesterreicher  entscheidend  wirken  mußte. 
Mühldorf  war  die  eigentliche  Nutzanwendung  der  bei  Worringen  ge- 
machten und  Gemeingut  der  deutschen  Heerführer  gewordenen  Er- 
fahrungen, »eine  selbständige  Entwickelung  aus  vorhergegangenen 
Thatsachen,  die  dem  deutschen  Geiste  alle  Ehre  macht«.  Die 
Feldzttge  des  deutschen  Ordens  gegen  Polen  (1330— 
,1332)  schließen  an  die  Eingangsarbeit  dieses  Bandes  an  and  be- 
handeln den  mächtigen  Aufschwung  des  Ordens  seit  Ende  des  l3. 
Jlkhrbpndtf  ts  im  Innern  wie  nach  außen.  Aus  den  einzelnen  Kriegs- 
j^breii  sei  auf  den  lehrreichen  Kampf  und  den  Untergang  der  Ar- 
riöreg^rde  des  Ordens  (durch  Umzingelung  der  zahlreicheren  Polen) 
in  der  Schilde ht  bei  Plo wcze  (1331)  und  aaf  die  von  den  Or- 
^ensrittierQ  in  gräßlichster  Weise  aasgeübte  Depopulation  des  polni- 
schen Gebiets  hingewiesen.  Der  nun  folgende  Abschnitt:  Zum 
englisch-französischen  Kriege  des  14.  Jahrhunderts 
gehört  zu  den  fesselndsten  des  ganzen  2.  Bandes;  mit  staunensw^r* 


Köbler,  D.  Entwickel.  d.  Eriegswesens  u.  d.  Eriegf&hrang  i.  d.  Bitterz.  I.  II.   643 

tem   Fleiße  nnd  weitgehendstem  Sachverständnis   geschrieben,   er* 
scheint  er  dem  Bef.   als   eine   hervorragende  Bereicherang  unserer 
Eriegslitteratnr  des  Mittelalters.    Er  gibt  über  die  allmähliche  Aus- 
bildung der  englischen  Taktik   unter  Eduard  UL,   über   den  Kampf 
der   vorgeschobenen    Bogenschützen    und    der   abgesessenen   Bitter- 
schaft und  die  Verbindung   beider   zu  einer  förmlichen  Schlachtord- 
nung   in    drei   Treffen   mit   zwei    an  das  Mitteltreffen  angebängteni 
von   aufgesessenen   schweren    Beitern   gebildeten  Flttgeln,   über  die 
Wagenburgen   im   Bücken   der  englischen  Armee   u.  a.  Aufschluß; 
die  Ansicht,  als  ob  die  Entscheidung   bei  Gr6cy   und  Poitiers  ledig» 
lieh  durch  die  Bogenschützen  erfolgt  sei,    wird  als  unbegründet  zu« 
rückgewiesen.    Alles   was   K.   ferner   über  die  englischen  Webrein- 
richtungen, über  das  Verhältnis  der  Bogenschützen   zur  heutigen  In- 
fanterie, über  Eduards  III.  Kräfte   im  Kriege  gegen  Frankreich  he* 
merkt,  ist  wie  die  sich  daranschließende  Schilderung   des  damaligen 
französischen  Heeres,   die  darin  zu  Tage  tretende  Vernachlässigung 
des  Fußvolks,  der  allmähliche  Uebergang  der  Bitterscbaft  zum  Fuß- 
kampf,  das   stehende  Heer  Karls  V.   nnd   die    eingehend  gegebene 
Darstellung  der  Fortschritte  in  der  Bewaffnung  beider  Völker  in  ge- 
nauer und  erschöpfender  Weise  behandelt    Für  die    Schlachten 
bei  Gröcy  (1346)   und   Poitiers   oder  Maupertuis  (1356, 
je  1  Taf.)    bot   der    bekannte  Froissart   die  mit  scharfer  Kritik  be- 
nützte Hauptquelle,    Bei  Cr^cy   sind   die  Märsche   beider  Heere  vor 
dem  Zusammentreffen   und    die   am  Anfang   der  Schlacht  durch  die 
langen   Pfeile   der  englischen   Bogenschützen   bewirkte    Unordnung 
unter   den  Franzosen   hervorzuheben.    »Vom   weiteren  Verlaufe  der 
Schlacht  lassen  sich  nur  ganz  allgemeine  Züge  entworfene.    An  die 
Schlacht  bei  Maupertuis  knüpfen  sich  weniger  militärische  als  weit- 
reichende politische  Folgen.     Ihr  Verlauf  war  bei  der  Ueberlegen- 
heit  der  Engländer  in  Stellung  und  Bewaffnung  trotz  der  bedeuten- 
den Uebermacht  der  Franzosen   ein   verhältnismäßig  rascher.     Die 
schlechte  Haltung  eines  Teils  der  abgesessenen  französischen  Bitter- 
schaft im  Treffen  des  Dauphins  Karl  und  ihr  hastiges  Zurückeilen 
zu  den  Pferden  führte  später  bei  Boosebeke  und  an  a.  0.  dazu,  die 
Bosse   ganz  außer  dem  Bereiche    des  Schlachtfeldes  zu  lassen,  so 
daß  den  Feigen  damit  von  Anfang  an  jede  Hoffnung  zur  Flucht  be- 
nommen ward.     Die  Schlachten  bei  Cocherel  und  Auray 
(1364,  zusammen  1  Tafel)  fördern  unsere  Kenntnis  von  der  Taktik 
des  Mittelalters  besonders  deshalb,  »weil  die  Armeen  verhältnismäßig 
klein  sind  und  die  taktischen  Maßnahmen  dadurch  in  hohem  Maße 
beeinflußt  werden«;  sie  ermöglichen   uns  ferner  die  Beurteilung  der 
voü  den  vorzüglichsten  Heerführern  und  Gondottieris  Frankreichs  und 


644  Qöti.  gel.  Aaz.  1887.  Nr.  16. 

Englands  geführten  »Söldnerbanden«.  Bei  Cocherel,  in  der  Thal- 
niederung des  linken  Earenfers,  fochten  beide  Teile  in  drei  »Ba- 
taillonen« neben  einander,  die  Franzosen  hatten  an Berdem  eine  kleine 
ans  Gascognern  bestehende  Reserve  als  2.  Treffen.  Die  sonst  so 
furchtbaren  englischen  Bogenschützen  versagten  gegen  die  zu  Fuft 
kämpfenden  französischen  Ritter,  und  der  schliefiliche  Sieg  Dngne- 
sclins  über  Captal  de  Buch,  seit  langem  der  erste  tiber  die  mit  den 
Engländern  verbündeten  Landsleute,  erweckte  in  Karl  V.  Hoffnun- 
gen, welche  die  Niederlage  bei  Auray  wenige  Monate  darauf  wieder 
vereitelte.  Bezeichnend  für  die^ritterlichen  Anschauungen  der  Zeit 
ist,  daß  der  englische  Ritter  Galverley  bei  Auray  sich  anfangs  wei- 
gerte den  Oberbefehl  über  die  von  Chandos  gebildete  Reserve  zu 
tibernehmen.  Die  Feldzüge  von  1366  und  1367  in  Spa- 
nien (1  l'af.)  »bilden  den  Höhepunkt  der  englischen  Erfolge  im 
14.  Jahrhundert.  Der  Zug  des  Prinzen  von  Wales  legt  aber  auch 
den  Grund  zum  Niedergange  der  englischen  Ueberlegenheit  dadurch, 
daß  er  den  Prinzen  in  dauernde  Geldverlegenheit  bringt,  die  über 
die  Auferlegung  neuer  Steuern  empörten  gascognischen  Barone  zum 
Abfall  führt  und  den  Keim  seiner  späteren  Krankheit  in  den  schwar- 
zen Prinzen  pflanzt«.  Wir  erhalten  dadurch  ferner  den  deutlichsten 
Einblick  in  die  eigentümlichen  Söldnerverhältnisse  der  Zeit.  Die 
Einmischung  der  Engländer  in  den  Zwist  zwischen  den  spanischen 
Kronprätendenten  hatte  den  Wiederansbruch  des  Krieges  auch  mit 
Frankreich  zur  Folge;  der  Seesieg  des  in  Spanien  vom  Prinzen  von 
Wales  überwundenen  Grafen  Heinrich  von  Trastamara  über  die  eng- 
lische Flotte  bei  La  Rocbelle  (1372)  unterbrach  die  Verbindung  des 
Prinzen  mit  der  Heimat  und  trug  vornehmlich  zur  Vertreibung  der 
Engländer  aus  Guienne  bei.  Die  z.  T.  von  Augenzeugen  herrüh- 
renden Nachrichten  über  den  Einmarsch  des  Prinzen  in  Spanien  und 
die  Schlacht  bei  Najera  (1367)  ermöglichten  es  dem  Verf., 
seine  Erzählung  mit  einer  Fülle  beachtenswerter  Einzelheiten  auszu- 
statten, die  ihr  eine  besondere  Frische  und  Lebendigkeit  verleihen. 
Am  Schluß  dieser  Arbeit  gibt  der  Verf.  eine  besondere  Kritik  der 
Quellen,  »die  erst  nach  der  Darstellung  der  Schlacht  möglich  war«. 
In  dem  Abschnitte :  Neun  Kriegsjahre  aus  der  Regierungs^ 
zeit  des  Hochmeisters  Winrich  von  Kniprode  (1362— 
1370)  weist  K.  auf  die  eigentümliche  Kriegführung  hin,  die  sich  bei 
der  Unzulänglichkeit  der  Mittel  des  deutschen  Ordens  gegenüber  den 
Littauern  herausgebildet  hatte ;  sie  bestand  in  der  den  Gegner  un- 
ausgesetzt beschäftigenden  Offensive,  sowie  darin,  daß  der  Orden 
zwischen  seinem  Gebiet  und  Littauen  eine  unzugängliche,  durch  Anlage 
zusammenhängender  Befestigungen  verstärkte  Wildnis  schuf.     Nach 


Köhler,  D.  Entwickel.  d.  Kriegswesens  a.  d.  Kriegführung  i.  d.  Ritterz.  I.  IL  645 

einer  Untersuchung  Über  die  Lage  der  einzelnen  Burgen  darin  er- 
zählt der  Verf.  die  kriegerischen  Ereignisse  der  einzelnen  Jahre, 
aus  denen  Ref.  die  Belagerung  von  Kauen  (Eowno,  1362)  und  die 
Schlacht  bei  Rudan  (1370)  nennt.  E.  macht  schließlich  auf 
die  irrtümliche  Ansicht  aufmerksam,  wonach  die  Kriegführung  des 
Ordens  nach  1370  eine  schlaffere  geworden  sein  soll;  bis  zum  Tode 
Winrichs  sei  »die  Vernichtung  der  Heiden,  nicht  die  Eroberung  Lit- 
tauens«  geplant  und  durch  größere  mit  Energie  ausgeführte  Heer- 
zttge  angestrebt  worden.  Die  Schlacht  bei  Boosebeke 
(1382,  1  Tafel)  schildert  die  Niederlage  der  fiamänder  Bürger  unter 
Philipp  Artevelde  durch  die  Franzosen.  Vor  Beginn  der  Schlacht 
hielten  die  Sieger  einen  Kriegsrat  ab,  der  sich  mit  dem  geplanten 
Uebergange  über  die  Lys  beschäftigte  und  die  ritterlichen  Anschau- 
ungen der  Franzosen  vortrefflich  kennzeichnet.  Eine  Umgehung  des 
schwierigen  D6fil6s  wurde  als  feig  und  unredlich  abgelehnt.  »Wenn 
wir  einen  anderen  Weg  einschlagen  als  den  direkten«,  äußerte  der 
französische  Connetable,  »so  zeigen  wir,  daß  wir  keine  rechtschaf- 
fenen Soldaten  sindc  Unter  den  Waffen  werden  auch  tragbare 
Feuerwaffen  der  Franzosen  und  Ribeaudequins,  eine  Art  Feldgeschütz 
der  Flamänder,  erwähnt.  Die  in  einem  einzigen  tiefen  Haufen  auf- 
gestellten 60000  Flamänder  wurden  nach  einem  kurzen  Anfangserfolge 
rafich  überwältigt;  der  Sieg  führte  die  rebellischen  Städte  Frank- 
reichs wieder  unter  die  königliche  Botmäßigkeit  zurück.  Die 
Schweizerschlachten  von  Laupen  (1339)  und  Sempach 
(1386,  zus.  1  Taf.)  beanspruchen  ein  besonderes  Interesse,  weil  »von 
den  verschiedenen  Formen^  unter  denen  sich  seit  dem  12.  Jahrhun- 
derte das  Fußvolk  zur  Geltung  zu  bringen  suchte,  diejenige  der 
Schweizer  schließlich  die  allgemeine  Annahme  gefunden  und  zu  einer 
gleichförmigen  europäischen  Infanterie  hinübergeleitet  hatc.  Bei  L. 
siegten  die  vereinigten  Bürger  von  Bern  und  den  Waldstätten  über 
den  umwohnenden  Adel.  Sempach  gestaltete  sich  zur  Niederlage 
der  Bitterschaft,  weil  die  Oesterreicher  den  Vorteil  ihrer  Höhen- 
Stellung  nicht  wahrnahmen  und  weil,  als  »der  Spitze  der  Luzerner 
am  Anfange  der  Schlacht  ins  Gedränge  kam,  die  nachfolgenden 
Waldstätte  sich  vom  Spitz  lösten  und  mit  Erfolg  in  die  Flanke  der 
Oesterreicher  giengen.  Hier  wie  zwei  Jahre  später  bei  Döffingen 
fochten  die  Bitter  zu  Fuß.  »Im  Verlauf  der  Schlacht  ergibt  sich 
kein  Moment,  wo  die  Sage  von  Arnold  Winkelried  eingereiht  wer- 
den könnte;  es  ist  kaum  möglich,  daß  ein  Mann  mehr  wie  zwei 
SpieAe  erfassen  konnte,  da  der  abgesessene  Bitter  mindestens  3  Fuß 
Raum  in  der  Front  einnähme.  Die  Schlacht  bei  Nikopolis 
(1396,  1  Taf.)  —  von  E.  schon  früher  in  Verbindung  mit  der  Schlacht 


646  Gott.  gel.  Am.  1887.  Nr.  16. 

von  Widdio  als  Monographie  bearbeitet  —  gestaltete  sich  ans  einem 
anfänglichen  Siege  der  Christen  durch  die  zäFuß  und  ohne  Ordnung 
und  Geschlossenheit  ausgeführte  Verfolgung  der  französischen  Ritter- 
schaft zu  einer  gänzlichen  Niederlage  des  Kreuzheeres.  Am  Ein- 
gange seiner  Darstellung  entwirft  der  Verf.  ein  eindrucksvolles  und 
anziehendes  Oemälde  von  dem  kriegerischen  Lehnsstaate  der  Osmanen 
und  ihrer  gesamten  militärischen  Organisation.  Die  Schi  ach  t  b  e  i 
Tannenberg  (1410,  1  Taf.)  »gibt  ans  ein  Bild  mittelalterlicher 
Fechtweise,  wie  es  vollkommener  in  keiner  der  bisher  vorgeführten 
Schlachten  geboten  wird.  Es  ist  zugleich  die  letzte  Schlacht,  wo 
sich  das  mittelalterliche  Reitergefecht  völlig  unabhängig  vom  FuB- 
volk  in  seiner  charakteristischen  Form  der  successiven  Verwendung 
der  Kräfte  v^enigstens  auf  Seite  der  Polen  zeigte.  Die  bei  T.  nur 
zum  Rttckhalt  bestimmte  Wagenburg  wurde  unter  Ziska  der  Haupt- 
körper der  Schlachtordnung;  unter  ihrem  Schutze  bildete  sich  ein 
beachtenswertes  Fußvolk  heran,  sie  gibt  der  schwerfälligen  Artillerie 
der  Zeit  Oelegenheit  sich  geltend  zu  machen.  Der  Schlachtbeschrei- 
bung  gehn  »Vorbemerkungen c ,  d.  h.  umfassende  Untersuchungen 
über  das  Heerwesen  des  deutschen  Ordens  zur  Zeit  der  höchsten 
BIttte  desselben,  Studien  über  die  militärische  Organisation  des  Lan- 
des, die  Zusammensetzung  und  Bewaffnung  des  Ordensheeres,  seine 
Stärke,  seine  Artillerie,  Vergleiche  zwischen  der  englischen  Kampf- 
weise der  Zeit  und  der  des  Ordens  und  Betrachtungen  Über  das 
Heerwesen  des  Königreichs  Polen  unter  Jagello  voraus,  »das  im 
Oegensatz  zu  dem  sich  dem  Greisenalter  nähernden  Orden  in  völli- 
ger Jugendfrische  stand«.  Auf  die  Anführung  der  Ursachen  des 
Kriegs  von  1410  und  der  einleitenden  Operationen  folgt  die  Schilde- 
rang des  Terrains  bei  T.,  das  K.  augenscheinlich  ans  persönlicher 
Anschauung  kennt.  Den  Hauptgrund  für  den  ungünstigen  Ausgling 
der  Schlacht  findet  der  Verf.  darin,  daß  der  Hochmeister  es  znerst 
nnterließ  sich  auf  die  überraschten  Polen  zu  werfen  und  daß  er 
dann  nach  der  Flucht  der  Littauer  zögerte,  mit  seinem  3.  Treffen  in 
die  jetzt  offene  rechte  Flanke  der  Polen  einzubrechen  und  damit 
seine  gesamten  Kräfte  gleichzeitig  zu  verwenden.  Dad  polnische 
Heer  besaß  nach  dem  Verf.  in  dem  littanischen  Großftlrsten  Witold 
eine  bedeutende  militärische  Capacität.  Der  Fei dzng  König' 
Heinriohs  V.  in  Frankreich  (1415,  1  Taf.)  beschließt  den 
zweiten  Band.  Er  zerfällt  in  die  Darstellung  der  Belagerung 
von  Harfleur,  des  damaligen  Hafens  von  Paris,  deren  für  die 
Engländer  günstigen  Ausgang  hauptsächlich  ihre  wirksame  Artillerie 
herbeiführte,  und  in  die  Schilderung  der  Schlacht  bei  Azitk** 
CO  art.    Die  geringe  Zahl  der  englischen  Streiter  veranlaß  te' König; 


Köhler,  D.  Enlwickel.  d.  Kriej^swesens  u.  d.  Kriegfuhhing  i.  d.  Ritterz.  I.  II.  647 

Hüinriob,  das'  2.  waä  3.  'Treffen  in  seitlör  Schlächtordnang  wegfallen 
zu  lassen;  er  «Mllte'sich  in  einem  einzigen,  noch  daza  nur  4  Mann* 
Tiefe  zfthlenden  Treffen  auf.  Trotz  der  Erfahrungen  von  Cr^y 
giengen  die  äaüersten  Flttgeiabteilungen  der  Franzosen  zu  RoB  in 
den  Kampf;  ihre  darch  die  Pfeile  der  englischen  Bogensclitttzen  in 
blinde  Wut  versetzten  Pferde  hielten  nicht  Stand  nnd  brachten  die 
hinter  ihnen  stehenden  Abteilungen  in  Unordnung.  Das  gleichfalls 
gegen  den  Befehl  zu  Roß  verbliebene  3.  französische  Treffen  ergriff 
ohne  Kampf  die  Flucht.  Der  Anhang  des  zweiten  Bandes 
enthält  einen  Exkurs  über  die  Stärkeberechnungen  der 
Armeen  seit  Mitte  des  13.  Jahrhunderts.  Darin  sind  be- 
sonders die  Schlachten  auf  dem  Marchfelde,  bei  Courtray  und  Mons- 
en-Pev&le,  die  Stärke  der  Armeen  im  englisch-französischen  Kriege, 
der  Heere  bei  Sempaeh,  DöflSngen,  Tannenberg  und  Azincourt  be- 
handelt Die  Schwierigkeit  der  Materie  ließ  den  Verf.  natürlich  nur 
lu  annähernden  Ergebnissen  gelangen. 


Nach  dieser  ausgedehnten  und  dem  reichen  Inhalte  beider  Bände 
doeh  nur  notdürftig  gerecht  werdenden  Uebersicht  mögen  dem  Ref. 
noch  einige  Bemerkungen  allgemeiner  Natur  gestattet  sein.  Mit 
Rücksicht  auf  die  seinen  Arbeiten  an  einigen  Stellen  schon  früher 
zu  Teil  gewordene  ungünstige  Aufnahme  äußert  der  Verf.  in  der 
Vorrede  zum  ersten  Teile:  Ich  zweifle  nicht,  daß  mein  Werk  von 
gewisser  Seite  in  der  ungünstigsten  Weise  zur  Besprechung  gelan- 
gen wird.  Diese  Befürchtung  ist  in  der  That  eingetroffen.  Ein 
Kritiker  glaubte  »pflichtmäßige  darauf  hinweisen  zu  müssen,  daß 
der  Styl,  sowie  mannigfache  Abschweifungen  und  Wiederholungen 
das  Studium  des  Werkes  erschwerten,  und  citierte  als  Beleg  dafür 
einen  etwas  zu  lang  geratenen  Satz  der  Einleitung.  Daß  in  einem 
Bache,  welches  aus  der  Darstellung  und  Untersuchung  einzelner 
Schlachten  allgemeine  Schlüsse  ableiten  will,  wiederholte  Hinweise 
auf  Aehnliclikeiten  in  Bewaffnung,  Aufstellung  und  Fechtweise  vor- 
kominen,  kann  ebensowenig  Wunder  nehmen,  wie  daß  in  einem 
Werke  von  nahezu  1400  Seiten  der  eine  oder  andere  Satz  verun- 
glückt Aas  einem  solchen  Falle  heraus  aber  zu  einem  das  Qanze 
verdammenden  Ausspruche  zu  kommen,  ist  mindestens  stark  über- 
trieben und  tendenziös.  Ref.  muß,  nachdem  er  Seite  ftlr  Seite  bei- 
der Bände  gelesen,  seinerseits  auch  9  pflichtmäßige  bekennen,  daß 
das  Werk  frisch  und  anregend,  selbst  bei  Untersuchung  schwieriger 
Quellencitate  in  leichtverständlicher,  nie  ermüdender  Art  geschrieben 
ist  Die  SchlachtenBchildernngen  Köhlers  bilden  einen  wahrhaften 
Gewinn    ftlr    unsere   Militärlitteratur;    sie   füllen    eine   schmerzlich 


648  Gott.  gel.  Aos.  1887.  Nr.  16. 

empfandeDe  Lücke  in  fachmännigch  erwflnscbter  Weise  ans  and  wer- 
den fbr  kriegsgeschichtliche  Studien  ttber  das  Mittelalter  anf  Jahr- 
zehnte hinaas  grandlegend  bleiben.  Bei  der  oft  mangelhaften  Beschaf- 
fenheit der  Qaellen  ans  jener  Zeit  liegt  es  in  der  Nator  der  Sache, 
daß  für  Kontroversen,  fttr  entgegengesetste  Änffassangen  und  ab- 
weichende Meinungen  Raam  genug  bleibt.  Gibt  es  doch  selbst  in 
der  Darstellung  von  kriegerischen  Ereignissen  der  Neuzeit  anaafge- 
klärte  Stellen  genug;  um  so  weniger  werden  sie,  wie  schon  hervor- 
gehoben wurde,  fttr  jene  zurückliegenden  Jahrhunderte  fehlen.  Aber 
wenn  dem  Verf.  auch  fUr  einzelne  Momente  seiner  umfangreichen 
Schilderungen  kleinere  Irrtümer  nachgewiesen  werden  sollten ,  so 
nimmt  das  der  Gesamtbedeutung  seines  verdienstvollen  Werkes  we- 
nig oder  nichts.  Im  großen  und  ganzen  iiaben  Köhlers  Forschun- 
gen, die  nie  bei  Fremden  Anleihen  machen,  immer  anf  eignen  Füßen 
stehn  und  stets  aus  dem  Vollen  schöpfen,  den  Gang  der  Ereignisse 
sicher  gestellt;  sie  haben  dadurch  zugleich  eine  Legion  gangbarer 
irriger  Ansichten  beseitigt  und  sind  auf  Jahre  hinaus  ein  Kanon  fttr 
die  Kriegsgeschichte  des  Mittelalters  geworden. 

Zum  Schluß  will  Ref.  nach  einigem  Schwanken  die  Bemerkung 
nicht  unterdrücken,  daß  er  das  Erscheinen  des  Köhlerschen  Werkes 
noch  in  anderer  Beziehung  freudig  begrüßt  ^hat.  Wenn  ein  preußi- 
scher Officier,  der  in  drei  wichtigen  Feldzügen  höhere,  verantwor- 
tungsreiche Stellungen  bekleidete,  den  wohlverdienten  Buheabend 
seines  Lebens  dazu  benutzt,  um  mit  eisernem  Fleiße  und  einer  nicht 
einmal  unserer  studierenden  Jugend  immer  eigenen  gewissenhaften 
Hingebung  an  die  Sache  sich  länger  als  ein  Jahrzehnt  in  die  schwer- 
verständlichen Quellenschriften  verschiedener  Nationen  einzulösen, 
sich  in  die  schwierigen  kriegsgeschichtlichen  Details  des  Mittelalters 
hineinzuleben  und  seine  Zeitgenossen  dann  mit  so  schönen  Ergebnissen 
seiner  Arbeitskraft  und  seines  militärischen  Urteils  zu  überraschen,  so 
ist  das  eine  Tbatsache,  die  uns  mit  nationalem  Stolze  erfüllen  muß. 
Solche  Erscheinungen  sind  selten,  nicht  nur  im  Vaterlande  Henri 
Delpechs,  auch  am  Fuße  der  Martinswand  und  an  der  schönen 
blauen  Donau. 

Breslau.  J.  Krebs. 


Fttr  die  BedAlction  ▼•ntntwortlicli :   Prof.  Dr.  Ssektd»  Direktor  der  Gfitt.  gel.  Am., 
Aneaeor  der  Königliehen  Geeelleehafl  der  WiaeeBediftftaB. 

Ttfkv  dm  DkUridiftckm  7mrkigB'.Bu6kkanam^, 

J)ni€k  dw  DmtricVKhm   Vni».'Bwikdrw)kmr§i  (f)r»  W,  Matthttr). 


'■•-■*'  li 


«49 


Göttingische 


gelehrte  Anzeigen 

anter  der  Aufsicht 

derKönigl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Nr.  17.  15.  August  1887. 

Preis  des  Jahrganges :  JL  24  (mit  den  »Nachrichten  d.  k.  G.  d.  Wiss.c :  JL  27). 
Preis  der  einseinen  Nummer  nach  Anzahl  der  Bogen:  der  Bogen  50  ^ 

Inhalt:  8  eh  cell,  ProcU  oommentarloniH  in  ran  pnUieam  Plfttonia  partes  inedltae.  Ton 
Brmu,  —  Lang,  Beitr&g«  rar  Kenntnis  der  Bmptiy-Geeteine  des  C]iri8tiaiiiap49ilarbeekens.  Von 
CMm.  —    Woeikof,  Die  Klimata  der  Erde.    Yen  Jfe|w. 

=  EigeiiHioIrtIger  Abdrook  von  Artikeln  der  Gott  gel.  Anzeigen  verboten.  ^ 


Sehe  eil,  Rudolf,  Prodi  commentariorum  in  rem  pnhlicam  Piato- 
nis partes  ineditae.  Berolini  apud  Weidmannes  (Zweiter  Band  der 
Anecdota  varia  graeca  et  latina  ediderant  R.  Schoell  et 
G.  Stademund.)    240  3.    8^ 

Die  zweite  Hälfte  der  Abbandlangen  des  Proclos  zu  Piatos 
Staat,  die  bis  auf  spärliche  Excerpte  bisher  unbekannt  war,  erscheint 
hier  zum  ersten  Mal  auf  Grund  der  einzigen  erhaltenen  Handschrift. 

Diese  Abhandlungen  haben  eine  merkwürdige  Geschichte  ge- 
habt, die  zwar  in  Einzelheiten,  besonders  durch  Valentin  Böses 
Aufsatz  »der  Index  zu  Proclos  Abhandlungen  über  die  Republik  des 
Plato«  (Hermes  n,  96  £f.)  schon  früher  bekannt  war,  in  die  aber 
doeb  erst  die  Untersuchungen  des  Heransgebers  umfassenderen  Ein- 
blick gewähren.  Rose,  der  nur  den  unvollständigen  Laurentianus 
80,  9  und  seine  Apographa  kannte,  hatte  gemeint,  der  damals  bis 
auf  Mais  und  seiner  Vorgänger  Excerpte  noch  ganz  unbekannte  Co- 
dex der  Salviati  enthalte,  zwar  verstümmelt,  doch  den  vollständigen 
Text  dieser  Abhandlungen,  werde  also  nach  seiner  Auffindung  eine 
Tolbtändigere  Parallelquelle  neben  dem  Laurentianus  abgeben.  Dies 
ist  nicht  haltbar.  Die  AeuBerungen  derer,  die  den  Codex  selbst  ge- 
sehen haben,  sowie  seine  nunmehr  von  SchOU  publicierte  Abschrift 
(Barberinus  Graeeus  I,  66  olim  606)  ergeben  mit  Bestimmtheit,  daß 
die  SdtlTialische  Handschrift  nur  die  Fortsetzung  des  Laurentianus 
enthielt.    Aber  Schoell  geht  weiter  und   schlieft  (praef.  7),  gestützt 

05tt.  fol.  Abi.  1807.  Mr.  17.  46 


650  Gott.  gel.  Adz.  1887.  Nr.  17. 

banptsächlich  aaf  die  absolute  Aebnlichkeit  der  Scbrift  im  Lanren- 
tianns  einerseits  und  der  salviatiscben  Handscbrift  andererseits  (von 
welcber  Mai,  scriptt.  vett.  noy.  coli.  II,  glttcklicber  Weise  wenig- 
stens ein  Facsimile  gab),  daß  Beides  nar  Teile  ein  und  derselben 
Handscbrift  seien. 

Vergegenwärtigen  wir  uns  den  bistorischen  Hergang,  wie  er  sieb 
Scboell  ergibt.  Im  Jabre  1492  bat  Janas  Lascaris,  der  damals  ge- 
rade im  Auftrage  Lorenzos  Oriecbenland  zam  Erwerb  von  Hand- 
scbriften  bereist  batte,  ein  Exemplar  des  Proclos  »zum  Staat«  nach 
Florenz  gebracht  (also  schon  von  seiner  ersten  Reise,  die  zweite 
wurde  erst  nach  Lorenzos  Tode  beendet^)).  Dieses  von  ihm  in 
Oriechenlknd  gekaufte  Manuskript  ist  der  unvollständige  Laurentia- 
nus  80,  9  (Pergamentbandschrift  des  10.  Jahrb.),  der  die  erste  größere 
Hälfte  der  Abhandlungen  enthält  und  der  auch  damals,  als  ihn 
Lascaris  kaufte,  nicht  mehr  enthielt.  Denn  von  dem  »soeben  durch 
Lascaris  bekannt  gewordenen  Proclos  zu  den  ersten  6  Btlcbern  des 
Plato  vom  Staat  und  dem  Anfang  des  siebenten«  schreibt  im  August 
1492  Marsilius  Ficinus  an  Martinns  Uranius  (praef.  4),  und  dem 
entspricht  die  Notiz  des  alten  Ausleiheregisters:  a  messer  M.  Ficini, 
Procolo  ...  sopra  la  rep.di  Piatone  ...  non  finite^).  Der  Schnitt 
also,  der  das  einst  vollständige  Exemplar  in  zwei  ungleiche  Hälften 
zerlegte,  ist  nicht  in  Italien,  sondern  schon  in  Oriecbenland  ge- 
schehen, ehe  Lascaris  seine  Bekanntschaft  machte.  Ob  der  frühere 
Besitzer  (Harmonics  von  Athen)  noch  das  Ganze  besaß,  ist  ans  der 
Bemerkung  im  Laurentianns  leider  nicht  zu  ersehen.  Dennoch  aber, 
meint  Scboell,  hätte  Ficinus  im  Jahre  1492  auch  die  zweite  Hälfte 
in  Florenz  lesen  kOnnen.  Seltsamer  Weise  nämlich  befand  sie  sich, 
als  Lascaris  die  erste  brachte,  schon  (aus  früheren  Erwerbungen)  in 
der  Privatbibliotbek  der  Mediceer.  Denn  wenn  sie  sich  später  in 
dem  Besitz  der  Salviati  findet,  so  spricht  alle  Wahrscheinlichkeit 
dafür,  daß  sie  zu  den  Handschriften  gehörte,  die  im  Jahre  1500  von 
den  damaligen  Besitzern  der  Laurentiana,  dem  Konvent  von  San 
Marco,  den  Gläubigern,  d.  i.  den  Salviati  übergeben  wurde.  Die 
weiteren  Schicksale  dieser  zweiten  Hälfte  sind  dann  bekannt  Im 
17.  Jahrhundert  haben  sie  Lucas  Holstenius  und  Alexander  Moms 
in  Florenz  benutzt  und  ihre  Klagen  über  den  traurigen  Znstand  der 
Handscbrift    sowie    die   Barbarei    ihrer  Besitzer   stimmen   ttberein. 

1)  Vgl.  K.  K.  Müller  »Neue  Mittheilongen  über  Janas  Lascaris  und  die  me- 
diceische  Bibliothekc,  Centralbl.  f.  Bibl.-W.  I,  1884,  S.  887  if. 

2)  Ediert  von  Piccolomini  im  Arch.  stör.  ital.  1876.  scr.  m  Bd.  21,  289. 
Die  Citate  Schoells  beziehen  sich  wohl  auf  eine  mir  nicht  zug&ngliche  Separal" 
Ausgabe. 


Schoell,  Procli  commentarioram  in  fem  publicam  Flatonis  partes  iaeditae.    651 

Später  ist  sie  Dach  Rom  in  die  Vaticana  gekommen.  Hier  hat  sie 
Mai  in  Händen  gehabt,  aber  bedauerlicher  Weise,  so  oft  er  auch 
von  ihr  spricht,  niemals  auch  nnr  angedentet,  in  welchem  Teil  der 
Bibliothek  sie  sich  befindet  Deshalb  ist  sie  bis  hente  verschollen 
geblieben  and  leider  läftt  sich  auch  Valentin  Roses  Vermutang,  sie 
sei  von  der  Königin  Christine  von  Schweden  den  Salviati  abgekauft 
wordeui  nicht  beweisen.  Leider,  denn  nun  wird  der,  welcher  nach 
ihr  suchen  will,  sich  nicht  auf  die  Reginensis  beschränken  dtlrfen. 
Aber  eine  Abschrift  des  Codex  existiert,  eine  sorgfältige  von  Lucas 
Holstenius  besorgte  Kopie,  der  schon  genannte  Barberinus  I,  65,  und 
hierauf  beruht  die  vorliegende  Edition. 

Soweit  die   Ausführungen  Schoells,  die  in  allen  Hauptpunkten 
von  zwingender  Wahrscheinlichkeit  sind.    Freilich   werden  Zweifel- 
stichtige  für   die   ursprüngliche   Einheit    der    beiden   Handschriften 
noch  nach  weiteren  Beweisen  fragen,  als  die  große  Aehniichkeit  der 
Schrift  in  Mais  Facsimile  mit  der  des  Laurentianus.    Und  sollten  nicht 
z.  B.  die  in  Folge  von  Randbeschädigung  regelmäßig  wiederkehren- 
'den  Zeilenausfälle  im  Barberinus   (in  Schoells  Ausgabe  p.  88  ff.)  es 
möglich  machen,  den  Seiteninhalt  des  Originals  zu  erschließen  und 
als  identisch  mit  dem  des  Laurentianus  zu  erweisen  ?   Aber  wie  dem 
auch  sei,  der  Sachverhalt  ist  so  einleuchtend,  daß  ich  auch  die  an- 
dere  auf  den   ersten  Blick   sehr  verwunderliche   Vermutung    ohne 
weiteres  zugebe,  daß  zu  einer  Zeit  beide  Hälften  unerkannt  in  der 
Laarentiana  sich  zusammen  befunden   haben   müssen.    Nur  glaube 
ich  nicht,  daß  die  zweite  Hälfte  früher  als  die  erste  nach  Florenz 
gekommen  ist.    Denn  daß  in  der  ruhigen  Blütezeit  der  Platonischen 
Studien  vor  Lorenzos  Tode  (1492)  die  spätere  Salviatische  Hand- 
schrift nicht  als  Prodos  enthaltend  erkannt  worden  sei,  ist  sehr  un- 
wahrscheinlich, wenn  sich   der  Name  des  Autors   auch  nur  in  der 
Subskription   der   Abhandlung  tk  ti^  vf^  nolttsla^  ikv9ov  erhalten 
hatte.    Von  neuen  Handschriften  sprechend  sagt  in  der  von  Schoell 
p. 4 angeftlhrten Briefstelle  Ficinus:  >ego  autem  inter  multa  ut  soleo 
semper  in  primis  lego  Platonica«.    Die  von  Müller  ans  einer  vatika- 
nischen  Handschrift   (Vat.    gr.    1412)    publicierte    Desideratenliste, 
welche  sich  Lascaris  vor  einer  seiner  griechischen  Reisen  zur  Kon- 
trolle aufstellte,  enthält 0  die  Bemerkung:  iu  iiijr^^iy  ek  tetg  noJU^ 
tsiag*  sh  «et)«  pdfkovg'    oi  di   äSf/yiifal  nf^o^yovikivwQ  Ugöxlog,    7af*- 
/}Jl«XO(.    Jagkdatuo^.    Smmngo^*    £vi$nUM$og    nal  *Iwdwfii    OMnoro^^ 
nal  st  ug  äUog  iSurv^^  %a€ta.     Bei   diesem   allgemeinen   Interesse 
für  Platonica    und   platonische  Exegese  liegt  es  doch  wohl   näher, 

1)  a.  a.  0.  868. 

46* 


652  Gott.  gdl.  Am.  1887.  Nr.  17. 

die  zweite  Hälfte  unter  die  Erwerbungen  der  zweiten  Seise,  die  erst 
1494  an  Lorenzos  Nachfolger  übergeben  wurden,  zu  stellen.  Be- 
denkt man,  daß  noch  im  selben  Jahre  Pietro  dei  Medici  vertrieben, 
der  mediceische  Palast  geplündert  wurde,  und  die  ftlr  die  Bibliothek 
so  verhängnisvollen  Jahre  beginnen  *),  so  erscheint  es  nicht  als  auf- 
fallend, daß  das  Fragment  nicht  als  zu  Laur.  80, 9  gehörig  erkannt 
und  vielleicht  eben  als  weniger  geachtetes  und  wohl  damals  schon 
stark  beschädigtes  (Fragment  den  Gläubigem  ausgeliefert  wurde. 
Deshalb  dtlrfte  auch  das  Fehlen  des  namenlosen  Bruchstttckes  fn 
dem  Verzeichnis  des  Lascaris  (bei  K.  E.  Malier  III  p.  379  ff.)  selbst 
dann  nicht  auffallen,  wenn  ftlr  dieses  Vollständigkeit  erwiesen  wäre, 
was  nicht  der  Fall  ist. 

Daß  sich  nun  Schoell  entschlossen  hat,  auf  Grund  der  Abschrift 
des  Holstenius  die  letzten  5  Abhandlungen  zu  edieren,  ist  äußerst 
dankenswert.  Wie  die  Dinge  liegen,  kann  das  Original  ebenso  gut 
morgen  gefunden  werden,  wie  es  für  immer  verschollen  bleiben 
kann.  Aber  auch  wenn  es  gefunden  werden  sollte,  würde  dadurch 
Schoells  Arbeit  in  keiner  Weise  ttberflnssig  gemacht  werden.  Aller- 
dings wissen  wir  jetzt,  daß  diese  Handschrift  der  Salviati  eine 
Membrane  des  zehnten  Jahrhunderts  war.  Aber  schon  als  Holstenius 
sie  kopierte,  war  sie  schwer  verderbt.  Wir  sind  unterrichtet,  wie 
die  Besitzer  die  Handschrift  behandelten  und  müßten  ohnehin  auf 
ihren  seitdem  fortgeschrittenen  Buin  schließen,  auch  wenn  dieser 
nicht  durch  Mais  spätere  Lesung  direkt  erwiesen  würde.  Dieser 
aber  hat  faktisch  an  besonders  der  Zerstörung  ausgesetzten  Stellen 
oft  nur  den  vierten  und  ftlnften  Teil  von  dem  gesehen,  was  Hol- 
stenius las.  Dafür  gibt  das  ganze  sogenannte  Kapitel  suqI  natSmr 
ßQüiasm^  klare  Belege.  Sicherlich  ist  hierbei  nicht  nur  Mais  Nach- 
lässigkeit verantwortlich  zu  machen.  Heute  also  wird  noch  weniger 
zu  erkennen  sein.  Holstenius  dagegen  hat  nachweislich  (praef.  lOff.) 
sorgfältig  abgeschrieben,  und  wo  er  nicht  selbst  kopierte,  seinen 
kundigen  Schreiber  kontrolliert.  Zweifelhaftes  hat  er  wiederholent* 
lieh  geprüft. 

Um  so  mehr  ist  es  zu  beklagen,  daß  er  nicht  Alles  abgeschrie- 
ben hat.  Aber  offenbar  hatte  er  in  einigen  Fällen  die  gänzlieh 
verwirrte  Blattfolge  des  Originals  noch  nicht  geordnet  (praef.  XI; 
auch  Mai  sagt:  »quin  et  ipsi  quaterniones  sus  deque  perturbati  fne- 
runt,  qui  abrupto  toties  orationis  filo  aegre  ordinantur«  Spie.  Rom.  Vm 
praef.  XX.  Schoell  p.  VIII) ;  er  hat  deshalb  Papier  freigelassen  für  spätere 
Ausftlllung,  ist  aber  nicht  dazu  gekommen,  sie  auszuftlhren.   So  ist  be- 

1)  Vgl.  über  diese  Vorgänge  Piccolomini  Arch.  stör.  Bd.  19.  S.  106  ff.  254 
Malier  a.  a.  0.  849  und  die  in  der  Note  angeführte  Litteratur. 


Schoell ,  Prodi  commentarioram  in  rem  pablicam  Platonis  partes  ineditae.    653 

sonders  der  Anfang  der  fkiX$ü(fa  slg  %6v  iv  nohutq  liyov  täv  fkov- 
cmv  und  vor  allen  Dingen  fast  die  Hälfte  (darüber  später)  des  My- 
thos-Kommentars verloren  gegangen.  Es  sind  also  wider  Erwarten 
die  Excerpte  des  Moros  nnd  Mai,  über  welche  E.  Bohde  in  seinem 
interessanten  Aufsatz  >Za  den  Mirabilia  des  Phlegonc  (Bhein.  Mos.  32 
p.  329  ff.)  gebandelt  hatte,  Fragment  geblieben.  Scboell  bat  sie  an 
der  betreffenden  Stelle  (p.  63)  zosammengeordnet. 

Bis  aaf  diese  Lttcken  liegen  nan  aber  die  »Abhandlungen«  des 
Proclos  vollständig  vor.  DaB  die  neu  edierten  Partieen  mit  ab- 
schließender Accuratesse  und  völliger  Durchdringung  des  erreichba- 
ren Materials  gearbeitet  sind,  war  bei  dem  Namen  des  Herausgebers 
nicht  anders  zu  erwarten,  aber  es  darf  wohl  darauf  hingewiesen 
werden,  welche  aufopfernde  Arbeit  fUr  einen  (belehrten,  der  sich 
sonst  in  diesen  entlegenen  Gebieten  der  letzten  philosophischen  Spe- 
kulation der  Griechen  nicht  bewegte,  dazu  gehört,  den  Proclos  so 
wie  es  hier  geschieht,  mit  voller  Kenntnis  seiner  Sprache  und  seiner 
Gedankengänge  zu  edieren.  Als  ein  besonders  günstiger  Umstand 
für  die  Sache  ist  ferner  zu  verzeichnen,  daß  Schoell  während  der 
Edition  sich  durchweg  der  Mitarbeit  Hermann  Useners  erfreuen 
durAe.  Ohne  Zweifel  gereicht  auch  die  angehängte  Erörterung  von 
Friedrich  Hultsch  »de  numero  Piatonis  a  Proclo  enarrato«  der  Aas- 
gabe zum  Vorteil.  Leider  aber  muß  sich  hier  der  Beferent  aus  völ- 
ligem Mangel  an  Sachkenntnis  jeden  Urteils  enthalteo.  Sehr  will- 
kommen endlich  wird  Jedem,  der  sich  mit  späterer  Graecität  be- 
schäftigt, der  reiche  Wortindex  sein.  Aber  gerade  weil  so  viel  ge- 
boten wird,  möchte  ich  fragen:  weshalb  nicht  noch  mehr?  Wie 
dankbar  würde  man  für  einige  grammatische  Bubriken,  einige  Zu- 
sammenstellungen über  den  Sprachgebrauch  sein.  Möchte  der  Ver- 
fasser hier  noch  weiteres  aus  seinen  Scheden  mitteilen! 

Dem  Beferenten  möge  es  erlaubt  sein,  an  dieser  Stelle,  da  es 
sich  um  ein  Novnm  handelt,  aaf  den  Charakter  der  nunmehr  ge- 
nauer zu  bestimmenden  ganzen  Schrift  einzugehn.  »Commentariorum  in 
rempublicam  Platoois  partes«  betitelt  der  Herausgeber  sein  Buch. 
Sind  es  Commentarii,  oder  ist  es  ein  Commentar?  Sollen  wir  von 
Abbandlungen  sprechen,  und  was  bezweckte  der  Verfasser  mit  ihrer 
Vereinigung  ? 

Ich  möchte  zunächst  davon  ausgehn,  daß  sich  vollkommen  be- 
stätigt, was  der  Index  des  Laurentianus,  welchen  Böse  edierte,  ver- 
bieA.  Die  dort  aufgeführten  Haupt-  und  Unterabteilungen  liegen 
wirklich  alle  vor.  Diese  13  Hauptteile  nun  hatte  Böse  in  den  Proclos- 
artikel  bei  Suidas  hinein  korrigieren  wollen  {bU  ^v  nohxsiav  nXd- 
tmpog  ßtßXia  ly   oder  td   statt   d).     Aber  die  13  Abhandlungen  sind 


654  Gdtt.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  17. 

keinesfallB  Bttcfaer.  Wir  bekämen  dadurch  ein  10.  Bach  von  2  Ok- 
tavseiten  Umfang.  Aach  erinnere  ich,  daB  der  erhaltene  Teil  des 
Timaeos-Cummentars y  der  mindestens  ebenso  umfangreich  ist,  wie 
die  Pragmatieen  ttber  den  Staat,  in  nur  5  Bticher  geteilt  ist  ^).  Schon 
Scboell  hat  dagegen  gewiß  mit  Recht  Einsprache  erhoben.  Er  be- 
zieht die  4  Bttcher  des  Saidas  ttberhanpt  nicht  auf  Prodos,  sondern 
nimmt  eine  fälschliche  Uebertragang  von  Syrian-Bachtiteln  in  den 
Prociosartikel  an  (praef.  4.  Adn.)i  die,  wie  ans  dem  Weiteren  her- 
vorgehn  wird,  höchst  wahrscheinlich  ist. 

Mir  kommt  es  hier  darauf  an,  zu  betonen,  daft  man  mit  diesem 
Index  des  Laurentianns  überhaupt  nicht  operieren  darf.  Er  ist 
durchaus  wertlos,  da  er  keine  Ueberlieferung ,  sondern  nur  eine  Re- 
kapitulation der  im  (vollständigen)  Laurentianus  enthaltenen  Kapitel- 
einteilung darbietet. 

Um  mit  den  Unterabteilungen  zu  beginnen,  so  gibt  der  Index 
unter  der  XII.  Hauptabteilung  {etg  %o¥  ip  noXtwtq  §Av9oy)  als  viertes 
und  letztes  Kapitel  an :  ntSg  ^  %»¥  natdwy  ßQmtf^  yivsxM  in  %ov  nap- 
Toc  »€tl  n<oQ  tovto  (pilsXtai  tfßvx^  i»  vot;  ovgapov  nauot/^.  Dies  Ka- 
pitel hat  Mai  gesondert  herausgegeben  (Spie.  Rom.  VIII,  664  ff.) 
und  auch  bei  Schoell  figuriert  ein  solches;  man  könnte  sich  auch 
hier  zu  der  Annahme  verleiten  lassen,  von  der  naidmp  ßqAfhq  han- 
dele der  Text  bis  zum  Schluß  der  XII.  Abteilung.  Aber  diese  Ka- 
pitelttberschrift  rührt  sicherlich  nicht  von  Prodos  her.  Ich  will  dar- 
auf keinen  Wert  legen,  daß  sie  falsch  gesetzt  ist  Die  Aporieen, 
um  die  es  sich  in  diesem  vermeintlichen  Kapitel  handelt,  daß  die 
naidmp  ßQwoig  von  dem  All  nicht  nur  angezeigt,  sondern  durch  sein 
Walten  bedingt,  und  zwar  xawd  dtn^p  bedingt  sei,  sind  schon  86, 18  ff. 
entwickelt  und  die  Worte  nqig  f^ip  ovp  nqdnqop  dnoxQtPopu^a 
schließen  sich  aufs  Engste  an  das  Vorhergehende,  wie  denn  die 
ganze  Ausfahrung  85,  itO— 93,  7  einfach  Exegese  des  Lemma 
85,  27  ist.  Weshalb  aber  verläuft  das  Folgende  ohne  weitere  Ka- 
piteltrennung ?  Die  beiden  Aporieen  sind  89,  3  erledigt,  dann  wird 
die  Frage  noch  im  Sinn  der  Daimonologie  behandelt  und  im  An- 
schluß daran  tiber  tvx^  und  tlf^agfAipi/  gesprochen,  all  dies  aber  ist 
93,  7  beendet.  Von  da  an  handelt  es  sich  um  ganz  andere  Dinge. 
Wozu  also  diese  in  ihrer  Vereinzelung  nur  misleitende  Ueber- 
schrift,  wo  andererseits  manche  abgeschlossenen  Oedankengrnppen, 
die  sich  von  dem  erklärten  Text  viel  weiter  entfernen,  wie  nsql 
ii^iSp  (95)  eher  zur  Abtrennung  hätten  Anlaß  geben  können  aber 
nicht  gaben? 

1)  Ueber  die  ungewöhnliche  GröSe  der  Bücher  in  Proclos  Schriften  vgl.  Birt 
Buchwesen  816. 


Schoell,  Procli  commenUriorum  in  rem  publicam  Platonis  partes  inediiae.     655 

Die  Hauptsache  ist  aber :  bier  allein  baben  wir  es  —  im  Gegen- 
satz zu  dem  ganzen  andern  Scbriftenkomplex  »zu  Piatos  Staat«  —  mit 
einem  fortlaufenden  Kommentar  zu  tban,  einem  Separatkommentar 
zu  dem  ikv^o^  des  £r.  Der  volle  Titel  ist  in  der  Subskription  er- 
balten: (128)  nqonXov  Xvnlot^  nlataayixov  d$ad6xov  tlg  tov  iy  noli- 
tetq  tov  nXdti»vog  ikvi^ov  vnofAV^fka,  Es  liegt  also,  um  dies  gleicb 
zu  sagen,  bier  ein  abgescblossenes  litterariscbes  Produkt  vor.  Ein 
Werk  mit  eigener  Dedikation  (an  Mariuos),  mit  eigener  Praefatio, 
eigenem  Epilog.  Es  beginnt  mit  einleitenden  Bemerkungen,  welebe 
ttber  den  Grundgedanken  des  Mythos  orientieren  und  zugleich  ge- 
gen litterariscbe  Angriffe  auf  ihn  Front  machen  sollen.  Daran 
schließt  der  Verfasser,  was  er  über  die  Stellung,  die  er  mit  Por- 
phyrins zu  den  platonischen  Mythen  überhaupt  einnimmt,  zu  sagen  bat. 
Ob  dieses  Prooemium  von  Proclos  selbst  in  die  2  Kapitel  tig  9  nQo- 
&€öig  tov  fkv^ov  navtög  (52)  und  ndüa  dhX  nqoX^if&^vai  tmp  tpv%wwv 
MQtaiwv  (55)  eingeteilt  ist,  mag  auf  sich  beruhen,  es  kommt  wenig 
darauf  an.  Wichtig  aber  ist,  daß  mit  den  Worten  tovtwv  d^  ^f»7>'  tilog 
ixovtmv  M  aiStov  ^df^  %6v  nXatcavtudv  [av&ov  %fßQ€tv  dvaytoXov 
(59,  26)  der  fortlaufende  Kommentar  beginnt,  der  bis  zum  Schluß 
(126,  10)  %d  (Aiy  d^  tov  fkvx^ov  tiXog  ix^co  (was  folgt,  ist  Epilog) 
keine  weitere  Gliederung  verträgt.  Es  entspricht  also  ebensowenig 
der  Angabe  Mais  Procli  sententia  de  animarum  corporibus  solutarum 
conversatione  (Scboell  66,  XVII)  wie  der  des  Holstenius  ex  capite 
quomodo  aniraa  ingrediatur  et  egrediatur  corpus  (Scboell  70, 18  adn.) 
eine  etwaige  originale  Ueberschrift  des  Proclos.  Wie  die  Worte  neql 
naidünv  ßqniaimg  titX,  87,  I.  2  entstanden  sind,  liegt  auf  der  Hand. 
Auch  einem  mit  Proclos  recht  vertrauten  Leser  kann  es  wohl  vor 
den  Augen  flimmern,  wenn  er  diese  kosmologiscbe  Begründung  des 
AuflTressens  der  eigenen  Kinder  durch  die  Eltern  liest.  Begreiflich, 
daß  er  sie  als  »bemerkenswerte  an  seinen  Rand  notierte.  —  Die 
Platonischen  Worte  sind  von  X  614^  an  jedesmal  wörtlich  ange- 
führt und  zwar  fast  immer  als  unabhäogiges  Lemma  den  betreffen- 
den Teilen  des  Kommentars  vorangestellt,  nur  78,36  und  82,  28 
sind  sie  (unverändert)  in  die  Konstruktion  eingefügt.  Es  fehlen  in 
dem  erhaltenen  Teil  des  Kommentars  nur  die  Worte  619« — 620*  tav- 
«fv  r^Q  —  a\Q$xax^a$.    Sollten  sie  vielleicht  94, 26  herzustellen  sein? 

Air  dies  ist  nicht  so  gleichgültig,  wie  es  scheinen  mag.  Es 
läßt  sogleich  einen  positiven  und  einen  negativen  Schluß  zu.  Der 
positive  ist  der,  daß  von  dem  vorliegenden  /»St^o^-Kommentar  fast 
die  Hälfte  verloren  gegangen  ist.  Nämlich  von  den  9Teubnerseiten, 
ttber  die  sich  der  Platonische  Mythus  erstreckt,  sind  in  dem  Erhal- 
tenen nur  5  kommentiert    Es  leuchtet  ein;   daß  von  dem  fehlenden 


656  öött.  gel.  An«.  1887.  Nr.  17. 

Teil,  also  dem  EommeDtar  za  614^—617^  (clraß$ovg  —  i^^liv  dnsty) 
die  erhaltenen  27  Brnchstttcke  nur  einen  yersohwindend  kleinen 
Brncbteil  repräsentieren.  Mit  dem  negativen  Schlaft  wende  ieh  mich 
zu  dem  Index  znrttck:  da  dieser,  wie  wir  nnn  sehen,  nar  die  zofUl- 
lige  Einteilung  des  Lanrentianns  darstellt,  ist  nichts  ans  ihm  za 
schließen,  also^  am  wiederam  noch  bei  den  Unterabteilongen  zn  blei- 
ben, wenn  es  anter  II  heißt:  mgl  %^v  nqiq  tdv  oqov  %^q  d«xiuo0bVf( 
tdtf  ino  tolf  JloXeikdqxov  ix&irrmy  vni  %ov  Smxqdtovg  (waoy$0i$mP: 
nefl  {mv)  vniQ  dh9ta$ocvvij^  wrucQwv  Idjrmy  ip  noistsicu  fiQdq  td  Sqa^ 
ovfAaxov  f^fvtt^a  ddyikata  neqt  ait^q^  so  kann  daraus  nicht  gefolgert 
werden,  daß  eine  erste  Unterabteilang  verloren  and  der  Schlaft  der 
zweiten  and  letzten  erhalten  ist  (v.  Hermes  II  S.  99),  sondern  wir 
müssen  bekennen,  daft  wir  ans  ttber  Aasdehnong  and  Einteilung  des 
Fehlenden  ganz  im  Unklaren  befinden. 

Aber  auch  die  groften  (13)  Abteilungen  halten  nicht  Stich  und 
erweisen  sich  als  sachwidrig.  Versuchen  wir  einmal  diese  Schriften 
im  Ganzen  zu  sichten.  Schoell  hat  (praef.  5)  gegen  Frendenthals 
(Hermes  16,  214)  chronologische  Ansetzungen  polemisierend  gesagt: 
nempe  commentarii  illi  ex  scholis  originem  ducunt  quas  de  dialogis 
Platonicis  identidem  babuit  Proclus.  Wenn  damit  gesagt  sein  soll, 
daft  diese  Entstehungsweise  ex  scholis  auch  in  der  Form  der  Ab- 
handlungen erkennbar  sei,  so  ist  dies  Urteil  nur  fttr  einzelne  Par- 
tieen  richtig.  Der  soeben  besprochene  Mythos-Kommentar  ist  seiner 
Form  nach  durchaus  kein  Eollegienheft.  Wir  sehen,  daft  er  ein  für 
die  Publikation  abgerundetes  Schriftstück  mit  Einleitung,  Nachwort 
und  Dedikation  ist.  Er  ist  stylistisch  sorgfältig  gefeilt.  Aber  frei- 
lich steht  diese  Schrift  mit  den  andern  Teilen  der  Abhandlungen« 
Sammlung  in  gar  keinem  Zusammenhang.  Hierüber  läftt  sich  jetzt 
bestimmter  urteilen.  Denn  dieser  Separatkommentar  ist  nicht  das 
einzige  selbständige  Stück.  Neben  ihm  steht  eine  ganz  analoge  Ein- 
zel-Publikation, *  die  unter  der  ersten  Hälfte  der  Abhandlungen  er- 
halten ist.  Emancipieren  wir  uns  zunächst  von  den  verwirrenden 
Angaben  des  Index :  IV  nsqi  «gf^  no^^un^l^  nai  täy  M  adtijg  stdiy  Mai 
%^g  dgUn^i  aQfM^ptag  ual  ^v9-fMoS  %ä  Illdtmvk  donovvta^  18  Unter- 
Titel,  p.  360—392  der  Baseler  Ausgabe  ^).  V  Su  navtaxoi  tip  'Of»f ^oi^  . 
dg  ^^efköva  ndiS^g  dl^9sktg  6  IHdtny  stm&t  yeqaiQHV  dttSugop ')  (sie), 
10  Unter-Titel,  p.  392—407.  Weder  bildet  V  eine  besondere  Abhand- 
lung, noch  reicht  der  als  IV  bezeichnete  Abschnitt  tugl  %^g  9ve*ff»- 

1)  Die  erste  H&lfte  der  Abhandlungen  ist  bekanntlich  nar  einmal  am  SchloB 
der  Plato-Ansgabe  des  Grynaeus  Basel  1584  ediert. 

2)  Hierüber  später.     Ich  weiB  nicht,  ob  dies  divuq^p  im  Index  wiederholt 
ist,  da  Böse  nur  die  Anfangsworte  abdruckt. 


Schoell,  Prodi  commentarioram  in  rem  pablicam  Platonis  partes  ineditae.    657 

«fC  bis  p.  392.  Ueber  das  kleine  Kapitel  m^^  t^g  no^qnx^g  p.  360— 
367y  das  mit  dem  Folgenden  in  keiner  Weise  zusammenhängt,  spreche 
leh  nachher,  denn  hier  ist  vor  Allem  die  groBe,  p.  368  beginnende 
Abhandlang  in  ihr  rechtes  Licht  zn  stellen ,  die  den  Titel  ngönkov 
d$adoxov  nsgi  %^p  iv  noX$%siq  nqig  'Ofk^iQOV  ual  troiij^T»* 
ui^v  nXä%mvh  ^^^iytmr  fllhrt  nnd  als  ein  abgeschlossener  Trak- 
tat anznsehen  ist  Derselbe  reicht  aber  nicht  etwa  nar  bis  p.  392 
(naQad$dova^g\  sondern  bis  407,  wo  die  Schlußworte,  wie  sich  gleich 
zeigen  wird,  anf  den  Anfang  Bezug  nehmen.  Auf  eine  Praefatio 
(368,  1 — 24)  folgt  Z.  25  die  dem  Haupttitel  ganz  entsprechende 
dreiteilige  Disposition,  die  dann  auch  im  weiteren  Verlauf  genau 
befolgt  wird.  Zuerst  sollen  die  Angriffe  Piatos  auf  Homer  widerlegt 
werden  {Ssmif^aofksv  nqmov  $1  n^  dv^atdv  tdg  %ov  SmuQcttovg  änoglag 
(dnoQstag  d.  Ed.)  d$aXv€$9f.  Das  geschieht  bis  p.  392, 29  (nagadiSovo^g). 
Zweitens  soll  Piatos  Tendenz  bei  dieser  scheinbaren  Feindschaft  ge- 
gen Homer  entwickelt  werden  {dsvnQOP  di  %dv  mtondv  tijg  g>Myofikiv^g 
tavwiig  nQdg  "OfikiiQoy  dnavtijtrsmg ;  die  Ausführung  folgt  unmittelbar 
auf  den  ersten  Teil  392, 30  ff.  und  zwar  ist  in  dem  sonst  unyerständlichen 
Zusatz  devuQoy  des  jetzigen  Titels  das  Verhältnis  deutlich  ausge- 
druckt); nach  einem  Nachweis,  daB  Plato  eigentlich  ein  großer  Ver- 
ehrer des  Homer  sei  ( —  393, 45)  ist  dem  Hauptgedanken  dieses  Teils 
vornehmlich  das  mit  den  Worten  sl  di  tovg  (393,  46)  beginnende 
Kapitel  (—  395, 6)  gewidmet.  Der  dritte  Teil  endlich  behandelt  von 
hier  bis  zum  SchluB  t^y  %Ay  (ed.  %u)  nXdswy$  douovytuy  nsgl  «v 
noii/UM^g  avt^g  nal  *Ofk^QOV  f$lay  xal  dyiXtymoy  äl^'&e$ay. 

Daft  diese  Abhandlung  litterarisch  abgerundet,  d.  h.  in  irgend 
einer  Weise  fttr  sich  zur  Publikation  bestimmt  war  geht  aus  Einlei- 
tung und  Schluft  deutlich  hervor.  Der  Verfasser,  der  im  Eingang  sein 
Thema  durchaus  der  späteren  Disposition  und  dem  Titel  entsprechend 
einerseits  als  Verteidigung  Homers  gegen  Plato  formuliert,  anderer- 
seits als  Auflösung  der  Widersprüche,  in  die  sich  Plato  durch  seine 
häufige  Polemik  gegen  Homer  zn  verwickeln  scheint,  kennzeich- 
net sich  dabei  als  junger  Mann.  Er  nimmt  Bezug  auf  gemeinsame 
Unterhaltungen  über  diesen  Gegenstand,  wie  er  sie  mit  Freunden  an 
Piatos  Geburtstag  unter  Leitung  eines  verehrten  Lehrers  gepflogen 
hat:  ipayxog  ijftSy  iy  totg  tov  UXcltmyog  Ysya&Xio§g  dutleyofkivo$g  na* 
fi^Hui  d$aifuä^a69a$^  %tya  äy  ug  tqonoy  hniq  %s  ^OfAiJQinf  ngdg  tdy  iy 
nohtslq  SmuQcttfj  wig  ngoaijuoytag  no$ij<S€ta$  Xdy^vg  MtL  (368,3).  Er 
redet  die  Genossen,  die  an  jenem  Gespräch  mit  dem  Lehrer  Teil  nahmen 
an :  ^iQ^ ovy Saa ndytav^u  %oi  MaSiiY9§k6y0g  ^f$i5v  ^novaaiuv  {duov* 
Ciifk§y  ed.)  nsQl  t^vtmy  S$atattofii4yov  • .  d$iX&mfuy,  er  will  in  Erinne- 
rung rufen  y  was  jener  Lehrer  damals  nnd  später  den  andächtigen 


658  Oött.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  17. 

Jüngern  mitzateilen  für  gat  fand :  deX  *.  %d  tote  ^ijdivta  d$afk¥^ft0- 
vsvaat  xal  o(fa  »al  vfTuqoy  ^(*ag  nsQl  %mv  adtwp  d$a<fuo7iovfJki9HiV^ 
imd$dacx€ir  ixftvog  ^ISttoaey  (Alles  p.  368).  Es  sind  dieselben 
Genossen,  an  die  er  sich  am  Schloß  des  Ganzen  wiederum  wendet, 
denen  gegenüber  er  seine  Schrift  als  ein  Produkt  dankbarer  Er- 
innerung an  jenen  Lehrer  bezeichnet:  tavta  w  q>Uo$  iu^Qoi  fky^ftf 
uexaqUs&f»  trjq  tov  xa  &fiye  fiovog  ^  (Amv  (fvvovtftag  (407,  32).  Ans  den 
nnmittelbar  folgenden  Worten:  ifAol  fA^v  opta  ^tfta  nQog^fAä^f  v/Atvdi 
äqq^xa  nqdgtovg  noXlovg  geht  nur  hervor,  daß  der  Verfasser  seine  Schrift 
nur  in  einem  engeren  Kreis  verbreiten  wollte.  Daß  er  sie  zu  ver- 
öffentlichen gedachte,  dafür  spricht  die  sorgfältige  Abrundung  des  Gan- 
zen. Wenn  nun,  woran  zu  zweifeln  mir  kein  Grund  vorzuliegen  scheint, 
Proclos  hier  der  Sprecher  ist,  so  fällt  die  Abfassung  dieses  Traktats 
in  seine  Jugendjahre.  Den  > Lehrer c  wage  ich  nicht  sicher  zu  be- 
stimmen, doch  ist  wohl  das  Nächstliegende,  an  Syrianos  zu  denken. 

Diese  Thatsachen  sind  lehrreich:  Es  lösen  sich  aus  dem  Uebri- 
gen  zwei  ganz  unabhängige  Monographieen  heraus,  die  weitaus  den 
umfangreichsten  Teil  des  Ganzen  bilden.  Wenn  wir  aber  unter  dem 
Zurückbleibenden-  sichten  wollen,  so  fällt  das  Auge  zuerst  auf  das 
erste  Kapitel  mgl  tijq  noifiux^g  u.  s.  w.  (360-'367).  In  welchem 
Verhältnis  steht  es  zu  der  folgenden,  eben  besprochenen  Abhand- 
lung? Formell  in  gar  keinem,  denn  beide  Stücke  ignorieren  sich 
vollkommen,  was  um  so  auffallender  ist,  als  beide  von  Piatos  An- 
sicht über  Musik  und  Poesie  in  ähnlichem  Sinne  handeln.  Was  nun 
in  dem  größeren  Stück  mit  dem  vollen  Behagen  an  litterarischer 
Formgebung  breit  vorgetragen  ist,  trägt  hier  ganz  hypomnematischen 
Charakter.  Unmittelbar  setzen  die  Probleme  ein,  die  behandelt  wer- 
den sollen:  ngtStoP  elneXv  xqtl  xa<  d^anoQ^CM  ruql  tijg  ahiag^  d$'  Ijv 
ov*  dnodix^ta^  t^p  notfjn*fiP  ö  Illdtoßp  —  weshalb  verstößt  Plato 
die  Poesie  aus  seinem  Staat,  da  er  sie  doch  sonst  als  göttlich  be- 
zeichnet? devfCQOP  tl  denote  . . .  zweitens  weshalb  nimmt  er  gerade 
die  Tragödie  und  Komödie  nicht  auf,  die  doch  zur  äfoatmiUg  der 
Leidenschaften  beitragen?  Drittens  wie  stimmt  die  Aeußerung  im 
Symposion  über  die  Einheit  des  Tragödien-  und  Komoediendichters 
mit  der  Trennung  von  Tragödie  und  Komödie  nach  Poeten  und  Dar- 
stellern im  Staat?  und  so  fort  bis  zum  lOten  Aporem.  Und  genau 
dieser  Reihenfolge  entsprechend  werden  sie  dann  kurz,  eins  nach 
dem  andern,  abgehandelt. 

Diesen  hypomnematischen  Charakter  teilt  nun  aber  das  Kapitel  negl 
no$tiun^g  mit  dem  ganzen  Rest  der  übrigen  Abhandlungen,  wenn  wir 
von  der  Eingangspartie  vor  der  Hand  absehen  und  auch  die  melissa^) 

1)  Die  Abhandlung  üher  die  Musenrede  im  8.  Buch  der  Politik  (/iil^wm  Uc 


Schoell,  Procli  commeptariornm  in  rem  publicam  Platonis  partes  ineditae.    659 

wegen  der  starken  Einbafte,  die  sie  erfahren  hat,  bei  Seite  lassen. 
Allen  diesen  Traktaten  fehlt  jede  Rücksichtnahme  auf  ein  etwaiges 
Lesepublikam.  Schlecht  and  recht  handelt  ein  jeder  den  aufgegebe- 
nen Pankt  ab  und  damit  ist  es  gat.  Alle  setzen  ohne  Einleitung 
ein.  Von  der  ersten  fehlt  der  Anfang  (aber  der  erhaltene  Schlaß 
zeigt,  daft  sie  gleichen  Charakters  war),  man  beachte  also  die  fol- 
genden Titel  p.  356:  fugl  tmv  iv  tm  ÖBVtiQVi  t^g  nohtslag  dqtfiiivmv 
&eoloytnmv  tvnaff  ^  Anfang:  *Ev  totg  tvnotg  totg  9soXoytuotg  ovg  iv 
vf  devtigif  t^g  noXiutag  ifi^tpfcr,  nqAtoy  ixtl&etai  »tX.  p.  407 :  Titel : 
ntQl  twv  ip  Toaf  utdqiif  t^g  noktutag  änodsiisrnv  %0V  tqia  iha$  ^qta 
fi^^  dp&gmntp^g  ^vxiig  xa)  «^no^ac  ta^  ir  ort^^  agstäg^  Anfang:  tip 
jiBQl  mi^  dqBtmv  X6yov  nmg  dU^^ufV  i  iv  noXtniq  Smnqdtfig  nttX.  Und 
SO  die  andern  alle:  p.  416  (hieran  schließt  sich  als  eng  zagehörig 
420—22),  422,  dann  aas  der  zweiten  Hälfte  43,  45.  Das  Fragment 
endlich  der  letzten  Abhandlang  inianst/f^g  uSv  vn*  *AQ$tftotiXovg  Ip 
Sfvtifm  wp  noXtuxtSp  ngdg  t^p  HXdtmp^g  noXtuiap  dputQijfkipmp 
(129 — 133)  kann  hier  anberttcksichtigt  gelassen  werden,  da  diese 
Abhandlang  ttberhaapt  nur  als  ein  Zusatz  zu  dem  Uebrigen  ange- 
sehen werden  kann.  Ueber  diesen  ganzen  Schriftenkomplex  läßt 
sich  also  Folgendes  gemeinsam  aussagen:  alle  diese  Stacke  sind  im 
Vergleich  zu  den  2  (oder  3)  ausgeführten  Traktaten  sehr  kurz  dem 
Umfang,  knapp  und  schmucklos  der  Form  nach.  Keins  von  ihnen 
ist  ein  Teil  eines  Kommentars  zu  Piatos  Staat,  aber  alle  behandeln 
einen  Gedanken  oder  eine  Gedankengruppe  im  Anschluß  an  Piatos 
Staat,  alle  sind  endlich  (und  dies  gilt  auch  fbr  die  drei  ausgeschie- 
denen Monographieen)  nach  der  Reihenfolge  der  Bttcher  in  Piatos 
Staat  geordnet.  Denn  offenbar  steht  auch  die  kleine  Abhandlung 
fisQl  no$iiunijg  und  der  ihr  folgende  große  Traktat  aber  denselben 
Gegenstand  nur  an  dieser  Stelle,  weil  Plato  auch  im  dritten  Buch 
Ton  der  Poesie  handelt. 

Nach  all  dem  mUssen  wir  sagen,  daß  es  nur  auffallend 
wäre,  wenn  der  erste  Teil,  d.  i.  der  Anfang  des  Ganzen,  eine  Ein- 
leitung zu  einem  Gesamtkommentar  zu  Piatos  Staat  enthielte.  Eine 
solche  ist  aber  auch  augenscheinlich  nicht  darin  zu  erblicken.  Der 
Titel  dieser  ersten  Abteilung  p.  849  (rugl  toti^  ttpa  XQ^  «o)  ndaa  nf6  vf  c 

tor  iy  noUtii^  loyor  rar  fiovüw)  18t  im  Barberinus  in  45  Kapitel  geteilt.  Da- 
von fehlen  am  Anfang  1—9  (der  Schluß  des  9.  ist  erhalten)  in  der  Mitte  20—86, 
also  im  Ganzen  mehr  als  die  Hälfte.  Der  Titel  und  wenn  ich  recht  sehe  aach 
die  breitere  Behandlung  unterscheiden  diesen  Traktat  von  den  kurzen  StUcken, 
die  ich  im  Text  behandle.  Es  wird  der  vorläufigen  Sichtung,  die  hier  vorge- 
nommen werden  soll,  keinen  Eintrag  thun,  wenn  ich,  ein  bestimmtes  Urteil  hier- 
über ablehnend,  diesen  Teil  unter  Vorbehalt  als  dritte  neben  die  zwei  größeren 
bereits  besprochenen  Monographieen  stelle. 


660  Gott.  gel.  Adz.  1687.  Kr.  17. 

ölifyavayvmifBmi  tijg  noJUntag  ülcmvog  xsfpdXtua  dtaq^äeah  fo^  iiff^ 
rovfiirovg  avtijv)  besagt,  es  solle  gezeigt  werden,  welche  nnd  wie 
viele  Hauptpunkte  die  Erklärer  des  Platonischen  Staates  vor  der 
gemeinsamen  Lektüre  mit  ihren  Schtllern  behandeln  müssen.  Deut- 
licher aber  noch  als  der  Titel  erklären  die  Anfangsworte  der 
Schrift  selbst,  daß  hier  eine  methodologische  Betrachtang  für 
Lehrer  der  Platonischen  Philosophie  gegeben  werden  sollen,  wie 
man  Einleitungen  zn  Platonischen  Dialogen  über- 
haupt abzufassen  habe:  tovg  nqoXofOvq  %wv  ITlataytnuir  J*a- 
Xoyiav  önmq  XQ^  diattd'iya$  tdp  f^ij  noQiqYmq  aimv  änto^ 
Iksvov  dtihScat  ßovldfLsrog  ivötV^ofkak  mtl.  Dies  soll  an  einem  Bei- 
spiel und  zwar  dem  Beispiel  des  platonischen  Staates  gezeigt,  exem- 
plificiert  werden:  nn\  ifitr  i(p'  ipdg  tov  %^q  nohteiaq  ffvytQdikpka^ 
%oq  (sc.  iydsiUofkak  onmg  XQV  it^cu&iyai)^  if»sZg  de  (StfneQ  tx^sotv  kni- 
fk$voh  %o%q  ^fi&^COfjkiyokq  Xoyokq  %6v  aiitdy  Mal  inl  tmy  a  IXmy 
tgdnoy  fitet$ify%sg  tag  iii^y^^nq  atoxdÜßta&s  äy  rqc  nf^»  tavta 
fM^ddov.  Und  weiter  unten  (Z.  16):  Deshalb  will  ich  die  Sache  am 
Staat  klar  legen,  das  Huster  eines  Prologs  zu  einem  Plato-Kommen- 
tar  an  dem  zum  Staat  ausführen :  ipiQ€  ovy  Snsq  tlnov  tdy  tinoy  inl 
t^g  noXitstag  insxdiiiyijcofAat.  Diesen  Probeprolog  will  ich  nun  aus- 
führen und  deshalb  sage  ich,  daß,  wer  der  Interpretation  des  Staa- 
tes mit  Erfolg  zuhOren  will,  vorher  sich  folgende  Punkte  klar  ge- 
macht haben  muß:  Xiy<a  tolyvy  ngd  t^g  dyayywaewg  t^g  noXitfktg  imd 
tavta  XQV^^^  ^^  ngsndytmg  o Jf i^^  dxovaofAtyoy  d$syywxiya§.  Und  nun 
folgen  sie:  nQ&toy  fAiy  utX.  so  weit  sie  erhalten  sind. 

So  paradox  es  also  klingt,  das  kaum  abweisbare  Resultat  des 
ersten  Gesamtüberblicks  über  Proclos  Abhandlungen  zum  Staat  ist 
das,  daß  Proclos  überhaupt  nichts  Zusammenhängendes  über  den  Staat 
geschrieben  hat,  oder  wenigstens  wir  nicht  das  Mindeste  davon  wissen, 
daß  also  auch  die  >4  Bücher«  bei  Suidas  wahrscheinlich  auf  Misverstän- 
nis  beruhen.  Es  existieren  von  Proclos  znm  Staat  jene  drei  selbständigen 
Werke,  die  ursprünglich  sicherlich,  jedes  flir  sich,  publiciert  waren: 
der  Traktat  über  Piatos  Verhältnis  zn  Homer,  der  Separatkommentar 
znm  Mythos  des  Er  und  die  melissa  über  die  Musenrede  im  8ten  Buch 
des  Staates.  Diese  drei  hat  man  später  gesammelt  und,  da  die  Samm- 
lung jedenfalls  von  den  Schülern  des  Proclos  ausgieng,  pietätvoll  damit 
zusammengestellt,  was  immer  noch  von  hypomnematischen  Aufzeich- 
nungen aus  dem  Schulbetrieb  des  Meisters  vorhanden  war.  Man  hat 
dabei  die  Reihenfolge  der  platonischen  Bücher  zu  Grunde  gelegt 
und  mit  Fug  nnd  Recht  die  Epikrise  des  Proclos  zu  der  aristoteli- 
schen Kritik  von  Piatos  Staatslehre  an  das  Ende  des  Ganzen  ge- 
stellt.   Das  ist  der  Inhalt  unserer  Sammlung. 


Schoell,  Prodi  commentarioruin  in  rem  pnblicam  Platonis  partes  ineditae.     661 

Zum  Schluß  uur  nock  wefiige  Bemerkuugen.  Wenn  ich  auch 
Bchlieftlich  Frendenthal  (>zn  Proclos  uod  dem  jüngeren  Olympiodor« 
Hermes  16,  201)  in  der  grammatischen  Interpretation  der  Olympio- 
dorstelle  Recht  geben  maftte,  so  habe  ich  mich  doch  immer  mit  Zel- 
ler (»zur  Geschichte  der  platonischen  und  aristotelischen  Schriften« 
Hermes  15,  548)  gesträubt,  an  eine  wenn  auch  nur  zeitweilige  Athe- 
tese  des  Staates  durch  Proclos  zu  glauben.  Schon  Schoells  Nach- 
weis von  der  gegenseitigen  Gitierung  der  Prociosschrifteo  (praef.  5) 
ersehwert  die  Annahme.  Noch  schwieriger  wird  es,  an  etwas  Ande- 
res, als  ein  Misyerständnis  Olympiodors  zu  glauben,  wenn  man  sich 
entschließen  muß,  in  den  »Abhandlungen«  eine  Sammlung  verschie- 
dener  Schriften  des  Philosophen  zum  Staat  aus  verschiedenen  Zeiten 
(denn  gewiß  ist  der  Mythoskommentar  ^)  viel  später  als  die  Jugend- 
sefarift  ttber  die  Poesie  anzusetzen)  zu  sehen. 

Ich  habe  hier  Beobachtungen,  die  jeder  Leser  macht,  mit  einan- 
der verknüpft,  und,  die  Gunst  der  Lage  ausnutzend,  ans  dem  end- 
lich vorliegenden  Material  leichte  Konsequenzen  gezogen.  Mögen  bes- 
sere Kenner  des  Proclos  als  ich  sie  prüfen  und  richtig  stellen.  Mit 
diesem  und  noch  einem  andern  Wunsch  möchte  ich  schließen.  Wenn 
sich  doch  ein  Kundiger  an  die  schöne  und  dankbare  Aufgabe  ma- 
chen wollte,  nun  auch  die  erste  Hälfte  aus  dem  Laurentianus 
herauszugeben  I  Es  ist  schon  viel  unnötigeres  zum  zweiten  Mal 
ediert  worden.  Jetzt,  wo  man  Schoells  Ausgabe  hat,  ist  es  doppelt 
empfindlich,  zu  der  unhandlichen ,  fehlerreichen  Baseler  Ausgabe,  die 
nach  einer  mäßigen  Abschrift  des  Laurentianus  gedruckt  ist,  greifen 
zu  mttssen« 

Nachtrag. 

Der  obige  Aufsatz  war  schon  gedruckt,  als  ich  durch  die  Güte 
des  Herrn  von  Wilamowitz  die  wichtige  Anzeige  der  Prodos-Aus- 
gabe  Schoells  in  der  Wochenschrift  für  klassische  Philologie  1887 
Nr.  27.  p.  835-839  erhielt.  In  derselben  teilt  R.  Beitzenstein  mit, 
daß  es  ihm  gelungen  ist,  die  vermißte  Handschrift  der  Salviati  in 
Born  zu  entdecken.  Die  Vermutung  Schoells  Aber  die  Zusammenge- 
hörigkeit der  beiden  Hälften  bestätigt  sich  durchaus,  aber  B.  Beitzen- 
stein ist  in  der  Lage  versichern  zu  können ,  daß  'das  aufgefundene 
Original  doppelt  so  umfangreich,  als  die  Abschrift  des  Holstenius  ist. 

Leider  mußten  die  höchst  dankenswerten  Mitteilungen  Beitzen- 
steins  noch  unvollkommen  bleiben,  wie  sich  aus  folgendem  Besume 
ergibt:    Mit  dem  größten  Teil  der  Handschriften  der  Salviati  ist  der 

1)  69,  8  und  der  Timaeut-Eommentar  citiert. 


662  UötC.  gel.  Ans.  1887.  Kr.  17. 

Proclos  wahrscheinlich  id  der  zweiten  Hälfte  des  vorigen  Jahrhan - 
üerts  in  die  Hand  der  Familie  Colonna  gekommen  und  einige  Zeit 
daranf  in  den  Besitz  des  Papstes  übergegangen.  »Sie  wurden  in 
die  bibliotheca  Vaticana  graeca  eingeordnet^  in  welcher  sie  Nr.  2162 
bis  2254  umfassen.  In  dem  Vatikanischen  Katalog  sind  sie  natür- 
lich nicht  mit  verzeichnet  nnd  daher  fast  alle  unbekannt  Doch  exi* 
stiert  ein  von  Giuseppe  Cozza  gefertigtes  Inventar,  welches  man  lei* 
der  nur  für  einzelne  Nummern  einsehen  darf.  Die  Handschrift  des 
Proclos  ist  in  demselben  als  Vat.  Grace.  2197  bezeichnet;  sie  um- 
faßt 200  Blätter,  jede  Seite  hat  33  Zeilen  zu  durchschnittlich  35— 
38  Buchstaben €. 

Von  dem  ersten  Drittel  dieser  Handschrift  hat  Hai  eine  genaue 
Kopie  (Vat.  Lat.  9541)  angefertigt  und  leider  hat  nur  sie  unserm 
Landsmann  zur  Verfügung  gestanden,  nicht  das  Original,  welches 
»sich  gegenwärtig  bei  dem  Kardinal  Pitra  befindet,  welcher  eine 
neue  Ausgabe  des  gesamten  Kommentars  vorbereitet«. 

Bis  diese  Absicht,  welche  hoffentlich  nicht  das  Schicksal  der 
Maischen  teilen  wird,  ausgeftlhrt  sein  wird,  ist  also  trotz  der  höchst 
verdienstlichen  Nachforschungen  Beitzensteins  der  Fund  vorläufig  un- 
serer Kenntnis  wieder  entzogen. 

Kiel,  Juni  1887.  Ivo  Bruns. 


Lang,  Heinrich,  Otto,  Beitr&ge  zur  Kenntnis  der  Eruptiv-Qe- 
steine  des  Christiania-Silurbeckens.  Unter  Mitwirkung  des  Hm. 
Paul  Jannasch.  Erschienen  in  der  Zeitschrift  Nyt  Magasin  for  Natur- 
Tidenskabeme  XXX.  1884—1886.  p.  1-76  und  279— 883.   Kristiania  1886  >). 

Das  vorliegende  Werk  ist  das  Resultat  von  Studien,  welche  der 
Verfasser  im  Herbst  des  Jahres  1878  ausgeführt  hat  Wenn  trotz 
des  verhältnismäBig  langen  verflossenen  Zeitraums  und  trotz  mancher 
in  denselben  fallenden  Arbeiten  anderer  Forscher  noch  immer  Lttcken 
auszufttUen  waren,  ja,  wie  Lang  selber  hervorhebt,  auch  noch  auszu- 
nillen  bleiben,  so  beweist  dies  am  besten,  wie  wflnschenswert  die 
gelieferten  Untersuchungen  gewesen  sind  und  ein  welch  reichhaltiges 

1)  In  den  Separatabsdgen,  welche  von  der  PeppmflUerschen  Buchhandlung 
in  Gtöttingen  direkt  zu  beziehen  siod,  wurden  durch  Versehen  der  Druckerei  die 
Seitenzahlen  fortlaufend  paginiert,  so  daS  rUckweisende  CiUte  in  dem  zweiten, 
die  letBten  106  Seiten  umfassenden  Teil  nicht  stimmen.  Es  entsprechen  die  Sel- 
ten 76—179  in  den  SeparatabzQgen  den  Seiten  27d— 888  der  oben  angeföhrteo 
Zeitschrift« 


Lang,  Beiträge  zar  Kenntnis  d  Eruptiv-Gfesteine  d.  Christiania-Silurbeckens.    663 

Feld  fttr  petrographische  Studien  das  Kristiania-SilarbeckeD  trotz 
vielfacher  Bearbeitang  noch  immer  bietet. 

lieber  einige  Gesteine  dieses  Gebiets  bat  Lang  schon  frtlher  be- 
richtet: lieber  FInBspat  im  Granit  von  Drammen^);  Zar  Kenntnis 
der  Alaanscbiefer-Soholle  von  Bäkkelaget  bei  Christiania^);  Ein  Bei- 
trag zar  Kenntnis  Norwegischer  Gabbros").  Die  in  den  letzten  bei- 
den Arbeiten  besprochenen  Felsarten,  sowie  die  von  Brögger  auf  das 
eingehendste  behandelten  Augit-  und  Nephelinsyenite^)  finden  hier 
keine  weitere  BerOcksichtigung. 

Höchst  wertvoll  war  die  Mitwirkung  des  Herrn  Paul  Jannasch, 
da  die  Zahl  der  gleichzeitig  chemisch  und  nach  den  neueren  Metho- 
den petrographisch  untersuchten  Gesteine  trotz  des  in  den  letzten 
Jahren  nach  dieser  Richtung  entfalteten  Eifers  immer  noch  eine  sehr 
ungenttgende  ist.  Von  dem  reichlichen  aus  älterer  Zeit  stammenden 
Analysenmaterial  läßt  sich  leider  ein  großer  Teil  nicht  in  einer  den 
jetzigen  Anforderungen  entsprechenden  Weise  verwerten.  Die  Re- 
sultate seiner  Untersuchungen  hat  Jannasch  auch  separat  mit  kurzen 
petrographischen  und  geologischen  Anmerkungen  in  den  Berichten 
der  deutschen  chemischen  Gesellschaft  veröffentlicht^). 

Ans  dem  gewählten  Titel  und  aus  den  einleitenden  Worten  geht 
hervor,  daß  Lang  nicht  beabsichtigte,  ein  größeres  abgeschlossenes 
Gebiet  vollständig  zu  bearbeiten;  dazu  hätte  es  auch  einer  län« 
geren  Zeit  bedurft ,  als  zu  Gebote  stand,  sowohl  ftlr  die  Beobach- 
tung im  Felde,  als  auch  fUr  die  spätere  Untersuchung  im  Laborato- 
rium. Er  bat  vorgezogen^  sich  im  wesentlichen  auf  einen  Ge- 
steinskörper zu  beschränken,  diesen  aber  nach  allen  Richtungen  so 
eingehend  zu  erforschen,  wie  dies  bisher  nicht  oft  geschehen  ist 
Die  Aufgabe,  welche  sich  der  Verf.  gestellt  hat,  ist  auch  im  allge- 
meinen mit  Erfolg  gelöst  worden.  Mit  größter  Gewissenhaftigkeit 
wird  alles  Beobachtete  mitgeteilt,  auch  wenn  eine  befriedigende  Deu- 
tung einstweilen  nicht  gelungen  ist.  Dadurch  wird  einem  Nachfol- 
ger manche  Mtthe  erspart,  und  er  kann  direkt  anknttpfen,  wo  sein 
Vorgänger  stehn  geblieben  ist;  dadurch  wird  aber  auch,  wie  es  sich 
bei  dem  genannten  Zweck  wohl  schwer  vermeiden  ließ,  die  Darstel- 

1)  Nachrichten  tob  der  K.  Gesellscb.  d.  Wissensch.  u.  d.  G.  A.  Universit&t 
EU  Göttingen  1880.  No.  16.  477—488. 

2)  Zeitschr.  f.  d.  ges.  Naturwissensch.  Halle  1879.  LIL  777-^816.  u.  Neues 
Jahrbuch  f.  Mineralogie,  Geologie  u.  Pal&ontol.  1880.  IL  290—292. 

8)  Zeitschr.  d.  deutschen  geolog.  Ges.  1879.  XXXI.  484-603. 
4)  Die  silorischen  Etagen  2  und  3  im  Eristianiagebiet  und  auf  Eker.     Kri- 
stiania, Universitatsprogramm  fOr  das  2.  Semester  1882. 
6)  ZX.  Heft  2.  167-^176.  1887. 


664  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  17. 

lang  f&r  den  Leser  zuweilen  etwas  ennttdend.  Besonders  benrorge- 
hoben  za  werden  verdient,  daft  Lang  ttberall  bemttbt  ist,  mit  grOtter 
Objektivität  Selbstkritik  zu  üben.  Soweit  die  Terminologie  von  der 
sonst  üblichen  abweicht,  findet  sie  sieb  in  des  Verf.  Orandrift  der 
Gesteinskunde,  Leipzig  1877,  erläutert. 

Die  Arbeit  beschäftigt  sich  ganz  vorwiegend  mit  dem  in  der 
weiteren  Umgebang  von  Kristiania  herrschenden  massigen  Gestein, 
welches  durch  seine  recht  konstante  rote  Färbung  ausgezeichnet  ist, 
einen  sehr  wechselnden  Gehalt  an  Quarz  besitzt,  und  unter  dessen 
im  allgemeinen  spärlichen  basischen  Gemengteilen  bald  Homblendei 
bald  Glimmer  herrscht.  Daher  die  Bezeichnungen  Drammens  Granit 
und  Kristiania  Syenit  bei  Kjerulf,  Hornblendegranit,  Granitit|  Syenit 
und  Glimmersyenit  bei  BrOgger. 

Diese  roten  Granite  und  Syenite,  wie  Kjerulf  sie  auf  seiner 
Uebersichtskarte  des  sttdlichen  Norwegens  nennt,  bilden  drei  räum- 
lich getrennte  ausgedehnte  Partien,  welche  sich  in  sttdwest-nordOet- 
lieber  Richtung  an  einander  reihen  und  im  Norden  bis  an  den  MjO- 
sen,  im  SOden  bis  an  den  Langesund-Fjord  erstrecken.  Lang  nimmt 
an,  daß  es  in  der  Tiefe  zusammenhängende,  gewaltige  Lagergänge 
von  paläozoischem  Alter  sind,  welche  älteren  Silurschichten  auflagern 
und  ursprünglich  von  jüngeren  Silursehiohten  bedeckt  waren.  In 
Folge  der  bedeutenden,  300  Meter  übersteigenden  Mächtigkeit  er- 
scheint es  allerdings  in  der  Regel  so,  als  ob  StScke  vorliegen. 
Bankförmige  Absonderung  ist  sehr  verbreitet.  Die  Struktur  wird 
selten  porphyrartig,  was  bei  so  ausgedehnten  granitischen  Massen 
bemerkenswert  erscheint  Mikropegmati tische,  gelegentlich  ins  Ghmao- 
phyrische  übergehende  Verwachsungen  von  Quarz  und  Feldspat 
sind  häufig,  und  kleindrusige  (miarolithische)  Varietäten  im  n^rdli* 
eben  Gebiet  nicht  selten,  letztere  mit  gelegentlicher  Ausf&llung  der 
Hohlräume  durch  sekundäre  Gebilde. 

Unter  den  Gemengteilen  —  Feldspat,  Quarz,  Hornblende,  Bio- 
tit,  Augit,  opakes  Erz  (meist  Magnetit,  zuweilen  Titaneisen),  Apa- 
tit, Titanit,  Zirkon  —  wird  dem  stark  vorherrschenden  Feldspat 
ganz  besondere  Aufmerksamkeit  gewidmet.  Lang  unterscheidet  vier 
Generationen  desselben. 

Die  Feldspate  erster  Generation ,  deren  Verbreitung  eine  un- 
gleichförmige ist,  haben  sich  vor  oder  während  der  Gesteinseruptian 
ausgeschieden;  Sie  werden  gelegentlich  von  Feldspaten  späterer  Bil- 
dung eingeschlossen  oder  zeigen  Resorptionserscheinungen  und  me- 
chanische Störungen,  wie  Quetschung,  Biegung,  Zertrümmerung.  Es 
sind  lediglieh  Plagioklase:  Albit  konnte  sicher  nachgewiesen  wer- 
den; wahrscheinlich   kommen  auch   Oligoklas  und  Lttbradorit  vor, 


Lang,  Beiträge  zur  Kenntnis  d.  Ernptiv-Gesteine  d.  Christiania-Silarbeckens.    665 

vielleicht  alle  PlagioklasmiBchnngeD.  Charakteristisch  sind  der  Auf- 
bau aus  zahlreichen  feinen  Zwillingslaniellen,  das  Auftreten  musco- 
vitähnlicher,  regellos  angeordneter  Olimmerblättchen  (?  Natronglim- 
mer)  unter  den  Zersetzungsprodnkten,  das  Fehlen  mikropegmatiti- 
scher  Verwachsung  mit  Quarz.  Für  diese  Erstlinge  der  Ausschei- 
dung aus  dem  Magma  ist  es  recht  auffallend  ^  daß  die  Form  meist 
eine  ganz  gesetzlose  ist. 

Die  Feldspate  zweiter  Generation  sind  weitaus  am  reichlichsten 
vertreten;  sie  zeigen  die  größten  Dimensionen  und  sind  durch  mi- 
kroperthitische  Ausbildung  gut  charakterisiert,  wenn  man  die  Be- 
zeichnung Perthit  und  Mikropertbit ,  wie  Lang  es  thut,  auf  alle  »er- 
sichtlich gesetzmäßigen  Ver-  und  Durcheinanderwachsungen  zweier 
substantiell  oder  in  ihrer  Molekular-Ordnung  verschiedener  Feld- 
spate« ausdehnt.  Beobachtet  wurden  Mikroperthite  von  Orthoklas  mit  Al- 
bit  oder  Oligoklas,  von  Albit  mit  Orthoklas,  Mikroklin  oder  ?  Oligoklas. 

Der  meist  stark  getrübte  Feldspat  dritter  Generation  ist  dem 
der  zweiten  ähnlich;  doch  meist  von  geringeren  Dimensionen ,  von 
besserer  Formentwickelung  und  in  der  Richtung  der  Kante  P/M  ge- 
streckt. Er  tritt  besonders  in  den  Varietäten  mit  miarolithischer 
Struktur  auf,  die  locker  struierten  Partien  zusammensetzend,  und 
scheint  vorherrschend  dem  Orthoklas  anzugehören. 

Während  die  bisher  genanntien  Feldspate  primärer  Bildung  sind, 
gehören  diejenigen  der  vierten  Generation  zu  den  sekundären,  ent- 
standen aus  >Verwitterungs-Solutionenc  nach  der  völligen  Gesteins- 
erstarrung. Es  sind  wasserktare,  ganz  unregelmäßig  begrenzte  Pla- 
gioklafie,  welche  Spaltrisse  erfüllen,  und  von  deneii  sich  ein  Teil 
als  Albit  bestimmen  ließ. 

Die  Übrigen  Gemengteile  werden  kurzer  behandelt.  Quarz  fehlt 
zwar  nie,  ist  aber  in  sehr  wechselnder  Menge  vorhaiiden;  bemer- 
kenswert sind  die  öfters  beobachteten  Andeutungen  rhömboedrischer 
Spaltbarkeit  und  die  —  wie  es  scheint  —  nicht  allzu  häufigen  Ein- 
Bchlttsse  farblosen  Glases.  Es  ist  nicht  ersichtlich,  ob  letztere  sich 
anf  die  peripherischen  Teile  beschränken,  wie  das  sonst  der  Fall  zu 
sein  pflegt,  oder  ob  sie  dem  ganzen  Gesteinskörper  zukommen. 
Ancb  Hornblende  ist  llberall  vorhanden  und  daher  zu  den  wesent- 
lichen Oemengteilen  zu  rechnen,  obwohl  ihre  Menge  gerade  in  den 
typiacben  Varietäten  eine  sehr  geringe  ist.  Die  vorherrschende  Va- 
rietät mit  Anslöschungsschiefen  bis  zu  30  Grad  ^)  ist  bläulichgrtln 
und  feinfaserig;  die  Umwandlang  liefert  meist  efaloritische  Snbstan- 

1)  Brögger  hebt  einen  kleinen  Ausldffchungswinkel  hervor. 

0«ti.  9«1.  Ans.  1887.  Nr.  17.  46 


1 


666  'Oött.  gel.  Ans.  1887.  Nr.  17. 

zen,  daneben  auch  Epidot,  Braaneisenerz,  Qaarz  and  Floftspat.  Be- 
gleitet wird  jene  za weilen  von  einer  bräanlicben,  weniger  feinfaseri- 
gen Varietät.  Wie  oft^  ist  bei  beiden  der  Absorptionsnnterscbied 
zwischen  b  nnd  a  groA,  zwischen  c  nnd  b  gering.  Brauner,  stark 
pleochroitischer  Magnesiaglimmer  ist  meist  vertreten,  farbloser  bis 
blaßgrünlicber  Angit  nur  gelegentlich.  Zirkon,  den  Brögger  nicht 
mit  Sicherheit  nachweisen  konnte,  fand  Lang  allgemein  verbreitet 
nnd  dem  Titanit  an  Menge  kaum  nachstehend. 

Apatit  und  Zirkon  haben  sich  zuerst  ans  dem  Magma  ausge- 
schieden; fflr  die  ttbrigen  Gemengteile  wird  Bildung  während  der 
ganzen  Zeit  der  Gesteinserstarrung  angenommen ,  und  auch  dem  Ref. 
scheint  es,  daß  scharf  abgegrenzte  Bildungsperioden  der  einzelnen 
Oemengteile  jedenfalls  sehr  selten  vorkommen. 

Unter  den  drei  analysierten  Varietäten,  welche  von  Drammen  (I), 
vomTonsen  Aas  bei  Kristiania  (II)  nnd  vom  Vettakollen  (III)  stam- 
men, wird  die  zweitgenannte  als  Vertreter  des  Hauptgesteinstypos 
angesehen,  während  die  beiden  anderen  bei  der  Eruption  entstandene 
Spaltungsprodukte  repräsentieren  durften. 


I. 

n. 

III. 

SiOi 

76.05 

64.04 

~     59.56 

TiO« 

0.05 

1  0.62 

1.22 

ZrOi 

0.42 

X>) 

0.44 

AUOs 

11.68 

17.92 

17.60 

FeiO> 

0.34 

0.96 

2.90 

FeO 

1.05 

2X>8 

3.38 

HnO 

Spar 

0.23 

0.03 

MgO 

0.29 

0.59 

1.87 

CaO 

0.42 

1.00 

3.67 

SrO 

Spar 

Spar 

NaiO 

3.79 

6.67 

4.88 

KtO 

5.09 

6.08 

440 

LiiO 

Spur 

Spar 

Spar 

F 

Spar 

HiO 

1.36 

1.18 

1.37 

100.54 

101.37 

101.32 

Spec.  Gew. 

2.636 

2.646 

2.729 

1)  Als  X  bezeichnet  Jannasch  einen  noch  nicht  n&her  bestimmten  Eückstand 
bei  der  Kiesels&ure,  welcher  durch  schmelzendes  Monokaliumsulfat  gelöst  wird, 
aber  nach  Behandlang  der  Schmelze  mit  kaltem  Wasser  zurückbleibt, 


LtDg,  Beiträge  zur  Kenntnis  d.  Eruptiv- Gesteine  d.  Cbristiania-Silurbeckens.    6G7 

Da  sich  sowohl  aas  den  obigen  Analysen,  wie  aacb  aas  den 
älteren,  von  Ejerulf  mitgeteilten  ergibt,  daB  in  den  vorliegenden  Ge- 
steinen Natriumfeldspat  den  Ealiamfeldspat  überwiegt,  so  reibt  Laug 
dieselben  niebt  den  Graniten  an,  sondern  der  von  ibm  früher  aaf- 
gestellten  Gruppe  der  Prädacite ').  Ob  es  zweckmäßig  ist,  die  qaarz- 
fUbrenden  Plagioklasgesteine  durch  Einftlhrnng  einer  nenen  Bezeich- 
nung von  den  quarzfreien  schärfer  als  bisher  zn  trennen,  kann  hier 
füglich  anerörtert  bleiben;  aber  nnabhängig  von  der  Beantwortung 
dieser  Frage  erscheint  dem  Ref.  die  Abtrennung  dieser  sQdnorwegischen 
Gesteine  von  den  Graniten  nicht  hinreichend  begründet.  Einerseits 
ist  sicherlich  ein  Teil  des  Natriumsilikats  in  isomorpher  Vertretung 
des  monoklinen  Ealiumsilikats  vorhanden,  so  daß  Orthoklas  reich- 
licher vertreten  sein  wird,  als  es  nach  dem  Resultat  der  Analysen 
erscheint;  andererseits  enthalten  typische  Plagioklasgesteine  in  der 
Regel  gar  keinen,  oder,  falls  solcher  vorhanden  ist,  sehr  wenig  Or- 
thoklas. Während  man  in  den  granitischen  und  syenitisohen  Ge- 
steinen den  Plagioklas  zu  den  wesentlichen  Gemengteilen  rechnen 
kann  und  muß,  dürfte  der  Orthoklas  in  den  dioritischen  Gesteinen 
lediglich  die  Rolle  eines  accessorischen  Gemengteils  spielen.  Es  er- 
scheint dem  Ref.  also  unbedenklich,  solche  Gesteine  den  Graniten,  resp. 
dea  Syeniten  anzureihen,  in  welchen  Ealiumfeldspat  wesentlichen 
Anteil  an  der  Zusammensetzung  nimmt  und  in  dem  ganzen  Ge- 
steinskOrper  verbreitet  ist.  Wollte  man  von  den  Graniten  alle  die- 
jenigen Gesteine  abtrennen,  welche  nach  dem  Resultat  der  chemi- 
schen Untersuchung  mehr  Natrium-  als  Ealiumfeldspat  enthalten,  so 
würde  man  geologisch  sicherlich  auf  die  allergrößten  Schwierigkeiten 
stoBen,  abgesehen  davon,  daß  typische  Granite  dann  nicht  allzu 
reichlich  vorkommen  dürften.  Nach  des  Ref.  Ansicht  sind  eben  die 
Granite  und  Syenite  nicht  Orthoklasgesteine,  sondern  Orthoklas- 
Plagioklas-G esteine,  in  denen  nur  ausnahmsweise  der  Plagioklas  bis 
zam  Verschwinden  zurücktritt. 

Die  Detailbeschreibung  der  einzelnen  Handstücke  bietet  Gele- 
genheit, den  Grenzzonen  gegen  das  Nebengestein  und  gegen  Silur- 
schollen, sowie  der  Ausbildung  von  Trümern,  welche  letztere 
durchsetzen,  besondere  Aufmerksamkeit  zu  widmen.  Dabei  wird 
mit  Recht  zwischen  einfacher  Eontaktwirkung  (veränderte  Erstar- 
rangsbedingungen  in  Folge  von  abweichenden  Druck-  und  Tempe- 
ratnrverbältnissen)  und  Eontaktmetamorphose  schärfer  unterschieden, 
als  es  meist  zu  geschehen  pflegt. 

1)  Vgl.  Gmndrift  der  Oesteinskunde.  Leipzig  1877.  S.  186  ff.,  und  Erratische 
Gesteine  aus  dem  Herzogtum  Bremen.    Oöttingen  1879.  S.  75—81. 

46* 


068  Gott.  gel.  Ans.  1887.  Kr.  17. 

Die  Trümer  zeigen  keineswegs  Uebereinstimmang  in  der 
Struktur,  wie  man  wohl  erwarten  könnte.  Im  allgemeinen  sind  sie 
kleinkörniger  und  qnarzreicher,  als  das  Hanptgestein,  und  die  Rand- 
zonen sind  wiedemm  feinkörniger  and  noch  reicher  an  Qaarz^  als 
das  Trnmcentrnm.  Zuweilen  stellt  sich  porphyrartige  Strnktnr  ein 
oder  reichlicher  Gehalt  an  brauner  Hornblende;  gelegentlich  ist  An- 
Schmelzung  bis  Einschmelzung  von  Teilen  des  benachbarten  Gtesteins 
deutlich  nachweisbar,  wobei  es  sich  aber  stets  um  Fragmente  von 
geringfügigen  Dimensionen  handelt.  In  anderen  Fällen  ist  wenig- 
stens von  einer  materiellen  Beeinflussung  durch  das  Nebengestein 
nichts  wahrnehmbar,  und  schließlich  können  auch  lokal  irgend  welche 
merkliche  Veränderungen  an  den  Grenzen  vollständig  fehlen.  Am 
Eontakt  mit  eingeschlossenen  Silurschollen  treten  im  Hauptgestein 
breite,  lichte,  feldspatreiche  Höfe  auf,  welche  gewöhnlich  nach  Innen 
scharf  abgegrenzt  erscheinen. 

Trotz  des  starken  Wechsels  im  relativen  Mengenverhältnis  der 
Bestandteile  und  damit  auch  der  chemischen  Zusammensetzung  nimmt 
Lang  an,  daß  alle  die  beschriebenen,  bald  mehr  granitisch,  bald 
mehr  syenitisch  ausgebildeten  Gesteine  einem  einheitlichen  geologi- 
schen Körper  angehören  ^),  und  es  wird  erörtert,  wie  etwa  die  Spal- 
tung eines  Magma  vor  sich  gehn  könne,  um  so  verschiedenartige 
Varietäten  zu  liefern.  Der  Quarzreichtum  in  den  Grenzzonen  und 
in  den  Trümern  wird  z.  B.  auch  eher  ftir  eine  Spaltungs-,  als  für 
eine  Kontakterscheinung  gehalten. 

Der  zweite  Hanptteil  der  Arbeit  beschäftigt  sich  mit  den  exo- 
morphen  Kontaktersoheinungen,  für  welche  das  Kristiania-Silnrbecken 
geradezu  als  klassisches  Gebiet  bezeichnet  werden  kann.  Hier  fin* 
den  nur  die  Thonschiefer,  Kalksteine,  kalkhaltigen  Thonschiefer  und 
ein  älteres  Eruptivgestein  Berücksichtigung,  während  Alannschiefer 
und  klastische  Gesteine  ausgeschlossen  bleiben. 

Die  unveränderten  Thonschiefer  von  mattem  Glanz  und  schwar- 
zer Farbe  —  soweit  sie  untersucht  wurden ,  sämtlich  der  Silur- 
Etage  IV  angehörig  —  zeichnen  sich  durch  Armut  an  kohligen 
Partikeln,  Thonschiefemädelchen  und  isotroper  Substanz  aus.  Haupt- 
gemengteile  sind  farblose,  anisotrope  Körner  und  Blättehen ,  von  de- 
nen erst^re  wohl  vorwiegend  aus  Quarz,  untergeordnet  ans  Feld- 
spat, letztere  aus  glimmerartigen  Mineralien  (Glimmer,  Chlorit)  be* 
stehn.  Die  Färbung  bedingen  trübe,  graue  bis  bräunliche,  staub- 
förmige Partikeln,  sowie  Eisenkies  und  Eisenhydroxyd. 

1)  Einschlieilich  des  »grauen  Syenite  vom  Yettakollen,  denBrdgger  als  einen 
selbständigen  geologischen  Körper  ansieht. 


Laog,  Beiträge  zur  Kenntnis  d.  Eruptiv-Gesteine  d.  OhriBtiania-Silurbeckens.    669 

Ftlr  das  fiFBte  Stadiam  der  YeränderaDg,  welches  sich  durch 
eine  gewisse  Färbnog  bei  noch  unverändertem  matten  Glanz  aus- 
zeichnet,  ist  maschenfbrmige  Anordnung  glimmerartiger  Mineralien 
charakteristisch,  welche  zum  Teil  wenigstens  neu  gebildet  sind; 
auch  nimmt  die  Menge  der  farbigen  Bestandteile  ab. 

Das  Endprodukt  der  Umwandlung  besteht  ans  stark  glänzendem 
Qlimmerhornfels ,  der  keine  Schieferang,  wohl  aber  zuweilen  noch 
Schichtung  erkennen  läßt.  Vorwaltender  und  besonders  charakteri- 
stischer Qemengteil  ist  hier,  wie  in  den  meisten  Oranitkontaktzonen, 
ein  dunkelbrauner  Magnesiaglimmer  (etwa  38  Proc.  ausmachend), 
der  in  höchst  dankenswerter  Weise  mit  Aufwand  großer  Mtthe  iso- 
liert nnd  analysiert  wurde.  Die  Zusammensetzung  ermittelte  Jan- 
naseh  wie  folgt: 

IV. 

SiOi  33.95 

TiO»  3.40 

X  0.98 

AlsOs  17.69 

PeO  21.94 

Mg  0  7.98 

CaO  1.10 

NaiO  1.00 

K«  0  8.39 

Hs  0  3.46 


99.89 
Spec.  Gew.  3.096 

Eisenoxyd  fehlt  gänzlich,  Manganoxydul,  Strontian  und  Lithion 
sind  in  Spuren  Torhanden.  Den  obigen  Zahlen  entspricht  die  em- 
pirische Formel: 

(H,  K,  Na)i8  (Fe,  Mg,  Ca)i5  (Al^s  Siis  O76 

welche  sich  zerlegen  lässt  in : 

HsFeAltSiO? 
6KAl[Si04] 

7(Fe,Mg)8[Si04] 
HioAh[Si04]4. 

Die  Versuche,  eine  rationelle  Formel  nach  den  Bammelsberg'- 
sohen  oder  nach  den  Tscbermak'schen  Anschauungen  über  die  Kon- 
stitation  der  Glimmer  aufzustellen,  führten  zu  keinem  befriedigenden 


670  Gott.  gel.  Ans.  1887.  Nr.  17. 

Resaltat.  Leider  liegt,  soweit  Ref.  bekannt  ist,  ans  keiner  anderen 
6ranitkoDtakt-Zone  eine  Glimmeranalyse  vor,  welebe  zum  Vergleich 
herangezogen  werden  könnte.  Es  wäre  von  Interesse  zu  prüfen,  ob 
die  chemische  Konstitution,  wie  man  nach  der  Aehnlicbkeit  der  phy- 
sikalischen Eigenschaften  vermuten  konnte,  unabhängig  ist  von  der 
ursprünglichen  Zusammensetzung  der  veränderten  Schiefer. 

Zweiter  Hanptgemengtheil  des  Olimmerhornfels  sind  farblose 
Kömer,  die  gröfitenteils  fttr  Quarz,  zum  Teil  —  allerdings  mit  Vor- 
sicht -—  fttr  Feldspat  und  zwar  für  Orthoklas  gehalten  werden, 
während  Brögger  und  Penck  sie  als  Plagioklas  deuteten.  Ob  Lang 
Recht  hat,  wenn  er  dem  Feldspat  und  besonders  dem  Orthoklas 
eine  größere  Verbreitung  in  den  Hornfelsen  zuschreibt,  als  die  meisten 
übrigen  Petrographen,  dürfte  jedenfalls  ohne  weitere  Untersuchungen 
nicht  zu  entscheiden  sein,  wenn  es  auch  lokal  fttr  das  hier  in  Be- 
tracht kommende  Gebiet  seine  Richtigkeit  haben  mag.  Weitere  Ge- 
mengteile sind  Magnetkies,  stark  lichtbrechende,  grünlichgelbe  Körner 
und  ein  fast  farbloses,  blättriges,  talkäbnliches  Mineral,  welches  un- 
bestimmt bleibt,  aber  jedenfalls  nicht,  wie  es  von  Anderen  geschehen 
ist,  fttr  Muscovit  gehalten  wird.  Am  unmittelbaren  Kontakt  mit  dem 
Nebengestein  scheint  letzteres  zu  verschwinden.  Bemerkenswert  ist 
das  Fehlen  des  sonst  so  verbreiteten  Andalusit;  Lang  meint,  das- 
selbe könne  vielleicht  mit  der  Armut  des  normalen  Schiefers  an  or- 
ganischer Substanz  in  Beziehung  stehn.  Von  Granit  vollständig 
«eingehüllte  Schieferschollen  lassen  keine  stärkere  Veränderung  wahr- 
nehmen, als  die  nur  einseitig  angrenzenden  Schichten. 

Die  Kalksteine  zeigen  die  normalen  Veränderungen ;  ihre  isomer- 
feinkörnige Struktur  geht  in  die  isomer  -  grobkörnige  des  Marmor 
über,  und  wo  neben  Karbonaten  ursprünglich  noch  andere  Gemeng- 
teile vorhanden  waren,  entwickeln  sich  Kalksilikate  wie  Skapolith 
(Dipyr),  Granat,  blaßgrUne  und  dunkelgrüne  Hornblende,  fast  farb- 
loser Augit. 

Mannigfaltiger  erscheinen  die  Kontaktprodukte  der  kalkreichen 
Thonschiefer,  welche  als  Kalksilikathornfelse  oder  Kalkhornfelse  zn- 
sammengefaßt  werden,  und  sich  vom  Glimmerhornfels  durch  geringeren 
Glanz,  von  den  veränderten  Kalksteinen  durch  das  Fehlen  von  Kar- 
bonaten auszeichnen.  Die  Färbung  ist  meist  licht,  gelegentlich  — 
besonders  bei  schlierenartig  auftretenden  Partien  —  auch  dunkel. 
Allen  diesen  Hornfelsen  gemeinsam  sind  Härtung,  Verlust  der  Schie- 
ferung, Verminderung  des  Wassergehalts,  sowie  farblose  doppelbre- 
chende Körner  (Quarz,  Feldspat  und  andere  Silikate)  nebst  Bisili- 
katen  (besonders  farblose  Hornblende)  als  Gemengtheile.     Da  Mus- 


Lang,  Beitr&ge  zur  Kenntnis  d.Ernptiv-Gesteine  d.  Christiania-Silurbeckens.    671 

covit  fehlt  nnd  Eali  reichlich  vorhanden  ist,  so  wird  auch  hier  ein 
großer  Teil  des  Feldspats  als  Orthoklas  gedeatet.  Sonstiger  Mi- 
neralbestand und  Struktur  sind  aber  recht  wechselnd,  und  eine  all- 
mähliche Zunahme  der  Veränderungen  mit  der  Annäherung  an  das 
Eruptivgestein  ist  auffallender  Weise  nicht  merklich.  Der  fttr  den 
Olimmerhornfels  so  charakteristische  braune  Magnesiaglimmer  tritt 
hier  nur  sehr  spärlich  auf. 

Analysirt  wurden  zwei  unveränderte  Thonschiefer  von  Tyvehol- 
men  in  Ghristiania  (V  dickschieferig,  VI  feinblättrig) ,  ein  Glimmer- 
hornfels  von  Gunildrud  (VII),  aus  dem  der  Glimmer  stammt,  dessen 
Zusammensetzung  schon  oben  unter  IV  mitgeteilt  worden  ist,  und 
ein  heller,  violetter  Ealkhornfels ,  ebenfalls  von  Gunildrud  (VIII). 
Va  und  Via  geben  die  Zusammensetzung  der  Thonschiefer  nach 
Abzug  der  Karbonate,  da  letztere  nur  als  Kluftanskleidungen  und 
in  Form  feiner  Adern  auftreten,  also  nicht  der  eigentlichen  Gesteins- 
masse angehören.  Spuren  von  Chlor  und  Lithion  konnten  in  allen, 
von  Phosphorsäure  und  Strontian  in  fast  allen  Gesteinen  nachgewiesen 
werden. 


V. 

VI. 

Va. 

Via. 

VIL 

VIII. 

SiOt 

49.46 

49.32 

53.07 

52.50 

66.60 

57.43 

TiOi+ZrO« 

0.89 

0.79 

0.95 

0.84 

1.00 

1.13 

X. 

0.12 

GOt 

3.70 

3.31 

0.00 

0.00 

0.00 

0.00 

AIiOs 

19.44 

19.52 

20.86 

20.78 

20.70 

17.53 

Fe»0» 

1.37 

1.55 

1.47 

1.65 

0.00 

0.00 

FeO 

6.03 

6.22 

6.47 

6.62 

8.27 

1.76 

MdO 

0.11 

Spnr 

0.12 

Spnr 

Spnr 

MgO 

4.68 

5.02 

3.83 

4.36 

3.85 

1.47 

CaO 

3.16 

2.92 

0.00 

0.00 

0.36 

8.61 

NaiO 

1.55 

1.60 

1.66 

1.70 

2.93 

1.76 

KtO 

4.12 

4.35 

4.42 

4.63 

4.28 

8.51 

HiO 

6.37 

6.19 

6.83 

6.59 

2.46 

1.05 

FeS> 

0.29 

0.29 

0.31 

0.30 

FeS 

0.54 

0.77 

101.17  101.08    99.99    99.97  100.89  100.04 
Spec.  Gew.     2.734    2.733  2.743    2.741 

Am  Barnekjern  bei  Christiania  tritt  mit  dem  Hauptgestein  ein 
älteres,  wahrscheinlich  nahe  verwandtes  massiges  Gestein  von  dunk- 
ler Farbe,  feinem  Korn  und  dioritischem  Habitus  in  Kontakt,  wel- 
ches als  „dioritischer  Prädacit"  vom  „granitischen  Prädacit"   unter- 


1 


672  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  17. 

schieden  wird  und  sich  durch  Beichthum  an  basischen  Gemengteilen 
(Hornblende^  Magnesiaglimmer,  opakes  Erz)  aaszeichnet.  Die  nach- 
weisbaren Veränderangen,  welche  übrigens  wenig  scharf  henrortreteni 
haben  nicht  das  ganze  Gestein,  sondern  nur  einzelne  Gemengteile 
betroffen.  Sie  beginnen  mit  deren  Trübung  und  schliessen  ab  mit 
einer  Neubildung  von  Hornblende  und  Titanit,  sowie  wahrscheinlich 
auch  von  opakem  Erz. 

Die  allgemeinen  Resultate  stimmen  im  ganzen  mit  den  an  anderen 
Kontaktzonen  erzielten  übereio,  indem  auch  Lang  annimmt,  daS  die 
Neubildung  von  Mineralien  im  wesentlichen  durch  Umlagerung  vor- 
handener Substanz  ohne  Zufuhr  von  außen  stattfindet^).  Granitma- 
terial sei  sicherlich  nicht  in  die  Schiefer  eingetreten,  eher  habe  der 
Granit  Teile  der  letzteren  aufgenommen.  Neu  ist  der  aus  den  ana- 
lytischen Daten  gezogene  Schluß ,  daß  mit  der  Annäherung  an  den 
Granit,  abgesehen  vom  Verlust  an  Wasser  und  Kohlensäure, 
auch  ein  Verlust  an  Sauerstoff  stattfindet;  in  Folge  dessen  tritt  im 
Hornfels  an  die  Stelle  von  Eisenoxyd  Eisenoxydul,  an  die  Stelle  von 
Eisensulfid  Eisensulfür.  Ganz  unanfechtbar  dürfte  dieser  Schluß  wohl 
nicht  sein,  da  nicht  Gesteine  aus  einer  und  derselben  Schicht  und 
unmittelbar  neben  einander  auftretend  verglichen  worden  sind; 
jedenfalls  aber  bedarf  es  noch  weiterer  Belege,  um  zu  übersehen, 
ob  hier  eine  allgemeine  oder  nur  eine  lokale  Erscheinung  vor- 
liegt. 

Die  von  Lessen  und  Lehmann  für  den  Dislokationsmetamorphis- 
mus  aufgestellten  Sätze  werden  einer  eingehenden  Erörterung  unter- 
zogen. Lang  ist  der  Ansicht,  daß  der  Gebirgsdruck  direkt  vorzugs- 
weise mechanisch  verändernd  wirkt,  daß  aber  die  stofflichen  Um* 
lagerungen  wesentlich  auf  Prozessen  beruhen ,  welche  nur  indirekt 
mit  jenem  in  Beziehung  stehn.  Die  Veränderungen  seien  in  der 
Regel  im  Liegenden  energischer,  als  im  Hangenden,  und  es  laße 
sich  dies  dadurch  erklären,  daß  überhitzte  Wasserdämpfe,  welche 
wahrscheinlich  die  Metamorphose  vermitteln  und  zum  Teil  auch  von 
dem  veränderten  Gestein  selbst  geliefert  sein  mögen,  im  Liegenden 
unter  höherem  Druck  standen.  Der  Druck  des  Eruptivgesteins  komme 
wohl  auch  in  Betracht,  könne  aber  nicht  von  großem  Einfluß  ge- 
wesen sein,  0a  sonst  ^ie  Horiifßlse  häufiger  eine  schiefrige  Struktur 
zeigen  würden.    Pabei  möge  die  Gebirgsfenchtigkeit  wesentlich  bei- 

1)  WennBrögger  die  Zufohr  von  Kieselsftare  und  anderer  Substanxen  für  wahr- 
scheiDüch  halte,  so  erkl&re  sich  dies  wohl  darch  den  Vergleich  zwar  gleichaltriger, 
aber  damit  doch  nicht  auch  substantiell  als  identisch  eri^esener  Schicl^^n. 


Lang,  Beitr&ge  zur  Kenntnis  d.  Eruptiv-Gesteine  d.  Christiania-Siliirbeckens.    673 

tragen,  die  Leitang  der  Wärme  zn  fördern  and  den  Draek  zq  er- 
höhen. Als  Lösapgsmittel  habe  das  Wasser  jedenfalls  nicht  gewirkt; 
dagegen  spreche  die  Anordnung  der  Oemengteile,  sowie  die  scharfe 
Grenze  zwischen  den  Umwandlangsprodakten  ursprünglich  verschieden 
ausgebildeter  Schichten.  Auf  welche  Weise  die  molekulare  Umlage- 
rnng  stattgefunden  habe,  sei  unbekannt;  ausgeschlossen  seien  aber 
hydrochemischer  Niederschlag  und  Austausch  eben  so  sicher,  wie 
normaler  Schmelzfluß. 

In  einem  kleinen,  den  Verwitterungserscheinungen  gewidmeten 
Abschnitt  wird  hervorgehoben,  wie  ganz  abweichend  die  Oberfläche 
der  sOdnorwegischen  Granitgebiete  sich  darstelle  im  Vergleich  mit 
denen  anderer  Gegenden.  Keine  wollsackähnlichen  Blöcke  oder  Felsen- 
meere, keine  Grusanhäufungen,  kein  an  Ort  und  Stelle  entstandener 
Verwitternngsboden !  Da  dieser  Granit  früher  wahrscheinlich  wie  jeder 
andere  Desaggregations-Produkte  geliefert  habe,  so  müsse  man  an- 
nehmen, daft  sie  von  Gletschern  vollständig  fortgeführt  seien,  und 
daft  seit  deren  Verschwinden  die  Zeit  zur  Bildung  von  neuen  nicht 
ansgereicht  habe  trotz  zahlreicher  mikroskopischer  Spaltrisse,  welche 
das  Gestein  in  unmittelbarer  Nähe  der  Oberfläche  durchsetzen  und 
auf  den  Druck  des  gleitenden  Eises  zurückgeführt  werden.  Sei  der 
ungenügende  Zeitraum  der  wahre  Grund  des  Mangels  an  Desaggre- 
gationsgebilden ,  so  lasse  sich  ihr  Vorhandensein  oder  Fehlen  ver- 
werten, um  zu  entscheiden,  ob  Gegenden  gleichzeitig  vergletschert 
sein  konnten  oder  nicht  Aber  es  dürften  noch  so  viele  andere  Fak- 
toren in  Betracht  kommen,  daft  ein  derartiger  Schluft  dem  Ref.  sehr  ge- 
wagt erscheint  und  jedenfalls  nur  mit  allergröftter  Vorsicht  gezogen 
werden  darf. 

Den  Schluft  der  Arbeit  bilden  einige  Hittheiinngen  über  den 
Qaarzporphyr  von  Drammen  und  über  Eontakterscheinungen  am 
Felsitfels  von  Vikersund.  In  Uebereinstimmung  mit  vom  Rath  hält 
Lang  den  Porphyr  für  eine  Tuff-  und  Eonglomeratschichten  überla- 
gernde Decke.  Er  ist  ausgezeichnet  durch  schlierenförmigen  Wechsel 
von  Partien,  in  denen  teils  Einsprengunge  und  Grundmasse  sich  an- 
nähernd das  Gleichgewicht  halten,  teils  letztere  kaum  merklich  her- 
vortritt Die  Feldspateinsprenglinge  sind  der  Mehrzahl  nach  als 
Mikroperthite  ausgebildet,  die  Quarze  in  den  peripherischen  Teilen 
reicher  an  Einschlüssen,  als  in  den  centralen  und  beherbergen  opake, 
gelegentlich  margaritenartig  an  einander  gereihte  Stäbchen,  wie  sie 
anch  in  den  Odenwälder  Porphyren  auftreten ;  die  mikro-  bis  krypto- 
krystalline  Grnndmasse  enthält  wahrscheinlich  etwas  isotrope  Basis, 
obwohl  letztere  direkt  nicht  wahrnehmbar  ist 


674  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  17. 

Aus  der  unter  IX  folgenden  Analyse  wird  das  Mengenverhält- 
nis der  Bestandteile  za  33.65  Qaarz,  42.21  Orthoklas,  20.135  Albit, 
1.57  Chlorit,  0.66  Schwefelkies,  0.51  Zirkon,  0.27  Titaneisen  berech- 
net und  aus  dem  starken  Oehalt  an  Orthoklas  geschlossen,  daB  eine 
Beziehung  zum  plagioklasreichen  Drammengranit  nicht  stattfindet| 
wie  Brögger  angenommen  hat. 

IX. 

SiOt  75.44 

TiOt  0.07 

ZrO»  0.34 

AlsOs  12.33 

Fes  0$  0.49 

Fe  Ss  0.66 

FeO  1.00 

MnO  0.11 

MgO  0.52 

NasO  2.38 

KsO  7.13 

HjO  1.26 


101.73 
SpecQew.  2.618 

Bemerkenswert  ist  das  vollständige  Fehlen  von  Phospborsäure, 
das  fast  vollständige  von  Kalk,  welcher  ebenso  wie  Lithion  nur  in 
Spuren  auftritt. 

Wie  der  Porphyr  von  Drammen,  so  wird  auch  der  mikrogra- 
nitische  Felsitfels  von  Vikersund  für  .ein  selbständiges  Gestein  ge- 
balten. An  der  Orenze  gegen  das  Nebengestein  lassen  sich  drei 
Zonen  von  je  verschiedener  Korngröße  unterscheiden. 

Ans  den  einleitenden  Worten  der  im  Vorhergehenden  besprochenen 
Arbeit  geht  hervor,  daß  eine  Fortsetzung  der  Beiträge  beabsichtigt 
war ;  nach  persönlicher  Mitteilung  des  Verf.  ist  leider  keine  Aus- 
sicht zur  Verwirklichung  dieses  Planes  in  absehbarer  Zeit  vor- 
handen. 

Greifswald,  Mai  1887.  E.  Cohen. 


Woeikof,  Die  Elimate  der  Erde.  675 

Woeikof,  Dr.,  A.,  Die  Elimate  der  Erde.  Nach  dem  Russischen.  Vom 
Verfasser  besorgte,  bedeutend  veränderte  deutsche  Bearbeitung,  mit  10  Karten 
und  15  Diagrammen  nebst  Tabellen.  Zwei  Teile.  Jena,  Verlag  von  H.  Co- 
stenoble  1887.    XX,  893  und  422  S.    8«. 

Id  der  deatschen  meteorologischeD  Litteratur  besitzen  wir  be- 
reits ein  Werk  über  denselben  Gegenstand:  J.  Hanns  Handbuch 
der  Elimatologie,  Stattgart  1883.  Aber  beide  (von  dem  vorliegenden 
Werke  das  rassische  Original)  sind  gleichzeitig  and  vollständig  un- 
abhängig von  einander  entstanden,  and  die  Abgrenzung  nnd  Behand- 
lang des  Stoffes  ist  in  diesen  beiden  Werken  eine  so  durchaas  ver- 
schiedene, daß  keineswegs  das  eine  das  andere  überflüssig  erscheinen 
läfit,  vielmehr  ergänzen  sie  einander  in  mehrfacher  Beziehung,  and 
wir  sind  Herrn  Woeikof  für  diese  deutsche  Ausgabe  zu  Danke  ver- 
pflichtet. Hanns  Klimatologie  ist  ein  Handbuch,  Woeikofs  Werk 
trägt  den  Charakter  des  Lebrboches;  Hann  wendet  sich  an  den 
Fachgenossen,  Woeikof  an  den  Schüler. 

Wer  gewohnt  ist  die  Publikationen  des  Verf.  zu  studieren,  wird 
in  den  »Elimaten  der  Erde«  manchen  bekannten  Abschnitt  flnden, 
der  aas  einer  früheren  Arbeit  des  Verf.  direkt  übernommen  worden 
ist  Der  Zusammenhang  ist  dadurch  manchmal  ein  etwas  lockerer. 
Dadurch  ist  es  aach  gekommen,  dafi  S.  172  auf  eine  Originalab- 
handlung verwiesen  worden  ist,  ohne  dafl  angegeben  ist,  wo  man 
dieselbe  flndet;  dieser  Abschnitt  ist  nämlich  der  Abdruck  eines  Re- 
ferats des  Verf.  über  zwei  seiner  Arbeiten  in  der  Zeitschrift  der 
Osterreichischen  Gesellschaft  für  Meteorologie,  in  welchem  »das  Ori- 
ginal« in  der  Ueberschrift  genannt  ist,  nämlich  Bulletin  de  la  So- 
ci£t6  des  Naturalistes  de  Moscon  1881  p.  81.  Das  ist  zwar  nur 
eine  Kleinigkeit,  ich  erwähne  sie  aber,  weil  die  Citate  überhaupt 
die  schwache  Seite  des  Buches  ausmachen.  Es  wäre  zu  wünschen, 
daß  dieselben  vermehrt  würden,  vor  allem  aber  müßten  sie  voll- 
ständiger und  zuverlässiger  sein.  Der  Verf.  verwechselt  wiederholt 
(z.  B.  I  S.237  zweimal,  ferner  IIS. 55)  »Meteorologische Zeitschrift« 
mit  »Zeitschrift  für  Meteorologie«,  welche  letztere  Bezeichnung  für 
Zeitsehr.  d.  österr.  Gesellsch.  f.  Met.  reserviert  bleiben  sollte.  Diese 
Verwechselung  wäre  weniger  unbequem,  wenn  der  Verf.  Band-  und 
Jahreszahl  anführte:  er  begnügt  sich  aber  immer  mit  einer 
Angabe.  Ich  habe  natürlich  nicht  alle  Citate  nachgeschlagen,  aber 
trotzdem  habe  ich  ziemlich  viele  Druckfehler  in  denselben  ge- 
funden. 

Ganz  besonders  rühmenswert  erscheinen  dem  Ref.  an  dem  vor- 
liegenden Werke  zwei  Punkte.     Zunächst  das  Bestreben,  möglichst 


676  GötU  gel.  Ans.  1887.  Nr.  17. 

für  alle  in  Frage  kommeDdeii  Probleme  eine  pbyaikaliscbe  ErklSmng 
zo  geben.  Dabei  nimmt  der  Verf.  sebr  bäafig  and  mit  groBem  Olflek 
seine  Zuflacbt  zn  dem  Wasser  an  der  Erdoberflftebe  nnd  in  der  At- 
mosphäre. Die  grofte  Bolle,  welobe  die  Wftrmeamsetzangen  beim 
Gefrieren  nnd  Tbaoen,  beim  Kondensieren  nnd  Verdampfen  in  der 
Elimatologie  spielen,  wird  hier  mit  Recht  wiederholt  betont  Ferner 
ist  die  strenge  Kritik  zu  rflhmen,  welche  derVerf  an  hergebrachten 
Hypothesen  übt  Verschiedentlich  wird  die  Unhaltbarkeit  derselben 
durch  rechnerische  Prüfung  erwiesen. 

Das  Werk  zerfällt  in  zwei  dem  Umfange  nach  nahezu  gleiche 
Teile:  I.  allgemeine,  II  specielle  Klimatologie. 

I.  Teil :  1)  Luftdruck  und  Winde.  Temperaturänderungen  in 
auf-  und  absteigenden  LuftstrOmen.  2)  Luftfeuchtigkeit,  Ver- 
dunstung, Bewölkung,  Niederschläge.  3)  Flttsse  nnd  Landseen  als 
Produkte  des  Klimas.  4)  Einfluß  der  Schneeoberfläche  auf  das  Klima. 
5)  Die  klimatischen  Verhältnisse  des  beständigen  Schnees.  6)  Die 
Temperatur  der  Gewässer.  7)  Verschiedenheit  der  Temperaturver- 
teilung im  Festen  und  Flüssigen  und  ihr  Einfluß  auf  die  Tempera- 
tur des  Erdballs.  8)  Die  täglichen  und  jährlichen  Aenderungen  der 
Temperatur  der  Luft.  9)  Die  täglichen  Aenderungen  der  Hydrome- 
teore.  10)  Der  tägliche  Gang  des  Luftdrucks  und  der  Winde. 
11)  Temperaturänderung  mit  der  Höhe  in  Bergländem  nnd  in  der 
freien   Atmosphäre.     12)  Einfluß  des    Klimas   auf  die   Vegetation. 

13)  Einfluß  der  Vegetation,  besonders  der  Wälder  auf  das  Klima. 

14)  Die  nichtperiodischen  Aenderungen  der  Temperatur  nnd  der 
Niederschläge.  15)  Veränderlichkeit  der  Temperatur  von  Tag  zu 
Tag.  16)  Allgemeine  Bemerkungen  ttber  die  Verteilung  der  Tempe- 
ratur auf  dem  Erdballe.  17)  Allgemeine  Bemerkungen  über  die  Ver- 
teilung des  Luftdrucks,  der  Winde,  und  der  Hydrometeore  auf  dem 
Erdballe.  —  Tab.  1,  Mittelteroperaturen.  Tab.  2,  Mittlere  Bewöl- 
kung. Tab.  3,  Jährliche  Höhe  des  Niederschlages.  Tab.  4,  Ver- 
teilung der  Niederschläge  auf  die  Monate  in  Prozenten  der  Jahres- 
menge. 

Obwohl  namentlich  die  ersten  Kapitel  mancherlei  enthalten,  was 
eher  in  ein  Lehrbuch  der  Meteorologie  oder  der  Hydrographie  gehörte, 
als  in  eine  Klimatologie,  möchten  wir  dieselben  doch  nicht  gern 
missen.  Die  Meteorologie  hat  sich  erst  in  den  letzten  Decennien  zu 
einer  physikalischen  Disciplin  entwickelt,  es  harren  noch  manche 
Fragen  einer  physikalischen  Beantwortung,  und  es  ist  von  großem 
Interesse  ttber  einige  der  wichtigsten  dieser  Fragen  einen  so  nam- 
haften Gelehrten  wie  den  Verf.  im  Zusammenbang  reden  zu  hören. 


Woeikof,  Die  Elimate  der  Erde.  677 

—  An  eiDzeloe  Kapitel  möchte  ich  einige  Bemerkangen  an- 
knttpfen. 

Kap.  1.  Der  Verf.  bespricht  die  Eigenschaften  der  auf-  und 
absteigenden  Lnftströme.  Dabei  hätte  er  nach  der  Meinung  des 
Ref.  die  gleiche  Natur  aller  Fallwinde  betonen  sollen  sollen.  Föhn, 
Vent  d'Espagne,  Scirocco  in  Sicilien,  dalmatischer  Wind  (Siebenbürgen), 
wie  auch  Bora  und  Mistral  sind  Fallwinde,  und  es  ist  nicht  zulässig, 
sie,  wie  oft  geschieht,  zu  einander  in  Gegensatz  zu  bringen  bloß 
deshalb,  weil  sie  am  Orte  der  Beobachtung  in  der  Regel  als 
warme,  oder  als  kalte  Winde  aufzutreten  pflegen.  Ob  das  eine  oder 
das  andere  der  Fall  ist,  hängt  von  der  topographischen  Gliederung 
des  Gebietes  ab,  in  welchem  der  Wind  weht.  Soll  nämlich  die  Tem- 
peratur eines  Ortes  durch  den  herabfallenden  Wind  erniedrigt  wer- 
den, so  erfordert  das  zwischen  dem  Ursprung  des  Windes  und  dem 
Beobacbtungsorte  eine  Temperaturabnähme  mit  der  Höhe  von  mehr 
als  0.97^;  ist  sie  kleiner,  so  wird  der  Wind  als  ein  warmer  em- 
pfunden. Eine  derartige  Temperaturabnahme  mit  der  Höhe  kann 
wegen  des  größeren  specifischen  Gewichtes  der  kalten  Luft  in  zer- 
rissenen Gebirgen  garnicht  eintreten,  sie  erfordert  ein  plateauförmiges 
Hinterland,  das  durch  einen  mäßigen  Höhenzug  von  einem  steilen 
Abfall  nach  der  Tiefe  gehemmt  ist  (Warad&h).  Durch  Aspiration 
vorliegender  Depressionsgebiete  oder  durch  Drucksteigerung  im  Hinter- 
lande  wird  die  über  dem  Plateau  erkaltete  Luft  über  den  Kamm 
tainttbergeschoben  und  gewinnt  alsdann  durch  ihre  Eigenschwere  einen 
starken  vertikalen  Gradienten.  Es  ist  klar,  daß  in  Gegenden,  wo 
solche  kalte  Fallwinde  vorkommen,  auch  warme  müssen  auftreten 
können;  diese  aber  werden  weniger  heftig  sein;  denn  bei  ihnen 
fällt  sehr  bald  die  Steigerung  des  vertikalen  Gradienten  durch  die 
Schwere  fort.  Beispiel  einer  warmen  Bora  in  der  Zeitschr.  d.  Ost. 
Ges.  l  Met.  10  p.  112,  1875.  In  Oebirgsländem ,  welche  für  die 
Entwicklung  kalter  und  warmer  Fallwinde  gleich  günstig  sind,  wird 
durch  den  Wind  die  Temperatur  in  der  Niederung  bald  gesteigert 
bald  herabgedrückt,  und  dann  haben  die  Winde  der  betreffenden 
Biobinng  keinen  typischen  Charakter  und  ziehen  daher  die  Aufmerk* 
samkeit  weniger  auf  sich.  Daher  kommt  es  auch  wohl,  daß  wir  z.  B. 
ans  Norwegen^  das  für  das  Auftreten  von  Aspirations  winden  so  außer- 
ordentlich  günstig  gelegen  ist,  soviel  ich  wenigstens  weiß,  keine  Kunde 
fiber  Winde  mit  Föhn-  oder  Boracharakter  haben. 

Kap«  2.  Für  die  größten  Niederschlagsmengen  in  Deutschland 
hätte  der  Verf.  bei  Hellmann  (Zeitschr.  d.  K.  Preußischen  statistisclien 
Boreanis  1884  p.  251)  bessere  Beispiele  gefunden.  —  Für  die  Cha« 


678  öött.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  17. 

rakterisiernng  eines  Klimas  binfiichtlich  der  Niederecblagsverbälinisse 
sind  die  Länge  der  Perioden  von  aufeinander  folgenden  Tagen  mit 
oder  obne  Niederscblag  und  die  Häufigkeit  der  Perioden  gleicher 
Länge  jedenfalls  ancb  von  bervorragender  Bedeutung. 

Kap.  5.  Angaben  Über  die  mittlere  Temperatur  der  Schneelinie 
besitzen  wir  bislang  nur  wenige.  Die  alte  Ansiebt,  daB  die  Scbnee- 
linie  mit  der  NuUisotberme  des  Jahres  zusammenfalle,  ist  von  Benou 
durch  die  Annahme  ersetzt,  daß  die  Nullisotherme  der  wärmsten 
Monate  maßgebend  sei.  Der  Verf.  vermag  sich  auch  dieser  Ansicht 
nicht  anzuschließen,  und  seine  Zweifel  erscheinen  nach  den  neuesten 
Mitteilungen  von  Hann  durchaus  berechtigt  (Met.  Zeitschr.  4  p.  28, 
1887).  Hann  findet  nämlich,  daß  am  Säntis  die  mittlere  Tempera- 
tur der  unteren  Schneegrenze  in  allen  Monaten  mit  Ausnahme  des 
December  über  0^  liegt  (im  Mittel  des  Sommers  4^7,  im  Mai  beträgt 
sie  sogar  7^.4),  und  daß  die  Höhendiflerenz  zwischen  der  Nullisotherme 
und  der  Schneegrenze  mehrere  hundert  Meter  beträgt  (im  Mai  1200, 
im  Nov.  100,  im  Dec.  —500).  —  Dieses  Kapitel  dürfte  auch  für  Geo- 
logen und  Gletschertheoretiker  von  großem  Interesse  sein. 

Kap.  6  ist  von  hervorragender  Bedeutung.  Hier  werden  einige 
weit  verbreitete  Irrtümer  berichtigt.  Es  ist  z.  B.  durchaus  nicht 
richtig,  daß  die  Seen  wie  auch  die  Meere  immer  die  Extreme  der 
Temperatur  abstumpfen  und  die  mittlere  Jahrestemperatur  in  niede- 
ren Breiten  herabdrücken,  in  höheren  dagegen  erhöhen. 

Kap.  8.  Die  tägliche  Amplitude  a  der  Temperatur  wird  be- 
kanntlich durch  die  Bewölkung  ß  stark  beeinflußt,  es  hat  daher 
Weilenmann  vorgeschlagen  statt  der  Amplitude  selbst  den  Ausdruck 

aß 

T^  zur  Vergleichung  verschiedener  Orte  heranzuziehen.    Der  Verf. 

fuhrt  statt  dieses  Ausdrucks  einen  etwas  andern  ein,  der  aber  hier^ 
wie  auch  überall,   wo  er  in  Folgenden  vorkommt,   verdruckt  ist,  er 

muß  lauten  ''^^^^^  — 

Die  Beobachtungen  über  die  Periode  der  Temperatur  der  festen 
und  flüssigen  Erdoberfläche  sind  zwar  bislang  nur  gering,  dennoch 
wäre  es  wohl  wünschenswert  geweseut  sie  wenigstens  kurz  zu  er- 
wähnen und  die  Abweichungen  derselben  von  der  Lufttemperatur 
hervorzuheben. 

Kap.  9  wird  durch  Einftihrung  des  Sättigungsdeficits,  dessen 
Bedeutung  für  die  Klimatologie  in  neuerer  Zeit  auch  von  maß- 
gebender Seite  anerkannt  worden  ist,  eine  Erweiterung  erfahren  müs- 
sen.    Soweit  wir  die   periodischen  Aenderungen    dieser  Größe  bis 


Woeikof ,  Die  Elimate  der  Erde.  679 

jetzt  kennen,  schließen  sich  dieselben  ziemlich  eng  an  die  der  Tem- 
peratar  an;  die  Größe  der  Amplitude  ist  noch  ziemlieh  nnbekannt 
Ans  dem  reichen  Materiale,  welches  dem  Verf.  za  Gebote  steht^  wer- 
den sich  leicht  wichtige  Resultate  ableiten  lassen.  —  Die  täg- 
liche Periode  des  Niederschlages  ist  doch  wohl  etwas  zu  stiefmütter- 
lich behandelt. 

Kap.  11.  Auf  Grund  eines  sehr  umfassenden  und  hier  auch 
ausführlich  mitgeteilten  Materiales  gelangt  der  Verf.  auf  rein  empi- 
rischem Wege  zu  dem  Resultate,  daß  die  Größe  der  Temperatar- 
abnahme mit  der  Höhe  ohne  Ausnahme  von  S  nach  N  (nördliche 
Hemisphäre)  abnimmt,  während  Hann  (Klimatologie  p.  153)  fand 
daß  ihre  Größe  für  alle  Gebiete  zwischen  0  und  60®  Breite  die- 
selbe sei.  Woeikofs  Resultat  läßt  sich  noch  in  anderer  Weise  be- 
gründen. Mendeleef  hat  eine  Formel  ttber  den  Zusammenhang  der 
Temperatur  der  höheren  Luftschichten  mit  dem  daselbst  herrschen- 
den Luftdrücke  aufgestellt.  In  diese  Formel  geht  eine  Konstante 
ein,  unter  welcher  man  die  Temperatur  an  der  Grenze  der  homoge- 
nen Atmosphäre,  wo  der  Druck  nahe  0  ist,  zu  denken  hat.  Diese 
Konstante  hat  denselben  Wert  im  Winter  und  im  Sommer,  ttber  dem 
Aequator  wie  ttber  den  Polen.  Daraus  folgt:  1)  die  Temperatur- 
abnahme mit  der  Höhe  ist  im  Sommer  größer  als  im  Winter  das 
ist  empirisch  längst  festgestellt;  2)  sie  ist  ttber  niederen  Breiten 
größer  als  ttber  höheren,  und  das  ist  das  oben  angefahrte  Resultat 
Woeikofs. 

Kap.  13  findet  eine  wertvolle  Ergänzung  in  der  Schrift  von 
C.  E.  Ney:  lieber  den  Einfluß  des  Waldes  auf  das  Klima.  Deutsche 
Zeit-  und  Streitfragen  N.  F.  I,  Heft  5.   Berlin  1886. 

Kap.  16.  Herr  Woeikof  ersetzt  die  hergebrachte  astronomische 
Zoneneinteilnng  durch  eine  etwas  abweichende,  indem  er  als  Gren- 
zen ftlr  den  Tropengttrtel  26^  N.  n.  S.  Breite  und  als  Grenze  der 
Polarzonen  die  65  Parallelkreise  wählt  Diese  Teilung  entspricht 
den  klimatischen  Verhältnissen  in  der  That  besser.  Beachtenswert 
ist  das  durch  diese  Einteilung  geschaffene  Verhältnis  der  Flächen- 
ränme  der  warmen  zu  den  gemäßigten  and  zu  den  kalten  Zonen,  näm- 
lich 417 :  490 :  93.  Daraus  zieht  der  Verf.  gewiß  mit  Recht  den 
Schluß,  daß  wegen  ihrer  geringen  Ausdehnung  die  Polarzonen  nur 
einen  geringen  Einfluß  auf  die  Klimate  der  Erde  haben  können.  — 
Auf  die  Kritik  der  Hann-Forbes'schen  Ansichten  ttber  die  Tempe- 
ratarverteilnng  auf  einer  Land-  und  einer  Wasserhemisphäre  mag 
ebenfalls  besonders  aufmerksam  gemacht  werden. 

In  den  Tabellen  der  Mitteltemperatnren  der  Luft  fehlen  leider 


6S0  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  17. 

die  Monate  Februar,  Joni,  Angnst  und  December.  Ein  Maugel  aller 
Tabellen  besteht  darin,  dai  weder  angegeben  ist,  woher  die  Zahlen- 
reiben entnomnien  sind,  noch  aus  welchen  Jabren  dieselben  berech- 
net wurden,  auch  nicht  einmal  auf  wielangjährige  Beobachtungen 
sich  dieselben  stützen.  Ihre  Brauchbarkeit  leidet  darunter  sehr, 
auch  wenn  man  zu  dem  Verf.  das  Zutrauen  hat,  daS  er  nur  zuver- 
lissiges  Material  benutzte. 

II.  Teil :  Fttr  die  Einteilung  der  speciellen  Klimatologie  iSit 
der  Verf.  die  geographischen,  einmal  sogar  die  politischen  Verhält- 
nisse maftgebend  sein,  und  in  der  Ausftihrlichkeit,  mit  welcher  er 
die  Elimate  der  verschiedenen  Länder  behandelt,  gestattet  er  sich 
einen  ziemlich  hohen  Grad  von  Willkttr.  So  fallen  dem  russischen 
Reiche  allein  ungefähr  zwei  Fflnftel  des  ganzen  Bandes  zu,  wogegen 
Centraleuropa  auf  ca.  30  Seiten  abgethan  wird,  »in  Betracht  des 
unbedeutenden  Raumes,  welchen  es  auf  dem  Erdball  einnimmt,  wie 
auch  weil  es  dem  Leser  Bekanntes  bietete,  sagt  der  Verf.  im  Vor- 
worte. Dieser  »unbedeutende  Räume  hat  aber  fflr  den  deutschen  Le- 
ser ein  ganz  besonderes  Interesse ,  und  auf  die  Bekanntschaft  mit 
dem  Oegenstande  i^egt  sich  der  Verf. ,  und  das  in  einem  Wei4:e, 
wie  das  vorliegende  mit  Recht,  sonst  auch  nicht  zu  beziehen.  EHe 
Form  der  Darstellung  hat  sich  Hr.  W.  dadurch  sehr  erschwert,  daft 
er  auf  Originalmitteilungen  aus  Berichten  von  Reisenden  fast  voll- 
ständig verzichtet;  statt  dessen  ftthrt  er,  wo  immer  thunlicb,  hMhst 
instruktive  Vergleiche  zwischen  den  klimatischen  Verhältnissen  der 
verschiedenen  Oegenden  ein,  wobei  es  ihm  sehr  zu  statten  kommt, 
daft  er  einen  groften  Teil  der  betrachteten  Länder  durch  Augen- 
schein kennen  lernen  durfte. 

Als  besonders  beachtenswert  möchte  ich  die  Abschnitte  über  die 
Monsune  hervorheben,  denen  der  Verf.  aus  triftigen  Gründen  ein 
viel  ausgedehnteres  Gebiet  zuweist,  als  das  sonst  zu  ges^heheir 
pflegt.  —  Die  zahlreichen,  den  Elimaten  der  Erde  zur  Erläüterang 
beigegebenen  Diagramme  verdienen  wegen  ihrer  vortreffii<^heii  Ans* 
wähl  und  tibersichtlichen  Anordnung  ebensosehr  Lob  wie  wegen  der 
nwsterhaften  Zeichnung,  sie  erhöhen  den  Wert  des  Werkes  sehr. 

Qöttingen.  H.  Meyer. 


Für  die  B«d«ktioB  T«rMilwortUeli  x  Prof.  Dr.  BtekUl,  Direktor  der  CMtt.  gel.  Abs., 
Aieeieor  der  KdniglieheB  GesellBchaft  der  WiBMneehafkeB. 

ikmck  dgr  IHä$riek*§eh§n  ümi9,'Buekdrvdtirti  (Fr,  W,  KAmhitr), 


pn-iB 


681 


Göttingische 


gelehrte  Anzeigen 


anter  der  Anfeicht 


derKönigl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Nr.  18.  1.  September  1887. 


Preis  des  Jahrganges :  JL  24  (mit  den  »Nachrichten  d.  k.  0.  d.  Wise.« :  JL  27). 
Preis  der  einzelnen  Nummer  nach  Anzahl  der  Bogen:  der  Bogen  60  ^ 

lalttlt:   L  «gl  Hb  «hl,   FUlipp  Albert  Btepfto  btlTetiselur  Mlaktor  d«r  KAuU  ond  WiBsen- 
•chafton.     Yon  von  OoNMitteM.  —    Nordiskt  medicinakt  Arldv.    XYlII.     Von  Brntmemn. 

^iz  Eigenmiiohtiger  Abdruck  von  Artikeln  der  G8tt.  gel.  Anitigen  verboten.  = 

Luginbfthl,  Rudolph,  Philipp  Albert  Stapfer  helvetischer  Mi- 
nister der  E&nste  und  Wissenschaften  (17^—1840).  Ein  Lebens- 
und Kttlturbild.    Basel,  Verlag  von  C.  Detloff  1885. 

Das  Yorliegende  Bach  verdient  eine  BesprechnDg  in  den  GK^t- 
tiDgigcben  gelehrten  Anzeigen  nicht  nnr  aiiB  dem  Ornnde,  weil  es 
sieh  um  eine  mit  Fleift  bearbeitete  Biographie  eines  bedeutenden 
Mannes  handelt,  sondern  nameDtlieh  auch  deßhalb,  weil  der  Gelehrte, 
dessen  Leben  hier  geschildert  wird,  seine  hohe  Bildnng  groftenteils 
der  Universität  OOttingen  zn  verdanken  hatte. 

Im  Oktober  1789  ist  Stapfer  als  stndiosas  theologiae  in  Göt- 
tingen immatriknliert  worden,  wo  er  die  Kollegien  der  Theologen 
Michaelis,  Koppe,  des  Philologen  Heyne,  der  Historiker  Eichhorn, 
Spittler,  Meiners  and  Sehlözer,  des  Geographen  Forster  nnd  des 
Mathematikers  nnd  Physikers  Lichtenberg  (alle  Männer  von  earo- 
päischem  Ruf)  besachte.  Von  Meiners  and  Eichborn  namentlich  hat 
Slapfer  viele  Anregung  erhalten.  —  Zuerst  einige  Worte  Über  das 
Bach  und  dessen  Anlage  —  und  dann  ein  Mehreres  tiber  die  darin 
gesehilderte  Persönlichkeit. 

Vor  allem  sei  anerkMint,  daß  eine  fleißige,  auf  Quellen-Studium 
gegründete  Arbeit  vor  uns  liegt:  der  Verfasser  hat  das  Sohweize- 
rieebe  Bnndes- Archiv,  wie  die  Staats- Archive  von  Bern  und  Basel 
grändlieh  durchforscht  ind  auch  idie  zahlreichen  Privat-Korrespon- 
denaen  Stapfers  ndt  GMehrten  und  Staatsmännern  zu  Rate  gezogen. 

yi3    QM.  §•!.  Au.  1887.  Hr.  18.  47 


6^82  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  IS, 

Das  Buch  zerfällt  in  fttnf  Kapitel,  von  welchen  indessen  das 
dritte  und  vierte,  betitelt:  »Stapfer  als  Minister  der  Künste  and 
Wissenschaften  (1798— 1800)c  und  »Stapfer  als  Schweizerischer  Ge- 
sandter in  Paris  (1800— 1803)€,  obschon  nur  6  Jahre  von  Stapfers 
Leben  umfassend,  mehr  als  V»  T^^i^^  des  ganzes  Buches  einnehmen. 

Es  fehlt  dem  Buche  somit  an  innerer  Harmonie  oder  Symmetrie, 
und  der  Verfasser  darf  es  uns  daher  kaum  verfibeln,  wenn  wir,  sei- 
nem Beispiele  folgend,  uns  bei  der  Besprechung  seiner  Arbeit  darauf 
beschränken  das  vierte  Kapitel,  namentlich  so  weit  es  von  der  Wirk- 
samkeit Stapfers  als  helvetischer  Gesandter  in  Paris  handelt,  teils 
ergänzend,  teils  einige  thatsächliche  Irrtümer  berichtigend  etwas  näher 
zu  beleuchten 

Das  dritte  Kapitel  (Stapfer  als  Minister  der  Künste  und  Wissen- 
schaften [S.  46—352]),  welches  der  Verfasser  mit  Vorliebe  behandelt 
zu  haben  scheint,  werden  wir  in  unserer  Besprechung  ganz  bei  Seite 
lassen,  teils  weil  dasselbe  weit  über  den  Rahmen  einer  Biographie 
hinaus  reicht  und  eher  als  eine  Geschichte  des  Unterrichtswesens  in 
der  Schweiz  zur  Zeit  der  helvetischen  Republik  gelten  kann,  teils 
weil  an  die  unermüdliche  Thätigkeit  Stapfers  als  Minister  der  Künste 
und  Wissenschaften  sich  so  zu  sagen  keine  praktischen  Folgen  ge- 
knüpft haben.  Stapfer  hat  unzählige  Projekte  ausgearbeitet  über 
Gründung  von  Volksschulen  und  einer  eidgenössischen  Hochschule, 
über  Lehrer  -  Bildnngs  -  Anstalten  (Seminarien)  und  über  Gründung 
eines  helvetischen  .Volksblattes,  eines  Büreaas  für  Nationalkaltnr, 
einer  National-Bibliothek,  eines  Nationalmuseums  und  eines  National- 
gartens u.  s.  w.,  an  welche  Gründungen  alle  er  überschwengliche 
Hoffnungen  nach  seiner  Art  knüpfte ;  zur  Ausführung  aber  sind  diese 
Projecte  alle  nicht  gekommen  (qui  trop  embrasse  mal  itreint). 

Zur  Entschuldigung  dieses  Miserfolgs  kann  allerdings  angeführt 
werden ,  daß  während  der  ganzen  Zeit  von  Stapfers  Ministerium 
(1798 — 1800)  die  Schweiz  durch  eine  zahlreiche  französische  Armee 
besetzt  war,  die  im  Jahre  1799  auf  schweizerischem  Grund  und  Bo- 
den mit  Russen  und  Oesterreichern  schwere  Kämpfe  (Schlacht  bei  Zürich 
im  Sept.  1799)  zu  bestehn  hatten.  Unter  solchen  Verhältnissen  konn- 
ten die  Werke  des  Friedens  in  Helvetien  freilich  nicht  gedeihen. 
Der  Umstand  indessen,  daß  Stapfer  noch  weniger  gelungen  ist,  als 
anderen  Ministern,  obschon  das  Volk  besseren  Schuleinrichtnngen 
nicht  abgeneigt  war,  läßt  uns  vermuten,  daß  dem  »Zeug«  Stapfers, 
der  mehr  ein  Mann  des  Gedankens,  als  der  That  war,  etwas  »S tär ke- 
rn ehU  fehlte.  Der  Minister  der  Künste  und  Wissenschaften  konnte 
nämlich  nicht  zürnen,  und  nahm  es  daher  jeweilen  geduldig  bin, 
^enn  das  helvetische  Direktorium  oder  die  gesetzgebenden  Bäte  sein^ 


Luginbab],  Fbilipp  Albert  Stapfer  belvet.  Minister  d.  Künste  u.  Wissensch.    683 

bestgemeinten  nnd  woblttberdachten  Vorschläge  auf  dem  Gebiete  der 
Schale  nnd  der  Kirche  nnberttcksichtigt  ließen,  oder  gar  zurückwiesen. 
Denjenigen,  welche  sich  fttr  das  Erziehnngswesen  in  der  Schweiz  zur 
Zeit  der  helvetischen  Republik  interessieren,  empfehlen  wir  die  Bek- 
toratsrede,  welche  Dr.  Eduard  Herzog  am  15.  Novbr.  1884  anläßlich 
des  Stiftungsfestes  der  Berner  Hochschule  gehalten  hat.  Dieselbe 
ist  unter  dem  Titel :  »Ueber  Religionsfreiheit  in  der  helyetischen  Re- 
publik« bei  K.  J.  Wyß  in  Bern  1884  erschienen.  Dr.  Herzog  spricht 
mit  vieler  Anerkennung  von  Stapfer,  als  Kultusminister  namentlich, 
und  hat  ein  feines  Verständnis  für  dessen  ganzes  Wesen.  Rück- 
sichtlich  des  ersten  Abschnitts  dieses  III.  Kapitels  (S.  46  ff.),  wo  von 
einer  diplomatischen  Mission  gesprochen  wird,  welche  Stapfer  im 
April  1798  durch  die  provisorische  Regierung  von  Bern  als  Sekretär 
des  Bürgers  Friedrich  Lttthard  nach  Paris  anvertraut  worden  ist, 
erlauben  wir  uns  indessen  eine  thatsächliche  Berichtigung.  Lüthard 
und  Stapfer  sollten  einige  Erleichterungen  ftlr  den  Kanton  Bern  beim 
französischen  Direktorium  erbitten,  die  vergeblich  bei  den  Qeneralen 
Brune  und  Schauenburg,  die  seit  dem  5.  März  1798  Bern  mit  ihren 
Armeen  besetzt  hielten,  nachgesucht  worden  waren  und  welche  auch 
die  französischen  Regierungs-Kommissäre  Le  Carlier  und  Rapinat^) 
nicht  hatten  zugestehn  wollen.  Stapfer  war  damals  Professor  der 
Philologie  an  der  Akademie  in  Bern  ^)  Wenn  der  Biograph  Stapfers 
bei  diesem  Anlasse  (S.  47)  bemerkt,  Stapfer  habe ,  obschon  nun 
Sekretär  bei  dieser  Mission,  nach  den  Akten  zu  schließen,  die  Haupt- 
sache besorgt,  ja  er  sei  (S.  52)  das  Haupt  der  Deputation  gewesen, 
—  so  irrt  er  sich  vollständig. 

Der  alleinige  Unterhändler  des  berühmten  Vertrags 
vom  8.  Floral  an  6  (27.  April  1798)  war  Gottlieb  Abraham  Jenner, 
welcher  am  26.  März  1798  durch  General  Brune  in  Begleitung  seines 
Adjutanten  Capitaine  Guillemot  mit  den  bernischen  Wertschriften 
und  dem  sogenannten  »Schatzi-Buchec  nach  Paris  gesandt  worden 
war,  ohne  daß  er  von  Seiten  seiner  Landes-Regierung  irgend 
welchen  diplomatischen  Charakter  erhalten    hätte").      Dieses  erhellt 

1)  Der  Name  Rapinats  ist  in  der  Schweiz  durch  einen  Vers  verewigt  worden 
Derselbe  lautet: 

ün  hon  Suisse  qu'on  ruine 
Voudrait  que  Von  d^däM 
8%  Bapi/ncd  vieni  de  rapine 
Oü  rapine  de  Bapinat. 

2)  In  seiner  Inanguralrede  am  13.  Nov.  1792  hat  Stapfer  das  Studium  der 
Klassiker  in  fiberzeugender  Weise  empfohlen.  Dieselbe  ist  seinerzeit  gedruckt 
worden. 

8)  Brune  schrieb  am  5.  terminal  an  6  (26  März  1798)  an  das  französische 

47* 


684  Oött  gel.  Anz.  1887.  Kr.  18. 

dentiioh  Mm  dem  Schreiben ,  welcbee  Talleyraod  am  9.  Flor6al  aa 
6  aa  den  »Citoyen  Am£d6e  Jennerc  gerichtet  hatte,  also 
lautend:  »Je  n'ai  entenda  rien  changer  ii  ce  qni  a  ite  conyenn  dana 
la  conference  qoi  a  en  lien  entre  le  minietre  des  finances,  vous  et 
moi*).^  Ja  wir  dürfen,  gestützt  aof  Jenners  Memoiren,  beifügen,  daft 
Lüthard  and  Stapfer  den  Vertrag,  darcb  welchen  Wertschriften  im 
Betrag  von  beiläufig  12  Millionen  gegen  eine  Baarzahlong  von  4 
Millionen  Liyres  gerettet  worden  sind,  gar  nicht  kannten,  bevor  sie 
denselben  unterzeichneten,  und  daft  sie  eben  so  wenig  die  Absichten 
kannten,  welche  Jenner  rücksichtlich  der  dnrch  ihn  geretteten  und 
in  seinen  Händen  liegenden  Wertschriften  hegte.  Daft  aber  die  bei- 
den Abgesandten  der  provisorischen  Regierung  von  Bern  mit  den 
Verrichtungen  des  sie  in  ihren  Bestrebungen'  so  wirksam  unter- 
stützenden Jenner  wohl  zufrieden  waren,  erhellt  aus  d«n  Zeugnis, 
welches  Stapfer  am  9.  Florial  an  6  (28.  April  1798)  in  einem  Briefe 
an  seinen  Freund  Albert  Bengger,  Minister  des  Innern  der  helveti- 
schen Bepublik,  ausgestellt  hat,  und  welcher  lautet  (St  63):  »Mit 
Jenner  sind  wir  auierordcDtlich  zufrieden.  Er  ist  ein  impayabler 
Mann,  und  das  helvetische  Direktorium  könnte  unserem  Vaterlande 
keinen  wesentlicheren  Dienst  erweisen,  als  wenn  es  Jenner  zum 
Finanzminister  erhöbe.  Er  steht  mit  Bamel  besonders  gut  and  hat 
sich  durch  seine  Einsichten  und  sein  Benehmen  Achtung  erworben.€ 
Die  Macht  dieses  sonderbaren  nicht  accreditierten  Unterhändlers  be- 
stand in  den  Oeldmitteln,  über  welche  er  verfügte.  Der  Biograph 
Stapfers,  obschon  er  Jenner  (auf  S.  355)  ab  einen  Mann  von  grofter 
Begabung  und  politischem  Scharfblick  bezeichnet,  scheint  dennoeh 
dessen  Bedeutung  nicht  erkannt  zu  haben,  was  daraus  zu  sohlieften 
ist,  daß  er  ihn  als  den  Neffen  des  berühmten  Standes-Sekel* 
meisters  Beat  Ferdinand  Ludwig  von  Jenner  bezeichnet,  während  man 

Direktorium  (nehe^Beilage  B.  N.  66a  zamBeiielit  der  Mehrheit  der  Schatzgelder- 
KommiftsionI  S.  I2ß,  [Bero,  Stärapfliscbe  Baclidrackerei  1868.]):  Gitoyens  Direc- 
teors :  Je  vous  envoie  tous  les  titres  de  cr^aaces  que  j'ai  pu  me  procorer ;  ils  sont 
tr^8  considerables  et  tous  les  titres  formenton  ddpot  qae  je  fais  conduire  k  Paris» 
et  que  le  capitaine  Gaillemet  mon  aide  de  camp  est  charg^  de  surveiüer  et  de 
remettre  k  Paris,  entre  les  mains,  de  qui  vons  proposerez.  J'envMC  en  m6me 
tems  Pancien  trdsorier  oa  directeur  de  la  monnaie  de  Berne,  actaellement  com- 
missaire  des  guerres  g^n^ral  da  Canton  de  Berne.  II  se  nomme  Jenner. 
n  pourra  vons  donner  tons  les  renseignemeats  seit  sur  les  cr^ances  et  les 
moyens  de  les  r^aliser,  soit  sur  le  numeraire  quidxistait  k  la  monnaye  ou  dans 
le  tr^sor. 

1)  Siehe  Beilage  a,  S.  160  zn  den  Verhandlongen  zwischen  der  Schweiz  und 
Frankreich  betreffend  Eriegskosten  von  Dr.  v.  Qonzenbach,  abgedrackt  im  ArchiT 
der  Schweizerischen  gesehichtsförschendea  Gesellsohaft,  Bd.  X2X  1874* 


LuginbOhl ,  Philipp  Albert  Stapfer  helyet  Minister  d.  Künste  u.  Wissensch.    685 

diesen  letztem  eber  den  Oheim  des  bertthmten  Neffen  Gottlieb  Abra- 
ham von  Jenner  nennen  könnte.  —  Dieser  letztere,  Oberwardein 
und  Oberkriegskommissär  im  Jahre  1798,  helvetischer  Gesandter  in 
Paris  im  Jahre  1800,  helvetiseher  Staatssekretär  der  auswärtigen 
Angelegenheiten  anno  1802,  Mitglied  der  bernisehen  Regierung  1803 
nnd  Regierungs-Statthalter  in  Pruntrut  im  Jahre  1815,  war  nämlich 
yiel  berühmter  als  sein  Oheim,  der  Standes  -  Sekelmeister.  Gottlieb 
Abraham  Jenner  war  schwerhörig  und  in  seiner  äußern  Erscheinung 
schwerfällig,  so  daß  die  mit  ihm  unterhandelnden  Franzosen  eher 
glaubten,  einen  etwas  unbeholfenen,  als  einen  äusserst  schlauen  Un- 
terhändler vor  sich  zu  haben  ^). 

Das  interessanteste  und  verdienstlichste  Kapitel  des  vorliegenden 
Buches  ist  das  vierte  mit  der  Ueberschrift :  Stapfer  als  Schweizeri- 
scher Gesandter  in  Paris  1800—1 803.  Das  interessanteste  aus 
dem  Grunde,  weil  Stapfer  während  dieser  Episode  seines  Lebens 
aaf  die  große  europäische  Btthne  getreten  und  mit  welthistorischen 
Persönlichkeiten,  wie  mit  dem  ersten  Konsul  Bonaparte  und  dessen  Hini- 
stern, in  Berührung  gekommen  ist;  das  verdienstlichste  und 
fttr  die  Schweizerische  Geschichtschreibnng  wichtigste  aber  deß- 
halb,  weil  der  Verfasser  in  diesem  Kapitel  zeitgenössische  Korrespon- 
denzen verwertet  hat,  welche  bis  dahin  unbekannt  geblieben  waren  *). 
Durch  diese  Korrespondenzen  wird  ein  neues  Licht  auf  wichtige 
Zeitereignisse  geworfen,  auch  sind  dieselben  fttr  eine  richtige  Beur- 
teilung Stapfers  von  großem  Werte.  Wir  rechnen  dazu  namentlich 
die  Korrespondenz  Stapfers  mit  dem  zttrcherischen  Staats -Rate  Dr. 
Paul  Usteri  und  mit  Friedrich  Caesar  de  Laharpe,  dem  bertthmten 
Erzieher  Kaiser  Alexanders  L  von  Rußland,  der  in  den  Jahren 
1798—1800  Mitglied  des  helvetischen  Vollziehungs-Direktoriums  ge- 
wesen ist.  Bei  Durchforschung  der  offiziellen  Korrespondenz  Stapfers 
mit  dem  helvetischen  Yollziehungs-Direktorium  und  bei  deren  Ver- 


1)  Erst  nachdem  die  französischen  Regierungs-Eommissäre  in  Helvetien  (Le 
Garlier  und  Rapinat)  darauf  drangen,  den  Vertrag  vom  8.  Formal  an  6  als  einen 
för  Franirreich  sehr  ungünstigen  nicht  zu  genehmigen,  erkannte  Talleyrand,  dessen 
Willfährigkeit  übrigens  unter  Beistimmung  Lüthards  und  Stapfers  durch  Jenner 
mittelst  einer  Million  erkauft  worden  war,  vielleicht  zu  nachgiebig  gewesen  zu 
sein  und  äuSerte  bei  diesem  Anlaß  gegen  Jenner :  »Je  donnerais  un  million  pour 
avoir  l'air  aussi  niais  que  yous.« 

2)  Aus  dem  schriftlichen  Nachlasse  P.  A.  Stapfers  sind  dem  Verfasser  durch 
den  Sohn  Stapfers  Herrn  Albert  Stapfer  160  Briefe  an  Friedrich  Caesar  de  La- 
harpes  aus  den  Jahren  1800—1837  mitgeteilt  worden,  und  ebenso  hat  alt  Re* 
gierungsrat  Hagenbuch  in  Zürich  dem  Verfasser  157  Briefe  Stapfers  an  P.  Usteri 
aus  den  Jakren  1800-1831  zur  Benutzung  überlassen. 


686  Gott.  gel.  Adz.  1887.  Nr.  18. 

gleicbuDg  mit  den  Korrespondenzen  der  Vorgänger  und  der  Nach* 
folger  Stapfers  auf  dem  Gesandtschaftsposten  in  Paris ,  ist  der  Ver- 
fasser za  der  Ansieht  gelangt.  Stapfer  sei  ein  gewandter  Diplomat 

gewesen. 

Dies  ist  ein  Irrtam;  Stapfer  schrieb  allerdings  vortrefiTlichi  aber 
zum  Diplomaten  fehlten  ihm  Kaltblütigkeit  und  rahiges  Urteil. 
Stapfer  war  nämlich  sehr  impressionabel  and  ängstlich  ^) ;  flberdieft 
scheint  ihm  alle  and  jede  Menschenkenntnis  abgegangen  za  sein. 
Dieß  letztere  glaaben  wir  nicht  schlagender  als  darch  Hinweisang 
aaf  den  uneigenntttzigen  Vorschlag  darthan  za  können,  welchen 
Stapfer  für  die  Besetzung  des  Gesandtschafts-Postens  in  Paris  dem 
helvetischen  Direktorium  gemacht  hat,  als  diese  Behörde  ihn  zum 
Gesandten  ernannt  hatte.  Stapfer  bat  nämlich  dem  helvetischen 
VoUziehangs-Direktorium  geraten ,  den  Banqaier  Badolf  Emmanuel 
von  Haller  wegen  seiner  nahen  Beziehangen  zum  ersten  Konsul  Bo- 
naparte zum  Gesandten  in  Paris  zu  ernennen.  Unbegreiflicher  Weise 
hat  der  Verfasser  diesen  Bndolph  Emmanuel  v.  Haller,  Banquier 
in  Paris,  mit  dem  Professor  Karl  Ludwig  v.  Haller  dem  sogenannten 
»Bestaurator  der  Staats-Wissenschaften  €  verwechselt^  Ersterer,  der 
zweite  Sohn  des  großen  Haller,  Professor  in  Göttingen,  geboren  1747, 
gestorben  1833,  war  Banquier  in  Paris  und  hatte  1793  den  jttngern 
Bobespierre  als  General-Schatzmeister  zur  Alpenarmee  und  1796  den 
General  Bonaparte  als  Eintreiber  der  Kontributionen  (administratear 
des  finances)  zur  italienischen  Armee  begleitet  Von  dieser  Zeit  her 
datierte  die  exceptionelle  Stellung,  welche  Haller  dem  ersten  Konsul 

1)  Talleyrand  hielt  ihm  wiederholt  seine Aengstlichkeit  vor;  so  sagte  er  ihm 
am  1.  März  1802  (siehe  Bonaparte  Talleyrand  et  Stapfer  1800—1808  par  Albert 
Jahn,  Dr.  phil.,  Zürich,  Orell  Füssli  1869,  S.  100) :  »Bah,  toiit  $a  sont  des  b^tises, 
comment  pouvez-vous  y  mettre  quelque  importance,  vou^  etes  constamment  alarme 
et  voas  affligez  sans  ndcdssit^ ;  transqoillisez-voas,  je  vons  en  priec.  Siehe  ibid.  S.  168. 
Die  Depesche  Stapfers  8.  Juli  1802,  wo  er  schreibt:  »Le  ministre  a  ri  de  nos 
craintes  et  m'a  dit:  ,Cdlmez,  vous  done;  je  n^ai  jamais  vupersoime  cPaussiinguitt 
que  vaus,* 

2)  Um  den  Verwandtschaftsgrad  zwischen  diesen  beiden  Haller  aofiuklftren, 
sind  wir  genötigt,  hier  eine  kurze  genealogische  Notiz  über  die  Descendenz  des 
großen  Haller  einzufügen.  Professor  Albrecht  von  Haller  inQöttingen  (der  groie 
Haller  genannt)  hatte  vier  Söhne;  der  älteste  geboren  1735,  gestorben  1786,  ist 
der  Verfasser  der  Bibliothek  Schweizer  Geschichte,  dessen  Sohn  Karl  Ludwig  ron 
Haller,  geboren  1768,  gestorben  1864,  war  Professor  an  der  Akademie  in  Bern  und  Ver- 
fasser der  »Restauration  der  Staatswissenschaftenc ;  derselbe  ist  im  Jahre  1820 
zur  katholischen  Religion  übergetreten.  Dieser  Professor  Karl  Ludwig  Haller 
ist  nie  mit  dem  ersten  Konsul  Bonaparte  in  nähere  Berührung  gekommen.  Der 
zweite  Sohn  des  groEen  Haller,  Banquier  in  Paris,  hat  im  Jahre  1796  den  Gene- 
ral Bonaparte  als  »administrateur  des  finances«  nach  Italien  begleitet. 


Laglnbahl,  Philipp  Albert  Stapfer  helret.  Minister  d.  Künste  u.  Wissenscb.    687 

gegenttber  einnahm,  deren  Stapfer  in  seiner  Depesche  vom  28.  Sept. 
1800  aus  helvetische  Direktorium  Erwähnung  thnt,  and  welche  ihn 
so  sehr  gehlendet  hatte  ^).  Die  Beziehnngen  zwischen  dem  Generale 
Bonaparte  und  seinem  »administratenr  des  finances«  waren  indessen 
mitunter  sehr  gespannte.  So  hatte  BonapartQ  am  19.  Novbr.  1796  an 
Qeneral  Clarke  geschrieben:  »Je  vous  prie  d'ordonner  au  citoyen 
Haller,  fripon  qui  n'est  venu  dans  ce  pays  que  pour  voler,  et  qui 
s'est  ärigä  »Intendant  des  finances,  dans  les  pays  conquis«,  qu'il  rende 
compte.  Clarke  aber  schrieb  am  7.  Dezember  1796  ans  franz()sische 
Direktorium:  »Vous  vonlez  savoir  en  qnelles  mains  reposentles  int6- 
r6ts  de  la  France  en  Italie,  quelle  est  la  cheville  onvriöre,  le  facto- 
tum de  vos  commissaires,  qui  veulent  administrer^  et  qui  n'y  enten- 
dent  rien !  C'est  Haller,  jadis  Banquier,  homme  tar6  dans  Topinion, 
et  pour  lequel  vous  aviez  marqu^  de  la  repugnance  au  citoyen  Sali- 
cetti,  il  est  plus  commissaire  du  gouvernement,  que  ceux  qui  sont 
rev6tus  de  ce  titre.  On  dit  ici  publiquement  qu'il  revolt  des  sommes 
pour  chaque  ordonnance  qu'il  fait  signer  Garreau.  Le  G6näral  Bona- 
parte a  6ii  sur  le  point  de  faire  arreter  Haller ,  mais  il  sait  tous 
nos  secrets,  et  la  confiance  de  noscommissaires  pour  lui  est  illimitie.« 
Später  scheint  allerdings  Bonaparte  sein  Urteil  ttber  Haller  geändert 
zu  haben.  Am  16.  Mai  1800  ist  der  erste  Konsul  nämlich  im  Hause 
Hallers  in  Lausanne  abgestiegen,  als  er  ttber  den  groBen  St.  Bern- 
hard nach  Marengo  eilte.  Die  Oflfentliche  Meinung  ttber  Haller,  von 
welchem  Bonaparte  einst  gesagt  hatte,  er  wäre  fähig  dem  Papst  den 
Fischerring  von  der  Hand  zu  ziehen  und  denselben  als  National- 
eigentum ^u  erklären,  ist  durch  den  Dichter  Delille  fixiert  worden'). 

1)  Siehe  Jahn  Ronaparte  Tallejrrard  et  Stapfer  S.  12.     Stapfer  schrieb  am 

28.  Sept.  1800  deni  Minister  Bögos : »Mais  ce  qui  est  beaucoup  plus  que  tout 

cela,  et  absolument  sans  priz.  Haller  a  son  franc  parier  avec  le  Premier 
Consul.  II  est  constant  que  Bonaparte  s'ouvre  k  lui  plus  qu'&  aucun  autre 
des  hahitn^s  de  son  palais;  que  quand  Haller  entre,  il  quitte  toutes  les  conver- 
sations pour  la  sienne,  et  que  notre  compatriote  a  un  plus  libre  accds  aupr^s 
de  Bonaparte  que  Roederer  et  Yalney,  qui  passent  pour  avoir,  apr^s  Joseph 
Bonaparte,  le  plus  d'ascendant  sur  le  premier  Consul.  Je  r^p^te  que  cet  avan- 
tage  est  inappreciable  ....  parceque  Bonaparte  est  toutc 

2)  In  einem  Gedicht  über  den  groften  Haller  hatte  Delille  geschrieben: 

Haller  chantre  divin  frais  camme  vos  campagnes 
Dux  comme  voa  vällons,  fier  camme  voa  mcntagnes 
Et  qui  ne  prMt  pas,  que  son  hymen  un  jour 
Du  cygne  harmonieux  ferait  naitre  un  vautour. 
Diese  letztere  Anspielung  bezog  sich  wohl  auf  einen  Erlafi  Hallers  vom  1.  April 
1797  welcher  also  lautete :  Toutes  les  propiHis  du  Saint  Phre,  jusqu'ä  sa  cassette 
privSe  ses  midailles,  ses  livres,  ses  manuscripts,  ses  collections  de  tout  genre  seront 
vendues,* 


688  Gott.  gel.  Anc.  1887.  Nr.  18. 

Dai  Stapfer  diesen  Mann  im  September  1800  dem  hetreliflehen  Voll- 
ziehangsrat  zum  Gesandten  in  Paris  Torsehlagen  konnte ,  sengt  doeh 
wohl  fttr  einen  gänzlieben  Mangel  an  Mensehenkenntnis. 

Viel  naefateiligere  Folgen  als  an  diesen  Mangel  an  Mensehen- 
kenntnis  knttpften  sieb  wäbrend  der  Zeit,  daft  Stapfer  den  Gesandt- 
sebaftsposten  in  Paris  einnabm,  an  den  Mangel  an  rnbigem  Urteil, 
der  Stapfer  trotz  seiner  groften  Intelligenz  eigen  war,  nnd  dnreh 
welcben  er  seine  Vollmacbtgeber  nnwillkUrlieb  bänfig  irre  geftbrt 
nnd  sieb  selbst  nnd  seinen  politiseben  Freunden  bittere  Enttäosebnngen 
bereitet  bat  —  Stapfer  war  nämlieb  ein  Optimist,  der  stets  an  die 
E^fllllnng  dessen  glaubte,  was  er  boflPte.  Trotz  aller  ibm  dareb  den 
ersten  Eonsal  seit  seiner  Antrittsaadienz  im  Jabre  1800  nnnnter- 
brocben  gemaebten  Einwendungen  gegen  das  Scbweizeriscbe  Einbeita- 
system  bat  Stapfer  stets  an  der  Ueberzeugung  festgebalten,  daft  die 
französiscbe  Regierung  dasselbe  in  der  Sebweiz  aufreebterbalten 
werde^y  und  diese  Znversiebt  in  unzäbligen  D^>escben  der  belvetiseben 
Regierung  gegenttber  ausgesprocben.  Seine  politiseben  Freunde  — 
die  Unitarier  -^  lud  er  im  Jabre  1802  dringend  ein,  zur  Consulta 
naeh  Paris  zu  kommen,  indem  davon  ibr  Sieg  abbängen  werde*). 
Die  Foederalisten  wollte  er  indessen  aus  dem  Grunde  nicbt  von  der 
Teilnabme  an  der  Consulta  abhalten,  damit  dieselben  nacbtrftg- 
lieh  üiebt  erklären  könnten,  sie  seien  unterlegen,  weil  ibre  Ansieht 
niebt  vertreten  gewesen  sei  *). 

Aber  abgesehen  von  dem  Mangel  an  gewissen  Eigenschaften,  die  dem 

1)  Siehe  Jahn,  Bonaparte  Talleyrand  et  Stapfer:  a.  Depeache  Stapfera  vom 
7.  März  1801  (S.  38)  »La  question  de  l'uniti  ne  daU  pas  meme  etre  rh>oquie  en 
doute<.  b.  Depesche  vom  6.  M&rz  1801  (S.  89)  >  Quant  au  Systeme  de  l'uniti  ..  ,\ 
ü  est  Habli  ici  par  nos  soins  dans  Fopinion  des  hcmmes  d^Etat  les  pius  edot- 
r^<;  c.  Depesche  vom  7.  März  1801  (S.  40)  »Jai  eu  avec  Talleyrand  une  con^otr- 
sation  saHsfaisante su^r  la  question  de  l* unite*  \  d)  Depesche  vom  4.  April  1801 
(S.  50)  >  Talleyrand  me  repondit  trhs  cathigoriquement  que  l'uniti  aeroit  une 
des  bases  que  le  premier  Consul  approuverait*',  e.  ebenda  (S.  218),  Depesche  vom 
9.  Okt.  1802  *Le  gouvemement  franQois  ne  peut  ni  ne  veut  souffrir  le  retaH^Ksse- 
ment  de  Vanden  rigime  en  Suisse*  \  f.  ebenda  (S.  288).  Ganz  gleich  sprach  sich 
Stapfer  noch  am  9.  Dez.  1802  aus. 

2)  Am  2.  u.  9.  Oct.  1802  schrieb  Stapfer  an  Rengger:  »Es  ist  höchst  wich- 
tig, daB  aufgeklärte  f&hige  rechtgesinute  Männer  sich  nicht  weigern  hierher  zn 
kommenc.  In  ähnlichem  Sinne  hat  er  an  Usteri  geschrieben,  der  am  10.  Kovbr. 
zu  kommen  versprach  (8.  425). 

8)  Am  18.  Novbr,  1802  (siehe  Jahn  S.  219)  schrieb  SUpfer:  Le  citayen 
TaUeyrand  vous  a  demandi  si  Mr  de  Mülinen  viwdraüt  c^est  une  MOut^eUe  preune 
que  le  gouvememmt  frangais  disire  beaucoup  de  voir  au  congrhs  des  odMnns 
de  Vanden  rigime,  aßn  que  ce  parti  ne  puisse  pas  dans  la  suiU  se  pHaindre  de 
n'avoir  pas  eu  des  reprisentants  ä  Faris, 


Lttginbüh],  Philipp  Albert  Stapfer  helret.  Minister  d.  Künste  n.  Wissensch.    689 

Diplomaten  unentbehrlich  sind,  hatte  Stapfer  überdies  Gewohnheiten, 
die  für  den  Diplomaten  gefährlich  werden  können.  Wir  zählen  da- 
hin die  Gewohnheit  viel  zu  schreiben;  das  viele  Schreiben  war 
doppelt  gefährlich  ftlr  einen  Mann,  der  das  Bedttrfnis  hatte,  sich  beim 
Schreiben  denjenigen,  an  welche  seine  Briefe  gerichtet  waren,  mög- 
liehst zu  assimilieren.  Diplomaten  sind  in  der  Regel  im  Schreiben 
vorsichtig  —  in  der  Erinnernng ,  daß  „scripta  manent"  *).  Zu  die- 
sen vorsichtigen  Diplomaten  gehörte  Stapfer  aber  nicht,  er  schrieb 
nicht  nur  sehr  viel ,  sondern  er  trachtete  auch  jeweilen  den  Ton  zu 
treffen ,  der  seinem  Korrespondenten  angenehm  sein  konnte.  Daher 
schrieb  er  an  seine  verschiedenen  Korrespondenten  über  denselben 
Gegenstand  sehr  verschieden.  Wie  weit  diese  Verschiedenheit  gehn 
konnte,  soll  hier  an  zwei  Beispielen  gezeigt  werden.  In  Privat- 
Briefen  urteilte  Stapfer  zuweilen  so  hart  ttber  Talleyrand,  daß 
der  Herausgeber  vom  Briefwechsel  Renggers  Anstand  nahm,  ein- 
zelne Briefe  zu  pnblicieren.  Dies  hinderte  Stapfer  aber  nicht  am  13. 
April  1802')  an  den  Minister  direkt  zu  schreiben  wie  folgt:  »Je  me 
filiciterai,  citoyen  ministre,  et  m'  honorerai  toute  ma  vie,  d'avoir  6t6 
en  rapports  avec  vous ;  vous  qui  avez  porta  les  Inmiires  et  Turbanitö 
de  Tancien  regime  dans  le  nouveau,  vous  qui  avez  prouvä,  que  tons 
les  rteultats  du  perfectionnement  social  et  la  culture  des  premiers 
rangs  de  la  society  pouvaient  s'allier  parfaitement  k  des  principes 
populaires,  principes  qui  aux  ämes  faibles  avaient  d'abord  fait 
craindre  le  döbordement  de  la  rusticity,  la  ruine  des  arts,  et  la  dis- 
parition  des  fieurs  de  la  civilisation  sous  le  souffle  barbare,  d'un  nou- 
veau genre  de  fanatisme.c  Am  6.  Mai  1801  hat  Stapfer,  nachdem 
er  an  üsteri  in  Ztlrich  (welcher  von  allen  seinen  Schweizer  Korre- 
spondenten der  leidenschaftlichste  war)  über  eine  Audienz  Bericht 
erstattet ,  die  er  samt  Glayf e  in  Malmaison  beim  ersten  Konsul  hatte, 
welchen  Usteri  den  »sterblichen  Gott«  zu  nennen  pflegte,  und  dann 
wörtlich  beigefügt  (siehe  S.  369):  »Glauben  sie  wohl  im  Ernste,  daß 
Bonaparte,  wenn  wir  ihn  beim  Wort  genommen  hätten ,  sein  in  der 
Hitze  und  ohne  Ueberlegung  gethanes  Anerbieten  (Zurtlckztehung  der 
Trnppen)  nicht  sogleich  zurückgenommen  oder  auf  gut  korsikaniscb 
modificiert  hätte?  Er  selbst  ist  Verfasser  des  ersten  monstruosen 
Entwurfs  und  bat  sich  in  den  Kopf  gesetzt  die  Hauptidee  desselben 
zu  realisieren.  Ueberhapt  müssen  Sie  wissen,  mein  verehrungswfir- 
diger  Freund,  daß  der  Kerl  toll  ist,  daß  er  sehr  oft  unbedacht- 
sam spricht  und  solche  Aeußerungen   wie  jene  in  seinem  Munde  so 

1)  Siehe  Leben  und  Briefirechsel  von  Albrecht  Rengger  von  Ferdinand  Wydler. 
Zarich  1847.    Torrede  S.  IV. 

2)  Siehe  M^anges  de  Stapfer  publik  par  Yinet  Tome  I ,   page  LIX— -LXIV. 


690  Gott.  gel.  Ads.  1887.  Nr.  18. 

gat  wie  nichts  sind.  Hingegen  besteht  er  mit  rasender  Hartnäckigkeit 
aaf  vorgefaßten  Ideen,  zn  diesen  gehört  nun  anstreitig  der  Foedera- 
lismas  in  der  Schweizc  u.  s.  w.t  Am  13.  April  1802  dagegen  schrieb 
Stapfer  über  denselben  ersten  Eonsal  Bonaparte  an  Talleyrand  (siehe 
S.  410):  »La  gloire  da  premier  Gonsal  rempiit  le  globe!  Depais  les 
grands  hommes  de  Tantiquite,  il  est  le  premier  aoqael  on  poisse  ap- 
pliquer  ce  qae  le  Gonsal  Romain  a  dit  de  denx  de  ses  plos  illostres 
contemporains :  Tanta  est  eorum  gloria,  at  coelo  vix  capi  posse  tI- 
deatur.c 

Noch  einer  anderen  für  einen  Diplomaten  gefährlicheren  Gre- 
wohnheit  Stapfers  haben  wir  za  gedenken,  welche  ihm  viel  Leid 
bereitet  hat,  derjenigen  nämlich,  gleich  unter  dem  ersten  Eindrack  za 
schreiben,  was  bei  so  großer  Sensibilität,  wie  sie  Stapfer  eigen  war, 
fUr  ihn  doppelt  gefährlich  werden  maßte.  Eine  solche  Eile  in  Be- 
antwortang  einer  Note  hatte  Stapfen  z.  B.  am  27.  März  1802  be- 
thätigt,  als  er  auf  die  Mitteilung  Talleyrands  vom  26.  März  1802, 
dahin  gehend,  daß  der  erste  Konsul  das  Wallis,  zwar  als  »anab- 
hängiges Land«,  aber  nicht  als  Glie  d  der  Schweiz  aner- 
kennen werde,  sofort  von  sich  ans  antwortete  und  dabei  bemerkte: 
»Je  manquerais  k  tons  mes  devoirs,  si  j'attendais  de  noavelles  in- 
structions de  mon  gouvernement,  pour  r^pondre  k  la  lettre  que  vons 
m'avez  fait  Thonneur  de  m'adresser ,  sous  date  du  4  germinal 
an  10.«  Diese  Einleitung  kann  gleichsam  als  eine  Illastration  des 
Bates  gelten,  welchen  Talleyrand  seinen  Diplomaten  mit  auf  den 
Weg  zu  geben  pflegte,  indem  er  denselben  »avant  tout  pas  trop  de 
z61e«  empfahl.  Auch  ist  die  Strafe  für  diesen  zu  großen  Eifer  nicht 
ausgeblieben ;  am  12.  April  meldete  Talleyrand  dem  helvetischen 
Gesandten,  der  erste  Konsul  fühle  sich  durch  sein  letztes  Schreiben 
persönlich  verletzt  und  betrachte  es  als  eine  Heransforderung  von 
seiner  Seite,  die  keinen  andern  Zweck  gehabt  habe,  als 
sich  persönlich  bei  der  Majorität  des  Senats  eine 
günstige  Stel  lang  zu  machen.  »Es  war  unnötig, c  fogt 
Talleyrand  bei,  »von  Ihnen  aus  mit  solcher  Bitterkeit  zu  antwor- 
ten. Sie  hatten  mein  Schreiben  Ihrer  Begierung  mit- 
zuteilen und  deren  Befehle  zu  gewärtigen.« 

Noch  haben  wir  einen  andern  Vorwurf  zn  berühren,  welcher 
Stapfer,  als  Gesandten  in  Paris,  gemacht  worden  ist,  zumal  die  Ver- 
teidigung ,  die  sein  Biograph  diesfalls  in  der  Note  zu  S.  398  ver- 
sucht hat,  kaum  als  eine  befriedigende  angesehen  werden  kann. 
Professor  Friedrich  von  Wyß^  hat  nämlich  in  seinem  kürzlich  heraas- 
gegebenen  »Leben  der  beiden  zürcherischen  Bürgermeister  David  voo 


Laginbü>\  Philipp  Albert  Stapfer  helvet.  Minister  d.  Künste  u.  Wissensch.    691 

Wyß  *)<  darauf  aufmerksam  gemacht,  daß  Stapfer,  der  in  seinem 
offi  ei  eilen  Schreiben  die  Veränderung  vom  28.  Oktober  1801 
beglückwünscht,  am  6.  Dezbr.  gl.  Jahres  seinem  Freunde 
Albrecht  Rengger  in  feindlichem  Sinne  sowohl  über  den  28.  Oktbr. 
als  über  den  ersten  Landamann  Aloys  v.  Reding  geschrieben  hatte. 
Der  Biograph  Stapfers  glaubt  nun  diesen  letztern  gegen  den  Vor- 
wurf der  Doppelzüngigkeit,  den  Wyß  zwar  nicht  ausgesprochen,  wohl 
aber  angedeutet  bat,  dadurch  zu  verteidigen  *) ,  [daß  Stapfer  vom 
3.  Nov.  bis  6.  Dez.  durch  die  Ereignisse,  namentlich  durch  die  am 
21.  Novbr.  getroffenen  einseitigen  Wahlen  in  den  kleinen  Rat,  vom 
Gedanken  und  der  Hoffnung,  daß  die  neue  Regierung  eine  Fusion 
aller  Parteien  anstrebe,  abgebracht  und  vom  diametralen  Gegenteil 
überzeugt  worden  sei.  Wenn  man  nun  seine  Note  vom  1.  Dez.,  in 
der  er  von  dem  schlimmen  Eindrucke  spricht,  den  jene  Wahlen  und  die 
Absetzungen  in  Frankreich  hervorgerufen,  mit  dem  genannten  Briefe 
vergleiche,  wo  er  eine  Gegenrevolution  in  Redings  Abwesenheit  an- 
rätb,  so  müsse  der  Vorwurf  der  Doppelzüngigkeit 
fallen.  Auch  in  Bezug  auf  das  Verhältnis  Stapfers  zu  Reding 
kann,  nach  der  Ansicht  des  Biographen,  Stapfer  auch  nicht  im 
Geringsten  ein  Vorwurf  treffen,  indem  da  wo  er  in  seinen 
officiellen  Schreiben  Reding  lobe,  ja  bewundere,  dieß  keine  Ver- 
stellung, sondern  Ausdruck  seiner  innern  Ueberzeugung  sei,  während 
er  am  28.' Juni  1802  an  seinen  Gesinnungsgenossen  Müller-Friedberg 
dann  geschrieben  habe :  » J'avone  que  je  m'^tais  entiörement  tromp6 
snr  son  compte  (de  Reding).  Je  lui  ai  suppose  plus  de  moyens,  et 
plus  de  vues  liberales  qu'il  n'en  a  d6veloppä.<  —  Zu  besserem  Ver 
ständnis  wollen  wir  nun  zunächst  anfahren,  worin  der  Staatsstreich 
vom  28.  Okt.  1801  bestand,  und  sodann  durch  wörtliche  Auszüge  aus 
den  Depeschen  Stapfers,  welche  wir  um  allen  Irrtum  zu  vermeiden 
in  der  Ursprache  einrücken,  den  Anteil  auszumitteln  trachten,  wel- 
chen S tapfer  selbst  an  diesem  Staatsstreiche  vom  28.  Okt.  1801  ge- 
nommen hat.  Dem  Leser  wollen  wir  es  dann  überlassen,  für  das 
Benehmen  Stapfers  einen  Namen  zu  finden.  Auch  über  die  Persön- 
keii  Aloys  von  Redings  werden  wir  einige  aufklärende  Notizen  bei- 
fügen. Wir  zögen  es  bei  weitem  vor,  einem  Manne  wie  Stapfer 
gegenüber,  den  am  Schlüsse  seines  Lebens  an  der  Spitze  der  Huge- 
notten in  Frankreich  beinahe  ein  Heiligenschein  umgab'),  der  Vor- 

1)  Siehe  Lehen  der  beiden  zarcherischen  Bürgermeister  David  v.  WyS.  Zürich, 
S.  Höhr  1884,  Bd.  I  S.  864. 

2)  Siehe  Phil.  Alb.  Stapfer  von  Rudolph  Luginbühl  S.  398  Note. 

8)  Einer  der  tiefsten  Denker,  welche  die  Schweiz  hervorgebracht,  Alexandre 
Vinet,  betrachtete  sich  selbst  gleichsam  als  ein  Pfropfreis  vom  Baume  Stapfers« 


692  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  18. 

Bohrift  >de  mortals  nihil  nisi  benec  za  folgen,  wenn  nicht  das  be- 
zttglicbe  Auftreten  Stapfers  bereits  der  Geschichtschreibang  anhebn 
gefallen  wäre.  Unter  solchen  Umständen  scheint  es  Pflicht  zu  sein. 
Stapfer  selbst  sprechen  za  lassen  ttber  den  Staatsstreich  vom  28. 
Okt.  1801  sowohl  als  ttber  Reding,  da  zwischen  diesen  letztern  and  deooi 
Datom  des  28.  Okt.  1801  eine  nnaaflösliche  Wechselwirkang  be- 
steht. Gegenüber  der  vom  Biographen  versachten  Verteidigang  dee 
Widersprachs  zwischen  der  officiellen  Korrespondenz  Stapfers  und 
seinen  Privatbriefen  rttcksichtlich  des  28.  Okt.  1801  und  Aloys  von 
Redings  werden  wir  sodann  eine  andere  Erklärung  versuchen. 

1)  Welches  Ereignis  in  dem  kurzen  Leben  der  helvetischen  Re- 
publik bezeichnet  man  mit  seinem  Datum  vom  28.  Okt  1801  ? 

Anfang  Mai  1801  hatte  Alb.  Rengger  den  von  Bonaparte  den 
Gesandten  Glayre  und  Stapfer  ttbergebeneu  sogenannten  Entworf 
von  Malmaison  nach  Bern  gebracht.  Dieser  Entwurf  ist  am  29.  Mai 
von  den  gesetzgebenden  Räten  angenommen  worden,  und  wird  da- 
her häufig  als  die  Verfassang  vom  29.  Mai  bezeichnet.  Am  1.  Aug. 
1801  wählten  die  in  dieser  Verfassang  vorgesehenen  Kantonal-Tag- 
Satzungen  ihre  Abgeordneten  an  die  helvetische  Tagsatzung,  die 
ihrerseits  am  7.  Sept.  1801  in  Bern  zusammentrat  Die  helvetische 
Tagsatzung  wollte  diejenigen  Kantons-Abgeordneten  nicht  anerken- 
nen, deren  Vollmachtgeber  nicht  den  Eid  auf  die  Verfassang  vom 
29.  Mai  1801  geleistet  hatten,  was  den  Ausschluß  der  Abgeordneten 
von  Uri  (MttUer)  und  von  Schwyz  (Aloys  von  Reding)  zur  Folge 
hatte.  Der  Deputierte  von  Unterwaiden  von  Fltte  nahm  sodann  freiwillig 
auch  seinen  Austritt,  um  sich  von  den  beiden  anderen  Urkantonen  nicht 
zu  trennen ,  obschon  in  Unterwaiden  der  Eid  geleistet  worden  war. 
Dem  Austritt  der  Abgeordneten  von  Uri,  Schwyz  und  Unter walden 
folgte  bald  derjenige  der  13  anderen  foederalistisch  gesinnten  Ab- 
geordneten. Die  helvetische  Tagsatzung  ließ  sich  indessen  dadurch 
nicht  stören  und  brachte  am  24.  Okt  1801  ihre  Beratungen  ttber  den 
Verfassungsentwurf  zum  Abschlüsse. 

2)  Welches  war  nun  die  Stellung,  welche  Stapfer  als  Gesandter 
den  Beratungen  der  helvetischen  Tagsatzung  gegenüber  eingenommen 
hatte? 

dem  er  das  beste  verdanke,  was  er  je  geleistet.  Siehe  A  Yinet  histoire  de  sa  vie 
et  de  ses  onvrages  par  E.  Rambert  Lausanne  O.  Bride!  1876  pag.  127:  »Yos 
Berits  Monsieur  ont  marqu^  dans  ma  vie  (so  schrieb  Yinet  an  Stapfer);  ils  ont 
pour  moi  jet^  nn  nonveau  jour  sur  ces  v^rit^  attendrissantes  et  sublimes  qae 
le  Christ  nous  a  r^v^Iäes.«  —  Adolphe  Monod,  protestantischer  Pfarrer  in  Paris, 
schreibt  (Choix  de  Lettres  IL  276) :  »La  science  de  Stapfer  est  pour  moi  an 
Snigme.  Je  ne  puis  coucevoir,  ni  comment  un  6tre  de  mon  espöee  peut  ap- 
prendre  tant  de  choses^  ni  comment  il  les  peut  retenir. 


Lnginb&h],  Philipp  Albert  Stapfer  helfet.  Minister  d.  Künste  u.  Wissensch.    693 

Am  9.  Sept.  IBOl  schrieb  er  an  den  helvetisehea  Minister  der 
aaswärtigen  Angelegenheiten,  Bögos  ^) :  „Je  tfiche,  k  tout  ävenement 
de  preparer  ici  ies  esprits  des  goayernans  k  accaeillir  les  change- 
ments  qae  la  constitution  pourroit  sabir,  sartoat,  k  Tavantage  du 
Systeme  de  Tunitö,  aussi  fayorables  que  possible.«  Diese  Aenderun- 
gen  im  Sinne  der  Einheit  erwartete  Stapfer,  weil  die  helvetische 
Tagsatznng  in  ihrer  groften  Mehrheit  ans  Unitariern  bestand. 

Am  8.  Okt.  schrieb  Stapfer  an  B^os^):  »Le  Premier  Consul 
me  demanda,  quelles  nouvelles  j'avais  de  Suisse?  Je  lui  dis  en 
substance  ce  que  j'avais  appris  des  operations  de  la  di6te,  et  ajoutai 
que  la  paix  glorieuse  (d'Amiens)  qu'il  venait  de  conclure  contribuefait 
beauconp  k  r6tablir  la  tranquility  en  H^lyötie  et  k  faciliter  Ies 
operations  de  la  diäte.  Et  Berne?  räpliqua-t-il ;  on  m'6crit  qu'on 
ya  transferer  le  siöge  du  gouvernement  ?  Ayant  röpondu  que  je 
n'ayois  rien  encore  appris  de  positif  k  cet  ägard,  le  Premier  Consul 
observa ,  que  c'etoit  une  modification  peu  essentielle  du  plan  de  con- 
stitution.« 

Am  16.  Okt  1801  schrieb  Stapfer  an  B^gos ') :  » J'ai  eu  hier 
ayec  le  ministre  des  relations  exterieures  une  conyersation  dont  je 
dois  d'antant  plus  yous  communiquer  Ies  traits  saillants  que  son  in- 
tention a  sans  donte  &i&  que  j'en  instruise  mon  gouyernement  .... 
Qnant  k  la  diete,  il  me  dit  qu'on  yoyait  ayec  surprise  une  assemblie 
qni  n'existait  que  par  le  projet  de  constitution,  et  dont  tout  le  pou- 
voir  se  bornait  k  accepter  ou  k  rejeter  ce  projet,  s'arroger  les 
droits  d'une  assembiee  Constituante,  et  decröter  article  par  article  une 
organisation  publique  qui  risquait  de  n'ayoir  point  d'ensemble.« 

Am  20.  Okt.  schrieb  Stapfer  an  den  helyetischen  Minister  der 
auswärtigen  Angelegenheiten  ^) :  »Je  ne  dois  pas  yous  dissimuler  que 
le  ministre  des  relations  exterieures  temoigne  k  chaque  fois  que  nous 
nous  yoyons  un  grand  mecontentement  des  operations  de  la  diete. 
Le  Premier  Consul  s'attendait  k  appendre  que  la  diete  aurait  accepte 
on  rejete  purement  et  simplement  ce  projet  de  constitution  en  yertu 
dnqael  seul  elle  existe.  Si  des  modifications  paraissaient  absolument 
D^essaires ,  on  aurait  desire  ici  quelles  eussent  ete  faites  pour  ainsi 
dire  d'uu  seul  jet»  dans  un  plan  propose  et  adopte  en  masse. 

Und  am  24.  Okt.,  am  Tage,  an  welefaem  die  helyetische  Tag- 
aafaBOiig  ihre  Beratungen  scUoA,  achrieb  Stapfer  wieder  ^) :   »Je  doia 

1)  Siehe  Dr.  Jahns  Bonaparte  Talleyrand  und  Stapfer  S.  79. 

2)  Siehe  ibid.  S.  82. 
8)  Siehe  ibid. 

4)  Siehe  ibid.  S.  88. 

5)  Siehe  ibid.  84. 


694  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  18. 

voQS  entreteDir  eocore  de  Tefifet  qn'a  prodait  ici  la  m^tamorpbose  de 
la  diite  en  assembl^e  constitnante.  Le  ministre  Talleyrand  cod- 
tinne  de  s'en  plaindre,  et  le  Premier  Gonsal  parait  la  voir  de  trte 
mauvais  oeil.« 

Im  Hinblick  auf  diese  wiederholten  Warnungen  Stapfers  gegen 
die  Anmaßung  der  belvetischen  Tagsatznng,  als  konstituierende  Ver- 
sammlung auftreten  zu  wollen,  darf  doch  wohl  angenommen  werden, 
daß  er  die  Ereignisse,  welche  am  28.  Oktober  eintraten,  mit  vorbe- 
reitet hat«  Kaum  war  nämlich  die  aus  den  Beratungen  der  helve- 
tischen Tagsatzung  hervorgegangene  Verfassung,  welche  im  Grunde 
niemanden  befriedigte,  angenommen  worden,  so  traten  in  der  Nacht 
vom  27.  auf  den  28.  Oktober  unter  dem  Vorsitze  des  Tessiners  Mar- 
cacci  13  Mitglieder  des  gesetzgebenden  Rates  zusammen  und  Über- 
trugen den  drei  Mitgliedern  des  Vollziehungsrates  Dolder,  jSavary 
und  Rüttimann  provisorisch  die  alleinige  Ausübung  der  vollziehen- 
den Gewalt.  Rüttimann  verweigerte  die  Annahme  des  Auftrags^), 
worauf  Dolder  und  Savary  die  vollziehende  Gewalt  allein  ansübten. 
Nachdem  sie  sich  der  Httlfe  des  französischen  Generals  Montchoisy 
und  des  Gehorsams  der  helvetischen  Truppen,  die  unter  das  Kom- 
mando des  Generals  Andermatt  von  Zug  gestellt  worden  waren,  ver- 
sichert hatten,  versammelten  sich  am  Morgen  des  28.  Oktober  24 
Mitglieder  des  gesetzgebenden  Rats,  und  mit  einer  Mehrheit  von  17 
Stimmen  wurde  ein  von  Dolder  und  Savary  vorgelegtes  Gesetz  an- 
genommen, welches  die  helvetische  Tagsatzung  auflöste,  ihre  Arbei- 
ten fdr  nichtig  erklärte,  die  Verfassung  vom  29.  Mai  in  Vollziehung 
setzte  und  unverzflgliche  Wahl  des  Senats,  der  wenigstens  in  3  Mo- 
naten die  verfassungsgemäße  Tagsatzung  einzuberufen  hätte,  anord- 
nete. Dolder  und  Savary  ernannten  sodann  einen  AusschuA  von  5 
Mitgliedern,  der  25  Kandidaten  vorschlug,  die  sogleich  zu  Senatoren 
ernannt  wurden.  Die  Wahlen  fielen  nicht  ausschließlich,  aber  vor- 
herrschend auf  Mitglieder  der  foederalistischen  Partei,  namentlich 
auf  Mitglieder  der  Minderheit  der  Tagsatzung.  Aus  Bern  warden 
gewählt  Frisching  von  Rttmligen  und  Bay,  aus  Zürich  Fflßly  und 
Wyß,  aus  den  Urkantonen  Aloys  Reding,  Mttller  und  von  Fltte.  Den 
Mitgliedern  der  Tagsatzung,  die  sich  versammeln  wollten,  wurde  der 
Eintritt  in  den  Saal  verweigert,  und  mit  einer  Protestation  von  11 
Mitgliedern  des  gesetzgebenden  Rats  und  43  der  Tagsatzung  been- 
digte sich  ohne  weitere  Gewaltthat  der  Umschwung,  dem  das  Volk 
ohne  viel  Teilnahme  zusah.    In  Vollziehung  gesetzt  wurde  derselbe 

1)  Siehe  Leben   der   beiden   Burgermeister  David  von  WyB  I  Band  Zürich 
1884.  S.  882. 


LaginbuliT,  Philipp  Albert  Stapfer  helvet.  Minister  d.  Künste  u.  Wissensch.    695 

in  erster  Linie  durch  den  französischen  Gesandten  Verninac^)  and 
den  französischen  General  Montchoisy. 

Es  ist  nun  zur  Beurteilung  des  Benehmens  Stapfers  von  Wich- 
tigkeit zu  erforschen ,  wie  er  die  Nachricht  Yon  dem  erfolgten 
Staatsstreich  aufgenommen  hat.  Weit  entferot  über  die  gewaltsame 
Auflösung  der  Tagsatzung  und  der  Nichtig-Erklärung  ihrer  Be- 
schlttsse  verstimmt  zu  sein,  schreibt  Stapfer  schon  am  3.  Nov.  an 
den  Minister  B6gos')  »Etant  intimement  convaincu  que  la  disso- 
lution de  la  diite  Constituante,  et  Tanni  hi  lation  des  ses 
operations  anarchiqnes  et  factieuses,  ^tait  un  grand  bienfait 
pour  la  Suisse,  que  le  projet  de  code  constitutionnel  du  29.  Mai 
ätait  le  senl  point  de  ralliement  qui  rest&t  aux  amis  de  la  patrie 
pour  la  sauver  de  la  plus  affrense  anarchic,  et  que  les  choses  in- 
d6pendamment  du  m^rite  et  des  qualit6s  recomman- 
dables  des  s^nateurs,  qui  paraissent, antant  que  j'en  puis  juger 
k  cette  distance  et  aprfes  dix  huit  mois  d'absence  de  mon  pays, 
devoir  inspirer  la  plus  grande  confiance  mettre  un 
terme  aux  malheureuses  scissions  qui  mena^aient  les  plus  chers  in- 
terSts   de   la  r^publique  et  ^teindro  toutes   les  haines  en  r^unissant 

tous  les  partis  et  en  ressuscitant  toutes  les  espörances Hen* 

rensement  que  la  sagesse  de  ceux  qui  ont  dirigö  le 
moQvement,  nous  a  fait  sortir  du  labyrinthe  sans  avoir  recours 
k  la  cooperation  immediate  de  Tötranger,  et  quelque  soit  le  change- 
ment  que  la  journ6e  du  28  October  amöne  dans  ma  position,  jene 
puis  qu'en  bien  augurer  pour  mon  pays,  et  jepuisdire 
avec  v6rite  que  je  la  crois  aussi  salutaire  dans  les 
effets  qu'elle  a  m  nöcessaire  dans  les  circonstances 
0Ü  nons  nous  sommes  trouvest.  Ebenso  anerkennend  schrieb  Stapfer 
am  5.  November  1801  »Ce  que  je  me  suis  plu  jt  faire  ressortir  jusqa'ici 
dans  cette  revolution  est  l"*  la  fin  d'une  scission  d^sastreuse  .  .  .  • 

2^  la  fusion  de  tous  les  systömes  et  de  tons  les  partis C'est 

ce  dernier  räsultat  surtont  qui  a  fait  une  bonne  impression ,  puisque 
le  Premier  Consul  I'a  eu  particulierement  en  vue  en  France  et  dans 
tous  les  pays  rävolutionnes« '). 

Am  21.  November  1801  nahmen  die  Befugnisse  des  provisori- 
schen Vollziehungsrats  ihr  Ende,  indem  der  Senat  zu  der  Bestellung 

1)  Siehe  Wyi,  die  beiden  ßürgermeister  v.  WyB  Bd.  I,  S.  880.  Dieftbach 
schreibt  am  28.  Oktober  an  WyB :  >yeminac  s'est  mis  en  töte  de  faire  dissondre 
la  di^te.  II  est  all^  chez  Dolder  et  lui  a  dit:  Sacre  Dieu  11  faut  que  cela  finisse 
f . .  t .  .  .  ne  voulez  tous  done  rien  faire  ?c. 

2)  Siehe  Jahn  am  angeführten  Ort  S.  86,  und  LuginbOhl  SUpfer  S.  889. 
8)  Siehe  8.  890  und  Jahn  a.  a.  0.  S.  87. 


696  Gott.  gel.  Ans.  1887.  Nr.  18. 

des  »kleinen  Rates«  schritt,  welcher  gemäA  Verfassung  vom  29.  Mai 
(Titel  III)  aas  vier  Senatoren  bestehn  sollte,  unter  welchen  der  erste 
Landamann  den  Vorsitz  fUhrt.  Der  Landamann  bat  auch  die  aus- 
wärtigen Geschäfte  zn  fahren,  auch  ernennt  er  die  diplomatisohea 
Agenten  ^) 

Am  21.  November  1801  ist  der  kleine  Rat  sodann  ans  folgen- 
den Mitgliedern  bestellt  worden:  Aloys  Reding  erster  Landamann, 
Frisching  zweiter  Landamann^),  Dolder,  Hirzel,  Olntz  nnd  Lanther. 
Der  Gesandte  Stapfer  in  Paris  stand  daher  seit  dem  21.  November 
unmittelbar  unter  dem  ersten  Landamann  Aloys  Reding,  welchem  es 
zQStand,  die  diplomatischen  Agenten  zn  ernennen.  Welche  Haltung 
nahm  nun  Stapfer  den  neuen  Behörden  und  seinem  neu^i  Chef, 
dem  ersten  Landamann,  gegentlber  ein? 

Am  21.  November,  also  am  Tage  der  Ernennung  des  kleineo 
Rats,  schrieb  Stapfer*):  on  voit  assez  gän^ralement  dans  le  28  Oe* 
tobre  le  18  Brnmaire  de  l'Hälvätie,  c'est  une  expression  dont  je  me 
suis  toujours  servi  de  präf6rence,  parceque  eile  m'a  parn  reveiller  les 
idäes  et  les  espörances  les  plus  flatteuses  et  les  plus  fond^  daas  la 
nature  des  cboses.  La  magie  des  mots  est  graade  partout;  et  par- 
ticuliirement  en  France  od  la  grande  mobility  et  la  yivaciti  des 
Esprits  donnent  k  une  expression  bien  tronvii  la  plus  gründe  in- 
fluence snr  Topinion  publique,  et  oü  un  terme  heureux  parvient  soo- 
vent  4  la  fixer  irrövocablemeni  II  me  semble  que  le  m6me  rappro- 
chement devait  produire  un  hon  effet  en  Suisse«  Du  moins  id  je 
Vai  employ^  avec  snccte«.  Am  23.  November  1801  schrieb  Stapfer 
an  den  Minister  B6gos^)  >on  augure  toujours  bien  des  r^ 
sttltats  du  28  Octobre  mais  on  troufe  que  le  nouveau  gouveme- 
ment  s'organise  lentement,  et  on  slmpatiente  d'apprendre  les  nomi- 
nations des  Landamanns  et  des  oonseillers  ainsi  que  Las  menureB 
que  ces  magistrats  prendront  tout  de  suite,  pour  metlre  fin  k  Tanar- 
ohie  et  pri^venir  la  dissolution  de  la  ripubliqae  h^lvitique«.  Bia 
/  dabin  ist  Stapfer  Ober  den  28.  Oktober  und  den  sich  daran  kniffen- 
den Erfolg  voller  Hoffnung!  In  einer  Depesche  vom  27.  Ndvamber 
1801^)  äußert  Stapfer  Besorgnis  darüber,  daA  der  ecste  Konsul  im 
Corps  l^slatif  sich  darüber  beschwert  habe,  daft  in  Helvetien  seine 

1)  Siehe  Oeffentliche  Vorlesungen  über  die  Helvetik  von  Dr.  Karl  Hilty  760. 

2)  Der  Senat  hatte  unter  seinen  Mitgliedern  zwei  Landam&nner  zu  wählen, 
die  10  Jahre  im  Amt  blieben.  Die  Laadaminner  führen  wechselweise  jeder  1  Jahr 
lang  den  Vorsitz  im  Senate.  Deijenige,  weleher  nicht  in  Aktivitftt  ist,  ist  der 
Statthalter  des  andern  im  Falle  von  Krankheit  oder  Abwesenheit 

8)  Siehe  Dr.  Jahn  Bonaparte  Talleyrand  et  Sti^^  8.  88. 
4)  Siehe  Dr.  Jahn  ibid.  S.  89. 
6)  Siehe  Dr.  Jahn  ibid.  S.  90. 


Luginbühl,  Philipp  Abert  Stapfer  helvet.  Minister  d.  EüiiBte  u.  Wissensch.     697 

gnten  Räte  (conseils  salataires)  so  wenig  berttcksichtigt  worden 
seien.  Es  konnte  sich  dies  aaf  die  einseitigen  Wahlen  in  den  Senat 
and  in  den  kleinen  Bat  beziehen,  die  damals  in  Paris  bekannt  sein 
maßten.  Aber  Stapfer  fügt  bei:  »II  y  a  liea  d'esp^rer  qae  la  sa- 
gesse de  notre  goavernement  aetael  et  son  empressement  k 
realiser  la  constitation  qae  Bonaparte  croit  adapts  k  vos  besoins 
....  ramöneront  pea  k  pen  le  h^ros  k  des  sentimens  de  bienveil- 
lance  plos  prononcte  envers  les  aatorit^  de  TH^Ivötie«.  Stapfer 
selbst  ist  somit  darch  die  Wahlen  vom  21.  November  noch  nicht 
verstimmt.  Am  1.  December  bemerkt  er  in  der  ersten  Depesche, 
die  er  an  den  neabestellten  Staatssekretär  Thormann')  richtete:  »Je 
dois  voas  pr^venir  citoyen  s6crätaire  d'itat  qae  toas  les  membres  da 
goavernement  fran^ais  me  parlent  sans  cesse  de  la  fasion  si  necäs- 
saire  des  hommes  de  toas  les  partis;  et  qa'ils  paraissent  ne  pas 
troaver  dans  les  nominations  faites  en  Saisse  poar  chaqae  classe 
sociale  cette  garantie  de  ses  int^rSts  contre  les  p^ventions  oü  les 
empi^temens  des  aatres«  etc.  etc.  »Qaant  k  moi  (so  schließt  Stapfer 
seine  Depesche)  »je  dis  partoat  qae  je  snis  fier  de  voir  k 
la  tgte  de  ma  nation  Thomme,  qai  le  dernier  a  döfen- 
da  son  independance  contre  Tetranger,  et  les  mem- 
bres da  goavernement  fran^ais  sont  assez  jastes  .  .  . 
poar  me  tenir  gre  de  ce  langage«. 

Aloys  Reding  Landshaaptmann  von  Schwyz  hatte  nämlich  am 
2.  Mai  1798  mit  500  Schwyzern  an  der  Schindellegi  einen  AngriflP 
von  2000  Franzosen  glttcklich  abgeschlagen,  war  dann  aber,  weil 
der  Ezel  von  den  Einsiedlern  nicht  gehalten  worden  war,  genötigt 
gewesen,  sich  aaf  den  »Rothentharm c  zarückzaziehen,  wo  er  Ver- 
stärkang  erhielt  and  Morgarten,  welches  die  Franzosen  schon  besetzt 
hatten,  wieder  im  Starm  nehmen  ließ.  Aach  beim  Rothentharm 
zwang  Reding  mit  1200  Mann  die  ihn  in  großer  Ueberzahl  angrei- 
fenden Franzosen  zam  Rtickzage.  Da  aber  in  der  Zwischenzeit  die 
Franzosen  über  den  Ezel  nach  Einsiedeln  vorgedrangen  waren,  schien 
die  Stellang  am  Rothentharm  nicht   mehr  haltbar,   woraaf  Reding^) 

1)  Siehe  Dr.  Jahn  ibid.  S.  90  a.  91. 

2)  Reding  gehörte  einem  Geschlechte  an,  welches  seit  mehr  als  400  Jahren 
an  der  Spitze  seines  Volkes  stand  wad  demselben  in  Krieg  und  Frieden  schon 
Tiele  gute  Dienste  geleistet  hatte.  Im  Jahre  1315  hatte  der  alte  Rudolph  Re- 
ding von  Bibereck  durch  seinen  weisen  Rat  den  Eidgenossen  zu  ihrem  Sieg  am 
Morgarten  (15.  November  1815)  über  Herzog  Leopold  von  Oestreich  verholfen  — 
nnd  jetzt  mehr  als  400  Jahre  später  stand  wieder  ein  Reding  an  der  Spitze  sei-^ 
nee  Volkes  einem  französischen  Invasionsheere  au  derselben  Stelle,  am  Morgar- 
ten, gegenüber.  Durch  seine  mutige  Verteidigung  hatte  er  wenigstens  den  Abzug 
des  feindlichen  Heeres  und  die  Erlaubnis  für  die  8  ürkantone  erreicht,  ihre 

QHi,  gel  Abi.  1887.  Nr.  18.  48 


1 


698  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  18. 

vom  französischen  Obergeneral  Schaaenbarg  einen  24stttndigen  Waf- 
fenstillstand verlangte^  am  die  Frage  ttber  Krieg  oder  Frieden  der 
Landsgemeinde  vorlegen  zu  können,  die  sich  am  4.  Mai  in  Schwyz 
versammeln  sollte.  Schaaenbarg  bewilligte  folgende  Friedensbe- 
dingangen : 

1)  Versicherang  der  Unverletzbarkeit  der  katholischen  Reli- 
gion, falls 

2)  Annahme  von  Seite  des  Kantons  der  helvetischen  Verfassang 
binnen  24  Standen  erfolge,  während  welcher  die  Franzosen  nicht  wei- 
ter vorrücken  werden. 

3)  Beibehaltang  der  Waffen  and  Befreiung  von  aller  Brand- 
schatzang,  samt  Abzag  der  französischen  Trappen. 

Nach  langer  ernster  Beratang  nahm  das  Volk  diese  ehrenvolle 
Eapitalation  an.  Schaaenbarg  hatte  sich  bereit  erklärt,  dieselben 
Bedingangen  aach  aaf  Uri  and  Unterwaiden  ansdehnen  za  wollen, 
wenn  diese  Kantone  ihre  Trappen  zarttckziehen  and  dieselben  Be- 
dingangen annehmen  wollten,  was  denn  aach  geschah.  Worauf 
Schaaenbarg  seine  Trappen  wirklich  zarttckgezogen  hat. 

Wie  kam  nan  Stapfer,  nachdem  er  den  Staatsstreich  vom 
28.  Oktober  darcb  seine  wiederholten  Andentangen,  die  helvetische 
Tagsatzang  habe  die  Verfassang  vom  29.  Mai  nar  anzunehmen  oder 
za  verwerfen,  nicht  aber  als  konstituierende  Versammlung  etwas 
daran  za  ändern,  gleichsam  provociert,  and  nachdem  er  densel- 
ben später  ausdrücklich  gebilligt  und  seine  Befriedigung 
darüber  aasgesprochen  hatte,  Aloys  v.  Beding  an  der  Spitze  der 
Nation  zu  sehen,   dazu,  plötzlich  seine  Ansicht  zu  ändern  und  am 


Waffen  za  behalten,  während  die  ganze  übrige  Schweiz  dieselben  an  den  über- 
mächtigen Feind  hatte  abliefern  müssen.  Von  den  3  Brüdern  Aloys  von  Re- 
dings  war  der  zweitjüngste  Rudolph  am  10.  August  1792  in  den  Tuilerien  ver- 
wandet und  am  2.  September  in  der  Gonci^rgerie  grauenyoU  ermordet  worden. 
Der  älteste,  Theodor,  hat  später  im  Jahre  1808  bei  Baylen  den  Franzosen  unter 
General  Dupon  die  erste  groBe  Niederlage  beigebracht.  General  Castagnos,  der 
kommandierende  spanische  General  ist  zum  Herzog  v.  Baylen  ernannt  worden. 
Theodor  v.  Beding  aber,  der  an  seinen  Wunden  und  dem  Aerger  darob,  daft  der 
Sieg  nicht  besser  ausgenutzt  wurde,  am  Lazareth-Fieber  starb,  hat  in  der  Ge- 
schichte des  spanischen  Unabhängigkeitskrieges  sich  einen  ehrenvollen  Platz  er- 
worben. Als  Kaiser  Napoleon  die  Nachricht  von  der  Niederlage  bei  Baylen  er- 
halten, soll  er  gesagt  haben:  faut  il  donctoujours  que  je  rencontre  an  Reding 
Bur  mon  chemin?  Nazar,  der  Zweitälteste  Bruder,  war  Generalleutnant  in  spani- 
schen Diensten  und  Gouverneur  der  Insel  Majorca.  Aloys  v.  Reding,  der  jüngste 
der  4  Brüder,  hat  die  Ehre  der  schweizerischen  Waffen  den  Franzosen  gegenüber 
an  der  Schindellegi  und  am  Rothenthurm  gerettet.  Vorher  war  er  Oberstleutnant 
in  spanischen  Diensten  gewesen. 


Luginbuhl,  Philipp  Albert  Stapfer  helvet.  Minister  d.  Künste  a.  Wissenscb.    699 

6.  December  1801  an  seinen  Freund  Alb.  Rengger  zu  schreiben:^) 
»Durch  Gambac6r£s,  Fouch6,  Bouriönne,  selbst  durch  Talleyrand  ist 
Bonaparte  von  mir  über  die  ganze  Schändlichkeit  des  28. 
Oktober  und  die  Tendenz  des  jetzigen  Senats  belehrt 
worden?  Er  hat  auch  weder  die  Regierung  anerkannt  noch  ir- 
gend, (wenigstens  jetzt),  den  Willen  sie  anzuerkennen.  Nur  zwei 
Dinge  sinds,  die  mich  hier  in  Kummer  setzen:  erstlich  der  immer- 
wiederkehrende Einwurf  Talleyrands :  „Woher  kommt  es  doch,  daß 
der  Erzrevolutionär  Reinhard,  Reding,  Eulach,  Dießbach,  Thormann 
u.  s.  w.  für  Freunde  Frankreichs  und  für  die  einzigen  hält,  die  der 
Schweiz  wieder  Ruhe  geben  können'',  und  zweitens  die  Escapade 
von  Reding.  Sie  gefällt  Bonaparte  zuverlässig,  wegen  des  Romati- 
Bchen^  auch  ist  er  schon  lange  für  ihn  als  Helden  eingenommen. 
Das  einzige  Gute,  was  aus  diesem  Theaterstreich  hervorgehn  kann, 
wäre  eine  neue  Revolution  in  Redings  Abwesenheit;  allein  dazu  seid 
ihr  zu  moralisch,  zu  wenig  Revolutionsmänner!  Wollet  Ihr  etwas 
versuchen,  so  hat  MarceP)  Geld!  Brauchts  dazu,  Ihr  werdet  euch 
aber  alle  lieber,  so  wie  ich  euch  kenne,  einzeln  und  nach  und  nach 
erwttrgen  lassen  als  einen  Versuch  machen  c 

Am  7.  December  1801,  an  welchem  Tage  der  erste  Landamann 
der  Schweiz  begleitet  von  Dießbach  von  Carouge  in  Paris  anlangte, 
in  der  Absicht,  sich  mit  dem  ersten  Konsul  Bonaparte  über  die  Ver- 
hältnisse der  helvetischen  Republik  zu  der  französischen,  namentlich 
mit  Rücksicht  auf  Wallis  zu  verständigen,  welches  der  erste  Konsul 
ganz  oder  teilweis  von  der  Schweiz  loszutrennen  beabsichtigte,  und 
in  Betreff  der  ehemals  bischof-baselischen  Lande,  welche  seit  1792 
von  französischen  Truppen  besetzt  und  seit  1793  teil  weis  der  fran- 
zösischen Republik  einverleibt  worden  waren,  berichtete  Stapfer  dem 
Staatssekretär  Thormann,  der  erste  Konsul  habe  ihn  Tags  vorher, 
.also  am  gleichen  6.  December  (an  welchem  Tage  er  an  Rengger 
geschrieben),  nach  dem  Diner  einer  langen  Unterredung  gewttrdiget, 
welche  er  dazu  benutzt  habe,  Bonaparte  eine  möglichst  gün- 
stige Idee  von  den  Tugenden  und  dem  Charakter  des 
ersten  Landamanns  zu  geben,  um  ihn  dadurch  zu  bestimmen, 
den  Anliegen,  welche  dieser  ihm  vortragen  werde,  diejenige  Aufmerk- 
samkeit zu  schenken,  welche  die  helvetische  Nation  zu  finden  hoffe'). 

1)  Siehe  Leben  und  Briefwechsel  Albert  Renggers  yon  Ferdinand  Wydler. 
Aarau,  Sauerländer  Bd.  U,  S.  24. 

2)  Ein  Waadtländiacher  Finanzmann  und  Spekulant. 

8)  Siehe  Bonaparte  Talleyrand  und  Stapfer  S.  92.  Aprds  dtner  il  (le  prä- 
mier consul)  m'honora  d'une  longue  conversation,  dans  laquelle  je  me  plus  k  lui 
donner  la  plus  haute  id^e  possible  des  vertus  et  de  l'änergie  de  notre 
premier  Landamann  afin  de  Pengager  It  donner  ä  sa  d-marche  et  aux  demandes 

48* 


1 


700  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  18. 

Welches  waren  nao  die  wirklichen  Gesinnungen  Stapfers  sei- 
nem anmittelbaren  Vorgesetzten,  dem  Landamann  Aloys  v.  Reding 
gegenüber?  diejenigen,  die  er  am  6.  December  in  seinem  Briefe  an 
Rengger  äußerte,  wo  er  dessen  Reise  nach  Paris  eine  »Escapade«, 
einen  Theaterstreich,  nannte,  oder  diejenige,  welche  er  in  seinem  of- 
ficiellen  Schreiben  vom  7.  December  1801  an  den  Minister  B^os 
äußerte?  Aufschluß  darüber  gibt  auch  die  folgende  Korrespondenz 
Stapfers  nicht,  die  sich  in  den  gleichen  Widersprüchen  bewegt,  je 
nachdem  Stapfer  in  officieller  Stellung  oder  als  Privatmann  schreibt 
Am  Tage  der  Ankunft  Rediogs  in  Paris  am  7.  December  1801 ')  mel- 
det Stapfer  (nämlich  seinem  Freund  Rengger)  dem  Minister  Talley- 
rand gesagt  zu  haben,  in  einer  Lage  wie  die  nach  Abukir  würden 
Reding  &  Comp,  die  Oesterreicher  zu  Hülfe  rufen  ^)  wie  die  Salis  in 
Bündten.  Ja  er  wirft  die  Frage  auf,  ob  Talleyrand,  der  bemerkt 
hatte,  »qu'il  serait  charmä  de  voir  Monsieur  Reding«  damit 
nicht  vielleicht  habe  andeuten  wollen,  daß  er  ihn  nur  als  »Parti- 
cular« sehen  wolle?  Noch  feindlicher  gegen  den  28.  Oktober  und 
Reding  ist  ein  Brief  dd.  Paris  9.  December,  an  Marcel  gerichtet,  aber 
für  Rengger  bestimmt'),  den  der  letztere  durch  Monod  erhielt  In 
demselben  schreibt  Stapfer  wörtlich:  »On  me  r^itöre  qu'en  promet- 
tant  de  Targent  en  cas  de  röussite  vous  avez  celui  qn'il  vous  faut 
avoir«  (damit  will  er  wahrscheinlich  Verninac  den  französischen 
Gesandten  bezeichnen).  Dann  fahrt  er  fort:  »Geci  ne  partant  que  de- 
main  et  les  deux  personnages  arrives  avant  hier  (Reding  u.  Dieß- 
bach)  allant  ce  soir  chez  le  ministre  des  relations  extärienres,  si 
fapprends  ce  qui  y  a  eu  Heu,  je  le  joindrai  (Stapfer  besorgte  daher 
wahrscheinlich  der  Audienz  gar  nicht  beiwohnen  zu  können);  vous 
pouvez  @tre  sür  que  leur  plan  est  le  r6tablissement  des  anciennes 
limites  du  Canton  de  Berne,  le  rötabissement  des  privileges  de  la 
bourgeoisie  de  la  capitale  avec  quelques  facilites  pour  Tadmisaion, 
voili  tout«.  Nach  der  Audienz,  bei  welcher  von  alledem  begreiflich 
keine  Rede  war,  schrieb  Stapfer  an  Rengger:  »La  visite chez Talley- 

qu*il  lui  adresserait  toute  Pattention  que  la  nation  h^lv^tiqne  esp^re  lai  Toir 
prdter.  Le  ministre  des  relations  extärieares  (Talleyrand)  m'a  dit  qa'il  serait 
charmd  de  faire  la  connaissance  d'on  homme  d'un  aussi  grand  märite  qae  le 
citoyen  Beding. 

1)  Siehe  Bd.  11,  S.  26:  Leben  und  Briefwechsel  von  Alhrecht  Rengger,  Mi- 
nister der  helvetischen  Republik  von  Ferdinand  Wydler.  Zürich,  Friedr.  Schult- 
heB  1847. 

2)  Es  war  dies  eine  sehr  ungerechte  Beschuldigung,  denn  in  Stockach  war  eine 
Schlacht  wie  bei  Ahukir,  welche  die  Oesterreicher  sogar  nach  Zürich  führte,  ohne 
daß  Reding  sie  weiter  ins  Land  gerufen  hatte. 

8)  Siehe  ibid.  S.  27. 


La^inbühl,  Philipp  Albert  SUpfer  heWet.  Mioister  d.  Künste  a.  Widsensch.    701 

rand  a  it&  polie  et  voilä  tont!  on  a  dit  qa'on  chercherait  k  proca- 
rer  one  aadience  dans  quelques  jonrs!  Ne  serait-ce  point  poor 
attendre  ce  qui  se  passe  chez  vous?  raison  de  plus  pour  se  häter, 
courage  done  et  cel^ritälc  Somit  fordert  Stapfer,  von  der  Audienz  bei 
Talleyrand  zurückgekehrt,  zu  welcher  er  seinen  unmittelbaren  Vor- 
gesetzten, den  ersten  Landamann  der  Schweiz,  begleitet  hatte,  seinen 
Freund  Rengger  abermals  auf,  den  Sturz  dieses  seines  Vor- 
gesetzten möglichst  zu  beschleunigen^).  Tags  darauf, 
am  10.  December,  drängt  Stapfer  in  einem  zweiten  an  Marcel  adres- 
sierten, aber  an  Rengger  gerichteten  Brief  noch  bestimmter  auf 
schnelles  Handeln.  Er  schreibt:  »Jeudi  10  decembre  ä  midi 
Topinion  etait  que  vraisemblablement  Reding  ne  serait  prösentä  et 
re^u  par  le  Premier  Consul  que  comme  M'  Reding  .  .  .  c'est  ici  le 
moment  d'agir,  si  Ton  yeut  et  peut  le  faire,  mais  il  n'j  a  pas  de 
temps  k  perdre«. 

Nachdem  wir  die  eine  Hälfte  dieser  Stapferischen  Korrespondenz 
wörtlich  angeführt  haben,  mag  nun  die  andere  Hälfte,  d.  h.  seine 
officielle  Korrespondenz  mit  den  betreffenden  helvetischen  Behörden, 
in  gleicher  Weise  folgen. 

Am  11.  December  1801  schrieb  Stapfer  an  den  Staatssekretär 
Thormann  ^):  »Avant  hier  le  ministre  Talleyrand  a  re(u  notre  Pre- 
mier Landamann  et  le  citoyen  Diessbach.  II  s*est  engagä  k  ieur 
procurer  au  premier  jour  une  entrevue  avec  le  Premier  Consul;  il 
a  assurä  au  citoyen  Reding  qu'il  inspirait  un  grand  intergt  k  Bona- 
parte et  que  ce  dernier  serait  charme  de  prendre  de  lui  des  renseigne- 
mens  exacts  et  d6tailles  sur  T^tat  actuel  de  la  Suisse«.  »Voilä 
done  nos  affaires  en  hon  train,  et  nous  avons  lieu  d'en 
espärer  un  denouement  aussi  prompt  que  satisfai- 
sant!  J'aurai  soin  de  vous  tenir  au  courant  du  progrte  de  la  n^- 
gociation  importante,  dont  le  Premier  Landamann  a  eu  le  courage 
patriotique  de  secharger«.  Die  Vermutung  Stapfers,  Re- 
ding durfte  nur  als  Privatmann  und  nicht  in  seiner  off  ici  eilen 
Stellung  empfangen  werden,  hatte  sich  somit  nicht  bestätiget,  und  in 
Folge  dessen  veränderte  sich  sofort  das  Urteil  des  impressionabeln 
Stapfers  über  die  Bedeutung  der  Reise  Redings:  am  6.  December 
hatte  er  sie  einen  Theaterstreich  genannt,  während  er  dieselbe  jetzt 
als    eine   Handlung   patriotischen  Mutes    bezeichnete.     Noch   aner- 

1)  Natürlich  schrieb  Stapfer  so  gefährliche  Dinge  nicht  eigenhändig,  aber 
Marcel,  an  welchen  der  Brief  adressiert  war,  konnte  erraten,  wer  schrieb,  und 
für  den  Fall,  daB  dieser  nicht  anwesend  wäre,  konnte  Rengger  sich  darauf  ver- 
lassen, daE  »l'avisc  ?on  gutem  Orte  komme:  siehe  Wydler  a.  a.  0.  S.  28. 

2)  Siehe  Bonaparte  Talleyrand  Stapfer  S.  92. 


702  Qött.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  18. 

kennender  spricht  sieh  Stapfer  in  seiner  Depesche  vom  19.  December 
über  den  Entschlaß  des  ersten  Landamanns  aus,  selbst  nach  Paris 
zn  kommen^).  An  diesem  Tage  schrieb  Stapfer  nämlich:  >Le  Pre- 
mier Gonsnl  a  tena  dans  son  entrevne  avec  le  Premier  Landamann 
le  propos,  qo'il  avait  &i6  snr  le  point  d'envoyer  un  coarier  en 
Suisse,  pour  dSsavoner  tout  ce  qai  ätait  fait  depais  le  28  octobre, 
lorsqa'il  apprit  le  depart  da  citoyen  Reding«.  Dadurch  erscheint 
die  so  vielfach  angefochtene  Reise  des  ersten  Landamanns  nicht  nur 
als  gerechtfertigt,  sondern  als  zweck-  und  sachgemäß,  zumal 
Stapfer  in  derselben  Depesche  beiftigt,  daß  dieser  Schritt  des  ersten 
Landamanns  Bonaparte  sehr  geschmeichelt  habe  und  dafi 
derselbe  deshalb  zuverlässig  günstigen  Erfolg  haben  werde. 
(»La  demarche  du  premier  Landamann  flatte  infiniment  Bona- 
parte  et  am^nera  certainement  d'heureux  r6sultats«.)  Am  9.  Ja- 
nuar 1802  ist  der  erste  Landamann  Aloys  von  Reding  wieder  von 
Paris  abgereist  und  hat,  wie  dies  Stapfer  in  seiner  Depesche  an 
den  Staatssekretär  Thormann  dd.  Paris  10.  Januar  versichert,  in 
seiner  Abschieds-Audienz  vom  ersten  Konsul  Bonaparte  in  Gegen- 
wart des  Herrn  Hauterive  (Stellvertreter  Talleyrands)  die  Bestätigung 
der  Versprechen  erhalten,  welche  ihm  der  erste  Konsul  bei  seiner 
ersten  Vorstellung  in  Anwesenheit  Talleyrands  gemacht  hatte.  — 
Stapfer  bemerkt  gleichzeitig,  es  könne  im  Hinblick  auf  diese  wie- 
derholten Erklärungen  kein  Zweifel  darüber  walten,  daß  nach  er- 
folgter Ergänzung  des  Senates  durch  6  Mitglieder,  worauf  die  fran- 
zösische Regierung  bestehe,  die  Schweiz  den  Rückzug  der 
französischen  Truppen  aus  Helvetien,  die  Wieder- 
herstellung ihrer  Neutralität  und  die  Rückgabe  d  er 
bischof-Baselischen  Gebietsteile  erhalten  werde  in 
Entsprechung  der  beiden  Noten,  welche  der  erste  Landamann  am 
20.  December  1801  dem  Minister  des  Auswärtigen  übergeben  habe^). 
Dies  sind  die  ofBciellen  und  die  Privat  Korrespondenzen  Stapfers 
vom  December  1801  über  den  Staatsstreich  vom  28.  Oktober  1801 
und  über  die  Reise  des  ersten  Landamanns  der  Schweiz  nach  Paris, 
welche  den  Professor  v.  Wyß  veranlaßten  auf  den  Widerspruch  auf- 
merksam zu  machen,  welcher  zwischen  der  officiellen  und  der  Pri- 
vat-Korrespondenz  Stapfers  vorwalte').  Der  Biograph  Stapfers 
äußert  entschuldigend^),    daß    namentlich   die   einseitigen   Wahlen 

1)  Siehe  Bonaparte  Talleyrand  et  Stapfer  S.  93. 

2)  Siehe  ibid.  S.  94  u.  96. 

8)  Siehe  Leben  der  beiden  zürcherischen  Bürgermeister  Da?id  von  Wyi  von 
Fried,  v.  Wyß,  Professor.    Zürich  1884.  Bd.  I,  S.  354. 
4)  Siehe  Note  zu  S.  398. 


Luginbahl,  Philipp  Albert  Stapfer  helvet.  Minister  d.  Künste  u.  Wissensch.     703 

vom  21.  Nov.  1801  in  den  Senat  and  in  den  kleinen  Rat  Stapfer 
die  Hoffnang  nehmen  mußten,  daß  die  neue  Regierang  eine  Fasion 
aller  Parteien  anstrebe,  wodarch  der  Vorwarf  der  Doppelzüngigkeit 
falle.  Diese  Erklärung  stimmt  indessen  nicht  mit  den  Daten  von 
Stapfers  Briefen,  denn  am  29.  November  waren  dem  Gesandten  in 
Paris  die  Wahlen  vom  21.  November  bekannt,  and  dennoch  sprach 
er  an  jenem  Tage  noch  die  Hoffnang  aas  >qae  la  sagesse  de  notre 
goavernement  (desjenigen  vom  21.  November)  actael  et  son  empres- 
sement  ä  r^aliser  la  constitution  que  Bonaparte  avait  adapt6e  k  nos 
besoins,  ramfeneront  le  heros  k  des  sentimens  de  bienveillance  plus 
prononcäs  envers  les  autorit^s  de  THelv^tiec  Auch  rttcksichtlich  des 
Verhältnisses  Stapfers  zu  Reding  kann  nach  Ansicht  seines  Biogra- 
phen Stapfer  „im  Geringsten  kein  Vorwurf  treffenc,  zu- 
mal Stapfer  am  28.  Juni  1802  an  Müller  Friedberg  geschrieben 
habe:  »J'avoue  que  je  m'6tais  entiferement  trompe  sur  le  compte  de 
Reding  ....  II  est  dans  le  fond  un  brave  homme,  mais  je  n'ai 
decouvert  que  trop  tard  qu'il  n'est  rien  par  lui  mgme,  et  que  tout 
son  röle  lui  a  £te  souffle«.  Diese  Entschuldigung  ist  den  Daten 
gegenüber  abermals  nicht  stichhaltig.  Stapfer  schlägt  nämlich  schon 
am  6.  December  1801  Rengger  vor,  Reding  zu  stürzen,  bevor  er 
diesen  kannte,  während  er  am  17.  December,  nach  der  Audienz  Re- 
dings  beim  ersten  Konsul,  noch  officiell  schreibt^):  »La  d6marche  du 
Premier  Landamann  flatte  infiniment  Bonaparte  et  amfenera  cer- 
tainement  d'heureux  räsultats«.  Die  durch  Stapfers  Bio- 
graphen versuchte  Entschuldigung  kann  daher  niemanden  befriedi- 
gen. Und  doch  ist  es  interessant  zu  untersuchen,  wie  ein  Mann  von 
Stapfers  Gehalt  zu  einer  solchen  Handlungsweise  seinem  unmittel- 
baren Vorgesetzten  gegenüber  kommen  konnte. 

Wenn  der  Krieg  »hart«  und  »unbarmherzig«  macht,  so 
machen  Revolutions-Zeiten  die  darin  Verflochtenen  häufig  »gewis- 
senlos«. »En  tems  de  revolution  le  plus  scel6rat  est  moi«  hat 
Danton  gesagt,  der  darüber  ein  Urteil  haben  konnte !  Für  zartbe- 
saitete Naturen  wie  diejenige  Stapfers  sind  solche  Zeiten  doppelt 
gefährlich.  Von  allen  Korrespondenten  Stapfers  in  der  Schweiz  war 
aber  der  bei  weitem  leidenschaftlichste  der  Senator  Dr.  Paul  Usteri 
von  Zttrch,  der  durch  den  28.  Oktober  1801  seine  öffentliche  Stel- 
lung einbüßte.  Usteri  schrieb  am  2.  November  1801  (S.  391)  an 
Stapfer  über  den  28.  Oktober  folgendes:  »Die  Berner  wollten 
ein  abermaliges  „Provisoire^'  und  den  Sturz  der  Männer  von  aufge- 
klärtem Republikanismus.  Eine  große  Zahl  von  subalternen  Schur- 
ken wollten  Schurkereien  treiben,  im  Trüben  fischen,  Almosen  durch 
1)  Siehe  Dr.  Jahns  Bonaparte  Talleyrand  u.  Stapfer  S.  98. 


704  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  18. 

Verrath  erkaufen!  und  die  Zasammensetzang  dieser  aller  schuf  den 
28.  Oktober.  Ihren  Zweck  haben  die  Fränkischen  erreicht  und  die 
Schurken«.  Am  3.  November  1801  schrieb  Usteri  an  Stapfer  ^) :  »Wenn 
gegenwärtig  fflr  die  ganze  Sache  etwas  gethan  werden  kann,  so 
können  Sie  allein  ^  mein  verehrter  Freund,  es  thun,  sei  es ,  dafl  Sie 
an  Ihrer  Stelle  bleiben,  oder  was  viel  wahrscheinlicher 
ist,  von  derselben  entfernt  sind  oder  werden.  Wenn 
durch  Aufklärung  über  Sachen  oder  Personen  etwas  bei  der  franzö- 
sischen Regierung  zu  leisten  ist,  so  können  Sie  das  allein  than, 
und  Ihre  Freunde  rechnen  auf  Sie«. 

Am  6.  November  schrieb  Usteri  abermals  an  Stapfer:  »Mit  Un- 
geduld warten  Ihre  Freunde  auf  Nachrichten  von  Ihnen.  Vermuth- 
lich  heißt  es  nun  in  Paris:  die  Girondisten  und  Unitarier  seien  ge- 
fallen und  die  Föderalisten  an  ihre  Stelle  getreten.  Das  ist  auch  in 
der  That  wahr;  nur  sind  neben  und  an  der  Spitze  der  Föderalisten 
feile  Schurken,  „la  queue  de  Rapinat'' ;  die  Hefe  der  Intrigan- 
ten des  Landes,  die  Berner  Advocaten  und  Municipalisten !  Wird 
Frankreich  dieses  letztere  Raub-  und  Schelmengesindel 
unterstützen,  so  wird  die  Folge  sein,  daB  die  rechtlichen  Föderalisten 
bald  auch  wieder  abtreten,  sei  es  nun  gezwungen  oder  freiwillig. 
Wird  Frankreich  die  Föderalisten  unterstützen  und  es  ihnen  möglich 
machen,  die  Briganten  von  sich  zu  stoßen,  dann  sind  die  rechtlichen 
Föderalisten  Männer,  die  mit  gespannten  Segeln  auf  das  alte  los- 
segeln, bis  sie  auf  Klippen  stoßen,  an  denen  sie  zuversichtlich  schei- 
tern^)«. 

Am  1.  December  endlich  schrieb  Usteri  aus  Luzern  an  Stapfer: 
»Ein  junger  wilder  unwissender  und  unmoralischer  Mensch,  ein  ge- 
wisser Pfyffer,  der  unter  Bachmann  diente,  und  die  Waffen  gegen 
sein  Vaterland  trug,  ist  in  Luzern  zum  Censor  ernannt.  Ohne  sein 
Outheißen  darf  nichts  gedruckt  werden.  Meyer,  Rüttimann,  Mohr, 
ganz  eigentlich  die  Zierde  des  cultivirten  Helvetiens,  sind  einem  sol- 
chen Menschen  unterworfen«'). 

Welchen  Eindruck  mußten  diese  leidenschaftlichen  Briefe  Usteris  auf 
das  weiche  Oemttt  Stapfers  machen  ?  Er  sah  daraus,  daß  seine  Freunde, 
die  Unitarier  in  der  Schweiz,  den  28.  Oktober,  welchen  er  seinerseits 
vorbereitet  und  dann  freudig  begrttßt  hatte,  verabscheuten. 
Die  Wahlen  aber  vom  21.  November  1801  in  den  kleinen  Rat  muß- 
ten ihn  denn  doch  davon  überzeugen,  daß  der  kleine  Rat  ausschließ- 
lich mit  Föderalisten  besetzt  worden  sei,   als  deren  Repräsentant  er 

1)  Siehe  S.  892. 

2)  Siehe  S.  892—93. 
8)  Siehe  ibid.  898. 


Lagitibühl,  Philipp  Albert  Stapfer  helvet.  Minister  d.  Künste  u.  Wissenscb.    705 

sich  nicht  fühlen  konnte;  daher  er  auch  daran  gedacht  hatte,  seine 
Demission  zn  nehmen.  Darcb  Usteri  erfahr  nnn  Stapfer,  daß  seine 
Freunde  nicht  bezweifelten,  er  habe  seine  Entlassung  bereits  erhal- 
ten (es  ist  allerdings  davon  die  Rede  gewesen,  ihn  darch  Dieß- 
bach  za  ersetzen).  Stapfer  war  somit  in  Gefahr,  entweder  seine 
Stelle  zu  verlieren,  an  welcher  er  sehr  hieng,  wenn  er  der  neuen 
Regierung  Anlaß  zn  Mistrauen  gebe,  oder  aber  die  Achtung  seiner 
Freunde  der  Unitarier  einzubüßen,  wenn  er  sich  dem  neuen  Regi- 
ment aufrichtig  anschlösse.  Das  einzige  Mittel,  um  sowohl  seine 
amtliche  Stelle  als  die  Achtung  seiner  Freunde  sich  zu  bewahren, 
konnte  ihm  ein  neuer  Staatsstreich  bieten,  ähnlich  demjenigen  vom 
28.  Oktober,  aber  diesmal  durch  die  Qnitarier  statt  durch  die  Föde- 
ralisten ausgeführt;  daß  ein  solcher  in  Paris  gut  aufgenommen 
wOrde,  davon  war  er  fest  tiberzeugt.  In  dieser  Stimmung 
schrieb  Stapfer  seine  Briefe  vom  6.  December  an  Rengger  und  vom 
9.  und  10.  December  an  Marcel  zu  Händen  Renggers,  durch  welche 
er  Rengger  aufforderte,  die  Abwesenheit  Redings  zu  dessen  Sturz 
nicht  ungenutzt  vorttbergehn  zu  lassen.  In  diesem  Brief  hatte  er 
ansdrtlcklich  bemerkt,  daß,  wenn  eine  Revolution  in  einem  andern 
Sinne  gegen  den  28.  Oktober  gemacht  worden  wäre  oder  noch  zu 
Stande  käme,  so  wttrde  hier  die  Sache  ungleich  mehr  Billigung  er- 
balten '). 

Dies  ist  unsere  Erklärung  des  Benehmens  Stapfers,  das  wir 
indessen  in  keiner  Weise  entschuldigen  wollen!  Denn  einmal  war 
Reding  gar  nicht  der  willenlose  Mann,  als  welchen  Stapfer  den- 
selben in  seiner  Depesche  an  Mtlller  Friedberg  vom  28.  Juni  1802 
darstellte.  Heinrich  Zschokke,  der  als  Regierungskommissär  in  Un- 
terwaiden und  den  übrigen  Urkantonen  mit  Aloys  Reding  in  viel- 
fache Berührung  gekommen  war,  spricht  in  seinen  »Denkwürdig- 
keiten« bei  verschiedenen  Anlässen  mit  der  größten  Achtung  und 
Verehrung  von  ihm;  so  schreibt  er  z.  B.  in  der  Vorrede  zum  ersten 
Band  seiner  »historischen  Denkwürdigkeiten«  ^  wörtlich:  »Aloys  Re- 
ding wäre  unter  andern  Verhältnissen  ein  Winkelried  gewor- 
den« !  Aber  auch  wenn  der  erste  Landamann  der  Schweiz  wirk- 
lich so  unselbständig  gewesen  wäre,  wie  Stapfer  ihn  darstellt,  so 
wäre  die  Handlungsweise  des  helvetischen  Gesandten  in  Paris, 
der  am  9.  Januar  1802,  vor  und  nach  der  Audienz  Redings  bei 
Talleyrand  am  Sturze  seines  Vorgesetzten  arbeitete,  eine  unverant- 
wortliche.    Stapfer   durfte   unserer  Ansicht   nach   die  öffentliche 

1)  Siehe  Wyher,  Leben  und  Briefwechsel  Renggers  Bd.  II.  S.  25. 

2)  Siehe  historische  Denkwürdigkeiten  der  helvetischen  Staatsumwftlzuog  von 
Heinrich  Zschokke.    Winterthnr  1803. 


706  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  IS. 

StelloDg,  in  welcher  ihn  Reding  vertrauensvoll  belassen  hatte, 
unter  keinen  Umständen  gegen  seinen  Amtsvorgesetzten  and  Voll- 
machtgeber ausbeuten.  Ans  älterer  und  neuerer  Zeit  ständen  Bei- 
spiele genug  zur  Verfügung^  um  nachzuweisen,  wie  Diplomaten  be- 
straft worden  sind,  die  sich  ihren  Vollmachtgebern  gegenttber  viel 
weniger  schwer  vergangen  hatten  als  Stapfer  sich  gegen  Reding 
vergangen  hat,  und  zwar  mit  Recht  bestraft ,  denn  die  erste 
Pflicht  des  Diplomaten  wie  des  Soldaten  ist  Treue  gegenüber  sei- 
nem Vaterland  und  seinen  Vorgesetzten. 

Der  Rat  Stapfers ;  Reding  während  seiner  Abwesenheit  zu  stür- 
zen, kam  damals  allerdings  nicht  zur  Yollziehungy  da  der  erste 
Landamann  am  17.  Januar  unter  Glockengelänte  wieder  in  Bern 
eingetroffen  war.  Bald  darauf,  am  2.  Februar  1802,  ist  sodann  der 
kleine  Rat  gemäß  dem  diesfalls  dem  ersten  Konsul  erteilten  Ver- 
sprechen durch  6  Unitarier  ergänzt  worden.  Derselbe  bestand  nun- 
mehr aus  folgenden  11  Mitgliedern:  Reding  erster  Landamann  f&r 
1802,  AI.  Rengger  zweiter  Landamann,  Rlittimann,  Hirzel ,  Knhn, 
Schmid  von  Basel,  Escher  von  Zürich,  Frisching,  Dolder,  Füßlj  von 
Zürich  und  Glntz.  In  der  so  bestellten  Behörde  waren  die  Unitarier 
in  Mehrheit,  und  somit  war  die  Stellung  Stapfers  als  helvetischen 
Gesandten  in  Paris  wieder  gesichert,  obschon  er  nicht  das  volle 
Vertrauen  des  Staatssekretärs  Thormann,  an  welchen  er  seine  De- 
peschen zu  adressieren  hatte,  sich  zu  erwerben  wußte.  Aber  schon 
am  17.  April  ist,  diesmal  von  Seite  der  Unitarier,  eine  Wiederholang 
des  28.  Oktober  versucht  worden,  zu  welcher  Stapfer  abernaals  das 
Seinige  beitrug').  Nachdem  am  16.  April  Reding  und  die  übrigen 
Katholiken  und  föderalistisch-gesinnten  Mitglieder  des  kleinen  Rats 
nämlich  zur  Feier  des  Osterfestes  in  ihre  Heimatskantone  gereist 
waren,  versammelten  sich  die  Unitarier  in  der  Wohnung  des  franzö- 
sischen Gesandten  Verninac  und  beschlossen,  es  solle  Tags  daranf, 
am  17.  April,  durch  Kuhn  im  kleinen  Rat  die  Vertagung  des  Se- 
nats und  die  Einberufung  von  27  Notabein  aus  allen  Kantonen  be- 
antragt werden,  welche  auf  der  Grundlage  des  Malmaison-Entwurfs 
vom  29.  Mai  1801  eine  neue  Verfassung  ausarbeiten  sollten.  Hirzel, 
Frisching  und  Escher  erklärten  keinen  Anteil  an  diesen  Beratungen 
nehmen  zu  wollen.  Den  Rat,  den  Stapfer  am  6.  December  1801  er- 
teilt,  die  Abwesenheit  Redings  zu   einer   neuen  Revolution   zu  he- 

1)  Siehe  |Leben  und  Briefwechsel  Albert  Renggers  von  Ferdinand  Wydier 
Band  II,  S.  40.  47.  48.  49.  Am  28.  April  schrieb  Stapfer  an  Rengger:  »Wenn 
Ihr  der  Majorität  des  Senats  nicht  auf  andere  Weise  los  werden  könnet,  so 
schliesset  Zellweger,  Salis-Sils,  Wyß  und  Müller  von  üri  aus.  Dies  sind  die  Se- 
natoren, welche  hier  zuverlässig  übel  angeschrieben  sindc. 


Luginbühl,  Philipp  Albert  Stapfer  helret.  Minister  d.  Künste  u.  Wissensch.    707 

natzen  ist  somit  4  Monat  später,  während  der  Abwesenheit  Redings 
in  Schwyz  zur  Vollziehung  gekommen.  —  Nachdem  Reding  am 
19.  April  in  Eile  nach  Bern  zurückgekehrt  und  Kenntnis  von  der 
Sachlage  genommen  hatte,  war  er  anfänglich  Willens  seine  Demis- 
sion zu  geben,  beschränkte  sich  dann  aber  darauf  mit  11  Senatoren 
gegen  die  am  17.  April  beschlossene  Vertagung  des  Senats  zu  pro- 
testieren. Der  kleine  Rat  aber,  sich  durch  die  Unterstützung  des 
französischen  Gesandten  Verninac  stark  fühlend,  beschloß  am  20.  April 
die  Demission  Redings  als  eingegeben  zu  betrachten,  und  am  22.  April 
gieng  er  über  die  Protestation  der  Senatoren  Hirzel,  Wyß,  Bal- 
dinger,  Müller  von  Uri,  Zell  wegen,  Salis-Sils,  Anderwerth,  Pfister; 
Ernß,  Zweifel  und  von  Flüe  zur  Tagesordnung  über,  worauf  Reding 
am  25.  April  mit  vielen  Senatoren  Bern  verlassen  hat. 

Von  den  einberufenen  Notabein  ist  darauf  am  20.  Mai  die 
zweite  helvetische  Verfassung,  welche  auf  der  Grundlage  des  Mal- 
maison-Entwurfs  zwischen  Rengger  (damals  zweiter  Landamann), 
Wieland  von  Basel  und  dem  französischen  Gesandten  Verninac  fest- 
gestellt worden  war,  unverändert  angenommen  worden.  Mitte  Juni 
ist  dieselbe  zur  Abstimmung  vors  Volk  gelangt;  72,453  Stimmende 
sprachen  sich  für  Annahme,  92,423  für  Verwerfung  aus.  Da 
aber  die  Nichtstimmenden  als  Annehmende  gezählt  wurden,  und  de- 
ren Zahl  sich  auf  167,172  belief,  so  wurde  die  Verfassung  als  mit 
großer  Mehrheit  angenommen  erklärt.  In  Folge  dessen  schritt  der 
nene  Senat,  dessen  Zusammensetzung  ebenfalls  zwischen  Rengger 
and  Verninac  vorher  vereinbart  worden  war,  zur  Wahl  des  Voll- 
ziehnngsrats.  In  denselben  wurden  gewählt:  Dolder  als  Land- 
amann, Rüttimann  als  erster  Statthalter,  Füßli  als  zweiter  Statthai- 
ter,  als  Staatssekretär  Rengger  für  das  Innere,  Kuhn  für  die  Justiz 
nnd  Polizei,  Schmid  von  Basel  für  das  Kriegswesen,  Güster  von 
Bheineck  für  die  Finanzen,  und  G  A  Jenner  für  die  auswärtigen  An- 
gelegenheiten ;  Stapfer  wurde  als  Gesandter  in  Paris  bestätigt 

Diese  zweite  helvetische  Verfassung,  an  deren  Wiege  Bonaparte 
(mit  seinem  Entwurf  von  Malmaison)  als  Vater,  sein  Gesandter  Ver- 
ninac als  Pflegevater,  Dr.  Albert  Rengger  als  Geburtshelfer  und  Wie- 
laud  als  Zeuge  standen,  war  vielmehr  ein  »ausschließlich  fran- 
zÖBisches  Produkt«  als  die  darauf  folgende  Mediationsverfas- 
sangy  welche  wenigstens  durch  einen  in  Paris  versammelten,  aus 
63  Kantons-  und  Gemeinde-Deputierten  zusammengesetzten  schweize- 
rischen VerfasBungsrat  unter  dem  Präsidium  des  ersten  Konsuls 
dnrcbberaten  worden  war. 

Kaum  war  der  neue  Vollziehungsrat  installiert,  als  Talleyrand 
am  12.  Juli  Stapfer  mitteilte,  der  erste  Konsul  beabsichtige  nnnmebr 


708  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  18. 

die  französischen  Trappen  ans  der  Schweiz  zurückzuziehen.  Diese 
frohe  Botschaft  teilte  Stapfer  durch  Eonrier  sofort  dem  Vollziehungs- 
rat mit,  seine  Freude  darüber  bezeugend,  daß  die  neue  Behörde  der- 
gestalt in  die  »glückliche  Lage  versetzt  werde,  ihre  Amtsthätigkeit 
mit  einer  Erleichterung  des  Volks  zu  eröffnen«.  Bei  Ueberreichung 
seiner  neuen  Ereditive  aber  am  15.  Juli ,  und  nachdem  der  erste 
Eonsul  dem  helvetischen  Gesandten  seine  Genugthuung  darüber  aus- 
gesprochen hatte,  daß  nunmehr  eine  definitive  Regierung  in 
der  Schweiz  in  Thätigkeit  sei,  antwortete  Stapfer,  »d'nn 
ton  p£u6tr6  et  avec  un  accent   dont  il  n'a  pu  mäconuoitre  la  source, 

que  nous  6tious  profond6ment  6mus  de ses procMes 

je  ne  pouvois  m'empßcher,  fährt  Stapfer  fort,  de  le  f^liciter  de  s'etre, 
par  sa  loyaut6  envers  rH61v6tie,  placä  audessus  des 
c^sars,  et  acquis  des  droits  äternels  k  la  reconnois^ 
sance!  Je  röpetai  qn'il  avait  conquis  pour  jamais  les  coeurs  des 
Hälvätiens  que  leDirectoire  avait  aigris;  qu'il  pouvait  autant  compter 
sur  Taffection  et  le  devouement  inviolables  de  la  nation  h6iv6- 
tique,  que  le  gouvernement  de  Tancien  regime,  et  que  les  licus,  qui 
dösormais  uniraient  les  denx  etats  seraint  anssi  forts  et  anssi  inalt^rables 
que  les  m6nagemens  d^Hcats,  et  la  protection  d^sint^ress^e  qu'il  nous  avait 
accordee  6tait  unique  dans  Thistoire.»  Nachdem  der  Biograph  Stapfers 
diese  so  überschwenglichen  Dankesbezeugungen  des  helvetischen  Ge- 
sandten wörtlich  angefahrt  hat,  ist  es  auffallend  denselben  einen  in  der 
schweizerischen  Geschichtsschreibung  vielfach  verbreiteten  Irrtum  unter- 
stützen zu  sehen,  denjenigen  nämlich,  Bonaparte  habe  der  helveti- 
tischen  Regierung  durch  den  Rückzug  seiner  Truppen  eine  Falle 
legen  wollen.  Es  wäre  ein  Leichtes,  aus  zerstreuten  Angaben  des 
vorliegenden  Buchs  selbst  den  schlagenden  Gegenbeweis  zu  leisten, 
allein  bei  der  Ausdehnung,  welche  diese  Besprechung  ohnehin  schon 
genommen  hat,  müssen  wir  sowohl  darauf  als  leider  auch  auf  eine 
Ergänzung  verzichten,  die  wir  anfänglich  beabsichtigt  hatten ,  und 
die  in  einer  etwas  einläßlicheren  Darstellung  der  Verhandlungen  der 
sogenannten  Consulta  in  Paris,  und  des  Anteils,  den  Stapfer  daran 
genommen  hat,  bestehn  sollte.  Nicht  als  habe  Stapfer  bei  diesen 
Verhandlungen  eine  hervorragende  Stellung  eingenommen;  eine  solche 
kann  einzig  der  erste  Eonsul  beanspruchen ,  der  am  29.  Januar 
1802  in  den  Tuilerien  mit  5  schweizerischen  Unitariern  und  5 
schweizerischen  Foederalisten  sowohl  die  Eantonal-Verfassungen  als 
die  Foederal- Verfassung  (die  Mediationsakte)  durchberaten  und  durch 
seinen  Scharfsinn  und  seine  ungewöhnliche  Auffassungsgabe  für  ihn 

1)  Siehe  D.  Jahns   Bonaparte  Talleyrand   et  Stapfer   S.  164,    die  Depesche 
Stapfers  au  Secretaire  d'Etat  Möller-Friedberg  vom  15.  Juli  1802. 


Lugiabuhl,  Philipp  Albert  Stapfer  helvet.  Minister  d.  Künste  u.  Wissensch.    709 

ganz  fremder  Angelegenheiten  alle  Schweizer  in  Erstaunen  gesetzt 
hat.  Als  ersten  Landaniann  der  Schweiz  hatte  der  erste  Konsal  Loais 
d'Affry  von  Freibarg,  Sohn  des  ehemaligen  Obersten  des  schweize- 
rischen Garde-Regiments,  bezeichnet,  welches  am  10.  August  1792 
die  Tuilerien  so  lange  verteidigt  hatte,  bis  der  König  die  Nieder- 
legung der  Waffen  geboten,  welche  Waffenthat  Bonaparte  zufällig 
als  Zuschauer  mit  angesehen  hatte.  Die  helvetische  Regierung  hatte 
am  10.  März  ihre  Gewalt  an  den  Landamann  d'Affry  zu  übertragen, 
und  am  gleichen  Tage  sollte  in  den  Kantonen  die  Staatsgewalt  an 
die  in  Paris  bezeichneten  provisorischen  Organisations-  und  Voll- 
ziehnngs-Kommissionen  ttbergehn;  eben  so  sollten  von  diesem  Tage 
hinweg  die  helvetischen  Truppen  mit  den  in  französischen  Diensten 
stehenden  schweizerischen  Auxiliar-Brigadeu  verschmolzen,  zur  Ver- 
fügung des  Landamanns  gestellt,  aber  in  französische  Verpflegung  ge- 
nommen werden.  Am  10.  Mai  1802  aber,  am  Tage  der  Eröffnung 
der  Tagsatzung  in  Freiburg  unter  dem  Präsidium  des  Landamanns 
d'Affry,  sollten  alle  französischen  Truppen  aus  der  Schweiz  zurück- 
gezogen werden.  Mit  der  Einführung  der  Mediations- Verfassung  hat 
auch  die  Stelle  eines  helvetischen  außerordentlichen  Gesandten  in 
Paris,  welche  Stapfer  seit  dem  Jahr  1800  bekleidet  hatte,  ihr  Ende 
erreicht. 

Stapfers  Ruhm  würde  kaum  darunter  leiden,  wenn  die  5  Jahre 
von  1798  bis  1803  aus  seinem  Leben  herausgeschnitten  werden 
könnten.  Er  stand  erst  in  seinem  37.  Altersjahre,  als  er  im  Früh- 
jahr 1803  aus  dem  öffentlichen  Leben  zurücktrat,  und  erreichte  noch 
ein  Alter  von  74  Jahren. 

Diese  zweite  Hälfte  von  Stapfers  Leben  (1803—1840)  hat  sein 
Biograph  in  das  V.  Kapitel  zusammengedrängt,  und  diese  Kürze  da- 
mit entschuldigt,  daß  das  historische  Interesse  seit  dem  Rücktritt 
Stapfers  vom  öffentlichen  Leben  zurücktrete.  Wir  können  Stapfer 
nur  beglückwünschen,  daß  er  sein  Schifflein  aus  der  Brandung  der 
hohen  See  der  Politik  zeitig  in  den  sicheren  Hafen  der  Wissenschaft 
gerettet  hat.  Stapfer  war  nicht  zum  Seemann  geboren,  und  ist  im 
Jahr  1803  seiner  wirklichen  Lebensbestimmung  wieder  gegeben 
worden  ;  aber  auch  den  Biographen  Stapfers  beglückwünschen   wir, 

1)  Die  Unitarier  hatten  als  ihre  Vertrauensmänner  zu  dieser  Besprechung 
vom  29.  Januar  1802  in  den  Tuilerien  abgeordnet:  Sprecher  von  Bernegg  (aus 
Graubünden),  Dr.  Paul  Usteri  von  Zürich,  Monod  aus  dem  Kanton  Leman  und 
Stapfef)  nachdem  Koch  und  Kuhn  abgelehnt  hatten.  Die  Abgeordneten  der 
Föderalisten  zu  dieser  Konferenz  waren  Hans  v.  Reinhard  von  Zürich ,  d'Affry 
Ton  Freiburg,  Jauch  von  Uri,  Wattenwyl  von  Bern  und  Glntz  von  Solothum« 


710  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  18. 

mit  Rücksicht  auf  die  Art  and  Weise,  wie  er  sein  V.  Kapitel  nnter 
geschickter  Benatzang  der  ihm  za  Gebote  gestandenen  Korrespon- 
denzen and  anderen  Quellen  geschrieben  hat.  Niemand  wird  diesen 
Schloß  des  Bachs  aus  der  Hand  legen  ,  ohne  von  Achtang  fttr  den 
frommen  Gelehrten  and  Menschenfreandy  in  dessen  Leben  er  Einblick 
gewonnen,  darchdrungen  worden  zu  sein. 

In  dieser  zweiten  Hälfte  seines  Lebens  hat  sich  die  Thätigkeit 
Stapfers  namentlich  nach  drei  Richtungen  hin  entwickelt.  Während 
des  Winters  in  Paris  and  während  der  Sommermonate  aaf  seiner 
Besitzung  Belain  in  der  Nähe  der  Haupstadt  oder  auf  dem  seiner 
Schwiegermatter  gehörenden  Schloß  Talcy  bei  Mer  lebend ,  be- 
schäftigte sich  Stapfer,  indem  er,  unterstützt  durch  Gnizot,  den  spä- 
teren Minister,  der  in  seinem  Hause  wohnte  und  die  Erziehang  seiner 
beiden  Söhne  Karl  und  Albert  leitete,  hauptsächlich  mit  litterarischen 
Arbeiten.  Stets  vom  Wunsche  beseelt,  wieder  einen  amtlichen  Wir- 
kungskreis zu  erhalten,  konnte  sich  Stapfer,  wenn  ihm  eine  sol- 
che angeboten  wurde,  sei  es  als  Direktor  der  Kanton -Schule  in 
Aarau,  als  Mitglied  des  oberaargaaischen  großen  Rates  oder  ab 
Lehrer  an  der  Akademie  in  Lausanne,  aus  Rücksichten  für  seine 
Fran  (eine  Französin),  nie  dazu  entschließen ,  Paris  zu  verlassen, 
obschon  er  seinen  Aufenthalt  in  Frankreich  als  ein  Exil  zu  be- 
zeichnen pflegte.  Es  fehlte  ihm  im  Privatleben  wie  im  öffentlichen 
an  Tbatkraft  und  Festigkeit. 

Auch  die  Art  und  Weise  seiner  literarischen  Thätigkeit  trügt 
mehr  den  Charakter  augenblicklichen  Aufraffens,  als  den  der  Naeh- 
haltigkeit.  Er  schrieb  hauptsächlich  Artikel  in  politische  litterarische 
oder  religiöse  Zeitschriften;  aber  kein  grosses  Werk.  Einst  hatte 
er  ein  solches  über  die  erste  Ausbreitung  des  Christentums  za  schreiben 
beabsichtigt  ^)  wozu  er,  bei  seinen  gründlichen  Kenntnissen  fiber  den 
Orient,  besonders  befähigt  gewesen  wäre.  Er  kam  aber  nicht  znr 
AnsarbeituQg  derselben.  Auch  eine  Philosophie  der  Geschichte  hätte 
Stapfer  schreiben  können,  da  er  zu  den  wenigen  Professoren  zählte, 
welche  Geschichte  gemacht  und  nicht  nur  gelesen  haben.  Aber 
auch  dies  blieb  nur  Projekt,  obgleich  Stapfer  wiederholt  die  Absicht 
geäußert  hatte,  die  Geschichte  der  helvetischen  Republik  zu  schreiben, 
und  es  sogar  für  »Pflicht  der  Zeitgenossen  erklärte,  die  Nachwelt 
über  Dinge,  deren  Augenzeuge  man  war,  zu  belehren,  und  ihre  Vor- 
stellungen zu  berichtigen,  um,  wie  Boissy  d'Anglas  sich  ausdrückte, 
seine  deposition  au  tribunal  de  la  postiritä  abzulegen.»  (S.  461.) 
Zu  den  verdienstlichsten  litterarischen  Arbeiten  Stapfers  zählen  wir 
seine  Beteiligung   an   der   »Biblioth&que  universelle«   von  Michand, 

1)  Siehe  Brief  an  Usteri  vom  21.  Febr.  1810  (S.  503). 


Lagiobühl,  Philipp  Albert  Stapfer  helvet.  Minister  d.  Künste  u.  Wissensch.    711 

an  welcher  neben  ihm  Suard,  Cuvier  Lacroix,  Chateaubriand,  Lally 
Tollendal,  Laplace,  Benjamin  Constant,  Sismondi  Guizot  etc.  Mitar- 
beiter waren.  Stapfer  war  der  Verfasser  der  Artikel  Arminius,  Al- 
bertus Magnus,  AdelQng,  BOsching,  BUrger,  Heyne,  Kant,  Lichten- 
berg, Meiners,  J.  D.  Michaelis,  Sokrates  und  Wittenbach. 

Alle  Arbeiten  Stapfers  zeichnen  sich  durch  Gedankenfülle,  Ver- 
standsschärfe und  Gründlichkeit  aus.  Es  entsprach  der  Eigentüm- 
lichkeit Stapfers ,  statt  selbständig  zu  schreiben  Andern  bei  ihren  Ar- 
beiten behUlflich  zu  sein.  So  übersetzte  er  für  seinen  Freund  Viilers 
die  Litteraturgeschichte  Eichhorns  ins  Französische  *)  (S.  477),  auch 
leistete  er  Villers  gute  Hülfe  bei  der  Abfassung  seines  »Lutherc, 
zu  welchem  Werke  Stapfer  eine  meisterhafte  Inhaltsanzeige  schrieb. 
Eine  ähnliche  Inhaltsangabe  schrieb  er  zu  den  von  Villers  übersetzten 
Kreuzzügen  Heerens,  auch  besorgte  er  die  Herausgabe  der  Preis- 
schrift von  Sartorius  »Ueber  Italiens  Zustand  unter  den  Gotbenc. 
Noch  sind  zwei  weitere  Arbeiten  zu  erwähnen,  welche  Stapfer  für 
Andere  machte ;  wir  rechnen  dahin  die  in  den  zwanziger  Jahren  ano- 
nym bei  Renouard  erschienene  berühmte  Schrift  des  Eonstanzer 
Bischofs  Wessenberg  »Essai  snr  T^tat  actuel  de  Täglise  catholique 
Romaine«  und  die  Korrektur  des  Manuskripts  des  Professors  Villers 
»de  la  fausse  gloire,  et  de  la  fausse  liberte« ,  welches  Friedrich  von 
Villers,  des  Verfassers  Bruder,  herausgab.  Eigene  Werke,  welche 
Stapfer  in  dieser  zweiten  Hälfte  seines  Lebens  herausgab ,  sind  fol- 
gende :  sein  »Voyage  pittoresque  de  TOberland  bernois,  Paris  Treuttel 
et  Würz  1812«  und  seine  »Histoire  et  description  de  la  ville  de 
Berne,  Paris  1835«.  Seine  »Melanges  historiques«  sind  im  Jahre  1844 
darch  Alexander  Vinet  in  2  Bänden,  1250  Seiten  haltend,  herausge- 
geben worden. 

Ein  anderes  Gebiet  von  Stapfers  Thätigkeit  während  dieser 
zweiten  Lebenshälfte  war  die  Wohlthätigkeit 

Stapfer  war  der  Stifter  der  schweizerischen  Hülfs- Gesellschaft 
in  Paris,  die  seither  vielen  Tausenden  Hülfe  und  Trost,  ja  manchen 
Bettang  von  physischem  oder  moralischem  Untergang  gebracht  hat. 
Diese  Schöpfung  allein,  die  sich  an  Stapfers  Namen  knüpft,  hat 
in  ansern  Augen  viel  mehr  Wert,  als  die  vielen  wohlgemeinten  Pro- 
jekte, die  er  als  helvetischer  Unterrichts-  und  Cultus-Minister  ausge- 
arbeitet hat,  ohne  dieselben  zur  Vollziehung  zu  bringen.  Wir  er- 
wähnen ferner,  daß  Stapfers  Haus  allen  Schweizern  offen  stand,  die 
in  der  ersten  Hälfte  dieses  Jahrhunderts  nach  Paris  kamen ,  wo  sie 
einen  Kreis  hochgebildeter  und  vortrefflicher  Menschen  vereinigt 
fanden. 

1)  Stapfer  an  Usteri  vom  80.  Juni  1805  und  20.  Febr.  1808. 


712  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  18. 

Ein    drittes  Gebiet  von   Stapfers   Tbätigkeit,  auf  welchem   er 
Begensreieb  wirkte,  war  das  religiöse.    Stapfer,   der    darch  den 
seit  1808  in  Paris  als  protestantischer  Pfarrer  angestellten   Johann 
Monod  dem   positiven  Christentum  wieder  völlig  zugeführt    worden 
war,  das  bei  ihm  während  des  Aufenthalts  in  Göttingen  und  wäh- 
rend  seiner   politischen  Laufbahn   zeitweise  in  etliches  Schwanken 
gekommen  war,  galt  als  das  Haupt  der  Protestanten   in  Frankreich, 
die  ihm  während  mehr  als  20  Jahren  einen  »der  ehrenvollsten  Plätze 
in  der  protestantischen  Kirche   in    Frankreich    sicherten«    (S.  438). 
Sein   Bestreben   war  namentlich   darauf  gerichtet ,    zwischen    dem 
deutschen  und  dem  französischen  Protestantismus  die  möglichste  Ver- 
einigung herbeizuftthren ;  auch  war  er,  von  einer  französischen  Mutter 
abstammend  und  selbst  mit  einer  Französin   verheiratet,    gleichsam 
dazu  berufen,   zwischen  Germanismus   und   Romanismus   vermittelnd 
einzuwirken.    Glauben  ohne  historisches  Christentum  galt  Stapfer  als 
Unsinn  ^).    Auf  dieser  positiv  christlichen  Unterlage  aber  war  er  kon- 
fessionell  sehr  unbefangen.    So  beteiligte  er  sich   nach   dem  Sturze 
Napoleons  lebhaft  bei  der  Gründung  der  >Soci6te  de  la  morale  chr^ 
tienne«,    obschon  deren  Mitglieder  beiden  Eonfessionen  angehörten« 
Durch   diese  Gesellschaft,  an   deren  Generalversammlung  im  Jahre 
1825  Broglie,  Guizot,   Keratry    Rämusat    über    die  Notwendigkeit 
einer  moralischen  Reform  zur  Befestigung  der  politischen  gesprochen 
hatten,  ist  Stapfer  mit  Alexander  Vinet  bekannt  geworden,  der  eine 
ausgeschriebene  Preisaufgabe   über  Eulturfreiheit  einstimmig  gewon- 
nen hatte.    Vinets  Schrift  hatte  einige  Aeßerungen  enthalten^  welche 
die  Katholiken  verletzen  konnten;   diese   sollten   nach  dem  Wunsch 
der  Prüfungs-Eommission  abgeändert  werden,   wozu  sich  Vinet,  von 
Stapfer  dazu  eingeladen,  sofort  bereit  erklärte.    Noch  größere  Thätig- 
keit  entwickelte  Stapfer  auf  dem  Gebiet  der  protestantischen  Eirche, 
welcher  er  angehörte;  so  schrieb  er* häufig  Artikel  in  den  Semeur  und 
in  die  »Archives  du  christianismec   über   sehr   verschiedene  Gegen- 
stände, wie  dieses  aus  deren  Aufzählung  (S.  582)  zu  ersehen  ist.  Aach 
gründete  Stapfer  die»Soci6täbiblique<  und  die  »Society  des  traitesröli- 
gieux«.  Als  eifriger  Anhänger  Eants  war  Stapfer  stets  bemüht,  dessen 
Philosophie  mit  dem  positiven  Christentum  in  Einklang  zu  bringen.    In 
den  letzten  Monaten  seines  Lebens  beschäftigte  er  sich  namentlich  noch 
damit,  die  Behauptung  zu  widerlegen,  daß  die  Philosophie  Piatos  schon 
die  Fundamentalsätze    des    Christentums   enthalte  (S.  511).     Vinet 
hat  in  die  Melanges  historiques    mehr  als   20  Reden   aufgenommen, 
welche  Stapfer  als  Präsident  dieser  verschiedenen  religiösen  protestan- 
tischen Vereine  an  deren  Jahresversammlungen  gehalten  hat.   Die  Bibel- 

1)  Stapfer  an  Usteri  1823  (S.  494). 


Luginbühl,  Philipp  Albert  Stapfer  belret.  ^iniqter  i,  ^toaste  n.  Wissenscb.    713 

gOUellBAl^ft}   nftigje^tlicb    bfttte  di«  Qj^pps^ipo   4?8    ^jPp^ppcvn^ifiujfj 
einer  Zeitschrift  ^dtr^moqt^mw  j^ichjtmi^  ifi  ^.qIq^^  ^er*  1}j;)^do^.  Ä)?b)| 
LaiD^nais  scbriebt  b^rvorg^raf^i;.  Pureb  StopjC^i;  i^f  L^O)|;i;§]p,  gl^qzend 
widerlegt  lyordeq  f)  und  ebenso  bat  ^x  gegep  p^rrs^  Y;9J(i^^ppald  d^ip  ^i^^^-; 
gefii^l^chaft  ^^fplgr^i^b  yerioidj^gt  (S.  5)5).    ][!p  Jabj;e  1^824  b^sorgt^ 
Stapler  die  Korrektur  c|^r  St«i:^,t35p^n  -  ^ib?J  (U^^erfifitaijng  Of^^- 
vraki),  was  ihm  vi^}e  l^übe  iqach^.    l^U  Admiral  Y9r-Qn^i|  Y^>!^°^ 
wirkte  S^pfer  üb^rdips  eifrig  9fl  der.  Mif9io^.f-G^§Q)]^ch%fl|;  ii^  Pi^ri£|. 
In  al^^n   diQBten  ]^teb|ungen    wijirc^e  ej{   wick^^qi    yft^rffützt  d^rch 
IJlair^  4«  Birau,  Unte^pref^t  in  ^erger^c,   ^/c^  i^Ujg.  de  Staßl^ 
S.  YiQcapt  Qnd  J-  Bl^oDod  (^  5AÖ),     Aifi  2^.  ij^^fi^    IS^O  v^j^i^biefl 
Stapfe^  n^cfa  li^qg^^r  Ki:fin^b^t.    K^xa^  yox  n/^ip^  Ta^  fif^tfp  er 
za   eineip   §n  sein.^  l^q^pkßpl^ger  9t6ben4^  ]^i:ei|9d  g^sa^gt:   *Jfi 
doia  i^e  p^öpareif  j^  l'appel  d^  Dien  qai  mp  ^^r^^  ^^^9^^^^  l4^?^ft4'   ^^ 
je  4^ire  (ii^Qjp  pj\er  aifli),  qo.^  yoqs  priez  pppr  ^npi.  IJeipftp^P*  ^M" 
cialem^nt  ä  Dien  qfl'y  me  ft^ss^  qpn^r  rtW  ^lY^iW*  P^°.  W^IS^iÜ 
me^  peph6^,  ms^  coiDdapjinatif^,  afin  qu?  je  §|eq|e  plus  ijiiYpnfeq^  ai;i38i 
rimnfipnsitä  4.e  ^  piiB^ncoE^^  ei^  Je^oa  C\\mti  f^\  quj^  ]fi  m^  dispp^^. 
s^riea^ement  k  »a  T^n^f\ffe.c 

Sollen  Tvir  znifi  Scblqqi^  den  Qesfimmt^^ndrae^  a^aoimfi^flgss^^ 
d^p,  ups  i9^^  yo^liegen^e  Bach  geflia^bt  I?#t,  ^q  ge^^t  er  d^hin ,  4^^ 
darcl)  da^gjßlbe  daa  Lebjsi^bi^d  ej^e^  Maipufif  ypr  ni;^  %nfgf^ojlt  ^ai;^p^^ 
4er  Yon  Natnr  g^t  a^gei^,  A^rph  fpin^  fo^gfälljigf;  grttndl^cfae  ^il- 
4ai^g  zujfi  ^elphrtpn  besstimpit  ficl^pp,  der  a^^ef  ^arcl^  di^  ^Ipyo^qijo: 
nierung  8ein^c|  Vat^rlnp^es  R^?l^?Hc^  9fl(  ^ef  Lpiter  pvljfiefher  A^fli^-  ^^^ 
Et^renstellen  zq  d^n  böplystep  ^^feq  g^lifngfp,  ^o  ihm  e|9^wjf4~ 
lipb  iv;a];de;,  de^  aber^a)B  d^fQh  f^ol^^ippfae  ynj^^t^fipgqi;  ^]^^W'' 
^Ulig  seinen  wirl^Hp^ipn  in^^^p  L^^^e^W  znTlJ;Ckgpgp|)fip ,  |n  dfif 
zi«fgi^en  pjilfte  seinem  Lehpftft  zum  ^pQhgel?il4f|tc}lj  GQJp^rten  yop  5jel- 
tener  Herzensgute  sich  entsickelt,  uud  ia  den  gebildetesten  Kreisen 
vqn  P^yi?  9^nq  berYo^ragen^e  StpUftfig  ejngeppRjipftp  ha^  I^i  Riesen 
l^rpiften,  in  w^lcbe^  Stftpfpr  ^ftit  ßfi;  Fj^ihe^t  ejije?  altep.  Djplqma^en 
sieb  b^wegtft  fap^ep  ^fl^  Gej^t  ui\4  feiiji^  e[alt9  fMx  feine  gei^^feifhp 
IjJoB^y^rsi^tjflp ,  fttr  ^e|ph^  er  st^  yi^.  §inn  ^ehalp^  |^^fte  ^  ^rst  ^hi^e 
rechte  Geltung ;  während  dies  vori}^]8  ip  ^pik  djplqn^fi^^t^pn  ^rf^^eO} 

ifl  yH^M>)m  er.  i\^  Qf\^^ex  pifitt^«  ^^¥}^^  H^  ^^4\\  ^^  0?ichen 
>^ft««fi  dpT  FliU  ^ar^  gtfipfec?  fpjpfttljlflnde? ,  bpfchei^efl?^ ,  ^.p^ni^ht^ 
äpgstlt^he^  T?^P9ep  Pft^^fi  jii  J99.e  Kreiq^  picht  r^e^^^,  wo  f^ijdef^  f^^l^: 
m*A  Hi?l  l^<)hf  Q^^^^irt  und  f^ii;^?  Wäs^j^?^  Bla^ier^he^  (da8  nU  fl^T 
ri^rü  qnfl  kq^r^l^tpr^nzüg  eptjpljjqd^nd qjij^^.  ye|)er^^npnt f|\),9r g^^ß(i 
Ijyrfwatoi  »  <^plehrfeif)trei8fii)^  wq  ^e  ^l^  piyppjfi?  %ft<fhtet  i^^- 
den,  die  mit  den  QQtt^ri^  dieser  IjV^H  ver^g bren,  in  der  Regel  mehr 
1)  ^iehe  MqDit^nr  uniyeuiel  28.  April  1823. 

QOtt.  gel.  Am.  1B87.  Nr.  18.  49 


114  Öött.  gel.  Am.  1887.  Nr.  18. 

als  die  Gelehrten  bei  den  Diplomaten,  denen  sie  als  Pedanten  er- 
Bcbeinen,  sobald  deren  Gelehrsamkeit  unbequem  wird. 

Im  Allgemeinen  erscheint  mir  die  zweite  Hälfte  von  Stapfers 
Leben  viel  bedeutender  als  die  erste,  die  ihm  allerdings  zwei  ephe- 
mere Titel,  den  eines  »Ministers  der  helvetischen  Republik«  und  den 
eines  »helvetischen  Gesandten  in  Paris«  einbrachte,  innerhalb  welcher 
er  aber  nichts  Bleibendes  geschaffen  hat,  während  in  der  zweiten 
Hälfte  seines  Lebens  Stapfer  sich  durch  die  Stiftung  der  schwei- 
rischen  Httlfsgesellschaft  in  Paris  ein  bleibendes  Verdienst 
um  die  leidende  Menschheit  und  durch  seine  wissenschaftlichen 
Schriften  und  durch  seine  Reden  in  verschiedenen  wohlthätigen  und 
religiösen  Vereinen  einen  geachteten  Namen  erworben ,  Vielen ,  die 
ihn  lasen  oder  hörten,  Förderung,  Genuß  und  Trost  gebracht  hat. 

In  dieser  zweiten  Hälfte  seines  Lebens  ist  Stapfer  erst  zu  dem 
hervorragenden  Manne  geworden,  denMonod  undVinetso  innig  ver- 
ehrten, den  die  Brüder  Humboldt  und  viele  andere  ausgezeichnete 
Gelehrte  preisen.  In  dieser  zweiten  Hälfte  seines  Lebens  hat  Stapfer 
auch  den  weiten  Horizont  gewonnen,  der  ihn  veranlaßte,  seinen 
Freund  Friedrich  Caesar  de  Laharpe,  der  nicht  an  Christum  glaubte, 
mit  aller  Schonung  davon  zu  Überzeugen,  daß  die  Lehren  des 
Christentums  hoch  ttber  dem  nationalen  Egoismus  der  Griechen  und 
Römer  stehn,  dem  Laharpe  huldigte, '  während  in  der  ersten  Hälfte 
seines  Lebens  sein  politischer  Horizont  noch  so  enge  war,  daß  er 
gegen  alle  ungerecht  wurde,  welche  nicht  an  die  Vortrefflichkeit  der 
einen  und  unteilbaren  helvetischen  Republik  glaubten  und  die  sich 
nicht  unter  die  dreifarbige  helvetische  Fahne  einreihten ,  welche 
Fahne  doch  nur  eine  Nachahmung  der  französischen  Tricolore  war, 
die  denn  auch  in  sich  zusammenfiel  vom  Augenblicke  an,  wo  der 
elektrische  Draht,  der  sie  mit  Paris  verband,   zerissen  worden  war! 


Auch  die  Korrespondenz  mit  seinen  Schweizer  •  Freunden  Us- 
teri,  de  Laharpe,  Rengger,  Zschokke,  Bonstetten  u.  s.  w.,  in  welcher 
er  Fragen  aus  allen  Gebieten  menschlichen  Wissens  besprach,  be- 
weisen, wie  sehr  sich  Stapfer  in  dieser  zweiten  Hälfte  seines  Lebens 
geistig  entwickelt  und  gehoben  hat 

Seine  literarische  Thätigkeit  hatte  ihn  mit  vielen  französischen, 
deutschen  und  schweizerischen  Gelehrten  ersten  Ranges  in  Verbindung 
gebracht,  wie  Laplace,  Lebreton,  Cuvier,  Cousin,  Degerando,  Guizot, 
namentlich  aber  mit  Alexander  v.  Humboldt,  der  während  der  Heraus- 
gabe seines  großen  Reisewerks  in  Paris  häufig  bei  Stapfer  in  Belain 
wohnte.  Diese  alle  achteten  ihn  hoch.  »Wer  den  Besten  seiner 
Zeit  genug  gethan,  der  hat  gelebt  für  alle  Zeiten  c 

Bern,  Mai  1887.        Dr.  A.  von  Gonzenbach. 


Nordiskt  medicinskt  ArkiT.    XVm.  715 

Nordiskt  medicinskt  Arkiv.  Redigeradt  af  Dr.  Axel  Key,  Professor  i 
patol.  Anat.  i  Stockholm.  Adertonde  bandet.  Med  10  tafler  och  6  träsnitt. 
1886.  Stockholm,  Norrstedt  &  soner.  In  28  besonders  paginierten  Nummern, 
gr.  8. 

Der  Keichtnm  an  intereBsanten  Beiträgen  ans  fast  sämtlichen 
Abteilangen  der  Heilkunde^  wie  ihn  regelmäßig  die  einzelnen  Jahrgänge 
des  Nordischen  Archivs  darbieten ,  charakterisiert  aach  den  vor- 
liegenden 18.  Band,  in  welchem  die  theoretischen  und  praktischen 
Fächer  in  gleicher  Weise  vertreten  sind.  Der  Band  wird  eingelei- 
tet durch  den  Schluß  einer  Studie  von  Prof.  K.  Hällsten  (Helsingfors) 
ttber  die  Beziehungen  der  sensiblen  Nerven  und  die  Reflexapparate 
des  Rückenmarks,  in  welcher  namentlich  das  verschiedenartige  Ver- 
halten der  Reflexe  unter  der  Einwirkung  differenter  (chemischer, 
elektrischer,  thermischer  und  mechanischer)  Reize  auf  die  peripheren 
Nerven  an  und  fUr  sich  und  bei  unversehrtem  und  durchschnittenem 
Rttckenmarke  experimentell  untersucht  wird.  Die  Arbeit,  in  welcher 
der  Verfasser  die  Lehre  von  den  spezifischen  Sinnesenergien  zurück- 
weist und  den  qualitativ  verschiedenen  Reizmitteln  ebenso  viele  qua- 
litative verschiedene  nervöse  Erregangsvorgänge  zuschreibt,  zugleich 
aber  die  Anschauung  vertritt,  daß  identische  Erregungsvorgänge  bei 
ihrer  Fortpflanzung  durch  Abschnitt  des  zentralen  Nervensystems 
ihre  Qualität  verändern  können,  bedarf  indeß  eines  näheren  Ein- 
gehens nicht,  da  Hällsten  seine  Versuche  auch  in  deutscher  Sprache 
im  Archiv  ftlr  Anatomie  und  Physiologie  veröffentlicht  hat. 

Fast  rein  physiologischen  Inhalts,  jedoch  mit  einer  praktischen 
Tendenz,  ist  auch  eine  Arbeit  von  Dr.  Jens  Schon  (Kopenhagen)  ttber 
traumatische  Vagusläsionen,  wie  solche  ja  bei  den  neuerdings  in  die 
Mode  gekommenen  Eehlkopfexstirpationen  manchmal  nicht  zu  ver- 
meiden sind.  Es  ist  bekannt,  daß  bei  Menschen  auch  einseitige 
Vagusdurchschneidung  zu  Pneumonie  ftthrt,  während  das  bei  Tieren 
nur  selten  der  Fall  ist.  Da  diese  Pneumonien  Schlnckpneamonien 
sind,  ist  allerdings,  wie  Schon  richtig  betont,  in  allen  Fällen,  wo 
der  Vagus  angeschnitten  wird,  die  Kehlkopftamponade  rationell,  und 
gegen  die  Bewerkstelligung  derselben  mit  antiseptischem  Materiale, 
welche  der  dänische  Autor  anrät,  ist  ebenfalls  nichts  zn  einzuwen- 
den ,  nur  dttrfte  das  Jodoform  nach  den  Untersuchungen  Aschen- 
brenners zu  beanstanden  sein,  da  in  der  Nähe  der  Respirationswege 
appliciertes  Jodoform  zu  Lungenentzündung  Anlaß  geben  kann. 

Der  physiologischen  Chemie  gehören  Arbeiten  von  Gand.  pharm. 
A.  Ghristensen  (Kopenhagen)  ttber  die  quantitativen  Bestimmnngs- 
methoden  des  Harnstoffs  und  von  Chr.  Jttrgensen  (Kopenhagen)  ttber 
die  Nahrnngsstoffmengen  bei  freigewählter  Kost  erwachsener  Men- 
schen und  deren»  Verteilung  anf  die  Tagesmabizeiten  an.  Christensen's 
Arbeit  ist  eine  Preisschrift  der  Kopenhagener  Universität  nnd  gibt 
nicht  nnr  eine  genaue  Prttfung  der  bisher  bekannten  Methoden  zur 


716  Gott,  t^el  Ana.  1887.  Kr.  18. 

quantitativen  ^J^esUifaintiiig  des  Bknibtoffä ,  ilonderh  Äncb  bin  eigetfc^ 
Yerfabren  äes  yerlassers^  zur  Ebntrolle  (lie  beiden  SpaUangsprodukte 
des  Harnstoffs,  Kohlensäure  and  Ammoniak,  auf  einmal  dorcb  die- 
selbe Hamprobe  zu  bestimmen.  Die  Resultate  Jürgensens  entsprechen 
im  Wesentlichen  den  frOher  von  Forster  bei  der  Untersuchung  der 
Kost  eines  MOnchener  Arztes  erhaltenen,  doch  ist  die  Eopenhagener 
Nahrung  reicher  an  Fett  und  ärmer  an  Kohlehydraten.  Die  Arbeit 
ist  übrigens  auch  in  der  Zeitschrift  fttr  Biologie  mitgeteilt. 

Die  pathologische  Chemie  vertritt  K.  A.  H.  Moerner  (Stockholm) 
durch  einen  Beitrag  zur  Kenntnis  der  Farbstoffe  in  melanotischen 
Geschwülsten.  Der  Autor  hat  in  einem  multiplen  Sarkom,  das 
seinen  Ausgangspunkt  von  einem  Naevus  hypertrophicus  der  Schul- 
tern hatte,  zwei  Farbstoffe,  einen  in  Essigsäure  unlöslichen,  aller  Wahr- 
scheinlichkeit nach  mit  der  als  Phymatorusin  von  Berdez  und  Nencki 
bezeichneten  Substanz  identischen,  und  einen  in  geringer  Mengen 
vorhandenen,  in  Essigsäure  löslichen,  gefunden.  Interessant  ist,  das 
Moerner  den  ersten  Farbstoff  auch  in  dem  während  der  Beobach- 
tangsdauer  stets  dunkelgef&rbten  Urin  des  Kranken  auffand. 

Eine  sehr  umfangreiche  chemische  Arbeit  bildet  die  Studie  von 
Eduard  Welander  (Stockholm)  über  Absorption  und  Elimination  des 
Quecksilbers  im  menschlichen  Organismus,  die  der  Verfasser  in  Ver- 
bindung mit  dem  Pharmaceuten  Schillberg  nach  einem  ursprüng- 
lich von  Alm6n  angegebenen  Verfahren  ausführte,  die  auf  SnbHma- 
tion  des  auf  Kupferdraht  abgelagerten  Quecksilbers  und  Nachweis 
des  letzteren  durch  das  Mikroskop  beruht.  Die  Empfindlichkeit  die- 
ser  Methode  läßt  sicherlich  nichts  zu  wünschen  übrig,  da  der  Qaeck- 
silbernachweis  in  Sublimatlösungen  von  1 :  10.000000  dadurch  mög- 
lich ist.  Die  auf  Grundlage  dieses  Verfahrens  angestellten  Unter- 
suchungen sind  außerordentlich  zahlreich  und  deren  Resultate  inter- 
essant. So  fand  Welander  z.  B.  Quecksilber  in  dem  Harne  aller 
derjenigen  Personen,  welche  das  Einreiben  grauer  Quecksilbersalbe 
bei  Syphilitischen  als  Geschäft  betrieben.  Daß  auch  die  von  Ziemsseii 
eingeführte  Applikation  mittelst  Glaskugeln  nicht  vor  der  Absorption 
schützt,  hat  Welander  wiederholt  konstatiert.  Selbst  bei  einer  Per- 
son, die  eine  solche  Kratikenpflegerin  bei  ihren  iatroliptischen  Wan- 
derungen begleitete ,  ohne  selbst  jemals  direkt  mit  Mercnrialien  zn 
manipulieren,  fttnd  sich  Quecksilber  im  Urin.  Von  großem  Interesse 
ist  ftir  uns  der  Fall  gewesen,  in  welchem  eine  Wärterin,  die  seit 
1873  fast  täglich  Friktionen  mittelst  des  Handschuhs  ausgeführt 
hatte,  nach  5  Jahren  von  chronischer  Quecksilbervergiftung  (Stoom- 
titis.  Zittern)  befallen  wurde  und  dabei  starke  Ausscheidung  von  Mer- 
cur  durch  die  Nieren  zeigte,  und  nach  4monatlteher  Behandlung 
mittelst  Massage  und  Elektrieität  genas,  ohne  daß  jedoch  selbst  hier 


Nordisftt  medicinskt  Arkir.    XVIII.  717 

TlollfitäDdig  das  lletcai*  aus  detn  Öatn  verschwandeii  Wähe.  Die  AI- 
m^DBche  Methode  ist  so  empfindlich,  daB  sie  sogar  den  Nachweis  in 
dett  Harn  von  Säuglingen  liefert,  deren  Mutter  3  Tage  zuvol-  eine 
Sablitnatinjektion  erhalten  hat,  wie  auch  dadurch  das  Metall  bei 
Nengebornen  nachgewiesen  wurde,  deren  Mutter  Snblimatkuren  wäh- 
r^  der  Gravidität  durchgemacht  hatte,  lieber  die  HanptstVeft- 
fragei),  die  in  Bezog  auf  die  Ausscheidung  des  Quecksilbers  bei 
neuen  Autoren  aufgetreten  sind,  äußert  sich  Welander  mit  einiger 
ReiServe.  Er  gibt  zu,  daß  auch  die  Faeces  ein  gutes  Untersuchnngs- 
objekt  abgeben,  ohne  jedoch  zu  entscheiden,  ob  die  Elimination  durch 
den  Darm  oder  durch  den  Harn  die  bedeutendere  sei.  Mit  Entschie- 
denheit spricht  sich  Weiander  für  die  kontinuierliche,  nicht  sprung- 
weise Elimination  aus  und  erklärt  die  mehrjährigen  Termine,  die 
steh  in  der  Litteratur  ftlr  die  Beendigung  der  Ausscheidung  finden, 
für  die  Folge  ungenauer  oder  unrichtiger  anamnestischer  Angaben; 
nach  eigenen  Erfahrungen  läßt  er  jedoch  einen  Zeitraum  von  etwas 
ttber  1  Jahr  als  möglich  zu.  Es  ist  uns  nicht  möglich,  einzusehen, 
daß  die  von  uns  gern  zugelassene  kontinuierliche  Ausscheiduiüg  es 
unumgänglich  notwendig  macht,  die  Angaben  von  Pasehkis  and  Vajda 
für  irrtümliche  zu  erklären.  Welander  meint  sogar,  daß  dieselbe 
unverträglich  sei  mit  einer  Deposition,  und  er  glaubt,  daß  das  Queck- 
silber im  Blute  cirkuliere,  ifi  welcfae^m  er  in  der  That  i^eichlich  Queck- 
silber naebwies.  Das  ist  nicht  auffällig,  beweist  aber  nichts  für  und 
wider,  denn  da  das  Blut  dasjenige  Fluidum  ist,  in  welches  die  de- 
ponierten MetaHverbindungen  wieder  eratretefn  mtlssen,  uih  zu  den 
eliminierenden  Organen  zu  gelangen,  und  da  neben  den  Nieren  auch 
Darm,  Sf^eicheldrttsen  n.  a.  Drüsen  das  Quecksilber  fortschaffen,  so 
ist  es  giant  natürlich,  daß  sich  mehr  Quecksilber  im  Blute  findet, 
als  %leicbeeitig  durch  den  Harn  fortgeschafft  wird.  Ich  möchte  indes 
daran  eritinern,  daß  wiederholt  Quecksilber  in  Knochen  mit  Innnkti'on 
behandelter  Syphilitischer  schon  gefunden  ist  (was  jetzt  kaum  noch 
vorkomtiien  dürfte,  seit  man  minder  intensiv  ate  Louvrier  und  Rü^ 
KU  Werke  geht)  und  daß  man  bei  der  Ablagerung  in  so  ti^eni^  ihm 
SfoffWechsel  unterworftinen  Teilen  doch  die  MOglidikeit  ^eitres  Wife- 
derauftretenb  von  Quecksilber  in  den  Sekreten  üilter  gbwi^en  de- 
dingungen  zugeben  muß.  Daß  andererseits  leicht  Irrtütner  bei  Sfiital- 
krainkeh  begangen  werden  können,  die  sich  tn  der  Atmösph^lre  iUl'er 
Bcbinierend^n  Bettnachbbfn  -aufhalten,  beweist  di^  obige  Angäbe  We- 
lafadei^  ttber  das  Quecksilber  im  Harn  einer  Begleiterin  einet  mit 
Inonktionen  Sich  beschäftigenden  Wärterin.  Praktische  Bedentcmg 
bäben  Hbrigeirs  Weländers  Utttersudhungeti  Üisofern,  als  sie  die  Vor- 
züge der  Intmktionskur  und  der  Subkotaninjektion  bei  Syphilis  gegen- 
über 'den  Pttküfcoren  in  sölcben  taieh  dartbun,  wo  ^in  ts^idöt  fM& 


718  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  18. 

wichtiger  Effekt  erzielt  werden  soll,  da  die  rasche  Resorption  größe- 
rer Qaecksilbermengen  nur  durch  erstere  gewährleistet  wird. 

Der  allgemeinen  Pathologie  gehOrt  eine  Studie  von  0.  Johan- 
Olsen  und  F.  6.  Oade  (Cbristiania)  über  intravenöse  Injektion  mit 
einer  neuen  Aspergillusspecies,  A.  subfuscus,  an;  die  Arbeit  ist  auch 
botanisch  von  Interesse,  insofern  detaillierte  Beschreibungen  und  Abbil- 
dungen der  einzelnen  Species  der  genannten  Gattung  beigefügt  werden. 

Außerordentlich  reichhaltig  ist  der  vorliegende  Band  an  Beiträ- 
gen aus  der  speciellen  Pathologie  und  Therapie.  Eine  sehr  inter- 
essante Arbeit  ist  darunter  ein  von  Johannes  Mygge  (Kopenhagen) 
auf  der  1886er  skandinavischen  Naturforscherversammlung  zu  Cbri- 
stiania gehaltener  Vortrag  über  den  klinischen  Wert  der  Harnsäure- 
Sedimente  in  Urin,  insbesondere  über  die  Beziehungen  derselben  zur 
Albuminurie,  die  allerdings  a  priori  erscheinen,  sehr  innig,  da  diese 
Sedimente  in  der  Regel  auch  morphologische  Elemente  enthalten, 
welche  unstreitig  von  den  Nieren  sich  ableiten.  Ob  dabei  freilich 
die  übersättigten  Harnsänreiösungen  die  Ursache  von  Epithelabstoftnng 
sind  oder  andererseits  nach  Esbachs  Ansicht  das  Vorhandensein  der- 
artiger organischer  Massen  die  Fällung  der  Harnsäure  bedingt,  ist 
nicht  immer  zu  ermitteln  ;  doch  geht  in  vielen  Fällen  die  Albuminurie 
der  Harnsäureausscheidung  voraus.  Eine  andre  dänische  Arbeit  von 
Fr.  Hailager  (Viborg)  handelt  über  die  Gewichtsabnahme  nach  epi- 
leptischen Anfällen,  als  deren  Ursache  sich  in  zwei  untersuchten 
Fällen  die  vermehrte  Abscbeidung  von  Harn  nach  dem  Paroxysmns 
evident  herausstellte.  Die  bei  psychischer  Epilepsie  eintretende  Ge- 
wichtsabnahme hat  im  Gegenteile  damit  nichts  gemein,  sondern  gebt 
mit  Verminderung  der  Diurese  einher,  die  von  veränderter  Nahrangs- 
aufnähme  abhängt.  Eine  dritte  Abhandlung  aus  dem  Gebiete  der 
inneren  Medicin  ist  ein  von  P.  V.  S.  Tham  auf  der  schwedischen  Ver- 
sammlung der  Aerzte  zu  Jönköping  gehaltener  Vortrag  über  verschiedene 
Epidemien  kroupöser  Pneumonien,  bei  denen  er  Eontagiosität  annimmt, 
ohne  im  Uebrigen  den  Einfluß  atmosphärischer  Schädlichkeiten  auf 
deren  Entstehung  abweisen  zu  können.  Einen  interessanten  Beitrag  za 
der  anfallsweise  auftretenden  Haemoglobinur  liefert  Bruzelius  (Stock- 
holm) durch  Mitteilung  der  drei  ersten  schwedischen  Fälle  dieser 
Affektion,  die  im  Norden  außerordentlich  selten  zu  sein  scheint,  da 
außerdem  nur  noch  zwei  Fälle  aus  Norwegen  beschrieben  sind.  Bru- 
zelius Kranken  bieten  insofern  besonderes  Interesse,  als  bei  allen 
dreien  regelmäßig  Erkältung  als  Ursache  des  Auftretens  des  Anfalls 
nachweisbar  war,  während  bei  zweien  mit  Bestimmtheit  Syphilis  aus- 
geschlossen ist,  welche  Murri  nnd  Schumacher  als  die  wahre  Ursache 
des  Leidens  betrachten.  Endlich  ist  noch  ein  Aufsatz  von  F.  Trier 
(Kopenhagen)   zu   erwähnen,   welcher  drei  Fälle  enthält,  in  denra 


Nordiffkt  medicinskt  Arkiv.    XYIII.  719 

tödliche  Metrarhagie  im  Verlaufe  yon  cbrooischer  Nephritis  auftrat, 
ohne  daß  die  Sektion,  voo  etwas  Verdickung  der  kleinen  Arterien 
des  Uterus  abgesebn,  in  letzterem  histologische  Alterationen  nachwies. 

Von  den  chirurgischen  Arbeiten  im  vorliegenden  Jahrgange  ha- 
ben wir  die  auf  Beobachtungen  im  Stockholmer  Sabbatsberger  Kran- 
kenhause basierenden  Aufsätze  von  Glas  über  Sublimatjodoformanti- 
septik  und  von  Ivar  Svensson  und  Erdmann  über  Radikaloperation 
freier  Hernien  bereits  in  unserer  Besprechung  des  188öer  babbats- 
berger  Berichtes  erledigt.  Zwei  andere  Abhandlungen  sind  däni- 
schen Ursprunges.  In  der  einen  handelt  der  Oberarzt  am  Blegdams- 
hospital  zu  Kopenhagen,  S.  T.  Sörensen,  über  Kroup  und  Tracheo- 
tomie,  wobei  er  sich  als  Anhänger  der  Theorie  der  Unität  von  Kroup 
und  Diphtheritis  bekennt.  Diese  Ansicht  gründet  sich  auf  die  persön- 
liche Erfahrung  des  Verfassers,  wonach  er  bei  10  Kranken  7  Mal 
den  kleinen  Klebs'schen  Bacillus,  in  welchem  Löffler  den  Autor  der 
Diphtherie  erkannt  hat,  auffand,  während  2  Mal  das  Resultat  unge- 
wiß und  1  Mal  negativ  war.  Bei  7  Kranken,  wo  es  sich  nicht  um 
die  septische  Form  handelte,  enthielten  die  bei  Lebzeiten  ausgewor- 
fenen Membranen  nur  eine  sehr  beschränkte  Anzahl  Kokken.  Bei 
zwei  Kranken  mit  Pharynxdiphtherie  waren  die  bei  der  Sektion  ge- 
fundenen, leicht  ablösbaren  Membranen  im  Kehlkopf  voll  von  Ba- 
cillen. Sörensen  hat  den  Bacillus  auch  bei  kroupöser  Pneumonie  ge- 
sucht, aber  vergeblich.  In  einer  weiteren  Arbeit  resümiert  Joachim 
Bondesen  die  im  Kopenhagener  Kommunehospitale  gesammelten  Er- 
fahrnngen  ttber  die  Behandlung  der  Haemarthrosis  genus  und  der 
Fractur  der  Patella.  Es  ergibt  sich  daraus  zur  Evidenz,  daß  die 
Punktion  bei  der  erstem,  wenn  sie  frühzeitig  gemacht  wird,  weit 
rascher  als  die  expektative  Methode  zur  Heilung  führt,  während 
nach  Eintritt  der  Koagulation  die  Arthrotomie  und  Entleerung  keine 
Vorzüge  von  dem  abwartenden  Verfahren  bietet.  Bei  Bruch  der 
Kniescheibe  mit  geringer  Diastase  hat  Bondesen  durch  Punktion  und 
Kompression  mit  Heftpflaster  komplete  Heilung  erzielt,  bei  starker 
Diastase  durch  Arthrotomie  und  Knochennaht,  deren  Ausführung  er 
für  ebenso  gerechtfertigt  hält,  wie  die  Osterotomie  bei  Genu  valgum 
nnd  die  Excision  von  Gelenkmäusen. 

Die  Ophthalmologie  ist  vertreten  durch  eine  Arbeit  von  Karl 
RoBsander  (Stockholm)  über  die  Behandlung  der  Entzündung  der 
Thränenwege,  und  eine  Untersuchung  von  Dr.  Johan  Widmarik 
(Stockholm)  über  das  Vorkommen  von  Refraktionsanomalieen  bei  den 
Schulkindern  der  schwedischen  Hauptstadt  Rossander  hebt  hervor, 
daß  Entzündungen  der  Thränenwege,  obschon  allgemein  als  unbe- 
deutend betrachtet,  doch  als  Infektionen  durch  Mikroorganismen  zu 
betrachten  sind,  von  denen  man  Gonokokken,  Staphylokokken  n.  a. 
mehr  oder  weniger  virulente  Formen  immer  in  den  Sekreten  fin- 
det. Dieselben  können  auch,  besonders  wenn  Verengung  des  Thrä- 
nenkanals  den  Abfluß  der  Thränen  und  der  Sekrete  hindert,  in 
den  Konjunctivalsack  gelangen  und  auf  zufällig  vorhandene  oder 
durch  Operationen  entstandene  Wunden  vergiftend  wirken,  wodurch 
langwierige  Geschwüre  oder  Eiterungen  z.  B.  nach  Kataraktopera- 
tionen resultieren.  Während  man  durch  die  antiseptische  Methode 
die  anderen  Quellen  der  Infektion  zu  eliminieren  vermag,  ist  die 
Antiseptik  vor  nnd  während   der  Operation  gegen  diese  Quelle  nn- 


720.  Gott.  gel.  Aqz.  1887.  Nr.  1& 

genügend,  und  09  ist  ateto  nötig  aDorgiscli  gegen  ^^  (HÜL^oeystiti» 
eiozoscbreiten,  i^obei  man  keineswegs  allein  die  Verengung,  sondern 
anob  an.d  oft  in  erster  Linie  die  Blennorrhagie  als  Angrifibpnnkt  za 
wählen  bat.  Antiseptiscbe  Wascbangen  und  später  ad^tringiefende 
iDJek^oneD  werden  wesentlicb  durch  yollst&ndige  Oeffuung  deaTh^Ji- 
ueoiiaiCks  nntersttttzt,  der  häufig  mit  Eiter  erfüllte  Becesse  enthält, 
die  uur  durch  Spaltuug  entleert  werden  können  und  die  bekannt^ 
SondenbehaudluDg  oft  erfolglos  naschen.  In  Be^ug  auf  letztere  ena- 
pfi.eblt  Kossander  in  schwierigen  FäUen  die  Methode  von  Stilliqg. 
VVidiparck  bat  752  Mädchen  nnd  704  Knaben  in  den  Stpckholmet 
Schulen  auf  Myopie  untersucht  und  dabei  das  auch  in  Deatachiand 
konstante  Resultat  der  Zunahme  der  Kurzsicbtigkeit  in  höheren  Klas- 
sen erhalten,  ja  die  von  ihm  erhaltenen  Zahlen  zeigen  dentli^eb,  daft 
4ie  Znnabme  der  Kurzsichtigkeit  nicht  dem  Alter  der  Kinder,  son- 
dern der  ]^lassen  adäquat  wächst  und  daft  sonüt  die  Vermehrung  der 
KI{|8Aenarbeiten  die  Ursache  dieser  Srscbein^ngen  ist.  In  böhereii 
KlaBsen  waren  Übrigens  die  Mädchen  mehr  myopisch  als  die  Knaben. 
Aus  dem  Gebiete  der  Qehurtshilfe  liefert  der  vorljegende  B^nd 
des  Archivs  einen  vom  Autor  besorgten  Auszug  ans  der  KopeAkageuer 
Doktordissertation  von  Anton  Flöystrnp  über  Kraniciklasie  nnA  «pe- 
cieU  tt.h/er  deren  Technik.  Die  Arbeit  enthält  nicht  nur  d^e  Besnl- 
tai(e  der  unter  Stadfeld  vom  Verfasser  an  32  Kindesleicben,  teils  am 
gf^^öbnUchen  Phantom,  teils  bei  künstlicher  Verengerung  der  K^n- 
gata  mit  iiüUfe  you  Zinkplatten  mit  Beihilfe  eines.  aW  Dynamojneter 
oingericbteten  Traktionaapparats  ausgeführten  Versuche,  sondern  an^b 
die  von  ihm  seibßt  in  der  Kopenbagener  Entbindungsanstalt  gewon- 
nenen Erfahrangeu  über  Kranioklasie,  welche  relativ  gtlosti^  sind, 
iaspfern  voa  1&  Fällen  nur  2  den  Tod  zur  Folg?  batten.  3ekaM(- 
1^  ist  die  Mortalität  bei  dieser  Operation  nach  neueren  Antwen  eiQ§ 
¥[eit  geringere  als  in  der  ersten  Zeit,  wo  Rokitansky,  Bidder  nnd 
Qraun  etwa  ein  Drittel  der  Mütter  verloren,  bei  denen  die  Kranior 
klas^ie  yoUzogen  war.  Indessen  hat  eine  solche  snmnnMriseha  Angabe 
d^  >f,9;et4^U(ät  nur  einen  geringen  Wert,  da  zweifelsobnf^  der  QxuA 
d/ii;  ßeckenverengung  einen  wesentlichen  £inflnft  auf  den  Anw^AS 
bat  Das  beweist  auch  eine  Zusammenstellung  vnn  Fiöystcup  fik^i 
1(H  ^i[aniokla9ien,  wo  der  Grad  der  Beckenverengang  angageben 
18^  nn^  lyp.  aich  bei  einer  Konjugata  über  85  Hm*  (26i  Fälle)  eine 
SteifWichkeit  yon  4,3  Froc,  bei  einer  Konjugata  von  85.— 10  1(  (oft 
F^Ue)  eine  Mortalität  von  8,5  Procent,  bei  einer  Konjugatfi  antar  10 
Mm.  (19  Fälle)  aber  eine  solche  von  11,1  Procent  ergibt.  Diei  2i^ 
fern  i|ind  allerdings  zu  klein,  um  diese  ProcentverhältniMe  nVi  sta- 
bile b/strachten  zu  künnen,  aber  der  Unterschied  ist  ein  so  pr^i^nan- 
te(,  d&^  dfr  Qrad  der  Beckenenge  als  wesentlich  bC4timinca4  fte 
dcA  A^ß&^^e  anzusehen  ist.  Bestimmend  i^  übr^ens  neben  dec 
Bi^kepei^e  die  Ausführnng  der  Operation  an)^  vorliegenden  oder 
nachfolgenden  Kopfe,  da  letztere,  wie  auoh  die  KopevAngenar  G^-. 
f^brnngen  bestätigen,  eine  weit  B(^ilechtere  Prognose  bietet. 

Tb.  Hnsemi^n. 


F«r  die  Redation  terantwortlich :   Prof.  Di.  JftehM,  Direktor  der  G6U.  gel.  4^*» 
Assessor  der  Königliclien  Gesellschaft  der  Wissensduifteii. 
r«ri(v  der  JHtUrieh'tekm  Ymiagt'BvchhtMdkmQ, 
Ifmdk  dir  J^kkri^^sehm  üni9,'Budidmcktrn  (SV,  W.  Xamintr), 


• 


If 


(  I'CT  25   1887     ' 


721 


Göttingische 


gelehrte  Anzeigen 


anter  der  Aufsicht 


derKönigl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

JSTr.  19.  15,  September  1887. 


Preis  des  Jahrganges :  JL  24  (mit  den  »Nachrichten  d.  k.  G.  d.  Wiss.c :  uK  27). 
^^  Preis  der  einzelnen  Nammer  nach  Anzahl  der  Bogen:  der  Bogen  50  ^ 

Inhalt:  Dr.  Martin  Luthers  Werke.  III.  lY.  Von  Kolde,  —  Hanck,  KirchengMchichte 
DontsehJands.  I.  Ton  Mdüer.  —  Fester,  Die  arrairten  St&nde  und  die  Beichskriegsverfasanng 
(1681—1697).    Von  Krel», 

zi^  Eigenmäohtiger  Abdruck  von  Artikeln  der  6ltt.  gel.  Anzeigen  verboten.  :=: 


Dr.  Martin  Lnthers  Werlce,  Icritische  Gesammtausgabe.    Weimar,  Hermann 
Böhlau.    Bd.  III.  1885.    652  S.  —  Bd.  IV.     1886.    717  S.    8«. 

Daß  der  anfängliche  Plan  für  die  kritische  Ausgabe  von  Luthers 
Werken  im  Laufe  der  Zeit  manche  Veränderung  erfahren  würde, 
was  an  und  für  sich  gewiß  kein  Schade  ist,  war  vorauszusehen. 
Schon  der  Umstand,  daß  die  Größe  der  Aufgabe  die  Fortftlhrung 
der  Herausgabe  durch  eine  einzige  Kraft  unmöglich  machen  würde, 
ließ  dies  erwarten.  Mit  Bd.  III  ist  G.  Kawerau,  als  Kritiker  und 
Forscher  auf  dem  Gebiete  der  Reformationsgeschichte  längst  auf  das 
vorteilhafteste  bekannt,  in  die  Redaktionsarbeit  mit  eingetreten,  und 
seinem  Eifer  und  seiner  unermüdlichen  Thätigkeit  verdanken  wir, 
obwohl  er  sich  inzwischen  in  sein  neues  Amt  als  Professor  in  Kiel 
einarbeiten  mußte,  bereits  auch  schon  Bd.  IV.  Der  Gesichtspunkt,  daß 
eine  Hülfe  für  den  Herausgeber  absolut  notwendig,  die  Herausgabe 
derjenigen  Schriften  aber  »deren  Einleitungen  direkt  in  reforma- 
tionsgeschiohtliche  Untersuchungen  hineinführen,  im  Interesse  der 
Einheit  des  Werkes  durchaus  Herrn  Dr.  Knaake  selbst  verbleiben 
mtlBse«  ^)  hat,  wie  das  Vorwort  zu  Bd.  III  ausführt,  dazu  veranlaßt, 

1)  Dieser  Grundsatz  hat  sich  denn  doch  auch  nicht  festhalten  lassen,  wenig- 
stens arbeitet  Prof.  Kawerau  jetzt  an  der  Herausgabe  der  von  Luther  auf  der 
Wartborg  geschriebenen  Schriften.  Einem  Gerüchte  zufolge  soll  die  Herausgabe 
von  Luthers  Liedern  einem  Dritten  überwiesen  sein.  Es  wäre  dringend  zu  wün- 
schen, daß  diese  Aufgabe,   eine  der   allerschwier  igst  en,   einem  auf  dem 

QHt,  gel.  Ans.  1887.  Nr.  19.  50 


722  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  19. 

eine  größere  exegetische  Arbeit  Luthers  einzafttgen,  and  zwar  hat 
man  sich  dazu  entschlossen,  die  ursprünglich  an  den  Schlaft  verwie- 
senen von  Luther  selbst  nicht  veröffentlichten  Psalmenvorlesungen 
an  dieser  Stelle  wiederzugeben.  Das  lag  um  so  näher,  als  es  sich 
dabei  um  die  ersten  Leistungen  Luthers  als  akademischen  Lehrers 
handelt,  denn  es  ist  eine  unbestrittene  Thatsache,  daß  Luther  nach 
Erlangung  des  Doktorats  zuerst  über  sein  Lieblingsbach  den  Psalter 
gelesen  hat.  Nun  besitzen  wir  bekanntlich  außer  den  von  Luther 
im  Jahre  1519  herausgegebenen  Oper,  in  Psalmos  von  seiner  Hand 
noch  die  bisher  teilweise  nur  in  schlechter  Uebersetzung  (Walch.IX, 
1473  ff.)  bekannte  sogenannte  Wolfenbttttler  Glosse,  und  den  von 
F.  Schnorr  von  Garolsfeld  wieder  aufgefundenen  und  zuerst  von 
Seidemann  herausgegebenen  sogenannten  Dresdner  Psalter  oder  die 
Scholae^).  Da  Luther  in  der  Vorrede  zu  den  Operationes  diese  als 
den  Ertrag  seiner  zweiten  Psalmen  Vorlesung  bezeichnet,  so  kön* 
neu  die  beiden  erhaltenen  Manuskripte,  wenn  sie,  was  bisher  eicht 
bezweifelt  worden  ist,  beide  zu  Vorlesungszwecken  gedient  haben, 
sich  beide  nur  auf  jene  erste  Psalmenvorlesung  beziehen. 

Kawerau  hat  sie  nun  in  der  Weise  für  die  Edition  zusammen- 
gestellt, daß  er  fUr  jeden  Psalm  zuerst  die  Wolfenbfltteler  Glosse 
gibt  und  sodann  den  Dresdner  Psalter  folgen  läßt.  Dazu  veran- 
laßte  ihn  seine  Vorstellung  von  dem  Verhältnis  der  beiden  Erklä- 
rungen zu  einander,  die  der  Herausgeber  übrigens  nicht  so  ein- 
gehend erörtert,  wie  man  wünschen  möchte. 

Kawerau  erkennt  an  und  hat  es  im  Einzelnen  durch  Fußnoten 
an  den  betreffenden  Stellen  erwiesen,  daßDieckhoff^)  mit  Recht  be- 
obachtet hat,  daß  überall  da,  wo  auf  die  glossa  verwiesen  ist,  nicht, 
wie  Seidemann  annehme,  an  die  glossa  ordinaria  zu  denken,  son- 
dern Luthers  eigene  Glosse  oder  der  Wolfenbttttler  Psalter  gemeint 
ist.  Daraus  folgt  ihm  mit  Notwendigkeit,  daß  die  Glosse  —  zwar 
nicht  als  Ganzes  aber  im  Einzelnen  —  früher  da  war  als  der  Dresde- 
ner Psalter.  Aber  mit  Recht  wird  von  K.  die  Frage  aufgeworfen: 
diente  jene  Glosse  nur  dem  eigenen  Studium,  oder  hatte  sie  einen 
Zweck  bei  der  Vorlesung?  Waren  die  Glossen  Notizen,  die  Luther 
gewissermaßen   als   Grundlage   für    sein  eigenes  Studium,  für  seine 

Gebiete  der  ältesten  evangelischen  Hymnologie  auch  wirklich  allseitig  be- 
währten Forscher .  übertragen  würde  und  die  Kommission  die  bei  der  Lieder- 
edition zu  befolgenden  Grundsätze  der  öffentlichen  Diskussion  unterwürfe. 

1)  Doctoris  Martini  Lutheri  Scholae  ineditae  de  Psalmis  habitae  Ännis 
1513 — 16.  £.  Codice  Ms.  Bibliothecae  Regiae  Dresdensis  primum  edidit  J.  C  Sei- 
demann.  Dresdae  1876. 

2)  in  Luthardts  Zeitschr.  f.  kirchl.  Wissenschaft,  u.  kirchl.  Leben  1881, 


Dr.  Martin  Luthers  Werke.    III.  IV.  123 

eigene  VorbereituDg  zur  PsalmeDvorlesung  gemacht  hat,  oder  waren 
sie  ein  Grundriß,  den  er  seinen  Zuhörern  in  die  Feder  diktierte? 
Ich  hatte  mich  im  Anschluß  an  Seidemann  in  meinem  Luther  I, 
S.  84.  370  f.  für  das  Letztere  entschieden,  indem  ich  das  mehrfach 
vorkommende  vide  in  coli,  auf  die  Wolfenb.  Glosse  bezog,  und  wenn 
sich  Luther  (De  W.  I,  4L  Enders  I,  67)  collector  Psalterii  nennt,  es 

m 

dahin  verstanden,  daß  Luther  das,  was  er  ausführlich  in  der  Vor- 
lesung gab,  in  den  Glossen  zusammenfaßte.  Indessen  nach  Kennt- 
nisnahme des  lateinischen  Originals  und  genauerer  Untersuchung 
läßt  sich  das  Letztere  wenigstens  nicht  halten,  wie  das  Folgende  er- 
geben wird. 

Kawerau  meint:  »Alle  jene  Stellen,  an  denen  Luther  die  Glosse 
citiert,  lauten  so,  daß  man  annehmen  möchte,  daß  auch  die  Zu- 
hörer eben  diese  Glosse  vor  sich  hatten,  das  läßt  uns  auf  ein  Diktat 
schließen,  welches  er  dem  Vortrage  vorausschicktet.  Indessen  würde 
man  dies  doch  nur  dann  sagen  können,  wenn  wir  wttßten  (Bd.  III,  8), 
daß  Luther  genau  so  vorgetragen,  wie  er  in  seinem  Hefte  (dem 
Dresdner  Psalter)  geschrieben,  daß  er  wie  dort  zu  lesen  auch  wirk- 
lich im  mündlichen  Vortrag  gesagt  hat  *ut  in  glosa^  vide  gUsam^ 
vide  circa  textumt.  Was  hindert  uns  aber  anzunehmen,  daß  dies 
Hinweisungen  für  den  eigenen  Gebrauch  sind,  zumal  Kawerau  selbst 
anerkennt,  daß,  wie  aus  der  Ungleichmäßigkeit  der  Behandlung  zu 
ersehen,  »wir  in  den  Aufzeichnungen  bald  den  ausgeführten  Vor- 
trag selbst,  bald  nur  Notizen  zu  erkennen  haben,  die  dann  der  münd- 
liche Vortrag  weiter  ausführte  und  ergänzte«? 

Dafttr,  daß  Luther  die  Glosse  diktierte,  verweist  Kawerau  auf 
eine  Stelle  in  den  scholae,  wo  Luther  sagt :  scriptifko  vos  glosam  i. 
e.  ego  facio  vos  scribere  glosam  (III,  33.  Zeile  30).  Aber  die  Beweis- 
kraft dieser  Stelle  ist  doch  eine  sehr  geringe.  So  konnte  Luther 
auch  sagen,  wenn  seine  Zuhörer  auf  Grund  seines  Vortrages  sich 
in  ihren  Text  zwischen  die  weitabgedruckten  Zeilen  Glossen 
machten. 

Für  meine  frühere  Ansicht  war  Luthers  eigener  Ausdruck  die- 
tata  super'  psalterium  entscheidend.  Luther  schreibt  an  Spalatin  (De  W. 
I,  47  Enders  I,  27  ^)  »rogo  te  ut  ...  respondeas,  ut  scilicet  non  ex- 

1)  Wie  ich  schon  in  meiner  Anzeige  von  Enders  Luthers  Briefwechsel  I  in 
der  deutschen  Litterat.-Ztg.  VI  (1885)  Nr.  17  dargethan,  ist  die  von  Enders  und 
Kawerau  angenommene  Datierung:  26.  Dec.  1505  des  betreffenden  Briefes  kaum 
richtig.  Dafür,  daß  altera  naiivitatis  mit  »zweiter  Weihnachtsfeiertagc  aufzulösen 
wäre,  fehlt  mir  jegliches  Beispiel.  Zur  Bezeichnung  des  26.  Dec  würde  Lather 
immer  gesagt  haben  die  Steph,  proUnn.  Das  Datum  dieses  »cursimc  geschriebe- 
nen Briefes:  Altera  natiyatis  1516  ist  abgekürzt.  Ich  ergänze  »Mariaec  und 
löse  es  dann  auf:  Montags,  an  Marien  Geburt  (8.  Sept.)  1516.    Das   würde  auch 

50* 


724  Gölt.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  19. 

pectet  did  ata  mea  super  pscdterium.  Quae  quamvis  eapiam  nua- 
qoam  et  nuDqnam  edi,  tameo  coactas  praecepto  noDdam  qnidem  satis- 
feci,  nQQe  aatem  absoluta  professiooe  lectionis  PaoliDae,  huic  uni  me 
dedam  operi  assiduum.  Sed  et  ubi  absoluta  fueriut,  non  ita  sunt 
coüectay  ut  me  abseDte  possint  escudic.  Versteht  man  nun  unter  den 
didata  das  »Dictierte«  oder  die  Olosse,  so  würde  man  annehmen 
mttssen,  daft  es  sich  eben  um  deren  Drucklegung  handelt  Das 
würde  bei  ihrer  Bescbaffenheit  schon  an  und  für  sich  auffallend  sein 
[auch  Kawerau  nimmt  an  (S.  2),  daft  es  sich  vielmehr  um  die  Vor- 
lesungen handelte],  wird  aber  bei  näherer  Betrachtung,  zumal  unter 
Hinzunahme  anderer  Stellen  unmöglich.  Luther  gibt  an,  seine  Dik- 
tate seien  non  ita  coUecta,  daft  sie  in  seiner  Abwesenheit  gedruckt 
werden  könnten.  Auf  didata  bezieht  sich  also  diejenige  Thätigkeit, 
die  Luther  colligere  nennt,  die  ihn  veranlaßt,  sich  (Enders  X,  67) 
als  einen  coüedor  psaiterii  ^)  zu  bezeichnen,  und  ohne  Zweifel  wird 
man  als  das  Resultat  derselben  das  ansehen  mtlssen,  was  Luther  als 
collectumf  colleda  citiert.  Da  nun  aber  Luther  mit  dem  Ausdruck 
vide  in  coüedis  etc.  nicht  auf  die  Olosse  verweist,  sondern,  wie  ganz 
besonders  aus  den  Bd.  IV,  863  ff.  abgedruckten  Adnotationes  zu  dem 
Psalterinm  des  Faber  Stapulensis  ^)  hervorgeht,  immer  auf  die  Psalmen- 
vorlesung, so  sind  die  Dictata  und  die  Gollecta  oder  das  Commen- 
tum  identisch^  eben  der  Dresdner  Psalter,  und  kann  jene  Stelle  für 
die  Annahme,  daß  Luther  die  Glosse  diktiert  habe,  nicht  verwendet 
werden.  Wäre  die  Glosse,  wie  ich  früher  annahm,  als  eine  Art 
Leitfaden  diktiert  worden,  an  den  sich  dann  der  mündliche  Vortrag 
nur  anschloß,  so  müßte  man  dieselbe  gewissermaßen  als  Quintessenz 
von  Luthers  Vorlesung  ansehen.  Nach  der  jetzt  aber  möglieben 
vollständigen  Vergleichung  halte  ieh  dies  für  ausgeschlossen.  Liest 
man  z.  B.  sogleich  in  Psalm  4,  die  Auslassungen  über  die  Rechtfer- 

zu  der  in  demselben  Briefe  erwähnten  Beendigung  der  Vorlesung  des  Römerbriefs 
passen,  auf  die  Luther  am  27.  Okt.  desselben  Jahres  die  über  den  Galaterbrief 
folgen  ließ  und  dazu,  daß  er  sich  in  demselben  Briefe  vom  26.  Okt.  1516,  wo  er 
dies  erzählt  (Enders  I,  67)  noch  collector  psalierii  nennt. 

1)  Was  diesen  Ausdruck  anbelangt  {lector  Pauli,  collector  psalterii,  coUigere, 
colhcta),  so  beziehe  ich  ihn  jetzt  auch  mit  Seidemann  auf  das  Bewußtsein  der 
Unselbständigkeit,  auf  das  Zusammentragen  aus  den  alten  Autoren,  und  wenn  er 
dieses  Zusammentragen  mehr  bei  der  Auslegung  des  Psalters  als  bei  den  pauli- 
Bischen  Briefen  betont,  darf  man  daran  denken,  was  Luther  fiber  diese  Zeit  in 
der  Schrift  »Von  Ccmcilien  und  Eirchenc  Erl.  A.  26  S.  230  f.  schreibt :  »Da  ick 
die  Epistel  ad  Ebraeos  furnahm  mit  St.  Ghrysostomus  Glossen  und  Titum,  Gala* 
tas,  mit  Hälfe  St.  Hieronymi,  Genesin  mit  Hülfe  St.  Ambrosii  und  Augnstim; 
den  Psalter,  mit  allen  Skribenten  so  man  haben  kann. 

2)  Dieselben  waren  dem  Herauatgeber,  als  er  die  Einleitung  zu  den  »Diktates« 
schrieb  und  den  Druck  begann,  noch  nicht  bekannt. 


Dr.  Martin  Luthers  Werke,    m.   IV.  725 

ti^ng  ans  dorn  Olauben,  so  wird  ma/n  erstannt  sein,  in  der  Glossn 
davon  kein  Wort  zu  finden.  Eb  kommt  natttrlioh  vor,  daß  wir  in  bei- 
den dieselben  Erklärungen  finden  (z.  B.  fast  wörtlich  Bd.  Ill,  S.  77 
Z.  1 — 8  nnd  74  Z.  29  ff.),  aber  doch  nur  selten,  nnd  teilweise  ist  die 
Anslegovg  eine  ganz  andere.  Man  verg).  z.  B.  in  dems.  Ps.  1,  y.  1 
die  Auslegung  des  Cum  invocarem^  wobei  die  Olosse  wie  im  gan- 
zen Psalm  eine  Beziehung  auf  Christum  findet,  mit  der  durchweg 
praktisch  -  paraenetischen  Erklärungsweise  im  »Psaiterc  Ebenso 
Ps.  5  etc.  Sehr  beachtenswert  ist  auch  eine  Auslassung  in  der  Er- 
klärung des  Ps.  42,  V.  7  (S.  240)  ^Ahyssus*  ut  supra  expcmatur. 
Potest  etiam  aliter  exponi,  ut  scilicet  utrumque  pro  sancto  ut  in 
glosa€.  Hiernach  verweist  Luther  zuerst  auf  eine  frfiher  bei  demsel- 
ben Psalm  gegebeue  Auslegung  und  ftlgt  hinzu:  es  kann  auch  anders 
ausgelegt  werden,  wie  in  der  Glosse;  daß  aber  jemand  im  mündlichen 
Vortrag  in  dieser  Weise  auf  die  im  Leitfaden  gegebene  Erklärung 
als  eine  allenfaifs  auch  angängliche  verwiesen  haben  sollte,  halte  ich 
fttr  unmöglich.  Das  Alles  veranlaßt  mich  jetzt  zu  der  Annahme,  daß 
die  Glosse  den  Zuhörern  schwerlich  vorgelegen  haben  wird.  Ich 
denke  mir  das  Verhältnis  so,  daß  Luther  zunächst  seinen  Text  durch- 
gearbeitet und  dabei  sich  seine  Notizen  gemacht  hat,  daß  er  diesel- 
ben bei  der  Ausarbeitung  seiner  Vorlesungen  natürlich  benutzte,  aber 
sie  doch  in  sehr  freier  Weise  verarbeitete  und  oft  für  das,  was  er 
sagen  wollte,  in  seinem  Heft  auf  die  Glosse  verwies^),  was  er  um 
so  eher  thun  konnte,  als  er  in  der  Vorlesung  natürlich  seinen 
Text  und  damit  seine  Glossen  bei  sich  hatte.  Dabei  bleibt 
bestehn,  daß  der  weite  Drack  des  Textes,  den  er  seinen  Zuhörern  in 
die  Hand  gab,  zur  Eintragung  von  Notizen  aus  der  Vorlesung  die- 
nen sollte. 

Sind  diese  Darlegungen  richtig,  dann  würde  man  freilich  nicht 
nnr  an  der  Berechtigung  des  von  Kaweran  fttr  beide  Bearbeitungen 
gewählten  Gesamttitels  »Dictata  super  psalterinm«  zweifeln  müssen, 
sondern  auch  an  der  des  Editionsverfahrens.  Indessen  sind  auch 
die  Beziehungen  zwischen  beiden  Bearbeitungen  keine  so  enge,  wie 
der  Heransgeber  annimmt,  so  sehe  ich  in  der  Art  der  Wiedergabe 
doch  keinen  Mangel,  da  Glosse  und  Psalter  sicher  ziemlich  in  die- 
selbe Zeit  fallen  nnd  die  Gegenüberstellung  ganz  besonders  Luthera 
Art  zu  arbeiten  illustriert.  Auch  habe  ich,  am  das  noch  einmal  her- 
vorzuheben, um  so  weniger  das  Recht  zu  einer  Kritik,  als  ich  bis- 
her im  Großen  und  Ganzen  dieselbe  Vorstellung  hatte  und  erst  nach 

1)  Vgl.  z.  B.  folgende  etwas  dunkle  Verweisung  auf  einen  Zettel  zu  Rom.  15 
vide  Bthliam  Rom.  15  in  scedula  Bd.  IV,  458,  wozu  KaweraTi  anmeilft:  Eine 
Notiz,  die  offenbar  nnr  für  Luther  selbst,  nicht  für  seine  Zuhörer  bestimmt  ist. 


726  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  19. 

Einsicht  in  das  Ganze  and  in   die  Adnotationen  za  Fabers  Psalter 
eines  Besseren  belehrt  wnrde. 

Was  die  sonstige  Editionsarbeit  anbelangt,  so  gebtthrt  dem 
Heransgeber  fttr  die  ttberaas  mühsame  Arbeit  der  Entziffernng  der 
Wolfenbtltteler  Glosse  sowie  der  auch  nach  Seidemanns  Arbeit  sehr 
notwendigen  nochmaligen  Kollation  des  Dresdner  Psalters  der 
wärmste  Dank.  Sehr  geschickt  und  übersichtlich  sind  aach  die 
Randbemerknngcn  beider  Handschriften  wiedergegeben  worden.  Vor 
Allem  verdient  aber  als  ein  sehr  erheblicher  Vorzug  dieser  Eawe- 
raaschen  Edition,  zum  Teil  im  Gegensatz  za  den  früheren  Bänden, 
herrorgehoben  za  werden,  daß  der  Heraasgeber  sich  nicht  aafbloften 
Abdruck  beschränkt,  sondern  danach  gestrebt  hat,  das  von  ihm  ge- 
lieferte aach  nutzbar  zu  machen ,  bezw.  die  Benutzung  zu  erleich- 
tem. Dahin  zielen  die  zahlreichen  Anmerkangen,  in  denen  der 
Herausgeber  nach  Möglichkeit  feststellt,  auf  welchen  Vorgängern 
Luther  fußt.  Erwähnenswert  ist,  daß  von  Neuem  konstatiert  werden 
konnte,  daß  Luther  bei  seinen  Psalmenvorlesungen  kaum  irgendwo 
auf  den  Grundtext  zurückgeht,  und  wo  er,  wie  sehr  häufig,  auf  den 
Hebräus  verweist,  er  niemals  den  Grundtext  darunter  versteht,  son- 
dern des  Hieronymus  psalterinm  iuxta  Hebraeos. 

Was  Luthers  Zuhörer  anbelangt,  kann  ich  dem  Herausgeber 
nicht  beistimmen.  Er  denkt  sich  die  Vorlesung  lediglich  vor  Mönchen 
gehalten.  »Der  Mönch  redet  in  ihr  zu  Mönchen,  wir  hören  den  vom 
Augustinerklostcr  bestellten  Cursor  bibliae  reden ,  der  seine  Zuhörer 
mit  patres  et  fratres  anredet«.  Richtig  ist,  daß  die  Beziehungen  auf 
das  Elosterleben  sehr  zahlreich  sind,  das  gleiche  gilt  von  der  Anrede, 
indessen  glaube  ich,  daß  man  zu  weit  geht,  wenn  man  daraus  schließen 
wollte,  daß  Luther  nur  vor  seinen  Augustinermönchen  ge- 
sprochen. Wenn  jene  Anrede  gebraucht  wird,  so  geschah  es  wohl 
in  Bücksicht  darauf,  daß  die  Mehrzahl  seiner  Zuhörer  Mönche  — 
aber  nicht  bloß  Augustioermönche  waren.  Einen  Beweis  dafür, 
daß  Luther  diese  Vorlesung  lediglich  fttr  seine  Ordensbrüder  und 
nicht  als  akademischer  Professor  gehalten,  kann  ich  weder  in  der 
Anrede,  noch  in  der  durchgehenden  Beziehung  auf  das  Mönchsleben 
und  seinen  Gehorsam  finden.  Unrichtig  ist  es  sicher,  wenn  Eaweraa 
Luther  den  vom  Augustinerkloster  bestellten  Cursor  bibliae  nennt 
Diese  Stufe  hatte  Luther  längst  hinter  sich,  er  war  vielmehr  re- 
gens  studii. 

In  Band  IV,  der  in  seiner  ersten  größeren  Hälfte  den  Schloß 
der  Psalmenvorlesung  bringt,  bietet  der  Herausgeber  etwas  bisher 
vö!lig  Unbekanntes,    nämlich    Luthers   Adnotationes  zu   dem 


Dr.  Martin  Luthers  Werke,    m.  IV.  727 

Qainooplex  Psalterinm  des  Faber  Stapulensis,  die  Luther  in 
seine  (Bd.  IV,  464  näher  beschriebene)  Ausgabe  desselben  notiert. 
Dieser  kostbare  Band  ans  Luthers  Bibliothek  ist  wie  der  Psalter 
von  Dr.  F.  Schnorr  von  Carolsfeld  in  der  Dresdner  Egl.  Bibliothek 
neu  entdeckt  worden,  leider  erst  nachdem  die  Psalmenvorlesnngen 
größtenteils  gedruckt  waren.  Mit  Recht  bemerkt  der  Herausgeber 
»ein  wertvolles  St  tick  aus  Luthers  Handbibliothek  ist  hier  entdeckt, 
ein  Buch,  dessen  Randglossen  uns  einen  unmittelbaren  Einblick  in  des 
Reformators  Studierstube  gewähren.  Wir  sehen  hier,  wie  er  für  seine 
Vorlesungen  verarbeitet,  wir  können  kontrollieren,  mit  welchen  Hülfs- 
mitteln  er  in  das  Schriftverständnis  einzudringen  bemüht  istc  Daft 
Luther  sich  in  vieler  Beziehung  von  Faber  Stapulensis  führen  ließ, 
wußten  wir  schon;  wie  groß  dessen  Einfluß  war,  und  wie  er  zu 
Stande  kam,  erfahren  wir  erst  durch  dieses  Buch  mit  seinen  oft  sehr 
umfänglichen  Anmerkungen,  das  zugleich  den  nie  rastenden  Fleiß  des 
Reformators  in  immer  erneuter  Durcharbeitung  der  Psalmen  wie  seine 
werdende  Selbständigkeit  erkennen  läßt,  denn  an  manchen  Stellen 
sieht  er  sich  auch  zum  Widerspruch  veranlaßt. 

Da  die  Adnotationen  keine  Daten  enthalten,  die  wenigen  Stellen, 
in  denen  Luther  in  seinen  Briefen  Faber  Stapulensis  erwähnt,  keine 
Anbaltepunkte  zur  Zeitbestimmung  der  Adnotationen  liefern,  ist  die- 
selbe, wie  das  Verhältnis  zu  der  Glosse  und  dem  Dresdner  Psalter 
nicht  genau  zu  bestimmen.  Da  die  Ausgabe,  in  der  die  Notizen  sich 
finden,  schon  aus  dem  Jahre  1509  herrührt,  konnte  man  versucht 
sein,  sie  früher  als  die  Glossa  und  die  Scholae  anzusetzen.  Das  ver- 
bietet sich  aber  dadurch,  daß  Luther  mehrfach  auf  die  Gollecta  ver- 
weist und  einzelne  Ausführungen  z.  B.  zu  Ad  victoriam  in  Ps.  IV 
auch  deutlich  die  glossa  voraussetzen.  Man  wird  daher  dem  Heraus- 
geber Recht  geben  müssen,  wenn  er  sagt  (IV,  465):  »Somit  werden 
wir  annehmen  müssen,  daß  diese  neuentdeckte  Arbeit  Luthers  im 
Wesentlichen  neben  den  beiden  neuen  Niederschriften  über  die  Psal- 
men, der  OloBsa  und  der  Scholae  gleichzeitig  hergegangen,  also  auch 
den  Jahren  1513  ff.  zuzuweisen  ist«.  Mit  weniger  Bestimmtheit  möchte 
ich  mich  der  Meinung  anschließen,  »daß  sie  als  die  erste  gewisser- 
maßen als  eine  Präparation  zu  gelten  haben  wird,  so  daß  wir  für 
Lathers  Arbeit  die  Folge  Adnotationes,  Glossa,  Scholae«  haben.  Dazu 
scheint  Eawerau  durch  die  in  ihrer  Beweiskraft  zweifelhafte  Beob- 
achtung geführt  zu  sein,  daß  bei  Citaten  der  Gollecta  in  der  Regel 
anf  frühere  Psalmen  verwiesen  wird.  Wenn  nicht  die  Thatsache, 
daß  eben  doch  bei  vielen  Psalmen  gar  keine  Bemerkungen  sich  finden, 
gegen  die  Auffassung  spräche,  in  jenen  Adnotationen  eine  Art  Prä- 
paration zu  der  späteren  Glosse  in  dem  Psalter  zu  sehen,  könnte  man 


728  Qött.  gel.  Ans.  1687.  Nr.  19. 

darauf  verweisen,  daA  Olossa  und  Adnotationes  sieh  insofioni  näher 
stehn,  wie  Glossa  and  Annotationes,  als  sich  yieUach  zeigen  ISM,  daS 
da,  wo  Adnotationes  und  Glossa  in  der  Beziehnng  der  PsafaneBaot- 
sagen  auf  Christas  sehr  entschieden  sind,  dieselbe  in  der  Begel  in 
Scholae  fehlt.   Man  vergleiche  den  z.  B.  Ps.  VII  aller  drei  Aasl^inngeiL 

Von  zeitgeschichtlichen  Bemerkangen  bieten  die  Adnotationes 
leider  nichts.  Beachtenswert  ist  die  Rahe,  ja  Ablehnang,  mit  der 
Lother  von  der  Prädestination  spricht.  So  sagt  er  einmal  IV,  470 
»De  iadicio  aatem  discretion  is  et  electionis  non  volait  nos  Dens  molta 
scire:  ideo  ei  reliqaendamc.  Damit  vgl.  S.  503,  Z.  22 f.  Zweimal 
verweist  Lather  aaf  Predigten  :  Vide  sermonem  Dominica  4.  post  pern- 
tec.f  S.  511  and  Vide  sermonem  de  Philippo  et  JaeobOy  S.  518.  Die 
einzige  Predigt  anter  den  vorhandenen,  an  die  man  bei  dem  letzten  CSitat 
denken  könnte,  wäre  die  nach  der  jetzt  allgemeinen  Annahme  am  1.  Mai, 
also  am  Tage  Philippi  Jacobi  gehaltene  contra  tniium  detractianis^ 
Weim.  A.  I,  44  vgl.  IV,  675  i  ihr  Inhalt  will  aber  nicht  passen,  so 
daß  also  daher  für  die  Datierung  nichts  gewonnen  werden  kann. 

An  dritter  Stelle  bringt  der  vierte  Band  eine  ebenfalls  bisher 
in  allen  Latberaasgaben  fehlende  Arbeit,  die  Praelectio  in  librum  lur 
dicum.  G.  Bachwald  in  Zwickau  hat  sie  zuerst  aus  einer  Hand- 
schrift der  Stephan  Rothschen  Sammlung  der  Zwickauer  Batschulbiblio- 
thek  herausgegeben.  Daß  wir  es  hier  wirklich  mit  einer  Luthervor- 
lesung  und  nicht,  wie  Dieckhofif  (Zeitschrift  f.k.  Wiss.  1884.  S.  638  ff.) 
annahm,  mit  einer  von  Staupitz  herrührenden  za  than  haben,  war  von 
mir  bereits  in  der  theol.  Litteratnrzeitung  1884.  Sp.  558  ff.  nachgewie« 
sen  worden,  und  wird  jetzt  wohl  nicht  mehr  bestritten.  Desto  fraglicher 
ist  die  Zeit.  In  seiner  Einleitung  S.  527  stimmt  Kawerau  auf  Grand 
neuer  Untersuchungen  mit  mir  darin  iiberein,  daß  diese  vor  Mönchen 
gehaltene  Vorlesung,  die  in  vieler  Beziehung  fragmentarisch  ist,  etwa 
im  Herbst  1516  ihren  Anfang  genommen  habe,  glaubt  aber,  obwohl 
er  anerkennt,  daß  einzelne  frappante  Aeußerungen  uns  mitten  in  die 
Zeit  des  Kampfes  hineinführen,  doch  an  die  Möglichkeit,  daß  sie 
schon  1518  zum  Abschluß  gebracht  worden  sei,  während  ich  auf 
Grund  des  von  mir  nachgewiesenen  Zusammenklanges  (a.  a.  0.  Sp.  561) 
mit  Auslassungen  im  Sermon  von  den  guten  Werken  sie  bis  ins 
Jahr  1520  fortgesetzt  dachte.  Neuerdings  ist  aber  die  Sache  ver- 
wickelter geworden,  als  Kawerau  nachträglich  (vgl.  theol.  Litteratnr- 
zeitung 1886  S.  416  und  dann  Bd.  IV  Nachträge  nach  der  Vorrede) 
gefunden  hat,  daß  eine  Stelle,  die  in  der  fraglichen  Vorlesung  mit 
einem  T^Iccirco  beneloaäas  estüle*  eingeführt  wird,  einem  Briefe  des 
Erasmus  vom  15.  Mai  1524  an  Nicolaus  Everardus   entstammt,  der 


Dr.  Martin  Luthers  Werke.    IIT.  IV.  72S 

merat  im  opus  epistalaram  Bagil.  1529  p.  810  gedrückt  worden  ist. 
Man  wird  dem  Heransgeber  vollständig  Recht  geben  mflssen,  wenn 
«r,  da  ein  so  später  Ursprang  ans  andern  Ortlnden  nnmöglicfa  ist, 
so  lange  eine  gleiche  Aenßernng  des  Erasmas  ans  früherer  Zeit 
nicht  anfgefanden  ist,  hier  eine  Interpolation  desjenigen  annimmt, 
der  die  betreffende  Vorlesung  ins  Reine  geschrieben  hat.  Ist  aber 
eine  derartige  Interpolation  erst  nachgewiesen,  so  kOnnen  eben  so 
gnt  aach  andere,  znmal  solche  Stücke,  die  man  für  die  Zeitbestim* 
mnng  benutzen  wollte,  eingeschoben  sein,  wie  dies  z.  B.  Dieok- 
hoff  bezüglich  eines  Passus ,  der  mit  Auslassungen  in  den  Predigten 
über  die  Decern  praeoepta  übereinstimmt ,  vermutete.  Das  wird 
aber  sehr  wahrscheinlich ,  da  Eawerau ,  durch  eine  Bemerkung 
Dieckhoffs  zu  weiteren  Nachforschungen  veranlaßt,  gefunden  hat,  daS 
»zahlreiche  Abschnitte  gar  nichts  Anderes  sind  als  — 
meist  abkürzende  —  Abschrift  aus  Augustin  und  zwar 
jedesmal  ohne  Nennung  der  Quelle«.  Dieselben  sind  von 
Kaweran  bei  seinem  Abdruck  sämtlich  kenntlich  gemacht.  Da  nun 
aber  ein  Hinttbemehmen  fremden  Gutes  ohne  Namennennung  nicht 
Luthers  Weise  ist,  so  kommt  Kaweran  (Theol.  Litteratur-Zeit.  1886 
Nr.  18  Sp.  417)  zu  dem  gewiß  richtigen  Schlüsse,  »daß  diese  Stücke 
—  sie  treten  meist  gruppenweise  auf  —  nur  dem  Verf.  der  Nach- 
schrift angehören  kOnnen.  Das  Zwickauer  Mskrpt  stammt  also  aus 
einem  Kollegienhefte,  dessen  Verf.  die  Lücken,  die  ihm  beim  Nach« 
schreiben  entstanden  waren,  bona  fide  mit  selbstfabricierten  Excerpten 
aus  Augustin  gefüUt  hat.  Oder,  was  mir  noch  wahrscheinlicher 
dünkt,  der  Verfasser  der  Reinschrift  hat  Lücken  des  ihm  vorliegen- 
den Manuskripts  aus  Augustin  ergänzte  Nimmt  man  dies  Alles  zu- 
sammen und  zieht  auch  sonst  den  fragmentarischen  Charakter  des 
Manoskripts  in  Betracht,  so  scheint  es  ziemlich  überflüssig,  sich  noch 
weiter  mit  der  Frage  nach  der  Zeit  hernmzuqnälen.  Was  wir  durch 
diese  Vorlesung,  von  der  man  unnötig  viel  Aufhebens  gemacht  hat, 
für  die  Lutherforschung  gewonnen  haben,  das  wird  wenig  mehr  sein, 
als  daß  wir  wissen,  daß  Luther  nach  1516  vor  seinen  Klosterbrüdern 
eine  Vorlesung  über  das  Richterbuch  gehalten  —  und  daß  man  in 
der  Wertschätzung  von  Kollegienheften  und  von  sonstigen  ihm  zu- 
geschriebenen Schriftstücken,  die  nicht  von  seiner  Hand  berrihren, 
künftiger  etwas  zurückhaltender  sein  wird. 

Trotz  der  Einsicht  in  den  nachgerade  sehr  gesunkenen  Wert  diieees 
Zwickaaer  Manuskripts  (in  dessen  Schreiber  der  erste  Herauflgeber 
jetzt  [vgl.  Bnchwald,  die  Lntherfunde  der  neueren  Zeit,  Zwieka« 
1886.  S.  8]  Stephan  Roth  erkennen  will,  während  er  früher  Oeerg 
Börer  vermutete)^   bat  Kaweran  mit  großer  Sorgfalt  den  riehtigeii 


730  öött.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  19. 

Text  herzustellen  gesucht  und  in  dankenswerter  Beiehhaltigkeit  er- 
läuternde Notizen  und  Nachweise  gegeben. 

Erheblich  wertvoller  sind  die  nächsten  Stttcke,  die  ebenfalls  der 
Zwickauer  Bibliothek  und  zwar  der  großen  Sammlung  von  Luther- 
predigten entstammen,  die  der  Erfurter  Prediger  Andreas  Poach  an- 
gelegt, und  über  welche  0.  Buchwald  mehrfach  u.  a.  in  »Andreas 
Poachs  handschriftliche  Sammlung  ungedruckter  Predigten  Dr.  Mar- 
tin Luthersc  etc.  Leipzig  1884.  L  berichtet  hat.  Es  sind  zwei  Pre- 
digten, die  Poach  nach  seiner  Angabe  einem  Autograph  Luthers  im 
Erfurter  Augnstinerkloster  entnommen  hat.  Die  naheliegende  Ver- 
mutung Buchwalds  (a.a.O.  I,  S.  XII),  daß  sie  dem  zweiten  Aufent- 
halte Luthers  in  Erfurt  angehören  und  damit  mit  das  Früheste  sein 
konnten,  was  wir  von  Luther  besitzen,  hat  sich  nicht  bestätigt  Sie 
sind  nicht  an  Mönche  gerichtet.  Eawerau  wird  das  Richtige  treffen, 
wenn  er  sie  fttr  Wittenberger  Oemeindepredigten  hält,  dereu  Mann- 
skript Luther  vielleicht  an  Job.  Lang  geschickt  hat  Sie  sind  übri- 
gens sehr  beachtenswert,  besonders  die  zweite,  eine  Pfingstpredigt 
mit  ihrer  wunderlichen  Darstellung  der  Trinitätslehre.  Man  em- 
pfängt da  einen  lebhaften  Eindruck  von  Luthers  Werden,  wenn  man 
z.  B-  inmitten  scholastischer  Partitionen  und  spekulativer  Subtilitäten 
Aussagen  begegnet  wie  diesen:  »Quid  nunc  nobis  cooperandum  est 
Deo  pro  nobis  tanta  operanti?  Respondit  Dominus:  Omnis  qui  cre- 
det  in  eum.  Credere  igitur  sufficit:  hoc  est  nostrum  cooperari< 
(S.  60).  Oder  weun  in  der  ersten  der  beiden  Predigten  auf  den 
Satz:  »Haec  doctrina  probatur  triplici  antoritate:  ratione,  autoritate, 
similitudine«  die  Erklärung  folgt:  »Autoritate,  teutonice  mit 
gespruchen  der  Schrifftc,  und  der  Autorität  der  Väter  gar  keine  Er- 
wähnung gethan  wird.  (S.  91).  Man  weiß,  wie  Luther  sich  an  ein- 
zelnen alten  Liedern  erfreut  hat,  u.  a.  das  Pfingstlied  'Nun  bitten 
wir  den  heiligen  Geist'  hoch  geschätzt  hat.  Was  es  ihm  war,  tritt 
wohl  nirgends  so  deutlich  hervor  als  in  einem  Ausruf  in  dieser 
Pfingstpredigt:  »Nonne  dulce  est,  quin  duicissimum,  Wan  wir  beim- 
farn  ans  diesem  elend?  Quanta  est  in  istis  verbis  emphasis:  heim 
aus  diesem  elend!  Unnm  sonat  risum  et  tripudium,  aliud  lacrimas 
et  rugas  ostendit  (S.  603).  — 

Den  Schluß  des  Bandes  bilden  (aus  einem  Stephan  Rothseben 
Manuskripte)  Predigten,  und  kürzere  oder  längere  Eollectaneen  aus 
Predigten,  Vorlesungen,  die  der  Herausgeber  in  der  vorgefundenen 
Reihenfolge  unter  Beibehaltung  des  der  Handschrift  entnommenen 
etwas  unklaren  Titels:  Ä  Luthero  quaedam  coUecta  sparsim  tufn  in 
cofUionilms  tum  pradectionibus  Wittenbergae  zum  Abdruck  bringt. 
Wie  weit  hier  der  Wortlaut  als  von  Luther  herrührend  angenommen 


Dr.  Martin  Luthers  Werke.    III.   IV.  731 

werden  darf,  läßt  sich  natürlich  schwerlich  feststellen.  Interessant 
ist  das  Bmchstttck  »De  sacerdotnm  dignitate  sermo«,  eine  Predigt, 
die  wohl  bei  Gelegenheit  einer  Primizfeier  gehalten  worden  ist,  denn 
dahin  wird  man  den  Anfang  za  verstehn  haben :  »Dweil  wir  ein  erste 
mesz  haben  szomnszen  wir  etwas  von  den  Priestern  szagenc  (S.655). 
Zum  Schluß  ließe  sich  De  Wette  I,  116  ff.  heranziehen.  Mehrere 
Predigtfragmente  führen  ans  mitten  in  den  Kampf.  So  die  Predigt 
vom  Frohnleichnamsfest  S.  700  ff.  und  die  über  Matth.  6,  24,  die 
(vgl.  die  Identificierang  des  Papsttums  mit  dem  Antichristentnm) 
nicht  vor  1520 -gehalten  worden  sein  können.  In  derselben  Hand- 
schrift finden  eich  anch  vier  der  schon  in  Bd.  I  ans  Löscher,  vollst. 
Reformations-Akten,  entnommenen  Predigten,  in  znm  Teil  erheblich 
abweichender  Recension,  weshalb  sie  hier  noch  einmal  abgedruckt 
sind.  Wer  sie  vergleicht,  wird  von  Neuem  den  Eindruck  gewinnen, 
daß  in  Anbetracht  der  freien  Art,  mit  der  Nachschreiber  und  Ab- 
schreiber mit  Luthers  Predigten  verfuhren,  es  in  den  seltensten  Fäl- 
len bei  den  nur  handschriftlich  überlieferten  Predigten  gelingen  wird, 
einen  echten  Text  herzustellen,  und  fast  dasselbe  gilt  von  allen  nicht 
von  Luther  selbst  herausgegebenen  Predigten,  was  die  von  Eawerau 
mehrfach  dargethane  Benutzung  der  vorliegenden  Fragmente  zu  der 
einen  oder  andern  uns  aus  Drucken  bekannten  Predigtrecensionen 
von  neuem  bestätigt.  Den  richtigen  Modus  für  eine  kritische  Aus- 
gabe derselben  zu  finden  wird  nicht  ohne  Schwierigkeit  sein.  Jeden- 
falls darf  Niemand  daran  gehn,  der  nicht  das  ganze  Predigtmaterial 
ttbersieht.  Sollten  die  Grundsätze,  die  Buchwald  (Lutherfunde 
S.  117)  für  die  Herausgabe  proklamiert  hat,  wirklich  in  allen  ihren 
Teilen  die  maßgebenden  werden,  so  würde  ich  das  mit  Tb.  Brieger 
(Deutsche  Litteraturzeitung  VIII.  Jahrg.  1887  Nr.  30)  für  sehr  be- 
denklich erklären  müssen. 

Ich  schließe  diese  Anzeige  mit  dem  Wunsche,  daß  auch  die 
folgenden  Bände  einen  gleich  kundi{;en  wie  sorgfältigen  Heransgeber 
finden  möchten,  und  in  der  Hoffnung,  daß  der  von  Knaake  selbst  in 
Angriff  genommene  Band  nun  nicht  mehr  zu  lange  auf  sich  war- 
ten läßt. 

Eriangen.  Th.  Eolde. 


782  OAtt.  gel  Anz.  1887.  Nr.  19. 

Hauck,  A.,  Eirchengesehichte  DeatschUnds.    T.  I.    Bis    zum  Tode 

des  Bonifatius.    Leipzig  1887.    Hiorichs'  Verlag.    VUI,  657  8.   gr.  8r 

Oboe  Vorrede,  welche  über  Plan,  Umfang  und  zeitliche  Begren* 
Bung  der  geetellteii  Anfgabe  Anfachlaft  gäbe,  erscheint  hier  der  erste 
Band  einer  Kii'chengeBcbichte  Dentscblands ,  also  eines  jedenfmlls 
groften  und  amfassenden  Unternehmens.  Von  den  Anfängen,  dem 
Christentam  in  den  Bheinlauden  während  der  Bömerzeit  (Boch  l\ 
fährt  dieser  erste  Band  durch  die  Oescbicbte  der  fränkischen  Lan- 
deskirche (Buch  II)  zur  Thätigkeit  der  angelsächsischen  Missionare 
in  Deutschland  bis  herab  zum  Tode  des  Bonifatius  (Buch  III).  Die- 
ser Band  bewegt  sich  also  noch  ganz  innerhalb  des  zeitlichen  6e« 
biets,  welches  Rettberg  in  seinem  Meisterwerk  beÜanddt  hat  Seit 
dem  Erscheinen  dieses  bahnbrechenden  und  noch  heute  unentbehrli- 
chen Werkes,  das  fUr  die  methodische  Kritik  die  Grundlagen  le- 
gend zugleich  so  positiv  anregend  und  fördernd  gewirkt  hat,  wie 
wenige,  haben  wir  bei  massenhaften  Arbeiten  für  das  Einzelne  und 
zahlreichen  größeren  Arbeiten,  die  nach  der  einen  oder  andern  Seite  in 
die  Sache  einschlagen,  keine  Wiederaufnahme  der  gleichen  Anfgabe, 
die  nicht  hinter  dem  von  Rettberg  erreichten  zeitlichen  Ziel  (Karl 
d.  6r.)  noch  znrückgeblieben  wäre.  Krafts  Deutsche  Kirchengeschichte, 
viel  weiter  zurückgreifend  als  Rettberg,  ist  in  den  gotischen  Anfän- 
gen abgebrochen;  Friedrichs  Unternehmen,  in  seinen  beiden  Bänden 
von  breitester  Ausführlichkeit  in  der  Merovingerzeit  stecken  geblie- 
ben, bezeichnet  bei  manchen  Verdiensten  im  Einzelnen  und  dankens- 
werter Verwertung  des  seit  Rettbergs  Zeit  zugänglich  gewordenen 
Materials  im  Ganzen  doch  einen  Rückschritt  an  unbefangener  Kritik. 
Die  rege  Arbeit  der  geschichtlichen  Forschung  auf  dem  einschlagen- 
den Gtobiete  seit  Rettbergs  Zeit  weist  aber  so  bedeutende  Fortschritte 
der  Quellenforschung  wie  der  Verwertung  für  deutsche  Geschichte, 
für  Geschichte  der  Kirche  und  des  Kirchenrechts  auf,  dafi  es  in  der 
That  sehr  an  der  Zdt  zu  sein  scheint,  daß  der  Versuch  einer  za- 
sammenfassenden  Darstellung  gemacht  werde,  welche,  ohne  sich  in 
Form  kritischer  Einzeluntersnchangen  zu  veriieren,  das  gesicherte 
geschichtliche  Material  zu  einem  geschichtlichen  Ganzen  aufzabanei 
sucht  Bei  dem  massenhaften  Anschwellen  des  Stoffs  ist  das  ge- 
radezu ein  Bedürfnis,  und  durch  eine  Reihe  hervorragender  ge- 
schichtlicher Arbeiten  ist  doch  der  Boden  für  eine  solche  so  weit 
geebnet,  daß  eine  berufene  Hand  sie  ausführen  kann.  Welche 
großen  Schwierigkeiten  dabei  und  bei  einer  ebenmäßigen  Fortsetzung 
des  Unternehmens  durch  das  Mittelalter  hindurch  zu  überwinden 
sind,  wird  sich  der  Verf.  des  vorliegenden  Buchs  selbst  am  wenig- 
sten verborgen  haben. 


Hauck,  Kirchengeschichte  Deutschlands.   I.  783 

Ueberlassen  wir  aber  vorläufig  dem  rttstigen  Verf.  die  Sorge  (Ar 
die  weitere  Darcbftthroiig  der  großen  Aufgabe,  die  er  sich  gestellt 
zu  haben  scheint,  «nd  halten  uns  an  das  im  ersten  Bande  uns  ge- 
botene. Daß  derselbe  nicht  bloß  als  Kompilator,  sondern  als  mit- 
arbeitender Forscher  auftritt,  davon  wird  den  Kundigen  die  Prfl- 
fang  desselben  ttberzeagen.  Seine  zahlreichen,  wenn  auch  notwen- 
dig knapp  gehaltenen  Auseinandersetzungen  mit  andern  Forschern 
über  einzelne  Fragen  in  den  Anmerkungen  lassen  bei  aller  gebote- 
nen Beschränkung  dies  ebenso  erkennen,  wie  die  überall  sich  kund- 
gebende Vertrautheit  mit  den  Quellen  und  der  einschlägigen  Litte- 
ratur.  Auch  die  Abgrenzung  des  Qegenstandes  und  die  geschicht- 
liche Anordnung  scheint  mir  im  Ganzen  zu  Ausstellungen  keine  Ver- 
anlassung zu  geben.  In  ersterer  Beziehung  könnte  man  allenfalls 
wünschen,  daß  der  Verf.  bei  Qelegenfaeit  des  bedeutungsvollen  Ein- 
greifens der  irischen  Glaubensboten  Veranlassung  genommen  hätte, 
seine  Anschauung  vom  irisch-schottischen  Kirchen  wesen  zusammen- 
hängend zur  Darstellung  zu  bringen.  Indessen  da  die  besonders 
durch  Ebrard  veranlaßte  Bh)cbflttt  mit  ihrer  mannigfachen  Verwirrung 
bereits  als  verlaufen  angesehen  werden  muß  und  wenigstens  in  ge- 
wissen Hauptpunkten  sich  das  wissenschaftliche  Urteil  ziemlich  kon- 
solidiert hat,  mag  es  gerechtfertigt  erscheinen,  wenn  der  Verf.  dar- 
auf nicht  ex  professo  eingeht,  sondern  nur  nach  Erfordern  gelegent- 
lich zurückgreift. 

Wenn  der  Verf.  auch  die  deutsche  Kirchengeschichte  erst  mit 
der  Bekehrung  der  Franken  beginnen  läßt,  so  war  doch  natürlich 
ein  Zurückgreifen  auf  das  römische  Christentum  der  Rhein-  und 
Donanlande  unumgänglich,  schon  um  die  für  das  Entstehn  germani- 
schen Christentums  so  wichtige  Anknüpfung  an  Reste  römischer 
Stiftungen  zu  verstehn,  insbesondre  aber  vm  die  Verschmelzung  des^ 
fränkischen  Christentums  mit  dem  der  romanisierten  keltischen  Be- 
völkenug  zur  Anschauung  zu  bringen,  welche  zu  ei«em  guten  Teile 
für  die  ganze  folgende  frärukisch-germanische  Entwicklung  gntnd^ 
legend  ist.  Für  die  Auffassong  dieser  Anfänge  sind  die  Sätze  von 
Bedeutung,  einmal :  nicht  Rom  hat  die  [von  ihm  eingeleitete  und-  sehr 
aUmähUch  sich  vollziehrade]  Romanisierui^  Galliens  vollendet, 
aoodksm  erst  die  Kirch  e..  Gelten  im  mittleren  Gallien  gegen  Ende 
des  vierten  Jahrhunderts  die  Sttdgallier  als  vollkommene  Römer, 
so  dofih  nur  diese.  Völlig  wich  das  Kdftische  dem  Lateinischen  erst, 
naohdena  an  die  Stelle  der  Bömerherrschaft  die  Frankenherrsehaft 
getreten  war.  Sodann:  die  germanisehe  Kirche  der  Röraerzeit  be- 
schränkte sich  im  Wesentlichen  auf  die  lateinischen  (ftreiKefa  von 
^Uen  Enden   der    otttovi^iwif  zusaumengewIlrfeUen)   Beweboer    der 


734  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  19. 

Städte.  Endlich:  »In  Gallien  nnd  Germanien  entstand  nicht  eine 
keltische  und  germanische  Kirche  neben  der  lateinischen ,  wie  im 
Orient  eine  syrische  neben  der  griechischen c.  In  dem  anziehenden 
Gemälde,  welches  der  Verf.  im  zweiten  Kapitel:  zar  Charakteristik 
der  religiösen  nnd  sittlichen  Anschaaangen  des  römischen  Galliens 
in  der  Zeit  etwa  von  Martin  v.  Tours  bis  Ausgang  des  fbnften  Jahr- 
hunderts an  der  Hand  besonders  des  Snlpicius  Severus,  Salviana  nnd 
den  Schriften  des  Sidonius  Apollinaris  entwirft,  ist  es  besonders  das 
Verhältnis  des  asketischen  und  mönchischen  Christentums  zum  welt- 
förmigen  und  zum  Episkopat,  welches  in  seiner  alünählichen  Ent- 
wicklung mit  Aufmerksamkeit  verfolgt  wird  von  der  anfänglichen 
schroffen  Stellung  eines  Martin  von  Tours  an.  Das  Bild  wQrde  hier 
wohl  noch  einige  Modifikationen  erfahren,  wenn  der  Verf.  die  sfld- 
gallischen  Verhältnisse,  die  ja  allerdings  von  seiner  eigentlichen  Auf- 
gabe ferner  lagen,  mit  herangezogen  hätte.  Darüber,  daS  der  Verf. 
die  eigentlich  theologischen  Bewegungen  des  fünften  Jahrhunderts 
in  Gallien,  jene  nicht  unbedeutende  Blüte  der  semipelagianiscben 
Theologie,  von  seiner  Darstellung  ausgeschlossen,  wird  man  ihm 
keinen  Vorwurf  machen  dürfen.  Was  übrigens  den  Geist  des  aske- 
tischen Christentums  in  Gallien  betrifft,  so  zieht  der  Verf.  zu  seiner 
Charakterisierung  entsprechend  seinen  früheren  Nachweisungeu  (in 
Luthardts  Zeitschrift  für  kirchl.  Wissensch.  1885,  357  ff.)  auch  die 
unter  Columbans  Namen  gehenden  Instructiones  mit  heran,  wie  ich 
glaube  mit  Recht,  denn  seine  Untersuchungen  bestätigen  in  der  That, 
daB  man  es  hier  mit  einem  Schüler  des  Faustus  Rejensis  zn  thun 
hat.  Ich  möchte  bei  dieser  Gelegenheit  hinweisen  auf  den  Anklang 
an  das  Athanasian.  Symb.  in  diesen  instructiones:  Credat  igitar  pri- 
mum  omnis  qui  vult  salvus  esse  etc.  —  Noch  möchte  ich  in  diesem 
1.  Buche  auf  die  Erörterung  über  die  erst  im  Anfang  des  f&nften 
Jahrhunderts  in  der  Konsolidation  begriffene  kirchliche  Organisation 
durch  die  Metropolitanverfassung  hinweisen.  Hier  wird  wohl  doch 
Loening  (I,  370  ff.)  hinsichtlich  des  bekannten  Streits  zwischen  Arles 
nnd  Vienne  um  den  »Primate  d.  h.  doch  eben  die  Metropolitan- 
stellung, über  welchen  die  Turiner  Synode  Entscheid  gab,  Recht  be- 
halten gegen  Hauck  (S.  37  Anm.).  Wenn  diese  Synode  entscheidet, 
derjenige  solle  die  Ehre  des  Primats  haben,  der  den  Beweis  erbracht 
haben  werde,  daß  seine  civitas  die  metropolis  sei,  so  kann  metrop. 
hier  schlechterdings  nur  von  der  politischen  Provinzialhauptstadt 
verstanden  werden.  Die  Verhältnisse,  unter  denen  dies  ftlr  femer 
stehende  oder  in  einem  gewissen  Zeitpunkt  zweifelhaft  sein  konnte, 
sind  von  Loening  meines  Erachtens  richtig  bezeichnet.  Sie  sind  be- 
stimmt durch   die  Verlegung  des  politischen  Mittelpunkts,    der  Resi- 


Haucky  Eirchengescbichte  Deutschlands.    I.  785 

deDz  des  Präfektus  Prätorio  von  dem  gefllhrdeten  Trier  nach  Arles, 
der  schon  früher  von  den  Kaisern  begünstigten  bisherigen  zweiten 
Stadt  der  Prov.  Viennensis.  Es  handelt  sich  also  nicht  um  eine  ein- 
fache Verlegung  des  Sitzes  einer  Provinzialregiernng  von  einer  Stadt 
nach  der  andern;  sondern  daram,  ob  sofort  aus  der  Verlegung  des 
Präfektnrsitzes  die  Konsequenz  gezogen  worden,  welche  Vienne  sei- 
ner bisherigen  Bedeutung  entkleidete.  Bald  darauf  wird  in  der  be- 
kannten  Konstitation  des  Kaisers  Honorius  von  418  Arles  ausdrück- 
lich und  man  könnte  meinen  mit  einer  gewissen  Geflissentlichkeit 
als  metropolis  bezeichnet. 

Wenden  wir  uns  zum  IL  Buche,  so  notiere  ich  ans  der  Dar- 
stellung der  Bekehrung  der  Alamannen,  Burgunder  und  Franken,  in 
Betreff  der  ersteren,  daft  H.  darauf  aufmerksam  macht,  wie  von  den- 
jenigen alamannischen  Qebieten,  auf  denen  bei  der  späteren  Be- 
setzung durch  die  heidnischen  Alamannen  sehr  wohl  sich  Reste  rö- 
misch-christlicher Stiftungen  hindurch  retten  konnten ,  das  Deknma- 
tenland,  ihre  früheste  Niederlassang  auf  römischem  Gebiet  im  dritten 
Jahrhundert  zu  unterscheiden*  ist,  welche  etwa  schon  vorhandenes 
Christentum  abbrechen  mußte,  da  die  vorhandene  römische  Bevölke- 
rung sich  mit  den  Legionen  zurückzog.  Die  Burgunder  betreffend 
hält  H.  die  Notiz  des  Sokrates  (h.  e.  7, 30)  über  die  Bekehrung  der 
rechtsrheinischen  Burgunder  um  430  gegen  die  chronologischen  Be- 
denken Rettbergs  fest,  indem  er  dies  Ereignis  unterscheidet  von  dem 
durch  Orosius  gemeldeten,  etwas  früheren.  Hinsichtlich  der  Bekeh- 
rung der  Franken  tritt  er  für  die  durch  die  legendarischen  Akten 
der  h.  Genovefa  begünstigte  Annahme  der  bereits  kirchenfreundlichen 
Gesinnung  Childerichs,  des  Vorgängers  Chlodwigs,  auf  Grund  jenes 
Kapitulars  des  Ghlotachar  ein,  dessen  Beziehung  auf  Chlotar  I.  er 
gegen  Waitz,  Boretins  a.  Loening  glaubt  festhalten  zu  können  und 
wegen  Bezugnahme  der  zweiten  Synode  von  Toniti  auf  dasselbe 
festhalten  zu  müssen.  In  der  Darstellung  der  Bekehrung  Chlodwigs 
bei  Greg.  Turon.  II,  29  ff.  sieht  H.  eine  Verschmelzung  oder  In- 
einanderschiebung zweier  einander  ausschließender  Ueberlieferungen, 
deren  eine  gesondert  vorliege  in  dem  wegen  persönlicher  und  zeit- 
licher Nähe  ins  Gewicht  fallenden  Briefe  des  Nicotins  v«  Trier, 
während  die  andere  in  der  alten  vita  Vedasti  erscheint.  Letztere 
in  c.  30  bei  Greg,  eingefügte  Ueberliefernng  bringe  Verwirrung  in 
die  sonst  gut  zusammenhängende  Darstellung  Gregors.  —  In  der 
Schilderung  der  fränkischen  Verhältnisse  der  kirchlichen  Verfassung 
wie  des  Verhältnisses  von  Staat  und  Kirche  hatte  der  Verf.  an  Loennig 
einen  trefflichen  Führer,  mit  dem  er  sich  jedoch  öfter  anseinanderzu« 


7S6  Oött.  gel.  Ans.  1887.  Nr.  19. 

setzei  VeraDlaBBQDg  bajt,  während  seine  wesentlich  andere  Aufgabe, 
die  der  historischen  Darstellung  veranlaßt»  dieselben  Fragen  auch  unter 
andern  Gedichtspunkten  zu  zeigen.  Wieder  aber  zeichnet  sich  hier 
der  Abschnitt  Über  die  sittlich-religiösen  Zustände  (S.  119—218) 
durch  Sorgfalt  und  feinsinnige  Verwertung  des  Materials  aus.  Bei 
rlickbaltsloser  Anerkennung  des  so  oft  betonten  fnrchtbaren  sittlichen 
Tiefstands  der  in  Gewaltthätigkeit,  Treulosigkeit,  Unbändigkeit  und 
Gier  hervorragenden  Zeit  versucht  der  Verf.  doch  auch  der  andern 
Seite  gerecht  zu  werden,  zu  zeigen,  dafi  die  fränkische  W^  trotz 
aller  Frevel  nicht  irreligiös  war,  daß  ihre  Religion  bei  all  ihrem 
maafliveu  Aberglauben  und  ihrem  rohen  Werkdienst  einen  wertvollen 
Kern  barg,  und  daft  die  Kirche  in  aller  Verderbnis  doch  die  wider- 
standsfähigen Grundlagen  einer  volkstümlichen  Entwicklung  za  legen 
vermocht  hat,  endlich  daft  der  Klerus  als  Bildungsträger  das  Ab- 
sterben der  klassischen  BUdnngsformen  und  die  hereiabcechende 
Barbarei  zwar  nicht  aufzuhalten  und  die  innerlich  völlig  hohl  und 
nichtig  gewordene  rhetorische  und  poetische  Bildung  nicht  mit  neuem 
Inhalt  zu  füllen  vermocht  hat,  daft  er  aber  dafür  »wieder  anfieng 
zu  schreiben,  um  verstanden  zu  werden«  und,  dürfen  wir  hinzasetzen, 
religiöftHsittlicb  zu  wirken.  Wirklich  ist  in  dieser  Beziehang  die 
elendeste  Heiligenbiogri^)hie  immer  noch  mehr  wert,  als  das  nichtige 
Pbrasengeklingel  der  geschraubtesten  Prunkrede.  Auch  die  Ent- 
wicklung des  Mönehtams  nimmt  hier  eine  wichtige  Stellaog  ein, 
insbesondere  natürlich  der  neue  mächtige  AnstoA ,  den  Colunba  mit 
seinen  Iren  durch  seine  Wirksamkeit  im  Frankenreich  gegeben. 
Daß  H.  die  instructiones  nicht  als  Werk  Golumbas  gelten  läftt,  ist 
bereits  bemerkt,  dagegen  ist  er  mit  allen  neuem  Forschern,  soweit 
sie  sich  nicht  von  Ebrard  beeinflussen  lassen,  von  der  Aecbtheit  der 
Möncbsregel  Columbas  überzeugt,  nämlich  nicht  hloft  von  der  all- 
seiidg  anerkannten  sog.  regula  monaet,  sondern  auch  der  eoenobia- 
lis,  und  zwar  in  dem  Sinne,  daß  beide  wie  ein  erster  und  zweiter 
Teil  zusammengehören,  unter  Abweisung  auch  der  Ansieht  von 
Seehaft  (über  Col.  Klosterregel,  Dresden  1883),  der  nur  die  ersten 
9  Kapitel  der  reg.  coenob.  anerkennen  will.  Mit  Becht,  wie  mir 
scheint,  urteilt  H.  trotz  aller  Anerkennung  eines  mächtigen  idealen 
Zugs,  welcher  durch  den  ersten  Teil  (reg.  mon.)  geht»  daft  durin  im 
Grunde  kein  andres  als  das  aUgemein  asketische  Ideal  des  Möneh- 
tums  überhaupt,  und  zwar  ziemlich  stark  anf  dk  Spitze  getrieb^ 
seinen  Ausdruck  finde,  und  daft  in  der  reg.  coenob.,  {der  so  anstSAi- 
gen  i^FrttgelregeU,  die  kleinliche  Durchführung  der  Strafe  demselben 
gesetzlichen  Standpnnkt  entspringe  und  demselben  !&weeke  dienen 
solle:   Bruch  des  eignen  Willens   dem  Gebot  gegenüber,   und  Star- 


Hauck,  Kircbengeschichte  Deutschlands.   I.  737 

knng  der  Willenskraft  dem  eignen  Ich  gegenüber.  Was  das  Baß- 
buch nnter  Golambas  Namen  betrifft,  dessen  kompilatorischer,  ganz 
verschiedene  Bestandteile  vereinigender  Charakter  anerkannt  ist,  so 
ist  H.  geneigt  in  c.  13—37  den  ächten  Kern  zu  sehen,  welcher  auf 
Columba  oder  seine  Schüler  zu  Luxeuil  zurückzuführen  ist  (s.  254 
Anm.  Auseinandersetzung  mit  Schmitz). 

Als  das  Entscheidende   für  die  Wirksamkeit   Columbas   und  die 
von  ihm  ausgehenden  Wirkungen    ist   nach  H.  dies  anzusehen,    daß 
erst  mit  ihm  als  bewußte  Aufgabe  des  Mönchtums  die  religiöse  Ein- 
wirkung auf  die  Kirche,   auf  die  Laienwelt  im   fränkischen  Reiche 
geltend  gemacht  wird,  entsprechend  der  eigentümlichen  Stellung  und 
Wirksamkeit   des   irisch-schottischen   Mönchtums.    In    diesem    Sinne 
also  ein  missionierendes  Mönchtum,  d.  h.  ein  solches,    welches  seine 
Aufgabe    nicht   bloß   in   der  Förderung   des  Seelenheils  der  Mönche 
selbst  sucht,  und  sich    in  mönchischer  Vollkommenheit   abschließend 
für  die  Weltkirche  etwa  nur  Ideale  und  heilige  Fürbitter  liefert,  be- 
ziehentlich allerdings   fromme  Bischöfe   für   den  Kirchendienst,   son- 
dern  das  Predigt   und  Seelenleitung,   christliche  Wirksamkeit    nach 
Außen  in  seinen  Beruf  aufnimmt.    Eigentliche  Missionsgedanken  aber 
im  engern  Sinne  sind  dabei  keineswegs  das  ausschließlich  Bestim- 
mende gewesen,  worauf  auch   unser  Verf.   hinweist.    Es  muß  ande- 
rerseits  auch    darauf  hingewiesen   werden,   daß   das   eigentümliche 
Gewicht,  welches  auf  die  peregrinatio,  das   Ausgehn  von   Vaterland 
und  Freundschaft,  gelegt  wird,  nicht  bloß  dem  Missionsgedanken  als 
solchem  gilt,  sondern  auch  schon  dem  asketischen  Ideal  der  Welt- 
flucht an  sich.     Im  Zusammenhang   mit   dieser  Auffassung  schließt 
sich  der  Verf.  an  die  zuletzt  von  Loening  begründete  Ansicht:  »das 
ganze   spätere  Büß-  und  Beichtwesen    der   katholischen  Kirche  ent- 
sprang aus  der  Ausdehnung  der  Klosterdisciplin  auf  die  Laienweltt, 
und  hierfür   bildet  eben   die  Uebung   der  irisch-schottischen  Kirche 
die  wesentliche  Vermittelung ;   in   ihr  gab  es  keine  öffentliche  Buße 
im    Sinne   der  alten  Kirche,  d.  h.   als  Rekonciliationsmittel   für  die 
Ausgeschlossenen,  aber  Privatbuße,   d.  h.  BußObungen,  die  von  den 
Geistlichen  als  Disciplinarstrafen   auferlegt  wurden  und  die  den   in 
den  Erlöstem  über  die  Mönche  verhängten  entsprachen.    Daraus  ge- 
winnt die  Klage  Columbans  eine  eigentümliche  Beleuchtung,  wonach 
in  der  gallischen  Kirche    nur  der  christliche  Glaube    vorhanden  sei, 
äoAerst  selten  aber  poenitentiae  medicamenta  et  mortificationis  amor 
sieb    fänden   (Jonas,   vita   Col.  c.  11).     Das   in    den  irischen  Buß- 
bttchern   geltend   gemachte  Bußwesen   ist   von   Columban   und   den 
Seinen  auÜB  Festland  verpflanzt  und  hier  nicht  durch  die  officiellen 
Organe  der  Kirche,  sondern   durch  die  persönliche  Autorität  Colum- 

aott.  f  »1.  Ani.  1887.  Nr.  19.  51 


73B  Gott.  ge(.  Aqz.  1887.  Nr.  19. 

bas  and  seiner  Nachfolger  verbreitet ,  ohne  daß  die  bisherige  Foim 
der  Exkommanikation  und  Bekonciliation  darch  diese  daneben  tre- 
tende Neaernng  berührt  worden  wäre.  Hat  diese  ganze  Anffassang, 
wie  ich  glaube,  Recht,  so  rechtfertigt  sich  H.s  Urteil,  daA,  was  Co- 
lamba  für  Einftihrnng  der  Beichte  that,  weit  länger  wirkte,  als  was 
er  zur  Förderang  des  Klosterwesens  that.  Hier  greift  die  Frage 
nach  dem  Verhältnis  der  Colamban-Klosterregel  za  der  im  7.  Jahr- 
hnndert  im  fränkischen  Reiche  in  steigender  Weise  sich  geltend  ma- 
chenden Benediktinerregel  ein.  Aach  aber  den  hier  vorliegenden 
Proceß  ist  H.  im  Ganzen  mit  Loening  einverstanden.  Wirklich  wird 
die  Zarückdrängung  der  Colamban*Regel  hinter  die  Benedikts  ihren 
Hauptgrund  darin  haben,  daß  die  Benediktiner-Regel  Bedürfnisse  be- 
friedigte, welche  durch  die  Anweisungen  Columbas  eben  nicht  be- 
friedigt wurden,  nämlich  Bestimmungen  über  Verfassung  and  Ver- 
waltung der  Klöster  enthielt,  während  die  Columbas  nach  dieser 
Seite  lediglich  durch  den  Einfluß  der  kraftvollen  Persönlichkeit  er- 
gänzt wurde.  Es  muß  wohl  gesagt  werden,  daß  dem  ganzen  Pro- 
ceß  viel  weniger  etwa  ein  Bewußtsein  eines  Gegensatzes  oder  gar 
eines  feindlichen  Verhältnisses  zwischen  den  beiden  Konkurrenten 
zu  Grunde  liegt,  als  das  Gefühl  eines  Bedürfnisses  gegenseitiger  Er- 
gänzung, sie  stehn  weniger  einander  gegenüber  als  Konkarrenten, 
wie  mit  einander  gegenüber  den  Zerrüttungen  des  Klosterwesens  im 
fränkischen  Reiche,  und  die  Nebeneinanderstellung  beider  Namen  in 
zahlreichen  Kiosterstiftungen  wird  eine  völlig  unbefangene  und  unver- 
fäugliche  sein.  Allerdings  nimmt  H.  im  Unterschiede  von  Loening 
einzelne  Fälle  an,  in  denen  er  eine  spätere  Einschiebung  des  Na- 
mens Benedikt  für  wahrscheinlich  erklärt.  An  sich  ist  ja  diese 
Möglichkeit  nicht  zu  läugnen,  ob  aber  die  S.  284  A.  besprochenen 
Fälle  wirklich  zu  dieser  Annahme  zwiogen,  scheint  mir  nicht  so 
ganz  ausgemacht.  Freilich  wird  nun  nicht  zu  verkennen  sein,  daß 
der  bedeutende  geistliche  Impuls,  der  von  Columbas  Stiftungen  aus- 
gieng,  mit  welchem  auf  der  einen  Seite  das  häufig  erfolgreiche  Stre- 
ben nach  größerer  Freiheit  der  Klöster  vom  Bischof,  auf  der  andern 
Seite  die  eine  Zeit  lang  sich  zeigende  Thätigkeit  der  Mönche  für 
Volkspredigt  und  Seelsorge  verbunden  war,  durch  das  Eingreifen 
der  Benediktinerregel  gerade  in  letzter  Beziehung  gekreuzt  werden 
konnte,  sofern  ja  nach  dieser  die  Thätigkeit  der  Mönche  auf  den 
Kreis  der  Klöster  beschränkt  gedacht  wurde.  Man  vergleiche,  wie 
in  den  Kanones  des  Koncils  von  Antun  (circa  670)  (Mansi  XI,  127) 
an  die  Befolgung  der  Klosterregel,  speciell  der  des  heil.  Benedikt 
nur  die  Hoffnung  geknüpft  wird:  et  numerus  monachorum  deo  pro- 
pitio  augebitur  et  mundus  omnis  per  eorum  orationes  assiduas  mali9 


Uauck,  KirciieDgescbichte  Deutschlands.   I.  739 

carebit  cootagiis,  nieht  aber  etwa  die  Hoffnung  einer  fracbtbaren 
Wirksamkeit  auf  die  Laienwelt  in  ihrem  Bereicb.  Indessen  wenig- 
stens auf  dem  Gebiete  der  Mission  setzen  ja  jene  Impulse  sieb  aueb 
in  dem  Benediktiner-Mönebtum  nun  mächtig  durcb. 

Mit  der  von  der  großen  Gestalt  Golumbas  beberrscbten  Darstel- 
lung des  Mönchtums  hat  der  Verf.  die  Zeit  erreicht,  welche  den  Höhe- 
punkt der  fränkischen  Kirche  zeigt^  mit  deren  £rstarkung  er  nun 
auch  den  Ausbreitungstrieb  in  Verbindung  setzt;  er  bandelt  daher 
hier  von  den  Bemühungen  um  Christianisierung  sowohl  in  den  nörd- 
lichen Grenzdistrikten  (Amandus  und  Eligius)  als  auch  in  unter 
Austrasieu  stehenden  deutschen  Landschaften  (Alamanieu  und  Baiern). 
Was  das  erstere  betrifft,  wird  die  unter  Chlotar  II.  vorgenommene 
Bevision  des  alamanischen  Gesetzes  herangezogen.  Den  h.  Pirmin 
glaubt  H.  für  einen  Angelsachsen  halten  zu  dürfen;  da  einerseits  die 
Grabschrift  Pirmins  von  Raban  ihn  als  peregrinns  bezeichnet,  der 
Vaterland  und  Freundschaft  verlassen  habe  (wie  auch  die  Diplome 
die  Mnrbacher  Mönche  als  congregatio  peregrinorum  bezeichnen),  was 
eine  fränkische  Herkunft,  welche  R  E  ^  noch  festgehalten  wird,  aller- 
dings ausschließt,  und  da  andererseits  der  Anschluß  an  die  Benedik- 
tinerregel auch  gegen  irische  Abkunft  spreche;  aber  warum  das 
letztere,  wenn  doch  die  Kombination  von  Columba  und  Benedikt 
sich  im  Frankenreich  bereits  vollzog?  Die  von  Caspari  kritisch  neu 
edierten  und  erläuterten  Dicta  Abbatis  Priminii  (sie)  benutzt  H.  zur 
Charakteristik  des  Mannes  wie  der  Zeit,  in  welcher  ftlr  seine  Um- 
gebung die  Missionsarbeit  im  engsten  Sinne  vorttber  war  und  die 
der  Kirche  begann.  Ebenso  wird  bei  Rupert  von  Worms  der  Ge- 
sichtspunkt vorangestellt,  daß  seine  Berufung  nach  Baiern  nicht  so- 
wohl geschehen  sei,  um  das  Volk  erst  zum  Christentum  zu  bekeh- 
ren, als  eine  kirchliche  Ordnung  herbeizuftthren,  eine  Auffassung, 
welche  in  beachtenswerter  Weise  durch  genauere  Beachtung  der 
sog.  vita  primigenia,  der  gesta  Hrodberti  confessoris  (Archiv  für 
Österreich.  Gesch.  63  S.  606)  bestätigt  wird.  Der  Agilolfinger 
Theodo  sucht  der  drohenden  Macht  des  Hausmeiers,  des  Arnulfingers, 
gegenüber  eine  Stütze  in  der  Verbindung  mit  dem  merovingischen 
Hause  (S.  340  Anm.)-  Salzburg  wird  durcb  Rup.  nicht  eine  Bi* 
schofsstadt,  sondern  ein  Kloster,  als  Abt  von  St.  Peter  hatte  Ru- 
pert  Nachfolger,  nicht  als  Bischof;  seine  Stiftung  verkrüppelte,  und 
der  als  Bischof  genannte  Vitalis  (Mon.  Germ.  Scr.  XIII,  351)  könnte 
nach  H.  der  den  Emmeran  begleitende  Presbyter  sein,  der  von  die- 
sem die  bischöfliche  Weihe  erhielt.  Ueberall  wird  hier  betont,  daß 
eben  noch  nicht  an  bischöfliche  Sprengel  zu  denken  ist,  wie  die  fol- 
gende Entwicklung  zeigt.    Ein  Bischof  Erhard  in  Regensburg  (Ver- 

61* 


740  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Kr.  19. 

brttderaDgsboch  von  St.  Peter)  mag  in  der  herzoglichen  Stadt  seinen 
Sitz  gehabt  haben,  aber  Bischof  einer  Regensbnrger  Didefese 
war  er  so  wenig,  als  Emmeran,  von  welchem  festznhalten  sein  wirdf 
daß  er  im  Anfang  des  8.  Jahrhunderts  ein  Kloster  in  Regensbnrg 
gründete  nnd  hier  gewaltsam  den  Tod  fand;  auch  Korbinian  in 
Freising,  der  als  Bischof  gilt,  ist  dies  nar  im  Sinne  eines  Klerikers 
mit  bischöflicher  Ordination. 

Das  6.  Kapitel:  »Die  Kirche  im  Kampfe  mit  den  Oroßenc  führt 
nns  zu  den  Innern  Verhältnissen  der  fränkischen  Kirche  seit  dem 
Tode  Dagoberts  zurUck,  wo  die  längst  begonnene  sociale  Umgestal- 
tnng,  das  Aufkommen  großer  nnd  mächtiger  Familien  das  meroyin- 
gische  Königtom  bedrängt  und  allmählich  zum  Schatten  macht,  der 
König  nicht  mehr  dem  Volke,  sondern  den  großen  Familien  gegen- 
tiber  steht,  nnd  die  Kirche  als  die  größte  Grandbesitzerin,  die  Bi- 
schöfe als  mächtige  geistliche  Aristokratie  neben  der  weltliehen 
einesteils  selbst  als  Faktoren  in  diesen  Machtinteressen  auftreten, 
andererseits  aber  eben  damit  die  Kirche  der  Herrschaft  rein  weltli- 
cher, politischer  Gesichtspunkte  unterliegt  und  in  der  bekannten 
Weise  ausgebeutet  wird,  welche  den  Verfall  der  kirchlichen  Ordnung 
und  Zucht  notwendig  mit  sich  führen  muß.  Was  ttber  das  Verhält- 
nis der  fränkischen  Kirche  zu  Rom  vor  der  Wirksamkeit  der  angel- 
sächsischen Mission  zu  sagen  war,  verbindet  der  Verfasser  mit  der 
Erzählung  von  eben  dieser  Thätigkeit  im  III.  Buche.  Der  damit 
eintretende  Wendepunkt  wird  vom  Verf.  S.  392  dahin  kurz  gekenn- 
zeichnet: »Die  angelsächsischen  Missionare  kamen  als  Missionare 
in  die  Machtsphäre  des  fränkischen  Reichs  (nicht  also  in  der  ur- 
sprünglichen Absicht,  das  Verhältnis  der  fränkischen  Kirche  nmin- 
gestalten),  suchten  aber  in  gewohnter  Weise  die  Gemeinschaft  mit 
Rom  zu  bewahren.  Durch  ihre  Erfolge  entstanden  innerhalb  des 
fränkischen  Gebiets  Provinzialkirchen,  die  mit  Rom  weit  enger  zu- 
sammenhiengen,  als  die  fränkischen  Reichskirchen.  Daß  auch  diese 
die  Ftlhlung  mit  Rom  wieder  gewannen,  bewirkten  sehließlicb  die 
angelsächsischen  Priester  nicht  allein,  es  ist  die  That  der  Söhne 
Karl  Martellst.  Hier  tritt  zunächst  die  friesische  Mission  in  den 
Gesichtskreis.  Bei  Gelegenheit  der  Lebensgeschichte  Willibrords 
sollte,  meine  ich,  stärker  betont  werden,  wie  die  Ueberwindung  der 
irisch-schottischen  Sonderheiten  in  kirchlichen  Fragen  die  Angel* 
Sachsen  durchaus  nicht  hindert,  in  den  irischen  Klöstern  die  hoch- 
angesehenen Sitze  mönchischer  Tugend  und  theologischer  Bildung 
zu  sehen.  Der  Angelsachse  Egbert  hat,  wie  viele  seiner  Landsieale, 
bei  ihnen  seine  asketische  und  theologische  Ansbilduag  gefunden  — 
er  der  später  die  Mönche  von  St.  Jona  endlich  bew^,   ihr  Wider« 


Hauck,  Kircbgengescliichte  Deutschlands.   I.  741 

streben  gegen  römische  Einrichtungen  ani^ngeben.  Sein  Rof  lockt 
den  jungen  Willibrord  ebendahin,  nachdem  er  schon  nnter  des  >rOmi- 
sehen  c  Wilfried  EinflnA  gestanden,  and  hier  wird  er  mit  Missions- 
eifer erfttllt.  Eine  gewisse  Dunkelheit  bleibt  auch  bei  H.s  Darstel- 
lung über  dem  Umstand,  daß  nach  Willibrords  erster,  von  H.  mit 
Recht  auf  Grund  von  Beda  festgehaltenen,  Romreise  die  angelsäch- 
sischen Missionare  in  Friesland,  veranlaßt  durch  die  bisherigen  Er- 
folge, einen  aus  ihrer  Mitte  zum  Bischof  wählen  und  zwar  nicht 
Willibrord,  sondern  Suidbert,  der  dann  in  England  durch  Wilfried 
geweiht  wird,  daft  aber  dann  Suidbert  alsbald  Friesland  und  das 
fränkische  Gebiet  verläßt  und  unter  den  Brnkterern  wirkt.  Erste- 
res,  die  Wahl  Suidberts,  glaubt  H.  ans  dem  vorauszusetzenden  hö* 
hern  Alter  desselben  erklären  zu  können,  letzteres  aber  daraus,  daß 
Pipin  die  von  den  Hissionaren  eigenmächtig  vorgenommene  Bi- 
schofswahl (oder  die  Wdhe  in  England?)  nicht  anerkannt  habe.  In 
der  That  habe  sich  dann  auch  Willibrord  davon  Überzeugt,  daß 
kirchliche  Einrichtungen  im  fränkischen  Reiche  nur  unter  Mitwir- 
kung der  staatlichen  Gewalt  getrpffen  werden  könnten.  Im  Zusam- 
menhang  hiermit  hält  H.  daran  fest,  daß  Willibrord  bei  seiner  zwei- 
ten Anwesenheit  in  Rom  vom  Papst  Sergius  zum  Erzbischof  geweiht 
sei,  d.  h.  nach  den  Plänen  Pipins  die  Stellung  an  der  Spitze  einer 
neuen  Eirchenregierung,  der  friesischen,  einnehmen  sollte. 

Zur  (beschichte  des  Bonifatius  notiere  ich  zunächst,  daß  H. 
(hierin  einverstanden  mit  Fischer)  Winfried  schon  zwischen  672  und 
675  geboren  sein  läßt,  und  daß  er  (S.  413)  seinen  Eintritt  in  das 
Kloster  Nhutscelle  nicht  vor  711  ansetzen  will  (was  nach  Willibalds 
Worten  doch  nicht  unbedenklich  ist),  und  zwar  weil  der  AbtWyn- 
brecht,  der  ihn  in  dies  Kloster  aufnahm,  vor  diesem  Termin  noch 
nicht  Abt  gewesen  sein  könne,  da  er  701  noch  am  Hofe  des  Königs 
Ini  von  Wessex  eine  Schenkungsurkunde  koncipiert  habe.  Ist  die- 
ser Schluß  stringent?  Und  sind  andrerseits  die  Gründe  für  eine  so 
frttbe  Ansetzung  der  Geburt  des  Bonifatius  (S.  411  f.)  wirklich  so 
zwingend?  Von  der  nach  der  dritten  Romfahrt  (738)  ins  Auge  ge- 
faßten Organisation  der  bairischen  Kirche  nimmt  H.  an,  daß  die- 
selbe, ind^n  sie  die  baierische  Kirche  dem  Papst  unterwarf,  zu- 
gleich dem  Herzog  Odilo,  welcher  der  Einsetzung  der  Bischöfe  seine 
Zustimmung  gab  und  die  Abhaltung  von  Synoden  genehmigte,  eine 
ähnliche  Stellung  znr  bairischen  Kirche  geben  sollte,  wie  sie  der 
fränkische  Herrscher  für  die  fränkische  Kirche  hatte,  eine  Kombi- 
nation, welche  daroh  die  Einsetzung  Odiles  als  Herzog  nahe  gelegt 
werde,  und  wodurch  die  ursprünglich  vom  Papst  gegebne  Weisung 
zu  etfi^  allgemeinen  alamannisoh-baierischen  Synode  aus  den  Augen 


742  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  19. 

gerfickt  nnd  der  Blick  zunächst  bei  Baiern  festgehalten  wurde;  »in 
Gemeinschaft  mit  dem  Herzog  ließ  sich  ohne  Synode  mehr  erreichen«. 
Die  Angelegenheit  Wicterps  in  Regensbnrg  wird  S.  462  in  das 
rechte  Licht  gerttckt  Wicterp  war  Mönch  mit  bischöflicher  Weihe, 
aber  nicht  Inhaber  einer  vorhandenen  bestimmten  Diöcese;  wird  diese 
jetzt  errichtet  nnd  Gaabald  für  sie  bestellt,  so  liegt  darin  nicht 
eigentlich  eine  Verdrängung  Wicterps.  H.  hält  ferner  (mit  Hahn 
und  Waitz)  daran  fest,  daft  die  Einsetzung  der  drei  thttringischen 
Bistümer  noch  bei  Lebzeiten  Karl  Martells  erfolgt  sei.  Nun  muft 
nach  cap.  42  wie  fltr  Wttrzburg  und  Bnraburg  so  auch  fttr  Erfurt 
ein  Bischof  wirklich  ernannt  und  eine  Diöcese  abgegrenzt  sein.  Daß 
der  gesuchte  Bischof  für  Erfurt  der  auf  dem  Goncil.  German,  anter 
den  Bischöfen  genannte  Dadan  sei,  ist  eine  Vermutung  Hancks, 
welche  mindestens  ebensoviel  ja  wohl  mehr  fttr  sich  hat,  als  die  ge- 
wöhnliche, welche  in  Dadan  den  Utrechter  Bischof  findet,  oder  auch 
die  von  Loofs  aufgestellte,  daft  David  zu  lesen  nnd  an  den  Bischof  von 
Speier  zu  denken  sei.  An  Utrecht  zu  denken  empfiehlt  sich  eigent- 
lich am  allerwenigsten,  wenn  man  die  von  Köln  erhobenen  An- 
sprüche auf  die  Utrechter  Kirche  und  die  daraus  hervorgehende  Op- 
position Kölns  gegen  die  Bestellung  eines  eignen  Bischofs  fttr  Utrecht 
bedenkt,  mit  welcher  B.  noch  später  (ep.  107)  zu  thun  hat  —  Zur 
Beurteilung  des  Concil.  Germanicum,  welches  H.  wie  herkömmlich 
auf  742  ansetzt  (gegen  Dttntzer  und  Loofs:  743),  betont  er  nach- 
drücklich, daß  diese  erste  germanische  Synode,  welche  Karlmann 
berief  und  deren  Beschlüsse  er  publicierte,  an  welcher  Bonifatius 
teil  nahm,  die  er  aber  nicht  selbst  abhielt,  zwar  eine  Reformsynode 
war,  aber  die  Rechtsordnung  der  fränkischen  Kirche  und  besonders 
deren  Verhältnis  zu  Rom  ganz  unberflhrt  ließ.  Ja  die  bisher  in  un- 
mittelbarer Unterordnung  unter  Rom  befindliche  thttringisch-hessi- 
sche  Kirche  ordnete  sich  jetzt  der  austrasischen  Kirche  ein  und  ge- 
stand Karlmann  dasselbe  Maaft  von  Gewalt  über  sich  zu,  wie  er  es 
Über  die  rheinische  Kirche  hatte.  H.  betont  also  sehr  nachdrfick- 
lich,  daß  die  Synode  viel  mehr  der  Festigung  der  fränkischen  Lan- 
deskirche als  der  Unterwerfung  derselben  unter  Rom  diente.  >Daß 
Bonifatius  unter  diesen  Verhältnissen  sich  der  Teilnahme  nicht  ent- 
zog, ist  das  beredteste  Zeugnis  dafttr,  daß  er  nicht  nur  die  Erwei- 
terung der  römischen  Macht,  sondern  vor  Allem  die  hochnötige  kirch- 
liche Reform  der  fränkischen  Kirche  suchte«.  Damit  soll  natflrlich 
auch  nach  H.s  Meinung  nicht  verkannt  werden ,  daß  indirekt  hier- 
durch auch  den  Interessen  Roms  gedient  wurde.  —  Nachdem  in 
neuerer  Zeit  die  Ansicht  viel  Beifall  gewonnen  hatte,  wonach  die 
Synode  von  Lestinnes  mit  der  Versammlung  von  745 ,  welche  den 


Hanck,  Eirchengescliicbte  Deatschlands.   I.  T43 

Bischof  Oewilieb  von  Mainz  absetzte,  identisch  und  also  als  ein 
fränkisches  Oeneralkoncil  zn  fassen  sei,  kehrt  H.,  wie  mir  scheint, 
mit  beachtenswerten  OrOnden,  zu  der  frühem  Ansicht  znrflck,  welche 
in  ihr  eine  anstrasische  Synode  von  743  sieht.  Voraassetzong  dafür 
ist  allerdings  die  Ansetznng  des  conc.  German,  anf  742,  sodaß  nan 
die  Syn.  von  Lestinnes  als  erste  AnsfUhrang  der  dort  (742)  gegeb- 
nen Vorschrift  jährlicher  Synoden  erscheint.  Die  bekannten  Be- 
stimmungen über  das  Eirchengat,  welche  den  Grundsatz ,  daß  der 
Kirche  das  Entrisesne  znrtickgegeben  werde ,  mit  den  dringenden  po- 
litischen Lebensinteressen  auszugleichen  suchen,  wttrden  danach  als 
Ausftthrungsbestimmungen  des  allgemeinen  Zugeständnisses  des  conc. 
Germ,  erscheinen,  allerdiogs  aber  als  restringiereude  (vgl.  H's  Be- 
merkungen gegen  Ribbek  S.  483  Anm.). 

Mit  der  guten  Entwicklung  der  bairischen  Verhältnisse,  sofern 
sie  durch  die  Bekämpfung  und  Unterwerfung  Odiles  bedingt  sind 
(S.  486  ff.),  verknüpft  H.  die  Entstehung  des  Bistums  Eichstädt  Mit 
andern  hält  er  dafür,  daß  der  Abt  des  Klosters  in  Eichstädt,  der 
Angelsachse  Willibald,  von  B.  im  Jahr  741  nur  die  Bischofsweihe 
erhalten  habe  für  seine  Missionswirksamkeit  unter  den  benachbarten 
Wenden,  also  als  Regionarbischof,  daß  es  aber  zur  Errichtung  einer 
Diöcese  Eichstädt  erst  gekommen  sei,  als  in  Folge  der  Niederlage 
Odilos  der  westliche  Teil  des  Nordgaus  von  Baiern  getrennt  und 
mit  Austrasien  vereinigt  wurde  und  mit  diesem  Nordgau  nun  das 
sog.  Sualafeld  zu  einem  Sprengel  verbunden  wurde.  Bedenklich 
könnte  dabei  nur  das  Eine  machen,  daß  Willibald  schon  anf  dem 
Conc.  Germ,  (also  nach  H.s  Chronologie  742)  unter  lauter  solchen 
Bischöfen  erscheint,  die  wirklich  bestehende  oder  in  der  Bildung  be- 
griffne Sprengel  vertreten.  Die  Absicht  müßte  also  doch  hinsicht- 
lich Eichstädts  bereits  unabhängig  von  der  nachherigen  Umwand- 
lung der  Dinge  in  Baiern  bestanden  haben. 

Aus  der  großen  Menge  von  einzelnen  Fragen  ans  dem  Leben 
des  Bonifatius,  welche  auf  Grund  des  vorliegenden  Werks  zur  Be- 
sprechung reizen  könnten,  sei  hier  nur  noch  die  über  die  Stellung 
von  Mainz  kurz  berührt.  Indem  H.  sich  denen  anschließt,  welche 
die  päpstliche  Bestätigung  für  Mainz  als  Erzbistum  (Jaffö  ^  2292  = 
Bonif.  ep.  81)  als  unächt  ansehen  -—  als  eine  der  spätem  Tradition 
gemäße  Umarbeitung  der  von  Zacharias  fUr  Köln  ausgestellte  Ur- 
kunde — ,  hält  er  fest  daran,  daß  B.,  nachdem  sich  die  nach  seinem 
Wnnscbe  geplante  und  vom  Papst  bereits  bestätigte  Erhebung  Kölns 
zur  Metropole  zerschlagen,  sich  dazu  verstanden  habe,  das  durch 
Gewiliebs  Absetzung  erledigte  Bistum  Mainz  zu  übernehmen. 
Dadurch  wurde  er  zwar  nicht  aus  einem  Nuntius  Roms  ein  einfacher 


744  Gott.  crel.  Anz.  1887.  Nr.  19. 

Bischof  des  Reichs,  denn  seine  persönliche  Wttrde  als  Erzbischof  and 
päpstlicher  Vikar  verlor  er  nicht.  Aber  während  der  Papst  voraos- 
gesetzt  hatte,  daß  das  Amt  des  Bonifatias  ttber  seinen  Tod  hinaus 
dauern  sollte  (ep.  51  p.  152),  haben  die  Fürsten,  indem  sie  die  Zu- 
sage hinsichtlich  Kölns  fallen  ließen,  ansgesprochen ,  daß  Bonifatios 
in  dieser  seiner  persönlichen  Würde  keinen  Nachfolger  haben  sollte. 
Indem  er  damit  die  Verhältnisse  in  Neustrien  verbindet,  wo  es  ja 
ebenfalls  mit  der  Metropolitanstellung  nicht  vorwärts  will,  sieht  er 
hier  die  landesftirstliche  Tendenz,  die  kirchlichen  Dinge  selbst  in  der 
Hand  zn  behalten.  Entscheidend  ist  ja  für  die  ganze  Kombination, 
daß  thatsächlich  der  Nachfolger  des  Bonifatius  in  Mainz  nicht  als 
Erzbischof,  sondern  als  Bischof  erscheint,  bis  um  780.  —  Endlich 
verdienen  die  wiederholten  besonnenen  Erwägungen  des  Verhältnisses 
der  kirchlichen  Ziele  des  Bonifatius  zu  denen  der  fränkische  Herr- 
scher, insbesondre  Pipins,  rühmend  hervorgehoben  zu  werden,  welche 
sich  fem  halten  von  den  hier  gerade  so  geschäftig  gewesenen  ten- 
dentiösen  Auffassungen.  Man  beachte  hierfür  S.  495  ff.,  507,  513  ff. 
523.  537. 

Ueberblickt  man  die  ganze  Arbeit  des  Verf.,  so  kann  man  sich 
nur  freuen  des  hier  Geleisteten;  das  nüchtern  und  gründlich  gear- 
beitete Buch  verdient  als  ein  tüchtiger  Führer  und  zugleich  auch  als 
eine  bequeme  Grundlage,  an  welche  sich  weitere  Einzel  forsch  ung  gut 
anschließen  kann,  willkommen  geheißen  zu  werden. 

Kiel.  W.  Möller. 


Fester^  Richard,  Die  armirten  Stände  und  die  Reichskriegsver- 
fassung  (1681-1697).  Frankfurt  a.  M.,  Karl  JOgels  Verlag  (M.  Abend- 
roth). 1886.    IX.  170  S.    gr.  a*». 

Als  oberste  Aufgabe  wird  von  dem  Geschichtsforscher  unserer 
Tage  gefordert  ein  litterarisches  Kunstwerk  zu  schaffen.  In  Folge 
dessen  sind  die  Geschichtsperioden,  welche  einen  weniger  dramati- 
schen Stoff  darbieten,  von  der  Forschung  mehr  oder  minder  stief- 
mütterlich behandelt.  Allein  mögen  auch  für  Kunst  und  Poesie  die 
Worte  Platens  ihre  Berechtigung  haben,  man  solle  nicht  das  dar- 
stellen, »was  man,  und  wäre  es  auch  geschehen,  mit  Nacht  bedecken 
sollte«  —  für  die  Geschichtsforschung  gelten  sie  nicht.  Denn  wäre 
der  Geschichtsforscher  Künstler,  er  dürfte  nur  Naturalist  sein. 

Aus  diesem  Grunde  ist  es  mit  Freuden  zu  begrüßen,  daß  der 
Verfasser  oben  genannter  Schrift  einem  verhältnismäßig  so  wenig 
erforschten  und  so  wenig  anziehenden  Stoffe,  wie  es  die  deutsche 
Geschichte  in  der  zweiten  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts  ist,  seine 
Aufmerksamkeit  zugewandt  hat.    Aber  aus  demselben  Grunde  ist  es 


Festor,  Die  armirten  Staude  und  die  Reichskriogsverfassuiig  (1681—1697).      745 

ZU  beklagen,  daß  der  Verfasser  »die  vielgenanDte  Objektivität  in 
der  inneren  Wahrheit  einer  Anschauung  über  einen  Zeitraum  sucht 
und  die  einmal  richtig  erkannte  Anschauung  der  Dinge  aus  den 
Dingen  heraus  auch  dem  Leser  einleuchtend  zu  machen c  sich  an- 
schickt Nicht  »soll  der  Historiker  eine  von  ihm  vertretene  Ansicht 
über  .einen  Zeitraum  zum  Grundgedanken  und  Fundament  seiner  Ar- 
beit erheben«,  sondern  die  Dinge  so  mit  kühler  Ruhe  im  Einzelnen 
darstellen,  die  Motive  der  Handlungen  so  ins  Einzelne  zergliedern, 
daß  sich  die  Anschauung  über  den  Zeitraum  wie  eine  Naturnotwen- 
digkeit von  selbst  ergibt.  Hierzu  maß  sich  der  Historiker  in  die 
Anschauungen  des  Zeitabschnittes,  welchen  er  darzustellen  beabsich- 
tigt, hineinleben.  Denn  nur  von  ihnen  aus  können  die  Verhältnisse 
beurteilt  werden. 

Der  Verfasser  hat  dies  nicht  gethan.  Deshalb  unterläßt  er  es 
eine  Uebersicht  der  Meinungen  zu  geben,  welche  in  den  Gutachten 
der  Juristen,  den  Broschüren  und  Zeitungen  über  die  Sekurität  dar- 
gelegt sind.  Und  doch  sprechen  sich  darin  die  öffentliche  Meinung 
und  die  Wünsche  des  damaligen  Deutschlands  aus!  Ebenso  übergeht 
der  Verfasser  die  Rangstreitigkeiten,  welche  dem  17.  Jahrhundert 
seinen  Charakter  geben.  Tst  wirklich  das  19.  Jahrhundert  berech- 
tigt überlegen  auf  dieselben  herabzusehen?  Worin  unterscheidet 
sich  denn  ein  Streit  darüber,  ob  der  Gesandte  eines  Staates  das 
Recht  hat  mit  vier  oder  sechs  Pferden  vorzufahren  (vgl.  S.  9  des 
Werkes),  von  dem,  ob  die  Abgeordneten  eines  Landtages  berechtigt 
sein  sollen  alle  vier  Jahre   oder  jedes  Jahr  das  Budget  zu  beraten? 

Allein  seine  Ansicht  hat  den  Verfasser  weiter  geführt  als  cha- 
rakteristische Seiten  des  17.  Jahrhunderts  zu  ignorieren. 

Trotz  der  lebhaften  Opposition,  welche  derselbe  den  Anschau- 
ungen Droysens  macht,  ist  er  ebenso  wenig  den  Bestrebungen  und 
der  Politik  der  kleinen  deutschen  Staaten  gerecht  geworden,  wie 
dieser  Forscher.  Der  Hauptfehler  liegt  darin,  daß  der  Verfasser 
ebenso,  wie  Droysen,  glaubt,  es  könne  für  die  zweite  Hälfte  des 
17.  Jahrhunderts  von  einer  »deutschen  Politik«  geredet  werden. 
Eine  deutsche  Politik  gab  es  damals  nicht.  Die  Geschichte  der 
deutschen  Nation  hatte  sich  thatsächlich  aufgelöst  in  eine  Geschichte 
der  einzelnen  deutschen  Territorialstaaten.  Nur  von  den  Sonder- 
interessen  dieser  einzelnen  Staaten  aus  kann  ihre  Politik  verstanden 
und  gewürdigt  werden.  Der  Verfasser  hätte  darlegen  sollen,  wie 
sehr  diese  pnblicistische  Phrase  der  deutschen  Politik,  welche  die 
öffentliche  Meinung  beherrschte,  im  Widerspruche  mit  den  gegebenen 
Verhältnissen  stand. 

Ee  ist  nicht  möglich  im  Folgenden    auf  alle  Fragen  einzagebn 


746  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  19. 

welche  der  Verfasser  berührt.  Um  seine  Meinang  ttber  den  Rhein- 
bund  von  1658  za  widerlegen,  bedürfte  es  einer  GeiBchicbte  dessel- 
ben von  1658  bis  1667.  Die  Motive  des  Augsbnrger  Bundes  vom 
18.  Juli  1686  etwas  aafznhellen  wäre  der  Verfasser  selbst  in  der 
Lage  gewesen,  wenn  er  die  »N6gociations  d'Avanx  en  Hollande  de- 
puis  1679  jusqu'en  1688.   Tomes  VI,  Paris  1754«  benutzt  hätte. 

Jedoch  da  diese  Fragen  hier  nicht  gelöst  werden  sollen,  so 
möge  ein  Beispiel  genügen.  Dieses  soll  sein  der  erste  Exknrs  in 
der  vorliegenden  Schrift  S.  147  —  155  >  Brandenbarg  and  Hamburg 
im  Jahre  1691«. 

Der  Grandgedanke  dieses  Abschnittes  ist,  daß  Hamburg  »leider 
nicht  eine  durchaus  deutsche  Politik  verfolgt  habe«.  Zum  Verständ- 
nis der  Sache  müssen  wir  etwas  weiter  ausholen^). 


1)  Zur  obigen  Darstellang  sind  benutzt: 
J.   G.   Busch,    Versuch    einer   Geschichte   der   Hamburgischen   Handlung. 

Hamburg  1797. 
Wurm,  Der  europäische  Hintergrund   der  Snitger-Jastramschen  Wirren  in 
Hamburg  1686.     Aus   archivalischen    Quellen.     Yorlesungsanzeigen   des 
akademischen  Gymnasiums  zu  Hamburg  1855.    Die  Quellen  sind  die  Ma- 
terialien der  Archive   in  Wolfenbüttel,  Bremen  und  Lübeck. 

Uhrsachen  und  Motiven,  warumb  der  Frantzösische  Resident  Bidal  zu  Ham- 
burg nicht  länger  zu  gedulten,  sondern  von  da  wechzuschaffen.  Handschriftlich 
vorhanden  Hamburger  Kommerzbibliothek. 

Umständliche  Repräsentation  und  Vorstellung  der  Uhrsachen,  warümb  von 
der  Rom.  Eayserl.  May.,  unserm  allergnädigsten  Kaiser  und  Herren  bei  gegen- 
wärtigen weitaussehenden  .  .  .  Conjuncturen  dero  und  des  Heil.  Reichs  Stadt 
Hamburg  auf  ihr  beschehenes  allerdemühtigstes  Bitten  und  Anruffen,  in  Conside- 
ration des  weitläuftigen  Seehandels  ....  eine  auf  gewisse  Masse  limitirte  Neu- 
tralität .  .  .  allergnädigst  zu  concediren  und  gestatten  sein  möchte.  Anno  1689 
aut  circa.  Das  Actenstück  schließt:  Obiges  von  dem  nach  Hamburg  abge- 
ordneten K.  M.  Christian  Ernst  von  Reichenbach,  Rittern  und  zu  Wien  Kays. 
Reichs-Hoffrath  in  Hamburg  anno  1689  m.  Febr.  wohlmeinendlicb  entworfen. 

Beilagen  dazu  sind:  Brief  Reichenbachs  Hamburg  d.  5.  Februar  1689.  — 
Designation  derer  wahren,  welche  aus  den  Kayserl.  Erbkönigreichen  und  Lan- 
den auf  Hamburg  kommen  und  von  da  verführt  werden,  so  viel  man  sich  in  der 
Eil  erinnern  kann.  Diese  Beilage  ist  von  einigen  Kaufleuten  »ungemeldet  waröm 
es  geschehen«  eingefordert.  Diese  genannten  Actenstücke  handschriftlich  vor- 
handen.   Hamburger  Kommerzbibliothek. 

Unvorgreiffliche  Wiederlegung  der  in  Druck  ausgelassenen  Motiven,  mit  wel- 
chen vermeintlich  erwiesen  werden  wollen,  daB  "der  Stadt  Hamburg  bey  jetzigen 
Kriege  das  freye  Commercium  auff  Frankreich  weder  öffentlich  zu  gestatten  noch 
auch  darinnen  zu  conniviren  sey.  Gedruckt  im  Jahr  1689.  Hamburger  Kom- 
merzbibliothek. 

Eenige  redenen,  waerom  men  by  dezen  oorlogh  dan  de  Stad  Hamburgh  de 
Ncutraliteit  en  de  vrye  Commercie,   Nävigatie    en    Corrcspondentie   vyt  en    naar 


Fester,  Die  armirten  Stände  und  die  ReichskriegSTerfassnng  (1681—1697).      747 

Die  Zerstörung  Antwerpens  and  der  Schloß  der  Scheide  für  die 
Schiffahrt  darch  den  Frieden  von  Münster   im   Jahre  1648   sind  die 
Epoche  eines   neuen  Abschnittes   der   Handelsgeschichte.     Die  Erb- 
Schaft  jenes  Emporiums   traten    Hamburg  und   Amsterdam   an.    Sie 
gewährten,  den    fluchtigen    Antwerpener  Eaufleuten    Aufnahme   — 
Hamburg  den  lutherischen,  Amsterdam  den  reformierten  —  und  zo- 
gen damit  den  Handel  an  sich.     Von  beiden  Rivalen  war  Hamburg 
im  Anfang  der  schwächere.    Dies   Verhältnis  änderte  sich    seit  der 
zweiten  Hälfte   des   17.  Jahrhunderts.     Die  Bank   und  die  Wechsel- 
ordnung, Einrichtungen,  welche  wohl  meist  dem  Einflüsse  jener  ein- 
gewanderten   Eaufleute   verdankt  werden    und   im  Beginn    des   17. 
Jahrhunderts  entstanden,   machten    Hamburg   zum    ersten    Wechsel- 
platze des  Nordens.     Die  Verfeindung  Hollands  mit  Frankreich  und 
England  brachte  der  Hansestadt  den  Welthandel   in  größerem  Maß- 
stäbe als  zuvor.    Hamburg  erlangte   es   in  London  von  der  Naviga- 
tionsakte befreit  zu  werden,   und  schon  1652  ersuchte  Ludwig  der 
Vierzehnte    die  Hansestädte   sich   mehr  auf  den  Handel  mit  Frank- 
reich   zn   werfen   und   den  Profit   zu  gewinnen,    welchen   sonst  die 
Engländer  und  Holländer  dort    machten  ^).     In    der  That  gelang  es 
Hamburg  während  der  Kriege,  welche  Holland  in  der  zweiten  Hälfte 
des  17.  Jahrhunderts  zu  bestehn  hatte,  Amsterdam  aus  seiner  domi- 
nierenden Handelsstellung  in  Frankreich  zu   verdrängen.    Der  fran- 
zösische Handel  Hollands  war  bei  Beginn  des  pfälzischen  Erbschafts- 
krieges  so    zurückgegangen ,   daß  in  Folge  dessen  der  Oranier  die 
Partei   der  Eaufleute   zum  Kriege   gegen    Frankreich    mit  sich  fort- 
reißen konnte*).    Namentlich    der  Handel  mit  französischen  Weinen 
und  Spirituosen,   von   denen    Holland   zuvor   far    15  Millionen  ans- 

Vrankryk  niet  behoort  toe  te  staao  noch  te  conDiveren.  t'Amsterdam  1689. 
Hamb.  Eommerzbl. 

Acta  conventuum  Senatas  et  Civium  Tom.  ni.  handschriftlich  vorhanden  Hamb. 
Stadtbibliothek. 

Hambnrgs  Wohlstand  gntt  vor  Deutschland  oder  Eurtze  Betrachtung  des 
Ansehens  und  Nutzens  so  der  ganzen  hochlöblichen  deutschen  Nation  aus  dieser 
ihrer  weltbekannten  Ansee-  und  Handelsstadt  Hamburg  entspringe.  Zum  Dmck 
befördert   durch  Sincerum  Germanum   Anno  1675.    Hamb.  Stadtbibliothek. 

Die  dem  Verfasser  der  besprochenen  Schrift  allein  bekannte  Broschüre  S.  153 
»Copia  Eines  Schreibens  aus  Hamburg  vom  11.  May  1691«  ist  ins  Französische  Über- 
setzt und  unter  dem  Titel  »La  d^couverte  d*un  Espion  frangois  dans  la  ville  de 
Hambonrg  ä  Cologne  chez  Pierre  Martean  1691«  erschienen.  Hier  ist  beigefügt 
»R^ponse  k  la  lettre  pr^c^dente  k  la  Haye  ce  12.  iuin  1691  und  Lettre  de  Sa 
Maiest^  Imperiale  aux  Magistrats  de  la  ville  de  Hambourg  k  Vienne  le  4.  iuin 
1691.     Hamb.  Eommerzbibliothek. 

1)  Becueil  des  Instructions  des  ambassadeurs  de  France.  Gteffroy  Bd.  II,  S.  2. 

2)  N^gociations  d'Avaux  en  Heilande.    Tome  I.  S.  3. 


748  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  19. 

führte,  hatte  darch  die  Konkarrenz  der  Hansestädte  einen  schweren 
Schlag  erlitten.  Die  Holländer  warfen  den  Hambargem  besonders 
vor,  daft  sie  französische  Weine  in  Rhein  Weinfässern  in  Eriegszeiten 
in  die  Rheinlande  einschmuggelten,  welche  als  die  eigenste  hollän- 
dische Handelsdomäne  galten. 

Zugleich  machte  Hambarg  aber  auch  seit  den  siebziger  Jahren  des 
17.  Jahrhunderts  den  Holländern  erfolgreich  in  den  Grönlandsfahr- 
ten Konkurrenz.  Vergebens  suchten  sich  die  holländischen  Kauf- 
leute  des  hamburgischen  Tranes  durch  Zölle  zu  erwehren.  Auf  die- 
sem Gebiete  spttrten  ebenfalls  die  Engländer  die  hambnrgische  Kon- 
kurrenzy  und,  da  sie  den  hambnrgischen  Rivalen  zugleich  in  Ar- 
changel begegneten,  waren  auch  sie  der  Stadt  keineswegs  freund- 
lich gesonnen.  Vor  Allem  bestand  aber  in  Folge  der  geschildertes 
Verhältnisse  bittere  Feindschaft  zwischen  Hamburg  und  den  Hol- 
ländern. Die  Hamburger  behaupteten,  sie  trieben  Schiffahrt,  >um  die 
menschliche  Societät  unter  den  allerentferntesten  Nationen  zu  beför- 
dern und  ein  weitläuftiges  Kommercium  zu  veranlassen,  wodurch  die 
Welt  sich  selbst  recht  kennen  und  die  besten  Mittel  und  Wege  fin- 
den lernt,  wie  ein  Teil  derselben  von  seinem  Segen  und  UeberfloA 
dem  andern  zu  seiner  Notwendigkeit  und  Ergötzlichkeit  allerhand 
Reichtum  fttglich  mitteilen  könne«.  Die  Holländer  dagegen  seien 
eine  Nation,  welche  glaube,  »Gott  und  die  Natur  hätten  ihnen  den 
Seehandel  und  die  Schiffahrt  ganz  allein  gegeben^  nm  sich  deren 
privative  zu  gebrauchen c. 

Eine  Gelegenheit,  ihren  Neid  gegen  Hamburg  zn  bethätigen  fan- 
den nun  die  Engländer  und  Holländer  im  Anfange  des  pfälzischen 
Erbschaftskrieges. 

Hamburg  kam  gerade  damals  aus  einer  Zeit  innerer  Wirren 
heraus  und  hatte  kurz  zuvor  eine  dänische  Belagerung  ansznstehn 
gehabt.  Dazu  hatte  eine  Feuersbrnnst  ein  Viertel  der  Stadt  in  Asche 
gelegt.  Diese  Ereignisse  hatten  verhindert,  daß  sich  die  Eaniente 
fttr  die  kommenden  Dinge  vorgesehen  hatten.  Die  Holländer  hin- 
gegen waren  mit  Waaren  aller  Art  ftlr  lange  Zeit  versehen.  Wenn 
daher  der  hamburgische  Handel  nach  Frankreich  aufhören  mnfite, 
beherrschten  sie  allein  den  deutschen  Markt  und  konnten  die  Preise 
nach  ihrem  Belieben  in  die  Höhe  schrauben.  Diese  Verhältnisse 
wurden  noch  durch  einen  Umstand  verschlimmert.  Es  lagen  damals 
dreißig  hamburgische  Handelsschiffe  in  französischen  Häfen.  Im 
Fall  nun  es  Hamburg  nicht  gestattet  wurde  beim  Reicbskriege  neutral 
zu  bleiben,  waren  diese  ebenso  verloren,  wie  die  hamburgischen  Kapi- 
talien, welche  in  französischen  Handelsunternehmungen  angelegt  waren. 

Diese  Umstände  veranlaßten   die  Hamburger,  als  beim  Beginne 


Fester,  Die  armirten  Stände  und  die  Reichskriegsverfassung  (1681—1697).     749 

des  fieicbskrieges  am  11.  December  1688  die  Avokatorien  and  In* 
bibitorieD  erlassen  warden,  welche  den  Handel  mit  Frankreich  ver- 
boten, den  Kaiser  inständigst  am  Neutralität  für  sich  za  bitten. 
Sie  wären  die  einzigen,  welche  direkt  nach  Deatschland  ein-  und 
aus  Deutschland  ausführten.  Die  sUddeatschen  Reichsstädte  handel- 
ten nur  indirekt.  Für  sie  importierten  and  exportierten  die  Hollän- 
der and  steckten  damit  den  Haaptvorteil  in  ihre  Tasche.  Es  gäbe 
keine  deutsche  Flotte  den  hamburgischen  Handel  za  schützen.  Die 
bamburgischen  Kaufleute  müßten,  wenn  sie  nicht  zo  Grande  gehn 
wollten,  Freipässe  entweder  vom  Feinde  selbst  oder  seemächtigen 
Potentaten  mit  großen  Kosten  sich  auswirken.  Dadurch  würden  die 
Waaren  yertheaert,  und  nur  Fremde  zögen  Nutzen  daraus. 

Durch  diese  Vorstellungen  in  Wien  gelang  es  Hamburg  andert- 
halb Jahre  neutral  zu  bleiben.  Und  der  Kaiser  hätte  auch  noch 
länger  gerne  der  Stadt  durch  die  Finger  gesehen.  Denn  Hamburg 
war  ein  wichtiger  Exporthafen  für  die  habsbnrgischen  Länder. 
Führte  es  doch  abgesehen  von  anderen  Waaren  allein  Leinwand  3 
bis  4  Milliopen  an  Wert  jährlich  aus  Böhmen,  Mähren  ond  Schlesien 
aus.  Allein  länger  ließen  sich  die  Engländer  and  Holländer  nicht 
beschwichtigen.  Sie  erklärten  öffentlich,  sie  würden  weder  Hamburg 
noch  einer  anderen  deutschen  Stadt  den  Handel  nach  Frankreich 
gestatten.  Es  wäre  gleichgültig,  sagte  eine  Flugschrift,  ob  Ham- 
burg, wenn  es  den  französischen  Gesandten  Bidal  ^),  welcher  sich 
noch  dort  aufhalte,  aaswiese,  den  Handel  mit  Frankreich  verliere. 
Ja  eben  darum  solle  man  den  Bidal  wegjagen,  »damit  denen  Ham- 
bargern  desto  ehender  and  mehr  die  Hoffnung  und  der  Appetit  za 
solchen  egyptischen  Fleisch-  und  Knoblochtöpfen  vergehen  möget. 
Deutschland  verarme  nur  durch  die  französischen  Manufakturen.  Die 
Abneigung  gegen  die  veränderlichen  französischen  Moden  sei  im 
Wachsen.  Bald  werde  eine  beim  Reichstage  in  Regensbarg  vorge- 
schlagene Reform  denselben  den  Garaus  machen.  Nur  durch  den 
groSen  Handel  gewönnen  die  Franzosen  das  Geld,  »vit  het  welke 
haer   koning  als  de  kleyne  Jupiter  syne   Krygswapenen  en  helse 

1)  Um  die  Angaben  des  Verfassers  S.  151  über  Bidal  za  berichtigen,  Bti  be- 
merkt:  Pierre  Bidal,  Baron  d'Alsfeld  (Harsefeld)  Resident  1669, 1661, 1667nHiBte 
Hamburg  wegen  des  Reichskrieges  1676  verlassen.  Am  25.  April  1679  zeigte  er 
seine  Zarückkanft  in  Hamburg  an. 

Etienne  Bidal,  Abbä,  ein  Sohn  des  Vorstehenden,  Resident  um  1686  und 
hernach  aufierordentlicher  Gesandter,  verlieB  die  Stadt  1690,  kehrte  nach  dem 
Rfswicker  Frieden  ^nröck  and  blieb  bis  zam  8.  Juli  1703.  Er  starb  zu  Paris 
1722.  Der  Bruder  des  letzteren  war  französischer  Oberst  und  hielt  sich  1690  in 
Bambarg  auf.    Hamburgisches  Staatsarchiv. 


750  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  19. 

bomben  prepareert,  om  daer  mede  alle  syne  naburen  te  snbiugeereD 
en  te  verpletteren  na'  t  exempel  van  den  grooten  Japiter,  van  wien 
de  Poeten  fabuleeren ,  dat  hy  de  vochtigheyd  en  de  dampen  vit  de 
wateren  en  d'aarde  na  boven  trekt  en  daer  vit  tot  straffe  van  deo 
mensche  den  hagel,  donder  en  blixsem  smeed«. 

In  Folge  dieses  Drängens  seiner  hohen  Alliierten  befahl  Leopold 
der  Erste  den  Hambargern  die  verschärften  Avokatorien  und  Inhibi- 
torien gegen  den  Handel  mit  Frankreich  za  erlassen  und  den  fraa- 
zösischen  Gesandten  Bidal  und  seinen  Bruder  auszuweisen.  Denn 
Bidal  wäre  der  einzige  Weg  Frankreichs  im  Norden  zu  verhandeln. 
Er  sei  der  »Wecbselzahler«  aller  derjenigen  Gelder,  welche  Ludwig 
der  Vierzehnte  an  an  Hamburg  angrenzende  Mächte  unter  dem 
Namen  von  Subsidien  oder  an  Privatpersonen  zur  Erhaltung  verbor- 
gener Korrespondenzen  zahle.  Außerdem  gienge  alles  Geld,  welches 
Frankreich  nach  Polen  und  Moskau  und  durch  Polen  in  Ungarn 
zum  Hanptrebellen  TOckeli  schicken  wollte,  durch  Wechisel  Aber 
Hamburg  und  somit  durch  Bidals  Hände.  Zugleich  hielte  sich  der 
Bruder  Bidals,  ein  französischer  Oberst,  in  Hamburg  aAf  i  um  die 
militärischen  Bewegungen  auszukundschaften. 

Das  kaiserliche  Mandat  erregte  großen  Unwillen  in  Hamburg. 
Der  Bürgermeister  bat  den  Kaiser,  er  möchte  doch  nicht  die  Leute 
zur  Verzweiflung  bringen,  daß  sie  sich  einer  fremden  Macht  in  die 
Arme  würfen.    Und  wie  nahe  lag  diese  Gefahr  damals! 

Für  die  dänische  Partei,  welche  vorhanden  war,  sprachen  die 
materiellen  Interessen.  Wurde  Hamburg  dänisch,  wurde  es  der  Un- 
annehmlichkeiten ledig,  welche  jedesmal  die  Frage  der  Nentralitit 
bei  den  Reichskriegen  mit  sich  brachte.  Die  dänische  Flotte  hätte 
dem  hamburgischen  Handel  den  Rückhalt  gegeben,  welcher  ihm 
jetzt  fehlte.  Hatten  doch  Engländer  und  Holländer  gerade  deshalb 
so  sorgsam  die  Selbständigkeit  Hamburgs  geschützt,  weil  es  das 
beste  Mittel  war  den  Handel  dieser  Stadt  niederzuhalten.  Der  di- 
rekte Handel  nach  dem  mittelländischen  Meer  war  ja  Hamburg 
schon  dadurch  verloren  gegangenj^  daß  die  Flotte  mangelte,  welebe 
die  Kauffahrteischiffe  gegen  die  Raubstaaten  an  der  nordafrikani- 
schen Küste  schirmte.  Nur  indirekt  über  Lissabon  konnte  Hamburg 
noch  nach  dem  Mittelmeer  handeln. 

Zu  diesen  Misständen  kam  jetzt  noch,  daß  die  Assignationsgel- 
der,  welche  Hamburg  an  den  Kurfürsten  von  Brandenburg  zu  zahlen 
hatte,  dazu  zwangen  fast  jedes  Jahr  die  Steuern  zu  erhöhen. 

Wie  leicht  konnte  sich  die  dänische  Partei  diese  Lage  za  Nutze 
machen  I 

Als  aber  der  Kaiser  allen  Klagen   kein  Gehör  gab,   schlag  der 


Fester,  t)ie  armirteu  Stände  und  die    Keichskriegsverfassung  (16dl--1697).     751 

Bat  die  Ayokatorien  and  Inhibitorien  gegen  den  Handel  mit  Frank- 
reich am  Ratsbause  an  nnd  ersuchte  Bidal  in  der  höflichsten  Form 
die  Stadt  zu  verlassen.  Derselbe  antwortete,  er  mttsse  dieses  erst 
seinem  Könige  berichten  und  seinen  Befehl  abwarten.  Der  Rat  mel- 
dete dies  nach  Wien  und  hielt  damit  die  Sache  fUr  abgethan. 

Mit  größter  Bestürzung  erhielt  derselbe  daher  ein  neues  Mandat 
Leopolds  Tom  27.  Juni  1690.  Darin  wurde  der  Stadt  bei  200T.  Rth. 
Strafe  befohlen  Bidal  und  seinen  Bruder  nebst  den  Personen  nnd 
Sachen,  welche  sie  bei  sich  hätten,  zu  verhaften  und  dem  kaiserli- 
chen Gesandten  Freiberrn  von  Gödens  auszuliefern.  Diesen  Befehl 
auf  eigene  Verantwortung  auszuführen  fiel  dem  Rat  nnd  dem  Kol- 
legium der  Hundertachtziger  zu  schwer.  Daher  wurde  am  10.  Juli 
1690  die  Bürgerschaft  berufen.  Sie  beschloß  Bidal  auf  glimpflichste 
Art  zu  verhaften.  Da  es  aber  bei  der  Beratung  spät  geworden  war, 
überlegte  man,  ob  noch  am  Abend  der  Beschluß  ausgeführt  werden 
sollte.  Es  verlautete,  der  Oberst  Bidal  befände  sich  nicht  mehr  in 
der  Stadt.  In  Folge  dessen  entschied  die  Bürgerschaft  sofort  eine 
Deputation  hinzusenden,  den  französischen  Gesandten  zu  verhaften, 
in  der  stillen  Hoffnung,  auch  er  sei  schon  fort  und  man  könne  ohne 
Schaden  Eifer  an  den  Tag  legen.  Wie  die  Deputation  hinkam,  fand 
sie  denn  auch  Niemanden  mehr  vor.  Dies  wurde  nach  Wien  berich- 
tet, und  damit  war  die  Sache  beendigt. 

Dieses  letztere  Verhalten  ist  typisch.  Es  wiederholt  sich  fast 
genau  derselbe  Vorgang  bei  allen  Gelegenheiten,  bei  welchen  Ham- 
burg gezwungen  wurde,  einen  Gesandten  oder  Spion  zu  verhaften. 
Nie  wurde  in  der  Regel  ein  solcher  gefunden.  Um  diesem  vorzu- 
beugen, forderte  Leopold  der  Erste  im  Jahre  1691  den  Kurfürsten 
von  Brandenburg  auf  den  französischen  Spion  Le  Giere  durch  einige 
brandenburgische  Soldaten  in  Hamburg  zu  verhaften.  Dies  geschah. 
Derselbe  wurde  später  nach  Wien  ausgeliefert.  Der  Rat  klagte 
über  diesen  Eingriff  in  seine  Jurisdiktion.  Der  Kaiser  erklärte  als 
»chef  souverain«  dazu  berechtigt  zu  sein.  Der  Streit  darüber  gieng 
in  die  Verfassungskämpfe  der  folgenden  Jahre  unter,  »ob  der  Sou- 
verän Hamburgs  das  hamburgische  Volk  sei  oder  nichtc. 

Diese  Verhaftung  des  Le  Clerc,  welche  eine  Nebensache  ist,  hat 
nun  der  Verfasser  oben  genannter  Schrift  zur  Hauptsache  in  seiner 
Darstellung  gemacht,  ohne  die  übrigen  Verhältnisse  zu  berücksichtig 
geik  »Der  Versuch  der  jungen  brandenburgiscben  Flotte  auf  der 
Nordsee  Seepolizei  zu  üben«,  welche  der  Verfasser  bei  dieser  Ge- 
legenheit erwähnt,  bestand  darin  hamburgische  Schiffe  unter  dem 
Vorwande,  sie  ftlhrten  Waaren  der  Contrebande,  mit  Beschlag  zn 
]i>elegen;  um  die  Stadt  zu  zwingen  die  Assignationsgelder  zu  zahlen. 


1 


752  Gett.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  19. 

Denn  hierüber  beschwerte  sich  dieselbe  in  Wien  und  erreichte  es 
dieselben  herabgesetzt  zu  sehen. 

Die  Holländer  benutzten  dann  diese  Zeit,  wo  die  Hamburger 
auf  die  Gnade  ihres  Flottengeleites  angewiesen  waren,  dem  ham- 
bnrgischeu  Handel  alle  möglichen  Hindernisse  in  den  Weg  zu  legen. 
Als  die  Hamburger  trotz  der  Eriegszeit  Grönlandsfahrten  unterneh- 
men wollten,  erklärten  die  Holländer,  sie  blieben  daheim  und  er- 
warteten bestimmt  dasselbe  von  den  Hamburgern.  Diese  muftten 
sich  fügen. 

Die  geschilderten  Verhältnisse,  glaubt  Becensent,  beweisen,  daft 
es  unberechtigt  ist,  eine  deutsche  Politik  damals  von  Hamburg  zu 
fordern.  Solange  keine  deutsche  Flotte  existierte,  welche  den  bam- 
bnrgischen  Handel  schützte,  mußte  die  Stadt  für  ihr  Wohl  in  ihrer 
Weise  sorgen.  Das  war  eben  das  Unglück  Deutschlands,  daft  das 
Bewußtsein  der  gemeinsamen  Interessen  der  Nation  abhanden  ge- 
kommen war.  Dies  Bekenntnis  ist  klagend  damals  ausgesprochen 
in  den  Worten  einer  Denkschrift  »Hamburgs  Wohlstand  gott  vor 
Deutschland«.    Der  Verfasser  derselben  schließt: 

Wenn  wir  betten  all  einen  Glauben, 
Gott  und  gemeinen  Nutz  vor  Augen, 
Ein  Tolie  MaaB  und  recht  Geriebt, 
Den  güldnen  Frieden  und  recht  Gewicbt, 
Darzu  eine  Möntz  und  gut  Gteld, 
So  stund  es  wobl  in  aller  Welt. 

In  diesen  Worten  liegt  der  Schlüssel  zum  Verstllndnis  der  Tra- 
gödie der  deutschen  Geschichte  im  17.  Jahrhundert. 

Zum  Schluß  möge  der  Verfasser  der  besprochenen  Schrift  ver- 
zeihen, daß  Becensent  »mit  dem  rechtete,  welcher  gleichsam  den 
ersten  Spatenstich  in  ein  hartes  Erdreich  getban  bate 

Hamburg.  0.  Krebs. 


Fftr  dio  Redaktion  Tenntwortlieli :   Prof.  Dr.  B«€kUl.  Direktor  der  Q«tt.  gel.  Au., 
Anessor  der  KAniglicken  GeeellBcbaft  der  WueeMehaften. 

y0iiaff  der  Dieimieh* sehen  Yeiiaß* 'BMMiimihmff. 

Druck  dtr  Di§Uiiek*9ch«H  Uniu-Jtuchdi^ck$i$t  (ir.  II.  Aac*tecr>. 


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753 


GÖtttngische 


gelehrte  Anzeigen 

unter  der  Aufsicht 

derKönigl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Nr.  20.  ^3  1.  Oktober  1887. 

Preis  des  Jahrganges:  JL  24  (mit  den  »Nachrichten  d.  k.  G.  d.  Wiss.c:  .4^27). 
Preis  der  einzelnen  Nummer  nach  Anzahl  der  Bogen:  der  Bogen  50  ^ 

Ink«U:  Use  a  er,  Altgrieddsdier  YenVav.  Von  WMpAot.  -  Piek,  Lnthen  «Eine  feate  Borg* 
in  21  Sprachen.  Yen  BkmatM.  —  Gigastak  Abalieeh  ed.  Bartkelemy.  Von  Jm<^  —  Honn- 
maata  med.  aer.  Poloniae,  tonrae  IX.    Yen  Aritacft. 

=  ElgomXohtIger  Abdruck  von  Artikeln  der  G6tt.  gel.  Anzeigen  verboten.  = 

Usener,  H.,  Altgriechischer  Versbau.     Ein  Versuch  vergleichender 
Metrik.    Bonn,  Verlag  von  Max  Cohen  u.  Sohn  (Fr.  Cohen)  1887.    128  S. 

Auf  S.  78  dieser  ttberaas  interessanten  Schrift  sagt  der  Verfas- 
ser: »In  dem  Reich thum  ihrer  metrischen  Formen  steht  die  Poesie 
der  Griechen  einzig  und  unvergleichbar  da.  Diese  Mannichfaltigkeit 
schöner  Gebilde  maßte  blenden  and  täaschen.  Man  konnte  glaaben 
in  der  Zurttckftthrang  der  verschiedenen  Reihen  anf  ihre  letzten 
Elemente,  die  Versfüße  oder  wenn  es  hoch  kommt,  die  rhythmischen 
Takteinheiten,  das  Wesen  der  Sache  za  fassen.  Der  herkömmliche 
Weg  fuhrt  za  statistischer  Beschreibong,  nicht  za  geschichtlicher  Er- 
kenntnißc«  Der  Verfasser  verlangt  (S.  111),  daß  man  den  Form- 
reicbtnm  der  griechischen  Metrik  mit  anderen  Aagen .  ansehe«  »Diese 
schönen  Gebilde  sind  nicht  freie  Schöpfangen  einzelner  dichterischer 
Geniep,  sondern  geschöpft  an  dem  ewig  jangen  uv4  verjüngenden 
Born  der  Volksflberlieferang.  Formen  werden  nicht  geschaffen,  son- 
dern sie  entstehen  and  wachsen.  Der  schöpferische  Künstler  erzeugt 
sie  nicht,  sondern  bildet  das  Ueberkommene  veredelnd  um.  Wer  sie 
willktlrlich  schaffen  za  können  meint,  Obt  nicht  Kunst,  sondern  spie- 
lende Künstelei ;  sein  Gebilde  zerstiebt,  wie  seine  Spur  aaf  Erden 
erlischt.  Was  fest  gehalten  wird  vom  Volke,  was  fortlebt  und  wei- 
ter wirkt,  das  war  aus  dem  Boden  des  Volks  erwachsen,  ist  Blut 
von  seinem  Blute«.  Soweit  das  möglich  ist,  sucht  der  Verf.  die 
metrischen  Formen  alter  griechischer  Volkspoesie  zu  bestimmen,  auf 

OStt.  firel.  Ans.  1887.  Nr.  80.  52 


764  Odtt.  gel.  Änz.  1887.  'So.  20. 

welche  der  Homerische  Vers   als  seine  Elemente  zarttckzuftthren  ist 
Die  nrsprttngliche  Grundlage  des  daktylischen  Hexameters  habe  be- 
reits Theodor  Bergk  in  einem  Freibarger  Programme  d.  J.  1854  er- 
kannt:  nämlich  den  alten  volksmäßigen  Eno plins,   wie  er    noch 
im  Volksliede  anf  Lysander  vorkomme  (foi^  *ElXddog  dyadiaq)^  and 
den  Parömiacus,   die  metrische  Form  des  alten  Sprich wortverses 
{alqs^v  aim  noda  niilov).    >Aber  den  metrischen  Formen,  mit  welchen 
die  Griechen  und  die  ihm  verwandten  Völker  in  die  Geschichte  ein- 
treten« —  sagt  der  Verf.  55  —  »liegt  eine  lange  Entwickelang  vor- 
aas.   Die  Vergleichang  der  ältesten  erreichbaren  Versformen,   deren 
sich    die   Völker   nnserer  Familie  bedient  haben,   gewährt   die  Aas- 
sicht,   den  gemeinsamen  Grandstock  annähernd  za  bestimmen,   dea 
ansere  Völker  ein  jedes  in  seine  Sonderexistenz  mitgenommen  and 
in  seiner  Weise   amgebildet   haben.     Den  Weg   daza  hat  R.  West- 
phals  Abhandlang  »Zar  vergleichenden  Metrik  der  indogermanischen 
Völker«  eröffnet,   eine  Leistung,   deren  Verdienst  durch  die  Ueber- 
eilangen,  za  denen  die  Ueberraschung  des  neuen  Ausblicks  verfah- 
ren mußte,  nicht  geschmälert  werden  kann.    Sein  geübtes  Aoge  ent- 
deckte  in   einem   erzählenden  Stttck   des  jttngeren  Zendavesta,   das 
noch  Westergaard   als  Prosa   drucken    ließ,   metrische   Form.      Mit 
Hilfe   der   in    regelmäßigem    Abstand  wiederkehrenden   Wort-    and 
Satzschlttsse  beobachtete  er,   daß  in  jenem  Stttck  immer  zwei  Lang- 
Zeilen,   die   aas  Halbversen  von  acht  Silben  zusammengesetzt    sind, 
sich  za  einer  Strophe  verbinden ;  innerhalb  der  Verse  ergab  sich  kein 
anderes  Princip   des  Baues  als  die  bestimmte  Anzahl  von  Silben  in 
den  fortwährend  durch  Cäsar  von  einander  abgeschlossenen  Reihen« 
.  .  .     Des  Ref.   Abhandlung    ttber    die    ältesten  indogermanischen 
Metra  wurde  1860  in  Kuhns  Zeitschrift   fttr  vergl.  Sprachforschang 
veröffentlicht.    In   der  zweiten  Aaflage   der  Roßbach-Westphalschen 
Metrik  der  Griechen  II  S.  14  (1868)  wurde  darzuthun  gesacht,    daß 
der  altiranische  Vers 

.........  I  .........  II 

nicht  bloß  im  AnuStubh  des  Veda  und  im  Qlokaverse  des  Sanskrit 
als  ein  im  Ausgange  qnantitierend  gewordenes  Metrum  vorliege,  son- 
dern daß  er  sich  als  ein  bloß  die  Hebungen  zählendes  Metram  in  der 
altitalischen  Poesie  (als  Vorstufe  des  Satumias)  and  in  der  altger* 
manischen  Poesie  wiederfinde:  im  altgermanischen  Langverse  seien 
zwei  Hemistichien  von  je  vier  rhythmischen  Hebangen  vereint  Lange 
Zeit  zögerte  die  Zend-Philologie,  ehe  sie  der  die  Zendmetrik  betref- 
fenden Entdeckung  des  Ref.  öffentlich  ihre  Zustimmung  gab.  Dies 
geschah  erst  1877  durch  R.  Roths  Schttler  K.  Geldner  in  der  zu 
Tttbingen    erschienenen   Schrift   »lieber    die  Metrik    des   jBngeren 


üsener,  Altgriechiscber  Venban.  755 

Avesta«.  Qeldner  koDstatiert  für  das  Avesta  die  vom  Ref.  entdeck- 
ten Metra,  welche  lediglich  darch  Sylbenzahl  und  Gäsar,  nicht  darch 
Wortaccente  and  nicht  durch  die  Prosodie  bestimmt  seien.  Er  habe, 
so  sagt  er,  aus  den  statistischen  Zahlenergebnissen  »die  feste  lieber- 
Zeugung  gewonnen,  daß  weder  in  der  Sylbenmessung  noch  in  der 
Verteilung  von  betonten  und  tonlosen  Sylben  ein  festes  Gesetz  wal- 
tete: ein  gleichmäßig  wiederkehrender  Tonfall  wie  eine  geregelte 
Verteilung   von   Hebungen   und   Senkungen    auf  bestimmte  Sylben 

bleibt  somit   f(1r   diese  Dichtungen    gänzlich  ausgeschlossen« 

»Denken  wir  uns  diese  Dichtungen  nach  Art  der  feierlichen  Recita- 
tion langsam  und  eintönig  mit  vollem  Aushalten  der  Schlußpause 
vorgetragen,  sollte  da  einer  weder  durch  Rhythmus  noch  Reim  und 
Alliteration  verwöhnten  Zuhörerschaft  nicht  auch  diese  einfache  Form 
der  Poesie  in  ihrer  strengen  Durchfahrung  an  das  Ohr  geschlagen 
und  einen  ungewöhnlicheren  und  erhabeneren  Eindruck  hinterlassen 
haben,  als  jegliche  einfache  Prosa  ?€  Ref.  hatte  far  die  von  ihm 
nachgewiesenen  Zendmetra  angenommen,  daß  sie  ihren  bestimmten 
Rhythmus  erst  als  »gesungene  Verse«  empfangen  hätten;  erst 
dnreh  die  Melodie,  welche  zu  den  Worten  hinzukam,  seien  die  Takte, 
seien  die  Hebungen  und  Senkungen  bestimmt  worden.  Er  ließ  es 
daher  fraglich,  ob  der  Rhythmus  der  Zendverse  ein  iambischer  oder 
ein  trochäischer  gewesen  sei.  Ein  Jahr  später,  nachdem  Geldners 
Darstellung  der  Zendmetra  erschienen  war,  wnrde  von  dem  ameri- 
kanischen Gelehrten  Frederic  Allen  (Gincinati)  in  Kuhns  Zeitschrift 
ftlr  vergleichende  Sprachforschung  1879  eine  Abhandlung  ȟber  den 
Ursprung  des  Homerischen  Versmaßes«  veröffentlicht,  der  er  —  wie 
dies  jetzt  auch  H.  Useners  denselben  Gegenstand  behandelnde  Schrift 
gethan  hat  —  die  durch  Ref.  gefundenen  Ergebnisse  ttber  die  verglei- 
chende indogermanische  Metrik  zugrunde  legt.  Bezüglich  der  Zend- 
verse sagt  Allen:  »ein  Rhythmus  muß  in  ihnen  geherrscht  haben. 
Entschieden  hat  sich  Geldner  geirrt,  indem  er  einen  eigentlichen 
Rhythmus  den  Zendgedichten  abspricht.  Geldner  meint,  daß  Gleich- 
heit der  Sylbenzahl  und  Einförmigkeit  im  Strophenbau  eine  für  den 
primitiven  Dichter  genügende  Grundlage  der  gebundenen  Rede  sei. 
Für  den  Dichter  als  Dichtungsprincip,  ja:  ftlr  den  Vortragenden 
und  die  Zuhörer  gewiß  nicht.  Schon  deshalb  nicht,  weil  die  Gleich*- 
heit  der  Sylbenzahl,  wofern  sie  nicht  durch  rhythmischen  Vortrag 
unterstützt  wird,  dem  Zuhörer  gar  nicht  vernehmbar  wäre.  Das 
menschliche  Gehör  vermag  nicht  eine  Gmppe  von  acht  Sylben  als 
ein  Ganzes  genau  zu  fassen.  Man  weiß  nicht,  ob  man  sieben,  acht 
oder  zehn  Sylben  hört  So  wäre  die  Gleichheit  der  Reihen  ganz 
nnd  gar  zwecklos  und  unnütz,  falls   diese  Reihen    nicht  durch  den 

52* 


756  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  20. 

RhythniDS  in  kleinere,  dem  Obre  leicht  faßbare  Einheiten  —  also  in 
Versfüße  —  geteilt  warenc.  Von  der  Aoffassang  des  Ref.  weicht 
der  amerikanische  Gelehrte  bloß  darin  ab,  daß  er  den  Rhytbrnos  der 
Zendyerse  für  iambisch  erklärt,  weil  die  den  Zendmetren  entspre- 
chenden Verse  der  altindiscben  Poesie  entschieden  den  iambischen 
Rhythmus  hätten.  Das  dem  indischen  Qloka  als  Grundlage  dienende 
16  silbige  Zendmetrnm  bestehe  aus  zwei  tetrapodischen  Halbver- 
sen;  in  den  vier  2  sylbigen  Versfüßen  einer  jeden  Tetrapodie  bilde 
die  Senkung  den  Anlaut,  die  Hebung  den  Auslaut: 

Dies  sei  der  indogermanische  Urvers.  Aus  ihm  habe  sich  der  vedi- 
sche  Langvers  herausgebildet,  der  bei  scharfer  Scheidung  in  zwei 
gleiche  Hemistichien  einem  jeden  Hemistichium  festen  prosodischen 
Auslaut  gebe 

nicht  selten  aber  auch  die  vorletzte  Sylbe  des  Hemistichions,  welche 
die  rhythmische  Geltung  der  Senkung  habe,  unterdrücke 

Denn  statt  der  Normalform  *Indram  vigva  ati^dhant^  begegnen 
auch  Reihen  wie  ^^rathUamam  rathmomt  (S.  563).  Der  indoger- 
manische Urvers,  meint  Allen  mit  dem  Ref.,  war  ein  gesunge- 
ner Vers,  er  konnte  ebenso  gut  eine  kurze  wie  eine  lange,  eine  ac- 
centuierte  Spraohsylbe  als  rhythmische  Hebung  wie  als  rhythmische 
Senkung  verwenden;  im  indischen  Langverse  war  die  nr- 
sprOngliche  Gleichgültigkeit  des  Metmms  gegen  die  Sylbenquantität 
wenigstens  im  Ausgange  des  Hemistichiums  überwunden;  dem  alt- 
germanischen verblieb  die  dem  indogermanischen  Urverse  eigene 
Gleichgültigkeit  gegen  die  Sylbenquantität,  dagegen  wurde  der 
Sprachaccent  in  der  Weise  für  den  Rhythmus  verwendet,  daß  als 
rhythmische  Hebung  nur  eine  solche  Sylbe  fungieren  konnte, 
welche  der  Träger  des  Wortaccentes  (Hochton)  war;  außerdem  kam 
die  Unterdrückung  der  als  Senkung  fungierenden  Sylbe  im  altger- 
manischen häufiger  als  im  vedischen  Langverse  vor.  Fr.  Allen 
stellt  daher  für  den  altgermanischen  Langvers  das  Schema  auf: 

(.)/(.)/(.).'(.).'!(.)/(.).' (.)/(.).'. 

Fr.  Allen  glaubt  es  klar  gemacht  zu  haben  (S.  567),  daß  die  gemein- 
samen Vorfahren  der  Iranier,  Inder  und  Germanen  ihre  epischen 
Balladen  in  einem  Verse  gesungen,  der  aus  2  scharf  gesonderten 
Reihen  bestand,  deren  jede  vier  Icten  und  vier  leichte  Sylben  hatte, 
und  zwar  begann  jede  Reihe  mit  einer  leichten  Sylbe  nnd  schloß 
mit  einem  letus;    und  femer,   daß  sowohl   die  Inder  wie  auch  die 


üsener,  Altgriechischer  Versbao.  757 

Qermanen  die  Gewohnheit  hatteOi  die  vor  dem  letzten  Ictos  stehende 
Senkung  znr  Erzielong  eines  volleren  Sehlassee  zn  unterdrücken.  In 
dem  vedischen  Langverse  sei  wenigstens  mit  der  Unterdrückung 
der  letzten  Senkung  (vor  der  ScbluBhebung)  der  Anfang  gemacht. 
Im  altgermanischen  Langverse  fehle  diese  Sylbe  fast  regelmäßig,  so 
daß*  die  Reihe  mit  einem  gewichtvollen  Tonfall  von  zwei  Icten 
/schließe.  Aber  auch  aller  anderen  Senkungen  könne  er  entbehren; 
nichts  sei  gewöhnlicher  als  eine  Reihe,  die  nur  aus  vier  Sylben  be- 
stehe, deren  jede  einen  Ictus  trägt: 

m^des  myrSe  |  männä  cynni. 
Soweit  folgt  der  amerikanische  Gelehrte  der  in  der  zweiten  Auflage 
von  Boßbach- Westphals  griechischer  Metrik  gegebenen  Darstellung 
des  metrischen  Standpunktes  der  verschiedenen  indogermanischen 
Völker,  nur  daß  er,  wie  schon  gesagt,  den  Rhythmus  der  altirani- 
Bchen  Verse  nicht  als  einen  absteigenden,  sondern  als  einen  auf- 
steigenden auffaßt. 

Weiter  lehrt  er,  daß  der  aus  zwei  tetrapodischen  Reihen  kom- 
binierte Urvers  der  Indogermanen  auch  die  Grundlage  des  heroi- 
schen Hexameters  der  Griechen  bilde.  Er  nimmt  an,  daß  der 
ans  sechs  daktylischen  Versfüßen  bestehende  heroische  Vers  der 
Griechen  einst  viel  schärfer  und  konstanter,  als  wir  es  bei  Ho- 
mer sehen,  in  zwei  Hälften  geschieden  war,  daß  auch  er  wie 
die  von  ihm  herbeigezogenen  vedischen,  Zend-  und  deutschen  Verse, 
aus  zwei  gesonderten  Reihen  bestand.  Und  zwar  versteht  Allen 
unter  Reihen  nicht  die  n^Xa  der  griechischen  Lyrik,  die  ganz  un- 
abhängig von  dem  Sinne  bestehn,  sondern  wirkliche,  durch  festen 
Einschnitt  konstante  Pausen,  und  noch  dazu  durch  den  Sinn  ge- 
sonderte Versabschnitte.  Denn  auch  im  Griechischen  müßten  die 
Versabschnitte  ehemals  auch  Sinnesabschnitte  gebildet  haben.  Die 
jetzige  Mannichfaltigkeit  in  der  Gliederung  des  epischen  Verses 
könne  unmöglich  von  Anfang  an  vorhanden  gewesen  sein.  Sie 
widerspreche  ja  dem  ganzen  Wesen  der  frühen  Poesie.  Der  Vers 
durfte  nicht  bald  hier,  bald  da  die  Sinnespause  zulassen,  die  Ge- 
dankenfolge durfte  sich  nicht  unabhängig  von  der  metrischen  Ein- 
teilung entwickeln.  Mit  der  in  der  Mitte  stehenden  Gäsur  mußte 
sich  ursprünglich  eine  Sinnespaase  verbinden.  Erst  mit  der  Zeit 
konnte  eine  künstlichere  Mannichfaltigkeit  der  Gliederung  eintreten. 

In  früherer  Zeit  wurden  die  beiden  xco^a  des  heroischen  Verses 
durch  eine  breitere  Kluft  getrennt  Damals  lautete  die  erste  Reihe 
ebenso  gut  wie  die  zweite  auf  eine  syllaba  anceps  aus.  Auch  im 
technisch  ausgebildeten  Verse  Homers  ist  die  weibliche  Gäsur  häu- 
figer als  die  männliche;  in  der  Ilias  A  ist  das  Verhältnis  fast  wie  3:2; 


758  Gott.  gel.  Änz.  1887.  Nr.  20. 

aber  auch  bei  mänDlicber  Cäsar  beginnt  die  zweite  Reibe  mit  dem 
Auftakte.  Es  ist  anzanebmen^  daS  der  Anftakt  im  Hexameter  wie 
der  Auftakt  ttberbaopt  gegen  die  Quantität  gleiebgOltig  war.  Man 
wird  also  z.  B.  neben  einem 

ävdqa  fkOi  iwsm  fkovaa  \  nolvtQonov  Sg  f$dXa  noiXd 

aucb  etwa  ein 

zugelassen  haben.  Das  Schema  des  Torbistorischen  Hexameters  ist 
nach  Fr.  Allen  folgendes: 

Fr.  Aliens  Auffassung  ist  auch  diejenige  H.  Useners.  »Es  sind  viele 
Jahre  —  sagt  er  S.  59  —  da0  ich  die  Entstehung  des  Hexameters 
yerstehn  lernte :  beute,  wo  ich  AnlaB  nehme  über  die  inzwischen  er- 
wachsene Literratur  mich  zu  unterrichten,  freut  es  mich  zu  sehen 
und  anzuerkennen,  daß  bereits  ein  amerikanischer  Gelehrter  Frede- 
ric Allen  von  Westphals  Grundlage  aus  auf  wesentlich  deduk- 
tivem Wege  zu  gleichem  Ergebnisse  geführt  worden  ist«.  Im 
Unterschiede  von  Aliens  wesentlich  deduktivem  Wege  ist  Usener  den 
analytisch-kritischen  Weg  gegangen. 

Es  fehlen  uns,  sagt  er  S.  10,  von  zufälligen  Einzelheiten  abge- 
sehen, geradezu  alle  Voraussetzungen,  um  unseren  Homertext  auch 
nur  auf  eine  voraristarchische  Stufe  zurttckzuheben ,  geschweige 
denn  seine  ursprüngliche  vorpisistrateische  Gestalt  wieder  herzu- 
stellen. Diese  Aufgabe  ist  eine  ideale,  nicht  eine  praktische  Forde- 
rung. Eine  ttber  Aristarch  hinausgehende  Kritik  nennt  der  Verfas- 
ser eine  transcendentale  Kritik.  Auch  die  sichersten  Scblttsse  die- 
ser Art  sind  nicht  (oder  doch  nur  in  sehr  beschränktem  Unoifang) 
praktisch  verwertbare  Ergebnisse  für  unseren  Homertext,  sondern 
bleiben  Postulate  fUr  einen  ursprünglichen  Homer,  der  uns  unwieder- 
bringlich verloren  ist  (S.  10).  Um  die  Präcision  analytischer  Unter- 
suchungen im  Homer  zu  erhöhen,  kann  es  nicht  genug  solcher  Be- 
obachtungen über  ältere  und  jüngere  Sprachformen  geben,  vereinzelte 
Verstöße  gegen  das  alte  und  echte  Gesetz  heben  nicht  die  Möglich- 
keit auf,  daß  dieselben  erst  nachträglich  auf  dem  langen  Wege  der 
Ueberlieferung  an  Stelle  des  Ursprünglichen  gesetzt  sind;  erst  die 
Vereinigung  vieler  und  verschiedenartiger  Beobachtungen  gestattet 
einen  sicheren  Schluß,  der  selbst  der  Analyse  den  Weg  zu  weisen 
vermag.  Aber  solche  Anstöße  im  Texte  selbst  zu  tilgen,  heißt  die 
Wegweiser  mutwillig  zerstören,  die  glücklicherweise  zahlreich  genug 
geblieben  sind,  um  uns  in  diesem  noch  immer  etwas  dunklen  Urwald 
Homerischer  Untersuchungen  zu  leiten  (S.  12).  Auch  an  dem  älte- 
ren überkommenen   Gute  konnte,  zumal  bei  mündlicher  Ueberliefe- 


Usener,  Altgriechischer  Versbaa.  759 

rnog,  die  EDtwicklang  der  Sprache  nicht  spurlos  vorttbergehn ;  die 
QrsprttDgliche  Sprachform  konnte  aber  auch  nicht  Yöllig  verwischt 
und  dem  jüngeren  Sprachznstand  angeglichen  werden,  ja  sie  ist  in 
einer  Fülle  von  Formeln  und  Nachbildongeni  die  sie  entlehnen,  auch 
von  den  jüngeren  Nachdichtern  gewissermaßen  anerkannt  worden- 
Wir  haben  darnm  das  Recht  und  die  Pflicht,  and  ich  denke  wir 
wollen  davon  nicht  lassen,  die  älteren  Schichten  des  Epos  ans  Ver- 
letzungen des  ursprünglichen  Anlauts  auf  Störung  der  Ueberlieferung 
und  auf  eine  ursprüngliche  Form  zurückzuschließen  (S.  15).  Der 
Verf.  beabsichtigt  nicht  den  Wiederherstellungsversuchen  eines  ver- 
meintlichen wahren  Homertextes  einen  neuen  Weg  zu  zeigen,  son- 
dern im  Gegenteil  die  Achtung  vor  der  Urkundlichkeit  der  aristar- 
chischen  Ueberlieferung  einzuschärfen. 

Zu  der  Vernachlässigung  des  Digamma  an  Stellen,  wo  die  bei- 
den tripodischen  Reihen  des  daktylischen  Hexameters  sich  vereinen, 
sieht  der  Verf.  unüberwindliche  Schwierigkeiten  ftlr  die  Arbeit  des 
Eonjekturalkritikers.  Verständlich  und  erklärt  würde  hier  die  Ver- 
nachlässigung des  Digamma  sein,  wenn  der  Homerische  Hexameter 
aus  zwei  Eurzversen  zusammengewachsen  wäre,  deren  Fuge  sich  an 
jener  Stelle  des  dritten  Fußes  befände.    Dahin  gehört  A  294 

§1  dij  00$  ndv  Sqyov  vneiiofkcu^  am  ner  tinjig. 

Da  das  Digamma   von  peUstr^  etymologisch   bestens  begründet 
(unser  » weichen c),  bei  Homer  in  voller  Geltung  sei,  so  können  die 
Homerischen  Worte  des  Verses  nicht  anders  gelautet  haben  als 
el  dl)  näv  piqyov  ||  vnopti^Ofia^  om  n$  fetni^g ; 

zu  einem  daktylischen  Hexameter  wird  dieser  Vers  des  Schemas 

nie  und  nimmer  sich  umkorrigieren  lassen,  obwohl  A.  Nauck  und 
A.  Fick  es  versucht  haben.  Usener  sagt:  Der  Ilias-Vers  A  294  ist 
kein  Hexameter,  sondern  nur  eine  äußerliche  Zusammenstellung  zweier 
Eurzverse,  die  ihre  Selbständigkeit  durch  die  freie  Behandlung  des 
in  der  Fuge  zusammentreffenden  Aus-  und  Einganges  bekunden. 
Ein  zweiter  derartiger  Vers  der  Ilias  ist  ^141 

dJiV  i/ys  y^a  fkilMvav  iq^iaoofkev  bIq  äXa  dXav, 

Notwendig  muß  hier,  in  einem  der  älteren  Bestandteile  der  Ilias, 
in  welchem  sogar  :^aviQVüav€  vorkommt,  > psQtSaaofuy^  mit  Digamma 
gelesen  werden.  Also  kein  Hexametron,  sondern  zwei  zu  keiner 
Verseinheit  vereinte  daktylische  Eola 

ctkk*  dys  Vf^a  fkilatyap  ||  pfQvffaofuy  slg  AXa  iUȴ. 

Analog  seien  auch  folgende  vermeintliche  Hexameter  der  Ilias 
und  Odyssee  in  ihre  alten  Bestandteile  aufzulösen: 


760  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  20. 

v^a^  fi€V  ndfAngmtor  \\  psQvtfaafMV  st^  äXa  dtav  6  617.  X  i. 
v^a  f$iy  aQ  ^d^knomtov  ||  pSQvMats  ^fu$q6vis  u  403. 
^fAip  Snmg  tdv  venqdv  ||  paqvctsofkBV  ^di  Mal  avtot  P  635.  P  713. 
fj}  (T  hiQfi  S&sv  aaaov  \\  psQvtnfatQ  ffmv^fitv  ts  %  481. 

Darch  iDScbriften  werde  das  anlaatende  Digamma  in  pBu^ßol^ 
u.  8.  w.  bezeugt,  daher  müsse  gelesen  werden 

i*  &iK(n6ikßtiv  ß^aav  \\  peuiißöl^  ^AnoUrnvk  A  438 

äCofuyok  J$öi  vUp  II  pBufißolov  ^AnoXXmva  A  21 

flic  h^i  Atvslag  di  ||  psnaniß6Xov  ^Amllmva  P  333, 

wo    Bekkers    and    Nancks    Textänderang    dl    pßnnß6lw    entbehr- 
lich ist. 

Dem  Worte  "Ihoi  dürfe  das  anlautende  Digamma  nicht  erlassen 
bleiben  in 

nä(S$y^  ifkol  Si  fkahcta  ||  toi  ptUm  fyyeydaatP  Z  493 
ohg  fSiv  XaoXCk^  jj  vol  p^Xlm  iyysyäaaty  P  145 
wg  linov,  avtctQ  nej^dg  ||  ig  fiXtov  $ll^lov6a  E  204 
vijco^y  ^rii(foaBa$  \  ig  /iJUov  oidi  u  fA^x^g  {  238 
c$X«0'  äfA*  ^ÄtQsid^aty  I  ig  flJUotr  ovdi  ikO§  hh^g  q  104. 

Während  das  Digamma  für  die  letzte  (Generation  selbstthätiger 
ionischer  Rapsoden,  die  Zeit  der  zusammenfassenden  Ausdichtung, 
als  erloschen  gelten  dürfe,  habe  in  derselben  Epoche  die  Verbindung 
von  muta  und  liquida  ihre  Kraft  als  Doppelkonsonanz,  wenigstens 
im  Inlaute  fast  angebrochen  bewahrt.  Hiernach  seien  folgende  Verse 
der  Ilias  und  Odyssee  zu  beurteilen: 

ual  noti  ug  psin^a^  *  |1  natqog  y   o8b  noiXiv  dfusivmv  Z  479. 
Sy  yvfi^ti  tins  v^lg  \\  *OiQvyvil$  ntol&nÖQdtf  Y  384. 
nVQxä  g>alfjQi6e$yt€i^  \\  ngo  pkiv  t*  aXX\  avväq  in^  dXXa   N  799. 
dXXd  xvysg  psQvovat  \\  ngo  pdauog  ^ftetigoio  A  351. 
ßX^fkivia  dpi^ma^  ||  nqd  xovqwv  t^ijQfitiJQwv  P  726. 
ißv/wöav,  alipa  d'  8ns$ta  \\  ngd  pdauog  ^ysgiSoPto  i3  783. 
iy  9  avtdg  xis  p^at  ||  nqodv/ki^iu  7tsno$0wg  B  588. 
OfÜQayoOey  nataßdaa  *  ||  ngo^ut  ydq  svQvona  Zevg  P  545. 
ot  d'  in'  iysiad'^  ivotfta  ||  nQonsifksya  x«r^ac  taXXoy  191  n.  8.  f. 
iS(  ot  fkiy  towSta  ||  nqdg  dlXijXovg  dyoqsvoy  E  274  n.  8.  f. 
fkv9oi(r$y  tignoyto  ||  ngdg  dXX^Xovg  iyinoyug  A  643« 
si^  inl  6$iV  UniH  II  nq6g  ^6a  %'  ijiX^oy  ts  M  239  u.  8. 
i^fftlv  itsok  yaiovoi  ||  nqbg  ^6a  %*  ^iXidy  u  y  240. 
j/X«*,  iful  titqafno  ||  ngög  l&v  po$,  ovS*  dipdfutqtey  8  403. 
^7  l^y  imn^  ^c^is  j|  nqdg  ovgay^y,  ^  di  naqsi^  tfß  868. 
ndytfi  namatyoyn  ||  ngog  ^$qoeidia  nitqfp^  pk  233. 


Usener,  Altgriechischer  Versbau.  761 

i|f  rotSrmv  U(faoi%o  \\  ngocafSag  ^Odva^a  %  337  n.  B. 
ßXf^%o  yäq  fSfiOP  SovqI  ||  ngdat»  tstgaf/^fäipog  atpel  P  598 
(Sc  Squ  tpmviioaüa  ||  nqdcm  äyt  dla  &sdmv  2  388 
ix^i^tSag  &  äqa  fetne  ||  nQdg  pov  fuyalijtOQa  &v§k6p  A  403  U.  8. 
Wo  nqogijvda  n.  dgl.  inoerhalb  der  tripodischen  Reihe  vorkomme» 
Bei  not^vSa  n.  b.  w.  zu  Bchreiben. 

Die  Anlaate  tQ,  xq^  au,  xq^  wenn  Bie  in  der  Hanptcaesar  des 
Hexameters  steho,  stellt  Usener  in  dieselbe  Kategorie  wie  hq: 

vm  d*  ay*  iy  tp^Xot^n  \\  tqansioyav  eit^^&ivts  3  314 
Ol/dl  yäq  ovdi  Jqiiavtoq  ||  v\ög  nqatsqbq  Avuooqyog  Z  130 
BiStaif  d'ip  IstfMSvt  II  SnaikavdqUf  dvd'S^osvu  B  467 
ZffviQ  6'  odu  äv  iymys  \\  Kqoviovog  äfsaov  UoiiMpf  3  247. 

Der  Verf.  wird  wohl  niehts  dagegen  haben,  wenn  wir  denlliag- 
nnd  Odyssee- Vers  y  welcher  nur  als  eine  laxe  Vereinigung  der  bei- 
den daktylischen  Tripodien  erscheint,  als  einen  »asynartetischent  Hexa- 
meter bezeichnen ,  in  d  e  m  Sinne,  wie  das  Wort  asynartetisch  von 
Bentley  und  nach  seinem  Vorgange  von  G.  Hermann  gebraucht 
wird. 

Nachdem  der  Verf.  das  Vorkommen  asynartetischer  Hexameter 
in  den  HomeriBchen  Gedichten  konstatiert  hat,  gibt  er  den  Nachweis, 
daB  die  nämlichen  metrischen  Bildungen  auch  auf  griechischen  In- 
schriftsteinen  vorkommen.  »Mag  auch  die  Zahl  der  nur  gelegentlich 
gemachten  Beobachtungen  noch  eine  geringe  sein,  sie  genttgt  vollkom- 
men um  der  vermeintlichen  Hypothese  die  Thatsache  zur  Seite  zu  stellen. 
Von  neuen  Funden ,  wie  sie  jährlich  in  wachsender  Fttlle  zu  Tage 
treten  und  gerade  den  hier  vor  kurzem  dflnnen  Bestand  ältester  Denk- 
mäler so  erfreulich  mehren,  darf  auch  hier  Zuwachs  an  Belegen  er- 
wartet werden,  und  vielleicht  vermögen  schon  heute  belesenere  Epi- 
graphiker  meiner  Sammlung  manche  Ergänzung  hinzuzufllgen.c 
(S.  28.)  Folgende  Verse  ans  Weih-Inschriften  werden  von  H.  Usener 
als  ältere  (asynartetische)  Formen  des  epischen  Hexameters  aufgeführt 

^laucusvg  ju'  dviBfiisv  ||  KdlXmvoq  vneq^  ipiV  "AnoXXov^ 
wo  das  Wort  ^latuxtsvg  choriambisch  zu  messen  sei, 

M¥d(k*  ifM  Ovq(jq)tdSa^  y  og  oi»  ^Ti[(\o%ctto  (fsiyskV^ 
^AXnkybd%(a'\  fods  of^fta  ||  fA^T^q  indßi^MC  Bavovn^ 
iqtpavd  %inva  Xlno$to  ||  x^^ov  ßlov,  olnov  Sqf^ikov^ 
äyOsa  ndvva  (pvovCkV^  ||  udXJüog  de  to  oov  fkefidqaytat^ 
nXavaats  datykova  ndvtsg,  \\  Qeodtiqag  vs6%f[tav^ 
3vv6v  *Ädayod6tov  %b  ||  ndi  ^Acmnodotov  toöb  piqyov. 

Dem  Verfasser  gelten  auch  diese  dem  strengen  metrischen  Bau 
durchaus  nicht  entsprechenden  Hexameter   »als  Beweis  des   unwill- 


762  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  20. 

kttrlichen  Fortwirkens  einer  alten  längst  verscbollenen  Form«,  ohne 
daA  er  von  anderen  erwartet,  dass  sie  von  ihnen  mit  dem  gleichen 
Wohlwollen  betrachtet  werden.  Dnrch  Einmischung  fraglicher  oder 
gar  bedenklicher  Beweisstücke  könne  der  Umfang,  aber  nicht  die 
tiberzeugende  Kraft  der  Beweisführung  vermehrt  werden. 

Die  Wissenschaft  wird  es  dem  Verf.  danken,  daß  er  den  schwer- 
lieh  anzutastenden  Nachweis  geliefert  hat,  daß  sich  unter  den  Home- 
rischen Versen  auch  solche  finden,  in  welchen  die  dem  daktylischen 
Hexameter  zu  Grunde  liegenden  tripodischen  Reiben  noch  unvereint 
neben  einander  stehn ,  und  daß  diese  gleichsam  vorhomerische 
Bildungsweise  auch  unter  den  Hexametern  der  Inschriften  ver- 
treten ist. 

Im  daktylischen  Hexameter  der  vollendeten  Technik  sind  zwei 
daktylische  Tripodien  in  der  Weise  zu  einem  fUxqov  dinmloy  ver- 
einigt, daß  erst  in  der  dno&sats  des  Schluß  -  Kolons  eine  tfvlXaß^ 
äd$dtpoQog  eintritt;  wenn  dieselbe  schon  im  Inlaute  des  Verses  er- 
scheint, ist  dies  eine  in  den  Dialekteigentümlichkeiten  begründete 
Ausnahme.  In  analoger  Weise  sind  in  daktylischen  Pentamer  zwei 
daktylische  Tripodien  katalektischcr  Bildung  zu  einem  ikitqov  dlxmlor 
d^uawiX^xtoif  vereint. 

Daktylischer  Hexameter  und  Pentameter  sind  gleichförmige  fUtqa 
ddr^ila;  jedes  der  beiden  zu  einem  fiitQov  vereinten  Kola  ist  ein 
daktylisches.  Archilochos  war  der  erste,  welcher  f^itga  dixmla  ans 
zwei  heterogenen  Kola  bildete,  von  denen  das  eine  dem  daktylischen, 
das  andere  dem  trochaeischen  (iambischen)  Rhythmengeschlechte  an- 
gehörte. 

Er  verband  die  daktylische  Tetrapodie  mit  einer  darauf  folgen- 
den trochaeischen  Tripodie  zu  einem  ^itqov  SUmlov,  welches  bei 
den  alten  Theoretikern  als  i^dfutQov  nBqn%o<svXXaßiq  oder  ^q^^ov  fi/- 
iff^vov  bezeichnet  wird. 


UVJ«Z_VJW;«Z_UU-JLUU    l    .J-\J  jl.kj 


ov*  iy  ofiüSg  &dH€ig  änaldv  XQ^^»  \  ^dqq>stM  fdq  ^dt/. 

Neben  den  normal  gebildeten  daktylisch  -  trochaeischen  i|a- 
fketga  n€Q$ttoavXlaß^ ,  die  am  Ende  des  zweiten  Kolons  eine 
cvXlaß^  ddtdifOQog  hatten,  kamen  in  demselben  archilocheischen  Ge- 
dichte auch  solche  Verse  vor,  welche  einen  laxeren  Bau  in  der  Art 
zeigten,  daß  jedes  der  beiden  heterogenen  Kola  ein  selbständi- 
ges Metron  mit  schließender  ^XXaß^  dd&d^oQog  ausmachte.  Dahin 
gehört  das  iidfMStQov  ncQtttoövXXaßig 

Kai  ßija<fag  iqimv  dvgna$ndXovg  \\  otog  ^v  iqi*  vßv^' 


Üsener,  Altgriechischer  Versbau.  763 

Hepbaestion  ftthrt  diesen  Vers  des  Archilochos  io  seinem  metrischen 
Eneheiridion  o.  15  an  mit  der  Bemerkang:  rtv€ta$  Si  6  tsksvvatog 
ff C  utQanodtag  d$ct  ti^p  inl  %ilovQ  ddtdg^QOP  »al  xQ^xog,  d.  i.  als 
letzten  VersfnE  der  daktylischen  Tetrapodie  gebraucht  Archilochos 
statt  des  Daktylos  aoch  den  Kretikos,  da  er  die  Schlaftsylbe  dieses 
ersten  Kolons  als  ddtdg>ofog  anffaftt. 

Ferner  verband  Arcbilochos  die  daktylische  Tripodie  mit  einem 
iambischen  Dimetron 

dlld  f*'  d  Iviftf^k^gy  I  ctf  *tatQ$f  ddf*yatM  nd^og. 

Nach  Borat.  Epod.  11,  10  u.  11,  13  zu  schließen 

argoit  et  latere  ||  petitar  imo  Spiritus  || 
libera  concilia  ||  nee  contnmeliae  graves  || 

war  in  diesem  Verse  des  Archilochos  die  SchluBsilbe  des  ersten  Ko- 
lons eine  cvXXaß^  ddiaipoqov. 

Diese  freieren  Bildungen  der  daktylisch-trochaeischen  Metra  di- 
kola  des  Archilochus,  welcher  in  der  Komissur  der  beiden  Kola  eine 
avllaßi^  dd$d^0Q0i  zuläßt,  haben  genau  dieselbe  Eigentümlichkeit, 
welche  H.  Usener  für  eine  Zahl  von  heroischen  Versen  der  Uias  und 
Odyssee  konstatiert: 

Bentley  bezeichnet  die  freiere  Bildung  der  daktylisch-trochaei- 
schen Verse  als  asynartetische  Bildung.  Schwerlich  wird  H.  Usener 
etwas  dagegen  einzuwenden  haben,  wenn  wir  die  analog  gebildeten 
Verse  der  Uias  und  Odyssee  von  den  nach  normaler  Technik  gebil- 
deten durch  die  Benennung  asynartetischer  Hexameter  (im  Sinne 
Bentleys)  unterscheiden. 

Das  von  H.  Usener  aus  der  Ilias  und  Odysse  nachgewiesene 
fkitQOP  ^QMoy  asynartetischer  Bildung  (bleiben  wir  der  Kttrze  wegen 
bei  Bentleys  »asynartetisch«)  nun  soll  es  nach  des  Verf.  Ansicht  sein, 
welches  aus  dem  16silbigen  Urverse  der  ludogermanen,  jenem  aus  2 
tetrapodischen  Reihen  kombinierten  Langverse,  hervorgegangen  ist. 
Aach  Fr.  Allen,  der  jene  asynartetische  Vorstufe  des  Hexameters  auf 
dem  Wege  synthetischer  Deduktion,  nicht  wie  der  Verf.  auf  dem  Wege 
kritischer  Analysis,  erschlossen  hatte,  war  zu  derselben  Annahme  wie 
H.  Usener  gelangt.  Das  technisch  ausgebildete  fkitqov  ^q^ov  ist  ein 
ans  2  tripodischen  Reihen  bestehender  Langvers,  der  von  seinem  geneti- 
schen Znsammenhange  mit  dem  indogermanischen  Urverse  zunächst 
keine  Kunde  gibt.  Aber  bei  dem  asynartetisch  gebildeten  Homer- 
verse  ist  dies  anders,  so  wie  man  sich  ihn  als  einen  gesungenen 
Vers  denkt  und  seinen  musikalischen  Rhythmus  nach  jenen  Versen 


764  Gott.  ffel.  Anz,  1887.  Nr.  20. 


e' 


bemiftt,  welche  Aristoxenos  im  Auge  hat,  die  nur  ans  einer  späten 
Zeit  des  Griechentams  in  den  Hymnen  desDionysios  undMesomedes 
vorliegen.  H.  Usener  spricht  ja  vorwiegend  bei  dem  Nachweise 
eines  historischen  Zusammenhangs  des  griechischen  Verses  mit  dem 
altgermanischen,  alteranischen  nnd  altindischen  von  Volksliedern, 
also  von  gesungenen  Versen.  Ist  nun  die  Urform  des  homeri- 
schen Metrums  ein  gesungener,  kein  gesagter  Vers,  so  wird  der 
Rhythmus  z.  B.  von  q.  479 

fkij  öS  piok  dkä  düifka  ||  peQtSfftfmtf  oV  dyoQSVS^g  || 
gesungen  worden  sein: 

./.     \J\J     .J-      \JKJ     -^    U,  U        ..£.  U.    \J\J     -i-     JL. 

Das  zweite  Kolon  kann  nur  folgendermaßen  gesungen  sein: 

pSQv<f<tmff  oV  äyoqswq 

\J     .J-      U-        XJ    \J    ^L.    U-  ^ 

eine  andere  Rhythmisierung  ist  nach  dem  uns  quellenmäßig  Ueber- 
kommenen  ausgeschlossen. 

Analog  wttrde  dein  ersten  Kolon 

f$ij  as  viok  dkd  ddSf^a 
als  gesungenem  Verse  folgende  rhythmische  Messung  zukommen: 


Werden  beide  Reihen  unmittelbar  hinter  einander  gesungen,  so 
mag  immerhin  zwischen  beiden  eine  Paase  eintreten,  aber  diese 
hebt  nicht  auf,  daß  der  Rhythmus  dereelben  einer  Kombination  vop 
zwei  großen  (tetrapodischen)  C-Takten  entspricht,  in  deren  jedem  4 
musikalische  Versfüße  —  der  alte  Mattbeson  in  seinem  Vollkommeneo 
Kapellmeister  nennt  sie  KlangfUße  —  enthalten  sind. 

Ich  denke,  daß  ich  des  Verfassers  Ansicht  richtig  wiedergegeben 
habe,  obwohl  Manches  in  seiner  Darstellung  den  Anschein  erwecken 
könnte,  als  ob  nach  seiner  Meinung  der  aus  zwei  Tetrapodien  be- 
stehende vorhomerische  Vers  auch  als  gesagter,  d.  i.  gesprochener, 
rhapsodisch  vorgetragener  Vers  zu  einem  aus  zwei  Tripodien  be- 
stehenden sich  hätte  umgestalten  können.  Das  letztere  muß  Bet 
in  Abrede  stellen.  »Die  Verwitterung  des  Auslautes«,  von  welcher 
der  Verf.  gelegentlich  des  deutschen  Verses  spricht  (S.  65),  ist  nor 
bei  gesagtem,  nicht  bei  gesungenem  Verse  möglich.  Von  dem  deut- 
schen Volksliede 

Rüben,  Rüben  |  die  haben  mich  vertrieben 

beiißt  es  S.  66 :  »Die  erste  Zeile  (~  u  —  u)  entspricht  vollständig  an 


Usener,  Altgriechischer  Vershau.  766 

Taktwert  deo  übrigeD,  nnd  unter  diesen  steht  ein  Vers  von  vier  He- 
bangen  den  zwei  abgestampften  gleich«.  In  Wirklichkeit  aber  bil- 
det der  erste  Vers  des  Volksliedes  keine  Dipodie,  wie  H.  Usener 
annimmt,  sondern  eine  Tetrapodie  : 


Rü  -  ben,   Rü-ben       ha-ben  mich  ver  •  trie   -    ben 

So  schreibt  J.  S.  Bach  die  Melodie  dieses  Volksliedes,  die  er  in 
seinen  Keiserling- Variationen  (I  63  Peters)  mit  einem  zweiten  Thü- 
ringer Volksliede  polyphonisch  verbunden  hat. 

Ueberhaupt  kann  in  der  Metrik,  znmal  in  der  vergleichenden 
Metrik  —  H.  Useners  Boch  will  ja  »ein  Versuch  vergleichender  Me- 
trik« sein  —  nicht  scharf  genog  zwischen  gesungenen  und  gesagtön 
Versen  geschieden  werden.  Sowohl  der  gesungene  wie  gesagte  Vers 
besteht  aus  VersfQßen.  Aber  was  Äristoxenos  im  zweiten  Buche  sei- 
ner Rhythmik  von  den  nach  dem  Zeitmafie  des  Chronos  protos  zu 
bestimmenden  nodsg  sagt,  gilt  bloß  von  den  nodsg  des  iv  f*ov(r«»^ 
tavt6p€yog  ^v^fkög^  bloß  von  den  Versfüßen  des  gesungenen  Verses 
und  der  Instrumentalmusik,  —  denn  auch  die  Instrumentalmusik  hat 
nicht  minder  wie  die  Vokalmusik  ihre  Versfttße,  obwohl  bis  jetzt  die 
Kenntnis  der  in  der  Instrumentalmusik  vorkommenden  Versfttße  trotz 
Mattbesons  Vollkommenem  Kapellmeister  noch  immer  eine  esoterische 
ist  Die  vergleichende  Metrik  wird  nicht  bloß  den  gesprochenen, 
sondern  auch  den  gesungenen  Vers  zu  behandeln  haben.  Während 
für  den  gesprochenen  Vers  fast  ein  jedes  der  heutigen  Kulturvölker 
seine  eigenen  Principien  hat,  die  entweder  aus  quantitierender  oder 
accentaierender  Grundlage  hervorgegangen  sind,  ist  gegenwärtig  bei 
allen  Völkern  in  der  musikalischen  Rhythmik  dasselbe  Princip  zur 
Gteltnng  gekommen,  welches  dem  gesungenen  Verse  der  alten  Orie- 
eben  zn  Grande  liegt  und  durch  Äristoxenos  theoretisch  fixiert  wor- 
den ist.  Daß  unsere  großen  Meister  der  musikalischen  Komposition 
Bach,  Händel,  Gluck,  Mozart,  Beethoven  ihre  Werke  in  derselben 
rhythmischen  Form  gehalten  haben  wie  die  alten  Griechen,  diese 
bisher  nur  in  dem  kleinen  Kreise  der  Aristoxenus-Verehrer  bekannte 
Thatsache  kann  nicht  anders  erklärt  werden ,  als  daß  das  rhythmi- 
sche Gefühl  dem  menschlichen  Geiste  immanent  ist  und  sich'dahör 
bei  alten  und  neuen  Völkern  in  ähnlicher  Weise  manifestieren  muß. 
Ohne  daß  es  unsere  Musiker  wissen,  zählen  sie  nach  den  zuerst  von 
Äristoxenos  theoretisch  erkannten  Chronoi  protoi  (die  Ausnahmen 
brauchen  hier  nicht  berücksichtigt  zu  werden),  wenn  sie  nach  |-,  f-, 
f  >  iV)  i'9  V''^A^^^°  zählen,  denn  in  diesen  Taktvorzeichnungeu 


766 


Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  20. 


bezeichnet  der  Zähler  die  Anzahl  der  Chrono!  protoi,  welche  dareb 
den  Nenner  als  Viertel-,  Achtel-,  Sechszehntelnoten  bestimmt  werden. 
Das  ist  genau  der  Aristoxenische  Standpunkt  Den  Standpunkt  der 
mittelalterlichen  Mensuralmusik  dagegen  hat  unsere  Musik  festge- 
halten, wenn  sie  fttr  den  geraden  Takt  die  bei  den  Mensuralistea 
vorkommenden  Taktbezeichnungen  C  u.  s.  w.  anwendet  Von  den  bei 
Aristoxenos  besprochenen  Taktarten  der  griechischen  Musik  wendet 
die  heutige  nicht  bloB  das  Rhythmengeschlecht  des  4-zeitigen  (dak- 
tylischen), des  3-zeitigen  (trochäischen),  sondern  auch  des  6-zeitige& 
(ionischen)  Versfußes  an.  Bloß  das  päonische  Rhythmengeschlecht 
ist  in  der  modernen  Musik  erloschen.  Die  Versuche  es  wieder  do- 
zufiihren,  welche  von  Händel  (Orlando)  und  von  Boieldieu  (Weifte  Dame 
Nr.  11),  gemacht  sind,  haben  keinen  bleibenden  Erfolg  gehabt  Das 
dem  menschlichen  Oeiste  immanente  rhythmische  Gefühl  verlangt 
sogar,  daft  die  moderne  Musik  ihre  rhythmischen  Glieder  genau  so 
weit,  wie  dies  Aristoxenos  fttr  die  griechische  Musik  angegeben  bat, 
ausdehnt:  von  3-zeitigen  und  4-zeitigen  Versfttften  kann  eine  tetrar 
podische  Reihe  gebildet  werden,  bei  6-zeitigen  (ionischen)  Versfttften 
vertritt  die  Dipodie  dieselbe  Stelle,  welche  dort  die  tetrapodische 
Reihe  einnimmt,  nur  im  modernen  Recitative  findet  das  Aristoxeniscbe 
Gesetz  über  die  Ausdehnung  der  rhythmischen  Reihen  keine  Parallele 
(der  griechischen  Musik  fehlte  das  auf  laxerem  rhythmischen  Ge- 
fühle beruhende  Recitativ  der  modernen):  hier  werden  auch  sieben 
und  mehr  VersfQfte  zu  einer  rhythmischen  Reihe  verbunden. 

Je  größer  aber  die  principielle  Gleichheit  der  rhythmischen  Fo^ 
men  in  der  Kunst  der  Griechen  und  in  der  christlich  modernen  Mn- 
sik,  um  so  mehr  scheint  es  auffallen  zu  mtlssen,  daft  tetrapodische 
Reihen  bei  Griechen  und  Modernen  zwar  gleich  häufig,  tripodisdie 
Reihen  aber  in  der  modernen  Musik  um  so  seltener  sind.  Den 
Rhythmus  des  daktylischen  Hexameters  werden  manche  in  den  Wer- 
ken  der  modernen  Musik  kaum  vernommen  haben.  Selten  genog 
kommt  es  vor,  daft  sich  in  unserer  Musik  daktylische  Tripodien  in 
längerer  Folge  ununterbrochen  an  einander  reihen.  Wer  Glucks  Tsn- 
rische  Iphigenie  gehört  hat,  der  hat  in  der  der  Ouvertflre  eingeleg- 
ten Vokalmusik  den  antiken  Rhythmus  heroischer  Hexameter  ve^ 
nommen : 


m 


t 


&-i 


u 


4St± '-, 


^^^ 


^ 


Grmnds   Dieuxl      soyes   -   nous     se-cou  -  ra  -  bles! 


De  tovr- 


nei        vol      fou  -  dies   ven  -  ^urt, 


Usener,  Altgriecliisclier  Versbau. 


767 


Id  der  Vokalmusik  Mozarts,  Beethovens,  Webers  wird  man  die- 
sen tripodisch-daktylischen  Rhythmus  vergebens  suchen.  Außer  der 
Oiuekschen  ist  die  Bachsche  Vokalmusik  die  einzige,  welche  densel- 
ben zu  Oebör  kommen  läßt.  Bach  hat  in  seiner  Hohen  Messe  das 
Ghorlied  No.  11  »Cum  sancto  spiritn«  nach  daktylischen  Tripodieen 
gegliedert: 


^^ 


Cum   lanoto   ipi  -  ri     -    tu     in   glo-r-a  De   -    i        pa-teif. 

Das  sind  regelrechte  daktylische  Hexameter,  nur  daß  denselben 
eine  1-zeitige  Anakrusis  vorangeht.  Mit  Ausnahme  von  Glucks  Tau- 
riscber  Iphigenie  und  Bachs  Hoher  Messe  dttrfte  schwerlich  in  unse- 
rer Vokalmusik  der  Rhythmus  des  daktylischen  Hexameters  der  Al- 
ten gefunden  werden.  Bach  indes  hat  denselben  auch  in  der  In- 
stramentalmusik  zur  Anwendung  gebracht.  Unter  den  Fugen  des 
Wohltemperierten  Elavieres  ist  1,  21  (B  Dur),  2,  16  (6  Moll),  2,  22 
(BMoll)  im  Rhythmus  daktylischer  Tripodien,  deren  zwei  sieb  zum 
Hexameter  vereinigen,  gehalten.  Am  instruktivsten  fttr  diesen  Rhyth- 
mus ist  die  erste  B  Dur-Fuge  des  Wohltemperierten  Elavieres : 


Das  sind  zwei  anakrusische  Hexameter  Bachs,  in  denen  wir 
durch  Legatobogen  die  einzelnen  tetrapodischen  Reihen  markiert  ha- 
ben. Man  wird  alsbald  finden,  daß  Bach  trotz  der  von  ihm  ange- 
wandten Anakrusis  die  antiken  Verscäsuren  eingehalten  hat:  ans 
keinem  anderen  Grunde,  als  weil  das  rhythmische  Geftthl  unseres 
groBen  Meisters  Bach  mit  dem  rhythmischen  Gefühle  der  alten  Grie- 
chen identisch  war. 

Da  tripodisch-daktylische  Rhythmen  in  unserer  Musik  gar  so 
selten  sind,  glaubte  ich,  als  ich  die  in  Rede  stehende  Bachsche 
Foge  in  den  Elementen  des  musikalischen  Rhythmus  besprach,  den 
tripodischen  Rhythmus  derselben  dadurch  am  besten  verständlich 
machen  zu  können,  daß  ich  ihn  in  den  tetrapodischen  umformte« 
Umgekehrt  muß  das  Griechentum  verfahren  haben,  als  es  die  tetra- 
podischen Reihen  des  alten  vorhomerischen  Hexameters  zu  tripodi- 
schen Reihen  gestaltete.  Wir  kehren  hiermit  auf  die  zu  Anfang 
qoserer  Besprechung  angeführten  Worte  des  Verfassers  znrUck:  »Die 


768 


Gott.  gel.  An«.  1887.  Nr.  20. 


scböDen  Gebilde  der  griecbiscfaeD  Kunst  ...  der  scböpferiscbe Ktlnst- 
ler  erzeugt  sie  nicbt,  sondern  bildet  das  Ueberkommene  veredelnd 
um«.  So  sind  auch  die  tetrapodiscben  Reihen  des  ältesten  griechi- 
schen Verses  zu  tripodischen  umgebildet  und  veredelt  worden.  Ge- 
rade diese  Umbildung  tetrapodischer  zu  tripodischen  Rhythmen  ist 
eine  Kllnstlerthat,  durch  welche  das  Griechentum  seine  rhythmiflche 
Ueberlegenheit  ttber  alle  verwandten  Völker  bethätigt  za  haben 
scheint.  Von  modernen  Künstlern  hat  außer  dem  Komponisten  der 
Taurischen  Iphigenie  eigentlich  nur  der  große  Meister  Bach  als  der 
einzige  den  tripodisch-dal^tyI^sc(ien  Rhythmus^  ^i^4pi^  Vi  gewinnen 
den  nicht  erfolgreichen  Versuch  gemacht.  Im  Volksliede  kommt  die- 
ser Rhythmus^  so  viel  Ref.  weift,  bei  keinem  anderen  Volke  als  bei 
den  Russen  vor.  In  der  Sammlung  russischer  Volkslieder  von 
J.  Helgunow  »Ruskija  Pesni  ....  Moskwa  1879c  enthält  p.  10 
ein  mehrstimmiges  Ghorlied  des  russischen  Landvolkes  im  Rhythmiu 
des  daktylischen  Hexameters  der  Griechen,  freilich  ohne  Einhaltung 
der  antiken  Cäsur.  Der  Originaltext  lautet  in  deutscher  Ueber- 
setzung : 

Adf  dem  Petersburger,  |  adf  dem  schönen  W^ge  H 
auf  der  Tw^rschen  Straße  |  in  der  N&h  der  Stadt, 

fllhrt  mein  Schätz,  mein  Holder,  |  auf  dem  Dreigespanne,  || 
auf  dem  Dreigespanne  |  unter  Glöckenklänge,  || 

Schätz  auf  Dreigesp&nne,  |  unter  Glöckenklänge,  t| 
unter  Glöckenklänge  |  und  mit  Schalen  drän|| 

Bittre  Thränen,  wehe,  |  hat  geweint  mein  Holder,  || 
bittre  Thr&nen,  w^he,  |  hat  mein  Schätz  geweint  || 


Der  russische  Originaltext  gibt  auch  als  gesprochener  Vers  im  Gan- 
zen denselben  Rhythmus  wie  ihn  die  deutsche  Uebersetznng  einge- 
balten hat,  also  Verse  desselben  Metrums,  wie  z.  B.  »Auf  ArkonaB 
Höhen«.  Aber  es  kommen  hinreichend  Fälle  vor,  wo  im  russischen 
Volksliede  der  Worttext  in  der  Art  des  alteranischen  Verses  die 
rhythmische  Hebung  mit  dem  Silbenaccente  nicht  zusammenfalleQ 
würde,  wenn  nicht  die  Melodie  hinzukäme. 


Ufiener,  Altgriecldidier  Versbaa.  769 

DaB  ist  eiM  am  zwei  HezAmetera  besteheude  Distichie.  Demselben 
tripodisch-daktyliscben  Bbythmas  gehören  tod  den  rmsiBcben  VoUls- 
liedern  der  Ifelgimowscben  Sammlang  anch  Nr.  1.  Nr.  7  an.  Die  knnst- 
reiebe  Mannicbfaltigkeit,  wekbe  ^ler  Saxameter  der  Oriecben  darcb  die 
Verteilung  der  Cäsaren  erbält,  ist  dem  daktylischen  Hexameter  des 
rofisischen  Volksliedes  anbekannt,  eleu  die  Oäsnr  tritt  hier  am  Ende 
der  tripodiscben  Reihe  ein.  Aber  der  musikalische  Vortrag  des 
Verses  steht  im  rassischen  Volksliede  aafeiner  entschieden  höheren 
JStofCy  als  er  jemals  im  alten  Griechentiune  atehn  konnte.  Denn  der 
Oesang  des  rossisehen  Volksliedes  ist  stets  ein  mehrstimmiger,  nicht 
4arch  Anwendung  yoa  Terzenintervallen  wie  im  deutschen  Volks- 
liede, sondern  dnreh  eime  polyphone  Behaadlnag  der  Stimmen,  welche 
vein  keinem  gelehrten  Musiker  den  ressiscben  Landleuten  komponiert 
sind,  aoodern  yoib  diesen  als  selbständige  Schöpfungen  gesungen  wer- 
den,  zum  Teil  sogar  im  Augenblick  des  Singens  von  den  Sängern 
frei  gestaltet  9  daher  mit  vielen  Varianten,  welche  der  sorgsame 
Herausgeber  Melgnnow  dem  Leser  nicht  vorenthalten  hat.  Husi- 
kalisebe  Instramente  werden  zsm  Vortrage  der  vom  Chore  gesan- 
genen  rassischen  Volkslieder  nicht  gebraacht,  sie  sind  ganz  Vokal- 
mnaik^).  Kein  anderes  l4md  hat  ähnliehe  VolbiUeder  aufzuweisen, 
dorcb  sein  Volkslied  ist  RuUand  der  g&nzen  ttbrigen  Welt  voraus. 
Konatatieren  wir,  daft  das  russische  Voft  (d.  i.  das  russische  Land«- 
volk)  in  seinen  nationalen  Liedern  aueh  den  Bhyth- 
mna  des  daktylischen  Hexameters  der  altenOriechen 
anwendet;  eine  historische  Brttcke,  auf  welcher  dieser  Rhythmus 
YOB  den  alten  Griechen  zn  dem  russischen  Volke  hinttbergewandert 
aeiii  könnte,  läftt  eich  nicht  ausftndig  machen ,  ebensowenig  wie  ftlr 
die  Anwendung  desselben  Rhythmus  hei  Bach  und  bei  Oluck.  Hier 
^bt  es  keine  andere  Erklibrung,  als  daft  dem  menschlichen  Geiste 
das  nändicbe  rhythmische  Gefiihl  immanent  ist :  im  gesungenen  Verse 
oder  vielmehr  in  der  Musik  überhaupt  muft  es  bei  den  alten  Grie- 
4^11,  bei  den  modemen  Komponisten  Bach  and  Gluck  und  in  den 

1)  Auf  die  ¥on  nnsoren  groBen  abendl&Ddischen  Meistern  aoBgebildeten  Har- 
jnpadegesetae  ist  in  Aen  raasifldbmi  Vollnliedem  keine  Rftcksidht  genommen ,  und 
doch  ist  da9  Volk,  von  welchem  diese  MusUc  henrahrt,  ein  musikalisch  so  koch 
beanlagtee,  daZ  .unsere  deutschen  Musikgelehrtieu  an  diesen  VoJkaliedem  ihre 
Freude  haben.  Als  von  mir  Melgunows  Sammlung  2um  ersten  Haie  zwei  Leip* 
siger  Mnsikforschern  vorgelegt  wurde,  riefen  diese  ganz  erstaunt:  »Wir  sehen  es, 
glftoben  es  aber  doch  nicht:  wer  von  unseren  heutigen  Musikern  wäre  im  Stande, 
B^ldbie  Mvaik  «u  komponieren  ?c  Im  vorigen  Jahre  wurde  dem  Publikum  der 
gr0Aeren  deutschen  Stftdte  Gelegenheit  geboten,  unter  Slavianskys  Leitung  die 
nationalen  Cborgesänge  der  russischen  Landleute  kennen  .und  bewundem  m  lernen, 

Q6Um  gel   Au.  1887.  Nr.  SO.  53 


770  G5tt.  gel.  Adz.  1887.  Nr.  20. 

nationalen  Ghorgesängen  des  russischen  Landvolks  zn  den  nämlichen 
rhythmischen  Formen  fuhren. 

Blickebarg.  R.  Westphal. 


Pick,  Bernhard,  Dr.  Martin  Luthers  »Eine  feste  Bnrg  ist  unser 
Oott«  in  21  Sprachen.  Zu  seinem  400jährigen  Geburtstage  (Mit  Luthers 
Brustbild).    Chicago,  Hl.  Severinghaus  &  Co.    Publishers.   188S.    46  S.    8«. 

Lnther  ist  anerkanntermaßen  nicht  allein  der  Schöpfer  der  nen- 
bochdentschen  Prosa,  sondern  auch  des  Kirchenliedes.  Er  hat  es  wie 
kein  anderer  verstanden,  dem  Gedanken  den  völlig  entsprechenden 
volkstümlichen  Ansdmck  zn  geben,  schlicht  nnd  kräftig  zugleich. 
Daher  bewahrt  anch  sein  Kirchenlied  eine  jugendliche  Frische,  die 
nie  veraltet  nnd  eine  melodische  Form  von  hinreißender  Wirkang. 
Allen  voran  steht  das  bekannte  »Ein'  feste  Barg  ist  nnser  Gottc  ein 
Kirchenlied  ersten  Banges,  einzig  in  seiner  Art  Dem  Ornndgedan- 
ken  der  Reformation,  sowohl  nach  seiner  polemischen  wie  nach  sei- 
ner apologetischen  Seite  bin,  verleiht  es  einen  ebenso  vollkommenen 
wie  mächtig  ergreifenden  Ansdrnck.  Darum  ist  es  auch,  gleichwie 
der  kleine  Katechismus  Luthers,  gleichsam  ein  Symbol  der  Kirche 
der  Reformation,  insbesondere  der  nach  Luther  benannten  Kirchen- 
gemeinschaft geworden.  Wo  immerhin  unter  einem  Volke  die  Re- 
formation Eingang  gefunden,  bat  auch  dieses  Lied  mit  seinen  mäch- 
tigen Akkorden  seinen  Einzug  gehalten.  Ueberall  mit  Begeisterung 
aufgenommen  hat  es  wesentlich  dazu  beigetragen  !der  Reformation 
die  Wege  zu  bahnen.  »Diese  Lieder  Luthersc,  sagt  ein  Jesuit  Con- 
zenius,  »haben  mehr  Seelen  getödtet  als  seine  Bücher  und  seine  Re- 
done. Gleich  der  Bibel  ist  es  daher  anch  in  nicht  wenige  Sprachen 
übertragen  worden.  Freilich  ist  es  so  durchaus  deutsch  empfunden 
und  in  eine  äohtdeutsche  Sprachform  gekleidet,  daß  eine  Uebertra- 
gung  in  eine  andere  Sprache  niemals  ganz  das  Original  erreicht, 
zumal  zur  Beibehaltung  des  Versmaßes  nnd  des  Endreims  in  der 
fremden  Sprache  nicht  immer  der  Gedanke  des  deutschen  Originals 
festgehalten  werden  kann.  Umänderungen,  Vertauschungen,  Aus- 
lassungen und  Ergänzungen  sind  unvermeidlich  und  darunter  leiden 
sowohl  die  Tiefe  der  Gedanken  wie  die  Kraft,  die  dem  Wort  inne- 
wohnt. Indessen  gibt  eine  Zusammenstellung  der  Ueberträgungen 
des  Liedes  in  verschiedene  Sprachen,  wie  sie  die  oben  erwähnte 
Schrift  enthält,  den  Beweis,  einen  wie  vielfachen  Widerhall  dieser 
urdeutsche  Posaunenton  auch  in  den  Herzen  anderer  Völker  gefun- 
den hat.  Auch  in  den  fremde  Sprachen  redenden  Christengemeinden 
ynri  das  Lied  unvergessen  bleiben. 


Pick,  Lathers  »Eine  feste  Bnrg«  in  21  Sprachen.  771 

Der  Verf.  nennt  in  dem  kurzen  Vorwort  diese  Sammlang  von 
»56  Uebersetzungen  des  Beförmationsliedes«  in  21  Sprachen  die 
zweite,  die  er  herausgegeben;  die  erste  erschien  1880  in  19  Spra- 
chen. Eine  italienische  and  eine  ungarische  sind  neu  hinzugekom- 
men: die  bereits  vorhandenen  durch  eine  lateinische,  eine  französi- 
sche und  vier  englische  vermehrt  Von  letzteren  ist  die  Auswahl 
groß;  es  sind  28  aufgeführt;  diese  Sprache  und  ihre  Litteratur  ist 
dem  Verf.  wohl  am  gründlichsten  bekannt  Es  will  uns  vorkommen^ 
als  wenn  die  englische  Sprache  neben  der  [lateinischen  sich  ganz 
vorzugsweise  dazu  eignete,  die  ergreifende  (Gewalt  des  Liedes  wieder- 
zugeben. —  Den  auf  S.  17  gemachten  Quellenangaben  wäre  noch 
hinzuzufügen,  daB  die  spanische  Uebersetzung  S.  35  in  dem  Salterio 
christiano.  Madrid,  libreria  nacional  y  estransera.  1878.  pag.  3  ab- 
gedruckt ist  (im  ersten  Verse  Nr.  1  muB  es  heiBen  /tierte,  nicht 
fuerto),  sowie  daB  die  italienische  Uebersetzung  S.  43  in  dem  Ge- 
sangbuch der  evangelischen  Gemeinden  in  Italien:  Salmi  Oantici. 
Quarta  edizione.  Firenze.  Tipografia  Ciaudiana  1885  pag.  21  als 
Cantico  20  steht  In  der  hier  besprochenen  Schrift  muB  in  Strophe  1 
der  zweite  Vers  an  die  Stelle  des  dritten  und  der  dritte  an  die 
Stelle  des  zweiten  gerückt  werden;  auch  muB  es  Str.  2  V.  5  heiBen 
domandi  und  Str.  4  V.  5  pieni  statt  pinei.  Die  schwedische  Ueber- 
setzung S.  32  findet  sich  in  dem  jetzt  in  Schweden  gebräuchlichen 
Gesangbuch :  Swenska  Psalm-Boken.  Af  Eonungen  gillad  och  stad- 
fiistad  är  1819.  Stockholm  1884.  S.  85  u.f.  Nr.  124  (Str.  1  V.  4 
muB  es  heiBen  toüje  statt  wäju).  Die  dänische  Uebersetzung  ist  da- 
gegen in  der  S.  31  mitgeteilten  Form  dem  jetzt  in  Norwegen  ge- 
bräuchlichen Gesangbuche  entlehnt,  während  das  gegenwärtig  in 
Dänemark  geltende  »Psalmebog«  eine  Uebertragung  hat,  die  sehr 
abweichend  von  der  erstgenannten  sich  einer  älteren  im  »Evange- 
lisk-kristelig  Psalmebog  til  Brug  ved  Eirke  og  Huus-Andagt.  E0- 
benhavn  1806«  Seite  166  u.  f.  No.  190  mitgeteilten  anlehnt  Der 
Setzer  oder  Eorrektor  des  hier  S.  31  vorliegenden  Drucks  scheint 
den  der  dänischen  Sprache  eigentümlichen  Buchstaben  0,  der  ent- 
weder als  ein  von  oben  nach  unten  durchstrichenes  0  oder  als  ein  0 
mit  einem  kleinen  schrägen  Strich  darüber  geschrieben  wird,  nicht 
gekannt  zu  haben.  Richtig  heiBen  die  Wörter  Nod  (nicfat  Nod)^ 
Hivding^  stode,  dornte  Born ;  desgleichen  Str.  1  V.  3  faerd  statt  ferd ; 
und  Str.  3  V.  2  opsluge^  nicht  opfiuge. 

Der  Verf.  schreibt  im  Vorwort  S.  1,  daB  er  in  dieser  Schrift 
»den  noch  vorhandenen  Reste  —  nämlich  der  von  ihm  gesammelten 
Uebersetzungen  —  »in  erweiterter  Form  als  Gedenkblatt  zum  400|ähri- 
gen  Geburtstage  „des  deutschen  Propheten''  ausgehen  lasse  c.    Dabei 

53» 


772  6ött.  gel.  An«.  1887.  Nr.  20. 

ist  dem  Referenten  anf gefallen  ,  daß  der  in  den  Händen  des  Verf. 
befindliebe  Rest  niebt  nocb  rdcbbaltiger  gewesen  ist  Ref.  hat  n&mlich, 
1875  von  einem  befreundeten  Prediger  in  Holland  dazu  aufgefordert, 
für  den  Verf.  eine  Änzabl  Uebersetzungen  in  skandinaviseben  Sprachen 
gesammelt,  was  ihm  nur  dadurch  möglich  wurde,  daft  ein  Studieren- 
der der  Theologie  in  Kopenhagen,  Namens  Hafström,  sich  der  Mfihe 
unterzog,  auf  der  dortigen,  an  skandinavischer  Litteratnr  sehr  rei- 
chen Bibliothek  zu  suchen  und  abzuschreiben  was  dort  vorhanden 
war.  So  gelangte  Ref.  in  Besitz  einer  finnischen,  einer  lappischen, 
einer  isländischen,  einer  grOnländischen,  drei  dänischer  nnd  einer 
schwedischen  Uebersetzung,  die  derselbe  leider  damals,  weil  er  krank 
war,  ohne  Abschrift  zu  behalten,  nach  Holland  weiter  beförderte. 
Dort  nahm  ein  Dr.  Gohn',  der  inzwischen  verstorben  ist,  sie  in 
Empfang,  um  sie  dem  Verf.  zu  übermitteln.  Sollte  letzterer  die  in 
seiner  Schrift  nicht  abgedruckten  Uebersetzungen  in  lappischer,  is- 
ländischer nnd  grönländischer  Sprache  gar  nicht  empfangen  haben? 
Man  muß  es  fast  annehmen,  denn  die  Uebersetzungen  in  diesen  nar 
Wenigen  bekannten  Dialekten  würden  doch  zur  Vervollständigung 
der  Sammlung  wesentlich  beigetragen  haben.  Ref.  möchte  sein 
großes  Interesse  an  dem  von  Umsicht  und  Fleiß  in  hohem  Hafte 
zeugenden  Unternehmen  des  Verf.  noch  dadurch  bekunden,  daß  er 
einen  S.  17  ausgesprochenen  Wunsch  erfüllt,  indem  er  nämlich  hier 
eine  griechische  (neugriechische)  Uebersetzung  des  Lutherliedes  mit- 
teilt. In  dem  Liederbncbe  des  griechischen  Mädcheninstituts  Arsakion 
in  Athen,  welches  deutsche  Lieder  in  Uebersetzung  nebst  den  deut- 
schen Melodien  enthält,  findet  sich,  wie  der  Hofprediger  in  Athen 
schreibt,  ein  schwacher  Versuch  von  dem  Dichter  Angeles  Vlacbos, 
dessen  erste  vier  Verse  so  lauten: 

6  fJksyd^  6  iv  itp((f%a$Q 

Die  Fortsetzung  entspricht  aber  so  wenig  dem  deutschen  Original, 
daß  ihre  Mitteilung  sich  nicht  verlohnt.  Um  so  dankenswerter 
ist  es,  daß  der  Verf.  der  sehr  gelungenen  Uebersetzung  von  Goethes 
Faust  ins  Neugriechische,  Herr  Aristomenis  Provilejios  in  Athen  sich 
hat  bereit  finden  lassen ,  die  nachfolgende  Uebertragung  des  Luther- 
liedes anzufertigen,  welche  unter  Berücksichtigung  der  nicht  gerin- 
gen sprachlichen  Schwierigkeiten ,  die  zu  überwinden  waren ,  als 
eine  möglichst  treue,  namentlich  in  den  drei  ersten  Strophen,  und 
überaus  wohllautende  bezeichnet  werden  kann.    Sie  lautet; 


Pick,  Luthers  9£ine  fette  Bargt  in  21  Sprachen.  773 

üxin^  nal  äifvlop  fta^ 

iv  fAdüM  %är  dshvmv  ftag. 

iQ&omai  ßloiWQog 
fii  doXov  nal  taxvt^' 
mdpfo  $ig  t^y  f^v 

(Aag  iyxatahfAndpst, 

nl^p  nQOfkaxog  (Aag  tov  ^sat 

o  ixlsxtdg  fiQOip&dyti. 

b  ItjcovQ  XQtotog! 
Movoq  aiitiq  x^cog 
inccQxsi  »Qatatog' 
^  piui/  idix^  tov. 

Kai  äv  da$n6pcay  (ftganal 
TOP  xoOfioy  xataxXvaoWy 
äXlä  T^p  nicup  f»ag  notS 
no%i  dip  &d  xlop^öovp, 
*0  ßaCkXsvg  vl^q  y^i 

etg  fidtiiP  xa&'  ^fiWP 

£f(  loyog  top  ovptQtßet. 

*0  Idyog  cov  ilS  ovQapmp 

dp  dip  tdp  dpatqiftfjiy 

nXiiP  *g  top  dywpa  tdp  ösiPOP 

"Ag  Xdß^  näp  iX^wp 
ngoCMMQOP  dyaMp 
iaUap  *al  ufMJPy 
nXijP  dg  dox^fj  ^f»tp 
td  nqdtog  aov  td  ^ttop. 

Bev.  Dr.  B.  Pick  stellt  in  der  Einleitnog  za  seiner  Sammlang 
von  Uebertragangen  den  Text  des  Liedes  in  der  Gestalt  voran^  wie 
ihn   das  Angsbarger  Gesangbacb   vom  Jahr  1531   hat|  führt  dann 


774  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  20. 

mehrere  Veranstaltangen  des  Liedes  an,  die  es  in  verBcbiedenen 
GesangbttcberOy  z.  B.  im  Hamburger  von  1787,  im  Neuen  Ansbaehi- 
scben  von  1800,  im  Sebaambarg-Lippiseben  von  1804,  im  Amatftdti- 
sehen  (Sehwarzbnrg-Sondersbaasen)  von  1811  n.  s.  w.  erfahren  hat, 
und  berührt  auch  die  Frage  nach  der  Zeit  der  Abfassang,  ohne  sieb 
für  eine  der  verschiedenen  Ansichten  zn  entscheiden.  Hier  wäre 
noch  hinzuweisen  auf  die  von  Fischer  und  Linke  herausgegebenen 
Blätter  ftlr  Hymnologie  1883  S.  75  ff.  und  S.  103  ff.,  sowie  auf  das 
Harburger  Universitäts-Programm  (1883)  von  Achelis  »Entstehnngs- 
zeit  von  Luthers  geistlichen  Liedernc.  In  letzterem  wird  S.  21—27 
es  unentschieden  gelassen,  ob  es  vielleicht  schon  1521  oder  1524 
gedichtet  sei,  da  diese  Vermutung,  die  auch  sonst  schon  ausgespro- 
chen, in  einem  Citat  bei  Schamelius  Lieder  Gomm.  1724  eine  Stfltze 
finde,  die  nicht  zu  ignorieren  sei.  Derselbe  bemerkt  nämlich  im 
vierten  Anhang,  der  eine  kurzgefaßte  historia  Hymnopaeornm  ent- 
hält, S.  96  in  einer  Note,  von  dem  bekannten  Hermann  Tast:  >Er 
war  erst  unter  den  24  vicariis  zu  Husum  in  Hollstein.  Als  er  den 
Lutherum  gelesen  hatte,  fieng  er  an  die  Wahrheit  zu  lehren  und  n 
predigen.  Und  da  ihn  die  Pfaffen  nicht  in  die  Kirche  lieSen,  ge- 
schah es  unter  einer  groBen  Linde.  In  der  ersten  Predigt  zu  Oar- 
dingen  im  Eiderstädtischen  hat  er  beym  Schluß  Ao  1524  allein  ge- 
sungen: Ein  feste  Burg  etc.  wurde  der  erste  Reformator  selbiger 
Lande  und  dann  auch  Past,  zu  Husum,  starb  1551  alt  61«.  Ebenso 
erzählt  Petrus  Saxe,  geboren  1579,  dessen  Annalen,  im  Ms.  in  Kopen- 
hagen, bis  1645  reichen.  —  Für  eine  spätere  Abfassungszeit,  näm- 
lich 1527,  erklären  sich  K.  F.  Tb.  Schneider:  D.  Martin  Luthen 
geistliche  Lieder  nebst  einer  kurzen  Geschichte  ihrer  Entstehung. 
2.  Aufl.  Berlin  1856  und  J.  K.  F.  Knaake:  Luthers  Lied  »Ein 
feste  Bürge  im  Jahre  1527  gedichtet,  in  Zeitschrift  Air  kirchliche 
Wissenschaft  und  kirchliches  Leben,  herausgegeben  von  Dr.  Chr.  E. 
Luthardt  Leipzig  1881.  S.  39-48;  ftir  1529  E.  Ooedeke:  Dichtun- 
gen von  D.  Martin  Luther.  Leipzig  1883.  S.  69,  und  Wagenmann, 
der  die  Einleitung  zu  Goedeke  geschrieben  hat,  dem  sich  auch  Fi- 
scher in  dem  Supplement  zum  Liederlexikon  1886.  S.  41  zuzuneigen 
scheint.  Der  Versuch  Bäumllers :  das  katholische  Kirchenlied  1886. 
I  S.  29  die  Melodie  zu  dem  Lutherliede  als  ein  Plagiat  von  einem 
alten  katholischen  Lectionarrecitativ  hinstellen  zu  wollen,  ist  vOliig 
gescheitert,  da  die  Melodien  des  alten  »Kölner  Lectionarsc  sämtlich 
neueren  Ursprungs  sind,  nämlich  aus  dem  18.  Jahrhundert  stammen, 
wie  unlängst  in  der  Mttnchener  Allgemeinen  Zeitung  nachgewiesen  ist 
Manche  der  in  vorliegender  Schrift  mitgeteilten  Uebersetzungen 
sind  grOfitenteils  Umdicbtungen,  dem  deutschen  Original  wenig  ent- 


Gujastak  Abalisch  ed.  Barthelemy.  775 

sprechend  z.  B.  die  beiden  holländischen  S.  30  nnd  31  von  Da  Costa 
nnd  von  J.  J.  L.  Ten  Eaten.  Mitunter  ist  das  Versmaft  verändert^ 
z.  B.  in  der  englischen  Uebersetzang  von  B.H.  Kennedy  1863  S.24, 
oder  die  vierte  Strophe  fehlt  wie  S.  20  in  der  englischen  Uebertra- 
gung  von  A.  T.  Bassell  1851.  Diese  Strophe  scheint  flberhanpt  den 
Uebersetzern  die  meiste  Mtthe  gemacht  zu  haben.  Die  mitgeteilten 
56  Uebersetzangen  gehören  folgenden  Sprachen  an:  hebräisch,  eng- 
lisohy  holländisch,  dänisch,  schwedisch,  französisch,  spanisch,  italie- 
nisch (dies  fehlt  im  Sprachenverzeichnis  S.'17  nnten),  lateinisch,  ras- 
sisch, polnisch,  böhmisch,  wendisch,  lettisch,  litauisch,  finnisch^ 
esthnisch,  ungarisch  (fehlt  ebenfalls  S.  17),  endlich  die  afrikanischen 
Dialekte:  Akra,  Tschi  ond  Zala  (S.  41).  Eine  nochmalige  Auflage 
dieser  Schrift  wflrde  sich  noch  mannigfach  yervollständigen  lassen. 
Möchte  es  dem  Verf.,  der  bisher  so  fleißig  gesammelt,  noch  vergönnt 
sein,  seine  Sammlung  zu  bereichern;  wir  wtlrden  ihm  gern  dazu  be- 
httlflich  sein. 

Altena.  Dr.  Biernatzki. 


Gnjastak  Abalish.  Relation  d'une  conference  th^ologique  präsid^e  par  le 
Galife  Mftmoun.  Texte  pehlvi  publik  ponr  la  premiere  fois  avec  tradaction, 
commentaire  et  lezique  par  A.  Barthelemy,  Ancien  £läve  de  l'^cole  des 
Hantes  Stades.  Paris,  F.  Yieweg,  Libraire-^diteur  67,  Rne  de  Richeliea,  67. 
1887.  (Forme  le  69''  Fascicule  de  la  Bibliothöque  de  l'^le  des  Hautes 
£:tude6).  —  80  S.  in  8^ 

Eine  musterhafte  Ausgabe  der  Disputation  zwischen  Atür-fam- 
bäg  Farruchzätän,  Peschpai  (Großpriester)  von  Pars,  und  dem  ver- 
fluchten (Ketzer)  Abälisch  über  Gegenstände  der  persischen  Religion. 
Das  Werkchen,  zu  derselben  Qattung  theologischer  Traktate  gehörig 
wie  Ulemä-i  IsiSm  und  ähnliche  von  Masndi  erwähnte,  war  bisher 
nur  dem  Namen  nach  bekannt  (s.  Hang,  Essais  108.  West,  Pahl. 
Texts  III,  XXVII),  nnd  ist  vom  Verf.  herausgegeben  nach  zwei  Ko- 
penhagner  Handschriften,  deren  eine  die  Abschrift  der  andern,  im 
14.  Jahrb.  geschriebenen,  ist,  und  einer  Pariser  vom  Jahr  1737.  Die 
Parsitransskription  weicht  in  der  Art  vom  Urtext  ab ,  daß  man  ein 
verlorenes  Pahlawimanuskript  voraussetzen  darf,  aus  welchem  un- 
sere älteste  Handschrift  nnd  jene  Transskription  abgeleitet  werden 
müssen.  Diese  gleichfalls  vom  Verf.  aus  Handschriften  zu  Mttnchen 
nod  Paris  entnommnen  Transskriptionen  in  Zend*  und  neupersischer 
Schrift  (sogenannten  Pazend  und  Parsi)  hat  er  zur  Bequemlichkeit 
des  Lesers  unter  den  Urtext  gestellt,  und  die  Uebersetznng  in  neu* 


776  Mit.  gel.  Aas.  1887.  Nr.  20. 

persiflebe  Sprache  nur  soweit,  als  sie  Toti  Pani  akweieht,  ia  FqA- 
noten  beigefügt;  in  einem  Kommentar  hat  er  sndem  die  fßmA- 
laatenden  Stellen  ans  den  Rivajat  aoagehoben  nnd,  wie  den  Urtext 
selbst,  ins  Franzöeisdie  ttbersetzt  Endlich  ist  anch  ein  Gtoesar  nnd 
ein  Index  der  Pahlawi Wörter  in  lateinisctaer  Schrift  beigefügt ,  so 
daA  sich  das  Buch  zar  Einftlhrong  in  das  Slndinm  des  PaUawi 
eignet. 

Der  Inhalt  der  Dispntation  hat  anr  insofern  Interesse  als  mso 
sieht,  mit  welch  anwichtigen  Dingen  sieh  die  Priester  besehlftigten, 
nnd  wie  spitzfindig  sie  sich  mit  den  Einwürfen  der  Vemnnft  gegen 
den  Dnalismns  nnd  mit  noch  geringfügigeren  Fragen,  wie  z.  B.  dem 
Dilemma  abfanden,  daß  man  das  Wasser  wegen  seinw  Heiligkeit 
nicht  an  Scbmntz  bringen  dürfe  nnd  doch  desselben  zor  Bainiging 
benötige.  Sie  hatten  hierin  bereits  Vorbilder  in  manchen  Olossen 
der  Pablawittbersetznng  des  Awesta. 

Geschichtlich  möglich  ist  die  Disputation;  der  GroBpriester  ist 
eine  Instorisehe  Person,  nnd  wenn  man  ihn  als  den  Vorgänger  Yon 
Hannstschithra  (881)  nnd  von  dessen  Vater  Gaschan  Jim  ansieht, 
wirklich  ein  Zeitgenosse  des  abbastdlschen  Ghalifen  llaman  (813— 
833),  anter  dessen  Vorsitz  die  Dispntation  geführt  wird  and  der 
aach  nach  andern  Zeagnissen  theologische  Kontroversen  zu  veran- 
stalten  pflegte;  dagegen  schreibt  der  Traktat  diesem  Fürsten  wohl 
zn  viel  Konnivenz  zo,  wenn  er  ihn,  den  Beschtttzer  des  Islam,  der 
Heinnng  des  zoroastrisohen  Priesters  seinen  voUkommnen  Beifall 
aosdrttcken  läftt. 

Der  Verf.  hat  einige  offenbare  Fehler  des  Textes  gllleUieb  ver- 
bessert; einige  Stellen  sind  wegen  verderbter  Lesarten,  resp*  Diffe- 
renz zwischen  Text  and  Transskription  einem  vollen  Verständnis  ai" 
zugänglich.  Nach  Anleitang  der  letztern  ist  vielleicht  S.  28, 2  (pas.: 
öün  man  nl^lHsniT  pa  du  bun  (Uta  fvat)  statt  des  vom  Verf.  gelese- 
nen Pahlawiwortes  giraviän  (Glanbe,  was  vielmehr  varoün  ist)  «ii- 
röün^  weiterhin  pun  du  bun-datahih  (vgl.  Dinkart  ed.  Peshotan  D. 
Behramji  III,  S.  132,  Z.  4.  5  vgl.  Jamaspji  D.  Minocheherji,  PaU. 
Diet.  22.  286)  za  lesen,  and  es  wflrde  zu  ttbersetzen  sein:  »wie  on- 
sere  Bestimmnng  aaf  zwei  Prineipien  (raht),  das  ist  ans  am  eignen 
Körper  offenbart  (versinnbildlicht)«,  da  er  nämUeh  dareh  die  bcilige 
Schnar  in  zwei  Hälften,  eine  gttttliohe  (intellektnelle)  nnd  eine  irdi- 
sche geteilt  ist  Die  Parsitransscription  scheint  als  letztes  Wort  des 
Vordersatzes  iaft  abzutrennen,  in  welchem  sie  aber  irrig  np.  iatni 
(wird)  siebt,  während  es  etwa  »gestützt,  berahead«  bedeaten  mlMe, 
als  Particip  zo  dem  später  folgenden  Sst^d  gehörig ;  ftlr  asta  (Friede) 
scheint  hier  keine  Stdle. 


Monumeota  med.  aey.  Poloniae^  tomus  IX.  777 

Von  selteeD  PahlawiwOrteni  erwftbneii  wir:  afeatar  (Mörder), 
^fvajifakaf^  (Fragen  anfwerfen,  im  Minoichirad  airoHnend,  Nerios. 
(»vtüokayantif  np.  dnreb  putan  (fragen)  Übersetzt),  ^raxfan  (wider- 
legen ;  da  man  die  Zeichen  auch  h&^axfan  lesen  kann,  so  würde  man 
an  armen,  herk'd  erinnert,  welcbes  de  Lagarde  indessen  mit  med. 
pareq  (kämpfen)  zusammengestellt  hat);  ferner  mödäk  (Schab,  np. 
mö0ahf  sonst  im  Pahl.  müh)]  die  Drnj  Nasa  beißt  nasruSt^  vielleicht 
mit  Anspielang  anf  den  Namen  ihres  Gegners  SraoSa^  S.  49.  So- 
dann ist  Abälisch  als  bisher  nicht  bekannter  pers.  Name  za  nennen; 
da  die  herkömmliche  Lesang  vielleicbt  darch  die  richtigere  Abäläg 
zn  ersetzen  ist  (S.  7,  Z.  1),  so  konnte  man  an  np.  dbarähy  avOrah 
denken,  welches  n.  a.  »heimatlos,  umherschweifend«,  sodann  »Ein- 
siedler« bedeutet  und  in  der  Bedeutung  »Prophet«  aas  dem  Ttirki- 
scfaen  ins  Awarische  ttbergegangen  ist  (Schiefner  S.  90).  Endlich 
sei  bemerkt,  daB  der  Ghalif  amfr  mUtninln  heißt,  während  die  altern 
omajjadischen  Mttnzen  amfr-i  varöiänigOn  zeigen. 

Harburg.  Ferd.  Justi. 

Monumenta  medii  aevi  historica  res  gestas  Poloniae  illnstran- 
tia.  Tomas  IX  continet  Codicis  diplomatic!  Poloniae  minoris  Partem  se- 
eandam  11 58— 1888  [a.  n.  d.  T. :  Koddn  dyplomatyczny  Matopolski.  Tom  n 
wydat  1  prgypisami  objainit  Dr.  Franciszek  PiekosiÄski.  w  Erakowie  na- 
ktadem  akademii  umiejf tnosci  Erakowskiej  1886].  LYI,  874  S.,  1  Tafel  4^ 
14  Mark. 

Im  Jahre  1876  veröffentlichte  Dr.  Franz  Piekosinski  im  Auf- 
trag« der  historischen  Kommission  bei  der  Krakauer  Akademie  als 
dritten  Band  der  Monumenta  medii  aevi  bistoriea  ein  Urkundenbuch 
für  EJetn- Polen,  welches  in  371  Nummern  das  damals  bekannte 
Material  bis  zum  Beginn  der  Jagellonenherrsebaft,  1386,  hinabführte. 
Diesen  verbältnismäBig  geringen  Umfang  verdankte  die  Sammlung 
dem  Umstände,  daA  nicht  nur  ftlr  das  Bisthum  und  die  Stadt  Krakau 
andere  Bände  der  Monumenta  bestimmt  waren,  sondern  auch  die 
gröBeren  Klöster,  wie  das  alte  Benediktinerkloster  Tyniec  und  das 
Ciatereienserkloster  Mogita  (Clara  Tumba)  bei  Krakau  besondere  Ur- 
knadenwerke  bereits  besaAen,  welche  den  letzten  Jahrzehnten  ange- 
hörten und  den  Fortschritten  der  diplomatischen  Wissenschaft  und 
der  bietorischen  Kritik  vollauf  Becbnnng  trugen.  Letzteres  war  aber 
Hiebt  der  Fall  bei  dem  im  Jahre  1634  in  Krakau  erschienenen,  flir 
seine  Zeit  die  höchste  Anerkennung  verdienenden  Werke  Nakielskis 
Ober  das  Stift  der  Brüder  vom  heiligen  Grabe  zu  Miecfaow,  das  zahl- 
reiebe  Urkunden  in  die  Oeschichtserzählung  aufgenommen  hat  und 
dadnreb  fttr  den  polnischen  Historiker  eine  sehr  wichtige  Quelle, 


778  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  20. 

aber  inzwischen  so  selten  and  thener  geworden  ist,  daS  es  aoSer- 
halb  der  früher  za  Polen  gehörenden  Landestheile  sich  kaum  an- 
treffen läßt.  Deshalb  beschloß  die  historische  Kommission,  was  sie 
eigentlich  schon  1876  hätte  than  sollen,  die  von  Nakielski  edierten 
Urkanden  von  Neaem  abdrucken  zu  lassen,  and  lieft  darch  den  be- 
währten Herausgeber  jener  ersten  Sammlang  und  der  Krakauer  Ur- 
kundenbttcher  zu  diesem  Stamm  das  nicht  anbeträchtliche  weitere 
Material  hinzufügen,  das  diesem  in  den  10  Jahren  ans  Archiven, 
Bibliotheken  und  Druckwerken  an  kleinpolnischen  Urkunden  zuge- 
flossen war.  So  ist  der  vorliegende  Band ,  welcher  den  nen  gesam- 
melten Stoff  bis  zum  Tode  Wladyslaw  Lokieteks  (1333)  enthält  nod 
dem  noch  ein  zweiter  bis  1386  folgen  soll,  entstanden.  Er  hat  die 
historische  Litteratur  Osteuropas  um  ein  wichtiges  und  vortrefiich 
gearbeitetes  Urkundenbach  bereichert,  aber  auch  die  Unübersicht- 
lichkeit der  polnischen  Codices  diplomatici  weiter  gesteigert  Die 
von  verschiedenen  Seiten  nach  verschiedenen  Gesichtspunkten  seit 
1840  unternommenen  Publikationen  mittelalterlicher  Diplome  in  Po- 
len bilden  heute  schon  eine  kleine  Bibliothek  ftar  sich,  beschränken 
sich  teils  auf  einzelne  geistliche  Korporationen,  wie  die  eben  ange- 
führten, wollen  das  Gebiet  der  alten  Landschaften,  wie  Groft-  und 
Kleinpolen,  Masovien,  umfassen,  oder  erheben  auch  den  Anspruch 
das  ganze  alte  Königreich  in  ihren  Rahmen  zu  ziehen,  wobei  dann 
der  größeren  geographischen  Ausdehnung  leider  nur  die  gröBere  Ud- 
Vollständigkeit  entspricht.  Am  bequemsten  für  die  Benutzung  ist 
jedenfalls  das  neue  groftpolnische  Urkundenbnch,  von  1877—81  in 
4  Quartbänden  bis  1399  von  der  Gesellschaft  der  Freunde  der  Wis- 
senschaften zu  Posen  herausgegeben:  hier  findet  man  ohne  Aus- 
nahme alle  groApolnischen  Diplome,  gleichviel  wo  sie  früher  abge- 
druckt waren,  zusammen;  wer  mit  kleinpolnischen  Dingen  zu  thno 
hat,  braucht  neben  den  drei  getrennten  Urknndenbüchern  Piekosin'skis 
noch  die  von  Tyniec  and  Clara  Tumba  and  kann  auch  die  alte 
Sammlang  von  Rzyszczewski  und  Muczkowski  (1847 — 58)  nicht  ent- 
behren. Möchte  wenigstens  das  vor  13  Jahren  in  der  Krakauer 
Akademie  erörterte  Projekt,  Begesten  über  dieses  weitzerstreote  Ma- 
terial anzniegen  und  zu  veröffentlichen,  znr  Ausführung  gelangen! 

Der  vorliegende  zweite  Band  des  Codex  diplomaticus  Minoris 
Poloniae  enthält  248  Urkunden  (von  12  im  Anhang  mitgeteilten 
Fälschungen  meist  des  17.  Jahrhunderts  sehe  ich  dabei  ab),  von 
denen  126  bisher  noch  angedruckt,  dagegen  123  bereits  bekannt 
waren,  darunter  allein  38  aus  Nakielski:  im  Original  sind  noch  75 
erhalten,  die  ttbrigen  stammen  zum  kleineren  Teil  ans  Transsumpten, 
zum  größeren  aus  Kopialbttchem ,  von  denen  das  der  Klarisserinnen 


Monamenta  med.  aev.  Poloniae,  tomas  IX.  779 

ZU  Alt-Sandecz  ans  dem  Jahre  1681  (welchem  47  Nnmmern  entnom- 
meo  sind)  obenan  steht.  Die  Originale  finden  sich,  da  in  Polen  die 
gro0en  Privatsammlnngen  teilweise  an  die  Steile  der  öffentlichen  nnd 
Eorporations-Archive  getreten  sind,  in  den  Bibliotheken  des  Grafen 
Rnsiecki  za  Warschau  (12,  alle  ftlr  Miechow),  des  Fürsten  Gzartoryski 
zu  Krakan  (13 ,  11  f)lr  Miechow,  je  eine  für  Alt-Sandecz  nnd  die 
Cistercienser  za  Sulejow),  des  Grafen  Przezdziecki  za  Warschau  (2, 
für  Sulejow  und  Sandomir),  des  Grafen  Krasinski  zu  Warschau  (1 
fttr  die  Cistercienser  von  Wf^chock),  des  Grafen  Lanckoron  zu  Rozdole 
(1)  und  des  Fttrsten  Sangusko  in  Gnmniski  (1),  bei  29  Originalen 
war  der  Herausgeber  verpflichtet,  den  gegenwärtigen  Besitzer  nicht 
zu  nennen.  Aus  dem  Warschauer  Hauptarchiv  sind  10  Originale 
(7  fttr  Miechow,  je  eins  fttr  W%chock,  Sulejow  und  Eoprzy  wnica)  ent- 
nommen, während  die  EopialbOcher  dieses  Archivs,  die  Metryka  ko- 
rony,  18  Nummern  geliefert  haben.  In  den  Stadtarchiven  von  Po- 
doliniec,  Bochnia,  Lublin  und  Wieliczka  fanden  sich  nur  7  Num- 
mern (8  -f- 1  -f  2  4- 1)9  ii^  der  Krakauer  Universitäts-Bibliothek  noch 
1  Nummer.  Aus  anderen  Landestheilen  ergab  das  Eapitelsarchiv 
zu  Gnesen  1  Sttlck,  das  Staatsarchiv  zu  Posen  3,  das  Stiftsarchiv 
zu  Trzemesno  2,  das  Eapitelsarchiv  zu  Wtoctawek  6  und  ein  Ko- 
pialbuch  von  Czerwinsk  1.  Von  entfernteren  Sammlungen  gewähr- 
ten die  Archive  zu  Breslau  die  größte  Ausbeute,  11  Nummern,  je  1 
Stttek  fand  sich  zu  Beuthen  (dessen  Hospital  dem  Stifte  Miechow 
gehörte),  im  Gulmer  Diöcesanarchiv  zu  Königsberg  und  in  der  kai- 
serlichen Bibliothek  zu  Petersburg:  der  letzteren  gehört  auch  das 
Eopialbuch  von  Koprzywnica,  welchem  6  Nnmmern  entlehnt  wurden, 
während  die  Eopialbttcher  von  J^drzejow  (mit  4),  Stani^tek  (mit  9), 
Wfchock  (1)  und  der  Dominikaner  in  Krakau  (1)  sich  noch  in  ih- 
ren Stiftern  befinden.  Mit  dieser  Uebersicht  über  die  Herkunft  des 
im  2.  Bande  enthaltenen  Stoffes  ist  zugleich  angedeutet,  auf  welche 
Stifter  sich  derselbe  hauptsächlich  bezieht:  die  Mehrzahl  der  abge- 
druckten Dokumente  gehört  Miechow  und  Alt-Sandecz  an,  während 
im  ersten  Bande  (1876)  hauptsächlich  die  Urkunden  der  Dominika- 
ner und  Franziskanerinnen  von  Krakau,  der  Cistercienser  von  J^dr- 
zejow  und  Szczyrzyc  zum  Abdruck  gelangten.  Der  Zeit  nach  ver- 
teilen sich  die  248  Nummern  des  zweiten  Bandes  dergestalt,  daß  5 
dem  12.,  171  dem  13.  und  72  dem  14.  Jahrhundert  zufallen.  Aus- 
gestellt sind  von  diesen  Urkunden  114  von  kleinpolnischen  Fürsten 
(Lesko  der  Weiße  ist  mit  3  Nummern  vertreten,  seine  Gemahlin 
Grzymislawa  mit  2,  Conrad  von  Masovien  und  seine  Söhne  mit  12, 
Boleslaw  der  Keusche  mit  35,  seine  Gemahlin  Kunigunde  mit  9, 
Lesko  der  Schwarze  mit  12,  seine  Gemahlin  Griphina  mit  6,   Prze- 


780  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  20. 

myslaw  IL  mit  2,  Wenzel  II.  von  Böhmen  mit  6,  WladjBlaw  Lokietek 
mit  26|  seine  Gemahlin  Hedwig  mit  1  Nummer),  7  von  schlesischen 
Fürsten,  1  von  Herzog  Wenzel  von  Masovien:  13  Urkunden  sind 
von  Baronen,  22  von  polnisehen  Bischöfen,  3S  von  Aebten,  Domherren 
und  anderen  geistlichen  Würdenträgern  gegeben.  Unter  45  Bullen 
finden  sich  zahlreiche,  die  als  Ergänzung  zu  Pottbasts  Begesten  die- 
nen, 5  Nummern  stammen  von  päpstlichen  Legaten. 

Die  Art  der  Ausgabe  entspricht,  v^ie  in  den  früheren  Pablika- 
tionen  Piekosinskis,  allen  Anforderungen,  welche  die  heute  so  ausge- 
bildete Lehre  von  dem  mittelalterlichen  Urkundeowesen  an  derartige 
Sammlungen  zu  stellen  berechtigt  ist  Eine  umfangreiche  Einleitung 
weist  die  eben  angeführten  Quellen  nach  und  bespricht  die  Kopial- 
bttcher,  drei  sorgfältige  Register  (zu  denen  allerdings  im  Kwartalnik 
historyczny  I,  1  Lwöw  1887  p.  81  einige  Ergänzungen  beigebracht 
werden)  der  Personen,  Orte  und  Bechtsausdrttcke  erleichtem  die  Be- 
nutzung, jeder  Urkunde  geht  ein  lateinisches  Regest  voran  und  folgt 
eine  sehr  genaue  Erklärung  der  Ortsnamen,  auch  wenn  dieselben 
Ortschaften  öfters  vorkommen ,  ein  Verfahren ,  das  allerdings  viel 
Raum  in  Anspruch  nimmt ,  aber  dem  Leser  gestattet ,  sich  an  jeder 
SteUe,  ohne  erst  im  Register  suchen  zu  müssen,  von  der  Lage  der 
in  Frage  stehenden  Oertlichkeiten  zu  überzeugen.  Die  Textgestal- 
tnng  zeigt  im  Gebrauch  der  großen  Anfangsbuchstaben  jetzt  größe- 
ren Anschluß  an  das  in  Deutschland  gebräuchliche  Verfahren ;  wäh- 
rend Piekosinski  früher  alle  Willkttrlichkeiten  der  mittelalterlichen 
Schreiber  im  Druck  wiedergab ,  beschränkt  er  sich  jetzt  darauf,  u 
und  t;,  e  und  t  genau  nach  der  Vorlage  zu  geben ,  dagegen  in  spä- 
teren Kopien  die  mittelalterliche  Orthographie  (e  für  ae)  durchzuftlb- 
ren,  was  ich  ftlr  durchaus  berechtigt  halte.  Die  erklärenden  Noten 
(in  polnischer  Sprache)  nehmen  besonders  im  Anfang  häufig  den 
Charakter  kleiner  Abhandlungen  an,  so  zu  N.  372  (über  die  Datie- 
rung der  Stiftung  von  Brzeznica),  N.  373  (die  Siegel  des  12.  Jahr- 
hunderts), N.  374  und  380  (die  ältesten  Schenkungen  von  J§drzejow), 
N.  387  (die  Kreuzfahrt  nach  Preußen  von  1223),  N.  427  (das  Itine- 
rar  Conrads  von  Masovien),  und  zeigen  überall,  daß  der  Herausgeber 
den  Stoff  meisterhaft  beherrscht. 

Wenden  wir  uns  nach  dieser  Uebersioht  über  den  Inhalt  des 
Urkundenbuches  den  einzelnen  Dokumenten  zu,  so  geben  manche 
von  ihnen  hin  und  wieder  zu  Betrachtungen  Veranlassung.  In  N.  386, 
einer  Zehntenschenkung  des  Erzbischofs  Vincenz  von  Onesen  f&r 
Jfdrzejow  aus  dem  Jahre  1221,  erwähnt  der  Aussteller  seinen  Vor- 
gänger bone  memorie  Johannes  quondam  archiepisccpus  ecdesie,  cm 
Deo  annuente  nunc  presideo :  das  erinnert  an  eine  Stelle  in  der  Ghro- 


Monamenta  med.  aev.  Foloniae,  tomus  IX.  781 

Dik  des  Magister  Vincentins,  der  von  1218—23  als  HOnch  im  Klo- 
ster J^drzejow  lebte:  III,  10  (Bielowski,  Hon.  Pol.  II,  336)  Erat 
enim  eitisdem  sande  Ghteenensis  ecclesie,  cut  tu  presides^  archipantifez 
Martinus.  In  der  eben  erwähnten  ausführlichen  Note  zn  N.  387 
(1223  Schenkung  des  Dorfes  Malininov  durch  Lesko  von  Erakan 
an  Bischof  Christian  von  Preußen)  glaubt  Piekosinski  die  Lage  die- 
ses oft  gesuchten  Ortes  durch  Matyn  am  Ner  im  Gebiet  von  Sieradz 
bestimmen  zu  können,  da  Sieradz  zum  Anteil  Leskos  gehört  habe: 
nur  50  Kilometer  westlich  davon,  jenseits  der  Warte,  liegt  das  dem 
Bischof  früher  von  Wladyslaw  Odonicz  verliehene  Dorf  Gekoviz  bei 
Kalisch,  so  daß  diese  Bestimmung  allerdings  wahrscheinlicher  ist, 
als  alle  anderen  bisher  versuchten.  Sehr  wichtig  ist  N.  389,  bisher 
noch  ungedruckt  und  im  Origlual  erhalten:  Herzog  Lesko  schenkt 
dem  Kloster  Snlejow  das  Dorf  Lqczuo,  1224  22.  Sept.  in  Prudov 
(vielleicht  Pr^dzewo  no.  von  L^czyca,  P.  hat  den  Ort,  den  er  in  heutiger 
Schreibweise  durch  Pr^döw  wiedergibt,  nicht  ermittelt):  Zeuge  und 
Mitbesiegeler  ist  neben  Bischof  Ivo  von  Krakan  auch  der  preußische 
Bischof  Christian,  der  bisher  vom  6.  August  1223  bis  27.  Mai  1227 
nicht  nachweisbar  war;  ein  früherer  Besitzer  des  Dorfes  Graf  Cho- 
cemir  erhält  vom  Abte  80  marcas  fusi  et  pu/ri  argenti  et  quinque  Et" 
fordienses^  quod  didtur  latum^  es  wird  hervorgehoben,  daß  er  in  Ge- 
genwart des  Herzogs  super  eadem  heredüate  aquam  äbrenunciacionis 
hibissetj  der  Herausgeber  hält  die  Urkunde  trotz  des  aufßUligen  Ti- 
tels nos  Lestco  dux  Cracome  für  echt :  den  Ausdruck  cargentutn  fusum 
vermag  ich  «so  früh  in  polnischen  Urkunden  nicht  nachzuweisen» 
auch  ist  die  Erwähnung  der  Erfurter  Münze  dunkel.  Wichtig  ftir 
die  Vorgänge  nach  Leskos  Ermordung  am  22.  November  1227  ist 
N.  393  vom  6.  December  1227  zu  Krakan  von  der  Wittwe  des  Her- 
zogs Grzymislawa  fQr  Sulejow  erlassen,  unter  den  Zeugen  erscheint 
Herzog  Konrads  von  Hasovien  zweiter  Sohn  Kasimir,  der  also  sofort 
nacb  dem  Tode  des  Oheims  nach  Krakau  geeilt  zu  sein  scheint 
N.  394,  Bulle  Gregors  IX.  für  Miechow  Datum  Borne  II  nonas  Man 
pant  no^i  anno  secundo  paßt  nicht  ins  Itinerar  des  Papstes,  der 
sich  nacb  Potthasts  Reg.  pont.  vom  25.  April  bis  10.  Mai  in  Rieti 
anf hielt,  auch  kommt  bei  Rome  in  Bullen  gewöhnlich  noch  apud  8. 
Petrutn  hinzu.  Da  die  Bleibulle  erhalten  ist,  kann  das  Dokument 
nur  von  Gregor  IX.  herrühren.  In  N.  402 ,  einer  bisher  unbekann- 
ten Schenkung  Herzog  Konrads  von  Masovien  vom  12.  April  1232, 
die  später  an  das  Nonnenkloster  Staniftek  Obergieng  und  daher  in 
dem  Kopialbuch  desselben  erhalten  ist,  wird  der  Erzbischof  von 
Gnesen  erwähnt :  coram  domino  fratre  archiqnsccpo  Qnemensi^  was  der 
Herausgeber  in  patre  verbessert,  vielleicht  bat  im  Original  nur  F.  gc- 


782  Qött.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  20. 

Standen  und  ist  F[ulc(me]  zn  ergänzen.  N.  408,  1233  Mai  3.  Her- 
zog Eonrad  von  Erakaa  nnd  Masovien  transsnmiert  and  bestätigt 
die  Urkunde  Leskos  von  1224  fttr  Sulejow,  die  wir  oben  besprochen 
haben,  hält  der  Herausgeber  für  eine  Fälschung  aus  der  zweiten 
Hälfte  des  13.  Jahrhunderts  nach  einer  ihm  von  Dr.  ÜUtnowski  in 
Erakau  (der  Aufbewahrungsort  des  Originals  ist  eine  ungenannte 
Privatsammlung)  mitgeteilten  Beschreibung :  das  wäre  ein  Verdachts- 
grund auch  gegen  das  Dokument  Leskos  (389).  Zwischen  413  und 
414  fehlt  die  bei  Nakielski  160  abgedruckte  Schenkung  des  Dorfes 
Smroköw  durch  den  Erakauer  Dompropst  Vitus  an  Miecbow  vom 
15.  August  1236,  deren  Echtheit  wohl  unbeanstandet  ist,  wenigstens 
stimmen  die  in  derselben  genannten  Krakauer  Prälaten  mit  anderen 
Dokumenten.  Interessant  ist  die  Erwähnung  des  Magdeburger  Rechts, 
qtio  cives  Cracovienses  et  Sandomirienses  utuntur^  in  einer  Schulzen- 
urkunde Boleslaws  des  Keuschen  fttr  Podoliniec  bereits  von  1244 
(425),  während  Erakau  erst  1257  sein  Stadtrechtsprivilegium  erhielt, 
P.  weist  zur  Vertheidigung  dieser  Urkunde  S.  74  auf  ähnliche  Ve^ 
bältnisse  in  Breslau  hin.  Die  große  Note  mit  dem  Itinerar  Konrads 
von  Masovien  zu  N.  427  wurde  schon  erwähnt:  zu  berichtigen  ist 
in  derselben  S.  76  die  Erwähnung  des  pommerellischen  Wyszegrod 
am  Einfluß  der  Brahe  in  die  Weichsel  (1231  Sept.  17,  dum  edifica- 
retur  a  duce  Cunrado  castrum  Wisegrody  in  Smarsotcuf  =  Smard- 
zewo  bei  Ptock,  heißt  es  in  einer  Urkunde  fttr  Clara  Tnmba),  dss 
sich  damals  im  Besitz  Swantopolks  von  Pommerellen  befand  (Pom- 
merell.  Urkdb.  n.  45),  hier  handelt  es  sich  um  die  masovische  Burg  ge- 
genüber der  Bzuramttndung.  Zwischen  N.  445  und  446  hätte  die 
altpreußische  Monatsschrift  X  (1873)  S.  500  von  mir  aus  einer  theo- 
logischen Handschrift  (saec.  14)  der  Königsberger  Universitätsbiblio- 
thek (N.  1160)  mitgeteilte  Schenkung  an  das  Dominikanerkloster  in 
Sandomir  von  1255  eine  Stelle  verdient,  da  sie  das  älteste  Zeugnis 
ttber  die  Dominikaner  und  die  [deutsche]  Bflrgerschaft  dieser  Stadt 
zu  sein  scheint,  sodann  auch  dazu  dient,  die  Reihenfolge  der  Prälaten 
des  KoUegiatstiftes  zu  Sandomir  zu  berichtigen :  die  hier  als  Zeugen 
genannten  Propst  Jascotlo,  Dekan  Adalbert,  Cantor  Petrus  und  Gustos 
Benedikt  erscheinen  auch  in  einem  Dokument  des  Bischofs  Prandota 
von  Krakau  von  1248  (Cod.  dip.  min.  Pol.  I  n.  30),  werden  aber 
von  Piekosinski  im  Register  als  Krakauer  Domherren  angesehen. 
N.  453,  Schenkung  Wladyslaws  von  Oppeln  an  Miecbow  von  1257 
ist  in  deutscher  Uebersetzung  bei  Gramer,  Chronik  der  Stadt  Beuthen 
in  Ober-Schlesien  (Beuthen  1863)  S.340  gedruckt  und  daselbst  S.23 
n.  2.  bemerkt,  daß  der  in  der  Urkunde  vorkommende,  jetzt  nicht 
mehr  auffindbare  Ortsname  Baldbreee  als  Bezeichnung  einer  Stelle 
des  Prymsaflusses  (Biatobrzezie)  bei  Brzenskowitz  fortlebt.     Unter 


Monumenta  med.  ae?.  Poloniae,  tomus  DC.  788 

N.  457  wird  der  interessante  Brief  des  Abtes  B.  von  Qvda  an  den 
Abt  N.  von  Welegrad  über  den  Tatareneinfall  in  Polen  von  1260 
mitgeteilt,  den  Pertz  aas  einer  Eornenbarger  üandschrift  abschrieb, 
Grflnbagen  zuerst  in  den  scfalesischen  Regesten  (II  n.  1023)  im  Aus- 
züge brachte,  dann  Wattenbacb  im  Neaen  Archiv  II  626  and  nach 
ihm  Ulanowski  in  den  Krakauer  Sitzungsberichten  (Rozprawy  i 
sprawozdania  XVIII,  298)  vollständig  herausgaben :  bei  der  Deutung 
des  wunderlichen  Namens  Qvda  möchte  ich  mich  doch  entschieden 
der  Ansicht  Grttnhagens,  welche  die  übrigen  Forscher  mehr  oder  we- 
niger bezweifeln,  anschließen,  daß  Rvda  zu  verbessern  sei:  Räuden 
liegt  gerade  zwischen  Welegrad  und  den  Gegenden,  deren  Verwü- 
stung geschildert  wird:  wenn  auch  der  erste  bekannte  Abt  von  Ran- 
den 1263  Petrus  heißt,  so  kann  1260  immerhin  eiuR.  an  der  Spitze 
des  Klosters  gestanden  haben.  In  N.  473,  477  und  483,  Urkunden 
Boleslaws  des  Keuschen  für  Polaniec  1264,  W^chock  1271,  Miechow 
1277,  von  denen  die  erste  und  dritte  von  dem  Unterkanzler  Twar- 
doslaus  ausgehändigt  sind,  beginnt  die  Arenga  mit  einem  Hexameter : 
Omnia  trahü  secum  vdvitque  vdlubile  tempus.  Bei  N«  500,  Ablaßbrief 
von  12  Bischöfen  für  die  Minoriten  und  Klarisserinnen  in  Polen  und 
Böhmen  (aus  dem  Copiarium  von  Alt-Sandecz)  ist  im  Regest  1284 
statt  1285,  wie  am  Schlüsse  der  Urkunde  steht,  wohl  nur  Druckfeh- 
ler, dagegen  können  die  falschen  Lesarten  der  Handschrift  JBena2c2t45 
Messenensis  und  Lohertus  Ästensis  mit  Hülfe  von  Gams  Series  episco- 
porum  ecclesiae  catholicae  in  Beginaldus  und  Obertus  verbessert  werden : 
von  den  12  Bischöfen  sind  10  Italiener,  einer  (Andreas  Asloensis) 
ein  Norweger,  Robertus  Rossensis  ein  Schotte.  Der  Ablaßbrief  selbst 
ist  am  päpstlichen  Hoflager  zu  Perugia,  vier  Tage  vor  dem  Tode 
Martins  IV.  ausgestellt.  In  N.  515,  Privilegium  Przemyslaws  11.  fttr 
Wieliezka  von  1290,  ist  in  der  Arenga  Dum  vivü  littera  vivit  et 
actio  das  erste  vivity  wohl  aus  Versehen,  ausgefallen.  Schwierigkei- 
ten bereitet  die  chronologische  Einreihung  von  N.  520,  Schenkung 
des  Kastellans  Bogota  von  Krakau  an  das  Heiligegeiststift  daselbst, 
besiegelt  von  Herzog  Boleslaw  von  Oppeln  capitaneatum  Cracovien- 
sem  tenentis  und  Bischof  Johann  von  Krakau,  die  nur  aus  Dtngoß 
liber  beneficiorum  dioecesis  Cracoviensis  stammende  Urkunde  trägt  das 
unmögliche  Datum  M.  GG.  XXII,  welches  Piekosinski  durch  Verwand- 
lung der  zweiten  X  in  0  in  1292  verbessert,  wobei  aber,  wie  er 
selbst  zugibt,  nur  der  Aussteller,  aber  nicht  die  Zeugen  stimmen : 
letzteres  ist  der  Fall,  wenn  wir  die  erste  X  in  C  ändern,  dann  würde 
sich  M.  GGG  XII  ergeben,  die  Zeit  des  bekannten  Krakauer  Auf- 
Standes  gegen  Wladyslaw  Lokietek,  aus  welcher  freilich  ein  Krakauer 
Kastellan  Zegota  ebensowenig  bekannt  ist  (anscheinend  aber  auch 
jLein  anderer),  wie  eine  Statthalterschaft  Boleslaws  von  Oppeln  im 


784  Oött  gel.  Adz.  1887.  Nr.  20. 

Jahre  1292.  Die  Urkande  würde  dam  ein  iatereasantes  Sdteiifltfiek 
zu  N.  557  BeiD,  in  welcher  am  17.  April  1312  Wladyslaw  die  asf- 
siäDdischen  Bürger  hei  Gelegenheit  einer  Sebenknng  an  Att-Sandees 
aller  Privilegien  für  yerlastig  erklärt  Wichtig  für  diplomatiaebe  Fra« 
gen  ist  N.  573,  Neaaasfertigang  eines  Privüeginms  Wladyslaws  Lo- 
kietek  für  W^chock  unter  nenem  Siegel,  1318  18.  Juni:  die  Zeugen 
gehören  diesem  Jahre  an,  der  Tenor  der  Urkunde  stammt  abo*  aas 
viel  älterer  Zeit,  weil  der  1294  von  den  Litaaera  erschlagene  Bra* 
der  Wladyslaws,  Kasimir  von  Cajavien,  noch  als  ein  Lebender  er- 
wähnt  wird.  Bedenklich  scheint  N.  575,  eine  nar  ans  Paproeki, 
Herby  (ed.  1858)  p.  66  stammende  Anssetznog  zu  deatsebeoi  Beeht» 
in  welcher  der  Aussteller  Palatin  Navogius  von  Sandomir  am  ScUune 
als  Aushändiger  {Datum  per  mantis  dni  Navogii  etc.)  genannt  iat 
Den  vom  Heransgeber  zu  592,  1326,  vergebens  gesochten  Ort  Oaotys 
im  Archidiaconat  Lublin,  dessen  Zehnten  vom  Bischof  Naiiker  Ten 
Krakau  dem  Kloster  Lysagöra  zugesprochen  werden,  mOcbte  ich  in 
Gzutczyce  östlich  von  Lublin  finden.  N.  603,  1331,  ist  wohl  mehr 
eine  Quittung  über  den  von  den  Klarisserinnen  von  Alt-Saadena  g^ 
zahlten  Peterspfennig  als  eine  Befreiung  zu  nennen,  wie  ea  im  Be- 
gest  heißt.  Ob  der  Abdruck  der  Nrn.  608—619«  Fälschungen  meint 
neueren  Ursprungs,  erforderlich  war,  möchte  ich  bezweifeln,  aie  tia- 
gen  doch  deutlich  das  Gepräge  ihrer  Entstehung  an  der  Stini^  wie 
wenn  in  616  zu  1308  die  Türken,  in  619  zu  1313  ein  Maltaeemtter 
vorkommen.  Leider  ist  der  Herausgeber  zu  spät  auf  den  Beiehtom 
der  Breslauer  Archive  an  kleinpolnischen  Urkunden  aufmerksam  ge- 
worden und  hat  daher  erst  in  einem  Nachtrag,  der  aber  der  Einlei- 
tung angefügt  ist  und  (mit  besonderem  Register)  dem  Haaptteile  des 
Bandes  vorangeht,  die  von  dort  erhaltenen  Nrn.  620 — 631  (vier  nUa- 
men  aus  anderen  Quellen)  mitteilen  können.  Denselben  ist  noch  ein 
Verzeichnis  von  verlorenen  Urkunden  beigegeben^  von  denw  sich  7 
auf  Sandecz,  26  auf  Miechow  beziehen:  vielleicht  briAgt  aneb  dieee 
noch  einmal  ein  glücklicher  Zufall  ans  Licht  Wie  viel  die  Kennt- 
nis des  polnischen  Urkundenwesens  und  der  Vorrat  an  vortrefflich 
pnblicierten  Dokumenten  durch  diesen  Band  Piekosinakis  gewennea 
haben,  wird  keinem,  der  ihn  benutzt,  entgehn.  Den  deutschen  Histo- 
riker werden  die  zahlreichen  Verleihungen  des  Magdeburger  'Bnebts, 
auf  die  ja  schon  für  jene  Gegend  am  NordaUiange  der  Ka«pathen 
vor  30  Jahren  Boepell  hingewiesen  hat,  ganz  besonders  interooaieroBL 
Halle,  März  1887.  it.  Feclbaeli. 

FHT  dio  Sedakiion  Terantwortlicb :   Prof.  Dr.  BgekUl,  Direktor  der  Gdtt.  gel.  4at., 
Aweaeor  der  X&nigUchen  OeeelleebafI  der  WlwMiwhnfte». 
feriao  der  DüUricVschtn  Ymiag$-Bmckh«mäkm9, 
Üruds  dtt  Di€Urich*Khen  Umt.-Mchdittckttti  (Fr.  W,  KaeäatmJ. 


.  ■>  :>  ■ 


786 


Göttingische 

gelehiMie  Anzeigen 

anter  der  Aufsicht 

derKönigl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Nr.  21.  15.  Oktober  1887. 


Preis  des  Jahrganges :  JL  24  (mit  den  »Nachrichten  d.  k.  G.  d.  Wiss.c :  JL  27). 
Preis  der  einzelnen  Nummer  nach  Anzahl  der  Bogen:  der  Bogen  50  ^ 

Inliftlt :  Tudareifl  und  Flordib«!.  Heraugegeben  von  K  h  n  11.  Yen  SUtimir^»  —  O  e  ■  ■,  Christi 
Person  and  Werk.  3.  Abt.  Ton  I>ü8tmUeek,  —  Thävenin,  Collection  de  textee  ponr  serrir  k  Te- 
tnde  et  4  renseignement  de  TUstoire.    Ton  SiduL 

=  EigeimSohtiger  Abdraek  von  Artikelo  der  G9tt  gel.  Aizeige«  verboten.  :^ 


Tandareis  and  Flordibel.  Ein  höfischer  Roman  von  dem  Pleiaere.  Heraus- 
gegeben Yon  Ferdinand  Ehull.  Graz,  Yerlags-Buchhandlung  Styria 
1885.    248  S8.    gr.  8^    8  Mark. 

Es  ist  za  bedanem,  daß  von  den  drei  Artasromanen  des  Fleiers 
der  früheste  and  beste,  der  Oarel  (G.)^  bisher  keine  Aasgabe  erfah- 
ren hat,  obwohl  fUr  denselben  neben  der  späten  Linzer  Hs.  reichliche 
Brachstücke  eines  alten  Meraner  Codex,  welche  A.  Ooldbacher 
Germ.  8,  89  ff.  (G.  G.)  and  I.  V.  Zingerle  in  den  Sitzangsberichten 
der  Wiener  Akademie  phil.-hist  Kl.  Bd.  50,  449  ff.  (G.  Z.)  bekannt 
machten^),  zar  Verfttgang  stehn  and  somit  ein  viel  gesicherterer 
Text  für  diese  Erzählang  sich  gewinnen  läßt  als  fttr  den  nar  in 
Hanaskripten  des  15.  Jahrhunderts  überlieferten  Meleranz  oder  Tan- 
dareis. Allerdings  legte  1881  M.  Walz  im  Jahresbericht  des  aka- 
dem.  Gymnasiams  za  Wien  die  Probe  einer  Edition  vor;  aber  sie 
misriet,  wie  allgemein  anerkannt  warde,  so  vollständig,  daß  ihr  Aa- 
tor  für  sich  nnd  für  die  Sache  gut  that,  aaf  jede  Fortsetznng  za 
verzichten.  Den  weit  schlechteren  Meleranz  (M.)  veröffentlichte 
E.  Bartsch,  Stattgart  1861,  and  über  den  Tandareis  (T.)  und  seine 
litterarhistorische  Bedeatang  handelte  ein  vorzüglicher,  im  12.  Bande 
der  Zeitschrift  f.  d.  Altertam  S.  470  ff.  abgedruckter  Aufsatz 
E.  H.  Meyers,  welcher  insbesondere  den  Zweck  verfolgte,  eine  Aus- 

^l)  G.  G.  I  gehört  hinter  G.  Z.  IX,  G.  G.  11  hinter  G.  Z.  XTTT. 

^T^tt.  gel.  Am.  1887.  Mr.  21.  54 


786  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  21. 

gäbe  des  Gedichtes  überflüssig  zu  machen.  Wenn  dies  Werk  trotz- 
dem jetzt  im  Drucke  erscheint,  so  hätte  man  billiger  Weise  von 
seinem  Heraasgeber  eine  Revision  und  eine  Weiterftihrang  der 
Meyerschen  Untersachungen  erwarten  dürfen.  Statt  dessen  stellt 
Khüll  S.  243  eigene  Forschung  erst  für  den  Zeitpunkt  in  Aussicht, 
wo  Walzs  Oarelausgabe  vollendet  sein  würde.  Da  indessen,  wie  be- 
merkt, der  Abschluß  dieser  Arbeit  kaum  zu  befürchten  steht,  so 
wird  der  Leser  des  Tandareis  wohl  auch  auf  Khulls  Erörterungen 
Verzicht  leisten  müssen,  und  sieht  sich  genötigt,  einstweilen  selbst 
Hand  anzulegen.  Der  Wert  von  Ehulls  Edition  beschränkt  sieb  da- 
her, zumal  der  T.  jedes  sprachlichen  oder  poetischen  Interesses  ent- 
behrt, so  ziemlich  darauf,  daß  sie  eine  Nachprüfung  der  Resultate, 
zu  denen  seiner  Zeit  Meyer  gelangte,  ermöglicht. 

Meyer  hat  die  ausgiebige  Benutzung  der  Werke  Wolframs, 
Hartmanns  und  Wirnts  durch  den  Verfasser  des  T.  nachgewiesen. 
Aber  er  gieng  weiter,  er  bemühte  sich  darznthun,  daß  der  Pleier 
für  die  ersten  8000  Verse  dieses  Gedichtes  eine  Handschrift  des 
Parzival  vor  sich  hatte,  welche  zur  Klasse  6  gehörte,  während  er 
für  die  größere  zweite  Hälfte  sich  eines  Codex  bediente,  der  aus 
der  Familie  D  der  Parzivalhandschriften  stammte.  Es  verlohnt  sich, 
diese  Hypothese  zu  widerlegen.  Denn  wäre  sie  richtig,  so  wttrde 
ihr  ein  besonderes  litterarhistorisches  Interesse  inne  wohnen.  Mao 
müßte  nämlich  annehmen,  daß  der  Pleier  ganz  wie  ein  modemer 
Gelehrter  an  seinem  Schreibtisch,  aufgeschlagene  Bücher  neben  sich 
aufgeschichtet,  gearbeitet  hätte.  Das  ist  aber  nicht  der  Fall.  Ich 
betrachte  zu  dem  Ende  die  einzelnen  Stellen,  welche  Meyer  für  seine 
Ansicht  geltend  machte. 

T.  9556  (9402  Meyer,  welcher  nach  der  von  ihm  benntzfen 
Hamburger  Handschrift  zählte):  ^mit  ir  blanken  henden  uAz^  dar  an 
lac  der  gotes  vUe  stammt  aus  P.  88,  15  mit  ir  linden  henden  wus^ 
dar  an  lac  der  gotes  vUz  nach  D,  während  G  an  den  liest'.  Aber 
bereits  im  G.  917  lauten  beide  Verse  ganz  gleich,  und  der  6.  ist, 
wie  Niemand  bezweifelt,  der  älteste  Roman  des  Pleiers.  Also  nicht 
erst  in  der  zweiten  Hälfte  des  T.,  sondern  schon  in  seinem  frühe- 
sten Gedicht  müßte  dem  Poeten  eine  Parzivalhandschrift  der  Klasse  D 
vorgelegen  haben.  Oder  vielmehr,  so  weit  sich  ans  Lachmanns  Ap- 
parat ersehen  läßt,  die  St.  Galler  Hs.  D  selbst.  Doch  auf  diesen 
Apparat  ist  nicht  viel  zu  bauen.  Lachmann  hat  verhältnismäßig  we- 
nige Handschriften  völlig  ausgebeutet,  jedes  neue  Bruchstück,  wel- 
ches auftaucht,  zeigt  neue  Varianten,  ja  der  generelle  Unterschied 
der  zwei  Handschriftenfamilien  tritt  immer  mehr  in  den  Hinter- 
grund.    Bekanntlich  bezeichnete  Lachmann   die  nur  der  Klasse  D 


Tandareis  and  Flordibel.    Heraosgegeben  von  EhuII.  787 

oder  nar  der  Klasse  6  eigentümlicheD  Lesarten  durch  ein  vorge- 
setztes OleicbheitszeicheD  y  verheblte  dabei  aber  nicht  (s.  Vorrede 
S.  XVIII),  daß  die  Angabe  dieses  Gegensatzes  vielfach  eine  zufällige, 
von  der  Anzahl  der  Zeugen  abhängige  sei.  Und  all  die  vielen  nach 
dem  Erscheinen  seiner  Ausgabe  veröffentlichten  Fragmente  bestätigen 
das  und  beweisen  damit,  daß  die  meisten  im  13.  und  14.  Jahrhun- 
dert umlaufenden  Exemplare  des  Parzival  einen  gemischten  Text 
enthielten.  Becht  instruktiv  in  diesem  Betrachte  ist  das  Zeitschrift 
f.  d.  Altertum  28,  241  ff.  mitgeteilte  Berleburger  Bruchstück  saecl.  13. 
Dasselbe  gehört,  der  überwiegenden  Menge  der  unterscheidenden 
Lesarten  nach  (70,  3.29.  71,  10.  25.  72,  18.  26.  73,  4.  10.  108,19. 
109,  15.  110,  9.  24),  zur  Klasse  D,  bietet  aber  daneben  folgende 
von  Lachmann  ausschließlich  der  Klasse  G  zugeteilte  Varianten: 
70,  17.  72,  28.  29.  109,  1.  12.  13.  110,  29.  111,  6;  außerdem 
weist  es  manche  von  Lachmann  nur  ans  einzelnen  Handschriften  der 
Klasse  G  oder  überhaupt  nicht  verzeichnete  Lesarten  auf.  Wie 
leicht  also  kann,  auf  den  vorliegenden  Fall  angewendet,  auch  die 
vom  Pleier  benutzte  Parzivalhs.,  bei  aller  sonstigen  Zugehörigkeit  zu 
Klasse  6,  88, 16  dar  an  übereinstimmend  mit  Handschrift  D  gelesen 
haben!  —  T.  11987  (11712)  ^nöch  was  niht  hoch  der  tac  stimmt  bes- 
ser zu  D:  ez  ist  noch  vil  hoher  tac  P.  51,  19  als  zu  G:  ea  ist  nu 
tool  mitter  tac\  Dagegen  ist  einzuwenden:  1.  schon  in  der  ersten 
Hälfte  des  T.  heißt  es  fast  genau  ebenso  V.  2658:  dennoch  was  niht 
hock  der  tac;  2.  es  läßt  sich  nicht  beweisen,  daß  der  Pleier  gerade 
die  angeführte  Parzivalstelle  nachahmte,  er  konnte  auch  an  Erec' 
8187  denken:  dannoch  was  ez  hoher  tac;  ferner  sagt  er  M.  7946  do 
was  ez  hoch  üf  den  tac  übereinstimmend  mit  P.  704,  30  nü  was  ez 
hoch  üf  den  tac  und  M.  11910  nü  was  es  also  hoher  tac  =  Wig. 
8011.  Wir  werden  nachher  reichliche  Gelegenheit  haben,  zu  beob- 
achten, daß  der  Pleier  sich  erlaubte,  an  entlehnten  Versen  Variatio- 
nen vorzunehmen.  —  T.  13449  (13168)  ^von  Tryant  im  Keime  auf 
gewant  richtet  sich  nach  D  Triande  P.  786,  28,  nicht  nach  Triende 
in  G.'  Indessen  haben  auch  hier  die  Handschriften  gg  Triant\ 
Triande  und  Triant  weisen  alle  Codices  P.  629,  19.  Wh.  447,  15 
auf,  und  gerade  pfelld  von  Triant  (durch  den  Beim  geschützt  und 
ohne  Variante)  wird  Wh.  444,  13  genannt  Ebenso  schon  G.  3460 
ein  phelle  bräht  von  Triant,  4528  ein  ricker  pkelle  von  Triant  y  5235 
borten  von  Triant.  —  T.  16768  (16342)  ^vü  swert  wart  da  erklenget 
stimmt  gut  mit  D:  und  swerte  vä  erklenget  P.  60,  26,  weniger  ge- 
nau mit  G :  mit  swerten  vil  gecklengeP.  Der  Umstand,  daß  M.  8579 
und  swerte  vü  erclenget  wörtlich  mit  jener  Parzivalstelle  überein- 
kommt, beweist  allerdings   für  ihre  Entlehnung  gegenüber  anderen 


^4. 


788  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  21. 

äfanlicben  AeaßeruDgen  Wolframs,  aas  denen  an  sich  der  Pleier  aach 
geschöpft  haben  könnte,  wie  P.  380,  14  do  wart  erUenget  moMcc 
swert  oder  Wh.  380,  24  des  wart  erUenget  manee  swert.  Aber  die 
Lesart  mit  swerten  vü  gedüenget  ist  kein  Charakteristikum  der  Klasse 
6,  sondern  eignet  nnr  der  Münchner  Handschrift  G,  welche  hier 
einzig  von  allen  unseren  übrigen  Urkunden  abweicht.  —  Aus  dem 
gleichen  Grunde  fällt  fort  T.  8442  (8299)  'dem  gebirge  want  nindert 
mite  s=  P.  512,  4  dem  brunnen  wonte  ninder  mite^  wo  G  niemer  baf 
und  T.  11429  (11271)  'lise  an  allen  schal-slUAen  folgt  D  R  192,  24 
do  sleich  si  Use  an  allen  schal,  indem  G  eine  dafür  bietef .  —  End- 
lich T.  11499  (11341)  'wird  gefragt:  lebt  ieman  dinnePj  wie  nach 
D  im  P.  437,  2  ist  ieman  dinne?  G  hat  drinne\  Ich  bezweifle,  ob 
es  erlaubt  ist,  auf  einen  dermaßen  geringfügigen  Unterschied  ir- 
gend welchen  Schluß  zu  bauen.  Jeder  Schreiber,  auch  der  gewis- 
senhafteste, konnte  wahrlich  leicht,  sobald  er  nicht  ganz  mechanisch 
nachmalte,  für  das  seltenere  dinne  der  Vorlage  das  geläufigere  da 
inne,  dar  inne^  drinne  einsetzen.  Uebrigens  steht  P.  438,  19  dinne 
in  allen  Manuskripten,  und  nicht  minder  kennt  die  erste  Hälfte  des 
T.  V.  7906  dinne  (darinn  h). 

Das  dritte  Buch  des  Parzival  jedoch,  so  behauptet  Meyer  wei- 
ter, habe  der  Pleier  auch  in  der  ersten  Hälfte  des  T.  nach  einer 
Handschrift  der  Klasse  D  benutzt  Zum  Beweise  werden  2  Stellen 
(nicht  3,  wie  Meyer  irrtümlicher  Weise  angibt)  beigebracht.  Die 
zweite  derselben,  T.  7189  (7163)  =  P.  133,  11  beweist  nichts,  da 
es  sich  hier  wieder  um  eine  Lesart  nur  der  Handschrift  D,  nicht 
der  Klasse  D  handelt  Eher  könnte  die  erste  stutzig  machen.  T. 
5310  (5295)  wird  ausgesagt,  daß  die  selben  porteMere  sint  aUer 
güete  Itsre  (vgl.  auch  6772  portencere.  sün  herae  was  güete  l<ere\  and 
diese  Wendung  erscheint  als  eine  sichere  Nachahmung  von  P.  142, 18 
vischßre  und  aller  güete  leere;  dagegen  lesen  Ggg,  d.  h.  da  das 
Gleichheitszeichen  fehlt,  nicht  alle,  sondern  nur  eine  Reihe  von  Hand« 
Schriften  der  Klasse  G,  und  matter  güete  leere.  Gemß  wird  kein 
Schreiber,  welcher  in  seiner  Vorlage  aller  vorfand,  es  durch  das 
eigentümliche  manger  ersetzt  haben,  wohl  aber  lag  das  umgekehrte 
zu  thun  sehr  nahe,  nicht  nur  fttr  die  Parzivalkopisten,  sondern  anch 
für  den  Pleier  selbst  Auch  wenn  dieser  eine  Handschrift  vor  sich 
hatte,  die  manger  güete  leere  aufwies,  konnte  er  leicht  sich  veranlaßt 
finden,  wäre  es  auch  nur  um  den  Ausdruck  seiner  Ansicht  nach  zu 
steigern  oder  zu  verallgemeinern,  ihn  mit  alter  zu  vertauschen. 
Uebrigens  beruht  Meyers  Behauptung,  daß  das  3.  Buch  des  Parzival 
dem  Pleier  für  beide  Teile  seines  T.  in  einer  Handschrift  der  Fa- 
milie D  vorgelegen  habe,  auf  der  meines  Erachtens  sehr  bedenkli^ 


Tandareis  und  Flordibel.    Herausgegeben  von  Khali.  789 

eben  Annahme)  daB  noeh  gegen  Ende  des  13.  Jahrhunderts  dies 
Buch  in  einer  Sonderausgabe  vorhanden  gewesen  sei. 

Wenn  Meyer  den  Nachweis  zu  fahren  suchte,  daft  der  Parzival 
in  der  ersten  Partie  des  T.  nach  einer  andern  Handschrift  citiert  sei 
als  in  den  letzten  10000  Versen ,  so  wollte  er  damit  eine  und  zwar 
die  hauptsächlichste  Stütze  für  seine  Vermutung  schaffen,  daß  der 
T.  nicht  aus  einem  Qusse  sei,  sondern  daß  zwischen  beiden  Hälften 
eine  längere  Pause  stattgefunden  habe.  Denn  die  weiteren  Stützen, 
die  er  zu  ihren  Gunsten  ins  Feld  führt,  sind  wenig  stichhaltig.  Daft 
das  Oedicht  schon  etwa  mit  V.  8000  hätte  schließen  können,  ist 
richtig ;  aber  für  wie  viele  Artnsromane,  die  nur  aus  einer  planlosen 
Häufung  von  Abenteuern  in  majorem  gloriam  des  Helden  bestehn, 
gälte  dies  Argument  nicht?  Femer  wird  ein  Widerspruch  ange* 
nommen  zwischen  V.  8199  ff.  swer  liep  hat,  der  hat  dicke  leit,  ich 
enwei0  sin  niht,  est  mir  geseU^  li(be  gU  verborgen  heidiu  vröude  unt 
sorgen  und  dem  langen  Herzenserguß  gegen  solche  Weiber,  welche 
ihre  Männer  nicht  lieben,  ihnen  vielmehr  eine  Hölle  auf  Erden  be- 
reiten, V.  17430 — 17514,  zumal  hier  das  ich  des  Pleiers  sich  stark 
hervordränge ;  derselbe  scheine  inzwischen  eigene  Erfahrungen  gemacht 
zu  haben.  Meyer  hätte  in  gleichem  Sinne  auch  geltend  machen 
können,  daft  nach  T.  161  ff.  das  Oedicht  zu  Ehren  einer  Geliebten 
verfaftt  ist,  während  es  V.  4076  heißt:  wan  ere  durch  huratoÜe  tet 
dae  er  das  buoch  getihtet  hat,  und  ähnlich  am  Schluß  V.  18307  ff.: 
stoen  mSnitt  rede  nü, versmäht,  da  u?ü  ich  stn  unschüldic  an^  ich  hän 
ee  durch  hubscheit  getan  unt  biderb  Muten  sdren.  Aber  derartige  Wi- 
dersprüche fallen  wenig  ins  Gewicht,  denn  mit  der  von  Meyer  bei- 
gebrachten Stelle  V.  8199  ff.  harmoniert  auch  nicht  V.  119  ff.,  wo 
der  Dichter  erklärt :  mtn  vröude  ist  Jcranc,  das  humt  von  einer  sckut- 
den.  diu  hat  ir  eorn  üf  mich  geswom^  des  bin  ich  vröuden  äne. 
Seinen  jeweiligen  Mustern  Wolfram  und  Hartmann  entsprechend  be- 
kundet der  Pleier  an  verschiedenen  Orten  verschiedene  Auffassung 
und  Gesinnung.  Nach  stylistischen  oder  sprachlichen  Gründen  hin- 
gegen, welche  eine  Scheidung  des  T.  befürworten  könnten,  habe  ich 
vergeblich  gesucht. 

Die  für  die  Benutzung  einer  Parzivalhandschrift  der  Klasse  D 
in  der  zweiten  Hälfte  des  T.  angeführten  Momente  fallen  also  fort. 
Vielmehr  deuten  einige  Stellen  mit  ziemlicher  Bestimmtheit  darauf 
hin»  daß  dem  Dichter  auch  in  dieser  zweiten  Hälfte  ein  Codex  der 
Klasse  G  vorlag.  T.  12009  unt  wolt  der  degen  valsches  lojs  ihtes 
hon  an  si  gegert,  ich  wtjen  si  haete  in  wol  gewert  sowie  13485  unt 
hate  er  ihtes  an  si  gert^  ich  wcen  si  hcete  ims  niht  versaget  sind  dem 
P.  552/27  entlehnt :  het  er  iht  hin  eir  {ihtes  an  si  g)  gegert,  ich  woen 


790  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  21. 

5t  hetes  {heb  G)  in  gewert,  T.  17155  d&  wart  daz  vamäe  vole  vü 
richj  die  enpfiengen  groBer  gäbe  teil  (:  geiT)  geht  znrttckanf  P.  101,3. 4 
da  wart  dae  varnde  volc  vü  geil:  die  enpfiengen  richer  gäbe  teil ;  dies 
Verspaar  fehlt  aber  der  Klasse  D  darchans.  11814  a.  s.  w.  (s.  die 
Gitate  in  Khalls  Register  s.  v.  Karonicä)  soll  das  Tnroier  abgebal- 
ten werden  und  wird  auch  wirklich  abgehalten  ee  Sabins  bi  der 
Karonicä,  oder  vielmehr  Kortha,  wie  nach  h  in  den  Text  zu  setzen 
war:  dies  entspricht  der  Lokalität  Berns  bi  der  Korea  P.  610,  17. 
626,  15.  644,  15,  wo  immer  nnr  Handschriften  der  Klasse  G,  wenn 
auch  nicht  alle,  au  Sabins  oder  ähnliches  bieten. 

Nichts,  so  viel  ich  sehe,  weder  im  Tandareis  noch  in  den  bei- 
den andern  Romanen,  spricht  dagegen,  daß  dem  Pleier  stets  nnr 
eine  und  dieselbe,  der  Familie  G  angehörige  Parzivalhandschrift  zu- 
gänglich gewesen  sei.  Für  die  ersten  8000  VV.  des  T.  suchte  das 
ja  auch  Meyer  zu  erweisen.  Freilich  sind  nicht  alle  von  ihm  ge- 
sammelten Stellen  stringent.  Nicht  z.  B.  T.4056  (4042).  4878  (4862) 
'and  öfter  ^) :  hin  reit  der  cren  rtehe  degen,  ist  nachgebildet  dem  P. 
451,  3:  hin  reit  Herzeloyde  fruht  G,  dagegen  gebraucht  hier  D  die 
wirksamere  Gegenwart  rttet' :  denn  P.  333,  15  steht  ohne  Variante: 
hi^  reit  Gahmuretes  Jcint^  auch  braucht  der  Pleier  mit  seiner  Ans- 
drucksweise  gar  nicht  Wolfram  nachgeahmt  zu  haben,  da  Hartmann 
im  Iwein  7941  ebenso  sagt:  hin  reit  diu  guote.  —  Femer  fällt  fort 
T.  8131  ff.  (7988—90)  ouch  enböt  der  werde  degen  Mär  daz  al  der 
tavelrundär  sins  diens  mit  triuwen  ntemen  war,  welche  Stelle  Meyer 
zu  P.  652,  13  G  al  der  tavelrundcere  genuzzen  in  Beziehung  setzt, 
da  nunmehr  Khulls  Text  mit  daz  cd  der  tavelrunder  schar  das  rich- 
tigere gewährt.  --  Endlich  T.  8178  (8035)  ^daz  möht  an  werdekeU 
gefromen  richtet  sich  nur  nach  G  im  P.  625  (1.  626),  6^  D  hin- 
gegen liest  in  gefrumn  und  ähnlich  weichen  die  anderen  Texte  von 
G  ab'.  Obwohl  hier  ein  Klassenunterschied  der  Parzivalurkunden 
vorliegt,  so  besitzt  doch  der  Ausdruck  keine  beweisende  Kraft,  und 
zwar  deshalb  nicht ,  weil  der  Pleier  an  zahlreichen  anderen  Orten 
die  gleiche  Phrase,  aber  mit  beigefögtem  Pronomen,  verwendet:  so 
T.  7514  a/n  werdikeit  ez  iu  vrumt,  M.  5175  an  mrdeheit  frumt  ez  dich^ 

1)  Ich  füge  alle  weiteren  beim  Pleier  begegnenden  Beispiele  dieser  Wen- 
dung hinzu :  T.  6378  hin  reit  der  Sren  riche  degen,  M.  4948.  12738  hin  reä  der 
^en  riche,  T.  10685.  14135.  M.  8988.  G.  5381  hin  reit  der  elleneriehe  degen,  T. 
6010  hin  reit  der  ritter  wert  erkant,  T.  9629  hin  reU  der  degen  unverzeit,  T. 
10201.  G.  1348  hin  reit  der  äzertoelte  man,  M.  325  hin  reit  der  werde  man ,  M. 
4260.  7070  hin  reit  der  tugenthafte  man,  G.  3122  hin  riten  diee  zwSne  man,  M. 
12509  hin  reit  der  künee  von  Lorgdn,  M.  3076  hin  reit  der  künee  von  Franken 
rieh,  M.  1586.  G.  2108  hin  reit  der  vaUches  frie:  M.  2483  hin  streich  der  bote. 


Tandareis  und  Flordibel.    Herausgegeben  von  EhuII.  791 

ö.  5321   im  mohte  an  stelde  wöl  gefromen;  vgl.  M.  11846  ir  kunft 
mich  an  frouden  frumt,  M.  11442  dcwr  muoz  si  immer  umib  mich  fromen. 

In  wie  hohem  Orade  der  Fleier  vod  Wolfram  abhängig  ist  and 
lu  welcher  Art  er  ihn  benatzte,  wird  am  besten  eine  Zasammen- 
stellung  des  Sprachgutes  zeigen,  das  er  diesem  entnahm.  Eine  solche 
Sammlang  existiert  für  den  6.  bisher  nicht,  für  M.  sind  nur  ganz 
wenige  Sparen  von  Bartsch  zu  V.  4539.  5250  seiner  Ausgabe  und 
von  Meyer  S.  485  nachgewiesen  worden.  Von  diesen  sowohl  als 
von  sämtlichen  durch  Meyer  im  T.  aufgedeckten  oder  auch  nur  ange- 
deuteten Nachahmungen  sehe  ich  natürlich  im  allgemeinen  ebenso 
wie  von  einer  Wiederholung  der  oben  bereits  gelegentlich  bespro- 
chenen ab;  freilich  kann  auch  ich  ftlr  absolute  Vollständigkeit  mei- 
ner Aufzählungen  entfernt  nicht  garantieren. 

T.  61.  M.  1458  von  dem  her  ir  gemüete  gar:  P.  119,  27  von  dem 
Jcer  dine  gedanke,  —  179.  8641.  G.  6.  94,  50  den  rehtiu  missewende 
ie  vloch:  vgl.  P.  94,  26  die  wtbes  missewende  ie  vlöch,  113,  12  die 
wibes  missewende  vloch,  751,  8  elliu  missewende  in  vloch.  —  202 
Artus  der  pris  erkande,  G.  Z.  524,  137  Gdrel  der  pris  erchande: 
P.  677,  1  Artus  der  priss  erkande,  558,  1  Gäwän  der  priss  erkande. 

—  335  ff.  M.  3175  ff.  entspricht  die  Situation  P.  309,  7  ff.  Wig.  247  ff. 

—  384.  1086  u.  s.  w.  M.  878.  1287  u.  s.  w.  G.  3332.  4070  u.  s.  w. 
valsches  laei  P.  128,  20.  310,  8.  —  485  alle  die  si  sähen  mit  gelicher 
völge  jähen,  vgl.  M.  6135  daxf  alle  die  ee  sahen  mit  gemeinem  munde 
jähen,  vgl.  auch  6.  Z.  500,  16  alle  geliche  jähen  daz  si  nie  gesähen, 
6.  3545.  3684  die  ritter  alle  jähen,  daz  si  nie  gesähen,  M.  10015  die 
gevangen  ritter  jähen  daz  si  nie  gesähen,  weitere  Variation  M.  5974. 
T.  17728:  Wh.  155,  15  mit  gelicher  volge  jähen  daz  si  nie  gesähen. 

—  564.  1736.  6940.  13767.  15411.  16895  mit  heldes  handen  unver- 
zaget:  P.  263, 26.  —  1158.  M.S99  vrowe,  lät  michUwitzen  (: sitzen): 
P.  244,  20  si  sprach  'lät  mich  U  witzen  (:  sitzen).  —  1790.  3674. 
3784.  7806.  8378.  15157.  15627.  17339  17367.  M.4098.  5309.  6366  an 
alle  vär,  2102.17231  an  alle  väre,  8134.  G.4803.  5141.  G.  G.  94,  62. 
G.  Z.  533,  167  an  allen  vär:  P.  369,  2  an  alle  väre,  P.  252,  29. 
431,  22.  Wh.  132,  12.  293,  16  äne  allen  vär;  2095.  M.  1399  an 
wankes  vär,  M.  147  äne  wankeis  vär,  vgl.  M.  1063  ar^e  valsches  vär: 
P.  279,  23  an  wankes  väre^  P.  476,  21  sunder  wankes  vär;  M.  4598.  G.  Z. 
466,  122  äne  vär:  P.612,2.  699,  7.  Wh.  387,9  äne  vär,  P.  267,  27. 
630,  14.  633,  22.  696,  16.  780,  1  äne  väre.  —  2061.  9002.  13530 
(vgl.  10080).  M.  3289.  3381.  5084.  5921.  9261.  9684.  10053.  10075. 
G.  3073  (vgl.  3080)  sin  wäpenroc  Sin  kursit:  P.  36,38.  Wh.  140, 13. 

—  2065  (vgl.  13545)   ein  Jmckel  was  dar  üf  gestagen  von  gölde,  die 


792  Oött.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  21. 

er  muoste  tragen:   P.  70,  28  mU  golde  von  Äräbi  ein  titoeriu  buid 

drüf  geslagn^  stocßre^  die  er  mtiose  tragen.    Weniger  stimmen  die  Ton 

Meyer  S.  497  yerglichenen  Stellen  des  Wigalois.  —  2157  (vgl.  2688) 

reit  dem  her  so  nahen,  das  sie  in  halten  sähen:   P.  289,  13  das  her 

lac  tool  so  nähen  daz  si  Partnvälen  sähen  haben.  —  2318  hurta  täe 

ez  da  wart  getan :  P.  673, 10.  —  2395  hiez  der  gevangen  schone  pfle* 

gen^  7313  hiez  —  der  gevangen  schone  pflegen,   vgl.  die  Variation  M. 

9615.  9949:  P.  208,  24.  —  2438.  3491.  3761  Änticonte  vor  vaischeü 

diu  vrie,  vgl.  17531  Änticonien  vor  valscheit  der  vrten:  P.  413,  2,  vgl 

427,  8  Antikonten,  vor  valscheit  die  vrien;   ebenso  wird    im  G.  aof 

Laudamte  nnd  Sabte  gerne   vor  välsche  diu  vrte  gereimt    Anfterdem 

välsches  vrt^  vor  välsche  vri  sehr  hänfig   in  allen  drei  Gedichten:  F. 

255,  8.   271,  6.   580,  6,  vgl.  439,  20.   Wh.  157,  4.  —    2610  moras 

Kläret  unde  tdn  gap  man  in  unt  sptse  guot :  Wh.  265, 10  mdraz,  da- 

ret  unde  uAn  si  heten,  unde  spise  guot;  die  erste  Zeile  allein  nochT. 

15207.  H.  6901.  8698.  12202.  G.  4912.  —   2685  mU  ros  mü  aUe  if 

daz  gras^    13152.  G.  2215   (wo  der  Heransgeber   den   Unsinn  der 

Handsohrift  nicht  bemerkte)  mit  ros  mü  äUe  üf  den  plan :  F.  38, 27. 

680,  21  mit  orse  mit  aUe,  vgl.  unten  za  H.  9533.  —   2117  der  ha 

der  rief  im  nach  genuoc :  P.  39,  15  der  Spänol  rief  im  nach  genuoe. 

—  2725  ff.  unt  kämet  niht  vür  die  sto^.   swaz  er  gd>dt  unde  bat,  enr 

dehaft  daz  wart  getan:   P.  39,  7   und  körnt   nach   mir  in  die  stat, 

swaz'er  gAöt  oder  {unde  G)  bat,  endehaft  ez  (daz  G)  wart  getan.  — 

2796  der  prts  mit   werdikeit  was  ganz,   G,  B.  10b   (so  bezeichne 

ich   Zingerles  Auszüge   aus  dem   G.  in  seinen  Vorbemerk nngen  zu 

dem  Fresken-GykluB  des  Schlosses  Runkelstein  bei  Bozen)  des  pris 

mit  wirdikeit  was  ganz,  M.  164  des  pris  mit  wirdekeit  wart  ganz,  6. 

4195  des  pris  mit  wirdikeit  ist  ganz:  Wh.  32, 18  des  prts  mit  werde- 

keü  was  gam^s.  —  3726  ob  der  wise  unt  der  tumbe :  P.  30,  9  Aie  der 

uAse,  dort  der  tumbe,  670,  14   hie  diu  Wise,  dort  diu  tumbe.  —  3779 

der  künec  luterltch  verkos,   daz  er  in  äne  schulde  vlds,  üf  Tandareis 

den  jungen  man :  vgl.  P.  428,  27    Kgngrimursel  och  verkäs  üf  dm 

künec,  der  in  da  vor  verlos.  —  4300  der  ie  vor  schänden  was  beknot, 

G.  Z.  540,  170  der  ie  was  behuot  vor  schänden,  vgl.  T.  9319   der  ie 

vor  schänden  %5  bewart:  Wh.  51,  1.  —  4778  daz  äl  der  Franzoser 

lant,  5120  in  der  Franzoser  lant:  Wh.  137,  28.   269,  7,  vgl.  116,  & 

85,  14.  335,  11.  —  5129  ich  bin  geheizen  lAodarz,  min  voter  häzri 

Teschelarz,  unt  bin  von  Poytowe  geborn:   P.  87,  23   der  ander  heizä 

lAedarz,  ß   li  cunt  Schiolarz  (Tschidarz  g,    Tschihdarz  g),  68,  21 

von  Poytouwe  Schyolarz  (vgl.  die  Varr.).    Mit  Unrecht  sieht  Meyer 

8.  498  in  diesem  Namen    eine  Anspielung  auf  die   Grafschaft  Leo- 

darz  bei  Wirnt.  —   5557   do  er  von  Liodarz  schiel,  wie  Sin  reise 


TandareiB  and  Flordibel.    Herausgegeben  Yon  Eholl.  793 

d6  geriet:  P.  504,  3  ^  ^  van  Tschanfaneün  geachiet^  op  ^  reise 
üf  stfit  geriet.  —  6619  und  het  in  gerne  erreichet ^  er  sluoc  unge* 
smeichet  nach  im  ein  sd  starken  swanCf  M.  6194  er  sluoc  im  unge- 
smeichet  einen  also  starken  slac:  Wh.  429,  19  dd  wart  ungesmeichet 
heim  und  schilt  erreichet  mit  eime  also  starken  swanc.  Die  Ans* 
drncksweise  ist  recht  selten ,  ich  wüßte  nur  zn  vergleichen  ndrh. 
Tnndalns  36  äne  smeichen  und  Efidrnn  843,  3  äne  smiele.  —  7251 
ua  prise  nie  ein  vuoe  getrat,  vgl.  246  er  getrat  üb  pris  nie  einen 
vuoe  und  15249  Artus  het  nindert  vuoe  getreten  üe  lobdichem  prise: 
Wh.  850,  17  ir  h6rre  üz  prise  nie  getrat.  —  7290.  12947.  13255. 
15005.  0.  4647.  0.  Z.  514,  35  manliche  und  unvereaget :  P.  564,  25. 

—  8172  die  man  da  gin  prise  mae:  V.  162,19.  309,  29,  vgU145,3. 
275, 16.  —  8204  mit  also  wunderlichen  siten  ist  diu  liebe  under sniten : 
Wh.  280,  9  des  marcgräven  trüric  muot  wart  mit  vreuden  undersnitn. 
— •  8405  die  rehten  sträee  er  meit:  Wh.  70,  11  die  rehten  stroBe  er 
gar  vermeit  (nicht  mit  Meyer  S.  492  auf  P.  180,  5  zu  beziehen).  — 
8434  in  hä  diu  müede  überstriten :  P.  547,  12  mich  hat  grde  müede 
überstriten.  —  8789  Uute  unt  guot  swae  heizet  mtn,  vgl.  3074.  G. 
4141  Up  unt  guot  swae  heufet  miti,  sowie  oft  swaa  heizet  mtn^  oUee 
dae  da  heizet  min :  P.  362, 2  Uute  und  guot  swae  heieet  min.  —  8836 
diu  künegtn  bot  im  guote  naht  ( :  wol  geslaht) :  P.  242, 22  der  wirt  bit 
im  guote  naht  ( :  wol  geslaht).  —  8934  az  der  wol  gebom  gast,  vü  Mutzet 
in  da  des  gebrast :  P.  405,  23  saz  der  wol  geborne  gast,  süezer  rede 
in  niht  gd^rast.  —  8994  huop  die  küneginne  wert  sunder  schämet  (so 
ist  natürlich  mit  h  zn  lesen,  nicht  sunder  scha$iden,  wie  EhuU  nach 
den  andern  Handschriften  schreibt;  derselbe  Fehler  freilich  auch  in 
den  Meraner  Fragmenten  G.  Z.  543,  5)  üf  ir  pfert :  P.  89,  3  si  huop 
Kaylet  der  degen  wert  sunder  schämet  tif  ir  pfert.  —  9107  für  unbc' 
^ogrc»  (auch  11517?).  G.  IL  10b:  P,  64,  1.  339,21.  M5, 12.  667,  22. 
Wh.  26,  19.  81,  16.  84,  28.  88,  107^^-^^148.3^3^  (der  Heraus- 
geber bietet  Unsinn)  diu  maget  stuont  üf^  der  kus  geschach :  Wh.  213, 25. 

—  9694  spise  wilde  unde  zam^  met  moraz  win  alsam:  Wh.  177,  3 
daz  wilde  und  daz  zam^  gepigmentet  cldret  aisam,  den  met^  den  wtn^ 
daz  moraz.  —  9793.  9825.  H.  3400.  9984.  10386.  11254.  12184  an 
koste  niht  verswachet^  vgl.  M.  8152  an  koste  niht  geswachet^  T.  9081 
an  richeit  niht  verswachet:  Wh.  400,  30.  —  10159  den  sin  manheit 
niht  erliez  (so  mit  h  zu  lesen) :  P.  416, 22  den  sin  kunst  des  niht  erliez. 

—  10474  ff.  sag  Artus  unt  dem  wibe  sin  den  wiUedichen  dienest  mit», 
dar  zuo  der  massenie  gar  unt  al  der  tavelrunder  schar^  vgl.  9620 
sagt  Artus  unt  dem  Wibe  An  den  wiUedichen  dienest  min  unt  al  der 
tavdrunder  schar:  P.  199,  3  sage  Artuse  und  dem  uiibe  ^n,  in  &ei- 
<2en,  von  mir  dienest  mfn,  dar  zuo  der  massenie  gar.  —  10739. 13885. 


794  Gott.  gel.  Ans.  1887.  Nr.  21. 

16427  hellen  dön:  Wh.  337,10.  —  11088.  11108.  13990  aer  Montä- 
niJäüse:  P.  382,  24.  -  11131  üf  kristenlicher  erden:  P.  659,  12,  vgl. 
Wh.  313,  24  üf  al  histenltcher  erden.  —  11215  ich  weene  nie  vtm 
ijoibe  (:  libe)  kiuscher  vruht  wart  gd>orn:  P.  457,  16  nie  kiuseher 
fruht  von  Itbe  (:  tvibe)  wart  gebom.  —  11266.  11556  wol  beraten 
mit  senften  plümUen:  Wh.  323,  29,  vgl.  P.  627,  28.  Wh.  244,  12.  - 
11455  nieman  dd  rette  noch  enrief  (:  entslief)^  11599  (:  slief),  vgl 
M.  6410  nieman  umb  in  redet  noch  rief  (:  entslief):  P.  245,  26  nie- 
man da  redete  noch  enrief  (:  entslief).  —  11593  unt  zwo  hosen  von 
seine:  Wh.  196,  3  und  hosen  von  sein,  —  11626  diu  maget  im  guoien 
morgen  bot,  M.  7929  dem  gaste  guoten  morgen  bot^  M.  8059.  8765 
dem  ritter  guoten  morgen  bot,  Q.  1234  im  lachend  guoten  morgen  bot: 
P.  604,  20  Oäwän  guoten  morgen  bot.  —  11645  im  sneit  diu  magä 
stelden  rieh  mit  ir  selber  hant  die  spise^  vgl.  13472  si  snite  im  ^ne 
spise,  H.  8689  diu  küniginne  wise  mit  ir  selber  hant  im  sneä: 
P.  279,  12  diu  lobes  wise  sneit  ir  bruoder  sine  spise  mit  ir  blan- 
ken  linden  hant,  vgl.  176,  18.  551,  4.  —  11709  ich  bin  der 
des  mit  iu  giht:  Wh.  150,  24  ich  pin  der  des  taster's  giht.  — 
11747.  13782.  M.  4134  wan  ich  iu  vü  ee  sagen  hdn:  P.  403, 
22.  —  11781  ez  wtere  an  vrbuden  ein  gewin  y  G.  Z.  530,  59  ez 
W(Br  mir  an  fröuden  ein  gewin:  P.  425,  12  daz  wtBre  an  freuden 
sin  gewin  ^  vgl.  369,  8  daz  git  an  freuden  mir  gewin,  Wh.  135,  29 
unz  ir  an  freuden  habet  gewin ;  G.  Z.  527 ,  244  daz  wirt  an  prise 
iuwer  gewin,  6.5119  ez  wirt  iu  an  eren  ein  gewin:  Wh.  342,26  dai 
wirt  an  prise  din  gewin.  —  11875  manec  ritter  gar  untr€ege,  14967 
i!rec  der  gar  untrtsge^  16395  Bedcurs  dem  gar  untr€egen^  immer  im 
Reim  auf  Norwcege :  P.  669 ,  24  der  gar  untrcege  (:  Norwcege).  — 
11908  ff.  künec  von  PatrigaU:  P.  66,  23  ff.  —  11931  wdlt  iuch  des 
niht  betragen,  M.  5397  und  wolt  iurhs  niht  betragen:  P.  554,  26. 
655,13.  —  12033.  12487  iwer  (ir)  güete  ist  an  mir  worden  schin^  4620 
iwer  güete  ist  worden  schin  an  mir^  7363  do  wart  an  mir  iur  güete 
schin,  vgl.  12431.  16363.  18235.  M.  4940  iwer  tugent  ist  an  mtr 
worden  schin  (daza  vgl.  G.  Z.  471,24),  G.  Z.  478,  276  iwer  tugefit  ist 
worden  schin  an  mir,  T.  12001.  M.  5714  iwer  tugent  ist  an  mir  wor- 
den schin  unt  iwer  reiniu  güete,  M.  1648  der  tugent  ist  an  mir  wor- 
den schin y  M.  4814  sin  tugent  ist  an  iu  worden  schin,  G.  4233  sus 
wart  rfn  tugent  an  mir  schin,  T.  16183  iwer  triwe  ist  an  mir  worden 
sddn,  G.  2402  nü  ist  an  mir  worden  schin  dlrist  din  reiniu  triuwe: 
Wh.  135,  14  iwer  güete  ist  an  mir  worden  schin.  —  12135  im  wart 
vroude  wilde  unt  sorge  zam:  Wh.  171,  2  mirst  freude  wilde  und  sorge 
zam.  —  1,2249  rot  schilt  rotez  kastdan  rot  wapenroc  rot  kursit:  P. 
211 ,  9  rot  schüt  rot  kur^.  —    12338  war  fioch  kiuscher  dan  ei» 


Tandareis  und  Flordibel.    Herausgegeben  von  EholL  796 

uAp:   P.  26y  15  er  tvas  noch  hituscher  denne  ein  totp.  —   12413.   M. 
10559  si  sprach  ^hdst   du   dae  vernomen^    M.  11425  ^Oursün,   hästü 
dajB  vemomeHy    M.  1623  ^herre,  habt  vr  dae  vernomen:   P.  483,  29 
sprach  ^häbt  ir  daz  vernomen^  vgl.  Wh.  238,  6  sprach  *hästü  war  ge- 
nomen.  —  12894  wan  dae  si  in  der  kirchen  was  unt  an  ir  venje  ir 
siüter  Icis:   P.  644 ,  23  diu  Jcünegin  eer  kappein  was,  an  ir  venje  si 
den  saiter  las.  —    12906  da  von  er  unversunnen  hielt:   P.  283,  17 
unjs  dae  er  unversunnen  hielt.  —    12907  diu  minne  witee  von  im 
spielt:   P.  293,  27  dae  minne  witee  von  im  spielt.  —    12908.  13798. 
14235.    M.  414  (so  zu  lesen).  1530.  2026.    O.  Z.  486,  33  (vgl.  aneh 
M.  5647.  G.  3204)  dannoch  was  ee  harte  vruo:  P.  555,  17.  801,  29. 
Wh.  233,  24.  —   12919  Utepantragünes  sun:   P.  775,  1.  —  12934. 
13072.   17412.     G.  R.    10  b   Beacurs  von  {gen)  Norwtsge  gen  valr 
scheit  der  trtsge:  P.  66,  11  Lot  von  Norwtsge  gein  valscheit  der  trage. 
—  13015.    M.  5106.  5990.  9522  (in  der  Ausgabe   des  M.   ist  santen 
sanden   gedruckt).    G.  1376.  2208  von  rahine  sancten  sie  diu  sper: 
P.  295,  12.  —  13034  hindere  ros  üf  den  sämen:  P.  60,  19.  —  13063. 
13904.  16880   dd   wart  gewunnen  unt  verlorn:   P.  82,  13  da   was 
{wart  G)  gewunnen  und  verlorn,  Wh.  446,  1  da  was  gewunnen  und 
verlorn,  P.  102,  16  des  wart  gewunnen  unt  verlorn.  —  13093.  13853. 
G.  Z.  512,  204  sie  (die)  lieeen  dae  wol  schtnen  dae  sie  waren  unver^ 
eagt,  Tgl.  G.  Z.  497,  218  doch  lieeen  si  wol  schtnen  dae  si  wären  un- 
verzagt :   Wh.  431 ,  24  si  lieeen  dd  wol  schtnen  dae  si  wären  unver- 
eagt.   —    13120.  13880  von  Provene  der  marUs:   Wh.  135,  16.  — 
13343.   M.  7846.  7878.    G.  2998  guot  naht  geh  iu  der  gotes  segen: 
P.  279,  26.  —  13404  erstrichen  von  im  sin  amasier:  P.  167,  5  stri- 
chen schiere  von  im  sin  amesiere.  —    13405  sin  Up  was  Jdär  unde 
fier:  P.  118,  11.  —  13442  üe  dem  bade  an  sin  bette  er  schreit:  P. 
168,  1  der  gast  an  dae  bette  schreit.  —  13451  mit  einem  tiuren  für' 
span:   P.  168,  19.  —  13458.    M.  683  diu  ringge  ein  edeler  rubbin: 
P.  307 ,  6  diu  rinke  was  ein  rubin.  —    13534  noch  roßter  den  ein 
rubbin:  P.  679,  10.  —    13755  ir  kraft  ir  vü  gar  gesweich,  G.  R.  9a 
sin  kraft   im  so  gar  gesweich  {geseich  Handschrift,   aber  es   reimt 
bleich):   P.  480,  4  unt  im  sin   kraft  gar  gesweich^   ygl.   fibrigens 
auch    Wig.   9987    ir    freude    ir    so  gar  gesweich.  —    13792  AT.  er 
ranc  nach  Wtbes  lone^  des  het  er  vil  sch&ne  den  lip  geeimieret.  er  kam 
gdeischieret :   P.  736,  21  ranc  nach  wfbe  lone  (diese  Zeile  auch  Wh. 
22,  25) :  des  eimiert  er  sich  sus  schone ,   P.  121 ,  13   do    kom  gdei- 
schieret und  wol  geeimieret,  —  13848  dirre  vlos,  ener  gewan:   P.  77, 
29.  —  13916  in  wart  —  durch  die  snüere  gerant:  P.  82,  12  durch 
die  snüere  in  waere  gerant^  284,  22  iu  ist  durch  die  snüere  alhie  ge- 
rant —   14101.    G.  3464  dae  nuere  iuch  niht  belriuget    (:  ereiugef): 


7%  Gott.  gel.  Aue.  1887.  Nr.  21. 

Wh.  426 ,  14  dUf  mmre  uns  mkt  beMuget  (:  ermuget).  —  14296  vü 
swert  da  erJäungen:  Wh.  441,  20  da  vü  swerte  erJäungm.  —  14585 
gin  valscheit  diu  tunibe:  P.  630,  18.  —  14699  dojg  iwer  wetdikeU 
enbor  swebet  unt  iwer  hoher  pris :  Wh.  45 ,  12  des  prts  embar  ndk 
hiut  in  hoher  unrde  swebt,  P.  539,  17  des  pris  so  hohe  e  swAt 
enbor.  —  15113  iedoch  si  gen  dem  wege  neic:  P.  375,  26  vü  dicke 
er  dem  wege  neic.  —  15268  ein  tavdrunder  rkhe :  P.  775 ,4.  — 
16043  durch  elUu  u>ip  Ut  iuchs  gezemen :  P.  136,  16.  —  16123.  IL 
1547.  G.  Z.  556,  198  mit  triwen  äne  wenhen:  Wh.  378,  17;  T.  968 
an  aXUe  wenken:  P.  462,  18;  M.  4031  dne  wenken:  P.  283,  15. 
751,  13.  —  17138  der  zühte  houbetman:  P.  162,  23  dem  houbelman 
der  wären  euht.  —  17402  Boisawena:  vgl.  P.  677,  3.  720,  24  die 
Varr.  zu  Boschs  Sabtns.  —  17438  diu  ir  uApheit  rehte  tuoti  F.  3,  20. 
—  17469  den  lobe  euch  ich  als  ich  sol:  P.  3,  13  die  lobe  ich  eis 
ich  solde. 

M.  116  da0  nie  hoübet  under  crdne  (;  schone):  Wh.  462,  2.  — 
132  der  reihten  wirdekeit  geniee:  P.  475,  28.  —  136  vor  ir  lamdes 
fürsten  schone  (:  krone)  ^  vgl.  T.'  11093  vor  einen  värsten 
(:  hr^ne):  P.  660,  14.  —  338  der  wec  wart  smai  der  e  was 
P.  249,  7  ir  sla  wart  smci  diu  i  was  breit  —  386  da0  dähte  in  ein 
goßber  funt:  P.  352,  30  daa  dühte  si  ein  gteber  funt.  —  410  e0  stuont 
im  niht  vergebene:  P.  443,  28  ea  enstuont  in  niht  vergebene.  —  682 
der  was  vor  armüete  vri:  Wh.  125, 11  des  buckd  was  armüete  vrt,  — 
714.  5934.  (vgl.  T.  13542.  G.  5237.  G.  Z.  505, 206)  eddgesteine  (steime) 
drin  verwieret :  Wh.  249 ,  9  edei  steine  druf  verwieret.  —  1022  i^oii 
nigramanden  den  list  (vgl.  aaeh  G.  Z.  473,  89):  P.  453,  17  ä»  de» 
list  von  nigrdmanjsi.  —  1128  die  von  arte  gäben  Uehten  schin^  ^SK^* 
4985.  G.  Z.  547,  154  die  gäben  von  arte  Hebten  schin:  P.  722,  3  die 
von  art  gäben  lichten  schin:  vgl.  T.  12532.  G.  801  die  (diu)  gäben 
lieihten  werden  schin^  G.  Z.  505,  208  die  gäben  werden  liehien  schin: 
P.  581 ,  8  die  truogen  lichten  werden  schin.  —  1352  mit  getriuUcher 
liebe  ganz:  P.  765,  22.  —  1386  owe  war  umbe  tuet  si  daa:  P.  114^ 
20  owe  war  umbe  tuont  si  daz.  —  1559.  G.  3483  du  soU  mü  n^nem 
husse  vam^  T.  9147.  10117.  12564.  H.  8947  ir  suU  mit  nnnem  husse 
vom:  Wh.  213,  21  du  soU  mit  nAme  husse  vam.  —  1621  das  tuon 
ich  gerne,  kumt  ez  sdj  5670  als  ich  immer  dienen  sei  umb  iuch^  kumi 
ez  immer  so,  7899  dirre  wirde  ich  danken  «oZ,  sprach  der  ritter^  kmiU 
ez  soy  vgl.  T.  9769  vrowe,  unt  kumt  ez  immer  so  daz  iu  dienstes  not 
geschiht:  Wh.  138,  18  dirre  herberge  ich  danken  sdj  sprach  der  mar^ 
gräm^  kumt  ez  so.  —  1787  d6  der  tac  Ke  sinen  strit:  P.  423,  15  uns 
daz  der  tac  Uez  sinen  strit.  —  2550  ein  mögt  si  was  und  niht  ein 
tc^ip:  P.  60,  15  si  was  ein  magd ,  niht  ein  wtp  (daraus  hat  Wimt  in 


Tandareis  und  Flordibel.    Herausgegeben  von  Kholl.  797 

seinen  Wig.  9187  die  Zeile  wörtlieh  hinttbergenommeu),  84,  6  st  was  ein 
maget  und  nihi  ein  toip.  —  2938  cm  dem  brieve  er  niM  mSr  las,  4041 
an  dem  brief  si  niht  mir  sach^  vgl.  G.  Z.  557,  232  an  dem  (Lttcke, 
1«  brieve  las  oder  sach)  si  nifU  mir:  P.  77,  19  an  disem  brieve  er 
niht  mir  vant  —  3420  ein  sper  das  was  von  varwe  glänz:  Wh.  86, 
4  des  sper  was  lidd  von  varwe  glänz.  —  3434  daz  die  sprizd  von 
der  hant  sich  wunden  gegen  den  lüften  hoch ,  6000  daz  die  sprizen 
von  der  hant  hoch  üf  gin  den  listen  fingen:  P.  704,  4  daz  die  sprtr 
zen  von  der  hant  üf  durch  den  luft  sich  wunden.  —  3714  solhen 
prts^  des  beviUe  ander  künege  die  gendze  sin:  Wh.  419,  18  daz  es 
durch  not  bevüte  ander  künege  sine  gendze.  —  5079.  5983.  G.  2153 
ais  er  tjostieren  wolde:  Wh.  24,  1.  —  5111  er  reit  üf  in  und  trat 
in  nider.  des  erhoÜ  er  sich  wider ^  T.  6086  des  erholte  er  sich  wider j 
T.  10881  mit  zomes  siten  reit  er  üf  in  unde  trat  in  nider^  dd  hülfen 
im  die  einen  wider:  P.  38, 1  er  reit  üf  in  und  trat  in  nider.  des  er- 
holt er  sich  dicke  wider.  —  5126  diz  was  der  erste  swertes  strit: 
P.  197, 3  diz  was  stn  irste  swertes  strit.  —  5202  im  warn  diu  lit  er- 
swungen:  P.  691,  28  dem  wäm  die  lide  erswungen.  —  5363.  G.  4800 
und  bat  in  ezzen  vaste^  G.  4762  und  bat  si  vaste  ezzen,  M.  1230  und 
heizt  in  ezzen  vaste:  P.  34,  3  diu  bai  si  ezzen  vaste.  —  6745  als  er 
niht  langer  weide  leben:  P.  666,  10.  —  7499  sd  kurlichen  Up:  Wh. 
257,  24  aisi  kürUchen  lip.  —  7561  so  daz  Sin  vel  gap  lichten  schln: 
P. 459, 13.  —  8612.  9591  sus  was  der  strit  ergangen:  Wh.  50,  10  der 
strit  was  so  ergangen.  —  8620  si  fluhen  veU  oder  waU:  Wh.  117,  14 
er  vUehe  veU  oder  wait.  —  9241  ich  hän  mir  geziuges  niht:  P.  15, 
14  ine  hän  nü  mir  geziuges  niht.  —  9263  mit  golde  von  Kaukesas 
{:was):  Wh.  203,  25  mit  dem  goU  von  Kaukasas  (:wäs).  —  9412 
durah  rehter  wvrdekeite  kür,  9830  durch  ^ner  wirdekeite  kür:  P.  509, 
22  nach  der  werdekeite  kür.  —  9515  sin  ros  er  mit  den  sporn  ruorte. 
mit  vollem  poinders  hurte ,  vgl.  G.  Z.  512 ,  213  mit  vollen  poynders 
hurte,  G.  G.  92,  178.  93,  275  mit  poynders  hurte:  Wh.  239,  23 
hoßm  mit  poynders  hurte ,  442 ,  1  mit  voUeclicher  huorte  an  den  marc- 
graven  ruorte.  —  9533  äldä  pris  bezaUe.  mit  der  tjost  er  valte  den 
ritter  mit  ros  mit  alle,  von  der  tjoste  volle  wart  er  betwungen  sicher- 
heU,  ez  wter  im  liep  oder  leit:  P.  596,  27  swer  den  pris  bezaUe,  daz 
em  mit  tjoste  valte^  P.  38,  27  mit  orse  mit  alle  von  der  tjoste  vaUe^ 
und  UHirt  betwungen  Sicherheit ^  ez  wtere  im  liep  oder  leit,  vgl.  auch 
P.  596,  19  von  siner  tjoste  vdHe.  —  9682  groz  richeit  dar  an  gekiret: 
P.  107,  2.  129,  20  groz  richeit  ch^an  gekiret.  —  10036  der  der  wir- 
dekeite kränz  treit,  8492  der  der  wirdekeite  kränz  —  truoc,  6505. 
6655  er  tregt  der  werdekeite  kränz,  vgl.  1800  daz  er  bgaget  der 
iren  kränz:  P.  632,  28  der  der  werdekeite  kränz  ireit.  —  10111  liezen 
näher  strichen  üf  dem  poinder  hurtedichen :  P.  679,  25  liezen  näher 


798  Gott.  gel.  Ans.  1887.  Nr.  21. 

strichen  üfen  patnäm-  hurtedichen.  —  10123  mit  der  tjost  ein  ander  niht 
trugen,  die  sprisen  gen  den  lüften  flugen,  vgl.  10117  dcus  die  sprlzen  uf 
Stuben  und  hoch  üf  gen  den  lüften  fltyen,  Meyer  S.  492  za  T.  9249 
(9098)  und  oben  zu  M.  3434:  P.  37, 25  der  tjost  ein  ander  si  niht  lugen. 
die  sprieen  gein  den  lüften  ftugen.  —  11368  die  juncfrowen  werd  erkani 
huop  er  von  dem  pferde  do  mit  drucke  an  sich:  P.  615, 16  er  huop  die 
frowen  wolgetan  mit  drucke  an  sich  üf  ir  pfert.  —  11911  das  dt» 
swnne  durch  die  wölken  brach  ^  T.  13654  der  tac  durch  die  walke» 
brach:  Wb.  289,  3  dajg  de  sunne  durch  die  wölken  brach ^  292,  14 
und  diu  sunne  durh  die  walken  brach;  vgl.  Q.  1217  der  gräwe  tac 
asten  durch  die  walken  brach  und  dazu  Wig.  10882  des  tages  wise 
asten  durch  diu  walchen  dranc,  —  12088  aUer  meide  schoene  ist  ein 
wint  gen  der  schosne  die  si  hat,  vgl«  6.  6.  89,  7  sin  kraft  was  gen 
im  gar  ein  wint:  P.  188,  6  IMgen  schoene  was  ein  wint  gein  der 
meide  diu  hie  sagj  vgl.  318,  20  al  äventiure  ist  ein  wint  —  12810 
Laediejs:  P.  56,  15  Ixusaliee. 

6.  782  dae  ors  und  diu  straee  in  truogen  vor  (1.  vür)  dass 
bur  clor,  da  stuant  ein  schoeniu  linde  vor:  P.  162,  12  daz  ars  und 
auch  diu  sträze  in  truogen^  162,  8  da  vor  stuant  ein  linde  breit.  — 
789  ein  den  schoensten  aUen  man  der  (I.  des)  er  künde  ie  gewan:  P. 
240,  27  den  aller  schoensten  alten  man  des  er  künde  ie  gewan.  — 
796  van  palmät  dicke  ein  matraz  gesteppet  üf  ein  phdle  breit:  Wb. 
353,  19  ein  tiwer  pfeU  van  galde,  gesteppet,  als  er  weide,  van  palmät 
uf  ein  matraz,  P.  683,  13  palmäts  ein  dicke  matraz  — ,  dar  üf  ge- 
stept  ein  pfelle  breit.  —  892  dem  ganzer  tugende  nie  gebrast^  vgl.  H. 
3244  ganzer  tugende  im  nie  gebrast ^  T.  283  dem  eren  nie  gehrast: 
P.  22,  26  dem  süezer  (ganzer  G)  tugende  nie  gebrast.  —  933  iA 
walte  iuch  fragen  nuere^  wanne  iur  reise  wcere^  T.  6481  ich  weste 
gern  diu  mcere,  wannen  iwer  reise  wcere,  vgl-  G.  2897  fragt  in  — 
der  mcere  y  van  wan  ^n  reise  wcere:  P.  169,  27  ab  ich  iuch  wäge 
mcere,  wannen  iwer  reise  weere,  189,  13  herre,  ich  vräge  iuch  mcare^ 
wannen  iwer  reise  wcere.  —  1003  waz  taue  ich  noch  Übende?  daz 
aUer  ist  mir  gebende:  Wh.  64,  25  waz  taue  ich  nü  lebende?  der  /ä- 
mer  ist  mir  gebende.  —  1016  ff.  Oerhart  van  Riviers  (;  ab  ir  geion- 
bd  mirs):  P.  682,  18  Bemaut  de  Riviers  (Gemaut  FGg,  van  FGgg) 
:  wdt  ir  glauben  miers.  —  1199  ein  bette  ridie  geMret  künidiche  niht 
nach  armüde  kür.  da  was  geleit  ein  tqpich  für :  P.  191,  21  em  bette 
riche  gehSrt  künecliche^  niht  nach  armüde  kür:  ein  teppich  was  gddt 
derfür.  —  1204  die  ritter  wcU  der  werde  degen  da  niht  langer  läsen 
stän;  er  bat  si  zühtidtchen  gän:  P.  191,  2b  er  bat  die  ritter  wider 
gen ,  diene  liez  er  da  niht  larger  sten.  —  1377  ein  richiu  tjaste  da 
geschach  (diese  Zeile  auch  G.  2213.  6.  Z.  508, 40.  M.  5107.  T.  2683. 
13016. 13150. 13818).  Gdrd  in  ßigelingen  stach:  P.  385,  9  ein  riehiu 


Tandareis  and  Flordibel.    Herausgegeben  yon  KhuU.  799 

tjast  da  geschadr.  Gdwdn  in  fiiigdingen  stach.  —  1413  Gerhardes  l^er  mU 
hrache  im  seihen  euo  gemache  (I.  eungemache) :  Wb.  34,  9  Terramer  mit 
krache  den  getauften  zungemache.  —  1460.2172  ^n  eimierde  koste:  P. 
598,  10  stner  eimierde  koste.  —  1479  gevellet  hindere  kastelän;  dae 
was  im  selten  e  ^e^dn  (die  zweite  Zeile  auch  M.  5110  and  Wig.  470): 
Wh.  118,  11  (pflac)  gevelles  hindere  castelän.  dae  was  im  selten  e 
getan.  —  1484  Gärd  was  sins  gevelles  wer:  P.  598,  3  wer  da  ge- 
vdles  was  sin  wer.  —  1490  do  walte  ir  niht^  der  mit  im  streit, 
vgl.  M.  9567.  9573  der  da  mU  im  streu:  P.  198,  2  ir  mwolde  niht 
der  mit  im  streit.  —  1505  ic/»  sluoc  im  sinen  suon :  P.  198,  6.  214,  9. 
—  1526  ich  wil  dir  Ideen  ander  wal:  P.  198,  14.  —  1543  vor  val- 
sches  strites  überlast;  ich  was  sdiumphentiure  ein  gast:  P.  742,  7 
vor  solhem  strites  überlast:  er  was  sehumpfentiure  ein  gast.  —  1756 
sus  rümte  er  der  herren  lant:  Wh.  467,  8  sus  rümt  er  Provenedlen 
lant.  —  2256.  3768  durch  wae  slüege  ich  den  degen  snel  (werden 
helt):  P.  539,  26  durch  wae  toete  ich  disen  man.  —  2294  swae  ich 
noch  her  gestriten  hdn  dae  ist  mit  kinden  her  geschehen :  P.  734,  19  swae 
sin  hant  ie  gestreit^  dae  was  mit  kinden  her  getan.  —  2440  min  hdfe 
dae  niht  irrd  {: wirret):  P.  24,  21  min  hdfe  iuch,  frouwe^  niht  irret 
(:  wirrd).  —  2664  dae  in  dae  harte  unhohe  wiget :  P.  719,  22  dae 
in  lihte  unhohe  wigt^  287,  24  swie  unhohe  iuch  dae  wigt.  —  2839  ich 
hdn  ein  schumphentiure  gedoU^  diu  mir  fröude  hat  erholt:  P.  270, 
27  ich  Mn  schumphentiure  geiioU,  diu  mir  freude  hat  erholt.  —  2905 
i7i  ndnem  hereen  nahen  trage:  P.  24,  20  den  ich  nähe  {nahen  Ggg) 
im  hereen  trage.  —  3735  reht  als  ein  pheterc^e:  P.  197,  24  wie  ein 
pfetertere.  —  3883.  4918  diu  süeee  valsches  äne:  P.  16,  8.  —  3948 
Frtdns:  P.  524,  19  flF.  ürjdns  {frians,  vrians  d).  —  4041  sin  vol- 
s(heit  fröude  von  mir  spielt:  Wh.  254,  24  und  der  jdmer  vreude  von 
im  spidt.  —  4172  sider  von  Maeedänes  eit:  vgl.  P.  56,  17.  400,  7. 
585,  13.  —  4187  der  ist  herre  über  den  gräl  (so  ist  statt  überal  zu 
lesen):  P.  474,  22  der  was  ouch  herre  übern  gräl,  476,  16  wtsr  ich 
dan  hirre  übern  gräl.  —  4189  min  gesieht  was  ie  gein  valsche  Uint, 
vgl.  T.  214  der  knabe  wart  gen  valscheit  blint:  Wh.  355,  3  sin  heree 
was  vor  valsche  ie  blint.  —  4390  vü  wol  gefeitierd  {: geeieret):  P. 
565,  14  und  wol  gefeitieret  {:  geeieret).  —  4495  sin  ort  von  der  feien 
(;  meien) :  P.  96,  20 ;  400,  9  sin  art  was  von  der  feien  (:  meien).  — 
4595  (==  6.  Z.  459,  117)  sagt  an,  gebuten  iu  dae  wip:  P.  47,  8  sag 
anj  gebot  dir  dae  ein  vcip.  —  4632  si  wären  ee  sehenne  ein  ander  vro: 
P.  47,  4,  vgl.  94,  28.  —  4831.  3  geborn  von  Testregis  —  von  Jßreckes 
lande,  T.  11876.  14968  künec  von  Testrigeis:  P.  382,  16  unt  die  soU 
dier  von  Destrigleis  {destrigeis  Klasse  6)  üe  J^rekes  lande.  —  4881 
ouch  mohte  man  dd  schouwen  ie  eunschen  ewein  frouwen  einen  klären 
ritter  tanees  pUegen :  P.  639,  21  och  nwhte  man  dd  schouwen  ie  ewir 


80O  Gött.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  21. 

sehen  ewein  frotmm  einen  dären  riter  gen.  —  5266  von  Ajfogouc 
ein  grüen  samU  bediu  lanc  unde  wU^  vgl.  2161  ^n  decke  ein  grüener 
samit^  gesnüen  lanc  unde  wU :  P.  234, 4  rocke  grüener  denn  ein  gras, 
van  Äjsagouc  samtt ,  gesniten  wol  lanc  unde  wU.  —  0.  Z.  487 ,  80 
manec  schar  mit  krache  reit :  P.  667,  4  des  morgens  fruo  mii  brache 
reit.  —  511,  168  in2  lüie  Nantes  wart  geschHt,  G.  Z.  509,  71  Nantes 
lüte  wart  erschdU,  Ärtüses  des  küneges  krie^  Tgl.  G.  G.  90,  95  und 
schfiten  Nantes  die:  P.  382,  12  dicke  Nantes  wart  gesehnt^  Artüses 
herzeichen,  —  515,  59.  G.  G.  93,  256  icA  het  iu  vä  ze  sagen:  Wh. 
78,  8.  —  521 ,  11  die  muosten  im  entuAchen  und  doch  unlastarHUAen^ 
G.  G.  92 ,  231  muost  in  den  fürt  entu^hen  und  doch  untasterUduen : 
P.  411,  1  Qäwän  do  muose  entuAchen^  doch  unlasterlkhen.  —  535, 
271  trOrens  unerlost:  P.  733,  16.  Wh.  92,  30.  166,  29.-542,  255 
Elinotes  tot  —  daz  was  Ärtüses  werder  suon:  P.  383,  5  Hindt  — 
daz  was  Artus  werder  suon.  —  G.  Z.  544,  42  mit  chrancher  freuden 
schalle,  524,  128  mit  chrancher  freuden  schal,  533,  185  chranch  was 
ir  freuden  schal:  P.  487,  26  mit  kranker  freuden  schaue.  —  550,  251 
in  der  stat  ze  Thasmi:  P.  808,  8.  —  G.  G.  89,  11  alsus  viewA  er 
den  werden  man :  P.  73,  28  alsus  vienc  er  den  degen  wert  (vgl.  beide 
Male  auch  die  vorhergehende  Sitaation).  —  95,  146  Florie:  P. 
586,  4.  —  G.  B.  9a  du  bist  der  tugende  ein  hemdez  rts:  P.  26,  11 
gtn  Up  was  tugende  ein  bemde  rts.  —  10b  Artus  der  zuM  gderte: 
P.  131,  7  diu  frowe  zuht  gderet  —  Daß  die  in  allen  (Jediehten  aus- 
schließlich angewandten  Namenformen  Gdwän,  Iwm,  Iwanet^  BrOun, 
Britaneis  n.  a.  ebenfalls  aaf  Wolfram  berahen ,  bedarf  kaum  der 
Erwähnung.  Auch  die  ungemein  häufige  starke  Interpungierang  in 
der  Versmitte  ist  Wolfram  (vgl.  T.  FOrster ,  Zur  Sprache  and  Poeaie 
Wolframs  von  Bschenbach,  Leipzig  1874,  S.  2  ff.)  nachgeahmt 

In  gleicher  Weise  stelle  ich  des  Pleiers  Entlehnungen  ans  dem 
Wigalois  und  aus  den  Werken  Hartmanns  zusammen,  soweit  die- 
selben nicht  bereits  von  Meyer  (Zeitschrift  f.  d.  Altertum  12, 496  tt.\ 
Bartsch  (zu  M.  10062)  und  Zingerle  (Germ.  3,  26.  Wiener  Sitzongs- 
ber.  50,  453)  nachgewiesen  sind. 

T.  247  dem  (i.  den)  besten  was  er  undertdn:  Wig.  1604.  —  660. 
14457  weU  irz  vememeny  ich  sage  iu  u^eSj  1460.  17861  wdt  ir  ver* 
nemenj  ich  sage  iu  wes:  Wig.  3094  wdt  irz  vernemen,  ich  sagiu  wes. 
—  2126.  4880  daz  volc  im  aUez  heOes  bat:  Wig.  1407.  6211  das 
liut  {volk  B)  im  cdlez  heiles  bat.  -  6210.  12465.  M.  1974.  5878.  595a 
G.  3171.  4489  in  sAnem  herzen  er  des  jach ,  T.  5778  in  stme  herzen 
er  dd  jach^  vgl.  M.  7639  daz  er  in  sinem  herzen  jach:  Wig.  5021 
in  einem  herzen  er  des  jach.  —  9883  daz  veU  was  üf  unt  zetal  vot- 
lez  pavelün  geslagen :  Wig.  2645  daz  gevilde  was  üf  und  zetal  voüez 
pavdüne  geslagen.  —   10288  baz  dan  rehte  reise:  Wig.  4573  (sehr 


Tandareis  und  Flordibel.    Herausgegeben  von  Ehull.  801 

sigDificaDte,  weil  auf  Misverständnis  der  Wirntschen  Aasdracksweise 
berahende  EDtlehonng).  —  11217  diu  Stsdde  het  euo  ir  geswarn^ 
16405  diu  Saide  hat  jsuo  ir  gesworn,  T.  16513.  M.  997.  6.  4704 
(=  G.  Z.  462,  226)  diu  Scalde  hat  euo  im  gesworn:  Wig.  941  diu 
Südde  het  ir  gesworn.  -  12115.  16249.  G.  Z.  557,  231  heidiu  mU 
ernest  und  mit  spil:  Wig.  8795.  8997.  —  12951.  16851  von  dem 
brunnen  her  Iwan:  Wig.  10073  und  von  dem  brunnen  her  Iwein. 

M.  470  verre  brdht  über  si:  Wig.  7434.  —  1685  er  was  ge- 
unejsen  unde  guot:  Wig.  1409;  vgl.  3772  si  ist  gewissen  unde  guotj 
11542  sit  gewissen  unde  guat,  —  3989  getihtet,  mit  rimenwolberihtet: 
Wig.  139.  —  5105.  5989.  8272.  9530.  G.  1375.  3577  in  beiden  was 
zesamen  ger^  G.  2207  sus  was  in  auo  einander  ger,  M.  10115  den  was 
oucfi  euo  einander  ger:  Wig.  6629  in  beiden  was  eesamene  ger,  3531 
wand  in  was  euo  ^einander  ger,  —  5420  swaa  mir  von  iu  ist  beschehen^ 
des  wil  ich  kein  laster  han^  G.  4715  swae  mir  ist  von  im  gescJiehen^ 
des  wü  ich  kein  laster  h&ni  Wig.  3130  swae  mir  von  iu  ist  geschehen, 
des  toil  ich  niht  laster  hän.  ~  5636.  G.  1214  guot  naht  er  in  allen 
bot  (vgl.  auch  G.  4925) :  Wig.  4356  gmt  naht  er  in  do  allen  bot.  — 
5968  er  wand  im  soU  gelingen  (vgl.  aach  7972.  8120. 9944) :  Wig.  1973. 
—  9569  swae  er  in  tuon  hieee,  dae  er  des  niht  enlieee,  G.  1399  swae  in 
diu  meit  leisten  hieee ,  dae  er  des  niht  enlieee ,  T.  507 1  swae  er  sie 
leisten  hieee,  dae  ir  keiner  des  niht  lieee,  G.  4000  swae  ich  in  werben 
hieee,  dae  er  des  niht  enlieee^  M.  5185  und  dae  ers  niht  enlieee^ 
swae  er  in  tuon  hieee:  Wig.  3076  swae  er  in  tuon  hieee j  dcte  er 
dae  (des  Pfeiffer)  niht  enlieee.  —  12635  ^  bescheiden  an  edlen  din- 
gen: Wig.  11534. 

G.  1291  man  reihte  im  schiU  unde  sper.  von  dem  hüse  kerte  er, 
T.  10136  man  reichte  im  schilt  unde  sper.  in  dae  her  keret  er,  T. 
12572.  M.  4945  man  reichte  im  schilt  unde  sper,  T.  8393.  9158  man 
bot  im  schilt  unde  sper:  Wig.  6249  man  reichte  im  schilt  und  sper. 
von  dem  huse  kirte  er  (die  erste  Zeile  auch  520).  —  2770  diu  wert 
mit  ganeer  triuwen  kraft  undr  in  beiden  unee  an  ir  tot:  Wig.  7204 
diu  het  st€ete  und  ganee  kraft  under  in  beiden  une  an  ir  tot.  —  3462 
gluat  des  nahtes  üe  der  vinster  tuot:  Wig.  10698. 

T.  8  der  i^  der  verlorne^  9113  der  was  der  verlorne:  Iw.  5630 
des  was  er  der  verlorne^  doch  vgl.  auch  P.  265,  22.  467,  8.  —  2894. 
17655  diu  gewieeen  äne  heme  (an  der  ersten  Stelle  wird  fortgefahren  : 
diu  reine  unt  diu  guote ,  diu  senfte  wol  gemuote) ,  G.  896  gewieeen 
äne  hoene:  Iw.  7298  diu  gewieeen,  diu  unhoene  (dafür  in  den  Hand- 
schriften ab  one  höne)y  diu  süeee,  diu  guote,  diu  suoee  gemuote.  — 
3124.  G.  Z.  499 ,  284  nü  suoche  ich  helfe  unde  rät ,  M.  6427  nü 
suochte  hüfe  unde  rät,  vgl.  M.  1704  nu  suoch  ich  dinn  getriuwen  rät,^ 

Q«U.  f«l.  Am.  1867.  Nr.  21.  55 


802  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Kr.  2L 

1748  SO  suock  ich  dinn  getriuMen  rät,  2637  suoche  rat  an  iuch^  O. 
Z.  483 y  174  des  suoche  ich  dinen  rät,  ib.  188  so  soUü  danne  suoehen 
rät:  Erec  479  so  suoche  ich  hdfe  unde  rät,  —  3702  der  dicke  den 
litUen  schaden  tuot^  M.  6568  dicke  den  liuten  schaden  tuot:  Iw.  636 
der  mir  vü  dicke  schaden  tuot.  —  4037.  G.  3979.  4237  wajs  mac  ich 
sprechen  mire,  vgl.  M.  12634  waa  sol  ich  iu  mere  sagen:  Erec  5077 
wajg  mac  ich  nü  gesprechen  mS,  aber  aach  P.  379,  3  woß  mac  ich  nu 
sprechen  mir.  —  4413  des  {bluotes)  was  er  also  gar  ersigen  unt  het 
sich  in  dem  strUe  erwigen ,  G.  R.  9  a  6»'  was  des  bluotes  so  gar  er- 
sigen, T.  6776  er  hat  sich  so  erwigen:  Ereo  5720  des  bluotes  was  er 
gar  ersigen,  die  siege  heten  in  erwigen  (steht  etwas  näher  als  dievoa 
Meyer  S.  498  verglichene  Wigaloisstelle).  —  5918.  9335  e  er  erjmge 
den  andern  slac,  vgl.  6642.  G.  R.  8b:  Iw.  5066.  —  10140  do 
wünschten  man  unde  wtp  daa  got  stnen  werden  Up  behüete  stvä  (1. 
swar  mit  M)  er  kirte,  M.  3731  do  wünschten  man  unde  wtp  dae  got 
stnen  jungen  lip  behüete  wol  vor  aller  nöt^  M.  6139  ee  bat  man  unde 
wtp  dae  in  got  behuot  ir  lip  und  si  schiede  an  den  tot:  Iw.  5139  do 
bat  da  man  unde  uAp  dae  got  sin  Sre  und  stnen  Up  vriste  und  be- 
huote  und  daraus  Wig.  2946  do  bat  da  man  unde  w^  daa  got  s$nen 
jungen  Itp  friste  und  behuote.  Vgl.  auch  Wig.  1841  ff.  4421  ff^  — 
10688  gie  meiner  siner  veste  die  er  da  nähen  weste,  14138  keri  heim 
tfe  siner  veste  die  er  da  nähen  weste,  vgl.  1933  üf  ein  burc  die  besten^ 
die  sie  in  dem  lande  westen:  Iw.  3769  gein  einer  siner  veste  die  er 
da  nähen  weste. 

M.  376  nü  si  got  der  mich  ner :  Erec  6901  nü  si  got  der  in  ner^ 
Iw.  1172  got  ^  der  iuch  ner^  Erec  3188  unser  herre  si  der  dich  ner; 
daraus  Wig.  4978  nü  st  got  der  mich  gener.  —  874,  4382.  8768  gar 
in  des  Wunsches  gewdU  (:gestaU):  Iw.  6916  so  gar  in  Wunsches  ge- 
wait  (:gestaU).  —  1882  iur  not  ir  mit  dem  jungen  man  aUe  über- 
windet,  vgl.  G.  1174  der  mrt  het  aUe  Sine  not  mit  im  iibertounden^ 
G.  1968  dajBf  er  sin  not  mit  im  het  überwunden,  G.  Z.  536,  2  wan 
mit  klage  nieman  chan  sin  not  überwinden ;  vgl.  auch  G.  Z.  485,  259 
diu  chünegin  het  ir  leit  mit  liebe  Obertvunden:  Iw.  5916  wand  ir 
danne  überwindet  mit  im  alle  iuwer  not.  Dagegen  H.  2322  da  mite 
ich  mine  not  überwinde  mit  richeit  (vgl.  2498  f.)  ist  entlehnt  aus 
Wig.  8934  da  mite  er  stne  not  überwant  mit  richeit.  —  8446  toes 
möht  wir  langer  biten?^  G.  5349  wajg  mac  er  langer  htten^  4569 
wes  möhte  er  langer  btten?  (ebenso  wohl  auch  G.  Z.  551,  6),  H. 
5650  wes  sott  ich  langer  htten:  Erec  2121  wes  möhten  st  langer  U- 
ten?  —  12776  ej9  ist  an  sinem  Übe  gar  swa£  ein  ritter  haben  ao/, 
10352  ejs  ist  an  ^nem  Übe  gar  swaa  eim  ritter  rehte  stät ,  vgl.  auch 
G,  4723  swa0  ein  ritter  tuon  sol  ze  ritterlicher  manlidi^   dar   üf   ist 


Tandareis  and  Flordibel.    Heransgegeben  von  Ehull.  803 

iutver  Up  bereit:   Iw.  6912  €0  ist  an  Arne  Hbe  gar  swaa  ein  fiter 
haben  ad. 

6.  1157  got  geatuont  dem  rehten  ie  (vgl.  M.  8019):  Iw.  7628  so 
half  ouch  got  dem  rehten  ie,  doch  vgl.  aach  Wig.  2773  wander  gestuont 
dem  rehten  ie.  —  4164  swa  ich  dich  hcere  nennen  daz  ich  dich  müge 
erkennen:  Ereo  4820  daz  ich  inch  müeze  erkennen:  geruochet  iuch  mir 
nennen;  vgl.  anch  Wig.  3117  ich  toil  mich  iu  nennen,  daz  ir  mich 
muget  erkennen.  —  O.  R.  7  a  e^er  enai  ob  in  des  wände  siechttwm 
vancntusse  oder  tdtj  so  wendet  in  des  kein  ander  not:  Iw.  2933 
e^  latzte  in  ihaftiu  noty  siechtuom  vancnüsse  ode  der  tot. 

Vorstehende  Tabellen  sind  so  eingerichtet,  da  A  sie  die  Entleh- 
nangen  des  Fleiers  aas  Wolfram,  Wimt,  Hartmann  dort  verzeichnen, 
wo  die  Übereinstimmang  die  genaneste  ist,  nicht  dort,  wo  die  Nach- 
abmong  zuerst,  wenn  auch  minder  schlagend,  anftritt.  Daher  findet 
man  manche  Lehnstelle  des  Tandareis  erst  in  den  Listen  des  Meh- 
ranz  oder  des  Oarel  notiert  Aber  Schlüsse  anf  die  Reihenfolge  der 
drei  Romane  lassen  sich  daraas  nicht  ziehen,  denn  Jeder  kann  sich 
leicht  ttberzengen,  daft  sehr  häufig  aach  innerhalb  einer  und  der- 
selben Erzählang  Variationen  eines  Plagiats  seiner  genaueren  oder 
ganz  wörtlichen  Verwendung  um  Taosende  von  Versen  vorangehn. 
Der  Fleier  hat  sich  also  entweder  heute  weniger  bestimmt  als  mor- 
gen einer  ihm  sympathischen  Fhrase  aus  seiner  Lecttlre  erinnert,  oder 
er  hat  gewisse  Lieblingsautoren  immer  von  neuem  während  der  ei- 
genen poetischen  Production  gelesen.  —  Hält  man  zu  diesen  mas- 
senhaften Entlehnungen  die  nicht  minder  zahlreichen  stereotypen 
Wendungen,  welche  der  Fleier  gebraucht  und  welche  leicht  ebenfalls 
anf  Nachahmung  beruhen  können  ^  volle  Sicherheit  Hefte  sich  erst 
gewinnen,  wenn  des  Strickers  Daniel  gedruckt  vorläge  — ,  z.  B.  miU 
guoten  triuwen  dne  (sunder)  sjpot,  vil  ungdtche  einem  zagen^  des  mor- 
gens do  der  tac  erschein  (üf  brach\  edeliu  kint^  vä  sarjantj  üf  nAne 
triuwe  ich  daz  nim ,  swaz  er  gd>dt  daz  geschach  u.  s.  w.,  so  gelangt 
man  za  der  Überzeugung,  daft  nicht  nur  das  Motivrepertoire  des 
Poeten  f  sondern  bis  ins  einzelne  auch  sein  Sprachschatz  mühselig 
aus  der  mhd.  Dichtung  der  Blütezeit  zusammengebettelt  ist,  kein  Fun- 
ken Originalität  hinter  dem  breiten  Wortschwall  steckt 

Benutzung  des  Umhanges  Blickers  von  Steinach  durch  den 
Fleier  behauptete  Bartsch  in  seiner  Ausgabe  des  Meleranz  S.  365; 
Meyer  S.  484  pflichtete  ihm  bei.  Zwei  Ortlnde  machte  Bartsch  fUr 
seine  Annahme  geltend :  1.  der  Dichter  schildere  M.  685  ff.  den  Um- 
hang eines  Bettes,  auf  welchem  der  trojanische  Krieg  und  die  (be- 
schichte des  Aeneas  abgebildet  gewesen  sei:  gen&t  wol  mit  gcide^ 
(Us  diu  künegin  wolde,    wie  Parts  unde  Elend  ein  ander  nimten^ 

66* 


804  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  21. 

ouch  stuont  däy  wie  *  Troien  slt  gewan  und  wie  Eneas  dan  eniran 
und  wie  im  al  sin  dinc  ergie.  Ich  erblicke  in  diesem  Passus  nar  eiae 
Nachahmung  des  Erec,  wo  7545  ff.  von  einer  ganz  ähnlichen  Dar- 
stellang  des  Trojanerkrieges  and  der  Schicksale  des  Aeneas ,  die 
einem  Pferdezeug  zum  Schmacke  diente ,  berichtet  wird  :  an  diseni 
gereite  was  ergraben  daz  lange  liet  von  Trogä.  ze  aller  vorderst  stuoni 
da  wie  des  wart  hegunnen  dae  ^  was  gewunnen  unz  dcus  sl  wart  zer- 
stceret:  da  mite  was  da  gehoeret,  da  engegen  ergraben  was  wie  der 
herre  tineas^  der  vil  listige  man^  über  sc  fuor  von  dan^  und  wier  ze 
Kartagö  kam  u.  s.  w.,  zamal  einige  wörtliche  Anklänge  sich  bemerk- 
lich machen  und  in  demselben  Erec  8596  ff.  auch  gemalte,  goldge- 
schmückte Umhänge  erwähnt  werden.  Hartmann  aber  folgte  be- 
kannter Maßen  mit  dieser  Beschreibung  seinem  Gewährsmann  Chre- 
stien ,  schöpfte  also  seinerseits  nicht  aus  Blickers  Gedieht  Ferner 
kannte,  wie  wir  wissen,  der  Pleier  den  Wigalois,  wo  V.  2715  ff.  eine 
Jungfraa  aus  einem  Buche  vorliest,  wie  Troie  zefiieret  wcere  und  wie 
jämerliche  ilneas  der  rlche  sich  dannen  stdl  mit  sinefn  her  vor  den 
Kriechen  üf  daz  mer,  wie  in  frou  JDido  enpAe,  und  wie  ez  im  dar- 
nach ergie,  alseziuofteist  geseit  Auch  die  weiteren  Er- 
wähnungen von  bildlichen  Darstellungen  des  Trojanerkrieges  in  der 
mhd.  Litteratur  dürften  auf  Hartmanns  Muster  zurückgehn  und  nicht^ 
wie  man  wohl  geglaubt  hat,  als  Beschreibungen  wirklich  vorhan- 
dener Teppiche  anzusehen  sein :  dahin  gehört  die  von  Pfeiffer,  Freie 
Forschung  62  ff.  ausgehobene  Stelle  der  Krone  524  ff.,  dahin  der 
Bericht  Fleckes  (Flore  1587  ff.)  über  einen  Becher,  auf  welchem  die 
ganze  Geschichte  des  trojanischen  Krieges  in  erhabener  Arbeit  an- 
gebracht war;  und  noch  der  Wigamur  weiß  V.  2410  ff.  von  einem 
Zeltdach  zu  erzählen,  daranwaswol  üzgenomen^  als  ir  ofte  habet 
vernomen,  wie  Troie  wart  zefüeret,  —  2.  auf  dem  Gürtel  der  Kö- 
nigin Tydomie  seien  die  Worte  dulcis  labor,  minne  ist  süeziu  arbeit 
692.  4  eingeschrieben  gewesen,  diese  begegneten  aber  in  dem  Bmch- 
stücke,  welches  Pfeiffer  dem  Umhang  zuerkenne.  Ich  bezweifle,  ob 
nach  den  Ausführungen  von  J.  Schmidt  in  Paul- Braunes  Beiträgen 
3,  173  ff.  heute  noch  ein  Urteilsfähiger  an  die  Zugehörigkeit  jenes 
Fragmentes  zu  dem  Werke  Blickers  glaubt;  jedesfalls  aber  braucht 
der  Pleier  seine  Kenntnis  von  amor  dulcis  labor  nicht  ans  dem 
Bruchstück,  selbst  wenn  dieses  wirklich  einen  Teil  des  Umhanges  bil- 
dete, zu  haben ,  denn  darin  erscheint  der  Spruch  nur  als  ein  Citat 
aus  (Pseudo-)Ovid,  und  ein  solches  konnte  sicherlich,  auch  ohne  lit- 
terarische Vermittelung,  in  der  Konversation  gerade  des  13.  Jahr- 
hunderts des  öftern  zur  Anwendung  kommen. 

Einen  Anhalt  für  die  chronologische  Fixierung  des  T.  hat  Meyer  in 


Tandareis  and  Flordibe^     Herausgegeben  von  Khali.  805 

den  W.  10155  ff.  (10000)  sehen  wollen.  Dort  wird  nämlich  in  Kur- 
netoäl,  dcuf  ivtten  Markes  des  kiineges  was  ^  ein  eons  LischeU  viz  Tinaz 
erwähnt,  bei  welchem  Tandareis  frenndliche  Aarnahme  genießt.  Da 
derselbe  nnn  an  der  zweiten  der  drei  Stellen,  die  ihn  nennen,  Ryschait 
heiAt,  so  vermutete  Meyer  eine  Anspielung  auf  den  deutschen  König 
Richard  von  Cornwall.  Aber  es  liegt  hier  nur  in  der  von  Meyer  be- 
nutzten Hamburger  Handschrift  ein  Schreibfehler  vor,  die  anderen  Co- 
dices bieten  Lytscboit  und  so  liest  denn  auch  Khuli  Überall  mit  Recht 
LischeU,  Auf  die  Nachahmung  von  P.  429,  18  cons  Latz  {lAäz  6) 
fiz  Tinas  wies  Meyer  selbst  hin;  es  fragt  sich  nur,  wie  der  Pleier 
dazu  kam,  Latz  (Liäz)  durch  LiscJieit  zu  ersetzen.  Und  da  zweifle 
ich  keinen  Augenblick,  daß  er  den  nur  einmal  vorkommenden  L&iz 
verwechselte  mit  dem  im  P.  eine  nicht  unwichtige  Rolle  spielenden 
Lischois  (ßwelljus)  (507.  536.  538.  541.  542  u.  s.  w.). 

Daß  von  den  drei  Gedichten  des  Pleiers  der  Garel,  wie  das 
beste,  auch  das  älteste  sei,  nahm  Meyer  S.  483  mit  Recht  an.  Sei- 
nen Ortlnden  lassen  sich  eine  Reihe  Argumente  formaler  Natur  hin- 
zufügen, welche  darthun,  daß  M.  und  T.  einander  näher  als  dem  Q. 
stehn.  In  letzterem  begegnet  die  Konjunktion  dtio^  durch  den  Reim 
geschlitzt,  nur  einmal,  sonst  immer  dfo,  während  der  M.  9,  der  T.  4 
duo  neben  dö  aufweist.  Das  Epitheton  Mchjehorn  findet  sich  nur  im 
G.,  der  M.  und  der  T.  kennen  bloß  wolgehorn  (18,  resp.  21  Mal), 
welches  an  4  Stellen  des  G.  ebenfalls  zu  lesen  ist.  Im  G.  steht  das 
Adjektiv  stolz  10  Mal  mit  gemeit  verbunden,  7  Mal  allein,  während 
es  im  M.  nur  ein  einziges  Mal,  ohne  gemeit,  erscheint,  und  im  T. 
gänzlich  fehlt.  Die  Partikel  sän  neben  sa  hat  G.  5  Mal,  der  M.  und 
T.  je  19  und  16  Mal.  Aber  es  fragt  sich  nun,  ob  der  M.  oder  der 
T.  frtther  entstanden  sei.  Meyer  entschied  sich  S.  484  für  die  letz- 
tere Alternative;  er  sagt:  'der  Meleranz  scheint  nach  dem  ernsten, 
tiber  die  Abnahme  guter  Dinge  klagenden  Eingange  von  einem  rei- 
feren Manne  verfaßt  zu  sein,  der  schon  oftmals  die  Ehre  des  tüchti- 
gen, die  Schmach  des  schlechten  gesehen  hat,  V.  86 — 90.  Jetzt  er- 
wähnt er  denn  auch  nicht  nur  Hartmann,  sondern  auch  Wolfram 
V.  106—109.  Und  auch  mit  dem  verlorenen  Umhang  Bliggers  von 
Steinach  scheint  er  sehr  vertraut  geworden  zu  sein.  Sein  Gedicht 
widmet  er  nicht  mehr  der  Geliebten,  sondern  als  getriuwer  dientere 
V.  12785  dem  Ritter  Wtmar  V.  12775'.  Diese  Gründe  besagen  we- 
nig oder  nichts.  Der  an  dritter  Stelle  vorgebrachte  wurde  bereits 
widerlegt ;  der  zweite  kommt  in  Wegfall,  wenn  man  erwägt,  daß  im 
T.  weder  Hartmann  noch  Wolfram  genannt  wird,  Wolfram  aber  dort 
gerade  stärker  benutzt  ist  als  in  den  beiden  andern  Erzählungen. 
Dlis  vierte  Argument  könnte  nur  etwas  beweisen  im  Zusammenhange 


806  Gott.  gel.  Adz.  1887.  Nr.  21. 

mit  Meyers  Hypothese  über  die  Tersehiedene  Entstehangszeit  der 
beiden  Hälften  des  Tandareis ;  weshalb  ich  ihr  nicht  beizutreten  Ter- 
mag,  habe  ich  oben  aaseinandergesetzt  Denn  warnm  sollte  niebt, 
an  sich  betrachtet,  ein  Dichter  sein  frühestes  Werk  Niemandem,  sein 
zweites  einem  Bitter,  das  dritte  erst  seiner  Dame  zueignen?  End- 
lich die  Einleitung  des  M. :  um  so  triviale  Gemeinplätze,  die  nament- 
lich in  der  2.  Hälfte  des  13.  Jahrhunderts  —  ich  erinnere  an  die 
Spruchdichter  —  gewissermafien  zum  Motivenschatz  der  Poeten  ge- 
h()rten,  vorzubringen,  bedarf  es  gewiß  keines  gereifteren  Alters  oder 
erheblicher  Lebenserfahrungen.  Ohne  Mtthe  konnte  auch  der  Pleier 
seinen  Bedarf  an  Beflexionen  dem  sententiOsen  Wirnt  abborgen.  Und 
wirklich  verwertete  er  den  großen  Monolog  des  Wig.  V.  10245  ff. 
für  die  Anfangspartie  des  M. ,  wie  z.  B.  M.  23.  24  nü  hai  ee  siA 
verkeret  gar :  ie  langer  so  hcßser  jär  =»  Wig.  10265  f.  diu  gU  hat 
sich  verwandelt  gar ;  ie  lenger  und  lenger  boseni  diu  jdr  zeigt  Oben- 
drein hat  Bartsch  zu  M.  36—93  angemerkt,  daß  die  größere  Hälfte  di^ 
ses  Einganges,  zum  Teil  mit  denselben  Worten,  schon  im  O.  sich  ▼01^ 
findet.  Vielmehr  bin  ich,  wiederum  auf  formelle  Orfinde  gesttttzt,  d^ 
Ueberzeugung ,  daß  der  T.  das  letzte  Werk  des  Fleiers  darstellt,  daß 
wir  also  die  Folge :  G.  M.  T.  zu  statuieren  haben.  Denn  nur  im  T.  be- 
gegnet das  seltene  Adj.  vram  (vgl.  außer  Heyers  Gitat  S.  490  noch 
Alphart  325,  4,  Albers  Tundalus  631  vgl.  87»  Ottes  Barlaam  54)  3  Mal, 
ebenso  oft  das  Participadjektiv  Jie^^emd^«  (12991.  13005. 16763)  neben 
3  liehtgemdl  (dies  bei  Wolfram  sehr  beliebte  Adjektiv  bieten  G.  and  M. 
je  1  Mal).  Nur  im  T.  geschieht  das  Abbrechen  oder  Wiederanknüpfen 
der  Erzählung  gelegentlich  in  der  2.  P.  PI.  bei  dem  Verbnm  /oji, 
während  der  Q.  und  der  M.  ausschließlich  die  1.  P.  PI.  oder  Sg. 
verwenden  oder  Konstruktionen  mit  der  3.  P.  Sg.  gebrauchen.  Ich 
gebe  die  Beispiele  aus  allen  3  Gedichten  vollständig;  natttrlioh  sehe 
ich  von  derartigen  einer  Bomanfigur  in  den  Mund  gelegten  Aus- 
drücken ab.  G.  1816  nü  laee  wir  den  rittet  hie,  5465  Jne  lasen  wir 
daz  mtjere^  4855  die  rede  wir  nA  Ideen,  4731  hie  suln  unr  dise  rede  Jm, 
Germ.  3,  35  hie  suUn  unr  diz  nusre  län;  2774  der  rede  ich  hie  ge- 
suAgen  wü,  5193.  G.  Z.  546,  102  der  rede  ich  nü  gesuAgen  tril; 
4744  (=  G.  Z.  463,  266)  der  rede  A  nu  hie  genuac,  5136  diu  rede 
si  nü  laeen.  —  M.  94  Ai^  siH  wir  dise  rede  län^  4133  nü  sul  wir 
dise  rede  län^  1515  die  rede  suln  wir  Wfen  sin^  11513  die  rede  läge 
wir  hie  ^n,  2743  hie  Idee  wir  den  boten  vam,  4109  hie  laee  wir  die 
maget  Mar;  3600  da  ich  die  äventiure  lie^  da  wU  ich  wider  grifen  an, 
12786  nü  wil  ich  an  min  nusre  wider  grifen,  ddicheelie.  —  T.  1590. 
5540.  17989.  18323  hie  sul  wir  dise  rede  län,  14443.  15363  hie  sul 
wir  die  rede  län,  13779  hie  läge  wir  die  rede  ^n,  14242  die  rede  siA 


Tandareis  and  Flordibel.    Herausgegeben  von  Khali.  807 

mr  beliben  Ian,  1437  nü  Use  wire  beUben  hie,  8301.  9668  nü  läsen 
das  belfben  hie,  7969  nü  läse  wir  hdtben  das,  15453  nü  sule  unr  län 
beUben  das  nuer  von  einer  missetät,  3958  die  maget  sul  wir  läsen  hie^ 
11746  hie  sul  mr  die  maget  län,  11662  hie  läse  wir  den  werden  de- 
gen^  13976  hie  läse  wir  dm  künec  stn^  12801  die  Mnege  läswirligen 
hie  un^  sagen;  156  hie  wil  ich  dise  rede  län^  11931  wolt  iuch  des 
niht  betragen  y  ich  wolt  das  mcere  läsen  hie  unt  wolde  iu  sagen, 
17056  ir  essens  wil  ich  gar  gedagen  unt  sidn  ein  ander  nuere  sagen. 
Daneben  in  der  2.  P.  PI.  (und  zwar  in  beiden  Hälften  des  Qediehts) : 
264  die  rede  lät  ^n,  ich  wil  iu  sagen^  2740.  10715.  13263  die  rede 
lät  sin,  Iwert  was  (wie)  geschach,  4891.  13496  die  rede  lät  Sin  unt 
hcßret  hie,  15412  nü  lät  si^  ligen;  vgl.  aocb  655.  15817  nü  hcert  ein 
ander  nuere.  Hit  dieser  Verwendung  der  2.  P.  PI.  ahmt  der  Pleier 
speeifiseh  ^)  Wolframscbe  Redeweise  nach,  vgl.  die  reichlichen  Samm- 
longen bei  Förster  a.  a.  0.  S.  32  f.  —  Der  Dativ  Sg.  oder  PI.  süe 
oder  siten,  von  einer  Praeposition  regiert  and  mit  einem  davon  ab- 
hängigen Genetiv  verbanden,  also  in  umschreibender  Funktion,  findet 
sich  im  Q.  und  M.  nur  je  einmal  (mit  fröuden  siten,  nach  vindes  si- 
ten), im  T.  hingegen  10  Mal  (17735  mit  fröuden  siten,  11680.  11743 
mit  jämers  siten,  9229.  10881  mit  somes  siten,  9280  mit  somes  site, 
10338  üs  sornes  siteny  16598  mit  sühten  siten;  7311  nächhmfmannes 
siten,  17112  nach  ritters  siten),  und  es  überwiegen,  wie  man  sieht, 
die  Genetive  von  Abstrakten.  Gerade  dies  ist  wieder  Wolfram  ab- 
gelauscht^).   Die   Wolframschen   Beispiele  sind  weder  von  Jänicke, 

1)  W&hrend  n&mlich  das  Abbrechen  oder  Wiederanknüpfen  der  Rede  in 
1.  P.  Sg.  oder  PL  das  ganze  12.  and  13.  Jahrhundert  hindurch  so  massenhaft 
Torkommt,  dafi  eine  Sammlung  der  Beispiele  überflüssig  erscheinen  muS,  lassen 
sich  die  Fälle,  in  welchen  die  2.  P.  Sg.  oder  PI.  zur  Verwendung  gelangt,  zählen : 
in  der  ganzen  poetischen  Litteratur  bis  auf  Eonrad  von  Würzburg  und  ihn  ein- 
begriffen begegnen  viel  weniger  Fügungen  dieser  Art  als  bei  dem  einzigen  Wolf- 
ram. M.  von  Cräün  1177  nä  Idzet  dise  rede  varn,  Bari.  294,  85  nü  lät  mich  üz 
dem  mare  kSren,  ib.  298,  6  iä  mich  aber  kSren  wider  an  daz  mare,  H.  von  Krol- 
witz  421  daz  lät  heliben  an  der  stete,  Mai  196,  27  nü  lät  dm  knahen  riten  hie 
und  hasret.  Ulrich  v.  Türheim,  Willehalm  (Lohmeyer  S.  88,  859)  nü  lät  sich  daz 
her  telän.  Dabei  Verbindung  von  2.  mit  1.  Person:  Mai  9,  18  nü  läze  wir  die 
rede  hie  und  haaret,  Mariae  Himmelfahrt  (Zeitschr.  f.  d.  Altertum  Bd.  5)  428  nü 
läzen  wir  virliben  daz  und  virnemit  vorhaz.  Zu  unterscheiden  davon  ist  selbst- 
verständlich der  Gebrauch  von  lä,  lät  in  der  Bedeutung  von  'angenommen,  gesetzt 
den  Fall'.  So  Kaiserchr.  D.  108,  26  lä  zehenzec  tüsent  den  Up  verlorn  hän,  M. 
von  Gräün  1158  wan  lät  ez  sin  alse  daz,  Trist.  124,  28  nü  diz  läi  allez  sin  getan, 
besonders  üblich  im  Wälschen  Gast,  z.  B.  9388  nü  lä  dav  er  gelSret  si,  11149. 
11161.  11251.  11940  läi. 

2)  Es  ist  äin  erheblicher  Unterschied,  ob  der  von  site,  siten  abhängige  Gene- 
tiv einem  Abstraktum  oder  einem  Konkretum  angehört.  Beispiele  von  konkreten 
Begriffen  sind  ziemlich  häufig  in  der  Litteratur  des  18.  Jahrhunderts,   und  nur 


808  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  21. 

Zeitscbr.  f.  d.  Altertam  15,  160  noch  von  Kinzel,  Zeitschr.  f.  d.  Phil. 
5f  32  vollständig  gesammelt,  ich  vermisse  bei  letzterem:   P.  264,  24 
von  smeiches  süen,  309,  22  nach   tavelrunder  sUeny  313,  8  nach  der 
Franzoyser  siten^  778,  18  nach  Franeoyser  sUen^   643,  8   ob  minne 
site,  657,  7  in  eouhers  süe^  Wh.  16,  12  n&ch  der  g&mane  siten^  30,  14 
mit   eOMe   siten,   73,  28  /se  jämers  siten^  457,  4  nach  vAhes  süen. 
Daß   mit  der  Annahme   der  Reihenfolge  6.  H.  T.    das  richtige 
getroffen  sei,  wird  weiter  bewiesen  durch  die  Beobachtung,  daft  ge- 
wisse beliebte  Epitheta  in  einem    Verhältnis  zunehmen,  welches  kei- 
neswegs dem  wachsenden  Umfange  der  Gedichte  entspricht.    Setzen 
wir  runde  Zahlen,  so  liegen  vom  0.  9000  VV.  gedruckt  vor,  der  M. 
enthält   12000,  der  T.   18000,  es   ergibt  sich    also  die    Proportion 
3:4:6,  und  demgemäß  mttßten  sich  die  Epitheta  —  denn  bei  ihrer 
Wahl  verfährt  wenigstens  der  Pleier  ohne  jede  bewußte  Absiebt  oder 
Ueberlegnng   —    in  den  3  Gedichten,  wären  diese  zu  gleicher  Zeit 
oder   unter   gleichen  Verhältnissen  entstanden,    verhalten.     Aber  es 
steht  anders.    Im  G.  finde  ich  wert  210,  im  M.  382,  im  T.  639  Mal, 
wert  erJcant   (eine  acht  Wolframsche   Bildung,   vgl.  F()rster  a.  a.  0. 
S.  10)  im  G.  22,  im  M.  51,    im  T.  gar  105  Mal ;  Mar  begegnet  im 
G.  49,  im  M.  136,  im  T.  230  Mal,  wolget&n  im  G.  11,  im  M.  70,  im 
T.  126  Mal.   Bei  unvereaget  stellen  sich  die  Zahlen  so :  G.  42,  M  43, 
T.  149,  bei  wolgeslaht:  G.  1,  M.  3,  T.  10.    Adjectiva  auf  -sam   ver- 
wenige Poeten  enthalten  sich  dieser  Fügungen  g&nzlich :    so  Walther,  Neidhart, 
der  Verfasser   des  Eraclius,  Konrad  v.  FoSesbrunnen,  Th.   von  Zirclaria,  Hart- 
mann im  Iwein,  die  Dichter  des  Alphart,  Ortntt,  Wolfdietrich  AB  und  der   Kü- 
drun.    Freilich  aus  dem   12.  Jahrhundert  könnte  ich  nur  namhaft  machen  Nfr. 
Legendär  661  nä  armer  lüde  $ide,  Orendel  1029  nach  ritter  sü&n,   und   aus  der 
Scheide  des  12.  und    13.  Jahrhunderts    M.  von  Cräün  612  nach  geseüecUehes  tofbes 
site  sowie  mehrere  Stellen    des  Biterolf:    8113   näeh  geaU  aiten,    3270  nach  der 
valken  nte,  6172  nach  friunde»  siten^  6758  in  friundee  siten^  11146   nach  der  kre- 
heze  9ite\    4790  nach  siten  des  hovee  dn,  11886  näeh  site  Hner  Herren   lanL     An- 
ders hingegen  steht   es  mit   den   Genetiven   von  Abstraktis.     Sehe  ich  von  dem 
ganz  vereinzelten  in  zornes  siten  Bit.  8104  ab,   so  finden  sich  derartige  Genetive 
nur  bei  solchen  Autoren,   die   entschieden  jünger  sind  als  Wolfram   und  diesen 
kennen  konnten    oder  nachweislich  gekannt   haben.     Die   bis   auf  Eonrads  Zeit 
von  mir  bemerkten  Fälle  sind,  ungefähr  in  chronologischer  Folge  geordnet,   fol- 
gende :  H.  V.  d.  Türlin,  Krone  6229  mit  frVuden  siten,   20489  nach  fröuden  siU, 
16888  näeh  leides  site-,  Ernst  B  4209  nach  freuden  siten;  R.  v.   Ems,  G.  Gerhard 
5088.  56^8  mit  freuden  siten,  6750  mit  urdrätzen  siten,  Bari.  378,  29   mä  eg^s- 
Hcher  forhie  site;  ü.  v.  Lichtenstein  472,  29  nach  tähte  site;  B.  v.  Holle,  Deman- 
tin 8471  nach  der  frouden  site;  Uebles  Weib  118  in  riuwen  siten;  Mai    169,  80 
üz  Zornes  site ;    K.  v.  Würzburg,   Engelh.  369  nach  miner  hShen  ISre  site ,   Tumei 
26  näeh  siner  tugende  siten;  Fortsetzer  des  Trojanerkrieges  41229  dur  manUeker 
iugende  site^   41487   mit  frihtden   siten,  46447   mit  clagendes  jämers  siten,  48516. 
48732  in  (mit)  vientliches  zornes  siten,  48722  durch  des  biUiches  fuoges  nU, 


Tandareis  und  Flordibel.    Herausgegeben  von  Kbull.  809 

wendet  der  0.  4,  M.  8,  T.  21.  vol  mit  abhängigem  Genetiv  eines 
AbBtrakts  (tugende  volj  eren  vol)  kennen  Q.  und  M.  je  2  Mal,  der  T. 
weist  diese  Figur  7  Mal  auf.  Man  ersieht  ans  diesen  Zahlen,  was 
die  LektUre  der  Gedichte  nur  bestätigt,  daß  die  Monotonie  der  Dar- 
Stellung  immer  zunimmt,  daß  an  die  Stelle  von  wirklicher  Schilde- 
rung in  wachsendem  Maße  leere  Phrase  tritt;  der  Pleier  hat  sich 
eben  schon  in  seinem  G.  ausgegeben  und  kann  im  M.  und  T.  ledig- 
lich das  früher  gesagte  variieren.  Dazu  stimmt,  daß  die  Anakolu- 
thien  oder  die  Verbindungen  eines  pluralischen  Subjekts  mit  einem 
Praedikat  im  Sg.  stets  sich  mehren,  alles  Zeichen  der  Zusehens  sa- 
lopper werdenden  Darstellung.  Bei  einzelnen  anderen  Epithetis  läßt 
sich  eine  Abnahme  des  Gebrauchs  in  gleichem  Verhältnis,  wie  dies 
bei  jenem  Wachstum  der  Fall  war,  konstatieren :  edel  erscheint  im 
G.  65  Mal,  ebenso  oft  im  M.,  58  Mal  im  T.;  für  üeerkom  sind  die 
Zahlen  G.  20,  M.  10,  T.  13.  Nur  wenige  Beiwörter  entsprechen  un- 
gefähr derjenigen  Norm,  welche  sich  aus  der  Verszahl  der  Gedichte 
ergeben  würde:  so  her  (16.  24.  42),  die  Adjektiva  auf  -hcere  (17.  27. 
37),  auch  lobeUch  (12.  14.  17),  hoch  gelohet  (13.  13.  23).  Hingegen 
die  enorme  Zunahme  von  curteis  im  T.  darf  wegen  des  Reimwortes 
Tandareis  nicht  in  Betracht  gezogen  werden. 

Man  wird  von  mir  noch  ein  Wort  über  den  philologischen  Wert 
von  Ehulls  Ausgabe  erwarten,  ein  Urteil  darüber,  ob  er  das  Ver- 
hältnis der  3  Handschriften  zu  einander  und  zum  Archetypus  richtig 
erkannt  und  ob  er  auf  Grund  dieser  recensio  dann  auch  eine  metho- 
dische emendatio  des  Textes  vorgenommen  hat.  Ich  muß  bekennen, 
daß  ich  abschließend  darüber  mich  nicht  zu  äußern  wage.  Denn 
leider  ist  der  Variantenapparat  dermaßen  unübersichtlich,  technisch 
unbeholfen  und  im  einzelnen  unklar  sowohl  als  fehlerhaft  ausge- 
fallen, daß  jede  Sicherheit  der  Nachprüfung  fehlt.  Zum  Beweise 
begnüge  ich  mich  folgendes  anzuführen:  die  Siglen  für  die  verschie- 
denen Codices  sind  nicht  durch  kursiven  Druck  von  den  Varianten 
selbst  abgehoben,  und  da  für  die  Heidelberger  Handschrift  das  Zei- 
chen h  gewählt  ist,  so  entstehn  zuweilen  Zweifel,  ob  man  es  mit 
dieser  Abbreviatur  oder  mit  einem  abgekürzten  Textwort  zu  thun 
hat ;  die  Lücken  eben  dieses  Manuskripts  stehn  in  dem  Apparat  nicht 
verzeichnet,  sondern  sind  nur  in  den  vorangeschickten  Bemerkungen 
über  das  Verhältnis  der  Handschriften  notiert,  so  daß  der  Benutzer 
jedesmal  an  zwei  Orten  nachschlagen  muß;  vielfach  endlich  stören 
falsche  Zahlen.  S.  192  heißt  es:  'die  Verse  16326  f.  17429  f.  17903  f. 
18053  f.  sind  in  hH  in  verkehrter  Ordnung  überliefert,  während  sie 
M  in  richtiger  Folge  liest';  aber  sieht  man  den  Apparat  ein,  so 
findet  man   bei  allen   diesen  Stellen  (die  letzte   soll  wohl  18052  f. 


810  Gott.  g;el.  Ane.  1887.  Nr.  21. 

lanten)  nur  h  yermerkt:  welcher  Angabe  soll  man  algo  trauen? 
Ohne  Einblick  in  die  Handschriften  selbst,  bloß  anf  Ehulls  Varian-j» 
ton  angewiesen,  läßt  sich  somit  die  Richtigkeit  oder  Unricbtigkeir^ 
seiner  Ansicht  über  die  Ueberlieferang  im  allgemeinen  nicht  bear- 
teilen;  aber  das  ist  mir  darchaas  klar,  daß  er  die  Handschrift  b 
stark  unterschätzt,  sie  hätte  viel  öfter  zur  Korrektur  von  HM  die- 
nen können  als  es  geschehen  ist.  Schon  oben,  als  ich  die  Entleh- 
nungen des  Fleiers  zusammenstellte,  ergaben  sich  Stellen,  an  denen 
h  allein  unzweifelhaft  das  ächte  bot  (s.  8994.  10159).  Weitere  möge 
man  einer  kleinen  Lese  von  Verbesserungen  zu  Ehulls  Ausgabe  ent- 
nehmen, welche  ich  hier  folgen  lasse  ^):  78.  79  wohl  dem  soUe  ouch 
bültch  jse  teü  werden  ein  werdes  toibes  gruoe.  143  von.  332  (ähn- 
lich 1612.  17399)  schreibt  Khull:  mü  manec  rüter  gemeity  warum 
dieser  sonderbare  Dativ  und  nicht  manegem?  591  minie  für  minne, 
1181  mir  statt  michj  vgl.  1215.  1314  n.  s.  w.  1198  entweder 
scheit  ir  mich  niht  oder  ir  scheu.  1682  vielleicht  ein  für  sin.  1844 
über  statt  itver.  2000  ist  gegen  Ueberlieferung  und  Sinn  künde 
in  enhunde  geändert.  2089  Punkt,  2090  Komma.  3303  dae  man 
vil  wol  verhuere  mit  h.  4947  im  mit  h.  5139  iuch.  5463  acte  ee 
mit  h.  5895  erbluotä ,  wie  H  hat,  vgl.  G.  Z.  521,  23  und  Roe- 
diger,  Zeitschr.  f.  d.  Altertum  26,  241.  6220  diu,  6238  swer, 
6562  dien  mit  h;  an  der  gleichartigen  Stelle  5230  hatte  Khull  das 
richtige  eingesetzt,  allerdings  wühl  nur,  weil  es  dort  der  Reim  ver- 
langte. 6739  kiren.  7634  falls  hier  nicht  die  Lesart  von  h  den 
Vorzug  verdient,  so  ist  mindestens  niender  zu  schreiben.  9925  taes. 
12568  wohl  zwei  in,  vgl.  z.  B.  O.  2095.  12582  an.  12882  die. 
13501  dorfte  mit  h.  13984  swenn.  14562  so  wunderliche  mit  h,  vgl. 
M.  2256.  G.  1728.  Wig.  1327.  14780  diu.  15605  die.  16669  nahL 
17467  das  von  allen  Handschriften  gebotene  nusre  war  durchaus  beizu- 
behalten und  nicht,  unter  Annahme  eines  gemeinsamen  Fehlers,  in  nn- 
mcere  zu  ändern.  Denn  bekanntlich  fungiert  dies  Adjektiv  als  vox  media. 
Ich  benutze  diese  Gelegenheit,  um  auch  ein  paar  Emendationen 
zum  M.  beizusteuern.  151  BSäcurs.  1057  wohl  kam.  1114  muß 
drein  statt  awein  gelesen  werden,  es  liegt  also  ein  weiterer  Fall  des 
Reims  { :  ei  (vgl.  Meyer  S.  489;  vor.  Denn  1 103  ff.  sind  drei 
Glocken,  eine  jede  größer  als  die  andere,  genannt,  und  in  der  That 
werden  diese  drei  auch  nach  einander  geläutet,  s.  V.  1143.  1149. 
1403  ist  Punkt,  1407  Komma  zu  setzen.  3276  1.  sinen,  denn  Libyals 
hat  nur  einen  Knappen,  wie  V.  3593  zeigt.    4362  1.  desn  statt  dem. 

1)  Am  Schiasse  seines  Apparats  hat  Khull  mehrüache  Berichtigungen  seines 
Textes  geliefert,  andere  aber  verwies  er,  um  es  dem  Leser  recht  unbequem  zu 
machen,  unter  die  Varianten. 


Geß,  Christi  Person  und  Werk.    Abt.  8.  811 

4810  neinä,  lieben  frouwen  min^  vgl.  T.  5078.  G.  2968.  5792  hän ;  dann 
wäre  im  reflexivisch  zu  fassen.  6230  ruowen.  6564  eher  wtgant,  6630 
»^'und  var  swar  im  geväUe.  7186  1.  werde ^  vgl.  G.  3841.  4153.  5071. 
T.  6796;  die  Zeile  ist  selbständiger  Aasrnf.  8978  ^n  gebiten.  9030 
Pnnkt,  9032  Komma.  9276  und  Jcomen  in,  9778  stm  schiüe  man? 
10644  t;on.^  10694  $i.  11536  am  nächsten  liegt  ^AuKen,  vgl.  T.  15416. 
12658  bevulhen. 

Erlangen.  £.  Steinmeyer. 


GeB,  W.  F. ,  Dr.  theol.  und  General-Superint.  a.  D.,  Christi  Person  and 
Werk  nach  Christi  Selbstzeugnis  und  den  Zeugnissen  der  Apostel.  Dritte 
Abteilung.  Basel,  C.  Detloffs  Buchhandlung.  1887.  XXVIII  und  486  Seiten 
in  Oktav. 

Die  vorliegende  dritte  Abteilnng  des  Geßsehen  Werkes  enthält 
die  »dogmatisehe  Verarbeitung  des  Zeugnisses  Christi  und  der  apo- 
stolischen Zengnissec  nnd  bringt  somit  das  Ganze  zu  dem  von  An- 
fang an  beabsichtigten  Abschlnsse.  Ein  halbes  Menschenalter  hin- 
durch hat  der  ehrwürdige  Verfasser  an  diesem  seinem  Hauptwerke, 
welchem  manche  wichtige  Vorarbeiten  vorangegangen  waren,  gear- 
beitet. Zwischen  der  ersten  und  der  zweiten,  in  diesen  Anzeigen 
(1879.  St.  15)  besprochenen  Abteilang  lagen  etwa  acht  Jahre;  nach 
fast  gleicher  Zeit  ist  es  ihm  vergönnt,  die  letzte  Abteilung  zu  ver- 
öffentlichen. Mit  dem  Verfasser  werden  weite  Leserkreise  der  Voll- 
endung eines  Werkes  sich  freuen,  welches  mit  seinem  frommen 
Ernste,  seiner  gediegenen  Gründlichkeit  und  seiner  umsichtigen, 
warmen  Darstellung  immer  lehrreich,  anregend,  ja  man  kann  sagen 
erbaulich  anspricht,  auch  wenn  Anlaß  zu  Zweifel  und  zu  Widerspruch 
gefunden  wird. 

Es  ist  nicht  leicht,  einen  kurzen  Ueberblick  über  den  reichen 
Inhalt  des  Buches  zu  geben-,  die  bloße  Anführung  der  Hauptüber- 
scbriften  gewährt  keine  rechte  Anschauung  von  der  lebensvollen, 
gelegentlich  auch  polemischen  Verhandlung.  Der  Verfasser  ist  sich 
wohl  bewußt  und  spricht  es  wiederholt  aus,  daß  er  jetzt  eine  andere 
Aufgabe  zu  lösen  hat,  als  ihm  bei  den  ersten  Abteilungen  seines 
Werkes  vorlag.  Der  in  Betracht  kommende  Offenbarnngsgehalt  — 
denn  nur  unter  diesem  Gesichtspunkte  versteht  er  mit  Recht  den  zu 
bearbeitenden  Lehrstoff  —  war  früher  historisch,  nämlich  biblisch- 
theologisch, darzustellen ;  jetzt  aber  handelt  es  sich  um  eine  dogma- 
tische, um  eine  systematische  Verarbeitung.     Diese  letztere  gründet 


812  Oöte.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  21. 

sich  überall  auf  die  frflher  gewonnenen  bibliseh-theologischen  Er- 
gebnisse. Liegt  hierin  einerseits  ein  wesentlicher  Vorteil,  die  sichere 
FandamcnticFQDg  von  dogmatischen  Aufstellangen,  so  ist  auch  ande- 
rerseits nicht  zu  verkenneDy  daß  die  jetzt  zu  gebende  dogmatische 
Erörterung  sehr  oft  zu  weit  in  das  biblisch-theologische  zurückgreift 
und  Wiederholungen  aus  den  ersten  Abteilungen  bietet  Dazu  kom- 
men an  manchen  Wendepunkten  mehr  oder  weniger  ausfQhrliche, 
mitunter  in  längere  Anmerkungen  verwiesene  Auseinandersetzungen 
mit  andern  Gelehrten,  insbesondere  mit  Ritschi,  so  daß  es  nicht  im- 
mer leicht  ist,  das  dogmatische  Ergebnis  des  Verfassers  sicher  zu 
erfassen. 

Der  Aufriß  des  vorliegenden  Werkes  ist  dieser.  Nachdem  in 
»einleitenden  Bemerkungen«  (S.  1 — 7)  die  systematisch-dogmatische 
Art  der  jetzt  vorliegenden  Aufgabe  festgestellt  und  erörtert  ist, 
warum  es  zweckmäßig  sei,  zuerst  von  dem  Werke  Christi,  dann  erst 
von  seiner  Person  zu  handeln,  folgen  die  beiden  Bücher  von  dem 
Werke  (S.  8-- 234)  und  von  der  Person  Christi  (S.  235-481).  End- 
lich finden  wir  (S.  482 — 486)  Schlnßbemerkungen,  welche  eine  kurze 
Znsammenfassung  der  Lehre  von  der  Person  Christi  und  einen  Rück- 
blick auf  die  dogmatische  Art  der  Darstellung  bringen,  wobei  kurz 
erörtert  wird,  in  welchem  Sinne  die  Dogmatik  spekulativ  sein  solle. 

Wenn  der  Verfasser  mit  dem  Werke  Christi  beginnt,  so  hat  er 
dabei  die  Meinung,  daß  von  dem  Werke  aus  die  richtige  Würdigung 
der  Person  sich  ergebe.  Ich  wüßte  nicht,  warum  man  ihm  diesen 
Gang  wehren  wollte ;  immerhin  aber  begegnen  uns  bei  ihm  Ausfüh- 
rungen, die  an  das  mindestens  gleiche  Hecht  der  üblichen  umgekehr- 
ten Ordnung  erinnern,  insbesondere  sogleich  im  Anfange,  wo  von 
dem  »Wirken  Christi  auf  sich  selbstc,  das  beißt  doch  von  seinem 
Personleben  die  Bede  ist.  Das  erste  Buch  zerfällt  nämlich  in  die 
fünf  Abschnitte,  welche  »Christi  Wirken  in  den  Fleischestagen« 
(S.  10—145),  »zwischen  Tod  und  Auferstehung«  (S.  146--152),  »zwi- 
schen Auferstehung  und  Himmelfahrt«  (S.  152 — 156),  »zwischen  Him- 
melfahrt und  Wiederkunft«  (S.  157—203),  endlich  seine  »Wieder- 
kunft« (S.  204—229)  behandeln.  Der  erste  Abschnitt  hat  wiederum 
drei  mit  besondern  Ueberschriften  versehene  Kapitel,  nämlich: 
»Christi  Wirken  auf  sich  selbst«  (S.  10—43),  »sein  Offenbaren  des 
Vaters  an  die  Welt«  (S.  43 — 63)  und  sein  sühnendes  Eintreten  iUr 
die  Welt  bei  dem  Vater«  (S.  64—145).  —  Es  mag  sich  empfehlen, 
um  die  Eigenart  des  Verfassers  einigermaßen  kenntlich  zu  machen, 
hier  sogleich  auch  einen  Ueberblick  über  die  Disposition  des  zwei- 
ten Buches  zu  geben.  Der  erste  der  hier  sich  findenden  elf  Ab- 
schnitte erörtert  die  Gottessohnschaft  Jesu   als  den  Schlüssel   zum 


Qeß,  Christi  Person  und  Werk.    Abt.  8.  813 

Verständnis  seines  Werkes.  Die  parallele  Ueberscbrift  lautet  indes- 
sen: idas  Problem,  welches  sich  ergibt  aus  dem  Satze:  der  Mensch 
Jesus  ist  der  Sohn  Gottes«  (S.  235 — 254).  Die  beiden  folgenden 
Abschnitte  (S.  254.  S.  306)  bringen  Auseinandersetzungen  mit  an- 
dern   Aufstellungen   (Schleiermacher,   Kitschl ,    Dorner  u.  A.).     Der 

4.  Abschnitt  (S.  324)  dient  zur  Hinstellung  des  Problems,  »welches 
sich  aus  der  persönlichen  Identität  Jesu  und  des  Logos  ergibt«.  Der 
Lösung  des  Problems  sind   die  folgenden  Abschnitte  gewidmet.     Im 

5.  Abschnitt  (S.  327 — 337)  werden  zunächst  die  Versuche  der  kirch- 
lichen Dogmatiker,  die  auf  der  Unveränderlichkeit  des  Logos  beruhen, 
zurückgewiesen.  Der  6.  Abschnitt  (S.  337 — 343)  richtet  sich  gegen 
Dorners  Anschauung  von  einer  allmählichen  Vereinigung  des  Logos 
mit  dem  Menschen  Jesus.  Den  Kern  der  Geßschen  Vorstellung  von 
der  Kenosis  enthalten  dann  die  übrigen  Abschnitte,  zunächst  der 
siebente,  »die  Entherrlichung  des  Logos«  (S.  344—366),  mit  welchem 
aber  die  folgenden  Abschnitte  in  Verbindung  zu  halten  sind:  8. 
(S.  367—399)  »die  Entwickelung  des  Sohnes  auf  Erden«;  9.  {S.4O0 
—413)  »die  Verherrlichung  des  Sohnes  mit  der  zuvor  gehabten  Herr- 
lichkeit« ;  10.  (S.  413—437)  »die  Congruenz  von  Christi  Werk  und 
Person«;  11.  (S.  437-441)  »die  Ghristologie  und  der  Gottesbegriff«. 

Wenn  ich  dieser  Inhaltsangabe  einige  beurteilende  Bemerkungen, 
welche  meiner  abweichenden  Anschauung  Ausdruck  verleihen  mö- 
gen, hinzufüge,  so  beabsichtige  ich  keineswegs,  das  vorhin  im  All- 
gemeinen ausgesprochene  Lob  einzuschränken;  aber  es  finden  sich 
so  mancherlei  Aufstellungen  bei  dem  verehrten  Verfasser,  die  den 
Widerspruch,  insbesondere  auch  von  dem  mit  Recht  ihm  selbst  als 
maSgebend  geltenden  biblischen  Standpunkte  aus,  hervorrufen  müs- 
sen, daß  ich  die  folgenden  Bedenken  nicht  zurückhalten  mag. 

Die  bedenklichen  Aufstellungen  des  Verfassers  liegen  alle,  oder 
doch  nahezu  alle,  auf  Einer  Linie,  nämlich  in  dem  Zusammenhange 
mit  seiner  Anschauung  von  der  Kenosis,  der  Entherrlichung  des  Lo- 
gos, welcher  Mensch  wird.  Bevor  wir  aber  diesen  Hauptpunkt  ge- 
nauer ins  Auge  fassen,  mögen  einige  verhältnismäßig  untergeordnete 
und  mit  jener  Grundanschauung  nur  mehr  oder  weniger  zusammen- 
hängende Aussagen  erwähnt  werden. 

Am  Fernsten  von  dem  Mittelpunkte  der  GeBschen  Theologumena, 
und  am  Fernsten  von  der  sichern  biblischen  Bezeugung,  liegen  einige 
eschatologische  Aufstellungen ,  denen  ich  zunächst  widersprechen 
möchte.  Von  denen,  welche  im  Weltgerichte  verworfen  werden,  weil 
ihre  Namen  nicht  in  dem  Buche  des  Lebens,  sondern  »in  den  Bü- 
chern des  Todes«  (S.  216)  geschrieben  befunden  werden,  urteilt  der 
Verfasser  S.  238  (»vielleicht«)  vermutungsweise,  aber  S.  444  zuver* 


814  Qött.  gel.  Ans.  1887.  Nr.  21. 

sichtlicber,  daß  sie,  weil  das  Böse  sich  selbst  verzehrt  nod  weil  Gott 
alles  in  allem  sein  werde,  dem  allmählicben  Erlöschen,  der  vöUigeD 
VerDichtuDg,  entgegen  gehn.  Dies  ist  zweifellos  wider  die  hellsten 
Aassagen  der  Schrift,  auch  der  Apokalypse,  und  wider  das  Bekennt- 
nis der  Kirche.  Von  Büchern  des  Todes  zu  reden  wollen  wir  lathe- 
rische  Theologen  uns  doch  ernstlich  hüten.  Das  gibt  die  Vorstellang 
von  einem  decretom,  von  welchem  aach  in  der  Apokalypse  nicht  die 
Bede  ist;  denn  hier  finden  wir  nur  Bücher,  in  denen  der  Wandel 
der  Menschen  aufgezeichnet  ist,  und  ein  Buch  des  Lebens,  aber  kein 
Buch  des  Todes.  DaB  aber  der  Apostel  Paulas  seiner  1  Cor.  15,  28 
ausgesprochenen  Anschauung  die  von  dem  Verfasser  bezeichnete 
Folge  gegeben  habe,  wird  dieser  selbst  schwerlich  annehmen.  — 
Liegt  aber  bei  dieser  Vorstellung  von  6eß,  und  von  andern  Theolo- 
gen, eine  gewisse  ethische  Baison  zu  Gründe,  so  begegnet  uns  eine 
andere  eschatologische  Meinung,  bei  welcher  ich  meinesteils  den 
Grund  und  Boden  aller  Ethik  verliere,  wie  ich  hier  denn  aach  die 
biblische  Begründung  durchaus  vermisse.  Ich  gestehe,  daB  mir  dies 
um  so  empfindlicher  ist,  als  der  Verfasser  bei  seinen  wesentlich  dogma- 
tisch gerichteten  Erörterungen  nicht  selten  zu  feinen  ethischen  Be- 
merkungen, die  auch  einen  Blick  in  seine  pastorale  Erfahrung  tbnn 
lassen,  geführt  wird.  Aus  der  Apokalypse  nimmt  der  Verf.  eine 
feste  dogmatische  Lehre  vom  1000jährigen  Beiche;  aber  nicht  das 
allein,  sondern  er  entwickelt  nun  diese  Vorstellung  in  folgender 
Weise.  Nach  der  Parusie  des  Herrn,  bei  welcher  er  seine  Gläubi- 
gen zu  sich  nehmen  und  in  seine  Herrlichkeit  einführen  wird,  »geht 
auf  der  Erde  während  der  1000  Jahre  das  Leben  in  irdischer  Weise 
forte  (S.  215).  Das  1000jährige  Beich  ist  nämlich  »die  Bereitang 
zur  vollen  Freiheit  der  Entscheidung  für  alle  die,  welche  vom  End- 
gericht auf  Erden  lebend  getroffen  wordene  (S.  229).  Die  Unent- 
schiedenen, die  Lauen,  die  Weltkinder,  welche  von  Christo  und  sei- 
nem Heile  nichts  haben  wissen  wollen,  sehen  mit  ihren  leiblichen 
Augen  seine  Wiederkunft  vom  Himmel  und  die  Verherrlichung  der 
Gläubigen  in  der  ersten  Auferstehung,  dem  Beginn  des  lOOOjäbrigen 
Keiohes.  Viele  werden  durch  diese  erstaunliche  Erfahrung  zum  Glaa- 
ben  gebracht;  bei  vielen  Andern  aber  verschwindet  während  der 
1000  Jahre  der  gewaltige  Eindruck  der  Parusie;  sie  beharren  in 
ihrem  Weltleben,  sie  entscheiden  sich  definitiv  wider  Christum  und 
werden  dann  im  Weltgerichte,  am  Ende  der  1000  Jahre,  verworfen. 
Gog  und  Magog  führen  den  letzten  Ansturm  der  irdischen  Menschen 
»gegen  die  heilige  Stadt«  aus  (S.  215).  Dies  vermag  ich  nicht  als 
dogmatisch  anzuerkennen;  ich  achte  es  für  phantastisch.  Ein  edles 
Phantasiegebilde  des  Apokalyptikers  ist  in  seiner  poetischen  SchOn* 


Qel^,  Christi  Person  and  Werk.    Abt  3.  815 

faeit  und  in  seinem  poetischen  Rechte  verkannt,  indem  es  nicht  nur 
ohne  Weiteres  für  eine  eigentliche  >  bestimmte  Lehrofifenbarang  an- 
genommen, sondern  auch  in  dieser  Beziehung  noch  ausgearbeitet 
und  übertrieben  ist.  Wie  ist  denn  das  sittlicher  Weise  denkbar,  daft 
Menschen  den  Herrn  selbst  vom  Himmel  kommen  sehen,  dafi  sie  die 
»heilige  Stadt«  mit  ihren  der  ersten  Auferstehung  teilhaftigen  Heili- 
gen vor  Augen  haben  und  gleichwohl  gleichgültig,  feindlich  bleiben  ? 
Und  wie  sollen  denn  6og  und  Magog  es  anstellen,  mit  irdischen 
Waffen  Auferstandene  anzugreifen?  Man  lasse  doch  dem  Apoka- 
lyptiker  seine  Poesie  und  seine  Inkonsequenz,  daft  er  20,  8  noch 
Völker  im  Dienste  des  Satans  wider  die  Stadt  der  Heiligen  ziehen 
läftt,  nachdem  er  19,  18  ff.  geschildert  hat,  wie  schlechthin  alle  anti- 
christlichen Erdbewohner  vertilgt  sind,  aber  man  bleibe  auf  der  Spur 
unsrer  alten  Dogmatiker  (vgl.  Job.  Gerhard),  welche  die  apokalyp- 
tischen Qebilde  aus  der  Analogie  der  wirklich  lehrenden  Schrift  ver- 
standen haben. 

Indessen  alle  diese  Bedenken  richten  sich  gegen  Sachen,  die  in 
der  Peripherie  liegen.  Der  entscheidende  Mittelpunkt  der  Geftschen 
Aufstellungen  ist  sein  Theologumenon  von  der  Kenosis,  von  der 
»Entherrlichung«  des  Fleisch,  d.  h.  Mensch  werdenden  göttlichen 
Logos.  Der  ehrwürdige  Verfasser  vertritt  seine  Anschauung  mit 
vollster  Ueberzeugnng,  mit  immer  wiederholter  Berufung  auf  die 
ihm  entscheidend  scheinenden  Schriftstellen,  mit  reger  Polemik  ge- 
gen andere  Vorstellungen,  mit  warmer  Empfehlung  fllr  das  System 
der  Dogmatik.  Und  doch  kann  ich  nicht  umhin,  ihm  auf  das  Ent- 
schiedenste zu  widersprechen,  im  Namen  der  Exegese,  der  Dogmatik 
nnd  der  Ethik.  Die  Summe  meiner  Bedenken,  in  zwei  oder  drei 
Worte  gefaßt,  kann  ich  von  vorn  berein  aussprechen:  Wie  soll  ich 
mir  einen  Gott  vorstellen,  der  auf  sein  Gottsein  verzichtet?  Ich 
wttrde  es  nicht  wagen,  ttber  die  von  dem  ehrwtirdigen  Verfasser  mit 
ernster  Versenkung  in  die  Sache  ausgesprochene  Ueberzeugnng,  die 
sich  ihm  in  langjährigem  Nachsinnen  ergeben  hat,  zu  urteilen,  wenn 
ich  nicht  mit  ihm  in  dem  Glauben  an  den  gottmenschlichen  Heiland 
mich  eins  wfiftte.  Unsere  Anschauungen  gehn  auseinander,  wenn 
wir  EU  der  Frage  kommen,  wie  wir  das  Geheimnis  des  Glaubens 
uns  vorzustellen  versuchen  sollen.  Die  Geßsche  Ansicht  ist,  so  weit 
sie  in  der  Kürze  dargelegt  werden  kann,  die  folgende.  Aus  den 
immer  wieder  als  maßgebend  angerufenen  Zeugnissen  des  Herrn 
selbst  und  der  Apostel  in  Job.  I,  14,  16,  28.  17,  5.  2  Gor.  8,  9 
nnd  Phil.  2,  5  entnimmt  der  Verfasser  seinen  Satz  von  der  >Ent- 
berrlichungc  des  Logos  bei  der  Menschwerdung.  Hierunter  versteht 
pr   die    uiit  Nachdruck   als   solche   bezeichnete   »Veränderung«   der 


816  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  21. 

göttlichen  Person  des  Logos  —  and  der  Trinität  —  daß  der  Logos 
durch  Verzichtleistang  auf  das  göttliche  Sichselbstsetzen  in  das  Le- 
ben des  Gesetztseins,  aos  dem  Sein  in  das  Werden  übergegangen 
ist  (S.  353.  379).  Dieser  Uebergang  besagt,  daß  der  vorirdische 
Sohn  seine  Natur  dem  Vater  übergeben  habe,  wie  der  sterbende 
Heiland  seinen  Geist  in  des  Vaters  Hände  befohlen  hat;  and  kraft 
der  Menschwerdung  »ruht  nun  die  göttliche  Natar  des  Sohnes  inn 
Schöße  der  Maria«,  da  wird  »die  Natur  des  fleischgewordenen  Soh- 
nes von  dem  Vater  bewahrt«  (S.  354).  Jener  Uebergang  der  Ent- 
herrlichung  bringt  dann  dies  mit  sich,  daß  der  Menschgewordene  im 
Stande  des  irdischen,  menschlich-sittlich  sich  entwickelnden  Lebens 
keine  Erinnerung  an  seine  vorweltliche  Herrlichkeit  hat  -—  er  erfait 
derartige  Gedanken  nur  im  Glauben  (S.  387  f.),  wie  er  durch  Schlüsse 
des  Glaubens  zur  Erwartung  seiner  Wiederverherrlichung  gelangt, 
wobei  aber  nicht  ausgeschlossen  ist,  daß  »eine  augenblickliche  Er- 
innerung an  die  vorirdische  Herrlichkeit  das  Innere  Jesa  habe 
durchblitzen  können«  (S.  389)  —  und  ferner  daß  er  anf  die  Macht 
über  den  heiligen  Geist  und  über  die  Welt  verzichtet  (S.  351.  401) ; 
die  Wunder  thut  er  in  der  Macht  des  Vaters,  der  ihn  erhört.  Der 
so  entherrlichte  Logos  vertritt  in  der  gottmenschlicheu  Person  Jesu 
die  menschliche  Seele  (S.  409  f.)  —  deren  Vorhandensein  jedoeh 
S.  482  behauptet  wird  —  und  die  so  vorhandene  Person  geht  in 
einer  wahrhaft  geschichtlichen,  sittlichen,  sttndlosen  Entwickelang  der 
Wiederverherrlichung  entgegen.  Die  Versuchungen,  welche  (Hebr.  2, 18) 
ausschließlich  vom  Leiden  verstanden  werden,  sind  immer  neue  Be- 
währungen und  Fortschritte  zur  erneaten  Herrlichkeit  In  diese  vrird 
auch  der  Leib,  »den  er  aus  Maria  angenommen  hat«  (S.  409)  mit 
erhoben,  und  zwar  derart,  daß  auch  der  verklärte  Leib  des  Herrn 
»wohl  räumlich«  (S.  406)  zu  denken  ist  und  daß,  »wo  leibliche  Ver- 
mittelang des  Lebens  ist,  auch  —  Zeitiichkeit  sein  maß«,  »obwohl 
freilich  die  Aafeinanderfolge  in  blitzartiger  Schnelligkeit  erfolgen 
wird«  (S.  408). 

In  diesem  kurzen  Ueberblick,  den  ich  hoffentlich  mit  aller  Treae 
gegeben  habe,  tritt  die  Geßsche  Theorie  frappanter  hervor,  als  in 
seiner  eigenen  Ausführung.  Dies  zu  vermeiden,  war  aber  unmöglich. 
Darf  ich  nun  mein  Urteil  beifügen  und  einigermaßen  begründen,  so 
möchte  ich  zunächst  nur  im  Vorbeigehn  zwei  verhältnismäßig  we- 
niger bedeutsame  Punkte  berühren.  Die  Einmengang  der  Bäom- 
lichkeit  and  der  Zeitliehkeit  in  die  Verhältnisse  des  ewigen  gött- 
lichen Seins  wird,  auch  wenn  wir  dabei  die  blitzartige  Schnelligkeit 
der  Zeitfolge  annehmen  dürften,  sich  nicht  empfehlen,  and  die  Ver- 
suchung des  Herrn  nur  durch  Leiden,   welche  in  dieser  Aasschließ* 


GeB,  Christi  Person  und  Werk.    3.  Abt.  817 

lichkeit  keineswegs  im  Hebräerbriefe  ausgesagt  wird,  widerspricht 
Dicht  Dar  aller  Ethik,  soDdern  auch  dem  bestimmten  Zeagois  der 
Schrift.  Die  Versachnogsgeschichte  setzt  eioe  VersucfauDg  zur  Lust, 
Dicht  durch  Leiden. 

Aber  was  ist  nun  von  der  Hauptsache,  der  Kenosis,  zu  halten? 
Was  zuvörderst  den  Schriftbeweis  anlangt,  so  sage  ich  ganz  getrost, 
daß  ich  außer  Phil.  2  nicht  eine  einzige  Stelle  für  unsern  Zweck 
zu  verwenden  weiß.  Alle  anderen  Stellen  sagen  das  Geheimnis  ans 
und  stellen  das  große  Problem  vor  uns  hin;  aber  sie  sagen  nichts 
über  das  Wie  des  Geheimnisses,  nichts  zur  Lösung  des  Problems. 
Die  einzige  Stelle  aber,  die  uns  hier  leiten  muß,  Phil. 2,  5  ff.,  weist 
uns  nach  meiner  Ueberzeugung  auf  eine  andere  als  die  von  Geß 
betretene  Bahn.  In  einem  wichtigen  Punkte  stimme  ich  dem  Ver- 
fasser völlig  bei,  nämlich  in  der  Meinung,  daß  die  Aussage  iavtdv 
Mvmasv  nicht  von  dem  schon  Mensch  Gewordenen,  sondern  von  dem 
erst  Mensch  Werdenden  zu  verstehn  sei ;  dann  aber  gehn  unsere 
Ansichten  auseinander.  Die  für  mich  dogmatisch  und  ethisch  nicht 
zu  vollziehende  Vorstellung ,  daß  die  göttliche  Person  des  Sohnes 
ihre  göttliche  Natur  während  des  irdischen  Lebens  abgelegt  habe, 
kann  ich  in  den  apostolischen  Worten  nicht  finden.  Die  sprach- 
richtige Exegese  gibt  eine  andere  Anschauung.  Nicht  von  einer 
Veränderung  oder  Vertauschung  der  Natur  oder  des  Wesens  redet 
der  Apostel,  sondern  von  einer  Vertauschung  der  »Gestalte  (f$0Q(pfi 
^sov'  f*oQg>^v  dovXov) ,  von  einer  veränderten  Weise  und  Form  des 
Seins.  Was  der  Sohn,  da  er  Mensch  \i^ard,  aufgab,  was  er  nicht 
wie  einen  Baub ,  dem  Willen  des  Vaters  zuwider ,  an  sich  raffen 
wollte,  das  war  das  that  Xtfa  ^ea,  d.  h.  die  gottgleiche  Art  und 
Weise  des  Seins,  also  das  Festhalten  der  f*oc74  ^sav.  Dies  halte 
ich  für  die  sprachlich  notwendige  Exegese,  und  diese  weist  uns, 
wenn  wir  einen  Blick  in  das  ktlndlich  große  Geheimnis  thun  wollen, 
weit  mehr  auf  den  Standpunkt  unserer  alten  Dogmatiker,  als  auf 
den  von  Geß  eingenommenen.  In  der  Gestalt,  in  der  Form,  in  der 
Art  und  Weise  eines  Knechtes  bat  der  Mensch  Gewordene  seine 
göttliche  Natur,  sein  göttliches  Wesen  behalten  und  erwiesen ;  das 
besagt  das  apostolische  Zeugnis,  nicht  aber  daß  er  sein  Gottsein 
abgelegt  habe.  Wie  ich  versucht,  dies  einigermaßen  vorstellig  zu 
machen,  habe  ich  im  dritten  Theile  meiner  apologetischen  Beiträge 
dargelegt.  Soll  ich  mit  der  Stelle  aus  dem  Philipperbriefe  noch  eine 
andere,  von  dem  Verfasser  wiederholt  angerufene  Stelle  (2.  Cor.  8,  9) 
vergleichen ,  so  kann  ich  auch  in  dieser ,  so  weit  wir  ihr  überhaupt 
eine  Bestimmung  entnehmen  dürfen,  keinenfalls  die  Geßsche  Eenosis 
finden.    Angenommen  —  was  mir  aber  durchaus    nicht  zweifellos 

0«t».  g«l.  Ans.  1887.  Hr.  21.  56 


818  Gott.  pel.  Anz.  1887.  Nr.  21. 

ist  —  daß  das  nlova.  wv  ein  Partie.  Imperfecti,  nicht  PraesentiSy  sei, 
so  ist  im  Sinne  des  Apostels  der  Uebergang  aas  dem  göttlichen 
Reichsein  in  das  menschliche  Armsein  viel  sicherer  nach  Maßgabe 
von  Phil.  2  zu  verstehn,  als  im  Geßschen  Sinne.  Aber  die  Stelle 
spricht  geradezu  wider  diesen  Sinn,  wenn  das  iSv^  wie  z.  B.  1  Cor. 
9,  19,  präsentisch  gemeint  ist,  wenn  als  sachliche  Parallele  Job.  3, 
23  (o  iSv  ir  1.  ovQ.)  angezogen  werden  darf,  und  wenn  somit  die 
Anschauung  sich  ergibt,  daß  der  in  der  armen  Enechtgestalt  im 
irdischen  Leben  Wandelnde  gleichwohl  den  Reichtum  seiner  gött- 
lichen Natur  unter  jener  armen  Gestalt  bewahrt  und,  seinem  Hei- 
landswerke entsprechend,  auch  erwiesen  habe. 

Hannover.  Dr.  Fr.  Düsterdieck. 


Th^veniu,  Marcel,  Collection  de  textes  pour  seryir  k  Petnde 
et  ä  reDseignement  de  l'histoire.  Textes  relatifs  aax  institutions 
privdes  et  publiques  aux  epoques  m^rovingienne  et  caroüngienne.  Institutions 
privies.  Paris,  Alphonse  Picard,  ^diteur  Libraire  des  Archives  nationales 
et  de  la  Soci^t^  de  T^cole  des  Chartes  82,  Rue  Bonaparte,  82  1887.  V, 
271  S.    8«. 

Herr  Thevenin  hat  sich  an  diesen  Textaasgaben  beteiligt,  um 
selbständiges  Denken  und  eigenes  Urteilen  unter  den  Studierenden  zu 
fordern.  Er  bestimmt  seine  Arbeit  sowohl  für  die,  welche  Geschichte, 
als  für  die,  welche  die  Rechtswissenschaft  studieren,  und  erinnert 
bezüglich  der  letzteren  an  da's  Wort  von  Lavisse:  »les  etudiants  en 
droit  comprendront  de  mieux  en  mienx  que  le  droit,  sans  la  con- 
naissance  du  d6veIoppement  historique,  n'est  qu^une  Sorte  de  scola- 
stique«.  In  den  180  Stücken,  die  er  ans  Formeln,  Urkunden  und 
dem  Polyptyque  der  Abtei  Saint-Germain-des-Prös  zusammengestellt 
hat,  führt  er  uns  in  einer  Reihe  anziehender  Bilder  das  Priratrecht 
und  die  Gerichtsordnung  der  ahen  Zeit  vor  Augen.  Nur  in  einer 
Sammlung,  die  mit  vollkommenem  Verständnisse  und  mit  großer  Um- 
sicht ausgewählt  wurde,  war  es  möglich,  einen  so  reichen  Inhalt  zu 
bieten,  wie  ihn  ein  Blick  in  das  zwanzig  Seiten  umfassende  Sach- 
register kennen  lehrt.  Die  Texte  sind  mit  kurzen  Inhaltsangaben 
versehen  und  von  sprachlichen  und  sachlichen,  seltener  von  bibKo- 
graphischen  Anmerkungen  begleitet. 

Zwei  Urkunden  sind  es,  die  unsere  Aufmerksamkeit  am  meisten 
in  Anspruch  nehmen.  Die  eine,  Nr.  71,  vom  Jahre  834,  ist  1875 
bei  Vaissete  II,  186  f.,  1877  im  Cartulaire  de  Fontjoncouse  Nr.  3, 
Bulletin  de  la  Commission  archeologique  et  litt^raire  de  Narbonoe 
I;  112  ff.,   und   1878  im  Mubee  des  Archives  d^partementaies  Nr.  ö 


ThdveniOi  Collection  de    textes  pour  servir  ä  VÜuäe  et  h  Penseign.  de  I'hist.  819 

S.  10 £f.  gedrackt.  Sie  ist  größerer  Beachtang  wert,  als  sie  bisher 
gefunden  zu  haben  scheint.  Cauvet  hebt  in  dem  angeführten  Bulle- 
tin I|  504  ff.  hervor,  daß  sie  ein  Beispiel  für  einen  weltlichen  vice- 
dominus  gibt.  Daß  er  hierbei  Boretius,  Gapit.  I,  51,  19,  wo  sich 
drei  kircbliche  und  drei  weltliche  Beamte  entsprechen,  aus  der  Liste 
der  Anwendungsfalle  streicht,  ist  gerechtfertigt,  aber  mit  Unrecht  läßt 
er  die  vicedomini  der  Urkunden  von  802,  821  und  852  bei  Sohm, 
Oerichtsverfassang  I,  515  ausnahmslos  dasselbe  Schicksal  teilen. 
Th^venin,  der  die  beiden  letztgenannten  Aufzeichnungen  Nr.  68  und 
88  gibt,  bemerkt  S.  110  Anm.  2  specieil  von  der  zweiten,  daß  ihr 
vicedominus  ein  Yicegraf  ist.  Der  Sprachgebrauch  läßt  sich  bis  in 
das  achte  Jahrhundert  znrückverfolgen :  791  Vaissete  6d.  1875  II, 
Sp.  85:  coram  vicedomino  a  M.  comiie  de  Narbona  misso.  In  dieser 
Beziehung  ist  das  Aktenstück  demnach  von  geringerer  Wichtigkeit, 
als  Cauvet  glaubt.  Sein  Interesse  liegt  vielmehr  in  der  Erzählung 
über  ein  Gericht  des  Pfalzgrafen:  dum  Johannes  ipsum  viüare  a 
lone  integritate  abuisset  per  siAam  adprisionefn,  sie  Ademares  comis 
eum  mallavit  quod  ipse  villares  suus  benefidus  esse  deb^at,  in  Aquis 
palatii,  ante  Vuarangande,  comiti  palatii,  vel  ante  GauselmOy  Berane^ 
Giscafredo ,  Odilone  et  Ermengario  comites  seu  etiam  judices  Xixilane, 
Jonatan^  Vincentio  et  AngenaldOy  qui  erant  ad  tunc  judices  dominiciy 
seu  etiam  Archibaldo  notario  et  alios  plures;  et  a  tunc  Johannes  in 
supra  dictorum  judicio  sua  dedit  testitnonia  (acht  Zeugen)  et  sie  testir 
ficaverunt  in  supra  dictorum  judicio  et  serie  condidones.  Hoc  jura- 
verunt  in  ecclesia  Saudi  Martini  cujus  baselica  sita  est  in  Aguis  pa- 
latii  et  viderunt  quando  fuit  ipse  villares  traditus  ad  Johanne  per  ma- 
nus  Sturmirni  cofuiti.  Waitz  hat  die  Urkunde  III,  397^  für  den 
vicedomimts  und  IV,  494*  für  die  judices  dominid  benutzt,  aber  bei 
dem  Pfalzgrafengericht  IV,  487  nicht  berücksichtigt. 

Die  zweite  Urkunde,  die  uns  beschäftigt,  Nr.  89  vom  Jahre 
857,  ist  die  einzige  ungedrnckte,  die  der  Herr  Verfasser  aufgenom- 
men hat.  Er  sagt  hierüber  S.  III :  »c'est  la  concession  necessaire 
au  gofit  exagere  et  iudiscret  de  Terudition  de  notre  temps  pour 
„rinedit'';  eile  est  süffisante,  les  quelques  textes,  non  encore  pnblies, 
que  j'ai  recueillis  n^ayant  pas,  pour  un  motif  on  un  autre,  la  valeur 
de  ceux  qui  sont  connus  depuis  longtemps,  bien  que  souvent  encore 
mal  compris;  on  peut  gtre  assure,  en  outre,  de  ne  pas  rencontrer, 
dans  les  depots  d'archives  ou  autres,  de  document  qui,  snr  les  insti- 
tutions de  cette  epoque,  apporte  quelque  chose  de  vraiment  nou- 
veauc.  Durch  die  Veröffentlichung  von  Nr.  89  erfährt  unsere 
Kenntnis  eine  mehrfache  Bereicherung.  Wir  lernen  daraus,  daß 
der  Abt  von   S.  Martin   zu  Tours  in  seinem   Territorium   Gerichts- 


820  Qött.  gel.  Adz.  1887.  Nr.  21. 

barkeit  besaB.    Dumque  in  stia  pene  omni  dictione  precipiefUe  atque 
compdlente  ejus  missi  justitias  facere  studerent^  — -  solche  Aufträge  er- 
teilten bekanntlich  auch  königliche  Beamte,  s.  z.  B.  Nr.  66  —  pres- 
biter  quidam  Ecclesie  sancti  Hispani  ipsa  ex  dictione  nomine  NoSberim 
presentiam  Saramiani  prepositi  gregis  heati  Martini  —  adiens  proda- 
mäbat.    Der  Propst   ist   als  Richter  nmgeben  von  nobUes,    zn  deneB 
nach  den  Unterschriften  aach  einige  Kleriker  gehören,  and  von  eo- 
loni.    Diese   beiden  Gruppen  geben  die  Urteile  gemeinsam  ab :  judi- 
catum  est  ibi  a  muUis  nobilibus  viris   et   colonis^  qui  subter   teneniur 
inserti;  judicio  omnium  qtii  ibidem  aderant;  ei  ab   omnibtts  judicalus 
est  et  deliberatum ;  judicio  omnium  ibidem  residentium  aique  astantiim. 
Daß  die  Urteiler  hier  und  vorher  (S.  122:  omnes  residentes  et  asta$h 
tes)  teils  sitzen  and  teils    stehn,   könnte   eine  irrelevante  Thatsache 
za  sein  scheinen,  wenn  nicht  einmal    (S.   122)   ansdrücklich    gesagt 
würde :  sciscitatus  a  residentibus  utrum  testes  ipsius  potestoHs  habere 
potuisset.     Die   Unterscheidung    zwischen  Sitzenden   und   Stehenden 
treffen  wir  wieder  in  Nr.  103  und  133.    Vgl.  ferner  887,  Bruel,  Re- 
caeil  des  chartes  de  l'abbaye    de  Gluny  I,  29   S.  35:   in  Masconis 
civitatCj  infra  intus  murum,  ante  domno  Ramnulfo  (comite)  videntibus 
Ulis  sedentibus  et  stantibus^  cujus  nomina  vocantur^  es  sind  hier  nicht 
mehr  als  nenn  Männer.    Zahlreiche  Placita  bei  Vaissete  zeigen  einen 
umfangreichen  Kreis  von  Sitzenden,  z.  B.  6d.  1875  II,  169  Sp.  346: 
868  in  Gegenwart  von  6  judices^  9  Anderen,  1  scyo  vel  aliorum  ph- 
rimorum   bonorum   hominum,    qui   in  ipso  judicio    residä}ant\  875 
II,    187    Sp.   378:   anwesend   sind  6   judices,   3   sacerdotes^   1  sajo 
vel  plures  bonis  hominibus,   id  est  (8),  seu  et  in  presencia  muUonm 
bonorum  hominum  y  qui  in  ipso  judicio  residebant     Aehnlichen  Fas- 
sungen begegnen  wir  874,  875  II,  185.189  Sp.373.  382;  918  V,43 
Sp.  137  und  sonst.    Vergl.  Zeitschrift  der  Savigny-Stiftung  VP,54f. 
Um  die  Art  der  Gerichtsbarkeit  des  Abtes  zu  bestimmen  gewährt 
die  Urkunde  keinen  Anhalt.    Schlagen  wir  die  Immunitätsprivilegien 
der  Abtei  nach,  so  haben  wir  nar  die  gewöhnliche  negative  Formn- 
lierung  vor  uns,  ohne  daß  durch   einen  Zusatz  die  Gerichtsbarkeit 
ausdrücklich  verliehen  würde').     Wir  müssen  also   erst  das  Dasein 
der  Immunitätsgerichtsbarkeit  durch  andere  Mittel  darthun,  ehe  wir 
aus  unserem  Dokument  für  sie  etwas  gewinnen   dürfen.     Der  Nach- 
weis ist  nicht  so  leicht,  wie  Beaudouin,    der   die  Frage   zuletzt  be- 
rührt hat^,   vermeint.     Er   ist  der  Ansicht,    daß  die  Formeln  von 

1)  Siehe  z.  B.  die  Privilegien  von  816,  828,  854  and  862,  Bourass^  Carta- 
laire  de  Corm^ry  6  S.  14  ff.  (Mühlbacher  609),  Gallia  christiana  XIY,  15  S.  22 
und  Bouquet  VIU,  127.  173  S.  537.  576. 

2)  Nouvelle  Eevue  historique  du  droit  fran^ais  et  stranger  1887  S.  500  f. 


Th^venin,  Collection  de  textes  pour  servir  h  T^tude  et  k  Feaseiga.  de  I'iiist.    821 

Angers  für  die  merowingische  Zeit  genttgen,  s.  dagegen  diese  An- 
zeigen 1886  S.  557  und  Sehröder,  Rechtsgeschichte  1887  S.  177  *). 
Fttr  das  neunte  Jahrhundert  beruft  er  sich  auf  ein  Eönigsdiplom, 
das  eine  unbrauchbare  Fälschung  ist  (MUhlbacher,  Regesten  Nr.  751), 
sodann  auf  Ouärard,  Polyptyque  de  Saint-Remi  de  Reims  XVII,  127 
S.  57  und  auf  eine  Urkunde  von  865  bei  Vaissete  6d.  1875  II,  341 : 
dort  ist  es  ein  staatliches  Gesicht,  hier  eine  kirchliche  Versammlung. 
Uebrigens  sind  Privilegien,  die  nicht  bloß  den  Ausschluß  der  ordent- 
lichen Richter  betonen,  sondern  unmittelbar  die  Uebertragung  der 
Gerichtsbarkeit  aussprechen,  auf  französischem  Boden  während  des 
neunten  Jahrhunderts  seltener  als  in  Deutschland. 

Es  wäre  immer  noch  besser  gewesen ,  statt  auf  solche  Beweise 

1)  Vergl.  diese  Anzeigen  1886  S.  657.  Wenn  Schröder,  Rechtsgeschichte 
8.  177  Anm.  120,  mit  Berufung  auf  Form.  Turon.  89  ein  Gericht  der  Kirche  an- 
nimmt, 80  kann  der  Grund  doch  wohl  nur  der  sein,  daß  dort  ein  Gericht  ante 
ven§rabiUm  virum  stattfindet.  Dieser  Grund  reicht  nicht  ans.  Da  die  im  vorigen 
Jahrgang  a.  a.  0.  angeführten  Stellen  nicht  genügt  haben,  um  die  Hinfälligkeit 
jenes  Arguments  darzuthun,  so  will  ich  weitere  Beispiele  vorlegen,  aus  denen  er- 
hellt, da£  Laien  sehr  häufig  venerabiles  genannt  sind.  Grafen  heiEen  venerabües 
862  Mämoires  de  la  Soci^tä  des  Antiquaires  de  POuest.  Ann^e  1847.  Nr.  6  S.  9. 
903  Bruel  a.  a.  0.  I,  81  S.  91.  918  Tardif,  Monuments  historiques  Nr.  229 
S.  148  {marchio).  1079  Hennebert,  Histoire  g^n^rale  de  la  province  d'Artois 
I,  385.  1108  Paris,  Histoire  de  Tabbaye  d*Avenay  H,  78.  1116  Gn^rard, 
Gartulaire  de  Saint-Victor  U,  806  S.  155.  um  1170  Bouquet  XH,  374. 
1194  Lalore,  Collection  des  principaux  cartulaires  du  diocöse  de  Troyes  II,  88 
S.  101.  1200  M^moires  de  la  Socidt^  de  l'Aube  XXYIU  S.  292.  1202  Upi- 
nois  et  Merlet,  Gartulaire  de  Notre-Dame  de  Ghartres  II,  159  S.  21.  Odo 
schrieb  1058  eine  Vita  domini  Bnrchardi  venerabilis  comitis,  in  welcher  er 
c.  4.  9,  Bouquet  X,  858.  356,  den  Grafen,  c.  13  S.  859  die  Gräfin  venerabi- 
lis nennt  und  zur  Abwechslung  c.  2.  6.  7.  10  S.  851.  852.  354.  356  veneran- 
dtu  gebraucht.  —  Gräfinnen  sind  oft  venerabiles,  so  1040  Bouquet  XI,  506.  1107 
Mabille,  Gartulaire  de  Marmoutier  1874  Nr.  78  S.  71.  1117  Viellard,  Documents 
et  memoire  pour  servir  k  Thistoire  du  territoire  de  Beifort  1884  Nr.  140  S.  190.  c. 
1009-1200  Gallia  Christiana  Xim,  345. 495. 518. 525.  564.  XIYb,64.  159  (ducissa). 
Die  vorige  Urkunde  von  1200.  ~  Mitglieder  eines  Königshauses  sind  venerabiU$^ 
z.  B.  Mämoires  de  PAcadämie  des  inscriptions  et  belles-lettres  XXXII,  1  S.  107 
(9.  Jahrb.).  1162  Deladreue,  Histoire  de  Tabbaye  de  Lannoy  1881  Nr.  26  S.168. 
Willelmi  Gemeticensis  Hist.  Normann.  cont.  YUI,  10,  Bouquet  XII,  572.  —  Der 
Ausdruck  ist  noch  weiterer  Anwendung  fähig.  943  Marchegay  et  Salmon,  Ghro- 
niques  des  comtes  d'Anjou  1856 — 1871  S.  GVIII:  als  ein  Abt  seine  Urkunde  ,/f<l8^« 
mo«,  venerabiUs  quidem  viros,  firmare  rogavit,  erscheinen  sechs  comüe$  und  drei 
vasalli  dominiei.  Gegen  1186  bei  Deladreue  a.  a.  0.  Nr.  8  S.  142  heiSt  der 
Herr  von  Bretueil  venerabilis.  Eine  fromme,  vornehme  Frau  ist  venerabilis  Aca- 
d^mie  imperiale  de  Savoie.  Documents  U,  2  S.  9  (10.  Jahrb.?).  1147  Gallia 
Christiana  XIÜ^,  502.  —  Ich  habe  keine  älteren  Stellen  mitzuteilen,  weil  ich  die 
älteren  Quellen  hierftir  nicht  nachgelesen  habe. 


822  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  21. 

sich  za  stutzen  den  Umstand  geltend  za  machen,  daß  das  Immnni- 
tätsprivileg  eine  unmittelbare  Stellang  unter  dem  König  gewährte» 
So  spricht  es  z.  B.  besonders  deutlich  die  dritte  Formel  in  der  Col- 
lectio  Sangallensis,  Zenmer  S.  398,  aus  und  desgleichen  Pippin,  der, 
nachdem  er  743  die  Immunität  der  Kirche  von  Mäcon  bestätigt 
hatte,  die  Erklärung  abgab :  hoc  absque  ullius  honnnis  coniradictione 
teneant  prefer  tantum  sub  jussioneni  domni  regis  et  episcapi  consir- 
stant^  Ragut,  Gartulaire  de  Saint-Vincent  de  M&con  1864  Nr.  66. 
67  S.  53.  55.  In  der  Urkunde  für  das  Kloster  Aniane  von  792 
folgt  auf  die  negative  Fassung  der  Satz :  sed  ipsum  sanctum  loeum 
sub  nostra  defensione  atque  dominatione  volumus  constare^  Vaissete 
ed.  1875  II,  53  (Mühlbacher  309). 

Auch  für  die  Treupflicht  bringt  unsere  Urkunde  eine  bedeutsame 
Notiz.  Colonen  der  Abtei  werden  von  dem  Propst  bei  einer  Aus- 
sage auf  die  fidelitas,  die  sie  dem  Abte  schulden,  vereidigt  Es  er- 
hellt nicht,  ob  sie  früher  ihre  Treue  hatten  beschwören  müssen. 
Möglich  scheint  es  nach  Hincmar,  opera  II,  835,  der  sich  über  eine 
Stelle  des  von  ihm  dem  Könige  geleisteten  Eides  so  äußert:  quod 
scripsit  scriba  doctus:  secundum  meum  ministerium  in  otnnibus  scUicet 
fidelis  et  obediens  et  adjutor  era,  contra  consuetudinem  juramenti^  quod 
principes  et  domini  suis  subjectis  et  etiam  servis  jurare  jubent^  ad- 
scripsit. 

Zum  Schluß  sei  es  mir  gestattet  auf  die  erste  Anmerkung  S.  24 
einzugebn.  Tli^venin  faßt  den  gasindus  bei  Marculf  II,  36  als  einen 
freien  Dienstmann  auf  und  sagt,  gasindus  sei  mit  amicus  übersetzt 
worden.  Zur  Begründung  der  nämlichen  Ansicht  hat  Brunner, 
Mithio  und  Sperantes,  in  der  Festgabe  für  Beseler  1885  S.  4,  an- 
läßlich Marculfs  I,  23  darauf  hingewiesen,  daß  die  Gefolgsleute  im 
Heliand  wini  heißen  und  der  Beowulf  den  Gefolgsherrn  winedryhten ') 
nennt.  Karolingische  Diplome  für  das  Kloster  Saint-Galais  im  Gau 
von  Le  Mans  aus  den  Jahren  760,  771,  779  und  Fälschungen  des 
neunten  Jahrhunderts  für  dasselbe  Kloster  stellen  amid,  gasindi^ 
suscepti  neben  einander,  als  ob  es  Leute  wären,  die  nach  Innen  in 
verschiedenen  Verhältnissen  stünden  *).  Der  Ausdruck  amicus  im 
Sinne  eines  freien  Dieners  ist  früh  verschollen  und  etwa  gleichzeitig 
mit  ihm  gasindus  aus  der  fränkischen  Sprache  verschwunden'). 

1)  Jacob  Grimm  erklärt  toinedryhten  mit  amicus  dominus,  Andreas  und  Elene 
1840  S.  XXXVII. 

2)  Bei  Hayet,  Questions  märovingiennes  IV,  73.  77.  78,  die  Fälschanj^ 
S.  64.  65.  66,  Bibiioth^que  de  T^cole  des  Chartes  XLVUI,  223.  227.  228;  214. 
215.  216. 

3)  Marculf,  add.  2  S.  111.  Carta  Senonica  28.  36.  Gollectio  FlaYiniao»!- 
sis  44.    Mühlbacher,  Regesten  Nr.  60.  74. 


Th^veoin,  Collection  de  textes  poar  scmr  fi  Tctude  et  k  Tenseign.  de  Vhisi.    823 

Die  Entscheidang,  ob  amictis  auf  einen  altfränkischen  oder  ob  es 
nicht  vielmehr  auf  einen  gallisch-römischen  Dienstvertrag  hinweist^ 
scheint  mir  in  erster  Linie  davon  abhängig,  ob  vornehme  Diener 
von  Gallo-Römern  zu  einer  Zeit  als  amm  bezeichnet  werden,  wo 
der  germanische  Gefolgsmann  in  diese  Kreise  noch  nicht  wohl  vor- 
gedrungen sein  kann.  Diese  amici  würden  einen  Bestandteil  der 
einheimischen  Dienerschaft  bilden ,  welche  Paullinus  Pell.,  Euchar. 
435 — 437,  herausg.  von  Leipziger  1858  S.  32,  schildert: 

cum  mihi  laeta  domus  maguis  floreret  abundans 
deliciis,  nee  pomp  a  minor  polieret  honoris 
instructa  obsequiis  et  turbis  fulta  clientum. 

Vor  der  fränkischen  Eroberung  ist  der  Ausdruck  amictis  für 
einen  Diener  in  Gallien  schwerlich  beglaubigt.  Den  quellenmäßigen 
Beweis,  den  man  dafür  in  Epist  IV,  9  §  1  (S.  61  ed.  Luetjohann) 
des  Sidonius  hat  finden  wollen  ^) :  servi  utües  {rustici  morigeri^  ur- 
bani  amid)  oboedientes  patronoqtie  contenti;  mensa  non  minus  pascens 
hospüefn  qtuim  cliefiiem,  diesen  Beweis  wird  man,  wie  ich  in  den 
vorliegenden  Anzeigen  1886  S.  571  bemerkt  habe,  fallen  lassen  müs- 
sen, weil  hier  amicus  keine  Dienstklasse  bedeutet,  die  ja  mit  der 
Stadt  nichts  zu  thnn  haben  würde.  Dafür  hatte  ich  a.  a.  0.  auf 
Berichte  Gregors  aufmerksam  gemacht ,  in  denen  amid  im  Dienste 
von  Gallo-Römern  stehn.  Da  nun  Fustel  de  Coulanges,  Revue  des 
questions  historiques  XLI,  30  gegen  Monod,  Revue  historique  XXXI, 
282,  der  die  amid  bei  Gregor  VII,  47  für  freie  dienten  erklärt 
hatte,  die  Bemerkung  macht:  »je  serais  assez  porte  k  croire  que, 
dans  Gr^oire  de  Tours  notemment,  il  (amicus)  ne  signifie  pas  autre 
chose  que  amis«,  so  führe  ich  noch  ein  paar  Stellen  an ,  die  meines 
Erachtens  den  Gegenbeweis  erbringen.  Gregor  erzählt  von  sich 
virtnt.  s.  Martini  I,  32  S.  604:  iter  cum  mds  arripio  —  corrui  — 
tunc  accedentes  amidj  videntes  me  välde  lassum,  dicebant:  Revertamur 
ad  propria.  Die  amid  sind  also  sui  des  Bischofs  wie  z.  B.  bist. 
Franc.  VIII,  31  S.  347.  Der  Galienus,  amicus  noster,  das.  V,  49 
S.  240,  mag  in  einem  solchen  Herrschaftsverhältnis  gestanden  haben. 
Zum  deutlichen  Beweis  gereicht  hist.  Franc.  III,  35.  Siacrius  geht 
nach  Flenrey-sur-Ouche,  um  Sirivald  zu  ermorden,  egressoque  domo 
uno  aniicorum^  putantes,  ipsum  Sirivaldum  esse,  interfecerunt  cum.  — 
indicat  eis  unus  ex  famüia,  non  eos  dominum  interfedsse,  sed  std>di- 
tum.  Der  amicus  ist  ein  Untergebener,  der  Dienste  zu  leisten  hatte, 
und  nicht  ein  Freund.     Gregor ,  welcher  puer^  famtduSj  serviens  für 

1)  Auch  von  Sybel,  Eönigthum.    2.  AniL  1881.  B.  445.  448.  466. 


82^  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  21. 

die  unfreie  Dienerscbaft  gebrauchte  ^),  hat  ftlr  den  freien  DieuBtmann 
amicus  angewendet,  auch  fbr  denjenigen,  den  Gallo-Römer  wie  er 
selbst  besaßen  ').  Diese  abhängigen  Leute  können  daher  nicht  wohl 
sämtlich  auf  das  germanische  Gefolge  zurückgeführt  werden. 

In  späteren  Urkunden  treffen  wir  hin  und  wieder  auf  eine  Ver- 
wendung des  Wortes  amicus,  die  dem  Gebrauch  in  der  fränkischen 
Zeit  verwandt  scheinen  könnte.  So  erklärte  der  Graf  von  Savoyen 
1220:  predpimtis  universis  casteüanis  et  amicis  nostriSf  ut  eos  cum 
rebus  et  familia  eorum  et  appendiciis  ex  parte  nostra  manuteneant 
et  defendant  eundo  et  redeundo  per  comitatum  et  districtum  nostrum. 
Der  Graf  von  Albon  wurde  1223  gebeten,  den  Befehl  zu  erlassen : 
si  quin  eis  injuria  inferiretur  ab  äliquo  infra  districtum  meum,  mei 
baroneSj  bajuUi,  castellani,  prepositi  et  amici  postquam  scirent  esse 
factam  injuriam  ut  meam  propriam  actores  injurie  compdlereni  emen- 
dare ').  Daß  indes  diese  amici  nicht  die  des  alten  Rechts  sind,  wird 
leicht  zu  erweisen  sein. 

1)  S.  z.  B.  Hist.  Franc.  V,  8.  VI,  17;  Yirt.  s.  Juliani  {c.  16.  17;  virt.  6. 
Martini  IV,  7 ;  vitae  patr.  YIII,  8.    Yergl.  Roth,  Beneficialwesen  S.  153  ff. 

2)  Die  Stellen  bei  Roth  a.  a.  0.  S.  160  Anm.  215  fallen  wohl  weniger  ins 
Gewicht  als  das  von  Waitz  n,  1,  257  Anm.  3  citierte  Testament  des  Bertram- 
nas  vom  Jahre  616,  Gallia  Christiana  XIV,  6  Sp.  105.  118.  In  demselben  ist 
Sp.  105  die  Rede  von  amicis  aut  servientibus,  tarn  sanctae  ecclesiae  quam  et 
meis  propriis,  und  einzelne  von  diesen  werden  Sp.  118  namhaft  gemacht. 

3)  Beide  Urkunden  im  Gartulaire  de  Tabbaye  de  Notre-Dame  et  Saint- Jean- 
Baptiste  de  Ghalais  publ.  p.  Pilot  de  Thorey  1879  Nr.  38.  39  S.  66  f.  67  f. 

Marburg  a.  L.  W.  Sickel. 


Fftr  die  Bedftktion  Tenmtvortlieh :  Prof.  Dr.  BtehUl,  Direktor  der  Oött.  gel.  Abs., 
Aweeeor  der  Königlichen  Geeellscliafk  der  WiisenMiiftften. 

Vtrioff  d$r  DkUricKUhm  Ymiaot'BuaümiiUmg. 

DmOs  d4r  Diti$Heh'9ehiH  ümi%,'Buehdr%Lekmt§i  (Fr,  F.  racdNA*;. 


NOV  23   1887    j 

Göttingische 

gelehrte  Anzeigen 

unter  der  Aufsicht 

der  Königl  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Nr.  22.  1.  November  1887. 


Preis  des  Jahrganges :  JH  24  (mit  den  »Nachrichten  d.  k.  G.  d.  Wiss.c :  JH  27). 
^^ Preis  der  einzelnen  Nummer  nach  Anzahl  der  Bogen:  der  Bogen  50  ^ 


Inhalt :  8  o  1 1  ft  n ,  Prolegomena  sn  einer  römiscben  Chronologie.  Ton  Nüss.  —  8 1  &  11  n ,  Oe- 
Bckloht«  Wttrtfcemberge.  1.  Bd.  9.  H&lfte.  Tom  Yrnfantir.  —  Joachim,  Die  Entwicklang  des  Rhein- 
bimdes  rom  Jahre  1668.  Ton  KnbB.  —  Upsala  LikarefÖrenings  Förhandlingar.  XXtl.    Ton  S^umann, 

=  EigoiiiiiXchtigor  Abdruck  von  Artikeln  der  G6tt.  gel.  Anzeigen  verboten.  = 


Soltau,  Wilhelm,  Prolegomena  zu   einer  römischen  Chronologie 
Berlin  1886.  R.  Gaertner.    YIII  und  168  S.    8^     [Historische  Untersuchun- 
gen herausgegeben  Ton  J.  Jastrow.    Heft  UTj. 

In  der  letzten  Zeit  ist  die  römiBche  Chronologie,  besonders  die 
Frage  nach  dem  Gange  des  älteren  Kalenders  und  nach  dem  Ur- 
sprange und  der  Begründung  der  älteren  Zeitrechnung,  Tielfach  be- 
handelt worden ;  nach  Mommsen  sind  in  kurzer  Folge  Unger,  Matzat, 
Franke! ,  Holzapfel  und  Seeck  daran  thätig  gewesen.  In  dieser  Er- 
örterung ergreift  nun  auch  Soltau  das  Wort  mit  seinen  Prolegomena 
oder  besser  Beiträgen  zu  einer  römischen  Chronologie,  durch  die  er, 
wie  er  im  Anfangskapitel  erklärt,  den  Ornnd  zu  einer  Verständigong 
der  streitenden  Meinungen  zu  legen  hofft. 

Die  Untersuchung  beginnt  cap.  H  mit  der  Flaviosinschrift.  Zu* 
erst  wird  nachgewiesen,  daß  die  Aedilen  am  1.  März  ihr  Amt  an- 
zutreten pflegten  und  daft  Cn.  Flavius  im  Jahre  449  der  Stadt,  305 
y.  Chr.  (nicht  wie  bei  Livius  304  y.  Chr.)  seine  berühmte  Aedilität 
bekleidete.  Die  Inschrift  seines  Monuments,  gesetzt  204  J.  nach 
der  Weihe  des  capitolinisoheu  Tempels,  rechnet  also  yarronisch; 
denn  diese  Aera  der  Tempelweihe  beginnt  nach  Soltau  ein  Jahr  spä- 
ter als  die,  welche  yon  der  Vertreibung  der  Könige  rechnet.  Ebenso 
rechnet  das  sogen.  Censorenprotokoll  (Dionys.  I  74).  Da  diese  äl- 
testen Zeitangaben  also  yarronisch  zählen,  so  mttssen  sie  sowohl 
die  Diktatoren-,  wie  die  Anarchiejahre  kennen. 

GMt.  fol   Aas.  1887.  Nr.  ».  57 


826  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  22. 

Die  hier  vorgetragene  Beweisführung  hat  jedoch  ihre  Mängel. 
Zuerst  ist  darchaus  nicht  erwiesen,  daß  die  Aedilen  am  die  Zeit  des 
Flavins  am  1.  März  antraten.  Es  fällt  ferner  anf,  daß  Diodors 
Nachricht,  der  Flavins'  Aedilität  mit  der  Gensnr  des  Ap.  Clandius 
verbindet,  nicht  einmal  erwähnt  wird,  während  doch  auch  Soltaa 
Diodors  Ueberlieferung  für  verhältnismäßig  alt  ansieht  Ein  sehr 
bedenkliches  Ansknnftsmittel  ist  die  Unterscheidnng  der  Aeren  der 
Tempelweihe  und  der  Vertreibung  der  Könige,  da  diese  aller  Wahr- 
scheinlichkeit nach  gleichbedeutend  sind;  die  letztere  Benennung  ist 
die  jüngere  und  hat  sich  an  die  Stelle  der  ersteren  gesetzt  Da0 
die  Tempelweibe  am  Ende  des  ersten  Konsulatsjahres  stattgefunden 
habe,  ist  der  Erzählung  der  späteren  Annalen  entnommen  and  als 
gänzlich  unverbürgt  anzusehen.  Was  endlich  das  GensorenprotokoU 
angeht,  so  ist  dasselbe  mit  nichten  eine  Urkunde  ans  der  Zeit  des 
gallischen  Brandes,  sondern  ein  Schriftstellerzeugnis  etwa  aas  der 
Zeit  Varros,  das  für  die  ältere  römische  Chronologie  gar  keine  Be- 
deutung hat 

Die  Diktatorenjahre,  die  Soltau  also  schon  in  den  ältesten  Mo- 
numenten findet,  werden  im  3.  Kapitel  weiter  behandelt.  Er  glaabt 
nach  lingers  Vorgang  zwei  derselben  auch  bei  Diodor,  zwar  nicht 
in  den  Fasten,  wohl  aber  XIX  10  und  XX  101  in  der  Angabe  der 
Dauer  der  Samniterkriege  zu  finden ,  wie  sie  auch  von  Cicero  be- 
kanntlich früher  übergangen,  später  mitgerechnet  werden;  ebenso 
finden  sie  sich  in  einigen  andern  älteren  Zeitbestimmungen  einge- 
rechnet und  zwar  als  ganze  volle  Jahre.  Da  sie  also  in  den  älte- 
sten Rechnungen  vorhanden  sind,  in  den  späteren  Chroniken  aber 
verschwunden,  so  wirft  der  Verf.  die  Frage  auf,  warum  sie  unter- 
drückt seien.  Die  Antwort  lautet  (p.  38  f.) :  mit  Rücksicht  auf  den 
Synchronismus  des  Gallierbrandes  mit  dem  Antalkidischen  Frieden 
haben  kundige  Männer  des  2.  Jahrb.  die  Theorie  aufgestellt,  daß 
die  römische  Liste  vier  Stellen  zu  viel  habe.  Diese  vier  Stellen  za 
entfernen  sei  zwar  ein  älterer  ehrenwerter  Annalist  nicht  fähig  ge- 
wesen, wohl  aber  sei  es  durch  eine  mit  dem  Abschluß  der  annates 
maximi  verbundene  Fastenreduktion  um  130  v.  Chr.  geschehen. 

Hier  hat  der  Verf.  im  besten  Falle  nur  bewiesen,  daft  die  Sache 
so  hätte  vor  sich  gehn  können,  wie  er  es  darstellt,  nicht  aber ,  daft 
sie  so  vor  sich  gegangen  ist  Keiner  seiner  Schlüsse  ist  sieber. 
Daß  man  bei  Diodor  an  der  erwähnten  Stelle  vielleicht  zwei  Dik- 
tatorenjahre eingerechnet  finden  kann,  ist  zuzugeben,  ob  es  aber 
wirklich  Diktatorenjahre  sind,  ist  damit  nicht  erwiesen*).    Ich  halte 

1)  Ich  erinnere  daran,  daß  wir  nicht  wissen,  ob  Diodor  den  Samniterkrieg 
in  demselben  Jahre  beginnen  lieft,  wie  Livius. 


Soltan,  Prolegomena  zu  einer  römischen  Chronologie.  827 

es  überhaupt  fttr  ratsam)  bei  der  ErkläruDg  der  Diodorschen  Chro- 
nologie zunächst  nur  die  Fasten  und  die  darauf  beruhende  Jahres- 
reihe und  nicht  beiläufige  Zeitangaben  zu  verwenden  und  kann  da- 
her jener  Stelle  eine  entscheidende  Bedeutung  nicht  beimessen  ^). 
Notwendig  hätte  weiterhin  der  Verf.  erklären  müssen,  worauf  sich 
denn  die  Oleichsetzung  des  gallischen  Brandes  mit  dem  Frieden  des 
Äntalkidas^)  gründete.  Das  wunderbarste  dabei  ist  aber,  daß  die 
kundigen  Männer,  denen  Soltau  diese  ohne  Zweifel  richtige  Erkennt- 
nis zuschreibt,  ebenso  gerechnet  haben  mUssen,  wie  0.  F.  Unger  in 
seiner  Stadtära,  gewußt  haben,  daß  die  Eonsulatsliste  zu  viele  Stel- 
len enthalte  und  demgemäß  die  überschüssigen  Jahre  in  unschuldige 
Diktatorenjahre  umgewandelt  haben').  Da  die  Ausfahrungen  lin- 
gers für  mich  nicht  überzeugend  sind,  so  wird  man  mir  nicht  ver- 
argen, wenn  ich  auch  Soltaus  darauf  gegründete  Ansichten  nicht 
billige.  Endlich  die  von  ihm  angenommene  Ordnung  der  Fasti 
gleichzeitig  mit  der  Herausgabe  der  Pontificalchronik  ums  J.  130 
V.  Chr.  ist  ersonnen,  ebenso  wie  die  Herausgabe  der  Pontificalchronik 
nicht  bezeugt  ist;  es  wird  nur  berichtet,  daß  die  annales  maximi 
bis  in  diese  Zeit  geführt  seien  ^). 

Das  vierte  Kapitel  versucht  nachzuweisen,  daß  387  v.  Chr.  auch 
das  wirkliche  Datum  des  Gallierbrandes  ist.  Ich  stimme  in  der 
Sache  mit  dem  Verf.  überein,  bemerke  aber,  daß  ich  nach  seinen 
Ausftahrungen  nicht  recht  begreife,  weshalb  er  dieser  Ansicht  ist. 
Hier  wird  ferner  über  diö  Anarchiejahre  gehandelt,  von  denen 
Soltau  nur  vier  als  hinzugesetzt  betrachtet.  Diese  vier  Jahre  sind, 
wie  der  Verf.  vermutet,  Ersatz  für  vier  verdächtige  oder  angefochtene 
Eponymenkollegien  und  dienen  demselben  Zwecke  wie  die  Dikta- 
torenjahre,  um  einen  chronologischen  Ausgleich  zu  finden  und  die 
Zahl  der  Rubriken  in  den  Fasten  dem  der  Jahre  gleich  zu  machen, 
sind  aber  älter  als  die  Diktatorenjahre.  Zum  Schluß  des  Kapitels 
folgt  eine  Erklärung  für  das  Fehlen  der  Eponymen  von  331—335 
d.  St.  bei  Diodor. 

Im  5.  Kapitel  kommt  der  Bericht  des  Polybios  über  die  Gallier* 
kriege,  den  Verf.  auf  Cato  zurückführt.  Er  hält  es  für  beinahe 
selbstverständlich,  daß  Polybios  sich  der  zu  seiner  Zeit  erscheinen- 
den epochemachenden  Novität,  der  Origines  des  Cato  bedient  habe. 

1)  Besonders  da  für  die  beiden  noch  übrigen  Diktatorenjahre  ein  ähnlicher 
Nachweis  fehlt. 

2)  Der  wahrscheinlich  ins  Frühjahr  386  v.  Chr.  f&llt,  was  übersehen  ist. 

8)  Ich  möchte  wohl  wissen,  wie  sich  in  chronographischer  Hinsicht  Diktate- 
ireiüahre  von  Konsulatsjahren  unterscheiden. 
4)  Cicero  de  orat.  11  62. 

67* 


828  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  22. 

Dieser  Grnnd  ist  unter  allen  sonst  ins  Feld  geführten  der  alleiD 
achtungswerte ;  denn  die  angeführten  Uebereiostimmangen  bestebn 
nicht;  z.  B.  gleich  an  der  zuerst  (p.  67)  erwähnten  Stelle  spricht 
Polybios  von  der  Poebene,  Cato  vom  Ager  Galliens,  also  von  ei- 
ner anderen  Landschaft;  der  Verf.  ist  in  dieser  Hinsicht  sehr  nach- 
sichtig, hilft  auch  wohl  durch  eine  Konjektur  der  Uebereinstimmung 
nach.  Es  ist  eine  Beweisführung,  wie  ich  sie  mir  schwächer  kaom 
denken  könnte ;  dabei  hält  der  Verf.  sie  für  ganz  sicher  und  spricht 
sich  auf  das  zuversichtlichste  aus.  Cato  ist  gewiß  ein  epochema- 
chender Schriftsteller,  aber  nur  für  die  römische  Litteratur  und  in  dem 
Sinne  wie  Livius  Andronicus  mit  seiner  lateinischen  Odyssee  es  war. 
Als  historisches  Werk  stehn  die  Origines  noch  auf  sehr  niedriger 
Stufe,  sind  auch  zum  guten  Teil  nach  griechischen  Quellen  and  Vor- 
bildern gearbeitet  und  waren  daher  für  eine  allgemeinere  Benutzimg 
auch  durch  griechische  Schriftsteller  nicht  geeignet;  auch  nennt  sie 
Polybios  nie. 

Was  nun  die  Frage  über  die  Rechnung  der  Ordinalzahlen  an- 
geht, ob  man  bei  Polybios  das  dreißigste  Jahr  für  29  oder  30  Jahre 
zählen  soll,  so  hat  der  Verf.  einen  sehr  glücklichen  Gedanken  ge- 
habt: er  rechnet  sie  auf  ungefähr  29 Vs,  hält  also  die  Mitte  ein. 
Versöhnt  können  sich  die  Gegner  nunmehr  die  Hand  reichen.  Doch 
muß  auch  so  eine  Zahl  geändert  werden;  statt  TQMxatdsxa:  iutauat- 
dsua\  Cato  schrieb  XIIX,  Polybios  aber  las  aus  Versehen  XIH 
Wer  wollte  wohl  läugnen,  daß  Polybios  sich  verlesen  konnte?  Noch 
viel  sicherer  ist  es  aber,  daß  alle  diejenigen,  die  den  Text  jener 
Polybianischen  Stelle  geradezu  oder  auf  Umwegen  ändern,  um  sie 
erst  mit  ihrer  römischen  Chronologie  in  Einklang  zu  bringen  and 
dann  für  dieselbe  zu  verwerten,  nicht  gehört  zu  werden  verdienen. 
Für  den  Rest  des  Kapitels,  wo  der  Verf.  sich  mit  dem  gebesserten 
Polybios  noch  etwas  weiter  ergeht,  wollen  wir  ihn  daher  sich  selbst 
ttberlassen,  und  wenden  uns  zum  6.  Kapitel,  wo  die  nach  Cicero  de 
rep.  I  25  von  Ennius  erwähnte  Finsternis  an  den  Nonen  des  Juni 
besprochen  wird.  Gemeint  ist  nach  dem  Verf.  die  Finsternis  vom 
6.  Mai  203  v.  Chr.  Bei  Cicero,  dessen  Text  ohne  Gewähr  sei,  sei 
für  quinquagesimo  CCG  fere  zu  schreiben:  quingentesimo  quinquage^ 
simo  f^e  anno  (p.  105).  Zur  Hülfe  genommen  wird  dabei  der  Be- 
weis, daß  Silius  Italiens  aus  Ennius  geschöpft  habe.  Auch  das  Re- 
sultat dieses  Kapitels  ist,  wie  man  sieht,  z.  T.  durch  gewaltsame  Mit* 
tel  gewonnen  ^).    Das  7.  Kapitel  behandelt  die  Chronologie  der  Waf- 

1)  Bemerkenswert  ist  u.  a.  der  Satz  p.  90:  Schon  der  Umstand,  dai  man 
den  Tag  seines  Todes,  den  Tag  der  Gründung  Roms  und  bald  sogar  Geburta« 
und  Konceptionsstunde  berechnete,  zeigt,  daS  Romulus'  Lebenszeit,  wenn  nicht 
in  der  Geschichte,  so  doch  in  der  Sage  feststand. 


Soliau,  Prolegomena  zu  einer  römischen  Chronologie.  829 

fenBtillBtaDdflverhandlangeD  203—202  v.Chr.  Es  wird  yermutet,  daß 
LiyiuB  eine  Epitome  des  Polybios  benutzt  habe,  was  Hirschfeld  schon 
frtther  fttr  das  21.  and  22.  Buch  aufgestellt  hatte.  Dies  Kapitel 
dient  zorn  Nachweise,  daß  in  den  Jahren  203/202  der  römische  Ka- 
lender nur  geringe  Abweichungen  vom  richtigen  zeigte:  starke  Ab- 
weichung findet  sich  erst  190  v.  Chr.;  aber  um  160  v.  Chr.  ist  sie 
wieder  beigelegt  (Kap.  VIII).  Diese  Kalenderverwirrnng  ist,  so  fährt 
das  9.  Kapitel  fort,  nicht  zufällig,  sondern  absichtlich  eingetreten. 
Es  gelang  den  Pontifices  durch  die  lex  Acilia  (191  v.  Chr.)  die 
Schaltung  und  damit  den  Festkalender  in  ihre  Hände  zu  bringen 
und  ihre  Macht  zu  stärken,  besonders  mit  Rücksicht  auf  die  verän- 
derten kirchlichen  und  religiösen  Zustände  Roms,  wo  der  alte  Qlaube 
durch  fremde  Kulte  und  Freigeisterei  mit  Untergang  bedroht  war. 
Damals  wurde  auch  der  1.  Januar  als  Neujahr  fttr  den  Festkalender 
eingeführt. 

Kap.  10  bringt  die  Erklärung  einiger  italischer  Monate  als  Jah- 
reszeiten. Auch  hier  würden  die  Ausführungen  des  Verf.B  an  Wert 
bedeutend  gewonnen  haben,  wenn  es  nicht  wiederum  einiger  Text- 
änderungen dabei  bedurft  hätte.  Uebrigens  steht  dies  Kapitel  mit 
der  römischen  Chronologie  in  keiner  Verbindung.  Zum  Schluß  stellt 
der  Verf.  drei  Probleme:  er  entwickelt  zuerst,  daß  in  der  alten  Zeit 
nur  die  Kalendae  Nonae  und  Idus  und  der  jedem  von  diesem  fol- 
gende Tag  dies  fasti  waren,  und  fragt  nun,  wie  die  Ansicht  ent- 
Btehn  konnte,  daß  trotz  der  Veröffentlichung  des  Kalenders  durch 
die  Decemvirn  vor  Cn.  Flavius  die  Kenntnis  der  Gerichtstage  bloß 
bei  den  Pontifices  gestanden  habe.  Das  zweite  Problem  ist:  wie 
konnten  die  Römer  auf  ihre  Tetraöteris  1465  Tage  statt  1461  rech- 
nen? Das  dritte:  was  machten  die  Römer,  wenn  die  nundinae,  die 
bis  zur  lex  Hortensia  nefasti  waren,  auf  einen  dies  fastus  fielen? 
Gottlob  gibt  der  Verf.  auf  diese  schwierigen  Fragen  eine  Antwort : 
es  waren  die  Pontifices,  die  einen  überschüssigen  Tag,  den  dies  in- 
tercalaris,  dem  ursprünglichen  Kalender  zugelegt  hatten,  dadurch  die 
Tetra^teris  auf  1465  Tage  brachten,  den  Zusammenstoß  der  nundinae 
mit  dies  fasti  vermieden  und  ihren  Einfluß  auf  das  stärkste  geltend 
machten.  Dem  hat  Cn.  Flavius  durch  Festlegung  des  dies  interca- 
laris  ein  Ende  gemacht.  Es  macht  den  Eindruck,  als  wenn  Verf. 
den  Cn.  Flavius  für  jünger  hielte  als  die  lex  Hortensia,  was  des  Be- 
weises bedurft  hätte.  Auch  sonst  sind  diese  kalendarischen  Ausfüh- 
rungen sehr  vielen  Einwendungen  ausgesetzt.  Für  alles  wird  eine 
Erklärung  gegeben,  als  wenn  wir  alles  auf  das  schönste  wüßten. 

Der  Verf.  hat  die  Absicht,  mit  seinem  Buche  der  Sprachverwirr- 
ung, die,  wie  er  sagt,  neuerdings  unter  den  römischen  Chronologen 


830  Qött.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  22. 

herrscht,  ein  Ende  za  machen ;  er  will  die  Gegensätze  versöhnen ;  er 
betrachtet  es  als  ein  Glück,  wenn  die  Gelehrten  einmal  über  eine 
Meinung  einig  sind  (p.  135  oben),  was  doch  die  Richtigkeit  der- 
selben wenig  verbürgt.  Sein  Werk  ist  in  der  That  eine  Mischung 
aas  allen  früheren;  man  findet  Gedanken  von  Mommsen,  Hartmaon, 
Seeck,  besonders  viel  von  Unger  und  Matzat,  and  im  Grande  nicht 
viel  eigenes,  obwohl  der  Verf.  allerdings  za  eigentümlichen  Besal- 
taten  gelangt  ist.  Mit  diesen  Resaltaten  hat  er  ein  leichtes  Spiel; 
die  Thatsacheu,  aus  denen  er  seine  Schlüsse  zieht,  sind  vielfach  voo 
ihm  selbst  durch  Vermatung  geschaffen  oder  verändert  worden,  wo- 
bei öfters  der  Ueberlieferung  Gewalt  geschehen  ist^).  Es  finden  sich 
wohl  einige  gesunde  Gedanken  und  scharfsinnige  Bemerkungen,  aber 
man  kann  nicht  sagen,  daß  der  Verf.  besseres  geleistet  hätte,  als 
seine  Vorgänger,  oder  daß  von  seinem  Buch  für  die  wissenschaft- 
liche Einsicht  in  das  Wesen  der  römischen  Chronologie  Gewinn  za 
erwarten  sei.  Man  findet  bei  ihm  wie  bei  andern  in  hohem  Grade 
das,  was  der  Grieche  dovksve^y  fjgf  ino&iast  nennt.  Zu  tadeln  ist 
auch  die  Verzettelung  von  Untersuchungen,  wie  z.  B.  die  über  Dio- 
dors  und  Polybios'  Chronologie  auf  verschiedene  Kapitel  verteilt  ist 
Ich  bin  jedoch  aus  noch  anderen  Gründen ,  die  nicht  bloß  Sol- 
tau, sondern  auch  seine  letzten  Vorgänger  treffen,  mit  seiner  Be- 
handlungsweise  der  römischen  Chronologie  nicht  einverstanden.  Be- 
sonders ist  zu  bemerken,  daß  ein  festes  Urteil  über  den  Wert  der 
Quellen  fehlt.  Das  zeigt  sich  z.  B.  p.  12,  wo  der  Rücktritt  der  er- 
sten Konsuln  im  ersten  Jahr  der  Republik  als  eine  beglaubigte  That- 
sache  angesehen  wird ;  p.  30,  wo  es  heißt,  daß  das  von  Livius  VII  22 
aus  d.  J.  351  V.  Chr.  Erzählte  im  wesentlichen  auf  gleichzeitige 
Berichte  zurückgehe;  auch  die  IVsjährige  Dauer  des  zweiten  De- 
cemvirats  wird  als  historisch  angesehen,  obwohl  davon  im  Diodori- 
schen  Bericht  keine  Spur  ist,  und  doch  Soltau  selbst  im  ganzen  von 
der  Verderbtheit  der  uns  erhaltenen  späteren  Annalen  überzeagt  ist 
Es  geht  ihm  eben  wie  den  meisten  seiner  Vorgänger  in  der  römi- 
schen Chronologie :  sein  Glaube  oder  Unglaube  ist  nach  den  Bedürf- 
nissen der  Untersuchung  bemessen ;  ja  selbst  die  ältere  gute  Ueber- 
lieferung hat  sich  aus  solcher  Ursache  Aenderungen  gefallen  lassen 
müssen.    Aber  all'  das  Material,  das  von  den  Chronologen  der  letz- 

1)  z.  B.  p.  174  »Die  genannte  Ueberlieferung  ist  einig,  daB  es  die  That  des 
Flavius  war,  welcher  die  wichtige  Neuerung  verdankt  wurde«,  was  nicht  richtig 
ist.  Als  wenn  die  Ueberlieferung  die  Meinungen  des  Verf.  bezeugte.  Femer 
das  p.  138  von  den  religiösen  Zuständen  Roms  zu  Anfang  des  2.  Jahrh.  v.  Chr. 
entworfene  Bild  hat  nur  den  Wert  eines  der  Hypothese  des  Verfassers  dienen- 
den Einfalls. 


Soltau,  Prolegomeoa  zu  einer  römischea  Chronologie.  831 

ten  Jahre  aofs  neue  hin  und  her  gewälzt  ist,  muß  noch  auf  seinen 
Wert  antersacht  werden,  aach  die  antiquarischen  Notizen  dürfen 
dem  nicht  entzogen  werden,  und  nur  was  wirklich  überliefert  and 
nicht  spätere  Vermutung  oder  Erfindung  ist  darf  benutzt  werden. 

Ferner  sind  in  den  Soltauschen  Prolegomena  wie  in  andern 
neueren  chronologischen  Schriften  zwei  Dinge  mit  einander  vereinigt 
und  mit  steter  Beziehung  zu  einander  dargestellt,  der  Oang  des  äl- 
teren römischen  Kalenders  und  die  Frage  nach  der  Richtigkeit  der 
uns  erhaltenen  Jahresreihe,  die  eigentlich  historische  Chronologie« 
Ob  jedoch  und  wie  weit  diese  beiden  Gegenstände  mit  einander  zu- 
sammenhängen, ist  nicht  mit  Sicherheit  zu  sagen :  wir  wissen  nicht, 
wie  weit  durch  etwaige  Unregelmäßigkeiten  des  Kalenders  oder  des 
Amtsjahres  die  unzweifelhaft  vorhandenen  Fehler  in  der  Jahresreihe 
hervorgebracht  worden  sind ;  es  ist  das  zwar  vermutet,  aber  nicht  be- 
wiesen. Daher  wäre  es  zweckmäßig  gewesen,  so  wie  es  richtig 
schon  von  Mommsen  geschehen  ist,  die  Untersuchung  des  Kalenders 
von  der  Erörterung  über  die  historische  Chronologie  zu  trennen  und 
sie  nicht  eher  zu  verbinden,  als  bis  die  Verbindung  als  sicher  oder 
wahrscheinlich  erwiesen  ist. 

Zum  Schlüsse  will  ich,  um  mich  nicht  bloß  in  der  Verneinung 
zu  bewegen,  selbst  versuchen,  einen  kleinen  Beitrag  zu  den  von 
Soltau  und  seinen  Vorgängern  behandelten  Fragen  zu  geben ,  zur 
Erklärung  der  Chronologie  Diodors,  der  von  den  Gelehrten  ^)  bisheri 
so  weit  mir  bekannt,  wenig  befriedigend  behandelt  worden  ist.' 

Diodor  gibt  eine  Universalgeschichte  in  Form  von  Annalen; 
Jahr  für  Jahr  sind  die  griechischen  (athenischen)  und  römischen 
Eponymen  neben  einander  den  Ereignissen  vorgesetzt  und  dazu  alle 
vier  Jahre  die  Olympienfeier  mit  ihrer  Ordnungsziffer  erwähnt.  Ver- 
gleicht man  die  Eponymen  mit  den  Sprossen  einer  Leiter,  an  wel- 
cher der  Chronologe  in  die  Vergangenheit  emporsteigt  und  ihre 
Länge  ermißt,  so  hat  Diodor  hier  zwei  Leitern  so  zusammengesetzt, 
daß  die  Sprossen  beider  sich  decken.  Es  kümmert  ihn  nicht,  ob  das 
Jahr  des  athenischen  Archon  dem  der  römischen  Konsuln  gleich  ist; 
bei  derartigen  Vergleichen  haben  die  Alten  überhaupt  stets  Jahr 
gleich  Jahr  sein  lassen').  Was  nun  die  Anhaltspunkte  angeht,  wel- 
che dem  Diodor  für  das  Zusammenlegen  der  griechischen  und  römi- 
schen Eponyme   zur  Hand   waren,    so   war  zunächst   für  die  eigene 

1)  die  übrigens  von  der  Uebersicht  Mommsens  Rom.  Chronol.  p.  125  abhän- 
gig zu  sein  pflegen. 

2)  Die  von  Q.  F.  Unger  ausgegangene  Annahme  gelegentlicher  Jahreswechsel, 
die  dann  dazu  dienen  kann,  ein  Jahr  in  der  Tasche  des  Chronologen  verschwin'« 
den  zu  lassen,  kann  ich  mir  nicht  aneignen. 


882  G6tt.  gel.  An£.  1687.  No.  22. 

Zeit  DiodorSy  in  die  er  die  BynchroDistische  Gfesehichte  hinabftthrt,  keiD 
Zweifel  vorhanden,  ebensowenig  fttr  die  nähere  Vergangenheit^  etwa 
vom  2.  panischen  Kriege  an ,  von  wo  die  griechische  and  rOmische 
Geschichte  zosammenwachsen  and  von  Polybios  zusammen  dargestellt 
waren.  Ein  sicherer  Synchronismus  war  ferner  der  Krieg  des  Pyrrhos 
gegen  die  Römer,  sowohl  in  griechischer  wie  in  römischer  Qeschiehte 
anfgezeichnet.  Endlich  hatte  Diodor  auch  für  den  gallischen  Brand 
ein  griechisches  gleichzeitiges  Ereignis,  den  Frieden  des  Antalkidas, 
der  schon  bei  Polybios  mit  ihm  zasammengestellt  war.  Von  diesen 
gegebenen  Pankten  and  der  Länge  der  römischen  Jahresreihe  hieng 
es  dann  weiter  ab,  wohin  das  Grtindangsjahr  Borns  in  der  grieehi- 
sehen  Chronologie  za  fallen  haben  würde. 

Die  Chronologie  der  Vergangenheit  wird  arsprOnglich,  wie  be- 
kannt, von  der  Gegenwart  aas  bestimmt.  Daher  sind  die  ältesten 
chronologischen  Angaben,  in  Generationen  oder  in  Zahlen,  so  be- 
schaffen, wie  die  des  Thakydides  (I  13):  »etwa  300  Jahre  Tor  dem 
Ende  dieses  Krieges  wurden  in  Samos  die  ersten  Trieren  gebaute. 
Auf  diese  Weise  sind  ursprtlnglich  auch  die  Synchronismen  ausge- 
rechnet. Folgen  wir  dieser  nrsprttnglichen  Sitte  und  beginnen  wir 
Diodors  griechisch-römische  Synchronistik  nahe  ihrem  Ende^). 

Zur  Zeit  Diodors  traten  die  römischen  Konsuln  den  1.  Januar 
an  und  bestimmten  damit  den  Anfang  des  römischen  Jahres.  Da- 
gegen begann  das  durch  die  Archonten  angedeutete  attische  Jahr 
etwa  im  Juli ,  also  in  der  Mitte  des  römischen  Jahres  und  etwa  um 
dieselbe  Zeit  pflegte  man  alle  vier  Jahre  die  Olympien  zu  feiern. 
Diodor  konnte  also  nach  seiner  Zeit,  da  er  Konsulatsjahr  und  Ar- 
chontenjahr  gleich  und  je  vier  dieser  Jahre  auf  eine  Olympiade 
rechnete,  mit  demselben  Bechte  den  Konsul  demjenigen  Archen  gleich- 
setzen, in  dessen  Jahr  er  antrat,  wie  demjenigen,  unter  dem  er  ab- 
gieng.  Was  er  einmal  erwählte,  muBte  auch  fttr  die  weitere  Syn- 
chronistik maßgebend  bleiben.  Auf  die  Frage  nach  dem  Wechsel 
des  Antrittstags  der  Konsuln  konnte  er  dabei  keine  Bttcksicht  neh- 
men, gesetzt  auch,  er  hätte  dayon  etwas  gewußt.  Diodor  entschied 
sich  nan  dafür,  die  Konsuln  dem  Archonten  gleichzusetzen,  unter 
welchem  sie  ihr  Amt  antraten,  anders  als  wir  zu  thun  pflegen;  denn 
er  gleicht  die  Konsuln  von .  673  Borns  (varron.),  unter  denen  der 
Bnndesgenossenkrieg  ausbrach,  L.  Marcius  Philippus  und  Sex.  Julius, 
mit  Olymp.  172.  1^).    DemgemäA,  nm  einige  Daten  anzuftthren,  die 

1)  Womit  nicht  gesagt  sein  soll,  daft  Diodor  von  seiner  Zeit  aus  selbständig 
diese  Synchronistik  aufgebaut  hat.  Er  konnte  auch  durch  seine  üeberliefemng, 
tk  B.  Polyb,  darauf  hingeführt  werden. 

2)  Diodor  fr.  XXXVn  2.  2.   6  i(  avnÜB^  nilifi^f  ngot  'J^^aMvc  l{««^ 


SolUu,  Prolegomena  za  einer  römischen  Chronologie.  SM 

bei  ihm  nicht  mehr  erhalten  sind,  maßte  das  Jahr  586  d.  St.  (= 
168  y.  Chr.)y  die  Eonsoln  L.  Aemilioa  Pauli  qb  und  G.  Licinius  Gras- 
800,  das  Jahr  der  Schlacht  bei  Pydna,  auf  Ol.  152, 4  (vnlgo  169  v.  Chr.) 
fallen.  In  der  That  fand  die  Schlacht  noch  vor  der  Feier  der  153. 
Olymp,  statt  und  wurde  demgemäß  in  der  Polybianischen  Darstel- 
long  im  29.  Buche  erzählt,  das  wahrscheinlich  die  Ereignisse  von 
Ol.  152.  4  enthielt '). 

Femer  das  Jahr  d.  St.  538  (216  v.  Ghr.),  die  Konsuln  L.  Aemi- 
lins  und  G.  Terentius,  das  Jahr  der  Schlacht  bei  Gannae,  mußte  bei 
Diodor  fallen  auf  Ol.  140,  4  (217  y.  Ghr.),  auch  da  in  Ueberein- 
Stimmung  mit  der  wahren  Zeit  der  Schlacht,  die  in  dem  FrOhsommer  vor 
den  Olympien  216  v.  Ghr.  geschlagen  ward,  und  mit  der  Anordnung 
des  Polybios ,  der  mit  derselben  die  italischen  Begebenheiten  der 
140.  Olymp,  abschließt. 

Ferner  das  Jahr  d.  St.  490  (264  v.  Ghr.),  die  Konsuln  Ap. 
Claudius  M.  Fulvius,  mußte  bei  Diodor  fallen  auf  Ol.  128,  4  (265 
V.  Chr.).  Wenn  Diodor  den  Beginn  des  1.  punischen  Krieges  unter 
diese  Konsuln  setzte,  so  wich  er  diesmal  von  Polybios  I  45  ab,  der 
denselben  auf  Olymp.  129.  1  bestimmte '). 

Das  römische  Jahr  474  (280  v.  Chr.),  Konsuln  P.  Valerius  und 
Ti.  Cornncanius,  das  erste  Jahr  des  Pyrrhuskrieges,  mußte  bei  Dio- 
dor zusammenfallen  mit  Olymp.  124.  4  (281  v.  Chr.).  Das  stimmt 
mit  der  griechischen  Datierung  desselben  Ereignisses,  der  IIvqqov 
dkdßatn^  bU  ^Itaiiay^  die  nach  dem  doppelten  Zeugnis  des  Polybios 
(11  20.  6  und  II  41  §§  1  u.  11)  in  eben  dieses  Jahr  fällt  >). 

Demgemäß  und  derselben  Rechnung  nach  fällt  die  Eroberung 
Roms  durch    die  Gallier,   das  Jahr  d.  St.  364  (390  v.  Chr.)  *)  bei 

vnanv6yf»p  h  rp  'Poifip  Jtvxiov  Moffxiov  4>$Xinnov  xal  Ji^tov  'lovXiov*  olvfiitUtt 
<r  nx^l  ^*v^^9«  ^Qot  tmtt  ixaroy  ißdofi^xona.  Diese  wichtige  Stelle  ist  den  Chro- 
nologen entgangen;  doch  hat  Matzat  richtig  erkannt,  daB  Diodor  mit  dem  End- 
ponkt  seines  Werkes,  Ol.  180.  1,  das  Eonsnlatsjahr  C&sars  meint,  645  d.  Stadt. 
(Diodor  I  4.  7). 

1)  s.  Steigemann,  de  Polybii  olympiadum  ratione  et  oeconomia  (diss.  Breslau 
1885)  p.  48.' 

2)  Dionys  v.  Hai.  (Arch.  8)  setzt  den  Anfang  des  Krieges  auf  Olymp.  128, 8, 
was  mit  seiner  früheren  Rechnung  zusammenhängt  und  zur  Erklärung  Diodors 
nicht  dienen  kann. 

8)  Die  Behauptung  Soltaus,  das  Epochenjahr  des  dtaßacte  IIvqqov  sei  Olymp. 
125.  1  gewesen  (p.  48  Anm.  2),  ist  unrichtig.  Polyb  bezeugt,  daB  sie  stattfand 
in  der  124.  Olymp,  und  zwei  Jahre  vor  dem  Angriff  der  Gallier  auf  Delphi,  der 
sich  Ol.  126.  2  begab  (Pausan.  X  28,  14). 

4)  Hierin  sind  die  4  Diktatorenjahre  einbegriffen,  die  Diodor  nicht  kennt, 
80  daS  ihm  der  Anfang  des  Pyrrhuskrieges  nicht  474,  sondern  470  J.  nach  Roms 
Gründung  liegt. 


834  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  22. 

Diodor  XIV  107.  113  auf  Olymp.  98.  2,  (387  v.  Chr.)  gleichzeitig 
mit  dem  Antalkidischen  Frieden  und  der  Belagerung  Rhegions 
durch  Dionysios  von  Syrakus,  genau  übereinstimmend  mit  der  Yon 
Polybios  I  6  überlieferten  Bestimmung.  Diodor  rechnet  hier  in  der 
That  so,  wie  er  rechnen  mußte  und  man  kann  getrost  annehmen, 
daß  er  die  soeben  von  mir  ergänzten  Synchronismen  auch  wirklich 
so  gegeben  hat,  wie  sie  von  mir  gesetzt  sind. 

Zwischen  den  beiden  letztgenannten  überlieferten  Punkten,  dem 
1.  Jahre  des  Pyrrhuskrieges  und  dem  Gallierbrande,  weicht  nan,  wie 
bekannt  und  neuerdings  viel  erörtert,  Diodors  römische  Jahresreihe 
von  den  sonst  erhaltenen  erheblich  ab,  worüber  Mommsen  Rom. 
Ghronol.  p.  125  f.  einzusehen  ist.  Diodor  hat,  um  nur  das  wichtig- 
ste zu  erwähnen,  nach  dem  gallischen  Brande  die  fünf  (von  360—364 
d.  Stadt)  vorhergehenden  Jahreskollegien  wiederholt  und  also  ans 
fünf  Jahren  zehn  gemacht;  er  hat  ferner  nicht  fünf  Anarchiejabre, 
sondern  nur  eins,  und  läßt  endlich  das  Kollegium  von  387  fort,  hat 
hier  also  ein  Jahr  weniger.  Aber  die  Hauptsache  stimmt  bei  ihm 
mit  den  übrigen :  bei  allen  liegt  die  gleiche  Anzahl  von  Jahresstel- 
len zwischen  dem  Pyrrhuskriege  und  der  gallischen  Katastrophe, 
nämlich  106  ^).  Was  die  fünf  nach  dem  Gallierbrande  wiederholten 
Magistratskollegien  angeht,  so  scheint  mir  deutlich,  daß  sie  wesent- 
lich dasselbe  zu  leisten  bestimmt  sind,  was  in  den  andern  Quellen 
die  fünf  Jahre  der  Anarchie  ^) ;  wie  diese,  so  sind  auch  jene  der 
chronologischen  Berichtigung  halber  hinzugesetzt;  durch  sie  wird 
der  in  den  griechischen  Synchronismen  des  Galiierbrandes  und  des 
Pyrrhuskrieges  eingeschlossene  Zeitraum  auch  für  die  römische  Zeit- 
rechnung hergestellt.  Für  Diodors  Chronologie  ist  diese  Absicht  als 
sicher  anzunehmen;  aber  auch  die  Anarchiejahre  der  andern  üeber- 
lieferung  verdanken  wahrscheinlich  demselben  Bestreben  ihre  Ent- 
stehung. Die  Voraussetzung  ist  dabei,  daß  schon  den  älteren  römi- 
schen Chronologen  das  Zusammenfallen  des  gallischen  Brandes  mit 
dem  Antalkidischen  Frieden  bekannt  war,  und  dagegen  ist  nichts 
einzuwenden,  da  schon  Polybios  (I  5  §  4  f.)  diesen  Synchronismus 
als  fest  und  anerkannt  erwähnt.  Bekanntlich  wurde  die  Eroberung 
Roms  durch  die  Gallier  auch  von  älteren  griechischen  Autoren  er- 
wähnt, z.  B.  vom  Theopomp.    Man  darf  vermuten ,  daß  ihre  Datie- 

1)  Mit  Abrechnung  der  Diktatorenjahre. 

2)  Das  stimmt  ja  nicht  genau,  da  Diodor  selbst  ein  Jahr  der  Anarchie  hat 
Dafür  hat  er  nachher  ein  Jahr  weniger,  was  auf  eine  Abweichung  seiner  Fasten 
zurückgehn  wird.  Bei  Diodor  bestehn  die  nötigen  106  Jahre  aus  100  Magistrats- 
kollegien, 1  Anarchiejahr  und  5  eingeschobenen  Kollegien,  bei  den  übrigen  aus 
101  Magistratskollegien  und  5  Anarchiejahren. 


Soltau,  Prolegomena  eu  einer  römischen  Chronologie.  886 

rang  arsprtlDglioh  von  Philistos  gegeben  war,  dem  zeitgenössischen 
sicilischen  Historiker,  der,  wie  wir  wissen,  auch  die  italischen  Ange- 
legenheiten zn  berühren  Gelegenheit  nahm  und  ohne  Frage  anch 
von  den  mit  Dionysins  I  verbündeten  Oalliern  gehandelt  hat.  Der 
griechische  Synchronismus  also  des  gallischen  Brandes  geht  wahr- 
scheinlich auf  gleichzeitige  Ueberlieferung  zurück,  und  bei  dem  Ein- 
fluß, den  die  griechische  Litteratur  schon  auf  die  frühesten  Bearbei- 
tungen der  römischen  Geschichte  gehabt  hat,  ist  es  ganz  in  der 
Ordnung,  daß  dieses  griechische  Datum  für  die  rOmische  Chronologie 
maßgebend  gewesen  ist. 

Da  ferner  Diodor  (bei  Eusebius  I  p.  283  if.  Schöne)  Roms  Grün- 
dung auf  Ol.  7.  2,  433  Jahre  nach  Trojas  Fall  setzte,  die  Daner  der 
Eönigsherrschaft  aber  auf  244  Jahre  (=61  Olympiaden),  so  folgt, 
daß  bei  ihm  das  erste  Jahr  der  Republik,  die  Konsuln  Brutus  und 
Horatius  auf  Olymp.  68,  2  fiel ,  abweichend  vom  Polybios  (III  22), 
der  sie  auf  Olymp.  68,  1  bestimmt^).  Freilich  läßt  er  zwischen 
dem  gallischen  Brande  und  diesem  Zeitpunkte  die  5  Kollegien  von 
331 — 335  d.  Stadt  fort,  aber  es  ist  deutlich,  daß  er  diesen  Ausfall 
in  den  verlornen  Teilen  seines  Werkes  (vor  Olymp.  75.  1)  wieder 
eingeholt  haben  muß  ^).  Denn  in  der  Gesamtzahl  der  zwischen  den 
beiden  Punkten  liegenden  Jahre,  120,  muß  er  mit  der  sonstigen 
Chronologie  tibereingestimmt  haben'). 

Diese  Erklärung  der  Chronologie  Diodors  weicht  von  der  anderer 
Gelehrter  ab,  bei  denen  meistens  und  nicht  zum  Vorteil  der  Sache 
noch  andere  sehr  ungewisse  und  dnnkle  Fragen  mit  dieser  verbun- 
den worden  sind.  Der  Ausfall  der  fünf  Stellen  zwischen  Gallierkrieg 
nnd  erstem  Jahre  der  Republik  ist  ziemlich  allgemein  mit  dem  Hin- 
zufügen der  fünf  Stellen  nach  dem  Gallierkriege  in  Verbindung  gebracht. 
Nach  Mommsen  verfährt  Diodor  wie  ein  gewissenhafter  Schelm,  der 
mit  der  Linken  zurückgibt,  was  er  mit  der  Rechten  entwandt  hat. 
Aber  diese  Erklärung  würde  nur  statthaft  sein,  wenn  die  ergänzten 
Jahreskollegien  dieselben  wären,  wie  die  fehlenden ,  was  nicht  der 
Fall  ist,  und  auch  dann  wäre  die  Erklärung  nur  halb.  Ebenso 
wenig  ist  Mommsens  Meinung  zu  billigen ,   daß  Diodor  den  Gallier- 

1)  Diese  Abweichung  könnte  man  so  zu  heben  versuchen,  daS  man  dem  Polyb« 
drei  Decemviratsjahre  zuschriebe.  Das  würde  jedoch  mehr  als  bedenklich  sein, 
da  man  alsdann  den  Bericht  der  späteren  Annalisten  über  den  Ausgang  der 
Decemvirn  als  dem  Polybios  bekannt  voraussetzen  müSte;  denn  von  diesem 
Bericht  ist  die  Einlegung  eines  S.  Decemviratsjahres  aasgegangen. 

2)  Das  hat  Matzat  richtig  erkannt ;  sein  Ergänzungsversuch  freilich  (I  p.  243  ff.) 
stützt  sich  auf  ganz  ungenügende  Mittel  und  ist  imaginär. 

3)  Abgesehen  vom  3.  Decemviratiljahr. 


836  Gott.  gel.  Ans.  1887.  Nr.  22. 

krieg  auf  Olymp.  98.  1  habe  setzen  wollen,  aber  es  nicht  gekonnt; 
denn  ich  wenigstens  kenne  kein  Mittel,  den  Willen  Diodors  zn  er- 
kennnen,  außer  an  dem,  was  er  wirklich  erreicht  hat.  So  nnfübig 
war  Diodor  nicht;  in  der  römischen  wie  in  der  griechischen  Ge- 
schichte hat  er,  so  weit  er  uns  erhalten  ist,  die  wichtigen  Ereignisse 
allemal  richtig  an  die  ihm  von  der  Ueberlieferung  vorgeschriebenen 
Pankte  gebracht 

Die  später  and  auch  bei  uns  zur  Herrschaft  gelangte  Chronolo- 
gie und  Synchronistik  nnterscheidet  sich  von  den  Diodorischen  we- 
sentlich dadurch,  daß  einmal  das  griechische  Archonten-  oder  Olym* 
piadenjahr  nicht  mehr  mit  den  Konsuln  gleichgesetzt  ward,  die  in 
ihm  antraten,  sondern  mit  denen,  die  in  ihm  abtraten,  wodurch  s.  B. 
der  Ausbrach  des  Bandesgenossenkrieges  (663  d.  St.)  nicht  mehr  auf 
Olymp.  172.  1,  sondern  auf  Olymp.  172.  2,  und  der  gallische  Brand 
von  Olymp.  98,  2  auf  Olymp.  98,  3  kommen  mußte.  Sodann  traten 
die  vier  Diktatorenjahre  zwischen  dem  Pyrrhuskriege  and  dem 
Gallierkriege  daza,  wodurch  dieser  um  eine  ganze  Olympiade  zorflck 
aaf  Ol.  97, 3  kam,  das  auch  von  uns  übernommene  Datum  (390  v.  Chr.). 
Die  jenseits  liegenden  Abweichungen,  das  dritte  Decemviratsjahr  and 
Verschiedenheiten  in  der  Berechnung  der  Königszeit  sind  auf  die 
Synchronistik  nicht  mehr  von  Bedeutung  gewesen. 

Marburg.  Benedictas  Niese. 


Stftlin,  Paul  Friedrieh,  Geschichte  Württembergs.  Erster  Band,  Zweite 
HAlfte.  1268^1496.  [Aach  anter  dem  Titel:  Geschichte  der  earo- 
pfti  sehen  Staaten.  Herausgegeben  von  A  H.  L.  Heeren,  F.  A.  ükert 
und  W.  Y.  Gieseb recht.  Lief.  47.  Abth.  2.]  Gotha,  F.  A.  Perthes. 
1887.    Xm  und  S.  449—864.    8«. '). 

Indem  ich  hinsichtlich  der  Anlage  des  Werks  und  seines  Ver- 
hältnisses zu  der  umfangreicheren  Geschichte  meines  Vaters  aaf  die 
Besprechung  der  1.  Hälfte  des  1.  Bandes  in  diesen  Anzeigen  vom 
4  Juli  1883  S.  844—857  zu  verweisen  mir  erlaube,  wende  ich  mich 
alsbald  za  derjenigen  der  nunmehr  erschienenen  2.  Hälfte  des  Ban- 
deSy  welcher  das  2.  Buch:  Das  spätere  Mittelalter  oder  die  Graf- 
schaft Württemberg  vom  Erlöschen  des  schwäbischen  bis  zur  Errich- 

1)  In  Folge  eines  Uebereinkommens  der  Leitung  der  Geschichte  der  Euro- 
päischen Staaten  mit  dem  f  Hofrat  Heeren  ist  den  Mitarbeitern  derselben  das 
Recht  eingeräumt  worden,  zu  jenem  Unternehmen  gehörende  Werke  in  den  GGA. 
selbst  SU  besprechen.  Dieses  Recht  steht  sonst  nur  den  Mitgliedern  der  König- 
lichen Gesellschaft  der  Wissenschaften  und  deigenigen  Herrn  zu,  welche  zur  Zeit 
des  Erscheinens  des  zu  besprechenden  Buches  Docenten  an  der  hiesigen  ünirer- 
sität  sind.  —   Die  Redaktion. 


Stalin,  Geschichte  Württembergs.    1.  Bd.  2.  H&lfte.  887 

taug  des  württenibergisckeu  Uerzogtums  und  zum  Tode  des  ernteu 
Herzogs,  Eberhard  im  Bart,  1268-1495/6  nmfaßt.  Fttr  die  vorlie- 
gende Periode  war,  zumal  da  seit  dem  3.  Bande  der  Geschichte  mei- 
nes Vaters,  welchem  dieser  Halbband  entspricht,  ein  bedeutend  kttr- 
zerer  Zeitraum  yerflossen  war,  als  seit  dem  1.  und  2.,  neu  veröffent- 
lichtes Quellenmaterial  und  neuere  Litteratur  nicht  mehr  in  demsel- 
ben Umfange  vorhanden,  wie  für  den  ersten,  doch  entbehrte  kein 
noch  so  kleiner  Zeitraum  derselben. 

Eine  Besprechung  im  Einzelnen  schienen  mir  namentlich  fol- 
gende Punkte,  wiederum  hauptsächlich  einige  solche,  hinsichtlich 
deren  die  Geschichte  gegenüber  dem  Werke  meines  Vaters  weiter- 
geftthrt  ist,  zu  verdienen. 

Fdr  denjenigen  Grafen  Eberhard,  welcher  im  Anfange  der  Pe- 
riode 60  Jahre  lang  in  einer  vielfach  stürmischen  Zeit  in  Wttrttem- 
berg  waltete  und  4  mal  den  Kampf  gegen  das  Reichsoberhaupt  auf 
sich  nahm,  ist  der  in  der  Geschichte  seither  übliche  Beiname:  der 
Erlauchte,  nicht  einmal  annähernd  gleichzeitig  und  verdankt  seinen 
Ursprung,  wie  dies  auch  anderwärts,  z.  B.  bei  Herzog  Otto  von 
Bayern  t  1^53  vorkommt,  einem  Misverständnis  der  Standesbezeich- 
nung ülfistris,  welche  vorzugsweise,  aber  nicht  ganz  ausschließlich, 
fttr  ftlrstlicbe  Personen  gebraucht  wurde,  fttr  Eberhard  selbst  aber  in 
gleichzeitigen  Urkunden  nicht  zur  Anwendung  kommt.  Es  war  da- 
her zweifelhaft,  ob  der  Beiname  doch  aufrecht  zu  erhalten  sei,  ich 
glaubte  aber,  solche  durch  längere  Uebung  gewissermaften  geheiligte 
Namen  überhaupt  womöglich  wenigstens  neben  oder  statt  der  Ordi- 
nalzahl beibehalten  zu  sollen,  zumal  da  es  bei  den  ersten  Anfängen 
des  württembergischen  Hauses  oft  schwer  ist,  die  der  Zeit  nach  in 
einander  übergehenden  Träger  desselben  Namens  als  verschiedene 
Personen  sicher  von  einander  abzuscheiden,  und  da  durch  einen 
solchen  althergebrachten  Beinamen  die  betreffende  Persönlichkeit 
insbesondere  für  einen  größeren  Leserkreis  gewiß  sicherer  bezeich- 
net wird,  als  durch  die  beigesetzte  Ordinalzahl.  Bei  dem  von  einem 
gleichzeitigen  Schriftsteller  einmal  fttr  diesen  Eberhard  gebrauchten, 
schon  verschieden  gedeuteten  Beinamen  Koche  dürfte  meines  Erach- 
tens  am  richtigsten  an  das  mittelhochdeutsche  koe,  koch^  choch  s» 
keck  gedacht  werden,  eine  Bezeichnung,  welche  ftlr  Eberhards  Cha- 
rakter sehr  zutreffend  erscheint.  Was  die  Regierung  dieses  Grafen 
betrifft,  so  glaubte  ich  hinsichtlich  des  so  bestrittenen  Wirkungskrei- 
ses der  von  K.  Rudolf  eingesetzten  Landvögte  mich  dahin  ausspre- 
chen zu  sollen,  daß  sie  als  Stellvertreter  des  Königs  wohl  nament* 
lieh  die  Reichsgttter  zu  verwalten,  insbesondere  die  Einkünfte  fttr  die 
königliche  Kammer  einzutreiben,  überhaupt  aber  über  die  Aufrecht- 


S38  Oött.  gel.  Ans.  1887.  Nr.  22. 

baltuDg  der  Ordonog  im  Namen  des  Königs  zn  wachen*  batten.  Wei- 
terbin ist  nenes,  z.  T.  die  frQberen  Annahmen  berichtigendes,  Qaellen- 
material  zur  Benntznng  namentlich  vorgelegen  ond  von  mir  teil- 
weise veröffentlicht  worden  hinsichtlich  des  Kriegs  der  Jahre  1311 
und  1312  mit  Kaiser  Heinrich  VII.,  welcher  Eberhard  an  den  Rand 
des  Untergangs  gebracht  hat,  nnd  im  Anschlufi  an  diesen  Krieg  hin- 
sichtlich des  Strebens  des  Grafen,  den  Gegnern  des  Kaisers  in  Ita- 
lien an  der  Spitze  eigener  Mannschaft  denselben  bekämpfen  zo 
helfen. 

Ans  der  Regierongszeit  von  Eberhards  des  Erlauchten  Enkel, 
Eberhard  dem  Greiner,  welcher  »ein  frischer  freier  Katzbalger  and 
Kriegsmann«,  aber  auch  ein  kluger  Politiker  und  hansbälterischer 
Rechner  die  beträchtliche  Vergrößerung  seines  Landes  mehr  seiner 
Geschicklichkeit  im  Kaufen  als  seinem  Schwerte  zu  verdanken  ge* 
habt  hat,  war  insbesondere  für  den  schwarzen  Tod  und  die  Juden- 
verfolgungen, fttr  die  Belagerung  Ulms  im  J.  1376,  für  die  Ent- 
stehung und  Ausdehnung  der  Rittergesellschaften  manches  veröffent- 
licht worden,  wie  z.  B.  ein  gegen  die  Juden  aufhetzender  Beriebt 
ttber  die  Verbreitung  eines  gefälschten  Briefes,  welchem  zufolge  die 
Juden  zu  Jerusalem  denen  za  Ulm  die  Freudenbotschaft  von  der 
Hinrichtung  Christi  mitgeteilt  hätten,  sodann  waren  die  Tendenzen 
der  Städtebunde  gegenüber  weitergehenden  Ansichten,  wie  sie  den- 
selben schon  beigelegt  wurden,  auf  das  richtige  Maß  zurückzuführen 
und  manchen  Berichten  llber  die  Schlachten  von  Reutlingen  und 
Döffingen  gegenüber  eine  kritischere  Stellung  einzunehmen,  nament- 
lich aber  auf  Grund  der  überzeugenden  Ausführungen  Jaco'bsons  als 
Tag  der  ersteren  Schlacht  nicht  wie  bisher  der  21.,  sondern  der 
14.  Mai  aufzustellen. 

Fttr  die  vormundschaftliche  Regierung  nach  Graf  Eberhard  des 
Jüngeren  Tod  ist  ^s  merkwürdig,  daß  alle  seitherigen  Schriftsteller 
in  der  ersten  officiellen  Statistik  des  in  der  Hand  der  wttrttembergi- 
sehen  Grafen  vereinigten  Besitzes  vom  Jahr  1420  nur  die  Reicha- 
lehen,  die  böhmischen  Lehen  und  das  Eigen  aufführen,  die  4.  Rubrik 
der  Originalaufzeichnnng:  bischöflich  bambergisches  Lehen,  weglas- 
sen; ob  dies  vielleicht  bei  der  erstmaligen  Veröffentlichung  dieses 
Verzeichnisses,  in  der  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts^  aus  Foreht 
geschah,  es  möchten  bei  Nennung  dieses  Lehensverhältnisses  ältere 
wohl  durch  Nichtausübung  in  Vergessenheit  geratene  Rechte  wieder 
geltend  zu  machen  gesucht  werden?  Bei  der  zuerst  an  die  Spitze 
der  Vormundschaft  getretenen  mannhaften  und  herrschsüchtigen  Grä- 
fin Henriette,  der  Erbin  Mömpelgards,  war  ähnlich  wie  bei  der  Mut- 
ter Eberhards  im  Bart,  der  Pfalzgräfin  Mechthilde,  zwei  in  der  Zim- 


Stalin,  Geschichte  Württembergs.    1.  Bd.   2.  H&lfte.  889 

inerscheD  Gbiouik  zieinlicb  viel  besproehcueu  Persöullclikoilcü,  ilic 
PrüfaDg  der  fragliohen  Ueberliefernng  auf  ihren  geschichtlichen  Wert 
besonders  angezeigt.  —  Der  Eifer,  welchen  namentlich  die  Ulmer 
Städteeinigung,  aber  auch  Graf  Ludwig  der  Aeltere  von  Württem- 
berg in  den  Husitenkriegen  etliche  Male  bekundet,  ist  erst  aus 
neueren  Publikationen  ersichtlich  geworden.  —  Hinsichtlich  der 
kriegerischen  Thätigkeit  Graf  Ulrichs  des  Vielgeliebten  ist  die  seit- 
herige Annahme,  derselbe  sei  in  dem  Kampf  bei  Eßlingen  vom  Jahr 
1449  verwundet  worden,  unrichtig,  da  der  Graf  am  Kampf  sicher- 
lich nicht  Teil  nahm,  ist  aber  andererseits  die  ihm  im  Jahr  1464 
von  Papst  Pias  II.  sowohl  als  dem  Kaiser  unter  Umständen  zuge- 
dachte Ehre  der  Hauptmannschaft  im  Kreuzzuge  gegen  die  Türken, 
der  freilich  nicht  zur  Ausführung  kam,  für  die  württembergische  Ge- 
schichte seither  nicht  verwertet  worden. 

Die  in  neuerer  Zeit  viel  erörterten  Fragen  nach  dem  Urheber 
des  Schwäbischen  Bandes  und  den  leitenden  Gesichtspunkten  bei 
seiner  Gründung  möchten  wohl  folgendermaßen  zu  beantworten  sein. 
Graf  Hugo  war  hinsichtlich  der  Errichtung  desselben  in  ähnlicher 
Weise,  wie  einst  Markgraf  Albrecbt  von  Brandenburg  bei  dem 
Reichskriege  gegen  Bayern  und  die  Pfalz  der  Leiter  der  kaiserlichen 
Politik  bei  einem  Unternehmen,  das  seinem  eigenen  Interesse  zum 
mindesten  nicht  weniger  diente  als  dem  kaiserlichen.  Hatte  er  als 
kaiserlicher  Rat  wohl  den  Gedanken  in  Friederich  angeregt,  so 
wußte  er  auch,  mit  der  Ausführung  im  einzelnen  betraut,  der  Sache 
eine  Richtung  zu  geben,  welche  dem  Interesse  seines  Hauses  und 
Standes  vorzugsweise  entsprach,  und  gestattete  den  Verhandlungen 
im  Verhältnis  zu  den  Wünschen  des  Kaisers  einen  ziemlich  selb- 
ständigen Verlauf.  Bei  den  schwäbischen  Städten  und  Adeligen  aber, 
mochten  sie  auch  manche  Aenderungen  an  den  kaiserlichen  Vor- 
schlägen in  Anregung  bringen,  fiel  der  Gedanke  im  allgemeinen  an- 
gesichts der  von  Bayern  drohenden  Gefahren  auf  einen  sehr  gün- 
stigen, wohl  vorbereiteten  Boden. 

Im  allgemeinen  habe  ich  es  in  Uebereinstimmung  mit  einer  von 
Giesebrecht  bei  der  Aufforderung  zur  Uebernahme  der  Arbeit  aus* 
gesprochenen  Ansicht  für  angezeigt  gehalten,  die  einzelnen,  z.  T. 
kleinlichen  Fehden  dieser  Zeit,  welchen  Einungen  und  Bündnisse 
nur  in  ungenügendem  Maße  abzuhelfen  vermochten,  weniger  ein* 
gehend  zu  behandeln  und  ein  Hauptgewicht  auf  die  Darstellung  der 
inneren  Zustände,  der  Kulturgeschichte  zu  legen,  hinsichtlich  welcher 
das  spätere  Mittelalter  gerade  aus  dem  heutigen  Württemberg  manche 
nicht  uninteressante  Beiträge  zu  liefern  im  Stande  ist.  Die  Dar- 
stellung der  einschlägigen  Verbältnisse  nimmt  daher  auch  in  diesem 


840  G6tt.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  22. 

Halbband  gegen  V»  des  Raumes  ein  uod  ist  meistens  ziemlieh  am- 
fangreicher  geworden,  als  in  der  Gesebichte  meines  Vaters.  Es 
kommen  hiebei  vorzugsweise  in  Betracht:  die  staatsrechtliehe  Eint- 
wickelang  der  württembergisclien  Grafschaft  und  ihrer  Bestandteile, 
Landschaft,  Adel  und  Klöster  —  die  Bey{}lkernng  des  Landes  Ober- 
haupt am  Ende  des  Zeitraums  mOchte  ich  anf  Grund  von  neuer- 
dings publicierten  Nachrichten  über  die  streitbare  Mannschaft  des- 
selben auf  200,000  Seelen  schätzen ;  als  Einkommen  aus  ihm  wurden 
von  Markgraf  Albrecht  von  Brandenburg,  wohl  etwas  ttbertrieben, 
bei  50,000  oder  60,000  fl,  von  dem  im  Allgemeinen  gut  unterrichte- 
ten Venetianer  Marino  Sanuto  etwa  30,000  fi.  genannt  — ;  die 
städtische  Entwickelung  —  hinsichtlich  der  in  neuerer  Zeit  lebhaft 
erörterten  Größe  der  mittelalterlichen  Städte  liegen  für  Ravensburg 
und  Ulm  Nachrichten  vor,  welche  jedenfalls  Beachtung  verdienen 
und  denen  zufolge  Ulm  im  Jahre  1427  gegen  20,000  Einwohner  ge- 
habt haben  soll;  von  den  144  Städten,  welche  das  Königreich  Würt- 
temberg heutzutage  zählt,  reihen  sich  in  dieser  Periode  an  die  al- 
ten 22  Reichsstädte  von  längerer  oder  kürzerer  Dauer  und  18  (17) 
Landstädte  im  späteren  Verlauf  des  13.  Jahrhunderts  28,  im  14.:  50, 
im  15:  nur  8  Landstädte  oder  Städtchen  an;  —  die  Standesverbält- 
nisse  —  insbesondere  die  Anfänge  der  sog.  freien  Reichsritterschaft 
— ;  die  Rechtsbildung,  insbesondere  im  Gebiet  des  Privat-  und  öffent- 
lichen Rechts;  das  Kriegswesen;  kirchliche  Verhältnisse;  Bod^- 
kultur,  Gewerbe,  Handel  —  die  Zahl  der  aus  Schwaben  tlberhaapt 
und  speciell  aus  Württemberg  stammenden  frühesten  Jünger  der 
Buchdruckerkunst  ist  durch  neuere  Publikationen  beträchtlich  ver- 
größert und  die  Bedeutung  des  Handels  sowie  der  biedurch  begrOn- 
dete  Reichtum  der  oberschwäbischen  Städte  im  Mittelalter  doreb 
solche  in  ein  helleres  Licht  gestellt  worden  als  fräher  — ;  Künste 
und  Wissenschaften  —  die  Baugeschichte  des  Ulmer  Münsters,  wel- 
ches wohl  im  übernächsten  Jahre  wenigstens  äuitorlich  vollendet 
werden  wird  und  dessen  Thurm  noch  3  Meter  höher  werden  soll,  ak 
die  Thürme  des  Kölner  Domes,  hat  in  neuerer  Zeit  die  eingehendste 
Untersuchung  erfahren;  die  Bedeutung  des  Grafen  Ulrichs  des  Viel- 
geliebten und  Herzogs  Eberhards  im  Bart  als  groBer  Gönner  und 
Förderer  von  Kirchenbauten  und  ihrer  tüchtigen  Baumeister,  Albreeht 
Georg  von  Stuttgart  und  Peter  von  Koblenz,  ist  erst  in  letzter  Zeit 
auf  Grund  sorgfältiger  Erforschung  der  Steinmetzzeichen  zn  Tage 
getreten,  die  große  Bedeutung  der  Gmünder  Baumeisterfamilie  eist 
neuerdings  in  ihrem  vollen  Umfang  gewürdigt  worden,  mögen  aueli 
im  Einzelnen  hinsichtlich  der  Namen  und  der  eigentlicben  Heimat 
derselben  noch  ungelöste  Streitfragen  (?  Arier,  ?  Parier,  ?  Polonia  »b 


Stalin,  Geschichte  Württembergs.    1.  Bd.  2.  Hälfte.  841 

Boulogne  oder  ColoDia,  Köln)  obwalten,  and  die  z.  T.  sehr  schätzens- 
werten Wandmalereien  dieser  Periode,  wie  das  kolossale  jUngste  Ge- 
richt Über  dem  Triumphbogen  des  Ulmer  Münsters,  sind  vielfach 
erst  in  den  letzten  Jahren  wieder  aufgedeckt  worden ;  von  Ge- 
schichtsquellen  ist  die  seither  verschollen  gewesene,  freilich  nur  fttr 
eine  kurze  Zeit  wertvollere  Chronik  des  Reutlinger  Priesters  Hugo 
Spechtshart  neuerdings,  wohl  im  Original,  in  St.  Petersburg  aufge- 
funden und  sind  einige  specifisch  wtlrttembergische  Geschichtsquellen 
dieser  Periode  teilweise  neu  entdeckt,  teilweise  richtiger  gewürdigt 
worden. 

Hinsichtlich  der  wichtigeren  Herrengeschlechter  auf  dem  Boden 
des  nunmehrigen  Königreichs  Württemberg  habe  ich  die  gräflich 
wttrttembergische  Nebenlinie  von  Grüningen-Landau  bis  zum  Erlö- 
schen des  Mannesstamms  im  J.  1690  verfolgt,  worauf  ihr  Name  und 
Wappen  auf  den  Gemahl  der  Schwester  des  letzten  männlichen  Spros- 
sen und  dessen  Nachkommen,  die  noch  heutzutage  blühenden  Frei- 
berrn  von  Hackelberg-Landau  in  Oesterreich  übergieng;  die  defini- 
tive Annahme  des  gräflichen  Titels  durch  die  Familie  Hohenlohe 
habe  ich  auf  den,  freilich  nicht  zu  voller  Wirklichkeit  gewordenen 
Erwerb  der  Graf-  und  Herrschaften  Ziegenhain  und  Nidda  zurück- 
geführt, und  fUr  die  Geschicke  manches  Gliedes  anderer  Familien 
haben  insbesondere  neu  veröffentlichte  italienische  Quellen  Ausbeute 
gewährt. 

Von  Berichtigungen  möchte  ich  folgende  namhaft  machen. 
S.  642  Z.  3  V.  u.  fehlt  nach  Eberhard  das  Relativ:  welcher;  S.  651 
Note  1  statt  Chr.  I.  Gustav;  S.  707  Anm.  2:  Zwar  kein  Oelbild, 
vielleicht  jedoch  ein  gleichzeitiges  steinernes  Reliefbild  dürfte  sich 
von  Herzog  Eberhard  im  Bart  erhalten  haben,  indem  in  der  Mauer 
des  Klosterhofs  zu  Sindelfingen  eine  Gedächtnistafel,  wie  es  scheint 
von  1477,  angebracht  ist,  welche  ihn  und  seine  Mutter  knieend  dar- 
stellt, wobei  es  übrigens  zweifelhaft  ist,  ob  wir  hier  getreue  Porträts 
vor  uns  haben;  S.  757/8:  auch  Wurzach  kommt  urkundlich  als  eine 
der  Malstätten  des  freien  Landgerichtes  in  Schwaben  vor;  S.  840 
Z.  17  V.  0.  statt  Liutard  1.  Luägard. 

Stuttgart.  P.  F.  Stalin. 


afttl.  gtl.  Am.  1807.  Hr.  ».  58 


842  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  22. 

Joachim,  £.,  Die  Entwiöklung  des  Rheinbaudes  vom  Jahre    1658. 
Verlag  von  Veit  und  Comp.    Leipzig  1886.    VIII  und  515  S.    8*. 

Der  Rheinband  des  Jabres  1658  wurde  von  den  einen  als  ein 
Werkzeug  angeseben,  welcbes  dazu  dienen  sollte,  den  französischen 
Einfluß  in  Deutschland  zu  befestigen,  von  den  anderen  als  Frneht 
reifer  staatsmännischer  Einsicht  gepriesen,  welche  dadurch  dem 
kranken  deutschen  Staatswesen  ein  heilsames  Pflaster  aufgelegt 
habe^).  Allein  nicht  die  damaligen  Parteimeinnngen  können  einen 
sicheren  Maßstab  des  Urteils  abgeben,  sondern  nur  die  Motive  nnd 
Bewegungen,  welche  zu  diesem  Bund  geführt  haben. 

Dieselben  darzulegen  hat  sich  der  Verfasser  oben  genannter 
Schrift  als  Aufgabe  gestellt.  Derselbe  kommt  hierbei  zu  dem  Resultat, 
daß  jene  Bestrebungen,  welche  den  Ausgangspunkt  des  Rheinbundes 
vom  Jahre  1658  bilden,  einen  Beweis '  von  »dem  trotz  aller  Leiden 
des  dreißigjährigen  Krieges  gesund  gebliebenen  Sinne  unseres  Vol- 
kes, von  dem  ungebrochenen  Mute  des  deutschen  Geistes«  (S.  2)  ge- 
ben.  Allein  wird  eine  genauere  Betrachtung  dieses  urteil  bestätigen? 

Die  Anfänge  des  Rheinbundes  reichen  bis  in  die  ersten  Jahre 
nach  dem  westfälischen  Frieden  zurück.  Es  galt  damals  gesicherte 
Zustände  für  Deutschland  herbeizuführen.  Jedoch  gerade  die  Reichs- 
stände  trugen  wenig  hierzu  bei.  Nur  widerwillig  fügten  sie  sich 
zum  Teil  den  Friedensbestimmungen  und  mußten  manchmal  erst 
durch  Exekution  dazu  gezwungen  werden^).  Wie  ein  Glttckszufall 
war  es  anzusehen,  daß  Deutschland  durch  dieses  Verhalten  nicht  in 
einen  neuen  Krieg  gestürzt  wurde.  Nur  ein  gütiges  Geschick  be- 
wahrte es  im  Jahre  1651  bei  der  Fehde  zwischen  dem  Kurf&rsten 
von  Brandenburg  und  dem  Pfalzgrafen  von  Neuburg  davor.  Der 
spanische  König  stand  aus  Rücksicht  auf  die  Wahl  des  Kaisersohnes 
Ferdinand  zum  römischen  König,  welche  in  Aussicht  genommen 
war,  davon  ab  für  Philipp  Wilhelm  Partei  zu  ergreifen*). 

Damit  waren  die  Gefahren  aber  nicht  beseitigt.  Noch  lagen 
Garnisonen  fremder  Mächte  in  deutschen  Festungen  nnd  beunruhig- 
ten die  umliegenden  Territorien.  Den  Unterhalt  dieser  Truppen 
hatte  in  der  Regel  das  Reich  selbst  zu  bestreiten,  eine  Verpflich- 
tung, welche  durch  die  Schäden  des  Reichsfinanzsystems  besonders 
drückend  wurde.    Ein  Beispiel  dafür. 

Die  Schweden  hielten  den  Platz  Vecht  im  Münsterischen  für 
den  Rest  der  Summe  besetzt,  welche  ihnen  nach  dem  Friedens- 
instrument zukam.    Für  diese  Schuld,  welche  sich  auf  150  Tausend 

1)  Leibniz,  Staatswissenschaftlicbe  Werke.  Bd.  IV.,  S.  108. 

2)  So  bei  der  Restitution  des  Fürstentums  Sulzbach. 
8)  Nägociations  secretes  Bd.  in,  S.  679. 


Joachim ,  Die  Eatwicklnng  des  Rheinbundes  vom  Jahre  1658.  843 

Bth.  belief,  erfaielteo  sie  mooatlich  8000  Rth.  Verpflegongsgelder,  so 
daft  die  Samme  derselben  Bchließlich  die  Forderung  überstieg.  Dies 
Verhältnis  wurde  dadurch  noch  um  so  nngerechter,  als  die  Haupt- 
last der  Verpflegung  nicht  diejenigen  traf,  welche  die  genannte 
Schuld  KU  entrichten  hatten,  nämlich  den  oberrheinischen  und  schwä- 
bischen Kreis,  sondern  die  Bischöfe  von  Mttnster  und  Paderborn, 
in  deren  Gebiet  die  Schweden  lagen  ^). 

Derartigen  unhaltbaren  Zuständen  ein  Ende  zu  machen  gab  es 
nnr  ein  Mittel.  Man  hätte  den  deutschen  Boden  von  allen  fremden 
Garnisonen  säubern  müssen.  Denn  indem  man  die  Völker  einer 
Macht  in  Deutschland  daldete  und  denen  einer  anderen  den  Unter- 
halt versagte,  gab  man  dem  Ausland  AnlaB  zu  neuen  Klagen  und 
Beschwerden,  welche  dasselbe  nicht  versäumte  zu  erheben '). 

Allein  eine  so  kühne  Politik  war  von  den  Ständen  nicht  zu 
erho£fen.  Das  deutsche  Reich  glich  einem  gestrandeten  Schiffe,  des- 
sen Passagiere,  jeder  seine  Person  zunächst,  in  Sicherheit  zu  brin- 
gen suchen.  Denn  was  anders  trat  bei  jenen  Frankfurter  Verhand- 
inngen, welche  in  den  Jahren  1651  und  1652  zwischen  den  beiden 
rheinischen,  dem  schwäbischen  und  fränkischen  Kreise  Statt  fanden, 
za  Tage,  als  der  nackteste  Egoismus?  Jeder  Stand  wünschte  zu- 
nächst die  Uebel  abgestellt,  welche  ihn  bedrückten'). 

Der  Kurfürst  von  der  Pfalz  verlangte  vor  Allem,  die  Spanier 
sollten  Frankenthal  räumen.  Dafür  muite  aus  Heilbronn  die  pfUl- 
zische  Garnison  zurückgezogen  werden.  Hierauf  wären  die  Wünsche 
des  fränkischen  und  schwäbischen  Kreises  gerichtet,  weil  sie  die 
pf&lzischen  Truppen  zu  unterhalten  hatten.  Die  drei  rheinischen 
geistlichen  Kurfürsten  wollten  dagegen  ihre  Kräfte  gegen  die  Räu- 
bereien der  lothringischen  Scharen  wenden. 

Dieser  letzte  Wunsch  gilt  oft  —  und  so  erscheint  es  auch  bei 
Dr.  Joachim  S.  1— 11  —  als  der  einzige  oder  wichtigste  Gegenstand 
jener  Verhandlungen.  Jedoch  die  Ziele  der  letztgenlinnten  Fürsten 
waren  weiter  gegangen.  Sie  hatten  Nichts  Geringeres  erstrebt  als 
das  Zollwesen  und  den  Verkehr  auf  dem  Rheinstrom  mit  Hülfe  der 
Vereinigten  Niederlande,  welche  ebenfalls  nach  Frankfurt  eingeladen 
waren,  neu  zu  ordnen  und  zu  sichern  ^).  Da  aber  diese  Hoffnung 
fehlgeschlagen  zu  sein  scheint,  so  beschränkten  sie  sich  darauf  Maß- 
regeln  gegen  das  Treiben   des   Herzogs   Karl   von  Lothringen   zu 

1)  N^.  secr^s,  Bd.  m,  S.  658,  689. 

2)  N^g.  secr.  in,  627,  629.    Londorp,  Acta  publica  Bd.  V,  S.  618,  Nr.  U6. 
8)  Näg.  ni,  618,  668  f. 

4)  Aitzema,  Saken  van  Staet  enOorlog  Bd.in,  8.847.    Vgl.  dazu  ?.  M6rner, 
Kurbrandenb.  Staatsyerträge  S.  163—155,  Nr.  80. 

68* 


844  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  22. 

treffen,  welche  ursprünglich  offenbar  als  ein  Mittel  zu  dem  böberen 
Zwecke  hatten  dienen  sollen.  In  diesem  Sinne  ist  jene  karrbeioi- 
sehe  Kreisdefension  der  drei  geistlichen  Knrfttrsten  vom  21.  März 
1651  aufzufassen'). 

Ihren  Zweck  hat  dieselbe  nicht  erfüllt.  Und  es  ist  kaum  anzu- 
nehmen,  daß  jene  Fürsten  dies  erwartet  haben.  Denn  dazu  waren 
die  Streitkräfte,  welche  in  der  kur rheinischen  Kreisdefensionsverfas- 
sung  und  in  dem  Kreisbeschlusse  des  verbündeten  oberrheinischen 
Kreises  gefordert  waren,  zu  gering.  Man  ist  daher  auch  nur  säumig 
daran  gegangen  das  Beschlossene  auszuführen.  Der  oberrheinische 
Kreis  unterließ  es  ganz.  Der  Kurfürst  von  Mainz,  welcher  als  Bi- 
schof von  Worms  ausschreibender  Fürst  desselben  war,  meinte,  wenn 
die  Lothringer  sich  hierhin  wendeten,  würde  der  Hauptstoß  den  Teil 
des  Elsaß  treffen,  welcher  in  französischen  Händen  sei^). 

Die  Kurftlrsten  von  Köln  und  Trier  glaubten  dagegen  nm  Geld 
sich  Ruhe  von  dem  Lothringer  erkaufen  zu  können.  In  dieser  Ab- 
sicht verhandelten  sie  unter  Vermittlung  des  Kaisers  auf  demReiehs- 
tage  zu  Regensburg  im  Jahre  1653  mit  dem  lothringischen  Ge- 
sandten Fournier^).  Jedoch  stellte  sich  bald  heraus,  daß  die  Ver- 
heißungen des  Kaisers,  welche  sie  zu  diesem  Schritt  bestimmt  hat- 
ten, nicht  aufrichtig  gemeint  gewesen  waren.  Derselbe  machte  nicht 
ernstlich  seinen  Einfluß  zu  ihren  Gunsten  bei  dem  Herzog  Karl  von 
Lothringen  geltend.  Umsonst  hatte  der  Kurfürst  von  Trier  seine 
Stimme  für  die  Wahl  Ferdinands  zum  römischen  König  abgegeben. 
Die  Feste  Hammerstein  im  Trierer  Lande,  welche  der  Lohn  hatte 
dafür  sein  sollen,  blieb  trotzdem  im  lothringischen  Besitz^).  Das 
Verhalten  Ferdinands  III.  schien  nur  darauf  angelegt  gewesen  zu 
sein  die  Fürsten  einzuschläfern  und  so  die  Kreisdefensionsverfassnn- 
gen  zu  hindern,  welche  lebhafte  Besorgnis  in  ihm  hervorgerufen 
hatten  ^). 

Da  also  der  Kaiser  nicht  helfen  wollte  oder  konnte,  wandte  der 
Kurfürst  von  Köln  *  seine  Blicke  von  Neuem  auf  die  General- 
staaten ^). 

Der  niederländische  Handel  litt  schwer   unter  der  Unsieherbeit 

1)  Vgl.  auch  die  schon  von  von  Haeften,  Urk.  u.  Actenst.  z.  Oesch.  d. 
Großen  Kurfürsten  Bd.  V,  S.  476  dargelegten  Verhandlungen  dieser  Fürsten  mit 
dem  Pfalzgrafen  Wolfgang  Wilhelm  von  Neuburg  (Dr.  Joachim,  S.  12),  and  dam 
von  Mömer,  Eurbrandenburgische  Staatsverträge,  Nr.  84,  S.  161. 

2)  N6g.  m,  677. 

3)  Nög.  in,  662,  569,  677,  589,  604. 

4)  N^g.  Ill,  669. 

5)  Näg.  III,  658,  vgl.  Londorp,  Acta  publica  Bd.  V,  S.  882,  Nr.  54. 

6)  Vgl.  Erdmannsdörfifer,  Graf  WaJtdeck  S.  176,  176,  193. 


Joachim,  Die  Entwicklung  des  Rheinbundes  vom  Jahre  1658.  845 

der  Land-  and  WasserstraBeo  darcb  die  lothriDgischeQ  Banden.  Ja 
selbst  das  Gebiet  der  Republik  batten  dieselben  nicht  mit  ihren 
Raubzügen  verschont.  Vergeblich  hatte  man  sich  in  BrOssel  dartlber 
beschwert  *). 

In  Folge  dessen  scheint  man  im  Haag  auf  halbem  Wege  den 
Wünschen  Maximilan  Heinrichs  entgegengekommen  zu  sein.  Man 
hatte  schon  den  Kölner  Hof  durch  den  Rheingrafen  sondiert^).  Im 
Oktober  1653  sandte  daher  der  Kölner  Kurfürst,  als  er  wiederum 
von  dem  Lothringer  bedrängt  wurde,  seinen  Gesandten  Simonis  nach 
dem  Haag.  Die  Handelsbeziebnifgen  hatten  für  ihn  den  Ausschlag 
gegeben  entgegen  dem  Wunsche  seiner  Itttticher  Landstände,  welche 
eine  engere  Vereinigung  mit  den  Reichsständen  lieber  gesehen  hät- 
ten, diesen  Schritt  zu  thun. 

Der  Gesandte  bot  im  Namen  seines  Herrn  als  Bischof  von  Lttt- 
tich  —  denn  gerade  dieses  Bistum,  welches  ebenfalls  Maximilian 
Heinrich  unterstand,  war  den  lothringischen  Streifzttgen  sehr  ausge- 
setzt —  eine  Defensivallianz  gegen  den  Herzog  Karl  von  Lothringen 
zur  Sicherheit  der  Land.-  und  Wasserstraßen  an. 

Dieses  Anerbieten  begegnete  im  Haag  Schwierigkeiten.  In 
dem  Traktate '),  welchen  man  entwarf,  wurde  im  vierzehnten  Artikel 
der  Wunsch  ausgesprochen,  andere  Fürsten  besonders  des  westfäli- 
schen Kreises  und  vor  Allem  den  Kurfürsten  von  Brandenburg  zu 
dem  Bund  hinzuzuziehen.  Nicht  eher  als  diese  Bedingung  erfüllt 
sei,  wollte  die  Provinz  Holland  die  Allianz  in  Kraft  treten  lassen. 

Der  Kölner  Kurfürst  suchte  dem  Begehren  nachzukommen.  Bald 
meldete  sein  Gesandter  die  Geneigtheit  mehrerer  Fürsten  dem  Bunde 
beizutreten.  Es  waren  die  Kurfürsten  von  Mainz  und  Trier  und  der 
Bischof  von  Münster,  dazu  kam  der  Herzog  von  Württemberg,  dann 
der  Fürstabt  von  Stablo,  die  Stadt  Aachen,  die  Abtei  Kornelimün- 
ster  und  das  Stift  Thorn.  Außerdem  waren  an  den  Landgrafen  von 
Hessen,  die  Grafen  in  der  Wetteran,  im  Westerwald  und  auf  dem  Eichs- 
feld Einladungen  ergangen.  Auch  den  Herzog  von  Neuburg  hatte  der 
Kurfürst  von  Köln  zum  Beitritt  aufgefordert.  Derselbe  hatte  jedoch 
dies  Ersuchen   mit   dem  Hinweis   darauf  abgelehnt,  daß  Maximilian 


1)  Aitzema  III,  797—800.  Lettres  et  ndgociations  entre  Mar.  Jean  de  Witt 
et  Mssrs.  les  Pl^uipotentiaires  des  Provinces-Unies  des  Pais  Bas.  Traduites  da 
Hollandais.  Tome  I.  S.  21—23.  Brief  de  la  Haye  le  9.  oct.  1653.  Ich  citiere 
nach  dieser  Uebersetzung,  da  mir  das  Original  nicht  zugänglich  ist. 

2)  Aitzema  III,  S.  861. 

3)  In  holländischer  Sprache  Aitzema  III,  S.  850 ,  in  deutscher  Londorp, 
Bd.  Vn,  S.  875  Nr.  41. 


846  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  22. 

Heinrich  ihm  1651  keine  Hülfe  gegen  den  Karfllraten  von  Branden- 
burg gewährt  habe '). 

Unter  diesen  Fttrsten,  mit  welchen  der  Kölner  KnrftlrBt  ange- 
knüpft hatte^  fehlte  aber  Friedrich  Wilhelm  von  Brandenborg.  Und 
gerade  sein  Beitritt  erschien  den  Generalstaaten  in  Folge  besonderer 
Umstände  änfterst  wünschenswert.  Schon  seit  Längerem  nnterban- 
delte  der  Qesandte  desselben  im  Haag  am  ein  Bündnis.  Durch  ein 
Versprechen  im  Bandesentwurf|  welches  dem  brandenburgischen  Kur- 
fürsten »defensie  in  syn  pretenderende  recht  tot  de  Guiichsehe, 
Clelfsche  ende  aengehoerighe  latitten«')  yerhieft|  hatte  sich  der 
Pfalzgraf  von  Nenbnrg  bedroht  geglaubt  und  sich  deshalb  klagend 
an  den  Kaiser  und  Reichstag  gewandt.  Hier  hatten  seine  Machina- 
tionen so  gute  Früchte  getragen,  daß  die  Generalstaaten  sieh  ent- 
schließen mußten,  um  ernsten  Dingen  vorzubeugen,  einen  Gesandten 
dorthin  zu  schicken ').  Dieser  Umstand,  daß  die  Niederlande  zu  be- 
fürchten hatten  die  Neutralität  vom  Reich  gekündigt  zu  sehen, 
wirkte  auf  die  Verhandlungen  mit  dem  Kölner  Erzbischof  zurück. 

Der  Eintritt  Friedrich  Wilhelms  sollte  dem  geplanten  Bande 
eine  solche  Wendung  geben,  daß  derselbe  auch  Sicherheit  gegen  den 
Kaiser  und  die  Spanier  bot.  Davon  wollten  aber  der  KurfQrst  von 
Köln  und  seine  Genossen  Nichts  wissen,  noch  viel  weniger  sich  na- 
türlich für  den  Krieg  gegen  England,  welchen  die  Niederlande  da- 
mals zu  bestebn  hatten,  verpflichten.  Daran  zerschlugen  sich  die 
Verhandlungen  ^). 

Die  Folge  davon  war,  daß  Maximilian  Heinrich  sich  mit  den 
benachbarten  Reichsständen,  dem  Kurfürsten  von  Trier,  dem  Bischof 
von  Münster  und  dem  Pfalzgrafen  von  Neuburg  zu  Köln  am  15.  De- 
cember 1654  verband. 

Also  nicht  allein  durch  die  Furcht  vor  den  drohenden  Ueber- 
griffen  der  Schweden,  wie  sich  schon  aus  den  mitgeteilten  Thal- 
Sachen  ergibt,  welche  Dr.  Joachim  S.  22^42  übersehen  hat,  waren 
diese  Fürsten  veranlaßt  sich  zusammenzuschließen  ^).  Außerdem  hat- 
ten aber  noch  andere  Gründe  hierzu  mitgewirkt. 

Da  war  einmal  der  jülich'sche  Erbfolgestreit,  welcher  gerade 
damals  die  Verbündeten  wieder  mit  banger  Sorge  erfüllte. 

Mit   dem   Tode   Ferdinands  IV.    war  die   kaiserliche   Gnaden- 

1)  Aitzema  m,  868. 

2)  Aitzema  lU,  S.  848. 

8)  Aitzema  III,  849,  vgl.  Green  van  Prinsterer,  Archives  de  la  maison  d'Orange. 
Serie  II,  Bd.  V,  S.  89.    Lettre  MXLVII. 

4)  Basnage,  Annales  des  Provinces-Ünies,  Vol.  I,  L.  XXXL  S.  325. 

5)  Vgl.  £rdmannsdörffer,  Graf  Waldeck,  Beilagen  S.  459. 


Joachim,  Die  Eutwicklimg  des  Rheinbundes  vom  Jfthre  1668.  847 

fionne,  welche  bis  dahin  dem  Pfalzgrafen  von  Neabarg  geleuchtet 
hatte,  erloschen.  Die  Not  die  Stimmen  der  Kurfttrsten  zu  einer  Neu- 
wahl zu  gewinnen  zwang  den  Kaiser  den  Gegnern  desselben  ein  ge- 
neigtes Ohr  zu  leihen.  Schon  hatte  das  Haus  Sachsen  seine  alten 
Anrechte  auf  die  Jülich 'sehe  Erbschaft  wieder  angemeldet.  Kurpfalz 
erneuerte  dringender  denn  je  seine  Ansprüche  auf  vier  Jülich *sche 
Lehen,  welche  angeblich  an  dasselbe  heimgefallen  waren.  Dieselbe^ 
herauszugeben  war  jetzt  Philipp  Wilhelm  vom  Kaiser  angewiesen 
worden.  Ueberrascht  hatte  er  den  König  von  Spanien  um  Hülfe  ge- 
beten. Nur  der  dringenden  Bitte  des  Kurfürsten  von  Köln,  Karl 
Ludwig  möge  in  dieser  kritischen  Zeit  den  Streit  ruhen  lassen, 
wurde  es  verdankt,  daß  dieses  Unge witter  vorüberzog').] 

Neben  dieser  Frage  machte  sodann  den  Fürsten  der  Streit  des 
Kurfttrsten  von  Köln  mit  der  Stadt  Köln  über  die  Kriminaljustiz 
viel  zu  schaffen.  Es  war  zu  Thätlichkeiten  gekommen.  Maximilian 
Heinrich  hatte  die  Schiffe  und  Waren  der  Stadt  bei  Bonn  mit  Be- 
schlag belegt,  die  Stadt  sich  an  den  Gütern  der  Geistlichen  ver- 
griffen *). 

Dazu  bestand  ein  gespanntes  Verhältnis  nicht  nur  zwischen  dem 
Pfalzgrafen  von  Neuburg  und  dem  Kurfürsten  von  Brandenburg 
sondern  auch  zwischen  dem  letzteren  und  dem  Kölner  Erzbischof. 
Lippstadt,  eine  Festung  in  der  Grafschaft  Mark,  welche  Friedrich 
Wilhelm  gehörte,  hatte  Maximilian  Heinrich  als  zu  seinem  Erzbis- 
tum gehörig  zurückgefordert.  Der  Platz  sei  verpfändet.  Er  wolle 
ihn  einlösen'). 

Sollte  nun  der  Kölner  Bund  in  einer  Zeit',  wo  so  drohende 
Wolken  sich  am  politischen  Horizonte  auftürmten,  Schutz  gewähren, 
so  kam  es  darauf  an  denselben  durch  den  Beitritt  anderer  Staaten 
dazu  fähig  zu  machen. 

Ein  Schritt  zu  diesem  Ziele  war  der  Frankfurter  Bund  vom 
11.  August  1655,  welcher  die  kurrheinische  Kreisdefension  mit  der 
Kölner  Einung  verschmolz. 

Ein  anderer  gieng  von  dem  Kölner  Kurfürsten  aus.  Denn  die- 
ser, nicht  der  Bischof  von  Münster,  wie  aus  den  Aktenstücken  Aitze- 
mas  erhellt,  welche  Dr.  Joachim  S.  119—121  nicht  herangezogen 
hat  und  dadurch  die  Sachen  unrichtig  darstellt,  hat  mit  den  Gene- 
ralstaaten angeknüpft. 

Am  letzten    März   1655  trafen  die  kölnischen   Gesandten,   der 

1)  Lettres  de  Jean  Witt,   vol.  L  S.  234  de  Paris  le  20.  mars  1664,  S.  273 
de  Paris  le  26.  dec.  1664. 

2)  N^.  m,  S.  622. 

8)  N^g.  m,  S.  616,  638. 


848  Gott.  geL  Anz.  1887.  Nr.  22. 

Domkapitular  Andreas  von  Walenburg  and  der  kurfttrstliche  Bat 
und  Amtmann  zu  Rheinberg,  Johann  Arnold  von  Backhorst,  im  Haag 
ein.  Sie  hatten  die  Aufgabe  die  Gerüchte  za  widerlegen  |  welche 
aafgetaacht  waren,  als  wenn  ihr  Herr  sich  darch  den  Kölner  Bond 
nur  den  Rücken  habe  decken  wollen ;  am  einen  Anschlag  aaf  die 
Festang  Rheinberg,  welche  die  Holländer  besetzt  hielten,  za  machen. 
Zagleich  sollten  sie  aaf  ein  Bündnis  antragen. 

Anfangs  nahmen  die  niederländischen  Staatsmänner  die  Anträge 
gat  auf.  Jedoch  schon  im  Juni  begann  das  freundschaftliche  Ein- 
yernehmen  zu  erkalten.  Die  Oeneralstaaten  entfernten  die  Katholi- 
ken aus  dem  Magistrat  von  Rheinberg  und  setzten  daftir  Refor- 
mierte ein  ^).  Dies  hatte  zur  Folge,  daß  sich  der  Kurfürst  von  Köln 
zurückzog. 

Die  officielle  Einladung  der  Genossen  des  Frankfurter  Sondes 
zum  Beitritt  wurde  daher  den  Generalstaaten  durch  den  pfalzgräfli- 
chen und  münsterischen  Gesandten,  den  Freiherrn  von  Virmond  nod 
den  Kolonel  Wilich,  überreicht. 

Auf  dieselbe  einzugehn  verspürte  man  im  Haag  wenig  Lost.  Es 
regten  sich  Zweifel,  ob  der  Bund  dem  Kurfürsten  von  Brandenbarg 
angenehm  sei.  Sein  Gesandter  hatte  diese  Einladung,  wie  Alles, 
was  von  dem  Herzog  von  Neaburg  kam,  verdächtig  gefanden'). 
Vergeblich  suchte  der  kurmainzische  Gesandte  von  Herzelles,  welcher 
im  März  1657  im  Haag  erschien,  den  Dingen  eine  andere  Wendong 
zu  geben,  indem  er  an  die  gemeinsame  Abstammung  der  Niederlän- 
der und  Deutschen  appellierte'). 

Die  Parteinahme  der  Generalstaaten  für  die  Stadt  Münster  ge- 
gen den  Bischof  derselben  führte  zum  Bruch.  Die  Folge  war,  daft 
sich  die  rheinischen  Alliierten  Frankreich  in  die  Arme  warfen. 

Zwar  hatten  einige  derselben  schon  vorher  mit  Mazarin  in  Unter- 
handlung gestanden.  Jedoch  war  der  Zweck  hierbei  mehr  daraof 
hinausgelaufen,  einen  Bund  zu  Stande  zu  bringen,  welcher  einen 
nicht  habsburgischen  Kandidaten  mit  Waffengewalt  auf  den  Kainer- 
tbron  führen  sollte.  Auf  die  Geschichte  dieser  Bestrebangen  ^)  ein- 
zagehn  liegt  aber  nicht  in  unserer  Aufgabe.  Wir  greifen  nar  einen 
Punkt  heraus. 

1)  Lettres  de  Jeau  Witt,  Bd.  I,  S.  466  de  la  Haye  le  3.  aoftt  1656,  AiUema 
m,  S.  1320,  1321  f. 

2)  Aitzema  III,  S.  1326. 

3)  Aitzema  IV,  118—123,  vgl.  Basnage  I,  494. 

4)  Vgl.  hierüber  meinen  Aufsatz:  Beiträge  zur  Geschichte  der  Politik  der 
Pfalzgrafen  Wolfgang  Wilhelm  und  Philipp  Wilhelm  von  Neuburg  in  den  Jahren 
1630—1660  in  der  historischen  Zeitschrift  für  Schwaben  und  Keuburg  1886. 
S.  33  -  36. 


Joachim,  Die  Eotwicklung  des  Rheinbnndes  vom  Jahre  1658.  849 

Unter  den  Kandidateo  für  die  Kaiserkrone,  welche  durch  den 
Tod  Ferdinands  III.  im  Jahre  1657  erledigt  war,  wurde  auch  der 
Pfalzgraf  Philipp  Wilhelm  von  Neuburg  genannt.  Von  Mazarin  war 
ihm  diese  Kandidatur  aufgedrungen  ^).  In  welcher  Absicht?  Der 
Pfalzgraf  war  machtlos,  durch  den  extrem  katholischen  Standpunkt, 
welchen  er  einnahm,  den  Protestanten  wenig  genehm,  dazu  mit  den 
drei  KurfUrsten  von  Sachsen,  von  der  Pfalz  and  von  Brandenburg 
durch  den  jiilich'schen  Erbfolgestreit  verfeindet.  Wie  konnte  da  Ma- 
zarin ernstlich  meinen  denselben  zum  Kaiser  machen  zu  können? 

Die  Zeitgenossen  schöpften  daher  schon  Verdacht,  als  weon  der 
Kardinal  etwas  Anderes  dabei  im  Schilde  fUhre.  Man  vermutete, 
Mazarin  habe  diese  Kandidatur  deshalb  aufgebracht,  um  die  Lud- 
wigs des  Vierzehnten  annehmbar  zu  machen. 

Wie  dem  auch  sei,  jedenfalls  steht  diese  Kandidatur  des  Pfalz- 
grafen mit  seiner  gleichzeitigen  Bewerbung  um  den  poloischen  Kö- 
nigsthron im  Zusammenhang. 

Denn  auch  die  letztere  war  gegen  das  Haus  Habsburg  gerich- 
tet. Als  Preis  seiner  Hülfe  gegen  Karl  Gustaf  von  Schweden  war 
nämlich  Ferdinand  dem  Dritten  im  Jahre  1657  die  Nachfolge  in  Po- 
len nach  dem  Tode  Johann  Kasimirs  für  seinen  zweiten  Sohn  Karl 
Joseph  in  Aussicht  gestellt^).  Da  aber  nicht  der  ganze  polnische 
Adel  damit  einverstanden  war,  schien  auch  für  andere  Bewerber  die 
Möglichkeit  vorhanden  zu  sein  ihr  Glück  zu  versuchen. 

Philipp  Wilhelm  bot  sich  dazu  französische  Hülfe.  Der  Grund 
war  folgender.  An  die  Spitze  der  MisvergnUgten  hatte  sich  die  pol- 
nische Königin  gestellt.  Der  Argwohn,  der  österreichische  Prinz 
werde  nie  ihre  Nichte  heiraten,  welche  sie  zur  Gemahlin  des  künf- 
tigen Thronfolgers  ausersehen  hatte,  bestimmte  sie  dazu  als  Nach- 
folger ihres  Gemahls  den  Herzog  Enghien,  den  Sohn  Gond6s,  ins 
Ange  zu  fassen.  Ein  Sohn  des  Mannes  aber,  welcher  tötlich  mit 
dem  Kardinal  verfeindet  war  und  dabei  auf  spanischer  Seite  focht, 
konnte  unmöglich  den  Beifall  des  französischen  Hofes  fioden'). 

So  kam  es,  daß  der  lang  gehegte  Wunsch  des  Pfalzgrafen  pol- 
nischer König   zu   werden    von  Mazarin  gefördert   wurde  ^).     Aber 

1)  Urkunden  und  Aktenstücke  zur  Geschichte  des  GroSen  Kurfürsten,  Sim- 
son  Bd.  n,  120,  Erdmannsddrffer  Bd.  VIU,  S.  474,  475.  Save,  Kejsarvalet  i 
Frankfurt  1657-1658,  S.  39.  Vgl.  Pufendorff,  De  rebus  Caroli  Gustavi,  L.  IV, 
§  44,  45,  S.  299,  300  f. 

2)  Pufendorff,  De  rebus  Caroli  Gustavi,  L.  II,  §27,  S.  Ill,  L.  Ill,  §74,  S.212, 
L.  IV,  §  6  S.  249,  §  37,  38  S.  286-288, 

3)  Erdmannsdörffer  Bd.  VUI,  S.  276,  295,  330.  Pufendorff  L.  IV,  §  46  S.  303. 

4)  Wagner,  Historia  Leopold!  Magni  S.  224. 


850  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  22. 

trotzdem  sollte  Philipp  Wilhelm  denselben  nicht  in  ErftlUang  gehn 
sehen.  Die  Polen  waren  ihm  entgegen  und  ebenfalls  der  Karfllrst 
von  Mainz.  Angeblich  soll  der  Minister  des  letzteren  Boineburg  im 
Jahre  1657  den  Pfalzgrafen  bewogen  haben  seine  Bewerbung  aaf- 
zugeben,  um  keinen  Krieg  Über  Deutschland  heranfzubesebwören. 
Als  Entschädigung  seien  daftlr  —  und  hier  tritt  der  Zusammenhang 
beider  Kandidaturen  hervor  —  Philipp  Wilhelm  Hoffnungen  auf  die 
Kaiserkrone  gemacht  Selbst  diese  Kandidatur  habe  dann  Boine- 
burg dem  Kardinal  widerraten  und  so  den  Pfalzgrafen  um  zwei  Kro- 
nen betrogen^). 

Diese  Angaben  entsprechen  nicht  ganz  der  Wahrheit.  Schon 
vor  1657  ist  von  der  Kandidatur  des  Pfalzgrafen  für  den  Kaiserthron 
die  Rede.  Allein  etwas  Genaueres  hieraber  zu  ermitteln  ist  nicht 
möglich  gewesen').  Denn  die  mainzische  Politik  ist  nicht  in  dem 
Maße,  wie  notwendig,  aufgeklärt.  So  dankenswerte  neue  Anfschlttsse 
die  Arbeit  Dr.  Joachims  auch  über  dieselbe  gibt,  ein  klares  endgfll- 
tiges  Urteil  ist  dadurch  nicht  gewonnen.  Noch  heute  stehn  sich 
zwei  Auffassungen  unvermittelt  einander  gegenüber,  die  Droysens  und 
die  Guhrauers'),  oder,  um  weiter  zurückzugehn ,  diejenige ,  welche 
wir  in  Friedrich  Wilhelm  Pufendorffs  und  diejenige,  welche  wir  in 
seinem  Karl  Gustaf^)  und  den  Berichten  Vautortes  finden.  Nur 
nach  den  Materialien  fremder  Archive  ist  hier  die  Politik  Jobann 
Philipps  beurteilt.  Dies  nach  den  eigenen  mainzischen  Akten  zu 
thun,  wenn  sie  noch  vorhanden  sind,  —  und  sie  befinden  sieb  wahr- 
scheinlich in  Wien,  ~  hätte  in  der  Aufgabe  des  besprochenen  Wer- 
kes gelegen.  Denn  der  Rheinbund  des  Jahres  1658  galt  als  das 
eigenste  Werk  Johann  Philipps.  Also  gerade  hier  wäre  AufsehluB 
zu  erhoffen  gewesen,  ob  wirklich  jene  Schildträgerei  für  Frankreich 
freier  Wille  des  Kurfürsten  gewesen  ist.  Aus  dem  oben  Mitgeteilten 
geht  doch  wohl  hervor,  daß  nur  nachdem  man  allerorts  vergeblich 
angeklopft  hatte,  der  Weg  ins  französische  Lager  eingeschlagen 
wurde.  Gewonnen  haben  aber  anfangs  die  Kurfttrsten  des  Rhein- 
bundes nichts  dadurch.  Ihre  Präeminenz  erhielt  durch  den  Einfluß 
der  fremden  Mächte  einen  Stoß.  Denn  ohne  Unterschied,  was  Dr. 
Joachim  nicht  berührt,  unterschrieben  die  Gesandten  sowohl  der  Für- 

* 

1)  Puf.  L.  y.  §  46,  S.  414—416.  Daraus  wohl  entlehnt  Basnage,  Annales  des 
Pro^inces-Ünies,  Tome  I.,  S.  689. 

2)  Akten,  welche  Aufschluß  hierüber  enthalten  zu  haben  scheinen,  sind  noch 
Ton  Bommel,  Geschichte  Hessens  Bd.  IX,  S.  242  Anm.  benutzt.  Dieselben  sind 
bis  jetzt  im  Marburger  Staatsarchiv  nicht  aufzufinden  gewesen. 

8)  Gnhrauer,  Eurmainz  in  der  Epoche  von  1672,  S.  89  f. 
4)  Vgl.  dazu  das  citierte  Werk  von  S&ve. 


üpsala  LäkareföreniDgs  Förhandliogar.    XXII.  851 

sten  als  anch  der  Earfttreten  die  Urkunde  des  Rheinbandes  als 
»legati«,  während  Tordem  den  ersteren  nnr  der  Titel  »depatatic 
zustand '). 

Im  weiteren  Verlauf  des  Rheinbundes  hat  dann  allerdings  der 
Kurfürst  von  Mainz  Vorteile  aus  der  Allianz  mit  Frankreieh  gezogen. 
Jedoch  dies  darzulegen  geht  über  den  Rahmen  der  Arbeit  Dr.  Joa- 
chims und  unserer  Aufgabe  hinaus. 

Hamburg.  Oskar  Krebs. 


üpsala  L&kare  Förhandlingar.  Redigeradt  af  R.  F.  Fristedt.  Tjuju- 
andra  Bandet.  Arhetsäret  1886—1887.  Upsala  1887.  Akademiska  Boktryk- 
keriet,  £dv.  Berling.    594  S.    8^ 

Der  zweite  Band  der  zweiten  Dekade  der  Upsalaer  medicinischen 
Zeitschrift  ist  durch  große  Reichhaltigkeit  und  Mannichfaltigkeit  des 
Inhalts  ausgezeichnet. 

Von  großem  Interesse  sind  die  Mitteilungen  aus  der  medicini- 
schen Klinik,  welche  teils  von  dem  Dirigenten,  S.  B.  Henschen,  teils 
von  Albin  Sjöling,  F.  Lennmalm  und  H.  Oraeve  herrühren.  Hen- 
schen  und  Sjöling  behandeln  die  Methoden  der  klinischen  Bestim- 
mung des  Hämoglobingehaltes  des  Blutes,  wobei  sie  zu  dem  Resul- 
tate kommen,  daß  das  Hämometer  von  Fleischl  die  richtigsten  Re- 
sultate gibt.  Lennmalm  bringt  einen  interessanten  Beitrag  zur  Kennt- 
nis der  amyotrophischen  Lateralsklerose,  für  welche  er  übrigens  den 
Namen  amyotrophische  Pyramidsklerose  als  passender  vorschlägt,  da 
die  Affektion  hier,  wie  auch  in  früher  von  Kowejnikow  und  Charcot 
beschriebenen  Fällen,  sich  keineswegs  auf  die  Medulla  spinalis  be- 
schränkte, sondern  die  ganzen  Pyramidenbahnen  von  der  Gehirnrinde 
durch  das  Oehirn,  verlängerte  Mark  und  Rückenmark  Degenerationen 
zeigten.  Der  Fall,  an  sich  interessant,  da  die  amyotrophische  La- 
teralsklerose nur  eine  sehr  geringe  Kasuistik  darbietet,  ist  es  da- 
durch nmsomehr,  daß  die  topographische  Verteilung  der  Entartung 
in  Gehirn  und  Rückenmark  so  genau  wie  möglich  nachgewiesen 
wnrde,  wobei  übrigens  im  Allgemeinen  die  von  Flechsig  u.  a.  als 
motorisch  bezeichneten  Gebiete  sich  betroffen  zeigten.  Neben  diesen 
Degenerationen  fand  sich  Atrophie  der  großen  Zellen  in  den  Vorder- 
hörnern des  Rückenmarks,  namentlich  im  Gervicalteile,  beginnende 
Alteration  in  den  Kernen  des  Hypoglossus  und  Vagus-accessorius, 
Degeneration  und  Atrophie  in  den  austretenden  Wurzeln  des  Facia- 

1)  Leibniz,  Staatswissenschaftliche  Werke  Bd.  lY,  S.  207. 


862  Gott.  gel.  Auz.  1887.  Nr.  22. 

ÜB,  Vagas,  Accessorius  and  Hypoglossus  und  in  einem  Teile  der  pe- 
ripheren Nerven.  Ebenso  wertvoll  wie  der  Fall  selbst,  ist  die  an 
denselben  geknüpfte  Darstellung  der  früheren  Litteratur  und  die  ta- 
bellarische Gegenüberstellung  von  32  reinen  Läsionen  der  motori- 
schen Bahnen,  in  denen  Veränderungen  sowohl  in  den  Pyramid- 
bahnen als  in  den  grofien  Zellen  der  Vorderhömer  resp.  der  Bulbar- 
kerne  gefanden  wurden,  und  von  11  Fällen,  wo  die  Zellen  der  Vor- 
derhömer und  die  Bulbarkerne  afficiert,  die  Pyramidenbahnen  da- 
gegen nicht  betroffen  waren.  Leunmalm  gelangt  dadurch  zu  einem 
bestimmten  Gegensatze  zwei  symptomatisch  und  anatomisch  wohl  zu 
unterscheidender  Krankheiten,  insofern  die  letzteren  der  progressiven 
Huskelatropbie  (Atrophie  vor  der  Lähmung,  keine  spastische  Erschei- 
nungen), die  ersteren  der  amyotrophischen  Lateralsklerose  (Lähmung 
der  Atrophie  vorangehend,  Anwesenheit  spastischer  Symptome)  ange- 
hören. Lennmalm  ist  der  Ansicht,  daß  die  von  Leyden  angeführten 
Fälle,  welche  gegen  die  Existenz  der  Cbarcotschen  Lateralsklerose, 
soweit  das  Bild  derselben  spastische  Erscheinungen  und  Steigerang 
der  Sehnenreflexe  in  sich  begreift,  sprechen  sollen,  nicht  beweisend 
seien,  zumal  da  sie  größtenteils  aus  der  Zeit  vor  1875,  dem  Ent- 
deckungsjahre der  Sehnenreflexe  seien.  Von  Interesse  ist  auch  die 
weitere  auf  jene  Tabellen  gestutzte  Beweisführung,  daß  die  progres- 
sive  Bulbarparalyse  keine  selbständige  Krankheit  ist,  sondern  ent- 
weder ein  Glied  in  der  Kette  der  amyotrophischen  Lateralsklerose 
darstellt  oder,  jedoch  seltener,  der  protopathischen  spinalen  Muskel- 
atrophic  angehört. 

Ein  weiterer ,  zumal  diagnostisch,  interessanter  Fall  aus  der 
Upsalaer  Klinik  wird  von  Henschen  und  Graeve  mitgeteilt.  Es 
handelt  sich  um  einen  Fall  von  Leberkrebs  mit  Dilatation  und 
Hydrops  der  Gallenwege,  die  bei  der  Sektion  deutliche  Fluctua- 
tion zeigten,  welche,  wenn  sie  bei  Lebzeiten  geftlhlt  worden  wäre, 
auf  Echinococcus  oder  Leberabscess  hätte  bezogen  werden  kön- 
nen. Außerdem  teilt  Graeve  die  auf  Henschens  Klinik  gemachten 
Versuche  mit  Antifebrin  mit,  dessen  antipyretische  Wirksamkeit  sich 
so  bewährte,  daß  es  dem  Antipyrin  sich  nahestellt,  vor  dem  es  den 
Vorzug  des  50  mal  billigeren  Preises  besitzt.  Im  Uebrigen  scheint 
man  in  Upsala  in  Bezug  auf  die  Anwendung  der  antipyretischen  Me- 
thode den  gesunden  Principien  zu  huldigen,  wie  sie  sich  auch  bei 
uns  im  Gegensatze  zu  den  anfänglichen  ttbertriebenen  Lobeserhebun- 
gen und  zu  der  modernen  Samuelschen  Verurteilung  der  Antipyrese 
bei  den  meisten  Praktikern  und  Klinikern  als  die  richtigen  erwiesen 
haben.  Wir  finden  dieselben  niedergelegt  in  einem  schönen  Vortrage 
von  F.  Lennmalm  über  die  Bedeutung  und  Berechtigung  der  Anti- 


üpsala  Läkareförenings  Förhandlingar.    XXII.  853 

pyrese,  dessen  Schlußsätze  mit  dem  Hauptresultate  der  frtiher  von 
uns  in  diesen  Bl.  besprochenen  Untersuchungen  F.  W.  Warfvinges 
zusammenfallen.  Danach  ist  der  Zielpunkt  der  Behandlung  fieber- 
hafter Krankheiten  die  Auffindung  specifischer  Arzneimittel  gegen  jede 
einzelne  derselben,  und  die  Antipyrese,  so  lange  dies  Ziel  nicht  er- 
reicht ist,  nur  in  gewissen  Fällen  als  symptomatisches  Mittel  ge- 
rechtfertigt. Lennmalm  betont  dabei,  daß  man  die  hydriatrische  Me- 
thode wohl  von  der  medicamentösen  trennen  müsse;  erstere,  von 
welcher  er  jedoch  die  rigorose  Kaltwasserbehandlung  ausgeschlossen 
wissen  will,  wirke  mehr  kräftig  stimulierend  auf  den  Organismus  als 
temperaturherabsetzend.  Die  Indikationen  der  einzelnen  Antipyretica, 
so  weit  solchen  nicht  eine  gewisse  Specificität  der  Aktion  auf  be- 
stimmte Pyrexien  zukomme,  hält  Lennmalm  fUr  höchst  unsicher, 
nnd  nur  in  seltenen  Fällen,  wo  es  sich  um  sog.  hyperpyretische  Tem- 
peraturen handle,  werde  eine  direkte  Bekämpfung  der  erhöhten  Kör- 
perwärme notwendig. 

Wie  die  klinische  Medicin  findet  auch  die  Chirurgie  in  dem  vor- 
liegenden Bande  durch  mehrere  Aufsätze  Vertretung,  die  zum  größe- 
ren Teil  kasuistischer  Art  sind.  Interessant  ist  eine  Mitteilung  von 
Jacques  Borelius  über  einen  Cancer  en  cuirasse,  der  nach  einem 
Stoße  einer  Kuh  sich  von  der  Leistengegend  aus  entwickelte  und 
eine  Zeit  lang  diagnostische  Schwierigkeiten,  da  man  an  Pachydermie 
denken  konnte,  machte,  welche  die  Entwicklung  von  Krebskachexie 
und  die  mikroskopische  Untersuchung  der  Neubildung  jedoch  be- 
seitigte. Ein  interessantes  Moment  in  diesem  Falle  ist  die  Verkleine- 
rung des  Neoplasma  nach  dem  Befallenwerden  von  Erysipelas,  das 
den  Kranken  nicht  weniger  als  drei  Male  heimsuchte.  Auch  ein  von 
Borelius  mitgeteilter  Fall  von  Verblutung  ans  dem  Nabel  am  12. 
Tage  nach  der  Geburt,  zweifelsohne  auf  septischer  Basis,  ist  nicht 
ohne   Interesse. 

Eine  andre  Abteilung  kasuistischer  chirurgischer  Mitteilungen 
rührt  von  Alfred  Svensson  her  und  bringt  Beiträge  zu  den  Kopf 
Verletzungen  (Quetschwunde  am  Kopfe  mit  Schädeleindruck,  snbdura- 
1er  Absceß  mit  eitriger  Meningitis  nach  einer  Hiebwunde  auf  den 
Kopf),  einen  Fall  von  spontaner  Gangrän  des  ganzen  Beines  nnd 
Exarticulation  mit  günstigem  Ausgang  und  einen  Fall  glücklich 
operierter  Hydromeningocele  frontalis.  Allgemeineren  Inhalts  sind 
zvrei  Abhandlungen  von  6.  Boiling,  von  denen  die  eine  über  Opera- 
tionswunden ohne  Dränageröhren  handelt,  während  die  zweite  Bei«» 
trttge  zur  plastischen  Chirurgie  in  Bezug  auf  Hasenscharte  nnd  Lip- 
penkrebs liefert.  Erwähnenswert  ist,  daß  der  Verfasser  statistiscb 
zeigt,  daß  die  Sterblichkeit  der  an  Hasenscharte   operierten  Kinder 


864  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  22. 

nicbt  viel  die  der  Mortalität  in  dieser  Lebensperiode  übersteigt  ond 
dafi  Boiling  bei  Labium  leporinam  die  Schnittftihrang  von  LaDgen- 
beek  und  J.  Wolff  kombiniert,  so  daß  die  Nafatlinie  das  Aaseeben 
eines  umgekehrten  liegenden  8  bekommt.  Blutleere  wird  dnreb  zwei 
Kautscbukplatten  hergestellt.  Das  Zusammenreihen  geschieht  mit 
Seide  und  Catgut,  dann  wird  JodoformcoUodinm  aufgepinselt  Bei 
Prominenz  des  Zwischenkiefer  rät  Boiling  zur  Verkleinerung  durch 
Wegpräparieren  der  Seitenteile.  Von  9  durch  Boiling  operierten 
Kindern  mit  koniplicierten  Hasenscharten  sind  noch  sieben  ana  Le- 
ben, das  jüngste  über  1  Jahr  alt.  Boiling  berichtet  auch  Über  seine 
Operationen  von  Palatum  fissum,  wobei  er  den  weichen  und  harten 
Gaumen  stets  in  einer  Sitzung  operierte,  und  Aber  26  Fälle  von 
Lippenkrebs,  wovon  2  nach  S'/s  Jahren  lokal  recidiv  wurden,  wäh- 
rend in  einem  anderen  die  Lippe  intakt  blieb,  dagegen  Krebs  in  den 
Unterkieferdrttseu  auftrat  Bei  kleinen  Lippenkrebsen  operierte  er 
stets  zur  Erziehung  besseren  kosmischen  Erfolges  mit  rectangnläreB 
Schnitten. 

.  Reich  ist  wie  immer  auch  die  Physiologie,  in  erster  Linie  dorch 
einen  ausgezeichneten  Aufsatz  über  die  Entwicklung  und  die  gegen- 
wärtige Stellung  der  Physiologie,  der  die  Antrittsvorlesung  von 
Magnus  Blix  bei  Uebernabme  der  physiologischen  Professur  in  Land 
bildet,  dann  durch  zahlreiche  physiologisch-chemische  Arbeiten  von 
Hammarsten  und  verschiedenen  seiner  Schüler.  So  handelt  Lincoln 
Paijkull  über  den  Schleim  der  Galle,  dessen  Natur  als  Nucleoalbamin 
er  darlegt,  und  Helge  Röd^n  über  die  Einwirkung  des  Blutserum  auf 
die  Coagulation  der  Milch  durch  Laab.  Hammarsten  selbst  kommt 
auf  ein  bereits  im  vorigen  Jahre  von  Mörner  behandeltes  Thema 
zurück,  auf  den  Nahrungswert  der  eßbaren  Schwämme,  wobei  er  die 
ganz  bestimmt  richtige  Ansicht  ausspricht,  daft  auch  die  durch  die 
neueren  Untersuchungen  veränderte  Position  der  eßbaren  Pilze  in 
der  Reibe  der  Nahrungsmittel  keinen  Anlaß  gebe,  die  Anbahnung 
der  Verwertung  dieses  Materials  als  Volksspeise  für  eine  wertlose 
Arbeit  zu  erachten. 

Die  pathologische  Anatomie  ist  durch  einen  von  R.  Friberger 
mitgeteilten  Fall  von  Herzruptur  mit  Berstung  des  Pericardium  and 
Bluterguß  in  das  Mediastinum  vertreten.  Reichhaltig  ist  der  vor- 
liegende Band  an  Aufsätzen,  die  in  den  Bereich  der  Pharmakologie 
und  der  verwandten  Displinen  fallen,  insbesondere  an  solchen  bal- 
neologischen  Inhalts.  Außer  einem  interessanten  Reisebericht  Fri- 
stedts,  der  sich  auf  deutsche  Verhältnisse  bezieht,  haben  wir  zwei 
Aufsätze  von  Karl  Hedbom  über  Blntegelkokons  und  die  Brodfrüchte 
von  Südasien  zu  verzeichnen.    Von  balneologischen  Artikeln  sind  ein 


Upsala,  Läkareförenings  Förhandflngar.    XXII.  855 

Beriebt  von  M.  Blix  ttber  die  B rannen-  und  Badeanstalt  zu  Porla 
und  eine  Mitteilung  von  Ekstrand  ttber  das  Eisenwasser  von  Ttterän 
in  Jemtland  hervorzuheben.  Die  Quelle  steht  nach  ihrem  Eisenge- 
balte zwischen  Lund  und  Porla,  indem  sie  in  100,000  Teilen  3,66 
Eisencarbonat  enthält;  doch  scheint  die  Zusammensetzung  nicht 
ganz  konstant  zu  sein,  indem  eine  frühere  Analyse  sogar  5,46  Fe  COs 
lieferte,  wonach  sie  reicher  als  Porla  an  Eisen  sein  würde.  Es  ist 
jedenfalls  darauf  zu  achten ,  ob  diese  Schwankungen  in  den  einzel- 
kien  Monaten  konstante  siod,  wie  dies  z.  B.  bei  St.  Möriz  der  Fall 
ist  oder  ob  überhaupt  eine  Abnahme  von  Fe  in  derselben  stattfindet. 
Besonders  interessant  ist  noch  eine  größere  Arbeit  von  Hjalmar 
Oehrwall  über  Teneriffa  als  klimatischen  Kurort,  auf  die  eignen  Er- 
fahrungen des  Verfassers  gestützt,  der  diese  Insel  wegen  eines  Brust- 
leidens aufsuchte.  Der  Aufsatz,  der  sowohl  die  meteorologischen  als 
die  socialen  Verhältnisse  der  Canarischen  Inseln  eingehend  beleuch- 
tet, ist  ganz  bestimmt  von  sehr  praktischer  Bedeutung,  indem  er 
darthut,  daß  diejenigen  Momente,  welche  der  Insel  Madera  ihre  Aus- 
nahmestellung unter  den  klimatischen  Kurorten  verleihen,  nämlich 
die  geringen  Tages-  und  Jahresschwankungen  der  Temperatur  und 
die  Regularität  der  meteorologischen  Verhältnisse,  Teneriffa  in  der* 
selben  Weise  zukommen.  Es  kann  kaum  einem  Zweifel  unterliegen, 
daß  bei  Zuzug  guter  Aerzte  und  Einrichtung  von  Hotels  mit  Pensio- 
nen und  Komfort  Teneriffa  bald  Madera  eine  große  Konkurrenz 
bereiten  würde,  zumal  wenn  die  Wohlfeilheit  des  Aufenthalts  da- 
durch keine  Beeinträchtigung  erlitte.  Die  Temperatur  der  Winter- 
station Puerto  de  Orotova  auf  Teneriffa  ist  sogar  um  2^  höher, 
als  diejenige  von  Funchal,  die  Luftfeuchtigkeit  ist  etwas  gerinr 
ger,  ebenso  die  Zahl  der  Regentage,  der  Wind  regelmäßiger,  die 
Landung  leichter  und  bequemer,  die  Wege  bedeutend  besser  und  Aus- 
flüge und  Promenaden  leichter,  endlich  auch  Phthisis  auf  Teneriffa 
seltener  als  in  Madera.  Wie  auf  letzterer  ist  auch  hier  ein  Wech- 
sel des  Aufenthaltes  im  Sommer  und  Winter  zweckmäßig,  wobei  Icod 
de  los  Vinos  und  Lagnna  sich  besonders  für  die  wärmere  Jahres- 
zeit eignen.  Einen  Nachteil  hat  Teneriffa  übrigens  mit  Madera  ge- 
mein, den  freilich  für  Schwerkranke  sehr  wohlthätigen  Mangehan 
Zerstreuung,  der  aber  allerdings,  sobald  sich  eine  größere  Zahl 
Fremder  dort  niederläßt,  nicht  so  schwer  ins  Gewicht  fallen  wird, 
wie  jetzt,  wo  wenigstens  derjenige,  der  sich  nicht  selbst  zu  zer- 
streuen weiß,  für  passende  Gesellschaft  selbst  zu  sorgen  wohl  thut. 
Dafür  entschädigt  freilich  der  Umstand,  daß  schlechte  Jahre,  wie 
man  sie  in  alpinen  Winterkurorten  und  an  der  Riviera  oft  bejam- 
mern hört,  hier  ausgeschlossen  sind.    Der  Aufsatz  enthält  ein  sehr 


856  Gott.  gel.  Anx.  1887.  Nr.  22. 

reichbaltiges  VerzeichBis  der  Litteratar,  worunter  diverser  spani- 
Bcher  Litteratar,  die  bei  ans  bisher  wenig  bekannt  warde.  End- 
lich ist  von  baincologischen  Arbeiten  noch  eine  sehr  gediegene 
Abhandlung  von  0.  V.  Petersson  über  die  Behandlang  scrophuldser 
Kinder  in  Krankenhäusern  an  der  Seekttste  zu  nennen,  in  welcher 
die  Aufmerksamkeit  des  schwedischen  Publikums  auf  diese  Kinder- 
heilstätten  und  ihre  Erfolge  gelenkt  wird.  Es  würde  allerdings  zu 
wünschen  sein,  daß  diese  Institute  an  der  langgestreckten  Küste  des 
nordischen  Königreichs  Eingang  finden,  wie  es  ja  auch  die  Ferien- 
kolonien getban  haben,  Über  deren  wohlthätige  Wirkung  FetersBon 
nach  seinen  Erfahrungen  in  Sätra  am  Schlüsse  der  Abhandlang  Mit- 
teilungen macht. 

Eine  Zierde  des  vorliegenden  Bandes  bildet  endlich  der  an 
Stiftungsfeste  des  ärztlichen  Vereins  von  Upsala  gehaltene  Vortrag 
von  F.  Lennmalm,  in  welchem  der  Redner  einen  Ueberblick  über 
die  geschichtliche  Entwicklung  der  Arzneiknnst  in  Schweden  gibt. 
Dieselbe  ist  insofern  eine  eigenartige,  als  die  eigentliche  schwedi- 
sche Medicin  sich  erst  außerordentlich  spät  entwickelte  (im  16.  and 
17.  Jahrhundert  gab  es  in  Schweden  fast  ausschließlich  ausländische^ 
besonders  deutsche  Aerzte)  und  als  der  Gegensatz  der  Wundarznei- 
künde  und  der  internen  Medicin  kaum  in  einem  anderen  Lande  in 
so  später  Zeit  noch  so  prägnant  hervortritt,  wie  in  Schweden,  wo 
erst  1797  die  »chirurgische  Societätc  aufgehoben  wurde.  Die  Be- 
deutung der  schwedischen  Medicin  als  wesentlicher  Teil  des  Oanzea, 
wie  sie  die  Gegenwart  bietet  und  wovon  auch  der  vorliegende  Band 
der  Upsalaer  Zeitschrift  wiederum  einen  Beleg  gibt,  datiert  erst  ans 
den  Zeiten,  wo  auch  die  sociale  Stellung  der  Aerzte  in  Schweden 
eine  bessere  wurde.  Es  ist  nicht  allein  a  priori  anzunehmen,  son- 
dern faktisch  nachweisbar,  daß  in  den  Jahrhunderten,  wo  eben  die 
Schweden  selbst  die  Heilkunst  auswärtigen  Doktoren  und  Barbieren 
Oberließen  und  die  Hörsäle  der  Professoren  der  Medicin  in  schwe- 
dischen Universitäten  leer  blieben,  die  sociale  Stellung  der  Aente 
eine  so  wenig  geachtete  war,  daß  ein  schwedischer  Minister  sich  ge- 
gen den  Verdacht  reinigen  mußte,  daß  er  Doktor  der  Medidn  sei  (I) 
und  außerdem  die  pecnniären  Einnahmen  aus  der  Ansübang  der 
Heilkunde  nur  höchst  unbedeutend  waren. 

Der  vorliegende  Band  enthält  auch  eine'wertvolle  Beigabe  von 
Tafeln  zu  Lennmalms  Abhandlung  über  Lateralsklerose  und  Boilings 
Beiträgen  zur  plastischen  Chirurgie. 

Theodor  Hasemann. 

Für  die  Redaktion  renntwortlich :    Prof.  Dr.  SsekM,  Direktor  der  Q«ti.  g«L  Abs., 
AeeeiMor  der  Königlichen  GordlAckaft  der  Wieaenerhaften. 
V0tlaff  dm-  DüUhch'aekiH  \§riag9  -Bvckktmdhmfi. 
Dmck  d§r  Di^UrieV^ekm  ünit.-BnckdiudurH  (Fr.  VF.  EatUmtrh 


on''  . 


867 


Göttingische 

gelehrte  Anzeigen 

unter  der  Aufsicht 

der  Königl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Nr.  23.  15.  November  1887. 


^fO^reis  des  Jahrganges:  JL  24  (mit  den  »Nachrichten  d.  k.  G.  d.  Wiss.«:  JL11), 
Preis  der  einzelnen  Nummer  nach  Anzahl  der  Bogen:  der  Bogen  50  ^ 

Inhalt :  Weiss,  Lehrbuch  der  EialeHang  in  das  Nene  Testament.  Von  Bdttmawn.  —  Deutsche 
Reichstagsakten.  Vierter  und  fünfter  Band.  Von  Kageltnacher,  —  Y  olkmar,  Paulos  von  Damaskus 
bis  zum  Oalaterbrief.    Von  Orqfe. 

=  Eigenmächtiger  Abdruclc  von  Artiiceln  der  G6tt.  gei.  Anzeigen  verboten.  = 


WeiB,  Bernhard,  Lehrbuch  der  Einleitung  in   das  Neue  Testa- 
ment.   Berlin,  Hertz.    1886.    XIV  u.  643  S,    8^ 

In  seiDer  Anzeige  des  vorliegenden  Werkes  macht  A.  Harnack 
(Theologische  Litteratarzeitnng  1886,  S  554  f.)  die  zutreffende  Be- 
merkung: »Die  Kritik  am  N.  T.  bat  mit  der  Textkritik  begonnen; 
ihr  ist  dann  die  Kritik  der  Sammlung  und  endlich  die  Kritik  der 
einzelnen  Schriften  gefolgt.  In  derselben  Reihenfolge  scheinen  sich 
auch  die  sicheren  Ergebnisse  der  Kritik  festzustellen  and  zn  Aner- 
kennung zn  gelangen.  In  Bezug  auf  die  Textkritik  ist  das  schon 
in  großem  Umfange  geschehen.  Daß  auch  die  Kanonsgeschichte  — 
wenigstens  in  gewissen  Orundzügen  —  demnächst  zu  den  Gebieten 
gehören  wird,  über  die  kein  Streit  ist,  das  scheint  mir  diese  neue 
Einleitung  zu  verbürgen. c 

Was  nun  die  Behandlung  der  Textgeschichte  in  vorliegendem 
Werke  betrifft,  so  liegt  dieselbe,  da  sie  der  Begriffsbestimmung  der 
ganzen  Disciplin  zufolge  in  dieser  eigentlich  ein  hors  d'oeuvre  bildet, 
vielmehr  der  Hermeneutik  zuzuweisen  wäre,  nur  in  Form  eines  An- 
hangs als  ttbersichtliche  und  auch  wenigstens  für  die  Zwecke  der 
Studierenden  (nicht  aber  der  Facbgenossen)  genügende  Zusammen- 
stellung der  wesentlichsten  Resultate  vor.  Positiv  werthvoU  und  för- 
derlich ist  dagegen  die  Entstehungsgeschichte  des  neutestamentlichen 
Kanons  mit  ihrer  tapferen  Polemik  gegen  »völlig  geschichtslose  Fic- 
tionen«  (S.  23)  von  Sammlungen   neutestamentlicher  Schriften,  wie 

G«tt.  gel.  Ans.  1887.  Nr.  28.  59 


85S  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  23. 

sie  nicbt  bloß  die  traditionelle  Theologie,  sooderu  aaeh  Ewald  aod 
Tischendorf  zu  Harkt  gebracht  haben.  Von  einer  geschlossenen 
Sammlung  yon  Evangelien  kann  vor  Mitte  des  2.  Jahrhunderts ,  von 
einer  kanonischen  Wertung  apostolischer  Briefe  auch  zu  Justins 
Zeiten  noch  nicht  die  Rede  sein.  Aber  die  von  Letzterem  bezeogte 
gottesdienstliche  Lesung  der  »apostolischen  Denkwürdigkeiten c  mufite 
zur  Bildung  eines  Evangelienkanons  führen.  Da  auch  dieser  sich 
im  Kampfe  mit  derOnosis  nicht  ausreichend  erwies,  trat  den  »Herm- 
wortenc,  wie  sie  in  den  Evangelien  fixiert  waren,  die  apostolische  Lehr- 
überlieferung, trat  eben  damit  auch  dem  Evangelienkanon  ein  apo- 
stolischer Kanon  zur  Seite,  dessen  Umfang  'sich  freilich  erst  sehr 
allmählich  bestimmt  abgegrenzt  hat.  Von  einem  Gesetze  der  Kanon- 
bildung kann  nur  in  sehr  relativer  Weise  die  Rede  sein,  da  das 
Princip  der  Apostolicität,  welches  ihr  allein  zu  Grunde  gelegen  haben 
könnte ,  um  der  mannigfachsten  Ursachen  willen  jeder  konsequenten 
Durchführung  ermangelte. 

Gleichzeitig  mit  dem  Werke  von  Weiß  hat  der  Unterzeichnete 
eine  zweite  Auflage  seines  eignen  Lehrbuches  der  neutestamentlichen 
Einleitung  erscheinen  lassen.  Die  Uebereinstimmung  reicht  gerade 
in  der  Geschichte  des  Kanons  weiter  als  der  Dissensus.  Dem  Ver- 
fasser kommt  es  freilich  nur  darauf  an,  den  letzteren  hervorzuheben. 
Gleich  in  der  Vorrede  S.  V  scheint  ihm  meine  Aeußerung,  das 
Christentum  sei  »Buchreligion«  von  Anfang  gewesen,  wogegen  er 
ein  »Gottlob,  daft  dem  nicht  so  war«  ausspielt,  den  Gegensatz  beider 
Auffassungen  am  treffendsten  und  schärfsten  auszudrücken.  Alleia 
jene  Eigenschaft  als  »Buchreligion«  hat  ja  auch  nach  meiner  Dar- 
stellung keinen  anderen  Sinn,  als  daß  der  Christenglaube  nicht  etwa 
bloß  auf  die  alttestamentliche  Offenbarung,  sondern  auf  ihre  als  in- 
spiriert geltenden  Schriftdenkmäler ,  auf  den  Offenbarungscodex  des 
Alten  Testamentes  sich  stützt,  welchem  zunächst  nur  mündlich  fiberlie- 
ferte Herrnworte,  erst  sehr  allmählich  aber  auch  urchristliche  Schriften 
mit  gleichem  Ansprüche  auf  kanonische  Dignität  an  die  Seite  ge- 
treten sind.  So  bat  meine  Aeußerung  selbst  Nösgen  (Theol.  Litte- 
ratnrblatt  S.  67)  richtig  verstanden,  und  da  auch  Weiß  dem  darge- 
legten Thatbestand  sowohl  nach  seiner  alttestamentlichen  wie  nach 
seiner  neutestamentlichen  Kehrseite  durchweg  gerecht  wird,  so  sehe 
ich  in  der  That  nicht  ein,  wo  der  sachliche  Wert  seiner  emphatischen 
Bede  zu  suchen  sei.  Vielmehr  besteht  zwischen  nns  nur  der  Unter« 
schied,  daß  mir  »die  Anfänge  der  neutestamentlichen  Kanonbildnng«, 
welche  Weiß  in  den  Anfang  des  3.  Jahrhunderts  setzt  (S.  76),  ebenso 
gut  oder  besser  dem  Ende  des  2.  Jahrhunderts  zuzuweisen  scheinen. 
Damit  hängt  es   zusammen,  wenn   ich  sie  mit  der  Entstehung  der 


WeiB,  Lehrbuch  der  Einleitung  in  das  Neue  Testament.  859 

katholischen  Kirche  in  Verbindung  bringe,  was  nach  Weiß  »bestimmt 
bestritten  werden  mnß.<    Da  die  Kirche  das  Subject  ist,  welches  den 
Kanon  bildet,   so   ist  sie  freilich  logischer  Weise  yorher  da;   wenn 
man  aber  das  Vorhandensein  einer  Kraft  nur   aus  ihren  Wirkungen 
erkennt,  so  gewinnt  die  Behauptung  der  Gleichzeitigkeit  um  so  mehr 
Berechtigung,   als  ja  nun  doch  einmal  die  Thatsache   vorliegt,   daß 
die    frühesten    Spuren     kanonischer    Wertung     neutestamenüicher 
Schriften   sich    zeitlich    unmittelbar    an    das  erste  Hervortreten  des 
Terminus  »katholische  Kirche«  anschließen.    Um  einen  gegenteiligen 
Eindruck  hervorzurufen,  muß  Weiß  selbst  das  Muratorische  Fragment 
ohne  jedweden  positiven  Beweis  aus  seiner,  durch  Selbstzeugnis  be- 
gründeten und   fast  von  allen  Forschern  angenommenen,  chronologi- 
schen Stellung  hinauswerfen  (S.  78  »nichts  hindert,  auch  bis  in  den 
Anfang  des   dritten  Jahrhunderts   hinabzugehn«).    Wie   auf  diesem 
Punkte,  so   geht  Weiß   in   skeptischer  Kühnheit  über   meine  Auf- 
stellungen auch  bezüglich  der  Stellung,  welche  der  zweite  Clemens- 
brief (S.  34)  und  Melito  von  Sardes  (S.  52)  in  der  Kanongeschichte 
einnehmen,  hinaus,  während  andererseits  bei  ihm  die  Abweichungen 
des  syrischen  Kanons  von  dem  der  Beichskirche  thunlichst  verdeckt 
werden.    Letzteres   ermöglicht  sich  nur  dadurch,   daß   wie  Anderes 
(z.  B.  das  Indiculum  Africanum),  so  auch  die  syrischen  Didaskalien 
in   der   Darstellung  des   Verfassers   keine  Stelle    gefunden   haben. 
Mancherlei  Indicien  daftlr,  daß  auch  in  der  griechischen  und  lateini- 
schen Reichskirche   der  Kanonschluß  auch   im   5.  Jahrhundert  noch 
keineswegs   überall   als   definitive   Thatsache    hingenommen   wurde, 
werden   zu  rasch   als  gelehrte  Anwandlungen  Einzelner  abgefertigt 
(S.  101.  104).    Wie  sollte  denn  gerade  dem  Hieronymus  bei  seinen 
bekannten  Tendenzen    eine   »übertreibende  Art«   (vgl.  auch   S.  414. 
448),   solche  Bedenken  aufzufrischen   und  zu  betonen,   beizumessen 
sein?    Thatsächlich  geht  vielmehr  unser  Verfasser  in  apologetischer 
Richtung  hinter  einen  Besitzstand  von  geschichtlichem  Wissen  zurück, 
welchen  Hieronymus  trotz  aller  orthodoxen  Velleitäten  nicht  zu  ver- 
leugnen vermochte  (vgl.  auch  S.  405.  469),  wie  er  auch  die  Erträg- 
nisse kritischer  Beobachtungen  verspielt,   welche   schon   die  Aloger 
(S.  360),   Clemens   (S.  417)  und  Dionysius   von  Alexandria  (S.  91. 
361. 463  f.  Ö92),  Eusebius  (S.  358)  und  Kosmas  Indikopleustes  (S.  100. 
448)  zu  machen  im  Stande   gewesen  sind.    Auffallend  ist  auch,  wie 
er  sich  für  möglichste  Abschwächung   des  römischen  Einflusses  auf 
die  Gestaltung  des  Kanons   interessiert.    »Schon   darum  (weil  Gas- 
siodor    keiner    päpstlichen    Entscheidung    erwähnt)   kann  das   de- 
cretum  Oelasii  de  libris   recipiendis   et  non  recipiendis  schwerlich 
echt  sein«  (S.  106). 

59* 


860  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  23. 

Die  Hauptmasse  des  vorliegenden  Werkes  ist  der  »Eutstebangs- 
geschichte  der  nentestamentlieben  Schriften«,  d.  h.  der  s.  g.  speciellen 
Einleitung  gewidmet  (S.  112—620).  Hier,  wo  die  Resoltate  der 
Kritik  sieb  allenthalben  stoßen  mit  den  flberliefernngsmäftigen  An- 
nahmen Ober  Entstehangsweise,  Verfasserschaft  and  Zweck  neotesta- 
mentlicher  Bücher,  sind  wir  nan  allerdings  fast  darchgängig  Anti- 
poden. Von  Weiß  gilt  matatis  temporum  ratione  habita  mntandis 
dasselbe,  was  er  seinerseits  von  dem  katholischen  Hag  berichtet : 
»er  förderte  zunächst  in  der  allgemeinen  Einleitung  die  Gescfaichte 
des  Kanon ,  die  spezielle  ist  auf  eine  wissenschaftliche  Apologie  der 
traditionellen  Annahmen  über  den  Ursprung  der  einzelnen  Schriften 
gerichtete  (S.  7).  Zu  »überwiegend  conservativen  Resultaten«  be- 
kennt er  sich  (S.  17),  indem  er  zugleich  über  mein  entgegengesetzt 
gerichtetes  Buch  das  Urteil  fUllt,  dasselbe  gebe  »ein  lehrreiches  Ge- 
samtbild des  weit  gehenden  Skepticismus,  zu  dem  diese  (d.  h.  die 
an  die  Tübinger  sich  anschließende,  neuere  kritische)  Schale  führt« 
(S.  16).  Mit  deutlicher  Beziehung  darauf  erklärt  er  ferner  schon  im 
Vorwort  sich  selbst  der  Enthaltsamkeit  nicht  für  fähig,  sich  »nur 
zum  Sprachrohr  der  verschiedenen  Ansichten  zu  machen«;  er  halte 
es  auch  »nicht  für  förderlich,  den,  der  sich  über  diese  Dinge  anter- 
richten  will,  nur  vor  einen  Widerstreit  der  Meinungen  za  stellen, 
ohne  ihm  auch  nur  versuchsweise  einen  Weg  za  zeigen ,  wie  man 
zur  Lösung  desselben  gelangt«.  Ob  mit  diesen  etwas  groben  Strichen 
mein  Werk  richtig  charakterisiert  ist,  überlasse  ich  der  Benrteflong 
derjenigen,  die  es  kennen  und  erlaube  mir  hier  bloß  die  Gegenbe- 
merkung, welcher  alles  Folgende  zum  Erweis  dienen  soll,  daß  ich 
meinerseits  die  von  Weiß  gewählte  Methode  nicht  für  geeignet  halte, 
die  studierende  Jugend,  für  deren  Gebrauch  sein  Buch  bestimmt  ist, 
mit  dem  »Widerstreit  der  Meinungen«  in  jener  allein  förderlichen 
und  zulässigen  Weise  bekannt  zu  machen,  die  sie  anleitet,  nicht 
auf  des  Meisters  Worte  zu  schwören,  sondern  zu  einem  selbstständig 
und  redlich  erworbenen  Eigentume  zu  gelangen. 

Ich  habe  in  meinem  Lehrbuche  die  Neuerung  eingeführt,  anter 
der  Ueberschrift  »die  protestantische  Kriti&  des  Kanons«  als  Ueber- 
gang  vom  allgemeinen  zum  besonderen  Teile  ein  Kapitel  über  die 
Beschaffenheit  und  den  Werth  der  altkirchlichen  Tradition  und  der 
»Zeugnisse«,  womit  die  herkömmliche  Kritik  gemeinhin  operiert, 
einzuschalten.  Wie  unerläßlich  eine  solche  allgemeine  Orientierang 
ist,  habe  ich  beim  Studium  des  vorliegenden  Werkes  auf  Schritt  und 
Tritt  empfunden.  Nur. in  dem  hier  gebotenen  Vacuum  kann  sich  die 
dem  Verfasser  geläufige  Argumentation  halten  und  bewegen:  in  der 
ersten  Hälfte  des  zweiten  Jahrhunderts  habe  der  Name  eines  Apostel« 


WciB|   Lehrbuch  der  Eiiüeitiuig  in  das  Neue  Testament.  861 

an  der  Spitze  einer  Schrift  dieser  noch  kein  absonderliches  Ansehen 
zu  verleihen  vermocht,  folglich  sei  aach  nicht  anzunehmen,  daß  da- 
mals Schriften  unter  apostolischem  Namen  in  Umlauf  gesetzt  worden 
sind  (S.  54.  319.  449).  Abstrakte  Theorien  über  den  Begriff  des 
Pseudonymen  müssen  auch  sonst  als  Maßstab  für  Beurteilung  kon- 
kreter Fälle  dienen,  wobei  es  unserem  Kritiker  nicht  darauf  ankommt, 
auf  zwei  nebeneinanderstehenden  Seiten  zuerst  von  der  Voraussetzung 
auszugehn,  daß  »der  Pseudonymus  die  einmal  angenommene  Rolle 
auch  zweckentsprechend  durchgeführt«,  also  mit  zielbewußter  Absicht 
gearbeitet  haben  würde  (S.  316),  bald  darauf  aber  die  »Naivetät 
pseudonymer  Schriftstellerei« ,  also  das  Gegenteil  von  zweckvollem 
»Raffinement«  bei  ihm  zu  vermissen  (S.  317).  Unter  Anwendung 
eines  so  stumpfen  kritischen  Apparates  ließen  sich  die  ungeheuer- 
lichsten Dinge,  z.  B.  die  Echtheit  der  dtdax^  '^^^  dnodioXfav  und 
des  Barnabasbriefes ,  mit  Leichtigkeit  darthun.  Aber  wie  des  Ver- 
fassers Lehrbuch  über  die  »biblische  Theologie  des  Neuen  Testa- 
mentes« trotz  aller  minutiösen  Sorgfalt,  womit  die  lehrhaften  Ele- 
mente des  N.  T.  gleichsam  in  Reihe  und  Glied  gebracht  werden,  daß 
sie  reinlich  nebeneinander  liegen  wie  die  Steine  in  einer  Hineralien- 
sammluDg ,  jeder  in  seinem  Schächtelchen ,  doch  schon  darum ,  weil 
der  Anschluß  an  die  jüdische  Vorarbeit,  an  die  apokryphische  und 
pseudepigraphische  Litteratur  und  an  die  Theologie  der  gleichzei- 
tigen Synagoge  fehlt,  kein  wahrhaft  historisches  Verständnis  ver- 
mittelt, so  fehlt  es  in  dem  vorliegenden  Seitenstücke  zu  jenem  Lehr- 
buche an  Fühlung  mit  der  an  das  Neue  Testament  unmittelbar  sich 
anschließenden  Litteratur.  Vorwärts  wie  rückwärts  steht  das  hier 
gebotene  Wissen  um  das  Neue  Testament  etwas  isoliert  und  in  sich 
abgeschlossen  da.  Was  faktisch  geboten  wird  ist,  wo  es  sich  um 
allgemeine  Charakterisierung  der  Schriften  und  um  Angabe  ihres 
Inhalts  handelt,  in  der  Regel  alles  Lobes  würdig  und  trefflich  ge- 
eignet ^  den  Anfänger  zu  orientieren.  Ich  bin  überhaupt  weit  ent- 
fernt davon,  die  Vorzüge  der  vorliegenden  Arbeit  zu  verkennen.  Das 
Buch  ist  wie  alle  Leistungen  .des  Verfassers  gut  geschrieben;  nur 
ganz  ausnahmsweise  begegnen  Sätze  wie  S.  194  mit  4  »auch«  oder 
wie  S.  208  f.  mit  3  »diese«.  ^AHen  Teilen  des  Stoffes  wird  eine 
durchaus  gleichmäßige  Behandlung  zu  Teil.  Was  der  Verfasser 
überhaupt  beherrscht,  das  beherrscht  er  auch  sicher  und  vollständig. 
Schwächen  und  Uebereilungen  der  gegnerischen  Argumentationen 
sind  mit  großem  Geschicke  aufgespürt  und  benutzt  Die  Darstellung 
leidet  nicht  an  Breite,  aber  noch  weniger  an  zu  großer  Präcision. 
Im  Gegenteil  bedingt  z.  B.  die  getrennte  Behandlung  der  Apostel- 
geschichte und  des  Lebens  der  Hauptapostel  manche  Wiederholungen. 


862  Gott.  gel.  Adz.  1887.  Nr.  23. 

Ansfttbrliche  Berichte  Über  den  Lebensgang  eines  Petras,  Johannes, 
Paulas  geboren  meines  Erachtens  in  die  Geschichte  des  apostolischen 
Zeitalters ;  nicht  aber  in  die  Einleitung  za  ihren  Schriften;  ebenso 
ist  die  Aasfbhrung  über  den  gottgewirkten  Charakter  der  Visionen 
des  Apokalyptikers  S.  368  f.  eine  theologische  Subtilität,  in  einem 
historisch  -  kritischen  Werke  schwerlich  am  Platze.  Meist  aber  ist 
man  immer  bei  der  Sache  —  freilich  auch  fast  durchgängig  nur  bei 
der  Sache,  wie  unser  Verfasser  sie  sich  eben  vorstellt.  Das  Bach 
steht  mehr  im  Dienste  seiner  Lehrantorität,  als  daß  es  Solchen,  welchen 
diese  Lehrantorität  an  sich  eine  ganz  gleichgültige  Sache  ist,  ein 
Wegweiser  sein  könnte,  um  zu  einem  wenigstens  vorläufig  und  anter 
Vorbehalt  weiterer  Belehrung  formulierten  Urteile  zu  gelangen.  Die 
Methode  besteht  zumeist  darin,  daß  der  Verfasser  seine  eigene  An- 
sicht, auf  deren  Darlegung  im  voraus  Alles  angelegt  ist,  ausführlich 
und  siegesgewiß  mitteilt,  während  abweichende  Meinungen  gelegent- 
lich, zumal  in  den  Noten,  erwähnt,  selten  nach  der  Stärke  ihrer 
wirklichen  Vertretung  und  Begründung  charakterisiert,  sondern  nar 
diesem  oder  jenem  Kritiker  gleichsam  als  Privateigentum  auf  die 
Bechnung  geschrieben  und  mit  der  einen  oder  andern  quasi  ex  ca- 
thedra gesprochenen  Verwerfungsformel  abgefertigt  werden.  Za 
diesem  Behufe  hat  sich  Weiß  eine  Reihe  von  souveränen  Wendangen 
angewöhnt,  die  insofern  zu  beachten  sind,  als  fast  allemal,  wo  er 
sie  anwendet,  der  geneigte  Leser  voraussetzen  darf,  daß  sehr  schwer- 
wiegende und  genau  präcisierte  Oegengründe  vorliegen,  welche  kennen 
zu  lernen  und  zu  erwägen  sich  für  solche  immer  lohnen  wird,  die 
keinen  Werth  darauf  legen,  grade  zu  der  Schule  von  B.  Weiß  ge- 
rechnet zu  werden.  Aus  der  großen  Zahl  dieser  charakteristischen 
Warnungstafeln  hebe  ich  nur  diejenigen  hervor,  welche  nicht  bloß 
ohne  objektive  Berechtigung  sind,  sondern  am  förderlichsten  als  Ein- 
ladungen verstanden  werden,  den  kurz  abgewiesenen  Ansichten  weiter 
nachzugehn:  S.  52  »reine  Einbildung«,  S.  58  »völlig  unerhebliche, 
S.  63  »durchaus  ungeschichtlich«,  S.  82  »ganz  unwahrscheinliche, 
S.  90  »reine  Vorurteile«,  S.  133  »völlig  haltlos«,  S.  141  »ganz  ver- 
fehlt«, S.  147  »ganz  aus  der  Luft  gegrififen«,  S.  153  »offenbarer  Irr- 
tum«, S.  158  »ganz  willkttrlich« ,  S.  202  »völlig  haltlos«,  S.  235 
»ganz  vergeblich«,  S.  243  »reines  Vorurteil«,  S.  306  »völlig  unbe- 
rechtigt«, S.  309  »völlig  grundlos«,  S.  388  »ganz  haltlose  Bebaop- 
tung«,  S.  327  »ganz  vergeblich« ,  S.  335  »ganz  undenkbar«,  S.  338 
»ganz  unglaublich«,  S.  341  »schlechthin  unmöglich«,  S.  343  »augen- 
fällig unhaltbar«,  S.  382  »völlig  unhaltbar«,  S.  406  »reine  WillkQr«, 
S.  412  »einfach  conteztwidrigc^  S.  417  »reine  Eintragung«,  S.  421 
»durchaus  unhaltbar«,   S.  425  »völlig  nichtssagend«,  S.  431    »gau 


WeiB,  Lehrbuch  der  Einleitung  in  das  Neue  Testament.  863 

vergebliche,  S.  442  »yOlIig  grandiose  Behauptung«  und  »ohne  jeden 
Grund«,  S.  443  »völlig  grundlose  Unterstellung«,  S.  455  »ganz  ver- 
fehlt«, S.  513  »völlig  grundlose  Annahme«,  S.  564  »ganz  erkünstelt«, 
»ganz  verfehlt«  und  »doch  ganz  erkünstelte ,  S.  '567  »in  sich  selbst 
unmöglich«,  S.  582  »reine  Unmöglichheit«,  S.  587  »ganz  verkehrt«, 
S.  590  »ganz  verfehlt«.  Der  Verfasser  ist  etwas  mehr,  als  mit  einer 
wirklich  kritischen  Stimmung  verträglich,  davon  überzeugt,  daß  er 
»natürlich«  (S.  220.  247.  471  u.  f.)  immer  Recht  haben,  die  An- 
sichten seiner  Gegner  aber  »natürlich  völlig  grundlos«  (S.  433  f.) 
sein  müssen.  Dasjenige  Publikum,  auf  welches  das  vorliegende 
Lehrbuch  in  erster  Linie  rechnet,  wird  freilich  keine  Zeit  damit 
verlieren,  da,  wo  49o  deutlichen  Winken  zufolge  nichts  zu  suchen  ist, 
doch  etwas  suchen  zu  wollen ;  es  wird  vielmehr  seinem  Führer  dank- 
bar sein,  daß  er  ihm  deutlich  gezeigt  hat,  wo  allein  das  Heil  zu 
suchen  ist.  Wir  befürchten  nur,  dasselbe  Publikum  werde  in  nicht 
wenigen  seiner  Vertreter  zu  dem  vom  Verfasser  angestrebten  Ziele 
auf  noch  kürzerem  Wege  zu  gelangen  wissen.  Denn  sein  aner- 
kennenswertes Bemühen,  lediglich  wissenschaftliche  Methode  zu  üben 
und  gelten  zu  lassen,  bringt  es  mit  sich,  dass  der  Student  immerhin 
recht  mühselige  Vergleichungen  anstellen,  auf  recht  gewundenen  und 
schmalen  Pfaden  sich  bewegen  und  recht  viele  Anhaltspunkte  für 
ein  so  oft  auf  die  Schneide  des  Messers  gestelltes  Urteil  im  Kopfe 
haben  muß,  damit  letzteres  weder  nach  der  Hechten,  noch  nach  der 
Linken  ein  Uebergewicht  gewinne  und  herabgleite.  Auch  wird  ihm 
die  Freude  an  den  »positiven  Resultaten«,  die  zuletzt  lohnen  und 
auch  von  den  Organen  der  entschieden  rückläufigen  Richtungen 
(Evangelische  Eirchenzeitung ,  Theologisches  Litteraturblatt)  bereits 
anerkannt  worden  sind,  geschmälert  und  getrübt  durch  so  viele  kri- 
tische Anwandlungen,  welchen  der  Verfasser,  während  er  der  »kriti- 
schen Schule«  auf  allen  Punkten  am  Zeuge  flickt,  selbst  unterliegt. 
Insofern  steht  kaum  zu  hoffen,  sein  Werk  werde  gewissen  trägen 
Instinkten  und  Velleitäten  der  studierenden  Jugend,  wie  dieselbe 
heutzutage  bei  der  Mehrzahl  nun  einmal  sich,  gestaltet  haben ,  eine 
kräftige  Remedur  angedeihen  lassen.  So  fern  und  so  weit  dies  aber 
möglich  sein  sollte,  wird  man  sich  dessen  zu  freuen  haben  und  dem 
Verfasser  verdienten  Dank  zollen. 

Etwas  anders  liegt  die  Sache ,  wenn  ein  rein  wissenschaftlicher 
Maßstab  bei  der  Beurteilung  entscheidend  sein  soll.  Da  abgesehen 
von  Apostelgeschichte,  Korintherbriefen  und  Johannesbriefen  des 
Verfassers  Urteile  über  die  neutestamentlichen  Bücher  schon  meist 
eingehender,  als  hier  möglich  war,  begründet  vorliegen,  wird  der 
Wert    dieser    zusammenfassenden  Darstellung   zunächst    darin  ge- 


_    I 


864  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  23. 

SQcht  nnd  gefunden  werden,  daß  sie  eine  den  Aufstellangen  der 
»kritischen  Schale«  entgegentretende  Totalanschaaang  von  dem 
ganzen  Prozesse  gewährt,  um  dessen  Erkenntnis  es  sich  handelt 
Das  leistet  sie  anch  in  der  That.  Das  Bach  ist  darchaos  daranf 
abgelegt,  den  Eindruck  za  hinterlassen,  daß  eindringendere  und  an* 
befangenere  Forschungen  jenem  >  Geschieh tsbild  der  apostolischen 
und  nachapostolischen  Zeit  bis  zar  Entwicklung  der  katholischen 
Kirche«  (S.  15),  wie  es  die  Kritik  aufgestellt  hatte,  ein-  ftlr  allemal 
ein  Ende  bereitet  haben.  Unser  Verfasser  will  nachgewiesen  haben, 
»daß  die  Tttbinger  Vorstellung  von  einem  Gegensatze  des  Paulos 
und  der  Urapostel  eine  geschichtswidrige  und  die  Darstellung  der 
Apostelgeschichte  in  allem  Wesentlichen  mit  ihnen  {den  paalinischen 
Briefen)  wohl  vereinbar  ist«  (S.  566).  Wie  nämlich  Jesus  selbst 
»mit  prinzipieller  Ausschließlichkeit  für  Israel  gewirkt  hatte«  (S.  125), 
so  haben  auch  seine  unmittelbaren  Jünger ,  die  Urapostel ,  selbst 
wenn  sie  für  ihre  Person  eine  freiere  Stellung  zum  Gesetz  innerlich 
gewonnen  hatten,  nie  daran  gedacht,  sich  von  demselben  loszusagen 
(S.  126).  Noch  sein  Bruder  Jakobus,  welcher  den  seinen  Namen 
tragenden  Brief  wirklich  geschrieben  haben  soll,  versteht  unter  dem 
»königlichen  Gesetz  der  Freiheit«  einfach  das  mosaische  Gesetz  ein- 
schließlich der  Ceremonialgebote ;  dies  folgt  für  Weiß  S.  406  aus 
der  Jak.  2,  10  betretenden  Solidarität  des  Gesetzes,  als  ob  der  nova 
lex  des  Christentums  eine  solche  nicht  ebenso  gut  zugeschrieben 
werden  könnte.  Wie  gleichwohl  selbst  in  urapostolischen  Kreisen 
die  Erkenntnis  von  dem  Ende  des  Gesetzes  in  Christus  sich  theore- 
tisch ausbilden  konnte  (dafür  soll  nämlich  S.  328  f.  der  Hebräer- 
brief  zeugen),  so  wurde  die  Reflexion  darauf  unumgänglich,  seitdem 
an  die  Stelle  anfänglich  nur  ausnahmsweise  vorkommender  Heiden- 
bekehrungen durch  die  Missionsreisen  des  Paulus  Heidengemeinden 
getreten  waren  (S.  128  f.).  Freilich  war  anch  dieser  Paulus  anfangs 
noch  ganz  in  der  Weise  der  Urapostel  unter  den  Juden  missionierend 
aufgetreten  (S.  116.  118.  123  f.);  aber  »immer  mehr«  (S.  129)  ist 
er  zum  Heidenapostel  und  Verkündiger  eines  Evangeliums  geworden, 
»in  welchem  das  Gesetz  Israels  und  die  Hoffnung  auf  die  Vollen- 
dung seiner  nationalen  Theokratie  keine  Stelle  mehr  hatte«  (S.  130). 
Um  so  ungeteilter  konnten  die  Urapostel,  nachdem  sie  eine  solche 
Bichtung  in  der  Thätigkeit  des  Paulus  als  dessen  gottgewollte  Be- 
stimmung erkannt  hatten,  sich  der  Mission  unter  Israel  hingeben, 
»die,  so  lange  die  Hoffnung  auf  die  Gesammtbekehrung  Israels  noch 
nicht  aufgegeben  war,  ihre  nächste  und  dringendste  Pflicht  blieb« 
(S.  135).  »Daß  aber  diese  verschiedene  Auffassung  der  Gesetzes- 
frage je  zu  einem  Conflict  zwischen  Paulus  und  den  Uraposteln  ge- 


Weiß,  Lehrbuch  der  £iüleituag  ia  das  Neae  Testament.  865 

fuhrt,  daß  insbesondere  letztere  je  die  in  den  jerasalemisehen  Ver- 
handlungen ausgesprochene  Anerkennung  der  Gesetzesfreiheit  der 
Heidenchristen  zurückgenommen  haben,  läßt  sich  nicht  nachweisen« 
(S.  139).  Selbst  der  Auftritt  in  Antiochia  bedeutet  nur  den  auf 
Seiten  des  Jakobus  und  seiner  Leute  bestehenden  Entschluß,  um  des 
neuberufenen  Gottesvolkes  der  Heiden  willen  ihrer  gesetzlichen  Pflicht 
nichts  zu  vergeben  (S.  137).  Die  Urgemeinde  vollends  wurde  durch 
diese  Frage  kaum  berührt,  da  nur  diejenigen,  welche  darüber  freier 
dachten,  sich  einer  Wirksamkeit  in  solchen  Gebieten  der  Diaspora 
unterzogen  haben  werden,  welche  sie  mit  dort  bereits  bekehrten 
Heiden  in  Berührung  brachten  (S.  139).  Allerdings  aber  gab  es  in 
Jerusalem  eine  pharisäisch  gesinnte  Minorität,  welche  schon  auf  dem  s.  g. 
Apostelkonvente  (bezüglich  dessen  es  zwischen  Gal.  2  und  Act  15  nur 
»angebliche  Differenzen«  S.  131  gibt)  die  bekehrten  Heiden  dem  Gesetze 
unterwürfig  gemacht  sehen  wollten;  aber  grade  diese  Partei  ist  da- 
mals von  den  Uraposteln  und  der  Urgemeinde  zurückgewiesen  worden, 
und  Gal.  2,  3  bedeutet  nur,  daß  man  wenigstens  »in  dem  Special- 
falle mit  Titus«  den  Paulus  gern  nachgiebiger  gesehen  hätte  (vgl. 
S.  132.  185).  Auch  in  Galatien  und  Korinth  haben  diese  Judaisten 
keineswegs  etwa  in  Jerusalem  einen  Kückhalt  besessen  (S.  182.  201), 
und  selbst  von  ihnen  ist  dem  Paulus  niemals  das  Apostelrecht  ab- 
gesprochen worden  (S.  184  f.  202.  217).  Ja  die  Urapostel  sind 
schließlich  selbst  zur  Heidenmission  fortgeschritten,  als  einerseits  der 
Tod  des  Paulus  sie  dazu  nötigte,  andererseits  das  Gottesgericht  der 
Zerstörung  des  Tempels,  »darin  sie  die  göttliche  Weisung  sahen, 
daß  die  Zeit  des  alttestamentlichen  Gesetzes  vorüber  seic  (S.  139), 
»jede  Hoffnung  auf  die  Gesammtbekehrung  Israels  vernichtetet 
(S.  140). 

Wie  schon  hier  Alles  darauf  eingerichtet  ist,  aus  den  Resultaten 
der  Thätigkeit  der  Urapostel  und  des  Paulus  eine  kontinuierliche  Li- 
nie zu  bilden,  so  dient  es  demselben  Zwecke,  wenn  nicht  bloß  das 
Leben  des  Heidenapostels  über  das  erkennbare  und  geschichtlich 
wahrscheinliche  Haß  hinausgeführt  wird,  so  daß  sich  auch  für  die 
Pastoralbriefe  Raum  ergibt  (S.  283/.,  296  f.),  sondern  auch  seiner 
Innern  Entwicklungsfähigkeit  eine  Tragweite  verliehen  wird  (S.  116. 
162  f.  172),  in  Folge  welcher  sein  beweglicher  Gedankengang  sogar 
von  einem  zum  anderen  Gegensatze  fortschreiten  (S.  178.  304.  465) 
und  schließlich  mit  dem  überraschendsten  Selbstentsagungsakte  enden 
konnte.  Nur  wenige  Jahre  hielt  er  sich  auf  der,  erst  im  Kampf  mit 
den  judaischen  Eindringlingen  erreichten  (S.  182),  principiellen  Höhe 
Qud  durchgebildeten  Klarheit ;  schon  die  Epheser-  und  Kolosserbriefe 
weisen  mannigfache  Verschiebungen  auf,  welche  durch  das  Auf-. 


866  Qött.  gel.  ABZ.  1887.  Nr.  28. 

tauchen  neuer  Zielpunkte  der  Polemik  bedingt  sind  (S.  254  f.)«  Kann 
man  darin  zunächst  noch  eine  Bereicherung  des  paulinischen  Geistes 
erkennen,  so  handelt  es  sich  dagegen  in  den  Pastoralbriefen  um  »ein 
Zurücktreten  der  konkreten  Vorstellungswelt,  die  wir  bei  Paulus  ge- 
wohnt sind,  gegen  eine  abstraktere  Ausdrucksweise« ,  um  einen 
»Rückgang  aof  die  bereits  in  den  Qemeinglauben  übergegangenen 
großen  Hauptpunkte«  (S.  305).  Wir  Andern  sehen  in  den  Anhalts- 
punkten, welche  die  Pastoralbriefe  für  ein  solches  Urteil  bieten,  im 
Verein  mit  so  vielen  sonstigen  Zeichen  ihrer  Unechtheit  (manches  der- 
selben »spottet  jedes  Erklärungsversuches«  selbst  bei  Weiß  S.  307) 
einen  Beweis  mehr  für  die,  durch  die  gesamte  nachapostolische  Lit- 
teratur  bestätigte,  Thatsache,  daß  jenes  Heidenchristentum,  welches 
Subjekt  der  werdenden  katholischen  Kirche  geworden  ist,  unfähig 
war,  den  Reichtum  einer  überdies  schon  von  Haus  aus  so  ganz  in- 
dividuell gearteten  Gedankenwelt  wie  die  paulinische  zu  fassen. 
Den  Geist,  den  sie  begriff,  stellt  diese  Christenheit  wie  in  der  Apo- 
stelgeschichte, so  in  den  Pastoralbriefen  dar.  Das  selbst  unserem 
Kritiker  sich  aufdrängende  »Hervortreten  eines  allgemein  religiösen 
Elementes  gegen  das  specifisch-christliche,  das  auf  gewisse,  vielleicht 
schon  fest  formulierte,  Hauptpunkte  reduciert  erscheint«  (S.  305),  ist 
eben  durchaus  der  Geist  des  zweiten  Jahrhunderts.  Die  Behaup- 
tung aber,  der  Apostel  selbst  habe,  je  mehr  er  sein  Ende  heran- 
nahen sah,  darauf  bedacht  sein  müssen,  »seine  Lehre  immer  mehr 
auf  den  gemeinfaßlichsten  Ausdruck  zu  bringen«  (S.  306),  beweist 
nur,  daß  im  Sehfelde  dieses  Gelehrten  der  so  bestimmt  gefärbte 
Strom  des  Paulinismus  nicht  abgegrenzt  erscheint  gegenüber  dem 
Meere,  darin  er  gleich  so  vielen  anderen,  von  Haus  aus  gleichfalls 
eigentümlich  gestaltet  gewesenen,  Zuflüssen  sich  verliert.  So  ver- 
kleidet sich  ihm  der  Wansch,  nichts  von  dem  durch  die  Tradition 
als  paulinisch  gestempelten  Eigentum  aufzugeben,  in  eine  »wach- 
sende Einsicht  in  den  Reichtum  und  die  Beweglichkeit  des  paulini- 
sehen  Geistes«  (S.  314).  Ganz  dieselbe  Art  von  Selbsttäuschung 
kehrt  wieder,  wenn  er  dann,  wie  zwischen  dem  galiläischen  Fischer 
Johannes  und  dem  Apokalyptiker  (S.  359  f.),  so  auch  zwischen  die- 
sem und  dem  Evangelisten  (S.  592  ff.  610)  und  Briefsteller  (S.  460. 
465)  gleichfalls  Verbindungslinien  zieht,  die  statt  des  weiten  Bewußt- 
seins eines  unerhört  gestaltungsreichen  Jahrhunderts  vielmehr  das- 
jenige einer  einzelnen  Persönlichkeit  fHUen  sollen,  weil  einmal  der 
Tradition  es  beliebt  hat,  jene  Schriften  mit  der  gleichen  Etikette  zu 
versehen*  Aehnliches  gilt  auch  von  der  Rolle,  welche  Petrus  bei 
unserem  Verfasser  spielt.  Die  beiden  diesem  zugeschriebenen  Briefe 
fehlen   bekanntlich   noch   im   ältesten  Kanonverzeichnis  (Muratori«- 


Weiß,  Lehrbuch  der  Eiuleituug  in  das  Neue  Testament.  867 

nnm).  Dieses  Faktum  erkennt  Weiß  bezüglich  des  zweiten  Briefes 
ohne  Weiteres  an,  da  ihm  derselbe  zwar  an  sich  weiter  keine 
Schmerzen  bereitet  (S.  446  »der  zweite  Brief  läßt  sich  als  eine 
Schrift  des  Petras  vollkommen  begreifen«),  aber  doch  um  seiner 
späten  Bezeugung  willen  Bedenken  erregt  (S.  447  f ).  Bleibt  es  hier 
bei  einem  baud  liquet,  so  zeigt  sich  unser  Kritiker  um  so  erpichter 
auf  Rettung  des  ersten  Petrusbriefes,  da  mit  dessen  Echtheit  seine 
ganze  Anschauung  von  dem  so  durchaus  erfreulichen  Stande  der 
Dinge  zwischen  beiden  Hauptaposteln  fällt.  Mit  zwei  Ansätzen 
wird  zunächst  die  muratorische  Gegeninstanz  erstürmt  und  yernich- 
tet.  Zuerst  (S.  80)  ist  es  »sehr  wohl  möglich«,  daß  der  Petras- 
brief dennoch  im  Muratorianum  gestanden  habe,  da  ja  dessen  An- 
fang (der  übrigens  bloß  die  beiden  ersten  Evangelien  betrifft)  fehlt; 
unter  Zurückweisung  auf  diese  Stelle  werden  wir  später  (S.  431) 
davon  benachrichtigt,  daß  »er  auch  im  muratorischen  Kanon  ur- 
sprünglich unmöglich  gefehlt  haben  kann«.  Gewiß  ein  sehr  nied- 
liches Vorgehn  und  wenigstens  nicht  so  rauh  gewaltsam,  wie  wenn 
dann  derselbe  Brief,  welcher  fortwährend  seine  Leser  an  ihr  frühe- 
res heidnisches  Leben  erinnert,  im  Widerspruche  mit  nahezu  allen 
Kritikern  und  Exegeten  der  Gegenwart  durchaus  an  Judenchristen 
gerichtet  sein  muß  (S.  424  f.).  Letztere  Procedur  hängt  wieder  da- 
mit zusammen,  daß  der  Brief  im  späteren  Leben  des  Petrus  nicht 
wohl  untergebracht  werden  kann  (S.  434  f.).  Da  er  nun  aber  doch 
nach  Kleinasien  gerichtet  ist,  so  erfährt  die  ganze  Geschichte  des 
apostolischen  Zeitalters  bei  Weiß  eine  folgenreiche  Umbiegung. 
Nicht  Paulus  ist  es,  auf  welchen,  wie  man  bisher  gemeint  hat,  die 
ersten  Gemeindegründungen  in  den  1  Petr.  1 ,  1  genannten  Pro- 
vinzen Kleinasiens  zurückgehn,  sondern  schon  vor  ihm  hat  da-s 
selbst,  wie  schon  zuvor  in  Syrien  und  Cilicien  (S.  119.  134), 
auf  fast  zufällige  Art  von  der  Urgemeinde  aus  » Diasporamis- 
sion« (S.  144)  stattgefunden  (S.  143.  179.  270.  379  f.  427),  woran 
sich  namentlich  Brüder  Jesu  wie  Judas  beteiligten.  (S.  416).  So 
konnte  auch  Petrus  Beziehungen  mit  den  kleinasiatischen  Ge- 
meinden anknüpfen  (S.  421.  433),  und  Paulus  ist  auch  hier  nur  Fort- 
setzer eines  schon  begonnenen  Werkes.  Die  Instanz,  daß  der  galt- 
läische  Fischer,  der  drQcififAatog  xai  IdimTfjg  Act  4,  13  schwerlich 
dazu  gelangt  ist,  das  A.  T.  nach  LXX  zu  eitleren  und  einen  grie- 
chischen Griffel  zu  führen,  wie  er  für  unsre  Briefe  postuliert  wer- 
den muß,  wird  dahin  erledigt,  er  habe  zu  LXX  gegriffen,  gerade 
weil  ihm  bei  mangelnder  rabbinischer  Bildung  der  Urtext  ferner 
lag.  Als  ob  der  Weg  vom  Aramäischen  schneller  zum  Griechischen 
führe,  als  zum  Hebräischen,  Galiläa  aber  ein  zweisprachiges  Land 


868  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  23. 

gewesen  wäre,  wie  etwa  Elsaß-Lothringen  (gegen  letzteren  Aber- 
glaaben  vgl.  Neabaaer  in  der  Oxforder  Stndia  biblica  S.  39  f.). 
Bleibt  immer  noch  die  Haaptschwierigkeit  im  Reste:  die  längst 
und  allgemein  bemerkteo,  den  ersten  Petrasbrief  vom  ersten  bis  zum 
letzten  Vers  durchziehenden,  Reminiscenzen  aas  paalinischen  Briefen, 
die  Anlehnungen  an  paalinische  Lehrsprache  and  Lehrvorstellangen 
—  doppelt  bedenklich,  wenn  doch  »Paulas  sich  allerdings  eine  sehr 
ausgeprägte  Lehrsprache  geschaffen  hatc  (S.  164),  Petrus  dagegen 
»schwerlich  der  Mann  war,  eine  feste  Lebrsprache  anszuprägenc 
(S.  445).  Hier  also  wird  der  Verfasser  zu  dem  Verzweiflungsschritt 
gedrängt,  einmal  die  Parallele  willkttrlich  auf  zwei  Kapitel  des  R<S- 
merbriefs  zu  beschränken,  sodann  aber  eben  darum  wahrscheinlicher 
zu  finden,  Paulas  habe  in  diesen  Kapiteln  ausnahmsweise  sich  in 
den  Geleisen  des  Petras  bewegt  und  dessen  »Kernworte<  sich  ange- 
eignet (S.  243.  27 L  428  f.  432),  was  zwar  »Kritiker  wie  Holtzmannc 
(S.  272)  absurd  nennen  mögen,  aber  doch  von  einem  Recen- 
senten  unseres  Verfassers  schon  vor  30  Jahren  wahrscheinlich  befun- 
den worden  ist  (S.  429).  Selbstverständlich  liegt  mir  der  Versuch 
fern,  den  Verfasser  eines  Bessern  zu  belehren  hinsichtlich  eines  That- 
bestandes,  welcher  jedem  Laien,  der  die  schon  von  de  Wette  ge- 
botene Parallelentafel  überblickt,  sofort  klar  werden  muß  und  hin- 
sichtlich dessen  auch  in  der  That  die  gesamte  Theologie  unserer 
Tage  mit  verschwindenden  Ausnahmen  einig  geworden  ist.  Wer 
die  Anlehnung  des  Hebräerbriefes  (S.  327)  und  des  dritten  Evange- 
liums (S.  555)  an  Paulnsbriefe  nicht  bemerkt,  der  wird  auch  ttber 
die  noch  gehänfteren  Erscheioangen  in  den  Petrasbriefen  hinweg- 
lesen können  und  es  einem  Kritiker  wie  »Holtzmann  in  seiner  über- 
treibenden Weise  €  (S.  595)  überlassen,  solchen  Dingen  weiter  nachzu- 
gehn.  Aber  seinen  Petrus  scheint  er  mir  denn  doch  übertrieben 
weit  in  der  Welt  herumzuftihren,  wenn  er  ihn  nicht  bloß  die  Euphrat- 
länder  besuchen  (S.  433),  sondern  auch  nach  der  anderen  Seite  der 
bekannten  Welt  bis  Korinth  (S.  197.  421),  ja  bis  Rom  reisen  läßt 
(S.  421  f.),  während  man  sonst  doch  zwischen  Babel  und  Rom  nur 
die  Wahl  gestellt  erhält,  je  nachdem  das  Babylon  1  Petr.  5,  13  als 
einfache  geographische  oder  metaphorische  Bezeichnung  aufgefaßt 
wird.  Dazu  nehme  man  die  überaas  dürftige  und  misverständlicbe 
Behandlung  der  Petrussage!  Die  Ueberlieferung  vom  römischen 
Aufenthalte  des  Petrus  soll  (vgl.  S.  422)  noch  im  Brief  des  Clemens 
an  Jakobus  ohne  jede  Beziehung  auf  den  Kampf  mit  dem  Magier 
auftreten  und  erst  später  zur  weiteren  Ausspinnung  des  Clementini- 
sehen  Kanons  benutzt  worden  sein.  »Auch  geht  daneben  noch  in 
der  praedicatio  Petri  die  Vorstellung  her,  daß  die  beiden   Apostel 


Weiß,  Lehrbuch  der  Einleitung  in  das  Neue  Testameut.  869 

erst  iD  Rom  mit  ei  Dander  bekannt  geworden,  und  wie  in  ibr^  «o 
tritt  aucb  in  den  Acta  Petri  et  Pauli  die  Tradition  vom  römisehen 
Aufenthalt  des  Petras  auf,  obne  daß  in  beiden  etwas  von  seinem 
Konflikt  mit  dem  Magier  erwähnt  wird«.  Irreführend  ist  hier  schon 
die  Berufung  auf  die  praedicatio  Petri,  da  die  citierte  Notiz  vielmehr 
in  der  betrefifenden  Stelle  (bei  Pseudo-Gyprian,  de  rebapt.  17)  auf 
die  praedicatio  Pauli  zurückweist;  höchstens  kann  es  sich  also  um 
eine  praedicatio  Petri  et  Pauli  handeln.  So  nämlich  laatete  nach  der 
Vermutung  Einiger,  namentlich  Hilgenfelds,  der  Titel  einer  Schrift 
aus  der  Mitte  des  2.  Jahrhunderts.  Da  aber  behufs  ihrer  Rekon- 
struktion nur  etwa  ein  Dutzend  Fragmente  mit  Sicherheit  zu  Gebote 
stehn,  von  welchen  keines  mehr  den  Titel  praedicatio  bietet,  so  ist 
Yon  vornherein  mislich,  zu  behaupten,  die  Kämpfe  mit  dem  Magier 
seien  in  der  praedicatio  Petri  zu  finden  oder  nicht  zu  finden  ge- 
wesen; Hilgenfeld  z.  B.  hat,  je  nachdem  seine  sonstigen  Anschau- 
ungen es  bedingten,  bald  die  eine,  bald  die  andere  Möglichkeit  ver- 
treten. Habe  die  betreffende  Schrift  nun  aber  diesen  oder  jenen 
Titel  geführt ,  darf  die  von  Pseudocyprian  als  praedicatio  Pauli  ci- 
tierte Stelle  der  schon  dem  Herakleon,  dann  den  Alexandrinern  be- 
kannten Schrift  praedicatio  Petri  zugeschlagen  werden  oder  nicht 
(letzteres  behauptet  z.  B.  A.  Harnack),  auf  Orund  der  vorhandenen 
Keste  muß  man  ihr  sicher  mit  Lipsius,  Harnack  u.  A.  einen  katholi- 
Bchen  Charakter  und  nächste  Verwandtschaft  mit  den  gleichzeitigen 
und  ebenfalls  katholisch  gerichteten  Acta  Petri  et  Pauli  zuschreiben. 
In  derjenigen  späteren  Redaktion  dieses  Schriftstücks,  die  wir  noch 
besitzen,  bildet  nun  aber  der  Kampf  des  Petrus  und  des  Paulus  ge- 
rade den  Kern  und  Grundstock  der  ganzen  Darstellung;  man  müßte 
erst  zwei  Dritteile  der  Erzählung  und  eben  damit  die  ganze  Moti- 
vierung des  Märtyrertodes  beider  Apostel  für  spätere  Interpolation 
erklären,  um  die  Behauptung  von  Weiß  überhaupt  begreiflich  zu  fin- 
den; so  wie  sie  dasteht,  ist  sie  einfach  haltlos.  Falsch  ist  es  aucb, 
wenn  nicht  bloß  Andreas  von  Gäsarea  in  Kappodocien  (wofür  S«  626 
Kreta  steht,  wie  S.  149  Rom  für  Athen),  sondern  auch  sein  späterer 
Nachfolger  Arethas  in  das  5.  Jahrhundert  verlegt  worden  (S.  40  und 
99,  oder  wenn  Lucas  erst  seit  Nicephorns  zum  Maler  geworden  sein 
soll  (S.  554).  Auch  darf  heute  Ambrosiaster  nicht  mehr  mit  dem 
Diakonns  Hilarius  identificiert  werden  (S.  626).  Mit  den  Namen 
sollten  wir  Alle  es  genauer  nehmen;  der  Verfasser  schreibt  einmal 
(S.  467)  Planckf  sonst  aber  stets  PlanJc;  durchgängig  auch  Wä^ 
stein^  Zacagni,  Binky  Herzberg^  Lcmann,  Koenen  und  citiert  Nier^ 
may  er  over  de  echthied  (S.  615)  statt  Niermeyer  over  de  echtheid. 
Ifaier  in  Freiburg  heißt  Adalbert,  nicht  Adolf  (S.  334).    Amiantinue 


870  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  23. 

wird  Dnickfebler  sein  (S.  633).  UebrigeDS  sind  in  dem  angemeio 
korrekt  gedrackten  Bache  solcherlei  Versehen  selten.  Doch  schreibe 
S.  7,  3.  Ausg.  182^  statt  1H20,  S.  279  Jahrb.  1812  staU  1872, 
S.  323  Stein  (1833.  S8)  statt  (1833.  34) j  S.  575  angedeutet,  S.  586 
Kanetyog,  S.  632  Theol.  1868—83. 

Straßburg  i.  E.  H.  Holtzmann. 


Deutsche  Beichstagsakten.  Vierter  und  fünfter  Band.  [Deutsche  Reicbs- 
tagsakten  unter  König  Ruprecht.  Erste  Abteilung  1400—1401.  Zweite  Ab- 
teilung 1401—1405.  Herausgegeben  von  Julius  Weizsäcker].  Auf 
Veranlassung  Seiner  Majestät  des  Königs  von  Bayern  herausgegeben  durch 
die  historische  Kommission  bei  der  Königlichen  Akademie  der  Wissenschaf- 
ten. Gotha,  Friedrich  Andreas  Perthes  1882  und  1885.  XKIII  und  531, 
IV  und  853  Seiten.    4^ 

Mit  dem  4.  Bande  treten  die  Deutschen  Reichstagsakten  in  die 
Zeit  der  Regierung  Ruprechts  ein,  welcher  3  Bände  bestimmt  sind. 
Diesem  1882  erschienenen  nur  die  beiden  Jahre  1400 — 1401  behan- 
delnden Bande  ist  1885  der  zweite  ans  Ruprechts  Zeit,  der  fünfte 
der  ganzen  Reihe,  gefolgt,  der  die  Zeit  von  1401—1405  amfaftt 
Der  Herausgeber  ist,  wie  früher,  Julius  Weizsäcker,  neben 
dem  jedoch  Ernst  Bernheim  »einen  großen  und  selbständigen 
Anteil«  an  der  Bearbeitung  des  vierten  Bandes  hat,  in  Folge  dessen 
die  Einleitungen  zu  den  einzelnen  Tagen  von  dem  jeweiligen  Bear- 
beiter oder  auch  von  beiden  gemeinsam  unterzeichnet  sind.  Dieser 
Band  umfaßt  die  stattliche  Anzahl  von  414  Nummern,  von  denen 
bisher  111  gänzlich  unbekannt,  79  nur  durch  Regest  oder  gelegent- 
liche kurze  Erwähnungen  bekannt  waren. 

Zu  den  Bearbeitern  des  vierten  Bandes  tritt  mit  dem  fünften 
noch  Ludwig  Quidde  hinzu ,  der  ebenso  wie  Bemheim  yon 
Weizsäcker  als  gleichberechtigter  und  gleichverantwortlicher  (xenosse 
vorgestellt  wird;  und  die  Verantwortlichkeit,  welche  alle  drei  in 
gleicher  Weise  trifft,  scheint  auch  schon  äußerlich  dadurch  ang^en- 
tet  zu  sein,  daß  in  diesem  Bande  die  Einleitungen  zu  den  einzelnen 
Tagen  von  keinem  der  Bearbeiter  unterzeichnet  sind.  Dieser  fünfte 
Band  umfaßt  499  Nummern;  unter  ihnen  233  völlig  unbekannt,  89 
noch  bisher  nicht  gedruckt. 

Die  Wahl  Ruprechts,  untrennbar  von  der  Absetzung  Wenzeb^ 
ist  mit  den  auf  sie  unmittelbar  bezüglichen  Aktenstücken  schon  im 
dritten  Bande  der  R.  T.  A.  behandelt.  Dort  findet  sich  ein  Brief 
Ruprechts  vom  9.  November  1400  (Nr.  223),  in  welchem  er  Boni- 
faz  IX.  seinen  am  26.  Oktober  erfolgten  Einzug  in  Frankfurt  mei* 


Deutsche  Reichstagsakten.    Vierter  und  fünfter  Baud.  871 

det  nnd  mögliebst  bald  eine  feierliche  Gesandtschaft  zu  senden  ver- 
spricht. Diese  Gesandtschaft  wird  im  December  nach  dem  Tage  zu 
Mainz  abgeordnet,  und  mit  den  anf  sie  bezüglichen  StUcken  beginnt 
der  vierte  Band;  die  weiteren  hieran  sich  anschließenden  Verband- 
langen  mit  der  Kurie  bis  zur  erfolgten  Approbation  im  Jahre  1403 
werden  hier  unmittelbar  angeftigt. 

Die  Gesandten,  die  der  König  im  December  1400  sofort,  wie 
erwähnt,  nach  dem  Tage  zu  Mainz  bevollmächtigt  zum  Papste  zu 
gehn ,  sind  der  Bischof  Konrad  v.  Verden,  der  Graf  Joflfrid  v.  Lei- 
ningen,  Domherr  und  Thesaurarias  zu  Köln,  und  der  Probst  Her- 
mann Rode.  Der  Zweck  der  Gesandtschaft  wird  in  dem  Voll- 
machtsschreiben vom  14.  December  1400  (Nr.  1)  nan  ;klar  bezeich- 
net, nicht  mehr  wie  früher  nur  leise  angedeutet:  es  ist  die  Forde- 
rung der  Approbation  der  Person  Ruprechts  und  die  Zusage  der 
Kaiserkrone  für  ihn.  Von  den  3  zu  dieser  Gesandtschaft  gehören- 
den Stucken  war  nur  eins  unbekannt,  nämlich  das  Geleit,  das  Boni- 
faz  am  8.  Februar  1401  den  drei  Gesandten  nach  Rom  hin  aus- 
stellt (Nr.  2);  aber  aus  ihm  ergibt  sich  die  Möglichkeit,  zumal  auch 
des  Bischofs  Rede  vor  dem  Papst  undatiert  ist  (Nr.  3),  den  Ver- 
bandlungen dieser  ersten  Gesandtschaft  einen  festen  Platz  zuzuwei- 
sen. Zu  persönlichen  Verhandlungen  mit  dem  König  bevollmächtigt 
nun  der  Papst  einen  Gesandten,  Antonius  von  Monte  Gatino,  der 
mit  Ruprechts  Gesandten  zusammen  nach  Deutschland  geht  Seine 
zum  Teil  schon  früher  aus  Raynaldus,  ann.  eccles.  bekannte,  hier 
ganz  mitgeteilte  Instruktion  (Nr.  5)  gibt  ganz  ausführlich  die  For- 
derungen des  Papstes;  außerdem  führt  er  den  ersten  Approbations- 
entwnrf  mit  sich  (Nr.  6),  der  uns  in  einem  bisher  nicht  bekannten 
Schreiben  eines  Unbekannten  an  den  Beichtiger  Wenzels  erhalten 
ist  Bezüglich  der  päpstlichen  Instruktion  sei  mir  hier  die  kurze 
Bemerkung  gestattet,  daß  man  doch  ungleich  mehr,  als  bisher  ge- 
schehen, für  die  Beurteilung  der  päpstlichen  Politik  durch  eine 
scharfe  Interpretation  gewinnen  kann,  wenn  man  sich  eben  nicht, 
wie  es  z.  B.  Höfler,  Ruprecht  von  der  Pfalz  p.  230  gethan,  einfach 
Aber  die  Schwierigkeiten  hinwegsetzt.  —  Der  päpstliche  Gesandte 
kehrt  schon  im  Mai  1401  wieder  nach  Rom  zurück;  als  königlicher 
Gesandter  folgt  ihm  im  Juli  1401  der  Protonotar  Albert  nach  Rom. 
In  der  Einleitung  zu  dieser  Gesandtschaft  ist  es  dem  Herausgeber 
auffällig  gewesen,  daß  wir  für  diesen  Gesandten  zwei  Kredenzen 
haben,  vom  20.  Juli  (Nr.  10)  und  vom  16.  August  (Nr.  14) ;  an  zwei 
verschiedene  Gesandtschaften  desselben  sei  nicht  zu  denken  wegen 
des  kurzen  Zeitraumes  zwischen  beiden  Daten;  gleichwohl  sei  in 
der  Kredenz  vom  16.  August  davon  die  Rede,  daß  Albert  »pridem« 


872  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  23. 

an  den  Papst  geschickt  sei  »cum  qnadam  litera  credencialic  and 
2war  »de  et  super  qaibnsdam  certis  ponctis  dicte  sanctitati  v^tre 
ex  parte  nostra  referendis«,  dann  wieder  zarOckgekommen  sei  und 
wegen  nener  inzwischen  anfgelanfener  Dinge  neae  Informationen  er- 
halten habe.  Der  Herausgeber  spricht  nun  die  Vermutung  ans,  daß, 
da  für  eine  ältere  Sendung  kein  Raum  vorhanden  sei,  Albert  seine 
Reise  angetreten  habe  cum  credenciali  Nr.  10,  dafi  er  aber  unter- 
wegs umkehrte  sich  neue  Instruktionen  zu  holen,  die  wohl  nnr 
mündlich  erfolgten  {de  eisdem  nosiris  Uteris  plenius  informato).  Von 
diesen  Erörterungen  ist  richtig,  daß  zwei  Gesandtschaften  Alberts 
nicht  möglich  sind;  die  übrigen  Annahmen  sind  nicht  haltbar,  weil 
sie  auf  einer  nicht  ganz  richtigen  Interpretation  des  Briefes,  den 
Ruprecht  am  16.  August  an  Bonifaz  richtet,  beruhen,  recessus  kann 
hier  unmöglich,  wie  der  Herausgeber  will,  Rückkehr  bedeuten,  son- 
dern muß  hier  notwendig  Fortgang,  Abreise  sein,  wodurch  anch  das 
dem  Heransgeber  auffällige  pridem  klar  gestellt  wird.  In  dem 
Satze  »que  dicto  magistro  Alberto  de  eisdem  nostris  uteris  plenios 
informato  commissimus  dicte  sanctitati  vestre  clarius  declarandomc 
hat  der  Herausgeber  de  eisdem  nostris  Uteris  als  einen  zosammen- 
gehörigen  Begriff  aufgefaßt,  während  von  de  nur  eisdem  abhängig 
ist,  wozu  aus  dem  vorhergehenden  aliqua  sanctitati  vestre  inümanda 
ein  Substantiv  zu  ergänzen  ist;  Uteris  nostris  ist  von  informato  ab- 
hängig und  bedeutet  »einfach  brieflich  benachrichtigt«.  Die  Saehe  stellt 
sich  vielmehr  so  dar,  daß  Albert  im  Juli  direkt  nach  Rom  abgereist 
ist  und  daß  er  über  das,  was  nach  seiner  Abreise  (post  recessum 
dicti  Älberti)  dem  König  an  wichtigen  Dingen  aufgelaufen,  durch 
Ruprecht  brieflich  genau  unterrichtet  ist,  nm  es  dem  Papst  mitzu- 
teilen. 

Mit  dieser  Gesandtschaft  Alberts  kreuzt  sich  eine  päpstliche, 
die  einen  Approbationsentwurf  mit  sich  brachte;  eine  Folge  dieser 
letzteren  ist  dann  im  Oktober  1401  die  Entsendung  des  Bischofr 
Konrad  v.  Verden  und  des  Protonotars  Nikolaus  Buman ,  denen  in 
Rom  wiederum  ein  Approbationsentwurf  vorgelegt  wird  (Nr.  21),  in 
welchem  der  Papst  schärfer  wie  zuvor  seine  Gewalt  betont  Niko- 
laus Buman  kehrt  mit  dem  vom  Papste  bevollmächtigten  Franciscus 
von  Montepnlciano  zu  Ruprecht  im  December  zurück,  während  Kon- 
rad in  Rom  bleibt  und  hier  durch  sein  üppiges  Leben  Aufseben  er- 
regt; »era  cestui  un  ricchissimo  prelato,  et  molto  riccamente  vi 
stava«  sagt  Jacopo  Salviati  von  ihm.  Der  päpstliche  Gesandte 
bleibt  bis  in  den  Januar  beim  König  (Nr.  40)  und  geht  dann  nach 
Rom  zurück.  Mit  ihm  sollten  eigentlich  von  Seiten  des  Königs  Phi- 
lipp von  Falkenstein  und  Nikolaus  Buman  gehn  (Nr.  28—38),  aber 


Deutsche  Reichstagsftkten.    Vierter  and  f&nfter  Band.  d7d 

ea  blieb  bei  dem  Vorsatz,  denn  die  sieh  immer  angUnstiger  gestal- 
tenden Verhältnisse  —  daß  es  nicht,  wie  der  Herausgeber  will,  we- 
gen sich  eröffnender  neuer  Aussichten  geschah,  darüber  vgl.  R.  T. 
A.  V.,  Nr.  73  ff.  100  —  ließen  den  König  den  Entschluß  fassen  Ita- 
lien zu  verlassen  und  nach  Deutschland  zurückzukehren,  wie  er  an 
Eonrad  v.  Verden  am  8.  Januar  1402  schreibt  Aber  die  Dinge  än- 
derten sich  schnell;  Ruprecht  will  wieder  in  Italien  bleiben  und 
sendet  die  zuletzt  erwähnten  Gesandten  Ende  Januar  1402  nach 
Rom  ab.  Bis  Ende  März  bleiben  dieselben  dort  und  überbringen 
dann  des  Papstes  Bescheid  an  Ruprecht,  der  sich  aber  nun  doch 
seiner  ganzen  Verhältnisse  wegen  gezwungen  sieht,  Italien  zu  ver- 
lassen. Konrad  v.  Verden  bleibt  als  ständiger  Gesandter  in  Rom. 
Ueber  die  nun  folgenden  Verhandlungen  erfahren  wir  leider  nichts; 
das  einzige,  was  uns  erhalten  aus  dieser  Zeit,  sind  einige  florentini- 
sche  Oesandtschaftsberichte  aus  den  letzten  Monaten  von  Konrads 
Aufenthalt  (Nr.  77^—77^).  Konrad  verläßt  erst  im  Oktober  1402 
Rom;  seine  Verwendung  als  Gesandter  bei  der  Kurie  hat  hiermit 
ihr  Ende  erreicht.  Im  folgenden  Jahre  sendet  Ruprecht  auf  die  ihm 
durch  Konrad  gemachten  Eröffnungen  den  Bischof  Raban  v.  Speier 
und  Matthäus  v.  Chrochow  nach  Rom  (Nr.  81—111)  cf.  R.  T.  A.  V. 
p.  357  ff,  und  nach  längeren  Verhandlungen  kommen  sie  endlich  zum 
Ziele;  sie  leisten  im  Namen  des  Königs  am  1.  Oktober  1403  den 
vom  Papst  verlangten  Eid  und  erhalten  die  Approbationsbulle  für 
Ruprecht. 

In  kurzen  Zügen  ist  dies  der  äußere  Verlauf  der  Verhandlungen 
mit  der  Kurie,  wie  sie  sich  aus  den  in  diesem  Bande  mitgeteilten 
Stücken  ergeben.  Zweifelsohne  ist  dieser  den  Approbationsverhand- 
lungen mit  der  Kurie  gewidmete  Teil  der  am  meisten  Interesse  er- 
weckende des  vierten  Bandes.  Von  den  120  hierhin  gehörenden 
Stücken  war  ein  sehr  großer  Teil  schon  anderweitig  bekannt;  was 
aber  für  die  Erkenntnis  der  päpstlichen  Politik  nach  dem  Thron- 
wechsel in  Deutschland  trotzdem  von  Weizsäcker  geleistet  ist,  das 
wird  jeder  dankbar  anerkennen,  der  Gelegenheit  hat  sich  mit  diesen 
Dingen  zu  beschäftigen  und  ohne  die  R.  T.  A.  sich  auf  ältere  Publi- 
kationen angewiesen  sehen  würde.  Ein  Vergleich  z.B.  mit  Janssen, 
Frankfurts  Reichskorrespondenz,  der  im  ersten  Bande  zum  großen  Teil 
dasselbe  Material  beibringt,  läßt  das  Gesagte  klar  jam  den  Tag  treten. 

Bei  den  päpstlichen  Gesandtschaften  habe  ich  verschiedene 
Approbationsentwürfe  angeführt;  der  erste  bisher  noch  nicht  be- 
kannte ist,  wie  schon  oben  erwähnt,  in  einem  undatierten  Schreiben 
eines  Ungenannten  an   den  Beichtiger  Wenzels  erhalten   und  kann 

aotl.  «d.  Au.  1887.  Hr.  88.  60 


874  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  23. 

wegen  der  Id  demselben  erwähnten  Gesandtschaft  des  Äntonins  de 
Monte  Gatino  nur  in  die  Zeit  um  den  25.  März  1401  gesetzt  wer- 
den. Die  übrigen  drei  Approbationsentwttrfe,  wie  die  Balle  selbst, 
waren  bekannt,  aber  man  sah  in  den  Entwürfen  nnr  verschiedene 
Drucke  der  Bulle  und  in  den  sich  findenden  Abweichungen  Fehler, 
die  sich  eingeschlichen.  Es  ist  nun  das  Verdienst  Weizsäckers  nach- 
gewiesen zu  haben,  daß  das  Verhältnis  nicht  das  erwähnte  ist,  son- 
dern daß  jede  von  den  uns  bekannten  Formen  ein  von  Seiten  der 
Kurie  vorgelegter  Entwurf  ist*,  deren  jeder  einen  neuen  Standpunkt 
der  kurialen  Politik  bedeutet.  Es  ist  diese  Errungenschaft  von  der 
größten  Wichtigkeit  für  die  Beurteilung  und  Darstellung  der  Politik 
Bonifaz  IX.  Femer  haben  die  schon  Janssen  bekannten,  aber  von 
ihm  nicht  verwerteten,  im  Pfalz.  Eop.  B.  durehstrichenen,  Stücke 
(Nr.  28—30)  durch  die  Aufnahme  den  ihnen  gebührenden  Platz  er- 
halten« —  Unter  Nr.  62  und  111  sind  aus  der  von  Ildefonso  di 
San  Liugi  in  »Delizie  degli  eruditi  Toscani  XVIII.c  veröffentlichten 
»Gronica  o  memorie  di  Jacopo  Salviati  dair  anno  1398  al  1411« 
die  auT  diese  Jahre  bezüglichen  Aufzeichnungen  wieder  abgedrnckt 
Ergänzend  möchte  ich  hier  bemerken,  daß  mit  Unrecht  Höfler,  Ba- 
precht  p.  267,  das  Verdienst  für  sich  in  Anspruch  nimmt  Salviatis 
Ghronik  für  Ruprecht  zuerst  herangezogen  zu  haben,  und  mit  Un- 
recht Janssen  I,  p.  662  nt.  ihm  dies  zugesteht;  denn  schon  Sis- 
mondi,  Histoire  des  r^publiqnes  italiennes  du  moyen  &ge,  hat  für 
diese  Zeit,  speciell  für  Ruprecht,  Salviati  benutzt.  —  Als  Datiernngs- 
ort  für  Nr.  46  ist  Rom  angenommen,  während  aus  Nr.  46*  unzwei- 
felhaft hervorgeht,  daß  es  nur  Venedig  sein  kann.  —  Das  Nr.  45 
mitgeteilte  Gutachten  des  Franz  v.  Garrara  und  der  florentinischen 
Gesandten  kann  ebenfalls  unmöglich  in  Rom  ausgestellt  sein;  ftr 
Rom  wird  ebenso,  wie  in  Nr.  46%  Venedig  zu  setzen  sein.  —  In 
nt.  2  zu  Nr.  45  werden  Jacopo  Salviati  und  Bartolomeo  Popoleschi 
als  die  in  Frage  kommenden  Gesandten  angeftihrt;  gemeint  können 
aber  nur  Bnonaccorso  Pitti,  der  am  20.  Februar  wieder  nach  Flo- 
renz gieng,  und  die  mit  ihm  beim  Könige  befindlichen  Gesandten 
sein.  —  Nr.  103  ist  der  Eid,  den  die  Gesandten  bei  der  Approba- 
tion leisten  mußten,  mitgeteilt.  Daß  derselbe  auf  den  1.  Oktober 
1403  thatsächlich  fällt,  wie  in  nt.  2  als  wahrscheinlich  hingestellt 
wird,  folgt  aus  dem  Briefe  des  Bischofs  Raban  v.  Speier  und  Matthäus 
V.  Chrochow  vom  1.  Oktober  1403  (Nr.  106),  wo  es  heißt:  >and 
haben  (sc.  „uf  hude'')  im  zu  stunde  von  uwern  wegen  gesworn 
offenlich  den  eide  nach  innehält  canonis  „tibi  domino"«. 

An  diesen  unzweifelhaft  anziehendsten  Teil   des  vierten  Bandes 


Deutsche  Reichstagsakten.    Vierter  und  fünfter  Band.  875 

BohlieBen  sich  Stücke  über  das  Verhalten  der  Städte  anmittelbar 
nach  der  Tbronveränderang  (Nr.  112—132).  Am  13.  September  1400 
findet  eine  Beratung  der  fränkischen  Städte  Rotbenbarg,  Schwein- 
fnrt,  Windsheim,  Weißenburg  statt  (Nr.  122—123).  In  demselben 
Monate  versammeln  sieb  anch  die  Bodensee-  and  schwäbischen  Städte, 
um  gegenüber  den  Veränderangen  im  Reiche  Stellang  za  nehmen; 
Yersammlaugsort  war  Eonstanz,  wo  auch  Gesandte  Raprechts  and 
Wenzels  erschienen.  Als  Datnm  wird  in  den  drei  aaf  diese  Zasam- 
menkunft  bezüglichen  Stücken  (Nr.  124 — 126)  jedesmal  ein  anderer 
Tag  angegeben,  der  19.,  21.  and  14.'  September.  Der  Widersprach 
in  den  Datierangen  in  Nr.  124  and  125  erklärt  sieb  leicht;  anders 
jedoch  ist  es  mit  der  Angabe  in  dem  Schreiben  des  Rates  von  Rot- 
weil an  Straßbarg  (Nr.  126),  in  welchem  der  14.  September  als  Tag 
der  Versammlang  angegeben  wird.  In  den  R.  T.  A.  wird  die  Frage, 
wie  es  sich  mit  der  Datierang  verhalte,  offen  gelassen  (p.  138  nt.  1) ; 
tbatsächlich  aber  scheint  der  Heraasgeber  sich  mehr  dem  14.  Sep- 
tember zazaneigen.  Den  Anfang  der  Versammlang  schon  aaf  diesen 
Termin  anzasetzen  scheint  mir  nicht  richtig;  die  ganze  Erklärang 
bierfür  ist  sehr  gezwangen.  Wahrscheinlich  ist  es,  wie  ich  meine, 
daß  dem  Schreiber   ein  Versehen   anterlaafen   ist,   daß    er  nämlich 

schrieb  »das  Anser  aidgenossen  der  stett  erbern  hotten  amb  den  Bo- 
densew  bi  enander  gewesen  sind  af  nehsten  zinstag  nach  dnser 
frowen  tag  nativitatis«,  während  er  dafür  schreiben  wollte  »af  neh- 
sten zinstag  nach  exaltationis  cracis«;  so  wäre  der  Widersprach 
zwischen  Nr.  125  and  126  gehoben. 

Mit  Frankfart  and  Mainz  tritt  Ruprecht  nach  seiner  Wahl  za- 
nächst  in  Unterhandlangen  (Nr.  112 — 114);  in  einer  Unterredang  za 
Alzei,  bei  der  es  sich  zunächst  am  Unterstützang  in  einer  Unterneh- 
mang  gegen  Altenwolfstein  handelte,  wurde  mit  beiden  Städten  auch 
über  ihre  Stellung  zu  den  Veränderangen  im  Reiche  verhandelt  (vgl. 
Nr.  118  »und  naich  den  reden  als  uwer  and  unser  frunde  zu  Alczei  gebort 
bant  sich  zu  nndersprechen  und  zu  ratslagen  waz  den  steten  in  den 
Sachen  zu  dun  und  vorczukeren  sij«).  Der  nächste  Schritt,  den  die 
rheinischen  Städte  unternehmen,  ist  ein  Tag  zu  Mainz  am  8.  Sep- 
tember (Nr.  115  ff.),  zu  welchem  unzweifelhaft  das  Nr.  120  mitge- 
teilte Gutachten  gehört,  das  »etliche  wise  gelerte  große  phaffen« 
den  Städten  über  die  von  ihnen  einzunehmende  Stellung  gegeben. 

Es  folgt  der  Tag  in  Frankfurt.  Frankfurt  erkennt  Ruprecht 
noch  nicht  an;  es  verlangt,  daß  er,  wie  »von  aldir  gewest  sie  6 
Wochen  und  3  Tage  vor  der  Stadt  lagern  solle.  In  der  Einleitung 
^u   diesem  Tage   findet  sich   eine  dankenswerte  Zusaromenstellang 

60* 


676  Oött.  gel.  Änz.  1887.  Nr.  23. 

dessoD,  was  sich  zn  der  Frage,  wie  es  sieb  mit  diesem  Lager  von 
6  Wochen  and  3  Tagen  verhält,  beibringen  ließ,  [[nzwischen  bat 
diese  Frage  eine  genane  Erörterung  gefanden  in  der  Arbeit  von 
Karl  Scbellhaß,  das  KOnigslager  vor  Aachen  und  Frankfurt  in  sei- 
ner rechtsgeschichtlichen  Bedeatang.  Berlin  1887].  Die  aaf  das 
Lager  bezüglichen  Nachrichten,  die  Unterhandlangen  Roprecbts  mit 
der  Stadt  ihn  hereinzalassen,  die  Vermittlungsversache  der  im  An- 
fang des  Oktober  znm  König  Übergetretenen  Städte  (Nr.  157,  158) 
Köln,  Worms,  Mainz  nnd  Speier,  die  Nachrichten  ttber  den  Einzag 
selbst  nnd  ttber  die  nach  demselben  erfolgenden  Absagen  Frankfurts 
nnd  anderer  Städte  an  Wenzel,  die  während  des  Lagers  erfolgenden 
Anerkennungen :  sie  alle  sind  hier  bei  dem  Tage  von  Frankfurt  unter- 
gebracht (Nr.  133 — 161).  Die  Mitteilung  der  Kosten  Frankfurts,  die 
über  die  Feierlichkeiten  bei  Anwesenheit  des  Königs  Aufschluß  ge- 
ben (Nr.  174),  und  die  minder  wichtigen  Augsburgs  besehließen  den 
Tag.  Unter  allen  zu  dem  Tage  von  Frankfurt  mitgeteilten  StQckeo 
finden  sich  nicht  viele,  die  nicht  schon  bekannt  waren,  und  gerade 
die  wichtigsten  waren  schon  gedruckt;  nicht  bekannt  war  bisher 
zum  größten  Teil  der  zu  diesem  Tage  mitgeteilte  städtische  Brief- 
wechsel (Nr.  162—172). 

Der  Tag  zu  Mainz  im  December  1400,  die  Krönung  in  Köln 
im  Januar  1401,  die  beiden  Tage  zu  Nürnberg  im  Febroar-Män 
nnd  Mai  1401  und  zu  Mainz  29.  Juni  —  5.  Juli  (?)  1401  bilden 
den  ttbrigen  Inhalt  des  Bandes.  Der  Tag  zu  Mainz  im  December 
1400  bildet  die  Vorbereitung  zum  Krönungstage  in  Köln  (Nr.  176 
179);  auf  ihm  werden  die  Reichsstände,  die  dem  König  noch  nicht 
gehuldigt  hatten,  sowohl  deutsche,  wie  italienische  aufgefordert  das 
bisher  Versäumte  nachzuholen.  Auch  die  Schritte  dem  Papst  gegen- 
ttber  sind  hier  jedenfalls  erörtert  worden.  Zu  der  Werbung  an  die 
lombardischen  Herren  nnd  Städte  (Nr.  188),  die  hier  richtiger  wie 
bei  Janssen  I.  p.  550  in  die  Zeit  December  bis  Anfang  Januar  ge- 
rttckt  ist,  ist  unzweifelhaft  richtig  das  Verzeichnis  (Nr.  189)  von 
Reichsständen  und  auswärtigen  Mächten,  die  zu  Ruprecht  halten, 
gesetzt  worden,  und  dafür,  daß  sich  hierin  schon  Namen  von  solchen 
finden,  die  noch  nicht  zu  dieser  Zeit  gehuldigt  hatten,  wird  die 
naheliegende  Erklärung  gegeben.  Urkunden,  Ruprechts  Anerkennung 
in  Deutschland  und  Italien  betreflfend,  sowie  die  städtischen  Kosten 
beschließen  den  Tag.  Bei  dem  Krönungstage  in  Köln  ist  von  be- 
sonderem Interesse  der  allerdings  schon  aus  den  Städtechroniken  be- 
kannte Krönungsbericht  (Nr.  205),  in  welchem  genau  ttber  die  beiden 
Einritte  des  Königs  am  5.  und  7.  Januar  1401   und  ttber  die  städti- 


Dentsche  Reichstagsakten.    Vierter  und  fünfter  Band.  877 

sehen  Festlichkeiten  berichtet  wird.  Im  Ansohlnft  an  den  ErSnangs- 
tag  werden  Formeln  des  Huldignngseides  mitgeteilt  (Nr.  221— 229)| 
die  mit  Ausnahme  von  Nr.  221  (Holdigangseid  des  Erzbiscbofs  von 
Köln)  jedoch  anderen  Zeiten  angehören ;  die  Belohn angen  der  drei 
geistlichen  Eurfttrsten,  Verhandinngen  mit  den  Oestreiohern,  Meißen 
nnd  Hessen  haben  hier  ihre  Stellang  gefanden.  Aaf  dem  Tage  za 
EOln  machen  sich  ferner  französische  Einflüsse  bemerkbar.  Schon 
aaf  dem  Tage  za  Mainz  waren  Anerbietungen  Frankreichs  hervor- 
getreten (Nr.  180) ;  aach  aaf  dem  Erönangstage  war  eine  französi- 
sche Qesandtscbafl  anwesend,  wie  aus  Ruprechts  Anweisung  fttr  sei- 
nen Sekretär  Meister  Albrecht,  Pfarrer  za  St.  Sobald  in  Nürnberg, 
vom  6.  Mai  1401  (Nr.  296)  —  R.  T.  A.  IV,  p.  234  wird  fälschlich 
auf  Nr.  293  hingewiesen  —  sich  ergibt.  Ueber  dieselbe  erfahren 
wir  aus  den  mitgeteilten  Stücken  nichts;  ihr  Erfolg  war  allerdings, 
wie  wir  sonst  wissen,  in  Eöln  nicht  der  gewünschte,  und  auf  dem 
späteren  Tage  zu  Nürnberg  im  Mai  1401  wird  die  von  Frankreich 
gewünschte  Vermittlerrolle  zwischen  Ruprecht  nnd  Wenzel  definitiv 
zurückgewiesen. 

Auf  dem  ersten  Tage  zu  Nürnberg  im  Februar  und  März  1401, 
zu  dem  die  auf  das  Verhältnis  Nürnbergs  zu  Ruprecht  bezüglichen, 
zum  großen  Teil  allerdings  einer  früheren  Zeit  angehörenden  Stücke 
(Nr.  243—253)  gestellt  sind,  treten  die  Beziehungen  zu  Italien  und 
besonders  zu  Martin  v.  Aragonien  (Nr.  264 — 268)  in  den  Vorder- 
grund. Ueber  das  Verhältnis  zu  Aachen  und  zu  Wenzel  werden  die 
vorhandenen  Nachrichten  mitgeteilt;  auch  die  Verhandlungen  über 
den  Mord  Friedrichs  von  Braunschweig,  der  schon  im  December 
1400  in  Mainz  (Nr.  190)  verhandelt  war,  treten  wieder  in  den 
Vordergrund  (Nr.  269 — 280),  aber  erledigt  wird  diese  schwierige 
Angelegenheit  nicht,  ebenso  wenig,  wie  es  auf  dem  Tage  zu  Nürn- 
berg im  Mai  1401  nnd  nach  demselben,  als  der  Romzug  schon  be- 
schlossen, dem  Eönige  gelang  eine  Versöhnung  der  Parteien  herbei- 
zuführen (Nr.  327—335). 

Der  in  den  Verhandlungen  mit  dem  Papste  so  oft  diskutierte 
Romzug  wurde  nun  von  dem  Eönig  definitiv  beschlossen,  nnd  auf 
dem  im  Mai  folgenden  Tage  zu  Nürnberg  wurde  eine  allgemeine 
Bekanntmachung  wegen  des  Zuges  erlassen  (Nr.  287);  die  bei  die- 
sem Tage  befindlichen  Verhandlungen  mit  Oesterreioh  (Nr.  288—290), 
den  Schweizern  (Nr.  292—293),  den  italienischen  Städten  und  Her- 
ren (Nr.  301—314),  mit  Aragonien  und  Sicilien  (Nr.  315—318),  sie 
alle  drehen  sich  besonders  um  diesen  einen  Punkt,  der  jetzt  der 
wichtigste  ist,  um  den  Zug  über  die  Alpen.    Interessant  ist  es  zu 


878  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  23. 

beobachten,  wie  yerschieden  das  Verhalten  Venedigs  und  Florenz 
dem  König  gegenüber  ist:  denn  während  Florenz  Bonifaz  IX.  auf 
Rnprechts  Seite  zn  ziehen  sacht,  während  es  zwischen  Ruprecht, 
Bonifaz  und  Ladislaus  von  Neapel  einen  Bund  anstrebt  and  letzte- 
ren sogar  mit  Raprecht  verschwägern  will,  anf  jeden  Fall  Rnprecht 
aber  in  die  italienischen  Verhältnisse  hineinzuziehen  sacht,  bewahrt 
dagegen  Venedig  eine  kühle  reservierte  Haitang  dem  KOnig  gegen- 
über, am  es  nicht  mit  Galeazzo  za  verderben. 

In  gleicher  Weise,  wie  in  Nürnberg,  wird  anf  dem  vom  29.  Jani 
bis  5.  Jali  (?)  1401  zo  Mainz  stattfindenden  Tage,  über  den  der  bis- 
her anbekannte  Briefwechsel  der  Städte  (Nr.  398—402)  manchen 
Anfschlaß  gibt,  lediglich  über  die  Vorbereitangen  znm  Romzage 
verhandelt.  Hier  in  Mainz  wird  als  Termin  für  die  Sammlang  der 
Trappen  der  8.  September  1401  festgesetzt  (Nr.  348  ff.) ;  über  die 
Reichsstände,  die  zam  Romzog  aufgefordert  wurden,  ist  ein  aas- 
ftthrliches  Verzeichnis  mitgeteilt  (Nr.  387),  ebenso  die  Leibwachen 
des  Königs  und  der  Königin  (Nr.  385.  386).  Verhandlungen  mit 
Leopold  von  Oesterreich,  mit  den  italienischen  Staaten,  mit  Arago- 
nien  und  Savoien  über  Hülfe  zum  Romzuge,  in  gleicher  Weise  solche 
mit  einzelnen  Städten  und  Ständen  in  Deutschland  (Nr.  370-'384) 
sind  die  Folgen  der  Beschlüsse  in  Mainz  über  den  Zug,  dessen  Ko- 
sten Ruprecht  abgesehen  von  seinem  und  der  Königin  persönlichen 
Unterhalt  auf  monatlich  gegen  79000  Gulden  veranschlagen  zu  mtts* 
sen  glaubte  (Nr.  391). 

In  kurzem  ist  dies  der  Inhalt  des  im  vierten  Bande  der  R.  T.  A. 
Gebotenen.  Um  nun  noch  auf  einiges  zurückzukommen,  so  ist  p.  186 
nt.  1  verwiesen  auf  R.  T.  A.  VIL  Nr.  174  und  175;  der  Zweck  die- 
ser Verweisang  ist  aber  absolut  nicht  ersichtlich.  —  Die  undatierte 
Werbang  an  die  Lombarden  (Nr.  188)  hat  wohl  mit  ziemlicher  Sicher- 
heit ihre  richtige  Stelle  erhalten;  die  hierbei  p.  217  nt.  3  erwähnten 
Frankfurter  Artikel  sind  vom  23.  December  1397,  nicht  1398,  wie 
hier  angegeben  wird.  Wenn  ferner  p.  217  nt.  1  zu  diesem  Stück 
gesagt  wird:  »Von  der  Krönung  zu  Achen  wird  den  Lombarden 
noch  nicht  in  der  Werbung  berichtet«,  so  muß  es  für  Achen  selbst- 
verständlich Köln  heißen.  —  p.  227  nt.  2  wird  das  Regest  eines 
im  Wien.  H.  H.  St.  A.  Registr.  B.  Ruprechts  C.  fol.  18^  darchstri- 
ebenen  Briefes  mitgeteilt,  den  Ruprecht  an  elsässisohe  Städte  richtet ; 
derselbe  ist  hier  datiert  1401  Dea  2  (Fr.  n.  Kathr.)  Wiftenburg. 
Statt  1401  muß  es  aber  ganz  sicher  1400  heißen;  das  Datum  Frei- 
tag nach  Katharina  ergibt  für  dies  Jahr  den  26.  November,  an 
welchem  Tage  Ruprecht  auch  sonst  in  Weißenburg  urkundet;  vgl 


Deatscbe  Reichstagsakten.    Vierter  und  fünfter  Band.  879 

Chmel  Nr.  28  und  R.  T.  A.  V„  Nr.  192.  Ein  Drackfehler  kann  hier 
also  niobt  aDgenommen  werden.  —  Der  undatierte  Huldignngseid  der 
Bürger  and  Bnrgmannen  zn  Oppenheim,  der  R.  T.  A.  V.,  Nr.  227  in 
den  Angast  1401  gesetzt  wird,  dürfte  doeh  wohl  schon  in  den  Sep- 
tember 1400  zu  setzen  sein ;  vgl.  Chmel  Nr.  9.  ^—  Die  Fassang  der 
Inhaltsangabe  von  Nr.  250  ist  nicht  ganz  scharf,  da  die  hier  ge- 
nannten Städte  nicht  Ruprecht  erst  anerkennen  wollen ,  sondern  be- 
reits anerkannt  haben;  darch  diese  ungenane  Fassung  steht  dies 
Regest  in  Widersprach  mit  dem  za  Nr.  229  (p.  227  nt.  5)  Ausge- 
führten. —  p.  306  nt.  4  wird  gesagt,  daß  der  am  21.  März  1400 
zwischen  Venedig  and  Galeazzo  geschlossene  Friede  14  Artikel  um- 
faßt habe;  trotzdem  wird  in  derselben  nt.  ein  15.  Artikel  angeführt! 

—  Das  Schreiben  des  Andreas  de  Marinis  an  Ruprecht  vom  G.März 
ohne  Jahresangabe  (Nr.  261)  gehört  weder,  wie  Janssen  I.  Nr.  1101 
will,  dem  Jahre  1402  an,  noch  dem  Jahre  1401,  in  welches  es  in 
den  R.  T.  A.  gesetzt  ist;  der  einzige  Punkt,  der  in  dem  im  übrigen 
sehr  nichtssagenden  Schreiben  zur  Bestimmang  des  Jahres  dienen 
kann,  ist  übersehen  worden.  In  demselben  wird  nämlich  der  kürz- 
lich geschlossenen  Vermählung  des  Pfalzgrafen  Ludwig  mit  der 
Tochter  Heinrichs  IV.,  Bianca,  Erwähnung  gethan  {ad  hec  guoque 
maxime  facit  pro  celebrüate  tuarum  rerutn  gerendarum  rumor  Uli 
celsi  conjugü  ex  liberis  tui  et  regis  Anglic  nuper  contracti).  Die  Hoch- 
zeit fand  am  6.  Juli  1402  in  Köln  statt.  1401  und  1402  können 
also  beide  nicht  das  richtige  Jahr  sein ;  es  wird  vielmehr  1403  za 
setzen  sein,  das  auch  zu  dem  sonstigen  sehr  allgemeinen  Inhalt  des 
Schreibens  stimmt;  man  maß  bei  der  Annahme  dieses  Jahres  eben 
im  Auge  haben,  daß  nach  dem  am  3.  September  1402  erfolgten  Tode 
Johann  Galeazzos  sich  die  Verhältnisse  in  Italien  sehr  zu  Ruprechts 
Gunsten  geändert  hatten.  Daß  Andreas  de  Marinis  den  ersten  Zug 
Ruprechts  mit  Schweigen  übergeht,  das  wird  wohl  Niemanden  Wun- 
der nehmen.  —  Mit  dem  Widerspruche  in  der  Datierung  (Nr.  328) 
9  von  dem  nehsten  montage  nach  ansers  herren  liechamstage  nehst- 
knmpt  aber  achte  tage,  daz  wirdit  af  sente  Viti  und  Modesti  tage 
nestkumpt«  weiß  ich  nichts  zu  beginnen;  wahrscheinlich  wird  wohl, 
wie  Bemheim  vorschlägt,  für  Montag  zu  setzen  sein  Mittwoch. 

—  Die  undatierten  Werbungen  Ruprechts  an  Landgraf  Hermann  von 
Hessen  (Nr.  329)  und  die  Herzoge  Heinrich  und  Bernhard  von 
Braanschweig  (Nr.  330)  sind  allgemein  1401  nach  Mai  6  datiert. 
Die  Stellung  im  Codex  weist,  wie  in  nt.  1  zn  Nr.  329  bemerkt 
wird,  auf  Juli  1401  bin,  und  zwar  werden  beide  Werbungen,  wie 
aus  p.  449  nt.  3  hervorgeht,  von  der  Werbung  an  Köln  vom  5.  Jali 


880  Gott,  geh  Adz.  1887.  Nr.  23. 

1401  (Nr.  370)  und  an  Oesterreich  vom  10.  Juli  1401  (Nr.  356) 
eingeschlosseD.  Den  Mai  macht  der  Inhalt  von  Nr.  329  darebau 
nnwahrscheinlich ;  die  Briefe  des  Landgrafen  Hermann  vom  30.  Mai 
und  8.  Jani  (Nr.  331  nnd  332)  gehören  sicher  einer  früheren  Zeit 
an,  als  die  erwähnten  Werbungen  (Nr.  329  nnd  330);  der  frflbeste 
Termin  wäre  also  der  8.  Jnni.  Ans  beiden  Werbungen  geht  aber 
ziemlich  deutlich  hervor,  daß  die  Beschlüsse  des  Tages  za  Mainz 
schon  gefaßt  sind  (vgl.  Nr.  329  und  besonders  330  »daz  unser  herre 
der  kunig  nnsem  herren  von  Mentze  ietzunt  auch  gerne  mit  imme 
bette  über  berg  hininn  gein  Lamparten c).  Der  Tag  zn  Mainz  ist 
spätestens  am  5.  Juli  beendet,  denn  am  6.  Juli  ist  Ruprecht  wieder 
in  Heidelberg  (vgl.  Ghmel  Nr.  522  und  R.  T.  A.  V,  Nr.  370  Anm.  1). 
Die  Stellung  im  Codex  wird  demnach  ganz  richtig  sein,  nnd  fttr  die 
Datierung  der  beiden  Werbungen  die  Zeit  vom  5. — 10.  Juli  anzu- 
setzen sein.  — 

Der  ftinfte  Band  mit  seinen  233  bisher  gänzlich  unbekannten 
Stttcken  übertrifft  seine  Vorgänger  an  Umfang  ganz  außerordentlich. 
Ueberblickt  man  das  im  vorliegenden  Bande  vereinigte  Material,  so 
muß  man  dankbar  anerkennen«  wie  weit  unsere  Kenntnis  über 
Ruprecht  durch  das  hier  Gebotene  gefordert  wird  nicht  nur  an  nnd 
für  sich  durch  die  große  Menge  des  hier  zu  Tage  geforderten  bis- 
her gänzlich  unbekannten  Materiales,  sondern  besonders  dnrch  die 
treflSiche  Bearbeitung;  ich  habe  hier  auch  speciell  die  Einleitungen 
im  Auge. 

Es  wird  der  Band  eröffnet  mit  den  Stücken,  die  in  dem  Ab- 
schnitt »Tag  zu  Augsburg:  Vorbereitung  der  Italienischen  Unter- 
nehmung; im  September  1401«  zusammengestellt  sind;  unter  den 
hier  mitgeteilten  206  Stttcken  —  abgesehen  von  denen,  welche  in 
der  Einleitung  erwähnt  werden  —  sind,  wenn  ich  nicht  irre,  fast 
die  Hälfte  bisher  nicht  bekannt  Was  die  von  den  Herausgebern 
gewählte  allgemeine  Bezeichnung  »Tag  zu  Augsburg:  Vorbereitung 
der  Italienischen  Unternehmung;  im  September  1401«  anbelangt,  so 
scheint  mir  dieselbe  nicht  glücklich  gewählt  zu  sein,  denn  nnter 
der  Vorbereitung  der  Italienischen  Unternehmung  an  und  fttr  sich  wird 
meines  Erachtens  kaum  Jemand  ohne  weiteres  das  verstehn,  was 
hier  darunter  verstanden  werden  soll,  nämlich  die  Krönung  in  Rom. 
In  dieser  Beziehung  ist  allerdings  das,  was  man  gewöhnlich  den 
Zug  Ruprechts  nach  Italien  nennt,  nur  Vorbereitung  f&r  den  KrO- 
nungstag  in  Rom,  aber  dann  durfte  die  Unternehmung  nicht  allge- 
mein italienische  genannt  werden ;  schief  bleibt  auf  jeden  Fall  die 
Bezeichnung. 


Deatsclie  ReichsUgsakten.    Vierter  und  fiinfter  Band.  881 

Der  Band  beginnt  mit  den  Anordnungen  Rapreebts  ftlr  das 
Reicb,  von  denen  jedoeh  nnr  Nr.  1  nnd  2  in  Angsburg  erlassen 
sind;  die  übrigen  Erlasse  Nr.  5—8  stammen  sämtlich  aas  Italien 
nnd  bezieben  sieb  nicht  allgemein  anf  das  Reich ,  sondern  anf  spe- 
ziell bairische  Angelegenheiten,  lieber  das  Verhältnis  Rnprechts  za 
Florenz  nnd  Venedig  erhalten  wir  darch  das  hier  mitgeteilte  Material 
die  wichtigsten  Anfscblttsse;  die  auf  sie  beztlglicben  Nachrichten, 
die  Briefe  des  Straßbarger  Haafens  (Nr.  190—206)  geben  eine  will- 
kommene Ergänzung  zu  dem,  was  in  R*  T.  A.  IV  die  oft  versteckten 
Andentangen  in  den  Verhandlangen  mit  dem  Papst  nnr  ahnen  Heften. 
Warum  Ruprecht  im  Januar  1402  plötzlich  Italien  verlassen  wollte, 
das  ersehen  wir  jetzt;  er  war  des  fortwährenden  Handelns  mtide 
(cf.  Nr.  27—84,  202—203).  Wie  kläglich  die  Lage  Ruprechts  war, 
wie  erbärmlich  es  vor  allem  mit  seinen  Finanzen  bestellt  war,  das 
geht  erschreckend  klar  hervor  aus  den  hier  unter  »Finanzielles«  zu- 
sammengestellten Stücken  (Nr.  168—181),  von  welchen  fttr  uns  der 
wichtigsten  eines,  die  Soldverscbreibungen  Ruprechts  für  Dienste  im 
Lombardischen  Feldzuge  (Nr.  176),  bisher  nur  durch  ein  Regest  bei 
Janssen  I,  Nv.  1087  bekannt  war.  Aber  nicht  nur  durch  den  Zag 
nach  Italien  ist  diese  so  überaus  peinliche  und  erniedrigende  Lage 
fttr  Ruprecht  herbeigeführt;  denn  wie  tief  er  schon  bei  Beginn  dieses 
Unternehmens  in  Deutschland  verschuldet  war,  darüber  gibt  ein 
Einblick  in  die  Pfälzischen  Kopialbttcher  ein  grauenhaftes  Bild,  trotz- 
dem dasselbe  sicher  nicht  vollständig  ist.  In  der  ersten  Hälfte  des 
Jahres  1401  blieb  er  an  Leistungen,  welche  zum  groften  Teil  wohl 
fttr  den  böhmischen  Krieg  aufgewendet  wurden,  die  Summe  von 
29000  Fl.  schuldig;  von  Frankfort  ließ  er  sich  im  Januar  1401  die 
beiden  nächstfälligen  Reichssteuern  vorausbezahlen,  von  Mechtild 
von  Spanheim,  Markgräfin  von  Baden,  borgte  er  im  August  1401 
24000  Fl.  gegen  Verpfändung  von  Bretheim  und  Wissenloch,  und  im 
Februar  1401  beißt  er  Diether  von  Henschuhßheim,  Herman  von 
Bodenstein,  Contze  Munichen  von  Rossenberg,  seine  Räthe,  nnd 
Mathis,  seinen  Schreiber,  ihm  auf  jede  Weise  Geld  zu  verschaffen, 
er  gibt  ihnen  »vollen  gewalt  uns  gelte  ußzugewinnen  wo  sie  mögen 
und  darumbe  zu  tedingen  etc.  und  dasselbe  gelte  zu  versichern  mit 
nnsern  stoßen  dienern  und  brieven  oder  anders  wie  sie  dunket  gut 
sine.  Wie  dann  vollends  des  Königs  Lage  ein  Jahr  später  war, 
als  er  in  Padua  selbst  ohne  Mittel  die  Gläubiger  in  Deutschland  be- 
friedigen sollte,  das  ersieht  man  aus  der  Anweisung  an  den  Land- 
schreiber von  Amberg,  in  der  er  meint,  »si  ez  daz  die  vierzigtusent 
guldin  zngelta,  die  itzunt  dri  wochen  nach  ostern  mit  des  kunigs 


882  Göit.  ge].  Anz.  1887.  Nr.  23. 

von  Engelland  dochter  kommen  nnd  gefallen  soHent,  gevallen  werden 
daz  dann  min  herre  herzog  Ladewig  die  angriffe  und  davon  bezale, 
wo  ez  dann  allernodest  istc  (Nr.  8,  Art  4).  Als  er  nach  dem  ganz- 
liehen  Mislingen  seines  Zages  nach  Deatschland  zarttckkehren  will, 
da  läAt  er  yorher  den  Erzbisohof  Gregor  von  Salzbarg  bitten ,  »daz 
er  ime  lihen  wolle  zwolftasent  galdin,  daz  er  sin  cleinod  and  aiU 
berin  geschirre  damid  gelosen  m6ge  nnd  aach  andere  sin  notlicb 
geltschalde  bestellen c  (Nr.  209  Art.  10).  Und  die  Forderungen, 
welche  er  nach  seiner  Rttckkehr  an  die  Städte  stellte ,  waren  nicht 
gering;  »nnd  ist  zu  wissenc,  heiBt  es  im  Nürnberger  Schenkbach, 
»das  unser  herre  der  kflnig  ein  vordrang  tete  an  gemein  stette  des 
reichSy  das  sie  hAlfen  mit  40000  galdein  von  notdorft  wegen  des 
reichs.  und  das  geschah  umb  Michaelis  anno  etc.  2«  (Nr.  323);  und 
mit  ähnlichen  Forderaogen  kam  er  noch  öfter. 

Von  den  anf  dem  Kurftlrstentage  za  Mainz  im  Jani  1402  ver- 
handelten Gegenständen  ist  der  einzige,  von  welchem  eine  gesetz- 
liche Regelung  erhalten  ist,  das  Mttnzwesen,  in  dem  Goldmttnzgesetz 
vom  23.  Jani  1402.  Der  Mttnzfaß  blieb  hier  derselbe,  wie  ihn  in 
Mainz  1399  die  vier  rheinischen  Earftlrsten  darcb  einen  neuen  Mttnz- 
receft  festgesetzt  hatten;  Gulden  zu  22 Vs  Karat,  66  Galden  auf  die 
Mark.  Das  Gepräge  jedoch  wurde  ein  anderes;  an  Stelle  des  Vier- 
kompasses trat  das  Wappen  des  einzelnen  Mttnzherren  »unser  ande 
unserr  korforsten  munczmeistere  sollent  nn  furbaz  iglicher  sins  berrea 
tzeichen  und  wapen  off  die  galden,  die  er  dann  muntzen  wirdet, 
siechticlichen  slahen  und  muntzen ,  nnd  auch  keins  andern  herren 
zeichenc  (Nr.  225).  Als  Grund  fttr  diese  Abänderung  hatte  Hegel, 
St.  Chr.  1,  233  angegeben,  es  sei  dies  geschehen,  »damit  jeder  ftlr 
die  Werthverringernng  der  Mttnze  verantwortlich  gemacht  werden 
könnec.  Mit  Recht  wird  jedoch  meines  Erachtens  hiergegen  geltend 
gemacht  (pag.  271),  daß  eine  Maßregel  in  dem  Gesetz  Oberhaupt 
nicht  angeftlhrt  wird,  daß  ferner  der  von  Hegel  angeführte  Grund 
schon  deswegen  nicht  stichhaltig  ist,  weil  thatsächlich  schon  eine 
Prägung  mit  dem  Wappen  der  einzelnen  Mttnzherren,  nämlich  mitten 
in  dem  Vierkompaß,  vorhanden  war,  so  daß  schon  vor  Ruprechts 
Mttnzgesetz  sehr  wohl  ersehen  werden  konnte,  wo  der  Ursprung  einer 
schlechten  Prägung  zu  suchen  sei.  Einfacher  und  natttrlicher  ist  die 
Erklärung  der  Herausgeber,  daß  es  geschehen  sei,  um  die  neuen 
Gulden  yon  den  alten  unterscheiden  zu  können. 

Im  Anschluß  an  dieses  Gesetz  hatten  die  Städte  beschlossen 
»daz  igliche  stat  ire  frunde  mitmacht  von  der  sache  wegen  uf  sant 
Margareten  dag  zu  nacht  nestkompt  zu  Mencze  haben  sollen,  zu 


Deatscbe  Reiclistagsakteii.    Vierter  and  fünfter  Band.  883 

sagen  wie  sie  die  galden  fanden  haben  ^  nnd  af  ein  ende  za  nber- 
kommen,  waz  man  nf  iglicb  gratd  der  golden,  die  za  geringe  fan- 
den werden,  za  erfallange  geben  sollen  and  waz  darander  were  naeh 
marczal ,  also  daz  alle  vorgeschriben  ordenange  and  gesetze  nf  sant 
Jaeobs  dag  nestkompt  in  allen  steten  angefangen  and  forbaßer  fe- 
steelieh  gehalten  werden«  (Nr.  223.  II.  3).  Der  städtische  Mttnztag 
erfolgte  an  dem  festgesetzten  Termin,  am  13.  Jali,  in  Mainz;  die 
Akten  desselben  sind  Nr.  263—269  mitgeteilt.  Anfter  Nürnberg 
(cf.  Nr.  263)  erschienen  sicher  alle  Städte  za  demselben,  and  in 
Nr.  268,  das  mit  Recht  zam  13.  Joli  1402  gesetzt  ist,  haben  wir 
das  Ratschlagen  der  Städteboten,  wie  man  den  Kars  der  bisherigen 
Ooldmttnzen  festsetzen  solle.  Als  Fortsetzang  dieses  städtischen 
Httnztages  za  Mainz  ist  der  im  Aagast  1402  za  Worms  abgehaltene 
anznsehen,  aaf  dem  einzelne  za  Mainz  noch  nicht  erledigte  Schwie- 
rigkeiten geregelt  warden  (Nr.  270 — 74). 

Za  dem  Mainzer  Tage  ist  eine  Straßbarger  Münzprobe  gesetzt 
(Nr.  267),  die  samt  dem  »ratslagen,  daz  die  Pfaffenlabe  gerotslaget 
hant  von  der  gäldin  münssen  wegen«  undatiert  ist.  Ob  aber  dieses 
Stttck  thatsächlich  hierher  za  setzen  sei,  darüber  sind  den  Heraas- 
gebern Bedenken  aafgestiegen ;  ich  meine  mit  Recht.  Denn  wenn 
es  im  Ratschlagen  der  Städteboten  gelegentlich  des  Mainzer  Tages 
heißt,  daß  man  »dez  konigs  galden,  die  er  zu  Franckfart  mit  deme 
adeler  hait  dan  slahen,  and  unser  herren  der  knrfursten  galden  af 
deme  Rine,  die  sie  mit  der  vier  herren  wapen  nnd  Schilde  bißher 
hant  dan  slahen,  die  ire  rechte  gewiechte  hant,  vor  foil  vor  einen 
galden  za  werange  nemen  solle«,  so  maß  das  angünstige  Resaltat, 
das  ans  in  der  Straßbarger  MOnzprobe  vorliegt,  überraschen,  beson- 
ders aber,  wenn  man  die  durch  dieselbe  gewonnenen  Resultate  mit 
den  Proben  der  anderen  Städte  vergleicht,  die  ungleich  günstiger 
sind.  Während  es  z.  B.  in  der  Mttnzprobe  von  Nürnberg  (Nr.  266) 
heißt:  >zam  ersten  vand  man  die  guidein  mit  dem  tripaz,  die  di  vier 
herren  geslagen  haben ,  22 Va  garad« ,  so  lautet  das  Urteil  über  die- 
selbe in  der  Straßbarger  »also  hant  si  fanden  an  eim  guldin  von 
Beiern  zu  Heidelberg  geslagen  mit  den  drien  kumpbas,  das  derselbe 
guldin  hat  gehalten  nüt  me  danne  18Vs  gradus  fSlliche  und  t&d  dis 
28 Vi  pf.y  die  ime  gebrist  daz  er  nit  fin  ist«  (1).  Und  ähnlich  ist 
das  Verhältnis  überall. 

Dieser  so  bedeutende  Unterschied  zwischen  dem  Resultate  der 
Straßburger  und  dem  der  übrigen  Proben  ist  jedenfalls  sehr  bedenk- 
lich; fraglich  muß  es  erscheinen,  ob  eine  derartige  Münzverschlech- 
terung ,  wie  sie   uns  in  Nr.  267  entgegentritt ,   für  diese  Zeit  anzu- 


684  Odtt.  gel  An£.  1887.  Kr.  23. 

nehmen  ist,  ob  diese  Httnzprobe  wirklich  in  das  Jahr  1402  gehört. 
Und  ich  meine  diese  Frage  verneinen  zu  müssen,  da  mir  vorläufig 
dieser  sich  ergebende  Widersprach  anlOslich  erscheint. 

Anf  diesem  Mainzer  Tage  (Jani  1402)  haben  sicher  Unterhand- 
langen wegen  der  Tötang  Herzogs  Friedrich  von  Braanschweig  statt- 
gefanden  (Nr.  228 — 233);  ob  dagegen  inBezag  auf  die  Anerkennung 
darch  Rudolf  III.  v.  Sachsen  hier  verhandelt  ist,  das  ist  fraglich, 
wenngleich  die  hier  mitgeteilten  Stttcke  (Nr.  234^-235)  jedenfalls 
in  diese  Zeit  gehören.  Im  übrigen  sind  bei  diesem  Karfttrstentage 
das  Verhältnis  Rnprechts  zu  Aachen  and  dem  Herzog  Reinald  von 
Jttlich-Oeldern  (Nr.  236—239  and  Einleitung  F) ,  sein  Verhältnis  za 
Italien  (Nr.  240—48)  und  Wenzel  (Nr.  249—54)  behandelt,  ebenso 
seine  Beziehnngen  zu  Frankreich  (Nr.  255)  und  za  England  (Nr.  256— 
58),  welch  letztere  sich  besonders  um  die  Heirat  zwischen  dem  Pfalz- 
grafen Ludwig  and  Bianca  drehen. 

Von  Einzelheiten  za  den  Tagen  von  Augsburg  und  Mainz  be- 
merke ich  folgende.  Die  p.  74  nt.  8  erwähnte  Begrüßangsr^de, 
welche  Petrus  de  Alvarotis  am  20.  November  1401  in  Padua  vor 
Ruprecht  hielt,  ist  schon  gedruckt  bei  Duellins,  Miscellanea  I. 
p.  131  £P.  —  Daft  Nr.  89  ganz  sicher  zum  25.  September  1401  ge- 
hört, geht  aus  art.  2  hervor  »darnach  sollent  ir  im  antwurten  nnaers 
herren  des  knnigs  briff  mit  sinem  majestat  versigelt,  darinne  er  im 
gehütet  den  von  Meylan  anzagriffen  und  zu  beschedigenc ;  der  hier 
erwähnte  Brief  ist  eben  der  vom  25.  September  an  Franz  von  Car- 
rara (Nr.  88).  —  Der  Zeitraum  für  die  Datierung  von  Nr.  207  ist 
zu  weit  gefaßt.  Als  terminus  a  quo  ist  richtig  der  14.  April  ange- 
setzt, der  aus  der  Erwähnung  des  an  diesem  Tage  an  Eonrad  von 
Verden  gerichteten  Schreibens  folgt.  Den  terminus  ad  quem  aber 
unter  Beziehung  anf  das  Schreiben  Ruprechts  an  verschiedene  Forsten 
vom  2.  Mai  1402  auf  dies  Datum  zu  setzen  ist  nicht  richtig,  weil, 
wie  p.  282  nt.  1  ganz  richtig  hervorgehoben  wird,  Rupreeht  bd 
Absendung  Bumans  noch  in  Italien  ist,  was  aus  art  6  hervorgeht: 
>so  ist  er  (so.  König)  genzlich  zu  rate  worden  wiederumbe  gein 
Datschen  landen  zu  ziehen«.  Am  24.  April  befindet  sich  jedoch 
Ruprecht  schon  wieder  in  Tirol,  cf.  Gbmel  Nr.  1168/69;  folglieh  ist 
dieser  Tag  der  äußerste  terminus  ad  quem.  —  Die  Verweisung 
p.  283  nt.  2  auf  R.  T.  A.  IV.  Nr.  45  ist  falsch ;  das  dort  mitgeteilte 
Outaehten  des  Franz  von  Carrara  und  der  Florentinisohen  Oesandten 
ist  vom  17.  Januar  1402,  während  die  hier  in  Frage  kommende 
Gesandtschaft  erst  in  den  Februar  1402  fällt;  cf.  Salviati  pag.  199 
»Memoria  che  adi  18.  di  Febbraio  1401   per  elezione  prima  fatta 


Deatsche  Reichstagsakten.    Vierter  and  fünfter  Band.  886 

per  i  noBtri  Signori,  et  i  loro  CoUegj  io  andai  per  lo  nostro  magni- 
fico  Comane  ...  a  Roma  a  Papa  Bonifatio  dodo  ...  et  appresso 
faroDo  in  nostra  compagnia  2  Ambasciatori  del  Signore  di  Padova 
etc.«.  —  Die  nndatierte  Instraktiou  (Nr.  208)  fUr  einen  Gesandten 
an  den  Eorfttrsten  von  Köln  ist  1402  zwischen  April  14  und  Mai  2 

0.  0.  datiert,  weil  dies  Stück  im  Kodex  numittelbar  anf  die  könig- 
liche Werbnng  darch  Nicolaus  Buman  an  die  Kurfürsten  (Nr.  207) 
folgt  und  sich  im  Inhalte  darauf  bezieht;  als  Gesandter,  für  den  die 
Instruktion  bestimmt  ist,  ist  darum  auch  Buman  angenommen.   Janssen 

1.  Nr.  1133  hat  die  Instruction  in  den  August  1402  gesetzt.  Ich 
halte  die  Datierung  der  R.  T.  A.  für  richtig  und  will  hier  ergän- 
zend auf  etwas  aufmerksam  machen,  das  vielleicht  zur  Unterstützung 
dieser  Datierung  dienen  kann.  Aus  der  Instruktion  ersieht  man,  daß 
zum  König  ein  Gesandter  gekommen  ist  »von  der  kuniginne  nnd  et- 
lichen herren  in  Franckerich,  mit  namen  her  Stephann  Smyeher«. 
Derselben  Gesandtschaft  wird  Erwähnung  gethan  R.  T.  A.  V.  Nr.  289/ 
90,  2  Instruktionen  für  Gesandte  Ruprechts  nach  Frankreich;  diese 
gehören  unzweifelhaft  in  die  letzten  Tage  des  Augusts  1402,  und 
deswegen  hat  sich  Janssen  1.  c.  jedenfalls  verleiten  lassen  Nr.  208 
ebenfalls  in  diese  Zeit  zu  setzen.  Warum  ich  diese  beiden  Stücke 
in  diesem  Zusammenhange  anführe,  ist  Folgendes.  Aus  Nr.  289  und 
290  erfahren  wir,  daß  die  Königin  von  Frankreich  durch  Smyeher 
das  Verlangen  an  Ruprecht  gestellt  hatte  >  daz  er  sin  erber  botschaft, 
mit  namen  iren  bruder  herzog  Ludewig  gein  Franckrich  senden  sollet. 
Die  Absicht  Ruprechts  Ludwig  VIL  von  Baiern  als  Gesandten  nach 
Frankreich  zu  senden  ist  aber  schon  im  April  vorhanden,  wie  Franz 
Ton  Carrara  am  15.  April  1402  dem  Dogen  von  Venedig,  Michael 
Steno  mitteilt  (V.  Nr.  132).  Vergegenwärtigt  man  sich  nun,  daß  die 
Sendung  dieses  Gesandten  ausdrücklicher  Wunsch  der  Königin  von 
Frankreich  war,  den  sie  durch  Smyeher  Ruprecht  überbringen  ließ, 
80  darf  man  wohl  ohne  einen  Fehler  zu  begehn  die  Ankunft 
Smyehers  bei  Ruprecht  vor  dem  15.  April  annehmen.  Gibt  man 
dies  zu,  so  ist  es  wahrscheinlich,  daß  der  geheime  Auftrag  an 
Friedrich  von  Köln  unmittelbar  nach  den  Verhandlungen  mit  Smyeher 
zu  setzen  ist,  die,  wie  wir  sahen,  vor  dem  15.  April  vor  sich  ge- 
gangen sind.  Der  terminus  a  quo  und  ad  quem  werden  also  mit 
der  Beschränkung,  wie  oben  für  Nr.  207  angegeben,  von  den  Her- 
ausgebern richtig  angenommen  sein.  Auch  dieser  Auftrag  ist  wohl 
fUr  Buman  gewesen,  dessen  Abreise  wohl  bald  nach  dem  14.  April 
erfolgt  ist  Ob  dieser  Gesandte  identisch  ist  mit  dem  Stephan 
Smyeher,  welcher  in  den  Nürnberger  Propinationen  (R.  T.  A.  IV, 
^r.  285)  erwähnt  wird? 


886  Gott.  gel.  Ans.  1887.  Nr.  23. 

Aaf  den  Mainzer  folgt  schon  im  August  und  September  1402 
der  königliche  Fürsten-  und  Städtetag  zu  Nürnberg  (Nr.  275 — 407). 
Auf  diesem  Tage  ist  es,  daß  Ruprecht  den  Rat  der  ReicbsfUreten 
und  Städte  wegen  der  Zumutungen  des  Papstes  einholte.  Eine  Auf- 
zeichnung seitens  der  Städteboten  über  die  »artikele,  die  unfter  beilger 
vatter  der  babst  gemutet  hait,  als  sich  unser  here  der  konig  ime 
verbinden  sweren  und  verbriefen  solte  über  soliche  gewonliche  eide 
die  andere  Romische  konige  bisher  getan  haut«  (Nr.  282)  ist  hier 
mitgeteilt  Im  übrigen  trat  Ruprecht  mit  großen  Forderungen  an 
die  Städte  heran  (Nr.  283  -  286) ,  da  seine  finanzielle  Lage ,  wie 
schon  vorher  erwähnt,  äußerst  ungünstig  war.  Eingehende  Nach- 
richten über  die  zum  Teil  allerdings  späteren  Verhandlungen  über 
die  Ermordung  Herzogs  Friedrich  von  Braunschweig  sind  hier  in 
reichlicher  Zahl  zusammengestellt  (cf.  Einleitung  E  und  Nr.  327— 
41);  ferner  wird  Ruprechts  Verhältnis  zu  Frankreich,  Italien,  Eng- 
land, den  schwäbischen  Städten  und  einer  Anzahl  Reicbsfflrsten  er- 
((rtert.  Zu  bemerken  habe  ich,  daß  die  Einsetzung  des  Herzogs 
Albrecht  IV.  von  Oestreich  zum  Vikar  in  Ungarn  nicht,  wie  p.  421 
nt.  2  angegeben  wird,  am  16.  August  bezw.  14.  September  1402  ge* 
schehen  ist,  sondern  am  16.  August  bezw.  17.  September  1402.;  ef. 
Kurz,  Albrecbt  IV.  p.  222.  Die  Verweisung  auf  p.  417  nt  2  ist 
demnach  in  p.  417  nt.  3  zu  ändern. 

Die  Mttnzfrage  spielt  auf  dem  Kurfürsten  tage  zu  Boppard  im 
März  1404,  der  den  Mittelpunkt  für  den  nächsten  Abschnitt  bildet, 
eine  Hauptrolle  (Nr.  408—422),  denn  er  ist  hauptsächlich  deswegen 
berufen,  weil  darüber  Klage  geführt  wurde,  daß  die  nach  dem  neuen 
Gesetze  vom  23.  Juni  1402  (Nr.  225)  geprägten  Gulden  schlecht 
waren.  Die  hier  mitgeteilten  städtischen  Münzproben  (Nr.  410— 413), 
welche  undatiert  sind,  beziehen  sich  ohne  Zweifel  auf  die  nach  dem 
Gesetz  von  1402  geprägten  Goldmünzen  und  können  sicher  als  zu 
diesem  Kurfürstentag  gehörig  angesehen  werden,  selbst  wenn  das 
Datum  ihrer  Entstehung  vielleicht  schon  etwas  frllher  anzusetzen  ist 
Die  Abhülfe  für  diese  Klagen  wird  nicht  durch  ein  neues  Gteseti 
geschaffen;  es  tritt  zwar  eine  neue  Mttnzordnung  an  das  Licht 
(Nr.  414),  aber  es  ist  dieselbe  kein  königliches  Gesetz,  sondern  Ru- 
precht »als  ein  pfalzgrave  bi  Rine«,  Johann  von  Mainz,  Friedrich 
von  Köln,  Werner  von  Trier  »sin  semptlich  einer  münze  uberkonunen 
von  golde  und  von  silber  dun  zu  slahen  in  eime  glichen  werde  etcc« 
Es  ist  also  lediglich  ein  Privatvertrag,  den  hier  die  4  rheinischen 
Kurfürsten  zur  Aufbesserung  der  Münze  schlössen.  Der  Goldgnlden 
ist  darum  auch  der  gleiche,  wie  im  Gesetz  vom  Juni  1402,  die  Art 


Deutsche  Reichstagsakteo.    Vierter  und  fünfter  Band.  887 

der  Prägang  blieb  jedenfalls  aaeb  dieselbe,  da  über  sie  nichts  ge- 
sagt ist;  nen  aber  ist  die  Einführung  einer  regelmäßigen  Kontrolle. 
Im  Übrigen  bilden  einige  die  Anerkennung  Ruprechts  durch  deutsche 
Reichsstände  betreffende  Stücke  (Nr.  415-17),  die  Kosten  Frank- 
furts (Nr.  418)  und  einige  auf  die  königliche  Mttnze  zu  Frankfurt 
bezügliche  Sachen  (Nr.  419—22)  den  Schluß  der  zum  Bopparder 
Tage  vereinigten  Stticke. 

Ein  besonderer  Abschnitt  ist  der  Landfriedensthätigkeit  Ruprechts 
in  Franken  und  der  Wetterau  gewidmet  (Nr.  423 — 49).  Bezüglich 
derselben  mag  es  genügend  sein  auf  die  ausführliche  Einleitung  zu 
diesem  Teile  zu  verweisen  (pag.  578  ff.). 

Die  Reichstage  zu  Mainz  im  December  1404  und  October  1405 
bilden  den  Beschluß  des  5.  Bandes.  Das  Material  zu  dem  ersteren 
ist  ungemein  dürftig;  »kein  Einladungsschreiben,  keine  Aufzeich- 
nung über  die  Verhandlungen,  kein  Gesandtschaftsbericht,  keine  Korre- 
spondenz über  Besuch  ist  uns  erhalten;  nur  aus  städtischen  Rech- 
nungen und  aus  nachfolgenden  Verhandlungen  erfahren  wir  von  ihrt. 
Mit  bedeutenden  Oeldforderungen  an  die  Städte  trat  Ruprecht  auf 
diesem  Tage  wieder  hervor;  »und  ist  zu  wissen,  das  unser  herre 
kunig  Ruprecht  aber  ein  mntnng  tete  an  gemein  stette  des  reichs, 
si  solten  im  zu  hilfe  komen  mit  anderhalbhunderttawsent  guidein, 
domit  er  des  reichs  nfltz  schicken  w61te« ,  heißt  es  im  Nürnberger 
Schenkbuch  (Nr.  453).  Zu  diesem  Tage  sind  in  5  Anhängen  ver- 
schiedene in  diese  Zeit  gehörige  Dinge  behandelt ;  zunächst  die  bald 
nach  dem  Mainzer  Tage  erfolgende  Besteuerung  der  Kurpf&lzischen 
Lande  (Nr.  458 — 62),  deren  Ertrag  Ruprecht  die  Mittel  gewähren 
sollte,  alles,  was  er  verpfändet,  wieder  einzulösen.  Verhandlungen 
wegen  der  Verheiratung  von  Ruprechts  Tochter  Else  mit  Herzog 
Friedrich  von  Oesterreich  (Nr.  463—66),  mit  König  Wenzel  und  auf 
das  Verhältnis  zum  Papst  und  Italien  bezügliche  Stücke  folgen ;  den 
Beschluß  der  hier  behandelten  Dinge  macht  endlich  die  Versöhnung 
über  die  Tötung  Herzogs  Friedrich  von  Braunschweig  und  der  Fried- 
berger  Landfriede  vom  18.  März  1405. 

Aufgefallen  ist  mir,  daß  p.  687  nt  1  die  Frage  offen  ge- 
lassen wird  nach  dem  Todestage  Procop's,  indem  nur  die  Angaben 
von  Aschbach,  Gesch.  K.  Sigmund's  L  209  und  Palacky,  Oesch.  von 
Böhmen  HI,  1.  208  einander  gegenüber  gestellt  werden.  Die  Diffe- 
renz zwischen  beiden  ist  aber  zu  beträchtlich,  als  daß  sie  nicht  hätte 
untersucht  werden  sollen;  Aschbach  hat  allgemein  Januar  1405  als 
Termin  für  den  Tod  Procops,  Palacky  den  24.  September  1405.  Das 
letztere  Datum  hat  auch  schon  Engel,   ungr.  Gesch.  IL  248,  gegea 


888  Qött.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  2S. 

den  Ascbbach  1.  c.  sich  wendet.  Aschbach  stutzt  sich  bei  seiner 
Angabe  auf  Dinzenhofer,  genealog.  Tafeln  der  böhmischen  Fürsten, 
Tafel  XV  nach  mährischen  Urkanden.  Dinzenhofer  I.  c.  sagt  aber 
nur  allgemein  »Procop  starb  1405«  and  führt  hierfür  als  Beleg 
Hübner,  genealog.  Tafeln  und  Pessina  de  Czechorod,  Mars  Moravieas 
an.  Ersterer  hat  nur  allgemein  1405,  bei  letzterem  heißt  es  pag.  447  : 
>Eum  (sc.  Procopium)  postea  Sigismundus  Branam  abduci  jnssit,  nbi 
ipso  anno  VIII.  Calend.  Octob.  vita  decessit«.  Urkunden  hat  Pes- 
sina verwertet,  sonst  würde  seine  Angabe  keinen  Wert  haben,  aber 
wie  Aschbach  anf  den  Janaar  hat  kommen  können  ist  anerfindlicb. 

Der  den  Schluß  des  5.  Bandes  bildende  Reichstag  zu  Mainz  im 
Oktober  1405  wurde  vom  König,  wie  aus  dem  Aasscbreiben  hervor- 
geht, lediglich  wegen  des  Marbaoher  Bundes  berufen,  dessen  Teil- 
nehmer am  16.  September  1405  (Nr.  490)  Ruprecht  von  der  Qrfln« 
dang  Mitteilung  gemacht  hatten.  Der  Tag  verlief  ohne  jedes  Re- 
sultat, und  schon  für  Januar  1406  schrieb  der  König  einen  neuen 
aus.  In  einem  besonderen  Abschnitt  ist  das  Verhältnis  Ruprechts 
zum  Bischof  von  Straßburg  erörtert.  Unter  den  zu  diesem  Tage 
mitgeteilten  Stücken  sind  mehrere  bisher  nicht  bekannte,  darunter  3, 
die  auf  die  Entstehung  des  Marbacher  Bandes  neues  Licht  zu  werfen 
geeignet  sind,  und  auf  sie  will  ich  kurz  zum  Schluß  dieser  Be- 
sprechung eingehen.  Diese  3  bisher  nicht  bekannten  Stücke  sind 
Nr.  481 ,  483 ,  488  (I ,  la ,  II).  Dieselben  sind  undatiert  and ,  wie 
sich  aus  manchem  ergibt,  nur  Entwürfe.  Daß  alle  3  in  die  Zeit 
Ruprechts  zu  setzen  seien,  ergab  sich  schon  aus  dem  Umstände,  daß 
in  allen  derselbe  erwähnt  wird;  daß  sie  zusammengehören,  ver- 
wandten Ursprungs  sind,  das  ergibt  eine  Vergleichung  leicht 

Wie  erwähnt  gehören  alle  3  Stücke  in  die  Zeit  Rnpreehts; 
ferner  zeigt  eine  Vergleichung  mit  der  am  14.  September  1405  aus* 
gestellten  Urkunde  des  Marbacher  Bundes ,  daß  die  Teilnehmer 
desselben  dieselben  sind,  welche  in  diesen  Entwürfen  auftreten.  Aus 
einer  Vergleichang  der  3  Entwürfe  anter  sich  ergibt  es  sich,  daß 
II  (488)  der  jüngste  ist;  und  vergleicht  man  ihn  mit  der  Marbacher 
Bandesurknnde y  so  sieht  man,  daß  er  derselben  sehr  nahe  steht, 
wenngleich  es  auch  nicht  an  wesentlichen  Aenderungen  fehlt,  und 
besonders  auch  der  Umstand  eigentümlich  berührt,  daß  der  Wortlant 
der  Ausfertigung  mit  dem  des  Entwurfes  wenig  übereinstimmt.  Je- 
denfalls also  ist  es  sicher,  daß  diese  Entwürfe  einer  früheren  Zeit 
angehören ,  als  die  Marbarger  Urkunde ,  daß  die  Zeit  ihrer  Entste- 
hung vor  den  14.  September  1405  fällt;  and  da  sie  nicht  nur  nnge- 
föhr  dieselben  Teilnehmer  voraussetzen,  sondern  auch,  wie  erwähnt^ 


Deutsche  Reichstagsakteo.    Vierter  and  fünfter  Band.  68^ 

inbaltlich  mit  der  Mehrzahl  der  Artikel  und  mit  der  Tendenz  des 
Bandes  tibereinstimmen ,  so  können  sie  ohne  Bedenken  geradezu  als 
Entwürfe  des  Marbaeher  Bundes  bezeichnet  werden. 

Was  non  die  Entstehung  der  3  Entwürfe  betrifft ,  so  sind  sie 
znnäebst  aus  dem  Strafiborger  Archiv;  wahrscheinlich  ist  es  aoch, 
daß  sie  in  Straßburg  geschrieben  worden.  Der  nach  der  Annahme 
der  Herausgeber  älteste  Entwurf  ist  I  (Nr.  481),  der  Entwurf  eines 
Bundes  zwischen  dem  Markgrafen  von  Baden,  dem  Grafen  Eberhard 
von  Württemberg,  Straßburg  und  dem  schwäbischen  Städtebund.  Der 
Ort  seiner  Entstehung  wird  wohl  in  Straßbnrg  zu  suchen  sein,  denn 
bei  den  Ausnehmungen,  welche  die  Mitglieder  des  Bundes  machen 
werden,  werden  nur  die  der  Straßburger  berücksichtigt. 

Ungefähr  gleichzeitig  oder  doch  nur  wenig  später  fällt  la 
(Nr.  483),  ein  Entwarf  einer  Vereinigung  des  in  I  genannten  Bundes 
mit  dem  in  la,  dessen  Mitglieder  Johann  von  Mainz,  nicht  nament* 
lieh  genannte  Herren  und  die  Städte  Mainz,  Worms,  Speier  waren. 
Bei  der  Ausarbeitung  sind  jedenfalls  die  schon  im  Bundesverhältnis 
zu  einanderstehenden  schwäbischen  Städte  und  Oraf  Eberhard  von 
Württemberg  beteiligt,  denn  bei  der  Bezeichnung  der  Städte,  wohin 
die  Mahnung  um  Hülfe  seitens  der  andern  Partei  gerichtet  werden 
sollte,  werden  hier  nur  Ulm  und  Stuttgart  genannt,  während  es  doch 
zu  erwarten  wäre,  daß  alle  4  Verbündete  gleichmäßig  berücksichtigt 
wären.  Vollständig  liegt  la  nicht  mehr  vor,  denn  es  fehlen  Bestim- 
mungen, auf  welche  in  dem  Entwürfe  selbst  verwiesen  wird. 

Der  Entwarf  II  (Nr.  488)  weist  dieselben  Teilnehmer  auf,  wie 
I;  überhaupt  erweist  sich  II  als  eine  Umarbeitung  von  I,  dessen 
Grundstock  unverändert  fast  beibehalten  ist  Später  ist  er  unzweifel- 
haft, denn  Notizen,  welche  in  I  Veränderungen  andeuten,  finden  sich 
in  II  vorgenommen;  eine  bestimmte  Tendenz  jedoch  bei  der  Umar- 
beitung ist  nicht  wahrnehmbar.  Was  das  Verhältnis  von  II  zu  la 
anbelangt,  so  stehen  die  meisten  Artikel,  welche  la  gegenüber  I 
eigentümlich  hatte,  in  II  wieder,  so  daß  es  an  sich  nicht  unmöglich 
ist,  daß  la  auf  die  Umarbeitung  Einfluß  gehabt,  wenngleich  der 
Wortlaut  sehr  wenig  ähnlich  ist,  und  der  Einfluß  jedenfalls  nur  ein 
geringer  ist,  denn  wo  innerhalb  der  allen  3  Entwürfen  gemeinsamen 
Bestandteile  Verschiedenheiten  zwischen  I  und  II  bestehen,  stimmt 
la  meist  mit  dem  ersteren,  nie  mit  dem  letzteren  überein.  Die  Aus- 
arbeitung des  Entwurfs  II  ist  jedenfalls  unter  dem  Einfluß  der 
Bchwäbisohen  Städte  vor  sich  gegangen;  hierauf  weisen  sowohl  die 
Ausnehmnngen,  wie  die  Bestimmungen  über  den  Austrag  von  Streitig- 
keiten bin.    Bezüglich  der  Ausnebmungen  tritt  zu  denen  Straßburgs 

a«U.  gol.  Abs.  1687.  Hr.  88.  61 


890  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  23. 

noch  die  binzq,  (1^9  das  Bttndois  (vom  27.  Angost  1395  jedenfaUs) 
der  schwäbischen  Städte  mit  dem  Grafen  von  Württemberg  anage- 
nommen  wird  (art  23a).  Und  die  schwäbischen  Städte  machten 
tbataächlich  keine  andere  Ausnehmnng  in  der  Marbacher  Bnndesor- 
künde.  Bei  den  Bestimmungen  ttber  den  Austrag  von  Streitigkeiten 
findet  sich  gleichfalls  ein  schwäbischer  Einfluß  in  II.  In  I  wird  fbr 
Streitigkeiten  unter  allen  Mitgliedern  ein  und  dieselbe  Norm  festge- 
setzt; in  la  fehlen  derartige  Bestimmungen.  In  II  werden  im  allge- 
meinen die  Artikel  von  I  beibehalten ,  jedoch  bezüglich  der  even- 
tuellen Streitigkeiten  zwischen  den  schwäbischen  Städten  nnd  den 
beiden  Fürsten  soll  nach  einem  früheren  Vertrage  entschieden  werden 
(art  17),  womit  unzweifelhaft  der  Bund  vom  27.  August  1395  ge- 
meint ist 

Diese  Aenderung  findet  sich  auch  in  der  Ausführung  beibehal- 
ten; in  derselben  wird  aber  noch  hinzugefügt,  daß  Streitigkeiten 
zwischen  dem  Grafen  und  Harkgrafen  auf  Grund  eines  früheren 
Vertrages  derselben  entschieden  werden  sollen.  In  gleicher  Weise 
sollen  die  Streitigkeiten  zwischen  dem  Erzbischof  von  Mainz  nnd 
den  andern  Fürsten  entschieden  werden  auf  Grund  eines  Vertrages, 
welchen  der  Erzbischof  mit  dem  Markgrafen  geschlossen  (vom 
11.  September  1402). 

Die  ursprünglichen  Bestimmungen  in  I.  bleiben  also  nar  für 
die  Streitigkeiten  Strasburgs  mit  den  schwäbischen  Städten  und  den 
Fürsten.  Es  ist  also:  Straßburger  Ursprung  in  L,  schwäbischer 
Einfluß  bei  (I*^  und)  II,  eine  gleichmäßige  Berücksichtigung  aller 
Teilnehmer  erst  in  der  Ausfertigung. 

Ist  dies  die  Entwicklung,  so  bietet  andererseits  die  Datienmg 
der  Entwürfe  keinerlei  Schwierigkeit  Der  äußerste  terminus  ad 
qu^m,  welcher  angenommen  werden  kann,  ist  der  13.  September, 
da  vom  14.  September  schon  die  Bundesurkunde  datiert  ist  Für 
den  terminus  a  quo  ist  in  I.  ein  Anhalt  vorbanden,  wenn  hier  der 
Stadtmeister  Gosse  Burggrafe  genannt  wird.  Die  Stadtmeister 
lösten  sich  in  Straßhurg  vierteljährlich  ab ;  der  Vorgänger  des  Gosse 
Burggrafe  Ulrich  Bock  jun.  wird  in  Stücken  vom  21.  April  bis  l.Jnli 
als  StUidtmeister  angeführt,  Gosse  Burggrafe  zuerst  am  4.  August 
Nacb  der  erwähnten  Dauer  der  Amtszeit  muß  also  der  Amtsantritt 
desselben  bald  oach  dem  1.  Juli  erfolgt  sein ;  darum  kann  rund  der 
1.  Juli  Ills  terminus  a  quo  bezeichnet  werden.  Diese  allgemeine  Da- 
tieruiig  ist  von  den  Herausgebern  unter  Benutzung  der  Stadteliriefe 
nocb  genauer  präzisiert,  und  sie  kommen  zu  dem  Resultat,  daß  I. 
im  Juli»  I^  um  den  11.  August,  II.  zwischen  dem  10L--12.  September 
entstanden  sind. 


Volkmar,  Paulus  von  Damaskus  bis  zum  Galaterbrief.  891 

Es  ist  dies  kurz  das  ResnlUtt  der  weitgedehnten  Untersachnng. 
H3q[>otbe8en  häufen  sieh  hier  auf  einander,  aber  die  Heransgeber 
haben  Recht,  wenn  sie  dieselben  wohlbegrttndet  nennen.  Eins  wird 
ans  dem  über  die  Entwürfe  Mitgeteilten  erhellen,  daß  die  Initiative 
zum  Marbaeher  Bunde  kaum  von  Johann  von  Mainz  ausgegangen 
ist  Wo  aber  die  ersten  Anfänge  zu  sucben  sind,  wer  als  geistiger 
Urheber  des  Bundes  anzusehen  ist,  ob  etwa,  wie  die  Heransgeber 
anzunehmen  scheinen,  Straßburg,  das  wage  ich  nicht  zu  sagen; 
vorläufig  ist  meiner  Meinung  nach  das  Resultat  hierüber  ein  ledig- 
lieh negatives  in  Bezug  auf  Johann.  Weitere  Aufschlösse  hierttber 
wird  voraussichtlich  der  sechste  Band  der  R.  T.  A.  bringen;  daß 
es  bald  geschehen  möge,  mit  diesem  Wunsche  und  mit  aufrichtigem 
Danke  gegen  die  Herausgeber  für  ihre  mühevolle  Arbeit  will  ich 
schließen. 

Berlin.  Ernst  Kagelmacher. 


Yolkmar,  Prof.  D.  Gustav,  Paulus  von  Damaskus  bis  zum  Oalater- 
brief.    Zürich,  Schröder  u.  Meyer.    1887.    YUI  u.  120  S.    8^ 

Der  größere  Teil  des  Inhaltes  dieser  Schrift  war  schon  ver- 
öffentlicht, nämlich  die  erste  Abhandlung:  »Oeschichte  des  Ap. 
Paulus  und  seiner  Zeit  von  Damascus  bis  zum  Galaterbrief, 
in  den  Grundzttgen,  nach  ihm  selbst  und  nach  Lucasc  in  der 
Schweiz«  Tbeol.  Zeitschr.  1884,  und  die  zweite :  »Ein  Gang  durch 
die  beiden  Apostelgeschichten  Neuen  Testaments,  im  Be- 
reiche des  Apostelstreites«  ebenda  1885.  Es  ist  dankenswert,  daß 
V.  von  diesen  beiden  früher  erschienenen  Aufsätzen  eine  zweite  re- 
vidierte Ausgabe  veranstaltet  hat,  da  die  genannte  Zeitschrift  ver- 
hältnismäßig nur  Wenigen  zugänglich  ist.  Eine  neue  Zugabe  ist 
der  dritte,  der  exegetisch  ergänzende  Teil,  welcher  einen  »Gang 
durch  den  Galaterbrief«  enthält.  —  Durch  die  allmähliche 
Entstehung  der  einzelnen  Teile  ist  auch  die  Anlage  des  Ganzen 
beeinflußt  und  zwar,  wie  hier  gleich  gesagt  werden  kann,  in  mis- 
licber  Weise.  Nicht  nur  behandelt  der  zweite  analytische  und  aus- 
fahrende Teil  im  Wesentlichen  dieselben  Dinge  wie  der  erste  ein- 
leitende nnd  thetische,  wodurch  eine  Menge  von  Wiederholungen 
herbeigeführt  werden.  Sondern  auch  der  Ueberblick  Aber  die  ganze 
Beweisführung  wird  dadurch  wesentlich  erschwert,  daß  die  Grttüde 


892  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  23. 

für  die  einzelnen  Behanptangen   an  den  verschiedenen  Stellen  der 
Arbeit  erst  zosammenznsachen   sind.     Treten  wir   dem  Inhalte  der 
Schrift   selbst  näher,   so   gelangt  V.   in   dem  Bestreben,   die   erste 
christliche  Geschichte  von  Paulos  an  von  dem  ttber  ihr  schwebenden 
Dunkel  zu  befreien   und   klar   und  einheitlich  darzulegen,   za  ganz 
neuen  Resultaten.    Die  Grundlage  für  seine  Untersuchungen  sichert 
er  sich  dadurch,  daft  er  zunächst  den  vielfach  unzuverlässigen  Cha- 
rakter  der  AG.   nachzuweisen  sucht     Die   AG.  datiert   naeb  dem 
Verf.  ihrem  Grunde  nach  zwar  schon  seit  etwa  65,  ist  aber  in  ihrer 
gegenwärtigen   Gestalt  eine  Ueberarbeitung    aus  dem  Anfange  des 
2.  Jahrb.  (S.  8).   Eine  ihm  vorliegende  ältere  Erzählungsschrift  Ober 
Paulus'  Leben,  den  sog.  Wir-Bericht,  der  wohl  schon  bald  nach  des 
Apostels  Tode   verfaßt  war,   hat  der  spätere  Verf.  des  kanonischen 
Geschichtswerkes    bei   seiner  neuen  dem  Interesse  der  Eircheneini- 
gung  dienenden  Bearbeitung  nicht  nur  weitgehend  benutzt,   sondern 
auch  eingreifend  geändert   durch   systematische  Znsetznng,  Umstel- 
lung und   Versttlmmelung   (S.  23).     Neben    der  AG.  kommen   als 
Quelle  in  Betracht  die  4  großen  Paulus-Briefe,  welche  allein  für  das 
apostolische   Zeitalter   die   sicheren   Schriftzeugen   abgeben  können. 
Die   Hauptpunkte   der  Geschichte,   um   die  es  dem  Verf.  bei  seinen 
mit  dem  gewohnten  Scharfsinne  geführten  Untersuchungen  zu   than 
ist,  sind  nun  folgende:    1)  Der  Bericht    der  AG.   über  das  Apostel- 
concil  steht  in  c.  15  an  falscher  Stelle.    »Dies  c.  15,  1 — 31  ist  der 
Hauptzwietrachtstifter  und   Verderber   der  Geschichte   des   Apostels 
Paulus  selbst   und  ihrer  Chronologie   von  jeher  gewesene.    Es  ist 
eine  »clerical  paulinischet  Phantasie  des  2.  Jahrhunderts.  —    Nach 
dem  im  Uebrigen   anders  gearteten   Vorgange   von  Wieseler   hält 
V.  18,  22   für  die   richtige  Stelle   für   das   von  Paulus  Gal.  2   ge- 
schilderte Ereignis.     Hier   aber  hat   der  spätere  Pauliner  den   ihm 
unliebsamen   Zwischenfall   unter   der  nichtssagenden  Wendung   der 
Begrüßung   der  Gemeinde  begraben.  —   2)  Der  Galaterbrief  ist  55 
von  Antiocbia  aus  geschrieben,   wohin  sich  Paulus   nach   dein  jem- 
salemischen  Goncil   noch  für  2  Jahre   und   mehrere  Monate  znrttek- 
begab.  —  3)  Der  Galaterbrief  setzt  nur  einen  Besuch  des  Apostels 
bei    den    Oalatern   und   nur   eine   erstmalige   Bethörung   derselben 
durch   Gegner   voraus.  —  Demgemäß   ist   die  Geschichte   von  Da- 
maskus  bis   zum   Galbr.   in    Wirklichkeit  nach   V.  folgendermaßen 
verlaufen:   Bekehrung   vor   Damaskus.     Thätigkeit  in  Arabien  und 
Damaskus.     Nach   3   Jahren   erster   Besuch   in   Jernsalem. 
Vierzehnjährige  Thätigkeit  zunächst  unter  Juden  und  Heiden,  später 
vor  Allem  unter  Heiden ;  in  diese  Zeit  fällt  auch  die  Gründung  der 


Volkmar,  Paulus  von  Damaskus  bis  zum  Galaterbrief.  898 

galatischen  Gemeinden.  Nun  erat  erfolgt  der  Apostelkonvent  mit 
der  zweiten  Reise  des  Panlns  nach  Jerusalem.  Rück- 
kehr des  Paulus  nach  Antiochia,  Sammlung  einer  Kollekte  dort  für 
Jerusalem  und  persönliche  Ueberbringung  bei  einer  dritten  Reise 
des  Apostels  nach  Jerusalem.  Dankesbesnch  des  Petrus  in 
Antiochia  und  scharfer  Zusammenstoß  mit  Panlns.  Im  Znsammen- 
hange damit  Beunruhigung  und  Bethörung  der  Oalater.  Dadurch 
veranlaftt  55  abgefaßter  Brief  des  Paulus  an  die  Galater  von  An- 
tiochia aus.  Der  Erfolg  des  Briefes,  der  sich  aus  1  Gor.  16,  1  er- 
schließen läßt,  veranlaßt  56  den  Apostel  zu  dem  schon  geplanten 
Besuche  bei  den  Galatern  (AG.  18,  23).  —  Das  Uebrige  kann  hier 
übergangen  werden.  Aus  dem  Mitgeteilten  wird  zur  Genüge  er- 
sichtlich, wie  ganz  anders  sich  das  Bild  nach  V.  gestaltet  im  Ver- 
gleiche mit  der  herkömmlichen  Auffassung.  Prüfen  wir  wenigstens 
an  einigen  wichtigen  Punkten,  mit  welchem  Rechte  V.  die  bisherig 
gen  Annahmen  verwirft.  Vorher  aber  dürfte  noch  ein  Vorwurf  ab- 
gelehnt werden,  den  V.  wiederholt  erhebt,  daß  nämlich  bewußt  oder 
unbewußt  alle,  die  seiner  Auffassung  beizustimmen  nicht  geneigt 
wären,  unter  dem  Banne  des  Kanons  ständen.  In  dieser  Allge- 
meinheit ausgesprochen  ist  solche  Anklage  übertrieben  und  unge« 
recht.*-  Vielmehr  stehn  den  V.schen  Sätzen  ernste  sachliche  Beden- 
ken entgegen.  Hinsichtlich  des  ersten  Hauptpunktes,  der 
falschen  Stellung  des  Apostelconcils  c.  15  statt  c.  18,  besteht  bei  V. 
die  Grundvoraussetzung,  daß  Paulus  unmöglich  die  lange  Zeit  von 
14  Jahren  nur  in  Syrien  und  Gilicien  und  etwa  noch  in  Pisidien 
nnd  Lycaonien  (AG.  13.  14)  könnte  gewirkt  haben.  Diese  Zeit 
muß  nach  seiner  Meinung  unbedingt  reicher  ausgefüllt  werden,  d.  h. 
sie  muß  sich  erstrecken  bis  zum  Ende  der  größten  Missionsreise  bei 
18,  17  (S.  71).  Diese  Annahme  ist  aber  schließlich  nur  ein  unbe- 
gründetes Postulat  des  Verf.  Denn  1)  läßt  das  dreimalige  iruita 
Gal.  1,  18.  21;  2,  1  es  als  das  Natürlichste  wenn  nicht  einzig  Mög- 
liche erscheinen,  daß  Paulus  hier  genau  der  Reihe  nach  seine 
Aufenthaltsorte  vor  und  nach  seinem  ersten  jerusalemischen  Besuche 
bis  zu  seinem  zweiten  angeben  wollte.  Kein  unbefangener  Leser 
konnte  auf  den  Gedanken  kommen,  daß  in  den  14  Jahren  Gal.  2, 1 
sich  abgesehen  von  der  eben  1,  21  angegebenen  Wirksamkeit  in 
Syrien  und  Gilicien  jener  gewaltige  Missionszug  durch  das  übrige 
Asien  nnd  Europa  verberge.  —  2)  wird  sich  schwerlich  beweisen 
lassen,  daß  Paulus  in  Syrien  und  Gilicien  nicht  genug  zu  thnn  ge- 
habt habe  während  jener  Zeit.  Daß  wir  nicht  so  viel  —  in  der 
AG.  nur  ganz  nebenbei  etwas  —  davon  hören,   ist  begreiflich,  weil 


894  G5tt.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  23. 

dieses  bescheidene  Wirken  in  der  Stille  in  be^änzter  AasdebniiDg 
in  der  späteren  Erinnemng  ganz  znrttcktreten  matte  gegen  die 
weitbin  siebtbaren,  ancb  äofterlicb  mäcbtigen  Miesionserfolge  in  der 
großen  Welt  (Vgl.  die  feinen  Bemerkungen  Weizsäckers  Ap.  Zeit- 
alter S.  84  f.).  —  Ein  weiterer  Hauptgrund  des  Verf.  ist  der ,  da0 
die  galatiscben  Gemeinden,  welche  erst  zur  Zeit  von  A6.  IG,  6  ge- 
gründet worden  seien,  erst  in  dem  Galaterbriefe  von  den  Vorgängen 
in  Jerusalem  und  Antiochia  das  erste  Wort  erführen.  Da  nnn  aber 
Paulus  dies,  falls  die  Ereignisse  schon  stattgehabt  hätten,  ihnen  bei 
seinem  persönlichen  ersten  Erscheinen  unmöglich  hätte  verschweigen 
können,  mUftten  eben  jene  Ereignisse  hinter  16,  6  liegen.  Auch 
hier  macht  V.  wiederum  eine  unrichtige  Voraussetzung,  daft  nämlich 
Paulus  gleich  bei  der  ersten  Verkündigung  jene  gewichtigen  Vor- 
gänge hätte  erwähnen  mttssen.  Das  brauchte  er  nicht  nur  nicht, 
sondern  wird  es  auch  sicherlich  nicht  gethan  haben.  Wozu  sollte 
er  eine  noch  junge  vom  Kampfe  unbertthrte  Gemeinde  hineinziehen 
in  das  Gewirre  und  Getobe  des  Streites?  Er  wird  ihnen  ohne  alle 
Polemik  das  Evangelium,  wie  es  ihm  geoffenbart  war,  gepredigt 
haben.  Erst  später  trat  an  ihn  die  traurige  Notwendigkeit  heran, 
seine  Schöpfung  gegen  verläumderische  Angriffe  der  Jndaisten  si 
verteidigen,  und  damit  die  Pflicht,  seinen  Gemeinden  genauen  Be- 
scheid zu  thun  über  das,  was  zwischen  ihm  und  den  Jernsalemem 
vorgefallen  war.  —  Endlich  sei  noch  ein  drittes  Argument  von  V. 
gewürdigt,  das  zugleich  zum  zweiten  Hauptpunkt:  der  An- 
setzung  des  Galbr.  um  Ö5  in  Antiochia,  überleitet  Der  Verf.  ist 
bei  aller  scharfen  rücksichtslosen  Kritik,  die  er  an  der  AG.  übt,  der 
unerschütterlichen  Ueberzeugung,  daß  die  18, 22  erwähnte  Reise  nach 
Jerusalem  vom  Verf.  der  AG.  nicht  aus  der  Luft  gegriffen  sein  kann. 
Denn  das  habe  er  einerseits  ans  keinem  Grunde  nötig  gehabt,  da 
er  schon  11,30  den  Paulus  dorthin  mitziehen  lieft,  andrerseits  merke 
man,  wie  ihm  dieser  Hinaufzug  18,  22.  23  die  größte  .Verlegenheit 
bereite.  Allein  die  barmlose  Notiz  18,  22  läßt  sich  doch  aneh  auf 
anderem  Wege  leicht  erklären.  Der  Verf.  der  AG.  wird  als  selbst- 
verständlicb  angenommen  haben,  daß  Paulus,  von  seiner  großen 
Missionsreise  nach  Antiochia  zurückkehrend,  nicht  unterließ  das  be- 
nachbarte Jerusalem  aufzusuchen.  Die  Stelle  18,  22.  23  verfthrt 
aber  den  Verf.  noch  zu  weiteren  gewagten  Schlüssen.  Obwohl  V. 
mit  richtigem  Blicke  den  durchaus  sekundären  Charakter  der  Be- 
richterstattung 18,  18  ff.  erkennt,  hält  er  sowohl  die  Rückkehr  des 
Apostels  nach  Antiochia  und  einen  längeren  Aufenthalt  dort  (V. 
weiß  genaU)  daß  x^oVei^  nyi  AG.  18,  33  einen  Zeitraum  von  2  Iah- 


Volkmar,  Paulus  von  Damaskus  bis  zum  Galaterbrief.  895 

reo  und  mehr  als  3  Monaten  thatsächlicb  umfaßt  hat)  als  die  daran 
sich  anschließende  Beise  durch  Galatien  und  Phrygien  für  acht  hi- 
storisch. Ja  er  wagt  sogar,  ans  der  18,  23  stattfindenden  Voran- 
stellong  von  Galatien  vor  Phrygien  (vgl.  die  Voranstellong  von 
Phrygien  16,  6)  zu  erraten,  daß  die  Galater  während  seines  letzten 
Anfenthaltes  in  Antiocbia  in  erster  Linie  beunruhigt  and  in  Gefahr 
gebracht  worden  waren,  weshalb  nun  Paalns  bei  ihnen  seine  Reise 
zu  »allen c  Jüngern  18,  23  anhebt.  Macht  sich  nicht  hier  der  Verf. 
desselben  Verfahrens  schuldig,  das  er  nicht  scharf  genug  bei  seinen 
Gegnern  tadeln  kann,  daß  sie  nämlich  die  klaren  Aussprüche  des 
Paulus  deuten  und  zwingen  nach  den  Angaben  der  AG.?  Den  farb- 
losen Mitteilungen  16,  6  und  18,  23  zu  Liebe  wird  das  Bild  verän- 
dert, das  wir  uns  nach  den  pauliniscben  Briefen  allein  machen  mtts- 
sen.  —  Hinsichtlich  des  dritten  Hauptpunktes  wird  V.  wohl 
noch  am  leichtesten  mit  seinen  Darlegungen  Gehör  finden.  Was  er 
gegen  eine  zweimalige  BethOrung  der  Galater  vor  Abfassung  des 
paulinischen  Briefes  an  sie  vorbringt,  ist  in  der  That  ernstester  Er- 
wägung wert.  Nicht  ohne  Grund  lassen  sich  Gal.  1,  6;  3,  1 ;  5,  8 
fllr  eine  erstmalige  Bethörnng  ins  Feld  ftthreo.  Daß  wir  dem  Apo- 
stel keine  »aufgewärmte  Medicine  zutrauen  dürfen,  ist  ebenfalls 
richtig.  Rätselhaft  wäre  auch  gewiß,  wenn  dies  Mal  das  Sehreiben 
des  Apostels  mehr  ausgerichtet  hätte  als  sein  lebendiges  Wort 
Allein  wo  besteht  denn  der  Zwang  zu  der  Annahme,  daß  es  sich  in 
beiden  Fällen  um  ganz  dieselbe  Behexung  der  Gemeinden  gehan- 
delt hätte,  die  Paulus  beide  Male  in  der  gleichen  Weise  zu  über- 
winden gesucht  hätte?  Was  hindert  vorauszusetzen,  daß  der  erste 
Angriff  der  Gegner  leichterer  Natur  war,  und  daß  die  persönliche 
Anwesenheit  des  Apostels  wieder  Alles  ins  Klare  brachte,  daß  erst 
ein  zweiter  ernsterer  Einbruch,  hinter  dem  gewichtige  einflußreiche 
Größen  standen,  bedenkliche  Folgen  hatte?  Einen  solchen  zweiten 
erfolgreichen  Versuch  der  Jndaisten,  die  paulinischen  Schöpfungen 
zu  verderben,  sehen  wir  uns  aber  trotz  V.s  Läugnen  genötigt  anzu- 
nehmen. Die  Stelle  5,  21  mag  preisgegeben  werden.  Derartiges 
konnte  Paulus  auch  bei  der  ersten  Verkündigung  gleich  betonen. 
Schon  schwerer  wird  man  sich  bei  1, 9  und  5, 3  von  V.  dahin  belehren 
lassen ,  daß  ägn  ndhv  und  ndhv  sich  auf  die  unmittelbar  voran- 
gegangene Behauptung  beziehe.  Eine  solche  Versicherung  hat  doch 
in  der  That  vielmehr  Sinn,  wenn  sie  schriftlich  abgegeben  die 
mündliche  bestätigt.  So  versichert  der  Apostel  1,  9  seinen  Lesern 
noch  ein  Mal  schwarz  auf  weiß,  daß  sein  mündliches  Wort,  1,  8 
picht  etwa  im  Affekte  gesprochen  war,  sondern  seine  innerste  em- 


896  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  23. 

BteBte  Ueberzeugung  ist.  VoIleDds  an  der  Stelle  4, 13  muß  die  exe- 
getische KuDSt  V.8  Bcheitern,  obwohl  er  gerade  hier  von  ^eIegeti• 
scher  Fabel«  nnd  »Hachtsprnch  reiner  Selbstvergessenheit«  in  Bezug 
auf  abweichende  Meinungen  redet.  Am  wenigsten  kann  es  dem 
Verf.  mit  der  Bernfung  anf  Rom.  1,  15  gelingen  zu  beweisen,  daft 
Paalüs  svayysUistT^M  anders  als  von  der  mUndlichen  Predigt  ge- 
braucht habe,  denn  jene  Stelle  bezieht  sich  ja  gerade  anf  die  yom 
Apostel  beabsichtigte  persönliche  Predigt  in  Rom.  Ebenso  ist  die 
Deutung  von  to  nqotsqov  höchst  gezwungen. 

Im  Einzelnen  sei  nur  noch  bemerkt,  was  schon  angedeutet 
wurde,  daß  V.  aus  Gal.  2, 10  eine  wirkliche  Kollektenreise  des  Apo- 
stels nach  Jerusalem  herausliest.  Statt  der  üblich  angenommeoen 
drei  haben  wir  also  vier  Reisen  nach  Jerusalem  zu  zählen  nach 
den  paulinischen  Briefen.  Diese  hat  die  AG.  sogar  auf  6  gestd- 
gert,  wie  V.  mit  Hülfe  von  AO.  24,  17  herausbringt.  Nach  allem 
Gesagten  wird  sich  die  herkömmliche  Auffassung  noch  behaupten 
können  neben  und  vor  der  neuen  von  Volkmar,  die  hauptsSchlieh 
durch  ihre  Geschlossenheit  geeignet  ist  Eindruck  zu  machen,  wenn 
sich  auch  bei  näherem  Zusehen  die  meisten  Argumente  nicht  ab 
stichhaltig  erweisen.  Immerhin  sollte  sich,  obwohl  auch  der  Ton, 
dessen  sich  V.  bedient,  oft  abstoßend  wirken  muß  —  vgl.  z.  B.  S.  30 
»ja,  ftlr  uns  rührend,  für  Paulus  um  so  erschütternder,  zeigten  aie 
(die  Galater)  sich  schon  bereit,  selbst  die  Beschneidong  noch  in 
ihren  alten  Tagen  auch  auf  sich  zu  nehmen«;  ferner  S.  103.  108  f.—} 
Niemand  von  dem  Studium  des  scharfsinnigen  Buches  abhalten 
lassen. 

Halle  a.  S.  Ed.  Gräfe. 


Fftr  dl«  B«daktion  Teraatwortlicli :  Prof.  Dr.  BtchUlt  Direktor  d«r  Odtt.  gel.  Am., 
AMenor  der  KAnigliolieii  Oesellechaft  der  Winenflehftftea. 

Ytfkig  der  Dkkriek*tehm  YmU^-Budüumälmig. 

Druck  dir  IHtUriek*9ehm  Üni9.-Smekdrwilurm  (t^.  W.  Xamkmf» 


897 


ööttingische 

gelehrte  Anzeigen 

unter  der  Aufsicht 

derKönigl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Nr.  24.  1.  December  1887. 


Preis  des  Jahrganges:  tjfL  24  (mit  den  »Nachrichten  d.  k.  6.  d.  Wiss.«:  JL  27). 
^|2  ^^^^B  ^^^  einzelnen  Nammer  nach  Anzahl  der  Bogen:  der  Bogen  50  Sy 

Inhalt:  Die  AbhAndliuigen  der  Ichw&n  M-8af&  in  Aoswahl.  Ileraosgeg.  ron  D  i  o  t  e  ri  e  i.  Von 
MMer.  —  Quellen  znr  Geschichte  der  Stadt  Worms.  I.  Teil.  Band  I. ;  Urkunden  zur  Geschichte  der 
Stadt  Speyer.  Von  ScMIU.  —  Zimmermann,  Das  Archir  der  Stadt  Hermannstadt  nnd  der  sächsi- 
schen Nation.    Ton  /VrftecA. 

==  EJgenmäohtlger  Abdruck  von  Artikeln  der  G5tt.  gel.  Anzeigen  verboten.  ^ 

Die  Abhandlungen  der  Ichwän  es-safft  in  Auswahl.  Zum  ersten 
Mal  aus  arabischen  Handschriften  herausgegeben  von  Fr.  Dieterici. 
Leipzig,  Hinrichs,  1886.    XIX,  6S5,  2  [unpaginierte]  SS.    8^ 

Die  erste,  170  Seiten  umfassende  Lieferung  von  Dietericis  Aus- 
gabe der  hauptsächlichsten  Textstttcke  aus  den  Abhandlungen  der 
»Lantern  Brttder«  ist  von  dem  Unterzeichneten  in  Nr.  24  dieser 
Blätter  vom  1.  December  1884  S.  953  ff.  besprochen  worden.  Im 
Hinblick  auf  einen  in  meiner  damaligen  Anzeige  geäußerten  Wunsch 
spricht  sich  Dieterici  über  die  Art  des  nunmehr  vollendet  vorliegen- 
den Werkes  in  seinem  Vorwort  (S.  XVII f.)  ans  wie  folgt:  »Der 
Heransgabe  dieser  Texte  liegt  Cod.  Paris.  1005  zu  Grunde;  vergli- 
chen habe  ich  den  Wiener  Godd.  \s\c[  Nr.  1  und  den  God.  Oxford, 
der  unter  Mathesis  Marsch.  [$ic]  189  verzeichnet  und  als  über 
tractatuum  variorum  de  varus  Matheseos  partibns  auct.  Magriti  Arab, 
verzeichnet^)  ist.  Bei  dieser  Angabe  ist  nur  der  erste  Theil  des 
Gesammtinhalts  berücksichtigt.  Die  Unzahl  von  Lesarten  in  den 
verschiedenen  Handschriften,  die  offenbaren  Verwirrungen  bei  den 
stets  mit  ,;Wisse^'  anfangenden  Sätzen  und  den  häufigen  Lücken 
würden  dies  Buch  um  etwa  10  Bogen  erweitern.  Dieses  verbietet 
sieb  ans  materiellen  Rücksichten.    Sehr  zu  beklagen  ist  dieser  Ver- 

1)  6^tü  —  soll  wohl  heißen  bezeichnet,  nämlich  auf  einem  Vorsatzblatte 
oder  dergleichen  in  der  Hs.  selbst;  denn  im  Bodleianischen  Katalog  I,  216  f. 
steht  eine  vollkommen  richtige  Inhaltsangabe  und  nichts  von  obigen  Worten. 

Gdit.  gal.  Ans.  1887.  Nr.  24.  62 


898  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  24. 

last  nicht,  bei  den  Editiones  prineipes  der  arabigchen  Literatar  Ober- 
wiegt das  philologische  Können  beim  Herausgeber,  d.  h.  die  sichere 
Behandlung  der  Handschriften  und  Combinirung  des  Sinns  bei  nn- 
dentlicher  und  fehlerhafter  Schrift,  das  philologische  Wissen  der  ein- 
zelnen Lesarten.  Unsere  Handschriften  in  Europa  sind  zumeist  von 
unkundigen  Lohnschreibern  gemacht.  Von  wissenschaftlicher  Kennt- 
niss  und  Treue  ist  da  wenig  zu  finden.  Wie  lange  schon  ist  die  na- 
tionale Bildung  im  Osten  verblichen!  Da  sitzt  so  ein  stumpfer 
Orientale  an  der  Straßenecke  und  schreibt  auf  seinem  Knie  die 
Werke  der  Wissenschaft,  täglich  muß  er  zwei  Hefte  fertigen  um  zu 
leben,  billige  Manuscriptenwaare  muß  er  liefern,  von  Wissenschaft 
oder  Akribie  i«t  da  keine  Ahnung,  und  all  die  Fehler,  die  er  in 
Leichtsinn  oder  Unverstand  macht,  sollen  wir  dann  sorgfältig  im 
Druck  vervielfältigen!  Bei  Dichtern  mag  man  die  sinngewährenden 
Varianten  angeben,  da  ist  noch  eine  Tradition.  Zu  Fachwerken 
gehören  aber  neben  Sprachwissenschaft  noc[h]  andere  Kenntnisse, 
und  die  hat  ein  solcher  Lohnschreiber  nicht;  ich  kann  daher  diesen 
[sie]  Wunsch  des  Herrn  Prof.  Müller,  der  in  den  Götting.  gel. 
Anzeigen  No.  24.  1884  den  ersten  Fascikel  dieses  Werks  besprach 
und  dem  ich  für  diese  streng  wissenschaftliche  Arbeit  meinen  Dank 
hiermit  sage,  nicht  nachkommen.  Auch  haben  die  bedeutendsten 
Autoren,  wie  de  Sacy,  Fleischer,  Freitag  [sic]^  Dozy,  Ko- 
segarten, Ahlwardt,  bei  ihren  meisten  Werken  ähnlich  ge- 
dacht«. 

Ich  bin  für  die  freundliche  Art,  in  welcher  Dieterici  meine  Be- 
merkungen aufgenommen  hat,  viel  zu  erkenntlich,  als  daß  ich  obigen 
Sätzen  in  der  »schärferen  Tonart«  entgegentreten  möchte,  zn  wel- 
cher der  eine  oder  der  andere  von  ihnen  mich  ebenso  verftihren 
könnte,  wie  die  Einreihung  von  Dozys  Namen  in  eine  Liste,  die 
gerade  sein  Verfahren  bei  der  Herausgabe  von  Texten  abzuweisen 
bestimmt  scheint  —  siehe  Makkari,  Abbadiden,  Ibn  Badrfin,  Aitb 
und  so  weiter.  Ich  begnüge  mich,  Dieterici  darauf  aufmerksam  zu 
machen,  daß  ich  etwas  so  Ungereimtes,  wie  er  sich  darunter  vor- 
stellt, niemals  verlangt  habe:  GGA.  1884  S.  962  steht  —  ich  hebe 
die  entscheidenden  Worte  im  Druck  hervor  —  zu  lesen :  »Mehr  noch 
habe  ich  .  .  .  die  Angabe  derjenigen  Varianten  vermißt,  welche  fur 
die  Gestaltung  des  Textes  von  Bedeutung  sind^.  Nun  hatte  er  ja 
freilich  durchaus  das  Recht,  auch  diesem  Wunsche  die  ErfflUong  zu 
versagen.  Es  ist  ein  öffentliches  Geheimnis,  welches  an  dieser  Stelle 
mit  Schweigen  zu  ttbergehn  kein  Grund  vorliegt,  daß  Dieterici  in 
selbstlosester  Weise  schon  seit  langer  Zeit  erhebliche  Opfer  gebracht 
bat,   um   seinen  Fachgenossen   die  Bekanntschaft   mit  den  Schriften 


j 


Die  Abhandlungen  der  Ichw&n  e8-8af&  in  Auswahl.    Herausg.  von  Dieterici.    899 

der  »Lauteren  Brüder c  zu  yermittela,  und  je  dankbarer  wir  solche 
gemeiontttzige  Thätigkeit  anzuerkennen  haben,  um  so  eher  darf  er 
erwarten,  daß  wir  seine  Gaben  mit  bescheidener  Zurückhaltung  ent- 
gegennehmen nnd  mit  dem  zufrieden  sind,  was  die  Verhältnisse  ihm 
zu  spenden  gestatten.  Eine  Forderung  indessen  ist  es,  die  wir  fest- 
halten müssen,  und  zu  der  seine  eigenen  Worte,  wie  ich  sie  eben 
mitgeteilt  habe,  uns  noch  besonders  berechtigen:  wir  müssen  in  der 
Gestalt  des  Textes  selbst,  wie  er  uns  Yorgelegt  wird,  eine  Art  Ge- 
währ finden,  daft  sich  das  »philologische  Können«,  das  wir  bei  dem 
Herausgeber  voraussetzen,  mit  der  > Akribie«,  die  als  Pflicht  auch 
für  sich  Dieterici  gelten  lassen  wird,  zur  Vollendung  eines  im  We- 
sentlichen richtigen  und  genauen  Wortlautes  verbündet  hat.  Ich 
sage  ausdrücklich  im  Wesentlichen;  denn  wer  einmal  selbst  in  größe- 
rem Umfange  Handschriften  abgeschrieben  und  kollationiert  hat, 
weiß  sehr  gut,  daß  hier  wie  bei  allem  Menschenwerk  Irrungen  und 
Nachlässigkeiten  nur  zu  leicht  unterlaufen,  daß  ebensowenig  —  den 
Vergleich  habe  ich  schon  bei  einer  anderen  Gelegenheit  einmal  ge- 
braucht —  es  eine  Kollation  ohne  Versehen  wie  ein  Buch  ohne 
Druckfehler  gibt.  Ein  solche  Gewähr  nun  —  ich  muß  es  jetzt  un- 
umwunden aussprechen  —  fand  ich  vor  drei  Jahren  in  dem  Texte 
von  Dietericis  erstem  Hefte  nicht  mit  voller  Deutlichkeit  ausgeprägt, 
und  habe  mir  aus  diesem  Grunde  damals  seine  Pariser  Hauptband- 
schrift nnd  dazu  eine  von  ihm  nicht  benutzte  Oxforder  kommen  las- 
sen ,  um  auf  Grund  einer  eigenen  Vergleichung  zu  einem  sicher  be- 
gründeten Urteile  zu  gelangen.  Ich  fand  damals,  wie  ich  durch  Ab- 
druck der  betreffenden  Lesarten  belegt  habe,  daß  Dietericis  Text 
von  dem  seiner  eigenen  Haupthandschrift  an  einer  erheblichen  An- 
zahl von  Stellen  abwich,  und  die  Uebereinstimmung  jener  Hand- 
schrift mit  der  von  ihr  durchaus  unabhängigen  Oxforder  war  nicht 
danach  angethan,  die  Abweichungen  durchaus  gleichgiltig  erscheinen 
zu  lassen.  Trotzdem  hielt  ich  es  noch  für  geboten,  mit  einem  end- 
giltigen  Urteile  zurückzuhalten,  weil  ich  mit  der  Möglichkeit  rech- 
nen mußte,  daß  weiteres,  mir  nicht  zugängliches  handschriftliches 
Material  wenigstens  vieler  Orten  den  Herausgeber  zur  Bevorzugung 
einer  anderen  Lesart  berechtigt  haben  konnte.  Aus  diesem  Grunde 
sprach  ich  den,  wie  ich  auf  Grund  meiner  Feststellung  des  hand- 
schriftlichen Bestandes  mit  Nachdruck  betonen  muß,  berechtigten 
Wunsch  aus,  daß  Dieterici  durch  Mitteilung  seines  Apparates  ein 
abschließendes  Urteil  ermöglichen  wolle;  und  wenn  ich  hier  eben 
bereitwillig  zugegeben  habe,  daß  äußere  Gründe  ihn  verhindern  durf- 
ten, einem  solchen  Wunsche  Folge  zu  geben,  so  muß  ich  doch  ge- 
stehn,  daß  icfa  zu  einigem  Ersätze  daftlr  eine  Aeußerung  darüber 

62» 


900  Gott.  gel.  An«.  1887.  Nr.  24. 

erwartet  hatte,  auf  welcbe  Weise  ddd  überhaupt  die  nnlängbare 
Thatsache  des  Vorhandenseins  wesentlicher  Unterschiede  zwischen 
dem  Drnck  and  der  Hanpthandschrift  zu  erklären  sei.  Diesen  Punkt 
berührt  Dieterici  aber  mit  keinem  Worte;  wenn  ich  daher  jetzt  durch 
die  mir  in  höflichster  Form,  aber  mit  vollkommener  Deutlichkeit 
erteilte  fin  de  non-recevoir  mich  genötigt  sehe,  zu  meiner  eigenen 
Rechtfertigung  die  Thatsachen  zusammenzustellen,  welche  auch  bei  der 
näheren  Untersuchung  der  Schlußlieferungen  des  Werkes  die  bei  der 
Betrachtung  der  ersten  aufgetauchten  Zweifel  immer  von  neuem  rege 
machten,  so  wird  Dieterici  darin  keine  mutwillige  Nörgelei,  keine 
misgUnstige  Verkleinerung  seiner  von  mir  stets  bereitwillig  aner- 
kannten Verdienste  finden  dürfen. 

Zu  einer  solchen  Zusammenstellung  veranlaßt  mich  noch  ein 
Zweites.  S.  XVIII  seiner  Vorrede  sagt  Dieterici:  »Was  die  Gegen- 
wart versagt,  mag  die  vorurtheilsfreiere  Nachwelt  leisten.  Es  wird 
doch  wohl  einmal  die  Zeit  kommen,  in  welcher  wenigstens  ein  Theil 
der  Arabisten  die  culturhistorische  Wichtigkeit  der  wissenschaftlichen 
Bestrebungen  der  Araber  würdigen  wird,  und  daß  auf  dem  von  mir 
angebahnten  [sie]  dereinst  weiter  geschafft  werde,  ist  eine  freudige 
Hoffnung,  die  den  Pfadfinder  für  alle  Mühe  und  Enttäuschung  trö- 
stet«. Das  stimmt  mit  den  Ausführungen  S.  IV  f.  zusammen,  welche 
darauf  hinauskommen,  daß  die  arabischen  Philologen  der  Jetztzeit 
einige  »bedeutende  Historiker  wie  Dozy,  Amari,  Sprenger 
u.  a.€  ausgenommen,  sich  entgegen  dem  Spruche  »der  Buchstabe 
tödtet,  der  Geist  aber  ist  es,  der  lebendig  macht«  eigentlich  nur  um 
Dichter,  Scholastik  und  Grammatik  kümmern,  daß  insbesondere  »der 
Literatur  zweig  der  Philosophie  fast  ganz  unbeachtet«  geblieben 
sei;  »es  ist  kaum  glaublich,  daß  seitdem  Schmölders  schon  1835 
[sie]  mit  seinem  „documenta  phiiosophiae  Arabum'^  hervortrat,  dem 
er  dann  seinen  Essai  1842  folgen  ließ,  die  Philosophie  der  Araber 
nur  wenig  und  nur  sporadisch  angebaut  ist«.  Und  in  ähnlichem 
Sinne  vernahmen  wir  schon  1878  Dietericis  Klage  im  Vorwort  zu 
seinem  Darwinismus  (S.  VIII):  »Denn  es  ist  nun  einmal  mein 
Standpunkt ,  daß  die  Philologie  sich  nicht  bloß  mit  Buchstaben  und 
Worten,  sondern  vorzüglich  mit  dem  Geist  der  Culturvölker  zu  be- 
fassen habe,  und  daß  die  Grammatik  wie  das  Lexicon  nicht  Selbst- 
zweck, sondern  Mittel  zu  diesem  Hauptzweck  sind  ....  Diesen 
Standpunkt  geltend  zu  machen  und  die  Araber  als  ein  Glied  in  die 
Kette  der  Culturvölker  einzureihen,  ist  das  Ziel  wofür  ich  stritt  und 
wofür  ich  litt;  denn  die  Buchstabier  im  Semitismus  können  das  una 
nimmer  verzeihen :  Der  Buchstabe,  meinen  sie,  macht  lebendig,  aber 
der   Geist  tödtet,    drum   wenn  jemand    der    geistigen  Philologie  zu- 


Die  Abbandlangen  der  Icbw&n  es-safi  in  Answabl.    Heransg.  von  Dieterici.    901 

strebt:  Anathema  sit«.  Ich  will  hier  nicht  erörtern,  ob  wirklich  seit 
Schmölders  »die  Philosophie  der  Araber  nur  wenig  und  nur  spora- 
disch angebaut«  ist  —  schon  die  Namen  Munck  und  Renan  sprechen 
nicht  daftar  — ;  auch  soll  außer  Frage  bleiben,  ob  in  der  That  heute 
noch  nicht  einmal  »ein  Theil  der  Arabisten  die  culturhistorische 
Wichtigkeit  der  wissenschaftlichen  Bestrebungen  der  Araber  wür- 
digt« (v.  Eremers  Culturgeschichte  erschien  1875 — 77);  aber  wovon  ich 
Dieterici  gern  tiberzeugen  möchte,  das  ist  die  Richtigkeit  meiner  — 
wie  ich  glaube  auch  von  Anderen  geteilten  —  Ansicht,  daß  die  von 
ihm  übrigens  vielleicht  in  zu  trübem  Lichte  angeschaute  Einfluß- 
losigkeit  seiner  Schriften  über  die  Lauteren  Brüder  in  einigen  unse- 
rer wissenschaftlichen  Kreise  ihren  Grund  nicht  sowohl  in  der  Vor- 
eingenommenheit oder  Beschränktheit  der  Zeitgenossen,  als  in  ge- 
wissen Mängeln  begründet  ist,  welche,  ohne  das  Verdienst  seiner 
unermüdlichen  Arbeit  zu  vernichten,  doch  den  Erfolg  derselben  min- 
dern, weil  sie  der  wissenschaftlichen  Ausnutzung  des  von  ihm  ge- 
lieferten Stoffes  im  Wege  stehn.  Und,  um  es  mit  einem  Worte  zu 
sagen:  eben  die  allzuweit  getriebene  Verachtung  des  »Buchstabens 
welcher  tödtetc,  bringt  Dieterici  und  uns  um  einen,  leider  nicht 
immer  geringen  Teil  der  Früchte  seines  Fleißes  —  wenn  er  sich 
genötigt  sieht,  am  Schlüsse  seiner  Vorrede  sich  über  ungenügende 
Anerkennung  seiner  Bestrebungen  zu  beschweren,  so  steht  das  in 
einem  inneren  Zusammenhange  mit  der  zu  Anfang  derselben  hervor- 
tretenden Abneigung,  sich  dem  zu  fügen,  was  er  als  schulmeister- 
hafte Pedanterie  in  unserer  wissenschaftlichen  Methode  zu  verwer- 
fen scheint. 

Wie  wenig  es  Dieterici  der  Mühe  wert  hält,  im  Einzelnen  genau 
zu  sein,  das  erweist  schon  eine  an  sich  unbedeutende,  aber  bezeich- 
nende Kleinigkeit  am  Schlüsse  seines  diesmaligen  Vorwortes  (S.  XIX). 
Er  sagt:  »Der  erste  Bogen  dieser  Ausgabe  hat  leider  aus  Versehen 
die  dritte  Correctur  nicht  durchgemacht,  auch  fehlte  mir  zu  Anfang 
der  Codex  Oxford.  Ich  gebe  deshalb  davon  [sie]  als  Verbesserun- 
gen ant  —  worauf  23  Verbesserungen  zu  S.  1 — 14  des  Textes,  und 
dann,  durch  »Fernere  eingeführt,  noch  9  weitere  zu  S.  22—40  fol- 
gen.  Die  letzteren  sind  sämtlich  meiner  Recension  des  ersten  Hef- 
tes entnommen;  von  der  ersteren  Reihe  wiederholen  zwei  (zu  3,  7 
und  6, 8)  ein  paar  Aenderungen  des  oUaJUul  f:^**^  zu  Heft  I,  die  ich 

in  meiner  Recension  (S.  964.  965)  als  den  Handschriften  wie  dem 
Zusammenhange  zuwiderlaufend  nachgewiesen  hatte,  fünf  sind  eben- 
falls meiner  Recension  (S.  970)  entnommen,  und  bei  zweien  von  die- 
sen (zu  6,  4  und  10,  14)  ist  es  ihm  begegnet,  daß  er  statt  meiner 
Verbesserung  seine  unrichtige  Vocalisation  genau  so,  wie  sie  in  sei- 


902  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  24. 

nem  Texte  stand,  wiederholt.    Daß  sich  die  Sache  wirklich  so  ver- 

hält,  ergibt  sich  einfach  ans  seiner  Schreibang  ^^/  (za  5,  3),    mit 

fehlendem  Artikel  wie  bei  mir  S.  970:  dort  hatte  ich  zar  Fortlas- 
snng  desselben  ein  Recht,   da   es  mir  auf  die  Beseitigang  des  fal- 

sehen  Te6dtd  auf  dem  j  von  ^^yCJI  des  Textes  ankam ;  erscheint  nun 

als  »Verbessernngc  bei  D.  ^y,  so  wird  bei  Einsetzung  desselben  in 

den  Text  ans  dem  ganzen  Satze  ein  Unsinn,  an  welchen  der  Heraus- 
geber  niemals  gedacht  haben  kann,  und  den  zu  erklären  es  keine 
Möglichkeit  gibt,  außer  daß  D.  eben  meine  Verbesserungen  einfach, 
ohne  seinen  Text  zu  vergleichen,  nachgeschrieben  und  dabei  also  in 
zwei  Fällen  statt  der  Verbesserung  das  zu  Verbessernde  wiederholt, 
in  einem  dritten  etwas  für  seinen  Zusammenhang  gänzlich  unpas- 
sendes herObergenommen  hat.  Ich  verttble  ihm  dabei  durchaus  nicht, 
daß  er  unter  der  Einführung  »Ich  gebe  .  .  .«,  ohne  mich  zu  nennen, 
32  Aenderungen  aufführt,  von  denen  13  von  mir  herrühren  —  nie- 
mand weiß  besser  als  ich,  daß  einer  absichtlichen  Irreleitung  des 
Lesers  selbst  in  einer  solchen  Nebensache  D.  gänzlich  unfähig  ist  — 
aber  das  ganze  Verfahren  und  die  bei  demselben  untergelaufenen 
»Verböserungen c  werfen  ein  deutliches  Licht  auf  die  Sorglosigkdt, 
mit  welcher  er  dem  »tödtenden  Buchstaben«  den  Rücken  kehrt  — 
eine  Sorglosigkeit,  die  leider  anderer  Orten  Schlimmeres  verschuldet 
hat,  als  bei  dieser  unwichtigen  Gelegenheit. 

Ich  will  nicht  behaupten,  daß  ausschließlich  in  dieser  Sorglosig- 
keit die  Ursache  liegt,  wenn  seine  Uebersetzungen  wie  sein  Text  der 
»Lauteren  Brüder«  nicht  den  allgemeinen  Beifall  gefunden  haben, 
den  ihm  persönlich,  davon  bin  ich  überzeugt,  jeder  Fachgenosse 
nicht  minder  gegönnt  hätte,  als  ich,  der  jüngere  Mann,  dem  es  stets 
zur  Genugthuung  gereicht  hat,  dankbar  zu  den  Leistungen  der  Ge- 
neration aufzublicken,  deren  Vertretern  ich  meine  wissenschaftliche 
Bildung  verdanke.  Nicht  wenig,  mehr  als  Dieterici  wird  zugeben 
wollen,  trägt  an  dem  Ausbleiben  des  Beifalls  ohne  Zweifel  das  Werk 
der  Lauteren  Brüder  selbst  die  Schuld.  Neben  manchen  verständig 
und  gut  geschriebenen  Partien  —  Einiges  aus  der  »Naturanschaunng« 
hat  noch  vor  kurzem  meinem  zoologischen  Kollegen  und  Freunde 
Chun  lebhaftes  Interesse  abgewonnen  —  findet  sich,  bei  einem  der- 
artigen Sammelwerke  keineswegs  auffallender  Weise,  Anderes,  das 
mehr  als  schwach  genannt  werden  muß;  der  Abschnitt  über  die  Ka- 
tegorien z.  B.  ist  von  einer  geradezu  unerlaubten  Oberflächlichkeit 
und  verdreht  an  mehr  als  einer  Stelle  (z.  B.  Text  S68,  3—5  = 
Kateg.  IS""  3  ff.;  868,  1  =  1%^  18)  den  Sinn  der  aristotelischen  Lehre 


Die  Abhandlungen  der  Ichw&n  es-safft  in  Answahl.   Herausg.  von  Dieterici.    903 

in  einer  Weise,  daß  man  klärlich  sieht,  wie  wenig  der  Verfasser 
anch  nur  zu  einem  leidlichen  Verständnis  derselben  gelangt  war  ^). 
Ich  will  diese  schon  von  Landauer  mehrfach  hervorgehobenen  und 
auch  in  meiner  vorigen  Recension  teilweise  behandelten  Mängel  nicht 
nochmals  aasftlhrlich  besprechen,  nur  um  die  Erlaubnis  bitten,  das 
Urteil  wörtlich  anzuführen ,  welches  ein  Philosoph  von  Fach,  mein 
Freund  Siebeck,  nachdem  er  für  seine  >Oeschichte  der  Psychologie c 
D.s  Uebersetzungen  aus  den  L.  Br.  dnrchgelesen,  in  folgende  Sätze 
zusammengefaßt  hat:  »Die  psychologischen  Anschauungen  der  L.  Br., 
die  im  11.  Jahrhundert  auch  in  Spanien')  Eingang  fanden,  haben 
auf  die  abendländische  Wissenschaft  besonders  neben  Avicenna  und 
Averroes  allem  Anschein  nach  wenig  Einfluß  gewonnen.  Dies  lag 
jedenfalls  daran,  daß  die  >  Brüder c  nicht  wie  jene  Philosophen  vor- 
wiegend Theoretiker  und  Systematiker  waren,  sondern  im  Orient  als 
Vertreter  einer  Art  von  praktischem  common  sense  auftraten  (was  sie 
übrigens  nicht  daran  hinderte,  allerhand  astrologischen  und  anderen 
in  der  Zeit  liegenden  Aberglauben  zu  teilen).  Damit  hängt  der 
durchweg  eklektische  Charakter  ihrer  theoretischen  Sätze  zu- 
sammen, die  Spekulation  und  Empirisches,  Platonisches,  Aristoteli- 
sches und  Medicinisches  in  bunter  Mischung  und  lockerem  Neben- 
einander aufweisen.  Ihr  Hauptaugenmerk  geht  ersichtlich  mehr  auf 
Anwendung  des  überlieferten  Bestandes  an  Theorien  zur  Erklä- 
rung von  Erscheinungen  des  charakterologischen  und  socialen  Le- 
bens (sowie  außerdem  zur  Begründung  einer  rationalistisch  gerich- 
teten Theologie).  Ihre  ganze  Spekulation  steht  daher  in  oberster 
Linie  überall  unter  der  Leitung  nicht  von  theoretisch-wissenschaft- 
lichen und  spekulativ-theologischen,  sondern  von  praktisch-anthropo- 
logischen und  den  höheren  Bedürfnissen  des  konkreten  weltlichen 
Lebens  entnommenen  Gesichtspunkten  —  Grund  genug  zur  Erklä- 
rung des  Umstandes,  daß  ihre  Lehren  für  die  Zwecke  der  christli- 
chen Scholastik  wenig  in  Betracht  kamen«.  —  Trotz  allem  dem 
läugne  ich  keinen  Augenblick,  daß  Dietericis  Gedanke,  die  Schrif- 
ten der  L.  Br.  durch  auszügliche  Uebersetzungen  und  eine  weiter 
verkürzte  Textausgabe,  so  weit  nötig,  allgemein  zugänglich  zu  ma* 
eben,  ein  durchaus  berechtigter  war:  auch  die  populären  Aufklärer 
haben  in  der  Geschichte  ihre  Bolle,  und  wahrlich  keine,  die  an  Ge- 

1)  Auch  851,  10   ist  der  Sinn  von  Porphyr.  Isag.  (Cod.  Berolin.  Peterm.  9 
fol.  62  ult.  —  63«)  äoAerst  ungeschickt  wiedergegeben. 

2)  Daß  auch  im  Orient  noch  in   später  Zeit   die  Abhandlungen  der  L.  Br. 
studiert  wurden,   ergibt   sich,   abgesehen   von   der  großen  Zahl  der  jungen  Hss., 
sowie  von  der  schon  von  Flügel  (ZD&iG  XIII,  3  Anm.  1)  erwähnten  Nachdichtung 
des  Lämfi,  auch  aus  der  Stelle  in  Wüstenfelds  Fachr  ed  din  S.  65  unten. 


904  Gott.  gel.  Anz.  1887.  No.  24. 

wicht  verliert,  wenn  man  anfhört,  wirkliche  Philosophie  dahinter  za 
BQchen.  Und  dazn  kommt ,  daß  in  den  Abhandlungen  der  L.  Br. 
sich  mancherlei  einzelne  Mitteiinngen  und  Bemerkungen  finden,  welche 
für  uns  von  Wert  sind  M»  mancherlei  zufällige  AeuBerungen,  die  aaf 
die  Verhältnisse  der  Zeit  ein  bezeichnendes  Licht  werfen ').  Sehr 
wertvoll  ist  ferner  Dietericis  Text  für  die  Geschichte  der  arabischen 
Sprache.    Es  finden  sich  mancherlei  Wörter,  die  bisher  in  unseren 

Wörterbüchern  fehlen.  So  s^\yo  Münzer  234,  4;  ^Uw  oder  cC^ 
Mistfahrer  198.  19;  204,  9;  284,  7.  11;  ^^y^  zunespältig  889,  17; 
241,  5;  eu^Oüi  Qidr-Verfertiger  228  1.  Z.,  welche  Nisbe  bekanntlich 
als  Laqab  vorkommt  und  auch  von  Sujfiti  im  Lubb  mit  dem  Vermerk 


^Jüüt  M  ^\  angeführt  wird;  ^y^ad-  =  o>Ij>a>  229,  2;  f^J^a^  (von 
B^L<u>  bei  Dozy  unter  ^^aao^)  229,  4;  ij^UT  229, 5 ;  C$j\jak  289, 8  (wenn 
nicht  ^^Liofi  zu  schreiben  ist);  (j;^^am#  Riemenschneider  und  ^^Ju) 
IHcTmüchverkäufer  229,  13;  oU5  Pflanzer  229,  20;  (ip^Uai  Verferiir 


1)  Dahin  rechne  ich  z.  B.  die  S.  365,  1  ff.  über  den  Unterschied  zwischen 
der  grammatischen  und  der  logischen  Terminologie.  Zwar  hin  ich  keinen  Aogeo- 
blick  im  Zweifel,  daB  auch  die  erstere  ebenso  wie  die  Anschauungen ,  auf  denen 
sie  beruht,  in  vielen  Punkten  von  den  Begriffen  der  aristotelischen  Logik  aus- 
geht ;  nicht  allein  die  Definitionen  von  Nomen  und  Yerbum  (vgl.  G  u  i  d  i ,  Bollettino 
italiano  degli  studii  orientali  I,  1877,  S.  438)  sind  auch  meiner  Meinung  nach 
aristotelisch,  sondern  noch  manches  andere,  wie  z.  B.  jp^«t  =  i^mri  Ar.  Hermen. 
16^  26  (wo  es  in  der  von  Hoffmann  herausgegebenen  üebersetzung  allerdings 
durch  o^  gegeben   wird),  \^KtSj  =  if^y&ic»^   (Hoffmann,    Hermen.    S.  210), 

^\j  vgl.  J^L  =  avydiefÄos  (ebd.  169),  ^jomo^  aus  JöL^  =  W#off  (ebd.  166), 

^r^  =  iij(*o  (vgl'  Arist.  Hermen.  17»  10,  wo  Hoffmanns  Uebersetzer  wie  sonst 
f^JS) ;  auch  jUjmJ  mag ,  wie  es  logisch  zum  Ausdruck  der  Kategorie  ngoi  u 
dient,  in  seiner  grammatischen  Bedeutung  der  Entwicklung  Porphyr,  isag.  c.  2 
entstammen.  Allerdings  will  ich  diese  Identificationen ,  welche  den  von  Guidi 
a.  a.  0.  aus  der  griechischen  Grammatik  gezogenen  ergänzend  zur  Seite  treten 
könnten,  noch   nicht  als   endgiltig   feststehend  betrachten:   das  Vorkommen  von 

Liyö,  \Ji,U^y  =  wnw<r»f  (Hoffimann  S.  191.  199),  von  ^L  =  ^dog  (ebd.  212) 
zeigt,  wie  leicht  umgekehrt  aus  dem  bereits  ausgebildeten  grammatischen  Sprach- 
gebrauch manche  Ausdrücke  wieder  in  die  späteren  üebersetzungen  philosophi- 
scher Schriften  übergehn  konnten.  Erst  eine  Untersuchung,  welche  darauf  aos- 
gienge,  Begriffe  und  Ausdrücke  des  Sibawaih  mit  der  aristotelischen  Logik  zu 
vergleichen,  würde  hier  vollkommene  Klarheit  und  vermutlich  interessante  Er- 
gebnisse erzielen;  die  angezogenen  Bemerkungen  der  Lauteren  Brüder  zeigen 
jedenfalls,  daS  zu  ihrer  Zeit  die  Wege  der  Logik  und  Grammatik  sich  bereits 
getrennt  hatten. 

2)  Dahin  rechne  ich  z.  B.  die  Stelle  360,  6,  wo  zur  Erläuterung  eines  vor- 
her arabisch  umschriebenen  Begriffes  ein  penüches  Wort  dient. 


Die  Abhandlungen  der  Ichw&n  es-saf^  in  Answahl.    Heransg.  von  Dieterici.    905 


ger  der  8^Laa£  genannten  Schüsseln  330,  19;  besonders  natürlich  anch 
philosophische  Ausdrücke,  die  zufällig  wenigstens  in  den  gangbaren 

Wörterbüchern   noch  nicht  verzeichnet  sind,  z.  B.   o'^^a£   itsgduiu^ 
354,  7;  356,  5;   lUJLd   l|»c   (wofür    in   Zenkers   Kategorien   35,  15 


ÄlCLt)  und  ^  oW^fcTK  362,  9  {=  Zenker  ebd.);  merkwürdig  jü^, 
sonst  =  HQOQ  T»y  für  »«rcTi^a*  (sonst  ^^)  359,  3.  18;  361,  18;  be- 
sonders reiche  Ausbeute  aber  gewähren  die  L.  Br.  in  Bezug  auf 
Grammatik  und  Stilistik.  Einem  arabischen  Puristen  mnft  beim  Le- 
sen die  Haut  schaudern ;  wer  nicht  der  Ansicht  huldigt  (die  merk- 
würdiger Weise  neuerdings  wieder  von  Orientalisten  gehegt  zu  wer- 
den scheint),  daß  es  philologische  Methode  zu  heißen  verdiente, 
wenn  Jemand  z.  B.  den  Apuleius  nach  Seyfferts  lateinischer  Gramma- 
tik verbessern  wollte,  der  wird  an  solchen  Erscheinungen  seine 
Freude  haben.  In  den  von  mir  durchgearbeiteten  Teilen  des  Buches 
ist  mir  als  grammatisch,  bezw.  stilistisch  merkwürdig  Folgendes  auf- 
gefallen.   Ein  Indicativ  ohne  ^  ist  I^JL^^i  193,  21    (neben   dem  durch 

das  Suffix  gerechtfertigten  iPy^^J^  218,  10) ;  195,  16  steht;  ^j^^y»*^ 
als  Partie,  pass,  zu  (jmLm,  eine  interessante  Umbildung  —  oder  ein 
Druckfehler.     Verwechslung   von   Nominativ   und    Accusativ  kommt 

öfter  vor,  z.  B.  20S,  11  Lf>k»^3  (j^oju  ^  ImidjA  l^Juu  Ij^Üüu  l^Lo^  ^\i  \iS 
L^Ai^,  wo  die  Rection  von  ^1^  unrichtig  auf  den  folgenden  Nomi- 
nalsatz  übertragen  ist;    220,  4  J^  .  .  .  L^  ^1^;   242,  21-243,  1 

Jis^^ji  vWt3  ^  . .  .  \Ö<^^  o'"'^^^^^  ^^3  v'y  (beide  Adjektiva  sind 
JL>>).  Beginnende  Wortzusammensetzung  zeigt  sich  naturgemäß  bei 
den  philosophischen  Ausdrücken  mit  %  wie  ^^y^^  ^  nicht  leuchtend 
198,  12;  (Nöldeke,  Syr.  Gramm.  §  143).  Bei  der  Idäfe  ist  der 
Gebrauch  des  Artikels  stark  ins  Schwanken  geraten ,  nicht  allein  vor 

Zahlwörtern  (^Üüf  JüuJt  355, 15 f.;  i>L>Tt  Xju^t  356,   14),  sondern 

auch  in  anderen  Fällen,  wie  bL^I  iU^Jüi^  i>U^*^t  360,  4  (statt 
^i\) ;     \jl\  Jjojm  jii£  ^Uo*"^!  201,  5  (statt  jÜJCüdt,  s.  unten).    Auch 

sonst  zeigt  sich  Unsicherheit  im  Ausdruck  der  Determination;  vgl. 
xdjjkjSÜ^  juaA»  (etwa  das  Gleich-  und  Ungleiche)  361,  4  und  gar 
^Uwi^^^U^  (statt  ^t  c5^l^0  360,  19,   gegenüber  dem   richtigen 

jfMüi\  ^3  jJäxl\  361,  5.  —  Nach  uf  steht  ^  für  o  213,  12 ;  o  fehlt 

überhaupt  in  diesem  Falle  an  sehr  zahlreichen  Stellen  (180,  3; 
192,  5.  8.  10;  219,  18;  223,  20;  252,  6  u.  s.  w.).  Anderswo  steht 
umgekehrt  ö  zur  Erzielung  einer  leisen  Steigerung,  wo  es  zweck- 
mäßiger gewesen  wäre,  3  zu  gebrauchen  und  das  o  der  deutlicheren 


906  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  24. 

BezeichnuDg  des  durch  den  Anfang  des  Nachsatzes  gebildeten  Ein- 
schnittes Yorzabehalten :  so  vJl^  212,  15,  wo  der  Sinn  gebietet,  den 
Nachsatz  erst  mit  U^$!C>t  Z.  16  za  beginnen.  —  Das  vulgäre  oÜ 
statt  ^j»M  findet  sich  z.  B.  238,  2.  —  In  sehr  bedenklicher  Verfas- 
sung zeigt  sich  der  Stil  der  L.  Br.  in  allem,  was  die  Ueberein- 
Stimmung  von  Genus,  Numerus  und  Casus  angeht;  hier  beobachtete 
ich  bei  fortgesetzter  LektUre  eine  mehr  als  saloppe  Nachlässigkeit, 
die  meine  zarten  Gewissensbedenken  in  der  vorigen  Recennon 
(GGA.  1884,  S.  963  Anm.  1)  mir  jetzt  selbst  schlecht  genng  ange- 
bracht erscheinen  läßt.  Die  Möglichkeit,  das  Neutrum  in  vielen  Fäl- 
len ohne  Unterschied  durch  Masculinum  oder  Femininum  auszu- 
drücken, die  Neigung  ein  singularisches  GoUectivum  gleich  einem 
Pluralis  fractus  mit  dem  Femininum  Singularis  zu  verbinden  oder 
umgekehrt,  die  Aehnlichkeit  des  JjioiJt  jX4Jto  mit  einem  als  Subjekt 
nach  einem  femininen  Prädikat  zu  richtenden  Pronomen  substanti- 
vum    oder    demonstrativum    haben   Ausdrucksweisen    erzeugt,    wie 

äu/y.^    iClxy^   Jcyj   g^ ^ji\  ^  ;^Uw^«^  228,  13;  o^\ 

gyUJS  oV^t   358,  4;   L^iOjü^  c>JüJI  856,  16;  ^^L  ^  ^^\^y 

;;?  J  JLJy  %^  368,  9;  8;)^  ^  .  .  .  ^\  215,  2;  l«  ^jJüli  .  .  .  ^y 
243,  7  ;  und  derartiges  ist  ziemlich  häufig.  Merkwürdig  ist  auch  die 

Verbindung  A^\  JjuülLI  ^iUo^'lit  q^  201,  4.  5,  auf  welche  die  gleich- 
wertige Konstruktion  L^t^  ^yXijiS  |»U^*^i  yj%  eingewirkt  zn  haben 
scheint.  Sehr  häufig  steht  ein  Verbum  im  Masculinum  unmittelbar 
vor  dem  femininen  Subjekt,  z.  B.  L^jUU^  U^  Jlm^  205,  10 ;  ^S3y 

*JIXä{  237,  13;  «5ÜLi-  ^  351,  9;  ö^yö  ^  352,  5;  ^3i\  Ji  852,  10 
u.  s.  w.    Starke  Erschlaffung  der  ursprünglichen  Sprachtriebe  zeigen 

Wortstellungen  wie  UJ  aüwi  L/  216,  10  f.  und  aaäJu  ^\.MSi\  ^  195,6; 

Vernachlässigung  der  Gasnsgleichheit  bei  der  Apposition,  wie 
gj{  ^yuJ!  fUäl  yjLij\  i^   360,  16  f.;   Häufung   von  Partikeln   vrie 

^f  L4/  211,3  u.  ö.;   Setzung  von  ^i  statt  ^f,  wie  240,  15  (umge- 

kehrt  ^5,  wo  ^'S  deutlicher   wäre,   351, 19),  von  U  statt  ^jwwjJ,    wie 

'is  oW^'  e!^'  er  U  351,  7  (Spitta  §  198*),   von  U  statt  .^yXl\,  wie 

oli!^!  yUJ  c>^y^j^  U  vJOu^l^  LT^^'^  ji^^  231,  8.  Wer  das  Buch 
nach  dieser  Richtung  vollständig  durcharbeiten  wollte,  könnte  reiche 
Ausbeute  für  das  Mittelarabische  gewinnen,  mfißte  freilich  seine 
Sammlung  sehr  vollständig  machen,  da  es  an  der  Möglichkeit  fehlt| 


Die  Abhandlungen  der  Ichw/ln  es-safä  in  Auswahl.    Herausg.  von  Dieterici.    907 

im  einzelnen  Falle  festzustellen,  ob  es  die  gesamte  Ueberlieferung 
oder  nur  die  Lesart  einer  einzigen  Handschrift  ist,  welche  Dietericis 
Text  darstellt. 

Erklärt  sich  trotz  aller  Ansbente,  welche  die  L.  Br.  einem  sorg- 
fältigen Studium  gewähren  können,  aus  den  zahlreichen  Schwächen 
ihrer  Leistung  die  unzureichende  Berücksichtigung,  Über  welche 
Dieterici  klagt,  allerdings  zum  Teil,  so  kann  doch  auch  der  Art,  in 
welcher  seine  Uebersetzungen  und  die  jetzige  Ausgabe  eingerichtet 
und  dnrchgeftlhrt  sind,  eine  erhebliche  Mitschuld  nicht  abgesprochen 
werden. 

Sein  Stil  ist,  wie  schon  die  oben  angeführten  Stellen  darthun, 
sorglos,  mehr  der  gesprochnen  und  als  solche  durch  Tonfall  und 
Ausdruck  verdeutlichten  Rede  ähnlich,  beim  Lesen  unbequem,  ge- 
legentlich unklar;  bei  der  an  sich  zweckmäßigen  Auflösung  längerer 
Perioden  des  arabischen  Originals  in  kürzere  Sätze  ist  vielfach  die 
Verbindung  der  einzelnen  Glieder  verloren  gegangen,  so  daß  man 
sich  den  Zusammenhang  der  nebeneinandergestellten  Hauptsätze  erst 
suchen  muß.  Wenn  das  für  das  Verständnis  seitens  unphilosophi- 
scher Orientalisten  wie  nichtorientalistischer  Philosophen  wenig  förder- 
lich ist,  so  wird  der  Nachteil  vermehrt  durch  das  Fehlen  von  er- 
läuternden Anmerkungen,  die  nur  ganz  ausnahmsweise  an  einzelnen 
Stellen  erscheinen.  Ich  will  ein  Beispiel  anführen,  das  besonders  ge- 
eignet ist,  diese  Seite  der  Sache  zu  erläutern.  Anthropologie  S.  70, 10  ff. 
heißt  es  von  dem  Zeitpunkte  des  Beginnes  der  embryonischen  Ent- 
wicklang: »so  muß  die  Sonne  in  dieser  Zeit  in  irgend  einem  Orade 
und  einer  Minute  eines  der  Sternzeichen  stehn.  Hat  sie  dann  in 
ihrem  Lauf  vier  Monat  von  jenem  Augenblick  bis  zum  Ende  der 
vierten  Sternburg  vollendet,  so  hat  sie  vom  Himmelsrund  ein  Dritt- 
tbeil  der  Kreise  durchschnitten.  Dies  ist  in  der  Distanz  (ihres  Laufs) 
das  Maaß  zwischen  ihrem  Hochpunkt  und  ihrem  Hause.  Dann  hat 
die  Sonne  vollständig  die  Naturen  der  Sternburgen,  der  dreifachen, 
(d.  i.  je  drei  für  ein  Element),  d.  h.  der  Feuer-,  Erd-,  Luft-  und  Was- 
serartigen ganz  gespendet  und  sind  dabei  die  Naturen  der  vier  Ele- 
mente der  Zusammenfttgnng  im  Bau  des  Embryo  eingemengt«  u.  s.  w. 
Anch  wer  aus  der  Vergleichung  des  Textes  175,  15  ff.  entnimmt,  daß 
hier  statt  ^^Jüt  zu  lesen  ist  s.^cXil  und  demgemäß  statt  der  Kreise 
(was  j^l^oJt  heißen  würde)  gesetzt  werden  muß  des  (jährlichen)  Um- 
laufes, daß  es  statt  vollständig  .  .  .  ganz  gespendet  heißen  muß  in 
sich  aufgenommen^  statt  der  Worte  von  der  dreifachen  bis  Wasser 
artigen  vielmehr  aus  den  Feuer-,  Erd-,  Luft-  und  Wasser-Dreiecken, 
statt  sind  u.  s.  w.  bis  eingemengt  vielmehr  und  dabei  haben  sich  die 
Naturen^  nämlich  die  vier  Elemente  bei  der  (wir  würden  sagen  is^ur) 


908  Gott.  gel.  Anz.   1887.  Nr.  24. 

Zusammenfügung  des  Baues  des  Embryos  vermischt  (oder  gegenseitig 
durchdrungen)  —  auch  wer  alle  diese  YerbesseraDgen  vorgenommeii 
hat,  wird  sich,  sofern  er  kein  gelernter  Astrolog  ist,  noch  immer  kei- 
nen Vers  darauf  machen  können;  auch  die  wiederholte  Erwähnung 
der  »vier  dreifachen  Sternzeichen«  75,  3  wird  ihn  schwerlich  klttger 
machen.  Um  uns  Rats  zu  erholen,  greifen  wir  zn  Dietericis  »Pro- 
pädeutik«, in  welcher  die  Astrologie  der  L.  Br.  dargestellt  ist  In 
der  That  finden  wir  daselbst  S.  49  Folgendes:  »Noch  in  einer  ande- 
ren Beziehung  zerfallen  diese  Sternzeichen  in  vier  Teile:  1.  Die 
Dreifachen,  so  feurig,  heiß,  trocken,  östlich  und  von  einer  Natur 
sind:  Widder,  Löwe,  Bogen.  2.  Die  Dreifachen  so  stanbartig,  kalt, 
trocken,  südlich,  und  von  einer  Natur  sind:  Stier,  Aehre,  Steinbock. 
3.  Die  Dreifachen  so  luftartig,  heiß,  feucht,  westlich  und  von  einer 
Natur  sind:  Zwillinge,  Wage,  Urne.  4.  Die  Dreifachen  so  wasser- 
artig, kalt,  feucht,  nördlich  und  von  einer  Natur  sind:  Krebs,  Scor- 
pion, Fisch«.  Sieht  man  sich  diese  Einteilung  genau  an,  so  kann 
man  allerdings  die  Bemerkung  machen,  daß  die  Sonne,  wenn  sie  in 
einem  beliebigen  Zeichen  des  Tierkreises  ihren  Lauf  beginnend  ge- 
dacht wird,  binnen  vier  Monaten  immer  vier  Zeichen  darcblanfen 
muß,  von  welchen  nach  dem  gegebenen  Verzeichnis  eins  die  Natur 
des  Feuers,  eins  die  der  Erde,  eins  die  der  Luft,  eins  die  des  Was- 
sers hat.  So  nimmt  sie  in  dieser  Zeit  die  Naturen  der  vier  Ele- 
mente in  sich  auf,  und  da  ihr  die  Herrschaft  fiber  den  vierten  Mo- 
nat der  embryonischen  Entwicklung  zukommt,  tragen  naturgemäß 
diese  Elemente  in  gegenseitiger  Durchdringung  zum  Aufbau  des 
Embryo-Leibes  gleichmäßig  bei.  Ueber  die  sachliche  Schwierigkeit 
wären  wir  damit  glttcklich  hinaus;  fragt  sich  nur  noch,  was  der 
Name  der  »Dreifachen«  zu  bedeuten  hat.  Dieterici  erklärt  ihn 
Anthr.  70  »d.  i.  je  drei  für  ein  Element« ;  einen  solchen  Sinn  kann 
man  aber  doch  nicht  mit  dem  Worte  drei/ocA  verbinden,  vielmehr 
sind  ja  die  Sterneeichen  ihrer  Natur  nach  eben  t^facher  Art.  Er 
hätte  wenigstens  Jireiheiten  sagen  mUssen,  wenn  er  den  astrologi- 
schen Terminus  Trig(me  oder  Triplidtäten  (welches  letztere  Wort  ihn 
vermutlich  auf  Urtifache  gebracht  hat)  nicht  gebrauchen  wollte.   Im 

Arabischen  heißen  sie  einfach  oUULaII  »die  Dreiecke«,  und  der  Name 
erklärt  sich  durch  den  Augenschein,  wenn  man  sich  die  Peripherie 
eines  Kreises  in  zwölf  gleiche  Teile  teilt,  die  Teilpnnkte  der  Reibe 
nach  mit  den  Zeichen  des  Tierkreises  bezeichnet,  und  dann  nach 
der  oben  gegebenen  Einteilung  immer  je  drei  (Widder-Löwe-Schfltze; 
Stier- Jungfrau-Steinbock ;  Zwillinge-Wage-Wassermann;  Krebs-Seor- 
pion-Fische)  durch  gerade  Linien  verbindet.    Es  entstehn  dadurch  in 


Die  Abhandlungen  der  Ichw&n  es-saft  in  Auswahl.    Herausg.  von  Dieterici.    909 

der  Figur  vier  gleichseitige  Dreiecke ,  und  nun  kann  man  sich  die 
Sonne  ihren  Lanf  beginnend  denken,  wo  man  will,  sobald  sie  an 
vier  Zeichen  vorüber  ist,  hat  sie  immer  je  eine  Spitze  aller  vier 
Dreiecke  berührt  und  damit  nach  der  astrologischen  Theorie  die  Na- 
tur des  Feuers,  der  Erde,  der  Luft  und  des  Wassers  in  sich  aufge- 
nommen. Das  Alles  weiß  Dieterici  so  gut  wie  ich :  im  Glossar  zur 
»Propädeutik €  steht  S.  171  bei  »dreifache  (St.)  oUUiU  in  Paren- 
these Trigon;  hätte  er  diesen  feststehenden  Terminus  gebraucht, 
Anthr.  70  auf  Prop.  49  verwiesen  und  bei  letzterer  Stelle  das  Sach- 
verhältnis  kurz  angedeutet,  so  hätte  der  Leser  nicht  nötig  gehabt, 
erst  aus  Loths  Abhandlung  über  Eindi  als  Astrolog  (Morgenl.  Forsch. 
268  Anm.  4)  sich  Aufklärung  über  Sache  und  Namen  zu  verschaffen. 
Platz  für  solche  erklärende  Anmerkungen  hätte  sich  durch  weitere 
zweckmäßige  Kürzungen  an  den  übersetzten  Stücken  unschwer  schaf- 
fen lassen. 

Der  Uebelstand,  daß  D.  statt  eines  fertig  vorhandenen  wissen- 
schaftlichen Terminus  ein  anderes  Wort  gebraucht,  und  dadurch  eben- 
falls das  Verständnis  erschwert,  macht  sich  auch  sonst  geltend.  In 
logischen  Schriften  hat  bekanntlich  ^^ou«  sehr  verschiedene  Bedeu- 
tungen; es  kann  Sinn  ^  Bedeutung  ((ffifka^vdfMyov)^  dann  Begriff 
(qIjm  gelegentlich  Inhalt)  besagen,   und  dient  daneben  z.  B.  in  den 

m 

Kategorien  zur  Uebersetzung  von  ngäyfAa^  je  nach  dem  Zusammen- 
hang (ev.  mit  tcX^)  auch  von  tovio  und  to  avtö.  Dieterici  über- 
setzt es  in  seiner  Logik  und  Psych.,  ich  kann  nicht  sagen  ob  stets, 
aber  jedenfalls  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  durch  Bedeutung^  während 
meist  Begriff  der  entsprechendere  und  uns  ja  auch  geläufigere  Aus- 
druck wäre.  Die  ganzen  Definitionen  ebd.  23,  8—31  werden  so- 
wohl ans  diesem  Grunde  unverständlich,  als  auch  weil  D.  \^iuoy  und 
stf^uü  durch  Beschreibung 'und  Eigenschaft  übersetzt,  statt  durch  At- 
tribut und  Prädikat  (vgl.  unten  S.  919  f.).   .^,  das  vielfach  richtig  als 

Sterneeichen  vorkommt,  muß  sich  anderwärts  AxiXQh  Stemhurg  wieder- 
geben lassen ;  gewölbt  und  gesenkt  Log.  u.  Psych.  38, 8  sollte  convex^ 
eoneav  heißen  u.  s.  w.  In  anderen  Fällen,  wo  es  sich  nicht  um 
eigentliche  Terminologie  handelt,  erhält  eine  Wendung  durch  allzn- 
große  Wörtlichkeit  oder  unglückliche  Wahl  des  deutschen  Ausdruckes 

einen  schiefen  oder  unpassenden  Charakter;  vgl.  z.  B.  jJ'VI  iXaojüI^ 
(Text  106,  17;  228,  2;  231,  4;  237,  4),  das  überall  (Naturansch. 
44,  17;  Log.  u.  Psych.  88,  18;  91,  4  v.  u.;  99,  30)  im  ursprüngli- 
chen Ziel,  dem  Ureid  nach  u.  ä.  übersetzt  ist,  statt  je  nach  dem 
Zusammenhang  durch  nach  der  eigentlichen  Absicht^  dem  ersten  (eigent- 
lichen) Zwecke  entsprechend.  —   So  femer  z.  B.   (ich  stelle  im  Fol- 


910  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Kr.  24. 

genden  der  Kürze  wegen  immer  D.8  Uebersetzang  in  karsiven  Let- 
tern voran,  die  meinige  nach  einem  in  gewöhnlicher  Schrift  folgen 
lassend)  Anthr.  67,  29  eart  wird:  dauernd  bleibt  |  67,  2  v.  q«  rei- 
fende: verdauende  |  wachsende:  mehrende  |  67  1. Z.  erste  Thai:  An- 
fang des  Schaffens  |  68,19  Anordnung  für:  Beherrschung  des  |  69,1 
Uebergewicht  .  .  .  tm  Saturn:  EinfluB  .  .  .  des  S.  |  70,  26  geschaf- 
fen: fertig  I  70,  8  v.  u.  entspricht  dem  Stemeeichen:  stimmt  mit  der 
Natur  des  St.  überein  |  92,  19  geringeres  Leben:  kurzer  Lebens- 
dauer. —  In  einem  anderen  Zusammenhange  Anthr.  12,  21  Grund- 
güge  des  Sinnlich  wahrgenommenen :  Eindrücke  des  sinnlich  Wahr- 
nehmbaren I  12,  6  v.u.  Stellvertreter:  Depotinhaber  |  141.Z.  IVudä- 

säfte:  Bonbons,  Kuchen:  Zuckerwerk  —  und  ^L^  ist  nicht  einer 
der  Süßmehl  [was  ist  das?]  bereitety  sondern  einfach  »Eneter«.  — 
Damit  stimmt  es  überein,  daß  verschiedenartige  Wendungen}  einzelne 
Worte  wie  ganze  Sätze,  wie  es  scheint,  von  ihm  gar  nicht  selten 
mehr  nach  augenblicklicher  Vermutung  als  nach  scharfem  Erfassen 
des  Sinnes  wiedergegeben  werden.  Eine  ganze  Sammlung  von  sol- 
chen Fällen  kann  man  sich  aus  Logik  n.  Psych.  89  ff.  anlegen. 
Es  muß  daselbst  heißen:  89,  7  v.  u.  statt  Eohrflechter :  Verfertiger 
von  Hanfseilen  |  90,  12  Händler  und  Aussteller:  Mäkler  and  Kamel- 
verleiher I  90,  18  V.  u.  Riemer  und  Spinner:  Qerber  und  Weber  | 
90,  12  V.  u.  Controleure:  Optiker  |  91,  12  Pech:  Aetzkalk  |  91,  21 
Seiden-  [NB.  es  ist  von  Arbeiten  im  Feuer  die  Bede],  Kessel-^  Gad- 
ha[r]iOLrbeiter :  Thonwaaren-  (s.  unten  S.  918  Z.  24),  Topf-  and  Schüs- 
sel-Verfertiger  I  92,  1  AcJcerer^  Bauer ^  Weber:  Ackerbau,  Baahand- 
werk,  Weberei  |  94,  5  v.  u.  Binge  und  Kugeln^  die  den  Formen  der 
Sphären  nachgebildet  sind:  Armillarsphären  und  Kugeln,  welche  die 
Sphären  darstellen  (Himmelsgloben)  |  95,  17  Kräuterkrämer:  Par- 
fttmeriehändler  (NB.  die  ganze  Pointe  des  Gegensatzes  gegen  die 
Mistfahrer  geht  bei  D.s  Uebersetzung  verloren)  |  95,  15  v.  a.  Xe- 
ben:  Wohlbefinden  |  97,  5  durch  die  Güte  der  Natur:  in  feblerloMf 
Trefflichkeit  |  97,  9  v.  u.,  5  v.  u.  ^  erlernt  ein  solches  nicht:  er  übt 
keine  praktische  Thätigkeit  aus.  —  Anthr.  15,  6  UschfUße:  Stahl- 
beine  (oder  Bettfllße)  |  15,  12  Wasserräder:  im  Text  steht  194>  8 
u^l^cXil  \js>    »Wirbelknochen«   oder  »Halsband  der  Wasserräder« 

ob  die  Zähne  des  Zahnrades,  welches  an  der  Hauptachse  des 
Wasserrades  sitzt?  vgl.  die  Beschreibung  der  S&^ije  bei  Lane,  Han- 
ners  und  Customs  ^  II  26.  Ich  sehe  nachträglich,  daß  de  Gk>eje  in 
Wüstenfelds  Jacut  V,  33  (Anmerkung  zu  I,  301,  15)  statt  des  an 

der  betreffenden  Stelle  gedruckten  ;  3-  fttr  die  Bohren  einer  Wasser'- 

leitung  yf>  als  unregelmäßigen  Plural  von  ^yjtP*"  vorgeschlagen,  and 


Die  Abhandlungen  der  Ichw&n  es-safä  in  Aaswabl.    Herausg.  von  Dieterici.    911 

im  Glossar  der  Bibl.  geogr.  IV,  S.  225  aufrecht  erhalten  bat.  Die 
Bedeutung  Leitungsröhren  kann  in  der  Jakutstelle  keinem  Zweifel 
unterliegen;  es  fragt  sich,  ob  sie  auch  auf  unseren  Zusammenhang 
passen  würde.  Das  Wort  v^3i>  ist  nach  Lane  s.  v.  gleichbedeutend 
mit  xasLm,  bei  deren  Beschreibung  (Manners  and  Customs  a.  a.  0. 
weitere  Leitungsrohren  nicht   erwähnt  werden;  nach  dem  Wortlaute 

des  Textes  der  L.  Br.  müßten  solche,  weil  von  ^^Jl:f  gefertigt  und 
mit  der  Zahnreihe  eines  Menschen  verglichen,  aus  kurzen  in  oder  an 
einander  gefügten  Holz-  oder  Bambusrohren  bestehn.  Da  aber 
schwer  auszumachen  sein  möchte,  ob  die  Dfiläb,  welche  vor  800 
Jahren  im  Irak  üblich  waren,  den  jetzigen  S&kijen  Aegyptens 
vollkommen  ähnlich  gewesen  sind,  wird  man  darauf  verzichten 
müssen,  unsern  Text  zur  Erläuterung  des  Ausdrucks  bei  Jakut 
zu  verwerten,  so  nahe  es  liegt,  das  :3>  oder  . 3>  in  beiden  Fäl- 
len für  identisch  zu  halten.  |  15,  15  Drahtzieher:  Dochtverfertiger  | 
15,  17  Schindungen:  Geschwüre  (oder  »Wunden«,  es  kommt  auf  das 
AJ^\  an,  nicht  auf  die  Haut)  \    15,  21    SchaufeU   und  Besenmacher : 

m 

Yerfertiger  von  Holz-  und  Eisenschaufeln  (ein  Besen  ist  doch  nicht 
mit  einem  Fingernagel  zu  vergleichen)  |  15,  12  v.  u.  Spinnern :  We- 
bern I  15,  4  V.  u.  OeUr  (was  sind  das  für  Leute?):  Lackierer  (oder 
Dekorationsmaler)  |  15  L  Z.  Zeichnern,  Punktirem  und  Spielverferti- 
gern:  Malern,  Bildhauern  und  Puppenverfertigern  |  24,  14  aufstoßen: 
sieden  |  26,  1 1  sehr  salzig  \  scharf  (wie  Senf)  |  80,  4  v.  u.  wie  die 
Schweine,  Milben ^  Fliegen  .  .  .  so  wird  ein  Käfer  (Ghana fis)  =  Text 
204,  6  ^UjjJ^\  JJU  ^ii^  .  .  .  vl^^^3  o'^^3^'  ^'•'''ö  Lr*LJLi.|  J^^»  was 
zu  übersetzen  ist  »wie  die  Mistkäfer  und  Badekäfer  und  Fliegen 
•  .  .,  80  wird  ein  Mistkäferc  u.  s.  w.  Abgesehen  davon,  daß  man 
nicht  sieht,  weshalb  zu  Käfer  der  arabische  Plural  Chanafis^  bei 
dem  sich  der  Leser  doch  nichts  denken  kann,  in  Parenthese  hinzu- 
gefllgt  wird,  ist  ^b^^  oUj  ersichtlich  aufs  Geratewohl ,  und   zwar 

recht  unglücklich,  durch  Milben  wiedergegeben.  Den  Mohtt,  der  s.  v. 
^\Sjy  hat  S  ^^  U  ^\^  ^^yil  i:!^  pUJUit  y^  4i^^  ^b^^  si;Uj 

vjoiüt^  oUU^I,  hatte  Dieterici  1871  wohl  noch  nicht  zur  Verfügung ; 

aber  auch  im  türkischen  Qämfis  findet  sich  unter  ^bj^  (welche  von 
beiden  Yokalisationen  richtig  ist,  kann  ich   nicht  sagen)  ^b^^  oLü 

^J^yi  i^JSo^  ^j^  j.Lr  jjL^,  j^  t^^jMA  Z\^:> ;   wie   der  wissen- 

Bcbaftliche  Name  dieses  Käfers  lautet,  konnte  mein  Freund  Chun 
nur  nach  der  unbestimmten  Beschreibung  des  Mohit  nicht  sagen 
(vielleicht  ist  in  Busseils  Natural  History  of  Aleppo ,  welches  Buch 


912  Oött.  gel.  Anz.  1887.  Kr.  24. 

in  Königsberg  nicht  beschafft  werden  kann,  Auskunft  zu  finden),  es 
steht  aber  nichts  im  Wege,  eben  »Badekäfer«  zu  übersetzen  |  3l|  23 
tvie  die  (concreten)  Dinge :  wie  die  unorganischen  Körper  |  Sl,  13  f.  q. 
Dudelsack:  Rohrflöte  |  33,  19  gekoren  zu  den  Körpern:  sind  die 
schärfsten  der  Körper  |  35,  5  hüden  hinter  denselben  ein  OewAe: 
verzweigen  sich  in  ihren  äußersten  Theilen.  Ein  mir  gänzlich  an- 
begreifliches Quid  pro  quo  ist  Log.  u.  Psych.  40,  12  v.  u.  Wohn- 
Stätte  statt  »Milcheimer  c  (Text  362,  1  ^Si^)  —  doch  brechen  wir 
ab.  Lediglich,  damit  Dieterici  mir  nicht  entgegenhalte,  daß  nur  der 
»Buchstabiere  sich  bei  solchen  Kleinigkeiten  aufzuhalten  im  Stande 
sei,  die  für  das  Studium  der  Philosophie  gleichgiltig  scheinen  köno* 
ten,  will  ich  noch  zwei  Fälle  anführen,  die  wieder  aufs  Deutlichste 
zeigen,  was  jeder  Philologe  sich  täglich  zu  Gemüte  führen  sollte  — 
daß  es  keine  Grenze  zwischen  dem  Sprachlichen  und  Sachlichen  gibt, 
und  daß  jede  Vernachlässigung  des  ersteren  letzteres  in  Mitleiden- 
schaft zieht.  Log.  u.  Psych.  40,  4  v.  u.  flndet  sich  als  Ueberschrift 
eines  Abschnittes  Die  Beziehung,  und  dieser  Ausdruck  wiederholt 
sich  im  Folgenden  mehrfach,  ohne  daß  klar  wird,  was  damit  ge- 
meint sein  soll.  Dem  Philosophen,  der  seinen  Aristoteles  im  Kopfe 
hat,  wird  allerdings,  liest  er  41,  5  von  a)  einander  entg^engeseM^ 
b)  mit  einander  in  Relation,  c)  im  Sein  und  Nichtsein  (vielmehr  SEk 
und  (niQiia$g\  sofort  klar  sein,  daß  es  sich  nicht  um  Beziehung^  son- 
dern um  dvtix€Uf&at>  handelt,  und  daß  hierüber  nach  Kateg.  11^  15  ff., 
allerdings  sehr  oberflächlich,  abgehandelt  wird;  aber  Unrecht  tbSte 
er,  wollte  er  den  so  gänzlich  irreleitenden  Ausdruck  Beziehung  den 
Lauteren  Brüdern  anrechnen:  sie  haben  362,  5  ganz  richtig  äJUIsII, 
den  stehenden  Terminus  für  d9ftiue$a&a$  —  hätte  es  Dieteriei  der 
Mühe  wert  geachtet,  bei  Uebersetzung  des  die  Kategorien  betreffen- 
den Abschnittes  Zenkers  Ausgabe  von  Ishäqs  ihn  Uonein  (nicht  Ho- 
neins, wie  es  Theol.  d.  Aristoteles,  deutsch,  S.  V  heißt)  arabischem 
Texte  einmal  durchzublättern,  was  ein  »Buchstabiere  wahrscheinlich 
für  angezeigt  gehalten  hätte,  so  wäre  ihm  S.  35,  als  Ueberschrift 
ausgerückt  und  besonders  abgesetzt,  sofort  in  die  Augen  gesprungen  — 
o^UäXI  ^ ,  will  sagen  negl  dvuitB^ikivtav.  In  dem  zweiten  Falle  bat 
nicht  minder  das  Misverständnis  eines  einzigen  Wortes  eine  ganze 
Gedankenentwicklung  zerstört.    D.  übersetzt  Log.  u.  Psych.  89, 6. 20 ; 

40,  5  jüoL>  durch  Unterart  statt  durch  specifisch  Zukommendes  oder 
besondere  Eigentümlichkeit  {td$ov)  und  erhält  nun  dadurch  über  eine 
Seite  lang  eine  Reihe  von  Sätzen,  deren  Zusammenhang  und  Bedeo- 
tung  unverständlich  ist.  Ich  möchte  wenigstens  wissen,  was  man 
sich  bei  Folgendem  zu  denken  habe  (39,  5  v.  u.):  Die  Gattung  des 
Relativen  tritt,  wenn  sie  mit  ihrem  Gegenstück  in  Rdation  gesetzt 


Die  Abhandlungen  der  Ichwftn  es-saf^  in  Aaswahl.    Herausg.  von  Dieterici.     91^ 

wird,  ein  in  die  Klasse  der  Sifbstanz  und  zwar  in  Hinsicht  des  Ac- 
cidens  aber  nicht  dem  Wesen  nach;  nämlich  insofern  als  die  Substanz 
durch  die  Accidens  beschrieben  ist^  die  Acddens  also  Beschreibungen 
für  jene  sind.  Beschreibung  ist  aber  eine  Beschreibung  für  etwas 
Beschriebenes  und  zwar  eines  durch  die  Beschreibung  BeschreibbareUf 
so  une  Vater  —  Vater  des  Sohnes  und  Sohn  —  Sohn  des  Vaters  ist. 
Eine  Unterart  dieser  Gattung  ist^  daß  von  den  beiden  in  Relation 
stehenden  das  Eine  zwar  dem  Andern  zugewandt  ist^  sie  sich  aber 
nicht  verneinen  y  sondern  beide  in  Beziehung  (zu  einem  Dritten) 
stehen  (vgl,  die  relativen  Begriffe:  Bruder,  Schwester —Vater).  Im 
Text  (361,  11)  steht  vielmehr  Folgendes:  »DasOenas  der  Beziehung 
nnterwirft,  sobald  bezogen  wird,  seinem  Einflüsse  sämtliche  Genus 
von  der  Seite  des  Accidens  her,  nicht  dem  Wesen  nach,  insofern  die 
Snbstanz  ein  durch  die  Accidenzen  Bestimmtes,  die  Accidenzen  Be- 
stimmungen für  dasselbe  sind,  die  Bestimmung  aber  eine  Bestimmung 
ftlr  ein  Bestimmtes,  das  Bestimmte  ein  durch  die  Bestimmung  Be- 
stimmtes ist,  gerade  wie  der  Vater  Vater  des  Sohnes,  der  Sohn  Sohn 
des  Vaters  ist.  Die  diesem  Oenus  [d.  h.  eben  der  Relation]  eigene 
Besonderheit  ist,  daß  die  beiden  auf  einander  Bezogenen  sich  gegen- 
seitig einschließen  ohne  daß  sie  sich  aufheben  [vgl.  362,  10]  und 
indem  sie  in  der  Relation  zugleich  sindc.  Der  Sinn  der  Auseinan- 
dersetzung ist  klar.  Genus  als  solches  kann  zu  Genus  als  solchem 
nicht  in  Relation  treten:  Vater  und  Sohn  sind  in  ihrem  gegenseiti- 
gen Verhältnis  keine  Genera,  sondern  Species  des  Genus  Mensch. 
Die  einzige  Art,  auf  die  ein  Genus  Glied  eines  Relationsverhältnisses 
werden  kann,  stellt  sich  im  Verhältnis  des  Genus  zu  seinen  Acciden- 
zen dar  —  Bestimmtes:  Bestimmendem  =  Vater  zu  Sohn.  Eigen 
ist  ferner  der  Relation,  daß  beide  Glieder  sich  gegenseitig  bedingen 
—  denn  Vater  ist  ja  eben  Vater  nur,  insofern  ein  Sohn  vorhanden, 
and  umgekehrt,  das  Vatersein  und  Sohnsein  existiert  gleichzeitig 
eben  vermöge  des  Relationsverhältnisses.  Dieterici  ist  augen- 
scheinlich zur  Einführung  einer  »Unterart«  des  Begriffes  Rela- 
tion durch  die  ganz  richtige  Bemerkung  veranlaßt  worden,  daß 
nach  den  aristotelischen  Kategorien  es  allerdings  Relationen  gibt, 
welche  einander  ausschließen,  z.  B.  Tugend  und  Laster ;  er  hat  aber 
Übersehen,  daß  die  L.  Br.  nicht  von  dem  eventuellen  Gegensatze 
zweier  Relationen,  sondern  von  dem  der  beiden  Glieder  eines  und 
desselben  Relationsverhältnisses  sprechen.  Einen  solchen  kann  es 
überhaupt  nicht  geben,  die  Tugend  des  Mannes  kann  nicht  im  Gegen- 
satze zum  Manne  existieren,  sondern  nur  an  ihm,  und  beide  exi- 
stieren eben  gleichzeitig  in  dem  Begriffe  ihrer  gegenseitigen  Rela- 
tion.   Daß  hier  nicht  etwa  die  L.  Br.  selbst  der  Vorwarf  der  Un- 

06H.  gol.  Am.  1687.  Nr.  24.  63 


914  Gott.  gel.  Änz.  1887.  Nr.  24. 

klarheit  trifift,  ergibt  sieb,  ganz  abgegeben  von  dem  ZoBammenhang 
an  dieser  Stelle,  sebon  daraus,  daß  sie  vorber  als  das  id$oy  der  Be- 
wegang  gleichmäßig  und  ungleichmäßig  bezeicbnen:  wenn  D.  auch 
das  (L.  u.  Ps.  39, 6)  übersetzt  Die  Unterart  dieser  Gattung  ist  gleich- 
und  ungleichmäßig^  so  gäbe  es  also  aacb  Bewegungen,  die  weder  gleich- 
mäßig noeb  ungleicbmäßig  sind  —  das  aber  ist,  wie  er  selbst  za- 
geben wird,  ein  Widersinn. 

Anfänglicb  batte  ieb  mir  vorgenommen,  zum  Erweise  dessen, 
daß  dureb  jene  verscbiedeneu,  an  sieb  geringOlgig  scbeinenden  Un- 
genauigkeiten  der  Uebersetzung ,  Sorglosigkeiten  der  Äuffassang, 
Unacbtsamkeiten  des  Ausdruckes  in  einer  nicbt  geringen  Anzahl  tod 
Fällen  dem  Leser  das  richtige  Verständnis  auch  der  wichtigeren 
sachlichen  Gesichtspunkte  verkümmert  wird,  noch  einige  zosam- 
menbängende  Stellen  aus  D.s  Uebersetzungen  auszuheben  und  durch 
Vergleichnng  mit  dem  Texte  zu  beleuchten.  Ich  stelle  sie  zarttck, 
da  aus  dem  Bisherigen^  klar  sein  wird,  das  solche  Fälle  nachzu- 
weisen keineswegs  unmöglich  ist,  und  da  ich  der  hiermit  abgegebe- 
nen Versicherung,  daß  sie  nicbt  ganz  selten  vorkommen,  jeden 
Augenblick,  wenn  es  verlangt  wird,  aus  dem  von  mir  gesammelten 
Stoffe  die  tbatsäcblicheu  Belege  folgen  lassen  kann :  es  ist,  soll  diese 
Anzeige  nicbt  selbst  zu  einem  Buche  auswachsen,  nunmehr  an  der 
Zeit,  mich  dem  Texte  zuzuwenden,  wozu  ich  ja  nicht  allein  durch 
den  Kopf  dieser  Anzeige,  sondern  auch  durch  meine  eigenen  Aeufie- 
rungen  (oben  S.  900)  verpflichtet  bin.  Mein  Urteil  über  denselben, 
wie  ich  es  nach  genauem  Studium  der  Abschnitte  S.  Iv) — Ia»,  I\1 — l^öf , 
)*-fö  -.i**if  formulieren  zu  können  glaube,  ist  dasselbe,  welches  ich 
vor  drei  Jahren  über  das  erste  Heft  gefällt  habe:  man  versteht  das 
Sachliche  im  Allgemeinen  leicht  (wie  mir  ja  der  Text  im  Obigen 
genügende  Handhabe  geboten  bat,  die  früheren  Uebersetzungen  D.s 
zu  verbessern),  aber  im  Einzelnen  bleiben  eine  Menge  Zweifel,  de- 
ren Lösung  durch  den  Mangel  eines  Apparates  in  nur  zu  vielen 
Fällen  für  mich  wenigstens  unmöglich  ist;  die  Korrektheit  des 
Druckes  und  der  Vokalisation  bat  sich  gegen  das  erste  Heft  viel- 
leicht etwas  gemindert,  reicht  aber  abgesehen  von  ein  paar  Seiten, 
über  welchen  ein  besonderer  Unstern  »die  Herrschaft  gehabte  hat, 
immerhin  aus.  Ich  schreite  sofort  zum  Erweise  dieser  Behauptun- 
gen ,  indem  ich  bemerke,  daß  ich  eine  Anzahl  von  Stellen  übergehe, 
die  mir  zwar  Bedenken  erregen,  zu  denen  aber  Vermutungen  aus- 
zusprechen ich  selbst,  da  mir  die  Lesarten  der  Mss.  nicht  zugänglich 
sind,  für  zwecklos  halte. 

Text  S.  173,  5  vi^u-aj^LÄJ:  nach  der  Uebersetzung  läutern 


Die  AbhandluDgen  der  Ichw&n  es-safä  in  Auswahl.    Herausg.  von  Dieterici.    915 

m 

(Anthr.  66,  3)  war  ich  versucht  vi^-^*»^^  zu  ändern ;  das  wird 
durch  178,8  widerraten,  es  muß  also  dahin  gestellt  Wei- 
hen, ob  wir  hier  D.'s  Text  oder  seiner  Uebersetzung  zu 
folgen  haben  |  174,  12:  das  Fehlen  des  Apparates  gestattet 
nicht  zu  entscheiden ,  ob  statt  ^  zu  lesen  ist  \^  q<  oder 
xil ,  oder  ob  hinter  «^U^  er  noch  einmal  ^\J^  q^  gesetzt 
werdenmuss|174,17f.;  176,lff.;  176,18;  177,11  'i^\^^j^ß\. 

jaAiL»3j  tj^   nach    dem  Zusammenhang    und   unter  Verglei- 

chung  von    174,4;    176,3.5;    177,2.17  |   176,8  iUiL>.j,^  1. 

L|£JL>.j,;  I   176,  11    ^^dt  1,  ^\  I   176,18  ^^JJI  1.  ij^S  (vgl. 

das  folgende  ^und  hier  S.907, 7  V.U.)  1176,20^-^«::^.  l.LT*^  |188, 

12  \^^^\  .bÄfi>  J^  L--»J>  ^\J>  äUMjä.  I^M^  S^y,  hier  sind  wohl 
zwei  l^esarten  a)  Lr'j^  jUm3>  L^iift^  ^^^  b)  Jw©  [j^S^  Lmj^  ^^^ 

J  m 

\j^^j\  Jjite-  zusammengeflossen  |  190,  9  ^f^  1.  g^]^.  |  191,  7; 
192,11;  210,6  oloUxll  bezw.  ^cf^  ist  doch  auch  durch  die 
Bedeutung  Wettlaufen  kaum  zu  rechtfertigen ;    es   passt  das 

insbesondere  nicht  zu  den  ^Lüö.  Es  wird  überall  oü^UxIt, 
bezw.  ij^^  zu  lesen  sein  nach  188,  11  unter  Vergleichung 
von  192,14  I  192,  2:  vor  L^^t  fehlt  etwas  wie  g  J^\  oder 
.gj,  möglicher  Weise  auch  nur^  (wie  Z.  7.  9;  193,  7)  |  192, 

8  L^aC^w«:  füge  hinzu  gUXl'  jS>y^  nach  der  Uebersetzung 
Anthr.  12,  11  v.  u.   |   193,  11  d^y^il   fehlt   in   der   Uebers. 

Anthr.  14, 10,  scheint  Gegensatz  zu  iUJi  J^XXjdJ,  ob  ^]^\'!  \ 

193,  12  cW^i^t  1.  cÄJÄ^iZ^I?  Schwerlich  hat  man  von  v^ 
ein  schon   seiner   anderweitigen  Bedeutung   wegen   misver- 

ständliches  v^   abgeleitet   |   193,  19   cnri^  UwJt  1.  eÄs^^UwJJ 

wie  204,  9  (234,  7.  11  v>C^)  —  in  Bezug  auf  dies  Wort 
(oben  S.  904)  scheint  D.  sich  etwas  im  Unklaren   befunden 

zu  haben,  da  er  Anthr.  31,  1  >>l«w  durch  das  graziöse  »Stink- 
wind« überträgt  |  198,  20  *UfiJt^  1.  jM\^  wie  228.  18  |   198, 

11  Laaaso«  :  ob  v-^^  jAC  3I  U-äm»  3t  einzuschieben  (nach  197, 
8)?  I  199,  5  1.  iuJufi^l  I  199,  8  ^j^^  l  ^^  y\  \  199,  15  g^.: 
füge  hinzu  luu  \  200,  10  er  ^s^^  J'^^^  ^  uyÄJcÄ«  *JÜbL;u^ 
SiXJLii  iujijJl  schwerlich  richtig;  vgl.  Z.  12—14;  206,  6  f.; 
ob  danach  ^c^\  >«uJt  i  cfc^ÄA^OU  ^!  sjuL^t  iü^tyi  »j  juLuä^? 

201,  6  iUii^Ä^  jÄ^^  :  füge  hinzu  iUif^»  ^  Ut^  (nach  204,  17 ; 

63« 


9IC  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  24. 

Anthr.  26  1.  Z.)  |  203,  14  j^tfJüA  ist  sehr  hart,   ich  vermute 
jlxÄAi.     Nachher  fehlt  vijelleicht  etwas  vor  ^l3,  vgl.  Z.  20 


203,  1 8  jJ*i^  .  .  ^^  .  .  'mjS  U^  ist  doch  wohl  etwas  zu  stark 
(vgl. indes  oben S.90 5  f.),  regelmäßig  wäre  jedenfalls  jJLcB . .  *S>  t 
206,  11   ok;*^  1-  ^^y^  i  207,  10  gLj^t  ^\^o\  :  glatter  wäre 

ö^  ol^"5«  I  207,  15  L^  ^\J^  er  ^^-^SiJj^  1.  'iöU^  er  L^  '^'^-^ä^^  i 

208,  8  ff.  ist  in  Unordnung,  da  die  äu^^  eben  der  '^^^  s^, 
nicht  der  H/öL  zukommt.  Vielleicht  genügt  es,  das  zweite 
H^JuA  ^^  von  Z.  9  nach  8  (vor  A's^)  umzustellen,  obgleich 
der  Ausdruck  auch  dann  etwas  schwerfallig  bleibt  |  208, 
18  —  209,  2  ist  hier  in  der  Vocalisation  und  einer  Lesart, 
Anthr.  36,  10  v.  u.   in  der  Uebersetzung  zu    ändern.     Man 

lese  208,  1 8  jM  (vgl.  zur  transitiven  Construction  Kateg.  ed. 
Zenker  18,  11^)  und  dazu  jetzt  Fleischer  zu  Dozy  II,  91* 
in  den  Sachs.  Sitzungsber.  1884  S.  57),  schreibe  209,  1 
O  W^  und  übersetze  »Deshalb  ist  auch  das  Sprachvermögen 
»(vgl.  210,  13)  verhindert,    ein  Urteil  über  etwas  von  dem 

1)  Wo  Z.  12  statt  ^Jiij  natürlich  ^.  zu  lesen.  Ich  gebe  bei  dieser 
Gelegenheit  noch  einige  Verbesserungen  zu  dem  Texte  von  Zenker's  Kate- 
gorien an:     3,  10   oUSl^  1.  V  |  8,  1   i^J   |  11,  6   U  qI^  I  ^   *^^' 

1.  L^j  I  12,  12  i^JLou  füge  hinzu  ^^  |  12  1.  Z.  er  1.  i  |  13,  1 
LfM^Äil  ^5  wie  14,  1  |  13,  9  ^j^  1.  ^Ah  oder  qj^  |  10  *--ä3  ^ 
vgl.  zu  1  I  16.  17  u»LcJI  I  17,  21  streich  J^  \  23  füge  vor 
q5^.  ein  ^J^  und  1.  tJ^  statt  xi^  |  22,  13  *a>^  1.  v^--^  |  23, 

5  V.  u.  1.  sU^'ii  f^>Mi\  Lü^Ui*  I  24,  3  lOUilä  1.  auQls  oder  iäu^B  (vgl. 

Hoffmann,    Hermen.  157»)   |    26,  11   ^J  1.  ^  I  28,  2  ^jm^\  1. 

J^\  I  11—19;   29,  3—14  ^y^  1.  ^M  |  30,  2  ^t  1.  J>\  |  30,  20 

^13  1.  Lt^B|  31,5  ^:^b|8  SJo.5^1  12  j4»  l.y^.  |  Id  /ÖuL^\ 
23  6^y^\  I  32,  6  OuXJt  [  33,  6  o?;k  ]  34,  2  »^  |  17^!;  35, 

9  U  1.  U  I  20  er^3  I  38,  9  Ol^*  1.  Ou?  I  1 1  Q^blÄu  |  i  2  J^Ux^ 
1 5  hinter  v^^  ist  eine  Lücke  1 1 9  q?  dJi  qI  y^^t  1.  ^i JJi»  QL.'it 


40,  3  ^  1.  *I?  I  8  o'  '^  1.  o'^  •  I  11  0^»  sij^^  1.  3^  i^j^1 1 

41,  20  q5Xj|42,14  J^UUj  1.  J3lyuJ|44,  4  U4^l|45,  4  *>lXd  UyJ 
O^  I  10  (M>y  i  I   22  L4^  1.  U^l  LhaS?   I   46,  16  ^..y-iüü   |    47,  17 

^^  I  19   1.  cXj»/  und  JLs^'t  I  48,  8  0^^  1.  Ouö  |  1 1  v^raÜI  |  13 
si^Jo^  !3t  I  19  1.  ^jÄ^ü.  und  Ju^^  |  49,  10  1+IL^Ll  |  1 1  L^w>uJüu. 


Die  Abhandlungen  der  Ichw&n  es-safä.  in  Auswahl.    Herausg.  von  Dieterici.    917 

»Inhalte  der  wahrnehmbaren  Dinge  durch  die  Zunge  der 
»Kinder  auszudrücken,  weil  [bei  ihnen]  das  Denkvermögen 
»ihren  Inhalt  nicht  beurteilt  noch  genau  verificiert  hat. 
»Wenn  aber  die  Jahre  des  Wachstums  vergangen  sind, 
»und  der  Mond  das  Regiment  an  Merkur,  das  Gestirn  der 
»vernünftigen  Rede,  abgegeben  hat,  wird  das  Kind  des 
»Ausdruckes  und  der  Bezeichnung  des  Inhaltes  der  wahr- 
»nehmbaren  Dinge,  welchen  die  Wahrnehmung  der  Ein- 
»bildungskraft  und  dem  Denkvermögen  vermittelt,  mächtig«  | 

210,  17  l^  1.  Lffei^  wie  223,  1  |  211,11  L^  wohl  einfach 
zu  streichen  (vgl.  das  Folgende)  :  die  Uebersetzung  Anthr. 
39,  8  V.  u.    der  Strahl  zu  dem  Blick  auf  denselben  scheitert 

einfach  daran,  daß  ^>ä  weder  gleich  gL«-a  noch  generis  fe- 
minini  ist  (  213,  16  q^.  1.  ^i*  |  214,  5  ^foJu^  1.  juia»  |  217,12 
bezieht  sich  auf  3,  15  (vgl.  219.  14)  und  ist  also  zu  schrei- 
ben u»yü«  ^  l5^5  u^'  3^>  i^^'  rt^  I  218,  12  LKiäLüül  (und 

so  Verkleinerungssucht  Weltseele  44, 11  v.  u. ;  aber  (jaäS  VI 
heißt  »sich  allmählich  vermindern«)  1.  ijaäLüüt  |  218,  15  stimmt 
nicht  zu  der  Uebersetzung  Weltseele  44.  6  v.  u.,  in  welcher 
die  Worte  von  L^^jJ  bis  'i.xM^l\  iuuli-t  fehlen,  und  dafür 
das  sind  die  Heere  Gottes^  die  eigentlichen  Stellvertreter  mehr 
steht,  was  ein  übles  Licht  auf  die  Willkür  wirft,  mit  wel- 
cher Dieterici  seinen  Text  behandelt.  Möglicher  Weise 
gehören  die  Worte  15  f.  f>^^  bis  \»tiju.b.ll  iüuÖ-l  oben  Z.  11 
liintcr  iCuA^hil  U  —  denn  j^a^^  weist  auf  die  Aufzählung 
Z.  10 — 12  zurück,  ein  Schreiber  konnte  von  SutA^IaJI  leicht 
auf  fcAJtAA,hH  springen,  eine  Nachtragung  am  Rande  ebenso 
leicht  au  falsche  Stelle  kommen,  und  \y^M*^  Z.  16  schließt 
sich  ganz  passend  an  Ljäj^^  an.  Aber  was  steht  in  den 
Handschriften?  |  219,  7  1^^.^^  .  .  .  L^U.  beide  Male  ^^  wenn 
man  nicht  eine  arge  Nachlässigkeit  der  oben  S.  906  bezeich- 
neten Art  gestatten  will  |  222,  7  q^  1.  l5^  |  8.  9.  ^.  l.^yücü  | 

14  ^^  1.  L^JU^-  I  224,  8  ^t  1.  ^^^\    d^  1.  >t  I  11  ^% 

1.  o^b;  danach  ist  die  unmögliche  Uebersetzung  Weltseele 
50  1.  Z.  als  Gleichnisse  und  Mittel  um  dadurch  uns  zu  den 
geistigen  nur  von  der  Veriiunft  faßbaren  gelangen  zu  lassen 
zu  ändern  in  »als  Gleichnisse,  welche  auf  die  übersinnli- 
chen,   speculativen  deuten«  |   224,  13  v$  zu  streichen  |  225, 

7.  8  1.  ^joJ  und  vjyü*  1  226,  7  hinter  f\^  fehlt  wohl  etwas  | 


918  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  24. 

228,  2  hinter  ^:>^  ist  einzuschieben  VU^sUm^  (vgl.  zur  Sache 
106.  17)  I  228,  8  o^'J^:^  [«^  ^i^  d^^  unverständlichen  Vo- 
calen]  1.  cJ^^^I^    (Uebersetzung  Log.  u.  Psych.  88,  8  v.  u. 

richtig  Knie)  \  228,  20  c^^Lj^LäU^  o^'^^^'^  c^vjtli^»  mit  der  Ueber- 
setzung (L.  u.  Ps.  89,  20)  die  Fackeler  [1.  »Feuerwerker«], 
Brenner  [l.  »Heizer«],  Leuchtenträger :  also  entweder  ^.JxUm^ 

oder  ^;;^:AUÄIt3,  doch  letzteres  für  mich  weniger  wahrschein- 
lich, weil  mir  bisher  nicht  vorgekommen  |  228,  21  ^^UasJI : 
Uebersetzung  (L.  u.  Ps.  89,  14)  Walkern,  buchstäblich  rich- 
tig, aber  sachlich  unmöglich.  Will  man  nicht  ein  vorläu- 
fig nicht  nachgewiesenes,  wegen  der  Homonymie  mit  Walr 

ker  unwahrscheinliches  J^  zur  Bezeichnung  eines  »Ver- 
fertigers der  >sj/a5  genannten  Thongefasse«  (über  die  jetzt 
Dozy  s.  v.  und  Fleischer  in  den  Sachs.  Berichten  1885  S. 
400  zu  vergleichen)  annehmen,  so  wird  man  nach  230,  19 

statt  ^^L^öäJ?  schreiben  müssen  {:jsj^Jj:oi6\  \  228,  21  {^)^^^^  1. 
^/  1  229,  5  oLjÜJ  o^  j£^\  ^/ju  natürlich  Glosse  (es  handelt 
sich  um  Bast\  vgl.  zu  *^L^t  Fihrist  240,  8  —  ein  Citat,  das 
ich  dem  sei.  Loth  verdanke)  |  229,  6.  11.  13  ^LäU:  ent- 
weder l^L&  U  wie  Z.  2/3.  4,  oder  (besser)  ^Iä  o^  wie  Z. 
15.  16;  228,  16/17  |  229,  11  0^\  1.  ^\f>\  \  14—17  1.  viermal 
j^^  statt  ^^,  wenn  kein  Misbrauch  der  oben  S.  906  berühr- 
ten  Freiheit    angenommen   wird  |  280,  11   B»>LFÜt  1.  b,®  |    17 

^  1.  vi;ulL-  I  19  4^^«^!^  (vgl.  oben  S.  910  Z.  24)  1.  ^vilj^lf  oder 

^.p^'i  (228,  21    I   20  LpLS  1.  V»?  |  ebd.  3^-h  1.  iWj  oder 

^i-  I  232,  3  ö\SJ\^  j\J^\  1.  ^o\oJ\^  H^LfüJ  I  232,  1 4  f.  kann  so 
nicht  richtig  sein,  Wenn  nicht  etwas  ausgefallen  ist,  ge- 
nügt es  vielleicht,  Z.  16  ^  vor  dem  ersten  ü»;»5l  zu  strei- 
chen, oder  (besser?)  15  statt  o^t  vielmehr  o®  zu  vocalisieren. 

Die  Uebersetzung  (Log.  und  Ps.  93,  19  —  22)  ist  paraphra- 
sierend  und  ungenau,  so  daß  sich  über  den  handschriftli- 
chen Befund  auch  aus  ihr  nichts  weiter  ersehen  läßt  |  283, 
18  vor  LjaJJ  einzusetzen  iCAft{<AJt  |  19  desgl.  ^  vor  \^^i  |  20 
ääLuoJI  :    wegen   des   folgenden   ^^^^üanJl  vermute    ich  X&LoJt 

(vgl.  cÄrct^J  234,  4)  I   234,   7   1.  eÄs^U:^»,    und    ebenso  10 

^^U^t  I  12  J*  fy^i  sehr,  fyf  J*  (vgl.  233,  17  und  Log.  u. 
Ps.  95,  1  6)  1  1 6  er  1.  i^»-  er  (283,  1 7  ;  234,  7  ;  236,  9  u.  ö.)  \ 


Die  Abhandlungen  der  Ichwän  es-saßt  in  Auswahl.    Herauig.  Ton  Dieterici.    919 

285,  16  k«A*  UüJ^  vXi  vor  ^  zu  stellen  |  19  g^J  1.  "Jt  |  237, 
2  j.L>c>iU_j  d^j^l^  :  Log.  u.  Ps.  99,  7  das  sich  im  Körper  be- 
wegende —  also  V^«  i  %?  oder  »iU  uS^Js^t^?  |  239,  5  Wt,  1. 
31a  I  240,  8  LjJU  .  .  .  L<iJU»-  1.  U4"  I  16  streich  das  y  vor  jy^Xx*  | 
242,  1  er  1-  «5  I  11  r'^t  1.  fM\  |  244,  10  l«-«^  :  LfUj  |  245, 
12  iUj,y«  l.iS!;y«  nachCaspari*  §  252;  Spitta  §  57»  |  20  Jl^J : 

am  einfachsten  wäre  Jj^II  (seil  jU©);  doch  macht  mich  be- 
denklich, daß  auch  236,  7   (wo  die  Vocalisation  gewis  falsch 

ist)  d]y*^^^  steht,  wo  man  JJLJtj  erwartet  (denn  das  voran- 

gehende  l5;I^'  ist  Singular).  Man  könnte  an  J|^!  =  JClIJt 
denken,  doch  ist  mir  das  aus  verschiedenen  Gründen  zwei- 
felhaft I  246,  17  streich  uJLb^  |  247,  18  ^O^J  :  ob  Jo^»  ? 
Das  Wort  fehlt  in  der  Uebersetzung  L.  u.  Ps.  11,  11 ;  6j^\ 
ist  der  gewöhnliche  Terminus  (Steinschneider,  Alfarabi 
S.  53)  I  252,  13  l^^jfi^  1.  l^^^3  I  21  L^")«  j\^\  :  es  ist  viel- 
mehr eine  Bezeichnung  für  die  Chalifen  erforderlich,  da 
die  ^Lmj^  bereits  Z.  17  abgefunden  sind,  und  es  hier  auf 
die  /Sfoatoleitung  ankommt.     Was  aber  gestanden  hat,  kann 

ich  nicht  sagen  ||  —  346,  1 8  jl;^  1.  y^  |  347,  6  ist  ^  vor  ^5^» 
als  vX^/ti  zu  vV^'  wenig  am  Platz ;  ob  ^  i^O^S  ?  Jedenfalls 
ist  das  alles  Vordersatz  (die  Uebersetzung  L.  u.  Ps.  21,  6 — 

12  ist  unklar);  der  Nachsatz  beginnt  Z.  7  mit  ^^^-fwj  |  348, 
7  f^^  1.  ^^Ic^  I  12  (ijAo^l  gUÄ>t^  hinter  iy^\  zu  stellen  | 
1 5  ob  vor  oiUi>i  einzusetzen  qI^  U  wie  13?  auch  dann  wäre 
der  Stil  nicht  eben  schön;  durch  16  könnte  man  sich  ver- 
sucht fühlen  in  1 3  LiUx^-t  ^  ^tf  Ui'^  und  in  1 5  unter  Strei- 
chung des  ^  zu  schreiben  vj  «^^,  was  durch  die  Ueber- 
setzung (L.  u.  Ps.  22,  8  V.  u.)  wahrscheinlicher  wird;  nach 
derselben  ist  auch  Z.  8  statt  U^  das  passendere  U^^  herzu- 
stellen I  349,  9  o^L  (jfiÄiU  t^jv.  xJLfi  J^.  J^  :  die  Vocalisa- 
tion vJvAj.  ist  mir  nur  als  Ausdruck  einer  gelinden  Verzweif- 
lung verständlich.  Was  die  Unterscheidung  zwischen  vi^*j^ 
und  iJ^  überhaupt  besagen  soll,  ist  zunächst  unklar.  In 
der  Grammatik  werden  beide  Worte  vielfach  ohne  Unter- 
schied gebraucht;  Ibn  Ja'^isch  sagt  I,  366  1.  Z.  geradezu 
O^^  c>oiüJ<3  Kft^t  und  bemerkt  nur  so  nebenbei,  daß  Einige 
y^yjfi  in   Bezug    auf   äußere    Eigenschaften ,    wie  kurz  oder 


920  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  24. 

lang  u.  dergl.  gebrauchen,  5^«^,  wo  eine  Thätigkeit  in  Frage 
komme,  wie  bei  schlagend  usw. ;  Zamachschari  selbst  braucht 
in  der  Regel  nur  ääaö,  und  y^i^  ist  bei  ihm  47,  9  f.  nichts 
als  etwa  »Beschreibung  durch  eine  Käa©.«  Beim  Mohit  wol- 
len wir  uns  nicht  aufhalten ;  Ihn  'Aqil  unterscheidet  zwi- 
schen beiden  so,  daß  'üja  das  einfache  Adjectiv  für  sich  ist 

(wie  VjL^?  j^'  usw.),  «;^»Jo  dasselbe  in  der  Function  des  At- 
tributes (i^^  i>^jj  usw. ;    s.  die  Stellen  im  Index   von  Die- 

terici's  Ausgabe):  dies  scheint  er  von  Sibawaih  zu  haben 
(vgl.  Derenbourg's  Text  I,  168  f.  178  f.  zu  Anfang  der  Ab- 
sätze). Ich  kann  der  Sache  jetzt  nicht  weiter  nachgehen, 
vermute  aber,  daß  auch  hier  die  Grammatik  an  die  Liogik 
angeknüpft  hat.  Diese  zeigt  in  der  Kategorienübersetzung 
(Zenker  32,  19  u.  ö.)  v^-ä)  als  Aequivalent  von  X€ntiYOQ(a; 
es  liegt  also  nahe,  an  unserer  Stelle  es  als  xcmjyoQkt  zu 
fassen,  und  tJ^  von  ihm  als  das  einfache,  auf  kein  xaS^ 
ov  xatriyogaitai  bezogene  Adjectivum ,  also  nQoaijyoQkt^) ,  zu 
unterscheiden.  Dann  tritt  der  in  der  Uebersetzung  (vgl. 
oben)  völlig  verborgene  Sinn  des  Gedankenganges  an's 
Licht :  man  begreift  leicht,  daß  zu  vä;*«j  kein  weiteres  Wort 
gebildet  ist,  das  zu  ihm  in  demselben  Verhältnis  stände, 
wie  äa^  zu  v-aäöj;  denn  das,  was  den  Begriff  ausdrückt, 
der  von  einem  Subject  prädiciert  wird,  ist  eben  dasselbe, 
was  als  Attribut  (ohne  Ürteilsföllung)  einfach  für  sich  in's 
Auge  gefasst  wird.  In  jedem  Falle  ist  entweder  (und  das 
drückt  sich  auch  in  D.'s  Uebersetzung  von  349,  9  f.  aus) 
der  Satz  von  u^^  349,  9  bis  vJ^^b  zu  JjLaH  Z.  8  herauf- 
zunehmen, oder  die  Brüder  haben  sich  hier  noch  bei  Wei- 
tem verkehrter  ausgedrückt,  als  ohnehin  oft  genug  in  die- 
sem Abschnitte,  oder  —  das  Heilmittel  ist  in  einer  unbe- 
kannten handschriftlichen  Lesart  verborgen  |   349,  2  t    fehlt 

hinter  ^yoJt  nach  dem  Zusammenhang  wie  nach  der  Ueber- 
setzung (L.  u.  Ps.  24, 12  f.)  etwa  XfiU>  ^\  L^^Lä,»  *^  J^  y-J^?^ 

j^*ai\  xÄlÄi!?,  und  350,  1  wird  hinter  ÄkaJ  ein  I^aa  einzuschie- 
ben sein  I  350,  5  («ä^j^:  das  ^  (das  ein  griechisches  xal  auch 


1)  Vgl.  dies  Wort  im  Index  zum  Berliner  Aristoteles;  SteinUuJ, 
Geschichte  S.  202;  Prantl,  Geschichte  (1.  Aufl.)  S.  439;  vgl.  668,  Anm. 
34  und  dazu  Steinthal  S.  287:  Nachweisungen ,  welche  ich,  da  mir  ge- 
genwärtig weder  Steinthal  noch  Prantl  zugänglich  war,  von  Siebeck's 
Freundlichkeit  habe  erbitten  dürfen. 


Die  Abbandlungen  der  Icbwän  es-safä  in  Aaswabl.    Herausg.  von  Dleterici.    921 

wiedergibt)  gehört  eigentlich  vor  \Jiyojl\ ;  doch  ist  vielleicht 
eben  der  Stil  wieder  einmal  salopp  |  350,  8  desgleichen 
bei  *^  '«A^,  denn  logisch  wäre  nur  L^^  t«>^,  und  die  Be- 
ziehung auf  den  Jiifti  von  S^  geht  doch  kaum  an  |  860, 1  8 
^jL:^  1.  fcr*>  |352,  8;  366,  9  8^yö  l.^yo  (362,  9)  |  363, 1  streich 
v^-»<»*^*9  welches  den  Parallelismus  beider  Sätze  zerstört 
(die  Worte  Man  ermrht  Geistiges  L.  u.  Ps.  28,  1 4  sind  doch 
wahrlich  keine  Uebersetzung  von  iuJl^^^!  v«^-**jc<j  Lf'^j^  LfilS !)  | 
363,  9  cj^>ÄJÜt  1.  \j*Äii\  (so  die  Uebersetzung  L.  u.  Ps.  29,  10, 
die  im   Uebrigen    allerdings    kaum   als    richtig    bezeichnet 

werden  kann)  |  867,  5  ^y^JI  1.  ö»*^'  |  6  j^^  so  mit  einem 
Sukün,  das  ich  mir  nicht  erklären  kann,  da  ich  zwar  weiß, 

daß  j^  Steine  sind ,  die  (vermuthlich  damit  irgendwie  zu- 
sammenhängende)  Bedeutung   Steine  sei    (Log.  u.  Ps.  34,  6 

o 

V.  u.)  für  ein  j^*  aber  mir  nicht  vorgekommen  ist.  Bis  sie 
nachgewiesen  wird,  ziehe  ich  es  vor,  statt  *2^  zu  lesen  lA^  1 

867,  13  j^^  :  dahinter  hat  die  Uebersetzung  (Log.  u.  Ps. 
36,  15)  noch  und  andere  feste  ^  wie  denn  367,  19  ^\^\  in 
der  That  erscheint;  also  ist  Z.  13  wohl  etwas  ausgefal- 
len 1  869.  18  >ä3  1.  J^3  I  361,  18  f.  OOUI  und  JO^t:  1. 
nach  J^\  vorher  und    369,  2  LVJüuaj  und  Ou®  1  362,  1  JIäj 

füge  hinzu  »I  |  7  kJ,^\  1.  »i  |  ib  y>\  1.  j>"3« ,  wenn  nicht 
der  Artikel  in  Folge  der  oben  S.  905  angedeuteten  Nach- 
lässigkeit fehlt. 

Druckfehler  in  diesen  Partien  :  179,  4  1.  v'-«*«'^!?  |  193, 

19  luu&j  I  198,  4  UU>>  I  205,  6  luJil  |  212,   7  iuu.^t  |  226, 

20  Icyto^  I  229,  8  crU'i+^'i  1  280,  6  ^^  \  16  vJÜJ^  |  233,  15 
i^M*i  I  19  >SIj2\  (statt  i^U^I)  I  234,  20  ole^JUait  |  242,  6  \jiJ:^\ 
244,  4  oVi'  I    260,  21    ^yü^^   |    252,  8  iüui=uJt  ||  —  347,  4 

kLl/  I  8  Ql».  I  357,  1 6  £L*ö"!»5  |  358,  20  Xilil,  |  360,  1 1  ^\^'i\i 
361,  4  oLaXt. 

Falsche  Vocale  (statt  deren  lieber  gar  keine  ständen): 
176,  11  U''  1.  ij>  I  177,  5  )*i  1.  >  (der  Sinn  ist:  »so  fin- 
det sein  Austritt  wider  die  naturgemässe  Art  statt«;  die 
Uebersetzung  Anthr.  72,  10    läßt  den  Satz   fort  und  bringt 

dadurch  einen  schiefen  Sinn  heraus)  |  178,  18  «j>**»Jj  1.  %; 


923  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  24. 

Subject  ist  o-^M-ÄJt  wie  175,18;  177,13;  178.16;  vgl.  oben  S. 
907,  5  V.  u.  Allerdings  heißt  vJb^^'  nicht  spenden  oder  derglei- 
chen, sondern  »in  Empfang  nehmen«  |  193,  11  j^  1.  ^^  ; 
199,  15  y^  hj^  I  201,  1  wL^l  1.  ^2\  I  202,  14  jii>  1.  JJL3- 
(dessen  Plural  Ji>  ist !)  j  20  uiji-  1.  Uä».  |  210,  2  L^^Uy-j? 
1.  "3"  I  8  8>i5  1.  8"  I  221,  2  cfc«*^!  1.  t&«i'  I  224,  1 2  l».ji  1.  U?-^  | 
227,  15  sytA  1.  Sjla  I  229,  16  iü;üaJt  sollte  kein  Tesdid  ha- 
ben I  231,  6  «Ulj'i  1.  V  I  231,  9  S.  wozu  '(^  usw.?  Die 
erste  Form  ^'  thut  s  auch ;  sollte  aber  D.  das  Passivum  IV 
meinen,  so  würde  II  erforderlich  sein  (vgl.  z.  B.  Z.  5.  7, 
232,  4  u.  ö.)  I  231,  16  Hi\Ö^\  1.  s^to^l  |  234,  5  jl«  1.  ^  , 
20  (>^^l^  1.  "i""  I  235,  3  yyaj>  :  die  Finesse  dieses  Acc.  traue 
ich  den  1j.  Br.  nicht  zu  |  238,  18  «>>^  1.  8>>^.  (schmerzlich; 
s.  Sure  2,  256!)  |  241,  10  ^j^i  1.  ^^^i  oder  ^viij  |  14  wJ 
1.  5"  I  252,  2  L^yf  1.  "*"  |  252,  10  weshalb  das  vereinzelte 
xlr  statt  des  gewöhnlichen  äi^?  |1  347,  5  x«%/5  1.  x»  |  6 
lJ,L*5  1.  V  !  353,  20  l4iübL&,  1.  V  |  356,  17  L^l^  1.  L«]^ '|  362, 

9  weshalb  (»Ouüt  statt   des  landläufigen  ^kXaJ!?'). 

Zum  Scblasse  dieser  Anzeige  kaoD  ich  nur  die  Versicherang 
wiederholen,  daß  meine  Ausstellungen,  habe  ich  sie  heute  auch  etwas 
deutlicher  und  nachdrücklicher  formulieren  müssen,  als  ich  das  vorige 
Mal  für  zulässig  hielt,  keineswegs  den  Schluß  nahelegen  sollen,  als 
hielte  ich  Dietericis  Arbeiten,  Uebersetzungen  wie  Text,  [für  wertlos, 
oder  gar  für  gänzlich  unbrauchbar.  Brauchbar  erscheint  mir  aller- 
dings aus  den  angegebenen  Gründen  dieser  in  höherem  Grade  als 
jene;  da  es  sich  bei  den  L.  Br.  nicht  um  epochemachende  Philoso- 
phen, sondern  lediglich  um  die  Vertreter  einer  immerhin  interessan- 
ten und  wichtigen  populär  sein  sollenden  Aufklärung  handelt,  so 
wird  der  des  Arabischen  Unkundige  auch  die  Uebersetzungen  mit 
leidlichem  Erfolge  benutzen  dürfen.    Ich  bin  der  Letzte,  der  an  d^r 

1)  Hier  muß  ich  einen  lapsus j  quem  stupide  feci^  gut  machen :  in  mei- 
ner vorigen  Recension  habe  ich  S.  963  (zu  2,  7)  Dieterici  belehrt,   daß  er 

^\  hätte  vokalisieren   müssen :    Praetorius  hat  mich  daran  erinnert ,  daß 
nach  meinem  eignen  üaspari   (§  536)  ^t  ganz  richtig  ist 


Quellen  zur  Geschichte  der  Stadt  Worms.    I.  Teil.    Band  I.  923 

bedaaerlichen  Verstimmang  eines  in  mannigfacher  Weise  verdienten 
älteren  Faebgenossen  teilnahmslos  vorttbergienge,  oder  es  —  ganz 
abgesehen  von  dem  notwendigen  Respekte  vor  jeder  ehrlichen  Ar- 
beit —  vergäße,  daß  ich  selber,  wie  die  allermeisten  von  ans,  mit 
Wasser  koche  nnd  daß  es  bei  weitem  ehrenvoller  ist,  mit  VeröfFent- 
lichang  von  übersetzten  Texten,  die  jedermann  eine  scharfe  Kon- 
trole  ermöglichen,  seine  Haat  zu  Markte  zu  tragen,  als  tiefsinnige 
Schätze  unvokalisierten  Nes^i's  über  die  Menschheit  auszuschütten  — 
aber,  ganz  abgesehen  von  den  bereits  angeführten  Beweggründen, 
habe  ich  noch  einen  Oesichtspunkt,  der  mir  den  Wunsch  nahe  legte, 
es  möchte  Dieterici  sich  überzeugen  lassen,  daß  sein  Verfahren  doch 
schwere  Nachteile  mit  sich  bringt.  Er  verheißt  uns  S.  XVIII  seiner 
Vorrede  eine  lexikalische  Bestimmung  der  in  seinen  »und  anderen 
philosophischen  arabischen  Texten  enthaltenen  Sinne  der  Worte«  und 
eine  Fixierung  der  »arabischen  Termini  mit  den  entsprechenden 
griechischen,  lateinischen  und  deutschen  c  —  wird  er  mir  wider- 
sprechen, wenn  ich  mich  dahin  äußere,  daß  in  einem  solchen  Werke 
Dinge,  wie  seine  Identifikation  von  ^UU  und  Bessidiung  nicht  vor- 
kommen dürfen?  Eine  derartige  Arbeit  würde  eins  der  dringend- 
sten Bedürfnisse  unserer  Wissenschaft  befriedigen;  aber  weit  mehr 
Unheil  als  Nutzen  würde  sie  stiften,  sähe  sie  von  der  gewissenhaf- 
testen, ja  pedantischsten  Treue  im  Kleinen  ab.  Ich  glaube  aller- 
dings, daß  die  unerläßliche  Grundlage  für  ein  Glossar  der  philoso- 
phischen Termini  des  Arabischen  eine  erschöpfende  Ausnutzung  der 
noch  im  Vatikan  schlummernden  Uebersetzungen  der  aristotelischen 
Hauptwerke  ist:  indes  kann  schließlich  ein  nützlicher  Anfang  am 
Ende  auch  ohne  das  gemacht  werden.  Aber  wenn  der  Buchstabe 
tödtet,  der  Geist  lebendig  macht,  so  heißt  es  doch  auch  Im  Anfang 
war  das  Wort^  und  das  Wort  besteht  aus  Buchstaben,  und  der  korog 
steckt  in  dem  Worte,  das  aus  Buchstaben  besteht. 

Königsberg,  27.  Mai  1887.  A.  Müller. 


Quellen  zur  Geschichte  der  Stadt  Worms  auf  Veranlassung  und  mit 
Unterstützang  des  Herrn  G.  W.  Hey],  vormals  Mitglied  des  deutschen  Reichs- 
tages herausgegeben  durch  H.  Boos.  I.  Teil.  Urkundenbuch.  Band  I. 
627--1300.    Berlin,  Weidmann  1886.     695  SS.    gr.  S\ 

Urkunden  zur  Geschichte  der  Stadt  Speyer  dem  historischen  Verein 
der  Pfalz  zu  Speyer  gewidmet  von  Heinrich  Hilgard- Villard,  gesammelt 
und  herausgegeben  von  Alfred  Hilgard.  Straßburg,  Trübner  1885. 
565  SS.    4^ 

Die  Yorliegendea  Werke  verdanken  der  hochherzigen  Gesinnung 
zweier  Männer  ihre  Entstehung,  welche,  geführt  durch  die  Liebe  zur 


924  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  24. 

Heimat,  der  stolzen  Vergangenheit  derselben  ein  Denkmal  setzen 
wollten.  Diese  bei  uns  in  Dentscbland  so  selten  opferwillige  Ge- 
sinnung muß  vorab  rühmend  hervorgehoben  werden,  ehe  wir  zur 
Prüfung  der  Werke  selbst  übergehn,  welche  uns  lehren  wird,  daft 
die  gestellte  Aufgabe  eine  würdige,  die  Lösung  derselben  eine 
gute  ist. 

Die  beiden  bischöflichen  Schwesterstädte  Speyer  und  Worms 
haben  gute  und  böse  Tage  über  sich  gemeinsam  hereinbrechen  sehen. 
So  viel  verwandte  Züge  dürften  kaum  in  der  Entwicklung  zweier 
anderen  deutschen  Städte  sich  wieder  finden  als  hier.  Wie  sie  einst 
beide  in  der  Entwicklung  des  deutschen  Städtewesens  voran  schrit- 
ten, hatten  beide  ihre  Blüte  schon  beschlossen,  als  die  Neuzeit  an- 
brach, beide  vernichtete  die  Verwüstungslust  der  Franzosen  im  Jahre 
1689.  Aber  trotz  des  Stadtbrandes  ist  es  den  Archiven  der  beiden 
Städte  besser  ergangen  als  man  befUrchtet  hat.  Die  Speyerschen 
Stadtarchivalien  sind  fast  intakt  uns  überkommen,  von  den  Worm- 
sern  hat  sich  auch  das  Meiste  erhalten,  nur  die  Archive  der  Klöster 
sind  hier  viel  lückenhafter  als  dort.  Die  Neuordnung  des  Stadt- 
archivs zu  Worms  führte  hier  wichtiges  Material  noch  zu  Tage,  was 
s.  Z.  Arnold  entgangen  war. 

Die  Anlage  eines  städtischen  Urkundenbuches  ist  hier  wie 
in  Straßburg,  dessen  Urkundenbuch  vielfach  von  beiden  Werken  zum 
Vorbild  genommen  ist,  durch  die  Bücksicht  auf  die  Geschichte  der 
Bischöfe  bedingt.  Für  die  ältere  Zeit,  so  lange  die  Stadt  unter  der 
Herrschaft  des  Bischofs  stand,  ist  eine  absolut  sichere  Grenze  nicht 
zu  ziehen.  Das  Speyerer  Urkundenwerk  hat  seinen  Rahmen  mög- 
lichst eng  gespannt.  Hier  war  ja  durch  das  Urkundenbuch  der  Bi- 
schöfe von  Speier  von  Remling  trotz  dessen  vielfacher  Mängel  ein 
Teil  der  Aufgabe  vorweg  genommen,  Boos  hat  viel  weiter  den  Gre- 
schicken  der  Bischöfe  Rücksicht  getragen,  so  daß  selbst  Regesten,  in 
denen  nur  der  Name  eines  Wormser  Bischofs  vorkommt,  Aufnahme 
gefunden  haben  (z.  B.  Nr.  13—15). 

Das  Wormser  Quellenwerk,  mit  dem  wir  uns  zunächst  be- 
fassen wollen,  ist  nach  einem  großen  Plan  angelegt,  außer  dem  Ur- 
kundenbuch soll  eine  zweite  Abteilung  eine  Auswahl  von  Akten  des 
15.  und  16.  Jahrhunderts  bringen,  eine  dritte  eine  Sammlung  des 
wichtigsten  chronikalischen  Materiales.  Beim  Urkundenbuch  sind 
auch  die  sogenannten  Privatnrkunden',  besser  »privatrechtlichen  Ur- 
kunden« in  vollem  Umfange,  wie  beim  Straßburger  Urkundenbuch 
bis  1332,  herangezogen,  eine  Quelle,  die  für  unsere  Kulturgeschichte 
ja  noch  immer  viel  zu  wenig  benützt  wird.  Was  in  der  reichen 
Serie  von   Testamenten,  Pfründen-,    Begincnhaus^stiftungeu    für   die 


Quellen  xur  Qeschicbte  der  Stadt  Worms.    T.  Teil.    Band  I.  925 

Entwicklong  des  religiösen  Lebens  gewonnen  werden  kann,  ist  hier 
nicht  der  Platz  auseinanderzasetzen.  Der  ungeheure  Einfluß  der 
Bettelorden,  das  Widerstreben  des  Weltklerus  gegen  ihre  Aufnahme, 
ihre  Konflikte  mit  den  Stadtbehörden  spiegeln  sich  klar  in  den  ab- 
gedruckten Urkunden,  obschon  die  Archive  der  Dominikaner  wie 
Minoriten  nur  in  geringen  Bruchstücken  auf  uns  gekommen  sind. 
Eine  in  dieser  Beziehung  für  Speyer  wichtige  Urkunde  ist  —  neben- 
bei bemerkt  —  Hilgard  entgangen-,  es  ist  ein  interessanter  Vortrag 
über  die  Ansiedlung  der  Miooriten  in  der  Stadt  selbst  von  Mai  1228, 
aus  dem  hervorgeht,  daß  der  Rat  selbst  sich  sehr  für  die  neuen 
Mönche  erwärmte.  (Aus  Staatsarchiv  Luzern  jetzt  abgedruckt  Eu- 
bel,  Gesch.  der  oberdeutschen  Min.  Provinz  S.  200  Anm.  41}. 

In  der  Nibelungenstadt  wird  jeder  nach  den  Namen  der  Nibe- 
lungenhelden suchen,  der  Name  Oernot  begegnet  uns  seit  1106  sehr 
häufig,  Giselher  zuerst  1160,  Nibelung  schon  1106  und  seitdem  sehr 
häufig,  dahingegen  sind  mir  Namen  aus  der  höfischen  Dichtung,  wie 
sie  sich  zahlreich  in  Straßburg  finden,  nicht  aufgefallen.  Mehr  ent- 
täuscht wird  der  Germanist  sein,  wenn  er  nach  deutschen  Urkunden 
sucht,  denn  selbst  der  Bat  hat  noch  nach  1283,  wo  uns  die  erste 
deutsche  Urkunde  des  Bischofs  begegnet,  alle  seine  Urkunden  in 
lateinischer  Sprache  ausgestellt.  Auch  in  Speyer  ist  die  lateinische 
Sprache  viel  länger  ausschließlich  in  den  Urkunden  angewendet 
worden,  als  in  Straßburg.  Zuerst  die  Kanzlei  des  Königs  hat  hier 
die  deutsche  Sprache  eingebürgert.  Die  erste  vom  Rat  allein  aus- 
gestellte deutsche  Urkunde  stammt  hier  gar  erst  von  1303  (Nr.  220). 
Wenn  hingegen  seit  1262  der  Straßburger  Bat  sich  fast  ausschließ- 
lich der  deutschen  Sprache  bedient,  so  kann  man  es  also  für  Speyer 
und  Worms  nicht  einmal  für  die  Zeit  gleich  nach  1300  behaupten. 
An  der  Grenze,  wo  französische  und  deutsche  Sprache  aneinander 
stießen,  ist  merkwürdiger  Weise  auch  zuerst  die  betr.  Sprache  Ur- 
knndensprache  geworden,  das  gilt  für  das  deutsche  wie  das  fran- 
zösische Sprachgebiet. 

Für  die  Geschichte  sind  aber  weit  wichtiger,  als  die  privat- 
rechtlichen  Urkunden,  die  öfl^entlich  rechtlichen  Urkunden,  welche 
das  Verhältnis  der  Stadt  Worms  zu  Beich  und  Bischof,  Bündnisse 
mit  benachbarten  Orten  u.  s.  w.  betrefi^en.  Freilich  war  das  Meiste 
von  diesen  Urkunden  schon  veröffentlicht,  aber  hier  erscheinen  sie 
alle  durchweg  in  verbessertem  Abdruck,  und  man  mußte  bisher  das 
Material  aus  einer  großen  Zahl  von  Schriften  sich  zusammensuchen, 
was  jetzt  in  sauberem  Druck  vereint  vorliegt.  Das  Privileg  Kaiser 
Friedrichs  I.  von  1156  Oktober  20  erkläii;  der  Herausgeber  nach 
dem  Vorgang  von  Stumpf  für  eine  Fälschung  aus  dem  Anfang  des 


926  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  24. 

13.  Jahrhunderts,  dagegen  wird  E.  Schanbe  demnächst  in  der  Zeit- 
schrift für  d.  Geschichte  des  Oberrheins,  N.  Folge,  wie  mir  scheint 
schwerwiegende  Gründe  vorbringen.  Sonst  ist  die  angewandte  Kri- 
tik besonnen. 

In  den  Editionsgrandsätzen  folgt  Boos  den  Sickelschen  Normen, 
jedoch  —  und  das  ist  bei  uns  Deutschen  ja  selbstredend  —  mit 
kleinen  Abweichungen.  Was  die  Zuverlässigkeit  des  Abdrucks  an- 
belangt, so  war  mir  wenigstens  eine  Kollation  der  im  Kopialbncb 
des  Klosters  Schönau  bei  Heidelberg  überlieferten  Urkunden  mög- 
lich. Hie  und  da  ist  doch  eine  Flüchtigkeit  unterlaufen,  die  sieh 
auch  bei  Schreibung  moderner  Eigennamen  (Hiltfgard,  Wetgand)  be- 
merkbar macht.  In  Nr.  98  Z.  29  fehlt  vor:  Sporo:  C{(mradus). 
Z.  33  lies  Ruder erus  (!)  statt  JRudegerus,  In  Nr.  102  ist  vom  Heraus- 
geber die  Zeugenreihe  aus  dem  Ablativ  in  den  Nominativ  überge- 
führt. In  Nr.  103  Z.  17  ist  Ex  statt  Be  eleriäs  zu  lesen,  Z.  33 
steht  aber  wirklich  *Inibernusi^,  woran  ein  scharfer  Recensent  An- 
stoß nahm.  In  Nr.  120  Z.  15  lies  consilii  statt  concilii,  Z.  35  fehlt 
hinter  Bertolftis:  de  Hir/sberg,  Heinricus.  S.  93  Z.  2  ist  zu  lesen: 
de  Dirmenstein  sacerdotes.  In  Nr.  92,  das  ich  nach  dem  Original 
verglich,  ist  Z.  6' sancti  in  Rudclfus  decantis  Ändree  eingesetzt,  das 
im  Or.  fehlt,  Z.  17  ist  statt  Duimkhart  zu  lesen  Durinkkart.  Die 
Ergänzung  in  Z.  15  Johannes  de  ^^[inswlilre  ist  irrig,  es  ist  erhalten 
TT  ...  .  swilre,  die  zwischenliegende  Lücke  mit  in  aber  nicht  aos- 
gefüllt.  Andere  kleinere  Lesefehler  in  anderen  Urkunden  über- 
gehe ich. 

Bedenken  erregte  mir  auch  die  Fassung  einiger  Regesten,  so 
soll  nach  dem  Kopfreg^st  zu  Nr.  62  es  sich  in  der  Urkunde  um  die 
Veränderung  des  Schiffszolls  in  eine  Abgabe  in  Tuch  handeln,  wäh- 
rend von  der  Zusammenlegung  der  beiden  Zölle  in  ein  Amt  gehan- 
delt wird.  In  Nr.  107  Regest  sind  die  gewöhnlichen  »judices  dele- 
gati«  des  Papstes  als  Legaten  bezeichnet.  In  Regest  zu  Nr.  115 
steht  »Kaiser«  statt  »König«  Friedrich  IL,  in  Nr.  134  mtlftte  es 
statt  »an  die  römischen  Bürger«  heißen :  »an  Mathäus  Widonis  Mar- 
roni  und  Genossen,  römische  Bürger«,  die  offenbar  eine  Wechsler- 
gesellschaft bilden,  welchen  die  päpstlichen  Einkünfte  aus  Worms 
verpfändet  waren.  Die  Zeitbestimmung  von  Nr.  91  ist  irrig,  die 
Urkunde  liegt  nicht  um  1190,  sondern  nach  1191  Juni  17,  da  der 
zu  diesem  Termin  zuletzt  vorkommende  Ditherus  als  digne  memorie 
imperiälis  aule  cancellarius  bezeichnet  wird,  also  schon  tot  war. 

Der  Anhang  bringt  den  Abdruck  zweier  Briefsammlungen.  Von 
der  älteren  aus  dem  11.  Jahrhundert  (Codex  Vatic.  Palatin.  930), 
die  zuletzt  Ewald  und  v.  Pflugk-Harttung  behandelten,  sind  nach  den 


Urkunden  zur  Geschichte  der  Stadt  Speyer.  927 

Drucken   die   auf  Worms    und  seinen   Klerus    bezüglichen  Stücke 
wiederholt. 

Im  Anhang  II  veröffentlicht  dann  Boos  einen  Briefsteller,  der 
in  Worms  kurz  nach  1240  entstanden  zu  sein  scheint  und  uns  in 
einer  Trierer  Handschrift  erhalten  ist.  Mone  und  Winkelmann  hat- 
ten einen  kleinen  Teil  der  Briefe  (26)  schon  früher  veröffentlicht, 
hier  sind  sämtliche  66,  wenn  sie  auch  manchmal  mit  der  Stadt 
Worms  nicht  in  direktem  Bezug  stehn,  abgedruckt.  Für  die  kultur- 
historische Forschung  sind  die  Briefe  von  hohem  Interesse;  über 
die  Wertschätzung  als  historische*  Quellen  ist  aber  meines  Erachtens 
der  Heransgeber  zu  schnell  hinweggegangen.  Er  meint,  sie  seien 
unstreitig  ächten  Briefen  entnommen.  Für  eine  größere  Anzahl 
glaube  ich  es  nachweisen  zu  können,  daß  sie  nur  Stilübungen  sein 
können.  Selbstredend  sind  Nr.  1  und  2,  eine  Korrespondenz  zwi- 
schen der  Fastnacht  und  der  Fastenzeit,  hierherzurechnen.  Die- 
ses alte  Zeugnis  für  die  ausgedehnte  Feier  der  Fastnacht  am  Rhein 
ist  mehrfach  —  wie  das  auch  im  Text  der  Urkunden  wohl  vor- 
kommt —  durch  Fragezeigen  als  undeutlich  hingestellt,  wo  der 
Text  doch  klar  ist.  Die  witzige  Einladung  des  Fastnachtfestes  zu 
der  Hochzeit  mit  der  domina  gula,  der  Königin  dieser  Welt,  »cum 
qua  sollempnes  nuptias  in  commessationibus  et  ebrietatibus,  in  tin- 
pano  et  choro,  in  cordis  et  organo  ac  universis  ludorum  seu  dilecta- 
tionum,  quibus  gaudet  pruritus  sensuum  humanorum ,  generibus  ex- 
plicandas  proponimus  in  proximo  per  tres  dies  continuos  celebrarec 
enthält  bei  unserer  Zeichensetzung  doch  keine  Schwierigkeit.  Aber 
auch  die  meisten  andern  Briefe  sind  Stilübungen,  denn  fast  regel- 
mäßig steht  Brief  und  Antwort  oder  gar  eine  Gruppe  zusammen^ 
BO  8  u.  9,  12  u.  13,  17  u.  18,  19—21,  22  u.  23,  27—30  u.  s.  w. 
Wie  sollten  diese  Briefgruppen  (von  allen  möglichen  Adressaten  und 
Absendern)  zufällig  in  eine  Hand  kommen?  Wie  sollen  unbedeu- 
tende Schreiben  von  einem  Wormser  Bürger  und  einem  benachbar- 
ten Ritter,  von  denen  doch  gewiß  keiner  ein  Koncept  behielt,  zu- 
sammengekommen sein?  Aber  noch  mehr,  beide  Korrespondenten 
sind  immer  ausgezeichnete  Lateiner :  wie  in  den  Humanisten-Zeiten 
die  Korrespondenten  schlagfertig  auf  ein  Citat  ein  anderes  erwidern, 
so  auch  hier.  Sollte  jemals  ein  Ritter  auf  die  Idee  gekommen  sein, 
in  einem  Briefe,  mit  dem  er  den  Arzt  zu  seiner  Oattin  bittet,  diesen 
Entschluß  damit  zu  motivieren,  daß  es  nach  Cato  notwendig  sei,  die 
dem  Körper  nötige  Hülfe  einem  getreuen  Arzte  anzuvertrauen  (Nr.  22)  ? 
Oder  sollte  gar  ein  Raubritter  von  einem  Freunde  sich  Schiffe  zu  einem 
Raubzuge  erbeten  haben,  den  er  in  schönem  Periodenban  damit  mo- 
tiviert, daß  wer  bei  Zeiten   nicht  das  Beispiel  der  Ameise  naebge- 


928  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  24. 

ahmt  babe,  mit  der  Cikade  zar  Winterezeit  Mangel  ond  Not  teilen 
müsse  (Nr.  10)?  Wie  würden  die  westfäliseben  Ministerialen  des 
Erzbiscbofs  von  Köln  wobl  ein  Rondsebreiben  dieses  aofgenommen 
baben,  worin  es  von  einem  beabsicbtigten  Znge  des  Herzogs  von 
Brabant  gegen  Küln  beißt:  »et  sie  tanta  videtar  velle  Neoptolemas, 
que  vix  expleret  Acbilles«  (Nr.  43)?  Aus  all'  den  Briefen  spricht 
nicht  der  Geist  der  Absender,  nicht  einmal  der  Geist  der  etwa  als 
Schreiber  zu  denkenden  Weltgeistlichen,  sondern  der  Geist  der 
Wormser  Domschule,  welche  dnrcb  die  Briefe  einen  ziemlich  hohen 
Stand  des  lateinischen  Unterrichts  beweist  Ich  gebe  zu,  daft  ein- 
zelne  Briefe  wirklich  so  geschrieben  sein  könnten,  die  grofte  Mehr- 
zahl gibt  aber  falsche  Voretellnngen  von  der  Eigenart  der  Korre- 
spondenz jener  Tage.  Aber  auch  als  Produkte  der  Wormser  Dom- 
schule verlieren  sie  wenig  an  kulturhistorischem  Interesse. 

Das  umfangreiche  Register  ist  im  Wesentlichen  nach  dem  Muster 
des  von  M.  Baltzer  zum  Straßburger  Urknndenbnch  Band  I  gefer- 
tigten gearbeitet.  Auch  das  Register  des  Speyerer  Urkundenbocbes 
folgt  diesem  Beispiele. 

In  der  äußeren  Ausstattung  und  Form  schließt  sich  ttberhaopl 
die  Urkunden  zur  Geschichte  der  Stadt  Speyer  eng  an 
das  Straßburger  an.  Dem  gewordenen  Auftrage  gemäß  sind  hier 
von  Hilgard  die  privatrechtlichen  Urkunden  nur  in  so  weit  heran- 
gezogen, als  sie  eine  Vervollständigung  der  Ratslisten  bieteoi  und 
insofern  auch  öffentlich-rechtliche  Momente  der  Forechung  darbieten. 
Eine  andere  Beschränkung  gegenüber  den  Urkunden  der  Bisehöfe 
besprachen  wir  schon  oben. 

Um  so  kräftiger  treten  in  Folge  dieser  Einschränkung  die  po- 
litischen Veränderungen  in  der  Stadtverwaltung  zu  Tage,  für  die 
uns  eine  unerwartete  Urkundenfülle  geboten  wird.  Und  welche 
Machtverschiebung  liegt  nicht  zwischen  den  Jahren  Kaiser  Hein- 
richs VI.,  unter  dem  nach  Schaubes  Untersuchungen  (Ztschr.  f.  Ctesch. 
d.  Oberrbeins  N.  F.  I)  die  Errichtung  des  Rates  erfolgte,  und  dem 
Revolntionsjabre  1349,  das  auch  in  Speyer  die  Rechte  der  (Geschlechter 
schwächte  und  in  welchem  die  Hausgenossen  in  die  14  Ztlnfte  über- 
geführt  wurden!  Mit  dem  Verzichtbrief  der  Hausgenossen  schließt 
das  Werk. 

Daß  auch  die  Immunitätsprivilegien  aufgenommen  sind,  ist 
selbstverständlich  —  ihren  Abdruck  fand  ich  bei  einer  Probe  kor- 
rekt, von  unbedeutenden  Irrtümern  abgesehen.  Zu  dem  Privileg 
Ottos  I.  von  969  Oktober  4  (Nr.  5.  Stumpf  Nr.  473)  heißt  es  »Das 
im  General-Landes- Archiv  zu  Karlsruhe  befindliche,  von  Dttnigi 
1836  noch  dort  gesehene  Original  ist  (wohl  vor  1865)  abhanden  ge- 


Urkunden  zar  Geschichte  der  Stadt  Speyer.  '929 

kommen«.  Diese  ADgaben,  welche  auf  die  früheren  Zustände  unse- 
res Archives  ein  schlechtes  Licht  werfen  könnten,  sind  aber  durch- 
aus irrig;  denn  Dflmge  Regesta  S.  9  bez.  90  redet  gar  nicht  von 
einem  Originale,  erwähnt  auch  ganz  gegen  seine  Gepflogenheit  über- 
haupt nichts  von  den  Aeußerlichkeiten  der  Urkunde,  so  daß  man 
zu  dem  Schlüsse  gezwungen  ist,  daß  ein  Original  ihm  nicht  vor- 
lag. Aber  noch  mehr:  bei  den  andern  noch  heute  vorhandenen  Eö- 
nigsurknuden  ist  in  dem  ältesten  Speyerer  Eopialbuch  (dem  liber 
minor)  von  einer  Hand  um  1700  jeweils  notiert:  originale  adest. 
Bei  dem  Diplom  von  969  findet  sich  dieses  aber  nicht,  ein  sprechen- 
der Beweis  dafür,  daß  es  auch  schon  damals  nicht  mehr  vorhan- 
den  war. 

Schon  für  die  zweite  Hälfte  des  dreizehnten  Jahrhunderts  be- 
ginnt dann  eine  außerordentlich  reiche  Sammlung  von  Ratsverord- 
nnngen.  In  Speyer  ist  ja  nicht  der  Versuch  einer  generellen  Kodi- 
fikation des  gültigen  Rechtes  gemacht  worden,  aber  dafür  sind  uns 
die  einzelnen  gesetzgebenden  Akte  in  einer  Vollständigkeit  erhalten, 
wie  wohl  in  wenigen  andern  Städten,  auch  die  Zunfturkunden  sind 
hier  besser  uns  überliefert,  wie  sonst  meist  am  Oberrhein.  Ein  An- 
ting bringt  die  nicht  chronologisch  einreihbaren  Stücke  stadtrecht- 
licher Aufzeichnung:  Ratsantritt,  Weistum  über  die  bischöflichen 
Aemter,  Eide  der  Bürgerschaft  u.  s.  w. ,  Polizei- Verordnungen,  Zoll- 
weistum,  Auszüge  aus  dem  Bürgerbuch  und  Achtbuch,  dann  schließ- 
lich den  historischen  Bericht  eines  Hausgenossen  über  die  Streitig- 
keiten bei  der  Besetzung  des  Rates  —  man  sieht  also,  daß  auch 
das  Aktenmaterial  bei  Speier  weit  zurückgreift.  Der  rechtsgeschicht- 
lichen Forschung  ist  hier  ein  ergibiges  Feld  geboten.  Da  ein  Sach- 
register nicht  beigegeben  ist,  möchte  ich  gern  auf  den  Einfluß,  den 
die  geistlichen  nach  dem  kanonischen  Recht  urteilenden  Gerichte  auf 
die  städtische  Verwaltung  ausübten,  kurz  hinweisen.  Ist  es  schon 
lehrreich  den  Protest  der  Stadt  Speyer  gegen  das  Vorgehn  des  Bi- 
schofs Friedrich  von  1294  (Nr.  183)  ganz  in  den  Geleisen  der  kirch- 
lichen Gerichtsurkunden  gehn  zu  sehen,  so  ist  es  wohl  für  diese 
Zeit  einzig  in  Deutschland,  daß  die  Stadt  Speyer  1321  für  »omnes 
causas  ad  ecciesiasticum  forum  spectantesc  sich  einen  Syndikus  auf 
4  Jahre  in  der  Person  des  magister  Ulrich  von  Wegesode  engagierte 
(Nr.  339),  an  dessen  Stelle  aber  schon  im  nächsten  Jahre  »magister 
Heinricns  de  Fulda,  utriusque  juris  professor«  trat  (Nr.  345),  den 
man  sich  auf  3  Jahre  dingte. 

Mit  besonderem  Interesse  verfolgt  man  naturgemäß  in  den  Ur- 
kunden dieser  beiden  Bischofstädte  die  Geschichte  ihrer  Judenge- 
meiuden,  die  ja  an  Alter  und  Bedeutung  allen  andern  in  Deutsch- 

a«U.  K«l.  Am.  1887.  Nr.  8i.  64 


930  Gott.  «[Ol.  Anz.  1887.  Nr.  24. 

land  aDsäßigen   voraostehD.     Bis   vor   Karzem    hat  das  Speyeriache 
Jadeoprivileg  von  1090  als  die  wichtigste  Qaelle  der  Geschichte  der 
Juden  vor  dem  Beginne  der  Judenverfolgungen  gegolten :  durch  einen 
glücklichen  Fund   auf   dem   Kölner   Stadtarchiv,   der    nebst   andern 
wichtigen  Dokumenten   zur  Geschichte   der  Juden   auch   ein  Privileg 
Friedrichs  I.   fUr   die  Wormser  Juden   von  1157  April    an  den  Tag 
brachte,  ist  nun  auf  einmal  durch  die  Untersuchungen    von  Höniger, 
Breßlan  und  Stobbe  (in  Ztschr.  f.  Gesch.    der  Juden  in  Deutschland 
Band  I,  1887)  das  Vertrauen  zu  dem  Speyrer  Privileg  Heinrichs  IV. 
erschüttert,  so  daß  man  es  verzeihen  möge,  wenn  hier  einige  für  den 
Wert  unseres  Speyerer  Privilegs  bisher  unbeachtet  gebliebene  Momente 
zur  Sprache  kommen.    Die  Differenzen  zwischen  dem  neugefundenen 
Privilege  Friedrichs,  das  wiederum  die  Bestätigung  eines  älteren  von 
Kaiser  Heinrich   (IV.  oder  V.?)   gegebenen   ist,    und   dem  Speyerer 
von  1090  sind  freilich  von  tiefgreifendster  Art.    Es  ist  ja  ganz  rich- 
tig, daß,  während  das  Wormser  Privileg  durchweg  nur  die  eine  Ge- 
richtsbarkeit des  Königs  anerkennt,  zu  dessen  Kammer  sie  gehören, 
das  Speyerer  Privileg  nichts  von  einem  ausschließlichen  Rechte  der 
königlichen   Kammer    an    die  Juden    weiß,  sondern  es   konkurriert 
entweder  die  bischöfliche  Gewalt  oder  sie  ist  ganz  hier  in  die  Stelle 
des  Königs   eingerückt.     Höniger   geht  nun  von  der  Voraossetzung 
aus,  daß  in  beiden  Städten  Worms  und  Speyer  die  Entwicklung  die 
gleiche  gewesen  sei,    und  gelangt  damit  zu  dem  Schlüsse,   daß  das 
Speyerer  Privileg   später   im   bischöflichen  Interesse  interpoliert  ^; 
nach  Maßgabe   der  weiter  entwickelten  Zustände  sei  es  etwa  in  der 
zweiten   Hälfte   des    13.  Jahrhunderts    so   interpoliert,   daß    es  als 
echte  Urkunde   nicht    mehr  angesprochen   werden    dürfe.      Ist    die 
Voraussetzung  Hönigers  aber  mit  unseren  sonstigen  Quellenzeagnla- 
sen    zu   vereinen?     Keineswegs.     Wir   haben   neben   dem  Privileg 
Heinrichs  IV.  noch  ein  zweites  Privileg  für  die  Speyrer  Juden  and 
zwar  vom  Bischof  Rüdiger  (gen.  Huozmann)   aus  dem   Jahre  1084, 
also  nur  6  Jahre  älter.    Wäre  die  Hönigersche  Voraussetzung  rich- 
tig, daß  die  königlichen  Rechte  an  die  Juden  erst  im  13.  Jahrhan- 
derte  an  die  Fürsten  (und  so  auch  an  den  Bischof  von  Speyer)  ge- 
kommen seien,   so  müßte    die  Existenz   eines  bischöflichen  PrivilegB 
an  sich  schon  auffallen,  die  einzelnen  Bestimmungen  desselben  wä- 
ren aber  vollends  undenkbar.    Der  Bischof  erzählt  wie  er  bei  dem 
Ausbau   des   Dorfes  Speyer   zur  Stadt   zur  Ehre   der  NengrOndong 
auch   die  Juden   gesammelt   und  ihnen  von   der  übrigen  Stadt  ge- 
trennte Wohnsitze  angewiesen  habe,  et  ne  a  pejoris  (Hilgard  ist  d& 
kuriose   Lese-   oder   Druckfehler  pecoris  begegnet)   turbe   insoleneia 
facile  turharentur^   muro   eos  drcumdedi»     Da   wird   ihnen  vom  Bi* 


Urkunden  der  Geschichte  der  Stadt  Speyer.  93! 

schofe  Kauf-  und  Wechselrecbt  in  Stadt  und  Hafen  verliehen  (Z.  37 
iBt  e  regiane  extra  portmi  an  Stelle  von  portxm  zu  korrigieren). 
Die  Gerieb tsbarkeit  in  Streitigkeiten  unter  ibnen  oder  gegen  sie 
wird  dem  Arebisynagogns  zugewiesen ;  kann  dieser  sie  niebt  ent* 
scbeiden,  so  gelangt  die  Saebe  vor  den  Bisebof  der  Stadt  oder  sei- 
nen Kämmerer.  Zwar  baben  Höniger  und  Stobbe  versuebt,  bie  und 
da  einen  Gegensatz  zwischen  beiden  Privilegien  zu  erweisen,  allein 
diese  Widerspruche  lassen  sich  wohl  durch  den  dehnbaren  Ausdruck 
des  kaiserlichen  Privilegs  beseitigen  —  und  selbst  wenn  ein  Gegen- 
satz zwischen  beiden  Privilegien  besteht,  so  bleibt  doch  auch  in 
dem  RUdigerscben  Privilege  eine  solche  Summe  von  Rechten  dem 
Bischöfe  vorbehalten,  wie  sie  Höniger  fUr  das  11.  Jahrhundert  für 
unmöglich  erklärt.  Ficht  man  (von  kleineren  Abänderungen  des 
Textes  abgesehen)  den  Grundstock  des  kaiserlichen  Privilegs  an, 
so  muß  man  auch  das  bischöfliche  flir  eine  Fälschung  erklären,  in 
beiden  ist  der  Bischof  der  allerdings  sehr  milde  Beherrscher  der 
Juden.  Wie  hoch  bedenklich  es  an  sich  schon  ist,  die  Echtheit  fast 
der  einzigen  Quelle  zur  Geschichte  der  Juden  zu  bestreiten,  weil 
sie  einer  dritten  zu  widerstreiten  scheint  —  hier  haben  wir  aber 
noch  andere  Beweise,  daß  die  Hönigersche  Voraussetzung  falsch  ist, 
daß  nicht  auf  die  Macht  des  Königs  die  des  Bischofs  folgt,  sondern 
umgekehrt  seit  dem  13.  Jahrhundert  die  Rechte  des  Bischofs  ver- 
schwinden, die  des  Königs  wachsen.  Eine  direkte  Bestätigung  eines 
Punktes  des  bischöflichen  Privilegs  liegt  uns  aus  dem  Jahre  1113 
in  einer  leider  von  Hilgard  nicht  mit  abgedruckten  Urkunde  Hein- 
richs V.  (Remling  UBuch  I,  89  Stumpf  Nr.  3092)  vor.  Im  bischöfli- 
chen Judenrivilege  beißt  es,  daß  der  von  dem  Judenviertel  an  das 
Domkapitel  zu  zahlende  Jahreszins  sich  auf  3Vs  Pfd.  Speyerer  Mttnze 
belaufe.  In  der  Urkunde  von  1113  wird  nun  aber  ganz  dieselbe 
Summe  angegeben.  Und  von  ihr  ist  uns  das  Original  noch  erbal- 
ten, sind  wir  nicht  wie  bei  den  beiden  andern  Urkunden  auf  ein 
Kopialbucb  von  ca.  1282  angewiesen.  1265  redet  dann  noch  der  Bi- 
schof von  consueta  nobis  nomine  imperii  ac  dictis  Judeis  sermda 
(Hilgard  nr.  HO),  dann  verschwinden  die  bisehöflichen  Rechte  an 
die  Juden;  die  des  Königs  treten  immer  mehr  hervor.  In  Worms 
hingegen  sind  irgend  welche  bischöfliche  Rechte  an  die  Juden  nie- 
mals nachweisbar,  weder  früh  noch  spät;  es  ist  das  doch  auch  ein 
Beweis,  daß  die  Judengemeinden  von  Worms  und  Speyer  ganz  ver- 
schiedenen Ursprung  haben.  Ich  gebe  gern  zu,  daß  eine  Reihe  von 
Verdachtsmomenten  (auch  gegen  das  bischöfliche  Privileg)  bestehn 
bleiben,  aber  die  bisherigen  Forschungen  kann  ich  als  abschließend 
nicht  ansehen. 


932  Gott.  gel.  Anx.  1887.  Nr.  24. 

Bei  Vergleichnng  des  Druckes  von  Hilgard  mit  den  Vorlagen 
fand  ich  (von  den  oben  angegebenen  Fehlem)  nur  nnbedentende  Irr- 
tümer, auch  das  Register  erwies  sich  als  korrekt.  Bei  der  Ortaer- 
klärang  ist  mir  nar  Ein  Versehen  aufgefallen:  Unter  den  SSStfidten, 
mit  deren  Kontingenten  Herzog  Leopold  1320  vor  Speyer  lag  (Nr. 
328),  wird  auch  aufgezählt:  Menigen,  das  ist  nicht  das  badisehe 
Dorf  Menningen,  sondern  die  Stadt  Mengen  (wtirt  O.A.  Sanlgau). 

Zuletzt  möchte  ich  noch  eine  Frage  der  Technik  der  Urkunden- 
editionen  hervorheben,  in  welcher  unsere  besten  Urkundenbücber 
verschiedene  Wege  gehn,  es  ist  die  der  Siegelbeschreibnngen.  Wie 
einzelne  unserer  besten  Urkundenbücber  noch  heute  nur  die  Zahl  der 
ursprünglichen  und  jetzt  vorhandenen  Siegel  angeben,  sind  in  an- 
dern jetzt  die  sorgfältigsten  Beschreibungen  geboten.  Boos  wie  Hil« 
gard  haben  auf  eine  eingehende  Beschreibung  verzichtet,  Hilgard 
führt  als  Grund  an,  daß  neben  den  allerbekanntesten  Siege!  der 
Städte  und  deutschen  Kaiser  von  fast  allen  andern  nur  unbedeutende 
Fragmente  vorliegen,  —  Boos  hat  die  Bemerkungen  knapp  gehalten, 
weil  die  meisten  Wormser  Urkunden  teils  früh  ihre  Siegel  ganz  ver- 
loren haben,  teils  weil  die  Siegel  nur  noch  fragmentarisch  erhalten 
sind.  Von  den  wichtigsten  Siegeln  hofft  er  später  eine  Anzahl  in 
guten  Abbildungen  zu  geben.  Hilgard  hat  ganz  auf  die  Besehrei- 
bung verzichtet,  Boos  zum  Teil,  er  gibt  aber  leider  meist  das  Un- 
wesentlichste an.  Was  für  einen  Wert  hat  es,  wenn  es  heiftt,  »die 
6  an  grünseidenen  Bändern  hängenden  roten  Wachssiegel«  (Nr.  S03)? 
Die  Farbe  der  Bänder  ist  ganz  gleichgültig,  aber  wichtiger  wären 
die  Umschriften  und  die  Siegelbilder.  Mehrfach  ist  freilich  anch  die 
Legende  gegeben,  aber  nicht  immer  richtig:  an  Nr.  245  Siegel  des 
Sanct  Andreasstiftes  zu  Speyer  liest  Boos  +  T£ .  SACEPANDOEA . 
BVLIATA .  FI6URAT .  YDEA.,  das  bleibt  auch  bei  richtiger  Le- 
sung: 4'  ^^  sacer  Andrea  hullata  figurat  ydea  noch  ziemlich  anver- 
ständlich, wenn  nicht  dabei  gesagt  ist,  das  im  Siegel  das  Bild  des 
h.  Andreas  sich  befindet.  Aber  nicht  an  den  beiden  vorliegenden 
Urkundenwerken,  deren  Herausgeber  für  ihre  Handlungsweise  ja 
nicht  unwichtige  Gründe  vorgebracht  haben,  möchte  ich  die  Behand- 
lung der  Frage  kleben  lassen,  sondern  ganz  allgemein  sie  fllr  alle 
Urkundenbücber  stellen.  Bei  Speyer,  Worms  und  auch  Straiburg 
ist,  weil  hier  sogleich  bei  dem  Aufkommen  der  Benrkundungspraxis 
sich  einzelne  Gewalten  derselben  bemächtigten  (Stadt,  geistliche  Cte- 
richte),  die  Zahl  der  siegelführenden  Personen  weit  geringer,  als  im 
rechtsrheinischen  Gebiete,  der  Verlust,  den  wir  haben,  ist  also  nicht 
so  groß,  wie  er  etwa  bei  einem  Würzbürger  Urkundenbuch  wäre. 

Das  ganze  Mittelalter  hatte  für  die  Urkundenprttfhng  fiust  nur 


ürknnden  znr  Geschichte  der  Stadt  Speyer.  93S 

eiD  Eriteriam:  das  Siegel.  Wie  einen  Augapfel  behütete  man  es 
deshalb.  Für  viele  unserer  Forscher  ist  dieses  Kriterium  aber  gar  nicht 
vorhanden.  Aber  ist  denn  nichts  ftlr  die  Urkundenkritik  ans  den 
Siegeln  zu  gewinnen?  Bleiben  wir  bei  einem  Wormser  Beispieie. 
Nr.  88  enthält  eine  Verftlgung  des  Bischofs  Konrad  von  Worms,  von 
1180,  deren  Schrift  aber  auf  das  13.  Jahrhundert  hinweist.  Die 
Stylisierung  ist  nicht  minder  bedenklich.  Wäre  es  da  nicht  an- 
gezeigt gewesen,  das  erhaltene  Siegel  mit  andern  des  Bischofs  zu 
vergleichen,  anstatt  nur  die  Legende  mitzuteilen?  Bei  einer  von 
mir  jttngst  geführten  Untersuchung  über  die  großartige  Urkunden- 
fälschung von  St  Trudpert  konnte  die  Untersuchung  nur  bis  zu 
einem  Punkte  geführt  werden,  über  den  wohl  nur  eine  ordentliche 
Beschreibung  eines  scheinbar  ganz  gleichgültigen  Siegels  hinweg- 
helfen wird.  Es  stellte  sich  heraus,  daß  an  Fälschungen  angeblich 
von  allerhand  Ausstellern  nur  Siegel  von  3  Stempeln  hiengen.  Es 
wäre  nun  wohl  schon  interessant  zu  wissen,  ob  die  Stempel  eigens 
hiezu  geschnitten  wurden,  oder  wie  die  Siegel  in  unverdächtiger 
Weise  befestigt  werden  konnten,  aber  viel  wichtiger  wäre  es  zu 
wissen,  ob  eine  weitere  Zahl  von  verdächtigen  Urkunden,  an  denen 
nur  eins  von  diesen  Stempeln  sich  findet,  auch  gefälscht  ist.  Das 
wäre  der  Fall,  wenn  nur  eine  kleine  Differenz  zwischen  dem  hier 
verwandten  Stempel  des  Straßburger  Domkapitelsiegel  und  dem  zu 
gleicher  Zeit  sonst  benutzten  sich  erweisen  läßt.  An  diesem  Punkte 
hängt  die  ganze  weitere  Behandlung.  In  der  ganzen  Litteratur  sucht 
man  aber  vergebens  nach  einer  zuverlässigen  Beschreibung  des  Sie< 
gels.  Die  Zahl  der  Beispiele,  wo  die  Urkundenkritik  ganz  auf  die 
Siegel  angewiesen  ist,  ließe  sich  leicht  vermehren;  aber  ich  glaube, 
diese  beiden  Beispiele  genügen. 

Bei  der  Vernachlässigung  der  Siegelbeschreibung  verlieren  wir 
aber  auch  direkt  und  (bei  der  mit  zunehmender  Benutzung  rasch 
fortschreitenden  Zerstörung  der  Siegel)  oft  unwiederbringlich  histori- 
sche Angaben,  die  nur  aus  den  Worten  und  der  Zeichensprache  der 
Siegel  zu  ersehen  sind.  Für  den  genealogischen  Zusammenhang  un- 
serer Geschlechter,  für  die  Bestimmung  der  Familienzugehörigkeit  geist- 
licher Würdenträger,  für  die  Gründer  und  Herren  einer  Stadt  'legen 
oft  ja  nur  die  Siegel  Zeugnis  ab.  Wer  gibt  ein  Wappen  der  Herren 
von  Zentern,  ob  aus  ihnen  Reinmar  von  Zweter,  dessen  Wappen 
uns  überliefert  ist,  entstammt?  wer  das  eines  von  Owe,  das  mit 
Hartmanns  stimmte?  In  welchem  Maße  ist  unsere  Denkmälerstati- 
stik auf  die  Beschreibung  der  Wappen  angewiesen,  und  für  die  Wap- 
penkunde sind  die  älteste  und  reinste  Quelle  ja  die  Siegell  Was 
gewinnt  nicht  die  Hagiographie  aus  der  Kenntnis  unserer  Konvent- 


9S4  Gdtt.  gel.  Adz.  1887.  Nr.  24. 

Siegel,  was  bat  ansere  Kanstgeschiehte  für  einen  Nutzen  davon, 
wenn  Bauten,  Trachten,  Waffen  n.  s.  w.  nachgebildet  sind.  Ist  es 
nicht  von  hohem  Werte  zu  wissen,  daft  das  Siegel  des  St.  Trinitatsstifks 
in  Speyer  das  ganz  individualisierte  (also  offenbar  genaue  Ab-)BiId 
dieser  Kirche  gibt?  Was  wir  so  aus  den  Siegeln  erfahren  können, 
ist  ja  mitunter  wenig  genug;  aber  wieviel  gewinnt  denn  ansere 
Kenntnis  aus  dem  Text  mancher  Urkunden?  Die  vornehme  Igno- 
rierung der  Siegel  fände  ich  erklärlich  vor  dem  Auftreten  eines  so 
besonnenen  und  eifrigen  Forschers,  wie  der  Fürst  Hohenlohe- Waiden- 
burg es  war.  Seitdem  durch  ihn  aber  die  Sphragistik  in  wissen- 
schaftliche Bahnen  übergeführt  ist,  von  denen  ja  freilich  die  meisten 
»Heraldiker«  Tag  fttr  Tag  wieder  abweichen,  ist  es  ein  offenbarer 
bedauernswerter  Mangel  vieler  unserer  Urkundenbücher,  wenn  sie  so 
ganz  und  gar  diese  Seite  der  Edition  vernachlässigen.  Verschuldet 
hat  ihn  wohl  mehr  die  Scheu  der  Editoren  sich  in  diese  Httlfsdis- 
ciplin  einzuarbeiten,  als  das  sichere  Bewußtsein,  die  Siegel  gehörten 
nicht  mit  zu  einer  Urkundenedition.  Hätten  wir  mehr  streng  gebil- 
dete Forscher,  die  auch  diesen  Hilfsdisciplinen  ihr  Augenmerk  zuge- 
wandt hielten,  so  dürften  schwerlich  in  unserer  provinzialen  Littera- 
tur  die  kritiklosen  Studien  unserer  Heraldiker  und  Genealogen  sieh 
so  breit  machen,  wie  sie  es  derzeit  thun. 

Karlsruhe.  Aloys  Schulte. 


Zimmermann,  Franz,  Archivar,  Das  Archiv  der  Stadt  Hermann- 
Stadt  und  der  s&chsischen  Nation.  Hermannstadt  1887,  Verlag 
des  Archives.    VI,  116  S.    Q^. 

Ueber  die  Zweckmäßigkeit  des  besonders  in  Frankreich  und 
Belgien  seit  einem  halben  Jahrhundert  eingebürgerten  Verfahrens, 
die  Bestände  der  Archive  durch  Veröffentlichung  ihrer  Repertorien 
der  Wissenschaft  allgemein  zugänglich  zu  machen,  besteht  wohl 
heute  auch  in  Deutschland  kein  Zweifel  mehr.  Dennoch  sind  wir  in 
dieser  Beziehung  hinter  unseren  westlichen  Nachbarn  noch  weit  zu- 
rück: die  Beschreibung  einzelner  stUdtischer  und  staatlicher  Archive 
in  der  jetzt  über  ein  Jahrzehnt  bestehenden  Archivalischen  Zeitschrift 
Franz  von  Löhers  wird  von  allen  Beteiligten  stets  auf  das  Dank- 
barste anerkannt  werden,  aber  sie  kann  die  Drucklegung  der  Re- 
pertorien nicht  ersetzen.    Ein  einziges  städtisches  Archiv  in  Deutsch- 


Zimmermann,  Das  Archiv  der  Stadt  Hermannstadt  und  der  sächsisch.  Nat.    935 

land  —  allerdings  eins  der  bedeutendsten  —  bat  seit  fünf  Jahren 
begonnen  eine  systematische  Beschreibung  zunächst  seiner  älteren 
Urkundenvorräte  in  einer  eigens  zu  diesem  Zwecke  begründeten  Zeit- 
schrift zu  publicieren.  Das  Beispiel  Külns  hat  kürzlich  einen  Wider- 
hall im  äußersten  Südosten,  in  einer  hart  um  ihre  nationale  Exi- 
stenz ringenden  Enklave  deutscher  Volkskraft  unter  Magyaren  und 
Rumänen,  gefunden,  im  siebenbUrger  Sachsenlande.  Der  Archivar 
der  Stadt  Hermannstadt  und  der  sächsischen  Nation,  Franz  Zimmer- 
mann, bietet  uns  in  einem  handlichen,  auf  gutem  Papier  geftlllig 
ausgestatteten  Oktavbande  ein  Verzeichnis  des  unter  seiner  Verwal- 
tung stehenden  Doppelarchivs,  aus  welchem  jeder,  der  aus  dieser 
reichen  Quelle  siebenbttrgisch-sächsischer  Landesgeschichte  schöpfen 
will,  sich  mit  Leichtigkeit  über  das,  was  er  daselbst  vorfindet,  orien- 
tieren kann. 

Das  Archiv  zerfällt  in  4  Abteilungen:  Urkunden,  Akten,  Proto- 
koUbttcber  und  Rechnungsbücher.  Die  Urkunden  werden  durch  das 
Jahr  1526,  die  Katastrophe  von  Mohacz,  in  zwei  ungleiche  Hälften 
geteilt,  von  denen  die  ältere,  kleinere  ca.  1800  Nummern  umfaßt: 
jede  Abteilung  gliedert  sich  wieder  in  weltliche  und  geistliche  Ur- 
kunden (nach  den  Ausstellern),  in  jener  befinden  sich  fast  700  un- 
garische Eönigsnrkunden  (von  1203—1526),  in  dieser  (nur)  '14 
päpstliche  Bullen  von  1322—1519:  bei  den  mittelalterlichen  Doku- 
menten werden  auch  die  aus  derselben  Zeit  stammenden  Rechnnngs- 
bttcher  und  Fragmente  von  solchen  und  (18)  »sonstige  Archivalien c 
beschrieben.  Der  zweiten  Periode  1527  —  1700  gehören  über  5000  Ur- 
kunden an.  Gering  ist  in  beiden  Abteilungen  die  Zahl  der  von  fremden 
(nicht  Osterreichischen,  ungarischen  oder  siebenbttrgischen)  Ausstellern 
herrührende  Stücke.  Das  Endjahr  der  Urkunden  bezeichnet  den 
Anfang  der  zweiten  Abteilung,  der  Akten,  welche  in  sechs  Unterab- 
teilungen gegliedert  sind:  1.  Hermannstädter  Magistrats-  und  Uni- 
versitäts-Akten 1701—84  resp.  1789.  2.  Hermannstädter  Hagistrats- 
Akten  1790—1833.  3.  Hermannstädter  Kommunitäts-Akten  vom  17. 
Jahrhundert  bis  1800.  4.  Universitäts- Akten  1790-1849.  5.  Komi- 
tiats-Akten  1790—1849.  6.  Hermannstädter  Eomitats-Akten  1784— 
1790.  13  Unterabteilungen  umfaßt  der  3.  Abschnitt,  die  PrptokoU- 
bücher :  1.  Hermannstädter  Ratsprotokollbücher  1522—1830  (der  Be- 
stand scheint,  einer  alten  Zählung  zufolge,  früher  noch  weiter  hinauf- 
gereicht zu  haben,  möglich  aber  auch,  daß  unter  jenen  alten  Signa- 
turen früher  mehrere,  jetzt  getrennte  Abteilungen  vereinigt  waren). 
2.  Hermannstädter  Eommunitätsprotokollbücher  1790—1810.  3.  Pro- 
tokoll bttcher  des  seit  1472  dem  Hermannstädter  Rat  unterstellten 
Stuhles  Szelistye  1585-1828.    4  Protokollbücber  des  seit  1452  im 


986  Gott.  gel.  A  uz.  1B87.  Kr.  24. 

selben  Verbältnis  steheuden  Stahles  Talmesch  1732—1747.  5.  Proto- 
kolle der  sächsischeD  NatioDsaniversität  1544—1848  (auch  hier  viel- 
leicht am  Anfang  früher  vollständiger),  an  weiche  sich  die  von  1861 
— 1883  gedruckten  Protokolle  anschließen.  6.  ProtokoUbUcher  des 
sächsischen  Komitiates  1804—1849.  7.  Geschäftsbücher  der  sächsi- 
schen Nationalbuchhaltung  1805 — 1849.  8.  Hermannstädter  Komi- 
tatsprotokoUbUcher  1784—1790.  9.  SiebenbUrgische  Landtagsartikel 
und  ProtokoUbttcher,  auf  einzelnen  Blättern  oder  in  Heften,  seit  1622 
hin  und  wieder  Einzeldrucke,  1536 — 1841.  10.  Teilungsbttcher,  a) 
der  Stadt  Hermannstadt  1573—1822.  b)  des  Hermannstädter  Stahles 
1739-1802.  11.  Hermannstädter  NachbarschaftsbUcher,  1577-1878 
(»eine  der  wichtigsten  Quellen  der  Lokalgeschichtec,  Qeschäftsbttcher 
der  32  Bezirke  der  Stadt).  12.  Hermannstädter  Zanftbücher,  von  13 
Qe werken  (was  sind  die  zuerstgenannten  Gsismenmacher?)  von  1494 
— 1886).  (13.)  Urbarien  und  Konskriptionen  der  Stadtgtlter.  Die 
vierte  Abteilung,  Rechnungen,  gliedert  sich  in  die  Konsularrechnan- 
gen,  d.  i.  die  Stadtrechnung  im  Allgemeinen,  von  1494 — 1815  and 
Wirtschaftsrechnungen  von  25  städtischen  Aemtern  oder  Betrieben 
von  1350—1800,  dieselben  sind  sehr  genau  mit  Angabe  des  Rech- 
nungslegenden  für  jedes  Jahr  verzeichnet,  angehängt  sind  GeschQtz* 
rechnungen  1552—1557  der  kaiserlichen  Truppen.  Die  folgenden  5 
Abschnitte  kann  man  füglich  als  einen  Anhang  bezeichnen:  unter 
Y  werden  11  Handschriften  (meist  Abschriften  und  Sammlungen  des 
vorigen  Jahrhunderts)  beschrieben,  VI  zählt  die  Repertorien  des  Ar- 
chivs auf,  VII  die  handschriftlich  oder  gedruckt  aufbewahrten  Ge- 
setzbücher, VIII  gibt  einen  alphabetischen  Katalog  der  132  Nam- 
mern  starken  Handbibliothek,  IX  die  (sehr  liberale)  Benatzangsord- 
nung.  Mögen  recht  bald  städtische  Archive  in  Deutschland  die 
wissenschaftliche  Forschung  durch  ähnliche  Uebersichten  über  ihren 
Bestand  in  so  hervorragender  Weise  unterstützen,  wie  es  hier  von 
jener  deutschen  Sprachinsel  im  fernen  Südosten  geschehen  ist 

Halle.  M.  Perlhaeh. 


FiLr  di«  Bedaktion  Tttraatvortlich :   Prof.  Dr.  BtehUl,  Dinktor  dw  Q«tt.  gel.  Abs., 
AtMtBor  der  Eöniglichan  Oeaellschftft  der  WiseeiUMhaflen. 

Vorlag  dtr  JHHmrieh^tehm  Vwioft-BueMiandJmitff, 

Dru^  dir  DMtriek'tehm  V'nit.-ßuehärM^trn  (/V.  ff.  Xanimfr), 


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987 


Göttingische 

gelehrte  Anzeigen 

unter  der  Aufsicht 

derKönigl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Nr.  25.  ^  15.  December  1887. 

Preis  des  Jahrganges:  JL  24  (mit  den  »Nachrichten  d.  k.  G.  d.  Wiss.« :  o^  27). 
Preis  der  einzelnen  Nummer  nach  Anzahl  der  Bogen:  der  Bogen  50  ^ 


Inhalt:  Standing  er,  Die  Gesetze  der  Freiheit.  I.  Ton  Zi^^to'.  —  ArchiT  fftr  Geechichte  der 
PUloiopliie  heraaagegeben  Ton  Stein.  I,  l  Von  Ettcken.  —  F riedenebnr g,  Der  Reiehatag  zn  Speier  1626. 
Tom  Ymfaaur,  ~  I.  Jacob,  Der  Bematein  bei  den  Arabern  des  Mittelaltert;  II.  Derselbe,  Welche 
Handelsartikel  bezogen  die  Araber  des  Mittelalters  ans  den  nordisch-baltisdien  L&ndern?  III.  Derselbe, 
Der  nordisch-baltische  Handel  der  Araber  im  Mittelalter.  Von  MtüOer.  —  t.  d.  Linde,  Kaspar  Hanser. 
Von  BchuUe.  —  Hy  Tern  at,  Les  actes  des  martyrs  de  TlSgypte  etc.    Yon  d4  Lagardt, 

=  Efaenmiohtiger  Abdruck  von  Artikeln  der  GStt.  gel.  Anzeigen  verboten.  ^ 

Staadinger,  Franz,  Dr.,  Gymnasiallehrer  in  Worms  a.  Rh.,  Die  Gesetze 
der  Freiheit.  Untersuchungen  über  die  wissenschaftlichen  Grundlagen 
der  Sittlichkeit,  der  Erkenntnis  und  der  Gesellschaftsordnung.  L  Band.  Das 
Sittengesetz.    Darmstadt,  Verlag  von  L.  Brill.    1887.  —  7  Mark. 

Es  ist  ein  groß  angelegtes  Werk,  dessen  erster  Band  ans  hier 
vorliegt.  Den  Plan  des  Ganzen  erkennt  man  aus  dem  Titel:  indem 
der  Verfasser  den  Gesetzen  der  Freiheit  nachgeht,  die  es  ebenso  gewiß 
geben  muß,  »wie  es  allgemeine  Gesetze  des  leiblichen  Lebens  giebt«, 
hat  er  es  mit  drei  Gebieten,  drei  Kreisen  menschlichen  Seins  und 
Lebens  zu  than,  and  so  zerfällt  sein  Werk  in  drei  Abteilangen,  de- 
ren erste  das  Sittengesetz  oder  die  wissenschaftlichen  Grandlagen  der 
Sittlichkeit  untersacht,  während  die  zweite  von  der  Erkenntnis  and 
ihren  Bedingangen,  der  dritte  and  letzte  Teil  von  der  Gesellschafts- 
ordnung handeln  soll.  Von  diesen  drei  Abteilungen  fällt  die  mitt- 
lere, scheinbar  rein  theoretische  auf,  und  wir  fragen,  was  solche  er- 
kenntniskritischen Erörterungen  in  diesem  Zusammenhang  wollen. 
Darüber  kann  im  Einzelnen  freilich  erst  der  zweite  Band  Aufschluß 
geben;  aber  schon  der  vorliegende  erste  zeigt,  inwiefern  Staudinger 
dieselben  nötig  bat.  Man  könnte  nämlich,  ohne  ihm  Unrecht  zu 
thun,  seinen  Standpunkt  kurzweg  als  einen  intellektualistischen  bezeich- 
nen, von  einem  ausgesprochenen  Primat  des  Intellekts  bei  ihm  reden. 
Doch  damit  ist  freilich  noch  nicht  alles  gesagt;  denn  intellektualistisch 
ist  eigentlich  alle  Philosophie,  selbst  die  Systeme  des  WiUensprimats 

Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  25.  65 


988  Gott.  gel.  Adz.  1887.  Nr.  26. 

von  Angustin  bis  Schopenhauer  nicht  ausgenoininen.  Sehen  wir  des- 
halb näher  zu.  Staudinger  ist  Empiriker  genug,  um  bei  seinen  Un- 
tersuchungen über  die  Freiheit  nicht  sofort  auf  die  metaphysischen 
Grundlagen  derselben  loszueilen,  die  er  —  bezeichnend  genug  — 
»theoretische  Freiheit«  nennt;  er  begnügt  sich  zunächst  mit  dem 
Bewußtsein  der  Freiheit  als  einer  unläugbar  vorhandenen  That- 
Sache,  der  »praktischen  Freiheit«.  Da  nun  aber  dieses  Bewußtsein 
mit  der  Anerkennung  eines  unbedingt  giltigen  »Ursachsgesetzes«  (sie) 
in  einen  scheinbar  unaufl<)slichen  Widerspruch  gerät,  so  gilt  es, 
einerseits  »die  erkennbaren  geistigen  Bestandteile  dieses  Bewußt- 
seins« zu  untersuchen,  und  andererseits  darzulegen,  wie  wir  dazu 
kommen,  ein  solches  Kausalitätsgesetz  anzuerkennen  und  in  welcher 
Hinsicht  demselben  Geltung  und  Bedeutung  beizumessen  ist  Die 
Behandlung  dieser  Frage  aber  »setzt  ihrerseits  die  Zergliederung  der 
gesamten  Bedingungen  unseres  Erkennens  voraus«;  sie  müssen  also 
eingehend  untersucht  werden.  Doch  nicht  nur  als  Thema  des  zu 
erwartenden  zweiten  Bandes,  sondern,  wie  wir  alsbald  sehen  wer- 
den, schon  innerhalb  des  ersten  spielt  das  Erkennen  und  Wissen 
eine  so  maßgebende  Rolle  auf  dem  Gebiete  des  Sittlichen,  daß  wir 
in  der  That  begreifen,  warum  Staudinger  es  für  nötig  hält,  die  wis- 
senschaftlichen Grundlagen  des  Erkennens  in  den  Kreis  seiner  Er- 
örterungen   über  die  Freiheit  und  ibre  Gesetze  zu  ziehen. 

Wie  kommt  er  nun  aber  auf  dasTbema  des  ersten  Bandes,  auf 
das  Sittengesetz?  Etwas  abrupt  und  äußerlich.  Eigentlich  müßte, 
wie  er  selbst  sagt,  der  Gang  der  Untersuchung  zur  Lösung  jenes 
thatsächlich  gegebenen  Widerspruchs  ein  anderer  sein:  »wir  hätten 
zunächst  zu  bestimmen,  wodurch  wir  uns  innerlich  zum  Wollen  an- 
getrieben wissen;  zweitens,  wozu  uns  dieses  Wollen  treibt;  drittens, 
ob  die  Ziele  unseres  Wollens  ausführbar  sind,  und  wie  etwaige  Hin- 
dernisse beseitigt  werden  können ;  viertens  endlich,  wie  wir  anseren 
Willen  so  zu  bestimmen  und  zu  regeln  vermögen,  daß  er  einzig 
solche  ausführbare  Ziele  will«.  Allein  dabei  würden  die  für  die 
Freiheitsfrage  wichtigsten,  die  sittlichen  Handlungen  allzu  sehr  in 
den  Hintergrund  gedrängt;  und  da  diesen  —  es  ist  dies  allerdings 
eine  gewaltige  petitio  principii  —  »ein  Gebot  zu  Grunde  liegt«,  so 
müssen  wir  dieses  Gebot  und  dessen  Einfluß  auf  den  Willen  zu- 
nächst zum  Gegenstande  unserer  Erörterungen  machen,  wenn  wir  die 
Freiheitsfrage  entscheiden  wollen. 

Bei  dieser  Untersuchung  des  Sittlichen,  die  ihren  Ausgangspunkt 
von  der  Thatsache  sittlicher  Beurteilung  menschlicher  Handlungen 
nimmt,  schlägt  nnn  der  Verfasser  nicht,  wie  er  glaubt,  das  Verfah- 
ren der  exakten  Naturwissenschaft,  sondern  von   vorn  berein  Kanti- 


Staudmger,  Die  Gesetze  der  Freiheit.     I.  989 

8che  Wege  ein,  wenn  er  erklärt:  wir  wollen  nicht  wissen,  was 
sittlich  sei,  sondern  zunächst  nur,  was  sittlich  sei.  Es  handelt 
sich  also  am  keinen  bestimmten  Inhalt,  sondern  lediglich  um  die 
Form  dieser  sittlichen  Beurteilung.  Aber  ob  eine  solche  Scheidung 
zwischen  Form  und  Inhalt,  ein  solches  Abstrahieren  von  allem 
Inhalte  möglich  und  durchführbar  sei,  wird  nicht  gefragt  und  auch 
damit  wieder  eine  petitio  principii  begangen.  Aus  jener  von  uns 
in  Anspruch  genommenen  Annahme  eines  Gebots  als  Grundlage  des 
Sittlichen  und  dieser  rein  formalistischen  Fassung  der  Aufgabe  folgt 
dann  das  Grundproblem  alles  Sittlichen,  das  Staudinger  so  formu- 
liert: »ich  muß  wollen,  weil  ich  solle.  Hierin  liegt  scheinbar  ein 
Widerspruch:  wie  kann  ein  Sollen  in  einem  und  demselben  Bewußt- 
sein zugleich  ein  Wollen  sein?  Von  hier  aus  aber  noch  einmal  ein 
Sprung:  auch  wenn  ein  Gesetz  dieser  Art  gefunden  wird,  so  genttgt 
das  noch  nicht;  es  muß  »aus  den  in  meinem  Innern  wohnenden 
Kräften  als  allgemein  verbindlich  und  maßgebend  entwickelt  wor- 
dene, muß  »als  allgemein  giltiger  Maßstab  für  die  sittliche  Beurtei- 
lung gelten«  können.  Erst  wenn  diese  beiden  Hauptpunkte  erledigt 
sind,  ist  weiter  zu  fragen,  wie  ein  solches  Gesetz  thatsächlich  wirkt 
und  welche  anderen  Bestimmungsgründe  noch  in  mir  vorhanden 
sind,  die  —  ein  neuer  Sprung,  der  auf  eine  dualistische  Grund- 
anschaunng  hinweist  —  entweder  jenem  Gesetze  dienstbar  gemacht 
oder  von  ihm  beseitigt  zu  werden  vermögen.  Ist  auch  darauf 
eine  Antwort  gegeben,  dann  erst  kann  zu  dem  Ausgangspunkte 
zurückgegangen  und  gefragt  werden:  »wie  ist  Freiheit  gegenüber 
dem  Sittengesetz  möglich,  und  wie  verhält  sie  sich  zu  diesem ?c 
Man  sieht,  Standinger  macht  sich  seine  Aufgabe  nicht  leicht,  indem 
er  so  Frage  auf  Frage  türmt  und  das  Problem  in  seine  Tiefen,  in 
seine  innersten  Schlupfwinkel  verfolgt;  aber  das  Gebäude,  das  er 
auf  der  gegebenen  Unterlage  aufführt,  verspricht  doch  nur  demjenigen 
Haltbarkeit,  der  die  Fundamente  hinnimmt,  wie  Staudinger  sie  legt. 
Das  wird  man  aber  namentlich  an  Einem  Punkte  nicht  thun  können : 
scheinbar  bloß  vorläufig  geht  er  von  der  psychologischen  Dreiteilung 
in  Denken,  Fühlen  und  Wollen  aus ;  allein  allmählich  verfestigt  sich 
diese  vorläufig  angenommene  Trennung,  der  Wille  tritt  in  ein  Ver- 
hältnis der  Abhängigfteit,  Gefühl  und  Vorstellung  in  das  des  Gegen- 
satzes, und  so  erhalten  wir  ein  Spiel  von  seelischen  Kräften,  das 
die  Einheit  des  Ich   doch   recht   bedenklich   gefährdet. 

Ein  Sollen,  das  zugleich  ein  Wollen  ist,  kann  niemals  vom  Gefühl 
abhängen,  weil  an  diesem  nie  ein  Gebot  im  eigentlichen  Sinne,  nie 
ein  bewußtes  Sollen  enthalten  ist.  Mit  diesem  Machtsprnch  beseitigt 
Staudinger  die  Ansprüche  des  Gefühls  auf  die  Herrschaft  über  den 

65* 


940  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  25. 

Willen  nnd  die  Ansprüche  der  OltlckBeligkeitslehre  sowohl  in  ihrer 
individnalistischen  als  in  ihrer  socialethischen  Form.  Damit  enthfillt 
sich  uns  aber  zugleich  auch,  wie  wir  noch  näher  sehen  werden,  als 
Grandlage  dieser  Bestreitung  des  Eudämonismus  die  alte  Kantische 
Lehre  von  der  Unvereinbarkeit  von  Neigung  und  Pflicht,  von  Ge- 
fühl und  Sollen,  die  Ansicht,  daß  ich  nicht  sittlich  handle,  wenn  ich 
ans  Neigung  handle,  und  enthüllt  sich  weiter  die  Grundfrage  naeh 
einem  Sollen,  das  zugleich  ein  Wollen  ist,  als  eine  auf  dualistischem 
Boden  gewachsene.  Schon  in  der  Glückseligkeitslehre  selbst  findet 
dagegen  Staudinger  als  den  gesuchten  Verpflichtnngsgrund  für  unser 
Handeln  die  vernünftige  Ueberiegung,  die  Vorstellung  eines  be- 
stimmten Zieles.  Diese  zweck-  und  zielsetzende  Vernunft  übernimmt 
hinfort  die  Führung  —  unter  zwei  Voraussetzungen:  einmal  mufi 
ich  überzeugt  sein,  daß  die  gleichen  Ursachen  unter  allen  Umstän- 
den die  gleichen  Wirkungen  hervorbringen,  und  als  zweites  hängt 
damit  zusammen,  daß  die  Einheit  des  Bewußtseins  zum  Bewußtsein 
etwa  vorhandener  Widersprüche  führt.  Aus  diesem  »Bewußtsein  des 
Widerspruchs€,  dessen  Vorstellung  meinen  Willen  erst  hervorruft, 
gewinnt  Staudinger  jenes  gesuchte  Sollen,  das  zugleich  ein  Wollen 
ist,  es  liegt  in  der  zwecksetzenden  Vernunft:  da  ohne  die  Bestim- 
mung des  Willens  zu  den  Mitteln  der  Zweck  nicht  erreicht  wird,  so 
gebietet  sie  den  Willen  so  zu  bestimmen,  daß  der  Endzweck  erreicht 
werde;  wer  den  Zweck  will,  muß  auch  die  Mittel  wollen,  das  ist 
ein  rein  formales  und  ist  überdies  ein  notwendiges  und  allgemeines 
Gebot;  und  es  ist  in  gewissem  Sinne  schon  ein  sittliches  Gebot, 
denn  der  Wille  ist  gut  oder  böse,  je  nachdem  er  sich  diesem  Ver- 
nunftgebot fügt  oder  nicht.  Die  praktische  Vernunft  wäre  somit 
bestimmt,  wenn  gleich  Staudinger  bei  jenem  Bewußtsein  des  Wider- 
spruchs, auf  das  er  ihr  Gebot  gründet,  hart  an  der  Klippe  des  Ge- 
fühls, die  er  ja  vermeiden  will,  vorbei  oder  —  wie  andere  finden 
dürften  —  recht  derb  auf  dieselbe  aufgefahren  ist  (S.  44  ff.).  Auch 
etwas  wie  einen  Inhalt,  soweit  von  einem  solchen  überhaupt  geredet 
werden  darf,  hätten  wir  für  diese  praktische  Vernunft  gefunden, 
—  doch  wir  sind  noch  nicht  am  Ziele. 

Es  handelt  sich  im  Sittlichen  nicht  nur  und  nicht  vor  allem  um 
die  Beurteilung  der  für  einen  beliebigen  Zweck  gewählten  Mittel, 
sondern  um  den  Zweck  und  um  die  Zwecke  selbst  Da  es  aber  eine 
andere  als  die  bereits  gefundene  Art  sittlicher  Beurteilung  nicht. gibt, 
so  mufi  man  einen  Zweck  suchen,  in  Bezug  auf  den  alle  anderen 
Zwecke  die  Stellung  von  Mitteln  einnehmen;  dann  trifft  für  sie  zu, 
was  zuvor  von  den  Mitteln  in  ihrem  Verhältnis  zum  Zweck  gesagt 
war.  Auch  zwischen  Zwecken  ist  ein  Widerspruch  möglich;  da- 
gegen verlangt  die  Vernunft  Uebereinstimmung  unter  den  Zwecken, 


StandiDger,  Die  Oesetze  der  Freiheit.    I.  941 

durch  dieses  Gebot  wird  sie  zur  Herrscherin  über  alle  Zwecke. 
So  ergibt  sich  »das  Gesetz  der  Uebereinstimmuog  der  Zwecke«: 
die  Rücksicht  auf  diese  Uebereiustimmang,  welche  wir  als  eia  not- 
wendiges Mittel  zur  Erreichung  aller  Zwecke  erkennen,  wird  selber 
zum  Zweck  und  damit  zum  Maßstab,  an  dem  jeder  einzelne  Zweck 
zu  messen  ist-,  das  ist  der  oberste  Zweck,  in  Bezug  auf  den  alle 
andern  als  gut  oder  schlecht  beurteilt  werden  und  der  selber  unbe- 
dingt gut  genannt  werden  muß  —  der  sittliche  Zweck  selber,  rein 
formal,  unbedingt  und  allgemein,  frei  von  Furcht  oder  Neigung,  nicht 
Sache  des  Gefiibis,  dem  ja  zuvor  schon  die  Thttre  gewiesen  wor- 
den ist,  sondern  reines  Vernunftgesetz. 

Nun  handelt  es  sich  aber  auch  um  die  Anwendung  dieser  all- 
gemeinen Formol  auf  besondere  Fälle,  um  die  Gestaltung  der  Le- 
bensordnungen, welche  nicht  gegeben  sind,  sondern  jenem  Sittenge- 
setz  gemäß  erst  geschaffen  werden  müssen.  Das  gilt  zunächst  fUr 
die  Uebereinstimmung  der  Zwecke  im  einzelnen  Menschen:  dieser 
muß  für  sich  eine  persönlich-sittliche  Ordnung  schaffen  und  muß  diese 
Ordnung  selber  zum  Zweck,  zum  bewußten  Zweck  machen.  Allein 
wenn  jeder  nur  für  sich  selber  ein  solches  Reich  der  Ordnung  schaffen 
wollte  ohne  Rücksicht  auf  andere,  so  hätten  wir  ein  »sittliches  Man- 
chestertum«.  Daher  gilt  es  bei  den  notwendig  engen  Beziehungen 
des  Menschen  zum  Menschen  auch  hier  eine  auf  Gemeinschafts- 
zwecke sich  aufbauende  Lebensordnung  zu  finden.  Dabei  kOnnen  nicht 
etwa  vorübergehende,  zufällige,  partikulare  Zwecke  das  letzte  sein, 
weil  solchen  der  Charakter  des  Allgemeinen  und  Notwendigen  fehlt; 
es  bedarf  vielmehr  einer  Zweckgemeinschaft,  die  sich  über  die  ganze 
Menschheit  erstreckt,  und  auch  hier  hat  nur  derjenige  Zweck  unbe- 
dingt verpflichtende  Kraft,  welcher  alle  Gemeinschaftszwecke  or- 
ganisch ordnet  und  in  Uebereinstimmung  bringt.  In  einer  solchen 
Gemeinschaft  sieht  dann  die  Vernunft  ein  Gegenbild  der  eigenen 
Ordnung,  gleichsam  ein  Vernunftwesen  höherer  Art,  das  ihr  darum 
gebietet,  weil  und  soweit  sie  jene  Ordnung ,  die  ja  dem  Einzelnen 
immer  schon  als  ein  teilweise  verwirklichtes  gegenübertritt,  auch 
ihrerseits  hätte  erzeugen  müssen,  wenn  sie  vor  diese  Aufgabe  ge- 
stellt worden  wäre. 

In  diesem  Zusammenhang  wird  Standinger  zu  einer  Kritik  der 
christlichen  Moral  und  der  durch  das  Christentum  begründeten 
Zweckgemeinschaft  geführt.  Mit  dem,  was  er  hier  sagt,  bin  ich  in 
der  Hauptsache  durchaus  einverstanden,  so  besonders,  wenn  er  in 
der  Jenseitigkeit  des  Gottesreiches  den  Grundmangel  sieht,  aus  dem 
ein  erseits  die  dogmatische  Beschränkung  und  die  Schwierigkeit  einer 
theoretischen,  will  sagen  autonomen  Begründung  des  Guten,  anderer- 


942  Gott.  gel.  Aux.  1887.  Nr.  25. 

seits  die  hinter  der  Absicht  des  Stifters  allzuweit  znrtIckbleibeDdeo 
praktischen  Leistungen  der  Kirche  auf  sittlichem  Gebiete  mit  Not- 
wendigkeit folgen.  Interessant  war  es  mir  zu  sehen,  wie  auch 
Staudinger  von  der  Ethik  aus  auf  die  Frage  geftthrt  wird:  sind  wir 
noch  Christen?  Seine  Antwort  lautet:  »wir  gestehen,  daß  wir  kei- 
nen Wert   darauf  legen,   ob   man    uns  noch  so  nennen  will 

Eirchenchristen  sind  wir  in  keinem  Falle  mehr  ....  Wenn  aber 
das  auch  fernerhin  christlich  heißen  soll,  daß  man  ebenso  wahr  und 
ebenso  warm  dem  Guten  nachstrebt,  wie  Christus,  wenn  es  nicht 
darauf  ankommt,  daß  man  seine  Anschauungen,  sondern  nnr  darauf, 
daß  man  seine  Absichten  teilt:  nun  dann  wollen  wir  uns,  ob  auch 
unsere  Vernunft  zu  anderen  Ergebnissen  ftthrt,  dennoch  getrost  Chri- 
sten nennen  und  nennen  lassen  (? !)  und  uns  bestreben,  der  Jüngerschaft 
Christi  in  der  wahren  Bedeutung  des  Wortes  würdig  zu  werdenc. 

Auch  mit  Kant  setzt  sich  Staudinger  auseinander.  Er  findet  sein 
Vernnnftgesetz  dem  kategorischen  Imperativ  Kants  sehr  nahe  verwandt; 
aber  zweierlei  hat  er  an  diesem  letzteren  auszusetzen,  einmal  daß 
»das  Vernunftgesetz  Kants  aus  der  Pistole  geschossen  istc,  weil 
Kant  nicht  zu  erklären  vermag,  »wie  reine  Vernunft  praktisch  sein 
könnec;  und  fUrs  andere,  daß  er  —  weni^tens  in  der  Hauptsaehe 
—  über  das  sittliche  Manchestertum  nicht  hinausgekommen  ist,  son- 
dern geglaubt  hat,  »eine  sittliche  Gemeinschaft  werde  einfach  da- 
durch hergestellt,  daß  jeder  für  sich  sittlich  zu  sein  strebtec.  Es  ist 
bezeichnend  für  Standi ngers  eigenen  Formalismus  und  Intellektualis- 
mus, daß  er  andere  Schwächen  des  Kantischen  Sittengesetzes,  die 
viel  direkter  zu  Tage  treten,  nicht  gesehen  hat 

Seinerseits  gibt  er  nun  aber  doch  zu,  daß  das  Vernnnftgesetz 
an  sich  vollkommen  leer  und  gegenstandslos  wäre  ohne  Stoff,  ohne 
Antrieb  zum  Handeln,  der  in  dem  Gefühl  von  Lust  und  Schmerz 
beruht.  Das  Zweckgesetz  selbst  ist  unabhängig  vom  Gefühl,  denn 
es  ist  rein  formal;  aber  wo  es  gilt,  das  Vernunftgesetz  anzuwenden, 
kommt  diese  Welt  der  Gefühle  in  ihrer  sittlichen  Bedeutung  unter 
dem  Gesichtspunkt  des  Wertes  zu  ihrem  Recht.  Auch  für  den  Wert- 
begriff ist  der  Zweck  bestimmend :  alles  hat  nur  soweit  Wert,  als  es 
einem  Zwecke  dient;  von  ihm  hängen  die  Mittel,  und  die  Zwecke 
selbst  hängen  wieder  von  höheren  Zwecken  ab ;  so  werden  wir  auch 
hier  auf  den  alle  andern  bestimmenden  höchsten  und  letzten  Zweck 
der  Herstellung  einer  sittlichen  Gemeinschaft  geführt,  so  daß  im 
Sittengesetz  selbst  der  allgemein  giltige  Beziehungsort  und  der  un- 
bedingte Maßstab  für  alle  Werte  zu  finden  ist.  Für  die  Bedeutung 
des  Gefühls  ergibt  sich  daraus  Folgendes:  in  den  Gefühlen  als  sol- 
chen liegt   ganz   unmittelbar  eine   natürliche   Wertschätzung;    diese 


Staudinger,  Die  Gesetze  der  Freiheit.    I.  948 

leitet  vielfach  richtig :  was  z.  B.  dem  Körper  frommt^  wird  im  allge- 
meinen als  angenehm,  was  ihm  schadet,  als  anangenehm  empfanden, 
und  so  ist  das  Angenehme  ein  Zeichen  des  Zuträglichen,  das  Un- 
angenehme weist  auf  ein  Schädliches  hin.  Allein  diese  Leitung  durch 
Qeftlble  ist  keine  unbedingt  sichere,  und  darum  muß  das  Gefühl  der 
Einsicht  und  Vernunft  untergeordnet  werden.  Daher  die  (z.  B. 
christliche)  Lehre  von  der  möglichsten  Unterdrückung  und  Nieder- 
baltung  der  natürlichen  Qefühle;  allein  da  diese  Unterdrückung  Ar- 
beit  erfordert,  so  wäre  es  falsch,  solche  Arbeit  unnötig  aufzuwenden 
und  damit  Kraft  und  Zeit  anderen  Zwecken  zu  entziehen.  Deshalb 
müssen  vielmehr,  wenn  möglich,  diese  Gefühle  im  Dienste  des  sitt- 
lichen Grundzwecks  verwendet  und  wenn  nötig,  zu  diesem  Behuf, 
statt  unterdrückt,  umgebildet  werden.  Darauf  beruht  der  Takt,  in- 
dem die  von  der  Vernunft  geleiteten  Gefühle  allmählich  wieder 
durch  die  Macht  der  Gewohnheit  zu  unbewußten  werden,  die  nun- 
mehr auch  für  sich  allein  ganz  sicher  zu  leiten  vermögen;  darauf 
beruht  aber  andererseits  auch  die  Notwendigkeit  einer  festen,  ge- 
schlossenen und  zugleich  richtigen  Weltanschauung,  die  die  Gefühls- 
welt zweckentsprechend  gestaltet.  So  wird  hier  dem  Gefühl  gegen- 
über der  Primat  des  Intellekts  noch  einmal  statuiert,  der  Dualis- 
mus nicht  überwunden  und  dabei  eine  Forderung  erhoben,  welche 
für  die  große  Mehrheit  der  Menschen  und  für  die  Sittlichkeit  dieser 
Mehrheit  nicht  ohne  ernste  Bedenken  ist.  Gemildert  wird  das  frei- 
lich einigermaßen  dadurch,  daß  wir  uns  dem  Begriff  des  höchsten 
Gutes  nähern ,  wobei  es  sich  ja  nicht  um  vorhandene  Wirklichkeit, 
sondern  nur  noch  um  Ideale  handelt. 

Es  würde  an  dieser  Stelle  zu  weit  führen,  wollte  ich  mich  mit 
Staudinger  über  die  Frage  nach  dem  Wert  eines  solchen  Ideals  und 
nach  der  Berechtigung  der  Aufstellung  jenes  Begriffes  überhaupt 
auseinandersetzen.  Er  glaubt  jedenfalls,  ein  »höchstes  Gut«  nicht 
entbehren  zu  können ;  die  auch  bei  ihm  in  diesem  Zusammenhang  nicht 
fehlende  Anwendung  des  Wortes  »möglichst«  aber  zeigt,  daß  zwischen 
diesem  Ideal  und  der  Wirklichkeit  ein  Widerspruch  vorhanden  ist,  für 
den  Staudinger  natürlich  diese  und  nicht  seinen  Begriff  verantwort- 
lich macht;  er  nimmt  an,  daß  ein  Zustand  nicht  bloß  wünschens« 
wert,  sondern  auch  möglich  sei,  in  welchem  eine  sittliche  Gemein- 
schaft hergestellt  wäre,  worin  »alle  Einzelnen  nach  dem  Vernunft- 
gesetz vereinigt  sind  und  eine  reiche,  sichere  Erkenntnis  and  einen 
sicher  leitenden  Geftthlsschatz  entwickeln«  und  worin  diese  Einzel- 
nen selbst  »in  vollkommener  persönlicher  Ausbildung,  in  einer  dem 
Yernunftgesetz  gemäßen  Gemeinschaft  beisammen«  sind. 

Aus   diesem  Ideal    nun,  freilich    einem  »fernen,   fernen  Ideal«, 


9U  Gott.  gel.  Auz.  1887.  Nr.  25. 

dem  nachzustreben  jedem  von  der  Vernnnft  geboten  ist,  erwächst  der 
Begriff  der  Pflicht.  Das  höchste  Oat  soll  realisiert  werden:  dasn 
bedarf  es  eines  Planes,  der  zunächst,  wie  jenes  selbst  nur  ein  Ideal- 
plan ist  and  als  solcher  der  Wirklichkeit  gegenüber  stete  Umbildong 
nötig  hat.  Und  zagleich  bedarf  es  noch  eines  zweiten  »AnsfAb- 
rangsplanes«,  der  die  Mittel,  namentlich  auch  zur  Beseitigung  d^ 
gegen  die  Darchftlhrang  des  Idealplans  sich  erhebenden  Hindernisse^ 
anzogeben  und  zu  bestimmen  hat.  Daher  gilt  es  zuerst  die  Quellen 
dieser  Hindernisse  zu  kennen.  Im  wesentlichen  findet  Staudinger 
drei  Grappen  solcher  widersittlichen  Einflüsse,  die  jenen  Idealzustand 
einer  Uebereinstimmung  aller  Zwecke  der  ganzen  Menschheit  in 
Wirklichkeit  nicht  zustande  kommen  lassen:  1)  die  mangelnde  Er- 
kenntnis, welche  Afterideale  und  Wahnideale  erzeugt  Die  Be- 
sprechung dieser  Verirrangen  gehört  zu  den  gelungensten  Partieen 
des  Buches;  namentlich  treffend  ist  in  ihrer  Ettrze  die  Schilderung 
des  »Gefühls Wahns«,  wozu  Staudinger  nicht  nur  den  Optimismus 
und  den  Pessimismus,  sondern  aoch  die  in  der  Ritschlschen  Schale 
beliebte  »willkürliche  Ableitung  von  Erkenntnis  Wahrheiten  aus  Qe- 
f tthlsinhalten «  rechnet.  Ein  2tes  Hindernis  der  Yerwirklichang 
des  höchsten  Gutes  ist  die  vernunftwidrige  Willensbestimmung,  die 
als  Leidenschaft  und  Laster  zu  Tage  tritt.  In  diesem  Abschnitt 
wird  Staudinger  —  abgesehen  von  der  misglttckten  Unterscheidung 
zwischen  Leidenschaft  und  Lasterhaftigkeit  (S.  310)  —  zum  Vor- 
wurf gemacht  werden  können,  daß  er  die  Macht  und  Bedeutsamkeit 
des  Bösen  nicht  genug  betont  habe;  freilich  holt  er  es  bei  seiner 
Lehre  von  der  Erlösung  nach;  aber  ganz  wird  doch  weder  das,  was 
er  hier  sagt,  noch  die  in  einem  früheren  Abschoitt  gegebene  Schil- 
derung von  den  verheerenden  Wirkungen  der  »Rückbildung  einer 
Weltanschauung«  auf  schwache  oder  strebsame  Charaktere  jene 
Lücke  auszufüllen  im  Stande  sein.  Das  3te  Hemmnis  endlich  ge- 
gen die  Realisierung  des  Idealzustands  bildet  die  mangelhafte  Ein- 
richtung der  sittlichen  Lebensordnungen. 

Indem  nun  gegen  alle  diese  Hindernisse  das  Vernunftgebot  sich 
durchzusetzen  strebt,  das  uns  zuruft :  »Ihr  sollt  eure  Zwecke  so  ord- 
nen, daß  keiner  derselben  den  andern  zu  durchkreuzen  vermöge«, 
erhalten  wir  den  gesuchten  Pflichtbegriff;  und  so  kommt  Staudinger 
dazu,  Pflichten  im  wahren  Sinne  des  Wortes  nur  da  gelten  zu  las- 
sen, wo  der  Ausführung  des  als  sittlich  Erkannten  wirkliche  Hinder- 
nisse entgegentreten,  wo  ein  Kampf  erforderlich  ist.  Er  will  es 
freilich  nicht  Wort  haben,  daß  er  damit  in  jene  sittliche  Starrheit 
verfalle,  welche  »mit  Abscheu  thut,  was  die  Pflicht  uns  gebeut«; 
denn  er  gibt  ja  zu,  daß  das  als  gut  Erkannte   mit  unserer  Neigung 


Staudinger,  Die  Qesetze  der  Freiheit.    I.  9^6 

Übereinstimmen  könne.  Aber  wenn  er  sagt,  in  diesem  Falle  könn- 
ten wir  niemals  behaupten,  daß  das  Vernnnftgebot  hingereicht  hätte, 
nns  entgegenstehenden  Mächten  gegenüber  zu  der  betreffenden  Hand- 
lung anzutreiben,  und  wenn  er  von  »gut  im  strengsten  Sinne«  redet, 
so  kommt  er  doch  dem  Kantischen  Rigorismus  zum  Verwechseln 
nahe,  auch  wenn  er  ihn  nur  auf  die  »sittliche  Entscheidung«  be- 
schränkt und  Neigung  und  Gefühl  als  Hilfstruppen  bezeichnet,  weiche 
die  Ausführung  erleichtern. 

Im  weiteren  wird  dann  Staudinger  auf  die  Frage  der  Pflich- 
tenkollision geführt,  die  ihm  im  wesentlichen  ein  Widerstreit  zwi- 
schen der  eigenen  Ueberzeugung  und  den  Forderungen  der  jeweili- 
gen durch  Gesetz  und  Sitte  geheiligten  und  gefestigten  Gemein- 
schaftsordnungen ist.  Er  sucht  sie  durch  die  Bestimmung  zu  lösen, 
daß  die  Rücksicht  auf  den  höchsten  Zweck  in  jedem  Fall  den  Aus- 
schlag geben  müsse.  Damit  steht  er,  wie  er  selbst  sagt,  auf  dem 
Boden  des  den  Jesuiten  zugeschriebenen  Grundsatzes,  daß  der  Zweck 
die  Mittel  heilige.  Staudinger  ist  nicht  der  erste  und  einzige  Ethi- 
ker, der  denselben  zu  »retten«  sucht:  in  jüngster  Zeit  that  der  pro- 
testantische Theologe  Biedermann  dasselbe  (Eine  Ehrenrettung.  Ausge- 
wählte Vorträge  und  Aufsätze  S.  434  ff.).  Und  in  der  That,  der  Jesui- 
tismus ist  nicht  deshalb  unsittlich,  weil  er  diesen  Grundsatz  aufstellt, 
sondern  dieser  Grundsatz  wird  es  seinerseits  erst  in  der  Jesuiten- 
moral, weil  hier  der  höchste  Zweck,  der  die  Mittel  heiligen  soll, 
nicht  der  sittliche,  sondern  ein  äußerer  ist,  maior  ecclesiae  gloria, 
die  über  alles  andere,  über  das  Innere  der  subjektiven  Ueberzeugung 
und  über  die  objektiven  Mächte  der  sittlichen  Lebensgemeinschaft 
gesetzt  wird:  nicht  daß  der  Zweck  die  Mittel  beherrscht,  ist  somit 
das  Falsche,  sondern  daß  ein  falscher  Zweck  sich  zum  höchsten,  ein 
bloßes  Mittel  sich  zum  Selbstzweck  aufwirft,  ist  das  Verhängnis- 
volle; wie  aber  dann  vollends  im  Einzelnen  dieser  Satz  als  methodus 
dirigendae  intentionis  gebraucht  oder  vielmehr  misbraucht  wird,  daran 
braucht  hier  nur  erinnert  zu  werden.  Im  übrigen  aber  lassen  Stau- 
dingers  Erörterungen  über  den  Widerstreit  der  Pflichten  mehr  noch 
als  an  Biedermann  an  Harald  Höffdings  »Grundlage  der  humanen 
Ethik«  (1880)  denken,  der  freilich  principieller,  weniger  kasuistisch 
zu  Werke  geht  als  Staudinger  bei  seiner  »Abschätzung  der  Pflichten«. 

Der  ganze  Abschnitt  aber,  der  mit  dem  Konflikt  zwischen  Ideal 
und  Wirklichkeit  begonnen  hat,  endigt  mit  der  Aussicht  auf  eine 
Vernunftentwicklnng,  welche  als  wahres  Erlösungsprincip  der  kirch- 
lichen Erlösungslehre  mit  aller  Entschiedenheit  entgegengestellt  wird : 
eine  stets  steigende  Macht  der  Vernunft  muß  die  widersittlichen  Ein- 
flüsse endlich  besiegen.    Und  daß  diese  Vernunftmacht  wirklich  zu- 


946  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  25. 

nimmt,  zeigt  die  Geschichte  and  liegt  überdies  im  Weseo  des  Vemnofk- 
gesetzes  selbst.  Mit  dieser  optimistischen  Hoffnung  aaf  den  Sieg  der 
Vernanft,  aaf  eine  unbegrenzt  fortschreitende  Befreiung  der  Menschheit 
von  Wahn  und  Sünde^  auf  eine  immer  größere  Erleichterung  der  sitt- 
lichen Arbeit  und  eine  immer  wachsende  Annäherung  an  das  h5ehste 
Out  schließt  der  Verfasser  seine  Erörterungen  über  das  Sittengesetz. 

Und  nun,  nachdem  er  diesen  Gang  durch  die  Moral  beendigt 
hat,  kehrt  Staudinger  zu  dem  anfänglichen  Problem,  von  dem  er 
ausgegangen  ist,  zu  der  Freiheitsfrage  zurück.  In  der  vernunftge- 
mäßen Gemeinschaft  allein  ist  Freiheit  möglich,  diese  ist  also  nur, 
wo  und  soweit  Sittlichkeit  verwirklicht  ist ;  denn  die  praktische  Frei- 
heit ist  nichts  anderes  als  »das  Bewußtsein  der  uneingeschränkten 
Herrschaft  der  Vernunft  auf  dem  ihr  zugänglichen  Gebiete«.  Ob 
aber  damit  nicht  etwas  in  das  Bewußtsein  hineininterpretiert  wird, 
was  der  pantheistische  Determinismus  von  den  Stoikern  herab  bis 
auf  unsere  Tage  nicht  darin  finden  kann,  und  ob  der  Satz:  »der 
Mensch  ist  nur  dann  frei,  wo  er  spielend,  d.  i.  kampflos  das  Rechte 
thut«  nicht  Freiheit  und  Pflicht  in  einen  Gegensatz  zu  einander 
bringt,  der  für  die  Identität  von  Freiheit  und  Sittlichkeit  bedenklich 
wird  und  Staudingers  Verhältois  zu  Kant  plötzlich  in  einem  neuen 
Licht  ezeigt,  sei  hier  nur  fragweise  angedeutet;  die  Probe  will  nicht 
recht  stimmen,  die  ganze  BeweisführuDg  kommt  nachträglich  in  ein 
gefährliches  Schwanken.  Und  daß  Staudinger  schon  jetzt  anch  die 
Frage  nach  der  theoretischen  Freiheit  mit  einiger  Sicherheit  ins 
Auge  fassen  zu  können  oder  vielmehr  »in  ihrem  wesentlichsten 
Kerne  gelöst«  glaubt  und  auf  wenigen  Seiten  Recht  und  Unreeht 
des  Determinismus  und  Indeterminismus,  wenn  auch  nur  vorläufig, 
gegen  einander  abwägen  will,  scheint  mir  vollends  weder  notwen- 
dig noch  auch  nur  klug  von  ihm  zu  sein ;  er  hätte  wohl  besser  ge- 
than,  der  Erörterung  der  Erlösungslehre  sogleich  das  schöne  Schluß- 
kapitel folgen  zu  lassen,  in  dem  er  das  Gesetz  der  Vernunft  als 
den  alleinigen  Erlöser,  als  eine  höhere  Macht  feiert,  von  der  wir 
uns  innerlich  abhängig  wissen  und  fühlen,  und  zu  der  wir  doeh  ein 
Gefühl  der  Hingabe  und  des  Vertrauens,  ja  geradezu  Liebe  empfin- 
den ;  diese  liebevolle  Hingabe  an  eine  höhere  Macht  nennt  man  Re- 
ligion; »somit  sind  (Freiheit  und)  Sittlichkeit  und  Religion  nicht 
(drei)  zwei  getrennte  Dinge,  sondern  eins  und  dasselbe«.  Hit  der 
Erinnerung  an  F.  A.  Lange  schließt  das  Buch. 

Ich  habe  von  Anfang  an  auf  eine  Reihe  von  petitiones  principii 
in  den  Ausführungen  Staudingers  hingewiesen,  es  ist  daher  nicht  not- 
wendig, noch  einmal  darauf  zurückzukommen ;  auch  meinen  prind- 
piellen  Gegensatz  gegen  seine  Fassung  des  Sittlichen  habe  ich  da  und 


Staudinger ,  Die  Gesetze  der  Freiheit.    I.  947 

dort  darchblicken  lassen;  ihn  näher  za  begründen  ist  natürlich  nicht 
Aufgabe  der  Kritik.  Wohl  aber  mnß  hier  konstatiert  werden,  daß  sich 
jene  petitiones  im  Laufe  der  Untersuchung  durch  den  immer  einseitiger 
werdenden  Intellektualismus  und  am  Schluß  durch  eine  mehr  gefühls- 
mäßige als  konsequente  und  in  die  Tiefe  gehende  Lösung  der  Schwierig- 
keiten im  Begriff  der  Freiheit  rächen ;  nnd  daß  eine  die  Darstellung 
vielfach  beherrschende  und  beeinträchtigende  Abstraktheit  und  Unan- 
schanlichkeit  der  Ausführung  damit  zusammenhängt ,  ist  ebenfalls 
nicht  zu  verkennen.  Allein  ich  würde  Staudinger  schweres  Unrecht 
thun,  wollte  ich  damit  schließen.  Wir  haben  ja  hier  nur  den  ersten 
Band;  der  zweite  wird  jene  wissenschaftliche  Weltanschauung  be- 
gründen und  fnndamentieren  müssen,  die  Staudinger  für  den  Men- 
schen fordert;  da  werden  Schwierigkeiten,  die  jetzt  nur  kurz  an- 
und  rasch  weggedeutet  werden,  mit  ihrer  ganzen  Wucht  an  ihn  heran- 
treten; und  die  Energie  des  Denkens  und  der  Mut  des  Eindringens 
in  die  Tiefe,  die  die  Lektüre  des  ersten  Bandes  zu  einer  so  erfreu- 
lichen machen,  werden  ihn  sicherlich  das  Bret  da  bohren  lassen, 
wo  es  am  dicksten  ist;  im  dritten  Baude  aber  wird  das  konkrete 
Leben,  dem  er  näher  treten  muß,  breiteren  Raum  beanspruchen  und 
manches  unklar  gebliebene  wird  dann  erst  Klarheit  und  Anschau- 
lichkeit gewinnen,  auch  der  Intellektualismus  gewisse  Korrekturen 
sich  gefallen  lassen  müssen.  Darum  muß  das  Urteil  über  das 
Ganze  noch  in  suspenso  bleiben.  Dagegen  darf  ich  nicht  ver- 
säumen, hier  noch  besonders  auf  diejenigen  Partieen  des  Buches 
hinzuweisen,  wo  Staudinger  auf  konkrete  Verhältnisse  zu  sprechen 
kommt  und  ZeitstrOmungen  oder  typische  Charaktere  zu  schildern 
hat:  dabei  zeigt  er  einen  solchen  Mut  ehrlicher  Ueberzeugung,  eine 
solche  Schärfe  der  Kritik,  eine  so  feine  Beobachtungsgabe,  daß  ge- 
genüber dem  an  andern  Stellen  zu  Tage  tretenden  Mangel  an  kon- 
kreter Anschaulichkeit  diese  Abschnitte  ganz  besonders  anregend 
nnd  erfreulich  wirken.  Und  auch  der  Intellektualismus:  er  ist  ja 
eine  Einseitigkeit,  das  Emotionelle  der  Sittlichkeit  kommt  zu  kurz, 
der  menschlichen  Natur  widerfährt  nicht  ihr  volles  Recht;  aber  ge- 
genüber den  Plattheiten  eines  oberflächlichen  Empirismus,  der  es 
mit  der  Ableitung  des  Sittlichen  gar  zu  leicht  nimmt  und  die  Para- 
doxien  desselben  nicht  einmal  bemerkt,  darf  dieser  Gesichtspunkt  in 
der  Moral  immer  wieder  geltend  gemacht  werden ;  sonst  läuft  dieselbe 
in  der  That  Gefahr,  über  lauter  Trieben  und  Naturgeftthlen,  über 
Gewöhnung  und  Anpassung  nicht  nur  den  Einfluß  des  Denkens  nnd 
der  Vernunft,  sondern  am  Ende  das  Sittliche  selbst  preiszugeben :  das 
wäre  zwar  vielleicht  bequem,  aber  für  die  Menschheit  ein  übler  Verlust 
Straßburg  i.  E.  Theobald  Ziegler. 


948  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  25. 

Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie  in  Gemeinschaft  mit  Her- 
mann Diels,  Wilhelm  Dilthey,  Benno  Erdmann  und  Edaard  Zeller  herausge- 
geben von  Ludwig  Stein.    I,  1  (160  S.).    Berlin,  Georg  Reimer  1887. 

Da  wir  in  Deufscbland  der  philosophischen  Zeitschriften  eher  zn 
viel  als  zu  wenig  besitzen,  so  ist  beim  ersten  Anblick  ein  Zweifel 
darüber  möglich,  ob  ein  neues  Unternehmen  notwendig  und  wfln- 
sehenswert  sei.  Aber  ein  solcher  Zweifel  wird  bei  näherer  Erwä- 
gung des  hier  ins  Auge  gefaßten  Zieles  alsbald  verschwinden.  Von 
den  Spaltungen,  welche  heute  durch  die  philosophische  Arbeit  geboi 
wird  die  geschichtliche  Erforschung  der  Philosophie  am  wenigsten 
berührt;  hier  findet  sich  thatsächlich  ein  selbständiges  Gebiet  rei- 
cher wissenschaftlicher  Produktion;  es  verheißt  erheblichen  Nutzen, 
wenn  hervorragende,  ja  wir  dUrfen  sagen,  die  hervorragendsten  Ge- 
lehrten sich  verbinden,  sowohl  um  eigne  Untersuchungen  vorzu- 
legen, als  um  über  die  gesamten  Leistungen  auf  jenem  Gebiete 
sachkundig  zu  berichten.  Es  läßt  sich  erwarten,  daß  mit  vereinten 
Kräften  bisheriger  Zersplitterung  entgegengearbeitet,  gewonnene  Ein- 
sichten rascher  wirksam  gemacht,  fruchtbare  Anregungen  gegeben 
werden.  Mit  besonderer  Freude  begrüßen  wir  dabei  die  Ausbrei- 
tung des  Unternehmens  über  die  Gesamtheit  der  Kulturvölker.  Daß 
auch  die  Leistungen  der  Anderen  nicht  in  bloßem  Vorsatz,  sondern 
thatsächlich  zur  vollen  Würdigung  gelangen,  dafür  wird  dadurch 
sichere  Fürsorge  getroffen,  daß  anerkannte  Forscher  der  verschiede- 
neu Völker  über  die  Litteratur  ihrer  Nation  eingehend  berichten. 
Warum  wir  das  für  so  wichtig  halten?  Weil  wir  meinen,  daß  wir 
Deutschen  heute  von  den  kleinen  täglichen  Begebenheiten  bei  un- 
seren Nachbarn  viel  zu  viel  Notiz  nehmen,  von  ihrer  ernsten  Arbeit 
aber  viel  zu  wenig.  Im  besondern  auf  philosophischem  Gebiet  fehlte 
eine  planmäßige  Orientierung  über  das  was  draußen  geschiebt;  es 
bedeutet  eine  wirkliche  Bereicherung,  wenn  darin  Wandel  geschaf- 
fen wird. 

Was  aber  die  thatsächliche  Ausführung  des  Unternehmens  an- 
belangt, so  zeigt  das  zunächst  vorliegende  Heft  sie  durchaus  auf 
der  Höhe  des  Planes ;  alles  was  geboten  wird,  ist  gediegen  und  för- 
derlich; dabei  geht  durch  die  gesamte  Arbeit  ein  kräftiger  Zug  iri- 
schen Lebens ;  nirgends  ein  bloßes  Aufspeichern,  ein  trocknes  Neben- 
einanderstellen, überall  ein  entschiedenes  Auftreten  und  klares  Aus- 
sprechen. Vor  aller  weitern  Charakteristik  aber  wird  es  sieb 
empfehlen  den  reichen  Inhalt  in  aller  Kürze  vorzuführen. 

Den  ersten  Teil  des  Heftes  bilden,  dem  allgemeinen  Plan  des 
Unternehmens  gemäß,  eine  Anzahl  von  Abhandlungen  aus  den  ver- 
schiedenen Gebieten  der  Geschichte  der  Philosophie.    Zunächst  gibt 


Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie  herausgegeben  von  Stein.         949 

der  Altmeister  der  historisch-philosophischen  Forschung  Eduard  Zel- 
ler eine  Untersuchung  über  die  Ziele  und  Wege  der  Geschichte  der 
Philosophie,  in  jener  klaren,  umsichtigen  und  sachgemäßen  Weise, 
die  alle  kennen  und  hochschätzen. 

Hermann  Diels  (»Zu  Pherekydes  von  Syra«)  bringt  durch  Her- 
stellung der  alten  Ueberlieferung  einfach  und  überzeugend  Licht  in 
eine  wichtige,  sonst  kaum  verständliche  Stelle  des  Pherekydes  und 
zeigt  weiter  eine  fUr  das  Verhältnis  der  Denker  bedeutsame  Ab- 
hängigkeit des  Pherekydes  von  Anaximander. 

Zu  Anaximander  selbst  gibt  einen  interessanten  Beitrag  Theo- 
bald Ziegler,  indem  er  in  der  yielbesprochenen  Stelle:  iS  *Sv  di  ^ 
yivsoiq  iau  %oTg  ovat,  xal  x^v  tp&oqdp  elg  tavza  yiys(f3at  xatct  %d 
X^cojy.  dtdopat  yäq  avtä  dint^v  nal  tictv  rijg  ddtxlag  uatd  t^v  tov 
XQovov  Ta$»y  unter  t^g  ddixiag  nicht  die  Ungerechtigkeit  der  Dinge, 
sondern  die  menschliche  Ungerechtigkeit  versteht  und  zur  Verteidi- 
gung dieser  Auffassung  die  Flutsage  bei  Homer  (II.  XVI  384—393) 
heranzieht. 

Paul  Tannery  (»Sur  le  Secret  dans  T^cole  de  Pythagorec)  bringt 
scharfsinnige  Untersuchungen  über  den  Sinn  der  Bewahrung  von 
Geheimnissen  und  über  die  Gründe  von  Spaltungen  innerhalb  der 
pythagoreischen  Schule. 

Eugen  Pappenheim  (»der  Sitz  der  Schule  der  pyrrhoneischen 
Skeptikerc)  erörtert  mit  umsichtiger  Kombination  die  Frage,  in  wel- 
cher Stadt  der  Pyrrhonismus ,  der  aller  Wahrscheinlichkeit  nach 
mehrere  Jahrhunderte  in  den  Formen  einer  Schule  bestanden  bat, 
seinen  Sitz  gehabt  habe.  Die  Entscheidung  fällt  in  erster  Stelle  für 
Alexandria  aus.  Daß  Aenesidem  in  Alexandria  lehrte,  steht  durch 
direkte  Mitteilung  fest;  daß  auch  vor  ihm  jene  Stadt  der  Schulsitz 
gewesen  sei ,  wird  durch  mehrfache  Anhaltpunkte  glaublich  ge- 
macht; unter  seinen  Nachfolgern  ist  zeitweilig  eine  Verlegung 
eingetreten,  vermutlich  nach  einem  der  östlichen  Centren  hellenischen 
Lebens. 

Die  folgenden  Abhandlungen  führen  in  die  Neuzeit  Zuerst  gibt 
Ludwig  Stein  beachtenswerte  Beiträge  zur  Genesis  des  Occasionalis- 
mus.  Da  uns  in  den  letzten  Jahren  litterarische  Anzeigen  wieder- 
holt auf  das  Problem  des  Occasionalismus  führten,  so  möge  auch 
hier  eine  etwas  eingehende  Erörterung  gestattet  sein.  Der  Verfasser 
unterscheidet  eine  ältere  Fassung  des  Occasionalismus,  in  der  die 
gegenseitige  Einwirkung  von  Leib  und  Seele  auf  einen  göttlichen 
Urwillensakt  zurückkomme,  Gott  also  bei  den  einzelnen  Wechsel- 
wirkungen nur  mittelbare  Ursache  sei,  von  der  engern  und  eigent- 
lichen   Forschung,    wonach  jedesmal    ein    unmittelbares   Eingreifen 


950  Gott.  gel.  Aoz.  1887.  Nr.  25. 

göttlicher  Vermittlang  stattfinde;  nur  diese  Form  könne  mit  Recht 
als  Oceasionalismas  bezeichnet  werden.  Von  den  einzelnen  PereDn- 
lichkeiten  sei  de  la  Forge  ein  Vertreter  der  altern  Fassong,  die 
spätere  erscheine  zuerst  bei  Cordemoy,  dessen  Unabhängigkeit  7on 
spätem  Occasioualisten,  im  besondern  von  Geulincx,  keinem  Zweifel 
unterliegen  kann ;  er  wäre  daher  als  der  erste  Occasionalist  in  stren- 
gerem Sinne  anzusehen. 

In  dieser  Untersuchung  hat  unsere  volle  Zustimmung  die  Heraos- 
hebung  Gordemoys  als  eines  selbständigen  und  eigenartigen  Den- 
kers; seine  Forschungen  machen  durchaus  den  Eindruck  orsprSng- 
lieber  Gedankenarbeit;  auch  erscheint  es  mir  als  beachtenswert,  daft 
Leibniz  an  der  meines  Wissens  einzigen  Stelle,  wo  er  mehrere  Oeca- 
sionalisten  neben  einander  aufführt,  s.  de  ipsa  natura  157  a  (Erd- 
mann), an  erster  Stelle  Cordemoy  nennt:  Quam  doctrinam  Corde- 
rooins,  Forgaeus,  et  alii  Cai  tesiani  cum  proposuissent,  Malebraneliins 
in  primis,  pro  acumine  suo,  orationis  qnibusdam  luminibus  exorna- 
vit.  Aber  die  Unterscheidung  jener  Phasen,  und  mehr  noch  die 
Zurechnung  des  de  la  Forge  zur  älteren  Phase,  stößt  bei  mir  aof 
Bedenken.  Daß  der  Grundgedanke  des  Occasionalismus  erst  all- 
mählich seine  volle  Schärfe  gefunden  hat,  ist  zweifellos;  aber  was 
der  Verfasser  als  ältere  Fassung  bezeichnet ,  könnte  überhaupt  nicht 
mehr  als  Occasionalismus  gelten;  gehörte  de  la  Forge  hierher,  so 
wäre  er  aus  der  Keihe  der  Occasionalisten  ganz  zu  streichen.  Aber 
die  GrnndzUge  dessen,  was  der  Verfasser  als  bei  Cordemoy  nea  ein- 
tretend anführt,  getraue  ich  mir  auch  bei  de  la  Forge  nachzowei- 
sen,  wenn  auch  die  Sache  sich  hier  in  einem  unfertigeren  Zustande 
befindet  und  der  Vorzug  klarerer  Entwicklung  und  übersichtlicherer 
Darstellung  unzweifelhaft  auf  Seite  Cordemoys  verbleibt.  Ich  sehe 
nicht,  daß  de  la  Forge  ein  kontinuierliches  Wirken  Gottes  wie  bei 
aller  Wechselwirkung  der  Dinge,  so  auch  bei  dem  Verhältnis  von 
Leib  und  Seele  für  entbehrlich  hält  Auch  bei  ihm  handelt  es  sich 
nicht  um  einen  ein  für  alle  mal  gefaßten  Beschluß,  sondern  um  ein 
fortdauerndes  Thun ;  die  bewegende  Kraft  bleibt  wesentlich  stets  bei 
Gott ;  die  besonderen  Vorgänge  und  Entschlüsse  haben  nur  das  Ver- 
mögen, das  fortdauernde  göttliche  Wirken  zu  dieser  besondem  Leistung 
zu  determinieren;  so  sehr  dabei  eine  Wechselwirkung  von  Körper 
und  Geist  aufrecht  gehalten  wird,  die  göttliche  Vermittlung  ist  an- 
ausgesetzt erforderlich.  Die  entscheidende  Untersuchung  darfiber 
findet  sich  im  16.  Kapitel  des  tractatus  de  mente  humana.  Dort 
heißt  es  an  einer  besonders  bezeichnenden  Stelle:  Et  quamvis  hoe 
pacto  Dens  sit  causa  universalis  omnium  motuum,  qui  fiunt  in  mundo, 
non  propterea  tamen  non  agnosco  corpora  et  mentes  pro  causis  par- 


Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie  herausgegeben  von  Stein.         951 

ticalaribas  eorundem  ipBoram  motuum,  non  qaod  revera  prodacant 
aliquam  qualitatem  impressam ,  quemadmodum  scholae  explicant, 
yernm  qaod  determineDt  et  obligent  causam  primam  ad  applicaDdam 
vim  snam  et  virtatem  motricem  ad  corpora,  in  quae  earn  sine  iis 
non  exercnisset,  secuDdum  modam,  secundum  quem  gubernare  de- 
crevit  corpora  et  Spiritus  etc.  .  .  .:  et  in  hoc  solo  coosistit  virtus, 
quam  corpora  et  mentes  babent  ad  movendum.  Atque  ideo  aeque 
difficile  est  coraprehendcre,  quomodo  mens  possit  agere  in  corpus, 
illndqne  movere,  ac  concipere,  quomodo  unum  corpus  aliud  impellat. 
Ferner  etwas  weiter  unten:  Fostquam  monstravimus  earn  unionem 
coDsistere  in  commercio  isto  eaque  depeudentia  reciproca  niotuumqne 
corporis  mentisque  cogitationum,  facile  videre  est  eum,  qui  corpus  et 
mentem  unire  voluif,  simul  debuisse  statuere  et  menti  dare  cogita- 
tiones,  quas  observamus  in  ipsa  ex  occassione  motuum  sui  corporis 
esse,  et  determinare  motus  corporis  ejus  ad  eum  modum,  qui  requi- 
ritur  ad  eos  mentis  voluntati  subjiciendos.  —  Non  tamen  dicere 
debes  Denm  esse,  qui  id  omne  agit,  et  corpus  meutemque  revera  in 
se  invicem  non  agere;  si  enim  corpus  talem  motum  non  habuisset, 
mens  nnnquara  talem  cogitationem  habere  potuisset,  et  si  mens  non 
habuisset  talem  cogitationem,  forte  etiam  corpus  uunquam  talem  mo- 
tum babuisset.  Aber  weil  die  Vorgänge  notwendige  Bedingungen 
für  einander  sind,  sind  sie  darum  noch  nicht  vollgentlgende  Ur- 
sacben.  Vielmehr  gilt  von  de  la  Forge,  wie  auch  Zeller  (Sitzungs- 
berichte der  Berliner  Akademie  XXXI  683)  bemerklich  macht,  ge- 
nau dasselbe  wie  von  Geulincx;  die  Meinung  ist  nicht  die,  »daß 
Körper  und  Geist  gar  keine  Einwirkung  von  einander  erfahren, 
sondern  nur  die,  daß  die  Quelle  der  Kausalität,  vermöge  deren  sie 
eine  solche  erfahren,  nicht  in  ihnen  selbst  liegec. 

Ein  zweiter  Punkt,  dem  wir  einiges  hinzufügen  möchten,  sind 
die  Aeußerungen  des  Verfassers  über  das  vielbesprochene  Uhren- 
gleichnis. Daß  die  kartesianische  Schule  jenes  Bild  oft  verwandte, 
ist  richtig  und  unbestritten,  aber  im  herkömmlichen  Gebrauch  be- 
zieht es  sich  allein  auf  den  Körper,  so  bei  Descartes,  so  auch  bei 
Gordemoy  in  der  breiten  Ausführung  der  dritten  Dissertation.  Das 
Charakteristische  und  Nene  ist  die  sowohl  bei  Leibniz  als  bei  Gen- 
lincx  stattfindende  Uebertragung  auf  die  Seele  und  ihr  Verhältnis 
zum  Körper.  Daß  Leibniz  das  Bild  in  dieser  Verwendung  von  Fou- 
cher  aufgenommen,  ist  mir  nicht  so  zweifellos  wie  Berthold  nnd 
Zeller;  vornehmlich  weil  der  ganze  Passus,  in  dem  Foucher  das 
Bild  vorträgt,  weniger  den  Eindruck  einer  eignen  Entwickelung  als 
den  einer  Rekapitulation  eines  von  anderer  Seite,  also  von  Leibniz, 
Vorgetragenen   macht,  sodann   auch  weil,   bei  aller  Freiheit  eines 


952  Oött.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  25. 

bildliehen  Ausdrucks,  in  dem  Bilde  eine  specifische  Auffassung  von  der 
Seele  liegt,  die  ich  eher  Leibniz  als  Foucher  zutrauen  möchte.  DaB 
diese  Wendung  der  Vergleichung  auch  in  jener  Zeit  als  eigentflm- 
lieh  und  gewagt  empfunden  wurde,  dafOr  kann  Bayle  zum  Zeugnis 
dienen,  s.  diet.  art.  Rorarius  not.  h.:  Enfin,  comme  il  (d.  b.  Leibniz) 
suppose  avec  beaucoup  de  raison,  que  toutes  les  ames  sont  simples 
et  indivisibles,  on  ne  sfauroit  comprendre  qu'elles  pnissent  Stre 
comparees  ä  une  pendule  ss.  Bei  solcher  Sachlage  bleibt  das  Zn- 
sammentreffen von  Geulincx  und  Leibniz  in  jener  Wendung  ein  be- 
merkenswertes Faktum.  Ueberhaupt  aber  bietet  die  Gesamterschei- 
nung des  Occasionalismus  mit  ihrem  Dualismus,  Rationalismos  nnd 
bald  auch  Mysticismus  noch  manche  Probleme;  es  ist  zn  wQnschen, 
daß  sie  bald  einmal  als  Ganzes  Gegenstand  einer  eingehenden  Unter- 
suchung werde.  Den  Wert  des  hier  gegebenen  Beitrages  erkennen 
wir  bereitwillig  an. 

Es  folgt  eine  Untersuchung  von  Benno  Erdmann:  »Kant  nnd 
Hume  um  1762«.  Eine  genaue  Ermittelung  der  ersten  Beräbrungen 
Kants  mit  Hume  ist  .von  Bedeutung  wie  für  seine  Gesamtentwiek- 
lung,  so  im  besonderen  fUr  das  Verständnis  der  Tendenz  seines 
Hauptwerkes,  der  Kritik  der  reinen  Vernunft.  Zur  Entscheidung 
dieser  Frage  gewinnt  der  Verfasser  eine  reichere  thatsächliche 
Grundlage  vornehmlich  durch  eine  Untersuchung  darüber,  wie  Kant 
nahestehende  Männer  —  Freunde  und  Schüler  —  sich  in  jener  Zeit 
zu  Hume  verhielten ;  im  besondern  erweisen  sich  hier  die  Beziehun- 
gen Herders  zu  Kant  und  zn  Huroe  als  fruchtbar.  Das  Ergebnis 
der  gleich  scharfsinnig  wie  umsichtig  geführten  Untersuchung  ist, 
daß  Kant  höchst  wahrscheinlich  schon  Ende  der  fünfziger  Jahre 
Humes  Essays  gekannt  hat,  daß  jedoch  seine  Schätzung  des  Philo- 
sophen noch  in  den  sechziger  Jahren  den  moralistischen  Essayisten, 
nicht  den  metaphysischen  Skeptiker  und  nicht  den  Religionspbilo- 
sophen  trifft. 

Den  letzten  Aufsatz  bildet  ein  sehr  interessanter  Bericht  von 
Ludwig  Stein  über  die  kürzlich  in  Halle  aufgefundenen  Leibniz- 
briefe.  Die  Briefe  zerfallen  in  drei  Gruppen.  Die  erste  (Brief  1 — 
88)  enthält  die  Originalbriefe  von  L.  an  Rudolf  Christian  Wagner, 
Prof.  der  Mathematik  in  Helmstedt;  die  zweite  (89—101)  umfaftt 
Originalbriefe  L.s  an  verschiedene,  zum  Teil  noch  zu  ennittelDde 
Adressaten ;  die  dritte  besteht  in  einer  stattlichen  Reihe  abschrifUich 
vorhandener  Briefe  von  und  an  L.,  deren  Originale  zum  größten 
Teil  verloren  scheinen.  An  philosophischer  Bedeutung  wird  die  erste, 
quantitativ  erheblichste  Gruppe  von  den  beiden  andern  ttbertroffen. 
Die  Briefe  an  Wagner,  mit  denen  sich  die  zunächst  vorliegende  Uq- 


Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie  herausgegeben  von  Stein.         953 

tensuchung  beschäftigt^  handeln  yornehmlich  von  mathematischen 
und  mechanischen  Problemen,  im  besondern  von  der  Rechenmaschine, 
lassen  gelegentlich  aber  auch  auf  L  s  allgemeinmenschliche  und  phi- 
losophische Art  Licht  fallen.  Indem  er  z.  B.  im  Briefe  27  ein  Di- 
stichon zu  einem  Kupferstiche  von  ihm  als  übertrieben  kräftigst  ab- 
lehnt, gibt  er  in  dem  Wunsche  nach  einer  andern  Unterschrift  dent- 
lich  zu  erkennen,  worin  er  selbst  seine  Größe  sieht:  Materiam  forte 
daret,  quod  via  infiniti  aestiraaudi  a  me  iiiveiita,  et  prima  Elementa 
aetemae  veritatis,  unde  mentinm  et  dvpdfAsmv  natura  aperta  est.  Auch 
finden  sich  verschiedene  bedeutende  Aeußernngen  zur  Naturphilosophie 
und  zur  Physik.  Als  Leibniz  von  seinem  ärztlichen  Freunde  Beh- 
rens ein  Diskurs  zageschickt  war  de  certitudine  et  difficultate  artis 
Medicae,  meint  er:  »Wolle  Gott  die  certitude  wäre  so  groß  als  die 
Difficoltät«.  —  £in  weiterer  Aufsatz  soll  die  philosophisch  ergiebi- 
geren Briefe  der  zweiten  Gruppe  behandeln;  daß  diese  ganze  An- 
gelegenheit bei  dem  Herausgeber  in  den  besten  Händen  ist,  zeigt 
schon  dieser  erste  Artikel  augenscheinlich ;  so  sehen  wir  den  weite- 
ren Veröffentlichungen  mit  Spannung  entgegen. 

Der  zweite  Hauptteil  des  Archivs  bringt  Jahresberichte  über  die 
gesamten  Erscheinungen  auf  dem  Gebiete  der  Geschichte  der  Philo- 
Bophie;  es  berichten  dieses  Mal  Diels  über  die  Litteratnr  der  Vor- 
Bokratiker,  Freudenthal  und  Erdmann  über  die  neuere  Philosophie 
bis  auf  Kant,  Dilthey  Über  die  Philosophie  seit  Kant,  Bywater  ttber 
the  Literature  of  Ancient  Philosophy  in  England,  Schurman  über  the 
English  Literature  of  Recent  Philosophy,  alles  für  das  Jahr  1886. 
Die  Gestaltung  dieser  Jahresberichte  hat  unsern  vollsten  Beifall;  die 
Verfasser  bringen  nicht  einen  trocknen  Auszug  dessen,  was  geleistet, 
sondern  sie  entwerfen  davon  ein  lebendiges  Bild,  lassen  das  We- 
sentliche und  Nene  kräftig  heraustreten,  fällen  alsdann  ein  klares 
und  entschiedenes  Urteil  und  geben  endlich  in  Entwicklung  ihrer 
eignen  Ueberzeugungen  oft  sehr  wertvolle  Winke  fttr  weitere  Auf- 
gaben und  Arbeiten.  So  z.  B.  Diels  zur  altgriechischen  Philosophie, 
so  Erdmann  in  den  Bemerkungen  über  Leibniz,  so  Dilthey  zur  Ge- 
schichte der  neuern  Aesthetik  (gelegentlich  einer  Besprechung  von 
H.  von  Stein).  Daher  hat  auch  jedes  Referat  in  Inhalt  und  Form 
einen  individuellen  Charakter,  das  Ganze  aber  führt  uns  unmittel- 
bar in  die  lebendige  Arbeit  der  Gegenwart  und  treibt  dazu,  an  dieser 
Arbeit  teilzunehmen.  So  steht  der  zweite  Teil  nicht  äußerlich  neben 
dem  ersten,  sondern  ergänzt  sich  mit  ihm  zu  einem  Gesamtbilde 
dessen,  was  heute  auf  dem  Gebiete  der  Geschichte  der  Philosophie 
geschaffen  und  erstrebt  wird. 

So  bringt  das  Archiv  —  mit  der  Gediegenheit  aller   einzelnen 

OöiA,  yel.  Ans.  1887.  Nr.  U.  66 


954  Gott.  gel.  A  uz.  1887.  Nr.  25. 

Leistangen  und  dem  Geschick  der  Anordoang  durch  den  Heraus- 
geber —  die  Eigentümlichkeit  des  gegenwärtigen  Standes  der  For- 
schung besonders  deutlich  zum  Ausdruck.  Weit  zurück  liegt  hier 
die  spekulativ  konstruierende  Behandlung  der  Geschichte  der  Philo- 
sophie, selbst  allgemeinere  Reflexionen  principieller  Art  finden  sich 
nur  in  einzelnen  Aufsätzen,  entsprechend  der  Gesamtrichtung  der 
jetzigen  Wissenschaft  ist  das  Interesse  vorwiegend  der  genauesten 
Feststellung  der  Thatsachen  und  ihrer  Zusammenhänge  zugewandt, 
auch  auf  diesem  Gebiete  ist  die  Forschung  in  das  Stadium  der 
Exaktheit  getreten. 

Mit  solcher  Wendung  sind  weite  Aufgaben  eröffnet,  gegen  den 
überkommenen  Stand  hat  sich  überaus  vieles  zu  ergänzen,  zu  ver- 
schärfen, zu  berichtigen  gefunden.  Durchaus  nicht  blofi  in  Einzel- 
heiten, sondern  im  Gesamtcbarakter  hat  sich  das  Bild  der  Entwick- 
lung der  Philosophie  verwandelt;  es  ist  gegenüber  der  frühem,  viel 
zu  summarischen  Ansicht  reicher,  verwickelter,  feiner  geworden.  Die 
Denker  —  und  zwar  nicht  bloA  die  leitenden  Geister,  sondern  alle 
Teilnehmer  der  Arbeit  —  werden  allseitig  erforscht  und  in  ihr  Wer- 
den und  Wachsen  begleitet,  die  Beziehungen  unter  den  einzelnen 
Persönlichkeiten  werden  aufgedeckt,  die  Lehren  ebenso  in  ihre 
Voraussetzungen  wie  in  ihre  Wirkungen  verfolgt.  Nicht  mehr  las- 
sen sich  jetzt  die  Ereignisse  an  einen  einzigen  glatt  fortlaufenden 
Faden  reiben,  auch  die  Neben-  und  Seitenbewegungen,  die  Hemmun- 
gen und  Widerstände  gelangen  zur  Geltung,  ein  viel  verschlungenes 
Gewebe  entfaltet  sich  vor  unseren  Augen.  Nicht  mehr  erscheint 
ferner  die  Philosophie  in  völlig  selbstherrlicher  Stellung,  ihre  Be- 
dingtheit durch  die  anderen  Wissenschaften  wie  durch  das  gesamte 
Kulturleben  gelangt  zur  Anerkennung  und  stellt  mannigfachste  Auf- 
gaben. 

Das  alles  erstreckt  seine  Wirkungen  natürlich  auch  auf  die  Me- 
thode. Jenen  Anforderungen  an  die  Weite  und  Breite  der  That- 
sächlichkeit  ist  die  direkte  Beobachtung  der  Ueberlieferung  keines- 
wegs gewachsen;  es  gilt,  sie  durch  Schlußfolgerung  und  Kombina- 
tion zu  ergänzen.  So  sehen  wir  weite  Ketten  gebildet,  zerstreute 
Notizen  an  einander  gebracht,  vereinzelte  Daten  durch  geschickte 
Einordnung  zu  erheblicher  Bedeutung  erhoben;  oft  muß  die  Hypo- 
these voraneileu  und  neue  Kombinationen  wagen,  aber  über  dem 
Vorstoß  vergißt  sie  nicht  die  Rückkehr,  von  willkürlichen  und  phan- 
tastischen Wagnissen  unterscheidet  dieses  Verfahren  aufs  schärfste 
das  stete  Verlangen  nach  genauer  Verifikation  durch  die  Thatsachen. 
In  glänzender  Entwicklung  der  Hermeneutik  und  der  Kritik  wird 
das  Bild  im  Einzelnen   wie  im  Ganzen  konkreter    und    präciser,  die 


Friedensburg,  Der  Reichstag  zu  Speier  1526.  955 

Vcreinigang  von  Exaktheit,  Scbarfsinn  und  Rombioation  läßt  die 
ForscbuDg  reiche  Triunipbe  feiern.  So  zeigt  es  in  hervorragender 
Leistung  auch  das  Archiv. 

Wir  brauchen  nach  der  obigen  Erörterung  die  Bedeutung  dieser 
Bewegung  nicht  noch  ausdrücklich  anzuerkennen,  und  wir  haben 
keine  Bedenken  dagegen,  daß  das  Archiv  mit  seinem  engen  Verhält- 
nis zur  Zeit  in  der  Verfolgung  jener  Richtung  seine  Hauptaufgabe 
sucht.  Aber  die  Besorgnis  vor  einer  Gefahr  der  Einseitigkeit  kön- 
nen wir  eben  bei  unserem  warmen  Interesse  fttr  das  Unternehmen 
nicht  unterdrücken,  die  Sorge  vor  der  Gefahr,  daß  über  der  Ermit- 
telung des  Thatsächlichen  die  Behandlung  des  Gedankengehaltes  zu- 
rücktrete, daß  über  der  Geschichte  die  Philosophie  zu  kurz  komme. 
Darum  wünschen  wir,  daß  die  Fortführung  des  Unternehmens  die 
bisherigen  Leistungen  durch  reichere  Erörterung  principieller  Fragen 
ergänze,  sei  es  durch  Gesamtwürdigungen  großer  Denker  und  des 
Standes  unserer  Erkenntnis  von  ihnen,  sei  es  durch  Herausstellung 
der  treibenden  Faktoren  der  geschichtlichen  Bewegung,  sei  es  durch 
Anfweisnng  der  Innern  Zusammenhänge  der  Epochen  u.  s.  w. 

Was  immer  aber  an  Wünschen  sich  erheben  mag,  das  Ar- 
chiv ist,  so  wie  es  vorliegt,  der  wärmsten  Sympathie  der  Fachge- 
nossen sicher.  Es  wird  nicht  nur  im  Einzelnen  mannigfachsten  Nutzen 
stiften,  sondern  zu  einer  kräftigern  Belebung  und  Zusammenfassung 
des  gesamten  Gebietes  führen ,  es  wird  mit  seiner  Stärkung  strenger 
Forschung  und  seinem  Fernhalten  alles  Dilettantenhaften  zur  exak- 
ten Gestaltung  der  gesamten  Arbeit  wirken.  So  müssen  ihm  alle 
wissenschaftlichen  Kreise  das  beste  Gedeihen  wünschen. 

Jena.  Rudolf  Eucken. 


Friedensburg,  Walter,  Der  Reichstag  zu  Speier  1526  im  Zusam- 
menhang der  politischen  und  kirchlichen  Entwicklung  Deutschlands  im  Refor- 
mationszeitalter. (Historische  Untersuchungen  herausgegeben  von  J.  J  a  s  t  r  o  w, 
Heft  V).    Berlin,  Qaertner  (Heyfelder)  1887.    XIV,  602  S. 

Mit  dem  Auftreten  der  Versuche,  dem  deutschen  Reiche  eine 
andere  Verfassung  zu  geben,  steigert  sich  am  Ende  des  Mittelalters 
die  Wichtigkeit  der  allgemeinen  Ständeversammlungen,  die  dann  in 
der  folgenden,  der  s.  g.  Refoi*mationsepoche  den  Höhepunkt  ihres 
Ansehens  nnd  ihrer  Bedeutung  für  die  Geschicke  der  Nation  er- 
reichen. Die  Reichstage  sind  die  vornehmsten  Stätten,  wo  zu- 
mal im  Beginn  der  soeben  bezeichneten  Epoche,  solange  nämlich 
noch  alles   im  Fluß   and   eine   unwiderrufliche  Trennung    der  Glau- 

66* 


956  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  25. 

bensparteien  noch  nicht  eingetreten  ist  —  die  refonnatorischen  Be- 
strebungen sich  mit  den  ihnen  entgegenlaofenden  Richtangen  mes- 
sen and  auseinander  setzen.  Und  wennschon  Gang  und  Ergebnis 
der  schleppenden,  vielfach  nnterbrochenen  Verhandlangen  der  Reichs- 
stände  wohl  bisweilen  von  mancherlei  ZaftLlligkeiten  oder  Nichtig- 
keiten abzuhängen  scheint,  and  es  ferner  aach  mit  der  Exekutive 
im  heiligen  römischen  Reiche,  wie  jedermann  weiß,  recht  übel  be- 
stellt war,  so  ist  doch  nicht  minder  wahr,  daft  gerade  die  formlose, 
nicht  von  einem  strikten  Majoritätsprincip  beherrschte  Art  der  Ver- 
handlungen an  den  deutschen  Reichstagen  dieser  Epoche  es  den  im 
Reiche  vorherrschenden  Tendenzen  erleichterte,  sieb  aach  an  dieser 
Stelle  nach  Haßgabe  der  ihnen  innewohnenden  Stärke  vollaaf  zar 
Geltung  zu  bringen  und  ihren  Stempel  nicht  minder  den  Reichsab- 
schieden aufzudrücken,  welche  dann  eben  deshalb  wiederum  in  leb- 
haftester Wechselwirkung  die  weitere  Entwicklung  der  Dinge  im 
Reiche  beeinflußt  haben. 

Es  waren  Erwägungen  solcher  Art,  die  den  Verf.  veranlaßt  ha- 
ben ,  sich  einer  monographischen  Darstellung  des  Reichstags  zu 
Speier  vom  Jahre  1526  zu  unterziehen.  Setzte  er  in  diesem  Werke 
in  gewisser  Weise  seine  früheren  Studien  »Zur  Vorgeschichte  des 
Gotha-Torgauischen  Bündnisses  der  Evangelischen c  fort,  so  bestimmte 
ihn  zur  Wahl  seines  Themas  im  besonderen  noch  der  Wunsch,  es 
möchte  durch  ihn  endlich  einmal  volle  Klarheit  über  die  Tragweite 
der  Festsetzungen  des  Speierer  Reichsabschiedes  gewonnen  und  die 
Kontroverse  über  die  Bedeutung  der  entscheidenden  Worte  dieser 
Akte  endgültig  aus  der  Welt  geschadet  werden.  Denn,  wiewohl  be- 
reits namhafte  Kirchenlehrer  früherer  Zeit  vor  einer  Ueberschätzung 
der  Festsetzungen  des  angezogenen  Reichsabschiedes  gewarnt,  haben 
doch  zumal  Darstellungen  von  protestantischer  Seite  bis  in  die 
neueste  Zeit  hinein  aus  den  Worten  des  Reichsabschiedes,  daß  sich 
in  Hinsicht  des  Wormser  Edikts  jeder  Stand  halten  solle,  wie  er  es 
vor  Gott  und  dem  Kaiser  verantworten  möge,  eine  rechtliche  Ge- 
währleistung des  Protestantismus  herauslesen,  in  dem  Abschied  von 
Speier  also  die  rechtliche  Grundlage  des  protestantischen  Territorial- 
kirchentums  erkennen  wollen.  Indem  Verf.  diese  Auffassung,  nach- 
dem er  sich  von  ihrer  Unrichtigkeit  überzeugt,  durch  sein  Werk  zu 
beseitigen  wUnschte,  ist  ihm  allerdings  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
A.  v.  Kluckhohn  zuvorgekommen,  welcher  in  einer  kurz  vor  Druck- 
legung des  in  Rede  stehenden  Werkes  erschienenen  Skizze  über  den 
Speirer  Reichstag  (Histor.  Zeitschrift,  N.  F.  Bd.  20  S.  193-218) 
an  die  Beurteilung  des  fraglichen  Abschiedes  den  richtigen  Mafistab 
angelegt  und  es  unternommen  hat,  aus  dem  Gange  der  Verhandlon- 


Friedensburg,  Der  Reichstag  zu  Speier  1526.  957 

gen  des  Reichstags  selbst  den  Sinn  der  scbließlicben  Festsetzaogen 
desselben  berzaleiteu.  Doch  mag  neben  Klackbobns  sammariscber 
Betrachtang  wohl  auch  noch  die  vorliegende  ansftthrlicbe  Arbeit  ibre 
Berechtigung  haben,  welche  sozusagen  den  methodischen  Beweis  lie- 
fern will,  daß  der  Speierer  Abscbied  weit  davon  entfernt  war,  den 
Evangelischen  irgend  welche  definitive  Oewährungen  zu  machen. 

Ein  derartiger  Beweis  konnte  denn  allerdings  nur  gestützt  auf 
ein  mOglicbst  umfassendes,  relativ  vollständiges  Material  angetreten 
werden.  Verf.  hat  daher,  da  das  bisher  bekannte,  gedruckt  vorlie- 
gende Material  außerordentlich  dürftig  und  ganz  ungenügend  er- 
schien, die  Archive  der  hervorragenderen  Stände  aller  Kurien  zu 
Rate  gezogen  und,  wie  eine  S.  491 — 496  mitgeteilte  Uebersicht  tlber 
die  Bestände  der  benutzten  Archive  zeigt,  eine  nicht  unerhebliche 
Anzahl  von  Aktcnsammlungen  zur  Geschichte  des  Reichstages  und 
seiner  Zeit  zusammengebracht  und  ausgebeutet,  auf  deren  Grund  es 
möglich  schien,  wiewohl  man  vieler  Orten  wünschen  möchte,  noch 
genauer  und  eingehender  über  das  Detail  der  Beratungen  und  die 
bestimmenden  Beweggründe  in  jedem  einzelnen  Fall  unterrichtet  zu 
werden,  eine  innerlich  wie  äußerlich  zusammenhängende  Geschichte 
des  Reichstags  zu  geben.  Und  selbstverständlich  beschränkte  sich 
die  Forschung  des  Verf.  nicht  etwa  auf  das,  was  die  bewegende 
Frage  der  Zeit  betrifft  oder  damit  in  irgend  welcher  Beziehung 
steht;  sondern  soweit  sich  die  Thätigkeit  des  Reichstags  auch  ande- 
ren Gebieten,  der  Unterhaltung  der  Reichsbehörden,  der  Herstellung 
von  Ruhe,  Ordnung  und  Frieden  im  Inneren,  der  Sicherung  der 
Grenzen  vor  den  Türken  u.  s.  w.  zugewandt,  haben  auch  diese  Ge- 
genstände die  gebührende  Berücksichtigung  gefunden,  und  zwar  um 
so  mehr  als,  wennschon  die  Ergebnisse  der  Speierer  Verbandlungen 
auf  allen  diesen  Gebieten  überaus  dürftige,  ja  zum  Teil  ganz  nich- 
tig6  waren  (wie  z.  B.  die  gegen  den  Großtürken  gerichteten  Be- 
schlüsse, welche  durch  die  zwei  Tage  nach  dem  Abschluß  der  Speie- 
rer Verhandlungen  erfolgende  Entscheidungsschlacht  von  Mohacz 
Tollkommen  illusorisch  gemacht  wurden),  doch  die  bezüglichen  Be- 
ratungen gelegentlich  auf  den  Gang  der  Verhandlungen  in  der 
kirchlich-religiösen  Frage  hemmend  oder  fördernd  eingewirkt  ha- 
ben. Aber  auch  au  sich  selbst  dürfen  sie  in  einem  vollständigen 
Bilde  der  Reichstagsverhandlungen  nicht  fehlen.  Und  eben  darauf 
kam  es  dem  Verfasser  an,  ein  solches  allseitig  ausgeführtes  Bild 
zu  liefern,  wobei  er  sich  mit  der  Hoffnung  trug,  daß  eine  ein- 
gehende Darstellung  eines  Reichstages  dieser  Epoche  bis  zu 
einem  gewissen  Grade  für  die  Geschichte  aller  übrigen  Reichstage 
derselben  Zeit  typisch  sein  könnte,  insoweit  wenigstens,  als  es  doch 


95S  Gott.  gel.  Aiiz.  1887.  Nr.  25. 

im  wesentlichen  dieselben  Faktoren  sind,  die  sich  wesentlich  nach 
derselben  Richtang  hin  in  dieser  ganzen  Epoche  der  beginnenden 
Keformatlonszeit  geltend  machen.  Ebenso  war  fttr  die  Verfassangs- 
geschichte  des  deutschen  Reiches  wie  andererseits  gelegentlich  auch 
für  das  weite  Gebiet  der  sog.  Kultargeschichte  aus  einer  Darstellung, 
wie  sie  Verf.   zu    geben    versncht  hat,    einiger  Gewinn  zu  erboffen. 

Aber  es  konnte  nun  auch  damit  nicht  gethan  sein,  lediglich  die 
Vorgänge  zn  zeichnen,  welche  sich  am  Orte  des  Reichstags  während 
der  Dauer  desselben  abspielten.  Die  Potenzen,  welche  auf  dem 
Reichstage  zasammeutreffen  und  deren  Siohmessen  and  Sichaaseinan- 
dersetzen  den  Gang  der  Verhandlangen  bedingt,  maßten  auch  aufter- 
halb  des  Reichstags,  zumal  in  den  Territorien,  eine  jede  sozusagen 
in  ihrer  heimischen  Atmosphäre,  aufgesucht  werden ,  die  mannich- 
fachen  Interessen  namentlich  partikularer  Art,  welche  neben  den 
universelleren  Gesichtspunkteo  die  einzelnen  maßgebenden  Reichs- 
stände bestimmten,  mußten  nachgewiesen  und  es  mußte  verfolgt 
werden,  mit  welchen  Gefühlen  und  Erwartungen  ein  jeder  dem 
Reichstage  entgegensah,  welche  Maßnahmen  im  Angesichte  desselben 
vorbereitet  wurden,  kurzum,  wie  die  Verhältnisse  beschaffen  waren, 
welche  der  Reichstag  vorfand,  in  welche  er  hineintraf.  Nur  so 
konnte  Verf.  hoffen,  die  richtige  Grundlage  ftlr  die  Darstellung  des 
Reichstages  selbst  zu  gewinnen.  Er  hat  daher  diesen  Auseinander- 
setzungen ein  erstes,  an  Ergebnissen  nicht  unfruchtbares  Bach 
(»Kaiser  und  Reich«  8.  19 — 192)  eingeräumt,  dem  er  dann  im  zwei- 
ten Buche  (S.  193  —487)  die  Geschichte  der  Reichstagsverhandlungen 
selbst  folgen  läßt.  Den  Schluß  bildet  neben  der  schon  angefahrten 
Uebersicht  über  das  benutzte  archivalische  Material  eine  Aaswahl 
wichtigerer  Dokumente  (S.  497 — 581),  welche  zum  Teil  auf  die  Hal- 
tung einzelner  Stände  ein  neues  Licht  werfen,  zum  Teil  die  bedent- 
sameren  Stadien  der  Reiebstagshandinngen  veranschaulichen  ;  end- 
lich folgt  noch  eine  Bibliographie  und  ein  ausführliches  Register, 
während  eine  detaillierte  Inhaltsübersicht  dem  Texte  vorangestellt  ist. 

Es  sei  gestattet,  den  Gang  der  Untersuchung  und  einige  Ergeb- 
nisse derselben  mit  wenigen  Strichen  zu  skizzieren. 

In  erster  Linie  war  die  Politik  des  Kaisers  und  seines  Brodere 
und  Vertreters  in  Deutschland,  des  Erzherzogs  Ferdinand  von  Oester- 
reich,  zu  erörtern,  von  deren  Entschließungen  die  Berufung  und  das 
Zustandekommen  eines  Reichstages  zunächst  abhieng.  Karl  V.  selbst 
zwar  erscheint  in  diesen  Jahren  den  deutschen  Dingen  nahezu  gänz- 
lich abgewandt;  die  Angelegenheiten  der  spanischen  Monarchie  and 
das  wechselnde  Verhältnis  zu  Frankreich  und  den  italienischen  Staa- 
ten   nahmen   ihn    fast  ausschließlich   in  Anspruch.     Er  Qberliefi  die 


Friedensburg ,  Der  Reichstag  zu  Speier  1526.  959 

Besorgung  der  deutechen  Dinge  dem  Erzherzog,  welcher  die  Wei- 
sung hatte,  wenn  er  schon  nicht  helfen  könne,  mindestens  zu  sor- 
gen, daß  das  Uebel  der  Ketzerei  und  die  Ungebundenheit  im  Reiche 
nicht  zunehme.  Und  wenigstens  an  dem  guten  Willen,  dieser  Wei- 
sung nachzukommen,  fehlte  es  Ferdinand  nicht.  Ihm  lag  die  Auf- 
rechterhaltnng  der  alten  Formen  in  Kirche  und  Staat  um  so  mehr 
am  Herzen,  als  er  sich  mittels  derselben  und  in  denselben  zum  rö- 
mischen König  aufzuschwingen  gedachte.  Die  Evangelischen  aber 
betrachtete  er  —  zumal  seit  dem  Bauernkriege  —  als  Verschwörer, 
welche  die  Maske  religiöser  Reform  vornähmen,  um  die  Hassen  für 
sich  zu  gewinnen  und  mit  diesen  die  alte  Reichsverfassung  ttber  den 
Haufen  zu  werfen.  Diese  angeblichen  Umtriebe  der  Evangelischen 
aber  machten  dem  Prinzen  um  so  mehr  Sorge,  als  er  sich  auch  der 
geneigten  Gesinnung  der  Kurfürsten  keineswegs  sicher  sah  und  sich 
Überhaupt  nicht  verhehlen  konnte,  daß  die  Decentralisation  im  Reiche 
immer  größere  Fortschritte  machte.  Da  fragte  es  sich  denn,  ob  nicht 
die  Ansetzung  eines  Reichstages  das  geeignetste  Mittel  sein  werde, 
um  derartigen  Bestrebungen  ein  Halt  zu  gebieten,  und  in  der  That 
nahm  die  Politik  des  Erzherzogs,  besonders  seit  dem  Bauernkrieg  und 
dem  entscheidenden  Obsiegen  des  Kaisers  im  Kampfe  wider  Frank- 
reich, wiederholt  einen  Reichstag  in  Aussicht.  Allein  es  war  wohl  zu  er- 
wägen, ob  nicht  etwa  ein  solcher,  der  in  Abwesenheit  des  Kaisers  ab- 
gehalten wUrde  —  und  die  Aussicht  den  letzteren  bald  in  Deutschland 
zu  sehen,  verflüchtigte  sich  immer  aufs  neue  — ,  statt  die  bestehen- 
den Formen  zu  kräftigen,  vielmehr  den  Neuerungstendenzen  ThUr 
und  Thor  öffnen  würde;  und  was  sollte  geschehen,  wenn  auf  dem 
Reichstage  selbst  diese  Bestrebungen  die  Oberhand  gewinnen  wür- 
den? Dann  schien  für  die  Anhänger  des  Alten  die  letzte  Position 
im  Reiche  verloren.  Dergestalt  von  verschiedenen  Erwägungen  hin- 
und  hergeworfen,  schwankte  Ferdinand  lange  Zeit,  ob  er  die  Be- 
rufung eines  Reichstages  gutheißen  solle.  Endlich  zwang  ihn  die 
Tttrkengefahr,  welche  den  österreichischen  Landen  immer  näher  zog, 
und  die  Notwendigkeit,  weitere  Mittel  zur  Unterhaltung  der  Reichs- 
behörden, des  Regiments  und  des  Kammergerichts,  von  den  Ständen 
bewilligt  zu  erhalten ,  den  Reichstag  vor  sich  gehn  zu  lassen ;  für 
den  Notfall  aber,  wenn  nämlich  die  evangelischen  Tendenzen  'am 
Reichstag  überwiegen  sollten,  ließ  sich  der  Erzherzog  von  dem  Bru- 
der mit  einer  —  zunächst  geheim  gehaltenen  —  Weisung  versehen, 
welche  im  Namen  des  Kaisers  jede  Erörterung  der  schwebenden 
Fragen  untersagte  und  das  strikteste  Festhalten  an  dem  kirchlichen 
Herkommen  in  allen  seinen  Teilen  verfügte  und  anbefahl.  — 

Verharrten  die  Häupter  der  Nation  in  einer  derartig   unaufricb- 


960  Gott.  gel.  Aqz.  18Ö7.  Nr.  25. 

tigen,  von  krassester  Selbstsucht  eingegebenen  Politik,  so  warde  in- 
zwischen das  Reich  von  verschiedenartigen  Strömangen  hin*  ond 
herbewegt.  Bereits  machten  sich  Tendenzen  bemerkbar,  welche  alt* 
gläubige  und  neugläubige  Stände  in  verschiedene,  ja  feindselige 
Heerlager  trennen  zu  sollen  schienen.  Dem  Dessaaer  Bündnis  der 
Katholiken  stellte  sich  die  Ootha-Magdebnrgische  Vereinigung  der 
evangelischen  Stände  gegenüber,  und  namentlich  Philipp  von  Hessen 
vertrat  schon  in  diesen  Jahren  mit  hingebendem  Eifer  den  Gedan* 
ken  eines  festen  Zusammenschlusses  aller  evangelischen  Elemente 
im  Reiche  zu  Zwecken  der  Verteidigung  wider  die  angriffslostigen 
Gegner.  Aber  soweit  kam  man  damals  doch  noch  nicht;  erst  die 
Vorgänge  in  Speier  1529  und  der  Angsburger  Reichstag  von  1530 
haben  die  evangelischen  Sonderbundsgedanken  zur  Reife  gebracht 
Noch  verbargen  sich  die  tiefer  liegenden  Kontraste  zum  größten 
Teil ,  nur  wenige  vorschauende  Geister  ahnten  die  volle  Bedeutung 
des  neuen  Princips,  welches  mit  Luther  ins  Leben  getreten  war,  und 
in  dem  allgemeinen  Rufe  nach  Reformen  fand  sich  damals  noch  die 
große  Mehrzahl  aller,  oder  wenigstens  der  weltlichen  Reichsstände 
zusammen.  Letzteres  war  zumal  eine  Nachwirkung  des  Bauernauf- 
standes, welcher  allen,  die  sehen  wollteu,  deutlich  gezeigt  hatte,  wie 
sehr  eine  Reform  der  socialen  wie  kirchlichen  Verhältnisse  not  thäie. 
Nicht  nur  die  kleineren  Herren  im  Reiche  und  die  städtischen  Ha* 
gistrate,  welche  sozusagen  unmittelbar  von  der  Stimmung  ihrer  Unter- 
thanen  abhiengen  und  welche  auch  aus  nächster  Nähe  Gelegenheit 
hatten  diese  Stimmung  kennen  zu  lernen,  sahen  ein,  daft  man  auf 
das  Reformbedttrfnis  des  gemeinen  Mannes  Rücksicht  nehmen  müsse, 
sondern  auch  bei  den  angesehensten  und  mächtigsten  Fürsten,  und 
zwar  gerade  solchen,  die  im  Kampfe  gegen  die  Bauern  das  beste 
gethan  hatten,  finden  wir  dieselben  Qedanken  maßgebend,  so  beson- 
ders bei  dem  pfälzischen  Hause.  Der  Kurfürst  Ludwig  von  der 
Pfalz  warnte  noch  auf  dem  Speierer  Reichstage  immer  und  immer 
wieder,  man  möge  ja  nicht  versäumen,  dem  gemeinen  Manne  ent- 
gegenzukommen, wenn  man  einer  gefährlicheren  Wiederholung  der 
Auftritte  des  Vorjahres  entgehn  wolle.  Und  des  Kurfürsten  Bruder 
und  einflußreichster  Berater,  Pfalzgraf  Friedrich,  entwarf  Ende  1525 
in  einer  S.  504 — 517  mitgeteilten  Denkschrift  ein  detailliertes  Pro- 
gramm für  eine  einschneidende  Reform  in  politischer,  kirchlicher  and 
socialer  Hinsicht. 

Auf  der  anderen  Seite  gab  es  freilich  auch  Gegner  jeglicher 
Reform  und  starre  Verteidiger  des  Herkommens;  hier  erscheint  ne- 
ben den  mächtigen  Herzogen  Wilhelm  und  Ludwig  von  Baiem, 
welche   sich   durch  engen  Anschluß   an    die   so  vielfach    mit  Abfall 


Friedensburg,  Der  Reichstag  zu  Speier  1526.  961 

bedrohte  Kurie  Vorteile  im  eigenen  Lande  ihrem  Klerus  gegenüber 
zu  versehaffen  bemtiht  waren ,  insbesondere  der  geistliche  Stand. 
Die  Bischöfe  hatten  sich  insgemein  schon  seit  1524  —  hauptsächlich 
unter  Einfluß  der  Festsetzungen  des  Regensbarger  kon vents  —  von 
allen  Beformtendenzen,  welche  einst  auch  einer  ganzen  Reihe  von 
ihnen  nahe  getreten  waren,  abgewandt;  und  der  Bauernkrieg,  wel- 
cher die  Stellung  des  geistlichen  Standes  von  Grund  aus  bedrohte, 
hatte  sie  nur  um  so  mehr  veranlaßt,  im  Anschluß  an  die  alte  Kirche, 
mit  der  sie  zu  stebn  und  zu  fallen  meiuten,  ihr  Heil  zu  suchen. 
Aber  die  Bischöfe  genossen  eben  deswegen  eines  sehr  geringen  ^n» 
Sehens  bei  ihren  Mitständen;  im  Bauernkriege  hatten  sie  das  we* 
nigste  geleistet,  waren  aber  in  blutiger  Bestrafung  der  Unterworfe- 
nen am  eifrigsten  gewesen;  auch  ihr  sittliches  Verhalten,  ihr  geist- 
licher Hochmut  erregte  Anstoß,  virozu  dann  noch  kam,  daß  im  Laufe 
des  Jahres  1526  ein  neuer  Konflikt  des  Kaisers  mit  dem  Papste 
ausbrach,  in  Folge  dessen  die  uatllrlichen  Parteigänger  des  letzteren 
im  Reiche  sich  mit  um  so  größerem  Mistrauen  betrachtet  fanden. 
Der  Einfluß  des  geistlichen  Elements  auf  die  allgemeinen  Reichsan- 
gelegenheiten war  daher  nicht  eben  hoch  anzuschlagen. 

Aehnliches  galt  damals  auch  von  einem  anderen,  gegen  die  Re- 
form in  die  Wagschale  fallenden  Einfluß,  nämlich  dem  des  Kai- 
sers. Wohl  hatte,  w^enn  nicht  der  Erzherzog,  der  im  Reiche  gänz- 
lich isoliert  dastand,  so  doch  Karl  V.  seine  Partei  unter  den  Für- 
sten; allein  die  langjährige  Abwesenheit  des  Kaisers  ans  Deutsch- 
land, deren  Ende  noch  immer  nicht  abzusehen  war,  und  die  Unklar- 
heit über  die  schließlichen  Ziele  der  kaiserlichen  Politik  ließen  auch 
diejenigen  Elemente,  welche,  wie  etwa  der  hochbegabte  HohenzoUer 
Kasimir  von  Brandenburg- Ansbach ,  ihr  Augenmerk  vor  anderen  auf 
Karl  gerichtet  hatten,  keineswegs  als  energische  Gegner  der  Re- 
formbestrebungen der  Zeit  erscheinen.  Alles  in  Allem  war  die  Re- 
formpartei 80  stark,  daß  sie,  wenigstens  vereint  mit  der  evangeli- 
schen Richtung,  d.  h.  den  Anhängern  einer  Reform  auf  specifisch 
religiösem  Gebiete,  unter  den  Reichsständen  gerade  in  dieser  Epoche 
die  Mehrheit  für  sich  hatte,  zumal  eben  unter  der  Gunst  der  oben 
betonten  Momente:  der  Nachwirkungen  des  Bauernkrieges,  der  Ab- 
wesenheit des  Kaisers  und  des  erneuten  Konflikts  des  letzteren  mit 
dem  Papsttum.  Und  die  beiden  Richtungen,  die  der  kirchlich-socia- 
len nnd  die  der  eigentlich  religiösen  Reform,  giengen,  wenn  auch  ihr 
Ansgangspunkt  ein  anderer  und  ihre  schließlichen  Ziele  verschiedene 
waren,  doch  ein  gutes  Stück  Weges  mit  einander;  sie  hatten  viele 
und  wichtige  Berührungspunkte,  ja,  noch  mochte  sich  kaum  zwischen 
ihnen    unterscheiden    lassen.      Wohl    war    es   gerade   der   Spcierer 


962  Gott.  gel.  Äoz.  1887.  Nr.  25. 

Beichstag  von  1526,  auf  welchem  die  EvangeÜBchen  zaerst  ihr  anter- 
scbeidendes  Programm  auch  äußerlich  ins  Werk  za  setzen  sDchtoi, 
wo  Knrsachsen  und  Hessen  mit  Anhang  und  Begleitang  in  dieselben 
Farben  gekleidet,  mit  denselben  Emblemen  versehen  sich  zeig:ten, 
wo  sie  an  den  Fasttagen  der  katholischen  Kirche  öffentlich  Fleisch 
speisten,  wo  sie  durch  ihre  Prediger  in  ihren  Herbergen  öffentlich 
bei  jedermanns  Zutritt  das  Evangelium  predigen  ließen.  Und  das 
machte,  wie  nicht  anders  zu  erwarten  war,  ein  ganz  nnermeftlicbes 
Aufsehen  und  berührte  manchen  Beformfreund  sehr  unliebsam;  aber 
trotzdem  geschah  es,  daß  Philipp  von  Hessen,  der  persönlich  eifrigste 
unter  allen  Bekennern  des  Eyaogeliums  zu  Speier,  bei  der  Wahl  zom 
s.  g.  großen  Ausschuß,  welcher  die  allgemeine  Beform  Yorbereiten 
sollte,  von  allen  die  meisten  Stimmen  auf  sich  vereinigte  and  als 
erster  aus  der  Wahlurne  der  Fürstenkurie  hervorgieng.  Es  war 
klar,  nicht  die  Evangelischen  allein  schickten  den  Landgrafen  in 
den  Ausschuß,  sondern  der  einundzwanzigjährige  Fürst  erschien  der 
gesamten  Beformpartei  als  ihr  begabtester  Vertreter  —  ungeachtet 
seiner  Verletzung  der  alten  Kirchengebote  und  seines  specifisch  evan- 
gelischen Gebahrens. 

Und  auch  sonst  vollzogen  sich  die  Ereignisse  am  Beichstage, 
welcher  unter  ziemlich  zahlreicher  Beteiligung  aller  Stände  am 
25.  Juni  durch  den  Erzherzog  eröffnet  werden  konnte,  unter  dem 
beherrschenden  Einfluß  des  Zusammengehens  aller  Beformfrennde. 
Nur  in  den  ersten  Tagen  der  Speierer  Verhandlungen,  als  die  Häup- 
ter der  Evangelischen  noch  fern  waren,  hatte  die  Pfaffenpartei  einen 
Triumph  errungen,  indem  man  den  ersten  Artikel  der  kaiserlichen 
Beichstagsproposition,  der  sich  mit  der  kirchlich-religiösen  Ange- 
legenheit befaßte,  sehr  obenbin  vorgenommen  und  dann  gar  be- 
schlossen hatte,  die  s.  g.  geistlichen  Misbräuche  so  lange  von  der 
Tagesordnung  abzusetzen,  bis  man  über  alle  anderen  Beratangs- 
gegenstände  ins  Beine  gekommen  wäre,  was  natürlich  darauf  hinaus- 
lief, sie  überhaupt  nicht  vorzunehmen.  Aber  dieser  Beschluß  hatte 
sich  sogleich  als  undurchführbar  herausgestellt;  es  hatte  nnr  am 
4.  Juli  einer  Darlegung  der  Städtekurie  bedurft,  welche  die  Halt- 
losigkeit des  durch  das  Wormser  Edikt  geschaffenen  Zustandes  im 
Beiche  in  ein  helles  Licht  stellte,  um  auch  die  höheren  Stände  sieh 
für  entschiedene  Vornahme  von  Beformen  erklären  zu  lassen.  Fortan 
schien  Beform  vor  allem  auf  dem  kirchlichen  Gebiet  das  Losungswort 
des  Beichstags  zu  sein.  Noch  freilich  wurde  man  wochenlang  durch 
die  schier  unvermeidlichen  Bang-  und  Sessionsstreitigkeiten  zwischeo 
den  Ständen,  durch  den  Zwiespalt,  der  über  die  Umfrage  bei  des 
Kurfürsten  herrschte,  durch  die  Eifersüchteleien  der  letzteren  gegen- 


Friedensburg,  Der  Reichstag  zu  Speier  1626.  963 

über  der  Fdrsteukarie,  sowie  durcb  das  langsame  Eintreffen  mancher 
Stände  an  gedeihlichen  Beratungen  gehindert,  bis  man  endlich  Ende 
Juli  energisch  an  die  Vornahme  der  Reformen  herantreten  zu  kön- 
nen glaubte.  Der  erste  Schritt  hierzu  war  die  Wahl  jenes  schon  er- 
wähnten Ausschnsses.  Auch  abgesehen  aber  von  Landgraf  Philipp 
fielen  diese  Wahlen  bei  den  Weltlichen  so  überwiegend  reformfreund- 
lich aus,  daß  die  Stimmen  der  Deputierten  der  Qeistlichen  dagegen 
kaum  in  die  Wagschale  fallen  konnten  und  die  bedeutsamsten  Fol- 
gen zu  gewärtigen  gewesen  wären,  wenn  der  Ausschuß  zu  unge- 
hinderter Wirksamkeit  hätte  gelangen  dUrfen.  Bei  freier  Verhand- 
lung der  Stände  durfte  man  reformfreundlichen  Beschlüssen  des 
Reichstags  mit  Sicherheit  entgegensehen.  Aber  eben  das  war  Erz- 
herzog Ferdinand  entschlossen,  um  jeden  Preis,  mit  allen  Mitteln  zu 
verhindern.  So  bedroht  erschien  ihm  bereits  die  Sache  der  Kirche 
und  des  Kaisertums,  daß  er  es  darauf  ankommen  ließ,  das  ganze 
Werk  des  Reichstags  zum  Scheitern  zu  bringen.  Die  unmittelbare 
Antwort  Ferdinands  nämlich  auf  die  Ausschußwahlen  der  Stände 
war  die  Mitteilung  jener  kaiserlichen  Specialweisung,  welche  jede 
Aenderung  oder  Modificierung  des  kirchlichen  Herkommens  und  jede 
darauf  abzielende  Beratung  den  Ständen  kategorisch  untersagte. 
Schon  am  Tage  nach  der  Ausschnßwahl  trat  Ferdinand  mit  dem 
verhängnisvollen  Dokument  hervor,  welches  ebenso  große  üeber- 
raschung  wie  Entrüstung  erregte.  Die  Stände  sahen  ihr  Unterneh- 
men gescheitert,  fast  noch  ehe  es  begonnen  war.  Kaum  wurde  der 
gänzliche  Abbruch  der  Verhandlungen  vermieden :  die  schönen  Hoff- 
nungen aber,  mit  denen  die  Mehrzahl  der  Stände  ebenso  wie  die 
Unterthanen  im  ganzen  Reiche  dem  Ausgang  der  Verhandlungen  ent- 
gegengesehen hatten,  waren  dahin.  Bereits  war  klar,  daß  der 
Reichstag  zu  positiven  Ergebnissen  nicht  würde  gelangen  können, 
da  es  der  Loyalität  der  Stände  widerstrebte,  dem  so  deutlich  aus- 
gesprochenen Willen  des  Kaisers  zuwider  Festsetzungen  zu  treffen, 
auf  der  anderen  Seite  aber  die  kirchlichen  Zustände,  wie  sie  sich 
auf  der  Grundlage  den  dem  Reiche  vor  fünf  Jahren  aufgedrängten 
kaiserlichen  Edikts  von  Worms  gestaltet  hatten,  so  zerfahren  und 
unhaltbar  sich  zeigten,  daß  eine  Stellungnahme  des  Reichstags  zu 
Gunsten  des  verhängnisvollen  Edikts  gänzlich  außerhalb  des  Bereichs 
der  Möglichkeit  lag.  Unter  diesen  Umständen  gewann  am  Reichs- 
tag ein  Gedanke  die  Oberhand,  der  schon  früher  Vertreter  gefunden 
hatte,  nämlich  das  Projekt  einer  Sendung  an  den  Kaiser.  Nament- 
lich die  Städte,  welche  vielfach  die  Sachlage  richtiger  beurteilten 
als  die  übrigen  Stände,  hatten  von  vornherein  ohne  die  Mitwirkung 
des  Kaisers  keinen  befriedigenden  Ausgang  des  Reichstages   erwar- 


964  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  25. 

tet;  aber  jetzt  erst,  Dachdem  die  Aassiebt,  an  der  die  Mehrheit  der 
Stände  bis  dabin  festgehalten,  bereits  in  Speier  selbst  za  einer  de- 
finitiven Ordnung  der  kirchlichen  Frage  gelangen  za  können,  ge- 
schwunden war,  drangen  die  Stände  durch ;  alle  Kurien  beschlossen, 
den  Kaiser  von  Reichswegen  anzugehn,  daß  er  mit  Rttcksicht  auf 
die  Notlage  des  Reicbs,  die  man  ihm  beweglich  schildern  wollte, 
seine  abiebnende  Haltung  in  der  Reformfrage  niodificiere,  für  die 
bisher  geschehenen  Uebertretungen  des  Wormser  Edikts  Indemnitit 
gewähre  und  die  Entscheidung  der  •schwebenden  Fragen  einem  un- 
ter seiner  persönlichen  Teilnahme  in  deutschen  Landen  abzuhalten- 
den Generalkoncil  oder  einer  freien  Nationalversammlung  aller 
Stände  deutscher  Nation  anbefehle.  Hau  hoflfte  in  der  That  auf  den 
Kaiser  durch  eine  derartige  einmütige  Botschaft  aller  Stände  Ein- 
druck machen  zu  können.  Wenn  nicht  die  Notlage  im  Reiche,  so 
schienen  die  Schwierigkeiten,  in  welche  Karls  auswärtige  Politik 
sich  aufs  neue  verstrickt  fand,  ihn  gebieterisch  darauf  hinzuweisen, 
der  inneren  Bewegung  im  deatscben  Reiche  gegenüber  zu  konnivie- 
ren;  zumal  sein  eben  jetzt  ausgesprochen  feindseliges  Verhältnis  zum 
Papst  ließ  hoffen,  daß  er  geneigt  sein  würde,  gegenwärtig  mildere 
Saiten  aufzuziehen  als  zur  Zeit  der  Abfassung  jener  Specialweisung, 
welche  schon  im  März  des  Jahres,  da  der  Kaiser  nach  dem  Madrider 
Frieden  im  Zenith  seiner  Macht  stand,  aufgesetzt  worden  war.  Wa- 
ren das  die  Hoffnungen  der  Evangelischen  und  Reformfreunde,  so 
stimmten  aber  auch  die  Gegner  —  so  namentlich  der  Erzherzog  — 
dem  Gesandtscbaftsprojekt  zu,  durch  welches  sie  wenigstens  Zeit 
gewannen  und  entschieden  reformfreundlichen  Beschlüssen,  die  sonst 
vom  Reichstag  zu  erwarten  gewesen  wären,  vor  der  Hand  noch 
entgiengen. 

Da  war  denn  nun  aber  noch  eins  zu  bedenken:  wie  sollte  es 
nämlich  für  die  nächste  Zeit  —  d.  h.  bis  eine  Entscheidung  auf 
dem  Wege  des  Concils  oder  wie  immer  erfolge  —  im  Reiche  hin- 
sichtlich des  Wormser  Edikts  gehalten  werden?  Die  Evangelischeil 
drangen  darauf,  daß  das  Edikt  solange  außer  Kraft  gesetzt  würde; 
aber  das  war,  zumal  mit  Rücksicht  auf  den  Kaiser,  nicht  durchzu- 
setzen. Man  mußte  ein  Kompromis  eingehn,  welches  seinen  Aus- 
druck in  der  Formel  fand,  es  solle  jeder  Stand  in  Bezug  auf  das 
Wormser  Edikt  sich  so  halten  und  so  regieren,  wie  er  es  vor  Gott 
und  dem  Kaiser  zu  verantworten  sich  getraue.  Verf.  ist  dem  Ur- 
sprung dieser  berühmten  Formel  nachgegangen  und  hat  dieselbe 
zuerst  bei  den  Kurfürsten  gefunden.  Als  man  diese  von  jener  Spe- 
cialweisung des  Kaisers  benachrichtigte,  welche  jede  Aenderung  des 
Herkommens  in  den  kirehlichen  Dingen  streng    untersagte ,   aatwor* 


Friedensburg,  Der  Beichstag  zu  Speier  1526.  965 

teten  sie  dem  Erzherzog:  gegenwärtig  werde  über  die  kirchliche 
Frage  bei  ihnen  nicht  verhandelt;  wenn  sie  aber  an  dieselbe  heran- 
treten würden,  so  würden  sie,  der  kaiserlichen  Weisung  eingedenk, 
sich  so  verbalten,  wie  sie  es  vor  Gott,  dem  Kaiser  und  dem  Reiche 
würden  verantworten  können.  Die  Formel  erscheint  also  hier  be- 
reits in  engster  Beziehnng  zu  dem  Verbot  des  Kaisers ,  kirchliche 
Neuerungen  einzuführen.  Und  das  gleiche  gilt  von  der  entsprechen- 
den Formel,  welche  sich  im  Reichsabschiede  und  in  der  Instruktion, 
die  man  für  die  Gesandtschaft  an  den  Kaiser  aufsetzte,  voi*findet. 
Es  ist  nicht  eben  eine  bündige  Zusicherung  strikten  Gehormsams 
gegen  den  Befehl  des  Kaisers;  dazu  waren  in  diesem  entscheiden- 
den Punkte  die  Evangelischen,  deren  ganze  Stellung  dadurch  negiert 
worden  wäre,  nicht  zu  bewegen ;  aber  die  denkbar  weiteste  Annähe- 
rnng  an  den  Willen  des  Kaisers,  die  möglichste  Rücksichtnahme  auf 
den  so  bestimmt  ausgesprochenen  Befehl  des  Herrschers  wird  doch 
in  jener  Formel  verheißen.  Dazu  kommt  nun  aber  noch,  daß  es  sich 
bier  ja  nur  um  ganz  provisorische  Aufstellungen  handelte.  Nach 
Lage  der  Umstände  konnte  man  nicht  entfernt  daran  denken,  in  den 
beregten  Worten  etwas  Dauerndes  statuieren  zu  wollen.  Jede  defi- 
nitive Ordnung  auf  dem  kirchlichen  Gebiet  mußte  —  das  war  seit 
der  Kundwerdung  der  kaiserlichen  fSpecialweisung  die  Ansicht  aller 
Stände  —  vorbehalten  bleiben. 

Aus  alledem  erhellt  bereits  zur  Genüge,  wie  jene  Auffassung 
gänzlich  in  der  Luft  steht,  welche  von  dem  Speierer  Reichsabschied 
ein  Reformationsrecht  der  Evangelischen  datiert  oder  daraus  irgend- 
welche positive  oder  principielle  Zugeständnisse  für  dieselben  ableitet 
Auch  nicht  einmal  provisorische  Duldung  wurde  den  Evangelischen 
gewährt  —  wenigstens  nicht  ausdrücklich  und  nicht  weiter,  als  daß 
man  nicht  darauf  bestand,  daß,  wo  Reformen  bereits  vorgenommen 
wären,  dieselben  rückgängig  gemacht  würden.  Im  wesentlichen  hatte 
man  den  Neuerern  in  den  fraglichen  Worten  des  Reichstagsab- 
schiedes nur  so  zu  sagen  eine  Hinterthür  geöffnet;  man  hatte  sie  in 
die  Lage  gebracht,  sich  allenfalls  darauf  berufen  zu  dürfen,  daß  sie  es 
▼or  Gott,  vor  ihrem  Gewissen  nicht  verantworten  könnten,  das  Worm- 
ser  Edikt  nach  seinem  Wortlaut  auszuführen;  aber  weiter  zu  gehn, 
positive  Neuerungen  im  Kirchenwesen  vorzunehmen,  gestattete  ihnen 
das  in  Speier  abgeschlossene  Kompromis  nicht  nur  nicht,  sondern 
dasselbe  verbot  es  ihnen  sogar;  denn  ein  solches  Vorgehn  wäre 
offenbar  vor  dem  Kaiser  nicht  zu  verantworten  gewesen.  Aber  auch 
im  übrigen  setzt  der  Speierer  Abschied  die  Erhaltung  der  Integrität 
der  katholischen  Kirche  voraus;  in  ihm  wird  ausdrücklieb  erwähnt, 
daß  der  Kaiser  jede  Aendernng  in  den  kirchlichen  Dingen  untersagt 


966  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  25. 

habe,  and  zum  Ueberflaß    werden  auch    noch    deni  Klerus  alle  seiue 
Rechte  und  Befugoisse  gewährleistet. 

An  der  vorstehenden,  aus  den  begleitenden  Umständen  and  der 
Geschichte  der  Reichstagsverhandlungen  gewonnenen  Auffassnng  des 
Keichsabschiedes  vom  27.  August  1526  kann  nun  aber  offenbar  der 
Umstand,  daß  die  Protestanten  im  Jahre  1529  versucht  haben ,  aas 
jenen  Worten  eine  gewisse  Berechtigung  für  die  von  ihnen  einge- 
führten Neuerungen  herzuleiten,  eben  so  wenig  irre  machen  wie  die 
Thatsache,  daß  Philipp  von  Hessen  schon  im  Oktober  1526  sein 
Land  in  aller  Form  zur  evangelischen  Lehre  hinübcrgeftlhrt  bat. 
Das  erstere  erklärt  sich  einfach  daraus,  daß  im  Jahre  1529  die  Aos- 
sichten  für  die  Evangelischen  —  wenigstens  vor  dem  Forum  des 
Reichs  —  sich  so  ungünstig  gestaltet  hatten,  daß  der  Wortlaut  des 
Abschiedes  von  1526  ihnen  immerhin  noch  den  festesten  Rückhalt 
gegen  die  sie  bedrohenden  Gewalten  zu  gewähren  schien.  Und 
wenn  Landgraf  Philipp  schon  zwei  Monate  nach  der  Abfassung  des 
Speierer  Reichsabschiedes  sich  samt  seiner  Herrschaft  der  Reforma- 
tion zugewandt,  so  hat  er  das  eben  nicht  auf  Grund ,  sondern  trotz 
dieses  nämlichen  Abschiedes  gethan. 

Freilich  hat  nun  Philipps  Handlungsweise  nicht  wenig  daza  bei- 
getragen, die  Beschlüsse  des  Speierer  Reichstages  illusorisch  zu  ma- 
chen. Schon  von  vornherein  mußte  es  sehr  fraglich  erscheinen,  ob 
dieselben  ausführbar  seien,  d.  h.  ob  es  gelingen  werde,  die  evange- 
lische Bewegung  auch  nur  vorläufig  zum  Stillstand  zu  bringen.  Für 
eine  ganz  kurze  Zeit  wäre  das  vielleicht  möglich  gewesen,  aber  dodi 
auch  für  eine  solche  höchstens  unter  der  Voraussetzung,  daß  alle 
Obrigkeiten  und  maßgebenden  Potenzen  aufs  eifrigste  bemüht  ge- 
wesen wären,  den  Speierer  Festsetzungen  nachzukommen.  Aber  dem 
war,  wie  wir  eben  sahen,  durchaus  nicht  so;  einer  der  angesehen- 
sten und  mächtigsten  unter  den  evangelischen  Fürsten  setzte  sieh 
alsbald  über  das  Speierer  Kompromis  hinweg.  Noch  mehr  aber  hatte 
es  zu  sagen,  daß  von  den  in  Betracht  kommenden  höchsten  Gewalten, 
zumal  dem  Kaiser,  Jahre  lang  auch  nicht  die  geringste  Anstalt  gemacht 
wurde,  das  Provisorium  des  Reichsabschiedes  durch  ein  Definitivam  zn 
ersetzen,  d.  h.  ein  allgemeines  Eoncil  oder  eine  freie  Yersammlang  der 
deutschen  Nation  zur  Entscheidung  des  kirchlich-religiösen  Zwiespalts 
zu  Wege  zu  bringen.  Ebenso  wenig  zeigte  sich  der  Kaiser  persönlich 
geneigt,  vermittelnden  Tendenzen  das  Feld  zu  lassen:  seine  Haltang 
den  Evangelischen  gegenüber  ward  nur  immer  schroffer.  Da  war 
denn  das  Speierer  Kompromis  von  1526  nicht  haltbar;  anf  allen 
Punkten  flutete  die  evangelische  Bewegung  darüber  hinweg,  nnd 
wenn  man  sich  noch  auf  die  besprochene  Wendung  des  Abschiedes  be* 


Jacob,  Der  Berustein  bei  den  Arabern  des  Mittelalters.  967 

rief)  so  geschab  es  jetzt  allerdings  iu  dem  Sinne,  daß  man  erklärte,  es 
vor  Gott  nicht  verantworten  zu  können,  die  in  die  Kirche  eingerissenen 
Misbräuche  und  die  Entstellung  und  Hintansetzung  der  göttlichen 
Weisungen  noch  länger  zu  dulden.  Das  war  denn  aber  etwas  ganz 
anderes,  als  was  man  ursprünglich  unter  jener  Formel  verstand. 

So  ist  der  Speierer  Reichstag  von  1526  und  der  Abschied  vom 
27.  August  zwar  eine  bedeutsame  Etappe  der  kirchlichen  Entwick- 
lung Deutschlands  in  jener  entscheidungsvollen  Epoche,  und  in  man- 
cher Beziehung  ein  Schritt  vorwärts  auf  dem  Wege,  der,  hauptsäch- 
lich in  Folge  des  starren  Festhaltens  des  Kaisers  an  der  alten  Kirche, 
zur  unwiderruflichen  Qlaubensspaltung  unseres  Vaterlandes  führen 
mußte,  gewesen,  aber  die  rechtliche  Existenz  des  Protestantismus  be- 
ruht auf  ihm  in  keiner  Weise. 

Göttingen.  Walter  Friedensburg. 


I.  Jacob,  Georg,  Der  Bernstein  bei  den  Arabern  des  Mittel- 
alters.    Berlin  1886.     12  S.    8^    [Nicht  im  Handel]. 

IL  Jacob,  Georg,  Welche  Handelsartikel  bezogen  die  Araber 
des  Mittelalters  aus  den  nordisch-baltischen  Ländern? 
Leipzig,  Georg  Bdhme  1886.    42  S.    8^    M.  1.20. 

IIL  Jacob,  Georg,  Der  nordisch-baltische  Handel  der  Araber 
im  Mittelalter.    Leipzig,  Georg  Böhme  1887.     163  S.    Q^     M.  4. 

Die  dritte  und  umfangreichste  der  hier  zu  besprechenden  Schrif- 
ten —  die  ich  im  Folgenden  einfach  mit  den  Ziffern  I.  IL  III.  be- 
zeichnen will  —  ist  im  Januarhefte  1887  der  »Oester reichischen  Mo- 
natsschrift für  den  Oriente  von  Herrn  R.  v.  Scala  ziemlich  ungUn- 
8tig  beurteilt  worden.  Obwohl  aber  seine  Ausstellungen  an  sich 
nicht  der  Begründung  entbehren,  scheinen  sie  mir  doch  geeignet, 
einen  unrichtigen  Eindruck  von  Jacobs  Arbeit  im  Oanzen  hervorzu- 
bringen. Es  tritt  neben  ihnen  die  Anerkennung  des  trotzdem  Ge- 
leisteten ziemlich  zurück ;  c^est  le  ton  qui  fait  la  musiqt4e,  und  ich 
glaube,  der  Kritiker  hat  Lessings  Mahnung,  »gelinde  und  schmei- 
chelnd« dem  Anfänger  zu  begegnen,  wohl  nicht  ganz  mit  Recht 
anßer  Acht  gelassen.  Nicht  ganz  mit  Recht,  da  ich  in  Jacob  eine 
Kraft  zu  erkennen  meine,  der  wir  auf  dem  besonders  von  den  deut- 
schen Orientalisten  allzulange  vernachlässigten  Gebiete  der  Realien 
bedeutende  Leistungen  hoffentlich  verdanken  werden,  und  die  bei 
ihrer  ersten,  doch  auch  nicht  geradezu  misinngenen  Aeußerung  gänz- 
lich zu  entmutigen  kaum  wohlgethan  sein  dürfte.  Jacob  ist  ein 
t  tichtiger  Arabist,  er  bat  die  arabischen  Geographen  nach  den  Ge- 
sichtspunkten, welcbe  die  Titel  seiner  Schriften  andeuten,  mit  großem 


968  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  26. 

Fleiße,  anerkennenswerter  Genauigkeit  und  vollem  Verständnisse 
durcbgearbeitety  mancherlei  Stoffe  aas  einer  großen  Zahl  von  an- 
dern, auch  abendländischen  Quellen  herbeigeschafft ,  und  unsere 
Kenntnis  an  vielen  Punkten  über  das  hinaus  gefördert,  was  in  den 
betreffenden  Teilen  der  Einleitung  zn  Heyds  bertlhmtem  Werke  ge- 
geben ist.  Ich  werde  versuchen,  diesen  Ergebnissen  gerecht  za  wer- 
den, ohne  deshalb  die  vorhandenen  Mängel  zu  beschönigen. 

Wenig  treten  die  letzteren  in  I  und  II  hervor.  I  ist  eine  mit 
großer  Sauberkeit  und  gutem  Urteile  ausgeführte  Studie,  der  wir  den 
Nachweis  verdanken,  daß  unter  ..Uc  immer  nur  ambre  gris  za  ver- 
stehn  ist,  nie  ambre  jaune^  daß  auch  yM^.OüuM  nicht  Bernstein,  son- 
dern bernsteinähnliches  Harz  bedeutet,  daß  der  wirkliche  Bernstein 
lediglich  der  L  vl^  ist,  welcher  allerdings  aus  dem  heutigen  Railand 
auf  den  bekannten  nördlichen  Handelsstraßen  nach  dem  Orient  ein* 
geführt  wurde,  aber  lange  nicht  in  solchen  Massen,  als  bisher,  nach 
noch  von  Heyd,  angenommen  worden  ist.  —  In  II  werden  die  ein- 
zelnen Handelsartikel :  Sklaven  und  Sklavinnen,  Vieh,  Pelze,  Leder, 
Fischprodukte,  Honig  und  Wachs,  Produkte  aus  dem  Pflanzenreicbei 
Bernstein,  Mineralien,  industrielle  Erzengnisse  der  Reihe  nach  durch- 
gegangen, dabei  überall  die  Originalstellen  der  arabischen  Geogra- 
phen angeführt  und  geprüft,  manches  Neue  daraus  gewonnen.  Be- 
sonders wertvoll  ist  der  Abschnitt  über  die  Pelztiere :  der  Verf.  zeigt 
sich  auch  über  die  zoologische  Seite  des  Gegenstandes  wohl  unter- 
richtet, und  vermag  zum  ersten  Male  über  schwarze  und  rote  Ffichse, 
über  den  von  ihm  als  Wiesel  bestimmten  tit5U9,    den    nicht  genau  zu 

identificierenden ^IS  oder  /^^,  den  Biber  (von  Frähn  in  (j^j^JOd \^j»syjj^ 

oder  yXiÄ^   von  Jacob  in  i^  erkannt)  u.  s.  w.   wirklich  Genügendes 

darzubieten.  Nachträge  zu  dieser  Arbeit  finden  sich  noch  III,  127  ff.; 
es  liegt  in  der  Natur  der  Sache,  daß  jede  weitere  Lektüre  hier  Er- 
gänzungen mit  sich  bringt,  und  man  darf  solche  besonders  noeh  aus 
gelegentlichen  Angaben  historischer  Schriftsteller  ^)  erwarten  —  aber 
es  ist  durchaus  anzuerkennen,  daß  Jacobs  Material  so  umfangreich 
und  so  gut  verarbeitet  ist,  wie  man  im  Augenblicke  nur  verlangen 
kann.  Dasselbe  gilt  von  III  nur  zum  Teile.  Das  Baeh  handelt  in 
einer  Einleitung  S.  7—17  vom  Handel  als  Kütturträger  im  Auge- 
meinen  und  Speeidlen^  S.  17—28  über  die  Enttoichlung  des  nordisck- 

1)  Solche  werden,  beil&nfig,  auch  über  den  Handel  zwischen  Nordafrika, 
Spanien  und  Sicilien  einerseits  und  den  Christenstaaten  andererseits,  bei  gehöri- 
ger Ausnutzung,  noch  mehr  Licht  verbreiten,  als  J.  in  III  zu  bieten  vermag, 
vgl.  unten  S.  972.  Eine  gelegentliche  Notiz,  die  den  Verf.  interessieren  kann, 
findet  sich  Ihn  Abi  Useibfa  I,  136,  17. 


Jacob,  Der  nordiscb-baltische  Handel  der  Araber  im  Mittelalter.        969 

baltischen  Handels  der  Araber  hinsichtUch  ihrer  Faktoren.  Dann  folgt 
S.  29—71  ÄbsGhnüt  1:  Die  Münzfunde  {Verbreitung  der  Münzfunde^ 
Heimat  und  Älter  des  Geldes^  dann  nach  Erörterang  einiger  Neben- 
fragen  Nachprägungen  oder  Barbarenmüneen^  unter  ihnen  ein  Inedi- 
tum  aas  Danzig  mit  Abbildung);  derselbe  schließt  mit  dem  Hinweise, 
daß  ans  den  MUnzfunden  allein  ein  richtiges  Bild  des  nordisch-bal- 
tischen Handels  der  Araber  nicht  entworfen  werden  kann,  and  leitet 
somit  von  selbst  über  za  Abschnitt  2:  Handelsvölker  und  -wege. 
Charakteristik  des  Handels  (S.  72 — 125).  Hier  werden  die  Jaden, 
Chazaren,  Rfls,  Normannen  nach  ihrem  Anteil  an  der  Handelsthätig- 
keit  charakterisiert;  dann  Ausgangspunkt  und  Wege  des  Verkehrs 
studiert,  wobei  von  den  Völkern  zweiten  Ranges  noch  die  Burtäs, 
Wolgabulgaren,  Slaven,  das  »Land  Wisuc,  Sibirien  und  der  balti- 
sche Norden  zu  ihrem  Rechte  kommen;  eine  Art  Anhang  bildet  die 
Besprechung  der  Handelsstraßen  des  Westens,  die  eigent- 
lich dem  Thema  des  Buches  fremd  ist,  doch  durch  die  Absicht  moti- 
viert werden  kann,  die  äußeren  Grenzen  des  nordisch-baltischen  Han- 
dels genauer  festzustellen;  der  Schluß  dieses  Kapitels,  welcher  die 
Möglichkeit  eines  Ettstenhandels  zwischen  Spanien  und  der  Ostsee 
untersucht,  war  jedenfalls  in  solchem  Sinne  notwendig.  Endlich 
wird  noch  die  Frage,  wie  weit  nun  die  muslimischen  Kaufleute  auf 
ihren  Reisen  in  die  Länder  des  Nordens  vordrangen,  zu  beantworten 
versucht.  Abschnitt  3:  Handelsartikel  gibt  in  dem  Kapitel  Export 
Ergänzungen  zu  11^  in  dem  Kapitel  Import  eine  Zusammenstellung 
orientalischer  Erzeugnisse,  die  nachweislich  bis  zu  den  Gestaden  des 
baltischen  Meeres  gewandert  sind;  dabei  wird  freilich,  besonders  wo 
die  Lehnworte  (Atlas,  Damast  u.  s.  w.)  als  Zeugnisse  benutzt  wer- 
den, nicht  gehörig  unterschieden  zwischen  dem  eigentlich  nordisch- 
baltischen  Handel  und  dem,  welcher  seinen  Weg  ttber  das  Mittel- 
meer nahm. 

In  fast  allen  Abschnitten  auch  dieser  Schrift  finden  sich  neue 
Mitteilungen  aus  arabischen,  häufig  auch  aus  christlich-abendländi- 
schen, nicht  immer  leicht  zugänglichen  Quellen,  sowie  Bemerkungen 
und  Darlegungen  des  Verf.  selbst,  die  von  großem  Werte  sind,  oder 
doch  das  Interesse  des  Lesers  beanspruchen.  Wenn  trotzdem  man 
nicht  den  Eindruck  erhält,  daß  Jacob  hier  seinen  Vorwurf  vollkom- 
men bewältigt  und  die  Untersuchung  zu  einem  vorläufigen  Abschlüsse 
gebracht  habe,  so  hat  das  zwei  Grttnde:  einmal,  daß  der  von  ihm 
mit  außerordentlichem  Fleiße  aus  einer  umfangreichen  Lektüre  ge- 
wonnene Stofi^  doch  noch  nicht  ttberall  den  Rahmen  ausfüllt,  welchen 
das  Thema  des  Buches  vorzeichnet,  dann  aber,  daß  er  es  versäumt 
hat,  zwischen  den  verschiedenen  Ländern,    Völkern  und  Zeiten  rein- 

CN^ti  pl.  Aas.  1887.  Nr.  25.  67 


970  öött.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  25. 

lieb  zu  scheiden  and  in  die  geschichtlichen  Verhältnisse  der  einzel- 
nen tiefer  einzudringen.  Beide  Mängel  haben  ihren  Grand  darin, 
daß  er  nicht  in  gleicher  oder  doch  annähernder  Weise,  wie  die  geo- 
graphische,  so  auch  die  historische  Litteratar  der  Araber  beherrscht, 
and  in  der  Geschichte  des  mittelalterlichen  Orientes  nicht  darchweg 
za  Hause  ist.  Nun  ist  das  ja  freilich  von  einem  jttngeren  Gelehrten 
gar  nicht  zu  verlangen.  Wer  die  sämtlichen  bisher  gedrackten  ara- 
bischen Historiker  auch  nur  flüchtig  einmal  hintereinander  darebl^en 
wollte,  könnte  sich  ruhig  für  ein  Lustrum  an  seinen  Stadiertiseh 
festschrauben,  und  wie  schwer  es  ist,  aus  dem  zerstreuten  Material 
einen  einigermaßen  genügenden  Ueberblick  über  die  ganze  Geschichte 
des  Orientes  im  Mittelalter  sich  zu  verschaffen,  weiß  ich  aus  eigner 
Erfahrung,  nachdem  ich  in  meinem  »Islamc  den  Versuch  gemacht 
habe,  lediglich  im  Großen  und  Ganzen  den  Stand  unseres  Wissens 
auf  diesem  Gebiete  darzustellen.  Unter  solchen  Umständen  hätte 
Jacob,  wenn  er  sich  nicht  dahin  bescheiden  wollte,  nach  dena  Bei- 
spiele Heyds  in  jahrzehntelanger,  entsagungsvoller  Arbeit  das  orien* 
talistische  Gegenstück  zu  dem  Musterwerke  dieses  Gelehrten  zu 
schaffen,  sich  beschränken  sollen,  vorläufig  in  der  Weise,  die  in  I 
und  II  ihm  zu  so  vortrefflichen  Ergebnissen  verhelfen  hatte,  weiter 
zu  arbeiten  und  in  einzelnen  Monographien  das  allmählich  za  ^- 
schöpfen,  was  er  nun  häufig  nur  an  der  Oberfläche  gestreift  hat 
Es  ist  unnötig,  hier  auf  die  Mängel  ausführlich  einzugehn,  die  Herr 
V.  Scala  bereits  ziemlich  scharf  gerügt  hat  —  insbesondere  die 
Schwächen  in  der  Behandlung  der  Lehnworte  und  die  Unznlänglich- 
keit  des  numismatischen  Teiles,  dessen  erschöpfendes  Stadiam,  sollte 
das  Buch  einmal  seinem  Titel  voll  genügen,  nicht  mit  den  Bemer- 
kungen S.  31  f.  abgelehnt  werden  durfte:  es  macht  doch  einen  et- 
was störenden  Eindruck,  wenn  z.  B.  in  den  Litteraturangaben  Ober 
die  Münzfunde  in  Ostpreußen  und  Pommern  außer  Nennang  von 
ein  paar  Aufsätzen  von  Nessel  mann  und  (unverdienter  Weise)  mir 
jeder  Hinweis  auf  die  reichen  Materialien  fehlt,  welche  in  den  ver* 
schiedenen  Serien  der  jetzigen  »Altpreußischen  Monatsschriflc  and 
in  den  »Baltischen  Studien«  vergraben  liegen,  und  wenn  es  S.  35 
trocken  heißt  »Mecklenburg  dürfte  Pommern  an  Mttnzfanden  nicht 
erheblich  nachstehen«  —  wo  doch  mindestens  auf  Frähns  Notiz  im 
Bulletin  scientifique  X,  91  und  auf  die  zahlreichen  Fondnotisen 
u.  s.  w.  in  den  Jahrbüchern  und  Jahresberichten  des  Vereins  f&r 
mecklenburgische  Geschichte  hinzuweisen  war.  Ebenso  bedaaerlich 
ist  aber  der  andere  Mangel,  der  es  verschuldet,  wenn  J.,  an  zahl- 
reichen Stellen  genötigt,  sich  über  historische  Verhältnisse  aosza- 
sprechen,   nicht  aus   voller  Beherrschung  des  Materiales  urteilt  and 


Jacob,  Der  nordisch-baltische  Handel  der  Araber  im  Mittelalter.        971 

daher  Dinge  zusammenwirft,  die  genaa  zu  trennen  waren,  and  von 
bekannten  Einzelheiten  aus  durch  unrichtiges  Generalisieren  zu 
gänzlich  schiefen  oder  gar  falschen  Sätzen  gelangt.  Das  Schlimmste 
in  ersterer  Beziehung  ist,  daß  ihm  die  ganze  Bevölkerung  des  Cba- 
lifates  einfach  »die  Araber«  sind,  und  er  nun  fortwährend  mit  die- 
sem Begriffe  operiert,  ganz  gleich,  ob  die  Araber  der  vorislamiscben 
Zeit,  die  Bewohner  Siciliens  und  Spaniens,  die  Irakier  der  Abba- 
sidenzeit  oder  die  persischen  Unterthanen  der  Samaniden  in  Frage 
kommen.  Das  Richtige  ist  ihm  hier,  wie  die  Bemerkungen  S.  121 
zeigen,  nicht  geradezu  unbekannt;  er  zeigt  auch  S.  20  das  ebenfalls 
richtige,  wenn  auch  dunkle  Gefühl,  daß  man  den  Handel  der  Ost- 
Jänder  bis  in  die  Sasanidenzeit  zurttckzuverfoigen  hat,  aber  er  be- 
ruhigt sein  Gewissen  auf  Grund  einer  allzu  weitgehenden  Vorstel- 
lung von  der  »Arabisierung  der  unterworfenen  Völker«  S.  21  f.  mit 
einigen  Sätzen  allgemeinen  Inhalts,  welche  den  historischen  That- 
sachen  durchaus  nicht  entsprechen:  ich  will  hier  nur  daran  erinnern, 
daß  nach  Bel&dhorts  Ans&b  zu  Alts  Zeiten  auf  dem  Markte  zu  Kufa 
persisch  gesprochen  wurde,  daß  am  Hofe  des  Mansfir  das  Persische 
dem  Arabischen  gleichberechtigt  war  (Ibn  Abi  Us.  I,  152),  daß  T&hir, 
wie  seine  von  Tabart  angeführten  letzten  Worte  beweisen,  im  Privat- 
leben sich  des  Persischen  bediente,  daß  Ma'amfin  sich  persisch  an- 
singen ließ  und  daß  bei  den  Samaniden,  ganz  abgesehen  von  der 
Hoflitteratur,  auch  die  Kanzleisprache  persisch  gewesen  zu  sein 
scheint').  Es  ist  also  unzulässig,  die  Rolle  der  Araber  im  östlichen 
Handel  weiter  anszudehnen,  als  auf  die  von  ihnen  bewirkte  Schaf- 
fung eines  einheitlichen  Staatswesens,  das  aber  seinerseits  zur  Zeit 
der  Samaniden,  auf  die  es  hier  hauptsächlich  ankommt,  bereits  voll- 
ständig wieder  in  die  Brüche  gegangen  war.  Man  kann  diese  Un- 
terschiede der  Zeiten  und  Nationen  auBer  Acht  lassen,  so  lange  es 
sich  um  die  Bestimmung  von  Pelztieren  u.  s.  w.  handelt,  soll  aber 
der  ganze  muslimisch-nordische  Handel  geschildert  werden,  so  muß 
man  das  Bagdad  Haruns  und  das  Samarkand  der  Samaniden  sorg- 
fältig auseinanderhalten  und  sich  aus  historischen  Quellen  ein  Bild 
zu  machen  versuchen,  wie  die  Handelsverbindungen  da  und  dort 
sich  gestaltet  haben  können:  ob  das  gelingt,  ist  freilich  eine  andere 
Frage,  aber  die  einfache  Identifikation  der  verschiedenen  Perioden 
ist  an  sich  unzulässig.  Und  wenn  es  S.  70  f.,  bei  Anerkennung  des 
Bestehens  eines  Handels  zwischen  den  spanisch-sicilischen  Muslimen 
und  den  abendländischen  Christen  heißt:   »Der  größte  Teil  der  ara- 

1)  Denn  Machmüds  von  Gazna  Regierung  hat  sich  in  ihren  Anfängen  auch 
noch  des  Persischen  bedient;  vgl.  meinen  Islam  II,  61. 

67  • 


972  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  25. 

bischen  Fremdwörter  in  unserer  Sprache  ist  anf  dem  westliches 
Wege  dnrch  die  Länder  der  Romanen  zu  uns  gelangt  Doch  darf 
dieser  Umstand,  zu  dessen  Erklärung  man  noch  andere  Faktoren 
als  allein  den  kommerziellen  Verkehr  heranziehen  muft|  uns  nicht 
verleiten  ins  andere  Extrem  zu  yerfallen;  jedenfalls  war,  wie  ans 
den  Berichten  der  arabischen  Geographen  hervorgeht,  die  Ostiiebe 
Handelsstraße  von  größerer  Bedeutung;  den  Grund  für  diese  Er- 
scheinung haben  wir  bereits  in  dem  Gegensatze  zwischen  Christen- 
tum und  Islam  gefundene  —  so  ist  das  in  dieser  Fassung  irrefüh- 
rend; die  arabischen  Fremdwörter  sind  ins  Deutsche  zu  sehr  ver- 
schiedenen Perioden  gelangt  und  auf  sehr  verschiedenen  Weges 
dazu,  der  Gegensatz  zwischen  Christentum  und  Islam  hat  im  Zeit- 
alter Abderrachm&ns  III.  und  der  Fatimiden,  deren  Truppen  gele- 
gentlich mit  den  Byzantinern  gegen  die  Ottonen  in  Unteritalies 
fochten,  ganz  gewiß  dem  Handel  keine  solchen  Schwierigkeiten  mehr 
in  den  Weg  gelegt,  als  in  den  ersten  Jahrhunderten  des  Islams: 
und  dabei  sehe  ich  von  der  späteren  Zeit,  in  welcher  nach  den 
eigenen  Darlegungen  des  Verf.  die  Sache  sich  vollkommen  amkehrtei 
Überhaupt  ab,  um  ihm  keine  Ansiebten  zuzumuten,  die  er  selbst 
gewis  nicht  gehabt  hat.  Besonders  auffallend  ist  die  Vernachlässi- 
gung des  Unterschiedes  zwischen  den  Verhältnissen  verschiedener 
Zeiten  S.  66  f.,  wo  man  liest:  »die  langobardischen  Mttnzen,  welche 
die  Fürsten  von  Salerno  seit  Gisnlf  I.<  [reg.  933—978]  »nach  fati- 
midischem  Master  (die  demnach  auf  einen  Seeverkehr  mit  Aegypten 
hinweisen!)  mit  schiitischem  Dogma  prägten«.  Ja,  aber  Sicilies 
und  das  muslimische  Unteritalien  selbst  waren  ja  seit  916  endgUtig 
fatimidisch  und  seit  dem  Abgange  des  MoMzz  nach  Kairo  (973)  un- 
mittelbar der  ägyptischen  Centralregierung  unterstellt,  ein  lebhafter 
Seeverkehr  zwischen  Sicilien  und  Aegypten  in  dieser  Zeit  also  selbst- 
verständlich —  ganz  abgesehen  davon,  daB  er  verschiedentlich  di- 
rekt bezeugt  wird  — ,  und  welches  andere  als  das  fatimidische  Geld 
hätte  also  damals  in  Sicilien  und  Unteritalien  kursieren  sollen^)? 
Dies  leitet  uns  schon  zu  den  Fällen  tlber,  wo  J.  durch  Anfteracbt«- 
lassen  historischer  Thatsachen  zu  unrichtigem  Generalisieren  veras- 
laßt  wird.  Einen  besonders  unangenehmen  Streich  hat  ihm  in  die- 
ser Beziehung  das  bekannte  Verbot  gespielt,  welches  Omar  gegen 
das  Unternehmen  von  Seefahrten  erließ:  wiederholt  (S.  18.  118  f.) 
spricht  er  von  der  dnrch  dasselbe  gehemmten  Entwicklung  der  Nau- 
tik bei  den  Arabern,  und  an   der  zweiten  der  angef&hrten  SteUes 

1)  In  Sicilien  geprägte  Münzen,  die  sich  in  nichts  von  den  sonstigen  faüiiii- 
dischen  unterscheiden,  s.  z.  B.  im  Gatal.  of  Or.  Coins  in  the  Brit.  Mus.  VoL  IT 
Anfang  passim. 


Jacob,  Der  nordisch-baltische  Handel  der  Araber  im  Mittelalter.        973 

heiftt  es  denn :  »Täriq  konnte  •  .  .  nur  4  Schiffe  auftreiben,  nm  sein 
Heer  nach  Spanien  überzusetzen  ....  Doch  entwickelte  sich  eine 
mnhammedanische  Seemacht  eigentlich  erst  nach  der  Vertreibung 
der  Mauren  aus  Spanien,  die  nun  als  heimatlose  Eorsaren  an  den 
christlichen  Siegern  Rache  nahmen«.  So  viel  Sätze,  so  viel  Unrich- 
tigkeiten. Ueber  Tariq  will  ich  nur  auf  meinen  Islam  I,  425  ver- 
weisen, bemerkend,  da0  seit  Othmän  und  besonders  Mo*äwija  die 
Araber  im  Osten  große  Flotten  hatten;  von  der  Zeit  des  Letzteren 
ab  findet  man  im  Tabari  fast  unter  jedem  Jahre  die  Seerazzia  gegen 
die  Byzantiner  neben  dem  Landfeldzuge  erwähnt.  Vor  der  Vertrei- 
bung der  Mauren  aus  Spanien  hatten  Abderrachmän  IIL  und  seine 
Nachfolger  ebenfalls  große  Flotten  gehabt,  Mugähid  von  Denia  mit 
seinen  Eorsarenschiffen  die  Ettsten  des  halben  Mittelmeers  zur  Ver- 
zweiflung gebracht,  war  Almerta  lange  Zeit  die  erste  Handelsstadt 
des  Westens  gewesen;  und  wie  sich  Agiabiden  und  Fatimiden  mit 
ihren  Schiffen  von  Sardinien  bis  über  Kreta  hinaus  den  Christen 
furchtbar  gemacht  hatten,  steht  im  Aman  aasfUhrlich  und  danach 
auch  in  meinem  Islam  kttrzer  zu  lesen.  Diese  mangelhafte  Orien- 
tierung in  der  Geschichte  übt  auch  auf  die  Behandlung  von  Einzel- 
heiten, denen  J.  anderwärts  immer  eine  wohlthuende  Oenauigkeit 
widmet,  gelegentlich  einen  üblen  Einfloß.  Schon  II,  8  heißt  es :  »In 
Palermo  gab  es  nach  Jäqfit  ein  Slaven-  oder  Sklavenviertel,  je  nach- 
dem man  übersetzen  will;  ich  glaube  allerdings,  daß  hier  Siql&b  in 
der  Bedeutung  Bus  d.  i.  Normannen  steht«.  Minime;  was  Saqälibe 
im  ganzen  Westen  bedeutet,  wolle  der  Verf.  aus  Dozys  Histoire 
III,  59  (wo  auch  Einiges  über  Sklavenhandel)  oder  eventuell  mei- 
nem Islam  I,  611  f.;  II,  512 f.  ersehen.  Nun  passiert  es  ja  jedem, 
daß  er  ab  und  zu  derartige  Lapsus  begeht,  über  die  er  sich,  wird  er 
darauf  hingewiesen,  selber  wundert,  und  ich  würde  schon  in  dem 
Bewußtsein,  daß  ich  in  meinem  eben  mehrfach  citierten  Islam  einige 
ganz  insigne  Stupiditäten  habe  drucken  lassen.  Derartiges  gar  in 
einer  Erstlingsarbeit  sehr  begreiflich  finden:  aber  bei  J.  kommen 
diese  Dinge  doch  ein  wenig  oft  vor  —  ich  will  die  Beispiele  nicht 
häufen,  muß  aber  es  zu  meinem  Bedauern  wiederholen,  daß  vorzüg- 
lich die  allgemeinen  Sätze  und  Folgerungen,  auf  die  er  sich  ein- 
läßt, aus  solchem  Grande  nur  zu  häufig  falsch  oder  doch  schief  ge- 
raten sind.  Natürlich  werden  gerade  diese  in  populären  Abhand- 
lungen und  Kompendien  bestens  nachgeschrieben  werden,  die  zahl- 
reichen guten  Einzelerkenntnisse  dem  größeren  Publikum  ifremd  blei- 
ben. Oanz  vortrefflich  ist  es  z.  B.,  daß  wir  durch  J.  (schon  I,  12; 
dann  III,  90)  auf  die  Stelle  Ja^^übts  aufmerksam  werden ,  wonach 
Sevilla  im  J.  229  d.  H.  (844)  durch  Bus  geplündert  worden  ist:  es 


974  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  25. 

soll  in  der  That  Stasow  nnd  andern  rassischen  Qermanophoben 
schwer  werden  zu  behaupten,  daß  auch  dies  Finnen  gewesen  sind. 
Ich  ziehe  absichtlich  keine  grOBere  Zahl  solcher  gaten  nnd  richtig 
verwerteten  Fnnde  ans:  J.s  Arbeiten  müssen  von  denen,  die  sie  an- 
gehn,  selbst  gelesen  werden.  Allerdings  ist,  abgesehen  von  dem  bis- 
her Gesagten,  noch  Einiges  andere  für  die  Lesung  störend.  Man 
hat  den  Eindruck,  als  ob  der  Verf.,  der  sich  mit  rühmlicher  Energie 
in  den  Stoff  hineingearbeitet  und  auch  alle  Detailfragen  mit  ein- 
dringender, doch  besonnener  Kritik  zu  behandeln  yerstanden  hat, 
sei  es  durch  irgend  welche  äußere  Verhältnisse  (über  die  ich  nichts 
weiß),  sei  es  durch  jene  begreifliche  Ungeduld,  die  von  langer  und 
mühsamer  Arbeit  endlich  die  Früchte  einheimsen  will,  das  Nieder- 
schreiben und  den  Druck  insbesondere  von  III  zu  überhasten  yer- 
leitet  worden  ist.  Der  Stil  ist,  obwohl  J.  schreiben  kann,  öfter 
nachlässig,  der  Ausdruck  nicht  immer  glücklich.  Häufig  finden  sich 
Nebenbemerkungen,  die  der  Verf.  bei  genauerer  Ueberlegung  wohl 
als  überflüssig  selbst  getilgt  haben  würde:  z.  B.  die  Anmerkung  *) 
zu  II,  32;  III,  24;  ferner  III,  17  Anm.;  18  Anm.;  >Fez  eig.  F&sc 
S.  47 ;  59  Anm.  (als  ob  nicht  auch  z.  B.  in  Deutschland  Münzen  als 
Schmuck  getragen  würden);  74  Anm.  *);  76  den  Satz  überWttsten- 
felds  Schriften;  77  die  Gegenüberstellung  der  französischen  Ueber- 
setzuug  von  Heyd's  Levantehandel  und  des  »deutschen  Originalst 
(woraus  niemand  entnehmen  würde,  daß  auch  die  Verbesserungen 
der  ersteren  meistens  Heyd  selbst  verdankt  werden);  78  Anm.;  85 
Anm.  ***) ;  100  Anm.  *) ;  179  Anm.  und  vor  Allem  die  Notiz  S.  126 
»V.  Kremer  (Oesterr.  Handelsminister,  ausgez.  Arabist)«,  welche 
dem  Leser  zuzutrauen  scheint,  daß  er  einen  unserer  ersten  Gelehrten 
nicht  kenne,  außerdem  nicht  einmal  richtig  ist,  da  Baron  Kremer 
zum  Heile  unserer  Wissenschaft  und  zur  Ehre  seines  deutschen  Na- 
mens bei  einer  bekannten  Veranlassung  sein  hohes  Amt  in  die  Hände 
seines  Monarchen  zurückgegeben  hat.  Auch  Belehrungen,  wie  die 
über  die  verschiedenen  Serien  des  Bulletin  der  Petersburger  Akade* 
mie  (S.  43)  kann  jeder  entbehren,  der  selbst  wissenschaftlich  arbei- 
tet, und  für  Andere  sind  sie  erst  recht  überflüssig.  Dem  entspre- 
chen mancherlei  sachliche  Nachlässigkeiten,  die  mit  der  auf  des 
Verf.  wirklichem  Gebiete  ihm  eigenen  Genauigkeit  in  merkwfirdigeffl 
Widerspruche  stehn.  III,  91  legt  er  dem  Autor  des  Fihrist  xnr 
Last,  was  jedenfalls  nur  Schuld  der  Schreiber  ist;  99  findet  sich  die 
schreckliche  Anmerkung  ***)  zu  Tadschik:  »Iranischer  Volksstamm« ; 
118  der  nicht  weniger  schreckliche  Satz,  daß  »aus  dem  indischen 
Brahmanen  Sidipati  in  der  arabischen  Form  des  Märchens  Sindbad 
al-Bahrt  geworden«  —  NB.  als  Siddhapati  ^^Meister  der  2!mbar€r 


Jacob,  Der  nordisch-baltische  Haadel  der  Araber  im  Mittelalter.       975 

oder  Weisen^  hat  Benfej  (Bnlletin  hist-pbil.  1857,  ^  Sept.  = 
Mil.  as.  Ill,  188)  deD  Namen  Sindbad  erklärt,  nach  welchem  das 
sonst  nnter  dem  Namen  der  »Sieben  Wezire«  bekannte,  wie  alle 
diese  Erzählungen  aus  buddhistischen  Kreisen  stammende  »Bach 
Sindbade  heißt,  das  mit  dem  »Sindbäd  al-Bahric  lediglich  dnrch 
eine  vermutlich  nur  zufällige,  möglicherweise  erst  auf  islamischem 
Boden  erwachsene  Namensähnlichkeit  verknüpfl;  ist.  S.  135  thnt 
mir  J.,  dem  ich  sonst  für  seine  sehr  freundliche  Haltung  meinen 
qualibuscunque  Arbeiten  gegenüber  zu  danken  habe,  Unrecht,  wenn 
er  implicite  sagt,  ich  habe  in  Bezzenbergers  Beiträgen  I,  294  das 
Wort  »Weine  fUr  semitisch  erklärt.  Allerdings  ist  seine  Angabe 
von  mir  durch  einen  Stilfehler  zu  Anfang  des  betreffenden  Passus 
verschuldet;  aber  8  Zeilen  weiter  sage  ich  ausdrücklich  »Es  ist  also 
jedenfalls  an  einer  indogermanischen  Etymologie  festzuhalten c.  — 
In  den  gleichen  Zusammenhang  gehört  die  große  Anzahl  von  Druck- 
d.  h.  nach  Fleischers  vortrefflicher  Definition  Schreib-  oder  Eor- 
rekturfehlern  —  da  haben  wir,  zum  Teil  mit  unangenehmer  Häufig- 
keit, tafarisch,  Littauen  und  lühauisch^  Ethymologie,  einmal  (II,  11) 
^Arün  statt  Harun,  und  kleinerer  Korrekturfehler  gar  viele,  z.  B. 
III,  34  binnen  8  Zeilen  Ermann  statt  Erman,  Canite  statt  Carnitz 
und  Witenitz  statt  Witzmita  (zu  letzterem  war  Erman ,  Z.  f.  Num. 
1879,  249  f.  zu  eitleren). 

Wenn  Jacob  diese  Anzeige  liest,  wird  er  vermutlich  ausrufen 
»Gott  schütze  mich  vor  meinen  Freunden,  mit  meinen  Feinden  will 
ich  schon  selber  fertig  werden  c.  An  Letzterem  zweifle  ich  bei  sei- 
ner Begabung  und  seiner  Fähigkeit  zum  labor  improbus  keinen 
Augenblick:  mich  aber  hat  es  geärgert,  daß  diese  erste,  an  sich  be- 
deutende Ernte  gewissenhafter  Studien,  vermutlich  eben  durch  Ueber- 
bastung  des  Abschlusses,  mit  etlichem  Mutterkorn  versetzt  worden 
ist,  das  Manchen  veranlassen  kann,  auch  den  guten  Erdrusch  fort- 
zuwerfen. Und  darum  wäre  es  wahrlich  schade.  Denn  ich  wieder- 
hole es:  Viel  Treffliches  steckt  in  diesen  Arbeiten,  und  der  Verfasser 
ist  nach  Kenntnissen,  Urteil  und  Arbeitskraft  befähigt,  das  AUer- 
bervorragendste  zu  leisten.  Wer  ohne  Sünde  ist,  werfe  den  ersten 
Stein  auf  ihn ;  er  aber  gehe  hin  und  arbeite  fleißig  weiter. 

Ich  schließe  mit  den  üblichen  Einzelbemerkungen  zur  Legitima- 
tion des  Recensenten.  I,  6  kann  man  zu  m^  die  Notizen  aus  dem 
Schatze  von  Quatremires  Wissen  (Sultans  Maml.  I,  2,  133)  ver- 
gleichen. —  I,  10  und  II,  31:  Der  »wächsernec  Bernstein  ist  der 
von  feinen  weißlichen  Adern  durchzogene,  der  »Eumsteinc,  wie  man 
ihn  in  Ostpreußen  nennt,  der  auch  heute  noch  fUr  wertvoller  gilt, 
als  der  glasartige    goldgelbe.  —   11^  9:  vgl«   Fr.  Müller  in  KB. 


976  Oött.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  25. 

II,  490.  —  II,  32:  y^tJüy«  =  Eridanus  bei  Noweiri  kann  nicbt 
als  Verschreibung  ans  u^tOu^  erklärt  werden,  da  c  nie  ftlr  anlau- 
tenden Vokal  in  Transskriptiooen  ans  dem  Grieehiseb-STriaeheo 
vorkommt.    Es  ist  =  ^Juß  mit  vorn  weggefallenem  t.  —   II,  38: 

lieber  b^^mmJü)  ist  Dozy-Engelmann  jetzt  veraltet,   das  Richtige  steht 

bei  Dozy  im  Snppl^meut  aax  diet  ar.  s.  v.;  vgl.  schon  Weil, 
Gesch.  d.  Cbal.  II,  348.  Es  ist  die  hohe  persische  Mütze,  welehe 
seit  Mansfir  von  den  Cbalifen  getragen  wurde.  —  III,  99  N.  •♦): 
die  von  Gosche ,  Gbazzäl!  S.  294  gesammelten  Stellen  ermOglieheD 
doch  wohl  keine  sichere  Entscheidang  Über  die  richtige  Schreibung 
des  Namens.  —  III,  101.  104:  zu  ^y  und  ytL  ist  Fibr.  20  zn  ver- 
gleichen. —  III,  117:  die  Schreibung  Ihn  Gbillikän  scheint  mir 
durch  die  von  Lane  (Preface  XIV)  angezogene  Autorität  des  Tag 
el-*Arfis  nicht  gesichert.  Zwar  ist  das  gute  Buch  des  Seijid  Hnr- 
ta(}a,  wie  so  viele  seines  Gleichen,  bis  zum  Pregel  noch  nicht  vor- 
gedrungen, aber  ich  habe  ihn  im  Verdachte,  daß  er  nur  des  lieben 
Itb&'  wegen  auf  dem  i  bestanden  haben  wird.  Der  Mann  selbst 
schrieb  sich  jedenfalls  mit  a:  s.  das  Faksimile  seines  Autographs 
bei  Curetons  Artikel  im  Journ.  R.  A.  S.  VI,  223  ff.  —  III,  119: 
daß  Kindi  den  Ptolemaens  ins  Arabische  ttbersetzt  habe,  ist  nicht  rich- 
tig. Wenricb  sagt  es  zwar,  und  hatte  noch  ein  Recht  dazn,  denn  im 
Kiftl  steht  (Ms.  Berol.  Or.  fol.  493  f.  45^;  Wiener  Hs.  Flügel  1162  f. 
570  LAil*^  0c>^3  liXc>  tiSi  ^jMi\  i1  ^^JO^Ü»  idläj  —  wenn  es  aber 
an  der  Stelle  des  Fibrist  268,  13,  welche  der  l^iftt   hier  abschreibt, 

heißt  il,^  Jc>^^  tJs^  iüü  ^yiJt  il  s^\i  s^  Ji^j'm  ^^oüUCir  jjü 

so  sieht  man,  daß  entweder  der  Excerptor  des  Kadi's  oder  ein  Schrei- 
ber von  ^Üü  auf  ^Uü  gesprungen  ist  und  ein  Anderer  dann  i^jujüt  J£ 
in  yjfXiS^\  aUü  verändert  bat.  Kindi  hat  mehrfach  für  sich  übersetzen 
lassen^  aber  schwerlicb  selbst  übersetzt.  —  III,  147:  Richter  8,  21 
heißt  es  zwar  on'^bra  "»n^is  b:^  ^id«  d'^i^nvn,  aber  wenn  nachher  V.  26 

steht  T»  "i^^^i  r'To  ^Dbtt  by«  pÄnÄn  »^nani  nifinsm  öwn-on  pa  ^rb 

DH'^b'KUi  '^^MISl  "^fB^  tr^'SS^^  so  liegt  es  doch  nahe  anzunehmen,  daß 
an  der  ersten  Stelle  einige  Worte  ausgefallen  sind,  und  die  Halb- 
monde zum  Schmucke  der  Könige  gedient  haben,  nicht  der  Kamele 
—  trotzdem  Quatremöre  (Suit.  Maml.  I,  1,  253  zu  243)  keinen  An- 
stoß gnommen  hat. 

Königsberg,  18.  März  1887.  A.  Hfiller. 


yon  der  Linde,  Kaspar  Hauser.  977 

von  der  Linde,  Antonius,  Kaspar  Hauser.     Eine  neugeschichtliche  Le- 
gende.   2  Bände.    Wiesbaden,  Chr.  Limbarth  1887.    408  u.  416  S.    8^ 

Mit  berechtigter  SpanuuDg  wird  man  das  Werk  des  scbarfsinni- 
gen  ZerBtOrers  der  Coster-  und  anderer  Legenden  zur  Hand  nehmen, 
trotzdem  ja  die  Easpar-Hanser^Frage  von  so  vielen  Seiten  beleach- 
tet  isty  daS  man  wohl  nicht  auf  ein  zweibändiges  Werk  mit  über 
50  Druckbogen  mehr  gefaßt  war.  Und  doch,  so  vielfach  auch  eine 
ernste  Kritik  der  Prüfung  des  Lebens  dieses  »Kindes  von  Europac 
sich  zugewandt  hatte,  es  war  doch  immer  jedesmal  nur  eine  Seite 
der  Frage  in  Angriff  genommen:  bald  handelte  es  sich  um  Kritiken 
der  Abstammnngskombinationen,  bald  nur  um  die  Klarstellung  des 
früheren  Lebens  Kaspar  Hausers.  Hier  liegt  nun  ein  Werk  vor,  das 
die  ganze  Entwicklung  des  Lebens  Kaspar  Hausers  und  ^  das  ist 
ja  das  Wichtigere  —  die  der  Ansichten  und  Hypothesen  über  ihn 
mit  einer  tief  einschneidenden  Kritik  zerlegt.  Die  bisherigen  Ar- 
beiten suchten  einen  Ast  oder  auch  wohl  den  Stamm  der  Mythen- 
bildung selbst  zu  treffen,  v.  der  Linde  entwurzelt  sie,  ja  er  hat 
wohl  dabei  noch  überflüssige  Arbeit  gethan. 

Der  Kern  der  ganzen  Frage,  ob  Kaspar  Hanser  ein  Schwindler 
oder  das  Opfer  eines  Verbrechens  war,  liegt  in  der  Untersuchung 
seines  Lebens  von  seinem  ersten  Auftreten  an,  als  er  am  26.  Mai  1828  anf 
dem  Unschlittplatze  zu  Nürnberg  auf  zwei  Nürnberger  Bürger  zugieng, 
bis  zn  der  Zeit,  wo  die  gute  Stadt  Nürnberg  in  ihm  das  Opfer 
eines  »Mordes  an  der  Seelec  suchte.  Eine  sorgfältige  gerichtliche 
Prüfung  dieser  Zeit  hat  zuerst  der  Polizeirat  Merker  verlangt,  des- 
sen erfahrenes  Urteil  seine  Zeit  in  den  Wind  schlug,  und,  wenn 
auch  später  da  noch  vieles  nachgeholt  ist  —  die  erste  sorgsame 
Prüfung,  die  kein  noch  so  unscheinbares  Detail  aus  dem  Auge  läßt, 
die  alle  bisherigen  kritischen  Beobachtungen  zusammenfaßt,  sie  liegt 
uns  erst  hier  vor.  Feine  Beobachter  haben  ja  wohl  schon  die  Züge 
geistiger  und  körperlicher  Thätigkeit  gesammelt,  welche  bei  einem 
Menschen  unmöglich  sind,  der  eben  erst  aus  langjährigem  Kerker, 
wie  ihn  Kaspar  Hauser  schildert,  befreit  ist.  Aber  auch  da  sind 
noch  manche  Züge  von  v.  d.  Linde  beigebracht;  meines  Wissens  ist 
z.  B.  nie  darauf  hingewiesen,  wie  Kaspar  Hanser  den  Gebrauch  der 
Schelle  kennt.  Mit  einer  peinlichen  Sorgfalt  wird  die  Länge  des 
Weges  berechnet,  die  der  Eingekerkerte  gerichtlich  nachweisbar 
gehn  konnte;  mit  derselben  Sorgfalt  wird  sein  Anzug  Stück  für 
Stück  und  die  Sammlung  von  Andachtsbüchern  und  Gebeten,  welche 
er  meist  in  seinem  Hute  trug,  gemustert.  Letztere  weisen  nacb| 
was  anch  ans  andern  Umständen  gefolgert  wird,  daß  Kaspar  Hanser 
katholisch  war. 


978  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  25. 

Der  UmschwQDg  im  BeDehmen  Kaspar  Hausers,  von  seinem  nr- 
sprÜDglichen  AuftreteD,  wo  er  nur  seine  Heimat  verschweigen  wollte, 
Reiter  zu  werden  sich  auf  alle  Weise  bemühte,  in  das  spätere,  wo 
andere  fUr  ihn  ein  Phantasma  znsammeogedichtet  hatten,  dessen 
allmähliches  Wachstum  er  seinen  ersten  Notittgen  zu  Liebe  förderte, 
indem  er  einsah,  daß  er  bei  dem  allseitigen  Interesse,  das  man  ihm 
zuwandte,  vortrefflich  fuhr,  —  dieser  Umschwung  ist  vorwiegend  das 
Werk  von  drei  Männern,  die  mit  einem  Leichtsinn  ohne  Beispiel 
ihre  amtlichen  Eigenschaften  misbrauchten,  und  auf  deren  Konto  der 
größte  Teil  all  des  späteren  Unfuges  zu  setzen  ist.  Die  Quelle  aller 
Mythen  war  die  Bekanntmachung,  die  der  Bürgermeister  Binder  von 
Ntirnberg  am  7.  Juli  erließ.  Sie  griff  weit  in  das  Gebiet  der  gericht- 
lichen Thätigkeit  hinüber.  Wenn  auch  in  Folge  dessen  die  Auflage 
konfisciert  wurde,  so  war  ein  Teil  doch  gerettet,  nachgedruckt  und 
bald  in  alier  Welt  bekannt.  Es  ist  und  bleibt  unbegreiflich,  daß 
damals  nicht  das  Gerieht  die  Sache  zur  Hand  nahm.  Binder  hatte 
aber  seinen  Rückhalt  an  einer  andern  amtlichen  Person,  dem  Ge- 
richtsarzt Dr.  Preu,  dessen  Gutachten  wohl  einzig  in  seiner  Art  da- 
steht. Statt  sorgfältiger  Notierung  des  Befunds  aller  Abnormitäten, 
die  sich  an  Kasper  Hanser  vorfinden  mußten,  statt  Aufführung  der 
einzelnen  Beobachtungen,  welche  der  Arzt  an  ihm  gemacht,  ein  Ur* 
teil  über  sein  Vorleben !  Wo  in  aller  Welt  ist  der  Arzt  zur  Abgabe 
dessen  berufen?  War  so  die  Prüfung  kopflos  genug  angefangen, 
so  konnte  wohl  schwerlich  ein  » Erzieher c  gewonnen  werden  für 
Kaspar  Hauser,  der  weniger  für  ihn  paßte,  als  Daumer.  Mit  einem 
Gefühl  des  Entsetzens  liest  man  heute  seine  Mitteilungen  über  Kaspar 
Hauser,  anstatt  sorgfältiger,  nüchterner  Beobachtung  über  seine  gei- 
stigen und  körperlichen  Fähigkeiten  zu  geben,  behandelte  man  ihn  als 
interessantes  Objekt  für  »höhere«  Studien,  legte  Daumer  das  in  ihn 
hinein,  was  er  aus  ihm  herausfragen  wollte.  Dem  Philosophen  vom 
Schlage  Daumers  war  er  das  Kaninchen  für  seine  medicinischen  Ex- 
perimente. Einer  Zeit,  die  weniger  nüchtern  denkt,  welche  ereignis- 
armer war  als  die  unsere,  setzte  man  nun  die  Kaspar-Hauser-Fabel 
vor,  die  sie  um  so  williger  aufnahm,  als  das  psychologische  Inter- 
esse für  einen  Menschen,  dessen  Seelenleben,  gewaltsam  zurückge- 
halten, nun  auf  einmal  emporschießt,  im  breiten  Publikum  damals 
viel  größer  war,  als  es  heute  sein  würde.  Das  Gericht  hatte  sich 
nicht  um  die  Sache  gekümmert,  was  aber  sonst  amtlich  nur  irgend 
zu  der  Sache  in  Berührung  stand,  hatte  kritiklos  die  von  ihnen  selbst 
geschaffene  und  aus  Kaspar  Hauser  herausiuquirierte  Fabel  ans- 
posaunt.    Für  alle  Zeiten  ist  die  Kopflosigkeit   und   der  Unverstand 


yoD  der  Linde,  Kaspar  Hauser.  979 

der  bayrischen  Behörden    fUr   den   später  nachfolgenden  Unfug  ver- 
antwortlich. 

Dem  Nachweis  dieses  Znsammenhanges  sind  die  ersten  Kapitel 
des  von  der  Lindeschen  Baches  gewidmet,  und  unseres  Erachtens  ist 
der  Beweis,  dafi  Kaspar  Häuser  zwar  nicht  als  Schwindler  nach 
Ntlrnberg  kam,  dort  aber  ein  solcher  wurde,  mit  aller  wünschens- 
werten Sicherheit  geführt.  Jede  Kritik  gegen  den  sachlichen  Inhalt 
des  Baches  müßte  sich  gegen  diese  Kapitel  wenden. 

Einen  kleinen  Beitrag  für  die  Oberflächlichkeit  der  Urteile  Dau- 
mers,  den  man  bislang  übersehen  hat,  glaube  ich  einschalten  zu  sol- 
len. S.  73  reprodnciert  v.  d.  Linde  nach  Daumer  einen  männlichen 
Portraitkopf,  der  etwa  znr  Hälfte  vollendet:  Nase,  Mund  und  Augen 
sind  fertig  gezeichnet  und  sorgföltig  schattiert,  die  Haare  sind  auch 
wie  der  Hals  und  die  Grundlinie  des  Kopfs  angedeutet,  jedoch  nicht 
fertig  geworden.  Jeder  anbefangene  Beobachter  wird  sagen,  daß 
diese  Art  der  Schattieraug  beweist,  daß  Kaspar  Hauser  eine  Vorlage 
nachzeichnete.  Nun  höre  man  aber  Danmer:  »Im  November  des 
Jahres  1828  fand  ich  Hauser  mit  der  Zeichnung  eines  männlichen 
Kopfs  beschäftigt.  Er  sagte  mir,  dieses  Gesicht  stehe,  so  wie  er  es 
hier  abzeichne,  vor  seinen  Augen  da.  Als  ich  ihm  bemerkte,  daß 
das  eine  Auge  des  Bildes  nicht  ganz  nach  der  Richtung,  wie  das 
andere,  blicke,  so  sah  er  abwechselnd  auf  die  Zeichnung  und  dann 
nach  der  Gegend  hin,  in  welcher  der  Kopf  vor  ihm  schwebte ,  wie 
wenn  jemand  ein  Porträt  sorgfältig  mit  dem  vor  ihm  stehenden  Ori- 
ginale vergleicht.  Hierauf  sagte  er,  der  Kopf  schiele  auch  wirklich 
80,  wie  er  ihn  gezeichnet  habe.  Er  konnte  wegen  eintretender 
Augenschmerzen  das  Bild  nicht  vollenden  und  machte  erst  nach 
einiger  Zeit  unordentlich  herabhängende  Haare  an  demselben,  deren 
Zeichnung,  von  der  er  sagte,  er  habe  sie  nach  verschwundener  Vi- 
sion ans  ungewisser  Erinnerung  gemacht,  von  dem  übrigen,  besseren 
Teile  der  Zeichnung  sich  merklich  unterschied.  Die  Farbe  der 
Haare  wußte  er  nicht  mehr  zu  bestimmen.  Es  fragt  sich  indessen, 
ob  der  Kopf,  den  in  derselben  Hauser  sah  und  zeichnete,  nichts  als 
ein  Phantasiebild,  oder  ob  es  nicht  vielmehr  eine  in  Form  der  Vi- 
sion hervorspringende  Erinnerung  aas  seiner  Kindheit  gewesen. 
Letzteres  ist  das  wahrscheinlichere  c.  Nan  auch  darauf  ist  man 
hereingefallen.  Wir  meinen  aber,  jeder  nüchtern  denkende  Mann 
hätte  sich  gesagt,  so  zeichnet  man  nur  Vorlagen  nach,  das  ist  keine 
Zeichnung  nach  der  Natur,  und  hätte,  was  einem  Gymnasialprofessor 
doch  so  nahe  liegt,  um  den  Lügner  zu  ertappen,  der  ja  so  plötz- 
lich Augenschmerzen  bekommt,  --  Kaspar  Hausers  Schreipmappey 
Schublade,  ev.  Taschen  visitiert,  und,   ich  glaube,    wir  können  noch 


980  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  25. 

heute  sagcD,  was  für  ein  Porträt  Danmer  gefunden  hätte.  Denn  nn- 
yerkennbar  scheinen  mir  die  aasgeftihrten  Partien  auf  ein  Bild  von 
Schiller  hinzuweisen ,  nur  ist  die  Kopie  za  voll  und  jugendlich  aus- 
gefallen, auch  zu  breit  im  Verhältnis  zur  Höhe,  aber  das  ist  ftlr 
einen  Anfänger  im  Zeichnen  ja  bekanntlich  das  Schwerste,  die  Cha- 
rakteristiken des  Lebensalters  genau  wiederzugeben ;  jeder  Anfänger 
hat  die  Neigung  die  Porträts  zu  voll  und  jugendlich  zu  machen. 
Hätte  Kaspar  Hauser  ein  halbes  Jahr  nach  seiner  Befreiung  aus  der 
Haft  so  gut  nach  der  Natur  oder  vollends  nach  einer  Vision 
zeichnen  können,  ein  Künstler  von  ganz  herrorragender  Begabnng 
hätte  in  ihm  gesteckt. 

Aber  wir  stecken  noch  in  den  Anfängen  unseres  Werkes.  Es 
würde  hier  zu  weit  führen,  wollten  wir  den  Verfasser  auf  allen  sei- 
nen kritischen  Gängen  und  gar  auf  seine  vielfachen  Ausfälle  gegen 
dritte  und  vierte  folgen.  Jedoch  müssen  wir  wenigstens  noch  bis 
zum  Tode  Kaspar  Hausers  den  kritischen  Gang  des  Buches  im  Auge 
behalten.  In  den  Fortgang  der  Angelegenheit  ist  nun  leider  anch 
ein  Kriminalist  von  hohem  Ansehen  verwickelt  worden,  Feuerbaeh. 
So  sprunghaft  seine  Stellungnahme  ist,  die  im  richtigen  Moment 
nicht  eingreift,  um  später  um  so  unvorsichtiger  zuzufassen,  —  man 
darf  doch  eins  nicht  vergessen,  daß,  wenn  Feuerbach  zeitlebens 
schon  ein  reizbarer  Mann  war,  seine  Reizbarkeit  sich  zu  jener 
Zeit  zu  einer  Stärke  ausgebildet  hatte,  welche  man  aus  jeder  Zeile 
seiner  Sätze  herausgreifen  kann.  Dieser  Grad  der  Reizbarkeit  raubte 
ihm  die  Möglichkeit  eine  ruhige  Untersuchung  zu  führen;  in  ihm  siegte 
dieses  Mal  die  kombinierende  Phantasie  über  den  nüchternen  kri- 
tischen Verstand.  Und  welcher  Kriminalist  wäre  nicht  auch  einmal 
auf  eine  falsche  Fährte  geraten?  In  seiner  Verurteilung  ist  der 
Verf.  doch  wohl  viel  zu  hart. 

V.  d.  Lindes  Prüfung  des  weiteren  Lebens  Kaspar  Hausers,  seine 
Untersuchung  des  angeblichen  Attentats  vom  17.  Okt  1829,  wie  das 
im  Ansbacher  Hofgarten  am  14.  December  1833  sind  in  gleich  sorg- 
fältiger lückenloser  Weise,  wie  in  den  ersten  Kapiteln  geführt 
Hier  ist  das  Material  sowohl  der  Kaspar  Vertrauen  Schenkenden, 
wie  das  der  Gegner  und  Zweifler  (Hickel,  Meyer  und  am  Ende  anch 
Stanhope)  in  vortrefflicher  Weise  dem  Leser  vorgeführt  und  benutzt 

Aber  auch  mit  Kaspar  Hausers  Tode  hat  v.  d.  Linde  nicht  ab- 
geschlossen, sondern  mit  ihm  betritt  seine  Darstellung  das  Gebiet  der 
Litteraturgeschichte  —  freilich  eine  dunkle  übelbelenmdete  Seiten- 
gasse —  und  in  gewissen  Fällen  auch  das  der  Politik.  Für  den, 
der  den  Kachweis  der  ersten  Kapitel  anerkennt,  ist  es  freilieh  über- 
flüssig nachzuweisen,   daß   Kaspar  Hauser  kein  Erbgroftherzog  von 


von  der  Linde,  Kaspar  Haaser.  981 

Baden,  kein  Freiherr  von  Gattenberg,  kein  Napoleon  II.  und  wie  alle 
die  ihm  angedichteten  Stellungen  heißen  mögen,  war,  aber  auch  hier 
ist  Y.  d.  Linde  von  seinem  Wege  grtindlichster  Forschung  nicht  ab- 
gewichen. Seine  Enthüllungen  ttber  den  Zusammenhang  der  ver- 
schiedenen Schriften,  Über  das  Vorleben  der  Verfasser  zeigen  uns, 
wer  und  wie  man  Kaspar-Hauser fabeln  machte.  In  all  diese  Schmutz- 
Winkel  hineinschauen  zu  müssen  ist  nun  freilich  wohl  für  die  meisten 
der  Leser  gerade  keine  Freude.  Wenn  schon  in  den  meisten  Fällen 
y.  d.  Lindes  Urteil  gerecht  ist,  so  vergißt  er  doch  zu  oft,  daß,  nach- 
dem alle  zunächst  beteiligten  amtlichen  Stellen  in  so  unbegreiflich 
leichtfertiger  Weise  ihr  Urteil  oder  vielmehr  ihre  Phantasien  sich 
gebildet  hatten,  für  alle  späteren,  die  im  bürgerlichen  Leben  gewohnt 
sind  dem  amtlichen  Urteile  möglichst  zu  folgen,  das  ein  Entschul- 
digungsgrund ist.  Gegen  die  Angriffe  v.  d.  L.  auf  König  Ludwig  L 
ist  schon  an  anderem  Orte  Einspruch  erhoben ;  von  ihm,  der  sich  doch 
auf  die  Informationen  Feuerbachs  und  seiner  Minister  stützen  mußte, 
gilt  das  Gleiche,  wie  von  allen  denen,  die  keine  Einsicht  in  das  ge- 
samte Material  hatten  und  doch  der  edlen  Dilettantensucbt,  über 
nsöglichst  schwierige  Fragen  mit  möglichst  schlechten  Mitteln  arbeiten 
zu  wollen,  nicht  widerstehn  konnten. 

Das  sich  anschließende  vierte  Buch,  »DerEaspar-Hauser-Mythasc 
ist  der  Untersuchung  des  Vorlebens  von  Kaspar  Hauser  vor  seinem 
Erscheinen  in  Nürnberg  gewidmet.  Da  wird  vor  allem  auf  die  viel- 
fachen Widersprüche  in  Hausers  mündlichen  und  schriftlichen  Aus- 
sagen hingewiesen;  aber,  da  mancherlei  Wiederholungen  sich  er- 
geben mußten,  ist  gerade  dieses  Buch  das,  was  uns  am  Wenigsten 
fesselt.  Seinen  Schluß  bildet  eine  chronologische  Uebersicht  ttber 
die  Kaspar-Hanser-Litteratur.  Sie  endet  mit  der  »Nr.  176.  Und 
aberabermals  Kaspar  Hauser.  Frankfurter  Kaspar-Moniteur  1887. 
Ungedrnckte  Artikelreihe  von  Kolbs  Perisprit  aus  der  vierten  Di- 
mensiont  und  damit  beschließt  das  Werk,  zuletzt  noch  einmal  auch 
seine  unangenehmen  Seiten,  von  denen  wir  gleich  zu  reden  haben, 
hervorkehrend. 

Nicht  auf  den  ersten  Blick  findet  man  in  der  breiten  Darstellung 
was  von  neuem  Material  durch  v.  d.  Linde  zum  ersten  Male  auf  den 
Tisch  zur  Diskussion  vorgelegt  ist.  Gleich  zu  Anfang  ist  jenes  erste 
Gutachten  des  Arztes,  von  dem  wir  oben  sprachen,  zum  ersten  Male 
wieder  benutzt.  Der  erste  Band  der  Akten  über'  Kaspar  Häuser, 
der  nach  v.  d.  L.  die  Nürnberger  Magistratsakten  von  1828  enthal- 
ten muß,  konnte  nach  S.  19  Anm.  1  freilich  auch  von  ihm  nicht 
benutzt  werden.    Aber  auch  für  die  spätere  Zeit  ist  von  dem  Ver« 


982  Qött.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  25. 

fasscr  aus  deu  Akten  und  uabenutzteii  Papieren    noch  maucbes  ge- 
fanden. 

Von  hervorragendem  Interesse  ist  eine  Mitteilung  ans  Kaspar 
Hausers  Sehreibheften.  Beim  Attentat  im  Hofgarten  soll  der  angeb- 
liche Mörder  dem  Kaspar  Hauser  ein  Benteichen  mit  einem  in  Spie- 
gelschrift geschriebenen  Zettel  Überreicht  haben,  der  auf  S.  332/3 
abgebildet  ist.  Da  ist  es  nun  von  hohem  Interesse  zu  erfahren,  daft 
in  Kaspar  Hausers  Schreibhefken  sich  Uebnngen  in  Spiegelschrift 
finden,  ein  Indicium  mehr  für  die  von  v.  d.  Linde  mit  Tieiem  Ge- 
schick vertretene  Ansicht,  daß  Kaspar  Hauser  auch  dieses  Selbst- 
attentat lügnerisch  als  ein  Attentat  hinstellte.  Andere  pikante  um- 
fassende Aktenmitteilungen  konnte  der  Verf.  über  die  Entstehong 
einzelner  Kaspar-Hauser-Schriften  machen,  die  wir  hier  ttbergehn 
müssen. 

Die  Frage,  ob  nun  Kaspar  Hauser  endlich  von  dem  Bücher- 
markt verschwinden  wird  oder  nicht,  ist  schwer  zu  beantworten. 
Das  eine  ist  aber  gewiß:  daß  nach  der  rückhaltlosen  schneidigen 
Kritik  v.  d.  Lindes  Niemand  sich  mehr  an  die  Sache  wagen  wird, 
der  nicht  mit  dem  ganzen  Ernst  und  Pflichtgefühl  eines  ehrenhaften 
Forschers  an  sie  herangeht.  Ein  für  alle  Mal  ist  Kaspar  Haoser 
kein  Feld  mehr  für  sensationslustige  Skribenten.  Daß  dieses  er- 
reicht wurde,  liegt  nun  wohl  nicht  zum  geringen  Teil  an  der  Linde- 
Bchen  Schreibweise,  die  uns  sonst  im  höchsten  Grade  widerstrebt 
Es  ist  gewiß,  daß  ein  jeder,  der  einen  solchen  Haufen  von  Lug  ond 
Trug  aufzudecken  hat,  dabei  seiner  Entrüstung  nur  schwer  Zflgei 
anlegen  wird ;  mir  will  es  aber  scheinen,  als  hätte  v.  d.  Linde  das 
auch  nicht  einmal  versucht.  Milderungsgründe  haben  für  ihn  keine 
Geltung,  sein  Urteil  wird  nur  zu  oft  von  pessimistischen  Ansebau- 
nngen  getrübt.  Noch  mehr  ist  aber  wohl  zu  bedauern  die  Sprache, 
welche  der  Verf.  führt.  Seine  Neigung  zu  burlesken  Wendungen, 
zu  Witzen  und  Spaßen  entfremden  ihm  den  Leser  schon  auf 
den  ersten  Seiten,  und  wenn  vollends  der  Verfasser  seine  Ansich- 
ten über  Gegenstände,  die  gar  nicht  zum  Hauptthema  gehören, 
in  gleicher  Leidenschaftlichkeit  vorbringt,  so  ist  das  doch  eine  Zu- 
mutung, die  uns  sonst  in  der  gelehrten  Litteratur  nicht  gemacht 
wird,  und  gegen  die  Heigel  jüngst  mit  vollem  Rechte  Protest  er- 
hoben hat 

Zum  Schlüsse  glaube  ich  bemerken  zu  müssen,  daß  ich  vorlie- 
gendes Referat  auf  Wunsch  der  Redaktion  übernahm.  Vor  Jahren 
hätte  man  ja  wohl  die  Worte  eines  badischen  Beamten  minder  an* 
schlagen  können,  als  die  eines  andern  —  seit  Mittelstädts  zwingen- 
der  Beweisführung   über  Kaspar   Hauser  als   angeblich 


Hyvernat,  Les  actes  des  martyrs  de  TJ^gyptc  tirt^s  des  manascrlts  etc.    I.     983 

Prinzen  bat  aber  nicbt  mebr  BadcOi  soDdern,  wie  sehr  richtig 
v.  d.  Linde  sagt,  »Bayern  ein  sittliches  Interesse  an  der  Beseitigung 
der  landläufigen  Hausergeschichte«. 

Karlsruhe.  Aioys  Schulte. 


Les  actes  des  martyrs  de  T^gypte  tir^s  des  manuscrits  coptes  de  la  biblioth^ae 
vaticane  et  da  musäe  Borgia.  Texte  copte  et  traduction  fran^aise  par  Henri 
Hyvernat.    Volume  I.  Paris,  1886. 

Man  weiß  aus  dem  ersten  Baude  meiner  Mittheilungen  202  seit 
dem  Juli  1884,  daß  die  Propaganda  fUr  den  Augustiner-Mönch  Ciasca 
neue  koptische  Typen  hat  schneiden  heißen.  Diese  Typen  kann 
man  seit  1885  im  ersten  Bande  von  Ciascas  sacrorum  bibliorum 
fragmenta  copto-sahidica  musei  borgiaui  sich  ansehen:  sie  sind  von 
Herrn  Rayper  in  Genua  (Ciasca  xvii)  den  von  mir  in  den  Aegyptiaca 
und  der  Catena  benutzten  —  nicht  immer  glücklich  —  nachgebildet: 
es  wäre  billiger  und  auch,  nicht  bloß  was  den  Geldpunkt  anlangt, 
empfehlungswerther  gewesen,  die  von  mir  vervollständigte  Londoner 
Schrift  in  London  zu  kaufen:  ein  großer  Fortschritt  ist,  daß  auch 
eine  Notenschrift  desselben  Zuges  wie  die  Teitschrift  beschafft  wor> 
den  ist,  die  mir  abgeht:  ich  bin  fUr  die  Anmerkungen  auf  Idelers 
Waare  angewiesen. 

Vater  Ciasca  scheint  ftir  das  Aegyptische  Ferien  zu  haben,  was 
für  mich  sehr  empfindlich  ist.  An  seiner  Stelle  druckt  mit  den  Ty* 
pen  der  Propaganda  Henri  Hyvernat.  Es  macht  mir  Freude,  die 
Aufmerksamkeit  auf  den  ersten  Band  seines  Werkes  hinzulenken, 
das  ich  nicht  beurtheile,  das  ich  nur  anzeige.  Le  hui  des  Herrn 
Herausgebers  ist  avant  tout  philologique,  was  —  meine  Onomastica^  vij, 
meine  Mittheilungen  2  372  —  dazu  beitragen  wird,  seinem  Werke 
einen  etwas  weniger  minimalen  Käuferkreis  (natürlich  denkt  man 
auch  da  nur  an  Bibliotheken)  zu  verschaffen,  als  ein  theologischen 
Untersuchungen  dienendes  Buch  erwerben  würde:  allerdings  hat 
dann  und  wann  auch  ein  Eirchenrath  ein  Interesse  an  Heiligenleben, 
wie  der  in  meinen  Mittheilungen  1  381  ff.  für  die  Nachwelt  aufbewahrte. 

Vorab  ist  es  mit  Dank  anzuerkennen,  daß  Hyvernat  den  Weg 
Francesco  Rossis  wandelt,  und  anspruchslos  diejenigen  Texte  vor* 
legt,  die  in  seinem  Wohnorte  ihm  bequem  zur  Hand  sind,  unsDeut^ 
sehen  erst  nach  Aufwendung  beträchtlicher  Mittel  zu  Gebote  stehn 
würden.  Hätte  ich  gewußt,  daß  FRossi  die  (afdischen  Papyrus  zu 
Turin  herausgeben  wollte,  so  würde  ich  niemals  Zeit,  Geld  und  Kraft 
an  die  Veröffentlichung  der  ^afdischen  Uebertragung  der  Weisheiten 
gewandt  haben,  zumal  es,  je  schlechter  die  Handschrift  erhalten  ist^ 


984  Gatt.  gel.  Anz.  1887.  No.  26. 

desto  mehr  Moth  thot,  die  Drackbogen  ?or  dem  Imprimatar  mit  ihr 
selbst  zu  vergleichen. 

Ich  T^Unsche  freilich,  daß  auch  in  Neapel  uns  ein  Aegyptologe 
heranwachse,  der  uns  die  dort  allein  (Lord  Zoache  besitzt  nur  wenig 
von  ihnen)  zu  treffenden  Werke  des  Senate  und  Besä  herausgäbe. 
Denn  vorab  kommen  doch  die  Giassiker,  nach  diesen  erst  kommt  der 
große  Haufen.  Und  kennte  und  Besä  sind  es,  die  bis  anf  Weiteres 
fttr  uns  die  neuAegyptische  Sprache  in  ihrer  Blüthe  darstellen,  womit 
nattlrlich  nicht  gesagt  werden  soll,  daß  nicht  in  meinen  Aegyptiaca 
zum  Tbeil  archaischeres  Aegyptisch  steht  als  nach  dem  jetzt  Bekann- 
ten kennte  und  Besä  uns  bieten  werden. 

Hyvernats  erster  Band  enthält  die  Akten: 
Eusebitts  Sohn  des  Basilides,  otQot^ldtiig  23  Mechir. 

Macarius    »        »         »        ,  aus  Antiochien. 
Apater  und  dessen  Schwester  Hp«^i,  Kinder  des  atgatti' 

Xdtiig  Basilides.  28  Tböut 

Pisnra  (verwandt  mit  dem  Martyrium  des  Ignatius). 
Piröu  und  Athdm  aus  Tasempoti  im  Nomos  Busiri.         8  EpSp. 
lohannes  der  Priester  und  dessen  Genosse  Symeon.      11  Ep€p. 
Ari,  Priester  zu  ^etnnfi.  9  Me86r6. 

Macrobins,  Bischof  von  Psati.  2  Phamenöth. 

Petrus  von  Alexandria.  29  Athdr. 

Didymns. 
Sarapamön. 

Es  würde  mich  freuen,  wenn  Hyvernat  gelegentlich  einen  Bliek 
in  meine  Arbeiten  würfe :  die  von  Hyvernat  bearbeitete  Litteratar  ist 
international,  und  ich  bin  seit  frühester  Jagend  darauf  aus,  Lehnwörter 
auszuscheiden,  da  nur  nach  Ausscheidung  aUes  Entlehnten  das  gewonnen 
werden  kann,  worauf  es  der  Wissenschaft  schließlich  allein  ankommt, 
Kenntnis  in  sich  geschlossener  Persönlichkeiten.  Etwa  166  Ende  er- 
läutert sich  SIC  Akikeni  aus  §  1974  meiner  armenischen  Stadien. 

Henri  Hyvernat  hat  für  seine  Studien  die  Handschriften  des  Vatican 
in  beneidenswerther  und  ihm  besonders  gerne  gegönnter  Weise  zar 
Verfügung:  er  kann  leicht  zusammentragen,  was  wir,  ohne  Hand- 
schriften arbeitend,  unter  fortwährendem  Irren  suchen  müssen. 

Unumgänglich  ist,  daß  die  Zeilen  gezählt  werden:  meine  Mit- 
theilungen  2  243  unten. 

Einen  besonderen  Dank  haben  wir  Herrn  Henri  Hignard  abza- 
statten,  der  die  Druckkosten  des  angezeigten  Bandes  bestritten  hat. 

Paul  de  Lagarde. 

if'fir  di«  BedftkÜOB  Twiatwortiicb :  Prof.  Dr.  BtekUl,  Direktor  d«r  GAU.  g«l.  Aas.« 
Amtmox  der  Königliohen  Gefelleehaft  der  WiaeeaMkafteii. 
J$rkfg  d$r  JMUtrieh'sehm  Tmkifft  'Btiehkmilmiff. 
Drwik  d4r  JHtUrieVaekm  UnH.-Buekdrmek^rH  (IV,  W,  KoiHumr). 


m 


I 


986 


ööttingische 


gelehrte  Anzeigen 

unter  der  Aufsicht 

der  Königl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Nr.  26.  31.  December  1887. 


Preis  des  Jahrganges:  JH  24  (mit  den  »Nachrichten  d.  k.  G.  d.  Wiss.« :  •4127). 
Preis  der  einzelnen  Nummer  nach  Anzahl  der  Bogen:  der  Bogen  60  ^ 

Inhalt:  Pf  ersehe,  PriTatrechiliche  Abhandlnngen.  Ton  Merkd.  —  Hrnz»,  Ueber  da«  lege  agere 
pro  tvtela.  Yen  ÜlMohd;  —  O r o s s ,  Daa  Recht  an  der  Pfrflnde.  Von  Jfo«f«r.  -  Politische  Cor- 
respondent der  Stadt  Straseborg  im  Zeitalter  der  Reformation.  Bd.  11.  Von  Virdt.  —  Tolstoi, 
die  Stadtechalen ,  wihrend   der  Regierung  der  Kaiserin  Katharina  II.    Uebersettt  Ton  Kftgelgen.    Von 

^  EigenMiohtifler  Abdruck  von  Artikeln  der  GStt.  gel.  Anzeigen  verboten.  = 

Pfersche,  Emil,  Dr.,  Privatrechtliche  Abhandlungen.  Die  Eigen- 
tumsklage, unredlicher  Besitz.  Die  Erbschaftsklage.  Erlangen,  Deichert. 
1886.    390  S.    8«. 

Der  innere  Zasammenhang  zwischen  den  drei  Themata,  welche  ' 
der  obige  Titel  einer  neuerdings  erschienenen  Schrift  namhaft  macht, 
wird  darch  die  Absicht  hergestellt,  die  Haftung  des  unredlichen  Be- 
sitzers fremder  körperlicher  Sachen  an  der  Hand  der  römischen 
Rechtsquellen  zu  bestimmen.  Die  drei  jenen  Aufgaben  entsprechen- 
den Abhandlnngen  verhalten  sich  daher,  zunächst  im  Allgemeinen 
und  kurz  gesagt,  folgendermaßen  zu  einander:  in  der  ersten  han- 
delt es  sich  namentlich  um  den  Nachweis,  daß  die  verschiedenen 
Prästationen  fllr  culpose  Beschädigung  des  Streitgegenstandes,  für 
Fruchte  desselben  und  fUr  die  s. g.  ficta  possessio,  welche  nachdem 
Recht  der  Justinianischen  Epoche  als  Inhalt  der  rei  vindicatio  be- 
trachtet zu  werden  pflegen,  noch  zu  klassischer  Zeit  sich  zum  Teil 
nicht  von  selbst  verstanden  und  überhaupt  erst  allmählich  entstan- 
den sind ;  die  zweite  Abhandlung  gibt  den  BegrifiP  der  malae  fidei 
possessio  und  macht  den  Versuch,  den  juristischen  Charakter  der  Haf- 
tungen des  unredlichen  Besitzers  festzustellen;  die  dritte  enthält  eine 
fast  monographische  Behandlung  der  Lehre  von  der  hereditatis  pe- 
titio,  deren  Tendenz  es  namentlich  ist,  der  üblichen  Gleichstellung 
dieser  Klage  mit  der  rei  vindicatio  den  Boden  zu  entziehen.  Fol- 
gen wir  dem  Verfasser  ins  Einzelne! 

U6tt.  gel.  Ans.  ia»l.  Nr.  2b.  68 


986  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  26. 

I.  Von  jenen  .Nebenansprttcben  oder  >proces8ualen<,  wie  Bie 
der  Verfasser  nennt  (S.  11),  welche  dem  auf  Anerkennung  des  Eigen- 
tums und  Sachrestitution  gerichteten  »materiellrechtlichen«  Haupt- 
anspruch zur  Seite  stebn,  ist  nach  des  Verfassers  Auffassung  am 
Frühsten  im  arbitrium  litis  aestimandae  lediglich  der  Anspruch  we- 
gen culposer  Beschädigung  des  Streitgegenstandes  post  litem  con- 
testatam  in  Betracht  gekommen  (S.  50).  Jedoch  die  Auslegung  der 
vom  Beklagten  zu  leistenden  Kautionen  (pro  praede  litis  vindicia- 
rum,  später  der  cautio  iudicatum  solvi)  führte  auch  die  Haftung  fär 
gänzlichen  Sach-Untergang  sowie  für  bezogene  und  zu  ziehende 
Früchte  —  Alles  post  litem  contestatam  gerechnet  —  herbei.  Erst  im 
Formularproceß  fand  man,  daß  die  Berücksichtigung  dieser  praestanda 
im  officium  iudicis  gelegen  sei  (S.  31  u.  32). 

Von  den  vorprocessualischen  Vorgängen  ließ  man  erst  allmäh- 
lich, und  zwar  ebenfalls  auf  Grund  der  Auslegung  jener  Kautionen, 
das  liti  se  obtulisse  und  —  noch  später  —  das  dolo  malo  desioere 
possidere  mit  der  rei  vindicatio  geltend  machen,  während  im  letzte- 
ren Falle  eigentlich  actio  ad  exhibendum  erforderlich  war  (S.  59— 
61,  1).  Ersteres  glaubt  der  Verfasser  nach  Demelius'  Vorgang  aaf 
den  Juristen  Marcellus  (D.  5,  3,  13,  13  D.  6,  1,  25)  zurückführen  zu 
sollen  (S.  40). 

Wollte  man  dagegen  vorprocessualische  culpa  in  Betreff  Be- 
schädigung der  Sache  dem  Beklagten  imputieren  oder  einen  Anspruch 
auf  vorher  consumierte  oder  percipierte  Früchte  erheben ,  so  mußte 
man  zu  diesem  Zweck  Separatklage  anstellen :  dort  actio  legis  Aqniliae 
hier  condictio  respektive  (wegen  extantes  fructns)  besondere  rei 
vindicatio.  Man  konnte  natürlich  die  beiden  Fruchtklagen  mit  der 
Hanptvindikation  cumulieren  und  jedenfalls  ist  nach  des  Verfassers 
Meinung  die  für  die  Justinianische  Vindicatio  geltende  Selbstver- 
ständlichkeit der  Aquilischen  Haftung  auf  eine  gesetzliche  Klagen- 
häufung  zurückzuführen  (S.  56). 

Die  Haftung  wegen  vorprocessualer  fructus  percipiendi  wird  fllr 
die  klassische  Zeit  des  römischen  Rechts  von  dem  Verfasser  gänz- 
lich in  Abrede  gestellt,  wie  dies  Andere  schon  vor  ihm  gethan  ha- 
ben.  (S.  75,  s.  2.  Abhandlung:  S.  214—224). 

Soweit  die  wesentlichsten  Ergebnisse  der  ersten  Abhandlang 
(S.  27 — 95),  welche  übrigens  noch  interessante  Ausführungen  fiber 
das  interdictum  quem  fundum  (§  5)  und  die  Stellung  des  Klägers 
hinsichtlich  der  Beweislast  (§  7)  darbietet;  auf  dieselben  mag  hier 
nur  hingewiesen  sein. 

Was  nun  jene  Prästationsfragen  angeht,  so  bewegt  sich  der 
Verfasser  bekanntlich  auf  höchst  unsicherem  Terrain,  da  die  Qaellea 


Pfersche,  Privatreclitliche  AbbandluDgeD.  98T 

des  römischen  Rechts,  nameDtlich  in  Betrefif  der  Distinktion  ante  and 
post  litem  contestatam,  schwer  erkennbar  sind.  Die  herrschende 
Meinung  ist  im  Ganzen  geneigt,  eine  frühzeitigere  Entwicklung  des 
o£Scium  iudicis  bei  der  dinglichen  Klage  anzunehmen,  als  der  Ver- 
fasser. Ihr  gegenüber  sieht  er  sich  namentlich  genötigt,  die  von  ihm 
angenommenen  separaten  Fruchtklagen  auf  fructus  consnmpti^nnd 
percepti  eingehend  zu  verteidigen  (S.  67—95).  Er  sucht  zu  diesem 
Zweck  das  Beweismaterial  durch  den  Hinweis  auf  andere  dingliche 
Klagen  zu  verstärken,  bei  deren  keiner  die  Haftung  für  vorprocessua- 
lische  Früchte  sicher  sei  (§  14  S.  87  fg.) 

Hag  auch  die  letztere  Erscheinung  zum  Teil  auf  Gründen  be- 
ruhen', die  den  einzelnen  Aktionen  eigentümlich  sind,  z.  B.  bei  der 
actio  hypothecaria,  wo  die  Früchte  besonders  mitverpfändet  sein 
müssen  (S.  93—95),  so  ist  doch  unseres  Erachtens  durch  die  Aus- 
führungen des  Verfassers  derjenige  Grad  von  Wahrscheinlichkeit  zu 
Gunsten  seiner  Auffassung  erreicht  worden,  welcher  sich  zun  Zeit  ir- 
gend erreichen  läßt.  Fr.  62  D.  6,  1  (darüber  s.  S.  216  f )  läßt  sich 
wohl  noch  eher  beseitigen,  da  in  ihm  in  der  That  kein  Hinweis  auf 
die  Vor-Proceßzeit  enthalten  ist,  als  c.  5  C.  3,  32  vom  Jahre  239. 
Denn  die  Erklärung,  daß  letztere  Stelle  sich  auf  das  interdictum 
unde  vi  bezogen  habe  (S.  55  f.),  befriedigt  unvollkommen  und  läßt 
sich  durch  den  Hinweis  auf  ihre  Uebereinstimmnng  mit  der  55  Jahre 
jüngeren   c.  4  G.  8,  4   nicht   wahrscheinlich  machen. 

Die  Berücksichtigung  der  Vorproceßzeit  überhaupt  —  darin  muß 
dem  Verfasser  beigestimmt  werden  —  ist  sicherlich  erst  ein  Werk 
der  allmählich  schaffenden  Jurisprudenz.  Es  würde  die  Ausführun- 
gen des  Verfassers  unterstützt  haben,  wenn  er  noch  schärfer,  als 
dies  in  seiner  Abhandlung  hervortritt,  den  Gegensatz  des  bonae  und 
des  malae  fidei  possessor  betont  haben  würde,  deren  verschiedene 
Behandlung  im  Eigen tumsproceß  ebenfalls  erst  im  Lauf  der  Zeiten 
sich  ausbildete.  So  ist  z.  B.  der  bonae  fidei  possessor  frühestens  in 
seinem  Gesetz  vom  Jahre  294  (c.  22  C.  3,  32)  für  fractus  ante  litem 
coDtestatam  percepti  (extantes)  verantwortlich  gemacht  worden.  Die 
neuerdings  wieder  von  Ozyhlarz-Glück  Serie  41—42  L  S.  561  f  ver- 
teidigte Beziehung  dieser  c.  auf  die  hereditatis  petitio  möchten  wir 
ablehnen.  Aber  c.  l  C.  Th.  4,  18  (a.  369),  welche  zu  dieser  Mei- 
nung führte,  ist  doch  ein  Beleg  für  die  Behandlung  des  »invasor 
alienae  rei  praedove«  im  4ten  Jahrhundert  (trotz  Pfersche  S.  218  f.). 

lieber  den  Endpunkt  der  Entwickelung,  d.  h.  über  die  Frage, 
wann  die  Vindikation  jene  Prästationen  als  selbstverständliche  ein- 
schloß, spricht  sich  Pfersche  nicht  überall  aus.  Dieses  Ziel  immer 
erst  in  Justinians  Zeitalter  zu   suchen,  dürfte  aber   doch   nicht  das 

68  ♦ 


988  Oött.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  26. 

Richtige  sein.  Pferscbes  AusftthraDgen  scheinen  dies  einige  Mal 
vorauszusetzen  z.  B.  in  Betreff  der  Aqailischen  Beschädigung  vor 
litis  contestatio.  Noch  weniger  möchte  dem  Verfasser  beizustimmen 
sein,  wenn  er,  wie  in  dem  beispielsweise  genannten  Punkt,  die  Kon- 
Sequenzen  seiner  geschichtlichen  Auffassang  (hier:  Klagencumulation) 
noch  für  das  »moderne  Rechte  gezogen  wissen  will.  Es  mutet  einen 
heutigen  Richter  schwerlich  anders  als  auffällig  an,  wenn  es  beißt: 
»Der  Ersatz  der  vorprocessualen  Beschädigung  kann  nnr  dann  gleich- 
zeitig mit  der  auf  Grund  des  Eigentums  verlangten  Sach restitution 
zuerkannt  werden,  wenn  das  Petit  ausdrücklich  und  im  ersten 
Termin  darauf  gestellt  wirdc  (S.  56). 

IL  Die  Ansichten  des  Verfassers  über  malae  fidei  possessio 
gehn  von  der  Vorstellang  aus,  daft  in  diesem  Begriff  nicht  blofi  ein 
Wissens-,  sondern  auch  ein  Willens-Moment  enthalten  sei  (S.  107  - 
113).  Ist  die  bona  fides  die  Rücksicht  auf  die  fremden  Interessen 
(S.  113—118),  so  besteht  die  mala  fides  in  deren  bewußter  Außer- 
achtlassung. 

Man  kann  sich  mit  dieser  Formulierang  im  Ganzen  einverstan- 
den erklären,  obgleich  sie  für  die  römische  Rechtsentwicklung  zu 
allgemein  sein  mag.  Es  dürfte  z.  B.  unseres  Erachtens  vom  Stand- 
punkte des  Historikers  aus  das  scire  rem  alienam  esse  der  Quellen 
nicht  als  »zu  eng«  bezeichnet  werden  (S.  108),  denn  diese  Worte 
schildern  den  Ausgangspunkt  und  setzen  den  Normalfall,  da  die  bonae 
resp.  malae  fidei  possessio  zuerst  mit  dem  Typus  des  bona  resp. 
mala  fide  emere  identisch  gewesen  zu  sein  scheint. 

Den  Anspruch  gegen  den  malae  fidei  possessor  auf  Herans- 
gabe charakterisiert  nun  der  Verfasser  als  einen  obligatorischen 
(actio  in  personam),  der  aber  mit  dem  dinglichen  verwandt  sei. 
Derselbe  bilde  daher  eine  »eigene  Kategoriec  (S.  24),  nämlich  den 
»Eigentumsanspruch  wegen  unredlicher  Vorenthaltung«,  welcher  ne» 
ben  die  rein  dinglichen  Ansprüche  wegeu  Vorenthaltung  und  wegen 
Störung  trete  (S.  252). 

Zu  dieser  eigentümlichen  Differenzierung  kommt  Verfasser  auf 
folgendem  Wege.  Schon  im  Eingang  seiner  Arbeit  nimmt  er  Ver- 
anlassung, insbesondere  wegen  der  über  den  Begriff  des  »Anspruchs« 
bestehenden  wissenschaftlichen  Unsicherheit,  zu  Fragen  der  allge- 
meinen Rechtslehre  Stellung  zu  nehmen.  Er  urgiert  hier  indessen 
weniger  den  Begriff  des  »Anspruchs«,  welchen  er  sich  durch  Zer- 
legung des  Inhaltes  eines  Rechtsatzes  in  Grund-  und  Hilfsnormen 
zugänglicher  zu  machen  glaubt  —  die  Hilfsnormen  geben  die  Fol- 
gen der  Verletzung  der  Grundnorm  an:  Befehle,  Verpflichtungen: 
und  daraus  resultieren   die    »Ansprüche«   (S.  9).     Vielmehr   legt  er 


Pfersche,  Privatrechtliche  Abhandlungen.  989 

besonderes  Gewicht  auf  die  Einteilung  der  Ansprüche  »nach  der 
Passivlegitimation«,  d.  h.  nach  der  Art,  wie  die  >Qrandnorm<  ver- 
letzt wird  (S.  20) :  die  actio  in  rem,  findet  er,  setze  nur  voraus,  daß 
bei  Klagerbebung  die  Grundnorm  verletzt  sei,  frühere  Vorgänge  kä- 
men nicht  in  Betracht.  Bei  den  actiones  in  personam  sei  dies  an- 
ders und  sie  entsprängen  entweder  aus  Uebertretung  »relativer«  ge- 
bietender oder  aus  Verletzung  absoluter  verbietender  Grunduormen 
(S.  23 — 26).  Ersterer  Art  gehören  die  gewöhnlichen  Obligationen 
ex  contractu  und  quasi  ex  contractu,  die  Alimentations-,  Exhibitions- 
Obligation  an,  letzterer  die  Delikte  und  der  Anspruch  gegen  den 
malae  fidei  possessor.  So  gelangt  in  der  That  letzterer  unter  die 
Obligationen. 

Wir  möchten  doch  bezweifeln,  ob  ein  derartiges  Gebilde  zu  den 
ersprießlichen  Resultaten  gerechnet  werden  darf.  In  den  Quellen 
des  römischen  Rechts  scheint  ihm  wenigstens  jeder  Anhalt  zu  man- 
geln, nnd  das  Gleiche  möchten  wir  behaupten  von  der  Unter- 
scheidung zwischen  actio  in  rem  (»dinglischer  Anspruch«)  und  »pro- 
cessuaiischer  rei  vindicatio«.  Pf.  beruft  sich  allerdings  darauf,  daß 
es  einerseits  Vindikationen  gebe,  mit  welchen  nicht-dingliche  An- 
sprüche geltend  gemacht  würden  (rei  vind.  gegen  fictus  possessor, 
hered.  petitio),  andererseits  dingliche  Ansprüche,  die  nicht  mit  rei 
vind.  verfolgt  werden  (interdicta  zum  Schutz  öfiTentlicher  Sachen-, 
interd.  quod  vi  aut  dam,  actio  quod  metus  causa)  (S.  20—22). 
Allein  die  scharfe  Scheidung  zwischen  in  rem  nnd  in  personam 
actiones  scheint  uns  gerade  eine  Errungenschaft  der  römischen  Ju- 
risprudenz zu  sein,  die  durch  spätere  Zwitterbildungen  allerdings  in 
ihrem  Bestand  bedroht  worden  ist,  aber  nicht  mehr  von  der  moder- 
nen Doktrin  durch  Beurteilung  des  historischen  Zusammenhangs  nach 
dogmatischen  Schemata  gefährdet  werden  sollte. 

Etwas  Anderes  ist  es  mit  der  Haftung  für  dolose  Besitzaufgabe 
vor  dem  Proceß.  Hier,  wo  die  Haftung  sich  nicht  mehr  auf  den 
Besitz  des  Beklagten  gründet,  also  eine  echt  dingliche  nicht  mehr 
ist,  muß  dem  Verfasser  zugegeben  werden,  daß  nach  älterem  Recht 
vielleicht  ein  Delikt  angenommen  wurde,  wofür  man  allmählich  einen 
einfachen  obligatorischen  Anspruch  —  derselbe  wird  gelegentlich  als 
»Zustandsobligation«  bezeichnet  (S.  179.  227)  —  substituiert  (S.  149 
—50).  Verfasser  drückt  das  in  seiner  Weise  so  aus:  es  sei  un- 
merklich, d.  h.  »ohne  Veränderung  der  äußeren  gesetzlichen  Sank- 
tion« (S.  154)  eine  »relativ  gebietende  Norm«  an  Stelle  der  »allge- 
mein verbietenden«  gesetzt  worden,  ein  Vorgang,  welchen  der  Ver- 
fasser auch  bei  andern  auf  dolo  malo  desinere  possidere  gegründe- 
ten Aktionen  (z.  B.  der  a.  depositi,  der  a.  ad  exhib.  gegen  argentarii) 


990  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  26. 

nachweisen  zu  können  meint  (S.  153 — 168),  wie  er  sieh  bei  den 
bonae-fidei-Eontrakten  finde  (S.  150 — 152).  Der  Verfasser  Yerfehh 
auch  hier  nicht,  die  praktischen  Eonsequenzen  des  Abgehens  Yon  der 
Deliktsobligation  zu  ziehen :  den  Inhalt  des  Ansprachs  bildet  jetzt 
das  möglicherweise  immer  noch  einem  Wechsel  anterliegende  Int^- 
esse  des  Elägers  an  Stelle  des  nnyeränderlichen  Inhalts  einer  De- 
liktsklage (S.  178) ;  der  Eläger  erspart  den  Beweis  des  dolosen  Han- 
delns selbst  und  vermag  sich  nunmehr  auf  den  Nachweis,  daft  Be- 
klagter iune  gehabt  habe  und  in  mala  fide  war,  zu  besehränken 
(S.  169.  250).  Mit  der  letzteren  Ansicht  wird  zwar  der  gewöhnli- 
chen Meinung  entgegen  getreten.  Aber  der  Verfasser  hat  in  diesem 
Punkte  wohl  Recht.  Nur  durfte  er  nicht  außer  Acht  lassen,  daft  die 
»Zustandsobligation«  des  qui  dolo  malo  possidere  desiit  doch  sehüeft- 
licb  auch  nach  seiner  eigenen  Meinung  (S.  57 — 63)  mit  dinglieher 
Elage  geltend  gemacht  wurde.  Zwischen  dieser  Veränderang  und 
dem  soeben  geschilderten  Zustand  scheint  uns  die  geschichtliche  Ver- 
mittlung noch  zu  fehlen. 

Die  Eonkurrenzverhäitnisse  zwischen  rei  vindicatio  gegen  einen 
wirklichen  Besitzer  oder  früheren  fictus  possessor  nnd  r.  v.  gegen  den 
späteren  qui  dolo  malo  possidere  desiit  —  Verfasser  nennt  die  Vindi- 
kation gegen  letzteren  eine  »anomale«  —  glaubt  Verfasser  ebenso  be- 
stimmmen  zu  sollen,  wie  diejenigen  der  »normalen«  Vindikation  gegen 
den  gegenwärtigen  malae  fidei  possessor  (S.  181)  d.  h. :  die  von  jenem 
erlangte  Befriedigung  schließe  die  »normale«  Vindikation  ans,  wäh- 
rend dem  in  letzterem  Processe  zuerst  unterlegenen  fictus  nicht  bloft 
exceptio  doli,  sondern  auch  actio  Publiciana  in  Betreff  der  Sache 
und  ein  Anrecht  auf  Eantionsleistung  Seitens  des  Elägers  zastehe 
(S.  200—208).  Das  letztere  Resultat  wird  dadurch  gewonnen,  daft 
die  scheinbar  widersprechenden  fr.  69.  70  D.  6,  1  wieder  anf  das 
interdictum  unde  vi  gedeutet  werden  (S.  191 — 195). 

Zum  Schlüsse  der  zweiten  Abhandlung  ergeht  sich  Verfasser 
noch  des  Weiteren  über  seine  Meinung,  daß  wenigstens  nach  dem 
Recht  der  klassischen  Zeit  die  Veräußerung  durch  den  malae  fidei 
possessor  nicht  unter  den  Begriff  des  furtum  gebracht  worden  sei. 
(S.  235—48).  Von  positiven  Stützen  für  dieselbe  findet  er  allerdings 
nur  fr.  7  §  11  D.  6,  2,  wonach  die  Publicianische  Elage  bei  >cal- 
lido  concilio«  erfolgtem  Verkauf  nicht  versagt  wird. 

III.  Die  dritte  Abhandlung  ist,  wie  gesagt,  geschrieben  na- 
mentlich mit  der  Tendenz,  die  Verschiedenheiten  der  rei  vindicatio 
und  der  hereditatis  petitio  aufzuweisen.  Die  letztere  gilt  dem  Ver- 
fasser —  mit  Recht  —  nicht  als  eine  reine  actio  in  rem,  nnd,  daft 
sie  in  den  Quellen  so  genannt  wird,  fällt  nicht  ins  Gewicht,  wie  dies 


Pfersche,  Privatrechtliche  Abhandlungen.  991 

überdies  ans  denjenigen  Stellen  selber  hervorgeht,  welche  die  »ge- 
mischte Nature  der  Aktio  anerkennen  (S.  256.  257).  Hierin  liegt  be- 
reits ein  Argument  zu  Gunsten  der  von  dem  Verfasser  mit  Ent- 
schiedenheit bekämpften  Annahme  einer  einheitlichen  Natur  jenes 
Anspruchs.  Er  hält  dafUr,  daß  die  Vorstellung  des  Nachlasses  als 
nniversitas  lediglich  fUr  die  Behandlung  der  ruhenden  Erbschaft  und. 
für  den  Erbschaftserwerb,  auch  den  Erbschaftsverkauf,  maßgebend 
gewesen  sei,  für  die  Erbschaftsklage  aber  nicht,  wenigstens  nicht 
in  dem  gleichen  Sinne,  wie  in  den  ersteren  Fällen  (S.  264—266). 
Wenn  die  Quellen  —  meint  er  —  die  hereditatis  petitio  bezeichnen 
als  eine  auf  das  einheitliche  Objekt  der  hereditas  gerichtete  und 
durch  die  possessio  pro  berede  vel  pro  possessore  bedingte  Aktio, 
so  sei  dies  eine  durch  die  processualen  Verhältnisse  hervorgerufene 
»Deukform  und  Ausdrucksweisec  (S.  254).  Wir  haben  also  die 
Aufgabe  der  Analyse  gegenüber  dieser  allzu  gedrungenen  Synthese, 
und  vermittelst  der  Unterscheidung  von  processualen  und  materiell- 
rechtlichen Rechtssätzen  innerhalb  der  Lehre  glaubt  der  Verfasser 
die  letztere  besonders  klären  zu  können  (S.  278  fg.  381  fg.). 

Der  eigene  Versuch  des  Verfassers,  das  Anwendungsgebiet  der 
Erbschaftsklage  zu  bezeichnen,  läuft  nun  darauf  hinaus,  daß  er  die 
Fälle  unterscheidet,  wo  die  her.  pet.  mit  anderen  Klagen  konkur- 
riert, und  solchen,  wo  sie  die  einzige  Klage  aus  dem  Recht  auf 
den  Nachlaß  bildet.  Ersterer  Art  sind  die  Singularansprttche  gegen 
»Erbschaftsschuldner«  (S.  275),  die  auf  sie  bezüglichen  Normen  der 
her.  pet.  gelten  den  Verfasser  als  »processuale«.  Die  Ansprüche  der 
zweiten  Art,  die  eigentlichen  »Erbschaftsansprüche«,  setzen  sich  ihm 
aus  zwei  Elementen  zusammen:  aus  den  Ansprüchen  wegen  Occu- 
pation von  Nachlaßobjekten  und  denjenigen  aus  Führung  erbschaft- 
licher Geschäfte  ohne  Auftrag.  Er  nennt  die  hierauf  bezüglichen 
Normen  der  hereditatis  petitio  »materiellrechtliche«. 

Das  Hauptinteresse  wendet  sich  nun  begreiflicherweise  den  An- 
sprüchen jener  zweiten  Art  zu.  Von  denen  der  ersteren  werden  nur 
diejenigen  ausgesondert,  wo  die  her.  pet.  mit  Deliktsklagen  oder 
condictio  ob  iniustam  causam  concurriert,  Fälle  der  possessio  pro 
possessore,  welche  jedes  Prlncips  entbehrten  (S.  297 — 301);  in  den 
übrigen  hänge  die  Anwendbarkeit  der  Erbschaftsklage  vom  Belieben 
des  Beklagten  ab,  der  die  exceptio  praejndicii  nicht  entgegensetze 
(S.  304  f.).  Dagegen  werden  die  Fälle  der  ausschließlichen  her.  pet. 
in  Voraussetzungen  und  Inhalt  sorgfältig  zu  analysieren  versucht. 

Es  würde  zu  weit  führen,  dem  Verfasser  an  diesen  Punkten  ins 
Detail  zu  folgen.  Aber  folgendes  mag  noch  bemerkt  werden.  Sicher- 
lich geht  die  Meinung  derjenigen  zu  weit,  welche  den  Gesichtspunkt 


992  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  26. 

der  negotiorum  gestio  allein  zn  Hülfe  nehmen  wollen,  um  die  Be- 
sonderheiten der  Haftung  des  possessor  bei  der  her.  pet.  zn  erklä- 
ren (vgl.  die  Zusammenstellung  in  einer  heryorragenden  Tflbing^ 
Inaugural-Dissertation  von  Lammfromm,  zur  Geschichte  der  Brb- 
Schaftsklage  1887  S.  2  N.  1).  Indessen  wird  keineswegs  zu  läag- 
nen  sein,  daß  jener  Qesichtspankt  allmählich  in  die  Lehre  von  der 
her.  pet.  Eingang  fand.  Denn  von  dem  Standpunkte  aus,  daß  man 
den  Erbschaftsbesitzer  gewissermaßen  als  Geschäftsführer  des  wah- 
ren Erben  betrachtete,  läßt  es  sich  in  ansprechender  Weise  erklä- 
ren, wenn  im  Laufe  der  Zeit  die  Universalklage  immer  weiter- 
gehenden Haftungen  erschlossen  würde,  während  andererseits  die 
Stellung  des  bonae  fidei  possessor  seit  dem  SC.  Juvencianum  sich 
verbesserte. 

Allein,  gleichwie  in  der  Geschichte  jener  Erweiterungen  noch 
Mancherlei  dunkel  ist  und  vermutlich  bleibt,  (s.  die  anerkennens- 
werten Versuche  in  der  oben  erwähnten  Dissertation),  so  durfte  es 
sich  doch  vor  Allem  noch  darum  handeln,  die  her.  pet.  in  jener  Hin- 
sicht zu  dem  zweiten  Teil  des  Ediktes  de  negotiis  gestis  (si  quis 
negotia  quae  cuisque  cum  is  moritur  fuerint)  in  Beziehung  zu  setzen. 
Erst  .wenn  dieser  Punkt  geklärt  wäre,  würde  sich  über  das  Zn- 
treffende  und  die  Tragweite  jenes  Gestionsgesichtspunktes  ein  siche- 
res Urteil  fällen  lassen.  Vorerst  ist  man  noch  nicht  im  Stande,  die 
her.  pet.  und  die  der  Erbschaft  oder  dem  Erben  erworbene  actio 
negot.  gestor.  directa  gehörig  auseinander  zu  halten ,  was  auch  für 
praktische  Konsequenzen  (z.  B.  Pf.  S.  3öO  bei  N.  2)  von  Bedeutung 
sein  würde. 

Die  Tendenz  seiner  Untersuchung :  >eine  feste  und  klare  Unter- 
scheidung des  Eigentumsanspruchs  und  des  Erbschaftsanspruchsc 
(S.  382)  hat  der  Verfasser  erreicht,  wenn  er  auch  selbst  nicht  laug- 
nen  kann,  daß  trotzdem  Nachbildungen  des  einen  nach  dem  andern 
erfolgt  sind,  wie  die  Haftung  fUr  dolus  praeteritus  zeigt  (S.  60).  Es 
würde  dankenswert  gewesen  sein,  hätte  er  die  Differenzen  in  noch 
übersichtlicher  Form  gegeben,  als  dies  in  seiner  Schrift  gescfaehen 
ist.  Wenn  er  dagegen,  wie  einmal  angedeutet  wird  (S.  286) ,  auch 
für  die  her.  pet.  (wie  für  das  interd.  quor.  honor.:  S.  289)  die  An- 
sicht bekämpfen  möchte,  als  sei  dieselbe  durch  »Berufung  auf  Sin- 
gulartitel €  auszuschließen,  so  scheint  er  diese  Absicht  mit  Recht 
wieder  aufgegeben  zu  haben.  Denn  bei  den  Geschäften  des  Erb- 
schaftsbesitzers, welche  die  Erbschaft  objektiv  berühren,  verlangt  er 
selbst,  daß  der  Besitzer  das  Geschäft  in  der  Absicht  ausfährte,  fttr 
sich  »als  Erben  oder  Occupanten«  einen  Vorteil  zu  erlangen  (S.  357). 
Auch  jene  Annahme  für  das  interd.  quor.  bon.  steht  auf  unsicherer 
Basis. 


Hraza,  Ueber  das  lege  agere  pro  tuiela.  998 

Die  Schrift,  deren  Betracbtang  wir  hiermit  schließen ,  wird  sich 
als  eine  beachtenswerte  Leistung  in  den  von  ihr  berührten  Gebieten 
erweisen.  Sind  auch  ihre  Gedanken  nicht  darchgehends  originelle^ 
sondern  Weiterentwicklung  schon  vorhandener  Anschannngen ,  so 
wird  doch  das  Ganze  von  einem  wohlthnenden  Geist  der  Einheit- 
lichkeit in  Zweck  und  Aasftlhrang  getragen.  Vielleicht  könnte  es 
der  Verfasser  durch  die  äußerliche  Anordnung  manchmal  dem  Leser 
leichter  gemacht  haben,  die  von  ihm  bloß  recipierten  Ideen  von  sei- 
nen eigenen  Neukonstruktionen,  die  Neubildung  von  der  Naohbil* 
dung  zu  unterscheiden. 

Johannes  Merkel 


Hruza,  Ernst,  Dr.,  Professor  des  römischen  Rechtes  in  Gzernowitz,  Ueber  das 
lege  agere  pro  tutela.  Rechtsgeschichtliche  Untersuchung.  Erlangen. 
Verlag  von  Andreas  Deichert.    1887.    2  Bl.  u.  79  S.  in  8^ 

Zweck  vorliegender  Schrift  ist  die  Deutung  des  einen  der  im 
pr.  J.  de  bis  per  qnos  4,  10  aufgeführten  Ausnahmsfälle,  in  welchen 
ein  lege  agere  alieno  nomine  zulässig  gewesen  ist,  nämlich  des  agere 
pro  tutela. 

Nach  §  1,  Einleitung,  (S.  1 — 15)  heischt  im  teilweisen  Gegensatze 
zum  Civilprocesse  der  klassischen  Zeit  die  legis  actio,  daß  die  Partei 
sie  nur  zur  Geltendmachung  ihrer  eignen  Rechtsverhältnisse  ver- 
wende, und  sodann,  daß  die  Partei  sie  persönlich  vornehme,  m.  a.  W.: 
man  darf  weder  alieno  nomine,  noch  pro  alio  lege  agere. 

Die  Beschränkung  der  legis  actio  auf  ein  eigenes  Rechtsverhält* 
nis  der  processierenden  Person  erklärt  Verf.  daraus,  daß  das  Be- 
dürfnis, dieselbe  anf  fremde  Rechtsbeziehungen  anzuwenden,  zur  Zeit 
der  Zwölftafelgesetzgebung  keineswegs  stark  genug  war,  um  den 
Bruch  mit  der  auch  sonst  die  Vertretung  ablehnenden  Anschauung 
des  Civilrechts  zu  erzwingen,  während  später  einer  Aendernng  durch 
die  iuris  interpretatio  die  starren  Formen  des  Verfahrens,  insbesondere 
die  dem  Gesetze  selbst  entnommenen  Spruchformeln,  entgegenstanden. 
Mit  Recht  begrenzt  übrigens  Verf.  die  Ausschließung  der  Stellver- 
tretung im  lege  agere  auf  die  solenne  mttndliche  Parteibandlung  in 
iure,  d.  h.  auf  die  eigentliche  legis  actio,  hält  dagegen  eine  Vertre- 
tung in  indicio  auch  im  Legisactionenverfahren  für  durchaus  zu- 
lässig. 

Rechtlich  schutzlos  war  hiernach  also  nur  derjenige,  der  die 
solennen  legis  actiones  in  iure  aus  psychischen  oder  rechtlichen  Grün- 
den nicht  vornehmen  konnte. 


994  Gölt.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  26. 

Wo  jedoch  ein  öffentlicbes  Interesse  an  der  Realität  des  Beebts- 
scbutzes  obwaltete,  da  mußte  die  Gesetzgebung  Mittel  nnd  Wege 
finden,  trotz  derartigen  Gründen  die  ricbterlicbe  Cognition  herbei- 
zaftthren.  So  erklären  sieb  die  im  pr.  J.  cit.  anfgefObrten  Fälle  des 
agere  pro  popaio,  pro  libertate,  pro  tntela  nnd  ex  lege  Hostilia: 
bier  stebt  jedem  Bttrger  das  Recbt  za  ,  in  fremden  Angelegenheiten 
als  Partei  Proceß  za  führen.  Aber  diese  Proceßftlbrang  ist  dadurch 
wesentlich  verschieden  von  dem  alieno  nomine  agere  des  Repräsen- 
tanten im  Formularprocesse,  daß  das  Urteil  in  merito  nicht  fbr  oder 
gegen  den  Popularkläger  wirkt.  Die  Schriftformel  des  Formnlar- 
proeesses  nimmt  neben  der  Recbtsbebauptnng  auch  die  condemnatio 
auf;  so  ist  es  möglich,  die  letztere  auf  eine  andere  Person  za  stel- 
len, als  ftlr  welche  die  intentio  gilt.  Die  Spruchformel  des  Legts- 
actionenprocesses  dagegen  enthält  nur  eine  intentio ;  wo  diese  auf 
ein  eignes  Recht  der  Partei  lautet,  da  ist  es  schlechtbin  ausge- 
schlossen, daß  das  Urteil  für  Dritte  Wirkung  habe.  Anders,  wo  sie 
auf  ein  abstraktes  Sein  oder  Geschehensollen  geht:  hier  ist  es  äußer- 
lich ermöglicht,  daß  das  Urteil  für  Dritte  wirke;  und  es  kommt  nnr 
darauf  an,  ob  diese  Möglichkeit  kraft  gesetzlicher  Sanktion  zu  recht- 
licher Wirklichkeit  gelangen  kann.  Wir  werden  unten  sehen ,  daß 
das  Gleiche  auch  da  gilt,  wo  die  legis  actio  formell  an  einesponsio 
mere  praeiudicialis  geknüpft  wird,  sofern  jene  sponsio  sich  auf  das 
Recht  eines  Dritten  beziehen  darf. 

Ein  Anhang  (S.  15—21)  bebandelt  das  »Agere  alieno  nomine 
und  agere  pro  alio«.  Alieno  nomine  agere  ist  nach  dem  Verf.  eine 
die  verschiedensten  Fälle  des  Processierens  auf  Grund  fremder  We- 
sensbestimmungen umfassende  Bezeichnung,  welche  die  negative  Be- 
grenzung ihres  Gebietes  durch  die  Anerkennung  des  suo  nomine 
agere  im  einzelnen  Falle  findet.  Damit  aber  ein  Processieren  sno 
nomine  vorliege,  muß  der  Klagegrund  ein  materiell  und  formell  eig- 
nes Rechtsverhältnis  des  Klägers  oder  des  Beklagten  (Verf.  sagt 
»Geklagten«)  sein,  gleichviel  ob  er  in  eignem  oder  in  fremdem  Inter- 
esse eintritt.  Allerdings  nehmen  Gai.  IV,  82  und  pr.  J.  4,  10  eit 
das  alieno  nomine  agere  in  einer  engern  Bedeutung,  nämlich  vom 
Processieren  eines  Vertreters;  daß  aber  auch  in  diesen  Stellen  eine 
weitere  Bedeutung  vorschwebe,  zeige  das  velnti,  mit  dem  die  Auf- 
zählung der  gemeinten  Fälle  beginnt. 

Pro  alio  agere  bedeutet  bald  einen  einzelnen  Proceßakt  vorneh- 
men, bald  einen  ganzen  Proceß  führen,  sofern  in  beiden  Fällen  die 
Handlung  des  Einen  unmittelbar  für  einen  Andern  Wirkung  hat. 

Mit  der  Verflüchtigung  des  Gegensatzes  zwischen  Advokatur  and 
Prokuratur  haben  auch  die  juristisch  so  scharf  scheidenden  Wendan- 


Hruza,  Ueber  das  logo  agere  pro  tutela.  995 

gen  alieDo  nomine  agere  and  pro  alio  agere   ibre  teebniBche  Bedeu- 
tung eingebüßt. 

§  2  (S.  21—31)  betrifft  >L.  20  pr.  D.  49,  1  de  appell.  und  die 
grieehiscbe  Institutionenparapbrase  zu  pr.  J.  4,  10«.  Die  erstere 
Stelle  bezeicbnet  als  Processieren  alieno  nomine  die  beiden  Fälle  des 
postulare  suspectum  tutorem  und  das  agere  excusationem  de  nou  re- 
cipienda  tutela.  Der  letztere  Ausdruck  beruht,  wie  Verf.  überzeu- 
gend darlegt,  auf  Interpolation,  welche  vermutlich  dadurch  veranlaßt 
worden  ist,  daß  Hodestinns  von  der,  zu  Justinians  Zeit  unprakti- 
schen, nominatio  potioris  geredet  hat.  Auf  jeden  Fall  aber  liefert 
1.  20  pr.  cit.  keinen  Beitrag  für  die  Hauptfrage,  was  unter  dem  pro 
tutela  agere  in  pr.  J.  4,  10  zu  verstehn  sei,  da  das  Recht  der  Ex- 
cusation  und  der  Nomination  erst  der  Eaiserzeit  angehört,  und  jene 
1.  20  ebenso  wie  die  von  der  suspecti  accusatio  handelnde  1.  1  §  14 
D.  quando  app.  49,  4  Ulpians  aus  einer  Zeit  stammt,  in  der  die  le- 
gis actiones  mit  den  dort  erörterten  Fällen  in  keine  Beziehung 
kamen. 

Die  griechische  Paraphrase  des  pr.  J.  cit.  4,  10  enthält  über 
das  pro  tutela  agere  zunächst  die  Angabe  eines  Thatbestandes,  der 
vollkommen  auf  den  Nominationsproceß  paßt:  zwei  streiten  darüber, 
wer  Vormund  sein  solle,  d.  i.,  wen  die  Pflicht  der  Vormundschaft 
treffe ,  wer  potior  sei.  Dann  folgt  die  Erklärung ,  wieso  man  hier 
alieno  nomine  processiere,  und  zwar  dahin:  der  Besiegte  habe  alieno 
nomine  processiert,  weil  er,  wie  der  Ausgang  des  Processes  zeige, 
processiert  habe  für  eine  Tutel,  d.  h.  im  Interesse  einer  Tutel,  die 
ihm  nicht  zustehe,  also  nicht  suo  nomine.  Irrig  ist  diese  Erklärung 
insofern,  als  sie  die  Entscheidung  darüber,  wer  alieno  nomine  pro- 
cessiert habe,  vom  Ausfalle  des  Processes  abhängig  macht;  unkorrekt 
ist  sie  ferner  darin,  daß  ihr  Ausdruck  auf  eine  vindicatio  tutelae  hin- 
weist, obwohl  dies  mit  der  vorangeschickten  Angabe  des  Thatbe- 
standes in  Widerspruch  steht,  und  dabei  von  einem  alieno  nomine 
agere  nicht  die  Rede  sein  könnte.  Allein  jene  Anstöße  verlieren  ihr 
Gewicht,  wenn  man  die  ganze  Erklärung  für  die  Zugehörigkeit  des 
bezeichneten  Thatbestandes  zu  dem  alieno  nomine  agere  lediglich 
als  einen  eigenen  Gedanken  des  Verfassers  der  Paraphrase  ansieht, 
der  auf  mangelhafter  Kenntnis  des  Institutes  der  nominatio  potioris 
beruht  Sollte  es  übrigens  befremden,  daß  die  Aenßerung  des  Para- 
phrasten  auf  eine  Institution  bezogen  wird,  welche  erst  Jahrhunderte 
nach  der  lex  Aebutia  aufkam,  so  darf  nicht  übersehen  werden,  daß 
derselbe  nirgends  von  der  Zeit  der  legis  actiones  redet,  sondern  da- 
von, daß  ndXa$  das  alieno  nomine  agere  unzulässig  war,  dieses  nd^ 
la$  aber  recht  fttglich  in  die  Zeit  der  klassischen  Juristen  verlegen 


996  Gott.  gel.  An/..  1887.  Nr.  26. 

konnte.    Aucü   aus   der  Paraphrase  also   läftt  sich  Aufklärang  ttber 
die  Fälle  des  pro  tatela  agere  der  Legisactionenzeit  nicht  gewinneii. 

§  3.  »Die  herrschende  Lehre.  —  Die  BedQrfni6frage€  (S.  31 — 
43)  gibt  eine  Beurteilang  derjenigen  Auffassang  des  pro  tatela 
agere,  welche  darunter  den  Procefi  des  Tators  nomine  papilii  yer* 
steht,  mag  sie  nun  die  Zulässigkeit  einer  derartigen  Proceftvertre- 
tung  im  Legisactionenprocesse  auf  infantes  beschränken  oder  fbr 
alle  pnpilli  sni  iuris  annehmen.  Das  Hauptgewicht  legt  diese  Auf- 
fassung auf  das  Bedürfnis.  Indessen  ist  ein  solches  Bedürfnis  nor 
bei  infantes  anzuerkennen;  bei  pupilli  infantia  maiores  genügte  das 
eigne  Auftreten  anctore  tutore;  obendrein  begrenzte  man  zar  Zeit 
der  Legisactionen  die  infantia  wohl  mit  dem  fari  posse  im  natttrli- 
eben  Sinne.  Das  für  die  infantia  in  diesem  Sinne  anläagbare  Be- 
dürfnis jedoch  läftt  eine  Schlußfolgerung  auf  das  Vorhandensein 
einer  Proceßvertretung  um  so  weniger  zu,  als  noch  in  klassischer 
Zeit,  wie  der  Verf.  scharfsinnig  ausführt,  der  Rechtsgang  vielfach 
durch  die  infantia  eines  Beteiligten  gehindert  wurde,  und  auch  sonst 
Lücken  in  dem  Organismus  des  älteren  römischen  Rechtes  sieh  fin- 
den.    Leider  fehlt  hier  der  Raum  auf  diese  Ausftthrungen  einzngebn. 

§  4.  »Sprachliches;  insbesondere  Gellius  noctes  atticae  V,  13, 
§  5c  (S.  43-46)  weist  den  Versuch  Kellers  zurück,  durch  Bezug- 
nahme auf  Gellius  das  agere  pro  tutela  in  pr.  J.  4,  10  als  agere 
pro  pupillo  aufzufassen. 

§  5.  »Rückschlüsse  aus  dem  Klagrechte  des  Tators  im  Forma- 
larprocesse«  (S.  46—53)  legt  dar^  daß  zu  der  von  der  herrschenden 
Lehre  in  dem  pro  tutela  agere  zur  Legisactionenzeit  angenommenen 
direkten  Vertretung  des  Pupillen  darch  den  Tutor  die  aas  Gains 
und  aus  den  Digesten  sich  ergebende  Weise  jener  Vertretang  im 
Formularprocesse,  nämlich  mittels  Nameusumstellnng  in  der  Formel, 
eine  Weise,  welche  noch  gemäß  dem  edictum  perpetuum  Jalians  das 
eigne  Klagrecht  des  Pupillen  nicht  konsumierte,  schlechterdings  nicht 
paßt;  daß  vielmehr  die  Stellung  des  Tators  im  Formularprocesse  nar 
den  Rückschluß  gestattet,  der  Tutor  habe  im  Legisactionenprocesse 
für  den  Pupillen  nicht  klagen  kOnnen. 

§  6.  »Die  Rolle  des  Tutors  im  Inofficiositätsprocesse  des  Pa- 
pillen« (S.  53—67)  bringt  ein  bisher  unbenutztes  Moment  in  die 
Frage.  Mehrere  Stellen  reden  von  der  querela  inofficiosi  testamenti, 
welche  der  Tutor  pupilli  nomine  durchführt;  zur  Zeit  der  Verfasser 
jener  Stellen  aber  wurde  die  Querel  durch  legis  actio  verhandelt 
Es  scheint  hiermit  also  der  Beweis  erbracht,  daß  im  Legisactionen- 
verfahren  eine  direkte  Stellvertretung  des  Papillen  dnrob  den  Tutor 
thatsächlich  vorgekommen  ist.    Eben   diesen  Beweis  sacht   nnn  der 


Hruza,  Ueber  das  lege  agere  pro  tutela.  997 

Verf.  zu  entkräften,  indem  er  die  in  den  fraglichen  Stellen  erwähnte 
Thätigkeit  des  Tutors  anf  eine  bloße  Beistandsebaft  desselben  bei 
einer  Klage  des  Pupillen  deutet.  Daß  dieser  Weg  in  unlösbare  Ver- 
wickelungen führt,  zeigt  schon  die  nichts  weniger  als  durchsichtige 
Darstellung  des  Verf.s.  Vielleicht  wäre  er  zu  einer  weit  einfachem 
Beseitigung  der  Schwierigkeit  gelangt,  wenn  er  nicht  auffallend  ge- 
nug (s.  namentlich  S.  56  N.  7  und  S.  59  Abs.  2)  Folgendes  außer 
Acht  gelassen  hätte.  Wenn  die  legis  actio  aus  dem  Rechte  eines 
Andern  da  unstatthaft  war,  wo  ihre  intentio  eben  dieses  fremde 
Recht  hätte  nennen  müssen,  so  stand  doch  ihrer  Anwendung  da  ein 
formelles  Bedenken  nicht  entgegen ,  wo  sie  auf  Orund  einer  von  der 
Proceßpartei  über  das  Dasein  eines  fremden  Rechtes  eingegangene 
sponsio  geschah:  denn  in  solchem  Falle  lautete  ihre  intentio  durch- 
aus korrekt  auf  aio  te  mihi  tot  HS  dare  oportere.  Nun  aber  ist  es 
in  hohem  Grade  wahrscheinlich,  daß  die  querela  inoiBciosi  stets  durch 
legis  actio  sacramento  in  personam  ex  sponsione  verhandelt  worden 
ist.  Wir  brauchen  also  nur  anzunehmen,  daß  der  Prätor  mittels  der 
gewöhnlichen  Folgen  des  non  uti  oportet  recte  se  defendere  den 
Beklagten  nötigte,  mit  dem  Tutor  des  in  seinem  Pfiichtteilsrechte 
angeblich  verletzten  Pupillen  eine  sponsio  darüber  einzugehn,  ob 
jene  Verletzung  vorliege,  so'  haben  wir  einen  durchaus  klaren  Fall 
einer  legis  actio,  die  zwar  nicht  formell,  durchaus  aber  der  Sache 
nach  auf  Grund  eines  fremden  Rechtes  und  mit  ausschließlicher 
Wirkung  für  einen  Dritten  stattfand.  Schon  die  in  den  fraglichen 
Stellen  erhaltene  Gleichstellung  der  querela  inofficiosi  mit  der,  for- 
mell ebenfalls  proprio  iure,  i.  e.  iure  civis  erfolgenden,  accnsatio 
falsi  testamenti  nomine  pnpilli  in  Beziehung  auf  die  Indignität  des 
Tutors  für  die  Zuwendungen  in  dem  angefochtenen  Testamente 
macht  diese  Auffassung  nahezu  unabweisbar.  Gewiß  ist  es  richtig, 
daß  die  Indignität .  auch  wegen  einer  erfolglosen  querela  inofficiosi 
nicht  bloß  den  Querulanten  selbst  betrifft,  sondern  auch  dessen  Bei- 
stände ;  ebenso  daß  nach  1.  2  §  1  De  acc.  48,  2  seit  Vespasian  auch 
ein  Pupill  wegen  des  Testamentes  seines  Vaters  die  accusatio  falsi 
erheben  konnte;  und  ohne  Zweifel  stand  bei  deren  Anstellung^und 
Durchführung  der  Tutor  ihm  zur  Seite.  Nichtsdestoweniger  ist  es 
höchstens  als  letzter  Notbehelf  erträglich,  1.  30  §  1  D.  de  inoff. 
test  5,  2  und  1.  5  §  9  D.  de  his  qnib.  ut  indign.  34,  9  auf  eine 
bloße  Beistandschaft  der  Tutoren  zu  beziehen;  und  völlig  gewalt- 
sam ist  es,  in  dieser  Weise  die  1.  22  eod.  zu  deuten.  Hier 
bringt  Tryphoninus  nicht  etwa,  wie  Verf.  meint,  zur  Unterstützung 
der  Behauptung,  daß  der  Tutor  durch  die  accusatio  falsi  und  durch 
die  querela  inofficiosi  pupilli  sni  nomine  für  Zuwendungen   ans  dem 


998  Qött.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  26. 

erl'olgloB  aDgefochtenen  Testamente  oicbt  iodigous  werde,  Analogieo 
bei,  für  welche  immerhiD  ein  argnmentam  a  maiore  ad  minus  ange- 
nomnien  werden  dürfte;  er  stellt  vielmehr  unter  dem  nämlicheD  Ge- 
sichtspunkte: quia  officii  necessitas  et  tntoris  fides  excusata  esse 
debet,  die  beiden  angeführten  Fälle  mit  zwei  anderen  zusammen: 
der  Tutor,  welcher  zum  Besten  seines  Papillen  (pupilli  sai  nomine) 
eine  Kapitalanklage  gegen  den  Freigelassenen  seines  eignen  Vaters 
erhebt,  verwirkt  dadurch  nicht  die  bonorum  possessio  contra  tabnlas 
dieses  Freigelassenen,  wie  ihn  deswegen  auch  das  calamniae  indicinm 
nicht  trifft;  und  er  unterliegt  nicht  dem  Turpillianum  Sctum,  wenn 
er  nach  erlangter  Mündigkeit  des  Papillen  eine  dessen  wegen  (sab 
nomine  pupilli)  erhobene  Eriminalanklage  nicht  verfolgt.  Tritt  nan 
der  Tutor  in  diesen  beiden  Fällen,  wie  Verf.  S.  62  ausdrücklich  an- 
erkennt, selbst  als  Proceßpartei  auf,  so  muß  dasselbe  auch  für  den 
uns  hier  angehenden  Fall  angenommen  werden.  Und  wenn  1.  22 
cit.  i.  f.  sagt:  deniqne  pupillo  relicta  in  eo  testamento  .  .  .  pereunt: 
adeo  ille  est  accusator,  is  defensor  et  qaasi  patronus  — ,  so  darf 
darin  keinesweges  mit  dem  Verf.  geradezu  der  Ausspruch  gefanden 
werden,  daß  der  Pupill  Proceßsubjekt,  und  der  Tutor  nur  sein  Bei* 
stand  sei.  Dies  wäre  mehr  als  eine  Plattheit!  Im  Gegenteil  meint 
der  Jurist:  obgleich  formell  der  Tutor  der  Kläger  ist,  undzwarniebt 
tutorio,  sondern  proprio  nomine,  so  handelt  es  sich  doch  lediglich 
um  eine  Angelegenheit  des  Pupillen,  deren  unerwünschte  Neben- 
wirkungen daher  ausschließlich  letztern  treffen  dürfen.  So  erhält  auch 
das  vom  Tutor  gebrauchte  quasi  patronus  seinen  prägnanten  Sinn 
(vgl.  auch  1.  1  §  14  D.  quando  app.  49,  4,  welche  den  acensator 
suspecti  tutoris  »quasi  pupilli  defensorem«  nennt  S.  70 f.);  die  Deu- 
tung des  Verf.s,  wonach  der  den  selbst  auftretenden  Pupill  nnter- 
stUtzende  Autor  nicht  Patron  im  vollen  Sinne,  sondern  nur  in  be- 
schränkter Weise  wäre,  ist  äußerst  erkünstelt 

§  7.  »Die  postulatio  suspecti  tutoris«  (S.  67—79)  endlich  gibt 
die  Begründung  der  vom  Verf.  schon  zu  Beginn  seiner  Darstellung 
ausgesprochenen  Ansiebt,  das  pro  tutela  agere  kOnne  keinen  andern 
Sinn  haben,  als  im  Interesse  der  Tutel,  d.  b.  im  Interesse  ihres  Be- 
standes oder  ihrer  gedeihlichen  Wirksamkeit  klagen.  Da  nach  den 
vorangehenden  Ausführungen  hiermit  ein  Processieren  des  Tutors  fttr 
den  Pupillen  nicht  gemeint  sein  kann,  so  bleibt  als  wirkliob  gemein- 
ter Fall  nur  die  bereits  von  Rudorff  unter  Zustimmung  Elenzes  be- 
zeichnete postulatio  suspecti  tutoris  übrig. 

Der  Postulationsproceß  ist  nach  dem  Zeugnisse  der  Pandekten* 
Juristen  ein  Givilproceß,  der  durch  magistratisohe  Kognition  erledigt 
wird.    Daß  er  kein  Strafproceß  ist,  ergibt  sich  aus  der  Zulftsaigkeit 


GroB,  Das  Recht  an  der  Pfründe  999 

eines  DefeDSors  für  den  belangteu  Tutor  mit  der  Notwendigkeit  der 
cautio  de  rato^  während  umgekehrt  die  Zulässigkeit  eines  Procura- 
tors auf  klägerischer  Seite  nur  deshalb  regelmäßig  verworfen  wird, 
weil  die  Verurteilung  infamiert;  die  Acbniichkeit  mit  den  iudicia 
publica  liegt  lediglich  darin,  daß  jedem  Bürger  die  postulatio 
suspecti  zusteht.  Der  Postulationsproceß  des  klassischen  Rechtes  be- 
ruht auf  dem  edictum  perpetuum.  Doch  ist  uns  bezeugt,  daß  das 
suspecti  crimen,  wobei  jedoch  nicht  an  ein  Strafverfahren  zu  denken 
ist,  aus  den  12  Tafeln  stammt.  Diese  wollen  dem  ungetreu  befunde- 
nen Tutor  die  ihm  nach  damaliger  Auffassung  als  Recht  zustehende 
Tutel  entzogen  wissen ;  und  es  ist  kaum  denkbar,  daß  dies  der 
arbiträren  Willkür  des  Magistrates  überlassen  worden  wäre.  Es  ist 
vielmehr  anzunehmen,  daß  hierzu  ein  gerichtliches  Verfahren  eintrat; 
Verf.  denkt  nach  Cic.  de  orat.  1,  38,  173:  in  causis  centumviralibnSi 
in  qnibus  —  tutelarum  iura  —  versentur  —  an  das  Centumviral- 
gericht,  etwa  auch  an  die  decemviri  stlitibus  iudicandis.  Auf  alle 
Fälle  war  die  Form  des  Verfahrens  eine  legis  actio,  ohne  Zweifel 
Sacramento.  Unbedenklich  aber  darf  die  für  die  spätere  Zeit  be- 
kundete Popularklage  schon  fUr  die  älteste  Zeit  angenommen  wer- 
den; der  Postulant  steht  dabei  im  ganzen  dem  vindex  in  libertatem 
ähnlich:  wie  dieser  pro  libcrtate,  so  processiert  jener  pro  tutela. 
Zuletzt  ist  auch  die  suspecti  postulatio  gleich  dem  Freiheitsprocesse 
der  magistratischen  Cognition  überwiesen  worden. 

Berichterstatter  glaubt,  der  dargestellten  Auslegung  des  pro  *tu- 
tela  agere  beistimmen  zu  sollen,  und  kann  somit  das  Endergebnis 
der  Arbeit  gutheißen.  Mancherlei  Einzelheiten,  welche  ihm  zweifel- 
haft|  wo  nicht  bedenklich  erschienen  sind,  müssen  hier  unberührt 
bleiben. 

Der  Druck  ist  nicht  frei  von  kleinen  Satzfehlern ;  als  störend  ist 
jedoch  nur  zu  verzeichnen  S.  64  N.  33  Z.  1  v.  o.,  wo  statt  1.  2  G.  6, 5 
zn  lesen  ist:  1.  2  C.  6,  35.  Verwahrung  sei  übrigens  eingelegt  ge- 
gen ein  Absetzen  wie  »Inte-ressec  (S.  9  Z.  2  und  3  v.  u.)  und  »Res- 
oriptc  (S.  26  Z.  1  n.  2  v.  o.). 

Harburg.  August  Ubbelohde. 


Grofi,  Karl,  Dr.,  K.  E.  Regierangsrat  und  o.  o.  Professor  der  Rechte  an  der 
E.  K  Universität  in  Graz,  Das  Recht  an  der  Pfründe.  Zugleich 
ein  Beitrag  zur  Ermittlung  des  Ursprungs  des  jus  ad  rem.  Graz,  Leuschner 
und  Lubensky  1887.    818  S.    8^ 

Seitdem   Bonifacins   VIII.   das   Recht   des   Beneficiaten   als  ein 
»jus  in  ipso  beneficio»  bezeichnet  hat,  ist  die  Frage  nach  dem  We- 


1000  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  26. 

sen  des  Beneficiatenverhältnisses  tod  der  kanonistischen  Wissenschaft 
vieifacb  diskutiert  worden.  Es  wurde  bald  als  usus  und  Nieftbraacb, 
bald  als  ein  dem  Nießbrauch  ähnliches  Rechtsinstitnt,  als  Lehen  oder 
lehenartiges  Recht  begriffen.  Dem  Beneficiaten  wurde  die  eivilrecht- 
liche  Stellung  des  emphyteuta,  des  procurator  in  rem  suam,  des  Vor- 
munds, des  Ehemanns  zugewiesen,  nicht  selten  wurden  auch  mehrere 
Analogien  zugleich  benutzt  »Ein  eclatanterer  Beweis€,  so  meint  da- 
her der  Verf.  S.  10,  »daß  eben  keine  einzige  der  herangezogenen 
Analogien  vollkommen  paßt,  kann  wohl  nicht  leicht  geboten  werden, 
als  diese  Ergänzung,  resp.  Korrektur  der  einen  durch  die  andere,  und 
es  liegt  auf  der  Hand,  daß  auf  diesem  Wege  für  die  juristische 
Qualificieruug  jenes  jus  in  beneficio  ebenso  wenig  gewonnen  ist,  als 
mit  denjenigen  Darstellungen,  welche  von  einer  >qualiflcierten  Nutz- 
nießung« von  einer  über  die  Grenzen  des  Ususfructus  hinausgehen- 
den dinglichen  Berechtigung  des  Beneficiaten  reden,  ohne  sich  um 
die  Frage  zu  bekümmern,  ob  durch  diese  »Qualifikation«  oder  durch 
dieses  Plus  der  herbeigeholte  juristische  Typus  nicht  wesentlich  al- 
teriert  wird«.  Einzelne  Eanonisten  verzichteten  auf  eine  feste  Rabri- 
cierung,  z.  B.  Richter -Dove,  0.  Mejer,  Httbler,  Friedberg.  Sie  ent- 
schlugen  sich  aber  nach  der  Ansicht  des  Verf.,  S.  11,  »damit  auch 
ganz  der  juristischen  Bestimmung  des  in  Rede  stehenden  »jos  in 
ipso  beneficio«.  Der  Verf.  erklärt,  die  kanonistische  Jorispradenz 
könne  sich  dieser  Aufgabe  nicht  entziehen  (S.  13),  und  seine  Unter- 
suchungen sind  der  Lösung  derselben  gewidmet  Er  selbst  spricht 
in  der  Einleitung  S.  16  seine  Absichten  dahin  ans:  »Im  Nach- 
folgenden soll  der  Versuch  gemacht  werden,  die  herrschende  Un- 
klarheit und  Unsicherheit  in  der  Bestimmung  der  rechtlichen  Stel- 
lung, in  welcher  sich  der  Beneficiat  zu  seinem  Beneficium  befindet, 
dadurch  zu  beheben,  daß  die  allgemeine  Auffassung,  welche  dies* 
falls  in  der  geschichtlichen  Entwicklung  des  kirchlichen  Beneficial' 
Wesens  hervortritt  nnd  insbesondere  in  der  von  der  kanonistischen 
Rechtswissenschaft  gelieferten  und  im  positiven  kanonischen  Reebte 
stets  festgehaltenen  Konstruktion  des  »jus  in  re,  jus  in  ipso  beneficio« 
zum  Ausdruck  kommt,  festgestellt  und  darnach  die  juristische  Natur 
dieses  Verhältnisses  bestimmt  wird«.  Zn  diesem  Zweck  behandelt 
der  Verf.  im  1.  Kap.  »die  selbständige  Natur  und  Entwicklung  der 
kirchlichen  Beneficien«  (S.  21 — 93),  im  2.  Kap.  »die  juristische  Kon- 
struktion des  Beneficiatenverhältnisses«  (S.  94 — 222),  im  3.  Kap. 
»das  jus  in  re«  (S.  222—273),  im  4.  Kap.  »das  jus  ad  rem«  (S.  274. 
— 301)  und  im  ö.  Kap.  »den  rechtlichen  Charakter  des  Beneficiaten- 
verhältnisses t  (S.  302—310). 

Pie  Entwicklung  der  kirchlichen  Beneficien  fällt  in  das  4.-9. 


GroB,  Das  Recht  an  der  Pfründe.  1001 

Jahrhundert.  Der  Verf«  hat  dieselbe  S.  21  ff.  näher  beschriebeD  and 
die  Selbständigkeit  dieser  Entwicklung  betont.  Insbesondere  wies 
er  mit  yielem  Geschick  die  Annahme  zurück,  als  seien  die  Benefi- 
cien  in  Anlehnung  an  die  beneficia  militaria  der  späteren  römischen 
Kaiserzeit  oder  in  Nachahmung  des  römischrechtlichen  precarium 
entstanden.  Ebenso  wenig  haben  sie  die  rechtliche  Natur  der  mittel- 
alterlichen precariae.  Das  Verhältnis  des  Klerikers  zu  dem  ihm  pro 
stipendio  verliehenen  Kirchengut  bezeichnet  er  mit  Recht  als  ein 
nach  Grund  und  Inhalt  ganz  eigentumliches,  welches  von  Anfang  an 
die  Elemente  für  ein  eigenartiges  juristisches  Gebilde  in  sich  trug. 
Die  kirchlichen  Beneficien  sind  insbesondere  unabhängig  vom  ger- 
manischen Beneficialwesen  ins  Leben  getreten.  Dasselbe  hat  auf 
die  Fortbildung  und  Festigung  wohl  Einfluß  gettbt,  aber  Vorbild  fUr 
dieselben  war  es  nicht. 

Nachdem  die  unabhängig  von  jedem  bestimmten  Typus  des  Ci- 
vilrechts  auf  rein  kirchlichem  Grunde  entstandenen  Beneficien  be- 
reits im  9.  Jahrb.  eine  feste  und  bleibende  Gestaltung  und  ihre  tech- 
nische Benennung  erlangt  hatten,  sorgte  das  10.  und  11.  Jahrh.  für 
die  weitere  Ausbildung  und  Ausbreitung.  Die  innere  Durchbildung 
und  juristische  Gestaltung  jedoch  begann  erst  im  12.  Jahrh.',  sie 
wurde  aber  auch  alsbald  so  eifrig  und  allseitig  betrieben,  daß  die 
diesbezügliche  litteraturgeschichtliche  Darstellung  ein  eigenes  Buch 
erfordert,  wie  denn  auch  hier  der  Schwerpunkt  der  G.schen  Arbeit 
zu  suchen  ist.  Alle  Wandlungen  und  Nuancierungen  der  wissen- 
schaftlichen Erklärungsversuche  sind  hier  mit  peinlichster  Sorgfalt 
verzeichnet,  jeder  Wechsel  der  gesetzgeberischen  Formulierung  ist 
beachtet,  bis  dann  am  Schluß  die  beiden  hier  in  Betracht  kommen- 
den Begriffe  des  jus  in  re  und  jus  ad  rem  aus  dem  entwicklungs- 
geschichtlichen Reinigungsproceß  geläutert  hervortreten  and  im  gel- 
tenden Becht  ihren  Platz  einnehmen. 

Das  Recht  des  Beneficiaten  am  Pfrttndegnt  wurde  anfangs  wie 
die  anderweitigen  Befugnisse  des  sacrum  officium  als  Bestandteil  der 
im  Amt  verkörperten  öffentlichen  Kirchenverwaltung  angesehen;  als- 
bald aber  trat,  wie  dies  auch  auf  andern  Gebieten  geschah,  das  Be- 
streben hervor,  dasselbe  unter  privatrechtliche  Gesichtspunkte  zu 
bringen  und  nach  solchen  näher  zu  bestimmen  (S.  175).  Und  zwar 
war  es  die  Kategorie  des  jus  in  re,  welche  die  Herrschaft  gewann, 
jene  Kategorie,  welche  die  Glossatoren  des  römischen  Rechts  gerade 
erst  aufgestellt  hatten  (Landsberg,  die  Glosse  des  Accursins  82  ff.). 
Goffredns  de  Trano  (S.  125  ff.)  ist,  soweit  wir  sehen,  der  erste,  wel- 
cher das  Beneficiatenverhältnis  als  ein  jus  in  praebenda,  jus  in 
ecclesia,  als  ein  jus  in  re  bezeichnete.    Diese  Qualificierung  des  Be- 

Q«tl.  g»l.  Ans.  1887.  Nr.  M.  69 


T002  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  26. 

neficiateDverhältnisses  erfolgte  unter  AnerkenouDg  aller  Kousequeu- 
zen  (139  ff.).  Gegenstand  des  jas  in  re  ist  das  Beneficium,  d.  h. 
das  Eirchenamt  und  die  einzelnen  Guter  und  Bezugsrechte ,  welche 
mit  demselben  in  dauernder  Verbindung  stebn.  Es  ist  demnach  ein 
Komplex  ziemlich  verschiedenartiger  Dinge,  welcher  von  dem  jus  in 
re  ergriffen  wird  und  worin  die  vermögensrechtliche  Seite  keines- 
wegs ausschließliche  oder  allein  maßgebende  Bedeutung  bat  (S.  223). 
Schon  hieraus  geht  hervor,  daß  ein  solches  jus  in  re  mit  den  ttbri- 
gen  jura  in  re  nicht  gleichartig  sein  kann.  Das  beneficium,  an  dem 
das  jus  in  re  besteht,  nennt  der  Beneficiat  9suum«,  sein  Recht  kann 
somit  überhaupt  beim  jus  in  re  aliena  sein,  abgesehen  davon,  daft 
dieses  jus  in  re  auch  nach  seiner  rein  vermögensrechtlichen  Seite 
mit  keinem  anderen  dinglichen  Rechte  identisch  ist  Es  erscheint 
als  ein  durchaus  eigenartiges  Gebilde.  Dieser  Beweis  wird  im  3. 
Kapitel  erbracht.  Die  Entwickelung  des  Pfrttnderechts  war  durch 
die  Rubricierung  jus  in  re  von  vornherein  in  eine  falsche  Bahn  ge- 
wiesen. Mit  den  jura  in  re  des  Civilrecbts  hat  dieses  Recht  nichts 
zu  thun,  und  die  Subsumtion  unter  dieses  oder  jenes  dingliche 
Recht,  ususfructus,  usus  u.  s.  w.  mußte  sich  als  verfehlt  erweisen« 
Das  Verhältnis  des  Beneficiaten  zu  seinem  Beneficium  konnte  nnn 
und  nimmer  ein  bloß  privatrechtliches  Verhältnis  werden,  denn  ein 
sehr  wichtiger  Teil  des  Inhaltes  dieses  jus  in  re  bezieht  sich  auf  die 
in  dem  Beneficium  enthaltenen  Amtsfnnktionen.  Wie  soll  sich  nan 
ein  Recht,  dessen  Objekt  und  dessen  Inhalt  einen  so  eminent  öffent- 
lichrecbtlichen  Bestandteil  aufweist,  mit  Emphyteusis,  Nießbrauch  ete. 
auf  eine  Stufe  stellen  lassen?  (S.  307).  Und  wenn  wir  die  Be- 
ziehung des  Beneficiaten  zu  den  Beneficialgütern  allein  ins  Aage 
fassen,  so  sucht  der  Verf.  der  Auffassung  Bahn  zu  brechen  (225  ff.), 
daß  die  dem  Beneficiaten  gewährte  rechtliche  Macht  quantitativ  und 
qualitativ  verschieden  ist.  Vor  allem  ist  dieser  Inhalt  des  jus  in  re 
nicht  bloß  Berechtigung,  sondern  auch  Verpflichtung  (S.  305),  er 
kann  nur  durch  den  im  öffentlichen  Recht  vorgeschriebenen  Ueber- 
tragungsakt  der  zuständigen  Autorität,  niemals  durch  beliebige 
Disposition  des  bisher  Berechtigten  begründet  werden.  Vermögens- 
rechtliche Bedeutung  und  ökonomischer  Wert  kommt  diesem  Jos  in  re 
wohl  zu,  aber  das  vermögensrechtliche  Princip  der  Uebertragbarkeit  ist 
ihm  fremd.  Der  Verf.  kommt  somit  zu  dem  Schluß:  >da8  jus  in  re 
des  Beneficiaten  stellt  sich  als  eine  ganz  eigenartige,  von  allen 
sonstigen  Erzeugnissen  des  Rechtslebens  grundverschiedene  Schöpfung 
der  kirchlichen  Rechtsbildung  dar.  Hervorgegangen  aus  dem  Be- 
streben, die  durch  die  geschichtliche  Entwicklung  des  kirchlichoi 
Beneficialwesens  geschaffene  Stellung  des  Beneficiaten  rechtlieb  bc- 


GroB,  Das  Recht  an  der  Pfründe.  10Ö3 

Stimmt  und  sicher  zq  fundieren,  wurde  es  gebildet  nach  dem  Typus 
des   umfassendsten    und    intensivsten   aller    privatrechtlichen    Herr- 
schaftsverhältnisse,  des  Eigentums  und  ihm  dadurch  eine  Gestalt  ge- 
geben,  welche  es  zu  einem    dinglichen  Rechte   am  Amte  macht  und 
äußerlich  unter  die  Formationen  des  Privatrechts  bringt.   Die  privat- 
rechtliche Macht   seines  Typus  konnte  aber  in   diesem  seiner  inner- 
sten Natur  nach  öffentlichrechtlichen  Verhältnisse  niemals  zu  reinem 
Ausdrucke  kommen,  sondern  nur  sinngemäße,   nach   der  einen  Seite 
(in  Bezug  auf  die  Amtsfunktionen)  nur  ganz  entfernte,  nach  der  an- 
dern Seite   (in  Bezug   auf  die  Vermögensgüter    des  Beneficiums)  je 
nach  der  Beschaffenheit  der  diesfälligen  Bestandteile  seines  Objektes 
mehr  oder  weniger  vollständige  Anwendung   finden   und   mußte  da- 
durch einen  Charakter    erlangen,   der   dem   öffentlichen  Rechte  weit 
näher    steht,    als    dem    Privatrechte.      Das    Beneficiatenver- 
hältnis  nach   seiner   heutigen  Gestaltung  i  m  kanoni- 
schen   Rechte    ist    zu    bezeichnen    als   ein   öffentlich 
rechtliches  Verhältnis,   das   aber   wegen   der  in  dem  Bene- 
ficium    enthaltenen   Vermögensgüter    in    eine   nur    für    Privatrechts- 
verhältnisse bestehende  juristische  Form  gebracht  ist;  das  jus  in  re 
des  Beneficiaten   ist   zu    bezeichnen  als   ein  Recht,   das  zwar  einen 
dem    Eigentumsrechte    nachgebildeten ,     also   privatrechtlich   formu- 
lierten  Inhalt   hat,    welcher  jedoch    wegen   der  im  Beneficium  ent- 
haltenen öffentlichrechtlichen  Bestandteile  und  wegen   der  durch  das 
öffentliche   Recht   gezogenen   Schranken   gerade   in   seinem   privat- 
rechtlichen Charakter   wesentlich    alteriert   ist.     Oeffentlichrechtliche 
Natur  des  Verhältnisses  und    privatrechtlicher  Charakter  seiner  For- 
mulierung fließen  in  dem  jus  in  beneficio  in  einander,  gerade  so  wie 
in  seinem  Objekte  Amtsfunktionen  und  Vermögensgüter  in  untrenn- 
bare Verbindung  gebracht   sind    und   machen   dasselbe    zu    einem 
Rechtsgebilde,   welches   einen    aus   privatrechtlichen    und  öffentlich- 
rechtlichen Elementen  zusammengesetzten  Inhalt   hat   und  sonst  we- 
der im  Gebiet  des  öffentlichen,  noch  in  dem  des  Privatrechts  seines- 
gleichen findete. 

Der  Verf.  hat  die  aus  der  privatrechtlichen  Fundierung  des  be- 
neficiatischen  Rechts  sich  ergebenden  Unzuträglichkeiten  scharf  her- 
vorgehoben und  insbesondere  die  Anlehnung  an  die  civilrechtliche 
Kategorie  des  jus  in  re  mit  Erfolg  zurückgewiesen.  Dies  rechnen 
wir  ihm  zum  Verdienst  an.  Wir  hätten  es  aber  für  folgerichtiger 
gehalten,  wenn  er  noch  weiter  gegangen  wäre  und  die  mittelalter- 
liche Rubricierung  ganz  beseitigt  hätte.  Ein  jus  in  re,  welches  mit 
dem  bekannten  jus  in  re  nichts  zu  thun  hat,  hat  den  Anspruch  auf 
diese  Charakterisierung  verwirkt.      »Ein    jus   sni  generis,    ein  ganz 

69» 


1004  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  26. 

eigeDartiges,  yod  allen  sonstigen  Rechtsbildangen  wesentlich  ver- 
schiedenes Recht«  (310)  mnß  von  der  Subsumtion  unter  einen  mit 
bestimmtem  Inhalt  ausgestatteten  Rechtsbegrifif  befreit  werden.  Sonst 
haben  wir  ein  jus  in  re,  welches  die  Eigentümlichkeit  besitzt,  kein 
jus  in  re  zu  sein. 

Es  liegt  außer  allem  Zweifel,  daß  klagerechtliche  Gesichtspunkte 
die  mittelalterliche  Eanonistik  ins  Privatrechtslager  getrieben  haben. 
Eine  Verwaltungsgerichtsbarkeit  war  noch  nicht  entwickelt,  fttr  die 
Geltendmachung  öfifentiichrechtlicher  Ansprtlche  fehlte  das  besondere 
Forum.  Dieselben  wurden  in  privatrechtlicher  Form  und  daher 
auch  nach  privatrechtlichem  Gesichtspunkt  entschieden.  Wie  der 
Verf.  selbst  an  einer  anderen  Stelle  (130)  mit  Recht  hervorhebt, 
war  im  Mittelalter  die  Einteilung  der  Klagen  der  Grund  für  die 
Einteilung  der  Rechte.  Der  Beneficiat  war  nun  mangels  verwal- 
tungsrechtlicher Schutzvorrichtungen  durch  die  »in  rem  actio  ad 
instar  rei  vindicationis«  —  nach  Durantis  sogar  durch  die  rei  vin- 
dicatio schlechthin  —  durch  die  actio  Publiciana  und  Interdicte 
gesichert.  Es  stand  nach  der  Auffassung  der  Zeit  somit  nichts 
im  Wege,  sein  Recht  als  ein  dingliches  Recht  zu  begreifen.  Dem 
gegenüber  gilt  es  heute  für  ausgemacht,  daß  sich  die  Natar  eines 
Rechtes  nicht  nach  der  Art  seiner  Klage  bestimmt  Die  nenere 
Entwickelung  hat  sodann  in  der  Ausbildung  der  Verwaltungsrecbts- 
sprechung  für  den  Schutz  öffentlicher  Rechte  besser  gesorgt,  als  es 
die  Givilklage  vermochte.  Wer  heute  in  seiner  Beneficiatenstellnng 
angetastet  wird,  kommt  nicht  mit  der  rei  vindicatio  und  actio  nega- 
toria, sondern  sucht  Abhilfe  bei  der  vorgesetzten  Verwaltungsbe- 
hörde. Die  Anerkennung  eines  Beschwerderechts  im  mittelalterlichen 
kanonischen  Recht  hatte  bereits  sichere  Ansatzpunkte  für  diese  Ent- 
wicklung geschaffen. 

Der  Kern  des  Beneficiarrechts  ist  publicistischer  Natur,  die  An- 
nahme eines  wenn  auch  sui  generis  bezeichneten  dinglichen  Rechts 
ist  verfehlt.  Daß  dabei  der  Beneficiat  auch  noch  privatrechtliche 
Ansprüche  hat,  macht  seine  Stellung  ebensowenig  zn  einer  privat- 
rechtlichen, als  die  Stellung  der  Staatsbeamten  wegen  der  civil- 
rechtlicben  Verfolgbarkeit  seines  Gehaltes  eine  privatrechtliche  wird. 
In  dem  Beneficiatenverhältnis  treffen  verschiedene  Momente  zusam- 
men, und  es  ist  für  das  wissenschaftliche  Begreifen  wenig  gewon- 
nen, wenn  wir  dasselbe  als  ein  Recht  eigener  Art  proklamieren. 
Wir  müssen  vielmehr  die  öffentliche  und  private  Seite  auseinander- 
halten und  auch  diese  Gebilde  auf  ihre  Elemente  analysieren.  In 
dieser  Hinsicht  dürften  aber  Richter-Dove,  Friedberg  und  Mejer  das 
Richtige  getroffen  haben:  die  Vermögensrechte  des  Beneficiaten  sind 
bald   dingliche,  bald  Forderungsrechte;  sein  dingliches  Recht   hin* 


GroB ,  Das  Recht  an  der  Pfr&nde.  1005 

wiederum  wird  dem  Kerne  nach  als  nsasfractas  aufgefaßt  werden 
mÜBsen,  welcher  wegen  der  pnblicistisohen  Atmosphäre,  in  welcher 
er  sich  aufhält;  nur  qaalificiert  ist.  Daß  die  mittelalterliche  Doktrin 
anders  verfahren  ist,  kann  die  heutige  Behandlungsweise  nicht  mehr 
beeinflnssen. 

Wenn  man  die  gesamte  Rechtsstellung  des  Beneficiaten  als  jus 
in  re  auffaßt,  so  muß  man  fragen:  welches  ist  denn  die  Sache,  an 
welcher  er  Rechte  besitzt?  die  Unsicherheit  in  der  Frage  der  kirch- 
lichen Eigentamsträgerschaft  ließ  nun  bald  ein  wirkliches  jus  in  re 
aliena  entstebn:  hier  war  denn  die  joristische  Person  des  beneficium 
Eigentümer.  Aber  mehr  noch  erscheint  dieses  dingliche  Recht  als 
ein  Recht  an  eigener  Sache:  hier  war  denn  der  Beneficiat  Eigen- 
tümer oder  befand  sich  doch  in  einer  dem  Eigentümer  ähnlichen 
Stellung.  Der  Verf.  hat  für  ein  quasidominiales  Recht  des  Benefi- 
ciaten zu  viel  Sympathie  verraten.  Es  ist  ihm  kein  volles  civil- 
rechtliches  Eigentum,  aber  er  behandelt  es  als  solches,  was  sich  ins- 
besondere darin  kund  gibt,  daß  er  ein  anderweitiges  wirkliches  Eigen- 
tum neben  diesem  sog.  Beneficialeigentum  nicht  anerkennt.  »Daß 
sich  mit  derselben  (d.  h.  seiner  Charakterisierung  des  Inhalts  des 
jus  in  re)  der  gleichzeitige  Bestand  eines  veritablen  Eigentums- 
rechtes an  diesen  Beneficialbestandteilen  nicht  verträgt,  und  daß  es 
somit  an  VermögensstUcken,  welche  das  Objekt  eines  solchen  jus  in 
re  bilden,  ein  Eigentum  im  strengen  civilrecbtlichen  Sinne  gar  nicht 
gibt,  ist  hiernach  wohl  zweifellose  (S.  237).  Wenn  er  aber  fort- 
fährt: »Allein  es  scheint  mir  Nichts  weniger  als  ausgemacht,  daß 
jedes  einzelne  kirchliche  Vermögensobjekt  gerade  seinen  (civilrecbt- 
lichen) Eigentümer  haben  muß«,  so  stehn  dem  sehr  gewichtige 
theoretische  und  praktische  Erwägungen  entgegen.  Im  Rechtsver- 
kehr befindliche  Sachen  können  wohl  vorübergehend  bald  diesem 
bald  jenem  mit  ihrem  ganzen  oder  teilweisen  ökonomischen  Wert  zu- 
geteilt sein.  Nachdem  aber  einmal  unser  Recht  die  Idee  des  Privat- 
eigentums als  der  höchsten  Steigerung  der  Verfügungs-  und  Aus- 
schlußbefugnis entwickelt  hat,  durch  welche  alle  res  in  commercio 
ergriffen  werden,  ist  es  eine  logische  Pflicht,  über  dem  minder- 
berechtigten Beneficiaten  den  vollberechtigten  Eigentümer  aufzu- 
spüren. Die  höchste  Herrschaft  über  eine  Sache  ist  das  Eigentum; 
will  der  Verf.  über  der  Macht  des  Beneficiaten  keine  höhere  Ver- 
fügungsgewalt mehr  anerkennen,  so  ist  sie  eben  die  höchste  und 
somit  civilrechtliches  Eigentum.  Diese  Konsequenz  müßte  somit  ge- 
zogen werden.  In  praktischer  Hinsicht  gebe  ich  aber  zu  bedenken: 
wer  soll  bei  einer  Eigentumsauflassung  an  das  Beneficium  als  Eigen- 
tümer ins  Grundbuch  eingetragen  werden?  Es  unterliegt  keinem 
Zweifel :   das  Beneficium    selbst.     Die  Bechtssnbjektivität  desselben 


1006  Gott.  gel.  Anz.  1687.  Nr.  26. 

ist  schon  durch  Innocenz  IV.  formaliert  worden  (Menrer,  Begriff  und 
Eigentümer  der  heil.  Sachen  IL  169)  und  heate  allüberall  anerkannt 
(ebend.  IL  171  ff.,  268  ff.,  286  ff,  311  ff.,  394  ff.).     Mit  dieser  That- 
Sache  hätte  sich  der  Verf.  also  noch  abzufinden.    Vollständig  zweck- 
los wird  doch  die  Eigentumssubjektivität  nicht  entwickelt  worden  sein. 
In  diesem  Zusammenhange  sei    noch  auf  einen   andern  Pnnkt 
aufmerksam  gemacht.    Welches  Recht  ist  für  die  Art  und  den  Um- 
fang der  beneficiatischen  Befugnisse   maßgebend?     Der   Verf.    ent- 
scheidet  sich   zu    Gunsten   des  Kirchenrechts.     »So  viel  steht  wohl 
fest,  daß  die  VermOgenschaften,  aus  welchen   die  Beneficien  bestehn, 
kirchliche  Vermögenschaften  sind  und  daß  die  Disposition  über  das 
vorhandene  (bereits  erworbene)  Kirchenvermögen  in  ganz  eminentem 
Sinne   eine  innere  Angelegenheit  der   Kirche   resp.  Religionsgesell- 
schaft bildet«  (S.  17).     Ich   glaube   aber,   daß  man  hier  wohl  ans- 
einanderhalten   muß:   die    Kirche   als  Eigentümerin  und  die  Kirche 
als  gesetzgebende   Gewalt.     Als  Eigentümerin   disponiert   sie  gewiß 
über  ihr  Vermögen  wie  jeder  andere  Eigentümer  —  aber   doch   nur 
in  der  Richtung  der  dafür  erlassenen   vermögensrechtlichen  Normen. 
Daß  der  Staat  aber  zur  Erlassung  der  letzteren  kompetent  sei,  glau- 
ben  wir   in   unserem    »Begriff   und   Eigentümer   der   heil.   Sachen« 
L  6 — 158  bewiesen  zu  haben.    Wenn  die  Staatsgesetzgebnng  dieaes 
Geschäft   bis  jetzt   fast   ausschließlich   durch    die   Kirche   besorgen 
ließ,  so  hat  sie  darin  sehr  weise  gehandelt;   wir  sehen  auch  keinen 
Grund   ein,   daß   dieses    autonomische   Recht    in   Zukunft    verkürzt 
werde,   indes   vermag    dies    an   unserer   grundsätzlichen  Auffassung 
nichts  zu  ändern. 

Mit  dem  jus  in  re  bezeichnet  die  Kanonistik  die  durch  den 
Uebertragungsakt  des  berechtigten  kirchlichen  Obern  geschaffene 
gesamte  Rechtsbeziehung  des  Instituierten  zu  seinem  Beneficinm. 
Ruht  dagegen  die  Bezeichnung  des  Kandidaten  in  der  Hand  eines 
andern  als  des  verleihungsberechtigten  Oberen,  so  entsteht  die 
Frage:  welche  Rechtsstellung  hat  die  durch  designatio  oder  electio 
für  ein  Amt  in  Aussicht  genommene  Person  vor  der  Uebetragung? 
Die  Antwort  lautet :  er  hat  ein  jus  ad  renu  Dem  Wesen  dieses  jos 
ad  rem  nachzuspüren,  hatte  sich  der  Verf.  gleichfalls  zur  Aufgabe 
gesetzt,  und  wir  können  ihm  die  Anerkennung  nicht  versagen,  daA 
er  dieselbe  in  vorzüglicher  Weise  gelöst  hat.  Nach  Ziebarth  und 
V.  Brünneck  soll  das  jus  ad  rem  als  ein  relativ-dingliches,  d.  h.  nur 
in  einzelnen  Beziehungen  gegenüber  bestimmten  Personen  dinglich 
wirksames  Recht  von  dem  Feudisten  Jacobus  de  Ravanis  f  1296 
erfunden  und  aus  dem  germanischen  Lehenrecht  ins  Kirchenrecht 
herübergenommen  worden  »eii:.  Diese  Auflassung,  welcher  sich 
Hinschius  System  IL  652  angeschlossen  hatte,  wird  vom  Verf.,  nach- 


Groß  J  Das  Recht  an  der  Pfründe.  1007 

dem    schon    Hensler  vom  Standpunkt  des  deutschen  Rechts  Wider- 
spruch erhoben  hatte,  erfolgreich  bekämpft. 

Er  weist  nach ,  1.  daß  die  technische  Bezeichnung  jus  ad  rem 
durchaus  nicht  von  Jacobus  de  Ravanis  oder  den  italienischen  Feu- 
disten  überhaupt  erst  erfunden  wurde,  sondern  schon  erheblich  früher 
in  der  kanonistischen  Doktrin  entstanden  und  eingewurzelt  war. 
2.  Daß  sich  das  absonderliche,  eigentümliche  Gepräge,  welches  das 
jus  ad  rem  der  Feudisten  und  Kommentatoren  des  Civilrechts  an 
sich  trägt,  bereits  in  der  von  Innocenz  IV.  für  sein  jus  ad  peten- 
dum  beneficium  gegebenen  Konstruktion  vorfindet  (285  ff.). 

Das  auf  kanonistischem  Gebiet  durch  Innocenz  IV.  entwickelte 
jus  ad  rem  petendam  trat  naturgemäß  in  Gegensatz  zum  gerade  fer- 
tig gewordenen  jus  in  re.  »Mußte  da  nicht  die  häufige  Verwendung 
dieser  gegensätzlichen  Bezeichnungen:  jus  in  re  und  jus  ad  rem  pe- 
tendam in  der  wissenschaftlichen  Erörterung  für  sich  allein  schon 
zur  Abkürzung  des  letzteren  Ausdrucks  in  jus  ad  rem  geradezu 
herausfordern  ?€  (167).  Es  ist  dem  Verf.  aber  auch  gelungen,  den 
Beweis  direkt  zu  führen.  Der  Archidiakonns  Guido  de  Baysio  er- 
wähnt in  seinem  Apparatus  super  sexto  libro  decretalium  (1304 — 
1313)  ad  c.  18  in  VP  3,  4  y.  in  dignitatibus  Innocenz  IV.  als  den 
Vater  dieser  Terminologie,  »habes  id,  quod  primus  notaverat  innoc. 
supra  de  de  offic.  leg.  dilectus  (c.  t.  X  de  off.  leg.  1,  30)  seil,  quod 
quis  habet  jus  in  re  ...  et  ad  rem€  (S.  168).  Weiter  bezeugt  der- 
selbe ad  c.  39  in  VP  3,  4  y.  ad  dignitatem  für  seine  Zeit,  daß 
diese  Bezeichnungen  die  allgemeine  Herrschaft  errungen  hatten 
»Et  sie  habes.  hie  quod  dici  consuevit,  habes  jus  in  re  et  ad  rem« 
(168).  Nach  der  Darstellung  des  Verf.  ist  dies  sogar  schon  für  die 
Zeit  des  Durantis  (1276)  anzunehmen  (169  u.  160  f.). 

Welches  ist  nun  der  Inhalt  dieses  eigenartigen  jus  ad  rem? 
Der  Untersuchung  dieser  Frage  hat  der  Verf.  besondere  Sorgfalt 
zugewandt,  und  man  kann  diese  Partie  als  die  bestgelungene  be- 
zeichnen. 

Das  Innocenz'sche  jus  ad  rem  petendam  unterschied  sich  yon 
dem  jus  in  re  des  Beneficiaten  in  folgenden  Punkten: 

1.  Dasselbe  gewährte  eine  bloß  persönliche  Klage  (S.  141). 

2.  Diese  richtet  sich  nicht  bloß  gegen  den  Verleihungsberech- 
tigten auf  Uebertragung,  sondern  auch  gegen  die  Wahlbe- 
rechtigten auf  >non  yariarec,  gegen  jeden  dritten  ander- 
weitig Instituierten  sowie  gegen  jeden  Besitzer  (S.  141  f.). 

Das  ist  allerdings  eine  merkwürdige  actio  personalis.  Die  Be- 
ziehung des  Institutionsberechtigten  war  nicht  etwa  eine  bloß  per- 
sönliche  zum  yerleihungsberechtigten  Obern,   sondern   ein   yinculum 


1008  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  26. 

zwischen  ihm  und  der  betreffenden  Kirche.  Sie  hatte  Aehnlichkdt 
mit  dem  matrimoniom  initiatum.  Das  jas  ad  rem  wirkt  somit  wie 
das  jas  in  re  absolut,  aber  die  Klagen  gelten  als  persönlich  mit 
allen  Konsequenzen,  welche  nach  damaliger  Lehre  der  Glossatoren 
die  bloßen  actiones  in  personam  nach  sich  ziehen  (z.  B.  144  N.  77). 
Das  Wesen  dieses  jus  ad  rem  ist  also  ein  dingliches  Recht  mit  per- 
sonlicher Klage.  Bern.  Gompostellanus  gieng  nun  einen  Schritt 
weiter  und  erklärte  die  Klage  des  Qewählten  ftir  eine  dingliche 
Klage,  eine  in  rem  actio  (152  f.).  Das  Beneficium,  an  welchem  je- 
mand das  jus  ad  rem  petendam  zusteht,  gilt  ihm  als  verfangen,  als 
ein  »beneficium  affectum  ita,  quod  non  possit  conferri  alteri«  (S.  154). 
Die  Klage  ist  wie  das  Recht  von  dinglich-absolutem  Charakter. 
Hiermit  ist  die  darch  Innocenz  formulierte  Zwitternatur  beseitigt 
und  der  dingliehe,  absolute  Charakter  des  jus  ad  rem  klar  and 
entschieden  ausgesprochen.  Das  jus  in  re  und  das  jus  ad  rem 
unterschieden  sich  daher  zeitweilig  nur  dadurch,  daß  in  dem  letz- 
teren (seit  Dnrautis)  auch  diejenigen  Ansprüche  auf  ein  Beneficiom 
aufgenommen  wurden,  welche  nicht  zur  actio,  sondern,  wie  z.  B. 
aus  einem  päpstlichen  Reskript  (litterae  monitoriae,  praeceptoriae, 
executoriae),  nur  zu  einer  außerprocessualischen  imploratio  officii  ja- 
dicis  führten.  Das  Recht  des  Gewählten  und  Präsentierten  war 
embryonaler  Art,  dasjenige  des  Instituierten  und  Konfirmierten 
dagegen  fertig  wie  das  geborene  Kind.  Das  Wesen  dieser  Rechte 
war  gleich  und  demgemäß  auch  die  Klagen  nicht  verschieden. 
Hiermit  war  man  aber  auf  dem  besten  Wege,  ganz  verschiedene 
Rechtsbeziehungen  unter  eine  Formel  zu  bringen.  So  lange  sich 
die  Lehre  im  privatrechtlichen  Banne  hielt,  war  es  nicht  mög- 
lich, über  diesen  Gedankenkreis  hinauszukommen.  Gerade  die  pri- 
vatrechtliche Konstruktion  aber  ist  es,  welche  vor  Allem  zurückzu- 
weisen ist,  und  dem  Verf.  gebührt  das  Verdienst,  die  in  der  neueren 
Wissenschaft  geschaffenen  Ansatzpunkte  für  eine  öffentlichrechtliche 
Konstruktion  energisch  festgehalten  zu  haben.  Das  non  resilire 
posse  a  postulatione  sive  nominatione  ist  in  erster  Linie  kein  Recht 
des  postulatus  sive  nominatus,  wenn  es  demselben  auch  zu  gute 
kommt,  sondern  nur  eine  Gebundenheit  des  kirchlichen  Obern  den 
Verleihungsakt  an  dem  Träger  des  jus  ad  rem  vorzunehmen.  Sein 
sog.  jus  ist  nur  der  Reflex  der  kirchenobrigkeit liehen 
Verpflichtung.  Hierin  liegt  der  Schwerpunkt,  und  damit  ist  die 
Stellung  desjenigen,  dem  ein  jus  ad  rem  zageschrieben  wird,  als 
eine  Position  öffentlich-rechtlichen  Charakters  gefaßt,  die  sich  nicht 
in  einer  privatrechtlichen  actio,  sondern  im  administrativen  recur- 
sus   ad  Superiorem    und    compelli   posse   per   Superiorem  bewährt. 


Groß,  Das  Recht  au  der  Pfründe.  1009 

Sein  Recht  ist  —  wenn   wir  diese  Bezeichnung  überhaupt  gebrau- 
chen  wollen    —   ein   Recht    publicistischer   Art.      Der   Verf.   führt 
ganz  richtig  aus   (S.  216  flf.):    Die  Subsumtion   des  Beneficiatenver- 
hältnisses   unter   rein    privatrechtliche   Gesichtspunkte    hatte    schon 
in    der  Konstruktion  des  jus  in  re  zu   keinem  befriedigenden    Re- 
sultate  geführt.     Beim    jus   ad   rem    aber  mußte  sich   der   Wider- 
spruch mit  unabweisbaren  Forderungen  der  verfassungsmäßigen  Amts- 
organisation   besonders   fühlbar  machen.     Als  das   jus   in    re    fer- 
tig war,  mochte  es  sich  ganz  gut   ausnehmen,    die   Position  des  Ge- 
wählten oder  Präsentierten    als   eine   Art   Vorstadium  des  jus  in  re 
darzustellen.    Aber  praktisch    konnte   sich  die  Brauchbarkeit  dieser 
privatrechtlichen  Formulierung  auf  die  Dauer  nicht  bewähren.    Vor 
allem  mußte  man  es  fühlen,  daß  sich  die  actio  ad  petendum  benefi- 
cium  gegen  den  Kirchenobern   auf  Erteilung   der  Konfirmation  samt 
all  den  darauf  folgenden  Schritten  des  Privatrechtswegs,  wie  Citation 
des  Obern  vor  den  Richter,  Verurteilung  desselben,  Exekution  dieses 
Urteils  u.  s.  w.  mit  dem  Verhältnis  des  Berechtigten  und  des  Bene- 
ficiums  zum  Kirchenobern  durchaus  nicht  verträgt.     Ein  Klagerecht 
aus  dem  jus  ad  rem  gegen  den  dritten  Besitzer  mußte  aber  mit  der 
Befestigung  der   kirchlichen  Administration    hinfällig   werden.     Das 
Beneficium  ist  kein  Gegenstand  des  Handels   und  Verkehrs,  so  daß 
es  leicht  in  unberufenen  Besitz  gelangen  könnte.    Es  bleibt  auch  in 
der  Vakanz  unter  der  Obhut  des  Kirchenobern,   welcher  gegen  jede 
Besitzstörung  ex  officio  vorzugehn  hat,  und  auf  administrativem  Weg 
dazu   angehalten   werden   kann.     Dieser  Modus   ist  nicht  bloß  der 
angemessenere,  sondern  auch  der  einfachere,  er  ist  desgleichen  siche- 
rer und  ausreichend.    Und  wenn  es  schließlich  galt,  das  jus  ad  rem 
gegen  unberechtigtes  Variieren  oder  gegen  ein  später  entstandenes  jus 
in  re  zu  behaupten,  so  gelangte  der  Träger  jenes  Rechtes  wiederum 
rascher  und  einfacher  zum  Ziel,  wenn  er  bei  dem  kompetenten  Vor- 
gesetzten Beschwerde  führte.     »Es   ist  daher  sehr  begreiflich,   daß 
man  auch  in  der  Theorie  die  ganzen  in  dem  jus  ad  rem  steckenden 
privatrechtlichen  Elemente   allmählich   fallen   ließ   und  das  Verhält- 
nis,  zu   dessen  juristischer  Formulierung   dasselbe  diente,   lediglich 
als  ein  Verhältnis  öffentlichrechtlichen  Charakters,  kraft  dessen  nur 
die  Uebertragung  des  Beneficiums  von   dem   kompetenten  Kirchen- 
obern im  administrativen  Wege  gefordert  werden  kann,  behandeltec 
(S.  220.  Vgl.  auch  274  ff.). 

Der  Name  und  die  Grundelemente  des  jus  ad  rem  treten  zuerst 
in  der  kanonistischen  Doktrin  und  zwar  ganz  selbständig  auf.  Von 
hier  erst  fand  dasselbe  bei  den  Feudisten  und  Romanisten  sinnge- 
mäße Aufnahme  (294 ff.).     »Damit  ist   denn   auch  konstatiert,  daß 


1010  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  26. 

das  jus  ad  rem  nicht  lediglich  aus  einem  MisverBtändnisse,  sei  es 
nun  des  römischen,  sei  es  des  deatschen  Rechts  hervorgegangen  ist 
Der  Ursprung  des  jus  ad  rem  Überhaupt  liegt  hiernach  vielmehr  in 
dem  verkehrten  Bestreben,  ein  seiner  Natur  und  Wesenheit  nach 
öffentlichreclitliches  Verhältnis  unter  privatrechtliche  Gesichtsponkte 
zu  bringen  und  rein  privatrechtlich  zu  gestalten«.  So  schlieit  sich 
der  Verf.  den  Heuslerschen  Untersuchungen  mit  großer  Energie  an, 
und  es  ist  zu  erwarten,  daß  mit  den  Romanisten  und  Grermanisten 
nunmehr  auch  die  Kanonisten  das  jus  ad  rem  ein  für  alle  mal  ad 
acta  legen. 

Staats-  und  kirchenrechtliche  Studien  brachten  uns  zu  der  Er- 
kenntnis, daß  noch  gar  viele  öffentlichrechtliche  Verhältnisse  im 
privatrecblicben  Banne  liegen  und  ihrer  Lösung  harren.  Bier  ist 
noch  viel  zu  arbeiten.  Möge  man  sich  hierbei  die  peinliche  Gewis- 
senhaftigkeit des  Verf.  zum  Muster  nehmen!  Ist  seine  Darsiellong 
etwas  ermüdend,  so  werden  wir  doch  entschädigt  durch  die  Sicher- 
heit und  Zuverlässigkeit  der  wissenschaftlichen  Ergebnisse. 

Breslau.  Christian  Mearer. 


Politische  Correspond  enz  der  Stadt  Strasburg  im  Zeitalter  der 
Reformation.  2.  ßd.  1531—39.  Bearbeitet  von  0.  Winkelmann. 
Strasburg  i/£.     K.  J.  Trubner.     1887.    XXXI  u.  736  S.    Lex.  8.    Mark  la 

Der  2.  Band  der  politischen  Korrespondenz  der  Stadt  StraAburg 
umfaßt  die  Jahre  1531 — 39.  Durch  die  darin  mitgeteilten  Briefe 
und  Akten  wird  unsere  Kenntnis  ttber  diesen  Zeitraum  in  der  man- 
nichfachsten  Beziehung  erweitert.  Besonders  unterrichtend  aber  sind 
sie  für  die  Geschichte  des  Schmalkaldischen  Bundes.  Ueber  seine 
Entwickelung,  ttber  die  Orttnde  für  seine  und  die  Politik  der  einzel- 
nen Bundesglieder  erhalten  wir  oft  die  überraschendsten  AnfscblUsse. 
Interessant  ist  es  namentlich  zu  beobachten,  welchen  Einflaft  der 
dogmatische  Gegensatz  zwischen  Sachsen  und  den  Oberländern  auf 
die  Gestaltung  der  politischen  Verhältnisse  ausgeübt  hat 

Kaum  war  der  Bund  geschlossen,  so  wurde  auch  schon  sein 
Bestehen  durch  die  wiederholte  Weigerung  des  Kurftirsten,  die  Schwei* 
zer  in  denselben  aufzunehmen,  gefährdet.  Die  Oberländer  lehnten 
es  infolge  dessen  trotz  der  Mahnungen  Strasburgs  ab,  in  die  Bera- 
tung der  Bundesverfassung  einzutreten.  Erst  nach  der  Katastrophe 
von  Kappel  verstanden  sie  sich  dazu.  Ende  des  Jahres  31  konnten 
endlich  in  Frankfurt  die  Grundzttge  der  Bundesverfassung  vereinbart 


Polit.  Correspondenz  d.  Stadt  Straßburg  im  Zeitalter  d.  Ref.    Bd.  IL    1011 

werden.  Es  war  die  höchste  Zeit ;  denn  schoD  benutzten  die  Gegner 
den  dogmatischen  Gegensatz  anter  den  Verbündeten,  um  sie  von  ein- 
ander zu  trennen.  Die  ttber  den  Schweinfarter  Tag  handelnden 
Aktenstücke  zeigen,  wie  nahe  sie  diesem  Ziele  waren.  Aber  die  Straß- 
borger vereitelten  ihren  Plan,  indem  sie  neben  ihrer  eignen  die  Säch- 
sische Eonfession  annahmen.  Einiger  als  vorher  forderten  die  Evan- 
gelischen jetzt  für  alle,  welche  die  Sächsische  Eonfession  annehmen 
würden,  vom  Eaiser  den  Einschloß  in  den  Frieden.  Sachsen  war  schold, 
daß  die  Evangelischen  diese  Forder ong  in  Nürnberg  aufgaben.  Was 
sie  dagegen  eintauschten:  das  Versprechen  des  Eaisers,  daß  er  dem 
Eammergericht  die  Einstellung  der  Processe  gegen  die  Evangelischen 
anbefehlen  werde,  galt,  wie  wir  aus  der  Eorrespondenz  erfahren, 
außer  dem  Landgrafen,  auch  Straßburg  als  nicht  genügend.  Letz- 
teres gab  seinen  Widerspruch  nur  auf,  weil  es  fürchtete,  Sachsen 
werde  andernfalls  allein  seinen  Frieden  mit  dem  Eaiser  machen. 
Deutlicher  als  bisher  erkennen  wir  aus  der  Eorrespondenz,  wie  wenig 
in  der  That  die  Zusage  des  Eaisers  für  die  Protestanten  bedeutete. 
Das  Eammergericht  konnte  die  Processe  gegen  die  Evangelischen 
ungehindert  fortsetzen  ,  und  schon  Anfang  November  32  war  man 
sich  in  Straßburg  darüber  klar,  daß  den  Evangelischen  nichts  ande- 
res übrig  bleibe,  als  das  Gericht  in  Religionssachen  ganz  zu  recu- 
sieren. 

Was  die  Gegner  in  Schweinfnrt  und  Nürnberg  vergebens  ver- 
sucht hatten :  die  Evangelischen  von  einander  zu  trennen,  das  hätten 
sie  beinahe  durch  den  Gadaner  Vertrag  erreicht.  Durch  jenen  Arti- 
kel, welcher  die  Sakramentierer  und  Wiedertäufer  vom  Frieden  aus« 
schloß,  wurde  das  Mistrauen  der  Oberländer  gegen  die  Sachsen  im 
höchsten  Grade  erregt.  Das  schroffe  Auftreten  der  Lutheraner  bei 
der  Reformation  Württembergs,  die  Schwierigkeiten,  welche  der  Eur- 
fürst  in  bezug  auf  die  Aufnahme  Augsburgs  in  den  Bund  machte, 
mußten  ihren  Argwohn,  daß  man  sie  vom  Bunde  ausschließen  wolle, 
noch  bestärken.  Ein  Bruch  schien  unvermeidlich.  Daß  es  nicht 
dazu  kam,  verdankte  man  außer  dem  Landgrafen  vornehmlich  der 
durch  Sturm  geleiteten  klugen  und  umsichtigen  Politik  Straßburgs. 
Man  weiß,  welchen  Anteil  Bucer  an  dieser  Politik  gehabt  hat.  Seine 
oft  geschmäheten  Unionsbestrebungen  werden  durch  die  Eorrespon- 
denz glänzend  gerechtfertigt.  Ohne  seine  aufopfernde  und  unermüd- 
liche Thätigkeit  wäre  das  politische  Band,  welches  die  Sachsen  und 
Oberländer  nmscblang,  wahrscheinlich  zerrissen. 

Aber  wie  sehr  sich  auch  Straßburg  um  die  Erhaltung  des  Bun- 
des bemUhete,  wir  sehen  es  doch  zugleich  auch  fUr  den  Fall  gerü- 
stet,  daß  jene  Bemühungen  vergeblich  waren.    Zwar  das  Projekt 


1012  Gott.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  25. 

eines  Bandes  zwischen  Baiern ,  Würtemberg ,  Frankreich  and  den 
Oberländern,  von  welchem  wir  hier  zum  ersten  Mal  Kenntnis  erhalteOi 
wies  es  kühl  zurück.  Dagegen  aber  plante  Starm  einen  neuen  Band 
zwischen  dem  Landgrafen ,  Württemberg  und  den  oberländischen 
Städten.  Bis  in  den  Winter  des  Jahres  35  hinein  wurde  dieser 
Plan  aufs  Ernstlichste  erwogen.  Erst  nachdem  der  Kurfürst  aaf  dem 
Tage  zu  Schmalkalden  December  35  sich  mit  der  Verlängerung  des 
Bundes  und  der  Aufnahme  neuer  Mitglieder  einverstanden  erklärt 
hatte ,  hört  man  nichts  mehr  davon.  Wodurch  der  Kurfürst  zur 
Aenderung  seiner  Haltung  bestimmt  wurde,  ist  nicht  recht  klar. 
Jedenfalls  können  die  Zusicherungen  König  Ferdinands  in  dem  so- 
genannten Wienischen  Artikel  ihn  nicht  dazu  bewogen  haben.  Die 
Korrespondenz  zeigt,  daß  die  Bedeutung  dieses  Artikels  bisher  sehr 
überschätzt  ist.  Noch  einmal  schien  der  theologische  Gegensatz 
zwischen  Sachsen  und  den  Oberländern  Verwirrung  anstiften  zo  wollen, 
als  die  Evangelischen  sich  a.  37  abermals  in  Schmalkalden  versam- 
melt hatten,  um  über  ihre  Teilnahme  an  dem  Koncil  zu  beraten  and 
die  Botschaft  des  kaiserlichen  Orators  Held  entgegenzunehmen.  Es 
erregte  großen  Argwohn  bei  den  Oberländern,  daß  der  Sächsische 
Kanzler  die  Prediger  zur  Beratung  darüber  aufforderte,  worin  man 
auf  dem  Koncil  den  Papisten  etwa  nachgeben  könne.  Später  rief 
es  eine  allgemeine  Bestürzung  unter  ihnen  hervor,  als  Luther  in  den 
Schmalkaldischen  Artikeln  der  Lehre  vom  Abendmahl  eine  f&r  sie 
unannehmbare  Fassung  gab.  Indes  Helds  schroffes  Auftreten  trieb 
die  Evangelischen  rasch  wieder  zusammen.  Es  bewirkte ,  daß  die 
Verhandlungen,  welche  nach  dem  Sinn  des  Kaisers  die  Protestanten 
beruhigen  sollten,  das  gerade  entgegengesetzte  Resultat  hatten.  Letz- 
tere fühlten  sich  seit  dieser  Zeit  mehr  als  je  bedroht.  Eifrig  arbei- 
teten sie  daran,  die  Schlagfertigkeit  des  Bundes  zu  erhöhen  und  neue 
Genossen  zu  gewinnen.  Hessen  und  Straßburg  dachten  Anfang  des 
Jahres  38  sogar  an  Abschluß  eines  Freundschaftsvertrages  mit  Frank- 
reich. Die  Anregung  dazu  gab  der  in  französischen  Diensten  ste- 
hende Graf  W.  V.  Fürstenberg,  über  dessen  Thätigkeit  die  Korres- 
pon4enz  sehr  merkwürdige  Aufschlüsse  gewährt.  Straßburgs  Be- 
mühungen ,  die  oberländischen  Städte '  für  deu  Plan  zu  gewinnen, 
waren  indes  vergebens. 

Ein  ungemein  reichhaltiges  Material  liegt  in  der  Korrespondenz 
über  die  Verhandlungen  vor,  welche  der  Kaiser  Frühjahr  39  in  Frank- 
furt dnrch  den  Erzbischof  von  Lunden  mit  den  Protestanten  eröffnen 
hieß.  Es  ergibt  sich  daraus,  daß  diese  Verhandlungen  doch  bei  weitem 
nicht  ein  so  friedliches  Gepräge  trugen,  wie  man  bisher  geglaubt 
bat.    Vielmehr  war  die  Lage  eine  äußerst  gespannte.    Im  Norden 


PoHt.  Correspondenz  d.  Stadt  StraBburg  im  Zeitalter  d.  Ref.    Bd.  II.     1013 

sammelte  sieh  ein  Hänfen  Landsknechte  und  bedrohte,  wie  man  an- 
nahm, nicht  ohne  Einwilligung  Lundens  die  Oebiete  der  protestan- 
tischen Obrigkeiten.  Im  Süden  unterhielt  FUrstenberg  mehrere  tau- 
send Mann,  um  sie  beim  Ausbrach  des  Krieges  sofort  den  Evangeli- 
schen zuzuführen.  Mehr  als  einmal  schien  der  Krieg  unvermeidlich. 
Mit  dem*  Resultat  der  laugen  Verhandlungen  war  man  in  Straßburg 
sehr  wenig  zufrieden ;  aber  Sturm  sowohl  wie  der  Landgraf  meinten, 
daß  ein  Waffenstillstand  immer  noch  dem  Ausbruch  des  Krieges 
vorzuziehen  sei. 

Die  Dauer  des  Friedens  hing  ganz  davon  ab,  welches  Verhält- 
nis sich  zwischen  Karl  und  Franz  feststellen  würde.  Straßburg 
wurde  hierüber  durch  seine  Agenten  und  Freunde  in  Frankreich  vor- 
trefflich auf  dem  Laufenden  erhalten.  Ihre  Berichte  sowie  der  Um- 
stand, daß  Fürstenberg  sich  im  Sommer  des  Jahres  39  eifrig  be- 
mühete,  ein  Bündnis  zwischen  Frankreich,  Württemberg  und  den 
Oberländern  zu  stände  zu  bringen,  machten  es  wahrscheinlich,  daß 
Kaiser  und  König  noch  weit  von  einander  seien.  Am  Ende  des 
Jahres  aber  versetzte  die  Nachricht  von  dem  glänzenden  Empfang, 
welchen  der  König  dem  Kaiser  bei  seiner  Beise  durch  Frankreich 
bereitet  hatte,  die  Protestanten  in  die  äußerste  Bestürzung.  Als 
Fttrstenberg  bald  darauf  aus  französischen  Diensten  schied,  und  sein 
Nachfolger  die  früher  Fürstenbergischen  Knechte  für  Frankreich  an- 
zuwerben suchte,  meinten  die  Straßburger,  daß  der  Krieg  schon  vor 
der  Thür  stehe.  Rasch  entschlossen  wandten  sie  2000  61d.  daran, 
um  die  Hauptleute  ftlr  die  Evangelischen  festzuhalten.  Mit  dem 
Briefe,  worin  die  Dreizehn  dies  dem  Landgrafen  mitteilen,  schließt 
die  Sammlung. 

Die  Bearbeitung  verdient  das  größte  Lob.  Der  Korrespondenz 
voran  steht  eine  Einleitung,  welche  den  Inhalt  der  Sammlung  an- 
giebt  und  dabei  diejenigen  Teile  besonders  hervorhebt,  welche  die 
bisherige  Anschauung  wesentlich  zu  verändern  geeignet  scheinen. 
Bei  der  Redaktion  der  Briefe  und  Aktenstücke  ist  das  Wichtige  und 
minder  Wichtige  mit  feinem  Takt  von  einander  geschieden.  Ersteres 
wird  vollständig  mitgeteilt,  letzteres  dagegen  nur  im  Auszug.  Oft 
ist  auch  der  Abdruck  der  Briefe  von  einer  sich  eng  an  den  Text 
der  Akten  anschließenden  Darstellung  unterbrochen,  wodurch  der 
Inhalt  ganzer  Aktenkon  volute,  deren  Abdruck  unsere  Kenntnis  nur 
wenig  erweitert  haben  würde,  auf  wenige  Seiten  zusammengedrängt 
wird.  Anmerkungen  unter  dem  Text  versetzen  uns  in  den  Zusam- 
menhang der  Ereignisse  und  verweisen  für  die  weitere  Belehrung 
auf  die  in  Betracht  kommenden  Werke.  Wesentlich  erleichtert  wird 
die  Benutzung  auch  durch  Randnoten,  welche  auf  diejenigen  Stellen 


I0I4  Gatt.  gel.  Anz.  1887.  Nr.  25. 

der   Sammlang   zarlickverweisen ,    die   für  die    gerade    vorliegende 
Sache  zn  berücksichtigen  sind.  — 

Das  sprachliche  Verständnis  des  Textes  wird  ebenfalls,  wo  es 
nötig  scheint,  durch  erklärende  Anmerkungen  vermittelt  Vielleicht 
hätte  in  dieser  Beziehung  manchmal  noch  etwas  mehr  geschehen 
können.  So  enthalten  z.  B.  Nr.  196  und  303  eine  ganz  unklare 
Satzkonstruktion,  welche  der  Erläuterung  bedurft  hätte.  Im  Einzel* 
nen  mag  noch  folgendes  erwähnt  werden:  Bei  den  über  den  Schwein- 
furter  Tag  handelnden  Aktenstücken  vermißt  man  ungern  die  Daten 
am  Kopf.  S.  150  Z.  3  ist  wohl  »veijehenc  zu  lesen  statt  »verie- 
henc ;  S.  584  Z.  3  fUr  das  zweifelhafte  »irgen«  vielleicht  >ir.  mL< 
S.  154  Nr.  148  ist  unter  »Eriechischen  Weißenburg«  nach  dem  Zu- 
sammenhang Belgrad  (Alba  graeca  oder  Bnlgarorum)  zu  verstehen 
und  nicht  Karlsburg  in  Siebenbürgen.  S.  306  Z.  10  »angemaßter 
Könige  ist  lapsus  calami. 

Der  Druck  ist  im  Ganzen  sehr  korrekt.  Kleinere  Versehen 
kommen  vor,  sie  sind  aber  als  solche  leicht  kenntlich  und  thun  dem 
Verständnis  keinen  Eintrag.  —  Eine  Ergänzung  der  Aktenstficke 
bilden  2  Abhandlungen,  wovon  die  letztere:  Straßburgs  Bemflhangeo 
um  die  Wittenberger  Goncordie,  besonders  wertvoll  ist.  Den  SchloA 
des  Bandes  macht  das  sorgftlltig  gearbeitete  Register  von  Herrn 
Dr.  Job.  Fritz.  So  ist  alles  geschehen,  um  die  Benutzung  des  Ban- 
des so  bequem  als  möglich  zu  machen.  Wir  wünschen,  daß  die 
Wissenschaft  ihren  Dank  für  diese  schöne  Oabe  durch  fieiftige  Aus- 
nutzung der  Korrespondenz  an  den  Tag  legt. 

Weimar.  H.  Virck. 


Tolstoi,  D.  A.  Graf,  Die  Stadtscholen  w&hrend  der  Regierung 
der  Kaiserin  Katharina  IT.  Aus  dem  Rassischen  übersetzt  tob 
P.  V.  Kugel  gen.  St.  Petersburg,  Buchdruckerei  der  Kaiserlichen  Akademie 
der  Wissenschaften,  1887.    200  S.    8^ 

^  Dieses  Buch  feiert  die  Erinnerung  der  durch  das  kaiaerliebe 
Statut  vom  5.  August  1786  erfolgten  Gründung  der  russischen  Volks- 
schule. Lange  Verhandlungen  und  Beratungen,  weiche  von  der  auf- 
geklärten Kaiserin  veranlaßt  und  eifrigst  gefördert  wurden,  waren 
vorangegangen;  der  »Barone  Grimm  und  der  spätere  Fürst  Karl 
Dahlberg  erscheinen  unter  den  Beratern  der  Kaiserin ;  aber  schlieft- 
lich  nahm  man  die  durch  Felbiger  in  Oesterreich  durchgeführte  Or- 
ganisation an.  So  bildet  diese  Periode  der  russischen  Sehnige- 
schichte   einen  Exkurs   zur  deutschen;  denn  nicht  bloft  die  äußere 


■"    '  r 


Tolstoi,  Die  Stadtschulen  während  der  Regierang  der  Kaiserin  Katharina  II.    1015 

Eiuricbtuiig  der  Felbigerschen  VolkBScbule,  Dicht  bloß  ihr  systemati- 
scher Aufbaa  in  Trivial-,  Haupt-  und  Normalscbale ,  wurde  aus 
Oesterreich  herübergenommen,  auch  die  sogenannte  Saganscbe,  bes- 
ser Hähnsche  Buchstaben-  und  Tabellarmethode  eignete  man  sich 
mit  begeistertem  Eifer  an.  Wer  die  Zeit  kennt,  in  welcher  diese 
Dinge  sich  vollzogen  —  es  sind  die  der  großen  Revolution  voraus- 
gegangenen zwanzig  Jahre  — ,  wird  sich  nicht  wundern  über  die 
Geschäftigkeit,  mit  der  man  auch  in  Rußland  Schulpläne  entworfen, 
und  über  die  großen  Hoffnungen,  welche  man  auf  diese  Veranstal- 
tungen zur  Beförderung  der  Humanität  und  Aufklärung  gesetzt  hat, 
aber  auch  nicht  über  den  Mangel  an  Ausdauer  und  praktischem 
Sinn ,  welcher  vor  der  früher  nicht  recht  erwogenen  und  doch  so 
wichtigen  Geldfrage  sich  alsbald  einstellte.  Daß  man  durch  Regle- 
ments und  Schulbücher  den  ersten  Grund  zur  Hebung  der  Nation 
glaubte  legen  zu  müssen,  hat  sich  zu  allen  Zeiten  der  Schulge- 
scbichte  wiederholt. 

All  diesem  Dinge  finden  in  dem  sehr  gut  übersetzten  Buche  des 
Grafen  Tolstoi  die  eingehendste  Darstellung.  Auch  die  österreichi- 
sche Schulreform  ist  genau  geschildert.  Hier  und  in  den  der  Ge- 
schichte der  Pädagogik  entnommenen  Angaben  finden  sich  einige 
Ungenanigkeiten ;  so  hat  z.  B.  Comenius  schon  vor  seiner  Ver- 
bannung sich  mit  pädagogischen  Fragen  beschäftigt,  und  seine  Di- 
dactioa  magna  ist  lange  vor  1657  verfaßt  worden.  Das  sind  in- 
dessen Kleinigkeiten;  in  allen  Hauptsachen  und  besonders  in  den 
die  russische  Schulgeschichte  betreffenden  Abschnitten  ist,  soweit 
wir  zu  prüfen  im  Stande  waren,  alles  genau  und  zuverlässig. 

Karlsruhe.  E.  v.  Sallwürk. 


(Schluß  des  Jahrgangs  1887.) 


/    • 


Für  die  Redaktion  yerantwortlich :  Prof.  Dr.  Bechtd,  Direktor  der  Gott.  gel.  Ans. 
Assessor  der  Königlichen  Gesellscliaft  der  Wissenscliaften. 

Verlag  der  Bieterick* sehen  Verlags-Buehhandlung. 

Druck  der  Dieterkh* sehen  Univ.'Buchdruckerei  (W,  JFV-.  KaeHner). 


ii 


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