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Full text of "Göttingische gelehrte Anzeigen"

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.  P  26  /.  / 


Ibarvaro  College  librae? 


FROM  THE 

ICHABOD  TUCKER 
FUND 

ESTABLISHED  IN  1875  BY  THE 
BEQUEST  OF  ICHABOD  TUCKER, 
CLASS  OF  1791,  AND  THE  GIFT  OF 
MRS.  NANCY  DAVIS  COLE,  OF 
SALEM 


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gelehrte  Anzeigen 

-   Unter  der  Aufsicht 
der 


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Köiigl.  Cfadkckaft  4er  WisseDgckaftea 


I- 


1§§0. 


Zweiter  Band. 


Göttingen. 

Dieterich'sche  Verlags-Bachhandlung. 

1880. 


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JUL3U880  m 

GSttingische 

gelehrte    Anzeigen 

anter  der  Aufsicht 

der  Königl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Stück  27.  7.  Juli  1880. 


Inhalt:  Leo  Meyer,  Ab  im  Griechischen,  Lateinischen  und  Go- 
thischen.  Vom  Ytrf.  —  Brietwechsel  des  Freih.  E.  H.  Gr.  v.  Menee- 
hach  mit  Jacob  und  Wilhelm  Grimm  herausg.  v.  C.  Wendeler. 
Yon  B.  Thiele.  —  The  D  ip  avamsa.  Ed.  and  transl.  by  H.  Olden- 
berg.  Ton  K  Jacobi.  —  B.  F.  Soott.A  Treatise  on  the  Theory  of 
Determinants.    Yon  A,  Enneper. 

=r  Eigenmächtiger  Abdruck  von  Artikeln  der  Gott.  gel.  Ans.  rerboten  s 


.  An  im  Griechischen,  Lateinischen 

\        und   Gothischen.     Ein  Beitrag  zur  verglei- 
'.        chenden  Syntax  der  indogermanischen  Sprachen 
von  Leo  Meyer.    Berlin,  Weidmannsche Buch- 
handlung.   1880.    64  Seiten  in  Octav. 

Die  große  Bedeutung  der  Partikel  äv  imGe- 
sammtleben  der  griechischen  Sprache  hat  schon 
von  je  her  die  besondere  Aufmerksamkeit  der 
classischen  Philologen  auf  sich  gezogen.  In 
den  griechischen  Grammatiken  nicht  bloß,  son- 
dern auch  in  manchen  besonderen  zum  Theil 
sehr  werthvollen  Abhandlungen  und  Bemerkun- 
gen ist  der  Werth  des  äv  im  griechischen  Satz 
nach  den  verschiedensten  Richtungen  hin  dar- 
gelegt und  beschrieben.  Dabei  ist  aber  die 
Frage  nach  der  ursprünglichen  Bedeutung  des 
äv  und  nach  seiner  Entwicklungsgeschichte  kaum 

53 


834        Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  27. 


fy 


noch  flüchtig  berührt.     Sie  gehört  der  verglei- 
chenden  Grammatik,   da   diese  ja,   wie  immer       ^  < 
wieder  von  Neuem  hervorgehoben  werden  darf,        «od* 
keine  andere  Aufgabe  hat,  als  die  Entwicklungs-        w 
geschichte  der  Sprache  zu  ermitteln.  au 

Wenn  ausgesprochen  wird,  daß  ein  griechi-  ßx 
sches  8%oipk  dp  durch  lateinisches  höherem  wie-  foi 
dergegeben  zu  werden  pflegt  und  daß  umge-  *& 
kehrt  da,  wo  der  Lateiner  ein  einfaches  höherem  ü 
gebraucht,  der  Grieche  dafür  sxo*(jh  äv  zu  sa-  äa 
gen  pflegt,  so  handelt  sichs  dabei  auch  umVer-  'n 
gleichung  von  Sprachen  mit  einander,  im  ge-  !ia 
wählten  Beispiel  um  die  Vergleichung  vonGrie-  5a 
chisch  und  Lateinisch,  und  so  kann  man  überall, 
wo  aus  einer  Sprache  in  die  andere  übersetzt 
werden  soll,  in  gewissem  Sinn  von  Sprachver- 
gleichung sprechen:  von  solcher  Sprachverglei- 
chung aber  ist  doch  die  noch  wesentlich  ver- 
schieden, für  die  sich  der  Name  der  verglei- 
chenden Grammatik  oder  der  vergleichenden 
Sprachwissenschaft  in  einer  jetzt  schon  recht 
reich  entwickelten  Litteratur  bestimmt  ausgebil- 
det hat.  Sie  will  mittelst  der  Vergleichung 
verschiedener  Sprachen  —  so  daß  also  Sprach- 
vergleichung nur  eine  bestimmte  Methode  ist, 
Sprache  zu  behandeln  —  zunächst  gemeinsam 
zu  Grunde  liegendes  Aelteres,  weiter  aber  über- 
haupt geschichtliche  Entwicklung  der  Sprache 
ermitteln.  Um  das  gewählte  Beispiel  wieder  zu 
benutzen,  hat  also  die  vergleichende  Sprach- 
wissenschaft nicht  einfach  zu  lehren,  daß  grie- 
chisches ixo*[H  äv  im  Lateinischen  durch  höhe- 
rem wiedergegeben  zu  werden  pflegt,  sondern 
sie  hat  die  Aufgabe  zu  fragen,  wie  jenes  höhe- 
rem an  und  für  sich  sowohl  nach  der  Seite  der 
Form  als  nach  der  Seite  der  Bedeutung  sich 
entwickelt  hat,  was  also  ein  sogenannter  Con- 


Leo  Meyer,  An  im  Griech.  Lat.  u.  Gothisch.     835 

junctiv  des  Imperfects  eigentlich  ist,  und  auf 
der  anderen  Seite,  was  eine  optativische  Form 
,  wie  ex<»t**  im  Grande  ist  nnd  bedeutet,  und  wie 
solche  Bedeutung  sich  durch  das  zugefügte  äv 
umgestalten  konnte,  und  weiter,  wie  das  äv  an 
und  für  sich  nach  Form  und  Bedeutung  sich 
entwickelte,  auf  welchem  Grunde  es  ruht. 

Da  alle  sprachliche  Bedeutung  sich  selbst- 
verständlich an  sprachliche  Form  anschließt,  ja 
ohne  solches  äußere  Gewand  für  uns  gar  nicht 
zu  denken  ist  und  nur  in  ihm  von  uns  erkannt 
werden  kann,  so  geht  alle  sprachliche  Unter- 
suchung natürlich  zunächst  vom  Aeußern  aus. 
So  handelt  sichs  bei  Prüfung  der  Partikel  äv 
zunächst  um  die  Geschichte  seiner  Form.  Wie 
diese  ursprünglich  beschaffen  gewesen  ist,  kön- 
nen wir  noch  nicht  bestimmen,  es  ist  aber  schon 
von  hohem  Werth  für  uns,  daß  wir  dem  grie- 
chischen äv  gegenüber  auch  im  Lateinischen 
und  Gothischen  ein  entsprechendes  an  wieder 
finden.  Daß  diese  drei  verschiedenartigen  an 
(äv),  die  einander  äußerlich  ganz  gleich  sind, 
auch  aus  ein  und  demselben  Grunde  historisch 
sich  entwickelt  haben,  also  ursprünglich  eins 
sind,  steht  allerdings  nicht  ohne  Weiteres  fest,  es 
wird  aber  zum  höchsten  Grade  der  Wahrschein- 
lichkeit erhoben,  sobald  sich  erweisen  läßt,  daß 
auch  der  begriffliche  Inhalt  oder  die  Bedeutung 
jener  verschiedensprachigen  an,  da  darin  eine 
thatsächliche  Uebereinstimmung  nicht  besteht, 
sich  aus  dem  gleichen  Grunde  entwickeln  konnte. 
Dieser  Erweis  aber  läßt  sich  mit  Leichtigkeit 
führen  und  es  stellt  sich  damit  also  für  uns  als 
Thatsache  heraus,  daß  die  Grundlage  des  grie- 
chischen «j>x  schon  in  der  Zeit  existierte,  in 
der  Griechisch,  Lateinisch  und  Gothisch  oder 
im  weiteren  Sinne  Germanisch  —  was  eben  aus 

53* 


836        Gott  gel-  Anz.  1880.  Stück  27. 

ihrer  Verwandtschaft  anter  einander  folgt  — 
noch  nicht  getrennte  Sprachen  waren,  sondern 
noch  eine  Einheit  bildeten.  Diese  Griechisch- 
lateinisch-germanische Spracheinheit  aber  fällt 
mit  der  sogenannten  europäischen  Einheit  der 
indogermanischen  Sprachen  noch  zusammen,  da 
germanische  Sprache  dem  Slavischen  und  Li- 
tauischen verwandtschaftlich  näher  steht,  als 
den  beiden  classischen,  und  diese  wiederum  dem 
Keltischen  näher  verwandt  sind,  als  dem  Ger- 
manisch-Littauisch-Slavischen,  Wir  können  also 
die  Entwicklungsgeschichte  unseres  cm  in  sehr 
alte  Zeit  zurückverfolgen/  wir  wissen  vom  Bo- 
den der  vergleichenden  Grammatik  aus,  daß  es 
schon  in  d^a  r  Zeit  als  adverbielles  Wörtchen  ent- 
wickelt gewesen  sein  muß,  in  der  alle  westindo- 
germanischen Sprachen  sich  noch  nicht  zu  ihren 
verschiedenen  Abtheilungen  entwickelt  hatten. 

Welche  Bedeutung  aber  wohnte  jenem  so 
ermittelten  alten,  vorgriechischen,  vorlateinischen, 
vorgermanischen,  an  inne?  Da  sich  die  Bedeu- 
tungen des  griechischen,  lateinischen  und  gothi- 
schen  an  durchaus  nicht  decken,  also  insofern 
nicht  wohl  von  einer  altertümlichen  Einheitlich- 
keit derselben  die  Bede  sein  kann,  so  bleibt  zu 
prüfen,  in  welcher  der  genannten  drei  Sprachen, 
denen  das  an  erhalten  blieb,  dieses  die  alter- 
tümlichste, sinnlichste  und  gleichsam  greif- 
barste Bedeutung  zeigt.  Das  ist  aber  deutlich 
der  Fall  im  Lateinischen.  Hier  bezeichnet  cm 
das  Oder  der  Doppelfrage  oder  ein  fragendes 
„im  anderen  Fallu,  wie  in  rides  an  ploräs 
„lachst  du  oder  (=  „im  andern  Fall")  weinst 
du"?  Aus  den  älteren  lateinischen  Dichtern 
und  zwar  insbesondere  aus  den  Bruchstücken 
der  Komiker  und  Tragiker  ist  der  Gebrauch  des 


l 


Leo  Meyer,  An  im  Griech.  Lat  u.  Gothisch.    837 

lateinischen  an  in  etwas  weiterem  Umfange 
(Seite  6  bis  9)  aufgewiesen. 

Mit  dem  lateinischen  an  zeigt  seine  innere 
Verwandtschaft  überall  ganz  deutlich  noch  das 
gothische  an,  das  in  unserer  gothischen  Bibel- 
übersetzung im  Ganzen  nur  an  fünf  Stellen 
(drei  bei  Lukas  nnd  zwei  bei  Johannes)  vor- 
kömmt, die  (Seite  10  nnd  11)  sämmtlich  ge- 
nauer betrachtet  sind.  Das  gothische  an  ist 
überall  in  Fragen  verwandt,  die  ein  besonderes 
Bedenken  oder  Zweifeln  des  Fragenden  aus- 
drücken sollen,  wie  Lukas  18,  26,  wo  Luthers 
Worte  lauten  „wer  kann  denn  selig  werden?", 
die  entsprechenden  gothischen  mit  ihrem  an 
aber  sich  etwa  würden  übersetzen  lassen  „oder 
wer  kann  selig  werden?",  wie  sitfhs  an  einen 
leicht  zu  ergänzenden  unmittelbar  vorausgehen- 
den Gedanken  „nach  deinem  Ausspruch  müssen 
ja  alle  zu  Grunde  gehen a,  anschließen  würde. 

An  die  Betrachtung  des  gothischen  an  schließt 
sich  sodann  (Seite  11  bis  59)  die  des  griechi- 
schen äv,  dessen  Gebrauch  für  den  Umfang  der 
homerischen  Sprache  in  unversehrter  Vollstän- 
digkeit dargelegt  ist  Vorangestellt  ist  (Seite  12 
bis  15)  die  Verbindung  des  äv  mit  augmentier- 
ten  Verbalformen,  wie  in  der  öfter  wiederholten 
Wendung  rj  %  äv  noM  xiQÖwv  qsv  „gewiß  es 
wäre  viel  vorteilhafter  gewesen"  der  jedesmal 
vorausgeht  dJJl  iyd  ov  m&dpyv  „aber  ich  folgte 
nicht",  aus  der  etwas  anders  gestaltet  der  Ge- 
danke sich  ergiebt  „ich  folgte  nicht,  oder  es 
war  (=  „wäre  gewesen")  vorteilhafter". 

In  sehr  belehrender  Weise  wird  solche  Auf- 
fassung durch  das  Gothische  bestätigt.  In 
Sätzen  der  bezeichneten  Art,  in  denen  sichs  also 
um  Verbindung  des  äv  mit  augmentierten  Ver- 
balformen handelt,  stellt  nämlich  Wulfila  mehr- 


838        Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  27. 

fach  der  fraglichen  griechischen  Partikel  gradezu 
das  gothische  criththau  gegenüber,  das  sonst 
ganz  gewöhnlich  für  das  bestimmte  „oder"  ge- 
braucht wird.  Und  etwas  häufiger  noch  als  je- 
nes aiththau  steht  das  kürzere  thau,  das  sonst 
auch  „oder"  ist,  an  der  Stelle  des  griechischen 
äv.  Das  than  aber  steht  einige  Male  auch  da 
für  äv,  wo  das  letztere  sich  mit  Modusformen 
verbindet  und  zwar  in  abhängigen  Sätzen,  wie 
zum  Beispiel  in  hvarjis  thau  ize  rnaistsvösi  dem 
griechischen  ttg  äv  sty  pei^cov  avtcSv  („es  kam 
ein  Streit  unter  sie,)  welcher  etwa  der  größeste 
von  ihnen  wäre"  gegenüber.  Das  thau  oder 
äv  läßt  sich  in  solchen  Verbindungen  ungefähr 
durch  „etwa,  vielleicht,  möglicher  Weise,  unter 
gewissen  Umständen"  tibersetzen,  das  heißt  seine 
ursprünglich  bestimmter  gerichtete  Bedeutung 
„oder",  das  ist  „im  anderen  Fall",  erscheint 
nun  etwas  abgeschwächt  und  so  umgestaltet  zu 
der  Bedeutung  „in  irgend  einem  beliebigen  (oder 
denkbaren,  möglichen)  Fall". 

Auf  diesem  Bedeutungsgrunde  aber  hat  sich 
aller  weitere  Gebrauch  des  äv  entwickelt,  seine 
namentlich  im  Relativsatz  beliebte  Verbindung 
mit  dem  Conjunctiv  und  seine  vorwiegend  in 
Hauptsätzen  beliebte  Verbindung  mit  dem  Opta- 
tiv, für  welche  letztere  sich  dann  der  bestimm- 
tere Werth  des  sogenannten  Conditionalis  heraus- 
gebildet hat.  Den  aufgeführten  drei  verschie- 
denartigen Verbindungen  des  äv  aber,  also  der 
mit  augmentierten  Formen,  der  mit  dem  Con- 
junctiv in  Relativsätzen  und  der  mit  dem  Opta- 
tiv in  Hauptsätzen  zur  Bezeichnung  des  Condi- 
tionalis ordnen  sich  alle  übrigen  Verwendungs- 
arten des  äv  in  griechischen  Sätzen  mehr  oder 
weniger  unter. 

Zu   bequemerem  Gebrauch  ist  eine  ziemlich 


V 

1 


Briefw.  Meusebach's  mit  Jac.  u.  Wilh.  Grimm.    839 

ausführliche  Inhaltstibersicht  zugefügt,  in  der 
unter  anderem  anch  sämmtliche  homerische  Stel- 
len mit  ßv,  sowie  anch  die  mit  inj*  (für  im) 
Sv)  nnd  ijv  (für  sl  &v\  nebst  den  entsprechen- 
den Verweisungen  aufgeführt  worden  sind. 
Dorpat.  Leo  Meyer. 


Briefwechsel  des  Freiherrn  Karl 
Hartw.  Gregor  von  Mensebach  mit  Ja- 
cob nnd  Wilhelm  Grimm.  Nebst  einleiten- 
den Bemerkungen  über  den  Verkehr  des  Samm- 
lers mit  gelehrten  Freunden,  Anmerkungen  und 
einem  Anhange  von  der  Berufung  der  Brüder 
Grimm  nach  Berlin.  Herausgegeben  von  Dr. 
Gamillus  Wendeler.  Heilbronn,  Verlag  von 
Gebr.  Henninger.   1880.   CXXIV  u.  426  S.  gr.  8°. 

Erhaben  über  die  Staffel  des  bloßen  Ruhmes, 
selbst  eine  hohe  Stufe  desselben  angenommen, 
ist  das  beneidenswerthe  Loos,  das  freilich  nur 
wenigen  gefallen  ist,  Lieblinge  ihres  Volkes  zu 
sein.  Nur  solche  Männer  erreichten  dieß,  welche 
des  eigenen  ^Volkes  Art  tiefinnerlich  erfaßt  und 
durch  epochemachende  Leistungen  in  lichtem 
Glänze  der  Vollkommenheit  zur  Erscheinung 
gebracht  haben.  Zu  der  Schaar  dieser  Auser- 
wählten zählen  für  uns  Deutsche  die  Brüder 
Grimm,  Jacob  mit  seinem  stärkeren  und  tieferen 
Geiste,  Wilhelm  mit  seinem  milden  und  treuen 
Herzen,  beide  in  herzlicher  Eintracht  verbunden, 
nicht  bloß  durch  die  Bande  des  Blutes,  die  die 
Natur  um  sie  geschlungen  hatte,  sondern  auch 
durch  den  Einklang  ihrer  Herzen  eins,  nicht  un- 
ähnlich  dem  hohen  Dichterpaare,  das  kurz  vor 


840        Gßtt.  gel.  Anz.  1880.  Stück  2T. 

ihrer  Zeit  in  noch  erhabenerer  Größe  zusammen 
lebte,  dachte  und  schuf.  Denn  nichts  anderes 
zieht  neben  der  Bewunderung  der  Geistesgröße 
und  der  bedeutenden  wissenschaftlichen  Leistun- 
gen den  Geist  und  das  Herz  der  Deutschen  so 
zu  den  Brüdern  hin,  welche  in  ihrer  stillen  Stu- 
dierstube, im  Staube  der  Bibliothek  oder  im 
Hörsäle  der  Hochschule  ihre  Welt  fanden  und 
doch  so  wirksam  für  den  geistigen  Fortschritt 
ihrer  Nation  schafften,  als  das,  ich  möchte  fast 
sagen,  instinktive  Gefühl,  daß  wir  in  beiden  die 
echtdeutschen  Tugenden  verkörpert  sehen:  die 
ideale  Auffassung  des  Ganzen  wie  des  Einzel- 
zelnen,  den  beharrlichen  Fleiß,  des  Forschers 
Tiefe,  die  Kraft  der  That  und  die  feste  und 
unerschütterliche  männliche  Ueberzeugung,  die 
nichts  scheut  und  für  sie  alles  hingiebt,  selbst 
die  eigene  Existenz,  daneben  aber  auch  Milde 
der  Gesinnung  und  selbstlose  Liebe  für  andere. 
So  waren  die  Brüder  Grimm,  und  so  leben  sie 
im  Herzen  ihres  Volkes  fort,  an  dessen  geistiger 
Größe  sie  wie  wenige  haben  mitschaffen  helfen. 
Von  ihnen  nun  erzählt  das  Buch,  auf  das  wir 
durch  diese  Besprechung  die  Aufmerksamkeit 
unserer  Leser  hinlenken  möchten.  Indem  aus 
dem  Meusebach'schen  Nachlasse  und  dem  der 
Brüder  Grimm  eine  große  Anzahl  von  Briefen 
zum  ersten  Male  zum  Vorschein  kommen,  ver- 
dient es  von  vornherein  unsere  vollste  Beach- 
tung. Freilich  nicht  in  dem  Sinne,  in  welchem 
der  Herausgeber  sein  Werk  vollendet  hat.  Wir 
befinden  uns  mit  ihm,  der  sein  Augenmerk  zu- 
meist und  zu  ausschließlich  auf  Meusebach  ge- 
richtet hat,  in  principiellem  Gegensatze.  Man 
mag  den  Freiherrn  von  Meusebach  für  einen 
nicht  ganz  gewöhnlichen  Menschen  ansehen  und 
es  deshalb  für  angezeigt  halten,  über  ihn  der 


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Briefw.  MeoBebach'g  mit  Jac  a.  Wilb.  Grimm.   841 

gelehrten  Welt  mühsam  gesammelte  Notizen  in 
reichlicher  Fülle   darzubieten,    aber  in    einem 
Werke ,   wo   er  neben   den  Grimms    erscheint, 
trete  er  bescheiden  znrück,  wie  der  handwerks- 
mäßige  Handlanger  gegen   den  Künstler,  wie 
der  Schüler  gegen  den  ausgezeichneten  Lehrer, 
wie  der  Dilettant  gegen  den  kritisch  denkenden 
und   genial   schaffenden  Meister,   endlich  —  es 
dauert  ans  fast,  es  zu  sagen !  —  wie  der  klein- 
liehe und   oft  wenig  Liebe  und  Zuneigung  er- 
weckende,   engherzige  Sonderling    gegen    den 
innig   zu  verehrenden   und  mit  allen  Tugenden 
des  Herzens  geschmückten  guten  Menschen.    Es 
ist  wahrlich  nicht   gut   für  Meusebach's  Nach- 
ruhm,   wenn    über  ihn    noch    mehr    derartige 
Actenstücke,  wie  es  viele  der  vorliegenden  Briefe 
sind,  bekannt  werden,  das  bedenke  der  Heraus* 
geber  wohl,  falls  er  etwa  noch  mehr  über  Meu- 
sebach  veröffentlichen  will!    Wir  kannten    bis- 
her noch  wenig  über  ihn,  höchstens  einige  Le- 
bensnotizen (vgl.  J.  Zacher  im  Brockhausischen 
Conversationslexicon,    10.   A.    1853,  Bd.   10   S. 
435),  und  das  Meiste,  was  wir  von  ihm  wußten, 
entstammt   Aeußerungen   seiner   ihm    unendlich 
überlegenen  Freunde,  welche  vielfach  Schwächen 
zugedeckt  haben.    Jetzt,  wo  wir  hier  und  in  den 
vor    Jahresfrist    erschienenen     „Fischartstudien 
des  Freiherrn   K.  H.  Gr.  v.  Meusebach",   von 
demselben  Herausgeber,  auf  welche  wir  gleich  zu- 
rückkommen werden,  ihn  selbst  in  seinem  Thun, 
Beden  und  Wollen  kennen  gelernt,    hat  er  ge- 
gen früher  viel  verloren.   Wir  wollen  ihm  wahr- 
lich seine  Verdienste  nicht  schmälern,   und  das 
Wenige,  was  er  selbst  mit  seiner  Bibliothek  fttr 
die  Geschichte  der  deutschen  Literatur  des  15.,  16. 
u.  17.  Jahrh.,  besonders  für  „Fischart"  und  das 
„Volkslied"  geleistet  hat,  und  alles,  was  er  für 


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842        Gott.  gel.  Adz.  1880.  Stück  27. 

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andere  als  ein  wahrer  Chalkenteros,  aber  auch 
nicht  selten  als  ein  Koprophoros  k  la  Gottsched 
sammelte  und  auszog,  endlich  was  das  Bedeut- 
samste ist,  durch  seine  in  ihrer  Art  einzige  Bi- 
bliothek überhaupt  zu  leisten  ermöglichte,  soll 
<  ihm  unvergessen  bleiben,  aber  im  eigenen  Inter- 
esse des  Mannes  verschone  man  uns  mit  Weite- 
rem über  ihn.  Alles,  was  wir  von  ihm  zu  wis- 
sen begehren,  was  allgemeines  Interesse  an  ihm 
hat,  ist  jetzt  tibergenugsam  bekannt ;  eine  gute 
Zusammenstellung  davon  bietet  die  „Allgemeine 
Zeitung",  1880,  Beilage  zu  Nro.  102,  auf  Grund 
der  Wendeler'schen  Publikationen.  Und  will 
man  uns  das  nicht  zugestehen  und  Meusebach 
höher  stellen,  nun  so  schreibe  man,  wenn  die 
auf  S.  IV  erwähnten  „Geheimbtichera  und  auto- 
biographischen Aufzeichnungen  endlich  erlangt 
sein  werden,  eine  Biographie  des  Mannes,  wel- 
che lesen  mag,  wer  sich  für  ihn  interessiert, 
aber  in  Werken,  wo  andere  viel  bedeutendere 
Männer  auftreten,  stehe  er  bescheiden  im  Hinter- 
grunde. 

Nach  diesen  Auseinandersetzungen  wird  es 
dem  Herausgeber  nicht  Wunder  nehmen,  daß 
wir  seine  Einleitung,  welche  volle  124  Seiten 
umfaßt,  für  mißlungen  erklären.  Mit  großem 
Fleiße  hat  derselbe  Gelehrte  im  vorigen  Jahre 
aus  den  Schätzen  der  Kgl.  Bibliothek  in  Berlin, 
die  i.  J.  1849  Meusebach's  Bibliothek  angekauft 
hat  und  zum  Theil  auch  seine  Correspondenz 
besitzt,  die  „Fiscbartstudienu  Meusebach's  ver- 
öffentlicht, ein  Werk,  über  das  ich  hier  nicht 
zu  urtheilen  habe,  und  das  ein  Meister  der  Li- 
terarhistorie ,  K.  Goedeke,  in  diesen  Blättern 
(1880,  S.  336-350)  bereits  besprochen  hat; 
seinem  Urtheile  stimme  ich  übrigens  von  gan- 
zem  Herzen   bei.    In  diesen    „Fischartstudientf 


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Briefw.  Meusebach's  mit  Jac.  u.  Wilh.  Grimm.    843 

findet  sich  eine  96  Seiten  lange  Einleitung  über 
die  literarischen  Bestrebungen  Meusebach's,  und 
von  dieser  ist  unsere  Einleitung  einfach  eine 
Fortsetzung  oder  Ergänzung.  Mag  es  nun  wirk- 
lich vor  jenes  Buch  hingehören,  so  Vieles  und  so 
Vielerlei  von  dem,  was  Meusebach  geleistet  bat 
oder  viel  öfterer  leisten  wollte,  zu  erörtern,  was 
aber  hat  es  in  aller  Welt  mit  dem  Briefwechsel 
zwischen  den  Grimm's  und  Meusebach  zu 
thun,  wenn  wir  belehrt  werden,  welchen  Studien 
Meusebach  besonders  nachhieng,  und  mit  wel- 
chen Männern  er  vornämlich  verkehrte?  So  er- 
fahren wir  von  seinem  Verhältnisse,  ehe  er 
nach  Berlin  tibersiedelte,  zu  Jean  Paul,  J.  G. 
Jacobi,  Goethe,  Görres,  Laßberg,  dann  seitdem 
er  nach  der  Preußischen  Hauptstadt  versetzt 
war,  wie  er  mit  dem  General  v.  Clausewitz  und 
dessen  Gattin  Marie  geb.  Gräfin  Brühl,  mit  Hoff- 
mann v.  Fallersleben,  Zeune  und  dem  Luther- 
sammler Eraukling  stand;  dann  wird  Laßberg's 
noch  einmal  gedacht  (S.  XXIII— XXV),  ferner 
besonders  eingehend  sein  Verkehr  mit  Ebert 
geschildert,  sowohl  solange  dieser  in  Wolfen- 
btittel  der  Bibliothek  vorstand  und  noch  mehr 
in  seiner  Dresdener  Stellung,  dann  wird  zum 
zweiten  Male  das  Verhältniß  zu  Hoffmann  von 
Fallersleben  berührt  (S.  XXX VIII  -L VII),  na- 
mentlich dessen  Liebe  zu  Meusebach's  Tochter, 
der  „Arlikona"  der  Hoffmann'schen  Lieder,  be- 
handelt; wenig  erquicklich  ist  weiter  das,  was 
von  dem  Verkehre  zwischen  Hailing  und  Meuse- 
bach (S.  LVII-LXXXV)  erzählt  wird,  und  wo- 
durch nicht  gerade  schöne  Streiflichter  auf  Meu- 
sebach's Charakter  fallen;  ebensowenig  ist  er 
gegen  W.  Wackernagel  und  K.  F.  Förstemann 
liebenswürdig,  obschon  letzterer  eine  Zeit  lang 
Erzieher  der  Meusebach'schen  Kinder  war.   Bes- 


t 


844       Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  27. 

ser  war  das  Verhältniß  zu  M.  Haupt  (S.  XCVIH 
— CX  und  CXVII— CXX),  das  Stand  hielt,  und 
weshalb  auch  Haupt  bei  dem  Verkaufe  der 
Meusebach'scben  Bibliothek  an  den  Preußischen 
Staat  sehr  erfolgreich  tbätig  war  (S.  CXX — 
CXXIII);  desto  herber  ist  aber  wiederum  der 
Mißton,  mit  welchem  der  lange  und  innige  Ver- 
kehr mit  Lachmann  (S.  CX— CXVII)  durch  das 
am  17.  August  1837  von  Meusebach  übersandte 
ebenso  brüske  als  lakonische  Billet  abgebrochen 
wurde:  „Lassen  Sie  uns,  Herr  Professor,  einen 
persönlichen  Umgang  aufgeben,  der  keinem  von 
uns  gut  und  nützlich  ist"  — ,  ein  „Produkt  über- 
reizter Nerven",  wie  Wendeler  selbst  ganz  rich- 
tig bemerkt.  Und  bei  alle  dem  erfahren  wir 
fast  Nichts  von  den  Brüdern  Grimm,  kaum  daß 
sie  gelegentlich  einige  Male  erwähnt  werden, 
wie  z.  B.  S.  Ln,  CIV,  CXI,  CXIII!  —  Ich 
denke  mir,  zu  diesem  unseren  Werke  mußte 
eine  ganz  andere  Einleitung  geliefert  werden. 
Meusebach's  erster  Brief  ist  vom  10.  Juli  1820, 
Wilhelm  Grimm's  letztes  Schreiben  vom  9.  Juli 
1846,  aber  die  eingehendere  Correspondenz 
schließt  eigentlich  schon  mit  dem  Jahre  1836 
(vgl.  Brief  Nr.  97  v.  Meusebach,  S.  227—233), 
also  ungefähr  ein  Jahr  vor  der  Amtsentsetzung 
der  Brüder  in  Göttingen.  Was  heißt  das  für 
die  Grimms.  Darauf  mögen  die  folgenden  all- 
gemein bekannten  bibliographischen  Notizen  ant- 
worten. In  jener  Zeit  erschienen  von  Jacob 
Grimm:  seine  deutsche  Grammatik,  Bd.  I  1819, 
dessen  wichtige  2.  Ausgabe  1822,  Bd.  II  1826, 
Bd.  III  1831,  seine  deutschen  Rechtsalterthümer, 
Meusebach  gewidmet,  1828,  sein  Reinhart  Fuchs 
1834,  seine  deutsche  Mythologie  1835,  von  Wil- 
helm Grimm:  dessen  „Deutsche  Heldensage"  1829 
und  der  „Freidank"  1834,  vieler  kleiner,   doch 


Briefw.  Meusebacb's  mit  Jac  u.  Wilh.  Grimm.    845 

auch  sehr  werthvoller  Arbeiten  nicht  zu  geden- 
ken.  Das  heißt  nichts  anderes,  als  daß  es  jene 
Zeit    war,   in    welcher  die  Grimms,   namentlich 
Jacob,   sich   zn   epochemachenden  Meistern   in 
ihrem   Fache    ausgestalteten,    wo    der   „hehre 
Freundeskreis,    der  die  Gründer  der  deutschen 
Philologie  und  ihre   nächsten   Vertrauten   ver- 
band" (vgl.  J.  Zacher  im  Necrolog  v.  M.  Haupt, 
Zeitschrift  f.  deutsch.  Pbilolog.  Bd.  V  S.  456), 
in  gegenseitiger  Unterstützung  und  mündlichem 
wie    schriftlichem   Verkehre    sich  so   wirksam 
förderte.     In   diese  Schaffenszeit  also,   wie  sie 
kaum   großartiger   und   folgenreicher  je  in  der 
Geschichte  der  deutschen  Wissenschaft  dagewe- 
sen  ist,  führt   uns   der   „Briefwechsel"    mitten 
hinein,   und   daß   wir   hierüber    in   besonderen 
Fällen  auf  das  eingehendste  belehrt  werden,  ist 
die  Wichtigkeit  desselben.    Hier  mußte  die  Ein- 
leitung einsetzen  und  in  systematischer  Zusam- 
menstellung alles  das  darlegen,  was  wir  aus  den 
Briefen,  besonders  Jacob  Grimm's  erfahren.   Ich 
würde  dabei  zwischen  Jacob  und  Wilhelm  capi- 
telweise    geschieden    und   bei   jedem    die  ein- 
zelnen   Werke     besonders     behandelt    haben, 
wobei  ja  namentlich  für  den  2.  Theil  der  Gram- 
matik, für  die  Rechtsalterthümer  und  den  Rein- 
hart Fuchs  der  Löwenantheil  abgefallen  wäre, 
und   sich    die   wichtigsten  Aufschlüsse   ergeben 
hätten.    Man  kann   hier  so   recht  eigentlich  in 
die    geistige   Werkstätte   der   Grimms    hinein- 
blicken,, und  kann  lernen,  in  welcher  Weise  sie 
ihre  großartigen  Werke  schufen,  man   kann  sie 
endlich   förmlich   bei  ihrer   Arbeit    belauschen. 
Und   wie    viel  neue  Lebensbezüge  der  Brüder 
erfahren   wir  noch,   große   und   kleine  Sorgen, 
Aufschlüsse  über  ihr  Jugendleben,  über  ihre  po- 
litischen Anschauungen,  namentlich  Jacob's,  ihr 


846        Gott.  gel.  Adz.  1880.  Stück  27. 

Familienleben  und  ihre  Freund scliaftsbe Ziehun- 
gen!   Daran  maßte  sich   noch  das   anschließen, 
was  sich  über  die  anderen  gleichstrebenden  For- 
scher  ergiebt,   über  Lachmann,   Benecke  u.    a. 
Eine   solche  Einleitung   würde  eine  Fundgrube 
sein   für   die  Geschichte  der  Geistesentwicklung* 
der  Grimms  und   vieler  anderer  Gelehrter,   wel- 
che  die    deutsche  Philologie  geschaffen   haben  ; 
jetzt  aber  muß   man  sich  die  einzelnen  Notizen 
mühsam  zusammensuchen  und  kann  deshalb  den 
Ueberblick  über   das  Ganze    schwer  festhalten, 
ohne   durch   den   Notizenkram   über  Meusebach 
irgendwie  entschädigt  zu  werden.    Nehmen  wir 
noch  die  letzten  Briefe  hinzu  und  den  „Anhang 
von  der  Berufung  der  Brüder  nach  Berlin"   (S. 
255—300),    für  welchen  wir   dem   Herausgeber 
nicht  dankbar  genug  sein  können,  und  in  wel- 
chem die  feinsinnigen  Billets  von  Friedrich  Wil- 
helm IV.,   der  Brief  Alexander's  von  Humboldt 
und  die  stürmischen  Bitten  Bettina's  von  Arnim 
zuerst  an  den  Kronprinzen,  dann  an  den  König 
unser  Interesse  zumeist  auf  sich  ziehen,  so  spielt 
in  jene  Zeiten  auch   der   Plan,    das   „Deutsche 
Wörterbuch"  zu  schaffen,  mit  hinein,  und  somit 
konnte  auch    die   Entstehungsgeschichte   dieses 
unseres  großen  Nationalwerkes,  das  der  Vollen- 
dung noch  so  fern  ist,  durch  bisher  unbekannte 
Nachrichten  in  größere  Klarheit  gertickt  werden. 
In  Summa  also:  eine  solche  Einleitung  mit  sol- 
chen   Aufgaben,    die    zu   lösen  dabei   durchaus 
nicht  zu  schwierig  waren,  mußte  doch  wahrlich 
eher  des  Schweißes  werth  sein  als  das,  was  wir 
jetzt  finden.   Denn  viel  Arbeit  steckt  in  dem  Buche, 
und  zwar  eine  in  mancher  Hinsicht  erfolgreiche 
Arbeit,  da  die  Briefe  selbst  in  musterhafter  Ge- 
nauigkeit abgedruckt  und  die  Anmerkungen  mit 
großer  philologischer  Akribie  gearbeitet  sind,  so 


Briefw.  Meusebach's  mit  Jac.  a.  Wilb.  Grimm.    847 

daß,  von  einem  andern  principiellen  Mangel,  den 
ich    gleich  berühren  werde,  einmal   abgesehen, 
nor   Einzelheiten  zu  finden  sind,  die  theilweise 
unrichtig,  theils  unerklärt  geblieben  sind.     Die- 
ser principielle  Mangel  hängt  aber  mit  dem  der 
Einleitung  innerlich   zusammen.     Denn   einmal 
richtet  der  Verfasser,  seiner  ganzen  Auffassung 
nach,  auch  bei  der  Erklärung    sein  Augenmerk 
zu  viel  auf  Meusebach ;  und  er  hat  deshalb  auch 
dessen  Briefe,  die  oft  nur  zum  Theil  grammati- 
sche Sammlungen  sind,  nicht  einschneidend  ge- 
nug gekürzt.    Nicht  genug,   sage  ich,  denn  an 
vielen   Stellen   ist   es    geschehen.      Aber    jene 
Sammlungen   haben    doch  Jacob  Grimm   vorge- 
legen; was  er  benutzen  konnte,   hat  er  benutzt. 
Was  nützen  sie  also  jetzt  noch?    Mir  liegt  z.B. 
das  Handexemplar  Hoffmann's  von  Fallersleben 
von   dem   Meusebach'schen   Werke    vor:    „Zur 
Recension   der   deutschen  Grammatik,  unwider- 
legt  herausgegeben   von   Jacob  Grimm,  1826", 
das   auf  Meusebach's    Anordnung    (sein   Name 
steht   auf  dem  Umschlage)   von   Jacob  Grimm 
mit     einer  Dedication    an    Hoffmann    gesandt 
wurde.    In   ihm  hat  letzterer  auf  S.  28,  29.  34 
u.  52  „Nachträge u   notiert.     Es   hieße  die  Ge- 
duld  der  Leser  in  unberechtigter  Weise  in  An- 
spruch nehmen,   wenn   ich  diese  unbedeutenden 
Stellen  hier  oder  anderswo  mittheilte.  Eine  gleiche 
Entsagung  mußte  Wendeler  üben.    Und  zum  ande- 
ren  giebt   der  Herausgeber   keine  umfassenden 
Ueber-   und   Ausblicke   und    setzt  das  Einzelne 
nicht  genügend  in  Zusammenhang  mit  dem  Gan- 
zen, um  das  es  sich  handelt,  sondern  er  geht  zu 
sehr  in's  Kleine,  ja  Kleinliche;  dieses  zu  erklä- 
ren,  genügt  ihm  oft,  so   daß    er  also  nicht  das 
in  unserem  Sinne  vollkommen  erreicht  hat,  was 
er  auf  S.  IV  als  seinen  Plan  hinstellt,  oder  doch 


848        Gott  gel.  Anz.  1880.  Stück  27, 

als  einen  Theil  des   von  ihm  Erstrebten,  „zur 
Entwicklungsgeschichte  der  zwischen  den  Schrei- 
benden verhandelten  wissenschaftlichen  Fragen 
•  .  .  weiteren  Stoff  zu  liefern u ;  wenigstens  hat 
er  ihn  selbst  nicht  verwerthet.     Im  Ganzen  be- 
weist Wendeler  allerdings  in  den  Anmerkungen 
reiche  Belesenheit,    einsichtige  Kritik   und    im 
Allgemeinen  umfassende  Gelehrsamkeit     Aller- 
dings nicht  immer  tadellosen  Geschmack,  denn 
sein  Stil  ist  öfters  schwerfällig,   wobei  wir  na- 
türlich von  den  vielen  Stellen  absehen,  wo  der 
Gegenstand  eine  trockene  Aufzählung  von  Na- 
men, Daten,  Büchertiteln  u.  s.  w.   bedingt.     In 
letzter  Hinsicht  ist  mir  die  Publikation  A.  Beif- 
ferscheid's   „Freundesbriefe  von  Wilh.  und  Jac. 
Grimm,  1878   in  demselben  Verlage  erschienen, 
sympathischer.    Ein  Vorzug  des  Wendeler'schen 
Buches   ist  aber  unstreitig  das  ruhige   und  be- 
sonnene Urtheil  des  Verfassers,  wovon  sich  nur 
einzelne   Ausnahmen   finden,   wie    z.  B.   in  der 
Anmerkung  zu  S.  CXX,  da  es  ziemlich  gewagt 
ist,  auf  Grund  von  Angaben  Hoffmann's  von 
Fallersleben,  dessen  Selbstbiographie  Wendeler 
doch  sonst  richtig  würdigt,   Angaben,   die  ein 
Mann  wie  Jul.  Zacher  über  Selbsterlebtes  macht, 
corrigieren  zu  wollen ;  zum  Ueberflusse  erwähne 
ich,  daß  ich  aus  Zacher's  eigenem  Munde  weift, 
daß   er   seine  Behauptung   voll    aufrecht   hält. 
Solche  Stellen  nun,  die    eine   allgemeine   Be- 
deutung haben  und  auch  so  behandelt  werden 
mußten,    sind,   abgesehen   natürlich   von  denen, 
an  welchen  es  sich  um  die  Werke   der  Grimms 
im  Allgemeinen  handelt,   z.  B.  folgende:  Seite 
6  Jac.   Grimm's   Urtheil  über  die   lat.  Lettern 
seiner  Grammatik,  S.  90  über  J.  Grimm's  Vater- 
landsliebe, S.  96  u.  106  über  Orthographie  (denn 
der  kurze  Hinweis  S.  346  genügt  nicht),  wozu 


Briefw.  Meusebach's  mit  Jac.  a.  Wilh.  Grimm.  849 

Meusebach's  Bemerkung  auf  S.  100  von  allge- 
meinerer Bedeutung  ist,  ferner  S.  107  J.  Grimm's 
Bemerkung  über  den  Unterschied  zwischen  alt- 
klassischer und  deutscher  Philologie;  S.  111 
Meusebach's  Ansicht  über  wissenschaftliche  Ar- 
beiten, S.  117  ff.  J.  Grimm's  Bemerkungen  über 
seine  Versetzung  nach  Göttingen  und  seine  An- 
hänglichkeit an  Hessen,  u.  s.  w.,  u.  s.  w.  Daß 
viele  Stellen  anders  oder  genauer  hätten  erklärt 
werden  können,  scheint  mir  zweifellos,  freilich 
läßt  sich  über  Manches  und  besonders  über  das 
Maß  streiten,  da  das  Wissen  ja  so  verschieden 
ist,  was  der  einzelne  Leser  zu  dem  Buche  mit- 
bringt Aber  da  ich  glaube,  Wendelerwünscht, 
daß  sein  Buch  nicht  bloß  von  Gelehrten  von 
Fach  studiert  werde,  sondern  daß  es  auch  der 
gebildete  Laie  liest,  so  hätte  er  noch  Manches 
hinzufügen  müssen.  Ich  greife  einige  Beispiele 
heraus,  bei  denen  ich  eine  Erklärung  vermisse, 
oder  wo  beziehungsweise  eine  Berichtigung 
hätte  eintreten  müssen.  So  fehlt  auf  S.  42  zu 
den  Worten:  „auch  wäre  mir  unlieb,  damit 
stecken  zu  bleiben  wie  Bretschneider"  eine  ge- 
nauere Erklärung,  was  Meusebach  damit  sagen 
will,  denn  H.  G.  Bretschneider  ist  doch  kein  so 
bekannter  Schriftsteller,  daß  alle  ihn  kennen, 
und  noch  unbekannter  als  sein  Name  sind  in 
unserer  Zeit  seine  Werke.  Ferner  wer  ist  S. 
75  ZI.  16  v.  o.  der  „Oa,  den  J.  Grimm  grüßen 
läßt?  Ich  denke,  daß  Grimm  den  „Fischart- 
orden"  meint,  auf  jenen  Scherz  Meusebach's  ein- 
gehend, der  alle,  die  für  seine  geplante  Fischart- 
ausgabe sammelten,  zu  Rittern  desselben  er- 
nannte, während  er  selbst  sich  als  Großmeister 
gerierte,  wenigstens  so  angeredet  ward,  z.  B. 
von  dem  demüthigen  Hailing;  die  Abkürzung 
hat   wahrscheinlich   F.   0.    (vgl.   S.  112)   auch 

54 


850       Gott  gel  Anz.  1880.  Stück  27. 

hier  sein  sollen,   und  es  ist  wohl  denkbar,  daft 
J.  Grimm  das  „F."  aus  Versehen  weggelassen  bat, 
Ferner  zu  S.  97  und  99  fehlen  Nachrichten  tlber 
Professor  Klenze  in  Berlin  und  Horner  in  Zürich. 
AufS.  104  sagt  Wilh.  Grimm:  „sie  erinnerte  mich 
an  die  stumme  Schönheit,  ich   denke  von  öel- 
lert";  Wendeler  moniert  dies  nicht   und.  läßt 
also  W.    Grimm's    Irrthum   stehen,    da    jenes 
Lustspiel  nicht  von  Geliert,   sondern   von  Job. 
EL  Schlegel  ist    üeher  das  Wort  „Dingrötel" 
S.  140  wäre  meiner  Ansicht  nach  ebenfalls  eine 
Anmerkung  durchaus   am  Platze   gewesen,   da 
nicht  jeder  in   der   Geschichte   des    deutschen 
Rechtes  so  heimisch  ist,  um  diesen  Ausdruck  zu 
kennen;   ebensowenig  werden   sich   die  wenig- 
sten über  das  tertium  comparationis  auf  S.  146 
klar  sein,  wo  „Lessing's  Bruder  in  Breslau"  er- 
wähnt ist,   da  das   „Leben  Fibers"   schwerlich 
zu  den  noch  gelesenen  Werken  Jean  Paul's  ge- 
hört; ebenso  stößt  man  bei  den  Worten  auf  S. 
153  an :  „wogegen  Beuthert  hochdeutsche  Ueber- 
tragung  unter  aller  Kritik    schlecht   und  elend 
ist",  ohne  daß  man  Aufschluß  bekommt;   end- 
lich mußte  die  auf  S.  225  genannte  Horazaus- 
gabe  v.  Gottschling  (1724.  1764)  näher  charak- 
terisiert werden.    Bei  der  Masse  des  Erklärten 
ist  dieß  aber  verhältnißmäßig  recht  wenig,   und 
dürfen  wir  daher,  von  obigen  Einschränkungen 
abgesehen,  dem  Fleiße  des  Herausgebers  unsere 
Anerkennung  nicht  versagen;  wer   selbst  schon 
commentierte   Ausgaben  angefertigt  hat,   weiß, 
wie   oft    selbst  eine   kurze    und    unscheinbare 
Notiz  viel  Arbeit  und   Mühe  kostet,   während 
die    längsten    Anmerkungen    meistentheils    die 
leichtesten  sind.     Somit  hoffen   und   wünschen 
wir,  daß  das  Buch,  welches  trotz  der  gerügten 
Mängel   eine  schöne  Leistung  ist,  als  wichtiges 


The  Dtpavamsa  ed.  and  transl.  by  Oldenberg.   851 

QneHenwerk  für  die  Kenntnis  der  Geschichte 
der  deutseben  Philologie  die  vielseitigste  Beach- 
tung nnd  Schätzung  finden  möge. 

Detmold.  Richard  Thiele. 


The  Dtpavamsa.  An  ancient  Buddhist 
historical  record.  Edited  and  translated  by 
Hermann  Oldenberg.  London.  Williams 
and  Norgate  1879.    227  p.    8°. 

Lange  war  Tumour's  jetzt  vergriffene  Aus- 
gabe des  Mahävamsa,  von  welchem  eine  neue 
kritische  Ausgabe  ein  dringendes  Bedürfnis  ist, 
das  einzige  veröffentlichte  Document  der  Ge- 
schichte Ceilons,  welche  ja  wegen  ihrer  engen 
Beziehung  zu  der  älteren  Geschichte  Indiens  von 
hohem  Interesse  ist.  Jetzt  liegt  uns  der  ältere 
Dfpavamsa,  Text  und  englische  Uebersetzung, 
in  Dr.  Oldenberg's  vortrefflicher  Bearbeitung 
vor.  In  beiden  Werken  wird  derselbe  Zeitraum, 
nämlich  die  Geschichte  der  Insel  von  ihrer  Co- 
Ionisierung  bis  zum  Jahre  302  nach  Chr.,  dem 
Tode  des  Königs  Mahäsena,  aus  demselben  Ge- 
sichtspunkte, nämlich  dem  Verhältnisse  der  Ge- 
schichte zur  Lehre  Buddha's,  behandelt.  Wenn 
wir  also  wenig  materiell  neues  über  diesen  Zeit- 
raum aus  dem  Dtpavamsa  lernen,  so  können 
wir  doch  jetzt  die  Angaben  Mahänäma's  im  Ma- 
hävamsa an  der  Hand  des  älteren  Werkes  con- 
trollieren  und  nachweisen,  was  davon  auf  wirk- 
lich alter  Tradition  beruht.  Schon  dadurch 
allein  würde  der  Dtpavamsa  von  unschätzbarem 
Werthe  für  die  historische  Forschung  sein,  wenn 

54* 


852       Gott  gel  Änz.  1880.  Stück  27. 

wir  auch  kein  neues  historisches  Material  aus 
ihm  schöpfen  könnten. 

In    der  Einleitung  zn  seiner  Ausgabe  erör- 
tert Dr.  0.  zuerst  die  Frage  nach  den  Quellen 
des  Dtpavamsa    und  weist    in    einleuchtender 
Weise   nach,    daß   dieselbe  sowohl  für   dieses 
Werk  als  auch  für  den  Mahävamsa  die  singha- 
lesische  Atthakathä  des  Mahävihära-Klosters  ge- 
wesen sei     Daraus  daß   die  von  Buddhaghosa 
aus   dieser  Atthakathä  citierten  Verse  mit  den 
entsprechenden  Stellen    des  Dtpavamsa    meist 
wörtlich  übereinstimmen,   schließt  Dr.   0.,  daß 
der  D.  größtenteils  nur  eine  Zusammenstellung 
der  in  dieser  Atthakathä  enthaltenen  Päli-Verse 
und   anderer,  welche  unter  der  gemeinschaftli- 
chen Bezeichnung  poränä  begriffen  werden,  mit 
wenig  eingreifender  Ueberarbeitung  und  Zuthat 
seitens  des  unbekannten  Zusammenstellers  sei. 
Zu  derselben  Ansicht  führen  auch  die  häufigen 
Wiederholungen  ganzer  Partien  im  Dtpavamsa. 
Ob  allerdings  jene  Päli-Verse  von  dem  Verfasser 
jener  Atthakathä  selbst  herrühren,   oder   ob  sie 
vielmehr   von   demselben    aus   älteren  Werken 
entlehnt  sind,  wie  ich  anzunehmen  geneigt  bin, 
läßt  sich  vor  der  Hand  nicht  entscheiden.     Ma- 
hänäma  steht  seinen  Quellen   freier  gegenüber; 
er  gießt  den  ihm  überlieferten  Stoff  in  vollstän- 
dig neue  Form.    Sprache  und  Metrik  handhabt 
er  mit  Gewandheit  und  Verständnis,   während 
der  Dtpavamsa   in   beiden   Beziehungen   unbe- 
holfen, ja  roh  ist    Auf  die  Fehlerhaftigkeit  in 
grammatischer  Beziehung  hat  Dr.  0.  schon  hin- 
gewiesen.   Aber  auch  der  Versbau  liegt  ebenso 
sehr  im  Argen.    Die  Gesetze  des  Qloka,  sowohl 
der  älteren  Zeit  wie   sie   aus  dem  Dhammapa- 
dam  etc.,   als   auch    der  späteren,   wie   sie  aus 
dem  Mahävamsa  etc.   erkannt  werden  können. 


The  Dtpavamsa  ed.  and  transl.  by  Oldenberg.  853 

sind  bis  auf  den  jambischen  (nicht  dijambischen) 
Ausgang  des  ardhagloka  vernachlässigt  Wir 
haben  es  also  weder  mit  einer  volkstümlichen, 
noch  schulmäßig  ausgebildeten  Verskunst  zu 
thun,  sondern  mit  den  ersten  unbeholfenen  Ver- 
suchen der  Singhalesen  in  Pili- Versen  zu 
schreiben. 

Der  historische  Stoff  ist  sehr  ungleichmäßig 
behandelt  Wir  haben:  die  mythische  Vorge- 
schichte Ceilon's,  Aufzählung  der  Dynastien, 
Geschichte  der  buddhistischen  Concilien,  Sekten 
und  Kirchenhäupter;  dann  folgt,  die  größere 
Hälfte  des  Werkes  einnehmend,  die  Geschichte 
A$oka's,  Mahinda's  und  Devänampiya  Tissa's; 
zum  Schlüsse  in  vier  Gapiteln  die  dürftige  Chro- 
nik des  Zeitraumes  von  200  vor  bis  300  nach 
Chr.  Aus  dem  mannigfaltigen  Inhalte  will  ich 
nur  das  mit  meinen  speciellen  Studien  sich  be- 
rührende, das  auf  die  Jainas  bezügliche  kurz 
hervorheben.  Ihr  Name  ist  Nigantha,  was  Las- 
sen Ind.  Alt  IP  114,  note  5.  irrthümlicher  Weise 
in  Nighanta  umwandelte.  Sie  werden  an  erster 
Stelle  unter  denjenigen  Ketzern  genannt,  wel- 
chen Afoka  vor  seiner  Bekehrung  seine  Gunst 
zuwandte  VI  26,  wie  sie  ja  auch  in  einer  sei- 
ner Inschriften  erwähnt  werden.  Ferner  wird 
ein  Nigantha  Namens  Giri  erwähnt,  welcher 
den  fliehenden  König  Vattagämani  verhöhnte. 
Nach  dem  Mataävamsa  waren  die  Jainas  noch 
früher  in  Ceilon  angesessen;  denn  der  fünfte 
König,  Pandukäbhaya  erbaute  ihnen  den  Tfr- 
thäräma.  Diese  Notizen  sind  insofern  von  gro- 
ßem Interesse,  als  sie  für  die  frühe  Verbreitung 
des  Jainismus  nach  dem  äußersten  Süden  Indiens 
beweisend  sind.  Der  Jainismus  hat  ja  nach 
Caldwell,  Burnell,  Graul  und  Andern  eine  große 
Rolle  in    der    Civilisierung    der    Dravidischen 


854        Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  27. 

Völker  gespielt,  und  läßt  sich  derselbe  an  der 
Hand  der  Inschriften  dort  in  die  älteste  Zeit 
hinein  verfolgen. 

Der  Dipavamsa,  dessen  Popularität  einstens 
so  groß  war,  daß  er  auf  Geheiß  des  Königs 
Dhätusena  öffentlich  an  einem  Feste  zu  Ehren 
der  Statue  des  Mahinda  vorgelesen  wurde, 
scheint  in  Geilon  selbst  später  gänzlich  in  Ver- 
gessenheit gefallen  zu  sein.  Denn  alle  Hand- 
schriften desselben,  welche  Dr.  0.  zu  jseiner 
Ausgabe  benutzt  hat,  führen  in  letzter  Instanz 
auf  eine  birmanische  Handschrift,  wie  sich  ans 
einigen  eclatanten  Fehlern,  welche  in  allen  Mss. 
wiederkehren  und  sich  leicht  als  Verwechselun- 
gen ähnlicher  birmanischer  Zeichen  ergeben, 
nachweisen  läßt.  Dieser  birmanische  codex  ar- 
chetypus  war  nach  Dr.  0.  sehr  ungenau  ge- 
schrieben und  die  dadurch  in  den  Abschriften 
entstandenen  Fehler  haben  spätere  Schreiber 
yathamati  yathägakti  verbessert.  Ihre  besseren 
Lesarten  sind  daher  häufig  nur  Gonjecturen, 
welche  mit  Vorsicht  geprüft  sein  wollen.  Dr.O. 
hat  sich  die  Aufgabe  gestellt,  den  Text  des  co- 
dex archetypus  in  seiner  Ausgabe  zu  reconstruie- 
ren,  und  hat  der  naheliegenden  Versuchung 
widerstanden,  einen  äußerlich  correcten  Text 
herzustellen.  Die  conjecturellen  Verbesserungen 
desselben,  manchmal  der  Schlechtigkeit  des  Ma- 
terials entsprechend  ziemlich  gewaltsamer  Art, 
sipd  in  die  Anmerkungen  verwiesen.  Daß  Pr. 
O.'s  Plan  bei  der  Beschaffenheit  des  Materials 
der  von  der  strengen  Kritik  allein  zulässige 
war,  wird  man  zugeben  müssen,  und  daß  er 
sich  seiner  schwierigen  Aufgabe  mit  richtigem 
Tacte  entledigte,  wird  jeder  bei  dem  Gebrauche 
des  Buches  erkennen.  Pie  Uebersetzung  setzt 
diejenige  Gestalt  des  Textes  voraus,   welche  er 


The  Dfpavaipsa  ed.  and  transl.  by  Oldenberg.   855 

nach  Aufnahme  der  von  Dr.  0.  vorgeschlagenen 
Verbesserungen  erhalten  würde;  sie  ist  muster- 
haft und  giebt  das  Original  meistens  getreu 
wieder. 

Zum  Schlosse  will  ich  Einiges,  was  ich  mir 
hei  der  Lecture  bemerkt  habe,  in  Vorschlag 
bringen,  wobei  Verbesserungen  des  Textes  durch 
Conjecturen  natürlich  ausgeschlossen  sein  müs- 
sen. I  1  dh&tu  wird  von  0.  ungenau  Genitiv 
genannt  Es  ist  der  unflectierte  Stamm,  welcher 
alle  Casus  vertreten  kann.  Sporadisch  kommt 
dies  auch  im  Jaina-Präkrit  vor  cf.  Kalpasütra 
p.  101.  Wir  dürfen  hierin  den  ersten  Anfang 
der  Umgestaltung  des  ganzen  Casus-Systems 
sehen,  welcher  in  den  modernen  Sprachen  In- 
diens vollzogen  ist  I,  53  sollte  cittakkhane 
nicht  einfach  „in  einem  augenblicklichen  Ge- 
danken" bedeuten,  ohne  daß  dabei  an  die  kba- 
nikakathä  zu  denken  wäre,  welche  mir  übrigens 
-mit  dem  Aehnlichkeit  zu  haben  scheint,  was 
die  indischen  Philosophen  mit  kshanikatva  „mo- 
mentary existence  of  all  things"  als  buddhisti- 
sche Ansicht  bezeichnen.  I  77  lies  sapakka- 
mäsä  vasanam  vavatthitam:  May  all  Rakkhasa 
of  Giridipa  dwell  in  their  appointed  dvelling. 
sapakkamäsä  weiß  ich  auch  nicht  zu  deuten. 
Es  ist  Überflüssig  und  stört  das  Metrum,  statt 
Giridipa  Giridipe  zu  lesen.  II  11  nivattahetu- 
kam  wohl  „without  cause"  wie  nivrittakäranam, 
und  auf  vinassanti  oder  kuppanam  zu  beziehen. 
16  avagaccha  ist  2.  sing,  imperat.  Das  Hemi- 
stich gfehört  noch  zur  Bede  Buddha's,  wie  aus 
dem  folgenden  Verse  hervorgeht.  31  über- 
setze: Do  not  cause  this  throne  which  is  pro- 
tection, to  destroy  you  etc.  statt:  Destroy  that 
small  throne,  but  do  not  destroy  each  other. 
Ill  2  yathäkatham  according  to  tradition  III  3 


856       Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  27.  • 

ist  näma  und  VI  70  vividh&m  Glosse  und  so  in 
den  Text  gekommen.    IV  18  u.  19  gehören  zu- 
sammen ;  asamkampi  . . .  bhfimi:  the  not  trembling* 
ground;  die  Accusative   sind  abhängig  von  na 
sakkä  pativattetum.    20  anmnattam  Druckfehler 
för  arm0.    V  64  vielleicht  zu  lesen:  bhäsite  na 
'saha  pafihe,  er  war  den  gestellten  Fragen  nicht 
gewachsen??    VI  6   vielleicht:   Niganthas   and 
Acelakas  of  whom  (ti)  the  one  aieParibbäjakas, 
the  other  Bräbmanas,  an  other  heretics.    XI  33 
bei   nandiyävatta    und  vaddhamäna    hat   man 
wohl  eher  an  die  gleichnamigen  und  häufig  zu- 
sammengenannten mystischen  Zeichen   nandyä- 
vartta   und   vardhamanaka   zu   denken,   als  an 
eine   „Muschel"   und   ein   „Mädchen".      Jedoch 
vergleiche  XVII,  82.    XII  15v  tibersetze:   The 
Thera  having  instructed   his    mother    (in    the 
doctrine  of)  etc.  made  her  firm  in  the  true  faith 
and  the   religion  of  the  islanders.     XVIII  27 
devamänusä  ist  wohl  ein  dvandva  mit  fehlender 
Instr.  Endung :  venerated  by  gods  and  men.  Als 
Eigenname  wäre  devamänusä  zu  auffällig.  XIX 
ist  wohl  zu  tibersetzen  . . .  atthaatthalikä  (?)  great 
stones,   crystal    and   silver,    all   together   twelf 
(sorts  of  materials).    XX  6  u.  35  für  tävakälika 
würde  ich  die  Bedeutung  containing  water  the 
whole  year  vorschlagen.    Es   steht  nur  bei  ta- 
läka,   weshalb    die    vorgeschlagene  Bedeutung 
besser  passen  würde,  als  die  von  Dr.  0.  suppo- 
nierte:   (which  he  gave)  for  a  certain  time  (to 
the  fraternity). 

Dr.  Oldenberg  hat  durch  seine  in  jeder  Be- 
ziehung vorzügliche  Arbeit  der  Wissenschaft 
einen  bedeutenden  Dienst  geleistet. 

Münster  i.  W.  Hermann  Jacobi. 


Scott,  Determinants.  857 

A  Treatise  on  the  Theory  of  Deter- 
minant s  and  their  applications  in  analysis  and 
geometry.  By  S.  F.  Scott.  Cambridge:  At 
the  university  press  (Leipzig :  F.  A.  Brockhans). 
1880.    XII  u.  251  pp.    gr.  8°. 

Die  ersten  Versuche  einer  systematischen 
Darstellung  einer  Theorie  der  Determinanten  rüh- 
ren von  Cauchy  und  Jacobi  her.  In  der 
Abhandlang  „Sur  les  functions  qui  ne  peuvent 
obtenir  qne  deux  valenrs  ägales  et  de  signes 
contraires  par  suite  des  transpositions  opäräes 
entre  les  variables  qu'elles  renferment"  (Journal 
de  rßcole  Polytechnique.  Cahier  17.  p.  29—112. 
Paris  1815)  hat  Cauchy  die  Hauptsätze  der 
Lehre  der  Determinanten  bewiesen  und  Bezeich- 
nungen eingeführt,  welche  später  allgemein  ge- 
worden sind.  Es  bezieht  sich  dieses  besonders 
auf  die  Anwendung  doppelter  Indices  und  die 
Schreibweise  einer  Determinante  in  Form  eines 
Quadrats.  Die  Arbeiten  seiner  Vorgänger  hat 
Jacobi  im  XXII.  Bande  des  „Journal  für  Ma- 
thematik" (Berlin  1841)  in  drei  Aufsätzen  zu- 
sammengefaßt und  bedeutend  erweitert.  Diese 
Aufsätze  sind:  „De  formations  et  proprietatibus 
Determinantium"  (p.  285—318).  „De  Determi- 
nantibus  functionalibus"  (p.  319 — 359).  «De 
functionibus  alternantibus  earumque  divisione 
per  productum  e  differentiis  elementorum  con- 
flatnm«  (p.  360—371).  Es  läßt  sich  wohl  ohne 
Uebertreibung  behaupten,  daß  Jacobi 's  Ar- 
beiten die  Grundlagen  der  wichtigeren  nachfol- 
genden Erscheinungen  in  der  Theorie  der  De- 
terminanten geworden  sind.  Namentlich  ist  die 
Begründung  und  Darstellung  der  sogenannten 
„Functionaldeterminanten"  das  eigenste  Werk 
von  Jacobi,  wodurch  der  große  Mathematiker 


858        Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  27. 

eine  Verbindung  von  Algebra  und  Analysis  her- 
gestellt hat,  die  eine  Quelle  wichtiger  und  inter- 
essanter Untersuchungen  geworden  ist.  Die 
Abhandinngen  von  Canchy  nnd  Jacobi  sind, 
schon  durch  die  Art  und  Weise  ihrer  Publica- 
tion, nur  für  Mathematiker  von  Fach  bestimmt, 
da  das  Studium  der  bemerkten  Abhandlungen 
eine  große  Vertrautheit  mit  mathematischen 
Rechnungen  voraussetzt,  die  zuweilen  einen 
hohen  Grad  von  Abstraction  zeigen.  So  war  es 
denn  ein  sehr  dankenswertes  Unternehmen,  als 
1851  u.  d.  T.:  „Elementary  theorems  relating 
to  Determinants"  (London :  Longman)  S  p  o  1 1  i  s- 
wood  in  Übersichtlicher,  leicht  verständlicher 
Form  eine  Theorie  der  Determinanten  ver- 
öffentlichte, die,  von  allerlei  Mängeln  und  Un- 
genauigkeiten  abgesehn,  als  Leitfaden  dienen 
konnte.  Eine  sehr  erweiterte  Reproduction  sei- 
ner Arbeit  hat  Spottiswood  im  „Journal  für 
Mathematik"  (T.  51.  p.  209—271  u.  328-381) 
1856  gegeben,  welche  eine  Umarbeitung  und 
Verdopplung  der  ursprünglichen  Schrift  von  63 
pp.  in  4°  enthält.  Diese  kleine  literarische 
Uebersicht  findet  ihren  natürlichen  Abschluß  mit 
den    Werken    von   Brioschi   und   Baltzer. 

• 

Von  dem  Werke  Brioschi's  „La  teorica  dei 
determinants  Pa  via.  1854,  ist  1856  eine  deut- 
sche Uebersetzung  u.  d.  T.:  „Theorie  der  De- 
terminanten und  ihre  hauptsächlichen  Anwen- 
dungen. Von  Francesco  Brioschi."  mit  einem 
Vorwort  von  Professor  Schellbach  erschienen. 
Wenige  Jahre  später  datiert  das  vortreffliche 
Werk  Baltzer 8  „Theorie  und  Anwendung  der 
Determinanten".  (Leipzig  1857,  vierte  Auflage 
1875).  Das  Werk  von  Baltzer  ist  de*  Vor- 
läufer einer  Reihe  von  Schriften  über  Determi- 
nanten geworden,  von   denen  nor  die  Hamen: 


Scott,  Determinants.  869 

Salmon,  Hesse,  Dölp,  Hattendorff, 
Mansion,  Günther,  Dostor  genannt  sein 
mögen,  die  znm  größten  Theil  nur  die  elemen- 
taren, algebraischen  Hauptsätze  enthalten,  in 
Verbindung  mit  Versuchen  neuer,  leicht  ver- 
ständlicher Herleitungen*).  Das  vollständigste 
Werk  über  Determinanten  bleibt  das  Baltzer1- 
scbe,  wenn  auch  in  demselben  einige  Anwen- 
dungen der  Determinanten  fehlen,  die  für  die 
speciellen  Zwecke  mehrerer  der  oben  genannten 
Autoren  mehr  geeignet  erscheinen.  Das  in  der 
Ueberschrift  genannte  Werk  von  Scott,  wel- 
ches seinem  Umfang  nach  der  Schrift  von 
Baltzer  nachstrebt,  verdient  eine  besondere 
Erwähnung,  wegen  der  Versuche  des  Verfassen 
die  Hauptsätze  auf  eine  neue  Art  zu  begründen, 
welche  auf  Ideen  von  Grassmann  beruhn. 
In  der  Schrift:  „Die  Ausdehnungslehre  von  1844 
oder  die  lineale  Ausdehnungslehre  ein  neuer 
Zweig  der  Mathematik.  Von H.  Grassmann" 
(Leipzig  1878)  findet  sich  unter  Anhang  III 
p.  281 — 283  „Einfachste  Rechnungsregeln  für 
die  neue  Analyse".  Es  ist  diese  Art  von  Rech- 
nung, welche  Scott  gebraucht  hat,  um  eine 
Determinante  von  der  Ordnung  oder  vom  Grade 
n,  durch  ein  Product  von  nFactoren  darzustel- 
len, wo  jeder  Factor  einfach  eine  lineare  Summe 
von  n  Tennen  ist.  Jeder  Term  ist  das  Product 
einer  Quantität,  auf  welche  die  gewöhnlichen 
algebraischen  Regeln  anwendbar  sind,  in  eine 
Art  von  Einheit,  für  welche  ganz  besondere  Re- 
geln  der   Multiplication    gelten.      Eine    solche 

*)  Es  ist  selbstverständlich,  daS  die  obige  Aufzahlung 
sich  nur  auf  didaktische  Schriften  bezieht,  nicht  aber  auf 
besondere  wissenschaftliche  Abhandlungen,  wie  z.B. Ana- 
lytische Theorie  der  Determinanten.  Von  E.  Schering. 
Göttingen  1877. 


860        Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  27. 

Summe  nennt  Grassmann  einen  Factor  erster 
Ordnnng  eines  combinatorischen  Products,  nach 
dem  Verfasser  heißt  die  Snmme  eine  alternierende 
Zahl. 

Da  diese  alternierenden  Zahlen  noch  weniger 
bekannt  sein  möchten,  so  mögen  zum  besseren 
Verständniß  folgende  Erläuterungen  folgen.  Es 
seien  e*  und  eq  Einheiten  sui  generis,  för  welche 
folgende  Multiplicationsregel  gilt: 


1) 

P   9  """""   ™~~  ^8f* 

also 

2) 

e\  =  0. 

Sind  nun 

o1?  dg,  ..  an) 

U\j  Ög)   •  •  On) 

gewöhnliche  algebraische  Quantitäten,  so  heißen 
A  und  B  alternierende  Zahlen,  wo: 

A  =  a1el  +  a*ei  +  ••  +  a*en> 
B  =  b1el  +62c2  4"  ••  +*  bne*. 

Die  Stellung  der  a  und  b  gegen  die  e  ist  be- 
liebig, nur  ist  die  Stellung  zweier  e  durch  die 
Gleichung  1)  bedingt.     Wegen  der  Gleichungen 

1)  und  2)  folgt : 

AB  = 

Der  Verfasser  fttgt  zu  den  Gleichungen  1)  und 

2)  noch  die  Annahme: 

hinzu.    Es  ist  dann: 


,     Scott,  Determinants.  861 

e9eq  ..  e8  =  (— l)r«i«i  ••  «h  —  (—  1)*, 

wo  r  die  Anzahl  der  Inversionen  (Derangements 
bei  Cramer:  Introduction  k  l'analyse  des  lignes 
courbes  algäbriques.  G6n&ve  1750.  p.  658)  in 
ep€q  . .  e8  bedeutet  Eine  Determinante  von 
n.n  Elementen  läßt  sich  mittels  der  Gleichungen 
1),  2)  und  3)  auf  folgende  Art  in  Form  eines 
Prodnctes  darstellen  : 

P  —  («i,i«i  -Mi,*«*  +  •••  +  «i-*)  X 

0*2,1  Cl  +  «»,*«»   +  •••+«*»»*")    X 

In  gewöhnlicher  Schreibweise  ist: 


P  = 


a 


ii 


IS 


•  •    &\n 


a 


21 


a 


SS 


a 


«» 


ß*i      ß»j 


ö»m 


Die  dargelegte  sinnreiche  Methode  eine  Determi- 
nante als  ein  Product  darzustellen  wird  in  dem 
Buche  gebraucht,  um  die  wesentlichsten  Eigen- 
schaften der  Determinanten  zu  entwickeln.  So 
viel  Bestechendes  auch  in  mancher  Hinsicht,  na- 
mentlich was  die  Kürze  der  Beweise  anbelangt, 
die  Einführung  der  durch  elie2  ..  bezeichneten 
neuen  Einheiten  hat,  kann  doch  der  Referent 
das  Bedenken  nicht  unterdrücken,  daß  das  Hinein- 
ziehn  von  Ausdrücken,  auf  welche  die  einfach- 
sten Regeln  der  Algebra  nicht  anwendbar  sind, 
immer  etwas  Fremdartiges,  man  könnte  sagen, 
Unmathematisches  hat  Die  Sätze,  auf  welchen 
die  Lehre  der  Determinanten  beruht,  sind  ihrer 


882        Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  27. 

Natur  nach  ßo  elementar,  die  von  Jacob  i  ge- 
gebene Darstellung  einer  Determinante  nach  den 
Elementen  einer  Horizontal-  oder  Verticalreihe 
geordnet,  ist  eine  so  einfache  und  nützliche, 
daß  es  wohl  kaum  der  Erfindung  von  Ausdrücken 
bedarf,  welche  mehr  alsProducte  der  Laune  wie 
der  Notwendigkeit  erscheinen.  Sieht  man  hier- 
von ab,  so  muß  man  dem  Verfasser  zugestehn, 
das  von  ihm  gebrauchte  Hülfsmittel,  mit  großem 
Geschick  verwerthet  zu  haben. 

Das  Buch  zerfällt  in  vierzehn  Capitel,  deren  In- 
halt kurz  angegeben  werden  soll.  In  I  und  II 
sind  Definition  und  allgemeine  Eigenschaften 
der  Determinanten  enthalten.  Das  III.  Capitel 
bietet  eine  ziemlich  ausführliche  Darstellung  der 
Subdeterminanten  mit  einer  Anwendung  der  al- 
ternierenden Zahlen  auf  den  Satz  von  Laplace. 
Der  Ausdruck  von  Subdeterminanten  als  Diffe- 
rentialquotienten der  primitiven  Determinante  in 
Beziehung  auf  ein  oder  mehrere  Elemente,  hat 
Veranlassung  zur  Bildung  von  Differentialquo- 
tienten einiger  besonderen  Determinanten  ge- 
geben. Die  Multiplication  zweier  Determinanten 
und  der  erweiterte  Satz  über  die  Multiplication 
von  Determinanten,  nebst  einigen  besonderen 
Fällen,  bildet  den  Inhalt  des  IV.  Capitels.  Viel- 
leicht ist  die  Stellung  dieses  Capitels  gegen  das 
Vorhergehende  nicht  die  richtige.  Bei  den  ein- 
facheren Anwendungen  der  Determinanten,  na- 
mentlich auf  Geometrie,  ist  das  Multiplications- 
theorem  von  überwiegender  Bedeutung.  Es 
möchte  sich  deshalb  empfehlen,  diesen  Satz  so 
bald  wie  möglich  in  einem  Lehrbuch  nach  den 
Hauptsätzen  anzuführen.  In  einer  oft  citierten 
Abhandlung :  „Sur  quelques  applications  des  de- 
terminants ä  la  G6om6triea  (Creile  Journal  t.  40, 
p.   21—47)    nimmt   Joachimsthal  nur   das 


Scott,  Determinants.  863 

Multiplicationstheorem  in  Anspruch,  zu  einer 
Reihe  ebenso  interessanter  wie  scharfsinniger  An- 
wendungen. Als  Anwendungen  des  Multiplica- 
tionstheorems  sind  im  V.  Capitel  die  Determi- 
nanten von  Determinanten  untersucht.  Das 
nächste  VI.  Capitel  beschäftigt  sich  mit  Deter- 
minanten von  besonderen  Formen,  namentlich 
solchen,  für  welche  aq,p  =  ±  a,,,*.  Dieses  Ca- 
pitel enthält,  wie  überhaupt  fast  das  ganze  Buch, 
manche  interessante  Einzelheiten,  die  allerdings 
nicht  für  da»  Selbststudium  zweckmäßig  erschei- 
nen. Der  Unterschied  zwischen  fundamentalen 
Sätzen  und  mehr  nebensächlichen  Ausführungen, 
wird  durch  Anhäufung  von  Detailuntersuchungen 
zu  leicht  verwischt  Das  VIL  Capitel  möchte 
wohl,  ungeachtet  seines  geistreichen  Inhalts,  in 
einen  Anhang  zu  verweisen  sein.  Der  Verfasser 
untersucht  Determinanten,  in  welchen  die  Ele- 
mente mehr  wie  zwei  Indices  haben.  So  folgen 
auf  die  gewöhnlichen  Determinanten  zunächst 
solche,  deren  Anfangsglied  die  Form: 

^111^*222    •*•   ^*»n 

hat.  Es  werden  zuerst  die  dritten  Indices  per- 
mutiert, unter  Beachtung  der  gewöhnlichen  Zei- 
chenregel. Darauf  werden  in  jedem  der  so  er- 
haltenen 1.  2  . .  n  Tenne  die  zweiten  Indices 
permutiert,  natürlich  wieder  mit  Rücksicht  auf 
die  Vorzeichen.  Das  Aggregat  der  [1.2. .  .w]* 
Tenne  bildet  eine  sogenannte  cubische  Deter- 
minante. Wie  man  so  zu  Determinanten  höhe- 
rer Ordnung  aufsteigen  kann  ist  leicht  ersichtlich. 
In  Capitel  VIII  ist  die  Elimination  in  Beziehung 
auf  einige  einfache  Fälle  dargestellt.  Das  nächste 
Capitel  unter  dem  Titel  „Rational  functional  de- 
terminants" entspricht  dem  §  10  bei  Baltzer 
und  behandelt  alternierende  Functionen.  Unter 
der  wohl  nicht  geeigneten  Ueberscbrift  „On  Ja- 


864       Gott  gel.  Adz.  1880.  Stück  27. 

cobians  and  Hessians"  sind  in  Cap.  X  die  Haupt- 
sätze der  Theorie  der  Fnnctionaldeterminanten 
entwickelt,  ferner  ist  die  Transformation  viel- 
facher Integrale  nebst  Anwendung  auf  ein  Bei- 
spiel gezeigt.  Die  homogenen  Functionen  zwei- 
ten Grades  und  Substitutionen  bilden  den  Inhalt 
des  XL  Gapitels.  Das  nächste  Gapitel  enthält  die 
Determinanten  von  Functionen  derselben  Varia- 
bein, die  bekanntlich  bei  den  linearen  Differen- 
tialgleichungen zur  Verwendung  kommen.  Eine 
sehr  zweckmäßige  Anwendung  von  Determinan- 
ten auf  Kettenbrüche  bietet  das  XIII.  Capitel. 
In  dem  XIV.  Gapitel  sind  zahlreiche  Anwendungen 
der  Theorie  der  Determinanten  auf  Geometrie 
gemacht  Das  Werk  schließt  mit  92  Aufgaben, 
welche  als  Beispiele  der  im  Text  gelehrten  Me- 
thoden dienen. 

In  der  Vorrede  bemerkt  der  Verfasser,  daß 
er  immer,  wenn  möglich,  die  Originalarbeiten 
eingesehn  habe,  was  eine  Durchsicht  des  Buches 
auch  bestätigt  Im  Texte  sind  nur  die  Namen 
der  Autoren  genannt,  am  Ende  des  Werks  ent- 
hält ein  kleines  alphabetisches  Register  die  Na- 
men der  Autoren  in  Verbindung  mit  ihren  auf 
Determinanten  bezüglichen  Abhandlungen  oder 
Separatwerken.  Der  Verfasser  besitzt,  nach  sei- 
nem Buche  zu  urtheilen,  umfassende  Kenntnisse 
in  der  neueren  Literatur  des  von  ihm  behandel- 
ten Gegenstandes,  namentlich  ist  auch  die  deut- 
sche Literatur  zahlreich  vertreten.  Die  klare 
Darstellung  wird  wesentlich  dadurch  gefördert, 
daß  der  Verfasser  sich  von  der  leidigen  Gewohn- 
heit mancher  neueren  Schriftsteller,  abnormer  Be- 
nennungen und  Bezeichnungen,  frei  gehalten  hat. 

Enneper. 

FOr  die  Redaction  verantwortlich:  R  Bekmsch,  Director  d.  Gott.  gel.  Anz. 

Commissions-  Verlag  der  Diettrich'achtn  Vm-kys- Buchhandlung. 

Druck  der  DteUnch'schm  Unit.- Buchdrucker*  (W.  F\r.  Katstnti). 


865 

Gö  tti  ngische 

gelehrte   Anzeigen 

anter  der  Aufsicht 

der  Königl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Stück  28,        AUG  9  !2C:    14.  Juli  1880. 


Inhalt:  D.  Berti,  Documenti  intorno  a  Giordano  Bruno  da  Nola. 
Von  a  Sigwart.  —  Auszüge  au«  syrischen  Akten  persischer  Märtyrer 
fibers,  u.  erlaut,  t.  G.  Hoffmann,  von  Tk.  Noldeke.  —  A.  H  u  t  h ,  The 
Life  and  Writings  of  H.  Th.  ßnckle.     Ton  W.  FrUd*n&%*g.  —    Bert- 


hold  tob  Begensbnrg,  Deutsche  Predigten  heraneg.  v. fr.  Pfeiffer. 
2.  Bd.  t.  Jos.  Strobl.    Ton  K.  Qoedeke. 

s  Bigenmachtiger  Abdruck  von  Artikeln  der  Gott.  gel.  Ans.  rerboten  s 


Domenico  Berti,  Documenti  intorno  a 
Giordano  Bruno  da  Nola.  Roma,  coi  tipi  del 
Salviueci  1880.  114  S.  8°.  [Koma-Torino- 
Firenze,  Bocca  Fratelli  e  O]. 

Der  um  die  Geschichte  der  Wissenschaft  in 
Italien  hochverdiente  Gelehrte,  der  in  seiner 
Vita  di  Giordano  Bruno  1868  die  Actenstücke 
der  venetianischen  Inquisition  über  den  Proceß 
Bruno's  veröffentlicht  und  damit  zum  erstenmal 
eine  znverlässige  Quelle  für  seine  Biographie 
geboten  hatte,  giebt  jetzt  eine  Sammlung  des 
ganzen  urkundlichen  Materials  heraus,  das  er 
mit  unermüdlichem  Eifer  seither  gewonnen,  und 
theilweise  schon  im  Anbang  zu  seiner  Schrift 
über  Copernicus  (Copernico  e  le  vicende  del 
sistema  copernicano  in  Italia  1876)  publiciert 
hatte.  Das  Bändchen  umfaßt  1.  einen  neuen, 
nach  Vergjeichung   mit  den  Originalien  sorgfäl- 

55 


866        Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  28. 

tig  revidierten  Abdruck  der  venetianischen  Ac* 
ten,  2.  Auszüge  ans  den  Archiven  der  römischen 
Inquisition,  die  im  Jahre  1849  ein  italienischer 
Gelehrter  zu  machen  begonnen  hatte,  and  die 
das  letzte  Lebensjahr  Brunos  (1599—1600)  auf- 
hellen, 3.  zwei  gleichzeitige  handschriftliche  Zei- 
tungsnachrichten (Awisi)  ans  einem  vaticani- 
schen  Codex,  welche  die  Vernrtheilung  und  Hin- 
richtung Brunos  erzählen,  4.  eine  Mittheilung 
Gabereis,  wonach  Bruno's  Name  in  der  Liste 
der  italienischen  Flüchtlinge  in  Genf  unter  dem 
Jahre  1578  eingetragen  ist,  5.  endlich  eine  jetzt 
zum  erstenmal  allgemein  zugängliche  Notiz  über 
ungedruckte  Manuscripte  Bruno's,  welche  1866 
von  der  Buchhandlung  Tross  in  Paris  ausge- 
boten und  von  dem  russischen  Gelehrten  Abra- 
ham Noroff  erworben  wurden,  und  deren  Be- 
schreibung der  Katalog  seiner  Bibliothek  giebt. 
Es  sind  im  Ganzen  9  größere  und  kleinere  Auf- 
sätze, unter  denen  besonders  Liber  triginta  sta- 
tuarum  erwähnt  werden  mag.  Die  Auszüge, 
welche  aus  denselben  gegeben  werden,  lassen 
eine  Herausgabe  dieser  Manuscripte  lebhaft 
wünschen,  da  sie  nach  verschiedenen  Seiten 
unsere  Eenntniß  der  Lehre  Bruno's  zu  ergänzen 
versprechen. 

In  den  begleitenden  Notizen  des  Herans- 
gebers sind  nur  einige  Ungenauigkeiten  in  der 
Chronologie  (z.  B.  S.  82  Note,  S.  90)  zu  berich- 
tigen ;  ich  erlaube  mir  dafür  auf  das  heurige 
Programm  der  hiesigen  philosophischen  Facultät 
zu  verweisen,  in  dem  ich  die  Chronologie,  die 
sich  aus  dem  obigen  Material  ergiebt,  festzu- 
stellen gesucht  habe. 

Tübingen,  Juni  1880.  C.  Sigwart. 

Anm.  der   Redaction.     Die  Tübinger  Universitats- 


Berti,  Documenti  int  a  Giordano  Bruno.    867 

schrill,  auf  welche  Hr.  Prof.  Dr.  v.  Sigwart  am  Schleuse 
Bezug  nimmt,  fuhrt  den  Titel: 

Verzeichnis  der  Doctoren,  welche  die  philosophische 
Facultat  der  Königlich  Württembergischen  ßberhard- 
Karls-Universit&t  in  Tübingen  im  Decanatsjahre  1879 
—1880  ernannt  hat.  Beigefügt  ist:  Du  Lsbensgc- 
schichte  Giordano  Bruno's  von  Dr,  Christoph  Sigwart. 
Tübingen,  gedruckt  bei  Heinrich  Laupp  1880.  I  resp. 
41  Seiten.    4°. 

Der  Inhalt  dieser  Sigwart'sohen  Abhandln  Dg  ist  viel 
reicher  und  umfassender,  als  man  sich  auf  Grund  der 
Erwähnung,  welche  sie  vorhin  von  Seiten  ihres  Verfassers 
fand,  vorgestellt  haben  dürfte:  es  ist  eine  vollständige 
Lebensskizze  Giord.  Bruno's,  von  der  wissenschaftlichen 
Gediegenheit,  die  man  bei  Arbeiten  Sigwart's  gewohnt 
ist.  Da  derartige  akademische  Publicationen  durch  den 
Buchhandel,  die  buchhändleripche  Novitäten-Verbreitung, 
nur  wenig  bekannt  werden,  auch  wenn  sie,  sobald 
man  um  ihre  Existenz  bereits  weiß,  auf  buchhändleri- 
schem Wege  recht  wohl  zu  erlangen  sind  (die  Tübinger 
Universität«- Schriften  z.  8.  pflegt  man  durch  Franz  Fues 
in  Tübingen  beziehen  zu  können),  so  wird  Manchem  da- 
mit gedient  sein,  daß  wir  ihm  die  in  Rede  stehende  Ar- 
beit Sigwart's  über  Giordano  Bruno  ausdrücklich  und  bi- 
bliographisch genau  nennen. 


Auszüge  aus  syrischen  Akten  per- 
sischer Märtyrer  übersetzt  und  durch  Unter- 
suchungen zur  historischen  Topographie  erläu- 
tert von  Georg  Hoffman n.  Leipzig  in  Com- 
mission bei  F.  A.  Brockhaus  1880.  A.  u.  d.T.: 
Abhandlungen  für  die  Kunde  des  Morgenlandes 
hg.  von  der  Deutschen  Morgenländischen  Ge- 
sellschaft   VII.  Band.    No.  3.  —  325  S.    8°. 

Die  hier  übersetzten  syrischen  Acten  von 
Märtyrern   des   persischen   Reichs  sind  bis  auf 

55* 


868        Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  28. 

zwei  Stücke,  von  denen  in  den  letzten  Jahren 
wenigstens  der  Urtext  erschienen  war,  völlig 
neu.  Sie  geben  uns  eine  überaus  willkommene 
Bereicherung  unsrer  Kenntnis  der  religiösen, 
politischen  und  socialen  Verhältnisse  Vorder- 
asiens zur  Zeit  der  Säsäniden.  Daß  Hoffmann 
die  noch  ungedruckten  Acten  nur  im  Auszuge 
übersetzt  hat,  mag  zunächst  durch  äußere  Um- 
stände veranlaßt  sein,  thut  aber  ihrem  Interesse 
kaum  Abbruch.  Die  erbaulichen  Beden  und 
Betrachtungen  werden  die  meisten  Leser  gern 
entbehren,  während  wir  zu  seiner  umfassenden 
Gelehrsamkeit  und  seinem  Tact  das  Zutrauen 
haben  können,  daß  er  nicht  leicht  etwas  wis- 
senschaftlich bemerkenswerthes  übersehen  ha- 
ben wird. 

Hoffmann  weist  mehrmals  darauf  hin,  daß 
viele  dieser  Erzählungen  zu  Gunsten  einzelner 
Klöster  oder  Kirchen  verfaßt  sind,  welche  wirk- 
lich oder  vorgeblich  die  Gebeine  der  betreffen- 
den Heiligen  bewahrten.  Hängt  doch  selbst  die 
große  Sammlung  der  Acten  von  Märtyrern  aus 
der  Zeit  Sapor's  IL  durch  Märüthä  aufs  engste 
damit  zusammen,  daß  dieser  deren  Gebeine  in 
Martyropolis  (Maijäfäriqin)  zusammenbrachte ; 
glücklicherweise  begnügte  er  sich,  an  den  alten 
Berichten  einige  Stiländerungen  anzubringen 
und  sie  mit  schwülstigen  Einleitungen  zu  ver- 
sehn. Jene  Tendenz  braucht  der  historischen 
Treue  nicht  nothwendig  zu  schaden,  aber  ge- 
fährlich ist  sie  immer.  Wirklich  hat  sie  sogar 
vollständige  Erdichtungen  hervorgerufen,  welche 
höchstens  einzelne  Anhaltspuncte  in  der  Ueber- 
lieferung  benutzten;  das  zeigt  z.  B.  Hoffmann 
von  dem  hier  tibersetzten  Liede  auf  den  h.  Hor- 
mizd,  welches  im  13.  Jahrhundert  in  der  Ab- 
sicht gemacht  ist,  dem  Hormizjl-Kloster  die  Im- 


Syrische  Akten  pen.  Martyr.,  v.  0.  Hoffmann.  869 

munität  von  seinem  Metropoliten  zu  ver- 
schaffen. 

Ueber  die  große  Verfolgung  durch  Sapor, 
von  welcher  die  vortrefflichen  Acten  der  römi- 
schen Ausgabe  berichten  nnd  deren  ganzer 
Schrecken  sich  in  den  ergreifenden  Worten  des 
Aphraates  488  ff.  wiederspiegelt,  erfahren  wir 
aus  Hoffmann's  Acten  kaum  etwas  neues,  abge- 
sehen von  einigen  Notizen  in  der  Geschichte  der 
Märtyrer  von  Karchä.  Die  erste,  ganz  legenden- 
hafte, Erzählung  von  den  Märtyrern  des  zu  Ga- 
ramaea  gehörenden  Tür  BeraYn  (nach  Hoffmann's 
Darlegung  S.  262  im  kurdischen  Gebirge}  ist 
in  Wirklichkeit  zeitlos.  Das  9.  Jahr  Sapor  s  ist 
willkürlich  gewählt,  noch  dazu  recht  unpassend, 
da  damals  (317/8  n.  Chr.)  noch  keine  Christen- 
verfolgung bestand,  wie  denn  der  Erzähler  auch 
offenbar  keine  Ahnung  davon  hat,  daß  der  Groß- 
könig zu  jener  Zeit  höchstens  8  Jahr  alt  war. 
Die  lose  Anknüpfung  an  die  Geschichte  durch 
die  Einführung  des  aus  den  echten  Acten  be- 
kannten Eunuchen  Guhischtäzädh  macht  die 
wunderreiche  Legende  noch  nicht  glaubhafter. 
Dieselbe  scheint  übrigens  noch  in  der  Säsäniden- 
zeit  zu  Gunsten  eines  wundertätigen  Heilig- 
thums  geschrieben  zu  sein. 

In  solcher  Weise  knüpft  an  die  echten  Ac- 
ten auch  die  Erzählung  vom  h.  Säbhä,  in  wel- 
cher die  Gefangenen  von  Beth  Zabhde  (Römi- 
sche Ausg.  I,  134)  auftreten.  So  leicht  der  Be- 
arbeiter dieser  Locallegende  hierauf  kommen 
konnte  —  denn  deren  Schauplatz  lag  nach 
Hpffmann's  Nachweis  (S.  28)  gar  nicht  weit  von 
Beth  Zabhde  — ,  so  falsch  ist  es,  denn  das 
Martyrium  der  Gefangenen  fand  weit  von  ihrer 
Heimath  im  SO.  Statt.  Daß  die  Zeitbestimmung 
der  echten  Acten  (s.  meine  Tabarl-Uebersetzung 


870        Gott,  gel.  Anz.  1880.  Stück  28. 

410)  durch  eine  Anzahl  möglichst  schlecht  stim- 
mender Synchronismen  (S.  24)  vermehrt  und 
daß  die  Zahl  der  Gefangenen  von  „ungefähr 
9000u  auf  900,000  erhöht  wird,  paßt  ganz  zu 
dem  Charakter  der  Erzählung.  Der  Verfasser 
benutzt  überdies  stark  den  erst  im  Anfang  des 
6.  Jahrhunderts  geschriebenen  Julianus- Roman. 
Wann  dieser  Säbhä  wirklich  gelebt  hat,  können 
wir  trotz  der  Zeitbestimmungen  der  Legende 
nicht  wissen. 

Noch  viel  weniger  Anspruch  auf  historische 
Geltung  kann  die  imUebrigen  sehr  interessante 
Legende  von  Mucain  (der  Name  Mösvog  Wad- 
dington 241 2°)  machen.  Dieser  Heilige  reitet 
auf  einem  Löwen,  der  ihn  mit  Wildprett  ver- 
sieht, und  bekehrt  in  der  Gegend  von  Europus 
(am  mittleren  Euphrat)  die  Heiden  „einige  wirk- 
lich, andre  nur,  weil  sie  sich  vor  dem  Löwen 
fürchteten"  (S.  32).  Bei  den  seltsamen  Vor- 
stellungen, die  der  Erzähler  von  den  Verhält- 
nissen Sapor's  und  Constant!  n's  hegt,  möchte 
ich  nicht  einmal  an  dem  Kriege  des  Perser- 
königs gegen  „die  Griechen4*  (Jaunäje)  als  von 
den  „Römern"  verschieden,  ernstlichen  Anstoß 
nehmen.  Ob  Mu'ain  je  als  Heiliger  gelebt  hat, 
folgt  aus  diesen  Acten  wenigstens  noch  nicht. 
Nur  das  dürfte  feststehn,  daß  sein  Heiligthum 
in  Beziehung  zu  Klöstern  auf  dem  zum  persi- 
schen Reich  gehörenden  Sindschär-Bergen  stand. 

Zeitlos  ist  ferner  auch  die  Geschichte  des 
Behnäm,  welcher  in  den  Tagen  Julian's,  der 
sich  bei  syrischen  Fabulanten  mit  Sapor  in 
die  Rolle  des  blutdürstigen  Wütherichs  theilen 
muß,  umgebracht  sein  soll,  und  zwar  im  Jahre 
663  Sei.  (351/*),  wo  jener  Kaiser  noch  gar  nicht 
regierte.  Aus  der  Erzählung  scheint  hervorzu- 
gehen, daß  man  schon  früh  über  die  Gründung 


Syrische  Akten  perg.  Märtyr.,  v.  G.  Hoffmann.  871 

des  hochberühmten  Matthäusklosters  (uoweit  Ni- 
neve)  keine  wirkliche  Kunde  hatte;  diese  Le- 
gende steht  wenigstens  einer  sonstigen  Angabe, 
wonach  es  bedeutend  älter  sein  müßte,  nicht  im 
Wege.  Wenn  Bebnäm  als  Sohn  des  Sanherib 
erscheint,  so  soll  dies  hier  allerdings  nicht  der 
alte  Assyrerkönig  sein ;  aber  da  sich  Localsagen 
wenig  um  Zeitunterschiede  kümmern,  so  mochte 
der  Heilige  sonst  immerbin  als  Sohn  oder  Ab- 
kömmling des  biblischen  Sanherib's  gelten; 
machte  doch  auch  jüdische  Sage  die  großen 
Lehrer  Schemaja  und  Abtalion  zu  Abkömmlingen 
dieses  Bösewichts  (Gittin  57  b)> 

Einen  völlig  verschiednen  Charakter  zeigen 
dagegen  die  sehr  glaubhaften  Acten  aus  der 
zweiten  großen  Verfolgung  in  der  letzten  Zeit 
Jezdegerd's  I.  und  nach  dem  Regierungsantritt 
Bahrain's  V.  (Gör)  S.  34—43.  Wir  sehn  hier 
wieder  deutlich,  wie  jener  Fürst  durch  den  Ze- 
lotismus einiger  Christen,  welche  die  persischen 
Heiligthümer  schändeten,  fast  gezwungen  wurde, 
seine  tolerante  Politik  aufzugeben,  so  daß  selbst 
römische  Stimmen  diesen  Uebereifer  tadeln  müs- 
sen (Theophanes  p.  128  Bonn),  wie  dann  aber 
Bahräm,  der  ganz  in  der  Hand  der  Priester 
war,  eine  wirkliche  Verfolgung  erregte.  Ich 
kann  nicht  leugnen,  daß  mir  die  Bestätigung 
meiner  Auffassung  der  beiden  Könige  durch 
diese,  auf  genauer  Kunde  der  Verhältnisse  be- 
ruhenden, Documente  recht  erfreulich  gewesen 
ist.  Im  Einzelnen  ist  hier  viel  merkwürdiges ; 
ich  weise  nur  darauf  hin,  daß  Bahräm  die  von 
seinem  Vater  gegebne  Erlaubnis,  die  Todten  zu 
begraben,  zurücknahm;  sie  widersprach  ja  den 
Satzungen  der  Keichsreligion. 

In  die  dritte  und  letzte  allgemeine  Verfol- 
gung unter  Jezdegerd  II.  gehört  das  Martyrium 


872        Gott,  gel.  Anz.  1880.  Stück  28. 

des  Pethion,  Freitag  den  25.  Teschrt  I  im  9. 
Jahre  des  Königs  (==  Freitag  den  25.  Oct. 
446)*).  Der  Verfasser  hat  einiges  gate  Mate- 
rial benutzt,  namentlich  auch  Aber  die  frühere 
Geschichte  des  Mannes,  giebt  aber  viel  fabel- 
haftes und  läßt  sich,  seinen  Heiligen  zu  ehren, 
trotz  seiner  guten  Kenntnis  persischer  Verhält- 
nisse zu  der  thörichten  Erzählung  veranlassen, 
die  persischen  Priester,  die  das  Feuer  über  alles 
rein  und  heilig  hielten,  hätten  den  Pethion  öf- 
fentlich und  feierlich  bei  lebendigem  Leibe  ver- 
brennen wollen.  Zu  Hoffmann's  Annahme,  daß 
diese  Acten  aus  dem  Persischen  übersetzt  seien, 
sehe  ich  keinen  genügenden  Grund:  das  Syri- 
sche war  ja  gewiß  bis  tief  nach  trän  hinein 
Kirchensprache  der  persischen  Christen. 

In  dasselbe  Jahr  fallen  auch  die  sehr  genau 
erzählten  Hauptereignisse  der  kurzen  Kirchen- 
geschichte von  Karchä  dhS  Bhgth  SSlüch,  dem 
heutigen  Kerkük,  welche  nach  der  Ausgabe  von 
Moesinger  und  einer,  leider  lückenhaften,  Hand- 
schrift des  Brit.  Mus.  übersetzt  wird.  Diese 
Schrift  ist  allerdings  frühestens  gegen  die  Mitte 
des  6.  Jahrhunderts  compiliert  und  sehr  un- 
gleichartig, aber  selbst  ihr  erster  Theil  enthält 
trotz  der  mit  Hülfe  der  Bibel  und  eines  Chro- 
nographen zu  Stande  gebrachten  willkürlichen 
Construction  schon  mancherlei,  was  nicht  bloß 
für  Geographie,  sondern  auch  für  Kirchen-  und 
Profangeschichte  von  Bedeutung  ist  Daß  die 
ersten  Seleuciden  in  der  Landschaft  Garamaea 
mehrfach  Städte  angelegt  haben,  ergiebt  nicht 
bloß  der  Name  Selüch  selbst,  sondern  auch 
Bi(th)  Niqätdr.     Aus  den  chronologischen  An- 

*)  Der  26.  Oct.  446  ist  wirklich  ein  Freitag  •  dies 
Datum  bestätigt  die  Richtigkeit  meines  Ansatzes  seiner 
Regierangszeit. 


Syrische  Akten  pers;  Martyr.,  v.  G.  Hoffmann.  873 

gaben,  die  wohl  dnroh  Verkürzung  des  Berichte 
von  Seiten  des  Compilators  andeutlich  geworden 
sind,  darf  man  vielleicht  schließen,  daft  sich  die 
erste  fest  geschlossene  christliche  Gemeinde  in 
jener  Gegend  um  170  gebildet  hat.  Bei  weitem 
der  wichtigste  Theil  der  Schrift  ist  der,  welcher 
von  den  Martyrien  unter  Jezdegerd  II.  handelt 

Sabhä  der  Heidenbekehrer  soll  gestorben 
sein  799  Sei.  (=  487/8)  im  Jahre  261  der  Herr- 
schaft der  Perser.  Dies  ist  nicht  die  alte  Beichs- 
ära  (Tabari-Uebersetznng  410),  sondern  der 
Erzähler  datiert  nach  der  gewöhnlichen  Weise 
die  Regierung  des  ersten  Königs  von  538  SeL 
und  begeht  dabei  den  naheliegenden  Fehler, 
diese  Zahl  538  selbst,  statt,  da  beides  laufende 
Jahre  sind,  537  abzuziehn.  Wir  haben  hier 
also  wieder  bloß  ein  ausgerechnetes  Da- 
tum, und  es  ist  die  Frage,  ob  auch  auf  jenes 
799  irgend  Verlaß  ist.  Denn  sonst  enthalten 
diese  Acten,  worin  ein  persischer  Priester  Zeus, 
Apollo,  Kronos  und  Bedach  (der  Venusstern) 
als  seine  Götter  nennt,  so  gut  wie  gar  nichts 
historisches  über  den  Heiligen.  Was  darin  ge- 
schichtlich ist,  bezieht  sich  auf  eine  viel  spätere 
Zeit :  es  ist  die  Verödung  des  Heiligthums  wäh- 
rend der  furchtbaren  Noth-  und  Pestzeit  unter 
Sch6rÖe  (628  n.  Chr.),  vgl.  Tabari-Uebersetznng 
385,  und  die  Anlage  der  Filiale  in  Garamaea. 

Auf  ganz  sicherm  Boden  stehn  wir  wieder 
in  der  Geschichte  zweier  vornehmer  Perser, 
Gregor  (Plränguschnasp)  und  Jazdpanäh,  welche, 
da  sie  zum  Christentum  übergegangen  waren, 
im  Jahre  542  unter  Chosrau  I.  dem  Reichsgesetz 
nnd  der  Unduldsamkeit  der  Magier  zum  Opfer 
fielen.  Namentlich  die  Geschichte  Gregor's  ist 
sehr  wichtig*). 

*)  Die  Ereignisse  von  Gregor**  Leben   lassen   sich 


874        Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  28. 

Noch  viel  werthvoller  ist  aber  die  letzte  und 
ausführlichste  Erzählung,  die  von  Georgios 
(Mihrämguschnasp),  auch  einem  zum  Christen- 
thum  übergetretenen  Perser  vom  höchsten  Adel, 
welcher  am  14.  Jan.  615  unter  Chosrau  II. 
mehr  auf  Anstiften  seiner  confessionellen  christ- 
lichen Gegner  als  der  persischen  Priester  ge- 
kreuzigt ward.  Die  Acten  sind  von  einem  ver- 
trauten Schüler  und  Verehrer  verfaßt,  sicher  vor 
dem  Tode  Chosrau's  II.  (Februar  628),  da  die 
Königinn  Schirln  noch  als  solche  vorausgesetzt 
wird.  Sie  führen  uns  ein  in  das  Leben  des 
hohen  Adels  wie  des  christlichen  Clerus;  wir 
sehen,  wie  sich  die  christlichen  Geistlichen  durch 
confessionellen  Eifer  und  Streben  nach  Macht  in 
die  gehässigsten  Streitigkeiten  verwickeln,  welche 
dem  nicht  minder  großen  Zelotismus  der  persi- 
schen Priester  nur  zu  viel  Gelegenheit  zur  Be- 
thätigung  geben,  so  tolerant  oder  so  lässig  die 
Obrigkeit  auch  sein  mag.  Die  Stellung  des 
monophysitischen  „Reichs  Sanitätsrathsu  Gabriel, 
welcher  starken  Einfluß  auf  die  Königin  hatte, 
wird  durch  diese  Acten  erst  recht  an's  Licht  ge- 
stellt. 

Schon  aus  dem  Wenigen,  was  ich  angeführt 

mehrfach  gut  datieren  von  seiner  Bekehrung  im  Jahre 
518  bis  zu  seinem  Tode  Charfreitag  542.  Ob  der  Be- 
ginn der  Bekehrung  am  Frawardigän-Tage  des  Jahres 
518  auf  den  5.  März  oder  den  6.  April  fallt,  A  hängt  davon 
ab,  ob  a  damals  die  Epagomenen  vor  dem  Abän  oder  vor 
dem  Adhar  des  gemeinen  persischen  Jahres  standen;  in 
jenem  Fall  meint  der  Syrer  den  syrischen,  in  diesem  den 
persischen    Monatsnamen  i^.    —   S.  80   muß    es  wohl 

heißen  »im  Jahre  44  (statt  40)«  sei  Chosrau  zur  Regie- 
rung gekommen,  nämlich  im  Jahre  44  des  Kawädh  (nicht 
»des  Friedens«).  Die  nicht  genau  stimmenden  Angaben 
im  Anfang  der  Erzählung  850  Sei.  (=  53%)  und  10  des 
Chosrau  (54°/J   sollen  beide  wohl  nur  runde  Zahlen  sein. 


Syrische  Akten  pers.  Märtyr.,  v.  G.  Hoffmann.  875 

habe,  wird  man  einigermaßen  anf  den  hohen 
geschichtlichen  Werth  dieser  Texte  schließen. 
Am  meisten  Gewicht  lege  ich  darauf,  daß  wir 
hier  Schriften  haben,  welche  uns  von  derDenk- 
und  Lebensart  großer  und  einflußreicher  Kreise 
im  persischen  Reich  unmittelbare  und  frische, 
wenn  auch  nichts  weniger  als  unparteiische, 
Darstellungen  geben.  Dazu  erfahren  wir  sehr 
viel  neue  Einzelheiten  über  Einrichtungen  des 
Reiches.  Die  betreffenden  Erörterungen  zu  mei- 
ner Tabarf-Uebersetzung  ließen  sich  durch  das 
neue  Material  vielfach  ergänzen.  Auch  meine 
Liste  der  Mitglieder  des  Hauses  Mihrän  (Tab. 
139 f.)  läßt  sich  danach  vermehren;  die  Be- 
ziehung dieses  Geschlechts  zur  Stadt  Rai  wer- 
den auch  hier  ausdrücklich  erwähnt  (S.  78). 
Unbedenklich  darf  man  den  Georgios  und  seine 
nahen  Verwandten  diesem  Hause  zuzählen,  ob- 
wohl sein  persischer  Name  Mihrämgnscbnasp  mit 
m  geschrieben  wird;  gehört  er  doch  einem  Über- 
aus vornehmen  Adelsgeschlecht  an,  das  dem 
König  nahe  steht  und  selbst  aus  königlichem 
Blute  ist  (d.  h.  Arsacidischem,  nicht  Säsänidi- 
schem).    Nicht   unwahrscheinlich  ist  auch,    daß 

das  große  Haus  <£üc,  dem  der  Heidenbekehrer 

Säbhä  angehört  (S.  68),  in   <taüo  Mihrän  zu 

verbessern  ist;  bei  der  Unzuverlässigkeit  dieser 
Legende  brauchte  übrigens  diese  Angabe  noch 
nicht  grade  wahr  zu  sein.  Noch  mehr  würde 
ich  zögern,  meine  Stammtafel  der  Säsäniden  aus 
der  Geschichte  des  Märtyrers  Säbhä  mit  2  bis 
jetzt  unbekannten  Brüdern  Sapor's  II.  zu  be- 
reichern (S.  24),  wenn  es  auch  immerhin  mög- 
lich ist,  daß  die  sonst  fabelhafte  Erzählung  diese 
Namen  aus  guter  Quelle  hat. 


876         Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  28. 

Wer  sich  nur  ein  wenig  mit  den  Schwierig- 
keiten des  Pehlewt  beschäftigt  hat,  der  wird 
begreifen,  wie  wichtig  schon  in  rein  grammati- 
scher Hinsicht  die  zahlreichen  persischen  Namen, 
Titel  und  sonstigen  Wörter  in  diesen  Acten  sind, 
welche  uns  die  persischen  Laote  im  Wesentli- 
chen so  geben,  wie  sie  den  Syrern  in's  Ohr 
fielen.  Die  Thatsache,  daß  trotz  der  alterthüm- 
lich  historischen  Orthographie  des  Pehlewt  die 
Lantformen  um  500  und  selbst  früher  den  neu- 
persischen  schon  sehr  nahe  kamen,  bestätigt 
sich  hier  wieder  durch  viele  Einzelheiten.  Inter- 
essant ist,  daß  neben  dem,  wohl  im  4.  Jahrhun- 
dert nach  damaliger  persischer  Aussprache  von 
den  Syrern  fixierten,  mopat  oder  möhpat  (im 
Phl.  noch  noiaia  geschrieben)  hier  für  das  Jahr 
542  schon  das  ganz  neupersische  mobedhän- 
mobedh  steht  (S.  88,  800).  —   Die  Schreibweise 

dux»?  ouo  leh  dinih  wGut-Gläubigkeita,   d.  h. 

„wahrer  Glaube"  und  ou^dj^  tarsdgth  „Chri- 
stenthum"  (109,  976,  978)  =  np.  {Si^>  ju, 
^jUy  setzt  die  von  mir  nachgewiesene  Auf- 
fassung der  Abstractendung  als  ih  außer  Zweifel. 
Freilich  sind  in  den,  durchweg  ziemlich  spä- 
ten, Handschriften  die  persischen  Namen  und 
Wörter  zum  Theil  ziemlich  entstellt  und  bei 
einigermaaßen  unsichern  Formen  müssen  wir 
immer  mit  der  Möglichkeit,  ja  Wahrscheinlich- 
keit solcher  Entstellungen  rechnen.  Und  auch, 
wo  die  Form  leidlich  sicher  steht,  bleibt  die 
Deutung  oft  recht  ungewiß.  Hoffmann  hat  hier 
mit  großem  Scharfsinn  und  fester  Methode  viel 
geleistet.  Ich  weise  z.  B.  hin  auf  seine  Er- 
klärung des  entstellten  Titels,  welcher  „Ordner 
der  Magier"  übersetzt  wird;  sein  moghän  an- 


Syrische  Akten  pers.  Martyr.,  v.  6.  Hoffmann.  877 

darebedh  (50,  438)  ist  entschieden  dem  von  mir 
angesetzten  moghän  arzbedh  vorzuziehn.  So 
stellt  er  auch  vortrefflich  den  pahragbän  „Wäch- 
ter" (97,  864)  her.  Beiläufig  bemerkt,  ist  es 
von  Interesse,  daß  wir  grade  von  allerlei  persi- 
schen Polizeibeamten  ziemlich  viel  erfahren. 
Daß  die  gesAraje  eine  Art  Gensdarmen  waren, 
steht  jetzt  fest.  Die  Bezeichnung  kommt  schon 
201  in  Edessa  vor. 

Begreiflicherweise  fehlt  es  nun  aber  nicht  an 
Fällen,  wo  Andre  andre  Deutungen  persischer 
Formen  als  die  von  Hoffmann  gewählten  vor- 
ziehen werden.  So  scheint  er  mir  mit  Unrecht 
den  in  den  Acten  von  Karchä  und  sonst  gefun- 
denen Radh  (als  Beamtennamen,  Tabari  Uebers. 
447)  zu  Gunsten  sehr  fragwürdiger  Namens- 
formen zu  verwerfen ;  man  beachte,  daß  an  allen 

betreffenden  Stellen  v>   (oder  $?,   das  so  nicht 

möglich  ist)  vor  dem  Namen  eines  kleinen  Lan- 
des steht  Noch  viel  weniger  kann  ich  seine 
Aussprache  Tohmjazdgerd  (mit  o)  und  deren 
Deutung  billigen.  Diesen  Namen  von  Tarn- 
chosrau,  Tamsdbor  zu  trennen,  geht  doch  nicht 
an;  darin  ist  aber  das  a  durch  die  griechischen 
und  lateinischen  Schreibweisen  gesichert,  wäh- 
rend gegen  o  oder  u  schon  die  stete  Abwesen- 
heit des  wau  im  Syrischen  Bedenken  erregt. 
Der  Ausfall  des  h  braucht  bei  den  Syrern  gar 
nicht  auf  bloßer  Nachlässigkeit  zu  beruhen: 
tarn  konnte  aus  tahm  ganz  so  werden  wie  s(i)- 
tam  aus  stahm,  diram  aus  drahm  (jujüum  sitamba 

aus  stahmbak,  vrgl.  noch  pul  aus  puhl).  Zu  der 
Bedeutung  „Stark-Cbosrau"  u.  s.  w.  vgl.  den 
bei    Sebßos  III,    18*)    vorkommenden    Namen 

*)  Ich  war  vor  Kurzem  durch  die  Güte  des  Hrn. 
Dr.  Wenzel  in  den  Stand  gesetzt,  eine  von  ihm  mit  Bei- 


878        GÖtt.  gel.  Anz.  1880.  Stttck  28. 

Dschamtean-Chosrov  =  ^y^s>  q'^I->  od.  q!cX^L> 

2S»s>  „Ewig-Chosrauu.     Das  ein  einziges  Mal 

bei  einem  Armenier  vorkommende  Dzambchosrov 
(Lagarde,  Ges.  Abhh.  193)  gehört  sicher  zu  den 
zahlreichen  Entstellungen  solcher  Eigennamen 
in  den  (wie  es  scheint,  durchweg  späten)  Hand- 
schriften armenischer  Historiker;  einen  anlau- 
tenden Palatal  hätten  unmöglich  gleichzeitige 
Römer,  Griechen  und  Syrer  tibereinstimmend  als 
t  aufgefaßt.  —  Den  persischen  „Vorläufer"  (S. 
14  f.)  würde  ich  einfach  peäasptg  (wäre  np. 
*peäaspi)  nennen;  die  Vocalpuncte  können  bei 
solchen  Wörtern  keine  Autorität  beanspruchen. 
—  Der  Name  der  Stadt,  welche  die  Araber 
Dschundaisäbür  nennen,  kann  nicht  mit  band 
Jöamma  gebildet  sein  (41,  351),  denn  dies 
Wort  hat  ein  ursprüngliches  ft,  welches  nicht  zu 
g  (arabisiert   -)    wird;   auch    kann   der  lange 

Endvokal  der  ersten  Hälfte  schwerlich  das  i  des 
St.  constr.  ausdrücken.  —  Mähburzin  (65  f.),  der 
nicht  in  Mihrburzin  verändert  zu  werden  brauchte, 
möchte  ich  eher  für  einen  „Kreisrichter"  (äahr 
däwer)  als  für  einen  „Reichssecretär"  halten; 
äahr  ist  ja   zunächst   die  Unterabtheilung   der 

Provinz  (arabisch  »j^),   und  bei  j*o?  läßt  sich 

eben  so   leicht   an  däwer  (_»  wie  in   pO  und 

öfter  im  Phl.  für  e  der  Schlußsilbe)  denken  als 
an  dapir  (dawir);  vgl.  den  Titel  SnadaöovaQ 
(späh-dädh(a)war,  s.  Lagarde,  Ges.  Abhh.  187), 
„Heeresrichter"    =    dem    yCLc  i**5^  bei    den 

Osmanen.  Und  so  könnte  ich  noch  gegen  eine 
Anzahl  von  Erklärungen  persischer  Wörter  Ein- 
hülfe Hübschroaun's  angefertigte  Uebersetzung  dieses 
wichtigen  armen.  Historikers  zu  benutzen. 


Syrische  Akten  pers.  Martyr.,  v.  G.  Hoffmann.  879 

sprach  oder  doch  Bedenken  erheben ,  glaube 
aber  nicht,  daß  hier  irgend  ein  Anderer  auch 
nur  so  viel  würde  geleistet  haben  wie  Hoffmann. 

Dadurch,  daß  er  alle  irgend  significanten 
Wörter  und  Stellen  unter  der  Uebersetzong  im 
Urtext  giebt,  erhält  auch  der  Semitist  will- 
kommnes  Ifaterial.  Es  ist  nicht  zufällig,  daß 
diese  Erzählungen,  welche  sich  viel  um  concrete 
Dinge  bewegen,  für  das  syrische  Lexicon  eine 
ziemliche  Ausbeute  gewähren;  die  weggelassenen 
erbaulichen  Reden  wären  gewiß  auch  in  dieser 
Hinsicht  viel  weniger  ergiebig  ausgefallen.  Hoff- 
mann weist  darauf  hin,  daß  schon  die  syrischen 
Glossensammler  unsre  und  andre  Märtyreracten 
vielfach  benutzt  haben,  natürlich  nicht  eben  mit 
großer  Umsicht. 

Nur  für  ein  einziges  Stück,  die  Geschichte 
von  Karchä,  lagen  Hoffmann,  wenigstens  theil- 
weise,  zwei  Textquellen  vor;  die  Londoner  Hand- 
schrift verbessert  denn  auch  ziemlich  viele  Feh- 
ler von  Moesinger's  Ausgabe.  Sonst  hatte  er 
durchgehends  nur  eine  Handschrift.  Selbstver- 
ständlich mußte  er  da  manchmal  zur  Conjectural- 
kritik  greifen.    Hie  und  da  hat  er  auch  einmal 

ohne  dringende  Noth  geändert.    So  ist    )7*g& 

25,  199  richtig;  es  heißt  „frische,  ungegerbte"  s. 
Martyr.  I,  186 unten,  193  unten;  ßoediger,  Ghrest. 
(ed.  2)  114;  Off.Sanct.  Maron.  II  (Romae  1666), 
261a.   265b.   272a.    —    Die    58,  503    gemachte 

Veränderung  ist  mindestens  überflüssig ;  qWn\«)o 

ist  „stellten  als  weiter  zu  tradieren  hintf,  „be- 
stimmten". —    88,  800   ist  keine  Verbesserung 

nothwendig  als  t.n°n  statt   «n°no   und  weiter 


etwa  t^c^Do  für  poio;  ]Z)  ooi  f^   ist  „bevor 
er  noch  kamtf  („war  der  König  fortgegangen"). 


880        GOtt.  gel.  Anz.  1880.  Stück  28. 

Im  Ganzen  wird  aber  wohl  ein  zukünftiger 
Herausgeber  dieser  Acten  die  meisten  Verbesse* 
rangen  Hoffmann's  einfach  in  den  Text  nehmen, 
wenn  auch  zu  erwarten  ist,  daß  die  Heranziehung 
neuer  Handschriften  noch  manches  richtiger  oder 
doch  sichrer  stellen   wird.     Da  wird  sich  auch 

wohl  für  21, 153  (Gardahi  143  unten>  oiiiof  **o 

bar  amneh  „sein  College"  als  Lesart  ergeben. 
Soweit  Hoffmann  eigentliche  Uebersetzung 
giebt  und  nicht  bloß  den  Inhalt  kürzer  zusam- 
menfaßt, entspricht  der  deutsche  Text  dem  syri- 
schen sehr  genau,  hie  und  da  fast  zu  wörtlich. 
Der  des  Syrischen  Unkundige  kann  sich  auf 
die  Uebertragung  sicher  verlassen;  wo  der  Sinn 
einer  Stelle  etwas  zweifelhaft  ist,  deuten  das 
die  Anmerkungen  meistens  an.  Das  schließt 
natürlich  nicht  aus,  daß  sich  noch  etliche  kleine 
Verbesserungen   anbringen   ließen;   von  solchen 

i  ^*^Qt  (15,  106)    ist 

„buntes  Zeug«.  —    33,  272   bloß    „ward   kalt" 

(statt   „gefror44).  —    40,  341:  ^o   steht    vom 

„abdecken,  wegnehmen  einer  Hülle  oder  eines 
Hindernisses",  aber  „abrollen4*  ist  es  nicht  grade, 
so  daß  aus  dem  Verbum  nichts  für  die  Natur 
des  davon  betroffnen  Daches  folgt.  —  54  unten 
war  zu  übersetzen:  „Einigen  schnitt  man  die 
Füße  ab,  Einigen  u.  s.  w.44  —  59,  515  ist  aus 
Jes.  11, 11  genommen,  wonach  sich  die  richtige 

Uebersetzung  ergiebt.  —  Daß   i-i-ijaio,  ?A*Xijoio 

schlechtweg  „Convertit44,  „Convertitinn44  heißen 
könne  (99,  882.  100,  897),  bezweifle  ich;  die 
Neubekehrten  aus  vornehmem  Geschlecht,  welche 
mit  ihrem  üebertritt  mindestens  schweren  Ver- 
mögensverlust  auf  sich  nahmen,   mochten  eben 


Syrische  Akten  pers.  Martyr.,  v.  6.  Hoffmann.  881 

damit  schon  den  Rang  von  „Confessoren"  er- 
werben.  —   103,  915   bezweifle  ich,   daß  )^u 

=  nebhrä  „Kralle"  ist;  ^  entspricht  hebräi- 
schem län  vom  Zusammenhalten  eines  weiten 
Gewandes  durch  einen  Gurt;  nebhärä  scheint 
„Palm  bast"  zu  sein  (BA  6150),  daher  wohl 
„Strick".  —  105,  Lin.  2  (Anm.  937)  übersetze: 
„er  solle  sich  eine  ihm  bequeme  Person  aus- 
suchen" (nehze  wie  Gen.  22,  8).  —  Eb.  939  ist 
dalmän  auszusprechen  und  zu  übersetzen :  .warum 
(Uebergang  in  directe  Rede)  habt  ihr  uns 
nicht  u.  s.  w.a ;  dalman  als  nquippe  quem"  scheint 
mir  nicht  möglich.  —  Die  Uebersetzung  von 
109,  989  klingt  mindestens  undeutlich;  es  muß 
wohl  heißen  „auch  ist  es  bei  alle  dem  {hand 
chtdleh?)    ohne    Unterscheidungsvermögen".    — 

to9  htcL>  111,1006  heißt  „Kopfüber";  es  kommt 

grade  beim  Kreuzigen  öfter  vor.  Da,  wie  wir 
hier  sehen,  die  Perser  dem  Gekreuzigten  bald 
ein  Ende  bereiteten  (ganz  wie  in  derselben  Zeit 
die  Araber,  s.  Ibn  Hischäm  641),  so  ist  die  An- 
wendung dieser  Lage  wenigstens  noch  nicht 
das  Aeußerste  an  Grausamkeit ;  übrigens  scheint 
mir  aus  der  Erzählung  nicht  mit  Notwendigkeit 
zu  folgen,  daß  der  Kopf  während  der  Execution 
selbst  unten  gehangen  habe.  —  112,  1023  ist 
bloß  vom  „Abwischen"  des  Blutes  die  Rede. 

Schon  Hoffmann's  Anmerkungen  geben  ein 
überaus  reiches  Material  zur  sprachlichen  und 
sachlichen  Erklärung.  Noch  weit  mehr  gilt  das 
von  den  Excursen,  welche  beinahe  zwei  Drittel 
des  Buches  einnehmen.  Den  größten  Umfang 
haben  die  auf  dem  Titel  allein  erwähnten,  geo- 
graphischen und  topographischen  Erörterungen, 
welche  namentlich  die  Landschaften  betreffen, 
die  später  die  Provinz  Mosul   ausmachten,  so* 

&6 


882        Gott,  gel.  Anz.  1880.  Stück  28. 

wie  einige  benachbarte,  sieh  jedoeh  zum  Theil 
aneh  auf  weit  entlegene  Gegenden  erstrecken. 
Er  hat  in  möglichster  Vollständigkeit  die  An- 
gaben der  orientalischen  und  griechischen  Schrift- 
steller gesammelt,  und  dazu  mit  größter  Sorg- 
falt und  Spürkraft  alle  zugänglichen  neueren 
Reisebeschreibungen  und  Karten  durchsucht ; 
der  Erfolg  ist,  daß  er  der  Geographie  der  be- 
treffenden Länder  eine  ganz  neue  Gestalt  gege- 
ben hat.  Ich  kann  mir  nicht  die  Zeit  nehmen, 
seinen  sämmtlichen  Wanderungen  nachzugehn, 
brächte  auch  nur  schwer  das  dazu  nöthige  Kar- 
tenmaterial zusammen ;  aber  wo  ich  ihm  gefolgt 
bin,  habe  ich  ihn  überall  als  einen  sichern  Füh- 
rer gefunden.  Ich  darf  mir  hier  wenigstens  in 
so  fern  ein  Urtheil  erlauben,  als  ich  für  den 
größten  Theil  der  von  ihm  behandelten  Länder 
gleichfalls  Sammlungen  aus  den  altern  Schrift- 
stellern angelegt  hatte,  die  an  Vollständig- 
keit nicht  viel  hinter  seinen  zurückstehn,  durch 
deren  isolierte  Benutzung  ich  jedoch,  wie  sich 
nun  zeigt,  mehrfach  auf  irrige  oder  doch  recht 
zweifelhafte  Ergebnisse  geführt  war.  Neu  er- 
schlossene orientalische  Quellen  werden  hier 
wohl  noch  manches  ergänzen  und  berichtigen; 
noch  weit  mehr  werden  das  genaue  topographi- 
sche Aufnahmen  und  Beschreibungen  thun,  aber 
diese  Untersuchungen  Hoffmann's  werden  auch 
in  späteren  Zeiten  noch  einen  großen  Werth  be- 
halten. Es  wäre  sehr  zu  wünschen,  daß  er  in 
so  sorgfaltiger  Weise  ganz  trän  und  die  ge- 
sammten  Euphrat-  und  Tigrisländer  in  einem 
systematischen  Werke  behandelte. 

Andre  Excurse  betreffen  Historisches,  Mytho- 
logisches und  Kirchliches.  Vortrefflich  ist  be- 
sonders die  Erörterung  der  kirchlichen  Wirren, 
welche  das  Geschick  des  Georgios  bestimmten. 
Auch  die  seltsamen  heidnischen  und  halbheidni- 


Syrische  Akten  pers.  Märtyr.,  v.  G.  Hoffmann.  883 

sehen  Secten,  an  denen  es  in  diesen  Ländern, 
namentlich  unter  den  Kurden,  von  Alters  her 
nie  gefehlt  hat,  werden  mehrfach  beleuchtet 
Dabei  ist  auch  von  den  Orgien  die  Rede,  wel- 
che sie  begehen  sollen.  An  sich  wäre  es  nicht 
unglaublich,  daß  derartige  Verirrungen  des  reli- 
giösen Sinnes  bei  einigen  dieser  scheuen  Ge- 
nossenschaften vorkämen;  nur  muß  man  daran 
festhalten,  daß  solche  Behauptungen  von  Seiten 
religiöser  Feinde  nicht  als  Zeugnis  angesehn 
werden  können.  Welche  Scheußlichkeiten  haben 
schon  im  Alterthum  Judenfeinde  dem  jüdischen, 
Juden  dem  christlichen  Gultus  nachgesagt  (Jo- 
sephus,  c.  Ap.  2,  8;  Origenes  c.  Gelsum  6,  27)! 
Und  noch  Schauerlicheres  berichten  die  mandäi- 
schen  Schriften  von  den  Christen.  Religiöser 
Haß  erstickt  ja  nicht  bloß  im  Morgenlande  den 
Sinn  für  Wahrheit! 

Daß  die  Abhandlungen  über  die  Göttinnen 
Beduckt  und  Nanai  ohne  große  Resultate  blei- 
ben, liegt  in  der  Natur  des  Stoffs.  Im  Gegen- 
satz zu  dem  immer  noch  zu  beliebten  wissen- 
schaftlichen Synkretismus  sucht  Hoffmann  die 
verschiedenen  Göttergestalten  zunächst  zu  son- 
dern, ohne  zu  verkennen,  daß  die  Völker  selbst 
gern  practischen  Synkretismus  trieben.  Die  Er- 
örterungen über  die  Nanai  führen  ihn  in  etwas 
gar  zu  entlegene  Gebiete.  Ueberhaupt  ist  zu 
fürchten,  daß  gar  manches,  was  gelegentlich  in 
dem  Buche  behandelt  wird,  trotz  des  guten  In- 
dex späteren  Forschern  entgehen  wird,  weil  sie 
es  darin  nicht  vermuthen  können. 

Auch  über  Religion  und  Kirchenverfassung 
der  Perser  handelt  Hoffmann  mehrfach  eingehend. 
Namentlich  sind  seine  Untersuchungen  über  die 
religiöse  und  politische  Bedeutung  der  drei  gro- 
ßen heiligen  Feuer  hervorzuheben.  Im  Einzel- 
nen  bleibt  da  freilich  manches  unsicher,   aber 

56* 


884        Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stttck  28. 

mit  der  Gesammtanschauung,  die  übrigens  zum 
Theil  nur  angedeutet  wird,  bin  ich  wenigstens 
sehr  geneigt*  mich  einverstanden  zu  erklären. 
Den  Namen  des  einen  Feuers  stellt  Hoffmann 
als  Guschnasp  (Wischnasp)  mit  n  fest.  Das 
andre  kann  m.  E.  nach  den  Pehlewtformen  auf 
den  Gemmen    und  in   Büchern   und   nach  dem 

syrischen  loja    kaum   anders  als    Frawäflbag) 

A 

geheißen  haben.  Dagegen  daß  *Adarfrawä(bag) 
auch  als  Personenname  erscheint,  wage  ich  jetzt 
keinen  Widerspruch  mehr  zu  erheben,  so  auf- 
fällig es  immerhin  ist,  daß  dieser  Name  auf  den 
Gemmen  so  häufig  ist;  es  muß  wohl  ein  rechter 
Priestername  gewesen  sein. 

Durch  das  ganze  Buch  ziehn  sich  sprach- 
liche Erörterungen  über  Semitisches  und  Irani- 
sches. Dabei  ist  wieder  viel  vortreffliches,  aber 
auch  manches  gewagte.  Bedenklich  scheint  mir 
z.  B.  die  Etymologie  von  qeterqä  „Köcher" 
61,  535  und  die  Annahme,  gessä  „Seite,  Lende" 
stehe  für  galsä  und  bedeute  eigentlich  „Gesäß" ; 
jjjb>.   ist   doch   allem  Anschein   nach  zunächst 

„sich  erheben,  in  die  Höhe  richten".  —  Daß 
Ijg^c     „Eunuch",  als  Euphemismus  ftir-gauwäzä, 

gauwäjä  zu  sprechen  sei  und  den  „Mann  des 
Inneren"  bezeichne,  ist  mir  noch  immer  wahr- 
scheinlicher als  die  13,  89  gegebne  Erklärung, 
zumal  im  Mandäischen  firwifi»  mit  a  geschrieben 
wird  (S.  R.  I,  217,  24).  —  Die  111,  1011  und 
sonst  angenommene  Diminutivbedeutung  der  Fe- 
mininbildung an  sich  bedarf  jedenfalls  genaue- 
rer Begrenzung,   und    ]Anooo ,   das  den  hellen 

und  zur  Zeit  seines  größten  Glanzes  alle  Sterne 
weit  überstrahlenden  Planeten  Venus  bedeutet, 
würde  ich  mich  nicht  leicht  entschließen  als 
„Sternlein"   aufzufassen.  —  oL*»tj*    soll  bloß 


Syrische  Akten  pers.  Märtyr.,  v.  G.  Hoffmann.   885 

durch  Verschreibung    aas    /jl^'j*   entstanden 

sein  (64,  555);  dies  ist  bei  aer  großen  Verbrei- 
tung jener  Form  in  den  besten  alten  Hand- 
schriften und  der  geringen  Aehnlichkeit  von  ^ 

und  wi  grade  in  der  älteren  arabischen  Schrift 
recht  anwahrscheinlich.  Das  np.  v^V  dage- 
gen wird  allerdings  nur  auf  falscher  Aassprache 
von  t-jLuMji  beruhen.  —  o^°  *8*  &ew&  nicht 
Arabisierung  von  dahigän  (296),  da  bei  dem 
Worte  keine  Spur  einer  Form  mit  I  vorkommt, 
wie  denn  dahigän  auch  schwerlich  Singular  sein 
könnte;  Grundform  ist  etwa  dehakan,  woraus 
dehgän,  das  ja  auch  in  den  persischen  Wörter- 
büchern  aufgeführt  wird.  —    Arabisches  0y> 

mit  persischem  gang  zusammenzubringen  (250, 
1984),  ist  mehr  als  mislich.  —  Den  altpersischen 
framätäratn  „Gebieter"  hatte  ich  keineswegs  über- 
sehen (293,  2268),  aber  die  Kürze  des  Vocals 
in  ma  von  buzurg  framadhdr  scheint  mir  die 
Ableitung  von  framä  auszuschließen,  denn  dann 
könnte  nur  ma   oder  mü  stehn.  —   In  Formen 

wie    «jttis^iv^D    (113,    1030)    kann    ich    nur 

Schreibfehler  erkennen.  Wie  hier,  so  verschwen- 
det Hoffmann  auch  sonst  noch  gelegentlich  sei- 
nen Scharfsinn  auf  sprachliche  Erklärung  bloßer 
Schreibersünden. 

Im  Folgenden  gestatte  ich  mir  noch,  an 
einige  Stellen  des  Buches  Bemerkungen  ver- 
schiedner  Art  anzuknüpfen.  Daß  der  weise 
H  a  i  q  ä  r  bei  den  Späteren  dem  Buche  Tobit  ent- 
stammt (182),  ist  unbestreitbar,  und  wenn  der 
vorislämische  christliche  Dichter  cAdl  b.  Zaid 
(t  gegen  600)  den  Haiqär  als  mächtigen  Erie- 
gesflirsten  bezeichnet  (Dschawäliqi  ed.  Sachau 
54),  so  kann  das  immer  noch  auf  einem  Mis- 
Verständnis  jener  Figur  beruhn,  aber  der  Uirf- 


886        Gott  gel  Anz.  1880.  Stück  28. 

X<xQo$9  yAxl%aQOQ9  *A%atxaQoq  bei  Clemens  I,  69 
(Dind.),  Diog.  Laert  V,  50,  Strabo  762  ist  doch 
auf  alle  Fälle  älter,  mag  es  mit  der  Berufung 
auf  Demokrit  und  Theophrast  auch  stehn,  wie 
es  will.  —  Der  Name  Sanatruk  kommt  aller- 
dings noch  in  der  ältesten  Säsänidenzeit  vor, 
aber  der  S.  185  genannte  Aethiope  heißt  Mas- 
rüq  und  hat  nur  durch  die  Byzantiner  einen 
Arsacidennamen  bekommen.  —  Für  die  Verbes- 
serung JLä  (S.  186)    bin   ich   sehr   dankbar; 

sie  kommt  für  meine  Uebersetzung  des  Tabart 
zu  spät,  aber  in  der  Textausgabe  kann  sie  noch 
verwerthet  werden.  Weniger  kann  ich  mich  mit 
der  Verbesserung  von  2  Kön.  19, 13  =  Jes.  37, 12 
(163, 1273)  einverstanden  erklären:  die  Stadt  ni9, 
an?  ist  durch  2  Kön.  17,  24,  31  gesichert,  und  die 
Nifalbildung  msnjan  wäre  beispiellos.  —  Das  ziem- 
lich häufige  a^9  welches  im  Stadtnamen  Köche 

liegt  (177,  1582)  scheint  persischer  Herkunft  zu 
sein,  s.  de  Goeje  im  Glossar  zu  den  Geographen 
s.  v.  —  218,  2  lies  „beinahe  51/*  geographische 
Meilen".  —  227  Zeile  4  v.  u.  (die  Klammer) 
lies:  Irbil  (Arbela)  für  Dabil.  —  Der  in  Anm. 
1997  S.  253  ausgesprochnen  Vermuthung,  Beth 
ArmajS  „Aramäerland"  als  Name  des  nördli- 
chen Iräq  stamme  erst  aus  der  Bibel  und  solle 
„Heidenland"  bedeutet,  kann  ich  nicht  bei- 
stimmen. Das  Arsaciden-  wie  das  Säsäniden- 
reich  hatten  ihre  Hauptstadt  in  einer  nicht  von 
Iraniern,  sondern Aramäern  bewohnten  Provinz; 
da  mußte  sich  ihnen  eine  solche  Benennung  wie 
Süristdn  leicht  ergeben.  Svqoi,  heißen  die  ein- 
heimischen Bewohner  dieser  Gegend  (im  Gegen- 
satz zu  den  dortigen  'Ellrjvsc,  welche  später  als 
herrschende  Rage  immer  mehr  durch  Iranier  er- 
setzt wnrden)  bei  Josephus.  In  der  Landes- 
sprache  konnten  diese  2i>qo$   nur  Armäje  hei- 


Syrische  Akten  pers.  Martyr.,  v.  6.  Hoffmann.   887 

ßen,  wie  Säristdn  nur  Bäh  ArtnäjS.  Aehnlich 
nannte  man  ja  ein  den  Persern  nnterworfnes, 
von  Arabern  bewohntes  Gebiet  im  Norden  Bäh 
*Arbhäj$  „Araberland",  wie  andrerseits  eben  in 
diesen  Acten  das  zum  Vasallenstaat  von  Hira  ge- 
hörige Ambär  als  „Stadt  der  Araber"  bezeichnet 
wird  (S.  83).  Wir  sehn,  daß  man  damals  für  die 
Verschiedenheit  der  Nationalität  wohl  ein  Auge 
hatte.  -  „Das  Haus  des  Zöllners  Jazdin"  (S.  265) 
kann  unmöglich  etwas  anderes  als  ein  Privat- 
hans sein,  denn  nur  im  St.  constr.  vor  Substan- 
tiven ist  bäh  „Land,  Ort,  -hausen".  Der  Iden- 
tificierung  von  Karchä  mit  dem  Karchinä  der 
Araber  (S.  272)  stellt  sich  eine  neue  Schwierig- 
keit  in  den  Weg:   J^s>/  ist   nämlich    kaum 

verschieden  von  »rmp  Sabb.  152a,  dessen 
Nisba  rwrrnp  Berach.  33*;  demnach  ist  die 
syrische  Schreibung  bei  Barh.  erst  durch  die 
arabische  beeinflußt  und  der  Name  gar  nicht 
mit  *p3  gebildet.  —  Die  geographische  Be- 
stimmung von  mpiTi  durch  »y^oJt  (274,  2152) 

ist  gewiß  richtig;   die  verkürzte  Form     8y>5Jüt 

ist  auch  bei  den  Arabern  die  gewöhnliche,  s. 
schon  Belädhorl  290.    —    Die   arabische  Form 


x  O* 


^jy  L  für  Be(th)  Qardü  (283,  2236)  ist  wohl 
nur  durch  das  so  oft  damit  zusammen  genannte 

^JlJj  Ij  B$(th)  Zabhde  veranlaßt.  —    Die  Form 

Azadhafroz  (294)  steht  als  die  von  Tabart  ge- 
brauchte sicher;  nach  den  andern  Quellen 
(Hamza,   Belädhori)   könnte   etwa  noch  Dädh- 

afröz  in  Frage  kommen,  keinenfalls  Adharafröz. 
—  Warum  schreibt  Hoffmann  den  Kirchenvater 
nach  ostsyrischer  Weise  Aprem  mit  p?  Das 
sieht  ja  fast  aus,  als  sollte  dieser  Hort  der  Recht- 
gläubigkeit noch  zumNestorianer  gemacht  werden. 
Doch  es  wird  hohe  Zeit,  abzubrechen,  so  viel 


888         Gott  gel.  Anz.  1880.  Stack  28. 

Veranlassung  zu  weiteren  Bemerkungen  und  Er- 
örterungen der  überaus  reiche  Inhalt  des  Buches 
noch  böte.  Es  ist  zu  wünschen,  daß  jeder,  der 
sich  ernstlich  mit  Geschichte,  Geographie  und 
Religion  Vorderasiens  beschäftigt,  dasselbe  flei- 
ßig benutze.  Insbesondere  hoffe  ich  das  von 
den  Lesern  meiner  Tabarf-Uebersetzung ;  sie 
werden  darin  außerordentlich  viele  Ergänzungen 
und  auch  allerlei  Berichtigungen  des  von  mir 
Beigebrachten  finden. 

Dem  in  der  Vorrede  ausgesprochenen  Wun- 
sche, daß  wir  in  nicht  zu  ferner  Zeit  eine  neue, 
kritische  und  möglichst  vollständige  Ausgabe 
aller  syrischen  „Acta  martyrum  orientalium"  er- 
halten mögen,  Rann  ich  mich  nur  anschließen. 
Neues  syrisches  Material,  das  erreichbar  sein 
dürfte,  ist  immer  noch  vorhanden;  auch  wären 
wohl  einige  arabische  Bearbeitungen  heranzu- 
ziehn.  Hoffmann's  Buch  wird  auch  nach  dem 
Erscheinen  der  Originaltexte  einen  bleibenden 
Werth  behalten. 

Straßburg  i.  E.  Th.  Nöldeke. 

The  Life  and  Writings  of  Henry 
Thomas  Buckle  by  Alfred  H.  Huth.  Lon- 
don, Sampson  Low  &  Co.  1880.  2  voll.  V.  322 
und  IV.  320  S.    gr.  8°. 

Obwohl  die  „Geschichte  der  Civilisation  in 
England"  schon  eine  erhebliche  Literatur  her- 
vorgerufen hat,  wobei  auch  die  Persönlichkeit 
und  das  Leben  des  Autors  mehrfach  Gegen- 
stände der  Betrachtung  geworden  sind,  so 
fehlte  doch  bisher  eine  ausführliche  Mono- 
graphie wie  das  vorliegende  Werk,  welches  den 
Zweck  verfolgt  Buckle's  Leben  eingehender  als 
es  bisher  geschehen  ist  darzustellen  und  im 
Zusammenhang    damit    ganz    besonders    auch 


\ 


Huth,  Life  and  Writings  of  Buckle.     889 

seine  schriftstellerische  Thätigkeit  zu  beleuchten. 

Der  Verfasser  rühmt  in  der  Vorrede  die 
Bereitwilligkeit,  mit  welcher  die  Freunde 
Bnckle's  sein  Unternehmen  gefördert  und  ihm 
namentlich  die  Briefe  desselben  zur  Verfügung 
gestellt  haben.  Außerdem  benutzt  er  Buckle's 
Tagebücher  und  eine  große  Reihe  von  Berich- 
ten und  Mittheilungen  über  denselben.  Manches 
bringt  er  endlich  auch  aus  seiner  eigenen  Er- 
innerung bei  sowie  aus  den  Erzählungen  seiner 
Eltern,  welche  mit  Buckle  seit  1857  bekannt 
und  befreundet  waren. 

Aus  einer  wohlhabenden  Londoner  Kauf- 
mannsfamilie entsprossen,  blieb  Buckle  wegen 
seiner  Kränklichkeit  von  früh  an  auf  den  Um- 
gang mit  den  nächsten  Angehörigen  und  einem 
kleinen  Kreise  vertrauter  Bekannten  beschränkt; 
auch  die  Schule,  der  er  keine  Reize  abzuge- 
winnen vermochte,  besuchte  er  nicht  lange. 
Mit  19  Jahren  ward  er  durch  den  Tod  seines 
Vaters,  in  dessen  Geschäfte  er  kurze  Zeit  ge- 
arbeitet hatte,  unabhängig.  Von  nun  an  rich- 
tete er,  wie  er  selbst  später  erzählte,  ohne  eine 
Universität  oder  eine  ähnliche  Anstalt  zu  be- 
suchen, anch  ohne  sich  einem  bestimmten  Be- 
rufe zuzuwenden,  sein  ausschließliches  Augen- 
merk darauf,  mittels  einer  umfassenden  Lektüre 
den  Gang  der  menschlichen  Gultur  kennen  zu 
lernen  und  seine  Beobachtungen  hierüber  in 
einem  ausführlichen  und  —  wie  er  hoffte  — 
epochemachenden  Werke  niederzulegen.  Ohne 
Anleitung  machte  er  hierzu  jahrelange  Studien 
in  fast  allen  Zweigen  menschlicher  Wissenschaft, 
indem  er  trotz  seiner  Kränklichkeit  9  bis  10 
Stunden  täglich  der  Arbeit  widmete.  Am  15. 
Oktober  1842  schreibt  er  in  sein  Tagebuch: 
„Ich  bin  entschlossen  von  heute  an  meine  ganze 
Energie  dem  Studium  der  Geschichte  und  der 


890        Gott.  gel.  Adz.  1880.  Stück  28. 

Literatur  des  Mittelalters  zu  widmen.  Ich  bin 
darauf  geführt  nicht  eigentlich  wegen  des  Inter- 
esses, welches  der  Gegenstand  gewährt  —  ob- 
wohl derselbe  viel  verlockendes  hat  — ,  sondern 
weil  darüber  verhältnismäßig  so  wenig  bekannt 
und  veröffentlicht  ist".  Zehn  Jahre  später  hat- 
ten die  Arbeiten  Buckle's  schon  eine  bestimmte 
Gestalt  angenommen;  im  Februar  1852  schreibt 
er:  „Ich  bin  seit  lange  tiberzeugt,  daß  der  Fort- 
schritt bei  jedem  Volke  von  Principien  —  oder 
wie  man  gewöhnlich  sagt:  von  Gesetzen  —  be- 
herrschtwird, die  ebenso  regelmäßig  und  sicher 
wirken  wie  diejenigen,  welche  die  physikalische 
Natur  regieren!  Die  Entdeckung  dieser  Gesetze 
bildet  den  Gegenstand  meines  Werkes.  Mit  Rück- 
sicht hieraufstrebe  ich  danach  einen  allgemeinen 
Ueberblick  über  die  sittlichen  intellectuellen  und 
politischen  Eigentümlichkeiten  der  großen  Staa- 
ten Europa's  zu  gewinnen,  und  ich  hoffe  die 
Umstände  klarzustellen,  unter  denen  jene  Eigen- 
tümlichkeiten sich  gebildet  haben.  Dies  wird 
zu  der  Wahrnehmung  gewisser  Beziehungen  (re- 
lations) zwischen  den  verschiedenen  Epochen 
(stages)  führen,  durch  welche  jedes  Volk  in  sei- 
ner Entwicklung  hindurchgegangen  ist.  Diese 
allgemeinen  Beziehungen  beabsichtige  ich  dann 
im  einzelnen  zur  Anschauung  zu  bringen, 
und  durch  eine  sorgfältige  Zergliederung  der 
Geschichte  Englands  zu  zeigen,  wie  dieselben 
unsere  (d.i.  die  englische)  Civilisation  beherrscht 
haben,  und  wie  die  Gestalt,  welche  unsere  An- 
schauungen, unsere  Literatur,  unsere  Gesetze 
und  Sitten  in  jeder  Epoche  zeigen,  aus  der  je- 
desmal vorangehenden  naturgemäß  erwach- 
sen ist". 

Hier  sind,  wie  wir  sehen,  die  Hauptlinien 
des  Werkes  schon  deutlich  skizziert,  doch  erst 
im  Jahre  1857    erschien  der  erste  Band;,  dem 


Hath ,  Life  and  Writings  of  Buckle,     891 

1861  der  zweite  folgte.  Sie  enthalten  beide 
nun  die  Einleitung  und  auch  diese  nicht  voll- 
ständig, da  sie  auf  3  Bände  berechnet  war. 
Im  dritten  Bande  wollte  Buckle  —  wie  im 
zweiten  Schottland  und  Spanien  —  so  Deutsch* 
land  und  die  Vereinigten  Staaten  von  Nord- 
amerika zum  Gegenstand  seiner  Betrachtung 
machen,  während  den  übrigen  Bänden,  wie 
schon  in  jenem  Briefe  von  1852  angedeutet  ist, 
die  Anwendung  der  Methode  im  einzelnen  auf 
die  Geschichte  Englands  vorbehalten  blieb. 

Das  große  Aufsehen,  welches  die  „Geschichte 
der  Civilisation u  überall  hervorrief,  der  Ruhm 
und  die  vielen  Ehren,  welche  sich  auf  den  bis- 
her völlig  unbekannten  Autor  herniedersenkten, 
änderten  Buckle's  einfache  Lebensgewohnheiten 
nicht  und  unterbrachen  kaum  den  ruhigen  Ver- 
lauf seines  Lebens.  Nur  einmal  trat  er  vor  die 
Oeffentlichkeit,  indem  er  in  der  Königlichen 
Akademie  zu  London  eine  Vorlesung  hielt.  Er 
wählte  zu  derselben  eins  seiner  Lieblings« 
themata,  über  den  Einfluß  der  Frauen  auf  den 
Fortschritt  der  Bildung  (gedruckt  in  B.'s  Miscel- 
laneous and  posthumous  works  edited  by  Helen 
Taylor,  vol.  I).  Bald  darauf  erwies  Buckle,  daß 
es  ihm  nicht  an  Muth  fehle  für  die  Ideen  von 
Toleranz  und  Denkfreiheit,  die  er  in  seinem 
Werke  verfochten,  auch  im  einzelnen  concreten 
Fall  einzutreten,  indem  er  sich  eines  armen  Ar- 
beiters annahm,  der,  sonst  unbescholten,  von 
dem  Eichter  Sir  John  Coleridge  wegen  Läste- 
rungen gegen  das  Christenthum  mit  einer  schwe- 
ren Gefängnisstrafe  belegt  worden  war  (vgl. 
Letter  to  a  gentleman  respecting  Pooley's  case, 
in  den  Miscell.  and  posth.  works,  vol.  I). 

Um  dieselbe  Zeit  traf  ihn  ein  harter  Schlag, 
nämlich  der  Tod  der  lange  kränkelnden,  von 
ihm  zärtlich  geliebten  Mutter,  mit  der  er,  da  er 


892        Gdtt  gel.  Adz,  1880.  Stück  28. 

unverbeirathet  geblieben  war,  zusammen  lebte 
(1859  April  1).  Aach  Buckle's  eigene  ohnehin 
schwächliche  Constitution  war  durch  das  anhal- 
tende Arbeiten  im  höchsten  Grade  erschöpft, 
sodaß  es  för  ihn  nothwendig  wurde  sich  eine 
längere  Erholung  zu  gönnen.    Am   20.  Oktober 

1861  verlieft  er  England  nnd  wandte  sich  zu- 
erst nach  Aegypten,  von  wo  es  ihm  gelang 
durch  die  Wüste  nach  Palästina  vorzudringen. 
Während  seine  Stimmung  sich  mehr  und  mehr 
hob  und  auch  sein  körperliches  Befinden  sich 
immer  befriedigender  zu  gestalten  schien,  ergriff 
ihn  ein  typhöses  Fieber,  welches,  zu  spät  in 
seiner  wahren  Natur  erkannt,   ihn    am  29.  Mai 

1862  vierzigjährig  zu  Damascus  hinraffte.  — 
Auf  Einzelheiten  in  der  Darstellung  des  vor- 
liegenden Werkes  näher  einzugehen  ist  hier 
nicht  der  Ort;  wohl  aber  drängt  sich  dem  Le- 
ser die  Frage  auf,  ob  nicht  bei  einem  Lebens- 
laufe, wie  der  Buckle's  war,  der  Biograph  weit 
mehr  als  es  hier  geschieht  bestrebt  sein  mußte, 
das  innere  Leben  in  den  Vordergrund  zu  rücken 
und  speciell  den  Entwicklungsgang  der  vielen 
eigenartigen  Gedanken  und  Urtheile  Buckles, 
wie  sie  uns  aus  seinem  Werke  entgegentreten, 
im  einzelnen  zu  verfolgen  und  darzulegen?  Frei- 
lich konnte,  wie  Miss  Taylor  richtig  bemerkt, 
nur  ein  vertrauter  Genosse  der  Studien  und 
Ideen  Buckle's  dieser  Aufgabe  in  vollem  Maße 
gerecht  werden,  während  der  Verfasser  des  vor- 
liegenden Werkes  bei  Buckle's  Tode  noch  im 
Knabenalter  stand.  Aber  einen  gewissen  Er- 
satz konnten  jedenfalls  die  Briefe  bilden,  die 
ihm  in  großer  Anzahl  zur  Verfügung  standen. 
Hier  jedoch  ist  der  Autor  seines  Gegenstandes 
nicht  Herr  geworden:  er  druckt  die  Briefe  ab, 
aber  er  versucht  nicht  die  in  ihnen  hier  und 
dort  gegebenen  Aufschlüsse  und  Andeutungen 


Hath ,  Life  and  Writings  of  Buckle.     893 

zusammenzufassen  und  ans  ihnen  —  soweit 
möglich  —  ein  Bild  des  inneren  Entwicklungs- 
ganges seines  Helden  zn  gewinnen.  Sein  Werk 
ist  weniger  eine  Verarbeitung  als  eine  Zusam- 
menstellung des  zur  Verfügung  stehenden  Ma- 
terials) und  zwar  ist  für  diese  Zusammenstellung 
fast  ausschließlich  die  Zeitfolge  der  einzelnen 
Ereignisse  oder  Briefe  maßgebend  statt  der  in- 
neren Zusammengehörigkeit  der  Gegenstände. 
Auch  die  Auswahl  des  Stoffes  läßt  zu  wünschen 
übrig.  Eine  große  Zahl  der  aufgenommenen 
Briefe  ist  ohne  ein  besonderes  Interesse  und 
wäre  besser  fortgeblieben;  sehr  überflüssig  ist 
ferner  die  ausführliche  Beschreibung  des  Schach- 
turniers, an  dem  Buckle  1851  sich  betheiligte, 
und  die  aus  den  „London  Illustrated  News"  re- 
producierte  Liste  der  Theilnehmer,  Namen,  wel- 
che für  das  vorliegende  Werk  gänzlich  un- 
fruchtbar sind. 

Noch  sei  ein  Blick  auf  das  vierte  Kapitel 
gestattet,  wo  der  Autor  bei  der  Besprechung 
der  „-Geschichte  der  Civilisation  in  England" 
Buckle's  Verhältnis  zu  seinen  Vorgängern  und 
die  Stellung  seines  Buches  in  der  Literatur  un- 
tersucht. Er  bekämpft  zunächst  die  Ansicht, 
daß  Buckle  im  wesentlichen  auf  den  Schultern 
Comte's  stehe,  denn,  wie  er  ausführt,  ist  einmal 
der  Zweck  des  „Cours  de  Philosophie  positive" 
und  der  „History  of  Civilization"  ein  verschie- 
dener, zweitens  aber  berühren  sich  Comte  und 
Buckle  zwar  in  einer  großen  Menge  einzelner 
Punkte  von  meist  untergeordneter  Bedeutung, 
während  doch  die  Hauptgedanken,  die  leitenden 
Gesichtspunkte  bei  beiden  weit  von  einander 
abweichen.  Als  solche,  von  denen  Buckle  be- 
stimmte leitende  Gedanken  übernommen  habe, 
macht  der  Verfasser  Vico  für  den  Satz  namhaft : 
da»  Leben  des  Menschen  auf  der  Erde   beruht 


894        Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  28. 

nicht  anf  Willkür,  sondern  vollzieht  sich  nach 
einer  gewissen  Ordnung;  Montesquieu:  der 
Mensch  wird  durch  Naturgesetze  beherrscht ;  und 
Kant :  die  Gesetze  der  Geschichte  darf  man  nur 
aus  den  Handlungen  der  Menge,  nicht  aus  denen 
der  Individuen  ergründen  wollen*  Als  eigensten 
Gedanken  Buckle's  aber  hebt  der  Verfasser  vor 
allem  den  Satz  hervor:  die  Sittengesetze  sind 
abhängig  von  den  Gesetzen  der  intellectuellen  Welt. 

Ein  näheres  Eingehen  hierauf  würde  einer 
Besprechung  des  Buckle'schen  Gesehichtswerkes 
gleichkommen,  gehört  somit  nicht  hieher.  Aber 
Referent  kann  seine  Verwunderung  nicht  unter- 
drücken, daß  Huth  sich  so  sehr  über  die  Kritik 
beklagt,  welche  die  „Geschichte  der  Civilisation" 
gefunden,  und  die  Angriffe  der  Kritiker  tbeils 
auf  mangelhaftes  Verständnis,  theils  auf  bösen 
Willen  Neid  Engherzigkeit  u.  s.  w.  zurückführt, 
da  ihm  selbst  Buckle's  Werk  als  unverletzlich, 
alle  dessen  Gedanken  und  Lehren  als  schlech- 
terdings unwiderlegbar  und  zwingend  erscheinen. 
Um  dem  Unverstand  der  Kritiker  abzuhelfen, 
giebt  er  selbst  im  dritten  Kapitel  eine  Skizze 
des  Gedankenganges  und  der  leitenden  Ideen; 
aber  mag  auch  diese  Darlegung  richtig  sein,  so 
ist  es  doch  eine  ganz  andere  Frage,  ob  die  Ge- 
danken und  Lehren  Buckle's  selbst  richtig  seien, 
und  zwar  kann  diese  Frage  sicherlich  nicht 
durchaus  bejahend  beantwortet  werden,  nachdem 
—  um  nur  der  Beurtheilungen  Buckle's  in  Deutsch- 
land zu  gedenken  —  z.  B.  Droysen  „Ueber  Er- 
hebung der  Geschichte  zum  Bange  einer  Wissen- 
schaft" und  ein  Aufsatz  im  9.  Bande  der  „Preu- 
ßischen Jahrbücher*  über  „Englische  Geschichts- 
philosophie" auf  die  erheblichen  Fehler  der  Me- 
thode Buckle's  und  die  mangelhafte  philosophi- 
sche Schulung  seines  Geistes  hingewiesen  haben. 

In  einem  Anhang  beschäftigt  sich  Huth   mit 


.  j 


Berthold's  v.  Begensb.  Deutsche  Predigten.    895 

Glennie's  „Pilgrim  Memories",  am  zu  zeigen, 
daß  diese  Schrift  nicht  den  Ansprach  erheben 
darf,  Buckle's  Wesen  und  Gedanken  richtig  er- 
faßt and  wiedergegeben  zu  haben.  Es  folgt  dann 
noch  ein  schätzenswerthes  and  wie  es  scheint 
Tollständiges  Verzeichniß  der  Literatur  über 
Buckle  und  seine  Schriften  sowie  ein  branch- 
barer  Index.  Die  beiden  Bände  der  Biographie 
sind  vorn  je  durch  ein  Bildnis  Buckle's  geziert, 
welches  denselben  in  seinem  24.,  bezw.  35.  Le- 
bensjahre darstellt. 

Marburg.  Walter  Friedensburg. 


Berthold  von  Begensburg.  Vollstän- 
dige Ausgabe  seiner  deutschen  Predigten  mit 
Einleitungen  und  Anmerkungen  von  Franz 
Pfeiffer.  Zweiter  Band  von  Joseph  Strobl. 
Wien,  W.  Braumüller  1880.   XXX,  696  S.  gr.8° 

Der  Titel  giebt  zugleich  den  Inhalt  an,  nem- 
lich:  Predigten  36 — 71  nebst  Einleitung,  Les- 
arten und  Anmerkungen.  Danach  ist  Pfeiffers 
Plan  theils  beschränkt,  theils  erweitert.  Denn 
der  erste  Band  verhieß  1862:  „Vollständige  Aus- 
gabe seiner  Predigten",  also  auch  der  lateini- 
schen, die  jetzt  nicht  genannt  werden,  un^  „An- 
merkungen und  Wörterbuch".  Jetzt  ist  das 
Wörterbuch  ausgeschlossen,  dafür  sind  „Einlei- 
tung und  Lesarten"  neu  hinzugesetzt.  Die  Ein- 
leitung enthält  auf  20  Seiten  eine  Bechenschaft 
über  das  handschriftliche  Material  in  der  jetzt 
beliebten  Ausführlichkeit,  und  die  „Lesarten", 
die  mit  Anmerkungen  durchflochten  sind,  aber 
vorzugsweise  Varianten  enthalten,  füllen  400  eng- 
gedruckte Seiten.  So  hatte  Pfeiffer  die  Arbeit 
nicht  gemeint,   der   zwar  auch  Lesarten  geben 


896        Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stttck  28. 

wollte,  aber  Anmerkungen,  „die,  so  weit  es  no- 
ting scheint,  einen  Commentar  bringen  sollten, 
der  das  erklärt,  wozu  das  Wörterbuch  nicht  der 
Ort  ist".  Ueberdies  war  es  seine  Absicht,  eine 
erschöpfende  Charakteristik  Bertholds  und  seiner 
Beredsamkeit  zu  geben,  die  das  in  den  Fredigten 
Zerstreute  zu  einem  Gesammtbilde  zusammen 
fassen  sollte.  Der  jetzige  Herausgeber  entschul- 
digt sich,  daß  er  zu  einem  solchen  Gesammtbilde 
nur  Bruchstücke  bringe,  damit,  daß  es,  ohne  die 
lateinischen  Predigten  heranzuziehen,  nicht  mög- 
lich sei,  Pfeiffers  Vorhaben  auszuführen.  Auch 
seien  die  Predigten  des  Mittelalters  in  französi- 
scher und  englischer  Sprache  heranzuziehen,  von 
denen  er  leider  noch  zu  wenig  kenne,  um  einen 
Einfluß  auf  die  deutschen  Predigten  außer  Zwei- 
fel setzen  zu  können.  Wir  werden  deshalb  auf 
die  Herausgabe  der  lateinischen  Predigten  ver- 
tröstet, die  auf  dem  Titel  mit  Schweigen  flber- 
gangen  sind.  Ein  „Gesammtbild",  wie  es  Pfeiffer 
sich  dachte,  freilich  nur  dachte  und  auch  münd- 
lich nur  ganz  allgemein  gehalten  erwähnte,  hätte 
sich  auch  aus  den  deutschen  Predigten  entwerfen 
lassen  und  würde  vielleicht  auch  Leser  „außer- 
halb des  engeren  Fachkreises"  veranlaßt  haben, 
die  einzelnen  Züge  desselben  in  den  Predigten 
selbst  aufzusuchen  und  diese  zu  lesen,  da  das 
Buch, #rie  es  ist,  jetzt  wohl  nur  auf  ein  Stu- 
dium der  Fachgenossen  Aussicht  hat,  die  mit 
ihren  Specialfächern  und  auserwählten  Autoren 
beschäftigt  kaum  Zeit  finden  werden,  die  Pre- 
digten zu  lesen,  geschweige  die  Lesarten  zu  stu- 
dieren, und  jedenfalls  nicht  leisten  werden,  was 
der  Herausgeber  sich  auf  eine  ungewisse  Zu« 
kunft  aufgespart  hat.  K.  Goedeke. 

Für  die  Redaction  verantwortlich:  E.  Rehniach,  Director  d.  Gott.  gel.  Anz. 

Commissions- Verlag  der  Dieterich' sehen  Verlags -Buckhandlung. 

Druck  der  Dieter  ich' sehen  Univ.-  Buchdrucker*  (W.  Jfc  Kasstntr). 


897 

Gö  tti  ng  ische 

gelehrte    Anzeigen 

anter  der  Aufsicht 
der  Eönigl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Stück  29.        AUG  9  1880    21#  Juli   188°" 


Inhalt:  Zeitgenössische  Berichte  zur  Geschichte  Busslands.  Heraus- 
geg.  y.  E.  Herrmann.  Bd.  II.  Ton  G.  Schüren.  —  M.  W  lass  ah,  Zur 
Geschichte  der  Negotiorum  gestio.  Ton  E.  Holder.  —  Vardham&na's 
Ganaratnamahodadhif  ed.  by  J.  Eggeling.  Part.  I.  Von  Th.  Zacharku. 
—  D.  Hume,  Eine  Untersuchung  in  Betreff  des  menschl.  Verstandes, 
übersetzt  erläutert  etc.  von  J.  H.  Ton  Kirchmann.    Ton  0.  K  Müller. 

=  Eigenmächtiger  Abdruck  von  Artikeln  der  Gott.  gel.  Ans.  rerboten  ss 


Zeitgenössische  Berichte  zur  Ge- 
schichte Rußlands.  Herausgegeben  von 
Ernst  Herrmann.  Band  II:  Peter  der 
Große  und  der  Zare witsch  Alexei.  Vor- 
nehmlich nach  und  aus  der  gesandtschaftlichen 
Correspondenz  Friedr.  Christian  Weber's.  Leip- 
zig, Duncker  &  Humblot,  1880.  LXXXH.  und 
225  SS.  in  8°. 

Dieser  zweite  Band  der  Zeitgenössischen  Be- 
richte enthält  vornehmlich  Auszüge  aus  der  im 
Staatsarchiv  zu  Hannover  aufbewahrten  gesandt- 
schaftlichen Correspondenz  Webers,  des  be- 
kannten Verfassers  vom  Veränderten  Rußland. 
Vorausgestellt  hat  der  Herausgeber  drei  ab- 
handelnde Capitel:  1.  Sonderfriedensverhandlun- 
gen des  Zars  mit  Schweden  1716—1718;  2. 
der  Zarewitsch  Alexei  und  die  inneren  Wirren 

57 


898       Gott,  gel.  Anz.  1880.  Stück  29. 

1715— -1718;  3.  Verschiedenes  (allerlei  Persona- 
lien). Drei  Anhänge  bringen:  1.  einen  Bericht 
von  Lobs  über  den  russischen  Hof  im  J.  1715; 
2.  Relations  touchant  la  degradation  et  l'impri- 
sonnement  "du  Zarewitz,  3.  Nachtrag  zu  Vocke- 
rodt's  Denkschrift 

Worauf  sich  des  Herausgebers  Aufmerksam- 
keit bei  den  Relationen  von  Weber  besonders 
gerichtet  hat,  besagt  der  Titel.  Es  war  nicht 
beabsichtigt,  eine  vollständige  Uebersicht  ihres 
Inhalts  zu  geben.  Vielmehr  ist  gerade,  was  S. 
III.  die  eigentlich  gesandtschaftlich-politische 
Thätigkeit  genannt  wird,  außer  Betracht  geblie- 
ben, offenbar  mehr  aus  zufalligen,  als  methodi- 
schen Gründen,  da  der  Herausgeber  kein  Be- 
denken getragen  hat,  in  seinem  Gapitel  I.  Ac- 
ten des  Marburger  Archivs  durchweg  aus  dem 
für  Weber  abgelehnten  Gesichtspunkt  zu  be- 
handeln. 

Die  Auszüge,  so  wie  sie  vorliegen,  bringen 
vorwiegend  Beiträge  zur  inneren  und  Hof-Ge- 
schichte Rußlands  aus  den  Jahren  1714  bis 
1720.  Man  kann  über  die  Zweckmäßigkeit  sol- 
cher Publicationen,  über  den  Werth  von  Ge- 
sandtschaftsberichten und  die  beste  Art  ihrer 
Benutzung  sehr  abweichender  Ansicht  sein  und 
wird  doch  aus  der  Hand  des  vielverdienten 
Herausgebers  dankbar  hinnehmen  müssen,  was 
ursprünglich  offenbar  nicht  zur  Publication,  son- 
dern zu  gelegentlicher  Verwendung  excerpiert 
worden,  nun  aber  auch  zu  Nutz  und  Frommen 
Anderer  an's  Licht  gestellt  ist. 

Allerdings  darf  man  sich  durch  die  Namen 
Weber  und  Herrmann  nicht  verleiten  lassen,  das 
Buch  mit  zu  großen  Erwartungen  in  die  Hand 
zu  nehmen  und  ohne  Vorsicht  zu  benutzen. 

Weber  hielt  sich  in  Moskau  und  Petersburg 


Herrmann,  Zeitgenöss.  Ben  z.  Gesch.  Rußlands.  899 

zuerst  in  den  Jahren  1714  bis  1716,  sodann  von 
1718  bis  in  den  September  1719  auf.  Seine 
zweite  Anwesenheit  fällt  mit  der  Tragödie  von 
Alexei  und  deren  Nachspiel  zusammen,  trifft 
somit  in  eine  Zeit,  da  die  fremden  Gesandten 
von  Argwohn  und  Mißtranen  umstellt  waren 
und  alle  mit  einander  nicht  den  zehnten  Theil 
dessen  zu  erkundigen  vermochten,  was  uns  heute 
in  den  von  Ustrjalow  und  Jessipow  veröffent- 
lichten Quellen  vorliegt.  Zieht  man  ferner  in 
Betracht,  daß  der  Zar  den  größten  Theil  des 
Jahres  1716  nicht  dabeim  war;  daß  auch  in  den 
Jahren  1714  und  1715  gerade  die  wichtigeren 
in  Betracht  kommenden  Verhandlungen  nicht 
am  Zarischen  Hofe,  sondern  in  Hannover  und 
London  spielten;  daß  eine  zusammenfassende 
Darstellung  der  inneren,  russischen  Vorgänge 
von  Weber  selbst  in  seinem  Veränderten  Ruß- 
land bereits  vorweggenommen  ist,  so  ergiebt  sich 
ein  Maßstab  für  den  Werth  des  etwa  noch  un- 
bekannten Restes. 

Dazu  kommt,  daß  in  Webers  Berichten  über- 
haupt keine  Quelle  ersten  Ranges  vorliegt.  Der 
geheime  Zusammenhang  der  Dinge  ist  ihm  meist 
verborgen  und  im  Ganzen  ist  er  nur  ein,  aller- 
dings nicht  verächtlicher,  Zeitungsschreiber.  Das 
Beste  in  dem  vorliegenden  Bande  rührt  nicht 
einmal  von  ihm  selbst  her;  eines  der  interessan- 
testen Stücke,  No.  159,  Danzig  31.  Jan.  1720, 
kommt  auf  Schlippenbach's  Rechnung. 

Der  Herausgeber  hat  mit  Recht  auch  allerlei 
persönlichen  Angelegenheiten  einen  Platz  ge- 
gönnt, da  sich  die  Stellung  des  Berichterstatters 
in  der  russischen  Gesellschaft  und  zu  seinem 
Hofe  nun  ziemlich  deutlich  ergiebt.  Er  ist 
sicher  nie  zu  einem  Gefühl  maßvoller  Unab- 
hängigkeit gelangt    Von  einem  Gesandten  wird 

57* 


900       Gott  gel.  Anz.  1880.  Stück  29. 

man  über  gewisse  Verhältnisse  ein  freies  Ur- 
theil  wenigstens  in  officiellen  Depeschen  aller- 
dings nicht  erwarten.  Es  versteht  sich  von 
selbst,  daß  Areskin,  der  Leibarzt  des  Zaren,  und 
die  jacobitischen  Exulanten  überall  schlecht  weg- 
kommen, wie  die  letzteren  es  meist  wohl  auch 
verdient  haben,  indeß  merkt  man  die  Absicht, 
auch  wenn  man  sie  dem  Schreiber  nicht  zu 
strenge  anrechnet.  Bedenklicher  ist,  daß  er  mit- 
unter Dinge  verschwiegen  zu  haben  scheint,  die 
seinem  Hofe  und  den  Ministern,  besonders  Berns- 
dorff,  empfindlich  sein  konnten.  Ein  merkwür- 
diges Beispiel  findet  sich  in  No.  136.  St.  Peters- 
burg 6.  Mai  1718.  Auf  der  Hochzeit  des  jun- 
gen Grafen  Mussin-Puschkin  kommt  der  Zar  u.  a. 
auf  die  Frage  vom  Kaisertitel  und  äußert  sich 
sehr  discret  gegen  den  Baron  Loss,  der  weis- 
lich schweigt,  worauf  der  Discurs  auf  die  be- 
vorstehende Campagne  übergeht.  „Sie  (d.  h. 
der  Zar)  raisonnierten  den  Tag  mit  uns  Frem- 
den sehr  weitläuftig".  So  weit  der  Bericht  We- 
bers bei  Herrmann.  Nun  besitzen  wir  über  die- 
selben Vorgänge  im  Haager  Archiv  eine  se- 
crete Relation  von  de  Bie,  welche  zum  Theil 
auch  gedruckt  ist  [Materialien  zur  Geschichte 
der  russ.  Flotte  (russisch).  1865.  4,  153—155]. 
Darnach  wandte  sich  der  Zar  nach  einem  Ge- 
spräch mit  dem  Holländischen  Gesandten  an 
den  neben  demselben  sitzenden  Weber  mit  der 
Frage:  wie  es  mit  den  vom  General  Dücker  er- 
öffneten Unterhandlungen  (zwischen  Schweden 
und  England-Hannover)  stehe  und  als  der  An- 
geredete verwirrt  schwieg,  fuhr  der  Zar  mit 
scharfen  Reden  fort:  es  berühre  ihn  peinlich, 
daß  dergleichen  Unterhandlungen  vor  ihm  ge- 
heim gehalten  würden,  während  er  den  Ge- 
sandten  seiner  Alliirten   die  diplomatische  Cor- 


Herrmann,  Zeitgenöss.  Ber.  z.  Gesch.  Rußlands.  901 

respondenz  mit  Görtz  im  Original  vorgelegt 
habe;  eine  Behauptung,  aufweiche,  nach  deBie, 
Weber  genug  zu  antworten  gehabt  hätte,  wenn 
Ort  und  Zeit  es  zuließen.  Der  Zar  bemerkte: 
trotzdem  sei  er  von  Allem  unterrichtet  und 
wisse  auch,  daß  der  Secr.  Schrader  mit  Dücker 
nach  Gothenburg  gegangen  sei;  das  habe  er 
nicht  erwartet;  unterdessen  aber  suche  man 
ihm  gar  alle  Verbündete  abwendig  zu  ma- 
chen und  alles  nur,  um  sich  dafür  zu  rächen, 
daß  er  genöthigt  gewesen  sei,  Mecklenburg  mit 
seinen  Truppen  zu  besetzen;  den  König  von 
England  klage  er  nicht  an,  wohl  aber  dessen 
Minister.  Einer  der  Anwesenden,  es  dürfte  der 
preußische  Gesandte  gewesen  sein,  warf  da- 
zwischen :  Ja,  wenn  sich  Alles  voraussehen  ließ, 
wie  es  gekommen,  wäre  wohl  dem  König  von 
Dänemark  nicht  gestattet  worden,  sich  Bremens 
nnd  Verdens  (die  mittlerweile  in  hannoversche 
Hände  übergegangen  waren)  so  leichten  Kaufs 
zu  bemächtigen.  Der  Zar  hub  wieder  an:  er 
habe  es  immer  ehrlich  mit  seinen  Alliirten  ge- 
halten; jetzt  führe  er  schon  neun  Jahre  den 
Krieg  allein  und  werde  ihn  noch  neun  Jahre 
fortführen,  auch  wenn  alle  Verbündete  ihn  in 
Stich  ließen.  Abermals  fiel  Jemand  mit  der  Be- 
merkung ein:  in  Schweden  liege  eine  große 
Flotte  zum  Auslaufen  bereit.  Darauf  der  Zar: 
Wohl  möglich,  aber,  wenn  der  Oommandeur 
nicht  Herr  seiner  Bewegungen  ist  und  ein  Frem- 
der das  Steuer  führt,  so  richtet  er  nichts  aus. 
Damit  wollte  er  andeuten,  daß  Schweden  durch 
englisches  Geld  gerüstet  und  regiert  werde  und 
fügte  hinzu :  mit  seiner  Flotte  könne  er  ruhig 
im  Hafen  liegen  und  die  Schweden  unbeküm- 
mert hin-  und  herschwimmen  lassen,  so  lange 
ihr  Herz  danach  stände.    Nun   müßte  man  von 


902        Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  29. 

den  Constellationen  jener  Zeit  nichts  wissen, 
um  die  Bedentang  dieser  zarischen  Reden  zu 
verkennen;  zugleich  wird  Jedem,  der  mit  den 
damals  an  den  Höfen  von  Hannover  nnd  St. 
James  herrschenden  Intriguen  bekannt  ist,  die 
Adresse  einleuchten,  an  welche  der  Zar  seine 
Bemerkungen  gebracht  wissen  wollte  und  wie 
sie  vor  Allen  auf  Bernsdorff  zielten.  Was  de  Bie 
so  berichtet,  wird  von  Weber  selbst  in  einem 
am  Tage  seiner  Relation,  6.  Mai,  an  St.  Saphorin 
gerichteten  Schreiben  im  Allgemeinen  bestätigt: 
„Pendant  que  chacun  est  attentif  icy  ä  decouvrir 
fa  bonne  ou  mauvaise  fortune  des  criminels 
d'Etat  le  Zar  se  ronge  Pesprit  dans  la  pensee 
oü  il  est  (Tune  paix  particuliere  entre  l'Angleterre 
et  la  Suede,  je  pretens  en  avoir  des  avis  cer- 
tains et  il  me  Va  dit  luy  memeu.  Und  in  der 
directen  Relation  an  den  Hof  von  allem  keine 
Silbe ! 

Stände  das  unbedingt  fest,  so  wäre  damit 
immerhin  ein  Haltpunkt  gegeben.  Der  Ge- 
schichtschreiber kommt  nicht  selten  in  die  Lage, 
auch  in  unscheinbaren  Dingen  Gewißheit  fordern 
zu  müssen;  oft  haben  tausend  solcher  kleiner, 
mitunter  sehr  mühsam  zu  erwerbender,  Gewiß- 
heiten, zu  einander  zu  treten,  ehe  sich  ein  siche- 
res Urtheil  in  einer  ausschlaggebenden  Frage  er- 
giebt  und,  je  länger  die  Reihe  der  Vorfragen, 
um  so  unleidlicher  eine  Lücke,  am  unleidlich- 
sten, wenn  sie  ganz  ohne  Noth  sich  einstellt 
Hier  steht  nun  die  Sache  so,  daß  sich  mit  vol- 
ler Zuversicht  gar  nicht  entscheiden  läßt,  ob 
die  Unterlassung  dem  Berichterstatter  oder  dem 
Herausgeber  zur  Last  fällt.  Das  letztere  mag 
unwahrscheinlich  genug  sein,  da  der  Heraus- 
geber sich  nicht  versagt,  viel  weniger  erhebliche 
Dinge,   die  viel   weniger  unter  seinen   eigent- 


Herrmann,  ZeitgenBss.  Ber.  z.  Gesch.  Rußlands.  903 

lichen  Gesichtspunkt  fallen,  zur  Mittheilung  zu 
bringen  und  kaum  angenommen  werden  darf, 
daß  er  gerade  den  wichtigsten  Theil  jenes  Dis- 
cnrses  weggeschnitten  habe,  allein  unmöglich  ist 
es  doch  nicht  Und  damit  —  an  dem  einen 
Beispiel  —  ist  das  Gefühl  der  Unsicherheit  ge- 
kennzeichnet, mit  dem  man  solchen  Excerpten- 
Pablicationen  gegenübersteht  Der  an  sich  zwei- 
felhafte Werth  der  Weber'schen  Berichte  ist  nun 
vollends  in  Zweifel  gestellt. 

Dazu  kommt,  daß  nur  gewisse  Fundgruben 
ausgebeutet,  andere  unberührt  geblieben  sind. 
Es  ist  nicht  ersichtlich,  ob  nur  die  Manualacten 
Webers  oder  daneben  auch  seine  ausgefertigten 
Relationen  oder  bald  nur  die  einen,  bald  die 
andern  benutzt  wurden.  Auf  die  Manualacten 
scheinen  u.  a.  die  mitunter  beigesetzten  Blatt- 
ziffern zu  deuten;  auf  Benutzung  der  Originale 
der  Umstand ,  daß  viel  und  zwar  oft  sehr  wich- 
tige Bestandteile  dem  Herausgeber  entgangen 
sind,  was  bei  der  Hannoverschen  Ganzlei-  und 
Archivordnung,  welche  die  Materialien  sowohl 
für  Rescripte,  wie  für  Relationen,  ziemlich  strenge 
auseinanderhielt,  nicht  eben  befremden  kann. 
Die  Folgen  sind  bedauerliche  Lücken  und  Fehl- 
schlüsse. So  findet  sich  zu  Weber  an  Robethon, 
Riga.  31.  Jan.  1717  und  zwar  zum  Satz:  „je 
puis  vou8  assurer  que  284  (Menschikow)  n'a 
pas  oublie  les  mauvais  services,  que  je  lui  ai 
rendus  en  agissant  contre  lui  par  ordre  de  S. 
M.  il  y  a  pr&s  d'un  anu,  die  Erläuterung  ge- 
geben: „In  der  Stettiner  Angelegenheit".  Allein 
diese  hatte  für  den  Zar  und  Menschikow  schon 
im  J.  1714  und  zwar  ohne  besondere  Einmi- 
schung des  Hannoverschen  Hofes  ausgespielt. 
Dagegen  war  im  Sommer  1715  eine  geheime 
Ordre  an  Weber  ergangen,  auf  alle  Weise  zu 


904         Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  29. 

verbindern,  daß  Menschifcow  ein  Commando  in 
Deutschland  erhielte  (Rescr.  vom  1.  Juli/21.  Juni 
1715)  und  schon  im  August  stand  es  fest,  daß 
Scheremetew  commandieren  würde  (Rel.  vom  6. 
Aug.  P.  S.).  Diese  Schriftstücke  fehlen  ver- 
mutlich bei  den  Weberschen  Acten;  sie  finden 
sich  unter  Nord.  Krieg.  63. 

Von  den  Rescripten  ist  nur  gelegentlich  et- 
was beigezogen;  von  der  Correspondenz Webers 
mit  Robethon  ein  Theil;  von  den  Briefen  an 
Bernsdorff  wenig;  von  den  Relationen  an  St. 
Saphorin  nichts,  obwohl  sie  im  Auftrage  erstat- 
tet wurden  und  Manches  enthalten,  was  anderswo 
nicht  zu  finden  ist,  wie  denn  die  Lage  nach  des 
Zarewitsch  Tode  kaum  anderswo  so  meisterhaft 
zwischen  den  Zeilen  geschildert  ist,  wie  in  dem 
Schreiben  aus  Reval  vom  11/1  August,  zum 
Schluß:  „S.  M.  jouit  d'une  parfaite  sante.  Elle 
se  promenera  une  quinzaine  de  jours  en  mer 
pour  exercer  ses  matelots.  Elle  a  präsentement 
l'esprit  plus  tranquil,  ayant  remis  le  calme 
dans  son  Empire,  et  le  bon  Dieu  ayant  retirä 
le  Zarewitz  de  cette  vie  avant  que  S.  M.  J.  eut 
signe  la  sentence  de  mort,  que  124  Juges  ont 
prononc6e  contre  luytt. 

Kiel.  Juli.  C.  Schirren. 


Zur  Geschichte  der  negotiorum  ge- 
stio. Eine  rechtshistorische  Untersuchung  von 
Dr.  Moriz  Wlassak,  Docenten  der  Rechte 
an  der  Universität  Wien  (jetzt  außerordentl.  Pro- 
fessor in  Czernowitz).  Jena,  Verlag  von  Gustav 
Fischer  1879.     VII.  207  S.    8°. 

Zwei  Fragen  sind  es  hauptsächlich,  welche 
den  Verf.  beschäftigen: 


Wlassak,  Negotiorum  gestio.  905 

1)  welches  der  Ursprung  der  neg.  gestorum 
actio  ist,  d.  h.  ob  dieser  zu  suchen  ist  im  ins 
civile  oder  im  praetorischen  Edicte. 

2)  welches  das  ursprüngliche  Anwendungs- 
gebiet der  Klage  ist,  insbesondere 

a)  welche  Geschäfte  sie   begründen   sowie 

b)  wem  sie  ursprünglich  zusteht  (ob  nur 
dem  Geschäftsherrn  oder  auch  dem  Geschäfts- 
führer). 

Die  erste  Frage  hat  den  Verf.  zu  einer 
Untersuchung  „über  das  Verhältnis  des  Prätors 
zum  Civilrecht"  veranlaßt,  bis  zu  deren  Vorle- 
gung er  das  Urtheil  über  ihr  in  seiner  Schrift 
mitgetheiltes  Resultat  zurückzuhalten  bittet. 

Mit  vollstem  Rechte  geht  der  Verf.  aus  von 
der  Thateache,  daß  einerseits  die  Digesten  die 
negotiorum  gestio  im  Anschlüsse  an  den  Wort- 
laut des  Edicts  behandeln  und  andererseits  die 
in  ihr  wurzelnden  Actionen  unzweifelhaft  bonae 
fidei  actiones  im  eigentlichen  Sinne  sind.  Aus 
dem  ersteren  Umstände  schließt  der  Verf.  den 
prätori8chen  Ursprung  jener  Klagen ;  denn,  dies 
ergebe  die  angedeutete  für  sich  zu  veröffent- 
lichende Untersuchung,  wo  ein  Edict  existiere, 
habe  die  darauf  gestützte  Klage  ausnahmslos 
prätorischen  Charakter,  enthalte  nie  eine  iuris 
civilis  intentio.  Erst  im  Laufe  der  Zeit  sei  die 
n.  g.  „ein  Bestandteil  des  Civilrechts  geworden, 
so  daß  an  die  Stelle  der  anfänglich  in  factum 
in  einer  späteren  Periode  in  jus  concipierte, 
mit  dem  Beisatz  ex  fide  bona  versehene  Klagen 
getreten  sind  (S.  21)u.  Der  Erläuterung  des 
so  angenommenen  Entwicklungsgangs  ist  der 
§.  12  des  Buches  „der  Uebergang  praetorischer 
Sätze  in  das  Civilrecht"  gewidmet.  Der  Verf. 
vergleicht  einen  solchen  Uebergang  „mit  der 
Aufnahme  von  Sätzen  des  ius  gentium  in  das 


906        Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stttek  29. 

römische  Recht  und  mit  der  Reception  des  letz- 
teren in  den  deutschen  Ländern"  (S.  153  f.)  d.h. 
mit  zwei  Dingen,  die  in  Wirklichkeit  nicht  nur 
mit  jener  anderen  „Reception",  sondern  auch 
unter  sich  nichts  gemein  haben.  Durch  die  Re- 
ception des  römischen  Rechtes  wurde  dieses  aus 
einem  uns  fremden  zu  unserem  eigenen  Rechte; 
die  „Reception  des  ius  gentium"  dagegen  ist 
mit  seiner  römischen  Erkenntniß  und  Aner- 
kennung gegeben;  beschränkt  sich  das  ius  ci- 
vile auf  den  Verkehr  der  römischen  Bürger,  so 
ist  andererseits  weder  erweislich  noch  glaublich, 
daß  eine  einmal  für  den  Verkehr  der  Römer 
mit  Fremden  als  maßgebend  anerkannte  Norm 
erst  noch  einer  „Reception"  bedurft  habe,  um 
auch  fttr  den  Verkehr  der  Römer  unter  sich  zur 
Geltung  zu  kommen.  Was  aber  jene  Verwand- 
lung prätorischen  Rechtes  in  civiles  anlangt,  so 
scheint  der  Annahme  eines  zu  ihr  drängenden 
Bedürfnisses  die  Thatsache  zu  widersprechen, 
daß  im  Laufe  der  Entwicklung  der  Inhalt  des 
prätorischen  Edictes  selbst  mehr  und  mehr  die 
Natur  eines  wirklichen  und  definitiven  Rechtes 
annimmt,  daß  also  das  prätorische  Recht  ohne 
Abstreifung  seiner  edictalen  Form  immer  mehr 
eine  diese  überragende  Bedeutung  gewinnt.  In- 
dem also  das  Edictsrecht  als  solches  immer 
tiefer  im  allgemeinen  Rechtsbewußtsein  sich  ein- 
wurzelt und  immer  mehr  seinem  eigenen  Ur- 
heber über  den  Kopf  wächst,  so  ist  angesichts 
dieser  fortschreitenden  Givilisierung  des  Edicts 
eine  eigentliche  Verpflanzung  bestimmter  aus 
dem  Edicte  erwachsener  Rechtsverhältnisse  auf 
civilen  Boden  nicht  zu  erwarten  und  so  auch  in 
Wirklichkeit  schwerlich  wahrzunehmen.  Wenn 
sich  der  Verf.  auf  die  Analogie  des  in  das  ge- 
meine Kaufrecht  übergegangenen  Aedilenedictes 


Wlassak,  Negotiorum  gestio.  907 

beruft,  so  ergiebt  sieb  ans  seiner  eigenen  durch- 
aus zutreffenden  Charakteristik  dieser  That- 
sache  die  Unzulässigkeit  ihrer  analogen  Ver- 
werthnng  für  prätorisebes  Recht,  welchem  durch- 
aas nicht  gleich  dem  ädilitischen  die  Natur  eines 
Sonderrechtes  zukam.  Wenn  sich  der  Verf.  fer- 
ner auf  die  detaillierte  Ausgestaltung  prätori- 
scher  Institute  durch  die  Jurisprudenz  und  die 
civile  Natur  des  von  dieser  constatierten  Rech- 
tes beruft,  so  hat  hiergegen  schon  Krüger 
(Arch.  f.  civ.  Praxis  62.  S.  500)  Widerspruch 
erhoben;  ist  dem  prätorischen  gegenüber  die 
Auctorität  des  Civilrechts  eine  unbegrenztere,  so 
kann  doch  unmöglich  die  Auctorität  dessen, 
was  Deutung  prätorischer  Satzung  ist,  die  die- 
ser gezogenen  Grenzen  der  Geltung  über- 
schreiten. Indem  der  Verf.  die  civile  Natur  der 
bonae  fidei  actiones  als  etwas  schlechthin  fest- 
stehendes betrachtet,  sieht  er  sich  genöthigt  die 
negotiorum  gestorum  actio  ursprünglich  in  factum 
coneipirt  sein  zu  lassen.  Er  verfehlt  natürlich 
nicht  für  den  Uebergang  von  dieser  Formulie- 
rung zur  bonae  fidei  actio  und  damit  von  der 
prätorischen  zur  civilen  Natur  die  Doppelformeln 
beim  Depositum  und  Commodätum  anzuführen, 
ohne  sich  dadurch  irre  machen  zu  lassen,  daß 
im  Gegensatze  zu  diesen  Fällen  bei  der  nego- 
tiorum gestio  die  ursprüngliche  formula  in  fac- 
tum coneepta  spurlos  verschwunden  wäre.  Wei- 
tere von  ihm  erwähnte  Receptionsfölle  sind 

1)  das  Aufkommen  der  Givilklage  aus  dem 
Precarium;  vom  Entwickelungsgange,  den  der 
Verf.  für  die  n.  g.  annimmt,  unterscheidet  sich 
aber  dieser  Fall  nicht  nur  dadurch,  daß  auch  in 
ihm  das  Interdict  neben  der  Givilklage  stehen 
geblieben  ist,  sondern  vor  allem  beruht  diese 
auf  einem  ganz  anderen  Gesichtspunkte  als  je- 


908        Gott  gel.  Anz.  1880.  Stück  29. 

nes,   so   daß  hier  von  einer  Reception    keine 
Rede  sein  kann. 

2)  Die  Möglichkeit  gesetzlicher  Er- 
setzung prätorischer  Rechtsverhältnisse  durch 
civile  wird  niemand  bestreiten  wollen ,  weshalb 
die  lex  Junia  (und  vollends  das  Sc.  Juventianum, 
welches  mit  seinen  Erweiterungen  durch  Ausge- 
staltung civilrechtlicher  Klagen  einer  prä- 
torischen  Concurrenz  macht*)  nichts  beweist. 

3)  Endlich  beruft  sich  der  Verf.  auf  den 
Eigenthumserwerb  durch  Tradition,  welcher  als 
civiler  Erwerb  von  res  nee  maneipi  eine  par- 
tielle Ausdehnung  des  nach  prätorischem  Rechte 
an  allen  Arten  von  Sachen  stattfindenden  Er- 
werbes auf  das  ins  civile  sei.  Es  wäre  aber  wohl 
an  der  Zeit  der  Annahme,  daß  erst  „das  Civil- 
recht  der  späteren  Zeittt  einen  Eigenthumserwerb 
durch  Tradition  kenne  auf  den  Leib  zu  rücken**). 
Wie  anders  als  durch  Tradition  sollen  wir  ins- 
besondere seit  dem  Aufkommen  der  Münze  uns 
Geldzahlungen  vollzogen  denken?  Oder  soll  es 
etwa  bis  zum  Auftauchen  der  prätorischen  Ge- 
setzgebung am  Gelde  kein  Eigenthum  gegeben 
haben? 

So  können  wir  bis  auf  Weiteres  —  d.  h. 
insbesondere  bis  auf  die  etwaige  Beseitigung 
unserer  Bedenken  durch  die  in  Aussicht  ge- 
stellte Untersuchung  —  des  Verfassers  Recep- 
tionsgedanken  uns  nicht  aneignen,  müssen  viel- 
mehr die  Frage  aufwerfen,  ob  der  Verfasser  die 
Vereinbarkeit  des  edictalen  Ursprunges  mit  dem 
formularen  Charakter  der  negotiorum  gestorum 

*)  Dies  gilt  ebenso  von  der  Concurrenz  eines  pr&to- 
rischen  und  civilen  Rechtsmittels  zum  Schutze  der  Re- 
paratur eines  Weges. 

**)   8.   gegen   dieselbe  neuestens  namentlich  Bech- 
mann  Kauf  I.  S.  305 ff. 


Wlassak,  Negotiorum  gestio.  909 

actio  nicht  auf  einem  anderen  Punkte  hätte  su- 
chen, ob  er  nicht  die  Frage  hätte  a ui  werfen 
und  näher  untersuchen  müssen,  ob  wirklich  die 
bonae  fidei  actio  als  solche  so  nothwendig  dem 
ins  civile  entspringe  als  er  annimmt  Verglei- 
chen wir  die  bonae  fidei  actio  mit  der  civil- 
rechtlichen  condictio  einerseits,  der  prätori- 
schen  in  factum  actio  andererseits,  so  haben  die 
beiden  letzteren,  wie  auch  der  Verf.  betont,  das 
Gemeinsame,  daß  sie  bezüglich  des  Rechtspunk- 
tes den  Richter  schlechthin  der  höheren  Autori- 
tät des  ins  beziehungsweise  des  Magistrates 
unterordnen.  In  ganz  anderer  Art  ist  dagegen 
die  im  bonae  fidei  iudicium  maßgebende  bona 
fides  ein  Gegenstand  freien  richterlichen  Er- 
messens, so  daß  man  versucht  ist  zu  sagen,  beim 
strictum  iudicium  entscheide  der  Wille  des  Rech- 
tes, bei  der  in  factum  actio  der  des  Prätors, 
beim  bonae  fidei  iudicium  dagegen  der  eigene 
Wille  des  Richters.  Doch  wäre  dabei  ein  Dop- 
peltes übersehen.  Wann  etwas  ex  bona  fide 
geschuldet  sei,  ist  allerdings  keine  Frage  des 
strictum  ius,  aber  eben  so  wenig  eine  Frage 
richterlichen  Beliebens;  vielmehr  ist  es  eine 
Frage  der  Sitte  und  der  öffentlichen  Meinung, 
also  des  allgemeinen  wenngleich  noch  nicht  zur 
festen  Gestalt  einer  bestimmten  Rechtsnorm  ver- 
dichteten Willens.  Fragen  wir  uns  .aber,  was 
den  Richter  ermächtigt  den  noch  nicht  zu  einem 
schlechthin  zwingenden  erstarkten  allgemeinen 
Willen  zu  berücksichtigen,  so  ist  es  die  prätori- 
sche  Anweisung  in  der  Formel.  Ist  diese  un- 
zweifelhaft prätorischen  Ursprungs,  so  wird  man 
nicht  umbin  können  das  Gebot  der  richterlichen 
Berücksichtigung  der  bona  fides  auf  den  Prätor 
zurückzuführen.  Während  bei  der  in  factum 
actio   der  Richter    ein    Organ   des  prätorischen 


910        Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  29. 

Willens  ist,  fungiert  er  im  bonae  fidei  indicium 
als  Organ  des  allgemeinen  Willens,  aber  eines, 
soweit  es  sich  um  Berücksichtigung  der  bona 
fides  handelt,  erst  durch  den  Prätor  zum  äußer- 
lich zwingenden  erhobenen  allgemeinen  Willens. 
Die  Entstehung  des  bonae  fidei  iudicium  kann 
aber  eine  doppelte  sein.  Entweder  hat  auf 
Grund  eines  bestimmten  Thatbestandes  schon 
von  Rechtswegen  eine  Schuld  existiert;  der  Prä- 
tor hat  aber  durch  die  bonae  fidei  clausula 
den  Richter  bezüglich  ihrer  Beurtheilung  auf  die 
bona  fides  verwiesen.  Daß  die  ältesten  bonae 
fidei  indicia  modificierte  stricta  iudicia  sind, 
zeigt  die  Formel  des  bonae  fidei  iudicium,  welche 
nur  durch  die  beigefügte  bonae  fidei  clausula 
von  der  des  strictum  iudicium  sich  unterschei- 
det. Oder  aber  —  dies  ist  die  zweite  Ent- 
stehungsart von  bonae  fidei  iudicia  —  der  Prä- 
tor hat  ein  neues  iudicium  geschaffen,  jedoch 
nicht  so,  daß  er  wie  bei  rein  prätorischen  Kla- 
gen für  die  Ableitung  gewisser  Forderungen 
aus  gewissen  Thatbeständen  die  Verantwortung 
selbst  übernahm,  sondern  so,  daß  er  dieselbe 
wie  beim  strictum  iudicium  dem  Richter  über- 
ließ und  ihn  nur  anwies  ex  fide  bona  zu  ur- 
theilen,  d.  h.  die  Forderungen  des  nationalen 
Rechtsgefühles  als  Forderungen  des  Rechtes  zu 
behandeln.  Ein  solches  bonae  fidei  iudicium 
war  prätorischen  Ursprunges,  soferne  erst  der 
Prätor  die  Forderung  zur  klagbaren  erhoben 
hatte;  er  war  aber  damit  nur  einer  Forderung 
der  öffentlichen  Meinung,  des  nationalen  Ge- 
wissens nachgekommen,  und  nicht  seine  eigene 
Auctorität,  sondern  dieses  nationale  Gewissen 
sollte  die  richterliche  Beurtheilung  beherrschen, 
so  daß  das  charakteristische  Merkmal  eigentlich 
prätorischer  Klagen  hier  nicht  zutraf. 


Wlassak,  Negotiorum  gestio.  911 

Eine  Klage  dieser  Art  nan  erblicken  wir  in 
der  actio  negotiorum  gestoram.  Wer  fremder 
Angelegenheiten  angerufen  sich  annimmt,  wird 
in  der  Regel  sowohl  ein  Mann  von  rechtlicher 
Gesinnung  sein  als  auch  dem  dominus  negotii 
persönlich  nahe  stehen;  diesem  das  Resultat  der 
in  seinem  Interesse  unternommenen  Geschäfts- 
führung nicht  vorzuenthalten,  war  eine  selbst- 
verständliche Pflicht  des  Ehrenmanns  und  Freun- 
des, so  daft  es  zu  ihrer  Realisierung  eines  in- 
dicium nicht  bedurfte.  Wohl  aber  mochte  im 
Falle  erheblicher  vom  negotiorum  gestor  aufge- 
wendeter Kosten,  sowie  vollends,  wenn  diese 
den  erzielten  Nutzen  überstiegen,  die  Abrech- 
nung zwischen  beiden  zu  Irrungen  Anlaß  geben. 
War  der  Erfolg  des  Unternehmens  und  damit 
seine  nachträgliche  Genehmigung  seitens  des 
dominus  unsicher,  so  mochte  dies  abschrecken 
von  der  Befriedigung  eines  Bedürfnisses,  welches 
für  das  römische  Rechtsleben  in  ungleich  höhe- 
rem Maße  bestand  als  für  das  unsrige.  Daher 
die  prätorische  Einfährung  eines  iudicium  zur 
Beurtheilung  von  Verbindlichkeiten,  deren  prin- 
cipielle  Anerkennung  seitens  jedes  rechtlich 
Denkenden  sich  von  selbst  verstand,  deren  Fest* 
Stellung  im  einzelnen  Falle  jedoch  durch  eine 
unparteiische  Abwägung  seiner  verschiedenen 
Momente  bedingt  war. 

Unmöglich  können  wir  demnach  der  vom 
Verf.  vertretenen  Ansicht  beitreten,  daß  die  di- 
reeta  actio  älter  sei  als  die  contraria.  Daß  sie 
durch  Cicero  (Top.  XVII  §.  66)  nicht  bewiesen 
wird,  hebt  er  selbst  hervor,  und  ebenso,  daß  die 
Berichte  der  Juristen  über  die  Motive  des  Prä- 
tors geradezu  in  erster  Linie  an  die  contraria 
actio  denken  lassen.  Den  Hauptgrund,  weshalb 
der  Verf.  dennoch  die  contraria  actio  für  jünger 


912        Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  29. 

hält,  bildet  die  Analogie  des  commodatum  und 
depositum.  Bei  der  negotiorum  gestio  wissen 
wir  aber  eben  nichts  von  der  in  factum  actio, 
die  uns  bei  jenen  Verhältnissen  neben  der  bonae . 
fidei  actio  überliefert  ist,  und  der  durchaus  plau- 
sible Gedanke  an  ein  höheres  Alter  der  in  fac- 
tum actio  und  an  ihre  Abstammung  aus  einer 
keine  contraria  actio  kennenden  Zeit  vermag 
also  für  die  negotiorum  gestio  nichts  zu  bewei- 
sen. Wenn  sodann  der  Verf.  von  der  negotio- 
rum gestio  behauptet,  es  lasse  sich  kein  Fall 
denken,  wo  ein  Anspruch  des  dominus  von  vorn- 
herein ausgeschlossen  wäre,  wogegen  vielfach 
eine  contraria  actio  nicht  entstehe,  so  ist  dem 
entgegen  zu  halten,  daß  gerade  im  wichtigsten 
Falle  der  defensio  es  an  jedem  Stoffe  flir  eine 
actio  des  dominus  fehlt,  während  eine  solche 
des  gestor  um  so  dringenderes  Bedürfniß  ist 
Dieses  Bedürfniß  leugnet  freilich  der  Verf.  fftr 
die  ältere  Zeit,  da  der  älteste  negotiorum  gestor 
der  procurator  sei,  der  in  der  Regel  nicht  mit 
eigenem,  sondern  mit  dem  Gelde  des  dominus 
bezahlt  haben  werde. 

Das  eben  erwähnte  Argument  beruht  auf  des 
Verfassers  Ansicht  vom  ursprünglichen  Anwen- 
dungsgebiete der  Klage,  der  wir  uns  nunmehr 
zuwenden.  Mit  Berufung  darauf,  daß  das  Edict 
nirgends  das  Erforderniß  eigener  freier  Ent- 
schließung statuiere,  bezieht  er  es  auf  Jede 
Art  von  Geschäftsführung,  mochte  diese  nun 
ihre  Veranlassung  in  einem  privaten  Auftrage, 
amtlicher  Bestellung  oder  aber  weder  in  dem 
einen  noch  in  dem  anderen,  sondern  lediglich 
in  dem  freien  Entschlüsse  des  Gestors  oder 
sonstigen  Umständen  haben".  Dem  Einwurfe, 
daß  dem  sonstigen  Entwickelungsgange  die  An- 
nahme einer  späteren  Entstehung  der  besonderen 


Wlassak,  Negotiorum  gestio.  913 

Klagen  bezüglich  besonderer  Fälle  der  Führung 
fremder  Geschäfte  zuwiderlaufe,  sucht  der  Verf. 
durch  Berufung  auf  analoge  Fälle  zu  begegnen. 
Unbegreiflich  ist  es,  wie  er  angesichts  der  Man- 
cipation von  einer  „von  den  Proculianern  ange- 
regten Ausscheidung  der  emtio  venditio  aus 
dem  ursprünglich  Kauf  und  Tausch  umfassen- 
den Begriffe  der  permutatio"  reden  konnte  (vgl. 
Bechmann  Kauf  S.  5  ff.,  ein  wie  es  scheint 
dem  Verf.  unbekannt  gebliebenes  Werk !).  Gleiche 
Verwunderung  erregt  die  Zurückfübrung  der 
actio  vi  bonorum  raptorum  auf  eine  „Spaltung 
des  Diebstahlsbegriffsa. 

Ein  auffallender  Widerspruch  ist  es  übrigens, 
wenn  der  Verf.  das  Edict  in  erster  Linie  auf 
den  Fall  autorisierter  Vertretung  berechnet 
sein  läßt  und  zugleich  auf  ein  hohes  Alter  des- 
selben den  Passus  von  den  negotia  quae  cuius- 
que,  cum  is  moritur,  fuerint  anführt,  während 
doch  in  Fällen  dieser  letzten  Art  die  Geschäfts- 
führung unmöglich  eine  autorisierte  ist. 

Um  darzuthun,  daß  die  negotiorum  gestio  äl- 
ter sei  als  andere  Geschäftsführungsklagen,  be- 
handelt der  Verf.  das  Verhältniß  der  n.  g. 

1)  zum  Mandate.  Das  seiner  Meinung  ent- 
sprechende Altersverhältniß  beider  bezeuge  schon 
die  Thatsache,  „daß  wir  in  realen  Thatbeständen 
die  historisch  frühesten,  im  formlosen  Parteien« 
consens  den  am  spätesten  zur  Anerkennung  ge- 
langten Entstehungsgrund  von  Schuldverhältnis- 
sen zu  erblicken  haben".  So  seien  die  ältesten 
Geschäfte  „nicht  nur  Formal-,  sondern  zugleich 
auch  Realcontracte" ;  daneben  aber  „erscheinen 
in  ältester  Zeit  nur  solche  Thatbestände  als 
rechtlich  relevant,  denen  .  .  .  äußerliche  Faß- 
barkeit eigen  ist".  Selbst  Delictsschulden,  be- 
tont der  Verf.,  hätten    ursprünglich  durch  den 

58 


914        Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  29. 

äußern  Erfolg  als  solchen  hinreichend  begründet 
erschienen.  Jedenfalls  vermögen  aber  solche 
„älteste"  Anschauungen  für  die  Zeit  prätorischer 
Rechtsschöpfung  nichts  zu  entscheiden  und  wenn- 
gleich es  höchst  wahrscheinlich  ist,  daß  ursprüng- 
lich das  Mandat  nicht  ohne  die  Zuthat  einer 
stattgehabten  gestio  verpflichtete,  so  beweist  dies 
noch  keineswegs,  daß  die  mandatmäßig  über- 
nommene gestio  an  verpflichtender  Kraft  vor  der 
aus  eigenem  Antriebe  unternommenen  nichts 
voraus  hatte.  Ist  doch  die  condictio  sine  causa 
der  Darlehnsforderung  doch  wohl  nachgebildet. 

2)  Am  günstigsten  ist  der  Theorie  des  Ver- 
fassers die  Thatsache,  daß  die  Klagen  aus  der 
cura  nicht  der  tutelae,  sondern  der  neg.  gest 
actio  nachgebildet  oder  vielmehr  nach  seiner 
Annahme  eine  unmittelbare  Anwendung  dieser 
sind.  Daß  nach  dem  Wortlaute  des  Edictes 
die  Verwaltung  des  curator  unter  den  Begriff 
der  negotiorum  gestio  sich  subsumieren  ließ,  ist 
unzweifelhaft,  beweist  aber  nicht,  daß  bei  der 
Aufstellung  des  Edictes  der  Begriff  der  negotio- 
rum gestio  ebenso  allgemein  gedacht  als  ge- 
faßt war. 

3)  Für  die  aus  mehr  als  einem  Grunde  be- 
denkliche Annahme,  daß  tutelae  actio  erst  durch 
Abzweigung  aus  der  negotiorum  gestio  entstan- 
den sei,  beweist  nicht,  was  der  Verfasser  be- 
tont, daß  die  Klage  aus  der  cura  sich  auf  ne- 
gotiorum gestio  und  nicht,  wie  wir  erwarten, 
auf  die  Analogie  der  Tutel  gründet;  wiegtauch 
sachlich  diese  vor,  so  rechtfertigt  sich  doch  für 
die  Formulierung  der  Klage  die  Anknüpfung 
an  die  negotiorum  gestio  hinreichend  dadurch, 
daß  der  curator  eben  kein  tutor,  wohl  aber  ein 
Führer  fremder  Geschäfte  ist,  daß  also  die  Aus- 
dehnung der   neg.  gestorum  actio   auf  den  Fall 


Wlassak,  Negotiorum  gestio.  915 

der  cnra  formell  näher  lag  als  die  der  tu- 
telae  actio. 

Hat  so  der  Verf.  u.  E.  nicht  bewiesen,  daß 
die  negotiorum  gestorum  actio  die  Mutter  aller 
wegen  Geschäftsführung  existierenden  Klagen 
ist,  so  wird  ihm  doch  in  der  Annahme  zu  fol- 
gen sein,  daß  dem  Begriffe  der  negotiorum  gestio 
bestimmte  von  anderweitiger  Geschäftsführung 
sie  abgrenzende  Kriterien  fehlen;  negotiorum 
gestorum  actio  findet  statt  wegen  Führung  frem- 
der Geschäfte,  um  deren  willen  nicht  wegen 
ihres  besonderen  Charakters  besondere  Klagen 
existieren.  Verheißt  der  Prätor  ein  indicium 
für  den  Fall,  daß  einer  die  Geschäfte  eines  an- 
deren besorgt,  so  erklärt  er  damit,  daß  die  Ei- 
genschaft des  negotium  als  eines  alienum  für 
sich  verpflichtet,  also  nicht  blos  in  Verbindung 
mit  solchen  Umständen,  welche  bisher  sie  erst 
zu  einer  rechtlich  verpflichtenden  erhoben  hatten 
und  welche  neben  der  allgemeinen  Verpflich- 
tungskraft der  negotiorum  gestio  ihre  besondere 
Bedeutung  behalten. 

Auch  der  Verf.  nimmt  übrigens  bezüglich  der 
Geschäftsführungsklagen  nicht  blos  eine  fort- 
schreitende Specialisierung,  sondern  ebenso  um- 
gekehrt einen  Fortschritt  vom  Besonderen  zum 
Allgemeinen  an;  letzteren  namentlich  dadurch, 
daß  er  den  Praetor  zunächst  nur  an  den  Fall 
autorisierter  Vertretung  denken  und  damit  un- 
sere Klage  einen  eigenthtimlichqn  Kreislauf  be* 
schreiben  läßt,  kraft  dessen  gerade  ihr  ursprüng- 
licher Hauptfall  später  aus  ihrem  Anwendungs- 
gebiete ausscheidet.  Sodann  aber  läßt  er  sie 
ursprünglich  —  freilich  ohne  wirklichen  positi- 
ven Anhaltspunkt  —  auf  die  processualische 
Vertretung  beschränkt  sein  und  erblickt  gerade 
im  Proceßvertreter  einen  unzweideutigen  Zeugen 

58* 


916       Gott  gel.  Anz.  1880.  Stück  29. 

ihrer  Anwendung  auf  die  autorisierte  Vertretung 
wegen  ihrer  Anwendung  auf  das  Verhältniß  des 
procurator  zum  dominus  litis.  Daß  der  älteste 
Proceßvertreter  der  cognitor  gewesen,  läßt  er 
nicht  gelten.  Namentlich  drei  Dinge  sind  es, 
die  er  gegen  diese  Annahme  vorbringt,  nämlich 
1)  die  Undenkbarkeit,  daß  die  im  Obligationen- 
rechte nie  durchgedrungene  echte  Stellvertretung 
schon  im  älteren  Proceß  existiert  haben  sollte, 
sowie  2)  die  Thatsache,  daß  Tutoren  und  Cura 
toren  nicht  wie  Cognitoren,  sondern  wie  Procu- 
ratoren  behandelt  wurden,  endlich  3)  den  Fort- 
schritt, welchen  die  Cognitur  der  Procurator  ge- 
genüber bezeichne,  weshalb  im  Laufe  der  Ent- 
wickelung  nicht  etwa  die  Cognitoren  zu  Procu- 
ratoren,  sondern  gewisse  Procuratoren  zu  Cogni- 
toren geworden  seien.  Es  ist  aber  nicht  rich- 
tig, daß  der  Cognitor,  der  ja  gleichfalls  domi- 
nus litis  ist,  den  Begriff  der  echten  Stellvertre- 
tung verwirkliche,  und  daß  für  Vormünder 
nicht  die  Stellung  des  cognitor  maßgebend  war, 
beruhte  darauf,  daß  ihre  Bestellung  gleich  der 
des  procurator  für  den  Gegner  res  inter  alios 
acta  ist;  die  spätere  Gleichstellung  anderer  Ver- 
treter mit  den  Cognitoren  sodann  beruht  auf 
der  Gleichstellung  anderweitiger  Legitimation 
mit  der  Bestellung  gegenüber  dem  Gegner. 

Wäre  der  Werth  einer  Schrift  lediglich  zu 
bemessen  nach  der  Zahl  und  Bedeutung  ihrer 
sicheren  Resultate,  so  würden  wir  die  Arbeit 
des  Verfassers  recht  niedrig  taxieren  müssen. 
Wir  würden  ihr  aber  damit  entschieden  Unrecht 
thun  und  uns  in  auffallenden  Widerspruch 
setzen  zu  dem  Interesse  und  Genuß,  mit  wel- 
chem gleich  dem  Recensenten  gewiß  Viele  den 
Ausführungen  des  Verfassers  gefolgt  sind.  Die 
Arbeit  ist   flott    gedacht  und  flott  geschrieben; 


Vardham&na's  Ganaratnam.  ed.  by  Eggeling.    917 

sie  zeugt  von  höchst  lebendiger  Erfassung  ihres 
Stoffes  und  wenn  ihrem  Verfasser  der  Mnth  zu 
wissenschaftlichen  Wagnissen  in  hohem  Grade 
eigen  ist,  so  zeigt  ihn  uns  seine  Schrift  auch 
nicht  entblößt  von  der  Ausrüstung,  ohne  die  das 
Wagniß  Thorheit  ist.  Mit  lebhaftem  Interesse 
sehen  wir  weiteren  wissenschaftlichen  Unter- 
nehmungen desselben  entgegen  und  zweifeln 
nicht  daran,  daß  mit  der  Zeit  dieselben  mehr 
und  mehr  reife  Früchte  abwerfen  werden. 
Erlangen.  Eduard  Holder. 


Vardham&na's  Ganaratnamahodadhi, 
with  the  author's  commentary.  Edited,  with  cri- 
tical notes  and  indices,  by  Julius  Eggeling. 
Part  I  [adhyäya  I— HI,  197].  pp.  X,  240.  8°. 
London:  Trübner  &  Go.  Printed  for  the  Sans- 
krit Text  Society  by  Stephen  Austin  and  Sons, 
Hertford.    1879. 

Zwei  Arten  von  Gana  setzt  Pänini  in  seinen 
grammatischen  Kegeln  voraus:  dhätugana,  Wur- 
zelreihen, und  §abdagana,  Reihen  von  Wörtern. 
Für  jene,  die  Wurzeln,  besitzen  wir  längst  die 
ausgezeichnete  Publication  Westergaard's :  Ra- 
dices linguae  Sanscritae  (1841);  für  diese,  die 
Gana  im  engeren  Sinne  des  Wortes,  stand  uns 
bis  auf  die  jüngste  Zeit  nur  der  alphabetische 
Ganapätha  in  Böhtlingk's  Ausgabe  des  Pänini 
(1840),  welcher  hauptsächlich  auf  den  Angaben 
der  Calcuttaer  Herausgeber  des  Pänini  (1810) 
basiert,  zu  Gebote.  Es  muß  natürlich  von  gro- 
ßem Interesse  sein  zu  erfahren,  welche  Wörter 
Päqini  im  Auge  gehabt  hat,   wenn  er  in  einem 


918       Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  29. 

Sfitra  eine  Reihe  von  Wörtern,  auf  welche  ein 
und  dieselbe  Kegel  Anwendung  finden  soll,  mit 
dem  Anfangsworte  citiert;  hat  z.  B.  das  Wort 
Malina  in  dem  Gana  zu  P.  II,  4,  31  gestanden 
oder  nicht?  Ferner  erscheinen  in  den  Gana 
viele  Wörter,  die  in  der  Literatur  nicht  mehr 
nachweisbar  sind,  und  deren  Erklärung  nicht 
selten  Schwierigkeiten  bereitet.  Daß  aus  dem 
Vyäkarana-Mahäbhäshyam  des  Patanjali  nicht 
viel  zu  gewinnen  sein  werde,  war  schon  aus 
Aufrecht's  Bemerkungen  in  seinem  Catalog  der 
Oxforder  Sanskrithandschriften  (1859)  p.  160» 
zu  schließen;  und  seitdem  das  ganze  Werk  all- 
gemein zugänglich  geworden  ist  (1872),  hat  sich 
herausgestellt,  daß  es  noch  viel  weniger  giebt 
als  man  hätte  erwarten  können.  Für  den  gro- 
ßen Gana  ardharcädi  z.  B.  sichert  es  nur  — 
außer  dem  Worte  ardharca  selbst  —  die  drei 
Wörter  Mrshäpcma,  gomaya  und  saraha.  Unter 
diesen  Umständen  begrüßen  wir  das  Erscheinen 
des  zuerst  von  Böhtlingk  (Einl.  z.  P.  p.  XXXIX), 
dann  von  Goldstücker  (Pänini :  his  Place  etc.  p. 
177)  beschriebenen  Ganaratnamahodadhi,  da  die- 
ser, wie  es  scheint,  allein  im  Stande  ist,  uns 
näheren  Aufschluß  wenigstens  über  die  Bedeu- 
tung der  schwierigen  und  seltenen  Ga$a- Wörter 
zu  geben;  denn  welche  Gana  dem  Pänini  vor- 
lagen, als  er  seine  Grammatik  verfaßte,  erfahren 
wir  von  Vardhamäna  nicht,  wir  durften  es  auch 
von  einem  Grammatiker,  der  im  12.  Jh.  n.  Chr. 
lebte,  der  seine  metrische  Version  des  Gana- 
pätha  gar  nicht  für  Pänini's  Werk,  sondern  für 
eine  uns  unbekannte  moderne  Grammatik  schrieb, 
nicht  erwarten,  und  wir  müssen  die  Hoffnung 
aufgeben,  jemals  von  dem  genauen  Wortlaut 
der  Gana  des  Pänini  Eenntniß  zu  erlangen,  falls 
wir   nicht  an   eine  große  Treue  der  indischen 


Yardhamäna's  Ganaratnam.  ed.  by  Eggeling.   919 

Tradition  in  grammatischen  Dingen  glauben  nnd 
annehmen  wollen,  daß  etwa  dieKägikä,  der  äl- 
teste nns  erhaltene  commentarios  perpetuus  zum 
P.,  die  Gana  in  ihrer  ursprünglichen  Fassung 
vorführt  Wenn  wir  aber  bedenken,  daß  mancher 
Gana  als  eine  unbegrenzter  Erweiterung  ausge- 
setzte Beispielsammlung  (äkrtigana  vgl.  Gana- 
ratnam. p.  46,  10 ;  Gegensatz  wohl  niyato  ganah 
p.  168,  12)  bezeichnet  wird;  wenn  wir  sehen, 
wie  spätere  Grammatiker,  selbst  solche,  welche 
fast  gänzlich  von  P.  abhängen,  von  sonstigen 
Aenderungen  abgesehen  die  Gana  sogar  mit 
einem  anderen  Worte  beginnen  als  Pänini:  so 
wird  unser  Glaube  an  eine  sichere  Ueberlieferung 
der  Gana-Wörter  beträchtlich  erschüttert,  und 
wir  werden  uns  hüten  irgend  eines  der  im  über- 
lieferten Ganapätha  enthaltenen  Wörter,  mit 
Ausnahme  des  ersten,  als  für  Pänini's  Zeit  gül- 
tig anzusehen. 

Der  Hauptwerth  von  Vardhamäna's  Gana- 
ratnamahodadhi  liegt  für  uns  auf  dem  Gebiete 
der  Lexicographie ;  und  in  dieser  Hinsicht  ist  das 
Werk  bereits  von  Goldstücker  in  seinem  unvoll- 
endeten Sanskrit  English  Dictionary  benutzt  wor- 
den. Vardhamäna  erklärt  eine  große  Anzahl  von 
schwierigen  Gana- Wörtern  vom  Standpunkte  der 
indischen  Grammatik  aus;  er  giebt  die  Bedeu- 
tung an,  soweit  dieselbe  nicht  von  selbst  klar 
ist,  und  citiert  endlich  eine  Menge  Stellen  — 
auch  aus  dem  Veda,  was  besonders  hervorzuheben 
— .  als  Belege.  Freilich  ist  es  ihm  nicht  überall 
gelungen,  die  richtige  Erklärung  der  Wörter  zu 
geben,  denn  zu  seiner  Zeit  waren  sie  längst  nicht 
mehr  im  lebendigen  Gebrauche :  Citate  aus  Kunst- 
gedichten zeigen  nur,  wie  die  Wörter  von  den 
betreffenden  Dichtern  aufgefaßt  wurden,  im  übri- 
gen sind  sie  von  zweifelhaftem  Werthe.  Vardha- 


920        Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  29. 

mäna  verdankt  seine  Gelehrsamkeit  wohl  haupt- 
sächlich denjenigen  Grammatikern,  welche  er  im 
zweiten  Verse  der  Einleitung  preist;  da  ihre 
Werke  nur  zum  Theil  erhalten  oder  bis  jetzt  be- 
kannt geworden  sind,  so  bietet  seine  Aufzählung 
ein  gewisses  Interesse.  Es  werden  genannt  Qä- 
läturiya  d.  h.  Pänini,  Qakatängaja  oder  Qäka- 
täyana,  Gandragomin  (über  dessen  Grammatik 
wir  bald  Näheres  aus  Indien  zu  erfahren  hoffen), 
Digvastra  d.  h.  Devanandin  (vgl.  Nandin  p.  84. 
212.  Zeitschrift  der  D.  M.  G.  28,  114),  Bhartrhari, 
Verfasser  des  Väkyapadtyam  u.  s.  w.,  Vämana, 
Verfasser  des  Avigräntavidyädharavyäkaranam 
(vgl.  Vi§räntanyäsa  p.  131,  15.  167,  10),  Bhoja, 
bekannt  als  Autor  des  Sarasvatikanthäbharanam; 
endlich  der  dipakakartä  d.  h.  Qrlbhadre§varasüri 
(vgl.  p.  177,7),  ein  Zeitgenosse  des  Vardhamäna 
(?  ädhunika  p.  2,  14).  Im  Gommentare  nennt 
Vardhamäna  noch  den  Qivasvämin,Kätyäyanaund 
Patanjali.  Nach  Böhtlingk  Einl.  z.  P.  p.  XL, 
dem  auch  Eggeling  Preface  p.  IX  sich  anschließt, 
ist  der  Ganaratnamahodadhi  nicht  zu  Pänini's 
Werke,  sondern  zu  irgend  einer  neueren  Gramma- 
tik bestimmt  gewesen:  Referent  ist  der  Ansicht, 
daß  sich  Vardhamäna  allerdings  in  der  Anord- 
nung der  Gana,  in  der  grammatischen  Termino- 
logie u.  s.  w.  an  einen  bestimmten,  bis  jetzt  un- 
bekannten Grammatiker  angeschlossen,  die  Ga^a 
selbst  aber  aus  den  verschiedensten  Quellen  zu- 
sammengetragen hat.  Für  manche  Gana  führt 
er  die  Autoritäten  an,  Bhoja  für  Mmgukädi^  vrn- 
därakädi,  matallikädi  und  khasücyädi  p.  151,  3. 
156,  11,  Gandra,  Durga  u.  s.  w.  für  nabhrädadi 
p.  191,  10  (Andere  beginnen  diesen  Gana  mit 
näka  oder  ndkha;  bei  Pänini  stehen  die  Wörter 
im  Sdtra),  Candra  und  Bhoja  für  sa  oder  scmäna 
vor  rüpa  u.  s.  w.  p.  192  (s.  Beiträge  z.  Kunde 


Vardhamäna's  Ganaratnam.  ed.  by  Eggeling.  921 

d.  idg.  Sprr.  V,  43),  vgl.  endlich  Arunadatta  p. 
119,  16  und  Qakatängaja  in  III,  180,  p.  218. 
Man  sollte  übrigens  glauben,  daß  Vardhamäna 
im  Anfange  seines  Werkes  den  Grammatiker, 
dem  er  sich  in  der  Folge  stillschweigend  an- 
schließt, genannt  haben  müsse;  and  wenn  der 
Anonymus  sich  unter  denen  befindet,  welche  im 
2.  Einleitungs  verse  an  der  Spitze  stehen,  so 
möchte  man  vermuthen,  daß  es  der  an  letzter 
Stelle  genannte  Bhoja  ist,  und  zwar  weil  dieser 
Grammatiker  wenigstens  in  dem  bisher  veröffent- 
lichten Theile  des  Ganaratnamahodadhi  am  hau- 

• 

figsten  citiert  wird,  nämlich  etwa  50  Mal.  Auch 
in  anderen  Werken  wird  eine  (angeblich)  von 
Bhoja  verfaßte  Grammatik  häufig  erwähnt;  so 
z.  B.  von  Devaräjayajvan  in  der  Einleitung  zum 
Nighantubhäshya  (Bhojaräjiyam  vyäkaranam). 
Dem  Schreiber  dieser  Zeilen  ist  nur  eininCata- 
logen  oft  aufgeführtes  Bhojavyäkaranam  bekannt, 
welches  von  Vinayasägara,  einem  Jaina,  im  Auf- 
trage eines  Königs  Bhoja,  Sohnes  des  Bhära- 
malla,  verfaßt  ist ;  es  besteht  aus  mehr  als  2000 
Versen  und  basiert  im  Wesentlichen  auf  dem 
Särasvatavyäkaranam.  Das  von  Vardhamäna  und 
Anderen  citierte,  ohne  Zweifel  in  Sütra  abge- 
faßte (vgl.  p.  89,  1.  130,  12.  176,  13.  222,  10. 
228, 12)  Bhojavyäkaranam  ist  noch  aufzufinden. 
Von  dem  Vyäkaranam,  das  Vardhamäna  bei  sei- 
ner Arbeit  zu  Grunde  legte  —  sei  es  nun  das 
Bhojavyäkaranam  gewesen  oder  nicht  —  können 
wir  uns  nach  dem  was  bis  jetzt  vom  Ganara- 
tnamahodadhi veröffentlicht  ist,  nur  schwer  eine 
Vorstellung  machen,  zumal  da  wir  nicht  genau 
wissen,  inwieweit  Vardhamäna's  Anordnung  der 
Gana  mit  der  Anordnung  des  Stoffes  in  der  un- 
bekannten Grammatik  harmoniert.  Nur  so  viel 
liegt  auf  der  Hand,  daß  sich  der  Anonymus  ia 


922        Gott.  gel.  Adz.  1880.  Stück  29. 

der  Terminologie  nicht  weit  vonPänini  entfernt 
haben  kann.  In  Einzelheiten  weicht  er  von  P. 
ab  und  berührt  sich  da  vielfach  mit  anderen, 
späteren  Grammatikern,  yut  gebraucht  er,  wie 
Andere  idut,  für  P.  ghi,  p.  122,  not.  3.  at  fttr  P. 
tap  p.  68,  vgl.  hat  p.  162,  1.  163,  15.  däyan  p. 
95.  ßkan  161,  10  thikan  235,  15.  akari  161, 15. 
201,  3.  atan  163, 2.  ghyan  175, 2  vgl.  Vopadeva, 
und  Kät.  IV,  2,  35.  6,  59.  —   tana  p.  181,  8. 

193,  15.  17. 

Vardhamäna  citiert  eine  große  Anzahl  von 
Autoren  und  Werken ;  und  da  wir  die  Abfassungs- 
zeit des  Ganaratnamahodadhi  kennen  —  1140 
A.  D.  — ,  so  sind  diese  Citate  fttr  uns  nicht  ohne 
Interesse.  Die  folgenden  Namen  mögen  hier  eine 
Stelle  finden  (die  im  Texte  nicht  ausdrücklich 
genannten  sind  in  Klammern  eingeschlossen): 
Ajaya  p.  183.  Ajitadeväcärya  175.    Anarghyarä- 

f^havam.  [Eatantram.]  Kädambarl  13.  Kälidäsa; 
ein  Citat  aus  dem  achten  Sarga  des  Kumära- 
sambhava  findet  sich  p.  119,  8|.  Kumärila  112. 
Jayäditya  42.  114.  Jämbavatlharanam  12.  Ji- 
nendrabuddhi  219.     Tribhuvanamänikyacaritam 

194.  Dhananjaya  97.  Parimala  117.  Päräyanikäh 
46;  die  Stelle  stammt  wohl  aus  der  Kä^ikä  zu 
P.  8, 3,  48.  [PriyadarQikä.]  Ratnamati  45. 73.  91. 
153,  ein  Grammatiker,  der  anderwärts  einBauddha 
genannt  wird.  [Räjagekhara's  Bälarämäyanam.] 
Vardhamäna  citiert  sich  selbst  139.  182.  183; 
verfaßte  künstliche  Gedichte:  Jcriyäguptake  190, 
schrieb  ein  Siddharäjavarnanam  235.  —  Säga- 
racandra  106.  115.  144.    Sudhäkara  41.  162. 

In  der  Nachweisung  der  citierten  Stellen  hat 
Eggeling  Außerordentliches  geleistet ;  selbst 
Werke,  die  noch  ungedruckt  oder  doch  nicht  all- 
gemein zugänglich  sind,  finden  sich  in  den  No- 
ten angeführt    Nur  hätten  wir  mehr  Verweise 


Vardhamana's  Ganaratnam.  ed.  by  Eggeling.   933 

auf  Pänini  und  seine  Commentatoren  gern  ge- 
sehen ;  insbesondere  bei  jeder  Regel  des  Anony- 
mus, dem  Vardhamäna  folgt,  einen  Verweis  auf 
das  betreffende  Sütra  des  Pänini.  p.  10,  5,  kac- 
eana  jivati  te  mala  vgl.  den  (loka  in  der  KäQ. 
P.  3,  3,  153.  —  p.  20,  4  uta°  vgl.  ebendaselbst 
P.  3,  3,  154.  152.  Das  ungenau  gegebene  ve- 
dische  Gitat  p.  31,  15  ans  der  Väj.  S.  schöpfte 
Vardhamäna  wohl  ans  Bhäshya  (oder  Käfikä) 
zu  P.  6,  3,  109.  8,  1,  56. 

Außer  Vardhamana's  Werk  hat  es  gewiß  noeh 
andere  Versificierungen  der  Gana  gegeben  und 
sie  würden,  wenn  aufgefunden,  vielleicht  über 
Manches  Licht  verbreiten,  was  im  Ganaratnama- 
hodadhi  noch  dunkel  ist.  Spuren  von  metrischen 
Gana  sind  nicht  selten,  vgl.  p.  177,  8.  svasrädi 
Eätantram  p.  40.  Der  von  Räjendraläla  Mitra, 
Descriptive  Catalogue  (Calcutta  1877)  p.  13  be- 
schriebene Ganapätha  scheint  hierher  zu  gehören. 
Ein  ganz  modernes  Werk  über  dieGa^a  in  Ver- 
sen ist  die  von  Eggeling  für  die  letzten  5  Bogen 
benutzte  Ganaratnävalf  des  Bhatta  Yajne^vara, 
Baroda  1874,  die  sich  an  die  Grammatik  des 
Pänini  anschließt  (8  adhyäya,  226  gana)  und  zum 
großen  Theil  aus  dem  Ganaratnamahodadhi  ge- 
schöpft ist  (asya  granthasya  nirmäne  Ganaratna- 
mahodadhih  \  abhün  mukhyah  sahäyah).  Yajne$- 
vara  hatte  sich  schon  vor  dieser  Publication  durch 
seinen  Äryavidyäsudhäkara  (Bombay  1868)  vor- 
teilhaft bekannt  gemacht. 

Eggeling's  Ausgabe  des  Ganaratnamahodadhi 
ist  eine  in  jeder  Beziehung  musterhafte  Leistung. 
Wir  hoffen  auf  eine  baldige  Vollendung  des  Wer- 
kes; mögen  die  Preface  p.  IX  in  Aussicht  ge- 
stellten Indices,  durch  welche  dasselbe  erst  brauch- 
bar gemacht  wird,  nicht  ausbleiben  und  noch  um 
ein  alphabetisches  Verzeichniß  der  citierten  Stel- 


924        Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  29. 

len,  Autoren  und  Werke  vermehrt  werden.  Druck 
und  Ausstattung  des  Werkes  sind  vortrefflich 
und  bestätigen  nur  den  alten  Ruf  der  Firma 
Stephen  Austin  &  Sons.  —  p.  45,  5  würden  wir 
väkye  (Lesart  der  Handschrift  C)  in  den  Text 
setzen,  p.  46,  5  ekesham  Druckfehler  statt 
eteshäm?  p.  104,  14  ist  vermuthlich  samjfiäyäm 
ashtanah  zu  schreiben  wie  170,  8. 

Der  Ganaratnamahodadhi  erscheint  unter  den 
Auspicien  und  auf  Kosten  der  von  Goldstücker 
begründeten  Sanskrit  Text  Society.  Leider  wird 
diese  Gesellschaft,  wie  uns  Eggeling  Preface  p. 
X  berichtet,  mit  dem  Drucke  des  vorliegenden 
Werkes  ihre  Thätigkeit  beschließen. 

Greifswald.  Th.  Zachariae. 


Eine  Untersuchung  in  Betreff  des 
menschlichen  Verstandes  von  David 
Hume,  Esq.  Uebersetzt,  erläutert  und  mit 
einer  Lebensbeschreibung  Hume's  versehen  von 
J.  H.  von  Kirchmann.  Dritte  Auflage. 
Leipzig,  1880.  Erich  Koschny  (L.  Heimann's 
Verlag).    X  u.  214  Seiten.    8°. 

Man  ist  zuweilen  der  Ansicht,  daß  es  haupt- 
sächlich nur  unseren  Nachbarn  jenseits  der  Vo- 
gesen  vorbehalten  sei,  bei  Uebertragung  aus« 
ländischer  Werke  Sinn  störenden  Mißverständ- 
nissen nicht  ganz  zu  entgehen.  Dieses  Vorur- 
theil  gründlichst  zu  beseitigen,  ist  das  Verdienst 
und  zwar  das  einzige  Verdienst  der  vorliegen- 
den Uebersetzung  der  Hume'schen  Hauptschrift ; 
und  als  eine  in  diesem  Sinne  hervorragende 
Leistung  möge  dieselbe  denn  ausnahmsweise 
hier  einer  kurzen  Würdigung  unterzogen  wer- 
den. —  Von  ziemlicher  Wichtigkeit  für  dasVer- 


Home  tibersetzt  von  J.  H.  v.  Kirchmann.    925 

ständniß  der  weiteren  Ausführungen  Hume's  ist 
es,  zu  wissen,  daß  er  2  Arten  von  Beweisfüh- 
rungen annimmt,  deren  eine  sich  auf  Relationen 
zwischen  Vorstellungen,  und  deren  andere  sich 
auf  Thatsachen  beziehe,  und  daß  er  dieselben 
als  demonstrative  und  moralische  Beweisführun- 
gen von  einander  unterscheidet.  Die  hierauf 
bezügliche  höchst  verständliche  Stelle  lautet  fol- 
gendermaßen: »all  reasonings  may  be  divided 
into  two  kinds,  namely  demonstrative  reasoning 
or  that  concerning  relations  of  ideas  and  moral 
reasoning  or  that  concerning  matter  of  fact  and 
existence €.  v.  Kirchmann  übersetzt  (S.  37): 
„Alle  Begründungen  zerfallen  in  zwei  Arten, 
nämlich  in  beweisende,  d.  h.  in  solche,  welche 
sich  auf  Begriffe  und  moralische  Gründe  stützen, 
und  2)  in  Begründungen  von  Thatsachen  und 
Dasein".  Es  ist  wohl  kaum  möglich,  einen  ein- 
fachen und  wichtigen  Satz  gründlicher  mißzu- 
verstehen.  Weiterhin  bemerkt  Hume,  daß,  wenn 
der  Sohn  eines  längst  verstorbenen  oder  abwe- 
senden Freundes  vor  uns  erschiene,  alsdann  die 
Vorstellung  des  Verstorbenen  oder  Abwesenden 
in  uns  mit  großer  Lebhaftigkeit  wachgerufen 
werden  würde  (»Suppose,  the  son  of  a  friend, 
who  had  been  long  dead  or  absent,  were  pre- 
sented to  us;  it  is  evident,  that  this  object 
would  instantly  revive  its  correlative  idea  and 
recal  to  our  thoughts  all  past  intimacies  and 
familiarities«).  Ohne  Ueberlegung  tibersetzt  (S. 
55)  der  Herausgeber:  „Wenn  der  todte  oder 
abwesende  Sohn  eines  Freundes  vor  uns  er- 
schiene" u.  s.  w.  In  der  Aeußerung  Hume's 
»Our  authority  over  our  sentiments  and  passions 
is  much  weaker  than  that  over  our  ideas«  giebt 
v.  K.  (S.  68)  »weaker«  mit  „früher"  wieder  (!), 
so   daß   die  Uebersetzung   des  Satzes  ungefähr 


926        Gott  gel.  Anz.  1880.  Stück  29. 

das  Gegentheil  dessen  aussagt,  was  Harne 
meint,  und  überdies  auch  der  darauf  folgende 
Satz  allen  Sinn  verliert  Ganz  ähnlich  wird 
(S.  22)  der  Satz  »all  our  ideas  or  more  feeble 
perceptions  are  copies  of  our  impressions  or  more 
lively  ones«  in  folgender  Weise  wiedergegeben: 
„alle  unsere  Vorstellungen  oder  früheren  Em- 
pfindungen sind  Nachbilder  unserer  Eindrücke  oder 
lebhafteren  Empfindungen".  Wenn  Hume  sagt: 
»but  what  is  the  connexion  between  them,  we 
have  no  room  so  much  as  to  conjecture  or 
imagine«,  so  übersetzt  v.  E.  (S.  64):  „was  aber 
das  Bindende  zwischen  beiden  ist,  dafür  haben 
wir  nur  das  weite  Feld  der  Vermuthungen  und 
Voraussetzungen",  eine  Uebersetzung,  die  eben- 
falls dem  Sinne  der  Hume'schen  Worte  in  einem 
sehr  wesentlichen  Punkte  nicht  gerecht  wird. 
Und  wenn  Hume  sagt:  ich  brauche  nicht  aus- 
führlich die  vis  inertiae  zu  untersuchen  (»I  need 
not  examine  at  length  the  vis  inertiae«),  so 
läßt  ihn  unser  Uebersetzer  (S.  73)  den  Wunsch 
gegentheiligen  Inhaltes  aussprechen:  „Es  be- 
darf endlich  einer  Untersuchung  der  vis  iner- 
tiae". Wenn  sich  ferner  Hume  den  Schmuck 
der  Rhetorik  für  Gegenstände  vorbehält,  die 
dazu  mehr  geeignet  seien  (»and  reserve  the 
flowers  of  rhetoric  for  subjects  which  are  more 
adapted  to  them«),  so  hält  unser  Humekenner 
seinen  Philosophen  für  viel  zu  bescheiden,  als 
daß  er  sich  einiger  rhetorischer  Leistungen  hätte 
fähig  halten  können,  und  übersetzt  demgemäß 
(S.  79) :  „den  Schmuck  der  Beredtsamkeit  über- 
lasse ich  Denen,  die  dazu  geschickter  sind". 
Nachdem  Hume  hervorgehoben  hat,  daß  der  Lauf 
unserer  Gedanken  und  Vorstellungen  dem  Laufe 
der  Naturvorgänge  entspreche,  fährt  er  fort: 
utCustom   is  that  principle   by  which  this  corre* 


Home  übersetzt  von  J«  EL  y.  Kirchmann.    927 

spondance  has  been  effected«,  v.  K.  übersetzt 
(S.  56):  „Gewohnheit  ist  das  Princip,  welches 
diese  Vorstellungen  (1)  bewirkt1*.  Ebenso 
wie  in  der  ersten  Auflage  spricht  v.  E.  auch  noch  in 
der  dritten,  nochmals  durchgesehenen  Auflage  (S. 
66)  von  „Muskeln  und  Nerven  der  Lebensgeister", 
und  ebenso  wenig  hat  Verf.  seine  frühere  An- 
sicht geändert  (vergl.  S.  83,  Z.  2  v.  u.),  daß 
clue  oder  clew  mit  „Schlüssel"  und  (S.  82) 
public  spirit  mit  „der  öffentliche  Geist0  (!)  wie- 
derzugeben sei.  Den  Satz  »The  case  is  the 
same  with  the  probability  of  causes  as  with  that 
of  chance«  .übersetzt  v.  E.  in  seiner  zwanglosen 
Manier  folgendermaßen  (S.  59):  „Es  verhält  sich 
mit  der  Wahrscheinlichkeit  der  Einzelfälle 
wie  mit  dem  Zufall".  Was  sich  Verf.  hierbei 
gedacht  hat,  entzieht  sich  weiterer  Nachfor- 
schung. Auf  jeden  Fall  ergiebt  das  Nachfol- 
gende mehr  als  klar,  daß  hier  von  Ursachen 
die  Rede  ist,  falls  darüber  überhaupt  ein  Zwei- 
fel möglich  wäre.  Viel  zu  compliciert  für  die 
Eräfte  unseres  Uebersetzers  erscheint  folgender 
Satz:  »An  infinite  number  of  real  parts  of  time 
.  .  .  appears  so  evident  a  contradiction,  that  no 
man,  one  should  think,  whose  judgment  is  not 
corrupted,  instead  of  being  improved,  by  the 
sciences,  would  ever  be  able  to  admit  of  it«. 
Denn  derselbe  übersetzt  (S.  155):  „Eine  unend- 
liche Zahl  von  wirklichen  Zeittheilen  ...  er- 
scheint als  ein  so  offenbarer  Widerspruch,  daß 
man  meinen  sollte,  kein  Mensch  mit  gesundem 
Verstände  könnte  ihn  je  zulassen,  und  doch 
wird  er  durch  die  Wissenschaft  be- 
wiesen" (!!).  Uebersetzer  scheint  nach  dieser 
vortrefflichen  Probe  auch  betreffs  der  Bedeutung 
von  „improve"  etwas  mangelhaft  orientiert 
zu  sein. 


928        Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  29. 

Es  bedarf  wohl  keiner  weiteren  Beispiele, 
um  zu  einer  richtigen  Werthschätzang  dieses 
Uebersetzungsversuches  zu  gelangen.  Rec,  der 
Anlaß  gehabt  hat,  die  ganze  Uebersetzung  mit 
dem  englischen  Texte  zu  vergleichen,  glaubt 
sich  berechtigt,  zu  erklären,  daß  es  gar  nicht 
möglich  ist,  auf  Grund  dieser  Uebersetzung  ein 
volles  Yerständniß  der  Ausführungen  Hume's  zu 
erlangen,  und  daß  es  schwer  ist,  zu  entscheiden, 
was  staunenswerther  sei,  die  Geduld  und  harm- 
lose Anspruchslosigkeit  des  philosophischen  Pu- 
blikums, die  nun  bereits  eine  dritte  (sehr  starke) 
Auflage  dieses  traurigen  Produktes  ermöglicht 
hat,  oder  die  Herzhaftigkeit  des  Uebersetzers, 
dem  Publikum  ein  derartiges,  gedankenlos  hin- 
geworfenes Machwerk  zu  bieten. 

Nach  dem  Maße  von  Sachverständniß,  wel- 
ches in  der  einfachen  Uebertragung  des  engli- 
schen Textes  entwickelt  ist,  läßt  sich  nun  leicht 
auch  der  Werth  der  beigefügten  „Erläuterungen" 
des  Hume'schen  Werkes  bemessen.  An  und  für 
sich  verdienen  ja  die  Bestrebungen  des  Heraus- 
gebers, die  Hauptwerke  der  bedeutenderen  Phi- 
losophen dem  Publikum  leicht  zugänglich  zu 
machen,  nur  volle  Anerkennung.  Wo  aber  diese 
Bestrebungen  derartige  Produkte  an's  Licht  för- 
dern, wie  das  vorliegende  Werk  und  die  vom 
Herausgeber  bewerkstelligte  deutsche  Ausgabe 
des  Locke'schen  Hauptwerkes  — .  denn  auch 
diese  zeugt  von  ähnlicher  Leichtfertigkeit  — , 
da  ist  es  Pflicht  der  Kritik,  solche  Fabrikate 
endlich  einmal  in  der  richtigen  Weise  zu  kenn- 
zeichnen. G.  E.  Müller. 


Für  die  Redaction  verantwortlich :  E.  Behnisck,  Director  d.  Gott.  gel.  Anz. 

Commissi oii8 -Verlag  der  Dieterich'achen   Verlags-  Buchhandlung, 

Druck  dir  Diefaich  sehen  Univ.-  Buchdruckerei  (W.  Fr.  Katstnm). 


929 


6  öttingische 


i    » 


gelehrte    Anzeigen 


unter  der  Aufsicht 


der  Königl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 
Stück  30.  28.  Juli  1880. 


Inhalt:  A.  Brückner,  Peter  der  Grosse.  Yon  C.  Schirren.  —  Ad. 
Wurti,  La  the'orie  atomiqne.    Von  0.  Schumann. 

=  Eigenmächtiger  Abdruck  von  Artikeln  der  Gott.  gel.  Ans.  ?erboten  sr 


Peter  der  Große.  Von  Dr.  Alexander 
Brückner.  Mit  Portraits.  (Allgemeine  Ge- 
schichte in  Einzeldarstellungen.  Herausgegeben 
yon  Wilhelm  Oncken.  Dritte  Hauptabteilung. 
Sechster  Theil.)  Berlin.  G.  Grote  1879.  VI 
und  573  SS.  in  8°. 

Laut  der  Vorrede  will  der  Verf.  in  dieser 
Geschichte  Peters  des  Großen  die  seit  Herrmann 
in  Rußland  hervorgetretenen  Rohmaterialien  und 
Monographien,  namentlich  den  yon  Ustrjalow 
und  Solowjew  mitgetheilten  Actenstoff,  verwer- 
ten ;  die  anecdotische  Geschichtschreibung  durch 
eine  ernste  Darstellung  ablösen;  nicht  nur  eine 
Biographie,  sondern  einen  Beitrag  zur  Weltge- 
schichte in  umfassendem  Sinne  liefern.  Er 
bringt  sein  Werk  neben  dem  größeren  Leser* 
kreise  auch  den  Fachgenossen  dar :  es  will  somit 

59 


930         Gott!  gel.  Anz.  1880.  Stück  30. 

nicht  bloß  populär  oder  —  wie  die  Onckensche 
Sammlang  jüngst  von  einem  Mitarbeiter  bezeich- 
net worden  ist  —  halbpopulär,  sondern  es  will 
mehr  sein.  Mit  Recht.  Ein  gelehrtes  Buch 
kann  bei  Mängeln,  welche  an  einem  populären 
unverzeihlich  wären,  immer  noch  seinen  Werth 
behalten;  ein  populäres,  das  nicht  vor  urteils- 
fähigem Forum  in  Ehren  besteht,  taugt  überall 
nichts. 

Indem  nun  dieses  Buch  auf  russischen  Vor- 
arbeiten beruht  und  zu  deutschen  Lesern  redet, 
stellt  sich  die  Frage,  wie  es  sich  zur  russischen 
und  wie  es  sich  zur  deutschen  Literatur  verhält 
Zunächst  ist  zu  bemerken,  daß  der  Verf.  seinen 
Vorgängern  nicht  gerecht  wird.  Den  alten 
anecdotischen  Standpunkt  hat  schon  Herrmann 
verlassen  und  Ustrjalow  und  Solowjew  haben 
ihn  nicht  wieder  eingenommen;  auch  bringen 
sie  mehr,  als  bloßen  Stoff.  In  der  Verarbeitung 
wird  der  Verf.  etwas  voraushaben  wollen;  allein 
tiefer,  als  sie,  dringt  er  unter  die  Oberfläche 
nicht  ein  und  an  Fülle  der  Mittheilungen  steht 
er  ihnen  nach.  Von  der  auswärtigen  Politik 
Peters  des  Großen  wird  ein  Busse  aus  diesem 
Buche  wenig  lernen  und  über  die  inneren  Ver- 
hältnisse sicher  nichts,  was  ihm  nicht  anderswo 
gründlicher  vorgetragen  wäre.  Anders  der  deut- 
sche Leser.  Er  findet  da  Manches,  was  Herr- 
mann seinerzeit  noch  nicht  hat  bringen  können, 
einen  überhaupt  nicht  allzubekannten  Stoff  und 
eine  Art  der  Darstellung,  welche  den  Ansprü- 
chen, an  die  man  ihn  gewöhnt  bat,  entgegen 
kommt.  Denn  es  ist  einzuräumen,  daß  sich  das 
Buch  eine  gewisse  Manier  neuerer  Geschicht- 
schreibung anzueignen  gewußt  hat  und  ihr 
gleichsam  den  Spiegel  vorhält. 

Die  Zeiten  sind  lange  vorbei,  wo  ein  histo- 


Brückner,  Peter  der  Große.  931 

rischer  Vortrag  aus  tiefgehendem,  die  verborge- 
nen Quellen  in  sich  leitendem,  Bau  gesättigt 
hervorbrach,  gleichmäßig  hinfloß  und  jederzeit 
einen  klaren  Trunk  freigab,  der  sich  nicht  stoß- 
weise aufdrängte  oder  gar  erst  vor  des  Trin- 
kenden Auge  zusammenkochte,  um  mit  chemi- 
schem Recept  verabreicht  und  mit  Löffeln  bei- 
gebracht zu  werden  Um  das  Bild  zu  verlassen: 
auch  in  dem  vorliegenden  Bache  wird  der  Le- 
ser die  Entwickelung  des  historisch  gewordenen 
nicht  lebendig  nachzuerleben  bekommen,  nicht 
nachlebend  zu  begreifen  und,  so  begriffen,  als 
innere  Erfahrung  frei  zu  besitzen;  sondern  er 
wird  Alles  zertbeilt,  zerworfen,  appretiert,  oc- 
troyiert  erhalten  in  großen  und  kleinen  Essays, 
aus  großen  und  kleinen  Gesichtspunkten,  wie  er 
daran  gewöhnt  worden  ist  carolingisch ,  mittel- 
alter-kaiserlich,  hanseatisch,  protestantisch,  na- 
tional, liberal,  cultur-,  weit-  und  unhistorisch. 

Der  Stoff  ist  in  sechs  Bücher  getheilt:  Lehr- 
jahre ;  Wanderjahre ;  Innere  Kämpfe ;  Auswär- 
tige Politik;  Innerer  Ausbau;  Schluß.  Die  drei 
ersten  gehen  bis  1700,  nehmen  indeß  allerlei 
Bebellionen  der  späteren  Zeit  und  die  Geschichte 
Alexeis  vorweg;  die  andern  führen  bis  1725 
herab.  Diese  Eintheilung  widerstreitet  der  na- 
türlichen Entwickelung  der  Dinge.  Die  Bebel- 
lion von  Astrachan  von  1705 — 1706,  welche  S. 
285 — 295  in  die  Einleitung  zur  Geschichte 
Alexeis  verwebt  ist,  gehört  nach  S.  396  in  die 
Geschichte  des  Nordischen  Krieges;  der  Auf- 
stand Bulawins  von  1708,  S.  295-302,  gehört 
ebendahin  nach  S.  403 ;  der  Proceß  Alexeis  nicht 
vor  1700,  sondern  in  das  Jahr  1718.  Innerhalb 
der  Bücher,  vom  vierten  an,  wird  der  Stoff 
ebenso  willkürlich  zerlegt:  über  das  Wie,  Wo 
und    Wann    entscheiden   wechselnde,    zufallige 

59* 


/ 


932        Gott.  gel.  Adz.  1880.  Stttek  30. 

Gesichtspunkte,  die  sich  bei  ernsterer  Erwägung 
unhaltbar  erweisen.  Fast  nirgends  ein  heiler 
Kern;  meist  hat  man  den  Eindruck  einer  sammt 
der  Schale  zerhackten  und  in  Prisen  verabreich- 
ten Nuß. 

Der  Grundfehler  liegt  darin,  daß  der  Nordi- 
sche Krieg,  welchem  der  Verf.  kein  eingehendes 
Studium  gewidmet  hat,  in  seiner  tieferen  Bedeu- 
tung nicht  erkannt  worden  ist,  während  er  in 
Wirklichkeit  nicht  nur  das  Leben  des  Zaren 
und  seine  auswärtige  Politik,  sondern  auch  die 
innere  Entwicklung  und  die  petrinische  Reform 
nach  Anlaß  und  Verlauf  ganz  überwiegend  be- 
dingt. Ohne  diese  Einsicht  ist  eine  richtige  Be- 
handlung des  Stoffs  unmöglich;  in  ihrem  Lichte 
ordnet  sich  alles  anders:  die  Geschichte  Alexeis 
wird  zur  Episode;  die  Feldzüge  Scheremetews 
von  1705.  1709.  1711  gewinnen  für  die  innere 
Geschichte  eine  neue  Bedeutung  und  dulden 
nicht  länger,  auseinandergerissen  und  fragmen- 
tarisch notiert  zu  werden;  Senat,  Heer,  Flotte, 
Kirche,  Handel,  Recht,  Gericht,  alles,  was  sich 
irgend  zum  Kriege  in  Bezug  bringen  ließ,  er- 
scheint dem  Kriege  dienstbar  geworden.  Was 
vor  1700  liegt  und  auf  1721  folgt,  ist  Vor-  und 
Nachspiel  und  verdankt,  was  es  in  ernsterem 
Sinne  bedeutet,  dem  großen  Drama  in  der  Mitte. 

Indeß  auch  ohne  diese  Einsicht,  welche  sich 
bei  tieferem  Quellenstudium  aufdrängt,  mußte 
der  Verf.  mit  seinem  Stoffe  anders  verfahren. 
Es  verträgt  sich  schlecht,  die  anecdotische  Ge- 
schichte, „wie  der  Ernst  des  Stoffes  es  erfor- 
dert", in  den  Hindergrund  verweisen  und  dabei 
der  Jugendgeschichte  Peters  über  hundert  Sei- 
ten; seinen  und  seiner  Russen  ersten  europäi- 
schen Reisen  sechszig;  dem  Nordischen  Kriege 
von  1710   bis  1721,   mit  Ausschluß   der   türki. 


Brückner,  Peter  der  Große.  933 

gehen  Campagne,  nicht  volle  dreißig  Seiten  wid- 
men, oder  elenden,  italienischen  Reiseerinnerun- 
gen Scheremetews  und  Anderer  sechs  Seiten  and 
dem  Nystädter  Frieden  zwanzig  Zeilen.  Auch 
wenn  der  Verf.  für  alles  dergleichen  eine  Art 
Entschuldigung  in  der  früheren  Richtung  seiner 
Studien  finden  wollte,  so  bleibt  doch  der  Um- 
stand zu  beklagen,  daß  nun  die  drei  ersten  Bü- 
cher einigermaßen  sorgfältig,  die  drei  letzten 
unverantwortlich  nachlässig  gearbeitet  sind, 
während  die  Weltgeschichte,  zu  welcher  der 
Verf.  einen  Beitrag  in  umfassendem  Sinne  an- 
kündigt, mit  Peter  dem  Großen  erst  nach  Aus- 
gang des  dritten  Buches  in  nähere  Berührung 
kommt  und  diese  Anzeige  eben  darum  vornehm- 
lich mit  den  drei  letzten  Büchern  zu  thun  hat. 
Meist  läßt  sich,  noch  ehe  der  Text  studiert 
wird,  den  Anmerkungen,  welche  ja  selten  feh- 
len, absehen,  ob  ein  Autor  seine  Quellen  be- 
herrscht und  ob  sein  Buch  etwas  verspricht. 
Wer  auf  S.  51 1  neben  fllnf  Zeilen  von  der  Aus- 
bildung der  russischen  Wehrkraft  durch  Peter 
den  Großen  verwiesen  wird  auf  „d.  Werk  von 
Brix,  Geschichte  der  russ.  Heereseinrichtungen, 
Berlin  1867tf  —  schon  im  Titel  heißt  es:  „von 
den  frühesten  Zeiten  bis  zu  den  von  Peter  d. 
Gr.  gemachten  Veränderungen"  — ,  der  weiß 
ohne  weiteres,  daß  der  Verf.  mit  der  Sache  un- 
gefähr so  gut  bekannt  sein  wird,  wie  mit  dem 
Brix.  Für  den  unglücklichen  Zug  Lybeckers 
wird  S.  420  auf  Fryxell  verwiesen:  ungefähr 
gleich  großen  Werth  hätte  filr  die  Vorgänge  bei 
Mühlberg  eine  Verweisung  auf  Nösselt.  Oder 
es  werden  S.  366  Anm.  4  zur  Schlacht  von 
Narwa  n.  A.  citiert,  „Die  schwedischen  Werke 
von  Adterfekl,  Fryxell,  Nordberg,  die  liefländische 
Bisteria  Kelchs*;  das  liest  sich  so,   wie   wenn 


934         Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  30. 

man  anderswo  citiert  fände:  die  deutschen 
Werke  von  Hrotsuit,  Giesebrecbt,  Widukind, 
Eberhards  Reimchronik  von  Gandersheim. 

Von  Hilfsmitteln  hat  der  Verf.  für  den  ersten 
Theil  ziemlich  viel,  für  den  zweiten  sehr  wenig 
benutzt.  Die  polnische  Literatur  ist  ihm  ganz 
fremd  geblieben;  ebenso,  mit  Ausnahme  einiger 
der  schlechtem  ins  deutsche  übersetzten  Werke, 
die  schwedische.  Es  findet  sich  keine  Spur, 
daß  er  auch  nur  die  kleineren  Arbeiten  Carls- 
son's  oder  das  treffliche  Werk  von  Malmström 
gekannt  habe,  von  schwedischen  Quellensamm- 
lungen zu  schweigen.  Für  den  Nordischen 
Krieg  hat  er,  neben  einigen  russischen  Werken, 
fast  nur  Droysen  und  Mahon  befragt. 

Noch  weniger  verrathen  sich  Quellenstudien. 
Daß  keine  neuen  Quellen  erschlossen  werden, 
soll  nicht  zum  Vorwurfe  gereichen..  Dergleichen 
hängt  nicht  vom  Willen  allein  ab.  Auch  fern 
von  Archiven  läßt  sich  ein  gutes  Buch  schrei- 
ben und  die  Versuchung,  ein  schlechtes  zu 
schreiben,  ist  minder  groß.  Wo  sich  ein  un- 
übersehbares Arbeitsfeld  öffnet,  die  Zeit  drängt 
und  ein  neuer  Ehrgeiz  mit  neuen  Illusionen  äng- 
stigt, da  verwandelt  sich  der  Forscher  nur  zu 
leicht  in  eine  Art  Goldwäscher,  rafft  zusammen, 
was  ihm  unter  die  Hand  kommt  und  stürzt  zum 
Verleger.  Massen  ungeheuren  Gesammtwerths 
bleiben  in  Gestalt  feinerer  Körner  als  eitel  Sand 
liegen  und  wer  sich  einmal  an  die  Manier  ge- 
wöhnt hat,  wird  sie  schwer  wieder  los.  Leider 
ist  sie  auch  außer  Archiven  verbreitet  und  der 
Verfasser  ist  ohne  große  Versuchung  in  densel- 
ben Fehler  verfallen.  Aus  allezeit  zugänglichen 
Fundgruben  greift  er  heraus,  was  ihm  auf  den 
ersten  Blick  verwendbar  erscheint  und  kümmert 
sich  nicht  um   den  Rest;  selbst  die   Beilagen 


Brückner,  Peter  der  Große.  935 

Ustrjalow's  und,  was  er  die  Acten  bei  Solowjew 
nennt,  hat  er  nur  flüchtig  benutzt  Obwohl  er 
meint,  Rohmaterialien  zu  verwerthen,  passiertes 
ihm  vielmehr,  ihren  Werth  nicht  einmal  erkannt 
zu  haben. 

Wenn  unter  so  ungünstigen  Bedingungen 
sein  Buch  nicht  durchaus  mißrathen  ist,  so  ver- 
dankt er  das  nächst  seinen  russischen  Vortretern 
großenteils  dem  Umstände,  daß  die  Vorgänge 
jener  Zeit  im  Ganzen  bereits  zu  fest  stehen,  als 
daß  sie  leicht  bis  zur  Unkenntlichkeit  entstellt 
werden  könnten.  An  argen  Verstoßen  fehlt  es 
freilich  nicht.  So  wird  es  sich  schwer  entschul- 
digen lassen,  daß  das  Verhalten  des  Zaren  zur 
Sequestration  von  Stettin  nirgends  richtig  her- 
vortritt und  daß  seine  und  seiner  Alliirten  Po- 
litik von  1713  bis  1716  schon  darum  ein  unge- 
löstes, freilich  überhaupt  nicht  gestelltes,  Bäth- 
sel  hat  bleiben  müssen,  weil  der  Verf.  kaum 
glaublicher  Weise  im  Mai  1713  nicht  etwa  Sten- 
bock,  sondern  die  Festung  Tönningen  capitulie- 
ren  läßt. 

Vor  allzu  häufigen  Fehltritten  gleicher  Art, 
mit  welchen  ihn  sein  Mangel  an  Umsicht  be- 
drohte, hat  ihn  sein  Mangel  an  Initiative  be- 
wahrt und  dieser  zwiefache  Mangel  macht  die 
Anzeige  des  Buchs  zu  einer  unerfreulichen  Auf- 
gabe. Einem  Führer  auf  neuen  Wegen,  welche 
ans  Ziel  fahren,  geht  man  mit  Anerkennung 
nach;  von  falschen  Wegen  läßt  sich  zurückfüh- 
ren ;  wer  aber  auf  gebahnten  Pfaden  bald  links, 
bald  rechts  den  Basen  abtritt,  dem  müßte  man 
Schritt  und  Tritt  markieren  und  würde  doch 
nichts  ändern.  Denn  der  Fehler  liegt  in  der 
Methode  oder  vielmehr  darin,  daß  statt  aller 
Methode  das  Ungefähr  herrscht. 

So  wird   man  finden,   daß  der  Verf.  um  so 


936       Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  30. 

rascher  und  bündiger  urtheilt,  je  schlechter  er 
orientiert  ist:  er  ist  da  jederzeit  mit  einem 
Apergü  auf  gut  Glück  zur  Hand  und  that  seinen 
Sprach  ganz  ohne  Noth  und  Anlaß.  Wo  er 
mehr  weiß  und  vielerlei  zu  erwägen  hat,  geräth 
er  in's  Schwanken  und  gelangt  zu  keinem  rechten 
Ergebniß.  Ein  merkwürdiges  Beispiel  ist  S.  262 
— 264  zu  finden:  da  hat  der  Zar  im  Strelitzen- 
proceß  von  1698  bei  weitem  nicht  so  grausam 
gewüthet,  wie  bei  gewissen  Gelegenheiten  das 
Volk;  er  übt  eine  durchweg  herrschende  Pra- 
xis; fügt  den  früheren  Martermethoden  nichts 
hinzu  und  doch,  „selbst  mit  damaligem  russi- 
schen Maaßstab  gemessen",  sind  seine  an  den  j 
Strelitzen  verübten  Greuel  „exorbitant"  und  „bie-  I 
ten  ein  Schauergemälde,  wie  es  nur  etwa  zu 
Zeiten  in  Berichten  über  Aehnliches  aus  China, 
Japan,  Birma  und  andern  orientalischen  Reichen 
sich  findet".  In  Summa:  das  Verfahren  Peters 
wa;r  ebenso  gewöhnlich,  wie  exorbitant. 

Dagegen  über  Karl  XIL,  S.  453,  ein  kurzes, 
bündiges  Urtheil:  „Es  zeugt  von  dem  Mangel 
staatsmännischer  Einsicht  bei  dem  Schweden- 
könige, daß  er  es  unterlassen  hatte,  sich  um 
die  Bundesgenossenschaft  der  Türkei  ernstlich 
zu  bemühen.  Er  unterhielt  in  Constantinopel 
keinen  ständigen  Gesandten.  Mit  dem  Pascha 
von  Otschakow  stand  er,  während  seines  Auf- 
enthalts in  Polen,  in  Briefwechsel;  aber  es  wur- 
den keinerlei  Vereinbarungen  getroffen.  Erst 
nach  der  Schlacht  von  Poltawa  begannen  "ernst- 
liche Unterhandlungen".  Hier  nöthigte  den 
Verf.  nichts  zu  einem  Urtheil  über  Karls  XIL 
staatsmännische  Einsicht;  es  genügte  an  den 
Thatsachen,  sofern  sie  begründet  waren.  Nuv 
ist  richtig  nur  das  Eine;  vor  der  Schlacht  vog, 
Poltawa   bstf  der  König  keinen   ständigen  Ge- 


Brückner,  Peter  der  Große.  937 

sandten  in  Gonstantinopel  gehabt ;  alles  Uebrige 
ist  falsch  oder  verschoben.  Es  ist  falsch,  daft 
der  König  sich  um  die  Bandesgenossenschaft 
der  Türkei  nicht  ernstlich  bemüht  habe.  Der 
Verf.  hat  nichts  erwogen,  was  in  Betracht 
kommt,  vor  Allem  nicht  den  Umstand,  daß  die 
schwedische  Feldkanzlei  mit  der  gesammten 
nach  dem  Abzug  aus  Sachsen  geführten  mili- 
tärischen und  diplomatischen  Correspondenz  bis 
anf  wenig  Fragmente  bei  Poltawa  verbrannt 
und  mit  ihr  eine  historische  Quelle  ersten  Ran- 
ges für  alle  hier  aufzuwerfenden  Fragen  ver- 
siegt ist.  Dennoch  wissen  wir  immerhin  Man- 
ches; wir  wissen,  daß  bereits  Ende  1707,  An- 
fang 1708  eine  Gesandtschaft  nach  Constanti- 
nopel  ins  Auge  gefaßt  war;  wir  kennen  die 
Beziehungen  zu  mehr  als  einem  türkischen  Pa- 
scha; die  Verhandlungen  mit  dem  Chan,  welche 
sich  bis  nach  Gonstantinopel  erstreckten;  die 
Stellung  des  Chan;  die  Zustände  in  Gonstanti- 
nopel; die  zurückhaltende  Politik  der  Pforte. 
Von  alledem  ist  nichts  in  Anschlag  gebracht, 
und  doch  ist  Alles,  von  entlegneren  Quellen  zu 
schweigen,  schon  bei  Nordberg  und  in  den  Ma- 
terialien aus  dem  Archiv  des  russischen  Gene- 
ralstabs (russisch.  1871)  deutlich  genug  consta- 
tiert.  Wer  des  Königs  staatsmännische  Ein- 
sicht, welche  in  ihrer  Weise  vielmehr  groß  und 
durchdringend  war,  ableugnen  will,  darf  seinen 
Beweis  nicht  dort  suchen,  wo  er  gar  nicht  zu 
finden  ist. 

Der  Verf.  hat  sich  eben  von  der  herkömm- 
lichen Auffassung  irre  leiten  lassen,  und  leitet 
nun  weiter  in  die  Irre.  Nicht  besser  steht  es 
mit  seinen  Beweisen  für  das,  im  Uebrigen  gar 
nicht  zu  leugnende,  nach  der  Schlacht  bei  Pol- 
tawa gewaltig   gesteigerte,  Ansehen  des  Zareju 


938        Gott  gel.  Anz.  1880.  Stttck  30. 

Mit  welchem  Maaße  soll  der  Leser  es  messen, 
wenn  er  auf  S.  416  erfährt,  wie  der  Zar  da 
„mit  einem  Schlage  considerabel  in  Europa  ge- 
worden   der  Kurfürst  von  Hannover  legte 

seine   Bereitwilligkeit  an  den   Tag,    von   dem 
Bündnisse   mit   Schweden  abzustehen  und  sich 
Rußland  zu  nähern;  es  war  begreiflich,  daß  die 
diplomatischen  Vertreter   im   westlichen  Europa 
eine  ganz  andere  Stellung  einnahmen,  als  zuvor", 
und  zehn  Seiten  später,  S.  426:  „es  war  kein  Wun- 
der, wenn«  (in  England,  in  Hannover,  im  übri- 
gen westlichen  Europa)  »die  Stimmung  nach  der 
Schlacht  von  Poltawa  noch  unfreundlicher  wurde. 
Als  Kurakin  im  November  1709  nach  Hannover 
kam,  beschränkte  sich  der  Kurfürst  im  Verkehr 
mit  dem  Gesandten  nur  auf  allgemeine  Phrasen" 
u.  s.  w.,  u.  s.  w.    Es  ist  ja  möglich,    daß  der 
Leser  bei  S.  426  vergessen  haben  wird,  was  auf 
S.  416  zu  lesen  war,  aber  dem  Verf.  brauchte 
das  darum  nicht  auch  zu  passieren.    Der  preu- 
ßische  Plan   zur   Theilung   Polens   vom   Jahre 
1709  ist  dem  Verf.  aus  Droysen  IV,  1.  bekannt; 
Droysen  IV,  4.  S.  284—290  scheint  ihm   ent- 
gangen zu  sein.    Nichts  nöthigte  ihn,  statt  an- 
derer bei  weitem  wichtigerer  Dinge,  gerade  in 
einer  Geschichte  Peters  d.  Gr.  von   diesem  thö- 
richten.  Entwürfe  Notiz   zu  nehmen;    sicher  be- 
rechtigte ihn   nichts  zu    folgender  Betrachtung, 
S.  422 :    „  Wie    sehr   die  Bedeutung    des  Zaren 
dabei  geschätzt  wurde,  zeigt  der  Umstand,   daß 
man  ihm  die  Ausführung  der  Theilung,  d.h.  die 
Zuweisung   der  einzelnen  Beutestücke,  anheim- 
gab und  ferner  der  Bußland  zugedachte  Beute- 
antheil,    welcher  nicht  weniger,  als  das  schwe- 
dische  Li  vi  and    und    einen   großen   Theil   Lit- 
thauens"    (bei  Droysen:   einen    großen    Bereich 
auf  der  Seite  Litthauens)  „umfaßte".     Mit  glei- 


r 


Brückner,  Peter  der  Große.  939 

chem  Fug  ließe  sich  in  der  Fabel  rühmen,  der 
Katze  sei  anheimgegeben  worden,  die  Kastanien 
aus  dem  Feuer  zu  holen.  Nicht  besser  steht  es 
mit  dem  großen  Beuteantheil ,  da  ein  Strich 
Landes  an  der  litauischen  Grenze  doch  nicht 
ohne  weiteres  einen  großen  Theil  Litauens  be- 
deutet. Endlich  wird  —  wie  bei  einem  preußi- 
schen Tbeilungsproject  ohnehin  zu  erwarten  war 
—  das,  was  Kußland  zugedacht  ist:  outre  la 
Livonie  Suädoise  une  certaine  ätendue  de  terre 
du  coste  de  la  Lithuanie  reichlich  durch  das 
aufgewogen,  was  Preußen  sich  selber  vorbehält : 
la  Prusse  Polonoise  et  la  Samogitie,  der  Expec- 
tanz  auf  Kurland  gar  nicht  einmal  zu  geden- 
ken. Mit  diesem  Beweise  für  das  hohe  Ansehn 
des  Zaren  nach  der  Schlacht  von  Poltawa  ist 
es  somit  auch  nichts. 

In  seiner  lockern  Art  deckt  der  Verf.  nicht 
selten  ahnungslos  Lücken  in  seinem  Wissen  auf, 
die  Staunen  erregen.  So  bemerkt  er  unter  dem 
J.  1716  u.  a.:  „Um  die  Mächte  zur  Anerkennung 

dieser  Erwerbung"  (Livland)  „zu  nöthigen 

mußte  die  russische  Flotte  in  der  Ostsee  hin 
und  her  kreuzen  und  die  schwedische  Küste  be- 
drohen". Anscheinend  ein  unverfänglicher  Satz 
und  auch  richtig,  sofern  er  nicht  ein  einzelnes 
Jahr  meint,  sondern  nur  schildern  will,  was 
schließlich  mit  zum  Triumphe  von  1721  ver- 
hilft. Nur  daß  er  nirgends  so  unglücklich  an- 
gebracht werden  konnte,  wie  eben  dort,  wo  der 
Verf.  ihn  hinstellt  und  wo  ihn  nimmer  hinge- 
stellt hätte,  wer  von  der  russischen  Flotte  im  J. 
1716  etwas  Gründliches  weiß.  Allerdings  — 
und  das  ist  ja  bekannt  genug  —  kreuzen  auch 
im  J.  1716  russische  Schiffe  in  der  Ostsee;  rus- 
sische Galeeren  fahren  Truppen  nach  Kopen- 
hagen und  wieder  zurück.     Aber  wie?   unter 


940        Gott.  gel.  Adz.  1880.  Stück  30. 

welchen  Voraussetzungen?  unter  welchen  Be- 
dingungen? unter  welchen  Beziehungen  zur  eng- 
lischen) holländischen  und  dänischen  Seemacht? 
mit  welchem  Verlaß  auf  sich  selbst?  mit  wel- 
chem Erfolg?  Erst  mit  der  Antwort  auf  diese 
Fragen  legt  sich  der  Charakter  der  Expedition 
von  1716  dar.  Mit  einigen  Notizen  aus  Mahon 
wird  der  Sache  nicht  näher  getreten.  In  den 
Materialien  zur  Geschichte  der  russischen  Flotte 
(-*-  1725.  Vier  Bände.  1865—69.  russisch)  ist 
die  volle  Antwort  zu  finden,  aber  vom  Verf. 
nicht  gesucht,  der  diese  unschätzbare  Samm- 
lung nicht  eines  Blickes  gewürdigt  hat.  Kein 
Wunder,  daß  ihm  das  J.  1716  ein  unverstande- 
nes Bäthsel  bleibt  und  es  ist  nicht  etwa  ein 
Jahr,  wie  irgend  ein  anders:  in  der  zarischen 
Politik  und  im  Leben  des  Zaren  bezeichnet  es 
einen  Culminations-  und  Wendepunkt ;  sein  Ver- 
lauf ist  einfacher,  als  man  sich  vorzustellen 
pflegt,  geht  aber  durch  eine  Reihe  so  innig  ver- 
bundener Stadien,  daß,  wer  eins  verkennt,  leicht 
das  Verständniß  aller  verfehlt.  Es  ist  nur  ein 
untergeordnetes  Merkmal  von  der  Art,  wie  der 
Verf.  seine  Studien  anstellt,  daß  er  zwar  die 
dänische  Declaration  über  die  Eopenhagener 
Vorgänge  nennt,  aber  von  des  Zaren  Gegende- 
claration  nichts  zu  berichten  weiß;  strenger  ver- 
urtheilt  ihn  dieses,  daß  er  für  die  Tragweite  jener 
Vorgänge  keinen  andern  Maaßstab  findet,  als  die 
kühle  Mittheilung  unter  dem  Texte,  Ranke 
lege  viel  Gewicht  auf  das  Scheitern  der  Unter- 
nehmung und  bemerke,  dieser  Umstand  habt 
die  Allianz  zersprengt.  Ranke  hat  hier,  wie 
gewöhnlich,  Recht,  aber  wo  bleibt  der  Biograph 
Peters  des  Großen? 

Da  so  der  Schlüssel  für  1716  fehlt,   ist  das 
Verständniß  für  alles  Nachfolgende  verschlossen 


Brückner,  Peter  der  Große.  941 

und  ein  Mißverständnis  reibt  sieh  an's  andre. 
So  .heißt  es  S.  435  unten :  „Im  Ganzen  war  der 
Zar  geneigt,  die  Friedensvermittlung  Frankreichs 
anzunehmen:  er  wünschte  sehnlichst  den  Krieg 
beendet  zn  sehen  und  schrieb  u.  A.  an  Schereme- 
tjew,  er  solle  ihm  doch  seine  Ansichten  über 
die  Art  der  Erreichung  dieses  Zieles  mittheilen44. 
Nun  ist  ja  wahr,  daß  der  Zar  ein  solches  Schrei- 
ben u  A.  auch  an  Scheremetew  hat  ergehen  las- 
sen, aber,  nackt  hingestellt,  ist  die  Notiz  mttssig 
und  in  dem  ihr  gegebenen  Zusammenhange  lei- 
tet sie  irre.  Der  Leser  kann  nicht  ahnen,  wo* 
von  der  .Verf.  nichts  weiß  oder  doch  nichts  ver- 
räth:  Daß  dieses  Schreiben  nur  für  das  Ver- 
ständnis des  Zaren  von  Werth  ist  und  etwas 
ganz  anders  bedeutet,  als  darin  gesucht  ist: 
dem  tiefen  Ingrimm  über  die  Kopenhagener 
Vorgänge  und  die  seitdem  gefährlich  verschobene 
Lage  hat  es  Luft  machen  und  die  Doppelver- 
antwortung für  das  Geschehene  und  für  das 
demnächst  Bevorstehende  hat  es  auf  fremde 
Schultern  wälzen  sollen.  Daß  der  Zar  aus 
Sehnsucht  nach  Frieden  in  gutem  Ernste  bei 
Scheremetew  Rath  gesucht  hätte,  wird  Jedem, 
der  den  alten  FeldmaTschall  und  seine  Briefe 
(1774.  1778.  1879.)  kennt,  nur  komisch  erschei- 
nen. Mit  solcher  Art  Geschichtschreibung  läßt 
sich  schwer  zu  ernster  Auseinandersetzung 
kommen. 

Im  fünften  Buch  bespricht  der  Verf.  auf  fünf- 
zig und  einigen  Seiten  die  inneren  Beformen, 
nachdem  im  zweiten  Buch,  Gap.  4,  die  Reform- 
anfänge  dargestellt  waren.  Auch  hier  ist  der 
Stoff  auseinandergerissen,  die  Auswahl  dürftig, 
die  Behandlung  oberflächlich.  Am  besten  ist 
noch,  Dank  Petrowski's  Untersuchungen  über 
den  Senat  (1875),  der  Abschnitt:  Inneres  Staats- 


942        Gott.  gel.  Adz.  1880.  Stück  30. 

leben,  gerathen.  Der  erste  Band  der  von  Ka- 
latschow  herausgegebenen  Senatsverfttgangen 
bat  dem  Verf.  freilich  noch  nicht  vorgelegen; 
ob  er  aber  daraus  etwas  zu  entnehmen  gewußt 
hätte,  steht  dahin,  da  er  selbst  Petrowski  nur 
obenhin  ausschreibt.  Um  so  wunderlicher  macht 
sich  daneben  das  höchst  subtile  Bedauern,  S. 
497,  Anm.  2,  daß  die  Staatsrechts  geschicht- 
lichen Werke  Gradowski's,  Petrowski's  u.  A. 
über  die  Bedeutung  des  „Kabinets"  nicht 
genügenden  Aufschluß  geben ;  namentlich  wun- 
derlich, wenn  man  erwägt,  daß  Peter,  wo  es 
ihm  paßte,  ohne  alle  staatsrechtliche  Scrupel 
selbst  den  Senat  als  Mädchen  für  Alles  gebraucht 
hat.  Im  dritten  Capitel  wird  von  der  Kirche 
gehandelt  und  der  Verf.  citiert  dabei  von  Gor- 
tschakow's  Arbeiten  das  Werk  über  die  Kloster- 
behörde 1868.,  ohne  es  anscheinend  mehr  als 
einmal  aufgeschlagen,  jedenfalls,  ohne  es  be- 
nutzt zu  haben.  Er  hat  sich  damit  eine  un- 
schätzbare Fundgrube  von  Aufschlüssen  über  die 
innere,  namentlich  die  wirtschaftliche,  Politik 
Peters  d.  Gr.,  obwohl  sie  aufs  bequemste  zur 
Hand  lag,  entgehen  lassen.  Was  aus  andern 
Büchern  über  die  „Wirtbschaft"  zusammenge- 
stellt ist,  leidet  an  den  oft  gerügten  Mängeln: 
willkürliche  Auswahl,  lockere  Verknüpfung,  un- 
bedachtes Urtheil.  Ein  Beispiel  für  viele,  S. 
519:  „Peter  hoffte  seine  Unterthanen  für  die 
Geschäfte  des  internationalen  Großhandels  fähig 
machen  zu  können.  Zu  diesem  Zwecke 
ging  er  als  Kaufmann  mit  einigen  Handelsunter- 
nehmungen den  Russen  als  Beispiel  voran" 
u.  s.  w.,  S.  520:  „Mit  der  äußersten  Strenge 
suchte  der  Zar  seinen  Unterthanen  u.  A.  begreif- 
lich zu  machen,  daß  Ehrlichkeit  mehr  Vortheil 
bringe,  als  Betrügerei,  daß  z.  B.  Waarenfälschung 


Brückner,  Peter  der  Große.  943 

die  rassischen  Waaren  in  Mißcredit  bringe.  In 
einem  Ukas  vom  Jahre  1716  bedroht  Peter  die- 
jenigen mit  dem  Tode,  welche  den  guten  Hanf 
mit  dem  schlechten  mischen  u.  s.  w.,  es  sei 
über  dergleichen  Betrügereien  seitens  der  Ras- 
sen von  englischen  Kaufleuten  Klage  geführt 
worden.  Solchen  Uebelständen  war  schwer  ab- 
zuhelfen. Die  zu  Controlirenden  waren  schwer 
zu  bessern  ohne  allgemeine  Hebung  des  sittli- 
chen Niveaus  der  Gesellschaft.  Von  den  Con- 
troleuren  war  auch  nicht  viel  Pflichtgefühl  und 
Moralität  zu  erwarten".  Die  Thatsache  des  Uka- 
ses steht  fest.  Alles  aber,  was  der  Verf.  dran- 
hängt,  fällt  beim  ersten  Ruck  wieder  herunter, 
vom  „Zweck"  an,  den  der  Zar  bei  seinen  Han- 
delsunternehmungen verfolgt  haben  soll,  bis  zu 
den  Controleuren  und  dem  sittlichen  Niveau  der 
Gesellschaft  sammt  Pflichtgefühl  und  Moralität. 
Im  März  1716  hat  der  Zar  bei  Todesstrafe  ver- 
boten, guten  Hanf  mit  schlechtem  zu  mischen« 
Im  März  1717,  auch  im  Februar  und  Juni,  be- 
fiehlt er  dem  Senat,  dafür  Sorge  zu  tragen,  daß 
gute  und  schlechte  Juften  bei  Leibe  nicht  ge- 
sondert auf  den  Markt  kämen,  sondern  ordent- 
lich gemischt,  damit  die  fremden  Kaufleute  in 
Archangel  sich  nicht  wieder  zu  solchem  „Betrug" 
verabreden  könnten,  wie  die  Engländer  in  Pe- 
tersburg, welche  die  guten  Juften  zuerst  weg- 
kauften und  dann  die  schlechteren  weiter  nicht 
haben  wollten;  Sbornik  der  russ.  hist.  Gesell- 
schaft. Band  XL  1873.  S.  184.  190.  197,  eine 
Sammlung,  welche  der  Verf.  freilich  auch  so  gut 
wie  gar  nicht  ausgebeutet  hat.  Ein  Gommentar 
ist  entbehrlich. 

Das  sechste  Buch,  nicht  ganz  zwanzig  Sei- 
ten stark,  ist  in  seinem  ersten  Gapitel:  „Mitar- 
beiter" (des  Zaren)    wohl  nur  als  Text   zu  Bil- 


944        Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  30. 

dem  tbeilweise  zu  entschuldigen.  Das  zweite, 
letzte,  Capitel  führt  die  Ueberschrift :  „Zur  Cha- 
rakteristik Peters"  und  bildet  einen  dem  Gan- 
zen angemessenen  Abschluß,  dem  noch  einige 
Zeilen :  „Urtheile  der  Nachwelt4*  angehängt  sind. 

Nun  mag  vielleicht  ein  oder  ein  anderer  Le- 
ser nicht  recht  begreifen,  wie  sich  bei  so  viel 
Flüchtigkeit,  Unzuverlässigkeit  und  Willkür  im 
Einzelnen  schließlich  zu  einer  Charakteristik  Pe- 
ters d.  Gr.,  zu  Abwägung  seiner  Vorzüge  und 
Schwächen,  Würdigung  seines  Genius  und  An- 
weisung der  ihm  in  der  Geschichte  Rußlands 
und  der  Welt  gebührenden  Stellung  habe  ge- 
langen lassen,  da  doch,  was  in  den  Elementen 
verfehlt  ist,  in  der  Composition  vollends  unhalt- 
bar sein,  ja  im  Grunde  jeder  gesunden  Verbin- 
dung widerstreben  muß.  Wer  so  reden  wollte, 
würde  indeß  nur  Mangel  an  Belesenheit  oder 
Gelehrigkeit  verrathen  und  darthun,  daß  er  noch 
nicht  begriffen  habe,  wie  man  dergleichen  Auf- 
gaben zu  lösen  hat  Das  Verfahren  ist  einfach: 
man  entwickele  nur  nichts  in  historischer  Folge- 
richtigkeit von  innen  heraus  und  das  Problem 
ist  verschwunden.  Man  wolle  nur  nicht  die 
Dinge  selbst  reden  lassen,  was  allzuviel  Studien 
und  zu  große  Einsicht  erfordert;  sondern  rede 
frisch  über  die  Dinge;  dann  bedarf  es  keiner  län- 
geren Vorbereitung,  um  auf  die  schwierigsten, 
wie  auf  die  einfachsten  Fragen  eine  Antwort  zu 
finden  und  über  Alles,  was  unterläuft,  einen 
Spruch  zu  thun.  Gewisse  Traditionen  und  eine 
gewisse  Manier  helfen  jedes  Bedenken  beseiti- 
gen und  die  Sache  macht  sich  ohne  Anstoß. 

Dem  besser  geschulten  Leser  werden  der- 
gleichen Fragen  überhaupt  nicht  aufstoßen,  denn 
er  fühlt  sich  sofort  aufs  Angenehmste  erfaßt 
und  über  alle   Schwierigkeiten  hinweggehoben. 


Brückner,  Peter  der  Große.  945 

Nach  den  ersten  Worten  der  Einleitung  hat  er 
begriffen,  worin  die  Entwickelang  Rußlands  im 
Allgemeinen  besteht,  auf  dreizehn  Seiten  absol- 
viert er  ein  Compendium  russischer  Geschichte 
bis  auf  Peter  d.  Gr.  und,  längst  darauf  abge- 
richtet, sich  in  drei  Sätzen  den  Geist  des  Mittel- 
alters, in  drei  anderen  das  Gesetz  der  neueren 
Zeit,  in  etlichen  mehr  die  großen  Wege  und  in 
beliebig  vielen  die  kleineren  Schliche  der  Vor- 
sehung aufdecken  zu  lassen,  sieht  er  den  kom- 
menden Dingen  voll  Zuversicht  entgegen ;  schrei- 
tet an  der  Hand  bequemer,  über  den  Vorgängen 
schwebender :  combinierender,  motivierender,  prä- 
nnd  poatdestinierender  Apergus,  nirgends  von 
Bath,  Antwort  und  Urtheil  verlassen,  mit  größ- 
ter Gedanken-  und  Zeitersparnis  von  Seite  zu 
Seite,  bis  er  auf  der  letzten  (S.  573)  erfährt, 
daß  sich  die  Thatsachen  und  Entwickelungs- 
reihen  in  der  Geschichte,  unabhängig  von  ein- 
zelnen Menschen,  von  selbst  vollziehen:  daher 
wird  er  sich  auch  nicht  wundern,  wenn  mittler- 
weile, unabhängig  von  ihm,  im  Pandämoninm 
seines  Gehirns  neben  den  alten  Göttern  auch 
der  russki  bog,  eine  Art  russischer  Vorsehung, 
seinen  Sitz  genommen  hat  und  über  seine 
göttlichen  Absichten  mit  Kasan,  Archangel,  Liv- 
land,  mit  Polen,  Gustav  Adolf  und  Peter  dem 
Großen  weiter  kein  abendländisches  Mißver- 
ständniß  gestattet.  Hoffentlich  vorläufig  nur  als 
halbpopulärer  Gott. 

Zum  Schluß  komme  ich  auf  Livland,  den 
am  härtesten  bestrittenen  Eampfpreis  und  in  ge- 
wissem Sinne  das  A  und  0  des  Nordischen 
Krieges.  Viel  mag  der  Verf.  davon  nicht  reden 
und  das  sei  ihm  weiter  nicht  verdacht.  Aber, 
was  er  bringt,  ist  kläglich.    Anfang,  Mitte  und 

60 


946      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  30. 

Ende  hebe  ich  hervor  und  schließe  mit  einigen 
Zwischenbemerkungen. 

Am  Anfang  wird  S.  354  die  Frage  gestellt: 
wann  gedieh  in  dem  Zaren  der  Gedanke  an 
den  schwedischen  Krieg  zur  Reife?  und  die 
Antwort  lautet:  „Die  peinlichen  Eindrücke  in 
Riga  —  —  haben  nicht  unmittelbar  in  dem 
Zaren  den  Wunsch  zu  einem  Angriffskriege 
erweckt".  Die  Antwort  ist  keine  Antwort,  denn 
Wunsch  und  Reife  sind  so  weit  von  einander 
entfernt,  wie  Ansätze  zu  Blttthe  und  Frucht. 
„Die  peinlichen  Eindrücke  in  Riga",  heifit  es, 
„welche  man  später  zu  einem  casus  belli  auf- 
bauschteu.  Der  „man"  ist  S.  357  der  Zar,  der, 
so  wohlüberlegt,  wie  möglich,  erzählt :  im  August 
1698  zu  Rawa  habe  er  den  König  August  auf- 
gefordert, ihm  zu  helfen,  jene  Beleidigung  zu 
rächen,  welche  Dalberg  in  Riga  ihm  angethan; 
derselbe  Zar,  der,  als  er  eilf  Jahre  darnach  die 
ersten  Bomben  mit  eigner  Hand  nach  Riga 
hineinwirft,  S.  418  seinem  Herzenskinde  Men 
schikow  schreibt:  „Ich  danke  Gott  dafür,  daß 
es  mir  vergönnt  ist,  mich  an  dieser  verdammten 
Stadt  zu  rächen".  Was  hindert  den  Verf.  dem 
Zaren  Glauben  zu  schenken,  der  doch  gewiß 
am  besten  gewußt  haben  wird,  was  ihm  zuerst 
die  Kriegslust  in's  Herz  gebracht  hat?  Und 
was  hätte  „man"  dabei  „aufzubauschen"  ge- 
habt? Statt  aller  Antwort  verschiebt  der  Verf. 
von  Neuem  die  Position  und  belehrt  uns  so: 
„Als  im  Jahre  1870/71  Deutschland  Elsaß- 
Lothringen  erwarb,  bemerkte  ein  geistreicher 
Zeitgenosse  im  Gespräche  mit  Thiers,  Deutsch- 
land führe  Krieg  gegen  Ludwig  XIV.;  ebenso 
hätte  man  bei  dem  Ausbruche  des  nordischen 
Krieges  sagen  können,  Rußland  führe  den 
Krieg  gegen  Gustav  Adolph.     Was  galt  neben 


Brückner,  Feter  der  Große.  947 

solchen  Interessen  die  persönliche  Empfindlich- 
keit in  Veranlassung  jener  Episode  in  Riga  im 
J.  1697  ?a  Es  ist  schwer,  in  Kürze  zu  antwor- 
ten, so  schief  und  verschoben  ist  die  Frage; 
weder  Zeiten  noch  Orte  quadrieren.  Was  der 
geistreiche  Zeitgenosse  am  Ende  des  deutsch- 
französischen Krieges  bemerkt,  das  soll  dem 
geistreichen  Epigonen  für  den  Anfang  des  rus- 
sisch-schwedischen Krieges  einleuchtend  sein; 
was  von  Ingermanland  gilt,  das  soll  von  Liv- 
land  gelten.  Ferner:  wenn  Interessen  gelegent- 
lich Gefühle  unterdrücken,  welche  ihnen  im 
Wege  sind,  so  stehen  sie  Gefühlen  gewiß 
nicht  im  Wege,  welche  ihnen  dienen.  Das  ganze 
Apergü  hat  keine  andere  Wirkung,  als  die 
Dinge  vollends  in  schwankende  Nebel  zu  hüllen. 
Fest  steht  eins  und  davon  schweigt  der  Verfas- 
ser: in  den  Jahren  1698.  1699.  1700.  1701. 
1702.  1703  hat  der  Zar  nicht  daran  gedacht, 
Livland  von  Gustaf  Adolf  für  sich  zu  erobern. 
Sich  rächen  und  verwüsten  hat  er  gewollt  und, 
sobald  er  an's  Behalten  dachte,  hörte  er  auf  zu 
verwüsten,  nicht  einen  Moment  früher.  Darin 
liegt  auch  eine  Antwort  auf  die  Frage  vom 
Anfang. 

So  steht  es  bei  dem  Verf.  mit  dem  Anfang. 
Mit  der  Mitte  steht  es  S.  423  so:  „Am  4.  Juli 
(1710)  kapitulierte  Riga.  Der  Zar  erließ  die 
bekannten  Gnadenbriefe  zum  Schutz  der  neuen 
Provinz.  In  großer  Freude  stattete  er  seinem 
rührigen  Mitarbeiter  Kurbatow  von  dem  hoch- 
wichtigen Ereignisse  Bericht  abtt.  Die  bekann- 
ten Gnadenbriefe !  Der  rührige  Mitarbeiter  Kur- 
batow ! 

Vollends  macht  das  Ende  S.  445  wenig  zu 
schaffen:  „Ende  April  1721  trafen  die  russi- 
schen Diplomaten  —  in  Nystadt  ein  —  —   Um 

60* 


948       Gott,  gel  Anz.  1880.  Stück  30. 

die  Schweden  noch  mürber  zu  machen,  fand 
abermals  ?in  Verheerungszug  nach  Schwede^ 
statt.  In  Betreff  Livlands  wurden  dfie  Schweden 
nachgiebiger.  Nur  wegen  Wibprgs  gab  es  noch! 
hitzige  Debatten  —  — .  JSndli^h  waren  ^lle 
Schwierigkeiten  beseitigt.  Am  3.  Sept/  erhielt 
Peter  die  Nachricht  von  dem  am  30.  Aijig.  unter-" 
zeichneten  Frieden.  Livland,  Estland,  Inger- 
manland,  ein  Theil  Kareliens  mit  Wib^rgs-Län 
waren  erworben;  Finland  würde  zurückgegeben, 
Rußland  zahlte  zwei  Millionen  Thaler14. 

Warum  diesem  ergreifend  einfachen  Ausgang 
allerlei  Extratouren  mit  Livland  vorausgehen 
ist  unerfindlich.  Was  kümmert  den,  der  vom 
Nystadter  Frieden  nichts  weiter  erfährt,  etwa 
der  russisch-preußische  Garantievei^rag  „vom 
1/12  Mai  1714?u  Und  wer,  «Jen  dieser  Vertrag 
interessieren  sollte,  wäre  dapn  nicht  begierig, 
etwas  mehr  zu  erfahren,  als  der  V^r£  8.  4$i 
mitzutheil$n  für  gut  befindet,  wenn  qp,  na$k  der 
Bemerkung:  der  Zar  habe  die  pr^ische  Garan- 
tie für  Kardien  und  Ingrien,  der  Köpig  vop 
Preußen  die  Zariscbe  für  Stettin  in  Ansprijcfc 
genommen,  heißt:  „Im  Gespräch  mit  Golow- 
kin  äußerte  der  König  nebst  vielen  Klagen 
über  die  Franzosen,  er  werde  sich  fortan  auf 
Niemand  verlassen,  als  auf  den  Zaren?  den  er 
liebe  und  verehre.  So  kam  denn  der  Garan- 
tievertrag zu  Stande.  Im  Art.  4  war  ausge- 
macht worden:  Weitere  Eroberungen  des  Zaren 
gegen  Schweden  wird  Preußen  nicht  hinderi}, 
der  Zar  das  Aufnehmen  des  preußischen  Hauses 
befördern".  Weitere  Eroberungen  ?  Aber  der  Zar 
hatte,  Karelien  und  Ingrien  ungerechnet,  dajpals 
bereits  erobert:  so  gut  wie  ganz  Finland,  gp.pß  Est- 
land, ganz  Livland;  wie  weit  gedachte  er  denn 
noch  zu  gehen  und  wie  weit  gedachte  der  König 


I* 


Brückner,  Peter  der  Große.  949 

von  Preußen  ihn  gehen  zu  lassen?  Nan  ist  von 
weiteren  Eroberungen  gegen  Schweden  freilich 
bei  Drdyßen,  S.  97  Anm.  zu  lesen ;  im  Vertrage 
selbst  aber  handelt  es  sich  nur  darum,  wie  viel 
von  dem  bereits  Eroberten  dem  Zaren  zu  garan- 
tieren sei.  Was  hinderte  den  Verf.,  sich  den 
Vertrag  selbst  anzusehen?  Was  hinderte  ihn 
vollends,  dich  dort,  wo  er  seine  Kunde  vom  Art. 
4  hernahm,  auch  belehren  zu  lassen,  daß  im 
Art  3  die  preußische  Garantie  außer  Ingrien  und 
Kardien  auch  Estland  sammt  Reval  umfaßte? 
Schrieb  er  das  Falsche  ab,  warum  ließ  er  das 
Richtige  bei  Seitfe,  da  doch  ohne  Art.  3  weder 
Motiv,  noch  Tragweite  des  Vertrags  begreiflich 
sind?  Oder  hätte  er  überhaupt  nicht  geahnt, 
daß  sich  der  Vertrag  ebenso  wohl  gegen  Polen 
wie  gegen  Schweden  richtet  und  daß  der  Art.  4 
vornehmlich  auf  Livland  zielt?  Wußte  er  das 
nicht,  was  zwang  ihn  von  Dingen  zu  reden, 
von  denen  er  nichts  weiß?  Endlich  ist  das 
Datum  falsch.  Allerdings  wird  es  bei  Droysen 
in  der  Anmerkung  auf  S.  97  so  vorgefunden, 
Übfer  S.92  steht  richtig:  12.  Juni  (St.  n.).  Nach 
Datum  und  Inhält  hätte  dich  der  Verf.  an  einer 
äkr  Quellen,  etwa  russ.  Sammlung  der  Gesetze 
Ao.  2816,  umsehen  sollen. 

In  der  russischen  Gesetzessammlung  ist  zwar 
die  Denkschrift  Ilgens  vom  Dec.  1713,  welche 
der  Verf.  S.  430  beiziehen  zu  müssen  glaubt, 
nicht  zu  finden,  allein,  was  Droysen  aus  ihr  an- 
führt, brauchte  doch  nicht  gerade  entstellt  zu 
werdfcä.  Nun  aber  tritt  uns  statt  der  vier  von 
Ilgen  Erörterten  und  von  Öroysen  richtig  aus- 
einandergehaltenen  Alternativen  bei  dem  Verf. 
nur  flie  nackte  Beiürwdftung  einer  Allianz  mit 
äbtföeden  entgegen.  Uebef  das  Nähere  ver- 
gtelfcüfc  iriatf  Droysen  IV,  2.  76—77.     Eines  ist 


950         Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  30. 

indeß  hier  nicht  zu  nmgehen.  Ans  den  von 
Droysen  mitgetbeilten  königlichen  Marginal- 
notizen  jener  Denkschrift  hat  sich  der  Verfasser 
nach  seiner  hazardierenden  Art  eine  herausge- 
griffen und  es  gerade  mit  dieser  unglücklich 
getroffen,  obwohl  er  sich  für  den  Wortlaut  auf 
Droysen  berufen  kann.  Wo  nehmlich  Ilgen 
einem  Frieden  das  Wort  redet,  bei  welchem  das 
Gleichgewicht  im  Norden  hergestellt  und  das 
Uebergewicht  des  Zaren  eingeschränkt  werde, 
da  habe  der  König  notiert:  „Gut,  aber  der  Zar 
muß  Petersburg  mit  Hafen  und  allen  Pertinentien 
behalten,  Liefland,  Kurland  mit".  Also,  ein 
halbes  Jahr  vor  jenem  Garantievertrag,  den  der 
Verf.  auf  Ingrien  und  Garelien  beschränkt  sein 
läßt,  der  in  der  That  auch  Estland  umfaßt, 
allein  Livland  entschieden  nicht .  und  Kurland 
noch  weniger,  da  wandelt  den  König  von  Preu- 
ßen eine  so  wunderliche  Laune  von  Freund- 
schaft und  Freigebigkeit  an,  daß  er  perempto- 
risch erklärt,  der  Zar  müsse  durchaus  auch  Liv- 
land und  Kurland  behalten,  und  zwar  richtet  er 
diese  Erklärung,  ohne  irgend  gedrängt  zu  sein, 
vertraulich  an  seinen  vertrautesten  Staatsmini- 
ster in  demselben  Moment,  wo  dieser  ihm,  wenn 
dem  Verf.  zu  folgen  wäre,  die  Allianz  mit 
Schweden,  selbst  auf  die  Gefahr  eines  Krieges 
mit  Rußland,  anräth  und  nur  einen  solchen  Frie- 
den als  wtinschenswerth  bezeichnet,  durch  wel- 
chen das  Uebergewicht  des  Zaren  eingeschränkt 
werde.  Welcher  doppelte  und  dreifache  Wider- 
sinn! Dessen  gar  nicht  zu  gedenken,  daß  von 
Anbeginn  bis  an's  Ende  des  Nordischen  Krieges 
Preußen  für  sich  selbst  um  die  Anwartschaft 
auf  Kurland  wirbt;  daß  es  Livland  noch  in  der 
eilften  Stunde,  als  der  Friede  von  Nystädt 
schon  vor  der  Thür  steht,  mit  größter  Anstren- 


Brückner,  Peter  der  Grolle.  951 

gung,  freilieb  unter  der  Hand,  dem  Zaren  vor- 
zuenthalten, sich  abmüht  Das  steht  so  un- 
widerleglich fest,  daft  dagegen  nichts,  was  der 
König  mit  seiner  bekanntlich  nicht  allzuleser- 
lichen Hand  irgendwo  aufgezeichnet  haben 
mochte,  aufzukommen  vermag  und  mindestens 
ein  Schreibfehler  statuiert  werden  müßte.  Nun 
kann  sich  aber  Jedermann  aus  dem  Original 
überzeugen,  daß  hier  kein  Schreib-  sondern  ein 
Lesefehler  in  Betracht  kommt  und  daß,  wie  auf 
alle  Fälle  gelesen  werden  muß,  von  des  Kö- 
nigs Hand,  und  zwar  aufs  deutlichste,  auch 
wirklich  hingeschrieben  steht:  „Out,  aber  der 
Zar  muß  Petersburg  mit  Hafen  und  allen  Perti- 
nentien  behalten,  Liefland,  Kurland  nit* 
Kiel.  Juli  C.  Schirren. 


La  thöorie  atomique,  par  Ad.  Wurtz. 
II.  Ed.  Paris,  Librairie  Germer  Bailli&re  et  Cie. 
1879.  241  S.  8°.  —  Deutsch  als  37.  Bd.  der  In- 
ternationalen wissenschaftlichen  Bi- 
bliothek.   Leipzig,:  F.  A.  Brockhaus.    1879. 

Das  vorliegende  Buch  ist  theilweise  eine 
freie  Bearbeitung  des  von  demselben  Verfasser 
1864  veröffentlichten  Werkes  „Legons  sur  quel- 
ques points  de  philosophie  chimique";  es  sind 
jedoch  mehrere  gänzlich  neue  Kapitel  demselben 
beigefügt.  Die  Schreibweise  ist  eine  elegante 
nnd  klare  und  es  wäre  das  Buch  entschieden 
als  ein  sehr  gelungenes  zu  bezeichnen,  wenn 
nicht  leider  einige  grobe  Flüchtigkeiten  in  dem- 
selben enthalten  wären;  zudem  sind  noch  in 
ihm  fremde  Werke  stärker  benutzt  als  dies,  in 


952        Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  30. 

Deutschland  wenigstens,  für  statthaft  erachtet 
wird. 

Der  Verfasser  zeigt  zunächst  in  einer  ge- 
schichtlichen Einleitung,  wie  die  Arbeiten  von 
Lavoisier,  Berthollet,  Prout  und  Richter  das 
Feld  für  die  Aufstellung  der  Atomtheorie  ge- 
ebnet haben,  und  kommt  dann  zu  dieser  selbst 
und  ihrer  Formulierung  durch  Dalton.  Bei  Be- 
sprechung des  Antheils,  den  Gay-Lussao,  Ampfere 
und  Berzelius  durch  ihre  Arbeiten  auf  den  Aus- 
bau der  Theorie  erlangt  haben,  thut  er  auch 
Avogadro's,  dessen  Arbeit  er  in  das  Jahr  1813 
statt  1811  und  1814  verlegt,  Erwähnung,  was 
in  dem  älteren  oben  citierten  Werke  nur  bei- 
läufig in  einer  Randbemerkung  geschehen  war. 
In  diesem  schrieb  er  nämlich  die  Entdeckung 
und  Aufstellung  des  Volumgesetzes  ausschließ- 
lich Ampfere  (p.  18)  zu;  in  der  neuen  Bearbei- 
tung tritt  diese  Sache  in  ein  ganz  anderes  Licht 
und  dadurch  in  Uebereinstimmung  mit  der  von 
Gannizzaro  (Sunto  di  un  corso di filosofia  chi- 
mical857),  Lothar  Meyer  (Mod.  Theor.  3.  Aufl. 
p.  22 — 25)  und  Anderen  gegebenen  Entwicklung. 

Nach  Anführung  des  Boyle-Gay-Lussac'schen 
Gesetzes,  durch  dessen  Entdeckung  die  Atom- 
theorie eine  bedeutende  Stütze  erhielt  (vergl.  Mod. 
Theor.  p.  30),  folgt  die  weitere  Bearbeitung  des 
Volumgesetzes  durch  Prout,  Dulong-Petit  und 
Mitscherlich.  —  Die  deutsche  Ausgabe  schreibt 
durch  das  ganze  Buch  mit  seltener  Consequenz 
Proust,  indem  sie  den  Engländer  mit  seinem  et- 
was älteren  französischen  Fachgenossen  ver- 
wechselt. 

Uebergehend  zu  dem  Einfluß,  den  Berzelius 
auf  die  Entwicklung  dieses  Gesetzes  geübt  hat, 
bringt  Wurtz  zunächst  dessen  Anschauungen  über 
dasselbe  und  im  Anschluß  daran  die  Entdeckung 


Wurtz,  La  theorie  atomique.  953 

der  mit  denselben  nicbt  stimmenden  Dampf- 
dichten des  Hg,  S  nnd  P,  darauf  die,  in  Folge 
dessen,  durch  Gmelin  vertretene  nene  Einfüh- 
rung der  Aequivalentgewichte.  Beide  An- 
schauungen werden  vom  Verfasser  kritisch  be- 
leuchtet. Die  Unhaltbarkeit  jeder  von  ihnen 
führt  zur  Aufstellung  der  Typentheorie  durch 
Gerhardt  und  Laurent  und  zu  der  durch  sie  be- 
wirkten Umänderung  der  Berzelius'schen  Atom- 
gewichte. Allgemeine  Klärung  brachte  jedoch 
erst  Gannizzaro  durch  richtige  Unterscheidung 
zwischen  Atom  und  Molekel.  Hierdurch  ent- 
standen die  mit  den  Gesetzen  von  Dulong-Petit 
und  Avogadro  tibereinstimmenden  Atomgewichte, 
die  mit  wenigen  Ausnahmen  auch  noch  die 
heute  angenommenen  sind.  Pag.  68  ist  eine 
Tabelle  dieser  Atomgewichte  gegeben ;  in  dersel- 
ben findet  sich  Cäsium  mit  Ce  bezeichnet,' während 
Cerium  ganz  fehlt.  Um  die  Uebereinstimmung 
obiger  Gesetze  mit  den  Atomgewichten  noch 
deutlicher  zu  zeigen,  giebt  Wurtz  p.  77  eine 
den  Mod.  Theor.  p.  53  entnommene  Zusammen- 
stellung der  aus  den  Atomgewichten  und  der 
aus  den  Dampfdichten  berechneten  Molekular- 
gewichte. Pag.  86  bezeichnet  er  eine  Molekel 
mit  2  Atomen  mit  Claijsius  als  zweiatomig  und 
unterscheidet  atomig  von  der  Atomigkeit.  Es 
wäre  wohl  besser  dieses  letztere  von  ihm  öfter 
gebrauchte  Wort  in  dieser  Bedeutung  ganz  zu 
vermeiden  und  statt  dessen  das  viel  bezeichnen- 
dere, von  ihm  selbst  ebenfalls  gebrauchte  Wort 
«valence**  —  chemischer  Werth  —  einzuführen 
(siehe  darüber  Mod.  Theor.  p.  140).  Auf  p. 
155  bezeichnet  Wurtz  das  Wort  übrigens  selbst 
als  unzweckmäßig,  überschreibt  aber  trotzdem 
das  ganzö  zweite  Buch  mit  dem  Haupttitel 
„Atomicity .  —  Nach  Erklärung  der  scheinbaren 


954        Gott,  gel  Anz.  1880.  Stück  30. 

Ausnahmen  vom  Avogadro'schen  Gesetze  durch 
die  Dissociation  kommt  er  zu  den  Abweichun- 
gen vom  Gesetz  von  Dulong-Petit.  Die  Erklä- 
rung derselben  sucht  er  in  den  verschiedenen 
ätiotropen  Modifikationen  der  betreffenden  Ele- 
mente, die  darin  bestehen,  daß  sich  eine  ver- 
schiedene Anzahl  von  Atomen  zu  einer  Molekel 
verbindet.  Es  muß  also  in  Folge  dessen  eine 
größere  oder  geringere  Wärmemenge  bei  der 
Temperaturerhöhung  zu  innerer  Arbeit  verbraucht 
werden.  Für  die  Gase  giebt  er  hierbei  als 
bemerkenswerth  an,  daß  ihre  Atomwärme  gleich 
der  Hälfte  derjenigen  ist,  welche  ihnen  im  star- 
ren Zustande  zukommt,  eine  schon  vor  ihm  von 
Lothar  Meyer  hervorgehobene  Thatsache 
(Mod.  Theor.  p.  1 10).  Nachdem  er  kurz  die  Moleku- 
larwärme und  die  Bunsen'sche  Entdeckung  über 
die  Flüchtigkeit  der  Haloidsalze  besprochen  hat, 
geht  er  zur  dritten  Methode  der  Molekular-  und 
Atomgewichtsbestimmung ,  dem  Isomorphismus 
über.  Er  kommt  dabei  zu  denselben  Schlüssen 
wie  Lothar  Meyer,  so  daß  selbst  die  Darstel- 
lung, p.  106  unten  und  p.  107,  sehr  an  die  in  den 
Mod.  Theor.  gegebene  (p.  127—128)  erinnert 

Das  sechste  und  siebente  Kapitel  ist  seinem 
älteren  Werke  Phil.  chim.  vollständig  neu  hin- 
zugefügt. Der  Verfasser  behandelt  darin  die 
Classifikation  der  Elemente  und  das  periodische 
System.  Zur  Geschichte  dieses  Systemes,  die 
Herr  Wurtz  etwas  verkennt,  auf  die  aber  näher 
einzugehen  nicht  in  meiner  Absicht  liegt,  ver- 
gleiche Lothar  Meyer  „Zur  Geschichte  der  pe- 
riodischen Atomistik",  Berichte  der  deutschen 
ehem.  Gesellschaft  XIII  p.  259.  In  der  Be- 
schreibung der  in  diesem  System  stattfindenden 
Regelmäßigkeiten  bringt  er  p.  115  eine  Tabelle, 
die  mit  den  von  Lothar  Meyer,  Mod.  Theor. 


Wurtz,  La  theorie  atomique.  955 

p.  293  and  296,  gegebenen  Tabellen  eine  un- 
verkennbare Uebereinstimmung  zeigt  Die  Un- 
terschiede beider  möchte  ich  mir  erlauben  et- 
was näher  zu  erläutern.  Wurtz  setzt  das  Atom- 
gewicht des  W  =  84  statt  184  nnd  das  Volnm 
der  Ga  1,17  statt  11,5,  ferner  sind  die  Dichtig- 
keiten beim  AI  nnd  Si  vertauscht.  Alles  Feh- 
ler, die  anch  in  der  deutschen  Ausgabe  nicht 
verbessert  sind.  Abgesehen  von  diesen  kleinen 
leicht  zu  übersehenden  Irrthümern  befinden  sich 
aber  auch  starke  Inconsequenzen  in  der  Ta- 
belle. Obschon  Wurtz  p.  68  ausdrücklich  dem 
von  Dumas  angenommenen  Werthe  Ag  =  108 
vor  dem  von  Stas  bestimmten  Ag  =  107,94 
den  Vorzug  geben  zu  wollen  erklärt,  schreibt 
er  doch  eine  ganze  Reihe  von  Atomgewichten 
aus  den  Mod.  Theor.  unverändert  ab,  welche 
weder  zu  dem  einen  noch  zu  dem  andern 
Werthe,  sondern  nur  zu  dem  von  Stas  für 
H  =  1,  0  =  15,96  berechneten  Ag  =  107,66 
passen.    So  steht  z.  B. 


p.  69  Br  =    80 
AI  =    27,5 
Ba  =  137,2 
La  =    92 
U  =  120 


p.  115  Br  =    79,75 
AI  =    27,3 
Ba  =  136,8 
La  =  139 
U  =  240 


Wurtz  hat  außerdem  nicht  beachtet,  daß  seine 
Annahme  Ag  =  108,  Cl  =  35,5  mindestens 
die  Hälfte  der  von  ihm  berechneten  Atomge- 
wichte um  etwa  ein  halbes  Prozent  ihres  Wer- 
thes  vergrößern  mußte.  Die  von  ihm  weiter 
angeführten  Regelmäßigkeiten  sind  sämmtlich 
schon  vor  ihm  von  Lothar  Meyer  beschrieben 
worden  (Mod.  Theor.  p.  299 ff.);  ganz  ebenso 
verhält  es  sich  mit  den  im  vorletzten  Abschnitte 
dieses  Kapitels   gegebenen  Beziehungen,    wie: 


956        Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  30. 

doppelte  Periodizität  der  electrochem.  Eigen- 
schaften der  Elemente  (Mod.  Theor.  p.  316 ff.); 
Affinität  eine  periodische  Funktion  des  Atom- 
gewichtes, mit  Tabfelle  der  Oxide  (Mod.  Theor. 
p.  322);  Zusammenhang  der  Oxide  mit  den 
Hydraten,  mit  Tabelle  (Mod.  Theor.  p.  324). 
Siehe  auch  Mendelejeff  (Liebig's  Ann.  Suppl. 
Bd.  8). 

In  ähnlicher  Weise  behandelt  er  die  Atom- 
nnd  Molekularvolumina,  indem  er  vorzüglich 
die  Periodizität  derselben  hervorhebt.  Die  Ent- 
deckung dieser  Thatsache  bezeichnet  Wurtz  in 
der  franz.  Ausgabe  geradezu  als  das  Verdienst 
Mendel e jeff's  und  verschweigt  gänzlich,  daß  dies 
zuerst  von  Lothar  Meyer  (Ann.  Chem.  Pharm. 
S.  B.  7.  p.  354)  nachgewiesen  wurde.  Gegen 
die  Berichtigung  dieses  Fehlers  durch  den  deut- 
schen Herausgeber  hat  Würtz  (Berichte  der  deut- 
schen chem.  Ges.  XIII  p.  7)  ausdrücklich  Ver- 
wahrung eingelegt.  Am  Schluß  des  ersten  Bu- 
ches erwähnt  er  die  Kopp'schen  Untersuchungen 
titer  die  Molekular-  und  Atomvolumifia  und 
führt  die  von  ihm  gefundenen  allgemeinen  Re- 
geln an. 

Das  zweite  Buch  ist  in  seiner  ersten  Hälfte 
eine  freie  Bearbeitung  des  älteren  Werkes  Le- 
mons sur  qu.  points  de  Phil.  chim.  Es  behan- 
delt in  der  Hauptsache  den  chemischen  Wferth 
der  Atome  in  ihren  Verbindungen. 

Wurtz  beginnt  deshalb  mit  der  Entwicklung 
dieses  Begriffes  und  beschreibt  den  Einfluß,  den 
die  Typentheorie  auf  dieselbe,  ausgeübt  hat.  Er 
knüpft  daran  die  heutigen  Anschauungen  über 
den  ehem.  Werth,  indem  et  zunächst  die  Ver- 
schiedenheit zwischen  ihm  und  der  Affinität 
nachweist  und  darauf  zu  der  Veränderlichkeit 
des    chem.   Werthes   übergeht ,   den  er  als  ab- 


Wurtz,  La  thäorie  ^topiique.  957 

hängig  von  dem  zweiten  in  die  Verbindung  ein- 
tretenden Stoffe  bezeichnet!  Es  ist  dies  wohl 
zuerst  in  sehr  ähnlicher  Weise  von  Erlenmeyer 
(Zeitschrift  für  Chemie  und  Pharm.  7  p.  629) 
1864  ausgesprochen  worden.  (Vgl.  auch  Lothar 
Meyer,  Mod.  Theor.  §.  131  und  134).  Die  ^en- 
derung  des  ehem.  Werthes  sucht  Wurtz  weiter 
als  eine  Function  des  Atomgewichtes  hinzustellen. 
Auch  dies  ist  vor  ihm  schon  von  Lothar  Meyer 
geschehen  (Mod.  Theor-  §.  172).  Die  Ursache 
der  Veränderlichkeit  glaubt  er  in  der  Bewegungs- 
forra  der  aufeinander  einwirkenden  Molekeln  zu 
finden.  (Vergl.  Mod.  Theor.  p.  264).  Von  den 
rein  atomistischen  Verbindungen  übergehend  zu 
den  sogenannten  Molekularverbinaungen  erklärt 
er  die  Bildung  z.  B.  des  Ammonyimchjorideg  ala 
entstanden  aus  der  Affinität  des  Clflores  ijicht 
zum  Stickstoff)  sondern  zu  allen  vorhandenen, 
Atomen.  Er  sagt:  „durch  den  Vorgang  dieser 
Vereinigung  bildet  sich  ein  qeqer  Gleichgewichts- 
zustand zwischen  allen  Elemente*}  in  einpr  sol- 
chen Weise,  daß  die  Affinitäten  zwischen  den 
Atomen  des  Stickstoffes,  dep  Wasserstoffes  und 
des  Chlores  zur  Bildung  dieses  neuen  Zustandes 
beitrage^  (Deutsche  Auqg.  p.  224).  jLekule 
bezeichnet  in  seinem  Lehrbuch  der  organischen 
Chemie  p.  142  und  145  (auph  Coipptes  rend. 
1864  T.  58.  p.  510)  den  Grunjd  des  Zusammen- 
hanges in  sehr  ähnlicher  Weise  als  die  Wirkung 
der  Resultante  aller  Anziehungskräfte  der  Mo- 
lekel 2WÄ  auf  die  Molekel  HCl.  Ebenfalls  über- 
einstimmend mit  der  Ansicht  Kekule's  bekämpft 
Wurtz  die  Annahme  eines  Unterschiedes  zwischen 
molekularer  und  atpjnistischer  Anziehung,  er 
hebt  deshalb  die  Unterschiede  zwischen  der  heu* 
tigen  atom  is  tischen  Anschauung  und  der  Radikal- 
theorie hervor,  von  denen   er  der  ersteren  den 


958        Gott  gel.  Adz.  1880.  Stück  30. 

Vorrang  ein  räumt,  da  sie  nicht  allein  die  Zahl 
der  isomeren  Verbindungen  zu  bestimmen  er- 
laubt, sondern  uns  auch  befähigt  einen  Einblick 
in  den  inneren  Bau  der  Molekeln  zu  thun.  Er 
bekämpft  deshalb  die  Ansicht  Berthelot's,  der 
annimmt,  daß  ein  und  derselbe  Körper,  je  nach 
der  Art,  in  welcher  er  entstanden  ist,  verschie- 
dene Isomere  bilden  könne.  (Aehnlich  der  An- 
schauung Eolbe's,  der  z.B.  annimmt,  daß  [CS]0 
und  [C0]8  isomere  Verbindungen  sind.  Uebri- 
gens  geben  Lossen's  substituierte  Hydroxylamine 
und  Polysulfide  wirklich  solche  Isomere).  Von 
der  gebräuchlichen  Darstellung  der  ehem.  For- 
meln in  einer  Ebene  geht  er  über  zu  der  räum- 
lichen Anordnung  derselben  durch  Beschreibung 
der  van't  Hoffschen  Theorie. 

Das  vierte  Capitel  ist  wohl  als  ein  physika- 
lisches zu  bezeichnen,  es  enthält  sehr  starke  An- 
klänge an  „die  kinetische  Theorie  der  Gase"  von 
0.  E.  Meyer.  Im  Beginn  sind  die  älteren  An- 
schauungen über  die  Constitution  der  Materie 
beschrieben,  es  wird  erwähnt  Anaxagoras,  Demo- 
krit,  Descartes,  Kant  und  Schelling,  ebenso  die 
Ansicht  Poisson's  und  die  Hypothese  der  trans- 
mundanen  Atome  von  Lesage.  Nach  dieser  ge- 
schichtlichen Einleitung  kommt  Wurtz  zur  heuti- 
gen kinet.  Theorie  der  Körper  und  behandelt 
ausführlich  die  kinet  Theorie  der  Gase. 

Ausgehend  von  der  Ansicht  Bernoulli's  bringt 
er  die  sich  aus  derselben  ergebende  Auffassung 
über  die  Entstehungsart  des  Druckes  durch  die 
Zahl  der  Stöße  der  Molekeln  in  der  Zeiteinheit 
und  die  Heftigkeit  derselben,  das  Boyle'sche  Ge- 
setz und  die  von  Glausius  berechnete  Molekular- 
geschwindigkeit (für  Luft  G  =  485),  ebenso 
die  sich  gleichfalls  durch  die  Theorie  erklären- 
den Abweichungen  vom  Boyle-Gay-Lussac'schen 


Wurtz,  La  theorie  atomiqae.  959 

Gesetze.  Von  jetzt  an  nähert  sich  die  Darstel- 
lung immer  mehr  der  von  0.  E.  Meyer  in  der 
kinet.  Theorie  der  Gase  gegebenen.  Wurtz  be- 
spricht die  Berechnung  der  Weglänge  aus  der 
Beibnng  und  benutzt  als  Beispiel  folgende  Zah- 
len :  die  Weglänge  L  =  0,00000909  die  Stoßzahl 

y  =  4700  Millionen,  wo  die  mittlere  Geschwin- 
digkeit Q  =  447  m  gesetzt  ist.  Es  sind  diese 
Zahlen  der  kinet.  Theorie  p.  140  entnommen. 
Wurtz  läßt  dabei  außer  Acht  den  Unterschied 
des  Q  von  0.  E.  Meyer  und  des  O  von  Clau- 
sius.  Er  sagt  einige  Zeilen  früher,  daß  es  sich 
hier  um  die  mittleren  Geschwindigkeiten  handle, 
trotzdem  benutzt  er  p.  229  unten  die  Clausius'- 
sche  Zahl,  die  gar  nicht  die  mittlere  Geschwin- 
digkeit, sondern  den  der  mittleren  lebendigen 
Kraft  entsprechenden  Werth  der  Geschwindigkeit 
angiebt.  (Siehe  kinet.  Theor.  p.  42).  Die  Weg- 
länge L  giebt  er  als  25  mal  kleiner  als  die 
kleinste  durch  das  Mikroskop  wahrnehmbare 
Größe  an.  (Kinet.  Theor.  p.  141  oben).  Der  Ver- 
fasser schließt  an  diese  Betrachtung  in  derselben 
Reihenfolge,  wie  es  in  der  kinet.  Theorie  von 
0.  E.  Mey  er  geschehen  ist,  die  Folgerungen  aus 
der  Theorie  an.  Berechnung  des  Molekular- 
durchmessers aus  dem  Condensationskoeffizienten 
(kinet  Theorie  §.  102)  und  nach  van  der  Waals 
(kinet.  Theorie  §.  103),  des  Querschnitts  und  des 
Volumes  der  Molekeln  (kinet.  Theorie  §.  104) ;  Zahl 
und  Entfernung  der  Molekeln  (kinet.  Theorie  §. 
105),  ihr  absolutes  Gewicht  (kinet.  Theorie  §.  106). 
Auf  p.  234  oben  giebt  Wurtz  als  Zahl  der  Mo- 
lekeln in  lcc  Gas  bei  1  Atmosphäre  Druck  21 
Trillionen  an  (kinet.  Theorie  p.  232),  weiterhin  auf 
p.  234  dagegen  meint  er,  daß  auf  lmgrLuft  10 
Trillionen  Molekeln  kämen,  auf  1  mgr  Wasserstoff 


960        68tt.  gel.  Anz.  1880.  Stück  30. 

144  Trillionen.  Die  Zahlen  sind  entnommen  der 
kinet.  Theorie  pag.  234.  In  denselben  ist 
aber  leider  ein  Rechenfehler  enthalten,  es  fehlt 
nämlich  in  ihnen  der  Factor  1,  77.  Führt  man 
denselben  ein,  so  ergiebt  sich  für  Luft  21 .  800 
=  16800  statt  12 .  800  =  10000,  also  auf  1  mgr 
Luft  16,8  Trillionen;  ganz  das  Gleiche  ist  beim 
Wasserstoff  der  Fall :  statt  140  Trillionen  ist  zu 
setzen  235  Trillionen.  Die  von  Wurtz  weiter 
zur  Bestätigung  der  Theorie  erwähnten  anderen 
Grenzbestimmungsmethoden  finden  sich  auch  in 
der  kinetischen  Theorie  wieder  (§.  107).  Es 
sind  an  beiden  Orten  dieselben  Beispiele  und 
auch  die  Reihenfolge  ist  abgesehen  davon,  daß 
Wurtz  die  Flammenfärbung  durch  Kochsalz  vor 
das  Rosanilin  setzt,  die  nämliche.  Im  letzten 
Theile  dieses  Gapitels  ist  wie  in  der  kinet. 
Theorie  eine  Beschreibung  der  Thomson'schen 
Wirbeltheorie  enthalten.  Damit  schließt  das  Werk. 

Ehe  ich  das  Referat  beende,  möchte  ich  noch 
die  Aufmerksamkeit  der  Leser  auf  einen  in  den 
Berichten  der  deutschen  ehem.  Gesellschaft  zwi- 
schen den  Herren  Wurtz  und  Lothar  Meyer 
geführten  Briefwechsel  aufmerksam  machen  (XIII 
p.  6,  220,  453).  Er  behandelt  die  Benutzung 
der  „Mod.  Theorien"  durch  Herrn  Wurtz.  Es  ist 
dies  Werk  in  dem  Wurtz'schen  Buche  dreimal 
citiert,  einmal  p.  77,  sich  beziehend  auf  die  auf 
derselben  Seite  befindliche  Tabelle,  das  zweite- 
mal p.  118  wegen  der  am  Schluß  angehefteten 
Curve  der  Atomvolumina,  und  das  letzte  Mal 
p.  121  betreffend  die  Tabelle  auf  p.  115.  Das 
Buch  von  0.  E.  Meyer  „die  kinet  Theorie 
der  Gase"  ist  gar  nicht  erwähnt. 

Breslau.  Dr.  Otto  Schumann. 

Fttr  die  Redaction  verantwortlich:  JBL  Rsknisch,  Director  d.  Gott.  gel.  Anz. 

Commissions'  Verlag  der  DieUrich'sehm  Ynriaga  -Buchhandlung. 

Drnck  der  DieiericK sehen  Univ.-  BuchdrucUr*  (W.  fr.  Kcmtntr). 


961 

O  $t tingis  che 


gelehrte    Anzeigen 

unter  der  Aufsicht 
der  Königl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Stück  31.  4.  August  1880. 


Inhalt:  W.  Heibig,  Die  Italiker  in  der  Po-Ebene.  Von  W. 
Deecke.  —  £.  Landsberg,  Ueber  die  Entstehung  der  Regel  »Quic- 
quid  non  agnoscit  glossa,  nee  agnoscit  forum11.  Von  A.  Ubbdohde.  — 
F.  du  Bois-Reymo'nd,  Zur  Geschichte  der  trigonometrischen  Rei- 
hen. Von  A.  Sachse.  —  F.  Muncker,  Lessing's  persönl.  n.  literar. 
Verhiltniss  zu  Klopstock.    Von  K.  Goedeke. 

ss  Eigenmächtiger  Abdruck  yon  Artikeln  der  G6tt.  gel.  An«,  rerboten  er 


Die  Italiker  in  der  Poebene.  Von 
Wolfgang  Hei  big.  Mit  1  Karte  und  2  Tafeln. 
Leipzig,  Breitkopf  &  Härtel,  1879.  —  X  und 
140  S.    8°. 

Das  Werk  führt  sich  als  ersten  Band  von 
„Beiträgen  zur  italischen  Cultur-  und  Kunstge- 
schichte" ein  und  behandelt  im  ersten  Haupt- 
abschnitte (cap.  I — III)  die  „Pfahldörfer  in 
der  Poebene",  im  zweiten  (cap.  IV — X)  die 
„Italiker  in  den  Pfahldörfern",  mit  durchge- 
führtem Vergleich,  einerseits  mit  den  altgriechi- 
schen, andrerseits  specieller  mit  den  etwas  spä- 
teren altlatinischen  Zuständen,  wie  sie  die  Aus- 
grabungen auf  dem  Albaner  Gebirge  und  dem 
Esquilin,  neben  den  Nachrichten  der  Alten,  uns 
kennen  gelehrt  haben.  Es  folgt  eine  Erläute- 
rung  der  Karte   der  norditalischen  Pfahldörfer, 

61 


962         Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  31. 

wie  der  beiden  Tafeln,  welche  die  Haupt- 
formen  des  pfahldörflichen  and  altlatinischen 
Handwerks  parallelisierend  zur  Anschannng 
bringen,  dann  verschiedene  Notizen  und  Nach- 
träge, endlich  ein  Register. 

Der  Verfasser,  durch  günstige  Stellang  besser 
als  sonst  Jemand  mit  den  reichen  neueren  For- 
schungen der  Italiener  über  die  prähistorischen 
Zustände  ihres  Vaterlandes  bekannt  und  seit 
einer  Reihe  von  Jahren  mit  den  grundlegenden 
Arbeiten  zu  einer  altitalischen  Gultur-  und 
Kunstgeschichte  beschäftigt,  hat  aus  seinen  um- 
fassenden Stadien  folgende  Anschauung  ge- 
wonnen. 

Urbewohner  der  Apenninhalbinsel  und  Sici- 
liens  waren  die  Ligurer,  ein  wildes  Jagd- 
und  Raubvolk,  in  Höhlen  oder  rohen,  zu  un- 
regelmäßigen Dörfern  gruppierten  Hütten  woh- 
nend (Reste  im  Thal  der  Vibrata).  Ligurisch 
sind  unter  andern  die  Namen  Bodencos  (=  Po), 
Ilva,  Gimin(i)us,  Sabate,  Alba  u.  s.  w.  Im 
Laufe  des  zweiten  Jahrtausends  vor  Christus 
stiegen  dann  die  I  ta  1  i  k  e  r ,  nach  ihrer  Trennung 
von  den  Griechen,  von  den  Alpen  in  die  Poe- 
bene  hinab.  „Unbehülfliche,  lediglich  aus  Holz 
gezimmerte  Wagen  bewegten  sich,  von  Rindern 
gezogen,  schwerfallig  vorwärts.  Sie  sind  be- 
packt mit  den  Greisen  und  Kindern,  dem  Haus- 
und Ackergeräth,  plumpen  Thongefaßen,  primi- 
tiven hölzernen  Pflügen,  Aexten  mit  steinerner 
Schneide.  Zwischen  den  Wagen  gewahren  wir 
Viehheerden,  meist  Thiere  von  kleiner  Ra§e,  ab- 
gemagert durch  die  langen  Strapazen.  Die 
Männer,  welche  längs  des  Zuges  einherschrei- 
ten,  sind  mit  groben  wollenen  oder  linnenen 
Stoffen,  z.  Th.  auch  wohl  mit  Thierfellen  be- 
kleidet.   Vielleicht  trägt  ein  Häuptling   an  dem 


Heibig,  Die  Italiker  in  der  Poebene.    963 

ledernen  Gürtel  ein  bronzenes  Messer,  doch  mehr 
als  Zierde  und  Spielerei,  als  zum  wirklichen 
Gebranch.  Weitaas  die  Mehrzahl  dagegen  ist 
lediglich  mit  steinernen  Waffen  ausgerüstet. 
Trifft  in  einer  Lichtung  des  Urwaldes  der  Zug 
mit  einer  Horde  der  Urbevölkerung  zusammen, 
dann  sausen  von  beiden  Seiten  die  mit  Feuer- 
steinspitzen bewehrten  Pfeile,  und  kracht  das 
Steinbeil  auf  italische,  wie  auf  ligurische  Schä- 
del". Es  basiert  diese  Schilderung  auf  den  Fun- 
den in  den  von  Hei  big  den  Italikern  zuge- 
schriebenen Pfahldörfern.  Und  zwar  setz- 
ten jene  anfangs  die  aus  den  früheren  Sitzen 
mitgebrachte  Sitte  des  Baues  im  Wasser  fort 
—  es  sind  solcher  Bauten  in  den  lombardischen 
Alpenseeen  etwa  70  gefunden,  in  Piemont  4  — 
dann,  zuerst  im  Süden  des  Gardasee's,  begannen 
sie  ähnliche  Pfahldörfer  auf  trocknem  Bo- 
den anzulegen,  aus  alter  Gewohnheit,  aber  auch 
wohl  der  Vortheile  wegen,  welche  eine  solche 
Lage  der  Hütten  gegen  Ueberschwemmung  und 
Bodenfeuchtigkeit  bot.  In  der  Lombardei  (bei 
Ghiari,  Pontevico,  Castiglione,  Mantua)  sind  19 
solcher  Dörfer  gefunden  worden ;  in  der  Emilia, 
südlich  vom  Po,  wo  der  Gebrauch  erst  zu  seiner 
vollen  Entwicklung  kam  (bei  S.  Donino,  Parma, 
Reggio,  Modena)  69;  in  der  Romagna,  wo  er 
erlosch,  nur  1  (bei  Imöla).  Die  Reste  dieser,  in 
der  Regel  mehrmal,  wie  die  aufeinander  liegen- 
den Schichten  zeigen,  durch  Feuer  zerstörten 
Dörfer,  eine  fruchtbare  schwärzliche  Erde  bil- 
dend, heißen  daher  terremare  (eig.  im  Sing, 
terra  marna  =  Mergelerde)  und  sind  besonders 
von  Gastaldi  (schon  1861),  dann  von  Pigorini 
und  Strobel,  vonBoni,  Chierici,  Crespellani  u.a. 
erforscht  worden,  s.  die  Zusammenstellung  von 
Pigorini  im  Bullet,  d.  Istit.  1876,  p.  10  ff.     Da 

61* 


964       Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  31. 

nach  waren  die  Dörfer  eckig-oblong,  roh  orien- 
tiert (wohl  um  Sonne  und  Schatten  gleichmäßig 
zu  vertheilen),  meist  in  der  Nähe  von  Wasser- 
läufen angelegt,  3—4,  selten  1 — 10,  Hectares 
groß,  umgeben  von  einem  Graben  und  einem  oft 
mit  Holzwerk  versehenen  Erdwall.  Innen  erhob 
sich  ein  Pfahlbau  von  Ulmen-,  Steineichen-  oder 
Eastanienholz  mit  Bohlendecke  und  Sandschicht, 
darauf  die  runden  Stroh-  oder  Reisighütten. 
Die  Abfallhaufen  und  Geräthreste  zeigen  Betrieb 
der  Viehzucht  (Rind,  Schwein,  Ziege,  Schaf, 
Pferd  und  Hund)  und  des  Ackerbaus  (Waizen, 
Bohne,  Flachs,  Rebe),  geringe  Jagd,  keinen 
Fischfang.  Genossen  wurden  auch  wilder  Ho- 
nig, Eicheln  und  wildes  Obst,  darunter  die  jetzt 
in  Folge  von  geringer  Abkühlung  des  Klimas 
in  der  Poebene  verschwundene  Pimpernuß,  wäh- 
rend die  Kastanien  schon  damals,  wie  jetzt, 
keine  Früchte  getragen  zu  haben  scheinen.  Das 
Korn  wurde  gequetscht  und  als  Brei  genossen, 
nicht  gebacken;  vielleicht  gab  es  auch  sehon 
Leinsamenbrei;  Wein  wurde  noch  nicht  gekel- 
tert. Der  Flachs  wurde  gefasert  (Flachsklopfer) 
und  gesponnen  (Spinnwirtel) ,  Bindfaden  und 
Seile  auch  aus  Waldrebe  und  Ginster  bereitet, 
ein  roher  Webstuhl  war  bekannt  (Weberge- 
wichte); Korbflechterei  und  Lederbereitung -{Le- 
derschaber  und  -pfriemen)  sind  durch  Reste  ge- 
sichert. Im  Norden  des  Po  überwiegen  bei 
weitem  noch  Steinwaffen  und  -geräthe,  im  Sü- 
den schon  die  Bronze,  die  aber  nur  gegossen 
ward  (Gußformen)  und  wenige  primitive  Ge- 
räthe lieferte,  keine  Nage],  Spangen,  Ringe 
u.  s.  w.,  selten  ein  Schwert,  mehrere  zweiklin- 
gige  Rasiermesser,  auch  Palstäbe  u.  s.  w.  Es 
fehlen  andre  Metalle,  auch  Glas  und  Smafte; 
hin  und  wieder  finden  sich  Bernsteinperlen.   Die 


Helbig,  Die  Italiker  in  der  Poebene.    966 

Thonge&fte  sind  roh,  ohne  Drehscheibe  ge- 
macht, auften  geglättet,  oft  mit  eigentümlichem 
durchbohrtem  halbmondförmigem  Henkel;  aus 
Knochen  und  Horn  sind  Pfeilspitzen,  Pfriemen, 
Haarnadeln  mit  Krönung  von  durchbrochener 
Badform,  Kämme  u.  s.  w.  Die  einzige  Verzie- 
rung der  Qeräthe  besteht  aus  noch  nicht  orga- 
nisch verbundenen  graden  und  krummen  Linien» 
Dreiecken,  Kreisen,  bald  eingegraben,  bald  her- 
ausgearbeitet. Ein  paar  unförmliche  Thierfigu- 
ren  haben  sich  gefunden,  kein  Idol.  —  Als  cha- 
racterifitische  Züge  der  Lebensrichtung  treten 
hervor  bäuerliche  Thätigkeit  und  ein  fest  orga- 
nisierter, nach  außen  abgeschlossener  Gemeinde- 
verband, uritalische  Eigenschaften.  —  Aus  der 
Yogelperspective  hätte  sich  die  Poebene  damals 
gezeigt  als  eine  „im  Wesentlichen  mit  Wäldern 
bedeckte  Landschaft.  Innerhalb  der  Waldmasse 
sah  man  an  vielen  Stellen  und  namentlich  in 
den  Umgebungen  der  Stromrinnen  Lichtungen; 
in  jeder  ein  Pfahldorf  mit  den  gelben  Stroh- 
hätten, unmittelbar  um  das  Dorf  herum  die  Ge- 
treide- und  Flachsfelder,  die  Bohnen-  und  Wein- 
pflanzungen, weiterhin  nach  dem  Rande  des 
Waldes  zu  die  Wiesen,  auf  denen  die  Heerden 
weideten  —  alles  dies  wie  helle  Bildchen  einge- 
sprengt in  die  dunkelgrüne  Masse  der  umgeben- 
den Forsten". 

Die  so  geschilderte  friedliche  Existenz  der 
Italiker  in  der  Poebene  nun  wurde  im  zwölften 
Jahrhundert  v.  Chr.,  in  Folge  derselben  Völker- 
bewegung, welche  durch  Vertreibung  der  Thessa- 
ler  aus  Epirus  Anlaß  zur  dorischen  Wanderung 
gab,  durch  den  Einbruch  der  gleichfalls  von 
Norden  her  einwandernden  kriegerisch  wilden, 
ungefähr  auf  derselben  Culturstufe  stehenden 
Etrnsker  unterbrochen.     Dreihundert   umbri- 


966         Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  31. 

sehe  Städte,  d.  h.  italische  Pfahldörfer  sollen 
diese  zerstört  haben.  Als  Adel  und  Priester 
(Lucumones)  beherrschten  sie  die  leibeigen  ge- 
wordene italische  Bauernschaft.  Doch  verödete 
offenbar  besonders  die  Emilia;  die  große  Masse 
der  Italiker  drängte  sich  in  die  Bomagna  zu- 
sammen oder  ging  über  den  Apennin,  nach  bei- 
'den  Bichtungen  hin  von  denEtruskern  verfolgt. 
Der  Pfahlbau  hörte  auf:  auch  die  Etrusker  be- 
siedelten selten  die  niedergebrannten  Stätten. 

Es  folgt  nun  eine  von  Heibig  absichtlich 
noch  im  Dunkel  gelassene  Zwischenepoche, 
während  welcher  die  geometrische  Decoration, 
die  Schmiedekunst,  der  Gebrauch  der  fibulae 
und  andre  Fortschritte  sich  in  der  Poebene  ver- 
breiteter: es  soll  davon  der  zweite  Band  der 
„Beiträge"  handeln.  Erst  spät  beginnt  dann  die 
eigenthtimlich  etruskische  Cultur:  die  Schrift 
verbreitet  sich  von  den  chalcidischen  Colonieen 
am  tyrrhenischen  Meere  aus  seit  700  v.  Chr.; 
im  Westen  gewinnt  das  Handwerk  eine  beson- 
dere Physiognomie  erst  mit  den  nach  kartha- 
gischen Mustern  verfertigten  vasi  di  buchero, 
im  Osten  gar  erst  mit  den  Reliefstelen  und 
Bronzefiguren,  seit  500  v.  Chr.  Und  schon  um 
400  v.  Chr.  bricht  ein  neuer,  der  keltische, 
Völkersturm  über  die  Alpen  ins  Poland  ein. 

Was  nun  aber  die  Italiker  betrifft,  so  sucht 
Heibig  ausführlich  den  Nachweis  zu  führen, 
daß  die  Cultur  derselben  in  ihren  neuen  Wohn- 
sitzen in  Mittelitalien,  speciell  in  Latium,  wie 
sie  uns  theils  aus  den  Nachrichten  der  Alten, 
theils  aus  den  Nekropolen  des  Albaner  See's 
und  den  Ausgrabungen  am  Esquilin  in  Born  be- 
kannt ist,  die  unmittelbare,  natürliche,  durch 
Wanderung,  neue  Umgebung,  fremde  Einflüsse 
bedingte   Fortentwicklung   des   aus  den  Pfahl- 


Heibig,  Die  Italiker  in  der  Poebene.    967 

dörfern  erschlossenen  Znstandes  ist  Wir  finden 
im  alten  Latium,  auch  Samnium  nnd  Umbrien, 
dieselbe  Lebensrichtung  auf  bäuerliche  Thätig- 
keit,  auf  Zucht  und  Ordnung  nnd  festen  Ge- 
meindeverband :  „Das  Pfahldorf  war  die  Zelle, 
ans  der  allmählich  das  italische  Gemeinde-  und 
Staatswesen  herauswuchs".  Wir  finden  bei  allen 
späteren  Italikern  die  Orientierung,  durch  die 
Etrusker  zu  kunstvoller  Limitation  ausgebildet, 
aus  den  alten  Grundlagen  neu  entwickelt  Wir 
finden  die  gleiche  Abneigung  gegen  Jagd  und 
Fischfang,  noch  keine  Weinkelterung,  dieselbe 
bildlose  Götterverehrung;  ferner  die  gleiche  Art 
des  Wohnungsbaus  (casa  Romuli,  aedes  Vestae, 
xafaal  der  Lares  compitales  u.  s.  w. ;  Hütten 
bei  Bologna,  in  der  Emilia,  im  Thal  der  Vi- 
brata)  und  der  Befestigung  (Holz wall  von  Ae- 
clanum),  eine  wenig  höhere  Stufe  des  Hand- 
werks (Drehscheibe,  Schmiedekunst,  Eisen  als 
Schmuck,  fibulae,  Lockenringe)  und  der  Verzie- 
rung (Hakenkreuz,  Anfange  des  Mäander  und 
des  mit  inneren  Linien  gefüllten  Parallelogramms). 
Vielfach  wird  der  ältere  Gebrauch  im  Cultus  noch 
bis  in  späte  Zeit  festgehalten :  runde  Tempel  der 
dea  Dia,  des  Hercules,  ja  noch  des  divus  Augustus ; 
pons  sublicius  ohne  Metallnägel ;  einfaches  Thon- 
geschirr  beim  Opfer;  hasta,  nicht  Schwert,  als 
heilige  und  Hauptwaffe;  die  ancilia  u.  s.  w. 
Merkwürdige  Uebereinstimmung  zeigen  die  halb- 
mondförmigen Henkel,  die  Radkrönung  der 
Haarnadeln,  die  kreisförmigen  Verzierungen. 
Der  innere  Zustand  des  königlichen  Roms,  in 
dem  es  keine  cloaca,  kein  Pflaster,  keine  Stra- 
ßenpolizei (aediles),  dagegen  Landwirthschaft 
und  Viehzucht  gab,  wird  als  wenig  den  eines 
alten  Pfahldorfes  überragend  geschildert:  „Der 
Grundton   war   während  der  trockenen  Jahres- 


968        Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  81. 

zeit  hellgrau,  während  der  feuchten  gelbbraun. 
Um  die  aus  Lehm,  Stroh  oder  Holz  aufgeführ- 
ten Wohnstätten  lag  Unrath  von  Menschen  und 
Vieh,  zerbrochenes  Haus-  und  Ackergeräth  herum. 
Auf  den  Straßen  wandelten  die  Quiriten  einher, 
gekleidet  in  grobe  wollene  oder  linnene  Stoffe, 
die  zuweilen  mit  geometrischen  Mustern  verziert 
waren,  im  Sommer  von  Staubwolken  umhüllt, 
während  des  Winters  in  Koth  watend".  —  Ge- 
wisse Abweichungen,  speciell  Rückschritte  ge- 
gen die  Pfahlbaucultur  werden  zu  erklären  ge- 
sucht oder  beseitigt:  so  das  Vorwiegen  von 
Gerste  und  Spelt  gegen  den  Waizen  der  Pfahl- 
dörfler;  das  Zurücktreten  des  Flachsbaus  in  La- 
tium,  während  er  in  Samnium  erhalten  scheint; 
die  spätere  Verachtung  der  Bohne  (aber  gens 
Fabia,  Modius  Fabidius,  Ealendae  fabariae 
u.  s.  w.);  das  angebliche  Gesetz  Numa's  über 
Fischopfer  u.  dergl.  —  Das  spätere  römisehe 
Wohnhaus,  wie  der  tuskanische  Tempel,  werden 
auf  griechischen  Einfluß  zurückgeführt;  aber  in 
der  Vorliebe  für  Substructionen  und  Tempelter- 
rassen ist  vielleicht  eine  Nachwirkung  des  ein- 
stigen Pfahlbaus  zu  erkennen. 

Dies  ist  im  Wesentlichen  die  Ansicht  des 
Verfassers,  der  gute  Begründung,  innerer  Zu- 
sammenhang und  geistvolle  Ausführung  nicht 
abgesprochen  werden  können.  Als  abgeschlos- 
sen aber  kann  die  Untersuchung  noch  nicht  gel- 
ten, da  neue  Funde  die  Sachlage  täglich  mo- 
dificieren,  ja  erheblich  ändern  können.  So  theilt 
H  eibig  selbst  in  den  Nachträgen  den  Fund 
mehrerer  aus  Bronze  gegossener  Schwerter  in 
einem  Pfahldorf,  noch  dazu  der  Lombardei,  mit, 
während  bis  dahin  das  Fehlen  des  Schwertes 
als  characteristisch  für  jene  Epoche  galt  Auf- 
fällig aber  bleibt  vor  Allem,  bei  der  sonstigen 


Heibig,  Die  Italiker  in  der  Poebene.    969 

Rohheit  der  Pfahldörfler,  der  ausschließliche  An- 
bau des  Waizens,  während  die  Gerste  nach- 
weislich schon  gräco-italisches  Gemeingut  war, 
und  die  Pflege  des  Weinstockes ,  gegenüber 
Hehn's  gründlichen  Ausführungen.  Auch  der 
Bernsteinhandel  und  die  Pferdezucht  würden  in 
bedenkliches  Alterthum  hinaufgerückt.  Freilich 
ließe  sich  wohl  manches  Bedenken  durch  zeit- 
liche Hinabrttckung  der  italischen  Periode  der 
Poebene  erledigen,  aber  es  würden  dann  andere 
Schwierigkeiten  auftauchen.  Vielleicht  wird  der 
zweite  Band  noch  Manches  aufklären:  wenn 
ich  nicht  irre,  werden  für  denselben  besonders 
die  mannigfaltigen,  sehr  verschiedenartigen  Grab- 
stätten in  näherer  und  weiterer  Umgegend  von 
Bologna  mit  ihren  reichhaltigen  Funden  in  Be- 
tracht kommen.  Schwerwiegend  scheint  mir 
ferner  die  jetzt  vielfach  aufgeworfene  Frage,  ob 
wirklich  der  Metall guß  und  noch  dazu  der- 
jenige eines  so  künstlichen  Products,  wie 
die  Bronze  ist,  der  Schmiedekunst  voran- 
gegangen sein  kann?  Woher  ferner  kam 
das  Zinn?  Und  mußte  den  aus  den  Alpen  kom- 
menden Völkern  nicht  das  Eisen  bekannt  sein? 
Daß  Pfahlbauten  in  der  Balkanhalbinsel,  in  den 
Alpen,  im  Jura,  bis  in  recht  späte  Zeit  fort- 
dauerten, ist  bekannt:  auch  die,  wahrscheinlich 
illyrischen,  Veneter  kannten  sie  (Altinum,  viell. 
Atria,  Bavenna).  Jedenfalls  bleibt  noch  viel  zu 
erwägen!  Von  Etymologieen  hielte  sich  der 
Verfasser  besser  fern:  columen,  culmen  hat  sicher 
mit  culmus  (xdlapo<;)  nichts  zu  thun;  ebenso- 
wenig Füfetius  mit  faba;  die  Entlehnung  von 
attilus  aus  ittltg  ist  sehr  zweifelhaft;  caprea, 
hinnuleus  beweisen  ebensowenig  wie  Reh  bock 
oder  Hirschkuh.     Im  Ganzen   ist  das  Werk, 

ft  ' 


972        Gott,  gel  Anz.  1880.  Stück  31. 

Olosfiie  als  selehe  gewesen  sei,  was  die  Aus- 
scheidung der  von  der  Glosse  vernachlässigten 
Stellen  bei  der  Reception  veranlaßt  habe.  Theife 
waren  manche  von  Accnrsius  nicht  gloseierten 
Stellen  doch  von  anderen  Glossatoren  mit  Be- 
merkungen verseben.  Vor  allem  aber  haben 
auf  die  Art  der  Reception  die  Glossatoren  viel 
weniger  Einfluß  geübt,  als  die  Postglossatoren; 
jene  sind  in  Deutschland  nur  durch  das  Medium 
der  „Doctores"  bekannt  geworden.  Die  Frage 
nach  dem  Einflüsse  der  Glosse  spitzt  sich  dem- 
nach darauf  zu :  haben  die  Gommentatoren  die 
unglossierten  Stellen  vernachlässigt?  Grund- 
sätzlich sprechen  sich  die  Postglossatoren  hier- 
über nicht  aus.  Es  bleibt  also  zu  untersuchen, 
ob  sie  un  glossierte  Sätze  anwenden.  Sollten 
wir  finden,  daß  sie  es  nicht  thun,  so  ist  damit 
noch  nicht  bewiesen,  daß  man  die  unglossierten 
Stellen  für  ungültig  hielt:  es  kann  vielleicht  der 
Anlaß  gefehlt  haben,  sie  zu  citieren;  sie  kön- 
nen auch  neben  gleichbedeutenden  Stellen  zu- 
fällig weggelassen  sein.  Es  ist  hier  zu  unter- 
scheiden zwischen  systematischen  Gommentaren 
und  Consiliensammlungen.  In  den  ersteren  ist 
allerdings  das  Ueberspringen  einer  unglossierten 
Stelle  bisweilen  concludente  Thatsache.  Indes- 
sen sind  umgekehrt  gerade  solche  rein  theoreti- 
sche Werke  für  die  praktische  Gültigkeit  der  in 
ihnen  aufgeführten  Stellen  nicht  entscheidend. 
Was  die  Consiliensammlungen  betrifft,  so  be- 
weiset das  bloße  Nichtvorkommen  einer  Stelle 
nichts.  Hier  kömmt  es  darauf  an,  ob  das  blosvon 
unglossierten  Stellen  aufgehobene  frühere  Recht 
als  geltend  betrachtet  wird:  daraus  folgt,  daß 
jene  unglossierten  Stellen  als  ungültig  betrach- 
tet wurden  (§.  5  S.  14—16).  Um  dies  sicher 
zu  erkennen  hat  Vfr.  die  einzelnen  den  Glossa» 


Landsberg,  Qnicquid  non  agnoscit  glossa  ct.    973 

toren  bekannten,  aber  nicht  glossirten  Stellen 
nach  Witte,  Biener  und  v.  Savigny  zu- 
sammengestellt.   (§.  6  8.  16 — 20).     Von  ihnen 
kommen  namenflieh  in  Betracht  1.  1   Cod.  de 
aleat.  3,  43  (lex  alearum)   von   Azo  glossiert; 
1.  1  Cod.  de  dnob.  reis  8,  39  (40)  (unecht)  nnd 
die  beiden  in  die  9  Collationen  der  glossierten 
Novellen  aufgenommenen  unglossierten  —  Now. 
63  (Coll.  V,  15)  und  110  (Coll.  VIII,  6).     §.  7 
S.  21—29  bringt  danach  die  Prüfung  der  Werke 
der  Postglossatoren.     Hier  ist   es   nun   höchst 
merkwürdig,  daß  gleich  ein  Schüler  des  Fran- 
cisco Accursius,  Jacobus  de  Bei  visio,  geb. 
1270  f  1335,  in  seinem  Commentare  de  au  ten  ti- 
efe Nov.  63  ausführlich  bespricht  und  als  prak- 
tisch behandelt.    Von  Nov.  110  sagt  er:  nullius 
est  utüitatis,  keineswegs  aber,   sie  sei  ungültig, 
weil  unglossiert.    B  a  r  t  o  1  u  s  behandelt  im  Com- 
mentar  zum  Authenticum   unter   Berufung  auf 
Jacobus  de  Belvisio  Nov.  63    ebenfalls   als  un- 
zweifelhaft gültig.   Bald  us  erörtert  ausführlich 
die   lex  alearum;    Paulus   de  Castro  führt 
wenigstens  kurz  ihren  Inhalt  an,  wenn  schon  mit 
dem  bedenklichen  Ausdrucke :  licet  hie  sit  quae- 
dam  autentica  graeca.     Bartholomaeus   de 
Saliceto  wirft  zu  derselben  Stelle  die  Frage 
auf:  an  huic  legi  per  consuetudinem  contrariam 
possit  derogari?    Aliqui  dieunt  quod  sie,  quasi 
illud   sit  prohibitum   non   iure   positivo.    Unde 
attende  quod  dicit  beatus  Thomas  .  .  .  Raymun- 
dns.    Also,  trotz  dem  Bestreben,  das  unbequeme 
und  thatsächtich  oft  genug  übertretene  Spielver- 
bot  zu   beseitigen,   kein  Gedanke   an   das  be- 
queme  Mittel   der   Berufung   darauf,    daß    die 
Glossa  ordinaria  fehle!    Somit  gelangt  §.  8   S. 
29—  33   zu   folgendem    Resultate.     Der  Einfluß 
der  Glosse  ist  absolut  siegreich   gewesen  hin- 


974        Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  31, 

sichtlich  aller  in  die  tres  collationes  extraordi- 
nariae  verwiesenen  36  der  den  Glossatoren  be- 
kannten 134  Novellen.  Man  hielt  sie,  wie  die 
Glosse  es  gethan,  einfach  für  unnütz :  eben  ihrer 
allseitig  anerkannten  Unbrauchbarkeit  halber 
sind  sie  nicht  recipiert.  .  Anders  mit  den  beiden 
in  die  9  collationes  ordinariae  aufgenommenen 
nicht  glossierten  Novellen  und  mit  der  lex  alea- 
rum.  Die  Glosse  hielt  sie  freilich  für  unprak- 
tisch; allein  die  Folgezeit  war  darüber  doch 
zweifelhaft.  Wenn  sie  später  völlig  außer  Ge- 
brauch gekommen  sind,  so  beruht  das  nicht  auf 
der  Auctorität  der  Glosse;  wohl  aber  trifft  nun- 
mehr der  Umstand,  daß  sie  nicht  glossiert  sind, 
wie  bei  den  übrigen  Stellen,  mit  ihrer  aner- 
kannten Unbrauchbarkeit  zusammen.  Indessen 
vollzog  sich  diese  Entwickelung  keinesweges  so 
einfach:  es  trat  die  Zeit  der  Renaissance  da- 
zwischen. Zu  dieser  wendet  sich  Kap.  2.  Im 
16.  Jahrh.  ergänzte  man  die  Lücken  in  der  bis- 
her bekannten  Ueberlieferung  der  justinianischen 
Rechtsbücher;  man  wandte  sich,  getragen  von 
der  historischen  Behandlung  des  Stoffs,  auch 
den  schon  früher  bekannten  unglossierten  Stel- 
len zu.  Die  französische  Rechtsschule,  welcher 
Glossatoren  und  Postglossatoren  für  Barbaren 
gelten,  hat  durchaus  kein  Bedenken  gegen  die 
Verwendung  der  neuaufgefundenen  Stücke  des 
corpus  iuris;  sie  werden  in  den  zahlreichen 
neuen  Ausgaben  an  ihren  Ort  eingerückt,  die 
Novellen  ohne  Rücksicht  auf  die  Collationen  nach 
ihrer  natürlichen  Reihenfolge,  glossiert  und  un- 
glossiert  durch  einander  gemischt,  geordnet. 
(§•  9.  S.  33—37).  Dagegen  erhebt  sich  be- 
greiflicherweise Widerstand,  theils  als  bewußte 
Opposition,  theils  als  unbewußte  vis  inertiae. 
Hauptrepräsentant  der  bewußten  Opposition  ist 


Landsberg,  Quicquid  non  agnoscit  glossa  ct.     975 

Alberen«  Gentilis,  etwa  1550—1610  oder 
1611,  einer  der  vielen  wandernden  Italiäner  je- 
ner Zeit,  ganz  auf  dem  Standpunkte  der  dama- 
ligen italiänischen  Praktiker  in  der  Rechtsan- 
Bchammg  der  Commentatoren.  Seine  Ausführun- 
gen laufen  darauf  hinaus,  es  seien  die  unglos- 
sierten  Gesetze  ungültig,  denn  sie  seien  ja  nicht 
durch  denlongus  usus  getragen,  welcher  letztere 
sich  wieder  auf  die  Glosse  gründe.  Nee  nego 
ego  tarnen,  fügt  er  jedoch  hinzu,  invalescere 
etiam  auetoritatem  aliartfm  [sc.  legum  nee  glos- 
sataruml.  (§.  10  S.  37—46).  Die  bloße  vis  in- 
ertiae  dagegen  scheint  bei  den  italiänischen 
Praktikern  zu  herrschen:  sie  nehmen,  von  den 
neu  aufgefundenen  Stücken,  durch  welche  frühe- 
res Recht  abgeändert  wird,  durchaus  keine  No- 
tiz, so  namentlich  nicht  von  Nov.  135  über  die 
bonorum  cessio,  von  Nov.  162  über  die  Conva- 
lescenz  von  Schenkungen  unter  Ehegatten  und 
von  1.  4b  rest.  Cod.  9,  16.  (Nach  der  Benutzung 
bezw.  Nichtbenutzung  von  1.  22  rest.  Cod.  de 
fide  instr.  4,  21  scheint  Vfr.  nicht  gesehen  zu 
haben).  Umgekehrt  wird  die  lex  alearum  be- 
nutzt. (§.  HS.  46—53).  Deutschland  umfaßt 
beide  Strebungen:  den  Humanismus  der  Re- 
naisssance  und  das  sterile  Festhalten  an  der 
Weise  der  Scholastiker,  jenen  vorzugsweis  bei 
den  Theoretikern,  dieses  bei  den  Praktikern. 
(§§.  12—14.  S.  53—71).  Indessen  trat  anfangs 
die  Theorie  zur  Praxis  nicht  gerade  in  einen 
einschneidenden  Gegensatz;  sie  erkannte  die 
Praxis  an,  welche  gewisse  Stellen  als  ungültig 
behandelte.  [Hinzugefügt  sei,  daß  auch  Sic  ha r- 
dus,  1511— 1552,  des  Zasius  Schüler,  in  Cod. 
Just,  praelectiones  ad  rubr.  cit.  43,  lib.  3.  §.  8 
und  ad  rubr.  tit.  7.  lib.  4.  §.  7  die  lex  alearum 
für  praktisch  hält].   Dies  änderte  sich  aber  nach 


976       Gött.  gel  Anz.  1880.  Stück  31. 

1583,  d.  h.  nach  dem  Erscheinen  der  ersten 
Gothofredischen  Aasgaben  des  corpus  iuris, 
welche  sowohl  die  leges  restitutae  des  Codex 
als  sämmtliche  Novellen  in  der  seither  üblichen 
Ordnung  bringen.  Es  ist  auffallenderweise  ein 
Praktiker,  P.  M.  Wehner,  der  in  seinen  Con- 
silia  1616  in  Deutschland  zuerst  die  neuaufge- 
fundene Nov.  162  als  praktisch  citiert.  Die 
große  Zahl  der  Theoretiker  behandelt  freilich 
viele  unglossierte  Stellen  als  unpraktisch,  nicht 
jedoch  aus  dem  Grunde,  weil  die  Glosse  fehlt; 
anderseits  aber  werden  manche  neuaufgefundene 
Novellen,  insbesondere  Nov.  162,  unzweifelhaft 
als  geltendes  Recht  vorgetragen.  —  Die  not- 
wendige Verschmelzung  dieser  beiden  getrenn- 
ten Eichtungen  erörtert  Kap.  3.  Vorbereitet 
wird  sie  dadurch,  daß  die  Praxis  sich  allmäh- 
lich hebt  und  durch  Carpzows  Auctorität  be- 
stimmter und  gleichmäßiger  und  damit  der  theo- 
retischen Bearbeitung  fähig  wird.  Carpzow 
hält  in  der  hier  fraglichen  Hinsicht  den  Stand- 
punkt der  bisherigen  Praxis  fest:  er  übergeht 
z.  B.  schweigend  Nov.  162,  betrachtet  dagegen 
die  lex  alearum  als  gültig,  allerdings  mit  dem 
Zusätze,  die  condictio  der  im  Spiele  verlornen 
Sachen  sei  in  Sachsen  usu  unmöglich  geworden. 
Ebenso  steht  Mevius.  Indem  nun  die  Praxis 
siegt,  entsteht  unser  Canon  als  Zeugniß  für  die 
damit  erfolgte  Ausgleichung  des  alten  Gegen- 
satzes. Bei  Arth.  Duck  f  1649,  de  usu  et 
auctoritate  iuris  Romani,  findet  sich,  vielleicht 
infolge  englischer  Rechtsanschauungen,  wie  sol- 
che ähnlich  auf  Alb.  Gentilis  gewirkt  hatten, 
bereits  der  Ausspruch:  Has  ergo  solas  Consti- 
tutiones  recemmus,  quae  usu  Academiarum  et 
Curiarum  aamissae  sunt.  Wichtiger  noch  ist 
wohl  der  Einfluß  Brunnemanns  f  1672,  der 


Landsberg,  Quicquid  non  agnoscit  glossa  ct.    977 

geradezu  sagt :  Graecas  —  Constitutione»,  quia  in 
Imperio  nostro  non  receptee,  et  vix  ullam  in 
imperio  nostro  Romano-Germanico  fidem  mereutur, 
nee  in  forum  reeeptas  babemus.  (S.  aueb  S.  87.) 
Dagegen  commentiert  er  die  lex  alearum  (§.  15. 
S.  72 — 77).  Vollzogen  wird  die  Verschmelzung 
von  Theorie  und  Praxis  durch  den  usus  modernus 
pandeetarum.  (§.  16.  S.  77—92).  Den  ent- 
scheidenden Zeitpunkt  bezeichnet  annähernd  die 
Jahreszahl  1660.  Der  Praxis  sich  anschließend 
sprachen  die  Theoretiker  die  Ungültigkeit  der 
unglossierten  Gesetze  aus,  vergaßen  jedoch  da- 
bei die  lex  alearum  auszunehmen;  und  so  wurde 
jener  Satz  allmählich  zur  ausnahmslosen  Rechts- 
regel.  Besonders  einflußreich  ist  gewesen  Lau- 
terbach, Collegium  theoretico-practicum.  In 
den  prolegomena  dazu  wird  §.  V  nr.  7  den  le- 
ges restitutae  des  Codex  und  §.  VI  nr.  4  den 
unglossierten  Novellen  die  rechtsverbindliche 
Kraft  abgesprochen.  Indessen  bleibt  Lauter* 
bach  seiner  Regel  nicht  ganz  getreu;  insbe- 
sondere erklärt  er  ad  tit.  Dig.  24,  1  cap.  13 
gegen  Bachovs  Zweifel  unter  Berufung  auf 
die  Praxis  Nov.  162  für  gültig.  Referent  fügt 
hinzu,  daß  L.  auch  die  lex  alearum  als  praktisch 
behandelt,  lib.  XI.  tit.  V.  Nr.  VI  sq.  XIII  sqq.; 
die  Rückforderung  des  gezahlten  Spielverlustes 
ist  nach  ihm  nur  durch  locales  Gewohnheits- 
recht beseitigt.  Nr.  XIX.  Aehnlich  giebt 
Struv,  syntagma  aus  Nov.  162  eine  Klage. 
Doch  ist  dergleichen  nur  noch  ein  verhallender 
Nachklang.  Erwähnung  hätte  m.  E.  auch  ver- 
dient Schilter,  praxis  iur. Rom.  in  foroGerm. 
(Ed.  1.  1686).  Exercit.  ad  pand.  XL  VI  §.  VIII. 
„Nov.  135.  At  Justinianus  CXXXV  tali  casu  re- 
misit  cessionis  necessitatem.  —  Ex  qua  tarnen 
novella  nulla  authentica  in  codicem  relata  fuit, 

62 


978        Gott.  gel.  Adz.  1880.  Stück  31. 

unde  Rittershusius  colligit,  iam  tum  aevo  Irnerii 
hoc  ius  in  desuetadinem  abiisse,  et  renovatum 
iu8  D(igestorum)  et  C(odiciß)  pp.  Sed  quam 
authenticarum  aactoritas  antiquior  Irnerio  sit, 
videtur  hujus  novellae  observantiam  nunquamin 
foro  viguisse".  —  Die  entscheidende  Formulie- 
rung unsrer  Regel  stammt  von  Samuel  Stryk. 
Nachdem  er  noch  in  seinen  Dissertationes  1679 
über  die  Anwendbarkeit  unglossierter  Novellen 
sich  schwankend  geäußert  hatte,  sagt  er  in  sei- 
nen Succinctae  annotationes  ad  Lauterbachü 
Compendium  Digestorum:  Quos  textus  non 
agnoscit  glossa,  eos  non  agnoscit  forum.  Vfr. 
giebt  an,  er  habe  diese  Stelle  durch  Heim- 
bach, Authent.  proleg.  p.  DCXCV  gefunden. 
Nach  der  Darstellung  des  Vfrs.  dürfte  jedoch 
der  unkundige  Leser  sich  von  dem  fraglichen 
Werke  ebenso  wenig  eine  klare  Vorstellung  ma- 
chen können,  als  nach  derjenigen  He  im  bach  8. 
Wenn  nämlich  der  letztere  einfach  citiert  Stry- 
ckius  ad  1.  1.  (sc.  Lauterbachium  in  praef. 
Collegii  theoretico-practici  litt.  C),  und  der  Vfr. 
Stryk  in  seinen  Erörterungen  zu  Lauterbachü 
Collegium  Theoretico-Practicum,  —  so  wird  man 
etwa  an  eine  Ausgabe  Lauterbachs  mit  Noten 
Stryks  denken.  Eine  Berichtigung  dieser  An- 
nahme wird  man  auch  in  Jöcher's  Angabe 
nicht  finden  können,  der  Gelehrtenlex.  Thl.  4. 
S.  901  zu  Stryk  bemerkt:  „Ueber  dieses  gab  er 
mit  Zusätzen  oder  doch  mit  Vorreden  heraus  — 
Lauterbachü  compendium  digestorum  etc.  Auch 
v.  Holtzendorffs  Encyclopädie  nennt  das 
betr.  Werk  nicht.  In  Wahrheit  ist  es  ein  Buch 
ftir  sich,  und  zwar  ein  ganz  stattlicher  Quartant, 
der  in  der  mir  vorliegenden  fünften  Ausgabe  Lips. 
1708  vom  Index  abgesehen  1086  Seiten  zählt 
Der  Titel  lautet;   Sam.  Strykii,  Icti  succinctae 


Landsberg,  Quicquid  non  agnoscit  glossa  et   979 

annotationes  ad  W.  A.  Lauterbachii,  leti  Cele- 
berrimi  compendium  Digestorum  pp.  Unter  An- 
führung der  Stichwörter  bei  Lauterbach  werden 
zu  »dessen  Buche  Glossen  gegeben.  Die  Vor- 
rede y.  14.  März  1700,  ursprünglich  wohl  zur 
vierten  Ausgabe  verfaßt,  erzählt,  daß  das  Werk 
den  Abdruck  von  Vorlesungen  biete,  welche 
Stryk  in  Frankfurt  a.  0.,  Wittenberg  und  Halle 
zu  Lauterbach  gehalten  habe,  und  welche  auf 
Wunsch  der  Zuhörer  anfänglich  ausschließlich 
für  deren  Gebrauch  in  drei  Auflagen  gedruckt 
seien.  Aus  Stryks  Satze  ist  dann  in  leicht 
begreiflicher  Weise  die  übliche  Fassung  des 
Canon  entstanden ,  deren  richtiger  Sinn  gemäß 
diesem  Ursprünge  vollends  unzweifelhaft  er- 
scheint. Eben  daraus  aber  ergiebt  sich,  daß 
die  übliche  Formel :  quod  non  agnoscit  glossa  — , 
oder  quidquid  n.  a.  gl.  schon  im  Anfange  des 
18.  Jh.  aufgekommen  sein  muß,  nicht  erst,  wie 
Heimbach  meint,  in  Silberrads  Bemerkun- 
gen zu  Heineccii  historia  iuris,  bezw.  bei  Ze- 
pernick.  Bei  der  Fassung:  quos  textus  non 
agnoscit  glossa  ct.  war  ein  Mißverständniß  über 
den  Sinn  der  Regel  ganz  unmöglich;  ein  sol- 
ches Mißverständniß  aber  findet  sich  schon  bei 
Mencken  1707  und  bei  Olearius  1708. 
Beide  bekämpfen  noch  unsern  Canon.  Die 
Mehrzahl  der  Schriftsteller  dagegen  erkennt 
ihn  unbedingt  an,  theils  nur  sachlich,  wie 
Voet  1707,  theils  ausdrücklich,  wenn  schon 
in  etwas  abgeänderter  Fassung,  so  B run- 
quell 1727,  Kopp  1741  u.  a.,  so  daß  Rit- 
ter in  einer  Anmerkung  zu  Heineccii  hi- 
storia iuris  civilis  1751  ihn  schon  als  tritum 
illud  bezeichnen  konnte.  Nur  vereinzelt  noch 
erhebt  sich  Widerspruch,  so  bei  Beck,  de  No- 
vellis   Leonis,   1731,    der   übrigens   unsern  Satz 

02* 


980        Gott.  gel.  Adz.  1880.  Stück  31. 

wie  seine  Vorgänger  Mencken  und  (Hearing  Jfö 
versteht,  als  solle  nach  ihm  die  Interpretation 
der  Glosse  für  ans  bindend  sein,  ihn  zugleich 
jedoch  auch  in  seiner  richtigen  Bedeutung  an- 
greift. Hiergegen  erging  nun  die  schlagende 
Widerlegung  Zepernieks  1779.  Damit  ist 
der  Satz  fest  fundiert  und  seither  nicht  wieder 
angefochten  worden. 

Marburg.  August  Ubbelohde. 


Zur  Geschichte  der  trigonometri- 
schen Reihen.  Eine  Entgegnung  von  Paul 
du  Bois-Reymond.  Tübingen.  Verlag  der 
H.  Laupp'schen  Buchhandlung.    62  S.    8°. 

Die  vorliegende  Broschüre  beschäftigt  sich 
mit  meiner  Inauguraldissertation  „Versuch  einer 
Geschichte  der  Darstellung  willkürlicher  Functio- 
nen einer  Variablen  durch  trigonometrische 
Beihen.  Göttingen  1879."  Ich  muß  Herrn 
du  Bois-Reymond  meinen  Dank  dafür  ausspre- 
chen, daß  er  mich  auf  einige  Irrthttmer  in  der- 
selben aufmerksam  gemacht  hat,  umsomehr  als 
er  so  liebenswürdig  war,  meinen  Namen  dabei 
ganz  zu  verschweigen. 

Ich  kann  nicht  umhin,  ihm  darin  Recht 
zu  geben,  daß  es  unstatthaft  ist,  von  vorn- 
herein die  Festsetzung  zu  treffen,  eine  Func- 
tion solle  an  einer  Unstetigkeitsstelle  den  Mit- 
telwerth  aus  den  beiderseitigen  Grenzwerthen 
annehmen.  Was  dagegen  die  „Reform vorschlage" 
betrifft  in  Betreff  der  Definition  des  Ausdruckes 
„eine  Reihe  stellt  eine  Function  dartf,  so  habe 
ich   solche   gar   nicht  machen   wollen,  sondern 


Du  Bois-Reymond,  Z.  Gescb.  d.  trigon.  Reihen.  981 

habe  nur  mit  dem  Leser  eirfe  Uebereinkunft  ge- 
troffen darüber,  was  ich  in  meiner  Dissertation 
anter  diesem  Ausdrucke  verstehen  wolle;  nnd 
ich  weiß  nicht,  wie  man  einem  Autor  dies  Recht 
streitig  machen  kann.  Der  Zusatz  in  meiner 
Dissertation  pag.  23  „eine  Annahme,  die  aber 
Riemann  a.  a.  0.  gar  nicht  macht"  beruht  auf 
einem  Irrthum,  und  ist  ganz  zu  streichen.  Herr 
da  Bois-Reymond  tadelt  mich  weiter,  daß  ich 
auf  pag.  25  meiner  Dissertation  an  der  Stelle 
„daher  schreiben  sich  manche  seiner  (nämlich 
Herrn  du  Bois-Reymond's)  von  den  gemeinhin 
angenommenen  völlig  abweichenden  Resultate" 
nicht  lieber  Ansichten  oder  Anschauungsweisen 
gesagt  habe.  Er  hat  wirklich  nicht  ganz  Un- 
recht damit,  daß  mein  Ausdruck  hier  nicht  cor- 
rect ist,  aber  meine  Bescheidenheit  hat  mich  da- 
mals nur  daran  verhindert,  direct  zu  sagen,  daß 
die  Ansichten  oder  Anschauungsweisen  des  Hrn. 
du  Bois-Reymond  einfach  falsch  sind. 

Herr  du  Bois-Reymond  geht  von  der  gänz- 
lich irrigen  Voraussetzung  aus,  daß  meine  Dis- 
sertation eine  gegen  ihn  gerichtete  Streit-  und 
Angriffsschrift  sei.  Er  stellt  dabei  die  Behaup- 
tung auf,  daß  nicht  ich  der  intellectuelle  Ur- 
heber meiner  Dissertation  sei,  sondern  Herr  Pro- 
fessor H.  A.  Schwarz  in  Göttingen,  der  mich 
aus  „Gelehrtenmißgunst"  (pag.  55)  dazu  aufge- 
stachelt habe.  Es  ist  sonst  nicht  üblich,  derar- 
tige Beleidigungen,  ohne  den  Beweis  dafür  beizu- 
bringen, auszusprechen,  schon  weil  das  odium 
leicht  auf  den  Beleidigenden  zurückfallen  kann. 
Da  es  nun  Herrn  du  Bois-Reymond  nicht 
genehm  ist,  den  üblichen  Weg  zu  beschreiten, 
so  kann  ich  seine  Insinuationen  mit  gebühren- 
dem Schweigen  übergehen.  Wenn  aber  Herr 
du   Bois-Reymond  (pag.  54)   schließen  möchte, 


982        Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  31. 

daß  „die  gegen  ihn  gerichteten  Ergüsse  aus 
Vorlesungen  von  Herrn  Professor  Schwarz  oder 
aus  einer  ähnlichen  Quelle  geschöpft  seien",  so 
will  ich  ihn  von  dieser  Besorgniß  gern  befreien. 
Ich  habe  niemals  die  Ehre  gehabt,  bei  Herrn 
Professor  Schwarz  eine  Vorlesung  zu  hören, 
vielmehr  war  Plan  und  Anlage  meiner  Disser- 
tation bereits,  ehe  ich  nach  Göttingen  kam,  so- 
weit fertig,  daß  ich  im  März  1878  darüber  einen 
Vortrag  im  Berliner  mathematischen  Seminar 
gehalten  habe. 

Die  andern  sachlichen  Einwendungen  des 
Herrn  du  Bois-Reymond  beziehen  sich  auf  seine 
Schriften.  Er  richtet  zwar  seine  Verteidigung 
nur  gegen  „die  Dissertation",  aber  da  ich  nun 
einmal  der  intellectuelle  Urheber  und  der  Ver- 
fasser derselben  bin,  so  muß  ich  mich  wohl  der 
Mühe  unterziehen,  ihm  zu  antworten. 

Herr  du  Bois-Reymond  will  mir  in  drei 
Punkten  entgegentreten.  Erstens  wirft  er  mir 
ein  „Verschweigungssystem"  gegenüber  seinen 
Arbeiten  vor,  zweitens  soll  ich  „in  einer  längst 
von  ihm  erledigten  Streitfrage  eine  beschränkte 
Auffassung  nachträglich  zur  Geltung  bringen", 
drittens  soll  ich  „seinen  Integralbegriff  in  völlig 
sinnloser  Weise  bemängeln"  (pag.  1). 

Dem  ersten  Punkt  ist  der  Abschnitt  2 
der  Broschüre  gewidmet.  Ich  soll  absichtlich 
die  verdienstlichen  Arbeiten  des  Herrn  du  Bois- 
Reymond  verschwiegen  haben.  Davon  habe  ich 
bis  zum  Erscheinen  der  Broschüre  Nichts  ge- 
wußt, im  Gegentheil  habe  ich  die  Verdienste 
des  Herrn  du  Bois-Reymond  hervorgehoben,  na- 
türlich nur  da,  wo  ich  Verdienste  anzuerkennen 
hatte.  Man  möge  dies  aus  den  Stellen  pag. 
18,  20,  24,  37,  38,  ganz  besonders  aber  pag.  46 
ersehen,  wo  es  heißt:    „Wohl   aber   haben    wir 


DuBois  Reymond,  Z.  Gesch.  d.  trigon.  Reiben.  983 

eine  Erweiterung  der  Theorie  darin  zu  erken- 
nen, wenn  Herr  Prof.  P.  da  Bois-Reymond  nach- 
weist, daß»  wie  man  auch  eine  Function  fix)  in 

eine    Reihe  /"(«)=  £(awsinn3  -f  bHco%nz)f 


deren  CoefScienten  an  und  bn  zuletzt  unendlich 
klein  werden,  entwickeln  möge,  die  CoefScien- 
ten doch  immer  die  Fourier'sche  Gestalt  haben, 
wenn  die  Integrale  einen  Sinn  haben";  und 
weiter :  „der  obige  Satz  .  .  .  giebt  allen  bisheri- 
gen Untersuchungen  die  gewünschte  Vervoll- 
ständigung". Das  ist  doch  gewiß  eine  uneinge- 
schränkte Anerkennung.  Herr  du  Bois-Reymond 
weiß  auch  meine  Motive.  Er  sagt  pag.  15 :  „Der 
Umfang  des  Verschweigungsgebietes  erscheint 
unter  Voraussetzung  zweier  Motive  vollkommen 
bestimmt.  Es  sind  diese:  Erstens  trägt  man 
Scheu,  die  Prioritätsfrage  in  Betreff  des  zweiten 
Mittelwerthsatzes  zu  berühren.  Zweitens  will 
man  vermeiden,  gegenüber  den  neuen  Zeichen 
£>-  OJ  ^  und  den  daran  sich  knüpfenden  Opera- 
tionen Stellung  zu  nehmen".  Nähme  nicht  Herr 
du  Bois-Reymond  die  Priorität  für  jenen  Mittel- 
wertbsatz  „nachdrücklichst"  (pag.  14)  für  sich 
in  Anspruch  und  hätte  er  nicht  das  Verdienst, 
auf  eine  längst  bekannte  Sache  „neue"  Zeichen 
angewandt  zu  haben,  so  würde  er  solchen  Ver- 
muthungen  schwerlich  Raum  gegeben  haben. 
Denn  der  „zweite  Mittel werthsatz"  und  jene 
Zeichen  spielen  zwar  in  den  du  Bois-Rey- 
mond'schen  Schriften  eine  gewichtige  Rolle,  aber 
mit  den  Fortschritten  in  der  Theorie  der  tri- 
gonometrischen Reihen  haben  sie  gar  nichts 
zu  thun. 

Der  Behauptung  des  Herrn  du  Bois-Reymond, 
daß   ich  so  viel   Verdienst  ungerechter   Weise 


984        Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  31. 

verschwiegen  hätte,  liegt  doch  wohl  die  Voraus- 
setzung zu  Grunde,  daß  seine  Arbeiten  gelesen, 
vielfach  erwähnt  und  mit  Anerkennung  »verar- 
beitet" worden  sind  (pag.  26).  Ich  glaube,  auch 
in  dieser  Beziehung  stehe  ich  gerechtfertigt  da, 
denn  wenn  nicht  gerade  die  Arbeiten  des  Herrn 
du  Bois-Reymond  seit  dem  Erscheinen  seiner 
jüngsten  Broschüre  die  Aufmerksamkeit  der  Ma- 
thematiker in  höherem  Grade  erregt  haben,  so 
könnte  jene  Voraussetzung  leicht  auf  einem  Irr- 
thum  beruhen. 

Im  Speciellen  fühlt  sich  Herr  du  Bois-Rey- 
mond dadurch  beschwert,  daß  ich  seine  Theorie 
allgemeinerer  Darstellungsformeln  überhaupt  nicht 
erwähne.  Aber  er  erkennt  ja  selbst  an,  daß 
dieses  „Verschweigen"  »mit  dem  äußeren  Plan 
der  Geschichte  in  gewissem  Zusammenhang  stehe« 
(pag.  6).  Zunächst  behandele  ich  das  Fourier- 
sche  Doppelintegral  überhaupt  gar  nicht,  dann 
aber  haben  auch  die  Verallgemeinerungen  von 
Herrn  du  Bois-Reymond  und  die  auf  diesem  Ge- 
biete „seinem  Spürsinn  zur  Beute  gefallenen 
Sätze"  (pag.  46),  die  mir  alle  sehr  wohl  bekannt 
sind,  zur  Aufklärung  über  die  Natur  der  trigo- 
nometrischen Reihen  gar  nichts  beigetragen. 

Von  der  Abhandlung  des  Herrn  du  Bois- 
Reymond  „Untersuchungen  über  die  Convergenz 
und  Divergenz  der  Fourier'schen  Darstellungs- 
formeln, Cap.  I — III"  sage  ich  „sie  führe  zu 
keinen  greifbaren  Resultaten",  em  Ausdruck, 
der  die  Grenzen  erlaubter  Kritik  gewiß  nicht 
tiberschreitet.  Demgegenüber  meint  Herr  du 
Bois-Reymond  »bleibe  kaum  für  eine  andere 
Vermuthung  Raum,  als  daß  die  Dissertation  ur- 
theilt,  ohne  die  Arbeit  zu  kennen,  oder  daß  es 
ihr  am  geeigneten  Organ  zum  Greifen  fehlt", 
(pag.  50).    Mir    aber   bleibt  nur   die  Bitte   an 


Du  Bois-Reymond,  Z.  Gesch.  d.  trigon.  Reihen.  985 

Herrn  du  Bois-Reymond,  doch  gefälligst  die  Mo- 
tivierung meines  Urtheils  tlber  seine  Arbeit  auf 
pag.  23  und  24  meiner  Dissertation  beachten 
zu  wollen. 

Da  nun  nach  Herrn  du  Bois-Reymond  meine 
Abhandlung  zu  wenig  Rücksicht  auf  seine  Un- 
tersuchungen nimmt,  so  scheint  es  ihm  nützlich 
„diese  Lücke  in  der  Geschichtsschreibung"  (pag. 
15)  alsbald  möglichst  auszufüllen.  Es  werden 
daher  im  2ten  Abschnitt  „Allgemeine 
Grundzüge  einer  Geschichte  der  tri- 
gonometrischen Reihen"  entwickelt,  in 
denen  „die  Arbeiten,  durch  welche  sich  Herr 
du  Bois-Reymond  an  den  Forschungen  be- 
theiligte" die  Hauptrolle  spielen.  In  einem 
5ten,  26  Seitem  langen  Abschnitt  „lie- 
ber den  Giltigkeitsbereich  der  Dar- 
stellungsformeln für  beliebige  Func- 
tionen" wird  der  „zeitraubende  Wiederherstel- 
lungsproceß"  (pag.  54) .  fortgesetzt.  Dieser  Ab- 
schnitt soll  als  ein  „Zusatz"  —  Herr  du  Bois- 
Reymond  hätte  auch  sagen  können :  als  der  von 
jedem  Kenner  seiner  Arbeiten  gewiß  schon  längst 
erwartete  Zusatz  —  zu  seiner  Abhandlung  in 
Borchardfs  Journ.  Bd.  79  pag.  38  sqq.  ange- 
sehen werden;  „dort  gegebene  Sätze  sollen 
»sorgfaltiger«  hergeleitet  und  gegen  andere  zu 
gleichem  Zwecke  aufgestellte  abgewogen  wer- 
den" (pag.  28). 

In  den  Gedankengang  dieses  Abschnittes  ge- 
hört auch  die  Behauptung  des  Herrn  du  Bois- 
Reymond  (pag.  26),  „daß  er  die  Priorität  in  Be- 
zug auf  alle  Sätze  der  neuen  Integraltheorie 
habe" ;  und  weiter  der  Anhang,  welcher  eine 
Prioritätsfrage  in  Betreff  eines  neuen  Mittel- 
werthsatzes,  dem  von  Herrn  du  Bois-Reymond 
eine   wahrhaft   fundamentale   Bedeutung  beige- 


986        Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  31. 

legt  wird,  „wenn  möglich  aus  der  Welt  schaffen 
soll«  (pag.  14). 

An  zweiter  Stelle  (Abschn.  3:  Die 
Bedeutung  von  Grenzen  unendlicher 
Operationen  an  Sprungstellen)  wird  mir 
von  Herrn  du  Bois-Reymond  meine  Kritik  sei- 
ner „eigentlichen  Werthbestimmung  derFourier- 
schen  Reihe"  (siehe  Math.  Ann.  Bd.  7  pag.  254) 
vorgeworfen.  Die  Gründe,  warum  ich  die  du 
Bois-Reymond'sche  Anschauung  von  dem  Werthe 
der  Fourier'schen  Reihe  an  Sprungstellen  ver- 
werfe, sind  zwar  auf  pag.  15 — 17  meiner  Dis- 
sertation auseinandergesetzt ,  doch  sei  hier  noch- 
mals kurz  darauf  hingewiesen,  daß  der 


lim.      tif**f(a)äa+jt  [C0BJte/^(«)C0S*aÄa 

*=°°  »*=*,  l  -H  Ä=l  ~ti 

+  sin  kxT  nf(a)  &mkada]\ 

—IT 

• 

bei  gleichzeitiger  Bewegung  der  Argumente 
zwar  an  allen  Stetigkeitsstellen  mit  dem  Werthe 
der  Fourier'scben  Reihe  übereinstimmt,  aber 
nicht  an  den  Unstetigkeitsstellen,  wo  die  Fou- 
rier'sche  Reihe  nur  den  Mittelwerth  aus  den  bei- 
derseitigen Grenzwerthen  annimmt,  jener  lim. 
aber  jeden  dazwischen  liegenden  Werth  an- 
nehmen kann.  Herr  du  Bois-Reymond  schreibt 
pag.  18:  »Ein  Mißverständniß,  das  ich  mir  kaum 
erklären  kann,  ist,  daß  ich  irgendwo  den  Nach- 
weis zu  führen  versucht,  die  Fourier'sche  Reihe 
stelle  an  der  Unstetigkeitsstelle  alle  Werthe  der 
Function  zwischen  den  angrenzenden  Werthen 
dar.  Angesichts  der  Schärfe,  mit  der  ich  mich 
ausdrückte,  läßt  diese  Behauptung  bloß  die  Deu- 
tung zu,  daß  der  Verfasser  die  Abhandlung  nur 
vom  Hörensagen   kennt   und   entweder  Mißver- 


Da  Bois-Reymond,  Z.  Gesch.  d.  trigon.  Reihen.  987 

standenes  gehört  oder  Gehörtes  mißverstanden". 
Damit  möchte  ich  Herrn  du  Bois-Reymond  doch 
bitten,  gefälligst  seine  Abhandlung  in  den  Math. 
Ann.  Bd.  7,  ganz  besonders  aber  folgende  Stelle 
auf  pag.  254  vergleichen  zu  wollen :  „Also  sind 
alle  Werthe,  welche  die  Fonrier'sche  Formel  und 
die  Fourier'sche  Reihe  an  der  Sprungstelle  re- 
präsentiert, eingeschlossen  zwischen  den  Gren- 

71  7t 

zen  äf(xi  — ®)  und  äf(xi  +0),  ein  Intervall, 

das  sie  continuirlich  ausfüllen,  und  kein  Werth 
liegt  außerhalb«.  Ich  möchte  wohl  wissen,  ob 
Herr  du  Bois-Reymond  nun  noch  Lust  hat,  die 
Frage  aufzuwerfen,  ob  ich  Mißverstandenes  ge- 
hört, oder  Gehörtes  mißverstanden. 

An  dritter  Stelle  (Abschn.4:  zum  In- 
tegralbegriff) beschwert  sich  Herr  du  Bois- 
Reymond  über  folgenden  Passus  meiner  Disser- 
tation pag.  25:  „Herr  Prof.  du  Bois-Reymond 
nimmt  freilich  in  seinen  Schriften  über  die  Fou- 
rier'schen  Integrale  wieder  den  Cauchy'schen 
Standpunkt  ein  in  Betreff  der  Definition  des  be- 
stimmten Integrals,  den  Riemann  wegen  seiner 
Willkürlichkeit  verwirft.  Daher  schreiben  sich 
manche  seiner  von  den  gemeinbin  angenomme- 
nen völlig  abweichenden  Resultate".  Dieser  von 
mir  als  nebensächlich  angesehene  Passus  ist 
allerdings  vielleicht  zu  kurz  gefaßt,  und  ich  will 
daher  hier  die  Begründung  beifügen,  aus  der 
man  auch  ersehen  wird,  warum  ich  von  einem 
Cauchy 'sehen  Standpunkt  rede. 

Die  von  Riemann  anerkannte  Definition  des 
bestimmten  Integrals  einer  Function  f(%),  die 
innerhalb  des  Integrationsgebietes  unendlich  wird, 
ist  auf  mehrfache  Integrale  erweitert  worden. 
Wird  z.  B.  eine  sonst  im  Integrationsgebiete  O 
stetige   und  endliche  Function  zweier  Variablen 


988        Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  31. 

f(x>y)  an  einer  Stelle  X0  Y0  unendlich,  so 
schließe  man  von  G  ein  kleines  Flächenstück 
aus,  welches  die  Stelle  X0  F0  enthält.  Wenn 
das  Integral  über  den  übrig  bleibenden  Theil 
von  G  erstreckt  einer  festen  Grenze  A  zu- 
strebt, wie  man  auch  das  aasgeschlossene  Flä* 
chensttick  bis  zum  Verschwinden  verkleinert, 
so  versteht  man  unter  A  den  Werth  des  über 
das  Gebiet  G  erstreckten  Doppelintegrals. 
Andernfalls  hat  das  Integral  keine  Bedeu- 
tung. Herr  du  Bois-Reumond  nimmt  in  sei- 
nen Schriften  über  die  Fourier'schen  Doppel* 
integrale  einen  Standpunkt  ein,  der  von  der 
consequenten  Fortentwicklung  der  Riemann'schen 
Definition  verschieden  ist.  Er  beruft  sich  dabei 
auf  Cauchy  (Math.  Ann.  Bd.  4.  pag.  366).  Herr 
du  Bois-Reymond  definiert  nämlich  ebenda  »Ein 

bestimmtes  Doppelintegral  /  *dxf  1 dyf(xy\  wo 

Xo  Yo 

X0  Xx  Y0  Y1  Zahlen  bedeuten,  ist  das  Resul- 
tat des  Ueberganges  der  variablen  Grenzen 
xo  X\V^V\     des    unbestimmten    Integrals 

Jx'dxf*dyf{xy)  in  die  Zahlen  X0  Xt  Y0YX€ 

und  wendet  diese  Definition  auch  für  den  Fall 
an,  daß  X0  Y0  ein  Unendlichkeitspunkt  der 
Function  ist.  Die  Folgen  einer  solchen  Defini- 
tion, auf  welche  Rieniann's  Urtheil  über  die 
Cauchy'schen  Hauptwerthe,  daß  sie  schon  wegen 
ihrer  großen  Willktirlichkeit  zur  allgemeinen 
Einführung  wohl  kaum  geeignet  seien,  zutrifft, 
treten   denn   auch   bald   hervor.    Herr  du  Bois- 

d*F(xy) 
Reymond  giebt  nämlich,  indem  erf(xy)  =    -   ^ 

setzt,  dem  bestimmten  Doppelintegral  die  Form : 

F(xx  y  o  -  F{x,  rt)  -  F(xr  r0) + ^(x,  re), 


Du Bois-Reymond,  Z.  Gesch.d.  trigon. Reihen.   WQ 

und  folgert  nun,  daß  je  nach  der  Reihenfolge, 
in  der  x0  xx  y0  yx  ihre  festen  Werthe  anneh- 
men, das  Integra]  im  Allgemeinen  14  verschie- 
dene Werthe  (oder  auch  unendlich  viele)  be- 
sitze. Herr  du  Bois-Reymond  sagt  nun  pag.  24 : 
„Es  ist  lediglich  eine  aus  der  Luft  ge« 
griffene  Unwahrheit,  daß  manche  meiner 
»Resultate«  von  den  gemeinhin  angenommenen 
völlig  abweichen.  Nicht  ein  Beispiel  weiß  ich 
dafür".  Ich  meine  das  angefahrte  wird  hin- 
reichen, um  sich  zu  überzeugen,  wie  man  so 
merkwürdigen  Ergebnissen  gegenüber  auf  die 
„analytischen  Grundvorstellungen"  des  Herrn  du 
Bois-Reymond  zurückgehen  muß,  und  daß  man 
nicht  eher  zur  Klarheit  kommt,  als  bis  man 
„diese  analytischen  Grund  Vorstellungen"  (pg.  55) 
als  unzulässig  oder  auch  als  falsch  erkannt  hat. 

Der  Broschüre  ist  noch  ein  Schlußwort 
beigefügt.  Bemerkenswerth  ist  darin  das  bei 
einem  Autor  von  so  eigener  „Aengstlichkeit", 
wie  sich  Herr  du  Bois-Reymond  pag.  26  selber 
schildert,  gewiß  auffallende  Geständniß,  „daß  er 
seine  Aufsätze  zumTheil  schneller,  als  ihm  lieb 
war,  habe  veröffentlichen  müssen,  pour  prendre 
dateu\  Demnach  wird  mich  gewiß  meine  Er- 
wartung nicht  täuschen,  daß  er  „bei  nächster 
Gelegenheit"  auch  die  in  der  vorliegenden  Bro- 
schüre „untergelaufenen  Irrthümer  verbessert", 
(pag.  55). 

Straßburg  i.  E.  Dr.  Arnold  Sachse. 


L e  s  si  n  g s  persönliches  und  literarisches  Ver- 
hältnis zu  Klopstock.  Von  Franz  Muncker. 
Frankfurt  a.  M.  Literarische  Anstalt  Rütten  & 
Löning.     1880.    VII,  232  S.     8°. 

Die   philosophische  Facultät   der  Universität 


990        Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  31. 

München  stellte  1875  das  im  Titel  genannte  Thema 
als  Freisaufgabe  and  krönte  im  folgenden  Jahre 
des  Verfassers  eingereichte  Arbeit,  aus  welcher 
durch  nachträgliche  Erweiterungen  und  Beschrän- 
kungen das  gegenwärtige  Buch  hervorgegangen 
ist.  Dasselbe  besteht  aus  vier  Abschnitten:  I. 
Einleitung,  Klopstock  und  Lessing.  II.  Lessing 
über  Klopstock,  seine  Anhänger  und  Gegner  bis 
1755.  III.  Lessing  und  die  Berliner  Freunde 
über  Klopstock  und  Wieland  von  1755  bis  1767. 
IV.  Lessings  Freundschaftsbund  mit  Klopstock 
1767—1781.  Schließlich  werden  im  Anhange 
einige  bisher  ungedruckte  Schriftstücke,  Nicolais 
Bandbemerkungen  zu  seinem  Exemplar  der  Oden 
Klopstocks,  ein  Brief  Mendelssohns  an  Gleim  über 
den  Tod  Adams  und  13  Briefe  Klopstocks  mit- 
getheilt,  deren  erster,  der  von  Klopstock  bis- 
her bekannt  gewordene  älteste  vom  Oct.  1738, 
aus  einer  alten  Gopie  der  hiesigen  Bibliothek 
entnommen  wurde.  Ein  Namenregister  hilft  das 
Gelesene  leicht  wiederfinden. 

Der  Verfasser  hat  mit  voller  Sachkenntniß 
und  jugendlicher  Begeisterung  für  Lessing  wie 
Klopstock  geschrieben  und  manche  kleine  Ein- 
zelheiten neu  ans  Licht  gezogen,  die  das  Bild 
der  behandelten  Persönlichkeiten  und  ihrer  Zeit 
und  Zeitgenossen  vervollständigen,  ohne  dasselbe 
wesentlich  zu  verändern.  Wir  erfahren,  was  wir 
bereits  wußten,  nur  daß  der  Verfasser  unter  den 
üblichen  Gesichtspunkten  ästhetischer  Auffassung 
die  Quellen,  die  Werke  der  Dichter  und  Schrift- 
steller, die  alten  Zeit-  und  Streitschriften,  sowie 
die  gedruckten  Briefsammlungen  unmittelbar  und 
selbständig  wieder  benutzt  hat,  um  daraus  die 
nun  einmal  für  unerschütterlich  geltenden  An- 
sichten aufs  neue  zu  bestätigen.  Es  wird  nicht 
leicht  jemand  das  Wagestück  versuchen,  die 
Dichter  Deutschlands  im  18.  Jh.  vor  Klopstock 


Muncker,  Lessing  and  Klopstock.        991 

and  Lessing,  die  man  gewöhnlich  als  Gottsche- 
dianer  bezeichnet,  über  den  Schöpfer  der  Messiade 
oder    den    der  Minna  and  Emilie   zu   erheben, 
eher  vielleicht,  den  letzteren  als  Dichter  einige 
Stufen  unter  den  üblichen  Grad  der  Schätzung 
herabzurücken,    um  ihn  jenen  za  näheren,  und 
ohne  Schwierigkeit  würde  sich  darthun   lassen, 
daß  einige  jener  älteren  Dichter  und  besonders 
einer  derselben  die  Geringschätzung  nicht  ver- 
dient hat,   unter   der  er,   in  Folge  der  Partei- 
streitigkeiten und  des  daraus  erklärlichen  Spot- 
tes, mehr  witzigen  als  billigen  Charakters,  immer 
zu  leiden  hatte.    Auch  der  Verf.  wiederholt  die 
landläufigen    Urtheile   über   Schönaich,    dessen 
Hermann  er  nach  Form   und  Inhalt  einen  mis- 
glückten  Versuch  nennt;  Sprache  und  Vers  seien 
holperig  und  langweilig,   die  Erfindung  eintönig 
und  unkünstlerisch,  Phantasie  und  Empfindung 
mangle  völlig.    Es  handelt  sich   um  ein  erzäh- 
lendes Gedicht  von  1751,  das  dem  unglücklichen, 
auch  von  Klopstock  getheiltem  Wahne  zufolge, 
es  lasse  sich  in  neuerer  Zeit  ein  Epos  machen, 
als  Epos  gelten  sollte,  sich  aber  doch  nur  Hel- 
dengedicht nannte  und  damit  nicht  gerade  zu- 
viel  sagte,   da  jedes  erzählende  Gedicht  einen 
Helden  zu  haben  pflegt  und  Hermann  auch  im 
weitern  Sinne  den  Namen   eines  solchen  trägt. 
Ich  will  mich  nicht  zum  Retter  dieses  Helden- 
gedichtes aufwerfen,  aber  ich  hätte  gewünscht, 
daß  der  Verf.  sein  Urtheil,   soweit   es   thunlich 
war,   durch   einige  Züge  aus  dem  Gedichte  er- 
wiesen  oder   doch    modificiert   hätte.     In  jenen 
Jahren    des    verhimmelnden,    allen,   auch   den 

poetischen  Boden  anter  den  Fußen  verlierenden  äeraphis- 
mos  war  eine  Ernüchterung  wohl  angebracht  und  selbst 
die  Form  der  trocha'ischen  Tetrameter,  die  Schönaich 
keineswegs  holperig  handhabt,  war  den  halsbrechenden 
Hexametern  gegenüber  von  relativer  Bedeutung  und  nicht 


992        Gott,  gel  Anz.  1880.  Stück  31. 

zu  verachten.  Selbst  die  Dichterkrönung,  die  den  Spott 
herausforderte  und  auf  das  Gedicht,  seinen  Urheber  und 
dessen  Gönner  in  Apoll  lenkte,  ist  gar  nicht  so  lächerlich, 
wie  sie  dargestellt  wurde,  da  sie  ein  deutsches  Ge- 
dicht betraf,  wahrend  die  Poeten  sonst  gewöhnlich  nur 
durch  lateinische  Verseleien  Anspruch  auf  den  poetischen 
Lorbeer  gewannen.  Doch  diese  Bemerkungen  treffen  nur 
einen  gelegentlichen  Theil  der  Arbeit,  die  jedoch  auch 
im  Wesentlichen  an  der  traditionellen  Auffassung  fest  hält 
und  noch  von  >ewig  gültigen  Gesetzen«  spricht,  nach  de- 
nen Lessing  die  einzelnen  Bezirke  des  geistigen  Strebens 
gesondert  habe.  Theoretisch  bis  auf  einen  gewissen  Grad, 
aber  die  Theorie  ist  ohne  durchschlagende  Wirkung  ge- 
blieben, selbst  bei  Lessing,  und  in  der  Gegenwart  völlig 
außer  Kurs  gesetzt.  Ebenso  war  seine  dramaturgische 
Theorie  lediglich  eine  Verfassung  auf  dem  Papier,  nach 
der  niemand  als  er  selbst,  und  auch  er  mit  großen  Li- 
cenzen,  gearbeitet  hat.  Wie  es  um  die  Zerstörung  der 
»falschen  von  außen  aufgedrängten  Muster«  des  Dramas 
beschaffen  war,  wäre  auch  wohl  einmal  genauer  zu  unter- 
suchen. Es  würde  sich  dabei  zeigen,  daß  nach  wie  vor 
die  lieben  Franzosen  die  Herrschaft  behielten,  im  Lust- 
spiele nicht  nur,  sondern  auch  in  der  Tragödie,  und  fer- 
ner müßte  sich  zeigen,  daß  die  von  ihm  erläuterte  und 
gestützte  aristotelische  Theorie,  wenn  sie  durchgedrungen 
wäre,  un8ern  Dichtern  keine  Richtschnur,  sondern  nur 
eine  neue  von  außen  gekommne  Fessel  geworden  wäre. 
Während  Aristoteles  von  einer  Fülle  dramatischer  Er- 
zeugnisse Beines  Volkes  Begriffe  abstrahierte,  war  die 
Sache  bei  Lessing  geradezu  umgekehrt,  und  weil  er  keine 
Producte  seines  Volkes  vorfand,  die  ihm  durch  andern 
als  bloß  formellen  Werth  Achtung  hätten  abtrotzen  kön- 
nen, versuchte  er,  die  Theorie,  die  von  Kunstwerken  her- 
geleitet war,  die  ihm  imponierten,  als  >ewiges  Gesetze 
geltend  zu  machen.  Sein  Mangel  war,  wie  auch  der  Verf. 
S.  42  sehr  wohl  erkennt,  daß  er  bei  der  ästhetischen  Kri- 
tik stehen  blieb,  nicht  bis  zur  historischen  sich  erheben 
konnte,  die  allein  gerecht  und  allein  fruchtbar  heißen 
kann.  Der  Verf.,  der  ähnliche  Studien  wie  die  hier  ge- 
botnen  in  Aussicht  stellt,  wird  darin  vielleicht  den  histo- 
rischen Maßstab  etwas  liebevoller  handhaben;  hier  wal- 
tet noch  wesentlich  der  ästhetische.  K.  Goedeke. 

Für  die  Redaction  verantwortlich  :  K  Rehnisch,  Director  d.  Gott.  gel.  Anz. 

Commissions -Verlag  der  Dieterich'schen  Verlags-  Buchhandlung. 

Jfruck  der  DieteHcK sehen  Ihm.-  Buchdruckerei  ( W.  Fr.  Kaestner). 


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993 


Göttingische 

gelehrte    Anzeigen 

unter  der  Aufsicht 

der  Königl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Stück  32.  11.  August  1880. 


Inhalt:  A.  Mannheim,  Cours  de  geome'trie  descriptive  de  l'E- 
cole  Polytechniqne.  Von  H.  0.  Zeuthen.  —  Th.  Kjerulf,  Udsigt 
over  det  sydlige  Norgee  Geologi.  Von  0.  Lang.  —  V  a  m  a  n  a  '  s  Stu- 
regeln, bearb.  von  C.  Cappeller.  Von  Th.  Zachariae.  —  Hans  Sachs1 
Samintliche  Fastnachtspiele,  herausgeg.  y.  £•  Goetxe.  Bdoh.  I.  Von 
K  O'oedske. 

s  Eigenmächtiger  Abdruck  von  Artikeln  der  Gott.  gel.  Anz.  verboten  s 


Cours  de  geom^trie  descriptive  de 
l'&cole  Polytechnique,  comprenant  les 
elements  de  la  geometrie  cinematique ;  par  A. 
Mannheim.  Paris,  Gauthier- Villars  1880.  — 
In-8yo,  de  460  pages,  et  illustre  de  249  figures 
dans  le  texte. 

Der  erste  Theil  dieses  vor  kurzem  erschiene- 
nen Buches  führt  den  Titel:  Untersuchung 
der  verschiedenen  Darstellungs wei- 
sen räumlicher  Gebilde. 

Da  die  Studierenden,  welche  in  die  Ecole 
Polytechnique  aufgenommen  werden,  bereits  nut 
den  Elementen  der  darstellenden  Geometrie  ver- 
traut sind,  so  beginnt  der  Verfasser  in  der  er- 
sten Vorlesung  mit  der  Theorie  der  Schatten- 
constructionen.  Er  behandelt  sodann  die  Co- 
tierungsprojection  (zweite  Vorlesung),  die  Central- 

63 


994        Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  32. 

projection  (3.  bis  9.  Vorlesung),  die  Cavalier- 
perspective  (10.  und  11.  Vorlesung),  die  axono- 
metrische  Projection  (12.  Vorlesung,  —  ohne  je- 
doch auf  den  P  o  h  1  k  e '  sehen  Satz  und  auf  die 
an  denselben  sich  anschließenden  Betrachtungen 
einzugehen),  und  die  isometrische  Projection 
(13.  Vorlesung). 

Da  der  Verfasser  sich  in  diesem  ersten  Ab- 
schnitte ziemlich  nahe  an  die  bekannte  Behand- 
lungsweise  in  dem  ausgezeichneten  Werke  von  de 
la  Gournerie:  Traite  de  Perspective  lineavre 
anschließt,  so  erwähnen  wir  hier  nur  eine  Lö- 
sung der  Aufgabe:  „Eine  Ebene  auf  eine  zar 
Bildebene  parallele  Ebene  herabzuschlagen",  und 
einige  geometrische  Anwendungen  der  Cavalier- 
perspective  einer  Kugel. 

Der  zweite  Theil  mit  dem  Titel  »Curven 
und  Flächen;  theoretische  Ergänzun- 
gen und  Anwendungen«  enthält  Sätze  und 
Constructionen  über  ebene  und  doppelt  ge- 
krümmte Curven,  über  abwickelbare  und  wind- 
schiefe Flächen,  über  Schraubenflächen  u.  s.  w., 
sowie  über  allgemeine  Flächen.  In  der  letzten 
Vorlesung  (der  31.)  werden  die  topographischen 
Flächen  behandelt. 

In  diesem  zweiten  Theile  sucht  der  Verfasser 
eine  einheitliche  Methode  in  die  Beweise  zu 
bringen,  indem  er  von  den  Sätzen  der  kine- 
matischen Geometrie  Gebrauch  macht. 
Wir  werden  uns  hier  vorzugsweise  mit  den  An- 
wendungen dieser  Methode  beschäftigen,  die  dem 
Buche  ein  sehr  großes  wissenschaftliches  Inter- 
esse verleiht.  Aber  zuvor  wollen  wir  noch  eine 
Eigenschaft  des  ganzen  Werkes  hervorheben, 
die  es  zu  einem  vorzüglichen  Unterrichtsmittel 
macht:  die  Darstellung  ist  durchweg  klar  und 
einfach;  sie  ist  hinreichend  ausführlich  und  sorg- 


Mannheim,  Conra  de  g£omätrie  descriptive.    995 

fältig,  um  dem  Leser  eine  vollständige  Vor- 
stellung von  den  vorgefahrten  Materien  zn  ver- 
schaffen, und  dabei  doch  so  kurz  und  elegant, 
daß  sich  dieselben  leicht  dem  Gedächtnis  ein- 
prägen. Man  weiß,  wie  schwer  es  ist,  zumal 
bei  der  Beschreibung  räumlicher  Figuren,  diese 
beiden  Vorzüge  zu  vereinigen. 

Herr  Mannheim  wurde  veranlaßt,  in  seine 
Vorlesungen  über  darstellende  Geometrie  die 
Elemente  der  kinematischen  Geometrie  einzu- 
führen, als  im  Jahre  1867  der  Conseil  de  per- 
fectionnement  de  Vlicole  Pdytechnique  den  Pro* 
fessoren  eine  größere  Freiheit  in  der  Behand- 
lung des  vorgeschriebenen  Stoffes  einräumte. 
Im  ersten  Augenblick  wird  man  sich  wundern, 
daß  Herr  Mannheim  diese  Freiheit  nicht  dazu  be* 
nutzt  hat,  um  die  Zöglinge  der  berühmten  Schule, 
aus  der  Poncelet  und  Chasles  hervorgegan- 
gen sind,  mit  den  Elementen  der  projectivi- 
schen  Geometrie  bekannt  zumachen,  die  ja 
so  nahe  Beziehungen  zur  darstellenden  Geometrie 
hat  Wir  glauben  sogar,  daß  eine  kurze  Dar* 
legung  der  Anfangsgründe  der  projectivischen 
Geometrie  das  Verständniß  sowohl  der  darstel- 
lenden als  der  kinematischen  Geometrie  so  sehr 
erleichtert  hätte,  daß  die  darauf  verwandte  Zeit 
vollständig  wieder  eingebracht  worden  wäre. 
Aber  da  der  Verfasser  eine  Wahl  zwischen  der 
projectivischen  und  der  kinematischen  Geometrie 
für  nöthig  gehalten  hat,  und  da  seine  eigenen 
Arbeiten  in  das  Gebiet  der  letzteren  fallen,  so 
finden  wir  es  natürlich,  daß  er  geglaubt  hat, 
seinen  Zuhörern  durch  Einführung  der  kinema- 
tischen Principien  nützlicher  werden  zu  können. 

Wie  dem  auch  sei,  die  Geometer  werden  sich 
über  diese  Wahl  nicht  zu  beklagen  haben,  die 
Herrn  Mannheim  Gelegenheit  gegeben  hat,   im 

63* 


996       Gott  gel.  Anz.  1880.  Stück  32. 

Zusammenhang  und  in  elementarer  Weise  die 
Methoden  darzustellen,  deren  er  sich  in  einer 
Reihe  interessanter  geometrischer  Untersuchun- 
gen bedient  hat,  die  schon  seit  lange  ihre  Auf- 
merksamkeit auf  sich  ziehen. 

Nach  der  Auffassung  des  Verfassers  ist  die 
kinematische  Geometrie  die  Lehre  von  den  Ver- 
rückungen (deplcLcements),  das  ist  die  Lehre  von 
der  Bewegung  als  einer  bloßen  Ortsveränderung, 
unabhängig  nicht  nur  von  den  Kräften,  sondern 
auch  von  der  Zeit.  Das  letzte  Merkmal  unter- 
scheidet sie  von  der  Kinematik.  Wie  diese  von 
der  Zusammensetzung  unendlich  kleiner  Bewe- 
gungen handelt,  so  handelt  die  kinematische 
Geometrie  von  der  Zusammensetzung  unendlich 
kleiner  Verrückungen,  wobei  die  Größe  der  Ver- 
rückungen dieselbe  Bolle  spielt,  wie  die  Ge- 
schwindigkeit in  der  eigentlichen  Kinematik. 
Wir  können  zwar  diesen  Unterschied  nicht  für 
wesentlich  halten;  allein  der  Verfasser  bezeich- 
net dadurch  das  Gebiet  der  Kinematik,  mit  dem 
er  sich  beschäftigt. 

Zur  kinematischen  Geometrie  gehört  in  er- 
ster Linie  die  Theorie  der  conjugierten  Botations- 
axen  und  der  von  ihnen  gebildeten  reciproken 
Figuren.  Es  ist  bekannt,  daß  jede  unendlich 
kleine  Verrückung  eines  starren  Systems  auf 
unendlich  viele  Arten  durch  zwei  Botationen 
hervorgebracht  werden  kann.  Die  eine  der  bei- 
den Axen  kann  eine  beliebige  Gerade  des  Bau- 
mes sein;  durch  sie  ist  dann  die  andere,  welche 
die  conjugierte  Axe  heißt,  vollständig  bestimmt 
Die  den  Geraden  einer  Ebene  conjugierten  Axen 
gehen  alle  durch  einen  festen  Punkt  der  Ebene, 
ihren  Brennpunkt  (foyer).  Da  die  Verschiebung 
dieses  Punktes  senkrecht  zur  Ebene  erfolgt,  so 
flieht  man;  daß  umgekehrt  ein  gegebener  Punkt 


Mannheim,  Cours  de  gäoiuetrie  descriptive.    997 

nur  für  eine  einzige  Ebene  Brennpunkt  ist  Von 
besonderem  Interesse  sind  diejenigen  Geraden, 
welche  mit  ihren  conjugierten  Azen  zusammen- 
fallen: für  diese  wird  die  Zerlegung  der  Ver- 
rückung des  Systems  unmöglich.  Die  Verschie- 
bung eines  beliebigen  Punktes  einer  solchen  Ge- 
raden ist  senkrecht  zu  derselben  und  der  Punkt 
ist  Brennpunkt  einer  durch  die  Gerade  gehen- 
den Ebene.  —  Die  den  unendlich  fernen  Ge- 
raden conjugierten  Axen  sind  unter  einander 
parallel;  eine  unter  ihnen  wird  zur  Axe  einer 
Schraubenbewegung  des  Systems. 

Die  ersten  Anfänge  dieser  allgemeinen  Theo- 
rie*) finden  sich  in  einer  Mittheilung  von  Herrn 
Chasles  an  die  Societe  philomatique :  „Note  sur 
les  proprietes  generates  du  Systeme  de  deux  corps 
semblables  entryeuxy  et  places  d'une  maniere 
quelconque  dans  Vespace;  et  sur  le  emplacement 
fini  ou  infvniment  petit  (Fun  corps  solide  libreu 
(Bulletin  des  sciences  math.  p.  Ferussac,  Nov. 
1830**);  und  sie  ist  vollständig  entwickelt  in 
einer  Abhandlung  desselben  großen  Geometers, 
die  in  den  Gomptes  rendus  von  1843  Veröffent- 
licht ist:  „Proprietes  genSrales  du  mou- 
vement  infiniment  petit  d'un  corps  so* 
lide  Hire  dans  Vespaceu.  In  dem  Zeit- 
raum zwischen  diesen  beiden  Arbeiten  haben 
sich  andere  bedeutende  Geometer  mit  der  Zu- 

*)  Die  Grundlage  der  ebenen  kinematischen  Geo- 
metrie findet  sich  schon  in  einer  Mittheilung  an  die  So- 
eUU  philomatique  aus  dem  Jahre  1829,  die  kürzlich  in 
dem  Bulletin  de  la  SociSte  Maihimatique  (1878)  abge- 
druckt worden  ist* 

**)  Da  ich  diese  Abhandlung  nicht  zu  Gesicht  be- 
kommen habe,  so  citiere  ich  sie  nach  dem  ausgezeichne- 
ten Buche  von  Herrn  Schell:  »Theorie  der  Bewegung 
und  der  Kräfte«.  —  Man  vgl.  auch  die  Note  XXXIV 
im  Aperpu  kktorique  des  Herrn  Ghasles. 


998        Gott  gel.  Anz.  1880.  Stück  32. 

sammensetzuäg  unendlich  kleiner  Rotationen  be< 
schäftigt:  Poinsot  in  seiner  1834  der  Akademie 
vorgelegten  „Theorie  nouvette  de  la  rotation  des 
eorpsu  and  Möbius  in  einem  interessanten  Auf- 
satz im  Crelle'schen  Journal  von  1836.  Es  ist 
noch  zu  bemerken,  daß  unter  einem  geometri- 
schen Gesichtspunkt  der  allgemeine  Theil  der 
kinematischen  Geometrie  identisch  ist  mit  der 
statischen  Geometrie,  welche  Möbius  aus  den 
statischen  Principien  Poinsot's  entwickelt  hat 
(in  einer  Abhandlung  im  10.  Bande  des  Crel- 
le'schen Journals  und  in  seinem  „Lehrbuch  der 
Statik«,  Leipzig  1837). 

Wir  wollen  nicht  versuchen  die  Schriftsteller 
aufzuzählen,  welche  seitdem,  neben  Herrn  Chasles, 
dieselbe  Theorie  weiter  ausgebildet  haben,  theils 
vom  Standpunkt  der  Kinematik  aus  —  für 
diese  verweisen  wir  auf  die  Anmerkungen  in 
dem  Mannheim'schen  Buche  — ,  theils  vom 
Standpunkt  der  Statik  aus,  während  noch  an« 
dere  eine  rein  geometrische  Theorie  der  Strecken 
daraus  entwickelten.  Wir  begnügen  uns,  daran 
zu  erinnern,  daß  unter  einem  geometrischen  Ge- 
sichtspunkte diese  Theorien  zusammenfallen  mit 
der  Theorie  der  linearen  Complexe  von  P 1  ti  o  k  e  r. 
Denn  der  allgemeinste  lineare  Complex  gerader 
Linien  kann  betrachtet  werden  als  zusammen- 
gesetzt aus  Geraden,  die  mit  ihren  conjugierten 
Axen  in  Beziehung  auf  eine  passende  Ver- 
rückung eines  starren  Systems  zusammenfallen. 
Ebenso  bilden  die  Geraden,  welche  für  jede 
mögliche  Verrückung  eines  starren  an  vier  Be- 
dingungen gebundenen  Systems  mit  ihren  con- 
jugierten Axen  zusammenfallen,  die  allgemein- 
ste lineare  Congruenz  (geradliniges  Strahlen- 
system). 

Hr.  Mannheim  hat  hervorragende  Verdienste 


Mannheim,  Coors  de  geometrie  descriptive.    999 

um  die  Weiterentwicklung  dieser  allgemeinen 
yon  Chasles,  Poinsot  and  Möbius  gegründeten 
Theorien;  man  verdankt  ihm  hauptsächlich  Un- 
tersuchungen über  die  Verrückungen  starrer 
Systeme,  die  weniger  als  fünf  Bedingungen  un- 
terworfen sind.  Es  genügt,  in  dieser  Beziehung 
an  seine  im  Jahre  1869  in  den  „Memoires  pri- 
sentes  par  divers  savants"  veröffentlichte  Ab- 
handlang „ßtude  sur  le  deplatement  cFune 
figure  de  forme  invariable11  zu  erinnern.  Was 
aber  den  Untersuchungen  des  Herrn  Mannheim 
die  größte  Wichtigkeit  verleiht,  ist  der  Reich- 
thum  und  die  Mannichfaltigkeit  der  Anwen- 
dungen, welche  er  von  der  kinematischen 
Geometrie  gemacht  hat,  und  das  Geschick  mit 
dem  er  dieselben  so  weit  durchzuführen  weiß, 
bis  er  —  fast  in  jedem  einzelnen  Falle  —  die 
eleganteste  Construction  und  Beweisführung  er- 
hält. Er  hat  zur  Vervollkommnung  des  Werk- 
zeuges, das  er  kinematische  Geometrie  nennt, 
beigetragen ;  aber  vor  allem  hat  er  uns  mit  des- 
sen Handhabung  bekannt  gemacht. 

Bei  diesen  Anwendungen  beschränkt  sich 
Herr  Mannheim  keineswegs  auf  den  Gebrauch 
der  oben  besprochenen  allgemeinen  Sätze,  die 
der  kinematischen  und  der  statischen  Geometrie 
gemeinsam  sind.  Vielmehr  bedient  er  sich  un- 
mittelbar der  kinematischen  Schlußweisen,  die 
zum  Beweise  jener  allgemeinen  Sätze  geführt 
haben.  Die  unendlich  kleinen  Verrückungen  er- 
setzen dabei  die  Differentiationen  der  Analysis; 
mit  ihrer  Hilfe  zieht  er  auch  die  Veränderungen 
der  bewegten  Systeme  in  den  Kreis  der  Be- 
trachtung, und  leitet  daraus  geometrische  Eigen- 
schaften unbeweglicher  Systeme  her. 

Diese  nämlichen  Methoden,  deren  sich  Herr 
Mannheim  bei  der  Mittheilung  seiner  eigenen 


1000      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  32. 

Untersuchungen  zu  bedienen  pflegt,  finden  sich 
in  dem  vorliegenden  Buche  wieder,  und  wäh- 
rend er  daraus  die  Beweise  der  durch  das 
Programm  der  £cole  Polyteehnique  vorgeschrie- 
benen Lehrsätze  schöpft,  giebt  er  zugleich  in 
Nachträgen  eine  seiner  wichtigsten  anderweiti- 
gen Anwendungen  der  kinematischen  Geometrie. 
Wir  werden  daher  im  Verlaufe  unseres  Berich- 
tes Gelegenheit  haben  auf  diese  Anwendungen 
näher  einzugehen  und  kehren  jetzt  zur  Analyse 
der  einzelnen  Vorlesungen  zurück. 

Das  Ende  der  13.  Vorlesung,  welches  schon 
zum  zweiten  Theile  des  Buches  gehört,  die  14. 
und  der  größte  Theil  der  15.  Vorlesung  enthal- 
ten die  Elemente  der  ebenen  kinematischen  Geo- 
metrie und  Anwendungen  auf  die^  Construction 
von  Normalen  und  Krümmungsmittelpunkten. 
Die  Untersuchungen  erhalten  eine  feste  Grund- 
lage, indem  der  Verfasser  Definitionen  und 
Lehrsätze  den  Clements  de  Calcul  infinitesimal 
von  Duhamel  entlehnt.  Er  untersucht  die  Be- 
ziehungen zwischen  der  Krümmung  der  Bahnen 
und  der  Krümmung  der  Enveloppen  der  ver- 
schiedenen Punkte  und  Geraden  eines  ebenen 
Systems  und  giebt  Beispiele  der  analogen  Be- 
ziehungen bei  veränderlichen  Systemen.  Von 
den  speciellen  Beispielen  in  diesen  Vorlesungen 
nennen  wir  eine  elegante  kinematische  Herlei- 
tung einer  Construction  der  Axen  einer  Ellipse, 
von  der  zwei  conjugierte  Durchmesser  gegeben 
sind,  (die  Construction  war  auf  anderem  Wege 
schon  im  ersten  Theile  abgeleitet  worden),  und 
Constructionen  der  Krümmungsmittelpunkte  der 
Ellipse  und  der  Evolute  einer  Ellipse. 

Der  Rest  der  15.  Vorlesung,  die  16.  und  der 
erste  Theil  der  17.,  in  welchen  von  der  kine- 
matischen  Geometrie    kein  Gebrauch    gemacht 


Mannheim,  Coarg  de  gäoraetrie  descriptive.    1001 

wird,  enthalten  die  Definitionen  und  die  wich- 
tigsten Sätze  und  Gonstrnctionen  aus  der  Theorie 
der  Curven  doppelter  Krümmung,  der  einhüllen* 
den  und  geradlinigen,  insbesondere  der  ab- 
wickelbaren Flächen.  Leider  findet  man  in 
diesen  Vorlesungen  nichts  über  Enveloppen  von 
Flächen,  die  yon  zwei  variabeln  Parametern  ab- 
hängen und  gelangt  so  nicht  zu  der  doppelten 
Betrachtungsweise  einer  beliebigen  Fläche:  als 
Ort  von  Punkten  oder  aber  als  Enveloppe  von 
Ebenen. 

Am  Ende  der  17.  Vorlesung  nimmt  der  Ver- 
fasser die  kinematische  Geometrie  wieder  auf 
mit  der  Untersuchung  der  unendlich  kleinen 
räumlichen  Verrückungen  eines  ebenen  Systems 
und  einer  Geraden.  Die  gefundenen  Resultate 
wendet  er  in  der  18.  Vorlesung  an,  welche  der 
geometrischen  Optik  gewidmet  ist.  Mit  Hilfe 
der  Sätze  über  die  Veränderung  einer  bewegli- 
chen Strecke  beweist  er  den  Satz  von  Malus 
und  Dupin  über  gebrochene  Strahlen.  Der  Rest 
der  Vorlesung  enthält  eine  sehr  elegante  geo- 
metrische Discussion  der  Wellenfläche;  der  Ver- 
fasser findet  verschiedene  Definitionen  derselben 
und  giebt  mehrere  Methoden  zur  Construction 
von  Normalen  und  zur  Bestimmung  der  singu- 
lären  Punkte  und  Tangentialebenen  an.  Bei 
einer  spätem  Gelegenheit  kommt  er  auf  dieselbe 
Fläche  zurück,  um  ihre  Krümmung  zu  bestim- 
men und  ihre  Nabelpunkte  auf  ebenso  elegante 
Weise  zu  ermitteln. 

Die  Sätze  über  die  Verrückung  einer  Gera- 
den liefern  ein  ausgezeichnetes  Mittel  für  das 
Studium  der  geradlinigen  Flächen  und  die  Con- 
struction der  längs  einer  Erzeugenden  berühren- 
den Hyperboloide.  Der  Verfasser  zieht  zu  An- 
fang der  19.  Vorlesung  Nutzen  daraus.    Erfährt 


1002      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  32. 

hierauf  in  der  kinematischen  Geometrie  fort, 
und  nachdem  er  die  Hauptsätze  über  die  con- 
ju  gierten  Rotationsaxen  aufgestellt  hat,  leitet  er 
daraus  den  für  die  Normalenconstruction  wich- 
tigen Satz  ab,  daß  die  Normalen  an  die  Bahn« 
flächen  {surfaces  trajedoires)  der  Punkte  eines 
starren  an  vier  Bedingungen  gebundenen  Sy- 
stems durch  zwei  feste  Gerade  gehen.  Diese 
Geraden  können  imaginär  sein;  aber  der  Ver- 
fasser zeigt,  wie  man  in  diesem  Falle  zu  ver- 
fahren hat.  Neben  den  kinematischen  Hilfs- 
mitteln bedient  sich  Herr  Mannheim  mit  Vortheil 
der  Relationen  zwischen  den  beiden  Projectionen 
derselben  Figur,  indem  er  eine  Gerade  einführt, 
die  er  Hilfsgerade  nennt,  und  die  sich  als  sehr 
nützlich  erweist  zu  Constructionen  in  Bezug  auf 
ein  Element  einer  windschiefen  Fläche. 

Die  Normalen  an  die  Bahnflächen  der  Punkte 
eines  starren  an  vier  Bedingungen  gebundenen 
Systems  bilden  eine  allgemeine  lineare  Con- 
gruenz.  Da  der  unendlich  kleine  Theil  einer 
beliebigen  Gongruenz,  oder  ein  unendlich  dün- 
nes Strahlenbtindel*),  als  linear  betrachtet  wer- 
den kann,  so  führt  der  eben  citierte  Satz  zu 
den  Haupteigenschaften  der  unendlich  dünnen 
Strahlenbündel.  Im  Anschluß  an  die  Untersu- 
chung eines  Bündels  von  Normalen  an  eine 
Fläche  entwickelt  der  Verfasser  in  der  21.  bis 
23.  Vorlesung  seine  geometrische  Theorie  der 
Krümmung  der  Flächen.  Leider  hat  die  kine- 
matische  Geometrie   bisher   keinen   hinreichend 

*)  Noch  ehe  Plücker  seine  neue  Geometrie  der  Ge- 
raden im  Räume  ausgebildet  hatte,  sind  die  unendlich 
dünnen  Strahlenbündel  von  Herrn  Kummer  untersucht 
worden.  Man  sehe  seine  auch  von  Herrn  Mannheim  ci- 
tierte Abhandlung:  Allgemeine  Theorie  der  geradlinigen 
Strahlensysteme  (Crelle's  Journal,  Band  57). 


Mannheim,  Cours  de  geomötrie  descriptive.    1008 

einfachen  Beweis  von  der  Realität  der  beiden 
Hauptschnitte  zu  geben  vermocht ;  aber  nachdem 
dieselbe  auf  anderem  Wege  erwiesen  ist,  ergiebt 
sich  ihre  Rechtwinkligkeit  unmittelbar  ans  den 
kinematischen  Betrachtungen.  Die  Krtimmungs- 
theorie  des  Herrn  Mannheim  beschränkt  sich 
übrigens  keineswegs  auf  kinematische  Beweise*) 
bekannter  Lehrsätze;  vielmehr  verdankt  man 
ihm  viele  werthvolle  Erweiterungen,  von  denen 
einige  in  seinen  „Vorlesungen"  Aufnahme  ge- 
funden haben.  Wir  führen  davon  an:  Erweite- 
rungen des  Meusnier'scben  Satzes,  elegante  Con- 
structionen  über  die  Durcbschnittscurve  zweier 
Flächen  und  Sätze  über  Normalenflächen;  an- 
dere werden  im  Anhang  zur  30.  Vorlesung  ge- 
geben oder  wenigstens  angedeutet. 

Die  23.  Vorlesung  enthält  die  Anwendung 
der  Krümmungstheorie,  hauptsächlich  des  Satzes 
über  die  conjugierten  Tangenten,  auf  die  Con- 
struction der  Schattencurven.  Auch  diese  Vor- 
lesung ist  reich  an  interessanten  Gonstructionen ; 
doch  unterlassen  wir  es,  auf  Einzelheiten  einzu- 
gehen. 

In  den  folgenden  Vorlesungen  beschäftigt 
sich  der  Verfasser  mit  den  verschiedenen  Schrau- 
benflächen. Da  jede  unendlich  kleine  Bewegung 
als  eine  Schraubenbewegung  betrachtet  werden 
kann,  so  ist  einleuchtend,  daß  die  kinematischen 
Methoden  hier  sehr  wirksam  sind.  Wir  heben 
vor  allem  die  Anwendung  hervor,  welche  der 
Verfasser  von  der  einer  Ebene  adjungierten  Ge- 
raden macht,  d.  h.  von  der  während  einer  un- 

*)  DaB  diese  theoretischen  Beweise  noch  nicht  ganz 
vollständig  sind,  sieht  man  zum  Beispiel  daran,  daß  die- 
selben die  Möglichkeit  einzelner  Aasnahmepunkte  nicht 
offen  lassen ,  fur  welche  —  analytisch  gesprochen  —  der 
Taylor'sche  Lehrsatz  nicht  anwendbar  ist. 


1004       Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  32. 

endlich  kleinen  Verrttckung  zur  unendlich  fer- 
nen Geraden  der  Ebene  gehörigen  conjugierten 
Axe.  Die  Projection  der  zu  einer  Ebene  P  ad- 
jungierten  Geraden  auf  eine  zur  Ebene  P  senk- 
rechte Ebene  Q  wird  zur  Charakteristik  der 
Ebene  Q.  Während  eine  Ebene  eine  stetige 
Schraubenbewegung  ausführt,  beschreibt  die  zu- 
gehörige adjungierte  Gerade  einen  senkrechten 
Kreiscylinder.  Der  Nutzen  dieser  Sätze  flir 
Constructionen,  die  sich  auf  Schraubenflächen 
beziehen,  ist  augenscheinlich. 

Der  Verfasser  besitzt  jetzt  die  Mittel,  um  die 
Theorie  der  abwickelbaren  und  windschiefen 
Flächen  zu  vervollständigen,  sowie  einfache  und 
elegante  Lösungen  derjenigen  Aufgaben  zu  ge- 
ben, bei  denen  diese  Flächen  durch  vorgeschrie- 
bene Curven  oder  Flächen  bestimmt  werden 
(27.  bis  30.  Vorlesung).  Bei  mehreren  dieser 
Aufgaben  wird  eine  windschiefe  Fläche  als  der 
geometrische  Ort  der  Kante  eines  Flächenwin- 
kels von  unveränderlicher  Größe  definiert  Da- 
bei wird  dann  ein  Element  der  Fläche  erzeugt 
durch  eine  Rotation  um  diejenige  Gerade,  wel- 
che der  zur  Kante  senkrechten  Ebene  adjungiert 
ist.  Ein  Ausnahmefall  tritt  ein,  wenn  die  ad- 
jungierte Gerade  mit  ihrer  conjugierten  Axe  im 
Unendlichen  zusammenfällt,  weil  dann  die  an- 
gewandte Zerlegung  der  Verrttckung  des  Flä- 
chenwinkels unmöglich  wird ;  aber  der  Verfasser 
ist  im  Irrthum,  wenn  er  auf  Seite  437  seines 
Buches  und  auf  Seite  5  des  Bulletin  de  la  So- 
ciete  Mathematique  de  la  France  sagt,  daß  die- 
ser Ausnahmefall  im  allgemeinen  eintritt,  sobald 
die  Charakteristik  einer  Seite  des  Flächenwin- 
kels senkrecht  zur  Kante  ist.  Denn  hieraus 
folgt  im  allgemeinen  nichts  weiter,  als  daß  das 
erzeugte  Flächenelement  abwickelbar  wird,  und 


Mannheim,  Cours  de  geometrie  descriptive.    1005 

nur  dann,  wenn  die  Charakteristiken  beider  Seiten 
auf  der  Kante  senkrecht  stehen,  erhält  man  ein 
windschiefes  Flächenelement,  welches  nicht  mehr 
anf  die  angegebene  Weise  erzeugt  werden  kann. 
In  seiner  ersten  Mittheilung  über  diesen  Aus- 
nahmefall in  den  Comptes  rendus  entgeht  Herr 
Mannheim  dem  genannten  Fehler,  indem  er  aus- 
drücklich fordert,  daß  das  Element  windschief 
sein  soll. 

Wir  bemerken  noch,  daß  der  Anhang  zur 
30.  Vorlesung  besondere  Beachtung  verdient,  in- 
sofern er  als  Einleitung  zu  denjenigen  Unter- 
suchungen des  Herrn  Mannheim  und  seiner  Nach- 
folger dient,  die  in  dem  Buche  keinen  Platz  fin- 
den konnten. 

Man  wird  aus  unserer  Darstellung  nur  schwer 
den  Plan  ersehen  können,  nach  dem  der '  Ver- 
fasser den  Stoff  im  zweiten  Theile  angeordnet 
hat.  Und  in  der  That  finden  sich  Untersuchun- 
gen über  denselben  Gegenstand  an  ganz  ver- 
schiedenen Stellen,  weil  der  Verfasser,  der  haupt- 
sächlich die  Anwendungen  seiner  Principien  im 
Auge  hatte,  diese  unmittelbar  an  jeden  Fort- 
schritt der  Theorie  anreihte.  Wie  nützlich  auch 
dieses  Verfahren  beim  mündlichen  Vortrage  sein 
mag,  wo  man  durch  häufige  Wiederholungen 
den  Zusammenhang  der  theoretischen  Principien 
hervortreten  lassen  kann,  und  wo  man  den  Zu- 
hörern eine  klare  Vorstellung  von  den  verschie- 
denen Figurenclassen  gleich  von  ihrer  ersten 
Einführung  an  verschaffen  kann,  so  hätten  wir 
doch  in  den  gedruckten  „Vorlesungen"  eine 
andere  Anordnung  vorgezogen.  Hauptsächlich 
glauben  wir,  daß  es  besser  gewesen  wäre,  die 
Entwicklung  des  theoretischen  Theiles  der  kine- 
matischen Geometrie  in  einem  einzigen  Abschnitt 
zu  vereinigen,   und  dann  in  den  Anwendungen 


1006      GOtt  gel.  Anz.  1880.  Stück  32. 

darauf  zu  verweisen.  Wir  wollen  an  einem 
Beispiel  die  Richtigkeit  dieser  Bemerkung  zei- 
gen. Selbst  wenn  man  in  den  Compies  rendus 
den  vollständigen  Wortlaut  der  Sätze  über  den 
oben  besprochenen  Ausnahmefall  liest,  in  wel- 
chem die  Verrückung  eines  Flächenwinkels  sich 
nicht  mit  Hilfe  einer  Rotation  bewerkstelligen 
läßt,  sieht  man  nur  schwer  ein,  daß  es  unmög- 
lich ist,  die  Verrttckung  durch  eine  Translation 
in  der  Richtung  der  Kante  herbeizuführen.  Aber 
diese  Unmöglichkeit  hat  durchaus  nichts  auf- 
fallendes mehr,  wenn  man  diesen  Specialfall 
unter  den  allgemeinen  Fall  unterordnet,  in  wel- 
chem es  sich  darum  handelt,  eine  Verrückung 
in  zwei  Rotationen  zu  zerlegen,  von  denen  die 
eine  um  eine  Gerade  stattfindet,  die  sich  selbst 
conjugiert  ist. 

Wir  könnten  noch  einige  Bemerkungen  über 
den  Mangel  an  Allgemeinheit  in  der  Formulie- 
rung mehrerer  Sätze  und  Discussionen  machen; 
so  macht  der  Verfasser  z.  B.  keinen  Gebrauch 
von  der  Zeichenregel  der  Strecken  einer  Ge- 
raden ;  aber  da  die  Beweise  selbst  die  wtin- 
schenswerthe  Allgemeinheit  besitzen,  so  wollen 
wir  nicht  weiter  Gewicht  darauf  legen. 

Neben  den  werthvollen  Untersuchungen  und 
den  fruchtbaren  Methoden  des  Herrn  Mannheim, 
von  denen  wir  zu  berichten  hatten,  mußten  wir 
soeben  einen  Umstand  erwähnen,  mit  dem  wir 
uns  nicht  einverstanden  erklären  konnten.  Lei- 
der konnte  unser  kurzer  Auszug  nicht  alle 
Schönheiten  des  Buches,  als  Ersatz,  erkennen 
lassen.  Viele  derselben  entgehen  sogar  einer 
raschen  Leetüre,  bei  der  man  sich  damit  be- 
gnügt, dem  Verfasser  bis  zu  dem  Punkte  zu  fol- 
gen, wo  man  sieht,  daß  die  aufgewandten  Mit- 
tel zur  Ueberwindung  der  Schwierigkeiten  der 


Kjerulf,  Udsigt  over  det  sy  dl.  Norges  Geologi.  1007 

gestellten  Aufgaben  aasreichen.  Um  den  vollen 
Genuß  von  der  eleganten  Ausführung  der  Lö- 
sungen zu  haben,  muß  man  sie  bis  zu  Ende 
verfolgen.  Wir  laden  daher  unsere  Leser  ein, 
durch  ein  sorgfältiges  Studium  diese  Schönhei- 
ten selbst  kennen  zu  lernen. 

Kopenhagen.  EL  G.  Zeuthen. 


Udsigt  over  det  sydlige  Norges 
GeologL  Med  i  texten  indtagne  tegninger, 
profiler,  planer,  en  atlas,  39  plancher  i  trae- 
snit,  indeholdende  grafiske  fremstillinger  samt 
den  geologiske  undersögelses  oversigtskart  i 
1 :  1000000.  Udgivet  ifölge  foranstaltning  af 
den  kongelige  norske  Regjerings  Departement 
for  det  Indre.  Dr.  Theodor  Kjerulf.  Chri- 
stiania,  trykt  hos  W.  G.  Fabritius  1879.  — 
Groß-Quart.  262  S.,  Atlas  in  Querfolio  mit  39 
Tafeln  und  der  auf  Leinwand  gezognen  Ueber- 
sichtskarte. 

Die  Geologie  des  südlichen  und 
mittleren  Norwegen.  Uebersichtlich  bear- 
beitet und  im  Auftrage  der  Königlich  Norwegi- 
schen Regierung,  Departement  Air  das  Innere, 
herausgegeben  von  Dr.  Theodor  Kjerulf. 
Autorisirte  deutsche  Ausgabe  von  Dr.  Adolf 
Gurlt.  Mit  zahlreichen  Holzschnitten,  Karten 
und  Tafeln.  Bonn,  Verlag  von  Max  Cohen  & 
Sohn  (Fr.  Cohen).    1880.    350  Seiten.    4°. 

In  übersichtlicher  Darstellung  bietet  hier  der 
Chef  der  „geologischen  Untersuchung"  von  Nor- 
wegen  die  Resultate,  welche  in  dem  Zeitraum 


1008      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  32. 

von  20  Jahren,  seitdem  die  Landesuntersuchung 
organisiert  worden  ist,  gewonnen  worden  sind; 
er  legt  gewissermaßen  Rechnung  ab  und  darf 
mit  t  großem  Stolze  auf  das  Errungene  blicken, 
denn  unter  seiner  Leitung  und  mit  beschränkten 
äußern  Mitteln,  dagegen  großentheils  durch 
seine  eigene  Forschung  und  seine  schnelle  and 
geistvolle  Auffassung  ist  es  gelungen,  in  so  kur- 
zer Zeit  umfassende  Kunde  von  dem  geologi- 
schen Bau  des  ganzen  südlichen  und  mittleren 
Norwegens  zu  erlangen,  von  einer  Strecke  der 
Erdoberfläche,  die  etwa  200,000  Quadrat-Kilo- 
meter umfaßt. 

Ist  auch  die  Zahl  der  dem  Verfasser  zur  Be- 
nutzung gebotenen  und  zum  Theil  sehr  werth- 
vollen  Vorarbeiten  nicht  ganz  unbeträchtlich 
gewesen,  so  haben  doch  nicht  alle  derselben 
sein  Unternehmen  stützen  und  fördern  können, 
im  Gegentheil  verschleierte  die  in  einzelnen  der- 
selben herrschende  Naturanschauung  die  wahre 
Sachlage  und  kostete  es  viele  Mühe,  das  Un- 
richtige zu  erkennen  und  als  solches  nachzu- 
weisen, um  zu  einem  freieren  Gesichtspunkte 
hindurchzudringen.  Der  Kritik,  der  Arbeitskraft 
und  der  Ausdauer  des  Verfassers  ist  es  gelun- 
gen, auch  diese  Schwierigkeiten  zu  überwinden, 
er  hat  die  geologischen  Kenntnisse  nicht  nur 
vermehrt,  sondern  auch  gesichtet,  und  es  wird 
deshalb  die  geologische  Kunde  von  Norwegen 
für  immer  die  Trägerin  des  Ruhmes  von  Theo- 
dor Kjerulf  sein. 

Die  Darstellung  der  gewonnenen  Resultate 
ist  vom  Verfasser,  unter  Hinweis  auf  die  betr. 
Monographien,  in  sehr  knapper  Form  geboten; 
statt  eingehende  und  umfangreiche  Schilderun- 
gen hat  es  Kjerulf  vorgezogen,  zahlreiche  Ab- 
bildungen und  graphische  Darstellungen  zu  ge- 


Kjernlf,  Udsigt  over  det  sy  dl.  Norges  Geologi.  1009 

ben  (es  sind  deren  280)  and  größtenteils  dem 
Texte  einznflechten,  indem  er  von  letzteren  und 
wohl  mit  Recht  erwartet,  daß  sie  auf  dem  kür- 
zesten Wege  in  die  Geologie  Norwegens  ein- 
führen. Als  zusammenfassende  Darstellung  der 
geologischen  Erkenntniß  von  Norwegen  muß  man 
die  dem  Original- Werke  beigegebne,  in  der  deut- 
schen Ausgabe  leider  weggelassene,  geologische 
Uebersichtskarte  auffassen;  wenn  dieselbe  auch 
nicht  allen  Wünschen  genügt,  so  bietet  dieselbe 
doch  ein  klares  Bild  von  der  Art  und  Weise,  in 
welcher  nach  des  gründlichsten  Kenners  Ansicht 
das  südliche  und  mittlere  Norwegen  aufge- 
baut ist 

Bei  der  großen  Reichhaltigkeit  des  Werkes 
erscheint  es  unmöglich,  ein  vollständiges  und 
eingehendes  Referat  zu  geben,  ohne  den  erlaub- 
ten Raum  zu  überschreiten;  ich  kann  mich  da- 
her nur  darauf  beschränken,  in  den  gröbsten 
Zügen  den  Inhalt  zu  skizzieren. 

Der  „Ueberblick"  beginnt  mit  Betrachtung 
der  „losen  Decke",  der  jüngsten,  glacialen  und 
postglacialen  Bildungen;  es  ist  das  ein  Capitel, 
das  zur  Zeit  um  so  größeres  Interesse  finden 
dürfte,  wo  der  Kampf  der  Theorien  über  die 
Bildung  der  norddeutschen  Diluvial- Ablagerungen 
so  lebhaft  entbrannt,  eine  Relation  aber  zwischen 
letzteren  und  den  Glacial-Gebilden  Skandinaviens 
schon  längst  sicher  ermittelt  ist.  Nach  einer  Auf- 
zählung und  theilweise  bildlichen  Darstellung  der 
glacialen  und  postglacialen  fossilen  Fauna  werden 
die  Erscheinungen  erörtert,  welche  für  Hebung 
und  zwar  eine  nicht  stätige  Hebung  (Terrassen, 
Strandlinien)  des  Landes  seit  jener  Zeit  spre- 
chen; daran  schließt  sich  die  Betrachtung  der 
erratischen  Blöcke,  der  Scheuerstreifen  und  der 
alten  Moränen. 

64 


1010      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  32. 

Von  jeher  ist  die  Umgebung  von  Christiania 
als  der  Schlüssel  zur  geologischen  Erkenntniß 
Norwegens  betrachtet  worden;  deshalb  beginnt 
nun  auch  die  Darstellung  des  eigentlichen  Fel- 
senbans von  Norwegen  mit  der  Schilderung  des 
Christiania-Beckens.  Die  Silurische  Formation 
wie  der  ihr  auflagernde,  als  devonisch  ver- 
muthete  aber  petrefactenfreie  Sandstein  (Sand- 
sten-etagen)  werden  in  Kurzem  geschildert  und 
dienen  zur  Darstellung  von  der  verticalen  Ver- 
keilung der  Petrefacten  sowie  von  der  Mächtig- 
keit der  „Etagen"  eine  Anzahl  ideeller  Sche- 
mata (die  in  der  deutschen  Ausgabe  mit  Recht 
auf  eins  reduciert  worden  sind).  An  eine  kurze 
Charakteristik  der  Gänge  von  Eruptivgesteinen 
in  dieser  Gegend  knüpft  die  Betrachtung  der 
Contact-Erscheinungen  an  und  wird  als  lehr- 
reichstes Beispiel  der  Granit  von  Drammen  vor- 
geführt, seine  Lagerungs- Verhältnisse  eingehen- 
der dargestellt  und  besonders  die  Erzführung  sei- 
ner Contactzone  hervorgehoben.  Die  Schilde- 
rung der  Faltungen  und  Verwerfungen  der 
Schichten,  die  nun  folgt,  beschränkt  sich  schon 
nicht  mehr  auf  das  Christiania-Becken  allein, 
wo  allerdings  gerade  Schichten-Faltungen  in 
wunderbarer  Schönheit  zu  finden  sind. 

Unter  den  petrefactenführenden  Silurschichten 
des  Christiania-Beckens  finden  sich  nun  petre- 
factenleere  Gesteine  (fjelde)  lagernd,  deren  Cha- 
rakteristik zunächst  ein  großer  Abschnitt  ge- 
widmet ißt,  um  dann  die  Verhältnisse  dieser 
Grundgebirge  und  der  alten  ihnen  auflagernden 
Sedimentärschichten  (Quarz-  und  Sparagmit- 
formation  etc.)  für  das  Central-Gebiet  Norwegens 
und  für  das  Gebiet  Drontheims  getrennt,  ein- 
gehender zu  erörtern  (Seite  74 — 182;  die  Sei- 
tenzahlen zeigen,  wie  summarisch  diese  Inhalts- 


Kjerulf,  Udßigt  over  det  sy  dl.  Norges  Geologi.  101 1 

Angabe  ist).  Betreffs  der  nun  folgenden  (S.  183 
— 224)  Schilderung  der  Eruptivgesteine,  für  de- 
ren ältere  Glieder  Norwegen  eine  unerschöpfliche 
Schatzkammer  ist,  wird  mit  dem  Referenten 
wohl  jeder  Petrograph  den  fühlbaren  Mangel 
eingehender,  mikroskopischer,  chemischer  und 
zugleich  auf  der  geologischen  Local-Untersu- 
chung  beruhender  Untersuchungen  bedauern. 
Von  zahlreichen  Abbildungen  ist  das  folgende 
Capitel  begleitet,  das  der  Structur  der  Gesteine 
und  Erzablagerungen  gewidmet  ist;  ersichtlich 
mit  Vorliebe  ist  darin  die  transversale  Schieferung 
geschichteter  Gesteine  behandelt. 

Eine  der  Haupt-Aufgaben  einer  geologi- 
schen Landesuntersuchung  ist  das  sorgfältige 
Studium  der  Lagerstätten  nutzbarer  Mineralien; 
dem  entsprechend  finden  denn  auch  in  diesem 
Berichte  die  Erz-Lagerstätten  des  südlichen  Nor- 
wegens gehörige  Berücksichtigung;  nach  kurzer 
Entwicklung  der  Theorie  von  der  Bildung  erz- 
erfüllter Räume  werden  die  Erzvorkommen  nach 
der  Natur  ihrer  Erze  zusammengestellt  auf- 
gezählt. 

Den  Schluß  bildet  ein  Capitel  handelnd  von 
der  Gestaltung  der  Oberfläche,  insbesondere  von 
den  Richtungen  der  Thäler  und  Fjorde,  in  dem 
mit  Recht  hervorgehoben  wird,  wie  die  Ober- 
flächen-Formen in  erster  Reihe  durch  den  inne- 
ren Gebirgsbau  bedingt  werden,  und  wie  schon 
die  Goncordanz  in  den  Richtungen  der  Fjorde 
und  Thäler  dazu  führt,  letztere  als  aus  großen 
Spaltensystemen,  welche  die  Oberfläche  schnei- 
den, hervorgegangen  anzunehmen  und  nicht  allein 
als  Froducte  der  allerdings  mitwirkenden,  aber 
doch  nur  oberflächlich  thätigen  Erosion. 

Diese  Inhalts-Uebersicht  wird,  hoffeich,  eine 

64* 


1012      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  32. 

Idee  von  der  Masse  des  in  diesem  Werke  be- 
bandelten Materials  gegeben  haben. 

Es  bleibt  nun  zu  wünschen,  daß  nachdem 
anter  der  energischen  Direction  und  zum  großen 
Theil  durch  die  eigenen  Forschungen  Kjemlfs 
ein  Ueberblick  über  den  geologischen  Bau  des 
südlichen  und  mittleren  Norwegens  gewonnen 
ist,  eingehende  Detailuntersuchungen  folgen  und 
der  geologischen  Erkenntniß  festere  und  exactere 
Begründung  erringen  mögen.  Dabei  werden 
allerdings  voraussichtlich  die  bisherigen  An- 
schauungen nicht  immer  Bestätigung  finden, 
sondern  die  Enthüllung  von  Irrthümern  kann 
auch  nicht  ausbleiben.  Bei  der  staunenerregen- 
den Menge  von  Forschungs-Resultaten,  welche 
die  Wissenschaft  Ejerulf  verdankt,  ist  es  ja 
eigentlich  selbstverständlich,  daß  ein  oder  das 
andere  bei  eingehenderer  Forschung  sich  als 
nicht  fest  begründet  erweisen  muß,  schon  nach: 
dem  Erfahrungssatze:  »Irren  ist  menschlich«. 
So  kann  z.  B.  Referent  auf  Grund  eigener  Be- 
obachtung die  geologische  Skizze  der  Insel 
Nackholm  bei  Christiania,  die  von  Ejerulf  be- 
reits 1857  im  Nyt  Magazin  f.  Naturvidenska- 
berne,  9.  Band  S.  293  gebracht  und  nun  auch 
in  die  „Udsigt  etc.tf  auf  Tafel  XXIV  (Deutsche 
Ausgabe  S.  251)  aufgenommen  worden  ist,  als 
falsch  bezeichnen.  In  ihrer  jetzigen  Form  hat 
die  Skizze  bedeutendes  geologisches  Interesse, 
da  sie  zeigt,  wie  auf  Nackholm  der  „Grttnsteintf, 
welcher  sich  sonst  im  Christiania-Silurbecken 
immer  jünger  erweist  als  der  „Syenit-Porphyr 
(BP)tf,  z.  Th.  älter  ist  als  dieser  und  von  ihm 
in  Gängen  verworfen  wird.  Diese  ganz  wun- 
derbare Thatsache,  welche  für  die  geologische 
Altersbestimmung  der  Eruptiv-Gesteine  höchste 
Wichtigkeit  besitzt,    wird   also   schon  20  Jahre 


Kjeralf,  Udsigt  over  det  sydl.  Norges  Qeologi.  1013 

lang  von  Kjerulf  behauptet  und  doch  hätte  sich 
Kjeralf  leicht  überzeugen  können,  wenn  er  nur 
wenige  Musestunden  opferte,  einmal  nach  Nack- 
holmen  ruderte  und  die  Sachlage  mit  Hilfe  des 
Hammers  revidierte,  daß  dieses  Verhältniß  gar 
nicht  existiert,  daß  seine  Darstellung  irrig  ist 
und  daß  ebenso  wie  der  eine,  Süd-Nord  strei- 
chende Grünsteingang  (mit  T  bezeichnet  im 
Nyt  Magazin)  auch  die  Nordost-Südwest  strei- 
chenden Grünsteingänge  (Tg  ebendaselbst)  durch 
den  Syenit-Porphyr  hindurchsetzen.  —  So  wie 
in  diesem  Falle  wird  beim  weiteren  „Ausfeilen" 
des  im  großen  Guß  gelungenen  Werkes  voraus- 
sichtlich auch  manche  andere  Partie  umgestal- 
tet werden  müssen. 

Was  schließlich  die  deutsche  Ausgabe  be- 
trifft, so  darf  man  den  Verfasser  beglückwün- 
schen, einen  nicht  nur  gewandten,  sondern  auch 
sachverständigen  Uebersetzer  gefunden  zu  ha- 
ben, der  das  Werk  ersichtlich  mit  Liebe  behan- 
delt hat;  diese  hat  er  auch  darin  bethätigt,  daß 
er  der  Uebertragung  ein  Vorwort,  enthaltend 
eine  Darstellung  von  der  historischen  Entwick- 
lung unserer  geologischen  Kenntnisse  Norwegens, 
vorausgeschickt  und  ein  Sach-Register,  welches 
man  am  Originalwerke  schmerzlich  vermißt, 
hinzugefügt  hat ;  auch  dem  Texte  hat  der  Ueber- 
setzer einzelne  Anmerkungen  ein  geflochten  (die 
auf  Seite  56  stehende,  den  Sparagmit  betreffende 
Anm.  aber  wäre  sicherlich  besser  durch  einen 
Hinweis  auf  S.  126  ff.  ersetzt  worden,  denn  eine 
Arkose  oder  ein  regenerierter  Granit,  als  wel- 
chen man  sich  dieser  Anmerkung  zu  Folge  den 
Sparagmit  vorstellen  muß,  ist  dieser  entschieden 
nicht;  den  Handstücken  nach  zu  urtheilen,  wel- 
che Referent  im  geolog.  Museum  zu  Christiania 
gesehen,  ist  Sparagmit  eher  als  Conglomerat  zu 


1014       Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  32. 

bezeichnen  und  unterscheiden  sich  selbst  die 
Arkose-ähnlichsten  Partien,  wie  Kjerulf  angiebt, 
von  einem  regenerierten  Granit  durch  den  Man- 
gel des  Glimmers).  —  Auch  die  deutsche  Ver- 
lagshandlung verdient  Anerkennung  für  die 
Ausstattung  der  Uebersetzung,  indem  das  Werk, 
obwohl  in  kleinerem  Format  gedruckt,  sich  sehr 
stattlich  ausnimmt;  nur  ist,  wie  schon  betont, 
zu  bedauern,  daß  der  deutschen  Ausgabe  die 
geologische  Uebersichtskarte  nicht  gleich  beige- 
geben ist.  0.  Lang. 


Vämana's  Stilregeln  bearbeitet  von 
C.  Cappeller.  Straßburg  (Karl  J.  Trübner)  & 
London  (Trübner  &  Co.).   1880.  pp.  XII,  38.   8°. 

Seiner  im  Jahre  1875  veröffentlichten  Aus- 
gabe von  Vämana's  Lehrbuch  der  Poetik  läßt 
Cappeller  jetzt  eine  Bearbeitung  des  fünften 
Capitels  (präyogikam)  unter  dem  Titel  'Väma- 
na's  Stilregeln*  folgen.  Wir  danken  dem  Ueber- 
setzer  für  seine  fleißige  und  sorgfältige  Arbeit, 
durch  die  er  uns  das  Verständniß  eines  schwie- 
rigen Werkes  erleichtert  und  speciell  allen  de- 
nen, die  sich  für  die  indische  Grammatik  inter- 
essieren, einen  großen  Dienst  erwiesen  hat.  In 
der  Einleitung  erörtert  Cappeller  die  Frage  nach 
der  Lebenszeit  desVämana  und  seiner  etwaigen 
Identität  mit  dem  Verfasser  der  Kägikä  von 
Neuem  und  kommt  p.  VII  zu  dem  Resultate, 
'daß  unser  Vämana  wohl  ein  Zeitgenosse  des 
Verfassers  der  Kä^ikävrtti  gewesen  sein  kann, 
wenn  wir  beide  etwa  um  1000  setzen,  daß  sie 
aber  wahrscheinlich  verschiedene  Persönlich- 


Vämana's  Stilregeln  bearb.  v.  Cappeller.     1015 

keiten  waren'.  In  der  Vorrede  zur  Textausgabe 
des  Vämana  hatte  Cappeller  die  Identität  des 
Verfassers  der  Kä$ikä  und  der  Kävyälamkära- 
vrtti  als  wahrscheinlich  hingestellt  und  anter 
Voraussetzung  dieser  Identität  die  Abfassung 
beider  Werke  in  das  12.  Jahrb.  versetzt.  Wir 
haben  nie  glauben  können,  daß  Vämana  so  spät 
gelebt  habe.  Jetzt  sieht  sich  Cappeller  genö- 
tbigt,  auf  Grund  der  Thatsache,  daß  Abhinava- 
gnpta  (zwischen  975  und  1050)  in  seinem 
Werke  über  Alamkära  den  Vämana  unter  sei- 
nen  Autoritäten  aufführt,  den  Verfasser  der  Poe- 
tik mindestens  in  das  Jahr  1000  zu  setzen.  In- 
dessen es  scheint  kein  Grund  vorhanden,  den 
Vämana  nicht  für  noch  älter  zu  halten.  Denn 
ob  in  IV,  1,  10  mit  kaviräja  der  Dichter  des 
Räghavapändaviyam  gemeint  ist,  ist  im  höch- 
sten Grade  zweifelhaft;  und  inwiefern  der  Um- 
stand, daß  Vämana  drei  Stellen  aus  dem  utta- 
rakhandam  des  Eumärasambhava  (nämlich  8, 31. 
62.  63)  citiert,  für  eine  spätere  Datierung  äußerst 
wichtig  ist  (p.  IV  Anm.),  —  darüber  hat  sich 
Cappeller  nicht  weiter  ausgesprochen.  Es  wird 
demnach  alles  darauf  ankommen,  den  Nachweis 
zu  führen,  daß  der  Verfasser  der  Poetik  kein 
Anderer  ist  als  der  Verfasser  [eines  Theiles]  der 
Kä^ikä,  von  dem  wir  im  Anschluß  an  Bühler 
bis  auf  Weiteres  annehmen  wollen,  daß  er  um 
800  geschrieben  habe.  Wir  müssen  nun  zu- 
geben, daß  es  Cappeller  gelungen  ist,  Gründe 
ins  Feld  zu  fähren,  welche  gegen  eine  Identi- 
ficierung  der  beiden  Vämana's  zu  sprechen 
scheinen.  Allein  was  zunächst  die  Gana's  an- 
betrifft, so  ist  es  eine  mißliche  Sache,  mit  den- 
selben zu  operieren.  Obwohl  die  Kägikä  jetzt 
gedruckt  vorliegt,  so  wissen  wir  doch  nicht  ge- 
nau, was  für  Gana's  dem  Vämana  wirklich  vor- 


1016      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  32. 

gelegen  haben;  man  sehe  nur  die  vielen  Va- 
rianten in  BälaQästrin's  Ausgabe;  und  Cappeller 
sagt  mit  Recht,  daß  wir  bei  den  Gana's,  welche 
in  der  Kävyälamkäravrtti  angefahrt  werden,  oft 
in  Zweifel  sind,  ob  Vämana  dieses  oder  jenes 
Wort  in  dem  betreffenden  Gana  las  oder  nur 
gelesen,  d.  h.  hinzugefügt  wissen  wollte. 
Nur  in  vier  Fällen  liegt  nach  Cappeller's  An- 
sicht ein  directer  Widerspruch  zwischen  den 
Angaben  in  der  Kävyälamkäravrtti  und  der 
Kägikä  vor ;  nämlich  in  Kävy.  V,  2,  33.  64.  65. 
75,  wonach  carat  zu  den  pacädi's,  muktä  zu  den 
vinayädi's,  praMbhä,  vikrti^  dvitd  zu  den  pra- 
jnädi's,  und  tüaka  zu  den  ajirädi's  gehören, 
während  diese  Wörter  an  den  betreffenden  Stel- 
len der  Kägikä  fehlen.  Nun  ist  aber  pacädi 
ein  sogenannter  äkrtigana,  wie  in  der  Kä^ikä 
angegeben  wird;  ebenso  auch  vinayädi  und 
prajnädi  nach  Vardhamäna  im  Ganaratnamaho- 
dadhi,  der  übrigens  für  mauktikam  p.  237,  4, 
pratibham  214,  10,  vaikrtam  212,  17  und  dvai- 
tam  211,  5  eintritt  Mit  dem  Gana  ajirädi 
dürfte  es  sich  ähnlich  verhalten.  Ferner  macht 
Cappeller  darauf  aufmerksam,  daß  uns  in  der 
Kävyälamkäravrtti  zuweilen  Auffassungen  ent- 
gegentreten, die  von  denen  der  Kä$ikä  grund- 
verschieden sind.  Aber  konnte  nicht  Vämana, 
nachdem  er  das  eine  Werk  verfaßt  hatte,  in 
dem  anderen  eine  etwas  veränderte  Ansicht  vor- 
tragen? Zu  dem  einen  von  Cappeller  ange- 
führten Falle  ist  übrigens  zu  bemerken,  daß 
Vämana  in  Kävy.  V,  2,  86,  wo  sämipyam  und 
tfipsä  einander  gegenüberstehen,  von  dem  Casus 
spricht,  der  von  upari  regiert  wird,  während  in 
dem  Commentar  zu  P.  8,  1,  7,  wo  dem  särm- 
pyam  das  auttarääharyam  entgegengesetzt  wird, 
von  der  Verdoppelung  der  Wörter  upari  u.  s.w. 


Vämana's  Stilregeln  bearb.  v.  Cappeller.    1017 

die  Bede  ist.  Wir  können  demnach  trotz  der 
von  Cappeller  geltend  gemachten  Bedenken  die 
Identitätshypothese  nicht  aufgeben,  solange  nicht 
ein  stricter  Gegenbeweis  geführt  wird.  Wir 
sehen  aber  in  der  Qabdafuddhi  (so  heißt  der 
letzte  Abschnitt  von  Vämana's  Lehrbach  der 
Poetik)  nicht,  wenigstens  nicht  ausschließlich, 
praktische  Begeln  für  einen  Dichter  der  reines 
Sanskrit  schreiben  will  (vgl.  Cappeller,  p.  VIII), 
denn  reines  Sanskrit  kann  man  nur  ans  der 
Grammatik  lernen  —  gabdasmrteh  gabdaguddhih 
I,  3,  4.  Vämana  wollte  vielmehr  an  Beispielen 
zeigen,  was  ein  Dichter  meiden  müsse,  and  was 
er  sich  allenfalls  erlauben  könne.  Wir  nehmen 
an,  daß  er  alles  das,  was  ihm  nicht  nur  nach], 
sondern  auch  während  der  Abfassung  der 
Kä§ikä  einfiel  (vgl.  Cappeller,  p.  VI),  und  was 
er  in  derselben  recht  gut  hätte  unterbringen 
können,  wenn  er  gewollt  hätte,  in  einem  be- 
sonderen Capitel  seiner  Kävyälamkäravrtti  zu- 
sammengefaßt hat.  Die  Kä;ikä  ist  ein  klarer 
nnd  nüchterner  Commentar  zum  Pänini,  frei  von 
allem  unnöthigen  Beiwerk,  und  fast  gänzlich 
frei  von  den  vielen  Citaten,  womit  die  späteren 
Erklärer  ihre  Commentare  zu  füllen  pflegen. 
Hier  fand  sich  kein  Platz  fittr  'weitere  Ausfüh- 
rungen oder  Modificierungen'  der  Begeln  Pä- 
nini's  (Cappeller  p.  IX). 

Wenn  es  nun  aber  nicht  gelingen  will,  durch 
Vergleichung  der  Kä$ikä  mit  der  QabdaQuddhi 
zu  einem  sicheren  Besultate  zu  gelangen:  so 
ist  nur  noch  ein  Weg  offen,  die  Zeit  in  der 
Vämana  lebte  einigermaßen  genau  zu  bestim- 
men, nämlich  eine  Untersuchung  über  die  Stel- 
lung, die  die  Kävyälamkäravrtti  ihrem  Haupt- 
inhalte nach  unter  den  verwandten  Werken  der 
indischen  Literatur  einnimmt.    Wir  hoffen,   daß 


1018      Gott,  gel  Anz.  1880.  Stttck  32. 

uns  Cappeller  die  von  ihm  p.  XI  in  Aussicht 
gestellte  Bearbeitung  der  vier  ersten  Capitel  lie- 
fern und  darin  den  Versuch  machen  wird,  in 
der  angedeuteten  Richtung  die  Zeit  V&mana's 
zu  bestimmen.  Zwar  sind  wichtige  Werke  noch 
nicht  veröffentlicht,  wie  außer  den  von  Bühler 
in  Kashmir  gefundenen  Werken  das  Sarasvatf- 
kanthäbharanam :  aber  genug  ist  vorhanden,  um 
zu  zeigen,  daß  Vamana's  Lehrbuch  mit  zu  den 
ältesten  Werken  über  Alamkära,  die  auf  uns 
gekommen  oder  bis  jetzt  bekannt  geworden  sind, 
gehören  muß.  Bei  einer  Vergleicbung  der  Ka- 
vyälamkäravrtti  mit  verwandten  Werken  würde 
man  z.  B.  zu  achten  haben  auf  die  Zahl  der 
Stilarten  (riti);  Dandin  nennt  zwei  (scheint 
allerdings  mehr  zu  kennen),  Vämana  drei,  bei 
Späteren  steigert  sich  die  Zahl  auf  sechs.  Be- 
merkenswerth  ist,  daß  Vämana  keinen  besonde- 
ren Abschnitt  über  die  sogenannten  rasa  hat, 
wie  Mammata,  Vägbhata,  Vidyänätha  u.  a.  Viel 
würde  gewonnen  sein,  wenn  man  wüßte,  woher 
Vämana  die  Verse  entlehnt  hat,  die  er  in  der 
Kegel  mit  atra  gloMh  einleitet,  vgl.  z.  B.  I,  1, 5 
und  sonst. 

Einleitung  p.  VII ff.  giebt  Cappeller  eine 
Inhaltsübersicht  des  von  ihm  übersetzten  Theiles 
der  Kävyälamkäravrtti.  Er  zeigt,  wie  sich  Vä- 
mana in  der  Anordnung  der  Sütra  der  Qabda- 
Quddhi  fast  ausnahmslos  an  die  Reihenfolge  von 
Pänini's  Regeln  angeschlossen  hat,  ein  Umstand, 
der  unsere  Vermuthung,  kein  Anderer  als  der 
berühmte  Commentator  des  Pänini  habe  auch 
das  vorliegende  Werk  verfaßt,  nur  bestätigt. 
In  der  Uebersetzung  der  oft  recht  schwie- 
rigen Regeln  ist  es  Cappeller  überall  gelungen, 
den  Sinn  genau  wiederzugeben;  eine  wörtliche 
Uebersetzung  wollte  er  nicht  liefern,  eine  solche 


Vämana's  Stilregeln  bearb.  v.  Cappeller.    1019 

wäre  auch,  bei  der  Natur  des  Stoffes,  kaum 
möglich  gewesen.  In  dem  Satze:  anukaroü 
bhagavato  näräyanasya  V,  2,  46  hängen  die  Ge- 
netive von  anukaroü  ab,  vgl.  Mallin&tha  zuKu- 
märasambhava  1,  44  (45),  oder  zn  Kirätarjunt- 
yam  7,  28,  wo  die  in  Bede  stehende  Stelle  ge- 
geben wird.  —  Die  Anmerkungen  (p.  23 ff.) 
sind  durchweg  mit  großem  Fleiße  gearbeitet. 
Sie  bringen  kurze  Erläuterungen,  Auszüge  aus 
dem  Commentare  des  Gopendra  und  werthvolle 
Sammlungen  von  Stellen  aus  Dichtern,  tbeils 
zur  Rechtfertigung,  theils  zur  Widerlegung  des 
Vämana.  Besonders  nützlich  sind  die  Verweise 
auf  den  Paribhäshendugekhara:  bedauern  müs- 
sen wir  nur,  daß  auf  das  Mahäbhäshya  augen- 
scheinlich keine  Rücksicht  genommen  worden 
ist.  Im  Einzelnen  hätten  wir  etwa  Folgendes 
zu  bemerken.  V,  2,  1  (Stilregeln  p.  25):  Von 
den  Ekageshaformen,  welche  Vämana  anführt, 
finden  wir  Bhavau  im  Petersburger  Wörterbuche 
belegt;  vgl.  auch  unter  Giva.  —  V,  2,  14  (Stil- 
regeln p.  26):  das  Bhäsnya  zu  P.  2,  1,  24  hat 
bubhukshu  nicht ;  pipäsu  ebensowenig.  V,  2,  40 
(Stilr.  p.  12.  28):  Patanjali  kann  zu  P.3,  2, 162 
die  Bemerkung  karmakartari  cäyam  ishyate 
nicht  machen,  da  zu  der  angeführten  Stelle  des 
Pänini  gar  kein  Bbäsbya  existiert,  wie  aus  Auf- 
recht's Catalog  der  Oxforder  Handschriften  p. 
158  b  zu  ersehen  ist.  V,  2,  49  (Stil.  p.  29): 
Der  Accusativ  fem.  sutanüm  wird  von  Ujjvala- 
datta  aus  Mägha  7,  12  angeführt.  —  Im  Com- 
mentar  zu  dem  folgenden  Sütra  (Stilr.  p.  29) 
ist  der  Lehrer,  welcher  die  Formen  aläbuh,  kar- 
hmdhüh  als  Beispiele  zu  einem  värttika  P.  4, 
1,  66  anführt,  nicht  Eätyäyana,  sondern  Patan- 
jali, oder  der  Bbäshyakära  wie  Mallinätha  zu 
Kumärasambhava  5,  43  sagt.  —  V,  2,  53  (Stilr. 


1020      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  32. 

p.  15.  30):  Ich  glaube  nicht  zu  irren,  wenn  ich 
annehme,  daß  sich  Vämana  hier  auf  das  Bhä- 
shya  zu  P.  6,  4,  144  (Benares  edition,  7,  42,  a) 
bezieht.  Habe  ich  Recht,  so  ist  gägvate  pra- 
tishedha  iti  zu  übersetzen  mit  'bei  gägvata  findet 
Verbot  Statt',  nicht  mit  'bei  gänzlichem  Verbote'. 
—  V,  2,  79  (Stilr.  p.  32):  davayati  findet  sich 
nicht  nur  im  Bhattikävya,  sondern  auch  im 
Bhäshya  zu  P.  6,  4,'  155.  —  Vämana  V,  2,  86 
hätte  auf  die  Kärikä  zu  P.  2,  3,  2  verwiesen 
werden  können  ;  vgl.  die  Lesart  der  Handschrif- 
ten B  und  D. 

In  dem  Verzeichniß  der  im  fünften  Kapitel 
behandelten  Wörter  (Stilregeln  p.  34  ff.)  vermis- 
sen wir  nur  vyavasita  und  pratipanna  V,  2,  45. 
Zum  Schluß  giebt  Gappeller  Berichtigungen  und 
Nachträge  zur  Ausgabe  des  Vämana.  In  dem 
Verzeichniß  der  Citate  könnte  man  noch  nach- 
tragen anukaroti  V,  2,  46,  JcuvälayavanamIVfS} 
22,  henacit  pürvayuMo  'pi  nivibandhah  glathi- 
hrtah  I,  3,  6,  jivanti  V,  2,  61,  nivir  ägrantha- 
nam  oder  ntvt  samgranthanam  näryä  jaghana- 
sthasya  väsasah  (aus  der  Nämamälä)  I,  3,  6,  pa- 
titam  V,  2,  82,  lävanya0  V,  2,  12,  subhru  him 
sambhramena  V,  2,  50  u.  a.  m.  Unter  den 
neuen  Nachweisen  vermissen  wir  Eum.  S.  1,  35 
für  lävanya  utpädya  und  Qigup.  10,  21  für 
yoshid  ity  abhilaldsha,  vgl.  Gappeller  selbst  Stil- 
regeln p.  27.  24.  Ferner  fehlt  ürv.  v.  105  für 
varatanur  athaväsau  (schon  vonPischel  nachge- 
wiesen), dürayati  V,  2,  79  steht  Kumäras. 
8,  31 :  die  Stelle  ist  zuerst  von  Cowell  in  einer 
Anzeige  der  ersten  Ausgabe  von  Eumärasam- 
bhava  VIII  (Calcutta  1862)  besprochen  worden, 
vgl.  Indische  Streifen  II,  372,  oder  Beiträge  zur 
Kunde  der  idg.  Sprachen  V,  50,  wo  ich  die 
beiden    anderen   von  Vämana  aus  dem  achten 


Vämana's  Stilregeln  bearb.  v.  Cappeller.     1021 

sarga  des  Kumärasambhava  citierten  Stellen  be- 
reits nachgewiesen  habe.  Uebrigens  liest  die 
Calcnttaer  Ausgabe  von  1868  dhünayaty  avanate 
vivasvati;  wenn  avcmate  richtig  ist,  so  würde 
Cappeller's  Uebersetznng  der  Worte,  Stilregeln 
p.  20,  zu  ändern  sein.  —  md  bhaih  gaganka  III, 
2,  7  wird  besprochen  von  Trilocanadäsa  in  sei- 
ner Panjikä  zu  Kätantram  3,  6,  90  p.  536  ed. 
Eggeling.  —  gaJcyam  cänena  gvatnämsädibhir 
api  hshut  pratihantum  steht  im  Eingange  des 
Mahäbhäshya  p.  8  Kielhorn  =  p.  55  Ballantyne 
=  Benares  edition  fol.  15a.  Bei  sarjihitaiJcapade 
nityä  Vämana  V,  1,  2  hätte  auf  die  Siddbänta- 
kanmudf  zu  P.  8,  4,  18  verwiesen  werden 
können. 

Wir  gestatten  uns  noch  einige  Verbesserungs- 
vorschläge zur  Textausgabe  des  Vämana  zu  ge- 
ben. In  der  anukramanikä  p.  XII  v.  5  lies 
gabdagodhanam.  p.  17,  15  vermuthen  wir  sve- 
davisarah.  Im  Sütra  III,  1,  4  fehlt  samadhi 
zwischen  samatä  und  mädhurya.  p.  41,  6  lies 
sämänyäprayoge  (vgl.  P.  2,  1,56).  Im  Commen- 
tare  zu  IV,  3,  9  lese  man  tarn  cevagabdo  dyo- 
tayatUi.  Die  Handschrift  B  giebt  das  Richtige 
an  die  Hand.  Vämana  will  sagen,  daß  die  ut- 
prekshä  mit  Wörtern  wie  iva  (manye,  ganke} 
dkruvam,  nünam  u.  s.  w.)  angezeigt  werde; 
Kävyäd.  2,  234.  Kävyapr.  (Calcutta  1866)  p. 
276.  277.  Sähityad.  692.  —  In  dem  Verzeich- 
niß  der  Versanfänge  stehen  kusumagayanam  und 
padärthe  an  falscher  Stelle. 

Greifswald.  Th.  Zachariae. 


1022       Gott.  gel.  Anz.  1880,  Stück  32. 

Sämmtliche    Fastnachtspiele    von        j 
HansSachs.  In  chronologischer  Ordnung  nach        ! 
den    Originalen   herausgegeben    von  Edmund        ' 
Goetze.    I.  Bändchen.    Zwölf  Fastnachtspiele 
aus  den  Jahren  1518—1539.  Halle  a.S.  M.  Nie- 
meyer.   1880.    XVI,  159  S.    8°.  ! 

Von  den  85  Fastnachtspielen  des  Nürnberger 
Dichters  erscheinen  hier  12,  so  daß  wir  noch  6 
— 7  Bändchen,  im  Ganzen  also  etwa  70—80  Bo- 
gen zu  erwarten  haben.  Hoffentlich  wird  die 
Theilnahme  des  Publikums  das  schöne  Unter- 
nehmen begünstigen  und  vielleicht  auch  weitere 
Versuche,  den  alten  Dichter  in  weitere  Kreise 
einzuführen  und  ihn  von  neuen  Seiten  zu  zeigen, 
möglich  machen.  Denn,  wie  ich  höre,  sollen  den 
Fastnachtspielen  nicht  nur  die  Schwanke  folgen, 
was  sehr  zu  wünschen  wäre,  sondern  auch,  was 
nicht  minder  erwünscht  sein  würde,  die  Meister- 
lieder, die  sich,  mit  Hülfe  seines  Gesamtregisters, 
aus  den  Meistergesangbüchern  wol  noch  ziemlich 
vollständig  zusammenbringen  lassen,  freilich  dann 
den  fünffachen  Umfang  der  Fastnachtspiele  er- 
reichen würden.  Diese  letzteren  werden  hier 
„nach  den  Originalen"  herausgegeben,  d.  h.  theils 
nach  der  Folioausgabe  des  16.  Jh.,  theils  nach 
älteren  Einzeldrucken,  theils  nach  der  eignen 
Handschrift  des  Dichters.  Unter  den  vorliegen- 
den Stücken  ist  nur  das  12.,  das  pachen- 
holen  im  teutschen  hoff  nach  dem  Auto- 
graph mitzutheilen  gewesen.  Dies  Spiel  sticht 
seiner  äußeren  Erscheinung  nach  sehr  vorteil- 
haft von  den  übrigen  ab.  Es  hat  durchweg 
kleine  Anfangsbuchstaben,  mit  Ausnahme  der 
Versanfänge,  und  eine  fast  gleichförmige  Schrei- 
bung, die  freilich  von  Hs.  Sachs  noch  nicht  bis 
zur  nothwendigen  Einfachheit  durchgeführt  wurde, 
aber   doch   um  vieles  einfacher  ist,   als  die  der 


Hans  Sachs'  Fastnachtspiele  ed.  Goetze.    1023 

nach  den  alten  Drücken  wiederholten  Stücke  1 
— 11,  die  von  Setzern  oder  Gorrectoren  auf  das 
willkürlichste  durch  große  Anfangsbuchstaben 
und  Gonsonantenhäufung  verunziert  sind.  Ich 
hätte  gewünscht,  daß  der  Herausgeber,  dem  die 
Autographe  des  Hans  Sachs  vollständig  bekannt 
sind  und  der  daraus  eine  Form,  wie  der  Dichter 
sie  handhabte,  ableiten  konnte,  jene  Entstellun- 
gen beseitigt  hätte.  Ich  gehe  aber  noch  weiter, 
indem  ich  wünsche,  daß  auch  die  durchaus  un- 
nützen ck  nach  Gonsonanten  in  einfaches  k,  und 
das  w  und  v,  wo  es  nach  heutigem  Gebrauche 
u  vertritt,  umgeschrieben  wäre  und  würde,  ob- 
gleich jene  ck,  w,  v  von  Hans  Sachs  eigner 
Hand  geschrieben  sind.  Er  war  darin  gar  nicht 
consequent;  so  steht  S.  147,  nach  seiner Hdschr., 
naws:  haus  im  Keime  und  kurz  vorher  der- 
selbe Reim  naus:  haus,  und S.  149  außerhalb 
des  Heimes  dicht  hinter  einander  zeugen  und 
zewgen,  S.  151  im  Reime  stopfen:  dropffen. 
Wo  es  sich  darum  handelt,  durch  Festhaltung 
solcher  Formen  bibliographischen  Zwecken  zu 
dienen,  mag  die  genaue  Wiedergabe  nützlich  sein, 
da  sich  an  kleinen  Verschiedenheiten  der  Art 
andre  Drucke  erkennen  lassen ;  da  es  hier  aber 
auf  solche  Zwecke  nicht  ankommt,  sehe  ich  kei- 
nen Grund  ab,  die  Treue  der  Reproduction  auch 
auf  solche  Dinge  auszudehnen.  Ich  weiß  wol, 
daß  nenerdings  wieder  für  die  buchstäbliche 
Wiedergabe  gesprochen  wird  und  daß  man  sich 
auf  Jacob  Grimm  beruft,  der  an  Meusebach  1828 
(über  Fischart)  schrieb :  „Es  ist  nichts  zu  ändern, 
sondern  alles  zu  lassen,  wie  in  den  ältesten 
drucken,  mit  allen  ihren  guten,  schlechten  und 
schwankenden  Schreibungen u.  Derselbe  J.  Grimm 
schrieb  mir  am  21.  Dec.  1855,  als  ich  im  Gengen- 
bach alles  buchstäblich  wiedergegeben  hatte: 
„Es  herrscht  zwar  jetzt  die  bequeme  ansieht,  und 


1Q24      Gott.  gel.  Adz.  1880.  Stück  32. 

auch  Sie  scheinen  ihr  zugethan,  daß  man  beim 
Wiederabdruck  ihre  elendeste  Orthographie  und 
sogar  ihre  druckfehler  beibehalten  müsse,  wo- 
durch, wie  ich  glaube,  nur  ein  ärgerliches  bun- 
tes aussehen  der  texte  entspringt  und  nicht  das 
geringste  gewonnen  wird.  Wenn  wir  ein  mhd. 
gedieht  herausgeben,  schreiben  wir  nach  der 
mhd.  sprachregel  und  ändern  danach  die  fehler 
der  hss. ;  bloß  bei  wichtigen  werken,  z.  b.  den 
Nibelungen  kann  es  geboten  sein  den  ersten  ab- 
druck  einer  hs.  buchstäblich  zu  machen,  noch 
viel  weniger  Schonung  gebührt  aber  der  fehler- 
haften Schreibung  des  16. 17.  jh.  Allen  reformen 
in  Schreibung,  spräche,  ja  in  den  größten  dingen 
überhaupt    stehen    zwei    hindernisse    entgegen 

1)  man  will  sich  nicht  genieren,  und  jede  bes- 
serung  legt  anfangs  einen   kleinen   zwang  auf. 

2)  man  hält  die  angewöhnung  des  fehlers  für  be- 
rechtigt, da  doch  nie  der  fehler,  nur  das  gute 
ein  recht  hat  unsere  beharrliche  Versessenheit 
in  allen  sprach  und  schreibsünden  hängt  mit  der 
in  unserm  öffentlichen  leben  genau  zusammen, 
wir  sind  ein  pedantisches  volk,  und  freilich  auch 
mit  den  guten  eigenschaften  gesegnet,  die  daran 
kleben.  Doch  was  mir  hier  eben  in  die  feder 
kam,  ist  viel  weniger  durch  Ihr  buch  als  durch 
eine  menge  von  andern  in  mir  rege  geworden". 
Das  Beschwichtigen  im  letzten  Satze  möchte  ich 
auch  des  Herausgebers  wegen  nicht  unterdrücken, 
der  seine  Treue  wenigstens  nicht  auf  die  eigent- 
lichen Fehler  der  Vorlagen  erstreckt,  aber  von 
jeder  Aenderung  gewissenhaft  Rechenschaft  giebt 
und  nicht  lediglich  einen,  sondern  alle  Drucke 
und  erreichbaren  Handschriften  verglichen  hat, 
ohne  sich  in  einen  wüsten  Variantenkram  zn 
verlieren. K.  Goedeke. 

Für  die  Redaction  verantwortlich:  E.  Rehniach,  Director  d.  Gott.  gel.  Ans. 

Commissions- Verlag  der  Düforich'schsn  Ywlaga- BuchkandUm§. 

Druck  der  DieiericK sehen  Univ.- Buchdruck**  (W.  Fr.  Katstn*). 


1025 

gelehrte    Anzeigen 

unter  der  Aufsicht 

der  Königl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Stück  33.  -    18.  August  1880. 


Inhalt:  Urkundenbuch  der  Stadt  Strassborg  Bd.  I,  bearb.  v.  W. 
Wiegand.  Von  A.  SeutUer»  —  A.  ▼.  Gonsenbach,  Der  General 
H.  L.  y.  Erlach  von  Castelen.  Bd.  I.  Von  A.  Stern.  —  B.  Lepsius, 
Nubi&che  Grammatik.    Ton  A.  Erman. 

ss  Eigenmächtiger  Abdruck  von  Artikeln  der  Gott.  gel.  Anz.  verboten  ss 


Urkunden  und  Akten  der  Stadt 
Strasburg  herausgegeben  mit  Unterstützung 
der  Landes-  und  der  Stadtverwaltung.  Erste 
Abtheilung:  Urkundenbuch  der  Stadt  Straßburg. 
Erster  Band :  Urkunden  und  Stadtrechte  bis  zum 
Jahr  1266,  bearbeitet  von  Wilhelm  Wie- 
gand.  Straßburg,  Karl  J.  Trübner  1879.  pp. 
XV  und  585  SS.  in  4°. 

Jedem,  der  sich  schon  mit  deutscher  Städte- 
geschichte und  speciell  mit  der  Straßburgischen 
beschäftigt  hat,  ist  es  empfindlich  schwer  fühl- 
bar geworden,  daß  die  zugänglichen,  d.  h.  ge- 
druckten Quellen  weder  die  Zuverlässigkeit 
bieten,  die  man  jetzt  fordert,  noch  diejenige 
Vollständigkeit  haben,  die  man  nach  dem  Stande 
der  Archive  als  erreichbar  voraussetzen  darf. 
Was    den   letztem  Punkt  betrifft,   so  wird  man 

6ä 


1026       Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  33. 

sich  zwar  allerdings  nicht  der  Illusion  hingeben 
dürfen,  als  könnten  noch  Quellen  von  der  Be- 
deutung ersten  Ranges  zu  Tage  gefördert  wer- 
den: der  Rahm  ist  durch  die  Arbeit  früherer 
Zeiten  abgeschöpft,  und  sollte  wirklich  noch  ein 
solches  Stück  erster  Qualität  entdeckt  werden, 
so  wäre  das  immerhin  mehr  einem  außergewöhn- 
lich günstigen  Zufall  zu  verdanken  als  daß  man 
auch  nur  mit  Wahrscheinlichkeit  darauf  hätte 
zählen  können.  Dafür  ist  die  wissenschaftliche 
Arbeit  jetzt  auch  eine  andre  als  früher,  die 
steigt  mehr  in's  Detail  hinab  und  bedarf  dazu 
auch  eines  neuen  Quellenbestandes.  Wenn  zu 
Schöpflin's  und  Grandidier's  Zeiten  auf  lange 
Zeit  ausreichend  erschien,  was  sie  in  ihren  Ur- 
kundenwerken mittheilten,  so  verlangt  der 
jetzige  Stand  der  Forschung  mehr,  der,  wie  er 
aus  den  bisherigen  Quellenwerken  herausge- 
wachsen ist,  so  nun  hinwiederum  den  Anstoß  zu 
neuer  Quellensammlung  giebt.  Einem  solchen 
Bedürfnisse  für  Straßburg  kommt  das  vorliegende 
Buch  entgegen,  das  den  ersten  Band  eines,  wie 
schon  der  Titel  ausweist,  umfangreich  geplanten 
Werkes  bildet.  Die  beiden  großen  Abtheilungen, 
aus  denen  das  Werk  bestehen  soll,  sollen  um- 
fassen einerseits  die  Urkunden  Straßburgs  bis 
zum  Jahre  1400,  andererseits  die  Briefe  und 
Acten  zur  politischen  Geschichte  Straßburgs  in 
der  Reformationszeit  (1517  bis  1555).  Für  jetzt 
liegt  der  erste  stattliche  Band  des  Urkunden- 
buchs  vor,  enthaltend  die  Urkunden  bis  1266 
und  die  drei  ältesten  Stadtrechte,  letztere  nach 
den  Ausgaben  von  Grandidier  und  Mone.  Be- 
züglich der  Aufnahme  schon  gedruckter  Urkun- 
den entschloß  sich  die  Commission,  welche  dad 
Unternehmen  leitet,  im  Princip  dafür,  daß  die- 
ses neue  Werk  das  gesammte   urkundliche  Ma- 


Urkundenbuch  der  Stadt  Straßburg.    1027 

terial  zur  Geschichte  Straßburgg  enthalten, 
somit  anch  das  schon  Gedruckte  (wenigstens 
im  Regest)  aufnehmen  solle.  Die  in  der  Ein- 
leitung hiefür  angeführten  Gründe  (Fehler-  und 
Lückenhaftigkeit  selbst  bei  Schöpflin  und  Wen- 
cker,  große  Seltenheit  des  wichtigen  zweiten  Ban- 
des von  Grandidier's  Histoire  d' Alsace)  recht- 
fertigen  dieses  Vorgehen.  In  Folge  davon  ent- 
hält dieser  erste,  619  Nummern  umfassende 
Band  etwa  die  Hälfte,  nämlich  276,  bisher  noch 
ungedruckte  Urkunden,  von  den  andern  aber  92 
nach  besserer  Vorlage  als  bisherige  Drucke, 
251  wenigstens  nach  gleichen  Vorlagen  verbes- 
serte und  blos  für  98  mußte  auf  jede  Handschrift 
verzichtet  und  rein  auf  die  Drucke  zurückge- 
gangen werden.  Letzteres  gilt  leider  gerade 
für  das  erste  Stadtrecht.  Was  von  urkundlichem 
Material  in  Straßburg  vorzufinden  war,  scheint 
vollständig  benutzt  zu  sein,  namentlich  ist  es 
erfreulich,  daß  das  prachtvolle  Gopialbuch  in 
Pergament  vom  Jahre  1370  nunmehr  endlich 
einmal  ausgiebigster  Benutzung  unterworfen  wor- 
den ist,  sowie  daß  das  Bezirksarchiv  (früher 
das  Departementalarchiv)  zahlreiche  bisher  un 
gehobene  Schätze  hat  hergeben  müssen.  Den 
heutigen  Anforderungen  entsprechend  ist  bei  je- 
der Urkunde  angegeben,  wo  das  Original  liegt 
(so  weit  ein  solches  benutzt  werden  konnte) 
und  wo  sie  schon  gedruckt  ist.  In  kritischen 
Noten  über  Echtheit,  Datumbestimmung,  Zuver- 
lässigkeit des  Texts  u.  drgl.  ist  mit  weiser 
Sparsamkeit  das  Nöthige  gegeben,  ebenso  in 
Litteraturnachweisungen. 

Indem  man  dieses  Urkundenbuch  durchgeht, 
gewinnt  man  überall  den  Eindruck  sorgfältig- 
ster und  zuverlässigster  Genauigkeit,  die  Ver- 
gleichung  mit  einzelnen  seiner  Zeit  von  mir  ge- 

65* 


1028      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  33. 

nommenen  Abschriften  bestätigte  mir,  daß  ge- 
wissenhaft gearbeitet  worden.  Ueber  Einzel- 
heiten und  Kleinigkeiten  mag  man  dabei  nicht 
rechten,  wie  z.  B.,  daß  die  auf  S.  391  blos  in 
einer  Note  zu  No.  513  erwähnte  Urkunde  der 
sechs  Geschwornen  und  der  Bürger  von  Mols- 
heim wohl  unter  besonderer  Nummer,  wenn  auch 
regestweise,  hätte  in  den  Text  aufgenommen 
werden  dürfen;  sie  entgeht  einem  leicht  an  dem 
ihr  zugewiesenen  Plätzchen,  und  ist  doch  für 
jene  kritischen  Ereignisse  unter  Walther  von 
Geroldseck  wichtig  genug.  Ein  besonderes  Lob 
verdienen  die  von  M.  Baltzer  gefertigten  Regi- 
ster, ein  Namenregister  und  ein  Sach-  und  Wort- 
register. Die  bisherigen  Urkundenwerke  be- 
gnügen sich  meist  mit  einem  Namenregister, 
und  wo  ein  Sachregister  beigefügt  ist,  beschränkt 
es  sich  wohl  auf  Worte,  die  der  heutigen  Spra- 
che nicht  mehr  geläufig  sind.  Das  hier  vorlie- 
gende Sach-  und  Wortregister  hat  sich  so  enge 
Schranken  nicht  gezogen,  sondern  „weist  hin 
auf  Stellen,  die  sachlich  oder  sprachlich  von  be- 
sonderem Interesse  schienen".  Nach  der  Rich- 
tung, auf  die  ich  es  näher  angesehen  habe, 
finde  ich  es  vortrefflich,  nämlich  bezüglich  der 
Privatrechtsinstitute.  In  dieser  Beziehung  darf 
der  hier  eingeschlagene  Weg  für  künftige  Ur- 
kundensammlungen als  ein  maßgebendes  Muster 
gelten,  es  ist  die  richtige  Mitte  gehalten  zwi- 
schen Ueberfülle  und  Dürftigkeit  und  die  Ueber- 
sichtlichkeit  gewahrt,  ohne  die  ein  Register  un- 
brauchbar ist. 

Nach  dem  Gesagten  brauchen  wir  nicht  bei- 
zufügen, daß  wir  dem  Unternehmen  den  besten 
Fortgang  wünschen.  Die  Hauptschwierigkeiten 
beginnen  erst  mit  den  späteren  Bänden,  nämlich 
die  Auswahl  des  Abzudruckenden  und   die  Ent- 


Urkundenbuch  der  Stadt  Straßbarg.    1029 

Scheidung  tiher  Vollständigkeit  oder  Regest.  Für 
die  Zeit  bis  ungefähr  1300  ist  man  dieser  Fra- 
gen fast  gänzlich  enthoben,  man  nimmt  mit  we- 
nigen Ausnahmen  Alles  auf  und  giebt  es  voll- 
ständig wieder.  Für  das  14.  Jahrhundert  kann 
man  nicht  mehr  so  verfahren,  wenn  man  nicht 
endlose  Bände  füllen  will.  Das  Richtige  zu 
treffen  erfordert  großes  Geschick,  es  ist  z.  B. 
dem  jetzt  erscheinenden  Codex  diplomatics  Ca- 
vensis  mit  Recht  zum  Vorwurf  gemacht  worden, 
daß  er  in  Urkunden  über  Privatrechtsgeschäfte 
die  Cautelen  und  Formeln  (Clausein,  Pönalstipu- 
lationen u.  dgl.)  von  der  Mitte  des  2.  Bandes 
an  weggelassen  habe.  Aber  sie  ausnahmslos  im- 
mer wieder  abzudrucken,  ist  auch  des  Guten  zu 
viel.  Mit  verständig  und  geschickt  angebrach- 
ten Verweisungen  ist  da  viel  zu  machen,  aber 
es  erfordert  Sinn  und  Verständniß  für  alle  mög- 
lichen Einzelheiten.  Ein  Urkundenbuch  muß  so 
sehr  allen  nur  denkbaren  Zweigen  der  Ge- 
schichtsforschung dienen,  daß  Regesten,  welche 
die  vollständige  Urkunde  ersetzen  sollen,  zu 
ihrer  Herstellung  der  vielseitigsten  Rücksicht- 
nahme bedürfen.  Das  Straßburger  Urkunden- 
werk liegt  in  so  guten  Händen,  daß  wir  eine 
glückliche  Lösung  dieser  Schwierigkeiten  erwar- 
ten dürfen. 

Basel  13.  Juli  1880.  A.  Heusler. 


1030      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  33. 

Der  General  Hans  Ludwig  von  Er- 
lach von  Castelen.  Ein  Lebens-  und  Cha- 
rakterbild aus  den  Zeiten  des  dreißigjährigen 
Kriegs.  Bearbeitet  nach  zeitgenössischen  Quel- 
len von  Dr.  August  von  Gonzenbach. 
I.  Theil,  mit  einem  Band  Urkunden.  Bern,  Druck 
und  Verlag  von  K.  J.Wyss  1880.  X,  671.  VII, 
265  SS.    8°. 

Als  im  Herbste  des  Jahres  1875  im  Schlosse 
Spiez  am  Thuner  See  die  dort  befindliche  Bi- 
bliothek öffentlich  versteigert  wurde,  kam  neben 
den  gedruckten  Büchern  auch  eine  Reihe  von 
Manuskript-Bänden  zum  Vorschein,  die  seit  lan- 
ger Zeit  daselbst  verborgen  gelegen  hatten.  Es 
war  der  handschriftliche  Nachlaß  des  Generals 
Hans  Ludwig  von  Erlach,  Gouverneurs  von  Brei- 
sacb,  Akten  und  Correspondenzen  aller  Art,  von 
höchstem  Interesse  vor  allem  für  die  Geschichte 
des  dreißigjährigen  Krieges.  Es  machte  großes 
Aufsehen,  als  man  erfuhr,  daß  diese  merkwür- 
dige Sammlung  der  Gefahr  in  alle  vier  Winde 
zerstreut  zu  werden, '  preisgegeben  worden  sei, 
und  daß  zwölf  Foliobände  nebst  einem  Quart- 
band, Originalcorrespondenzen  des  Marschalls 
Turenne  enthaltend,  in  der  That  ihren  Weg  in 
die  Hände  von  Antiquaren  verschiedener  Natio- 
nalität genommen  hätten.  Besäße  die  Schweiz 
eine  Einrichtung  wie  England,  die  sich  gleich- 
falls im  deutschen  Reiche  sehr  zur  Nachahmung 
empfehlen  würde:  eine  Commission  zur  Auf- 
suchung auch  im  Privatbesitze  befindlicher  hi- 
storischer Manuskripte,  über  deren  Thätigkeit 
in  officiellen  Berichten  Rechenschaft  abzulegen 
wäre:  schwerlich  wäre  das  Dasein  und  die  Be- 
deutung jener  104  Folianten  unbekannt  geblie- 


Gonzenbach,  Der  General  H.  L.  v.  Erlach.  I.   1031 

ben,    die    mit    der    allgemeinen    Bezeichnung 
„alte  Schriften"  unter  den  Hammer  kamen. 

Bei  so  bewandten  Umständen  war  es  als  ein 
großes  Glück  zn  betrachten,  daß  der  Verfasser 
des  vorliegenden  Werkes  rechtzeitig  eingriff,  um 
neunzig  jener  Mannskriptbände  für  ein  Mitglied  der 
"Familie  von  Erlach  zu  ersteigern.  Außer  die- 
sen wurden  von  der  Gesammtzahl  der  hundert- 
undvier Foliobände  noch  zehn  weitere  Bände 
durch  Wiedererwerbung  nach  Bern  verbracht, 
sodaß  sich  daselbst,  theils  im  Privatbesitze, 
theils  im  Besitze  der  Stadtbibliothek  der  kost- 
bare Schatz  ziemlich  vollständig  vereinigt  fin- 
det*). Diese  Papiere  waren,  trotzdem  sie  gleich- 
sam neu  entdeckt  werden  mußten,  der  histori- 
schen Forschung  durchaus  nicht  fremd  geblie- 
ben. Auf  ihnen  beruhte  eine  nur  handschrift- 
lich existierende  Biographie  des  Generals  von 
Erlach,  die  ein  Abkömmling  seines  Geschlechtes 
1767  vollendete.  Sie  führt  den  Titel  „Memoires 
pour  servir  k  l'histoire  de  la  vie  du  general 
d'Erlach  et  de  Farmee  weymarienne  sous  les 
rois  de  France  Louis  XIII.  et  Louis  XIVtf.  Da 
eine  Biographie  Erlachs  nothwendig  auch  der 
Erkenntnis  des  Lebens  und  Wirkens  Bernhards 
von  Weimar  zu  gute  kommen  mußte,  so  ließ 
der  Großherzog  Karl  August  eine  Abschrift  von 
diesem  Werke  anfertigen.  Der  Verfasser  des- 
selben gab  1784  seine  „Memoires  historiques 
concemant  M.  le  general  d'Erlach"  im  Drucke 
heraus,  vier  Bände,  die  er  Karl  August  wid- 
mete. Auch  wurden  nach  Verlangen  Karl  Au- 
gusts und  auf  Betreiben  Goethes  später  Ab- 
schriften einer  Anzahl   der  Erlachschen  Akten- 

*)  H.  von  Gonzenbach  hat  über  den  Inhalt  der  ein- 
zelnen Bände  Bericht  erstattet  in  den  Forschungen  zur 
deutschen  Geschichte  XVIII.  p.  409—419. 


1032      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  33. 

stücke  angefertigt  und  im  Weimarer  Archiv  de- 
poniert. Sie  sind  mehrfach  benutzt  worden,  und 
nicht  zum  wenigsten  ihnen  war  es  zu  danken, 
daß  auf  das  Andenken  des  Generals  von  Erlach 
in  fast  allen  Geschichtswerken,  die  sich  mit  ihm 
und  seiner  Epoche  beschäftigen,  ein  tiefer  Schat- 
ten gefallen  ist. 

Erlach  galt  nämlich  gemeiniglich  als  ein 
„  Judas",  als  ein  Mann,  der  sich  von  Frankreich 
habe  bestechen  lassen,  gegen  seine  Pflicht  zu 
handeln1,  als  ein  Verräther  an  seinem  Herrn, 
Herzog  Bernhard  von  Weimar,  dessen  Brüdern 
und  der  weimarischen  Armee,  als  der  Urheber 
der  deutschen  Gebietsverluste  an  der  Westgrenze 
des  Reiches.  Namentlich  hat  Rose  in  seiner 
Biographie  Bernhards  von  Weimar  viel  dazu 
beigetragen,  dem  Generalmajor  von  Erlach 
einen  schlechten  Namen  zu  machen.  Andere 
Schriftsteller,  wie  Barthold,  haben  in  dasselbe 
Horn  geblasen.  Wolfgang  Menzel  behauptete, 
Erlach  habe  den  ganzen  Nachlaß  Bernhards  ge- 
raubt und  sich  seine  Pretiosen  angeeignet.  Erst 
vor  wenigen  Jahren  hat  sodaun  Molitor  in 
seiner  fleißigen  Schrift  „Der  Verrath  von  Brei- 
sach 1639.  Ein  Beitrag  zur  Geschichte  des 
Verlustes  der  Landgrafschaft  im  Elsaß  nebst 
Breisach  und  Sundgau  an  Frankreich  im  dreißig- 
jährigen Kriege,  Jena  1875a  viele  der  erhobe- 
nen Vorwtife  aufs  schärfste  zugespitzt,  „So 
ward  deutsches  Land,  sagt  er  bei  einem  Rück- 
blicke auf  die  Ereignisse,  schmählich  verkauft 
.  .  .  Dem  Mäkler  beim  Verkauf,  dem  geheimen 
Leiter  des  Verrathes,  wurde  von  Frankreich  rei- 
cher Lohn  zu  Theil,  auch  außer  dem,  den  er 
sich  selbst  im  unehrlichen  Handel  vorbehalten. 
Seine  Pension  wurde  um  18,000  Livres  erhöht 
und   er   zum  General-Commandanten   von  Brei- 


j 


Gonzenbacb,  Der  General  H.  L.  v.  Erlacb.  I.  1033 

each  und  den  davon  abhängenden  Plätzen  und 
Landen  ernannt.  Freiburg,  Neuenburg,  Rhein- 
felden,  LaufFenburg,  Landskron,  Tbann,  Säckin- 
gen unterstanden  so  seinem  Kommando.  In 
beinahe  unumschränkter  Weise  herrschte  er  in 
Breisach,  nahm  sofort  die  Wohnung  im  Schlosse 
in  Beschlag  und  ließ  sich  auch  die  gerichtlich 
verschlossenen  Zimmer,  in  denen  Herzog  Bern- 
hards Kleinodien  und  sonstige  Unterlassene 
Habe  aufbewahrt  war,  ungeachtet  des  Ein- 
spruchs von  dessen  Beamten,  eröffnen.  Von 
den  Formen  neu  zu  gießender  Geschütze  ließ 
er  des  verstorbenen  Herzogs  Wappen  nehmen 
und  dafür  das  seinige  darauf  setzen.  Des  ver- 
blichenen, edlen  Gebieters  und  Gönners  Anden- 
ken sollte  verwischt  werden,  Herzog  Bernhard 
sollte  vergessen  werden,  wie  er  ihn  vergessen 
hatte,  da  er  sein  reiches  Erbe  an  Frankreich 
verschacherte,  dem  letzten  Willen  des  kaum 
Verstorbenen  entgegen,  der  ausdrücklich  das- 
selbe „bey  dem  Reich  Teutsch  er  Nation 
erhalten  wissen  wollte". 

Man  muß  bedenken,  daß  diejenigen  Histori- 
ker, welche  Erlach  zum  schwärzesten  Verräther 
machten,  sich  auf  ein  sehr  unvollständiges  Ma- 
terial stützten.  Sie  benutzten,  von  gedruckten, 
namentlich  französischen  Werken  zu  schweigen, 
Archivalien,  unter  denen  die  in  Kopie  nach 
Weimar  gelieferten  die  erste  Stelle  einnahmen. 
Diese  aber  haben  einen  sehr  singulären  Cha- 
rakter. Es  sind  vor  allem  die  Gorrespondenzen 
der  weimarischen  Fürsten,  Berichte  der  Beamten 
des  verstorbenen  Herzogs  Bernhard,  seiner  Se- 
kretäre und  Diener,  des  nach  Breisach  entsand- 
ten weimarischen  Kammerjunkers  von  Krosig 
u.  a.  m.  Bei  allen  diesen  Gewährsmännern 
kommt    das    weimarische    Interesse    zum  Aus- 


\ 


1034      GOtt.  gel.  Anz.  1880.  Stück  33. 

druck,  die  Ansicht  der  Civilbeamten  inr  Lager, 
welche  derjenigen  der  Soldaten  oft  schroff  gegen- 
übersteht. Das  nothwendige  Korrektiv,  die  Aus- 
sage der  Gegenpartei  fehlt  Es  würde  ebenso- 
wenig zu  rathen  sein,  eine  Geschichte  des 
8chmalkaldischen  Krieges  bloß  nach  kaiserlichen 
oder  des  Friedensschlusses  von  Basel  bloß  nach 
preußischen  Quellen  zu  schreiben.  Kommt  nun 
noch  dazu,  daß  Gerüchte  und  unsichere  Aeuße- 
rungen  für  erwiesene  Wahrheit  angenommen, 
oder  daß  in  den  Text  gewisser  Aktenstücke  An- 
gaben gelegt  werden,  die  sie  für  ein  unbefan- 
genes Auge  nicht  enthalten,  so  ist  es  leicht  er- 
klärlich, daß  sich  ein  mit  sittlicher  Entrüstung 
ausgesprochenes  Urtheil  allmählich  befestigen, 
fortpflanzen  und  verschärfen  konnte.  In  diesem 
Falle  hat  ohne  Zweifel  noch  ein  anderes  Motiv 
mitgewirkt,  um  das  angedeutete  Ergebnis  her- 
beizuführen. Je  schlechter  man  Erlach  machte, 
desto  glänzender  erschien  Bernhard  von  Wei- 
mar. Die  Schuld,  die  möglicher  Weise  ihn  ge- 
troffen haben  würde,  soferne  die  Geschicht- 
schreibung sich  überhaupt  auf  Zutheilung  von 
Schuld  und  Unschuld  einlassen  wollte,  traf  nun- 
mehr seinen  Untergebenen.  Denn  das  Wort 
„wie  der  Herr,  so  der  Diener"  wollte  man  doch 
nicht  im  umgekehrten  Sinne  gelten  lassen. 

Soweit  sich  Irrthümer  aus  der  mangelhaften 
Kenntnis  des  historischen  Materials  herschreiben, 
kann  den  früheren  Forschern  kein  Vorwurf  ge- 
macht werden,  wenn  sie  es  sonst  an  der  nöthi- 
gen  Vorsicht  und  Kritik  nicht  haben  fehlen  las- 
sen. Doch  ist  es  menschlich,  daß  ein  später 
Kommender,  dem  es  gegönnt  ist  neue  wichtige 
Funde  zu  verwerthen,  seiner  Beurtheilung  der 
Vorgänger  auf  demselben  Arbeitsfelde  oft  eine 
etwas  scharfe  Form  giebt.   Iji  diesem  Falle  be- 


Gonzenbach,  Der  General  H.  L.  v.  Erlach.  I.  1035 

findet  sich  der  hochverdiente  Verfasser  des  vor- 
liegenden Werkes,   in   welchem  wohl  auch  ein- 
mal   eine   an   sich  nicht  anfechtbare  Aeußerung 
eines    der   früheren   Forscher   als  ein  Versehen 
aufgefaßt  erscheint.     Durch   eine  Reihe  von  hi- 
storischen  Arbeiten    bereits   rühmlich   bekannt, 
ist   H.  von  Gonzenbach   nicht   davor   zurückge- 
schreckt,   in   seinem  hohen  Alter  Hand  an  ein 
Werk  zu  legen,  das  niemand,   der  sich  mit  der 
Geschichte  des  dreißigjährigen  Krieges  beschäf- 
tigt,   fortan   ungestraft  wird    tibersehen  dürfen. 
Kann  es  auch  nicht  ähnliches  Aufsehen  erregen 
wie  Wittich's  „Magdeburg,  Gustav  Adolf  und 
Tilly",   so  hat   es   doch    mit    dem    genannten 
Werke  darin  einige  Aebnlichkeit,  daß  es  gleich- 
falls darauf  angelegt  ist,  eingebürgerte  Ueber- 
lieferungen    in   ihrer  Grundlage   zu  erschüttern 
und  durch  eine    ganz   neue  Anschauung  zu  er- 
setzen.    Es   vemient   vollkomme»  den    Namen 
einer  „Rettung".    Die  Notwendigkeit,  sich  mit 
den  früheren  Beurtheilern   Erlachs  auseinander- 
zusetzen hat  allerdings  eine  Breite  der  Darstel-' 
lung   hervorgerufen,   welche   bie  und    da   doch 
wohl  etwas  hätte  eingeschränkt  werden  können. 
Mitunter  möchte  man  auch  wünschen,  daß  diese 
und  jene  hypothetische  Betrachtung,  wie  sie  in 
historischen  Untersuchungen  immer  mißlich  ist,- 
bei  Seite  geblieben  wäre*).    Ebenfalls  wird  die 

*)  S.  402  wird  z.  B.  die  Hypothese  aufgestellt,  es 
sei  sehr  zu  bezweifeln,  ob  die  von  Bernhard  eroberten 
Lande  zum  Reiche  zurückgekehrt  wären,  wenn  er  den 
allgemeinen  Friedensschluß  als  souveräner  Fürst  von  El- 
saß, Breisgau  und  der  bischöflichen  Lande  von  Basel  er- 
lebt hätte.  Eine  solche  hypothetische  Betrachtung  schwächt 
aber  die  Position  des  Verf.  Denn  jeder  Gegner  wird 
ihm  einwenden  können,  man  wisse  darüber  gar  nichts. 
Ganz  anderes  Gewicht  hat  dagegen  ein  Satz  wie  der  auf 


1036      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  33. 

Ausdrucksweise  des  H.  Verfassers  hie  und  da 
befremden,  nicht  bloß  wegen  der  häufigen  Ver- 
werthung  von  Fremdwörtern,  sondern  auch  we- 
gen ungewöhnlicher,  unserem  Sprachgefühl  wi- 
derstrebender Wendungen  (z.  B.  S.  179.  „Diese 
antiösterreichische  Politik  färbte  zu  jener  Zeit 
auf  die  in  französischem  Dienst  stehenden 
Schweizerregimenter  aba).  Dagegen  wird  es  un- 
geteilten Beifall  finden,  daß  der  Darstellung 
des  Lebens  Erlachs,  die  im  vorliegenden  ersten 
Bande  bis  zum  Jahre  1644  geführt  wird,  noch 
ein  starkes  Heft  Urkunden  beigefügt  worden  ist, 
Sie  beziehen  sich  in  erster  Linie  auf  das  Ver- 
hältnis Erlachs  zum  Herzog  Bernhard  von  Wei- 
mar in  den  Jahren  1637 — 39.  Hatte  man  sie 
bisher  aus  den  Memoires  historiques  concernant 
le  general  d'Erlach  nur  französisch  gekannt,  so 
erhält  man  nun  Gelegenheit,  sje  im  deutschen 
Urtexte  zu  tesen.  Eine  photographische  Wie- 
dergabe des  letzten  eigenbändigen  Schreibens 
des  Herzogs  an  Erlach  und  ein  Bildnis  des  Ge- 
nerals sind  dankenswerthe  Zugaben. 

Es  erscheint  unnöthig,  an  dieser  Stelle,  mit 
Benutzung  der  ausführlichen  Mittheilungen  des 
Verfassers  in  kurzen  Zügen  die  Geschichte  der 
Jugend  und  des  früheren  Mannesalters  Erlachs 
zu  erzählen,   zumal  ein  Artikel  der  allgemeinen 


S.  401 :  »Wenn  das  Elsaß  und  Breisach  laut  dem  Frie- 
densvertrag bei  Frankreich  verblieben  sind,  so  geschah 
dies  nicht  deswegen,  weil  die  Direktoren  .  .  .  die  Ver- 
träge Herzog  Bernhards  erneuert  haben,  sondern  deshalb, 
weil  die  Heilbrunner  Verbündeten  das  Elsaß  dem  König 
von  Frankreich  unter  der  Bedingung  in  Schutz  und 
Schirm  gegeben  haben,  daß  Frankreich  dem  Kaiser  . .  den 
Krieg  erkläre,  und  weil  der  Kaiser  und  das  HausOester- 
reich  ...  so  sehr  geschwächt  worden  sind,  daß  sie  beim 
Friedensschluß  das  Pfand  nicht  zu  lösen  .  .  vermochten«. 


Gonzenbach,  Der  General  H.  L.  v.  Erlach.  I.   1037 

deutschen  Biographie  erst  kürzlich  in  ganz  ge- 
nügender Weise  dieser  Aufgabe  entsprochen  hat. 
Es  sei  nur  daran  erinnert,  daß  Johann  Ludwig 
von  Erlach  1595  in  Bern  geboren  war,  unter  der 
Fahne  Christians  von  Anhalt,  Johann  Georgs  von 
Brandenburg-Jägerndorf,  Christians  von  Braun- 
schweig, dann  unter  Gustav  Adolf  im  polnischen 
Feldzuge  kämpfte,  im  Jahre  1627  in  die  Heimat 
zurückgekehrt,  als  Soldat  und  Staatsmann  der 
vaterländischen  Republik  und  den  evangelischen 
Ständen  der  Eidgenossenschaft  wackere  Dienste 
leistete,  bis  er  1637  Beziehungen  zu  Herzog 
Bernhard  von  Weimar  anknüpfte,  als  General- 
major in  seine  Arm6e  eintrat,  von  ihm  als  Un- 
terhändler nach  Paris  entsandt  wurde  und  sich 
an  seiner  Seite  im  Felde  auszeichnete.  Er  ge- 
wann sein  volles  Vertrauen,  wurde  von  ihm  zum 
Gouverneur  des  eroberten  Breisach  und  zum 
Statthalter  der  übrigen  eingenommenen  vorder- 
österreichischen Gebiete  ernannt,  wiederum  in 
officiellem  Auftrag  nach  Paris  geschickt  und 
von  dem  sterbenden  Herzog  mit  drei  anderen 
Offficieren  an  die  Spitze  des  Heeres  gestellt. 
Die  Obersten  beschlossen  ihn  als  höchst  Kom- 
mandierenden anzuerkennen,  bis  sie  von  Frank- 
reich oder  Schweden  ein  anderes  Haupt  erhal- 
ten hätten.  Er  war  also  die  wichtigste  Persön- 
lichkeit dieser  wichtigen  Kriegsmannschaft  ge- 
worden und  konnte  auf  ihr  Schicksal  bedeutend 
einwirken.  Daß  mit  ihrem  Schicksale  aber 
auch  dasjenige  der  von  ihr  besetzten  Gebiete 
innig  verknüpft  war,  gab  dem  Generalmajor 
von  Erlach,  mochte  er  es  wollen  oder  nicht, 
damals  zugleich  auch  eine  bedeutende  politische 
Stellung. 

An  diesem  Punkte  setzt  nun  die  Kontroverse 
ein;   welche  der  Verfasser  hauptsächlich    gegen 


1038        Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  33. 

K.  Molitor  führt,  der  diesen  Gegenstand  zuletzt 
vor  ihm  behandelt  hat.  Die  beiden  Gegner  ha* 
ben  neuerdings  ihren  Streit  in  verschiedenen  Ar- 
tikeln des  Gorrespondenzblattes  der  deutschen 
Archive  ausgefochten.  Man  kann  sich  durch  ein 
Studium  dieser  Artikel  den  besten  Ueberblick 
über  die  ganze  Frage  verschaffen  und  wird  fin- 
den, daß  Molitor  mit  anerkennenswerthem  Frei- 
muth  auf  manche  früher  ausgesprochene  Be- 
hauptung verzichtet.  Ein  solcher  Rückzug 
konnte  aber  in  allen  Ehren  angetreten  werden, 
da  die  Erschließung  neuer  Quellen  erst  die  Mög- 
lichkeit einer  Aenderung  der  früheren  Beurtbei- 
lung  gab,  und  Molitor  darf  daher  von  sich  sa- 
gen, er  sei  berichtigt  aber  nicht  gerichtet.  „Was 
die  Kardinalfrage  betrifft",  giebt  er  zu,  die  Ue- 
berzeugung  gewonnen  zu  haben,  „daß  von  einer 
bewußten  Unrechtlichkeit  des  Generals,  von 
einem  Verrathe  also,  nicht  die  Rede  sein  kann". 
Dagegen  erklärt  er,  an  Erlach  bleibe  haften 
„der  Vorwarf  grober  Fahrlässigkeit,  der  Un- 
überlegtheit, des  Außer-Acht-Lassens  der  nöthi- 
gen  Umsicht  sowie  der  Parteilichkeit  zu  Gun- 
sten Frankreichs".  Und  zwar  vorzüglich  des- 
halb, weil  er  dem  erstberufenen  Erben,  dem 
Herzog  Wilhelm  von  Weimar  so  gut  wie  gar 
kein  Entgegenkommen  bewiesen,  weil  er  nichts 
für  ihn  gethan  habe,  während  er  sich  gleich 
von  vornherein  auf  Frankreichs  Seite  gestellt, 
der  französischen  Bewerbung  Sympathie  und 
thätige  Unterstützung  entgegengebracht  habe. 

Zunächst  darf  man  hier  wohl  eine  psycholo- 
gische Betrachtung  vorausschicken.  Wenn  ein 
Deutscher  diese  Fragen  behandelt,  so  liegt  es 
nahe,  daß  sein  patriotisches  Gefühl  ihn  gegen 
denjenigen  einnimmt,  dem  er  den  zeitweiligen 
Verlust  deutscher  Gebietsteile  glaubt  zuschreiben 


Gonzenbach,  Der  General  H.  L.  v.  Erlach.  I.  1039 

zu  müssen.  Er  wird  ihn  leicht  wenn  nicht  ge- 
radezu für  einen  Verräther,  so  doch  für  fahr- 
lässig nnd  unüberlegt  halten,  weil  er'  nicht  so 
gehandelt  hat  wie  ein  deutscher  Patriot  des 
neunzehnten  Jahrhunderts  gehandelt  haben 
würde.  Dem  gegenüber  betont  der  Verfasser 
des  vorliegenden  Werkes  an  mehr  als  einer 
Stelle,  daß  es  sehr  verfehlt  wäre  einen  solchen 
Maßstab  an  die  Dinge  des  siebzehnten  Jahrhun- 
derts zu  legen.  Es  führt  zu  einer  falschen  Auf- 
fassung Bernhards  von  Weimar  selbst,  der  doch 
ein  Deutscher  war,  um  wie  viel  mehr  des  Gene- 
rals von  Erlach,  der  Deutschland  nicht  einmal 
der  Geburt  nach  angehörte.  „Die  religiösen 
Streitigkeiten,  sagt  A.  von  Gonzenbach  einmal, 
hatten  die  Idee  des  Vaterlandes,  die  überhaupt 
erst  viel  später  stark  geworden  ist,  tiberwuchert; 
Feinde  in's  Land  zu  rufen  und  zwar  nicht  nur 
Spanier,  Schweden  und  Franzosen,  sondern  auch 
Halb  Barbaren  wie  Ungarn,  Siebenbürgen  und 
Türken,  galt  zu  jener  Zeit  nicht  als  Landes- 
Verrath.  Der  Nationalitätenbegriff  war  noch  so 
wenig  entwickelt,  daß  die  Kaiserkrone,  wie  ein 
Jahrhundert  früher,  Franz  I.  von  Frankreich,  so 
in  neuester  Zeit  von  einzelnen  Reichsständen 
Gustav  Adolph  und  selbst  Ludwig  XIII.  ange- 
tragen worden  waru.  Niemand  wird  deshalb 
leugnen  wollen,  daß  nicht  einzelne  hervorra- 
gende Geister  in  dominierender  Stellung  die 
patriotische  Idee  im  modernen  Sinne  dann  und 
wann  erfaßt  und  ihrer  Verwirklichung  zugestrebt 
hätten.  Poetische  Ahnung  hat  es  mit  Bezug  auf 
Wallenstein  zur  Anschauung  gebracht,  und  dem 
großen  Dichter  hat  es  nicht  an  Bestätigung 
durch  den  großen  Historiker  gefehlt.  Auch 
Bernhard  von  Weimar  scheint  gegen  Ende  sei- 
nes  Lebens   die    Wendung  gemacht   zu   haben, 


1040      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  33. 

daß   er   sein   eigenes  Interesse    mit  dem  allge- 
meinen deutschen  zu  verbinden  sachte.     Indem 
er  sich   bestrebte  „eine  dritte  Partei"   zwischen 
Frankreich  und  Schweden  zu  bilden,   mochte  er 
hoffen  seinen  Glaubensgenossen  SicherBeit,  sich 
selbst  ein   schönes  FürsteQthum,   seinem  Vater- 
lande den   Frieden  zu  gewinnen   und  Deutsch- 
land doch  große  Territorial  Verluste  zu  ersparen. 
Er  aber  war  ein  deutscher  Fürst  von  Ansehen, 
er  konnte  mit  viel   weniger  Verantwortlichkeit 
handeln  als  ein  Untergebener,   seine  letzte  Ab- 
sicht in   sich  verschließen,  zögern  und  abwar- 
ten, auf  die  Zukunft  rechnen.     Erlach  dagegen 
mußte  ausführen,    was  im  Interesse  des  Heeres 
nöthig  war,   ohne   nach    den  Folgen  fragen  zu 
dürfen,   mußte  es  rasch   ausführen,  wenn  nicht 
die  Armee  verloren  gehen  sollte,  hatte  sich  nicht 
darum  zu  kümmern,  ob  die  Verfügung  über  das 
Heer  auch  die  Verfügung  über  die  Lande  nach 
sich   ziehen   würde.     Es  kann  nicht   genug  be- 
tont werden:    Was  er  that,    that    er  als  Soldat, 
nicht   als   Staatsmann;    politische   Erwägungen 
mußten  bei  ihm  hinter  militärischen  zurücktreten, 
wie    sehr   auch   sein  Verhalten   auf  die  Politik 
einwirken  mochte.     Es  dünkt  mich,  als  ob  H. 
Molitor  dies  verkenne.    Er  hat  ja  unzweifelhaft 
Recht,  sich  auf  das  Testament  Bernhards  zu  be- 
rufen, nach  welchem  einer  der  Brüder  Bernhards, 
womöglich  von  Schweden  „mentenirt",  die  „er- 
oberten Lande"    erben    und   nur  wenn    „keiner 
sie  annehmen   wolle",  Frankreich  den  Vorrang 
haben  solle,   immer  unter  der  Bedingung,    daß 
die  Armee  darin  verbleibe  und   daß  beim  Uni- 
versalfrieden  eine  Restitution    an's  Reich   statt 
finde.   Für  den  Politiker  mochte  das  „annehmen 
wolle"  genügen,   um  ihm  darauf  hin   ein  dila- 
torisches Verhalten  zu  erlauben.    Für  den  Sol- 


Gonzenbach,  Der  General  H.  L.  v.  Erlach.  I.   1041 

daten  maßte  das  „annehmen  könne"  zuerst  in 
Frage  kommen,  weil  es  ihm  nicht  gestattet  war, 
in  kritischer  Lage 'zu  zögern.  Erwägt  man  nun 
aber  die  Lage  der  Herzöge  von  Weimar,  blickt 
man  auf  ihr  Benehmen,  so  wird  man  zu  dem 
Schlüsse  gedrängt,  daß  sie  die  Macht  nicht  hat- 
ten, die  Aufgabe  zu  erfüllen,  die  ihnen  durch 
das  Testament  gestellt  worden  war.  Durch  den 
Prager  Frieden  gebunden,  ohne  genügende  Mit- 
tel, von  den  Schweden  nicht  unterstützt,  wie 
hätten  sie  auch  beim  besten  Willen  fortführen 
sollen,  was  Bernhard,  und  selbst  dieser  mit  noch 
immer  zweifelhaftem  Erfolge,  begonnen  hatte? 
Die  Unentschlossenheit,  die  Zögerungen,  die  auf 
weimarischer  Seite  hervortreten,  beweisen,  daß 
man  sich  über  das  eigene  Gefühl  der  Macht- 
losigkeit nicht  täuschte.  Auf  „die  Fährlichkeit 
der  Lage  und  die  Unmöglichkeit  langen  Zu- 
wartens"  brauchte  der  Herzog  Wilhelm  nicht 
erst  durch  Erlach  aufmerksam  gemacht  zu  wer- 
den. Molitor  selbst  hat  darauf  hingewiesen,  daß 
in  Weimar  lange  Conferenzen  darüber  geführt 
wurden.  Man  war  sich  über  die  Fährlichkeit 
der  Lage  und  die  Unmöglichkeit  langen  Zu- 
wartens,  was  hier  so  ziemlich  zusammenfiel, 
ganz  klar.  Aber  man  kam  nicht  vom  Flecke, 
nicht  weil  man  nicht  gewollt  hätte,  sondern 
weil  man  nicht  konnte. 

Erlach  dagegen  mußte  handeln.  Ihm,  als 
Soldaten,  lag  es  ob,  die  Armee  „der  guten 
Sache"  zu  retten,  und  nach  den  Auseinander- 
setzungen des  Verfassers  ist  es  schwer  einzu- 
sehen, wie  dies  anders  hätte  geschehen  können 
als  durch  schleunige  „Erneuerung  der  Dienst- 
verträge Herzog  Bernhards".  Diese  Erneuerung 
kam  freilich  Frankreich  zu  gute,  und  Erlach 
hatte  nie   ein  Geheimniß   daraus  gemacht,    daß 

66 


1042      Gott,  gel.  Änz.  1880.  Stück  33. 

ihm  die  französische  Allianz  selbst  noch  Wün- 
schenswerther erscheine  als  die  schwedische. 
Man  kann  daher  wohl  zugeben,  daß  er  „par- 
teiisch zu  Gunsten  Frankreichs"  war,  wie  er  es 
immer  gewesen,  aber  diese  Parteilichkeit  schloß 
gerade  die  gertigte  „Fahrlässigkeit"  und  „Un- 
überlegtheit" aus.  Er  handelte  mit  voller  Ueber- 
legung  und  folgte  darin  den  Spuren  seines  Her- 
ren, mochte  dieser  später  auch  gewünscht  haben, 
den  eingeschlagenen  Weg  zu  verlassen.  Sein 
Herr  hatte  dem  französischen  Monarchen  willig 
„einen  Reuterdienst"  gethan,  er  hatte  erbeutete 
Fahnen  nach  Paris  senden  lassen,  er  sah  im 
Könige  von  Frankreich  seinen  obersten  Kriegs- 
herrn; warum  sollte  der  Fremde  den  deutschen 
Fürsten  an  deutschem  Patriotismus  tibertreffen? 
Wenn  Bernhard  für  das  Schicksal  der  eroberten 
Lande  nicht  besser  gesorgt  hatte,  vielleicht  nicht 
besser  hatte  sorgen  können,  als  es  geschehen 
war,  warum  sollten  die  Direktoren  der  weima- 
rischen Arm6e,  Männer  die  das  Schwert  und 
nicht  das  Scepter  führten,  sich  ihrer  Zukunft 
mit  größerem  Eifer  annehmen?  wenn  ihn  der 
Tod  verhinderte,  sein  letztes  Wort  in  dieser 
Sache  zu  sprechen,  warum  sollten  sie  es  für  ihn 
thun?  Uebrigens  verspricht  der  Verfasser  in 
der  Fortsetzung  seines  Werkes  nachweisen  zu 
wollen,  „daß  bei  den  Verhandlungen  in  Münster 
und  Osnabrück  der  Generalmajor  von  Erlach 
weit  mehr  für  die  reichsunmittelbaren  Städte  im 
Elsaß  und  deren  Verbleiben  beim  Reiche  ge- 
wirkt habe  als  die  Reichsstände  am  Fürstentage 
in  Osnabrück,  bei  welchen  der  Kaiser  wenig 
Unterstützung  gefunden  hat". 

In  einer  anderen  Streitfrage  von  geringerer 
Bedeutung,  betreffend  die  Erweiterung  der  Be- 
fugnisse Erlachs  als  Gouverneur  von  Breisach, 


Gonzenbacb,  Der  General  H.  L.  v.  Erlach.  I.  1043 

scheint  ein  Mißverständnis  vorzuliegen,  welches 
der  Verfasser  wohl  selbst  noch  Gelegenheit  fin- 
den wird  aufzuklären.  Der  Raum  dieser  Blät- 
ter verbietet  darauf  einzugehen  und  auszuführen, 
daß  auch  diese  Angelegenheit  sich  nicht  zu  einer 
Anklage  wegen  pflichtwidrigen  Verhaltens  des 
Generalmajors  wird  verwenden  lassen.  Endlich 
sei  gleichfalls  an  dieser  Stelle  nur  in  Kürze  er- 
wähnt, daß  es  dem  Verfasser  inzwischen  gelun- 
gen ist,  die  beiden  von  Böse  II.  420  erwähn- 
ten Briefe  Erlachs  an  Des  Noyers  aus  Paris  zu 
erhalten.  Sie  sind  ganz  unschuldiger  Natur  und 
rechtfertigen  in  nichts  die  gehässige  Beschuldi- 
gung, als  habe  Erlach  versprochen,  hinter  dem 
Bücken  des  Herzogs  und  nach  seinem  Tode 
eine  verrätherische  Correspondenz  mit  dem  fran- 
zösischen Minister  zu  führen.  Möge  es  dem 
Verfasser  vergönnt  sein,  sein  wichtiges  Werk  bald 
zu  vollenden,  das  als  die  bedeutendste  Vorarbeit 
einer  schon  lange  entbehrten  neuen  Monographie 
über  Bernhard  von  Weimar  betrachtet  wer- 
den muß. 

Bern  Juli  1880.  Alfred  Stern. 


Nu  bische  Grammatik.  Mit  einer  Ein- 
leitung über  die  Völker  und  Sprachen  Afrika's. 
Von  B.  Lepsius.  Berlin,  W.  Hertz  1880. 
CXXVI  und  506  pp.    8°. 

Fast  vier  Jahrzehnte  sind  verflossen,  seit 
Lepsius  seinen  langjährigen  Aufenthalt  in  Ae- 
gypten,  mit  dem  für  die  Aegyptologie  eine  neue 
Epoche  begann,  auch  dazu  benutzte,  die  Spra- 
chen  des   oberen  Nilthaies  zu  erforschen.     Be- 

66* 


1044      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  33. 

sonders  für  das  am  weitesten  verbreitete  der 
dortigen  Idiome,  für  das  Nuba,  brachte  er  um- 
fangreiche Sammlungen  heim.  Auch  später  in 
Europa  bot  sich  ihm  Gelegenheit,  das  Gesam- 
melte mit  einem  Nubier  gründlich  und  in  Muße 
zu  revidieren,  so  daß  ihm  ein  bis  in  das  Detail 
hinein  absolut  zuverlässiges  und  genaues  Mate- 
rial zu  Gebote  stand  —  ein  Material,  wie  es 
für  andere  illiterate  Sprachen  leider  nur  selten 
vorliegt. 

Bei  der  Fülle  wichtiger  Arbeiten  aber,  die 
aus  der  Herausgabe  und  Verwerthung  der 
Schätze  der  Preußischen  Expedition  erwuchsen, 
mußte  die  Publikation  der  Nubischen  Gramma- 
tik immer  wieder  zurückgestellt  werden.  Erst 
in  den  letzten  Jahren  konnte  der  Verfasser  die- 
selbe abschließen. 

Von  den  drei  Dialekten,  in  die  dasNubische 
zerfallt,  hat  Lepsius  den  mittleren,  den  Mahas- 
dialekt,  zu  Grunde  gelegt;  die  beiden  andern, 
der  des  nördlichen  Kenuzdistrictes ,  und  der 
südlichste,  das  Dongolaui,  sind  nur  an  zweiter 
Stelle  behandelt.  Mahasleute  waren  es  ja,  von 
denen  Lepsius  die  Sprache  erlernte  und  die  ihm 
das  Marcusevangelium  übertrugen  und  revidier- 
ten. Und  wenn  auch  zwei  derselben  zugleich 
des  Eenuz  mächtig  waren,  so  blieben  die  Lücken 
doch  zu  zahlreich,  um  eine  gleichmäßige  Be- 
handlung der  drei  Dialekte  zu  erlauben.  Desto 
erfreulicher  war  es,  daß  während  des  Druckes 
die  Nubagrammatik  Reinisch's  erschien,  die  eine 
reiche  Sammlung  von  Texten  aller  Dialekte  ent- 
hält. Aus  ihnen  konnten  die  betreffenden  Ab- 
schnitte des  Lepsius'schen  Werkes  noch  vervoll- 
ständigt werden. 

Die  Sprache,  wie  sie  uns  nun  in  dem  vor- 
liegenden Buche  entgegentritt,  hat  in  ihren  ein- 

/ 


Lepsius,  Nubiscbe  Grammatik.        1045 

fach  schönen  Lautverhältnissen  für  unser  Ohr 
etwas  höchst  ansprechendes;  desto  fremdartiger 
mnthet  uns  aber  ihr  Bau  an.  Eins  ist  auch  bei 
flüchtigem  Anblick  klar:  an  eine  Verwandtschaft 
mit  dem  großen  benachbarten  Sprachstamm,  dem 
hamitischen,  ist  in  keiner  Weise  zu  denken. 
Unter  den  autochthonen  Sprachen  Afrika's  wer- 
den wir  dem  Nuba  seinen  Platz  suchen  müssen. 
Lepsius  unterzieht  zu  diesem  Zwecke  in  der 
Einleitung  seines  Werkes  die  gesammten  Spra- 
chen Afrika's  einer  genauen  Musterung  und  bei 
dem  hohen  Interesse  der  hier  in  Betracht  kom- 
menden Fragen  wollen  wir  auf  diesen  Theil  des 
Werkes  etwas  näher  eingehen. 

Gewöhnlich  theilt  man  jetzt  die  nicht  hami- 
tischen Völker  Afrika's  in  vier  Gruppen,  von 
denen  die  erste  die  nördlichen  schwärzesten 
Stämme  umfaßt,  die  zweite  die  Fellata  und 
Nuba,  die  dritte  die  Bantu  oder  Kaffern,  wäh- 
rend die  vierte  die  Buschmänner  und  Hotten- 
totten begreift.  Sie  alle,  höchstens  die  vierte 
Gruppe  ausgenommen,  haben  soviel  Verwandt- 
schaft im  Körperbau,  daß  man  sie  als  einen 
Stamm  betrachten  kann,  um  so  mehr,  als  die 
stark  variierende  Farbe  der  verschiedenen  Völ- 
ker im  Wesentlichen  nur  durch  die  klimatischen 
Verhältnisse  ihrer  Wohnsitze  verursacht  ist.  In 
der  That  fällt  die  Zone  der  schwärzesten  Neger 
mit  der  höchsten  Isotherme  zusammen. 

Ihre  Sprachen  hingegen  sind  weit  davon  ent- 
fernt einheitlich  zu  sein.  Nur  eine  große 
Gruppe  läßt  sich  jetzt  noch  ausscheiden:  die 
der  Bantusprachen,  von  denen  wir  im  Osten  das 
Kafir,  T&wana  und  Swahili,  im  Westen  Herero, 
Pongue  und  Fernando  Po  kennen.  Südlich  von 
ihrem  Gebiete  wohnen  die  Hottentotten  und 
Buschmänner,  nördlich  aber  bis  hin  zu  den  Ha- 


1046      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  33. 

miten  herrscht  das  bunteste  Sprachgemisch.  Es 
ist  nun  Lepsius'  scharfsinnige  Vermuthung,  daß 
es  gerade  der  Zusammenstoß  mit  den  Hamiten 
war,  der  dieses  Gewirr  von  Sprachen  hervor- 
rief. Als  über  Suez  die  libyschen  Stämme,  über 
Babelmandeb  die  kuschitischen  einbrachen  und 
den  Norden  und  Osten  Afrika's  eroberten,  zer- 
trümmerten und  verschoben  sie  allmählich  die 
ursprünglich  einfachen  Völkerverhältnisse  des 
Continents.  Die  nördlichen  Negervölker  wurden 
aus  ihren  Sitzen  vertrieben,  ihre  Entwickelung 
wurde  gestört;  kein  Wunder,  daß  diese  zer- 
sprengten und  aus  dem  Zusammenhang  der 
nächst  verwandten  Idiome  ausgelösten  Sprachen 
sich  schnell  differenzierten. 

Es  stände  schlimm  um  diese  Hypothese, 
wenn  sich,  wie  dies  Friedrich  Müller  auf  das 
entschiedenste  behauptet,  keinerlei  Verwandt- 
schaft zwischen  den  Bantusprachen  und  denen 
nördlicher  Neger  nachweisen  ließe.  Daß  dem 
nicht  so  ist,  daß  sich  im  Gegentheil  mannich- 
fache  und  auffallende  Berührungspunkte  finden, 
sucht  Lepsius  des  weiteren  nachzuweisen  und 
ich  glaube,  es  ist  ihm  durchaus  gelungen.  Na- 
türlich darf  man  bei  diesen  Sprachen,  die  ihren 
Wortschatz  so  ungemein  leicht  und  schnell  än- 
dern, nicht  hoffen,  noch  lautlich  gleiche  Stämme 
zu  finden;  nur  Analogieen  im  grammatischen 
Bau  kann  man  erwarten.  Auch  diese  Analo- 
gieen finden  sich  weitaus  nicht  in  allen  Spra- 
chen in  gleicher  Weise,  aber  auch  vereinzelt  ist 
ihr  Vorkommen  von  Gewicht.  Im  Folgenden 
einige  besonders  bezeichnende  Beispiele. 

Die  Bantusprachen  unterscheiden  bekanntlich 
verschiedene  Klassen  der  Nomina  (z.  B.  Thier, 
Mensch,    Baum  u.  s.   w.)   durch   feste  Präfixe. 


Lepsius,  Nabische  Grammatik.        1047 

Nun  diese  so  auffallende  Erscheinung*)  findet 
sich  in  einigen  der  Nordsprachen  in  ganz  ähn- 
licher Weise,  nur  daß  es  hier  meist  Suffixe  sind, 
die  als  Klassenbezeichnungen  fungieren. 

Und  wie  aus  dem  Gebrauche,  diese  Präfixe 
des  Substantivs  auch  bei  seinem  Verbum,  seinem 
Adjectiv  u.  s.  w.  zu  wiederholen,  sich  in  den 
Bantusprachen  eine  Art  von  Allitteration  erge- 
ben hat  —  z.  B.  abantu  betu  abahle  „unsere 
schönen  Leute"  —  so  finden  wir  auch  in  nörd- 
lichen Sprachen  Beste  dieser  so  eigentümlichen 
Erscheinung.  Es  nehmen  z.  B.  im  Pul  (Fellata), 
Wolof  und  Umale  vokalisch  anlautende  Nomina 
den  konsonantischen  Anlaut  ihres  Substantivs 
an:  adg  utru  ein  großer  Kopf, 
dget  dgutru  ein  großer  Mann, 
hurt  butru  eine  große  Mauer 
—  wie  mir  scheint  ein  deutlicher  Beweis,  daß 
auch  diese  Sprachen  einst  wie  die  Bantu  Klas- 
senpräfixe besessen  haben! 

Nicht  minder  charakteristisch  ist  es,  daß 
sich  in  zahlreichen  Nordsprachen  ebenso  wie  in 
den  Bantusprachen  eins  der  sonderbarsten  Aus- 
drucksmittel angewendet  findet,  das  die  Sprache 
überhaupt  kennt:  die  Intonation,  d.h.  die  Schei- 
dung sonst  gleichlautender  Worte  durch  die  ver- 
schiedene Höhe  der  Stimmlage.  Sonst  ist  die 
Intonation  nur  noch  in  China  beobachtet  wor- 
den; das  gleichmäßige  Auftreten  einer  so  selte- 
nen Erscheinung  in  den  Nordsprachen  und  im 
Bantu  ist  daher  wohl  zu  beachten. 

Wenn  wir  so  die  Lepsius'sche  Hypothese 
einer  ursprünglichen  Einheit    der    nichthamiti- 

*)  Lepsius  erklärt  sie  sehr  fein  und  ansprechend  aus 
der  hohen  Wichtigkeit,  die  das  Wesen  der  einzelnen  Ob- 
jecto für  den  Naturmenschen  hat. 


1048  .     Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  33. 

sehen  Sprachen  Afrika's  als  bewiesen  ansehen 
dürfen  —  soweit  man  in  solchen  Fragen  über- 
haupt von  Beweis  sprechen  kann  —  so  werden 
wir  nun  auch  dem  Nubiscben  einen  gleichen 
Ursprung  zuweisen  müssen.  Freilich  ist  gerade 
diese  Sprache  dem  Einfluß  hamitischer  Nach- 
barn dauernd  seit  langer  Zeit  ausgesetzt  gewe- 
sen und  hat  deshalb  —  ebenso  wie  z.  B.  die 
Sprache  der  Pul,  das  Fulfulde  —  besonders  tief 
greifende  Modification  en  des  ursprünglichen 
Baues  erlitten.  Ebenso  hat  ja  auch  der  Körper- 
bau der  Nubier  starke  Beeinflussung  erfahren; 
nur  die  sogenannten  freien  Nuba  in  den  Bergen 
südlich  von  Kordofan  bewahren  noch  heut  einen 
Negertypus. 

Dazu  kommt  noch  eine  Thatsache,  die  das 
Nuba  zweifellos  als  eine  nicht  hamitische  Spra- 
che kennzeichnet:  ihm  fehlt  das  grammatische 
Geschlecht.  Es  ist  Lepsius'  Verdienst,  fdie  zu- 
erst von  Bleek  constatierte  Thatsache,  daß  nur 
Indogermanen  und  Aegyptosemiten  (wie  ich  nach 
Benfeys  Vorgang  die  Hamiten  und  Semiten  nen- 
nen möchte)  ein  durchgeführtes  grammatisches 
Geschlecht  besitzen,  in  ihrer  eminenten  Wich- 
tigkeit begriffen  zu  haben.  Dieser  Satz,  der  so 
viel  ich  weiß,  sich  bis  jetzt  ausnahmslos*)  als 
richtig  erwiesen  hat,  weist  denn  auch  denjeni- 
gen Sprachen  Afrika's,  die  wir  bis  jetzt  noch 
nicht  besprochen  haben,  ihre  Stelle  an.  Das 
Hottentottische  unterscheidet  sowohl  beim  Nomen 


*)  Wenn  die  Negersprachen  Bari  und  Oigob  beim 
Nomen  den  Geschlechtsunterschied  durch  /  und  n  schei- 
den, so  sind  wohl,  wie  Lepsius  ansprechend  vermuthet, 
diese  Präfixe  ursprünglich  alte  Klassenpräfixe,  von  denen 
das  eine  das  Starke,  Große,  das  andere  das  Schwache, 
Kleine  bezeichnete.  Noch  jetzt  werden  sie  ähnlich  ge- 
braucht. 


1 


Lepsius,  Nubigehe  Grammatik.        1049 

als  beim  Pronomen  und  in  der  Verbal  bildung 
das  Geschlecht.  Da  es  nnn  zudem  ganz  wie  die 
knscbitische  Gruppe  der  Hamiten  b  für  das  Masc., 
t  und  s  für  das  Femininum  verwendet  und  auch 
sonst  in  seinem  Bau  eher  mit  diesen  Sprachen 
Verwandtschaft  zeigt,  als  mit  denen  der  Bantu- 
Völker,  so  werden  wir  schwerlich  fehlgreifen, 
wenn  wir  mit  Lepsius  diese  besonders  in  laut- 
licher Beziehung  stark  verkommenen  Sprachen 
als  ein  versprengtes  Glied  der  großen  hamiti- 
schen  Familie  ansehen. 

Fassen  wir  noch  einmal  die  Resultate  dieser 
Sprachnntersuchungen  zusammen,  so  erhalten 
wir  folgendes  Bild  der  Völkerbewegung  Afrikas. 
Die  ursprüngliche  Bevölkerung  des  Continents 
war  eine  einheitliche,  von  deren  Sprache  wir 
uns  am  besten  aus  der  der  Bantustämme  einen 
Begriff  machen  können.  Von  Osten  drangen 
die  mit  den  Semiten  auf  das  nächste  verwand- 
ten harmtischen  Völker  ein  und  drängten  die 
schwarze  Bevölkerung  allmählich  weiter  und 
weiter  zurück.  Die  libyschen  Stämme  occupier- 
ten  ganz  Nordafrika  bis  hin  zum  atlantischen 
Ocean  und  bis  zum  Stidrand  der  großen  Wüste; 
die  Aegypter*)  nahmen  das  Nilthal  bis  zu  den 

*)  Es  ist  bei  dem  heutigen  Stande  der  Forschung 
noch  nicht  möglich,  genauer  das  Verhältnis  der  einzel- 
nen hamitischen  Sprachen  zu  einander  anzugehen.  Ehe 
nicht  der  Bau  des  Altägyptischen  gründlicher  durchforscht 
ist,  ist  jedes  Arbeiten  auf  diesem  Felde  mißlich.  Die 
jetzt  in  der  Sprachwissenschaft  herrschenden  Anschauun- 
gen von  ägyptischer  Sprache,  wie  sie  unter  andern  in 
Friedrich  Müller's  Werken  auftreten,  entsprechen  nicht 
der  wirklichen  Sachlage.  Das  Altägyptische  ist  viel  ent- 
wickelter, als  man  gewöhnlich  annimmt,  aber  als  Sprache 
eines  Culturvolkes  verfiel  es  ungleich  schneller  als  seine 
in  der  Wüste  lebenden  Schwestern.  Wie  fremdartig  er- 
scheinen schon  das  Neuägyptische  und  das  Koptische  den 


1050      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stttck  33. 

Katarakten  in  Besitz;  die  Kuschiten  endlich  be- 
setzten die  Ostküste  bis  tief  nach  Süden  herun- 
ter. Durch  diese  großartige  Invasion  fremder 
Stämme  wurden  die  Ureinwohner  durcheinander 
versprengt;  ihre  Volkskraft  wurde  gebrochen 
und,  einmal  unter  ferner  stehende  Idiome  zer- 
streut, bildeten  sich  die  einzelnen  Dialekte 
schnell  zu  selbstständigen  Sprachen  aus.  Natür- 
lich erzeugten  sich  Mischbevölkerungen,  bei  de- 
nen die  Sprache  dann  noch  weiter  abliegende 
Wege  einschlug;  die  Pul  im  Westen,  die  Lo- 
gone*)  im  Innern,  die  Nuba  und  Barea  im 
Osten  sind  Beispiele  dieses  Processes.  Dann 
aber  erfolgte  im  Süden  ein  Bückschlag,  die 
Bantu  Völker  drangen  wieder  gegen  die  Ostküste 
vor,  der  südlichste  Zweig  der  Kuschiten  wurde 
abgeschnitten  und  ward  im  Lauf  der  Jahrtau- 
sende bis  in  den  äußersten  Winkel  des  Conti- 
nents gedrängt.  Noch  heut  besteht  dieser  ver- 
lorne Posten  der  Hamiten,  freilich  in  einer  Ge- 
stalt, die  kaum  seinen  Ursprung  ahnen  läßt:  es 
sind  die  Hottentotten. 

Noch  ein  zweites  mal  hat  übrigens  nach 
Lepsius*  Ansicht  Nordafrika  eine  kuschitische 
Invasion  erfahren.  Denn,  wie  Maspero,  identi- 
ficiert  er  das  kuschitische  Volk  der  Puna,  das 
am  erythräischen  Meer  saß,  mit  den  Phöniciern, 
deren  Urheimath  ja  nach  mehrfachen  Berichten 
ebenfalls  an  jenen  Gestaden  lag.  Und  wie  je- 
ner hält  er  auch  die  Hycsosinvasion  für  einen 
Wanderzug  des  phönicischen  Volkes.  Daß  die 
Hycsos  keine  Semiten  waren,  ist  jetzt  wohl  all- 
Semitischen  Sprachen  gegenüber,  während  z.  B.  bei  dem 
heut  gesprochenen  Tamäseq  die  Verwandtschaft  mit  dem 
Semitischen  noch  auf  den  ersten  Blick  klar  ist! 

*)  Die  Haasasprache  ist  hamitisch,  wie  Lepsius  mit 
Recht  festhält. 


Lepsius,  Nabische  Grammatik.        1051 

gemein  anerkannt;  auch  die  Phönicier  werden 
nicht  als  Semiten  dargestellt  und  die  vorge- 
schlagene Abstammung  der  beiden  Völker,  die 
ja  mit  der  Tradition  übereinstimmt,  hat  viel 
Ansprechendes.  Schwieriger  scheint  es  mir  für 
die  Kuschitische  Invasion  in  Babylonien  sichere 
Beweise  zu  finden;  die  Keilinschriften  ergeben 
nichts,  was  dahin  deutete*). 

Es  steht  zu  vermuthen,  daß  Lepsius'  Ansich- 
ten über  die  Völker  Afrika's  auf  ethnologischer 
Seite  auf  starken  Widersprach  stoßen  werden. 
Stehen  doch  die  Resultate  der  sprachlichen  Un- 
tersuchung in  entschiedenem  Gegensatz  zu  denen 
der  ethnologischen  Forschung. 

Der  consequenteste  Vertreter  dieses  Stand- 
punkts, Robert  Hartmann,  erklärt  ja  sämmtliche 
Hamiten  **)  für  ebenso  autochthon  wie  die  Neger 
und  auch  die  Gelehrten,  die  die  Resultate  der 
Ethnologie  und  die  der  Linguistik  zu  vereinigen 
suchen,  werden  sich  schwer  dazu  entschließen, 
die  Hottentotten  oder  die  Hausa  als  Hamiten 
anzusehen.  Aber  dieser  Widerspruch  ist  ja  zum 
guten  Theil  nur  ein  scheinbarer.  Mit  Recht  be- 
merkt Lepsius,  die  Verbreitung  und  Vermischung 
der  Völker  gehe  ihren  Weg  und  die  der  Spra- 
che, wenn  auch  stets  durch  diesen  bedingt,  den 

*)  Als  Curiosum  sei  erwähnt,  daß  Maspero  die  Ku- 
schiten  unter  anderm  auch  nach  Earien  und  nach  Indien 
ziehen  läßt»  aus  ihrem  Namen  aber  den  Hindu  Kusch  (!!) 
als  ihre  Urheimath  erschließt. 

**)  Die  Bezeichnung  Retu,  die  Hartmann  und  andere 
Ethnologen  für  die  Aegypter  gebrauchen,  sollte  man  doch 
besser  vermeiden.  Abgesehen  davon,  daß  es  mißlich  ist, 
aas  einer  einzigen  Stelle  zu  schließen,  daß  sich  die  Ae- 
gypter im  Gegensatz  zu  fremden  Völkern  nur  als  »Men- 
schen« bezeichnet  hätten,  ist  es  auch  unmöglich,  die 
wirkliche  Aussprache  der  Gruppe  rdu,  rd,  rt  anzugeben. 
Die  Schreibung  Ludu  in  manchen  populären  Werken  ist 
nur  den  biblischen  0*mb  ZQ  Liebe  aufgebracht. 


1052      Gott  gel.  Anz.  1880.  Stück  33. 

ihrigen,  oft  gänzlich  verschiedenen.  Wohl  mö- 
gen Völker,  die  heut  hamitisch  sprechen,  kaum 
noch  einen  Tropfen  hamitischen  Blutes  in  sich 
haben  nnd  andere  vollends,  wie  die  Hansa,  mö- 
gen rein  antochthonen  Ursprungs  sein  —  für 
die  Linguistik  sind  sie  trotzdem  ihrer  Sprache 
wegen  Ham i ten.  Auch  dürfen  wir  nicht  ver- 
gessen, daß  es  eine  durch  nichts  zu  beweisende 
Annahme  ist,  wenn  wir  jene  alten  Völker- 
stämme, die  sprachlich  eine  Einheit  bildeten, 
nun  auch  als  Einheit  im  ethnologischen  Sinne 
fassen.  Wer  vermöchte  heut  zu  sagen,  ob  nicht 
die  Hamiten,  die  einst  Afrika  überschwemmten, 
selbst  aus  den  verschiedensten  Elementen  be- 
standen? Später  wird  vielleicht  einmal  ein  Zu- 
sammenarbeiten des  Ethnologen  und  des  Sprach- 
forschers, wie  man  es  jetzt  zu  fordern  pflegt, 
ungeahnte  Aufschlüsse  gewähren ;  für  den  Augen- 
blick, wo  beide  Wissenschaften  noch  in  den 
Anfängen  stehen,  kann  es  nur  zu  vorschnellen 
Eesultaten  führen. 

Ueber  die  Geschichte  des  nubischen  Volkes, 
um  noch  einmal  zu  diesem  zurückzukehren, 
läßt  sich  leider  nur  weniges  feststellen.  Noch 
der  Zeitgenosse  des  Ptolemaeus  Philadelphus, 
der  äthiopische  König  Arkamen,  besaß  das 
linke  Nilufer,  wie  seine  dortigen  Bauten  bewei- 
sen. Hingegen  Eratosthenes  und  Strabo  sagen 
bereits,  es  sei  von  den  unabhängigen  Nubiern 
bewohnt*).  Scharfsinnig  vermuthet  Lepsius, 
daß  dieses  so  plötzlich  hervortretende  Volk  iden- 
tisch ist  mit  dem  alten  Negervolke  der  Uaua, 

*)  Strabo  nennt  sie  Libyer,  natürlich  ihrer  Wohn- 
sitze wegen.  Ebenso  übersetzt  ein  koptisch-arabisches 
Glossar  (No.  50  der  Pariser  Bibliothek)  XjAithc  mit 
Nubier  und  Af  £lh  mit  Nubien. 


Lepsius,  Nabische  Grammatik.        1053 

das    wir   schon    in  den  ältesten  Zeiten  ägypti- 
scher Geschichte  an  der  Südgrenze  Aegyptens 
sitzen  finden.    Während  des  Emporblühens  des 
Reiches  Kas,  wo  ägyptische  Cultur  eine  zweite 
Heimat  fand,    treten  diese  nördlichen  nicht  ha- 
mitischen  Völker  in  den  Hintergrund;   bei    sei- 
nem Verfall  gewinnen  sie  ihre  Unabhängigkeit 
wieder.     Für  diese   Vermuthnng  spricht  auch, 
daß  zur  gleichen  Zeit  auf  dem  arabischen  Ufer 
des  Nils   in   ähnlicher  Weise  Stämme   kuschiti- 
scber  Nation,   die   Blemmyer    und    Megabarer, 
aufzutreten  beginnen.    Erst  gegen  die  Mitte  des 
sechsten  Jahrhunderts   n.  Chr.   wurden  die  Nu- 
bier  zum  Ghristenthume  bekehrt;  die  Blemmyer 
blieben  noch  Heiden,   wie  wir  aus  der  Inschrift 
ihres   Besiegers,    des   nubischen  Königs    Silko 
erfahren.    Das  nubische  Beich  muß  sich  damals 
bis  tief  nach  Süden  erstreckt  haben,  noch  über 
die  Atbaramündung  hinaus  —  darauf  deutet,  ne- 
ben  den  Angaben  der  arabischen  Schriftsteller, 
auch   die    lokale   Tradition,    die    noch    heute 
manche  jetzt  rein  arabische  Orte  als  „nubischu 
bezeichnet.     Erst  am  Ende  des  I3ten  Jahrhun- 
derts erlag  es  den  Arabern. 

In  neuerer  Zeit  ist  von  Heinrich  Brugsch  in 
seiner  Gqpchichte  Aegyptens  die  Ansicht  aufge- 
stellt worden,  die  Nuba  seien  die  Abkömmlinge 
der  alten  Aethiopen,  der  K  a  s ,  die  danach  kein 
hamitisches  Volk  sein  würden.  Er  stützt  sie 
auf  die  Namen  der  äthiopischen  Könige,  in  de- 
nen sich  mehrfach  eine  Endung  qa  h  findet, 
welche  er  für  identisch  mit  dem  „Artikel**  des 
Nubischen  hält.  Einen  Artikel  besitzt  das  Nu- 
bische nicht;  gemeint  ist  die  Endung  des  Dativ 
und  Accusativ  zugleich  bezeichnenden  Objectiv- 
casus  gä9  Jcä,  die  auch  da  gebraucht  wird,  wo 
man  ein  Substantiv  absolut  hinstellt.     Ist  schon 


1054       Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  33. 

diese  Identification  gewagt,  so  sind  es  die  Ety- 
mologien, die  Brugsch  giebt,  noch  mehr,    äabaqa 
bedeutet  nach  ihm  „der  Katera ,  sdbataqa   „der 
Sohn  des  Katers",   Kasta   „der  Sohn  des  Pfer- 
des", Psamatik  „der  Sohn  der  Sonne",   Nimrod 
„der  Sohn  des  Panthers".    Die  nubischen  For- 
men für  diese  Namen  wären: 
sab  Obj.  säbki\  im  Mah.  säppa. 
säbintöd    Obj.    säbint  ottä    (für    säbint  ödga\ 
Brugsch's   to    „der  Sohn"   ist  nur  sekun- 
däre Form  für  tod.) 
Jcagintod  Obj.  kagintötta. 
Für  den  „Sonnensohn"    wüßte  ich  gar  keine 
Erklärung  und   bei    dem    „Panthersohn"     (der 
doch   mindestens   nimrintod   heißen  müßte)   hat 
Brugsch  sogar  das  arabische  nimr  zu  Hülfe  ge- 
nommen! Und  ebensowenig  sprechen  die  Fremd- 
worte  des   Nubischen   dafür,   daß   dieses   Volk 
zwei  Jahrtausende    eine   halb  ägyptische  Cultur 
besessen  habe.    Sicher  erst  aus  koptisch-christ- 
licher Zeit  stammen*): 

nähe  M.  Sünde:  no&e 

tu  D.  Sohle:  Twye 

tibbe  K.  D.  tiffe  M.  reinigen:  tMo 

korgos  M.  K.  gelb:  xQÖxwg 

kirage  M.  Sonntag:  xvquxxij. 
Weniger  genau  zur  koptischen  Form  stimmen: 

ädi  M.  edi  K.  Hyaene:  hdt  goerre 

nah  M.  nobre  K.  D.  Gold:  wfe  hoy& 

tüb  M.  K.  Ziegel:  dbt  -xaifce 

nibid  K.  D.  Matte :  nbd  flechten  nefrt  Matte 

siwid  K.  Schwert:  sft  cHqe 

kon-alli  M.  D.  Gesichtsspiegel:  ei*A 

fenti  M.  benti  D.  Dattel:  bnt  Äeiu. 

*)  urü  »König«,  was  Brugsch  citiert,  ist  das  nob. 
urü  »Haupt«;  wäre  es  Fremdwort,  hätte  es  doch  auch 
gewiß  sahidische  Form. 


r 


Lepsius,  Nabische  Grammatik.        10f>5 


Entschieden  deuten  auf  ältere  Entlehnung 
mvrti  K.  Damm,  minne  K.  M.  Taube,  wel  K.  D. 
Hund,  deren  Aequivalente  im  Koptischen  theils 
fehlen,  theils  nicht  passen.  Zufall  mag  es  sein, 
daß  fale  M.  bde  E.  D.  herausgehen,  (auch  von 
der  Saat)  und  wäie  M.  fliegen  an  die  gleichbe- 
deutenden altägyptischen  Verba  pr  und  pa  an- 
klingen. 

<  Kurz  es  finden  sich  im  Nubischen  durchaus 
keine  Spuren,  daß  diese  Sprache  einmal  die  der 
Weltmacht  Kusch  gewesen  wäre.  Auch  den 
Namen  des  nubischen  Königs  Semamun  (Qua- 
trem&re,  Mämoires  II  p.  102)  darf  man  nicht 
als  Beleg  für  einen  einstigen  Amonskultus  der 
Nubier  anführen.  Er  war  in  griechischer  Zeit 
in  Aegypten  häufig  (Stvapovviq,  Wtyapovpis) 
und  wird  ebenso  wie  andere  heidnische  Namen 
von  den  Kopten  beibehalten  sein. 

Die  Frage  nach  der  Nationalität  der  alten 
Aethiopen  hat  übrigens  eine  besondere  Wichtig- 
keit, da  sie  darüber  entscheidet,  welche  Sprache 
bei  der  Entzifferung  der  meroitischen  Inschrif- 
ten*) zu  Grunde  zu  legen  ist.  So  interessant 
es  wäre,  in  diesen  eine  ältere  Gestalt  des  Nu- 
bischen zu  gewinnen,  so  scheint  es  mir  nach 
dem  Gesagten  wenig  wahrscheinlich. 

Zum  Schluß  dieser  Auseinandersetzung  sei 
hier  noch  eines  nubischen  Wortes  erwähnt,  das 
mir  für  die  Geschichte  des  Volkes  von  Interesse 

*)  Eine  Reihe  von  Buchstaben  der  fraglichen  In- 
schriften gleicht  so  genau  demotisch-hieratiachen  Zeichen 
(e,  I,  a,  *,  t,  m,  ma,  gf  p,  d,  b)}  daß  man  versucht 
ist,  sie  für  identisch  mit  diesen  zu  halten.  Eine  sehr 
häufig  vorkommende  Endung  wäre  danach  b  und  dies 
wprde  zu  der  Masculinarendung  der  kuschitischen  Spra- 
chen auf  das  beste  passen.  Möchte  doch  Brugsch  end- 
lich einmal  die  bilingue  Inschrift,  in  deren  Besitz  er  ist, 
zugänglich  machen  1 


1056       Gött.  gel.  Anz.  1880.  Stück  33. 

scheint.  Während  derKenuz-  und  derDongoIa- 
dialekt  das  Wasser  ausschließlich  essi  nennen, 
haben  die  zwischen  jenen  sitzenden  Mahas 
ebenso  ausschließlich  dafür  das  Wort  aman, 
das  denn  auch,  wie  Lepsius  bemerkt,  fast  als 
Schiboleth  zwischen  den  Kubischen  Stämmen 
gilt.  Dies  aman  aber  —  es  ist  dies,  soviel  ich 
weiß,  noch  nicht  bemerkt  worden  —  ist  aus 
dem  Tamääeq  entlehnt*).  Damals  muß  der  Ma- 
hasstamm  jedenfalls  einmal  weiter  nach  Westen 
zu  gewohnt  haben.  Nun  wissen  wir,  daß  Dio- 
kletian einen  nubischen  Stamm  aus  der  Um- 
gegend der  Oase  Ghargeh  als  Schutz  gegen  die 
Blemmyer  in  das  Nilthal  verpflanzte.  Er  wies 
ihnen  freilich  die  Sitze  an,  die  heute  die  Eenuz 
inne  haben;  doch  wäre  es  ja  wohl  möglich, 
daß  die  Einwanderer  sich  später  etwas  weiter 
stromaufwärts  gezogen  hätten.  Es  kommt  hinzu, 
daß  der  Kenuz-  und  der  Dongolastamm  sich 
sprachlich  sehr  nah  stehen,  beide  werden  Nach- 
kommen der  alten  Nilnubier  sein,  in  deren  ent- 
völkertes Gebiet  der  Oasenstamm  eindrang. 
Man  übersehe  nicht,  daß  noch  heute  die  Mahas- 
leute  die  beiden  anderen  Dialekte  als  oäkirtn 
baMid  „die  Sklavensprache"  bezeichnen.  Schon 
dies  deutet  darauf,  daß  sie  sich  einstmals  als 
Eroberer,  als  Herren  der  seßhaften,  schwächeren 
Stämme  gefühlt  haben. 

Berlin.  Adolf  Erman. 

*)  Aach  für  ein  anderes  ebenfalls  nur  dem  Mahas 
angehöriges  Wort:  kel  »Gebiet,  Grenze«  liegt  eine  Her- 
leitung aus  derselben  Quelle  verführerisch  nah,  doch  mag 
dies  Zufall  sein. 


Für  die  Redaction  verantwortlich :  &  Rehnisch,  Director  d.  Gött.  gel.  Anz. 

Commissions -Verlag  der  Dieterich' sehen   Yet  lags- Buchhandlung, 

Druck  der  JHeierich'schen  Univ.-JJuchdruckeiei  ( W.  Dr.  Kaestnmh 


l,-^  V fc-- 


*.J 


SEP  2Q 1880  1057 

G b tti ng i sehe 

gelehrte    Anzeigen 

anter  der  Aufsicht 

der  Königl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Stück  34.  25.  August  1880. 


Inhalt:  J.  Wiclif,  De  Christo  et  suo  adversario  Aniichristo 
herausgeg.  von  Buddensieg. ,  Von  Fr.  Düsterdieck.  —  P.  Tannery, 
Thaies  et  ses  emprunts  ä  l'Egypte.  Yon  G.  Teklunüüer.  —  H.  Lau- 
rent, Theorie  e'le'mentaire  des  fonetions  elliptiques.  Yon  A.  Bnnetwr. 
—  A.  Hartmann,  Taubstummheit  und  Taubstummenbildung.  Von 
K.  Burkner. 

B  Eigenmächtiger  Abdruck  von  Artikeln  der  Gott.  gel.  A  nz.  verboten  ss 


De  Christo  et  suo  adversario  Anti- 
christ o.  Ein  polemischer  Tractat  Johann 
Wiclifs  aus  den  Handschriften  der  K.  K. 
Hofbibliothek  zu  Wien  und  der  Universitäts- 
bibliothek zu  Prag  zum  ersten  Male  herausge- 
geben von  Dr.  Rudolf  Buddensieg.  Gotha. 
F.  A.  Perthes  1880.    59  Seiten  in  Quart. 

Wenn  der  Herausgeber  dieses  gegen  das 
Papstthum  gerichteten  Tractate,  im  Anschluß  an 
englische  und  deutsche  Werke  über  den  Oxfor- 
dischen Vorreformator,  in  der  vorliegenden  Ar- 
beit uns  die  erste  Probe  der  lateinischen  Streit- 
schriften Wiclifs  darbietet,  so  verdient  er  damit 
die  freudigste  Anerkennung.  Die  Streitschrift 
ist  von  so  entschieden  evangelischer  Haltung, 
namentlich  auch  in  ihrer  in  der  That  einiger- 
maßen unerwarteten  Mäßigung   und  in  der  ein- 

67 


1058      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  34. 

sten,  die  polternden  Worte  meidenden  Ruhe,  daß 
sie  als  ein  edler  Beitrag  zu  der  Geschichte  Wic- 
lif  s  und  der  reformatorischen  Vorarbeiter  über- 
haupt erscheint.  Da  der  Herausgeber  bezeugt, 
daß  er  Gelegenheit  gehabt  habe,  fast  sämmtliche 
lateinische  Streitschriften  Wiclif  s,  welche  noch 
in  dem  handschriftlichen  Schatze  der  Wiener 
Bibliothek  liegen,  abzuschreiben  —  etwa  25 
Nummern  —  so  werden  wir  auf  weitere  Mit- 
theilungen von  seiner  geschickten  Hand  hoffen 
dürfen.  In  den  Vorbemerkungen  (S.  5 — 32) 
bringt  der  Herausgeber  zuvörderst  auf  Grund 
gediegener  Studien  die  erforderlichen  Bemer- 
kungen über  den  gegenwärtigen  Stand  der 
Wiclifliteratur,  über  die  lateinischen  Werke 
Wiclif  s  und  deren  Werth,  über  die  polemischen 
Schriften  Wiclifs  insbesondere,  sodann  über  die 
Stellung  unsers  Tractats  innerhalb  der  Polemik 
Wiclifs,  über  Eintheilung  und  Inhalt  unsers 
Tractats,  über  die  Abfassungszeit  (etwa  i.  J. 
1383/84)  und  die  Echtheit  desselben.  Dann  fol- 
gen sehr  sorgsame  Angaben  über  die  verschie- 
denen Handschriften  mit  ihren  Correcturen,  und 
endlich  werden  die  bei  der  Edition  befolgten 
Grundsätze  dargelegt.  Die  Wiclif  sehe  Schrift 
selbst  folgt  S.  33—58;  unter  dem  Texte  sind 
die  erforderlichen  kritischen  Nachweisungen  aus 
den  verglichenen  Handschriften  gegeben. 

Durch  die  kritischen  Anmerkungen  werden 
wir  in  dankenswerther  Weise  in  den  Stand  ge- 
setzt, die  sorgsame  Arbeit,  welche  der  Heraus- 
geber der  Feststellung  des  Textes  gewidmet  hat, 
zu  würdigen  und  ein  eigenes  Urtheil  dieserhalb 
zu  gewinnen.  Einige  Male  hat  er  angesichts 
der  fehlerhaften  Angaben  in  den  Handschriften 
zu  Gonjecturen  seine  Zuflucht  nehmen  müssen. 
Nur  in  seltenen  Fällen  wird  man  Bedenken  tra- 


Wiclif ,  De  Christo  et  suo  adversario  et     1059 

gen,  ihm  zuzustimmen;  es  finden  sich  auch  ein- 
zelne Stellen,  an  denen  eine  Gonjectur  gerecht- 
fertigt erschienen  sein  würde,  während  der 
Heraasgeber  bei  den  Handschriften  beharrt.  Ich 
zweifle  z.  B.  nicht,  daß  das  ipsis  §.  73,  zu  welchem 
der  Heraasgeber  ein  Fragezeichen  setzt,  in  ipsi 
zu  verbessern  ist;  die  Abschreiber  haben  das 
ipsis  mit  den  Worten  papis  aspirantibas  in 
falsche  Verbindung  gebracht  and  vielleicht  auch 
durch  das  sogleich  folgende  ipsis  pastoribos 
sich  beirren  lassen.  Für  anrichtig  dagegen 
halte  ich  die  Gonjectnr  des  Heraasgebers  in 
§.  87,  wo  er  anstatt  der  handschriftlichen  Les- 
art infinita  vielmehr  nach  einer  vorangehenden 
Textaassage  diffinita  schreibt  Der  Sinn  dieser 
Conjectnr  würde  nicht  angeeignet  sein;  aber 
die  Meinung  Wiclif  s  ist  die,  daß  infinita  —  ca- 
piuntur  -  tanqaam  fides  zusammen  zu  fassen 
ist  and  sich  der  Sinn  ergiebt :  anzählige  Satzan- 
gen in  Betreff  von  Privilegien,  Ablässen  a.  dgl. 
werden,  wenn  der  Papst  es  so  bestimmt,  von 
den  einfaltigen  Christen  wie  Glaubenssätze  hin- 
genommen. Der  Ausdruck  infinita  steht  hier 
wie  §.  126.  131.  134.  Zu  capiuntur  vgl.  §.  92. 
Falsch  erscheint  mir  ferner  die  Conjectur  one- 
roso  §.  131 ;  denn  dies  Wort  ist  nicht  mit  loco 
zu  verbinden,  sondern  das  richtige  onerose  be- 
zeichnet, wie  bedrückend  die  Gegenwart  eines 
Papstes  an  einem  Orte  sei,  während  Christas 
ganz  anders  sich  verhalten  habe.  In  §.  134 
wird  vicarie,  statt  vicarii,  nur  ein  Druckfehler 
sein.  Gleichfalls  als  Druckfehler  notiere  ich 
§.  24  prineipum  arith.  statt  prineipium;  §.  87 
hodlie  statt  hodie;  §.  137  eunt  statt  sunt.  Auch 
§.  121  (Z.  2  v.  u.)  ist  ein  Druckversehen  im 
Texte.    Daß  der  Herausgeber  die  Formen  pote- 

67* 


1060      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  34. 

rit,  poterunt  z.  B.  §.  93  unangetastet  gelassen 
hat,  scheint  mir  richtig;  dies  mag  Wiclif  ver- 
antworten, welcher  übrigens  an  andern  Stellen 
auch  potuerunt  schreibt.  —  Sehr  interessant  ist 
der  Inhalt  des  Tractats.  Wiclif  eröffnet  seine 
Polemik  mit  einer  Definition  des  Kirchenbegriffs, 
welche  nahezu  mit  denselben  Worten  in  dem 
Tractat  de  Ecclesia  von  Huß  sich  wiederfindet. 
Die  Kirche  ist  predestinatorum  universitas.  Sie 
umfaßt  drei  große  Abtheilungen;  sie  ist  eine 
triplex  ecclesia,  nämlich  ecclesia  triumphancmm 
in  celo,  eccl.  militancium  hie  in  mundo  und 
eccl.  dormiencium  in  purgatorio.  Die  eccl.  mi- 
litancium zerfällt  ihrerseits  wiederum  in  drei 
Theile:  die  eccl.  clericorum,  qui  debent  esse 
propinquissiini  ecclesiae  triumphanti  et  juvare 
residuum  ecclesiae  militantis,  ut  sequatur  Chri- 
stum propinquius,  qui  est  caput  tocius  ecclesiae. 
—  Secunda  pars  militantis  ecclesiae  dicitur  esse 
militum  ita,  quod  sicut  prima  pars  istius  eccle- 
siae dicitur  instrumentum  oratorum,  ita  secunda 
pars  ecclesiae  dicitur  corporalium  defensorum. 
Dies  sind  also  die  Machthaber,  welche  als  Glie- 
der der  Kirche  für  die  äußerliche  Sicherheit, 
für  ihren  irdischen  Bestand  zu  sorgen  haben. 
Endlich  tercia  pars  ecclesiae  dicitur  wulgarrom 
vel  laboratorura  —  also  die  Masse  des  Laien- 
volks. Et  in  harmonia  ista  trium  parcium  ad  imi- 
tacionem  trinitatis  increatae  consistit  sanitas 
corporis  istius  ecclesiae  militantis.  Dieser  letzte 
Satz,  welcher  den  Ausgangspunkt  für  die  Wic- 
lifsche  Polemik  gegen  die  antichristlichen  Ge- 
staltungen in  der  päpstlichen  Kirche  bildet,  ist 
von  dem  Herausgeber  bei  seiner  Darlegung  des 
Inhalts  unsers  Tractats  nicht  richtig  verstanden 
oder  nicht  recht  beachtet;  denn  irrthümlich  be- 


Wiclif,  Dte  Christo  et  suo  adversario  cl     1061 

riehtet  er  (S.  17),  daß  die  vorhin  zuerst  genann- 
ten drei  Haupttheile  der  Oesammtkirche  in  Har- 
monie stehen  müßten,  wenn  die  Kirche  gesund 
sein  solle.  Aber  aueh  wenn  Wiclif  nicht  durch 
den  eben  ausgeschriebenen  Satz  seine  wahre 
Meinung  von  der  Bedingung  für  das  Wohlsein 
der  Kirche  unzweideutig  auf  die  dreifache  Glie- 
derung des  zweiten  jener  drei  Haupttheile,  näm- 
lich der  ecclesia  militans,  bezöge,  würde  die 
Sache  sich  von  selbst  verstehen.  Denn  dafür, 
daft  die  volle  Harmonie  zwischen  der  eccl. 
triumphans,  der  militans  und  der  dormiens 
stattfinde,  ist  von  Gottes  wegen  gesorgt;  diese 
Harmonie  kann  durch  menschliche  Sünde  nicht 
getrübt  werden;  aber  innerhalb  der  eccl.  mili- 
tans, in  der  irdischen  Entwicklung  der  Kirche, 
kann  und  wird  Verwirrung  und  Verderbung 
eintreten.  Nur  von  den  Schäden  dieser  eccl. 
militans  handelt  unser  Tractat  (vgl.  §.  36.  48. 
58.  62.  69.  75.  101). 

Wiclif  beginnt  seine  polemischen  Erörterun- 
gen §.  1 — 35  mit  einer  materia  abstracta,  wie 
er  selbst  sagt,  nämlich  mit  allgemeinen,  mehr 
religionsphilosophisch  als  biblisch-theologisch  ge- 
haltenen principiellen  Sätzen  über  die  Einheit 
und  Reinheit  der  Kirche,  d.  h.  der  eccl.  mili- 
tans, welche  insbesondere  durch  die  quatuor 
sectae  noviter  introductäe,  d.  h.  durch  den  cle- 
rus  cesarens,  die  monachi  (Benedictiner)  die 
canonici  (Augustiner)  und  die  fratres  (erscheint 
Dominikaner  und  Franeiskaner  zu  meinen  §.  12  f.) 
in  Verwirrung  gebracht  wird.  Indem  er  dann 
aber  zu  conereteren  Sachen,  d.  h.  zur  histori- 
schen und  biblisch-theologischen  Würdigung  des 
anticftristlich  ausgearteten  Papstthums,  welches 
ja  i«  Ron*  And  in  Avignon   zwei  einander  ent- 


1062      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  34. 

gegenstehende  Vertreter  hatte,  sich  wendet,  be- 
handelt er  zuerst  (§.  36 — 96)  die  allgemeineren 
Fragen:  ob  Petrus  und  ob  sein  angeblicher 
Nachfolger  als  das  Haupt  der  Kirche  angesehen 
werden  dürfe,  da  ja  nach  der  Schrift  Christus 
dies  Haupt  sei  und  ob  der  Papst  in  Glaubens- 
sachen unfehlbar  sei.  Hierauf  folgt  der  spe- 
ciale Theil  (§.  97-140),  in  welchen  an  12 
einzelnen,  in  drei  Gruppen  geordneten  Punkten 
der  Gegensatz  des  Papstes  gegen  Christus  nach- 
gewiesen wird;  hier  wird  z.  B.  die  Wahrheit, 
die  Armuth,  die  Sanftmuth  Christi  der  päpstli- 
chen Falschheit,  Ueppigkeit,  Herrschsucht  gegen- 
über gestellt.  Charakteristisch  ist  die  feste 
Gründung  der  Wiclifschen  Polemik  in  der  hei- 
ligen Schrift;  hierin  liegt  die  wahrhaft  evange- 
lische, auf  die  Reformation  gleichsam  weissagende 
Art  derselben.  Aber  Wiclif  f  ersteht  auch  andere 
Saiten  anzuschlagen.  Den  auf  Weltherrschaft 
gerichteten  Ansprüchen  des  Papstes  gegenüber 
macht  er  geltend,  daß  die  weltliche  Macht  des 
Papstes  vielmehr  vom  Kaiser  herrühre  (§.  61); 
und  im  Hinblick  auf  Sylvester  hält  er  es  für 
sehr  wahrscheinlich,  daß  er,  gleich  dem  Petrus, 
später  zu  bitterer  Reue  über  sein  Verbrechen 
(de  isto  crimine  §.  65)  gelangt  sei.  In  Beziehung 
auf  sein  eigenes  Vaterland  weist  Wiclif  mit  be- 
sonderer Energie  die  Herrschaft  des  Papstes 
zurück,  damit  der  König  nicht  wie  ein  subregu- 
lus  subditus  an ti christo  erscheine.  Uebrigens 
ist  die  Haltung  der  Polemik  durchaus  maßvoll, 
ohne  Leidenschaftlichkeit  und  frei  von  unziem- 
lichen Ausdrücken.  Genau  genommen  sagt 
Wiclif,  worauf  auch  der  Herausgeber  aufmerk- 
sam macht  (S.  15),  nirgends  geradezu,  daß  der 
Papst  der  Antichrist  sei;  er  stellt  dies  vielmehr 
als  eine  verbreitete  Ansicht  hin  (videtur  multis 


Tannery,  Thalfei  et  ses  emprunts  k  rägypte.  1063 

§.  68.  97)  und  giebt  die  Merkmale  an,  ans  de- 
nen der  Leser  sich  selbst  sein  Urtheil  bilden  mag. 
Hannover.  Dr.  Fr.  Dttsterdieck. 


Paul  Tannery,  Thalfes  et  ses  emprunts 
äl'Egypte.  —  Revue  philosophique,  dirigäe  par 
Ribot    1880  Mars  p.  299—318. 

Die  Freunde  der  Geschichte  der  Philosophie 
erlaube  ich  mir  auf  diese  Arbeit  Tannery's  auf- 
merksam zu  machen,  die  jedem  Kenner  des 
Fachs  sofort  als  eine  originelle  und  hervorra- 
gende Leistung  erscheinen  wird. 

Tannery  geht  von  der  herrschenden  Meinung 
aus,  die  er  als  Vorurtheil  bezeichnet  und  durch 
Citat  aus  Z  e  1 1  e  r  belegt,  als  wenn  die  Griechen 
von  den  Orientalen  bloß  mathematische  und 
astronomische  Kenntnisse,  aber  keine  Anregung 
zur  Philosophie  gewonnen  hätten.  Um  in  die- 
ser schwierigen  Frage  Licht  zu  schaffen,  will 
Tannery  zuerst  die  von  Thaies  wirklich  entlehn- 
ten mathematischen  und  astronomischen  Kennt- 
nisse genau  festzustellen  suchen  und  dann  zwei- 
tens daraus  auf  die  Beeinflussung  der  philoso- 
phischen Ideen  nach  der  Analogie  schließen. 
Und  daß  wir  hier  nicht  mit  einem  schwärmeri- 
schen Versuch,  wie  er  uns  noch  von  den  Tagen 
Röth's  her  in  Erinnerung  ist,  zu  thun  haben, 
das  wird  schon  dadurch  einleuchtend,  daß  Tannery 
mit  ruhiger  Besonnenheit  die  Begründung  der 
Wissenschaft  und  Philosophie  dem  originellen 
Genie  der  Griechen  zuschreibt 

Demgemäß  untersucht  Tannery  zuerst,  wie 
Thaies  den   Eintritt  der  Sonnenfinsterniß  habe 


1064      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  34. 

bestimmen  können.  Die  Annahme  von  Th.  H. 
Martin,  als  sei  diese  ganze  Geschichte  eine 
bloße  Fabel,  genügt  ihm  nicht;  denn  wenn  auch 
Thaies  die  erst  zu  Hipparch's  Zeit  erreichten 
astronomischen  Kenntnisse  und  Instrumente  noch 
nicht  besessen,  so  sagten  doch  die  orientalischen 
Astronomen  ja  schon  Jahrhunderte  vor  Thaies 
die  Finsternisse  voraus,  ohne  die  Bahnelemente 
zu  kennen.  Da  nun  die  Saros-Periode  von  223 
synodischen  Monaten,  nach  welcher  die  Finster- 
nisse fast  genau  in  gleicher  Ordnung  wieder- 
kehren, durch  Eudoxus  von  Gnidus  (nach  S  c  h  i  a- 
parelli)  erst  aus  Aegypten  geholt  wurde,  so 
schließt  Tannery,  daß  Thaies  sie  zwar  noch  nicht 
kannte,  aber  auf  seinen  Reisen  von  einem  Astro- 
nomen eine  gewisse  Reihe  von  vorausbestimmten 
Finsternissen  erfahren  hatte  und  nach  Verifica- 
tion einiger  derselben  es  wagte,  jene  berühmte 
Finsterniß  auf  sein  Gonto  zu  nehmen  und  voraus- 
zusagen. 

Was  nun  zweitens  die  geometrischen  Kennt- 
nisse des  Thaies  betrifft,  so  zeigt  Tannery,  daß 
Eudem  und  Pamphila  und  Plutarch  dem  Thaies 
nur  durch  Conjectur  einige  wichtige  Lehr- 
sätze der  Geometrie  zuschrieben,  indem  sie  still- 
schweigend voraussetzten,  daß  die  wissenschaft- 
lichen Gründe  gewisser  von  ihm  ausgeübten 
Feldmesserkünste  ihm  auch  bekannt  gewesen 
sein  müßten.  Allein  es  sei  durchaus  unerlaubt. 
Jemandem  sofort  auch  die  Principien  seiner 
Gonsequenzen  und  die  Gonsequenzen  seiner  Prin- 
cipien zuzuschreiben;  es  genüge  vollkommen, 
um  die  wirklich  bezeugten  Kenntnisse  des  Tha- 
ies zu  verstehen,  ihn  auf  seinen  Reisen  mit  der 
vorgeschrittenen  Feldmesserkunst  der  Aegypter 
bekannt  werden  zu  lassen.  Ohne  irgend  einen 
Lehrsatz  der  Geometrie  bewiesen  zn  haben,  neck 


Tannery,  Thal&s  et  ses  emprunts  k  l'Egypte.  1065 

beweisen  oder  anwenden  zu  wollen,  hätte  er  die 
Höhe  der  Pyramiden  ans  der  Länge  des  Schat- 
tens bestimmen  können,  wenn  er  nur  die  Stunde 
abwartete,  in  welcher  die  Länge  des  Schattens 
der  Höhe  der  Gegenstände  gleich  ist.  Ebenso 
könne  man,  ohne  die  Aehnlichkeit  der  Dreiecke 
zu  Hülfe  zu  nehmen,  bloß  mit  dem  Winkelmaß 
einen  einfachen  Feldmesserkunstgriff  ausüben, 
um  die  Entfernung  eines  unzugänglichen  Punk- 
tes zu  bestimmen.  Thaies  Kenntnisse  überstie- 
gen daher  nicht  das  Niveau  der  ägyptischen 
Feldmesser,  deren  Praxis  in  Europa  bis  zur  Re- 
naissancezeit geherrscht  habe.  Die  Geometrie 
als  Wissenschaft  habe  dem  Thaies  keine  Lehr- 
sätze zu  verdanken,  sondern  sei  von  Pythagoras 
zuerst  speculativ  angefaßt,  während  Thaies  und 
auch  die  Aegypter,  wie  aus  dem  Papyrus  Rhind 
zu  ersehen,  nur  praktische  Feldmesserkünste 
übten. 

Dieser  Vorstellung  von  Thaies  entspreche 
nun  genau  seine  Weltanschauung.  Denn  die 
aus  den  angeblichen  Schriften  desselben  entlehn- 
ten Behauptungen,  als  habe  er  den  Durchmesser 
der  Sonne  auf  V*  Grad  berechnet  und  den  klei- 
nen Bären  als  Pol  angegeben,  seien  unzuver- 
lässig oder  den  Aegyptern  und  Phöniciern  ab- 
gelernt. Da  Thaies  keine  Ahnung  von  der  Ku- 
gelfgestalt der  Erde  hatte  und  die  Sonne  täglich 
im  Meere  versinken  ließ,  das  Wasser  als  Prin- 
cip,  als  „Noua,.  betrachtete  u.  s.  w.,  so  zeige 
sich,  daß  er  mit  jenen  praktischen  Kenntnissen 
der  Aegypter  auch  ihre  populäre  Weltauffassung 
mit  nach  Milet  gebracht  habe. 

Damit  stimme  auch  die  Annahme,  daß  alles 
voll  von  Göttern  sei,  überein,  die  sich  ohne  tie- 
fere Reflexion  allen  Völkern  nahe  legte  und  bei 
den   Aegyptern   auch   in    ihrer    Medicin   (nach 


1066       Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stttck  34. 

M  a  s  p  e  r  o)  hervortrete.  Erst  Anaximander  habe 
eine  mechanische  Erklärung  der  Welt  versucht 
und  überhaupt  die  originell  griechische  Arbeit 
der  Wissenschaft  begonnen. 

Ich  schätze  an  dieser  Abhandlung  Tanne- 
ry's nicht  bloß  die  feine  und  scharfsinnige 
Durchführung,  sondern  besonders  auch  den  siche- 
ren Blick,  mit  dem  er  sofort  den  Zusammenhang 
der  ägyptischen  und  griechischen  Cultur  er- 
kannte. Da  Tannery  sichtlich  weder  meine 
„Studien  zur  Geschichte  der  Begriffe"  noch  die 
„Neuen  Studien  z.  G.  d.  B.a  kannte,  so  freue 
ich  mich  um  so  mehr,  daß  er  ganz  von  selbst 
mit  meinen  Auffassungen  übereinstimmte  und 
von  sich  aus  einen  neuen  von  der  herrschenden 
Tradition  abweichenden  Weg  einschlug,  der  ohne 
Zweifel  richtig  ist  und  noch  zu  vielen  Aufschlüs- 
sen führen  wird. 

Wenn  es  mir  erlaubt  ist,  zu  dem  Referat 
noch  einige  Bemerkungen  hinzuzufügen,  so  möchte 
ich  gestehen,  daß  ich  mich  im  Ganzen  noch  et- 
was skeptischer  gesinnt  fühle,  als  Tannery  sich 
zeigt.  Ich  lasse  vieles  durchaus  unentschieden 
und  fühle  kein  Bedtirfniß,  früher  Ja  oder  Nein 
zu  sagen,  ehe  die  volle  Notwendigkeit  erkannt 
ist.  So  ist  es  mir  z.  B.  noch  unentschieden,  ob 
Thaies  nicht  einige  Schifferregeln  in  Versen  auf- 
geschrieben hat,  die  dann  später  den  Namen 
„nautische  Astrologie"  erhielten.  Mir  erscheint 
es  auch  zu  kühn,  wie  Tannery  die  Voraussagung 
der  Sonnenfinsterniß  erklärt,  und  ich  möchte 
glauben,  daß  Thaies  mit  dem  Saros  bekannt  ge- 
wesen sei,  wie  auch  Wolf  in  seiner  Geschichte 
der  Astronomie  annimmt.  Daß  solche  Kennt- 
nisse sich  nicht  immer  fortpflanzen  und  daß  ein 
und  dieselbe  Eenntniß  in  verschiedenen  Zeiten 
von  Neuem   aufgebracht,  oder  wenigstens  dem 


Tannery,  Thalfes  et  ses  emprunts  ä  rägypte.    1067 

znm  Verdienst  angerechnet  wird,  der  sie  zuerst 
publiciert  nnd  schulmäßig  tradiert,  das  ist  ja 
aus  der  Geschichte  der  Wissenschaften  auch 
bekannt.  Thaies  war  immerbin  ein  Weiser;  er 
konnte  nicht,  ratblos  und  unwürdig,  ungeprüfte 
Notizen  auf  sein  Risico  übernehmen  und  sich 
dafür  rühmen  lassen. 

Wenn  ich  auch  Tannery  bei  seiner  geschick- 
ten Analyse  der  geometrischen  Kenntnisse  des 
Thaies  im  Ganzen  beipflichte,  so  möchte  ich 
doch  einem  Gefühl,  das  mir  dabei  entsteht,  Aus- 
druck geben.  Wir  brauchen  nämlich  nur  unsre 
Tischler  zu  befragen,  so  werden  wir  erfahren, 
daß  sie  alle  den  Mittelpunkt  eines  Kreises  fin- 
den, die  Länge  der  Peripherie  mit  praktisch  ge- 
nügender Genauigkeit  bestimmen  können  und 
sonst  eine  Menge  technischer  Kenntnisse  be- 
sitzen, aber  gar  nicht  darnach  verlangen,  die 
wissenschaftlichen  Gründe  dafür  einzusehen,  so- 
fern diese  der  Technik  nicht  unmittelbar  nützen. 
Thaies  jedoch  wird  vom  ganzen  Alterthum  ge- 
rade als  Philosoph  gerühmt ;  seine  Beschäftigung 
mit. praktisch  unnützen  Dingen  ist  das  Salz  der 
von  ihm  erzählten  Anekdoten :  ein  solcher  Mann, 
der  nicht  ein  Gewerbe  aus  der  Feldmesserkunst 
machte,  sondern  sein  Leben  der  Beobachtung 
der  Natur  und  dem  Nachdenken  weihte  und 
nicht  wie  Heraklit  in  die  Politik  und  in  die  re- 
ligiösen Aufgaben  verwickelt  war,  ein  solcher 
Mann,  meine  ich,  konnte  auch  nicht  bloß  mit 
Colportage  einiger  ägyptischer  Kunstgriffe  und 
Ansichten  sich  begnügen.  Ich  stelle  ihn  mir 
der  Tradition  gemäß  vor  als  beschäftigt  mit 
Aufstellung  eines  Gnomon;  er  bestimmt  den  Pol, 
die  Mittagszeit,  die  Eintheilung  der  Stunden,  der 
Solstitien  und  Aequinoctien,  er  mißt  den  Durch- 
messer der  Sonne  vielleicht  mit  der  Wasseruhr; 


1068      Gott  gel.  Anz.  1880.  Stück  34. 

er  benutzt  bei  dieser  Praxis  ganz  von  selbst  die 
ihm  durch  Ausprobieren  gültig  gewordenen  Sätze 
von  der  Gleichheit  der  Scheitelwinkel,  der  Gleich- 
heit der  Winkel  an  der  Basis  des  gleichschenk- 
lichten  Dreiecks,  der  Bestimmtheit  des  Dreiecks 
durch  eine  Seite  und  die  beiden  anliegenden 
Winkel  u.  s.  w.  Tannery  hat  gewiß  Kecht,  daß 
Thaies  weit  entfernt  blieb  von  der  speculativen 
Kraft  der  Pythagoreer,  wie  ja  seine  Befangen- 
heit in  der  ägyptisch-theologischen  Weltauffas- 
sung beweist,  aber  dennoch  muß  er  der  Mann 
gewesen  sein,  von  dem  das  große  Genie  des 
Anaximander  seine  Anregung  empfing,  und  es 
kündigt  sich  in  meinem  Gefühle  immer  der 
große  Unterschied  zwischen  einem  Feldmesser 
und  einem  Manne  an,  der  die  Feldmessertechnik 
auf  den  Himmel  anwendete,  wie  dies  von  Tha- 
ies die  ganze  Tradition  einstimmig  behauptet 
So  sehr  ich  daher  auch  Tannery's  scharfsinnige 
Argumentationen  anerkenne,  so  möchte  ich  doch, 
um  das  Gleichgewicht  mit  der  Tradition  wieder- 
zugewinnen, stark  betonen,  daß  wir  uns  den 
Thaies  als  selbständig  praktischen 
Astrologen  zu  denken  haben,  und  Plato's 
Anekdote  von  der  thracischen  Sclavin  und  die 
ökonomische  Anekdote  des  Aristoteles  weisen 
darauf  hin,  wie  sich  gerade  an  Thaies  Namen 
die  Idee  einer  rein  theoretischen  Beschäftigung 
knüpfte.  Lassen  wir  den  Thaies  also  mit  Tan- 
nery auch  nichts  Neues  entdecken,  sondern  bei 
ägyptischer  populärer  Kunst  bleiben,  er  muß 
aber  dennoch  durch  eigene  Praxis  eine 
selbständige  Ueberzeugung  von  der 
Wahrheit  des  Gelernten  gewonnen  haben 
und  dadurch  der  Chorführer  der  originellem  grie- 
chischen Astrologie  und  Philosophie  geworden 
sein.    Ich  glaube  nicht,   daß  Tannery   dies  be- 


} 


Tannery,  Thalfe  et  ses  emprnnts  k  Fßgypte.    1069 

streiten  wollte;  er  hat  aber  vielleicht  versäumt, 
es  genügend  zu  betonen  und  uns  dadurch  mit 
dem  unauslöschlichen  Eindruck  der  Tradition  zu 
versöhnen. 

Zum  Schluß  möchte  ich  noch  ein  paar  ge- 
legentliche Bemerkungen  Tannery's  besprechen. 
Es  freut  mich,  wie  der  scharfsinnige  Verfasser 
die  Schwierigkeit  hervorkehrt,  daß  Anaximenes 
trotz  Anaximander  die  horizontale  Bewegung 
der  Sonne  um  den  Norden  der  Erde  gelehrt 
haben  solle  (p.  313).  Diese  Frage  wird  er  in 
meinen  Studien  zur  Geschichte  der  Begriffe  ge- 
löst finden.  Es  freut  mich  auch,  wie  er  ganz 
als  selbstverständlich  die  axdcfrj  des  Heraklit  in 
der  ägyptischen  Sonnenbarke  wiederfindet  und 
an  die  goldene  Schale  des  Stesichorus  erinnert, 
worin  er  mit  meinen  Ausführungen  in  den  Neuen 
Studien  Band  I  u.  II  zusammentrifft.  Ich  sehe 
darin  ein  Indicium,  daß  diese  Gedankengänge 
natürlich  und  richtig  sind.  Wenn  er  endlich 
p.  318  die  Seelenwanderungslehre  den  Aegyptern 
abspricht,  so  scheint  mir  damit  ein  neues  sehr 
interessantes  Problem  aufgestellt  zu  sein.  Tan- 
nery erinnert  an  die  Geten  und  Cimmerier  als 
Quelle  dieses  Mythus;  wir  werden  aber  wohl 
nirgends  als  bei  den  Indern  eine  so  strenge 
Dogmatik  dieser  Lehre  und  einen  so  massen- 
haften Gebrauch  derselben  finden.  Trotzdem  ist 
die  älteste  Indische  Litteratur  von  diesem  gan- 
zen Gedankenkreise  vollständig  frei.  Dagegen 
ist  der  uralte  ägyptische  Mythus  vonAnegu  und 
Batau  eine  Seelenwanderungsgeschichte  mär- 
chenhafter Art  und  jeder  verstorbene  Aegypter, 
dessen  Mumie  im  Grabe  sicher  ruhte,  konnte 
auch  bis  zur  Wiedervereinigung  mit  seinem  Kör- 
per beliebig  in  allerlei  Gestalten  erscheinen. 
Auch   das   ganze    Verhältniß   der   Götter    zum 


1070       Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  34. 

Pharao  und  zu  den  Menschen  und  Thieren  über- 
haupt nach  der  ägyptischen  Theologie  scheint 
es  mir  nahe  zu  legen,  daß,  wenn  sich  auch  noch 
keine  Herodotische  Seelenwanderungsdogmatik 
in  ägyptischen  Monumenten  gefunden  hat,  die 
Grundlage  solcher  Vorstellungen  doch  in  Aegyp- 
ten  gegeben  war.  Da  Tannery  nun  die  Metem- 
psychose  als  ägyptische  Vorstellung  nicht  an- 
erkennen will,  so  sind  wir  ihm  für  eine  wich- 
tige Frage  großen  Dank  schuldig;  es  kann  aber 
bisher  weder  Für  noch  Gegen  mit  Entschieden- 
heit geurtheilt  werden.  Das  Für  hat  die  grie- 
chische Tradition  auf  seiner  Seite.  Für  meine 
Arbeit  über  Heraklit  bleibt  diese  Frage  ohne 
Wichtigkeit,  da  Heraklit  das  Verhältniß  der 
Götter  und  Menschen  und  die  Schicksale  der 
Seele  nur  soweit  berührt,  als  sie  auch  aus  dem 
Todtenbuche  bekannt  sind. 

Ich  wünsche  der  Abhandlung  von  Tannery 
die  gebührende  Beachtung  von  Seiten  der  Deut- 
schen Forscher  und  begrüße  sie  als  den  ersten 
neuen  Schritt,  der  seit  meinem  Heraklit  und 
ganz  unabhängig  von  demselben  in  der  Auf- 
hellung der  Zusammenhänge  griechischer  und 
ägyptischer  Gultur  gethan  ist. 

Dorpat.  G.  Teichmüller. 


Theorie  elementaire  des  fonctions 
elliptiques,  par  H.  Laurent.  Paris.  Gau- 
thier-Villars.    1880.     184  pp.    gr.  8°. 

Die  Theorie  der  elliptischen  Functionen  des 
Hrn.  Laurent  ist  eine  Zusammenstellung  von 
Aufsätzen  aus  den  Nouvelles  Annales  de  Mathe- 


Laurent,  Fonctions  elliptiques.         1071 

matiques,  2.  eerie  t.  XVI,  XVII  and  XVIII,  aas 
den  Jahren  1877,  1878  und  1879.  Der  Zweck 
der  Schrift  ist  wesentlich  eine  Ableitung  und 
Uebersicht  der  fundamentalen  Gleichungen  aus 
der  Theorie  der  elliptischen  Functionen  zu  ge- 
ben, soweit  diese  Resultate  bei  Anwendungen 
in  der  Geometrie  und  Mechanik  in  Betracht 
kommen.  Sieht  man  von  einigen  Bemerkungen 
über  die  Transformation  der  elliptischen  Func- 
tionen ab,  so  behandelt  die  Schrift  des  Hrn. 
Laurent  das  Gebiet  der  elliptischen  Functio- 
nen bis  zu  den  Transformationen  in  einer  sehr 
gedrängten  Weise;  die  Schrift  soll  als  Einlei- 
tung zum  Studium  größerer  Werke  dienen,  viel- 
leicht eignet  sie  sich  mehr  als  Kepetitorium  der 
wichtigsten  Sätze  aus  der  Lehre  der  doppelt 
periodischen  Functionen. 

Die  ersten  40  pp.  enthalten  einen  kurzen 
Ueberblick  über  die  Lehre  der  Functionen  einer 
complexen  Variabein.  Auf  die  Definition  der 
Function  einer  complexen  Variabein  folgt  un- 
mittelbar das  Integral  mit  imaginären  Grenzen 
in  Verbindung  mit  dem  Theorem  von  Cauchy. 
Hieran  schließt  sich  die  Betrachtung  des  Falls, 
wenn  die  Function  unter  dem  Integralzeichen 
nicht  immer  endlich  bleibt,  worauf  eine  kurze 
Darstellung  der  Besiduenrechnung  folgt.  Nach 
Anwendung  der  erhaltenen  Resultate  auf  einige 
bestimmte  Integrale  werden  Betrachtungen  über 
das  Verschwinden  und  Unendlichwerden  von 
Functionen  gegeben.  In  gedrängter  Darstellung 
folgen:  Entwicklung  einer  Function  nach  dem 
Satze  von  Maclaurin,  Entwicklung  einer  pe- 
riodischen Function  nach  Potenzen  einer  imagi- 
nären Exponentialgröße ,  fundamentale  Sätze 
über  algebraische  Functionen  nach  Puiseux, 
nebst  einigen  Anwendungen.     Auf  pag.  40 — 48 


1072       Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  34, 

sind  die  Resultate  von  Legendre  betreffend 
die  Normalform  eines  elliptischen  Integrals  er- 
ster Gattung  und  die  drei  Gattungen  elliptischer 
Integrale  mitgetheilt.  Nach  Hinweis  auf  die 
Umkehrung  der  Integrale  wird  die  doppelte  Pe- 
riodicität  der  inversen  Functionen  untersucht. 
Die  Normalform  des  einfachsten  elliptischen  In- 
tegrals führt  auf  sin  am  x  nebst  einigen  ein- 
fachen Eigenschaften  dieser  Function.  Der 
nächste  Abschnitt  enthält  Untersuchungen  über 
die  doppelt  periodischen  Functionen,  mit  beson- 
derer Rücksicht  auf  Jacobi's  berühmte  Ab- 
handlung: „De  functionibus  duarum  variabilium 
quadrupliciter  periodicis,  quibus  theoria  transcen- 
dentium  Abelianarum  innititur"  (Crelle's  Journal 
t.  XIII).  Trotzdem  aber  ist  weder  die  Abhandlung 
citiertnoch  überhaupt  Jacob i  genannt,  während 
doch  die  Aufstellung  des  Satzes,  daß  eine  Func- 
tion einer  Variabein  nicht  mehr  wie  zwei  Pe- 
rioden haben  kann,  welche  gleichzeitig  weder 
reell  noch  rein  imaginär  sein  können,  eine  her- 
vorragende mathematische  Leistung  Jacob  i 's 
ist.  Auf  die  zuerst  ebenfalls  von  Jacob  i  ge- 
machte Bemerkung,  daß  der  Werth  eines  unend- 
lichen Products  von  der  Anordnung  seiner  Fac- 
toren  abhängig  ist,  wird  sin  am  x  als  Quotient 
zweier  unendlichen  Producte  dargestellt,  mit 
dem  Bemerken,  das  erhaltene  Resultat  könne, 
in  Folge  der  Herleitung,  nur  als  sehr  wahr- 
scheinlich angesehen  werden.  Diese  Aufstellung 
scheint  auf  einer  doppelten  Absicht  zu  basiren, 
erstens,  damit  der  Leser  endlich  einen  analyti- 
schen Ausdruck  für  sin  am  x  kennen  lernt, 
zweitens,  um  unter  dem  nicht  ganz  geeigneten 
Namen :  Hülfsfunctionen  die  Theta-Functionen 
Jacob  i's  einzuführen.  Ohne  weitere  Zuziehung 
der  Producte  werden  die  Theta-Functionen  de- 


r 

I  Laurent,  Fonctious  elliptiques.        1073 

I  finiert  und  nach  den  Principien  der  allgemeinen 
Functionentheorie  in  Form  von  Reihen  darge- 
stellt. Die  Fondamentaleigenschaften  der  vier 
Theta-Functionen,  Zusammenhang  und  Verschwin- 
den derselben  sind  Gegenstand  einer  ziemlich 
vollständigen  Darstellung.  Unter  dem  Namen 
einer  Formel  von  Gauchy  ist  pag.  82  die 
Entwicklung  von 

(1  +  g„)(i  +  ar-i)(i  +  ^)(l  +  gijri) 
X  (1  +  a**1*)  (1  +  g*"*1  #-») 

ausgeführt  und  später  auf  m  =  oo  ausgedehnt, 
ein  nicht  ganz  unbedenkliches  Verfahren.  Der 
Vergleich  der  erhaltenen  Reihenentwicklung  mit 
einer  der  Theta-Reihen  führt  p.  85  zur  Darstel- 
lung der  vier  Theta-Functionen  in  Form  unend- 
licher Producte.  Aus  zwei  Bedingungen,  wel- 
chen die  Quadrate  der  Theta-Functionen  ge- 
nügen schließt  der  Hr.  Verfasser,  daß  sich  zwei 
dieser  Quadrate  linear  durch  die  beiden  andern 
ausdrücken  lassen;  einfacher  läßt  sich  sagen, 
daß  die  Quotienten  zweier  Quadrate  sich  linear 
durch  einen  bestimmten  Quotienten  ausdrücken 
lassen.  Die  Betrachtung  der  Differentialquotien- 
ten von  Theta-Functionen  liefert  eine  Differen- 
tialgleichung, deren  Betrachtung  die  elliptischen 
Functionen  zur  Folge  hat.  Auch  dieser  Weg 
der  Begründung  der  elliptischen  Functionen  fin- 
det sich  p.  86—89  eingeschlagen,  woran  sich 
einige  Tableaux  der  wesentlichsten  Eigenschaf- 
ten der  drei  elliptischen  Functionen  reihn.  Auf 
p.  93  wird  das  Product 

H(x+a)H{x  —  a) 

durch  Theta-Functionen   mit   den  einzelnen  Ar- 

68 


1074      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  34. 

gumenten  x  und  a  dargestellt,  dann  dem  Leser 
überlassen  ein  Tableau  von  Formeln,  betreffend 
Producta  von  Theta-Functionen  mit  den  Argu- 
menten x  +  a  und  x  —  a,  selbst  zu  beweisen, 
was  wohl  bei  einigen  derselben  nichts  weniger 
wie  einfach  ausfallen  möchte.  Wird  die  Lehre 
der  elliptischen  Functionen  auf  diejenige  der 
Theta-Functionen  begründet,  so  scheint  es  in 
erster  Linie  absolut  nothwendig  das  berühmte 
Theorem  Jacobi's,  das  sogenannte  Multipü- 
cationstheorem  der  Theta-Functionen  aufzustellen. 
Hierdurch  läßt  sich  eine  wiederholte  Anwendung 
einer  Reihe  von  Sätzen  vermeiden.  Die  Theta- 
Functionen  mit  zusammengesetzten  Argumenten 
geben,  wenn  auch  nicht  grade  auf  sehr  natür- 
lichem Wege,  das  Additionstheorem  der  ellipti- 
schen Functionen.  Diese  Herleitung  ist  p.  95 
an  einem  Beispiel  durchgeführt.  Da  wohl 
schwerlich  auf  diese  Weise  das  Additionstheo 
rem  dem  Leser  sich  einprägen  kann,  so  fügt 
der  Hr.  Verfasser  das  Additionstheorem  der  el- 
liptischen Integrale  erster  Gattung  nach  La- 
grange bei.  Referent  würde  unter  allen  Um- 
ständen die  von  Euler  gegebene  Deduction 
vorziehn,  welche  die  Erweiterung  eines  Verfah- 
rens ist,  dessen  sich  zuerst  Fagnano  zur  Un- 
tersuchung gewisser  Integrale  bedient  bat.  Auf 
die  Additionsformeln  der  elliptischen  Functionen 
folgen  allgemeine  Betrachtungen  über  die  dop- 
pelt periodischen  Functionen  nebst  Anwendung 
auf  die  elliptischen  Integrale  zweiter  Gattung 
und  Herleitung  der  Function  Z(x)  von  Jacobi. 
Auf  pag.  112  werden  diese  Betrachtungen  unter* 
brochen,  um  darzuthun,  wie  sich  das  elliptische 
Integral  dritter  Gattung  einfacher  auf  andere 
Weise  durch  Theta-Functionen  ausführen  läßt. 
Die   Multiplication   der   elliptischen  Functionen 


r 


Laurent,  Fonctions  elliptiques.        1075 


findet  sieh  kurz  berührt,  etwas  ausführlicher 
sind  die  Reihenentwicklungen  von  sin  am  x, 
cos  am  x  und  4  am  x  behandelt,  nebst  einigen 
Consequenzen  aus  denselben.  Die  Bemerkungen 
über  die  allgemeine  Transformation  der  ellipti- 
schen Functionen  können  nur  den  Anspruch  von 
Andeutungen  machen.  Geometrisch  ist  die  Trans- 
formation von  Landen  dargestellt,  mit  Be- 
ziehung auf  die  Berechnung  elliptischer  Integrale. 
Hierauf  folgen  einige  Anwendungen  der  ellipti- 
schen Functionen  auf  elliptische  Integrale,  end- 
lich schließt  eine  Gesammtübersicht  der  gewon- 
nenen Formeln  p.  138 — 141  den  theoretischen 
Theil  der  Schrift.  Im  Verhältniß  zu  dem  ge- 
ringen Umfang  des  Werkes  nehmen  die  Anwen- 
dungen einen  ziemlichen  Theil  ein,  dieselben  be- 
ziehn  sich  auf  Geometrie  und  Mechanik.  Zu- 
erst werden  Ellipsen-  und  Hyperbelbogen  unter- 
sucht, nebst  Beweis  des  Satzes  von  Landen, 
daß  sich  ein  Hyperbelbogen  durch  zwei  Ellip- 
senbogen  ausdrücken  läßt.  Es  folgt  dann  die 
geometrische  Herleitung  des  Additionstheorems 
der  elliptischen  Integrale  erster  Gattung  von 
Lagrange  mit  Hülfe  eines  sphärischen  Drei- 
ecks. Das  Additionstheorem  wird  auf  die 
Ertimmungslinien  des  einschaligen  Hyperboloids 
kurz  angewandt,  eine  interessantere  Anwendung 
bietet  eine  Erwähnung  der  schönen  Anwendung 
der  elliptischen  Transcendenten  auf  ein  Problem 
der  Elementargeometrie  von  Jacobi  (Crelle's 
Journ.  t.  III  p.  376—389),  nebst  Beweis  eines 
Satzes  von  Poucelet.  Der  Beweis  des  Ad- 
ditionstheorems der  elliptischen  Integrale  zwei- 
ter Gattung,  in  der  von  Legendre  gegebenen 
Form,  findet  eine  Anwendung  auf  den  Satz  von 
Fagnano.    Aus  dem  VIII.  Bande  des    „Jour- 

68* 


1076      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  34. 

nal  de  Mathematiques"  ist  nach  dem  Vorgange 
von  Hrn.  S  er  ret  die  Gleichung  einer  Curve 
entnommen,  deren  Bogen  auf  elliptische  Inte- 
grale erster  Gattung  führen.  In  Beziehung  auf 
Quadratur  bieten  die  Gurven  dritten  Grades  eine 
Anwendung  der  elliptischen  Integrale.  Die  bei- 
den Abhandlungen  von  Clebsch:  „lieber  die- 
jenigen Gurven,  deren  Goordinaten  rationale 
Functionen  eines  Parameters  sind"  (Journal  für 
Mathematik,  t.  64  p.  43 — 65)  und  „Ueber  diejeni- 
gen Gurven,  deren  Goordinaten  sich  als  elliptische 
Functionen  eines  Parameters  darstellen  lassen" 
(ibid.  p.  210-270)  sind  auf  pag.  59-68  ver- 
wertet. Einige  Bemerkungen  über  die  elasti- 
sche Gurve  schließen  die  geometrischen  Anwen- 
dungen der  elliptischen  Functionen.  Aus  der 
Mechanik  sind  zwei  Beispiele  behandelt:  die 
Drehung  eines  Körpers  um  einen  Punkt  und  das 
conische  Pendel. 

Die  vorstehenden  Angaben  lassen  ersehen, 
daß  der  Inhalt  der  Schrift  ein  ziemlich  reich- 
haltiger ist,  die  sehr  knappe  Form  der  Darstel- 
lung gestattet  eine  rasche  Uebersicht  des  behan- 
delten Gegenstandes,  was  wohl  der  eigentliche 
Zweck  der  aus  den  „Annales  de  Mathematiques" 
gesammelten  Aufsätze  ist. 

Bei  dieser  Gelegenheit  möge  noch  eines  an- 
dern, größeren  Werks  über  elliptische  Functio- 
nen gedacht  werden,  über  welches  Referent  in 
den  Gott.  gel.  Anz.  1877  p.  248—256  berichtet 
hat.  Von  dem  englischen  Werke  „An  elemen- 
tary Treatise  on  Elliptic  Functions.  By  Arthur 
Cay  ley.  Cambridge  1876"  ist  von  dem  aus- 
gezeichneten Mathematiker  Hrn.  F.  Brioschi 
eine  italienische  Uebersetzung  erschienen  unter 
dem  Titel: 


Cayley,  Fnnzioni  ellittiche.  1077 

Trattato  elementare  delle  fnnzioni 
ellittiche,  di  Artnro  Cayley.  Tradnzione 
rivednta  e  accresciuta  d'alcune  appendici  da 
F.  Brioschi.  Milano  (Hoepli)  1880.  XV  nnd 
450  pp.    gr.  8°. 

Zn  dem  Originalwerke  hat  der  Uebersetzer 
82  pp.  Zusätze  beigefügt,  welche  eine  werthvolle 
Ergänzung  der  Arbeit  des  Hrn.  Cayley  bil- 
den. Der  erste  Appendix  bezieht  sich  auf  die 
Multiplication  der  elliptischen  Functionen  und 
hat  zum  Gegenstande  den  Beweis  des  Satzes 
von  Jacob i,  daß  Zähler  und  Nenner  von 
sin  am  nu  sich  mittelst  der  Differentialquotienten 
zweier  irrationalen  Quantitäten  ausdrücken  las- 
sen (Crelle's  Journal  t.  IV.  p.  187).  Während 
Jacobi  die  Fälle  n  =  2,  %  4,  5  aufstellt,  ist 
von  Hrn.  Brioschi  durch  eine  geschickte  An- 
wendung des  Theorems  von  Abel  die  allge- 
meine Formel  bewiesen.  Der  zweite  Appendix 
bezieht  sich  auf  die  Transformation.  Der  dritte 
Appendix,  welcher  allein  69  pp.  umfaßt,  beban- 
delt in  fünf  Capiteln  die  Lösung  der  Gleichun- 
gen fünften  Grades.  Diese  umfangreiche  Ab- 
handlung ist,  mit  geringen  Modificationen,  die 
italienische  Uebersetzung  der  Abhandlung  von 
Brioschi:  Die  Auflösung  der  Gleichungen 
vom  fünften  Grade  (Mathematische  Annalen. 
1878.  t.  XIII.  p.  109-160).  Bekanntlich  ent- 
hält diese  Abhandlung  eine  Zusammenstellung 
der  Untersuchungen  des  Hrn.  Brioschi  über 
die  Lösung  der  Gleichungen  fünften  Grades, 
welche  Untersuchungen  sich  in  verschiedenen 
italienischen  Publicationen  zerstreut  finden.  Wem 
es  nur  darum  zu  thun  ist  die  gehaltreichen  Zu- 
sätze des  Hrn.  Brioschi  kennen  zu  lernen, 
findet  dieselben,  bis  auf  die  beiden  ersten  kur- 


1078       Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  34. 

zen  Appendices,  in  der  oben  erwähnten  Abhand- 
lang vollständig  vor. 

*  Enneper. 


Taubstummheit  und  Taubstummen- 
bildung. Nach  den  vorhandenen  Quellen  so- 
wie nach  eigenen  Beobachtungen  und  Erfahrun- 
gen bearbeitet  von  Dr.  Arthur  Hartmann, 
Ohrenarzt  in  Berlin.  Mit  19  Tabellen.  Stutt- 
gart, Ferdinand  Enke;  1880.    212  S.    8°. 

Wie  Verfasser  im  Vorworte  angiebt,  enthält 
die  Monographie  hauptsächlich  medicinische  und 
statistische  Fragen;  über  die  letzteren  bat  er 
Aufnahmen  über  größere  Bezirke,  nicht  aus  Taub- 
stummenanstalten zu  Rathe  gezogen.  Als  besten 
Weg  zu  einer  Ermittelung  der  Statistik  und  der 
socialen  Verhältnisse  der  Taubstummen  wird  eine 
allgemeine  Erhebung  bei  Gelegenheit  der  näch- 
sten Volkszählung  im  Deutschen  Reiche  em- 
pfohlen, wie  sie  leider  von  Seiten  der  deutschen 
Gentralstellen  für  Statistik  abgelehnt  worden  ist 

Im  I.  Gapitel,  „über  die  Taubstummheit  im 
Allgemeinen",  erwähnt  Verf.  die  Ansichten  der 
Alten,  denen  es  bereits  bekannt  war,  daß  Taube 
zugleich  stumm  geboren  werden,  und  die  That- 
sache,  daß  es  erst  am  Ende  des  17.  Jahrhunderts 
durch  Ammon  bekannt  wurde,  daß  die  Stumm- 
heit nicht  auf  Fehlern  der  Sprachwerkzeuge, 
sondern  auf  dem  Mangel  des  Gehöres  beruhe. 
Auch  wird  der  große  Einfluß  des  Gehöres  auf 
die  Sprache  und  der  Sprache  auf  das  Denken 
und  die  Bildung  von  Begriffen  gewürdigt. 

Gap.  II.  über  die  „besondren  Eigenschaften 
der  Taubstummen",  enthält  zunächst  eine  Wider- 


Hartmann,  Taubstummheit  u.Taubstummenb.  1079 

legung  der  früher  and  auch  jetzt  noch  zuweilen 
den  Taubstummen  angedichteten  spezifischen 
körperlichen  Gebrechen,  speziell  einer  schlechten 
Entwicklung  der  Lungen ;  jene  Resultate,  welche 
solchen  Anschauungen  zu  Grunde  liegen,  be- 
trachtet Verf.  als  unwahrscheinlich  oder  durch 
subjective  Voraussetzungen  beeinflußt,  er  glaubt 
vielmehr,  daß  das  häufige  Vorkommen  von  Phthise 
dem  Umstände  zuzuschreiben  sei,  daß  die  Taub- 
stummen im  Allgemeinen  in  den  ungünstigsten 
Verhältnissen  leben.  Auch  bezüglich  ihrer  Cha- 
raktereigenschaften nimmt  Verf.  die  Taubstum- 
men in  Schutz;  den  gegentheiligen,  auf  Täu- 
schung beruhenden  Angaben  gegenüber  führt  er 
die  Bescheidenheit,  Dankbarkeit  und  Anhäng- 
lichkeit an,  welche  den  meisten  Taubstummen 
innewohnen;  das  nicht  abzuleugnende  Vorkom- 
men von  Fehlern  glaubt  Verf.  zum  großen  Theile 
einer  mangelhaften  Erziehung  zuschreiben  zu 
müssen,  zumal  viele  von  den  üblen  Angewohn- 
heiten verschwinden,  wenn  die  Gebrechlichen  in 
günstigere  Verhältnisse,  unter  Schulaufsicbt  kom- 
men. Bezüglich  der  Intelligenz  stehe  der  Taub- 
stumme zwar  auf  einer  tieferen  Stufe  als  der 
Vollsinnige,  doch  sei  der  Unterschied  bei  wei- 
tem nicht  so  groß,  wie  er  nicht  selten  von 
Taubstummenlehrern  im  Interesse  ihrer  Anstalt 
hingestellt  werde.  Psychische  Störungen  treten 
wohl  hie  und  da  auf,  aber  nicht  in  Folge  des 
Gehörmangels,  sondern  in  Folge  von  Hirnkrank- 
heiten. Als  eine  besondre  Eigenschaft  der 
Taubstummen  bezeichnet  Verf.  die  vorzügliche 
Entwicklung  der  übrigen  Sinnesorgane,  die  sich 
namentlich  beim  Gesichtssinne  geltend  mache. 
Gerade  das  vicariierende  Eintreten  des  Auges 
sei  für  das  von  den  Taubstummen  oft  mit  er- 


1080      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  34. 

staiinlicher  Fertigkeit  geübte  Ablesen  der  Worte 
vom  Munde  des  Sprechenden  äußerst  wichtig. 

Manches  von  dem  in  diesem  Capitel  enthal- 
tenen mag  vielleicht  etwas  zu  viel  zu  Gunsten 
der  Taubstummen  ausgefallen  sein,  doch  ist  wohl 
darin  dem  Verfasser  unbedingt  zuzustimmen, 
wenn  er  die  so  oft  unschuldig  verurtheilten 
Taubstummen  in  Schutz  nimmt  und  offenbare 
Irrthümer  und  Märchen  zu  beseitigen  trachtet 

Im  Cap.  III.  wird  „die  Erkenntnis  der 
Taubstummheit,  ihr  Verhalten  zur  Idiotie  und 
Aphasie"  besprochen.  Der  großen  Schwierigkeit 
einer  Gehörprüfung  bei  kleinen  Kindern  wegen 
wird,  wie  Verf.  betont,  die  Taubheit  in  der  Re- 
gel nicht  vor  dem  zweiten  Lebensjahre  bemerkt, 
wenn  das  Kind  nicht  zu  sprechen  anfangt;  je 
älter  das  Kind,  desto  leichter  sei  die  Diagnose. 
Ob  gleichzeitig  Blödsinn  vorbanden,  könne  oft 
erst  nach  dem  Beginne  der  Bildungsversuche 
festgestellt  werden,  doch  sei  die  Thatsache,  daß 
Idioten  besonders  häufig  noch  andre  Krankhei- 
ten aufweisen,  für  die  Differentialdiagnose  zu 
verwerthen. 

Als  Merkmale  der  Idiotie  werden  außerdem 
Gleichgiltigkeit,  Schlaffheit,  Unreinlichkeit  und 
mangelnder  Nachahmungstrieb  angeführt ,  Er- 
scheinungen, wie  sie  Referent  ebenso  wohl  bei 
Taubstummen  wie  bei  Blödsinnigen  zu  beobach- 
ten Gelegenheit  gehabt  hat. 

Daß  Stummheit  in  seltenen  Fällen  wirklich 
durch  Störungen  in  den  Sprachwerkzeugen  be- 
dingt ist,  illustriert  Verf.  durch  einen  Fall  von 
Parese  der  Zungenmuskeln  bei  einem  Erwach- 
senen in  Folge  eines  Sturzes  bei  normalem  Ge- 
höre und  intacten  geistigen  Fähigkeiten;  auch 
zählt  Verf.  einige  Fälle  von  Aphasie  mit  psy- 
chischen  Defecten    aber   normalem  Gehöre  aus 


Hartmann,  Taubstummheit  u.Taubstummenb.  1081 

der  eignen  Beobachtung  und  ans  der  Litteratnr 
auf.  Die  in  den  früheren  Statistiken  so  häufig 
vertretenen  Fälle  von  Stummheit  ohne  Taubheit 
hält  Hartmann  größtenteils  für  Fälle  von 
Idiotie. 

Cap.  IV.  enthält  die  „Taubstummenstatistik", 
bei  welcher  nach  des  Verf.  Ansicht  zu  beachten 
ist,  daß  die  bei  Volkszählungen  gewonnenen 
Werthe  in  der  Kegel  nur  ganz  annähernde,  zu 
geringe  Werthe  ergeben.  Auch  sei  es  von  Wich- 
tigkeit, die  erworbene  Taubstummheit  von  der 
angeborenen  zu  trennen,  zu  welchem  Behufe 
Verf.  für  neben  den  allgemeinen  Erhebungen 
einhergehende  Sondererhebungen  von  Seiten  der 
Aerzte,  wie  sie  für  die  Regierungsbezirke  Mag- 
deburg und  Cöln  angestellt  worden  sind,  plaidiert. 
Es  werden  die  zu  solchen  Zwecken  geeigneten 
Fragen  in  einem  vollständigen,  aber  möglichst 
kurzen  Fragebogen  zusammengestellt. 

Im  Cap.  V.  werden  die  „Ergebnisse  der 
Taubstummen  Statistik"  besprochen ;  dieselben 
zeigen,  daß  die  Verbreitung  der  Taubstummheit 
in  verschiedenen  Ländern  sehr  verschieden  ist; 
am  wenigsten  verbreitet  ist  das  Gebrechen  in  den 
Niederlanden  (auf  10,000  Einwohner  3,4  Taub- 
stumme), am  meisten  in  der  Schweiz  (10,000 :  24,5). 
Das  Gesammtresultat  ist,  daß  unter  246  Millio- 
nen Menschen  191,000  Taubstumme,  (also  durch- 
schnittlich 7,77  auf  10,000)  kommen.  In  Ge- 
birgsländern  ist  die  Krankheit  weit  häufiger  als 
in  Flachländern. 

Bezüglich  des  Geschlechtes  der  Taubstum- 
men ergiebt  die  Statistik,  daß  das  männliche 
wesentlich  mehr  als  das  weibliche  (In  Preußen 
1871  100:85,1)  zur  Taubstummheit  neigt.  Auf- 
fallend ist,  daß  Verf.  bei  der  Statistik  die  ver- 
schiedenen    Confessionen     berücksichtigt, 


1082      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  34. 

denn,  wenn  unzweifelhaft  die  Joden  verhältnis- 
mäßig viele  Taubstummen  aufzuweisen  haben, 
so  liegt  das  doch  nicht  an  ihrem  mosaischen 
Glauben,  sondern  an  ihrem  Stamme,  ein  Um- 
stand, welcher  bei  der  Judenfrage  überhaupt 
nur  allzuoft  unbeachtet  bleibt.  Hinsichtlich  der 
Aetiologie  der  Taubstummheit  bei  den  Juden 
möchte  Referent  viel  weniger  die  Ehen  zwischen 
Blutsverwandten  als  die,  zum  Theil  durch  Un- 
sauberkeit  erzeugte,  Neigung  der  Juden  zu 
Krankheiten,  namentlich  der  Augen  und  Ohren, 
verantwortlich  machen. 

Cap.  VI.  enthält  „die  Ergebnisse  der  spe- 
ziellen Statistik  bezüglich  der  angeborenen 
Taubstummheit".  Hiernach  ergeben  ältere  An- 
gaben für  das  Verhältniß  des  Taubgeborenen 
und  Taubgewordenen  den  Bruch  2  : 1,  während 
neuere  Zusammenstellungen  das  Gegentheil  be- 
weisen; Verf.  meint  daher,  daß  wohl  das  rich- 
tige Verhältnis  in  der  Mitte  liege,  d.  h.  daß 
die  Hälfte  der  Taubstummen  ihr  Gebrechen  von 
Geburt  an,  die  andre  Hälfte  erworben  habe. 
Da  es  übrigens  oft  sehr  schwierig  ist,  zwischen 
der  angeborenen  und  erworbenen  Taubstumm- 
heit zu  unterscheiden,  so  werden  die  Statistiken 
in  dieser  Richtung  stets  sehr  mangelhaft  aus- 
fallen. 

Als  Ursachen  der  angeborenen  Taubstumm- 
heit führt  Verf.  folgende  an: 

1)  Vererbung,  sowohl  directe  von  den  Eltern 
auf  die  Kinder,  als  indirecte  von  Verwandten 
auf  Verwandte.  Hartmann  hat  zwei  Elternpaare 
mit  angeborener  Taubstummheit  beobachtet, 
dem  einen  entsprossen  4  taubstumme  Mädchen 
(die  Mutter  der  Frau  war  auch  taubstumm)  und 
ein  vollsinniger  Knabe;  dem  andren  3  taub- 
stumme Kinder.    Die  Zusammenstellung  aus  der 


Hartmann,  Taubstummheit  u.  Taubst  ummenb.  1083 

Litteratur  ergiebt  bei  9  Ehen  zwischen  2  Taub- 
stummen ausschließlich  14  vollsinnige  Kinder, 
bei  206  zwischen  Taubstummen  und  Vollsinni- 
gen  geschlossenen  Ehen  377  vollsinnige  und  nur 
6  taubstumme  Kinder,  darunter  3  von  einem 
Elternpaare. 

Einen  interessanten,  von  Moos  beobachteten 
Fall  von  indirecter  Vererbung  theilt  Verf.  aus- 
führlich mit;  seinen  statistischen  Untersuchun- 
gen zu  Folge  ist  die  indirecte  Vererbung  rela- 
tiv ziemlich  häufig. 

Auch  bei  dem  mehrfachen  Vorkommen  der 
angeborenen  Taubstummheit  bei  Geschwistern 
nimmt  H.  eine  von  den  Eltern  vererbte  Anlage 
an ;  die  Literatur  ergiebt,  daß  von  einem  nor- 
malen Elternpaare  einmal  sogar  8  taubstumme 
Kinder  abstammten. 

2)  Blutsverwandtschaft  der  Eltern.  Nach 
Bondin's  Berechnung  sollen  28,35%  aller  Fälle 
von  Taubstummheit  durch  Blutsverwandtschaft 
entstanden  sein;  doch  sind,  wie  Verf.  richtig 
betont,  in  dieser  Hinsicht  die  Statistiken  beson- 
ders unzuverlässig,  weil  sie  ganz  widerspre- 
chende Resultate  ergeben. 

3)  Ungünstige  sociale  Verhältnisse,  zu  wel- 
chen namentlich  Feuchtigkeit  der  Luft,  Woh- 
nungen in  armen  und  übervölkerten  Stadtthei- 
len  und  gewisse  Beschäftigungen  zugezählt 
werden. 

4)  Sonstige  Ursachen,  nämlich  Krankheiten 
der  Eltern;  Verf.  hält  die  Angaben  über  diesen 
Punkt  für  sehr  unzureichend,  und  insbesondre 
glaubt  er,  daß  die  Trunksucht  des  Vaters  oder 
das  Verhalten  der  Mutter  während  der  Schwan- 
gerschaft, denen  häufig  eine  große  Bedeutung 
beigemessen  wird,  nur  selten  für  das  Gebrechen 
verantwortlich  gemacht  werden  könne. 


1084      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  34. 

Cap.  VII.  enthält  „die  Ergebnisse  der  spe- 
ziellen Statistik  bezüglich  der  erworbenen  Taub- 
stummheit". Die  erworbene  Taubstummheit  ent- 
steht durch  Krankheiten,  welche  die  Gehör- 
werkzeuge zerstören,  seien  es  locale  Ohrkrank- 
heiten, Hirnkrankheiten  oder  Allgemeinkrank- 
heiten. Das  Hauptcontingent  sollen  die  Hirn- 
krankheiten, nächst  diesen  Typhus  und  Schar- 
lach stellen.  Wie  jedoch  Verf.  richtig  hervor- 
hebt, sind  die  Angaben  über  die  ursächliche 
Krankheit  sehr  unzuverlässig,  weil  sie  in  der 
Regel  von  den  Eltern  ausgehen,  denen  der 
Name  und  Charakter  des  Leidens  oft  unbekannt 
ist.  Besonders  häufig  verursacht  Meningitis 
cerebrospinalis  Taubstummheit,  und,  wie  Verf. 
glaubt,  handelt  es  sich  hier  in  den  meisten  Fäl- 
len um  Entzündungsprocesse  im  Labyrinthe, 
welche  die  Zerstörung  des  Nervenapparates  zur 
Folge  haben. 

In  Cap.  VIII.  wird  das  „Hörvermögen  der 
Taubstummen"  einer  eingehenderen  Besprechung 
unterzogen;  es  ist  bekannt,  daß  bei  einer  gro- 
ßen Zahl  von  Taubstummen  die  Taubheit  keine 
complete  ist;  um  den  Grad  der  Hörfähigkeit  zu 
ermitteln,  bedient  sich  H.  einer  großen  Tisch- 
glocke und  einer  großen  Stimmgabel;  er  theilt 
die  Taubstammen  in  vollständig  Taube,  solche, 
welche  den  Glockenton  (Schallgehör),  Vocale 
(Vocalgehör)  oder  Worte  (Wortgehör)  zu  hören  im 
Stande  sind.  Die  Statistik  ergiebt,  daß  mehr 
als  die  Hälfte  aller  Taubstummen  vollständig 
taub  sind,  der  vierte  Theil  Schallgehör,  der 
siebente  Theil  Wort-  und  Vocalgehör  besitzt 
Zu  berücksichtigen  ist  hierbei,  wie  Verf.  hervor- 
hebt, daß  sehr  häufig  das  Gehör  auf  beiden 
Ohren  verschieden  ist. 

Cap.  IX.   enthält  eine  Aufzählung  der   „der 


Hartmann,  Taubstummheit  a.  Taubstummenb.  1085 

Taubstummheit  zu  Grunde  liegenden  un  atomi- 
schen Veränderungen";  die  in  der  Literatur 
vorgefundenen  Sectionsergebnisse  sind  in  einer 
Tabelle  zusammengestellt.  Sie  betreffen  Mis- 
bildungen,  anatomische  Veränderungen  in  der 
Paukenhöhle  und  im  Labyrinth  und  Hörnerven- 
stamm ,  und  schließlich  Veränderungen  im 
Hirne. 

Ueber  „die  Heilbarkeit  der  Taubstummheit" 
erfahren  wir  in  Gap.  X.,  daß  dieselbe  in  der 
That  mitunter  möglich  ist;  doch  sind,  wie  Verf. 
betont,  die  in  der  Litteratur  gesammelten  Fälle 
nicht  zu  verwerthen.  Von  vornherein  auszu- 
schließen ist  die  Heilbarkeit  bei  Fällen  von 
Taubstummheit  nach  Hirnkrankheiten,  Cerebro- 
spinalmeningitis  etc.  Heilversuche  sollen  unter« 
nommen  werden  bei  eitrigen  Entzündungen  und 
sonstigen  chronischen  Mittelohr-  sowie  bei  Na- 
senrachenkrankheiten. 

Ueber  „natürliche  und  künstliche  Geberden- 
sprache" handelt  Cap.  XI,  das  erste  der  zum 
pädagogischen  Theile  des  Buches  gehörende. 
Die  künstliche  Geberdensprache,  in  welcher  Je- 
der sich  eine  große  Gewandheit  aneignen  kann, 
ist  jedem  Taubstummen  eigen;  dieselbe  hat  nur 
den  Nachtheil,  daß  man  feinere  Schattierungen 
mit  ihrer  Hülfe  nicht  ausdrücken  kann,  weil 
uns  „für  alle  nur  irgendwie  complicierten  ab- 
stracten  Begriffe  die  Bezeichnung  durch  Ge- 
berde fehlt".  Da  in  früherer  Zeit  die  Geberden- 
sprache sehr  cultiviert  wurde,  suchte  man  die- 
sem Uebel stände  durch  Erfindung  bestimmter 
Zeichen  für  bestimmte  Begriffe  abzuhelfen;  so 
entstanden  verschiedene  Arten  der  künstlichen 
Geberdensprache,  welche  jedoch  sämmtlich  den 
Nachtheil  haben,  daß  die  Taubstummen,*  welche 
sich  ihrer  bedienen,  nur  mit  Solchen  verkehren 


1086      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  34. 

können,  welche  die  Ausdrucksweise  gleichfalls 
erlernt  haben. 

Cap.  XL  enthält  die  bei  der  „Erziehung  der 
Taubstummen  im  Elternhause  und  in  der  Schule" 
zu  befolgenden  Grundsätze,  deren  erster  ist,  alle 
in  dem  taubstummen  Kinde  schlummernden 
Fähigkeiten  zu  wecken  und  möglichst  auszubil- 
den ;  besondres  Gewicht  ist,  nach  Verf.  Meinung, 
auch  auf  die  moralische  Erziehung  zu  legen, 
welche  mit  Strenge  aber,  wie  alle  Theile  der 
Erziehung,  mit  größter  Geduld  durchzuführen 
ist.  Betreffs  der  Wahl  einer  Gelegenheit  zur 
Taubstummenbildung  äußert  sich  H.  dahin,  daß 
die  Externate  (Taubstummenschulen)  den  Vor- 
theil  der  elterlichen  Aufsicht  und  familiären  Ge- 
sellschaft, sowie  des  nothwendigen  Umganges 
mit  Vollsinnigen,  die  Internate  (Taubstummen- 
anstalten) hingegen  den  Vortheil  einer  größeren 
Förderung  des  positiven  Wissens  darbiete;  so- 
wie, daß  beim  Privatunterricht,  welcher  die  Vor- 
züge des  Einzelunterrichts  besitzt,  der  Lehrer 
ein  wirklicher  Taubstummenlehrer  sein  und  ebenso 
viel  Zeit  auf  den  Zögling,  wie  dies  in  den  Schu- 
len geschieht,  verwenden  müsse.  Am  meisten 
zu  empfehlen  wäre  demnach  der  Besuch  einer 
Taubstummenschule  nebst  Privatunterricht. 

Die  im  Cap.  XIII.  skizzierte  „Geschichte  des 
Taubstummenunterrichtes^  bietet  durchaus  nichts 
Neues ;  es  wird  besonders  darauf  aufmerksam 
gemacht,  daß  der  in  Deutschland  allgemein  an- 
gewandte Lautunterricht  der  beste  ist,  weil  er 
die  Taubstummen  in  den  Stand  setzt,  mit  Voll- 
sinnigen zu  verkehren.  Derselbe  zerfällt  (Cap. 
XIV.)  in  einen  mechanischen  Theil  (Articula- 
tionsunterricht,  Sprechen  und  Absehn  vom  Munde) 
und  einen  intellectuellen  Theil  (Verständniß  der 


Hartmann,  Taubstummheit  u.Taubstummenb.  1087 

Sprache  und  ihrer  Begriffe,  Entwicklung  der 
geistigen  Fähigkeiten). 

In  einer  „Physiologie  der  Sprachlaute"  wer- 
den die  Laute  in  Kehlkopflaute,  (Annäherung 
der  Stimmbänder),  nämlich  Vocale,  Resonanten 
(m9  n,  ng)  und  den  Hauchlaut  h,  in  Mundlaute 
(Verschlußänderung  der  Mundhöhle),  nämlich 
Verschluß-,  Reibungs-  und  Zitterlaute  (Lippen- 
laute,  vordre  und  hintre  Zungenlaute)  getheilt. 
Nachdem  das  Kind  durch  ExspirationsUbungen 
den  richtigen  Gebrauch  der  Respirationsluft  er- 
lernt und  durch  Auflegen  seiner  Hände  an  den 
Kehlkopf  des  Lehrers  und  den  eigenen  Kehl- 
kopf die  Schwingungen  des  Kehlkopfes  kennen 
gelernt  und  nachzuahmen  versucht  hat,  übt  es 
sich  im,  vom  Lehrer  demonstrierten,  Formen  der 
Mundhöhle.  Es  würde  zu  weit  führen,  die  Me- 
thoden hier  des  Näheren  zu  betrachten,  da  ohne- 
hin der  Verf.  nichts  wesentlich  Neues  hinzuge- 
fügt hat.  Bekannt  ist  auch,  daß  den  Kindern 
Begriffe  dadurch  beigebracht  werden,  daß  ihnen 
für  jedes  erlernte  Wort  eine  den  Begriff  dar- 
stellende Abbildung  in  ein  Heft  eingeklebt  und 
mit  den  Schriftzeichen  des  Wortes  unterschrie- 
ben wird. 

Im  Cap.  XV.  beantwortet  Verf.  die  Frage 
,Was  wird  erreicht?"  Er  führt  aus,  daß  in 
Deutschland  der  Taubstummenunterricht  die 
Zöglinge  befähigt,  sich  mit  Vollsinnigen  zu  un- 
terhalten; in  wie  weit  freilich  die  Sprache  der 
Taubstummen  rein  werde,  hänge  von  dem  Unter- 
richte ab;  nur  ungefähr  ein  Drittel  aller  in  An- 
stalten Erzogener  werde  so  weit  gebracht,  daß 
sie  mit  Jedermann  sprechen  können,  während 
ein  zweites  Drittel  leidlich,  das  dritte  aber  gar 
nicht  sprechen  lerne. 

Daß    „die    Taubstummen  nach    ihrem  Aus- 


1088       Gott.  gel.  Anz.  1880,  Stück  34. 

tritte  aus  der  Schule"  (Cap.  XVI.)  am  besten 
Handwerker  werden,  ist  klar;  ebenso  betont 
Verf.  mit  Recht  die  Notwendigkeit,  daß  die 
Taubstummen  auch  nach  dem  Austritte  noch  in 
dauernder  Uebung  bleiben,  weshalb  er  die  Fort- 
bildungsschulen sehr  befürwortet.  Die  Mädchen 
sollen  schwerer  unterzubringen  sein,  namentlich 
heirate  nur  ein  kleiner  Theil  (6,3%  von  den 
Männern,  3%  von  den  Mädchen). 

Ueber  den  „gegenwärtigen  Stand  des  Taub- 
stummenbildungswesens" enthält  Gap.  XVII  sta- 
tistische Notizen,  aus  welchen  hervorgeht,  daß 
in  den  meisten  Ländern  nur  ein  (oft  sehr  ge- 
ringer) Theil  der  Taubstummen  in  wenigen 
(Sachsen,  Nordamerika)  alle  gebildet  werden 
können. 

Die  „Rechtsverhältnisse  der  Taubstummen" 
werden  (Cap.  XVIII.)  nur  flüchtig  berührt,  und 
zwar  die  Fragen  des  Schulzwanges,  der  Heiraten, 
der  Vormundschaft,  sowie  der  Rechts-  und  Hand- 
lungsfähigkeit und  Zurechnungsfähigkeit;  und 
schließlich  wird  noch  die  Combinatipn  von 
„Taubstummheit  und  Blindheit"  besprochen 
(Gap.  XIX.)  und  das  Vorkommen  von  Retinitis 
pigmentosa  bei  angeborener  Taubstummheit  er- 
wähnt. 

Das  Buch  enthält  zwar  für  den  Fachmann 
kaum  etwas  Neues,  dürfte  aber  Jedem,  der  sich 
für  die  unglücklichen  Taubstummen  interessiert 
zur  Belehrung  über  einzelne  Fragen,  besonders 
über 'die  Statistik,  zu  empfehlen  sein. 

E.  Bttrkner. 


Für  die  Redaction  verantwortlich :  E.  Rehniseh,  Director  d.  Gott.  gel.  Anz. 

Commissions- Verlag  der  DtetericK  sehen  Yeriags- Buchhandlung. 

Druck  der  DieUricK  sehen  Univ.- Buchdruckern  (W.  Fr.  Kasstner). 


^^      *>T* 


y 


SEP  271880  1089 

OOttingische 

gelehrte   Anzeigen 

anker  der  Aufsicht 

der  Kftnigl*  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Stück  35.  JT       1-  September   1880. 


Iakalt:  Kerne  ägypto  logiqne.  I.  1.  Yon  A  Aman.  — 
B.  Bot  he,  Theologische  Encyclopidie  herueg.  toh  H.  Knppeline.  Von 
Fr.  Düstsrdiack.  —  flygiea.  Bd.  XL1;0  F6r handling» r  vid  Srencka 


JAksue - 8i I  Ukapete   aammankonieter.     Ar  1879.    Von 

s  LigesjBAehtiger  Abdruck  von  Artikeln  der  Gott.  gel.  Abs.  Terboten  s 


Revue  £  gyptologique  publice  sous  la 
direction  de  MM.  H.  Brugsch,  F.  Chabas, 
Eng.  Revillout.  Premiöre  Annee  No.  1. 
Paris.  Ernest  Leroux,  6diteur.  1880.  48  Seit. 
4  Taf.    4°. 

Seit  längerer  Zeit  verfügt  die  Aegyptologie 
über  fünf  periodische  Publikationen,  die  ihr 
mehr  oder  minder  ausschließlich  gewidmet  sind. 
In  Deutschland  erscheint  Lepsius'  Zeit- 
schrift im  18 ten  Jahrgange,  in  England  die 
Transactions  der  Society  of  biblical  archaeology, 
in  Frankreich,  neben  den  nur  größere  Arbeiten 
enthaltenden  Etudes  egyptologiques,  die  Melanges 
d'archeologie  egyptienne  et  assyrienne*).     Neben 

*)  In  neuester  Zeit  unter  dem  Titel:  Hecueil  de  tra- 
vaux  relati/s  a  La  philologte  et  d  farcheologie  eyyptunnei 
et  aseyriennes. 

69 


1090      Gott  gel.  Adz.  1880.  Stück  35. 

dieser  von  den  offiziellen  Vertretern  der  franzö- 
sischen Aegyptologie  redigierten  Zeitschrift  gab 
noch  Chabas,  der  bedeutende  Gelehrte  von 
Chälons,  die  Ägyptologie  heraas  and  jetzt,  wo 
das  Weitererscheinen  dieser  durch  Chabas' 
schwere  Erkrankung  unmöglich  geworden  ist, 
tritt  eine  neue  Vierteljahrsschrift,  die  Revue 
egyptologique  an  ihre  Stelle.  Als  eine  Art  Fort- 
setzung der  Ägyptologie  kennzeichnet  sie  sich 
durch  das  Patrouat,  das  nach  dem  „avis  de 
Tediteuru  Chabas  über  sie  ausübt,  jedoch  wird 
ihr  Inhalt  ohne  Zweifel  mannichfaltiger  sein, 
als  es  der  der  Zeitschrift  von  Chälons  zu  sein 
pflegte.  Sind  es  doch  zwei  der  genialsten  Ver- 
treter der  Aegyptologie,  die  die  neue  Revue 
herausgeben:  Eugen  Rev illout  und  Hein- 
rich Brugsch.  Die  vorliegende  erste  Nummer 
enthält  Aufsätze  beider  Herausgeber  und  es 
verlohnt  auf  dieselben  näher  einzugehen. 

Die  Beiträge  zur  Chronologie  der  Ptolemäer, 
die  Revillout  uns  giebt,  beruhen  auf  einer  rei- 
chen Sammlung  demotischer  Akten,  die  sich  auf 
den  Grundbesitz  thebanischer  Choachytenfamilien 
beziehen  und  die  sich  in  ununterbrochener  Reihe 
vom  Ende  der  Perserherrschaft  bis  auf  Euerge- 
teß  I.  hin  erstrecken.  Wir  können  in  ihnen  die 
Geschichte  einiger  Grundstücke  durch  Generatio- 
nen verfolgen ;  wir  sehen  sie  verpfänden  und 
schließlich  dem  Gläubiger  cedieren,  wir  sehen 
sie  theilen  und  mit  Hypotheken  belasten,  sie 
werden  wieder  verpfändet  und  verfallen  aufs 
neue  —  kurz  diese  Aecker  haben  eine  wechsel- 
volle Geschichte,  die  zu  mannichfachen  Akten- 
stücken Veranlassung  giebt.  Es  liegt  auf  der 
Hand9  wie  wichtig  ein  so  in  sich  zusammen- 
hängendes Material  für  chronologische  Unter- 
suchungen ist 


Revue  fegyptologiqne.  I.  1.         1091 

Für  Philippus  Arjrbidaeus  erwähnen  die  Ur- 
kunden *ls  höchstes  Begierungsjahr  das  achte, 
für  Alexander  IL  das  dreizehnte  —  beides  im 
Einklang  mit  den  früheren  Annahmen,  wenn 
man  bedenkt,  daß  es  in  jener  Zeit  in  Aegypten 
Brauch  war,  als  erstes  Jahr  die  Monate  vom 
Begierungsantritt  bis  zum  Neujahrstage,  dem 
1.  Thoth,  zu  rechnen.  Die  beiden  Zahlen  redu- 
eieren  sich  also  auf  sieben  und  zwölf.  Es  folgt 
sodann  ein  König  „Ptolemaeus  Sohn  des  Ptole- 
maeus", den  Kevillout  zweifellos  richtig  für  So- 
ter,  für  Ptolemaeus  Lagi  hält.  Als  den  Vater 
des  Gründers  der  Dynastie  bat  man  bis  jetzt 
einen  Lagos  angenommen  —  wir  werden  nun- 
mehr dieses  Lagos  als  einen  Spitznameu  jenes 
macedonischen  Kriegers  ansehen  müssen.  Wird 
dQcii  laymg  auch  im  Griechischen  von  furchtsa- 
men Menschen  gesagt  und  vermeidet  doch,  wie 
Lumbroso  schon  früher  bemerkt  bat,  die  Septua- 
giuta,  die  ja  für  einen  Lagiden  angefertigt  ist, 
dieses  Wort. 

Andere  Akten  sind  vom  19.  beziehentlieh 
vom  21.  Jahre, 

des  Ptolemaeus,  Sohnes  des  Ptolemaeus 
und  des  Ptolemaeus  seines  Sohnes 
und  der  Arsinoe  Philadelphe 
datiert.    Man  denkt  zunächst  auch  hier  an  So* 
ter,  aber  einmal  nahm  dieser  erst  im  20.  Jahre 
seipen   Sohn   zum   Mitregenten   an   und  ferner 
wurde  Arsinoe,  nach   Gbampollion  Figeac's  in- 
schriftlich   bestätigter   Berechnung,    erst   im   7. 
Jahre    des  zweiten  Lagiden  Philadelphe,   d.  h. 
Gemahlin  ihres  Bruders.     Auf  diesen,  auf  Phi- 
ladelphjis,  werden  wir  demnach   die  beiden  Da- 
ten  zu  beziehen  haben.    Wir  müssen  annehmen, 
daß  er  (etwa  so  lange  ihn  sein  enterbter  Bruder 
Keraunos  bedrohte)  im  Namen  seines  verstqrbe- 

69* 


1092      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  35. 

nen  Vaters  fortregierte,  ähnlich  wie  ja  auch  So- 
ter  noch  nach  Alexanders  IL  Tode  in  dessen 
Kamen  die  Herrschaft  führte.  Im  29.  Jahre 
sehen  wir  dann  Philadelphia  selbstständig  auf- 
treten, dafür  heißt  sein  Vater  von  nun  an  in 
Theben  „Gott"  und  in  Memphis  „Gott  Soter". 

Auch  die  Regierungsdauer  des  Philadelphus 
läßt  sich  aus  unsern  Quellen  controlieren,  sie 
war  richtig   auf  38   Jahr  angenommen. 

Eine  andere  von  Revillout  bebandelte  Frage 
betrifft  die  Beinamen  der  Ptolemäer,  die  nach 
der  bisherigen  Annahme  beim  Regierungsantritt 
verliehen  wurden.  Von  den  Vornamen  der  hiero- 
glypbischen  Titulaturen  ist  dies  ja  natürlich 
richtig,  aber  diese  waren  in  griechischer  Zeit 
außerhalb  der  Priesterscbaft  ohne  jede  Bedeu- 
tung. Die  griechischen  Beinamen  hingegen,  un- 
ter denen  die  Ptolemäer  göttlich  verehrt  wur- 
den und  unter  denen  sie  gewöhnlich  bekannt 
sind,  erhielten  die  Könige  erst  bei  besonderen 
festlichen  Gelegenheiten  als  eine  Dankbezeugung 
vom  Clerus  zuerkannt.  So  wurde  der  Cultus 
der  „Götter  Philadelphentt  zwischen  den  Jahren 
19  und  21  des  zweiten  Ptolemäers  geschaffen 
und  der  der  „Götter  Euergeten"  zwischen  den 
Jahren  4  uud  15  des  Euergetes  I.  In  der  That 
wissen  wir  durch  das  Dekret  von  Ganopus,  daß 
ihm  die  Priester  im  9.  Jahre  den  Namen  Euer- 
getes zuei  kannten,  weil  er  (eine  Notiz,  die  sich 
auch  noch  bei  liieronymus  richtig  erhalten  hat, 
wo  man  sie  aber  anzweifelte!)  die  einst  ge- 
raubten Götterbilder  aus  Persien  zurückgebracht 
hatte.  — 

Ein  Artikel  von  Brugscb  betrifft  das  ägypti- 
sche Wort  udnu*),   dessen  Bedeutung   noch  im- 

*)  Nicht  a'dennu  oder  gar  ädonnu,  wie  der  Verfasser 


Revue  Egyptologique.  I.  1.  1093 

mer  dunkel  war.    Brugsch  weist  nun  nach,  daß 
es  in  einem  Texte  vom  Monde  beißt  dbfRä  „er 
vertritt  die  Sonne"  in  einem  andern  ddnnf  Rä 
und  daß  der  so  für  adn  gewonnene  Sinn   „ver- 
treten"   auch   in   anderen  Texten  paßt.     Es  ist 
dieser  unscheinbare  Fand  von  besonderer  Wich- 
tigkeit,  da  ddnu  einer  der  häufigsten  Titel  im 
neuen  Reiche  ist.    Man  hat  ihn  bisher  gewöhn- 
lich nicht  richtig  dennu  umschrieben  und  „Offi- 
cieru    oder   ähnlich   übertragen.     Zweifellos  ist 
ddnu  ein  Titel  wie  Wahl   oder  lieutenant.     So 
finden   wir   nun,    daß   fast  jedes   Amt    seinen 
„Stellvertreter"  besaß,  vom  „Stellvertreter  beider 
Länder"  d.  h.  dem  Chef  der  Regierung  an  bis 
berab  zum  „Stellvertreter  des  Harem"  und  zum 
„Stellvertreter    der   Werkstätten    des   Pharao". 
Schwerlich  werden  wir  fehl  greifen,    wenn   wir 
nach  Analogie  anderer  Länder  und  anderer  Zei- 
ten   in    diesem    Stellvertreter   den    eigentlichen 
Ansüber  des  Amtes  sehen,  mit  dessen  Titel    ein 
hoher  Hofbeamter  geschmückt  war.     Nicht  also 
Pendati,  der  vornehme  Herr  der  sich  „Vorsteher 
der  Bauten   von  Hermonthis"    nennt,    wird    die 
Tempel  dieser  Stadt  erbaut  haben,  sondern  dies 

that  sein  ddnu,  der  Schreiber  Aähmes.  Uebri- 
gens  ließen  sich  derartige  Zustände  längst  aus 
der  Ueberfülle  von  Aemtern,  die  die  ägyptischen 
Großen  bekleideten,  vermuthen. 

Auf  eine  andere  Arbeit  Brugsch's,  über  den 
ägyptischen  Namen  des  Mareotissees,  hier  ein- 
zugehen, würde  zu  weit  führen. 

Berlin.  Adolf  Erman. 

transBoribiert;  das  n-nti-ti  ist  ebenso  nu  zu  lesen  wie 
p-pa-a  pa  zu  lesen  ist.    Da  aeg.  r%nu  k.  e?of*n,  aeg.  tnu 

k.  Tiniit  dem  Stadtnamen  Anu  jij$  entspricht,  werden 
wir  auch  für  aaeg.  ddnu  im  Naeg.  eine  Aussprache  adun 
oder  ädon  annehmen  müssen. 


1094      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  35. 

Theologisehe  Encyclopädie  von 
Richard  Rothe.  Aas  seinem  Nachlasse 
herausgegeben  von  H.  Ruppelius,  Pfarrer. 
Wittenberg.  Hermann  Koelling.  1880.  VIII. 
und  158  Seiten  in  Octav. 

Der  Herausgeber,  welcher  ursprünglich  be- 
absichtigt hatte,  das  im  Winter  1859/60  von 
ihm  nachgeschriebene  Gollegienheft  drucken  zu 
lassen,  ist  in  der  Lage  gewesen,  statt  dessen  das 
Rothesche  Heft  selbst,  welches  dem  mündlichen 
Vortrage  zu  Grunde  gelegen  hat,  zu  veröffent- 
lichen. Gestrichen  sind  jedoch  die  Rotheschen 
Randbemerkungen,  welche  sich  auf  andere 
Schriftsteller  und  auf  die  Literatur  der  einzel- 
nen Disziplinen  beziehen  und  welche  —  wie  der 
Herausgeber  sagt  (S.  IV)  —  auch  im  Co!  leg 
nicht  vorkamen;  im  Texte  finden  sich  übrigens 
mancherlei  literarhistorische  und  kritische  An- 
gabeil, namentlich  wird  sehr  oft  und  wörtlich 
Schleifennacher  (Kurze  Darstellung  des  theologi- 
schen Studiums)  angeführt,  in  dessen  Spuren 
Rothe  sich  bewegt. 

Das  von  Rothe  aufgestellte  System  der  theo- 
logischen Wissenschaften  ist  das  folgende.  Der 
erste  Haupttbeil,  die  speculative  Theologie,  um- 
faßt die  Ethik  und  die  Apologetik ;  wir  werden 
aber  alsbald  sehen,  wie  Rothe,  abweichend  von 
Schleiermacher,  in  der  That  eine  besondere 
Disciplin  der  Apologetik  nicht  gelten  läßt,  son- 
der den  gesammten  speculativen  Unterbau  der 
Theologie  in  der  Disciplin,  welche  er  Ethik 
nennt,  beschreibt  Der  zweite  Haupttheil,  die 
historische  Jbeologie,  umfaßt  drei  Gruppen  von 
Disciplinen,  nämlich  erstens  die  biblische  oder 
exegetische  Theologie  (im  Besondern:  biblische 
Literaturgeschichte,   biblische   Kritik,    biblische 


B.  Roth«,  Theologische  Encyclopädie.     1095 

Archäologie,  biblische  Hermeneutik  und  biblUohe 
Theologie),  zweitens  die  kirchenhistorische  Theo- 
logie (im  Besondern:  allgemeine  Kirchenge- 
schichte ,  Geschichte  der  Kirchenverfassung, 
Dogmengeschichte,  kirchliche  Archäologie),  end- 
lich drittens  die  positive  Theologie  (im  Beson- 
dern: Dogmatik,  Symbolik,  Statistik).  Der 
dritte  Hanpttheil,  die  praktische  Theologie,  um- 
faßt erstlich  das  Eirebenregiment  (im  Besondern : 
das  Kirchenrecht  nnd  die  Polemik),  zweitens  die 
Gemeindeleitang  (im  Besondern:  Liturgik,  Ho- 
miletik, Katechetik  und  Pastorallehre). 

Auf  eine  eingehende  Beurtheilnng  dieser 
Rotheschen  Aufstellungen  kann  es  jetzt  nicht 
ankommen,  schon  deshalb  nicht,  weil  die  gegen- 
wärtige Veröffentlichung  derselben  wesentlich 
eine  pietätsvolle  Erinnerung  an  die  gesegnete 
Wirksamkeit  des  ehrwürdigen  akademischen 
Lehrers  ist,  nicht  aber  den  Zweck  hat,  eine  be- 
deutsame Förderung  der  Wissenschaft  zn  ge- 
währen. Indessen  mag  einiges  zur  Charakteri- 
stik der  Bothe'scben  Anschauungen  bemerkt 
werden.  Die  Construction  der  speculativen 
Theologie  erscheint  im  Hinblick  auf  das  große 
Hauptwerk  Bothe's  über  die  theologische  Ethik 
nicht  unerwartet.  Aber  die  vorliegenden  ency- 
elopädisehen  Erörterungen  lassen  in  der  That 
weniger  ethisches  Material  in  dieser  Disciplin 
erwarten,  als  Bothe  in  jenem  Hauptwerke,  nicht 
ohne  reichgegliedertes  Detail,  gegeben  hat.  In 
seiner  Ethik  findet  sieh  doch  dasjenige,  was 
man  in  einer  Wissenschaft  dieses  Hamens  sucht, 
während  er  von  seinem  encyclopädischen  Stand- 
punkte aus  nrtheilt,  daß  wir  „die  Ethik,  wie  sie 
in  der  Regel  auftritt,  nicht  sonderlich  vermissen 
werden,  wenn  sich  kein  Ort  dafftr  finden  sollte 
ifi  den  drei  Hanpttbeilen  der  Theologie"  (3. 14). 


1096      Gott  gel.  Anz.  1880.  Stück  35. 

Demgemäß  finden  wir  bei  der  Construction  der 
positiven  Theologie  (S.  102)  zunächst  nur  die 
Frage:  „Nicht  auch  noch  eine  theologische 
Ethik?"  Es  folgt  dann  (8.  105.  119)  die  ver- 
neinende Antwort:  die  „Lebenssätze"  seien  wie 
die  „Glaubenssätze"  nichts  Anderes  als  Dogma- 
tik  in  historischem  Sinne;  „die  kirchliche  Ta- 
gend- und  Pflichtenlehre"  ist  durchaus  Dogma- 
tik  und  gehört  in  diese"  (S.  114).  Dagegen  ist 
diejenige  Ethik,  welche  Rothe  als  den  Haupt- 
theil,  ja  eigentlich  als  das  Ganze  der  specula- 
tiven  Theologie  voranstellt,  diejenige  Disciplin, 
welche  vermöge  ihrer  speculativen  Eigenart  den 
wissenschaftlichen  Charakter  aller  einzelnen 
theologischen  Disciplinen  begrtjndet  und  den 
organischen  Zusammenhang  mit  der  Wissen- 
schaft überhaupt  sichert.  Und  in  der  eigen- 
tümlichen Weise,  wie  Rothe  seine  speculative 
Theologie  aufbaut,  bezeugt  sich  ebenso  sehr  sein 
wissenschaftlicher  Sinn  wie  sein  frommes  Ge- 
mttth.  Indem  er  die  Speculation  lediglich  von 
dem  Selbstbewußtsein  ausgehen  läßt,  versteht  er 
dies  Selbstbewußtsein  von  vorn  herein  auch  als 
Gottesbewußtsein;  und  indem  er  die  volle  Frei- 
heit des  speculativen  Denkens  fordert,  will  er 
zugleich  das  Ergebnis  desselben  unter  die  un- 
bedingte Norm  der  biblischen  Offenbarungsur- 
kunden gestellt  wissen,  so  daß  der  Denker 
seine  Arbeit  von  Neuem  beginnen  und  die 
ohne  Zweifel  gemachten  Fehler  verbessern  soll, 
wenn  das  Ergebnis  seiner  Speculation  der  Norm 
der  heiligen  Schrift  nicht  entspricht  (S.  25). 
Die  speculative  Theologie  umfaßt  nach  Rothe 
einestbeils  die  Theologie  im  engern  Sinne,  d.  h. 
die  speculative  Durchführung  des  Gottesgedan- 
kens, und  die  Kosmologie,  welche  in  Physik 
und  Ethik  zerfällt    Von  der  Physik,  welche  so- 


R.  Rothe,  Theologische  Encyclopädie.     1097 

mit  als  Theil  der  speculativen  Theologie  er- 
seheint, ist  übrigens  nicht  weiter  die  Rede;  wir 
werden  sofort  zur  Ethik  (Güter-  Tugend-  und 
Pflichtenlebre)  geführt.  Sodann  aber  wird  die 
Apologetik  aus  dem  System  der  theologischen 
Wissenschaften  gestrichen  (S.  33  ff.).  Daß  diese 
Disciplin,  über  deren  Begriff  und  encyclopädi- 
scbe  Stellung  im  System  der  theologischen  Wis- 
senschaften gestritten  wird,  nicht  im  Sinne  einer 
Principienlebre.  wie  ein  Prolegomenon,  zu  ver- 
stehen sei,  ergiebt  sich  für  Rothe  bei  seiner 
Beschreibung  der  speculativen  Theologie  von 
selbst;  nnd  wenn  er  ferner  mit  Recht  das  un- 
klare Znsammenfallen  der  Apologetik  mit  der 
Dogmatik  abweist,  so  bleibt  für  ihn,  da  er  end- 
lich auch  die  Apologetik  als  Theorie  der  Apo- 
logie nicht  erforderlich  findet,  nur  die  Beseiti- 
gung dieser  besondern  Disciplin  übrig.  Dies 
widerstreitet  aber  dem  thatsächliehen  Verhältnis 
nicht  minder  als  der  theoretischen  Würdigung 
der  Sache.  Und  irre  ich  nicht,  so  steht  bei 
Rothe  diese  Beseitigung  der  Apologetik  mit  an- 
dern Mängeln  seiner  Aufstellungen  in  Verbin- 
dung. In  der  Beschreibung  der  kirchenge- 
schichtlichen Disciplinen  vermißt  man  die  Ge- 
schichte der  Ausbreitung  der  Kirche;  und  in 
der  Beschreibung  der  praktischen  Theologie 
fehlt  die  Theorie  der  Mission.  Dies  alles  scheint 
mir  in  einem  gewissen  innern  Znsammenhange  zn 
stehen;  und  ich  meinerseits  beurtheile  die  mir 
sich  darstellenden  Mängel  von  dem  Standpunkte 
ans,  welchen  ich  in  meiner  Abhandlung  über 
die  Apologetik  (Jahrbücher  für  deutsche  Theo- 
logie. 1866.  Heft  3,  4)  bezeichnet  habe  und 
trotz  der  Gegenbemerkungen  von  Sack  (das. 
1867.  S.  412)  noch  für  richtig  halte.  Die  Apo- 
logetik ist  mir  die  wissenschaftliche  Theorie  der 


1098      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  35. 

Apologie  und  gilt  mir  deshalb,  im  Zusammen- 
hange mit  der  Lehre  von  der  Mission,  als  ein 
Theil  der  praktischen  Theologie.  —  Von  der 
Apologetik  blickt  man  unwillkührlich  auf  die 
Polemik.  Diese  ist  von  Rotbe,  im  Sinne  Scbleier- 
macher's,  ihrem  Wesen  nach  richtig  bestimmt; 
aber  eigentümlich  mnthet  es  an,  daß  wir  — 
wenigstens  in  der  Hauptdarstellung  S.  138, 
welche  in  den  Bemerkungen  über  Symbolik 
eine  gewisse  Correctur  findet  —  diese  Polemik 
dem  Kirchenregimente  zugewiesen  finden.  Aber 
es  ist  doch  ein  anderes  Ding,  wenn  das  Kir- 
chenregiment wegen  Häresie  Anstellung  im 
Pfarramte  verweigert  oder  Absetzung  verfügt, 
und  ein  anderes,  wenn  nach  Anweisung  der 
polemischen  Wissenschaft  die  Widerlegung  einer 
Häresie  von  einem  Theologen  gegeben  wird. 
Liegt  vielleicht  die  fehlsame  Bestimmung  in  Be- 
treff der  Polemik  in  derselben  Richtung,  von 
welcher  aus  sich  die  auffallende  Aussage  (S.  157) 
ergeben  hat,  daß  der  Geistliche  „alle  seine  Ob- 
liegenheiten als  Beamter  des  Staatesu  zu  voll- 
ziehen habe?  Aber  es  scheint  mir  nicht  recht 
angemessen,  bei  der  Kritik  der  Rothe'schen  An- 
sichten zu  verweilen.  Möge  meiner  herzlichen 
Verehrung  des  Heimgegangenen  Mannes  noch 
ein  aufrichtiges  Wort  wegen  der  Veröffentlichun- 
gen aus  seinem  Nachlasse  gestattet  sein.  Auch 
in  dem  vorliegenden  Werke  finden  wir  manch- 
mal wahrhaft  goldene  Worte,  z.  B.  das  über 
die  sittliche  Beschaffenheit  des  zum  geistlichen 
Amte  sich  Vorbereitenden.  Und  wenn  aus  den 
jetzt  gedruckten  Vorlesungen  die  ehrwürdige  Ge- 
stalt des  geliebten  Lehrers  wieder  vor  die  Er- 
innerung der  Zuhörer  tritt,  so  ist  das  eine  er- 
bauliche Freude.  Aber  der  ferner  Stehende 
-wird   ohoe  irgend   eine  üttcksiebt  der  Pietät  zu 


R.  Rothe,  Theologische  Encyclopädie.    1099 

verletzen,  fragen  dürfen,  ob  die  Veröffentlichung 
eines  solchen  Heftes,  wie  das  vorliegende  ist, 
weitern  Kreisen  wahrhaft  dienlich,  insbesondere 
ob  sie  vollkommen  im  Sinne  des  verewigten 
Verfassers  sei.  Ich  gestehe,  daß  ich  das  Eine 
wie  das  Andere  bezweifele;  ich  meine,  daß  es 
auch  um  der  Pietät  gegen  den  seligen  Rothe 
willen  nicht  wohlgethan  sein  kann,  hente  ans 
seinem  Nachlasse  Sachen  zu  veröffentlichen, 
welche  auch  damals,  als  er  selbst  noch  daran 
arbeitete,  keineswegs  druckfertig  waren.  Schon 
im  Jahre  1859/60  hätte  Rothe  sicherlich  nicht 
drucken  lassen,  was  wir  S.  57  lesen:  „Eine 
neue  Bahn  scheint  Const.  Tischendorf  einschla- 
gen zu  wollen".  Das  Unfertige  liegt  aber  nicht 
in  den  einzelnen  Mängeln,  sondern  darin,  daß 
(vgl.  S.  115f.  130f.  136f.  142f.  150)  für  grö- 
ßere Partieen  zwiespältige  Darstellungen  zu 
Tage  treten,  da  der  Herausgeber  bemerkt,  wie 
im  Colleg  die  Sachen  anders  als  im  vorliegen- 
den Hefte  vorgekommen  seien.  Ich  bin  des- 
halb, auch  in  meiner  liebevollen  Erinnerung  an 
den  seligen  Rothe,  nicht  im  Stande,  die  gegen- 
wärtige Mittbeilung  aus  dem  Nachlaß  mit  der- 
selben Freude  zu  begrüßen,  mit  welcher  ich  hier 
die  Arbeiten  über  die  Pastoralbriefe  und  über 
den  ersten  Brief  Johannis  angezeigt  babe.  Hie- 
bei  wirkt  auch  der  Umstand  mit,  daß  der  vor- 
liegende Druck  die  nöthige  Sorgfalt  gar  zu 
sehr  vermissen  läßt.  Es  ist  ein  widerwärtiges 
Geschäft,  auf  Versehen  und  Druckfehler  hinzu- 
weisen ;  aber  zur  Begründung  meiner  Klage 
fianß  ich  wenigstens  einiges  hier  anführen : 
S.  38,  6  Vires  st.  Vives.  8,  56  Will  st.  Mill. 
S.  68,  2  v.  u.  fehlt  „nicht*.  S.  75,  14.  80,  5 
v.  u.  84,  27.  28.  85,  14  (müßte).  87,  4.  Diese 
aus  der  Mitte  des  Buchs  notierten  Fehler  habe 


1100       Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  35. 

icb  mir  gemerkt,  nachdem  ich  bei  der  Lecture 
der  vorangehenden  Partie  auf  die  nachlässige 
Corrector  aufmerksam  geworden  war. 

Sollten  noch  weitere  Mittheilungen  aas 
Rotbe's  Nachlaß  in  Aussicht  stehen  (vgl.  S.  IV), 
so  wird  sich  die  rechte  Vorsicht  bei  der  Wahl 
und  die  gebührende  Sorgfalt  bei  der  Ausfüh- 
rung empfehlen. 

Hannover.  D.  Fr.  Düsterdieck. 


Hygiea.  Medicinsk  och  farmaceutisk  mä- 
nadsskrift.  Utgifven  af  Svenska  Läkare-Säll- 
skapet.  Redigerad  af  Dr.  Marten  Sondän.  Un- 
der medverkan  af  Prof.  Dr.  A.  Jäderholm,  Prof. 
Dr.  C.  J.  Rossander,  Dr.  F.  W.  Warfvinge  och 
Dr.  P.  J.  Wising.  Fyrationdeförsta  bandet. 
Stockholm  1879.  Kongl.  boktryckeriet,  P.  A. 
Norstedt  &  söner.    IX  und  776  S.  in  Octav. 

Förhandlingar  vi d  Svenska  Läkare- 
Sällskapets  sammankomster.  Ar  1879. 
ProtokollsfÖrande:  Sällskapets  Sekreterare  Dok- 
tor Wallis.  Stockholm  1879.  Kongl.  bok- 
tryckeriet, P.  A.  Norstedt  &  söner.  VII  und 
264  S.  in  Octav. 

Der  41ste  Band  der  Hygiea  zeichnet  sich 
durch  einen  ungewöhnlichen  Reicht  hum  an  inter- 
essanten Originalien  ans  sämmtlichen  Zweigen 
der  praktischen  Medicin  aus.  Selbst  die  Denti- 
stik  ist  darin  repräsentiert,  und  zwar  durch 
einen  Aufsatz  von  Otto  Ulmgren,  in  welchem 
unter  Anknüpfung  an  einige  in  der  Praxis  des 
Verfassers  vorgekommene  Fälle  der  gegenwär- 
tige Standpunkt  der  Lehre  von  der  Retention 
von  Zähnen  in  den  Kiefern  dargelegt  und  unter 
Bezugnahme   auf  die  Arbeiten  von  Salter  über 


Hygiea.  Bd.  XLL  1101 

den  GegeDßtand  and  unter  Wiedergabe  der  von 
demselben  veröffentlichten  Tafeln  beleuchtet  wird. 
Die  rein  casuistischen  Mi  tt  hei  Jungen,   welche 
in   manchen   früheren    Bänden    der    Zeitschrift 
das  größte  Contingent  der  Publicationen  stellen, 
sind  diesmal  verhältnißmäßig  spärlich  vertreten. 
Was   ihnen   an   Zahl   abgebt,    ersetzt    freilich 
reichlich  das  wissenschaftliche  Interesse,  welches 
sich    an    die   einzelnen    diesmal    mitgetheilten 
Fälle    knüpft.     Unter  diesen  ist  besonders  der 
im   Juni  hefte    von   0.  Med  in   ausführlich    be- 
schriebene Fall  von  Cysticercus  cellulo- 
sae    cerebri    bemerkens werth ,    der    zweite 
Krankheitsfall  dieser  Art,   der  überhaupt  in  der 
schwedischen  Literatur  sich  findet,  und  von  dem 
ersten,  welchen  Professor  Gellerstedt  in  Lund 
1853  in  der  Hygiea  beschrieb,  insoweit  wesent- 
lich  verschieden,   als    es    sich  diesmal  um  aus- 
schließliches  Vorkommen   von   Cysticerken    im 
Gehirn    handelt,    während   Gellerstedt's   Patient 
Finnen    im    ganzen  Körper   und   namentlich    in 
der  Musculatur  hatte.    Der  Fall  bildet  auch  in- 
sofern  eine  Rarität,    als   es  sich  um  Hirucysti- 
cerken    bei  einem  14jährigen  Mädchen   handelt 
und  das  fragliche  Leiden  jedenfalls  relativ  sel- 
ten   in    den  jüngeren  Lebensaltern  auftritt,  ob- 
8chon  dasselbe  in  den  früher  von  Griesinger  im 
Archiv  für  Heilkunde  (18ö2;  gegebenen  »Statistik 
unter  55  Fällen  dreimal    bei  jugendlichen  Indi- 
viduen unter  20  Jahren,  einmal  sogar  bei  einem 
6jährigen  Kinde,  angetroffen  wurde.    Wenn  man 
die    von  Griesinger  für  die  Diagnose  der  Hirn- 
cysticerken    a.  a.  0.    hervorgehobenen   Anhalts- 
punkte   genau    in's  Auge  faßt,   wird    man   sich 
kaum  wundern  dürfen,   wenn  in  dem  fraglichen 
Falle  die  Erkennung  des  Leidens   erst  auf  dem 
Leichentiscbe  geschah,   denn  es  findet  sich  dar- 


1102       Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  35. 

unter   nur   ein   einziger   zuverlässiger  positiver 
Punkt,  die  Auffindung   von  Cysticerken  im  Un- 
terbautzellgewebe, und  gerade   dieses  diagnosti- 
sche Moment,  das  bei  vorhandenen   Hirnerscbei- 
nungen   allerdings   deren  Natur  ziemlich  sieber 
stellen   würde,   fehlte    bei  der  Patientin.    Mög- 
licherweise hätte  übrigens  der  während  der  Be- 
handlung  im  Stockholmer  Kinderhause  bei  der- 
selben   beobachtete    Abgang    eines    Bandwurm- 
Stucks  zum  Verdacht  auf  das  Vorhandensein  der 
seltenen  Affection  fuhren  können    uud  erscheint 
es  jedenfalls    gerechtfertigt,     ein    solches    Vor- 
kommmß  den  für  die  Diagnostik  wichtigsten  Mo- 
menten hinzuzufügen,    da   ja    die  Affection    die 
entweder    noch    bestehende  oder  vorher  bestan- 
dene   Existenz    einer   Taenia    voraussetzt.     Der 
somnolente  Zustand,  in  dem  die  Patientin  in  das 
Krankenhaus   aufgenommen   wurde,    ließ    zuerst 
an   einen  Typhus    denken,   aber   die   plötzliche 
Erholung  nach  drei  Tagen  ließ   diese   Diagnose 
völlig  haltlos    erscheinen.    Als  dann    später  bei 
erhöhter  Temperatur  Anfälle  von  Bewußtlosigkeit 
mit  Mydriasis  und  träger  Reaction   der  Pupille, 
zeitweise   Nystagmus,   Zähneknirschen    und  ge- 
linde Zuckungen  in    den  Armmuskeln  eintraten, 
dachte   man  an  Meningitis  oder  mindestens  an 
eine    heftige  Reizung  der  Hirnhäute    und   Hirn- 
oberfläche,   bis   man  später  sich  durch  ophthal- 
moskopische Untersuchungen   von   dem  Vorhan- 
densein von  Stauungspapillen  überzeugte  und  da- 
mit zu  der  Vermuthung  eines  starken  Hirndruck 
erzeugenden   Exsudats   oder  Tumor   im    Gehirn 
gelangte.     Als    dann   noch  später   eine  Parese 
verschiedener  Muskeln    des   Unken  Auges  (od$r 
Contractur  der  Antagonisten)  eintrat,  wurde  die 
Existenz  eines  Hirnabscesses  wahrscheinlich,  wo- 
für auch  die  Krampfanfälle  und  daß  Fieber  zu 


Hygiea.  Bd.  XLL  1103 

sprechen  schienen.  Die  Verschlimmerung  der 
Convalsionen,  die  Zunahme  der  Stauungspapillen, 
das  Sinken  der  von  Anfang  an  beschränkten 
Intelligenz,  ohne  daß  Lähmungssymptome  in  ir- 
gend einem  anderen  Nervengebiete  sich  einstell- 
ten, machte  die  Diagnose  wiederum  hinfällig. 
Sklerose  des  Gehirns  blieb  wegen  der  fehlenden 
charakteristischen  Läbmungserscheinnngen  völlig 
außer  Frage.  So  war  der  Fall,  wie  Medin  sich 
ausdrückt,  für  die  behandelnden  Aerzte  ein  gro- 
ßes Fragezeichen,  bis  die  Section  des  Rätbsels 
Lösung  gab,  indem  dieselbe  die  Pia  mater  über 
der  convexen  Fläche  des  Gehirns  mit  Cystiecer- 
cusb lasen  besäet  zeigte,  deren  auf  dem  convexen 
Tbeile  des  liuken  Stirn  ,  Parietal  und  Occipital- 
lappens  nicht  weniger  als  200  vorhanden  waren, 
während  auch  die  übrigen  Theile  der  Hirn- 
hemisphärenoberfläcbe,  auch  der  unteren,  keines- 
wegs frei  blieb  und  die  Hirnrinde  selbst  Hun- 
derte der  fraglichen  Blasen  aufwies,  die  übri- 
gens in  ihrer  Umgebung  nicbt  als  Entzündungs- 
reiz gewirkt  hatten.  Auch  im  Innern  des  Groß- 
hirns wurden  einzelne  Blasen,  überall  in  der 
grauen  Substanz,  entdeckt,  während  die  ganze 
Marksubstanz  des  Kleinhirn  u.  s.  w.  frei  war. 
Sicher  wird  man  manche  Symptome,  namentlich 
die  psychischen  Störungen  und  das  Fehlen  der 
Lähmungserscheinungen,  bei  einem  so  rasch  sich 
entwickelnden  Hirnleiden,  wie  sie  sich  in  Medin's 
Falle  offenbaren,  mit  Griesinger  als  Momente  be- 
trachten dürfen,  die  für  das  Vorhandensein  von 
Hirncysticerken  verwerthet  werden  konnten,  aber 
wir  dürfen  auch  Griesinger's  Ausspruch  nicht 
vergessen :  .„Es  ist  einmal  so,  daß  sich  die  Hirn- 
krankheiten nicht  so  einfach  wie  ein  pleuritisches 
Exsudat  oder  eine  Mitraliserkrankung  diagnosti- 
oieren  lassen". 


1104      Gott  gel.  Anz.  1880.  Stück  35. 

« 

Von  sonstigen  casnistischen  Mittheilnngen  bie- 
tet ein  im  Novemberheft  enthaltener,  von  Dr.  W. 
Bergsten  in  Norrköping  beschriebener  Fall  von 
Stummheit  ein  Beispiel  eines  theilweise  durch  Ent- 
wöhnung vom  Sprechen  in  einer  einsamen  Gegend 
von  Ostergötland  entstandenen  theilweise  auch 
wohl  zur  Erregung  des  Mitleids  vorgeschützten 
Mutismus.  Von  medico-legalem  und  gleichzeitig 
psychiatrischem  Interesse  ist  ein  von  Medicinalrath 
Ha  11  in  ausführlich  besprochener  Fall  von  zwei- 
felhaftem Geisteszustände  eines  wegen  Fälschung 
in  Untersuchung  befindlichen  Kaufmanns,  der 
von  dem  Gefäugnitiarzte  für  zurechnungsfähig 
erklärt,  auf  Beschluß  des  Mediciualcollegiums 
dem  Oberarzte  des  Hospitals  in  Hernösaud,  Dr. 
Oedmao,  zur  psychiatrischen  Untersuchung  und 
Begutachtung  zugewiesen  wurde,  welcher  in  sei- 
nem ausführlichen  Gutachten  das  Vorhandensein 
von  Folie  circulaire  darthat  und  die  Unzurech- 
nungsfähigkeit des  Angeklagten  auch  zur  Zeit 
des  begangenen  Verbrechens  zur  Evidenz  erwies, 
welcher  Ansicht  das  schwedische  Mediciualcolle- 
gium  beipflichtete.  Aus  der  Chirurgie  gehört 
hierher  eine  von  G.  Boiling  im  Kraukeuhause 
zu  Wisby  ausgeführte  Kuiegelenksresection,  zu 
welcher  Tumor  albus  den  Anlaß  gab;  aus  der 
Geburtshülfe  ein  Beitrag  zur  spontanen  Ruptur 
der  Gebärmutter  während  der  Entbindung  mit 
glücklichem  Ausgange,  welchen  Stadtarzt  V.  Moss- 
berg  in  Eskilstuna  beobachtet  und  beschrieben 
hat.  Der  letzte  Fall  ist  um  so  merkwürdiger, 
als  ein  Grund  für  die  spontane  Uterusruptur  nicht 
auffindbar  ist,  zumal  da  die  Wehenthatigkeit  in 
keiner  Weise  eine  stürmische  oder  outnerte  war. 

Von  den  nicht  an  einen  einzelnen  Fall  sich 
anlehnenden  Aufsätzen  heben  wir  in  elfter  Linie 
eine  von  jfroi.  einer.    Dr.  J.  Bonsdorff  über 


Hygiea.  Bd.  XU.  1106 

die  von  ihm  bei  Behandlung  von  Diphtherie  be- 
folgte Methode  hervor,  die  es  dem  Verfasser  er- 
möglichte, die  Prognose  bei  Diphtheritis  als  eine 
sehr  günstige  zu  betrachten,  da  ihm  anter  An- 
wendung derselben  im  Laufe  von  zwei  Decen- 
nien  bei  mehr  als  tausend  Kranken  nur  3  Todes- 
fälle vorkamen,  welche  z.  Th.  der  zu  späten  Ein- 
leitung der  betreffenden  therapeutischen  Maß- 
regel Schuld  zu  geben  sind.  Die  BonsdorfFsche 
Methode  ist  übrigens  im  Wesentlichen  nichts  an- 
deres  wie  die  ja  au6h  in  Deutschland  von  ein- 
zelnen Aerzten  gepriesene  Abkratzungsmetbode, 
combiniert  mit  Cauterisation  vermittelst  concen- 
trierter  Lapislösung,  und  basiert  auf  der  An- 
nahme, durch  Entfernung  des  Exsudats  und  des 
sämmtlichen  mortificierten  Gewebes  das  Auftreten 
einer  allgemeinen  Infection  verhüten  zu  können. 
Die  Beseitigung  des  Exsudats  geschieht  bei  Bons- 
dorff,  welcher  übrigens  zwei  Formen  der  Diph- 
theritis, eine  mildere  mit  mehr  oberflächlichem 
und  ausgedehntem  Exsudate  und  eine  schwerere, 
mehr  in  die  Tiefe  dringende  Affection,  unter- 
scheidet, in  der  Regel  mittelst  eines  wei- 
chen Pinsels,  in  schwereren  Fällen  mittelst  eines 
härteren,  den  man  mit  Nachdruck  so  lange  an- 
zuwenden hat,  bis  die  ganze  Exsudatmasse  ent- 
fernt ist  Unmittelbar  hierauf  wird  der  feuchte 
Pinsel  in  Höllensteinpulver  getaucht  und  sobald 
letzteres  sich  gelöst  hat,  die  ganze  Wundfläche 
cauterisiert.  Es  ist  gewiß  sehr  zu  billigen,  daß 
Bonsdorff  eine  genaue  Beschreibung  des  Ver- 
fahrens giebt,  das,  wenn  man  berechtigt  ist,  den 
diphteritischen  Proceß  im  Halse  als  primitive  lo- 
cale Erkrankung  zu  betrachten,  welcher  erst  als 
secundäre  Affection  allgemeine  Blutvergiftung, 
ähnlich  wie  auf  das  primäre  Ulcus  die  Lues, 
folgt,  für  rationell  zu  erklären  und  seiner  Aus- 

70 


1106      ÖOtt.  gel  &nz>  1880.  Stick  36. 

giebigkeit  wegen  über  diejenigen  VerfabcungtH 
weisen  gestellt  werden  muß,  welche  den  mUnün 
chen  Zweck  durch  Einblasen  von  Schwefelpulver 
oder  durch  Gurgelwäaser  aus  einer  Schwefel- 
blumen-Schüttelmixtur,  wie  solche  neuerdings  voa 
Gold  in  der  dänischen  Ugeskrift  for  Läger  be- 
fürwortet wurde,  zu  erreichen  suchen.  Die  Wir- 
kung der  Schwefelblumen  und  aller  antisepti- 
scher Gurgelwässer  bei  Diphtherie  kann  nur  eine 
oberflächliche  sein  und  man  darf  Heileffecte  von 
denselben  wohl  kaum  anders  als  in  den  aller- 
dings die  größte  Mehrzahl  der  Diphtheritisfalle 
ausmachenden  leichteren  Erkrankungen  mit  ober- 
flächlichem Torsillenbelag  erwarten.  Jedenfalls, 
haben  die  Methoden  von  Bonsdorff  und  Gold  den 
Vorzug  vor  den  in  Deutschland  üblich  geworde- 
nen Massenausspülungen  mit  Lösungen  von  chlor- 
saurem Kali,  daß  sie  nicht  durch  das  Medicament 
selbst  das  Leben  der  Patienten  gefährden. 

Von  therapeutischem  Interesse  erscheint  anoh. 
der  Schluß  der  auf  die  antiseptische  Behandlung 
bezüglichen  Arbeit  von  Prof.  Bossander  ia. 
Stockholm,  worauf  wir  in  unserem  letztjährigen 
Referate  die  Aufmerksamkeit  lenkten.  Der  vor- 
liegende Schlußtheil  der  Abhandlung  betrachtet 
die  antiseptische  Therapie  der  Gtelenkaflectionen, 
in  Bezug  auf  welche  Rossander  seine  günstigen 
Erfolge  bei  Anwendung  der  intraarticulären  Dou- 
chen  bei  Synovitis  catarrbalis  und  purulent*, 
selbst  in  solchen  Fällen,  die  durch  Massage  und; 
andere  therapeutische  Mittel  nicht  gehoben  wur- 
den, betont.  Besonders  empfiehlt  er.  die  Methode . 
bei  Hydrarthros,  während  er  bei  minimen  Er- 
güssen bei  gleichzeitiger  bedeutender  Verdickung 
Einspritzung  von  Jodtinctur  der  antiseptischen 
Ausspülung  vorzieht  und  bei  frischen,  traumati- 
schen Ergüssen   und  Hämarthros  die  Massage- 


Hygiea.  Bd.  XLL  1107 

Behandlung  ab  ebenso  günstig  wirkend  und  min- 
der gefährlich  vorzieht  Am  Ende  der  Abhand- 
lung knüpft  Bossander  an  den  von  Scheve  bei 
Kniescheibenbruch  gemachten  Vorschlag  einer 
Entleerang  der  Kniegelenksflüssigkeit  unter  Anti- 
sepsis seine  eigenen  Erfahrungen  über  die  Be- 
handlung der  Tractura  patellae  an,  bei  der  er 
allerdings  den  von  Scheve  betretenen  Weg  nicht 
verfolgte.  Sossander  ist  mit  Recht  der  Ansicht, 
daß  eine  fibröse  Vereinigung  der  Bruchstücke 
der  Kniescheibe  ein  weit  weniger  ungünstiges 
Resultat  bilde  als  die  bei  der  gewöhnlichen  Be- 
handlung so  häufig  eintretende  Ankylose  und  hat 
deshalb  in  neuester  Zeit  nach  dem  Vorgange  von 
Metzger  die  Massage  angewendet  und  nach  we* 
nigen  Tagen  die  Kranken  gehen  lassen,  wobei 
er  bisher  ganz  vorzügliche  Resultate  erhielt,  in- 
dem das  Gelenk  von  seiner  vollkommenen  Be- 
weglichkeit und  Kraft  nichts  verlor.  Es  bestä- 
tigen diese,  bis  jetzt  an  drei  Fällen  gemachten 
•  Beobachtungen  übrigens  die  den  deutschen  Land- 
ärzten schon  länger  bekannte  Thatsacbe,  daß 
die  Nicbtwiederverdnigung  der  gebrochenen  Pa- 
tella durch  Knochencallas  nicht  so  viel  zu  be- 
deuten hat,  wie  man  den  Angaben  der  chirurgi- 
schen Lehrbücher  nach  insgemein  glaubt  Wir 
haben  selbst  einen  Fall  gesehen,  in  welchem  die 
Patella  durch  den  Hufschlag  eines  Pferdes  ge- 
trennt worden  war  und  die  Heilung  nur  durch 
ligamentöse  Vereinigung  zu  Stande  kam,  ohne  daß 
die  Functionsfahigkeit  des  Kniegelenks  gelitten 
hatte. 

Von  sonstigen  der  Chirurgie  angehörigen  Ab- 
handlungen hat  eine  von  G.  Santesson  auf 
Prostata  steine  bezügliche  besonderes  Interesse. 
Der  Verfasser  unterscheidet  drei  Arten  derselben, 
von  denen  die  eine  von  der  Blase  aus  in  die 

70* 


1108      Gott.  geL  Anz.  1880.  Stack  35. 

Prostata  gelangen  and  dort  stecken  bleiben  and 
sich  vergrößern,  während  die  beiden  anderen 
autocbthone  Prostataerzeugnisse  sind  and  entweder 
verkalkte  Entzündungsprodacte  oder  die  anter  dem 
Namen  der  Corpora  amylacea  bekanntenBildangen 
vorstellen.  Nea  ist  es  wohl,  was  Santesson  durch 
Mittheilung  eines  concludenten  Falles  darthnt,  daft 
die  letztgenannten  den  Kern  für  Blasensteinbildung 
abzugeben  im  Stande  sind.  Der  betreffende  Fall 
bezieht  sich  auf  einen  alten  Mann,  an  dem  die 
Lithotripsie  ausgeführt  wurde  und  der  schon 
früher  14  und  in  den  Tagen  vor  der  Operation 
noch  weitere  3  charakteristische  Prostatasteine 
entleert  hatte ;  nach  der  Operation  gingen  2  grö- 
ßere Blasensteinstücke  ab,  von  denen  das  eine 
einen  vollständig  den  Prostatasteinen  gleichenden 
Kern  einschloß.  Diese  Genese  eines  Blasensteins 
scheint  indessen  nur  ausnahmsweise  vorzukommen, 
wie  ein  anderer  Fall  lehrt,  in  welchem  beim 
Vorhandensein  von  Blasensteinen  die  Lithotripsie 
wegen  äußerst  zahlreicher  Prostataconcremente 
nicht  ausgeführt  werden  konnte,  die  durch  den 
Steinschnitt  herausgeförderten  Blasensteine  ins- 
gesammt  keinen  Prostatastein  einschlössen. 

Aus  dem  von  der  Stadt  Stockholm  neu  ge- 
gründeten, für  300  Kranke  berechneten  und  im 
Pavillonsysteme  gebauten  Sabbatsberg-Hospital, 
über  dessen  innere  Einrichtung  ein  längerer  Auf- 
satz von  Warfwinge,  welcher  den  diesmaligen 
Band  der  Hygiea  einleitet,  den  Leser  orientiert, 
bringt  Ivar  Svensson  mehrere  interessante 
Ovariotomien  und  Oolotomien,  deren  Mittheilung 
wir  mit  um  so  größerer  Freude  entgegen  nehmen, 
als  sie  uns  Bürgschaft  dafür  leistet,  daß  die  Er- 
fahrungen in  dem  neu  gegründeten  Institute  der 
Wissenschaft  dienen  werden. 

Außer  einem  an  englische  Reiseerinnerungen 


Hygiea.  Bd.  XLI.  1109 

anknüpfenden   Artikel  von  Jobn  Berg  über 
subcutane  Osteotomieen  haben  wir  als  von  chi- 
rurgischer  Bedeutung   noch   einen  Artikel   von 
Engdahl  über  Aetherisation  hervorzuheben,  durch 
welchen  die  bekanntlich  in  den  letzten  Jahren  in 
Großbritannien  wieder  lebhaft  discutierte  Chloro- 
form-Aetherfrage  in  Skandinavien  importiert  wird. 
In  dem  für  die  Anwendung  des  Aethers  plaidie- 
renden  Aufsatze  haben  wir  neue  Gesichtspunkte 
nicht  aufzufinden  vermocht;  es  wird  im  Wesent- 
lichen Alles  wiederholt,   was  die  Aetherfreunde 
in  Lyon  und  in  den  Vereinigten  Staaten  Gutes  für 
ihren  Schützling  ausfindig  gemacht  haben,  wobei 
man    im  Drange  des  Enthusiasmus   es  mit  der 
Kritik  nicht  immer  so  genau  nimmt,  wie  es  dem 
nicht  auf  der  Zinne  der  Partei  stehenden  Arzt 
wünschenswerth  erscheinen  muß.   Man  behauptet 
z.  B.  unter  Anwendung  eines  stark  nach  Schola- 
stik  schmeckenden  Deductionsverfahrens ,    daß 
kein  sicher  verbürgter  Aethertodesfall  existiere, 
ohne  zu  bedenken,  daß  es  unter  Benutzung  ana- 
loger Entlastungsbeweise  einem  guten  Sachwalter 
leicht  gelingen  würde,  auch  das  Chloroform  von 
der   böswilligen  Verläumdung  zu  befreien,  daß 
jemals  dadurch  ein  Menschenleben  zu  Grunde  ge- 
gangen sei.    Es  ist  gewiß  richtig,  daß  der  Aether 
minder  gefahrlich  ist  als  das  Chloroform,  aber 
es   kann  auch  keinem  unparteiischen    Sachver- 
ständigen, der  die  Literatur  der  Aethertodesfälle 
durchstudiert,  entgehen,  daß  es  Fälle  giebt,  wo 
der  während  der  Operation  vorgekommene  Tod 
ans  nichts  anderem  wie  aus  der  Einwirkung  des 
Anaestheticums  erklärt  werden  kann.  Man  wird 
überhaupt   eine   wahrhaft  wissenschaftliche  und 
befriedigende  Lösung  des  Aether-Chloroformstreits 
nur  dann  herbeiführen  können,  wenn  man  sich 
des  einseitigen  Feldgescbreies :  Hie  Aether,  hie 
Chloroform  entschlägt   und  jedem  der  beiden 


1110      68tt.  gel  Anz.  1880.  Stück  35. 

Agentien  das  seinige  giebt,  denn  beide  haben 
ihre  Vorzüge,  beide  ihre  Schattenseiten  unter  ge- 
wissen Verhältnissen.  Es  muß  die  Aufgabe  sich 
dahin  stellen,  daß  der  Chirurg  weder  ausschließ- 
lich das  Chloroform  noch  ausschließlich  den  Ae- 
ther als  Anaestheticum  bei  seinen  Operationen 
benutze  und  daß  er  in  jedem  Einzelfalle  die  für 
das  eine  oder  das  andere  sprechenden  Indicatio- 
nen  genau  erwäge,  um  die  richtige  Auswahl  zu 
treffen.  Die  einzelnen  Verhältnisse,  welche  hier 
in  Betracht  kommen,  zu  beleuchten,  ist  hier  nicht 
der  Ort  und  mag  es  genügen  zu  betonen,  daß 
wenn  wir  auch  keineswegs  allen  Deductionen 
Engdahl's  beipflichten  können,  wir  doch  seine 
Absicht,  das  Monopol  des  Chloroforms  als  A- 
naestheticum  im  Norden  zu  beseitigen,  nur  bil- 
ligen können,  da  es  in  Wirklichkeit  Individuen 
und  Erankheitszustände  giebt,  bei  welchen  das 
Chloroform  geradezu  nicht  angewendet  werden 
darf,  ohne  das  Leben  aufs  Spiel  zu  setzen. 
Ebensowenig  aber  würde  es  gerechtfertigt  sein, 
das  Monopol  des  Chloroforms  durch  ein  solches 
des  Aethers  zu  ersetzen,  der  hinsichtlich  seiner 
Verwendbarkeit  dem  Chloroform  gegenüber  ge- 
wisse Nachtheile  darbietet,  die  auch  durch  die 
neueren  Inhalationsverfahren  und  Einathmungs- 
apparate  englischer  Autoren  nicht  völlig  besei- 
tigt werden. 

Die  übrigen  Arbeiten  gehören,  mit  Ausnahme 
eines  Aufsatzes  von  E.  Edlund  über  Waiden- 
burg's  transportablen  pneumatischen  Apparat, 
einer  Abhandlung  von  0.  Sandahl  über  Coto- 
und  Paracotorinde  und  einer  Mittheilung  von 
Ekman  über  die  Mineralwasserfabrikation  der 
Nordstern-Instructionsapotheke ,  sämmtlich  der 
Hygieine  an.  Unter  diese  Kategorie  fällt  auch 
die  von  Professor  W.  Netze  1  gehaltene  Festrede 
über  die  Natur  des  Puerperalfiebers  und  die  wich- 


Hyglea.  Bd.  XLI.  1111 

tigsten  Maßregeln  ear  Verhütung  desselben,  in 
welcher  der  Verfasser  die  ja  nach  langem  Kampfe 
zu  allgemeiner  Geltung  bei  den  Geburtshelfern 
gelangte  Theorie  von  Semmelweis,  daß  die  Fe- 
bris  puerperalis  als  septische  Infection  erscheint, 
vertritt.  Von  besonderem  Interesse  sind  die  in 
der  Arbeit  enthaltenen  Angaben  über  die  Ver- 
hältnisse des  Kindbettfiebers  in  Schweden  und 
Stockholm,  die  theils  auf  officielle  Daten,  theils 
auf  eine  Zusammenstellung  von  Professor  Ce- 
derschiöld  sich  gründen. 

Ebenfalls  durch  statistische  Notizen  aus 
Schweden  und  speciell  ans  Göteborg  aasgezeich- 
net ist  ein  Aufsatz  von  Professor  Elias  Hey- 
man  über  den  Einfluß  gesander  Wohnungen  auf 
die  Mortalität  der  Arbeiter,  in  welchem  Übrigens 
außer  den  bekannten,  auf  Pest h  bezüglichen  un- 
garischen Untersuchungen  eine  Reibe  in  techni- 
schen Zeitschriften  zerstreuter  Zahlenangaben 
zusammengestellt  ist,  aus  denen  das  beberzi- 
genswerthe  Resultat  sich  ergiebt,  daß  das  Sterb- 
Hchkeitsverhältniß  der  Arbeiterbevölkerung  durch 
gesunde  Wohnungen  auf  das  gleiche  Niveau  mit 
derjenigen  der  am  besten  Bituierten  Classen  der 
Bevölkerung  gebracht  werden  kann.  Wie  die- 
ses Ergebnis  von  Hey  man's  Untersuchungen, 
sind  aueh  die  von  ihm  darauf  begründeten  For- 
derungen in  hohem  Grade  beachtungswerth. 

Auf  die  Hygieine  der  Gebäude  beziehen  sich 
aueh  zwei  treffliche  Aufsätze  von  Dr.  Curt 
Wallis  im  letztem  Hefte  der  Zeitschrift,  von 
denen  der  eine  die  verschiedenen  Methoden  der 
Bestimmung  des  Kohlensäuregehalts  der  Luft  zu 
hygieinischen  Zwecken  zum  Gegenstande  hat, 
während  der  zweite  die  von  Wallis  mit  Unter- 
stützung des  Stockholmer  Sanitätsinspectors  M. 
Son  din  und  der  Ingenieure  J.  Edberg  und 
0.  Ann  eil  ausgeführten  Analysen  der  Luft  in 


1112       Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  35. 

den  Theatern  und  verschiedenen  Kaffeelocalen 
Stockholms  vorführt  und  in  hygieinischer  Be- 
ziehung erörtert.  Die  in  Bezug  auf  die  Stock-  j 
bolmer  Theater  gefundenen  Zahlen  des  Kohlen-  " 
Säuregehalts  sind  wahrhaft  überraschend,  um 
nicht  zu  sagen  erschreckend,  denn  während  nach 
der  bei  uns  allgemein  gültigen  Annahme  "eine 
Luft  mit  mehr  als  0,7  per  mille  bei  längerer 
Einathmung  unhygieinisch  ist  und  eine  Atmo- 
sphäre, welche  durch  Respiration  und  Perspira- 
tion auf  einen  Kohlensäuregehalt  von  mehr  als 
1  per  mille  gebracht  wurde,  als  gesundheits- 
schädlich aufgefaßt  werden  muß,  scheint  der  ge- 
wöhnliche Kohlensäuregehalt  der  Luft  in  der 
Mehrzahl  der  Stockholmer  Theater  während  eines 
Spielabends  3 — 4  per  mille  zu  sein,  während  er 
sich  nur  ausnahmsweise  auf  1 — 2,  dagegen  häu- 
figer auf  5 — 6 — 7  stellt.  Diese  Durchschnitts- 
zahlen, die  sich  vielleicht  noch  höher  gestellt 
hätten,  wenn  die  analytischen  Untersuchungen 
nicht  in  der  allerkältesten  Jahreszeit  ausgeführt 
wären,  contrastieren  auch  mit  den  wenigen  An- 
gaben, welche  sich  über  Theaterluft  in  der  Li- 
teratur bisher  vorfinden.  In  den  Londoner  Thea- 
tern ist  z.  B.  nach  Hart  der  höchste  Kohlen- 
säuregehalt 3,2  (Parterre  im  Standard-Theater) 
und  der  mittlere  zwischen  1  und  1,5,  in  New- 
York  nach  Sander's  Handbuch  der  öffentlichen 
Gesundheitspflege  bei  schwach  besetztem  Theater 
1,2—2,4  und  bei  starkem  Theaterbesuch  1,3—4,1. 
Es  ist  natürlich  nicht  gestattet  ohne  Weiteres  der- 
artige Zahlen  zu  parallelisieren,  weil  eben  nicht 
in  allen  Punkten  des  Locals  die  Luftbeschaffen- 
heit genau  dieselbe  ist,  weil  die  verschiedenen 
Stunden  des  Theaterabends  an  sich  differente 
Resultate  ergeben,  die  noch  dazu  durch  die  ver- 
schiedene Anzahl  der  Zuschauer  variiert  werden. 
Alle  diese  Momente  sind  indessen  von  Wallis 


Hygiea.   Bd.  XLI.  1113 

gebührend  berücksichtigt  und  die  angeführten 
Mittelzablen  müssen  als  exact  bezeichnet  werden, 
indem  sie  einen  Ansdrnck  für  die  Luftbeschaffen- 
heit geben,  die  bei  einem  zu  */s  besetzten  Zu- 
schauerräume maßgebend  ist.  Im  Uebrigen 
glauben  wir,  daß  die  an  sich  so  auffälligen  Ver- 
hältnisse der  Stockholmer  Theater  in  einem  auch 
von  Wallis  besonders  betonten  Umstände  ihren 
hauptsächlichsten  Grund  haben.  Es  ist  dies  das 
frühe  Anzünden  der  Gasflammen,  welche  bei  den 
ziemlich  mangelhaften  Heizvorrichtungen  ihren 
Theil  zur  Erwärmung  des  Zuschauerraums  zu 
liefern  berufen  sind  und  wodurch  sich  auch  in 
ungezwungenster  Weise  die  eigenthümliche  Höhe 
des  Kohlensäuregehalts  beim  Beginne  der  Vor- 
stellung erklärt.  Derselbe  ist  im  Anfange  des 
ersten  Acts  schon  gleich  3,4  und '  steigt  dann 
keineswegs  unaufhaltsam,  sondern  nur  bis  zum 
dritten  Acte  bis  4,1,  um  dann  wieder  auf  3,95 
reap.  4,0  abzusinken.  Diese  Zahlen  ergeben,  daß 
die  natürliche  Ventilation  ausreicht,  um  einen 
Eohlensäureexceß  von  einer  gewissen  Größe  zu 
beseitigen  und  es  ist  im  hohen  Grade  wahrschein- 
lich, daß  die  nach  den  gleichzeitigen  Untersu- 
chungen von  Wallis  in  den  fraglichen  Localen 
constant  bis  zum  Schlüsse  steigende  Temperatur 
durch  die  damit  verbundene  Erhöhung  der  Ven- 
tilation das  Wiederherabgehen  des  Kohlensäure- 
gehalts bedingt.  Solche  Untersuchungen,  wie  sie 
von  Wallis  ausgeführt  wurden,  haben  unseres 
Eraehtens  eine  hohe  Bedeutung  für  die  öffent- 
liche Hygieine  und  sollten  insbesondere  auch, 
wie  dies  in  Schweden  übrigens  von  Elias  Hey- 
man  geschehen  ist,  auf  Schullocalitäten  und 
analoge  Räume,  die  täglich  oder  häufig  von  einer 
Menge  Menschen  benutzt  werden,  Ausdehnung 
finden.  Man  erhält  dadurch  einen  bestimmten 
Ausdruck,   durch  Gewicht  und  Zahl  bestimmt, 


1114      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stttck  35. 

fthr  die  Verschlechterung  der  Luft  in  einer  ge- 
gebenen Zeit,  einen  quantitativen  Maßstab  flir 
Gebrechen,  die  man  zwar  allgemein  zugiebt  und 
mitunter  mit  Eifer  rügt,  über  deren  Umfang  aber 
man  bis  auf  die  neueste  Zeit  nur  vage  Vorstel- 
lungen hatte.  Kann  man  diese  Uebelstände  mit 
bestimmten  Zahlen  beweisen,  so  wird  man  auch 
dadurch  eher  als  durch  bloßes  Raisonnement 
deren  Beseitigung  erwirken  können. 

Wie  die  beiden  letztgenannten  Arbeiten  auf 
die  Luft,  so  beziehen  sich  .zwei  andere  auf  das 
Wasser.  In  der  einen  handelt  Albert  Atter- 
berg  über  untaugliche  Trinkwässer  und  deren 
Reinigung  durch  Filtration.  Der  Verfasser  hat 
sich  zur  Aufgabe  gestellt,  die  verschiedenen  Fil- 
trierapparate in  Bezug  auf  ihr  Vermögen,  Trink- 
wasser von  organischen  Stoffen  zu  befreien,  de- 
ren quantitative  Bestimmung  mittelst  der  Chamä- 
leonprobe ausgeführt  wurde,  zu  prüfen.  Das  Rei- 
nigungsmaterial in  den  benutzten  Filtern  war  theils 
Kohle,  theils  der  neuerdings  ja  bei  uns  vielbe- 
sprochene Eisenschwamm.  Als  den  wirksamsten 
Apparat  erkannte  Atterberg  das  von  dem  Eng- 
länder Cheovin  construierte  Kohlenfilter,  des- 
sen Werth  daran  erkannt  werden  kann,  daß  nach 
seiner  Anwendung  eine  Verminderung  des  Sauer- 
stoffverbrauches um  99,1  °/o  constatiert  wurde. 
Der  zweite  auf  das  Wasser  bezügliche  Aufsatz 
trägt  einen  specielleren Charakter,  indem  ersieh 
auf  die  Hygieine  der  Brunnen-  und  BadecurÖrter  be- 
zieht, für  welche  A.  Lewertin  einen  vom  Staate 
angestellten  sachverständigen  Inspector  fordert 

Schließlich  gehört  in  die  Kategorie  der  hygiei- 
nischen  Arbeiten  der  Bericht  von  G.  Dunir 
über  seine,  im  Auftrage  des  schwedischen  Medi- 
cinal-Directoriums  an  Ort  und  Stelle  gemachten 
Untersuchungen  über  die  Pest  im  Gouvernement 
Astrachan.    Der  Aufsatz  giebt  eine  klare  Ueber- 


Hygiea.  Bd.  ILL  1115 

sieht  der  vom  Verfasser  gewonnenen  Resultate 
über  Entstehung  und  Ausbreitung  der  Krankheit 
und  über  die  hygieinischen  Verhältnisse  des  frag- 
lichen Gouvernements.  Wir  wollen  bemerken, 
daß  der  Verfasser  zu  diesem  rein  wissenschaft- 
lichen Berichte  noch  einen  zweiten  Reisebericht 
in  der  Tidskrift  i  militär  bälsovärd  veröffentlicht 
bat,  der  die  äußeren  Gontouren  der  russischen 
Reise  mehr  hervortreten  läßt  und  in  höchst  inter- 
essanter Weise  die  Reiseeindrücke  Dun&r's  wie- 
dergiebt,  die  er  auf  seinem  nicht  ohne  Schwie- 
rigkeiten und  Abenteuer  ausgeführten  wissen- 
schaftlichem Ereuzzuge  sammelte.  Uebrigens 
ist  Dun6r  nicht  der  einzige  Schwede,  der  in 
öffentlicher  Mission  den  Pestbezirk  bereiste,  in- 
dem auch  das  GroßfÜrstenthum  Finnland  den 
Dr.  Axel  0.  Spoof  aus  Abo  absandte,  von 
welchem  ein  etwas  verspäteter  Bericht  in  derii 
ersten  und  zweiten  Hefte  des  22.  Bandes  der 
Fin sk a  Läkare  Sällskapet  Handlingar  vorliegt 
Daß  die  orientalische  Pest  in  Schweden  mit  dem- 
selben Interesse  und  der  nämlichen  Besorgniß 
verfolgt  worden  ist  wie  bei  uns,  ergiebt  sich 
nicht  allein  aus  der  Abordnung  dieser  Sachver- 
ständigen, sondern  auch  bei  einem  Blicke  auf 
'  die  Verhandlung  der  Schwedischen  Gesellschaft 
der  Aerzte,  in  welcher  die  Pest  in  Persien  und 
im  südlichen  Rußland  den  Gegenstand  wieder- 
holter Discussionen  bildete. 

Was  die  letztgenannten  Verhandlangen  betrifft,  bo 
bieten  dieselben  neben  den  in  der  Hygiea  publicierten 
Originalartikeln,  welche  ja  sämmtlioh  zuerst  in  derSvenska 
Lakare  Sällskap  vorgetragen  wurde,  noch  ein  so  reichliches 
.  wissenschaftliches  Material,  daß  eine  nur  einigermaßen  er- 
schöpfende Darstellung  des  Inhalts  kaum  möglich  ist  und 
wir  uns  darauf  beschranken  müssen,  auf  einzelne  inter- 
essante Vortrage  und  Mittheilungen  aufmerksam  zu  ma- 
chen. Besonders  stark  vertreten  ist  hier  die  Casuistik, 
was  nicht  auffallen  kann,  wenn  wir  uns  vergegenwärtigen, 
daß  in  die  Hygiea  k  diesem  Jahre  nur  wenige  casuisti- 


1116      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  35. 

sehe  Beiträge,  hauptsächlich  die  auswärtiger  Vereinsmit- 
glieder aufgenommen  warden.  Ganz  überraschend  ist  in 
dem  vorliegenden  Bande  der  Verhandlung  die  Zahl  der 
gynäkologischen  und  geburtshülflichen  casuistischen  Mit- 
teilungen, an  denen  Professor  Netzel  einen  großen  An- 
theil  besitzt.  Wir  finden  von  demselben  der  Reihe  nach 
Mittheilungen  über  Hysterotomie  und  die  von  Schröder 
angegebene  Modification  der  Cervicalexcision  durch  die 
Vagina  mit  einem  Falle  der  letzteren  Operation;  einen 
Fall  von  plötzlichem  Tode  während  der  Entbindung,  in 
welchem  die  Todesursache  nicht  entdeckt  werden  konnte; 
einen  Fall  von  Tubarsch  wan  gerschaft  mit  Berstung  der 
Tuben.  Ebenso  reichliche  Beiträge  lieferte  Professor  A. 
Andersson,  einen  Fall  von  normaler  Gravidität  neben 
einem  Lithopädion,  einen  Fall  von  Entbindung  bei 
Becken  Verengung  und  narbiger  Cervicovaginalstenose  und 
zwei  Fälle  von  Fötus  compressus  in  Folge  von  Nabel- 
strangumschnürung;  ebenso  bringen  Professor  Ceder- 
schiöld,  Groth,  Sonden  und  Ivar  Svensson  auf 
Gynäkologie  und  Geburtshülfe  bezügliche  Aufsätze.  Hieran 
reiht  sich  auch  ein  von  Warfwinge  und  Svensson 
berichteter  Fall  von  Kaiserschnitt  bei  einer  Todten  mit 
glücklichem  Ausgange  für  das  Kind.  Der  Fall  kam  in 
dem  neuen  Sabbatsbergs- Hospitale  vor  und  bot  dadurch, 
daß  die  Mutter  in  einer  Krankenanstalt  während  der  Ge- 
burt unter  Erstickungserscheinungen  zu  Grunde  ging,  be- 
sonders günstige  Chancen  für  die  Lebensrettung  des  Kin- 
des, da  der  operative  Eingriff  so  zu  sagen  auf  der  Stelle 
ausgeführt  werden  konnte,  doch  bedurfte  es  sehr  ange- 
strengter Bemühungen,  um  durch  künstliche  Respiration 
bei  gleichzeitigem  Hervorziehn  der  Zunge  das  scheintodte 
Kind  zum  Leben  zu  bringen,  nachdem  andere  Methoden 
der  künstlichen  Athmnng  fehlgeschlagen  waren.  Der  Tod 
der  Mutter  war,  wie  die  Section  nachwies,  durch  Throm- 
bose der  Pulmonalarterie  erfolgt,  zu  deren  Zustande- 
kommen ein  oomplicierter  Herzfehler,  Insuffizienz  der 
Mitralis  und  der  Aorta  der  offenbare  Grund  war.  In 
ähnlicher  Weise  wie  die  Geburtshülfe  ist  übrigens  auch 
die  Chirurgie  durch  eine  Reihe  von  Mittheilungen  von 
Rossander,  Svensson,  Santesson  u.  A.  vertreten, 
ebenso  die  innere  Medicin  durch  Vorträge  von  Professor 
Bruzelius,  Malmsten,  Kjellberg  und  die  pa- 
thologische Anatomie  durch  solche  von  Key.  Unter  den 
Mittheilungen  von  Bruzelius  ist  ein  Fall  periodischer 
Hämoglobinurie  hervorzuheben;  mehrere  Beispiele  von 
pernieiöser  progressiver  Anämie  werden  von  Warfwinge, 
Kjerner  und  F.  Bruzelius  mitgetheilt. 


Förhandl.  vid  Svenska  Läkare-Sällskapet    1117 

Ton  toxikologischem  Interesse  ist  die  auf  8.  81  von 
Bruzelius]  beschriebene  Affection  nach  chronischem  Miß- 
brauch von  Chloralhydrat  nnd  Morphin  hervorzuheben, 
welche,  da  sie  bei  zwei  Personen  beobachtet  wurde,  wohl 
nicht  als  von  jenen  Medicamenten  anabhängig  betrachtet 
werden  kann.  In  dem  einen  Falle  hatte  ein  im  6.  Le- 
bensdecennium  stehender  Mann  7  Jahre  lang  gegen  neu* 
ralgische  Schmerzen  taglich  Morphin,  schließlich  zu  20 
Ggm.  im  Tage,  subcutan  injiciert  und  daneben  gegen  die 
bestehende  Schlaflosigkeit  allabendlich  2 — 3  Gramm  Chlo 
ralhydrat  eingenommen.  Der  Kranke  bekam  plötzlich 
einen  epileptiformen  Anfall  mit  Bewußtlosigkeit,  welchem 
ein  den  ganzen  Tag  über  anhaltendes  Coma  folgte,  nach 
welchem  Anfalle  trotz  sofortiger  starker  Verminderung 
des  Morphins  und  gänzlichem  Weglassen  des  Chlorals 
bedeutende  Schwäche  des  Gedächtnisses  und  periodische 
Geistesabwesenheit  folgte.  In  dem  zweiten  Falle  hatte 
ein  35jähriger  Mann  ebenfalls  gegen  neuralgische  Schmer« 
zen  etwa  ein  Jahr  lang  täglich  40  Cgm.  Morphin  subcu- 
tan und  5  Gm.  Chloral  verbraucht  und  diesen  Mißbrauch 
auch  fortgesetzt,  nachdem  die  Neuralgie  durch  elektrische 
Behandlung  gehoben  war.  Auch  bei  ihm  kam  es,  jedoch 
erst  nach  vorherigem  Auftreten  von  Hallucinationen  und 
psychischer  Depression,  zu  einem  ausgeprägten  epilepti- 
schen Anfalle,  der  sich  nicht  wiederholte.  Es  dürfte  sich  fra- 
gen, ob  der  gleichzeitige  Mißbrauch  beider  Narcotica  diese 
Erscheinungen  herbeiführt,  welche  weder  dem  chronischen 
Morphinismus  noch  dem  Chloralismus  angehören.  Ohn- 
machtsanfalle sind  allerdings  bei  Morphiumsüchtigen  von 
Levinstein  beobachtet,  kommen  aber,  wie  dies  die  nega- 
tive Erfahrung  des  auf  diesem  Gebiete  so  bewanderten 
Bnrkart  (die  chronische  Morphin  Vergiftung.  Bonn  1880 
p.  34)  beweist,  selten  vor  und  sind  offenbar  mit  den  von 
Bruzelius  gesehenen  epileptiformen  Anfallen  nioht  zu 
verwechseln. 

Interessant  ist  auoh  ein  von  Dr.  C.  Edling  mitge- 
teilter Selbstvergiftungsversuch  eines  Dienstmädchen  mit 
der  Zündmasse  von  Sicherheitszündhölzern,  die  indeß 
außer  heftigen  Leibschmerzen  keine  Intoxicationserschei- 
nungen  hervorrief.  Möglicherweise  stehen  diese  Symptome 
mit  einem  Gehalte  an  doppeltchromsaurem  Kali  in  Ver- 
bindung, das  neuerdings  im  Norden  verschiedene  tödt- 
liche  Vergiftungen  veranlaßt  hat.  Nach  Hamberg  ka- 
men in  Schweden  während  des  Jahres  1879  sogar  drei 
Todesfälle  vor.  Mit  Recht  weist  letzterer  darauf  hin,  daß 
bei   dieser  Intoxication  Magnesia    als   Gegengift    nicht 


1118      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  35, 

brauchbar  ist,  da  dieselbe  mit  Chromsäure  eine  leicht 
lösliche  Verbindung  bildet,  und  daß  deshalb  als  Gegen- 
gift eine  KreideemulBion  sich  empfiehlt.  Wahrscheinlich 
hat  der  in  Edling's  Vergiftungsfalle  neben  der  Zündholz- 
masse eingenommene  Kalk  die  Einwirkung  des  Kalium- 
bichromats  wesentlich  gemindert.  Die  neben  dem  dop- 
pelt chromsauren  Kali  in  den  Sicherheitszündhölzern  von 
Jönköping  vorhandenen  minimalen  Mengen  von  Phosphor 
und  Arsenik  sind  für  die  Giftigkeit  der  ersteren  ohne  Be- 
deutung. Die  bei  dieser  Gelegenheit  ebenfalls  bespro- 
chenen Reibflächen  enthalten  nach  Hamberg's  Untersu- 
chung Arsenik,  theils  von  dem  benutzten  Schwefelantimon, 
theils  von  dem  amorphen  Phosphor  herrührend,  welcher 
letztere  übrigens  nach  einer  von  Dr.  Jolin  ausgeführten 
Analyse  nicht  allein  Arsenik  (etwa  l°/o)>  sondern  auch  ge- 
wöhnlichen Phosphor  in  relativ  großen  Mengen  (2%) 
einschließen  kann. 

Es  sei  uns  schließlich  noch  gestattet,  einer  Discussion 
zu  gedenken,  welche  in  einer  der  späteren  Sitzungen  des 
Jahres  über  die  schwedische  Gesetzgebung  in  Bezug  auf 
die  mit  Arsen  gefärbten  Möbelstoffe  etc.  stattfand.  Diese 
Discussion  wurde  hervorgerufen  durch  einen  Vortrag 
Kjellberg's  über  drei  neue  von  ihm  beobachtete  Fälle  von 
chronischer  Arsenvergiftung,  in  denen  die  Benutzung  von 
Wollstoffen,  welche  mit  arsenhaltigen  Farben  gefärbt  wa- 
ren, das  Bild  der  Vergiftung  erzeugten.  Von  den  drei 
Fällen  gehört  der  eine,  in  welchem  eine  in  Norwegen 
gekaufte  Eiderdaunendecke  die  Erkrankung  veranlaßte, 
in  die  Rubrik  derjenigen  Fälle  von  Arsenicismus  chroni- 
cus, die  durch  die  Auftragung  von  Arsenfarben  auf  die 
Oberfläche  von  Zeugen  herrühren  und  bietet  somit  nichts 
Außerordentliches  in  Bezug  auf  seine  Aetiologie.  Da- 
gegen sind  die  beiden  anderen,  wenn  es  sich  dabei  wirk- 
lich um  Arsenicismus  chronicus  handelt,  interessante  No- 
vitäten, insofern  sie  den  Beweis  liefern  würden,  daß  nicht 
allein  die  mittelst  eines  Klebstoffes  auf  Zeuge  fixierten 
arsenhaltigen  Farben  gesundheitsschädlich  sind,  sondern 
daß  auch  Zeuge,  welche  durch  Imprägnation  der  Wolle 
mit  arsenhaltigen  Farben  gefärbt  wurden,  giftige  Wir- 
kungen äußern  können.  In  dem  einen  Falle  war  es  ein 
Brüsseler  Teppich,  der  als  Bettvorlage  benutzt  wurde, 
der  die  als  Vergiftungserscheinungen  gedeuteten  Symptome 
hervorrief,  welche  nach  Entfernung  des  Teppichs  aus  der 
Schlafkammer  verschwanden.  In  dem  zweiten  Falle  gab 
ein  mit  einem  braun  gefärbten  Ueberzuge  versehenes 
Schlafsopha  bei  verschiedenen  Personen  Veranlassung  au 
dem  nämlichen  Symptomcomplexe.     Wir  müssen  Kjell- 


Förhandl.  vid  Svemfr»  Utae-SiUlßkaptt    1119 

berg  beistimmen,  daß  wenn  et  sieh  um  Falle  von  Arse» 
P^ifrmn«  chroniooß  bandelt,  dieselben  niebt  verstäubten 
Arsenikalien  entstammen,  sondern  einer  gasförmigen  Ver- 
bindung, die  siob  unter  gewissen,  noch  naber  fest  zu  stel- 
lenden chemischen  Verhältnissen  bildet,  and  wir  halten 
es  für  dringend  angezeigt,  daß  die  Sanitatspolizei  sich 
auch  am  Zeage  kümmere,  aaf  denen  die  Arsenfarbe  niobt 
bloß  äußerlich  fixiert  wurde.  Wir  müssen  diese  Forderung 
um  so  mehr  stellen,  weil  das  Vorhandensein  des  chroni- 
schen ArsenicismuB  in  den  fraglichen  Fallen  von  Kjellberg 
so  wahrscheinlich  gemacht  ist,  wie  es  überhaupt  nur  im- 
mer angebt.  Es  ist  allerdings  wohl  richtig,  daß  der  Com- 
plex der  Symptome  bei  der  ohronisohen  Arsen  Vergiftung 
ein  etwas  unbestimmter  ist,  der  möglicherweise  auch  von 
allerlei  andern  chronisch  einwirkenden  Schädlichkeiten 
herrührt;  Kopfschmerzen  and  Schwindel,  allgemeine  Mat- 
tigkeit und  analoge  Erscheinungen  in  der  Morgenfrühe, 
die  sich  dann  tags  über  mehr  oder  minder  verlieren,  sind 
namentlich  bei  zarten  Individuen  mit  Tendenz  zu  gastri- 
schen Störungen  und  besonders  beim  weiblichen  Gesohlechte 
ein  nicht  seltenes  Vorkommniß,  ohne  daß  die  Kranken 
irgend  wie  mit  Arsen  zu  thun  haben.  Das  Aufhören  die- 
ser Erscheinungen  nach  Entfernung  des  arsenhaltigen 
Stücks  ist,  wie  der  Beweis  ex  juvantibus  et  nocentibos, 
nur  dann  von  einer  gewissen  Sicherheit,  wenn  er  wieder- 
holt geliefert  wird.  In  der  Vergiftungsgeschichte  mit 
dem  Schlafsophs  ist  dieser  Beweis  allerdings  so  häufig  er- 
bracht, die  Symptome  sind  an  verschiedenen  Individuen 
•eingetreten,  sie  haben  sich  jedesmal  bei  ganz  Gesunden 
nach  der  ersten  Nachtrahe  auf  der  inoriminierten  Lager- 
stelle  eingestellt,  daß  wir  hier  keinen  Zweifel  hegen,  ob- 
schon  der  Nachweis  des  Giftes  nur  in  dem  Möbelzeuge, 
nicht  aber  in  den  Secreten  der  Vergifteten  geliefert  wurde. 
Dieser  letztere  Nachweis  würde  in  dem  angeblich  durch 
den  Brüsseler  Teppich  veranlaßten  Vergiftungsfalle  unseres 
Erachtens  durchaus  notbwendig  sein,  um  die  Diagnose  za 
sichern,  Wir  sind  freilich  nicht  der  Ansiebt,  daß  die 
Verstäubung  irgend  eines  anderen  Farbstoffes  des  bunten 
Teppichs  mit  den  Wollpartikelchen  die  Krankheitserschei- 
nungen bedingt  habe,  und  namentlich  dürfte  bei  der  Un- 
schädlichkeit relativ  großer  Mengen  von  Kupferverbindun- 
gen den  letzteren  kein  Antheil  an  der  Erkrankung  beige- 
legt werden  können.  Aber,  selbst  wenn  es  sich  um  Ar- 
senicismus  chronicus  bandelt,  macht  der  Umstand,  daß  eine 
zweite  in  demselben  Schlafraume  befindliche  Person  nioht 
in  gleicher  Weise  erkrankte,  es  wahrscheinlich,  daß  eher 
die  Wohnräume  als  der  Schlafraum  den  Grund  za  der 


1120      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  35. 

Affection  legten.  Jedenfalls  aber  können  wir,  selbst  zu- 
gegeben, daß  der  Teppich  die  Ursache  war,  eine  aas  dem 
Falle  herzuleitende  Berechtigung  zur  Kritik  der  neuesten 
Kundgebung  des  Schwedischen  Medicinalcollegiums  nicht 
erblicken.  Die  Forderung,  daß  alle  gefärbten  Zeuge  voll- 
kommen arsenfrei  sein  sollen,  ist  eine  übertriebene  und 
die  Interessen  der  Fabrikation  und  des  Handels  derartig 
schädigende,  daß  sie  nicht  aufrecht  erhalten  werden  kann. 
Ist  der  in  Rede  stehende  Fall  ein  solcher  von  chronischer 
Arsen  Vergiftung,  so  kann  es  sich  eben  nur  um  eine  jener 
körperlichen  Prädispositionen  handeln,  welche  wir  mit 
den  Namen  Idionsynkrasie  belegen.  Für  solche  besondere 
Individualitaten  kann  man  aber  gewiß  nicht  das  Interesse 
vieler  Anderer  schädigende  gesetzliche  Schutzmaßregeln 
fordern.  Wir  erinnern  an  die  zum  Schutze  des  Publikums 
gesetzlich  festgestellten  Maximaldosen  für  heroisch  wir- 
kende Medicamente.  Wollte  man  dieselben  nach  den 
Idiosynkrasien  gegen  einzelne  Stoffe  normieren,  so  würde 
man  zur  Angabe  von  Quantitäten  gelangen,  welche  dem 
Arzte  und  Apotheker  bei  ihrer  Thätigkeit  mannigfache 
Vexationen  brächten,  ja  wenn  man  in  Analogie  mit  der 
Kjellberg'schen  Forderung  die  heroischen  Medicamente 
gesetzlich  behandeln  wollte,  so  müßte  man  den  Gebrauch 
mehrerer  der  wichtigsten  überhaupt  untersagen.  Für  die 
Abwehr  der  chronischen  Arsenvergiftung  von  nicht  prä- 
disponierten Individuen  sind  aber  die  vom  Medicinalcol- 
legium  neuerdings  aufgestellten  quantitativen  Normen  des 
zulässigen  Arsengehalts  von  Zeugen,  Tapeten  u.  s.  w.  nach 
unserm  Ermessen  vollkommen  ausreichend  undwirmöoh-  ' 
ten  glauben,  daß  das  Sophazeug  inKjellbergs  einem  Ver- 
giftungsfalle einen  so  reichlichen  Arsengehalt  liefern  mußte, 
daß  dasselbe  nach  den  schwedischen  Gesetzen  dem  Ver- 
kaufe entzogen  worden  wäre. 

Wenn  wir  den  Inhalt  der  Hygiea  und  der  Verhand- 
lungen der  Gesellschaft  der  Schwedischen  Aerzte  im  Jahre 
1879  überblicken,  so  kann  uns  nicht  entgehen,  wie  die 
älteste  der  bestehenden  medicinisohen  Zeitschriften  auch 
jetzt  noch,  wo  die  periodische  Literatur  Schwedens  sich 
in  Analogie  mit  den  Verhältnissen  in  Deutschland  all- 
jährlich um  neue  Organe  mehrt,  an  Reichhaltigkeit  und 
Mannigfaltigkeit  nichts  zu  wünschen  übrig  läßt  und  dem 
inländischen  und  ausländischen  Arzte  Belehrung  in  vollem 
Maße  gewährt. Th.  Hnsemann. 

Für  die  Redaction  verantwortlich :  R  Behnisch,  Director  d.  Gott.  gel.  Anz. 

Commissions -Verlag  der  JHetericK sehen  Verlags-  Buchhandlung. 

Druck  der  Dieterich! sehen  Univ.-  Buchdruckerei  ( W.  Fr.  Kaestnerh 


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1121 


Gtfttingische 

gelehrte    Anzeigen 

anter  der  Aufsicht 
der  K0nigl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Stück  36.  Z&       8.  September  1880. 

Inhalt:  Urkunden  rar  Geschichte  Italiens  im  Mittelalter.  Yon  B. 
Vmkdnvmn.  —  N.  Porter,  Physiological  Metaphysics.  Yon  0. 
Ttichnüäer.  —  0.  ZÖckler,  Die  Lehre  Tom  Urständ  des  Menschen. 
Ton  Fr.  ZMsfcrvtocL  —  J.  Baechtold,  Das  giftokhaft*  Schiff  yon 
Zürich.    Von  K.  Qoedeke. 

s  Eigenmächtiger  Abdruck  von  Artikeln  der  Gott.  gel.  Anz.  verboten  as 


Urkunden  zur  Geschichte  Italiens  im  Mittelalter. 

I  diplomi  della  cattedrale  di  Mes- 
sina ,  raccolti  da  Antonino  Amieo  e  pubblicati 
snlla  fede  del  codice  della  bibhoteea  comunale 
di  Palermo  per  cnra  di  Baffaele  Starrabba. 
Fase.  I— IV.   Palermo  1876— 78.   256  p.  gr.8°. 

Memorie  storiche  Agrigentine  per 
l'arv.  Giuseppe  Picone.  Memoria  sesta  snl 
periodo  della  monarchia.  Parte  prima.  Gir- 
genti  1873.  p.  449—568.  I— CXXXVI.   kl.  fol. 

Le  carte,  che  si  conseryano  nello  archirio 
del  capitolo  metropolitano  della  citti  di 
Trani  (dal  IX.  secolo  fino  all1  anno  1266), 
pnbbl.  da  Arcangelo  di  Goacchino  Pro  logo. 
Barletta  1877.    320  p.    8°. 

Saggio  di  codice  diplomatico  for- 
mato  suüe  antiche  scritture    delT  arch i  vi  o   di 

71 


1122      Gott  gel.  Anz.  1880.  Stück  36. 

stato  diNapoliper  Camillo  Minieri-Riccio. 
Voll.  (964-1285).  Napolil878.   324p.   gr.8°. 

II  über  poteris  della  citti  e  comune 
di  Brescia  e  la  serie  de'  suoi  consoli  e  po- 
destä  dalF  anno  969  al  1438  per  cura  di  An- 
drea Val entin i.    Brescia  1878.    223  p.   8°. 

Analecta  Vaticana  edidit  Dr.  Otto 
Posse.    Oenoponti  1878.    X,  219  p.    8°. 

Acta  pontificum  Romanorum  ine- 
dita.  I.  —  Urkunden  der  Päpste  vom  J.  748 
bis  zum  J.  1198  gesammelt  und  herausgegeben 
von  J.  v.  Pflugk-Harttung  (Julius Harttung). 
Erster  Band,  1—2.  Abth.  Tübingen  1880.  VIII, 
388  p.    kl.  fol. 

Im  Folgenden  greife  ich  eine  Anzahl  von 
den  vielen  Urkundenpublikationen  heraus,  mit 
welchen  die  Geschichte  des  italischen  Mittel- 
alters in  den  letzten  Jahren  bedacht  worden  ist 
und  von  denen  doch  die  eine  oder  die  andere 
bei  uns  weniger  Aufmerksamkeit  gefunden  ha- 
ben mag,  als  sie  meines  Erachtens  verdient 
Ich  stelle  dabei  an  die  Spitze  eine  Publikation 
der  überaus  rührigen  Societa  Siciliana  di  Storia 
Patria  zu  Palermo,  deren  umfassender  Thätig- 
keit  nicht  genug  Anerkennung  zu  Theil  werden 
kann.  In  der  kurzen  Zeit  ihres  Bestehens  hat 
sie  nämlich  außer  dem  Archivio  storico  Siciliano, 
das  schon  in  einer  stattlichen  Reihe  von  Bän- 
den vorliegt  und  viele  Aufsätze  und  kleinere 
Mittheilungen  von  bleibender  wissenschaftlicher 
Bedeutung  enthält,  eine  nicht  minder  umfäng- 
liche Reihe  von  Bänden  mit  Documenti  per  ser- 
vire  alia  storia  di  Sicilia  gefüllt,  welche  in  die 
vier  Abtheilungen  vertheilt  sind:  1.  Tabulari. — 
2.  Consuetudini  e  capitoli  municipali  (von  AI- 
camo  und  Castronuovo).  —  3.  Epigrafia  (darin: 


I  diplomi  della  cattedrale  di  Messina.    1123 

Le  epigrafe  ardbiche  di  Sic.  illustr.  dal  prof. 
Mich.  Amari).  —  4.  Diplomatics  (darin:  Cor- 
rispondenza  di  Carlo  cTAragona  con  S.  M.  Fi- 
lippo  II,  pubbl.  da  Stef.  Vitt.  Bozzo).  Uns 
soll  hier  nor  die  erste  Serie  beschäftigen,  von 
derem  erstem  Bande  bisher  vier  Hefte  erschie- 
nen sind,  welche  eine  Art  Urkundenbuch  des 
Erzbisthams  Messina  enthalten.  Ich  sage  aber 
absichtlich:  eine  Art,  —  denn  von  dem,  was 
man  bei  nns  von  einem  solchen  Urkundenbuche 
verlangen  würde,  ist  diese  Publikation  allerdings 
einiger  Maßen  verschieden.  Wir  müßten  zu- 
nächst als  selbstverständlich  voraussetzen,  daß 
der  Herausgeber  sich  bemüht  haben  werde, 
Alles  zu  sammeln,  was  von  einschlagenden  Ur- 
kunden irgendwie  erreichbar  ist,  während  Baron 
Baff.  Starabba  sich  begnügt  hat,  eine  ältere 
Sammlung  des  Anton.  Amico  abzudrucken,  wel- 
che in  der  Handschrift:  H.  4  der  Stadtbibliothek  zu 
Palermo  schon  fertig  vorlag.  Amico  freilich,  von 
dem  jene  Bibliothek  auch  noch  andere  werth volle 
Collectaneen  besitzt,  hat  wohl  alles  zusammen- 
geschrieben, dessen  er  für  seine  Zeit  habhaft 
werden  konnte,  und  es  ist  immerhin  ein  Ver- 
dienst sowohl  der  Societä  als  auch  des  H.Star- 
rabba  diese  ebenso  fleißige  als  sorgsame  Arbeit 
der  Forschung  zugänglich  gemacht  zu  haben, 
welche  allen  Grund  hat  für  diese  Gabe  von  bis- 
her 240  Urkunden  aus  den  Jahren  1087  —  1429 
dankbar  zu  sein  und  ihre  Fortsetzung  lebhaft 
zu  wünschen,  besonders  da  höchst  wahrschein- 
lich die  Originale  dieser  Urkunden  zu  Grunde 
gegangen  sind.  Aber  ich  meine,  aus  den  rei- 
chen und  wohlgeordneten  Beständen  des  Staats- 
archivs und  aus  den  anderen  Handschriften  der 
Stadtbibliothek  zu  Palermo  würde  noch  manche 
weitere   Urkunde  zu   gewinnen    gewesen   sein; 

71* 


1124     Gott  gel.  Anz.  1880.  Stück  36. 

welche  Amico  entgangen  ist,  wie  z.  B.  ans  letz- 
teren (EL  12.  II  p.  131)  ein  wichtiger  Brief 
Innocenz  III.  an  den  Erzbischof  Berard  von 
Messina  1211  inni  10.  Und  da  von  der  Aus- 
gabe diejenigen  Stücke  nicht  aasgeschlossen 
wurden,  welche  schon  anderweitig  gedruckt  wa- 
ren, hätte  es  sich  wohl  empfohlen,  auch  die 
Drucke  etwas  auf  solche  Stücke  zu  durchmustern, 
welche  bei  Amico  fehlten.  Ich  notiere  von  sol- 
chen, die  mir  im  Augenblick  aufstoßen: 

Constanze  I.  1198   apr.   30  bei  Gallo,   ann. 
della  cittä  di  Mess.  II,  77.  78. 

Innocenz  III.   1202  iuni   19    in    Innoc.  HL 
epist.  V,  60. 

Innocenz  III.  c.  1202  sept  bei  Pirrns,   Sic. 
sacra  p.  402. 

Innocenz  III.  c.  1203  in  Innoc.  epist  VI,  52. 

Friedrich  IL  1219  nov.7  im  Tabul.  reg.  capell. 
Panorm.  nr.  27  (bei  Pirrus  p.  1360  irrig 
zu  1235)  u.  s.  w. 
Annähernd  vollständig  ist  dieses  Urkunden- 
buch  des  Erzbisthums  Messina  also  nicht,  aber 
trotzdem,  ich  wiederhole  es,  eine  immerhin  dan- 
kenswerte Leistung,  in  deren  Verdienste  sich 
der  alte  Sammler  und  der  neue  Herausgeber 
theilen,  welcher  letztere  für  anscheinend  correk- 
ten  Druck  gesorgt  und  jedem  Stücke  ein  den 
Inhalt  genügend  bezeichnendes  kurzes  Regest 
mit  den,  soviel  ich  sehe,  richtig  reducierten  Da- 
ten vorausgeschickt  hat.  Angaben  über  die 
Provenienz  sind  nicht  gemacht  worden,  weil 
sich  solche  in  Amico's  Handschriften  wohl  nicht 
finden;  willkommen  aber  wäre  der  Nachweis 
etwaiger  früherer  Drucke  gewesen. 

Als  Separatabdruck  aus  dem  Arch.  stör.  Sic, 
Nuova  ser.  III.  fasc.  3  ist  erschienen :  Diplomi 
Svevi  inedüi.     Lettera  al  dr.  Ed.  Winkelmann 


Picone»  Memorie  storiche  Agrigentine.    1125 

del »ac.  Isidoro  CarinL  Palermo  1879.  19 p. 
8°.  Dieser  Brief  des  Domherrn  and  Staatsar- 
chivars  Carini  wurde  durch  meine  Bitte  um  Ab- 
schrift oder  baldige  Bekanntmachung  einiger  Ur- 
kunden der  staufischen  Zeit  veranlaßt,  welche 
mir  bei  meinem  Besuche  Palermo's  noch  nicht 
vorgelegen  hatten.  Herr  C.  theilt  nun  hier  4 
Urkunden  Friedliche  II.  und  eine  Manfred's 
mit  und  fügt  Notizen  über  noch  mehrere  Ur- 
kunden dieser  beiden  Herrscher  und  Konrads  IV. 
hei,  welche  erst  jüngst  in  das  Staatsarchiv  ge- 
kommen sind  und  uns  hoffentlich  nicht  eu  lange 
vorenthalten  bleiben  werden. 

Von  den  Memorie  storiche  Agrigentine  des 
Herrn  Picone  sind  mir  die  fünf  ersten  Ab- 
theilungen nicht  zugänglich  geworden.  Die 
sechste  Abtheilung  soll  die  ganze  Zeit  von  der 
Eroberung  Qirgenti's  durch  die  Normannen  bis 
an  das  Ende  des  18.  Jahrhunderts  umfassen  und 
die  umfangreiche  und  obendrein  elegant  aus- 
gestattete Arbeit  beschließen,  welcher  wenige 
deutsche  Städte  von  der  Bedeutung  des  heuti- 
gen Girgenti  etwas  ähnliches  an  die  Seite  zu 
stellen  haben  werden.  Es  liegt  von  dieser 
sechsten  Abtheilung  aber  erst  ein  Heft  vor,  wel- 
ches die  Stadtgeschichte  bis  in  die  Zeit  der  er- 
sten savoyischen  Herrschaft  auf  der  Insgl  fort- 
führt; beigegeben  sind  demselben  theils  als 
selbständiger  Codice  diplom.  Agrig.,  theils  zur 
Begründung  der  vorangehenden  Erzählung  80 
Urkunden  aus  den  Jahren  1093  bis  1784.  Die 
Urkunden  der  normannischen  und  staufischen 
Zeit  —  es  sind  ihrer  nur  sieben  —  erscheinen 
hier  freilich  nicht  zum  ersten  Male,  sind  dafür 
aber  von  sehr  schätzbaren  Erörterungen  beglei- 
tet; die  späteren  Urkunden  sind  dagegen  aus- 
nahmlos  verschiedenen  Handschriften    entnom- 


1126       Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  36. 

men.  welche  theils  das  Kapitelarchiv,  theils  die 
Staatbibliothek  von  Girgenti  (Bibl.  Luchesiana) 
bewahrt.  Wenn  wir  nun  in  Betracht  ziehen, 
wie  sehr  der  fleißige  Verfasser  der  Memorie, 
ein  vielbeschäftigter  Advokat,  in  jener  sicilischen 
Provinzialstadt  aller  jener  literarischen  Htilfs- 
mittel  entbehrt,  deren  Besitz  uns  als  etwas 
selbstverständliches  erscheint,  so  werden  wir 
seine  Leistung  als  eine  höchst  achtungswerthe 
bezeichnen  müssen  und  nur  wünschen  können, 
daß  ihm  auch  die  Vollendung  derselben  be- 
schieden sein  möge.  Vielleicht  kann  er  dann, 
da  nachträgliche  Ergänzungen  nicht  ausbleiben 
werden,  die  Notiz  verwerthen,  daß  1225  bei 
Girgenti  ein  „cannetum"  erwähnt  wird  am  Aus- 
gange der  „cava  gigantum  iuxta  flumen"  (Pa- 
lermo, Bibl.  com.  Mss.  F.  69.  I.  p.  401),  oder 
auch  die  für  die  Geschichte  des  Bisthums  Gir- 
genti interessante  Urkunde  von  1241,  welche 
ich  in  meinen  Acta  imperii  inedita  sec.  XIII. 
nr.  670  abgedruckt  habe  (aus  Palermo,  mss. 
H.  6  p.  241). 

Aufs  Festland  übergehend,  wenden  wir  uns 
der  Arbeit  des  G.  Pro  logo  in  Betreff  Trani's 
zu.  Derselbe  giebt  in  der  Vorrede  zu  seiner 
Ausgabe  der  im  dortigen  Kapitelarchive  be- 
wahrten Urkunden  zunächst  allerlei  Auskunft 
über  die  merkwürdigen  Schicksale  dieses  Ar- 
chivs, welches  leider  viele  Einbußen  erlitten  hat, 
am  Meisten  wohl  bei  der  Pest  von  1656  durch 
das  kindische  Verfahren  der  zur  Desinficierung 
aller  Papiere  eingesetzten  „Deputati  delle  scrit- 
turea,  welche  dieselben  ins  Meer  legen  ließen, 
bis  nach  ihrer  Meinung  der  Krankheitsstoff  ge- 
nügend vertilgt  war,  selbstverständlich  aber 
meistens  auch  die  Schrift  selbst.  Eine  theil- 
weise  Ergänzung   der   Lücken   kann   aus   zwei 


Le  carte  della  citta  di  Trani.  1127 

die  UrkandeB  der  Stadt  enthaltenden  Copial- 
btichern  des  17.  Jahrhunderts  beschafft  werden, 
über  deren  jetzigen  Aufbewahrungsort  hier  nichts 
gesagt  ist,  während  sie  sich  zur  Zeit  meiner 
Anwesenheit  in  Trani  im  Besitze  des  Gay. 
Vischi  befanden.  Ich  bemerke  bei  dieser  Ge- 
legenheit, daß  das  in  diplomatischer  Beziehung 
weniger  wichtige  der  beiden  (s.  Neues  Archiv 
V,  18),  nämlich  die  Zibaldoni  des  Vincenzo 
Manfredi,  die  Quelle  gewesen  ist,  aus  welcher 
Forges-Davanzati  das  Fragment  des  sog.  Ano- 
nymus Tranensis  mitgetheilt  hat ;  leider  sind  die  ' 
betr.  Blätter  und  viele  andere  außerdem  jetzt  aus- 
gerissen und  es  gelang  mir  nicht  sonst  irgend  eine 
Spar  von  jenem  Anonymus  zu  entdecken,  der  übri- 
gens nicht  ganz  unbedenklich  scheint.  Im  weiteren 
Verlaufe  der  Vorrede  macht  H.  Prologo  auf 
einige  Punkte  sowohl  der  Stadt-  als  auch  der 
Landesgeschichte  aufmerksam,  welche  durch  die 
von  ihm  gebrachten  Urkunden  beleuchtet  und 
berichtigt  werden,  und  er  verspricht  über  diesel- 
ben noch  besonders  zu  handeln.  Ob  es  inzwi- 
schen geschehen  ist,  weiß  ich  nicht  und  ich 
hebe  deshalb  heraus,  daß  durch  nr.  57  —  ein 
Mandat  König  Wilhelms  II.  vom  15.  März  1167 
—  nicht  blos  die  Ursprungszeit  von  lib.  III. 
tit.  31  der  fridericianischen  Constitutionen  sicher 
gestellt,  sondern  auch  der  Text  des  Gesetzes 
wesentlich  berichtigt  wird,  ein  Ergebniß,  wel- 
ches deshalb  für  die  künftige  kritische  Ausgabe 
der  Const,  von  Bedeutung  ist,  weil  nun  auch 
der  bisher  als  älteste  und  beste  Textgrundlage 
derselben  angesehene  cod.  Paris.  4625  sich  als 
corrupt  erweist.  Wieder  in  anderer  Beziehung 
ist  nr.  61  —  Mandat  Wilhelm's  II.  vom  16. 
März  1170  —  interessant,  indem  wir  aus  dem- 
selben  ersehen,   daß  Const.   Ill,  83.  I,  45   und 


1128      Gott  gel  Anz.  1880.  Stück  36. 

I,  68  in  dieser  Reihenfolge  ursprünglich  eine 
einzige  zusammenhängende  Constitution  über 
den  Gerichtsstand  der  Geistlichen  bildeten,  die 
aber  dem  bei  der  uns  vorliegenden  Redaktion 
der  Constitutionen  befolgten  Eintheilungsgrunde 
zu  Liebe  willkürlich  in  drei  Stücke  zertrennt 
worden  ist. 

Was  die  von  H.  Prologo  publicierten  Ur- 
kunden selbst  betrifft,  so  gehen  dieselben  von 
834  bis  an  das  Ende  der  staufischen  Zeit,  in 
122  Nummern,  denen  noch  vier  undatierte  fol- 
gen und  als  nicht  einreihbar  nr.  127,  eine  Ur- 
kunde Friedrichs  II.,  die  aber  nach  ihren  Da- 
ten: Fogie  ultimo  martii,  octave  indictionis  — 
mit  Sicherheit  ins  Jahr  1250  zu  setzen  ist,  sich 
übrigens  auch  bei  Gori,  Arch.  stör,  di  Borna  a. 
III.  vol.  II  p.  75  findet.  Die  Urkunden  sind, 
wie  das  in  Italien  ziemlich  allgemein  üblich  ißt, 
eigentlich  nur  abgedruckt,  nicht  herausgegeben, 
und  die  Thätigkeit  des  Editors,  der  übrigens 
sowohl  auf  die  Abschriften  als  auch  auf  die 
Leitung  des  Druckes  mehr  Sorgfalt  hätte  ver- 
wenden sollen,  beschränkte  sich  auf  das  Vor- 
setzen von  Jahreszahlen  und  gelegentliche  Be- 
merkungen über  die  etwa  vorhandenen  Siegel. 
Lob  verdient  das  sonst  in  italienischen  Publi- 
kationen nur  zu  oft  fehlende  Orts-  und  Perso- 
nenregister und  auch  die  den  Schluß  des  Gan- 
zen machenden  Regesten  sind  ganz  zweck- 
mäßig gearbeitet,  indem  wenigstens  hier  ältere 
Drucke,  obwohl  lange  nicht  vollständig,  ange- 
merkt sind.  Eine  nicht  unbedeutende  Anzahl 
von  Urkunden  hatte  kurz  vorher  Giov.  Beltrani 
im  Arch.  stör,  di  Borna  1877  publiciert,  wie 
Prologo  selbst  nachträglich  erfuhr.  Von  kaiser- 
lichen und  königlichen  Urkunden  für  das  Erz- 
bisthum  und  die  Stadt  Trani  aus  den  Jahren 


Saggio  di  codice  diplom.,  per  Mioieri-Riocio.  1129 

1198—1266  ist  meines  Wissens  jetzt  nichts  mehr 
angedruckt 

Während  EL  Prologo  den  gesammten  Ur- 
knndenschatz  der  Domkirche  von  Trani  bis  zum 
Jahre  1266  zugänglich  macht,  bietet  H.  Garn. 
Ifinieri-Riccio  in  seinem  Saggio  nur  eine  durch 
seine  früheren  und  dann  wieder,  wie  er  sagt, 
aufgegebenen  Arbeitspläne  bedingte  Auswahl 
ans  den  fast  unerschöpflichen  Massen  des  Staats- 
archivs zu  Neapel,  welches  unter  seiner  Ver- 
waltung steht.  Ein  bestimmter  Gesichtspunkt, 
nach  welchem  die  Auswahl  getroffen  worden, 
läßt  sich  nicht  erkennen ;  maßgebend  dürfte  bei 
derselben  nur  die  Absicht  gewesen  sein,  wirk- 
lich Ungedrucktes  zu  bringen.  Der  erste  Band 
umfaßt  nur  Urkunden  aus  den  Jahren  964  — 1285, 
leider  in  etwas  unbequemer  Anordnung,  indem 
der  Hauptreihe  der  Dokumente  von  p.  221  an 
noch  ein  Appendix  folgt,  welcher  41  Urkunden 
aus  den  Jahren  1130—1162  nachträgt.  Die 
Unbequemlichkeit  des  doppelten  Nachschlagens 
hätte  dem  Benutzer  einiger  Maßen  erspart  wer- 
den können,  wenn  wenigstens  in  den  am  Schlüsse 
stehenden  Regesten  der  Anhang  chronologisch 
der  Hauptreibe  eingeordnet  worden  wäre,  statt 
ihr  auch  hier  nachzuhinken ;  sie  kann  uns  aber 
nicht  abhalten,  anzuerkennen,  daß  die  Mitthei- 
lungen selbst  sehr  werthvoll  sind.  Wir  erhalten 
hier  z.  B.  außer  einigen  Urkunden  normanni- 
scher Könige  auch  vier  Kaiserurkunden:  von 
diesen  sind  nr.  18  Constanze  I.  1198  april  für 
Chieti,  nr.  19  Friedrich  IL  angeblich  1215 
april  16  für  die  Johanniter  und  nr.  23  Eon- 
rad IV.  1252  Febr.  fttr  die  Tochter  des  Guill. 
Sarracenns  hier  zum  ersten  Male  erschienen 
und  nurnr.  20  Friedrich  IL  1241  ian.  (=  1242) 
schon  bei  Huill.-Br6h.VI,  22  gedruckt  gewesen, 


1130      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  36. 

während  ich  jene  nr.  19  nach  besserer  Ueber- 
lieferung  und  mit  berichtigten  Daten  (1215 
März  17)  jetzt  in  Acta  imp.  inedita  sec.  XIII, 
nr.  127  geben  kann.  Wie  sonst  das  Verhältnis 
zwischen  Gedrucktem  und  Ungedrucktem  bei 
den  zahlreichen  und  sehr  interessanten  Privat- 
und  Gerichtsurkunden  der  älteren  Zeit  und  dann 
bei  den  Urkunden  des  ersten  Anjou  ist,  welche 
die  Hauptmasse  ausmachen,  das  vermag  ich 
nicht  zu  sagen.  Man  wird  jedoch.  EL  Minieri 
darin  beistimmen  müssen,  daß  auch  dann,  wenn 
das  eine  oder  das  andere  Stück  doch  schon 
früher  irgendwo  gedruckt  sein  sollte,  der  Wie- 
derabdruck ganz  nützlich  sein  kann,  und  man 
wird  gerade  auch  bei  den  Urkunden  CarFs  I. 
in  Betracht  ziehen,  daß  es  bei  der  absolut  un- 
übersichtlichen Anlage  von  del  Giudice's  Codice 
Angioino  und  dem  völligen  Mangel  von  Regi- 
stern zu  demselben  fast  unmöglich  ist,  festzu- 
stellen, ob  ein  Stück  etwa  auch  dort  schon  vor- 
liegt. Eben  deshalb  aber  darf  man  wohl  H. 
Minieri  als  dem  Leiter  des  Staatsarchivs  den 
Wunsch  aussprechen,  daß  dort  darauf  verzichtet 
werden  möge,  Eins  oder  das  Andere,  so  werth- 
voll  es  auch  sein  mag,  aus  der  stattlichen  Reihe 
der  Registerbände  der  Anjou  und  aus  den  zahl- 
reichen von  ihnen  erhaltenen  Originalen  heraus- 
zugreifen und  zu  publicieren.  Dagegen  möge 
man  sich  entschließen,  etwa  nach  der  Weise 
Böhmens,  nur  wegen  der  Ueberftille  des  Stoffs 
in  noch  knapperem  Zuschnitte,  endlich  einmal 
Regesten  Carl's  I.  zusammenzustellen,  in  denen 
auch  die  etwa  schon  vorhandenen  Drucke  an- 
zuführen wären.  FL  Minieri,  dessen  zahlreichen 
Arbeiten  über  Carl  I.  wir  vielfache  Belehrung 
verdanken,  wird  ohne  Zweifel  selbst  schon  je- 
nen Mangel  schmerzlich  empfunden   haben   und 


r 


Saggio  di  oodice  diplom.,  per  Minieri-Riccio.    1 131 

er  wird  sieh  durch  Beseitigung  desselben  nicht 
Mos  bei  seinen  Landsleuten  ein  dauerndes  Denk- 
mal setzen  und  die  Erforschung  eines  der  wich- 
tigsten Abschnitte  italienischer  Geschichte  erst 
wirklich  möglich  machen.  Denn  trotz  Allem,  was 
über  Carl  T.  publiciert  worden  ist,  meistens  anch 
nur  über  die  ersten  Regierungsjahre  desselben,  was 
wissen  wir  im  Grunde  von  ihm,  was  von  seinem 
sehr  ausgebildeten  Verwaltungssysteme  ?  Die 
vorgeschlagene  Arbeit  ist,  ich  gestehe  es,  eine 
sehr  umfängliche,  aber  sie  ist  auch  eine  sehr 
lohnende  und  sie  kann,  wie  die  Dinge  liegen,  ^ 
kaum  von  anderen  gemacht  werden  als  von  Be- 
amten des  Staatsarchivs,  welche  Hr.  Minien  ja 
auch  schon  für  diese  Publikation  zur  Anferti- 
gung der  Abschriften  u.  s.  w.  herangezogen  bat. 
Im  Einzelnen  hätte  ich  bei  seiner  Ausgabe 
etwa  Folgendes  noch  zu  bemerken.  Nr.  22  ist 
nicht  ein  Akt  des  Großjustitiars  (magister  iu- 
stitiarius)  des  Königreichs,  wie  er  in  der  Ueber- 
scbrift  angiebt,  sondern  des  Provinzialjustitiars 
von  Principato  und  Benevent.  In  nr.23  beruht 
der  Name  des  Kanzlers  Guillelmus  de  Ocra  un- 
zweifelhaft auf  einem  Lesefehler:  derselbe  heißt 
bekanntlich  Gualterius.  Nr.  67  und  74  sind 
nur  zeitlich  getrennte  Ausfertigungen  desselben 
Mandats,  welches  sämmtliche  Schenkungen  Frie- 
driche IL  „postquam  in  Lugdunensi  concilio 
sententiam  depositionis  excepit"  und  ebenso  die 
seiner  Söhne  Konrad  und  Manfred  für  ungültig 
erklärt.  Nr.  127  und  145  sind  ebenfalls  iden- 
tisch, zwei  Ausfertigungen  derselben  Weisung 
über  Beamtencontrolle  in  Betreff  verschiedener 
Provinzen.  —  Aus  dem  reichen  Inhalte  der 
Ausgabe  hebe  ich  zum  Schlüsse  noch  Einiges 
hervor.  Höchst  interessant  sind  gleich  die 
Steuerrollen  nr.  35—37.    Sie  beziehen  sich  auf 


1132      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  36. 

die  1268/9  im  Ansätze  von  1  augustalis  für  je- 
des foculare  und  je  2  Monate  zur  Erhebung  ge- 
kommene allgemeine  Beichssteuer  und  sie  geben 
den  Betrag  an,  welcher  von  den  einzelnen 
Städten  und  Ortschaften  in  Terra  di  Lavoro, 
Molise,  Valle  del  Crati,  Terra  Giordana  und 
Terra  di  Bari  gezahlt  worden  ist  Abgesehen 
von  dem  Maßstabe,  welchen  diese  Bollen  zur 
Schätzung  der  Bedeutung  der  einzelnen  Ort- 
schaften in  jener  Zeit  bieten,  werden  sie  auch 
für  die  mittelalterliche  Geographie  mit  Nutzen 
verwerthet  werden  können.  Aber  sollten  die 
Steuerrollen  der  anderen  Provinzen  des  König- 
reichs nicht  auch  im  Begistro  Angioino  erhalten 
und  der  Mittheilung  werth  sein?  —  Zu  beach- 
ten ist  für  die  Verehrer  des  h.  Thomas  von 
Aquino,  daß  in  nr.  106  von  1272  „venerabilis 
et  religiosus  vir  fr.  Thomas  de  Aquino  ord. 
pred.a  als  Testamentsexecutor  des  Bogerius  de 
Aquila  erwähnt  wird.  —  Für  die  Geschichte  des 
Münzwesens  ist  das  Mandat  nr.  140  vom  18. 
iuni  1276  von  Wichtigkeit,  welches  die  Prägung 
neuer  Denare  in  Brindisi  und  Messina  anordnet 
und  die  Abbildungen  der  genehmigten  Stempel 
enthält,  durch  welche  die  beiden  Prägestellen 
sich  gut  unterscheiden  lassen  werden.  —  Zur 
Geschichte  der  sicilischen  Constitutionen  endlich 
bringt  das  Mandat  nr.  160  vom  25.  aug.  1277 
einen  willkommenen  Beitrag,  insofern  hier  eine 
ganze  Beihe  von  Constitutionen  publiciert  wird. 
Unter  diesen  ist  auch  eine  von  1268  nov.  14, 
welche,  wie  ich  in  den  Acta  imp.  p.  741  ge- 
zeigt habe,  zu  der  bisher  nicht  beachteten  um- 
fassenden Gesetzgebung  gehört,  die  in  dieser 
Zeit  von  einem  Hoftage  in  Trani  aus  erfolgte. 
Mögen  diese  Andeutungen  genügen,  um  darauf 
aufmerksam  zu  machen,  daß  das  bisherige  Wis- 


II  liber  poteris  di  Brescia.  1133 

sen  durch  H.  Minieri  nach  den  verschiedensten 
Seiten  hin  wesentlich  erweitert  wird. 

Von  bedeutenderen  urkundlichen  Publikatio- 
nen. Oberitaliens  nenne  ich  für  dieses  Mal  nur 
die  von  Andrea  Valentini  besorgte  Ausgabe 
des   lAber  poteris   yon   Brescia.     Dieses  große 
Stadtbuch  ist  für  die  Reichsgeschichte  schon  so 
oft   benutzt  worden,   daß  für    dieselbe  aus  der 
Ausgabe  nicht  mehr  viel  zu  gewinnen  sein  wird, 
nachdem  sowohl   die  Eaiserurkunden   als  auch 
die  Akten   der  wichtigsten   lombardischen  Ver- 
bandlungen, an  welchen  Brescia  betheiligt  war, 
daraus   längst  gedruckt   sind,    die   Meisten  in 
lacker's  Forsch.   Bd.  IV.      Darum  behält  die 
Arbeit  des  H.  Valentini  aber  doch  ihren  Werth, 
da  hier  zum  ersten  Male  der  ganze  Codex  zu- 
gänglich gemacht  ist  und  die  eigentliche  Muni- 
eipalgeschichte  noch   genug  aus  demselben  be- 
reichert werden   kann.     Auf  eine  ausführliche 
Beschreibung   der  3  Handschriften,  in   welchen 
das  Stadtbuch  vorliegt,   folgt  p.  26—122   „In- 
dice  dei  documents,  welche  unter  209  Nummern 
theils  in  Auszügen,  theils  aber  auch  vollständig 
mitgetheilt  und  p.  123 — 132  von  einem  „In dice 
eronologieo"   begleitet   sind.     Sie  umfassen  die 
Jahre   1000 — 1286    (ein   einziges    gehört    dem 
Jahre   1311    an),    bei  Weitem    die    Mehrzahl 
stammt  jedoch   aus   der  ersten  Hälfte  des  13. 
Jahrhunderts  und  darunter  sind  wieder  die  wich- 
tigsten diejenigen,  welche  sich  auf  das  Verhält- 
niß   der  lombardischen  Städte    zu  Friedrich  II. 
beziehen,   aber   wie  gesagt,   schon   früher   ge- 
druckt waren.     Aus   diesen    Urkunden,   leider 
aber  auch  aus  einigen  sehr  bedenklichen  Chro- 
niken von  Brescia  —  über  welche  Wttstcnfeld's 
Urtheil  wohl   mehr   Berücksichtigung    verdient 
hätte  als  der  etwas  phunpe  Angriff  des  EL  Ol- 


1134      Gott,  gel.  Anz.  1880.  Stück  36. 

dofredi-Tadini  auf  die  deutschen  Kritiker,  die 
„facchini  della  letteratura"  (p.  143)  —  stellt  Va- 
lentini  dann  p.  132 — 210  die  Consuln,  Podesta, 
Vicare  und  Capitane  von  Brescia  bis  1438  zu- 
sammen, ein  sehr  dankenswerthes  Unternehmen, 
dem  Nachahmung  von  Seiten  der  übrigen  grö- 
ßeren Städte  Oberitaliens  zu  wünschen  ist.  Den 
Schluß  seiner  fleißigen  Arbeit  macht  ein  vom 
abb.  Zamboni  am  Anfange  dieses  Jahrhunderts 
angelegtes  Verzeichniß  der  damals  in  zwei  eiser- 
nen Kisten  im  Dome  bewahrten  städtischen  Ur- 
kunden, zu  welchem  der  Herausgeber  jedes 
Mal,  wo  er  es  konnte,  den  jetzigen  Aufbewah- 
rungsort (meist  in  der  Bibl.  Quiriniana  oder  im 
Municipio)  beigefügt  hat,  und  es  würde  wenig 
zu  wünschen  übrig  bleiben,  wenn  nur  dem  Gan- 
zen Begister  beigegeben  wären  und  wenn  der 
Abdruck  der  Urkunden  etwas  mehr  den  mo- 
dernen Anforderungen  an  solche  Ausgaben  an- 
genähert wäre. 

Unrecht  aber  wäre  es,  wollte  man  gerade 
H.  Valentini  aus  der  von  ihm  gewählten  Be- 
handlung des  Textes,  aus  dem  doch  sehr  will- 
kürlichen Gebrauche  großer  und  kleiner  Buch- 
staben, aus  der  weder  alten  noch  modernen 
Interpunktion,  der  nicht  immer  vorgenommenen 
Auflösung  der  Abkürzungen  u.  s.  w.  einen  be- 
sonderen Vorwurf  machen.  Das  sind  vielmehr 
Uebelstände,  an  welchen  sämmtliche  italienische 
Urkundenausgaben  der  neueren  Zeit  fast  ohne 
Ausnahme  kranken,  und  wer  öfters  mit  solchen 
zu  thun  gehabt  hat,  wird  sich  kaum  noch  wun- 
dern, in  ihnen  derartigen  Sätzen  zu  begegnen, 
wie  z.  B.  bei  Minieri  p.  33:  „Ad  cuius  restitu- 
tionis.  Confirmationis  et  gratie  nostre  memo- 
riam  et  stabilem  firmitatem,  presens  Privilegium 
per  mag.  Bodulfum  de  podiobonizi  notarium,  et 


r 


Analecta  Vaticana  ed.  Posse.         1135 


Meiern  nostram  Scribi.   et  nostre  Maiestatis  Si- 
gillo  Jussimus  Communiri.     Was  soll  mit  der 
Wiedergabe  dieser  wüsten  Sehreibart  eines  Co- 
pials  von  1550  für  eine  Urkunde  Ton  1252  ge- 
wonnen  werden?     Die    italienische   Regierung 
hat  bei  den  größeren  Archiven  Palaeographen- 
Schnlen  gegründet  und  ich  meine,  es  müßte  die- 
sen doch   ebenso   gut  möglich  sein,  in  diesen 
eine  durchgreifende  Wirkung  zu  üben  und  Ord- 
nung zu   schaffen,  als   der   ecole  des   chartes. 
In  Deutschland  sind  wir  freilich  auch  noch  nicht 
zu  vollkommener  Uebereinstimmung  in  unseren 
Ausgaben  gelangt  und  es  wird,   namentlich  bei 
Publikationen,  welche  von  Privaten  besorgt  wer- 
den, schwer   sein,   mit  einem  Male   den  Anfor- 
derungen Sickel's  und  dem  Vorbilde  der  neuen 
Ausgabe  der  Diplomata  in  den  Monumenta  Ger- 
maniae  in  allen  Stücken  nachzukommen.     Aber 
in  jenen  elementaren  Dingen  ist  doch  für  alle 
Veröffentlichungen,  welche  wissenschaftliche  Gel- 
tung beanspruchen,    Einverständniß  schon    er- 
zielt.   Ich  denke  daher,  daß  es  unsern  südlichen 
Nachbarn,  welche  jetzt  das  Feld  mittelalterlicher 
Quellen  so  rüstig  bearbeiten,  nicht  allzu  schwer 
fallen  könnte,    ihre    Ausgaben  in    ein    etwas 
menschlicheres  Gewand  zu  kleiden  und  das  Ver- 
ständnis des  Inhalts  etwa  in  dem  Maße  zu  er- 
leichtern, wie  es  z.  ß.  in  Posse's  Acta  Vati- 
cana ohne   allen  Schaden   für   die   Sache    ge- 
schehen ist  und  tagtäglich  bei  uns  geschieht. 

Das  Buch  des  Dresdener  Staatsarchivars  Dr. 
Posse  ist  durch  die  Weiterführung  des  Cod. 
dipl.  Saxoniae  regiae  veranlaßt,  für  welche  es 
sich  als  noth wendig  erwies,  auch  die  römischen 
Sammlungen  heranzuziehen.  Indem  der  Ver- 
fasser namentlich  die  für  Rainald's  Annales 
ecclesiastici  gefertigten  und  in  der  Vallicelliana 


1136      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  36. 

bewahrten  Abschriften  aus  den  Registerbänden 
des  Vatikanischen  Archivs  durcharbeitete,  erga- 
ben sich  ihm  so  beträchtliche  Ergänzungen  und 
Berichtigungen  zu  Potthast's  Regesta  pontificum, 
daß  man   für  die   Mittheilung    derselben    nur 
dankbar  sein  kann,  obwohl  sie  Mos  die  Jahre 
1254 — 1287  betreffen   und  in  denkbar  knappe- 
ster  Form   gehalten  sind.     Es    sind  1411  Re- 
gestennummern, welche  die  erste  Abtheilung  der 
Acta  Vaticana  (p.  1—116)  ausfüllen.    Hr.  Posse 
hat  seinen  Auszügen   stets  die  genaue  Bezeich- 
nung des   betreffenden  Archivbandes  beigefügt, 
aus  welchen   die  von   ihm  in  der  Vallicelliana 
benutzte   Abschrift   stammt,   und   rühren    diese 
Angaben,  wie  es  nach  der  ziemlich  dunkel  ge- 
haltenen Vorrede   den  Anschein  hat,  von    den 
Beamten   des  Vatieanischen  Archivs  selbst  her, 
so  muß  man  in  diesem  Entgegenkommen   einen 
wichtigen  Fortschritt  begrüßen,  der  früher  oder 
später  dazu  führen  kann,  daß  man  wenigstens 
für  jene  entlegenen  Zeiten  den   Forschern   die 
Benutzung  des  Archivs  selbst  verstattet.  —  Der 
zweite  Theil  des  Buches  (p.  117—194)  enthält 
Abdrucke  verschiedener  päpstlicher  Erlasse  aus 
den  Jahren  1255 — 1372,  meistens  solcher,  welche 
irgendwie   eine  Beziehung  auf  Thüringen  nnd 
Sachsen  haben,  obwohl  sich  auch  Allerlei  findet, 
das  für   die  allgemeine  Reichsgeschichte    von 
Interesse  ist,  wie  z.  B.  die  Erlasse  Clemens  IV. 
gegen  Conradin.     Ich  bemerke    bei  dieser  Ge- 
legenheit,  daß   die  von  mir  einst  in  Forsch,  z. 
deutschen  Gesch.  XV,  284  nach  einem  Berliner 
Formelbuche  mitgetheilte  Bulle  dieses   Papstes 
gegen  Conradin,   welche  ich  in   den  oct.  1267 
setzen   zu  müssen   glaubte,  nun    durch  Posse's 
Regesten  als  zum  18.  nov.  1266  gehörig  erwie- 
sen ist,  und  so  wird,  je  weiter  die  Erforschung 


Acta  pontificum  Bom.,  ed.  v.Pflngk  Harttung.  1 137 

dieser  Zeiten  eindringt,  auch  sonst  wohl  sich 
Anlaß  bieten,  das  Verdienst  des  Heransgebers 
nm  die  Bereicherung  und  Erweiterung  unsers 
Wissens  anzuerkennen.  Ein  sorgfältig  gearbei- 
teter Index  nominum  erleichtert  die  Benutzung 
des  Buches. 

Geht  die  Publikation  Posse's  wenigstens  mit- 
telbar auf  das  päpstliche  Archiv  selbst  zurück, 
so  hat  H.  Dr.  v.  Pflugk-Harttung  in  seinen 
Acta  pontificum  Romanorum  umgekehrt  den 
Versuch  gemacht  dasselbe  so  zu  sagen  zu  er- 
gänzen, die  verlorenen  Bestandtbeile  desselben 
aus  den  Zeiten  vor  der  Wahl  Innocenz1  III. 
(1198),  mit  welchem  die  erhaltenen  Register- 
bände  anheben,  überall  in  der  Welt  aufzusuchen, 
diplomatischer  Kritik  zu  unterwerfen  und,  soweit 
sie  noch  nicht  genügend  gedruckt  sind,  nach 
und  nach  in  mehreren  Serien  zum  Abdrucke  zu 
bringen.  Denn  darin  muß  man  ihm  beistimmen, 
daß  es  ganz  unfruchtbar  gewesen  wäre,  mit  der 
Ausgabe  zu  warten,  bis  sämmtliche  einschla- 
gende Urkunden  zusammengebracht  worden  wä- 
ren. Die  in  die  Welt  ausgegangenen  päpstli- 
chen Urkunden  bilden  eben  eine  Masse,  die 
sich  niemals  erschöpfen  läßt,  während  auf  dem 
von  dem  Herausgeber  beliebten  Wege  das  ihm 
in  jedem  Augenblicke  Zugängliche  auch  sogleich 
der  Wissenschaft  nutzbar  gemacht  werden  kann. 
Wie  das  hier  geschehen  ist,  darüber  giebt  ein 
ausführliches  Vorwort  Rechenschaft  und  ich  ver- 
weise um  so  lieber  auf  dasselbe  und  auf  die 
Ausgabe  selbst,  je  schwieriger  es  ist  die  Wieder- 
gabe der  diplomatischen  Feinheiten  in  kurzen 
Worten  zu  beschreiben  und  je  weniger  ich  selbst 
im  Stande  bin,  das  Verfahren  des  Herausgebers 
an  den  von  ihm  benutzten  Originalen  zu  prüfen, 
welche  in  weit  zerstreuten  Archiven,  namentlich 


1138      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stttck  36. 

auch  Frankreichs,  hewahrt  werden.  Aber  mir 
scheint,  daß  die  von  ihm  gewählte  Methode  der 
Ausgabe  selbst  ziemlich  hohen  diplomatischen 
Anforderungen  entspricht,  daß  die  Akribie  in 
der  Behandlung  der  Einzelheiten,  so  weit  ich 
sehe,  kaum  etwas  zu  wünschen  übrig  läßt  und 
ebenso  den  Eifer  des  Herausgebers  bekundet  als 
seine  umfassende  Kenntniß  der  Eigentümlich- 
keiten der  bisher  arg  vernachlässigten  päpstli- 
chen Diplomatik.  (Vgl.  zu  nr.  56  das  über  das 
Siegel  des  Gegenpapstes  Clemens  III.  Gesagte). 
Uebungen  in  der  päpstlichen  Diplomatik  werden 
diese  Acta  pontif.  ganz  vortrefflich  zu  Statten 
kommen.  Daß  ferner  die  hier  publicierten  453 
Stücke  auch  für  mancherlei  andere  historische 
Zwecke  reichliche  Ausbeute  gewähren  werden, 
ist  selbstverständlich,  obwohl  sich  dieselbe,  so- 
lange die  verheißenen  Spezialregister  ausstehen, 
schwer  schätzen  läßt,  da  jene  Urkunden  sich 
auf  sehr  verschiedene  Zeiten,  Lokalitäten  und 
Personen  beziehen,  auch  zum  Theil  dem  Ge- 
brauche der  päpstlichen  Kanzlei  entsprechend 
recht  formelhaft  sind.  Ich  möchte  gerade  aus 
dem  letzteren  Grunde  den  Herausgeber  zur  Er- 
wägung einladen,  ob  es  sich  bei  der  nächsten 
Serie  von  Urkunden,  die  er  in  Aussicht  stellt, 
nicht  mehr  empfehlen  dürfte,  nur  die,  sei  es  in 
diplomatischer  Beziehung,  sei  es  ihrem  Inhalte 
nach  wirklich  wichtigen  Stücke  in  vollständigem 
Abdruck  zu  bringen,  bei  den  übrigen  aber  sich 
mit  einem  Auszuge  zu  begnügen,  der  nur  die 
bezeichnenden  Stellen  in  wörtlichem  Anschlüsse 
an  die  Vorlage  wiedergiebt.  Ich  fürchte  sonst, 
daß  die  Masse  des  Stoffes  tiberflüssig  anschwel- 
len und  die  bedeutende  Arbeitskraft  des  Heraus- 
gebers ohne  rechten  Vortheil  für  die  Wissen- 
schaft abnutzen  möchte,  nachdem  derselbe  sich 


Acta  pontificum  Rom.,  ed.  v.  Pflagk-Harttung.  1 139 

rasefa  und,  wie  seine  letzten  Publikationen  zei- 
gen, mit  Erfolg  in  dieses  ihm  früher  fremde  Ge- 
biet hineingearbeitet  hat.  Was  könnte  allein 
Italien  für  seinen  Zweck  noch  beisteuern!  Ich 
bemerke  das  aber  mit  der  stillen  Hoffnung,  daß 
wenn  der  Herausgeber  die  Möglichkeit  fände, 
den  nächsten  Band  der  Acta  pont.  mit  vorwie- 
gend auf  Italien  bezüglichen  Papsturkunden  zu 
Allien,  die  italiänischen  Fachgenossen  durch  die- 
sen ihnen  näher  liegenden  Stoff  auch  auf  die 
demselben  gebührende  diplomatische  Behandlung 
aufmerksam  werden  könnten,  welche  bei  ihnen  trotz 
guten  Willens  und  aller  solchen  Publikationen  wie 
jenen  Böhmer's,  Ficker's,  Sickers  u.  A.  bereit- 
willig gespendeten  Lobsprüche  noch  so  ziemlich 
Alles  zu  wünschen  übrig  läßt.  Wie  sehr  müßte 
dadurch  der  wissenschaftliche  Werth  ihrer  um- 
fänglichen und  im  Uebrigen  ganz  verdienstli- 
chen Leistungen  auf  dem  Gebiete  der  Urkunden- 
publikation erhöht  werden! 

Heidelberg.  Winkelmann. 


Noah  Porter,  Physiological  Metaphysics; 
or  the  apotheosis  of  science  by  suicide.  A 
philosophical  meditation.  —  Princeton  Review, 
New  York.  November  1878.    p.  916—944. 

Da  der  Dilettantismus  in  der  Philosophie 
unter  dem  Namen  Positivismus  jetzt  in  Deutsch- 
land reißende  Fortschritte  macht,  so  ist  es  nütz- 
lich zur  Orientierung  der  noch  Unbefangenen, 
wenn  die  Philosophen,  welche  die  Geschichte 
der  Philosophie  beherrschen,  zuweilen  einZeug- 


72 


* 


1140      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  36. 

niß  ablegen  über  ibre  Stellung  zu  den  zeitge- 
mäßen Strömungen.  Ein  solches  Zeugniß  und 
zwar  von  schneidigster  Schärfe  des  Urtheils  und 
von  stolzer  Festigkeit  des  Standpunkts  haben 
wir  in  der  Abhandlung  von  Noah  Porter.  Por- 
ter, Professor  der  Philosophie  und  Präsident  des 
Yale  College  in  Connecticut,  hat  durch  die  Ge- 
schichte der  Philosophie  einen  sicheren  Blick 
zur  Diagnose  der  verschiedenen  zeitgenössischen 
Strömungen  in  der  Philosophie  gewonnen.  Er 
erkennt  sofort,  daß  die  Männer,  welche  heutzu- 
tage von  der  Naturwissenschaft  und  speciell 
von  der  Physiologie  aus  einen  Abstecher  auf 
die  Philosophie  gemacht  haben,  nur  Fremdlinge 
auf  diesem  Gebiete  sind  und  in  die  Fußstapfen 
der  untergeordneten  Richtung  treten,  die  durch 
Hobbes  bekannt  ist.  Er  hätte  noch  weiter  zu- 
rückgehen können ;  denn  Hobbes  führt  auf  die 
Epikureer  zurück,  und  diese  auf  Demokrit  und 
die  Sophisten,  so  daß  geschichtlich  betrachtet 
der  moderne  Positivismus  nichts  anderes  ist  als 
die  mit  Hülfe  der  modernen  naturwissenschaft- 
lichen Bildung  umgeformte  alte  Sophistik  des 
Protagoras,  welche  durch  die  großen  Patriarchen 
der  Philosophie,  durch  Sokrates,  Plato  und  Ari- 
stoteles, in  Schatten  gestellt  wurde  und  in  ge- 
rechte Mißachtung  kam.  Gebildet  durch  die 
philosophischen  Lehren,  welche  durch  diese  gro- 
ßen Denker  für  die  menschliche  Cultur  gewon- 
nen und  durch  mehr  als  zwanzig  Jahrhunderte 
als  das  Salz  aller  geistigen  Bildung  vererbt  sind, 
kann  Porter  nur  mit  Ironie  den  Bestrebungen 
zusehen,  die  gegenwärtig  wieder  die  positivisti- 
schen Künste  des  Protagoras  in  Geltung  bringen 
wollen.  So  ist  schon  der  Titel  seiner  Abhand- 
lung geprägt  durch  die  Ironie  des  Humors,  wenn 
er   schreibt:   „Physiologische   Metaphysik    oder 


Noah  Porter,  Physiological  Metaphysics.     1141 

die  Apotheose  der  Wissenschaft  durch  Selbst- 
mord". Er  nennt  die  Männer,  welche  auf  den 
falsch,  d.  h.  materialistisch  and  sensaalistisch 
verstandenen  Begriff  der  Entwicklung  pochen, 
der  Reihe  nach  her,  die  James  Mill,  John  Stuart 
Mill,  Alexander  Bain,  John  Tyndall,  Thomas 
H.  Huxley,  Erasmus  Darwin,  Herbert  Spencer, 
George  H.  Lewes  und  John  Fiske.  Die  zuge- 
hörigen Franzosen  und  Deutschen,  welche  mit 
in  diesem  Strome  schwimmen,  erwähnt  er  nicht. 
Alle  diese  hoffen  die  Apotheose  der  Wissen- 
schaft zu  erreichen,  indem  sie  von  den  natur- 
wissenschaftlichen und  sociologischen  Specialge- 
bieten zur  Metaphysik  übergehen,  um  durch  eine 
letzte  mechanische  Formel  alle  Erkenntniß  zu 
vollenden.  Porter  will  nun  nicht  auf  die  Einzel- 
heiten dieser  Theorien  eingehen,  die  in  der 
Princeton  Review  schon  zum  Ueberdruß  erörtert 
sind,  sondern  von  höherem  Standpunkt  diese 
ganze  Weltansicht,  die  er  vorzugsweise 
nach  der  extremsten  Spencer'schen  Form  auf- 
faßt, in  ihrem  Verhältniß  zur  Gewiß- 
heit und  Zuverlässigkeit  der  Wissen- 
schaft selbst  betrachten.  Dabei  ergiebt  sich 
ihm,  daß  die  physiologische  Metaphysik  durch 
ihren  Begriff  von  Wissenschaft  selbst  die  Auto 
rität  alles  Wissens  zerstöre  und  also  einen  theo- 
retischen Selbstmord  vollbringe. 

1.  Demgemäß  untersucht  Porter  zuerst  den 
Proceß  der  Erkenntniß,  wie  er  von  Spencer  auf- 
gefaßt wird,  und  findet,  daß  dieser  zwar  naiv 
bekennt,  daß  alle  psychischen  Phänomene  uns 
nur  durch  unser  Bewußtsein  zugänglich  würden 
und  daß  wir  von  einer  Beziehung  zwischen  die- 
sen Phänomenen  und  dem  Nervensystem  nicht 
das  Mindeste  wahrnehmen  könnten,  daß  wir  aber 
dennoch  glauben  müßten,  es  sei  Bewußtsein 


1142      Gtött.  gel.  Anz.  1880.  Stück  36. 

(mind)  und  Nerven thätigkeit  nur  die 
subjective  und  objective  Kraft  von 
einem  und  demselben  Ding.  Deswegen 
könne  man,  da  man  weder  von  Seele,  noch  von 
Materie  etwas  wisse,  beliebig  die  Formen  des 
einen  durch  die  Formen  des  andern  bestimmen 
und  beschreiben  und  mithin  das  ganze  Gebiet 
des  geistigen  Lebens  auf  die  einfachsten  Nerven- 
stöße (nervous  shock)  zurückführen  als  auf  die 
letzte  Wurzel.  Nun  bestehe  nach  Spencer  die 
ganze  Entwicklung  (evolution)  darin,  daß  ur- 
sprünglich gleiche  Tneilchen  der  Materie  auf 
einander  wirken;  eins  thut,  eins  leidet;  die  Em- 
pfindung sei  das  Bewußtsein  von  der  Form,  un- 
ter welcher  die  Substanz  gerade  existierte.  Nach 
den  Lehren  der  Chemie  müßten  wir  die  Ver- 
schiedenheiten auf  verschiedene  Gombinationen 
gleicher  Theilchen  zurückführen  und  indem  nun 
das  Verschiedene  sich  untereinander  wieder 
integrierte  und  die  Integrationen  sich  wieder 
differenziierten ,  so  ginge  parallel  damit  der 
subjective  Ausdruck  des  Bewußtseins  eine  un- 
endliche Entwicklung  ein. 

Porter  führt  nun  die  deductio  ad  absurdum 
dadurch,  daß  er  diese  Prämissen  annimmt  und 
demgemäß  die  Spencer'sche  Entwicklungslehre 
selbst  als  eine  solche  bestimmte  Stufe  der  Inte- 
gration der  Nerventhätigkeit  setzt.  Was  folgt 
daraus?  Da  die  Entwicklung  nicht  innehält,  so 
muß  sich,  objectiv  betrachtet,  dies  complete  Pro- 
duct der  Nerventhätigkeit  wieder  differenziiren 
und  in  neuen  Verbindungen  wieder  zu  ganz  an- 
dern Erscheinungen  integrieren,  oder  subjectiv 
betrachtet,  die  Spencer'sche  Theorie  muß  sich 
wieder  aufheben  und  in  eine  neue  Theorie  über- 
gehen, d.  h.  die  Spencer'sche  Entwicklungslehre 
begeht  einen  theoretischen  Selbstmord,  da   sie 


Noah  Porter,  Physiological  Metaphysics.     1143 

sich  nor  als  ein  wieder  aufzuhebendes  Phäno- 
men in  dem  Entwicklungsgange  hinstellt. 

Hiermit  hat  Porter  sehr  gut  die  Unwissen- 
schaftlichkeit dieser  sogenannten  Entwicklungs- 
theorie nachgewiesen.  Er  hätte  noch  hinzu- 
fügen können,  daß  diese  Zerlegung  der  Substanz 
in  eine  subjective  und  objective  Seite  von  Spi- 
noza und  der  Stoa  stammt,  daß  dieser  Spinozis- 
mus  an  Hemiplegie  leidet,  wie  ich  dies  zu 
nennen  pflege,  weil  die  subjective  Seite  von  den 
objectiven  Phänomenen  nichts  wissen  kann  nach 
der  Voraussetzung,  und  daß  endlich  diese  ganze 
Erkenn tnißtheorie,  da  jedes  ideale  Maß  im  We- 
sen der  Natur  fehlt,  auf  die  Protagoreiscbe  So- 
phistik  hinauslaufen  muß  und  die  Wahrheit  da- 
durch, wie  Plato  humoristisch  sagte,  nicht  bloß 
auf  das  Maß  des  Menschen,  sondern  auch  auf 
das  was  dem  Affen  oder  dem  Schwein  so  zu 
sein  scheint,  zurückgeführt  wird.  Diese  Ent- 
wicklungsmänner haben  überhaupt  von  der  Ge- 
schichte der  Wissenschaft,  in  welcher  sie  sich 
versuchen,  keine  Ahnung  und  tragen  deshalb 
wieder  die  rohsten  Einfälle  vor,  deren  Kurz- 
sichtigkeit schon  längst  erkannt  und  verurtheilt 
war.  Seit  Plato  gilt  es  bei  allen  Denkern  als 
ausgemacht,  daß  die  Wahrheit  zeitlos  feststeht 
und  nur  gefunden  oder  entdeckt  werden 
kann,  aber  nicht  durch  zufällige  Stöße  und  Er- 
schütterungen der  Nerven  erst  entsteht. 

2.  Der  zweite  Punkt,  den  Porter  hervor- 
hebt, betrifft  das  erkennende  Subject  (the  Jcnomng 
agent).  Dieses  wird  durch  die  physiologische 
Metaphysik  zerstört,  weil  sie  für  ihre  Theorie 
von  den  Nervenerschütterungen  und  deren  sub- 
jectiver  Seite  keinen  Gebrauch  von  einer  ein- 
heitlichen und  selbständigen  Seele  machen  kann. 
Die  Seele  ist  deshalb   nur  ein   „physiologischer 


1144      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  36. 

Ausdruck",  eine  metaphysische  Abstraction  und 
bedeutet  nur  die  vorübergehenden  Zustände  der 
unbekannten  Kraft  nach  der  subjectiven  Seite, 
die  nach  der  objectiven  als  Phänomene  des 
Nervensystems  betrachtet  werden.  Porter  be- 
gnügt sich  hier  nun  bloß  damit,  auf  den  Mangel 
an  irgend  einem  Beweise  hinzudeuten,  und  hebt 
seinerseits  hervor,  daß  gerade  unser  Fortschritt 
in  wissenschaftlicher  Erkenntniß  die  zunehmende 
Gewißheit  von  unserm  Selbst  erfahrungsgemäß 
mit  sich  bringe.  Porter  hätte  vielleicht  etwas 
ausführlicher  sein  müssen,  da  diese  physiologi- 
sche Metaphysik  von  der  Seele  als  dem  inneren 
Sein  der  Einheit  des  Körpers  sehr  beliebt  und 
in  der  That  dem  logisch  ungeschulten  Denken 
ganz  angemessen  ist,  wie  sie  denn  auch  bei  den 
rohsten  Anfängern  der  Philpsophie,  bei  den  so- 
genannten Jonischen  Physiologen  zuerst  auftritt 
und  noch  bei  Aristoteles  festgehalten  wird.  Bei 
Aristoteles  hatte  man  dies  bisher  nicht  deutlich 
bemerkt  und  ich  habe  es  in  meinen  Neuen  Stud, 
z.  Gesch.  d.  Begriffe  Band  III  (über  die  prakti- 
sche Vernunft  bei  Aristoteles)  zuerst  ausführlich 
nachgewiesen.  Gerade  diesen  schwächsten  Punkt 
der  antiken  Philosophie  haben  die  modernen 
Positivisten  zu  ihrer  Hauptlehre  gemacht,  da  er 
ohne  Weiteres  der  Vorstellung  zugänglich  ist; 
die  Größe  der  Griechen  aber,  die  in  der  Ent- 
deckung der  Ideenwelt  liegt,  blieb  ihnen  ver- 
borgen und  so  konnten  sie  natürlich  auch  das 
Ewige  und  die  Einheit  in  dem  sich  wissenden 
Ich  nicht  finden. 

3.  In  dritter  Linie  wendet  sich  nun  Porter 
diesen  Ideen  zu,  die  er  als  die  Grundlagen  der 
Wissenschaft  (conditions  of  knowledge)  bezeich- 
net. Die  physiologische  Metaphysik  erkennt  die 
Notwendigkeit  der  Categorien  und  Axiome  an, 


r 


Noah  Porter,  Physiological  Metaphysics.     1145 

erklärt  sie  aber  physiologisch  und  mechanisch 
durch  häufige  Wiederkehr  von  Uebergängen  von 
einer  Empfindung  zu  einer  andern.  Ein  solcher 
Uebergang  sei  selbst  eine  schwache  Empfindung, 
die  durch  Wiederholung  stark,  werde  und  sich 
dann  vererbe  und  so  als  Axiom  und  Gategorie 
zur  Geltung  komme,  da  sie  physiologisch  in  der 
Coordination  der  molecularen  Oehirnthätigkeiten 
bestehe. 

Porter  findet  hier  nun  erstens  die  Tendenz 
znr  Variation  vergessen.  Es  sei  unbegreif- 
lich, weshalb  bei  Zeit,  Raum,  Ursache  und  Wir- 
kung u.  s.  w.  das  Gesetz  der  Veränderung  sei- 
nen Dienst  versage  und  gerade  bloß  die  Cate- 
gorien  ganz  unverändert  verharren  sollen.  Es 
müßten  vielmehr  nach  den  Voraussetzungen  der 
Theorie  allmählich  neue  Categorien  auftreten 
und  mit  der  Entwicklung  der  Structur  des  Ge- 
hirns zugleich  die  Wissenschaften  selbst  aufge- 
löst werden.  Insbesondere  sei  das  Spencer'sche 
Gesetz  der  Entwicklung  selbst  in  seiner  ewigen 
und  allgemeinen  Gültigkeit  durch  bloße  Wieder- 
holung von  etlichen  Affectionen  nicht  erklärt 
und  die  Theorie  der  Entwicklung  hätte  also  für 
ihre  eigne  Selbsterhaltung  nicht  gesorgt. 

4.  Da  jede  Theorie  auch  darnach  geprüft 
werden  muß,  ob  sie  alle  vorliegenden  Phäno- 
mene erklären  kann,  so  bespricht  Porter  schließ- 
lich noch  die  Sphäre  der  wissenschaftlichen 
Untersuchung.  Hier  zeigt  sich,  daß  die  physio- 
logische Metaphysik  Spencer's  nichts  zu  sagen 
weiß  von  der  Unendlichkeit  von  Raum  und  Zeit 
und  von  Gott  als  einem  absoluten,  allwissenden 
und  allmächtigen  Wesen.  Porter  will  gern  ein- 
räumen, daß  Spencer  diese  Ideen  als  Pseudo- 
Ideen hinstellen  könne,  aber  er  fordert,  daß 
seine  Theorie  erklären  solle,  wie  die  Menschheit 


1146      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stock  36. 

überhaupt  auf  diese  Gedanken  kam.  Ans  der 
Ladung  mit  und  Entladung  von  Nervenkraft, 
aus  Stellung  und  Umstellung  von  Hirnmolecülen 
sei  allenfalls  die  Entstehung  von  Bildern  end- 
licher Gegenstände  abzuleiten;  die  physiologi- 
sche Metaphysik  kenne  aber  keinen  Apparat, 
der  uns  den  Inhalt  jener  Ideen  ahnen  lasse. 
Wenn  Spencer  solche  Dinge  für '  unerkennbar 
erkläre,  so  sei  dies  sehr  naiv;  denn  man  müsse 
das  Etwas,  das  wir  für  unerkennbar  ausgeben, 
doch  erst  kennen.  Von  dem  Inhalt  solcher 
Ideen  könne  aber  freilich  der  Mechanismus  des 
Gehirns  keine  Auskunft  geben  und  eine  Philo- 
sophie, die  über  Raum,  Zeit  und  Gott  nichts  zu 
denken  wisse,  habe  sich  zur  Selbstvernichtung 
verdammt. 

Porter  schließt  mit  allgemeinen  Betrachtun- 
gen. Er  unterscheidet  zwei  verschiedene  Be- 
griffe von  Entwickelung.  Die  Entwicklungs- 
lehre der  physiologischen  Metaphysik  hält  den 
Mechanismus  für  das  Weltregiment  und  will 
Leben  und  Geist  als  complexe  Formen  mechani- 
scher Vorgänge  auffassen,  wodurch  der  ganze 
Lauf  der  Dinge  ein  stupides  Spiel  von 
Permutation  und  Combination  wird. 
Porter  erinnert  daran,  daß  es  noch  einen  andern 
Begriff  von  Entwickelung  gebe,  der  einen  Plan 
und  eine  vernünftige  Ordnung  in  sich 
schließe  und  deshalb  auch  für  die  Ethik  und 
Politik  die  Ideen  von  Pflicht  und  Recht  begründe, 
während  die  mechanische  Entwicklungslehre  ma- 
terialistisch und  atheistisch  nur  den  nackten 
Egoismus  und  den  brutalen  Kampf  um  Vor- 
herrschaft übrig  lasse.  Während  man  so  gern 
Protest  einlege  gegen  die  Einmischung  von  theo- 
logischen Gedanken  in  die  Philosophie,  so  solle 
man  doch  auch  nicht  vergessen,  daß  diese  phy- 


Noah  Porter,  Physiological  Metaphysics.    1147 

Biologische  Metaphysik  ihren  großen  Erfolg  der 
Unwissenheit  über  die  Lehren  der  Philosophie 
verdanke  und  daß  ihre  Anhänger  ebenso  blind 
und  romantisch  seien  in  ihrer  Verliebtheit 
in  hochtönende  Phraseologie,  wie  sie  dies  den 
theologischen  Richtungen  vorzuwerfen  pflegen. 

Ich  will  gern  bekennen,  daß  ich  mit  Ver- 
gnügen über  diese  Arbeit  Porter's  Bericht  er- 
stattet habe.  Ich  fühlte  beim  Lesen  derselben 
die  Befriedigung,  die  man  immer  hat,  wenn  man 
einem  freien  Manne  begegnet,  der  nicht  scla- 
visch  der  Zeitströmung  folgt  und  nicht  wie  die 
kraftlosen  Modepuppen  sich  Gedanken  und 
Worte  nach  der  neuesten  Fa$on  zuschneiden 
läßt  aus  Angst,  nicht  für  modern  zu  gelten. 
Porter  hat  die  rechte  Bildung,  die  durch  gründ- 
liches Studium  der  Geschichte  der  Wissenschaft 
gewonnen  wird.  Er  kann  deshalb  den  frivolen 
Charakter  der  modernen  sophistischen  physiolo- 
gischen Logik  und  Metaphysik  leicht  erkennen. 
Ich  brauche  nicht  zu  sagen,  daß  seine  Betrach- 
tungen Beifall  finden  werden  bei  den  feineren 
Naturen,  die  in  der  Philosophie  wirklich  zu 
Hause  sind;  ich  glaube  aber  nicht,  daß  seine 
Kritik  die  jetzt  herrschende  Sophistik  des  Posi- 
tivismus beseitigen  wird.  Die  Sophistik  blühte 
neben  Sokrates  und  Plato,  sie  blühte  als  Sen- 
sualismus neben  Leibnitz  und  wird  weiter  blühen, 
es  mögen  auch  die  gründlichsten  und  edelsten 
Männer  gleichzeitig  lehren,  weil  die  Weltan- 
schauungen immer  den  Naturen  der  Menschen 
entsprechen.  Wie  soll  ein  Kurzsichtiger  in  die 
Ferne  sehen,  und  wie  soll  ein  Krüppel  mit  einem 
Gesunden  Schritt  halten!  Für  die  große  Masse, 
der  es  versagt  ist,  zur  Freiheit  des  Gedankens 
zu  gelangen,  wird  deshalb  der  Positivismus  die 
passendste  Weltansicht  bleiben.     Suum  cuique! 

Dorpat  G.  Teichmüller. 


V 


1148      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  36. 

Die  Lehre  vom  Urständ  des  Men- 
schen geschichtlich  und  dogmatisch-apologe- 
tisch untersucht  von  0.  Zöckler,  Dr.  u.  Prof. 
d.  Theol.  Gütersloh,  C.  Bertelsmann  1879.  337 
Seiten  in  Octav. 

Den   in   der   vorliegenden  Monographie   be- 
handelten Gegenstand  hat  der  Verfasser  aller- 
dings schon  in  seinem  umfassendem  Werke  über 
die  Beziehungen  zwischen  Theologie  und  Natur- 
wissenschaft vor  Augen  gehabt ;  aber  die  gegen- 
wärtige spezielle  Erörterung  ist  nicht  nur  viel 
reicher  im  Detail,  sondern  unterscheidet  sich  von 
jener  frühern  Darstellung  auch  darin,  daß  gegen- 
wärtig neben  dem  geschichtlichen  Gesichtspunkte 
der  dogmatisch-apologetische  eintritt.   Der  Inhalt 
des  Werkes  ist  folgendermaßen  geordnet.   In  der 
Einleitung  wird  zuvörderst  der  „Stand  der  Frage" 
beschrieben  und  den  naturalistischen,  der  bibli- 
schen Anschauung  entgegengesetzten  Ansichten 
gegenüber   der    dem   Verfasser    vorschwebende 
Zielpunkt  mit  den   Worten   bezeichnet    (S.  7): 
„Wir  behaupten  einen  inneren  und  höheren  Ur- 
ständ an  der  Spitze  der  Menschheitsentwickelung 
nicht  als  bloßen  Glaubenssatz,  sondern  als  eine 
durch  schwerwiegende  Zeugnisse  auch  der  Wis- 
senschaft gedeckte  Wahrheit".    Die  Lehre   vom 
Urstande   selbst  wird   sodann   erstlich   aus  der 
kirchlichen  Ueberlieferung,    zweitens   aus    den 
Zeugnissen   der  heiligen  Schrift   dargelegt  und 
drittens  mit  den  analogen  Traditionen  des  Hei- 
denthums  verglichen.    Hierauf  folgt  die  Schilde- 
rung der  Opposition   seitens  des  modernen  Na- 
turalismus ,  und  somit  gelangt  der  Verfasser  zur 
^Prüfung  der  vorgeschichtlich-anthropologischen 
(paläontologischen)    Gegeninstanzen"     und    der 
„sprach-,    religions-    und    culturgeschichtlichen 


r 


Zöckler,  Lehre  vom  Urständ  des  Menschen.    1 1 49 

Instanzen".  Nachdem  dann  die  besondere  Frage 
wegen  des  Ursitzes  des  Menschengeschlechts  ver- 
handelt ist,  wird  in  zwei  Kapiteln  „die  Lang- 
lebigkeit der  Patriarchen  als  Nachglanz  der  Pa- 
radiesesherrlichkeit8 gewürdigt  und  „das  Alter 
des  Menschengeschlechts"  überhaupt  untersucht. 
Den  Schluß  bildet  eine  Erörterung,  in  welcher 
der  Verfasser  die  ihm  sich  darbietende  Lösung 
des  Problems  empfiehlt,  nämlich  „die  richtig  ge- 
faßte Theorie  vom  Kindesalter  der  Menschheit 
als  Lösung  des  Räthsels  der  Urstandsfrage". 

Sowohl  die  theologische  wie  die  naturwissen- 
schaftliche Seite  des  Problems  hat  der  Verfasser 
mit  der  ihm  eigenen  ausgezeichneten  Gelehr- 
samkeit und  mit  umsichtig  urtheilendem  Ver- 
ständnis behandelt.  Den  der  biblischen  An- 
schauung sich  entgegen  stellenden  naturalisti- 
schen Theoremen  und  Hypothesen  weiß  er  mit 
entsprechender  Sachkenntnis  zu  begegnen,  in- 
dem er  namentlich  auch  solche  Urtheile  natur- 
wissenschaftlicher Forscher  beibringt,  welche 
entweder  unmittelbar  in  apologetischem  Interesse 
zu  verwerthen  sind  oder  doch  die  antibiblischen 
Hypothesen,  wenn  diese  für  zuverlässige  Ergeb- 
nisse der  Wissenschaft  ausgegeben  werden  sol- 
len, in  ihrem  zweifelhaften  Werthe  erkennen 
lassen.  Ob  ihn  sein  apologetisches  Interesse  bei 
der  Erörterung  solcher  Fragen,  zu  deren  Beant- 
wortung die  biblische  Offenbarung  nicht  be- 
stimmt und  deren  Behandlung  dem  Theologen 
als  solchem  nicht  befohlen  ist,,  vielleicht  über 
die  sichere  Grenzlinie  hinausgeführt  habe,  wird 
auch  derjenige,  welcher  mit  dem  Verfasser  in 
dem  Glauben  an  das  göttliche  Heilswort  der 
Schrift  einig  ist,  fragen  dürfen ;  und  ich  ge- 
stehe, daß  ich  die  S.  323  angeführte  und  mit 
Frage-  und  Ausrufungszeichen  begleitete  Aeuße- 


1150      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  36. 

rang  eines  katholischen  Theologen,  es  möchten 
gewisse  Zahlangaben  der  Bibel  unbeschadet  der 
Inspiration  abzuändern  sein,  nicht  zu  beanstan- 
den weiß.  Ich  scheue  mich  auch  nicht  vor 
einem  weitern  Schritte,  nämlich  vor  der  Aner- 
kennung von  heiligen  Sagen,  als  einer  der  ge- 
schichtlichen und  sittlichen  Ordnung  entsprechen- 
den Form  der  Bezeugung  geoffenbarter  Heils- 
wahrheit.  —  Auch  in  Betreff  der  theologischen 
Erörterung  der  lediglich  religiösen  Materien  wird 
der  Verfasser  auf  allseitige  Zustimmung  nicht 
rechnen  dürfen.  Mit  vollem  Rechte  allerdings 
stellt  er  den  christlichen  Grundbegriff  von  dem 
dreieinigen  Wesen  Gottes  hin,  indem  er  das 
ewige  Urbild  bezeichnen  will,  zu  dessen  Abbild 
der  Mensch  erschaffen  sei;  hiebei  gehört  auch 
die  bestimmtere  Hinweisung  auf  den  Sohn  zu 
der  biblisch  wohlbegrtindeten  Speculation.  Aber 
für  unberechtigt  halte  ich  eine  Aussage  wie 
diese  (S.61):  „Ein  höheres  Analogon  zur  mensch- 
lichen Leiblichkeit  muß  auch  in  Gott  vorhanden 
sein",  und  gleicherweise  den  Satz  (S.  64  f.),  daß 
der  Mensch  nicht  als  Einzelperson,  sondern  als 
Vielheit  menschlicher  Individuen,  als  Mensch- 
heitsfamilie, die  Gottheit  abbildlich  darstellen 
solle,  und  zwar,  „weil  der  Schöpfer  selbst  kein 
einsames  Leben  führt,  sondern  ein  Leben  in  der 
Liebe,  ein  Leben  in  liebender  innertrinitarischer 
Gemeinschaft".  Vorsichtiger  und  richtiger  haben 
die  Alten  psychologische  Analogien  des  Menschen 
zu  dem  dreieinigen  Urbilde  geltend  gemacht 
und  die  Liebesgemeinschaft  der  Menschen  nach 
der  Liebe  des  Schöpfers  zur  Creatur  bestimmt. 
In  einem  von  dem  Verfasser  besonders  her- 
vorgehobenen Momente  hält  er  sich  auf  der 
richtigen,  schriftmäßigen  Bahn.  Er  betont  den 
Unterschied    zwischen   einem    göttlichen   Eben- 


Baechtold,  D.  glückhafte  Schiff  von  Zürich.    1151 

bilde  im  engern  Sinne,  das  um  der  Sünde  wil- 
len verloren  sei,  and  einem  trotz  der  Sünde  un- 
verlorenen Gottesbilde;  er  führt  ferner  aus,  wie 
nur  allmählich  das  durch  den  Sündenfall  be- 
dingte Herabsinken  der  monogenistisch  verstan- 
denen Menschheit  von  der  ursprünglichen  Inte- 
grität stattgefunden  habe,  und  zeigt,  wie  dieser 
Anschauung  gemäß  auch  die  sich  mindernde 
Lebensdauer  als  ein  Erbleichen  der  ursprüngli- 
chen Herrlichkeit  sich  darstelle.  In  der  Linie 
solcher  Gedanken  scheinen  auch  mir  die  wahren 
Zielpunkte  dogmatisch-apologetischer  Erörterung 
zu  liegen. 

Hannover.  Dr.  Fr.  Düsterdieck. 


Das  gltickhafte  Schiff  von  Zürich. 
Nach  den  Quellen  des  Jahres  1576  von  Dr.  Ja- 
kob Baechtold.  Zürich  1880  (Mittheilungen 
der  Antiquarischen  Gesellschaft  in  Zürich  XL1V.) 
55  S.  gr.  4  und  2  Tafeln. 

Die  gegenwärtig  fast  nur  durch  Fischart's 
Gedicht  bekannte  Schiffahrt  der  Züricher  zum 
Hauptschießen  1576  in  Straßburg  hat  schon 
früher  ihre  Beschreiber  gefunden,  aber  nicht  so 
gründlich,  umfassend  und  quellenmäßig  wie  in 
der  vorliegenden  Schrift  des  um  die  ältere 
schweizerische  Literatur  sehr  verdienstvollen 
Herausgebers  von  Hans  Salat's  Chronik  und 
Dichtungen  und  den  Dramen  des  Nie.  Manuel. 
Nicht  nur,  daß  die  Geschichte  in  der  Darstellung 
der  Quellen  mit  lehrreichen  Erörterungen  gege- 
ben wird,  sondern  auch  die  sich  an  die  Scbiff- 
fahrt  knüpfende  Literatur  wird  ausführlich  be- 
handelt und  die  interessanteren  Gelegenheitsge- 
dichte werden  vollständig  mitgetheilt.  Nur  das 
fischart'sche  Gedicht  selbst  hat  der  Verf.  nicht 


1152       Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  36. 

wieder  abdrucken  lassen,  da  es  schon  öfter  wie- 
der herausgegeben  ist.    Aber  gerade  das,  was 
über  diese  Dichtung   gesagt  wird,   ist   von  be- 
sonderm  Interesse.    Wir  wußten,   daß  Fischart 
in  seinen  prosaischen  Schriften  sich  überall  an- 
lehnt, so  daß  ihm  kaum  ein  eignes  Wort  zuge- 
traut werden  kann;  wir  wußten  durch  Heinrich 
Kurz,  daß  er  auch  in  einer  seiner  Dichtungen, 
dem  Jesuitenhütlein ,  eine  fremde  Dichtung:  zum 
Grunde   legte;   aber   seine   übrigen  Dichtungen 
galten  für  selbstständige  Schöpfungen.    Jetzt  er- 
fahren wir,  daß  auch  sein  glückhaftes  Schiff,  das 
für  durchaus  original  gehalten  wurde,  nicht  ohne 
Anlehnungen  zu  Stande  gebracht  ist.     „Wie  aus 
verschiedenen  Stellen  hervorgeht  (heißt  es  S.  22) 
ist  Rudolph  Gualther  (der  eine  Argo  Tigurina  in 
lat.  Distichen    auf  die  Schiffahrt    dichtete,    die 
S.   49   abgedruckt   ist)    eine   Quelle   Fischart's. 
Nicht   nur   schöpft   dieser  im  Eingang  manches 
aus  der  lat.  Vorlage,  sondern  die  Einführung  des 
Vaters  Rhein,  der  den  Gesellen  jenen  ermuntern- 
den  Zuspruch  hält,   ist  Gualther's  Erfindung*. 
Auch  ein  anderes,  ein  deutsches  Gedicht  auf  den 
Gegenstand   .muß   Fischart    ebenfalls   gekannt 
haben",  wie  denn  durch  Gegenüberstellung  eini- 
ger Verse  beider  unzweifelhaft  bestätigt  wird. 
S.  21  unten  ist  von  einer  erweiterten  Redaction 
des   glückhaften  Schiffes   Fischart's    die   Bede, 
wozu  die  dort  angeführte  Stelle  keine  Veranlas- 
sung giebt,  da  dort  nur  gesagt  ist,  Fischart  selbst 
führe  Verse  aus  seinem  Gedichte  an,  die  in  den 
bekannten  Drucken  nicht  stehen.     Diese  Verse 
hat  Hr.  ßaechtold  glücklich  gefunden  und  ab- 
drucken lassen;  vgl.  Gott.  gel.  Anz.  1880  S.  350. 
K.  Goedeke. 

Für  die  Redaction  verantwortlich :  E.  Behntoch,  Director  <L  Gott.  gel.  Ans. 

Commissions- Verlag  der  Dieterich:  sehen  Verlags 'Buchhandlung. 

Druck  der  DieiericK ecken  Univ.- Buchdruck**  (W.  Fr.  Katstntr). 


w 


1153 


G  Ottingis che 

OCT  18 18*  j 


gelehrte    Anzeigen 

unter  der  Aufsicht 

der  Königl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften« 

Stück  37.  15.  September  1880. 


Inhalt:  Die  tirolischen  Weisthümer  herausgeg.  von  Ign.  Zingerle 
und  K.  Tb.  v.  Inama-Sternegg.  Th.  I— III.  Von  Ludw.  SUub.  —  Acta 
hiatorica  res  gestas  Poloniae  lllustrantia,  toI.  HI.  ed.  G.  Waliaoewski. 
Von  SL  Lukas.  —  C.  Wolfsgruber,  Giovanni  Gersen,  sein  Leben 
und  sein  Werk  De  Imitatioae  Christi.    Von  Fr.  D&sterdieck. 

as  Eigenmächtiger  Abdruck  von  Artikeln  der  Gott.  gel.  Anz.  verboten  ss 


Die  tirolischen  Weisthümer  im  Auf- 
trage der  kaiserlichen  Akademie  der  Wissen- 
schaften herausgegeben  von  Ignaz  V.  Zingerle 
und  K.  Theodor  von  Inama-Sternegg.  I. 
Theil:  Unterinnthal.  Wien,  Wilhelm  Brau- 
müller, k.  k.  Hof-  und  Universitätsbuchhändler. 
1875.  IL  Theil:  Oberinnthal.  Ebend.  1877. 
ni.  Theil:  Vinstgau.    Ebend.  1880. 

Weisthümer  sind  bekanntlich  schriftliche,  in 
früheren  Jahrhunderten  entstandene  Aufzeichnun- 
gen, welche  zunächst  die  in  den  Stadt-  und 
Landgemeinden  geltenden  Gebräuche  und  Ge- 
wohnheitsrechte, festgestellte  Gränzverhältnisse, 
die  mannichfachen  Gaben  und  Leistungen,  w^Jche 
die  Landleute  ihren  Herrschaften  schuldeten  und 
dergleichen  Dinge  durch  die  Schrift  vor  der 
Vergessenheit  bewahren  und  den  kommenden 
Geschlechtem  überliefern  sollten.    Jacob  Grimm; 

73 


1154      Gott  gel.  Anz.  1880.  Stück  37. 

der  1839  die  erste  Sammlung  solcher  Weis- 
thümer  herausgegeben,  sprach  damals  in  der 
Vorrede  die  Hoffnung  aus,  „daß  dieselben  unsre 
Bechtsalterthümer  unglaublich  bereichern  und 
beinahe  umgestalten ,  wichtige  Beiträge  zur 
Kunde  der  deutschen  Sprache,  Mythologie  und 
Sitte  liefern,  überhaupt  aber  gewissen  Partien 
der  früheren  Geschichte  Farbe  und  Wärme  ver- 
leihen werden". 

Der  Anfang  war  auch  hier  sehr  schwer. 
Jacob  Grimm  beklagt  sich  z.  B.  an  einer  an- 
dern Stelle,  daß  ihm  die  Archive  zu  Speier  and 
zu  Idstein  nicht  zugänglich  gewesen;  er  werde 
sich  überhaupt  am  Schlüsse  der  ganzen  Samm- 
lung über  alle  Hindernisse,  die  sich  seiner  va- 
terländischen Arbeit  entgegenstellten,  offen  äußern 
u.  s.  w. 

Mit  der  Zeit  mag  er  aber  doch  weniger  Ur- 
sache zu  Beschwerden  gefunden  haben,  denn  er 
hat  das  Sündenregister,  mit  dem  er  drohte,  nicht 
aufgestellt.  Er  selbst  brachte  seine  Sammlung 
auf  vier  Bände  und  Richard  Schröder,  der  sie 
fortsetzte,  fügte  noch  zwei  andre  hinzu;  auch 
sind  seitdem  in  mehreren  deutschen  Ländern 
die  dort  gesammelten  Weisthümer  gesondert  ans 
Licht  getreten ;  kurz  es  zeigt  sich  jetzt  einige» 
Leben  auf  diesem  Felde. 

Heute  gedenken  wir  nun  von  den  tirolischen 
Weisthümern  zu  sprechen,  welche  im  Auftrage 
der  kaiserlichen  Akademie  der  Wissenschaften 
die  Professoren  Ignaz  V.  Zingerle  und  E.Theo- 
dor von  Inama-  Sternegg  zu  Innsbruck  heraus- 
gegel^n  haben.  Bis  jetzt  sind  drei  Bände  fer- 
tig geworden,  deren  erster  1875  erschien.  Sie 
umfassen  die  Weisthümer  von  Unterinntbal,  von 
Oberinnthal  und  die  des  Vinstgau's.  Wenn  sich 
die  Herausgeber   in    der  Vorrede    des   ersten 


Die  tirolischen  Weisthümer.  1155 

Bandes  zu  einem  feierlichen  Ansdrnek  ihres 
Dankes  „fttr  die  ihnen  von  so  vielen  Seiten  in 
erfreulicher  Weise  zn  Theil  gewordene  Förde- 
rung und  Unterstützung"  veranlaßt  sahen,  so 
mag  man  daraas  entnehmen,  entweder  daß  die 
Zeiten  überhaupt  den  Weisthümern  jetzt  gün- 
stiger oder  daß  wenigstens  die  Tiroler  sich  um 
ihre  Rechtsalterthümer  lieber  annehmen,  als  die 
andern  Deutschen. 

Die  tirolischen  Weisthtimer  entstammen,  wie 
sich  von  selbst  versteht,  verschiedenen  Zeiten. 
Die  jüngsten  sind  in  den  letzten  Jahrhunderten, 
die  ältesten,  die  nachgerade  sehr  selten,  im  vier- 
zehnten niedergeschrieben  worden;  deß wegen 
können  sie  denn  auch  als  fortlaufende  Beweis- 
stücke für  die  Geschichte  der  tirolischen  Mund- 
arten betrachtet  werden.  Allerdings  ist  ihre 
Schreibung  nie  consequent,  mitunter  auch  offen- 
bar verdorben  und  der  Text  reich  an  Worten 
und  Redensarten,  die  jetzt  nicht  mehr  zu 
verstehen  sind,  allein  gerade  dieser  Umstand 
läßt  nns  das  versprochene  Glossar,  das  noch 
nicht  erschienen  ist,  um  so  gespannter  erwarten. 
Durch  die  älteren  Formen  der  Flur-  und  Orts- 
namen, welche  diese  Weisthümer  so  reichlich 
bieten,  wird  auch  die  Erklärung  derselben  we- 
sentlich gefördert  werden.  Nur  nebenbei  sei 
hier  bemerkt,  daß  Bd.  I.  S.  221  in  einem  Weis- 
thxtm  des  sechzehnten  Jahrhunderts  auch  in 
das  Inn  zu  lesen  ist,  eine  gewiß  selten  vorkom- 
mende Uebereinstimmung  mit  der  Sprache  der 
Nibelungen,  welche  bekanntlich  jenen  Strom  auch 
als  Neutrum  behandelt. 

Der  erste  Band  enthält  also  die  Weisthümer 
aus  dem  untern,  der  zweite  die  aus  dem  obern 
Innthale.  Die  Herausgeber  unterlassen  nicht 
zu  bemerken,  daß  die  des  Unterinnthaies  durch- 

73* 


1156      Gott  gel.  Anz.  1880.  Stück  37. 


ans  im  baierischen  Dialecte  geschrieben  sind, 
wogegen  aus  denen  des  Oberinntbales  oft  die 
alemannische  Mundart  herausklinge.  Diese  be- 
ginnt —  obgleich  die  Eingebornen  durchaus 
nicht  zugeben,  daß  sie  Schwaben  seien  oder 
schwäbisch  sprechen  —  schon  zu  Zirl,  dem  ersten 
oberinnthalischen  Dorfe,  das  nur  drei  Stunden 
von  Innsbruck  liegt.  Je  mehr  aber  der  Wande- 
rer am  Inn  hinaufsteigt,  desto  mehr  begegnen 
ihm  auch  romanische  Orts-,  Hof-  und  Flurna- 
men —  eine  Erscheinung,  die  sich  im  Gebiete 
der  Etsch  fortsetzt.  So  bezeugen  denn  auch 
diese  Weisthümer,  daß  die  Bewohner  des  Ober- 
innthals und  des  Vinstgaues  großentheils  ger- 
manisierte Romanen  sind,  welche  die  Sprache 
der  eingewanderten  Alemannen  angenommen. 
Alle  diese  Gegenden  sind  daher,  wie  sich  von 
selbst  versteht,  viele  Jahrhunderte  lang  zwei- 
sprachig gewesen,  denn  die  Deutschen  saßen  ja 
da  auch  schon  seit  dem  Zerfall  des  römischen 
Reichs.  Wie  lange  sich  aber  z.B.  die  Einwoh- 
ner von  Mals,  dem  bedeutendsten  Flecken  an 
der  obern  Etsch,  noch  halbwegs  für  Italiener 
hielten,  mag  daraus  hervorgehen,  daß  sie  bis 
ins  fünfzehnte  Jahrhundert  herein  ihre  Urkun- 
den lateinisch  verfassen  ließen,  während  in  den 
andern  Gebieten  der  Grafschaft  Tirol  um  jene 
Zeit  die  deutsche  Sprache  schon  lange  als  Amts- 
sprache galt.  Im  Jahre  1610  beklagt  sich 
zwar  der  Abt  des  nahe  gelegenen  Marien- 
bergs, daß  fast  die  ganze  benachbarte,  Ge- 
meinde Burgeis  sowohl  in  gemeinen  Gesprächen 
als  in  öffentlichen  Zusammenkünften  „allein 
die  barbarische  Engadeinerische  Sprache  ge- 
brauche", allein  in  den  sämmtlichen  Weisthü- 
mern,  auch  in  den  ältesten,  wie  in  dem  von 
Nauders  aus  dem  Jahre  1436,  findet  sich  doch 


Die  tirolischen  Weisthümer.  1157 

nicht  die  mindeste  Erwähnung  einer  zweiten 
Nationalität,  viel  weniger  eines  Sprachenstreits, 
obgleich  uns  im  Texte  zahlreiche  Romanismen 
"begegnen.  Auch  die  Statuten  des  jetzt  zu 
Graubünden  gehörigen  Münsterthales  vom  Jahre 
1427  geben  durch  kein  Wort  zu  erkennen,  daß 
sie  eigentlich  für  ein  ladinisches  Völklein  ge- 
geben sind,  was  um  so  mehr  auffällt,  als  selbst 
in  dem  dicht  an  der  Oränze  liegenden  Dorfe 
Münster  die  deutsche  Sprache  erst  seit  einem 
Jahrhundert  die  Oberhand  gewonnen,  die  übri- 
gen Orte  aber  jetzt  noch  romanisch  zu  sprechen 
pflegen. 

Diese  Weisthümer  bieten  uns  also  in  ihrer 
Sprache  ein  sehr  unzuverlässiges  Bild  des  da- 
maligen Volksthums.  Wir  dürfen  nicht  verges- 
sen, daß  im  dreizehnten  Jahrhundert  noch  im 
Unterinnthale  bei  Hall  romanische  Landleute 
saßen  und  daß  damals  und  bis  ins  sechzehnte, 
wie  das  ganze  Oberinnthal,  so  auch  das  Vinst- 
gau  noch  romanisch  gesprochen  haben  müsse, 
weil  ja  nach  Ulrich  Campell  das  bei  Meran  ge- 
legene Partschins  um  1550  noch  nicht  germani- 
siert war.  Die  Grödner  und  die  Enneberger, 
die  doch  auch  zu  Deutschtirol  gehören,  sind  es 
selbst  heute  noch  nicht,  obgleich  sie  immer  un- 
ter deutscher  Herrschaft  standen  und  diese  im- 
mer in  deutscher  Sprache  mit  ihnen  amtierte. 

Herr  Professor  von  Inama  irrt  also  noch 
fortwährend,  wenn  er  in  seiner  neu  erschiene- 
nen Deutschen  Wirtschaftsgeschichte  (S.  21, 
Note)  behauptet,  daß  der  Besiedelungs-  und 
Germanisierungsproceß  Deutschtirols  in  drei  bis 
vier  Jahrhunderten  (also  etwa  bis  zum  Jahre 
800  oder  900)  in  der  Hauptsache  abgeschlossen 
gewesen  —  denn  dies  läßt  sich  höchstens  vom 
Unterinnthal  annehmen,    während    im  ganzen 


1158      Gott  gel.  Adz.  1880.  Stück  37. 

übrigen  Lande  der  besagte  Proceß  in  jener  Zeit 
erst  seinen  Anfang  nahm.  Herr  Professor 
v.  Inama  irrt  ferner,  wenn  er  an  der  erwähnten 
Stelle  behauptet,  ich  hätte  mich  über  diesen 
Punkt  seiner  Zeit  (in  der  A.A. Z.  Herbst  1875) 
unnöthig  gegen  ihn  ereifert,  da  ich  mich  doch 
nur  verwundert  habe,  wie  ein  Gelehrter  an 
eine  ihm  ganz  fremde  Aufgabe  gehen  konnte, 
ohne  im  mindesten  nachzusehen,  ob  und  was 
für  Literatur  darüber  vorhanden  sei,  und  wie 
er  dann  in  die  misliche  Lage  gerieth,  das  rha- 
tische  Alpenland  für  eine  unerschöpfliche  Wild- 
niß,  für  einen  jungfräulichen  Hochwald  zu  hal- 
ten, den  erst  die  Germanen  gelichtet,  während 
jenes  Land  doch  schon  seit  vollen  vierhundert 
Jahren  unter  römischer  Herrschaft  gestanden, 
als  römische  Provinz  vollkommen  römisch  ein- 
gerichtet und  mit  Städten,  Dörfern  und  Schlös- 
sern reichlich  versehen  war. 

Für  Tirol  wird  man  auch  nie  zugeben  kön- 
nen, daß  die  Cultur  von  den  Höhen  herabge- 
kommen, denn  gerade  die  großen  Dörfer,  die 
im  Thale  liegen,  führen  jetzt  noch  meist  rhäti- 
sche  Namen.  Betrachten  wir  z.  B.  nur  jenes 
Stück  des  Unterinnthals,  welches  sich  vom  Zil- 
lerbach  bis  zur  Sill  erstreckt.  Da  münden 
mehrere  Seitenthäler  mit  ihren  Bächen  in  das 
Hauptthal  und  an  jeder  solchen  Mündung  sitzt 
ein  uraltes  rhätisches  Dorf.  Jedes  dieser  Dör- 
fer begann  aber  seiner  Zeit  auch  wieder  seine 
Golonien  zu  entsenden,  die  sich  in  seinem  Seiten- 
thale  und  an  dem  Bache  ansetzten,  und  so 
entstanden  auf  den  Hängen  und  Höhen  herum 
jene  zerstreuten  Niederlassungen  oder  Höfe,  die 
jetzt  noch  denselben  Namen  führen  wie  jene, 
nur  daß  jedesmal  ein  „Berg"  hinzugefügt  ist 
So  liegt  der  Pillberg  ober  Pill,   der   Weerberg 


r 


Die  (erotischen  Weisthttmer.         1159 

ober  Weer,  der  Wattenser  Berg  ober  Wattens, 
der  Volderer  Berg  ober  Volders.  Warum  soll 
man  nun  annehmen,  daß  die  Leute  da  allent- 
halben früher  den  rauhen  Berg  eingenommen, 
als  das  bequeme  Thal?  Daß  dagegen  auf  den 
niedern  und  leieht  zugänglichen  Anhöben,  wo' 
Altrans,  Lans  und  Sistrans,  wo  Mutters  und 
Natters  liegen,  die  Gultur  so  alt  sein  könne, 
wie  im  Thale,  soll  nicht  bestritten  werden. 

Die  enge  gedrängte  Bauart  des  Kerns  die- 
ser rhätischen  Dörfer  hat  mich  übrigens  schon 
lange  auf  die  Vermutbung  geführt,  sie  möchten 
einst  alle  in  irgend  einer  Weise,  mit  Mauern, 
Wällen  oder  Palisaden,  befestigt  gewesen  sein. 

Es  würde  übrigens  viel  mehr  Zeit  und  Mühe 
erbeischen  als  wir  aufzuwenden  haben,  wenn 
wir  die  in  den  Tiefen  dieser  Weisthümer  ver- 
borgenen linguistischen ,  rechtsgeschichtlichen 
und  ethnologischen  Kleinodien  hier  ausführlich 
besprechen  wolten,  zumal  da  einem  solchen  Un- 
ternehmen manche  Vorarbeiten  vorausgehen 
müßten,  die  noch  nicht  vorbanden  sind.  Wir 
wollen  daher  aus  jenem  Beichthum  nur  einige, 
mehr  in  die  heitre,  als  in  die  wissenschaftliche 
Richtung  einschlagende  Züge  herausheben  uud 
damit  schließen. 

Der  höchste  und  wichtigste  Tag  im  Jahre 
war  diesen  biedern  Landsleuten  der  Kässontag, 
gewöhnlich  Kassuntag  geschrieben  und  dieser 
ist  der  Sonntag  Invocavit,  der  erste  in  den  Fa- 
sten. Da  mußte  die  ganze  Gemeinde,  so  viele 
daran  „Theil  hatten",  ohne  einige  Zuwissen- 
thuung  (ohne  besondre  Aufforderung)  um  zwölf 
Uhr  Mittag  an  dem  gewöhnlichen  Ort  erschei- 
nen und  „so  jemand  ohne  genügsame  Ursachen 
nit  erschienen,  so  soll  ein  jeder  unnachläßlich 
also    bald  gestraft  werden    per    ein  Gulden" 


1160      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  37. 

(Weisthum  von  Latsch  3.  239).  An  diesem 
Tage  war  die  allgemeine  „Landsprache",  es 
trat  das  Gericht  zusammen,  es  wurden  Urtheile 
gefällt  nnd  Vergleiche  abgeschlossen,  das  alte 
Herkommen,  nämlich  das  Weisthum  des  Ortes, 
verlesen,  wiederholt  gebilligt  nnd  bestätigt  oder 
auch  abgeändert  nnd  erneuert  Mancher  For- 
scher wird  vielleicht  mit  Vergnügen  bemerken, 
daß  in  geringfügigen  Straffällen  selten  Geld- 
strafen erhoben  wurden;  meistens  war  die 
Buße  eine  Bazeide  (41/*  Maß)  oder  eine  Uern, 
Yhrn  (urna,  55  Maß)  etschländer  Landweins, 
der  wahrscheinlich  am  nächsten  Sontag  un- 
ter Zuziehung  des  Straffälligen  vertrunken 
wurde. 

Eine  in  Tirol  sehr  rühmlich  bekannte  Stif- 
tung war  einst  das  Spital  zu  St.  Valentin  auf 
der  Maiser  Haide,  welches  Ulrich  Primele  von 
Burgeis  im  J.  1140  ins  Leben  gerufen  hat 
Eine  Pergamenturkunde  vom  Jahre  1489  ent- 
hält seine  Statuten,  die  unter  anderm  fest- 
setzen, daß  der  Maier  (Verwalter)  des  Spitals, 
wenn  Ungewitter,  Schnee,  Kälte  eintrifft,  ein 
paar  Ochsen  und  ein  Boß  ausschicken  soll  und  j 
wenn  dann  Pilgrime  und  arme  Lent  auf  dem 
Weg  gefunden  würden,  die  vielleicht  krank, 
blöd,  nackt  und  bloß  wären,  so  soll  sie  der 
Maier  gegen  Sanct  Valentins  Spital  zum  Hof 
führen,  sie  beherbergen  und  versorgen  mit  Es- 
sen und  Trinken.  Haben  dann  solche  Leute 
Geld,  so  sollen  sie  Essen  und  Trinken  bezah- 
len; hätten  sie  aber  nit  Geld,  so  soll's  der  be- 
zahlen, der  alle  Ding  bezahlt. 

Sehr  angenehm  berührt  die  energische  Men- 
schenfreundlichkeit, welche  aus  dem  nächsten 
Satze  spricht.    Dieser  lautet  wie  folgt: 

„Item   es  soll   auch    der    Hof    ein    offenes 


Die  tirolischen  Weisthttmer.  1161 

Haus  und  Spital  sein.  Das  Feuer  soll  nimmer, 
weder  Tag  noch  Nacht  zngedeckt  werden  und 
soll  allwegen  Holz  beim  Herd  sein:  wer  da 
kommt  und  sich  da  wärmen  will,  damit  daß  er 
Feuer  und  Holz  finde,  daß  er  sich  wärmen 
möge,  daß  er  nicht  erfriere.  Ob  aber  einer 
käme  und  sich  wärmen  wollte  und  kein  Holz 
daselbst  beim  Herde  fände,  der  soll  um  sich 
sehen  und  wo  er  sieht  Schüssel,  Stuhl,  Bänke, 
Teller,  Löffel  und  dergleichen,  das  mag  er  neh- 
men, zerhacken  und  zerschlagen,  ins  Feuer  le- 
gen, damit  Feuer  machen  und  sich  wärmen,  daß 
er  nicht  erfriere". 

Auch  die  kleine  Ortschaft  Schlinig,  welche 
hinter  der  Abtei  Marienberg  liegt,  jetzt  einund- 
zwanzig Häuser  zählt  und  nur  über  hohes  Ge- 
birge zugänglich  ist,  auch  sie  hatte  im  sech- 
zehnten Jahrhundert  „die  Artikel  und  Punct 
der  bäuerlichen  Rechte"  aufzeichnen  lassen  und 
handelt  einer  der  wenigen  sechs  Artikel  „vom 
Wirt  und  wie  sich  ein  jedlicher  Wirt  halten 
soll".  Der  Wirth  wurde  damals  in  Schlinig 
noch  alle  Jahre  gewählt  und  der  Biedermann, 
auf  den  die  Wahl  gefallen ,  durfte  sich  dem 
Vertrauen  seiner  Mitbürger  nicht  entziehen.  — 
Daß  man  noch  ebenso  einfach  als  genügsam 
lebte,  zeigt  die  Bestimmung,  daß  der,  welcher 
zu  einem  Wirth  erwählt  war,  innerhalb  vierzehn 
Tagen  Wein  im  Haus  haben  sollte;  „thäte  er's 
aber  nit,  solle  er  durch  die  Dorfmeister  um  eine 
Urne  Wein  gestraft  werden". 

Damit  sich  aber  der  Erkorene  nicht  über 
sein  Unvermögen  zu  beklagen  habe,  sollen  je- 
dem angehenden  Wirth  zu  Anfang  von  der  Ge- 
meinde vier  Gulden  „ftirgesetzt  und  geliehen 
werden".  Dieselbigen  vier  Gulden  sollte  aber 
ein  jeder  Wirth  zu  Ausgang  des  Jahres,  wenn 


1162       Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  37. 

ein  andrer  erwählt  war,  seinem  Nachfolger  über- 
antworten und  bar  hinausgeben,  damit  dersel- 
bige  angehende  Wirtb  auch  einen  Anfang 
habe. 

Anzuerkennen  ist  ferner  die  züchtige  Sprache 
dieser  Weisthümer.  Auch  in  heikein  Dingen 
sind  sie  um  einen  anständigen  Ausdruck  nie 
verlegen.  Das  feine  Gefühl  der  Landleute  ver- 
langte z.  B.,  daß  auch  von  den  Hausthieren  nur 
mit  einer  gewissen  Entschuldigung  gesprochen 
werde  und  diese  glaubte  man  in  dem  Worte: 
reverenter  zu  finden.  „Das  reverenter  Schwein" 
heißt  es  öfter  —  „die  reverenter  Kühe,  das 
reverenter  Vieh,  der  reverenter  Pfarrstiertt. 

Für  ebenso  berühmte  als  anspruchsvolle 
Kanzel-  und  Grabredner  mag  der  Vergleichung 
halber  angeführt  werden,  daß  nach  dem  Dorf- 
buch vom  Jahre  1607  im  vinstgauischen  Latsch 
für  eine  Leichenpredigt,  „da  es  begehrt  wird", 
sechs  Kreuzer  zu  bezahlen  waren. 

Wie  schon  oben  gesagt  wurde,  sind  in  die- 
sen Weisthümern  auch  sehr  viele  sprachliche 
Findlinge  zu  erheben.  Außer  dem  Glossar,  das 
unft  die  deutschen  Idiotismen  erläutern  wird, 
mag  wohl  auch  eine  erklärende  Arbeit  über  die 
«deutschen  Ortsnamen  nicht  überflüssig  erschei- 
net]. In  sprachlicher  Beziehung  ist  unter  vielem 
aAdern  auffallend,  daß  die  Weisthümer  und  na- 
mentlich die  älteren,  das  Subst.  Gohärenz  und 
das  Verbum  cohärenzen  ganz  und  gar  fttir 
Gränze  und  gränzen  gebrauchen  und  es  scheint 
kein  Zweifel,  daß  hier  zu  Lande  die  beiden  letz-  . 
teren  aus  den  beiden  ersteren  hervorgegangen 
sind,  während  sie  im  übrigen  Deutschland  von 
slav.  graniza  abgeleitet  werden. 

Wir  glauben   mit  dem  Ausspruch  schließen 
zu   dürfen,   daß   sich  die  wackern  Herausgeber 


Acta  Joannis  III.  regn.  ill.  e<L  Waliszewski.    1163 

durch  diese  zwar  sehr  schätzbaren,  aber  auch 
«ehr  mühevollen  und  ermüdenden  Arbeiten  den 
Dank   aller  Germanisten  und  wohl  auch   aller 
tirolomanen  Romanisten  verdient  haben. 
München.  Ludwig  Stenb, 


Acta  quae  in  archivo  ministerii  re- 
run* exterarum  gallici  ad  Joannis  III. 
regnnm  illustrandum  spectant.  Vol.  pri- 
nium,  Acta  aba.  1674  ad  a.  1677  continens,  ed. 
Dr.  Casimir-us  Waliszewski.  Cracoviae, 
sumptibus  academiae  liter.  Cracoviensis,  1879. 
in  4°,  XXVIII  et  546  pp. 

(Auch  unter  dem  allgein.  Titel:  Acta  historica 
res  gestas  Poloniae  illnstrantia,  vol.  III.  Der 
Titel  auch  polnisch). 

Gegenwärtiger  Band  bildet. den  ersten  einer 
großen  van  der  Krakauer  Akademie  der  Wis- 
senschaften zur  200jährigen  Feier  des  Entsatzes 
von  Wien  unternommenen  Monumentalpublika- 
tion, welche  zum  Zwecke  hat,  alles  auf  die  Ge- 
schichte Johann1»  III.  bezügliche  vornehmlich 
in  den  verschiedenen  europäischen  Archiven 
zerstreute  Material  zu  sammeln  und  dem  Studium 
der  vaterländischen  Geschichte  zugänglich  zu 
machen.  Wie  soll  man  nun  diplomatische  Pa- 
piere edieren?  Herausgeber,  der  sich  noch  im 
J.  1875  der  Aufgabe  unterzogen,  das  in  dem 
Depot  des  französischen  Ministeriums  des  Aus- 
wärtigen befindliche  Material  zum  Zwecke  obi- 
ger Publikation  zu  bearbeiten,  raisonniert  fol- 
gendermaßen über  diese  unseres  Erachtens  schon 
längst  genügend  gelöste  Frage:    Drei  Methoden 


1164      Gott  gel.  Anz.  1880.  Stück  37. 

gebe  es,  diplomatisches  Material  zu  edieren ; 
erste  beruhe  in  der  Publikation  allen  im  Are 
vorgefundenen  Materials  (wohl  eher  eine  Ub-^ 
Methode),  und  zwar  in  extenso;  die  zweite 
der  Veröffentlichung  nur  gewisser  Aktenstficl 
in  extenso,  bei  völliger  Außerachtlassung  and< 
rer;  die  dritte  in  der  Herausgabe  aller  irgend- 
wie historisch  wichtigen  Akten,  doch  nicht  mehr 
in  extenso,  sondern  in  Excerpten  oder  Ausztt^ 
gen.  HG.  ist  selbstverständlich  für  keine  dieser 
Methoden:  von  der  ersten  könne  im  Ernst  kaum 
die  Rede  sein,  angesichts  der  55  Foliobände, 
die  das  Archiv  zur  Geschichte  Johann'«  ID.  J 
enthalte;  die  zweite  sei  aus  dem  Grunde  ver-" 
werflich,  weil  ja  oft  aus  langathmigen,  aber 
sonst  wenig  wichtigen  Akten  nur  hie  und  da 
ein  Passus  verdiene  herausgehoben  zu  werden; 
endlich  sei  die  dritte  Methode  darin  fehlerhaft, 
daß,  da  oft  die  wahre  Bedeutung  eines  Akten- 
stückes nicht  sowohl  in  dem  einen  oder  anderen 
Passus  liege,  als  in  dem  allgemeinen  Inhalt  oder 
dem  Gedankengange  des  Schriftstückes,  eher 
eine  Mittheilung  in  extenso  oder  doch  eine  ge- 
naue Inhaltsangabe  rathsam  erscheine.  —  Man 
sollte  glauben,  HG.  werde  nun  consequent  mit 
sich  selbst  eine  Methode  adoptieren,  welche  die 
Vorzüge  der  drei  von  ihm  verworfenen  in  sich 
schließend  1)  die  wichtigsten  Aktenstücke  in 
extenso  geben  werde;  2)  von  den  Akten  der 
zweiten  Kategorie  in  wörtlichen  Excerpten  das, 
was  an  ihnen  eben  wichtig  ist,  endlich  3)  mehr 
oder  minder  genaue  Inhaltsangaben  der  an  und 
für  sich  minder  wichtigen  Dokumente.  Dem  ist 
aber  nicht  so.  HG.,  der  bis  hieher  ganz  logisch 
deduciert  hatte,  macht  nun  ganz  unvermuthet 
eine  Art  gefährlichen  salto  mortale,  und  der  bis 
dahin    bescheidene   Herausgeber    entpuppt  sich 


JLcta  Joannis  HI.  regn.  ill.  6<L  Waliszewski.    1 1 65 

i 

auf    einmal    vor    unseren   Augen    als    ein   für 

Sine  Leser  allerdings  sehr  wohlgesinnter  Histo- 
ter.     Doch  fassen  wir  ihn  nur  selber  die  von 
thm  adoptierte  Methode  charakterisieren. 

Die  angeführten  Methoden  (sagt  er  in  seiner 
-Einleitung)  leiden  an  dem  Uebelstande,  daß,  in- 
dem sie  alle  das  Material  in  ganz  eigentümli- 
cher Weise  zerstückeln  und  zerbröckeln,  der  Le- 
ser   hiedurch   genöthigt  wird,  erst  selber  diese 
Brocken  mühsam  in  logische  Gruppen  zusammen- 
zuleimen,   um    aus    ihnen  gewissermaßen   die 
Ziegel  zu  bilden,  die  ihm  zu  seinem  historischen 
Bau    dienen   sollen.     Eben   diese  Arbeit    wolle 
nun  HG.,  nachdem   er  sich   ihr   einmal  selber 
unterzogen,  seinen  Lesern  ersparen,  und  zu  die- 
sem Behufe   habe   er   eine  andere  von   den  be- 
sprochenen  ganz   verschiedene   Methode    ange- 
nommen.    Er   habe  nämlich  aus  dem  Material, 
das  vor  ihm  gelegen,  Alles  herausgepreßt,  was 
nur   irgendwie    Werth   für   den  Forscher  haben 
konnte;  er  habe  hier  abgeschrieben,  dortexcer- 
piert,  anderswo  wiederum  nur  ein  wichtiges  Da- 
tum  oder  Factum   notiert;   aber  alle  diese 
historischen  Atome  in  ein  organisches 
Ganze   zu  verbinden    gesucht,   nicht  so- 
wohl   indem    er    die    trockene    chronologische 
Nachfolge,   sondern  jene   ideale   Kegel   zu 
Grunde  genommen,    welche    die    Wir- 
kungen mit  denUrsachen  und  chrono- 
logisch   weit  von  einander   liegende 
Begebenheiten  mit  einander  verbinde 
u.  s.  w. 

Nun  genügt  .schon  ein  flüchtiger  Blick  auf 
das  Resultat  dieser  zusammenfassenden  Arbeit, 
um  sich  zu  überzeugen,  in  welchen  argen  Feh- 
ler HG.  mit  seiner  Methode  logischer  Gruppen 
und  organischer  Einheiten  verfallen  ist.   Hierin 


1166      Gott,  gel.  Anz.  1880.  Stück  37. 

bat  er  allerdings  Recht:  die  logische  Reihen- 
folge sei  der  rein  zeitlichen  vorzugehen.  Doch 
fragt  es  sich:  war  dies  seine  Aufgabe  ab 
Herausgeber,  und  wo  ist  denn  die  Bürgschaft, 
daß,  indem  er  den  sicheren  Führer,  den  ihm 
die  chronologische  Nachfolge  an  die  Hand  ge- 
boten, muthwillig  über  Bord  geworfen,  er  aaeh 
wirklich  die  logische  Reihenfolge  eingeführt, 
auch  in  der  That  den  logischen  Zusammenhang 
der  Begebenheiten  entdeckt  und  nach  demselben 
seine  Urkunden  geordnet  hat.  In  der  Publika- 
tion diplomatischer  Papiere,  die  sich  in  fortlau- 
fender Reihe  alle  auf  einen  und  densel- 
ben, oder  doch  mehrere  aber  eng  verwandte 
Gegenstände  beziehen,  ist  und  bleibt  der  chro- 
nologische Faden  immer  der  bequemste,  gewis- 
sermaßen untrügliche,  jedenfalls  der  thatsäch- 
liehe;  jene  logischen  Zusammenhänge  hingegen, 
die  HG.  eingeführt,  sind  etwas  ganz  Subjectives, 
Relatives,  rein  Imaginäres.  A  logicien  logicien 
et  demi,  sagt  ein  wohlbekanntes  französisches 
Dictum.  Diese  elementare  Wahrheit  hätte  B6. 
nicht  außer  Acht  lassen  und  nicht  den  sicheren 
Boden  verlassen  sollen,  um  sich  auf  einen  ganz 
fictiven  Grund  zu  stellen. 

Der  falschen  Auffassung  entspricht  denn 
auch  das  Resultat  der  4jährigen  Arbeit  des 
HG.  Es  ist,  um  es  nur  offen  herauszusagen, 
ein  Chaos.  Wenn  HG.  darüber  Klage  führt, 
daß  die  von  ihm  als  fehlerhaft  verworfenen  Me- 
thoden das  Material  allzusehr  zerbröckeln,  so 
behaupte  ich  im  Gegentheil,  er,  der  HG.  habe 
erst  in  der  That  das  schöne  Material,  das  er 
vorgefunden,  mit  seiner  logischen  Methode  so 
arg  zugerichtet,  daß  es  wirklich  stark  zerbröckelt 
und  demnach  zum  historischen  Bau  bei  weitem 
weniger  tauglich  ist    Der  starke  Band,  den  wir 


r 


Acta  Joannis  in.  regn.  ill.  ed.  Waliszewski.    1 1 67 

vor  UBS  haben,  mit  seinen   vielleicht  paar  tau- 
send tbeils  ganz  mitgetbeilten,  tbeils  excerpier- 
ten,  theils  nnr  erwähnten  Aktenstücken  ist  ein 
wahres  Labyrinth,  in  dem  leider  die  Logik  des 
Heransgebers  den  fehlenden  *  Ariadnefaden    zu 
ersetzen  durchaus  nicht  im  Stande  ist.    Da  HG. 
es  nicht  für  rathsam  erachtet,  seiner  Sammlung 
schon  gleich  im  Isten  Bande   einen  Index  bei- 
zufügen,  da  auch  die  am  Schlösse  des  Bandes 
beigebrachte  table  gönärale  des  documents   auf 
67    Qaartseiten   nicht   den   Inhalt    des   Bandes 
bringt,   sondern    (meines  Erachtens    ganz    un- 
nöthiger  Weise)   die    Inhaltsangaben   aller  in 
den     betreffenden   Archivfolianten    enthaltenen, 
selbstverständlich  nicht  immer  streng  chronolo- 
gisch geordneten  Schriftstücke  (wobei  denn  frei- 
lich  die  meisten   dieser  Documente  mit  einem 
„sans  importance"  wegkommen):    so  weiß  man 
wirklich  nicht,  woran  man  sich  zu  halten  hat, 
wenn  man  in  der  ungeheuren  Zahl  dieser  Akten 
das   eine  oder  andere  Stück  herausfinden  will. 
Da   sind   Dokumente  in    extenso,    französische 
Exeerpte,   polnische  Inhaltsangaben,  historische 
Erzählung,  kritische  Ausflüge,  mitunter  Charak- 
terschilderungen und  philosophische  Betrachtun- 
gen, in  buntem  Wirrwarre  alle  durch  einander 
geworfen,  dabei  die  Chronologie  wie  schon  ge- 
sagt, nur  im  Großen  und  Ganzen  berücksichtigt, 
sonst  aber  meistens  gänzlich  außer  Acht  gelas- 
sen, so  etwa,  daß  man  vom  Monat  Juni  in  den 
August  binüberspringt,  dann  in  den  Juli  zurück- 
tritt, dann  wiederum  wohl  in  den  Mai   geführt 
wird  u.  ».  w.    Wie   mitunter   das   Material  be- 
handelt wird,  sollen  ein  paar  Beispiele  belehren. 
S.  47—48   ist  die  eine  Hälfte  einer  wichtigen 
Depesche  mitget heilt;  folgt  dann  der  Common- 
tar  des  HG*.,  folgen   andere  auf  dieselbe 'An- 


1168       Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  37. 

gelegenheit  bezüglichen  Aktenstücke,  endlich  S. 
52  folgt  auch  der  Rest  jener  oben  theilweise 
gegebenen  Urkunde,  der  freilich  eine  andere 
Angelegenheit  behandelt.  Ein  Gleiches  wieder- 
holt sich  §.  51  u.*S.  71.  Ist  in  dem  histori- 
schen Bau  des  HG.  kein  Platz  für  irgend  ein 
Schriftstück,  erlaubte  der  logische  Zusammen- 
hang nicht,  es  irgendwo  anzubringen,  so  ge- 
schieht wohl,  daß  es  aus  dem  Text  in  die  an- 
ter dem  Text  stehenden  Anmerkungen  degra- 
diert wird,  so  S.  151,  327,  455.  Ueberhaupt 
giebt  es  in  dem  Bande  viele  Akten,  von  denen 
man  nicht  anders  sagen  kann,  als  daß  sie  ver- 
loren gegangen  oder  besser,  daß  HG.  sie  ver- 
loren hat,  ich  meine  diejenigen  Schriftstücke, 
deren  Zusammenhang  mit  den  übrigen  dem 
HG.  nicht  recht  einleuchtete.  Diese  werden 
dann  in  eine  Art  besonderen  Abschnittes  ge- 
bracht, der  durch  ein  orthographisches  Zeichen 
— )  von  dem  vorhergehenden  und  dem  folgen- 
en  unterschieden  werden  soll.  Große  Verlegen- 
heiten bereitet  dem  HG.  stets  die  Versailler 
Correspondenz :  bald  folgt  auf  den  Brief  des 
Gesandten  unmittelbar  die  Antwort  des  ersten 
Ministers  oder  des  Königs,  bald  werden  diese 
letzteren  in  Gruppen  zusammengefaßt  und  monats- 
weise gegeben  (also  beispielsweise  nach  der 
Correspondenz  aus  Polen  aus  dem  Monat  Mai 
die  aus  Versailles),  doch  hält  sich  HG.  nicht 
consequent  daran.  Mit  einem  Wort,  da  zumal 
wo  die  diplomatischen  Fäden  sich  verwickeln 
und  kreuzen,  wo  es  der  Correspondenten  meh- 
rere giebt,  oder  wo  private  Angelegenheiten  der 
Botschafter  die  öffentlichen  durchziehen,  zeigt 
sich  bei  allem  sonstigen  Scharfblick  des  HG., 
dem  nur  schwerlich  Anerkennung  versagt  wer- 
den   dürfte,   die  vollkommene  Unzulänglichkeit 


s 


Acta  Joannis  III.  regn.  ill.  ed.  Walisze  wski.    1169 

der  so  fiüfechEch  von  ihm  eingeschlagenen  Me» 
tbode. 

Diese  Methode  ist  nnn  freilich  nicht  das  Ko- 
lumbus-Ei des  HG.  Sie  ist  oder  sie  soll  wohl 
keine  andere  sein,  als  die,  welche  vor  45  Jah- 
ren Mignet  mit  dem  ersten  Bande  seiner  Ne- 
gotiations relatives  k  la  succession  d'Espagne 
in  die  historische  Wissenschaft  mit  einer  Mei- 
sterschaft eingeführt  hatte,  der  ein  Bänke  seine 
Anerkennung  nicht  hat  versagen  können.  Nun 
wird  aber  das  Obengesagte  den  Unterschied 
zwischen  Beiden  wohl  klar  gemacht  haben,  und 
in  der  That  möchte  ich  das  in  Bede  stehende 
Buch  eher  des  confusen  Orlich  sogenannter  Ge- 
schichte des  preußischen  Staats  im  17.  Jahrh. 
an  die  Seite  setzen,  wobei  jedoch  die  Verglei« 
chung  entschieden  zu  Gunsten  des  HG.  ausfallen 
müßte,  der  auch  bescheiden  genug  ist,  seine 
Arbeit  nicht  als  eine  Geschichte  der  französisch* 
polnischen  Diplomatie  unter  Johann  HL,  son« 
dem  als  das  bloße  Material  dazu  ansehen  zu 
wollen  —  eine  Bescheidenheit,  die  rühmens- 
werth  wäre,  wenn  nicht  gerade  sie  die  unselige 
Halbheit  in  der  Auffassung  des  HG.  verschul- 
det hätte,  welche  es  bewirkt  hat,  daß  uns  weder 
ein  quellenmäßiges  Geschichtswerk,  noch  auch 
ein  anspruchsloses  Urkundenbuch ,  sondern  eine 
von  einem  mehr  oder  minder  entbehrlichen  Com- 
mentar  durchzogene  sehr  confuse  Materialien- 
Sammlung  vorliegt. 

Was  nun  diesen  Commentar  betrifft,  so  soll 
nicht  im  Mindesten  in  Abrede  gestellt  werden, 
daß  HG.,  dem  es  an  constructiver  Fähigkeit 
und  scharfsinniger  Combinierungsgabe  ganz  und 
gar  nicht  fehlt,  daselbst  nicht  mitunter  Manches 
ausgesprochen  hätte,  was  der  einstige  Historiker 
Johann'«  III.  werde  berücksichtigen  müssen ;  im 

74 


1170      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  37. 

Ganzen  tritt  jedoch  der  historische  Dilettantis- 
mus   des   HG.  auch    hier  stark    hervor.      Be- 
hauptungen werden  gewagt,  die  nichts  weniger 
als    begründet  sind,   schwierige   Probleme    auf 
wahrhaft  dilatorische  Art  mit  einem  Machtwort 
entschieden   (so  beispielsweise   die  Absicht   Jo- 
hanna  III.  Polen   in   ein  erbliches  Königthum 
zu  verwandeln  und  sich  absolut  zu  machen,  s. 
S.  151);   nicht  selten  tritt  eine  überraschende 
Unkenntniß  der  allgemeinen  Geschichte  an  den 
Tag,  so   wenn   HG.   ein   Schriftstück,  betitelt: 
projet  d'articles  (Tun  traite  ä  faire  avec  le  roi 
de  Pologne  als   einen   Gommentar   zu  dem  am 
11.  Juni  1675   zwischen  Frankreich   und  Polen 
abgeschlossenen  Schutz-  und  Trutz-Bündnisse  an- 
sieht, und  es  daher  aus  dem  benannten  Jahre, 
1675,   stammen    läßt,   mit   der   ausdrücklichen, 
rein  aus  der  Luft  gegriffenen   Bemerkung,   daß 
es   aus  der  Kanzlei  des  Bischofs  von  Marseille 
(damaligen   französischen   Gesandten  in   Polen) 
komme  (S.  212),   während  doch  in  diesem  Pro- 
ject,   anderer   Merkmale    nicht    zu    gedenken, 
ganz  deutlich  von  den  in  Folge  des  Nimwe- 
ger-Friedens  dem   französichen  Könige    in 
Deutschland     zuerkannten     Erwerbungen     die 
Bede  ist.    Ein   ander  Mal,   in  der  mysteriösen 
Sache    des   H.   Brisacier,    eines    französischen 
Abenteurers,  der    sich   durch  Vermittlung    des 
polnischen  Königs,  Dank  einer  wirklichen  oder 
fingierten  Blutsverwandtschaft,  mit  ihm,  von  Lud- 
wig XIV.  den  Titel  eines  due  et  pair  de  France 
erschachern  wollte,   versteigt  sich  HG.,   um  die 
Behauptungen  französicher  Schriftsteller  zu  wi- 
derlegen, wonach  zwischen  Johann  III.  und  der 
Mutter  des  erwähnten  Brisacier  einst,  vor  Jah- 
ren, unerlaubte  Beziehungen  stattgefunden  hät- 
ten, sogar  bis  zu  der  Muthmaßung,  solche  Be- 


Acta  Joannis  III.  regn.  UL  ed.  Walisze  wski.    1171 

Ziehungen  hätten  vielmehr  zwischen  der  fran- 
zösischen Königin  (Maria  Theresia)  und  ihrem 
Secretär,  dem  erwähnten  Brisacier,  bestanden. 
Deutet  dies  doch  auf  eine  völlige  Unkenntniß 
des  Charakters  und  der  Neigungen  der  erwähn- 
ten Prinzessin,  von  der  ihr  Gemahl,  als  sie  ge- 
storben, bekanntlich  die  Worte  gesagt  hat: 
G'est  le  seul  deplaisir  qu'elle  m'ait  donne.  — 
Rühmend  muß  ich  des  HG.  Gewissenhaftigkeit 
in  der  Gitierung  erwähnen. 

Nachdem  vor  mehreren  Jahren  die  Krakauer 
Akademie  der  Wissenschaften  den  Grundsatz 
als  bindend  für  sich  aufgestellt  hatte,  daß  alle 
akademischen  Publikationen,  die  nicht  nur  die 
polnische,  sondern  die  allgemeine  Wissenschaft 
interessieren  könnten,  in  einer  auch  den  aus- 
ländischen Gelehrten  zugänglichen  Sprache  ver- 
öffentlicht werden  sollten,  so  dürfte  man  billig 
glauben,  daß,  da  gegenwärtige  Publikation  im 
Verlage  und  unter  den  Auspizien  der  Akademie 
erschienen,  obiger  Grundsatz  in  ihr  befolgt  wor- 
den wäre,  wie  beispielsweise  in  der  soeben 
herausgegebenen  Correspondenz  des  Cardinais 
Hosius,  und  andern.  Dem  ist  aber  nicht  so. 
Außer  einem  allgemeinen  Verzeichniß  aller  in 
den  betreffenden  Archivbänden  enthaltenen  Ak- 
ten und  ihrem  Inhalt,  welcher  in  französischer 
Sprache  gegeben  ist,  sind  die  Einleitung  sowohl 
als  alle  übrigens  ziemlich  dürftigen  Anmerkun- 
gen, und  vor  Allem  der  die  Aktenstücke  ver- 
bindende und  excerpierende  Commentar  in  pol- 
nischer Sprache  verfaßt.  Dies  ist  um  so  be- 
dauernswerther,  als  die  Aktenstücke  mit  ver- 
schwindend wenigen  Ausnahmen  alle  in  fran- 
zösischer Sprache  abgefaßt  sind,  als  ferner  HG., 
der  seine  Doctorthese  an  der  pariser  faculty  de 
droit  mit  brillantem  Erfolg  vertheidigt,  der  fran- 

74* 


1172      Gott  gel.  Anz.  1880.  Stück  37. 

zösischen  Sprache  in  hohem  Grade  mächtig  ist, 
und  als  endlich  der  Inhalt  des  zu  besprechen- 
den Bandes  nicht  nur  ein  speziell  polnisches, 
sondern  ein  allgemein  geschichtliches  Interesse 
und  zwar  in  ziemlich  hohem  Maße  zu  bean- 
spruchen im  Stande  ist. 

Es  ist  dieser  Inhalt  ein  zu  reichhaltiger,  als 
daß  ich  es  versuchen  könnte,  mehr  als  einen 
sehr  allgemeinen  Begriff  von  ihm  hier  zu  ge- 
ben. Nicht  weniger  als  18,  und  rechnet  man 
die  Copieen  ab,  15  starke  Archivfolianten  hat 
HG.  in  den  —  freilich  auch  starken  —  Band, 
den  wir  besprechen,  zusammengepreßt.  Nur  ne- 
benbei sei  bemerkt,  daß  uns  diese  Sparsamkeit 
des  HG.  ein  wenig  übertrieben  scheint  Aas 
dem  obenerwähnten  Aktenverzeichniß  ersieht 
man,  daß  sehr  wichtige  Aktenstücke  ganz  un- 
gedruckt geblieben  sind,  so  z.B.  der  p>  524  er- 
wähnte offizielle  Bericht  der  polnischen  Regie- 
rung über  die  Ereignisse  vor  und  bei  Zurawno 
(24.  Sept  bis  18.  October  1676).  Nun  bat  frei- 
lich gegenwärtige  Publication  vor  Allem  den 
Zweck,  die  diplomatische  Geschichte  Johanns  III. 
zu  beleuchten,  doch,  frage  ich,  wo  hofft  man 
denn  besseres  Material  für  jene,  die  kriegeri- 
schen Ereignisse  finden  zu  können?  Wenn  nicht 
unbekannt  ist,  wie  arg  es  mit  der  polnischen 
Kriegsgeschichte  steht,  wie  oft  unsere  ganze 
Kunde  über  wichtige  und  zwar  glorreiche  Feld- 
züge auf  ein  paar  lumpigen  Notizen  beruht,  die 
uns  ein  mehr  oder  minder  gut  unterrichteter 
Chronist  oder  auch  ein  beschränkter  Memoiren» 
Schreiber,  der  vor  lauter  Bäumen  in  der  Regel 
den  Wald  nicht  sah,  hinterlassen  haben,  der 
wird  das  Verlangen  nicht  ungerechtfertigt  fin- 
den, daß  solche  amtliche  Aufzeichnungen  nicht 
vernachlässigt  werden.     Dieses  nur    beispiels- 


Acta  Joannis  IIL  regn.  ill.  ed.  Waliszewski.    1 173 

weise,  denn  auch  sonst  finde  ich,  daß  HG.  zu 
stark  Papier  and  Druckerschwärze  gespart  hat 
—  Der  gegebene  Inhalt  nun  wird  gebildet 
durch  die  Originaldepeschen  der  französischen 
Gesandten  in  Polen  (des  Bischofs  von  Marseille 
und  des  später  ihm  zugesellten,  zuletzt  allein 
thätigen  Marquis  de  Bethune)  an  das  Versailler 
Cabinet  und  durch  die  meist  in  Minuten  ent- 
haltene Correspondenz,  dieses  letzteren.  Die 
Correspondenz  geht  in  diesem  ersten  Bande  von 
Anfang  1674  (dem  Interregnum  nach  dem  Tode 
König  Michaels)  bis  Ende  1677,  einem  Zeit- 
punkte, in  welchem  der  bis  dahin  klare  Hori- 
zont des  französisch-polnischen  Einverständnisses 
wegen  Nichterfüllung  gegenseitiger  Verpflichtun- 
gen sich  ganz  unvermerkt  zu  trüben  anfängt, 
und  das  daraus  keimende  Mißvergnügen  des 
polnischen  Hofes  allmählich  österreichischen  Ein- 
flüssen Platz  zu  machen  beginnt,  die  freilich 
erst  in  dem  Bündniß  vom  31.  März  1683  und 
in  seiner  Consequenz,  der  Entsetzung  Wiens,  ih- 
ren vorläufigen  Höhepunkt  erreichen.  In  die- 
sem ersten  Zeitabschnitte  indessen  herrscht  die 
französische  Politik  unumschränkt  in  Polen,  des- 
sen König  von  jeher  der  französischen  Partei 
ergeben,  jetzt  dem  französischen  Einflüsse  zum 
guten  Theil  seine  Krone  verdankt  und  als  ge- 
wesener französischer  Mousquetier  und  Gemahl 
einer  französischen  Marquise,  sich  ganz  und 
gar  nicht  sträubt,  wie  bis  nun  so  auch  ferner- 
hin, an  dem  Triumphwagen  des  roi-soleil  mit- 
zuziehen. Diesem  so  wohlgesinnten  König  die 
Hände  loszubinden,  ihn  von  dem  von  seinem 
Vorgänger  ihm  übermachten  schweren  Ttirken- 
kriege  zu  befreien,  und  ihn  dann,  sei  es  auf 
den  Kaiser  oder  den  Kurfürsten  von  Branden- 
burg zu  hetzen,  ihn  zu  diesem  Behufe,  dort  mit 


1174      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  37. 

Schlesien^,  hier  mit  Ostpreußens  Erwerbung,  in 
beiden  Fällen  mit  klingenden  Snbsidien  zu  kö- 
dern —  das  sind  die  Absichten  nnd  Ziele  der 
französischen  Diplomatie.  Es  gelingt  ihr  denn 
auch,  nach  vorgängigen  noch  im  J.  1674  abge- 
schlossenen Präliminarien,  den  König  am  11. 
Juni  1675  znm  definitiven  Abschluß  des  ersehn- 
ten Schutz-  und  Trutzbündnisses  zu  bringen  *), 
doch  der  Ttirkenkrieg  zieht  sich,  allen  Friedens- 
bestrebungen zum  Trotz,  bis  in  das  dritte  Jahr 
hin,  wo  denn  endlich  nach  Wechsel  vollem,  ein 
hohes  dramatisches  Interesse  beanspruchendem 
Kampfe  der  Friede  von  Zurawno  (1676  16.  Oc- 
tober abgeschlossen)  dem  König  zur  Erfüllung 
seiner  Verpflichtungen  freie  Hand  zu  lassen 
scheint.  Indeß  die  in  Folge  der  schwedischen 
Niederlagen  veränderte  Sachlage  in  Norddeutsch- 
land, sowie  die  Schwierigkeiten,  welche  die 
polnische  Verfassung  jedem  selbständigen  Han- 
deln des  Königs  entgegensetzt,  lassen  auch  das 
folgende  Jahr  1677  verstreichen,  ohne  daß  Polen 
an  dem  großen  europäischen  Kampfe  thätigen 
Antheil  genommen.  Die  Pläne  auf  Schlesien 
werden  gänzlich  fallen  gelassen  und  nur  in 
Ungarn  wird  unter  französischem  Einflüsse  und 
geheimer  Connivenz  des  polnischen  Königs,  zum 
größten  Theil  mit  abgedankten  polnischen  Trup- 
pen,   eine   schwache  Diversion  versucht.     End- 

*)  S.  210.  Dieses  wichtige  Document  ist  hier  nach 
dem  Original  abgedruckt  worden.  Wenn  ich  mich  recht 
erinnere,  so  ist  dasselbe  Aktenstück  schon  früher  im  An- 
hange zu  Mörner's  Buch:  Preußens  Staatsverträge  abge- 
druckt worden,  und  zwar  gleichfalls  nach  dem  Original. 
Eine  Vergleichung  dieser  beiden  Abdrücke  wäre  wün- 
schenswert!) gewesen,  doch  ist  Mörner's  Buch,  wie  so 
viele  andere  wichtige  deutsche  Publicationen,  auf  der 
Pariser  National-Bibliothek  nicht  vorhanden. 


Acta  Joannis  in.  regn.  ill.  ed.  Waliszewski.    1 175 

lieh  verspricht  ein  Btindniß  Johanns  ITT.  mit 
Schweden  (21.  August  1677)  bessere  Aussichten 
für  das  folgende  Jahr. 

Dies  der  Inhalt  des  Bandes,  der  in  seinen 
allgemeinsten  Grundzügen  freilich  schon  ans 
Pomponne's  Denkwürdigkeiten  bekannt'  war. 
Manches  ganz  Nene  wird  hier  der  ausländische 
Gelehrte  finden,  helle  Streiflichter  fallen  zumal 
anf  die  bei  Mignet  so  vernachlässigten  preußi- 
schen und  ungarischen  Angelegenheiten.  Was 
speziell  die  polnischen  Sachen  betrifft,  so  be- 
greift man,  daß  bei  der  vertrauten  Stellung,  die 
die  französischen  Gesandten,  und  namentlich  der 
zweite  von  ihnen,  Bethune,  als  Schwager  der 
Königin,  an  dem  polnischem  Hofe  einnahm, 
das  in  Bede  stehende  Material  von  ganz  eigen- 
tümlicher Wichtigkeit  für  den  Forscher  sein 
muß.  Der  französische  Gesandte  ist  in  der 
That,  wenn  auch  nicht  der  allmächtige  (denn 
das  ist  ja  der  polnische  König  selbst  nicht),  so 
doch  entschieden  der  allumfassende  und  Alles 
beeinflussende  Minister  des  polnischen  Königs: 
wie  die  äußere,  so  bestimmt  er  auch  die  ihr 
in  diesem  Zeitraum  untergeordnete  innere  Poli- 
tik; keine  Stelle  wird  vergeben,  ohne  daß  sein 
Einfluß  hiebei  im  Spiele  wäre,  bei  allen  Fra- 
gen wird  regelmäßig  er  zu  Rathe  gezogen, 
Nichts  von  Bedeutung  wird  ohne  ihn  entschie- 
den; ja  da  der  polnische  Schatz  in  der  Regel 
leer  ist  und  also  er  das Subsidiengeld  hergeben 
muß,  so  ist  er  gewissermaßen  auch  der  Schatz- 
meister des  polnischen  Hofes.  Hiemit  soll  nun 
freilich  nicht  gesagt  werden,  daß  der  siegge 
krönte  General,  dem  er  zum  Throne  verholfen, 
zu  seinem  gehorsamen  Diener  herabsinkt.  Bei 
aller  seiner  durch  die  Umstände  wohl  noch 
mehr  als   durch    seine  persönlichen  Neigungen 


1176      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  37. 

bedingten  Abhängigkeit  von  dem  französischen 
Hof  tritt  nns  dennoch  die  Persönlichkeit  des 
glorreichen  Türkenbesiegers  in  sehr  respectable? 
Gestalt  vor  die  Augen,  jedenfalls  aber  in  einer 
Weise,  die  von  der  bisherigen  bedeutend  ab- 
weicht Wie  verfrüht  auch  schon  heute  das 
endgiltige  Urtheil  über  Sobieski  sein  müßte, 
dies  scheint  aus  dem  neuen  Material  mit  ziem- 
licher Klarheit  hervorzugehen,  daß  die  bisherige 
Anschauung,  die  in  ihm  in  erster  Linie  nur 
den  sympathischen  Liebhaber  und  den  tüchtigen 
Haudegen  gesehen,  eine  ziemlich  unhistorische 
gewesen.  An  die  Stelle  des  bisherigen  bald 
sinnlich  sentimentalen,  bald  feurig  stürmischen 
Romanhelden  tritt  uns  aus  gegenwärtigem  Ma- 
terial ein  Mann  von  hoher,  durchdringender  In- 
telligenz, von  bedächtiger  Erwägung,  von  kalt- 
berechnendem Verstände,  mit  einem  Worte  ein 
geschulter  Politiker  entgegen.  Für  seine  seltene 
Geistesgegenwart  nur  ein  Beispiel:  Der  Ge- 
sandte des  siebenbürgischen  Wojewoden,  de? 
über  einen  geheimen  Tractat  mit  dem  polnischen 
Könige  zu  unterhandeln  gekommen  ist,  begeht 
in  feierlicher  Audienz  den  Fehler,  anstatt  sei- 
nes Creditivs  das  geheime,  für  den  König  allein 
bestimmte  Schreiben  seines  Herrn  zu  überrei- 
chen. Schon  hat  der  Großkanzler  das  Schrei- 
ben laut  zu  lesen  begonnen,  als  der  König  bei 
den  ersten  Worten  den  Irrthum  gewahrend  ihm 
plötzlich  das  Schreiben  aus  der  Hand  nimmt 
und  ohne  eine  Miene  zu  verändern  darin  zu 
lesen  fortfährt,  aber  indem  er  den  geheimen 
Inhalt  des  Briefes  durch  die  üblichen  Phrasen 
der  offiziellen  Gorrespondenz  ersetzt,  ohne,  wie 
es  der  dabei  wahrscheinlich  gegenwärtige  fran- 
zösische Gesandte  ausdrücklich  bemerkt,  bei  den 
anwesenden  Senatoren  auch  nur  den  geringsten 


Acta  Joannis  III.  regn.  ill.  ed.  Waliszewski.    1177 

Verdacht  zu  erwecken  (Bethune  an  Louis  XIV. 
23.  Mai  1677,  S.  395).  —  Dem  kühnen  Enthu- 
siasten, den  wir  bis  dahin  freilich  nur  ans  der 
intimen  Correspondenz  mit  seinem  „Herzliebsten 
Marieehen"  und  etwa  ans  dem  unhistorischen 
Roman  des  H.  Salvandy  gekannt  haben,  ent- 
fallen wohl  mitunter  Worte,  wie  sie  im  Munde 
eines  Schülers  Macchiavell's  nicht  anders  hät- 
ten lauten  können.  „.  .  .  Eventus  non  causae 
bellorum  quaeruntur"  sagt  er  wohl  gelegentlich 
zum  schwedischen  Gesandten,  bei  Erwägung 
der  Aussichten  eines  in  Gemeinschaft  mit  den 
Schweden  gegen  den  Kurfürsten  von  Branden- 
burg zu  unternehmenden  Feldzuges.  —  Meiner 
Ansicht  nach  ersteht  uns  freilich  in  dem  neuen 
Material  nicht  nur  der  berechnende  und  erwä- 
gende Sobieski,  sondern,  und  das  ist  sicherlich 
nur  eine  Consequenz  jener  Eigenschaften,  der 
ewige  Gunctator  Sobieski.  Eben  jener  Wider- 
streit der  so  entgegengesetzten  Eigenschaften, 
einer  leicht  erregbaren,  feurigen  Gemüthsart  bei 
einer  trotzdem  bedächtig  erwägenden,  fast  ver- 
schlossenen, immer  argwöhnischen,  fast  möchte 
man  sagen  geheimnisvollen  Seele,  scheint  mir 
die  unglückselige  Zauderei  veranlaßt  zu  haben, 
die  die  Gesandten  so  oft  als  irresolution  und 
lenteur  bezeichnen,  die  ihn  selbst  die  schönsten 
Gelegenheiten  seines  Lebens  unbenutzt  verstrei- 
chen und  seinem  Volke,  das  er  auf  andere  Bah- 
nen zu  führen  berufen  schien,  seine  eminenten 
Gaben  nicht  recht  frommen  ließ.  —  Hr.  W.  geht 
in  seiner  macchiavellistischen  (wenn  ich  mich  so 
ausdrücken  darf)  Auffassung  Sobieskfs  freilich 
zu  weit,  wenn  er,  ganz  im  Widerstreit  mit  dem 
urkundlichen  Material,  das  er  selber  herausge- 
geben, behauptet,  Sobieski  hätte  in  der  Wahl- 
angelegenheit von  1674  von  Anfang  an  nur 
daran  gedacht,  sich  selbst  den  Weg  zum  Thron 


1178      Gott,  gel,  Anz.  1880.  Stück  37. 

zu  bahnen,  und  hätten  ihm  die  französische  und 
neuburgische  Candidatur,  zu  denen  er  sich 
öffentlich  bekannte,  nur  als  Mittel  gedient,  jene 
eigenen  ehrgeizigen  Pläne  zu  erreichen.  Ich 
glaube  wo  anders  den  Beweis  erbracht  zu  ha- 
ben, daß  dem  nicht  so  war,  daß  Sobieski  in 
der  That  dem  Cond6  die  Krone  zuwenden  wollte, 
und  daß  er  an  sich  selbst  erst  dann  zu  denken 
begann,  als  es  sich  herausstellte,  daß  weder  der 
französische  Kandidat,  noch  auch  sein  Ersatz- 
mann, der  Herzog  von  Neuburg,  angesichts  des 
Widerstandes  der  lithauischen  Partei,  welche 
den  Lothringer  trug,  werde  durchdringen  können. 

Der  Text  der  Urkunden  ist  fast  überall 
richtig  gelesen,  doch  bemerke  ich,  daß  S.  236 
anstatt  der  Conjectur  des  HG.,  der  in  dem 
Satze:  „Le  pape  ä  qui  par  la  seule  concession 
d'une  petite  partie  des  dimes  dTtalie  Ton  don- 
nait  ä  entendre  qn'il  faisait  beaucoup,  se  con- 
tenta  de  la  colore,  an  die  Stelle  des  sinnlosen 
edlere  —  de  la  collecte  setzen  will,  wohl  de 
Vaecorder  zu  lesen  wäre;  ähnlich  S.  311  anstatt 
j'ai  manque  —  j'ai  marque.  S.  334  in  dem 
Satze:  «Tai  compris  la  politique  que  Ton  avait 
de  rendre  mon  emploi  possible  et  desagreable  — 
penible  et  d6sagreable.  S.  352  anstatt:  La  reine 
d6sira  ^engager  M.  de  Maligny  —  cPenvoyer. 
S. 60  müßte  wohl  anstatt:  ...  il  donneront  (sie) 
le  bäton  et  le  pouvoir  de  grand  marshal  — 
il  gardera  gesetzt  werden,  denn  nur  dieses 
giebt  den  richtigen  Sinn. 

Eine  schöne  dem  HG.  nach  Inhalt  und  Form 
alle  Ehre  machende  Einleitung  geht  den  Docu- 
menten  voraus.  Die  äußere  Form  der  Publika- 
tion ist  einer  Akademieschrift  würdig,  das  ganze 
Werk  auf  4—5  Bände  berechnet,  die  alle  vor 
1883  im  Drucke  erscheinen  sollen. 

Parias.  S.  Lukas. 


Wolfsgruber,  Giovanni  Gersen.  ^     1179 

Giovanni  Gersen,  sein  Leben  und 
sein  Werk  de  Imitatione  Christi  vonDr. 
Coelestin  Wolfsgruber.  Mit  Facsimiles  meh- 
rerer wichtiger  Codices.  Augsburg.  Max  Huttier. 
1880.     268  Seiten  in  Octav. 

Wenn  die  Arbeit  des  Verfassers  dieselbe  An- 
erkennung verdiente  wie  die  Leistung  des  Ver- 
legers, so  würde  eine  kritische  Anzeige  dieses 
Werkes  nur  Lobsprtiche  enthalten.  Die  Ausstat- 
tung in  Papier  und  Typen  ist  sehr  hübsch ;  auch 
die  Facsimile-Beigaben,  deren  letzte  ein  saube- 
res Bildchen  hat,  sind  sehr  sorgfältig  hergestellt. 
Aber  zu  der  Eleganz  der  Ausstattung  stimmen 
recht  übel  die  zahlreichen  Druckfehler,  welche 
wesentlich  dem  Verfasser  zur  Last  fallen  werden ; 
namentlich  in  französischen  Citaten  finden  wir 
recht  häßliche  Fehler  (vgl.  S.  43,  Z.  3  v.  u. 
103,  6  v.  u.  105,  2  v.  u.  136,  6.  150, 4.  177, 13. 
17.  184, 4  v.u.  199,  6  v.u.  209, 4.  8,  wo  hinter 
Saint  der  Name  fehlt.  Ferner :  52,  2.  59, 9  v.  u. 
62,23.   63,3.21.   163,21.   168,13). 

Der  Verfasser  ist  ein  Benedictiner  in  dem 
Schottenstifte  zu  Wien.  Seine  vorliegende  Ar- 
beit reiht  sich  den  zahllosen  Versuchen  der  Be- 
nedictiner an,  den  in  der  ganzen  Christenheit 
gefeierten  Tractat  de  imitatione  Christi  einem 
Autor  ihres  Ordens,  und  zwar  dem  angeblich  in 
das  13.  Jahrhundert  gehörenden  Abte  von  St. 
Stephan  in  Vercelli  Giovanni  Gersen,  zu  vindi- 
cieren.  Der  Verfasser  ist  seiner  Sache  zweifellos 
gewiß.  Der  berühmte  Tractat  ist,  wenn  wir  ihm 
glauben,  schon  ein  Jahrhundert  vor  der  Existenz 
des  Thomas  a  Kempis  geschrieben,  und  zwar  in 
Italien,  von  einem  Benedictiner,  von  dem  Abte 
Joh.  Gersen,  welchem  man  i.  J.  1874  in  Ca- 
vaglia,  seiner  Vaterstadt,  schon  ein  Denkmal  ge- 


1180      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  37. 

setzt  bat  und  welchem  man  auch  in  Vercelli 
eins  zu  setzen  beabsichtigt.  Aber  selbst  solchen 
Beweisen  gegenüber  wird  die  historische  Kritik 
bei  ihrem  Zweifel,  ob  es  jemals  einen  Abt  Joh. 
Gersen  gegeben  habe,  verharren. 

Das  Werk  des  Verfassers  zerfällt  in  zwei 
Haupttheile.  Zunächst  wird  uns  „das  Leben  des 
Giovanni  Gersen"  (S. 3— 16) vorgeführt;  sodann 
handelt  der  zweite  Theil  (S.  19—206)  von  „Ger- 
sen's  Schrift  De  imitatione  Christi",  indem  im 
ersten  Abschnitt  zur  Charakterisierung  jener 
Schrift;  der  Inhalt  derselben  angegeben  und  die 
„Vortrefflichkeit"  derselben  gerühmt  wird,  wäh- 
rend im  zweiten  Abschnitte  die  „Frage  nach  dem 
Verfasser"  erörtert  wird.  Im  Anhange  (S.  209  ff.) 
werden  zuerst  die  unserm Verfasser  bekanntge- 
wordenen Handschriften  derlmitatio,  sodann  die 
handschriftlichen  Erörterungen  über  den  Autor 
des  Tractats,  welche  sich  namentlich  in  österrei- 
chischen und  baierischen  Bibliotheken  befinden, 
aufgeführt.  Dann  folgt  eine  tabellarische  Ueber- 
sicht  über  „die  Controversisten  und  ihre  Schrif- 
ten", endlich  kommen  die  schon  erwähnten  Fac- 
simile-Beigaben.  Nicht  nur  solche  Leute,  welche 
der  lutherischen  und  reformierten  Ketzerei  (vgl. 
S.  134)  huldigen  und  in  geschichtlichen  Dingen 
recht  ungläubig  sein  können,  sondern  auch  sehr 
gute  Katholiken  haben  den  Vercellenser  Abt  Joh. 
Gersen  für  ein  Phantasiegebilde  angesehen.  Mit 
hohem  Interesse  wird  man  also  die  von  unserm 
Verfasser  dargebotene  Lebensbeschreibung  des 
Mannes  zur  Hand  nehmen;  aber  man  wird  auch 
nicht  leicht  eine  gründlichere  Enttäuschung  er- 
leben. Wenn  wir  von  dieser  Lebensbeschreibung 
das  geographische,  literarische  und  sonstige  Bei- 
werk abrechnen,  wenn  wir  ferner  die  Mittheilun- 
gen aus  derlmitatio  und  —  wie  doch  angesichts 


Wolfsgruber,  Giovanni  Gersen.       1181 

der  äußerst  zweifelhaften  Frage  nicht  nur  nach 
der  Autorschaft,' sondern  anch  nach  der  Existenz 
des  Gersen  billig  ist  —  die  ans  derselben  erho- 
bene Charakteristik  des  Mannes  beiseitelassen, 
so  bleibt  in  der  That  an  beglaubigten  geschicht- 
lichen Daten  gar  nichts  übrig.  Der  Verfasser 
selbst  muß  mit  dem  Geständnis  beginnen  (S.  3), 
daß  wir  von  Gersen  »wenig  oder  gar  nichts  wis- 
senc,  und  er  hat  zu  bedauern  (S.  14),  daß  „un- 
sere directen  Zeugnisse  für  Gersen  —  mit  Aus- 
nahme der  Manuscripte  der  Imitatio  Christi  — 
nicht  über  den  Anfang  des  17.  Jahrhunderts 
hinausreichen  und  daß  wir  keine  gleichzeitigen 
Documente  mehr  haben a. 

Wenn  nun  die  Manuscripte,  welche  ja  zum  Theil 
über  die  Zeit  des  Thomas  a  Kempis  hinaufreichen  sollen, 
wirklich  für  die  Existenz  des  Jon.  Qersen  and  für  dessen 
Autorschaft  in  Betreff  der  Imitatio  Zeugnis  ablegten,  so 
würden  dies  directe  und  vielleicht  sogar  gleichzeitige 
Zeugnisse  sein.  Aber  die  Sachen  stehen  vielmehr  so,  da£ 
es  schwer  begreiflich  sein  würde,  wie  man  den  Muth  fin- 
det, derartige  Zeugnisse  immer  wieder  vorzubringen, 
wenn  nicht  die  Eifersucht  und  die  Eitelkeit  der  Bene- 
dictiner  einerseits  und  andererseits  der  Angehörigen  freie* 
ren  Vereinigungen,  wie  die  Brüder  des  gemeinsamen  Le- 
bens bildeten,  und  anderer  Orden,  wie  der  Augustiner, 
iheilweis  auch  der  Jesuiten,  seit  etwa  drei  Jahrhunderten 
Anlaß  zu  einer  literarischen  Fehde  gegeben  hätte,  welche 
wegen  der  Unzahl  der  Streitschriften,  wegen  der  Heftig- 
keit des  Kampfes,  wegen  der  Betheiligung  von  höchsten 
Organen  des  Staats  und  der  Kirche  und  wegen  der  ver- 
wunderlichen Beschaffenheit  der  Argumente  und  vorge- 
führten Zeugnisse  schwerlich  ihres  gleichen  hat.  Um 
von  unsers  Verfassers  Leistung  in  dieser  Hinsicht  eine 
Vorstellung  zu  gewinnen,  müssen  wir  über  seine  Lebens- 
beschreibung des  Joh.  Gersen  hinausgreifen  und  uns  an 
den  zweiten,  kritischen  Haupttheil  seines  Buches  halten. 
Schon  in  der  Vita  (S  14  f.)  wird  auf  ein  angeblich  hand- 
schriftliches Zeugnis  Bezug  genommen,  welches  uns  nach- 
her (S.  149  f.)  noch  einmal  mit  vielen  Worten  vorgehal- 
ten wird.    In  dem  angeblich   aus  dem  14*  Jahrhundert 


1182      Gott,  gel,  Anz.  1880.  Stück  37. 

stammenden  Cod.  Cavensis  findet  sich  in  dem  ersten  Ini- 
tialen neben  dem  Bildnisse  eines  schwarzen  Mönchs  die 
Umschrift :  Joannes  Gersen  De  Canabaco  Abbas  S.  Steph. 
Vercell.  Ordinis  S.  Benedicts  Giaruit  An.  1220.  Wenn 
hiebei  alles  in  Ordnung  wäre,  so  würde  die  Sache  mit 
einem  Schlage  erledigt  sein.  Aber  die  Sache  ist  durch- 
aus nicht  in  Ordnung;  die  inhaltsreiche  Inschrift  ist  ein 
Falsum.  Gregory,  welcher  im  Anfange  dieses  Jahrhun- 
derts den  Codex  gefunden  hat  und  für  Joh.  Gersen  als 
eifriger  Anwalt  aufgetreten  ist,  erwähnt  jene  Inschrift 
noch  nicht.  Erst  im  J.  1877  wird  ihr  der  Geburtsschein 
ausgestellt.  Mit  einem  andern  handschriftlichen  Zeug- 
nisse für  Gersen  verhält  es  sich  folgendermaßen.  Im 
Jahre  1830  fand  Gregory  bei  einem  Pariser  Antiquar 
einen  Codex  der  Imitatio,  angeblich  aus  dem  14.  Jahr- 
hundert. Nach  einer  Notiz  auf  dem  Einbände  hatte  der 
Codex  einst  einem  Mitgliede  der  Familie  De  Advocatis 
(degli  Avogadri)  gehört.  Gregory  forscht  weiter  nach 
und  findet  in  Italien  nicht  nur  den  als  einstigen  Besitzer 
des  Codex  genannten  Mann  als  i.  J.  1527  lebend,  son- 
dern auch  ein  altes  Familientagebuch,  welches  glück- 
licherweise von  1845  bis  1850  reicht  und  in  welchem 
zum  Jahre  1849  notiert  ist,  daß  ein  Graf  A vogadro  einen 
schon  seit  langer  Zeit  der  Familie  gehörenden  Codex  der 
Imitatio  verschenkt  habe.  Wer  nun  dies  alles  für  baare 
Münze  hält  und  jenen  in  Paris  gefundenen  Codex  fur  den 
i.  J.  1349  verschenkten  annimmt,  der  kann  allerdings 
nicht  mehr  zweifeln,  daß  die  Imitatio  einen  andern  Au- 
tor haben  müsse,  als  den  i.  J.  1380  geborenen  Thomas 
a  Eempis.  —  Nehmen  wir  zu  solchen  urkundlichen  Er- 
örterungen unsere  Verfassers  noch  ein  Argument  anderer 
Art,  so  wird  seine  Kunst  hinreichend  charakterisiert  sein. 
In  der  Imitatio  findet  sich  ein  Wort  des  Franciscus  von 
Assisi,  und  zwar  mit  der  Formel  ait.  »Aus  dem  Prae- 
sens ait  schließen  wir,  daß  die  Im.  von  einem  Zeitge- 
nossen des  hl.  Fr.  geschrieben  ist«  (S.  192). 

Handschriften  und  Incunabeln  führen  sehr  deutlich 
auf  die  längst  ausgesprochene  Meinung,  daß  der  ver- 
meintliche Vercellenser  Joh.  Gersen  sein  Scheinleben  le- 
diglich einer  Verwechslung  mit  dem  berühmten  Kanzler 
Joh.  Gerson  verdankt.  Diesem  ist  häufig  die  Abfassung 
des  Buches,  welches  auch  mit  zweifellos  Gersonschen 
Tractaten  wiederholt  ediert  wurde,  zugeschrieben.  Den 
Namen  Gerson  finden   wir   in  den  Handschriften   nicht 


Wolfsgruber,  Giovanni  Gergen.      1183 

selten  verkürzt  in  Gen.,  Ges.  and  verderbt  in  Genen, 
Gessen.  Nicht  selten  begegnen  ans  handschriftliche  An- 
gaben über  den  Autor,  welcher  einerseits  Joh.  Gersen 
genannt,  andererseits  zugleich  als  Pariser  Kanzler  be- 
zeichnet wird.  Alles  was  unser  Verfasser  zur  Verdunke- 
lung dieses  Punktes  und  für  seinen  Schützling  Gersen 
von  Vercelli  gesagt  hat,  scheint  mir  vergeblich  geredet 
zu  sein. 

Günstiger  kann  sich,  glaube  ich,  das  Urtheil  über 
einen  andern  Theil  seiner  Arbeit  gestalten,  ich  meine 
die  Bedenken,  welche  er  gegen  die  Autorschaft  des  Tho- 
mas a  Eempis  geltend  macht.  Daß  der  Cod.  Antver- 
piensis  vom  Jahre  1441,  welchen  Hirsche  seiner  Edition 
zu  Grunde  gelegt  hat,  nicht  die  Originalhandschrift  des 
Thomas,  sondern  nur  eine  von  diesem  angefertigte,  und 
zwar  ziemlich  fehlerhafte,  Copie  sei,  scheint  mir  unser 
Verfasser  mit  guten  Gründen  zu  behaupten.  Die  neue 
Facsimile-Ausgabe  der  Handschrift,  welche  Gh.  Ruelens 
besorgt  hat  (The  Imitation  of  Christ,  being  the  auto- 
graph manuscript  of  Thomas  a  Kempis.  London  1879), 
wird  hoffentlich  zur  Gewinnung  eines  sichern  Urtheils 
wesentlich  beitragen.  Darin  scheint  mir  unser  Verfasser 
Recht  zu  haben,  wenn  er  leugnet,  daß  die  Notiz  am 
Ende  der  Handschrift  »Finitus  et  completus  anno  Domini 
1441  per  manus  fratris  Thomae  Eempensis.  In  monteS. 
Agnetis  prope  Zwollis«  zweifellos  bezeuge,  daß  dieselbe 
das  Autographon  des  Autors  sei  Im  Hinblick  auf  die 
sonst  vorhandenen  Bezeugungen,  daß  Thomas,  gleich  den 
übrigen  Brüdern  von  St.  Agnes,  pro  domo  et  pro  pretio, 
fleißig  Bücher  abgeschrieben  und  daß  er  daneben  auch 
selbst  Tractate  verfaßt  habe  (composuit),  liegt  es  recht 
nahe,  jene  Notiz  auf  den  bloßen  Abschreiber  zu  be- 
ziehen; der  Name  desselben  war  in  der  That  wichtig, 
um  für  die  Treue  der  Abschrift,  wenn  sie  verkauft  wer- 
den sollte,  Bürgschaft  zu  gewähren.  Es  wird  aber  auf 
eine  genaue  Prüfung  des  innern  Gehaltes  der  Handschrift 
ankommen,  um  endlich  die  Streitfrage  zu  erledigen. 
Auch  dasjenige,  was  Wolfsgruber  in  Betreff  der  übri- 
gen, für  Thomas  geltend  gemachten  Handschriften  ein- 
wendet, namentlich  in  Betreff  der  Kirchheimschen  und 
der  Gaesdonckschen  Handschrift,  wird  zu  einer  neuen 
Prüfung  der  Urkunden  Anlaß  bieten. 

Unter  den  Gründen  der  innern  Kritik,  welche  unser 
Verfasser  gegen  Thomas  geltend  macht,  scheint  mir  be- 


1184      Gott.  gel.  Adz,  1880.  Stück  37, 

sondern  von  Gewicht,  was  er  wegen  der  Marienverehrung 
vorlegt,  welche  in  den  unzweifelhaft  ächten  Schriften  des 
Thomas  stark  hervortritt,  in  der  Imitatio  aber  kaum 
eine  Spur  hat.  Dagegen  ist  die  Bemühung  Wolfsgrubers, 
die  zahlreichen  und  ganz  unverkennbaren  Germanismen 
in  der  Redeweise  des  Buches  zu  beseitigen,  ohne  Zweifel 
als  vergeblich  zu  bezeichnen.  Unbefriedigend  ist  ferner 
die  Erörterung  unsere  Kritikers  über  die  beiden  wichti- 
gen Zeugnisse  far  Thomas,  welche  sich  bei  Johann  vom 
Busch,  in  seiner  Windesheimer  Chronik,  und  bei  dem 
Abt  Trithemius  in  seinem  Catalogue  finden.  Beide  Man- 
ner sind  Zeitgenossen  des  Thomas.  DerErstere  bezeich* 
net  mit  dürren  Worten  den  Thomas  als  den  Verfasser 
der  Imitatio,  ein  Zeugnis,  dessen  Wolfsgruber,  gleich 
seinen  Vorgängern,  sich  nur  dadurch  erwehren  kann, 
daß  er  die  bezüglichen  Worte  für  einen  spätem  Zusatz 
erklärt  (S.  70.  104.  134).  Die  Aussage  des  Trithemius 
ist  allerdings  unbestimmter;  schon  zu  seiner  Zeit,  kaum 
ein  Menschenalter  nach  dem  Tode  des  Thomas,  war  es 
ungewiß  geworden,  ob  dieser  oder  etwa  sein  Bruder  die 
Imitatio  geschrieben  habe.  Diesen  Zweifel  drückt  der 
gelehrte  Abt  aus;  aber  er  hegt  nicht  den  leisesten  Zwei- 
fel darüber,  daß  das  Buch  aus  dem  Kloster  St.  Agnes 
herstamme  und  von  einem  der  beiden  Brüder  verfsßt 
sei.  Es  ist  zu  hoffen,  daß  Hirsche,  welchem  das  erfor- 
derliche Material  zu  Gebote  steht,  in  dem  noch  zu  er- 
wartenden zweiten  Bande  seines  Werkes  über  die  Imi- 
tatio die  noch  unsicher  erscheinenden  Momente  der  kri- 
tischen Frage  befriedigend  erledigen  wird. 

Eine  besondere  Anerkennung  verdient  Wolüsgruber 
fur  die  in  dem  Anhange  gegebenen  Beschreibungen  des 
umfangreichen  handschriftlichen  Materials  und  für  die 
tabellarische  Uebersicht  der  Con  trovers- Literatur,  in  wel- 
cher die  Gersenisten,  die  Gersonisten  und  die  Thomisten, 
nach  den  drei  Jahrhunderten  des  Streites  geordnet,  in 
langen  Reihen,  wenn  schon  nicht  unbedingt  vollzählig, 
mit  ihren  Schriften  aufgeführt  werden. 

Hannover.  D.  Fr.  Düsterdieck. 


Für  die  Redaction  rerantwortlich :  R  Rehnisck,  Director  d.  Gtött.  gel.  An*. 

Commissions -Verlag  der  Diefaich'achmi   Verlags  -  Buchhandlung. 

Druck  der  Dieterich' sehen  Univ.- Buchdruckerei  ( W.  Fr.  KaestnerK 


1185 


Göttingische 

'CT  1 8  lEc  J 


OCT  18 

gelehrte    Anzeigen 

unter  der  Aufsieht 

der  Königl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Stfiok  38.  22.  September  1880. 


Walt:  II  Bepesto  di  Farfa.  Vol.  II.  Ton  A.  «.  Rtumont 
—  <*.  Busolt,  Dm  Lakedaimanier  mnd  ihre  Bundesgenossen.  1.  Bd. 
Von  Brich  Wüück.  —  W.  Rutherford,  An  experimental  research 
on  the  physiological  actions  of  drags  on  the  iocretion  of  bile.  Yon 
Tk.  Bmßmmn, 

=  Eigenmächtiger  Abdruck  Ton  Artikeln  der  Gtitt.  gel.  Ans.  Terboten  ss 


II  Begesto  di  Farfa  compilato  da  Gre- 
gorio  di  Catinoe  pubblicato  dalla  Societä 
romana  di  storia  natria  a  cnra  di  I.  Giorgi 
e  U.  BalzanL  vol.  II.  Roma  presso  la  So- 
ciety 1879.  XVI  und  251  S.  Fol.  mit  2  Facsi- 
miles. 

Ueber  Entstehung  und  Bedeutung  des  Re- 

g;stenwerks  von  Farfa,  welches  in  seinem  Haupt- 
eile dem  letzten  Decennium  des  eilften  Jahr- 
hunderts angehört,  ist  seit  den  spätem  Zeiten, 
des  siebzehnten,  in  welchem  dessen  Benutzung 
^u  historischen  Zwecken  mit  Du  Gange  ernst- 
lich begann,  mehrfach  gehandelt  worden.  Ma- 
billon  und  Muratori  sprachen  von  dem  Werke, 
jener  in  dem  Musaeum  Italicum,  dieser  in  den 
Antiquitates  m.  aevi,  Pier  Lnigi  Galletti  erlangte 
nicht  ohne  Mühe  von  den  Mönchen  die  Erlaub- 

75 


1 


1186      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  38. 

niß  eine  Abschrift  zu  nehmen,  unterzog  sich  der 
langwierigen  Arbeit  und  schenkte  dieselbe, 
welche  nicht  weniger  als  14  Bände  umfaßt,  der 
Vaticanischen  Bibliothek.  (Notizie  spettanti  alia 
vita  del  P.  Abate  D.  P.  L.  Galletti.  Rom  1793. 
S.  130  if.,  155).  Ozanam  besprach  in  seinen 
Documents  in^dits  von  1850  (S.  94—99)  die 
ebendaselbst  (S.  185—194)  mitgetheilten  Einlei- 
tungen in  Bezug  auf  die  Grühdungsgeschichte 
des  Klosters  und'  auf  die  Anlage  des  Regeste. 
L.  C.  Bethmann,  der  im  XI.  Bande  der  Scripto- 
res  in  den  Mon.  German,  hist  die  Hist.  Farfen- 
ses  druckte,  handelte  dabei  von  dem  Urkunden- 
werk, von  welchem  er  glaubte  es  sei  zur  Zeit 
der  französischen  Plünderungen  nach  Paris  ge- 
schafft und  von  dort  zurückgebracht  worden, 
eine  in  andere  Werke  übergegangene  irrige  An- 
gabe. Der  fleißige  Fortsetzer  der  Muratorischen 
Annalen,  Antonio  Coppi,  hat  von  den  neueren 
Schicksalen  des  Farfensischen  Codex  in  hohem 
Alter  (1863)  in  einer  handschriftlichen  Notiz 
berichtet,  welche  gegenwärtig  demselben  beige- 
geben ist  und  von  einem  der  Herausgeber, 
J.  Giorgi,  in  dem  Aufsatze:  „II  Begesto  di 
Farfa"  imArchivio  dellaSocieta  romana  di  Sto- 
ria  patria,  Bd.  IL,  S.  409  ff.,  mitgetheilt  wird. 
Dieser  Auskunft  gemäß,  ist  Bd.  III.  der  Gal- 
lettischen Abschrift  abhanden  gekommen,  indem 
er  mit  den  Büchern  des  Gardinal-Staatssecretärs 
Zelada,  in  dessen  Gabinet  er  lag,  nach  seinem 
Tode  (1801)  nach  Toledo  gesandt  wurde.  Nach 
der  Aufhebung  der  geistlichen  Orden  in  der 
Napoleonischen  Zeit  nahm  der  Unterpräfect  von 
Bieti,  zu  dessen  Bezirk  Farfa  gehörte,  den  rie- 
sigen Band  weg  und  benutzte  denselben  als 
Fußschemel.  Ein  in  Born  befindlicher  Oheim 
des  Präfecten  Grafen  Camill  Tournon,  Fortin  (?), 


II  Regesto  di  Farfa.  Vol.  II.         1187 

vernahm  von  dem  Verbleib  des  Codex  and  lieft 
ihn  sich  senden,  am  ihn  zu  untersuchen.  Als 
dann  im  J.  1814  die  Franzosen  abzogen,  war 
das  Regest  von  Farfa  schon  mit  den  Fortin'- 
schen  Büchern  verpackt,  um  die  Reise  nach 
Frankreich  zu  machen.  Durch  Intervention  des 
als  Literat  bekannten  nachmaligen  Marchese 
Luigi  Biondi  wurde  dies  verhindert  und  die 
neapolitanische  provisorische  Regierung  lieft  die 
Handschrift  in  die  Vaticanische  Bibliothek  brin- 
gen, wo  der  Scriptor  Luigi  Armellini  (der  in 
der  Umwälzung  von  1848 — 49  eine  Rolle  ge- 
spielt hat)  den  Auftrag  erhielt,  die  Gallettische 
Copie  zu  vervollständigen.  Die  Arbeit  war  be- 
gonnen, als  die  Wiederherstellung  der  Klöster 
erfolgte,  und  der  zum  Abt  von  Farfa  ernannte 
P.  Alessandri  das  Regest  reclamierte,  es  jedoch 
auf  Veranlassung  des  mit  ihm  bekannten  Goppi 
einstweilen  zum  Behuf  der  Vollendung  der  Co- 
pie in  der  Vaticana  lieft,  wo  es  geblieben  ist, 
da  nach  Alessandri's  Tode  keine  neue  Reclama- 
tion erfolgte. 

Die  Geschichte  Farfa's  und  die  eigentüm- 
liche Stellung  des  Klosters  in  den  Beziehungen 
zwischen  Papstthum  und  Kaiserthum  und  den 
zwischen  beiden  ausgebrochenen  Kämpfen,  sind 
zu  bekannt  und  namentlich  in  neuerer  Zeit  zu 
oft  in  Betracht  gezogen  worden,  als  daß  es  no- 
ting wäre  hier  darauf  hinzuweisen.  Auch  für 
Rom  als  mittelalterliche  Stadt  ist  die  Bedeutung 
dieser  Geschichte  eine  große,  abgesehen  von 
dem  Besitz,  welchen  die  zu  den  Kaisern  hal- 
tende Abtei  innerhalb  ihrer  Mauern  hatte.  So 
war  es  leicht  erklärlich,  daft  die  römische  Ge- 
sellschaft für  vaterländische  Geschichte  alsbald 
nach  ihrer  Gründung  (1878)  den  Plan  der 
Herausgabe    des  Regests    von   Farfa    entwarf; 

75* 


1188      Gott  gel.  Anz.  1880.  Sttck  38. 

welches  den  Anfang  der  von  ihr,  neben  dem 
periodisch  erscheinenden  Archiv  (bis  jetzt  Bd.  I 
— III)  beabsichtigten  Bibliothek  bilden  sollte. 
Die  HH.  Ignazio  Oiorgi  nnd  Ugo  Balzani  wur- 
den mit  der  Heransgabe  beauftragt,  welche  Er- 
sterer  gewissermaßen  in  dem  obenerwähnten 
Aufsatz  verkündete.  Der  erste  Theil  des  Wer- 
kes liegt  nun  vor,  und  die  Ausstattung  ent- 
spricht allen  Anforderungen,  die  man  heutzu- 
tage an  eine  solche  Publication  machen  kann, 
welche  nicht  auf  buchhändlerischen  Absatz  an- 
gewiesen, aber  ebensowenig  vom  gewöhnlichen 
Verkehr  ausgeschlossen  ist.  Das  Format  ist 
klein  Folio,  der  Druck,  aus  der  mit  Recht  schon 
seit  mehreren  Jahren  gerühmten  Anstalt  von 
Francesco  Vigo  zu  Livorno,  vortrefflich  nnd  mit 
Lettern  altern  Stils,  das  gelbliche  Büttenpapier 
gleichmäßig  und  dauerhaft.  Der  Band  enthält, 
außer  dem  kurzen  Vorwort,  das  Verzeichnis 
nebst  der  gedrängten  Inhaltangabe  der  in  dem- 
selben abgedruckten  Documente  No.  1  bis  299, 
welche  vom  J.  705  bis  857  reichen,  Prolog  und 
Praefatlo  Gregorio's  di  Catino,  das  Verzeichniß 
der  wichtigeren  mitgetheilten  päpstlichen  Privi- 
legien und  kaiserlichen,  königlichen  und  herzog- 
lichen Verleihungen,  jenes  der  Aebte  mit  den 
betreffenden  chronologischen  Angaben,  endlich 
den  Vorbericht  des  Johannes  Grammaticus,  wel- 
cher die  Texte  verglich  und  kundgiebt,  wie  un- 
ter Abt  Berardus,  dem  zweiten  des  Namens  aus 
florentinischer  Familie,  im  J.  1092  während  der 
Regierung  Kaiser  Heinrichs  IV.,  Gregorio  di 
Catino,  der  Sohn  Donone's  des  Herrn  dieses 
Gastells,  die  Abschriften  der  Urkunden  des  Klo- 
sters unternahm.  Die  Herausgeber  haben  sich 
streng  an  dem  vom  Originalcodex  gebotenen 
Text  gehalten   und   nur   die  Interpunction   ge- 


r 


II  Regesto  di  Farfa.  Vol.  II.         1189 

regelt;  wo  dies  Original  Worte  von  jüngerer 
Hand  enthält,  ist  dies  im  Druck  angegeben. 
Jedem  Document  ist  die  Jahreszahl  mit  kurzer 
Inhaltsangabe  (wie  gesagt  zu  Anfang  des  Ban- 
des als  Register  zusammengestellt)  am  Rande 
beigefügt;  sachliche  Anmerkungen  unter  dem 
Text  sind  in  verhältnißmäßig  geringer  Zahl.  Da 
die  in  dem  Regest  enthaltenen  Urkunden  in  den 
Originalen  fast  sämmtlioh  verloren  sind,  war 
von  anderweiter  kritischer  Arbeit  kaum  die 
Bede. 

In  der  Ordnung  der  Publication  der  erste, 
ist  der  vorliegende  Band  in  der  Reihenfolge  der 
zweite  des  Werkes  —  der  erste  wird  zuletzt  er- 
scheinen, und  da  die  Zahl  der  von  Gregorio  di 
Catino  und  von  seinem  Neffen  Todino  copierten 
Documente  sich  auf  ungefähr  1360  beläuft,  so 
wird  noch  einige  Zeit  darüber  hingehn,  bis  man 
mit  demselben  die  von  Gregorio  seiner  riesigen 
Arbeit  beigefügten  Register,  welche  wesentlich 
für  den  praktischen  Gebrauch  der  Sammlung 
bestimmt  waren,  die  Geschichte  von  Farfa,  wel- 
che wie  gesagt  ein  wichtiges  Kapitel  bildet  und 
theilweise  scharfe  Contraste  mit  jener  der  Re- 
formklöster des  Mittelalters  darbietet,  und  die 
verschiedenen  das  Regest  selber  betreffenden 
Mittheilungen  erhalten  wird.  Einen  Prodromus 
bildet  in  gewisser  Hinsicht  der  schon  erwähnte 
Aufsatz  von  Giorgi  in  der  Zeitschrift  der  römischen 
historischen  Gesellschaft,  der  von  dem  Ursprung, 
der  Wiederherstellung  und  altern  Geschichte  des 
Klosters  und  von  den  verschiedenen  Werken 
Gregorio's  di  Catino  handelt  und  von  drei  wich- 
tigen Beilagen  begleitet  ist.  Die  erste  bespricht 
den  verlornen  Libellus  constructions  Farfensis 
mit  Bezug  aut  den  von  Bethmann  aufgefundenen 
und  publizierten  Text.     Die  zweite  enthält  drei 


1190       Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stttck  38. 

ächte  und  eine  unächte  Kaiserurkunde,  die  Tier 
einzigen  ans  dem  Farfenser  Archiv  vorhandenen, 
heute  in  der  römischen  Biblioteca  Vittorio  Ema- 
nuele.  Die  älteste  von  Otto  II.  981,  wnrde  von 
Muratori  sehr  lückenhaft  herausgegeben;  die 
zweite,  von  Heinrich  IV.  1065,  findet  sich  ^  im 
Regest  (im  Original  ohne  Datum);  die  dritte, 
von  Conrad  III.  1138,  ist  eine  demselben  Jahr- 
hundert angehörende  Fälschung;  die  vierte  von 
Friedrich  L,  1185.  Beide  letztere  sind  Güter- 
bestätigungen. In  der  dritten  Beilage  wird  von 
der  bekannten  antipäpstlichen  Streitschrift  „Ortho- 
doxa  defensio  imperialis"  gehandelt  und  deren 
Entstehung  in  die  dem  Februar  1111  kurz 
vorausgegangene  Zeit  gesetzt. 

Die  vaticanische  Bibliothek- Verwaltung  und 
die  römische  Municipalität  haben  die  schöne 
Publication,  von  welcher  hier  nur  eine  kurze 
Anzeige  gegeben  werden  kann,  bereitwilligst 
gefördert. 

Burtscheid.  A.  v.  Renmont. 


Die  Lakedai monier  und  ihre  Bundes- 
genossen von  Georg  Busolt.  Erster  Band: 
Bis  zur  Begründung  der  athenischen  Seehege- 
monie.   Leipzig.    B.  G.  Teubner  1878. 

Seit  K.  0.  Müllers  Dörfern  ist  kein  Werk 
erschienen,  das  in  so  ausgedehnter  Weise  die 
politischen  Verhältnisse  des  gesammten  Pelopon- 
nes  behandelt  wie  diese  Schrift  Busolt's,  nur 
mit  dem  Unterschiede,  daß  Müller  die  Geschichte 
der  Halbinsel  vom  Standpunkt  des  dorischen 
Stammes  aus  betrachtet,  während  B.  in  bewuß- 


Bosolt,  Die  Lakedaimonier.  Bd.  L    1191 

ter  Polemik  gegen  die  Auffassung  Spartas  als 
eines  specifisch  dorischen  Staates  diesem  viel- 
mehr eine  „großlacedämonische  Politik u  zuschreibt 
und  aus  ihr  die  Entstehung  des  peloponnesischen 
Staatenbundes  erklärt.  Diese  Darstellung,  wel- 
che Keferent  durch  den  Ausdruck  „nüchtern" 
am  besten  zu  kennzeichnen  glaubt,  insofern  sie 
die  von  militärischer  Ueberlegenheit  unterstützte 
Herrschgier  Spartas  als  einzige  Richtschnur  sei- 
ner Politik  hinstellt,  vertritt  B.  gegenüber  ab- 
weichenden Ansichten  früherer  Gelehrten,  so  be- 
sonders Kortüm's,  der  einen  alten  Stammbund 
der  peloponnesischen  Dorier  annahm,  und  E. 
Curtius',  welcher  die  lacedämonische  Hegemonie 
im  Anschluß  an  Olympia  als  religiösen  Mittel- 
punkt sich  entwickeln  läßt.  Die  lebhafte  Pole- 
mik B.'s  ist  es  vor  Allem,  welche  der  Lecture 
seines  Werkes  einen  Reiz  verleiht,  den  gewiß 
nicht  Ref.  allein  empfunden  hat.  —  Der  erste 
Band,  der  bis  jetzt  vorliegt,  zerfällt  nach  einer 
vom  Stoffe  selbst  bedingten  Eintheilung  in  drei 
Hauptabschnitte.  Bevor  die  Entstehung  eines 
Bundes  dargestellt  werden  kann,  müssen  die 
einzelnen  Glieder,  die  ihn  bilden  sollen,  nach 
ihrem  Wesen  untersucht  werden;  daher  beginnt 
das  Werk  mit  einer  Geschichte  der  Lacedämo- 
nier,  bei  der  die  innere  Entwickelung  in  den 
Vordergrund  tritt  (Seite  1—65).  Es  folgt  als 
zweiter  Theil  die  Geschichte  der  anderen  pelo- 
ponnesischen Staaten  (außer  Achaja)  bis  um 
die  Mitte  des  6.  Jahrh.  (66—244),  wobei  die 
äußere  Geschichte  Spartas  überall  da,  wo  es  zu 
den  Nachbarn  in  Beziehung  tritt,  mitberücksich- 
tigt ist.  Aus  diesem  Theile  des  Werkes  soll 
unten  ein  Abschnitt  etwas  genauer  betrachtet 
werden.  Den  Schluß  (245—477)  bildet  die  Er- 
zählung,   wie    die  lacedämonische  Hegemonie 


1192      Gott  gel  Anz.  18 SO.  Stück  38. 

entstand  und  im  Perserkriege  sich  fctun  efstett 
Male  bewährte. 

Mit  besonderem  Interesse  hat  Referent  di* 
auf  die  Geschichte  Korinths  bezüglichen  län- 
geren and  kürzeren  Stellen  des  Wef kes  gelegen. 
Die  Geschichte  dieser  Stadt  ist  in  den  letzten 
Jahren  mehrfach  behandelt  worden,  am  bemfer- 
kenswerthesten  von  E.  Curtius  (Hermes  X,  2, 
213  sq.) ,  der  durch  Heranziehung  des  Münz- 
wesens neue  Resultate  bes.  für  das  Verhältnis 
zu  den  Colonien  zu  gewinnen  versucht.  Hier- 
von abgesehn  muß  sich  die  ältere  Geschichts- 
schreibung von  Eorinth  begnügen  eine  Anzahl 
verstreuter  und  abgerissener  Einzelnotizen  tnit 
den  ausführlichen  Berichten  des  Öerodot  und 
Nikolaus  von  Damaskus  zu  combinieren  oder  bei 
den  zahlreichen  Widersprüchen  sich  für  die  eine 
oder  andere  Quelle  zu  entscheiden.  Büsolt  hat 
für  die  Zeit  der  Tyrannis,  bei  der  allein  die 
Quellen  etwas  reichlicher  fließen,  entschieden, 
vielleicht,  wie  wir  sehen  werden,  zu  ehtscoifeäen 
Stellung  genommen.  Doch  wir  beginitött  mit 
den  Bakchiaden.  Busolt  läßt  (Seite  238)  ihre 
Herrschaft  mit  d.  J.  956  änfebgen;  et  kofctiiiit 
auf  diese  Zahl,  indem  er  nach  detiQ  Fragtiietit 
des  Diodor  die  Regierungszeit  dter  viei-  fcöfiige 
vor  Bakchis  (Aletes  38,  Iiion  ä8,  Age\kä  I  37, 
Prumnis  35)  addiert  und  vöh  1104  als  dein 
Jähre  der  dorischen  Wanderungen  ättfeieht 
Wenn  auch  Ö.  auf  diese  Zählen  schwertich 
großes  Gewicht  legt,  so  ist  doch  zu  bemerken, 
daß  die  Bakchiaden  eher  herunter  zu  drücken 
sein  dürften.  Da  bekanntlich  b6i  Diodor  die 
Gesammtsumme  der  Posten  (412)  mit  seiner  Ab- 
gabe von  447  jähren  nicht  tibereitistitntnt  (feine 
Unannehmlichkeit,  die  sich  bei  der  ftegiertrags- 
angabe  der  Kypöeliden  bei  Aristoteles  wieder- 


Btrtolt,  Üie  Läkedahnonier.  Bd.  I.    1193 

Mft),  *6  muß  Entweder  von  einem  späteren 
Jätire  abgerechnet  werden,  weil  Manche,  wie 
Didymns,  (Schol.  Find.  0.  XIII,  17)  den  AleteB 
eiü  Hensehenalter  später  als  den  Heraklidenzng 
ansetzten*),  oder  es  muß  eine  Regierangszeit 
von  35  Jahren  ergänzt  werden.  Thut  man  dies, 
so  tritt  der  schematische  Charakter  der  Königs- 
liste recht  deutlich  hervor.  Sie  bestimmte  näm- 
lich drei  Könige  (Aletes,  Ixion,  Agelas)  zu  je 
38  Jahren,  drei  andere  (den  aasgefallenen, 
Pfmnnis  und  Bakchis)  zu  je  35  Jahren, 
zwei  zu  30  (Agelas II und  Aristomedes),  zwei 
zu  25  (Eudemos  and  Alexander).  Agemon,  der 
Usurpator,  und  der  von  Pausanias  und  durch 
seinen  Namen  als  letzter  charakterisierte  Tele- 
stes,  die  mehr  historisches  Gepräge  tragen,  ha- 
ben allein  abweichende  Begierungsjahre  (16  und 
12).  Automenes,  der  erste  einjährige  Prytane, 
würde  als  König  irrth timlich  hinzugefügt  und 
seih  Jahr  dem  Agelas  abgezogen,  dem  somit  37 
Jahre  verbleiben.  Dies  erscheint  wenigstens 
Reftrenteb  die  natürlichste  Erklärung  dieser 
hfccbst  problematischen  Regierungsangaben.  Ist 
fettet  ein  Käme  mit  35jähriger  Regierung  aus- 
gefallen, so  ist  es,  wie  auch  Plafi  (Tyrannis 
147)  annimmt,  wahrscheinlicher,  daß  er  vor 
Bakchis,  ja  auch  noch  vor  Prumnis,  welcher 
Vater  des  Bakchis  heißt,  stand,  um  den  nhns 
reveal  des  Pausanias  (2,  4,  3)  gerecht  zu  wer- 

*)  Steinmetz  (Herodot  und  Nikol.  Dam.  10)  und 
Wagner  (de  Bacch.  Cor.  21)  mit  willkürlicher  Verände- 
rung von  tß'  bei  Teleetes  in  »{',  die  Steinmetz  nicht 
braucht,  weil  in  der  Didotschen  Ausgabe  des  Diodor  dem 
Aristomedes  al.-demos  35  Jahre  anstatt  80  zufallen.  So 
will  auch  E.  0.  Müller  Dor.  11,  504.  Dann  kommen 
naöh  der  ändern  Erkl&rnngsweise  auf  den  Ausgefallenen 
nur  80  Jahre,  und  das  Zahlenspiel  bleibt  dasselbe. 


1194      Gott  gel.  Anz.  1880.  Stück  38. 

den.  Dadurch  würde  der  Anfang  der  BakchijM 
denherrschaft  nach  dem  Ende  des  Jahrhundali ' 
(920)  verlegt;  denn  657  betrachtet  auch  B.  (S. 
200)  als  das  Jahr  ihres  Sturzes.  Keinesfak 
aber  kann  nach  der  Liste  des  Diodor  die  Zeü 
von  956—657  durch  die  Könige  von  Bakcbk 
bis  Telestes  (173  Jahre)  und  durch  die  Zeit  der 
Prytanie  (90  Jahre)  genügend  ausgefüllt  wer- 
den. Demnach  würden  die  ältesten  bekanntes 
Freiheitskämpfe  der  Megarer  aus  dem  10.  Jährt, 
die  nach  dem  attischen  Archonten  Phorbas,  dem 
5.  bei  Eusebius,  datiert  sind,  eher  in  einer  Zeit 
korinthischer  Schwäche  vor  dem  Auftreten  des 
kraftvollen  Bakchis  zu  denken  sein.  Wenn 
aber  B.  von  dieser  Zeit  an  die  Megarer  „alle 
Angriffe  der  Korintber  erfolgreich  zurückweisen" 
läßt,  so  widerspricht  dem  die  Nachricht,  daß, 
wenn  einer  der  Bakchiaden  gestorben  war,  die 
Megarer  sich  zur  Todtenklage  in  Korinth  ein- 
finden mußten  (K.  0.  Müller  Dor.  I,  88).  Man 
hat  dies  wohl  mit  Rücksicht  auf  Herod.  6,  58 
und  Pausan.  4,  14,  4  als  Uebertragung  sparto- 
nischer Verhältnisse  auf  korinthische  aufgefaßt, 
wahrscheinlich  aber  war  solche  Todtenklage  der 
Hörigen  um  ihre  Herren  alte  Dorersitte  und 
deshalb  die  Nachricht  von  dem  Klagegang  der 
Megarer  nach  Korinth,  die  auf  Demon  zurück- 
geht, nicht  zu  verwerfen.  Darnach  fällt  die 
endgültige  Losreißung  Megaras  später,  wie  auch 
B.  Niese  (d.  hom.  Schiffskatalog  46)  noch  aus 
anderen  Gründen  annimmt. 

Eine  gute  Analogie  findet  die  Stellung  der 
Bakchiaden  zum  übrigen  Adel,  die  von  Duncker, 
Curtius,  G.  F.  Unger  (Philol.  XXVIII,  414  sq.) 
und  dem  Refer.  (Jabrb.  1876  p.  590)  bebandelt 
wurde,  in  dem,  was  B.  (S.  172)  über  die  Aristo- 


Basolt,  Die  Lakedaimonier.    Bd.  I.    1195 

kratie  innerhalb  der  Aristokratie  bei  den  Eleern 
ausführt. 

WasPausanias  (IV,  11,  1.  15,  8.  19,  1)  von 
der  Theilnahme  der  Korinther  an  beiden  messe- 
nischen Kriegen  erzählt,  behandelt  B.  Seite  101. 
Er  läßt  Korinth's  Bundesgenossenschaft  mit 
Sparta  für  den  ersten  gelten,  bestreitet  sie  aber 
mit  beachtenswerthen  Gründen  fllr  den  zweiten 
(646—629),  indem  er  die  Unwahrscheinlichkeit 
eines  Bündnisses  des  Kypselns  (657—627)  mit 
Sparta  hervorhebt  und  die  Nachricht  ans  einer 
Wiederholung  dessen,  was  vom  ersten  Kriege 
bekannt  war,  erklärt.  Gerade  umgekehrt  pole- 
misiert K.  0.  Müller  (Dor.  I,  144)  gegen  die 
Möglichkeit,  daß  Korinther  im  ersten  Kriege 
nach  dem  Süden  hätten  durchkommen  können, 
während  er  S.  151  bezüglich  des  zweiten 
Krieges  sich  weniger  skeptisch  äußert.  E.  Cur- 
tius,  gr.  G.4  I,  193  läßt  die  Korinther  aus  Feind- 
schaft gegen  das  mit  Messenien  verbündete 
Sicyon  im  zweiten  Kriege  auf  Seite  Sparta's 
treten,  wogegen  zu  bemerken  ist,  daß  zur  Zeit 
der  Tyrannis  die  beiden  Nachbarstaaten  nicht 
in  feindlichem  Verhältnisse  standen.  Isodemus, 
der  Orthagoride,  lebt  am  Hofe  zu  Korinth  (Nik. 
Dam.  61),  und  bei  der  Freiwahl  der  Agariste 
gereicht  dem  Hippokieides  beim  Kleisthenes  die 
Verwandtschaft  mit  den  Kypseliden  zur  Empfeh- 
lung (Her.  6,  128).  Eher  könnte  dieses  Motiv 
auf  den  ersten  Krieg  passen,  obwohl  wir  über 
Feindschaft  von  Sicyon  und  Korinth  im  8.  Jahrh. 
außer  der  Notiz  bei  Pausan.  4,  11,  8  weiter 
keine  Nachricht  haben.  —  Grote,  Duncker, 
Kohlmann  (quaest.  Messen.)  gedenken  der  Be- 
theiligung der  Korinther  an  den  messenischen 
Kriegen  gar  nicht. 

Ref.  entscheidet  sich  für  B.s  Ansicht,  würde 


1196      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  38. 

aber  noch  lieber  auch  eine  Betheiligung  Korintto 
am  zweiten  Kriege  zugeben  als  die  Notiz  ganz 
nnd   gar   verwerfen.     Wenn   ein  Eintreten  des 
abgelegenen  Korinth  in  den  Kampf  auffällig  ist, 
so   kann  man  auch  nicht  glauben,  daß  Myron 
ohne  alte  Ueberlieferung  Unwahrscheinliches  er- 
dichtet hat.    Eher  konnte  ein  Verherrlicher  des 
zweiten  Krieges  auf  die  Analogie  des  ersten  ge- 
stützt sich  eine  solche   Fiction  erlauben.     In 
den  Parteiverhältnissen  liegt  aber  nicht,  wie  bei 
dem  zweiten  Kriege,  ein  Grund  zum  Zweifel.    An- 
lehnung der  Bakchiaden  an  Sparta  ist  durchaus 
wahrscheinlich ;  nach  ihrem  Sturze  flieht  ja  auch 
ein  Theil  von  ihnen  dorthin.  Es  sind  überhaupt 
Beziehungen   und  Einflüsse  der  Spartaner  anf  , 
den  nördlichen  Peloponnes   nach  des  Ref.  An- 
sicht nicht  mit  solcher  Bestimmtheit  zu  leugnen 
wie  dies  Busolt  für  die  frühere  Zeit  thut   Ganz 
besonders   ist  anzunehmen,  daß  Pheidon    von 
Argos,  den  B.  nicht  in  das  7.  Jahrhundert,  son- 
dern nach  der  Ueberlieferung   in  die  Mitte  des 
8.  setzt,  indem  er   gegen   Sparta  und  Konnte 
feindlich   auftrat,  diese  veranlaßte  sich  zu  ver- 
bünden.    Für  direct   oder    indirect    geleistete 
Hülfe  wird  der  Anschluß  der  korinthischen  Bak-   | 
chiaden  an  Sparta  erfolgt  sein,   aus  dem  allein  j 
sich  der  auch  von  B.  nicht  bezweifelte  Zuzog  j 
im  ersten  messenischen  Kriege  erklärt.     So  ur- 
theilt  auch  Haacke,  Gesch.  Kor.  bis  zum  Sturee 
der    Bakchiaden    (Programm     von    Hirschberg 
1871)  pag.  17.  Daß  es  für  die  Korinther  schwie- 
rig gewesen  sein   mag,  den  Kriegsschauplatz 
sicher  zu  erreichen  und   wieder  zu  verlassen,  } 
kann  man  K.  0.  Müller  zugeben ;  auch  die  Stelle  ■ 
des  Pausanias  hebt  diesen  Punkt  hervor.    Des- 
halb aber   die  ganze  Nachricht  über  Bord  zu 
werfen,  ist  nicht  nöthig.    Die  Tradition  ist  viel 


BuBolt,  Die  Lakedaimonier.  M  I.    1197 

zu  dürftig  und  der  Möglichkeiten,  wie  man  »ich 
den  Hergang  denken  kann,  sind  viele.  Aach 
die  See  kommt  dabei  in  Betracht,  wenigstens 
rühmten  sich  die  Samier  den  Lacedämoniern 
mit  Schiffen  gegen  die  Messenier  zu  Hülfe  ge- 
kommen zu  sein  (Her.  3.  47).  Aas  diesen  Grün- 
den stimmt  Refer.  Busolt  in  seiner  Auffassung 
von  Eorinths  Stellung  zu  den  messenischen  Erie- 
gen  bei. 

Sehr  eingehend  hat  B.  die  Zeit  der  korin- 
thischen Tyrannis  behandelt  and  dabei  auch  so 
detaillierte  Quellenkritik  geübt,  wie  kaum  Je- 
mand seit  Steinmetz  (Herodot  and  Nikol.  Da- 
mascenes. Progr.  v.  Lüneburg  1861).  Es  hat 
Referenten  überrascht,  daßB.  dieser  Schrift,  die 
sich  wesentlich  auf  gleicher  Grundlage  bewegt, 
wie  seine  Untersuchungen  auf  Seite  202  f.,  and 
zam  Theil  mit  seinen  Resultaten  zusammentrifft, 
nicht  Erwähnung  gethan  hat.  Die  Ansieht  von 
Steinmetz,  daß  Nikolaus  Damasc.  als  die  Haupt- 
quelle der  Kypselidengeschichte  angesehn  wer- 
den müsse,  wird  allerdings  von  E.  Curtius  (Or. 
G.4  I,  643)  und  stillschweigend  auch  von  B., 
wenn  auch  von  verschiedenem  Standpunkte  aas, 
bekämpft,  aber  nicht  mit  tiberzeugenden  Grün- 
den. Gegen  Cartius  ist  za  bemerken,  daß  der 
Widerspruch,  den  des  Aristoteles  Ausdruck  Kv- 
tpsXog  i*  dtiitaymytag  (tvqccvpos  xatiotq  pol.  5, 
8,  4)  mit  des  Nikolaus  Erzählung  von  Kypselis 
als  Polemarchen  enthält,  sehr  unbedeutend,  wenn 
überhaupt  vorhanden  ist.  Das  Amt  diente  nur 
dazu  ihn  beim  Volke  bekannt  und  beliebt  za 
machen;  den  Sturz  der  Bakchiaden  bewirkteer 
nicht  als  noXtpctQxog,  sondern  als  irifActywyog. 
Sagt  doch  Nikolaus  selbst:  idtipay»- 
ye*  %6  nXij&og.  Ferner  umschreibt  Aristoteles 
das,  was  er  a.  a.  0.  4h  wv  upmv  nennt,  einige 


1198      Gott  gel;  Anz.  1880.  Stück  38. 

Zeilen  vorher  durch  die  Worte  ix  x&v  alqemv 
im   tag   xvQlag   dQ%dq.      Für   ein    derartiges 
wichtiges  Amt  aber  kann  man  die  Polemarchie 
schon  deshalb  schwerlich  ansehn,  weil  dann  bei 
der  starren  Exclusivität  der  Bakchiaden  ein  Halb- 
bürtiger nicht  in  ihren  Besitz  gekommen   sein 
würde.    Wenn  aber  Curtius  weiter  gegen  Stein- 
metz geltend  macht,  daß  „die  Darstellungs weise 
die  Lücken  anderweitiger  Ueberlieferung   prag- 
matisierend  zu   ergänzen   suche",   so  mag  dies 
für  die  Jugendgeschichte  richtig  sein  —  besonders 
ist  durch  Aufgabe  der  Rettungskiste  nebst  Ety- 
mologie der  Erzählung  etwas  von  ihrer  naiven 
Unwahrscheinlichkeit  genommen  worden  —  aber 
das    Folgende    macht    wenigstens    auf    Refer, 
durchaus  nicht   den  Eindruck  künstlicher  Con- 
struction.    Daß    sich   der  Bericht  des  Nikolaus 
„von  der  poetischen  Darstellung  entfernt",  kann 
doch   noch  nicht  als  ein  verdächtiges  Moment 
angesehen   werden.     Der  Hergang    ist    sicher 
nicht  so   poetisch   gewesen;  warum   sollen  wir 
also   eine  nüchterne  Ueberlieferung  verwerfen? 
Zur  Zeit  alsEphorus  schrieb,  aus  welchem  nach 
Aller  Urtheil  Nikolaus  schöpfte,  kann  in  Korinth 
der  wahre  Sachverhalt  sehr  wohl  noch  bekannt 
gewesen  sein ;  über  die  Aemter  gab  es  vielleicht 
alte  Aufzeichnungen.    Selbst  außerhalb  Eorinths 
bewahrte  die  Tradition  da  und  dort  Einzelhei- 
ten,  die  wir  aus   den  Hauptquellen  nicht  ken- 
nen: Pythänetus  wußte,  was  dem  Periander  an 
Melissa  gefallen,  Timäus,  was  er  mit  den  Stei- 
nen des  alten  Ilion  gemacht  hatte.    In  den  Go- 
lonien  lebten  doch  sicher  wenigstens  die  Namen 
ihrer  Gründer   fort.      Ueberhaupt   war  die  An- 
zahl  der  Schriftsteller,   die   sich    besonders  mit 
Periander  beschäftigten,  sehr  groß;  die  doppelte 
Qualität  als  Weiser  und   Tyrann  machte   die 


Busolt,  Öie  Lakedaimonier.   Bd.  I.    1199 

Persönlichkeit  interessant.  Manche  übten  anch 
Kritik  wie  Antenor  und  Dionysios  6  Xafadexx; 
gestützt  auf  erhaltene  Einrichtungen  ans  der 
Kypselidenzeit  (Plut.  de  Her.  mal.  22.  cf.  anch 
Demetrius  gegen  Timäus  Strab.  13,  600). 

Sollte  es  nach  alledem  nicht  möglich  sein, 
daß  unabhängig  Von  Herodot  sich  gute  Ueber- 
lieferungen  erhielten  und  daß  des  Ephorus  Quel- 
len wirklich  „reicher  und  besser"  waren? 

Busolt  betrachtet  als  die  zuverlässigste  Quelle 
für  die  Kypselidenzeit  das,  was  unter  dem  Na- 
men des  Heraklides  Ponticus  uns  vorliegt  und 
aus  Aristoteles  geschöpft  zu  sein  scheint.  (Mül- 
ler F.  H.  G.  II,  212).  Manches  aber  in  der 
kurzen  Stelle  muß  befremden  und  bedenklich 
machen  gegen  diese  Autorität  Daß  der  durch- 
aus nicht  echter  Sage  entstammende  Heros  Ko- 
rinthus  auftritt,  mag  noch  hingehn.  Auffällig 
ist  das  Fehlen  jeder  Notiz  über  Kypselus,  ohne 
welche  die  Worte  IlsQiavdQOc  ds  nqmtoq  psti- 
cttjfö  ttjv  aQxrjv  doQvcpÖQovg  ixwv  keinen  Sinn 
haben.  Denn  in  ihnen  liegt  natürlich  ein  Gegen- 
satz gegen  Kypselus.  Auch  das  Säcken  aller 
Kuppelweiber  muß  ein  Mißverständniß  sein;  es 
paßt  nicht  zu  dem  auch  von  Busolt  constatier- 
ten  Aufblühen  des  Aphroditecultus  in  Korinth 
und  ist  von  Steinmetz  (13)  aus  Verwechselung 
von  anidvae  und  xatidvae  erklärt  worden  (an- 
ders Volquardsen,  Bursians  Jahresber.  XIX,  80). 
Ja  Busolt  selbst  verwirft  S.  201  in  der  Polemik 
gegen  Duncker  indirect  diese  Erzählung  als  ein 
Product  „unberechtigter  späterer  Tradition",  und 
doch  steht  sie  bei  Heraklides.  Den  Angaben 
dieses  Schriftstellers  ist  also  auch  nicht  vollstän- 
dig zu  trauen  und  seinem  Urtheil  ebensowenig. 
Denn  wenn  Periander  wirklich  alle  Kupplerin- 
nen ersäuft   hätte,  so   war   dies  keinesfalls  im 


1200      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stack  38. 

Sinne  der  damaligen  Koriniher  eine  m00*o*$gfe, 
wie  Heraklides  andeutet,  sondern  eins  der  nicftt 
seltenen  Beispiele  von  Perianders  Grausamkeit 
In  diesem  Punkte  bekennt  Referent  nicht  von 
der  Beweisführung  B.s  überzeugt  worden  zu 
pein  und  zwar  aus  folgenden  Gründen.  Aristo- 
teles vertheidigt  zwar  an  einer  Stelle  eine 
Maßregel  des  Periander,  sagt  auch  dieTyrannis 
habe  in  Sicyon  lange  Bestand  gehabt  an  «of? 
äQXoptvoiq  i%Q(Zvio  petQltog  xal  noXXd  totg  vo- 
poig  idovXsvov  xal  did  %d  noXefuxog  Yeviti&ah 
Klsio&ivfjg  ovx  yv  sixataqiQQvywQ  xal  %d  mXXa 
vafg  impeXelatg  iöfjfMxyuiyovP  und  fährt  dann 
fort,  daß  es  auch  in  Korinth  ähnlich  gewesen 
sei:  %d  d}  alua  %ai%d  xal  tatntjS*  i  [*€V  ydq 
KvxpeXog  dqpaYwydq  ^v  xal  xatd  vqv  ctQXyv  d$€ri- 
Xeos  ädoQVCpOQfjws,  UsqiavÖQoq  ff  iyiv&o  psv 
WQavnxdg  dXXd  noXspixog  (pol.  V,  9,21).  Aber 
zeigen  nicht  gerade  die  letzten  Worte  in  ihrem 
Zusammenhang  und  Gegensatz,  daß  Aristoteles 
sich  die  Herrschaft  des  Periander  anders  dachte 
als  die  des  Eypselus,  daß  er  beim  V^ter  milde 
Behandlung  des  Volkes,  beim  Sohne  aber  die 
Kriegsmacht  als  hauptsächliches  Fundament  der 
Herrschaft  annahm?  Mit  dieser  Darstellung 
stimmt  auch  im  Ganzen  Nikolaus  überein  und 
B.  nennt  ihn  deshalb  den  Träger  „einer  den 
Eypseliden  nicht  günstigen  Tradition".  Das 
kann  man  aber  doch  nicht  sagen,  wenn  man 
unter  „Eypseliden"  nach  einem,  wenn  auch  nicht 
streng  logischen,  so  doch  allgemein  verbreiteten 
Sprachgebrauch  den  Eypselus  und  sein  Haus 
versteht.  Nikolaus  nennt  den  letzten  bakchiadi- 
schen  Prytanen  naqdvopoq  und  inax&qq  und 
entschuldigt  damit  gewissermaßen  die  That  des 
Eypselus;  diesem  weiß  er  nur  Gutes  nachzu- 
sagen (nQäwg  wz«);  die  Mittel,  die  er  zur  Be- 


i 

r 


Busolt,  Die  Lakedaimonier.   Bd.  I.    1201 

festigung  seiner  Herrschaft  anwandte,  waren 
verhältnißmäßig  milde;  die  Gegner  wußte  er 
ohne  Grausamkeit  zu  beseitigen.  Wenn  nun 
derselbe  Schriftsteller,  der  so  gemäßigt  über  den 
ersten  Tyrannen  urtheilt,  dem  zweiten  rffwf- 
%rjg  und  ßta  vorwirft,  so  liegt  in  diesem  Gegen- 
satz die  Gewähr  wenigstens  dafür,  daß  nicht 
principielle  Voreingenommenheit  gegen  die  Ty- 
rannis  das  Urtheil  dictiert  hat,  wie  beiHerodot. 
So  stimmen  also  Aristoteles  und  Ephorus  darin 
überein,  wo  sie  den  Geist  der  korinthischen 
Tyrannis  charakterisieren,  zwischen  Vater  und 
Sohn  einen  Unterschied  zu  machen.  Diesen 
Unterschied  werden  wir  nun  freilich  nicht  darin 
zu  suchen  haben,  daß  Periander  die  Verwaltung 
des  Staates  schlechter  geführt  hätte  als  Kypse- 
lus,  sondern  darin,  daß  er,  minder  geübt  sich 
selbst  zu  beherrschen  als  sein  Vater,  den  Im- 
pulsen augenblicklicher  Leidenschaft  nachgab 
und  so  zu  Thaten  sich  hinreißen  ließ,  die  er 
selbst  bald  bereute,  ohne  dadurch  den  Haß,  den 
sie  ihm  zuzogen,  abwenden  zu  können.  Alles 
das,  was  nach  dieser  Richtung  hin  von  Perian- 
der erzählt  wird,  die  Tödtung  seiner  Frau,  der 
Beschluß  über  die  korcyräischen  Knaben,  wohl 
auch  die  Hinrichtung  der  Radine  von  Samos 
und  ihres  Liebhabers  (Strab.  8,  347)  einfach 
für  Erdichtung  des  Adels  zu  erklären,  ist  all- 
zuwillkürlich. Vor  Allem  drängt  sich  die  Frage 
auf:  warum  wurde  dergleichen  dem  Periander 
angedichtet  und  nicht  dem  Eypselus,  der  zuerst 
die  Bakchiaden  gestürzt  und  vertrieben  hatte, 
gegen  den  sich  also  ihr  Haß  viel  directer  rich- 
ten mußte?  Herodot  allerdings  läßt  auch  ihn 
als  blutigen  Tyrannen  erscheinen,  aber  es  muß 
immer  betont  werden,  daß  bei  Herodot  das  Ur- 
theil über  die  Kypseliden  einem  erklärten  Geg- 

76 


1202      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  38. 

ner  der  Tyramris  in  den  Mund  gelegt  wird. 
Wie  Thucydides,  so  ließ  natürlich  auch  Herodot 
die  Personen  reden,  dg  av  idoxovv  avtft  Ixcetitpt 
tisqI  %&v  del  nctQovuov  tä  diovxa  (idfooia  slruTv. 
Wir  brauchen  also  nicht  den  Herodot,  sondern 
nur  den  Sosikles  für  das  Gesagte  verantwortlich 
zn  machen.  Wenn  aber  diese  Bemerkungen 
den  Eypselus  entlasten,  den  kein  Anderer  an- 
klagt, so  sprechen  sie  deshalb  noch  nicht  den 
Periander  frei,  der  mit  Ausnahme  des  Heraklides 
vom  gesammtem  Alterthume  als  ein  tyrannischer 
Anwandlungen  fähiger  Fürst  geschildert  wird. 
Auch  daß  die  öffentliche  Meinung  ihn  ge- 
rade als  den  „Systematiker  der  Tyrannistf  be- 
zeichnete (Ar.  pol.  5,  9,  2),  beweist  wie  er  ge- 
wissermaßen als  der  Normaltyrann  in  der  Er- 
innerung der  Menschen  fortlebte;  zu  dieser  ty- 
pischen Figur  aber  konnte  er  schwerlich  wer- 
den, wenn  er  nicht  auch  Acte  der  Grausamkeit 
beging,  wie  man  sie  von  einem  Tyrannen  er- 
wartet. Ziemlich  gut  bezeugt  ist  die  Versen- 
dung der  korcyräischen  Knaben  nach  Asien; 
außer  Herodot  und  Nikolaus  haben,  wie  schon 
oben  bemerkt,  noch  zwei  andere  Schriftsteller 
kritisch  den  Vorfall  behandelt;  über  das  Ver- 
dienst der  Bettung  stritten  Samier  und  Knidier ; 
letztere  konnten  ihren  Anspruch  durch  npai} 
Imttlsia*  und  tptjcplcfjHxtcc  bei  den  Korcyräern 
unterstützen.  Grund  genug  die  Thatsache  an 
sich  nicht  mit  Volquardsen  (Bursians  Jahresber. 
7.  Band,  384)  zu  verwerfen  oder  mit  Duncker 
durch  Hinweis  auf  die  Nichtbeweisbarkeit  des 
Zweckes  (in?  Jxfopjf)  abzuschwächen.  Richtiger 
urtheilt  wohl  Movers,  der  den  Periander  kurz- 
weg einen  Sclavenhändler  nennt  (Phoen.  II, 
109).  Auch  B.  läßt  den  Bericht  des  Herodot 
wenigstens  als  möglich  gelten,  nennt  die  Hand- 


Busölt,  Die  Lakedaimonier.    Bd.  I.    1203 

hnkg  „eine  an  sich  abscheuliche"  und  sucht  sie 
ürir  durah  das  schwere  Leid,  das  die  Korcyräer 
dem  Periander  angethan  hatten,  etwas  zu  ent- 
schuldigen. Referent  kann  dem  beistimmen,  nur 
die  Parallele  mit  dem  Verkauf  von  Weibern 
und  Kindern  eroberter  Städte  in  die  Sklaverei 
trifft  in  sofern  nicht  zu,  als  die  Sclaverei  eine 
allgemein  in  Hellas  bestehende,  im  Einzelnen 
auch  durch  humane  Behandlung  und  schützende 
Zufluchtsorte  (so  auch  in  Lechäon,  Hesy  ch  A£%cnov) 
gemilderte  Institution  war,  die  Entmannung  aber 
nach  dem  Brauche  der  Orientalen  den  helleni- 
schen Sinn  empören  mußte. 

Daß  Periander  seine  Begierungsweise  ge- 
wechselt habe,  sagt  Sosikles ;  B.  bezweifelt  diese 
Notiz,  nach  Ansicht  des  Refer,  mit  Unrecht. 
Die  Verbindung  mit  Thrasybul  kann  dahin  ge- 
stellt bleiben,  aber  psychologisch  betrachtet  ist 
es  durchaus  glaubhaft,  daß  ein  Fürst,  der  am 
Anfang  seiner  langen  Regierung  die  Tradition 
de?  Milde  bewahrte,  allmählich,  gereizt  durch 
Nachstellungen,  verbittert  durch  traurige  Erfah- 
rungen in  der  eigenen  Familie,  bei  einem  von 
Natur  leidenschaftliehen  Charakter  gewaltthätig 
und  grausam  wurde.  Die  Bestätigung  dieser 
Sinnes wandelung  durch  Herodot  kann  wenig- 
stens nicht  als  ein  Gegenbeweis  aufgefaßt  wer- 
den; warum  soll  man  der  kypselidenfeindlichsten 
Tradition  nicht  etwas  relativ  Günstiges  für  Pe- 
riander glauben?  Dann  aber  scheint  bei  der 
Annahme  einer  solchen  Sinneswandelung  die 
doppelte  Ueberlieferung  von  einem  milden  und 
eitlem  grausamen  Periander  sich  am  natürlich- 
sten zu  erklären,  natürlicher  wenigstens,  als 
wenn  man  alles  Ungünstige  einfach  als  Ver- 
leumdung des  Adels  verwirft  und  sich  auf  He- 
raklides  als  einzig  glaubwürdigen  Gewährsmann 

76* 


1204      Gott,  gel  Anz.  1880.  Stück  38. 

verläßt.  Diese  Frage  steht  mit  dem  Sturze  der 
Dynastie  in  engem  Zusammenhang.  B.  denkt 
sich  diesen  so,  daß  einige  Adelige  denPsamme- 
tich  ermordeten  und  mit  Hülfe  des  Pöbels  eine 
Zerstörung  Alles  dessen,  was  an  die  Tyrannis 
erinnerte,  ins  Werk  setzten,  während  die  Menge 
der  Bürger  mit  der  Herrschaft  der  Kypseliden 
ohne  Zweifel  wohl  zufrieden  gewesen  wäre. 
Hiergegen  ist  Folgendes  zu  bemerken:  schon 
Periander  besaß  nicht  die  Popularität  seines 
Vaters;  dies  beweist  die  Einführung  der  Leib- 
wache, die  Attentate,  auf  welche  Nikolaus  (fr. 
59)  anspielt  und  die  auch  der  Verfasser  des 
Briefes  bei  Diog.  L.  I,  64  in  seinen  Quellen 
vorfand,  der  Wunsch  noch  bei  seinen  Lebzeiten 
die  Erbfolge  geordnet  zu  sehn ;  vielleicht  gehört 
hierher  auch  die  wunderbare  Art  seines  Selbst- 
mordes (bei  Diog.  L.  I,  96),  wenn  anders  ein 
Kern  von  Wahrheit  in  der  Erzählung  steckt 
und  diese  dahin  aufzufassen  ist,  daß  Periander 
sein  Grab  vor  Zerstörung  schützen  wollte.  Wie 
Psammetich  regierte,  wissen  wir  freilich  nicht; 
aber  wenn  Aristoteles  die  Dauer  der  Tyrannis 
auch  in  Eorinth  aus  der  fi€rQ$ötfjg  erklärt,  so 
ist  der  Schluß  nicht  zu  kühn,  daß  ein  Abwei- 
chen von  dieser  (ieiQ*6rtjg  dem  Sturze  der  Ty- 
rannen vorausging.  In  Sicyon  bestanden  die 
Einrichtungen  des  Kleisthenes  noch  60  Jahre 
lang  nach  seinem  Tode ;  dort  also  trat  wirklich 
der  Demos  ein  für  die  Politik  seiner  bisherigen 
Führer.  In  Korinth  aber  half  der  Demos  nach 
Nikolaus  die  Verfassung  umgestalten,  zerstörte 
die  Häuser  der  Tyrannen,  confiscierte  ihre  Gü- 
ter, schändete  ihre  Gräber.  Busolt  erklärt: 
dies  that  nicht  das  Volk,  sondern  der  zu  den 
entgegengesetztesten  Handlungen  zu  fanatisie- 
rende  Pöbel.     Aber  dies  ist  bloße  Vermuthung, 


Busolt,  Die  Lakedaimonier.   Bd.  I.    1205 

gegen  den  Wortlaut  und  bei  der  wohlbegründe- 
ten Annahme  geschwundener  Popularität  eine 
ganz  unnöthige  Beschränkung.  Die  Revolution 
in  dem  von  Eorinth  abhängigen  Ambracia  war 
jedenfalls  ein  Abbild  der  Bewegung  in  der  Mut- 
terstadt ;  von  ihr  aber  sagt  Aristoteles  (pol.  5, 3, 
6) :  iv  yAfkßqa*iq  TIsQiavdQOv  (den  Neffen,  nach 
Andern  den  Vetter  des  Tyrannen)  (WveußaXwv 
totg  im&spiyoig  ö  <%*oc  %6v  tvQctvvov  el$  kav- 
%6v  nsQ^ctrjoe  tfjv  nohuiav.  Ist  es  nach  alle- 
dem nicht  wahrscheinlicher,  das  Mißvergnügen 
des  Volkes  über  die  immer  drückender  werdende 
Herrschaft  als  einen  Hauptfactor  bei  dem  Sturze 
der  Eypseliden  anzuerkennen?  Busolt  selbst 
sagt  (S.  212) :  „freilich  hätte  die  zu  große  Be- 
vormundung und  Beaufsichtigung,  welche  die 
Tyrannis  über  die  einzelnen  Bürger  ausübte,  auf 
die  Dauer  unerträglich  werden  und  eine  leb- 
hafte Opposition  auch  im  Bürgerstande  wach- 
rufen müssen,  welcher  die  Tyrannis  früher  oder 
später  erlegen  wäre".  Diese  Worte  widerlegen 
im  Grunde  selbst  B's  vorausgegangene  Auf- 
stellungen; denn  wer  vermag  hier  den  Termin 
für  „früher  oder  später"  zu  bestimmen?  Die 
Bevormundung  war  eben  bereits  unerträglich 
geworden,  hatte  eine  Opposition  wachgerufen 
und  ihr  erlag  die  Tyrannis.  Daft  dabei  der 
Adel  mitbetheiligt  war,  schließt  B.  mit  Recht 
aus  dem  oligarchischen  Charakter  der  neuge- 
schaffenen Verfassung ;  nur  hätte  er  nicht  im 
Vorhergehenden  dem  Periander  „die  Beseitigung 
der  Beste  der  Adelspartei"  zuschreiben  dürfen 
(Seite  208).  Sollen  darunter  die  Bakchiaden 
verstanden  werden,  so  ist  der  Ausdruck  zu  un- 
bestimmt. 

Mit  der  Frage,  ob   Sparta   an    dem   Sturze 
der  Tyrannis  in  Eorinth  betheiligt  gewesen  sei, 


1206      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  38. 

beschäftigt  sich  B.  ausführlich  an  zwei  Stellen 
seines  Buches  (212—215.  225.  303—307)  und 
kommt,  wie  schon  Grote  und  Duncker,  zu  dem 
Resultat,  daß  dies  nicht  der  Fall  war.  Refer, 
bekennt,  daß  die  Frage  für  ihn  noch  eine  offene 
ist;  denn  den  sehr  beachtenswerthen  Erwägun- 
gen gegen  die  Betheiligung  Sparta's  steht  das 
indirecte  Zeugniß  von  Thucydides  und  Aristote- 
les, das  directe  des  Plutarch  gegenüber.  Jeden- 
falls gebührt  B.  das  Verdienst  Alles,  was  die 
Tradition  von  der  Tyrannenfeindschaft  der  Lace- 
dämonier  erschüttern  kann ,  zusammengestellt 
und  ausführlich  erörtert  zu  haben.  Er  hat  da- 
mit die  Zustimmung  Volquardsens  (in  Bursians 
Jahresbericht,  Band  XIX,  81)  gewonnen,  wäh- 
rend Ad.  Holm  (revue  historique  1880  pag.  156) 
weniger  das  Resultat  als  die  Beweiskraft  von 
B's  Gründen  anzweifelt,  Zurborg  (Jenaer  Lit- 
teraturzeit.  1878  p.  657)  aber  auf  den  innern 
Gegensatz  zwischen  dem  aristokratischen  Sparta 
und  der  demokratischen  Tyrannis  hinweist,  der 
in  den  meisten  Fällen  zu  einer  feindlichen  Stel- 
lung habe  führen  müssen. 

Für  einen  entschiedenen  Irrthum  hält  Ref. 
die  Beziehung  von  Theognis  891—894  auf  die 
Ereignisse  des  Jahres  507  (Seite  314).  Nach 
den  Auseinandersetzungen  von  W.  Vischer  in 
dieser  Zeitschrift  (G.  g.  A.  1864  pag.  1373  sq.), 
denen  sich  auch  der  neueste  Herausgeber  des 
Theognis  (J.  Sitzler,  Theogn.  rel.  p.  138)  an- 
schließt, kann  sich  die  Stelle  nur  auf  ein  der 
Eypselidenherrschaft  gleichzeitiges  Ereigniß  be- 
ziehen, da  die  Bezeichnung  der  Eorinther  durch 
das  Wort  KvipsXldcu  80  Jahre  nach  dem  Sturze 
der  Kypseliden  und  zu  einer  Zeit,  wo  eine  den 
Kypseliden  feindliche  Partei  in  Korinth  herrschte, 
eine   Geschmacklosigkeit    wäre,   die   wir    dem 


J 


I 


Rutherford,  Physiological  actions  of  drugs  etc.  1207 

Dichter  nicht  zutrauen  dürfen.  Die  Verse  müs- 
sen älter  sein  als  Theognis  und  stehen  in  Zu- 
sammenhang mit  der  Einmischung  Perianders 
in  die  Verhältnisse  von  Euböa,  als  deren  wahr- 
scheinliche Folge  die  Gründung  Potidäas  auf 
der  Chalcidice  betrachtet  werden  kann  (Nikol. 
Dam.  fragm.  60  gegen  E.  Curtius  im  Hermes 
a.  a.  \j»  /u&öj» 

Zittau.  Erich  Wilisch. 


An  experimental  research  on  the 
physiological  actions  of  drugs  on  the 
secretion  of  bile.  By  William  Ruther- 
ford, M.D.,  F.R.S.S.L.  &  E.,  Professor  of  the 
Institutes  of  Medicine  in  the  University  of 
Edinburgh.  Edinburgh:  Printed  by  Neill  and 
Comp.    MDCCCLXXIX.    132  S.  in  Quart. 

Die  Lehre  von  den  sogenannten  Cholagoga 
hat  für  Großbritannien  eine  weit  größere  Bedeu- 
tung als  für  den  europäischen  Continent,  nicht 
nur,  weil  dort  in  Folge  des  häufigeren  Aufent- 
haltes von  Engländern  in  tropischen  Gegenden 
Leberkrankkeiten  ausgeprägter  Art  in  großer 
Zahl  zur  Beobachtung  gelangen,  sondern  auch, 
weil  vermuthlich  in  Folge  der  abweichenden 
Diät  Zustände  vorübergehender  Biliosität  zu  den 
gewöhnlichen  Erscheinungen  gehören.  Es  hat 
daher  gewiß  nichts  Auffälliges,  daß  gerade  in 
England  im  Laufe  der  letzten  Decennien  die 
gallentreibenden  Mittel  den  Gegenstand  mannig- 
facher Arbeiten  und  Discussionen  bildeten,  zu- 
mal seit  den  Arbeiten  yon  Bennett  die  durch 
Jahrhunderte  lange  Tradition  geheiligte  Vorstel- 
lung von  der  Cholagogen  Wirkung  der  hauptsäch- 
lichstem gallentreibenden  Medicamente  als  eine 


1208      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  38. 

physiologisch  unhaltbare  hingestellt  werden  und 
die  klinische  Forschung  dadurch  in  einen  dia- 
metralen Gegensatz  zu  dem  experimentellen  Sta- 
dium der  Pharmakodynamik  gestellt  war.  Daß 
die  klinische  Forschung  sich  hier  dem  physio- 
logischen Versuchsergebnisse  unterzuordnen  hat, 
liegt  auf  der  Hand,  denn  wenn  der  Arzt  auch 
im  Stande  ist,  die  Wirkung  eines  die  Schweiß- 
und  Speichelsecretion  anregenden  oder  beschrän- 
kenden Mittels  zu  erkennen  oder  am  Kranken- 
bett festzustellen ,  so  entzieht  sich  die  Gallen-  * 
secretion  beim  Menschen  seiner  directen  Beob- 
achtung und  die  Schlüsse  aus  der  Farbe  der 
Excreta  sind  sehr  wenig  zuverlässig,  um  so  mehr 
als  bei  anscheinend  stark  cholagoger  Action  es 
in  der  Regel  streitig  bleiben  muß,  ob  es  sich  um 
eine  wirkliche  Steigerung  der  Secretion  oder 
nur  um  eine  Vermehrung  der  Gallenabfuhr  han- 
delt. Natürlich  war  durch  jene  Untersuchungen 
von  Ben  nett,  welche  überhaupt  die  Nichtexi- 
stenz  cholagoger  Mittel  darlegen  sollte,  keines- 
wegs der  Werth  der  alten  vermeintlichen  Chola- 
goga in  der  Behandlung  biliöser  Zustände  ver- 
nichtet; man  mußte,  wenn  wirklich  Bennett's 
Untersuchungen  maßgebend  waren,  sich  nur  nach 
einer  andern  Erklärung  für  die  Wirksamkeit  dieser 
Stoffe  umsehen.  Uebrigens  war  die  Ben  net t9- 
sche  Studie,  abgesehen  von  berechtigten  Ein- 
wänden, welche  sich  gegen  die  Versuchsmethode 
erheben  ließen,  zum  Abschlüsse  der  Frage  über 
die  Existenz  der  Cholagoga  auch  insofern  nicht 
ausreichend  als  die  Zahl  der  untersuchten  Me- 
dicamente, die  allerdings  die  Hauptrepräsentan- 
ten der  in  England  gebräuchlichen  Cholagogen 
Mittel,  das  Calomel  und  das  viel  gepriesene 
Taraxacum,  einschloß,  eine  relativ  kleine  ist 
Schon  aus  diesem  Grunde  war  es  geboten,  die 
Arbeit  aufs  Neue  aufzunehmen. 


Ratherford,  Physiological  actions  of  drags  etc.  1209 

Dieser  Mühe  hat  sich  Professor  Rather  ford 
in  Edinbarg  anter  Beihttlfe  der  Herren  E.  V  i  g- 
nal  and  William  J.  Dodds  im  Laufe  der 
Jahre  1874—79  mit  solchem  Fleiße  und  derar- 
tiger Ansdaaer  unterzogen,  daß  wohl  kaumeine 
Classe  von  Arzneimitteln  so  vollständig  erforscht 
ist,  wie  die  der  gallentreibenden  Substanzen. 
Physiologie  und  Pharmakologie  sind  ihm  dafür 
in  gleicher  Weise  zu  Danke  verpflichtet,  und 
wir  zweifeln  nicht,  daß  auch  die  Therapie  da- 
durch einen  reellen  Gewinn  haben  wird,  da  sich 
die  Untersuchung  auf  manche  Stoffe  erstreckt 
hat,  welche  bei  uns  als  therapeutische  Agentien 
kaum  dem  Namen  nach  bekannt  sind.  So  hat 
Rutherford  seine  Aufmerksamkeit  verschiede- 
nen Pflanzenstoffen  zugewandt,  welche  von  der 
amerikanischen  eklektischen  Schule  als  bei  Le- 
berkrankheiten und  biliösen  Zuständen  angeb- 
lich mit  großem  Erfolge  benutzt  werden,  und  in 
seinen  Versuchen  erkannt,  daß  dieselben  beim 
Hunde  die  Oallensecretion  in  auffalliger  Weise 
erregen.  Stoffe  wie  Iridin  von  Iris  versicolor, 
Evonymin  von  Evonymus  atropurpurea,  Leptan- 
drin  von  Leptandra  Virginica,  Juglandin  von 
Juglans  cinerea,  Menispermin  von  Menispermum 
Canadense  u,  a.  m.  sind  unseren  Praktikern 
völlig  unbekannte  Dinge  und  selbst  den  meisten 
Pharmakologen  ist  über  ihren  Gebrauch  nicht 
mehr  bekannt  als  aus  dem  1854  unter  dem  Ti- 
tel „Positive  medical  agents"  erschienenen  Ka- 
taloge, der  von  den  Eklektikern  benutzten  „Re- 
sinoide"  in  deutsche  Handbücher  der  Arznei- 
mittellehre übergegangen  ist.  Indem  Ruther- 
ford durch  das  physiologische  Experiment  den 
steigenden  Einfluß  dieser  Mittel  auf  die  Abson- 
derung der  Galle  darthat,  der  in  der  Mehrzahl 
derselben  sich  mit  Reizung  der  Darmschleimhaut 


1210       Gott  gel.  Anz.  1880-  Stflok  38. 

verbindet,  beweist  uns  aufs  Nene  den  intimen 
Connex  zwischen  dem  physiologischen  Experi- 
mente an  Thieren  und  der  therapeutischen  An- 
wendung der  Medicamente.  Allerdings  kann  man 
nicht  sagen,  daß  ein  Stoff,  der  die  Gallensecre- 
tion  beim  Hunde  erregt,  deshalb  auch  bei  Stö- 
rungen der  Leberfunction  des  Menschen  ein  vor- 
zügliches Mittel  abgeben  müsse;  indessen  ist, 
wenn  die  betreffende  Wirkung  beim  Hunde  in 
evidenter  Weise  hervortritt,  eine  gewisse  Wahr- 
scheinlichkeit vorhanden,  daß  sie  auch  am  ge- 
sunden Menschen  sich  äußern  werde  und  daß 
bei  functionellen  Störungen  der  Leberthätigkeit, 
welche  ohne  bedeutende  anatomische  Veränderun- 
gen verlaufen,  ein  vorübergehender  oder  selbst  ein 
stationärer  Heileffect  sich  ergeben  wird.  Bei  den 
erwähnten  Resinoiden  der  amerikanischen  Eklek- 
tiker bestätigt  der  physiologische  Versuch  die 
bereits  empirisch  festgestellte  günstige  Wirkung 
bei  Leberaffectionen,  und  da  Rutherford  in 
Verbindung  mit  verschiedenen  schottischen  Aerz- 
ten  sich  auch  beim  Kranken  von  der  Richtigkeit 
der  amerikanischen  Angaben  überzeugt  hat,  da 
ferner  diese  Stoffe  die  bei  uns  gebräuchlichen 
Cholagoga  in  ihren  physiologischen  Effecten  an 
Thieren  übertreffen,  da  sie  überdies  die  chola- 
goge  Action  z.  Th.  nicht  mit  starker  Irritation 
des  Darms  combinieren,  welche,  wie  dies  Ru- 
therford's  Versuche  erweisen,  überall,  wo  sie 
hervortritt,  die  Wirkung  auf  die  Leber  beein- 
trächtigt und  schmälert,  so  steht  zu  erwarten, 
daß  einzelne  jener  Medicamente  auch  in  Europa 
Anwendung  finden  werden.  Es  wird  dies  um 
so  eher  der  Fall  sein,  wenn  jene  sogenannten 
Resinoide  wirklich  rein  chemische  Verbindungen 
wären,  die  dann  unter  allen  Umständen  dieselbe 
Activität  besitzen  müßten;  in  Wirklichkeit  sind 


Rutherford,  Physiological  actions  of  drugs  etc.  1211 

es  nur  gereinigte  alkoholische  Extracte,  die  bei 
weniger-  vorsichtiger  Bereitung  oder  vielleicht 
selbst  bei  zu  gut  gemeinter  Reinigung  das  eigent- 
liche active  Princip  in  geringerer  Menge  ein- 
schließen und  dadurch  mitunter  ihren  Effect  ein- 
büßen können.  Die  Reindarstellung  der  eigent- 
lich wirksamen  reinen  Substanzen  ist  unseres 
Erachtens  eine  Vorbedingung  für  eine  ausge- 
dehnte therapeutische  Verwerthung  der  neuen 
Arzneikörper. 

Uebrigens  sind  wir  der  Ansicht,  daß  nicht 
allein  diese  Cholagoga  der  Eklektiker,  sondern 
auch  eine  größere  Anzahl  anderer  Stoffe,  die 
bei  uns  bisher  in  anderen  Richtungen  therapeu- 
tisch benutzt  und  in  ihrer  Wirkung  auf  die  Le- 
berthätigkeit  bisher  nicht  gewürdigt,  nach  den 
Untersuchungen  Ruther  fords  sich  als  Erreger 
der  Leberthätigkeit  beim  Hunde  erwiesen,  wie 
Natriumbenzoat,  Natriumsalicylat  und  Ammonium- 
phosphat, die  Beachtung  der  Praktiker  verdienen. 

Sehen  wir  von  der  so  gewonnenen  Erweite- 
rung des  Gebiets  der  Cholagoga,  die  uns  in  der 
vorliegenden  Schrift  geboten  wird,  aber  auch 
gänzlich  ab,  so  haben  wir  von  wissenschaftlichem 
Gesichtspunkte  aus  einen  gewiß  ebenso  hoch  an- 
zuschlagenden Gewinn  durch  dieselbe,  indem  sie 
gewisse  fest  gewurzelte  Anschauungen  beseitigt, 
die  sich  bezüglich  der  Heilwirkung  bestimmter 
Medicamente  von  Generation  zu  Generation  fort- 
erbten. Rutherford  betont  selbst  in  dieser 
Beziehung  die  bei  englischen  Aerzten  allgemein 
verbreitete  Theorie  der  curativen  Wirkung  der 
Ipecacuanha  bei  Dysenterie.  Man  glaubt  dort  all- 
gemein, daß  die  durch  das  Mittel  bei  Dysente- 
rischen bedingten  biliösen  Evacuationen  durch 
eine  antispasmodische  Action  des  Medicaments 
zn  erklären  seien,  durch  welche  es  die  Hebung 


1212      Gott,  gel.  Anz.  1880.  Stock  38. 

eines  im  Darme  bestehenden  Krampfes  und  die 
Fortschaffung    aufgestauter    Galle    ermögliche. 
Diese  Voraussetzung,  welche  übrigens  auch  sonst 
zu  den  neuesten  pharmakodynamischen  Forschun- 
gen über  Emetin  und  Ipecacuanha  nicht  beson- 
ders stimmt,  muß  gewiß  aufgegeben  werden,  seit 
Rutherford's  Versuche  eine  sehr  bedeutende 
Vermehrung  der  Gallensecretion  unter  dem  Ein- 
flüsse   von  Ipecacuanha   ergeben  haben.    Ecla- 
tanter   noch   als  dieses  Beispiel  dürfte  die  Be- 
richtigung unserer  Vorstellungen  über  die  chola- 
goge   Wirkung   des   Karlsbader  Wassers    sein. 
Man   nimmt  allgemein  an,   daß  die  oft  genug 
constatierte  günstige  Wirkung   der  Quellen  von 
Karlsbad  bei  Störungen   der  Leberfunction  auf 
der  Action  des   darin  enthaltenen  Natriumbicar- 
bonats  beruhe.     Nach   Rutherford's  Unter- 
suchungen muß  dieser  Effect  weit  eher  auf  das 
Natriumsulfat  bezogen  werden,  dessen  cholagoge 
Action  die  des  Carbonate  bei  Weitem  übertrifft. 
Merkwürdig  ist  die  große  Wirkungsdifferenz  des 
Natrium-  und  Magnesiumsulfats  in    cholagoger 
Hinsicht.     Während  Glaubersalz   auch    in   ab- 
führenden Dosen   die  Gallensecretion   vermehrt, 
tritt  beim  Bittersalz  nur  die  den  Purganzen  im 
Allgemeinen  zukommende  Verminderung  der  frag- 
lichen Absonderung  zu  Tage.   Es  liegt  hierin  ein 
Fingerzeig  für  die  Praktiker,   nicht  wie  bisher 
Magnesiumsulfat   und   Natriumsulfat    als   völlig 
gleichwerthige  Heilpotenzen  zu  betrachten,  was 
sie  übrigens  auch  wegen   ihrer  differenten  Ein- 
wirkung  auf  Herz  und  Blutdruck    nicht    sein 
können.    Man  wird,   wie   ich  an  einem  andern 
Orte  dargelegt  habe,  die  cholagoge  Action  ge- 
wisser Bitterwässer  auf  ihren  großen  Gehalt  an 
Glaubersalz  zurückzuführen   haben,   der  in  ein- 
zelnen Mineralquellen  dieser  Art  sogar  den  an 


Rutherford,  Physiological  actions  of  drags  etc.  1213 

Magnesiumsulfat  and  Magnesiamchlorttr  überragt. 
Es  ist  mir  nicht  zweifelhaft,  daß  man  gerade  mit 
Bücksicht  auf  die  Batherford' sehen  Unter- 
suchungen die  anter  dem  Namen  der  Bitterwäs- 
ser zusammengefaßten  Mineralquellen  in  glauber- 
salzfreie, glaubersalzarme  and  glaubersalzreiche 
Bitterwässer  wird  abtheilen  müssen.  Quellen, 
wie  Sedlitz  und  Janos  Hunyady,  sind  denen  von 
Kis  Czäg,  Friedrichshall  and  Kissingen  sicher- 
lich nicht  gleichwertig. 

Interessant  ist  ferner,  daß  die  Bntherford- 
schen  Experimente  die  physiologische  Basis  für 
manche  am  Krankenbette  gewonnene  Erfahrungen 
liefern.  Butherford  sagt  selbst,  daß  sämmt- 
liche  durch  sichere  klinische  Beobachtungen  als 
bei  Leberaflectionen  nützlich  festgestellte  Medi- 
camente sich  auch  als  cholagog  beim  Hunde  be« 
währt  haben.  Das  ist  insofern  wohl  zu  erwägen, 
als  die  moderne  Skepsis  denWerth  mancher  so- 
genannter Lebensmittel  in  Frage  gestellt  hat, 
selbst  da,  wo  deren  Action  durch  tausendfältige 
Beobachtung  der  Praktiker  und  durch  das  Vo- 
tum von  Autoritäten  verbürgt  wird.  Buther- 
ford setzt  z.  B.  den  Rhabarber,  die  anima  he- 
patis  vergangener  Jahrhunderte,  in  ihre  alten 
Rechte  wieder  ein.  Er  bringt  eine  neue  Stütze 
für  die  rationelle  Verwendbarkeit  des  Königs- 
wassers, ja  sogar  für  das  Hauptlebermittel  der 
deutschen  Rademacherianer,  das  Chelidonium, 
für  letzteres  freilich  nur  indirect,  indem  er  die 
cholagoge  Wirkung  des  Sanguinarins  constatiert, 
jenes  Besinoids  aus  Sanguinaria  Canadensis, 
dessen  sich  die  Eklektiker  nach  Art  unseres 
Schöllkrautextracts  bedienen  und  das  als  Haupt- 
bestandteil den  gleichen  Stoff  wie  letzteres,  das 
Chelerythrin,  enthält 

Die  Resultate  der  vorliegenden  Untersuchung 


1214      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  38. 

müssen  die  Aufmerksamkeit  der  Pharmakologetf 
und  Aerzte  um  so  mehr  erregen,  als  sie,  wie  be- 
reits bemerkt,  ans  jahrelangen  Untersuchungen 
hervorgegangen  sind  und  als  außerdem  auch  die 
befolgte  Experimentalmethode  die  Ergebnisse 
als  weit  sicherer  ergründet  und  concludenter  er- 
scheinen läßt  als  die  der  vorangehenden  Arbei- 
ten. Ehe  die  uns  vorliegende  Schrift,  ein  Se- 
paratabdruck aus  dem  29sten  Bande  der  Trans- 
actions of  the  Royal  Society  of  Edinburgh,  in 
ihrer  gegenwärtigen  Form  erscheinen  konnte, 
haben  in  den  Jahren  1875,  1877,  1878  und  1879 
detaillierte  Veröffentlichungen  der  bezüglichen 
Versuche  in  den  Spalten  des  Brit.  med.  Journ. 
uns  ein  ausreichendes  Bild  von  der  Thätigkeit 
und  Unverdrossenheit  des  Verfassers  geliefert. 
Wenn  man  bedenkt,  daß  jeder  Versuch  eine 
Beobachtungsdauer  von  6—9  Std.  erforderte, 
wird  man  begreifen,  daß  es  kaum  für  einen  Ein- 
zelnen möglich  gewesen  wäre,  die  Arbeit  zum 
Abschlüsse  zu  bringen,  welche,  wie  bemerkt, 
das  ganze  Heer  der  Purganzen  und  Drastica, 
die  Cholagoga  der  Eklektiker  und  eine  große 
Anzahl  anderer  Medicamente  in  ihrer  Action  auf 
die  Lebensthätigkeit  behandelt.  Nur  durch  selbst- 
lose Hingebung  an  seine  Aufgabe  konnte  Ru- 
therford dahin  gelangen,  für  die  medicinische 
Lehre  der  Gholagoge  die  wissenschaftliche  Grund- 
lage zu  schaffen  und  für  die  rationelle  Behand- 
lung bestimmter  Leberaffectionen  mittelst  ge- 
wisser Arzneimittel  eine  Richtschnur  aufzustellen. 
Die  werthvollen  praktischen  Errungenschaften 
dieser  Arbeit,  welche  der  kranken  Menschheit 
zu  Gute  kommen,  lassen  dieselbe  als  besonders 
geeignet  erscheinen,  um  den  in  der  neuesten  Zeit 
ja  auch  bei  uns  herangebrochenen  Streit  über 
die  Zulässigkeit  der  Vivisectionen  zu  beleuchten. 


Batherford,  Physiological  actions  of  drugs  etc.  1215 

Allerdings  haben  Rutherford's  Experimente,  da  sie 
die  Anwendung  des  Chloroforms  ausschlössen ,  welches 
selbst  auf  die  Leberthätigkeit  influiert  und  deshalb  den 
Einfluß  des  zu  prüfenden  Cholagogums  in  jedem  einzelnen 
Y ersuche  modificiert  hätte,  einer  großen  Zahl  von  Hun- 
den betrachtliche  Schmerzen  gemacht.  Bedenkt  man  je- 
doch, daß  die  Resultate  der  Arbeit  geeignet  sind,  für  die 
Zukunft  weit  betrachtlicheres  Leiden  nicht  nur  beim 
Menschen,  sondern  auch  bei  Hunden  und  anderen  Thieren 
zu  erleichtern,  so  ist  in  der  That  durch  die  von  Ruther- 
ford  ausgeführten  Vi visectionen  unendlich  mehr  Schmerz 
erspart  als  gemacht  worden.  Es  mag  gestattet  sein,  zu 
bemerken,  daß  Rutherford's  Arbeiten  in  eine  Zeit  fie- 
len, wo  in  England  die  Agitation  der  Antivivisectionisten 
die  höchsten  Wogen  schlug,  welche  in  der  That  die  Fort- 
führung des  wahrhaft  wissenschaftlichen  Werks  zu  hin- 
dern und  das  ganze  Gebäude  zu  zerschellen  drohten,  wenn 
nicht  die  energische  Haltung  der  Rrit.  med.  Association 
dem  wohlgemeinten,  aber  unverständigen  Treiben  ein 
Quos  ego  entgegengerufen  hätte.  Die  letztgenannte  Cor« 
poration  hat  übrigens  das  Werk  auch  noch  in  anderer 
Weise  erheblich  gefördert,  indem  das  Scientific  Grants 
Committee  der  Brit.  med.  Association  zur  Deckung  der 
höchst  beträchtlichen  Kosten  des  Versuchsmaterials  200 
Pfd.  St.  als  Beisteuer  bewilligte. 

Was  die  Experimentalmethode  in  der  vorliegenden 
Untersuchung  anlangt,  so  hat  Rutherford  von  jenen 
älteren  Verfahren  abstrahiert,  welches  sich  der  Hunde  mit 
permanenten  Gallenfisteln  bediente,  wie  dies  insbesondere 
von  Nasse,  Kölliker  und  Mueller,  Scott  und 
Ben  nett  mit  seinen  Mitarbeitern  geschehen  ist;  gewiß 
mit  Recht,  da  die  ungehinderte  Bewegung  des  Thiers  eine 
exacte  Aufsammlung  der  Galle  aus  der  Gallenfistel  un- 
möglich macht.  Rutherford's  Methode  schließt  sich 
an  diejenige  von  Roh  rig,  welcher  in  seinen  Versnoben 
von  1873  sich  zuerst  der  temporären  Gallenfisteln  bei 
curanisierten  und  fastenden  Hunden  bediente ;  doch  wurde 
statt  der  von  dem  deutschen  Experimentator  ausgeführten 
Schätzung  der  Schnelligkeit  der  Gallensecretion  durch 
Zählung  der  Secunden,  welche  zwischen  dem  Falle  der 
einzelnen  Tropfen  aus  der  eingeführten  Canüle  verstrichen, 
die  Bestimmung  der  Gesammtmenge  der  in  einer  gege- 
benen Zeiteinheit  ausfließenden  Galle  angewendet,  theils 
wegen  des  in  der  That  zeitraubenden  und  ermüdenden 
Charakters  jener  Bestimmungsweise,    theils  wegen  eines 


1216      Gott.  gel.  Adz.  1880.  Stück  38. 

derselben  anhaftenden  Fehlers,  indem  die  Viscositat  des 
Secrete  einen  wesentlichen  Einfluß  auf  die  Zeit  hat,  in 
welcher  ein  einzelner  Tropfen  ausfließt.  Dieser  Fehler 
dürfte  mannigfache  Verschiedenheiten  erklären,  welche 
zwischen  den  Ergebnissen  der  Röhr  ig 'sehen  und  Ba- 
th er  ford' sehen  Studien,  z.  B.  in  Bezug  auf  Crotonöl 
und  Magnesia  sulfurica,  zu  Tage  treten. 

Wie  die  Pharmakologie  und  Therapie  dem  schotti- 
schen Forscher  für  seine  mühsamen  und  umsichtigen  Sta- 
dien zu  Dank  verpflichtet  ist,  haben  wir  in  einer  größe- 
ren Anzahl  von  Thatsachen  ausführlich  dargethan.  .Wir 
wissen  jetzt  mit  Bestimmtheit,  daß  es  Stoffe  giebt,  welche 
erregend  auf  die  Leberfunction  wirken,  ohne  gleichzeitig 
die  Secretion  der  Darmdrüsen  überhaupt  oder  in  hervor- 
ragender Weise  zu  erregen.  Zu  dieser  Gruppe  gehören 
Ipecacuanha,  Natriumbenzoat,  Ammoniumbenzoat,  Na- 
triumsalicylat,  Ammoniumphosphat  und  verdünnte  Aqua 
regia.  Bei  anderen  fällt  eine  stimulierende  Einwirkung 
auf  die  Leber  mit  einer  solchen  auf  die  Darmdrüsen  zu- 
sammen. So  bei  Iridin,  Evonymin,  Podophyllum  Phyto- 
lacca, Baptisin,  Hydrastin,  Juglandin,  Septandrin,  San- 
guinarin,  Colchicum,  Rhabarber,  Aloe,  Coloquinten,  Ja- 
lappe,  Natriumphosphat,  Natriumsulfat,  Kaliumsulfat,  Tar- 
tarus natronatus  und  Quecksilbersublimat.  Die  letztge- 
nannte Reihe,  welche  Rutherford  mit  der  enteren  als 
hepatic  stimulants  zusammenfaßt,  bildet  einen  Gegensatz 
zu  den  meisten  Abführmitteln,  welche,  wie  Magnesium- 
sulfat, Mangansulfat,  Ricinusöl,  Gutti  und  Calomel,  auf 
die  Darmdrüsensecretion  erregend,  dagegen  auf  die  Gallen- 
secretion  herabsetzend  wirken,  welche  letztere  Action  von 
nichtabführenden  Stoffen  bisher  nur  bei  Plumbum  acetd- 
cum  coDstatiert  wurde.  Die  einzelnen  Hepatioa  Stimu- 
lantia bieten  in  dem  Grade  ihrer  Wirksamkeit  und  in 
ihrem  Verhalten  gegen  andere  Organe  so  mannigfache 
Verschiedenheiten,  daß  dem  Arzte  die  Auswahl  des  fur 
den  einzelnen  Fall  passenden  Stoffes  nicht  schwer  fallen 
dürfte.  Jedenfalls  bilden  die  Resultate  der  Ruther- 
ford'sehen  Untersuchung  eine  Aufforderung  für  den 
Praktiker,  einzelne  weniger  bekannte  Mittel  bei  biliösen 
Zuständen,  vielleicht  auch  bei  Gicht  und  Dysenterie,  zu 
versuchen.  Th.  Husemann. 

Für  die  Redaction  Yerantwortlich :  JE,  Behniach,  Director  d.  Gott.  gel.  Aas. 

Commissions -Verlag  der  DieteiicK sehen   Verlags-  Buchhandlung. 

Druck  der  Dieterich sehen  Univ.- Buchdruckerei  (W.  fr.  Kaestner). 


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1217 


6  öttingis  che 

gelehrte    Anzeigen 

unter  der  Aufsicht 
der  Königl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften« 

Stück  39.  29.  September  1880. 


Inhalt :  Acta  Joannis  bearb.  t.  Tb.  Zahn.  Von  Th.  Zahn.  — 
Drei  Weltkarten  zur  Veranschaulichg.  der  Linien  gleicher  magnet. 
Variation,  Inclination  n.  Horizontal-Intensit&t  herausgeg.  y.  d.  Deut- 
schen Seewarte.  Von  Fr.  HimsUdt  —  R.  Tigeratedt,  Studien 
über  mechan.  Nervenreizung.  1.  Abth.    Von  Th.  Husematm. 

ss  Eigenmächtiger  Abdruck  von  Artikeln  der  Gott.  gel.  Anz.  verboten  s 


Acta  Joannis  unter  Benutzung  von  C. 
v.  Tischendorfs  Nachlaß  bearbeitet  von  Tb. 
Zahn,  Dr.  u.  o.  Prof.  d.  Theol.  in  Erlangen. 
Erlangen,  Verlag  von  ADeichert.  1880.  CLXXII. 
263  SS.    8°. 

Es  wäre  dem  Unterzeichneten  lieber  und  der 
Sache  in  manchem  Betracht  gewiß  dienlicher  ge- 
wesen, wenn  die  Acta  Joannis  in  diesen  Blättern 
durch  Dr.  0.  v.  Gebhardt,  welcher  darum  gebe- 
ten war  und  bereits  zugesagt  hatte,  einer  ein- 
gehenden Besprechung  unterzogen  worden  wären, 
anstatt  daß  nun  der  Herausgeber  selbst  seine 
Arbeit  anzeigt.  Der  freundlichen  Aufforderung 
zu  diesem  Tausch  wollte  ich  mich  jedoch  nicht 
entziehen,  weil  sich  dadurch  ungezwungen  und 
bald  eine  Gelegenheit  bietet,  über  neues  Material 
zu  berichten,  welches   erst  einige  Wochen  nach 

77 


1218       Gott  gel.  Anz.  1880.  Stück  39. 

dem  Erscheinen  vorliegender  Ausgabe  in  meine 
Hände  gekommen  ist. 

Von  den  beiden  Legenden,  deren  Text  hier 
dargeboten  und  nach  Form  nnd  Inhalt  in  der 
Einleitung  ausführlich   erörtert  ist,    kann    die 
erste,  vollständig  erhaltene,  als  deren  Verfasser 
sich  Prochorus  (AG.  6,  5),  ein  angeblicher  Schü- 
ler  des  Apostels  Johannes  einführt,  weder  als 
Zusammenstellung  alter  Ueberlieferungen,  noch 
als  Dichtung  und  kulturgeschichtliches  Denkmal 
ihrer  Entstehungszeit  einen  bedeutenden  Anspruch 
erheben.    Die  Meinung,  durch  welche  Thilo  und 
wahrscheinlich  auch  Tischendorf  zur  Sammlung 
bedeutender  Materialien  für  eine  Ausgabe  des 
Prochorus  sich  bestimmen  ließen,  daß  in  diesem 
sehr  ausführlichen  Buch  die  meisten  älteren  Tra- 
ditionen  über  Johannes   verarbeitet  seien,   hat 
sich  bei  der  Vergleichung  mit  den  bei  den  Kir- 
chenvätern  zerstreuten  Angaben  und  mit   den 
Fragmenten  der  älteren  Johannesacten  durchaus 
nicht  bestätigt.    In  bewußtem  Gegensatz  zu  den 
bis  dahin  allein  verbreiteten  Johannesacten,  de- 
ren  heterodoxe  Theologie   nicht   Jeder  mit  in 
den   Kauf  nehmen    mochte,    hat    „Prochorus" 
frühstens   gegen  Ende  des  5.  Jahrhunderts  sei- 
nen Roman   gedichtet;   und  er  hat  sich  zwar 
nicht  über  den  Geschmack  seines  eigenen  nnd 
der  folgenden  Jahrhunderte,  aber  gar  sehr  über 
sein  dichterisches  Vermögen   getäuscht.     Trotz- 
dem erschien  die  Verwerthung  der  von  Tischen- 
dorf Unterlassenen  Abschriften  und  Collationen, 
welche  dem    Herausgeber    anvertraut  wurden, 
deren  Ergänzung   durch   eigene  Forschung  nnd 
der  Versuch  einer  ersten  vollständigen  Ausgabe 
schon   darum   geboten,  weil  sonst  die  im   ge- 
schichtlichen Interesse  sehr  nothwendige  Unter- 


j 


Acta  Joannis,  bearb.  v.  Zahn.        1219 

»Hebung  der  Johanneslegende  auf  vielen  Punk- 
ten durch  ein  unbekanntes  Gespenst  gestört  zu 
werden  drohte;  denn  die  nach  einer  einzigen 
lückenhaften  Hs.  gedruckte  Editio  princeps  des 
M.  Neander  (1567)  war  auch  denjenigen,  welche 
sich  bisher  mit  der  Sache  befaßt  haben,  dem 
größten  Theil  ihres  Inhalts  nach  unbekannt, 
weil  man  sich  durch  einen  verstümmelten  Nach- 
druck des  J.  Grynaeus  (1569)  irreführen  ließ; 
und  der  während  der  Vorbereitungen  zu  gegen- 
wärtiger Ausgabe  erschienene  Druck  desAmphi- 
lochius  (1879)  ist  kaum  als  lesbar  zu  bezeich- 
nen. Anforderungen  freilich,  wie  sie  der  an  die 
Behandlung  classischer  oder  gelehrter  kirchli- 
cher Literatur  Gewöhnte  und  mit  der  Art  der 
handschriftlichen  Ueberlieferung  legendarischer 
Texte  nicht  Vertraute  stellen  möchte,  wird  kein 
Herausgeber  auf  diesem  Gebiet  genügen  können, 
zumal  nicht  der  Erste,  welcher  eine  große  Zahl 
der  vorhandenen  Hss.  eines  im  Mittelalter  so 
oft  abgeschriebenen  Buchs,  wie  das  des  Procho- 
rus, kritisch  zu  verarbeiten  versucht.  Das  Ur- 
theil  darüber,  ob  es  im  vorliegenden  Fall  ge- 
lungen ist,  einen  glaubwürdigen  Text  herzu- 
stellen, wird  vor  allem  davon  abhängen,  ob  die 
Annahme  einer  durch  systematische  Interpolation 
.entstandenen  Recension  (B),  welche  in  dencodd. 
Mosqu.  162  und  Coislin.  306  am  reinsten  er- 
halten ist,  und  die  Bevorzugung  der  von  dieser 
Recension  unberührten,  in  sich  freilich  wieder 
sehr  mannigfach  entarteten  Tradition  als  richtig 
anerkannt  wird.  Für  Letzteres  war  nächst  der 
inneren  Kritik  des  Stils  und  der  Materien  der 
Umstand  maßgebend,  daß  alle  Uebersetzungen, 
soweit  sich  der  Herausgeber  Kenntnis  von  den- 
selben verschaffen  konnte,  gegen  die  Recension 
B   stimmen,  die   lateinische,   die  koptische,  die 

77* 


1220      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  39. 

altslavische  and,  wie  es  scheint,  auch  die  arme- 
nische ;  denn  diese  enthält  eine  bei  keinem  Zeu- 
gen der  Recension  B  vorkommende,  aber  außer- 
halb derselben  ziemlich  stark  verbreitete  Inter- 
polation über  die  Abfassung  der  Apokalypse. 
Nur  die  lateinische  Version  konnte  durchweg 
verglichen  werden  und  erwies  sich  trotz  ihrer 
Verwilderung  als  ein  sehr  brauchbares  Hülfs- 
mittel.  Sie  würde  in  ganz  anderem  Maße  ver- 
wertet worden  sein,  wenn  der  Herausgeber 
nicht  ausschließlich  auf  den  zuerst  1577  erschie- 
nenen und  zuletzt  in  der  Maxima  Bibl.  V.  P. 
(1677)  II,  1,  46  sqq.  wiederholten  Text  derselben 
angewiesen  gewesen  wäre.  Erst  kürzlich  ge- 
lang es  mir,  auf  antiquarischem  Wege  um  einen 
Spottpreis  eine  lateinische  Hs.  zu  erwerben, 
welche  den  gedruckten  Text  in  einem  ganz 
neuen  Lichte  zeigt.  Es  ist  eine  saubere  Papierhs. 
in  Folio.  Unter  dem  ersten  Tractat  steht  foL 
55  v. :  Explicit  fratris  franconis  liber  de  Gratia 
scriptus  manu  fratris  hujus  domus  Johannis  Em- 

brice  anno  tricesimo  nemo  sup  XV0.  ultima  fe- 
bruarij*).  Im  selben  Jahre  1539  am  Tag  der 
sieben  Brüder  hat  derselbe  Bruder  Johannes  zu 
Emmerich  am  Niederrhein  mit  ähnlichen  Worten 
sein  Explicit  unter  den  zweiten  und  letzten  Theil 
des  Bandes  (fol.  98  v.)  geschrieben.  Auf  den 
Tractat  Franco's  folgt  fol.  56  r. — 90  r.  der  la- 
teinische Prochorus.  Die  erste  Beobachtung, 
welche  sich  bei  der  Vergleichung  mit  dem  ge- 

*)  Der  Schreiber  ist  wahrscheinlich  ein  Genosse  des 
1467  gegründeten  Hauses  der  Brüder  des  gemeinsamen 
Lebens  zum  h.  Gregor  in  Emmerich,  s.WassenbergiEm- 
brica.  Glivis  1667  p.  63.  165  sqq.  Der  Tractat  des 
Franco  ist  in  der  Max.  Biblioth.  Pair.  XXI,  293-327 
gedruckt. 


Acta  Joannis,  bearb.  v.  Zahn.        1221 

druckten  Texte  aufdrängte,  war  die,  daß  kaum 
eine  Zeile  genau  übereinstimmend  lautet;  die 
zweite,  daß  es  sieb  am  zwei  verschiedene  Re- 
censionen  einer  and  derselben  Uebersetzang  han- 
delt; die  dritte,  daß  der  gedruckte  Text,  den 
ich  im  Folgenden  nach  der  Maxima  Bibl.  citiere 
und  durch  B  bezeichne,  eine  abscheuliche  Um- 
arbeitung und  Verstümmelung  der  im  Cod.  Em- 
brieensis  (=  E)  natürlich  nicht  fehlerlos,  aber 
doch  leidlich  gut  erhaltenen  ursprünglichen 
Uebersetzung  ist  Für  den  zweiten  Satz  ist 
schon  der  Umstand  beweisend,  daß  in  E  ganz 
dieselbe  ausführliche  Episode  über  die  Romfahrt 
des  Johannes,  wie  in  B  p.  52  sq. ,  sich  findet, 
welche  nicht  aus  einem  griechischen  Prochorus- 
text geflossen,  sondern  vom  Uebersetzer  aus 
einer  ganz  andersartigen  lateinischen  Legende 
herübergenommen  ist  (s.  meine  Einl.  XVII— XIX). 
Sonderbarste  Uebertragungen  wie  tv%V  ^oleoag 
durch  murus  (ttfgog)  civitatis  B  p.  50  e,  iv  ®oq$ 
tij  note*  durch  in  foro  civitatis  B  p.  62  b ,  von 
aller  griechischer  Tradition  abweichende  Na- 
mensformen wie  Prodiana  =  I7QoxX*avtj  B  p. 
64  e  theilt  E  mit  B.  Ebenso  wie  die  gemein- 
same Herkunft  beider  Texte  aus  einer  und  der- 
selben Uebersetzung  liegt  aber  auch  am  Tage, 
daß  E  im  Vergleich  mit  B  durchweg  die  ur- 
sprünglichere Gestalt  darstellt.  Seine  Abwei- 
chungen von  B  sind  größtenteils  Ueberein- 
stimmungen  mit  dem  griechischen  Text.  Hier 
findet  man  an  der  in  der  Einleitung  p.  XX  n.  2 
besprochenen  Stelle  übereinstimmend  mit  dem 
griech.  Text  scriniarius  Seleucus  nomine,  ebenso 
die  echten  Namensformen  Bomana  (B  Romeca), 
Domnus  (B  Theon),  Epycurus  (B  Epidaurus), 
Mareon  (B  Marnon).  Wo  in  B  die  Namen  nicht 
nur  verändert  oder  wie  B  p.  54  b   verstümmelt 


1222      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stock  39. 

sind,  sondern  gänzlich   fehlen  (B  p.  54  f.  Fora 
oder  Flora,  p.  58  d  Proclu  topos,  p.  60  c  Lithu 
hole,  p.  63  f.  Myrinusa  und  Ehox,  p.  65  c  Ma- 
uritius, p.  66  e  Katastasis  oder  Katapausis),  hat 
E  überall  mehr  oder  weniger  genaue  Aequiva- 
lente  des  Originals.    Wenn  in  diesen  Fällen  die 
Abweichung  des  gedruckten  Textes  wahrschein- 
lich daraus  zu  erklären  ist,  daß  die  dem  Druck 
zu   Grunde   liegende  Hs.   schlecht   geschrieben 
oder  doch  für  den  Herausgeber  schwer  zu  lesen 
war,   worunter   dann  begreiflicher  Weise   mehr 
als  alles  Andere  die  phantastischen  Person-  und 
Ortsnamen  des  Prochorus   zu  leiden  hatten,  so 
ist  im   übrigen   die  vom   griech.  Text   so   viel 
weiter  abweichende   Recension  B  nur   als   das 
Ergebnis   einer  durchgreifenden  und  muthwilli- 
gen  stilistischen  Umarbeitung  der  älteren  Ver- 
sion zu  begreifen.    Der  Bearbeiter  fand   es  gut 
statt  der  dem  Original  (m.  Ausg.  p.  3,  1)   ent- 
sprechenden Uebersetzung :  Factum  est  .  .  .  con- 
gregati  sunt  zu  schreiben :  Factum  est  atrfem . . . 
ut  congregarentur.     Oder   statt:    Omnes  scimus 
quoä  hijs  sortitus  es  in  locis  et  non  potes   exire 
de  hoc  civitate  (cf.  m.  Ausg.  p.  5, 10)  Folgendes : 
Scimus  omnes,   haec  loca  tuae  dispensationi  esse 
commissa  et  non  licere  ab  Hierosolyma  disceäere. 
Mannigfaltiges  hat  B  oft  vereinfacht,  Charakte- 
ristisches verwischt,  Sonderbares  beseitigt  und 
im  ganzen  mehr  gekürzt  als  erweitert.    Anstatt 
der  genauen  Angabe  über  die  Zusammensetzung 
der  militärischen  Begleitung  des  Johannes  (m. 
Ausg.  p.  47,  9),  welche  in  E  nicht  gerade  rich- 
tig, aber  nicht  minder  umständlich  reproduciert 
ist,  hat  B  p.  53  b:    et  fuerunt  ad  nos  tenendum 
missi  nttmero  centum.    Das  dort  zuerst  und  dann 
sehr  oft  vorkommende   nqotixtoqeq  (protectores) 
hatte   der  Uebersetzer   sonderbar  genug   durch 


I 


J.J 


Acta  Joannis,  bearb.  v.  Zahn.         1223 


j :    procurators  wiedergegeben  and  den  damit  wech- 
selnden  Ausdruck   ßaaihnot   gewöhnlich   durch 
'<■    mmcii  regales,  einmal  auch  durch  reguli.    Wäh- 
rend nun  B  meistens  diese  höheren  Militärs  mit 
ihren  Untergebenen  in  dem  farblosen  milites  zu- 
sammenfaßt, hat    er  einmal  p.  53  c  doch  auch 
procwratores.     Der  Name   Domitianus,  welcher 
im  griechischen  Prochorus  gar  nicht  vorkommt, 
findet  sich  auch  in  E  nicht  außerhalb  der  schon 
erwähnten  größeren  Interpolation  und  einer  noch 
zu  erwähnenden,  welche  aus  derselben  lateini- 
schen Quelle  stammt;   B  dagegen  hat  ihn  von 
dort    auch  in   die  dem  griechischen  Text  ent- 
sprechenden Theile  wiederholt    eingetragen   p. 
54  a,  55  b,  66  b.     Wenn   es  schon  bisher  nicht 
zweifelhaft  sein  konnte  (s.  m.  Einl.  Lsq.),  daß 
der    Ausfall  eines  Berichts  über   den  Tod   des 
Apostels  der  lateinischen  Version  nicht  von  jeher 
eigen  gewesen  sei,  so  wird  das  jetzt  durch  E  in 
erwünschter  Weise   bestätigt.     Hier  folgt  näm- 
lich auf  die  Worte,  welche  den  Schluß  des  ge- 
druckten Textes  bilden,   zunächst  die  wie  eine 
Kapitelüberschrift  geschriebene  Angabe  De  dru- 
siana  et  filio  vidue  suscitato  et  de  veneno  quod 
libit  ac  latronibus  ab  eo  suscitatis  ac  mültisaliis 
quaere  in  sequenti  tractatu  sc.  Mileto  etc.   Nach- 
dem hiermit  auf  das  von  fol.  90  r.  an  folgende 
Buch  des   sogenannten  Mellitus   von  Laodicea 
(hier  AßZ^o_  geschrieben)  hingewiesen  ist,  folgt 

De  m&rte  sei  johannis  cap.  XLII1.  Mansimus 
apud  ephestm  etc.  und  am  Schluß  dieses  Kapi- 
tels Explicit  traetatus  prochori  diseipuli  sei 
johannis  de  gestis  eiusdem.  Dieses  Schlußkapitel 
enthält  alles  für  den  Schluß  des  griechischen 
Prochorus  Charakteristische,  nämlich:  die  chro- 
nologischen Angaben   zur  Biographie    des   Jo- 


1224      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  39. 

hannes,  die  Siebenzahl  der  Schüler,  die  ihn  zum 
Grabe  geleiten,  die  kreuzförmige  Gestalt  des 
Grabes,  den  Befehl  an  Prochorus,  nach  Jerusa- 
lem zurückzukehren,  die  allmählige  Bedeckung 
des  im  Grabe  liegenden  Apostels  mit  Erde 
u.  8.  w  Daneben  finden  sich  nun  aber  auch 
zwei  Züge,  welche  dem  griechischen  Prochorus 
fremd  sind  und  dagegen  in  der  bei  Abdias  und 
Mellitus  in  verschiedener  Gestalt  erhaltenen  la- 
teinischen Legende  sich  finden.  Johannes  be- 
giebt  sich  nämlich  von  einer  domus  dei  hinaus; 
und  es  heißt  dann:  venimus  in  locum  quendam, 
in  quo  loco  destructo  templo  dyane  edificata  et 
consecrata  fuerat  ecclesia  in  eius  honore  et  no- 
mine. Vgl.  m.  Einl.  p.  CXIIIsq.  Ferner  liest 
man  gegen  den  Schluß :  et  cum  perfodissemus  in 
loco  ülo  non  invenimus  corpus  eius  sed  tantutn 
manna,  quod  nunc  usque  hodie  saturire  non  de- 
sinit  Gf.  m.  Ausg.  p.  252  Text  u.  Anm.  Zu 
dieser  lateinischen  Quelle  war  der  lat  Procho- 
rus schon  mit  den  letzten  Worten  des  gedruck- 
ten Textes:  benedidus  qui  venu  in  nomine  do- 
mini  übergegangen  (vgl.  Einl.  XVII).  Ob  nun 
das  in  E  folgende,  nur  registrierte,  auch  in  die 
Kapitelzählung  nicht  aufgenommene  Stück  von 
Drusiana  u.  s.  w.  schon  vom  Uebersetzer  hier 
in  den  Prochorustext  eingeschaltet  war,  und  ob 
überhaupt  E  in  Allem,  was  er  über  B  Hinaus- 
gehendes und  nicht  aus  dem  griechischen  Pro- 
chorus Stammendes  enthält,  ein  treuer  Zeuge 
des  ursprünglichen  lateinischen  Prochorus  ist? 
Das  scheint  nicht  bezweifelt  werden  zu  können 
in  Bezug  auf  das  letzte  Kapitel  des  gedruckten 
Textes,  wo  durch  Abkürzung  und  stilistische 
Aenderung  Widersprüche  entstanden  sind,  welche 
in  dem  vollständigen  Text  von  E  sich  nicht 
finden.    Es  wäre  von  Wichtigkeit  in  Bezug  auf 


r 


Acta  Joannis,  bearb.  v.  Zabn.        1225 


den  Bericht  über  die  Abfassung  des  johannei- 
schen  Evangeliums,  wo  E  statt  der  Worte :  tunc 
Joannes  misertus  eorum  dixit:  filioli  mei  (B  p. 
66 d)  Folgendes  bietet:  tunc  beatus  Johannes  ip- 
sorum  misertus  est  propter  lachrimas  quas  fuder 
rant  coram  ipso  et  propter  supplicationes  plurir 
morum  episcoporum  et  legationes  aliorum  dixit  ad 
eos:  filioli  mei.  Vgl.  m.  Einl.  p.  CXXVIIsqq. 
Doch  wird  sich  über  Dies  und  Anderes  sicher 
erst  dann  urtheilen  lassen,  wenn  noch  andere 
Hss.  des  lat.  Prochorus  verglichen  sind.  Hrn. 
v.  Gebbardt  verdanke  ich  den  Nachweis  einer 
solchen  des  XIII.  saec.  (Catal.  de  la  bibl.  royale 
des  Dues  de  Bourgogne  I,  198)  und  einer  an- 
dern des  XV.  saec.  (Biblioth.  de  Puniversiti  de 
Lifege.  Catal.  des  mss.  1875  p.  128).  Die  letz- 
tere jedenfalls  enthält  den  in  B  fehlenden  Schluß ; 
denn  nach  der  Inhaltsangabe  erstreckt  sich  die 
Erzählung  der  Thaten  des  Johannes  usque  ad 
dormitionem  ipsius.  Ohne  weitere  Bedeutung 
scheint  die  Bearbeitung  des  lateinischen  Procho- 
rus durch  den  Karthäuser  Petrus  Dorlandus 
(f  1507)  zu  sein,  welche  sich  zu  Douai  befindet 
(Catal.  g6n6ral  des  mss.  des  bibl.  des  d£parte- 
ments  T.  VI,  590). 

Auf  größeres  Interesse  als  die  Ausgabe  des 
Prochorus  dürfen  die  hier  gesammelten  Frag- 
mente der  Johannesacten  des  Leucius  Charinus 
rechnen.  Die  drei  ersten  waren  bereits  durch 
Thilo  (1847)  zusammengestellt.  Das  umfang- 
reichere Fr.  IV,  welches  hier  zum  ersten  Mal 
gedruckt  ist,  hat  darum  eine  über  seinen  eige- 
nen Inhalt  hinausreichende  Wichtigkeit,  weil  es 
eine  sichere  Handhabe  zur  Kritik  der  lateini- 
schen Bearbeitungen  der  leucianischen  Johannes- 
acten bietet.  Fr.  V  ist  nur  ein  in  kurzen  deut- 
schen Worten  gegebenes  Register  der  Materien, 


1226      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  39. 

welche  im  lateinischen  Leucius  die  Lücke  zwi- 
schen Fr.  IV  und  VI  ausgefüllt  haben.    Fr.  VI 
ist  eine    neue  Ausgabe   des  zweiten  Theils  der 
von  Tischendorf  herausgegebenen  Uq&Iiq  yIa>dv- 
vov  (Acta  apocr.  p.  272—276),  dessen  Text  mit 
Hülfe  der  syrischen  und  der  armenischen  Ueber- 
setzung  und  unter  steter  Berücksichtigung  der 
lateinischen    Bearbeitungen   ganz   neu  zu    con- 
struieren   war.     Bei  den  Untersuchungen   über 
diese   Trümmer   der    ältesten   Johanneslegende 
war  es  unvermeidlich,  auch  auf  die  anderen  apo- 
kryphischen  Apostelgeschichten,  wenigstens  vor- 
übergehend einzugehn;  aber  unthunlich  war  es 
andrerseits,    bei   dieser   Gelegenheit    eine    alle 
angeblich  leucianischen  Apostelgeschichten  um- 
fassende Untersuchung  vollständig  vorzutragen. 
Vergleichsweise  einfach  liegt  die  Sache  bei  den 
Thomasacten,  verwickelter  bei  den  Andreasacten. 
Vollends  weit  von  dem  vorliegenden  Gegenstand 
würde    eine    erschöpfende    Beantwortung    der 
Frage  abgeführt  haben,  ob  irgend  welche  Petrus- 
acten  gleichen  Stammes  mit  den  Acten  des  Jo- 
hannes, des  Thomas  und  des  Andreas  seien.   Daß 
es  leucianische  oder  überhaupt  gnostische  Petrus- 
acten  im  Unterschied  von  katholischen  gegeben 
habe,  bezweifle  ich.     Die  Untersuchungen  von 
Lipsius  über  die  Quellen  der  römischen  Petrus- 
sage  (1872)   erleichtern   es  nicht   gerade,    den 
wirklichen   Sachverhalt   zu  erkennen  und  klar- 
zulegen, und  mit  dem  Nachweis  von  Fehlern  im 
Fundament  wie  in  der  Ausführung  der  Unter- 
suchungen  eines   Anderen   wäre  wenig   gethan 
gewesen.     Es   wird  vor  allem  erforderlich  sein, 
daß  die  von  Tischendorf  aus  einem  auf  Patmos 
befindlichen  Codex  des  IX.  saec.  schon  früher 
excerpierten  (Acta  apocr.  p.XXsq.),  später  voll- 
ständig   abgeschriebenen    (Anecdota    sacra    et 


Acta  Joannis,  bearb.  v.  Zahn.        1227 

prof.  p.  239)  Acten  des  Petrus  und  Acten  des 
Paulus  an's  Licht  gezogen  werden.  Tischen- 
dorfs Gopie  ist  bis  jetzt  vergeblich  unter  seinen 
nachgelassen  Papieren  gesucht  worden. 

Auch  für  die  leucianischen  Johannesacten  ist 
mein  Embricensis  nicht  ohne  Bedeutung  ver- 
gnüge dessen,  was  er  hinter  dem  Prochorus  auf 
fol.  90  r.— 98  v.  giebt  mit  der  Ueberschrift 
Item  alia  historia  de  eodem  und  der  Unter- 
schrift Explicit  historia  sancti  johannis  evange- 
listae  descripta  etc.  Diese  als  einheitlicher  Trac- 
tat  eingeführte  und  in  12  Kapitel  getheilte  hi- 
storia enthält  in  c.  1 — 9  den  sogenannten  Mel- 
litus, darauf  als  c.  10  einen  meines  Wissens 
noch  nicht  gedruckten  und  auch  nicht  druckens- 
werthen  kurzen  Tractat  mit  dem  Titel  Quod 
admonente  sancto  petro  in  gaUiam  discipulos  mir 
sit.  Die  Hauptsache  darin  ist  ein  Zahn  des 
Johannes ,  welchen  sein  Schüler  Patiens  nach 
Metz  gebracht  haben  soll.  Darauf  folgt  als 
c.  11  das  den  Johannes  betreffende  Kapitel  aus 
dem  sogen.  Isidor  (De  vita  et  obitu  utriusque 
test  sanctorum)  ohne  Ueberschrift  und  Quellen- 
angabe, und  ebenso  als  c.  12  aus  Bufin-Euse- 
bius  (h.  e.  HI,  23)  die  Erzählung  über  den  un- 
ter die  Bäuber  gerathenen  Jüngling.  In  solcher 
Zusammenstellung  legendarischer  Stücke  mit  dem 
Buch  des  Mellitus  und  Zusammenfassung  dersel- 
ben unter  gemeinsamem  Titel  und  fortlaufender 
Kapitelzählung  erkennt  man  die  Vorstufe  zu 
solchen  förmlichen  Compilationen,  wie  ich  sie 
in  der  Einl.  p.  XVIII  sq.  zu  besprechen  hatte. 
Der  Text  des  Mellitus  selbst  in  E  unterscheidet 
sich  bedeutsam  und  theilweise  recht  vorteilhaft 
von  den  mir  zugänglichen  gedruckten  Texten, 
dem  des  Florentiniuli,  welchen  Fabricius- wieder- 
holt hat  (M1)  und  demjenigen  in  der  Biblioth. 


1228      Gott  gel.  Anz.  1880.  Stück  39. 

Casin.  II,  2  (M*).  Die  zahlreichen  kleineren 
Lücken  in  M1  sind  in  E  wesentlich  ebenso  wie 
in  M2  ausgefüllt  nnd  z.  B.  die  zu  Acta  Joa.  p. 
236,  7  notierte,  durch  Abspringen  von  einem 
venumdantes  zum  anderen  veranlaßte  Verwirrung 
in  M1  ist  hier  vermieden.  Es  enthält  ferner  E 
die  größeren  in  M2  fehlenden  Stücke,  z.  B. 
Alles  was  bei  Fabricius  cod.  pseudep.  N.  T.  III, 
611 — 613  von  denique  narravit  bis  poenas  pas- 
suri  perpetuus  zu  lesen  ist.  Dagegen  fehlt  in 
E  ebenso  wie  in  M1  die  große  Einschaltung  in 
Bibl.  Cas.  II,  2,  67  b.  68  a    und  die  kleinere  1. 

1.  p.  71b.   Vgl.  m.Einl.  p.  XVII  sq.  CXXXII  n. 

2.  Wichtiger  dürfte  sein,  daß  E  vom  Anfang 
der  Abschiedsrede  des  Johannes  an,  von  wel- 
cher M1  und  M2  (Fabric.  Ill,  621  sq.  Bibl. 
Casin.  II,  2,  72)  nur  den  Anfang  geben,  viel 
ausführlicher  ist  und  ziemlich  genau  mit  Abdias 
(Fabric.  II,  582-590)  übereinstimmt.  Diese  Ge- 
stalt der  Erzählung  wird  auch  im  Mellitus  die 
ursprüngliche  sein,  denn  es  ist  unwahrschein- 
lich, daß  ein  Legendenschreiber,  welcher  als 
sein  Hauptthema  den  Lebensausgang  des  Apo- 
stels hingestellt  hat,  über  diesen  so  kurz  im 
Vergleich  mit  dem  Vorangehenden  sollte  hinweg- 
gegangen sein,  wie  nach  M1  M2.  In  der  Le- 
gendenliteratur zeigt  sich  ebenso  häufig  die 
Neigung  zu  gewaltsamer  Abkürzung  als  zu  will- 
kürlicher Erweiterung.  Besonders  die  nicht 
zum  Verständnis  der  Handlung  unerläßlichen 
Reden  haben  oft  wie  auch  in  diesem  Fall  unter 
jener  Neigung  zu  leiden  gehabt.  Eine  mecha- 
nische Compilation  aus  Mellitus  und  Abdias 
liegt  jedenfalls  in  E  nicht  vor ;  denn  statt  der 
aus  dem  lateinischen  Leucius  stammenden  und 
von  Abdias  unverändert  gelassenen  Sätze  in  er- 
ster Person   (Fabric.   Ill,    589:   qui  interfuimus 


Acta  Joannis,  bearb.  v.  Zahn.        1229 

etc.)  heißt  es  in  E:  alii  gaudebant,  alii  flebant; 
gaudebant  quia  tantam  cernebant  gloriam;  do- 
lebawt,  quia  tanti  viri  aspectu  et  praesenti  specie 
defraudabantw.  Diese  Umbildung  des  bei  Ab- 
dias  unverändert  gebliebenen  Textes  des  lat. 
Leucius  entspricht  dem  Verfahren  des  Mellitus 
überhaupt,  welcher  nirgendwo  vergessen  hat, 
daß  er  sich  in  der  Vorrede  von  dem  Augen- 
zeugen Leucius,  dessen  Bericht  er  in  gereinig- 
ter Gestalt  reproducieren  will,  scharf  unterschie- 
den hat. 

Schließlich  sei  es  gestattet,  die  Aufmerksam- 
keit der  für  die  Johanneslegende  interessierten 
Leser  auf  die  gestrenge  Kritik  hinzuweisen, 
welche  Hr.  M.  Bonnet  in  der  Revue  critique 
(1880  No.  23)  meinen  Acta  Joannis  hat  ange- 
deihen  lassen.  Dem  Herausgeber  noch  niemals 
kritisch  bearbeiteter  und  zum  Theil  noch  nie 
gedruckter  Texte  wird  nicht  gerade  häufig  das 
Glück  zu  Theil  werden,  sofort  nach  dem  Er- 
scheinen seiner  Arbeit  von  einem  Gelehrten  be- 
urtheilt  zu  werden,  welcher  seit  mehreren  Jah- 
ren mit  den  Vorbereitungen  zu  einer  eigenen 
Ausgabe  ziemlich  derselben  Texte  beschäftigt 
ist.  Dies  Glück  würde  im  vorliegenden  Fall 
reiner  empfunden  worden  sein,  wenn  Hr.  Bonnet 
seinen  Unmuth  darüber,  daß  ich  ihm  mit  meiner 
Arbeit  zuvorgekommen  bin,  noch  etwas  mehr 
überwunden  und  sich  nicht  so  sehr  angestrengt 
hätte  zu  beweisen,  daß  auch  nach  meiner  Ar- 
beit für  die  seinige  noch  Raum  sei.  Vermuth- 
lich  wird  auch  durch  diese,  wenn  sie  erscheint, 
das  Ziel  der  Vollkommenheit  noch  nicht  erreicht 
sein.  Das  Druckfehlerverzeichniß  am  Schluß  des 
Bandes  könnte  ich  heute  schon  beträchtlich  ver- 
mehren. Auch  haben  sich  bei  der  Uebertragung 
der  Texte  aus  den  ersten  Copien  und  Collatio- 


1230       Gott.  gel.  Am.  1880.  Stück  39. 

nen  in  das  für  die  Druckerei  bestimmte  Mam- 
script  einige  Schreibfehler  eingeschlichen.  Da- 
hin gehört  das  (pavsloa  (statt  imtpavelq)  p.  231,1, 
welches  Hr.  Bonnet  besonders  scharf  hervorge- 
hoben zu  haben  scheint,  um  seinen  Lesern  zu 
beweisen,  daß  ich  öq>$$  oder,  wie  es  drei  Zeilen 
später  heißt,  o  <><p*g  für  ein  Femininum  halte. 
Doch  müßte  ich  auch  einige  Worte  in  diesem 
Fragmente  VI  p.  225 — 234  von  vornherein*  un- 
richtig gelesen  oder  copiert  haben,  wenn  Hr. 
Bonnet,  welcher  in  der  beneidenswerthen  Lage 
gewesen  ist,  die  betreffende  Hs.  drei  Monate 
lang  zur  Hand  zu  haben,  und  welcher  jeden- 
falls mehr  Uebung  im  Abschreiben  griechischer 
Texte  besitzt,  wie  ich,  überall  richtig  gelesen 
und  copiert  hat,  was  ich  jetzt  nicht  entscheiden 
kann.  Th.  Zahn. 


Drei  Weltkarten  zur  Veranschau- 
lichung der  Linien  gleicher  magneti- 
scher Variation  (Declination),  Incli- 
nation und  Horizontal-Intensität  nach 
Gauß'schen  Einheiten  für  1880 . 0.  Herausgege- 
ben von  der  deutschen  Seewarte,  Abtheilung  II. 
Verlag  von  L.  Friedrichson  u.  Comp.    Hamburg. 

Den  oben  genannten  Karten  ist  von  der  deut- 
schen Seewarte  in  den  Annalen  der  Hydrogra- 
phie und  maritimen  Meteorologie,  1880  Heft  VII 
ein  Begleitschreiben  beigegeben,  aus  welchem 
ersichtlich,  daß  dieselben  ausgearbeitet  sind: 
„einmal,  um  den  in  der  Neuzeit  ausgeführten 
Beobachtungen,  bei  welchen  die  Reduction  ai|f 
die  Normalstände  thunlichst   zur  Durchführung 


Weltkarten  cL  magnetischen  Variation  etc.    1231 

gekommen  ist,  und  den  Einzelaufnahmen  einen 
größeren  Einfloß  bei  der  Darstellung  zu  sichern, 
sodann  aber  auch,  und  zwar  in  erster  Linie  um 
den  Bedürfhissen   der  Navigation  Rechnung  zu 
tragen  .  .  ."     Die   große   Wichtigkeit   genauer 
und  zuverlässiger  Karten  der  magnetischen  Ab- 
weichungslinien fttr  die  Schiffahrt  liegt  wohl  für 
Jedermann  auf  der  Hand,  eine  genauere  Beur- 
theilung  der  Karten  in  dieser  Richtung  entzieht 
sich  jedoch  dem  Schreiber  dieses  ganz  und  gar, 
und   soll   hier   lediglich   der  Versuch   gemacht 
werden,   die  Hauptabweichungen  der  vorliegen- 
den Karten  von   den  Gauß-Weber'schen  hervor- 
zuheben. 

In  der  Vorrede  zu  dem  diese  Karten  enthal- 
tenden Atlas  des  Erdmagnetismus,  dessen  Er- 
scheinen vor  jetzt  40  Jahren  eine  höchst  wich- 
tige Epoche  in  der  Geschichte  des  Erdmagnetis- 
mus bezeichnet,  oder  richtiger  gesagt,  diese  Ge- 
schichte erst  beginnt,  schreibt  Weber:  „Aehn- 
liche  Bestimmungen  (wie  jene  dem  Atlas  zu 
Grunde  liegende  Rechnungen)  werden  in  der 
Folge  wiederholt  werden"  .  .  .  und  „der  gegen- 
wärtige Atlas  eröffnet  also  die  Reihe  von  Atlas- 
sen, welche  in  angemessenen  Zwischenzeiten  er- 
scheinen sollen,  um  von  nun  an  die  Grunddata 
der  Geschichte  des  Erdmagnetismus  vollständig 
und  übersichtlich  vor  Augen  zu  legen tt.  —  Es 
ist  bekannt,  daß  Gauß  und  Weber  sich  später 
anderen  Arbeiten  zugewendet  haben  und  die 
„Resultate  aus  den  Beobachtungen  des  magne- 
tischen Vereins  zu  Göttingen"  längst  aufgehört 
haben,  zu  erscheinen.  Es  darf  deshalb  als  ein 
für  die  Wissenschaft  in  hohem  Grade  wichtiges 
Ereigniß  bezeichnet  werden,  daß  die  deutsche 
Seewarte  sich  der  ebenso  schwierigen  als  mühe- 
vollen Aufgabe  unterzogen   bat,   das  reichliche 


1232      Gott,  gel.  Anz.  1880.  Stück  39. 

Material,  welches  in  neuerer  Zeit  die  zahlreichen 
Beobachtungsstationen  und  wissenschaftlichen 
Expeditionen  aller  Nationen  geliefert  haben,  zu 
sammeln,  zu  sichten  und  in  der  anschaulichen 
Form  von  Karten  niederzulegen.  Für  die 
Zwecke  der  Navigation  wird  diese  Form  nicht 
nur  ausreichen,  sondern  wahrscheinlich  auch  die 
einzig  wttnschenswerthe  sein,  für  rein  theore- 
tische Betrachtungen  glaube  ich,  würde  es  sehr 
angenehm  sein,  daneben  eine  Zusammenstellung 
der  für  die  Festlegung  der  Curven  maßgebend 
gewesenen  Zahlen  zu  haben,  wie  eine- solche 
auch  dem  Gauß-Weber'schen  Atlas  angefügt  ist 
Bei  der  Zeichnung  der  Curven  ist  das  ohne 
Zweifel  einzig  richtige  Princip  befolgt,  nirgends 
den  durch  locale  Verhältnisse  bedingten  Aus- 
biegungen Ausdruck  zu  geben,  darum  erscheinen 
mir  aber  auch  für  die  Beurtheilung  der  Ent- 
stehung dieser  Linienzüge  jene  grundlegenden 
Zahlen  wtinschenswerth. 

Die  zur  Einzeichnung  der  Curven  benutzten 
Weltkarten  sind  nach  der  Mercatofcs-Projection 
entworfen  und  zwar  mit  den  Gränzen  80°  n.  B. 
und  68°  s.  B.,  wie  a.  a.  0.  angegeben  aus  Bück- 
sicht auf  ihre  Bestimmung  für  die  Schiffahrt 
Aus  gleichem  Grunde,  um  ihren  practischen  Ge- 
brauch ohne  Zirkel  zu  ermöglichen,  ist  die 
Gradeintheilung  von  je  2  zu  2  Graden  fort- 
schreitend, gewählt,  ein  Umstand,  der  gewiß  bei 
der  Entnahme  von  Einzelwerthen  eine  große 
Bequemlichkeit  gewährt,  der  aber  auch  dem 
einen  oder  anderen  Beschauer  wegen  der  sehr 
großen  Anzahl  von  eingezeichneten  Linien  leicht 
die  Uebersicht  der  Curvenzüge  erschweren  kann. 
Für  die  Vergleichung  der  vorliegenden  Karten 
mit  den  Gauß-Weber'schen  mag  noch  bemerkt 
werden,    daß    letztere    zwischen    den   Breiten 


r 


Weltkarten  d.  magnetischen  Variation  etc.    1233 

70°  s.  Br.  70°  n.  Br.  gezeichnet  sind  und  des- 
halb die  Vergleichung  sich  nur  auf  das  Gebiet 
von  68°  s.  B.  bis  70°  n.  B.  erstrecken  kann. 
Der  Character  der  Curvenzüge  in  zwei  entspre- 
chenden Karten  ist  bei  allen  3  Paaren  vollstän- 
dig derselbe,  so  daß  schon  dem  oberflächlichsten 
Blicke  sie  sich  als  gleichartig  zu  erkennen 
geben. 

Die  Declinations-Karten. 
Die  Karte  der  Seewarte  stellt  die  isogoni- 
schen  Linien  dar,  welche  den  um  je  einen  Grad 
fortschreitenden  Declinationen  entsprechen.  Das 
Gebiet  westlicher  Declination  zerfallt  auf  beiden 
Karten  in  2  getrennte  Flächen.  Die  größere 
von  diesen  erstreckt  sich  der  Breite  nach  über 
die  ganzen  Karten  von  70°  n.  B.  bis  68°  s.  B. 
und  wird  im  Osten  und  Westen  begränzt  von 
einer  Linie  verschwindender  Declination.  Den 
Verlauf  dieser  Linien  charakterisieren  im  we- 
sentlichen die  folgenden  Zahlen: 


Breite 

Längen 

Längen 

Ostgränze 

Westgränze. 

Weber     Seewarte 

Weber    Seewarte 

70°  n. 

45°  ö.        30°  ö.- 

96°  w.      98°  w. 

10°  s. 

88°  ö.      88,5°  ö. 

47°  w.      51°  w. 

20°  s. 

121°  ö.    116,5°  ö. 

43°  w.      49°  w. 

40°  s. 

134°  ö.       130°  ö. 

33°  w.      42°  w. 

Das  Gebiet  hat  sich  also  in  der  Weise  geän- 
dert, daß  südlich  vom  Aequator  bis  zum  40ten 
Breitengrade  die  ganze  Fläche  ein  wenig  nach 
Westen  verschoben  ist,  nördlich  vom  Aequator 
aber  die  Westgränze  nahezu  unverändert  ge- 
blieben, während  die  Ostgränze  nicht  unbedeu- 
tend weiter  westlich  gerückt  ist,  so  daß  die 
Halbinsel  Kola,  die  Küstenländer  des  weißen 
Meeres  und  die  südlich  hiervon  gelegenen  Län- 

78 


1234      Gott  gel.  Adz.  1880.  Stück  39. 

derstrecken  Rußlands  bis  zur  Nordwestküste  des 
caspischen  Meeres  von  dem  Gebiete  westl.  Decl. 
zu   dem   östl.  übergegangen  sind.    In  dem  In- 
nern dieses  Gebietes  westl.  Decl.  findet  sich  bei 
Weber  ein  Kreuzungspunkt  zweier  Linien  glei- 
cher Decl.  (22°  130  ™  13°  n.  B.  4°  ö.  L.     Von 
diesem   aus   wächst  der  Zahlenwerth  der  Decl. 
nach   N.N.W,   und  S.S.O.   und   nimmt  ab    nach 
W.S.W.  und  O.N.O.    Ein  ähnlicher. Punkt  findet 
sich  auf  der  Karte  der  Seewarte,  jedoch  gegen 
jenen  bedeutend   nach  Westen  verrückt,   ohnge- 
fähr   16°  n.  B.  24°  w.  L.    Die  Decl.  beträgt  c. 
19,3°.    Von  ihm  wächst  die  Decl.  nach  N.N.W. 
und   S.S.O.  in  derselben  Weise  wie   bei  Weber 
und  nimmt  auch  nach  W.S.W,  und  O.NO.  ab. 
Da  die  gleichmäßige  Abnahme  von  19,3°  bis  0° 
sich   aber  jetzt   in   der   Richtung  nach   O.N.O. 
über   ein  weit  größeres,   nach  W.S.W.  über  ein 
desgleichen   kleineres  Gebiet   ausbreitet,  so  lie- 
gen die  einzelnen  Curven  in  der  östl.  Hälfte  et- 
was weiter  von  einander,  in  der  kleineren  westl. 
Hälfte  etwas  enger  zusammen.     Aus    allen  Ab- 
weichungen zusammen   ergiebt   sich    dann   das 
nicht  zu  übersehende  Resultat,   daß  die  Werthe 
der  Declination   in   der  Osthälfte   des  oben  be- 
zeichneten Gebietes,  in  ganz  Europa  und  Afrika 
im  Durchschnitt  um  mindestens  5°  abgenommen 
haben,  in  der  Westhälfte  dagegen  eine  Zunahme 
von   nicht   ganz   derselben    Größe    aufzuweisen 
haben.     Die   Scheidelinie   bildet   auf  der  nörd- 
lichen Halbkugel  etwa  25°  w.  L.  auf  der  Süd- 
seite eine  Linie,  die  von  60°  s.  B.  50°  ö.  L.  nach 
einem  Punkte  des  Aequators  von  20°  w.  L.  führt. 
Einige   den  Karten    entnommene   Werthe    zur 
Illustration : 


Weltkarten  d.  magnetischen  Variation  etc.    1235 

Lange  Breite       Weber    Seewarte 

Petersburg    30°19'ö.  59°56'n.  6,8°  1,2° 

Göttingen       9°56'ö.  51°32'n.  20,5°  13° 

Neapel         14°16'ö.  40°52'n.  18,9°  10,7° 

Mozambique  40,5°  ö.  15°  s.  20,5°  13,5° 

New-York    74,2°  w.     40,6°  n.        2°  7° 

Pernambuco  34,9°  w.       8°  s.  6°        11,2° 

Das  zweite  kleinere  der  oben  erwähnten  Ge- 
biete westl.  Decl.  wird  auf  beiden  Karten  um- 
schlossen von  einer  Linie  verschwindender  Decl. 
die  in  sich  zurückkehrt  und  in  der  Projection 
ohngefähr  die  Gestalt  einer  Ellipse  besitzt ,  de- 
ren äußerste  Punkte  nach  Weber  im  Süden  und 
Norden  15°  n.  B.  130°  ö.  L.  und  63°  n.  B.  130° 
ö.  L.  im  Westen  und  Osten  45°  n.  B  112°  ö.L. 
und  45°  n.  B.  138°  ö.  L.;  auf  der  Karte  der 
See  warte  entsprechend:  1)  15°  n.  B.  130°  ö.  L. 
2)  69°  n.  B.  130°  ö.  L.  3)  48°  n.  B.  106°  ö.  L. 
4)   48°  n.  B.  151°  ö.  L. 

Außer  der  hierdurch  gekennzeichneten 
Vergrößerung  des  Gebietes  verdient  noch  be- 
merkt zu  werden,  daß  innerhalb  desselben  bei 
Weber  die  Werthe  der  Decl.  nach  der  Mitte  zu 
bis  zu  dem  Maximum  von  2,5°  wachsen,  nach 
den  Zeichnungen  der  Seewarte  aber  ein  weit 
schnelleres  Wachsen  bis  c.  8°  stattfindet. 

In  dem  übrig  bleibenden  Theile  der  Erd- 
oberfläche ist  die  Decl.  östlich.  Es  ist  ein  sehr 
bemerkenswerter  Umstand,  daß  die  Vergleichung 
der  beiden  Karten  hier  keine  den  vorigen  Ab- 
weichungen an  Größe  entsprechende  aufzufinden 
vermag.  Weber  giebt  einen  Punkt  15°  s.  B. 
140°  w.  L.  an,  in  welchem  die  östl.  Decl.  im 
Verhältniß.  zu  der  Umgebung  ein  Minimum  ist 
(5°  15').  In  der  Karte  der  See  warte  findet  sich 
der  entsprechende  Punkt  nördlicher,  ohngefähr 
145°  w.  L.   auf  dem  Aequator  und  der  Werth 

78* 


1236      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  39. 


der  Decl.  ist  etwas  kleiner,  dagegen  sind  die 
den  Punkt  umgebenden  Curven  von  Süden  und 
Norden  stärker  abgeplattet  als  bei  Weber,  so 
daß  der  Werth  der  Decl.,  abgesehen  von  der 
ganz  nächsten  Umgebung  auch  hier  nur  wenig 
Aenderung  zeigt.    Z.  B. : 


Länge 


Breite     Weber      Seewarte 


Samoa-L 

Tahiti 

Valparaiso 


9« 

—  8,6° 

5,8° 

—  7,3° 

13,8« 

—14,6° 

9« 

—  8,6« 

16,3° 

—16,5° 

12« 

—10° 

172°  w.     13°  s.  —  9°     — 

149°  w.     18°  s.  - 

72°  w.     33°  s.  - 

Galapagos-I.     90°  w.       1°  s.  —9°     — 

San  Francisco  122,5°  w.  37,8°  n.  - 

Sandwich-I.     155°  w.     20°  n.  - 

Das  negative  Zeichen  soll  die  Decl.  als  östlich 
kennzeichnen  im  Gegensatz  zu  der  durch  +  be- 
zeichneten westl. 

Die  Inclinationskarten. 

Die  Inclination  ändert  sich,  wie  hinlänglich 
durch  Beobachtungen  erwiesen  ist,  an  ein  und 
demselben  Orte  nur  sehr  wenig  mit  der  Zeit. 
Lamont's  Berichte  ergeben  für  München  für  die 
Zeit  vom  Jahre  1853  bis  1871  nur  eine  Aende- 
rung im  Ganzen  von  0°48'  und  es  ist  deshalb 
nicht  wohl  möglich,  aus  Karten,  in  denen  die 
Isoklinen  von  10°  zu  10°  fortschreitender  Incli- 
nationen  eingezeichnet  sind,  diese  Aenderung 
für  den  Zeitraum  von  40  Jahren  mit  Sicherheit 
festzustellen.  Die  Vergleichung  der  Karten  kann 
nur  in's  Größere  gehende  Abweichungen  fest- 
stellen, ist  aber  trotzdem  nicht  ohne  Interesse, 
indem  sie  damit  ein  Mittel  an  die  Hand  giebt, 
die  Sicherheit  des  den  Zeichnungen  zu  Grunde 
gelegten  Beobachtungsmaterials  zu  beurtheilen. 
Da  an  einem  Orte  die  allmählige  Aenderung 
der  Inclination  mit  der  Zeit  eine  große  Abwei- 


Weltkarten  d.  magnetischen  Variation  etc.    1237 

chnng  in  den  Linien  nicht  hervorbringen  kann, 
so  kann  das  Vorhandensein  einer  solchen  als 
Beweis  dafür  dienen,  daß  hier  die  den  verschie- 
denen Karten  zu  Grunde  liegenden  Beobachtun- 
gen stark  von  einander  abweichen,  diese  Ge- 
gend der  Karte  also  noch  mit  Unsicherheiten 
behaftet  ist,  während  andererseits  das  Fehlen 
bedeutender  Abweichungen  unser  Zutraun  in 
die  Zuverlässigkeit  der  Karten  bedeutend  er- 
höhen muß.  Das  letztere  ist  bei  den  hier  be- 
trachteten Karten  fast  auf  der  ganzen  Erdober- 
fläche der  Fall. 

Die  Linie  verschwindender  Incl.  theilt  die 
Erdoberfläche  nahezu  parallel  dem  Aequator 
verlaufend  in  2  Theile,  deren  nördlich  gelege- 
ner -f->  deren  südlicher  —  Incl.  besitzt,  d.  h. 
in  jenem  zeigt  der  Nordpol,  in  diesem  der  Süd- 
pol einer  Magnetnadel  nach  unten.  Die  ge- 
nannte Linie  durchschneidet  den  Aequator  bei 
Weber  in  zwei  nahezu  diametral  sich  gegenüber 
liegenden  Punkten  in  8°  ö.  L.  und  174°  w.  L., 
hat  ihre  stärksten  Abweichungen  von  demselben 
nach  Norden  50°  ö.  L.  14,5°  n.  B.,  nach  Süden 
in  40°  w.  L.  15,5°  s.  B.  Auf  der  Karte  der 
Seewarte  geht  dieselbe  Linie  bei  4,5°  w.  L.  und 
bei  164°  w.  L.  durch  den  Aequator  hindurch, 
weicht  nach  Norden  am  stärksten  ab  in  50° 
ö.  L.  11°  n.  B.  nach  Süden  in  40°  w.  L.  15,5° 
s.  B.  Mit  dieser  Linie  nahezu  parallel  laufen 
die  Isoklinen  von  ±  10°  20°  30°  auch  noch 
±  40°  auf  beiden  Seiten  in  ziemlich  gleichen 
Abständen  von  einander,  so  daß  hierdurch  eine 
beträchtliche  Abweichung  sich  ergiebt  für  den 
Theil  der  Erdoberfläche,  welcher  zu  beiden  Sei- 
ten des  Aequators  sich  bis  30°  n.  B.  und  30° 
s.  B.  erstreckt  und  im  Osten  und  Westen  bis 
90°  ö.  L.   und  20°  w.  L.  und  zwar   ist  in  der 


1238       Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stttck  39. 

größeren  östl.  Hälfte  dieses  Gebietes,  in  Hin- 
dustan, Persien,  Arabien  und  dem  Osten  von 
Afrika  mit  dem  betreffenden  Tbeile  des  indi- 
schen Oceans  nach  der  Seewarte  die  Inclination 
bedeutend  größer  (4° — 8°)  als  nach  Weber  (wo- 
bei der  Begriff  größer  für  negative  Incl.  mit 
Rücksicht  auf  das  Zeichen  zu  nehmen,  also 
—  23  >  —  30)  im  Westen  von  Afrika  und  dem 
angränzenden  Tbeile  des  atlantischen  Oceans 
hingegen  beträchtlich  kleiner.  Da  dies  die  ein- 
zigen bedeutenderen  Abweichungen  sind  und 
diese  in  Gegenden  fallen,  in  welchen  das  Be- 
obachtungsmaterial meist  neueren  Datums  ist, 
immerhin  aber  auch  noch  ein  spärliches,  so  wird 
man  einerseits  bei  der  umsichtigen  Benutzung 
des  Materials  seitens  der  Seewarte*)  wohl  in 
deren  Karte  den  der  Wirklichkeit  sich  besser 
anpassenden  Werth  zu  suchen  haben,  anderer- 
seits aber  doch  auch  diese  Werthe  noch  mit 
Vorsicht  aufnehmen  müssen.  Interessant  würde 
es  sein,  die  Beobachtungen  und  Rechnungen  zu 
kennen,  auf  Grund  welcher  diese  Abänderungen 
vorgenommen  sind. 

Zum  Schluß  mag  noch  bemerkt  werden,  daß 
für  Europa  die  Vergleichung  der  Karten  mit 
Sicherheit  erkennen  läßt,  daß  nach  ihnen  im 
Westen  die  Inclination  etwas  abgenommen,  im 
Osten  ebenso  zugenommen  hat.  Die  Scheide- 
linie bildet  ohngefähr  10°  ö.  L. 

Die  Karten  der  Horizontal-Intensität. 

In  der  Karte  der  Seewarte  ist  die  Horizon- 
tal-Intensität**) nach  absolutem  Maaße  gemessen 
und    differieren   die  durch  2  auf  einander  fol- 

*)  Vergl.   den  Aufsatz,   Ann.  d.  Hydrographie  1880 
Heft  VII. 

**)  Zur  Abkürzung  der  Buchstabe  H. 


Weltkarten  d.  magnetischen  Variation  etc.    1239 

gende  Curven  dargestellten  Werthe  um' 0,2  die- 
ser Einheiten.  Die  Webersche  Karte  mißt  die 
H  mit  einem  Maaße,  nach  welchem  die  ganze 
Intensität  in  London  im  Jahre  1834  1372  be- 
trug und  differieren  die  Werthe  der  auf  einan- 
der folgenden  Curven  um  100  dieser  Einheiten. 
Zur  Vergleichung  mit  der  erstgenannten  dient 
der  Reductionsfactor  0,0034941. 

Weber  verzeichnet  3  Punkte  mit  einem  Ma- 
ximum der  H  1)  1°  n.  B.  103°  w.  L.  2)  13° 
n.  B.  103°  ö.  L.  3)  23°  s.  B.  172°  w.  L.  mit 
den  Werthen  3,73,  3,67  und  3,47.  Von  diesen 
größten,  wie  man  sieht,  in  der  Nähe  des  Ae- 
quators  gelegenen  Werthen  nimmt  die  H  nach 
beiden  Polen  zu  ab. 

Auf  der  Karte  der  Seewarte  finden  sich  nur 
den  beiden  ersten  Maximumpunkten  entspre- 
chende und  zwar  liegen  beide  etwas  nördlicher. 
Dem  ersten  entsprechend  findet  sich  der  Werth 
4  in  10°  n.  B.  102°  w.  L.;  der  zweite,  ebenfalls 
mit  dem  Werthe  4  liegt  20°  n.  B.  85  ö.  L. 
Nach  dem  Südpol  zu  ist  dann  die  Abnahme  der 
Werthe  ohngefähr  dieselbe  wie  bei  Weber,  nach 
dem  Hordpol  auf  der  östlichen  Halbkugel  eine 
stärkere,  auf  der  westlichen  eine  etwas  schwä- 
chere, so  daß  man  etwa  ein  in  der  Richtung 
des  Aequators  laufendes  Band  von  20°  n.  B. 
bis  20°  s.  B.  zusammenfassen  kann,  in  welchem 
die  H  durchweg  größer  als  bei  Weber  ist;  der 
größte  Unterschied  beträgt  c.  0,45  Einheiten. 
Eine  namhafte  Lücke  findet  sich  zwischen  dem 
Aequator  und  20°  s.  B.  nach  Osten  und  Westen 
von  0°  und  90°  w.  L.  begränzt,  also  etwa  die 
Mitte  von  Süd-Amerika  und  den  westlich  davon 
gelegenen  Theil  des  atlantischen  Oceans  um- 
fassend, in  welchem  gerade  umgekehrt  die 
Werthe   der  Seewarte   kleiner   als    die  Weber's 


1240      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  39. 

sind.  Südlich  von  dem  beschriebenen  Bande 
giebt  die  Seewarte  mit  wenigen,  der  Größe 
nach  allerdings  bedeutenden  Abweichungen  klei- 
nere Werthe  als  Weber,  (größte  Differenz  0,64). 
Im  übrig  bleibenden  Norden  endlich  sind  die 
Werthe  auf  der  neuen  Karte  für  die  Osthälfte 
durchweg  kleiner,  für  die  Westhälfte  mit  weni- 
gen Ausnahmen  größer,  als  die  entsprechenden 
bei  Weber.  Der  größte  Unterschied  beträgt  hier 
0,24.  Im  Durchschnitte  sind  die  Abweichungen 
auf  der  südlichen  Halbkugel  erheblich  größer 
als  auf  der  nördlichen.  Werfen  wir  noch  be- 
sonders einen  Blick  auf  Europa,  so  zeigt  sieh 
der  lOte  Grad  östlicher  Länge,  derselbe,  der 
auch  in  der  Inclinationskarte  erwähnt  wurde, 
als  einer  Gränzscheide  zweier  Gebiete,  deren 
westlich  gelegenes  eine  Zunahme,  deren  östliches 
eine  Abnahme  zeigt.  Die  Zu-  und  Abnahme, 
beide  wachsen  mit  zunehmender  Entfernung  von 
der  mittleren  Scheidelinie.  Es  entspricht  sich 
hier  sehr  deutlich  ein  Wachsen  der  Inclination 
und  Abnehmen  der  H.  Im  Ganzen  zeigen  hier 
die  Karten  für  die  H  die  größte  Uebereinstim- 
mung  und  wie  aus  dem  Gesagten  hervorgeht,  in 
den  Abweichungen  eine  gewisse  Regelmäßigkeit, 
während  eine  solche  fast  in  keinem  anderen 
Theile  der  Erdoberfläche  zu  finden  ist.  Bedenkt 
man,  daß  gerade  hier  das  reichste  Beobachtungs- 
material vorliegt,  so  können  die  Unregelmäßig- 
keiten in  den  übrigen  Gebieten  wohl  zu  der 
Bemerkung  Veranlassung  geben,  daß  unsere 
Kenntniß  von  den  Veränderungen  der  H  eine 
noch  sehr  unsichere  ist. 

Es  läßt  sich  dies  den  Verhältnissen  entspre- 
chend auch  nicht  wohl  anders  erwarten.  Der 
Zeitraum  innerhalb  dessen  dieH  mit  zuverlässi- 
gen Instrumenten,  ja  überhaupt  nur,   gemessen 


Weltkarten  d.  magnetischen  Variation  etc.    1241 

wird,  ist  noch  ein  sehr  kurzer,  die  Zahl  der 
Beobachtungsstationen  nnd  Einzelbeobachtungen, 
so  sehr  sie  in  den  letzten  Jahren  auch  gewach- 
sen, im  Vergleich  mit  dem  ungeheuer  großen 
zu  erforschenden  Gebiete  doch  nur  eine  ver- 
schwindend kleine  und  endlich  sind  die  Verän- 
derungen der  H  so  kleine  Größen,  daß  zu  ihrer 
genauen  Feststellung  schon  eine  große  Reihe 
von  Beobachtungen  gehört.  Wir  dürfen  nicht 
erwarten,  schon  jetzt  aus  der  Vergleichung  nur 
zweier  Karten  das  Gesetzmäßige  dieser  Verän- 
derungen zu  erkennen;  nach  Jahrhunderten  wer- 
den die  vorliegenden  Karten  als  Anfangsglieder 
einer  langen  Reibe  ihren  Werth  bei  der  Auf- 
stellung allgemein  gültiger  Gesetze  des  Erd- 
magnetismus besitzen,  für  jetzt  besteht  der 
Hauptwerth  aller  drei  Karten,  abgesehen  von 
ihrem  practischen  Nutzen,  darin,  daß  sie  eine 
weitere  kräftige  Stütze  der  Gauß'schen  Theorie 
bilden  und  indem  sie  von  Neuem  veranschau- 
lichen, daß  der  zur  Erforschung  des  Erdmagne- 
tismus eingeschlagene  Weg  der  richtige  ist,  eine 
frische  Aufmunterung  enthalten  zum  eifrigen 
Weiterstreben. 

Die  deutsche  Seewarte  hat  sich  durch  die 
sorgfältige  Ausarbeitung  der  Karten  unzweifel- 
haft ein  großes  Verdienst  um  die  Theorie  des 
Erdmagnetismus  erworben  und  muß  es  beson- 
ders allen  den  eifrigen  Beobachtern  eine  große 
Genugthuung  sein,  ihre  mühevoll  gesammelten 
Daten  in  einem  Werke  von  bleibendem  Werthe 
in  unmittelbare  Beziehung  zu  dem  großen  Gan- 
zen gebracht  zu  sehen.  Indem  die  Seewarte 
auf  diese  Weise  durch  mühevolle  Arbeiten  den 
Einzelbeobachtungen  durch  ihr  Zusammenfügen 
eine  höhere  Bedeutung  verschafft  und  bei  der 
gewiß  berechtigten   Annahme,    daß   sie    bereit 


1242      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stttck  39. 

sein  wird,  sich  nach  Verlauf  eines  angemessenen 
Zeitraumes   derselben    Aufgabe   zu  unterziehen, 
erwirbt  sie,  glaube  ich,   auch  das  Recht,  bis  zu 
einem    gewissen    Grade   einen  Einfluß    auf  die 
Ausführung  von  Beobachtungen  geltend  zu  ma- 
chen  und   es   würde   gewiß    von   Erfolg:     sein, 
wenn   sie   unter  Hinweis   darauf,   daß    die   ein- 
zelne Beobachtung  auch  nur  als  einzelner  Bau- 
stein eine  Verwendung  finden  und  von  Nutzen 
sein   kann,   und    daß   die    Gleichmäßigkeit  des 
Materials  von  der  höchsten  Wichtigkeit  ist,  den 
Versuch  machen  wollte,  an    alle  Beobachtungs- 
stationen von  Neuem   die  Aufforderung  zu  rich- 
ten, die  seiner  Zeit  Gauß  auch  in  den  Berichten 
des   magnetischen   Vereins    ausgesprochen    hat, 
daß  in  Zukunft  auf  allen  Stationen  gleichmäßig 
in  regelmäßigen  Intervallen   an  fest  bestimmten 
Terminen  vollständige,  d.  h.  alle  drei  Elemente 
umfassende   Beobachtungen   angestellt    werden. 
Die   Keductionen   der   zu   verschiedenen  Zeiten 
angestellten  Beobachtungen  auf  einen  Zeitpunkt 
geben   allerdings    ein  Mittel  an  die  Hand,  uns 
annähernd  von  Zeitunterschieden  unabhängig  zu 
machen  und   ohne  sie  wird  auch  keine  Zusam- 
menstellung möglich  sein,    aber    abgesehen  von 
der  großen  hierzu  nöthigen  Arbeit  fehlt  es  auch 
diesen    Keductionen    noch    an    einer    sicheren 
Grundlage  und  können  auch  sie  eine  solche  nur 
durch   lang  fortgesetzte   gleichzeitige  Beobach- 
tungsreihen erhalten.     Die  Einzelbeobachtungen 
und  die  Aufnahmen  ganzer  Länderstrecken  sind 
für  die  Ausfeilung   der  Karten  von   größter  Be- 
deutung, das  höchste  und  vornehmste  immer  im 
Auge  zu  haltende   Ziel  bleibt  aber   die  Kennt- 
niß   der    erdmagnetischen  Verhältnisse   der  ge- 
sammten  Erdoberfläche  und  diese,  sowie  die  Pe- 
rioden in  den  Veränderungen   können   wir  nur 


Tigerstedt,  Studien  üb.  mech .  Nervenreizung.  1 243 

durch  unermüdlich  fortgesetzte  mit  Rücksicht  auf 
ihren  Zweck,  d.  h.  eben  in  regelmäßigen  Zeit- 
intervallen an  möglichst  gleichmäßig  über  die 
Erdoberfläche  vertheilten  gleichzeitig  angestell- 
ten Beobachtungen  kennen  lernen.  Nur  hier- 
durch dürfen  wir  eine  Befestigung  und  Erwei- 
terung der  Theorie  erwarten,  und  nur  von  einer 
festbegründeten  Theorie  werden  wir  Antwort 
auf  die  zahlreichen  noch  offenen  Fragen  erwar- 
ten dürfen. 

Freiburg  i.  B.  F.  Himstedt. 


Studien  über  mechanische  Nerven- 
reizung von  Robert  Tigerstedt.  Erste 
Abtheilung.  Mit  6  Tafeln.  Helsingfors,  Druckerei 
der  Finnischen  Litteratur  -  Gesellschaft.  1880. 
92  Seiten  in  groß  Quart. 

Die  in  der  vorliegenden,  dem  bekannten 
Professor  am  Carolinischen  Institute  in  Stock- 
holm, Gustaf  Retzius,  gewidmeten  Schrift 
dargestellten  Untersuchungen  basieren  auf  Ar- 
beiten, welche  im  Frühjahr  und  Herbst  des 
Jahres  1879  in  dem  von  Professor  K.  H  all- 
sten geleiteten  physiologischen  Institut  der 
Universität  Helsingfors  und  mit  Unterstützung 
der  Mittel  des  gedachten  Instituts  ausgeführt 
wurden.  Das  auf  Kosten  der  Finnischen  Ge- 
sellschaft der  Wissenschaft  herausgegebene  vor- 
züglich ausgestattete  und  reichlich  mit  Tafeln 
versehene  Buch  liefert  einen  interessanten  Bei- 
trag  zur   Lehre  der  sogenannten  Muskel-  und 


1244      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  39. 

Nervenirritabilität,  die  man  bisher  ausschließlich 
oder  doch  fast  ausschließlich  unter  Benutzung 
der  elektrischen  Ströme  als  Reiz  studierte.  Zur 
genaueren  Erkenntniß  ihres  Wesens  bietet  diese 
Art  der  Reizung  freilich  mannigfache  Schwie- 
rigkeiten und  Hindernisse,  zunächst  darin  be- 
stehend, daß,  um  die  Worte  Ludimar  Her- 
mann's zu  wiederholen,  der  elektrische  Reiz 
nicht  durch  eine  Stromdichte,  sondern  durch 
einen  Differentialquotienten  derselben  auszu- 
drücken ist,  dessen  Werth,  selbst  wenn  die 
Curve  der  Stromesschwankung  genau  bekannt 
wäre,  beständig  wechselt,  außer  wenn  diese 
Linie  gradlinig  ist.  Man  macht  hier  gewöhn- 
lich die  stillschweigende  Annahme,  daß  der  vor- 
zugsweise erregend  wirkende  steilste  Theil  der 
Curve  in  seiner  Neigung  nur  abhängt  von  den 
Ordinatenwerthen,  zwischen  denen  in  constant 
bleibender  Zeit  die  Schwankung  stattfindet,  so 
daß  also,  z.  B.  bei  uniformen  Schließungen  oder 
uniform  hervorgebrachten  Inductionsströmen,  die 
Steilheit  der  Stromstärke,  resp.  des  inducieren- 
den  Stroms,  proportional  ist.  Hierzu  kommt  in 
zweiter  Linie  die  durch  die  elektrischen  Reize 
auf  die  irritabelen  Gewebe  ausgeübte  chemische 
Wirkung,  deren  Stärke  und  Bedeutung  bisher 
völlig  unbekannt  sind,  die  aber  vielleicht  die 
verschiedenen  Erscheinungen  in  erheblicher 
Weise  beeinflussen.  Die  Anwendung  mechani- 
scher Reize  gestaltet  die  Verhältnisse  in  der 
That  weit  einfacher.  Die  Effecte  derselben  sind 
in  genauester  Weise  meßbar,  die  Stärke  der- 
selben ist  mit  Sicherheit  zu  modificieren,  es 
läßt  sich  mittelst  derselben  eine  circumscripte 
Stelle  des  Nerven  treffen  und  die  Erzeugung 
chemischer  Processe  fällt  weg.  So  schien  es  in 
der  That  geboten,  diese  Art  der  Reize    zu  ver- 


r 


Tigersted t,  Studien  üb.  mech.  Nervenreizung.  1245 

snchen,   und  um  die  Nerven-  nnd  Muskelphy- 
siologie unserer  Tage   zu   consolidieren  und  zu 
erweitern,  auf  ein   Verfahren   zurückzugreifen, 
welches  schon  in    elementarer  Weise   Hall  er 
und  Fontana  anwenden  und  dessen  sich  auch 
bei   ihren  neuro-  nnd  myop  by  Biologischen  Stu- 
dien Heidenhain   und  Dubois-Reymond 
intercurrent  bedienten.    Der  Fortschritt,  der  sich 
gegenüber  den  Untersuchungen  der  letzteren  in 
denen  von  Tigerstedt  bekundet,  liegt  inson- 
derheit  in  der  Benutzung  eines  in  der  Abhand- 
lung genau  beschriebenen  und  durch  Zeichnung 
erläuterten  Apparats,    der  es  erlaubt,  die  Inten- 
sität des  Reizes  approximativ  genau  zu  messen, 
und  innerhalb  weiter  Grenzen,  von  Null  bis  zum 
maximalen  Werthe   des  Reizes,  und  so  langsam 
man  will,   die  Reizstärke   zu   verändern,  ferner 
den  Nerv  ohne  Platzwechsel  an  jedem  beliebigen 
Punkte   seiner   Länge,  vom  Austritte   aus   dem 
Rückenmarkscanale    bis    zum   Eintritte    in   den 
Muskel   zu   reizen.     Der  Apparat  ist  ferner  so 
eingerichtet,   daß   das  den  Reiz  ausübende  fal- 
lende Gewicht  nur  möglichst  kurze  Zeit  auf  den 
Nerven   ruht,   um   nicht   länger  als  nöthig  auf 
diesen  zu  drücken,  und  daß  die  Möglichkeit  vor- 
handen ist,  dem  Nerv  gleichzeitig  einen  anderen 
Beiz  mit  dem  mechanischen  zuzuführen.    Dieser 
mit   den   gewöhnlichen   Instrumenten    zur    Auf- 
zeichnung von   Muskelbewegungen    verbundene 
Fallapparat  wird   sich    meines   Erachtens   bald 
Eingang    in  die  Laboratorien  verschaffen,  nicht 
nur,  um  verschiedene  von  Tigerstedt  bisher 
in  Folge  der  durch  das  Klima  des  Versuchsorts 
bedingten  Schwierigkeit ,  die  nöthige  Anzahl  Ver- 
suchstiere herbeizuschaffen,  nicht  in  Angriff  ge- 
nommenen   physiologischen    Fragen   zu   beant- 
worten,   sondern    auch   zur  Untersuchung  der 


1246       Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  39. 

Wirkung  gewisser  Gifte,  die  eine  hervorragende 
Action  auf  Nerven  und  Muskelreizbarkeit  besitzen. 

Tigerstedt's  eigene  mit  seinem  Apparate 
ausgeführte  Untersuchungen  betreffen  vorwaltend 
die  Ausdauer  des  Nerven,  die  Abhängigkeit  der 
Muskelzuckung  von  der  Intensität  des  mechani- 
schen Reizes  und  die  Irritabilität  eines  und  des- 
selben Nerven  an  verschiedenen  Stellen;  doch 
hat  derselbe,  von  den  hierauf  bezüglichen  Ver- 
suchsreihen abgesehen,  einzelne  orientierende 
Versuche  angestellt,  welche  die  Brauchbarkeit 
der  Methode  auch  für  andere  Fragen  der  Ner- 
venphysiologie  darlegen. 

Es  sei  uns  gestattet,  besonders  auf  das 
Schlußcapitel  hinzuweisen,  in  welchem  der  Ver- 
fasser das  quantitative  Verhältniß  zwischen 
dem  Beize  und  der  Arbeit  des  Muskels  aus- 
führlich erörtert,  ein  Capitel,  welches  ge- 
wissermaßen den  Glanzpunkt  der  Abhandlung 
bildet  und  vorzugsweise  den  Werth  der  Unter- 
suchungsmethode zu  schätzen  erlaubt,  indem 
erst  durch  diese  ein  bestimmter  experimenteller 
Anhalt  für  die  Beurtheilung  einer  höchst  wich- 
tigen, aber  auch  zugleich  intricatesten  Frage 
der  Nervenphysik  geliefert  wird.  Was  uns  die 
bisherige  Physiologie  darüber  bot,  waren  nur 
Hypothesen,  auf  Raisonnement  ohne  experimen- 
telle Basis  gegründet.  Die  meist  angenommene 
und  namentlich  von  Hermann  und  Heiden- 
heim ausgesprochene  Anschauung  geht  dahin, 
daß  die  bei  der  Muskelarbeit  auftretende  Kraft 
im  Muskel  selbst  ihre  Entstehung  hat  und  durch 
den  auf  den  Nerv  einwirkenden  Reiz  blos  aus- 
gelöst wird.  Diese  Auslösungstheorie  läßt  je- 
doch die  Frage  unerörtert,  wohin  die  bei  direc- 
ter  und  indirecter  Reizung  in  dem  Reize  zuge- 
führte   Kraft    gelangt,    in    welcher  Beziehung 


Tigerstedt,  Stadien  üb.  mech.  Nervenreizung.  1247 

nur  Bernstein  nnd  Hällstän  sich  ausspra- 
chen, and  zwar  dahin,  daß  die  lebendige  Kraft 
des  Reizes  in  der  Arbeit  des  Maskeis  wiederge- 
funden werde  and  somit  einen  Theil  derselben 
ausmache. 

Da     in     Tigerstedt's     Versuchen    die 
Werthe   des  mechanischen  Reizes  and  der  Ar- 
beit, welche  der  Maskel  bei  seiner  Contraction 
leistet,   mit   demselben  Maaße    gemessen   sind, 
läßt  sich,  unter  Berücksichtigung  der  Versuchs- 
ergebnisse  von  Fick  und  Harteneck   über 
die   Wärmeentwicklung   bei    Muskelarbeit,    ein 
Verhältniß  der  Kraft  des  Reizes  mit  der  Summe 
der  Kraft  bei  der  durch  dieselben  hervorgerufe- 
nen Muskelcontraction  berechnen.     Wenn   sich 
dadurch    ergiebt,  daß   einem    Reize    von   circa 
7500  Milligrammillimetern  Stärke  eine  Muskel- 
arbeit  von    530,000   Milligrammillimetern    ent- 
spricht,  so   wird   man  den  Satz   gerechtfertigt 
finden,  daß  jedenfalls  der  von  einem  einzelnen 
mechanischen  Reize  ausgelöste  Effect  mindestens 
70  Mal  so  stark  ist,  wie   die  Kraft  des  Irrita- 
ments.    Dies  ist  aber  nur  der  niedrigste  Werth, 
und  unter  anderen  Verhältnissen  ergiebt  sich  eine 
Proportion   von  1:100—320,  so  daß  die  Kraft 
des   Reizes  in  der  That  von   verschwindender 
Geringfügigkeit  der  Muskelarbeitsleistung  gegen- 
über ist  und  man  nicht  umhin  kann,  die  Quelle 
des  Functionszustandes  des  Muskels,  sowie  der 
hierbei    entwickelten   Arbeit    und   Wärme    als 
ganz  and  gar  im  Muskel  selbst  liegend  und  nur 
durch   die   im  Nerven   dem  Muskel  zugeleitete 
Reizung    ausgelöst    anzusehen.     Die    lebendige 
Kraft   des  Reizes   aber  wird  offenbar  zunächst 
zur  Aaslösungsarbeit  verwerthet,  denn  es  steht 
fest,    daß   letztere  zur  Stärke    des    Reizes  in 
einem  gewissen,  bisher  nicht  bestimmbaren  Ver- 


1248      Gott  gel.  Anz.  1880.  Stück  39. 

hältnisse  steht,  insofern  die  Auslösung  nicht  für 
eine  jede  Stärke  des  Reizes  sich  aufweist,  son- 
dern nur  bei  einem  gewissen  endlichen  Werthe 
desselben  beginnt,  daß  die  Stärke  der  Auslösung 
in  gewissem  Grade  von  der  Stärke  des  Seizes 
abhängt  und  für  einen  einzelnen  Beiz  eine  ge- 
wisse Grenze  nicht  übersteigt,  obschon  unter 
besonderen  Umständen  die  ausgelöste  Arbeit  be- 
deutend vergrößert  wird  (Tetanus).  In  Bezug 
auf  den  Functionszustand  im  Nervensystem  de- 
duciert  Tigerstedt  aus  seinen  Untersuchungen 
die  Bichtigkeit  der  von  Fechner  und  Hei- 
denhain zuerst  aufgestellten,  dann  von  Hall- 
st an  und  Wundt  ausführlich  begründeten 
Theorie,  daß  dieselbe  in  einer  Wellenbewegung 
bestehe. 

Nach  dem  Mitgetheilten  wird  die  gründ- 
liche., umsichtige  und  anregende  Studie  des 
finnländischen  Physiologen  gewiß  auf  eine  freund- 
liche Aufnahme  im  Kreise  der  deutschen  Fach- 
genossen rechnen  können.  Die  Schrift  zeigt, 
daß  Fonds  und  Bäume  des  Helsingforser  phy- 
siologischen Instituts,  über  welches  Hällst6n 
in  dem  Nordiskt  medicinsk  Arkiv  ausführliche 
Mittheilungen  machte,  in  zweckentsprechender 
und  für  die  Wissenschaft  Frucht  bringender 
Weise  Verwendung  finden.  Sie  ist  auch  eine 
Illustration  zu  der  immer  mehr  sich  Bahn  bre- 
chenden Benutzung  der  deutschen  Sprache  von 
außerdeutschen  Gelehrten  für  Veröffentlichungen, 
welche  ausschließlich  für  enge  wissenschaftliche 
Kreise  berechnet  sind. 

Theod.  Husemann. 


Für  die  Redaction  verantwortlich :  S.  Heimisch,  Director  d.  Gott.  gel.  An*. 

Commisgions- Verlag  der  Dieterich'schen  Verlags -BuchhatuUunff. 

Druck  der  Dieierich' sehen  Univ.- Buchdrucker*  (W.  Ft.  Itu&tncr). 


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..  -.-  -^ 


1249 

Göttingische 

gelehrte    Anzeigen 

anter  der  Aufsicht 

der  Königl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften« 

Stück  40.  6.  October  1880. 


Inhalt:  W.  Sartorius  ▼.  Waltershausen,  Der  Aetna; 
herausgeg.  etc.  von  A.  ▼.  Lasaulx.  Yon  B.  Roambuach.  —  M.  J  o  e  1 , 
Blicke  in  die  Religionsgeschichte  zn  Anfang  des  2.  christlichen  Jahr- 
hunderts. Von  G.  Siegfried.  —  0.  Lehmann,  Die  tachygraphischen 
Abkürzungen  der  griechischen  Handschriften.    Von  7.  Qardthausen. 

ss  Eigenmächtiger  Abdruck  von  Artikeln  der  Gott.  gel.  Anz.  verboten  s 


Der  Aetna.  Nach  den  Manuscripten  des 
verstorbenen  Dr.  Wo  1  f g a  n g  S  ar  t o  r  i u s  F r  ei- 
herrn  von  Waltershaasen  herausgegeben, 
selbständig  bearbeitet  and  vollendet  von  Dr. 
Arnold  von  Lasaalx.  —  Erster  Band:  Sar- 
torias'  Reisebeschreibung  aad  die  Geschichte  der 
Eruptionen.  Mit  dem  Bildniß  von  Sartorius, 
einer  Karte  in  Lichtdruck,  XIV  Kupfertafeln 
and  verschiedenen  Holzschnitten.  Leipzig,  Ver- 
lag von  Wilhelm  Engelmann.  1880.  X  and 
371  S.    4°. 

Mehr  denn  drei,  fast  vier  Jahre  nach  dem 
Tode  Sartorius'  von  Waltershaasen  erscheint  die- 
ser erste  Band  eines  Werkes,  an  dessen  Vorbe- 
reitung and  Ausführung  derselbe  vier  Decennien 
unermüdlicher  Arbeit,  liebevoller  Hingebung, 
opferreicher  Mühen  gewandt  hat,  anbeirrt  durch 

79 


1250      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stttck  40. 

Gefahr    und    maacbe     sehiei1    unüberwindliche 
Schwierigkeit  seinem  selbstgesteckten  Ziele  zu- 
strebend.   Niemand,  der  den  von  Sartorius'  von 
Waltershansen    eigener  Hand   verfaßten    Theil 
dieses  ersten  Bandes  durchliest,  wird  sich  dem 
Eindruck  entziehen  können»  einer  ungewöhnlich 
ideal  angelegten  Natur   nahe   getreten  zu  sein. 
Mit  bewegtem  Herzen,  wie  er  sie  schrieb*  wird 
man  die  folgenden  Worte  lesen :  „Nur  der  eine 
Gedanke,    mit    dem  Einsatz    meiner  Existenz 
meine   Lebensaufgabe    zu  erreichen,    hat  mir 
schließlich  über  alle  Hindernisse  hinweggeholfen, 
bis  es  mir  nach  langem  Ringen  vergönnt   wor- 
den ist,  mich  meinem  wissenschaftlichen  Ideale 
zu  nähern.    Jetzt  stehe  ich  dicht  vor  dem  Ziele 
meiner  Wünsche,  sowie  vor  dem  Rande  meines 
eigenen  Grabes,   und  ich  muß  es  als  eine  gün- 
stige Fügung,    als    eine    Gnade   des  Geschicks 
bezeichnen,  daß  die  von  jugendlicher  Begeiste- 
rung getragene  Arbeit  am  Abend  meines  Lebens 
einen   befriedigenden   Abschluß   gewonnen  hat. 
Es  ist  mir  jetzt,  als  ob  die  Träume  meiner  Kind- 
heit sich  verwirklicht  hätten ;  alle  Gefahren,  alle 
Sorgen,  die  mich  umringten,  und  so  manche  Wi* 
derwärtigkeiten,    die  mir  nicht  erspart  wurden, 
sind  in   die   Ferne  gerückt,   und   nur  dankbar 
kann  ich  auf  eine  Vergangenheit  zurückblicken, 
welche,  durch  die  Zeit  geklärt,  wie   auf  einem 
Nebelschleier    großartige    Bilder    und    theuere 
längst  dahin  geschwundene  Schatten  an  meiner 
Seele  vorüberziehen  läßtla  (pg.  4).  —  Das  Ziel 
selbst   zu   erreichen,   war  ihm   nicht   vergönnt. 
Einer  andern  Hand   war  es  vorbehalten,    das 
von  Sartorius  von  Waltershausen  handschriftlich 
hinterlassene  Material  zu  ordnen,  zu  sichten,  zu 
vervollständigen    und   zu    veröffentlichen.     Wir 
wünschen   und  sind  überzeugt,    daß   die  Pietät 


Sartori  us  Y.  Waltershausen,  Der  Aetna.  Bd.  I.  1251 

dbs  Jünger*  der  Gesdiäftsgewandtliete  de«  Li- 
quidators tre«  zur  Seite  bleiben  wird.  —  Die 
Stelle,  an  Welcher  diese  kurze  Besprechung  Platz 
findet,  wird  es  entschuldigen,  wenn  wir  darauf 
hinweisen,  daß  dureb  ein  eigenes  Schicksalsspiel 
die  Georgia  Augusta  in  demselben  Decennium 
zwei  Geologen  verlor,  denen  beiden  es  nicht  be- 
schieden war,  ihre  Lieblingswerke  zu  vollenden. 
Sartorius  von  Waltershausen  starb  kurz  vor 
Abschluß  seines  Aetnawerks,  Karl  von  Seebacb 
wurde  dahingerafft  im  Vollgenuß  der  wissen- 
schaftlichen Arbeitskraft.  Mögen  auch  seine 
Studien  über  die  mittelamerikanischen  Vulkane 
der  Geologie  nicht  verloren  gehen ! 

Der  Herausgeber  und  Bearbeiter  der  von 
Sartorius  von  Waltershausen  Unterlassenen,  auf 
sein  Aetnawerk  bezüglichen  Manuscripte,  Herr 
Prof.  Dr.  Arnold  von  Lasaulx  in  Kiel,  eröffnet 
nach  einem  kurzen,  den  Sartorius'schen  Plan  des 
Werks  und  die  eigenen  Aenderungen  desselben 
darlegenden  Vorwort  diesen  ersten  Band  mit 
einem  warmempfundenen  Nachruf  an  den  Ge- 
schiedenen. Die  Einflüsse,  die  auf  den  Knaben 
und  Jüngling  bestimmend  wirkten,  der  äußere 
Lebensgang,  die  literarische  Thätigkeit  Sarto- 
rius' vdn  Waltershausen  und  seine  Stellung  zum 
öffentlichen  Leben  werden  in  übersichtlicher  und 
geschickter  Weise  dargelegt.  Es  ist  nicht  leicht, 
den  wirklichen  Verdiensten  Sartorius*  von  Wal- 
tershausen gerecht  zu  werden;  —  ein  kaum 
Geschiedener  steht  er  doch  der  heutigen  Gene- 
ration von  Mineralogen  und  Geologen  überra- 
schend fern  und  es  ist  zu  fürchten ,  daß  selbst 
dieses  posthüme  Aetnawerk  ihn  den  Lebenden 
nicht  auf  die  Dauer  näher  rücken  wird.  Sollte 
es  da  nieht  vielleicht  am  Platze  gewesen  sein, 
in  dem    „Gedenkblatt"    des  Herausgebers  auch 

79* 


1252      Gott.  gel.  Aflz.  1880.  Stück  40. 

die  wissenschaftliche  Stellang  Sartorius'  von  Wal- 
tershansen in  die  rechte  Beleuchtung  zu  rücken? 
Nicht  der  Mangel  persönlicher  Tüchtigkeit  and 
nachhaltigen  Verdienstes,  nicht  die  verhältnis- 
mäßig vollständige  Abschließung  gegen  herr- 
schende Persönlichkeiten  und  Kreise  bedingt  es, 
daß  Sartorius  so  bald  nach  seinem  Tode,  ja  z. 
Th.  schon  während  seines  Lebens  in  den  Hinter- 
grund tritt  und  kaum  noch  lebendig  nachwirkt 
Er  hat  mit  Glück  eingegriffen  und  hat  nicht 
ohne  Erfolg  mitgearbeitet  in  Fragen,  die  noch 
heute  die  wissenschaftlichen  Kreise  bewegen, 
denen  er  angehörte;  er  hat  in  seinem  Aetna- 
Atlas  ein  Werk  von  hoher  wissenschaftlicher  Be- 
deutung hinterlassen.  Der  Grund  seiner  auffal- 
lenden Ablösung  von  der  mitlebenden  und  nach- 
folgenden Generation  ist  zunächst  darin  zu  su- 
chen, daß  ihn  sein  Geschick  an  einen  Wende- 
punkt in  der  Entwicklung  seiner  Wissenschaft 
stellte;  seiner  ganzen  Bildung  und  Beanlagung 
nach  gehörte  er  einer  endenden  Epoche  an  und 
vermochte  es  nicht,  sich  in  die  beginnende  ein- 
zuleben. ,  In  der  Zeit  seiner  eigenen  Entwicklung 
vollzog  sich  eine  Sonderung  seiner  Wissenschaft 
in  einzelne  Disciplinen,  deren  Bearbeitung  eine 
immer  mehr  sich  steigernde  Specialisierung  der 
Forscher  bedingte.  An  die  Stelle  der  Ausbildung 
auf  breiter  Basis  trat  die  strenge  Schulung,  die 
Beschränkung  des  eigenen  Forschungskreises. 
Nun  aber  war  Sartorius  von  Waltershausen  sei- 
ner ganzen  Natur  nach  nichts  weniger  als  Spe- 
cialist, seine  längeren  Abwesenheiten  aus  der  Hei- 
math thaten  wohl  das  ihrige,  ihm  einen  engeren 
Anschluß  an  die  eine  oder  die  andere  der  sich 
entwickelnden  Disciplinen  zu  erschweren.  Das 
Ziel,  dem  er  nachstrebte  —  engbegrenzt,  wie  es 
schien  —  verlangte  dennoch  eine  sich  nach  man- 


Sartorius  v.  Waltersbau  sen,  Der  Aetna.  Bd.  I.  1253 

chen  Richtungen  hin  zersplitternde  Thätigkeit.  So 
kam  es  denn,  daß  die  einzelnen  Zweige  der  mi- 
neralogischen Wissenschaft  sich  rascher  ent- 
wickelten, als  er  seihst;  trotz  seines  reichen 
Kenntnißschatzes  anf  dem  Gebiete  der  allgemei- 
nen Naturwissenschaften  und  der  Mathematik 
beherrschte  er  bald  keine  Einzelheit  mehr  in 
ihrem  ganzen  Umfange  und  sprach  demzufolge 
trotz  so  manchen  glücklichen  Griffes  (Feldspath- 
theorie,  vulkanische  Gesteinsbildung)  in  keiner 
Frage  mehr  das  entscheidende  Wort.  Das  er- 
klärt uns  auch,  wie  so  oft  bei  seinen  Arbeiten 
die  reale  Grundlage  und  die  Methode  der  Be- 
handlung in  einem  auffallenden  Widerspruch 
stehen,  so  z.  B.  wenn  er  die  Methode  der  klein- 
sten Quadrate  auf  die  Berechnung  ziemlich  man- 
gelhafter Silikatanalysen  anwendet  und  diese 
eigenthttmliche  Stellung  gegenüber  seiner  Wis- 
senschaft ist  auch  wohl  die  Ursache  geworden, 
daß  Sartorius  trotz  seiner  gewinnenden  liebens- 
würdigen Persönlichkeit,  seiner  hohen  Begabung 
und  seiner  Stellung  an  einer  Universität,  wie 
der  Georgia  Augusta,  so  wenige  Schüler  gebil- 
det hat. 

Da  der  Herausgeber  es  nicht  für  opportun 
gehalten  hat,  die  wissenschaftliche  Persönlich- 
keit des  Verfassers  in  seinem  Gedenkblatt  eines 
Weiteren  zu  entwickeln  und  in  ihrem  historischen 
Werden  zu  beleuchten,  so  sind  wir  demselben 
doppelt  dankbar,  daß  er  uns  in  dem  ersten 
Theile  dieses  Bandes,  dem  Bericht  über  die  Rei- 
sen Sartorius'  von  Waltershausen  in  den  Jahren 
1835—69  (p.  3 — 190\  der  mit  Ausnahme  redac- 
tioneller  Aenderungen  und  unbedeutender  Kür- 
zungen unverändert  mitgetheilt  wird,  einen  vol- 
len Einblick  in  die  Art  und  Weise,  das  Denken 
und  Empfinden  des  Verf.  gestattet.    Wenn  auch 


1254      Gfltt.  gel.  Adz.  1880.  Stück  40. 

die  wissenschaftliche  Ausbeute,  welche  dem  Le- 
ser dieses  Thciles  zufallt,  der  Natur  der  Saobe 
nach  keine  große  ist,  so  wird  ihm  dafür  reiche 
Entschädigung  in  den  vielfach  anregenden  und 
belehrenden  Schilderungen  von  Dingen  und 
Menschen.  Es  war  ein  für  einen  Privatmann 
überaus  kühnes  Unterfangen,  ohne  jegliche  geo- 
dätische Grundlage  an  die  geologische  Unter- 
suchung und  Kartierung  des  Aetna-Gebietes  mit 
über  30  QMeilen  Fläche  heranzutreten.  Mitbe- 
wundernswerther  Beharrlichkeit  hat  Sartorius  von 
Waltershausen  seine  Aufgabe  gelöst,  von  der 
Gradmessung  zwischen  Portillo  und  Gnrna,  N. 
von  Biposto  an  durch  die  topographische  Auf- 
nahme hindurch  bis  zur  geologischen  Special- 
karte des  Val  del  Bove  im  Maaßstab  1 :  15000, 
yon  welcher  er  nur  zwei  Sectionen  unvollendet 
zurückließ. 

Den  zweiten  Theil  dieses  ersten  Bandes  bil- 
det die  Geschichte  der  ätnäischen  Eruptionen, 
welche  Sartorius  von  Wpltershaüsen  (und  woW 
mit  gutem  Grunde)  an  das  Ende  das  ganzen 
Werkes  stellen  wollte.  Er  hatte  die  auf  diß  ein- 
zelnen Ausbrüche  bezüglichen  Quellen  im  Ori- 
ginaltext zusammengestellt ;  der  BerflusgeW  Hr. 
von  Lasaulx  giebt  statt  dessen  mehr  abgerundete 
Beschreibungen,  denen  die  historischen  Angaben 
in  deutscher  Uebersetzung  eingewoben  sind.  Ref. 
ist  der  Meinung,  daß  eine  Geschichte  der  fttn&i- 
schen  Eruptionen  nur  dann  einen  wirklichen, 
wissenschaftlichen  Werth  haben  kann,  wenn  sie 
sich  auf  eine  mit  philologischer  Sorgfalt  ange- 
stellte Kritik  der  Quellenangaben  '  stützte ;  lag 
diese  außerhalb  des  Planes,  dann  war  es  ent- 
schieden besser,  die  Quellentexte  im  Original 
möglichst  vollständig  mitzutheilen  und  dem  Le- 
ser die  kritische  Verwerthung  zu    überlassen. 


Sartoriusv.Waltershausen,  Der  Aetna.  Bd.  I.  1265 


der  theilweise  schwierigen  Zugänglichkeit 
der  älteren  Qaellen  wäre  eine  solche  diplomati- 
sche Wiedergabe  in  hohem  Grade  erwünscht  ge- 
wesen; die  dem  Leser  gebotene,  keineswegs  im- 
mer  dem  Sinne  des  Originals   adäquate  Ueber- 
setznng   ist   ohne  eigentliches  Interesse,  die  an 
einzelnen  Stellen  hervortretende  Kritik  entbehrt 
vielfach  des  tieferen  Eindringens.    Es  würde  die 
angezogenen  Grenzen  einer  kurzen  Besprechung 
weit  überschreiten,  wollte  Ref.  versuchen,  seine 
in   manchen  Punkten   abweichende  Auffassung 
der  von  ihm   nur  zum  kleinen  Theil  eingesehe- 
nen  Quellen  ins   Einzelne   zu  begründen.     Es 
mag  genügen,  dieses  weiter  unten  an  einem  Bei- 
spiele zu  thun.  —   Ohne   Zweifel    liegt  in  der 
Aufzählung  und  Beschreibung   der  historischen 
Aetna-Eruptionen  nur  der  allerkleinste  Theil  der 
Aetna-Gescbicbte   vor   uns;   den  wesentlichsten 
Abschnitt  derselben  dürfen   wir  erst  am  Schluß 
des  2.  Bandes   dieses  Werkes  erwarten.     Dort 
werden  dann  gewiß  auch  die  Fragen,   die  sich 
bei   der   vergleichenden   Betrachtung   der   noch 
thätigen  mediterranen  Vulkancentren  von  selbst 
aufdrängen,    ihre   Beantwortung   finden.    Jedes 
derselben,  das  sioilische,  das  liparische,  das  ve- 
suvische im  weiteren  Sinne,  und  das  santorini- 
sche  hat  eine  so  ausgesprochene  Individualität 
in   der  petrographisohen   Natur  der  Eruptions- 
produkte,  in  dem  ganzen  geologischen  Aufbau, 
in  der  Gruppierung  der  einzelnen  Entwicklungs- 
epochen, daß  wir  mit  Spannung  der  zu  erhoffen- 
den Darstellung  der  Aetna-Geschichte  entgegen- 
sehen. Vervollständigt  diese  in  günstiger  Weise 
unsere  ziemlich  genauen  Kenntnisse  des  Vesuvs 
und  Santorins,  dann  dürfte  ein  bedeutender  Schritt 
auf  dem  Gebiet  der  Vulkanologie  nach  vorwärts 
gethan  sein.    Es  wäre  verfrüht,  diesen  Gegen- 


1256      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  40. 

stand  hier  weiter  zu  verfolgen;  die  Besprechung 
des  zweiten  Bandes  wird  dazu  die  geeignete 
Gelegenheit  bieten. 

Das  Verständniß  der  Einzelbeschreibungen 
der  historischen  Aetna- Ausbrüche  wird  in  hohem 
Grade  unterstützt  und  erleichtert  durch  die  nach 
der  großen  Sartorius  von  Waltershausen'schen 
Karte  im  Maaßstab  1 :  200000  verkleinerte,  nach 
den  neuesten  Eruptionen  (der  Lavastrom  von 
1879  ist  entschieden  zu  breit  dargestellt)  er- 
gänzte, im  Lichtdruck  ausgeführte  Uebersichts- 
karte  des  Aetna  und  seiner  Lavaströme.  Auch 
die  vielen  und  durchweg  höchst  gelungenen 
Eupfertafeln  und  Holzschnitte,  die  diesen  ersten 
Band  zieren,  tragen  in  reichem  Maaße  zur  Ver- 
anschaulichung und  leichteren  Auffassung  des 
Textes  bei.  Bei  der  Besprechung  der  einzelnen 
Ausbrüche  ist  die  betreffende  Literatur  in  dan- 
kenswerther  Weise  und,  soweit  Ref.  es  zu  be- 
urtheilen  vermag,  in  meistens  absoluter  Voll- 
ständigkeit angegeben.  Im  Großen  und  Ganzen 
dürften  die  verschiedenen  Lavaströme  histori- 
scher Zeit  mit  genügender  Genauigkeit  fixiert, 
die  die  einzelnen  Ausbrüche  begleitenden  Er- 
eignisse und  ihr  genaues  Datum  nach  Möglich- 
keit festgestellt  sein.  Daß  indessen  im  Einzel- 
nen eine  wiederholte  Discussion  der  vorhande- 
nen Nachrichten  und  eine  kritische  Quellenfor- 
schung noch  manche  Berichtigung  und  Erweite- 
rung bringen  kann,  mögen  die  folgenden  Bei- 
spiele zeigen. 

Zu  der  Eruption  vom  5.  Febr.  252  p.  Ch. 
ist  zu  bemerken,  d«ß  sich  bei  Fazellus  (ich  be- 
diene mich  der  Ausgabe  Panormi,  apud  Joannem 
Matthaeum  Maidam,  et  Franciscum  Garraram. 
Anno  Domini  MDLVIII)  wohl  dieselbe  Eruption 
als  in  das  Jahr  254  fallend  erwähnt  wird.    Es 


Sartorius  v.  Waltershausen,  Der  Aetna.  Bd.I.  1257 

heißt  daselbst  Dec.  I.  cap.  IV.  pg.  59  wörtlich: 
Sed    et   anno   salntis  254  Calend.  February,  et 
secundo  anno  post  obitum  Divae  Agathae,  cum 
Aetna  ignitos  globos  eructasset,  Catanenses,  qui 
snperstitioso  genilitatis  cultu  eo  tempore  detine- 
bantur,  Divae  Agathae  ob  Christi  fidem  a  Quin- 
tiano  martyrio  affectae,  sepulcbro  saxum  quod- 
dam  impo8itum  hac  divina  inscriptione :  Mentem 
sanctam,   spontaneam,   honorem  Deo,  et  patriae 
liberationem,   insigne   deprehendentes,   miracnlo 
perculsi    tumulum    aperiunt:    velum     quo   ejus 
corpus  tegebatur,  contra  ignem  objiciunt.     Quo 
facto  (mirum  visu)  incendium  statiro,  velut  illius 
veli  aspectum  reformidans,  relicta  urbe  alio  cur- 
sum   tetendit.     Catanenses   postea    Christi    fide 
imbuti  eo  exemplo  adducti,  quoties  Aetna  ignes 
emittit,  id  velum  incendiis  objiciunt  etc. 

Eine  der  bestbeobachteten  der  älteren  Erup- 
tionen war  diejenige  von  1536 ;  bei  ihr  ergossen 
sich  Lavaströme  nach  drei  verschiedenen  Rich- 
tungen und  sie  ist  die  erste,  bei  welcher  histo- 
risch beglaubigt,  jene  verheerende  Erscheinung 
der  Schlammströme  vorkam,  wie  der  Herausge- 
ber Hr.  von  Lasaulx  mit  Recht,  auf  einen  Be- 
richt des  Baron  di  Burgis  sich  stützend  (p.  227), 
hervorhebt.  Indessen  auch  bei  Fazellus,  dessen 
Bericht  in  deutscher  Uebersetzung,  z.  Th.  nicht 
ganz  richtig  mitgetheilt  wird,  ist  dieses  Phäno- 
men sehr  deutlich  beschrieben.  Die  Schilderung 
des  Fazellus  (1.  c.  p.  60  und  61)  lautet  wört- 
lich :  Anno  siquidem  salutis  1536  nono  Cal.  Apri- 
lis  flaute  austro  et  sole  ad  occasum  vergente 
nubes  atra  montis  apicem  opernit,  et  inter  earn 
rubor  emicuit.  Tum  repente  ex  ipso  cratere 
ignei  torrentis  vasta  vis  erupit,  paulatimque  in 
modum  fluminis  magno  moatis  murmure,  ac 
terraemotu   defluens   orientem   versus  descendit, 


1258      Gott  gel.  Anz.  1880.  Stück  40. 

lacnmque  (cuius  supra  in  description«  meminimns) 
illapsus  magnam  ibi  repertam  lapidum  congeriem 
liquefecit.  Quae  supra  Randatium  oppidum  prae- 
cipiti,  sed  falcato  volumine  decurrens  ovium  gre- 
ges,  et  animalia  pleraque  obviantia  statim  de- 
mersit.  Die  Uebersetzung  bei  v.  Lasaulx  giebt 
ein  entschieden  falsches  Bild  dieses  Ereignisses, 
wenn  sie  uns  einen  über  die  Stadt  Randazzo 
herabeilenden  Lavastrom  vorführt.  Zunächst 
zeigt  der  Wortlaut,  daß  ein  Gipfelausbruch  (ex 
ipso  cratere)  stattfand,  der  unter  vulkanischem 
Getöse  und  von  Erdbeben  begleitet  nach  Osten 
herabstieg  und  in  die  Lacus  genannte  Localität 
hineinglitt.  Die  langsame  Bewegung  eines  Lava- 
stromes, selbst  bei  ziemlich  jäher  Unterlage,  ist 
deutlich  durch  die  Worte  descendit  und  illapsas 
von  Fazellus  wiedergegeben,  der  sich  selbst  einen 
Augenzeugen  nennt  (quae  ipsi  visu  sumus  assecnti 
commemoremus).  Die  lacus  genannte  Localität 
beschreibt  Fazellus*  gelegentlich  seiner  Aetnabe- 
steigung  (1.  c.  pag.  58)  mit  folgenden  Worten: 
Duce  igitur  praevio  in  parvam  vallem  descen- 
dimus,  quam,  quod  ex  liquefactis  in  altonivibus 
decurrens  ibi  stagnet  aqua,  summoque  totios 
montis  subsit  tumulo,  lacum  appellant.  Der  Gi- 
pfelstrom endete  nun  offenbar  in  diesem  unter 
dem  Krater  liegenden,  mit  Wasser  oder  Schnee 
und  losen  Auswurfsmassen  gefüllten  Thälchen. 
Offenbar  ist  das  magnam  ibi  repertam  lapidnm 
congeriem  liquefecit  nicht  als  ein  Schmelzen  von 
Gesteinsmasse  zu  verstehen,  denn  Lavaströme 
schmelzen  überhaupt  bekanntlich  keine  großen 
Gesteinsmassen  und  wenn  das  dennoch  in  die- 
sem Falle  geschehen  wäre,  so  hätte  sich  höch- 
stens wieder  ein  langsam  fließender  Lavastrom 
bilden  können.  Es  entwickelte  sich  vielmehr  von 
diesem  lacus  aus  ein  Schlammstrom,  wie  deut- 


Sartorius  v .  Waltershausen,  Der  Aetna.  Bd.  I.  1259 

lieh  ans  der  mit  decurrens  (nicht  descendens) 
und  demersit  geschilderten  Bewegung  hervorgeht. 
Diese  stürzte  sich  in  jäher,  aber  sichelförmig 
gekrümmter  Windung  (nicht  über  die,  sondern) 
oberhalb  der  Stadt  Randazzo  herab  und  begrub 
Schafheerden  etc.  Daher  ist  es  denn  auch  nicht 
zu  verwundern,  daß  nach  Randazzo  zu  und 
darüber  hin  kein  Lavastrom  von  1536  nachweis- 
bar ißt,  wie  richtig  hervorgehoben  wird. 

Darauf  fährt  Fazellus  in  der  Schilderung  der- 
selben Eruption  folgendermaßen  fort :  Ex  eodem 
quoque  summo  montis  cratere  mirum,  ac  hor- 
rendum  visu  profluvium  igneum  occidentem  ver- 
sus supra  Brontem  et  Adranum  oppida  eodem 
tempore  effluere  coepit.  Liquescentes  enim  lapi- 
des  sulphurei,  ac  bituminosi  vi  ventorum  depulsi 
lento  fluxu,  et  intermisso,  veluti  ferrum  candens, 
decurrebant:  et  qui  primum  defluxerunt,  sensim 
amisso  calore  in  priorem  naturam,  ac  materiam 
subnigram  indurescebanl  Post  rivus  alter  igneus 
descendens  non  supra  priorem  fluebat,  sed  inter 
ipsius  arenosam  cutem  et  priorem  ignem  jam 
eoncretnm  immiscens  sese  cursum  medium  sibi 
sua  vi  faciebat :  ita  ut  et  cutis  superior,  et  super- 
ficies prioris  aeque  esset  dura.  Qui  vero  ignis 
recens  erat,  supter  fluebat  instar  testudinis,  quae 
sub  testa  dura  vivens  lente  tarnen  graditur.  Ita 
fluenta,  quae  prius  induruerant,  novis  cedebant, 
a  quibus  in  partes  disjiciebantur.  Novissimis 
itaque  semper  vincentibus  multiplicabatur  incen- 
dium  ad  latitudinem  stadij  unius,  profunditatemque 
cubitorum  circiter  duodecim.  Cumque  totum  re- 
frixisset*)  profluvium,  lapidum  molarium  conge- 
riam  ab  ore  crateris  ad  terminum  usque  fluxus 
subnigram   recens   eructatam  perpetuo    reliquit. 

*)  In  der  Uebersetzung  bei  v.  Lausaulx  steht  »sich 
zurückgewandt  hatte«  ♦ 


1260      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  40. 

Offenbar  auch  ein  ziemlich  mittelmäßiger  Strom, 
der  sieb    unmöglich,   wie   v.  Lasaulx  übersetzt, 
über   die   Städte    Bronte   und  Adernö    ergießen 
konnte,   sondern,   wie   ja   auch   der  lateinische 
Text   deutlich    sagt,   ein  Gipfelstrom,    der    sich 
oberhalb  der  genannten  Städte  nach  W.  hin  den 
Berg  herabzog.    Nach  den  Angaben   über  seine 
Breite  (etwa  200  m.)  und  seine  Tiefe  (etwa  7 — 
8  m.)  kann  derselbe  bei  normalen  Proportionen 
nur  sehr  wenige  Km.  Länge  gehabt  haben.     Die 
Beziehung  des  zweiten  nach  oberflächlicher   Er- 
starrung  des    ersten  hervorbrechenden  Stromes 
scheint  mir  ebenfalls  in  der  Uebersetzung  nicht 
richtig    zum    Ausdruck  gelangt    zu  sein.     Ref. 
glaubt    darin    die    recht   correcte  Beschreibung 
eines  Vorganges  zu  sehen,  den  er  am  Abend  des 
11.  April  d.  J.   an    einem   kleinen  Gipfelstrome 
des  Vesuv   in  sehr  verkleinertem  Maßstabe   be- 
obachtete   und   würde   demnach   die  Stelle  von 
Post  rivus  alter  etiam  etwa  folgendermaßen  wie- 
dergeben.    „Ein  später  herabsteigender  zweiter 
Lavastrom  floß  nicht  über  den  ersten  hin,   son- 
dern  sich   zwischen    den  schon  festgewordenen 
ersten  Strom   und   dessen    lockere   Decke   ein- 
drängend, brach  er  sich  durch  seine  Wucht  eine 
Bahn  dazwischen,  so  daß  also  die  obere  Decke 
(unter  der)  und  die  Oberfläche  des  ersten  Stro- 
mes (auf  der  der  zweite  floß)  gleichmäßig  hart 
waren.    Der  neue  Strom  aber  floß  darunter  hin, 
ähnlich  wie  eine  Schildkröte  unter  ihrem  harten 
Panzer   doch    lebendig   fortschreitet;   auf  diese 
Weise    machte   der   zuerst  erstarrte  Strom   dem 
zweiten  Platz,  von  dem  er  theilweise  auseinander- 
geworfen wurde  (durch  gelegentliche  Sprengung 
des  Schlackensackes  des  ersteren).    Indem  also 
das   Nachdrängende   immer    die   Oberhand    ge- 
wann, wuchs  der  Strom  zur  Breite  eines  Stadium 
und  zur  Tiefe  von  etwa  12  Ellen  an,  u.  s.  w.a 


Sartorius  v.  Waltershausen,  Der  Aetna.  Bd.  I.  1261 

Je  jüngeren  Datums  die  Eruptionen  Bind,  um 
so  präciser  und  lehrreicher  werden  natürlich  die 
Beschreibungen  der  Beobachter,  unter  denen  zu- 
mal Orazio  Silvestri  hervorragt  Die  Details, 
welche  über  die  die  Eruptionen  begleitenden  und 
bedingenden  Spaltenbildungen ,  die  einzelnen 
Phasen  der  Ausbrüche,  das  gegenseitige  Ver- 
halten der  Lavaströme,  wenn  sie  in  gleichen  oder 
verschiedenen  Stadien  der  Fluidität  unter  wech- 
selnden Winkeln  zusammentreffen,  mitgetheilt 
werden,  sind  vom  höchsten  Interesse.  Bei  man- 
chen Angaben,  zumal  über  strittige  Phänomene, 
wünschte  man  wohl  eine  strengere  Begründung 
des  Thatbestandes ,  so  z.  B. ,  wenn  v.  Lasaulx 
(pag.  318)  am  2.  October  1878  im  Kraterboden 
Exhalationen  nicht  nur  von  schwefliger  Säure, 
sondern  auch  von  ammoniakalischen  Ga- 
sen  wahrgenommen  haben  will. 

Den  Schluß  des  ersten  Bandes  bildet  ein  al- 
phabetisches Verzeichniß  der  Aetna-Literatur  — 
eine  gewiß  willkommene  Beigabe. 

Heidelberg,  August  1880. 

H.  Rosenbusch. 


M.  Joel,  Blicke  in  die  Religionsgeschichte 
zu  Anfang  des  zweiten  christlichen  Jahrhunderts. 
L  Der  Talmud  und  die  griechische  Sprache 
nebst  zwei  Excursen:  a.  Aristobul,  der  soge- 
nannte Peripatetiker,  b.  die  Gnosis.  Breslau  und 
Leipzig.  Druck  und  Verlag  von  S.  Schottlaender. 
1880.    S.  VII.    177.    kl.  8°. 

Es  ist  keine  Frage,  daß  zu  einer  wirklich 
geschichtlichen  Erkenntniß  der  Anfange  und  der 
frühesten  Entwickelurig  des  Ghristenthums  die 
jüdischen  Quellen   in  noch  ganz  anderer  Weise 


1262       G6tt  gel.  Aaz.  1880.  Stück  40. 

herangezogen  werden  mttssety  als  dies  bisher 
geschehen  ist.  Haben  doch  die  hervorragend- 
sten Darsteller  der  Geschichte  des  Urchristen-» 
thums  es  gerade  hierin  am  Meisten  fehlen!  las- 
sen und  dadurch  den  Werth  ihrer  Arbeiten  auf 
das  Empfindlichste  beeinträchtigt.  Wie  sehr  ist 
nicht  Strauß  durch  seine  Unfähigkeit  sieh  iö 
die  Natur  des  Semitismus  überhaupt  und  insbe- 
sondre in  die  religiöse  Anschauungs-  und  Em- 
pfindungsweise des  Judenthums  hineinzuversetzen 
an  einer  wahrheitsgetreuen  Erfassung  der  Sache 
gehindert  worden,  von  der  er  reden  wollte. 
Baur  hat  nicht  blos  sein  philosophischer  Sche- 
matismus geschadtt,  in  welchem  er  die  lebens- 
volle historische  Entwickelung  nöthigen  wollte 
sich  auf  gut  hegelisch  in  These,  Antithese  und 
Synthese  abzuhaspeln,  mehr  noch  behinderte  ihn 
die  Unkenntniß  des  Judenthums  als  des  mütter- 
lichen Bodens,  aus  welchem  das  Christenthum 
hervorsproßte.  Renan  fühlte  diesen  Mangel, 
aber  er  glaubte  dem  Genius,  zumal  dem  franzö- 
sischen, müsse  es  gelingen,  durch  einen  kühnen 
Sprung  das  Ziel  zu  erreichen,  an  das  man  nur 
nach  mühevoller  Wanderung  gelangen  kann. 
Er  citiert  zwar  den  Talmud  öfter,  aber  da  er 
Halacha  und  Aggada  für  zwei  einander  bekäm- 
pfende Richtungen  des  Judenthums  hält,  deren 
erste  im  Rabbinismus  und  deren  zweite  im  Chri- 
stenthum sich  fortgesetzt  habe:  so  kann  man 
dreist  behaupten,  daß  er  keine  Zeile  im  Talmud 
wirklich  gelesen  hat.  Mit  ein  paar  geistreichen 
Apercus  ist  die  Sache  nicht  gethan,  es  gilt  hier 
vereinzelte  talmudische  Notizen  aus  tiefen  Schach- 
ten emporzufördern,  sie  zu  sichten,  ihre  oft  rät- 
selhafte Form  zu  deuten,  sie  unter  einander  zu 
combinieren  oder  in  Beziehung  zu  setzen  mit 
dem  Material,  was  Kirchen-  und  Profanscbrift- 
I9teller  aus  der  griechisch-römischen  Periode  der 


r 


Jo€l,  Blick«  m  die  Religkrasgescbichfe.    1263 


christlichen  Literatur  bringen.  Jeder  Beitrag, 
der  bo  die  Sache  angreift,  ist  willkommen,  auch 
Wenn  nicht  alles  Einzelne  sich  als  haltbar  er- 
weisen sollte.  —  Zu  den  literarischen  Erschei- 
nungen dieser  Art  gehört  auch  das  oben  ange- 
zeigte Buch,  das  dem  Titel  nach  als  Anfang 
weiterer  Untersuchungen  eine  Erörterung  zu- 
nächst des  Verhaltens  bringt,  welches  die  Tal- 
mudlehrer der  griechischen  Sprache  gegenüber 
beobachtet  haben. 

Man  kann  nicht  sagen,  daß  der  Verf.  in  der 
eigentlichen  Hauptabhandlung  dem  Leser  die 
Auffassung  seiner  Beweisführung  besonders  er- 
leichtert habe.  Episodische  Untersuchungen  un- 
terbrechen den  Gang  der  Darstellung  (vgl.  S. 
7 — 9.  22.  u.  a.  *)  und  die  Anordnung  der  Be- 
weismomente ist  nicht  der  Art,  daß  der  Leser 
auf  geradem  Wege  zum  Ziele  geführt  wird. 
Wir  haben  uns  deshalb  im  Interesse  der  Deut- 
lichkeit der  Mühe  unterzogen,  eine  Neuordnung 
des  gesammten  Beweismaterials  vorzunehmen, 
werden  aber  dabei  immer  die  betreffenden  Seiten- 
zahlen des  Verf.  anführen,  woraus  der  Leseram 
Besten  ersehen  wird,  wie  weit  obiger  Vorwurf 
begründet  ist  und  wodurch  derselbe  zugleich  in 
die  Lage  versetzt  wird,  unser  Keferat  wie  un- 
sere Einwendungen,  die  wir  dem  Verf.  zu  ma- 
chen haben,  mit  Leichtigkeit  controllieren  zu 
können. 

In  dem  Tractate  Sopherim  (I,  8.  9)  findet 
sich  ein  seltsam  verworrener  Bericht  über  die 
Uebersetzung  der  Thora  in  das  Griechische. 
Es  ist  danach  der  Pentateuch  unter  dem  Könige 

*)  Besonders  auch  die  ganze  Untersuchung  über  die 
mündliche  Lehre  s.  S.  57—67,  welche  doch  zu  der  Frage 
nach  dem  Verhalten  der  Talmudlehrer  zum  Griechischen 
nur  in  einem  sehr  lockeren  Zusammenhange  steht.  Eigent- 
lich gehört  nur  S.  67  hierher. 


1264      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  40. 

Ptolemäus  zweimal  übersetzt  worden  und  zwar 
einmal  von  5  Alten  und  dann  von  72  Alten« 
Offenbar  liegt  hier  eine  nur  unklar  gewordene 
alte  geschichtliche  Erinnerung  vor,  denn  die 
Thora  ist  ja  wirklich  2mal  in's  Griechische  über- 
setzt worden:  einmal  nach  alter  Ueberlieferung 
von  denLXX  unter  Ptolemäus  Philadelphus  (cf. 
Megilla  9a),  das  2te  Mal  zur  Zeit  Trajan's  und 
Hadrian's,  wo  die  Uebersetzungen  des  Aquila 
Theodotion  und  Symmachus  entstanden.  Die 
5  Alten  sind  vielleicht  eine  Erinnerung  an  die 
5  griechischen  Uebersetzer  in  den  Octaplia  des 
Origenes  (S.  4).  —  Es  ist  außerdem  aber  auch 
eine  weitere  Verwirrung  in  den  Bericht  des 
Tractates  Sopherim  eingedrungen,  welche  wir 
aber  nicht  mit  dem  Verf.  in  dem  Widerspruche 
finden,  in  welchem  derselbe  scheinbar  zu  Tal- 
mud Jerusch.  1, 1  steht,  insofern  dieser  nämlich 
sagt,  daß  die  Thora  nach  ihrem  vollen  Bedarf 
in  keiner  andern  Sprache  wiedergegeben  wer- 
den könne  als  in  der  griechischen,  der  Tr.  So- 
pherim dagegen  sagt:  „Die  Thora  hatte  nicht 
genügend  übersetzt  werden  können".  Denn  die- 
ser Widerspruch,  glauben  wir,  wird  sich  lösen 
lassen  durch  die  Erwägung,  daß  im  Tractat  So- 
pherim eben  nur  gesagt  werden  soll,  daß  die 
erste  Uebersetzung  der  Thora  in  das  Griechische 
nicht  genügt  habe  und  man  deshalb  zu 
einer  zweiten  geschritten  sei.  Die  Verwirrung 
besteht  nach  unserm  Dafürhalten  blos  darin, 
daß  das  Zeitverhältniß  umgekehrt  und  die  Ueber- 
setzung der  5  zur  ersten,  die  der  72  zur  zwei- 
ten gemacht  worden  ist. 

Es  giebt  aber  diese  Erscheinung  Veranlas- 
sung eine  allgemeine  Untersuchung  anzustellen 
über  das  wechselnde  Verhalten  der  Talmudlehrer 
gegenüber  der  griechischen  Sprache. 

Die  griechische  Bibelübersetzung   war  eine 


Jofil,  Blicke  in  die  Religionsgeschicbte.    1265 

Thateache  ehe  es  talnmdische  Lehrer  gab.  Es 
konnten  diese  also  nur  nachträglich  sich  dar- 
über äußern,  ob  ihnen  diese  Thateache  gefalle 
oder  nicht  Auch  -im  letzteren  Falle  war  aber 
die  Thatsacbe  selbst  jedenfalls  nicht  wieder  aus 
«der  Welt  zu  schaffen.  Dadurch  erklärt  es  sich, 
daß  wir  je  nach  der  Lage  der  Zeit  wechselnde 
Aeußerungen  talmudischer  Lehrer  über  das  in 
Bede  stehende  Factum  besitzen.  (S.  6).  — 

Die  alte  sehr  liberale  Halacha,  daß  die  Bü- 
cher der  heiligen  Schrift  in  jeder  Sprache  ritual 
gültig  geschrieben  werden  können  wird  in  der 
Mischna  von  R.  Simon  ben  Gamaliel  (Megilla 
1,  8)  auf  die  griechische  Sprache  eingeschränkt, 
wozu  die  Gemara  (Megilla  9)  die  Begründung 
aus  Genes.  9,  27  fügt,  daß  Japhet  in  Sem's  Zel- 
ten wohnen  soll  (S.  10).  Im  Talmud  Jeruschalmi 
1,  1  wird  dieser  Vorzug  sogar  soweit  gestei- 
gert, daß  allein  die  griechische  Sprache  als  das 
branchbare  Werkzeug  für  die  Uebersetzung  der 
Thora  bezeichnet  wird  (S.  5).  Auch  an  andern 
Stellen  wird  das  Erlernen  des  Griechischen 
nicht  nur  gestattet,  sondern  die  eigenthümliche 
Schönheit  dieser  Sprache  hervorgehoben  Sota 
7,  3.  Megilla  1,  9  (S.  13).  —  Mit  dieser  Aus- 
zeichnung des  Griechischen  contrastiert  das  in 
der  Mischna  Sota  9,  14  ausgesprochene  Ver- 
bot des  Erlernens  des  Griechischen,  welches  seit 
116  p.  Chr.  im  Kriege  des  Quietus  unter  Trajan 
gegeben  wurde  (S.  10).  Vergeblich  sucht  die 
Gemara  Sota  extr.  den  Widerspruch  dieses  Ver- 
botes und  der  obigen  Lobpreisungen  des  Grie- 
chischen dadurch  auszugleichen,  daß  sie  das 
Verbot  gegen  den  Wortsinn  auf  griechische 
Weisheit  bezieht  (S.  11).  Diese  offenbar  falsche 
Deutung  kann  uns  in  der  Auffassung  des  Fac- 
tischen  nicht  beirren.  Wir  haben  hier  ohne 
allen  Zweifel  die  auffällige  Erscheinung,  daß 

80 


1266      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  40. 

von  Anfang  des  2ten  Jahrh.  p.  Chr.  an  ein 
energischer  Versuch  gemacht  wurde,  den  (re- 
branch der  griechischen  Sprache  ans  den  jüdi- 
schen Kreisen  zu  verdrängen  (S.  13).  Wir  fra- 
gen nach  dem  Grande.  Die  Antwort  lautet  im 
jerusalemischen  Talmud:  „wegen  der  Angeber". 
Diese  Bezeichnung  wechselt  nun  im  Talmud 
constant  mit  der  der  Minäer  (Minim).  Das  nö- 
thigt  uns  zu  fragen,  was  haben  die  Minim  mit 
dem  Folemos  schel  Kitos  (dem  Kriege  des  Quie- 
tus) zu  schaffen  und  —  mit  der  griechischen 
Sprache  ? 

Diese  Frage  beantwortet  nun  der  Verf.  da- 
mit, daß  er  zunächst  auseinandersetzt,  daß  die 
Minim  diejenigen  Judenchristen  waren,  die  anti- 
national dachten  und  diese  ihre  antinationale 
und  antinomisti8che  Auffassung  der  Lehre  Mosis 
durch  Exegese  des  griechischen  alten  Testa- 
ments begründeten  (S.  15).  Man  hätte  dabei 
nur  gewünscht,  daß  er  es  etwas  klarer  heraus- 
gesagt hätte,  daß  es  damals  dreierlei  Arten  von 
Juden  gab:  1)  gesetzestreue  und  christusfeind- 
liche, 2)  gesetzestreue  und  christusgläubige  (S. 
26 — 29)  [Ebioniten,  Standpunkt  der  Apokalypse] 
und  3)  antionationale  durch  Paulus  beeinflußte, 
hellenistische  Judenchristen,  die  allmählich  auch 
in  Palästina  sich  Einfluß  zu  verschaffen  wußten 
und  von  den  orthodoxen  Juden  als  Minim  be- 
zeichnet wurden.  Dies  Alles  kann  wer  will 
sich  allenfalls  aus  den  Ausführungen  von  S.  26 
—30  herausconstruieren,  man  hat  es  aber  gern, 
wenn  einem  so  etwas  gleich  der  Schriftsteller 
selbst  klar  macht. 

Doch  wir  fragen  weiter:  was  thaten  diese 
Minim?  Antwort:  sie  führten  aus  dem  griechi- 
schen A.  T.  exegetische  Beweise  gegen  die  ge- 
setzliche Auffassung  der  Lehre  Mosis.  Dann 
thaten  sie  also  ungefähr  dasselbe,  was  die  Hei- 


Jogi,  Blicke  in  die  ßeligionsgeschichte.    1267 

denehristen  auch  thaten,  was  der  Hebräerbrief, 
der  Barnabasbrief  und  Paulas  und  was  die 
Kirchenväter  thaten.  Man  begreift  nicht  recht, 
wo  denn  ihr  Judenthum  steckt*):  sie  sind  anti- 
national, antinomistisch  und  haben  einen  beson- 
dern Abscheu  gegen  den  Tempel,  dessen  Nicht- 
Wiederaufbau  für  sie  eine  Lebensfrage  ist  (S. 
15).  Man  sieht  auch  beim  letzteren  Punkte 
nicht  recht,  weshalb  dies  so  ist.  Der  Hebräer- 
brief hatte  es  doch  so  deutlich  gemacht,  wie 
gut  es  sich  ohne  den  Tempel  auskommen  lasse 
und  wenn  es  auch  eifrigen  Christen  eiue  Genug- 
thuung  gewähren  mochte,  den  Tempel  zerstört 
zu  sehen  und  dieser  Umstand  polemisch  von 
ihnen  verwerthet  wurde  (cf.  S.  31):  so  sieht  man 
doch  nicht  ab,  wie  das  antinomistische  Christen« 
thum  in  seinem  Lebensnerv  gefährdet  worden 
wäre,  wenn  im  2ten  Jahrhundert  der  Tempel 
wieder  aufgebaut  worden  wäre.  In  solchem 
Falle  hätten  die  Antinomisten  doch  wahrschein- 
lich nur  den  Rath  des  Hebräerbriefs  befolgt 
und  wären  außerhalb  des  Lagers  gegangen  und 
hätten  Christi  Schmach  getragen  (Hebr.  13,  13). 
Der  Verf.  übertreibt  hier  offenbar.  Dem  anti- 
nomistischen  Judenchristenthum  mochte  daran 
liegen,  die  Macht  des  orthodoxeu  Judeuthums 
nicht  durch  Wiedererbauung  des  Tempels  ge- 
stärkt zu  sehen,  aber  eine  Frage  des  Seins  oder 
Nichtseins  (S.  32)  kann  man  unbefangener  Weise 
hier  nicht  finden.  —  Doch  sehen  wir  weiter, 
wie  stand  es  denn  mit  diesem  Tempelbau? 
Nach  Megilla  1,  6  hatte  R.  Josua  ben  Chananja 
bei  wiederholten  Romreisen  den  Kaiser  Trajan 
bewogen  den  Wiederaufbau  des  Tempels  zu  ge- 
statten (S.  24.  25),  was  auch  unser  Verf.  in  die- 
ser Weise  für  historisch  zu  halten  scheint.   Wir 

*)  Was  man  z.  B.  bei  dem  auch  aas  der  griechischen 
Bibel  exegisierenden  Philo  sehr  deutlich  sieht. 

00* 


1268      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  40. 

Bind  der  Meinung,   daß   hier   nur  eine  den  be- 
rühmten Rabbi   verherrlichende    Legende    vor- 
liegt, Trajan  mochte  ans  allgemeinen  politischen 
Gründen  den  Versuch  machen,   die  Juden   gün- 
stig zu  stimmen.     Aus  Freude   darüber  setzten 
die  Juden   den  Trajanstag   als  einen  besondern 
Festtag  ein,   was    auch  wir   mit  dem  Verf.  fttr 
die  wahrscheinlichste  Deutung  des  Trajanstages 
halten  (S.  23.  24).    Dann   aber  legten  sich  die 
Minim   in's  Mittel,  welche  nach  Genesis  rabba 
c.  64  ganz  in    der  Weise  der  Samariter  (Esra 
4,  13)  verfuhren   und  wohl  politisch  genommen 
nicht   mit  Unrecht   den  Tempelbau   als  die  Be- 
gründung eines  neuen  Aufruhrherdes  dem  Kai- 
ser  gegenüber   darstellten  (S.  17).     Die    nicht- 
jüdischen Quellen   verlegen   diese  Vorgänge  in 
die  Anfangszeit   des  Hadrian.     Aber  man  muß 
wohl  dem  Verf.  Recht   geben   in   seiner  Darle- 
gung, daß  hier  die  Nachricht  des  Midrasch  den 
Vorzug  verdient  (S.  17—24). 

Die  Minim  setzten  nun  bei  Trajan  die  Auf- 
hebung der  Genehmigung  des  Tempelbau's 
durch  und  es  kam  zu  einem  gewaltigen  Auf- 
stande der  Juden,  bei  welchem  auch  2  Haupt- 
beförderer der  Tempelsache,  Pappus  und  Lollia- 
nus  (Achija  und  Schemaja)  (S.  16—19)  um's 
Leben  kamen,  da  sie  Trajan  nach  Jenisch.  Me- 
gilla  1,  4.  Taanit  2,  1  zu  Laodicea  hinrichten 
ließ.  Recht  klar  ist  der  Grund  nicht,  warum 
sie  hingerichtet  wurden.  Der  Verf.  meint,  das 
wahre  Motiv  sei  ihre  Arbeit  für  den  Tempelbau 
gewesen  (S.  21),  allein  das  konnte  sie  nicht 
straffällig  machen,  so  lange  die  Erlaubniß  nicht 
zurückgenommen  war.  Sie  haben  sich  sicher 
beim  Aufstande  betheiligt  und  sind  dabei  umge- 
kommen. Die  legendenhaften  Schilderungen  ih- 
res Martyriums  im  Talmud  (S.  22)  haben  dabei 
Keinen  historischen  Werth.   —   Daß  hierdurch 


Joel,  Blicke  in  die  Religionsgeschichte.    1269 

bei  den  orthodoxen  Juden  und  Judenchristen 
eine  heftige  Erbitterung  gegen  die  Minim  erregt 
wurde,  die  an  alle  diesem  Unheil  Schuld  wa- 
ren, kann  man  sich  denken  und  so  finden  wir 
denn  auch  die  Spuren  davon  in  verschiedenen 
talmudischen  Erzählungen,  die  der  Verf.  S.  33 
— 36  anführt.  Merkwürdig  ist  nur,  daß  wir  da- 
bei in  allen  historischen  Berichten  immer  nur 
von  einem  Aufstande  der  Juden  gegen  die  rö- 
mische Obrigkeit  lesen  und  nie  davon,  daß  sie 
über  die  Minim  als  über  diejenigen  hergefallen 
seien,  gegen  die  sie  doch  als  die  eigentlichen 
Urheber  des  Unglücks  am  leidenschaftlichsten 
erregt  sein  mußten.  Auch  der  Verf.  schweigt 
S.  32  über  diesen  auffallenden  Umstand. 

Was  war  aber  nun  die  weitere  Folge  dieser 
Ereignisse?  Der  Verf.  sagt:  die  Juden  hätten 
daraus  erkannt,  welche  Gefahren  eine  nicht  auf 
den  Urtext  zurückgehende  Schriftdeutung  mit 
sieb  bringe  und  daher  infolge  dessen  nach  die- 
sem Kriege  das  Erlernen  des  Griechischen  gänz- 
lich verboten,  damit  jene  antinationale  Richtung 
der  Minim  nicht  weiter  um  sich  greife  (S.  15). 
—  Das  ist  doch  wohl  ein  befremdendes  Resul- 
tat Man  fragt  unwillkübrlich ,  sollte  das  wohl 
bei  dem  Haß,  den  man  gegen  die  Minim 
hegte,  zu  befürchten  gewesen  sein?  sodann: 
sollten  denn  wohl  die  Minim  zu  ihren  Machina- 
tionen gegen  den  Tempelbau  vorzugsweise  durch 
den  Besitz  der  griechischen  Bibel  bewogen  sein? 
Doch  gewiß  ebensowenig  als  seiner  Zeit  jene 
Guthäer,  die  ohne  eine  Ahnung  von  der  griechi- 
schen Bibel  und  ihrer  Deutbarkeit  zu  haben  dem 
Könige  Artaschasta  es  deutlich  zu  machen  wußten, 
daß  es  ein  gefährlich  Ding  sei,  den  Juden  die  Wie- 
dererbauung ihrer  Stadt  und  ihres  Tempels  zu 
gestatten,  da  alsbald  wieder  der  nationale  Grö- 
ßenwahn aufflammen  werde.    Und   in  der  That 


1270      Gott.  gel.  Adz:  1880.  Stück  40. 

gehörte  kein  Griechisch  dazu,  um  dieses  zu 
greifen.  —   Auch   würde   das  Verhot    des 
chisch  Lernens   wohl   einen  Sinn  gehabt  hal 
wenn  man  letzteres  den  Minim  hätte  verbi( 
können  und  sie  dadurch  hindern,    sich    ans 
griechischen    Bibel    mit   ihren    judenfeindlichötl 
Fälschungen  Waffen  zu  holen  (vgl.  S.  41),  aber] 
den  eignen  Leuten  deshalb  das  Griechische  ver-' 
bieten,   weil   die   Gegner   es  mißbrauchen,   war 
eine  Handlungsweise,   von   der  der  Verf.  auf  & 
42  selbst  sagt,  „daß  ein  solches  Verbot  in  jener 
Zeit  weder    eine    bedeutende  Wirkung   haben 
noch   den  Lehrern  selbst  auf  die  Länge  Beeilt 
sein  konnte".    In  der  That  wäre  es  ein  völliger 
Schlag   in's  Wasser   gewesen.     Seltsam    nimmt 
es  sich  dann  aus  S.  43  zu  lesen:   „Zur   negati- 
ven Abwehr  trat  die  positive",  d.  h.  zu  deutsch, 
nachdem   man   eben   das    Griechische    verboten 
hatte,  tibersetzte  man  selber  die  Bibel  in's  Grie- 
chische.   Das  Richtige  wäre  doch  hier  offenbar 
gewesen,  zu  sagen:  es  begegnen  uns  im  Talmud 
zwei  Richtungen,   die  eine  dringt  auf  gänzliche 
Ausrottung  des   Griechischen,    die   andere  ein- 
sehend,   daß   dies  ein  Ding  der  Unmöglichkeit 
sei,  arbeitet  darauf  hin,  an  die  Stelle  der  LXX 
die  den  jüdischen  Interessen  möglichst  günstige 
Uebersetzung  des  Aquila  zu  setzen.    Auf  diese 
Uebersetzung  wandte  man  dann   den  Grundsatz 
des  T   Jerusch.  an:  daß  eine  vollkommen  adä- 
quate Darstellung  der  Gedanken  der  Thora  nur 
in    der  griechischen  Sprache  möglich  sei.    Der 
Verf.   meint   nun,  daß  diese  Bevorzugung  der 
neuen  griechischen  Uebersetzung  besonders  ver- 
anlaßt sei  durch  die  neu  aufkommende  Methode, 
welche    die    ganze    mündliche    Ueberlieferung 
durch  künstliche  Deutung  aus  dem  Schriftwort 
ableitete.    Für  diese  Manipulation  sei   die  grie- 
chische Uebersetzung  mit  ihren  Pleonasmen  be- 


,  I- 


I 


^f        JoSl,  Blicke  in  die  Religionsgeschichte.    1271 

sonders  günstig  gewesen,  wie  z.  B.  Genes  2, 16. 
17  ßqmüu  tydyq,  &avdm  äno&avsta&s  (S.  45). 
Aber  man  sieht  nicht  ein,  inwiefern  hier  der 
Grundtext  ungünstiger  steht,  können  doch  in 
demselben  die  absoluten  Infinitive  Vd«  undmfc 
ebensogut  weggelassen  werden.  Auch  ist  nicht 
zuzugeben,  was  der  Verf.  S.  47  ausführt,  daß 
man  erst  aus  der  griechischen  Uebersetzung  die 
Deutungsfähigkeit  des  Textes  erkannt  habe. 
Allerdings  kamen  durch  diese  Uebersetzung  neue 
Deutungsmöglichkeiten  hinzu,  aber  in  erster 
Linie  bot  doch  solche  der  Grundtext  mit  den 
verschiedenen  Möglichkeiten  seiner  Vocalisation 
und  Aussprache.    Wenn  z.  B.  Hieronymus   von 

5(        seinem    praeceptor   Judaicus  erfuhr,  daß   man 

*'  :nn  in  Zefanja  2,  14  siccitas  gladius  oder  cor- 
vus  (:nh  .  syi  .  a^)  übersetzen  könne,  so  ist 
an  dieser  Deutekunst  sicher  die  griechische  Ue 

*         bersetzung  unschuldig,   vgl.  auch  das  vom  Verf. 

jj         selbst  S.  69  angeführte  Beispiel  aus  Eohelet  12. 

:  12.  JiBrtfc  =  nütt  oder  tiiyn  (nö^nq).  Oder 
vgl.  das  Gesetz'  "der  Vertausctung*  verwandter 
Laute  zur  Gewinnung  eines  neuen  Sinnes:  z.B. 

'  Genes  25,  25  mto  w»  =  s-n*  iö^n  Mann   der 

Jagd  und  der  List;  oder  das  (besetz  der  Buch- 
stabenumdrehung: Genes  4, 26  tk  „damals"  ver- 
kehrt in  rrt  dieser  (wobei  zugfeich  Hauchver- 
tauschung)  *u.  dgl.  m.  Das  können  wir  wenig- 
stens dem  Verf.  nicht  glauben  und  halten  es  für 
unerwiesen,  daß  die  Veneration  des  Schriftwor- 
tes in  Alexandria  und  bei  den  griechischen  Ju- 
den eine  größere  gewesen  sei  als  bei  den  Pa- 
lästinern  und  daß  diese  ganze  Schriftbehandlung 
erst  von  jenen  zu   diesen  gekommen  sei*)  (S. 

*)  Aach  stimmt  zu  dieser  Annahme  schlecht,  was 
der  Verf.  S.  36  sagt  von  dem  Eindrucke,  den  die  jüdi- 
schen Lehrer  von  der  großen  Gefahr  der  griechischen 
Auslegungsweise  erhielten.    Der  hätte  doch  füglich  nicht 


1272      Gott  gel.  Anz.  1880.  Stück  40. 

52).  In  der  Gesetzesdeutung  waren  sicher  die 
Palästiner  die  Lehrer  und  die  Alexandriner  oder 
Hellenisten  würden  nicht  gewagt  haben  in  die- 
ser Weise  mit  dem  Texte  umzuspringen,  wenn 
nicht  die  palästinische  Deutekunst  ihr  Vorbild 
gewesen  wäre,  das  sie  alsdann  allerdings  in  der 
Uebertragung  auf  die  griechische  Bibel  gehörig 
ausgebeutet  und  bis  zur  Garrikatur  übertrieben 
haben.  Außerdem  benutzten  sie  es  im  Interesse 
philosophierender  Allegoristik,  wovon  die  Palä- 
stiner nie  etwas  wissen  wollten.  —  Unzweifel- 
haft ist,  darin  stimmen  wir  dem  Verf.  (S.  47 — 
50)  bei,  daß  diese  ganze  Deutekunst  bona  fide 
gemacht  wurde.  Es  galt  eben  die  Schrift  als 
die  einzige  Wahrheitsquelle  und  zugleich  auch 
als  die  Quelle  jeder  Wahrheit,  d.  h.  man  ver- 
traute, daß  ihr  Reichthum  alles  in  sich  berge 
nach  dem  Worte:  „wende  und  wende  sie,  alles 
ist  darin".  So  galt  es  denn  auch  als  zulässig, 
jedes  Wort  der  hebräischen  Bibel  durch  beliebige 
fremdsprachliche  zu  deuten,  wovon  der  Verf.  auf 
S.  51  Beispiele  anführt  und  für  welche  Regel 
als  auch  bei  Philo  herrschend  Referent  in  seiner 
Abhandlung  in  Merx  Archiv  f.  w.  Erf.  d.  A.  T. 
Bd.  2,  p.  152.  157.  160  Belege  angeführt  hat 
Ueberhaupt  kam  es  zu  einer  ganz  besondern 
Technik,  welche  zur  Auffindung  der  speziellen 
Einzelwahrheit  vermittelst  eines  Systems  von 
Deuteregeln  (n*n73,  bei  Philo  vöpoi,  xavovsq  %q$ 
ällriyoQlaq)  befähigte.  Doch  wurde  bestimmt, 
daß  diese  Vielfältigkeit  der  Deutekunst  nur  auf 
die  Bibel,  nicht  auf  andere  Bücher  (Ghizonim) 
angewendet  werden  dürfe,  diese  solle  man  lesen 
als  ob  man  einen  Brief  lese,  d.  h.  ohne  weite- 
res Kopfzerbrechen,  sich  mit  dem  nächsten  ein- 
fachen Sinne  begnügend  (vgl.  S.  69),  oder  aber 

zur  Ausbildung  sehr  ähnlicher  Systeme  hagadischer  Deute- 
regeln fuhren  können. 


Joel,  Blicke  in  die  Religionsgeschichte.    1273 

wenn    sie  zur  schlimmeren  Sorte  der  Ghizonim 
gehören,    zu    den    eigentlichen    Ketzerbüchern 
(Sifre  Minim),  so  solle  man  sie  gar  nicht  lesen* 
Den  auffallenden  Umstand,  daß  auch  das  sonst 
so  hochgeschätzte  Buch   des  ben  Sira  in  einer 
Stelle  des  Jerusch.  Sanhedr.  X  p.  28*  unter  den 
letztern  aufgeführt  wird,  sucht  unser  Verf.  durch 
Conjectur    zu  beseitigen,  indem?  er  vorschlägt, 
statt  Sifre  ben  Sira  (»T'o)   zu    lesen   Sifre  ben 
Satda  (*höo)  Bücher  des  Sohns  der  S.  =  christ- 
liche Bücher  (S.  74)  was  sich  nicht  geradezu  ab- 
weisen läßt,  sich  aber  auch  nicht  grade  beson- 
ders empfiehlt,  da  der  Verf.  dies  nur  noch  durch 
zwei  weitere  Möglichkeiten,  in  denen  noch  eine 
dritte  eingekapselt  liegt,  zu  stützen  weiß,  näm- 
lich durch  die  Muthmaßung,  daß  unter  dem  mit- 
genannten   Ben  Tiglah    sich  ein  Apokalyptiker 
verbirgt,  desgleichen  unter  dem  Namen  Ben  Laa- 
nah  anter  der  Voraussetzung,  daß  in  dessen  Apo- 
kalypse der  Wermuth  eine  Bolle  gespielt  habe. 
Wem  diese  Instanzen  genügen,  dem  wollen  wir 
nicht  weiter  abreden. 

Auf  die  Hauptabhandlung  des  Verf.  folgen 
2  größere  Excurse,  deren  erster  die  Frage  nach 
der  Echtheit  der  unter  dem  Namen  des  Aristo- 
bulos  bei  Eusebius  und  ohne  diesen  Namen  bei 
Clemens  Alexandrinus  aufgeführten  Fragmente 
einer  erneuten  Prüfung  unterzieht.  Man  muß 
dieser  Untersuchung  das  Lob  eines  sehr  metho- 
dischen und  umsichtig  erwägenden  Verfahrens 
zusprechen  und  wir  glauben,  daß  der  Verf., 
wenn  auch  nicht  alle  seine  Beweise  etwas  Zwin- 
gendes haben,  doch  das  Resultat  seiner  Kritik 
zu  einem  hohen  Grade  der  Wahrscheinlichkeit 
erhoben  hat.  —  Nachdem  Valckenaer  in  seiner 
berühmten  diatribe  de  Aristobulo  Judaeo  1806 
so  nachdrucksvoll  für  die  Echtheit  der  genann- 


1274      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  40. 

ten  Fragmente  eingetreten  war,  regte  sich  kein 
rechter  Widerspruch  weiter  hiergegen,  bis  neuer- 
dings Lobeck  in  seinem  Aglaophamus  I,  439  ff. 
die  bisher  wenig  beachteten  inneren  Gründe  ge- 
gen die  Echtheit,  welche  aus  den  Textverschie- 
denheiten des  orphischen  Gedichts  bei  den  Kir- 
chenvätern fließen,  hervorhob.  Der  Verf.  schlägt 
nun  seinerseits  das  Verfahren  ein,  die  äußeren 
Gründe,  welche  seiner  Zeit  Hody  in  de  biblio- 
rum  textibus  originalibus  I,  c.  IX  geltend  machte, 
in  verstärkter  Form  wieder  vorzuführen  und 
dazu  dann  den  Beweis  aus  der  inneren  Beschaf- 
fenheit der  Fragmente  zu  fügen.  Den  letzteren 
halten  wir  für  gelungener  als  den  ersteren.  Denn 
das  argumentum  e  silentio,  worauf  dieser  hinaus- 
läuft, behält  immer  etwas  Unzureichendes,  obwohl 
wie  wir  gleich  sehen  werden,  in  einem  Falle 
wirklich  etwas  daran  ist.  Daß  nämlich  Josephus 
in  seinem  Buche  contra  Apionem  an  der  Stelle, 
wo  er  alte  griechische  Autoren  aufzählt,  die  et- 
was von  den  Jud$n  wissen,  nicht  eine  alte  jü- 
dische Schrift  eines  Aristobulos  über  Orphica 
und  Homerica  erwähnt,  die  bis  auf  Abraham  und 
Mose  zurückgeht,  ist  ja  freilich  auffallend:  aber 
man  kann  doch  deshalb  nicht  gleich  mit  dem 
Verf.  schließen  (S.  86) :  „hätte  er  wenn  die  Ari- 
stobulea  ihm  vorgelegen,  nicht  mindestens  wohl- 
gefällig gesagt:  er  könnte  zwar  noch  andre  Be- 
weise für  das  hohe  Alterthum  und  die  Bedeu- 
tung der  Juden  aus  Orpheus,  Hesiod  u.  s.  w. 
anführen,  wenn  er  es  nicht  verschmähte,  aus  un- 
glaubwürdigen und  gefälschten  Stücken  zu  be- 
weisen ?tf  —  Was  will  dieser  Schluß  anderes 
besagen  als:  so  hätte  ich's  gemacht,  wenn  ich 
Josephus  gewesen  wäre?  —  Etwas  günstiger 
steht  es  aber  mit  dem  silentium  des  Justin,  weil 
man  hier  sagen  kann:  er  hätte  doch  gewiß,  da 
er  die  Gedanken    des  orphischen  Gedichts  vor* 


Joel,  Blicke  in  die  Religionsgeschichte.    1275 

trägt,  die  for  seinen  Zweck  viel  günstigere  Form 
desselben  bei  Aristobnlos  benutzt,  wenn  er  diese 
gekannt  hätte.  Nnr  daß  wir  ancb  bier  dem 
Schriftsteller  nnsere  Einsicht  der  Sache  nnd 
unsre  Ansicht  von  zweckmäßigerem  Verfahren 
unvrillkührlich  unterschieben.  —  Die  hierauf  fol- 
gende innere  Kritik  des  Verf.  ist  ein  recht  fein 
gearbeitetes  Gewebe,  an  dem  man  seine  Freude 
haben  kann.  Er  geht  davon  aus,  daß  bei  Justin 
in  der  cohort  ad  Graecos  c.  25  von  Plato  ge- 
sagt wird,  daß  er  in  dem  „alten  Wort",  auf  das 
er  sich  berufe,  auf  Moses  hindeute,  in  dem  or- 
phischen  Gedichte  bei  Justin  sei  aber  keine  Er- 
wähnung des  „alten  Worts",  dagegen  tauche 
dasselbe  in  der  Fassung  des  Orphicum  bei  Euse- 
bius  in  v.  9  und  36  auf,  so  daß  hier  auch  Or- 
pheus als  sich  auf  das  „alte  Wort"  berufend  ge- 
schildert werde.  Da  zeigt  sich  also  ein  gewisser 
Fortschritt  von  Justin  zu  Eusebius,  in  welchem 
letzterer  das  dort  von  Plato  Gesagte  auf  Orpheus 
überträgt.  —  Das  orphische  Gedicht  sodann  bei 
Jnstin  legt  dem  Orpheus  ein  Testament  (dia$fj- 
xcu)  in  den  Mund,  welches  eine  Art  Palinodie 
eine  Bekehrung  von  früheren  polytheistischen 
Ansichten  zum  Monotheismus  enthält.  Bei  Cle- 
mens Alexandrinus  kommt  dann  ein  Einschiebsel 
hinzu,  das  sich  auf  Abraham  als  den  einzigen 
bezieht,  der  damals  Gott  erkannt  habe  (powo- 
y€V^g  »£  dnoQQOol*  (pvlov  ävoa&GV  XctXdcttmv). 
Eusebius  fügt  dazu  im  Anfang  einige  Einschieb- 
sel „von  den  Satzungen  der  Gerechten"  von 
dem  „Allen  gegebenen  göttlichen  Gesetze«  von 
dem  „alten  Wort",  dann  kommt  bei  ihm  der  Zu- 
satz des  Clemens  vom  „chaldäischen  Sprößling" 
nnd  in  v.  36.  37  der  Zusatz:  „wie  das  Wort 
der  Alten  (lautet),  wie  der  Wassergeborene  (d.  h. 
Moses)  befohlen  von  Gott  belehrt,  da  er  auf  dop- 
pelter Tafel  das  Gesetz  empfangen".  — *   Man 


1276      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  40. 

sieht  deutlich  die  fortschreitende  Erweiterung 
des  Gedichts  aus  dieser  Zusammenstellung,  so- 
wie seinen  Ursprung,  der  nicht  lange  vor  Justin 
zu  suchen  ist.  —  Wenn  man  endlich  die  prosai- 
schen Stücke  vergleicht:  das  was  hei  Clemens 
Alex,  ström.  VI,  680  (Sylb.)  und  bei  Eusebius 
XIII  c.  12  über  den  7 ten  Tag  gesagt  ist,  dort 
von  Clemens  als  eigne  Weisheit,  hier  von  Euse- 
bius als  aristobulisch  vorgetragen,  so  bekommt 
man  allerdings  den  Eindruck,  daß  wir  es  in 
beiden  Fällen  mit  derselben  christlichen  An- 
schauung zu  thun  haben,  die  nur  bei  Eusebius, 
um  sie  jüdisch  erscheinen  zu  lassen,  in  etwas 
abgeblaßter  Form  gegeben  ist. 

Der  2te  Excurs  über  die  Gnosis  richtet  sich 
zuerst  auf  den  Nachweis,  daß  die  sogenannten 
orientalischen  Elemente  derselben  fast  durchweg 
bereits  griechisch  vermittelt  seien,  bisweilen  bei 
näherer  Betrachtung  sich  sogar  unmittelbar  aus 
dem  Griechenthum  herleiten  lassen.  So  z.  B. 
die  Syzygienlehre  ausHesiod  u.  a.  —  Den  Vor- 
schlag des  Verf.,  die  Gnosis  in  eine  naive  und 
tendentiöse  zu  theilen,  überlassen  wir  als  zu  we- 
nig in  diesen  Fragen  bewandert  den  Kirchen- 
historikern zur  Prüfung.  Von  Werth  aber  sind 
uns  die  Mittheilungen  des  Verf.  über  die  Ein- 
flüsse griechischer  Anschauungen  auf  die  jüdi- 
sche Gnosis  gewesen,  insofern  sie  mit  reichem 
Material  die  Gefahr  illustrieren,  welche  dem  jü- 
dischen Monotheismus  durch  das  Eindringen  grie- 
chischer Philosopheme  drohte  und  zugleich  eine 
Anschauung  davon  geben,  wie  das  Judenthum 
dieser  Gefahr  durch  Modification  dieser  Lehren 
zu  entrinnen  suchte.  In  Betreff  der  Einflüsse 
der  platonischen  Seelenlehre  wäre  noch  an  Gü- 
demann's  rel.  geschieh tl.  Studien  1876  S.  8  zu 
erinnern. 

Die  Beziehung  der  iiftD  unw  ^sa   in   Cha- 


JoSl,  Blicke  in  die  Religionsgeschicbte.    1277 

giga  14b  auf  den  sr^niö  p«  (den  Grundstein 
der  Welt)  der  sich  zur  Zeit  des  2ten  Tempels 
angeblich  im  Allerbeiligsten  befand,  die  der  Verf. 
auf  S.  167  vorschlägt,  ist  eine  feine  Combination, 
nur  paßt  der  Ausdruck  der  Talmudstelle,  der 
auf  mehrere  Steine  weist,  nicht  recht  darauf. 
An  Druckfehlern  sind  uns  begegnet:  S.  8 
Noeldecke  st.  Noeldeke.  S.  10  u.  13  Solah  st. 
Sotah.    S.  33  Roch  st.  Bosch.  S.  98  yßdÖM  st. 

ißddfjbtj. 

Daß  des  Verf.  Schrift  werthvolle  Beiträge  für 
das  Verständniß  des  2ten  Jahrb.  p.  Chr.  enthält 
und  reich  ist  an  feinen  Detailuntersuchungen 
wird  man  aus  unsrer  Darlegung  ersehen  haben 
und  wir  hoffen,  daß  man  unsre  Einwendungen 
als  aus  sachlichem  Interesse  hervorgegangen  er- 
kennen wird,  nicht  aus  der  Absicht,  das  Buch 
irgendwie  herabzusetzen. 

Jena.  C.  Siegfried. 

Die  tachygraphischen  Abkürzungen 
der  griechischen  Handschriften.  Von 
Dr.  Oskar  Lehmann,  Mitglied  des  Egl.  Ste- 
nographischen Instituts  zu  Dresden.  Mit  Ge- 
nehmigung des  K.  Sachs.  Ministeriums  des  In- 
nern herausgegeben  vom  Kgl.  Stenographischen 
Institute  zu  Dresden.  Mit  10  Tafeln  in  Licht- 
druck. Leipzig,  B.  G.  Teubner  1880.  VI  und 
111  8.    8°. 

Es  ist  früher  wohl  gelegentlich  der  Wunsch 
geäußert,  von  der  grundlegenden  commentatio 
palaeographica  J.  Fr.  Bast's  eine  neue  Ausgabe 
zu  besitzen.  Dieser  Wunsch  ist  bis  jetzt  nicht 
erfüllt,  und  wird  auch  wohl  schwerlich  jemals 
erfüllt  werden,  zumal  da  wir  jetzt  ein  Buch  be- 
sitzen, das  bestimmt  ist  die  Bastsche  Abhandlung 
theilweise  zu  ersetzen.    In  Bezug  auf  den  Um- 


1278       Gott,  gel  Anz.  1880.  Stück  40. 

fang  decken  sich  allerdings  beide  Untersuchungen 
durchaus  nicht:  während  Bast  sich  nicht  auf  die 
Abkürzungen  beschränkt,  hat  Lehmann  aus  den 
Abkürzungen  speciell  die  tachygraphischen  aus- 
gesucht, um  dieselben  zum  Gegenstand  einer  ein- 
gehenden Untersuchung  zu  machen,  die  er  mit 
großem  Fleiße  und  anerkennnenswerther  Umsicht 
geführt  hat. 

Nach  einer  kurzen  Einleitung  über  Abkür- 
zungen und  über  Tachygraphie  behandelt  er  in 
dem  eigentlichen  Haupttheile  I.  die  Zeichen  für 
Buchstaben  und  Silben  in  alphabetischer  Ordnung 
und  II.  die  Zeichen  für  Wörter  APA9  TAP  etc. 
Man  sieht  also:  die  Anordnung  des  Stoffes  ist 
eine  sachliche  und  nicht,  wie  Ref.  gewünscht 
hätte,  eine  chronologische. 

Man  kann  die  Abkürzungen  aus  verschiedenen 
Gründen  zum  Gegenstand  einer  Untersuchung 
machen.  Entweder  kann  man  fragen,  was  die 
Zeichen  bedeuten;  oder:  in  welcher  Zeit  lassen 
sie  sich  zuerst  nachweisen,  wie  groß  war  die 
Masse  der  gebräuchlichen  Abkürzungen  in  einem 
bestimmten  Jahrhundert,  um  dadurch  einen  An- 
haltspunkt für  die  Datierung  einer  Handschrift 
zu  gewinnen.  —  Was  nun  den  ersten  Punkt  be- 
trifft, so  war  Bast's  Kenntniß  keine  so  geringe, 
als  man  denken  könnte.  Bast  verstand  aller- 
dings nicht  viel  von  der  griechischen  Tachy- 
graphie, aber  er  kannte  die  Bedeutung  der  ta- 
chygraphischen Abkürzungen;  ungefähr  so,  wie 
Jemand  im  Stande  ist,  eine  mathematische  Formel 
anzuwenden,  selbst  wenn  er  nichts  davon  versteht, 
wie  sie  gebildet  und  erklärt  wird.  Bast  und 
vor  ihm  schon  Andere  hatten  theils  durch  auf- 
merksame Leetüre,  theils  durch  Heranziehung 
anderer  Handschriften  oder  Drucke,  in  denen  die 
Abkürzungen  aufgelöst  waren,  den  richtigen  Werth 
der  zunächst  räthselhaften  Zeichen  erkannt.  Aber 


* 


ehmann,  Taehygraphische  Abkürzungen.    1279 


hier  blieb  natürlich  noch  Manches  zu  than  für 
Einen,  der  wirklich  griechische  Tachygraphie  zu 
lesen  verstand,  und  es  ist  das  Verdienst  des 
Verf.  hier  manches   gebessert  zu  haben   durch 
rationelle  Auffassung  und  richtigere  Erklärung. 
Auch  was  den  zweiten  Punkt,  die  chronolo- 
gische Seite  betrifft,  so  springt  sofort  ein  ent- 
schiedener Vorzug  des  Lehmannschen  Werkes 
in  die  Augen:   daß  der  Verf.  fast  ausschließlich 
sicher  datierte  Handschriften  benutzt  und  jedes- 
mal die  Jahreszahl,  oder  doch  das  Jahrhundert 
der  Handschrift  hinzufügt,  aus  der  Abkürzungen 
citiert  werden.  —  Gerade  deshalb  wäre  es  wün- 
schenswert gewesen,  wenn  der  Verf.  noch  einen 
Schritt  weiter  gegangen  wäre   und  die  Chrono- 
logie zur  Grundlage  des  Ganzen  gemacht  hätte, 
so    daß  der  Leser  sich  leicht  einen  Ueberblick 
darüber  verschaffen  könnte,  wie  groß  der  Schatz 
von  Abkürzungen  war,  der  zu  einer  bestimmten 
Zeit   in  Cure  gesetzt  war.    Wenn  die  Aufgabe 
aber  von  dieser  Seite  zu  lösen  versucht  wurde, 
dann  verstand  es  sich  von  selbst,  daß  sie  nicht 
auf  die  tachygraphischen    beschränkt  werden, 
sondern  alle  Abkürzungen  umfassen  mußte. 

Dieser  Mangel  in  der  Anlage  hängt  aufs 
Engste  zusammen  mit  dem  Material,  das  benutzt 
wurde:  der  Verf.  hat  fast  nur  nach  Schriftpro- 
ben, nicht  nach  Handschriften  gearbeitet  Es 
liegt  nicht  der  mindeste  Vorwurf  darin,  weil 
dieses  Ziel  sich  nur  durch  weite  und  kostspielige 
Reisen  hätte  erreichen  lassen  und  weil  der  Verf. 
sich  nur  an  gute  und  zuverlässige  Schriftproben 
gehalten  hat  Allein  Schriftproben  bleiben  doch 
eben  nur  Proben,  die  eine,  höchstens  zwei  Sei- 
ten der  Handschrift  wiederzugeben  pflegen,  die 
noch  dazu  meistens  nach  anderen  Gesichtspunk- 
ten ohne,  Rücksicht  auf  die  Abkürzungen  für 
die  Reproduction  ausgewählt  sind.     Wer  also 


1280       Gott.  gel.  An».  1880.  Stück  40. 

mit  Nachbildungen  arbeitet,  kann  keinen  Ueber» 
blick  geben  über  die  von  einem  Schreiber  ii 
einer  bestimmten  Zeit  gebrauchten  Abkürzungen. 
Das  ist  allerdings  eine  Forderung,  der  keine  der 
älteren  Sammlungen  —  auch  meine  eigene  nicht 
—  genügt,  die  aber  im  Laufe  der  Zeit  sich  im- 
mer mehr  als  unabweislich  herausstellen  wird. 
Wer  sich  später  einmal  diese  Aufgabe  steUt, 
wird  sich  natürlich  nicht  auf  die  tachygraphi- 
schen  Abkürzungen  beschränken  dürfen,  sondern 
alle  Abkürzungen  in  den  Bereich  seiner  Unter- 
suchung zu  ziehen  haben.  Eine  derartige  Untersu- 
chung ist  allerdings  schwierig,  aber  auch  in  hohem 
Grade  lohnend,  namentlich  für  die  Bestimmung 
der  späteren  undatierten  Minuskelnhandschriften. 
Da  der  Verf.  sich  dieses  Ziel  nicht  ge- 
steckt hat,  so  dürfen  wir  ihm  nicht  vorwerfen, 
daß  er  es  nicht  erreicht  hat.  Die  Erwartungen, 
die  der  Titel  erweckt,  werden  befriedigt;  wir  be- 
sitzen in  dem  vorliegenden  Werke  einen  zuver- 
lässigen Führer  durch  ein  schwieriges  Gebiet, 
das  Manche  bis  vor  Kurzem  nur  ungern  betra- 
ten, weil  die  tachy graphischen  Abkürzungen  sich 
einem  rationellen  Verständniß  zu  entziehen,  und 
tastenden  oder  rathenden  Versuchen  des  Lesers 
oder  Abschreibers  Preis  gegeben  zu  sein  schienen. 
Mit  dieser  Auffassung  ist  es  nun  definitiv  zu 
Ende.  Nicht  als  ob  ich  mit  allen  Einzelheiten 
dieses  Werkes  vollständig  einverstanden  wäre; 
im  Gegentheil,  es  bleiben  noch  Differenzpunkte 
genug  übrig,  selbst  in  principiellen  Fragen ;  trotz- 
dem aber  trage  ich  kein  Bedenken,  das  vorlie- 
gende Werk  zu  empfehlen  als  werthvolle  Ergän- 
zung meines  Handbuchs  der  Griechischen  Palaeo- 
graphie. V*  Gardthausen. 

Für  die  Redaction  verantwortlich :  S.  Behnisch,  Director  d.  Gott.  gel.  Anx. 

Commissions -Verlag  der  Dieterich'schm  Verlags-  BHchhcmdhmg. 

Druck  der  Dieterich'schm  Univ.-  Buchdruckerei  ( W,  Fr.  Kaestmer). 


/ 


1281 

Gö  tti  ng  i  sehe 

gelehrte    Anzeigen 

unter  der  Aufsicht 

der  Königl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 
Stück  4L  13.  October   1880. 


Inhalt:  Joh.  Steenstrup ,  Normannerne.  I— in.  1.  Von  Aow- 
rad  v.  Maturer.  —  W.  His,  Anatomie  menschlicher  Embryonen.  I.  Von 
W.  Krause. 

ss  Eigenmächtiger  Abdruck  von  Artikeln  der  Gott.  gel.  Anz.  verboten  ss 


Normannerne,  af  Johannes  G.  H.  11. 
Steenstrup.  Bd.  I,  1876;  Bd.  II,  1878;  Bd. 
III,  Heft  1.  1879.    Kopenhagen,  Rudolph  Klein. 

Die  Untersuchungen  über  die  Geschichte  der 
Normannen,  welche  der  junge  dänische  Geschichts- 
forscher Johannes  Steenstrup  seit  einigen  Jahren 
zu  veröffentlichen  begonnen  hat,  sind  all  erwarte 
mit  großem  Interesse  aufgenommen  worden.  Die 
beiden  ersten  Bände  des  diesem  Gegenstande 
gewidmeten  Gesammtwerkes  wurden  insbesondere 
auch  in  deutschen  Zeitschriften  einläßlich  be- 
sprochen, zumal  in  der  Historischen  Zeitschrift 
durch  Karl  von  Amira,  und  in  der,  inzwischen 
eines  kläglichen  Todes  verblichenen,  Jenaer  Li- 
teraturzeitung durch  den  Unterzeichneten.  Die 
Gelehrten  Anzeigen  haben  indessen  von  dem 
Unternehmen   bisher   noch   keine  Notiz  genom- 

bl 


1282      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  41. 

men,  und  so  mag  denn  das  neuerdings  erschie- 
nene erste  Heft  seines  dritten  Bandes  hier  zur 
Sprache  gebracht  werden,  wobei  freilich  ein 
mehrfaches  Zurückgreifen  anf  die  früheren 
Bände  nicht  vermieden  werden  kann  und  will. 
Wie  weit  nordgermaniscber  Einfluß  durch 
Vermittlung  normannischer  Niederlassungen  in 
Frankreich,  England,  Italien,  Rußland  auf  die 
politischen  und  Gulturzustände  des  übrigen  Eu- 
ropas bestimmend  eingewirkt  habe,  und  wie  sich 
dieser  Einfluß  allenfalls  unter  die  versehiedepen 
Zweige  der  Nordgermanen  vertheile,  ist  eine 
alte  Streitfrage,  welche  freilich  im  Norden  un- 
gleich lebhafter  erörtert  zu  werden  pflegt  als 
bei  uns  in  Deutschland.  Während  wir  nicht 
nur  auf  die  zweite  Hälfte  der  Frage  nur  sehr 
geringen  Werth  zu  legen,  sondern  sogar  die 
erste  ziemlich  kühl  und  theilnamslos  zu  erörtern 
pflegen,  ist  man  im  Norden  sehr  geneigt,  die 
ganze  Frage  vom  Standpunkte  der  Nationalehre 
aus  zu  behandeln,  also  einerseits  den  Einfluß 
der  Nordgermanen  überhaupt  auf  die  Entwick- 
lung des  übrigen  Europas  zu  überschätzen,  und 
andererseits  das  Vorherrschen  des  dänischen, 
norwegischen  oder  selbst  schwedischen  Elemen- 
tes als  ein  Streitobject  unter  dänischen  und 
norwegischen,  allenfalls  auch  schwedischen  und 
isländischen  Verfassern  zu  betrachten.  Eine 
leidenschaftslose,  und  zugleich  in  alle  Einzeln- 
heiten des  viel  verschlungenen  Stoffes  ein- 
gehende Untersuchung  der  Frage  müßte  hier- 
nach ein  ganz  ungewöhnliches  Interesse  bieten, 
und  eine  solche  stellt  uns  der  Verf.  in  der  That 
in  Aussicht.  In  der  Vorrede  zu  seinem  ersten 
Bande  erklärt  er  nämlich,  daß  Untersuchungen 
über  die  Geschichte  des  anglo-normännischen 
Hechtes,   und  der  Versuch,    womöglich    die  Ge- 


Steenstrup,  Normannerne.  1283 

setzgebung  festzustellen,  welche  in  Dänemark 
vor    den   Provinzialrechten   gegolten  habe,  ihm 
die  Notwendigkeit  einer  neuerlichen  gründlichen 
Prüfung  der  Geschichte  der  Normannen  klar  ge- 
macht haben,   and   von   hier  aas  ergiebt  sich, 
daß    die   Aufgabe,    welche   er  sich  setzt,   eine 
zwiefach  abgestufte  ist,  indem  er  in  erster  Li- 
nie   eine  neue,   kritisch   gesichtete  Darstellung 
des  Verlaufes  der  Vikingerzüge  zu  geben  beab- 
sichtigt, in  zweiter  Linie  aber  das  richtige  Ver- 
ständnis  der  Rechtsordnung,   welche   die   Nor- 
mannen sei  es  nun  in  die  eroberten  Lande  mit- 
gebracht   oder   in   diesen   angenommen    haben, 
und  derCultur  erschließen  will,  welche  sie  über 
Europa   ausbreiteten.     Zweifellos  ist   es    dabei 
die  zweite  Hälfte  dieser  Aufgabe,  um  deren  Lö- 
sung  es   dem  Verf.   hauptsächlich    zu  thun  ist, 
wie    sie   denn   auch   in   der  That  das  ungleich 
tiefere   Interesse  bietet;    die  äußere  Geschichte 
der  Vikingerzeit  dagegen  soll  ihm  nur  als  Mit- 
tel zum  Zweck  dienen,  sofern  deren  vorgängige 
Klarstellung  für  die  Beantwortung  jener  zweiten 
Frage   die   unumgänglich  notwendige  Voraus- 
setzung bildet.    In  der  Ausführung  freilich  ge- 
staltet sich  die  Sache,  vorläufig  wenigstens  noch, 
wesentlich  anders,  indem  zwar  die  äußere  Ge- 
schichte   der    normannischen    Heerfahrten    mit 
großer    Ausführlichkeit    vorgetragen ,    dagegen 
aber   deren  Ergebniß  für  die  Verfassungs-  und 
Culturgeschichte  der  ihnen  ausgesetzten  Länder 
keineswegs  festgestellt  wird.   So  bietet  demnach 
zur  Zeit  Steenstrup's  Werk  über  die  Normannen 
bereits  eine  sehr  brauchbare  und  sehr  verdienst- 
liche Vorarbeit  für  eine  zukünftige  Lösung  je- 
ner tiefergehenden  rechts-  und  culturgeschicht 
liehen  Frage;   ob   es  aber  selbst  deren  Lösung 
bringen   werde   oder   nicht,   läßt   sich,   solange 

81* 


1284      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  41. 

dasselbe   noch   nicht  abgeschlossen  vorliegt,  in 
keiner  Weise  ersehen. 

Ueber   die   nöthige    sprachliche   Vorbildung 
gebietend,  —  großer  Vertrautheit  mit  den  Quel- 
len sich  erfreuend,    deren  Zerstreutheit    gerade 
in  diesem  Falle  ganz  ungewöhnliche  Schwierig- 
keiten bereitet,  —    endlich   mit  unermüdlichem 
Fleiße  und  gesunder  Kritik  ausgestattet,  bringt  der 
Verf.    zu   seiner   Darstellung   der  äußeren    Ge- 
schickte   der    Vikingerzeit    die    unerläßlichsten 
Vorbedingungen  in  reichem  Maße  mit,  und  auch 
das  Bestreben,  von  allen   und  jeden  nationalen 
Sympathien  und  Antipathien  sich  vollständig  frei 
zu  halten,  ist  bei  ihm  unverkennbar  vorhanden. 
So  ist  ihm  denn  auch  gelungen,  nicht    nur,    so- 
weit sein  Werk  reicht,  eine  wohlgeordnete  Dar- 
stellung der   einzelnen  Vikingerzüge   zu    geben, 
sondern  auch    eine  Reihe  allgemeinerer  Ergeb- 
nisse zu  gewinnen,    oder   doch  neue  Gesichts- 
punkte aufzustellen,   welche,   sei  es  nun  als  ge- 
sicherte Thatsachen,  oder  doch  als  sehr  beach- 
tenswerthe  Merkzeichen   für  künftige  Forschun- 
gen  begrüßt   werden    dürfen.     In   der  ersteren 
Beziehung   ist   zu   bemerken,    daß  der  Verf.  in 
seinem   zweiten  Bande  die  Vikingerzüge  gegen 
Westen  während  des  9.  Jahrh.,   und  im  dritten 
die  dänischen  und  norwegischen  Reiche  auf  den 
britischen  Inseln  während  der  Zeit  der  Dänen- 
herrschaft behandelt,   d.  h.   bis   in  den  Anfang 
des  11.  Jahrh.    herab.     Auf  das   Einzelne   der 
geschichtlichen    Begebenheiten    einzugehen    ist 
natürlich  hier  nicht  am  Platze,   da  bei   der  un- 
absehbaren Fülle  isolierter  Thatsachen,   um   die 
es  sich  dabei  handelt,    ein  Buch  über  ein  Buch 
geschrieben  werden   müßte,   wenn  man  prüfend 
nachgehen  wollte;  dagegen  mögen  ein  paar  Be- 
merkungen   allgemeinerer   Art    verstattet    sein, 


Steenstrup,  Normannerne.  1285 

welche    sich    auf   die  Art  heziehen,  in  welcher 

'-  der  Verf.  seinen  Stoff  behandelt    Seinen  ersten 

Band   beginnt   derselbe   mit  einer  Besprechung 

der    Quellen    zur    Geschichte    der   Nonnannen 

-  (I,  S.  1 — 48) :  und  auch  im  weiteren  Verlaufe 
seines  Werkes  kommt  er  wiederholt  auf  diesel- 
ben zurück,  sei  es  nun  um,  erhobenen  Einwen- 

'-  düngen  gegenüber,  den  geringeren  Werth  zu 
:  rechtfertigen,  welchen  er  den  isländisch-norwe- 

-  gischen   Sagen    beilegt    (II,  S.  373—78):   oder 

-  um  gelegentlich  eine  Uebersicht  über  die  Quel- 
j  len  für  die  irische  (II,  S.  105-7;  S.  108— 9)  oder 
*  welsche  (III,  S.  185—89)  Geschichte  zu  geben. 
\  Aber  diese  Bemerkungen  sind,  so  angenehm  und 
\  nützlich    sie    auch    für    den  Leser   sein  mögen, 

doch  allzuwenig  eingebend,  als  daß  sie  diesen 
über  das  Verfahren  aufklären  könnten,  welches 
der  Verf.  bei  Benützung  seiner  Quellen  einhält, 
oder  daß  sie  vollends  dieses  Verfahren  in  sol- 
chen Fällen  zu  rechtfertigen  vermöchten,  in  wel- 
chen dasselbe  allenfalls  beanstandet  werden 
könnte.  Ein  paar  Beispiele  mögen  diese  Be- 
merkung verdeutlichen.  Sowohl  bezüglich  der 
irischen  Geschichtsquellen  als  auch  in  Bezug  auf 
die  angelsächsische  Chronik  macht  der  Verf. 
wiederholt  darauf  aufmerksam,  daß  dieselben 
nicht  eben  selten  die  Chronologie  gestört  zeigen, 
sei  es  nun,  daß  einzelne  Einträge  unter  eine 
falsche  Jahrzahl,  oder  allenfalls  sogar  unter  ver- 
schiedene Jahrzahlen  zugleich  eingestellt  sind, 
oder  daß  für  längere  Zeitabschnitte  die  verzeich- 
neten Jahresangaben  der  richtigen  Zeitrechnung 
gegenüber  consequent  verschoben  sind.  Man 
erwartet  nun  darüber  Aufschluß,  wie  weit  etwa 
ha  erstem  Falle  eine  Verderbniß  des  Textes  in 
allen  oder  in  einzelnen  Hss.,  und  wieweit  im 
letzteren  Falle  etwa  eine  Verschiedenheit  des 
Jahresanfangs   oder  der  Berechnung  des  Aus- 


^  i 


1286       Gott  gel.  Adz.  1880.  Stück  41. 

gangspunktes  für  das  chronologische  System  der 
einzelnen  Quelle  maßgebend  geworden   ist;    der 
Verf.  beschränkt  sich  aber  den  irischen  Quellen 
gegenüber  auf  die  Feststellung  des  Verhältnisses, 
in   welchem   einzelne   Jahresangaben  derselben 
zu  anderweitig  nachweisbaren  Jahrzahlen  stehen, 
und  bezügl.  der  ags.  Chronik  auf  den  Aussprach 
(III,  S.  30),   daß  man  versäumt  habe,    dieselbe 
einer  tiefergehenden  Untersuchung  in  der  Rich- 
tung  auf  ihre  genealogische  Entstehungsweise 
und  das  Studium  ihrer  chronologischen  Angaben 
zu  unterziehen.    Der  Verf.  hat  sich  ferner  schon 
in   seinem    ersten   Bande   (S.  60 — 61)   mit  den 
„3.  scipu  Nordmanna  of  Hseredalandea  beschäf- 
tigt, welche  nach  einem  Eintrage  der  ags.  Chro- 
nik zum  Jahre  787  „f>a  serestan  scipu  Deniscra 
monnatf    gewesen  sein  sollten,   welche  England 
heimsuchten;   er  hat  sodann   in  seinem  zweiten 
Bande  (S.  15 — 20)  eine  ausführliche  Erörterung 
über  diese  Stelle  gegeben,   und   ist  nunmehr  in 
seinem  dritten  Bande  (S.  91  u.  101—104)  noch 
mals    auf   dieselbe   zurückgekommen.     Er    be- 
schränkt   sich  dabei  nicht  auf  die,  vollkommen 
richtige,  Bemerkung,  daß  der  auf  diese  Schiffe 
bezügliche   Bericht   nicht    gleichzeitig   mit    der 
berichteten  Begebenheit  aufgezeichnet  sein  könne, 
und  daß  derselbe  überdies  eine  doppelte  Textes 
gestaltung  verrathe,  welche  erst  hinterher  ver- 
kehrter Weise  verbunden  worden  sei,  daß  ferner 
von  den  6  uns  näher  bekannten  Hss.   nur   drei 
(D.  E.  u.  F.)  sowohl  die  Bezeichnung  der  Schiffe 
als  nordmännischer   als   die  Herkunft  derselben 
aus  Haeredaland   erwähnen,    wogegen    zwei  an- 
dere (B.  u.  C.)   nur    die  erstere,  nicht  die  letz- 
tere Notiz  enthalten,  und   die  sechste  (A.)   von 
beiden  Umgang   nimmt    und   somit   die    Schiffe 
nur  als  dänische  bezeichnet,   sondern   er  bean- 
standet auch  die  Richtigkeit  jener  Angabe  theils 


Steenstrup,  Normannerne.  1287 

ans  inneren  Gründen,  indem   von  norwegischen 
Heerfahrten  nach  England  im  Gegensatze  zu  den 
dänischen  vor  dem  10.  Jahrh.  nirgends  die  Bede 
sei,  und  überdies  eine  geographische  Bezeichnung 
der  Heerleute   nach   ihrer  Herkunft  erst  gegen 
die  Mitte  des  9.  Jahrh.  hin  aufkomme,  während 
man  sie  bis  dahin  nur  in  unbestimmterer  Weise 
als    Fremde,    Heiden    u.   dgl.   bezeichnet  habe, 
tbeils    auch   aus  aus  dem  äußeren  Grunde,  daß 
die  sämmtlichen  lateinischen  Chroniken,  welche 
auf  der  ags.  Chronik  fußen,  die   Schiffe   weder 
als  normannische  noch  als  aus  Hseredaland  kom- 
mend bezeichnen.    Da   nun  Heinrich   von  Hun- 
tingdon  die,   als   dänisch  bezeichneten,  Schiffe 
„praedationis  causa"  England  anlaufen  läßt,  soll 
eine    Corruptel  in    unseren  Hss.  vorliegen,  und 
für    „of   hseredalande"    gelesen  werden    „ofer- 
basrian-dset  land"  oder  etwas  Aehnliches.     Das 
ist  nun  sicherlich  sehr  scharfsinnig  ausgedacht; 
aber  so  billigen  Kaufes  kommt  man  doch  nicht 
über  ausdrückliche  Quellenzeugnisse  weg.     Die 
angeblichen  inneren  Gründe   zunächst  beweisen 
gar  Nichts.    Der  Verf.  selbst  bemerkt,   daß  die 
ags.  Chronik,  von  dem  hier  fraglichen  Eintrage 
zum  Jahre  787  abgesehen,  zum  ersten  Male  zum 
Jahre  833    dänischer  Heerleute   gedenke,   wäh- 
rend sie  zu  den  Jahren  793,  794  und  832   die 
fremden  Eindringlinge  lediglich   als  Heiden  be- 
zeichne; es  sind  dies  aber  auch  die  sämmtlichen 
Einträge,  welche  sich  auf  derartige  Einfalle  be- 
ziehen, und  stehen  sich  somit  für  die  Jahre  787 
— 833  zwei  Angaben,  welche  die  Herkunft  der 
Fremden  bezeichnen,  und  drei,  welche  sie  unbe- 
zeichnet  lassen,   gegenüber.     Ueberdies   folgen 
schon  zu  den  Jahren  835  und  837  zwei  weitere 
Nennungen  des  Dänennamens,  während  man  zum 
Jahre   838  wieder  die  Heiden  erwähnt  findet; 


1288      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  41. 

es  ist  hiernach  rein  zufällig,  wenn  zum  einen 
Jahre  die  eine,  zum  andern  die  andere  Bezeich- 
nungsweise gebraucht  wird.  Daß  ferner  engli- 
sche Chronisten  um  die  Grenzscheide  des  8.  und 
9.  Jahrhunderts  den  Namen  der  norwegischen 
Landschaft  Hördaland  kennen  konnten,  ist  um 
Nichts  auffälliger  als  daß  Einhards  Annalen  zum 
Jahre  813  die  Landschaft  Westarfolda,  oder  die 
aquitanische  Chronik  zum  Jahre  843  die  West- 
faldingi  kennen  (Pertz  I,  S.  200  und  II,  S.  253), 
woran  der  Verf.  keinerlei  Anstoß  nimmt  (I,  S. 
52 — 3);  tritt  doch  gerade  Hörctaland  auch  noch 
in  Odds  Lebensbeschreibung  des  Königs  Olaf 
Tryggvason  (cap.  15,  edd.  Munch;  cap.  19.  edd. 
Hafn.)  neben  Drontheim  und  Wigen,  Helgeland 
und  den  Hochlanden  als  ein  Haupttheil  Norwe- 
gens auf,  und  sind  doch  andere  norwegische 
Provinzialnamen  dem  Beowulfs-  und  Wanderer- 
liede,  ja  schon  um  Jahrhunderte  früher  dem 
Jordanes  bekannt  *).  Die  von  der  ags.  Chronik 
abweichende  Gestaltung  des  Berichtes  in  den 
späteren  lateinischen  Geschichtswerken  ist  aller- 
dings beachtenswert!),  aber  sie  beschränkt  sich 
nicht  auf  den  hier  fraglichen  Punkt,  vielmehr 
nennt  z.  B.  Actalweards  Chronik  den  Namen  des 
gerefa,  welchen  die  fremden  Heerleute  todt- 
schlagen  (Beaduheard)  und  dessen  Amtssitz 
(Dorchester),  während  die  ags.  Chronik  von  bei- 
den Namen  Nichts  weiß,  |so  daß  also  sicherlich 
verschiedene  Berichte  über  den  Vorgang  vor- 
handen waren,  von  denen  die  eine  Quelle  die 
eine,  die  andere  eine  andere  Nachricht  aufbe- 
wahren  mochte.     Die   auf  Heinrich  von   Hun- 

*)  Nach  Grein's  üebersetzung  wäre  sogar  im  Wan» 
dererlied,  V.  81  zu  losen:  »mid  Hsednumand  med  Hsere- 
dum«,  statt  »haelef)um«;  Bibliothek  der  ags.  PoSsie,  I, 
S.  253. 


r^ 


Steenstrup,  Normannerne.  1289 


tingdon's  Bearbeitung   gestützte  Conjectur   aber 
würde,    um   plausibel   zu  erscheinen,  jedenfalls 
eine    eingehende    Untersnchung    über   den   von 
ihm  überhaupt  benutzten  Text  der  ags.  Chronik 
und  über  das  Filiationsverbältniß   der  drei  Hae- 
rectaland  nennenden  Hss.  dieser  letzteren  voraus- 
setzen und  könnte  zudem  doch  nur  diesen  Land- 
schaftsnamen beseitigen,   während   sie  doch  die 
für  den  Verf.  kaum  weniger  anstößige  Bezeich- 
nung der  Schiffe   als  norwegische   bestehen  las- 
sen würde.    Jene  Conjectur  verstößt  aber  über- 
dies   gegen    die   bekannte  kritische  Regel,   daß 
im  Zweifel  der  schwerer  erklärlichen  Lesart  der 
Vorzug  vor  der   leichter   erklärlichen   zu  geben 
sei,    und   in   der  That   läßt  sich  ja  zwar  ganz 
gut  begreifen,    wie  dies  auch  6.  Storm  bereits 
ausgeführt   hat    (Norsk   historisk   Tidsskrift  IL 
Rsekke,  IL  Bd.  S.  276),  daß  ein  späterer  Bear- 
beiter   den    ihm  fremden  Landschaftsnamen  als 
unverständlich  beseitigt  oder  allenfalls  auch  aus 
dem  „ofhaere3alandaa  ein  „oferbserian  J>aet  land tf 
herausgelesen  haben  mag,  aber  keineswegs  ver- 
stehen, wie  Jemand  dazu  gekommen  sein  sollte, 
aus   dem  ganz  verständlichen    „oferhserian  J>set 
landtt   jenen  völlig   fremdartigen   Provinznamen 
zu  machen.    So   wird    also   doch  wohl   die  Lö- 
sung  des   Räthsels   darin  zu  suchen  sein,  daß 
neben  einem  Berichte,    welcher  die  drei  Schiffe 
als  norwegische  bezeichnete  und  aus  der  Land- 
schaft  Hörctaland   kommen    ließ,    ein    anderer 
stand,   welcher  auf  sie  den   ungleich   bekannte- 
ren Dänennamen  anwandte;    aus   ihrer  Vereini- 
gung entstanden  die  Einträge   in    unseren  Tex- 
ten der  ags.  Chronik,  die  nur  dadurch  verschie- 
den gestaltet  wurden,  daß  einzelne  Abschreiber 
das    ihnen   Unverständliche   beseitigten.      Trotz 
alles    aufgewandten   Scharfsinnes    scheint    mir 


1290      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  41. 

hiernach  der  Verf.  nicht  vermocht  zuhaben,  das 
Zeugniß  zu  entkräften,  welches  die  ags.  Chronik 
für  eine  norwegische  Heerfahrt  in  England,  sei 
es   nun   am  Schlüsse   des   8.   oder  am  Anfang 
des  9.  Jahrh.  ablegt;  der  Grund  aber  dieses  Miß- 
erfolges dürfte  wesentlich  in  einem  allzu  mecha- 
nischen Operieren   mit   einzelnen  Stellen  zu  su- 
chen sein,  aus  denen   sich  Manches   herauspres- 
sen läßt,   was   bei   breiterer  Quellenbetrachtung 
nicht   in    dieselben  gelegt  werden    würde.    Ue- 
brigens  möchte  ich  diesen  Ausspruch  nicht  miß- 
verstanden wissen.     Wer   einen  Gegenstand  be- 
handelt,   welcher  auf  die  Gescbichtsquellen  des 
Nordens,  Englands,  Schottlands  und  Irlands,  des 
gesammten  Frankenreichs  und  weiterhin  sogar  Ita- 
liens, Spaniens   und  Afrika's    ganz  gleichmäßig 
einzugehen   zwingt,    von   dem   kann   nicht  ver- 
langt werden,   daß  er  für  dieses  gesammte  Ge- 
biet  selbständige    and    erschöpfende  quellenge- 
schichtliche Detailforschungen  anstelle,   und  wo 
der  Stoff  in  eine  so  unabsehbare  Fülle  isolierter 
einzelner   Thatsachen   und  Quellenberichte   sich 
zerbröckelt,  wie  dies  bei  der  Geschichte  derVi- 
kingerfahrten   der  Fall  ist,   da  wird   eine  mehr 
spitzige  als  breite,  von  einer  Einzelheit  zur  an- 
dern springende  Darstellung  fast  unvermeidlich 
werden.    Nicht  ein  Tadel  gegen  den  Verf.  soll 
also   ausgesprochen,   sondern   nur    darauf  auf- 
merksam gemacht  werden,   daß   und  in  welcher 
Richtung   die  Schwierigkeit   der  Aufgabe    noch 
weitere  Arbeit  zu  erfordern  scheint.  —  Mit  dem- 
selben Vorbehalte  möchte   ich  noch  einen  zwei- 
ten  Punkt   zur    Sprache   bringen.     Die  Unter- 
suchungen  des  Verf.  bewegen  sich  guten  theils« 
auf  einem  Gebiete,  auf  welchem  Geschichte  und 
Sage   sich   berühren.      Der  Verf.   hält  dafür  (I, 
S.  14),   daß   die  Sage    stets   die  Möglichkeit  in 


Steenstrup,  Normannerne.  1291 

sich  trage,  ein  verkanntes  Stück  Geschichte  zu 
sein,  und  daß  es  die  Aufgabe  der  historischen 
Kritik  sei,  den  Kern  historischer  Wahrheit  her- 
auszufinden, welchen  die  Sage  verbergen  könne. 
Man  wird  nun  aber  beide  Sätze  unterschreiben, 
und  daneben  doch  der  Meinung  sein  können, 
daß  für  die  praktische  Anwendung  mit  ihnen 
nur  Wenig  gethan  ist,  sofern  sie  nämlich  einer- 
seits die  große  Schwierigkeit  ungelöst  lassen, 
im  einzelnen  Falle  zu  bestimmen,  wie  weit  eine 
einzelne  Nachricht  geschichtlichem  oder  sagen- 
mäßigen Charakters  sei,  und  andererseits  keine 
Kriterien  an  die  Hand  geben,  vermittelst  deren 
sich  der  historische  Kern  aus  der  sagenmäßigen 
Umhüllung  einigermaßen  sicher  herausschälen 
ließe.  Man  kann  dankbar  des  Verf. 's  scharf- 
sinnige Bemerkung  begrüßen,  daß  Saxo  Gram- 
maticus  keine  Vikingerzeit  kennt,  vielmehr  die 
ihr  entstammenden  Volkssagen  benutzt  habe, 
um  die  Vorzeit  seines  dänischen  Alleinherrscher- 
geschlechtes mit  gewaltigen  Eroberungsztigen 
auszustatten,  und  man  mag  dennoch  Anstand 
nehmen  die  einzelnen  Erzählungen  dieses  Ge- 
schichtsschreibers mit  einzelnen  Vorgängen  der 
Vikingerzeit  identificieren  zu  wollen,  da  sich 
hier  ein  viel  zu  großes  Bereich  von  Möglich- 
keiten darbietet,  als  daß  man  mit  einigem  Grade 
von  Sicherheit  das  thatsächlich  Richtige  zu  tref- 
fen hoffen  dürfte.  Man  kann  gerne  des  Verf.'s 
Erörterungen  über  den  Werth  des  Geschichts- 
werkes Dudo's  von  St.  Quentin  (I,  S.  30  ff.)  sich 
anschließen  und  darum  dennoch  den  Angaben 
gründlich  mißtrauen,  welche  dieser  über  alles 
Das  macht,  was  hinter  den  Einfällen  der  nordi- 
schen Heerleute  in  Frankreich  zurückliegt.  Dudo 
bezeichnet  nicht  nur  die  Dänen  und  Dänemark 
wie   so   manche  andere   mittelalterliche  Schrift- 


1292      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  41. 

steller  als  Daci  und  Dacia,  sondern  er  setzt  auch 
in  seinem  ersten  Buche  das  Land  an  die  Donau 
and  läßt  es  von  einem  Kranze  üherhoher  Alpen- 
gebirge  umgeben  sein,   während  das  Volk,    wie 
ein  Bienenschwarm  aus  der  Insel  Skandza  aus- 
gezogen,   zwischen    Geten    oder    Gothen,    Sar- 
maten,  Alanen  u.  dgl.  wohnt,  und  sich  selbst  den 
Namen  der  „Danai  vel  Dania  beilegt,    der   Ab- 
kunft von  Antenor  sich  rühmend.   Niemand  wird 
diese  Angaben   als  historisch    richtig  oder  auch 
nur  als  der  einheimisch  normannischen  Tradition 
entnommen  betrachten    wollen;   warum    soll    es 
nun  aber  anders  stehen    mit  dem  Berichte,    den 
der  Verf.   in  seinem  zweiten  Buche  über  Rollo's 
Herkunft  giebt?    Der  Vater  Rollo's,  „senex  qui- 
dam  in    partibus   Daciae",    ist   dem    Geschicht- 
schreiber  nicht   einmal    dem    Namen    nach    be- 
kannt, als  „dux"  bezeichnet,  soll  er  aber  nahezu 
das  ganze    dänische  Reich   und   dazu  Nachbar- 
staaten von  Dacia  und  Alania  besessen  haben. 
Zwischen  seinen  beiden  Söhnen   und  dem  däni- 
schen  Könige,    welcher    wiederum    ungenannt 
bleibt,  entsteht   nun  ein  Zwiespalt,    der  in  con- 
fusester  Weise  theils   durch   das  Bestreben   des 
Königs,   den  Beiden   ihre  Besitzungen  abzuneh- 
men,  theils  aber   dadurch    motiviert  wird,   daß 
diese  der  dänischen  Jugend,  welche  der  König 
einer  Hungersnoth  halber  aus  dem  Lande  trei- 
ben wollte,  ihre  Hülfe  zugesagt  hatten.    Nach- 
dem ein  Bruder  im  Kampfe  gefallen  war,  weicht 
Rollo  mit  6  Schiffen   aus  dem  Lande  und    geht 
zunächst  nach  der  Insel  Skandza,  von  dort  aber, 
durch  wiederholte  Träume  belehrt,  auf  die  Heer- 
fahrt nach  England  und  weiterhin   nach  Frank- 
reich.   Man  sieht,  aus  Jordanes  hat  Dudo  seine 
Dacia  „in  modum  coronae  —  praemagnis   Alpi- 
bus  emunita"  (vgl.  Jordanes,  de  reb.  get,  cap.  5 : 


Steenstrup,  Normannerne.  1293 

„ad  coronae  speciem  arduis  Alpibus  emunita") 
und  seine  Insel  Skandza,  aus  welcher  „velut 
examen  apum  ex  eanistrotf  (vgl.  cap.  1:  „velut 
examen  apum  ernmpens")  die  wilden  Völker 
herausbrechen,  wie  denn  auch  die  wunderliche 
Vermischung  der  Daci  und  Dani  in  des  Jorda- 
nes  Zusammenwerfen  der  Geten  und  Gothen 
ihr  Vorbild  hat;  aus  einheimischer  Ueberliefe- 
rung  konnte  er  allenfalls  haben,  daß  Kollo  nicht 
aus  Dänemark,  sondern  aus  der  Insel  Skandza, 
d.  h.  doch  wohl  Norwegen,  nach  den  britischen 
Inseln  und  weiterhin  dem  Frankenreiche  ge- 
kommen war  und  daß  Zerwürfnisse  mit  einem 
Könige  seine  Auswanderung  veranlaßt  hatten, 
während  für  ihn  zugleich  feststehen  mußte,  daß 
die  Mannschaft  Rollo's  eine  vorwiegend  dänische 
war.  Aus  diesen  Ingredienzien  hat  er  dann 
seine  Erzählung  zusammengebraut,  deren  Fabel- 
haftigkeit  uns  doch  ebenso  wenig  an  der  Glaub- 
würdigkeit seiner  Nachrichten  über  das  10. 
Jahrh.  zu  beirren  braucht,  als  wir  angelsäch- 
sischen oder  isländischen  Stammbäumen  hin- 
sichtlich ihrer  späteren  Glieder  zu  mißtrauen 
brauchen,  weil  deren  frühere  auf  Woden  oder 
Freyr  zurückführen.  Von  dieser  Seite  her  steht 
also  Nichts  im  Wege,  an  der  Angabe  der  nor- 
dischen Quellen  festzuhalten,  daß  Rollo  mit 
Gönguhrölf  identisch  sei,  dem  Sohne  Rögnvald- 
jarls,  welchen  K.  Haraldr  härfagri  aus  Norwe- 
gen verwiesen  hatte  und  welcher  in  Irland  eine 
Tochter  hinterließ,  von  der  eine  Reihe  vorneh- 
mer Häuser  auf  Island  abstammte;  die  Chrono- 
logie aber  kann  um  so  weniger  einen  Ausschlag 
geben,  als  dieselbe  hinsichtlich  der  nordischen 
Quellen  ganz  in  der  Luft  schwebt. 

Es  bleibt  noch  übrig,  die  allgemeineren  Er- 
gebnisse zu  bezeichnen,   welche  unser  Verf.  für 


1294      Gott  gel.  An*.  1880.  Stück  41. 

die  Wissenschaft  mehr  oder  minder  festgestellt 
hat.    Ich  rechne  dahin  in  erster  Linie  den  Satz, 
daß    der  Normannenname   in    den    fränkischen 
Quellen   keineswegs   die   Norweger  speciell  be- 
zeichnet, vielmehr   generell    die    Nordgermanen 
überhaupt  umfaßt,   so  daß  sich  in  keiner  Weise 
aus  seinem  Gebrauche  ersehen  läßt,  ob  im  ein- 
zelnen Falle  Angehörige  des  einen  oder  anderen 
Zweiges  dieses  Stammes  gemeint  seien.     Es  ge- 
hört dahin  zweitens   der  weitere  Satz,   daß   die 
Heerfahrten   und  Niederlassungen  nordgermani- 
scher Männer  im  Frankenreiche  und  im  [größe- 
ren Theile  von  England  ganz  tiberwiegend  von 
Dänemark  ausgingen,  wogegen  auf  den  Orkneys 
und  Shetland  nicht  nur,  sondern  auch  auf  den 
Hebriden,  Irland  und  der  Nord-  und  Westküste 
von  Schottland  die  norwegischen  Heerleute  die 
Hauptrolle  spielten.    Beide  Sätze  sind  allerdings 
nicht  völlig  neu,  und  z.  B.  ich  selber  habe  die- 
selben   bereits    vor     einem    Vierteljahrhundert 
ziemlich    bestimmt    ausgesprochen    (Die  Bekeh- 
rung des   norwegischen  Stammes  zum  Christen- 
thume  I,  S.  48  ff.  und  S.  65.  66) ;  aber  zum  er- 
sten Male  finden  sie  sich  hier  nicht  nur  ausgespro- 
chen, sondern  auch  ausführlich  belegt  und  über- 
dies bis  in's  Einzelnste   hinein   in  ihren  Conse- 
quenzen  verfolgt,  so  daß  man  wohl  sagen  kann, 
daß  sie  in  des  Verf.  Hand  erst  ihre  richtige  Ge- 
stalt und  Bedeutung  angenommen  haben.    Auf 
einzelnen  Punkten  mag  allerdings  in  der  Durch- 
führung jener   Sätze   allzu   einseitig   verfahren 
worden  sein;  aber  da  andererseits  nicht  geleug- 
net werden  will,   daß  in  einzelnen  Fällen  auch 
einmal   norwegische  Heerschiffe    das    Festland 
heimgesucht,    oder    norwegische    Männer     und 
Schiffe  an   wesentlich  dänischen   Unternehmun- 
gen sich  betheiligt  haben  mophten  (I,  S.  58—59), 


Steenstrup,  Normannerne.  1295 

sind  solche  Uebertreibungen  im  Grande  ziemlich 
unschädlich.    Ich  habe  z.B.  oben  die  Nachricht, 
welche  die  ags.  Chronik  über  die  3  Schiffe  ans 
Hördaland  giebt,  im  Widerspruche  mit  dem  Verf. 
festhalten  zu  sollen  geglaubt ;   aber  es  mag  ja 
sein,   daß   zu   einer  Zeit,   da  nach  Dikuil  die 
Faeröer  bereits  anfingen    „causa  latronum  Nor- 
mannoruma  von  ihren  keltischen  Bewohnern  ver- 
lassen zu  werden,  ein  paar  norwegische  Schiffe 
auch    an  die   englische  Küste  gelangten,   ohne 
daß   darum   der   dänische   Grundcharakter    der 
nach  dieser  Gegend  gerichteten  Unternehmungen 
in  Frage  zu  stellen  ist    Ich  meinte  an  der  nor- 
wegischen Abstammung  Rollo's   und   an  dessen 
Identität   mit   dem   Gönguhrölf  der    nordischen 
Quellen  mich  nicht  beirren  lassen  zu  sollen ;  aber 
damit  will  ebensowenig   der  vorwiegend  däni- 
sche Charakter  der  von  ihm  geführten  Schaaren 
bestritten  werden,  als  etwa  später  die  norwegi- 
sche Abkunft  0 'laf  Tryggvason's  oder  O'laf  Har- 
aldsson's  dem  überwiegenden  Dänenthume   der 
Heere  Eintrag   thut,    an   deren  Spitze   oder   in 
deren  Mitte  sich  beide  befanden,   und   anderer- 
seits erklärt  sich  gerade  von  hier  aus  sehr  ein- 
fach  der   dem   Verf.  (1,  S.  172)    so   anstößige 
Umstand,   daß   nach   Snorri  die    Nachkommen 
Rollo's   sich  stets   ihrer   norwegischen  Abkunft 
rühmten,   während   doch    gleichzeitig    die   Nor- 
mandie  als  ein  mit  Dänemark  verwandtes  Land 
galt.    In  keiner  Weise  haltbar  erscheint  mir  da- 
gegen,  was   der  Verf.   über   die  Ursachen   der 
Normannenztige  ausführt  (I,  S.  192—261).   Dudo 
erzählt  bekanntlich,    daß  die   Vielweiberei   und 
das  zügellose  Geschlechtsleben  im  Norden  wie- 
derholt zu  einer  Uebervölkerung,  und  diese  wie- 
der zu  bösen  Familienzwisten  geführt  habe;  da 
habe  man   sich   denn  genöthigt  gesehen,  einen 


1296      Gott.  gel.  Anz.  1830.  Stück  41. 

durch  das  Loos  bestimmten  Theil  der  jungen 
Mannschaft  aus  dem  Lande  zu  treiben,  und  auf 
Heerzüge  im  Auslande  anzuweisen.  Unser  Verf. 
hält  diese  Angabe  für  vollständig  begründet, 
und  sucht  aus  den  Quellenangaben  über  die 
Zahl  der  Schiffe  bei  einzelnen  Heerfahrten  und 
der  Gefallenen  in  einzelnen  Schlachten  die  Ue- 
bervölkerung,  aus  anderen  Quellenzeugnissen  die 
Existenz  von  Polygamie  und  zahlreichen  Concu- 
binatsverhältnissen  im  Norden  nachzuweisen, 
und  zugleich  .  wahrscheinlich  zu  machen,  daß 
auch  eine  zeitweise  Austreibung  eines  Theils 
der  jüngeren  Mannschaft  in  Folge  einer  eigen- 
tümlichen Gestaltung  des  altdänischen  Erb- 
rechtes stattgefunden  habe.  Die  letztere  Be- 
hauptung scheint  mir  durch  Karl  von  Amira 
bereits  gründlich  widerlegt  worden  zu  sein;  aber 
auch  die  beiden  ersteren  Sätze  scheinen  mir 
Nichts  weniger  als  bewiesen  oder  auch  nur 
wahrscheinlich  gemacht.  Wir  haben  allen  Grund 
anzunehmen,  daß  Polygamie  und  Goncubinat  im 
Norden,  wenn  auch  rechtlich  gestattet,  doch 
höchstens  nur  bei  vornehmeren  und  reicheren 
Männern  einigermaßen  üblich  war,  und  wir  wis- 
sen überdies  durch  die  Erfahrung,  daß  Zügel- 
losigkeit  in  geschlechtlichen  Dingen  nicht  lieber- 
Völker ung,  sondern  eher  Entvölkerung  eines 
Landes  zur  Folge  zu  haben  pflegt.  Nicht  min- 
der lehrt  die  Erfahrung,  daß  die  Natur,  zumal 
in  älteren  und  einfacheren  Zeiten,  einer  drohen- 
den Uebervölkerung  gegenüber  sieht  auf  ganz 
anderen  Wegen  zu  helfen  weiß,  duren  Vermeh- 
rung nämlich  der  Sterblichkeit,  zumal  unter 
Kindern.  Die  großen  Ziffern  aber,  welche  hin 
und  wieder  für  die  Vikingerschiffe  und  Heere 
angegeben  werden,  erklären  sich  theils  aus  der 
Kleinheit  der  ersteren,  dann  der  bunten  Mischung 


Steenstrup,  Normannerne.  1297 

und  raschen  Veränderlichkeit  der  letzteren,  wel- 
che dieselben  durch  vorübergehenden  Zusammen- 
schluß früher  getrennter  Abtheilungen  nicht  nur, 
sondern    auch    durch   Anschluß   unruhiger  Ele- 
mente aus  aller  Herrn  Ländern  sich  rasch  ver- 
stärken ließ,    theils  mögen  dieselben  aber  auch 
auf   Uebertreibungen   beruhen,  welche   die   er- 
hitzte  Phantasie   der   geängstigten    christlichen 
Bevölkerung   sehr  begreiflich   macht.    Die  Be- 
rufung dagegen   auf  Uebervölkerung   und  Hun- 
gersnoth   als   Erklärungsgrund   von  Auswande- 
rungen ist  eine  so  ungemein  allgemein  verbrei- 
tete, daß  sie  wohl   als  eine  sagenmäßige,    nicht 
aber  als  eine  geschichtliche  wird  gelten  dürfen, 
sofern  nicht  ausnahmsweise  im   einzelnen  Falle 
besondere  Beweise   für  deren  thatsächliche  Be- 
gründung beigebracht   werden   können.     Es  ist 
ferner  zwar  vollkommen  richtig,  wenn  der  Verf. 
zwischen  einer  ersten  Periode  der  Heerzüge  un- 
terscheidet, bei  welcher  es  sich  nur  um  Plünde- 
rungen während  des  Sommers,  und  einer  zwei- 
ten, bei  welcher  es  sich  auch  um  dauernde  Nie- 
derlassungen im  fremden  Lande  den  Winter  über 
handelt;  aber  auch  Unternehmungen  der  letzte- 
ren Art  sind  nicht  als  Völkerwanderungen  an- 
zusehen,  wenn   auch  Weiber   und  Kinder  gele- 
gentlich mit  auf  der  Fahrt  waren,  vielmehr  han- 
delt es  sich  immer  nur  um  willkührlich  zusam- 
mengelaufene Schaaren,  welche  sich  darum  ebenso 
leicht  wieder  trennen,  wie  sie  sich  vereinigt  ha- 
ben.  Gerade  von  hier  aus  erklärt  sich,  daß,  wie 
dies  auch  Karl  von  Amira  bereits  ausgesprochen 
hat,    die    nordgermanische    Rechtsüberlieferung 
unter   den  Ansiedlern   im  Auslande   rasch  ge- 
brochen,   die  nordgermanische  Sprache    unter 
ihnen  rasch    vergessen   wurde;   der   vom  Verf. 
selbst  nicht  ohne  Glück  angestellte  Versuch,  in 


1298      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  41. 

den    Gesetzen  K.  Frodi's  III.   nicht  das   Recht 
des  dänischen  Reiches,  sondern  dänischer  Heer- 
leute zu  erkennen,   und    dasselbe  mit  angeblich 
von  Herzog  Rollo  erlassenen  Rechtsvorschriften 
zu   vergleichen,   weist    sogar  selbst  darauf  hin, 
daß   es   nicht  das  Landrecht  der  Heimath,  son- 
dern  nur   ein  Complex  von   „vikingalög"   war, 
was  allenfalls  auf  die  Zustände  der  nordischen 
Colonielande   einwirken  mochte,   —    mit  Aus- 
nahme natürlich  der  wenigen  unter  ihnen,  wel- 
che, wie  Island  und   die  Fseröer,   die   Orkneys 
und  Shetland,  eine  dichte  und  so  gut  wie  unge- 
mischte  Bevölkerung    nordischen   Stammes  er- 
hielten.   Ich   will  aber  auf  die  zerstreuten  An- 
gaben, welche   der  Verf.  da  und  dort  über  den 
Einfluß    nordgermanischer    Anschauungen    und 
Ueberlieferungen  auf  die  Zustände  der  besetzten 
Provinzen  macht,  hier  nicht  weiter  eingehen,  da 
derselbe  hoffentlich  im  weiteren  Verlaufe  seines 
Werkes   diese   Frage   in  zusammenhängenderer 
Weise  betrachten  wird;  auf  zwei  Punkte  möchte 
ich  dagegen  allerdings  schon  jetzt  aufmerksam 
machen.     Einmal   nämlich  dürfte ,   um   darüber 
in's  Klare  zu  kommen,  wie  weit  nordischer  Ein- 
fluß  auf  die   von   Nordleuten    besetztet»   Land- 
schaften eingewirkt    habe,   vorab   eine  Feststel- 
lung  der  Zustände   dieser  Landschaften   unmit- 
telbar vor  dem  Beginne  der  nordischen  Einwan 
derung   erforderlich   sein.      Gerade    diejenigen 
beiden  Lande,  welche  bei  der  hier  zu  erledigen- 
den Frage  in  erster  Linie  in  Betracht  zu  kom- 
men haben,  England  nämlich  und  das  Franken- 
reich, zeigen  vor  dem  Eindringen   nordgermafli- 
scher  Bevölkerung  in  Recht  und  Cultur  das  stid- 
germanische   Element    herrschend,    wenn    auch 
durch  Chri8tenthum  und  Römerthum  vielfach  be- 
einflußt und  umgestaltet;  nicht  jede  Aehnlichkeit 


Steeostrup,  Nonnannerne.  1299 

zwischen   englischen    oder  normannischen   Zu- 
ständen  mit  dänischen  oder  norwegischen   darf 
hiernach, -wie  William  Stubbs  (The  constitutional 
History   of  England  I,  S.  203,  Anm.  1)    bereit« 
treffend  bemerkt  hat,   auf  dänischen  oder  nor- 
wegischen  Einfluß  zurückgeführt  werden,  viel- 
mehr ist  es  sehr  häufig  lediglich   die  zwischen 
allen  Zweigen  des  germanischen  Gesammtvolkes 
bestehende  Verwandtschaft,  welche  hier  und  dort 
verwandte  Erscheinungen   zu  Tage   treten  läßt. 
Zweitens  aber  fehlen  uns  fast  alle  Angaben  über 
Recht   und   Cultur   der   Nordgermanen   zu    der 
Zeit,   da   sie   mit   den  christlichen  Völkern  des 
Südens  und  Westens  noch   nicht  in   Berührung 
getreten   waren.    Wir  sind  darauf  angewiesen, 
unsere  Anschauungen  über  die  älteren  Zustände 
jener  ersteren   fast   ausschließlich  durch  Bück- 
schlüsse uns   zu   bilden,    welche   wir   aus  Auf- 
zeichnungen aus  ungleich  späterer  Zeit  zu  ziehen 
genöthigt  sind,  und  es  entsteht  somit  die  Frage, 
ob  nicht  die  Zustände,   von  welchen  diese  spä- 
teren Aufzeichnungen  Zeugniß  geben,  durch  Ein- 
flüsse beherrscht  sind,  welche  erst  späterer  Zeit, 
und   vielleicht  sogar  ausländischer  Einwirkung 
zugewiesen  werden  müssen.    Neben   die  Frage, 
wie   weit    nordgermanischer  Einfluß   auf  Recht 
und  Cultur  Englands  oder  der  Normandie  ein- 
gewirkt  habe,  stellt   sich   hiernach  die  zweite, 
nicht  minder  bedeutsame  Frage,  wie  weit  die 
Zustände   des  Nordens   ihrerseits   durch  fränki- 
schen, deutschen,  englischen  Einfluß  umgestaltet 
worden   seien,   und  wir    dürfen  unseren   Blick 
auch   der  Möglichkeit   nicht  verschließen,  daß 
Erscheinungen,  welche  in  England  und  der  Nor- 
mandie einerseits,   und  in  Dänemark  oder  Nor- 
wegen andererseits    gleichmäßig   wiederkehren, 
allenfalls  den  letzteren  Landen  von  den  ersteren 

82* 


1300      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  41. 

her  zugeführt  sein  könnten.  Wie  wichtig  dieser 
letztere,  bisher  weniger  beachtete  Gesichtspunkt 
ist,  leuchtet  ein,  seitdem  durch  die  Untersuchun- 
gen Sophus  Bugge's  und  A.  Chr.  Bang's  die 
Wahrscheinlichkeit  nahe  gelegt  ist,  daß  der  In- 
halt der  sog.  älteren  und  jüngeren  Edda  guten- 
theils  aus  christlichen  und  altclassischen  Quel- 
len herstammt,  und  über  die  britischen  Inseln 
dem  Norden  zugeführt  worden  ist.  Möge  der 
Verf.  bei  der  Fortsetzung  seines  mühevollen 
Werkes  auch  derartigen  Anforderungen  gerecht 
werden ! 

München,  den  23.  August  1880. 

Eonrad  Maurer. 


Anatomie  menschlicher  Embryo  nen 
von  W.  His.  I.  Embryonen  des  ersten  Monats. 
Mit  17  Holzschnitten  und  Atlas.  Leipzig,  Ver- 
lag von  F. C.W. Vogel.    1880.   184  S.  in  Octav. 

Die  vorliegende  erste  Lieferung  dieser  Mono- 
graphie ist  der  medicinischen  Gesellschaft  in  Ba- 
sel gewidmet.  Wie  bekannt  liegt  für  die  mensch- 
liche Embryologie  eine  Hauptschwierigkeit  in 
der  Beschaffung  des  erforderlichen  Materials. 
Nach  Ort  und  nach  Zeit  zerstreut  bietet  sich, 
wie  Verf.  bemerkt,  dem  einen  oder  anderen  Be- 
obachter ein  brauchbares  Object  dar  und  der 
Kreis  von  Erfahrungen,  über  welche  die  Wis- 
senschaft zur  Zeit  gebietet,  besteht  aus  Frag- 
menten, die  .zu  sehr  verschiedenen  Zeiten,  von 
sehr  verschiedenen  und  vor  allem  von  sehr  ver- 
schieden qualificierten  Beobachtern  gesammelt 
worden  sind. 


His,  Anatomie  menschl.  Embryonen.    I.    1301 

Dem  Verf.  stand  nun  ein  besonders  reichhal- 
tiges und  kostbares  Material  sehr  frühzeitiger 
menschlicher  Embryonen  zur  Verfügung.  Haupt- 
sächlich war  dasselbe  der  Aufmerksamkeit  prak- 
tischer Aerzte  in  Basel  zu  verdanken. 

Es  giebt  nur  zwei  Möglichkeiten,  in  den  Be- 
sitz von  sehr  jungen  menschlichen  Embryonen 
zu  gelangen:  in  der  Leiche  oder  durch  Abortus. 
Selbstmord  kommt  bei  Schwangeren  als  solchen 
zwar  vor,  aber  selbstverständlich  erst  in  späte- 
ren, nicht  im  ersten  Monate,  wo  die  Frauen 
nichts  von  ihrem  Zustande  wissen.  In  anato- 
mischen Anstalten  wird  man  also  nur  ganz  aus- 
nahmsweise Hoffnung  haben,  auf  ein  solches 
Präparat  zu  stoßen.  Mehr  Aussicht  bietet  sich 
anscheinend  der  pathologischen  Anatomie,  da 
von  den  vielen  jungen  Frauen,  welche  jährlich 
an  acuten  Krankheiten,  Verletzungen,  chirurgi- 
schen Operationen,  Vergiftungen  etc.  zu  Grunde 
gehen,  immerhin  eine  kleine  Anzahl  entspre- 
chende Objecte  möchte  liefern  können.  Aber 
die  Tagebücher  selbst  von  großen  pathologi- 
schen Instituten  wissen  kaum  jemals  über  einen 
solchen  Fall  zu  berichten  und  dies  ist  schwer- 
lich einer  mangelnden  Aufmerksamkeit  der 
pathologischen  Anatomen  zuzuschreiben,  sondern 
vielmehr  dem  Umstände,  daß  Abortus  unter  die- 
sen Verhältnissen  häufig  eintritt  —  selbstver- 
ständlich unter  dem  Bilde  einer  unzeitigen,  oder 
wie  es  scheint  öfter  einer  rechtzeitigen  Men- 
struation. Auf  diesen  Punkt  wäre  die  Aufmerk- 
samkeit der  Assistenten  an  weiblichen  Hospital- 
Abtheilungen  besonders  zu  lenken. 

Es  bleibt  also  der  Abortus.  Wird,  wie  Verf. 
sehr  richtig  bemerkt,  bei  einem  jeden  Falle,  in 
welchem  bei  einer  Frau  die  Periode  über  die 
Zeit  hinaus   sich  verzögert  bat,    eine  nachträg- 


/ 


1302      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  41. 

liehe  Blutung:  auf  ihren  Charakter  gehörig  ge- 
prüft und  dabei  sorgfältig  auf  etwa  ausgestoßene 
Blutklumpen  gefahndet,  so  steigert  sich  jeden- 
falls die  Aussicht  auf  Mehrung  des  bis  jetzt 
noch  so  sparsamen  Materials.  —  Besondere  Be- 
achtung verdienen  dabei  die  so  häufigen  Fälle 
von  habituellem  sich  mehrfach  wiederholendem 
Abortieren. 

Ref.  glaubte  diese  Auseinandersetzungen  be- 
sonders hervorheben  zu  müssen,  weil  der  Fort- 
schritt der  Wissenschaft  so  sehr  von  dem  Be- 
kanntwerden der  Sachlage  abhängig  ist.  Auf 
technische  Details  einzugehen,  ist  hier  nicht  der 
Ort;  doch  muß  erwähnt  werden,  daß  der  Verf. 
ca.  60°/0igen  Alkohol  zur  vorläufigen  Conser- 
vierung  empfiehlt.  Die  Uebersendung  an  einen 
Fachmann  würde  in  derselben  Flüssigkeit  nach 
Umhüllung  des  Ei's  mit  loser  Baumwolle  zu  ge- 
schehen haben. 

Was  die  Untersuchungsmethoden  (S. 
6—13)  anlangt,  so  sind  exaete  Zählungen  und 
Messungen  deren  unentbehrliche  Basis.  Lineare 
Vergrößerungen  von  14  Mal  bis  40  Mal  wur- 
den angewendet,  Photographien  auf  Glas  auf* 
genommen,  die  bei  Herrn  Th.  Honikel  in  Leip- 
zig auch  käuflich  zu  haben  und  im  stereosko- 
pischen Bilde,  wie  Bef.  aus  eigener  Anschauung 
weiß,  von  bewundernswerter  Schönheit  sind. 
Außerdem  wurden  die  Embryonen  schließlich 
gefärbt,  in  Schnittserien  zerlegt,  daraus  durch 
plastische  Synthese  reconstruiert  und  wo  mög- 
lich nachmodelliert. 

Die  acht  großen  Foliotafeln  des  Atlas  zei- 
gen, daß  diese  Methoden  den  strengsten  Anfor- 
derungen an  Näturtreue,  Anschaulichkeit,  sogar 
an  Schönheit  Genüge  leisten.  Zu  bedauern  ist 
nur,  daß  in  kleinen  Städten  ein  hinlänglich  ge- 


His,  Anatomie  menschl.  Embryonen.  I.    1303 

schickter  Photograph  zur  Zeit  wohl  zu  den  sel- 
tenen Ausnahmen  gehören  dürfte. 

In  einer  zweiten  Lieferung  beabsichtigt  Verf. 
die  etwas  weiter  vorgeschrittene  Entwicklungs- 
stufe der  Embryonen  von  1—2,5  cm  Körper- 
länge zu  besprechen.  Die  vorliegende  erste 
Lieferung  enthält  die  Beschreibung  von  sieben 
Embryonen  aus  dem  ersten  Monat,  die  2  bis 
8  mm  Länge  besaßen.  Vorangestellt  sind  zwei 
ziemlich  gleich  entwickelte  von  7,5  resp.  7  mm 
Längsdurchmesser. 

Insofern  ist  die  Beschreibung  zuerst  casui- 
stisch.  Diese  beiden  werden  genau  beschrieben 
auf  Basis  von  z.  B.  59  Schnitten,  in  welche  der 
zweiterwähnte,  durch  Hämatoxylin  gefärbte 
Embryo  zerlegt  worden  war.  Ferner  folgt  die 
weniger  umfangreiche  Darstellung  (S.  100—145) 
der  fünf  anderen  zum  Theil  viel  jüngeren  und 
weniger  gut  conservierten  Embryonen.  Unter 
ausführlicher  kritischer  Beleuchtung  der  bisheri- 
gen casuistischen  Literatur  (S.  147 — 164)  wird 
dann  der  Versuch  gemacht,  die  Entwicklung  des 
ersten  Monats  in  zehn  Stadien  einzutheilen  und 
letztere  nicht  nur  mit  den  von  Thieren  bekann- 
ten zu  parallelisieren,  sondern  auch  dieselben 
auf  Zeit  zu  reducieren,  das  relative  Maß  mit- 
hin in  ein  absolutes  zu  verwandeln. 

Dies  führt  auf  die  Altersbestimmung  sehr 
junger  Embryonen  (S.  166 — 169).  Die  moderne, 
namentlich  von  Leopold  vertretene  Ansicht,  der 
auch  Verf.  beipflichtet,  sieht  bekanntlich  die 
Menstruation  als  aufräumenden  Abschluß  einer 
Reihe  die  Ei-Aufnahme  verbreitender  Verände- 
rungen an,  so  daß  das  Ovulum  der  ersten  aus- 
bleibenden Periode  zum  Embryo  wird,  falls  je- 
ner Abschluß  nicht  eintritt.  Damit  hängt  die 
Auffassung  des  ampullaren  Tubenendes  als  Re- 


1304      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  41. 

ceptaculum  serainis  und  die  Annahme  eigent- 
licher intermenstrueller  Conceptionen  zusammen. 
Ref.  hat  schon  früher  die  unausbleibliche  Er- 
schöpfung der  in  den  Spermatozoen  aufgehäuf- 
ten Spannkräfte  moniert,  sobald  erstere  einmal 
in  Bewegung  gerathen  sind,  um  dieser  Auffassung 
zu  widersprechen.  Man  muß  alsdann  freilich  zwi- 
schen permanent  sich  bewegenden  und  solchen 
Spermatozoen  unterscheiden,  die  durch  geeignete 
Zusatzflüssigkeiten  auch  nach  längerer  Zeit  noch 
wieder  in  Bewegung  gebracht  werden  können. 
Auch  wäre  auf  den  Hund  hinzuweisen,  woselbst 
die  charakteristische  Blutung  in  Uebereinstim- 
mung  mit  der  älteren,  früher  allgemein  adop- 
tierten Annahme  steht.  Selbstverständlich  wird 
damit  der  Darstellung  des  Verf.,  daß  dieDotter- 
furchung  innerhalb  der  Tube  abläuft,  nicht  das 
Mindeste  in  den  Weg  gelegt. 

Nun  giebt  es  einige  Fälle  in  der  Literatur, 
wo  die  Embryonen  sechs  Wochen  nach  der  letz- 
ten Menstruation  z.B.  2  mm  lang  waren  (Allen 
Thomson);  in  anderen  Fällen  hatte  ein  solcher 
nach  drei  Wochen  z.  B.  4,5  mm  Länge  (Hensen). 
Die  richtige  Erklärung  ist  offenbar,  daß  die  erst- 
genannten Embryonen  auf  einer  früheren,  etwa 
14tägigen  Entwicklungsstufe  abgestorben  waren. 
Verf.  verweist  in  Betreff  des  Hensen'schen  ganz 
normalen  Embryo's  auf  zukünftige  Erfahrungen 
der  Gynaekologen,  welche  jene  moderne  Auffas- 
sung bestätigen  oder  erweitern  sollen. 

So  sorgfältig  und  zuverlässig  auch  die  Be- 
schreibungen des  Verf.  sich  herausstellen,  so 
hätte  Ref.  trotz  der  dadurch  unvermeidlich  wer- 
denden Wiederholungen  eine  etwas  ausführ- 
lichere Darstellung  in  dem  hier  besprochenen 
Capitel  der  Altersbestimmungen  erwünscht  ge- 
funden.   Vielleicht   nur  zufolge  der  subjectiven 


His,  Anatomie  menschl.  Embryonen.   I.    1305 

Auffassung  des  Ref.  zeigt  sieb  gerade  an  die- 
sem Punkte  eine  Lücke  nicht  allein  in  der  Li- 
teratur, sondern  auch  in  der  Wissenschaft,  die, 
wenn  überhaupt  von  irgend  Jemand,  am  leich- 
testen vom  Verf.  ausgefüllt  werden  könnte.  Die 
Darstellung  müßte  —  mag  das  nun  zur  Zeit  völlig 
thunlich  sein  oder  nicht;  die  Forderung  darf 
ausgesprochen  werden  —  in  gutem  Sinne  dog- 
matisch sein,  d.  h.  mehr  der  Art  eines  Hand- 
buches entsprechen.  Alles  allgemein  Bekannte 
weglassend,  könnte  mit  kurzen  Worten  gesagt 
sein:  so  und  so  sieht  ein  Embryo  dieses  oder 
jenes  Stadium  aus,  dies  sind  die  Maaße  seiner 
wichtigeren  Körpertheile,  dies  die  Unterschiede  von 
den  nächst-entsprechenden  Entwicklungsstadien 
thierischer  Embryonen.  Eine  derartige  Formu- 
lierung würde  so  zu  sagen  praktischer  sein,  in- 
dem man  jetzt  stets  auf  die  gesammte  Gasuistik 
zurückzugehen  genöthigt  ist,  wenn  man  verglei- 
chen will.  Vielleicht  gefallt  es  dem  Verf.  zum 
Schluß  der  zweiten  Lieferung,  den  Deside- 
raten, zunächst  nicht  des  praktischen  Arztes, 
sondern  des  gynaekologischen  Fachmannes,  der 
sein  Wissen  an  der  Hand  einer  so  prachtvoll 
ausgestatteten  Monographie  erweitern  will,  ohne 
Repudiation  wie  gesagt  von  Wiederholungen 
entgegenzukommen. 

Im  Gegensatz  zu  obiger  Anforderung  liegt 
der  Schwerpunkt  des  Werkes  räumlich  wie 
sachlich  in  der  Beschreibung  der  beiden  schon 
erwähnten,  zum  ersten  Male  in  vollständige 
Schnittserien  zerlegten  Embryonen  von  7,  5  und 
7  mm  Körperlänge.  Hier  handelt  es  sich  näm- 
lich nicht  nur  um  die  Schilderung  der  Embryo- 
nen selbst,  sondern  um  eine  (S.  22 — 98)  um- 
fassende Entwicklungsgeschichte  der  einzelnen 
Systeme  und  man  sieht,  von  welcher  Bedeutung 


1306      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  41. 

es  ist,  wenn  Verf.  seine  ohnehin  schwerwiegende 
Stimme  für  einen  bestimmten  Entwicklungs- 
modus dieses  oder  jenes  Organes  oder  Systems 
gerade  beim  Menschen  in  die  Wagschale 
legt. 

In  der  Beschreibung  der  äußeren  Gliede- 
rung jener  beiden  Embryonen  ist  ein  Druck- 
fehler stehen  geblieben,  den  Ref.  erwähnt,  weil 
es  sich  um  einen  wichtigen  Punkt  in  Betreff 
der  Homologie  der  Extremitäten  handelt.  Bei 
2 — 3  cm  langen  Embryonen  sind  die  Sohlen- 
fläche des  Fußes,  die  hintere  (nicht  die  vordere, 
wie  im  Text  steht)  Fläche  des  Unterschen- 
kels medianwärts,  das  Knie  lateralwärts  ge- 
richtet. 

Was  die  einzelnen  Systeme  anlangt,  so  be- 
streitet Verf.  in  Betreff  des  centralen  Ner- 
vensystems die  Hensen'sche  Ansicht,  wonach 
die  Nervenfasern  Verbindungsfäden  zwischen  je 
einer  centralen  und  einer  peripherischen,  resp. 
terminalen  Ganglienzelle  darstellen,  und  schließt 
sich  vielmehr  der  älteren  Ansicht  von  Bidder 
und  Kupffer  an.  Letztere  Autoren  lassen  be- 
kanntlich die  Nervenfasern  als  Ausstrahlungen 
von  Zellenausläufern  aus  den  Gentralorganen 
hervorwachsen  und  hierdurch  vermag  man  nach 
dem  Verf.  allen  Thatsachen  gerecht  zu  werden. 
Für  die  richtige  Auffassung  der  Lehre  von  den 
Nervenendigungen  ist  die  Differenz  von  Bedeu- 
tung und  es  wäre  nicht  unmöglich,  daß  z.  B. 
für  die  motorischen  Nerven  Hensen  Recht  hätte 
und  für  die  sensiblen  Bidder  und  Kupffer,  wenn 
man  nämlich  das  Verhalten  im  vorderen  Epithel 
der  Cornea  als  maßgebend  ansieht.  Den  ver- 
breitetsten  Angaben  würde  dadurch  allerdings 
entscheidend  widersprochen  werden. 

Im    peripherischen    Nervensystem 


His,  Anatomie  menscbl.  Embryonen.  I.    1307 

stellt  sich  das  Ganglion  ciliare  als  Ausläufer 
des  Trigeminusganglion  dar,  das  Ganglion  geni- 
culnm  hält  Verf.  aber  nicht  für  sympathisch, 
sondern  für  einen  Theil  des  vielfach  gespaltenen 
Ganglion  acusticum  oder  acustico-faciale,  wel- 
ches nämlich  das  Ganglion  spirale  cochleae,  den 
lateralen  vorderen  Acusticuskern  und  das  Gang- 
lion vestibuläre  umfaßt. 

In  Betreff  des  Ganglion  geniculum  führt  je- 
doch eine  neueste,  dem  Verf.  noch  nicht  zugäng- 
liche Untersuchung  von  Duval  (Journal  de  l'ana- 
tomie  etc.  par  Robin.  1880.  S.  535)  zu  einer 
anderen  Auffassung.  Danach  gehört  jenes 
Ganglion  dem  Glossopharyngeus  an. 

In  der  Höhe  des  unteren  Endes  des  Facialis- 
kerns  findet  sich  nämlich  in  der  Medulla  oblon- 
gata eine  Verlängerung  des  Glossopharyngeus- 
kerns  nach  oben.  Sie  erscheint  auf  dem  Quer- 
schnitt als  ovaler,  scharf  umschriebener,  gangliö- 
ser  Kern.  Derselbe  liegt  hinter  dem  Facialis- 
kern,  medianwärts  von  der  aufsteigenden  Trige- 
minuswurzel,  vor  dem  lateralen  hinteren  Acufti- 
cuskern.  Aus  diesem  obersten  Theile  des  Glosso- 
pharyngeuskerns  entspringt  nun  unerwarteter 
Weise  nach  Duval  beim  Menschen  wie  beim 
Affen  (Cebus)  die  Portio  intermedia  n.  acustici 
s.  Wrisbergii.  Dieselbe  ist  hiernach  eine  oberste 
Glossopharyngeuswurzel  und  ihre  Fasern  gelan- 
gen, wie  Duval  -vermuthet,  in  der  Bahn  der 
Chorda  tympani  zum  vorderen  Theil  der  Zunge, 
dessen  Geschmackssinn  sie  vermitteln.  Für  diese 
Parthie  liefert  die  Chorda  auch  die  vasomotori- 
schen Nerven  und  das  Ganglion  geniculum  würde 
nach  dem  Gesagten  zusammen  mit  dem  Ganglion 
jugulare  des  Glossopharyngeus  als  Intervertebral- 
ganglion  des  letzteren  zu  betrachten  sein. 

Am  Acusticus  ist,  wie  der  Verf.  bemerkt,  sein 
frühzeitiges  Auftreten  bemerkenswert!]. 


1308       Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  41. 

In  der  Höhe  der  bereits  angelegten  Ganglia 
jugularia  und  des  Plexus  ganglioformis  n.  vagi 
gehen  Faserbttndel  aus  der  ventralen  Hälfte  der 
Formatio  arcuata  hervor,  welche  an  die  Ober- 
fläche des  verlängerten  Markes  gelangen  und 
in  die  genannten  Ganglien  tibergehen.  Vert 
hält  sie  für  motorische  Vagus-,  resp.  GIosso- 
pharyngeusfasern.  —  Sie  dürfen  nicht ^mit  den 
vielfach  supponierten  motorischen  Wurzeln  der 
genannten  Nerven  verwechselt  werden,  welche 
dorsalwärts  verlaufend  noch  innerhalb  der  Me- 
dulla oblongata  sich  den  austretenden  sensibeln 
Wurzeln  anlegen. 

Von  den  Sinnesorganen  ist  erwähnens- 
werth,  daß  das  Auge  nur  0,5  mm  Durchmesser 
hat;  am  Gehörbläschen  sind  bereits  zwei  Aus- 
buchtungen als  Anlagen  von  Bogengängen  zu 
erkennen. 

Ueber  die  Eingeweide  ist  zu  bemerken, 
daß  die  Milz  als  Mesenterialfalte  erscheint,  vom 
Pancreas  aber  noch  keine  Spur  zu  erkennen 
war.  Die  Zunge  entsteht  hinter  der  Vereini- 
gungsstelle vom  zweiten  und  dritten  Schlund- 
bogenpaar  und  zwar  ihrer  ganzen  Länge  nach 
aus  paariger  Anlage.  Wie  es  scheint,  betheili- 
gen sich  wenigstens  an  der  Anlage  der  Thymus 
die  Epithelien  der  dritten  und  vierten  Schlund- 
spalte. Hieraus  würde  die  Aehnlichkeit  mit 
dem  äußeren  Habitus  einer  acinösen  Drüse  zu 
erklären  sein,  die  lymph-adenoide  Substanz  würde 
sich  in  der  Umgebung  entwickeln  und  die  con- 
centrischen  Körperchen  des  Thymus  müßten 
als  Reste  jener  Epithelanlage  angesprochen 
werden. 

Vor  4er  Einmündungssteile  des  WolfFschen 
Ganges  in  die  Cloake  zweigt  sich  der  blind 
endigende  Nierengang  ab.  —  Der  Allantoisgang 


His,  Anatomie  menschl.  Embryonen.  I.    1309 

scheint  am  Chorion  blind  zu  endigen.  Das  Vor- 
kommen einer  freien  Allantois  beim  Menschen 
bestreitet  Verf.,  auf  welche  nicht  ganz  aninter- 
essante Controverse  hier  so  wenig  wie  auf  die 
„Hypothesen  zur  Ausfüllung  noch  bestehen- 
der Beobachtnngsltickentf  (S.  169—173)  weiter 
eingegangen  werden  kann,  und  hält  einen 
vom  Ref.  abgebildeten  menschlichen  Embryo 
für  einen  Vogelembryo.  Die  Grundlage  dieser 
Ansicht  bilden  ein  stark  corrumpierter  Holz- 
schnitt und  eine  in  Betreff  des  Auges  etwas 
idealisierte  Lithographie,  für  welche  beiden 
Kunstleistungen  Ref.  die  Verantwortung  bereits 
abgelehnt  hat 

Es  ist  kein  richtiges  Princip,  wenn  man  sich 
auf  den  Standpunkt  stellt:  was  ein  Autor  sagt, 
ist  gleichgültig;  es  kommt  darauf  an,  was  er 
abbildet.  Bei  der  Herausgabe  von  Handbüchern 
oder  Monographien  kann  man  es  allenfalls  er- 
zwingen, daß  die  Abbildungen  fertig  vorliegen, 
bevor  das  Manuscript  in  die  Druckerei  geht  oder 
wenigstens  noch  bei  Gelegenheit  der  Corrector 
auf  Fehler  der  Lithographen  aufmerksam  ma- 
chen, die  ja  das  niemals  verstehen,  was  sie  wie- 
derzugeben haben.  Bei  Journalaufsätzen  ist  die- 
ser Ausweg  für  gewöhnlich  verschlossen. 

Beim  Gefäßsystem  werden  die  verschie- 
denen Umwandlungen,  welche  die  Aortenbogen 
successive  erfahren,  auf  Aenderungen  der  Stro- 
mesrichtung zurückgeführt,  die  namentlich  aus 
der  Vorwärtsneigung  des   Kopfes  resultiert. 

Nach  kurzer  Erörterung  der  Abgrenzung  der 
Körperregionen  gegen  einander  wird  noch  die 
Frage  erörtert,  ob  der  menschliche  Embryo 
einen  Schwanz  besitze  oder  nicht.  Diese  Ange- 
legenheit ist  einigermaßen  Tagesfrage  geworden, 


1310       Gott  gel.  Anz.  1880.  Stück  41. 

■seit  die  populäre  naturwissenschaftliche  Presse 
sich  der  Sache  angenommen  hat. 

Schon  Ecker  hat  sich  gegen  sozusagen  ten- 
dentiöse  Folgerungen  verwahren  zu  müssen  ge- 
glaubt. Kef.  vermag  so  wenig  wie  der  Verf. 
selbst  einzusehen ,  welche  mißzuverstehenden 
Folgerungen  oder  welches  besondere  Interesse 
in  Betreff  der  Evolutionstheorie  sich  vernünfti- 
ger Weise  an  die  Discussion  der  Frage  knüpfen 
ließen,  ob  am  freien  Ende  der  Wirbelsäule,  sei 
es  des  Menschen  oder  z.  B.  des  Frosches  als 
Varietät  zuweilen  einige  Wirbel  mehr  oder 
weniger  vorhanden  sind,  deren  überhaupt  34, 
höchstens  35,  existieren.  Interessant  aber  ist 
die  vom  Verf.  vollkommen  sichergestellte  Tat- 
sache, daß  beim  menschlichen  Embryo  keine 
überzähligen,  zur  Rückbildung  bestimmten  Wir- 
bel angelegt  werden.  Eine  ächte  Schwanz- 
anlage, in  dem  Sinne  eines  gegliederten,  von 
der  Fortsetzung  der  Wirbelsäule  durchzogenen 
und  nur  aus  Bestandteilen  der  animalen  Lei- 
beswand zusammengesetzten,  den  Anus  distal- 
wärts  überragenden  Anhanges  ist  auf  höchstens 
zwei  Segmente  beschränkt  und  dieselbe  mißt  bei 
den  erwähnten  Embryonen  nicht  über  0,25  mm 
Länge. 

Als  inconstant  und  als  eine  Abspaltung  vom 
Bauchstiel  —  oder  dem  späteren  Nabelstrang 
nach  Abrechnung  des  Stieles  der  Nabelblase 
(Darmstiel  S.  21)  und  der  epidermoidalen  Hülle 
—  betrachtet  Verf.  einen  von  Ecker  beschriebe- 
nen Schwanzfaden,  nämlich  einen  dünnen  und 
fein  zugespitzt  auslaufenden  Körperanhang,  der 
«nach  Ecker  außer  Chorda  dorsalis  und  dem 
Ectoderm  keine  Organanlagen  besitzt,  während 
L.  Gerlach  in  einem  solchen  Falle  zwar  keinen 


r 


His,  Anatomie  menschl.  Embryonen.   I.    1311 

Knorpel  aber  einen  ventral  wftrts  gelegenen  Mus- 
kel gefunden  hat. 

Was  nun  endlieh  die  kleineren,  dem  Verf. 
zu  Gebote  stehenden  Embryonen  anlangt,  so 
können  jene  beiden  weiter  vorgeschrittenen  Em- 
bryonen als  Basis  der  Vergleichung  dienen. 
Von  besonderem  Interesse  ist  noch  ein  die 
Höhlen  des  Körpers  und  die  Anlage  des 
Zwerchfelles  behandelnder  Abschnitt  (S.  125 
— 134),  welcher  der  Beschreibung  eines  2,6  mm 
langen  Embryo's  eingeschaltet  ist. 

Die  Höhle,  worin  das  Herz  gelegen  ist,  be- 
zeichnet Verf.  als  Parietalhöhle ;  die  paarigen 
Längsspalten  neben  dem  Darmkanal  als  Rumpf- 
höhlen. Erstere  wird  dorsalwärts  von  einer 
frontal  gestellten  Substanzplatte,  dem  primären 
Zwerchfell  oder  Septum  transversum  begrenzt;  so- 
weit dasselbe  reicht,  scheidet  es  die  Rumpf- 
höhlen von  der  Parietalhöhle.  Ob  die  letztere 
mit  den  oberen  Enden  oder  Brustfortsätzen  "der 
ersteren  überhaupt  communiciert,  ist  dem  Verf. 
zweifelhaft  geworden;  jedenfalls  kann  es  nur 
durch  eine  enge  Spalte  geschehen  (S.  127). 
Jene  Fortsätze  werden  durch  das  Eingeweide- 
rohr in  der  Medianebene  getrennt.  Merkwürdig 
ist  es  nun,  daß  die  Parietalhöhle  ursprünglich 
eine  Höhle  des  Hinterkopfes  darstellt  —  sie 
wurde  auch  als  Halshöhle  bezeichnet  —  und 
mitsammt  dem  Aortenbulbus  später  als  Theil 
der  Brusthöhle  erscheint.  —  Die  Leber  entsteht 
innerhalb  der  Bauchwand  resp.  des  Septum 
transversum  aus  einer  vom  Darm  gelieferten 
epithelialen  und  einer  parablastischen  (His) 
oder  mesodermatischen  Anlage.  Die  erstere  be- 
steht auf  etwas  vorgeschrittener  Stufe  aus  einer 
prominierenden  Anschwellung  des  Septum  trans- 
versum,  in   welche   von   hinten  und  unten  her 


1312      Gött.  gel.  Anz.  1880.  Stück  41 

der  Lebergang,  ursprünglich  ein  mitei    w 
sener  Theil  des  Darmrohres,  eindringt.  ~  Fi 
ergiebt  sich,  daß  aus  dem  Septum  tra>nsv< 
der  vordere,  zwischen  Herz  und  Leber  li< 
Theil  des  Diaphragma  hervorgeht.     Die 
Hälfte   des  Brustraumes    communiciert 
mit  dem  Bauchraume.    Denn  nach   einer 
reu   Untersuchung    des  Verf.     beim    Hühncbcij 
spaltet   sich    im   parietalen   Theil    des    Hinter- 
kopfes die  animale  (also  quergestreifte)   Muskat] 
platte  in  eine  dünnere  obere  und  dickere  unteffij 
Schicht.    Letztere  wird  zur  Herzwand  und  Mifr 
kelhaut  des  Pharynx,  legt  sich  hinter  dem  Her- 
zen der  ersteren  an  und  bildet  somit  einen  Ab- 
schluß    zwischen    Parietal-     und     Rumpfhöhk. 
Diese  Uebergangsplatte  wird   zum  Diaphragma 
und  von  Kölliker  als  Mesocardium  laterale,  voi 
Cardiat  als   Cloison   mesodermique    bezeichnet; 
beide  Autoren   betrachten   die  Parietalhöhle  ab 
Theil  der  ursprünglich  allgemeinen  Körperhöhle, 
ohne,  wie  Verf.  bemerkt,   dafür  weitere  Gründe 
beizubringen. 

Aus  obiger  fragmentarischen  Berichterstattung 
geht  jedenfalls  hervor,  eine  wie  außerordent- 
lich wichtige  und  genau  ausgeführte  Bereiche- 
rung der  menschlichen  wie  zum  Theil  der  all- 
gemeinen Embryologie  durch  die  vorliegende 
Monographie  gegeben  ist.  Wiederholt  (vergL 
S.  1302)  mag  der  Wunsch  werden,  daß  die 
fleißigen  Leistungen  des  Verf.  auch  bei  der 
zu  erwartenden  zweiten  Abthßilung  durch  zahl- 
reiche Zusendungen  von  Embryonen  unteretütet 

W.  Krause. 

Pftr  die  Redaction  verantwortlich:  S.  RehniacJi,  Director  d.  GHJtt.gel.Anx. 
Commissions-  Verlag  der  Dütmch'sehm  Yerlaga-Buckhmdlmg. 
Pruck  der  Dieitiich'Bch**  Univ.- Buchdruckmei  (W.  fr.  Kotshurk 


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1313 

Go  tti  ng  ische 


gelehrte    Anzeigen 

unter  der  Aufsicht 

der  Königl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 
Stück  42.  20.  October   1880. 


Inhalt:  Jurien  de  la  Graviere,  La  Marine  des  Anciens.  Von 
R.  Werner.  —  S.  Riezler,  Geschichte  Baierns.  2.  Bd.  Tom  Ver- 
fasset: —  Begistrande  der  geographisch-statistischen  Abtheilung 
des  Grossen  Generalstabes.  X.  Jahrgang.    Ton  0.  Krümmet. 

ss  Eigenmächtiger  Abdruck  von  Artikeln  der  Gott.  gel.  Ana.  verboten  a 


La  Marine  des  Anciens.  Par  le  Vice- 
Amiral  Jurien  de  la  Graviere,  Membre 
de  rinstitut.    2  Bde.  Paris  1880.  E.  Plön  &  Cie. 

Unter  den  älteren  Marinen  hat  sich  die  fran- 
zösische von  jeher  des  Rufes  erfreut,  das  allge- 
mein und  wissenschaftlich  am  meisten  gebildete 
Officiercorp8  zu  besitzen.  Diese  „Wissenschaft- 
lichkeittf  ist  früher  von  den  Engländern  oft  ver- 
spöttelt worden;  sie  meinten,  dieselbe  habe 
nicht  hindern  können,  daß  die  Franzosen  zu 
Ende  des  vorigen  und  Anfang  dieses  Jahrhun- 
derts stets  geschlagen  seien.  Man  darf  jedoch 
nicht  vergessen,  daß  diese  dauernden  Nieder- 
lagen nicht  lediglich  durch  Mangel  an  Praxis 
verschuldet  wurden,  sondern  daß  ein  anderer 
wichtiger  Factor  dazu  mitwirkte.  Seit  der  Re- 
generation der  französischen  Marine  durch  Lud- 

83 


1314       Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  42. 

wig's  XIV.  großen  Minister  Colbert  war  erstere 
eine  aristokratische  Waffe.  Zu  ihrem  Officier- 
corps  zählte  sie  die  Träger  der  vornehmsten 
Namen  des  königlichen  Frankreichs  und  sie  litt 
deshalb  durch  die  Revolution  verhältnißmäßig 
mit  am  meisten.  Der  größte  Theil  ihrer  älteren 
Officiere  fiel  durch  Henkershand  oder  wanderte 
in  das  Exil  und  dies  erleichterte  den  Engländern 
bedeutend  ihre  Siege.  Aboukir  und  Trafalgar 
würden  sich  jetzt  nicht  wiederholen. 

Seit  dem  letzten  Jahrzehnt  haben  übrigens 
die  Engländer  in  dieser  Beziehung  ihre  An- 
schauungen wesentlich  geändert.  Sie  räumen 
jetzt  der  Theorie  ihre  Rechte  ein,  haben  eine 
Marine-Academie  gegründet  und  suchen  ihren 
Officieren  eine  höhere  wissenschaftliche  Bildung 
zu  geben.  Um  darin  mit  den  Franzosen  zu 
concurrieren,  müssen  sie  jedoch  ihre  Erziehungs- 
methode noch  modificieren.  Ihre  Kadetten  tre- 
ten als  unreife  Knaben  von  13 — 14  Jahren  ohne 
wissenschaftliche  Grundlage  ein  und  werden  in 
den  ersten  Jahren  fast  nur  practisch  ausgebildet. 
Dadurch  lassen  sich  die  Lücken  einer  systema- 
tischen Schulung  des  Geistes  später  nur  schwer 
ausfüllen.  Die  französischen  Officiersaspiranten 
bringen  jene  Grundlage  jedoch  mit  und  die  be- 
sten Abiturienten  der  berühmten  Militairschule 
von  St.  Cyr  werden  der  Marine  tiberwiesen. 

Dieser  Unterschied  zwischen  den  beiden 
größten  Marinen  zeigt  sich  auch  auf  dem  Ge- 
biete der  Marine  Literatur.  Frankreich  steht 
darin  nicht  nur  seinem  Rivalen,  sondern  auch 
allen  übrigen  Nationen  voran.  Namentlich  in 
den  beiden  gediegenen  Zeitschriften  „Revue 
maritime  et  coloniale"  und  „Revue  des  deux 
Mondes"  begegnen  wir  ausgezeichneten  Arbeiten 


Jurien  de  la  Graviere,  La  Marine  des  Anciens.  1315 

und  unter  den  Autoren  nimmt  Admiral  Jurien 
de  la  Graviore  eine  hervorragende  Stelle  ein. 

Auf  dem  Felde  des  Seewesens  eine  aner- 
kannte Autorität,  genießt  er  als  Schriftsteller 
einen  wohlbegrllndeten  Ruf.  Er  beherrscht  nicht 
nnr  vollständig  sein  vielseitiges  Fach,  sondern 
leistet  auch  als  Geschichtsforscher  Außergewöhn- 
liches. Sein  vorliegendes  Werk,  sowie  das  kurz 
zuvor  von  ihm  erschienene  „Les  Marins  du  XIV 
et  XV  sifecle"  liefern  den  Beweis  dafür. 

Um  „La  Marine  des  Anciens"  zu  schreiben 
war  ein  sehr  umfassendes  Quellenstudium  latei- 
nischer und  griechischer  Schriftsteller  erforder- 
lich, und  daß  der  Verfasser  letztere  nicht  in  der 
Uebersetzung,  sondern  in  der  Ursprache  zu 
Rathe  gezogen  hat,  geht  ans  dem  Buche  selbst 
hervor.  Für  einen  Marineofficier  ist  das  immer- 
hin anerkennungswerth. 

Der  vom  Admiral  gewählte  Titel  seines  Wer- 
kes ist  nicht  ganz  correct.  Dasselbe  führt  uns 
nicht  die  ganze  antike  Marine  vor,  sondern 
nur  zwei  Episoden  derselben.  Die  erste  begreift 
den  Zeitraum  von  der  ersten  Invasion  Griechen- 
lands durch  die  Perser  unter  Darius  bis  zur  Re- 
gierung Alexander  des  Großen,  d.  h.  jene  150 
Jahre,  in  denen  Griechenland  zu  großer  politi- 
scher Bedeutung  heranwuchs,  die  Führung  der 
Völker  im  Mittelmeere  übernahm  und  den  Glanz- 
punkt seiner  Macht  erreichte,  um  darnach  ab- 
wärts zu  steigen,  in  Bürgerkriegen  sich  zer- 
fleischend zusammenzubrechen,  seine  asiatischen 
Colonieen  an  die  Perser  zu  verlieren  und  den 
eigenen  Nacken  mit  der  Schlacht  von  Ghäronea 
unter  das  Joch  macedonischer  Herrschaft  zu 
beugen. 

Die  zweite  Episode  ist  ein  Stück  sicilischer 
Geschichte  vom  Beginn  der  Regierung  des  älte- 

83* 


1316      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  42. 

ren  Dionysos  bis  zum  Tode  des  Agathokles  und 
in  ihr  sehen  wir  hauptsächlich  die  Kämpfe  der 
Syracusaner  mit  den  Karthagern  behandelt. 

Das  gewaltige  Bingen  der  letztern  mit  den 
Römern,  deren  Emporkommen  zur  See,  sowie 
die  großartige  Entwickelung  des  Seewesens  un- 
ter den  Epigonen  Alexanders  des  Großen  wer- 
den dagegen  vom  Admiral  nicht  besprochen. 
Von  seiner  Fruchtbarkeit  auf  schriftstellerischem 
Gebiete  dürfen  wir  jedoch  erhoffen,  diese  Er- 
gänzung später  noch  zu  erhalten. 

Jedenfalls  hat  das  vorliegende  Buch  jedoch 
den  Vorzug,  uns  die. Seekriegsgeschichte  jener 
beiden  Zeiträume,  welche  die  Geschicke  der 
darin  verflochtenen  Staaten,  ihre  Stellung  zu 
einander  und  zur  damaligen  Weltherrschaft  be- 
dingte, zum  ersten  Male  in  übersichtlichem  und 
erschöpfendem  Zusammenhange  vorzuführen. 

Obwohl  der  Verfasser  vorwiegend  vom  Stand- 
punkte des  Seeofficiers  aus  geschrieben  hat,  ist 
er  weit  davon  entfernt,  einseitig  zu  werden  oder 
das  speciell  Fachliche  ungebührlich  in  den  Vor- 
dergrund zu  stellen.  Seine  Darstellung  ist  all- 
gemein verständlich,  lebendig,  elegant  und  fes- 
selnd und  wird  deshalb  von  Nichtseeleuten  mit 
nahezu  gleichem  Interesse  gelesen  werden,  wie 
von  seinen  Fachgenossen. 

Wenn  man  an  der  glänzenden  Diction  etwas 
aussetzen  will,  so  ist  es,  daß  sie  bisweilen  an 
das  Theatralische  streift.  Ebenso  verführt  der 
rege  Geist  des  Verfassers  ihn  hier  und  dort, 
einzelne  Lücken  zwischen  Thatsachen  durch 
eigene  Ideen  zu  überbrücken,  ohne  daß  man 
gewahr  wird,  wo  die  Grenzen  liegen.  Beides 
muß  man  jedoch  dem  französischen  Naturell  zu 
Gute  halten  und  der  Werth  des  Ganzen  wird 
dadurch   nicht  beeinträchtigt,   ebensowenig  wie 


J  urien  de  la  Gra vifere,  La  Marine  des  Anciens.  1317 

durch  die  eingeflochtenen  philosophischen  Be- 
trachtungen, die  zuweilen  etwas  weit  von  der 
Materie  abschweifen.  Dies  letztere  scheint  der 
Admiral  auch  selbst  zu  fühlen  und  sucht  es 
zu  entschuldigen,  wenn  er  an  einer  Stelle  sagt: 
„Mon  metier  n'est  pas  de  philosopher;  ce  n'est 
pas  pour  cela,  que  je  fus  envoye,  il  y  a  plus 
«Tun  demi-sifecle  k  l'ecole  navale.  Je  ne  puis  me 
defendre  cependant  de  glisser  quelque  fois  sur  la 
pente,  oü  tant  d'autres,  qui  ne  s'y  sont  gufere 
mieux  prepares  que  moi,  s'aventurent". 

„Die  Weltgeschichte  ist  eine  stete  Wieder- 
holung". Diesem  Ausspruche  eines  berühmten 
Philosophen  beipflichtend,  sucht  er  in  seinem 
Buche  den  Nachweis  für  dessen  Richtigkeit  zu 
fuhren.  Dies  Bestreben  zieht  sich  wie  ein  ro- 
ther Faden  durch  die  Arbeit,  und  namentlich 
ist  der  Verfasser  bemüht  darzuthun,  daß  die 
heutige  Seekriegführnng  trotz  der  Verschieden- 
heit der  Streitmittel  in  ihren  Grundztigen  zu  der 
Tactik  und  Strategie  der  Alten  zurückgekehrt 
ist.  Wo  dies  noch  nicht  geschehen,  empfiehlt  er 
die  Rückkehr  dringend,  wenn  die  Flotten  in  gro- 
ßen Kriegen  nicht  nur  eine  untergeordnete,  son- 
dern eine  entscheidende  Rolle  spielen  sollen. 

Die  Lösung  dieser  letzteren  Aufgabe  findet 
er  in  dem  Bau  einer  Flottille,  deren  Fahrzeuge 
so  construiert  sind,  daß  sie,  wie  dies  bei  den 
Trieren  der  Alten  geschah,  bei  gutem  Wetter 
an  jedem  nicht  gar  zu  ungünstigen  Küsten- 
punkte, ohne  dazu  eines  Hafens  benöthigt  zu 
sein,  in  kürzester  Zeit  eine  40—50,000  Mann 
starke  vollständig  kriegsbereite  Truppe,  Infan- 
terie, Cavallerie,  Artillerie  mit  Allem  was  dazu 
gehört,  aus-  und  einschiffen  können.  Dieser 
Gedanke  beherrscht  den  Admiral  so,  daß  er 
keine   Gelegenheit  vorbei    gehen  läßt,   für  ihn 


1318      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  42. 

Propaganda  zu  machen,  wo  ihm  die  Wechsel- 
falle der  besprochenen  zahlreichen  Seeschlachten 
der  Alten  dazu  irgend  eine  Handhabe  bieten, 
und  er  apostrophiert  Frankreich  mit  aller  mög- 
lichen Ueberredungskunst,  eine  solche  Flottille 
zu  schaffen. 

Dabei  sucht  er  jedoch  den  Verdacht  des 
Chauvinismus  von  sich  abzuwälzen,  indem  er 
sagt  (S.  120):  „Le  temps  ne  nous  manque  pas 
pour  Studier  ce  probl&me,  car  grace  k  Dieu,  On 
n'entend  gronder  que  je  sache  nul  orage.  Nous 
pouvons  done  tout  mener  de  front  ä  loisir:  la 
construction  de  la  flotte,  sans  laquelle  la  flottille 
ne  pourrait  sortir  du  port,  Fetude  de  la  flottille, 
seul  moyen,  de  mettre  Tarmee  de  mer  en  mou- 
vement.  Quand  nous  aurons  tout  cela,  je  serai 
encore  d'avis,  si  la  chose  est  honorablement 
possible,  de  suivre  le  conseil  de.  Cineas,  et  de 
rester  ckez  nous.  Pour  r6compenser  notre  sa- 
gesse,  Fequite  de  PEurope  nous  viendra  peut- 
etre  en  aide". 

Der  Sinn  des  letzten  Satzes  ist  freilich  etwas 
dunkel  und  läßt  sich  in  entgegengesetzten  Rich- 
tungen interpretieren. 

Jedenfalls  kann  man  vom  nautisch-militäri- 
schen Gesichtspunkte  aus  dem  Admiral  nur 
darin  beistimmen,  wenn  er  in  der  Schöpfung 
einer  solchen  Flottille  das  Mittel  erblickt,  um 
den  Flotten  in  Zukunft  in  Kriegszeiten  eine  be- 
deutendere Stellung  anzuweisen  als  sie  bisher 
hatten.  Ebenso  theile  ich  seine  Ansicht,  daß 
die  Technik  im  Stande  sein  müßte  und  würde, 
Fahrzeuge  zu  schaffen,  mit  denen  man  so  nahe 
an  den  Strand  geht,  um  die  auf  ihnen  einge- 
schifften Truppen,  namentlich  aber  auch  die 
Pferde  ohne  weiteres  an's  Land  zu  schaffen. 
Nur  muß  Herr  Jurien  de  la  Gravüre  von  dem 


Jurien  de  la  Graviore,  La  Marine  des  Anciens.  1319 

unerschöpflichen  Reichthum  Frankreichs  und 
davon  überzeugt  sein,  daß  die  Kammern  fortan 
eine  eben  so  große  Opferwilligkeit  für  die  Ma- 
rine an  den  Tag  legen  werden,  als  sie  bisher 
für  die  Armee  bewiesen  haben.  Zu  einer  Flot- 
tille im  Sinne  des  Admirals  und  um  40,000 
Mann,  die  er  mit  Recht  als  das  Minimum  einer 
an  eine  feindliche  Küste  zu  werfenden  Truppen- 
zahl betrachtet,  darauf  einzuschiffen,  gehören  6 — 
800  Fahrzeuge,  deren  Anschaffung  eine  ganz 
gewaltige  Summe  bedingt. 

Sollte  des  Admirals  sehnlichster  Wunsch  aber 
auch  in  Erfüllung  gehen,  so  glaube  ich  nicht, 
daß  Deutschland  seinem  Nachbar  auf  diesem 
Wege  folgen  würde.  Zu  dergleichen  Experi- 
menten sind  wir  einfach  nicht  reich  genug,  denn 
wenn  jene  Flottille  functionieren  soll,  dann  gehört 
auch  eine  so  große  Schlachtflotte  zu  ihrem 
Schutze,  daß  man  vollständig  Herr  des  Meeres 
ist.  Trotzdem  brauchen  wir  selbst  aber  nicht 
sehr  besorgt  zu  sein,  wenigstens  nicht  an  der 
Nordsee.  Die  Watten  ihrer  Küste  sind  schlechte 
Landungsplätze  für  Truppen,  sie  würden  darin 
stecken  bleiben. 

Der  erste  Theil  des  vorliegenden  Werkes  be- 
ginnt nach  einem  kurzen  Rückblicke  auf  die 
ersten  Anfänge  und  die  Entwickelung  der  Schiff- 
fahrt mit  dem  Einfalle  des  Darius  in  Griechen- 
land, das  damals  der  persischen  Flotte  noch 
keine  eigene  entgegenzustellen  hatte.  Zuerst 
begrub  ein  Sturm  300  Trieren  mit  20,000  Mann 
bei  dem  Berge  Athos.  Doch  schon  im  nächsten 
Jahre  erschien  die  doppelte  Zahl  feindlicher 
Schiffe  mit  einem  neuen  Heere,  um  in  Attika 
zu  landen,  freilich  nur  um  bei  Marathon  aufs 
Haupt  geschlagen  zu  werden.  Bei  dem  eiligen 
Rückzüge   der   Perser  erbeuteten    die  Griechen 


1320       Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  42. 

sieben  Trieren   und   sie  wurden  der  Kern  ihrer 
späteren  Seemacht. 

„Baut  Trieren0  ist  die  stete  Mahnung  des 
Themistokles,  der  in  weiser  Voraussicht  in  einer 
starken  Flotte  den  alleinigen  Schutz  gegen  die 
drohende  Wiederkehr  der  feindlichen  Invasion 
erblickt,  und  glücklicher  Weise  befolgen  die 
Griechen  seinen  Bath.  Als  10  Jahre  später  der 
junge  Xerxes  mit  einem  Heere  heranzieht,  wie 
es  weder  vor  noch  nach  ihm  die  Welt  gesehen, 
da  begleiten  1200  Trieren  und  3000  Transport- 
fabrzeuge den  gewaltigen  Zug.  Neptun  fordert 
zwar  wiederum  seine  Opfer;  bei  Cap  Sepias  ver- 
nichtet ein  Sturm  in  einer  Nacht  vierhundert 
der  ersten,  aber  immer  stehen  noch  800  persi- 
sche den  233  der  Griechen  gegenüber.  Letztere 
flankieren  damit  den  Thermopylen-Paß ;  wäh- 
rend dort  die  300  Spartaner  Hecatomben  von 
Xerxes  Garden  zum  Hades  senden,  entbrennt 
bei  Artemisium  die  erste  große  Seeschlacht,  von 
der  die  Geschichte  uns  berichtet,  und  die  Welt 
erblickt  zugleich  das  wunderbare  Schauspiel, 
daß  eine  Frau  dabei  ein  Commando  führt.  Ar- 
temisia, die  Königin  von  Halicarnassos,  be- 
fehligt das  von  ihr  den  Persern  zugebrachte 
Geschwader  selbst.  Sie  evolutioniert  meisterhaft 
wie  der  erfahrenste  Admiral,  verrichtet  Wunder 
der  Tapferkeit  und  Niemand  vermag  den  von 
den  Griechen  auf  ihren  Kopf  gesetzten  Preis  zu 
verdienen.  Die  Perser  senden  200  Schiffe  um 
Euböa  in  den  Euripus,  um  den  Griechen  in  den 
Rücken  zu  fallen,  während  sie  mit  fast  drei- 
facher Uebermacht  in  der  Front  angreifen  wol- 
len. ^  Doch  die  Griechen  kommen  ihnen  zuvor. 
Zwei  Abende  hinter  einander  machen  sie  mit 
anbrechender  Dunkelheit  einen  Vorstoß  und  ver- 
nichten 50  Trieren,  während  ein  Sturm  jene  200 


Janen  de  la  G  ravifere,  La  Marine  des  Anciens.  1321 

bei  Euböa  zum  größten  Tbeile  zerstört  Am 
dritten  Tage  greifen  die  Ferser  an,  doch  in- 
zwischen haben  die  Griechen  ans  Attika  Ver- 
stärkung von  53  neuerbauten  Schiffen  erhalten 
und  das  Mißverhältniß  der  Zahlen  wird  dadurch 
in  etwas  ausgeglichen.  Von  beiden  Seiten  wird 
auf  das  blutigste  gekämpft,  die  Verluste  sind 
groß,  doch  als  die  Nacht  die  Streitenden  trennt, 
ist  der  Sieg  unentschieden.  Die  Griechen  ziehen 
sich  nach  Salamis  zurück.  Die  Perser  ankern 
auf  der  Rhede  von  Fhaleron  und  ihr  über  die 
Leichen  der  drei  Hundert  vorgedrungenes  Heer 
verbrennt  Athen. 

Die  griechische  Flotte  zählt  mit  den  erober- 
ten persischen  336  Trieren;  doch  die  Perser 
verfügen  noch  über  das  doppelte  und  im  Lager 
der  Griechen  erhebt  die  Hydra  der  Zwietracht 
bereits  drohend  das  Haupt.  Eurybiades  der 
Oberbefehlshaber  der  Flotte  und  die  Pelopon- 
nesier  wollen  einen  andern  Kampfplatz  suchen, 
der  Athenische  Nauarch  Themistokles  besteht 
auf  Salamis.  Der  peloponnesische  Krieg  wirft 
seine  dttstern  Schatten  voraus.  Bereits  wollen 
die  Verbündeten  sich  trennen;  beim  Kriegsrath 
räth  Artemisia,  eben  so  klug  wie  tapfer,  dem 
Perserkönig  von  einem  Kampfe  ab,  weil  die 
Feinde  durch  ihre  Uneinigkeit  in  kurzem  selbst 
zerfallen  werden,  doch  der  ungeduldige  Xerxes 
beschließt  zu  seinem  Unheil  den  Angriff  und 
dieser  Entschluß  eint  noch  einmal  die  Griechen. 
Die  Schlacht  beginnt,  regellos,  ohne  tactische 
Disposition,  im  wilden  Durcheinander  Schiff  ge- 
gen Schiff,  Mann  gegen  Mann.  Sie  dauert  bis 
zur  Nacht ;  Artemisia  schwingt  wie  eine  Minerva 
den  Speer;  sie  ist  überall  gegenwärtig,  ihr  Ge- 
schwader bringt  den  Griechen  Tod  und  Ver- 
derben ,  doch  ihr  Muth  und  ihre  Tapferkeit  kön- 


1322        Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  42. 

nen  ihren  Bundesgenossen  nicht  den  Sieg  ver- 
schaffen. Mit  starrem  Auge  sieht  Xerxes  vom 
Fuße  des  Berges  Aegaleos  auf  das  Kampfge- 
tümmel, die  Seinen  weichen,  in  dem  Kampfe 
Mann  gegen  Mann  siegen  der  griechische  Speer, 
der  Schild  und  der  Kuiraß  der  Hopliten  über 
die  Pfeile  der  nackten  Asiaten.  Das  Prestige 
seiner  Waffen  ist  dahin,  die  Schlacht  ver- 
loren und  Griechenland  und  Europa  sind  vor 
den  Barbaren  gerettet.  Sie  fliehen  zum  Helle- 
spont und  die  bei  Myka^  gebliebene  Flotten- 
abtheilung  wird  bald  daxsm  von  den  Griechen 
völlig  vernichtet. 

Die  Beschreibung  dieser  Kämpfe  ist  meister- 
haft, die  Sprache  schwungvoll  und  poetisch  und 
man  wird  unwillktihrlich  davon  hingerissen. 
Man  höre  z.  B.  die  Schilderung  vom  Beginne 
der  Schlacht  bei  Salamis  S.  43: 

„  .  .  .  Voit-on  d'ici  ces  guerriers,  debout  sur 
la  proue,  la  lance  en  arret,  semblables  aux 
jauteurs,  que  nous  montrent  nos  fötes  (Schiffer- 
stechen), ces  hoplites  balangant  les  longues  jave- 
lines,  qu'on  serait  tente  de  prendre  pour  des 
harpons  de  baleiniers,  ces  archers  de  Babylone 
—  les  premiers  archers  du  monde  —  Tare  bände, 
la  flache  sur  le  nerf,  qui  fremit,  ces  pilotes 
prets  ä  faire  tourner  la  tri&re  sur  eile  meme 
d'un  seul  coup  de  leur  aviron  de  queue,  ces 
rameurs  courbes  sqr  leurs  bancs,  les  bras  dejä 
tendus,  les  trierarques  enfin  guettant  du  haut 
de  la  potipe  le  moment  propice  pour  aller 
frapper  de  P6peron  d'airain  le  flanc  ennemi! 
Attendez  quelques  minutes  encore ;  l'echo  de  Sa- 
lamine  va  vous  renvoyer  la  voix  des  celeustes, 
et  vous  pourrez  saisir  le  bruit  lointain  de  prfes 
de  vingt  mille  rames  battant  ä  la  fois  le  tolet 
de  ebene  vert  et  retombant  dans  l'eau  en  cadence. 


Janen  de  la  Gravüre,  La  Marine  des  Anciens.  1323 

L'eau  jaillit  de  toutes  parts,  une  bände  de  thons 
oo  de  marsouins  ne  se  dibattrait  pas  avee  plas 
de  furie  dans  la  madrague.  Quelle  formidable 
clamenr  s'est  sondain  elev6e?  Les  Orecs  ont 
entonnäs  lenr  p6an  de  guerre,  et  „le  tonnerre 
de  la  langae  perse"  —  on  croirait  entendre  les 
Tnrcs  de  Previsa  ou  de  Lepante  —  roule  en 
grondant  an  devant  des  Hellenes.  Vognez! 
vognez!  g6nereux  champions  sur  lesqnels 
l'Europe  et  TAsie  ont  les  yeux,  les  proues  aux 
trois  dents  vont  bientöt  s'enfoncer  dans  la  chair 
vive  des  galferes!" 

Welches  Feuer,  welche  verve  liegt  darin, 
wir  glauben  uns  mitten  in  den  Kampf  versetzt 
und  ihn  mit  zu  durchleben. 

In  der  Kritik  der  Schlacht  weist  der  Admi- 
ral auf  einen  Umstand  hin,  der  viel  zum  gün- 
stigen Ausgange  für  die  Griechen  beigetragen, 
und  zieht  daraus  eine  Lehre  für  die  Neuzeit, 
die  auch  wir  Deutsche  wohl  zu  beherzigen  ha- 
ben. Die  Griechen  stützten  sich  mit  ihrer  Flotte 
anf  Salamis  und  die.  Mannschaften  ihrer  von 
den  feindlichen  Spornen  in  Grund  gerannten 
Trieren  retteten  sich  durch  Schwimmen  an  das 
nahe  Ufer,  während  die  Perser,  die  überdem  des 
Schwimmens  unkundig  waren,  meistens  ertran- 
ken. Mit  unsern  Panzerschiffen  ist  heute  die 
Lage  eine  gleiche  geworden,  wie  ehedem  bei 
den  Trieren.  Wie  Lissa  und  das  Unglück  uns- 
res  „Gr.  Kurfürst"  gezeigt,  kann  ein  Spornstoß 
die  Kolosse  in  wenigen  Minuten  in  die  Tiefe 
versenken.  Das  Schwimmen  allein  reicht  für 
die  Rettung  der  Mannschaften  nicht  mehr  aus. 
Man  schlägt  sich  mit  großen  Panzern  nicht  in 
unmittelbarer  Nähe  der  Küste,  sondern  meistens 
auf  hoher  See  und  während  des  Kampfes  kann 
man   die   Ertrinkenden    nicht  retten.     „Schafft 


1324       Gott  gel.  Anz.  1880.  Stück  42. 

Rettungsgtirtel  ana  ruft  der  Verfasser  und  man 
möchte  wünschen,  daß  dieser  Ruf,  der  auch  in 
unserer  Marine  schon  vor  Jahren  ertönt  ist, 
nicht  auch  noch  ferner  ungehört  verhalle.  Wäre 
er  beachtet  worden,  dann  hätten  wir  nicht  den 
Verlust  von  300  Menschenleben  am  31.  Mai 
1878  zu  beklagen  gehabt. 

In  den  weiteren  Capiteln  giebt  der  Admiral 
nähere  Data  über  die  Entwicklung   und  Orga- 
nisation   der    griechischen    Bundesflotte    unter 
athenischer   Führung,    zu   welcher  die    übrigen 
Staaten  zuerst  ein  Contingent  von  Schiffen,  den 
q>ÖQogy  stellten,  dann  aber  statt  dessen  ein  jähr- 
liches Aequivalent  an  Geld  zahlten,  das  sich  zu 
Pericles  Zeiten   auf   die   für  damals  großartige 
Summe  von  über  5  Millionen  Mark  belief.    Mit 
solchen  Mitteln   konnte  Athen   bald  eine  mäch- 
tige Flotte  schaffen  und   durch  hohen  Sold  (21 
Mark  monatlich  für  den  Matrosen)   dieselbe  mit 
tüchtigen   Mannschaften    versehen.      Gar    bald 
fühlten  es  die  Perser,  und  kaum  ein  Jahrzehnt 
nach  Beendigung  des  medischen  Krieges    nahm 
Cimon,  der  sich  schon  bei  Salamis  als  Trierarch 
ausgezeichnet,   an    der   Küste  von  Pamphylien 
den  Persern  200  Trieren,  plünderte  Cypern  und 
Asien. 

Es  folgte  das  Zeitalter  des  Pericles,  das  der 
höchsten  Blüthe  Griechenlands.  Athen  wurde 
mit  Kunstschätzen  wunderbarer  Art  geschmückt, 
aber  auch  die  Marine,  die  Sicherheit  und  der 
Schutz  der  Metropole  nicht  vergessen.  Mit 
einem  Staatsschatze,  der  einmal  die  Höhe  von 
über  40  Millionen  Mark  erreichte,  ließ  sich  et- 
was thun.  300  Trieren  lagen  stets  schlagfertig 
zum  Auslaufen;  Stadt  und  Hafen  wurden  durch 
eine  Mauer  von  48  km  Länge  und  56  Fuß  Höhe 
geschützt;  doch  die  Macht,  die  ßeichthümer  und 


Jurien  de  la  Graviore,  La  Marine  des  Anciens.  1325 

das  Wohlleben  machten  die  Athenienser  an- 
maßend gegen  ihre  Bundesgenossen,  daß  bald 
die  Zwietracht  hell  aufloderte  und  den  Bürger- 
krieg zur  Folge  hatte.  Die  Seeschlacht  beiAc- 
tiuin  im  Jahre  436  zwischen  den  Flotten  von 
Corinth  und  Corcyra,  wobei  erstere  gänzlich 
vernichtet  wurde,  gab  das  Signal  zum  Beginn 
des  unglücklichen  Peloponnesischen  Krieges,  der 
Griechenland  Jahrzehnte  lang  zerfleischte  und 
seine  Kräfte  aufzehrte.  In  spannender  und 
hochinteressanter  Weise  erzählt  uns  der  Verfas- 
ser die  verschiedenen  Phasen  dieses  Krieges, 
dessen  entscheidende  Momente  und  oft  wunder- 
baren Wandelungen  stets  durch  die  Flotten  her- 
beigeführt wurden,  und  die  zahlreichen  Kämpfe 
bieten  ihm  reichen  Stoff,  um  aus  den  tactischen 
Formationen,  den  strategischen  Schachzügen,  der 
Fülle  von  klug  ausgedachten  Listen  und  glän- 
zenden Thaten  der  Alten  beachtungswerthe  Leh- 
ren für  die  Jetztzeit  zu  ziehen  und  darzuthun, 
wie  ein  verständnißvolles  Studium  der  antiken 
Seekriegsgeschichte  für  unsere  Seeofficiere  un- 
gemein fruchtbar  und  nutzbringend  sein  wird. 

Die  sich  zunächst  anschließende  Darstellung 
der  von  Alcibiades  angeregten,  wenn  auch  ohne 
ihn  ausgeführten  Expedition  nach  Sicilien  und 
ihr  für  Athen  so  furchtbarer  Ausgang  ist  nicht 
weniger  reich  an  fesselnden  Momenten,  und  in- 
teressant ist  auch  die  Lehre,  die  der  Verfasser 
für  Frankreich  daraus  zieht,  indem  er  die  Ex- 
pedition mit  Napoleons  I.  Zuge  nach  Rußland 
vergleicht  und  auch  wohl  im  Stillen  an  Mexiko 
denkt,  wo  das  Prestige  des  dritten  Napoleon 
zuerst  erschüttert  wurde,  und  wo  der  Admiral 
selbst  thätig  war. 

„Quelle  moralite"  sagt  er  „tirerons  nous  de 
Pexpedition    de    Sicile?    II    s'en  degage    sans 


1326      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  42. 

doute  de  nombreuses  lemons  et  des  legons  de 
plus  d'une  sorte.  N'en  retenons  qu'une,  mais 
que  ce  soit  la  plus  importante.  II  est  evident, 
que  dans  ces  vastes  entreprises  de  guerre  le 
peril  croit  avec  la  distance;  n'allons  done  pas 
trop  loin,  quand  il  nous  est  loisible  de  nous  en 
dispenser.  C'est  peut-etre  de  la  petite  politique ; 
e'est  pourtant  cette  petite  politique,  qui  nous  a 
fait,  ce  que  nous  sommes,  nous  n'avons  done 
pas  le  droit,  de  la  dedaigner." 

Der  Verfasser  hat  Recht  und  dies  Avis  gilt 
auch  für  deutsche  Heißsporne,  die  unsere  Pan- 
zerschiffe gern  auf  dem  Ocean  eine  Bolle  spie- 
len lassen  möchten.  Die  Arena  für  unsere 
Schlachtschiffe  sind  unsere  deutschen  Meere,  ihre 
Aufgabe  die  Vertheidignng  unsrer  Küsten  ge- 
gen Blokade  und  gegen  Jurien  de  la  Graviere's 
Zukunfts-Flottille.  Was  darüber  ist,  das  ist  vom 
üebel. 

Der  zweite  Theil  des  Buches  behandelt  un- 
ter dem  Titel  „La  revanche  des  Persesu  den 
Zerfall  Griechenlands  in  dem  wieder  ausgebro- 
chenen Bürgerkriege,  das  blutige  Ringen  von 
Athen  und  Sparta  um  die  Oberherrschaft,  das 
Buhlen  beider  Staaten  um  persische  Hülfe,  die 
Kämpfe  von  Syene,  Kynossema,  Abydos,  Notion 
und  Mitylene.  Sodann  wird  die  Schlacht  bei 
den  Argmusen  geschildert,  die  größte  zwischen 
Griechen,  in  der  30,000  Athener  eben  so  vielen 
Spartanern  gegenüberstanden  und  erstere  sie- 
gend 69  Trieren  eroberten,  und  endlich  der 
entscheidende  Kampf  bei  Aegos  Potamos,  wo 
die  mit  persischem  Golde  neu  gebaute  pelopon- 
nesische  Flotte  Athens  maritime  und  politische 
Macht  tödtlich  traf. 

Sparta  hatte  die  Hegemonie ;  es  triumphierte, 
doch   nicht  lange.     Es   verwundete  die  Hand, 


Jurien  de  la  Graviore,  La  Marine  des  Anciens.  1327 

die  ihm  zum  Siege  verholfen,  und  suchte  Krieg 
mit  Persien.  Pharnabazes  berief  den  Athener 
Conon  an  die  Spitze  seiner  phöniziscben  Flotte 
und  diese  nahm  Rache  für  Aegos  Potamos;  bei 
Knidos  vernichtete  er  die  lacedämonische  Flotte. 
Wenige  Jahre  später  maßte  Sparta  den  schimpf- 
lichen antacidischen  Vertrag  schließen  nnd  die 
griechischen  Colonieen  in  Asien  fielen  an  die 
Perser.  Die  Revanche  von  Darius'  Nachfolgern 
war  damit  vollständig  geworden. 

Noch  50  Jahre  lang  zwar  kämpften  Griechen 
mit  Griechen;  abermals  erschienen  Trierenge- 
schwader  auf  dem  Meere  und  verrichteten  auch 
noch  einzelne  kühne  Thaten,  doch  die  einstige 
Kraft  war  sowohl  zu  Lande  wie  zu  Wasser  für 
immer  gebrochen.  Mit  der  Schlacht  von  Chä- 
ronea  starb  auch  die  griechische  Marine,  die 
150  Jahre  lang  das  treibende  und  bestimmende 
Moment  der  Weltgeschichte  gewesen  war. 

Der  dieser  Besprechung  zugemessene  Raum 
gestattet  nicht  näher  auf  die  Behandlung  einzu- 
gehen, die  der  Verfasser  diesem  Abschnitte  hat 
angedeihen  lassen,  und  ich  kann  deshalb  nur  im 
allgemeinen  bemerken,  daß  der  Leser  der  Dar- 
stellung mit  ungeschwächtem  Interesse  folgt  und 
bis  zum  Ende  in  Spannung  gehalten  wird.  Ein 
Gleiches  gilt  in  noch  höherem  Grade  von  dem 
letzten  Abschnitt  „Les  Tyrans  de  Syracuse" ,  in 
dem  die  Karthager  in  die  Geschichte  eintreten. 
Zwar  führt  uns  der  Admiral  eingehend  nur  Dio- 
nysos den  Aeltern  und  Agathokles  vor,  von  de- 
nen er  dem  letztern  eine  besondere  Vorliebe  ent- 
gegenbringt, aber  in  den  beiden  Männern,  die 
durch  eigene  Kraft  sich  aus  niedriger  Lebens- 
sphäre auf  den  Thron  schwangen  und  deren 
lange  Regierung  nur  eine  ununterbrochene  Kette 
von   gewaltigen   Thaten    aufweist,  concentriert 


1328      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  42. 

sich  auch  die  Geschichte  von  Syrakus  und  sie 
sind  es  werth  in  so  ausführlicher  und  glänzen- 
der Weise  besprochen  zu  werden.  Die  Vertei- 
digung von  Syrakus  gegen  die  Uebermacht  der 
Karthager  und  ihre  Besiegung  durch  Dionysos 
lassen  ihn  als  einen  der  größten  Helden  der 
Geschichte  erscheinen,  und  von  dem  Zuge  des 
Agathokles  nach  Libyen,  während  die  Karthager 
ihn  selbst  in  Syrakus  zu  Lande  und  zu  Wasser 
auf  das  engste  eingeschlossen  hielten,  sagt  der 
Verfasser  mit  Recht  „L'expedition,  que  tenta  en 
Afrique  l'habile  aventurier,  est  assurement  la  plus 
audacieuse  et  la  plus  habile  operation  que  ja- 
mais chef  d'armee  ait  congue". 

Vor  allem  sind  die  Thaten  des  Agathokles 
aber  des  Studiums, der  Marineofficiere  werth  und 
darauf  weist  Jurien  de  la  Graviore  besonders 
hin.  „11  n'y  a  peut-etre  parmi  les  modernes  que 
deux  hommes,  qui  aient  songe  k  evoquer  Pombre 
d'Agathocle:  le  patriarche  de  Fernay  (Voltaire) 
et  moi.  Le  30  mai  1779  la  scene  franchise  en- 
tendait  le  fils  de  Carcinus  dire 
L'argile,  par  mes  mains  autrefois  fagonne, 
A  produit  sur  mon  front  Tor  qui  m'a  couronne. 
Voltaire  faisait  de  la  politique:  il  venait  de 
recevoir  la  visite  de  Franclin,  moi,  je  ne  m'oc- 
cupe  que  de  marine"  beginnt  der  Admiral  seine 
Schilderung  jenes  Heroen  und  schließt  die  mei- 
sterhafte Charakteristik  mit  den  Worten:  „Was 
wir  von  Agathokles  wollen  sind  keine  Lehren 
der  Moral  oder  Politik,  wohl  aber  Lehren  fiir 
die  Marine.  Seine  Thaten  zeigen  uns  das  stete 
Bestreben  im  Alterthum,  das  Meer  als  Heerstraße 
zu  benutzen.  Wenn  man  daran  denkt,  was 
früher  mit  den  Trieren  ausgeführt  ist,  dann  be- 
greift man  nicht,  wie  wenig  mit  den  neuen 
Kriegsinstrumenten,   welche  die  Wissenschaft  in 


Jurien  de  la  Graviore,  La  Marine  des  Anciens.  1329 

unsre  Hände  gelegt,  naeh  dieser  Richtung  ge- 
schehen kann.  Ich  erinnere  mich,  wie  schon 
mein  Vater  es  bedauerte,  daß  unsere  Truppen- 
transportmittel sogar  noch  hinter  den  Piroguen 
der  Wilden  Oceaniens  zurückständen,  von  denen 
zwei  zusammengekoppelt  weit  unsern  Ausschif- 
fhngs-Prähmen  vorzuziehen  seien,  die  bei  jedem 
geringen  Seegang  dem  Sinken  ausgesetzt  sind. 
Und  siehe  da,  welche  bizarre  Aehnlichkeit  bie- 
tet uns  jetzt  das  Doppeldampfschiff  zwischen 
Dover  und  Calais!  Ist  es  nicht  das  Abbild  der 
seit  undenklichen  Zeiten  von  den  Fidschi-Insu- 
lanern gebrauchten  Transportmittel  Zwei  be- 
sondere parallele  Schiffsrumpfe  sind  durch  ein 
gemeinsames  Deck  vereint.  Ein  gewaltiges 
Schaufelrad  arbeitet  in  der  Mitte  und  vier 
Schornsteine  krönen  das  monströse  Gebäude. 
Man  könnte  sagen  eine  Citadelle  schwömme  da- 
her, und  doch  ist  es  nur  ein  Schiff  von  kaum  7 
Fuß  Tiefgang  und  mit  13  Knoten  Geschwin- 
digkeit, das  aber  ein  ganzes  Regiment  auf  sei- 
nem Deck  tragen  kann.  Zeigt  uns  nicht  dies 
Schiff  den  Weg  zur  Flottille"  kommt  der  Ver- 
fasser auf  seine  Lieblings-Idee  zurück,  „und" 
ruft  er  emphatisch  aus  „sollte  damit  nicht  end- 
lich der  von  mir  so  lang  erträumte  Typus  wie 
Aphrodite  aus  dem  Schaum  des  Meeres  empor- 
steigen? Zwei  hohle  Cylinder  mit  Planken  ge- 
deckt, was  bedürfen  wir  mehr,  um  Soldaten, 
Geschütze  und  Pferde  an  das  Ufer  zu  werfen? 
Die  Marine  vermag  den  Feind  aus  weiter  Ferne 
zu  treffen,  weshalb  vernachlässigen  wir  so  mäch- 
tige Kriegsmittel". 

Wie  ich  schon  bemerkt  habe,  verdienen  die 
Folgerungen  und  Lehren,  welche  der  Admiral 
aus  der  von  ihm  besprochenen  Seekriegsge- 
schichte  der  Alten  zieht,  durchweg  Beachtung 

84 


1330       Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  42. 

und  es  ist  an  ihrer  Richtigkeit  wenig  zu  man- 
geln. In  einem  Punkte  befinde  ich  mich  jedoch 
nicht  mit  ihm  in  Uebereinstimmung,  und  zwar 
in  Bezug  auf  die  Construction  der  Trieren.  Zu 
verschiedenen  Malen  widmet  er  denselben  län- 
gere Betrachtungen  und  sucht  mit  allen  mögli- 
chen Gründen  nachzuweisen,  daß  die  Trieren 
und  die  späteren  Kriegsschiffe  der  Alten,  bis  zu 
den  historisch  feststehenden  16 -Reihenschiffen 
hinauf,  nicht  etwa  drei,  fünf  bis  sechszehn  Rei- 
hen Ruder  über  einander,  sondern  nur  je  eine 
R^ihe  hatten  und  sie  ihre  Namen  davon  erhiel- 
ten, daß  die  Ruder  je  mit  drei,  fünf  und  so  wei- 
ter Ruderern  besetzt  waren.  Als  Hauptargument 
für  seine  Ansicht  führt  er  an,  daß  schon  bei 
Penteren  die  obersten  Ruder  viel  zu  lang  und 
schwer  seien,  um  von  einem  Manne  regiert  zu 
werden,  und  daß  die  Schiffe  mit  mehreren  Ru- 
derreihen übereinander  unmöglich  die  Beweg- 
lichkeit und  Manövrierfähigkeit  besessen  haben 
könnten,  wie  man  dies  von  ihnen  weiß,  weil 
die  Ruder  von  einander  hätten  unklar  werden 
müssen.  Der  gelehrte  Verfasser  hat  über  die- 
sen Punkt  alle  möglichen  Quellen  aufgesucht, 
nur  zwei  sehr  wichtige  sind  von  ihm  übersehen 
worden  und  zwar  zwei  deutsche,  Böckh'g  Haus- 
haltung der  Athener  und  Graser's  De  Veterom 
re  navali,  sowie  seine  Monographie  über  die 
Pentere  und  das  darnach  construierte  im  Ber- 
liner Museum  aufgestellte  Modell  eines  solchen 
Schiffes.  Hätte  er  diese  Quellen  vorurtheilslos 
befragt,  dann  würde  er  zu  der  Ueberzeugung 
gekommen  sein,  daß  seine  Ansicht  eine  irrige 
ist;  daß  die  Trieren  etc.  nicht  eine,  sondern 
drei  etc.  Ruderreihen  über  einander  hatten  und 
selbst  die  Ruderer  in  den  obersten  Reihen  der 
von  Demetrios  Poliorketes  zuerst  gebauten  Sechs- 


Jurien  de  la  Graviore,  La  Marine  des  Anciens.  133 1 

zehnreihenscbiffe  nur  27s/i  Fuß  lang  waren. 
Wenngleich  nun  die  größten  in  Marinebooten 
gebräuchlichen  Ruder  nur  21—22  Fuß  Länge 
haben,  so  lassen  sich  auch  30-  und  mehrftißige 
ganz  bequem  von  einem  Manne  regieren.  Es 
kommt  dabei  nur  darauf  an,  wie  groß  ihr  i  n- 
nenbords  befindlicher  Hebelarm  ist,  und  die- 
sen Punkt  klärt  ebenfalls  Graser  genügend  bei 
den  antiken  Schiffen  auf.  Ich  habe  in  China 
Boote  mit  einem  5  0  Fuß  langen  Ruder  gesehen, 
welches  leicht  und  gewandt  von  einer  Frau 
gehandhabt  wurde,  allerdings  befanden  sich  da- 
von 10  Fuß  und  zwar  beschwert  innenbords. 
Der  Admiral  spricht  en  passant  zwar  einmal 
von  den  „tables  attiques,  sur  lesquelles  s'est 
appuy6e  l'ärudition  allemandett ,  allein  er  erwähnt 
weder  Böckh  noch  Graser,  obwohl  er  alle  an- 
dern von  ihm  benutzten  Quellen  namentlich  auf- 
führt. Ich  empfehle  ihm  deshalb  das  Studium 
jener  Beiden,  vielleicht  wird  dann  seine  Ansicht 
über  die  Trieren  eine  andere.  Daß  er  absicht- 
lich sie  ignoriert  hat,  weil  es  Deutsche  sind, 
traue  ich  ihm  nicht  zu,  dazu  steht  er  in  meiner 
Achtung  zu  hoch ;  und  wenn  es  dafür  noch  eines 
concreten  Beweises  bedürfte,  so  citiere  ich  seine 
Worte  am  Schlüsse  des  Werkes,  wo  er  den 
Franzosen  auf  das  dringlichste  räth  im  Frieden 
sich  für  den  Krieg  vorzubereiten.  „Je  ne  con- 
nais  qn'une  nation  au  monde"  sagt  er  dort  „qui 
ait  su  faire  un  serieux  et  intelligent  usage  des 
loisirs  d'une  longue  paix.  Quand  cette  grande 
et  vaillante  nation  —  je  dis :  grande  et  vaillante, 
car  au  jeu   de  la  guerre,  comme    aux  autres  j 

jeux,  il  faut  rester  beau  joueur,  le  depit  ne  rä- 
pare  rien  —  quand  l'AUemagne,  en  unmot,  dut 
passer  soudainement  du  champ  de  manoeuvre  au 
champ  de  bataille,  ses  soldats  ne  s'y  presentment 

84*  I 


1332       Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  42. 

pas  6tonues.  Entre  les  exercices  qui  les  avaient 
pSriodiquement  rassembl6s  et  le  combat,  auquel 
on  les  conduisait,  la  difference  etait  k  peine 
sensible;  il  n'y  avait  que  le  danger  de  plus". 

Einen  solchen  Ausspruch  eines  so  hochstehen- 
den und  angesehenen  Franzosen  dürfen  wir  uns 
schon  gefallen  lassen  und  er  giebt  zugleich 
Zeugniß  flir  den  vorurteilslosen  Charakter  des 
Mannes. 

Wiesbaden.  R.  Werner. 


Geschichte  der  Europäischen  Staaten.  Her- 
ausgegeben von  A.  H.  L.  Heeren,  F.  A.  ükert 
und W. v. Giesebrecht.  Geschichte  Baierns 
von  Sigmund  Riezler.  Zweiter  Band  (bis 
1347).  Gotha.  F.  A.  Perthes.  1880.  XIX  u. 
587  S.    8°. 

Der  zweite  Band  der  bairischen  Geschichte 
hatte  beim  Jahre  1180  einzusetzen  und  sollte 
nach  dem  ursprünglichen  Plane  den  ganzen  Rest 
des  Mittelalters  umfassen;  aber  bei  der  Aus- 
führung fand  ich  unmöglich,  einen  so  ausge- 
dehnten Stoff  in  einem  nicht  allzu  dickleibigen 
Bande  zu  bewältigen.  Indem  ich  mir  also  beim 
Tode  Ludwig  des  Baiern  einen  Abschluß  ge- 
stattete, erhielt  der  Band  zwei  Bücher  zuge- 
wiesen: das  sechste,  Ausbildung  und  Befesti- 
gung der  Landeshoheit  unter  den  ersten  Wit- 
teisbachern (1180—1294)  und  das  siebente, 
Ludwig  der  Baier ;  zwei  Zeitabschnitte  von  sehr 
verschiedenartigem  Inhalt,  insofern  dem  ersten 
eine  fortschreitende  Isolierung  des  Landes  vom 
Reiche,   dem  zweiten  eine  nicht  nur  im  Reiche, 


S.  Riezler,  Geschichte  Baierns.     Bd.  IL    1333 

sondern  international  weitausgreifende  Politik 
eigentümlich  ist  Gleich  die  ersten  Decennien 
bringen  mit  dem  Verfalle  des  Reichs  den  ge- 
waltigsten Aufschwung  der  territorialen  Mächte 
und  je  stärker  von  jeher  das  nationale  Herzog- 
thum  in  Baiern  war,  am  so  früher  and  leichter 
gelingt  hier  Ausbildung  and  Befestigung  der 
herzoglichen  Landeshoheit.  Doch  der  Umfang 
des  Territoriums,  in  dem  sich  diese  Entwicklung 
vollzieht,  ist  namhaft  verkleinert:  es  umschließt 
nur  mehr  das  heutige  Altbaiern,  das  sich  frei- 
lich im  Süden  und  Osten  noch  über  Theile  des 
heutigen  Tirols  und  Oberösterreichs  erstreckt, 
mit  dem  auch  seit  1214  die  rheinische  Pfalz 
verbunden  ist.  Eine  weitere  Kehrseite  des  lan- 
desherrlichen Aufschwungs  liegt  in  der  gestei- 
gerten Macht  auch  der  anderen  Reichsfürsten, 
besonders  der  Bischöfe.  Wüste  Kämpfe  mit  die- 
sen Nachbarn  um  Hoheitsrechte  erfüllen  den 
ganzen  Zeitraum.  Wichtiger  als  deren  Ergeb- 
nisse ist  für  den  Ausbau  des  bairischen  Staats- 
wesens die  Thatsache,  daß  das  Herzogthum  un- 
ter den  drei  ersten  Witteisbachern  und  in  ge- 
ringerem Maße  noch  in  der  Folgezeit  sein  Ter- 
ritorium im  engeren  Sinne,  jenes  nämlich,  wo 
ihm  auch  die  Grafengewalt  zustand,  auf  Kosten 
der  alten  Grafenhäuser  des  Landes  ganz  außer- 
ordentlich vergrößert,  so  daß  es  beim  Tode  des 
dritten  Witteisbachers  schon  ein  etwa  dreimal 
größeres  beherrscht  als  beim  Regierungsantritte 
des  ersten.  Mußte  schon  bei  Schilderung  dieses 
Umsichgreifens  vom  Ausgang  der  meisten  bairi- 
schen Grafenhäuser  gesprochen  werden,  so  soll 
doch  erst  am  Schlüsse  des  Mittelalters  die  im 
ersten  Bande  begonnene  Uebersicht  dieser  Fa- 
milien fortgesetzt  und  vollendet  werden. 

Monographische   Arbeiten   von  Wissenschaft- 


1334      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  42. 

* 

lieber  Bedeutung  lagen  für  keinen  der  Witteis- 
bacher vor,  die  das  sechste  Buch  bebandelt  und 
von  denen  der  erste  und  der  letzte,  Otto  L  und 
Ludwig  II.  unzweifelhaft  als  die  tüchtigsten 
und  hervorragendsten  Fürsten  erscheinen.  Wohl 
waren  ihre  Beziehungen  zum  Reiche,  Dank  den 
Werken  von  Winkelmann,  Schirrmacher,  Lo- 
renz, fast  durchweg  klar  gestellt,  aber  im  übri- 
gen bot  sich  mir  reiche  Gelegenheit  mit  altem 
Schutt  aufzuräumen  und  neuen  Anschauungen 
Bahn  zu  brechen.  Darf  ich  mir  gestatten  einige 
der  letzteren  hervorzuheben,  so  sei  folgendes  er- 
wähnt. Die  herkömmlichen  Beinamen:  Ludwig 
der  Kelheimer,  Otto  der  Erlauchte,  Ludwig  der 
Strenge  sind  einerseits  nicht  alt,  beruhen  ander- 
seits nur  auf  Mißverständniß  oder  ungenügender 
Eenntniß  und  sind  deshalb  fallen  zu  lassen. 
Die  alten  Landtage  des  Herzogthums  reichen 
keineswegs  bis  an  den  Schluß  dieser  Periode 
und  es  bestand  keine  historische  Gontinuität 
zwischen  ihnen  und  dem  neuen  landständischen 
Wesen,  wie  es  im  Beginne  des  14.  Jahrhunderts 
durch  das  Zusammenwirken  einer  ausderwirth- 
schaftlichen  Umwälzung  entspringenden  Geld- 
noth  der  Höfe  und  eines  immer  mächtiger  auf- 
tretenden corporativen  Geistes  erwuchs.  Als 
wichtiger  Faktor  in  der  wittelsbachischen  Poli- 
tik dieser  Zeit  darf  das  Streben  nicht  übersehen 
werden,  die  Verluste  von  1156  und  1180  im 
Osten  wenigstens  theilweise  wieder  hereinzu- 
bringen. Die  beste  Gelegenheit  dazu  hätte  sich 
Otto  II.  geboten,  aber  er  versäumte  sie  that- 
kräftig  zu  benutzen.  Dieser  Fürst  erfährt  über- 
haupt keine  günstige  Beurtheilung  und  gegen- 
über dem  Lobe,  das  man  der  nationalen  Politik 
seiner  letzten  Jahre  gespendet  hat,  wird  betont, 
daß  diese  in  ihrer  Kaiserfreundlichkeit  doch  auf 


S.  Riezler,  Geschichte  Baierns.  Bd.  II.    1335 

demselben  Motive  des  Eigennutzes  beruhte  wie 
vorher,  da  sie  den  Papst  gegen  den  Kaiser  un- 
terstützte. Otto's  IL  Reichspolitik  war  vorbild- 
lich für  lange  Zeit:  eine  Verschwägerung  mit 
dem  jeweils  regierenden  königlichen  Hause  ward 
für  das  bairische  die  Vorbedingung  der  Reichs- 
treue; und  bis  zu  dem  Tage,  da  Witteisbach 
selbst  die  deutsche  Krone  erlangte,  hat  kein 
deutscher  Herrscher,  der  in  Baiern  zur  Geltung 
kam,  diese  Vorbedingung  unerfüllt  gelassen. 
Der  Uebertritt  Ludwigs  IL  auf  die  Seite  Otto- 
kars um  1260  wird  mit  seiner  zweiten  Heirath 
in  Verbindung  gebracht.  Bei  den  zahlreichen 
herzoglichen  Städtegründungen  betone  ich  als 
mindestens  mitwirkendes,  theil weise  bestimmen- 
des Motiv  den  feindlichen  Gegensatz  gegen  einen 
benachbarten  Bischof,  der  bereits  so  glücklich 
war  eine  Stadt,  d.  h.  eine  ausgedehnte  Burg  zu 
besitzen.  Landshut  läßt  uns  ein  Satz  in  sei- 
nem Stadtrechte  als  die  älteste  herzogliche  Re- 
sidenz erkennen.  Dem  landesherrlichen  Beam- 
tenwesen, der  Verwaltung  und  Polizei  kommt 
schon  in  dieser  Periode  eine  weit  höhere  Be- 
deutung zu,  als  man  in  der  Regel  angenommen 
hat.  Eine  reiche  und  noch  wenig  ausgebeutete 
Quelle  für  diese  Verhältnisse,  wie  überhaupt  für 
die  inneren  Zustände  des  Zeitraums  fließt  in 
den  bairischen  Landfriedensordnungen ,  deren 
äußere  Geschichte  uns  Rockinger  beleuchtet  hat. 
Eine  werthvolle  Quelle  für  den  Staatshaushalt 
dieser  Zeit,  aber  auch  nach  manchen  anderen 
Richtungen  nicht  unergiebig,  hat  uns  eine  sorg- 
fältige Edition  des  Freiherrn  Edmund  Oefele  in 
dem  Rechnungsbuche  des  oberen  Vitztumamtes 
Oberbaierns  aus  den  Jahren  1291 — 1294  er- 
schlossen. Für  die  Anfänge  der  bairischen  Mi- 
noritenklöster   konnte   ich   eine  handschriftliche 


1336      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  42. 

Quelle  benutzen,  eine  von  P.  Bernhard  Müller 
um  1703  auf  Grundlage  des  Provinzialarchivs 
verfaßte  Chronik  der  oberdeutschen  Minoriten- 
provinz,  welche  die  Würzburger  Universitäts- 
bibliothek besitzt.  In  ihr  fand  sich  auch  eine 
interessante  neue  Notiz  über  Occam.  Für  die 
Geschichte  der  Waldesier  oder,  wie  sie  damals 
in  Süddeutschland  hießen,  Lyonisten,  zog  ich  ne- 
ben den  Quellen,  welche  Preger  in  seiner  lehr- 
reichen Abhandlung  hierüber  benutzte,  die  Nach- 
richten der  Jahrbücher  von  Mattsee  heran.  Es 
wird  gezeigt,  daß  diese  Sekte  nicht  nur  in 
Oesterreich,  sondern  auch  im  östlichen  Baiern 
stark  verbreitet  war;  als  Sitz  ihres  Bischofs 
wird  nach  einer  wohl  berechtigten  Textesemen- 
dation  Einzenberg  im  Hausruckviertel  vermuthet 
Die  merkwürdige  Nachricht,  daß  der  üebertritt 
eines  Fürsten  zu  der  von  der  Kirche  so  grausam 
verfolgten  Richtung  nahe  gestanden  und  nur 
durch  dessen  raschen  Tod  vereitelt  worden  sei, 
möchte  ich  lieber  auf  Otto  IL  von  Baiern  als 
auf  den  letzten  Babenberger  deuten.  An  der 
bairischen  Literatur  erkenne  ich  eine  volks- 
tümliche Richtung,  wie  sie  sich  ausspricht  in 
den  Predigten  Bertholds  von  Regensburg,  eine 
frühzeitige  Vorliebe  für  Schilderung  des  Volks- 
lebens, wie  sie  im  Meier  Helmbrecht  und  in  den 
Liedern  Nithards  von  Reuenthal  hervortritt,  als 
charakteristischen  Zug.  Aus  dem  Kapitel  der 
Kunstgeschichte  sei  erwähnt,  daß  die  Regens- 
burger Bürger  Konrad  Hiltprandt  und  Ulrich 
von  der  Prunlait,  um  1271  Erbauer  der  Kirche 
und  des  Klosters  der  Augustiner-Eremiten  in 
Regensburg,  als  die  ältesten  weltlichen  Bau- 
meister erscheinen,  die  sich  in  Baiern  nachwei- 
sen lassen. 

Es  kommt  mir  darauf  an,  das  geschichtliche 


S.  ßiezler,  Geschichte  Baierns.  Bd.  IL    1337 

Leben  des  Volkes  nach  allen  Richtungen,  in 
Staat  und  Kirche,  Gesellschaft  und  Wirtschaft, 
Literatur  und  Kunst  zu  schildern.  Bei  solcher 
Ausdehnung  der  Betrachtung  verfolgt  man  auch 
in  der  Geschichte  die  im  wesentlichen  unwan- 
delbare, durch  keine  Schicksale,  keine  Erziehung 
völlig  zu  verwischende  zähe  Natur  des  Stam- 
mes, in  der  die  vorzugsweise  historischen  Kräfte, 
die  Staats-  und  wohlstandbildenden  Anlagen, 
zurücktreten  neben  künstlerischen  Fähigkeiten 
nnd  dem  Trieb  und  Talent  ein  sinnlich-heiteres 
Dasein  zugegen. 

Der  größte  Fluch  der  bairiscben  Geschichte 
in  dem  Zeiträume  von  1255—1504  sind  die 
fortwährenden  Landestheilungen  und  schwer  ge- 
nug lasten  sie  auch  auf  dem  Geschichtschreiber. 
Eine  gesonderte  Darstellung  der  ober-  und  nie- 
derbairischen  Verhältnisse  wäre  in  diesem  Bande 
nicht  passend  gewesen,  hie  und  da  schon  aus 
dem  Grunde,  weil  die  letzteren  für  eine  solche 
zu  unbedeutend  erscheinen,  insbesondere  aber 
und  fast  überall  darum,  weil  die  äußere  Politik 
wie  die  innere  Entwicklung  beider  Landestheile 
in  enger  Verbindung  und  Wechselwirkung  steht 
Die  Darstellungen  beider  Regierungen  mußten 
daher  in  einander  verwoben  werden,  wobei  frei- 
lich der  Uebelstand  nicht  zu  vermeiden  war, 
daß  bei  aufgehobener  Einheit  des  Gesichtsfeldes 
in  die  Erzählung  etwas  Sprunghaftes  kommt. 

In  Ludwig  dem  Baiern  ließ  sich  der  König 
und  Kaiser  nicht  vom  Baiernherzog  sondern. 
Wohl  habe  ich  in  der  Hoffnung,  auf  diesem 
Wege  vielleicht  eine  Ueberschreitung  des  mir 
angewiesenen  Raumes  vermeiden  zu  können, 
anfangs  den  Versuch  einer  solchen  Scheidung 
gemacht,  aber  ich  erkannte  bald,  daß  dieses 
Verfahren   eine  in  Wahrheit  glänzende  Periode 


1338       Gott.  gel.  Adz.  1880.  Stück  42. 

der  bairiscben  Geschiebte  als  ibre  dürftigste 
und  thatenloseste  erscheinen,  daß  es  auch  Lud- 
wigs herzogliches  Walten  fast  auf  keinem  Punkte 
richtig  verstehen  ließe,  daß  es,  kurz  gesagt,  zu 
lauter  Absurditäten  führen  würde.  Indem  ich 
mich  also  davon  abwandte,  hielt  ich  gleichwohl 
daran  fest,  nicht  die  ganze  internationale  und 
deutsche  Politik  des  Herrschers  mit  gleicher 
Ausführlichkeit,  jede  Frage  vielmehr  nach  Ver- 
hältniß  des  Gewichtes  zu  behandeln,  das  sie 
für  die  bairische  Geschichte  beansprucht.  Kai- 
ser Ludwig  ist  der  erste  Witteisbacher,  von  dem 
die  Quellen  ein  breiter  angelegtes,  mit  lebhaf- 
teren Farben  ausgeführtes  Charakterbild  zu  ent- 
werfen gestatten,  ein  Vortheil,  den  ich  mir  um 
so  weniger  entgehen  ließ,  je  häufiger  uns  sonst 
die  Persönlichkeiten  der  mittelalterlichen  Fürsten 
zufolge  des  einseitigen  Inhalts  der  Quellen  ins 
gestaltlos  Allgemeine  verschwimmen.  Das  Ur- 
theil  über  Ludwigs  Wirksamkeit  wird  dahin  zu- 
sammengefaßt, daß  er  für  seine  Familie  das 
beste,  vieles  auch  für  sein  Land,  für  das  Reich 
aber  am  wenigsten  geleistet  hat.  Ueber  die 
geringe  Selbständigkeit,  den  Wankelmuth  und 
die  Unzuverlässigkeit  seines  Charakters  zeigen 
sich  hervorragende  zeitgenössische  Berichter- 
statter einig,  aber  noch  wichtiger  ist,  daß  auch 
die  Akten  keine  Versuchung  erwecken,  gegen- 
über diesen  Urtheilen,  neben  denen  das  Lob 
seiner  Rührigkeit  und  diplomatischen  Gewandt- 
heit wohl  bestehen  mag,  eine  Ehrenrettung  zu 
unternehmen. 

Unter  den  Hülfsmitteln  für  diesen  ganzen 
Zeitraum  bairischer  Geschichte  beanspruchen  die 
Arbeiten  Johann  Friedrich  Böhmers,  seine  Fontes, 
Wittelsbachischen  Kegesten  und  Regesten  Kai- 
ser Ludwigs   mit    den    kostbaren    Nachträgen 


S.  Riezler,  Geschichte  Baierns.   Bd.  II.    1339 

Fickers  den  ersten  Rang.  Ich  würde  eine 
Pflicht  des  Dankes  zu  versäumen  glauben,  wenn 
ich  nicht  auch  hier  darauf  hinwiese,  wie  sehr 
ich  durch  dies  alles  gefördert  wurde.  Gegen- 
über diesen  außerordentlichen  Leistungen  eines 
Frankfurters  und  Westfalen  ist  es  um  so  be- 
schämender von  der  Unzulänglichkeit  einer  in 
Baiern  entstandenen  sprechen  zu  müssen.  Das 
Wittelsbachische  Urkundenbuch  im  5.  und  6. 
Bande  der  Quellen  und  Erörterungen  zur  bairi- 
schen  und  deutschen  Geschichte  läßt  schon  im 
13.  Jahrhundert  viele  Lücken  beklagen,  im  14. 
bietet  es  vollends  nicht  mehr  als  ein  aufs  Ge- 
rat he  wohl,  ohne  jedes  System  herausgegriffenes 
Brnchtheil  des  reichen  Stoffes,  der  zu  veröffent- 
lichen gewesen  wäre.  Die  für  den  Bearbeiter 
bairischer  Geschichte  so  sehr  zu  wünschende 
Arbeitstheilung  ist  hier  nicht  vollzogen  und  er 
sieht  sich  gezwungen  seinen  Rohstoff  in  ausge- 
dehntem Maße  erst  selbst  aus  den  Archiven  her- 
vorzuziehen. Eine  kleine  Nachlese  zum  Witteis- 
bachischen  Urkundenbuche  habe  ich  mittlerweile 
in  den  Forschungen  zur  deutschen  Geschichte 
veröffentlicht.  Von  neuen  Chronisten  dieser  Pe- 
riode haben  die  jüngsten  Bände  der  Monumenta 
Germaniae  in  Editionen  von  Waitz  und  Weiland 
manches  auch  für  Baiern  Wichtige  gebracht.  In 
dem  Chronic,  pontif.  et  imperat.  ßatispon.,  von 
dem  im  24.  Bande  der  Monumente,  S.  285— 288 
Auszüge  ediert  sind,  darf  man  wohl  ein  Werk 
Eonrads  von  Megenberg  vermuthen.  Auf  die- 
sen unermüdlichen  Vielschreiber  weisen  Zeit 
und  Ort  der  Abfassung,  die  unverhohlene  Ab- 
neigung des  Verfassers  gegen  Minoriten  und 
Prediger,  endlich  die  Nachricht  des  Andreas 
von  Regensburg,  daß  Eonrad  Verfasser  einer 
sogenannten    „großen  Chronik"    war.    Die  alte- 


1340       Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  42. 

sten  in  deutscher  Prosa  geschriebenen  Geschichts- 
werke, die  ans  Baiern  erhalten  sind,  finde  ich 
in  den  drei  bairischen  Fortsetzungen  der  säch- 
sischen Weltchronik,  in  der  bei  Freyberg  ge- 
druckten kleinen  Regensburger  Stadtchronik  und 
in  der  Schlierseer  Chronik  bei  Oefele.  Erst 
dann  folgt  die  Mtthldorfer  Stadtchronik. 

Bei  dem  außerordentlichen  Beichthum  von 
Ludwigs  Geschichte  hätte  dieser  Band  nicht  so 
bald  vollendet  werden  können,  hätte  ich  mich 
nicht  vielfach  durch  Vorarbeiten  unterstützt  ge- 
sehen. An  der  Darstellung  der  literarischen 
Kämpfe,  welche  Ludwigs  Streit  mit  der  Curie 
begleiteten,  hatte  ich  mich  selbst  schon  früher 
versucht.  Mittlerweile  hat  der  Streit  mit  den 
Päpsten  selber,  die  wichtigste  Seite  von  Lud- 
wigs Regierung,  in  dem  zweibändigen  Werke 
Carl  Müllers  die  trefflichste  Behandlung  erfah- 
ren. Auch  die  zwei  akademischen  Abhandlun- 
gen Pregers  zur  Geschichte  Ludwigs  und  des 
Kirchenstreites  kamen  mir  in  hohem  Maße  zu 
statten,  wiewohl  ich  nicht  allen  ihren  Auffassun- 
gen zustimmen,  besonders  den  Kaiser  nicht  ganz 
so  günstig  beurtheilen  kann.  Ueberhaupt  hat 
sich  die  Forschung  in  den  letzten  Jahren  mit 
großem  Eifer  der  Zeit  Ludwig  des  Baiern  nnd 
dem  ganzen  vierzehnten  Jahrhundert  zugewen- 
det. Ueber  die  geschichtliche  Literatur  dieser 
Periode  lagen  neben  der  zweiten  Auflage  von 
Lorenz  werthvolle  Abhandlungen  von  Wiehert, 
M.  Mayr,  Aloys  Schulte  u.  a.  vor.  Den  Ueber- 
blick  über  das  literarische  und  künstlerische 
Leben  erlaubte  ich  mir,  etwas  vorgreifend  auf 
das  ganze  14.  Jahrhundert  auszudehnen,  da  des- 
sen zweite  Hälfte  für  ein  besonderes  Kapitel  zu 
wenig  Stoff  enthalten  hätte.  Für  die  wichtige 
Landesgesetzgebung  Kaiser  Ludwigs  boten  das 


8.  Riezler,  Geschichte  Baierns.   Bd.  II.    1341 

gelehrte  Werk  des  Freiherrn  von  der  Pfordten 
und  ein  Aufsatz  Rockingers  die  gründlichsten 
Untersuchungen;  hervorzuheben  war  hier  der 
bedeutsame  und  gegenüber  der  älteren  Periode 
neue  Zug,  daß  die  Landesgesetzgebung  nun 
vom  Fürsten  ohne  Mitwirkung  der  Landstände 
ausgeht.  Und  doch  hat  das  landständische  We- 
sen sich  nirgend  reicher  und  glänzender  ent- 
wickelt als  in  Baiern.  Es  schien  nötbig  gleich 
seine  Anfange  scharf  und  eingehend  ins  Auge 
zu  fassen.  In  demselben  Kapitel  werden  Ver- 
waltung und  Recht  unter  Ludwig  dem  Baiern 
besprochen.  Auch  unter  den  Beamten  dieses 
Fürsten  durften  die  königlichen  nicht  übergan- 
gen werden.  In  den  „Pflegen"  oder  Pflegge- 
richten, die  nun  auftauchen,  erkannte  ich,  so 
nahe  dieser  Zusammenhang  liegt,  doch  erst 
nach  längerem  Umhertappen  die  alten  Vogtei- 
8prengel.  Daß  der  bairische  Stamm  durch  die 
überaus  zahlreichen  Urkunden  Ludwig  des 
Baiern,  die  ersten  in  deutscher  Sprache  ver- 
breiteten Eaiserurkunden ,  auf  die  Gestaltung 
der  neuhochdeutschen  Sprache  Einfluß  geübt 
hat,  ist  eine  meines  Wissens  hier  zum  ersten 
Male  ausgesprochene  Annahme,  welche  Sprach- 
forscher ihrer  Beachtung  und  näheren  Prüfung 
würdigen  mögen. 

Donaueschingen.  Sigmund  Riezler. 


1342      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  42. 

Registrande  der  geographisch-sta- 
tistischen Abtheilung  des  Großen  Ge- 
neralstabes. —  A.  u.  d.  T.:  Neues  aus  Geo- 
graphie, Kartographie  und  Statistik  Europa's 
und  seiner  Kolonien;  Quellennachweise,  Aus- 
züge und  Besprechungen  zur  laufenden  Orien- 
tierung. —  X.  Jahrgang,  Berlin,  E.  S.  Mittler 
&  Sohn,  1880.  XIV  und  596  SS.  8°.  mit 
einer  Karte  in  Fol. 

Unter  den  literarischen  Hilfsmitteln,  die  dem 
Geographen  zu  Gebote  stehen,  gehört  die  Re- 
gistrande ohne  Frage  zu  den  bequemsten.  Sie 
hat  vor  den  monatlichen  Literaturübersichten 
in  Petermann's  Mittheilungen  den  Vorzug  größe- 
rer Uebersichtlichkeit,  vor  denen  in  der  Zeit- 
schrift der  Berliner  Geographischen  Gesellschaft, 
die  von  Prof.  Koner  alljährlich  geliefert  werden, 
der  streng  geographischen  Anordnung,  und  be- 
sonders ist  sie  ausgezeichnet  durch  die  Repro- 
duction mehr  oder  weniger  ausführlicher  Notizen 
statistischen  oder  national-ökonomischen  Inhalts, 
die  aus  Zeitungen  des  Inlands  und  des  Aus- 
lands, aus  schwer  zugänglichen  oder  durch  ihre 
Sprache  wenig  benutzten  Zeitschriften  oder  aus 
officiellen  Aktenstücken  entlehnt  und  so  den 
Interessenten  zur  dauernden  Benutzung  darge- 
boten werden.  Einen  specifischen  Charakter 
enthält  die  (Registrande'  aber  durch  ihre  auf  die 
militärische  Leistungsfähigkeit  der  Staaten  be- 
züglichen sehr  ausführlichen  und  hier  und  da 
kritisch  beleuchteten  Zusammenstellungen,  wie 
ja  überhaupt  die  'Registrande'  aus  einem  ur- 
sprünglich nur  im  Manuscript  angelegten  Ab- 
theilungsjournal des  Großen  Generalstabes  her- 
vorgegangen ist.  So  ausführliche  Nachrichten, 
wie  sie  hier  über  die  Landesaufnahme,  Karten- 


I 


Uegistrande  d.  geogr.-st.  A.  d.  Gr.  Generalst.    1343 

Publikation  geboten  werden,  erhält  der  Geograph 
nicht  leicht  in  irgend  einer  der  vorhandenen 
sonstigen  Literaturübersichten.  Gerade  der  vor- 
liegende zehnte  Jahrgang  ist  noch  mit  einer 
besonderen  kartographischen  Zugabe  geschmückt, 
welche  von  den  Fachgenossen  mit  ungeteiltem 
Beifall  aufgenommen  werden  wird,  einer  Ueber- 
sichtskarte  von  Mitteleuropa  nämlich,  welche  als 
Index  für  die  topographischen  Kartenwerke  der 
Deutschen  Staaten,  Dänemarks,  Südschwedens, 
Polens,  des  cisleithanischen  Oesterreichs,  der 
Schweiz  und  Ostfrankreichs  zu  gelten  bestimmt 
ist,  und  nicht  nur  das  Gebiet,  welches  die 
einzelnen  Generalstabskartenblätter  umfassen, 
sondern  auch  deren  Maaßstab  und  die  etwa 
für  dasselbe x  Gebiet  noch  vorhandenen  Meß- 
tischblätter in  deutlichen  Ziffern  unmittelbar 
ablesen  läßt.  Eine  solche  Indexkarte  hat  zu- 
letzt Petermann  im  Jahrgang  1858  seiner  'Mit- 
theilungen' geliefert,  seitdem  ist  etwas  gleich- 
artiges nicht  wieder  publiciert  worden.  Für  die 
Beifügung  dieser  Karte  muß  man  demnach  der 
Redaction  der  'Registrande'  ganz  besonders 
dankbar  sein,  da  sie  damit  einem  wahren  Be- 
dürfnisse abgeholfen  hat. 

Die  bereits  vorliegenden  Bände  der  'Re- 
gistrande', die  ein  so  glänzendes  Zeugniß  von 
dem  echt  wissenschaftlichen  Geiste  sind,  der 
unseren  Generalstab  beseelt,  hat  der  Unter- 
zeichnete bei  seinen  staatenkundlichen  Arbeiten 
vielfach  benutzt  und  ihre  Brauchbarkeit  in  je- 
der Beziehung  erprobt.  Da  schien  ihm  indeß 
ein  Mangel  hin  und  wieder  fühlbar,  den  er  bei 
dieser  Gelegenheit  nicht  unerwähnt  lassen 
möchte.  Der  Titel  besagt  zwar,  deutlich  das 
von  der  'Registrande'  umfaßte  Gebiet  einschrän- 
kend, daß  sie  nur  'Neues  aus   der  Geographie, 


1344      Gott  gel.  Anz.  1880.  Stück  42. 

Kartographie  und  Statistik  Euro  pa's  und 
seiner  Colonien'  bieten  solle.  Indeß  sind 
im  allgemeinen  Theile  doch  auch  knappe,  die 
wesentlichsten  Fortschritte  berücksichtigende 
Nachrichten  gegeb  en  über  die  außereuropäischen 
Erdtheile,  z.  B.  über  die  Reisen  in  Afrika,  über 
Afghanistan  etc.  Dagegen  vermied  die  'Regi- 
strande' bisher  uns  auch  über  die  Vereinigten 
Staaten  von  Nordamerika  auf  dem  Laufenden 
zu  erhalten.  Der  Plan  des  Werkes  hat  ohne- 
hin schon  allmählich  Erweiterungen  erfahren; 
vielleicht  könnte  nun  die  Redaction  der  'Re- 
gistrande' sich  entschließen,  in  dem  nächsten 
Jahrgange  den  Fachgenossen  auch  Neues  aus 
der  Geographie,  Kartographie  und  Statistik  der 
Vereinigten  Staaten  zu  bringen,  aus  die- 
ser Hauptcolonie  des  gesammten  Europas,  die 
immer  intensiver  nicht  nur  in  wirtschaftlicher 
Hinsicht  (man  denke  an  Getreidepreise,  an  die 
Auswanderungen,  an  die  Geschäftskrisen),  son- 
dern auch  in  politischer  Beziehung  ('radikale' 
Partei  Englands!)  auf  die  Zustände  des  Mutter- 
landes Europa  zurückwirkt.  Das  Buch  würde 
dadurch  freilich  in  seinem  Umfang  vergrößert, 
der  Preis  erhöht  werden,  indeß  dürfte  es  doch 
den  Fachgenossen  dafür  ein  um  so  vollständi- 
geres Hülfsmittel  für  ihre  Studien  werden. 

Otto  Krtimmel. 


Für  die  Redaction  Terantwortlich:  K  Beimisch,  Director  d.  Gott.  gel.  Am. 

Commissions.  Verlag  der  DietericW sehen  Verlags -Buckhcmdkmg. 

Drack-der  THeierich' sehen  Univ.- Buchdrucker*  (W.  Ff.  Katsiner). 


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1345 

6  öt  tingis che 

gelehrte    Anzeigen 

unter  der  Aufsicht 

der  Königl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Stück  43.    .    .   :        3     27.  October  1880. 


Inhalt:  Einhardi  Tita  Karoli  Magni.  Post  G.  H.  Pert«  rec  G. 
Waiti.  Editio  IT.  Ton  9.  Waitz,  —  Lex  Salica,  none  Ausgaben 
yon  A.  Holder  und  von  J.  H.  Hesseis  und  H.  Kern.  Yon  J.  Ikhrend. 
—  Rad.  Wolf,  Geschichte  der  Vermessungen  in  der  Schwelt.  Von 
a  F.  W.  PeUrs.  —  Meddelelser  om  Grönland.  Heft  I.  Von 
O.  Lang. 

ss  Eigenmächtiger  Abdruck  tob  Artikeln  der  Gott.  gel.  Ans.  verboten  ss 


E  i  n  h  a  r  d  i  Vita  Karoli  Magni.  Editio  qnarta. 
Post  Q.  H.  Pertz  recensuit  G.  Waitz.  Han- 
noverae  impensis  bibliopolii  Hahniani.  XXI  und 
39  S.  in  Octav. 

Auch  unter  dem  Titel: 

Scriptores  rerum  Germanicarum  in  usum 
scholarum  ex  Monumentis  Germaniae  recusi. 

Die  allgemeine  Bezeichnung  der  Sammlung,  zu 
welcher  dieses  Heft  gehört,  konnte  auf  dem 
hier  vorangestellten  Specialtitel  nicht  wiederholt 
werden,  da  nur  bei  einem  sehr  kleinen  Theil 
es  sich  noch  um  einen  Abdruck  aus  dem  be- 
treffenden Bande  der  Monumenta  Germaniae 
handelt.  Diese  Octavausgaben  bieten  nämlich 
die  erwünschte  Gelegenheit,  frühere  Arbeiten  zu 
revidieren  und  neuere  Forschungen  oder  jetzt 
erst  zugänglich   gewordene   Hülfsmittel  zu   be- 

85 


1346      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  43. 

nutzen.  Zu  beiden  war  aber  bei  Einbards  dem 
Umfang  nach  kleiner,  aber,  wie  jeder  weiß,  in 
der  historiographischen  Literatur  des  Mittelalters 
hervorragender  Schrift  voller  Anlaß  gegeben. 

Pertz  durfte  sich  rühmen,  als  er  im  J.  1829 
im  zweiten  Band  der  Scriptores  die  Vita  edierte, 
mehr  als  60  Handschriften  zu  kennen,  von  de- 
nen er  den  größeren  Theil  benutzt  hatte.  Seit- 
dem ist  aber  noch  eine  bedeutende  Zahl  bekannt 
geworden;  im  ersten  Heft  des  6.  Bandes  des 
Neuen  Archivs  der  Gesellschaft  für  ältere  Deut- 
sche Geschichtskunde  sind  nicht  weniger  als  22 
zusammengestellt,  von  denen  Pertz  keine  Kunde 
hatte;  andere,  über  die  ihm  nur  unsichere  oder 
ungenaue  Nachrichten  aus  älteren  Ausgaben 
oder  sonst  zugekommen  waren,  konnten  näher 
bestimmt  werden.  Unter  diesen  sind  mehrere, 
die  durch  ihr  Alter  oder  die  Beschaffenheit  des 
Textes  einen  hervorragenden  Platz  in  Anspruch 
nehmen.  Eine  derselben,  die  Pertz  nicht  unbe- 
kannt, aber  von  ihm  nicht  näher  verglichen  war, 
hat  später  Jaffe  benutzt,  als  er  den  Monumenta 
Carolina  (Bibliotheca  rerum  Germanicarum  IV) 
Einbards  Buch  einverleibte.  Er  stützte  auf 
diese  Handschrift  zugleich  eine  herbe  Kritik 
des  von  Pertz  gegebenen  Textes,  der  bei  einem 
Wust  von  Varianten  sich  keineswegs  durch 
Wiedergabe  der  echten  Ueberlieferung  aus- 
zeichne. Schon  dieser  Vorwurf  mußte,  als  es 
sich  um  eine  neue  Auflage  der  aus  den  Monu- 
menten abgedruckten  und  bereits  zweimal  wie- 
derholten kleineren  Ausgabe  handelte,  mir  die 
Aufforderung  geben,  die  Sache  einer  selbstän- 
digen Untersuchung  zu  unterziehen.  Das  Resul- 
tat war,  daß  Pertz  allerdings  einer  alten,  noch 
dem  9.  Jahrhundert  angehörigen  Handschrift, 
einer  der  ersten  die  ihm  bei  seiner  Bearbeitung 


Einhardi  Vita  Karoli  Magni  rec  Waitz.    1347 

begegnete  und  deren  Text  er  durch  mehrere  andere 
bestätigt  fand,  einen  zu  großen  Werth  beigelegt, 
ihrer  mehrfach  eigentümlichen  Ueberlieferung 
mit  Unrecht  den  Vorzug  vor  anderen,  auch  vor 
dem  bisher  recipierten  Text  gegeben  hatte.  Es 
begreift  sich  das,  wenn  man  bedenkt,  wie  ge- 
rade die  ersten  Arbeiten  von  Pertz  fast  überall 
die  Nachlässigkeit  und  Willkür  der  älteren  Aus- 
gaben aufdeckten,  und  auch  in  Einhards  Buche 
der  Einfluß  der  ersten  vielfach  entstellten  Edi- 
tion Nuenars  sich  lange  auch  in  den  späteren 
bemerken  ließ.  Nimmt  man  dazu,  daß  damals 
wohl  noch  mehr  als  jetzt  es  als  Hauptgrundsatz 
philologischer  Kritik  galt,  möglichst  und  bis  zum 
äußersten  hin  einer  für  richtiger  erkannten  oder 
doch  gehaltenen  Ueberlieferung  zu  folgen,  so 
wird  man  es  dem  um  die  Quellen  der  Karolin- 
gischen Geschichte  hochverdienten  Herausgeber 
kaum  zum  sonderlichen  Vorwurf  machen  kön- 
nen, daß  er  sich  hier  in  der  Bevorzugung  der 
bezeichneten  Wiener  Handschrift  vergriffen  hat*). 
Ganz  richtig  unterschied  er  als  zweite  Glasse 
Handschriften,  welche  durch  beigefügte  Verse 
Gerwards,  eines  Schülers  Einhards,  dagegen 
Weglassnng  der  Vorrede  und  der  auf  Hrodland 
bezüglichen  Worte  in  dem  Capitel  über  Karls 
Hispanischen  Krieg  charakterisiert  pind,  be- 
merkte auch,  daß  sie  jedenfalls  auf  ein  sehr 
altes  und  dadurch  besonderer  Beachtung  werthes 
Exemplar  zurückgehen  müßten.  Der  Ueberliefe- 
rung dieser  Glasse  auf  die  Gestaltung  des  Tex- 
tes größeren  Einfluß  zu  geben,  ließ  er  sich  aber 
wahrscheinlich  dadurch  abhalten,  daß  kein  älte- 
rer  Codex   derselben   ihm  bekannt    geworden, 

*)  Viel  schlimmeres  ist  bekanntlich  Jaffe  später,  und 
nach  Pertz,  beim  Monachus  Sangallensis  passiert. 

85* 


1348        Gott.  gel.  Adz.  1880.  Stück  4a 

einer,  der  ohne  Zweifel  dahin  gehört,  nur  theil- 
weise  in  seinem  ursprünglichen  Bestand  erhalten 
und  deshalb  nicht  richtig  eingereiht  war.  Aber 
auch  Jaff6  hat  derselben  keineswegs  die  ge- 
bührende Beachtung  geschenkt.  Und  eine  ge- 
nauere Untersuchung  hat  herausgestellt,  daß  er 
ganz  denselben  Mißgriff  gemacht  hat,  den  er 
Pertz  vorwarf,  einer  einzelnen  Handschrift  einen 
zu  großen  Einfluß  auf  die  Gestaltung  des  Tex- 
tes zu  geben.  Man  kann  anerkennen,  daß  die- 
ser Pariser  Codex  im  ganzen  eorrecter  geschrie- 
ben ist  als  der  Wiener  und  manche  Worte  und 
Wendungen  auf  Grund  desselben  berichtigt  wer- 
den konnten;  dagegen  weicht  er  an  wichtigen 
Stellen  viel  weiter  ab  als  jener,  läßt  eine  be- 
deutende Nachricht  fort,  fügt  anderes  hinzu  was 
der  Mehrzahl  der  Handschriften,  auch  der  gan- 
zen Olasse  B,  fremd  ist.  Ich  kann  auch  Jaffe's 
Verfahren  nicht  für  gerechtfertigt  halten,  wenn 
er  in  dem  einen  Fall  (wo  es  sich  um  Weglassung 
des  Satzes  über  das  Verhalten  von  Karls  Töch- 
tern handelt)  die  Handschrift  verläßt,  in  dem 
anderen  (wo  den  drei  Goncubinen  Karls,  die 
Einhard  nennt,  eine  vierte  sammt  ihren  Kindern 
hinzugefügt  wird)  derselben  folgt,  und,  nach 
dem  einmal  angenommenen  Grundsatz  nur  die 
Varianten,  von  Wien  anzugeben,  auch  hier  nnr 
bemerkt,  daß  diese  Handschrift  «abweicht  Offen- 
bar müssen  die,  übrigens  wenig  zahlreichen, 
Handschriften,  welche  diesen  Zusatz  haben,  als 
eine  besondere  dritte  Classe  aufgeführt  werden, 
die  sich  wohl  an  A  anschließt,  aber,  ebenso  wie 
B,  cbarakteristische  Abweichungen  bat,  die  sich 
auch  in  manchen  einzelnen  Worten  zeigen.  Und 
dann  ergiebt  sich  leicht  der  kritische  Grundsatz, 
daß  wo  zwei  Classen  übereinstimmen,  B  mit 
einer  der  beiden  andern,  wenigstens  die  größte 


Einhardi  Vita  Karoli  Magni  rec.  Waitz.    1349 

Wahrscheinlichkeit  für  die  Richtigkeit  dieser 
UeberlieferuDg  spricht  Eben  hiernach  habe 
ich  eine  neue  Recension  des  Textes  versucht, 
die  nan  von  den  beiden  letzten  Ausgaben  nicht 
ganz  unbedeutend  abweicht. 

Dazu  standen  mir  Collationen  dreier,  den 
Wiener  und  Pariser  Handschriften  an  Alter 
jedenfalls  gleichstehender,  bisher  gar  nicht  be- 
nutzter Handschriften  zu  geböte,  und  es  fügte 
sich  glücklich  genug,  daß  jede  einer  andern  der 
drei  Classen  angehört  Von  der  Glasse  B  hatte 
ich  schon  im  J.  1837  eine  alle  übrigen  dersel- 
ben angehörigen  Handschriften  an  Alter  über- 
treffende in  Montpellier  gefunden,  die  mir  jetzt 
durch  hochgeneigte  Vermittlung  des  Auswärtigen 
Amts  hierher  gesandt  und  von  mir  genau  ver- 
glichen worden  ist  Theilt  sie  manche  Eigen- 
tümlichkeiten der  von  Pertz  benutzten,  so  geht 
sie  doch  oft  genug  ihre  eigenen  Wege,  zeigt, 
daß  nicht  alles  was  jene  jüngeren  darbieten,  die- 
ser Recension  angehört,  hat  aber  freilich  auch 
Abweichungen  und  Verderbnisse  besonderer  Art. 
Dasselbe  ist  der  Fall  bei  zwei  Römischen  Hand- 
schriften, die  Pertz  nicht  benutzen  konnte,  da 
damals  die  Kataloge  der  Vaticana  unzugänglich 
waren,  eine  Notiz  aber,  welche  dem  Freiherrn 
vom  Stein  zugekommen,  beide  zusammengewor- 
fen, die  Nummer  eines  Palatinos  auf  den  andern 
Codex  in  der  Bibliothek  der  Königin  Christine 
übertragen  hatte,  was  erst  Bethmanns  Notizen 
aufgeklärt  haben.  Jetzt  sind  beide  aufs  sorg- 
fältigste von  Dr.  Mau  verglichen ;  Christ,  schließt 
sich  der  Classe  A,  der  alte  Palatinus  derClasse 
C  an.  Alle  drei  dem  ausgehenden  9.  oder  begin- 
nenden 10.  Jahrhundert  angehörig,  sind  übrigens 
im  einzelnen  nicht  frei  von  .zahlreichen  Corrup- 
tionen,  die  in  dieser  Handausgabe  zu  verzeich- 


1350      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  43. 

nen  unmöglich  war,  die  aber  zeigen,  wie  froh 
nach  verschiedenen  Seiten  hin  der  Text  eines 
Werkes  aus  der  besten  Karolingischen  Zeit  ver- 
derbt worden  ist,  und  wie  es  ganz  unmöglich 
sein  würde,  ihn  auf  Grund  einer  oder  der  an- 
dern Handschrift  zuverlässig  herzustellen.  Und 
auch  auf  anderem  Wege  wird  man  kaum  dabin 
gelangen,  volle  Sicherheit  in  allem  Einzelnen, 
namentlich  auch  in  der  Schreibung  der  Namen 
und  der  Orthographie  zu  erlangen.  Bekanntlich 
folgen  hier  die  Schreiber  keineswegs  immer  ih- 
rer Vorlage  oder  sind  auch  nur  constant  im  Ge- 
brauch der  einen  oder  der  anderen  Form;  es 
bleibt  auch  zweifelhaft,  ob  Einhard  selbst  die 
Feder  geführt  oder  nach  dem  Gebrauch  der 
Zeit  dictiert  hat.  Aus  diesen  Gründen  habe  ich 
Bedenken  getragen,  ungewöhnliche  Formen,  auch 
wenn  mehrere  alte  Handschriften  sie  bieten  ('ad* 
für  'at';  'aliquod'  für  'aliquot')  und  sie  sonst  in 
dieser  Zeit  nicht  selten  sind,  in  Einhards  Text 
aufzunehmen.  Einiges  möchte  auch  dafür  spre- 
chen, daß  die  Handschriften  B  einen  Text  bie- 
ten, der  später  noch  Modificationen  erfuhr,  wie 
er  denn  die  Vorrede  des  Autors  noch  nicht  hat 
Uebrigens  habe  ich  außer  jenen  drei,  der  von 
Pertz  vollständig  abgeschriebenen  Wiener  und 
der  Pariser,  bei  der  ich  mich  auf  Jaffas  Colla- 
tion verlassen  durfte,  noch  einige  der  älteren, 
nach  dem  Material  das  für  die  Monumenta 
früher  gesammelt  und  sowohl  in  den  reichen 
Varianten  SS.  II  wie  in  den  in  unseren  Samm- 
lungen bewahrten  Collationen  enthalten  ist, 
herangezogen.  Von  Interesse  wäre  außerdem 
wohl  eine  Petersburger  Handschrift  des  10.  Jahrb. 
gewesen,  auch  vielleicht  von  Cotton  Tiberius 
C.  XI,  eine  genauere  Collation,  als  sie  vor  lan- 
gen Jahren  Färber  gemacht;  doch    glaube  ich 


Einhardi  Vita  Earoli  Magni  rec.  Waitz.     1351 

sagen  zu  können,  mehr  für  die  Geschichte  des 
Textes  als  für  die  Feststellung  desselben.  Aller- 
dings habe  ich  aber  gemeint,  auch  auf  jene 
Blicksicht  nehmen  zu  sollen,  freilich  nicht  die 
Verderbnisse  späterer  Handschriften,  aber  die 
charakteristischen  Lesarten  der  einzelnen  Clas- 
sen nnd  der  älteren  Codices  aufgenommen,  über 
das  Verhältnis  anderer  in  der  Vorrede  einiges 
bemerkt.  Hier  ist  schon  jetzt  eine  kleine  Be- 
richtigung zu  machen.  Von  den  Handschriften, 
die  ich  als  abhängig  von  Christ.  339  (As)  be- 
zeichne, ist  mir  seitdem,  zunächst  für  andere 
Zwecke,  Leiden  Lat.  Nr.  20,  eine  Handschrift 
des  12.  Jahrh,  durch  die  erprobte  Gefälligkeit 
des  Bibliothekars  Herrn  Du  Rieu  hier  zugäng- 
lich geworden,  und  ich  muß  da  berichtigen, 
daß  dieselbe  freilich  in  vielen  charakteristischen 
Lesarten  mit  jener  übereinstimmt,  aber  keines- 
wegs alle  ihre  Abweichungen  von  dem  echten 
Texte  theilt;  z.  B.  nicht  c.  1 :  'pertinere  dicebatur* 
statt  des  richtigen  'pertinebat1 ;  c.  3  nicht  'susce- 
peraV  wie  auch  A  1  (Wien)  statt  'susciperet* 
hat;  nicht  'patrocinio'  statt  'patrociniuni ;  c.  4 
fehlt  nicht  'aliquid',  nicht  'ut  primo1.  Dagegen 
z.  B.  c.  31  die  Worte  'in  eodem  vico',  und  ebenso 
der  Satz  c.  6:  Sed  licet  —  esse  conpletum  (wo 
durch  einen  unangenehmen  Druckfehler  S.  6  N.  n 
A  1  statt  A  2  steht;  ebenso  S.  5  N.  i  und 
S.  7  n.  m).  Der  Codex  stammt  übrigens  aus 
einer  guten  Quelle,  und  man  mag  bedauern,  daß 
er  defect  ist,  indem  in  der  Mitte  einer  Lage  ein 
Doppelblatt  fehlt  (c.  1 8 :  'ad  interiorem'  —  c.  29 
'Aprilem  Ostar').  An  einer  Stelle  möchte  ich 
jetzt,  durch  ihn  veranlaßt,  von  Pertz  und  Jaff6 
abweichen,  c.  11  statt  'cum  magno  venit  exer- 
citu'  schreiben  'cum  maximo  v.  e.';  denn  zu  B  1 
und  C2,  die  es  haben,  kommt  diese  Handschrift 


1352      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  43. 

der  Classe  A,  und  ich  zweifle  auch  nicht,  daß 
es  in  C  1  steht  and  von  Jaffe  nur  übersehen 
ist,  da  der  aas  ihm  abgeschriebene  C*  es  bringt 
Nur  aus  Versehen  ist  c.  30  'vocatom'  statt  (evo- 
catam'  stehen  geblieben,  da  dies  außer  B  auch 
A  2  (mit  ihm  Leiden)  und  C  haben.  —  Diese 
Handschrift  ist  dann  ohne  Zweifel  die  Grund- 
lage für  die  Cambridger  (Pertz  10«),  wie  sich 
daraus  ergiebt,  daß  der  Name  Alcuins  als  Ver- 
fasser, den  beide  bringen,  in  Leiden  nach  'In- 
cipit  prologus',  wie  schon  Delisle,  Melanges  de 
paläographie  S.  176  N.  bemerkt  hat,  nachträg- 
lich eingeschaltet  ist,  and  zwar  mit  schwarzer 
Dinte  in  die  Rubra.  Auch  eine  zweite  Leidener 
Handschrift,  Voss  77,  ist  aus  ihr  abgeleitet,  and 
zu  derselben  Gruppe  gehört,  wie  schon  Pertz 
bemerkt,  jedenfalls  Cassel  (10 e),  wo  auch  der 
Satz  c.  6  fehlt,  und  ebenso  andere,  die  von  je- 
nem unter  10  und  11  aufgeführt  werden. 

Zur  Classe  B  gehören  die  jüngeren  Hand- 
schriften in  Kopenhagen  und  Hannover,  die  auf 
der  Recension  des  Walafrid  Strabo  beruhen; 
aus  ihnen  habe  ich  die  von  diesem  gemachte 
Capiteleintheilung  mit  den  dazu  gehörigen  Ueber- 
schriften  zum  ersten  Male  mitgetheilt,  wie  die 
Hrn.  Bibliothekare  Birket  Smith  und  Bodemann 
sie  abzuschreiben  die  Güte  gehabt  haben.  Ich 
meine,  es  bat  immer  ein  gewisses  Interesse,  die 
Art  und  Weise,  wie  schon  im  9.  Jahrhundert 
ein  so  namhafter  Mann  das  Werk  Einhards  re- 
digierte, zu  kennen.  Ich  würde  auch  seine 
Eintheilung  der  jetzt  üblichen  vorgezogen  ha- 
ben, wenn  es  nicht  in  die  zahlreichen  auf  diese 
bezüglichen  Citate  Verwirrung  gebracht  hätte. 
Kur  einmal  bin  ich  um  ein  geringes  von  der- 
selben abgewichen,  wie  in  der  Note  bemerkt  ist. 

Endlich  habe  ich  auch  noch,  wie  einzelne 


Einhardi   Vita  Karoli  Magni  rec.  Waitz.     1353 

Zusätze  anderer  Handschriften,  die  Glossen  des 
Steinfelder,  jetzt  im  Brittischen  Museum  befind- 
lichen Codex,  die  früher  nur  im  Archiv  gedruckt 
waren,  aufgenommen:  da  sie,  wie  der  Codex, 
wohl  erst  dem  12.  Jahrhundert  angehören,  ha- 
ben sie  freilich  geringen  Werth.  Auf  die  stark 
abweichenden  Lesarten,  die  Nuenars  Text  zu 
gründe  liegen,  ist  nur  in  einzelnen  Fällen  Rück- 
sicht genommen. 

Das  Leben  Einhards  —  diese  Form  behalte 
ich  mit  Wattenbach  bei,  da  wenigstens  im  Lateini- 
schen Einhardus  üblicher  war  als  Einhartus  — , 
das  Pertz  in  der  Einleitung  ausführlich  behan- 
delt, ist  seitdem  vielfach  Gegenstand  eingehen- 
der Darstellung  und  Erörterung  gewesen:  Ide- 
ler, Teulet,  0.  Abel,  besonders  Jaffe,  Watten- 
bach, Simson  u.  a.  haben  sich  mit  demselben 
beschäftigt,  ohne  überall  zu  ganz  gleichen  Re- 
sultaten zu  gelangen.  Darauf  ist  in  Zusätzen 
zu  Pertz's  Einleitung  Rücksicht  genommen, 
auf  die  Frage  aber  nach  dem  Verhältnis  Ein- 
hards zu  den  großen  Annalen  an  dieser  Stelle 
nicht  eingegangen.  Den  erklärenden  Anmerkun- 
gen habe  ich  nur  einiges  beigefügt,  was  Jaffe 
oder  der  Wiederholung  seiner  Ausgabe  von 
Wattenbach  entlehnt  ist,  unter  Beifüng  ihrer 
Namen. 

Die  auf  Karls  Geschichte  bezüglichen  Ge- 
dichte, welche  Pertz  seit  der  zweiten  Auflage  bei- 
gegeben, sind  auch  diesmal  wiederholt,  nur  eini- 
ges am  Text  zu  bessern  gesucht.  Eine  ein- 
gehende Behandlung  werden  sie  in  Dümmlers 
Sammlung  der  Earolingischen  Gedichte,  die  in 
naher  Aussicht  steht,  finden. 

Einen  Druckfehler  habe  ich  noch  S.  26  Z.  14 
bemerkt,  wo  'Tantem*  natürlich  in  'Tandem' 
zu  berichtigen  ist.  G.  Waitz. 


1354      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  43. 

1.  Lex  Sali ca  mit  der  Mallobergiscben 
Glosse  nach  den  Handschriften  von  Toure- 
Weißenburg-Wolfenbtittel  und  von  Fulda-Augs- 
burg-Münohen.  Herausgegeben  von  Alfred  Hol- 
der. Leipzig.  Druck  und  Verlag  von  B.  G. 
Teubner.    1879.    IV  u.  92  S.    8°. 

2.  Lex  Salica  emendata.  Nach  dem 
Codex  Vossianus  Q  119.  Herausgegeben  von 
Alfred  Holder.  Leipzig.  Druck  und  Verlag 
von  B.  G.  Teubner.    1879.    63  S.    8°. 

3.  Lex  Salica:  The  ten  texts  with  the 
Glosses  and  the  Lex  Emendata.  Synoptically 
edited  by  J.  H.  Hess  els.  With  notes  on 
the  frankish  words  in  the  lex  Salica,  by  H. 
Kern,  Professor  of  Sanskrit  in  the  University 
of  Leiden.  London.  John  Murray.  1880.  XLIV 
a.  692  p.    4°. 

Seit  nahezu  40  Jahren  stützt  sich  unsere  Kennt- 
niß  des  salischen  Gesetzes  wesentlich  auf  Par- 
dessus'  Loi  Salique.  Die  früheren  Ausgaben 
sind  durch  dieselbe  im  Ganzen  entbehrlich  ge- 
worden ;  das  erheblichste  neue  Material,  welches 
seitdem  hinzugekommen,  war  der  1867  von 
Hube  publicierte  Text  der  ehemals  dem  Collage 
Clermont  in  Paris  zugehörigen,  dann  v.  Kel- 
ler'sehen,  jetzt  in  der  Warschauer  Centralbiblio- 
thek  befindlichen  Hs.  Die  Bedeutung  der  Par- 
d  es  su  suchen  Ausgabe  ist  seit  ihrem  Erscheinen 
namentlich  in  Deutschland  dankbar  anerkannt 
und  nutzbar  gemacht  worden.  Es  mag  in  die- 
ser Hinsicht  nur  daran  erinnert  werden,  daß  die 
drei  deutschen,  auf  Pardessus  folgenden 
Herausgeber:  Waltz  1846,  Merkel  1850  und 
der  Referent  1874,  jeder  einen  eigenen  Plan 
und  besondere  Ziele  verfolgend,  doch  alle  drei 
in  der  Hauptsache  aus  den  Pardessus'schen  Tex- 


Nene  Ausgaben  der  Lex  Salica.      1355 

ten  geschöpft  haben.  Im  Vorwort  zur  Anggabe 
des  Unterzeichneten  wurde  darauf  hingewiesen, 
daß  möglicherweise  durch  die  in  den  Monumenta 
Germaniae  zu  erwartende  Ausgabe  neue  Grund- 
lagen der  Textkritik  beschafft  werden  würden. 
Diese  Erwartung  hat  sich  bisher  nicht  bestä- 
tigt ;  dafür  sind  gegenwärtig  von  zwei  verschie- 
denen Seiten,  und  zwar  merkwürdigerweise  fast 
gleichzeitig*),  unserem  Gesetz  gewidmete  Unter- 
nehmungen ans  Licht  getreten,  die  eine  voll- 
ständig abgeschlossen,  die  andere  erst  im  Be- 
ginne befindlich.  Wie  erfreulich  es  auch  ist, 
daß  dem  ältesten  und  in  vieler  Hinsicht  wich- 
tigsten germanischen  Stammesrecht  so  große  Be- 
mühungen zugewendet  werden,  so  wird  es  doch 
andererseits  für  diejenigen,  die  sich  bisher  auf 
Pardessus  verlassen  haben,  nicht  minder  tröst- 
lich sein,  aus  den  neuen  Ausgaben  die  Ueber- 
zeugung  zu  erlangen,  daß  die  Textüberlieferung 
desselben  im  Ganzen  durchaus  correct  und  ver- 
läßlich ist.  Dies  schließt  natürlich  nicht  aus, 
daß  eine  erneute  Handschriftenvergleichung  nicht 
nur  Stoff  zu  mannichfachen  Einzelberichtigungen 
darbieten,  sondern  auch  unsere  Kenntniß  über 
Stellung  und  Beschaffenheit  der  verschiedenen 
Texte  erweitern  und  vertiefen  kann. 

In  wie  weit  wir  den  obigen  Ausgaben  eine 
Förderung  nach  der  einen  oder  anderen  Rich- 
tung zu  verdanken  haben,  ergiebt  sich  aus  den 
folgenden  Bemerkungen  über  Plan  und  Einrich- 
tung derselben. 

Hesseis,  ein  in  Cambridge  lebender,  wenn 
wir  nicht  irren,  bei  der  dortigen  Universitäts- 
bibliothek angestellter  niederländischer  Gelehr- 
ter,  richtet   sein   Augenmerk   vorzugsweise  auf 

*)  Die  Holderschon  Hefte  sind  kurz  vor  der  Hessels- 
Bchen  Ausgabe  erschienen. 


1350      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  43. 

die  synoptische  Form  der  Darstellung,  die  be- 
kanntlich, nur  auf  viel  unvollkommnerer  Grund- 
lage, schon  von  Laspeyres  versucht  worden 
ist.  Die  Mittheilung  des  Gesetzes  erfolgt  bei 
Hesseis  in  acht  Spalten:  zuerst  die  vier 
Texte  der  ersten  Familie  (Pard.  1,  Cod.  Gnelf. 
und  Monac.  und  Pard.  2),  dann  der  vermehrte 
Text  in  65  Titeln  nach  Pard.  3  mit  Varianten 
aus  der ,  zweiten  hieher  gehörigen  Hs.,  darauf 
der  Text  in  99  Titeln*)  mit  Varianten  aus  fünf 
Hss.  darunter  auch  aus  der  von  Hube  bekannt 
gemachten,  sodann  der  Herold'scbe  Text  und 
die  Emendata,  letztere  ebenfalls  nach  der  von 
Pardessus  zu  Grunde  gelegten. Hs.  unter  Bei- 
fügung der  von  ihm  mitgetheilten  Lesarten. 
Neu  verglichen  hat  der  Herausgeber  hier  zwei 
St.  Galler  Hs.  und  wie  es  scheint,  auch  den 
Leidener  Codex  Vossianus.  Eine  neunte  Spalte 
ist  für  Parallelstellen  und  kurze  Bemerkungen 
bestimmt.  Hieran  schließen  sich  die  Balischen 
Capitularien,  die  Extravaganten,  die  Pro-  and 
Epiloge  und  die  Remissorien.  Auch  diese  Be- 
standteile werden,  soweit  die  Hss.  dazu  Veran- 
lassung bieten,  synoptisch  zusammengestellt.  Der 
Apparat,  den  Hesseis  benutzt,  ist  demnach 
mit  geringen  Erweiterungen  derselbe  wie  bei 
Pardessus  und  auch  die  Art  der  Benutzung 
ist  im  Ganzen  die  gleiche.  In  den  einzelnen 
Textklassen  werden  dieselben  Hss.  zu  Grunde 
gelegt.  Die  Mittheilung  der  vollständig  abge- 
druckten Texte   erfolgt  genau  nach  dem  Wort- 

*)  Es  ist  hier  ein  kleiner,  den  Ref.  betreffender  Irr- 
thum  zu  berichtigen.  Hesseis  nennt  als  zu  dieser  Familie 
gehörig  Ms.  Middlehill  1741,  according  to  Behrend. 
Es  muß  heißen  according  to  Pardessus  p.  114.  Ich 
selbst  habe  die  Hs.  nach  Merkel  als  Middlehill  1786  be- 
zeichnet. 


Nene  Aasgaben  der  Lex  Salica.    1357 

laut  der  betreffenden  Hss.,  nur  Interpunktionen 
sind  eingeschaltet  und  Abkürzungen  aufgelöst, 
letzteres  wird  durch  Cursivdruck  angedeutet 
Auf  Textkritik  wird  demnach  verzichtet,  die  neue 
Ausgabe  will  ebenso  wie  ihr  französisches  Vor- 
bild nur  Materialiensammlung  sein«  Nur  aus- 
nahmsweise wird,  und  zwar  gewöhnlich  in  sol- 
chen Fällen,  wo  dies  auch  schon  von  Par- 
dessus  geschehen  ist,  auf  Irrthttmer  des  Schrei- 
bers aufmerksam  gemacht.  Der  Vorzug  der 
Hessels'schen  Ausgabe  vor  der  Pardessus- 
schen  besteht  mitbin  wesentlich  darin,  daß  sie 
es  möglich  macht,  die  verschiedenen  Texte  in 
einem  Blick  zu  überschauen.  Daß  sie  auf  einer 
selbständigen  sorgsam  durchgeführten  Handschrif- 
tencollation  beruht,  kommt  hierneben  erst  in 
zweiter  Linie  in  Betracht  Jener  zuerst  erwähnte 
Vorzug  ist  aber  nicht  gering  zu  veranschlagen 
und  wir  dürfen  es  dem  Herausgeber  wie  dem 
Verleger  zum  Verdienst  anrechnen,  daß  die  ty- 
pographischen Hindernisse  einer  derartigen  Zu- 
sammenfassung glücklich  überwunden  sind.  Der 
Druck  ist  klein  aber  scharf,  wie  denn  überhaupt 
die  Ausstattung  kaum  etwas  zu  wünschen  läßt 
Hinsichtlich  der  Auswahl  der  Texte  hätten  wir  aller- 
dings den  Wunsch  gehabt,  daß  der  Herausgeber 
den  Text  in  99  Titeln  in  seinen  beiden  Gestal- 
tungen, vollständig  zur  Darstellung  gebracht 
und  sich  für  die  letztere  Form  nicht  auf  die 
bloße  Angabe  von  Varianten  beschränkt  hätte. 
Es  sind  dies  zwar  nur  zwei  Unterarten  dersel- 
ben Familie,  allein  sie  repräsentieren  einen, 
wenn  auch  nicht  dem  Inhalt  nach,  so  doch  in 
Bezug  auf  Fassung  und  Ausdruck  so  vielfach 
von  einander  verschiedenen  Text,  daß  ihre  Ge- 
genüberstellung mindestens  ebenso  berechtigt 
gewesen   sein   würde   wie   die    des  Münchener 


1358      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  43. 

und  des  zweiten  Pardessus'schen  Textes.  Baum 
für  die  hierdurch  erforderlich  werdende  neue 
Spalte  hätte  sich  finden  lassen,  wenn  die  Pa- 
rallelstellen und  sonstigen  Bemerkungen  als  No- 
ten unter  den  Text  angebracht  worden  wären. 
Auch  Holder  hatte,  wie  er  in  dem  Vorwort 
zu  dem  sub  1  genannten  Hefte  bemerkt,  ursprüng- 
lich die  Absicht,  eine  synoptische  Ausgabe  des 
Gesetzes  zu  veranstalten,  hat  aber  später  mit 
Bücksicht  auf  die  äußeren  Schwierigkeiten  einer 
solchen  hiervon  Abstand  genommen.  Den  jetzt 
von  ihm  veröffentlichten  Texten  will  er  die  in 
Frankreich  befindlichen  Hss.,  d.  h.  die  nicht  die 
Emendata  enthaltenden  (als  Vertreter  der  letzte- 
ren ist  der  Cod.  Vossianus  publiciert),  und  die 
glossierte  St.  Galler  Hs.  anschließen.  Demnächst 
soll  die  Summe  der  Einzelausgaben  in  einer  kriti- 
schen Wiederherstellung  des  Grundtextes  ge- 
zogen werden.  Die  Hss.  werden  so  wiederge- 
geben, daß  wir  nicht  nur  einen  wörtlichen  Ab- 
druck des  in  demselben  enthaltenen  Textes,  son- 
dern möglichst  auch  ein  Bild  der  Hs.  selbst 
enthalten.  „Kein  Buchstab",  sagt  der  Heraus- 
geber,  „ist  im  Abdruck  verändert  worden,  ja 
selbst  die  Interpunktion  ist  beibehalten,  nur 
sinnlose  Wort-  und  Silbentrennungen  glaubte 
ich  stillschweigend  verbessern  zu  müssen.  (Auch 
dies  ist  indeß  nicht  immer  geschehn.  Ref.).  Die 
Compendien  sind  nach  ihren  Elementen  aufge- 
löst, diejenigen  Fälle  ausgenommen,  wo  ein 
und  dieselbe  Wortform  in  derselben  Hs.  in  ver- 
schiedenen Gestalten  vorkommt  Was  in  der 
Hs.  ausradiert  oder  verwischt  war,  habe  ich, 
um  den  Satz  nicbt  zu  erschweren,  in  runde 
Klammern  gesetzt,  Verbesserungen  zweiter  Hand 
durch  Cursivdruck  angedeutet".  —  Das  Verfah- 
ren, welches   der  Herausgeber  hiernach  in  An- 


Neue  Ausgaben  der  Lex  Salica.      1359 

Wendung  gebracht  bat,  führt  zu  einem  Mittel- 
ding zwischen  Facsimilierung  und  Ausgabe  der 
Hs.  Ueberall,  wo  in  letzteren  Verbesserungen 
vorgenommen  sind,  wird  sowohl  der  Ursprung» 
liehe  Wortlaut  wie  die  Correctur  mitgetheilt*). 
Rasuren  und  leergebliebene  Stellen  der  Vorlage 
werden  im  Abdruck  bezeichnet ;  ein  großer  Theil 
der  Abbreviaturen  ist  unaufgelöst  gelassen  und 
wird  graphisch  nachgebildet.  Daß  diese  Art 
der  Reproduktion  bei  Texten,  welche,  wie  dies 
für  die  Hss.  der  lex  Salica  vielfach  zutrifft,  durch 
die  Barbarei  und  Nachlässigkeit  der  Schreiber 
bis  zur  Unkenntlichkeit  entstellt,  aber  dennoch 
für  die  Textkritik  von  der  größten  Wichtigkeit 
sind,  eines  gewissen  Interesses  nicht  entbehrt, 
liegt  auf  der  Hand.  Die  Hol  der 'sehen  Aus- 
gaben liefern  den  Beweis;  daß  sie  auch  nicht 
ergebnißlos  ist.  Vergleicht  man  namentlich  den 
Abdruck  des  Codex  Guelferb.  bei  Holder  mit 
der  H  es  sei  s' sehen  Ausgabe,  so  ergiebt  sich 
eine  ganze  Anzahl  wenn  auch  geringfügiger,  so 
doch  nicht  unbeachtenswerther  Abweichungen, 
wobei  die  Hol  der 'sehe  Mittheilung  überall 
die  größere  Glaubwürdigkeit  in  Anspruch  neh- 
men darf.  Das  Verzeichnis,  welches  Hesseis 
(Introduction  p.  X,  XI)  von  diesen  Abweichun- 
gen giebt,  läßt  sich  noch  erheblich  vermehren. 
Ebenso  stellt  sich  heraus,  daß  die  Auflösung  der 
Abbreviaturen  bei  Hesseis  nicht  immer  unbe- 
denklich ist.  Trotz  dieser  Einzelergebnisse,  die 
in  ähnlicher  Weise,   wenn   auch   nicht   in  dem- 

*)  Cursivlettern  finde  ich  in  dem  sab  1  genannten 
Hefte  gar  nicht,  in  dem  sub  2  genannten  nur  selten  ver- 
wendet; dagegen  werden  sehr  häufig  Aenderungen  des 
ursprünglichen  Textes  durch  kleinere  Schrift  zwischen  den 
Zeilen  angedeutet.  Das  sind  wohl,  im  Gegensatz  zu  den 
späteren  Correcturen,  die  vom  Schreiber  der  Hs.  selbst 
herrührenden  Verbesserungen. 


1360       Gott  gel.  Anz.  1880.  Stück  43. 

selben  Umfang  für  die  Münchener  und  Leidener 
Hss.  zu  gewinnen  sind,  ist  indeß  die  Holder'- 
sche  Methode   nicht   zu   billigen.     Auch    wenn 
man  eine  wortgetreue  unveränderte  Wiedergabe 
des   handschriftlichen  Textes   vom  Herausgeber 
fordert,   wird   man  doch  an  ihn  mindestens  die 
Aufgabe   stellen   dürfen,   daß   er  die  Mühe  und 
Verantwortung  für  die  Entzifferung  selbst  über- 
nehme und  nicht  dem  Leser  anheimstelle.   Diese 
Verpflichtung  findet  allerdings  an  dem  impossi- 
bilium  nulla  obligatio  ihre  Grenze;  Unmöglich- 
keit der  Entzifferung   ist   aber   nicht   schon  da 
anzunehmen,    wo   Zweifel   übrig   bleiben,    weil 
z.  B.  Abkürzungen  in  verschiedener  Weise   ge- 
lesen  werden   können.     Hier   hat   der  Heraus- 
geber  nach  gewissenhafter  Ueberlegung,   mög- 
lichst  im  Sinne   der  Hs.    die   Entscheidung    zu 
treffen.     Eine  Reproduction   der  Hs.   selbst    ist 
durch    das    von    H.   eingeschlagene   Verfahren 
doch  nicht  zu  erreichen,  dazu  bedürfte  es  ande- 
rer Mittel.    Zu  diesen  allgemeinen  Erwägungen 
kommt   noch   die   besondere  Beschaffenheit    der 
Ueberlieferung  bei  unserem  Rechtsdenkmal.    Bei 
vollständiger  Durchführung  des  Planes,  wie  ihn 
H.  in  seinem  ersten  Heft    entwickelt   hat,   wür- 
den wir  einen  Apparat  erhalten,    der  selbst  für 
einen  Fachmann  nicht  mehr  zu  bewältigen  wäre 
und  höchstens  für   den   von  Nutzen  sein  würde, 
der  etwa  selbst  daran  dächte,  eine  Ausgabe  des 
Gesetzes  zu  veranstalten. 

Ungeachtet  des  Mißgriffes  in  der  Anlage 
ist ,  wie  schon  hervorgehoben ,  anzuerkennen, 
daß  die  Publikation  Holder's,  soweit  sie  bis- 
her erschienen  ist,  wissenschaftliche  Ausbeute 
gewährt.  Sowohl  in  der  Wiedergabe  der  Texte 
wie  in  der  Beschreibung  und  Charakteristik  der 
Hss.   zeigt   er   sich   als   ein  geschulter,    äußerst 


r 


Neue  Ausgaben  der  Lex  Salica.     1361 


sachkundiger  Diplomatiker.  Wir  möchten  uns 
deshalb  gestatten,  den  Wunsch  auszusprechen, 
daß  er  seinen  Plan  nicht  ganz  aufgeben,  wohl 
aber  in  modificierter  Gestalt  zur  Ausführung 
bringen  möge.  Eine  unverkürzte  Veröffentlichung 
dürfte  zur  Zeit  nur  noch  in  Betreff  derjenigen 
Hss.  erforderlich  sein,  die  in  der  Hessels'schen 
Ausgabe  nicht  genügend  zur  Geltung  kommen. 
-  Ob  und  für  welche  Hss.  ein  derartiges  Bedtirf- 
niß  vorhanden  ist,  läßt  sich  nicht  von  vorn 
herein  ermessen;  am  ersten  möchte  in  dieser 
Hinsicht  die  St.  Galler  Hs.  in's  Auge  zu  fas- 
sen sein.  Insofern  eine  solche  Veröffentli- 
chung erwünscht  ist,  möge  uns  der  Herausgeber 
eine  genaue  Wiedergabe  des  handschriftlichen 
Textes  zu  Theil  werden  lassen,  im  Uebrigen 
aber  sich  auf  eine  Nachlese  zu  den  vorhande- 
nen Ausgaben  beschränken.  Vor  Allem  aber 
wünschen  wir,  daß  er  bald  zu  dem  eigentlichen 
Ziel  seiner  Arbeit,  der  Wiederherstellung  des 
Grundtextes  gelangen  möge.  Seit  Waitz,  der 
hierbei  von  nicht  ausreichender  Grundlage  aus- 
ging, ist  ein  derartiger  Versuch  nicht  wieder 
unternommen  worden.  Das  Problem  ist  ebenso 
schwierig  wie  anziehend  und  wir  dürfen  der 
Lösung  desselben  durch  Holder  mit  nicht  ge- 
ringer Erwartung  entgegensehen. 

Die  Hess  els' sehe  Ausgabe  enthält  als  eine 
sehr  werthvolle  Zugabe  eine  ausführliche  Erör- 
terung Kern's  über  die  fränkischen  Wörter 
der  lex  Salica,  insbesondere  über  die  Malbergi- 
sche Glosse.  Der  ausgezeichnete  Sprachforscher 
hat  bekanntlich  bereits  in  einer  1869  erschienenen 
Schrift  die  Reste  fränkischer  Sprache  im  sal.  Ge- 
setz zum  Gegenstand  seiner  Untersuchung  gemacht; 
in  dem  vorliegenden  Werk  geht  er,  die  früheren 
Ergebnisse   vervollständigend,  zum   Theil  auch 

86 


1362       Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  43. 

erheblich    von    ihnen   abweichend,    nach    der 
Reihenfolge  des  Textes   sowohl  die  latinisierten 
germanischen   Wörter   wie   die  Glossen   einzeln 
durch,  indem  er  sie  in  weiteren  Zusammenhang 
zu    bringen    und    ihre   Bedeutung   festzustellen 
sucht.     Daß   seine   Erläuterungen   nicht   immer 
ebenso  überzeugend  wie  anregend  sind,  sondern 
bisweilen  einen  etwas  abenteuerlichen  Eindruck 
machen,  ist  natürlich.     Wo  es  so  sehr  an  der  - 
Handhabe  für  einen  methodischen  Angriff  fehlt, 
muß   notwendigerweise    die    Phantasie    einen 
großen  Tbeil  der  Arbeit  auf  sich  nehmen;    wie 
bekannt,  trifft  dies  auch  für  die  Erklärungsver- 
suche J.  Grimm's   in   hohem  Maaße  zu.     Wir 
besitzen   gegenwärtig   für    einen   großen   Theil 
der  fraglichen    Wörter,    namentlich    wiederum 
für  die  Malb.  Glosse  verschiedene,  vielfach  sehr 
weit    auseinander    gehende    Deutungen;     eine 
kurze  Zusammenstellung   derselben  würde  u.  E. 
ein  sehr  verdienstliches  Unternehmen  sein.    Auf 
Einzelheiten   der   neuesten  Kern' sehen    Erklä- 
rungen   einzugehen,   ist   hier  nicht  der  Ort;   in 
Bezug  auf  die  allgemeine  Bedeutung  der  Malb. 
Glosse  neigt  er  sich  der  Auffassung  zu,  daß  die- 
selbe  die   Eeste   eines  altfränkischen,  ebenfalls 
bereits    durch    die   Schrift    vervielfältigten    Ur- 
textes  darstelle    und  spricht    die   Vermuthung 
aus,  daß  dieser  Urtext  selbst  den  Namen    Mal- 
berg (entsprechend  dem  Westgothischen  Forum) 
geführt    habe.      Wie   sinnreich    aber  auch    die 
letztere  Vermuthung  ist,  jene   von  Kern  nicht 
zum  ersten  Mal  vertretene  Auffassung  ist  kaum 
wahrscheinlich;   abgesehen   von   allem  Anderen 
spricht  dagegen,  daß  uns  von  einem  schriftlichen 
aufgezeichneten    fränkischen   Text   wohl  andere 
Ueberreste  aufbehalten   sein  würden  als  verein- 
zelte und  zum  Theil  offenbar  wenig  bedeutende 


Neue  Ausgaben  der  Lex  Salica.      1363 

Wörter.  Ebenso  ist  schwer  anzunehmen,  daß 
wenn  bereits  in  früherer  Zeit  eine  fränkische 
Schriftsprache  existiert  und  zur  Aufzeichnung 
von  Gesetzen  gedient  hätte,  dieselbe  später  völ- 
lig abhanden  gekommen  sein  sollte.  Zutreffen- 
der ist  es,  wenn  Kern  auch  dem  ältesten  latei- 
nischen Text  unseres  Gesetzes  nur  eine  origi- 
nality of  second  order  zuschreibt.  Referent  hat 
an  einem  andern  Ort  die  Ansicht  vertheidigt, 
daß  schon  bei  der  ersten  Zusammenstellung  der 
lex  Salica  ältere  Bestandtheile  zu  Grunde  ge- 
legt worden  sind,  so  daß  dieselbe  mindestens 
theilweise  als  eine  Compilation  erscheint.  Ne- 
ben schriftlich  fixierten  lateinischen  Königsge- 
setzen mögen  hierbei  auch  durch  mündliche 
Ueberlieferung'  fortgepflanzte  Weisthümer  in 
germanischer  Sprache  benutzt  worden  sein.  An- 
haltspunkte für  die  Zeit,  in  welcher  die  Com- 
pilation stattgefunden  hat,  ergeben  sich  aus  den 
Tit.  47  und  58. 

Den  Beschluß  der  Hess  eis 'sehen  Ausgabe 
macht  ein  ausführliches  sorgfältiges  Glossar, 
welches  bei  den  Glossen  und  den  von  Kern 
besprochenen  Wörtern  auf  dessen  Erläuterungen 
verweist,  die  lateinischen,  soweit  nöthig,  in  eng- 
lischer Sprache  erklärt. 

Greifswald,  September  1880. 

Behrend. 


86 


* 


1364       Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  43. 

Geschichte  der  Vermessungen  in 
der  Schweiz,  als  historische  Einleitung  zu 
den  Arbeiten  der  Schweizer  geodätischen  Com- 
mission bearbeitet  von  Rudolf  Wolf.  Zürich, 
Commission  von  S.  Höhr.    1879.   VI  u.  320  S.  4°. 

An  der  im  Jahre  1861  von  dem  General- 
lieutenant Dr.  Baeyer  in's  Leben  gerufenen 
Europäischen  Gradmessung  hat  die  Schweiz 
hervorragenden  Antheil  genommen;  als  Vorge- 
schichte zu  den  theils  bereits  veröffentlichten, 
theils  demnächst  zur  Veröffentlichung  kommen- 
den Arbeiten  der  Schweizer  geodätischen  Com- 
mission hat  der  durch  zahlreiche  historische  Ar- 
beiten bekannte  Verfasser  vorliegenden  Band 
veröffentlicht,  und  ein  anschauliches  und  sorg- 
fältig ausgeführtes  Bild  der  Geschichte  der 
Schweizer  Vermessungen  von  ihren  ersten  An- 
fängen bis  auf  die  neueste  Zeit  geliefert. 

Für  trigonometrische  Vermessungen  bietet 
die  Schweiz  kein  bequemes  Feld.  Wo  die 
höchsten  Aussichtspunkte  wegen  ihrer  schweren 
Zugänglichkeit  und  allen  Wechselfällen  der 
rauhen  Witterung  ausgesetzten  Lage,  die  selbst 
vielfach  verhindert,  auf  die  Dauer  stabile  Sig- 
nale anzubringen,  nur  in  vereinzelten  günstigen 
Fällen  als  Beobachtungsstationen  benutzt  wer- 
den können,  ist  das  Messen  selbstverständlich 
sehr  erschwert,  und  so  ist  es  denn  gekommen, 
daß  bis  in  dieses  Jahrhundert  hinein  nur  die 
weniger  gebirgigen  Gegenden  im  Westen  und 
Norden  der  Schweiz  genauer  vermessen  und 
hauptsächlich  Verbindungen  mit  den  französi- 
schen Dreiecksnetzen  erreicht  waren,  während 
es  verhältnißmäßig  spät  gelang,  ein  Dreiecks- 
netz über  die  Alpen  zu  legen  und  dadurch  eine 


Wolf,  Vermessungen  in  der  Schweiz.    1365 

Verbindung  mit  den  Italienischen  Dreiecken 
herzustellen. 

Der  erste,  welcher  genauere  Vermessungen 
in  der  Schweiz  ausführte,  war  Tralles.  Der- 
selbe maß  im  Jahre  1788  mit  einer  Ramsden'- 
schen  Stahlkette  von  100  Fuß  Länge,  unter  Be- 
rücksichtigung von  Temperatur,  Unebenheiten 
des  Bodens  u.  s.  w.  zwei  Grundlinien  bei  Thun, 
und  schloß  hieran  ein  Dreiecksnetz,  durch  wel- 
ches er  die  Lage  der  bedeutendsten  Spitzen  der 
Berner  Alpen  bestimmte.  Drei  Jahre  später 
maßen  Tralles  und  Hassler  mit  derselben  Stahl- 
kette eine  Basis  in  der  Nähe  des  Murtensees 
(die  Aarberger  Basis).  Es  wurden  daran  einige 
Dreiecke  geschlossen,  durch  welche  die  Punkte 
Chasseral,  Hasenmatt,  Bantiger,  Dent  de  Beaume 
bestimmt  wurden.  Eine  erneute  Messung  der 
Basis  wurde  von  Tralles  und  Hassler  im  Jahre 
1797  ausgeführt,  und  damit  eine  Triangulation 
verbunden,  welche  sich  vom  Dent  de  Beaume 
und  Moleson  bis  zum  Hohentwiel  erstreckte. 
Ungefähr  während  derselben  Zeit  vermaß  Alter- 
matt ein  kleines  über  Solothurn  gelegtes  Drei- 
ecksnetz. 

Einige  Jahre  früher  (1791 — 92)  wurde  von 
Feer,  der  durch  die  mathematisch  militärische 
Gesellschaft  in  Zürich  unterstützt  wurde,  eine 
Basis  auf  dem  Sihlfelde  bei  Zürich  gemessen, 
und  damit  einige  Dreiecke  verbunden,  durch 
welche  einstweilen  die  Punkte  Uetliberg,  Geiß- 
berg und  die  Kirchthtirme  von  Altstetten,  Höngg 
und  Wipkingen  bestimmt  wurden.  Die  10,000 
Fuß  lange  Basis  war  mit  unvollkommenen 
Hülfsmitteln  gemessen;  die  Bückmessung  ergab 
die  Länge  um  22  Fuß  verschieden.  Die  Mes- 
sung  wurde   1793,    dann    1794-97    mit   voll- 


1366       Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  43. 

kommneren  Apparaten  wiederholt,  und  die  End- 
punkte auf  soliden  Fundamenten  festgelegt 

Nach  dem  Einmärsche  der  Franzosen  wur- 
den neue  Triangulationen  ausgeführt.  Oberst 
Henry  nahm  1803  ein  Dreiecksnetz  längs  den 
Jura  in  Angriff,  welches  sich  auf  eine  Basis 
bei  Ensisheim  stützte  und  im  Jahre  1804  voll- 
endet wurde;  seine  Messungen  wurden  1818 — 
24  von  Oberst  Coraboeuf  durch  eine  neben- 
laufende Kette  controlliert,  und  die  Resultate 
beider  Vermessungen  von  Puissant  in  der  „Non- 
velle  description  g6om6trique  de  la  France. 
Premiere  partie.  Paris  1832"  publiciert  und 
verglichen,  wobei  sich  die  von  Henry  ermittel- 
ten Winkel  nicht  gerade  als  mit  großer  Sorg- 
falt gemessen  herausstellten. 

Zu  erwähnen  ist  noch  eine  kleine  von 
Osterwald  ausgeführte  Triangulation  zwischen 
Anet  und  Yverdon,  welche  als  Grundlage  einer 
Karte  des  Cantons  Neuenburg  dienen  sollte. 
Dieselbe  wurde  im  Wesentlichen  unter  Tralles' 
Leitung  im  Jahre  1801  ausgeführt. 

Von  ferneren  Triangulationen  sind  zu  nen- 
nen eine  von  Feer  im  Jahre  1809  ausgeführte, 
welche,  von  der  Basis  bei  Zürich  ausgehend, 
sich  bis  zum  Bodensee  und  dem  Sentis  erstreckte; 
ferner  eine  von  Trechsel  unternommene  Trian- 
gulation, welche  sich  über  den  Canton  Bern 
erstreckte  und  sich  an  die  Tralles'sche  Basis 
bei  Aarberg  anschloß,  und  eine  zwei  Jahre  spä- 
ter von  Huber  ausgeführte  Vermessung  des  Can- 
tons Basel,  bei  welcher  als  Basis  eine  der  fran- 
zösischen Dreiecksseiten  benutzt  wurde.  Die 
beiden  letztgenannten,  sowie  das  von  Osterwald 
in  Neuenburg  gemessene  Dreiecksnetz  wurden 
von  Pestalozzi    im  Jahre  1819   durch  eine  Ver- 


Wolf,  Vermessungen  in  der  Schweiz.    1367 

bindungstriangulation  vereinigt.  Endlich  wurde 
1821  der  Canton  Waadt  von  Pestalozzi  vermes- 
sen, wobei  die  der  Trechsel'scben  Triangulation 
entnommene  Seite  Chasseral-Berra  als  Grund- 
linie diente. 

Somit  war  der  westliche  und  nördliche  Theil 
der  Schweiz  vom  Genfer  bis  zum  Bodensee 
durch  ein  fortlaufendes  Netz  verbunden,  und  es 
befanden  sich  auf  dem  vermessenen  Gebiete 
zwei  Grundlinien,  die  Aarberger  und  die  Züri- 
cher Basis,  welche  indessen  unter  sich  kleine 
Widersprüche  zeigten,  und  auch  wohl  kaum  mit 
einer  der  Genauigkeit  der  Winkelmessungen 
entsprechenden  Schärfe  gemessen  waren. 

Im  Jahre  1825  wurde  vom  Auslande  her  ein 
Anlaß  zu  einer  genaueren  Vermessung  und  der 
Erweiterung  des  Schweizer  Dreiecksnetzes  ge- 
geben. Es  schrieb  nämlich  der  Oberst  Cam- 
pana in  Mailand  an  den  Schweizer  General- 
quartiermeister Finsler,  die  Österreicher  wünsch- 
ten eine  Verbindung  ihrer  Dreiecke  mit  den 
französischen  und  bat  um  die  Mitwirkung  der 
Schweizer  Regierung.  Zu  diesem  Zwecke  war 
es  nöthig,  in  der  Schweiz  noch  einige  Ergän- 
zungsarbeiten auszuführen  und  namentlich  den 
schwierigen  Alpenübergang  zu  bewerkstelligen. 
Die  Ausführung  dieses  letztern  Unternehmens 
wurde  dem  Oberst  Buchwalder  übertragen. 

Derselbe  legte  den  Plan  zu  der  Vermessung 
an  und  führte  einen  Theil  der  bezüglichen  Ar- 
beiten in  den  Jahren  1826 — 31  aus.  Die  Ver- 
bindung der  Schweizer  Dreiecksseite  Rigi-Hörnli 
mit  der  Oesterreicbischen  Pizzo  Forno  Pizzo  Me- 
none  geschah  vermittelst  der  Punkte  Scheye, 
Sentis,  Calanda,  Scesaplana,  Schwarzhorn,  Cima 
da  Flix,  Tambo  und  Pizzo  Porcellizzo.  Aus 
den  beiden  letzten  Punkten   wurde  der  Pizzo 


1368      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  43. 

Menone  und  darauf  das  Dreieck  Pizzo  Menone- 
Pizzo  Forno-Tambo  bestimmt. 

Im  Jabre  1832  tagte  in  Bern  eine  Commis- 
sion Behufs  der  Besprechung  der  zur  definitiven 
Vollendung  der  trigonometrischen  Vermessungen 
notwendigen  Maßregeln.    Es  wurde  constatiert, 
daß   die   Triangulation   ihrem  Abschlüsse  nahe 
sei,  und  nur  noch  wenige  Dreiecke   geschlossen 
werden   müßten,   um  den  Anschluß  an  die  aus- 
ländischen  Triangulationen   in  Vorarlberg   und 
der   Lombardei     zu    bewerkstelligen   und    daß 
noch    der    kleine   Widerspruch    in    den   Basis- 
messungen  von   Aarberg   und  Zürich  zu    lösen 
sei.    Buchwalder   wurde  aufgefordert,   die  noch 
fehlenden  Dreiecke  zu  messen,    und  gleichzeitig 
wurde   beschlossen,   Behufs    einer  Neumessung 

.  der  Aarberger  Basis  einen  Basisapparat,  im  We- 
sentlichen nach  dem  Muster  des  von  Schumacher 
bei  der  Vermessung  der  Braaker  Basis  in  Hol- 
stein benutzten  anfertigen  zu  lassen.  Buchwal- 
der bestieg  1832  in  Folge  des  Commissionsbe- 
schlu8ses  den  Sentis,  ehe  er  aber  noch  die  Mes- 
sungen auf  dieser  Station  beendigt  hatte,  wur- 
den ihm  bei  einem  heftigen  Gewitter  seine  In- 
strumente durch  einen  Blitzstrahl  beschädigt, 
sein  Gehtilfe  Pierre  Gobat  getödtet  und  er  selbst 
nicht  unerheblich  verletzt. 

Im  folgenden  Jahre   fand  eine  zweite  Com- 
missionssitzung  statt,  in  welcher  als  Uebersicht 

r  des  damaligen  Bestandes  der  ausgeführten 
Haupttriangulation  ein  'Dreiecksnetz  vorgelegt 
wurde,  welches  sich  vom  Genfer  bis  zum  Boden- 
see erstreckte,  in  der  Breite  den  größten  Theil 
der  Schweiz  umfaßte,  und  die  Schweizer  Drei- 
ecke westwärts  mit  den  Französischen,  südwärts 
mit  den  Oesterreichischen  verband.  Doch  wa- 
ren  zur  Herstellung   der  letzteren   Verbindung 


Wolf,  Vermessungen  in  der  Schweiz.     1369 


noch  einige  Winkel  zu  messen,  und  die  Aus- 
führung dieser  Schlußmessungen  sowie  die  Be- 
rechnung des  gesammten  Netzes  wurde  dem 
Astronomen  Eschmann  übertragen. 

Unterdessen  war  von  dem  Mechaniker  Oeri 
in  Zürich  ein  neuer  Basisapparat  geliefert.  Es 
wurde  zunächst,  um  die  Brauchbarkeit  des  Ap- 
parates zu  prüfen  und  das  Personal  einzuüben, 
im  Frühjahr  1834  die  Basis  bei  Zürich  von 
Neuem  gemessen.  Dagegen  sollte  die  Aarberger 
Basis  zur  eigentlichen  Grundlinie  der  Schweizer 
Triangulation  dienen,  und  ihre  Neumessung  ge- 
schah im  Herbst  1834.  Beide  Messungen  leitete 
Escbmann. 

Nachdem  in  diesem  und  den  folgenden  bei- 
den Jahren  die  letzten  noch  fehlenden  Winkel 
von  Eschmann  unter  mancherlei  Schwierigkeiten 
gemessen  waren,  wurde  das  gesammte  Material 
verarbeitet.  Das  Resultat  zeigte  eine  durchaus 
befriedigende  Uebereinstimmung  mit  den  von 
General  Campana  für  die  Lombardei  und  Vor- 
arlberg, und  von  General  Pelet  für  Frankreich 
ermittelten  Dreiecksseiten,  wie  die  folgende  Zu- 
sammenstellung ergiebt: 


Anschluß  Seiten. 


Ausland. 


Schweiz. 


Diff. 


Pizzo  Forno-Pizzo  Men  one 
Pizzo  Menone-MonteLegnone 
Komenberg-Frastenzersand 
Fundelkopf-Fraßtenzei  sand 
Roemel-Faux  d'Eneon 
Chasseral-Faux  d'Enson 
Roemel-Chasseral 


m 
44572,77 
21124,67 
15985,23? 
11957,95? 
35997,22 
26689,97 
44159,55 


m 

44672,12  + 
21124  64  + 
15985,81 
11959,94 
35997,27 
26689,80  + 
44159,41  + 


m 

0,65 

0,18 

0,58? 

1,99? 

0,05 

0,17 

0,14 


1370      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  43. 

Die  mit  einem  Fragezeichen  bezeichneten 
Werthe  sind  von  Campana  als  nur  provisorisch 
bezeichnet  worden. 

Nachdem  die  Schweiz  sich  bereit  erklärt 
hatte,  den  Arbeiten  der  mitteleuropäischen  (spä- 
teren enropäischen)  Gradmessung  beizutreten, 
wurde  beschlossen,  die  Triangulation  von  Neuem 
zu  wiederholen,  und  wo  möglich  einen  directeren 
Uebergang  über  die  Alpen  zu  bewerkstelligen. 
In  der  That  gelang  esDenzler,  in  überraschend 
einfacher  Weise  durch  Hinzuziehung  des  Titlis 
ein  Netz  über  die  Alpen  zu  legen.  Die  Be- 
schreibung der  neueren  Messungen  gehört  in- 
dessen nicht  mehr  zu  der  vom  Verfasser  be- 
handelten Vorgeschichte  der  Schweizer  Vermes- 
sungen, und  ist  daher  nur  beiläufig  berührt. 

Außer  der  bisher  in  flüchtigen  Zügen  ange- 
deuteten Geschichte  der  trigonometrischen  Ver- 
messungen bietet  uns  der  Verfasser  eine  Ge- 
schichte der  topographischen  Aufnah- 
men und  der  Schweizer  Karten,  von  den  ersten 
rohen  Anfängen  des  löten  Jahrhunderts  an  fortlau- 
fend bis  zu  dem  vortrefflichen  noch  nicht  völlig 
erschienenen  topographischen  Atlas  der  Schweiz 
im  Maaßstabe  der  Originalaufnahmen  in  546 
Blättern,  welchem  nach  dem  competenten  Ur- 
theile  Petermann's  kein  anderes  Land  etwas 
ähnlich  Vollkommenes  an  die  Seite  zu  setzen 
hat.  Mit  der  bekannten  Ausführlichkeit  des 
quellenkundigen  Verfassers  sind  die  Lebensum- 
stände derjenigen  Topographen,  welche  Karten 
eines  Theils  der  Schweiz  oder  des  ganzen  Lan- 
des gezeichnet,  nebst  Mittheilungen  über  Ge- 
nauigkeit, Ausführung  u.  s.  w.  der  Karten  mit- 
getheilt.  Ebenfalls  finden  sich  manche  zum 
Theil  nicht   uninteressante   Mittheilungen    über 


Wolf,  Vermessungen  in  der  Schweiz.    1371 

Profilansichten  von  Gebirgen,  Panoramen  nnd 
ihre  Verfertiger. 

Höhenmessungen  der  Berge  scheinen 
zuerst  am  Anfange  des  vorigen  Jahrhunderts 
von  Scheuchzer  ausgeführt  zu  sein,  und  zwar 
anfanglich  auf  trigonometrischem  Wege,  doch 
führte  dieser  wegen  der  Kleinheit  der  gemesse- 
nen Grundlinie  zu  keinem  guten  Resultate,  und 
es  wurde  daher  der  barometrische  Weg  für 
zweckmäßiger  gehalten.  Scheuchzer  maß  1709 
die  Höhe  der  Pfäfferser  Felswand  mit  einer 
Schnur,  welche  er  von  einem  hervorragenden 
Baum  bis  an  den  Taminabach  herabgelassen 
hatte,  zu  119  Toisen,  las  oben  und  unten  die 
Barometerhöhe  ab,  und  ermittelte  sich  daraus 
eine  Tafel  für  die  barometrische  Höhenmessung. 
Besonders  viele  Höhenbestimmungen  wurden 
später  von  Deluc,  Saussure  und  Eschmann  an- 
gestellt, und  aus  neuester  Zeit  ist  namentlich  zu 
erwähnen  eine  Bestimmung  der  Höhe  des  Klosters 
auf  dem  St.  Bernhard  durch  Plantamour  und  Bur- 
nier.  Ein  genaues  Nivellement  der  Schweiz  ist 
in  den  Plan  der  Geodätischen  Commission  auf- 
genommen, und  die  diesbezüglichen  Arbeiten 
nähern  sich  ihrem  Abschluß. 

Wie  zu  erwarten,  ist  der  Geschichte  der 
Schweizer  Sternwarten  von  dem  Verfasser 
ebenfalls  gedacht.  Namentlich  haben  die  Stern- 
warten zu  Zürich,  Genf  und  Neuenburg  wesent- 
liche Beiträge  für  die  Geodäsie  des  Landes  ge- 
liefert durch  Ausführung  von  Ortsbestimmungen 
sowie  in  neuerer  Zeit  durch  Pendelbeobachtun- 
gen u.  s.  w.  Dadurch,  daß  ihre  gegenseitige 
Lage  trigonometrisch  und  astronomisch  auf  das 
Genaueste  ermittelt  wurde,  liefern  sie  für  die 
Ableitung   der  geographischen    Positionen  aller 


1372       Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  43. 

übrigen  Stationen  des  Schweizer  Dreiecksnetzes 
ein  sicheres  Fundament. 

Kiel.  C.  F.  W.  Peters. 


Meddelelser  om  Grönland,  udgivne 
af  Commissionen  for  Ledelsen  af  de  geologiske 
og  geographiske  Undersögelser  i  Grönland.  Forste 
Hefte.  Med  6  Tavler  og  3  Kaart  samt  en  Re- 
sume des  Communications  sur  le  Grönland. 
Kjöbenhavn.  I  Commission  hos  C.  A.  Reitzel. 
Bianco  Lunos  Kgl.  Hof-Bogtrykkeri.  1879. 
195  S.    8°. 

Freudig  muß  die  gebildete  Welt  das  Unter- 
nehmen begrüßen,  dessen  erste  Resultate  in  dem 
vorliegenden  Hefte  mitgetheilt  sind,  und  das 
sich  nichts  Geringeres  zum  Ziele  gesetzt  hat 
als  die  Erforschung  Grönlands,  eines  Landes, 
welches  nicht  nur  an  sich  immer  noch  ein 
Räthsel  ist,  sondern  dessen  Verhältnisse  uns 
auch  die  Schlüssel  zu  bieten  versprechen  zur 
Lösung  manch  wichtigen,  unser  eignes  Land 
berührenden  geologischen  Problems.  Das  wis- 
senschaftliche Interesse,  und  nicht  Abenteuer- 
oder Gewinnsucht,  war  auch  bisher  neben  der 
evangelischen  Mission  vorzugsweise  die  Trieb- 
feder, welche  entbehrungsfreudige  und  opfer- 
bereite Männer  zu  längerem  Aufenthalte  in  die- 
ses unwirkliche  Land  lockte;  die  Zahl  der 
Forschungs-Resultate  in  Grönland  ist  denn  Dank 
der  Arbeiten  solcher  Pioniere  verhältnißmäßig 
nicht   so   gering   und  insbesondere   die   Unter- 


Meddelelser  om  Grönland.    I.         1373 

suchungen  von  Carl  Ludwig  Giesecke  (1806 — 
1813)  und  H.  Rink  (1848—1851)  lüfteten  etwas 
den    über   Grönland   rahenden   Schleier.     Aber 
gerade  die  gewonnenen  Resultate,  wie  sie  in  H. 
Rink's  „Grönland*    (2  Bde.,  Kjöbenhavn  1857) 
veröffentlicht    sind,   zeigten    wie   viel   uns  dort 
noch   verborgen   ist    und   zu   erforschen  bleibt. 
Man  muß  daher  dem  Herausgeber  des  vorliegen- 
den Heftes,  F.  Johnstrup,  Professor  der  Geolo- 
gie und  Mineralogie  an  der  Universität  zu  Ko- 
penhagen, ganz  besonderen  Dank    wissen,    daß 
er  den  dänischen  Reichstag  und  das  Ministerium 
für    eine   systematische   Erforschung   Grönlands 
zu    interessieren   verstand;    in    der   Erkenntniß, 
daß    es  eine  Ehrenpflicht  des  dänischen  Staates 
sei,  die  Erforschung  eines  dänischen  Kronlandes 
selbst    zu   unternehmen  und  nicht  erst  in  lässi- 
ger Ruhe   zu   erwarten,   daß   fremde   Naturfor- 
scher diese  Mühe  auf  sich  lüden,  bot  der  Reichs- 
tag   die    nöthigen   Mittel,    um    in   den   Jahren 
1876-1881  (und  hoffentlich  auch  noch  längere 
Zeit)    Untersuchungen    in   Grönland   vornehmen 
zu  können.     Die  Oberleitung  der  Untersuchun- 
gen   wurde    einer   Commission   tibertragen,    be- 
stehend  aus   Johnstrup,   dem   schon    genannten 
Grönlandforscher  Rink  und  N.  F.  Ravn,  welche 
Commission  den  Plan   der  Untersuchungen  auf- 
stellte,  den   ausgesandten    Expeditionen  die  In- 
structionen ertheilt   und  die  gewonnenen  Resul- 
tate veröffentlicht.    Es  ist  also  jetzt  mit  Sicher- 
heit zu  erwarten,  daß  alle  betreffs   der  Durch- 
forschung  Grönlands  gehegten  Wünsche,  soweit 
solche  Durchforschung    menschenmöglich  ist,   in 
Erfüllung    gehen    und    diese   Erwartung    wird 
ganz  besonders  gestärkt  in  Betracht  der  schon 
gewonnenen  Resultate,  von  denen  in  dem  vor- 


1374      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  43. 

liegenden  1.  Hefte  der  „Mittheilungen  über 
Grönland"  berichtet  ist.  Bei  diesen  Forschun- 
gen gewinnen  nicht  nur  Geologie  und  Geo- 
graphie, wie  man  nach  dem  Titel  und  Pro- 
gramm erwarten  sollte,  sondern  der  Inhalt  des 
ersten  ausgegebenen  Heftes  schon  bietet  auch 
dem  Botaniker  (das  demnächst  und  vor  dem 
2ten  erscheinende  3te  Heft  wird  sogar,  wie 
Herr  Prof.  Johnstrup  so  freundlich  war  dem 
Ref.  mündlich  mitzutheilen,  rein  botanischen  In- 
halts sein),  Zoologen,  Archäologen,  Anthropolo- 
gen, Physiker  und  Meteorologen  Bereicherung 
seines  Wissens. 

Das   vorliegende  Heft  zeigt   schon  in  seiner 
Ausstattung,  daß  es  werthvollen  Inhalt  bergen 
müsse,    und   neben  3  vorzüglichen  Karten  und 
zahlreichen,    dem    Texte    eingedruckten    Holz- 
schnitten  finden  wir   4  in  Farbendruck  ausge- 
führte  Gletscher  Bilder,    die   in    künstlerischer 
Beziehung  nichts  zu  wünschen  übrig  lassen  (da- 
bei ist  der  Preis  spottbillig  zu  nennen :  4  Mark). 
Das   Heft   enthält   zunächst   einen   Bericht   der 
Commission  an  das  Ministerium  des  Innern  über 
die  Untersuchungen  in  den  Jahren  1876 — 1878. 
Darauf  folgen   Berichte  von   einer   Expedition, 
welche   Premierlieutenant   Jensen ,    der    Natur- 
forscher Kornerup  und  Architekt  Groth  im  Som- 
mer 1878  ausführten,  um   einerseits  die  Strecke 
der   Westküste    zwischen   62°  25'   und  64°  10' 
n.  Br.  geographisch   und  geologisch   aufzuneh- 
men, andrerseits    aber   auch  die  dortigen  Glet- 
scherverhältnisse genau  zu  studieren.     Zu  letz- 
term  Zwecke  haben  diese  heldenmüthigen  Män- 
ner eine  22tägige,  erfolggekrönte  Excursion  über 
das  Innlandeis  gemacht  und  muß  man  wirklich 
die  Energie,  den  Muth  und  die  Umsicht  sowohl 


Meddelelser  om  Grönland.  I.        1375 

rers  (Jensen)  als  auch  der  übrigen  Ex- 
mitglieder  bewandern;  and  nicht  bloß 
>ndern  auch  der  Wissenschaft  darf  man 
nschen,  daß  sie  heil  und  gesund  zurück- 
sind. 

mitgetheilten  Berichte  sind  folgende:  im 
indet    sich   die  ganze  Reise  von  Jensen 
ben;  über  die  dabei  gewonnenen  geolo- 
Beobachtungen    berichtet   A.  Kornerup, 
3   gesammelten  Pflanzen  J.  Lange,  über 
uriscbe  Leben  auf  den  ans  dem  Innen- 
hervorragenden Berggipfeln  A.  Korne- 
)t   die  astronomischen   und   meteorologi- 
eobachtungen  Jensen  und  über  des  Ver- 
les  Wetters  in  West-Grönland  und  über 
rdlichen  atlantischen  Ocean  vom  25.  bis 
1878  N.  Hoffmeyer. 

Schluß  des  Heftes  bildet  ein  in  franzö- 
Sprache  geschriebener  zusammenfassen* 
icht  Johnstrup's  über  die  Resultate  der 
ion ;  für  denselben  werden  diesem  ausge- 
ben Forscher  vor  Allen  die  des  Dänischen 
[igen  dankbar  sein,  welchen  der  Inhalt 
?tes  auf  diese  Weise  leichter  zugänglich 
t  ist;  doch  verdient  dieses  Resume  auch 
Anerkennung,  weil  Johnstrup  einen  hi- 
en  Rückblick  auf  die  früheren  Forschun- 
Grönland  wirf!  und  ferner  die  geologi- 
Resultate  dieser  Expedition  von  allge- 
!n  Standpunkten  aus  beleuchtet. 

einem  eingehenden  Berichte  über  diese 
te  glaubt  Referent  zur  Zeit  absehen  zu 
und  zwar  einfach  aus  dem  Grunde,  weil 
itersuchungen  noch  nicht  abgeschlossen 
Nur  zwei  Errungenschaften  dieser  Expe- 
jeien  hervorgehoben:  Die  Oberfläche  des 


1376      Gott.  gel.  Anz.  18<80.  Stück  43. 

Innenlandseises ,    über   welche    die    Expedite] 
ihren  Weg  nahm,  zeigte  im  Gegensatz  zu  noifcj 
grönländischen  Beobachtungen,  eine  verhält 
mäßig  siarke  Steigung  landeinwärts   (im  Allj, 
meinen  0°49',  der  Küste  nahe  sogar  2014')in»l 
erreichte  in  36  km  Entfernung  von  der  See  eine 
Höhe  von  5000'  (also  die  Meereshöhe  der  Schnee- 
koppe im  Riesengebirge) ;  daselbst  traten  aus  dem| 
Eis-Oceane  inselartig  vereinzelte  Berggipfel  her- 
vor („Jensens  Nunatakker"),  ein  sprechender 
weis  dafür,  daß  sich  auch  das  „Landu  unter  dei 
Gletscherdecke   zu    bedeutender    Höhe     erhebt; 
diese    Berggipfel    beherbergten  eine  verhältnil 
mäßig  reiche  Flora,   aber  nur  spärliche  Fauna 
solche  Nunatakker  liefern  wahrscheinlich  an  siel 
schon  Schutt  für  in  diesen  Gegenden  vorhanden* 
Moränen,  welche  in  Nunatakker-freien  Strich« 
der   Grönländischen   Eisdecke  vermißt    werdei 
vorzugsweise    aber   veranlassen    sie    auch   dei 
Gletscher  durch  die  in  ihrer  Umgebung  kräftiget 
Abtbauung,    einen   Theil     seiner   Grundmoräm 
daselbst  als  Randmoräne  zu  lassen. 

Den  Dank  für  die  bis  jetzt  schon  unter  Auf) 
Wendung  großer  Kosten  nicht  nur,  sondern  auch] 
unter  Mühen,  Entbehrungen  und  Gefabren  errun< 
genen  Resultate  dürfte  man  augenblicklich  am1 
Besten  dadurch  abstatten,  daß  man  dem  ganzen 
Unternehmen  und  allen  Theilhabern  daran  ein 
herzliches  „Glückauf"  wünscht. 

Ö.  Lang. 


Für  die  Redaction  verantwortlich :  E.  Heimisch,  Director  d.  GÖtt.  gel.  Anz. 

Commissi oüß- Verlag  der  Dieterich 'sehen  Verlags -BuchhaMdiwty. 

Druck  der  DieiericK 'sehen  Univ.-  Buchdruckeiei  (W.  Fr.  Kaesinerh 


1377 

Gö  tti  ng  ische 

elenrte    Anzeigen 

unter  der  Aufsicht 

der  König].  Gesellschaft  der  Wissenschaften, 
ück  44.  3.  November   1880. 


Inhalt:  Itinera  hiero  solymitan  a  et  descriptiones  terrae 
;tae  bellis  Sanctis  anteriore,  ed.  T.  Tobler  et  A.  Molinier.  Yon  Vf. 
ä. —  Par  Palimpsestorum  Dublinensium:  The  Codex 
riptns  Dublinensis  ot  St.  JUtthew's  Gospel  (Z),  etc.  By  T.  K.  Ab- 
.  Von  0.  «.  GebhardL  —  V.  Rye  Bei,  Gregorins  Thanmatnrgns, 
Leben  und  seine  Schriften.    Yon  Fr.  Baetkgtn. 

eigenmächtiger  Abdruck  von  Artikeln  der  Gott.  gel.  Ans.  verboten  s 


Itinera  hierosolymitana  et  descri- 
ones  terrae  sanctae  bellis  sacris  ante- 
a  et  latina  lingua  exarata  ediderunt  Titus 
bler  et  Augustus  Molinier.  Genevae 
is  J.  G.  Fick  1879.  (LV.  418.  8°). 
(Publications  de  la  societe  de  l'orient  latin, 
ie  geograpbique  I.  IL) 

Als  Titus  Tobler  im  Jahre  1863  den  Antoninus 
•tyr  einzeln  herausgab,  äußerte  er  den  an- 
jgentlichsten  Wunsch,  daß  „wenigstens  der 
t  aller  das  heilige  Land  betreffenden  Be- 
eibungen  vom  Bordeaux-Pilger  bis  auf  die 
uzzüge  theilweise  nach  Handschriften  ver- 
ert  im  Original  zusammengestellt  und  etwa 
Einem  Bande  herausgegeben  werde".  Sieht 
ab  von  den  wenigen  Palästina-Schriften 
bezeichneten  Zeitraums,  welche    in  andern 

87 


1378      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  44. 

Sprachen  als  der  lateinischen  abgefaßt  sind,  so 
findet  man  jenen  Wunsch  buchstäblich  in  vor- 
liegendem   Buche    erfüllt.      Das    befriedigende 
Bewußtsein,  dies  ganz  durch  eigene  Arbeit  ge- 
leistet zu  haben,  wäre  Toblern  beschieden    ge- 
wesen,  wenn   er  nur  ein  Jahr    länger    gelebt 
hätte.    Von  den  16  Stücken,   aus   welchen  sich 
die  ganze  Reihe   der   bieher  gehörigen  Schrift- 
werke zusammensetzt,  waren  schon  6  gedruckt, 
andere  drei  druckfertig,   die  Einleitungen  da*u 
wenigstens  in  deutscher  Sprache  vollendet,  als 
der  Tod  ihn  abrief  (21.  Jan.  1877)  und  Auguste 
Molinier  in  die  Lücke  eintreten  mußte.    Es  war 
für  Tobler   ein  Leichtes   gewesen,  den  Auftrag 
der  Societ6  de  l'Orient  latin  zu  übernehmen,  da 
Niemand  auf  diesem  Gebiet  mehr  vorgearbeitet 
hatte  als  gerade  er.     Hatte  er  doch  in  seinen 
beiden  Sammelwerken :  Palaestinae  descriptiones 
ex  saeculo  IV,  V  et  VI   (S.  Gallen   1869)   und 
Descriptiones  terrae  sanctae  ex   saec.  VIII,  IX, 
XII  et  XV  (Leipzig  1874),  wozu  noch  die  schon 
erwähnte   Einzelausgabe  des  Antoninup   kommt, 
sämmtliche  Relationen   von  Palästina-Reisenden 
der   vorkreuzzüglichen  Periode    mit  Ausnahme 
des  Arculfus   unter  Zuziehung  handschriftlichen 
Materials   bereits    kritisch    herausgegeben    und 
durch  erklärende  Anmerkungen  illustriert;  auch 
was  sonst  aus  dieser  Zeit  an  Tractaten  über  die 
heiligen  Stätten  und  an  statistischen  Uebersicb- 
ten  über  die  kirchliche  Eintheilung  des  Landes 
vorlag,   war  von  ihm  theilweise  gleichfalls  pu- 
bliciert,  jedenfalls   aber  im  Laufe  seiner  Palä- 
stina-Forschungen zur  Kenntniß  genommen  und 
verwerthet  worden.     Dem  fleißigen  Manne  ge- 
nügte die  einfache  Wiedergabe  des  Alten  nicht; 
der  Fortschritt  macht  sich  durchgängig  bemerk* 
lieh.     Viele  freilich  werden    die  reichhaltigen 


Itinera  hierosolymitana.  1379 

Anmerkungen  der  früheren  Ausgaben  vermissen, 
n  welchen  Tobler  eine  ganz  unvergleichliche 
Fachkunde  entfaltet  hatte,  oder  werden  sie  den 
knappen  Einleitungen,  die  der  vorliegende  Band 
►ietet,  die  inhaltreichen  „Vorläufer  zu  den  No- 
entt  vorziehen,  wie  sie  Tobler  in  den  Descri- 
ttiones  von  1869  und  1874  gegeben,  aber  wer 
rollte  mit  der  Soci6te  de  l'Orient  latin  rechten, 
renn  ihr  Programm  bloße  Texte  mit  Varianten 
:nd  kurzgefaßte  Einleitungen  verlangte? 

Die  Correctheit  der  Texte  ist  ohne  Frage 
l  der  neuen  Ausgabe  bedeutend  gefördert  wor- 
an. Schon  Tobler  suchte  behufs  genauerer 
estetellang  derselben  den  handschriftlichen  Ap- 
arat zu  vermehren,  aber  der  französische  Ge- 
ihrte,  der  in  seine  Nachfolge  berufen  wurde, 
atwickelt  nicht  geringeren  Eifer  im  Suchen  von 
odices,  auch  für  materiell  minder  wichtige 
tflcke,  wo  sich  Tobler  nicht  selten  mit  der 
Wiedergabe  guter  Drucke  begnügt  hatte,  und 
i  gelang  ihm  deren  ziemlich  viele  zu  finden, 
»gar  an  Orten,  die  seinem  Vorgänger  leichter 
Teichbar  gewesen  wären.  Ja  mitten  unter  der 
rbeit  flößen  ihm  Handschriften  zu,  deren  Va- 
anten  nur  noch  in  Nachträgen  oder  am  Fuß 
;r  Einleitungen  untergebracht  werden  konnten. 
ies  ist  allerdings  für  den  Benutzer  lästig  und 
weckt  in  ihm  leicht  den  Eindruck,  als  ob  auch 
e  gegenwärtigen  Ausgaben  noch  nicht  auf 
tllständig  beigebrachtem  Handschriftenmaterial 
hen  and  deshalb  einen  definitiven  Text  immer 
>ch  nicht  bieten. 

Die  Reihe  der  hier  in  einem  handlichen 
tnde  vereinigten  Schriften,  welche  mit  dem 
nerar  des  Jerusalemfahrers  aus  Bordeaux  (333) 
ginnt,  enthält  nach  dem  Bisherigen  in  der 
luptsache  längst  bekannte  Pilgerberichte;  ich 

87* 


1380      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  44. 

zähle   auf  die  Römerin  PauJa   (386.  404),    den 
Antoninus   Martyr   aus   Piacenza  (um  570)    in 
zwei  Recensionen,  deren  kürzere  sich  durch  kla- 
rere Fassung  und  richtigere  Nomenclatur  gegen- 
über der  volleren  auszeichnet,  den  französischen 
Bischof  Arculfus    (um  670),   den    hl.  Willibald, 
Bischof  von  Eichstätt  (723—726),  nach  den  bei- 
den    ihm     gewidmeten    Lebensbeschreibungen! 
endlich  den  nordfranzösischen  Mönch  Bernardus 
(um  870,  nicht  970,  wie  sonderbarer  Weise  alle 
Handschriften  haben).    An  ihrem  Orte  eingefügt 
sind  ältere  Beschreibungen  der  hl.  Orte,  welche 
nicht   die  Form   des  Reiseberichts  tragen,   aber 
doch  entweder  auf  Selbstanschauung  basiert  sind 
oder  neben  anderem  Zusammencompilierten  mit- 
unter Notizen  aus  dem  Munde  von  Pilgern  auf- 
behalten  haben.     Bei  dieser  Classe   von  Palä- 
stina-Schriften  stoßen    wir    auf  Neues,    bisher 
nicht  Ediertes.     Hiezu   kann   man  schon    den 
Theodosius   wenigstens   theilweise    rechnen. 
Ich  meine  nicht  sowohl  den  Originaltractat  die- 
ses  sonst   unbekannten  Diacons   oder  Archidia- 
cons  —  ihn  hatte  Tobler  schon  1869  als  Theo- 
dori  liber  de  situ  terrae  sanctae  ediert  (jetzt  ist 
durch  bessere  Handschriften  Theodosius  als  Au- 
torname  festgestellt).     So  gut  als  neu  ist  viel- 
mehr  das  kleinere  Werk   de  situ  terrae  sanctae 
secundum  Theodosium,    welches   meist  Excerpte 
aus  dem  Vorigen  enthält.    Tobler  hatte  es  ver- 
nachlässigt,  weil   die  darin  herrschende  Confu- 
sion ihn  anwiderte  (s.  seine  Ausgabe  des  Tbeo- 
dericus    v.  J.  1865  S.  244  ff.    Palsestinae    descri- 
ptions p.  124);  erst  Molinier  hat  ihm  die  nö- 
thige  Aufmerksamkeit  geschenkt  und  nach  und 
nach    neun    Handschriften    zusammengebracht, 
mit  deren  Hülfe   besonders   die  Ortsnamen  des 
Theodosius     richtiger     wiedergegeben     werden 


Itinera  hierosolymitana.  1381 

können.  Als  vollkommene  Novitäten  dagegen 
«grüßen  wir  zwei  freilich  nur  je  ein  Blatt  fül- 
3nde  Schriften :  den  ans  einem  Mailänder  Codex 
ezogenen  Breviarius  de  Hierosolyma,  eine  dem 
'heodosins  verwandte  und  nm  dieselbe  Zeit 
.  h.  vor  der  Mitte  des  sechsten  Jahrhunderts 
erfaßte  Beschreibung  der  Gultusstätten  inner- 
ilb  der  hl.  Stadt,  und  den  in  der  Pariser  Ar- 
raalbibliothek  entdeckten  Tractat :  Qualiter  sita 
it  civitas  Jerusalem.  Ueber  das  Alter  des  letz- 
ren  wagt  Molinier  keine  feste  Ansicht  zu 
ißern,  indem  ebenso  gewichtige  Gründe  für  die 
otstehungszeit  um  das  Jahr  975  als  für  die  zu 
ifang  des  zwölften  Jahrhunderts  sprechen.  Ich 
aube,  daß  die  erstere  Zeitbestimmung  geradezu 
möglich  ist,  indem  der  Tractat  die  Kirche 
ncta  Maria  Latina  als  bereits  bestehend  auf- 
irt,  welche  doch  sicher  zwischen  1063  und 
80  von  den  Amalfitanern  gegründet  wurde, 
t  mehr  Recht  wäre  derselbe  in  die  Zeit  nach 
m  ersten  Kreuzzug  eingereiht  worden. 
DieSoci&e  de  TOrient  latin  eröffnet  mit  dem 
'liegenden  Band  die  geographische  Abtheilung 
er  Publicationen.  Mit  der  bekannten  Eleganz 
'  typographischen  Ausstattung  hält  auch  in 
sem  Theile  die  Correctbeit  des  Drucks  glei- 
>n  Schritt.  Nur  der  Domcapitular  Suttner 
i  Eich städt  hat  es  sieb  gefallen  lassen  mtis- 
,  daß  sein  Name  (p.  XLII)  in  „Süttuez"  um- 
taltet  wurde. 
Stuttgart.  W.  Heyd. 


1382      Gott,  gel.  Anz.  1880.  Stück  44. 

Par  Palimpsestorum  Dublinengium.  The 
Codex  Rescriptas  Dublinensis  of  St. 
Matthew 's  Gospel  (Z).  First  published  by 
Dr.  Barrett  in  1801.  A  new  edition,  revised 
and  augmented.  Also,  Fragments  of  the  Book 
of  Isaiah,  in  the  LXX.  version,  from  an  ancient 
palimpsest,  now  first  published.  Together  with 
a  newly  discovered  Fragment  of  the  Codex  Pa- 
latums. By  T.  E.  Abbott,  B.D.,  Fellow  of 
Trinity  College,  and  Professor  of  Biblical  Greek 
in  the  University  of  Dublin.  With  two  Plates 
of  Facsimiles.  Dublin :  •  Hodges ,  Foster  and 
Figgis.  London:  Longmans,  Green,  and  Co. 
1880.  2  Photogr.,  23  SS,  39  Bl.,  1  Facsim.    4°. 

Die  editio  princeps  des  berühmten  Dubliner 
Matt  hau  8 -Palimpsests  (Z),  welche  im  Jahre  1801 
der  ehrwürdige,  aber,  wenn  anders  der  drasti- 
schen Charakteristik  in  Sidebotham's  Public 
Characters  (No.  297,  mit  der  Unterschrift  ,A 
Queer  Fellow  at  College')  zu  trauen  ist,  etwas 
wunderliche  Dr.  John  Barrett  veranstaltete, 
konnte  dazumal  ohne  Frage  als  eine  ganz  re- 
spectable Leistung  gelten.  Was  ein  Menschen- 
alter  später  namentlich  Lachmann  daran  aas- 
zusetzen fand  (Theol.  Stud.  u.  Krit.  1830  S. 
832),  betraf  nicht  sowohl  die  im  Gegentheil  von 
ihm  gerühmte  Nachbildung  der  Textfragmente 
in  Kupferstich,  als  vielmehr  die  ,ungelehrte  Be- 
handlung' derselben  durch  den  Herausgeber. 
Die  Berechtigung  dieses  Vorwurfs  zugegeben, 
so  konnte  doch  nur  ein  unbegreifliches  Mißver- 
ständniß  den  letzteren  ausschließlich  für  die 
Mängel  der  Publication  verantwortlich  machen 
und  dagegen  alles  Verdienst  für  den  ,artifex' 
in  Anspruch  nehmen,  ,qui  Dublinensem  scri- 
pturam    e  lituris  curiose  eruit  et  affabre  depin- 


Codex  Rescriptus  Dublinensis.        1383 

xit'  (Lachmann  in  der  Praefatio  zum  Nov. 
Teslam,  Or.  et  Lat  T.  I  p.  XXIII  sq.).  Denn 
abgesehen  von  der  in  der  Sache  selbst  liegen- 
den Unwahrscheinlichkeit  dieses  Hergangs,  wird 
derselbe  durch  eine  ganz  unzweideutige  Aus- 
lage Barrett's  (Prolegom.  p.  1)  direct  ausge- 
schlossen. 

Daß  aber  auch  die  Entzifferung  der  rescri- 
»ierten  Blätter  selbst  dem  ersten  Herausgeber 
licht  tiberall  geglückt  war,  wies  zuerst  Tre- 
bles nach.  Im  Jahre  1853  (so  ist  S.  12  Z.  21 
tatt  1854  zu  lesen)  gelang  es  diesem  um  die 
[ritik  des  neutestamentlichen  Textes  hochver- 
ienten  Gelehrten,  nicht  nur  seinen  Vorgänger 
a  Einzelheiten  mehrfach  zu  berichtigen,  son- 
ern  auch  mit  Hülfe  chemischer  Reagentien 
>lche  Stellen  zu  entziffern,  auf  deren  Lesung 
mer  ganz  verzichtet  hatte.  Und  seiner  Anre- 
ung  vornehmlich  ist  auch  die  Veranstaltung 
iner  neuen  Ausgabe  des  Codex  Dublin,  zu 
grdanken.  Auf  der  Bibliothek  des  Trinity 
ollege  zu  Dublin  deponierte  er  ein  Exemplar 
38  Barrett'schen  Werks,  in  welches  er  alle  von 
m  gefundenen  Verbesserungen  und  Zusätze 
ngetragen  hatte.  Es  schien  nur  nöthig,  hier- 
tch  die  noch  vorhandenen  Kupferplatten  zu 
»richtigen,  und  der  Neudruck  konnte  vor  sich 
ihen  (s.  Account  of  the  Printed  Text  of  the 
reek  New  Testament  etc.  By  S.  P.  Tregelles. 
»ndon  1854  p.  168).  Indessen,  als  nach  Ver- 
ß  von  zwei  Jahrzehnten  das  Werk  wirklich 
Angriff  genommen  wurde,  ergab  sich  dem 
mit  betrauten  Dubliner  Professor  T.  E.  Abbott 
ld  die  Notwendigkeit,  von  dem  nrsprtingli- 
en  Plane  abzugehen  und  die  ganze  Hand- 
irift  aufs  neue  genau  zu  vergleichen.  Es 
Ute    sich   nämlich  heraus,  theils  daß    auch 


1384      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  44. 

Tregelles  bisweilen  geirrt,  theils  daß  bei  wie 
derholtem  sorgfältigen  Bemühen  die  verbliche- 
nen Schriftzüge  doch  in  noch  größerer  Vollständig- 
keit wiedererkannt  werden  konnten,  als  es  bis- 
her gelungen  war*).  ,If  I  have  succeeded 
beyond  what  could  have  been  expected  in 
discovering  letters  and  marks  which  escaped 
Dr.  Tregelles  (over  400),  it  is  because,  being 
resident  in  Trinity  College,  I  was  able  litterally 
„nocturna  versare  manu,  versare  diurna"  this 
important  codex'  —  so  äußert  sich  bescheiden 
der  Herausgeber  (S.  13)  und  gewährt  uns  einen 
noch  deutlicheren  Einblick  in  das  mühselige 
Geschäft,  welchem  er  sich  unterzogen,  wenn  er 
hinzufügt:  ,Xt  has  often  beeil  only  after  repea- 
ted examination  in  different  lights  that  the 
existence  of  a  mark  or  a  letter  has  been  placed 
beyond  all  doubt'. 

Treten  wir,  so  orientiert,  an  die  neue  Aus- 
gabe selbst  heran,  so  geschieht  es  in  der  Er- 
wartung, darin  nun  auch  etwas  völlig  Neues 
begrüßen  zu  dürfen.  Es  kann  daher  eine  ge- 
wisse Enttäuschung  nicht  ausbleiben,  wenn  wir 
auf  den  ersten  Blick  gewahren,  daß  doch  wie- 
der die  alten  Kupferplatten  benutzt  worden 
sind,  und  mancher  wird  dem  Herausgeber  hier- 
aus einen  ernsten  Vorwurf  machen.     Denn  die- 


*)  Das  ist  begreiflich,  da  Tregelles  Dar  karze  Zeit, 
Out.  bis  Anfang  Nov.  1853,  dem  Codex  widmen  konnte 
(Account  p.  167).  Wie  aber  zwischen  dem  von  ihm  in 
Dublin  deponierten  Ms.  und  seinem  1868  veröffentlichten 
Supplement  to  Dr.  Barrett's  Transcript  of  the  Cod. 
Dublin.  Rescr.  solche  Verschiedenheiten  haben  zu  Tage 
treten  können,  wie  sie  Abbott  S.  12  f.  aufzählt,  ist  im 
Hinblick  auf  die  scrupulöse  Gewissenhaftigkeit,  durch 
welche  Tregelles'  Arbeiten  sich  sonst  auszeichnen,  in 
hohem  Grade  auffallend  und  befremdlich. 


Codex  Rescriptus  Dublinensis.        1385 

ses  Mittelding  zwischen  Facsimile  und  Typen - 
drnck  ist  in  der  That  ganz  ungeeignet,  eine 
richtige  Vorstellung  vom  Original  zu  gewähren. 
Mit  Hülfe  der  beigegebenen  Photographie  kann 
eder  sich  leicht  davon  überzeugen,  daß  nicht 
iiir  der  Gesammtcharakter  völlig  verfehlt,  son- 
lern  auch  im  Einzelnen  oft  gerade  das,  worauf 
:s  ankam,  beharrlich  verpfuscht  ist.  Das  gilt 
tamentlich  von  dem  ganz  eigenartigen  A,  wel- 
bes  man  kaum  wieder  erkennt,  ferner  von 
f  A  M,  und  nur  in  etwas  geringerem  Grade 
ucb  von  E  K  Y  X  42.  Den  Namen  Facsimile 
erdient  also  diese  mißlungene  Nachbildung  ge- 
iß  nicht.  Erwägt  man  aber  die  eigentbtim- 
chen  Schwierigkeiten,  mit  welchen  eine  der- 
rtige  Publication  verbunden  ist,  so  wird  man 
e  Beibehaltung  der  alten  Platten  wenigstens 
iter  der  Voraussetzung  entschuldbar  und  er- 
ärlich  finden,  daß  der  Herausgeber  nur  die 
ahl  hatte  zwischen  jenen  und  einem  Ab- 
uck  mit  gewöhnlichen  Typen.  Entschloß  er 
5h  nämlich  zu  letzterem,  so  mußte  er  auf  eine 
irstellung  der  Raumverhältnisse  des  Originals 
n  vornherein  verzichten.  Und  doch  kam  ge- 
de  im  vorliegenden  Falle  hierauf  viel  an. 
tr  wenn  jedem  Buchstaben  genau  die  Stelle 
gewiesen  wurde,  welche  er  im  Original  ein- 
nmt,  —  und  die  Berichtigung  der  editio 
nceps  in  dieser  Hinsicht  bat  der  Herausgeber 
h  augenscheinlich  angelegen  sein  lassen,  — 
p    dann   vermögen   auch  diejenigen,  welchen 

•  Codex  selbst  nicht  zugänglich  ist,  mit  eini- 

•  Sicherheit  die  zahlreichen  Lücken  zu  er- 
izen,  welche  bald  zu  Anfang,  bald  am 
iluß,  bin  und  wieder  auch  inmitten  der  Zei- 

auftreten.     Ob   dieses   Geschäft   nicht  da- 
ch    hätte    erleichtert  werden   können,    daß 


1386      Gott,  gel.  Anz.  1880.  Stück  44. 

nicht  nur,  wie  in  der  ersten  Ausgabe,  die  wirk- 
lich gelesenen  Bachstaben  nnd  Bachstabentheile 
zur  Darstellung  gebracht,  sondern  auch  ur- 
sprünglich beschriebenes  Pergament  von  unbe- 
schriebenem, erhaltenes  von  zerstörtem  unter- 
schieden und  gegebenen  Falls  angedeutet  wurde, 
auf  wie  viele  Buchstaben  die  vorhandenen  Spu- 
ren oder  der  verfügbare  Baum  etwa  (schließen 
lassen,  —  darüber  wollen  wir  mit  dem  Seraus- 
geber nicht  rechten.  Was  wir  aber  lebhaft 
vermissen,  das  ist  eine  genaue  Abgrenzung  der 
Fragmente  in  der  Form,  in  welcher  sie  gegen- 
wärtig vorliegen.  Von  der  traurigen  Verfas- 
sung, in  welche  unglaublicher  Unverstand  diese 
werthvolle  Urkunde  des  neutestamentlichen  Tex- 
tes gebracht  hat,  gewinnt  man  zwar  im  allge- 
meinen aus  der  S.  4  f.  gegebenen  Beschreibung 
ein  deutlicheres  Bild  als  es  auf  Grund  der  dürf- 
tigen Angaben  Barrett's  möglich  war.  Man  er- 
fährt auch  (S.  5  f.),  was  schon  Tregelles  erkannt 
hatte,  daß  nach  Barrett's  Zeit  der  Codex 
neu  gebunden  nnd  bei  dieser  Gelegenheit  ohne 
jede  Rücksicht  auf  die  alte  Schrift  beschnitten 
worden  ist;  ,and  thus  many  words  and  parts  of 
words  read  by  Dr.  Barrett  are  now  gone  irre- 
coverably'. Forscht  man  aber  danach,  an  wel- 
chen Stellen  das  Manuscript  in  so  barbarischer 
Weise  beschädigt  worden  ist,  so  bleibt  uns  der 
Herausgeber  die  Antwort  schuldig.  Nur  gele- 
gentlieh (S.  15)  erfährt  man,  daß  die  letzte 
Zeile  auf  Taf.  XIX,  welche  in  der  neuen  Aus- 
gabe ebenso  figuriert  wie  in  der  Barrett'schen, 
,has  been  cut  away  since  his  time',  und  wenn 
man  den  Text  der  LXII.  Tafel  mit  der  diese 
Seite  wiedergebenden  Photographie  vergleicht, 
so  gewahrt  man  dort  von  Zeile  7  an  zu  Anfang 
der  Zeilen  bald  halbe,  bald  ganze  Buchstaben, 


Codex  Rescriptns  Dublinensis.        1387 

welche  offenbar  dasselbe  Schicksal  gehabt  ha- 
ben. Auf  diese  beiden  Fälle  aber  beschränkt 
sieh  die  Verstümmelung  sicher  nicht;  und  wenn 
sie  auch  vielleicht  sonst  nirgends  so  erheblich 
ist  wie  von  dem  der  XIX.  Tafel  entsprechenden 
Blatt  berichtet,  so  wird  man  doch  ein  Gefühl 
der  Unsicherheit  nicht  los.  Je  zweifelloser  es 
igt,  daft  Barrett  nicht  tiberall  richtig  gelesen 
hat,  desto  näher  lag  es,  deutlich  zwischen  dem- 
jenigen zu  unterscheiden,  was  nur  von  ihm 
allein,  und  demjenigen,  was  auch  von  dem 
neuen  Heransgeber  bezeugt  wird.  Durch  ab* 
reichenden  Druck  des  jetzt  nicht  mehr  Vorhan- 
lenen  wäre  eine  solche  Unterscheidung  auch 
nit  Benutzung  der  alten  Platten  leicht  zu  ver- 
einigen gewesen« 

Diese  Ausstellung  hindert  uns  natürlich  nicht, 
ten  erfolgreichen  Bemühungen  des  Herausgebers 
im  Entzifferung  des  Codex  Dublin,  volle  Aner- 
:ennung  zu  zollen.  Einer  Zusammenstellung 
er  gefundenen  Berichtigungen  sowie  der  nun 
um  ersten  mal  eruierten  Lesarten  begegnen  wir 
.  13  ff.  Die  merkwürdigste  unter  den  letzteren 
ndet  sich  Taf.  L  Z.  4  f.,  wo  Barrett  nur  svmus 
ud,  zu  Anfang  der  folgenden  Zeile,  icyqacfaia 
elesen  hatte.  Alle  sonst  bekannten  Handschrif- 
n  bieten  an  dieser  Stelle  (Matth.  21,  42)  ein- 
,cb  sv  tatg  YQaifaH;,  und  es  war  nicht  leicht 
t  sagen,  was  im  Codex  Dublin,  dagestanden 
it.  Barrett  bemerkte  zwar:  ,Post  iv  täte  oc- 
rrit  in  X  (so  nannte  er  die  später  allgemein 
it  Z  bezeichnete  Hs.),  quod  non  legi  potuit; 
d  scriptum  fuisse  videtur  vel  ayla$g  vel  fy*rf- 
>cr*£'  (sie).  Tregelles  aber  vermochte  weder 
)  eine  noch  die  andere  Lesart  zu  verificieren 
d  blieb  schwankend  zwischen  */"**$  und  ditto- 
iphiertem  n»*?.     Durch  die  Raumverhältnisse 


1388       Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  44. 

aber  ißt  ohne  allen  Zweifel  das  eine  so  gut  wie 
das  andere  ausgeschlossen,  und  da  Abbott  nach 
t»K  noch  vfis  lesen  konnte,  so  wird  man  sich 
bei  dem  allerdings  auffallenden,  aber  in  seiner 
Entstehung  aus  Joh.  8,  17  (*«•  iv  td>  vopw  de 
zw  vfjteviQm)  erklärlichen  vfitrsQcug  zu  beruhigen 
haben.  Es  stand  nämlich  ursprünglich  am  Schluß 
der  vierten  Zeile  evmMSvptTs,  was  bei  der  gro- 
ßen Ungleichheit  der  Zeilenlängen  sehr  wohl 
anzunehmen  ist,  und  zu  Anfang  der  fünften 
Zeile  vor  aifyQacpmo  noch  ein  q,  das  mit  dem 
Rande  weggeschnitten  ist. 

Die  vier  ebenfalls  rescribierten  Blätter  mit 
Fragmenten  des  Jesaias,  welche  in  der  Ausgabe 
acht  Seiten  füllen  (30,  2—31,  7  und  36,  17— 
38,  1),  hatte  schon  Barrett  in  demselben  Codex 
entdeckt,  aber  nicht  veröffentlicht.  Holmes  und 
Parsons  benutzten  eine  Collation  (citiert  als  Cod. 
VIII),  die  aber  auf  Vollständigkeit  keinen  An- 
spruch machen  kann.  Der  vorliegende,  die  alte 
Schrift  möglichst  genau  nachbildende  Abdruck 
alles  desjenigen,  was  entziffert  werden  konnte, 
wird  daher  von  denen,  die  es  angeht,  nicht 
übersehen  werden  dürfen.  Das  Verhältnis  die- 
ser mit  Cod.  Z  mindestens  gleichaltrigen  Frag- 
mente zu  Vat,  Sin.  und  Alex,  wird  S.  20 — 22 
in  Parallelcolumnen  veranschaulicht. 

Den  Schluß  des  Bandes  bildet  ein  wie  es 
scheint  wohl  gelungenes  farbiges  Facsimile  eines 
im  Jahre  1847  nach  Dublin  verschlagenen  Frag- 
ments des  berühmten  Wiener  Italacodex,  welchen 
in  demselben  Jahre  Tischendorf  unter  dem  Na- 
men Evangelium  Palatinum  veröffentlichte.  Es 
ist  ein  einzelnes  Blatt,  welches  Matth.  13,  13 
da  einsetzt,  wo  der  Text  bei  Tischendorf  ab- 
bricht, und  von  letzterem,  nach  einer  kleinen 
Lücke,  ebendaselbst  v.  24  abgelöst  wird.    Diese, 


Ryssel,  Gregorius  Thaumaturgus.     1389 

die  Zugehörigkeit  zara  Codex  Palatinns  über 
jeden  Zweifel  erbebende  Wahrnehmung  bot  sich 
dem  Heraasgeber  unabhängig  von  Herrn  T.  Gra- 
ves Law  dar,  welcher  in  der  Academy  vom 
1.  März  1879  zuerst  darauf  aufmerksam  gemacht 
hatte.  0.  v.  Gebhardt. 


Gregorius  Thaumaturgus,  sein  Leben 
md  seine  Schriften  nebst  Uebersetzung  zweier 
)isher  unbekannter  Schriften  Gregors  aus  dem 
Syrischen  von  Lie.  Dr.  Victor  Ryssel,  Do- 
;ent  an  der  Universität  Leipzig.  Leipzig,  Ver- 
ag  von  L.  Fernau.     1880.    160  S.    8°. 

Je  seltener  sich  in  unseren  Tagen  Philolo- 
en  mit  theologischen  Fragen  befassen  und  je 
äufiger  die  Theologie  philologische  Bestreb  un- 
en  auf  ihrem  Gebiet  für  nutzlosen  und  gele- 
entlich  auch  langweiligen  Sport  ansieht,  desto 
eudiger  ist  jedesmal  das  Erscheinen  eines 
Werkes  zu  begrüßen,  dessen  Verfasser  das  Inter» 
jse  für  beide  Disciplinen  in  sich  vereinigt.  Die 
3uste  oben  angezeigte  Veröffentlichung  des 
errn  Dr.  Ryssel  zeigt  einmal  wieder,  welche 
ereicherungen  der  Theologie  mit  Hülfe  der 
lilologie  zugeführt  werden  können.  Der  lu- 
llt dieses  Werkes  ist  im  Wesentlichen  das  Re- 
itet eingehender  Studien  auf  dem  Gebiet  der 
riseben  Literatur.  Es  ist  noch  nicht  möglich, 
it  vollkommener  Sicherheit  über  den  Werth 
3ser  Literatur  zu  urtheilen,  da  man  trotz  der 
träglichen  Anzahl  von  Bänden  im  Verhältniß 
dem  was  einst  vorhanden  war  doch  nur 
ucbßtücke  kennt,  die  zum  größten  Theii  einem 


1390       GOtt.  gel.  Anz.  1880.  Stück  44. 

einzigen  Kloster  entstammen.  In  Städten  wie 
Karput,  Mardin  und  Mossnl  sind  nachweisbar 
noch  Bibliotheken  mit  wahrscheinlich  sehr  werth- 
vollen  Werken  vorbanden.  Originalwerke  über 
die  Religion  der  Sabier,  auf  deren  reichen  und 
interessanten  Inhalt  man  aus  den  kurzen  Ueber- 
sichten  Barhebräyä's  schließen  kann,  existierten 
sicher  noch  gegen  Ende  des  dreizehnten  Jahr- 
hunderts; daß  von  den  Werken  Theodors  von 
Mopsueste  viel  mehr  als  die  veröffentlichten 
Fragmente  noch  jetzt  in  syrischen  Klöstern  vor- 
handen ist,  darf  man  als  sicher  voraussetzen. 
Aber  solche  Schätze  wollen  noch  gehoben  sein 
—  wenn  sie  dem  Zahn  der  Zeit  und  der  Zer- 
störungswuth  so  lange  Widerstand  leisten,  bis 
es  möglich  sein  wird,  sie  zu  bergen. 

Die  bis  jetzt  bekannten  Werke  befinden  sich 
in  den  Sammlungen  von  Born,  London  (Oxford, 
Cambridge)  und  Paris,  wozu  die  kleine  Berliner 
Collection  kommt.  Soweit  man  aus  diesen 
Sammlungen  über  die  syrische  Literatur  urthei- 
len  kann,  besteht  der  Werth  derselben  zum 
großen  Theil  darin,  daß  sonst  verloren  gegan- 
gene Werke  anderer  Literaturen  in  ihr  aufbe- 
wahrt sind,  oder  daß  die  zum  Theil  auch  in 
sehr  alten  Handschriften  erhaltenen  Ueber- 
setzungen  griechischer  Bücher  Texteszeugen  für 
eine  Zeitepoche  sind,  aus  der  in  der  griechischen 
Literatur  nur  wenig  Manuscripte  zur  Verfügung 
stehen.  Selbständige  Productivität  war  den  Syrern, 
wie  es  scheint,  nur  in  geringem  Maaße  gegeben, 
aber  sie  fühlten  einen  außerordentlich  energi- 
schen Drang,  sich  die  geistigen  Errungenschaf- 
ten anderer  Völker,  vor  allen  der  Griechen,  an- 
zueignen. Später  wurden  sie  Nachahmer  der 
Araber;  aber  die  Araber  selbst. haben  durch 
Vermittlung  der  Syrer  griechische  Bildung  em- 


Ryssel,  Gregorius  Thaumaturgus.      1391 

pfangen,  die  sie  dann  freilieb  selbständiger  und 
origineller  als  ihre  unmittelbaren  Lehrmeister 
verarbeitet  haben. 

Jene  Uebersetznngen  der  Syrer  ans  dem 
Griechischen  umfaßten  das  gesammte  Wissens- 
gebiet,  die  kirchliche  Literatur  wie  die  pro- 
ane;  selbst  Homer  spraeh  in  Edessa  syrisch, 
Lber  die  kirchliche  Literatur  war  wohl  von  An- 
ang  an  die  weit  umfangreichere  und  jedenfalls 
berragt  sie  in  den  erhaltenen  Resten  die  pro- 
ine  bei  weitem.  —  Ein  Stück  aus  dieser  bei 
en  Syrern  aufbewahrten  kirchlichen  Literatur 
ildet  den  Hittelpunkt  der  oben  genannten 
chrift  des  Herrn  Ryssel:  er  hat  zwei  durch 
e  Lagarde  in  seinen  Analecta  Syriaca  1858 
lerst  veröffentlichte  und  bis  dahin  unbekannte 
ßhriften  Gregors  durch  eine  Uebersetzung  auch 
riehen  Kreisen  zugänglich  gemacht,  denen  sie 

Folge  ihrer  Unbekanntschaft  mit  dem  Syri- 
hen  fremd  geblieben  waren.  An  diesen  Mit- 
Ipnnkt  hat  sich  nun  aber  in  Folge  sorgfältiger 
•beit  ein  reiches  Material  angesetzt,  welches 
•rrn  Ryssel  vollkommen  berechtigte,  seiner 
onographie  den  umfassenden  Titel  „Gregor ins 
laumaturgus,  sein  Leben   und  seine   Werkea 

geben.  Allerdings  bemerkt  der  Verfasser  mit 
icht,  daft  das  vorhandene  Material  unzurei* 
end  ist,  um  eine  Biographie  zu  schreiben,  da 

abgesehen  von  den  Schriften  Gregors,  in 
er  Reihe  farbloser  chronologischer  Daten  be- 
bt and  die  Lebensbeschreibung  Gregors  durch 
l  Nyssener  keinen  historischen  Werth  hat; 
ein  eben  jene  Daten  sind  von  Herrn  Ryssel 
;  großer  Sorgfalt  zusammengestellt,  und,  was 
rthvoller  ist,  von  der  kirchlichen  Wirksam- 
t  und  schriftstellerischen  Thätigkeit  Gregors 
d  mit  sorgfältiger  Benutzung  des  Vorhände- 


1392      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  44. 

nen  Materials  and  sehr  anzuerkennender  Bele- 
senheit ein  anschauliches  Bild  entworfen. 

In   einer  Einleitung    handelt   der  Verf.  von 
Gregors   Bedeutung    für  die  Kirche    und    die 
christliche   Wissenschaft  seiner   Zeit     Im  An- 
schluß  an   die  oratio  panegyrica   in  Origenem 
wird  hier  zunächst  ein  Bild  von  dem  Entwicke- 
lungsgange  Gregors  unter  der  Leitung  des  Ori- 
genes  bis  zur  Bückkehr  nach  Cappadocien  ent- 
worfen;  sodann   bietet    die    epistola    canonica 
einen  Einblick  in  das  maaß-  und  taktvolle  Wir- 
ken  des  Kirchenvaters,   welches   er  als  Bischof 
unter  schwierigen  Verhältnissen  bethätigte.   Mit 
Recht  findet   Herr  Ryssel   in   der   kühnen  und 
starken  und  doch  milden  und  gewinnenden  kirch- 
lichen  Wirksamkeit   Gregors    seine   eigentliche 
Bedeutung ,    während    seine     schriftstellerische 
Thätigkeit,  im    Alterthum    überschätzt,    gegen 
diese  Tugenden  in  den  Hintergrund  trat    Die 
kurze   Charakteristik   des   edlen  Kirchenfürsten 
S.  5  f.,  welche  liebende  Hingabe  an  den  Gegen- 
stand in  Verbindung  mit  kritischem  Blick  über- 
all durchschimmern  läßt,  ist  außerordentlich  an- 
ziehend geschrieben. 

Es  folgen  drei  Excurse.  Der  erste  giebt 
einen  chronologischen  Abriß  des  Lebens  Gre- 
gors. Die  wenigen  überlieferten  Daten  werden 
hier  zusammengestellt  und  auf  ihre  Glaubwür- 
digkeit hin  geprüft,  die  Geburt  mit  ziemlicher 
Sicherheit  kurz  vor  210,  der  Tod  um  270  an 
gesetzt.  Die  Erwählung  zum  Bischof  setzt  R. 
in  das  Jahr  240,  während  Gieseler,  Hase  u.  A. 
244  annehmen. 

Der  zweite  Excurs  handelt  von  Gregor  dein 
Wunderthäter  in  der  kirchlichen  Literatur.  Von 
den  hier  angeführten  patristischen  Zeugnissen 
hätten  doch  die  im  Anhang  S.  59  ff.  erwähnten 


Ryssel,  Gregorius  Thaumaturgus.     1393 

nicht  getrennt  werden  sollen,  zumal  da  Herr 
Ryssel  nicht  ambin  kann  auf  die  im  Anhange 
behandelte  Biographie  Gregors  durch  den 
Ny ssener  schon  S.  21  einzugehen,  and  ander- 
seits  consequenter  Weise  die  S.  22  erwähnte 
syrische  Lebensbeschreibung  des  Wunderthäters 
mit  demselben  Rechte  in  den  Anhang  hätte  ver- 
wiesen werden  können.  Durch  diese  allzusehr 
vorherrschende  Schematisierung  hat  das  Bach 
einen  etwas  tabellarischen  Charakter  erhalten, 
der  sich  bei  der  Sprödigkeit  des  Stoffes  nicht 
ganz  vermeiden  ließ,  aber  doch  wohl  ein  wenig 
hätte  gemildert  werden  können. 

Excurs  III  giebt  eine  Uebersicht  über  die 
Schriften  Gregors,  ihren  Inhalt  und  ihre  Echt* 
heit.  Zuerst  sind  die  Gesammtausgaben  ange- 
führt, dann  bei  jeder  einzelnen  Schrift  wieder 
die  Stelle,  wo  sie  in  den  Gesammtausgaben  ab- 
gedruckt ist,  sowie  die  Einzelausgaben.  So- 
weit ich  nach  dem  Material  der  hiesigen  Biblio- 
thek urtheilen  kann*)  sind  die  hier  gemachten 
Angaben  sehr  sorgfältig  und  erschöpfend.  Zu 
S.  36  ist  zu  bemerken,  daß  auch  die  Homilia 
in  sancta  theophania  sich  in  den  Werken  des 
Chrysostomus  findet.  (Chrysostomi  opp.  ex  rec. 
A.  Savilii  T.  7  p.  657—661.  Altonae  1612. 
fol.).  —  Der  Uebersicht  über  die  Ausgaben 
schließt  sich  bei  jeder  einzelnen  Schrift  ein  Ab- 
riß des  Inhaltes  an,  worauf  endlich  die  Frage 
der  Echtheit  erörtert  wird.  Die  einzelnen 
Schriften  werden  nach  bekanntem  Schema  in 
echte,  angezweifelte  und  unechte  eingetheilt. 

*)  Ein  griechischer  Text  der  Metaphrase  zum  Pre- 
diger z.  B.  existiert  auf  hiesiger  Bibliothek  nicht.  Der 
Königlichen  Bibliothek  zu  U  Ott  in  gen,  weiche  mir  bereit- 
willigst die  Pariser  Ausgabe  zur  Verfügung  stellte,  spreche 
ich  auch  hier  meinen  ganz  ergebenen  Dank  aus. 

88 


1394       Gott  gel.  Adz.  1880.  Stück  44. 

Bei  der  Inhaltsübersicht  der  Metaphrase  zum 
Prediger  Salomo  S.  28  bemerkt  Herr  Rysael: 
„Die  Metaphrase  Gregors  ist  eine  gedrängte 
freie  Uebersetzang  des  Predigers  Salomonis, 
welche  nicht  viel  mehr  Baum  beansprucht  als 
der  hebräische  Text  selber.  Da  sie  von  vorn 
herein  keine  wortgetreue  Uebersetzung  des  Ur- 
textes sein  will,  so  schließt  sie  sich  aufs  engste 
an  den  Text  der  Septuaginta  an"  u.  s.  w.  Hr. 
Ryssel  scheint  demnach  anzunehmen,  daß  Gre- 
gor bei  seiner  Bearbeitung  den  hebräischen 
Text  in  irgendeiner  Weise  mit  herangezogen 
habe.  Diese  Annahme  überraschte  mich.  Kennt- 
nisse des  Hebräischen  wären  allerdings  bei 
einem  Schüler  des  Origenes  sehr  wohl  annehm- 
har,  und  die  Metaphrase  würde,  falls  Gregor 
wirklich  den  Urtext  wenn  auch  nur  spärlich 
berücksichtigt  hätte,  bedeutend  an  Interesse  ge- 
winnen. Ich  habe  mich  jedoch  überzeugt,  daß 
lediglich  der  Text  der  Septuaginta  zu  Grunde 
gelegt  ist,  und  vielleicht  hat  sich  Herr  Eyssel 
selbst  nur  ungenau  ausgedrückt.  Gregor  folgt 
den  Abweichungen  der  LXX  vom  masoretischen 
Text  durchgängig;  eine  Uebereinstimmung  mit 
letzterem  gegen  LXX  ist  nirgends  nachweisbar, 
und  wenn  er  sich  hin  und  wieder  etwas  weiter 
vom  griechischen  Text  entfernt,  so  beruht  dies 
darauf,  daß  die  Uebersetzung  des  Predigers  bei 
LXX  eine  so  sclavische  ist,  daß  der  Context  oft 
genug  gradezu  unverständlich  geworden  ist. 
Zum  Beweise  mag  dienen,  daß  das  Accusativ- 
zeichen  ntt  sehr  häufig  wie  bei  Aquila  durch 
ovv  c.  acc.  (oder  gen.)  wiedergegeben  wird,  vgl. 
2,  17.  3,  10.  17.  4,  3.  7,  27.  29.  8,  8.  15. 
17.  9,  15.  10,  7.  12,  9.  Die  Verbindung 
bD  na  demnach  aipnavta  vgl.  4,  4.  8,  9.  17. 
9,  1  (bis).  11.    10,  5.   12,  14.    Natürlich  mußte 


Ryssel,  Greg  on  us  Thanmaturgus.      1395 

dies  und  Aehnliches  in  einer  Metaphrase,  die 
das  Buch  verständlich  machen  wollte,  wegfallen; 
dagegen  sind  die  Abweichungen  der  LXX  vom 
Urtext  auch  in  der  Umschreibung  fast  immer 
noch  erkennbar.  Zum  Beweise  führe  ich  fol- 
gende Stellen  an.  1,  17.  Die  Worte  xal  edcoxa 
xaqdiav  pov  %ov  yvwreu  üoifiav  xal  yvwow,  wel- 
che nach  dem  Zeugniß  des  hexaplarischen  Sy- 
rers von  Origenes  unter  Asteriscus  eingefügt 
wurden,  fehlen  bei  Gregor.  —  ibid.  für  mbbin 
hat  Gregor  wie  LXX  na^aßokdg.  —  1,  18  «*n 
o*s]  LXX  nly&og  yvoooeoog,  wofür  Schleusner 
xax(M><J€o>$  vermuthet;  aber  schon  Gregor  um- 
schreibt (aij^v  . . .  aoifia  (ktv)  yviatov  §nsa&a$. 
—  2,2  bbirra]  LXXneQKfoqdv,  Gregor  (yilmva) 
slxfj  <p€QO(Mvov.  —  2,  15  Ende  haben  LXX  den 
Zusatz  drin  o  ä(pQOV  ix  nsQiGGevfjuxiog  XaltX, 
welcher  sich  in  Umschreibung  ebenfalls  bei  Gre- 
gor findet.  —  7,  7  nann]  LXX  tiysvtiag  avtov; 
Godd.  Ill  161.  248.  al  evioviag  atnov ;  die  erste 
Lesart  bezeugt  Gregor:  trjv  ysvvaiav  svozaow 
%&v  äya&mv.  —  7,  18  nan  btt]  LXX  pij  fuaVgs 
(«Jf  %*lQ(i  aov);  vgl.  Gregor:  %**(>*  dräyvqh  — 
8,  la  ziehen  LXX  und  Gregor  zu  7,  29.  —  8, 
lb  »a???]  LXX  luafffrijottcu;  Gregor  ploovg  .  .  . 
afyov  •  .  .  ilsyiet.  —  8,  3  bnan  b«J  ziehen 
LXX  und  Gregor  zu  v  2.  —  9,  2  bsn]  LXX 
(Aatariitjg  (=  b^Ji);  Gregor:  paxawnovetv  icfai- 
veto  (beide  ziehen  dies  zu  v.  1).  —  11,  10 
nnniin]  LXX  und  Gregor  äroia.  —  Aus  die- 
sen Beispielen  ergiebt  sich  zugleich,  daß  die 
Metaphrase  für  die  Kritik  der  Septuaginta 
nicht  unwichtig  ist,  zumal  da  Gregor  ein  nicht 
emendiertes  Exemplar  benutzte. 

Hin  und  wieder  weicht  Gregor  nun  freilich 
von  seiner  Vorlage  bedeutender  ab,  setzt  hinzu 
oder  kürzt,  vgl.  8,  10.    9,  1.    10,  10;  an  allen 

88* 


1396       Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  44. 

solchen  Stellen  weicht  er  aber  ebensosehr  vom 
masoretischen    Text   wie   von  dem   der  Septua- 
ginta   ab.     Auf  eine  Benutzung    des   Hebräers 
könnten,  so  viel  ich  sehe,  nur  zwei  Stellen  fäh- 
ren.   5,  16  haben  LXX  für  b^ar  *«*  iv  nivfai 
=  baen  (so  lies);   in  dem  entsprechenden  Ab- 
schnitte bei  Gregor  finden  sich  die  Worte  *atu- 
vaXwoac,  top  eccvtov  ßlov9  welche  auf  bser   hin- 
zudeuten scheinen;   allein   da  sich   bald  darauf 
bei   ihm   die   den   LXX    entsprechenden  Worte 
finden :  öxötog  p£v  dav  xw  toiovm  ai  fjpäocuj  niv- 
#  o  g  di  t)  f«iy,  so  geht  jenes  xatapaXoiaag  viel- 
mehr auf  q>ayetv  der   LXX  v.  17,   und  Gregor 
hat  v.  16  u.   17   in   seiner    Bearbeitung   umge- 
stellt oder  in   seiner  Vorlage  umgestellt  vorge- 
funden. —   Die   zweite   Stelle,   welche   auf  Be- 
nutzung des  Hebräers  führen  könnte,  ist  12,  9. 
Hier  haben  LXX  für  ösn  n«   gv»  tov  avbqto- 
nov,   Gregor  tov  Xabv  tovtov.     Der   Schein  di- 
recter     Uebersetzung     aus     dem     Hebräischen 
schwindet  jedoch,   wenn  man  sieht,    daß   Codd. 
23.  253.  wirklich  civ  tov  Xaöv  lesen.     Da  sich 
andere  Beispiele  von  Berührungen  mit  dem  He- 
bräer gegen  LXX  schwerlich  werden  beibringen 
lassen,  so  ergiebt  sich,  daß  die  Metaphrase  Gre- 
gors nicht  nur  keine  „wortgetreue  Uebersetzung", 
sondern    überhaupt   keine   Uebersetzung  ist,  ja 
daß  Gregor,  wenn  er  überhaupt  Hebräisch  ver- 
stand, doch  den  Hebräischen  Text  gar  nicht  an- 
gesehen hat,   da  er  sonst  einige  offenbare  Miß- 
verständnisse  der   Septuaginta   beseitigt   haben 
würde. 

Den  Schluß  des  dritten  Excurses  bilden  aus 
verschiedenen  Quellen  gesammelte  Fragmente. 
Bei  vier  kleineren  Stücken,  die  bei  de  Lagarde 
Analecta  pag.  64  veröffentlicht  sind  und  der 
Ueberschrift     nach    einer    sonst     unbekannten 


Ryssel,  Gregorias  Thaumaturgas.      1397 

Schrift  Gregors  „über  die  Auferstehung"  ent- 
stammen, hat  Herr  Kyssel  entdeckt,  daß  sie 
vielmehr  der  Apologie  des  Origenes  von  dem 
Märtyrer  Pamphilus  entnommen  sind.  Auch  der 
Ursprung  jener  Ueberschrift  ist  mit  ziemlicher 
Sicherheit  nachgewiesen.  —  Da  Herr  Ryssel 
verspricht,  zum  Zweck  der  Vergleichung  mit 
dem  lateinischen  Text  des  Rufinus  eine  „wort- 
getreue" Uebersetzung   des   Bruchstückes  p.  48 

zu    geben,    so  hätte  er  die  Worte  «j*j|   <  MgHu 

i^olitt^   welche    (auch    nach    der    Form    der 

Frage)  dem  (quomodo)  ausus  est  aliquis  dicere 
des  Rufinus  entsprechen,  nicht  übersetzen  sollen 
(48,  7.  6.  v.  n.)  „so  frevelt  der,  welcher  sagtu. 
Auch  49,  23  führt  Rufius   (50,  5)   „non  erubue- 

runttf  flir  ojUoJ  V  (Lag.  64,  27)  auf  etwas  An- 
deres als:  „und  deswegen  hören  manche  von 
ihnen  nicht  auf";  übersetze:  „und  deswegen 
haben  es  manche  von  ihnen  nicht  verschmäht"; 
vgl.  hebräisch  -jk». 

Aus  exegetischen  Schriften  wird  S.  55  unter 
anderen  ein  Fragment  aus  einer  practischen 
Auslegung  des  Matthäus  nach  Gallandi  mitge- 
theilt.  Die  von  Professor  Paul  Caspari  an  Hrn. 
Ryssel  gemachte  Mittheilung,  daß  sich  in  unge- 
druckten und  alten  gedruckten  Gatenen  noch 
reiche  Ueberreste  aus  dem  schriftstellerischen 
Nachlasse  Gregors  finden,  kann  ich  wenigstens 
zum  Theil  bestätigen.  Das  oben  genannte 
Fragment  zum  Matthäus  findet  sich  mit  einigen 
Varianten  auch  in  „Symbolorum  in  Matthaeum 
torn.  alt.  quo  continetur  catena  patrura  graeco- 
rum  XXX  collectore  Niceta  interprete  Corderio". 
Tolosae  1647  fol.  p.  242  f.  Das  Fragment  ist 
hier  zugleich  etwas  vollständiger ;  es  fährt  näm- 


1398       Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  44. 

lieh    nach    dem   Worte   naqanxw^ata  fort:  W- 
Ürjactv  xai  ol  dnötftoXoi  oqp&aXpoi  xai  ywg  SXov 
tov  xdtfpov.     iXeyev    ovv    avtotg   naqayyiXXmv  6 
xvoiog-    idv  ifAftg  <Svf\xs  xai  py  ävazQUniJTs,  (f(S; 
ovtsg  tov  (Toopatoc,  idov  oXov  td  öoofia   tov  xötf- 
pov  mtfoStiata*.     si  6s  bpstg  äXsg  Svtsg  ptaQav- 
&fji€,  xai  (pu)$  ovtsg  GxonGxHjts,  to  oxötog  nooov 
o  ianv  b  xdapog.    Außerdem  findet  sich  in  der- 
selben Catene   ein  anderes  Herrn  Ryssel   unbe- 
kannt  gebliebenes   Fragment  auf  S.  596   (lies 
598)  zn  Matth.  18,  20,   welches  den  Charakter 
der  Echtheit  anr  «sich  trägt  (vgl.  die  Anmerkung 
Ryssels  auf  S.  57).    Ich  lasse  dasselbe  hier  ab- 
drucken,    onotav   5öa    dv   td    Giopa    €v%op&vov 
ahfj  tavta  xai  fj  xccQÖia  vojj,  tote  navtdg   nQcty- 
patog    oii    idv    almjtfijtai    äv&oconog    ysvij  Gerat 
aitto  naqd  tov  &sov.     did  ydo  tovto  fAfjös   ngög 
töv  nX^alov  uvd  $%hv  vnoxQiaw   ivtyaws,  ervp- 
(fwvcog  toXg  wjc  xaQÖiag  iv&vptjfiaGt    did    ötopa- 
tog  nqogXaXovviog  tw  nltjGiov. 

Es  folgt  S.  65  ff.  der  Kern  von  Herrn  Rys- 
sels Arbeit,  die  Uebertragung  der  beiden  im 
Syrischen  erhaltenen  Schriften  und  Untersuchun- 
gen über  die  Echtheit  derselben.  —  Die  Schrift 
an  Philagrius  über  die  Wesensgleichheit  beginnt 
mit  dem  Dilemma,  welches  sich  aus  der  Ein- 
fachheit des  göttlichen  Wesens  und  derDreiheit 
der  Namen  Vater,  Sohn  und  Geist  ergiebt;  es 
könnte  nämlich  scheinen,  daß  durch  die  Drei- 
zahl die  Einzigartigkeit  des  göttlichen  Wesens 
aufgehoben  würde.  Allein  dies  ist  wirklich  nur 
Schein;  denn  während  die  Menschen  allerdings 
in  ihren  Gedanken  mit  jenen  drei  Bezeichnungen 
die  Theilbarkeit  des  göttlichen  Wesens  verbin- 
den, sind  diese  in  Wirklichkeit  nur  verschiedene 
Namen  des  einen  untheilbaren  göttlichen  We- 
sens,   welche    mit   Beziehung    auf  das 


Ryssel,  Gregorius  Thaumaturgus.      1399 

Heilswerk  verwendet  werden.  —  Man 
sieht,  daß  die  Sabellianer  in  Neocaesarea  wohl 
Anlaß  hatten,  sich  auf  Gregor  zu  berufen.  Auch 
das  opoovoiog  der  Ueberschrift  ist  bekanntlich 
um  die  zweite  Hälfte  des  dritten  Jahrhunderts 
sabellianisch  und  wurde  in  dem  Svnodalbe- 
schluß  von  Antiochia  269  verdammt.  Die  (nicht 
ganz  feststehende)  Anwesenheit  Gregors  auf  die- 
ser Synode  würde  kein  entscheidendes  Zeugniß 
gegen  die  Ursprünglichkeit  jener  Ueberschrift 
sein,  nur  wäre  die  Schrift  sicher  vor  269  ver- 
faßt. Anderseits  erklärt  sich  aus  Inhalt  und 
Ueberschrift  leicht,  wie  die  Schrift  über  die 
Wesensgleichheit  schon  früh  im  Original  ver- 
loren gehen  konnte. 

Die  zweite  Schrift  über  die  Leidensunfähig- 
keit und  Leidensfähigkeit  Gottes,  an  einen  sonst 
unbekannten  Theopompus  gerichtet,  ist  bedeu- 
tend umfangreicher  als  die  erste.  Da  Herr  Rys- 
sel eine  ausführliche  Inhaltsübersicht  vorausge- 
schickt hat,  kann  hier  auf  eine  Recapitulation 
verzichtet  werden ;  ich  beschränke  mich  auf  das 
Hervorheben  einzelner  Punkte. 

Besonders  interessant  ist  in  mehrfacher  Hin- 
sicht Cap.  19.  Gregor  polemisiert  hier  gegen 
epikuräische  Ansichten,  als  ob  Gott  in  ewig  se- 
liger Ruhe  (dtaQa^ta)  und  Abgeschiedenheit 
ohne  Einfluß  auf  die  Regierung  der  Welt  sieb 
an  sich  selbst  genügen  lasse,  also  auch  nicht 
Leiden  auf  sich  nehmen  könne.  Er  widerlegt 
solche  Ansichten  damit,  daß  er  sagt,  in  diesem 
Falle  sei  das  Geschlecht  der  Sterblichen  weit 
erhabener  als  der  vollkommene  Gott,  denn  von 
ihnen  hätten  viele  für  ihre  Vaterstadt  und  aus 
Liebe  zu  den  Freunden  ihr  Leben  nicht  ge- 
schont; sie  seien  so  über  die  Leiden  durch  ih- 
ren Willen   erhaben  gewesen  und  wegen  ihres 


1400      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  44. 

Muthes    seien  ihnen  die  Leiden  nicht  mehr  als 
Leiden  erschienen.  —    Herr   Ryssel   macht  S. 
118  mit  Recht  darauf  aufmerksam,  daß  die  nan 
folgenden  Beispiele,  welche  direct  aas  Schriften 
classischer  Autoren   entlehnt  sind,   ein  schwer- 
wiegendes  Zengniß   für   die  Echtheit   der  Ab- 
handlung abgeben.  —  Was  S.  88  über  die  Cor- 
ruption des  Namens  Kodrus  gesagt  ist,  ist  mir 
nicht  ganz  verständlich  geworden ;  es  wird  wirk- 
lich Theseus  im  griechischen  Original  gestanden 
haben.    Ueber  die  Corruption   von  Eigennamen 
bei   der   Herübernahme  in   ein  fremdes  Idiom, 
nicht  allein  in  der  Schrift,  sondern  auch  in  der 
Sprache  selbst,  vgl.  übrigens  noch  de  Lagarde, 
Analecta   p.  XII.  —    Leukippus,    der   sich  hat 
tödten  lassen  [getödtet  wurde]  S.  88.  (Lag.  57, 20) 
ist  Lykiskus.     Ueber  den  Tod   dieses  Führers 
der  Aetoler,   der  als  Anhänger  der  Römer  be- 
kannt war,  läßt  sich  Genaueres  nicht  nachwei- 
sen ;   doch   macht  mich  Professor  Blaß  auf  fol- 
gende zwei  Fragmente  des  Polybius  aufmerksam. 
Polyb.  32.  20  a,   1    on    Avxicxov   toi  AhaXov 
taQaxtodovg  ovtoq  xal  ÖOQvßwdovg,   dvcuoeödytos 
dl  toi  to v,  tö  i£fjg  ol  AhcoXol  [övyecfQOPfjCavxal] 
wpovöfjöav  ivdg  äv9qmnov  naqa%(aQ^aavtoq   x%X. 
—  §3    du    Avxtoxog   xdxiawg    tSv  xaXiag  xa- 
TiaTQstpe  töv  ßiov  xts.  *).  Die  unmittelbare  Quelle 
Gregors   kann   eine    lateinische  gewesen    sein; 
auch  Livius   hat  über  Lykiskus  berichtet,  vgL 
42,  38.    45,  28. 

Die  Uebersetzung  beider  Schriften  ist  im 
Allgemeinen  durchaus  zuverlässig,  was  um  so 
mehr  anzuerkennen  ist,  als  dieselben  durch  die 
Aufpfropfung  griechischer  Syntax  auf  semitischen 
Sprachschatz  oft  ziemlich  dunkel  geworden  sind. 

•)  vgl.  auch  32.  21,  1. 


Ryssel,  Gregorius  Thauroaturgus.      1401 

Ein  interessantes  Beispiel  dafür,  daß  man  bei  der 
deutschen  Uebertragung  einer  syrischen  Ueber- 
setzung  ans  dem  Griechischen  nicht  selten  nur 
dann  zum  Verständniß  gelangt,  wenn  man  auf 
das  griechische  Originalwerk  zurückgeht,  führt 
Herr  R.  S.  137  an ;  vgl.  auch  noch  ZDMG.  Bd. 
32.  1878.  p.  736,  und  Elias  von  Tlrhän  p.  54. 
Daß  bei  solchem  Sachverhalt  immerhin  einige 
Mißverständnisse  unterlaufen  sind,  ist  nicht  zu 
verwundern.     So   ist  gleich    im   Anfange    der 

Schrift  über   die   Wesensgleichheit  S.  65    Ijoij 

|^m  ou\d  mit  den  Worten:  „eines  solchen  Mei- 
sters" unrichtig  übersetzt;  was  sollte  das  auch 
für  ein  Meister  sein?  es  ist  vielmehr  %oi%ov  %ov 
nccpfisydXov.  Der  Satz  66,  16  ff.  ist  unverständ- 
lich und  hat  außerdem  S.  109  zu  falschen  Fol- 
gerungen Anlaß  gegebenes,  darüber  nachher. 
—  76,  20  (vgl.  die  Anmerkung  S.  152).  Merk- 
würdiger Weise  findet  Herr  Ryssel  hier  in  ganz 
einfachen  Worten  eine  Schwierigkeit,  wo  keine 
ist.  Uebersetze:  „Der  aber,  welcher  allein  gut 
ist  und  unbegrenzte  Schönheit".  Die  Worte 
spielen   an  auf  Matth.  19,  17  und  Zach.  9,  17. 

ta.£*)  zu  lesen,  wie  Herr  R.  anheimgiebt,  ist 
falsch,  nur   ^d    und    ^o   dürfen  ohne  o    ge. 

schrieben  werden,  und  durch   loo^  könnte   ein 

Begriff  wie  dya&atavvfj  nicht  ausgedrückt  sein. 
Derselbe  Fehler  findet  sich  51,  5,  wo  ebenfalls 
„gut"     für     „vollkommen"     einzusetzen   ist.  — - 

76,  11  v.  u.  tibersetzt  Herr  B.  <?**-»  ^  (ohne 


*)  Die  Form   >oQfl>   S.  132  Z.  6  v.  u.  ist  noch  be- 
denklicher. 


1402       Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  44. 

Pluralpunkte  geschrieben)  durch  „alles  Starke" ; 
er  dachte  doch  nicht  an  ^inu»?  —  77,  13  hin- 
ter „Gottheit"  setze  ein :  „an  sich".  —  77, 7  v.  u. 
Aläd  fD  „in  dem  dn  aufnimmst" ;  Herr  R.  sah 
das  cß  für  Lämadh  an  und  bedachte  nicht,  daß 
seine  Uebersetzung  A^aAio    ,3  verlangt  hätte. 

—  81,  7  lies:  „wie  man  sagen  kann".  — 
82,  6  f.  lies :  „und  jenes  unbegreifliche  und  un- 
faßbare Kommen  Gottes  zum  Tode  für  thörich- 
tes  Reden  halten".  —  87,  13  v.  u.  sind  die 
Worte:     „in  meine   (menschliche)   Gestalt"    zu 

streichen;  das  n\i?  dient  nur  zur  Hervor- 
hebung des  iA<    Gregor   meint  nämlich,   nur 

der  Mensch  in  seinem  beschränkten  Erkennen 
verknüpft  mit  dem  Kommen  Gottes  eine  Verän- 
derung seines  Wesens,  während  Gott  in  Wirk- 
lichkeit der  ewig  unveränderliche  bleibt,  vgl. 
68,  9 ff.  —  91,  1  geben  die  Worte:  „daß  grade 
damals  die  Lacedämonier  im  Kriege  gegen  seine 
Mitbürger  im  Vortheil  waren"  keinen  Sinn;  die 
Lacedämonier  waren  doch  nicht  grade  im  Vor- 
theil, als  sie  von  den  Persern  umgangen  waren; 
im  syrischen  Text  steht  außerdem  nicht  „Lace- 
daemonier",  sondern  Macedonier;  es  liegt  nahe, 
hierin  eine  Corruption  aus  „Lacedaemonier"  zu 
erblicken,  am  besten  fehlt  aber  das  Wort  ganz 
und  es  ist  zu  tibersetzen:  „und  er  hörte,  daß 
damals  der  Kampf  für   seine  Mitbürger  schwer 

geworden  sei".  —   97,  13  v.  u.  ist  mit    IaooJ 

nicht  Gott,  sondern  Theopompus  angeredet, 
ebenso  wie  Z.  15  v.  u.  99,  12  v.  u.  Gregor 
hat  Beispiele  angeführt,  welche  beweisen  sollen, 
daß  das  Ideal  des  Menschen  nicht  in  unthätiger 


Ryssel,  Gregorius  Thaumaturgus.       1403 

Ruhe  besteht,  sondern  daß  es  seine  Pflicht  ist, 
zu  reden  und  zu  handeln,  wenn  die  Umstände 
es  verlangen,  mögen  auch  Gefahren  damit  ver- 
bunden sein.  Theopompus  verstummt  und  Gre- 
gor redet  ihn  an:  „Nun,  warum  schweigst  du, 
mein  Guter,  bei  dem  Untergange  dieser  Aller, 
[welche  ihre  Pflicht  erfüllend  untergingen]  weil 
sie  um  Hülfe  zu  leisten  als  weise  Männer  sich 
nicht  die  Ruhe  erwählten?  Das  ist  das  We- 
sen   der  Tugend,   o   Guter   u.  s.  w.  —    99,  1 

^oou  Joa£  oük  heißt  nicht:  „sie  opfern  der- 
selben ihr  Glück",  sondern:  „sie  preisen  den- 
selben" sei.  den  Wahnsinn  der  Geldgier  (pcrxa- 
gifav).  —  Z.  5  f.  lies:  „so  daß  sie  (die  Seele), 
wenn  sie  davon  durch  die  Tugend  gereinigt 
wird,  gesundet**. 

Auf  die  Uebersetzung  der  beiden  im  Syri- 
schen erhaltenen  Schriften  folgt  S.  100 — 123 
eine  eingehende  Untersuchung  über  die  Echtheit 
derselben.  Referent  hält  diesen  Abschnitt  in 
mancher  Hinsicht  für  den  gelungensten  Theil 
der  Arbeit  und  glaubt,  daß  die  Autorschaft  Gre- 
gors durch  Herrn  Ryssels  Untersuchungen  für 
beide  Schriften  in  der  That  gesichert  ist.  Die 
Gründe  für  die  Echtheit  sind  allerdings  fast 
ausschließlich  innere,  allein  grade  diese  sind 
durchaus  überzeugend.  Herr  Ryssel  weist  zu- 
nächst nach,  daß  die  Schrift  über  die  Wesens- 
gleichheit (und  ähnlich  nachher  die  zweite)  ihrer 
dogmatischen  Terminologie  nach  aus  dem  drit- 
ten Jahrhundert  stammt  und  daß  ihr  Inhalt  dem 
Lehrtypus  eben  dieser  Periode  entspricht.  Sehr 
treffend  sind  hier  die  Parallelen,  welche  aus 
Tertullian  herangezogen  werden.  Herr  R.  kommt 
nun  aber  seinem  Ziel  näher,  indem  er  aus  den 
Werken  des  Origenes    nachweist,    daß  der  Ver- 


1404      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  44. 

fasser   zunächst  der   Schrift  über  die  Wesens- 
gleichheit höchst  wahrscheinlich  ein  Schüler  des 
Origenes  war.    Da  nun  die  Anschauungen  Gre- 
gors über  das  trinitarische  Verhältnis  der  gött- 
lichen Personen,  wie  sie  in  der  Lobrede  an  Ori- 
genes vorliegen,  sich  im  Allgemeinen  und  Ein- 
zelnen mit  denen  aus  der  Schrift  über  die  We- 
sensgleichheit decken ,  so  hindert  Nichts,  in  je- 
nem Schüler  des  Origenes  unsern  Gregor  zu  er- 
kennen,   wie    die   syrische   Uebersetzung    der 
Schrift  dies  bezeugt.  —  Eeferent  wünschte,  Hr. 
Ryssel  hätte   sich  mit  diesem  Resultat  begnügt. 
In   dem   an   und   für   sich   sehr   lobenswerthen 
Streben   genauer   festzustellen,    in  welcher  Ab- 
sicht Grfcgor  seine  Schrift  verfaßt  habe,  glaubt 
R.   zu   dem   Resultat    gekommen  zu  sein,  der 
Adressat   der  Schrift    sei  der  bekannte  Gegner 
des  Christenthums  Porphyrius,   und   der   jetzige 
Name  der  Ueberschrift  Philagrius    sei   nur  eine 
Corruption   aus  jenem.     Ich  halte   die  hierauf 
bezüglichen  Erörterungen  Herrn  Ryssels  für  ver- 
fehlt.    Corruptionen   von   Eigennamen   sind  in 
syrischen   Schriften    häufig   genug,    auch  Ver- 
tauschungen  ähnlich  klingender    kommen    vor 
(vgl.   oben  Leukippus  und  Lykiskus),  obgleich 
schon  seltener.     Aber  solche  Corruptionen  sind 
doch    nur   bei    seltener   vorkommenden  Namen 
häufig,   während   der  Philosoph  Porphyrius  den 
Syrern  wohlbekannt   war.     Ferner,   der  Schluß 
der  Schrift   S.  70:    „Vieles   also,    o  Hochge- 
ehrter, vermochten   wir  zu   finden   u.   s.  w.tf, 
sowie   der  Anfaug  S.  63   wäre   einem   Gegner 
gegenüber  urban,  ist  aber  doch  in  der  Vertei- 
digungsschrift eines  Christen  gegen   einen  eifri- 
gen  Bestreiter    des    Christenthums    höchst   un- 
wahrscheinlich.   Herr  Ryssel  beruft  sich  endlich 
zu   wiederholten   Malen   (S.  66.   109.   111)    auf 


Ryssel,  Gregorius  Thaumaturgus.       1405 

die  Methode  der  Beweisführung,  welche  Gregor 
anwandte  and  welche  in  philosophischen  Deduc- 
tionen  mit  Vernachlässigung  des  Schriftbeweises 
bestand.  So  richtig  diese  Bemerkung  ist,  so 
wenig  klar  sind  die  Folgerungen,  welche  Herr 
Ryssel  S.  66.  109.  111  daraus  zieht.  WennHn 
R.  S.  66  übersetzt :  „es  möge  deshalb  die  Schrift 
zu  uns  kommen  und  uns  sagen,  wie  es  sich  ge- 
ziemt über  Gott  zu  denken  u.  s.  w.u,  so  ist  da- 
mit doch  wohl  die  heil.  Schrift  gemeint.  Aber 
deren  Gültigkeit  bestreitet  Porphyrins  ja  grade, 
und  Gregor  selbst  verwendet  sie  nach  der  obi- 
gen Bemerkung  in  seiner  Beweisführung  nicht. 
Die  Bemerkung  S.  109  „Das  einzige  Gitat  (S. 
45,  21  f.)  hat  Gregor  nur  deshalb  beigefügt, 
weil  es  ihm  nach  S.  43,  23  (vgl.  Z.  19)  darauf 
ankam,  seinem  Gegner  jeden  Vorwand  zu  ent- 
reißen", und  die  ähnliche  S.  111  (unten)  112  ist 
mir  offen  gestanden  nicht  klar  geworden.  Hr. 
R.  macht  hier  darauf  aufmerksam,  daß  Porphy- 
rins in  seiner  Streitschrift  vor  Allem  die  Auto- 
rität der  heil.  Schrift  zu  erschüttern  gesucht 
habe.  Dagegen  habe  er  dem  religiösen  Glau- 
ben Ersatz  schaffen  wollen  durch  . . .  Zusammen- 
stellung alter  Sprüche,  in  denen  er  göttliche 
Orakel  sah.  „Wahrscheinlich  bezieht  sich  hier- 
auf die  Stelle  S.  43  Z.  20 f.,  wo  Gregor  aus- 
einandersetzt, daß  seine  Meinung  nicht  ein  lee- 
rer Wahn  sei,  der  sich  weder  aus  der  Schrift 
noch  durch  die  Zeugnisse  alter  Sprüche  bewei- 
sen lasse.  Diese  Wendung  hat  nur  einem  Geg- 
ner gegenüber  Sinn  und  Bedeutung,  welcher  ne- 
ben [?]  oder  vielmehr  über  die  heil.  Schrift  alte 
Sprüche  als  beweiskräftige  Zeugnisse  setzte,  in- 
dem es  hierbei  dem  Gregor  darauf  ankam,  dem 
Porphyrius  jeden  Vorwand,  auf  den  er  sich 
stützen  könnte,  zu  entreißen tf.  —  Wenn  Gregor 


1406      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  44. 

seinem  Gegner  jeden  Vorwand  entreißen  wollte, 
und  wenn  dieser  Gegner  „neben  [?1  oder  viel- 
mehr über  die  heil.  Schrift  alte  Sprüche  als  be- 
weiskräftige Zeugnisse  setzte" ,  so  mußte  Gre- 
gor in  jenem  Streben  seine  Beweise  ebenfalls 
aus  der  heil.  Schrift  und  aus  alten  Sprüchen 
entnehmen.  Er  thut  ja  aber  grade  das  Gegen- 
theil,  im  besonderen  findet  sich  von  alten  Sprü- 
chen bei  Gregor  keine  Spur,  also  werden  Herrn 
Ryssels  Deductionen  nicht  richtig  sein.  Die 
hier  angerichtete  Verwirrung  nun  beruht  auf 
einer   falschen   Uebersetzung   S.   66,    wo    das 

Wort  ]Ai*io  mehrfach  durch  „Schrift"  wieder- 
gegeben ist,  was  man  als  heil.  Schrift  verstehen 
muß.    Aber  y  YQa<p*l  heißt  im  Syrischen  l&As 

oder     «joäd    So.)     bildlich     auch    jb>)    A*o 

)Lm09     r|**m;  u.  dgl.,  während  }a^o   loyos  ist, 

und  dies  an  der  angeführten  Stelle  im  Sinne 
von  „Frage,  Untersuchung"  verstanden  werden 
muß.  —  Es  wird  also  sein  Bewenden  dabei  ha- 
ben, daß  Gregor  seine  Schrift  an  einen  uns  un- 
bekannten Christen  Namens  Philagrius  richtete, 
welcher  seinerseits  Gregor  gegenüber  seine  Be- 
denken über  die  einschlägigen  Fragen  ausge- 
sprochen hatte.  Die  rein  philosophische  Me- 
thode der  Beweisführung  findet  sich  auch  in 
der  Schrift  an  Theopompus. 

Den  Schluß  der  Arbeit  des  Herrn  Ryssel 
bilden  sprachliche  Nachträge.  Der  Verf.  han- 
delt hier  von  dem  Charakter  der  syrischen 
Uebersetzungen,  giebt  textkritische  Bemerkungen 
zur  xarä  (a£qos  ntaug  und  lexikalische  Materia- 
lien zur  Erläuterung  und  Rechtfertigung  der 
Uebersetzung  der  zwei  Schriften  über  die  We- 


Kyssel,  Gregorius  Thaumaturgus.      1407 

sensgleichheit  und  Leidensunfähigkeit.  Die  Ma- 
terialien sind  mit  großem  Fleiß  aus  der  Leetüre 
des  Verf.  gesammelt,  hätten  aber  doch  wohl  et- 
was gekürzt  werden  dürfen.     Wozu  solche  Be- 

merkungen   wie   S.  150  n  vaV>  m    pl.  von    >oi*$, 

dem    gewöhnlichen   Wort    für    <ptlog   Freund" 

nebst  Beleg ;  oder  S.  151  „1?oä^  häufiges  Wort 

für  Schöpfer"  nebst  Belegen ;  oder  S.  156  „?ifo^ 

nXovxo^  nebst  Belegen? 

Zu  den  textkritischen  Bemerkungen  auf  S. 
139 ff.  sind  folgende  Nachträge  zumachen.  Um 
den  Syrer  32,  9  in  Uebereinstimmung  mit  dem 
Griechen  104,  3   zu  bringen,    müßte   auch  das 

Po  vor  }£ujoAa  fehlen  und  ,-»?  nachher  ergänzt 

werden.  Da  aber  solche  Aenderungen  zu  ge- 
waltthätig  sind,   so  liegt  wahrscheinlicher   ein 

Hißverständniß  des  Uebersetzers  vor.  —  Das  o 

vor  )Aa»f»*\  35,4*)  repräsentiert  kein  xal  vor 

%itv  svöttjia  106,  27 ,  sondern  war  nothwendig 
geworden  in  Folge  der  Uebersetzung  des  Parti- 
cipiums  fjtaQtvQovfjtdyrj  durch  das  Yerbum  finitum 

(ein  solches  ist  ijotAfl^o  nach  syrischem  Sprach- 
gebrauch). —  35,  21   des  syr.  Textes  ist  statt 

\.d\  >as*  IZQ.i.Ntjp  nach  %<a  Idioouan  toi)  natQÖg 

• 

107,  9  zu  lesen  la)?  |/on\»fa.  —  36,25  fehlt 

naov$  des  Griechen  108, 10.  -  36,  29  (=  108, 15) 
las  der  Syrer  Xqic%ov  'Iyaov,    wie  Cod.  Sinait. 

Es  wird  übrigens  jnn^N  herzustellen  sein.  — 

37,  8  (=  108,  26)  fand  der  Syrer  hinter  nvsv- 

*)  In  den  folgenden  Stellen  bezieht  sich  die  erste 
Zahl  auf  den  syrischen  Text,  die  zweite  auf  den  grie- 
chischen. 


1408      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  44. 

paws  noch  ayiov.  —   Ibid.  las  er  dvrdpsi  oder 

es  ist  1^»mx>  herzustellen.  —  37, 12  (=  108,  31) 

Syrer :  nvevuawg  avtov.  —  38,  18  (=  109,  35) 
Syrer:  jg  äylag  für  ex  Maqiag  —  39,  17  (= 
110,  31)  nach  slxova  hat  der  Syrer  älydivifv. 
—  39,  25  (=  111,  2)  nach  %6  nvsvpa  Syrer  + 
%o  äyio».  —  41,  17  (=  112,  27)  nach  änslov- 
aao&s  Syrer  +  dlld  tjyuxa&fite.  —  41,  18  (= 
112,  29)  fehlt  beim  Syrer  i^yrnv.  —  42,  4.  5 
(==  113,  7)  nach  ylwoa&v  Syrer  +  äMty  d*  £Q- 
ptjvsia  yXvooüv.  —  42,  29  (=  113,  35)  fehlt 
bei  dem  Syrer  öslag.  —  Alles  dies  ist  nicht 
grade  von  großer  Wichtigkeit,  aber  bei  Text- 
vergleichungen soll  man  genau  sein. 

Der  Druck  des  Buches  ist  correct,  die  Aus- 
stattung sehr  gut. 

Zum  Schluß  noch  eine  Bemerkung.  Ich  ver- 
wahre mich  ausdrücklich  dagegen,  als  wäre  es 
meine  Absicht  gewesen,  durch  meine  ziemlich 
zahlreichen  Einzelbemerkungen ,  Ergänzungen 
u.  dgl.  den  Werth  der  Arbeit  des  Herrn  Dr. 
Byssel  herabzusetzen;  dieselben  sollten  im  Ge- 
gentheil  für  das  Interesse  zeugen,  mit  welchem 
ich  seinen  belehrenden  Ausführungen  gefolgt 
bin.  Wenn  mir  hierbei  einige  Punkte  auf- 
stießen, die  der  Ergänzung  oder  Berichtigung 
bedurften,  so  war  das  natürlich,  denn  ein  auf- 
merksamer Leser  wird  stets  Gelegenheit  haben, 
Unhaltbares  und  Unrichtiges  aufzudecken.  In 
der  Anzeige  eines  Buches  aber  soll  man  sich 
nicht  auf  ein  Referat  oder  auf  Lob  und  Tadel 
beschränken,  sondern  durch  Hervorhebung  und 
Verbesserung  des  Unrichtigen  und  Ergänzung 
des  Mangelhaften  den  Gegenstand  selbst  för- 
dern.   Hanc  veniam  damus  petimusque  vicissim. 

Kiel. Friedrich  Baetbgen. 

Für  die  Redaction  verantwortlich :  K  Kehniech,  Director  d.  Gott.  gel.  Anz. 

Commiuiona-Verlag  der  Dteterich'schm  Verlags- BuehJuutdhaiff. 

Druck  der  Dieterich'schen  Univ.-  Buchdruckerei  ( W  Fr.  Kaestnerh 


NOV  J  9  j880      1409 

G  ö t tingische 

gelehrte    Anzeigen 

unter  der  Aufsicht 

der  Königl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Stück  45. 46.  10.  u.  1 7.  Nov.  1880. 


Inhalt:  Neuere  etruskologische  Publication  en.  Yon  W.  Deecke.  — 
T.  Liri  ab  urbe  condita  libri  XXYI— XXX,  rec.  A.  Luchs.  Von  M. 
Mütter.  —  A.  Cybulski,  Geschichte  der  Polnischen  Dichtkunst  in 
der  1.  Hälfte  des  lauf.  Jahrhunderts.    Von  W.  Nehring. 

s  Eigenmächtiger  Abdruck  von  Artikeln  der  Gott.  gel.  Ans.  Terboten  s 


Neuere  etroßkologische  Poblicationen. 

Appendice  al  Corpus  Inscriptionum 
Italicarum  ed  ai  suoi  Supplement  di  Ario- 
dante  Fabretti,  edita  per  cura  di  Gian  Fran- 
cesco Gamurrini.  Firenze,  Mar.  Ricci,  1880. 
4°,  VIII  und  106  p.,  X  t    (81.). 

Ich  füge,  weil  noch  wenig  oder  gar  nicht 
benutzt,  hinzu: 

Terzo  Supplemento  alia  raccolta  delle 
antichissime  lscrizioni  Italiche,  per  cura  di  Ario- 
dante  Fabretti.  Torino,  Bocca,  1878,  4°, 
250  p.  und  XVII  t.    (%.). 

Etruskische  Studien,  von  Dr.  Carl 
Pauli,  Göttingen,  Vandenhoeck  u.  Ruprecht, 
8°.  Erstes  Heft:  Ueber  die  Bedeutung  der 
etruskischen  Wörter  etera,  lautn*  eteri  und  lautni, 
1879,   112  p.;   zweites    Heft:    über  die  etruski- 

89 


1410    Gott.  gel.  Adz.  1880.  Stück  45.  46. 

sehen  Formen  arn#ial  und  lardiaJ,  1880,  76  p. 
(©t.  I  u.  II). 

Der  Kürze  wegen  werde  ich  ferner  Fa- 
bretti's  Hauptwerk  durch  g.  bezeichnen,  das 
erste  Supplement  durch  Sß.,  das  zweite  durch 
©.,  das  Glossar  durch  ©.;  meine  Ausgabe  von 
0.  Müller's  Etruskern  durch  2R.;  meine  Schrift 
«Corssen  und  die  Sprache  der  Etrusker,  eine 
Kritik"  durch  Ä. ;  meine  „Etruskischen  For- 
schungen", Heft  I— IV,  durch  go.;  meine  Auf- 
sätze über  Etruskisches  in  Bezzenberger's 
.Beiträgen  zur  Kunde  der  indogermanischen 
Sprachen"  durch  33. ;  C  o  rs  s  e  n '  s  „Sprache  der 
Etrusker"  durch  ß.  —  Den  Zahlen  werde  ich  die 
Bedeutung  „Band  (v.),  Heft  (seh.),  Seite  (p.), 
Spalte  (c),  Zeile  (1.),  Nummer  (n.),  Tafel  (t.)a 
nur  beifügen,  wo  ein  Zweifel  entstehn  könnte. 

Gamurrini's  Werk  enthält  kaum  20  nicht- 
etruskische  Inschriften,  dagegen  930  etruski- 
sche;  ebenso  liegt  in  Fabretti's  Terzo  Supple- 
mento  der  Schwerpunkt  in  den  400  etruskischen 
Inschriften,  denen  nur  80  altitalische,  meist 
messapische,  gegenüberstehen,  s.  meine  Anzeige 
in  Bursian's  Jahresbericht  XIX,  1879,  27  ff.  Ich 
werde  daher  hier  nur  den  Gewinn  für  die 
Etruskologie  aus  beiden  Werken  registrie- 
ren, in  besonderem  Anschluß  an  meine  beiden 
Beilagen  „die  etruskische  Sprache"  und  „Schrift 
und  Zahlzeiohen  der  Etrusker"  am  Schlüsse  von 
0.  Mtiller's  Etruskern. 

Ich  beginne  mit  der  Schrift  (2».H,  513— 
32,  nebst  t. :  &  Osservazioni  paleogr.  in  88.  p. 
145  ff.): 

1)  Alphabet  von  Grosset o  (Rusellae) 
Ä.  57,  III,  viell.  chiusinischen  Ursprungs:  a,  c, 
e,  v,   z,  h,  &,  i,  k,  1,  m,  n,  p,  6,  q,  r,  s,  t,  u, 


Neuere  etruskologische  Publicationen.    1411 

(f>  Xy  f>  also  vollständig,  wie  sonst  nur  das  erste 
nolanische  3W.  II,  t.  c.  VIII,  p.  528  (nach  Qf. 
2766,  XLIV),  ziemlich  alt,  da  die  Buccherofa- 
brication  gegen  300  v.  Chr.  aufhörte.  Am  ähn- 
lichsten ist  das  erste  chiusinische  Alphabet  3Ä. 
II,  t.  c.  XI  (nach  Sß.  163—4,  V),  nur  daß  dies 
rechtsläufig  und  vom  n  an  unvollständig  ist; 
das  p  nähert  sich  am  meisten  dem  zweiten  no- 
lanischen  Wt.  II,  t.  c.  IX,  17;  nach  s  folgt  das 
etwas  schräge  q,  mit  viereckigem  Kopf  nach 
rechts,  von  phönicischer  Form ;  ihm  entspricht  im 
ersten  nolamschen  Alphabet  das  bei9Jt.II,  t.  falsch- 
lich unter  o  gesetzte  und  umgekehrte,  einem  lat. 
Q  ähnliche  Zeichen  (s.  g.  XLIX),  das  also  n.  19 
sein  müßte;  das  dort  stehende  etr.  umbr.  osk. 
f  aber  gehört  dann  an  den  Schluß  und  kann 
nicht  aus  dem  griech.  koppa  entstanden  sein 
(9ft.  II,  528),  sondern  ist  eher  eine  Modification 
aes  h,  dem  es  auch  lautlich  bei  den  Italern 
sehr  nahe  stand. 

2)  Die  Buchstaben  der  sogen,  servia- 
nischen  Mauer  auf  dem  Esquilin  und  alter 
Gebäudereste  auf  dem  Palatin  St.  916,  zu  er- 
gänzen durch  Bruzza  Bull.  d.  comm.  arch, 
communale  di  Borna  1878,  p.  177 f.:  a,  c,  e,  v, 

h,  i,  k,  1,  n,  o,  p,  u;  Siglen  au,  ua,  he;  nicht 
etruskisch  wegen  o,  der  Formen  des  h  und  p, 
des  Fehlens  der  characteristischen  Aspiraten 
und  Spiranten  (s.  H.  Jordan  Kritische  Bei- 
träge 153;  358);  die  linksläufige  Bichtung  eini- 
ger Zeichen  beweist  nichts,  da  sie  sicher  auch 
altitalisch  war  (bustrophedon  X.  438,  XIV). 
Etruskische  Buchstaben  zeigen  perusinische 
Mauerblöcke  *ß.  361  bis ;  31.  739  a— g,  VIII. 

3)  m.  Das  umbrische  m:  ausschließlich 
auf  dem  Bronzetemplum  von  Piacenza  go.  IV, 
22;   dann   in   der  Nähe  der  Grenze  in  Arezzo 

89* 


1412    Gott  gel.  Anz.  1880.  Stück  45.46. 

3t.  97,  IV;  Chiusi  3t.  258  =  354;  393  c  (s.  g. 
402—3);  im  umbrischen  Familiennamen  um- 
risni  in  Volterra  3t.  51,  III;  in  einer  Inschrift 
unbek.  Herkunft  3t.  841  (von  mir  controliert). 
In  3t.  43,  III  (campan.)  ist  a  zu  lesen  (s.  % 
40  n,  II).  —  Die  Form  w  im  venetischen  Adria 
8.  861 — 2  ist  von  zweifelhafter  Etrascität;  sa- 
bellisch  %.  439,  XIV;  griechisch  $.  p.  190. 

4)  6  fehlt  auf  dem  Bronzetemplum  go.  IV, 
24,  wohl  durch  umbrischen  Einfluß;  es  bezeich- 
net sicher  ursprünglich  den  tönenden  Zischlaut, 
dagegen  s  den  tonlosen ;  eine  weitere  Erweichung 
ist  z  (nicht  immer  =  ts,  ds ;  gegen  SR.  II,  330). 

5)  y,  griechisch  gestielt  in  tiyile  =  Jicpdog 
31.  319;  s.  yila  %.  t.  XVII,  16  (von  Pauli  @t 
II,  59  angezweifelt).  Unsicher  scheint  mir 
hermyia  3t.  438,  VI  (Corrector?). 

Üeber  Wechsel  der  Aspiraten  und 
Spiranten,  und  von  v  und  u  s.  unten  in 
der  Lautlehre,  obwohl  derselbe,  besonders 
letzterer,  häufig  nur  graphisch  ist,  z.  B.  auf 
dem  Templum  (go.  IV,  23),  in  sertvru  S.  222, 
III  u.  s.  w.  Ebenso  wechseln  in  einer  In- 
schrift c  und  Je  %.  295,  V  (go.  Ill,  250,  22),  s. 
g.  2753  bis  (©.  1104;  go.  ebdt.  25). 

Werthlose  Verschnörkelungen,  Ver- 
stümmelungen, Umdrehungen  von  Buch- 
staben z.  B..  3t.  105,  IV;  745—6  =  %.  316—7, 
V;  92,  IV  =  g.  471;  T.  402  u.  408,  XII  = 
(£.  I,  XX,  6  u.  XXIII  B,  3  u.  s.  w.  tiber- 
gehe ich. 

Buchstabenverschlingungen  ($.231 
ff.)  sind  häufig,  ungewöhnlich  kühn  auf  Vasen- 
füßen z.  B.  krl,  kl  u.  s.  w.  31.  40  äff.,  II; 
627  eff.  —  Ob  in  den  Grabinschriften  der  Fa- 
milie rutane  £.  218-20,  III  (aus  Chiusi)  Ver- 
schlingung, Verstümmlung    oder  falsche  Lesung 


Neoere  etruskologische  Pa  bli  cation  en.     1413 

vorliegt,  ist  schwer  zu  entscheiden.  Auf  der 
Schüssel  von  Talamone  21.  67,  III  lese  ich 
p[uln]-  Manses,  s.  go.  Ill,  283. 

Es  folgen  die  Zahlzeichen  (SR.  II,  532 ff., 
t. ;  ?ß.  p.  241  ff.).  Die  glohuli  der  Münzen  und 
Würfel  (SR.  t.  c.  XI -XX,  n.  31)  zeigt  ein  or- 
vietanischer  Krug  8t.  637;  ein  anderer  81.  636 
das  Münzzeichen  für  V*  (2ß.  t.  c.  I,  n.  31).  Die 
Umkehr  der  5  nach  römischer  Weise  in  Z.  316 
— 7,  V  =  81.  745—6  ist,  der  Umschreibung  we- 
gen, sehr  zweifelhaft  (s.  sonst  *ß.  p.  249).  Das 
schräge  Kreuz  der  10  ist  bisweilen  mehr  oder 
weniger  gerade  gerichtet,  z.  B.  X.  330,  X  = 
2059  (s.  5p.  p.  111;  es  folgt  lupu,  s.  Ä.  7,  1); 
367,  XI  (s.  2R.  II,  533).  Das  lat.  Zeichen  für 
50  entspricht  noch  genau  dem  umgekehrten 
etruskischen  81.  916  (serv.  Mauer)  und  81.  114, 
IV  (Thontafel  v.  Arezzo).  Letztere  Tafel  hat 
auch  das  etr.  Mtinzzeichen  für  100  (9ft.  II,  t.  c. 
VI,  n.  31),  auch  auf  einer  lat.  etr.  Inschrift  von 
Orte  (8t.  p.  16,  Note).  Umgekehrt  hat  ein  etr. 
Block  von  Perugia  (81.  739  h)  das  lateini- 
sche Zeichen  für  100,  aber  linksläufig.  — 
Der  Berichtigung  bedarf  die  Behauptung  3R.  II, 
533,  „bei  4,  8  u.  s.  w.  finde  sich  die  Subtrac- 
tion nicht  angewendet";  vgl.  *ß.  432  (=  34 
Jahre);  g.  364  bis  c  (18  J.;  5ß.  p.  250:  22  J.); 
81.  641  (18);  g.  322  (38  J.);  ja,  sie  kommt 
vielleicht  bei  7  vor  in :  g.  254  (27  J.) ;  %.  325, 
IX  (47  J.);  *ß.  378  (47  J.),  obwohl  Fabretti 
33  und  53  J.  deutet;  unsicher,  weil  verstüm- 
melt, ist  g.  2275  (s.  go.  III,  43,  31).  Römische 
rechtsläufige  Schreibung  dagegen  ist  anzuneh- 
men in :  g.  2124  (6  J. ;  ein  Alter  von  4  J.  wird 
nie  angegeben);  g.  61  (12;  zweimal,  nordetr.); 
g.  363  (14  J.);  F.  325  bis  i  (62  J.,  mit  etr. 
Zeichen  für  50).  —  Zahlen  sind  vielleicht  auch 


1414    Gott.  gel.  Adz.  1880.  Stück  45. 46. 

die  schrägen  Kreuze  unter  den  orvietanischen 
Grabinschriften  %.  296  u.  298,  V  (von  mir  con- 
troliert),  in  letzterem  Falle  zwischen  z  und  r, 
etwa  zfilagnuce]  XX  rfül  „er  war  20  Jahre 
zilag"  (ein  Amtstitel,  s.  3Jc.  II,  505  u.  unten). 

Zu  meinem  Anfsatz  über  die  Zahlwörter 
JB.  I,  257 ff.  (vgl.  £.  p.l— 21)  ist  nur  eine  In- 
Schrift  nachzutragen  31.  658,  Sarkofag  von  Bo- 
marzo,  nach  Vettori  eslen  |  a#rum:s,  was  ich 
in  eslem  |  [zja^rumis  =  44  bessere,  vgl  ciem- 
za^rms'  g.  2071  (33.  I,  271,  verbessert  3R.  II, 
503).    81.  799,  6  ist  ps'l  st.  esl  zu  lesen;  s.  1. 7. 

Ich  gehe  über  zur  Lautlehre. 

Doppelschreibung  1)  der  Vocale  (3ft. 
II,  330—2,  §  3),  neue  Fälle  nur  bei  i:  kaviiesi 
81  771,  IX  (go.  Ill,  88,  50);  puriiazas  ».  783, 
IX,  beide  aus  Gorneto;  rupiias  9L  938;  aiianes 
81.  939  (Garn,  ohne  Grund  atranes,  s.  aiacenas 
SC.  298,  V);  tin^uracriina  St. '  936  (Abtheil,  un- 
sicher), alle  3  aus  Suessola,  also  local;  sonst 
creiicesa  %.  190  (Fremdwort),  viell.  fasciiu  SL 
11  (Adria,  wenn  etr.);  mii  8L  648  (Strigiliß). 
Nach  einem  Vocal  ist  das  erste,  vor  einem 
Vocal  das  zweite  i  als  anaptyktischer  Halb- 
vocal  anzusehn;  in  21.  936  u.  648  könnte  die 
Verdopplung  die  Länge  bezeichnen.  Gefälscht 
ist  nach  Garn.  81.  p.65  isimin#ii  %.  388  a  (nach 
©.),  also  bei  Wit.  zu  tilgen;  verlesen  ist  niifalus 
%.  412,  XII  (nach  g.)  st.  mi  fal[t]us,  s.  go.  Ill, 
246,  11 ;  lat.  etr.  ...  oiius  tutiiia  %.  267  st.  ... 
ponius  tutiiia  3t.  416.  —  2)  der  Consonan- 
ten  (SW.  II,  332—3,  §  4),  sehr  selten:  sakknos 
81.  4  (nordetr.,  wohl  gallisch) ;  callia  =  Gall(i)a 
81.  148-50,  V  =  $.  222  bis  c  u.  %.  110—11 
(go.  Ill,  146),  auch  schon  bei  Stf.;  annieX.210 
und   dazu  gehörig  21.  162,   halblatinisiert,   wie 


Neuere  etruskologische  Publicationen.     1415 

annae  %.  318  (2R.  II,  333,  Note  6);  viell.  mele- 
cravicees  (oder  -ticcis)  81.  799,  6,  IX. 

Die  Syncope  der  Vocale  zwischen  Con- 
sonanten  ist  eine  der  verbreitetsten  und  wich- 
tigsten Thatsachen  der  etr.  Lautlehre,  s.  die 
reichen  Beispiele  bei  3Ä.  II,  333—53,  §  5  und 
93.  II,  176 — 8.  Sie  ist  hervorgegangen  aus  der 
starken  Betonung  der  ersten  Wortsilbe,  fast 
ausnahmslos  der  Stammsilbe,  da  Präfixe  fast 
ganz  fehlen  (über  ein  vortretendes  e-  s.  unten). 
Man  hat  dabei  eine  ältere,  vorgeschichtliche 
Syncope  zu  unterscheiden,  die  sich  nicht  mehr 
urkundlich  nachweisen,  sondern  nur  vermuthen 
läßt,  und  eine  jüngere,  aus  den  Denkmälern  zu 
belegende  oder  nach  Analogie  sicher  zu  er- 
schließende. Die  letztere  ferner  ist  entweder 
regelmäßig  oder  isoliert,  einfach  oder  doppelt, 
ja  dreifach  z.  B.  arcmsnas  g.  2163  wohl  aus 
*arcumesinas.  Im  Ganzen  kann  man  annehmen, 
daß  vor  allen  mit  n,  m,  1,  r,  s,  z,  auch  c  (x) 
und  t  (#)  beginnenden  Endungen  nach  vorher- 
gehendem Gonsonanten  ein  Vocal  ausgefallen 
ist;  ebenso  in  allen,  zwei  aufeinanderfolgende 
Gonsonanten  enthaltenden  Suffixen  wie  -cn-, 
-tn-,  -#n-,  -In-,  -rn-,  -mn-,  -sn- ;  -cl-,  -^l-,  -tl- ; 
-tr-,  -#r-  u.  s.  w.;  bei  drei  Consonanten  ist  in 
der  Begel  doppelte  Syncope  anzunehmen,  wie 
z.  B.  in  puplna  %.  290  neben  puplinal  91.  147 
einerseits,  und  lat.  etr.  popili  Ä.  750  (etr.  pupli) 
andrerseits.  Die  Art  des  ausgefallenen  Vocals 
bleibt  oft  zweifelhaft,  zumal  nicht  selten  ein 
anderer  an  seine  Stelle  tritt,  indem  das  durch 
die  Syncope  entstandene  sogen.  Schwa  oder  der 
Stimmton  eines  tönenden  Gonsonanten  zu  einem, 
meist  der  vorhergehenden  oder  folgenden  Silbe 
assimilierten  oder  der  Natur  des  Gonsonanten 
homogenen  Vocal   erstarkt   (s.   unten  Vocalein- 


1416    Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  45.46. 

schub).  Mitunter  mag  auch  die  Vocallosigkeit 
das  Ursprünglichere  sein.  Erleichtert  wnrde  die 
Syncope  wahrscheinlich  dadurch,  daß  denEtrua- 
kern  die  liquidae  nnd  nasales  sonantes  geläufig 
waren,  denn  daß  diese  häufig  gesprochen  wer- 
den mußten,  scheint  zweifellos:  vgl.  folgende, 
zumTheil  neue  Beispiele :  für  1:  papünis  31.274; 
satZnal  SC.  368 ;  cucZnial  %.  367 ;  370 ;  hercüna  9L 
752;  titini  21. 901—2;  am  Schlüsse  in  den  Genitiven 
auf  -1  st.  -al:  las?,  lvsZ,,  marisZ,  vetisZ,  selvansl, 
cilensZ,  fuflunsZ  u.  s.  w.,  und  mit  angehängtem  s 
oder  z  in  den  Zahlwörtern  ceatyZs,  muval^s, 
sem^algh;  esZz  u.  s.  w. ;  ferner  für  r:  epr^ni, 
-ne  81.  136  und  sonst;  aprte,  r&e  ®.  142  und 
2045;  seprsnei  %.  191;  menrva  (oft);  cezrtlial 
@.  23  u.  24;  putrnei  g.  435  bis;  nufrznas  ©. 
1252;  am  Schlüsse  in  der  Pluralendung  -r  st. 
-ar:  #etlvmr  go.  IV,  42;  #ulutyr  ebdt,  59  ne- 
ben #lu#u  g.  315,  mit  angehängtem  s  in  tivrs 
g.  2119;  auch  sonst:  ameva^r  g.  1914  A  2;  im 
Götternamen  a^uvitr,  -vistr,  -vizr;  mit  genitivi- 
schem 8  in :  ucrs  g.  602 ;  petrs  91.  549  u.  s.  w. ; 
dann  für  m:  arcmsnas  (s.  ob.)  und  arsmsnei  91. 
169;  sehtmnal  g.  1376;  ra#msnal  g.  497,  am 
Schlüsse  vor  s  in  turms  (Göttername,  Nomin.,  ß. 
I,  315),  le#ms  (desgl.,  Genit.  v.  le#am,  go.  IV, 
38),  daneben  le#ws,  ein  Wechsel,  der  sich  eben 
aus  der  tönenden  Aussprache  des  Nasals  er- 
klärt; im  Zahlworte  za^rms  u.  s.  w.;  auch  im 
Wortanfange  in  ml-,  mn-  s.  2ft.  II,  390  u.  mlusna, 
dama^  ...  91.  799,  8;  endlich  fürn:  casntinial 
91.  716;  arcwti  g.  679;  presnte,  -sw#e  (oft); 
tar^ntes  91.  52,  III;  cestwsa  g.  534  ter  d;  am 
Schlüsse  in  sal#w,  sal#n  (2R.  II,  393)  und  vor 
s  in  tesws  F.  1914  A.  4;  22  u.  s.  w.  Als  Folge 
der  tönenden  Aussprache  kann  dann  auch  die 
Ausstoßung  des  n  gelten,  wie  in  den  mit  ar#- 


Neuere  etruskologische  Publicationen.     1417 

beginnenden  Formen  des  Vornamens  arw#  ($o. 
III,  42  ff.;  49  n.  s.w.),  in  ravtfas  5ß.  231  (wenn 
richtig,  s.  go.  Ill,  300, 38)  neben  ravn^u,  ram#a 
n.  s.  w.;  in  caätra  g.  2536  bis  neben  casntra 
§.  2161  =  KatiadvdQa;  viell.  in  prestiesa  %. 
726  qnat.  b,  und  mit  neuem  Einschab  in  presitze 
21.  956  neben  preswte  u.  s.  w.  Auch  die  Um- 
stellung in  pre#nse,  veln#i  u.  8.  w.  (9ft.  II,  436) 
hängt  vielleicht  damit  zusammen.  Dieselbe  tö- 
nende Aussprache  ist  wohl  auch  für  v  anzuneh- 
men in  gisvlicä  31.  1922,  und  im  Anlaut  in 
desi  (=  yelesi,  velsi)  3t.  712— 18;  vlesas  g.  534 
ter  h;  dus  (=  velus)  3t.  262;  lat.  etr.  vle,  des 
5ß.  251  ter  aa ;  und  für  f  in :  pul/ha  3t.  286 
neben  pulufnal  %.  498  und  lat.  etr.  pulfennia 
31.  287 ;  vel/rei  31.  777  aus  vel^rei  neben  vel- 
#ara,  velce  u.  s.  w. ;  im  Anlaut  im  Stamme 
/remsn-,  wo  das  f  oft  abfällt,  s.  unten.  Das  s 
wurde  in  der  durch  die  Syncope  herbeigeführ- 
ten Stellung  zwischen  Gonsonanten  oft  gleich- 
falls tönend,  und  zwar  zunächst  zu  h  (s.  oben), 
dann  zu  z,  dies  wieder  zu  r,  endlich  fiel  es  ganz 
aus:  so  erscheint  der  eben  erwähnte  Namensstamm 
in  den  Formen:  (f)remsn-,  (f)remzn-,  (f)remrn-, 
(f)remn-  s.  unten;  aus  cap(i)sn-  wird  cap^n-, 
capzn-,  capn-  9ft.  II,  432  u.  437 ;  fuflunsl  wird 
fuflunl  go.  IV,  49  u.  s.  w.  Endlich  die  Tenues 
p,  c,  t  aspirieren  sich,  assibilieren  sich,  fallen 
aus:  vgl.  lat.  etr.  Vestergennia,  etr.  vestrcnas, 
vez#rnei,  vestrnalisa  u.  s.  w.  (33?.  II,  437); 
andre  Beispiele  unten.  Hiernach  wird  es  zwei- 
felhaft, ob  nicht  auch  Schreibungen  wie  fZznal 
3t.  516;  spftur  31.  304;  hrcle  31.  652;  Irt  3t.  62; 
selbst  Ms  31.  608  die  wirkliche  Aussprache  wie- 
dergeben; vielleicht  sogar  prfl  31.  799  (2mal), 
ps#i  3t.  704.  Die  Vertretung  einer  nasalis  so- 
nans   durch   a,    wie   griechisch   durch  a,    ist 


s 


1418    Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  45.  46. 

wohl  anzunehmen  in  den  mit  ara#-  beginnenden 
Formen  des  Vornamens  ara#,  zumal,  wie  ich 
unten  nachweisen  werde,  jetzt  arun#  als  Grand- 
form sicher  steht;  neben  ara#-  findet  sich  frei- 
lich auch  aran#-,  und  sogar  arna#-  in  arna#a- 
lisa  31.  126  (vgl.  go.  Ill,  38  ff.);  ferner  viell.  in 
ramcbta,  -a#as  go.  Ill,  298  neben  ravw#u,  rav- 
#as  (s.  oben),  doch  kommen  auch  rame#-  und 
ramu#-  vor  (ebdt.) ;  ferner  in  areata,  ara#a  = 
Idgtddvti,  wenn  es  aus  *area#n  entstanden  ist 
33.  II,  163,  6).  Ja  selbst  liquida  sonans  'scheint 
urch  a  vertreten  zu  sein  (s.  Fick  in  S3.  V, 
311  fttr's  Griechische)  in  ratacs  8t.  799,  1,  IX 
„Bruder"  oder  „Brudersohnu,  das  am  wahr- 
scheinlichsten aus  (f)ratrcs  entstanden  ist  = 
umbr.  fratreks,  fratrexs,  lat.  *fratricus  (nach 
Breal  tabl.  Eugub.  216);  ebenso  dann  patocs 
g.  896;  Z.  177  (wozu  patacsalisa  g.905  bis  b), 
Beiname  der  tlesna,  aus  *patrcs  =  lat.  patri- 
cus,  das  wirklich  vorkommt.  Man  könnte  auch 
versucht  sein,  die  mit  \a&-  beginnenden  For- 
men des  Vornamens  lar#  nicht  durch  Ausstoßung 
des  r,  sondern  aus  lr#-  zu  erklären,  s.  die  oben 
angeführte  Form  lrt  u.  s.  w.  (go.  Ill,  191,  207 
u.  s.  w.). 

Einige  neue  interessantere  Beispiele  zur 
Syncope  sind  noch  folgende,  bei  denen  der 
syncopierte  Vocal,  wenn  er  sich  feststellen  lieft, 
in  Klammern  eingefügt  ist  (die  Ordnung  wie 
SR.  II,  333  ff.) :  vor  n :  canp(a)nas  %.  2335,  1 
(Z.  p.  232 ,  nach  S.) ;  cresp(i)nie  %.  667  (so 
lese  ich  jetzt  auch  crespnie  %.  937  bis  st  -smie 
s.  3R.  II,  454);  tiucunt(i)nal  31.  694;  statsne  g. 
1779  neben  statinal  ä.  194 ;  *al(u)nal  Z.  109  (s. 
31.  333);  hilar(u)nia  31.  192  (s.  191);  cvrnal, 
xurnal,  -niaä  Z.  225—6 ;  %  178,  447—8  neben 
curunia  Z.  233  (so  stelle  ich  her),  vgl.  curunial 


Nenere  etruskologische  Publicationen.    1419 

g.  1828;  vor  h  vet(u)li  «.  929;  sept(i)le  X. 
213  (auch  g.  713  bis);  vor  r:  sep(u)re  X. 
154—5  (s.  165,  6t  H,  6);  sat(u)res  go.  IV, 
66;  selva$(u)res  «.  690  (s.  687),  wichtig 
ftlr  die  Endung  -tre,  -#re  überhaupt;  vor  m: 
luc(u)me6  «.  7,  I  =  X.  405,  XII  (danach 
zu  verbessern  go.  Ill,  236,  10);  set(i)me  8. 
Ill  (lat.  etr.,  s.  212);  tel(a)mun  «.  749  (». 
II,  170,  95);  vor  s  (rf):  scan(e)sna  ».  298 
(s.  574);  dann  in  den  Nominativen  mar(i)s, 
ne#un(u)s,  selvan(n)s,  auch  fuflun(u)s,  turm(u)s, 
äe^lans,  ismin^ians  n.  8.  w.,  soweit  nicht  etwa 
das  s  znm  Stamme  gehört  und  Einschnb  anzu- 
nehmen ist ;  ferner  in  den  Genitiven  cat(u)sa  X. 
171  (go.  IV,  47);  lar#(i)s  «.  437;  vel(u)ft  X. 
164  (zuzufügen  go.  Ill,  110);  eter(a)Ä  g.  1935 
(©t.  I,  21,  31);  tin(a)s  go.  IV,  29;  viell.  avils, 
usils,  tivs  u.  s.  w.;  vor  z\  in  den  Deminutiven 
lar(#i)za  go.  Ill,  212  (s.  «.  257);  arn(£i)za 
go.  Ill,  52;  ravnt(u)za,  ram(#a)za  ebdt.  300, 
meist  mit  nachfolgender  Consonanten-Elision ; 
vor  mutis:  cult(e)ce  31.  245;  al(e)tnas,  -nei  8f. 
585 ;  579 ;  in  den  Fremdwörtern  nefts,  nefts  (Ä. 
799,  2;  g.  2033  bis  E  b,  wo  nefiä';  Ea  nefsi, 
wohl  beide  verlesen)  =  nepo(t)s,  und  prumfts, 
prumts,  prumaM  (mit  Einschub  des  a)  =  pro- 
nepo(t)s  (H.  799,  2;  g.  2033  bis  De;  Fa,  wo 
prumste  st.  prumfts);  Lehnwort  ist  auch  eulena 
g.  2177  (Vulci)  ='  campan.  cul*na  g.  2882  (X. 
p.  233)  =  lat.  culigna,  gr.  xv^tj  (©.  I,  433;. 
S.  32).  —  Syncope  von  Diphthongen  zeigen 
die  griechischen  Lehnwörter:  clutmsta  Ä.  951 
=  KlvtcupvrjöTQa  (58.  II,  168,  65),  und  uystie 
8L  853,  wenn  es  wirklich  =  *Hq>cu(no$  ist. 

Der  Syncope  entgegen  steht  der  Vocal- 
einschub  (äfe.  II,  353ff.;  ».  II,  178-9):  1) 
Verlautbarung  eines  durch  Syncope  ent- 
standenen  sog.  Schwa  oder  Entwicklung 


1420    Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  45. 46. 

.des  Stimmtons  eines  damit  begabten  vorher- 
gehenden oder  nachfolgenden  Gonsonanten  zu 
selbständigem  Vocale  (2K.  II,  353-4,  §  6), 
theils  mit  vorwirkender  Assimilation: 
rapalnisa  21.  287  (s.  g.  670  bis  c) ;  ala^sntre  2t. 
772  =  'Mtgavdgog,  neben  el(x)sntre  33.  II,  166, 
.46;  fuflunswl  =  *-sal,  neben  -si  go.  IV,  48; 
theils  rückwirkend:  punpana  %.  90  neben 
pumpun-,  pumpn-;  viell.  par#anas  SC.  168  neben 
part(i)unus  X.  367-71  (vgl.  S3.  II,  169,79); 
wahrscheinlich  vescanei  (aus  ania)  X.  241  ne- 
ben vescun-,  vescn-  %>  244—5;  94—5;  curanei, 
-anial  ®.  966;  21.  733  neb.  curunia,  cunmial, 
cyrnal  u.  s.  w.;  su^anei  £$f.  562  ter  c  neben  su- 
,#un-,  sutn-;  ferner  hermanas  21.  388  neben  her- 
men-,  hermn- ;  veli#ana  21. 556 — 8  neben  velitn-, 
vel#in-,  veltn-;  ale#anei  £.  388,  auch  wohl 
ale^ans    £.    333   neben    ale#n-,    aisin-,   altn-; 

zweifelhafter  Art  herinalasa  £.  210  neben  -lisa; 
theils  ohne  Assimilation:  prumatfs  g.  2033  bis 
D  c  neben  pronepo(t)s,  prumts,  s.  ob. ;  numasis 
21.  707  neben  numsis  ebdt,  -sis  21.  706,  sonst 
numis-,  geschwächt  numes-,  daneben  numus- 
(äft.  II,  354) ;  schwerlich  ist  in  jener  isolierten 
Form  das  a  von  numa  erhalten  ($o.  III,  265); 
marcenei  21.  449  neben  marcan-,  marcn-,  auch 
hier  schwerlich  mit  erhaltenem  e  von  marce 
(go.  III,  246). —  2)  sonstiger  Vocalein- 
schub  (äR.  II,  354-7,  §  7;  33.  II,  179),  wie- 
der theils  vo  rwirkend  assimiliert,  wie  in  pe 
tevis  21.  696,  wonach  auch  g.  1698  peteyi  st 
-eci  herzustellen  ist,  neben  petvi  von  petu  (9K. 
II,  387),  vgl.  lat.  pälign.  helevis  =  Helvius  21. 
946;  theils  rückwirkend,  wie  wohl  in  ar- 
na#alisa  21.  126,  sonst  arn#- ;  viell.  in  akipuval 
21.  897  (wenn  richtig  abgetheilt)  neben  alpn 
alpuialisa,   mit  anderm  Einschub  alapu  (33?.  II? 


Neuere  etruskologische  Publicationen.    1421 

354);  theils  ohne  Assimilation,  wie  viel!,  in 
presitze  Sl.  956  neben  prest-  aus  presnt-,  pre- 
sent-, da  schwerlich  das  i  direct  aus  dem  ur- 
sprünglichen e  entstanden  ist  und  auch  nicht 
dies,  sondern  zunächst  das  n  ersetzt.  Die  Hülfs- 
vocale  sind  in  diesen  Beispielen  aus  dem  Stimm- 
ton von  v,  n,  1,  s  entstanden. 

Der  Syncope  zunächst  steht  die  Vocal- 
s.chwächung  und  -verdumpfung,im  Gan- 
zen auch,  wie  jene,  auf  den  Accent  zurückzu- 
führen, aber  viel  seltener.  Zur  Schwächung 
von  e  zu  i  in  der  Endung  -ena  (2J£.  II,  358)  ist 
nachzutragen  ca%enei  g.  366  neben  Gaecina 
(richtiger  mit  i),  lat.  etr.  cacina,  syncop.  kaikna, 
kaixna,  ceicna;  zur  Schwächung  von  mamerce, 
-merse  aus  mamarce  go.  Ill,  250—1  die  Ver- 
dumpfung  zu  mamurces  St.  933;  andere  Fälle 
sind:  setimesa  31.  212  neben  setume;  vilasinei 
£.  354  neben  vilasunial  *ß.  314;  titilnei  Sl.  420 
neben  titulni  31.  903;  melisnas  31.  593  neben 
mlusna  31.  799,  8,  meluta,  melutnei  ©.  1151 
u.  s.  w.  Am  consequentesten  ist  die  Schwächung 
und  Verdumpfung  bei  den  griechischen 
Lehnwörtern  (93.  II,  179),  vgl.  neu:  zin- 
^repus  Sl.  62  =  avvTQo<poq\  zimu#e  (d.  i.  zi- 
mü#e)  ebdt.  =  Jiopijdqs',  uystie  Sl.  852  — 
"H<pcu<fvoq ;  regelmäßig  am  Wortende  -e  =  -ogt 
•tilg,  -aog  u.  s.  w.  z.  B.  neu:  tiyile,  tifile  Sl. 
319,  887  =  di(piXog  u.  s.  w.;  vgl.  auch  enie 
Z.  393  =  '£jW  (?) ;  uni  =  Juno  go.  IV,  33. 

Verschiedene  Suffixe  (3K.II,  360)  bin 
ich  dagegen  eher  geneigt  anzunehmen  in :  mu- 
ranies,  -anis  X.  403—4  neben  mur(r)en-,  murin- 
0DI.  II,  358);  atrunias  31.  207  neben  atranes 
Sl.  757 ;  statt   velunu  %.  247  ist  velus'  zu  lesen. 

Wechsel  der  Vocale  in,  betonten 
Stammsilben   ist   selten  (äK.  II,  362,    §  8), 


1422     Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stüek  45.46. 


neu:  harmna  . ..  9L  823  neben  herm(e)n-,  hir- 
min-;  valtsnisa  21.  169  neben  velts(a)n-,  veltn- 
(vgl.  valisa  zu  vel?);  virisa  %.  213  neben  se- 
ries St.  312;  vilasinei  St.  354,  -sunial  *ß.  314 
neben  yela&nal  9t.  544:  es  scheint  Einfluß  des 
folgenden  r  nnd  1  vorzuliegen;  ebenso  hat  man 
in  einen,  eieu  =  ceneu,  cecu  (vgl.  bes.  9L 
123  u.  124)  eine  Einwirkung  des  n  zu  sehn. 

Metathesis  (3Ä.  II,  364,  §9),  keine  neuen 
sichern  Beispiele:  tnu^uras  91.  353  neben  tin- 
£uri  X.  224,  tintfur  . . .  St.  936,  ist,  da  tn  kein 
etr.  Anlaut  ist,  wohl  in  tiij^uras  zu  bessern; 
neben  ale#ans  2.  333  (Genit.  von  ale#na)  tritt 

jetzt  ale^anei  %.  388  (s.  ob.) ;  über  vlesi  u.  s.  w., 
lat.  etr.  volesio  21.  44,  sonst  velsi,  denke  ich  so, 
daß  im  erstem  Falle  der  italische  Accent  blieb 
und  der  Vocal  der  Vorsilbe  schwand,  im  letzte- 
ren der  etr.  Accent  eintrat  und  die  zweite  Silbe 
syncopiert  ward;  ähnlich  viell.  aus  mamarce: 
marce,  aus  mamarce:  mamerce,  mamurce  s.  %. 
HI,  246  ff. ;  9t.  933  (auch  maerce  ?  %o.  III,  251, 28). 
Epenthese  (3K.  II,  364—6,  §  10),  neue 
Beispiele  sichrer  Fälle:  veila  2.  289  =  velia; 
veisi  91.  184;  %.  130  =  vesi;  vuisi,  -sinei,  -sini 
%  601,  351,  353;  X.  227—8  (auch  %.  122  = 
6.  I,  963  ergänze  ich  jetzt  vuisina[l])  neben 
vus-,  vus(i)n-;  unsichre  neue  Fälle:  veini  £.118, 
neben  ven-  (veni  91.  754),  aber  auch  vin-;  und, 
wegen  der  Doppelconsonanz  bedenklich:  heimni 
91.  544  neben  #emni  91.  546  (wenn  nicht  aus 
hemini);  veiena  ..  91.  603  neben  vecnisa  9t.  276, 
falisk.  vecineo,  -inea;  reisnei  21.  525  neben  re- 
c(i)nia  91.  734  u.  s.  w.  Wegen  cagenei  gf.  366, 
lat.  etr.  eacina,  könnte  man  auch  kaikna,  kaigna, 
oeiena  =  Gaecina  bierherziehn ;  ebenso  paipnas  $. 
372,  pepnas  St.  343,  351,  wegen  papni  9t.  669 
— 70,  lat.  Papinius;    und  in  Endungen:  anaini, 


Neuere  etruskologische  Publicationen.    1423 

aneini,  anch  anini,  wegen  anani  (Wt.  II,  369); 
velainal  81.  342  wegen  velanei,  -anial  ©.  1906; 
apeinal,  auch  apini  (3Ä.  II,  373;  doch  8.  ©t.  I, 
56),  wegen  apa  (go.  III,  32 — 3);  dann  auch  vel- 
xeini  (aus  -aini)  $.  1382  (*ß.  p.  104)  wegen 
Yetyanei  81.  101,  viell.  vel^(ans)  =  Volcanus 
%o.  IV,  53;  schwieriger  Algen  sich  atainei 
(wenn  nicht  von  Atta,  Ata),  aveinas  (neben  avei 
@.  212)  und  andre  der  gleichen  Deutung. 

Zu  den  Vocalverbindungen  (2Ä.  11,366 
-82,  §  11;  93.  II,  181—3)  finden  sich  reich- 
liche  neue  Beispiele. 

1)  ai:  neu  in  airiu  8t.  152,  wozu  viell. 
haire  31.  182,  doch  s.  auch  gaireals;  aisiu  81. 
61,  ygl.  Alöoi,  aisaru,  aisinal;  lucairce  21.  799, 
4 ;  im  Suffix  lat.  etr.  munainal  81.  872 ;  statt  ster- 
linai  8L  522  ist  -nal  zu  lesen.  Wegen  des  Ueber- 
gangs  in  ae  s.  dort;  in  ei,  e,  i  s.  oben;  zuCae- 
cina  gehört  wohl  sicher  auch  hekinas  $1.  48 
(Volterra);  zu  cainei,  auch  SI.  218  herzustellen, 
cene  8(.  229;  s.  muteni(a)  =  mutainei  ©t.1, 71. 
Triphthongisch  erscheinen :  cuaitnal  (wenn  nicht 
zn  trennen)  31.  766,  vgl.  *uetus  8t.  299,  aber  auch 
cve^nal  u.  s.  w.  9K.  II,  385 ;  andrerseits :  aiianes  8t. 
939  (s.ob.);  #ne  §1. 935,  wozu  *aes'  81.  117  her- 
zustellen,  =  caie,  kavie;  %aial  81.  701  =  caial 
81.  702;  unsicher  vetyaias  %.  223  (wegen  velca- 
cias  %.  222);  aiecure  %.  229;  vasaiuco  81.  13 
(Adria):  jedenfalls  ist  hier  i  überall  Halb  vocal, 
s.  ii.  —  Ueber  paislene  !£.  169  a  u.  b  s.  go. 
HI,  349,  72.  —  Auffällig  ist  calaina  81.  651  = 
gr.  raXyvij  (?). 

2)  ae:  selten;  =  gr.  a*  in  aezsun  81.  63 
(Klügm.)  =  Alcoav;  aus  aie  in  petraeä  81. 
840  zu  lat-  Petreius,  gr.  IJsiQatog;  aus  avie 
(wie  in  xa.es',  s.  oben)  in  ylae  81.  395,  V 
—  Flavius.  Auffällig  ist  lat.  etr.  paethinia  81. 
274  =  pe#nei  ebdt.,  vgl.  peWna  g.  675  bisd; 


1424    Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  45.46. 

gegen  Epenthese  (s.  ob.)  spricht  pe#unei  3f.904 
neben  pe#nei  %.  903  bis,  s.  auch  unter  ei;  lati- 
nisiert sind  lat.  etr.  praesenti  51.  724  u.  taniae 
21.  649.  Zweifelhaft  sind:  laersina  oder  aersina 
21.  571  =  X.  292,  V  (ich  glaubte  hersina  zu 
lesen)  und  lat.  etr.  laetona  21.  721  (scheint  weib- 
licher Eigenname,  schwerlich  zu  Latona  gehö- 
rig, eher  zu  etr.  le#iuni  5JJ.  209).  Schon  Gam. 
hat  laetyu  81.  116,  V  in  la  zjxu,  und  vlesiae  2f. 
717  in  vlesi  ay  verbessert. 

3)  au :  Verdichtung  zu  a  und  u  in :  [cjlaunin 
21,  535  =  claniu  21.  532;  viell.  in  saupinas  £. 
305,  V  (ich  las  rupinas)  neben  supie,  supnai, 
-nal  21.  435;  833;' 45;   paulisa  %.  178,  pauli^a 

%.  255,  III  (wenig  sicher)  neben  pulis  (so  lese 
ich),  pulia,  pulialisa  21.  736;  319;  355;  aupusla, 
aupnisa  21.  711;  900  neben  upus  g.  790;  ansla 
%.  159  neben  usil,  Name  des  Sonnengottes,  Sa- 
bin, ausel;  vgl.  noch  auzrenas  21.  788  (ich  las 
-inas);  statt  autrisa  21.  214  ist  plautrisa  zu  le- 
sen, s.  t.  V,  p.  88.  Aus  avi  ist  au  entstanden 
in:  utauni  21.  82  neben  uhtave  =  Octavius; 
caunei  21.  181  =  cavinei  (so  ist  zu  bessern)  8. 
92;  daneben  kainei  21.  91  (beide  auf  t.  IV)  s. 
go.  Ill,  392.  Griechisch  scheint  die  auch  in 
Marzabotto  gefundene  Spangenmarke  aucissa  SL 
495  =  Avy^sGaa,  Avyqoaa;  lateinisch  ist  der 
Name  faustine[i]  21.  181. 

4)  ei:  im  Stamme  neu  in  cei^urneal  %.  308; 
309  b  u.  c  neben  ce#urn-;  veies  21.  744,  8. 
veianus  u.  s.  w.  (SÄ.  II,  373),  wozu  neu  veanes 
%.  173  mit  Ausstoßung  des  i;  lat.  etr.  saeinal 
21.  406  ist  wohl  verschrieben  aus  seianal,  s. 
seiesa,  seianti  u.  s.  w.  (33?.  II,  372;  374),  lat. 
Seianus.  Verlesen  sind :  ceicu  21.  83  aus  ceisu 
%.  439  bis  (s.  21.  746  =  X.  317);  veitavial  ». 
732   aus   uhtavial   g.   1857    bis  a   (wo    uvit-) ; 


Neuere  etruskologiscbe  Publicationen.     1425 

eipine  J.  119  ans  vipine  (so  schon  Fabr.);  statt 
uneitas  ft.  809  bis  =  8.  41,  II  will  Garn,  unei- 
as  lesen,  sicher  unrichtig.  Im  81.  797 — 8 
möchte  ich  peitu  lesen  (mit  Heibig) ,  vgl.  peitui, 
petvi  u.  s.  w.  äß.  II,  387;  81.  691—702;  pei- 
^esa  auf  Münzen  (go.  II,  51,  XIV)  und  oben 
unter  ae.  Zu  den  Genitiven  auf  -eis,  -eis  3Ä. 
II,  374  kommen:  vereis  %.  1848;  %.  180; 
viell.  vez[e]is  81.  35.  —  Griech.  ^  scheint  ei  zu 
vertreten  in  atleit  (so  lese  ich)  81.  843  =  a#- 
Jftft;  peleis  81.  952  =  dor.  Htjl^g? 

5)  eu:  neu  in:  reusti  81.  872  (lat.  etr.),  wozu 
reustial  auf  einer  noch  unpublicierten  chiusini- 
sehen  Todtenkiste;  so  lese  ich  auch  reusti  st. 
cleustl  g.  889  =  ciyesti  81.  597;  vgl.  reusi, 
reusial  g.  534  bis  1  u.  i,  viell.  identisch,  s.  un- 
ter „Assibilierung" ;  seurusa  81.  520;  am  Wort- 
ende in  tumeus  (=  e-u?)  81.  685,  wohl  aus 
-ius.  Als  zweifelhaft  bezeichnet  Garn,  mit  Recht 
hiseuc  21.  193,  trotz  hisu  Sß.  229  bis;  hisucna 
©.  77  =  81.  888;  verlesen  ist  veneuve  81.  117 
aus  venel  ve. 

6)  ia:  Ueber  den  Unterschied  der  Feminin- 
bildungen auf  -ia,  -i  und  ei,  e,  sowie  der  Ge- 
nitive auf  -ial  und  -al  s.  fto. 1, 61 ;  3ft.  II,  475  flf. ; 
doch  bedarf  die  Sache  noch  weiterer  Untersu- 
chung, zumal  Yermengung  beider  Bildungen 
nicht  zu  leugnen  ist.  Die  erste  Art  hält  im 
Ganzen  das  i  in  -ial  fest  oder  bricht  es  höch- 
stens in  -eal,  vgl.  auch  im  Nominativ  neu 
hampnhea  8t.  722  (lat.  etr.  =  -phnea);  die 
zweite  schwächt  -eial  durch  Ausstoßung  des  i 
in  -eal  (s.  unten  ua)  z.  B.  neu  cei^urneal  £. 
308;  309  b  u.  c,  und  assimiliert  dies  gewöhn- 
lich in  -al,  d.  i.  -äl  aus  -aal  (Tl.  II,  331  piu- 
taal,  umranaal).  Ueber  arn#ial,  lar^ial  s.  un- 
ten beim  Genitiv.     Den  Schwund   des  i  vor  a 

90 


1426    Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  45.46. 

(3ft.  II,  376)  erkläre  ich  jetzt  durch  Uebergang 
in  den  Halbvocal,  der  sich  dem  vorhergehenden 
Gonsonanten  assimilierte,  demnach  in  der  Schrift 
schwand,  und  bei  vorhergehender  Doppelconso- 
nanz  auch  in  der  Aussprache  schwinden  mußte, 
z.  B.  #ania,  *#anja,  #anna,  #ana;  se#ria,  *se- 
#rja,  *se#r(r)a;  arn^ial,  *arn#jal,  arn#(#)al. 
Bei  jenem  liegen  die  Uebergangsformen  noch 
vor  in  lat.  etr.  thannia,  thanna  ($o.  III.  153). 
Zur  Epenthese  führte  der  Halbvocal  durch  Mou- 
illierung des  1  in  veilia,  veila  ausvelia  (*velja), 
woneben  andrerseits  vela  aus  *vella  (*velja)  s. 
go.  Ill,  114. 

7)  ie:  einmal  iie  in  kaviiesi  s.  ob.;  als  männ- 
liche Wortendung  wechselt  es  mit  i  und  e,  und 
ist  so  wohl  auch  in  uystie  21.  852  =  °H(pai<rio$ 
hineingekommen. 

8)  ea:  neu  in:  meas  21.  842  (Heros);  sveas 
%.  106  =  St.  312  (Genit.  masc.) ;  leasies  2t.  49, 
III ;  creals  21.  799,  3 ;  zweifelhaft  Realie  %.  290 
bis  IV  (gefälscht  oder  verzeichnet?) ;  verschrieben 
ist  kneave  21.  238  st.  knaeve  (SR,  II,  368). 

9)  iu:  entwickelt  aus  u  (neue  Thatsache; 
sonst  oskisch  und  böotisch,  s.  G.  Meyer  Griech. 
Gramm.  95)  in  partiunus  2.  371  neben  partu- 
nus  %.  367—8;  tiucuntnal  21.  694,  tiuc[u]nti  (so 
stelle  ich  her)  21.  696  neben  tucuntineä  g.  1172. 
Die  Endung  iu  hat  doppeltes  i  in  fasciiu  21. 11 
(s.  ob.) ;  zweifelhaft  ist  viuns  21.  74  (wohl  sicher 
verlesen). 

10)  ui:  in  a^uilnu  21.  654  (räthselhaft) ;  un- 
sicher: cuinni  21.  673  (Index  cuimni;  ich  ver- 
muthe  cumni  ©.  961  =  Cominius);  nuinei  2L 
265;  nuisu  21.  266  (weibl.);  nuirni  2t.  268,  die 
beiden  letzten  jedenfalls  stark  entstellt;  statt 
cuiunia  X.  232  ist  curunia  zu  lesen,  s.  ob. 

11)  ua:  in  luanei  21.  256;  im  Genit.  auf -ual 


Neuere  etrnskologische  Pnblicationen.    1427 

st  -rial  (8.  ob.  ia),  neu:  acnatrual  8.  800—1! 
IX  (wo  in  800  falsch  -trul). 

12)  ue:  %uetus  31.  299;  entstellt  ist  petuel 
8L  700  (eher  aus  -aal,  als  -ues);  ebenso  larsue 
%.  489  aus  larste  fr  867  ter  s. 

Der  Wechsel  zwischen  u  und*  (9R.II, 
383—88,  §  12)  ist  zum  Theil  rein  graphisch, 
besonders  an  der  umbrischen  und  latinischen 
Grenze. 

l)w  statt  t>:  in  utauni  und  cannei  (s.  ob. 
unter  au),  wohl  wirkliche  Vocalisierung ;  rau* 
St.  128,  Abkürzung  von  ravn^u  (go.  III,  303); 
sehr  unsicher  ulunisa  £.  165  (im  Index;  der 
Text  hat  ulusina)  neben  vluni  X.  256;  vgl.  go. 
m,  191,  16 ;  ©t  II,  6  (uelsina[lj)  u.  14  (ajuni). 

2)  v  statt  u:  oft  auf  dem  Bronzetemplum 
(go.  IV,  23):  #vf,  2mal,  neb.  #ufl#as;  lvn  und 
lvsl  neben  Lynsa;  cvl  neb.  culsu;  in  Endungen: 
tluscv;  te#vm  und  #etlvmr,  tiberall  nur  gra- 
phisch; ebenso  in  arv^enas  %.  293  (ich  las 
ara#-,  doch  s.  V)  und  arvn^alisa  81.  957 ;  in 
cyrnal  8f.  447  neben  %urnal  81.  448;  cvspi  81. 
251  (nicht  crspi  s.  p.  88)  neben  cusperiena  g. 
1383;  viell.  #vrinal  g.  534  bis  c  neben  #uri- 
nial  21.  160,  turini  21.  735  (wenn  nicht  herin-)« 
Wirklicher  Uebergang  des  u  in  v  fand  statt  vor 
Vocalen  in:  car^vanies  8t.  930  (campan.)  neben 
carcu  ©.  780;  cisvite.  -tesa  %.  354;  31.  776 
neben  cisu;  pumpva[l]  %.  157  neben  pumpu; 
viell.  in  s[v]e#vis  81.  914  (wenn  richtig  ergänzt) 
neben  sveitu,  svetiu.  Unsicher  ist  der  Werth 
des  v  in:  evle  81.  177  (aus  evile?);  cevcias  81. 
354  =  258  (wo  -iaä);  ttvcles  81.  786  (zu  tiu? 
go.  Ill,  352);  vprtfsa  81.  248  (im  Index  upr-) 
viell.  v  pr#sa.  Entwicklung  eines  u  zu  uv  in: 
petuvi  81.  702;  viell.  alupuval  81.  897  (wenn  zu 
alpu);   dagegen  uv  aus   ital.  ouf  uu  in  luvcti, 

90* 


1428    Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  45. 46. 

lavces  8t.  779-80  =  @.  119—20  (wo  falsch 
luk-  cti;  luk-  cas),  s.  2».  II,  387—8;  nuveä  Ä. 
705  zu  lat.  Novius ;  verdichtet  luci,  nui  (nuis  8t. 
462;  nui  ..  31.  461  =  SC.  86-7)  u.  s.  w.  Un- 
sicher ist  #uyes'  81.  104,  doch  s.  #ues  g.  1915. 

Die  Erweichung  des  l  zu  i  (3K.  II, 
388—9,  §  13)  wird  gesichert  durch  clantinei  81. 
259  neben  ciantinei  Sß.  198;  zweifelhaft  bleibt, 
ob  puliac  81.  319  Eigenname  oder  =  puiac 
„und  Gattin"  ist. 

Gonsonantenverbindungen  (3Ä.  II, 
389-412): 

1)  Anlaut  (2tt.  II,  389-91,  §  14),  neu: 
s«acial  81.  412;  i;Zesi  81.  712-18  (s.  auch  $. 
534  ter  h);  seltnere:  tlu&cv  go.  IV,  60;  #Zu#u 
g.  315;  mZusna,  müama#  ..  21.  799,  8;  sZafra 
81.  463  (sichert  sclafra  g.  754) ;  sZicale  . .  8t. 
799,  4;  viell.  stframenas  St.  307  (@t.  II,  53,  65). 

2)  Auslaut  (äß.  II,  391—95,  §  15),  neu: 
le#ms,  letfws.  go.  IV,  38;  OeWvmr  ebdt.  42; 
aanrs  g.  2607,  XLIV  (nicht  -nas);  neßs  (nefts) 
und  pruw(/)fc,  s.  ob.;  tivs  go.  IV,  7;  gesichert 
tar^na^  81.  799,  3;  seltnere:  ratacs  81.  799,  1; 
pute  ebdt.  6;  petfri  81.  549. 

3)  Inlaut  (2R.  II,  396—412,  §  16),  neu: 
XKfstie  31.  852 ;  lucmes  8t.  7,  I  =  St.  405 ;  ala- 
X&itre  81.  772;  preside  81.  956;  ru^wa  (lu-)  8t. 
799,  5  u.  4;  ne#^as  ebdt.  3;  crxltce  8t.  245; 
\elfrei  8t.  777;  herein*  (so  lese  ich)  St.  752; 
tarnte  81.  47;  arntffisa  J.  141;  170;  a,rsmsnei 
8t.  169;  Creame  81.  667  (auch  g.  937  bis,  s. 
ob.);  faswfru  81.  179  =  St.  212;  husmatre  8t. 
799,  7;  ae#sun  81.  63  (Kltigm.);  luvcnal  St.  314; 
seltnere:  pafetfe  g.  1022  bis  (nachzuholen); 
vaftswisa  81.  169;  es^unac  8t.  580;  casnflnial  81. 
716;  apriw^vale  81.  799,  5;  insni  81.  45;  cufcna 
g.    2177;    pefcmä    8t.    39;   rawis   81.    799,   8; 


Neuere  etruskologische  Publicationen.     1429 

sterZinal  (so  ist  zu  lesen)  8.  522;  t&rxntek  31. 
52,  III;  cawpwas  g. 2335  (s.  ob.);  luvcti  2L  779 
(s.  ob.).  Unsicher  sind :  vpr&sa,  &.  248  (s.  ob.) ; 
ruyrius  21.  640  (©.  I,  761  ruyuius);  hermgpia  3L 

438  (s.  ob.);  varjri  3t.  799,  6;  lartoes  %.  165 
(s.  ©t.  II,  6);  anawsäs  91.703;  in  irnhu  St.  290 
bis  steckt,    wenn    die   Inschrift  echt,  arn#.   — 

Ueber  scheinbar  unaussprechliche  Verbindungen 
wie  flznal,  spltur  u.  s.  w.  s.  unter  „Syncope". 

Aspiration  2K.  II,  412-21,  §  17;  95  II, 
183—5,  neue  Fälle: 

1)  anlautend  vor  Vocalen:  #aie,  xaes', 
*aial  3t.  935;  117;  701;  *alnal  %.  109  (s.  3i. 
333);  xaerui  5ß.  169  d  neb.  caeru  21.  434;  fr- 
eies, xur^les  g#  2070 — 1  neben  curce  31.  561, 
curcesp,  g.  534  quat.  c;  gurnal,  -nias  £.  225 
—6;  «.  178;  448  (s.  447);  ^anr  (Göttin,  (5.  I, 
351)  neb.  tanr  31.  87 ;  #etlvmr  neben  te#vm  go. 
IV,  40;  tfe^ureä  g.  1133-4  neben  te^urias  21. 
367  (nicht  ye#-);  ^itna  8.  683  (s.  136);  #vri- 
nal,  ^urinial  s.  ob.;  wahrscheinlich:  #u#e  31. 
201  (s.  514);  viell.  tfivcles  31.  786  (s.  ob.);  von 
^umiltni  31.  202  =  tum  Sß.  173  bis  m  ist  eins 
verlesen. 

2)  inlautend  zwischen  Vocalen:  Aspi- 
ration in  a#u,  axunie  ®.  237  wird  wahrschein- 
lich durch  akuni  31.  873,  auch  lat.  etr.  Aconius; 
ferner  cei^urneal  £.  308 — 9,  ce#urnei  %.  215 
neben  cetisnas,  -nal  ß.  II,  617,  -nei  31.  232; 
le^aria  u.  s.  w.  X.  235—41  (s.  le#e  SR,  II, 
416);  te#vm  neben  #etlvmr  s.  ob.;  mu^ienas 
«.  599  (nicht  su#  ...  93.  I,  93,  I),  mutfuna  %. 
108  neben  mutie,  mutual  X.  124;  99  (31.  Ind. 
p.  98).  Nachzuholen  ist  ca^enei  g.  366  zu 
Gaecina;  lati#e  u.  s.  w.  (3Ji.  II,  415,  Note  156  a) 
wegen  latites  21.  466. 


1430    Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  45,46. 

3)  vor  oder  nach  Consonanten:  ph(y>) 
inhampnhea  (=  phnea)  81.  722  (lat.  etr.)  neben 
canpnas  (s.  ob.) ;  X  in  lau%me  Fo.  III,  223  neb. 
lucmes  81.  7,  I;  velx(ans)  =  Volcanus  go.  IV, 
53,  viell.  zu  vel#-,  velc-  SÄ.  II,  417 ;  car^vanies 
81.  930  (s.  ob.) ;  [ka]i*naä  81.  19  (s.  16  u.  17)  und 
oben  ca^enei;  [fjrau^ni  8t. 551  (s.  ©.  520);  es%unas 
81.  580  (s.  g.  2335) ;  #  in  den  Endungen  -#(u)r-, 
-#(i)n-,  auch  -#,  -#a,  -#e,  -#i,  -#u  u.  s.  w.  z.  B. 
selvatfres  81.  690,  -Surf  8t.  687  neben  falatres  8t. 
584;  ale^nas  neben  altnas  81.  585;  579;  veli- 
#ana  81.  556 — 8  =  vel#ina,  velt(s)na  (s.  vele- 
#ia  SR.  II,  416);  ferner  in  par^anaä  neben  par- 
t(i)unus  (8.  ob.);  camar^isunia  81.  357,  V  (ein 
Wort?)  neben  Camars,  Gen.  -artis;  viell.  sme- 
#vis  Ä.  914  (s.  ob.).  Statt  p^li6  81.  736  lese 
ich  pulis ;  klan#  . . .  8t.  544  ist  in  klair  &  . . . 
zu  theilen. 

Psilosis,  nur  in  Lehnwörtern  sicher  zu  er- 
kennen (SB.  II,  185),  zeigt  das  oben  citierte 
zin#repus  =  <fvPtQoq>og. 

Spiranten  SÄ.  II,  421—26,  §  18: 
_  1 )  h :  für  x  aus  c  in :  hameris  8t.  886  (= 
1859  bis,  wo  -riä)  zu  Camers;  hampnhea 
722  (lat.  etr.)  zu  Campanus,  s.  hamyna  u.  s.w. 
SR.  II,  424  (nicht  zu  '^(ftog);  harpitial  %  220 
zu  scarp-,  carp-  8t.  719;  ©.  785;  hekinaö  8t.  48 
(aus  Volterra)  zu  Caecina;  hapirnal  g.  253  zu 
caprinal  8t.  267   (viell.   268),   kajjrnas  8t.  782; 

viell.  haire  81.  182  (Index  haine?)  zu  gaireals, 
Caere.  Zu  setume  (SÄ.  II,  423)  aus  sehtume  = 
Septimius  s.  neu:  setimesa,  setme  8t.  212;  111. 
Verlust  des  anlautenden  h  viell.  in  airiu  neben 
haire  (s.  ob.);  elcie  2.  252  =  81.  445  neb. 
b  elk  sä  g.  726  bis;  esetunias  2.  250  neb.  hesei 
g.  1608  ($.  p.  105).  -  Neu  und  sehr  auffällig 
ist  der  Uebergang  eines  anlautenden  l  in  A  im 


Neuere  etrnskologische  Pablicationen.    1431 

Familiennamen  letari,  levari  =  hetari,  hetfari  I. 
235—41 ,  III ;  vgl.  noch  letarinal  *ß.  202 ;  he- 
taria  31.  445;  viel).  e#ari  31.  443;  er  scheint 
Weiterbildung  des  einfacheren  Namens  lete, 
le&e  (9R.  II,  416)  zu  sein,  zu  dem  also  viell. 
auch  hedesial  Ä.  848  gehört;  als  Mittelstufe  ist 
wohl  ein  lh  anzunehmen,  wie  es  sich  auch  in 
romanischen  Sprachen  entwickelt  hat.  Liegt 
dieser  Uebergang  auch  dem  für  einzelne  Fälle 
Dicht  zu  läugnenden  Schwund  des  schließenden 
genitivischen  1  zu  Grunde? 

2)  v :  Ausfall  in  caie  (cae)  =  kavie  s.  unter 
Vornamen;  abgel.  caini(e)  =  cavini(e),  s.  cavi- 
nei  8.  92;  ylae  3t.  395  =  *ylavie,  s.  y[l]ave, 
g>lavi  g.  314  B. 

3)  f:  für  <p  (ph)  aus  p  in :  nefts  und  prnmfts, 
s.  ob.;  pufluna  31.  55,  auch  pufl  .. .  go.  II,  51, 
72x  (s.  ätt.  II,  426,  Note  175)  neben  pupluna  = 
Populonia ;  fuflun(u)s  u.  s.  w. ,  nebst  fufle  zu 
fup[le]  go.  IV,  49  (letzteres  schon  3».  II,  426); 
viell.  furnal  St.  745  zu  purni  @.  1493.  Aus  v 
▼erhärtet  ist  es  viell.  in  scefia  31.  708  (s.  scefi 
g.  1778)  neben  sceva,  scevias  ©.  1673,  aber 
auch  lat.  Scaefius  in  Unteritalien.  Unsicher  ist 
fei  =  vel  81.  839  (ich  vermuthe  felcinates),  doch 
s.  f.  g.  1923  (go.  Ill,  363). 

4)  Wechsel  der  Spiranten  und  Aspi- 
raten: zu  herina  u.  s.  w.  3W.  II,  422  gehören 
noch  ferinisa  %.  172;  yerinaÄ  21.  38,  herzu- 
stellen  g.  123,  XXII  und  248,   XXIII   (3R.  II, 

423);  zu  lat.  etr.  tifilia,  thiphiliae  5ß.  251  ter  g 
und  h  kommen  tifile  31.  887 ;  tiyile  31.  319  = 
Jltpiloq;   zu    lam^e,   lan«jpe,   laye  Sß.  120 — 134 

fügt  sich  lanfi  31.  497.  Für  %  ist  f  eingetreten 
in  velfrei  81.  777.  Neben  d  erscheint  h,  wohl 
nicht  nur  graphisch  (äR.  II,  423),  in  heimni  31. 


1432     Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  45. 46. 

544-5;  he  ...  ni  2t.  548  =  Semni  8t.  546; 
hesei  %.  1608  (*ß.  p.  105^  =  tfesia  21.  200; 
bupriu  21.  196  =  Z.  221  neben  tfupre  21.  579. 
Zweifelhaft  bleibt  der  Wechsel  von  &  und  %  in 
medium,  -umi  g.  2339;  21.  799,  7  neben  metf 
5ß.  399;  medium  g.  2033  bis  E  a.  —  Die  neuen 
Formen  nefts  und  prurafts  entscheiden  dafür, 
daß  der  Uebergang  von  pt  in  ht  (SÄ.  II,  423) 
durch  (ft  (pht),  ft  stattgefunden  hat,  nicht  durch 
et,  gt,  wofür  egtur  =  "Extcoq  zu  sprechen  schien 
(S3.  II,  166,  45) 

Zischlaute  SÄ.  II,  426-34,  §  19.  Neue 
Beispiele  der  Assimilation  sind  (ich  ordne 
anders,  als  bei  SÄ.): 

1)  Dentale:  valtsnisa  21.  169  zu  veltni 
(SR.  II,  427);  viell.  ceristli,  -lial  (3«.  II,  465) 
zu  geritnal  21.  231  bis;  assimiliert:  fasi,  fasntru 
2t.  119;  179  =  St.  212  für  *fass-  aus  fast-, 
fasfr-;  gvesnas  21.  689  aus  gvest-  (Sjß.  n,  420); 
viell.  reusi,  reusial  aus  reust-  (s.  ob.  unter  eu); 
tluscv  =  *tlut-scu,  vgl.  ^lu^u,  #ulutyr  go.  IV, 
60.  Erweichung  zu  z:  presitze  21.  956  zu 
pres(n)te;  seianzi  2t.  122,  sonst  seianti.  Assi- 
milation und  Ausfall  von  t,  &  vor  z  in  Deminu- 
tiven 8.  unten.  Unsicher  spaziafl]  2t.  278  (s.  p. 
88  u.  102). 

2)  Gutturale:  arsmsnei  2t.  169  neb.  arem- 
snas  g.  2163;  lat.  etr.  corsli  21.  409  zu  gurcle, 
gurgle  s.  ob. ;  Bestätigungen  und  Erweiterungen 
bekannter  Fälle:  rescial  2t.  63,  viell.  reisnei 
2t.  525  zu  rec-,  rec(i)n-  SR.  II,  429,  vgl.  recinia 
21.  734,  recusa  21.  329,  recua  (auf  einem  Spie- 
gel, nach  Klügmann),  so  daß  resgualc  &  2497 
sicher  auch  hierhergehört ;  fels  ...  St.  900, 
weiter  erweicht  felza  2t.  586,  flznal  2t.  516, 
felzumnati  21.  180  zu  feie-  SR.  II,  429  u.  434, 
vgl.  viell.  felcinatcs  21.  839;  ähnlich  velznal  2f. 


Neuere  etruskologiscbe  Publication  en.     1433 

59  zu  velc-  SR.  II,  433.  Auf  Assibilierung  be- 
rubt  wahrscheinlich  aucb  der  Wechsel  von  c 
mit  s  im  Anlaut  durch  Vermittlung  von  sc, 
doch  könnte  man  allerdings  auch  sc  als  das 
Ursprüngliche  ansetzen,  vgl.  canzna  ©.  757, 
nebst  (s)kansinaia  g.  2184  (Sß.  p.  111)  und 
^ansnei  *ß.  179  mit  scan(e)sna,  san(e)sna  ü£. 225 
—6;  31.  574;  298;  46;  ebenso  carpnate  ©.  785 
nebst  harpitial  31.  ^220  mit  lat.  etr.  scarpus, 
scarpiae,  etr.  scarpal  auf  der  Bilinguis  31.  719, 
lat.  etr.  scarpia  g.  1183,  etr.  scarpini  g.  1977, 
campan.  scarpunies  Sß.  519  (=  31.  850,  wo  irrig 
carnunies),   und   sarpus  3t.  718;    mit  fehlender 

Urform  slafras  3t.  463  neb.  sclafra  %.  754;  mit 
fehlender  Mittelform  sleparis,  -ris  neb.  clepatras, 
KXsonctxqiq,  -tqcc  $.  II,  172,  n.  141  u.  128. 

3)  Wechsel  von  s  und  z:  aezsun  31.  63 
(Kltigm.)  =  Afamv*  zintfrepus  31.  62  =  <svv- 
tQocfog-  cuizlania  3t.  127  neb.  cuisl-,  cuisl-  ©. 
951;  2082,  wo  das  tönende  s  regelrecht  den 
Uebergang  bildet  (s.  ob). 

Neu ,  aber  sicher  ist  der  Uebergang  des  aus 
s  entstandenen  z  in  r  in  fremrnal  $•  &04  neb. 
fremznei  3t.  143,  mit  Verlust  des  anlautenden 
f:  remrnei  31.  295  neb.  remznei  3t.  144  und 
remsna  $•  69?  bis  d;  3t.  881;  endlich  mit  Aus- 
stoßung des  inneren  r:  fremnal  $♦.  2569  ter  neb. 
remne  5-  204,  herzustellen  aus  renine  3t.  37 ; 
remni  31.  296;  397  u.  s.  w.  s.  3K.  II,'  .342 ;  431; 
437 ;  S3.  I,  106. 

Nasale  3K.  II,  434—36,  §  20.  Wechsel 
von  m  und  n  neu  in  le#ms,  le#ns,  Genit.  von 
le#am  gfo-  IV,  38,  ob.  erklärt;  Ausfall  in: 
ucusna  2.  152  =  ugumsna  %.  151 ;  arntu  3t. 
706  =  arntnu  31.  707,  s.  arntni  äR.  II,  435 
(arnti  ©t.  I,  59  ;  II,  4) ;  viell.  in  veltfuruscles 
£.  306,   tfivcles  31.  786,  wenn  die  Endung  = 


1434    Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  45.46. 

clens  ist   (33.   I,  99);   ferner  pluca  =  Plunca; 
#a(n)si;  #u(n)su;  pe(n)znei@t.I,*30;  47;  93;  89. 
Ab-    und   Ausfall   von  Consonanten 
(8R.II,  436—37,  §21-22,  mangelhaft): 

1)  Anlaut:  c  =  sc  =  s  s.  ob. ;  f  ist  ab- 
gefallen in  remsna  n.  s.  w.,  s.  ob.;  dann  in 
ratacs  81.  799,  1  =  umbr.  fratreks;  verschrie- 
ben ist  viell.  stacias  21. 154  neb.  stlacial  21.  412. 

2)  Auslaut:  über  das  s  (6)  des  Nomina- 
tivs s.  3R.  II,  481  ff.  Den  Abfall  des  genitivi- 
schen s  (£)  und  1  in  weiterem  Umfange  an- 
zunehmen (s.  für  das  1  z.  B.  @t.  II,  56),  kann 
ich  mich  noch  nicht  entschließen,  wenn  auch 
einzelne  Fälle  nicht  zu  läugnen  sind  und  ich 
vielleicht  noch  zu  ängstlich  bin  (s.  go.  Ill,  408, 
Note  zu  p.  44).  Das  s  und  1  sind  als  Schluß- 
buchstaben der  Inschriften  oft  erloschen  oder 
undeutlich  geworden,  so  daß  sie  gar  nicht  ge- 
sehn, oder  als  i  oder  Trennungspunkt  verlesen 
sind ;  das  1  ferner  ist  häufig  nur  durch  einen  Ha- 
ken an  einem  (nicht  immer  am  linken,  Fabr.  $. 
p.  232,  s.  21.  719,  VIII)  Fuße  des  vorhergehenden 
oder  folgenden  a  angedeutet,  der  leicht  undeutlich 
wird  und  unbeachtet  bleibt,  s.  Garn.  Lesung  ä. 

513  sepana*  can  st.  seplanal-  clan;  ähnlich  ist 
as  in  der  Bilinguis  g.  460,  t.  XXIX  in  einem 
Buchstaben  geschrieben  durch  s-artige  Krüm- 
mung des  linken  Striches  des  a. 

3)  Inlaut:  über  assibilierte  Dentale,  Zisch- 
laute, nebst,  r,  Nasale  s.  ob.  Der  Ausfall  des 
c  (x)  in  frauni  (SR.  II,  437)  wird  bestätigt 
durch  8.  182  =  [f]rau^ni  51.  551;  zweifelhaft 
bleibt  er  mir  auch  jetzt  noch  (s.  SÄ.  ebdt.  Note 
195  a)  in  larn-  wegen  lar,  vein-  neben  vel  (go. 
Ill,  391—2),  bei  welchen  beiden  man  auch 
ebenso  gut  Ausfall  eines  t  (#)  annehmen  könnte, 
wegen  fitrt  (lar#),  velt-  (vel#-);  ferner  in  pern- 
wegen  perna  31.  414  =  perperna  81.  415  (lat 


Neuere  etruskologische  Publicationen.    1435 

etr.) ;  purn-  wegen  parenaie  g.  2404,  IJovQimog 
u.    s.  w.;    auch  findet  sich    nie  marn-   neben 
qiarc(a)n-.    Nur  bei  tarna  neben  tarcna,  targna 
ist  die  Identität  wahrscheinlicher,  8.  neu  tarnai 
31.  654.  —  Zum  wahrscheinlichen  Ausfall  des  t 
in  seple  (äß.  II,  437)   vgl.   jetzt   noch  seplanal 
31.  514,  V  (wo  seplnal),   auch  513   (s.  ob.),  ne- 
ben septle  %.  213.  —    An    der  Entstehung  von 
cnpna  aus  cupsna  ©.  966,  s.  auch  cupslna  (2Ä. 
II,  397),  neu  cupsnei  81.  247  neben  cupslnei  8. 
246,  bin  ich   irre   geworden   durch   cupuna  21. 
448  =  cupna  91.  447,   was   an   lat.   caupo   er- 
innert; doch  könnte  das  u  auch  Einschub  sein; 
vgl.   capna  aus   capsna  (3R.  II,  437)  oben.   — 
Ein  f  ist   elidiert  in   prumts,   pruma£s   neben 
prumfts,  s.  ob.;   über  Elision   des  aus  c  oder  p 
entstandenen  h  s.  9K.  II,  423  (dazu  viell.  lavsie 
=  *lauhsie  =  laujsie  aus    *laucusie,   s.  unt. ; 
lautni,  lat.  Lautinius  =  lauctni(e)  @t.  I,  69  ff.) ; 
über  v  ebdt.  425.  —  Die  stärkste  Elision  findet 
in  den  mit  z  gebildeten  Deminuitiven  der  Vor- 
namen statt  (go.  Ill,  377—8,  §  6) :  theils  viell. 
mit  Assimilation  oder  richtiger  Aufgehn  des  as- 
sibilierten   Dentals   in    den   folgenden   weichen 
Zischlaut:   arnz-  =  arnt(i)z-,    arn#(i)z-;    larz-, 
viell.    laz-  =  lart(i)z-,   lar#(i)z-,    s.    lardiza  8. 
257  ;  ramz-  ==  ramt(a)z-,  ram£(a)z-;   theils  mit 
Elision  eines  r  oder  1  (vgl.  eben  (laz-):  ve(i)nz- 
=5=  vener(i)z-,  venel(i)z- ;  viell.  #epea  =  £epr(i)za. 
—    Nachlässige   Schreibung   nehme    ich   an   in 
vel*aia6  %.  223  =  velcacias  X.  222 ;  paislene  %. 
169  a  u.  b,  II  neb.  patislane,  u.  s.  w. ;  verschrie- 
ben ist  auch  hampnhea  ä.  722  st.  -phnea;  ver- 
lesen parce  S.  489  st.  pacre  =  g.  867  ter  s. 

Ueber  die  unregelmäßige  Lautvertretuung  in 
griech.  Lehnwörtern  s.  S3.  II,  185—6. 
Jordan's  Vorwurf  (Krit.  Beitr.  p.  46  „man  er- 
staunt") trifft  mich  gar  nicht,  da  ich  catmite 


1436    Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  45. 46. 

und  ravvpydfjGy  marmis  und  Mclgn^aaa ,  an  de- 
ren Identität  er  selbst  nicht  zweifelt,  nur 
gegenübergestellt,  aber  eine  Erklärung  gar 
nicht  versucht  hatte.  Seine  wohlfeile  Annahme 
eines  griech.  *rcc&o(Aijdiig  steht  vollkommen  in 
der  Luft;  den  Wechsel  in  MagpTjccrog  =  ilfag- 
nijdaog  (schon  von  mir  citiert),  klärt  er  selbst 
nicht  auf.  Ebenso  ist  mir  Einschub  des  t  in 
neuste,  u#8te  =  90dv(f(a)£vg  immer  noch  wahr- 
scheinlicher, als  sein  erfundenes  *>OdrfftV;  vgl. 
amytiare  g.  1070;  a[m]ytia[re]  St.  395  =  !^h 
(puxQaoc,  wofür  man  ja  auch  ein  **/ip<p&idQaog 
erfinden  könnte.  Die  Unregelmäßigkeiten  wer- 
den dadurch  doch  wahrlich  nicht  geringer,  daß 
man  sie  in  die  griechischen  Dialecte  verlegt, 
statt  sie  beim  Uebergang  in  eine  fremde  Spra- 
che und  ein  fremdes  Laütsystem  stattfinden  zu 
lassen.  Dasselbe  gilt  von  seinem  *SijA*$  oder 
*04X$g  =  04ng;  *Atct%\  ^MeXlsQO^dvttjg  u.  S.w. 
Die  stärkste  Entstellung  aber  scheint  vorzuliegen 
in  heplenta  H.  384,  wonach  g.  1019,  XXXV 
heqplen[t]a  herzustellen  ist,  kaum,  nach  Gamur- 
rini,  =  Msyaniv&qg ;  eher  steckt  ein  mit c  Jmio- 
zusammengesetzter  Name  darin. 

Unaufgeklärt  ist  der  Vorschlag  eines  e, 
von  früher  her  beobachtet  in  Etruria,  Etruscus 
neb.  TvQarjvög,  Tu(r)scus,  und  in  esal,  esl  =  zal 
(4)  s.  83. 1,  258  ff.  Neu  hinzu  kommt  die  von  mir 
entdeckte  Identität  von  eprtfne  und  purine  (s. 
bes.  21.  136  u.  132),  viell.  =  Porsena. 

Wortbildungssuffixe  2K.  II,  437—75, 
§  23,  noch  keineswegs  tiberall  sicher  von  Fle- 
xionssuffixen zu  unterscheiden:  wenig  neue; 
manche  Varianten  und  bisher  nicht  belegte  Häu- 
fungen. Ich  ordne  sie  nach  dem  ersten  Conso- 
nanten  des  Suffixes  wie  bei  3Ä. :  tar-cste  21.  47 
(neu),  s.  -ste  3W.  II,  465;  es-etunias  !£.  250,  s. 
tu  3R.  II,  442 ;   vel-ifrana   8.  556—8,   vgl.  ale- 


Neuere  etruskologische  Publicationen.    1437 

#anei  %.  388;  -#ans  £.333,  wahrscheinlich  mit 
eingeschobenem  a  statt  urspr.  i,  s.  SR.  II,  442 ; 
ger-itnal  31.  231  bis,  neb.  -atn,  -etn,  -utn  SR.  II, 
443,  s.  Note  212 ;  fal-atres  (neu)  ä.  584,  s.  -#ri 
SR.  II,  444 ,  wozu  jetzt  vela#ri  auch  als  Perso- 
nenname %.  122 ,  vgl.  noch  unter  n  und  v ; 
ftje[l]-a#urnas  21.  596  (neu,  wenn  richtig  geleseuj, 
s.  -#ura  SR.  II,  444,  bes.  telafluras,  dann  aber 
auch  veltfurna  u.  s.  w.  ebdt.  453;  lemn-itru  21. 
748,  neb.  -tru,  -atru  SR.  11,444;  #et-lvm-r  (neu) 
neben  te#vm  go.  IV,  42;  a^u-ilnu  (neu)  21.654, 
s.  -lunu  SR.  II,  447  ;  ak-iltus  (neu)  21. 104,  s.  *-lte, 
-ltna  SR.  II,  448;  sep-uriu  (neu,  unsicher)  %.  165 
neb.  sepre  SE.  154 — 5,  vgl.  -uru  SR.  II,  452 ;  kut- 
ramis  (neu,  aber  wenig  sicher)  21.  861,  s.  aska- 
mie  g.  2614  quat.  (SR.  II,  454,  Note  233); 
cam-artfisunia  21.  357  (ein  Wort?),  vgl.  Camars, 
Gen.  -artis  u.  cal-isunia  SR.  II,  464;  le#-am 
(neu)  fjo.  IV,  38,  s.  -um  SR.  II,  454,  auch  te#vm, 
tfetlvmr  ob.;  tet-uminas  (so  trenne  ich  ab)  21. 
385,  s.  -umena,  -mina  SR.  II,  454;  kar-iunas  21. 
90,  cusiunas  21.  542  neb.  -una  SR.  II,  458 ;  mef- 
anetnal  (neu)  21.  219,  s.  -ntn  SR.  II,  462;  tus- 
nutnie  21.  377 ,  nicht  -na,  wie  SR.  II,  462  steht ; 
huzr-natre  (neu)  21.  799,7  (oder  huz  rnatre?),  s. 
husrnana  SR.  II,  454;  . . .  m-na#uras  21.  799,  8, 
s.  -mnati,  -mnatial  21.  180;  SR.  II,  441;  *lun  sa 
(weibl.),  zu  erschließen  aus  lvn,  lvsl,  lat.  Lynsa, 
s.  $o.  IV,  52;  vgl.  noch  munsal  2(.  932;  num- 
isies  21.  934  neben  -si,  -asi,  -esi,  -usi  SR.  II, 
463,  vgl.  lat.  Numisius;  auch  anisal  21.  116,  V; 
tlu-scv  aus  *tlut-scu  go.  IV,  59,  s.  Etru-scus, 
Tu(rjscu8 ;  at-isnalial  (neu)  21.  335,  s.  -ale  SR.  II, 
445;  puriiazas  21.  783,  s.  -azu  SR.  II,  466;  parc- 
azesal  21.  438;  aprintfvale  21.799,  5;  sel-va#uri, 
-va#res  21.  687 ;  690,  s.  selvans  u.  s.  w. ;  svu- 
taf  21.  652  (Kltigm.);  ercefas  21.  802,  4;  tum-eus 


1438    Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  45.  46. 

91.  685 ;  anues  £.  296,  V  (nicht  anjes) ;  unklar 

iat  melecravicces  (oder  -ticcis)  21.  799,  6.  Fremd- 
wörter sind:  nefts,  prum(f)ts,  presitze,  luvcti, 
erantra,  tucipa  u.  8.  w.    Zu  theilen  ist  ive*fria- 

nas  21.  633   (Index  ivetfr  )   in i  ve#nanas, 

8.  -nana  2Ä.  II,  460;  unsicher  ist  ananstis  21. 
703  und  manches  Andre,  bes.  in  den  größeren 
Inschriften  21.  799;  802;  804;  912  bis.  —  üeber 
die  männlichen  und  weiblichen  Götternamen 
auf  -ans,  -ens,  -uns  s.  unten. 

Bildung  der  Feminina  äR.  II,  475-81, 
§  24:  unia:  atrunias  21.  207;  esetunias  £.250; 
arniunia  21.  166;  -da:  #upl#a,  #uf(u)l#a,  jetzt 
als  weibl.  Gottheit  gesichert  (=  Ops?),  s.  go. 
IV,  29;  2R.  II,  479,  Note  270;  -a:  *lunsa,  Ge- 
nit.  lv(n)sl,  lat.  etr.  Lynsa  go.  IV,  52;  8.  ©t.  I, 
44;  consonantisch:  tetfvm  (=  Minerva, 
Ty&v'g?)  go.  IV,  40;  cilens  (=  Lua?)  ebdt.49. 

Flexionsendungen  2Ä.  II,  481—508, 
§  25,  nicht  überall  erkennbar  und  deutbar,  sehr 
lückenhaft : 

1)  Nominativisches  s  (S)}  fest  in  den 
männlichen  Lehnwörtern  nefts,  prum(f)ts,  ratacs, 
patacs  (patacsalisa  g.  905  bis  b)  und  den  viel- 
leicht entlehnten  Götternamen  maris,  selvans, 
vetis  (Gen.  -sl),  wohl  auch  ne#an(u)s;  ebenso 
in  den  einheimischen  fnflun(u)s,  cilens  (weibl., 
Gen.  -sl),  auch  wohl  setflans,  ismintfians,  tur- 
m(u)s,  s.  9R.  II,  183;  ferner  für  die  Genitivbil- 
dung auf  -al  im  Vornamen  laris  (Gen.  -isal)  und 
verschiedenen  Familiennamen  auf  -is  und  -us 
(Gen.  -isal,  -usal).  Diese  Ansicht  scheint  mir 
jetzt  natürlicher,  als  Stämme  auf  -s  anzuneh- 
men (go.  IV,  58  u.  68).  Daneben  haben  letztere 
Wörter  allerdings  auch  einen  abgestumpften  No- 
minativ, wie  lar(i),  tfurice,  vetu  u.  s.  w.,  und 
bilden  dann  Genitive  auf  -sa,  -s,  wie  lariBa,  la- 


r 


Neuere  etrusfcologische  Publicationen.    1439 


ris  und  larus ;  vetus(a)  u.  s.  w.  —  Möglich  wäre 
übrigens  an  sich  auch  Identität  von  -sal  und 
-sla,  so  daß  das  s  das  genitivische  and  die  En- 
dung eine  doppelte  wäre ;  aber  es  fehlt  ein  ent- 
scheidendes Beispiel,  und  die  specifische,  wenig- 
stens ursprüngliche  Bedeutung  von  -sla,  wonach 
es  einen  von  einem  andern  Genitiv  abhängigen 
Genitiv  bezeichnet  (<3t.  II,  55)  ist  für  -sal  nicht 
nachzuweisen. 

2)  Genitivisches  -sa (-so),  verkürzt  -s  (i), 
regelmäßig  männlich;  jetzt  auch  sicher  für  lar# : 
lartfisa  31.  221 ;  lartfis  31.  171  (g.  597  bis  m  zu 
bessern);   lartfs  91.  437;    also  auch  wohl  lar£i6 

1864  (gegen  go,  III,  191,  15;  ©t.  II,  6;  s. 
II,  489).  Ueber  Syncope  und  Elision  s.  ob. 
—  Weiblich  vetuniasa  31.  298;  viell.  #anasa  31. 
401  (VI  #ana-sa);  etwa  20  mal  (i)as,  -(i)as. 
Ob  tivs  von  tiv  (Mond)  weiblich  ist?  go.  IV,  7. 
Weiterbildung:  aupusla  31.  711;  faltusla  31436; 
arn^rusla  31.  17;  herzustellen  vel#urusla  Sß.  437 
(@t.  11,  17);  ferner  papaslisa  31.  120,  herzustel- 
len 121. 

3)  Genitive  auf  ~o,l.  ^ßauli  @t.  II  ge* 
langt  über  die  Genitive  von  arn#,  -0ia;  lar#, 
-#ia  zu  folgenden  Resultaten:  perusinisch 
männl.  -ial,  selten  -eal,  -al,  weibl.  vermuthlich 
-ias;  gemeine tr.  ml. -al,  viel  seltner  -eal,  -ial, 
wb.  -ias;  südetr.  ml.  -al  und  -ial,  wb.  -iah 
Ich  hatte  bisher  alle  Formen  auf  -ial,  -eal  ftir 
weiblich  gehalten  (go  III,  47  u.  200),  muß  aber 
jetzt  für  eine  Anzahl  Fälle  z.  B.  in  den  Manci- 
ni'schen  und  Golini'schen  Gräbern  von  Orvieto, 
den  in  go.  I,  47,  9  2—93  besprochenen  Inschrif- 
ten, und  andern  zustimmen,  auch  mitunter  Ab- 
fall des  schließenden  1  zugestehen  (s.  ob.).  Zwei- 
felhaft bleiben  noch  die  männlichen  Nominative 
arn#i,   lartfi.    Weiblich  scheint  lartfa   (=  lar- 


1440    Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  45. 46. 

#ial)  zu  sein  in  mi  lar#a  tartinaia  (so  lese 
und  theile  ich)  «.  834,  X  =  g.  2333  ter,  vgl. 
denselben  Bau  in  $.300;  g.  2184  bis.  -  Wei- 
terbildungen: arntfalisa  31.  136;  138;  328;  neu: 
arvntfalisa  31.  957;  arnatfalisa  31.  126;  ferner 
lartfialisa  31. 137 ;  326;  lar£ial[is]la  31.  803;  neu: 
latflis  31.  873  (s.  latfl  g.  429  bis  a;  lartfalis  g. 
737 ;  go.  Ill,  190—1) ;  herzustellen  [ljar#ali[sja 
«.  292,  V,  unklar  lat.  etr.  arisalisa  31.  420,  Vi 
(lari  . .  ?) ;  vgl.  sonst  go.  Ill,  wo  %.  schon  aus- 
genutzt ist.  Von  weiblichen  Gentilnamen  auf 
-alisa  etwa  ein  Dutzend  neue  Fälle,  wie  pulia- 
lisa  3t.  355.  Bei  sutfunal;  puia  31,  200  ist  g. 
2078  a  u.  b  (f.  p.  112;  t.  X,  10)  und  ft.  25, 
79  zu  vergleichen;  es  ist  nicht  mit  Garn,  männ- 
lich zu  fassen;  die  Grabschrift  des  Mannes,  die 
dazu  gehört,  fehlt. 

Zweifelhaft  bleibt  der  Genitiv  culsans  von 
culsu,  culsu  go.  IV,  62;  unklar  ist  auch  creals 
31.  799,  3. 

4)  Dativisches  -si  (-si):  viell.  kaviiesi 
31.  771,  IX,  (go.  Ill,  88,  50),  doch  auffällig 
bei  mi. 

5)  Pluralisches  -(a)r:  tfetlvm-r  neben 
tetfvm  go.  IV,  42;  viell.  #uluty-r  neb.  #lu#u 
ebdt.  59;  tanas-ar  31.  794;  tev-ar  a#  31.  795 
(vgl.  clen-ar-asi,  tiv-r-s),  letztere  beide  unklar; 
s.  auch  . . .  picanar  31.  804,  8. 

6)  m  „und44:  eslem  [zjaflrumis  31.  658  = 
vier  und  vierzig,  s.  ob.;  unklar  bleiben:  seu- 
rem  31.  799,  3 ;  sna . . .  ram  31.  802  u.  s.  w. ;  s. 
auch  metfluini  31.  799,  7.  Ueber  c  „und"  8. 
unten. 

7)  Zahladverb,  auf  z\  viell.  in  . . . .  rflz 
31.  740,  wenn  etwa  [hjudz  =  „sechsmal44  zu  le- 
sen ist. 

8)  Perfectisches    ce:turce  „gab44  31.380; 


r 


Neuere  etraskologische  Pablicationen.     1441 

amce  „war«  3.  799,  9;  svalce  „verschied"  Ä. 
776  =  %.  354  (in  g.  2101  sind  zwei  Personen 
genannt);  erce  «.  802,  6  (s.  g.  2279),  dazu 
ercefas?  ebdt.  4;  viell.  arce  „hätte"  ä.  804,2; 
neu:  acasce  S.  799,  3  (s.  acazr  Sß.  419;  6.  I, 
565);  lucairce  ».  799,  4;  zince  S.  740  (=  zi- 
la^nce?);  filce  Ä.  802,  7.  Ueber  mulvanriice 
u.  s.  w.,  s.  95.  I,  102;  go.  Ill,  155  u.  88  (%. 
771 ;  607—8). 

9)  Andre  Endungen:  -ü:  pa^anati  g. 
2335  b  neben  pa^anac  %.  799,  5;  viell.  vargti 
».  799,  6;  ..  reketi  ».  912  bis;  -fr,  -0i:  tar*- 
nalff  21.  799,  3  (-tfi  oder  -öl  %.  322,  s.  3Ä.  II, 
393);  viell.  tfutuifli  ».  799,  8;  arimcifli  ä.  804, 
6;  die  Zugehörigkeit  von  alumna#  ä.  799J  7 
wird  zweifelhaft  durch  alumnatfe  ebdt.  5  (s. 
Suffix:  -ate);  va:  marunu^va  81.  740 ;  neurud-cva 
(lutfcva)  21.  799,  4  u.  5 ;  viell.  aprinfrva-le  ebdt. 
5;  ich  möchte  hierher  ziehn  auch  eitva,  etva  g- 
2056  (Z.  318);  2340;  1933,  einmal  freilich  etve 
g.  1915;  -eri:  ce%aneri  81.  802,  5  (cexasie  4; 
ce#a  3,  auch  804,  2);  neu  hermeri  81.  799,  4 
(hermu  5,  7  u.  8);  viell.  armrier  ebdt.  9.  Auch 
-sie  und  -u  scheinen  danach  Flexionsendungen 
zu  sein  (doch  s.  lau%usie,  helmu  u.  s.  w.);  an- 
dere stecken  noch  in  den  Inschriften  8.  799, 
802,  804,  auch  wohl  912  bis,  aber  die  Aus- 
scheidung ist  zu  unsicher.  Ein  neues  Beispiel 
zu  -das  fehlt  (äK.  II,  507). 

Zum  Vocabular  ä».  II,  508—12,  §  26 
sind  hinzugekommen: 

1)  Götternamen:  ani  =  Janusgo.  IV,  24; 
catfa(nia)  =  Celeritas  (Solis)  46,  vgl.  catfas  81. 
799,  4;  cilens  =  Lua  49;  velx(ans)  =  Volcanus 
53;  vetis  =  Vedius  68 ;  teflvm  =  Minerva,  Tti&*'$} 
nebst  fletlvmr  =  Fata  (minora)  42;  tiv  =  Luna 
(bestätigt  tivrs  =  mensium)  7 ;  tluscv,  nebst  #lu#u 

91 


1442    Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  45. 46. 

(tfulutv)  =  Neptunus,  Consus  60;  #uf(u)l£a 
#upl£a  =  Ops  29;  le#am  =  Lar,  Genius  38; 
*lvnsa  =  Lynsa  52;  satre  =  Saturnus  65;  sel- 
vans  =  Silvanus  54;  ferner  vesuna  (Göttin)  8. 
652,  auch  italisch ;  vgl.  umbr.  etr.  daneben  vesia 
g.  70,  71,  88  b  (von  6.  I,  515  irrig  als  Fami- 
lienname gefaßt);  rätbselhaft:  meas  21.  842  (He- 
ros); svntaf  91.  652  (Jüngling);  aminfr  $.  374 
(Genius)  und  Anderes.  Interessant  ist:  tanr  9. 
87,  III  (st.  Gam.  vnat),  die  zweite  Statuette  der 
Göttin  #anr,  s.  mi :  tfanrs  g.  2607,  XLIV ;  mera 
=  menrva  go.  IV,  50,  viell.  auch  auf  dem  Spie- 
gel Bull.  1880,  68;  tins,  Gen.  v.  tin(i)a  go.  IV, 
28,  neb.  tinas  2-  356,  tins  «.  88,  IV,  vgl. 
tins'cvil;  rescial  31.  63  und  recua  (Brief  voa 
Kltigm.)  neb  recial  und  res^ualc  (go.  I,  60); 
cvl  ...  =  culäans  von  culsu  go.  IV.  62 ,  vgl. 
culsu  ».  799,  6,  cvls..  «.  804,  5;  lasl,  Gen.v. 
lasa  go.  IV,  43;  malavis  neb.  malavis%  81.  773 
u.  s.  w.  Ob  auf  den  Münzen  von  Populonia  ä. 
54  und  56  statt  metalu  (yetaru),  metl  (nach 
Garn.  =  metallnm)  etwa  setaln,  s'etl  =  sedlans 
zu  lesen  ist,  bleibt,  bes.  des  t  wegen,  zweifel- 
haft. —  An  netsvis  =  haruspex  klingt  entfernt 
an  die  von  G.  Löwe  gefundene  placid.  Glosse: 
nartheterem:  auspice(m)  Tuscum,  neben  Deaer- 
ling's  (p.  68,  10,  unter  N)  artheraterem  (oder 
-torem):  aruspicem  Tuscum. 

2)  Andre  Wörter:  nefts  =  nepos,  Enkel; 
prum(f )ts,  prumafl s  (auch  g.  990?)  =  pronepos,  Ur- 
enkel (demnach  #ura  =  progenies,  Nachkomme); 
ratacs  =  *fratricus,  Bruder?;  patacs  =  patricus 
(Beiname),  alle  4  aus  dem  Italischen  entlehnt; 
ferner  purine  nebst  purtäva-,  epr#n-  =  Porsena 
(IJQvtav$g?\  ein  Ehrenamt  z.  B.  g.  2100eisnevc 
epr^nevc-  mastrevc  =  et  fuit  sacerdos  (etr.  ital. 
ais-,  eis-  u.  s.  w.  =  deus,  divinus)  et  Porsena 


Neuere  etrnskologische  Publicationen.     1443 

(so  schon  Sayce  und  Taylor  für  purtävana,  -vav- 
cti)  et  magister  (S.  II,  13);  in  $.  387  ((£.  I,  t. 
XIX,  2)  gehören  die  Worte  von  lupu  bis  cez- 
palgals  an  den  Schluß,  vgl.  *ß.  388:  dann  ist 
dort  zil%nu;  cezpz:  parts vana:  #unz  =  fuit  Zi- 
lag  (ein  andres  Amt,  s.  äß.  II,  505  und  sonst) 
octies,  Porsena  semel;  hier  zilagnuce  zilcti 
purts'vavcti  =  functus  est  munere  Zilax(is)  et 
Porsenae  u.  s.  w. ;  vgl.  noch  purine  31.  132; 
pur#  ...  *ß.  399 ;  eprtfni  «.  136 ;  eprtfne  fr  2033 
bis  Ea;  eprtfneva  und  -nevc  g.  2057  =  %. 
329,  X.  Auch  in  maru,  mar(u)nu(%)  erkenneich 
jetzt  mit  Corssen  (I,  236)  einen  Amtstitel.  Ueber 
alpan  =  imago  s.  $o.  IV,  62 ;  mutna  (nicht  su) 
„Sarkophag"  fjo.  III,  110  (21.  664,  VII);  itun(a), 
nevi(ku),  ni(pe),  p(uln)  =  „Schale,  Krug"  go. 
Ill,  170;  259;  263;  286  (s.  ä.  67)  u.  s.  w. 

Griechische  Lehnwörter  (85.  II,  161 
— 86),  neu:  atleit  21.  843  =  d&Xtjvqg?;  aezsun 
&  63  =  AUsmv\  calaina  31.  651  =  T«^V^?; 
evru  . .  =  Ev Quoin]  Bull.  1875,  84  (nachzutra- 
gen); enie  X.  393  =  'Evvvi?  erus  81.  62  «  fatdg ; 
zindrepus  ebdt.  =  ovvtQocpog;  heplenta  31.  384, 
heylenMa  g.  1019  =7/itto-?;  metvia  21.  63 
(nach  Kltigm.  auch  Gerh.  t.  CLXXXIII)  =  Mq- 
ö€hx  (vgl.  latva  =  Atfda);  pemyetru  (nicht 
aem-  Jß.  II,  165,  29)  %.  393  =  ns(p)(pwdii ; 
tiyile,  tifile   21.  319;  887  as  Jiydog  (s.  tifilia, 

thiphiliae,  lat.  etr.  Sß.  251  ter  g  und  h);  uqpstie 
21.  852  =  "Hcpcutnog.  Neue  Formen  sind:  ala- 
%sntre  21.  772  =  9A^ap6Qog;  zimu^e  21.  62; 
zimite  (Klügm.  -maite)  21.  650  =  Jiofjujdfjg; 
peleis  21.  952  =  IJfjXevg,  I7fji.ijg?  (sonst  pele); 
telmun  21. 749  =  Tslafiuov.;  utuse  21. 650  =  'O dvo- 
csvg;  nachzutragen  ist  a[m]<ptia[rej  %.  315  = 
UfjupHXQctos  (s.  S3.  II,  165,  34).  Ein  noch  nicht 
publicierter    Spiegel    hat   priumne  =  Hgiapog 

91* 


1444    Gott  gel.  Adz.  1880.  Stück  45. 46. 

8.  JB.  II,  169,  86  und  ecapa?  (Brief  vod  Klüg- 
mann). 

Ueber  etera  und  lautni  (33.  III,  26 — 53;  £. 
22 — 36)  handelt  Pauli  Studien  I:  er  faßt  jenes 
als  libertus,  ich  früher  als  servus;  dies  als  ser- 
vus, ich  libertus.  Mir  scheint  etera  =  adopta- 
tus  oder  eher  alumnus  zu  sein  (briefliche  Ver- 
muthung  von  Alibrandi) ;  neue  Fälle :  etera  |  au- 
pusla  81.  711,  VIII  öung  gestorben);  lartfi  reci  [ 
nia  velu*  |  etera  81.  734  (weibl.,  statt  eteraia?); 
verstümmelt  ist  21.  676.  Die  Bedeutung  von 
lautni  ist  zu  meinen  Gunsten  jetzt  sichergestellt 
durch  die  Bilinguis  81.  719,  VIII 

lat.  1  -  scarpus  *  scarpiae  *  1*  tucipa 

etr.  larntf  •  scarpal  •  lautni 
Voller  Name  H.  559  a#:  larce  |  tfupre:  tet  | 
nis':  lautni;  ebenso  91.  670  ar  papni  lautni 
(näml.  papnis',  s.  669) ;  eine  Freigelassene  als  Ge- 
mahlin des  früheren  Herrn  81.  707  puia-  arntnus'| 
numsis  |  numasis  *  lautni #a  (s.  706) ;  ähnlich  91. 
221  lartfia:  camei:  lartfisa:  lau:  s'atnas'  (näml. 
puia).  Fremden  Namen  hat  der  lautni  81.  176 
erantra;  81.  319  tiyile  (scheinbar  Gentilname  2T. 
887);  etr.  Vornamen  larfr  81.  460;  871;  ar(n^) 
887  (neben  tifile);  ebenso  die  lautnida  lat  etr. 
ramta  81.  422;  hasti  SC.  411.  Verstümmelt  oder 
abgekürzt  ist:  laut(n)i  31.  871;  lautni(£)a  8L 
876;  lautni(^a)  81  422;  unvollständig  sind  81. 
365  c;  442;  876;  ob  lv  81.  839  =  lavtni,  ist 
zweifelhaft  (eher  =  luvci);  in  81.  460  ist  viell. 
#anas:    tutlu[nias]    zu   lesen.     Die  Verbindung 

la  •  eteri  begegnet  nur  81.  96,  hinter  puiac,  aber 
doch  wohl  auf  den  vorhergehenden  erloschenen 
Mannesnamen  zu  beziehn.  Unpubliciert  (Brief 
von  Heibig)  aus  Perugia:  zepanu:  lautni:  frauc- 

nal ,    mit   Fremdnamen.     Endlich    möchte   ich 


Neuere  etruskologische  Pubücationen.    1445 

tins'  |  Int  Ä.  88,  IV  als  Jovis  libertns  fassen ; 
vgl.  lautni  flufultfas'  =  libertns  Opis  ft.  804 
(33.  Ill,  51,  101;  ©t.  I,  65,  99;  auch  p.  105). 

Zur  Conjunction  -c  „und"  fto-  I,  7—37 
sind  neue  Beispiele:  satlnal  c  £.368;  sentinal-c 
81.  164;  acnatrual-c  ».  800—1;  pulia-c  ».  319, 
viell.  =  puia-c  8.  95—96;  790;  pa^ana-c  ä. 
799,  5  (vgl.  -nati  ft.  2335  b) ;  zweifelhaft  valis-ic 
ä.  7  =  %.  405,  da  der  Ring  doch  schwerlich 
zwei  Personen  (Brüdern)  gehört  hat ;  eher  steckt 
clan  darin.  Ueber  ft.  2100  8.  ob. ;  auch  das  c  in 
purtsva-v-c-ti  Sß.  388  faßte  ich  dort  als  „und". 
—  Ueber  den  Genitiv  auf  -al  fto.  I,  41—83 
s.  ob. :  er  ist  jetzt  wohl  allgemein  anerkannt. 

Die  etruskischen  Münzen  fto.  II  (SR.  I, 
379 — 434)  haben  wenig  Besserungen  und  Zu- 
wachs erhalten  (Ad.  Kltigmann  Bull.  1877,  146 
— 51).  Auf  der  Goldmünze  n.  1  (p.  5)  liest 
Fabretti  (Atti  d.  R.  Accad.  d.  Torino  XV;  21 
Dec.  1879)  jetzt  wohl  mit  Recht  velznani  st. 
-papi,  so  daß  sie  sicher  nach  Volsinii  gehört 
(sonst  velzu,  velsu,  s.  n.  6  u.  7);  zum  Suffix  s. 
2R.  II,  461;  lat.  Volsanus  =  Volsnanus?  — 
Auf  n.  33  (p.  19)  las  ich  Herbst  1878  im  Briti- 
schen Museum  kami,  so  daß  sie  viell.  nach  Ca- 
mars  =  Clusium  gehört.  —  Neues  Exemplar  zu 
n.  68  x  (p.  48)  mit  pufluna  und  metal u  (nicht 
vetaru),  viell.  =  setaln(s)  =  setflans  H.  56,111; 
nur  s'etl  (Gam.  metl  =  met  all  am)  auf  31.  54, 
III.  —  Ein  Ex.  von  n.  84  a  (p.  54),  81.  846, 
bringt  die  lat.  Inschrift  c.  piso  und  stammt  aus 
dem  hannibalischen  Kriege  (etwa  210  v.  Chr.), 
wie  ich  bereits  SR.  I,  431  vermuthete  (Garn, 
p.  74  hat  mich  mißverstanden). 

Vornamen  fto.  Ill  (3K.I,  442—74).  Nach- 
träge: 

1)  arn&  (@t.  II):  Grundform  aruntf  sicher  durch 


1446    Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  45.46. 

31.  89;  arun£[i]a  (gen.  m.)  8.  542,  vgl.  arantta  % 
640;  arvntfalisa  31.  957;  viell.  ary#enas  (nicht 
aratf)  %.  293  (abgeleit.  Gentilname) ;  neuarnada- 
lisa  21.  126;  abgel.  Gentiln. :  arntnu,  arntu  8. 
706—7  ;  arnörusla  8.  17  (Vor  oder  Beiname?). 
Identität  von  ar  and  a#-  entschieden  durch  8.  401 
(bilinguis) ;  ar  406  (lat.  etr.) ;  at-  sicher  durch  8. 
211;  441;  neu  lat.  etr.  artal  21.  407  =  arnflal. 
—  Ueber  männl.  arntfi  ©t  II,  69;  go.  III,  40. 

2)  aule:  aul-  8.  279;  a-  (=  aulia)  8.  81; 
neu  aus'-  =  aules  8.  177 ;  lat.  etr.  aule  8.  872; 
Gentil.  aulias'  31.  163  (@t  II,  21).  -  Viell. 
nachzutragen  aviles  8.  732  =  g.  1857  bis  a. 

3)  caie:  kavi  81. 12;  kaviiesi  (Dativ?)  ».771 
=  go.  III,  88,  50;  zwfl.  caval  8.  300  =  892 
=  *cavial  ?  (Gentil.)  s.  cavla[l]  @t.  I,  72 ;  aspi- 
riertes  Gentil.   %aie,  xaes',  j^aial  s.  ob. 

4)  cneve:  kneave  8.238  (st.  knaeve?);  viell. 
camp.  cn[ajive  8.  931. 

5)  vel:  lat.  etr.  8.  414  (2mal);  Gen.  vlas  ä. 
262;  velu  8.  665  (Deminutiv?);  neu  velisa  ä. 
241  (weibl.  Dem.),  lat.  etr.  schon  g.  855  =  951 
(go.  III,  121).  Ob  hierher  valis-ic  8.  7?  s.va- 
lisa  g.  959.    Ueber  fei  =  vel  s.  unter  f. 

6)  velöur:  vel#  21.  659;  Gen.  velturus  JL 
574,  VII;  velöurusla  *ß.  437  (nach  ©t.  II,  17); 
wohl  verschrieben  vetfurus'  21.  385,  V  (schwer- 
lich 21.  551,  wo  ein  Gentil.  zu  erwarten). 

7)  velxe:  viell.  richtig,  wegen  v%*  21.  656 
(Nom.  und  Gen.),  s.  go.  Ill,  4,  1. 

8)  venel:  21.  117  (nicht  -eu). 

9)  dan(i)a :  etr.  unasp.  tania  21. 438,  VI ;  tana 
21.  673;  Gen.  tfanasa  8.  401  (t.  VI  0ana-  sa?); 
Sanas  21.  460  (st.  sunas?).  —  In  21.  298   igt*- 

Rest  von  a#-  oder  1#-;  lat.  etr.  tana  8.  421. 

10)  öanxvil  (£.  60—66),  herzustellen  ans 
0nevi:l8.544;  flanxvpl]  21.  742  «  g.  2092  (go. 
HI,  160);  aus  tfanial  2C.  592  =  go.  III,  162,28. 


Neuere  etruskologische  Publicationen.     1447 

11)  euker  21.  104;  Gen.  tfucerus  ä.  465 
(unsicher). 

12)  lar:  nach  meiner  jetzigen  Auffassung  (s. 
ob.)  nicht  von  lari  und  laris  zu  trennen.  Un- 
sicher lat.  etr.  [l]arisalisa  21.  420,  VI. 

13)  laree:  Gen.  lareces  2t.  904. 

14)  larO  (©t.  II):  verhauen  larntf  =  lat.  I- 
%  719  (nach  am«  ?);  Gen.  larflisa  21.  221 ;  lartfis 
21.  171;  larfrs  ».  437;  erweitert  latflis  21.  873; 
herzustellen  laflafl]  21.  531 ;  [l]arflali[s]a  21.  292, 
V;  abgekürzt  lrt  21.  92  =  g.  471;  Demin.  neu 
larfliza  «.  257;  weibl.  lartia  21.  882;  larti  21. 
672;  lafli  21.  139;  181,  V  (Gam.  irrig  Irfli  und 
lati);  318.  Unsichrer  Deutung  ist  larta  21.465; 
über  lartfa  (Geuit.  Fem.)  21.  834,  X  =  g.  2333 
ter  (in  go.  III  vergessen,  obwohl  in  S3.  I,  103, 

29)    s.  ob.  —   Lat.  etr.  larth  21.  419;  Gen.  Jar- 

thal  21.  415;  weibl.  lartb[ia]  21.  405;  larthi  21. 
409 ;  424.  Die  andern  Formen  schon  in  go.  III. 
—  Ueber  männl.  lar^i  ©t.  II,  70—1  (schon  g. 
Ill,  196);  männlich  sind  auch  die  Gen.  larflia- 
lisa  21.  137;  326;  lar#ial[is]ia  21.  803;  über 
lartfe  (Index  96)  s.  %uarfle. 

15)  lau%me:  unaspiriert  lucmes  (Gen.)  21.  7, 
I  =a  4.  405,  XII  (danach  zu  bessern  go.  M> 
236,  10);  vergleicht  man  lujumes  *ß.  335  (go. 
Ill,  225),  so  wird  wahrscheinlich,  daß  lucumu 
go.  Ill,  232,  trotz  seiner  Verkürzung  im  lat. 
Lucumo,  Deminutiv  von  luc(u)me,  urspr.  *laucurae 
ist;  dies  aber  ist  Ableitung  von  *laucu,  woraus 
la%u  und  lu^u,  s.  Iu^us  (Gen.)  21. 904 ;  zu  *laucu 
verhält  sich  dann  lau%usie  go.  Ill,  225,  wie  ce- 
xasie  zu  ce*a,  vgl.  schon  go.  Ill,  375,  §.  5. 

16)  lauxusie:  s.  oben;  viell.  Gen.  lavsies'  21. 
23,  II;  vgl.  [la]uxsie  g.  355  (go.  Ill,  226)  und 
Lausus  bei  Vergil;  nicht  sicher  echt  lavises'  6. 
I,  919  (Bronzen  von  Val  di  Cembra). 


1448    Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  45.46. 

17)  luvci:  luci  (männl.)  21.  565;  viell.  lv  H. 
389. 

18)  marce:  Gen.  mamarces  21.  782— 3,  IX; 
mamurces  21.  933  (neu,  campan.);  marces  2L 
763,  VIII. 

19)  numusie:  neu  numisies  2t.  934  (s.  lat. 
Numisiu8). 

20)  ravnfiu,  ram&a  (2.  68— 70):  rau-  2t.  128 
(s.  go.  Ill,  300,  42  und  303,  54) ;  [r]amu#a  «. 
580  (auch  von  mir  copiert,  aber  in  den  go.  ver- 
gessen); lat.  etr.  ramta  21.  422. 

21)  se&re:  s##  (Gen.  masc.)  2t.  400;  se#ras' 
21.  279;  lat.  setra  2t.  754;  Genttl.  ist  se#ra[l] 
2t.  346;  vgl.  noch  ©t.  I,  9-10;  II,  6;  25. 

22)  tar%i  21.  400,  VI  (2mal);  viell.  tarjia 
(weibl.)  21.  122;  vgl.  tartf  5ß.  301  (g.  III, 
333,  1). 

23)  %uarde :  herzustellen  [#u]ar#e  (nicht 
larfre)  21.  905,  III.  Ob  cuaitnal  2t.  766  zu  tren- 
nen ist,  und  in  cu  eine  Abkürzung  der  Stämme 
cuint-  oder  cuart-  steckt,  bleibt  zweifelhaft. 

24)  fastia:  fas#i  2t.  101;  fasi  2t.  119  (s.  fas- 
g.  1578;  go.  Ill,  359,  21);  lat.  etr.  hastia  2t. 
41;J  (2mal),  viell.  herzustellen  aus  nastia2l.  418; 
hasti  21.  411;  vgl.  noch  ©t.  I,  14;  33. 

Ein  neues  sicheres  männliches  Vornamen- 
siglum  scheint  tr*  21.  584,  wohl  =  pränest.  Tr, 
08k.  tr-,  also  *trepi  =  Trebius;  dazu  dann  die 
Gentilnamen :  trepi,  trepu,  trepalu,  treple,  trepuni 
u.s.w.  G.  1844 ff.,  vgl.  ©t.  1,93.  —  Gam.  faßt 
hermi  (nicht  #ermi)  21.  725  als  weiblichen  Vor- 

namen,  indem  er  siate[i]  ergänzt;  man  kann 
aber  auch  siatefs]  setzen ;  auch  21.  686  zwingt 
keineswegs,  hermi  als  Vornamen  anzuerkennen. 
—  Ob  in  tfivcles  21.  786  ein  tiufs]  cle[n]s  steckt, 
bleibt  sehr  zweifelhaft:  s.  go.  Ill,  352  und  vel- 
tfuruscles  3J.  I,  99 ;  @t.  II,  53,  59.  Ueber  pesna 
s.  ©t.  I,  96  (go.  Ill,  272). 


Neuere  etruskologische  Publikationen.    1449 

Die  Zahl  der  neuen  Familiennamen  (30?. 
I?  474 -498)  und  Beinamen  (ebdt.  498— 502) 
ist  bedeutend  und  beträgt  wohl  200:  ein  größer 
Theil  ist  oben  gelegentlich  angeführt  worden. 
Besonders  interessant  sind  etwa  noch  folgende, 
wobei  ich  die  sogen,  nordetr.  Formen  und  vieles 
Unsichere  bei  Seite  lasse:  anicisa  (lat.  etr.,  Gen.)  21. 
471;  antei  (abzutrennen  aus  fantei)  8. 688 ;  asate 
8.  98 — 9,  einen  Stadtnamen  asa  =  Ära  voraus- 
setzend (?);  afus'  (abgetrennt,  Genit.)  8.  385,  s. 
afur  (Beiname?)  8.  903;  campes  8.  464;  cana 
8.  -222,  bisher  Appellativum  (§o.  1, 55) ;  cresa  (?) 
5E.  173  bis  n;  cvertfesa  (Gen.)  8.  331;  erkace- 
nas  8.  572;  veni  (weibl.)  8.  754,  s.  veini  %. 
118,  sonst  venu;  vilasinei  %.  354,  s.  vilasunial 
5ß.  314;  zilini  8.178,  s.  lat.  etr.  selenia  8.529; 
helmus  (campan.)  8.  934;  lat.  etr.  hollon  .  .  . 
8.  424,  danach  herzustellen  hollonis  £.  115; 
Realie  (Bein  ?,  unsicher)  %.  290  bis;  tfafure 
(Bein.)  8.  547,  s.  toessap.  Tafar-,  Tabar-  *ß. 
526  -  30 ;  imatu  8.  203,  s  puratum  9ft.  II,  442, 
Note  208;  kilnei,  -n[al]  8.  544;  548,  vgl.  Cil- 
nius  und  g.  2031  (@t.  I,  51,  56) ;  lakenas  8. 
755,  VIII,  zu  laue-?;  maruce  j.  174,  vgl.  Mar- 
rucini;  lat.  etr.  ocriclo  8.  825,  vgl.  ucrislane; 
orsminnius,  -ia  8.  836  =  ursmini  g.  2095  quat. ; 
parfnal  5ß.  256  (nachzuholen);  pelcnis'  8.  39 
vgl.  Paelignus  (?) ;  plance  8.  523;  prasinfa]  8. 
107,  erklärt  das  bisher  räthselhafte  a  prasna  r 
g.  854  (go.  Ill,  303) ;  lat.^etr.  raveia  St.  264  bis, 
vgl.  rave . .  ia  8.  424 ;  salpe  (Bein.,  unsicher) 
8.  168,  vgl.  Salpinates  2R.  I,  327 ;  s'antfatnei  8. 
59,  vgl.  samatnei,  semusaflnis'  u.  s.w.;  scalutia 
21.  885 ;  scenatia  21.  433 ;  lat.  etr.  sandina  (weibl ) 
21.  469;  scania  21.  419,  vgl.  scansna;  s'ilunis' 
21.  859;  starnitfi,  -#a[l]  2t.  700;  704;  supie  2t. 
435,  vgl.  supl-,  supn- ;  sure  (Gentil.)8. 108,  s.  go. 


1450    Gott  gel.  Anz.  1880.  Stück  45. 46. 

in,  332  und  surn-;  taqpusa  iL  459,  s.  ta^unia; 
teli  3f.  306,  s.  telaflura;  tete  iL  368,  sonst  teta; 
umpres  «.  697,  vgl.  Umber ;  Ultimi  «.  350,  vgl 
ultimne ;  gumtu  1. 254  und  257  *u  s.  w.  —  Inter- 
essant ist,  daß  nach  31.  799  die  Nachkommen 
des  lar(i8)  pule  den  abgeleiteten  Namen  paleoa 
führen  (s.  auch  800  u.  801).  —  In  21.  253,  V 
lar# :  latini :  clanti :  latinial :  lardal  |  scires :  clan: 
(im  Text  falsch  atinial)  scheint  der  Sohn  den 
Familiennamen  der  Mutter  angenommen  zu  ha- 
ben, deren  Name  auch  voransteht;  scire  ist 
sonst  Beiname  der  petf  (u)na.  —  Bemerkenswerth 
sind  ferner  iH.  231  bis  vel:  cesusa:  xeritoal: 
clan;  ähnlich  -21.338  vel:  velsi:  viscesa:  vi: 
tlesna[l] :  clan,  vgl.  9K.  II,  485  ff.  —  Grabschrif- 
ten von  Mann  und  Frau  zusammen  sind:  ?(.  8t 
(trenne  a  •  vusnei) ;  92  (Vorn.  d.  Frau  fehlt) ;  95 
u.  96  mit  puiac  „und  Gattin",  beide  verstüm- 
melt; 319  mit  puliac  (s.  ob.);  445  (zweifelhaft, 
s.  174  u.  SC.  252;  Fälschung?);  502;  654  (but 
zwei  Familiennamen);  706  und  707  (gehören 
zusammen) ;  908.  Zusammen  gehören  auch  544 
a  u.  b,  zu  lesen:  vel:  heimni  tutia[l]  klan; 
0[a]n%vil :   kilnei :  velasnal :  &e%.  —  Das  etr.  ml 

„ich  bin"  erscheint  lat.  5(.  529,  sonst  oft  (In- 
dex p.  98);  sutfi  nur  «.  904. 

Weitere  Ausführungen  muß  ich  für  eine  an- 
dere Gelegenheit  aufsparen:  es  bietet  dazu 
Gamurrini's  verdienstliches  Werk  noch  reiche 
Gelegenheit. 

W.  Deecke. 


r 


i 


V 


Livias,  rec.  A.  Luehs.  1451 

T.  Livi  ab  urbe  condita  libri  a  vice- 
8imo  sexto  ad  tricesimum,  rec.  Augu- 
stus Luchs.  Berolim  ap.  Weidmannos  1879. 
CL  u.  393  SS.    gr.  8°. 

Bis  zum  Jahre  1869  galt  für  die  Kritik  der 
III.  Dekade  des  Livius  der  Grundsatz,  daß  die- 
selbe sich  einzig  auf  den  Cod.  Puteanus  (Nr. 
5730  der  Pariser  Bibl.)  zu  stützen  habe  und 
daß  alle  übrigen  uns  bekannten  HSS.  auf  diesen 
zurückgehen.  Die  in  den  jüngeren  HSS.  und 
älteren  Ausgaben  sich  findenden  Abweichungen 
vom  P  und  die  Ergänzungen  der  in  ihm  vor- 
handenen Lücken  setzte  man  auf  Rechnung  der 
Abschreiber,  Erklärer,  Herausgeber.  Auf  die 
Unrichtigkeit  dieser  —  selbst  von  einem  so 
scharfsinnigen  Kritiker  wie  Madvig  noch  bis 
zum  Erscheinen  der  II.  Auflage  seiner  Emenda- 
tiones  Livianae  (1877)  mit  Zähigkeit  festge- 
haltenen und  vertheidigten  *)  —  Ansicht  zuerst 
hingewiesen  zu  haben,  ist  das  große  Verdienst 
des  Nürnberger  Rektors  Heer  wagen.  In  sei- 
ner Comm.  crit.  de  T.  Livii  XXVI,  41,  18—44,1 
Nürnb.  1869  lieferte  dieser  den  unanfechtbaren 
Beweis,  daß  das  im  P  fehlende,  in  dem  verlore- 
nen Cod.  Spirensis  —  von  der  Speierer  HS. 
gaben  nur  noch  die  in  der  Edit.  Froben.  II 
(1535)  durch  Rhenanus  überlieferten  Lesarten 
Zeugniß  —  und  anderen  HSS.  vorhandene  resp. 

*)  ImProoemiom  zurlll.Dek.  in  seinen -Emend.  (Aufl. 
II,  p.  271)  gesteht  er  seinen  Irrtbum  offen  ein:  'quae 
contra  proferebantur  nimis  pertinaciter  sprevi,  de  lacu- 
narrnn  duarum  maiorum  supplements  temere  Weissen- 
bornio  assensas,  in  quo  etiam  Hertzio  nonnihil  iniuriae 
feci.  Eum  errorem  .  .  .  nunc  correxi,  reficto  hocprooe- 
mie*  usus  iis,  quae  primus  Ileerwagenus  ♦  .  docte  et  vere 
disputavit  etqs.' 


1452    Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  45.46. 

vorhanden  gewesene  Stück  XXVI,  41,  18-43,8 
nicht,  wie  man  bisher  gewöhnlich  angenommen, 
spätere  Ergänzung  eines  gelehrten  Italiäners*) 
aus  dem  15.  Jahrb.,  sondern  echt  livianisch  sei. 
Er  zog  daraus  die  ganz  richtige  Folgerung, 
daß  neben  dem  Put.  noch  eine  zweite,  verschie- 
dene, aber  mindestens  gleich  gute  Textesquelle, 
wenigstens  für  die  zweite  Hälfte  der  III.  Dekade, 
vorhanden  gewesen  sein  müsse,  aus  welcher  der 
von  Khenanus  excerpierte,  seitdem  verschollene 
Spirensis  geflossen  sei.  Heerwagens  Schluß 
fand  glänzende  Bestätigung  einmal  durch  den 
fast  gleichzeitig  von  Halm  in  der  Münchener 
Bibl.  gemachten  Fund  eines,  das  Stück  XXVIII 
39,  16—41,  12  enthaltenden,  Blattes  des  Cod. 
Spirensis,  aus  welchem  man  das  Alter  dieser 
HS.  (saec.  XI)  feststellen  konnte**),  und  dann 
durch  die  von  Studemund  in  den  Analecta 
Liv.  Berol.  1873  p.  6 — 31  vorgenommene 
Herausgabe  der  (von  Baudi  de  Vesme  entdeck- 
ten) Fragmente  eines  sehr  alten  Turiner  Livius- 
Palimpsestes,  welcher  derselben  Handschriften- 
Familie  wie  der  Spir.  angehört  (s.  weiter  unten). 
Es  mußten  nun  die  bisher  wenig  beachteten 
jüngeren  HSS.  klassificiert  und  diejenigen  her- 
ausgesucht werden,  welche  dem  Spir.  zunächst 
verwandt  sind.  Dies  that  Th.  Mo  mm  sen  (in 
den  Analecta  Liv.)  —  wie  Weißenborn  Vorw. 
zur  III.  Aufl.  von  Liv.  Bd.  VI,  1  der  Weidmann. 
Ausg.  sagt  —  „in  einem  Umfange  und  mit 
einer  Schärfe,  wie  nie  vorher  geschehen".  So 
war  für   die   dringend   nothwendig    gewordene 

*)  Aischefski  Ausg.  IV  p.  194:  'callidas  üle  Italos, 
qui  banc  lacunam  ex  Polybii  fragmentis  satis  scite  ex- 
plevit\    Vgl.  Madvig  Em.  Liv.  ed.  I  p.  203. 

**)  Halm,  Sitzungsberichte  der  bayer.  Akad.  d.  Wiss. 
1869.    n,  S.  580-584. 


r 


Livius,  rec.  A.  Luchs.  1453 

neue  Edition  dieses  Theiles  der  III.  Dekade  in 
den  Grundztigen  der  Weg  vorgezeichnet,  auf 
welchem  weiterzugehen  war.  Dieser  wichtigen 
und  mühevollen  Aufgabe  unterzog  sich  der 
jetzige  Professor  A.  Luchs  in  Erlangen,  ein 
Schüler  Wölfflins,  und  er  hat  sie  mit  großem 
Fleiße  und  sicherem  Urtheil  auf  der  soliden 
Grundlage  eines  genauen  Studiums  und  sorg- 
fältigen Eingehens  auf  den  Sprachgebrauch,  wie 
dasselbe  Wölfflins  Schule  eigenthümlich  ist, 
glücklich  gelöst. 

Zunächst  lag  ihm  ob,  die  von  Mommsen  be- 
zeichneten jüngeren  HSS.  ganz  zu  vergleichen, 
ihre  Verwandtschaft  unter  einander  zu  bestim- 
men und  zu  untersuchen,  wie  weit  sie  für  die 
Textes-Emendation  zu  verwenden  seien.  Welche 
umfangreiche  und  mühsame  Arbeit  dies  gewe- 
sen ist,  lassen  die  in  den  Prolegomena  Pars  I 
Codicum  enarratio  p.  VIII— LX  niedergelegten 
Resultate  schließen,  die  wir  kurz  wiedergeben 
wollen. 

Zuerst  führt  Luchs  den  Beweis,  daß  alle  von 
Rhenanus  und  Gelenius  in  den  Adnotationes  zur 
Ed.  Froben.  II  (Basel  1535)  vorgebrachten  lec- 
tiones  und  emendationes,  bis  auf  wenige  von 
Luchs  namhaft  gemachte,  aus  dem  cod.  Spiren- 
sis  (S)  genommen  sind.  Dies  ergiebt  sich  aus 
der  Vergleichung  derselben  einerseits  mit  der 
älteren  Ed.  Froben.  1531,  andrerseits  mit  den 
dem  S  verwandten  jüngeren  HSS.,  von  denen 
Luchs  nur  die  besten  zuzieht,  welche  geeignet 
sind  die  Ueberlieferung  dieser  Handschriften- 
familie erkennen  zu  lassen. 

Der  Cod.  Puteanus  (dem  6.  oder  7.  Jahrh. 
angehörig)  entstammt  demselben  Archetypus, 
aus  welchem  die  Urhandschrift  (2)  des  Spiren- 
sis   geflossen.     Somit  gehen    alle    uns  direkt 


1454    Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  45.46. 

oder  indirekt  bekannten  HSS.,  welche  die  tll. 
Dekade  überliefern,  auf  &nen,  vor  dem  6.  Jahrb. 
geschriebenen,  znm  Tbeil  lückenhaften  und  von 
Schreibfehlern  entstellten  Codex  zurück.  Sie 
theilen  sich  (s.  das  Stemma  codicum  bei  Luchs 
p.  VII),  in  zwei  Familien,  die  des  Put.  (und 
seiner  Nachkommen,  des  Vat.,  Bamberg.,  Col- 
bert.), der  die  ganze  Dekade  enthält  und  nur  zu 
Anfang  und  Ende  verstümmelt  ist,  und  die  des  -2, 
der  Urhandschrift  des  Spirensis.  Aus  dieser 
stammt,  außer  dem  Taurinensis  (s.  oben),  der 
nicht  mehr  vorhandene  cod.  21,  der  Vater  des 
Spirensis  und  eines  (auch  verlorenen)  dem  Spir. 
ganz  ähnlichen  und  dieselben  Abschnitte  ent- 
haltenden Cod.  gemellus  2*.  Auf  letzteren  sind 
alle  in  Betracht  kommenden  jüngeren  HSS.  (die 
namhaftesten:  Harl.  2684.  Harl.  2493.  Laur. 
LXIII  21  Vat.  Pal.  876.  Flor.  Laur.  LXXXIX) 
zurückzuführen,  aus  welchen  (sammt  den  Les- 
arten der  Ed.  Frob.  II)  die  Ueberlieferung  der 
^-Familie  rekonstruiert  wird.  Den  Weg,  auf 
welchem  Luchs  zu  den  angegebenen  Resul- 
taten kommt,  ihm  im  Einzelnen  nachzugehen, 
würde  im  Rahmen  dieser  Besprechung  zu  weit 
führen.  Wir  können  nur  unsere  Zustimmung  zu 
der  methodischen  und  überzeugenden  Art  und 
Weise,  wie  er  die  Untersuchung  führt,  hier  aus- 
sprechen. 

Es  existiert  also,  um  dies  noch  einmal  zu- 
sammenzufassen, für  die  Bücher  27 — 30  (eigent- 
lich 26,30,9-26,  31,  2;  26,  41,  18—26,  43,9; 
26,  46,  2—27,  7,  17;  27,  9,  8  bis  Ende  des  30. 
B.)  eine  doppelte,  gleich  gute  Ueberlieferung, 
die  des  Put.  und  die  des  <£*).    An  Interpolatio- 

*)  So  bezeichnen  wir  fortan  der  Kürze  halber  die  auf 
die  Urhandschrift  des  Spirensis  zurückgehende  Ueber- 
lieferung. 


Living,  rec.  A.  Luchs.  1455 

neu,  aber  nicht  bedeutenden,  und  Fehlern  leiden 
beide.  Die  Fehler  und  Lücken  des  P  werden 
an  unzähligen  Stellen  durch  die  Lesarten  des 
2  berichtigt,  resp.  ergänzt  (wie  dies  großenteils 
schon  in  den  alten  Ausgg.  zu  Tage  tritt).  Wo 
P  und  2  gleich  gute  Lesarten  zu  bieten  schei- 
nen, ist  sorgfältiges  Abwägen  nöthig.  Damit 
kommen  wir  in  das  Gebiet  des  II.  Theils  der 
Proleg.  'de  arte  critiea  factitanda'.  In  ihm  ver- 
schafft Luchs  vielen  bisher  vernachlässigten 
Lesarten  des  2  die  gebührende  Geltung. 

Im  cap.  I  'de  vocibus  spuriis'  macht  er  zuerst 
die  verbal tnißmäßig  wenigen,  durch  Versehen 
oder  Kachlässigkeit  der  Abschreiber  entstande- 
nen Einschiebsel  im  2  namhaft.  29,  10,  6,  wo 
2  sacrificantibus  ipsis  Pythio  Apollini  omnia 
laeta  exta  faisse,  P  sacr.  ips.  Pythio  Apoll  on  i 
laeta  fuisse  hat,  möchte  ich  das  neben  exta  un- 
haltbare omnia  nicht  mit  Luchs  für  einen  ans 
Apoll  oni  entstandenen  Fehler  halten,  sondern 
eher  liegt  dieser  Stelle  eine  Vermischung  zweier 
Lesarten  zu  Grunde:  1.,  omnia  laeta  fuisse  (s. 
31,  7,  15  qui  mihi  sacrificanti  . .  laeta  omnia 
prosperaque  portendere,  vgl.  26, 41, 17),  was  ohne 
sacrificia  vom  Resultate  der  Opfer  auch  für  eine 
Gottheit  wohl  gesagt  werden  kann,  und  2.,  laeta 
exta  fuisse,  was  auch  ich  vorziehe,  s.  31,  5, 7  laeta 
exta  fuisse  u.  Frgm.  17  Weiß,  adeo  laeta  exta 
immolanti  fuisse  scribit  Livius.  Leo's*)  Ansicht, 
daß  sich  die  Lesarten  omnia  laeta  fuisse  und 
omnia  laeta  extitisse  gegenüberständen  und  zwi- 
schen ihnen  zu  wählen  sei ,  ist  entgegenzu- 
halten, daß   eine  Verbindung   wie  omnia  laeta 

*)  In  der  Rec.   des  Luchs'schen  Buches  Rhein.  Mus. 
N.  F.  XXXV,  2  S.  243. 


1456    Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  45. 46. 

existunt  =  sunt  bei  Liv.  nicht  zu  finden  ist 
Existere  bezeichnet  entstehen,  hervorkommen, 
auftreten  (=  oriri,  exoriri,  gigni,  prodire);  nur 
10,  34,  14  ist  fides  extitit  ungefähr  =  fides 
fait*). 

Absichtliche,  aber  nur  aus  einem  oder  meh- 
reren Worten  bestehende  Interpolationen  zur  Er- 
klärung oder  Ergänzung  einer  Stelle  kommen 
hier  und  da  im  2  vor,  doch  ist  von  dergleichen 
auch  der  P  nicht  frei.  Als  eine  solche  braucht 
man  aber  nicht  mit  Luchs  das  28,  20,  1  in  c.tr. 
verstümmelte  contra  (P)  anzusehen,  wenn  man 
es  lokal  'gegenüber'  auffaßt;  zur  Wortstellung 
vgl.  9,  37,  3  ad  instruendum  contra.  Contra 
würde  zugleich  erklären,  weshalb  die  Städter 
die  hinter  ihrem  Rücken  erfolgende  Erstürmung 
der  Burg  nicht  wahrnehmen.  —  Die  Echtheit 
der  Worte,  um  welche  der  2  reicher  ist  als  P, 
hat  Luchs  meistens  ausreichend  belegt.  Ver- 
stärkt können  die  Beweise  u.  a.  werden  27,  10, 6 
senatus  mandat  consulibus,  ut  ad  populum  quo- 
que  eos  producerent.  Das  in  P  fehlende  quoque 
entnimmt  Luchs  dem  -5*.  Daß  in  solchen  Verbin- 
dungen quoque  bei  L.  gebräuchlich  ist,  bezeugt 
auch  41,  7,  5  cum  eum  in  senatu  fatigassent 
interrogationibus  .  .  in  contionem  quoque  pro- 
duxerunt,  vgl.  24,  32,  1.  43,  8,  3.  —  27,  16,6 
wird  passim  als  aus  dem  Vorhergehenden  wie- 
derholt von  allen  Herausgebern  gestrichen. 
Luchs  hat  es  mit  Recht  aufgenommen.  Das 
Unanstößige  dieser  Wiederholung  beweisen  na- 
mentlich 25,  18,  1   cum  passim  popularentur  .  . 

*)  Eine  Vermischung  zweier  Lesarten  liegt  auch  29, 
23,  4  —  iam  enim  et  nubilis  erat  virgo  —  zu  Grande; 
sowohl  iam  enim  als  et  ist  in  Parenthesen  bei  Liv.  in 
diesem  Sinne  statthaft. 


Livius,  rec.  A.  Luchs.  1457 

milites  palatos  passim  revocarunt.  26, 39,  21. 22 
passim  ..  passim.  2,  51,  4.  5.  22,  2,  7.  9.  22, 
48,  4.  5.  —  Das  von  Luchs  28,  5,  15  bei  prope 
.  .  .  erant  restituierte  iam  (Put.  nur  prope;  so 
Weißenb.,  Madv.  u.  s.  w.)  ist  eine  echt  liviani- 
sche  Verbindung,  s.  36,  34,  2.  1,  35,  1;  vgl. 
2,  1,  6.  2,  63,  2. 

In  cap.  II  de  interpolationibus  et  synony- 
mis  werden  die  bemerkenswerthesten  Interpola- 
tionen des  2  aufgeführt  und  besprochen.  Als 
eine  solche  weist  er  u.  a.  auch  die  Lesart  des 
2  fasces  et  secures  praelatae  sunt  28,  27,  15 
mit  Recht  zurück  und  hält  an  der  des  P  fasces 
cum  securibus  fest.  Daß  fasces  cum  securibus 
bei  Liv.  stehender  Ausdruck  ist,  wo  dieselben 
als  zusammengebunden  bezeichnet  werden  sol- 
len, zeigt  außer  den  beiden  von  L.  beigebrach- 
ten Stellen  auch  Frg.  23  Weiß,  spolia,  inter 
quae  quinque  fasces  cum  securibus.  Werden 
hingegen  Beile  und  Ruthenbündel  ganz  allge- 
mein erwähnt  als  Insignien  des  imperium  (3, 
57,  2.  8,  33,  18.  22,  27,  3.  28,  24,  14  zwei- 
mal. 31,  29,  7.  35,  16,  4),  oder  wird  der  Be- 
fehl gegeben  sie  aufzubinden  (3,  36,  5.  3, 45,  7. 
8,  32,  10),  so  sagt  Liv.  virgae  securesque,  v.  et 
s.,  v.  ac  8.,  sec.  et  fasces,  f.  securesque. 

Wo  2  und  P  differieren,  aber  Gedanke  und 
Sprachgebrauch  beide  Lesarten  gleich  gut  er- 
scheinen läßt,  hat  sich  L.  hier  meist  für  den  P 
entschieden,  womit  man  sich  im  Allgemeinen 
einverstanden  erklären  muß.  27,  19,  5  indeß 
ist  die  Lesart  des  2*  taciti  der  des  P  tacite 
vorzuziehen;  denn  obgleich  auch  letzteres  in 
dem  hier  verlangten  Zusammenhang  und  Sinne 
einmal  (24,  14,  3)  vorkommt,  so  ist  das  Adv. 
doch  überhaupt  bei  Liv.  selten  (sichere  Stellen 
sind  nur  2,  58,  8.  5,  28,  1.  24,  14,  3),  wäh- 
rend  das  Adjektiv   in  dieser  Verbindung   und 

92 


1458     Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  45.46. 

sonst  tiberwiegt;  s.  außer  der  von  Luchs  citier- 
ten  Stelle  noch  33,  32,  3  alii  alia  non  taciti 
solum  opinabantur,  sed  sermonibus  etiam  fere- 
bant,  vgl.  28,  44,  28.  23,  31,  7.  34,  31,  1  und 
37,  57,  15.  —  27,  22,  13  vermuthet  L.,  daß' 
das  orerentur  des  2*  dem  caperentur  des  P  vorzu- 
ziehen sei.  Dies  bestätigt  auch  39,  16,  13. 
4,  45,  4.  34,  26,  4;  27,  3.  Vgl  4,  7,  6.  2, 
50,  3  consilia  ex  re  nata. 

In  cap.  Ill  de  praepositionibus  wird  nach- 
gewiesen, daß  die  Verderbnisse,  die  sich  auf 
Präpositionen  beziehen,  im  2  und  P  sich  ungefähr 
die  Wage  halten.  27, 1, 8  (einer  vielbesprochenen 
Stelle)  schreibt  Luchs  nach  2*  pugnantium  (P 
oppidantium).  Gegen  diese  Lesart  macht  Leo  mit 
Recht  geltend,  daß  die  Reiter  nicht  den  Käm- 
pfenden, sondern  den  Reserven  in  den  Rücken 
fallen.  Er  schlägt  vor  subsidiantiuin,  was  aber 
—  wie  er  selbst  angiebt  —  nur  b.  gall.  8,  13 
vorkommt,  jedenfalls  unlivianisch  ist  (L.  sagt 
subsidia  oder  subsidiarii) ;  oder  opperientium 
(Höfer),  gegen  welches  Verbum  der  Umstand 
spricht,  daß  L.  es  nur  an  zwei  Stellen  (32, 30,  8 
und  40,  16,  5)  absolut  gebraucht  und  nie  in 
dem  hier  verlangten  Sinne  anwendet  Meine 
Ansicht  ist,  daß  pugnantium  an  einen  falschen 
Ort  gerathen  ist  und  eine  Zeile  höher  stehen 
muß.  Die  Stelle  lautete  wohl  ursprünglich:  ut, 
cum  pedestres  acies  occupassent  praesenti  oerta- 
mine  oculos  animosque  pugnantium,  circumvecti 
pars  castra  hostium,  pars  terga  (nämlich  eben- 
falls hostium)  invaderent  Für  die  Zusetzung 
von  pugnantium  zu  oculos  animosque  sprechen 
einerseits  Stellen  wie  26,  46,  4.  34,  47,  4  cla- 
moresque  a  praesenti  certamine  animos  pugnan- 
tium avertebant.  26,  5,  9.  38,  6,  5,  andrerseits, 
daß  Liv.  bei  invadere  terga  gewöhnlich  das  all- 
gemeine   hostium    bat;   s.   38,   6,  5.    9,  23,  15 


Livius,  rec.  A.  Luchg  1459 

(einmal  1,  27,  8  Fideuatium).  Die  in  denHSS. 
zu  terga  gesetzten  Genitive  sind  wohl  einem 
Leser  zuzuschreiben,  der  dazu  einen  Genitiv 
vermißte.  —  Oft  ist  es  unmöglich  sich  mit  Si- 
cherheit für  die  Ueberlieferung  des  2  oder  P 
zu  entscheiden,  meist  lassen  sich  für  beide  Ana- 
logien beibringen,  so  z.  B.  für  den  Gebrauch  der 
Verba  simplicia  oder  composita,  für  die  eine 
oder  die  andere  Präposition,  mit  der  ein  Ver- 
bund zusammengesetzt  ist.  Auch  hier  verfährt 
L.  mit  großer  Vorsicht  und  ist  bestrebt  seine 
Wahl  sorgfältig  zu  begründen.  —  30,  25,  6 
schreibt  er  mit  dem  2  neque  rostro  ferire  cele- 
ritate  subterlabentem  poterant  neque  transilire 
armati  ex  humilioribus  in  altiorem  navem.  Die 
von  L.  versuchte  Verteidigung  von  subterlaben- 
tem ist  nicht  überzeugend.  Subterlabi  läßt  sich 
durch  die  Analogie  des  31,  10,  6  vorkommenden 
subterfugere  (quae  ingentem  illam  tempestatem 
belli  Punici  subterfugissent)  nicht  belegen,  denn 
hier  ist  das  Bild  von  Schiffen,  die  unter  dem 
über  ihnen  stehenden  Unwetter  wegschlüpfen, 
ganz  angemessen  und  natürlich;  an  unserer  Stelle 
hingegen,  wo  die  vor  labi  gesetzte  Präposition 
die  Möglichkeit  des  Entschlüpfens  sinnlich  an- 
schaulich erklären  soll,  ist  das  eigentlich  ge- 
brauchte subterlabi  von  dem  größeren  Schiffe, 
welches  an  den  kleineren  vermöge  seiner  Schnel- 
ligkeit nur  vorbei-,  nicht  darunter  hinweg- 
schlüpfen kann,  unrichtig.  Subterlabi  ließe  sich 
allenfalls  als  gedankenlose  livianiscbe  Ueber- 
setzung  des  Polybianischen  Ausdrucks  imox&Qoij- 
oyg  tfjg  recug  (15,  2,  12)  denken.  Dem  hier  ge- 
forderten Sinne  entspricht  immer  noch  am  be- 
sten das  Weißenbornsche,  aus  der  Verderbniß  des 
P  superlabentem  hergestellte  sua  jwaelabentem 
(paläograpbisch  noch  wahrscheinlicher:  sua  prae- 
terlabentem). 

92* 


1460    Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  45.46. 

Cap.  IV  handelt  von  der  Wortstellung.  Wie 
schon  Madvig    nachgewiesen,   findet   sich  in  P 
an    vielen  Stellen    eine  verkehrte  Wortstellung. 
Hierfür    bietet   2,   in   welchem    dieser   Fehler 
seltener  ist,  an  den  meisten  Remedur ;  doch  ent- 
scheidet sich  auch  hier  L.  nur  nach  gründlicher 
Zuratheziehung  des  Sprachgebrauchs  für  den  P 
oder  2".     Wo  für  beide  Arten  der  Wortstellung 
Analogien  da  sind,   folgt   er   der  Majorität  der 
Parallelstellen.     Wenn  auch    in    seinen  Stellen- 
sammlungen   zuweilen     einige    Beispiele     feh- 
len, oder  Angaben    zu    berichtigen  sind,   so  ist 
doch  meist   das   von  ihm  gezogene  Gesammtre- 
sultat  nicht  anzufechten.    Lassen  sich  z.  B.  27, 
42,  14  für  das  von  ihm  verworfene   prima  luce 
des  P  (2  luce  prima)  außer  der  einen  von  ihm 
citierten  Stelle  auch   noch  3,  69,  6.   44,  35,  16 
anführen,   so  bat  doch  der  2  mit  6  Stellen   ge- 
gen 3   die  größere  Wahrscheinlichkeit   für  sich. 
—  28,  3,  2  zieht  L.  die  Stellung  ne  tarnen  ho- 
stibus  (2)   dem    ne  hostibus  tarnen    des   P  vor 
und  bringt  6  Stellen  bei,    wo  ne  oder  ut  tarnen 
dicht  zusammenstehen.     Was  ut  tarnen  betrifft, 
so  ist,   wenn   ein  Wort    hervorgehoben    werden 
soll,   wie  hier  hostibus,    dies  bei  L.  öfters  auch 
zwischen    ut   und   tarnen  gesetzt:  2,  44,  4.    23, 
5,  11.    31,  10,  4.   33,  31,  11.    42,  9,  5,    vgl.  9, 
20,  8.   Ne  und  tarnen  stehen  allerdings  dicht  bei 
einander,  vgl.  auch  22,  28, 8.  -  30,  18,  5  stellt 
L.  mit  2  inlustres  equites  (P  eq.  inl.)  und  fügt 
hinzu:  similiter  nobilis  praemitti  solet.    Dies  ist 
dahin  zu  berichtigen,  daß  nobilis  außer  an  den 
drei  von  ihm  citierten  Stellen   noch    an  10   an- 
deren  nachgestellt   ist:    2,  56,  11.     3,  37,  8. 
8,  29,  10;  39,  12.   9,  6,  10.  24,  47,  12.  26,  27,7. 
31,21,18.  39,9,5;  36,4.   So  wäre  das  Verhält- 
mß  13  :  13.  —  Die  Gründe,  welche  Luchs  für  die 
nach  dem  2  gegebene  Wortstellung  in  den  Pro- 


Living,  rec.  A.  Luchs.  1461 

digien-Angaben  28,  11,  4.  6.  27,37,  5  beibringt, 
halte  ich  nicht  für  stichhaltig.  L.  meint,  die 
Wortstellung  des  P  multo  manasse  sudore  (2 
multo  sudore  manasse)  entspreche  der  Einfach- 
heit des  Prodigienstils  nicht.  Dagegen  lassen 
sich,  auch  aus  Prodigien-Angaben,  Stellen  an- 
führen, welche  beweisen,  daß  die  Wortstellung 
nicht  immer  eine  so  schlichte  ist:*)  3,  10,  6  in- 
genti  concussa  motu  est.  22, 1, 10  cruentis  ma- 
nasse respersum  maculis.  Ib.  cruentas  in  corbem 
spicas  cecidisse.  24,  10,  11  legiones  se  arma- 
tas  ..  videre.  41,  9,  5  multa  in  foro  aedificia. 
28,11,2  duo  perlapsi  angues.  Zur  Trennung 
mit  esse  zusammengesetzter  Verbalformen  (P 
natum  infantem  esse)  vgl.  3, 10, 6.  35, 9,  3.  36, 
37,4.  39,  56,  6.  Auch  die  Wortstellung  28, 11,  6 
eins  noctis  (P)  möchte  ich  der  des  2  noctis  eius 
vorziehen,  weil  Liv.  fast  immer  das  Pron.,  na- 
mentlich wenn  es  betont  ist,  vor  nox  stellt;  er 
sagt  immer  ea  nocte  (5,39,  8.  26,  17,  8.  32, 12, 
10.  38,27,7.  43,22,2);  ebenso  eadem  nocte 
3,  18,  1.  9,  16,  8.  41,  21, 13.  hac  nocte  44,38, 
7  ;  39,  6.  illa  nocte  3,  26, 12.  Aber  noctis  illius, 
quae  6, 17, 4.  noctem  earn,  quae  25,  25,  11.  Wie- 
derum 27,50,  1.  39,17,5  ea  nocte,  quae;  nur 
40,12,9;  12  noctis  huius  ohne  folg.  Relativ. 

Die  Capitel  V  de  temporibus  et  modis  und 
VI  de  numeri8  sind  weniger  umfangreich.  Wo 
Luchs  selbst  Textesverbesserungen  (meist  in 
cap.  VII  variae  adnotationes  criticae  begründet) 

*)  Vgl.  auch  Luterbacher  'der  Prodi gien glaube  und 
Prodigienstil  der  Römer'.  Progr.  Bargdorf  1880  S.  42: 
'mehr  and  mehr  scheint  Livius  sich  vom  Satzbau  des 
alten  Prodigienstils  frei  gemacht  zu  haben,  und  zuweilen 
ist  es  ihm  denn  auch  gelungen  schöne  Perioden  aus  den 
Prodigienangaben  zu  konstruieren.  Dahin  gehört  z.  B. 
auch  27,37,1 — 3,  wenn  man  richtig  interpungiert  u.  s.  w.' 


1462     Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  45.46. 

vornimmt  —  es  sind  dies  wenige  Stellen  — 
läßt  er  sich  fast  nur  vom  Sinne  leiten,  die  pa- 
läographische  Wahrscheinlichkeit  tritt  mehrfach 
zu  stark  in  den  Hintergrund. 

Mehreren  seiner  Vorschläge  können  wir  nicht 
zustimmen.  So  z.  B.  der  Conjektur  27,  49,  2 
ubi  regendi  spem  incidissent  (HSS  regendis  per- 
tticissent  *),  namentlich  wegen  der  Unklarheit 
in  der  Beziehung  von  regendi.  Eher  noch 
möchte  das  Weißenbornsche  ubi  regentis  spre- 
vissent,  vgl.  5, 28,  4,  mit  Hinzuftigung  von  impe- 
rium,  vgl.  c.  14,  10  elephantus  insidentis  magistri 
imperio  regitur,  annehmbar  sein.  Spernere,  asper- 
nari  imperium  von  solchen,  die  den  Gehorsam 
verweigern,  ist  bei  Liv.  sehr  gewöhnlich :  6, 4, 5. 
8, 30, 11 ;  31,  3 ;  32, 7 ;  34,  3  u.  s.  w.  —  26,  22, 
8  vixdum  requiesse  auris  a  strepitu  et  tumultu 
hostili,  quo  paucos  ante  menses  asserint  (so  P, 
Weißenborn  unhaltbar  arserint)  prope  moenia 
Romana.  Luchs  schreibt  statt  des  verdorbenen 
asserint:  scansa  sint.  Dies  ist  deshalb  sehr  be- 
denklich, weil  Liv.  weder  von  scandere  noch  von 
dessen  Compositis  Passivformen  bildet,  außer  tran- 
scendi  37, 56,  8  und  das  unpers.  transcensnm 
est  27, 15, 18.  33,  17, 13;  ferner  conscensum  est 
21,  49,  10 ;  auch  von  descendere  kommen  nur 
wenige  und  zwar  ebenfalls  unpers.  passiv.  Formen 
vor:  descensum  est  und  esset;  superscando  und 
suprascando  kommen  überhaupt  nur  je  einmal 
und  zwar  aktivisch  vor  (7,  26,  2.  1,  32,  8); 
escendere  einmal  passiv,  unpers.  37,  3,  7  escen- 
ditur  in  Capitolium;  ascendere  nur  aktivisch. 
Sollte  in  asserint  nicht  zu  suchen  sein  ascende- 
rint  prope  <Poeni>  moenia  R.  (26,48,5  u.  ö.)? 

*)  Wenn  Leo  a.  a.  0.  S.  240  die  Lesart  regendi 
spem  vicissent  für  unanstößig  hält,  so  ist  dagegen  zu  be- 
tonen, daß  dieser  Ausdruck  auch  unlivianisch  ist. 


Li  vine,  rec.  A.  Luchs.  1463 

—  So  ist  auch  26,  26,  6  das  von  Luchs  ge- 
schriebene ementita  (hds.  edita  Acta)  sinnent- 
sprechend und  an  sich  gut  lateinisch,  kommt 
aber  in  passiv.  Bedeutung  bei  Liv.  nicht  vor. 
Auch  möchten  wir  das  in  diesem  Sinne  gut  livia- 
nische  ficta  der  HS.  nicht  ohne  triftigen  Grund 
beseitigt  wissen.  Eher  halten  wir  edita  für  den 
Ueberrest  oder  für  verdorben  aus  einem  zu 
ficta  gehörigen  Adverb  oder  Ablativ  (vgl.  im- 
pudenter  ficta  30,19,11).  —  29,32,10  schreibt 
Luchs  totaque  Africa  fama  mortis  Masinissae 
vulgata  varie  animos  adfecit  statt  des  hds.  re- 
pleta,  (welches  trotz  Weißenborns  Vertheidigung 
unhaltbar  ist)  ohne  paläographische  Wahrschein- 
lichkeit. Alanus  hatte  perlata  vorgeschlagen, 
das  aber  ohne  Bezeichnung  der  Bichtuug  wo- 
hin? selten  vorkommt  (nur  22,  30,  7,  vgl.  10, 
27,4).  Näher  liegt  vielleicht  repens  oder  re- 
p<ente  al>lata,  vgl.  22,  7, 7  repens  clades  allata 
und  c.  8,1.  6,42,4.,  vgl.  32,31,2.  22,21,6. 

Noch  wollen  wir  einige  wenige  Stellen  be- 
rühren, die  schon  von  anderer  Seite  (Leo  in  der 
citierten  Recension  des  Luchs'schen  Buches)  be- 
sprochen sind.  Leo  meint,  daß  26,  49,  12  der 
Lesart  des  2  zu  folgen  und  alia  me  angit  cura 
(P.  alia  me  cura  .  .  stimulat)  zu  geben  sei, 
wegen  des  bei  Liv.  stehenden  Sprachgebrauchs 
cura  angit.  Aber  auch  cura  stimulat  ist  gut  li- 
vianisch  (44, 17, 6 ;  44, 1),  wenn  auch  cura  an- 
git häufiger  ist.  Es  ist  eben  wieder  eine  der 
vielen  Stellen,  wo  es  fast  unmöglich  ist,  mit 
Entschiedenheit  die  eine  oder  die  andre  Ueber- 
lieferung  zu  wählen.  —  An  der  vielbehandelten 
Stelle  30, 18,  7  verwirft  Leo  alle  bisherigen  Les- 
arten und  Vermuthungen  (intermixtus,  in  per- 
mixtis,  inter  permixtos,  turbae  permixtus),  weil 
alle  übersähen,  daß  man  im  Handgemenge  nicht 
mit  Lanzen  kämpft     Daß  aber  cuspis  (ebenso 


1464    Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  45.  46. 

spiculum)  =  hasta  auch  vom  Stoße  mit  der 
Lanze  im  Nahkampfe  gebraucht  wird,  bezeugen 
Stellen  wie  4,  19,  4  (Weißenborn  zu  §  5  'wie- 
derholte Stiche'  und  zu  2, 19,  8  infestis  hastis 
'mit  eingelegten  Lanzen')  8,  7,  10.  11.  Vgl. 
bell.  gall.  8,48.  Liv.  25,18,13.  -  Das  29,  17, 
15  von  Leo  für  das  fehlerhafte  fuit  des  P  ver- 
muthete  vitiant  (virgines,  ingenuos)  würde  in 
diesem  Sinne  bei  Liv.  an.  sIq.  sein.  Wir  halten 
fuit,  das  noch  dazu  im  2  fehlt,  für  ein  bloßes 
Versehen  des  Schreibers.  —  Noch  geringere, 
namentlich  paläographische,  Wahrscheinlichkeit 
hat  30,29,4  seine  Vermuthung  securitate  statt 
des  hds.  si.  —  Auch  die  Conjeetur  Leos  27,47, 
9  fessique  aliquot  somno  ac  via  Ulis  sternunt 
corpora  passim  halten  wir  nicht  für  richtig.  Die 
Verbindung  fessi  somno  läßt  sich  zwar  durch 
Dichterstellen  (s.  Weißenb.)  vertheidigen.  Wenn 
man  aber  die  Wahl  hat  zwischen  dem  poeti- 
schen und  sonst  bei  Liv.  nicht  vorkommen- 
den fessi  somno  und  dem  bei  Liv.  in  ähnlichen 
Verbindungen  stehenden  fessi  vigiliis ,  wird 
man  sich  unschwer  für  letzteres  entscheiden. 
Vielleicht  möchte  aus  somno  der  Abi.  eines  Ge- 
rundiums (vgl.  stando  ac  vigiliis  2,  65,  1.  3, 
60,4.  38,27,1)  herzustellen  sein.  Der  Mose  Abi. 
illis  widerspricht  dem  livianischen  Sprachge- 
brauch. —  Wenn  Leo  27,  50,  1  conjiciert  ex 
nocte  (HSS.  ea  nocte),  so  ist  dasselbe  Bedenken 
zu  erheben.  Liv.  verbindet  ex  in  diesem  Sinne 
mit  einem  Substantiv  und  Pronomen  (ex  eo 
tempore,  ex  tanto  intervallo,  ex  illa  —  ex  qua 
die,  ex  eo  anno ;  vgl.  ex  eo,  ex  quo).  Somit  müßte 
es  wenigstens  ex  ea  nocte  heißen. 

Wir  fassen  unsere  Ansicht  über  die  Luchs- 
sche  Ausgabe  am  Schlüsse  dahin  zusammen, 
daß,  wenn  auch  der .  Herausgeber  nicht  darauf 
ausgegangen   ist,   viele   und   glänzende    eigene 


Cybulski,  Gesch.  d.  polnischen  Dichtkunst.    1465 

Emendationen  zu  geben  —  das  Verdienstliche 
der  Arbeit  liegt  eben  auf  einem  anderen  Ge- 
biete — ,  dieselbe  doch,  durch  Fleiß,  Gediegen- 
heit und  gesundes  Urtheil  vortrefflich,  für  die 
Textesneugestaltung  der  zweiten  Hälfte  der  III. 
Dekade  grundlegend  und  von  hervorragender 
Bedeutung  ist. 

Stendal.  Moritz  Müller.     ^ 


Geschichte  der  Polnischen  Dicht- 
kunst in  der  ersten  Hälfte  des  laufen- 
den Jahrhunderts  von  Dr.  Adalbert  Cy- 
bulski, weiland  Professor  an  der  Berliner  Uni- 
versität. 2  Bde.  Posen,  fcupan'ski,  1880.  XVI. 
332  u.  270  SS.    8°. 

Cybulskfs  Name  dürfte  dem  deutschen  Pu- 
blicum bekannt  sein:  er  wirkte  an  zwei  deut- 
schen Universitäten  als  Docent,  in  Berlin  habi- 
litierte er  sich  im  Jahre  1841  für  das  Fach  der 
sl  avischen  Sprachen  und  wurde  im  Sommer  des 
Jahres  1860  nach  Breslau  berufen  in  die  durch 
den  Abgang  Gzelakowski's  erledigte  Professur 
der  slavischen  Philologie,  wo  er,  nahe  an  59 
Jahr  alt,  in  voller  Lebenskraft  plötzlich  am  16. 
Februar  1867  starb,  tief  betrauert  von  allen,  die 
ihm  näher  gestanden.  Bald  nach  seinem  Hin- 
scheiden gab  Zupaiiski  seine  in  Berlin  in  den 
Jahren  1843  und  1844  gehaltenen  Vorlesungen 
über  die  neueste  polnische  Poesie  heraus  in  pol- 
nischer von  Herrn  Dobrowolski  bestens  besorgten 
Uebersetzung  mit  einem  Vorworte  von  Kraszewski, 
in  Posen  1870  in  2  Bänden.  Das  Interesse,  wel- 
ches der  polnischen  Uebersetzung  von  dem  pol- 
nischen Publicum  geschenkt  wurde,  bestimmte 
den  Verleger,  jetzt  dieselben  im  Jahre  1 843  und 
1844  in  Berlin   von  Cybulski  gehaltenen  Vorle- 


1466    Gott.  gel.  Adz.  1880.  Stück  45. 46. 

sungen  im  Originaltext  herauszugeben,  und 
dem  deutseben  Publicum  ein  Buch  zu  über- 
reichen, welches  geeignet  ist,  sein  Interesse 
in  Anspruch  zu  nehmen.  Cybnlski  war  durch 
seine  Erlebnisse,  seine  Stellung  und  durch  sein 
warmes  Interesse  für  die  literarische  Bewe- 
gung bei  den  Polen  im  In-  und  Auslande  wie 
selten  Jemand  berufen,  den  in  der  neuesten  reich 
und  in  eigenartiger  Pracht  entwickelten  polnischen 
Poesie  sich  auslebenden  Geist  zu  interpretieren: 
in  seiner  Darstellung  und  in  seinen  Urtheilen 
spricht  sich  der  unverfälschte,  unmittelbare  Ein- 
druck aus,  den  die  poetischen  Werke  der  hochbe- 
gabten, ausgezeichneten  polnischen  Dichter  der 
neueren  Zeit,  wie  Mickiewicz,  Stowacki,  Kra- 
siriski,  Pol  u.  a.  auf  das  polnische  Volk  vor  und 
nach  der  Revolution  von  1830  machten.  In  den 
Tagen  des  Bestandes  des  polnischen  Staats  war 
die  Poesie  in  Polen,  mehr  als  irgendwo,  eine 
ruhige,  reflectierende  Kunst,  die  den  Zeitereig- 
nissen ihren  Glanz  und  ihre  Weihe  lieb,  od$r 
im  Angesicht  von  bestehenden  öffentlichen  Ge- 
brechen ihre  ernste,  didactische  Stimme  erhob, 
sich  in  zeitgemäßen  Formen  gefiel  und  mehr  an 
die  vorgezogenen  Geister  im  Volke  sich  wandte, 
—  selbst  in  ihren  besten  Repräsentanten  von 
Kochanowski  bis  Krasicki  war  sie  auf  die  zu- 
nächstliegenden Erscheinungen  des  Lebens  ge- 
richtet. Seit  dem  Beginn  dieses  Jahrhunderts 
nahm  sie  einen  hohen  Flug  und  zog  den  durch 
harte  Schicksalsschläge  erregten  Geist  des  Vol- 
kes mit  schwungvoller  Kraft  hinauf  in  eine  Welt 
der  höchsten  Lebensideale  und  der  höchsten  Be- 
geisterung für  alles  Nationale,  ihre  Repräsentan- 
ten wurden  bewußt  oder  unbewußt  zu  geistigen 
Führern  des  Volkes.  Cybulski  hebt  diesen  Cha- 
rakter der  neueren  polnischen  Poesie  wiederholt 
hervor,  indem  er  darauf  hinweist,  daß   ihre  be- 


Cybulski,  Gesch.  d.  polnischen  Dichtkunst.    1467 

steil  Vertreter  den  letzten  Zweck  ihres  Dichtens 
nicht  allein  in  der  Ennst  selbst,  sondern  in  der 
Verktindung  einer  bestimmten  Idee  suchten,  daß 
sie  die  Verkörperung  des  Volksbewußtseins,  Trä- 
ger des  Zeitgeistes,  begeisterte  Erleuchter  d*s 
Volkes  waren  oder  als  solche  galten,  und  um  so 
größeren  Einfluß  ausübten,  je  inniger  sie  sich 
mit  dem  Volke,  mit  dessen  Dichten  und  Trach- 
ten, seiner  Vergangenheit  und  Zukunft  eins  fühl- 
ten. Die  Hauptrichtung  der  neueren  polnischen 
Poesie,  sagt  Cybulski  an  mehreren  Stellen,  ist 
die  politisch-nationale  (I,  30),  es  komme  in  ihr 
vorzugsweise  darauf  an,  alle  Momente  hervorzu- 
heben, die  dem  nationalen  Leben  seine  zukünf- 
tigen Bahnen  vorzeichnen  und  seine  Begenera- 
tion  vorbereiten  (I,  176).  Dieses  Streben  nach 
nationaler  Selbständigkeit  sei  aber  nicht  exclusiv- 
national,  es  beruhe  vielmehr  auf  dem  Boden  all- 
gemeiner europäischer  Entwickelung,  mit  der  Po- 
len stets  geistige  Gemeinschaft  hatte.  Im  Ande- 
ren bei  sich  zu  sein ,  die  Errungenschaften  der 
europäischen  Cultur  in  nationaler  Weise  zuver- 
werthen  und  weiter  zu  führen,  dies  sei  der  Kern 
des  Trachtens  der  Polen  im  geschichtlichen  und 
literarischen  Leben.  Die  polnische  Dichtkunst 
der  neuesten  Zeit  habe  einen  europäischen  Cha- 
rakter, nehme  die  Ideen  der  Zeit  auf  und  ver- 
arbeite sie  (II,  261).  Durch  diese  und  ähnliche 
allgemeine  Gedanken  wird  die  Stellung  der  neue- 
ren polnischen  Poesie  innerhalb  der  allgemein 
europäischen  beleuchtet,  und  den  Vorträgen  Le- 
ben und  Wärme  verliehen,  deren  Einwirkung  man 
bei  der  Leetüre  sich  gern  hingiebt,  und  dabei  die 
Digressionen  des  Vortragenden  auf  das  historische, 
politische  und  philosophische  Gebiet  nicht  allzu 
streng  beurtheilt,  eben  weil  sie  uns  genau  in  die 
geistige  Atmosphäre  hineinführen,  in  welcher  der 
Vortragende  lebte.     Ich   glaube   das  Belebende 


1468    Gott,  gel  Anz.  1880.  Stück  45. 46. 

der  Vorlesungen  vornehmlich  in  zwei  Momenten 
zu  erblicken:    in   der  Beurtbeilung  der  neueren 
polnischen  Poesie    vom   Standpunkte  der  politi- 
schen Zeitereignisse,   indem   die  Revolution  des 
Jthres  1830  als  der  Mittelpunkt  des  poetischen 
Schaffens  der  polnischen  Dichter  dargestellt,  und 
dabei  in  einem  besonderen  Abschnitt  nach  den 
unmittelbarsten  persönlichen  Eindrücken  des  Vor- 
tragenden in  Liedern  gleichsam  lebendig  vorge- 
führt wird ;  und  zum  anderen  in  der  höchst  inter- 
essanten Polemik  gegen  Mickiewicz.   Dieser  be- 
kannte polnische  Dichter,   auch  in  wissenschaft- 
licher Beziehung  ausgezeichnet,  ein  Schüler  Grod- 
decks,  wurde,  nachdem  er  in  Lausanne  Professor 
der  lateinischen  Sprache  und  Literatur  gewesen, 
im   J.  1840  nach  Paris  als  Professor  der  sla vi- 
schen Sprachen  und  Literaturen  am  College   de 
France    berufen,   und   trug    hier    die   Culturge- 
schichte  der  slavischen  Völker  in  einer  kenntniß- 
und   geistreichen  Weise   vor,   welche  die  allge- 
meinste Aufmerksamkeit   auf  sich  zog,   so    daß 
seine  Vorlesungen  von  seinen  Zuhörern  in  perio- 
dischen lithographierten  Blättern  herausgegeben 
wurden,  und  in  den  weitesten  Kreisen  das  größte 
Interesse   fanden.     (Sie   wurden  herausgegeben 
unter  dem  Titel:    Les  Slaves   cours  profess^  au 
College  de  France  par  Adam  Mickiewicz  5  voll. 
Paris    1849;   in    polnischer   Uebersetzung   in   4 
Bänden  in  Posen  1850,  und  von  Wrotnowski  bei 
Zupanski  1865 ;  in  deutscher  Uebersetzung  von  G. 
Siegfried  [Kimaszowski]  Leipzig  1843  in  4  Bänden, 
später,  1849  in  einer  neuen  Titelausgabe).    Nach- 
dem Mickiewicz  in  den  ersten  zwei  Jahren  die  Cul- 
turgeschichte  und  die  Geschichte  des  literarischen 
Lebens  der  Slaven  in  lichtvoller  und  geistreicher 
Darstellung  geschildert  hatte,   nicht   ohne  dabei 
politische  Gedanken  auszusprechen,  verfiel  er  im 
dritten  und  vierten  Jahre,  inzwischen  mit  dem 


Cy bulski,  Gesch.  d.  polnischen  Dichtkunst.    1469 

Sectirer  Towiahski   bekannt  geworden,   in   eine 
mystische,  auf  Weltbeglückung  gerichtete  Ten- 
denz, welcher  eine  vorgefaßte  Interpretation  der 
neuesten  polnischen  Dichtungen  dienstbar  gemacht 
wurde.   Zu  dieser  „messianischen"  Tendenz  stellt 
sich  Gybulski  wiederholt  in  Gegensatz,  sucht  sie 
in  ihrer  Nichtigkeit,  und  den  wahren  Beruf  der 
,  polnischen  Dichter   nach  ihren  poetischen  Wer- 
ken zu  zeigen.    So  wie  er  den  Dichter  Mickie- 
wicz  hochstellt,  ist  er  ein  strenger  Kritiker  der 
von  dem  Pariser  Professor   im  Cours  de  litera- 
ture slave  geäußerten  Ansichten  über  die  gegen- 
wärtige und  zukünftige  Mission  der  slav.  Völker. 
Neben  den  allgemeinen  Gesichtspunkten,  nach 
denen   die  Entwickelung   der  polnischen  Dicht- 
kunst der  zwanziger  und  dreißiger  Jahre  unseres 
Jahrhunderts   (der  Titel  ist  nicht  genau)   inter- 
pretiert wird,  geht  eine  Beurtheilung  der  einzel- 
nen poetischen  Werke  nach  bestimmten  ästheti- 
schen  Grundsätzen    ergänzend   und  beleuchtend 
einher.    Man  wird  die  Urtheile  Cybulskis  heute, 
nachdem  das  Studium  der  polnischen  Literatur- 
geschichte  angefangen  bat,   bedeutend  sich   zu 
vertiefen,  kaum  in  allen  Punkten  theilen  können, 
die  heutige  Kritik,  die  der  Epoche  der  beurtheil- 
ten  poetischen  Kunstwerke  nicht  mehr  so  nahe 
steht,  wie  Cy  bulski,  und  weniger  in  Gefahr  ist, 
von  den  gleichzeitigen  Stimmungen  beeinflußt  zu 
werden,  hat  vielfach  andere  Standpunkte  einge- 
nommen, aber  auch  bei  nicht  übereinstimmenden 
Ansichten   ist   man   die  Anerkennung   schuldig, 
daß  in  den  Vorträgen  von  Cy  bulski  in  manchen 
Partieen  sorgfältige   Studien  zu  bemerken  sind, 
wie  es  bei  Cybulski  nicht  anders  zu  erwarten  war. 
Einige    dieser  eingehend  studierten  Fragen  hat 
Prof.  Cybulski  später  noch  besonders  behandelt, 
wie  die  politisch-literarische  Bewegung  vor  1830 
und  die  Beurtheilung  der  Dziady  von  Mickie- 


1470     Gott,  gel  Anz.  1880.  Stück  45. 46. 

wicz  („Die  letzte  Revolution  Polens  und  die  ihr 
vorangehende  politisch-literarische  Bewegung"  in 
Prutz's  Liter,  bistor.  Taschenbuch  1846;  Dziady 
Mickiewicza,  rozbiör  Krytyczny  in  den  Jahrbü- 
chern der  Posener  Gesellschaft  der  Freunde  der 
Wissenschaften  1863).  In  der  Abhandlung  über 
die  „Ahnenfeiertf  (Dziady)  von  Mickiewicz  ver- 
tieft und  entwickelt  Cybulski  die  in  den  Vorle- 
sungen I,  230  ausgesprochenen  Gedanken  nach 
philosophischen  Gesichtspunkten,  indeß  wird  diese 
Auffassung  durch  die  in  neuerer  Zeit  zu  Tage 
geförderten  biographischen  Commentare  aus  dem 
Leben  des  Dichters  nicht  bestätigt. 

Im  Ganzen  sind  die  Vorlesungen  Cybulskis 
geeignet,  das  Interesse  für  die  neuere  polnische 
Literatur  bei  dem  deutschen  Publicum  zu  wecken 
und  zu  fördern,  sie  sind  geeignet,  in  das  Studium 
derselben  einzuführen,  vornehmlich  erleichtern 
die  zahlreichen  geschickt  angelegten  Analysen 
der  hervorragendsten  neueren  polnischen  Dich- 
tungen das  Verständnis  der  Leetüre  der  Werke 
selbst,  die  in  deutscher  Uebersetzung  in  großer 
Anzahl  vorhanden  sind.  Es  seien  die  Vorlesun- 
gen Cybulskis  über  die  neuere  polnische  Poesie 
hiermit  empfohlen. 

Die  Ausgabe  ist  besorgt  von  Herrn  L.  Kurtz- 
mann  mit  anerkennenswerter  Sorgfalt.  Einsehr 
verständig  angelegtes  Inhaltsverzeichnis  ermög- 
licht einen  bequemen  Ueberblick  über  die  Dispo- 
sition des  Ganzen  und  ein  rasches  Finden  des- 
jenigen, was  man  sucht,  so  daß  ein  Namenver- 
zeichnis kaum  nöthig  ist.  Die  polnischen  Lieder 
und  kleineren  Gedichte,  sowie  Citate  aus  größe- 
ren, welche  der  Vortragende  seinen  Zuhörern  in 
polnischer  Sprache  mittheilte,  werden  hier  in 
deutscher  Uebersetzung  geboten,  der  Heraus- 
geber nahm  sie  zum  Theil  aus  vorhandenen  Pu- 
blicationen,  wie  Spazier  (übersetzte  Pan  Tadeusz 


Cybulski,  Gesch.  d.  polnischen  Dichtkunst.    1471 

Leipzig  1836),  Gaudy  (Historische  Gesänge  der 
Polen  L.  1833),  Drake  (Polnische  Miscellen  1826), 
Blankensee  (Mickiewic'z  Werke  Berl.  1836), 
Koniecki  (Blttthen  der  slavischen  Poesie  Berl« 
1855),  Kannegießer  (Konrad  Wallen  rod  von  Mick. 
1834),  Nitschmann  (Poln.  Parnass  Leipz.  1875\ 
Just.  Kerner,  F.  A.  Maercker  (Dziady  in  Dioscu- 
ren  1836),  Gumbert,  Zuker  (Lyrische  Ged.  poln. 
D.  Leipz.  1869),  C.  v.  Warzbach,  Dr.  Weiß 
(Balladen  and  Romanzen  von  Mickiewicz.  Kon- 
rad Wallenrod  1871),  Dr.  Zipper  (Maria  von 
Malczewski  H.  1872),  Dr.  Winklewski,  S.  Lipi- 
ner  u.  a. ;  theils  wufden  von  den  Herrn  Nitsch- 
mann, Dr.  Weiß  und  Selmar  für  diese  Ausgabe 
einige  Gedichte  übersetzt  und  dem  Herausgeber 
zur  Verfügung  gestellt;  theils  übersetzte  Hr.  L. 
Kurtzmann  selbst  sehr  viele  in  den  Vorlesungen 
angeführte  Gedichte,  wobei  er  sich  meist  der 
reimlosen  ry thmischen  Verse  bediente.  Alle  diese 
Uebersetzungen  entsprechen  dem  Geist  und  oft 
dem  Wortlaut  der  bezüglichen  Originalgedichte 
genau,  manche  sind  mit  großem  Talent  über- 
setzt. —  Dem  Texte  sind  stellenweise  kurze  er- 
klärende oder  bibliographische,  auf  deutsche 
Uebersetzungen  und  Besprechungen  der  polni- 
schen Poesien  bezügliche  Noten  beigegeben.  Man 
kann  dem  Herausgeber  nur  zu  Dank  verpflichtet 
sein,  daß  er  überall,  wo  sich  die  Gelegenheit  dazu 
bot,  die  vorhandenen  deutschen  Uebersetzungen 
oder  in  deutscher  Sprache  geschriebene  Abhand- 
inngen und  Aufsätze  über  die  neueren  polnischen 
Dichtwerke  verzeichnet  hat.  Man  sieht  aus  die- 
sen Nachweisen,  die  sicher  noch  zahlreicher  wä- 
ren, wenn  Beschränkung  nicht  durch  den 
Stoff  selbst  geboten  wäre,  daß  das  Interesse 
für  die  neuere  polnische  Literatur  in  Deutsch- 
land verhältnißmäßig  groß  ist,  —  Störend  sind 
einige  sprachliche  und  sachliche  Fehler,  welche 


1472     Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  45. 46. 

leicht  beseitigt  werden  konnten:  so  die  Namen 
Klacel,  Chodani,  Batiuszkow,  Zend  Avesta,  welche 
unrichtig  gedruckt  sind;  so  „vergebene  Erhebung" 
für  „vergebliche  Erhebung"  (II,  34),  das  Bestat- 
tung für  die  B.  (206),  „Czacki  schuf  Ungeheures" 
(I,  93),  wofür  an  der  entsprechenden  Stelle  in 
Prutz's  Taschenbuch  1846  S.  91  richtig  „Außer- 
ordentliches" steht,  u.  ä. 

Ich  will  diese  Besprechung  des  interessanten 
Buches  nicht  schließen,  ohne  die  Bemerkung  aus- 
gesprochen zu  haben,  daß  es  wohl  wünschens- 
werth  wäre,  diese  Uebersicht  der  neuesten  pol- 
nischen Poesie  vervollständigt  zu  sehen.  Prof. 
Cybulski  hat  seine  Vorträge  nicht  zu  Ende  ge- 
führt, und  so  findet  man  über  manchen  Dichter, 
so  findet  man  z.  B.  über  „Pan  Tadeusz",  das 
beste,  was  Mickiewicz  schrieb,  fast  kein  Wort  in 
den  Vorlesungen.  Die  Zeit  ließ  es  nicht  zu, 
aber  wäre  auch  Cybulski  mit  seinem  Pensum  zu 
Ende  gekommen,  so  war  doch  damals  die  neuere 
polnische  Poesie  noch  zu  keinem  erkennbaren  Ab- 
schluß gelangt,  andererseits  ist  zu  bemerken,  daß 
sie  zwar  überwiegend  nach  einer  Richtung  hin- 
drängte, welche  in  den  Vorlesungen  besonders  be- 
leuchtet worden  ist,  der  politisch-nationalen,  daß 
sie  aber  in  ihrer  freien  Entwickelung  auch  Blüthen 
zeitigte,  welche  von  dem  politischen  Hauch  der 
Zeit  nicht  berührt  wurden,  und  die  im  nationalen 
Gewände  den  allgemein  menschlichen  Geist  ath- 
men.  —  Vielleicht  wird  das  Interesse,  welches 
für  Cybulskis  Vorlesungen  im  Publicum  sicher 
zu  erwarten  ist,  eine  Vervollständigung  dersel- 
ben in  dem  angeregten  Sinne  veranlassen. 

Breslau.  W.  Nehring. 


Für  die  Redaction  verantwortlich :  E.  Rehnisch,  Director  d.  Gott.  gel.  Abx. 
Commissions-Verlag  der  DieteiicK  sehen  Verlags-  Buchhandlung. 
Vntck  der  DietericK  sehen  Univ.- BuchdrucJurei {W  fr.  JttueAtir/, 


1473 

G  Ott  in  ff  is  che 

Dr.C  3  lO'JO 

gelehrte    Anzeigen 

unter  der  Aufsicht 

der  Königl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Stück  47.  24.  November  1880. 


Inhalt:  A.  Delattre,  Les  inscriptions  historiques  de  Ninive  et 
de  Baby lo ne.  A.  Schäfer,  Die  biblische  Chronologie  vom  Ausznge 
ans  Aepypten  bis  zum  Beginne  des  Babylonischen  Exils.  Von  J.  Oppert 
—  W.  F.  Loebisch  und  P.  v.  Rokitansky,  Die  neueren  Arznei- 
mittel in  ihrer  Anwendung  und  Wirkung.    Yon  Th.  Htuemann. 

ss  Eigenmächtiger  Abdruck  von  Artikeln  der  Gott.  gel.  Anz.  verboten  ss 


Les  inscriptions  historiques  de 
Ninive  et  de  Babylone.  Aper§u  general  de 
ces  documents,  examens  raisonnees  des  versions 
par  A.  Delattre  S.  J.  Paris,  Ernest  Leroux. 
1879.     90  SS. 

Die  biblische  Chronologie  vom  Aus- 
zuge aus  Aegypten  bis  zum  Beginne 
des  Babylonischen  Exils,  mit  Berücksich- 
tigung der  Resultate  der  Aegyptologie  und  der 
Assyriologie.  Von  der  theologischen  Facultät 
zu  Wtirzburg  gekrönte  Preisschrift.  Von  Aloys 
Schäfer,  Dr.  theol.  Münster,  Russell's  Verlag. 
1879.    IV,  141  SS. 

Die  Schriften  dieser  beiden  geistlichen  Her- 
ren nehmen  ganz  besonders  unser  Interesse  in 
Anspruch,  und  sind,  jede  in  ihrer  Weise,  geeig- 
net, durch  die  in  verschiedener  Art  zweckmäßige 
Behandlungsweise   des   Stoffes,   den   Dank   des 

93 


1474      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  47. 

Lesers  hervorzurufen.  Die  Verfasser  gehören 
nicht  zu  den  eigentlichen  Fachmännern  auf  as- 
syriologischem  Gebiete:  es  ist  daher  um  so 
höher  anzuerkennen,  daß  sie  der  neuen  Wissen- 
schaft ihre  Kraft  und  ihre  Leistungsfähigkeit 
zugewandt  haben.  Die  Schrift  des  Herrn  De- 
lattre,  eines  Mitgliedes  der  Gesellschaft  Jesu, 
stammt  aus  Belgien;  sie  ist  somit  die  erste  Ar- 
beit über  Ninive  und  Babylon,  die,  soweit  wir 
uns  erinnern,  in  diesem  Lande  entstanden  ist 
Das  andere  Werk  ist  das  eines  Deutschen,  und 
namentlich  dazu  berufen,  den  oberflächlichen 
Ansichten  siegreich  entgegenzutreten,  die  einige 
unserer  bekannten  Assyriologen  im  Kampfe 
gegen  Historie  und  Historiker  bis  jetzt  zu  ver- 
breiten gesucht  haben. 

Wir  wollen  uns  zuerst  mit  dem  Buche  des  Hrn. 
Delattre  beschäftigen,  da  dasselbe  ein  Resume 
anderer  Arbeiten  ist,  und  namentlich  die  dan- 
kenswerte Aufgabe  hat,  die  in  jüngster  Zeit, 
nicht  ohne  eigene  Schuld  einiger  Gelehrter,  et- 
was zu  streng  kritisierte  junge  Wissenschaft,  zu 
der  Achtung  und  der  Anerkennung  zu  verhel- 
fen, die  ihr  mit  Fug  und  Recht  gebührt.  Die- 
ses ist  ein  Gesichtspunkt,  der  unsere  Erkennt- 
lichkeit verdient. 

Der  Verfasser  betitelt  den  ersten  Abschnitt 
seines  Buehes:  „Typus  der  historischen  Inschrif- 
ten: Untersuchung  der  Uebersetzungen".  Un- 
beschadet der  Anerkennung,  die  wir  im  Allge- 
meinen dem  Verfasser  nicht  versagen,  hätten 
wir  gewünscht,  daß  er  nicht  nur  leicht  zugäng- 
liche Uebersetzungen  aus  zweiter  Hand  benutzt 
hätte:  wenn  er  auch  sagt,  daß  Hr.  Mönant  we- 
sentlich nur  die  des  Referenten  wiederholt  hat, 
so  wäre  es  vielleicht  besser,  zuweilen  auf  die  er- 
sten Original  werke  zurückzugehen.    Sehr  häufig, 


Delattre,  Inscriptions  historiques.      1475 

trotz  ihrer  unläugbaren  Fortschritte,  begegnet 
es  auch  wirklich  selbständigen  Forschern,  daß 
sie  ältere  richtige  Ansichten  durch  spätere  un- 
wahre zu  ersetzen  suchen:  denn  auch  die  fort- 
schreitende Wissenschaft  darf  sich  nicht  für  un- 
fehlbar halten. 

Um  die  Uebersetzungen  zu  prüfen,  muß  man 
selbstverständlich  auf  die  Originaltexte  zurück- 
gehn:  wir  haben  mit  Freuden  bemerkt,  daß  Hr. 
Delattre  dieses  zu  thun  versucht  hat,  obwohl 
wir  nicht  immer  seinen  Vorschlägen  beitreten 
können.  Ein  merkwürdiges  Beispiel  dieser  Art 
bietet  sich  S.  20:  dort  verwahrt  sich  der  Ver- 
fasser dagegen,  Mißcredit  auf  die  Assyriologie 
jeu  werfen,  und  betheuert,  sein  einziges  Ziel 
sei  die  Wahrheit.  Dann  gab  es  doch,  um  sie  zu 
finden,  noch  andere  Uebersetzungen,  als  die 
Rodwell's  und  Menants.  Hr.  Delattre  fragt  mit 
Recht,  wie  es  möglich  sei,  dieselbe  Phrase  zu 
übersetzen,  durch: 

„zerschmetternd   die  widerspenstigen  Gott- 
heiten".  (Menant). 
oder: 

„dahinschreitend  über  alle  seine   Feinde". 

(Rodwell). 
Diese    allerdings    höchst    sonderlichen    Ueber- 
tragungen  ersetzt  der  Autor  durch  folgende: 

„zerschmetternd  den  Schädel  der  Rebellen". 
Der  wahre  Sinn,  den  Hr.  Delattre  in  andern 
Uebersetzungen,  bei  Hincks,  Rawlinson  und  dem 
Ref.  gefunden  haben  würde,  ist: 

„verbeerend  das  Gebiet  der  Rebellen"*). 
Hierzu  sagt  Hr.  D.  in  einer  Note: 

„Das  assyrische  guttat,  welchem  Hr.  Menant 
den  Sinn  „Gottheit"  und  Hr.  Rodwell  den  Sinn 

*)  Siehe  Exp.  en  Mesop.  1. 1,  p  342.  Histoire  p.  1 18. 

93* 


1476      Gott  gel.  Anz.  1880.  Stück  47. 

„Alles"  beilegt,  kommt  von  der  Wurzel  GLL, 
welche  das  hebr.  galgölet  und  das  syr.  gogulto 
„Schädel",  erzeugt". 

Wir  geben  Hrn.  Delattre  recht,  wenn  er  die 
Uebersetzungen  der  von  ihm  citierten  Autoren 
nicht  annimmt:  sonst  hat  auch  er  Unrecht.  Er- 
stens wissen  wir,  wie  „Schädel"  auf  Assyrisch 
hieß,  nämlich  gaggultu  (Gramm,  assyr.  §  221): 
zweitens  giebt  es  Stellen,  wo  guttat  diesen  Sinn 
nicht  haben  kann:  „Schädel  der  Länder" 
würde  nichts  bedeuten  (W.A.L  II,  66,  3).  Da 
Hr.  Delattre  schon  mit  Recht  die  Wurzel  GLL 
anzieht,  hätte  er  getrost  auch  an  gelilah  „Ge- 
biet" denken  dürfen. 

So  tibersetzt  Hr.  Delattre  ein  Wort  ina  mir 
lisa  „in  seinen  Furthen"  durch :  „ich  überschritt 
den  Euphrat  während  seiner  Fluthhöhe".  Die 
Assyrer  waren  nicht  so  unpraktisch :  außerdem 
müßte  dann  doch  das  Wort  anstatt  von  mala 
„füllen"   von  ala    „steigen"    abgeleitet  werden. 

An  andern  Stellen  citiert  Hr.  D.  die  aller- 
dings originalen  Uebersetzungen  der  Cylinder  As- 
surbanhabals  durch  George  Smith*),  dem  dann 
Hr.  Menant  gefolgt  ist.  Bei  dieser  Gelegenheit 
kommt  auch,  bei  Anführung  einer  Stelle,  die 
der  phantasiereiche  Fox  Talbot  tibertrug,  und 
in  dessen  Fußstapfen  leider  mein  französischer 
Schüler  getreten  ist,  der  berühmte  „Sagittarius" 
zum  Vorschein,  der  im  August  aufgehn  soll,  und 
daher  das  Erstaunen  des  Hrn.  Alfred  von  Gut- 
schmid  erregt  hat.  Es  mußte  ein  solches  Phä- 
nomen allerdings  Jedermann  befremden.  Aber 
die   Assyriologie   ist    auch   dafür   nicht  verant- 

*)  Diese  sind  gewiß  Originalübersetzungen,  sogar  die 
einzigen  der  jüngeren  Assyr  iologen.  Indessen  weist  Hr.  I). 
mit  Recht  darauf  hin,  daß  der  Wortschatz  sich  schon  in 
den  früheren  Uebert ragungen  erklärt  findet. 


Delattre,  Inscriptions  historiques.       1477 

wortlich,  denn  andere  Gelehrte  werden  mit  uns 
übersetzen :  „Im  Monat  Ab,  dem  Monat  der  Sicht- 
barkeit des  Sirius".  Der  Stern,  der  immer  zu 
gleich  mit  den  hellsten  Sternen  citiert  wird,  er- 
schien zu  Ninive  in  der  Mitte  des  siebenten 
Jahrhunderts  vor  Christi  Geburt,  gegen  den  24. 
Juli  julianisch,  zuerst  wieder  in  den  Strahlen 
der  aufgehenden  Sonne*). 

Wir  übergehen  verschiedene  andere  Aus- 
einandersetzungen des  Verfassers,  namentlich 
die  Fragen,  die  er  in  Betreff  der  Bibel  aufwirft. 
Ueber  die  chronologische  spricht  er  sich  nicht 
wissenschaftlich  genug  aus:  ob  ein  bedeutender 
Archäolog  und  Kunstkenner  auf  classischem  und 
asiatischem  Gebiete  seine  Ansicht  ändert  in  Be- 
zug auf  eine  nicht  assyriologische ,  sondern  ma- 
thematisch-chronologische Frage ,  das  darf  den 
Geschichtsforscher  oder  den  Chronologen  nicht 
beeinflussen. 

Der  Verfasser  schließt  seine  Arbeit  mit  einem 
wohlwollenden  Ueberblick  über  den  heutigen 
Stand  der  Assyriologie,  und  knüpft  an  diesen 
einige  Wünsche  in  Betreff  der  Schaffung  einer 
Lexicographic.  Der  Wunsch  ist  gutgemeint: 
aber  gerade  diese  Lücke  ist  diejenige,  deren 
Ausfüllung    am   meisten  Zeit    und  Fleiß   erfor- 

*)  Das  Wort  nanmurti  in  der  Phrase:  arah  nanmurti 
Mul  Ban\  »in  mense  apparitionis  Sirii«,  ist  richtig  von 
Fox  Talbot  als  heliakischer  Aufgang,  nnd  unrichtig  von 
Menant  als  »cotisacre  k  l'etoile  ä  de  l'arc«  übertragen 
worden.  Auch  heißt  der  Bogen,  wie  längst  Referent  ge- 
funden hat,  nicht  B  an,  sondern  IZ.  BAN.  Wahrschein- 
lich heißt  BAN  »jagen «,  so  daß  es  der  »Jagdstern«  ist, 
dessen  Gegenwart  am  Himmel ,  namentlich  vor  einigen 
Jahrtausenden,  allerdings  die  Jagdzeit  bezeichnet.  Un- 
sere Benennung:  »großer  Hand«  hat  keinen  andern  Ur- 
sprung. Der  Bogen  ist  das  t  Jagdholz«  oder  »Jagdwerk- 
zeug«. 


1478       Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  47. 

dert.  Die  Herstellung  dieses  Lexicons  ist  eine 
Aufgabe,  deren  theilweise  falsche  Lösung  mehr 
wissenschaftliches  Unheil  stiften  möchte,  als  eine 
mangelhafte  Kenntniß  des  Wortschatzes  bis  jetzt 
gethan :  besser  ist ,  einige  Lücken  in  der  Ueber- 
setzung  zu  lassen,  als  alles  zweifelhafter  Ueber- 
tragung  anheim  zu  geben. 

Das  Buch  des  Hrn.  Aloy  8  S  chäfer  ist  eine 
selbständige  Arbeit.  Es  behandelt  ausführlich 
und  mit  kritischer  Schärfe  einen  Gegenstand, 
der  in  letzterer  Zeit  häufig  zum  Gegenstand  von 
Monographien  gemacht  worden  ist,  und  nichts- 
destoweniger bringt  es  Neues:  seit  den  Zeiten 
Ideler's  und  Böckh's  ist  es  eine  der  besten  Ar- 
beiten, die  überhaupt  auf  chronologischem  Ge- 
biete entstanden  sind,  und  die  theologische  Fa- 
cultät  von  Würzburg  hat,  indem  sie  derselben 
den  Preis  zuerkannte,  den  ungeteilten  Beifall 
aller  wahrhaft  Sachverständigen  geerntet. 

Wir  haben  uns  über  denselben  Gegenstand 
schon  mehrere  Male  in  diesen  Blättern  ausge- 
sprochen. Die  Anzeigen,  die  wir  über  die  Bü- 
cher der  Herrn  von  Gutschmid  (Gott.  gel.  Anz. 
1876)  und  E.  Schrader  (Gott.  gel.  Anz.  1879) 
erscheinen  ließen,  haben  den  Leser  über  den 
Kern  der  historisch-chronologischen  Frage  ge- 
nugsam aufgeklärt.  Es  giebt  indessen  Manches, 
was  man  nicht  zu  oft  sagen  kann :  auch  wissen- 
schaftliche Dinge,  die  einige  Leute  bei  einmali- 
gem Hören  oder  Lesen  nicht  begreifen  wollen 
oder  auch  nicht  fassen  können.  Obgleich  ganz 
exacte,  mathematisch  nachgewiesene  Ergebnisse 
sich  nicht  mit  künstlerischen  Erzeugnissen  ver- 
gleichen dürfen,  ähneln  sie  hierin  manchen  Mu- 
sikstücken, die  gewissen  Hörern  nicht  bei  der  er- 
sten Aufführung  zusageif,  sondern  erst  nach  mehr- 


Schäfer,  Biblische  Chronologie.       1479 

facher  Wiederholung  des  Beifalls  derselben  Per 
sonen  sicher  sind. 

Welcher  Mißbrauch  mit  der  Zeitrechnung  als 
Anwendung  von  Additions-  und  Subtractions- 
exempeln  getrieben  wird,  ist  jedem  zur  Genüge 
bekannt  Eine  gewisse  Gonjekturalkritik  oder 
-unkritik  wird  auch  hierfür  gebraucht:  Zahlen 
werden  verändert,  um  in  ein  Rechenexempel  ein 
gewünschtes  Resultat  hineinzubringen:  es  läßt 
sich  gegen  das  Resultat  an  und  für  sich  arith- 
metisch gar  nichts  sagen.  Denn  wenn  man  von 
einem  Posten  eine  Zahl  wegnimmt,  und  die  Dif- 
ferenz zu  einem  andern  Posten  hinzufügt,  so 
beträgt  die  letzte  Summe  gerade  um  die  abge- 
zogene Zahl  weniger,  als  die  beiden  ursprüng- 
lichen Posten  zusammen  ausgemacht  hätten. 
Nur  —  und  hierin  unterscheidet  sich  die  ächte 
Chronologie  von  der  nachgemachten  —  ändert 
die  erstere  historisch  verbürgte  Posten  nicht, 
ohne  den  Beweis  für  die  Notwendigkeit  dieser 
Verbesserung  beizubringen,  und  diese  Notwen- 
digkeit darf  eben  nicht  nur  durch  die  Absicht,  ein 
bestimmtes  Resultat  zu  finden,  begründet  sein. 
So  wenig  wie  irgend  ein  Mathematiker  ein  Zei- 
chen vertauscht,  oder  ein  Potenzchen  ändert, 
oder  eine  Function  durch  eine  andere  ersetzt, 
weil  die  neuen  Zeichen,  Potenzen  oder  Functio- 
nen „besser  convenieren"  würden,  so  wenig  darf 
man  sich  der  Laune  hingeben,  historische  An- 
gaben nicht  zu  respectieren,  weil  erfundene  den 
Privatinteressen  des  Autors  besser  zusagen. 

Dieser  Spuk  trieb  namentlich  sein  Unwesen 
in  der  biblischen  Chronologie  vor  und  nach  dem  ' 
Exodus.  Vor  dem  Exodus  giebt  es  überhaupt 
keine  Zeitrechnung,  sondern  nur  ein  fictives  Sy- 
stem von  Perioden  und  Cyclen,  die  allerdings 
seit  Jahrhunderten  verkannt  waren.     Aber  bat 


1480       Gott.  gel.  Adz.  1880.  Stück  47. 

mau  nicht  auch  in  dieser,  mindestens  ante-chro- 
nologischen,  Periode  alle  Zahlen  geändert,  oder 
aus  der  Septuaginta  substituiert  und  in  den 
hebräischen  Text  hineingebracht,  und  umge- 
kehrt? Sogar  die  Stühle  der  zehn  Patriarchen 
wurden  umgesetzt,  weil  man  dann  bequemer 
seine  Sonderideen  durch  Rechenexempel  veran- 
schaulichen konnte. 

Nicht  allein  die  Chronologie,  sondern  die 
Geschichte  selbst  wurde  verballhornt,  und  man 
schuf  sich  seine  Geschichte  zu  seiner  Privatrech- 
nung. Ein  englischer  Bankier,  ein  gentleman 
durch  und  durch,  sah  für  einen  Glaubenssatz 
an,  daß  Darius  der  Meder,  nach  ihm  Darius 
Hystaspis,  siebzig  Wochen,  das  ist,  sieben  mal 
siebenzig  Jahre  vor  Christi  Geburt,  den  baby- 
lonischen Belsazzar  besiegt  und  Babylon  einge- 
nommen habe.  Da,  seiner  Ansicht  gemäß,  der 
Stifter  der  christlichen  Religion  3  vor  der  ge- 
wöhnlichen Aera  geboren  ward,  mußte  die  Ein- 
nahme Babylons  durch  die  Perser  im  Jahr  487 
v.  Chr.  stattgefunden  haben.  Und  hieraus  ent- 
wickelt der  Mann  in  einer  Schrift:  Cyrus  the 
second,  namentlich  nach  Annius  von  Viterbo*) 
und  ähnlichen  authentischen  Quellen  (die  aller- 
dings den  von  gewöhnlichen  Menschen  geachte- 
ten Autoren,  wie  Herodot,  Berosus  und  Ptole- 
mäus,  zuwiderlaufen),  daß  der  Cyrus,  der  Astyages 
Enkel  war,  niemals  Babylon  eingenommen ;  die- 
ses habe  ein  Sohn  des  Eambyses  gethan,  und 
zwar  nicht  der  Sprößling  des  geduldigen  Gat- 
ten der  Mandane ,  sondern  der  Nachfolger  des 
gewaltigen  Eroberers  von  Aegypten. 

Demselben  Kambyses  wurden  noch  kürzlich, 

*)    Dem    Annius  von  Viterbo    verdanken   wir  einen 
falschen  Berosus,  einen  ditto  Manetho. 


Schäfer,  Biblische  Chronologie.      1481 

larch  eine  falsche  Lesung  einer  Zahl,  von  An- 
lern historische  Fakten  angedichtet*).  Ans 
chronologischen  Gründen  ist  auch  die  biblische 
Seschichte,  ohne  nnd  gegen  die  Bibel,  vollstän- 
dig neu  erfanden  worden.  Gegen  diese  Er- 
findungen hat  sich  Hr.  Dr.  Schäfer  mit  Recht 
aufgelehnt.  Machte  der  englische  Bankier  aus 
irei  historischen  Personen  fünf,  so  knetete  eine 
ändere  Schule  fünf  Menschen  zu  dreien  zusam- 
men: was  ist  nun  der  Wahrheit  gemäßer,  aus 
einem  Mann  fünf  Drittel  oder  drei  Fünftel  zu 
machen?  Der  Unterschied  der  Richtigkeit  wird 
sich  genau  auf  Null  bestimmen  lassen. 

Hr.  Schäfer  beginnt  sein  Buch  mit  den 
Worten:  „Insofern  die  heilige  Schrift  ein  histo- 
risches Buch  ist,  hat  sie  auch  eine  Chronologie". 
Diese  richtige  Ansicht  ist  nun  noch  prägnanter 
gemacht  durch  die  nicht  mitfder  einsichtige  Stel- 
lung der  Frage  selbst.  „Hiermit  ist  unsere  Auf- 
gabe vorgezeichnet,  ob  aus  den  Daten  der  hei- 
ligen Schrift  als  verglichen  mit  den  sichern 
oder  wahrscheinlichen  Resultaten  der  Ae- 
gyptologie  und  Assyriologie,  ein  chronologisches 
System  zu  gewinnen  sei*. 

Der  Verfasser  entwickelt,  nachdem  er  sich 
über  die  verschiedenen  die  Zeitrechnung  be- 
treffenden Fragen  ausgesprochen,  und  nament- 
lich mit  glücklichem  Tact  und  mit  Gelehrsam- 
keit die  ägyptischen  Angelegenheiten  berührt 
hat,  die  geschichtlichen  Daten  der  biblischen 
Geschichte  vom  Exodus  an.  Die  Genesis  läßt 
er  bei  Seite,  und  kümmert  sich  weder  um  das 
Datum  der  Geburt  Adams,  noch  um  dasjenige 
des  Todes  Sems.    Er  setzt,  indem  er  an  die  in 

*)  Siehe  das  Ute  Jahr  des  Eambyses,  das  im  Jour- 
nal asiat.  1880,  I,  p.  548  and  Revue  historique,  Joillet 
1880,  gehörig  gewürdigt  ist. 


1482      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  47. 

der  assyrischen  Eponymenliste  erwähnte  Sonnen- 
finsterniß  von  809,  am  13.  Juni  jul.  anknüpft, 
den  Auszug  aus  Aegypten,  nach  dem  zur  Zeit 
Salomos  geltenden  System,  um  1492  v.  Chr., 
und  den  Tod  des  weisen  Königs  976*).  Mit 
Schärfe  weißt  Hr.  Schäfer  nach,  daß  jene  Son- 
nenfinsterniß  nicht  die  vom  15.  Juni  763  vor 
Chr.  sein  kann,  und  daß  eine  Unterbrechung 
in  den  Eponymenlisten  nothwendig  angenommen 
werden  muß;  er  verwirft  das  kindliche  Aus- 
kunftsmittel einiger  sogenannten  Chronologen, 
die  den  Texten  zuwider,  aus  Phul  und  Tiglat- 
pileser  eine  Person  machen.  Er  führt  auch 
die  Folgerungen  aus,  die  aus  jener  sonderlichen 
Selbstüberhebung  und  Verschmähung  geschrie- 
bener Texte  mit  unbarmherziger  Consequenz  er- 
wachsen. Nach  dem  System,  welches  der  säch- 
sische Hofcaplan  mit  Recht  verurtheilt,  müßte 
der  Großvater  Uzia  mit  seinemfinkel 
Ahaz  zu  gleicher  Zeit  regiert  haben**). 
Er  schöpft,  wie  es  sich  gebührt,  die  jüdische 
Zeitrechnung  aus  der  historischen 
Quelle  für  dieselbe,  aus  der  Bibel,  und 
zeigt  hierbei  viele  Gelehrsamkeit  und  Belesen- 
heit in  den  Autoren  früherer  Jahrhunderte,  die 
nur  neuere  Oberflächlichkeit  geringschätzen  darf. 
Wir  haben  in  den  Gott.  gel.  Anz.  1879  S. 
776  ff.  diesen  Gegenstand  in  der  vom  Verf.  aus- 
geführten Idee  auseinandergesetzt,  so  daß  wir 
nicht  mehr  auf  denselben  hier  zurückzukommen 
brauchen:  wir  verweisen  daher  einfach  auf  die- 
sen längern  Artikel,  der  den  Gegenstand  so  er- 
schöpfend   als   möglich  behandelt.     Es  handelt 

*)  Wir  setzen  diese  Begebenheit  anf  1493  und  978, 
eine  unwesentliche  Differenz. 

**)  S.  Salomon  et  ses  snccesseurs.  Gott.  eel.  Ans.  1879, 
S.  786  ff. 


Schäfer,  Biblische  Chronologie.       1483 

sich,  wie  dem  Leser  vielleicht  erinnerlich  sein 
wird,  um  die  Frage:  ob  die  sich  anf  Keilschrift- 
täfelchen  findenden  Eponymenlisten  ununterbro- 
chen sind,  oder  ob  sich  in  ihnen,  wie  wir  es  für 
feststehend  ansehen  müssen,  eine  Lücke  von  46 
bis  47  Jahren  befindet.  Diese  Frage  ist  von 
einigen  unserer  Fachgenossen  behandelt  worden, 
als  ob  eine  die  allgemeine  Geschichte  angehende 
chronologische  Frage  allein  von  den  Leuten  zu 
beantworten  sei,  die  Keilschriften  mehr  oder 
minder  richtig  lesen.  Die  wissenschaftliche  Streit- 
frage hat  aber  ein  viel  weiteres  Competenzfeld ; 
sie  ist  assyriologisch  nur  insofern,  als  es  sich 
gelegentlich  um  das  Verständniß  der  Texte  und 
um  einige  Controversen  in  der  Erklärung  der- 
selben handelt.  Im  gegebenen  Falle  existieren 
solche  verschiedene  Meinungen  aber  gar  nicht: 
die  Frage  entzieht  sich  folglich  der  Befugniß 
der  Keilschriftforschung ,  um  dem  allgemeinen 
Urtheil  der  Historiker  anheimzufallen. 

Hier  liegt  der  große  Irrthum  eines  Tbeiles 
der  Fachmänner.  Wo  es  sieh  um  biblische  Ge- 
schichte handelt,  sind  Gottlob!  die  Keilschriften 
nicht  die  einzigen  Quellen:  denn  wenn  dieses 
wäre,  wüßten  wir  ja  gar  nichts.  Sie  bedenken 
nicht,  daß  man,  einer  gewissen  Eitelkeit  wegen 
und  seiner  eigenen  Disciplin  zu  Liebe,  doch 
nicht  das  Recht  hat,  andersartige,  in  sich  und 
durch  sich  verbürgte  historische  Angaben  zu 
verwerfen.  Der  innere  Werth,  die  mathemati- 
sche Präcision  der  biblischen  Angaben,  ihr  Ue- 
bereinstimmen  mit  sich  selbst,  der  Accent  der 
Wahrheit,  mit  dem  sie  ausgesprochen  sind,  die 
Interesselosigkeit  jeglicher  Unwahrheit,  sowie 
die  Unmöglichkeit,  gerade  diese  Daten  zu  er- 
finden, wenn  sie  nicht  wahr  wären:  alle  diese 
Momente  wiegen   derartig   schwer,   daß   sie  die 


1484      Gott  gel.  Anz.  1880.  Stück  47. 

eigensinnig   sich   auf  eine    unbewiesene  Nicht- 
unterbrechnng   der   assyrischen   Eponymenlisten 
steifende  Verwerfung  der  jüdischen  Angaben  in 
die  Höhe  schnellen.    Wir  übergehn  die  aus  den 
Eeilschrifttexten    selbst   zu    entnehmenden  Be- 
weise für  die  Unterbrechung  dieser  Listen,  Be- 
weise,  die   doch   auch   der  Autorität   der  Bibel 
nicht  schaden,   und    die   man   in  den  Gott.  gel. 
Anz.  1879,  S.  796  ff.  nachlesen  kann.    Es  giebt 
nur   eine  Chronologie,    und    diese   müssen  wir 
aus  allen   Documenten,   die    sich    auf  dieselbe 
Zeit  beziehen,  schaffen;  wir  dürfen  daher  gerade 
die  Texte  nicht  ausschließen,  die  vor  allem  das 
für  unsern  Zweck  authentischeste  Gepräge   tra- 
gen.   Befänden  wir  uns,    angesichts  der  assyri- 
schen Eponymenlisten,  solchen  vagen  und  unbe- 
stimmten Angaben  gegenüber,  wie  es   z.  B.  die- 
jenigen des  Buches  der  Richter  sind,   so   würde 
es  auch  Niemandem   einfallen,   an  eine    Unter- 
brechung der  Listen  zu  denken.    Ob  mit  Recht, 
wäre  freilich  eine  andere  Frage:  doch  ohne  die 
absoluteste  Notwendigkeit,  würde  man  auf  die- 
sen  Gedanken   gar   nicht  gerathen   sein.    Aber 
einem   Documente    gegenüber,  wie  es  verschie- 
dene  Gapitel    des   zweiten   Buches   der  Könige 
sind,  ist  eine  solche  Nachsicht  selbst  gegen  Ori- 
ginaldocumente  nicht  möglich:  denn  wie  wir  es 
schon  gesagt  haben,   das  assyrische  Docu- 
ment, das  an  Fülle  der  Angaben  und  an  prä- 
ciser    Schärfe    dem    hebräischen     gleichkommt, 
soll   erst   noch    gefunden  werden!    Es 
ist    somit   unmöglich,    in    einer   allgemein    ge- 
schichtlichen Frage,   einseitig   nur  die  Autorität 
eines  Textes  zu  berücksichtigen:  wir  haben  das 
Recht,   assyrische   Geschichte    aus    assyrischen 
Quellen  zu  studieren,  aber  nicht  dasjenige,  jüdi- 
sche   Geschichte    ausschließlich   nach    fremden 


Schäfer,  Biblische  Chronologie.      1485 

Bruchstücken  herstellen  zu  wollen.   Ein  histori- 
sches Actenstück  belehrt  uns,  daft  Ludwig  XVIII. 
29    Jahre   regierte;    dürfen   wir,  nach   diesem 
allein,    die  englische    Zeitrechnung  bestimmen, 
und    mit  Vernachlässigung    deutscher    Quellen 
nach   dieser   mißverstandenen  Angabe   die   Ge- 
schichte Deutschlands  maßregeln?   Dazukommt, 
daß  wir  keine  fortlaufende  Geschichte  Assyriens 
haben:  wir  besitzen  eine  biblische  Chro- 
nologie,   wir  haben  keine  assyrische. 
Diesen  Ausspruch,  den  wir  schon  einmal  ge- 
than,  wiederholen    wir  hier,   da  er  bei  einigen 
Leuten  Anstoß  erregt  hat,  so  grundwahr  er  auch 
ist.     Hätten   wir  nicht  die  Angaben   der  Bibel 
und  der  Griechen,  so  wären  wir  übe?  das  Alter 
der  assyrischen  Monumente   von  Ninive,  Calach 
und  Babylon   ebenso    im  Unklaren,   als    wir  es 
heut   zu  Tage   über,  das   Zeitalter    des   Menes 
sind.    Wir  müßten  uns  streiten  über  die  Frage, 
ob    Sanherib    und   Sargon    vor   Nebuchadnezar 
oder   nach  ihm  gelebt   haben,   wir   dürften   nur 
vermöge  allgemeiner,  kunstgeschichtlicher  Grund- 
sätze über   das  Zeitalter  der  Texte  und  Sculp- 
turen  von   Nimrud  klar   werden  können.    Ohne 
die  Liste  des  Ptolemäischen  Canons   wären  wir 
außer   Stande,   die   Tausende   von    juristischen 
Täfelchen,  die    doch    nach  Königsjahren,   nach 
Monaten    und    nach   Tagen    datiert   sind,   ihrer 
Reihenfolge  nach  zu  ordnen:  wir  könnten  durch 
zwei  Texte  höchstens   befähigt  sein,   zu    schlie- 
ßen, daß  Neriglissor  vor  Nabonid  regiert  haben 
muß,  und  daß  Kambyses  nach  Cyrus  herrschte. 
Das  aber  wäre  auch  alles.   Wenn  wir  also  die  so 
reichen  Documente  der  mesopotanischen  Gefilde 
ordnen  können,  wenn  wir  uns   einer  annähernd 
sehr  richtigen  Anschauung  über  die  Stellung  der 
Jüngern  Texte  in  der  Folge  der  Zeiten    rühmen 


1486      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  47. 

dürfen,  so  verdanken  wir  dieses  lediglich  nicht 
assyrischen  Quellen,  sondern  den  griechischen 
Geschichtsschreibern  und  der  byzantinischen 
Chronographie.  Wie  wir  es  anfangen  würden, 
unabhängig  von  derselben  überhaupt  eine  Zeit- 
bestimmung zu  erzielen,  wird  Niemand  uns  an- 
zugeben befähigt  sein.  Die  Erwähnung  der 
bekannten  Sonnenfinsternis  ist  eine  unbestimmte 
Angabe,  die  nur  dadurch  präcis  werden  konnte, 
daß  man  die  Zeit,  in  der  sie  stattgefunden  ha- 
ben mochte,  nämlich  91  Jahre  nach  dem  Tode 
Ahabs  ziemlich  genau  kannte;  sie  hat  aber  ohne 
die  genaue  Untersuchung  der  nichtassyrischen 
Elemente  zu  Irrthümern  führen  müssen,  da  man 
sie  auf  ein  unrichtiges  Phänomen  bezog. 

Man  kann  nicht  behaupten  wollen,  daß  wir 
eine  assyrische  Chronologie  haben,  wenn  wir 
sie  eben  noch  nicht  besitzen:  es  ist  ja  mög- 
lich, daß  wir  dereinst  durch  assyrische  Quellen 
ebenso  unmittelbar,  ohne  Hülfe  fremder  Anga- 
ben und  ausländischer  Stützpunkte  eine  assyri- 
sche Zeitrechnung  schaffen  können,  wie  man 
unabhängig  eine  chinesische  Chronologie  aus 
einheimischen  Documenten  feststellen  kann*). 
Aber  jetzt  haben  wir  die  Elemente  dazu  nicht, 
und  dieses  hat  namentlich  ein  Mitarbeiter  der 
Augsburger  Allgemeinen  Zeitung  schlagend  nach- 
gewiesen, in  einem  Aufsatz  betitelt:  „Die  assy- 
rische Keilschriftforschung  und  die  biblische 
Chronologie  **). 

Die  Absiebt  des  gelehrten  Verfassers  war 
solches  freilich  nicht.  Er  behauptete  das  Gegen- 
theil,  daß  es  nämlich  eine  assyrische  Cbronolo- 

*)  Siehe  Oppolzer  in  den  Monatsberichten  der  Ber- 
liner Akademie  der  Wissenschaften,  1880  p.  166  ff. 
**)  Siehe  Beilage  der  A.  A.  Z.  20.-22.  April  1880. 


Schäfer,  Biblische  Chronologie.      1487 

gie  gäbe:   aber  seine  Behauptung  ist  auch  der 
einzige  Beweis,  den  er  bringt    Actore  non  pro- 
bante  absolvitor  reus.    Der  Beklagte,  in  specie 
facti ,    der   Referent ,  wegen   des   obigen   Aus- 
spruches,  darf  sich   aber  erlauben,  dem  Herrn 
Verfasser  des  Artikels  zu  bemerken,   daß  auch 
e  r  weiß,  daß  es  assyrische  Eponymenlisten  giebt, 
und    daß   in    diesen    einer  Sonnenfinsterniß  Er- 
wähnung gethan   wird.     Aber  zur  Feststellung 
einer  assyrischen  Chronologie  gehört  noch  mehr; 
eine  solche  Angabe  muß  sich  eben  nur  auf  ein 
Datum  beziehn  können.    Hier  aber  macht  sich, 
neben  der  Ansicht  des  Verfassers,  der  fh  zeich- 
net, die  Hrn.  Schaefers  und  des  Referenten  gel- 
tend, und  zwar  auf  Grund  der  biblischen  Chrono- 
logie, von  der  der  Artikel ,  trotz  des  Titels,  auch 
nicht  ein  Wort   sagt.    Daß  für  Abrahams  Zeit- 
alter die  unterste  Gränze  1700  vor  Chr.  sei,  kann 
doch   unmöglich  als  biblische   Chronologie   be- 
trachtet   werden.     Wenn  man  dann  noch  „von 
einigen  Jahrhunderten,  von  2000  Jahr  vor  Chr." 
spricht,   so  ist  dieses  für  einen  „Chronologen" 
sehr  gutmttthig,  und   derartige  Naivetäten,   die 
schwerlich   einem  Ideler  begegnet  wären,    be- 
weisen nur,    daß   die  chronologischen  Arbeiten 
der  neuesten  Zeit   für   den  Hrn.  fh  vergebens 
gemacht  worden  sind. 

Die  Biblische  Chronologie  feststellen,  heißt 
aber  nicht  nur  decretieren,  daß  Salomo  932 
v.  Chr.  und  Ahab  854  v.  Chr.  gestorben  sei. 
Will  man  diese  Daten  annehmen,  so  muß  man 
auch  nachweisen,  wie  man  sich  denn  eigentlich 
die  Zeitbestimmungen  für  alle  diejenigen  Könige 
vorstellt,  welche  zwischen  Salomo  und  Ahab 
einerseits,  und  andererseits  von  Ahab  bis  zu  der 
Zerstörung  Samarias  (721  v.  Chr.)  geherrscht 
haben.  Man  muß  also  sich  dazu  bequemen,  dem 


1488      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  47. 

Leser  mit  dürren  Worten  und  mit  präcisen  Zah- 
len anzugeben,  wann  Jerobeam  I.,  Baesa,  Josa- 
phat,  Jehu,  Joas  von  Jada,  Amazia,  Joas  von 
Israel,  Jerobeam  IL,  Uzia,  Jotham,  Menabem  I., 
Pekah,  Ahaz  and  Hiskia  regiert  haben.  Der 
Verfasser  der  Preisschrift  hat  sich  diese  Auf- 
gabe gestellt  und  darauf  geantwortet:  der  Herr 
fh  hat  sich  dieselbe  nicht  einmal  vorgeführt, 
und  hierin  gleicht  er  eben  den  Qu&sichronolo- 
geo,  die  über  biblische  Zeitrechnung  zu  schrei- 
ben glauben,  im  Grunde  aber  dieselbe  jung- 
fräulich unberührt  lassen.  Den  Forscher  über 
jüdische  Geschichte  läßt  der  elamitische  König 
Earaindas  vollständig  kalt,  selbst  wenn  man  ihm 
beweisen  könnte,  daß  letzterer  gegen  1477  ge- 
herrscht hat. 

Die  wirkliche  Schwierigkeit,  welche  die  Be- 
stimmung der  biblischen  Chronologie  mit  sich 
führt,  ist  aber  jenem  Autor  so  unbekannt  geblie- 
ben, wie  eine  andere  Thatsache,  die  freilich 
noch  überraschender  ist  für  Jemanden,  der  be- 
hauptet, es  gäbe  eine  assyrische  Chronologie. 
Bis  jetzt  haben  wir  in  den  Keilschriften  eine 
einzige  Stelle,  aus  welcher  man,  unabhängig 
von  der  Angabe  der  Juden  und  der  Griechen, 
einmal  eine  assyrische  Zeitrechnung,  wenigstens 
für  die  späteren  Epochen,  entwickeln  können 
wird.  Nun,  von  dieser  einzigen  Angabe  hat  der 
geehrte  Mitarbeiter  der  Allgemeinen  Zeitung 
keine  Kenntniß. 

Dieser  Passus  findet  sich  in  der  Inschrift 
Assurbanhabals  (W.  A.  I.  t.  II,  pl.  32)  und  lau- 
tet wie  folgt: 

„Im  Monat  Tammuz  fand  eine  Finsterniß  des 
Herrn  des  Tages,  des  Gottes  des  Lichtes  statt 
Die  untergehende  Sonne  ließ  davon  ab  zu  leuchten, 
und  wie  diese,  ließ  auch  ich  davon  ab,  während 


Schäfer,  Biblische  Chronologie.      1489 

(?  Lücke  der  Zahl)  Tage  den  Krieg  gegen  Elam 
zu  beginnen". 

Der  König  erzählt  dann,  wie  er  im  Ab, 
dem  Monde  „des  Sichtbarwerdens  des  Sirius" 
den  Krieg  gegen  Teumman,  König  von  Elam, 
begonnen  habe. 

Das  Phänomen,  von  welchem  hier  die  Rede 
ist,  kann  kein  anderes  sein,  als  die  ringförmige 
Sonnenfinsterniß  vom  Dienstag  27.  Juni  julia- 
nisch, 20.  Juni  gregorianisch,  des  Jahres  661 
vor  Chr.  (—660),  9,340;  nach  P.Pingr6,  fiel  die 
Mitte  auf  l1/*  Uhr  Abends  mittlerer  pariser  Zeit, 
also  4  Uhr  10  Minuten  mittlerer  Zeit  von  Ninive. 
Die  Bewohner  der  Westküste  Mexicos  sahen  die 
Sonne  ringförmig  verfinstert  aufgehen:  die  cen- 
trale Linie  furchte  eine  Ecke  Nordamerika, 
zog  dann  über  den  Atlantischen  Ocean,  die  Aco- 
ren, Spanien,  Südfrankreich  und  Süditalien,  um 
unweit  Südarabiens  zu  erlöschen.  Die  Finster- 
niß  war  zum  Theil  auch  in  Ninive  sichtbar:  die 
centrale  Eklipse  endete  gegen  6  Uhr,  und  die 
allgemeine  konnte,  noch  einige  Zeit  in  Ni- 
nive sichtbar,  gegen  Sonnenuntergang  vollstän- 
dig beendet  sein.  Das  Bedeutende  ist,  daß 
nicht  allein  der  Monat,  sondern  auch  die  Tages- 
zeit der  Erscheinung  überliefert  ist. 

Der  Feldzug  des  Ninivitischen  Königs  ge- 
gen Elams  Herrscher  Teumman,  der  sich  auf 
vielen  Bildwerken  verewigt  findet,  fand  also  im 
Sommer  661  v.  Chr.  statt.  Es  war  nach  eini- 
gen Texten  der  dritte,  nach  andern  der  fünfte 
Feldzug:  dieser  Unterschied  trägt  wenig  dazu 
bei,  den  assyrischen  Texten  so  ausschließliche 
Autorität,  allen  anderweitigen  Angaben  gegen- 
über, zu  verschaffen;  in  zwei  Inschriften  rech- 
nete der  König  nach  zwei  verschiedenen  Weisen. 
Man  kann  also,  wegen  dieser  abweichenden  Rech- 

U4 


1490      Gott,  gel,  Anz.  1880.  StUefc  47. 

Btrnggwefae,  das-  Jahr  de*  Thronbesteigung  As- 
surbanhabals  nicht  genügend  bestimmen;  Nach 
dem  Ptolfemäischen  Canon  hörte  Assarhaddon, 
de»  Königs  Vater,  auf,  668>  v.  Chr.  m  Babylon 
zu  herrschen,  und  Bein  Bruder,  Saosductii»  (Sä- 
mul-sum-yukin  oder  vielleicht  Sam&s-sum-yukin*) 
bestieg  den  Thron**).  Vorläufig  müssen  wir 
noch  die  Epoche  der  Nabonassariseken  Aera  als 
vollständig  richtig  gelten-  lassen,  da  sich  die  be- 
kannten drei  Mondfinsternisse  vom  Jahre  721 
und  720  vor  Christo  auf  das  erste  und  zweite 
Jahr  des  Mardokempadus,  d.  i.  Merodach-bala- 
dans  beziehen,  und  sie  in  dieser  Form  dtenr  gro- 
ßen Astronomen  Hipparchos  überliefert  waren. 
Da  der  Name  des  chaldäischen  Königs  sieh 
dreimal  im  Almagest  wiederfindet,  ist  es  wahr- 
scheinlich, wenn  nicht  gewiß,  daß  die  alexan- 
drinischen  Daten  direct  keilschriftlichen  Anga- 
ben entnommen  waren. 

Gewißheit  über  die  Epoche  des  Regierungs- 
antritts des  assyrischen  Königs  würden  wir  ha- 
ben, wenn  wir  noch  die  vollständige  Liste  der 
Eponymen  aus  den  zehn  ersten  Jahren  Assur- 
ftttnhabals  besäßen:  aber  leider  bricht  das  fort- 
laufende Fragment  schon  mit  dem  dritten  Jahre 
dieses  Königes  ab.  Auch  dieses  würde  nieht  ftfr 
die  Frage  genügend  sein ;  wir  müßten  die  Archontie 
kennen,  unter  welcher  Teumman1  besiegt  wurde. 
Unglücklicherweise  scheint  hier  der  Zufall  un- 
serer Wißbegierde  spotten  zu  wollen':    ein  klei- 

*)  Oder  Samas-mukin:  die  wahre  Fora*  ist  zur 
Stande  noch  unbekannt.  Bekennen  wir  diese«  frehnüfchig. 
Letztere  Form  würde  sich  genau  an  das  corrumpierte 
S&osduchin  des  Ptolemäischen  Canons  und  an  Sammughea 
anschließen. 

**)  Die  Epoche  des  Jahres  80  NäbonasSaf  ist  der  «, 
Februar  668. 


Schäfer,  Biblische  Chronologie.      1491 

nes  Täfelchen,  welches  einen  Bericht  an  den 
König  enthält,  spricht  von  dieser  Finsterniß,  die 
der  Schreiber  in  Aegypten  beobachtet  hatte,  wo 
sie  bedeutender  war  als  in  Assyrien.  Aber  letz- 
teres Täfelchen  ist  auch  ohne  Datum,  so  daß 
nns  noch  diese  Hoffnung  bis  jetzt  abgeschnitten 
worden  ist.  Alles,  was  wir  noch  über  den 
Punkt  mit  einiger  Sicherheit  angeben  können, 
ist,  daß  die  Eponymie  des  Belsunu  in  das  Jahr 
660  fiel,  was  wir  aus  einem  von  uns  zuerst  er- 
klärten, häufig  später  von  andern  veröffentlich- 
ten Täfelchen  schließen  müssen,  wo  eine  Son- 
nenfinsternis am  Ende  Sivans  umsonst  erwartet 
wurde,  was  sich  nur  auf  dieses  Jahr  und  zwar 
auf  den  16.  Juni  julianisch  660  beziehen  kann*). 
Die  Kriegszüge  Assurbanhabals  sind  außerdem 
nicht  chronologisch,  sondern  geographisch  ge- 
ordnet; so  fiel  zum  Beispiel  der  Anfang  der 
arabischen  Kriege  schon  in  die  Eponymie  Bel- 
sunu ,  während  sie  auf  dem  großen  Prisma  erst 
der  Einnahme  von  Susa  folgen,  welche  min* 
destens  zwölf  Jahre  später  Statt  hatte  als  jene 
Archontie,  und  deren  auch  der  von  660  v.  Chr. 
stammende  Text  mit  keiner  Sylbe  erwähnt**). 

Man  sieht  aus  dem  Vorhergehenden,  daß  wir 
noch  sehr  langer  Zeit  und  namentlich  noch 
vieler  glücklichen  Funde  bedürfen,  um 
nns  über  die  einfachsten  Fragen  der  assyrischen 

*)  S.  die  Inschrift  in  meiner  Gn&mmaire  assyrienne 
p.  110. 

**)  Nach  einem  bestimmten  Zeugnis  (W.  A.  I.  pl.  2) 
ist  die  Eponymie  der  Thronbesteigung  Assurbanhabals 
(s.  meinen  Aufsatz  in  D.  M.  1868,  p.  148)  die  des  Mar- 
la-armi  fur  Ninive,  die  667  fallen  mußte.  Hatte  Aesar- 
haddon  schon  früher  den  Thron  an  Saosduchin  abgetre- 
treten?  Die  eigenthämlichen  Beziehungen  dieser  beiden 
Bruder  widersprechen  dieser  Ansicht  nicht. 

94* 


1492       Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  47. 

Chronologie  aufzuklären.  Die  einzige  alles  be- 
stimmende Keilschriftangabe,  die  wir  heute  ken- 
nen, haben  wir  aber  nicht  im  Urtext; 
Hipparchos  von  Alexandria  Jiat  das  Verdienst, 
sie  für  uns  übersetzt  zu  haben. 

Wir  werden  auch  einmal,  wie  gesagt,  eine 
unabhängige  assyrische  Chronologie  haben 
können,  wenn  wir  nämlich  eine  fortläufende  Ge- 
schichte haben,  die  uns  aber  noch  fehlt. 

Die  Einnahme  Samarias  setzt  Hr.  Schäfer  in 
das  Jahr  721,  mit  dem  Referenten,  und  mit  al- 
len früheren  Autoren.  Der  Grund  dieser  An- 
sicht liegt  in  der  Angabe  des  Regierungsantritts 
des  Babyloniers  Merodachbaladan,  der  eben  durch 
die  hipparchische  Ueberlieferung  sicher  gestellt 
ist  Nach  dem  Canon,  der  durch  die  assyrische 
Keilschrift  (siehe  meine  Uebersetzung  der  gro- 
ßen Inschrift  von  Khorsabad,  zuletzt  in  Records 
of  the  Past,  t.  VI,  p.  14)  bestätigt  wird,  re- 
gierte Merodachbaladan  12  Jahre,  ehe  Sargon 
Babylon  einnahm.  Diese  Waffenthat  fallt  in 
das  12te  Jahr  Sargons,  und  zwar  nicht  in  sein 
12tes  Regierungsjahr  (sanat),  gerechnet  vom  Re- 
gierungsantritt, sondern  in  die  12te  Eponymie, 
die  seinem  Regierungsantritt  folgte  (palu)*). 
Es  wäre  dieses  also  die  Archontie  des  Ninip- 
halik-pani  von  Nisan  710  (9,291)  bis  Nisan 
709  (9,292).  Im  Sebat  dieses  Jahres,  also  Fe- 
bruar 709,  nahm  Sargon  Babylon,  und  mit  dem 
17.  Februar  julianisch  beginnt  die  Epoche  Sar- 
gons im  ptolemäischen  Canon,  d.  i.  das  Jahr  39 
Nabonassars.  Babylon  ist  also,  wenn  das  Ide- 
ler'sche  Princip   in  Anwendung   zu  bringen  ist, 

*)  In  dieser  Hinsicht  schließe  ich  mich  der  Ansicht 
an,  daß  sanat  das  Jahr  von  der  Thronbesteigung  an, 
palu  das  Eponymenjahr,  und  zwar  vom  Nisan  bis  Adsr 
ausdrückt. 


Schäfer,  Biblische  Chronologie.       1493 

kurz  nach  dem  Februar  20  jul.,  12  gregoria- 
nisch, in  des  Assyrers  Hände  gefallen.  Sargon 
kam,  wie  er  selbst  sagt,  noch  zur  rechten  Zeit, 
um  die  Feste  des  Sebat  zu  begehn,  die  durch 
kleine  olivenförmige  Keilschriftdocumente  (s. 
mein  Dour-Sarkayan  p.  27)  ans  dem  9ten  bis 
12ten  Jähre  Merodachbaladans  noch  besonders 
bekannt  sind. 

Dazu  kommt  noch,  daß  eine  im  Louvre  be- 
findliche Tafel  aus  dem  Marchesvan  desArchon 
Mannu-ki-Assur-lih,  Statthalters  von  Tille,  aus- 
drücklich dieses  Datum  als  dem  12 ten  Jahre 
Sargons  angehörig  bezeichnet,  obgleich  andere 
Documente  ( W. A. I.  III, 2,  15),  das  dreizehnte 
für  diese  Eponymie  angeben*).  Setzte  man 
nun  auch,  mit  Hrn.  Schrader  und  Hrn.  fh,  die 
Eponymie  in  709,  so  würde  doch,  selbst  nach 
Verwerfung  der  von  dem  verstorbenen  George 
Smith  mit  Erstaunen  verificierten  Angabe  des 
Louvredocumentes,  der  Regierungsanfang  nicht 
höher  fallen,  als  Februar  721. 

Hr.  Schrader  hat  einfach  folgende  Rechnung 
gemacht:  763  (Datum  der  vermeintlichen  Fin- 
sterniß)  minus  41  =  722.  Diese  Rechnung  be- 
streiten wir  gar  nicht.  Aber  ist  nun  der  Re- 
gierungsantritt Sargons,  722  wohlgemerkt  Februar 
9,279?  Wenn  der  ehrenwerthe  Hr.  fh  behaup- 
tet, Hr.  Schrader  habe  dieses  „endgültig 
nachgewiesen"  und  „gezeigt",  daß  zwischen 
dieser  Angabe  und  dem  ptolemäischen  Canon 
kein  Widerspruch  obwaltet (!),  so  beweist  und 
zeigt  dieses  endgültig  nur,  daß  Hrn.  fh 
die  Auffassung  des  wirklichen  Sachbestandes  so 
vollständig  als  nur  möglich  entschlüpft  ist.   Ein 

*)  Wir  dürfen  nicht  unterlassen,  diese  Widersprüche 
in  »gleichzeitigen  Doonmenten«  besonders  hervorzuheben. 


1494      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  47. 

so  feiner  Unterschied,  eine  so  präcise  Bestim- 
mung antiker  Daten,  läßt  sich  nicht  durch  ein 
einfaches,  übrigens  von  uns  unbestrittenes  Sub- 
tractioosexempel  (763  —  41  =  722)  absprechend 
über  das  Knie  brechen. 

Dem  Herrn  Schäfer,  wie  auch  uns,  ist  der 
Eponymenturnus  vorgehalten  worden,  der  in- 
dessen nichts  für  uns,  und  nichts  gegen 
ans  beweist,  und  über  welchen  wir  uns  schon 
(Gott.  gel.  Anz.  1879,  S.  797  f.)  genügend  aus- 
gesprochen haben.  Für  unsere  Ansicht  dieser 
Unterbrechung  spricht  nicht  absolut,  daß  unter 
neun  Namen,  acht  verschieden  sind  und  in 
neun  Jahren  fast  alle  Beamte  gewechselt  sein 
müßten.  Derartiges  ist  ja  schon  vorgekommen. 
Ebenso  ist  möglich,  daß  der  Assur-bel-kaYn, 
Landeshauptmann,  wenn  der  Name  in  beiden  Stel- 
len dieselbe  Person  bezeichnet,  56  Jahre  im  Amte 
verblieben  ist.  Uebrigens  setzt  derselbe  Name 
mit  derselben  Function  noch  keineswegs  eine 
persönliche  Identität  voraus.  In  einer  juristi- 
schen Inschrift  vom  8ten  Sebat  des  ersten  Jah- 
res Neriglissors  (Januar  558)  heißen  zwei  Rich- 
ter beide  Marduk-sakin-sum  („Me  rod  ach  giebt 
den  Namen",  ein  sonst  nicht  häufig  vorkommen 
der  Name),  und  einer  der  vier  Verkäufer  des 
Ackers  heißt  ebenso:  dieses  macht  also  drei 
Personen  desselben  ziemlich  seltenen  Namens  in 
derselben  Inschrift! 

Alles  derartiges  ist  kein  Beweis  und  sich 
damit  aufhalten,  eitel  Geschwätz.    Die  Aemter 

*)  Wir  haben  mehrere  Beispiele  von  langen  Amts« 
Verwaltungen,  so  ist  Samsiel  dreimal  Eponymus  826,  816 
und  798,  während  29  Jahre;  Musallim-Ninip  Statthalter 
von  Tille  839  und  812  (27  Jahre),  Nirgal-Essis  von  Be- 
seph  850  und  821  (29  Jahre)  und  noch  andere.  Es  sind 
auch  hier  wenigstens  gleichlautende  Namen. 


Schäfer,  Biblische  Chronologie.      1495 

.sind  geblieben,  die  Namen  haben  alle  gewech- 
selt bis  auf  einen,  der  nicht  noth wendig  die- 
selbe Person  bezeichnen  maß.  Alle  können  in 
nenn  Jahren  gestorben  sein,  and  dann  nützt  un- 
ser Einwand  nichts!  oder  der  eine  kann  56 
Jahr  Landeshauptmann  geblieben,  oder  mit  der 
ninivitischen  Herrschaft  in  seinen  früheren  Po- 
sten wieder  eingesetzt  worden  sein.  Der  ein- 
zige Beweis,  den  man  führen  kann,  ist:  nach- 
zuweisen, daß  zwischen  einem  Zeitpunkte  jen- 
seits der  von  uns  angenommenen  Lücke,  und 
einem  andern  Punkte  dieseits  derselben,  eine 
Zeit  von  m  Jahren,  die  sich  durch  die  Con- 
tinuität  der  Liste  ergeben  würde,,  und  nicht 
•eine  Summe  von  m  -f-  46  Jahren  verflossen  ist. 
Bis  dabin  aber,  daß  man  dieses  Resultat  er- 
reicht hat,  wird  man  sowohl  dem  Hrn.  Schäfer, 
als  dem  Kef.  erlauben,  nicht  allein  auf  das  von 
der  Chronologie  der  Bibel  eingelegte  Veto,  son- 
dern auch  auf  die  in  unserm  Artikel  der  Gott, 
gel.  Anz.  entwickelten  Widersprüche  mit  den 
Keilschriften  selbst  hinzuweisen*). 

Und  wenn  man  uns  vorwirft,  wir  handelten 
-nur  so,  um  eine  Uebereinstimmung  mit  dear 
biblischen  Zeitrechnung  zu  erzielen,  so  geben 
wir  dieses  in  vollstem  Maaße  zu,  und  rühmen 
uns  dessen  als  einer  durch  die  Einsicht  gebote- 
nen Handlungsweise.  Natürlich  muß  die 
assyrische  Zeitrechnung  mit  der  biblischen  über- 
einstimmen; wenn  nicht,  so  ist  eine  von  ihnen, 
oder  es  sind  alle  beide  falsch.  Man  kann  nicht 
eine  österreichische  und  eine  preußische  Chro- 
nologie schaffen ,  in   der   man    entweder    von 

*)  Diese  sind  die  Sonnenfinsterniß  der  Regierung 
Assur-nazir-babals  and  das  Fehlen  der  sonst  nothigen 
Angabe  der  für  Ninive  höchst  bedeutenden  Sonnenfinsterniß 
von  809. 


1496       Gott.  gel.  Adz.  1880.  Stuck  47. 

Franz  II.  (1792)  oder  von  Franz  I.  (1804)  rech- 
net, oder  vielleicht  gar  64  (nicht  46)  Jahre  aus 
der  deutschen  Kaisergeschichte  streicht,  indem 
man  auf  Franz  II.  sofort  Wilhelm  I.  folgen  läßt*). 
Herr  Dr.  Schaefer  hat  seine  Ansichten  klar 
entwickelt ;  wir  hätten  nur  einige  Reserven  über 
das  von  ihm,  freilich  nicht  ganz  absolut,  be- 
folgte System   der  jüdischen  Jahresanfänge  zn 

*)  Dem  Hrn  fh.  bin  ich  übrigens  für  die  ehrenvolle 
Art,   mit   der   er   meines  Namens   gedenkt,   in   vollstem 
Maaße  dankbar  uud  verpflichtet.    Ich  glaube  daher,  daß 
sein  Ausdruck   »unwahre    Behauptungen«    in  Betreff  des 
Turnus  aus  einem  Druckfehler  entstanden  ist:  denn  »un- 
wahr« ist  doch  nur  die  Art   und   Weise,  wie    er  meine 
Ansicht  darstellt  (s.  Gott.  gel.  Anz.  1.  c.)    In  diesen  Sei- 
ten, in  welohen  ich  die  Meinungen,  die  ich  nicht  theile, 
und  das  was  man  mir  entgegenhalten  könnte,  besprochen, 
wird   auch    wohl   Niemand   ein    »Machtwort«    erblicken, 
durch  das  ich  die  »Laien  irreführen«    will.    Ich    bin  alt 
genug,  um  zu  wissen,    daß   sich  überhaupt  Niemand   so 
leicht  »irre  fuhren«  läßt.    Wahrscheinlich  ist  dem  Hrn.  fh 
nnbekannt  geblieben,  was  einem  meiner  jungen  Freundein 
München  passiert  ist,  nämlich  dem  Hrn.  Dr.  Fritz  Horn- 
mel,  der  schon  einige  gute  Seiten   über  Assyriologie  ge- 
schrieben, und  von  dem  wir  hoffentlich  bald  (als   Folge 
anderer  verdienstlicher   Bücher)  eine  tüchtige  Erstlings- 
arbeit   auf  as8yriologischem  Gebiete  zu  erwarten   haben. 
Die  Münchner  Facultät,   obgeioh  aus  »Laien«  bestehend, 
ließ  sich  bei  dessen  Habilitation  als  Docent  so  wenig  »irre- 
führen«, daß  einer  der  Lehrer  die  Assyriologie  als  etwas  noch 
embryonenhaftes  bezeichnete,  denn  was  einer  Melchior  lese, 
spreche  ein  Anderer  Caspar  aus,  und  ein  Dritter  Baltba- 
sar.   Auch    »schleudere   ich   diese  Machtworte  nicht  ge- 
gen die  jieutsche  Schule« :  der  ehrenwerthe  Hr.  fh  glaubt 
wohl,  ein  Buch,  welches  den  Titel  führt:  »die  Assyriolo- 
gie in  Deutschland«,  rühre  von   mir  her.    Dem  ist  aber 
wirklich  nicht  so.    In  den  Gott.  gel.  Anz.   habe  ich  das- 
selbe nur  beurtheilt.    Die  »deutsche  Schule"  besteht  über- 
dies bis  jetzt  nur  aus  zwei  verdienten    Lehrern,   die  An- 
derer Schüler  sind ,  und  zwei  oder  drei  Zöglingen ;  es  ist 
doch  erlaubt,  denke  ich,  zu  beurtheilen  was  sie  leistet 


Schäfer,  Biblische  Chronologie.      1497 

machen.  Die  Bücher  der  Könige  rechnen  die 
Jahre  von  dem  Anfang  der  Regierung 
jedes  Königs.  Dieses  haben  wir  in  unserm 
„Salomon  et  ses  successeurs"  mit  mathemati- 
scher Strenge  nachgewiesen  *).  Das  nte  Jahr  eines 
Königs  heißt,  daß  von  seinem  Regierungsantritt 
bis  zu  dem  bezeichneten  Zeitpunkte,  n  —  1  Jahr 
und  ein  Bruchtheil  (den  wir  durch  griechische 
Buchstaben  andeuten)  verflossen  sind.  Regiert 
Uzia  52  Jahre,  und  stirbt  er  im  2ten  Jahre  des 
Pekah,  welcher  letztere  in  Uzias  52ten  Jahre 
zur  Herrschaft  gekommen  ist,  so  ist  dieses  kein 
Widerspruch,  denn: 

Uzia  hat  regiert  vor  Pekah  51  +  * 
„       „       „        mit  Pekah    1  -f  -  % 

Uzia  hat  also  regiert :  52  +  (*+*)  Jahre, 

wo  a  und  %  zusammen  geringer  sind  als  ein 
halb.  Uzia  hat  also  etwas  länger  regiert  als 
volle  %52  Jahre. 

Dagegen  steigt  Asa  auf  den  Thron  im  20ten 
Jahre  Jerobeams  L,  der  in  Asa's  zweitem  Jahre 
stirbt.  Jerob&am  hat  also  nicht  ganz  22  Jahre 
regiert,  denn: 

Jerobeam  herrscht  vor  Asa  19  +  ß 
„  „         mit  Asa    1  -j-  y 

Jerobeam  herrscht  im  Ganzen  20  -f-  (ß  -|-  y\ 
wo  ß  +  r  größer  ist  als  anderthalb  (s.  p.  1498). 
Wenn  aber  der  Text  von  n  Jahren  spricht, 
so  heißt  dieses  mit  Nichten  im  nten  Jahr:  es 
steht  nirgends,  daß  das  23te  Jahr  des  Joas  von 
Juda  das  28te  Jebus  gewesen  sei.  Es  heißt  (Kö- 
nige II,  10,  36),  daß  Jehu  28  Jahre  **)  regiert, 
und  (ib.  3,  1),  daß  er  im  23ten  Jahre  des  Joas 

*)  Salomon  p.  17. 

**)  »Und  die  Tage,  die  Jehu   über  Israel  geherrscht, 
sind  acht  und  zwanzig  Jahre  in  Samariac 


1498      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  47. 

gestorben  sei.   Hr.Scbaefer  „erwartet"  das22te. 
Die  Angaben    der  Bibel   über  Jehu,  in   dessen 
7 ten  Jahr  Joas  den  Thron  bestiegen  hatte,  lauten: 
Jehu  herrschte  vor  Joas    6  -\-  o 
„  „  mit  Joas  22  +  n 

Jehn  herrschte  also  28  +  (°  +  *), 

das  heißt,  er  starb  nicht  im  28ten,  sondern  nach 
Beginn  des  29ten  Jahres  seiner  Regierung. 

Hr.  Schaefer  hat  nun  die  scheinbaren  Wider- 
sprüche dadurch  zu  erklären  gesucht,  daß  er 
für  Juda  und  Israel  zwei  verschiedene  Jahres- 
anfange  annahm.  Der  geringste  Fehler  dieser 
ganz  gratuiten  Hypothese,  die  durch  keinerlei 
Andeutung  vertheidigt  werden  kann,  ist,  daft 
durch  sie  keine  der  erwähnten  Widersprüche 
gehoben  wird.  Wir  wählen  unter  vielen  andern 
folgendes  Beispiel:  Abia  herrscht  3  Jahre,  vom 
18ten  bis  20ten  Jahre  Jerobeams  I.  Wie  setit 
uns  nun  ein  verschiedener  Jahresanfang,  der 
doch  mindestens  hätte  genau  bestimmt  rferden 
müssen,  über  die  genannten  Schwierigkeiten  hin- 
weg? Die  Herrscherzeit  des  Abia  bildet  den 
Unterschied  von: 

17  +  ce,   gerechnet  von  Jeroheans   Thronbe- 
steigung, und 

19  +  ßy  (ß  muß  sehr  groß  sein,  s.  p.  1497)  das  ist 
2  +  (ß  —  <*\   wo    die  Differenz  zwischen  ß 
und  a  größer  ist  als  ein  halb :  in  unserm  „Sa- 
lomon" schlagen  wir  vor :  von   März  9,041   bis 
December  9,043. 

Dieses'  ist  die  einzige  Möglichkeit,  die  an- 
derthalb hundert  einschlägigen  Daten  der  Kö- 
nigsbücher aufzufassen.  Da  das  Einfachste  auch 
immer  das  Wahre  ist,  so  ist  ihre  Entstehung 
auf  folgende  Art  zu  erklären.  Der  oder  die 
Verfasser  der  Königsbücher  und  der  Chroniken 
hatten   die   oft   citierten  „Annalen  der   Könige 


Schäfer,  Biblische  Chronologie.       1499 

von  Judatf  and  „Annalen  der  Könige  von  Israel" 
vor  sich.  In  diesen  Jahrbüchern  waren  die  Be- 
gebenheiten nach  Jahren  und  Monaten  verzeich- 
net ,  von  Abib  bis  Abib,  dem  ersten  Monat,  und 
die  Jahre  zählten  alle  von  einem  Zeitpunkte 
an,  von  dem  Terapelban  oder  von  dem  suppo- 
nierten  Datum  des  Exodus.  Der  oberflächlichste 
Einblick  in  diese  Annalen  machte  es  ungemein 
leicht,  das  Jahr  einer  Regierung  für  ein  gegebe- 
nes Ereigniß  festzustellen,  und  diese  Bestimmun- 
gen, vom  Tage  der  Thronbesteigung  an  gerech- 
net, sind  es,  die  uns  in  den  Büchern  der  Kö- 
nige überliefert  sind. 

Nicht  allein  die  modernen  Könige,  die  Sul- 
tane und  die  Päpste  verfuhren  in  dieser  Weise,  son- 
dern lange  vor  Einführung  einer  dem  Geschichts- 
schreiber unentbehrlichen  Aera  in  das  Volks- 
leben, zählten  alle  orientalischen  Könige  ihre 
Jahre  von  dem  Jahrestag  ihrer  Herrschaft.  In 
Babylon  ist  die  Sache  durch  die  datierten  juri- 
stischen Docnmente  nachgewiesen:  das  er- 
ste Jahr  des  Königs  begann  mit  dem  Datum 
seiner  Thronbesteigung,  und  rechnete  sich  nicht 
von  dem  ersten  Nisan,  der  seinem  Begierungs- 
antritt folgte*).  Man  nannte  dieses  erste  Jahr 
auch  „Jahr  der  Thronbesteigung"  und  „Jahr  des 
Regierungsantritts";  gewöhnlich,  jedoch  nicht 
immer,  wurden  die  Monate  bis  zum  Adar,  dem 
Schlüsse  des  Civiljahres,  so  bezeichnet.  Man 
kann  in  Babylon  keinen  Unterschied  statuieren 

*)  Siehe  meinen  Beweis  in  der  Schrift:  Revised  chro- 
nology of  the  latest  Babylonian  kings,  in  den  Transactions 
of  the  Society  for  Biblical  archaeology,  1878.  Die 
falsche  Annahme  hätte  ein  Jahr  bis  auf  25  Mondläufe  we- 
niger einen  Tag,  oder  737  Tage  bringen  können.  Das 
ass.  paht  allein  bezog  sich  auf  ein  Eponymenjahr,  und 
nicht  auf  ein  Regierungsjahr. 


1500      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  47. 

zwischen  diesem  Antritts-  und  dem  „ersten* 
Jahre :  in  den  vierzig  Jahren  von  Nebuchad- 
nezzars  Tode  bis  Darios,  wo  sich  die  juristi- 
schen Täfelchen  zu  hunderten  finden,  bekämet 
wir  sonst  sieben  Jahre  zu  viel:  außerdem  giebt 
es  zwei  Urtheile  vom  Elul  und  Tischri  des  lten 
Jahres  des  Pseudo-Smerdis,  der  nur  sieben  Mo- 
nate von  Ab  bis  Nisan  regierte,  und  der  also 
nur  einen  Elul  und  einen  Tischri,  nämlich  die 
seines  „Antrittsjahres"  gehabt  hatte.  Einige 
neuere  Entdeckungen  bestätigen  diese  Ansicht, 
die  übrigens  ganz  natürlich  ist  und  sich  eigent- 
lich von  selbst  versteht*). 

Diese  und  andere  minder  wesentliche  Mei- 
nungsverschiedenheiten thun  indessen  der  Bear- 
theilung  des  Buches  nicht  den  mindesten  Ab- 
bruch. Wir  beglückwünschen  den  Autor,  daß  er 
der  oberflächlichen  Anschauung  einer  gewissen 
Schute  entgegengetreten,  und  daß  er  dieses  mit 
einer  reifen  Sachkenntnis  und  einer  technischen 
Gelehrsamkeit  bewerkstelligt  hat,  die  der  Wahr- 
heit zur  baldigen  allgemeinen,  ungetheilten  An- 
erkennung verhelfen  wird. 

Paris,  August  1880.  J.  Oppert. 


Die  neueren  Arzneimittel  in  ihrer 
Anwendung  und  Wirkung.  Dargestellt  von 
Dr.  Wilh.  Fr.  Loebisch,  a.  ö.  Professor,  und 
Dr.  Prok.  Freiherr  v.  Rokitansky,  o.  ö.  Pro-* 
fessor  an  der  Universität  Innsbruck.  Wien,  1879. 
Urban  &  Schwarzenberg.    64  S.  in  Octav. 

Die  gesonderte  Behandlung  der  in  allerjüng- 

*)  Gerade  deshalb  findet  sie  auch  nicht  sogleich 
überall  Eingang ;  die  andere  Ansicht,  mit  dem  Jahrewod* 
chen ,  die  natürlich  als  falsche  Idee,  Vertheicliger  ge- 
funden hat,  vereinfacht  gar  nichts  in  der  Jahreszahlung. 


Loebisch  u.  Rokitansky,  D.  neuer.  Arzneimitt.  1501 

ster  Zeit  in  die  Praxis  eingeführten  sogenannten 
modernen  Arzneimittel  hat  gewiß  gerade  jetzt, 
wo  der  Arzneischatz  wesentliche  Bereicherangen 
erfahren  hat,  ihre  volle  Berechtigung.  Für  den 
Praktiker  ist  es  außerordentlich  angenehm,  eine 
Zusammenstellung  des  wichtigsten  über  diejeni- 
gen Arzneimittel  zu  erhalten,  über  welche  ihn 
die  in  seinem  Besitze  befindlichen  Handbücher 
der  Materia  medica  im  Stiche  lassen.  Für  die 
wissenschaftliche  Ausbildung  der  Aerzte  sind 
solche  Werke  von  besonderer  Bedeutung,  da  den 
einzelnen  Stoffen  eine  ausführlichere  Arbeit  ge- 
widmet werden  kann  als  dies  der  Raum  selbst 
der  ausgedehntesten  pharmakologischen  Hand- 
bücher gestattet,  und  dadurch  die  einzelnen  Ar- 
tikel sich  geradezu  zu  wirklichen  Monographieen 
gestalten.  So  ist  es  z.  B.  der  Fall  in  der  be- 
kannten Histoire  des  nouveaux  medicaments  von 
Guibert,  der  vorzüglichen  Preisschrift,  deren 
nicht  bloß  ephemere  Bedeutung  durch  eine  zweite 
Auflage  und  Uebersetzung  in  fremde  Sprachen 
zur  Genüge  anerkannt  ist  und  welche  nament- 
lich in  der  deutschen  Bearbeitung  von  Richard 
Hagen  ein  Musterwerk  bildet,  das  später  ana- 
logen Arbeiten  zum  Anhalte  dienen  kann.  Daß 
seit  dem  Erscheinen  der  zweiten  Auflage  dieses 
Buches  eine  hinreichende  Zahl  von  Medicamenten 
dem  Arzneischatze  zugewachsen  ist,  um  gewisser- 
maßen ein  Supplement  zu  rechtfertigen,  lehrt  ein 
Blick  auf  den  Inhalt  der  vorliegenden  Studie 
von  Loebisch  und  Rokitansky,  diemitnur 
wenigen  Ausnahmen  ausschließlich  Stoffe  be- 
spricht, welche  in  Guibert-Hagen  nicht  ent- 
halten sind. 

Die  Schrift  von  Loebisch  und  Roki- 
tansky behandelt  übrigens  keineswegs  Alles, 
was  in  den  letzten  Jahren  an  Medicamenten  neu 
vorgeschlagen  wurde,  vielmehr  nur  solche  Stoffe, 


1502      Gott,  gel  Anz.  1880.  Stock  47. 

welche  eine  verbreitete  Anwendung  gefanden  h*\ 
ben,  und  entspricht  damit  vorzugsweise  den 
dürfnissen  und  auch  den  Wünschen  des  prakl 
sehen  Arztes.    Abgesehen  vielleicht  vom  Trii 
thylamin,  der  letzten  unter  den  vonLoebiscl 
und  Rokitansky   abgehandelten  Substai 
dessen  speeifische  Wirkung  bei  acutem  Rheuma-] 
tismus  durch  die  sicherere  der  Salicylsäure  um 
des  salicylsauren  Natriums  in  Schatten  gestel 
worden  ist  und  welchem,  nur  die  von  Weiß 
flirwortete  Verwendung  bei  Chorea  minor  tibri| 
bleibt,  dürften  die  sämmtlichen  übrigen  hier 
gehandelten  Stoffe  das  Prädikat  wirklicher  Er- 
rungenschaften  für   die   Therapie   und  dauern-»! 
der  Bereicherungen  des  Arzneischatzes  verdienen« 
Es  sind  dies  in  der  von  den  Verfassern  einge- 
haltenen Reihenfolge,  die  wohl   rein  willkürlich,! 
ohne  ein  besonderes  Eintheilungsprincip  gewählt] 
wurde,  Amylnitrit,  Pilocarpin,  Pankreatin,  (Fleisch* 
pankreas-Klystiere) ,   Apomorphin,    Salicylsäure 
und  Ghloralhydrat.    In  der  That  ist  mit  diesen 
Medicamenten  die  Kerntruppe  unserer  neuen  Er- 
werbungen gegeben;  indessen  wenn  wir   auch 
wohl  begreifen  können,  daß  die  Verfasser  es  ver- 
schmäht haben,  einzelne  Novitäten  abzuhandeln, 
welche  in  Folge  gewisser  naiver  Anschauungen, 
namentlich  durch  den  Glauben  an  eine  Specif* 
cität   ihrer  Wirkung   bei  bestimmten  pathologi- 
schen  Zuständen  und  Veränderungen,   auf  den 
therapeutischen   Markt    gebracht   wurden,  wie 
Cundurango,  Xanthium  strumarium,  Blatta  oriea- 
talis,  so  giebt  es  doch  unseres  Erachtens  noch 
eine  Anzahl  moderner  Medicamente,  welche  ne- 
ben jenen  Matadoren  der  modernen  Arzneimittel 
in   einer  Schrift  wie   die  vorliegende   eine  Be- 
sprechung hätten  finden  sollen.     Ich  möchte  in 
dieser  Beziehung  namentlich   auf  die  Araroto, 


Loebiscbu.  Rokitansky,  D.  neuer.  Arzneimitt.  1503 

ferner  auf  Acidum  pyrogallicum  und  Thymol 
hin  weisen.  Die  Besprechung  dieser  Stoffe  ver- 
missen wir  mit  um  so  größeren  Bedauern,  weil 
die  Darstellung  der  von  Loebisch  und  Ro- 
kitansky abgehandelten  Substanzen  den  Be- 
dürfnissen des  Praktikers  so  überaus  angepaßt 
ist,  daß  dieselben  gewiß  gerne  den  Umfang  der 
Schrift  um  1 — 2  Bogen  vermehrt  sehen  würden, 
welche  ihnen  Belehrung  über  die  Wirkung  und 
Anwendung  jener  Stoffe,  die  in  den  meisten 
Handbüchern  nur  kurz  erwähnt  sind,  verschafften. 

Was  die  einzelnen  Artikel  anlangt,  so  hätte 
beim  Amylnitrit  vielleicht  die  Anwendung  bei 
Chloroformasphyxie,  für  welche  namentlich  in 
allerneuester  Zeit  einige  englische  und  ameri- 
kanische Aerzte  plaidieren,  etwas  ausführlicher 
besprochen  werden  können.  Nach  unseren  eige- 
nen Erfahrungen  über  die  antidotische  Wirkung 
bei  Thieren,  welche  mit  letalen  Dosen  Chloral- 
hydrat  vergiftet  wurden,  können  wir  freilich  die 
sanguinischen  Hoffnungen  einzelner  dieser  Aerzte 
nicht  theilen.  Ist  es  auch  logisch,  aus  den  be- 
lebenden Wirkungen  einiger  Tropfen  Amylnitrit 
auf  die  Herzaction  eine  Indication  zur  Anwen- 
dung des  Mittels  bei  Ohnmachtsanfällen  und 
Wiederbelebungsversuchen  von  Ertrunkenen  und 
Erstickten  zu  schließen  und  hat  auch  Maxi- 
mo^witsch  reelle  Erfolge  bei  Rohlenoxydver- 
giftung  constatiert,  so  müssen  wir  andererseits 
doch  vor  einer  outrierten  Anwendung  warnen, 
d&  dadurch  offenbar  die  asphyktrischen  Zustände 
m  Folge  der  durch  das  Amylnitrit  bedingten 
Veränderung  des  Hämoglobins  gesteigert  werden. 

Zu  dem  itia  Üebrigen  trefflich  bearbeiteten 
Artikel  über  Pilocarpin  gestatte  ich  mir  die  phar- 
macognostische  Bemerkung,  daß  der  Name  Jabo- 
randi  allerdings  nichts,  wie  M  e  r  at  und  D  e  1  e  n  s 
richtig  angeben ,  als  eine  GoUeetivbezeiehnung 


1504       Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  47. 

für  mehrere  verschiedenen  Familien  angehörige 
Pflanzen  darstellt,  daß  aber  dasjenige  Jaborandi, 
dem  die  eigenthümlichen  diaphoretischen  und 
sialagogen  Wirkungen  zukommen,  nur  von  Pilo- 
carpusspecies  sich  ableitet.  Es  würde  dies  für 
die  lateinische  Benennung  der  betreffenden  Droge 
insofern  von  Bedeutung  sein,  als  dieselbe  correct 
Folia  Pilocarpi  und  nicht,  wie  es  gewöhnlich 
geschieht,  Folia  Jaborandi  zu  benennen  wäre. 

Trefflich  gearbeitet  ist  der  Artikel  über 
Pankreatin  und  die  Fleischpankreas-Klystiere, 
der  allerdings  durch  die  weiteren  nach  dem  Er- 
scheinen der  vorliegenden  Schrift  publicierten 
Untersuchungen  einige  Bereicherungen  erfahren 
würde,  ein  Umstand,  der  da,  wo  es  sich  um  Zu- 
sammenfassung der  Verhältnisse  eines  noch  mit- 
ten in  der  Untersuchung  begriffenen  Stoffes  han- 
delt, leicht  eintreten  kann  und  z.  B.  auch  beim 
Pilocarpin  sich  geltend  macht,  während  die  übri- 
gen Stoffe,  wie  Apomorphin,  Amylnitrit  und  ins- 
besondere Salicylsäure  und  Chloralhydrat,  als 
ziemlich  abgeschlossen  betrachtet  werden  kön- 
nen. Die  praktische  Behandlung  des  Stoffes 
in  allen  diesen  Artikeln,  welche  dem  Werkchen 
eine  große  Verbreitung  sichern  wird,  läßt  es 
hoffen,  daß  die  Verfasser  in  einer  zweiten  Auf- 
lage die  durch  die  neuesten  Beobachtungen  sich 
ergebenden  Zusätze  und  Modificationen  anzu- 
bringen Gelegenheit  haben  werden  und  dürfte 
dann  auch  die  Berücksichtigung  der  oben  her- 
vorgehobenen modernen  Medicamente  und  der 
seit  dem  Erscheinen  der  Schrift  bei  den  Prak- 
tikern sich  Eingang  verschafft  habenden  Stoffe 
(Peptone,  Quebracho)  sich  empfehlen, 

Theod.  Hasemann. 


Für  die  Redaction  yerantwortl ich:  E.  Behnisch,  Director  d.  Gott.  g9l.Au. 

Verlag  der  Ditttrich' sehen  Vriags-BuchJumtUm*. 

ömck  der  Dieierich' sehen  Unit.- Buchdruck««  (W.  Fr.  Km+m)> 


Jp*-*  *<s 


:      .  1505 

(jötti  ng  ische 

gelehrte    Anzeigen 

unter  der  Aufsicht 
der  Königl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Stück  48.  1.  December   1880. 


Inhalt:  Chr.  v.  Sara uw,  Die  Feldzüge  Karl's XII.  Yon  C.  Schir- 
ren. —  R'A.  Li  peius,  Die  edeasenisctie  Abgarsage.  Von  E.  Nestle. 
—  B.  Hartmann,  Handbuch  der  Anatomie  des  Menschen.  Von 
iL  v.  Brunn. 

=  Eigenmächtiger  Abdruck  von  Artikeln  der  Gott.  gel.  Anz.  verboten  ss 


Die  Feldzüge  Karl's  XII.  Ein  quellen- 
mäßiger  Beitrag  zur  Kriegsgeschichte  und  Ka- 
binetspolitik  Europa's  im  XVIII.  Jahrhundert 
von  Christian  von  Sarauw,  Königl.  dän. 
Kapitän  a.  D.  Mit  einer  Uebersichtskarte  und 
sechs  lithogr.  Tafeln.  Leipzig,  Bernh.  Schlicke. 
1881.    XII  u.  328  S.  in  8°. 

Verfasser  und  Verleger  hätten  sich  für  alle 
Zwecke  mit  dem  Haupttitel  begnügen  sollen. 
Der  Zusatz:  Beitrag  zur  Kriegsgeschichte,  ist 
müßig;  der  Zusatz:  Beitrag  zur  Kabinetspolitik, 
kaum  berechtigt  und  die  Bezeichnung:  quellen- 
mäßig, erweckt  gleichfalls  Erwartungen,  die 
nicht  erfüllt  werden.  Von  dem  Aushang  ab- 
gesehen hat  das  Buch  einen  durchaus  legitimen 
Anspruch,  so  hingenommen  zu  werden,  wie  es 
sich  darbietet.   Mehr  als  eine  verständige  Ueber- 

95 


1506      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  48. 

sieht  unter  Benutzung  bekannter  Hilfsmittel  hat 
der  Leser  nicht  zu  erwarten.  Auch  auf  sichere 
Führung  darf  er  nicht  rechnen,  wie  denn  der 
Verf.  selbst  in  seinem  Gesammturtheil  schwankt. 
In  der  Schlußbetrachtung  kennt  er  nur  zwei 
entgegengesetzte  Auffassungen :  während  die 
eine  in  den  Feldzflgen  Karls  XII.  nichts  er- 
blicke, als  ein  tolles  Gewirr  abenteuerlicher 
Züge,  erkenne  die  andere  überall  einen  wohl- 
durchdachten Plan  und  eiserne  Consequenz  in 
der  Ausführung;  der  letzteren  Auffassung  schließt 
der  Verf.  sich  an  und  zieht  die  Summe  mit  dem 
Satz:  Karl  vereinigte  in  sich  alle  Eigenschaf- 
ten, die  ein  großer  Feldherr  besitzen  muß,  um 
mit  Recht  diesen  Namen  zu  verdienen.  In  der 
Einleitung  dagegen  heißt  es:  während  Einige 
ihn  als  ein  fast  unerreichtes  Muster  eines  Heer- 
führers preisen,  mäkeln  Andere  gewaltig  an 
seiner  Kriegführung  herum;  zwischen  beide  Ex- 
treme will  der  Verf.  sich  stellen  und  schreibt: 
die  Wahrheit  liegt,  wie  so  oft,  auch  hier  wohl 
in  der  Mitte. 

Soweit  nun  verständige  Auffassung  argen 
Uebertreibungen  auszuweichen  pflegt,  hat  der 
Verf.,  trotz  seiner  Schlußbetracbtung,  in  der 
That  eine  gewisse  Mitte  eingehalten:  ob  er 
aber  damit  im  Einzelnen  das  Richtige  trifft, 
weiß  er  ebensowenig,  wie  der  Leser  und  kann 
es  ebensowenig  wissen,  weil  er  von  den  Um- 
ständen und  Bedingungen  des  einzelnen  Falles 
nur  im  Allgemeinen,  nicht  selten  ganz  unzu- 
reichend, unterrichtet  ist. 

Gebricht  es  demnach  an  quellenmäßiger  Be- 
gründung, so  hat  sich  der  Verf.  seine  Aufgabe, 
zum  Nachtheil  ihrer  Lösung,  des  Weitern  anch 
dadurch  erleichtert,  daß  er  gegen  unfaßbare 
Gegner  polemisiert.    Fast  immer  heißt  es :  „man" 


v.  Sarauw,  Die  Feldzöge  Karl's  XII.    1507 

behauptet,  pflegt  zu  behaupten  u.  dgl.,  worauf 
die  Widerlegung  folgt.  In  den  meisten  Fällen 
aber  ist  das,  was  zu  beweisen  gesucht  wird, 
entweder  nie  angestritten  worden  oder  längst 
eingeräumt. 

Was  sich  bei  nicht  sehr  verwickelten  Be- 
denken vorträgt,  wird,  wenn  auch  keine  rechte 
Ueberzeugung,  doch  auch  keinen  lebhaften  Wi- 
derspruch hervorrufen.  Man  kann  sich  die  Ant- 
wort etwa  auf  folgende  Fragen  gefallen  lassen: 
warum  brach  Karl  XII.  von  Seeland  nicht  ra- 
scher nach  Livland  auf;  warum  lag  er  solange 
in  Lais;  warum  so  lange  in  Kurland;  was  be- 
zweckte sein  Streifzug  nachKowno;  warum  zog 
er  von  Warschau  nicht  früher  gegen  Pinczow; 
warum  ließ  er  sich  auf  die  zeitraubende  Bela- 
gerung von  Thorn  ein? 

Wenn  aber  von  S.  87  bis  S.  223  unternom- 
men wird,  darzuthun,  nicht  nur  —  was  inner- 
halb gewisser  Grenzen  zugegeben  werden  mag 
—  daß  die  Züge  des  Schwedenkönigs  von  1702 
bis  1706,  weit  entfernt,  planlos  hin  und  her  zu 
streifen,  vielmehr  der  Ausfluß  einer  einzigen 
Idee  waren,  die  mit  eiserner  Gonsequenz  fest- 
gehalten wurde ;  sondern  auch,  daß  des  Königs 
starres  Festhalten  an  der  Absetzung  Augusts 
nicht  im  geringsten  ein  großer  politischer  und 
militärischer  Fehler,  vielmehr  durchaus  richtig 
und  zweckentsprechend,  war  und  wenn  der  Verf. 
nun  seinen  Beweis  damit  einleitet,  daß  er  Oxen- 
stierna's  Denkschrift,  welche  die  deutlichsten 
Spuren  von  Altersschwäche  an  sich  trage,  ein 
völlig  irrelevantes  Actenstück  von  größerer  Red- 
seligkeit, als  Einsicht  nennt,  so  erwartet  man 
billig,  durch  die  folgenden  Ereignisse  die  in- 
nere Hohlheit  von  Oxenstjerna's  Warnungen,  die 
siegreiche  Zweckmäßigkeit  von  des  Königs  wi- 

95* 


1508      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  48. 

derstrebenden  Entschlüssen  proclamiert  zu  fin- 
den und  nimmt  fortschreitend  im  Gegentheil 
wahr,  wie  sich  nichts  weiter  darlegt,  als  etwa 
eine  Verkettung  von  Umständen,  wo  ein  Schritt 
den  andern  nach  sich  zieht,  bis  schließlich  mit- 
ten aus  allen  Wirkungen  und  Folgen  auch  dem 
naivsten  Leser  die  Ueberzeugung  aufgeht,  wie 
weise  der  alte  Oxerstjerna  gewarnt  und  wie  un- 
abwendbar der  König  sein  Verhängnis  über 
sich  herabgezogen  hat.  Es  wird  nie  gelingen, 
darzuthun,  daß  ihm  seine  polnische  Politik  durch 
die  Verhältnisse  dictiert  wurde;  vielmehr  trifft 
man  überall  auf  Stadien,  wo  eine  Umkehr  mög- 
lich und  heilsam  gewesen  wäre;  das  Hinderniß 
lag  dann  nicht  in  den  Umständen  und,  wer  es 
dort  sucht,  verschließt  sich  dem  Verständniß  der 
Dinge  und  der  Personen.  Auch  hat  der  Verf., 
trotz  seiner  unzulänglichen  Detailkunde,  begriffen, 
daß  Karl  XII.  die  Tragweite  jener  Idee  nicht 
voraussah  und  nicht  voraussehen  konnte.  An- 
fangs läßt  er  ihn  der  Meinung  sein,  mit  der 
Entthronung  König  Augusts  die  erste  Aufgabe, 
welche  er  sich  gestellt  hat,  lösen  zu  können. 
Unmittelbar  vor  der  Lösung  läßt  er  ihn  ein- 
sehen, daß  an  die  zweite  Aufgabe  —  die  Züch- 
tigung des  Zaren  —  erst  dann  gegangen  wer- 
den könne,  wenn  nicht  nur  der  eine  König  ent- 
thront, sondern  auch  der  andere  auf  dem  Thron 
befestigt  sei;  abermals  eine  Zeitlang  darnach 
zeigt  sich,  daß  auch  dieses  nicht  genüge,  son- 
dern daß  vorgängig  auch  der  Frieden  in  Polen 
hergestellt  sein  müsse  und  das  Ergebniß  aller 
Mühen  ist  zuletzt,  daß  es  in  Polen  statt  eines 
Königs  ihrer  zwei,  statt  des  Friedens  Bürger- 
krieg giebt.  Da  bleibt  freilich  nichts  übrig,  als 
der  Zug  nach  Sachsen  und,  trotz  S.  70,  ein 
neuer   Act   der   Waffengewalt.     Nun  mag  man 


v.  Sarauw,  Die  Feldzüge  Karl's  XII.     1509 

über  die  militärischen  Operationen  vom  Frieden 
von  Travendal  bis  zum  Frieden  von  Alt-Ranstädt 
denken,  wie  man  will,  das  Urtheil  über  des 
Königs  Politik  hängt  nicht  von  seiner  Strategie 
ab  nnd  auch  diese  hat  zuletzt  doch  nur  nach 
Pnltawa  geführt.  Anders  läßt  sich  die  Summe 
nicht  ziehen,  auch  wenn  der  Rechnungsansatz 
gemacht  wird,  wie  vom  Verfasser.  Allerdings 
ist  noch  ein  anderer  Ansatz  denkbar,  bei  wel- 
chem beide,  der  alte  Oxenstjerna  und  der  kö- 
nigliche Held,  besser  zu  ihrem  Rechte  kommen ; 
die  Summe  bleibt  freilich  dieselbe,  aber  das 
Verständniß  dringt  tiefer  an  die  Wurzel  und  die 
Rechnung  umfaßt  gleich  auch  alle  Vorgänge 
nach  dem  Frieden  von  Alt-Ranstädt. 

Selbst  den  Verf.  begleitet  auf  den  russi- 
schen Feldzug  nicht  mehr  die  Zuversicht,  daß 
des  Königs  Wege  an  sich  die  besten  sind.  Be- 
greiflich genug.  In  Polen  gab  es  wohl  gewal- 
tige Kreuz-  und  Querzttge,  aber  jeder  war  auf 
ein  faßbares  Ziel  gerichtet;  alle  mit  einander 
bildeten,  im  Verlaufe  der  Jahre,  ein  meßbares 
Netz,  welches  zuletzt,  trotz  Allem,  dem  König 
August  über  den  Kopf  fahrt.  Nur  etwa  beim 
Zug  gegen  Lemberg  (1704)  wandeln  auch  den 
Autor  Bedenken  an.  Nach  Ueberschreitung  der 
rassischen  Grenze  thut  sich  ihm  plötzlich  eine 
ungeheure  Leere  der  Landschaft,  eine  halbe 
Windrose  für  den  Marsch  von  Truppen  und  Ge- 
danken auf.  Das  Woher  ist  deutlich  genug, 
aber  zeichen-  und  aussichtslos  erscheint  das 
Wohin  und  Warum.  Da  ist  nur  zu  bald  der 
erste,  beste  Wegweiser  willkommen  und  wäre 
es  ein  Byron'scher  Mazepa;  je  früher  er  sich 
einstellt,  um  so  willkommener ;  wenigstens  reitet 
es  sich  mit  ihm  bequem  bis  an's  Ende;  ja  dem 
König    wird    der  Vorwurf  nicht  erspart,   nicht 


1510      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  48. 

rasch  genug  von  Mohilew  nach  Paltawa    aufge- 
brochen zu  sein,   wo    dann   leider  König    und 
Autor  zuletzt  gleich  rathlos  ankommen,    S.  261 
verglichen   mit   S.  326.     Nun   fällt    es   freilich 
schwer,   ohne   neue   Quellen  die   herkömmliche 
Darstellung,   welche   nur   ganz  im  Allgemeinen 
das   Richtige   trifft,   zu    corrigieren  und    es  ist 
einzuräumen,  daß  der  Verf.  auch  für  die  Jahre 
1708  und  1709  seine  verständige  Art  nicht  ge- 
rade  verläugnet,  aber  einer   Einsicht,     welche 
schon  in  alten  Quellen  zu  Gebote  stand,  hat  er 
sich  ohne  Noth    verschlossen ,  nachdem   er   ihr 
S.  252  auf  die  Spur  gekommen  war:   der  Ein- 
sicht in   den  untrennbaren  Zusammenhang  des 
Ausgangs    von  Pultawa,   sammt  allen  Etappen, 
die  von  Narwa  dahin  geführt  haben,   mit    dem 
Genius  des  Königs.    Mit  Unrecht  hat  der  Verf. 
die  Führung  von  Löwenhaupt  und  Gyllenkrok 
durch   das  Labyrinth  der  russischen  Campagne 
verschmäht;   schon    bei  ihnen  ist  der  Schlüssel 
zu    finden,    der    dann    auch   die   ßäthsel   von 
Bender,   Stralsund    und   Fredrikshall    erschlie- 
ßen hilft. 

Zutreffend,  obwohl  schwach  bewiesen,  ist  die 
Behauptung,  daß  den  König  nicht  krankhafter 
Eigensinn,  sondern  wohlerwogene  Gründe  jeden 
Antrag,  den  Rückweg  von  Bender  ohne  sehr 
starke  Bedeckung  anzutreten,  abweisen  ließen. 
Es  brauchen  nicht  erst  Geheimquellen  aufge- 
schlossen zu  werden,  um  darzutbun,  daß  er  da- 
bei unfehlbar  in  den  Untergang  gezogen  wäre. 
Im  Uebrigen  wird  der  Verf.  der  Haltung  des 
Königs  weder  in  Bender,  noch  in  Stralsund  ge- 
recht. Was  er  endlich  von  den  Campagnen  in 
Norwegen  sagt,  erscheint  mir  verfehlt. 

Die  Auffassung,  welche  ihn  beherrscht   und 
sich   zuerst  S.  3  kurz   angedeutet  findet,  geht 


v.  Sarauw,  Die  Feldzüge  Karl's  XII.    1511 

darauf  hinaus,  daß  Karl  XII.  keine  Eroberungs- 
politik verfolgt  und  nur  den  Besitzstand  Schwe- 
dens habe  aufrecht  halten  wollen;  erst  gegen 
Ende  seiner  Laufbahn  scheine  er  sich  mit  dem 
Gedanken  vertraut  gemacht  zu  haben,  daß  alle 
Erwerbungen  Gustav  Adolph's  unwiederbringlich 
verloren  seien  und  dann  habe  er  wohl  den  Plan 
gefaßt,  durch  Eroberung  Norwegens  einen  weit 
werthvolleren  Ersatz  zu  suchen.  Diese  Auf- 
fassung ist  stark  zu  modificieren.  Auch  wenn 
man  die  Ueberschätzung  des  vermeintlichen  Er- 
satzes auf  sich  beruhen  läßt,  so  steht  es  doch 
über  allem  Zweifel,  das  Karl  XIL  das  Verlorne 
nie  unwiederbringlich  verloren  gegeben  hat. 
Wenn  man  ferner  zugeben  mag,  daß  er  für  den 
Besitzstand  Schwedens  kämpfte,  und  daß  er  in 
unvergleichlich  höherem  Maaße  von  dem  Ver- 
langen nach  Rache,  sofern  der  Ausdruck  um 
der  Kürze  willen  gestattet  wird,  als  von  der 
Sacht  nach  Eroberungen  getrieben  wurde,  so 
darf  doch  nicht  verschwiegen  bleiben,  daß  er, 
anderer  Pläne  nicht  zu  gedenken,  sein  Auge 
bald  anfangs  auf  Kurland  richtete  und  entschlos- 
sen blieb,  es  zuletzt  zu  behalten.  Da  der  Verf. 
davon  nichts  weiß,  so  fehlt  ihm  der  volle  Maaß- 
stab  für  die  schwedisch-polnischen  Beziehungen ; 
für  die  Verhandlungen,  welche  der  Erhebung 
von  Stanislaus  und  dem  Bündniß  von  Warschau 
vorausgehen;  noch  mehr  für  das  Verhältniß  zu 
Preußen;  endlich  und  nicht  zum  letzten  für  das 
Verständniß  des  Königs  und  seiner  Pläne.  Die 
drei  letzten  Jahre  wiederum  treten  erst  dann  in 
richtiges  Licht,  wenn  sie  nach  des  Königs  In- 
tentionen, nicht,  wie  der  Verf.  will,  als  Resig- 
nation und  Abschluß,  sondern  als  Wiederauf- 
nahme des  Nordischen  Krieges  begriffen  wer- 
den.   Wenn  irgend  in  der  Lautbahn  des  merk- 


1512      Gott.  gel.  Adz.  1880.  Stück  48. 

würdigen  Mannes,   so   spielt   in   diesen  Jahren 
die   Eroberungspolitik    gegenüber    den   Rache- 
motiven eine  nur  untergeordnete  Rolle.     Es  ist 
kaum  zu  bezweifeln,   daß  Karl  Xu.   in  Gyllen- 
borgs   und   der  Jacobiten    thörichte   Anschläge 
ernstlich  nie  eingetreten  ist,  allerdings  aber  hat 
er   sie   mit   einer   gewissen   Schadenfreude   ge- 
währen lassen  und  seine  norwegischen  Feldztige 
sind  ebenso  sehr  aus  dem   einfachen  Umstände, 
daß,   nach   dem  Aufgange   des  Eises  im  Sand, 
Anfang   1716,   zunächst   kein    anderes   Kriegs- 
theater offen  stand,  als  aus  dem  Verlangen   zu 
erklären,   nicht  sowohl   an   Dänemark,   als   an 
den  westlichen  Mächten  für  den  aufgenöthigten 
Frieden  von  Travendal  Rache  zu  nehmen.   Denn, 
wenn  er  irgend  etwas  auf  Erden  hoch  hielt,  so 
war  es  sein  Wille  und,  wenn   er  irgend  etwas 
zertrat,  so  war  es  der  Widerstand  gegen  seinen 
Willen.    Er   konnte    nur  Er   sein   oder   nichts; 
kein  Sterblicher  ist  je  so  untheilbar  sich  selbst 
sein  Eines   und   Alles   gewesen    und   doch  von 
der  gemeineren  Selbstsucht  Sterblicher  frei.   Der 
Tod  galt  ihm  wenig,  gemessen  an  Zwang.   Mit- 
ten in  den  tausend  Gefahren,  die  ihn  umdräng- 
ten und  in  die  er  sich  stürzte,  ist  er  dem  Unter- 
gang  nur  dreimal   ausgewichen :   als    er  nach 
Pultawa  über   den   Dniepr   setzte;   als   er   bei 
Bender  dem  plötzlich  steigenden  Fluß  entging; 
das  letzte  Mal  bei  Stralsund.    Fremdem  Willen 
hat  er  sich  nur  einmal  gefügt  und  bis  an  sein 
Ende  hat  er  den  Alliirten  nicht  vergessen,  daß 
seine    siegreichen   Truppen  vor   der  Zeit,    die 
er   sich   gesetzt,   von   Seeland   hatten  abziehen 
müssen. 

Wer  von  dem  Leben  eines  Helden  berichtet, 
hat  unstreitig  das  Recht,  auch  von  seinem  Tode 
zu  erzählen.     Wäre   nur   davon    nicht  allzuviel 


v.  Sarauw,  Die  Feldzüge  Karl's  XII.     1513 

schon  geredet!  Für  das  Verständniß  der  Feld- 
ziige  ist  am  Ende  die  Frage,  ob  Karl  XII. 
durch  eine  feindliche  Kugel  gefallen  sei,  von 
geringem  Belang  und  auch  für  das  Verständniß 
des  Helden  entbehrlich.  Das  Interesse  an  der 
Frage  liegt  ganz  wo  anders  und  dem  Verf.  hät- 
ten statt  zweier  Seiten  über  den  vermeintlichen 
Unsinn  eines  Meuchelmordes  einige  Worte  ge- 
nügen sollen.  Denn  so  einfach,  wie  er  meint, 
stellt  sich  die  Antwort  nicht.  Die  Kugel  aus 
der  Festung  vermag  jedenfalls  nicht  zu  bewei- 
sen, daß  sonst  keine  für  den  König  gegossen 
war;  darauf  aber  kommt  im  Grunde  mehr  an, 
als,  welche  Kugel  schließlich  traf.  In  dieser 
Beziehung  mag  die  Hygiea  1860  das  letzte 
Wort  geredet  haben;  in  jener  hat  selbst  Paludan- 
Müller,  wenn  überhaupt,  doch  nur  das  zu  wider- 
legen vermocht,  wovon  er  gewußt  hat  und  es 
dürfte  noch  mancher  Zweifel  zu  heben  sein, 
ehe  die  Sache  für  immer  abgethan  ist. 

Auch  sonst  hätte  sich  der  Verf.  einige  Ab- 
schweifungen versagen  sollen,  die  für  seine  Auf- 
gabe nichts  eintragen  konnten,  selbst  wenn  sie 
von  reicherem  Material  ausgingen,  als  die  dürf- 
tige Auseinandersetzung  über  den  Frieden  von 
Alt-Ranstädt.  Der  Kabinetspolitik  des  achtzehn- 
ten Jahrhunderts  ist  mit  so  leichtem  Minen- 
werke nicht  beizukommen.  Ebenso  wäre  es 
rathsam  gewesen,  Patkuls  nur  kurz  zu  geden- 
ken, da  Erörterungen  über  seine  Gefangen- 
nahme und  seine  Kerkerhaft,  selbst  bei  besse- 
rer Kenntniß  der  Thatsacben,  in  einer  über- 
sichtlichen Darstellung  der  Feldzüge  Karl's  XII. 
nicht  recht  am  Orte  sind.  Im  buchstäblichen 
Sinne  nicht  am  Orte  ist  der  Patkul  auf  S.  18, 
wo  er,  freilich  nicht  leibhaftig,  ab6r  doch  im 
Geiste  1697  bei  Rawa  erscheint,  während  er  in 


1514      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  48. 

der  That  erst  ein  volles  Jahr  später  in  die 
Kreise  König  August's  tritt;  ebensowenig  S.  68 
an  der  Düna  1701,  angeblich  als  einer  der  ober- 
sten Führer  der  Sachsen  und  in  der  Schlacht 
verwundet,  während  er  damals  weder  an  der 
Düna  gewesen  ist,  noch  die  Sachsen  geführt, 
zwar  eben  um  jene  Zeit  eine  Wunde  davonge- 
tragen hat,  aber  von  der  Hand  eines  französi- 
schen Abenteurers  im  Duell;  endlich  gleich  we- 
nig S.  115,  wo  er  als  General-Lieutnant  in  rus- 
sischen Diensten  über  die  livländische  Grenze 
fällt  und  am  29.  Juli  1702  die  Schweden  bei 
Hummelshof  schlägt,  während  er  in  Wirklich- 
keit am  selben  Tage  durch  Kaschau  in  Ungarn 
reist  und  weder  vorher,  noch  nachher  von  Ruß- 
land her  in  Livland  einbricht.  Dergleichen  Irr- 
thümer  waren  am  leichtesten  zu  vermeiden, 
wenn  der  Verf.  sich  auf  Nichts  einließ,  was 
nicht  mitten  auf  seinem  Wege  lag. 

Ein  Werk  über  die  Feldzüge  Karl's  XU 
läßt  sich  nicht  gut  besprechen,  ohne  mit  eini- 
gen Worten  auch  der  Schlachten-Schilderun- 
gen zu  gedenken.  Wie  weit  sie  dem  sen- 
gationsbedürftigen  Leser  zusagen  werden,  steht 
dahin.  Sie  sind  eben  im  Stil  alles  Uebrigen 
gehalten.  Daß  sie  von  den  dem  Verf.  zugäng- 
lichen Relationen  abhängig  geblieben  sind,  be- 
gründet keinen  Vorwurf.  Von  erheblich  takti- 
scher Bedeutung  ist  ohnehin  kaum  eine  und, 
wenn  man  sie  von  allem  Umschweife,  mit  des 
bald  Sieger,  bald  Besiegte  sie  verbrämt  haben, 
entkleidet,  so  reducieren  sie  sich  fast  durch- 
gehends  auf  zwei  einander  rasch  ablösende  Mo- 
mente: Angriff  und  Flucht.  Der  Verf.  dürfte 
mitunter  aus  ihnen  etwas  zu  viel  gemacht  ha- 
ben, obwohl  er  sich  ganz  unparteiisch,  auf  Schi- 
lenburgs  Autorität  hin,  trotz   eingelegter  Ver- 


v.  Sarauw,  Die  Feldzttge  Karl's  XII.    1515 

rahrung,  für  die  Retirade  von  Punitz  fast  ebenso 
r wärmt,  wie  für  die  Siege  des  Königs.  We- 
igstens  einer  dieser  Affären  sei  zum  Schluß 
twas  näher  gedacht. 

Von  der  Schlacht  bei  Klissow  bemerkt  der 
rerf.,  sie  habe  vier  Stunden  gedauert,  und  sei 
on  allen  Schlachten  Karls  XII.  die  in  takti- 
cher  Beziehung  interessanteste,  weil  nicht  nur 
larauf  losgeschlagen,  sondern  wirklich  gekämpft 
md  während  des  Kampfes  manövriert  worden 
ei ;  auch  habe,  während  die  sächsische  Armee 
Iber  48  zum  Theil  schwere  Kanonen  verfügte, 
lie  schwedische  kein  einziges  Stück  Geschütz 
gehabt.  Diese  Angabe  ist  irrig  und  die  Schil- 
ler ung,  welche  vorwiegend  auf  schwedischen 
Erstellungen  beruht  und  zudem  die  Terrain- 
Verhältnisse  nicht  hinreichend  klar  legt,  ist 
nehrfach  zu  corrigieren.  Statt  aller  Auseinan- 
Lersetzungen  gebe  ich  einige  Beiträge  aus  den 
Quellen  und  gedenke  von  bisher  unbekannt  ge- 
bliebenen schwedischen  Relationen  hier  nur  vor- 
hergehend eines  Schreibens  Gederhielm's  an  sei- 
len Bruder,  dd.  Pintzow,  20/10  Juli  (Bibl.  Ups.) 
Sine  der  besten  mir  bekannt  gewordenen  Rela- 
ionen  ist  nach  den  Angaben  Trampes,  welcher 
leben  Flemming  einen  Reiterangriff  ausführte, 
in  König  Friedrich  IV.  erstattet,  dd.  Krakau, 
}6  Juli  (Kopenh.  Arch.)  Es  heißt  in  derselben: 
,Den  19 ten  früh  brachten  die  ausgeschickten 
Parteien  die  Nachricht  bei  uns  ein:  daß  die 
Schweden  aufgebrochen  und  in  vollem  mouve- 
nent  wären,  ohne  daß  zu  erfahren  gewesen, 
wohin  sie  sich  gewandt  hätten.  Man  schloß  in 
unserem  Lager  aus  ihrer  Schwäche,  daß  sie  un- 
sere attaque  nicht  abwarten,  sondern  sich  bei 
Zeiten  retiriren  wollen;  derhalben  der  ganze 
inke  Flügel  beordert  wurde  sich  marchfertig  zu 


1516      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  48. 


machen,   um  gleich  nach  Mittage  dem  Feind 
nachzusetzen   and   ihn  wo  möglich  aufzuhal 
Der  Feind  aber  benahm  uns  diese  Mühe,  dei 
noch  vor  Ablauf  der  Mittagsstunde  avertirte 
Feldwache :  daß  der  Feind  sich  sehen  ließe  am 
aus  dem  vor  uns  gelegenen  Holze  auf  der  Hob 
hervorrückte,    derowegen   unser    linker  Flügel 
welcher  schon  gesattelt  hatte,  aufsitzen  und  d 
corps  d'armee  und  der  rechte  Flügel  gleicbfaDi 
in  Eile  herausrücken  und  sich  en  ordre  de  baj 
taille  stellen   mußte,   da    eben   die  Kron-Arm 
im  Anzüge   war   und   sich   an   unseren  rechte 
Flügel  schloß.    Es   war   aber   das   terrain  an 
die  situation  unsers  Lagers    solcher  Gestalt 
schaffen,  daß  dessen  linker  Flügel  in  einer  an 
gleichen  Niederung,    die  Infanterie   und  abson 
derlich  der  rechte  Flügel  aber  auf  einer  gleich 
falls  ungleichen  Höhe  mit  untergemischten  Mo 
rasten  stand,  an  dessen  linken  Flügel  ein  Doi 
und   ein   anderes  nebst    dem    adeligen  E 
Elischoff  (woselbst  das  Hauptquartier  war) 
der   Mitte    gelegen.    Fast   hinter   dem  gan 
Lager  hin  war  ein  dick  bewachsener,  tiefer  and 
auf  V*  Meile  breiter  Morast,  worin  als  in  einen 
inaccessiblen  Ort  die  Bauern  ihre  Sachen  in  Si- 
cherheit gebracht  hatten.     Vor  der  Fronte  des 
linken  Flügels   und  des  corps  war   etwas  Feld 
und  darauf  abermahl  ein  doch  nicht  allenthalben 
inpracticabler  Morast  neben  vielen  Zäunen  and 
kleinen  Gräben,  folglich   aber   ein  offenes  and 
bis  1  ä  2  Kanonenschüsse  hügelan   nach  einem 
Holze  sich  ziehendes  Feld,  welches  sich  ftr  der 
gantzen  Linie   hin   erstreckte,   mit   dem  Unter- 
schiede, daß  gegen  den  rechten  Flügel  erwähn- 

a  u  -Z  * daran  ein  Dorf  &eleeen)  sich  genähert, 
™id  kein  Morast  darzwischen  befunden  worden. 
Ais  nun  der  Feind  aus  dem  Holze  gegen  unsero 


v.  Sarauw,  Die  Feldzüge  Karl's  XII.    1517 

linken  Flügel  ganz  dicke  hervor  und  unter  dem 
Holze  weg  gegen  unsern  rechten  Flügel  gezogen, 
folglich  auch    bei   dem  gegen  nnsern  rechten 
Flügel   gelegenen  Dorfe  hervorgekommen,  hat 
er  eine  Fronte    gemacht,   welche  unsere   halbe 
Linie  nicht  übertroffen,  und  geschienen,  sich  en 
ordre  de  bataille  setzen   zu   wollen:   da  inzwi- 
schen die  unsrige  sich  fertig  zum  Streite  mach- 
ten und  die  Stücke  (womit  wir  dem  Feind  auch 
überlegen   waren)   so   wohl   bei   der  Cavallerie 
als  Infanterie  anführen,  und  mit  selbigen   auf 
den   Feind,   sobald   er  zu   erreichen    gewesen, 
wiewohl    mit    wenigem   effect    spielen    ließen. 
Worauf  der  Feind  zwar  etliche  Mal  antwortete, 
aber   mit   noch   geringerer  Wirkung,    weil   alle 
Kugeln   Überweg  gingen.    Als  man  nun  in  de- 
liberation stand,  wie  der  Feind  in  solcher  posi- 
tur  über  obenerwähnten  Morast  anzugreifen  sein 
würde,   zog  selbiger  sich  unvermuthlich  und  in 
großer  Eile  vor  unserm  linken  Flügel  ganz  weg 
nach  dem  rechten   und  avancirte    mit   ganzer 
Macht    gegen   die  Krön- Armee.     Welche    ihm 
zwar  gleich  entgegenrückte,    aber   kaum    das 
Feuer  erwartete,   sondern   sich   umkehrte    und 
spornstreichs  ohne  Umsehen   nach  ihrem  alten 
Lager,  so  eine  halbe  Meile  davon  gelegen,  da- 
von lief.    Die  Teutsche  Armee  hätte  sich  zwar 
hierdurch  nicht  schrecken  lassen  sollen,  weil  sie 
dem  Feinde   an   Macht  noch    überlegen    war, 
allein  die  zwei  auf  dem  rechten  Flügel  stehen- 
den  Dragoner-Regimenter   hielten   nicht  besser 
den   Stich,  sondern    wendeten   nach    einer  de- 
charge  gleichfalls  den  Rücken.    Der  Feind  hielt 
hierbei  gute  contenance  und  ging  auf  die  übrige 
Cavallerie  los,  die  eben  sowenig  als  die  vorige 
zu  halten  waren.    Der  linke  Flügel  hatte  sich 
inzwischen  vor-  und  rechtwärts  gezogen,  um  dem 


1518      Gott,  gel  Anz.  1880.  Stück  48. 

vor  seiner  Fronte  entwichenen  Feinde  in  den 
Blicken  oder  in  die  flanque  zu  gehen,  wank 
aber  durch  die  difficile  Passirnng  des  vor  sick 
gefundenen  Morastes  so  lange  aufgehalten,  dal 
der  Feind  mit  den  übrigen  fast  fertig  war,  be- 
vor er  ihn  erreichen  konnte,  sintemahl,  wie  n 
verwundern,  dieses  alles  in  weniger  als  einer 
halben  Stande  verrichtet  war.  Doch  chargirte 
das  erste  Treffen  des  linken  Flügels  anfänglich 
den  Feind  sehr  wohl  unter  Anführung  des  Hnu 
General  Trampens.  Es  währte  aber  solche 
avantage  nicht  lange,  weil  die  ganze  feindliche 
Macht  sich  dagegen  wendete  und  das  andere 
Treffen  gedachten  Flügels  zurückblieb,  und  nicht 
fort  zu  bringen  war,  das  erstere  zu  secundiren, 
dahingegen  die  Schwedischen  esquädrons  von 
ihrer  infanterie  souteniret  wurden,  wodurch 
auch  dieser  Flügel  zu  weichen  und  das  Feld 
zu  räumen  gezwungen  wurde.  Unsere  infanterie 
hatte  sich  bisher  fast  gar  nicht  beweget,  da 
nun  zuletzt  die  Reihe  an  sie  kam,  wollte  sie 
sich  zwar  anfanglich  wehren,  nachdem  aber 
das  Steinauische  Regiment  über  einen  Haufei 
geworfen  war,  entfiel  den  übrigen  auch  der 
Muth,  welche  sämmtlich  durch  die  Flucht  das 
Leben  zu  retten  suchten  und  dem  Feinde  das 
ganze  Feld  nebst  der  ganzen  Artillerie  und  das 
Lager  räumen  mußten.  Die  flüchtende  Kro* 
Armee  nahm  ihren  Weg  über  die  Höhe  nebst 
einigen  teutschen  Regimentern  und  entkas 
glücklich.  Die  übrigen  Alle  aber  wendeten  skh 
gegen  den  hinter  sich  habenden  großen  Moras^ 
in  welchem,  weil  er  an  vielen  Orten  unergründ- 
lich und  eine  viertel  Meile  breit  gewesen,  vide 
Pferde  und  Menschen  theils  von  dem  verfolgen- 
den Feinde  erschossen,  theils  versunken  und 
unterdrücket  worden.    Der  König  selbst  kam 


y.  Saraaw,  Die  Feldzüge  Earl's  XII.    1519 

auch  mit  genauer  Noth  and  großen  Mühen  hin- 
durch. Die  Bambtliche  bagage,  welche  sieh 
gleichfalls  dahin  gewendet,  ist  hin  and  wieder 
versunken  nnd  stecken  geblieben  nnd  dem  ver- 
folgenden Feinde  in  die  Hände  gefallen,  so  daß 
wenig  davon  echappiret*.  Mit  dieser  Darstel- 
lung stimmt  der  Bericht  zweier  Augenzeugen 
aufs  Genaueste  ttberein,  nur  daß  beide  das 
Schlachtfeld  verließen,  als  die  sächsische  In« 
fanterie  noch  kämpfte:  Patkul  an  Moreau,  dd. 
Erakau.  20.  Juli  und  Ritter  an  Beichling.  dd. 
Groß-Strehlitz.  21.  Juli.  (Dresd.  Arch.)  König 
Augast,  welcher  gleichfalls  vor  Ausgang  der 
Bataille  über  den  Morast  entkam  und  dessen 
Schreiben  an  den  Gardinal-Primas  dem  Verf. 
nicht  unbekannt  geblieben  ist,  schreibt  am  27. 
Juli  aus  Erakau  an  Fürstenberg:  „Vous  orres 
appries  la  facheusse  nouvelles  de  nostre  Ren- 
contres, qui  est  de  verrites  seur  naturelles,  et 
1>as  heumenes  car  sellon  le  jeugemen  heamen 
ennemies  estes  perdeus  et  si  par  la  lachestes 
de  nos  jen  qui  est  cosse  de  tout  (der  Gedanke 
bricht  hier  ab)  iel  nen  serres  pas  echapes  un 
ammes  des  Svedoies  estens  degas  tout  en  vel- 
lopes,  mes  ces  trop  long  a  en  parier".  Endlich 
ergebt  sich  einer  der,  freilich  nur  mit  Rock  und 
Hemd,  glücklich  entkommenen  Polen  über  die 
gleich  erfolgreichen  Sachsen  voll  Ingrimm  so: 
„ich  hab  mein  tag  größere  Hunßfeter  nicht  ge- 
sehen wie  die  Sachsen,  die  da  durchgegangen 
seyndt  biß  tornowiz  und  von  daren  biß  nach 
Sachsen",  Joh.  von  Felkersam,  dd.  Erakau,  1. 
Aug.  (Schw.  RA.  Acta  Hist.  Polska  Mäns  br.) 
Kiel,  Nov.  C.  Schirren. 


1520      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  48. 

Die  edessenische  Abgarsage  kritisch 
untersacht  von  Richard  Adalbert  Lip  sins. 
Braunschweig,  C.  A.  Schwetschke  und  Sohn 
(M.  Bruhn).    1880.    92  SS.    8°. 

Vorliegende  Schrift,  welche  Lipsius  im  Na- 
men der  theologischen  Facultät  Jena's  zu  Hase' 8 
öOjährigem  Jenenser  Professor-Jubiläum  (am  15. 
Juli  d.  J.)  veröffentlicht  hat,   untersucht  die  be- 
kannte altchristliche  Erzählung,  daß  Abgar  der  V. 
Ukkämä,  d.  h.  der  Schwarze,  Toparch  von  Edessa, 
13—50  unserer  Zeitrechnung,   Christus  brieflich 
zu  sich  gebeten,  damit  er  ihn  heile,  von  Christus 
die  Antwort  erhalten,  er  werde  ihm  einen  seiner 
Jünger   schicken,   daß   dies   geschehen,    Abgar 
durch  Thaddäus  (Addai)  geheilt,  mit  seiner  Stadt 
zum    Christenthum   bekehrt  worden   sei.    Diese 
Erzählung,  für  welche  bis   vor  Kurzem  der  um 
324  schreibende  Vater  der  christlichen  Kirchen- 
geschichte Eusebius    die  einzige  Quelle  war, 
hat   dadurch  ein  neues  Interesse  erhalten,  daß 
der  Engländer  Cureton  1864   Bruchstücke  und 
Phillips   1876    das    Ganze    einer    syrischen 
Schrift  Doctrina  Addern  veröffentlichen  konnten, 
welche    das    Original   der   von  Eusebius   einer 
syrischen  Handschrift  des  edessenischen  Archivs 
entnommenen  Berichte  zu  sein  schienen  (s.  dar 
über  GGA.  1877.  6.  161/84).    Nach  derneuent 
deckten  syrischen  Quelle  ist  von  Abgar's  Schrei- 
ber Labubna   die  Geschichte   des   Briefwech- 
sels und  seiner  Folgen  aufgezeichnet,   von  dem 
tabularius  Hannan  (Ananias),  der  die  Briefe  be- 
sorgt hatte,  dieselbe  beglaubigt  und  im  edesse- 
nischen   Archiv   niedergelegt    worden,   wo  die 
Gesetze   des  Königs   und    die  Kaufs-    und  Ver- 
kuufscontrakte    sorgfältig    aufbewahrt   wurden. 
Wie  sehr   die  ganze  Sache  einer  neuen  Unter- 


t 


\ 


^ie  ede88enische  Abgarssge.    1523 

*  ^P^t   *°^  gesegnet  sein  und 

*%      ^6  ^^wältigen  auf  ewig".  Man 

V  ^     %  X?m   (f  378)  in  seinem 

tf<£^     %  ^  Over  beck,  Ephr. 

^  *  ^     **  X  1865  p.  141)  dar- 

^    *jfo  &     **4  %  dies,  indem  die 

-J&&  Y%*>     \^  'isctpulum  acce- 

neu*  eine  all- 

^t  man  die 

berhaupt 

^ti  ent- 

>\    ^SK**"  «1  weder 

&  Q%      ^+4*  ''**'  discipulum 

**  i^k^s  ^orotheus,  in  der 

^  i^f  .l   (Chron.  Pasch,  ed. 

r/°+  t  6  ifjv  imöToXtjv  AvyccQto 

&J*  jfj   xa*   IctOapsvoq  avtov   to 

.6   Erachtens   wenigstens,  nur 
^usammenziehung  der  bekannten 
*d  weist  nicht  auf  eine  andere  Form 
.,  wornach  Thaddaeus,  und  nicht  Han- 
gen Brief  ttberbracht  hätte*). 
Auf  die  Abweichungen  des  armenischen  Be« 
lichtes  bei  Moses   von    Khorni,  auf  den  Brief* 
:jechsel  des  Abgar   mit  Tiberius,   zu    dem  bei 
Moses  noch  ein  Schreiben  des  Toparcben  an  den 
jungen  König  Nerses  von  Armenien  und  Ardasches 
von  Persien  hinzukommt,  lassen  wir  uns  nicht  ein 
nod  constatieren  nur,  daß  nach  Lipsius  S.  41  die 
•&4  vor  Moses,  d.  h.  vor  470  und  nach  Eusebius, 
&  h,  uact  324  verfaßt  sein  muß*    Letztere  Bestim- 

*)  Oder  sollte  der  diacipulus  nicht  Thaddaeus,  son- 
jwn  Thomas  sein,  welcher  nach  Moses  von  Khorni  und 
Kares  die  Antwort  niedergeschrieben? 

96* 


1522      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  48. 

genommen  werden.  In  unsern  Ausgaben  (und 
Handschriften?)  beginnt  die  Antwort  Christi 
gleich  in  der  zweiten  Person :  ppxagtog  stm- 
cuvaaq  iv  ipol  pij  scoQctxwg  /je ;  in  der  syrischen 
Uebersetznng  dee  Eusebius,  die  uns  in  einer 
yom  Jahr  411  datierten  Handschrift  erhalten 
ist,  ebenso  bei  Moses  von  Chorni,  ebenso  hei 
Gregorios  Hamartolos  (Tischendorf,  Anecdota 
sacra  et  profana  102)  in  der  dritten  Person, 
ganz  allgemein :  /uaxu  ?*ot  6  mdievaag  etc, :  letz« 
tere  Lesart  ist  schon  auf  Grund  der  Stellen 
Mtth.  11,  6.  Joh.  20,  29  entschieden  vorzuziehen. 
Der  Differenz  dagegen,  daß  Ananias  bei  Euse- 
bius wxvdQOfAog  (in  der  syr.  Version*)  aobno 
tdbellarius),  in  DA  dagegen  *nVott  tabularius 
heißt,  möchte  ich  nicht  so  viel  Gewicht  bei- 
messen als  Lipsius  thut,  und  möchte  namentlich 
in  «nbiM  nicht  eine  spätere  tendenzmäßige 
Aenderung  sehen,  weil  ein  Scbneliläufer  für  die 
ehrenvolle  Sendung  „eine  zu  geringe  Person 
schien".  Einmal  nemlich  ist  vcbvQ  ein  den 
Syrern  schon  aus  der  Peshito  ganz  geläufiges 
Wort,  während  anVöö  überaus  selten  ist;  man 
wird  also  nicht  das  gewöhnlichere  in  isiß  sel- 
tene und  eigentlich  weniger  gut  passende  Wort 
geändert  haben;  sodann  ist  zweifelhaft,  ob 
Nnbintt  in  DA  überhaupt  die  Bedeutung  dos 
lateinischen  tabularius  und  nicht  vielmehr  eben 
die  von  tabellarius  bat,  so  gut  wie  letzteres 
Wort  später  nicht  mehr  blos  den  %axvä$o(*4>s  =* 
YQa(A(iaTo<fOQO{%  sondern  auch  den  wwrgaf1* 
bezeichnet  hat,  Von  den  sonstigen  Abweichun- 
gen, welche  der  Briefwechsel  in  der  DA  auf- 
weist, ist  die  wichtigste  am  Schluß  der  Autwort 


*)  Von  den  östlichen  Syrern  tebMlSra,  von  den 

liehen  t^b^alara  gesprochen  (wie  ipiscu  pä  und  apiaoöpS), 


Lipsius,  Die  edessenische  Abgarsage.    1523 

Christi:  „Deine  Stadt  Boll  gesegnet  sein  nnd 
kein  Feind  soll  sie  bewältigen  auf  ewig".  Man 
bat  gefragt,  ob  Ephräm  (f  373)  in  seinem 
Testament  (syrisch  auch  bei  Overbeck,  Ephr. 
Syri  . . .  opera  selecta.  Oxon.  1865  p.  141)  dar- 
auf anspiele ;  Lipsius  verneint  dies,  indem  die 
Worte  benedicta  civitas  ...  Edessa  quae  ex  vivo 
Filii  ere  benedictionem  per  eins  discipulum  acce- 
pit;  ilia  igi&ur  benedictio  in  ea  maneat  eine  all- 
gemeinere Deutung  zulassen.  Nimmt  man  die 
Stelle  genau,  so  ist  in  derselben  überhaupt 
keine  Anspielung  auf  die  Antwort  Christi  ent- 
halten, denn  diese  ist  ja  auf  keinen  Fall  weder 
mündlich  noch  schriftlich  per  eins  discipulum 
überbracht  worden.  Die  Bemerkung  des  angeb- 
lichen Bischofs  von  Tyrus,  Dorotheas,  in  der 
Schrift  über  die  70  Jünger  (Chron.  Pasch,  ed. 
Dind.  II,  122)  Taddcuog  6  trjv  imöwtyv  AvyccQoa 
änoxofHGccg  iv  'Edecatj  xcu  laaapevog  avtov  %o 
na&og  ist,  meines  Erachtens  wenigstens,  nur 
eine  ungenaue  Zusammenziehung  der  bekannten 
Legende,  und  weist  nicht  auf  eine  andere  Form 
derselben,  wornach  Thaddaeus,  und  nicht  Han- 
nan,  den  Brief  ttberbracht  hätte*). 

Auf  die  Abweichungen  des  armenischen  Be- 
richtes bei  Moses  von  Khorni,  auf  den  Brief* 
Wechsel  des  Abgar  mit  Tiberius,  zu  dem  bei 
Moses  noch  ein  Schreiben  des  Toparchen  an  den 
jungen  König  Nerses  von  Armenien  und  Ardasches 
von  Persien  hinzukommt,  lassen  wir  uns  nicht  ein 
nnd  constatieren  nur,  daß  nach  Lipsius  S.  41  die 
DA  vor  Moses,  d.  h.  vor  470  und  nach  Eusebius, 
d,  h.  nach  324  verfaßt  sein  muß.    Letztere  Bestim- 

*)  Oder  sollte  der  discipulus  nicht  Thaddaeus,  son- 
dern Thomas  sein,  welcher  nach  Moses  von  Khorni  und 
Mares  die  Antwort  niedergeschrieben? 

96* 


1524      Gott.  gel.  Adz.  1880.  Stüek  48. 

mnng  folgt  aber  aas  den  bis  jetzt  vorliegenden 
Daten  niebt  nothwendig.  Denn  angenommen, 
Eusebias  and  DA  gehen  aaf  dieselbe  Quelle 
zurück,  so  kann  die  Legende  sich  zu  der  in  DA 
vorliegenden  Gestalt  entwickelt  haben,  ehe 
Eusebius  die  ursprüngliche  Quelle  benutzte. 
Deswegen  ist  es  doppelt  willkommen,  daß  die  Ver- 
wandtschaft von  DA  mit  andern  syrischen  Schrift- 
stücken eine  genauere  Zeitbestimmung  ermög- 
licht: diese  sind  die  Acten  der  edessenischen 
Märtyrer  Scharbil  undBarsamyä,  nament- 
lich die  des  letztem,  and  das  sogenannte  Ckro- 
nicon  Edessenwm.  Ueber  die  Fragen,  die  sich 
an  diese  Märtyrerakten  knüpfen ,  s.  S.  41  f.,  wo 
zweimal  aus  Versehen  das  15  Jahr  des  Tibe- 
rias statt  des  Trajan  genannt  ist;  warum 
Lipsias  beständig  BarscÄamia  schreibt,  weiß  ich 

nicht   (syr.    ]  ■vo,ff)^o   lat.  ßareimaeus),  eben  so 

wenig,  wer   der   Gott  jivim  (der  Blinde?)  ist, 

der  in  diesem  und  ähnlichen  Namen  verborgen 
ist  (noch  im  Jahr  715  d.  Griech.  heißt  ein  Toch- 

tersohn   Ephräms   |iSnm^>^  =  Uuhd  p^^).    Die 

edessenische  Chronik  kommt  in  Betracht, 
weil  1)  das  große  mit  Skalptaren  geschmückte 
Königsgrab,  in  welchem  Abgar  nach  DA  den 
Thaddaeus  beisetzen  läßt,  offenbar  dasselbe  ist, 
das  sich  ein  Abgar  nach  der  Chronik  im  Jahr 
400  d.  Griechen  erbauen  läßt  (and  nicht  das 
Coemeterium  des  'AbSelänia  [bar  Abgar],  in 
welchem  Scharbil   and  Habib   beerdigt  werden 

Caret.   61.  83);    weil    2)   der  Platz    fcsZ  Aus 

Beth  tebbärä,  auf  dem  sich  nach  DA  die  Ein* 
wohner  Edessa's  zur  Anhörung  der  Predigt  des 
Thaddäus  versammeln,  derselbe  ist,  aaf  dem  Ab- 


Lipsiüs,  Die  edesscnische  Abgarsage.     1525 

gar  bar  Mann  laut  der  Chronik  nach  der  Ueber- 
schwemmung  des  Jahrs  202  seinen  Winterpalast 
baute ;  weil  3)  dasselbe  unzweifelhaft  echte  Do- 
cument, das  von  dieser  Ueberschwemmung  be* 
richtet,  unter  andern  eingestürzten  Gebäuden 
einen  »Tempel  der  Kirche  der  Christen"  er- 
wähnt und  eine  Unterschrift  bietet,  die  offenbar 
in  DA  nachgeahmt  ist.  Aber  all  diese  Daten 
führen  noch  zu  keinem  sichern  Resultat,  und 
eben  so  wenig  die  Notiz,  die  gleicherweise  den 
Acten  des  Scharbil  wie  des  Barsamya  wie  der 
DA  angefügt  ist,  daß  Barsamya  in  den  Tagen 
des  römischen  Bischofs  Fabian n 8  gelebt  habe. 
Lipsius  scheint  dieselbe  an  allen  3  Orten  als 
integrierenden  Bestandteil  der  betreffenden 
Stücke  anzusehen,  während  Cureton  und  Phil- 
lips sie  als  Zusätze  eines  ebenso  unwissenden 
als  gedankenlosen  Schreibers  betrachteten;  mir 
scheinen  sie  nicht  vom  ersten  Verfasser  der  3 
Stücke,  aber  von  einem  im  allgemeinen  gut  unter- 
richteten Manne  zu  stammen ,  ohne  daß  ich  die 
Angabe  erklären  könnte,  daß  Serapion  von  Anti- 
ochien  190 — 211,  der  den  Barsamya  ordinierte, 
seinerseits  durch  Zephyrinus  von  Rom  199 — 217 
ordiniert  worden  sein  soll. 

Aber  weiter.  In  DA  wie  bei  Moses  von 
Chorene  ist  auch  von  einem  Bilde  Christi  er- 
zählt, das  der  Ueberbringer  der  Briefe  Hannan, 
der  zugleich  Abgar's  Hofmaler  war,  mit  kunst- 
vollen Farben  malt,  seinem  Gebieter  mitbringt 
und  das  dieser  mit  großer  Freude  in  seinem 
Palast  aufstellt.  Man  lese  S.  53  ff.  nach,  wie  aus 
diesem  einfachen  Bericht  die  Sage  von  dem 
wunderbaren  Palladium  Edessa's  entsteht,  das 
der  Kaiser  Romanus  im  Jahr  994  nach  Con- 
stantinopel  schaffen  ließ.  Nur  eine  Form  der 
Legende,  die  bei  Cedrenus  und  Constantin  Por- 


1526      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  48. 

phyrogenetes  sich  findet,  maß  angeführt  werden. 
Nach  dieser  lieft  Abgar  das  Bild  in  einer  Nische 
über  dem  Stadtthor  an  Stelle  eines  Götzenbildes 
anbringen;  ein  abtrünniger  Enkel  will  es  wie- 
der wegschaffen,  der  Bischof  verbirgt  die  Nische 
durch  einen  Ziegelstein.  Nach  5  Jahrhunderten 
wird  die  Stelle  durch  Offenbarung  wieder  auf- 
gefunden und  auf  dem  schützenden  Ziegelstein 
ein  zweites  Bild ,  der  getreue  Abdruck  des  er- 
sten. Ein  solcher  war  nach  Gonstantin  auch 
schon  vorher  in  Hierapolis  entstanden,  als  der 
Gesandte  Abgar's  dasselbe  dort  in  einem  Haufen 
Ziegelsteine  über  Nacht  verborgen  hatte.  Wie 
alt  ist  diese  Legende,  wie  alt  ist  überhaupt  die 
Sage  von  den  wunderbar  entstandenen  Christns- 
bildern?  Eine  ziemlich  sichere  Antwort  erlaubt 
uns  eine  leider  nur  fragmentarisch  erhaltene, 
von  Lipsius  S.  67  behandelte  Geschichte,  die 
uns  Zacharias  von  Mitylene  ans  dem  Jahr 
557  berichtet.    Er  erzählt: 

...  als  sie  (eine  Frau,  die  allem  nach  Hypatia  biet, 
s.  u.)  eines  Tags  in  ihrem  Park  spazieren  ging,  sah 
sie  in  der  Wasserquelle,  die  im  Park  war,  ein  Bild 
Jesu  unseres  Herrn  (tHp'n  =  thcojy),  gemalt  auf  Lein- 
wand and  im  Wasser  liegen  und  als  sie  es  herauszog, 
wunderte  sie  sieh,  daß  es  nicht  verderbt  war,  and 
trocknete  es  mit  dem  Kleid  ab  (ttVplD  =  nwitütm^ 
das  sie  anhatte  und  ging  zu  dem  der  sie  unterwiesen 
(ihr  den  Katechumenenunterricht  erteilt),  und  seigto  ei 
ihm  und  da  fand  sich  auch  auf  dem  Kleid  eil 
Abdruck  dessen,  das  aus  dem  Wasser  gekommen 
war,  mit  allen  Einzelheiten.  Eins  der  Bilder  kam 
nach  Cäsarea  einige  Zeit  nach  dem '  Leiden  unserei 
Herrn,  das  andere  wurde  (eben)  in  der  Stadt  trbltthlp 
aufbewahrt  und  ihm  zu  Ehren  ein  Tempel  erbaut  tob 
Hypatia  (fcr&Bltt)'  die  Christin  wurde.  Nach  einiger 
Zeit  brachte  eine  andere  Frau  aus  der  Stadt  n*nw^ 
das  zum  (obenerwähnten)  Gebiet  von  BPOtttt  gehört, 
die  davon  erfahren  hatte,  auf  irgend  eine  Weise  ein 


Lipsius,  Die  edessenische  Abgarsage.    1527 

Exemplar   (oder  eine  Gopie)   der  Bilder   von  fer^TOp 

in   ihre  Stadt  und   man   nannte   es  in  jener  Gegend 
ax**Qonoufio$  nicht  mit  Händen  gemacht«. 

Auch  sie  baut  einen  Tempel  ihm  zu  Ehren;  im 
27.  Jahr  Justinians  III.  Ind.  wird  Stadt  und 
Tempel  von  Barbaren  verbrannt  und  hierauf  mit 
Genehmigung  des  Kaisers  eine  Collectenrund- 
reise  mit  dem  Bilde  veranstaltet.  Im  33.  Jahre 
Jnstinians  562  nach  Chr.  Geburt,  IX.  Ind.  schreibt 
der  Berichterstatter.  Cäsarea  ist  vielleicht  Pa- 
neaS;  wo  Beronice  das  Erzbild  Christi  aufstellen 
ließ;  eben  daher  stammt  nach  DA  auch  Thad- 
däus;  die  Abgarsage  setzt  also  die  christliche 
Deutung  iener  Statue  in  Paneas,  somit  die  An- 
fange der  Veronicasage,  schon  voraus.  Ob  die 
Abgarsage,  wie  sie  in  DA  vorliegt,  aueh  die 
Helena  legende  schon  voraussetze,  das  ist  die 
dritte  Frage,  mit  der  sich  Lipsius  von  S.  67 
ab  beschäftigt  und  die  er  bejahend  beant- 
wortet 

In  DA  findet  sich  nemlich  der  seltsame  Be- 
rieht,  daß  die  Frau  des  Kaisers  Claudius,  von 
Petrus  bekehrt,  in  Jerusalem  das  Kreuz  Chriöti 
aufgesucht  und  die  Echtheit  desselben  daran  er- 
kannt habe,  daß  ihre  jungfräuliche  "Tochter,  die 
beim  Eintritt  ins  h.  Grab  todt  niederstürzte,  durch 
Auflegen  desselben  wieder  lebendig  wurde. 
Nicht  in  DA,  aber  in  andern  syrischen  Quellen 
wird  diese  Legende  mit  der  in  allen  Einzelhei- 
ten ähnlichen  Helenalegende  so  verbunden,  daß 
unter  Trajan  von  den  Juden  das  Kreuz  den 
Christen  wieder  abgenommen,  20  Klafter  tief 
verborgen,  und  von  Helena  mit  Hilfe  des  Judas, 
der  als  Christ  und  Bischof  Jerusalems  Cyriacus 
beißt,  wieder  gefunden  wird.  Lipsius  sieht  nun 
in  der  erst  genannten  Legende  lediglich  eine 
spätere  Doublette  der  Helenasage.     „Seit  dem 


1528      Gott  gel.  Anz.  1880.  Stück  48. 

man  das  Kreuz  Christi  wieder  auf  Golgatha 
zeigte,  begehrte  die  fromme  Reflexion  Aufschluß 
über  seine  früheren  Schicksale,  und  die  ein- 
fachste Befriedigung  dieses  Verlangens  bot  eine 
Erzählung,  welche  das  völlige  Seitenstück  zu 
der  bereits  ausgebildeten  Helenalegende  bereits 
zu  den  Zeiten  Jakobus  des  Gerechten  das  Kreuz 
Christi  auffinden,  dann  aber  unter  Trajan  es 
wieder  vergraben  ließ,  bis  es  unter  dem  ersten 
christlichen  Kaiser  von  neuem  zum  Vorschein 
kam".  Eine  Bestätigung  dieser  Auffassung 
möchte  Lipsius  auch  in  dem  Namen  finden,  der 
jener  Gemahlin  des  Claudius  gegeben  wird, 
Protonike;  dies  soll  an  das  constantinische 
iv  tovxeo  vixa  erinnern,  so  schon  Nöldeke,  oder 
symbolisch  diejenige  bezeichnen,  an  der  sich 
zuerst  der  Sieg  des  Kreuzes  bewährt 
habe;  und  man  hätte  dafür  noch  anführen  kön- 
nen, daß  im  Syrischen  wirklich  Eigennamen  wie 

jalHi\>  S*libhäs*Jchä  =  das  Kreuz  hat  ge- 
siegt,  ^&Q4Li|2l  tfWaiäo*  oder  mit  Umstellung 

IpTbom*  'iscf&Wa  Jesus   hat    gesiegt   vor* 

kommen.  Dennoch  kann  ich  diese  Auffassung 
nicht  ganz  theilen;  einmal  nemlich  findet  sich 
nirgends,  wo  die  Helenalegende  zur  Geltung 
kam,  also  im  ganzen  Abendland,  die  geringste 
Spur  eines  solchen  Verlangens,  wie  Lipsius  es 
voraussetzt;  man  begnügt  sich  einfach  mit  der 
Thatsache,  daß  Helena  das  Kreuz  gefunden  und 
läßt  sie  höchstens  noch  nachträglich  die  Kreu- 
zesnägel dazu  finden;  sodann  findet  sich  die 
erst  genannte  Erzählung  in  DA  und  einer  Pa- 
riser HS.  ohne  alle  Verbindung  mit  der  Helena- 
sage*) und  die  Geschichte  von  der  Vergrabung 

*)   Die  Quellen,  die  sie  mit  der  Helenalegende 


Lipsius,  Die  edessenische  Abgarsage.    1529 

des  Kreuzes  anter  Trajan  macht  doch  ganz  den 
Eindruck  nur  zn  dem  Zweck  erfanden  zu  sein, 
zwei  parallele,  ursprünglich  für  sich  bestehende, 
Legenden  zu  verknüpfen;  drittens  ist  die  Deu- 
tung und  die  Lesung  des  Namens  Protonice 
durchaus  nicht  so  sicher,  als  man  meistens  an- 
nimmt. In  der  sehr  guten  Petersburger  Hand- 
schrift der  DA   heißt  sie  an    allen   3  Stellen 

laxjai^,  das,  vom  ersten  Buchstaben  abge- 
sehen, beispielsweise  auch  Britannica  gelesen 
werden  könnte;  die  Schreibung  «■niio^Ofra,  die 

allein  zwingend  auf  „Protonicetf  führt,  findet 
sich  nur  einmal  in  der  Pariser  Handschrift,  die 

in    der    Ueberschrift    statt    dessen    u&üQ^a 

bietet;  das  sehr  alte  Londoner  add.  ms.  12174 

bietet  2mal  unno^   das   man    gleich    gut 

Patro-  und  Petro-nice  lesen  kann.  Loftus 
hat  Patronica,  Abbe  Martin  (früher)  Patro- 
nicia,  ebenso  Alishan  nach  seinem  Armenier 
gelesen,  in  einer  andern  armenischen  Quelle 
soll  sich  Parthunike  finden.  Ich  wage  keine 
Entscheidung,  möchte  aber  die  von  Zahn  vorge- 
schlagene Beziehung  auf  die  geistlichen  Erobe- 
rungen des  Petrus  nicht  so  entschieden  verwer- 
fen wie  Lipsius  thut,  da  Petrus  in  der  Legende 
eine  so  hervorragende  Rolle  spielt;  jedenfalls 
aber  sehe  ich  in  der  Protonicelegende  ein  Ge- 
bilde der  christlichen  Phantasie,  das  zwar  auf 
dieselbe  Thatsache  zurückführt,  wie  die  He- 
lenalegende, nemlich  das  Vorzeigen  des  Kreuzes 

knüpfen,  zeigen  sie  nicht  ursprünglicher,  sondern  bieten, 
wie  Wright  bei  Lipsius  S.  70  mit  Recht  hervorhebt: 
only  an  abridgement  of  the  corresponding  parties  of  the 
Acts  of  Ad'lai. 


1530      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  48. 

in  Jerusalem,  auch  so  ziemlich  derselben  Zeit 
angehört  wie  diese ,  aber  völlig  anabhängig 
von  ihr  and  wohl  auch  noch  etwas  froher  als 
sie  in  Edessa  entstanden  ist,  während  diese 
dem  Abendland  angehört  Freilich  ist  die  Ver- 
bindung der  Protonicelegende  and  der  Abgar- 
sage,  noch  eben  so  dunkel,  wie  der  Zusammen- 
hang der  bei  Moses  von  Ehorni  zwischen  der 
Geschichte  der  aas  Josephus  bekannten  adiabe» 
nischen  Helena  und  der  Abgarsage  hergestellt 
ist,  und  wie  der  Einfluß,  den  die  Geschichte 
dieser  adiabenischen  Helena  auf  die  Legenden 
von  der  Mutter  Gonstantins  geübt  hat.  Es  wäre 
sogar  möglich,  daß  auch  noch  eine  Erinnerung 
an  die  Glementinen  in  den  beiden  Söhnen  der 
Protonice,  und  in  dem  Schriftenwechsel  zwischen 
Petras  and  Jacobus  in  DA  verborgen  ist.  Wie  dem 
allem  aber  sein  mag,  so  viel  scheint  mir  Lipsius 
zu  völliger  Evidenz  gebracht  zu  haben,  daß  ans 
in  DA  nicht  ein  uraltes,  sondern  ein  erst  im 
IV.  Jahrh.  entstandenes  edessenisches  Local- 
legendenwerk  vorliegt.  Die  syrischen  Texte, 
welche  von  der  Kreuzauffindung  handeln,  hoffe 
ich"  bald  mit  deutscher  Uebersetzung  zu  ver- 
öffentlichen; dort  wird  sich  Gelegenheit  geben 
noch  manches  genauer  zu  bestimmen.  Wenn 
z.  B.  in  der  syr.  HS.  12174  wie  Lipsius  S.  81 
hervorhebt,  die  Zeit  von  der  Auferstehung  bis 
zur  zweiten  Kreuzauffindung  auf  201  Jahr  an- 
gegeben ist,  so  ergiebt  der  Zusammenhang,  daß 
es  statt  Auferstehung  Vergrabung  des  Kreuzet 
unter  Trajan  heißen  sollte,  und  die  Chronologie 
ist  in  Ordnung.  An  Kleinigkeiten  erlaube  ich 
mir  noch  hervorzuheben,  daß  die  Inschrift  auf 
dem  geheimniß vollen  Siegel  Christi  S.  21  und 
60  verschieden  angegeben  ist ;  S.  17,  12  v.  n 
ist  das  erste  /wy  zu  streichen ;  S.  24,  11  lies  32 


__j 


Lipsius,  Die  edes&cnische  Abgarsage.    1531 

statt  33;  S.  72  ist  der  alexandrinische  Cyrill 
und  der  jerusalemische  verwechselt;  in  der  dort 
angeführten  Stelle  sagt  Julian,  nicht  Cyrill: 
TfjV  €§  a€Qog  mtiovGav  aamda  .  •  .  nqooxvveiv 
ag>€Pvs$  xa*  asßsö&cu,  to  zov  ütavQOV  7iqq<Txv- 
vbwb  %v  lov ,  ewovceg  atnov  tixiayQatpovvteg  tv 
%w  pst&mo  xa*  tiqo  ttav  oixrjfjuxtoov  syyQctipovieg. 
Vor  das  Jahr  363  fallend  dürfte  die  Stelle  eines 
der  ältesten  Zeugnisse  für  die  Verehrung  des 
Kreuzes  sein. 

Münsingen  (Württemberg) ,  d.  20.  Oct.  1880. 

Diaconus  Dr  E.  Nestle. 

Nachschrift.  Durch  die  Güte  des  Verf.  erhielt 
ich  am  2.  Nov.  einen  Separatabdruck  von  8.  187/92  des 
neuen  Jahrgangs  der  Jahrbücher  für  protestantische  Theo- 
logie, worin  Lipsius  auf  Grund  einiger  Mittheilungen  von 
Noldeke,  0  verbeck  und  Dr.  Max  Bonnet  eine  Reihe  Be- 
richtigungen und  Ergänzungen  »zur  edessenischen  Abgar- 
sage« veröffentlicht.  Mehrere  derselben  finden  sich  schon 
in  der  vorstehenden  Anzeige,  ich  hebe  nur  noch  hervor, 
daß  das  von  mir  S.  1526  für  no*x*lov  gehaltene  Wort 
von  Noldeke  a.  a.  0.  190  durch  yaxtohor  wiedergegeben 
wird,  und  da£  derselbe  Gelehrte  das  dort  genannte  Ca- 
sarea  wegen  der  daneben  genannten  pontischen  Stadt 
Amasia  für  Caesarea  Cappadociae  halt.  Zu  dem  von 
Lipsius  S.  26,  Anm.  1  und  Noldeke  S.  167  besprochenen 

ättoipov  fcö\a>  wäre  Lagarde  Nachrichten  1879.  St.  9. 

237/9  zu  vergleichen  gewesen. 

Münsingen,  8.  Nov.  1880» 


Handbuch  der  Anatomie  des  Men- 
schen für  Studirende  nnd  Aerzte,  von  Dr. 
Rob.  Hartmann,  Professor  an  der  Universi- 
tät zu  Berlin.    Mit  465  in  den  Text  gedruckten 


1532       Gott  gel.  Anz.  1880.  Stück  48. 

zum  Theil  farbigen  Abbildungen,  großentheib 
nach  Original -Aquarellen  oder  ädeuxCrayoas- 
Zeicbnungen  des  Verfassers.  Straßburg,  B.  Schultz 
&  Comp.    1881.    LX  u.  928  S.    8°. 

Die  medicini8che  Literatur  der  letzten  Jahre 
weist  eine  beträchtliche  Anzahl  von  theils  aus- 
führlichen, theils  kürzer  gefaßten,  mit  Abbildun- 
gen versehenen  anatomischen  Handbüchern  auf. 
Gruppiert  man   dieselben  nach  demselben  Prin- 
cip,  nach  welchem  die  Mitglieder  der  Abgeord- 
netenhäuser sich  in  Parteien  trennen,  so  kommt 
dieses  Werk   auf  den  äußersten  rechten  Flügel 
wegen   Nichtberücksichtigung   oder   Verwerfung 
fast  aller  Errungenschaften  der  letzten  15  Jahre. 
Als  Beweis   für  diesen  Ausspruch  sei  beispiels- 
weise erwähnt,  daß  die  Darstellung  der  Zellen* 
gränzen  der  einschichtigen  Epithelien  der  serösen 
Häute  etc.  durch  salpetersaures  Silber  als  trüge- 
risch bezeichnet  und  verworfen  wird  (S.  XXII); 
daß   ferner   die   Becherzellen   zum  bei   Weitem 
größten  Theil  als  Kunstproducte  hingestellt  wer- 
den  (S.  XXVI);    weiter,  daß   der  Ranvier'schen 
Bindegewebskörperchen   gar    keine   Erwähnung 
geschieht,  vielmehr  über   die  zelligen  Elemente 
des  Bindegewebes  nur  gesagt  wird:    „Es  lassen 
sich  im  reifen  Bindegewebe  wohl  häufig  Kerne, 
aber  seltener    dieselben    einschließende   Zellen 
wahrnehmen"  (S.  XXXI) ;  desgleichen,  daß  die 
Histologie   der   quergestreiften  Muskelfaser    mit 
den    Sarcous    elements   Bowman's   schließt,    die 
Resultate  der  Arbeiten  Hensen's,   Krause's,  Mer- 
kers, Engelmann's  nicht  mit  einer  Silbe  erwähnt 
werden  (S.  LI);   endlich,   daß   der  Schilderung 
des  Canalis  cochlearis,    speciell   des  CortTsehen 
Organes   nur   die  Untersuchungen   von  Reichert 
(1864)  zu  Grunde  gelegt  sind,  während  die  Re- 


Hartmann,  Handbuch  der  Anatomie.     1533 

sultate  aller  späteren  Arbeiten  fast  gar  keine 
Erwähnung  finden. 

Die  Darstellung  ist  im  Allgemeinen  kurz 
und  bündig.  Zu  bedauern  ist,  daß  sich  eine 
nicht  unbedeutende  Zahl  von  Irrthümern  einge- 
schlichen hat,  welche  nirgends  weniger  atn 
Platze  sind,  als  in  einem  für  den  Gebrauch  der 
Studierenden  bestimmten  Handbuche.  Folgende 
Fälle  seien  genannt.  S.  XL  VII  hei  At  es:  „Das 
Wach8thum  des  Knochens  durch  innere  Wuche- 
rung, durch  Expansion  des  Gewebes,  das  sog. 
interstitielle  Wachsthum,  geht  an  den  jugend- 
lichen Röhrenknochen  vom  gesammten  Epiphy- 
senknorpel,  an  älteren  von  dem  an  den  Enden 
des  Knochens  eine  Grenzschicht  zwischen  (z. 
Th.  schon  ossificierter)  Epiphyse  und  Diaphyse 
bildenden  Knorpelstreifen  aus".  Und  auf  der 
nächsten  Seite  steht  zu  lesen:  „Ich  schließe 
mich  unbedingt  denen  an,  welche  ein  gleich- 
zeitiges interstitielles  Wachsthum  und  ein  sol- 
ches durch  Apposition  zulassen;  ein  Röhren- 
knochen wächst  in  seiner  Dicke  durch  Apposi- 
tion, in  seiner  Länge  durch  Expansion".  Das 
klingt  doch,  als  hätte  jemals  Jemand  daran  ge- 
zweifelt, daß  die  Röhrenknochen  von  den  Epi- 
physenknorpeln  aus  in  die  Länge  wüchsen,  — 
das  ist  nie  geschehen.  Dies  Wachsthum  ge- 
schieht aber  bekanntlich  ebensogut  durch  Osteo- 
blasten, wie  das  periostale,  —  ist  ebensogut  ein 
appositionelles,  wie  jenes.  Unter  expansivem 
Wachsthum  verstehen  ja  alle  Histologen  die 
(hypothetische ,  ohne  Osteoblasten  vor  sich 
gehende)  Vergrößerung  eines  bereits  fertig  ge- 
bildeten Knochenstückes  durch  Einlagerung  neuer 
Knochentheilchen  zwischen  die  bereits  vorhan- 
denen ! 

S.  121  steht:    „Das  Gelenk.    Hierbei  treten 


1534      GOtt  gel.  Anz.  1880.  Stück  48. 

zwei  mit  KnorpelttberzQgen  versehene  congruence 
Knochenflächen  zusammen  and  bleiben  an  ein- 
ander beweglich".  Da  „congruent"  bedeutet 
„gleich  und  ähnlich",  ist  diese  Definition  unhaltbar, 

S.  160  ist  die  Schambeinfuge  als  reine  Syn- 
chondrose  ohne  Höhle  beschrieben,  während  sie 
doch  in  den  bei  Weitem  meisten  Fällen  eine 
solche  besitzt. 

S.  386  u.  87  ist  der  Verlauf  der  Harnkanäl* 
eben  nicht  nur  verwirrt,  sondern  auch  falsch 
beschrieben.  Verf.  hat  die  Henle'sche  Angabe, 
daß  die  Sammelröhren  in  der  Nähe  der  Nieren- 
oberfläche arcadenförmig  in  einander  umbiegen 
und  aus  den  Arcaden  die  Verbindungscanäle 
entsenden  ganz  mißverstanden:  er  läßt  die  en- 
gen Ganäle,  nachdem  sie  in  der  Pyramide  die 
Schleifen  gebildet  haben,  in  den  Pyramidenfort- 
sätzen zur  Oberfläche  ziehen  und  dort  abermals 
sich  zu  zweien  in  Arcaden  vereinigen. 

S.  801.  Bei  Besprechung  der  Vertheilimg 
der  Stäbchen  und  Zapfen  der  Retina  ist  das 
Fehlen  der  ersteren  in  der  Fovea  centralis  nicht 
erwähnt. 

S.  832.    „Die   Vorhofswand  oder   Reissner- 

sehe  Membran heftet  sich,  schräg  auf- 

wärtssteigend  an  eine  kammartige  Hervorragung 
(Ligamentum  spirale)  der  äußeren  Wand  des 
häutigen  Schneckencanals  an.  An  letzterer  be- 
finden sich  oberhalb  des  Lig,  spirale  die  geföft 
reiche  Stria  vascularis  und  das  von  einem  Ge- 
fäß (Vas  prominens)  durchzogene  Ldgam.  spirale 
accessorium" :  während  doch  bekanntlich  an  das 
Lig.  spir.  sich  die  Membr.  basilaria  ansetzt 

Endlich  mag  noch  bemerkt  sein,  daß  die  auf 
S.  496  und  im  Register  vorkommende  Bezeichnung 
filae  coronariae  von  Hartmann,  nicht  von  Heule 


Hartmann,  Handbuch  der  Anatomie.    1535 

herrührt,   welcher   letztere    fila   eoronaria,    im 
Singular  filum  eoronariam  hat. 

Die  zahlreichen  (465)  zum  Theil  farbigen 
Abbildungen  Bind  größtenteils  sehr  elegant  aus- 
geführt Aber  auch  sie  weisen  einige  sehr  in 
die  Augen  fallende  Fehler  auf.  In  Fig.  123  ist 
der  Muse.  obl.  abd.  ext.  mit  schräg  aufwärts- 
gehenden Fasern  gezeichnet,  während  er  sich 
aus  schräg  abwärtsgehenden  zusammensetzt.  In 
derselben  Fig.  sieht  man  unter  dem  untersten 
Ursprung  des  Muse,  trapezius  (XII  Brustwirbel) 
noch  12  Dornfortsätze,  während  in  Wirklichkeit, 
falls  die  proc.  spinosi  spurii  des  Kreuzbeins  be- 
sonders stark  entwickelt  wären,  nur  9  dasein 
dürften.  Ein  widriges  Geschick  hat  die  Gesäß- 
muskeln verfolgt  In  Fig.  121  sind  Glutaeus 
max.  und  med.  nicht  unterscheidbar,  wiewohl 
sie  in  der  Natur  dadurch,  daß  der  Glut,  med., 
soweit  er  den  max.  nach  oben  überragt,  an 
seiner  Oberfläche  sehnig  ist,  sowie  durch  die 
Richtung  ihrer  Fasern  sehr  gegeneinander  ab- 
stechen. Am  schlechtesten  ist  in  dieser  Hinsicht 
Fig.  138  gerathen,  wo  der  Glut  max.  als  von 
der  ganzen  Crista  ossis  ilei,  fast  bis  an  die  Spina 
ant.  sap.  entspringend  dargestellt  ist,  so  daß  er 
den  medius  vollständig  verdeckt  und  sich  mit 
seinem  Vordenrande  fast  an  den  hinteren  Rand 
des  Muse,  tensor  fasoiae  anlegt.  Auch  die  das 
Schulterblatt  bewegenden  Muskeln  sind  übel 
weggekommen.  In  Fig.  124  reicht  der  Ansatz 
der  Mm.  Rhomboidei  am  medialen  Scapular- 
rande  bis  zum  oberen  Winkel  statt  nur  bis  zum 
Anfang  der  Spina  scapulae,  und  der  M.  levator 
scapulae  setzt  sich  am  oberen  Rande  des 
Schulterblattes  fest,  statt  am  oberen  Theil  des 
hinteren  Randes.  Falsch  ist  weiterhin  die 
„halbschematiscbe"  Fig.  129,  welche  den  Ansatz 


1536       GOtt.  gel.  Anz.  1880.  Stück  48. 

des  Mose,  biceps  brachii  zeigen  soll.  Die  Apo- 
neurosis bieipitis  verwebt  sich  in  der  Figur  mit 
der  Fascie  der  lateralen  Unterarmmaskeln,  in 
der  Natnr  geht  sie  nach  der  entgegengesetzten 
Seite.  Eine  noch  kaum  beobachtete  Lage  zeigt 
ferner  in  Fig.  114  die  Ohrspeicheldrüse,  welche, 
im  Gegensatz  zum  Text  auf  S.  308,  weit  über 
den  Jochbogen  hinauf  reicht  und  mit  ihrer  Haupt- 
masse außen  auf  demselben  liegt.  Daß  in  der 
einen  Medianschnitt  durch  den  unteren  Rumpf- 
theil  einer  gefrorenen  Weiberleiche  darstellenden 
Fig.  239  die  Scheide  ein  weit  klaffendes  Lumen 
zeigt,  steht  im  Gegensatz  zu  allen  übrigen  neue- 
ren Angaben  und  Zeichnungen,  auch  zu  dem 
Hartmann'schen  Text. 

Schließlich  glaube  ich  es  aussprechen  zu 
sollen,  daß  stellenweise  eine  etwas  andere  Aus- 
wahl der  Abbildungen  im  Interesse  der  Lernen- 
den wünschenswert!!  wäre:  an  der  einen  Stelle 
sind  reichlich  viele,  an  der  anderen  zu  wenige. 
So  hätten  meiner  Ansicht  nach  die  auf  S.  428 
und  429  dargestellten  beiden  Weiberrümpfe  mit 
und  ohne  Pubes  wegbleiben  können,  ohne  dein 
Verständnis  der  Sache  zu  schaden,  während 
andrerseits  eine  Vermehrung  der  Abbildungen 
der  Kopfnerven,  etwa  um  eine  Zeichnung  der 
Zungennerven,  deren  Verständnis  dem  Studie- 
renden sehr  erleichtern  würde. 

Die  Ausstattung  des  Buches  von  Seiten  der 
Verlagsbuchhandlung  ist  eine  vorzügliche  zu 
nennen.  A.  v.  Brunn. 


Für  die  Redaction  verantwortlich:  E.  Rehnisck,  Director  d.  Gott.  gel. 
Verlag  der  DUtericKwhn  Verlags- BuckkmuOmy. 
Druck  der  JHeUrich'sehm  Univ.- Buchdruck*«  (W  fr.  JQmsJmt). 


'.'«'»  f 


1537 

GUttingische    dec'-sij. 

gelehrte    Anzeigen 

anter  der  Aufsicht 
der  Königl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Stück  49.50.  8.u.l5.Dec.  1880. 


Inhalt :  W.  E.  H.  L  e  c  k  y ,  Geschichte  Englands  im  18.  Jahrhun- 
dert, deutsch  T.P.Löwe.  Bd.  1.2.  Von  B.  Pauli.  —  R.  Lipschitz, 
Lehrbuch  der  Analysis.  Yon  S.  Günther.  —  A.  Dauhre'e,  Synthetische 
Studien  zur  Experimental-Geologie,  deutsch  von  A.  Gurlt.  Yon  0. 
Lang.  —  B.  Delbrück,  Einleitung  in  das  Sprachstudium.  Yon 
A.  Beezenberger. 

s  Eigenmachtiger  Abdruck  von  Artikeln  der  Gott.  gel.  Anz.  verboten  rs 


Geschichte  Englands  im  achtzehn- 
ten Jahrhundert  von  William  Edward  Hart- 
pole Lecky.  Mit  Genehmigung  des  Verfassers 
nach  der  zweiten  verbesserten  Auflage  des  eng- 
lischen Originals  übersetzt  von  Ferdinand  Löwe. 
Leipzig  und  Heidelberg,  C.  F.  Winter'sche  Buch- 
handlung. Bd.  I,  1879  (XXIV.  619).  Bd.  IL 
1880  (XVI.  692).    8°. 

Mit  besonderer  Vorliebe  wird  neuerdings, 
vor  allen  in  England  selber,  wie  -sie  es  denn 
auch  in  hohem  Maße  verdient,  die  Geschichte 
des  Zeitalters  des  Parlamentarismus  behandelt. 
Der  Periode  der  Königin  Anna  allein  ist  in  we- 
nigen Jahren  von  hervorragenden  Schriftstellern 
des  In-  und  Auslands  eine  wiederholte  Darstel- 
lung zuTheil  geworden,  obwohl  man  nicht  eben 
sagen  kann,  daß  die  Aufgabe  ihrer  Bedeutung 

97 


1538    Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  49.50. 

gemäß,  seibat  zuletzt  nicht  von  Burton,  auch 
schon  gelöst  worden  wäre.  Auf  einem  umfas- 
senderen Gebiete  aber  überragt  Lecky's  Ge- 
schichte Englands  im  achtzehnten  Jahrhundert 
(England  in  the  eighteenth  century),  welche  aller- 
dings in  der  zweiten  Bearbeitung  erst  znr  Hälfte 
vorliegt,  bereits  alle  anderen  mit  demselben 
Gegenstande  sich  befassenden  Werke,  Der 
Verfasser,  durch  seine  „Geschichte  des  Ratio- 
nalismus" und  seine  „Europäische  Sittenge- 
schichte" auch  in  Deutschland  längst  vorteil- 
haft bekannt,  scheint  sich  durch  solche  Vor- 
studien insbesondere  für  ein  Stück  vaterländi- 
scher Geschichte  im  Zeitalter  der  Aufklärung 
gerüstet  zu  haben,  ohne  darüber  jedoch  die  an- 
deren Erfordernisse  einer  gediegenen  historischen 
Arbeit  zu  verabsäumen.  Er  hat  es  an  gründ- 
licher Forschung  in  einheimischen  und  selbst 
auswärtigen  Archiven  wahrlich  nicht  fehlen 
lassen  und  hat  sich  eine  großartige  Belesenheit 
auf  allen  Gebieten  der  politischen  und  cultur- 
liehen  Entwicklung  der  Epoche  angeeignet.  Sein 
Stil,  der  vielleicht  weniger  die  Kunst  lebens- 
voller Erzählung  als  klarer  Erörterung  anstrebt, 
ist  dennoch  leicht  und  schwungvoll.  Reich  an 
Gedanken  und  thatsächlichen  Urtheilen  hält  er 
sich  frei  von  aller  rhetorischen  Manier,  während 
beständige  Verweisungen  in  den  Noten  die  er- 
wünschten Belege  eingehender  Untersuchung 
bieten. 

Nach  einem  reiflich  erwogenen  Plan  wird 
der  gewaltige  Stoff  in  große  übersichtliche  Grup- 
pen gegliedert,  denn  der  Verfasser  wollte  weder 
streng  annalistisch  von  Jahr  zu  Jahr  vorschrei- 
ten noch  den  Hauptnachdruck  auf  biographische 
Schilderung  oder  den  Wechsel  von  Krieg  und 
Frieden   legen.      Ihm   kam   es  vielmehr  darauf 


Lecky,  Geschichte  Englands  im  18.  Jabrh.   1539 

an,  'solche  Thatsacben  in  ihrer  vollen  Bedeutung 
hervorzuheben,  welche  die  nachhaltigen  Kräfte 
der  Nation,  die  mehr  haftenden  Züge  des  na* 
tionalen  Lebens  in  ihrer  Entwicklung  zeigen: 
.das  Steigen  und  Sinken  der  Monarchie,  Aristo- 
kratie und  Demokratie,  der  Kirche  und  des  Dis- 
sent, der  land  wirtschaftlichen,  industriellen  und 
commerziellen  Interessen,  die  wachsende  Macht 
des  Parlaments  und  der  Presse,  die  Geschichte 
der  politischen  Ideen,  der  Kunst,  der  Sitten  und 
des  Glaubens,  die  Wandlungen  in  der  socialen 
und  ökonomischen  Lage  des  Volks,  die  Ein- 
flüsse, welche  abändernd  auf  den  Nationalcha- 
rakter eingewirkt  haben,  die  Beziehungen  des 
Mutterlandes  zu  seinen  Dependenzen  nnd  die 
Ursachen,  welche  das  Fortschreiten  der  letzteren 
beschleunigt  oder  verzögert  haben".  Man  sieht, 
ein  überaus  reiches  Programm,  das  allerdings 
manche  in  der  Regel  oder  über  die  Gebühr  be- 
vorzugte Seiten  der  Geschichtserzähluug  einiger- 
maßen zurückdrängt,  für  welches  sich  dagegen 
der  ausschließlich  chronologische  Faden  weniger 
eignet,  während  andererseits  ein  Wiederan- 
knüpfen an  einen  Faden,  der  fallen  gelassen 
worden,  und  selbst  gelegentliche  Wiederholung 
nicht  vermieden  werden  kann.  Trotzdem  wird 
durch  geschickten  Einschlag  der  fortschreitende 
Gang  energisch  fest  gehalten  und  um  so  stär- 
keres Licht  auf  die  in  ihrer  Einheit  vorgeführ- 
ten großen  Gegenstände  geworfen.  Vor  allem 
aber,  scheint  mir,  ist  die  Objectivität  zu  rüh- 
men, mit  welcher  der  Verfasser  fast  überall  an 
seinen  Gegenstand  herantritt.  Verläugnet  er 
auch  den  Briten  keineswegs,  so  zeigt  er  sich 
doch  wie  wenige  seiner  Landsleute  frei  von 
Vorurtheil  und  über  den  Parteigegensatz  er- 
haben, der  ihre  Geschichtswerke  mit  nur  selte- 

97* 


1540     Gott.  gel.  Adz.  1880.  Stück  49.50. 

neu  Ausnahmen  von  engen  und  selbst  unge- 
rechten Urtheilen  nicht  frei  hält.  Er  selber  hebt 
mit  liebenswürdiger  Anerkennung  den  zwischen 
seiner  Darstellung  und  der  Lord  Stanhope's  be- 
stehenden Unterschied  hervor,  dessen  Werk 
über  die  Geschichte  Englands  von  1714  bis 
1783  seit  einer  Reihe  von  Jahren  einen  hohen 
Ruf  besitzt  ohne  daß  es  wegen  tiefer  Forschung, 
unparteiischer  Auffassung  oder  fesselnder  Dar- 
stellung zu  den  Meisterwerken  gezählt  werden 
dürfte.  Indeß  gerade  ein  Vergleich  Lecky's  mit 
Lord  Stanhope  spricht  entschieden  zu  deserste- 
ren  Gunsten,  indem  eben  in  denjenigen  Stücken, 
auf  welche  ich  hingewiesen,  sich  ein  sehr  be- 
deutender Fortschritt  zu  erkennen  giebt. 

Darum  ist  es  auch  recht  sehr  erfreulich,  daß 
wie  einst  dem  Geschichtswerke  Lord  Stanhope's 
so  nunmehr  auch  dem  Lecky's  die  Ehre  einer 
deutschen  Uebersetzung  zu  Theil  wird.  Wie 
sehr  auch  Gegenwart  und  Zukunft  Deutschlands 
sich  von  einer  Nachahmung  des  englischen  Par- 
lamentarismus fern  halten  wird,  auf  ein  Studium 
der  treibenden  Kräfte  nicht  nur  in  Staat  und 
Kirche  des  Inselreichs,  sondern  eben  so  sehr  in 
allen  Gebieten  geistiger  und  materieller  Cultur 
während  jenes  Jahrhunderts,  welches  den  dröh- 
nenden Wirkungen  der  französischen  Revolution 
voraufgieng ,  werden  Geschichtsforscher  und 
Staatsmänner  des  Festlands  so  wie  Deutschlands 
insbesondere  immer  wieder  mit  Nutzen  sich  zu- 
rückwenden. Dies  ist  denn  auch  bei  seiner  Ar- 
beit dem  Uebersetzer,  der  sich,  wie  er  auf  dem 
Titel  hervorhebt,  früher  schon  durch  üebertra- 
gung  ehstnischer  Märchen  und  der  Fabeln  Kry- 
lofs  aus  dem  Russischen  bekannt  gemacht  hat, 
entschieden  gegenwärtig  gewesen,  indem  er  nicht 
nur  das  gehaltreiche  Werk   des   englischen   Ge. 


Lecky,  Geschichte  Englands  im  18.  Jabrh.     1541 

Schichtschreibers  in  fließendem  Deutsch  wieder 
zu  geben  bestrebt  gewesen  ist,  sondern  sich 
auch  mit  dem  Verfasser  in  unmittelbaren  Ver- 
kehr gesetzt  hat,  um  dessen  Zusätze  und  Be- 
richtigungen einzuflechten  und,  wenn  erforder- 
lich, in  zweifelhaften  Fällen  von  ihm  Belehrung 
einzuziehn.  Das  von  der  Verlagshandlung  treff- 
lich ausgestattete  und  namentlich  höchst  dan- 
kenswerte mit  lateinischen  Typen  gedruckte 
Buch  liest  sich  denn  auch  in  der  Uebersetzung 
fast  eben  so  gut  wie  das  Original,  indem  es 
nur  höchst  selten  einen  Anstoß  bietet. 

Aus  dem  zweiten  Bande,  den  ich  erst  ganz 
kürzlich  durchgenommen,  habe  ich  behufs  ge- 
legentlicher Verwendung  folgende  Kleinigkeiten 
angemerkt.  S.  37  muß  es  bei  Begründung  des 
Marischal  College  in  Aberdeen:  zu  Ende  des 
sechszehnten  statt  achtzehnten  Jahrhunderts 
heißen.  S.  164  wird  father  Walshe  besser 
durch  Pater  als  Vater,  S.  165  forged  durch  ge- 
fälscht und  nicht,  wenn  auch  sinnbildlich, 
durch  geschmiedet  wiedergegeben.  S.  295  muß 
es  heißen  die  lieblichen  Ufer  (shores)  von 
Glendalough  —  eines  Binnensees  —  statt  Kü- 
sten. Warum  wird  S.  593  fellow  of  Lincoln 
college  durch  Genosse  und  nicht  wie  schon 
früher  mit  Collegiat  des  Lincoln  Stifts  tibersetzt? 
Auch  hätte  Herr  Löwe,  wie  er  doch  in  anderen 
Fällen  thut,  die  englische  Bezeichnung  beibe- 
halten und  durch  eine  -Beifügung  in  Klammern 
erklären  können.  Endlich  genügt  Stiftung, 
wie  es  öfter  vorkommt,  für  establishment  keines- 
wegs. Es  bedeutet  jedesmal  Staatskirche,  ent- 
weder die  englische  oder  die  schottische,  oder 
noch  besser  in  der  jetzt  unter  uns  häufiger  wer- 
denden Form  Verstaatlichung  der  Kirche, 
wie  disestablishment  Entstaatlichung.   Der  Ueber- 


1542    Gott.  gel.  Adz.  1880.  Stück  49.50. 

setzer  hat  im  Uebrigen  mit  großer  .Sorgfalt  an 
vielen  Stellen  in  und  unter  dem  Text  kurze 
Bemerkungen  beigegeben,  um  dem  deutschen 
Leser  typisch  englische  Begriffe  und  Verhältnisse 
geläufig  zu  machen.  Daß  er  in  seiner  Vorrede 
und  späterhin  unter  dem  Text  gegen  schiefe, 
ungünstige  und  ungerechte  Beurtheilung  Frie- 
drichs IL  von  Preußen  Einsprache  erhebt  und 
eben  so  warm  wie  sachgemäß  auf  die  nament- 
lich von  Ranke  längst  zurückgewiesene  Contro- 
verse  wegen  der  Besitzergreifung  Schlesiens 
verweist,  ist  nur  in  der  Ordnung.  Aber  es  muß 
doch  Wunder  nehmen,  daß  ein  so  gelehrter  Ge- 
schichtschreiber wie  Lecky,  der  sich  beiläufig 
selber  auf  Ranke's  Preußische  Geschichte  be- 
ruft, über  das  einst  von  Macaulay  den  Englän- 
dern zugemuthete  Zerrbild  des  großen  Königs 
kaum  hinausgekommen  ist,  daß  er,  während  er 
sich  für  den  siebenjährigen  Krieg  auf  Garlyle 
stützt,  dessen  Gesammtanschauung  doch  wieder 
nicht  gelten  läßt.  Man  ist  demnach  in  Eng- 
land, wie  es  scheint,  immer  noch  nicht  im 
Stande,  sich  von  den  Schmähungen  Voltaire's 
loszumachen  und  die  Verwicklungen  während 
der  beiden  ersten  schlesischen  Kriege,  zu  wel- 
chen doch  das  unbefriedigende  Verhältnift  zwi- 
schen dem  Königthum  Georgs  IL  und  einer 
trostlosen  parlamentarischen  Regierung  nicht 
zum  Wenigsten  beigetragen,  kühl  objectiv  zu 
entwirren.  Friedrich  treulos  zu  nennen,  weil  er 
unzuverlässige  Verbündete,  die  ihn  im  Stich 
ließen,  aufgab  und  sein  Pfand,  das  ihm  keiner 
gönnte,  auf  eigene  Hand  in  echten  Besitz  ver- 
wandelte, ist  unhistorisch.  Die  britische  Kurz- 
sichtigkeit in  auswärtigen  Dingen,  man  möchte 
fast  sagen  die  Unfähigkeit,  sie  zu  ergründen, 
erscheint  um  so  greller,  als  dieselbe  Nationsich 


Lecky,  Geschichte  Englands  im  18.  Jahrh.     1543 

während  Pitt's  großen  Ministeriums  den  Preußen- 
könig als  Bundesgenossen  gern  gefallen  ließ 
and  ihn  sogar  begeistert  als  protestantischen 
Helden  feierte,  ihm  aber  wiederum  keine  Thräne 
nachweinte,  als  er  gerade  in  Folge  des  Partei- 
wechsels naeh  der  Thronbesteigung  Georg's  III. 
nicht  nur  die  Subsidien  der  englischen  Regie- 
rung einbüßte,  sondern  von  derselben  erst  recht 
treulos  in  Stich  gelassen  worden  ist. 

Von  solchem   Tadel   abgesehen   versteht  es 
Lecky  sehr  wohl  die  auswärtigen  Dinge  in  der 
Verflechtung   der    allgemeinen    Staatsthätigkeit 
Großbritanniens  zur  Geltnng  kommen  zu  lassen, 
indem   er  Kriege  und  Feldzüge,  Verhandlungen 
und  Friedensschlüsse  und  beider  Wechselwirkung 
mit    dem    Gange   der   inneren   Politik   und  der 
großen  Umwandlungen   im  öffentlichen  und  ge- 
sellschaftlichen Leben  meist  in  kurzen,  kräftigen 
Strichen  vorführt.     Es  tritt  dies  zumal  im  er- 
sten   Bande   hervor,    der  von    der  Revolution, 
welche  die  Stuarts  abschüttelte,  und  dem  spani- 
schen Erbfolgekriege    ausgieng   und  nach   dem 
Sturze   Walpole's   die  Betheiligung    des   Insel- 
staats an  weiteren  Kriegszügen  einleitete.    Der 
große  Nachdruck   in  seinen  Kapiteln  liegt  aber 
allerdings  dem   ganzen  Plan  des  Werks   gemäß 
in  den  meist  vortrefflich  gelungenen  Ausführun- 
gen über  die  Parteipolitik  in  der  ersten  Hälfte 
des  achtzehnten  Jahrhunderts,    als  auf  allen  öf- 
fentlichen  Gebieten   des  nationalen  Lebens  so 
viele  neue,  der  concentrierten  Staatsgewalt  meist 
wenig  förderlichen  Kräfte  in  Schwang  geriethen. 
Er   liegt   vor   allen    in  der  breiten,  alle  Licht- 
und  Scha^enseiten  mit  gerechter  Parteilosigkeit 
beleuchtenden  Darstellung  des  parlamentarischen 
Friedensregiments    Sir  Robert   Walpole's,    die 
überhaupt  als    Glanzpunct    dieses   Bandes    er- 


1544    Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  49.50. 

scheint,  weil  sie  in  allen  früheren  Behandlungen 
nicht  ihres  gleichen  hatte. 

Aus  dem  zweiten,  in  hohem  Grade  lesens- 
werthen  Bande  will  ich  einiges  Wenige  etwas 
ausführlicher  hervorheben. 

Der  Verfasser  nimmt  Stellang  zu  den  natio- 
nalen Fragen,  an  denen  es  ja  auch  von  jeher 
auf  den  britischen  Inseln  nicht  gefehlt  hat.  Er 
steckt  sich  dabei  als  Ziel :  „den  Ursachen  nach- 
zuforschen, seien  es  heilsame  oder  schädliche, 
welche  die  Nationen  zu  dem  gemacht  haben, 
was  sie  sind,  ist  die  wahre  Philosophie  der  Ge- 
schichte". Nachdem  er  in  fesselnder  Weise  die 
unendlichen  Fortschritte  geschildert ,  welche 
Schottland  trotz  allen  Hemmnissen  kirchlicher 
Intoleranz  der  Unionsacte  von  1707  und  selbst 
das  keltische  Hochland  der  definitiven  Kata- 
strophe von  1746  zu  verdanken  gehabt  hat,  in- 
sonderheit sich  gegen  das  unbillige  Urtheil  aus- 
gesprochen, welches  Buckle  über  die  schottische 
National kirche  fällte,  befaßt  er  sich  in  dem  bei 
Weitem  größten  und  wichtigsten  Abschnitt  die- 
ses Bands  mit  dem  Stande  der  irischen  Frage 
im  achtzehnten  Jahrhundert.  Was  liegt  ihm, 
dem  geborenen,  für  die  engere  Heimath  warm 
fühlenden,  in  seltenem  Freimuth  aufgeklärten 
und  gediegen  geschulten  Iren  näher  als  eine 
Untersuchung  der  verschiedenartigen  Gründe, 
aus  denen  hier  Land  und  Leute  bis  zur  Stunde 
Glück  und  Fortschritt,  wie  sie  in  England  und 
Schottland  herrschen,  nicht  theilen.  Er  bietet 
denn  auch  eine  Leistung,  wie  wir  sie  bis  dahin 
nicht  besaßen,  die  auf  der  sorgfältigsten  Durch- 
forschung alles  nur  irgend  zugänglichen  Mate- 
rials, namentlich  auch  auf  fleißigster  Benutzung 
der  im  Londoner  und  Dubliner  Staatsarchiv  be- 
wahrten Acten  und  Gorrespondenzen,  auf  einer 
gesunden  Kritik  und  im  Ganzen  wiederum  höchst 


Lecky,  Geschichte  Englands  im  18.  Jahrh.     1545 

anerkennenswerten  Selbständigkeit  beruht.  So 
werden  unendlich  viel  gründlicher  und  vielseiti- 
ger die  Beschlüsse  erörtert,  welche  auf  dem  von 
Jakob  II.  im  Jahre  1689  in  Dublin  versammel- 
ten Parlament  gefaßt  worden,  als  das  von  der 
blendenden  Schilderung  desselben  Hergangs  bei 
Macaulay  ausgesagt  werden  kann.  Dem  Buche 
Fronde's  The  English  in  Ireland,  das  wie  alle 
Arbeiten  dieses  Verfassers  durch  novellistische 
Behandlung  anziehen  will,  aber  nicht  minder 
auf  unzureichenden  Vorarbeiten  beruht  und  mit 
polemischer  Leidenschaft  Irland  und  die  Iren 
bekämpft,  wird  in  beinahe  durchlaufendem 
Commentar  die  verdiente  Zurechtweisung  zu 
Theil.  Trotzdem  trifft  man  auch  bei  Lecky 
Blößen,  welche  zu  Einwendungen  Anlaß  geben. 
Sehr  dankbar  wird  ihm  jeder  sein,  daß  er 
die  Entwicklung  der  irischen  Frage  vor  dem 
achtzehnten  Jahrhundert  noch  einmal  einer  ein- 
gehenden Prüfung  unterzieht.  Dabei  geht  er 
aber  zu  weit,  wenn  er  in  breiter,  von  Wieder- 
holungen und  selbst  Widersprüchen  nicht  ganz 
freier  Darstellung  die  große  Rebellion  von  1641 
nicht  als  eine,  namentlich  von  den  ultramonta- 
nen Mächten  drinnen  und  draußen  auf  vollstän- 
dige Vernichtung  der  Eroberungscolonie  abge- 
sehene Erhebung  gelten  lassen  will.  Sie  soll 
weder  mit  der  sicilischen  Vesper,  noch  mit  der 
Bartholomäusnacht  verglichen  werden  dürfen. 
Des  Ignatiustags,  October  23,  als  vorausbe- 
stimmten Termins,  wird  an  keiner  Stelle  ge- 
dacht. Gewiß  waren  die  Ursachen  sehr  com- 
pliciert,  aber  die  agrarischen  Motive  sind  doch 
damals  wie  späterhin  nicht  die  ausschließlich 
vorherrschenden  und  allein  auf  das  Schuldregi- 
ster Englands  zu  schreiben  gewesen.  Mit  wie 
starken  Gründen  auch  der  Verfasser  an  anderer 


1546    Gott  gel.  Adz.  1880.  Stück  49. 50. 

Stelle  den  Katbolicismus  eine  niedrigere  Reli- 
gionsform als  den  Protestantismus  nennt  und 
ihn  als  besonders  unpassend  für  eine  mit  gro- 
ßen Schwierigkeiten  ringende  Nation  bezeichnet, 
so  hätte  er  doch  gerade  da,  wo  er  in  vorzügli- 
cher Weise  das  Loos  Irlands  mit  dem  Schott- 
lands vergleicht,  den  großen  Gegensatz  in  der 
Reformationsgeschichte  beider  Länder  hervor- 
heben und  die  Ursachen  anführen  müssen,  wes- 
halb in  dem  einen  Lande  erst  mit  der  Los- 
reißung von  Rom  der  Gesittung  des  germani- 
schen Staatswesens  das  Thor  aufgethan  wurde, 
während  in  Irland  erst,  nachdem  Nativisten  und 
angloirische  Gonvertiten  ultramontan  geworden, 
die  grauenhafte  Wendung  eintritt,  daß  trotz 
allen  Pönaledicten,  trotz  Cromwell  und  Wil- 
helm III.  weder  von  durchgreifender  Unterwer- 
fung  noch  von  Aufrichtung  eines  geordneten 
Staatswesens  die  Rede  sein  konnte.  Eben  so 
irrig  ist  es,  wenn  Lecky  im  Anschluß  an  den 
Widerspruchsgeist  moderner  physiologischer  and 
ethnographischer  Speculation  in  England  die 
unterscheidenden  G  haraktermerkmale  verschie- 
dener Ra$en  nicht  gelten  lassen  will  and  ge- 
radezu behauptet,  daß  „sie  doch  nur  wenig 
Licht  auf  die  englische  und  die  irische  Ge- 
schichte werfen".  Verwendet  er  doch  selber 
auf  jeder  Seite  seiner  lehrreichen  Auseinander- 
setzung die  Momente  eben  dieser  Theorie  mit 
großem  Geschick.  Woraus  anders  entsprang 
denn  die  schändliche  Mißhandlung  von  Seiten 
der  „verderbten  und  egoistischen  Regierung 
Englands  ...  die  Handelsgesetzgebung,  welche 
die  irische  Industrie  zerstörte,  die  Confisciernig 
irischen  Bodens,  welche  den  gesammten  socialen 
Zustand  des  Landes  zerstörte,  der  skandalöse 
Mißbrauch  des  Patronats,  der  nicht  nur  die  De* 


Lecky,  Geschichte  Englands  im  18.  Jahrb.     1547 

moralisierung,  sondern  auch  die  Verarmung  der 
Nation  bewirkte",  und  das  ganze  namenlose 
Elend,  welches  blinde  Zwangsgewalt  dnrch 
Kirche  und  Staat  im  achtzehnten  Jahrhundert 
über  Land  und  Volk,  Schule  und  Haus,  den 
Beruf  und  das  Leben  des  Einzelnen  gebracht 
hat,  ein  System,  das  keinen  katholischen  Sol- 
daten in  den  Regimentern  duldete  und  doch 
nicht  zu  verhindern  im  Stande  war,  daß  un- 
zählige Nationaliren  den  Landesfeinden  dienten, 
ein  System,  das  von  wenigen  mit  gerechterem 
Zorn,  beredteren  Worten  und  schlagenderer  Be- 
weisführung verurtbeilt  worden  ist  als  von  Lecky 
selber.  Wer  wird  nicht  seinen  Satz  unterschrei- 
ben: „Die  meisten  großen  Uebelstände  irischer 
Politik  während  der  beiden  letzten  Jahrhunderte 
entsprangen  aus  dem  Factum,  daß  die  verschie- 
denen Klassen  und  Confessionen  des  Landes 
niemals  wahrhaft  zu  einer  Nation  verschmol- 
zen, daß  die  Abstoßung  von  Rage  oder  Religion 
stärker  war,  als  die  Anziehung  gemeinsamen 
Volksthums,  und  daß  folglich  die  ganze  Energie 
und  Intelligenz  des  Landes  selten  oder  nie  für 
eine  gemeinschaftliche  Sache  auftrat". 

lieber  das  herrliche  Kapitel,  welches  das 
Aufsteigen  William  Pitt's  und  das  Regiment, 
das  durch  ihn  so  ruhmvoll  geworden,  bis  zum 
Tode  Georg's  IL  vorführt,  kann  ich  mich  kür- 
zer fassen.  Es  enthält  im  Ganzen  eine  ge- 
rechte, schöne  Würdigung  des  älteren  Pitt  und 
darf  zugleich  als  vollgiltiges  Zeugniß  der  be- 
deutenden historischen  Kraft  betrachtet  werden, 
die  sich  in  Lecky  entfaltet.  Er  ist  im  Stande 
dem  Zurücktreten  des  leidigen  Parteiregiments 
vor  dem  großen  Minister  hohe  Würdigung  zu 
zollen,  was  vollends  durch  eine  Gegenüberstel- 
lung  mit  Walpole   meisterhaft  beleuchtet  wird, 


1548    Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  49.50. 

und  gleichwohl  selbst  dem  Könige  Georg  II. 
gerade  in  Bezog  auf  die  constitutionelle  Ent- 
wicklung eine  Anerkennung  zu  Theil  werden  z« 
lassen,  wie  sie  bisher  bei  englischen  Geschiebt- 
Schreibern  kaum  anzutreffen  war.  Er  hebt  her- 
vor, daß  Pitt,  ein  Minister  des  Auswärtigen  und 
des  kriegerischen  Erfolgs  im  großen  Stil,  dem 
in  England  kein  anderer  zu  vergleichen,  ein 
Staatsmann,  der  die  ihm  bewilligten  reichen  Fi- 
nanzmittel selbstlos  und  wirkungsvoller  als  je 
einer  anzuwenden  verstand,  nichtsdestoweniger 
als  Staatssecretär  anderen  weise  „die  Bürde 
und  das  Odium  finanzieller  Maßregeln  und  des 
ganzen  parlamentarischen  Getriebes  überließ*. 
Er  bot  das  lebendige  Beispiel,,  daß  die  Eigen- 
schaften eines  großen  Ministers  für  die  inneren 
Angelegenheiten  schwerlich  jemals  mit  der  Mei- 
sterschaft in  den  auswärtigen  Fragen  zusammen- 
treffen. „In  finanziellen  Dingen  und  in  der 
Handelspolitik  war  er  äußerst  unwissend".  Seine 
Auffassung  der  Politik  gieng  vielmehr  dahin, 
„der  Nation  den  Stolz  des  Patriotismus,  des  Mu- 
thes  und  des  Unternehmungsgeistes  einzuflößen". 
Mit  vollem  Recht  aber  wird  zugleich  darauf  auf- 
merksam gemacht,  daß  unmittelbar  hinter  der 
stolzen  Eroberung  Kanadas  bereits  die  Nemesis 
auftauchte,  indem  dadurch  die  englischen  Pflan- 
zungen in  Nordamerika  zwar  von  der  Nachbar- 
schaft französischer  Gegner,  aber  auch  von  dem 
wirkungsvollsten  Zwangsmittel  befreit  wurden, 
das  sie  bisher  an  das  Joch  des  Mutterlandes  ge- 
kettet hatte. 

Endlich  mag  noch  die  Lecture  des  letzt» 
Kapitels:  Die  religiöse  Neubelebung  (Revival) 
dringend  empfohlen  werden.  So  wenig  die 
Schattenseiten  des  Methodismus,  die  Verzerrun- 
gen, die  er  über  die  ganze  angelsächsische  Welt 


Lecky,  Geschichte  Englands  im  18.  Jahrh.     1549 

gebracht  hat,  verschwiegen  werden,  während 
sich  der  Verfasser  vielmehr  auch  in  Behandlung 
theologischer  und  wissenschaftlicher  Probleme 
wohl  bewandert  zeigt,  weiß  er  doch  der  hohen 
Bedeutung  der  Brüder  Wesley  und  ihres  kraft- 
vollen Genossen  Whitfield  so  wie  der  durch  sie  in 
den  breiten  Schichten  des  Volks  nachhaltig  ent- 
fachten religiösen  Begeisterung  in  seltener  Weise 
gerecht  zu  werden.  Er  stellt  die  Wirkung  ihrer 
Thätigkeit  geradezu  auf  eine  Linie  mit  der 
Pitt's.  In  diesem  ergreifenden  Abschnitt  fällt 
bereits  eine  Fülle  von  Licht  auf  die  nachfolgende 
Generation  und  wird  namentlich  mit  Erfolg  der 
Beweis  erbracht,  daß  der  Methodismus  neben 
anderen  Gründen  in  hohem  Grade  dazu  beige- 
tragen hat,  daß  England  nachmals  so  wenig 
von  der  Gluth  des  französischen  Revolutions- 
fiebers ergriffen  wurde. 

Man  darf  mit  Recht  auf  Fortsetzung  und 
Vollendung  einer  so  ausgezeichneten  Arbeit  wie 
Lecky's  England  im  achtzehnten  Jahrhundert 
gespannt  sein,  der  überzeugt  ist,  daß  die  Dinge 
auf  Erden  mehr  als  eine  Seite  haben. 

R.  Pauli. 


Lehrbuch  der  Analysis  von  Rudolf 
L  i  p  s  c  h  i  t  z.  Erster  Band.  Grundlagen  der 
Analysis.  1877.  XVI.  594  S.  Zweiter  Band. 
Differential-  und  Integralrechnung.  1880.  XIV. 
734  S.  Bonn.  Verlag  von  Max  Cohen  &  Sohn 
(Fr.  Cohen). 

Wenn  ein  Mann,  der  bei  der  Neugestaltung 
der   höheren  Analysis  selbst  eine  hervorragende 


1550    Gott  gel.  Adz.  1880.  Stück  49.50. 

Kolle  gespielt  hat,  es  unternimmt,  eine  anfas- 
sende, von  den  ersten  Grundlagen  bis  zu  den 
höchsten  Problemen  aufsteigende  Darstellung 
eben  dieser  Wissenschaft  zu  liefern,  so  wird 
man  ein  solches  Lehrbuch  mit  ganz  anderen 
Gefühlen  zur  Hand  nehmen,  als  wenn  man 
es  mit  einem  der  gewöhnlichen  Compendien, 
wie  sie  jedes  Jahr  in  nur  zu  großer  Anzahl 
hervorbringt,  zu  thun  hat  Sagt  man  sich 
doch,  daß  selbst  dann,  wenn  man  mit  dar 
Behandlung  einzelner  Materien,  mit  einzelnen 
der  zu  Grunde  liegenden  didaktischen  Grund- 
sätze nicht  einverstanden  sein  sollte,  doch  jeden- 
falls etwas  Ganzes,  in  sich  Abgeschlossenes  zu 
erwarten  ist,  das  in  seinem  Totaleindruck  för 
Alles,  was  man  allenfalls  im  Detail  anders  an- 
gelegt sehen  möchte,  reichlich  zu  entschädigen 
vermag.  Das  Lipschitz'sche  Werk  nun  ist  gans 
dazu  angethan,  diese  unsere  allgemeine  These 
zu  rechtfertigen,  um  so  mehr  als  die  ganze  Dar- 
stellungsweise, wenigstens  nach  dem  Urtheil  des 
Referenten,  eine  solche  ist,  wie  sie  auch  der 
ebensosehr  den  pädagogischen  als  den  rein  wis- 
senschaftlichen Gesichtspunkt  berücksichtigende 
Fachmann  wünschen  muß.  Das  Princip,  vom 
Einfacheren  zum  Complicierteren  fortzuschreiten, 
ist  stets  gewahrt,  ohne  daß  doch  dem  Anfänger 
die  Gelegenheit  zu  allgemeinen  Ausblicken  ent- 
zogen wäre,  die  Hervorhebung  wichtiger  Sätze 
durch  auszeichnenden  Druck  erleichtert  das  Sta- 
dium, sowie  das  Nachschlagen  gleich  sehr,  und 
diesem  letzteren  Zwecke  dienen  auch  die  beiden 
sorgfaltigen  Inhaltsverzeichnisse  in  untadelhafter 
Weise.  Wir  haben  mit  Einem  Worte  sowohl  ein 
Unterrichtswerk  vor  uns,  mittelst  dessen  der 
Studierende  sein  analytisches  Wissen  begründen 
und   befestigen   soll,   als    auch  ein  Hand-  nnd 


Lipschitz,  Lehrbuch  der  Analysis.     1551 

Nachschlagebuch,  welches  den  weiter  Vorge- 
rückten rasch  über  irgend  einen  Punkt  orien- 
tieren kann.  Wir  wollen  nicht  leugnen,  daß,  un- 
serer persönlichen  Ansicht  zufolge,  diesem  dop- 
pelten Zwecke  durch  eine  minder  sparsame  Bei- 
gabe literarischer  Nachweise  noch  ausgiebiger 
hätte  Rechnung  getragen  werden  können,  indeß 
muß  jedem  Autor  das  Recht  zugestanden  wer- 
den, dergleichen  mehr  äußerliche  Fragen  nach 
seinem  eigenen  Ermessen  zu  regeln. 

Der  erste  Band  beginnt  mit  allgemeinen  Er- 
örterungen über  den  Begriff  der  Zahl  und  über 
die  einfachen  Rechnungsoperationen.  Der  Be- 
weis für  das  allgemeine  associative  Gesetz  der 
Multiplikation*)  wird  im  Sinne  Lejeune-Dirich- 
let's  durch  den  Schluß  von  n  auf  (n  +  1)  ge- 
führt. Es  folgen  Sätze  über  die  Primzahlen, 
Aufsuchung  des  größten  gemeinsamen  Theilers 
mittelst  der  euklidischen  Methode  der  Staffel- 
division, zahlentheoretische  Lehrsätze  über  die 
Anzahl  der  Theiler  einer  Zahl  sowie  über  das 
Gauß'sche  <p(m).  Hierauf  vollzieht  sich  die  Er- 
weiterung unseres  Zahlengebietes  durch  Ein- 
führung der  negativen  und  gebrochenen  Zahlen 
und  die  damit  zusammenhängende  Bruchrechnung. 
§.  14  giebt  die  „Definition  der  positiven  Wurzel 
des  nten  Grades  aus  einem  gegebenen  positiven 
Bruche" ;  dieser  Abschnitt  ist  als  eine  vorzüg- 
liche Einführung  des  angehenden  Mathematikers 
in  das  Rechnen  mit  Grenzwerthen  zu  betrach- 


*)  Die  Hervorhebung  der  für  die  drei  direkten  Grund- 
operationen, theils  insgesammt,  theile  nur  partiell  cha- 
rakteristischen Gesetze  der  Commutativität,  Distribuüvität 
und  Associativität,  welche  von  den  englischen  Mathema- 
tikern, insbesondere  von  Hamilton ,  formuliert  worden 
sind,  vermissen  wir  nur  ungerne,  jedoch  fast  ausnahms- 
los, in  deutschen  Werken. 


1552    Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  49.50. 

ten.  Je  früher  man  die  richtige  Auffassung  von 
diesem  für  die  moderne  Mathematik  charakteri- 
stischen Fundamentalbegriff  der  Grenze  gewinnt, 
nm  so  besser;  insbesondere  machen  wir  auch 
darauf  aufmerksam,  daß  (S.  45)  der  Sinn  des 
Gleichheitszeichens  in  den  identischen  Gleichungen 

lim  (a  +  6)  =  lim  a  +  lim  6, 

lim  (aft)- lim  a.  Hm  St    lim  £  =  ~ 

K     '  b        lim  o 

in  der  allein  richtigen  Weise  dahin  erklärt  wird, 
„daß,  wenn  man  für  jeden  Grenzwerth  einen 
hinreichend  weit  vorgerückten  Bruch  aus  der 
betreffenden  Reihe*)  substituiert,  die  Differenz 
der  rechts  und  links  vom  Gleichheitszeichen  be- 
findlichen Ausdrücke  numerisch  beliebig  klein 
wird".  Mit  Hülfe  dieser  Prämissen  gelingt  es, 
die  Eindeutigkeit  einer  positiven  raten  Wurzel 
aus  einem  positiven  Bruche  nachzuweisen  und 
mittelst  Einführung  der  irrationalen  Größen  den 
bis  dahin,  trotz  der  negativen  und  gebrochenen 
Zahlen,  noch  immer  discontinuierlichen  Verlauf 
der  Zahlenlinie  in  einen  lückenlosen,  stetigen 
zu  verwandeln.  Wir  bemerken  nochmals,  daß  wir 
das  Verfahren  des  Verf.,  gleich  auf  das  Wurzd- 
ausziehen den  Limitencalcul  zu  begründen,  für  ein 
richtiges  und  seine  Durchführung  der  Idee  für 
eine  gelungene  halten,  allein  gerade  deshalb 
scheint  uns  die  Bemerkung  (S.  64)  nicht  noth- 
wendig,  daß  erst  an  einer  weit  späteren  Stelle 
gezeigt  werden  könne,  „wie  sich  durch  eine  in 
unbeschränkter  Anzahl  wiederholte  Anwendung 

*)  Es  ist  hier  eben  die  Reihe  der,  nach  irgend  einem 
Bildungsgesetze,  auf  einander  folgenden  Näherupgswertfiß 
gemeint. 


Lipschitz,  Lehrbuch  der  Analysis.     1553 

der  vier  Grundoperationen  ein  bestimmtes  Re- 
sultat gewinnen  läßt".  Wir  meinen,  wer  mit 
offenem  Auge  die  vorhergehenden  Erörterungen 
über  Irrationalität  verfolgte,  kann  über  diese 
Möglichkeit  nicht  mehr  im  Unklaren  sein. 

Der  zweite  Abschnitt  ist  der  Algebra  ge- 
widmet. Er  beginnt  mit  einer  geschichtlichen 
Notiz  über  die  Begriffsbestimmung  dieses  Wor- 
tes, wie  sie  bei  Newton,  Euler  u.  a.  vorkommt, 
und  zwar  wird  hier  die  Euler'sche  Definition 
adoptiert.  Nachdem  noch  der  Unterschied  zwi- 
schen constanten  und  variablen  Größen  auseinan- 
dergesetzt ist,  beginnt  das  Studium  der  ganzen 
rationalen  Funktionen,  die  Auflösung  der  linea- 
ren und  quadratischen  Gleichungen  und,  mit 
letzteren  zusammenhängend,  die  Rechnung  mit 
complexen  Werthen.  Geometrisch  werden  diese 
letzteren  vorläufig  noch  nicht  untersucht,  viel- 
mehr ist  ihre  graphische  Darstellung  der  allge- 
meinen Theorie  der  höheren  Gleichungen  vorbe- 
halten. Es  reiht  sich  jetzt  an  die  allgemeine 
binomische  Gleichung,  welche  Gelegenheit  giebt, 
die  goniometrischen  Funktionen  in  sehr  hüb- 
scher, induktorischer  Weise  mit  in  den  Kreis 
der  Betrachtung  zu  ziehen.  An  den  bei  der  Lö- 
sung jener  Gleichung  auftretenden  algebraischen 
Formen  treten  nämlich  gewisse  Eigenschaften 
zu  Tage,  welche  der  der  Geometrie  Kundige 
auch  beim  Sinus  und  Cosinus  wahrgenommen  zu 
haben  sich  erinnert;  diese  Analogie  wird  ge- 
prüft und  als  Identität  erkannt.  Damit  ist  denn 
die  Aufstellung  aller  n  Wurzeln  der  Gleichung 
<»»  =  C  ermöglicht ;  nicht  minder  gelingt  leicht 
die  Zurückführung  von  V A-\-Bi  auf  die  Nor- 
malform (S.  101  ff.).  Die  Einheitswurzeln  wer- 
den  sorgfältig  auf  ihre  zahlentheoretische  Be- 

98 


1554    Gott,  gel.  Anz.  1880.  Stück  49. 50. 

äetitttdg  biif  untersucht  *j ;  des  Ferneren  wirt 
gtfeeigt,  wie  Ernheitswurzöin  von  höherer  aus 
Solchen  von  niedrigerer  Otdnting  durch  Multi- 
plikation hergeleitet  werden  können ;  datirit  ver- 
bindet der  Vierf.  dite  Zerfällnng  eines  Braches 
in  Pärtialbrticbe,  sowie  die  Auflösung  einfacher 
diophantischer  Gleichungen.  Getreu  der  Überall 
in  dem  Buche  befolgten  Maxhnfe,  sich  nicht 
sfrenge  an  das  Absolut-Nothwendige  zu  halten, 
sondern  durch  Exkurse  in  verwandte  Wissens- 
gebiete dem  Leser  Anregung  und  einen  Einblick 
in  den  innigen  Zusammenhäng  zwischen  den 
einzelnen  Disciplinen  zu  gewähren,  giebt  §.  41 
eine  gedrängte,  jedoch  alle  wichtigen  Punkte 
umfassende  Uebersicht  über  die  Lehre  vött  der 
Kreistheilung.  Der  Gauß'sche  Satz  wird  (S. 
137)  dahin  formuliert,  daß  die  Theilung  des 
Kreises  in  eine  bestimmte  Anzähl  n  gleicher 
Theile  auf  geometrisch- elementarem  Wege  stets 
dann  erfolgen  könne,  „wenn  die  um  die  Ein- 
heit verminderte  Primzahl  n  gleich  einer  Potenz 
der  Zahl  Zwei  ist".  Diese  Formulierung  könnte 
möglicherweise  zu  Mißverständnissen  Veranlas- 
sung geben,  indem  ja  die  Primzahl  n  nicht  all- 
gemein gleich  (2P  +  1);  sondern  gleich 

2<*>  -f  1 

sein  muß.  §.  42  erläutert  das  Wesen  dfet  car- 
tesischen  Punktcoordinaten,  setzt  diese  durch 
Einführung  des  polaren  Systemes  mit  den  com- 
plexen  Zahlen  in  Verbindung  und  leitet  so  hin- 

*)  8.  113,  Z.  12  v.  u.  sollte  von  der  Bemerkung, 
daß  für  eine  Primzahl  n  gewisse  weitere  Folgerungen 
sich  ergeben,  der  Fall  «  =  2  ausgenommen  worden  sein- 
Denn  für  diesen  giebt  es  Dicht,  wie  angegeben,  Mos 
'•*  —  1),  sondern  n  reelle  Ein h ei ts wurzeln. 


Lipschitz,  Lehrbuch  der  Analysis.    1555 

ober  zu  der  allgemeinen  Theorie  der  Gleichun- 
gen, welche  die  folgenden  Paragraphen  erfüllt 
Der    Fundamentalsatz   der  Algebra,   zu  desseri 
endgültigem  Beweise  die  Mittel  an  dieser  Stelle 
noch   nicht   vorhanden   sind,   wird   durch   ein- 
gehende algebraische  Untersuchung  wenigstens 
insoweit  vorbereitet,  daß  der  Lernende  (S.  164) 
die  einstweilige  Gewißheit  erhält,  „daß  die  Zer- 
legung  einer  rationalen   ganzen  Funktion   des 
ttten  Grades  von  x  in  Faktoren  des  ersten  Gra- 
des,  wenn  sie   überhaupt  möglich  ist,   nur  auf 
eine  einzige  Weise  möglich  ist".    Es  folgt  eine 
kurze  Darlegung  jener  combinatorischen  Wahr- 
heiten, welche  sjch  bei  der  Diskussion  der  sym- 
metrischen Würzelverbindungen,  sowie  beim  bi- 
nomischen  Lehrsatz  als    nothwendig  erweisen. 
Die    Ersetzung   der  Unbekannten    (resp.  Verän- 
derlichen) durch  eine  andere,  linear  mit  ihr  ver- 
bundene, Größe  derselben  Art  führt,  unter  Zu- 
htilfenabme  des  binomischen  Theorems,    zu  den 
verschiedenen   Ableitungen   einer  ganzen  Funk- 
tion,  die  hier  rein  algebraisch,  ohne  Rücksicht 
auf   ihre   funktionentheoretische   Bedeutung  als 
Differentialquotienten,  behandelt  werden.  Aeußerst 
ausführlich    wird   die  Auflösung   der  kubischen 
und   biquadratischen   Gleichungen    vorgetragen, 
welche   uns   besonders  im  Interesse  der  letzte- 
ren, deren  principielle  Stellung  in  den  meisten 
Lehrbüchern  viel  zuwenig  hervorzutreten  pflegt, 
verdienstlich   erscheint.    Die  Ausführungen   des 
§.  54    hätten  vielleicht,    da  sie  doch  nur  einem 
speziellen  Falle  des  allgemeineren  §.  39  gelten, 
etwas  gekürzt  werden  können.    Dagegen  bietet 
die   Diskussion    der   Wurzeln    einer   Gleichung 
vom  vierten  Grade  Anlaß,  einige  elementare  Be- 
griffe   aus  jener  Disciplin  einzuführen,   welche 
unter  dem  Namen   der  Substitutionentheorie  für 

98* 


1556    Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  49.50. 

die  neuere  Algebra  so  wichtig  geworden  ist 
Von  großer  Tragweite,  insbesondere  auch  als 
Vorbild  für  Verfasser  zukünftiger  algebraischer 
Lehrbücher*),  ist  in  dieser  Hinsicht  §.  58,  der 
von  der  „Darstellbarkeit  der  rationalen  ganzen 
symmetrischen  Verbindungen  yon  n  Elementen 
durch  n  symmetrische  Grundverbuidangena  han- 
delt. Als  Spezialisierungen  der  hier  vorgetra- 
genen allgemeinen  Lehren  erscheinen  das  soge- 
nannte Differenzenprodukt  und  die  Diskriminante 
einer  Gleichung.  Nunmehr  ist  die  erforderliche 
Basis  vorhanden,  um  auf  die  Frage  nach  der 
Auflösbarkeit  einer  Gleichung  zurückzugreifen, 
von  der  die  weitere  Frage,  ob  die  Auflösung 
auch  stets  durch  explicite  algebraische  Formen 
geleistet  werden  könne,  wohl  zu  trennen  ist. 
Ein  interessanter  historischer  Exkurs**)  leitet 
den  Beweis  des  algebraischen  Fundamental  - 
satzeS  ein,  welcher,  mit  größter  Sorgfalt  und 
Ausführlichkeit  geführt,  nicht  weniger  als  6 
Paragraphen  und  34  Seiten  in  Anspruch  nimmt 
Da  sich  hiebei  die  Auffindung  des  größten  ge- 
meinschaftlichen Theilers  für  zwei  ganze  alge- 
braische  Funktionen    nicht   umgehen   ließ,    so 

*)  In  «einer  Anzeige  der  Matthiessen'aohen  >  Grund  - 
züge  der  antiken  und  modernen  Algebra«  (Schloemilch's 
Zeitschr.  f.  1879,  1.  Heft)  hatte  Schreiber  dieses  das 
Fehlen  solch'  all  gemeiner  Einleitung  als  einen  Mangel 
dieses  sonst  so  verdienstvollen  Werkes  zu  verzeichnen. 

**)  Es  scheint  Herrn  Lipsohitz  unbekannt  zu  sein, 
das  der  Aaszug  aaeRurani's  mehr  berühmtem  als  bekann- 
tem Werke,  welchen  er  (S.  247)  mit  Recht  for  sehr  wün- 
schenswert^ erklart,  von  dem  Wiener  Mathematiker 
v.  Ettingshausen  in  dessen  »Zeitschrift  für  Physik  and 
Mathematik«  (1.  Band,  Wien  1826,  8.  258  ff.),  freilich 
viel  zu  kurz  and  nicht  klar  genug,  gegeben  worden  ist. 
Vgl.  auoh  Jahrgang  1819  der  »Memorie  del  istituto  Lom- 
bard o-Veneto«. 


Lipschitz,  Lehrbach  der  Analysis.     1557 

wird  jetzt  für  solche  Funktionen  jene  Betrach- 
tung nochmals  durchgeführt,  welche  auf  S!  8  ff. 
für   ganze   Zahlen   angestellt  worden  war;   als 
ein  Nebenprodukt  dieser  Untersuchung  ergeben 
sich    die  Kettenbrtiche,  für  welche  die  wichtig- 
sten Lehrsätze  abgeleitet  werden.     Kapitel  III 
entwickelt  den  Begriff  der  homogenen  Funktion 
und  den  damit  in  nächster  Beziehung  stehenden 
der  linearen   Transformation.      Hieran    knüpft 
das  nächste  Kapitel  die  Lehre   von  den  Deter- 
minanten,   welche,    ganz    den    Anforderungen 
neuerer   Schulschriftsteller    über   diesen  Gegen- 
stand entsprechend,  zunächst  nur  für  ein  zwei- 
gliedriges,  sodann   für   ein  *  dreigliedriges   und 
erst  zuletzt  für  ein  allgemeines  System  linearer 
Gleichungen  gebildet    werden.     In   dieser  Art 
neu    und   gewiß    beachtenswerth    ist  die    ein- 
gehende  Zergliederung  des  Spezialfalles   eines 
linearen  Systems  von  verschwindender  Determi- 
nante (§.  75).     Mit  Kapitel  VI*),   welches  die 
Theorie    der  quadratischen  Funktionen  von  be- 
liebig vielen  Variablen  enthält,  betritt  der  Verf. 
ein  Territorium,  zu  dessen  Erforschung  er  selbst 
wie  kein  Zweiter  beigetragen  hat,  und  es  wird 
deshalb  seine  Darstellung  hier  noch  weit  mehr 

*)  Wenn  S.  860  gesagt  wird,  die  ganzen  homogenen 
Funktionen  irgendwelchen  Grades  hätten  »die  gemein- 
same Eigenschaft,  immer  in  Faktoren  des  ersten  Grades 
zerlegbar  zu  sein,  vorausgesetzt,  daß  die  Rechnung  mit 
oomplexen  Größen  zugelassen  ist«,  so  sehen  wir  hierin 
lediglich  eine  ganz  passende  Rüokerinnerung  an  den 
Standpunkt,  den  die  Analysis  unmittelbar  vor  Gauß  ein- 
nahm, und  welchem  dieser  selbst  durch  die  Ausdrucks- 
weise  seiner  Inauguraldissertation  noch  einige  Rechnung 
zu  tragen  fur  erforderlich  hielt.  Es  ist  uns  nicht  ver- 
standlich, wieso  man,  was  thatsäohlioh  geschehen,  dem 
Verf.  obigen  Satz  als  eine  anachronistische  Redeweise 
zur  Last  legen  will. 


1558     Gott,  gel/ Anz.  1880.  Stück  49. 50. 

denn  anderswo  es  beanspruchen  können,  nicht 
blos  unter  dem  didaktischen,  sondern  auch  un- 
ter dem  spezifisch -wissenschaftlichen  Gesichts- 
punkt studiert  und  beachtet  zu  werden.  Wir 
weisen  in  Sonderheit  hin  auf  die  geometrische 
Repräsentation  dieser  Funktionell;  sind  diesel- 
ben binär,  so  ergiebt  sich  in  der  Ebene  ein 
Netz  von  Parallelogrammen  (S.  363  ff.),  sind  sie 
ternär,  ein  parallelepipedisches  Raumgitter  (S. 
405  ff.),  und  von  diesen  Bildungen  lassen  sich 
durch  verhältnismäßig  einfache  Rechnung  viele 
Eigenschaften  nachweisen,  welche  der  direkten 
geometrischen  Betrachtung  erhebliche  Schwie- 
rigkeiten entgegensetzen  würden*).  Außerdem 
ist  als  wichtig  für  die  Mechanik  und  zumal  für 
die  moderne  Metageometrie  zu  nennen  die  ele- 
gante Ueberftthrung  einer  quadratischen  Form 
in  eine  Summe  von  Quadraten  (S.  394  ff.)  und 
die  Behandlung  der  unter  dem  Namen  „Träg- 
heitsgesetz" bekannten  fundamentalen  Eigen- 
schaft quadratischer  Formen,  über  deren  Ent- 
stehung vom  Verf.  (S.  428)  nähere  geschicht- 
liche Aufschlüsse  gegeben  werden.  Diese  Ent- 
wicklung beschließt  den  zweiten  Abschnitt,  der 
sowohl  seiner  Anlage  als  auch  der  Eigenart  der 
darin  behandelten  Materien  nach  für  den  Lehr- 


*)  Welchen  Werth  diese  Auffassung,  zumal  wenn 
man  sie  auch  in  die  Zahlentheorie  überträgt,  sowohl  für 
diese  als  auch  für  die  krystallographische  Physik  and 
für  die  Molekulartheorie  überhaupt  besitzt,  beweisen  be- 
sonders die,  hierin  auf  die  alteren  Untersuchungen  von 
Bravais  sich  stützenden  Untersuchungen  von  Selling  (Bor- 
chardt's  Journal,  77.  Band;  Liouville's  Journal,  3.  Serie, 
3.  Band;  dort  besonders  S.  62  ff.)*  Auoh  gehören  hierher 
Camille  Jordan's  und  Sohncke's  Bestimmung  aller  über- 
haupt existierenden  regelmäßigen  Punktsysteme  im 
Baume. 


Lipachitz,  Lehrbuch  der  Analysis.     1559 

gang  in  der  algebraischen  Analysis  neue  und 
wohl  zu  beherzigende  Perspektiven  eröffnen 
dürfte. 

Ungleich   conservativer ,    wenn   dieser  Aus- 
druck hier  als  erlaubt  gilt,  ist  der  aus  dem  dritten, 
vierten  und  fünften  Abschnitt  bestehende  Schluß 
des    ersten  Bandes  gehalten,   welcher  also  spe- 
ziell das  umfaßt,  was  man  nach  Euler  „Analy- 
sis   des   Endlichen"    nennt.      Die   Darstellung 
mußte  sich  hier  mehr  in  den  gewohnten  Bahnen 
bewegen,   indeß  findet  man  auch  hier  die  prin- 
cipiellen   Fragen   nach   der  Stetigkeit,  Gonver- 
genz  u.  s.  w.  besonders  in  den  Vordergrund  ge- 
stellt   und  die  aus  Abel's  grundlegender  Studie 
über  die  Binomialreihe  entfließenden  Grundsätze 
für  eine  wissenschaftliche  Behandlung  der  Reihen- 
lehre wohl  verwerthet.    An  die  Spitze  wird  die 
geometrische  Progression  gestellt;  an  sie  schließt 
sich  die  Theorie   der  rekurrenten  Reihen,   die 
Zerlegung  einer  beliebig  gebrochenen  Funktion 
in  Theilbrüche  und  die  Interpolationsformel  von 
Lagrange.    Schon  bei  Besprechung  der  ConVer- 
genz    einer   geometrischen  Reihe  wird  (S.  471) 
jenes    geometrischen    Veranschaulichungsmittels 
gedacht,   welches  in   einem  um  den  Nullpunkt 
der  complexen  Zahlenebene  beschriebenen  Kreise 
besteht   und   für  die  Gonvergenzuntersucbungen 
in  neuerer  Zeit  eine  so  überaus  hohe  Wichtig- 
keit erlangt  hat.    Die  Exponential-,  logarithmi- 
schen ,    goniometrischen     und     cyklometrischen 
Funktionen*)  beschließen  den  vierten  Abschnitt. 
Im  fünften   begegnen  wir  an  erster  Stelle  den 
.unendlichen   Reihen    und  Faktorenfolgen;    für 

*)  Herr  Lipschitz  schreibt  durchgehende  »Arcus  tan- 
gentis«,  wogegen  sieh  sprachlich  kein  Widersprach  er- 
heben läßt. 


1560    Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  49.50. 

diese  letzteren  werden   in  §.  111  direkte,  d.  h. 
von    zuvoriger    Logarithmierung    unabhängige, 
Convergenzregeln    aufgestellt.     Es   ist  dies  ein 
Gebiet,  dessen  Darstellung  in  vielen  Lehrbüchern 
bisher  einen  schwachen  Punkt  bildete.    Endlich 
finden  wir  im  letzten  Abschnitt  noch  die  Reihen- 
entwickelung  für   sämmtliche   algebraische  und 
transcendente    Grundfunktionen ,     nach    neuer, 
strenger  Methode   und   durchweg  unter  Voraus- 
setzung    complexer    Argumente     durchgeführt. 
Insbesondere   möge   §.    119,    die    „vollständige 
Werthbe8timmung  der  Binomialreiheu  enthaltend, 
wegen  seiner  hodegetischen  Bedeutung  für  ähn- 
liche,   umfassendere  Aufgaben  hier  namhaft  ge- 
macht werden.     Im   letzten  Paragraphen   treten 
auch   bereits    die    einfachen    trigonometrischen 
Reihen   auf,   welche   nach   Sinus   oder  Cosinus 
der  Multipla   irgend  eines  Winkels  fortschreiten 
und  im  zweiten  Bande  unter  ganz  anderen  Ge- 
sichtspunkten zu  betrachten  sind*).  —    Wir  ge- 
hen  in  unserer  Schilderung  nunmehr  zu  dieser 
zweiten,  fast  ura  drei  Jahre  später  erschienenen 
Hauptabtheilung  des  großen  Werkes  über. 

Dieselbe  umfaßt,  wie  auf  seinem  Titelblatt 
bemerkt  ist,  die  Differential-  und  Integralrech- 
nung, also,  nach  älterem  Sprachgebrauche,  die 
höhere  Analysis,  zu  der  im  ersten  Bande  abge- 

*)  Ein  paar  unbedeutende  und  kaum  sinnstörende 
Druckfehler  mögen  gelegentlich  Erwähnung  finden.  S. 
98,  Z.  6  v.  a.  ist  das  Wort  »horizontale  Reihe«  an  eich 
zwar  nicht  falsch ,  aus  dem  Zusammenhange ,  besonders 
in  Vergleichung  mit  8.  108,  erhellt  jedoch,  daß  dafür 
»vertikale Reihe«  gesetzt  werden  muß.  S.  171,  Z.  16  v.o.* 
lies  aQ   =  Co  -  j)j  8tatt  a< >  c_  m    ibid    z    lß 


v. 


o.  I.  *'    statt  *' ,  S.  588,  Z.  16  v.  6.  1.  f!  statt  * 
18  3  3 


Lipschitz,  Lehrbuch  der  Analysis.     1561 

handelten  niederen  oder  algebraischen  im  Gegen- 
satz. Wie  schwankend  und  unklar  diese  Gegen- 
überstellung war,  ergiebt  sich  recht  deutlich 
auch  aus  unserer  Vorlage;  muß  doch  auch  in 
den  sogenannten  höheren  Galcul  eine  Menge 
Algebraisches  mit  hinein  verwebt  werden  *)  und 
war  doch  auch  schon  im  ersten  Bande  die 
Hereinziehung  des  Begriffes  „Abgeleitete  Funk- 
tion" zur  Notwendigkeit  geworden!  Wir  be- 
merken auch  gleich,  daß  der  Verf.  zwischen 
Differential-  und  Integralrechnung  keine  strenge, 
äußerlich  hervortretende  Scheidung  eintreten 
läßt,  sondern  dem  einleitenden  Abschnitt  über 
das  Differentiiren  gleich  die  entsprechenden 
Sätze  über  die  inverse  Operation  des  Integrie- 
rens  folgen  läßt.  Wir  glauben  nach  eigenen 
Erfahrungen  diese  Art  des  Vorgehens  als  die 
zweckmäßigste  bezeichnen  zu  dürfen. 

Den  Anfang  des  zweiten  Bandes  bilden  ana- 
lytisch-geometrische Reflexionen  über  geometri- 
sche Oerter,  von  denen  gleich  eine  Anwendung 
auf  die  Bestimmung  der  Berührenden  an  ebenen 
Curven  gemacht  wird.  Der  hiebei  sich  erge- 
bende Ausdruck 

f(x  +  h)-f(x) 


wird  näher  untersucht  und  auf  seinen  Grenz- 
werth  geprüft.  Es  folgt  die  Ableitung  der  wich- 
tigsten Differentialquotienten;  bei  der  Bestimmung 

*)  Wir  denken  hierbei  hauptsächlich  an  den  schö- 
nen Exkurs  auf  das  sogenannte  Hauptaxenproblem,  in 
welchem  der  Algorithmus  des  höheren  Calculs  selbst  fast 
gar  nicht  zur  Anwendung  kommt,  und  welcher  deshalb 
wohl  auch  ganz  gut  in  den  ersten  Band  hätte  aufgenom- 
men werden  können. 


1562    Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  49.50. 

von  d  (x  —  5) :  dx  begnügt  sich  der  Verf.  nicty 
wie  so  manche  andere  Autoren,  das  Versage* 
der  vorher  entwickelten  allgemeinen  Method* 
einfach  zn  constatieren,  sondern  er  studiert  <Ef 
hier  auftretende  Unterbrechung  der  Stetigkeit 
näher  (S.  33  ff.)  und  gelangt  so  dazn ,  den  bit- 
her  blos  angedeuteten  Begriff  des  mathematiscfc 
Unendlichen  in  strikter  Weise  festzustellen  & 
42).  Sehr  angenehm  wird  es  für  die  das  Baüfi 
benutzenden  Studierenden  sein,  daß  ab  und  t$ 
Beispiele  sammt  vollständiger  Durchrechnung 
gegeben  sind  (S.  50  für  eine  irrationale  gebro- 
chene Funktion).  Die  Differentiirung  von  t 
und   log  x  knüpft  an   an   den  Grenzwerth  rot 

1  n 
(1  +  -) ,  welcher  durch  Betrachtung  einer  Reiki 

von   Ungleichungen  gefunden   wird.    Nacl 
der  erste  Differentialquotient  für  alle  eleme 
ren   Funktionen  bestimmt   ist,   wird  venni 
der   Differenzen    verschiedener    Ordnungen 
den  höheren  Differentialquotienten  überge, 
(S.  86  ff.),  und  daran  reiht  sich  unmittelbar 
Integration,  welche  als  Umkehrung  derAufj 
einen  Differenzenquotienten  zu  bilden,  den  Grei 
werth   eines   Summenausdruckes  zu  finden 
Sowohl  durch    logische   Erwägung,    als 
durch  die  geometrische  Interpretation  der  S 
menformel  gelangt  man  zu  der  Ueberzeugung, 
für  jede  Funktion  von  der  Art,   wie  sie  bi 
vorkamen,    die   Integration  möglich  ist  (§. 
Als  ein   sehr  instruktives  Beispiel  für  die 
lichkeit,   eine  solche    Integration  durch  d' 
Schlüsse  und  ohne  Beihülfe  der  aus  der 
rentialrechnung   herzuholenden    Umkehrun 
mein  zu   vollziehen,   wird  die  Quadratur 
beliebigen  parabolischen   Curve  dienen, 
in  §.  24  geleistet  wird.    Erst  jetzt  wird 


Lipschitz,  Lehrbach  der  Analysis.    1563 

gewiesen,  daß  das  einen  Sunimenaasdruck  dar- 
stellende bestimmte  Integral  mit  dem  anbe- 
stimmten identisch  ist,  sobald  in  letzteres  seine 
Grenzen  eingesetzt  werden.  Unter  den  die  er- 
stere  analytische  Form  betreffenden  Sätzen  fehlt 
anch  nicht  der  für  die  Aaswerthang  bestimmter 
Integrale  so  wichtige  Mittelwerthsatz  (§.  26), 
der  durch  die  neueren  Forschungen  von  F. 
Meyer,  Hankel,  Du  Bois-Reymond  mannigfache 
Erweiterungen  erfahren  hat.  Der  Taylor'sche 
Lehrsatz,  welcher  in  älteren,  nach  dem  Lagrange'- 
schen  Vorbilde  gearbeiteten  Werken  an  die 
Spitze  gestellt  zu  werden  pflegte,  gelangt  nun- 
mehr, im  III.  Kapitel,  zur  Besprechung;  man 
begiebt  sich  bei  diesem  Arrangement  allerdings 
des  Vortheiles,  die  hauptsächlichsten  Differen- 
tialquotienten auf  anscheinend  gleich  bequeme 
wie  leichtverständliche  Weise  sich  verschaffen 
zu  können,  allein  erstlich  gewinnt  man  so  eine 
weit  größere  Strenge  in  der  Behandlung  jener 
Grundlehren  und  zweitens  ergiebt  sich  jetzt 
Taylor's  Beihenentwickelung  zugleich  mit  ihrem 
Restausdruck,  ohne  welche  sie,  wie  dies  bei  La- 
grange wirklich  der  Fall  war,  völlig  in  der 
Luft  schwebt.  Die  früher  blos  elementar  be- 
handelten Potenzreihen  für  #*,  ax  u.  s.  w.  können 
nunmehr  als  besondere  Fälle  der  Maclaurin'- 
schen  Reihe  erhalten  werden;  zugleich  giebt 
die  Aufgabe,  arc  tang  durch  eine  solche  Reihe 
auszudrücken,  Gelegenheit,  das  einstweilen  Nö- 
thige  über  die  Differentiation  bei  complexen 
Variablen  zu  sagen.  Kapitel  IV.  beschäftigt 
sich  mit  der  Lehre  vom  Größten  und  Kleinsten, 
die  durch  gut  gewählte  Beispiele  illustriert  und 
mit  der  geometrischen  Theorie  von  den  meht 
oder  minder  innigen  Oskulationen  der  Curven 
in  Beziehung  gesetzt  wird.    S.  190  ff.   ist  vftw 


1564     Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  49.  50. 

Krümmungskreis  die  Rede.  Weiter  gehört  hier- 
her die ,  im  Verhältnis  zu  anderen  Materie», 
wohl  etwas  zn  kurz  weggekommene  AufgtJh} 
den  Werth  der  nnter  unbestimmter  Form 
scheinenden  Brüche  zu  bestimmen*),  die  „Um- 
formung der  Interpolationsformel  von  La 
in  eine  von  Newton  herrührende  Gestalt* 
eine  geistreiche  Untersuchung  über  die  bek 
Crux  der  Metaphysik  des  höheren  Galculs: 
unendlichkleinen  Größen  von  verschiedener 


nung. 

Bislang  waren  die  Funktionen,  mit  de 
sich  der  Verf.  beschäftigte,  nur  von  einer  ei 
gen  unveränderlichen  Größe  abhängig.  Glei 
im  Beginn  des  diese  Beschränkung  aufheben' 
V.  Kapitels  wird  der  Leser  in  mustergültig« 
Weise  in  eines  der  schwierigsten  aber  aud 
interessantesten,  dazu  gerade  von  Herrn  Li}* 
schitz  mit  großem  Erfolge  bearbeitetes  Kapitel 
der  mathematischen  Principienlehre  eingeföW> 
nämlich  die  Lehre  von  den  mehrfach  ausgedebf» 
ten  Mannigfaltigkeiten  **).  Die  in  §.  46  gegeben* 

*)  Wie  an  manchen  anderen  Stellen  kommt  d* 
Verf.  auch  hier  auf  die  gleich  im  Anfang  des  antat: 
Bandes  behandelten  Elemente  der  Grenzwerthreohniiif 
(b.  o.)  zurück  und  zeigt,  wie  alles  dort  Gesagte  numnak 
von  einem  höheren  Standpunkt  aus  gerechtfertigt  * 
scheint.  Mit  Recht  erinnert  er  hier  wie  dort  daran,  <hi 
dies  Verfahren,  einen  Werth  zwischen  immer  enger  «i 
enger  zusammenzuziehende  Schranken  einzuschließen,  Ar 
Idee  nach  ein  altgriechisches  sei ;  es  ist  eben  die  bfr 
rühmte  Exhaustionsmethode  des  Archimedes. 

**)  Zur  Verdeutlichung  wird  hierbei  angenomM 
die  ein  und  derselben  Gruppe  angehörigen  Einzeldngt 
stimmten  jeweils  mit  den  bezüglichen  Individuen  andfl* 
Gruppen  in  allen  Punkten  überein;  nur  eine  bestinuÄ 
auszeichnende  Eigenschaft,  etwa  die  Farbe,  trenne  fit 
Gruppen.  Da  die  Mannigfaltigkeit  der  Farben  jedoA 
von  anderen   homogenen  Mannigfaltigkeiten   sich  tSM 


1 


Lipschitz,  Lehrbuch  der  Analysis.    1565 

Erklärung  des  partiellen  Differentiirens  gestattet 
den  Beweis  des  Euler'schen  Theorems  von  den 
homogenen  Funktionen,  sowie  eine  neue  Auf- 
fassung der  Unterdeterminante.  Geometrischen 
Anwendungen,  d.  h.  der  Tangentialebene  und 
Normale,  sind  die  §§.  49  und  50  gewidmet,  §. 
51  giebt  den  analytischen  Ausdruck  für  die  Be- 
grenzung einer  nfach  ausgedehnten  Mannigfal- 
faltigkeit.  Auf  den  neuen  und  eleganten  Be- 
weis für  die  Relation 

dxdy  dy  dx  } 

deren  Richtigkeit  an  dem  von  Schloemilch  ge- 
brauchten geometrischen  Bilde  sozusagen  ad 
oculos  demonstriert  werden  kann,  durch  Rech- 
nung aber  weit  schwerer  nachzuweisen  ist,  sei 
besonders  hingewiesen.  Den  Schluß  des  inhalts- 
reichen V.  Kapitels  macht  eine  wesentlich  com- 
binatorische  Untersuchung  über  die  vollständi- 
gen Differentiale  und  Differentialquotienten  ver- 
schieden hoher  Ordnungen,  die  natürlich  blos 
mit  Hülfe  des  polynomischen  Lehrsatzes  ge- 
führt werden  konnte.  Das  VI.  Kapitel  (§§.  54, 
55)  ist  nur  kurz;  in  ihm  wird  die  Taylor'scbe 
Reihenentwickelung  auf  eine  arbiträre  Anzahl 
von  Variablen  ausgedehnt  und  auch  die  Newton'- 
sche  Interpolationsmethode  entsprechend  erwei- 
tert. Eine  nennenswerthe  Bereicherung  des  üb- 
lichen Lehrstoffes  in  der  Theorie  des  Maximums 
und   Minimums  stellt   §.  59  dar,    überschrieben 

unwesentlich  unterscheidet  (vgl.  Erdmann,  Die  Grund- 
lagen der  Geometrie),  so  wäre  vielleicht  die  Wahl  irgend 
einer  andern  Eigenschaft  zur  Charakteristik  der  Gruppen 
vorzuziehen. 


1566    Gott.  gel.  Anz.  1880.  ätück  49.50. 


„Methode  der  unbestimmten  Multiplikatoren", 
Es  ist  diese  Methode  darauf  zurückzufahren,  dal 
ein  Zgliedriges  System  von  der  Form 


k-l 


dVk 


df 


^-^—^(-  —  ^1,1.-^»^ 


*  =  1 


dieselbe  Determinante    liefert,    wie    diejenige, 
welche  dem  durch  die  totalen  Differentiale 

d(fi  =  ^  dxx  -f-  ^-% dx%  +  •••  +  -^r-'dXn 


dx1 


dx 


2 


dx. 


bestimmten  Gleichungssysteme  entspricht  Für 
die  relativen  Maxima  und  Minima  werden,  nach 
eingehender  Diskussion  der  für  dieselben  be- 
stehenden Kriterien,  interessante  Beispiele  bei- 
gebracht. Es  wird  nämlich  (vgl.  oben)  gezeigt, 
wie  man  für  Curven  und  Flächen  der  zweiten 
Ordnung  die  Hauptaxen  bestimmen  kann,  wo- 
ran sich  dann  (S.  348  ff.)  die  Ossifikation  der 
quadratischen  Mittelpunktsflächen  schließt.  Als 
in  dieses  Kapitel  gehörig  definiert  der  Verf.  die 
Aufgabe  so,  daß  der  Ausdruck  (x*  +  x*  -f  x%) 

zu  einem  Maximum  oder  Minimum  gemacht 
werden  soll,  während  zugleich  eine  willkürliche 
quadratisch-temäre  Form  dieser  drei  Variablen 
einen  unveränderlichen  Werth  behält.  Bekannt- 
lich liegt  der  Schwerpunkt  des  Problemes  in  der 
Ueberführung  obigen  Ausdruckes  in  eine  Summe 
aus  drei  anderen  Quadraten,  und  diese  Trans- 
formation wird  durch  eine  elegante  Determinan- 
tenbetrachtung geleistet.  —  Das  achte  Kapitel 
behandelt  die  Geometrie  der  doppelt  gekrümm- 
ten Raumcurven   einschließlich    ihrer   ßektifika- 


Lipschitz,  Lehrbuch  der  Analysis.    1567 

on  und  Krümmungskreise;  auch  wird  im  An- 
shluß  hieran  der  Krtimmungskreis  eines  ebenen 
lächenschnittes  und  das  Krümmungsmaaß  der 
lachen  behandelt;  als  Corollar  ergiebt  sich  im 
rsten  Falle  das  Theorem  von  Meusnier,  im 
weiten  dasjenige  von  Euler,  welches  den  Krttm- 
Qungsradius  eines  beliebigen  Hauptschnittes 
lurch  die  Werthe  der  beiden  Hauptkrümmungs- 
lalbmesser  auszudrücken  lehrt. 

Inhalt  des  neunten  Kapitels  ist  die  Technik 
les  Integrierens   für  die  verschiedenen  Gattun- 
gen   der  integrablen  Funktionen.     Die  Integra- 
ion    der  rational-gebrochenen  Funktionen   führt 
iu    einer  nochmaligen  ausführlichen  Diskussion 
les    bereits  früher  eingehend  erörterten  Proble- 
aaes  der  Partialbruchzerlegung.   §.  69  zeigt,  wie 
man  gleich  von  vornherein  die  vorgelegte  Funk- 
tion in  zwei  Theile  zerlegen  kann,   deren  Inte- 
grierung  resp.    zu  algebraischen   und  zu  trans- 
scendenten   Ausdrücken    gelangen    läßt.      Daß 
diese  Zerfallung,  auf  welche  zuerst  Hermite  hin- 
gewiesen zu  haben  scheint,   in  der  ihr  hier  zu 
Theil   gewordenen   Darlegung    nicht   bloß    ein 
Specimen  gelehrten  Scharfsinnes,  sondern    ge- 
radezu von   praktischer   Brauchbarkeit  ist,   er- 
kennt man  (S.  409)  an  einem  vollständig  durch- 
gerechneten  Beispiel,   dessen  Erledigung   nach 
der   üblichen,    älteren   Methode    einige    Seiten 
früher   verglichen   werden    kann.     In   kürzerer 
Darstellung   folgt    die   Integration    irrationaler 
und  trigonometrischer   Funktionen,   soweit  sich 
dieselbe   in   geschlossenen   Formen  durchführen 
läßt.    Die  Integration  durch  unendliche  Reihen 
wird  besonders   an   der  Auswerthung  des  ellip- 
tischen Integrales  erster  Art  spezialisiert.    War 
aber  bis  jetzt  die  Funktion,   welche  sich  unter 
dem  Integralzeichen  befand,  für    das  durch  die 


1568     Gott  gel.  Anz.  1880.  Stück  49.50. 

Grenzen  festgelegte  Intervall  endlich  und  stetig, 
so  bandelt  es  sich  jetzt  in  den  §§.  73  und 
74  darum,  die  Definition  des  Integrales  auch  für 
Funktionen  mit  einzelnen  Unstetigkeiten  and 
Unbestimmtheiten  sowie  auch  auf  ein  anendli- 
ches Integrationsintervall  auszudehnen.  Gele- 
gentlich dieser  letzteren  Aufgabe  schiebt  der 
Verf.  eine  längere  Diatribe  über  die  Verglei- 
chung  der  Verminderungsgeschwindigkeit  einer 
Potenz  und  einer  Exponentialgröße  ein,  wofür 
ihm  der  Lehrer  der  Analysis  um  so  dankbarer 
sein  wird,  als  die  bezüglichen  Thatsachen  zwar 
häufig  als  selbstverständlich  vorausgesetzt,  kaum 
irgendwo  aber  so  gründlich  analysiert  werden 
wie  hier  (S.  444  ff.).  Mit  Hülfe  des  in  §.  75 
mitgetheilten  Satzes  von  der  Differentiirung  un- 
ter dem  Integralzeichen  wird  nun  an  gewisse 
„ausgezeichnete  bestimmte  Integrale"  herange- 
treten; insbesondere  werden  die  wichtigsten 
Eigenschaften  der  Euler'schen  Integrale  abge- 
leitet. Kapitel  X  enthält  die  Darstellung  der 
Funktionen  durch  trigonometrische  Reihen,  also 
wiederum  eine  mit  dem  Namen  des  Verf.  aufs 
Engste  verknüpfte  Spezialdisciplin,  insofern  das 
von  Lipschitz  aufgestellte  Kriterium  eben  für 
die  Möglichkeit  einer  solchen  Darstellung  die 
früher  von  Dirichlet  angegebenen  Bedingungen 
erheblich  verschärft  und  zugleich  erweitert*). 
Als  ein  mehr  elementarer  Auszug  aus  diesen 
Untersuchungen  ist  besonders  §.  80  und  §.  81 
zu  betrachten.  Im  letzteren  stellt  sich  die  Not- 
wendigkeit  heraus,  von  einer  zuerst  durch  Le- 

*)  Bezüglich  der  Lipschitz'schen  Arbeiten  über  diese, 
als  besonders  fein  und  schwierig  anerkannten  Fragen 
kann  man  die  Angaben  von  Sacbse  (S.  246 — 248  des  8. 
Heftes  der  »Abhandl.  z.  Gesch.  d.  Math.«,  Leipzig  1880) 
nachsehen. 


Lipschitz,  Lehrbuch  der  Analysis.     1569 

jeune-Dirichlet  hervorgehobenen  Eigentümlich- 
keit convergenter  Reihen  Notiz  zu  nehmen,  daß 
nämlich  die  Anordnung  der  Glieder  anf  den 
Werth  der  Reihe  nicht  ohne  Einfluß  ist.  Mit 
Beachtung  dieses  Faktums  gelingt  es  dann  zu- 
letzt, den  Begriff  der  „unbedingt  convergenten 
trigonometrischen  Reihe"  festzustellen.  —  Im 
nächsten  Kapitel  begegnen  wir  der  Integration 
totaler  Differentialgleichungen,  und  zwar  thut 
der  Verf.  mit  Berufung  auf  seine  schon  früher 
(im  Jahre  1868)  publicierten  Ergebnisse  dar, 
daß  unter  gewissen  sehr  allgemeinen  Voraus- 
setzungen die  Möglichkeit,  ein  System  gewöhn- 
licher Differentialgleichungen  vollständig  zu  inte- 
grieren, immer  bestehe,  ja  daß  der  Integration 
eines  solchen  Systemes  eindeutige  Bestimmtheit 
zukomme  (§.  87).  Daß  bei  den  sich  anschlie- 
ßenden allgemeinen  Betrachtungen  über  Integra- 
tion und  Integrationsconstante  auch  die  Mannig- 
faltigkeits-Terminologie vielfach  zur  Erläute- 
rung beigezogen  wird,  braucht  kaum  gesagt  zu 
werfen.  Eine  sehr  ausführliche  Erörterung  wird 
den  linearen  Differentialgleichungen  zu  Theil; 
schließlich  wird  als  Beispiel  die  Gleichung 

=   öle 

dt2  g 

mittelst  der  —  hier  allerdings  ohne  diesen  ihren 
gewöhnlichen  Beinamen  auftretenden  —  hyper- 
bolischen Funktionen  integriert  (S.  530 ff.*).  — 

*;  Es  wäre  zu  wünschen,  daß  auch  von  Seite  unse- 
rer Koryphäen  das  Beispiel  gegeben  würde,  sich  der  in 
Frankreich  und  England  schon  längst  fast  selbstverständ- 
lichen Bezeichnung  zu  bedienen,  welche  der  cykliseh- 
goniometrischen  Formelsprache  nachgebildet  ist,  und  den 

99 


1570    Gott.  gel.  Adz.  1880.  Stück  49.50. 

Eine  sehr  vollständige  Theorie  der  doppelten 
und  dreifachen  Integrale  bringt  das  zwölfte  Ka- 
pitel. Den  principiellen  Auseinandersetzungen 
ist  zwar  auch  hier  wiederum  eine  besondere 
Beachtung  geschenkt,  indeß  ist  auch  dem  mehr 
praktischen  Theile  und  zumal  den  so  vielseiti- 
gen geometrischen  Anwendungen  ihr  Recht  ge- 
worden. So  findet  sich  S.  551  ff.  die  merkwür- 
dige, angeblich  von  Cauchy  herrührende,  Eva- 
luirung  von 

ß-*dx 

—  00 

mittelst  stereometrischer  Ueberlegungen.  Bei  der 
Substitution  neuer  veränderlicher  Größen  in 
einem  mehrfachen  Integral  (§.  95)  konnte  natür- 
lich auch  die,  übrigens  bereits  früher  betrachtete, 
Funktionaldeterminante  nicht  entbehrt  werden. 
§.  97  entwickelt  ein  generelles  Theorem  für  die 
Integration  der  von  zwei  Variablen  abhängigen 
Differentialausdrücke,  und  auf  dieser  Basis  wer- 
den die  noch  allgemeineren  Integrabilitätsbe- 
dingungen   für  eine  größere  Anzahl  von  verän- 

schleppenden  Exponentialausdrücken  den  Abschied  zu 
geben.  Die  von  Herrn  Lipschitz  gegebene  Schlußformel 
nimmt  sich  in  der  folgenden  (Gudermann'schen)  Form 

fe  =  *l(0)Cof[v^5T)(<-g]  + 

rb  (0)  ©in  [V7^  (*_ *0)] .  -^ 

gewiß  weit  übersichtlicher  aus  als  in  der  Gleichung  (41) 
des  Buches.  Auch  hat  der  complicierte  Satz  dieser  Glei- 
chung es  verschuldet,  daß  sie  mit  zwei  kleiuen  Druck- 
fehlern behaftet  ist  —  nebenbei  bemerkt,  den  einzigen, 
welche  uns  außer  den  vom  Autor  selbst  am  Schlüsse 
namhaft  gemachten  bei  der  Lektüre  des  zweiten  Bandes 
aufgestoßen  sind. 


Lipschitz,  Lehrbuch  der  Analysis.    1571 

derlichen  Größen  fixiert.  §.  100  generalisiert 
die  in  §.  95  nur  für  den  speziellen  Fall  der 
Oberflächen-  und  Körperintegrale  durchgeführte 
Transformation  der  vielfachen  Integrale.  —  In  Ka- 
apitel  XIV,  dem  letzten  des  umfangreichen  ersten 
Abschnittes,  bildet  die  „Umkehrung  eines  Syste- 
mes  von  Funktionen"  das  Thema.  Hier  hält  es 
der  Verf.  für  geboten,  die  zweifachen  Mannig- 
faltigkeiten nach  Riemann's  Vorgang  in  einfach 
und  in  mehrfach  zusammenhängende  zu  sondern, 
um  so  die  eindeutige  Umkehrung  eines  Syste- 
mes  von  zwei  Funktionen  in  bequemerer  Weise 
durchführen  zu  können.  In  §.  103  wird  darge- 
than,  inwiefern  dieses  Umkehrungsproblem  sich 
auf  die  Integration  von  Differentialgleichungen 
zurückführen  läßt.  §.  104  endlich  hat  es  wie- 
der mit  geometrischen  Anwendungen  zu  thun; 
insbesondere  wird  der  Ausdruck  für  das  Quadrat 
des  Linienelementes  in  der  Ebene  wie  im  Räume 
abgeleitet  und  mit  Bezug  auf  den  Begriff  allge- 
meiner krummliniger  Goordinaten  näher  unter- 
sucht. Weiter  kann  die  höhere  Analysis  nicht 
geführt  werden,  solange  man  sich  im  Bereiche 
des  Reellen  bewegt,  und  so  ergiebt  sich  die 
Notwendigkeit,  diesen  Spielraum  zu  erweitern. 
Das  von  Herrn  Lipschitz  beobachtete  Verhalten 
hat  mit  dem  euklidischen  System  das  gemein, 
daß  die  Einführung  neuer  Begriffe  und  An- 
schauungsweisen immer  gerade  dann  eintritt, 
wenn  mit  dem  bis  dahin  verwendeten  Materiale 
Alles  geleistet  ist,  was  mit  dessen  Leistungs- 
fähigkeit sich  vereinbaren  ließ,  und  wenn  zu- 
gleich alle  Vorbedingungen  zum  Beweise  neuer 
Sätze  parat  liegen.  Der  zweite  Abschnitt,  „Dif- 
ferential- und  Integralrechnung  für  complexe 
Größen"  betitelt,  hat  in  Folge  dieser  Einrichtung 
des  Ganzen  verhältnismäßig  leichteres  Spiel, 

99* 


1572    Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  49.50. 

Es  wird  hier  zuvörderst  der  allgemeine  Be- 
griff einer  algebraisch-rationalen  Funktion  defi- 
niert und  gezeigt,  was  man  unter  deren  Diffe- 
rentialquotienten zu  verstehen  habe.  Anschlie- 
ßend daran  wird  der  Funktionsbegriff  auf  com- 
plexe  Argumente  überhaupt  erstreckt  und  von 
dieser  Erweiterung  Gebrauch  gewacht  zur  Auf- 
lösung der  Aufgabe  von  der  conformen  Abbil- 
dung. §.  107  erörtert  die  Behandlung  solcher 
Funktionen  einer  complexen  Veränderlichen, 
welche  durch  eine  der  vier  Spezies  mit  einander 
verknüpft  sind,  §.  109  lehrt  die  Differentiirung 
von  Funktionen,  deren  Argument  selbst  wieder 
eine  Funktion  der  complexen  Variablen  ist.  Das 
zweite  Kapitel  behandelt  die  Umkehrung  einer 
Funktion  unter  den  jetzigen,  allgemeineren 
Voraussetzungen;  §.  111  erledigt  die  einfache- 
ren Fälle  dieses  Problemes,  wogegen  im  näch- 
sten Paragraphen  die  bei  der  Aufgabe,  mittelst 
der  Gleichung 

t  -{-  iu  =  (x  +  iy)n 

(x  +  iy)  a's  Funktion  von  (t-\-iu)  darzustellen, 
hervortretende  Vieldeutigkeit  die  Uebertragung 
der  Funktionswerthe  auf  eine  Riemann'sche 
Fläche  fordert.  Der  Fundamentalsatz  der  alge- 
braischen Gleichungen  tritt  nunmehr  ebenfalls 
in  einer  ganz  neuen  Gestalt  wieder  hervor.  Ka- 
pitel III  integriert  die  Funktionen  complexer 
Variablen,  und  zwar  giebt  die  Durchführung 
dieser  Forderung  für  eine  Potenz  Gelegenheit, 
die  bereits  geläufigen  Begriffe  der  logarithmiscben- 
und  Arcusfunktionen  von  einer  ganz  anderen 
Seite  kennen  zu  lernen.  Hiemit  in  engster  Ver- 
bindung steht  §.  119,  worin  gezeigt  wird,  daft 
die  elementare  Wahrheit  log  (ab)  =  log  a  -\-  log 6 


Lipschitz,  Lehrbach  der  Analysis.     1573 

auch  im  Gebiete  des  Complexen  noch  zu  Recht 
besteht.    Der  Beweis  wird  dadurch  geführt,  daß 
eine    algebraische    Relation    zwischen  gewissen 
bestimmten  Integralen   angeschrieben    und   von 
dieser  aus  auf  eine  ebenfalls  algebraische  Glei- 
chung zwischen  den  oberen  Grenzen  jener  Inte- 
grale geschlossen  ward.   Man  weiß,  daß  bei  dem 
Versuche,  einen  ähnlichen,  bei  den  elliptischen 
Integralen   obwaltenden,  Umkehrungsproceß  zu 
generalisieren,   Abel   auf  die  Conception  seines 
berühmten  Universalgesetzes   der  höheren  Ana- 
lysis geführt  ward.    So  kann  es  uns  denn  nicht 
wundern,  daß  der  Verf.,  den  erwähnten  Spezial- 
fall  zur   Grundlage   nehmend,    in   §.    120    den 
A  beliehen  Satz   selbst  in  seiner  ganzen  Allge- 
meinheit   in  Angriff  nimmt    und   auf  S.  706  zu 
einer  neuen  Fassung  desselben  durchdringt,   de- 
ren Wortlaut  sehr  zur  Aufhellung  und  Verbrei- 
tung dieses  berühmten  Theoremes  beitragen  wird. 
Abstrakt  ist  das  Raisonnement  selbstverständlich 
und  muß  es  auch,   der  Natur   der  Sache   nach, 
sein,   allein   auf  der  anderen  Seite  ist   es  doch 
auch   von  hohem  Interesse,   durch  rein  analyti- 
sche und   mit   relativ  einfachen  Mitteln   operie- 
rende Betrachtung   eine   Theorie   dargestellt  zu 
sehen,    deren  Inhalt   dem  Verständniß   nur   mit 
Hinzuziehung  geometrischer  Interpretation  bisher 
zugänglich   gemacht  werden  zu  können  schien. 
—  Kapitel  IV  nimmt  das  für  reelle  Funktionen 
schon   früher    erschöpfend    behandelte   Problem 
der  Entwickelung   in  Potenzreihen   von  Neuem 
unter  Zugrundelegung  complexer  Veränderlichen 
auf,  und   stützt   sich    dabei   auf  das   bekannte 
Theorem 


«o  -  SÄ*> 


1574    Gott   gel.  Anz.  1880.  Stück  49.50. 

durch  dessen  Aufstellung  Cauchy  dem  grölen 
durch  Riemann  vollzogenen  Fortschritt  in  seiner 
Weise  bereits  vorgearbeitet  hatte.  — 

Wir  hoffen,  daß  unsere  Analyse  des  Lip- 
schitz'schen  Werkes  den  Leser  über  dessen  rei- 
chen Inhalt,  dessen  strenge  Methode  sowie  auch 
über  einzelne  hervorstechende  Vorzüge  in's  Klare 
gesetzt  hat.  Auch  dem  Anfanger  keineswegs 
unzugänglich,  wird  es  doch  seine  volle  Kraft 
erst  in  den  Händen  jenes  Studierenden  entfal- 
ten, der,  mit  dem  —  sit  venia  yerbo  —  hand- 
werksmäßigen Theile  des  höheren  Calcnls  schon 
hinlänglich  vertraut,  die  Principien  nnd  den  in- 
neren Zusammenhang  dieser  Wissenschaft  ken- 
nen lernen  will.  Für  solche  Leser,  denen  wohl 
auch  ein  sehr  großer  Theil  der  bereits  in  die 
Lehrpraxis  übergetretenen  jüngeren  Mathematiker 
beizuzählen  sein  wird,  dürfte  kein  zweites  Hand- 
buch so  gute  Dienste  leisten,  wie  dieses,  das 
sich  auch  durch  seine  vornehme  änßere  Aus- 
stattung vortheilhaft  beim  Publikum  einge- 
führt hat. 

Ansbach.  S.  Günther. 


Synthetische  Studien  zur  Experi- 
mental-Geologie.  Von  A.  Daubräe,  Mit- 
glied des  Instituts,  General-Bergwerks-Inspector, 
Director  der  National- Bergwerksschule,  Professor 
der  Geologie  an  dem  Museum  für  Naturwissen- 
schaften zu  Paris.  Autorisirte  deutsche  Aug- 
gabe. Von  Dr.  Adolf  Gurlt.  Mit  260  in 
den  Text  eingedruckten  Holzstichen  und  8  Ta- 
feln. Braunschweig,  Druck  nnd  Verlag  von  Frie- 
drich Vieweg  u.  Sohn.    1880.    XXIII  u.  596  S.  8°. 

Daubrte    ist   als   der   erste  zu  nennen,   der 


Daubree,  Synth.  Stud.  z.  Experimental-Geol.    1575 

< 

seine  Arbeitskraft  vorzugsweise  dem  „geologi- 
schen Experimente tf  gewidmet  hat.  Vor  ihm 
ivar  der  experimentelle  Weg  nur  selten  be- 
schritten worden,  während  Daubrße's  Vorgehen 
schon  viele  Forscher,  zumal  unter  seinen  Lands- 
leuten, zur  Nachfolge  und  zur  speciellen  Culti- 
vierung  der  synthetischen  Methode  veranlaßt  hat. 
Gleich  seine  erste  Arbeit:  Memoire  sur  le  gise- 
ment,  la  constitution  et  Vorigine  des  amas  de 
minerai  d'etain,  annales  des  'mines,  3.  eerie,  t. 
XX.  1841  fand  solche  Anerkennung,  daß  der 
Verfasser  sich  ermuthigt  sah,  den  eingeschlage- 
nen Weg  der  experimentalen  Versuche  weiter  zu 
verfolgen,  um  der  Lösung  geologischer  Probleme 
nahezukommen  und  um  die  Stichhaltigkeit  vor- 
handener  Hypothesen  zu  prüfen.  Von  den  Früch- 
ten seines  ausdauernden  Fleißes  konnte  er  in 
ungefähr  130  größeren  und  kleineren  Arbeiten 
berichten,  die  in  verschiedene  Zeitschriften  zer- 
streut sind ;  zusammengefaßt  und  z.  Th.  ergänzt, 
dabei  zugleich  stofflich  geordnet  bietet  sie 
Daubräe  nun  in  seinen  „Etudes  synthetiques 
de  Geologie  Expörimentale",  Paris,  1879—1880, 
deren  autorisierte  deutsche  Ausgabe  dem  Refe- 
rate zu  Grunde  liegt.  Diese  deutsche  Ausgabe, 
um  das  gleich  vorauszuschicken,  ist  von  einem 
als  gewandter  Uebersetzer  anerkannten,  sachlich 
selbst  interessierten  Forscher  besorgt  und,  trotz- 
dem sie  um  die  Hälfte  billiger  ist  als  die  fran- 
zösische, von  der  Verlagshandlung  doch  sehr 
vorteilhaft  ausgestattet  und  mit  „genau  den- 
selben" zahlreichen  Abbildungen  geschmückt  wie 
das  Original. 

Nach  dem  Materiale  zerfällt  das  Werk  in 
zwei  Haupttheile,  welche  im  Original  auch  zeit- 
lich getrennt  erschienen  sind;  der  erste  behan- 
delt rein  geologische  Phänomene   theils   cherai- 


1576     Gott  gel.  Anz.  1880.  Stüek  49. 50. 

scher  and  physikalischer,  theils  mechanischer 
Natur,  während  der  andere  die  „Anwendung 
der  experimentalen  Methode  auf  verschiedene 
ko8mologi8che  Erscheinungen a  zeigt  und  der  Un- 
tersuchung der  Meteorite  gewidmet  ist.  Theore- 
tische Betrachtungen  und  Schlußfolgerungen  feh- 
len in  dem  Werke  begreiflicher  Weise  auch 
nicht  und  finden  sich  immer  an  die  Referate 
Über  die  Experimente  geknüpft. 

Lassen    wir  vor   der  Hand   den  Inhalt   der 
Einleitung  außer  Betracht  und  gehen  wir  sofort 
auf  den  behandelten  Stoff  näher  ein,    über  des- 
sen Umfang  man  nicht  nur  durch  das  sehr  aus- 
führliche  Inhaltsverzeichnis   des   Werkes,    son- 
dern auch  durch  ein  Vorwort  einen  Ueberblick 
erhält,   so   finden   wir   zunächst  Erzlagerstätten 
in    Betracht   gezogen.     Nach   einer   Uebersicht 
und  Eintheilung  der  Erzlagerstätten  nach  ihrem 
Bestände    folgt  die  durch  spätere  Untersuchun- 
gen ergänzte,   schon   angeführte  Erstlingsarbeit 
des  Verfassers  über  Zinnlagerstätten,  deren  Bil- 
dung der  Verfasser,   gestützt  auf  die  Vergesell- 
schaftung der  Gang-Mineralien  und  auf  die  Re- 
sultate synthetischer  Versuche,    der  Einwirkung 
von  Fluor  haltigen  Dämpfen   zuschreibt.     Aehn- 
liche  Verhältnisse  wie   für  Zinnstein   gelten  für 
Titan-  und  Eisenoxyde  (Rutil   und  Eisenglanz; 
wohl   einem  Schreibfehler  zu  Folge   wird,    bei- 
läufig   bemerkt,   auf  S.  47   Kieselsäure  als  in 
Wasser   nach   gewöhnlichem   Begriffe    .lösliche 
Substanz"    angegeben),    ganz   anders  aber  lie- 
gen nach  D.  die  Verhältnisse  für  Schwefelmetall- 
und    Bleilagerstätten;   in   meisterhafter  Darstel- 
lung berichtet  er  von  dem  Vorkommen  (24  ver- 
schiedener)   neugebildeter    Mineralien     in    den 
Becken   der   Thermalquellen   zu   Bourbonne-les- 
Bams   und  an  anderen  Orten  und  demonstriert 


Daubree,  Synth.  Stud.  z.  Experimental-Geol.    1577 

an  ihnen  in  exacter  Weise  die  Bedingungen  ih- 
ter  Bildung.  Zum  Schluß  dieses  ersten  Capi- 
tis berichtet  der  Verf.  ttber  Versuche  zur  Dar- 
stellung von  polarisch-magnetischem  Platin  und 
von  Chromeisen  in  Vergesellschaftung  mit  ge- 
diegenem Platin. 

In  dem  2.  Capitel  wendet  Daubree  seine  Me- 
thode auf  ein  Thema  an,  betreffs  dessen  Miß- 
verständnisse nur  zu  leicht  von  Anfang  an  vor- 
liegen und  eine  Verständigung  deshalb  oft  und 
so  auch  in  diesem  Falle  schwierig  erscheint  : 
nämlich  auf  die  metamorphi sehen  Ge- 
steine. Man  muß  sich  da  zunächst  klar  wer- 
den darüber:  was  begreift  der  Verfasser  unter 
Metamorphismus?  Daubree  dehnt  diesen  Begriff 
weiter  aus,  als  dies  von  der  Mehrzahl  der  Geo- 
logen geschieht  und  als  wie  gerechtfertigt  er- 
scheint. Beim  Gontactmetamorphismus  oder 
Metam.  durch  Juxtaposition  sind  nach  Meinung 
des  Referenten  diejenigen  Producte  nothwendig 
von  einander  getrennt  zu  halten,  welche  dem 
Acte  des  Gontactes  und  diejenigen,  welche  nur 
der  eingetretenen  Nachbarschaft  zweier  Gesteine 
zuzuschreiben  «sind ;  als  letztere  müssen  wohl  in 
der  Mehrzahl  der  Fälle  dieZeolithe,  ferner  Ghlo- 
rit,  Epidot  u.  a.  m.  gelten,  welche  durch  gegen- 
seitige Ueactionen  der  mit  Mineralstoffen  bela- 
denen  Gebirgswasser  (Verwitterungslösungen) 
entstehen,  die  im  Gestein  circulieren  oder  auch 
von  einem  Gestein  zum  anderen  ziehen,  und  er- 
scheint es  deshalb  nicht  gerechtfertigt,  dieselben 
in  eine  Kategorie  mit  den  eigentlichen  Contact- 
mineralien  wie  Andalusit,  Granat,  Vesuvian 
u.  a.  m.  zu  stellen;  daß  Daubree  dies  thut,  ver- 
wirrt die  zu  lösenden  Fragen.  Dieser  schon 
bei  den  viel  einfacheren  Verhältnissen  des  Con- 
tact-Metamorphismus  empfundene  Uebelstand  ist 


~4_ 


1578    Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  49.  50. 

noch  fühlbarer  in  der  Darstellung   des   regiona- 
len  Metamorphismus :    Prodncte    der    einfachen 
und  der  complicierten  Verwitterung  wie  der  Ztx* 
Setzung  (nach  Roth's  Terminologie)   gelten  dem 
Verfasser   als   durch    einen   einzigen  oder  dock 
im  Wesentlichen  identischen  Prozeß   entstanden, 
durch    einen    „hydrothermalen".     Gestützt    auf 
Beobachtungen  in  der  Natur  sowie  auf  Versuche 
über   die  Wirkung  überhitzten  Wassers   bei-  der 
Bildung  von  Silikaten    schreibt  Daubröe  bezüg- 
lich des  Contactmetamorphismus  dem  Wasser  in 
den   Eruptivgesteinen   folgende   Rolle   vor:   „1. 
Sobald  es  in  Verbindung  mit   diesen   Gesteinen 
auftritt,  verursacht  es  zusammen  mit  der  Wärme 
ihre  Erweichung"  (soll  wohl  nicht  bedeuten,  daB 
die  eruptiven  Gesteinsmassen   vor    der  Eruption 
starr  und  fest  gewesen  seien,   sondern   daß  da« 
beigemengte  Wasser   die  Magmen    vor  schneller 
Erstarrung  sichere  und  ihre  „Erweichung"  oder 
ihren  flüssigen  Zustand   länger  andauern  lasse; 
der  Ref.);    „2.  sobald  es  in  dem  Grade,  wie  sie 
fest  werden,    aus   ihnen  entweicht,   durchströmt 
und  metamorphosiert   es   die   benachbarten  Ge- 
steine;   3.   „sobald  es  bis  an  die  Erdoberfläche 
gelangt,  entweicht  es  entweder  als  Dampf  oder 
in  Gestalt  von  Thermalquellen".  —  Für  die  Be- 
hauptung der  Silikat-Bildung  auf  hydrotherma- 
lem Wege  aber  führt  der  Verf.  vier  Punkte  an: 
„1)   Die  Bildung   auf  nassem  Wege  findet  bei 
Temperaturen  statt,  die  unvergleichlich  viel  nie- 
driger  liegen   als   die   Schmelzpunkte" ;    da  ist 
zu  bemerken,  daß  Schmelzpunkt  und  Erstarrungs- 
punkt überhaupt  einander  nicht  nothwendig  ent- 
sprechen müssen  und  daß  letzterer  nicht   allein 
durch  die  Gegenwart  von  Wasser,  sondern  aneb 
von    anderen    Stoffen   alteriert   wird.      „2)  Die 
wasserhaltigen  Silikate   zeigen  sich   in  der  N* 


Daubree,  Synth.  Stud.  z.  Experimental  Geol.    1579 

tar  oft  in  Begleitung  von  wasserfreien,  so  daß 
sich  beide  unter  analogen  Bedingungen  gebildet 
zu  haben  scheinen a  (doch  sollen  secundär  ge- 
bildete Gesteinsgemengtheile  von  primären  im- 
mer unterschieden  werden!).  w3)  Der  Quarz 
ist  außerordentlich  häufig  in  der  Natur.  Wir 
sehen  nun  aber,  sobald  das  überhitzte  Wasser 
mit  einer  großen  Zahl  von  löslichen  und  unlös- 
lichen Silikaten  in  Berührung  kommt,  sich  so- 
gleich einen  Theil  Kieselerde  ausscheiden  und 
zu  einem  echten  kristallinischen  Quarze  wer- 
den, der  in  nichts  der  glasigen  Substanz  gleicht, 
welche  durch  Schmelzung  des  Quarzes  erbalten 
wird".  Dem  ist  einerseits  entgegenzuhalten, 
daß  es  gelungen  ist,  auch  aus  Schmelzfluß  „ech- 
ten krystallinischen"  Quarz  zu  erhalten ,  andrer- 
seits daß  die  Quarze  der  Rhyolithe  und  Dacite 
nichts  davon  verrathen,  daß  Wasser  zu  ihrer 
Bildung  nöthig  gewesen  sei.  „4)  Endlich  sehen 
wir  statt  gleichförmiger  Massen,  wie  die  Schmel- 
zung sie  gewöhnlich  hervorbringt,  in  den  Pro- 
ducten  des  nassen  Weges  Gemenge  verschiede- 
ner krystallisierter  Substanzen,  deren  Art  der 
Verwachsung,  wie  auch  in  den  meisten  Gestei- 
nen, ganz  unabhängig  von  den  ihnen  eigenen 
Schmelzgraden  ist".  Ref.  muß  hier  beifügen, 
daß  durch  Schmelzung  bei  Weitem  nicht  immer 
„gleichförmige  Massen"  resultieren,  sondern  auch 
„Gemenge  verschiedener  krystallisierter  Substan- 
zen" ,  wie  dieses  schon  die  älteren  Versuche 
Bischofs  und  ganz  unumstößlich  die  neueren 
Experimente  von  Fouquä  und  Michel-Levy  er- 
kennen lassen;  für  die  Structur  ist  eben  die 
Zeitdauer  der  Erstarrung  und  wahrscheinlich 
auch  der  bei  derselben  herrschende  Druck  von 
größter  Wichtigkeit. 

Im  3.  Capitel  behandelt  Daubräe  die  vulca- 


1580    Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  49.50. 

irischen  Erscheinungen;   auf  den    hier  zunächst 
geschilderten  Versuch  über  die  Möglichkeit  einer 
capillaren  Infiltration  von  Wasser  in  poröse  Körper 
bei  starkem  Gegendrucke  von  Dampf,  behält  Be£ 
sich  vor  später  zurückzukommen.    Der  Verf.  siebt 
diese  Möglichkeit  (und  damit  stillschweigend  zu- 
gleich   die   Wahrscheinlichkeit    ihres    gewöhnli- 
chen Vorgangs)  für  erwiesen  an  und  construiert 
nun   folgende  Theorie   der   vulcanischen  Kraft: 
„Nehmen    wir    eine   unterirdische    Höhlung  an, 
die  durch  nicht  ganz  undurchdringliche  Gesteine 
von  den  marinen  oder  continentalen  Wassern  der 
Erdoberfläche    getrennt    ist;    ferner,    daß    diese 
Höhlung  so  tief  liegt,  um  eine  hinreichend  hohe 
Temperatur   zu    haben44.      Es    wird    dann   das 
Wasser  der  Erdoberfläche  in  diese  Höhlang  ein- 
dringen,  sich    hier  als  Dampf  ansammeln    „und 
seine  Spannung   könnte   viel    höher  werden  als 
der    hydrostatische    Druck    einer   Flüssigkeits- 
säule,   die   bis   zu   der   Oberfläehe    des   Meeres 
oder  der  Speisewasser  reicht".    Diese  Einsicke- 
rung des  Wassers  soll  aber  trotz  dieses  Druckes 
weiter  stattfinden  und  soll  auf  diese  Weise  „das 
niedersinkende  Wasser   für   den  Druck  auf  La- 
ven,  die   eine  drei  Mal  größere  Dichtigkeit  be- 
sitzen,  sowie   auch  für  ihr  Aufsteigen    bis  weit 
über  sein  eigenes  Niveau,  die  Ursache  werden  (!!). 
Im   zweiten   Abschnitte   des    1.  Theiles   be- 
trachtet der  Verf.  „mechanische  Erscheinungen" 
und   zwar    im   ersten  Capitel  Zerrei  bungs-    und 
Transporterscheinungen ;    Daubree    bietet    hier 
zweifellos  sehr  werthvolle  Resultate  von  Versu- 
chen über  die  Bildung  der  Geschiebe,   des  San- 
des  und   Schlammes;    obgleich    dieselben  nicht 
mehr  als  neu  zu  bezeichnen  sind  (sie  sind  schon 
im  Jahre  1857  veröffentlicht  worden),   so  schei- 
nen sie  doch  wenig  beachtet  zu  werden  and  sei 


Danbree,  Synth.  Stud.  z.  Experimental-Geol.    1581 

es  deshalb  gestattet,  einige  der  wichtigsten  hier 
anzuführen:  „Das  Hauptproduct  der  gegenseiti- 
gen Abreibung  von  festen  Gesteinen  im  Wasser 
ist  nicht,  wie  man  oft  angenommen  hat,  Sand, 
Bondern  Schlamm".  —  Die  Erscheinung,  daß  in 
Flußbetten  die  Geschiebe  von  den  Quellen  nach 
der  Mündung  zu  in  der  Mehrzahl  kleiner  wer- 
den, ist  nicht  allein  der  Abreibung  zuzuschrei- 
ben, sondern  auch  dem  schwierigeren  Trans- 
porte der  größeren  Geschiebe  gegenüber  dem 
der  kleineren.  —  Die  Körner  des  künstlichen 
Sandes  sind  nur  gelegentlich  abgerundet;  der 
durch  Zerreibung  von  Granit  entstandene  Sand 
ist  eckig  und  bleibt  eckig.  Durch  Druck  und 
Reibung,  wie  unter  der  Last  von  Gletschern, 
entstehen  Sande  von  ungleich  großem  (anisome- 
rem) und  unregelmäßig  geformtem  Korne.  Kalk- 
stein liefert  nur  beim  Zerfallen  in  situ  Sand, 
sonst  nur  Schlamm.  Eine  Abrundung  von  Ge- 
schieben und  isomeren  Sandkörnern  findet  nur 
dann  statt,  wenn  sie  hinreichend  groß  sind,  um 
nicht  im  Wasser  suspendiert  zu  werden  und* 
auch  wieder  klein  genug,  um  der  Strömung  zu 
folgen.  Die  Größe  von  Körnern,  welche  in 
sehr  schwach  bewegtem  Wasser  schwimmen 
können,  scheint  etwa  0,1  mm  mittlerer  Durch- 
messer zu  sein;  aller  Saud,  der  feiner  ist,  wird 
ohne  Zweifel  eckig  bleiben.  Demnach  „haben 
die  von  Wellen  getragenen  Sandkörner  die  Ten- 
denz zu  einer  begrenzten  Größe  und  diese  Mi- 
nimalgröße hängt  bei  Materialien  von  gleicher 
Dichtigkeit  von  der  Geschwindigkeit  des  Was- 
sers ab,  in  dem  sie  abgerieben  wurden.  Daher 
kommen  die  Sandsteine  mit  abgerundeten  Kör- 
nern, deren  gleichmäßige  Größe  so  auffallend  ist". 
Im  nächsten  §.  dieses  Gapitels  finden  wir 
die   durch  fließendes  Wasser   bewirkten   Aufbe- 


1582    Gott  gel.  Adz.  1880.  Stück  49.50. 

reitungserscbeinungen  an  der  Vertbeilang  des 
Goldes  im  Bette  des  Rheins  demonstriert;  be- 
kanntlich schätzte  Daubree  1846  den  Gesammt- 
werth  des  Goldes  in  dem  Rheinbette  zwischen 
Rheinan  und  Philippsburg  zn  mindestens  115, 
in  der  ganzen  Oberrheinebene  aber  za  166  Mil- 
lionen Francs.  —  Sehr  wichtig  für  die  chemi- 
sche Geologie  and  mittelbar  auch  für  die  Boden- 
Wirtbschaft  sind  die  Resultate  der  im  folgenden 
§.  geschilderten  Versuche  über  die  chemische 
Zersetzung  von  Silikaten,  wie  des  Feldspaths, 
bei  ihrer  mechanischen  Zerstörung:  Feldspath- 
bruchstücke  mit  destilliertem  Wasser  lange  Zeit 
in  einer  rotierenden  Sandsteintrommel  behan- 
delt, erleiden  eine  merkliche  Zersetzung,  welche 
sich  in  der  Anwesenheit  von  Kalisilikat  bemerk- 
lich und  das  Wasser  alkalisch  macht;  wie  der 
Verf.  aber  betont,  müssen  die  mechanische  Zer- 
theilung  und  die  Auflösung  durch  Wasser  gleich- 
zeitig erfolgen,  um  eine  solche  Zersetzung  her- 
vorzubringen. —  Der  letzte  §.  dieses  Capitels 
endlich  betrifft  einen  Gegenstand,  welcher  in 
neuerer  Zeit  wieder  erhöhtes  Interesse  gewon- 
nen hat,  nämlich  die  Streif ung  der  Gesteine  und 
ihre  Anwendung  auf  das  erratische  Phänomen. 
Der  Verf.  hat  „Scheuersteine"  in  Maschinen  ge- 
faßt und  ihre  Einwirkung  sowie  ihre  eigenen 
Formveränderungen  während  des  Vorganges 
selbst  beobachtet;  er  kommt  zu  dem  Resultate, 
daß  die  Einwirkung  der  Gesteine  auf  einander 
nicht  allein  von  ihrer  Härte,  sondern  auch  von 
ihrer  Geschwindigkeit  abhängig  ist;  diejenigen 
Glacialisten,  welche  dem  Eise  und  speciell  der 
Grundmoräne  der  Gletscher  eine  (respective 
schlammige)  Plasticität  zuschreiben  wollen,  mö- 
gen übrigens  in  Obacht  behalten ,  daß  nach 
Daubree's  Angabe   nur  in  starrer  Substanz  ge- 


Daubree,  Synth.  Stud,  z,  Experimental-Geol.    1583 

faßte  Scheuersteine  mechanisch  wirken  können, 
indem  letztere  sich  in  plastische  Massen  ein- 
drücken und  wirkungslos  bleiben. 

Das  2.  Capitel  handelt  von  Gebirgsstörungen 
und  Gesteinsspalten  und  berichtet  von  zahlrei- 
chen Experimenten,  deren  Combination  in  den 
wichtigsten  Fällen  nicht  als  glücklich  bezeich- 
net werden  kann  (s.  u.).  Innerhalb  dieses  Ca- 
pitels  ist  auch  von  einem  Versuche  berichtet, 
eine  Spiegelglasplatte  durch  Torsion  zu  zer- 
reißen und  ist  die  dabei  entstandene  Ordnung 
von  Sprüngen  in  der  Glasplatte  mit  derjenigen 
von  Spalten  in  manchen  Schichtgesteinen  ver- 
glichen; ein  solcher  Vergleich  erscheint  auf  den 
ersten  Blick  ungeheuerlich  in  Anbetracht  des 
verschiedenen  Materials  nicht  sowohl  als  viel- 
mehr des  mechanischen  Prozesses,  der  Torsion; 
die  Ungeheuerlichkeit  verschwindet  aber  bei 
Erwägung  des  local  ungleich  vertheilten  Druckes 
(etwa  durch  Belastung)  von  vielen  Schichtkör- 
pern. Als  ein  gewiß  werthvolles  Resultat  von 
Daubree'8  Versuchen  sei  aus  dem  Inhalte  dieses 
Capitels  noch  das  hervorgehoben,  daß  Klüfte 
und  Verwerfungen  von  sehr  verschiedenen  Rich- 
tungen, und  selbst  senkrecht  zu  einander  ver- 
laufende, gleichzeitig  durch  eine  und  dieselbe 
Kraft  bewirkt  werden  konnten.  Ferner  ist  die 
Nomenklatur  zu  erwähnen,  welche  der  Verf. 
einzuführen  versucht:  nämlich:  „Lithoklase"  für 
eine  Gesteinsspalte  im  Allgemeinen,  „Paraklase" 
für  eine  von  einer  Verschiebung  begleitete  Zer- 
reißung und  „Diaklase"  für  eine  Kluft  ohne 
Verwerfung.  Die  Abhängigkeit  des  Bodenreliefs 
von  der  Gegenwart  und  Anordnung  der  Litho- 
klasen  wird  durch  einige  beigegebene  Detail- 
karten illustriert. 

In    dem   folgenden    Capitel    beschäftigt  sich 


1584    Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stock  49.50. 

Daubräe  mit  der  Schieferung  der  Gesteine,  der 
Verzerrung  von  Versteinerungen  and  gewissen 
Stracturerscheinangen  bei  Gebirgsketten.  Es  ist 
hier  nöthig  zu  betonen,  daß  das,  was  der  Verf. 
von  der  Schieferung  berichtet,  sich  wesentlich 
nur  auf  die  discordante  Schieferung  bezieht 
Die  Darstellung  Daubree's  ist  dabei  allerdings 
derart,  als  ob  Schieferung  immer  nur  secandär 
sei,  d.  h.  in  bereits  festen  Massen  entstehe, 
während  doch  für  die  Mehrzahl  der  geschiefer- 
ten Gesteine  die  Annahme  zunächst  liegt  und 
nicht  selten  auch  durch  eingehende  Forschung 
gefestigt  wird,  daß  der  Druck ,  welcher  die 
Schieferung  bewirkt,  schon  bei  der  Bildung  des 
Gesteins  seinen  Einfluß  geübt  und  die  lamella- 
ren  Gemengtheile  planparallel  geordnet  hat,  so- 
wie daß  die  Gentripetalkraft  diesen  Druck  ge- 
liefert hat.  —  Der  Verf.  sucht  nun  die  betreffs 
der  discordanten  Schieferung  maßgebenden, 
schon  von  Sorby  experimentell  festgestellten, 
allbekannten  Thatsachen  zu  ergänzen.  Nach 
Daubree  ist  die  Schieferung  gewissermaßen  und 
einzig  eine  Fluidalstructur;  die  Bedingungen 
ihrer  Bildung  sind:  „1.  daß  die  Substanz  glei- 
ten und  durch  ein  beginnendes  Plätten  sich 
verlängern  kann ;  2.  daß  die  comprimierte  Masse 
einen  eigenthümlichen  Grad  von  Plasticität  be- 
sitzen müsse;  denn  zu  trocken  zerreißt  sie;  zn 
weich  verlängert  sie  sich  ohne  Schieferblätter 
zu  bilden". 

Das  letzte  Capitel  dieses  Theiles  handelt  von 
der  Beibungswärme  in  Gesteinen  und  kommt 
der  Verf.  damit  auf  den  Metamorphismns 
zurück. 

Der  zweite  Theil  des  Werkes  zeigt,  wie 
schon  angegeben,  die  Anwendung  der  experi- 
mentalen  Methode   auf  das  Studium  kosmologi- 


Daubrfe,  Synth.  Stud.  z.  Experimental  Geol.    1 585 

scher,  Erscheinungen,  nämlich  der  Meteorite. 
In  der  Einleitung  dazu  werden  die  Erscheinun- 
gen beim  Niederfall  der  Meteorite  geschildert 
und  die  Classification  der  letzteren  nach  ihrem 
Bestände  mitgetheilt,  welche  Classification  von 
der  in  Deutschland  ziemlich  allgemein  angenom- 
menen Rose'schen  in  verschiedenen  Punkten  ab- 
weicht. Dieser  Theil  des  Buches  zerfällt  in 
zwei  große  Abschnitte:  in  dem  ersten  werden 
die  chemischen,  im  andern  die  mechanischen  Er- 
scheinungen behandelt. 

Der  Verf.  versuchte  mit  Glück  eine  Synthese 
der  Meteorite  und  gelang  ihm  zunächst,  durch 
Schmelzung  von  den  Eisenmeteoriten  im  Be- 
stände entsprechenden  Massen,  die  Widman- 
8tätten'schen  Figuren  darzustellen.  Nach  Schmelz- 
versuchen mit  echten  Steinmeteoriten  ahmte  er 
solche  auch  durch  Reduction  irdischer  Silikat- 
gesteine, sowie  durch  theilweise  Oxydation  von 
Siliciumverbindungen  nach;  betreffs  der  ge- 
wöhnlichen Vergesellschaftung  des  Kohlenstoffs 
und  Schwefeleisens  in  Eisenmeteoriten  aber  ga- 
ben seine  Versuche  wenigstens  wichtige  Finger- 
zeige. —  Das  zweite  Capitel  dieses  Theiles  ent- 
hält weniger  Referate  über  Experimente,  als 
vielmehr  theoretische  Betrachtungen  über  die 
Bildung  der  Erde  und  der  Meteorite,  sowie  Ver- 
gleiche irdischer  Substanzen,  resp.  Mineral-Com- 
binationen,  mit  denen  der  Meteorite.  Auf  alle 
Einzelheiten  dieses  Gapitels  einzugehen,  gestat- 
tet der  Raum  nicht;  nur  auf  einen  Punkt  sei 
fragend  hingewiesen:  nach  Daubräe  bilden  Oli- 
vin-Massen eine  Kugelschale  der  Erdtiefe  und 
sind  die  Olivin-Individuen  und  -Knollen  z.  B. 
der  Basaltgesteine  nur  losgerissene  und  vom 
eruptiven  Magma  mit  in  die  Höhe  genommene 
Theile    dieser  Schicht   oder  Kugelschale;  wenn 

100 


1586    Gott.  gel.  Adz.  1880.  Stück  4&  5a 

nicht  Olivin  als  solcher  zu  Tage  trete,  dans 
erscheine  wenigstens  ein  Qxydationsproduct  da- 
selben,  etwa  ein  Bisilikat  (Enstatit);  wie  er- 
klärt es  sieh  nun,  daß  manche  jüngere  Eruptiv- 
gesteine äußerst  arm  an  Bisilikaten  und  über- 
haupt Magnesium-,  resp.  Eisenverbindu»gen  sind? 

Im  zweite»  Abschnitte  finden  wir  Studien 
über  die  kugelige  oder  chondritische  Stroctnr 
yon  Meteoriten,  über  polyedrische  für  dieselben 
charakteristische  Formen  (and  ihre  experimen- 
telle Nachahmung  mit  comprumerteri  Gasen), 
sowie  über  die  charakteristischen  Näpfchen 
(Daubree's  „Piezoglypte",  welche  auch  durch 
Anwendung  plötzlicher  Hitze  nachzuahmen  sind), 
endlich  über  polierte  und  gestreifte  Rutsch- 
flächen  innerhalb  der  Meteorite  seihet.  Im 
Schlußcapitel  auch  dieses  Theils  sind  dann  die 
theoretischen  Schlußfolgerungen  aus  den  vorher 
beschriebenen  Experimenten«  auf  die  Verhältnisse 
der  Meteorite  zusammengestellt. 

Werfen  wir  nun  einen  Blick  zurück  «nid  be- 
trachten das  Werk  als  Ganzes,  so  wird  vor 
stehende,  nur  das  Wichtigste  hervorhebende  In- 
haltsangabe wohl  schon  genügend  die  unge- 
meine Reichhaltigkeit  desselben  erwiesen  haben; 
aber  das,  Werk  will  nicht  bloß  als  eine  Znsani* 
menstellung  vieler  werthvoller  wissenschaftlicher 
Daten  gelten,  sondern  als  ein  organisches 
Ganze  den  Werth  der  in  ihm  angewandten!  ex- 
perimentalen  Methode  erweisen*  Wir  kommen 
damit  auf  das  Thema  der  Einleitung  des  Ba- 
ches zurück,  in  welcher  der  Verfasser  die  Ten- 
deBz  des  Werkes  darlegt  und  für  die  veo  ihm 
cültivierte  Methode  zu  gewinnen  sucht.  Seinen 
Worten  kann  man  nur  zustimmen,  wenn  er 
da  sagt:  „Es  ißt  schließlich  die  Beobachtung 
der  Thatsachen  in  der  Natur,  die  verbündet 
mit  Urtheilskraft  und  logischer  Schlußfolgerung, 


Daubrfo,  Synth.  Stud.  z.  Experimental  Geol.    1587 

uns  diejenigen  Kenntnisse  verschafft,  welche 
wir  beute  nicht  allein  von  der  Zusammensetzung 
der  Erdrinde,  sondern  auch  von  vielen  Abschnit- 
ten ihrer  Geschichte  besitzen;  ihre  Bolle  ist 
unstreitig  die  wesentlichste  in  der  Geologie. 
So  ausreichend  die  Methode  der  Beobachtung 
ist,  um  zu  aligemeinen  Schlüssen  zu  führen,  so 
kann  sie  doch  oft  nicht  gewisse  Vorstellungen 
oder  eine  wirkliehe  Beweisführung  ersetzen"  ; 
al»  Bundesgenosse  biete  sich  ihr  alsdann  das 
Experiment.  Mit  dem  letzteren  kann  man  sich 
„an  viele  Fragen  wagen,  wenn  auch  nieht  um 
sie  vollständig  zu  lösen,  so  doch  um  sie  wenig- 
stens aufzuklären  und  ihre  Lösung  vorzube- 
reiten". Also  soll  das  Experiment  nicht  die 
Beobachtung  ersetzen,  sondern  nur  stärken  oder, 
wie  Chevreul  gesagt  hat:  „der  Versuch  kommt 
erst  nach  der  directen  Beobachtung,  a  posteriori, 
um  der  Schlußfolgerung  alsGontrole  zu  dienen". 
Daubr6e  will  nun  mit  seinem  Werke  dem  syn- 
thetischen Experimente  einen  gesicherten  Platz 
unter  den  Methoden  geologischer  Forschung 
eingeräumt  wissen  und  hofft,  daß  die  allgemeine 
Pflege  des  Experimentes  für  die  Wissenschaft 
eine  neue  Epoche  des  Aufschwungs  herbeifüh- 
ren werde :  „indem  die  Geologie  sieh  als  Grund- 
lage die  Beobachtung  und  das  logische  Urtheil 
bewahrt,  muß  sie  auch  noch  experimental  wer- 
den; sie  wird  sieh  dann,  nach  dem  Worte  von 
Baco,  aufklären  „durch  das  Eisen  und  das  Feuer 
der  Erfahrung". 

Dieser  von  dem  Verf.  erklärte  Zweck  ist 
nun  eigentlich  sehen  und  besonders  in  Folge 
seines  Vorganges  erreicht,  indem,  wie  bereits 
angegeben,  das  synthetische  Experiment  in 
neuerer  Zeit  allgemeinere  Anwendung  gefunden 
bat   als  früher.    Doch  kann  Referent   der  opti- 

100* 


1 


1588    Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  49.-50. 

mistischen  Verheißung  Daubr&'s  gegenüber 
nicht  unterlassen,  bei  der  Pflege  der  experimen- 
talen  Methode  auch  eine  strenge  Kritik  anzu- 
empfehlen, sowie  noch  besonders  auf  ihre 
Schwächen  und  Gefahren  hinzuweisen. 

Behält  man  nämlich  immer  im  Auge,  daß 
das  Experiment  für  die  Geologie  nur  dann 
Werth  hat,  wenn  es  die  in  der  Natur  direct 
beobachtete,  resp.  aus  den  Beobachtungen  durch 
Schlußfolgerungen  ermittelte  Combination  von 
Verhältnissen  wiederholt,  so  drängt  sich  dem 
Forscher  nur  zu  oft  die  Gewißheit  auf,  daß  wir 
in  betreffenden  Fällen  und  zwar  zumal  bezüg- 
lich der  wichtigsten  Fragen  experimentell 
nichts  ermitteln  können,  indem  wir  die 
in  Betracht  kommenden  Verhältnisse  nicht  nach- 
zuahmen vermögen.  Auch  der  erfinderischste 
Experimentator,  dem  das  Glück  die  Verfügung 
über  unbeschränkte  Mittel,  Maschinen  wie  Ma- 
terial, gewährt,  kann  z.  B.  doch  nur  in  ver- 
schwindend spärlicher  Menge  einen  Factor  ein- 
führen, der  bei  vielen  geologischen  Prozessen, 
z.  B.  bei  Schichtenfaltungen,  in  ungeheuren 
Massen  thätig  und  sicher  von  der  größten  Wich- 
tigkeit ist:  das  ist  die  Zeitdauer. 

Dann  aber  beut  die  Gultur  des  Experimentes 
auch  manche  Gefahren,  welche  ein  Mißtrauen 
gegen  dieselbe  immer  rechtfertigen  werden. 
Ganz  abgesehen  von  der  Exclusivität,  mit  wel- 
cher manche  Experimentatoren  bei  einem  ge- 
lungenen Versuche  den  von  ihnen  eingeschlage- 
nen Weg  (die  von  ihnen  eingeführte  Combina- 
tion von  Verhältnissen)  als  den  von  der  Natur 
nothwendiger  oder  einziger  Weise  befolgten 
ausgeben,  wird  die  wissenschaftliche  Erkenn t- 
niß  von  Seiten  des  Versuches  oft  dadurch  be- 
einträchtigt, daß  stillschweigend  im  Experimente 


Daubree,  Synth.  Stud.  z.  Experimental-Geol.    lf>8!> 

Verhältnisse  statuiert  werden,  deren  thatsäch- 
liche  Existenz  beim  natürlichen  Vorgange  durch 
Beobachtungen  keineswegs  erwiesen  oder  nur 
wahrscheinlich  gemacht  ist;  in  nicht  seltenen 
Fällen  werden  sogar  beim  Versuche  Verhältnisse 
combiniert,  welche  beim  natürlichen  Prozesse 
sicher  nicht  vorliegen;  endlich  gehört  es  nicht 
in  den  Bereich  der  Unmöglichkeiten,  daß  die 
experimentell  gemachten  Beobachtungen  und  er- 
haltenen Resultate  ganz  irrig  und  unrichtig  ge- 
deutet werden.  Die  in  solcher  Weise  angeb- 
lich experimentell  bewiesenen  Vorgänge  sind 
ein  für  das  Gedeihen  wissenschaftlicher  Er- 
kenntniß  um  so  schlimmeres  Gift,  je  größer  die 
Autorität  des  Experimentators  ist,  indem  letztere 
nur  zu  leicht  eine  ernste,  eingehende  Kritik 
fernhält.  Aber  solche  Kritik  ist  bei  der  Trag- 
weite des  experimentellen  Beweises  nirgends 
nothwendiger  als  hier.  Daß  diese  Uebelstände 
wirklich  vorkommen  und  daß  die  erwähnten 
Gefahren  der  Wissenschaft  drohen,  das  ist  nicht 
so  schwer  nachzuweisen  und  zwar  selbst  an 
von  Daubree  ausgeführten  Experimenten.  Bei 
seiner  großen  Reichhaltigkeit  bietet  das  vor- 
liegende" Werk  eben  auch  Beweismaterial  in 
dieser  Richtung. 

Für  die  Thatsache,  daß  im  Experimente  zu- 
weilen Verhältnisse  combiniert  sind,  deren  Ver- 
bindung für  den  natürlichen  Prozeß  gar  nicht 
erwiesen  oder  nnr  wahrscheinlich  gemacht  ist, 
liefert  Daubree  schon  in  seiner  ersten  Arbeit 
ein  Beispiel.  Wenn  nämlich  der  Verf.  daselbst 
erst  die  Mineral  Combinationen  der  Zinnerzgänge 
und  darnach  die  Methode  schildert,  durch  welche 
ihm  einzelne  Mineralien  derselben  wie  Apatit, 
Topas  u.  a.  künstlich  darzustellen  gelang,  so 
will  er  doch  wohl  damit  sagen,  daß  die  Mine 
ralien  jener  Gänge   auf  die  angegebene  Weise 


1590    Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  49.  50. 

entstanden  seien;  dann  hätten  aber  diese  den 
jetzigen  Zinnerz-Gängen  entsprechenden  Spalt- 
räume oder  vielmehr  die  Spaltwände  in  Roth- 
gloth,  was  den  Topas  betrifft,  sogar  in  Weift- 
glath  stehen  müssen:  die  geologische  Wahr- 
scheinlichkeit dieses  Falles  berührt  Daubree 
aber  gar  nicht.  —  Ein  anderes  Beispiel  biete* 
seine  Experimente  über  Schichtenbiegungen. 
Daubräe  experimentiert  nämlich  mit  Platten  ans 
Bronze,  Zink,  Eisen  und  besonders  ans  gewalz- 
tem Blei,  ferner  Glas,  sowie  mit  Wachs,  ge- 
mischt mit  verschiedenen  Substanzen  wie  Gyps, 
Harz,  Terpentin ;  das  sind  alles  Substanzen,  de- 
nen die  geologischen  Körper,  die  Schichtge- 
steine, selbst  bei  Annahme  eines  „Pelomorphia- 
mustf  derselben,  betreffs  Tenacität  und  speziell 
Elasticität  schwerlich  entsprechen.  Dabei  wa- 
ren die  untersuchten  Körper  nie  in  allseitigem 
Gontacte  mit  ihresgleichen,  sondern  konntet 
dem  Drucke  nach  irgend  einer  Seite)  wenn 
auch  bei  einzelnen  Versuchen  nur  in  beschränk» 
tem  Maße  ausweichen.  Die  natürlichen  Verhält* 
nisse  waren  also  hier  entschieden  nicht  richtig 
nachgeahmt. 

Daß  aber  selbst  ein  Forscher  von  Daubree's 
Bedeutung  im  Stande  ist,  die  experimentell  er* 
haltenen  Resultate  irrig  zu  deuten,  das  bezeugt 
zunächst  sein  Versuch  zur  Herstellung  von 
Schieferung.  Daubree  preßte  plastische  Massen 
(Thon)  unter  der  hydraulischen  Presse  in  der 
Art,  daß  die  Massen  ausbiegen  und  ausflie- 
ßen konnten  und  zwar  durch  eine  in  einer  Me- 
tallmatrize angebrachte  Oeffnung  von  geringem 
Querschnitte;  die  hinausgepreßten  Masaen,  Cy- 
linder und  Säulen  darstellend,  besaßen  dann 
eine  Schieferung,  deren  Structorflächen  dei 
Seitenflächen  der  Cylinder  oder  Säulen,  reap, 
den  Grenzflächen   der  Oeffnung  innerhalb  dar 


Daubr6e,  Synth.  Stud,  z.  Experimeütal-Geol.    1 591 

Met&Ihnatrize,  parallel  waren,  also  bei  runder 
Austrittsöffnung  lauter  concentrische  runde  Gy- 
linderfläehen  bildeten,  bei  rechteckiger  Oeffnung 
aber  sieh  auch  anter  rechten  Winkeln  und  pa- 
rallel den  Säulenflächen  schnitten.  Statt  nnn 
schon  durch  diese  der  Form  der  Austrittsöffhung 
entsprechende  Anordnung  der  Schieferungsflächen 
aufmerksam  gemacht  die  Bedingung  der  Schie- 
ferang in  der  Metallmatrize  zu  suchen,  erblickt 
Daubrfe  ihren  Grund  im  Acte  des  „Gleitens" 
oder  Fließens  (siehe  oben  S.  1584).  Wenn  das 
der  wahre  Grund  wäre,  so  dürfte  man  erwar 
ten,  daß  gegenäber  den  zuletzt  geflossenen  die 
Sechsmal  weiter  geglittenen  Partien  der  Cylinder 
und  Säulen  eine  sechsmal  vollkommnere  Schiefe- 
rang aufwiesen!  „Gleitflächentt  in  dem  Sinne, 
daß  die  verschiedenen  concentriscben  Cylinder- 
oder  Säulenschalen  unter  sich  ungleiche  Ge- 
schwindigkeit besessen  hätten  und  an  einander 
hingeglitten  wären,  sollen  nämlich  diese  Schiefe- 
rungsflächen  nicht  sein,  denn  Daubree  berichtet 
nichts  Ton  angleicher  Bewegung.  Nach  Ansicht 
des  Referenten  bewirkt  nur  der  einseitig,  resp. 
seitlich  einwirkende  Druck  der  die  Austritts- 
ötfnung  umschließenden  Metallmatrize  ebenso 
die  Schieferang  wie  die  äußere  Form  der  Cy- 
linder und  Säulen,  entsprechend  dem  schon  von 
Sorby  experimentell  erwiesenen  Gesetze,  daß 
blättrige  Gemengtheile,  durch  deren  Anordnung 
eben  Schieferung  bedingt  ist,  ihre  Blattflächen 
rechtwinklig  zur  Richtung  eines  auf  die  plasti- 
sche Masse  wirkenden  Druckes  legen  (resp.  daß 
bei  nicht  hinreichend  plastischer  Masse  und  wo 
es  an  blättrigen  Gemengtheilen  mangelt,  in  glei- 
cher Weise  orientierte  Absonderungsflächen  ent- 
stehen). Im  Augenblicke,  wo  die  plastische 
Masse  den  Innenraum  der  Presse  durch  die  Ma- 
trize verläßt,  wirkt  aus  der  Ausfluß-Richtung  der 


1592     Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  49.50. 

geringste  Druck ,  denn  nach  dieser  Richtung 
hin  können  die  Massentheilchen  ausweichen, 
gleiten  und  fließen,  von  den  Rändern  der  Aus* 
trittsöffnung  aber  wird  in  diesem  Augenblicke 
der  größte  Druck  ausgeübt,  welcher  Druck  auch 
den  Cylinder  oder  die  Säule  formt,  und  dieser 
Druck  allein  bewirkt  die  Schieferung.  In  der 
Beziehung  hat  Daubree  allerdings  recht,  daß 
eine  Substanz  behufs  ihrer  Schieferung  einen 
gewissen  Grad  von  Plasticität  besitzen  und  sich 
in  der  Eage  befinden  müsse,  dem  auf  sie  ein- 
wirkenden Drucke  seitlich  ausweichen,  also 
„gleiten"  zu  können,  aber  dieses  „Gleiten"  ist 
ebensowenig  wie  die  Plasticität  die  Grundur^ 
sache  der  Schieferung,  sondern  der  einseitige 
Druck,  welcher  sich  als  solcher  auch  dadurch 
erweist,  daß  er  da,  wo  für  eine  vollkommene 
Scbieferung  nicht  alle  Bedingungen  vorliegen, 
wenigstens  der  Schieferung  analoge  Erscheinun- 
gen (Absonderung)  bewirkt,  während  ohne  den 
einseitigen  Druck  auch  in  plastischen  und  in 
gleitenden  Massen  nichts  derartiges  auftritt 
Einen  Beweis  für  die  Richtigkeit  dieser  Erklä- 
rung liefern  u.  a.  auch  die  mächtigen  Innen- 
lands •  Eismassen  Grönlands ;  dieselben  gleiten 
einen  in  seiner  ganzen  Länge  noch  gar  nicht 
ermittelten  Weg-,  sie  müssen  also  nach  Daubrfe's 
Ansicht  eine  ausgezeichnete  Schieferung  oder 
analoge  Absonderung  parallel  ihrer  Flußrichtung 
besitzen.  Nach  Kornerup's  werthvollen,  neuer- 
dings veröffentlichten  Mittheilungen  (in  Meddelel- 
ser  om  Grönland,  1.  Heft.  1879,  p.  124;  vergL 
auch  beig.  Karte  C)  findet  sich  aber  eine  ent- 
sprechend orientierte  Spaltenbildung  im  Glet- 
schereis nur  dort,  wo  ein  Gletscher,  resp.  ein 
Gletscherarm,  durch  Felsenmassen  seitlich  ein- 
geengt ist  und  gewissermaßen  ein  Felsen-Thor 
(zwischen  zwei  „Nunatakker*  a.  a.  0.)  passirt, 


Daubree,  Synth.  Stud.  z.  Experimental-Geol.    1 593 

wo  also  diese  Felsmassen  einen  Drnck  aus- 
üben, dem  das  Eis  nur  durch  Absonderung  ant- 
worten kann. 

Ein  anderes,  noch  drastischeres  Beispiel  ir- 
riger Deutung  liefert  der  Versuch,  auf  den 
Daubräe  seine  vulcanische  Theorie  stützt  (s.  o. 
S.  1580).  Daubrte  hatte  ein  Hohlgefäß  (v),  des- 
sen Oeffnung  durch  eine  aus  Vogesen-Sandstein 
bestehende  runde  Platte  von  2  cm  Dicke  und 
16  cm  Durchm.  in  der  Weise  verschlossen  war, 
daß  diese  Platte  zugleich  den  Boden  eines  oben 
offenen  Hohlgefäßes  (e)  bildete;  das  erstere, 
luftdicht  geschlossene  Gefäß  (v),  die  sogen. 
Kammer,  war  in  Verbindung  mit  einem  Queck- 
silbermanometer und  konnte  durch  ein  Ventil 
auch  dem  Luftzutritt  geöffnet  werden;  der  ganze 
Apparat  aber  war  derartig  construiert,  daß  er 
im  Ganzen  möglichst  gleichmäßig  erwärmt  wer- 
den konnte.  Wenn  nun  Wasser  in  das  offene 
Gefäß  e  gethan  und  der  Apparat  bei  geschlos- 
sener Kammer  v  erwärmt  wird,  so  bemerkt 
man  „bald  an  dem  Steigen  des  Manometers, 
daß  sich  Wasserdampf  in  der  unteren  Kammer 
(v)  ansammelt  Bei  einer  Temperatur  von  160° 
erreicht  die  Quecksilbersäule  ungefähr  68  cm 
Höhe,  was  ungefähr  1,9  Atmosphären-Druck 
entspricht".  Wenn  man  dann  den  Hahn  (das  Ventil 
der  Kammer)  „ein  wenig  öffnet,  um  etwas  Dampf 
entweichen  und  die  Quecksilbersäule  einige  Cen- 
timeter fallen  zu  lassen,  und  ihn  dann  wieder 
schließt,  so  stellt  sich  der  ursprüngliche  Druck 
sogleich  wieder  her  und  das  geschieht  so  oft/ 
als  man  dieses  Spiel  wiederholt  Es  findet  dp 
bei  also  eine  wirkliebe  Speisung  statt  und  f 
kann  nur  von  dem  Wasser  in  dem  Gefäße  7 
rühren,  das  durch  das  Gestein  eingedrung^ 
trotz  des  Gegendruckes  in  der  Darapfk; 
Es  muß  noch  bemerkt  werden,  daß  das. 


1596    Gott.  gel.  Adz.  1880.  Stück  49.50. 

nommen,  wenn  letztere  seine  Behauptungen  be- 
stätigten; andere  dagegen  and  zumal  ausländi- 
sche finden  nur  selten  Erwähnung.  Dieser  Uebel- 
stand  bringt  es  mit  sich,  daß  man  aus  dem  vor- 
liegenden Werke  im  Allgemeinen  nicht  den  Stand- 
Eunkt  der  Wissenschaft  zu  den  einzelnen  be- 
andelten  Fragen  ersieht,  sondern  nur  erfahrt, 
welcher  Ansicht  der  Verfasser  über  dieselben  ist 
Damit  wären  wir  von  der  Betrachtung  der 
experimentellen  Methode  zu  Daubrees  Werk  zu- 
rückgekommen; um  aber  das  Referat  über  das- 
selbe nicht  mit  einem  Tadel  schließen  zu  müs- 
sen, erlaubt  sich  der  Referent  noch  einen  Um- 
stand besonders  hervorzuheben,  welcher  dem 
trotz  seiner  Mängel  hochzuschätzenden  Werke 
zum  Schmucke  dient:  das  ist  die  aus  den  mei- 
sten Referaten  zu  erkennende  feine  Beobachtungs- 
und Combinations-Gabe  des  Verfassers,  welche 
er  nach  Meinung  des  Ref.  am  Schönsten  da  be- 
thätigte,  wo  er  nicht  über  eigene  Experimente, 
sondern  über  direct  in  der  Natur  beobachtete 
Verhältnisse  (gewissermaßen  von  der  Natnr  aus- 
geführte Experimente)  berichtet;  ich  erinnere  in 
dieser  Beziehung  nur  an  die  schon  in  seiner 
Erstlingsarbeit  enthaltenen  Beobachtungen  der 
Mineral-Gombinationen  von  Zinnerzgängen,  sowie 
an  diejenige  der  in  Thermalquellen  zu  Bourbonne, 
zu  Plombteres  u.  a.  0.  neugebildeten  Mineralien, 

0.  Lang. 

Einleitung  in  das  Sprachstudium. 
Ein  Beitrag  zur  Geschichte  und  Methodik  der 
vergleichenden  Sprachforschung  von  B.  Del- 
brück. Leipzig,  Druck  und  Verlag  von  Breit- 
kopf und  Härtel.  1880.  VIII  und  142  SS.  8°. 
(Indogermanische  Grammatiken.    Band  IV). 

Die  vorliegende   Schrift  bildet  einen  Tfaeil 


Delbrück,  Einleitung  in  d.  Sprachstudium.    1597 

der  im  Verlage  von  Breitkopf  and  Härtel  er- 
seheinenden Sammlung  indogermanischer  Gram- 
matiken and  soll  dazu  dienen,  „das  Studium  die- 
ser Grammatiken  and  damit  zugleich  das  Ver- 
ständniß  der  vergleichenden  Sprachforschung  in 
ihrer  neuesten  Gestalt  zu  erleichtern"  (p.  V\ 
Diesem  Zweck  entsprechend  hat  sich  der  Herr 
Verfasser  auf  das  Gebiet  der  indogermanischen 
Sprachen  und,  wie  erangiebt,  auf  die  Laut-  und 
Flexionslehre  beschränkt  (p.  V).  In  der  That 
aber  hat  er  auch  die  Stammbildungslehre  durch- 
aus nicht  unberücksichtigt  gelassen,  die,  wie  wir 
von  G.  Meyer  erfahren  (Griecb.  Gram.  p.  VIII), 
nach  dem  Plane  jener  Sammlung  (ebenso  wie 
die  Syntax)  von  den  einzelnen  Grammatiken 
ausgeschlossen  ist  —  eine  Ausschließung,  die 
man  aber  durchaus  nicht  billigen  kann  und  an 
die  Whitney  in  seiner  indischen  Grammatik  sich 
mit  Recht  nicht  gekehrt  hat. 

Delbrücks  Schrift  ist  nicht  für  Sprachforscher 
von  Fach,  „sondern  wesentlich  für  diejenigen  ge- 
schrieben, welche  aus  der  vergleichenden  Sprach- 
forschung kein  Specialstudium  machen"  (p.  VI). 
Daß  dieselben  durch  Delbrücks  Darstellungen 
ein  überall  deutliches  Bild  von  der  Art,  wie  wir 
arbeiten,  von  den  Zielen,  auf  die  wir  unser  Au- 
genmerk ganz  besonders  richten,  von  den  Fra- 
gen, deren  Lösung  uns  mehr  beiläufig  beschäf- 
tigt, erhalten  werden,  bezweifle  ich,  und  gewiß 
hat  Delbrück  der  Besprechung  einiger  Hypothe- 
sen einen  größeren  Baum  überlassen,  als  mit 
Rücksicht  auf  den  nächsten  Zweck  dienlich  war ; 
dagegen  gestehe  ich  unumwunden,  daß  ich  Del- 
brücks Beurtheilung  der  von  ihm  besprochenen 
Personen  und  Lehrsätze,  die  übrigens  selbstver- 
ständlich nicht  immer  originell  ist,  meist  sehr 
ansprechend  finde:  sein  Urtheil  ist  überall  maß- 


1598     Gott.  gel.  Am.  1880.  Stück  49.50. 

voll,  er  bemüht  sich  sichtlich  überall  unpartei- 
isch za  schildern  und  zn  entscheiden,  und  wen 
ihm  das  nicht  an  jeder  Stelle  gelangen  ißt,  wenn 
z.  B.  sein  VI.  Kapitel  hin  und  wieder  zu  einem 
Plaidoyer  für  einige  ihm  benachbarte  Gelehrte 
wird,  so  wird  ihm  niemand  das  verargen,  der 
die  dabei  zn  berücksichtigenden  Verhältnisse 
kennt 

Die  vorliegende  Schrift  zerfällt  in  einen  hi- 
storischen und  einen  theoretischen  Tbeil;  dort 
(in  vier  Kapiteln)  behandelt  Delbrück  Franz 
Bopp,  Bopps  Zeitgenossen  und  Nachfolger  bis 
auf  August  Schleicher,  Schleicher  selbst  und 
endlich  „neue  Bestrebungen14,  hier  (in  drei  Ka- 
piteln) die  Agglutinationstheorie,  die  Lautge- 
setze, die  Völkertrennungen. —  Mein  allgemeines 
Urtheil  habe  ich  oben  schon  ausgesprochen,  auf 
wenige  Einzelheiten  gehe  ich  im  folgenden  ein. 

„Nach  einem  Jahrzehnt  —  sagt  Delbrück  & 
52  —  wird  die  Umschreibung  [der  grundsprach- 
lichen Formen]  vielleicht  wieder  eine  andere 
Färbung  angenommen  haben,  und  es  ergiebt 
sich  somit  die  Folgerung,  daß  die  Ursprache 
nichts  ist  als  ein  formelhafter  Ausdruck  fttr  die 
wechselnden  Ansichten  der  Gelehrten  über  des 
Umfang  und  die  Beschaffenheit  des  sprachlichen 
Materials,  welches  die  Einzelsprachen  aus  der 
Gesammtsprache  mitgebracht  haben.  Mit  dieser 
Definition  der  -Ursprache  ist  zugleich  die  Frage 
nach  dem  historischen  Werthe  der  oonslrnierten 
Formen  entschieden41.  Zulässiger  wäre  es  ge- 
wesen,, wenn  Delbrück  die  Ursprache  —  deren 
Wiederherstellung  übrigens  nach  meiner  Meimag 
nicht  nur  eine  unabweisbare  Forderung,  sonders 
sogar  das  höchste  Ziel  unserer  Wissenschaft  ist 
—  als  einen  formelhaften  Ausdruck  des  mit  Rück- 
sicht  auf  die  und  die  Fragen  wissenschaftlich 


Delbrück,  Einleitung  in  d.  Sprachstudium«    1599 

erkannten  oder  vermeintlich  erkannten  definiert 
hätte;  seine  Aenßerung  über  den  historischen 
Werth  der  eoastruierten  Formen  würde  dann 
auch  weniger  absprechend  geworden  sein.  So 
wie  die  angeführten  Sätze  dastehen,  können  sie 
den  unerfahrenen  allzu  leicht  zu  oberflächlicher 
Beurtbeilung  wichtiger  Bestrebungen  und  zn  der 
Ansicht  verleiten,  daß  wir  überhaupt  noch  zn 
gar  keinen  feststehenden  Resultaten  gekommen 
seien»  —  Aehnlich  muß  ich  über  andere  Sätze 
Delbrücks  urtheilen,  so  über  das,  was  er  über 
Aufstellung  und  Wiederherstellung  von  Wurzeln 
sagt  (SS.  76,  84) ;  aber  ich  verzichte  auf  eine 
Discussion  desselben  und  bemerke  nur,  daß  ich 
es  kaum  für  denkbar  gebalten  hätte,  daß  es  ein 
Sprachforscher  für  „Sache  der  Verabredung"  er- 
klärt, „ob  man  cpeQ  sagen  will,  oder  (poQ  oder 
(fat>  oder  endlich  <?qu. 

S.  llö1)  erkennt  Delbrück  eine  Wirkung  der 
Analogie  in  dem  „Dativ  des  Farticipiums  Myom, 
welcher  durch  die  Verbindung  mit  X4y*rt*g9  M« 
yavxa  u.  s.  w.  verhindert  wurde  zu  Myova*  zu 
werden"  und  fügt  hinzu  „dieselbe  Bewandtniß 
hat.  es  mit  *4qou  und  m*v%iu.  Aber  die  Dative 
Sg.  coDSonantischer  Stämme  auf  i  =  s*  (G* 
Meyer  Gr.  Gram.  §.  345)  machen  Delbrück» 
Annahme  sehr  zweifelhaft 

S.  12ö  ff.  wendet  sick  Delbrück  gegen  meine 
Ausführungen  in  diesen  Anzeigen  1879  &652ÖV- 
Was  er  sagt,  ist  indessen  subjectiv  und  erschüt- 
tert in  keiner  Weise  meine  a.  a»  0.  dargelegten 
Ansichten  und  das  Gewicht  der  Thatsachen,  auf 
welche  sich  dieselben  stützen  und  welchen  ich 
hier  noch  zwei  anreihen  will:  1)  Der  Gote  sagte 
jpammuh,  ßanuh  gegenüber  hvammeh,  hvanöh\ 
wer  erkennt  hier  nicht  ein  Schwanken  zwischen 
verschiedenen  lautlieben  Möglichkeiten  ?  Konnte 
ein  solches  aber  überhaupt  stattfinden,   so  muß 


1600    Gott  gel.  Adz.  1880.  Stück  49. 50. 

gerade  der,  welcher  annimmt  oder  zugiebt,  daft 
eine  Form  tausend  andere  in  ihre  Analogie  zie- 
hen könne  (vgl.  S.  107),  die  Möglichkeit  za- 
geben, daß  ein  und  dieselbe  Lautgruppe  in  x  For- 
men eine,  in  y  Formen  aber  eine  andere  Ent- 
wicklung zeige.  2)  Von  einem  Mädchen  ans 
der  Gegend  von  Prökuls,  mit  dem  ich  täglich 
litauisch  spreche,  höre .  ich  die  Accuss.  Sg.  von 
tos  und  käs  oft  tä  und  kä,  meist  aber  tan  und 
kän  (welche  Form  Kurschat  auch  aus  Deutsch- 
Erottingen  kennt)  und  ebenso  veskan  sprechen, 
nie  aber  höre  ich  in  ihrer  Aussprache  einen  an- 
deren Accus.  Sg.  mit  auslautendem  n*).  Wie 
kann  man  dem  gegenüber  von  ausnahmelosen 
Lautgesetzen  reden  ?  —  Doch  ich  brauche  diese 
Frage  nicht  an  Delbrück  zu  richten ,  da  er  S. 
128  erklärt,  „daß  völlige  Gesetzmäßigkeit  des 
Lautwandels  sich  nirgend  in  der  Welt  der  ge- 
gebenen Thatsachen  findet". 

S.  1321)  bringt  Delbrück  einen  Satz  aus  einem 
Programm  Sonnes  in  Erinnerung,  für  dessen 
Mittheilung  wir  ihm  dankbar  sein  müssen.  Im 
Anschluß  daran  erlaube  ich  mir  die  Aeußerun- 
gen  Sonnes  E.Zs.  13.  41 5  ff.  (über  die  Diektasis) 
und  15.  112  Anm.  2  („z&  KdotoQe,  vediscber 
Dual  in  voller  Kraft"),  Ebels  ib.  1.  293  (avdqda 
=  nrshu\  A.Kuhns  ib.  11.381  (über  die  Flexion 
von  broßar)  hervorzuheben  —  Aeußerungen,  die 
neueren  Arbeiten  gegenüber  mindestens  von  hi- 
storischem Interesse  sind. 

Königsberg  i.  Pr.  A.  Bezzenberger. 

*)  In  diesen  Formen  tan,  kän  finde  ich  ein  Gegen- 
stück zu  mittelfrank.  dat,  voat  a.  b.  w.,  deren  von  Ptul 
aufgestellte  Erklärung  (s.  S.  125  der  vorliegenden  Schrift) 
ich  nur  als  einen  Gewaltakt  bezeichnen  kann. 

Ffir  die  Redaction  verantwortlich :  E.  Rehmach,  Director  d.  Gdtt.  gel.Au- 

Verlag  der  DUUrich'achm  Ytrkva-Buchhcmdtume. 

Druck  der  DüUrtch'achm  Univ.- Buchdruck***  (W  **-.  ffitfnfnir) 


^^  ft'  '      *    S' 


1601 

Göttin  fische 

DEC  88  BW 

gelehrte.  Anzeigen 

unter  der  Aufsicht 

der  Eönigl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften« 

Stück  51.  22.  December  1880. 


Inhalt:  J.   M.   S  es  tier,   La  Piraterie  dans  PAntiquite.     Von  R. 
Werner.  —    E.  I.  Bekker,   Das  Recht  des  Besitzes  bei  den  Römern. 
Ton  E.  Holder.  —  E.  Bernheim,  Geschichtsforschung  und  Geschichts- 
philosophie.   Yon  A.  Stern.  —    Th.  Nöldeke,    Kurzgefasste  syrische 
Grammatik.    Vom  Verf. 

™  Eigenmächtiger  Abdruck  von  Artikeln  der  Gott.  gel.  Ana.  verboten  s 


La  Piraterie  dans  l'Antiquite.  Par 
J.  M.  S  es  tier.  Paris,  A.  Maresq  aine.  1880. 
VII.    320  S.    8°. 

Der  Verfasser  giebt  uns  die  Geschichte  der 
Piraterie  im  Mittelmeere,  als  dem  Gentrum  des 
antiken  Völkerlebens,  von  den  ältesten  Zeiten 
an  bis  zur  Regierung  Gonstantin  des  Großen. 
Indem  er  sich  die  Aufgabe  stellte,  ihrem  Ur- 
sprünge nachzuforschen,  ihre  verschiedenen  Er- 
scheinungsformen in  Betracht  zu  ziehen  und 
die  Wandelungen  zu  erklären,  die  sie  im  Laufe 
der  Jahrhunderte  unter  dem  Einflüsse  der  fort- 
schreitenden Civilisation  und  infolge  großer 
weltbewegender  Ereignisse  erfahren  hat,  mußte 
er  in  großen  Zügen  auch  die  Geschichte  und 
Geschicke  der  verschiedenen  Mittelmeervölker 
sehildern,  da  dieselben  ohne  Ausnahme  im  Pi- 

101 


1602      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  51. 

ratenthum  wurzeln  tnd  mit  ihm  langt  Zeit  auf 
das  engste  verflochten  bleiben. 

Die  'Schifffahrt  reicht  in  das  höchste  Alter 
hinauf.  Dr.  Dümichen  hat  ans  den  Tertpd- 
gräbern  bei  Saqara  in  der  Nähe  des  Serapeums 
Darstellungen  von  Seeschiffen  copiert,  die 
dem  17 ten  Jahrhundert  v.  Chr.  angehören  und 
von  andern  Fahrzeugen,  die  noch  1000  Jahre 
älter  sind.  Die  verhältnismäßig  große  techni- 
sche Vollkommenheit  der  ersteren  läßt  darauf 
schließen,  döß  die  alten  Aegypter,  reöp.  Ptröfli- 
cier  schon  viele  Jahrhunderte  früher  die  See 
befuhren.  Gleichzeitig  mit  der  Schifffahrt  trat 
aber  auch  der  Seeraub  auf  und  lange  Zeit  deck- 
ten sich  beide  Begriffe.  Erstere  war  anfäng- 
lich nur  Mittel  zum  Zweck  des  Letzteren,  der 
seinerseits  wieder  ein  Gebot  der  Notwendigkeit 
wurde,  um  die  Existenz  der  Küstenbevölkerun- 
gen  zu  sichern. 

In  jenen  Urzeiten,  wo  man  Ackerbau  und 
seßhafte  Lebensweise  nicht  kannte  und  die  Aus- 
beute der  Jagd  oft  nicht  vor  Hunger  schützte, 
lebte  jede  kleine  aus  der  Familie  hervorgegan- 
gene Volksgemeinschaft  streng  abgeschlossen 
für  sich.  Sie  betrachtete  alle  außerhalb  ihres 
Kreises  stehenden  Menschen  als  ihre  Feinde 
und  ihren  Besitz  als  gute  Beute.  Sich  dieser 
durch  List  oder  Gewalt  zu  bemächtigen  und 
damit  das  eigene  Leben  zu  fristen  oder  annehm- 
licher zu  gestalten,  galt  nicht  nur  für  erlaubt, 
sondern  auch  für  ruhmvoll.  Fanden  in  diesen 
Umständen  schon  die  ersten  Landkriege  ihre 
Erklärung  und  Berechtigung  —  wie  viel  ver- 
lockender mußte  es  nach  Erfindung  der  Schif- 
fahrt erscheinen,  solche  Raubzüge  zur  See  zu 
unternehmen,  wobei  weit  weniger  Gefahr  drohte, 
der  Nachbar  ungewarnt  überfallen  und  die  ge- 


Sestier,  La  Piraterie  dans  l'Antiquit&    1603 

rftetehte  Beate  ungefährdet  fortgeschafft  werden 
könnte. 

Es  war  deshalb  nur  natürlich,  daß  imAlter- 
thum  von  allen  Ktistenvölkern  Seeraub  betrie- 
ben wurde  und  als  erlaubtes  Gewerbe  galt,  dem 
kein  Makel  anhaftete. 

Den  meisten  Sagen  der  mythologischen  und 
heroischen  Zeiten  liegen  piratische  Acte  zu 
Grande  und  sie  waren  Ursache  vieler  großen 
Kriege  jener  Periode.  Die  Sagen  von  Bacchus, 
die  Argonautenfahrt,  der  trojanische,  ja  selbst 
der  peloponnesische  Krieg  —  sie  alle  entspran- 
gen aus  Seeräubereien  von  Individuen  oder  von 
Volk  gegen  Volk,  und  die  alten  Schriftsteller 
haben  für  die  von  ihnen  beschriebenen  zu 
Schiffe  gemachten  Züge  mit  ihren  Gewalttaten 
kein  Wort  des  Tadels,  sondern  sehen  in  den 
Thätern  nur  Helden.  Es  dauerte  unendlich 
lange  Zeit,  bis  sich  das  Rechtsgefühl  unter  den 
Völkern  so  weit  herausbildete,  um  die  Piraterie 
vom  Standpunkte  der  Moral  aus  zu  verdammen. 
Können  wir  es  auch  verstehen,  wenn  Homer 
seine  Helden  Ulysses,  Achilles,  Nestor  und  an- 
dere, „die  mit  ihren  Schiffen  das  schäumende 
Meer  durchzogen,  um  Beute  zu  machen",  darob 
verherrlicht,  so  ist  es  uns  doch  schwer  begreif- 
lich, wie  zur  Zeit  der  höchsten  Blüthe  und  Ci- 
vilisation Griechenlands  ein  Schüler  des  Socra- 
tes, der  ebenso  hochgebildete  wie  milde  Xeno- 
phon  jenen  verbrecherischen  Seezügen  noch  das 
Wort  rederi  konnte.  „Nur  eines  Vortheils"  sagt 
der  berühmte  Historiker  in  seiner  Geschichte 
der  athenischen  Republik,  „entbehrt  Athen.  Wäre 
es  atif  einer  Insel  gelegen,  so  könnte  es  ohne 
Furcht  vor  Repressalien  seine  Kaperflotten  aus- 
senden, soweit  sich  seine  Herrschaft  des  Meeres 
erstreckt". 

101* 


1604      Gott.  gel.  Adz.  1880.  Stück  51. 

Ja  selbst  noch  Jahrhunderte  später  werden 
von  Rom  aus  die  Piraten  zwar  energisch  ver- 
folgt, aber  weniger,  weil  man  sie  als  außerhalb 
des  Gesetzes  stehend  betrachtet,  sondern  weil 
sie  so  mächtig  geworden  sind,  daß  sie  das  ganze 
Italien  in  Schach  halten.  Wurde  doch  selbst 
Cäsar  von  ihnen  aufgehoben  und  mußte  sich 
mit  50  Talenten  lösen.  Freilich  ließ  er  sie  spä- 
ter aufgreifen  und  sie,  wie  er  ihnen  während 
seiner  Gefangenschaft  scheinbar  im  Scherze  ge- 
droht, sämmtlich  an's  Kreuz  schlagen,  aber  eben- 
falls nur,  weil  sie  sich  nicht  gescheut  hatten, 
sich  an  seine  Person  zu  wagen. 

Eine  juristische  Qualification  der  Piraten  als 
Verbrecher  finden  wir  zum  ersten  Male  um  das 
Jahr  200  n.  Chr.  bei  dem  berühmten  römischen 
Rechtsgelehrten  Ulpianus,  welcher  zwischen  hostes 
und  praedönes  unterscheidet. 

Unter  solchen  Umständen  war  es  erklärlich, 
wie  das  Seeräuberwesen  im  Mittelmeere  fco  viele 
Jahrhunderte  lang  eine  große  Rolle  spielen  und 
Dimensionen  annehmen  konnte,  von  denen  wir 
uns  heute  kaum  einen  Begriff  zu  machen  ver- 
mögen; wie  verschiedene  Machthaber  mit  ihm 
pactierten,  um  politische  Erfolge  zu  erringen, 
und  wie  mit  Hülfe  von  Piratenflotten  Schlachten 
geschlagen  und  Siege  errungen  wurden,  die  auf 
die  Geschicke  mächtiger  Völker  bestimmend  Ein- 
fluß übten. 

An  der  Hand  der  Geschichte  unternimmt  es 
der  Verfasser,  diese  verschiedenen  Phasen  in 
seinem  Buche  darzustellen. 

Von  allgemeinen  Betrachtungen  über  die  pri- 
mitiven socialen  Zustände  der  ^Menschheit  aus- 
gehend und  den  auf  Schifffahrt  begründeten 
Sagenkreis  kurz  berührend,  führt  Sestier  uns 
die  Völker  selbst  vor,  welche  im  Alterthume  die 


Sestier,  La  Piraterie  dans  PAntiqnite.     1605 

Mittelmeerküsten  bewohnten  und  einander  in 
dem  Streben  nach  der  Gewalt  auf  dem  Meere 
ablösten. 

Die  Phönizier  machen  den  Anfang.  Seit 
den  frühesten  Zeiten  bis  zu  den  medischen  Krie- 
gen sind  es  diese  kühnen  und  unternehmenden 
Seefahrer,  welche  allein  das  Meer  beherrschen. 
Im  Norden  dringen  sie  bis  zu  den  Hyberboräern 
vor  und  umschiffen  im  Süden  Afrika.  Sie  holen 
Gold  yon  Colchis,  Silber  aus  Spanien,  Zinn  aus 
England  und  Bernstein  von  der  Ostseeküste, 
aber  sie  füllen  auch  gleichzeitig  die  Sclaven- 
märkte  von  Sidon  und  Tyrus  mit  der  lebenden 
Waare,  die  sie  auf  ihren  Fahrten  geraubt.  Da- 
bei gründen  sie  überall  Colonien ;  im  Osten  und 
Westen  erwachsen  Tochterstädte  und  aus  ihnen 
Nationen,  die  mit  dem  Mutterlande  um  den  Be- 
sitz des  Meeres  ringen,  um  ihn  schließlich  zu 
gewinnen. 

Die  nächsten  Erben  der  Phönizier  sind  die 
Griechen,  ihnen  folgen  die  Karthager,  doch  ne- 
ben diesen  großen  Räubern  existiert  noch  eine 
Reihe  kleinerer.  Etrusker,  Ligurier,  Illyrier, 
Carier,  Cilicier  —  sie  durchfurchen  mit  ih- 
ren Kielen  beutegierig  das  Meer.  Von  allen 
Küsten,  von  allen  Inseln  aus  wird  Seeraub  ge- 
trieben, nur  eine  ebenfalls  phönicische  Golonie, 
Rhodus,  macht  eine  ehrenvolle  Ausnahme.  Sie 
will  nur  auf  friedlichem  Wege  gedeihen,  be- 
kämpft Jahrhunderte  lang  mit  unbeugsamer 
Energie  die  Piraten  und  weiß  wenigstens  die 
Umgebung  der  Insel  auf  20—30  Meilen  Ent- 
fernung von  ihnen  rein  zu  halten. 

Nach  den  punischen  Kriegen  tritt  Rom  no- 
minell die  Herrschaft  auf  dem  Mittelmeere  an, 
das  sein  Volk  stolz  als  nostrum  mare  bezeich- 
net, aber  in  Wahrheit  besitzt  es  sie  nicht.    Es 


1606      Gott  gel.  Anz.  1880.  Stück  51. 

versäumt  an  die  Stelle  dor  vernichteten  kartha- 
gischen eine  eigene  genügende  Kriegsflotte  zu 
setzen.  Dieser  Umstand  nnd  der  Verfall  der 
Republik,  die  ihre  Kraft  in  innern  Kämpfen  ver- 
zehrt, lassen  die  Piraten  in  drohender  Weise 
ihr  Hanpt  erheben. 

Mithridates  macht  sie  im  Jahre  88  v.  Chr. 
zu  seinen  offenen  Alliierten  gegen  die  Römer. 
Von  allen  Seiten  strömen  sie  ihm  zu  und  anter 
seiner  Flagge  werden  sie  der  Schrecken  des 
Orients.  Mit  ihrer  Hülfe  entreißt  er  seinen  Tod- 
feinden die  östlichen  Provinzen  und  läßt  an 
einem  Tage  100,000  Römer  ermorden.  Alle  von 
Rom  abhängige  Staaten  fallen  ihm  zu,  nur  das 
kleine  tapfere  Rhodus  widersteht  und  nimmt 
die  römischen  Flüchtlinge  unter  seinen  Schatz. 
Vergebens  sacht  der  pontische  König  seine 
Mauern  zu  brechen  und  die  rbodische  Flotte  zu 
vernichten;  selbst  zur  See  von  dem  so  viel 
schwächeren  aber  tapfern  und  gewandten  Geg- 
ner geschlagen,  muß  er  unverrichteter  Sache 
abziehen.  Bald  darauf  wird  er  von  Sulla  zum 
Frieden  gezwungen,  verliert  einen  großen  Theil 
der  eroberten  Länder,  muß  2000  Talente  zahlen 
und  70  Trieren  ausliefern,  aber  die  Piraten 
sind  damit  nicht  getroffen.  Sie  treiben  nach 
wie  vor  ihr  unheilvolles  Wesen  und  Roms  blu- 
tige Bürgerkriege  erleichtern  ihr  Spiel.  Von 
ihrem  Hauptsitze  Gilicien  aus  beherrschen  sie 
nunmehr  das  ganze  Mittelmeer ,  capern  alle 
Zufuhren  für  Italien,  verwüsten  dessen  Küsten 
und  bedrohen  Rom  mit  einer  Hungersnoth.  Da 
endlich  beschließt  der  Senat  etwas  gegen  sie  zu 
thun.  Er  entsendet  Murena  und  Dolabella,  doch 
sie  richten  nichts  aus,  und  erst  ihr  Nachfolger 
Publius  Servilius  ist  glücklicher.  In  blutiger 
Seeschlacht   besiegt  er   die  Cilicipr,   erobert  in 


Sestier,  La  Piraterie  dans  l'Antiquite.     1607 

dreijähriger  Campagne  in  Eleinasien  eine  große 
Zahl  ihrer  festen  Plätze  und  zerstört  ihr  mäch- 
tigstes Bollwerk  Isaura,  aber  trotzdem  gelingt 
es  ihm  nicht,  sie  tödtlich  zu  treffen.  Sie  wech- 
seln nur  den  Schauplatz  ihrer  Thätigkeit  und 
wählen  jetzt  Greta  als  Zufluchtsort.  Der  gegen 
sie  gesandte  Marcus  Antonius  wird  unter  Ver- 
last des  größten  Theils  seiner  Flotte  von  ih- 
nen geschlagen  und  erst  fünf  Jahre  später  ge- 
lingt es  Quintus  Metellus  Greta  zu  unterjochen. 
Er  vernichtet  die  ihm  von  den  Piratenadmirälen 
Lasthenes  und  Panares  entgegengestellten  24000 
Mann,  aber  auch  dies  genügt  keineswegs,  dem 
Unwesen  zu  steuern.  Wie  einer  Hydra  erwach- 
sen dem  Piratenthum  immer  neue  Köpfe. 

Auch  daß  Lucullus  sich  in  Sinope  32  großer 
Schiffe  bemächtigte  und  8000  Gorsaren  tödten  ließ, 
verschlug  wenig ;  ihre  Flotten  zählten  weit  über 
1000  Fahrzeuge,  mehr  als  400  Städte  waren  in 
ihrer  Gewalt,  ihr  Admiral  Athenodoros  erstürmte 
fast  unter  den  Augen  des  Lucullus  Dolos,  raubte 
dessen  Tempelschätze  und  führte  seine  sämmt- 
liehen  Bewohner  als  Sclaven  fort. 

Ihre  Erfolge  und  die  erbeuteten  großartigen 
Beichthümer  machten  die  Räuber  immer  über- 
müthiger.  Die  Hintertheile  ihrer  Schiffe  strotz- 
ten von  vergoldeten  Verzierungen,  ihre  Rie- 
men (Ruder)  waren  versilbert,  Purpurteppiche 
schmückten  die  Verdecke.  Sie  machten  die 
verwegensten  Angriffe  auf  die  Italischen  Küsten, 
zerstörten  die  Villen  der  Reichen,  nahmen  Cä- 
sar, Gladius,  die  Tochter  des  Marcus  Antonius 
und  andere  Patrizierinnen,  Praetoren  und  sonstige 
hohe  Staatsbeamte  gefangen,  um  schwere  Löse- 
gelder zu  erpressen,  verbrannten  eine  römische 
Flotte  im  Hafen  von  Ostia  und  blockierten  her- 
metisch ganz  Italien. 


1608      Gott.  gel.  Anz,  1880.  Stück  51. 

Ein  Nothscbrei  ging  durch  das  Land.  Der 
Tribun  Gabinius  konnte  in  Folge  dessen  67  v. 
Chr.  ein  Gesetz  einbringen,  das  seinen  Freund 
Pompejus  auf  3  Jahre  mit  unumschränkter  Ge- 
walt über  sämmtliche  Küsten  des  Mittelmeeres 
bis  400  Stadien  landeinwärts  bekleidete.  Die 
römische  Republik  lag  in  den  letzten  Zuges 
und  die  lex  Gabinia  war  der  erste  Schritt  zur 
Dictatur  und  dem  Kaiserreiche.  Die  Volksver- 
sammlung bewilligte  Pompejus  nicht  weniger 
als  500  Kriegsschiffe,  120,000  Mann  Infanterie 
und  5000  Mann  Cavallerie;  alle  Verbündeten 
Roms  wurden  zur  Hülfeleistung  aufgefordert 
und  wieder  waren  es  die  Rhodier,  welche  be- 
reitwillig die  besten  Schiffe  stellten.  Schon  auf 
die  bloße  Nachricht  von  den  gewaltigen  Rü- 
stungen hin  flohen  die  Piraten,  aber  entgingen 
deshalb  dem  drohenden  Schicksale  nicht»  Pom- 
pejus überspannte  mit  seinen  Flotten  das  ganze 
Mittelmeer  wie  mit  einem  Netze  und  nach  40 
Tagen  waren  die  Räuber  entweder  vernichtet 
oder  in  ihre  Schlupfwinkel  geflüchtet,  nament- 
lich nach  Cilicien  und  Lycien.  Doch  Pompejus 
folgte  ihnen  mit  60  schweren  Schiffen  dorthin 
und  führte  den  entscheidenden  Schlag.  In  we- 
niger als  drei  Monaten  wurden  durch  seine 
Truppen  10,000  Piraten  getödtet,  20,000  zu  Ge- 
fangenen gemacht,  400  ihrer  Schiffe  genommen, 
1300  andere  in  Grund  gebohrt,  ihre  Arsenale 
und  Waffenplätze  verbrannt  und  120  ihrer  fe- 
sten Plätze  und  Zufluchtsorte  erobert 

Damit  waren  sie  in's  Herz  getroffen.  Rom  war 
jetzt  endlich  wirklich  Herrin  des  Meeres  und 
zwanzig  Jahre  lang  bis  zum  Tode  Cäsars  wag- 
ten sich  die  Piraten  nicht  mehr  hervor. 

Fast  erscheint  es  wie  ein  tragisches  Ver- 
hängniß,  daß  alsdann  der  Sohn  desjenigen  Man- 


Sestier,  La  Piraterie  dans  l'Antiquite.     1609 

lies,  der  mit  so  furchtbarer  Energie  das  Corsa- 
renthum  vernichtet  und  damit  der  Civilisation 
einen  so  großen  Dienst  geleistet  hatte,  es  wie- 
der zum  Leben  erwecken  sollte.  Sextns  Pompe- 
jus,  der  sich  nach  der  Ermordung  Cäsars  Sici- 
liens  bemächtigte,  strebte  darnach  sich  zum 
Herrn  des  Meeres  zu  machen  und  rief  alle  ver- 
borgenen Piraten  Afrikas,  Asiens  und  Spaniens 
zu  sich.  Bald  gebot  er  über  eine  großartige 
Flotte ;  wiederum  wurde  ganz  Italien  blockiert 
und  Rom  von  einer  Hungersnoth  bedroht. 

Octaviu8  trat  ihm  zur  See  entgegen.  Drei- 
mal blieb  Sextus  Sieger,  ein  viertes  Mal  ver- 
nichtete ein  Sturm  fast  sämmtliche  Schiffe  des 
Octavius,  trotzdem  ließ  er  neue  Flotten  bauen 
und  fand  in  Agrippa  den  geeigneten  Befehls- 
haber für  dieselben.  Im  Jahre  36  n.  Chr.  kam 
es  zur  entscheidenden  Schlacht;  auf  beiden  Sei- 
ten standen  sich  je  300  Schiffe  gegenüber  und 
es  wurde  mit  der  größten  Hartnäckigkeit  ge- 
kämpft, doch  Sextus  vollständig  geschlagen.  Er 
rettete  nur  17  Trieren  und  entkam  nach  Asien. 
Noch  einmal  versuchte  er  dort,  sich  mit  Hülfe 
der  Piraten  die  Herrschaft  des  Orients  zu  si- 
ehern, aber  das  Glück  hatte  ihn  verlassen.  Von 
Octavius  gefangen  genommen  endete  er  zu  Mi- 
let  unter  dem  Beile  des  Henkers. 

Mit  dem  Tode  des  Sextus  hatte  das  Piraten- 
thnm  die  letzte  Kraft  eingebüßt  und  den  Mittel- 
punkt verloren.  Seine  zersprengten  Theile  wur- 
den durch  Octavius  in  Illyrien,  Dalmatien,  Epi- 
rus,  Griechenland  und  Kleinasien  in  ihre  ge- 
heimsten Schlupfwinkel  verfolgt  und  erbarmungs- 
los ausgerottet.  Schlagfertige  Kriegsflotten  ver- 
hüteten fortan  die  Wiederkehr  dieser  Pest  und 
unter  dem  Kaiserreich  blieb  das  Mittelmcer  300 
Jahre   von  ihr   befreit.     Handel    und    Verkehr 


1610       Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  51. 

konnten  sich  frei  entwickeln,  und  wenn  man 
auch  dann  und  wann  von  vereinzelten  pirati- 
schen Handlungen  hörte,  so  erhoben  sie  sich 
doch  nicht  wieder  zu  größerer  Bedeutung.  Erst 
mit  dem  Verfall  des  Kaiserreichs  und  Beginn 
der  Völkerwanderung  geschah  letzteres,  bis  Con- 
stantin  einen  wirksamen  Damm  entgegensetzte, 
die  Verbreitung  des  Ghristenthums  allmählich 
mildernden  Einfluß  auf  die  Sitten  zu  üben  be- 
gann und  den  Anstoß  zu  der  Entwicklung 
eines  humanen  Völkerrechtes  gab. 

Indem  der  Verfasser  noch  die  Rhodischen 
Seegesetze  einer  Betrachtung  unterzieht  and 
nachweist,  daß  dieselben  in  ihrer  Vortrefflichkeit 
bis  zur  neueren  Zeit  die  Grundlage  des  See- 
rechts der  verschiedenen  europäischen  Nationen 
bildeten,  schließt  er  sein  Buch  mit  dem  Capitel 
„La  Piraterie  et  la  Literature14.  In  ihm  sucht; 
er  darzuthun,  eine  wie  hervorragende  Rolle  die 
Piraterie  in  den  Werken  der  alten  Schriftsteller 
spielt,  wie  sie  die  Gemüther  der  Völker  stets 
lebhaft  beschäftigt  hat,  und  öfter  sogar  zum 
Gegenstande  öffentlicher  philosophischer  Discus- 
sionen  gemacht  worden  ist. 

Der  obige  kurz  skizzierte  Inhalt  des  Buches 
zeigt  die  Reichhaltigkeit  des  Stoffes.  Der  Au- 
tor hat  es  verstanden  bei  einer  erschöpfenden 
Behandlung  seine  Darstellung  in  eine  ange- 
nehme Form  zu  kleiden.  Nicht  nur  dem  Ge- 
schichtsforscher wird  das  Werk  willkommen 
sein  und  Nutzen  bringen,  sondern  auch  das  ge- 
sammte  gebildete  Publicum  wird  dasselbe  mit 
großem  Interesse  lesen  und  gern  aus  ihm  das 
Nähere  über  eine  so  merkwürdige  Erscheinung 
des  Alterthums  erfahren,  die  trotz  ihres  verwerf- 
lichen   und   aller  Moral    widersprechenden  Cha- 


Sestier,  La  Piraterie  dans  l'Antiquite.    1611 

rakters  sich  Jahrtaneende  zu  behaupten  wußte 
and  in  so  furchtbarer  Weise  auftreten  konnte. 

Das  Buch  ist  mit  großer  Sorgfalt  geschrie- 
ben; Styl  und  Ausdrucksweise  sind  vortrefflich 
und  fließend.  Eine  erfreuliche  Wahrnehmung  ist 
es,  daß  der  Franzose  Sestier  es  nicht  unter  seiner 
Würde  gehalten  hat,  auch  deutsche  Forscher  auf 
diesem  Gebiete  zu  Rathe  zu  ziehen.  Unter  den 
von  ihm  benutzten  Quellen  führt  er  Mommsen, 
Ukert,  Tölke,  Movers,  Böckh,  Humboldt  und 
andere  an.  Sein  Quellenstudium  ist  überhaupt 
ein  sehr  umfassendes  gewesen  und  das  Werk 
ein  Produkt  ernster  und  sorgsamer  Arbeit. 

Um  so  auffallender  ist  es  jedoch,  daß  einige 
Male  bei  lateinischen  Citaten  ein  falscher  Casus 
gebraucht  werden  konnte.  Mag  S.  143  in  „in- 
terdictum  mari  Antiati  populo  estu  das  mari 
auch  als  Druckfehler  gelten,  so  ist  offenbar  8. 
213  in  dem  Satze  „Ce  vieillard  corycien  —  Co- 
rycium  senem  dont  Virgile  fait  Möge,  6tait  un 
de  ces  anciens  pirates"  der  lateinische  Ausdruck 
irrthümlich  in  den  Accusativ  statt  in  den  Nomi- 
nativ gesetzt  und  ein  Druckfehler  ausgeschlos- 
sen, da  sich  S.  245  dieselbe  falsche  Construc- 
tion in  dem  Satze  wiederholt:  „le  farouche  pi- 
rate cilicien  devint  l'heureux  etpaisiblejardinier 
—  Corycmm  senem  —  que  chante  Virgile4*. 

Wiesbaden.  B.  Werner. 


Das  Becht  des  Besitzes  bei  den  Bo- 
rn ern.  Festgabe  an  J.  G.  Bluntschli  zum  Dok- 
torjubiläum von  E.  1.  Bekker.  Leipzig,  Breit- 
kopf u.  Härtel.     1880.    418  S.     8°. 

Wenn  Bekker  seinerzeit  die  von  ihm  in  der 


1612       Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  51. 

Krit.  Vierteljahrgschrift  für  Rechtsw.  (Bd.  18  S. 
1  ff.)  besprochenen  Brnns'schen  Besitzklagen 
schwer  zu  lesen  gefanden  hat,  so  wird  man  im 
Gegensätze  dazu  seinem  eigenen  Besitzrechte, 
dessen  Vorläufer  jene  Besprechung  war,  nach- 
rühmen müssen,  daß  von  allen  seit  Savigny  er- 
schienenen Behandlungen  dieser  so  oft  in  An- 
griff genommenen,  aber  immer  noch  nicht  über- 
wundenen Materie  außer  derjenigen  Jherings 
sich  keine  so  leicht  liest  als  die  seinige.  Auch 
inhaltlich  aber  stehen  sich  Bruns  und  Bekker 
so  sehr  als  Antipoden  gegenüber  als  dies  auf 
dem  gemeinsamen  Boden  historischer  Rechtsbe- 
trachtung überhaupt  möglich  ist.  Es  wäre  keine 
undankbare  Aufgabe  dem  Gegensatze  zwischen 
zwei  einander  so  nahe  stehenden  Rechtsforschern 
nachzugehen  in  Beziehung  auf  das  Streben  nach 
praktisch  unmittelbar  verwendbaren  Resultaten, 
in  Beziehung  auf  die  Auffassung  unseres  Ver- 
hältnisses zum  römischen  Rechte  wie  auch  be- 
züglich  des  Verhaltens  zu  den  verschiedenen 
Entwickelungsstufen  und  Documenten  des  römi- 
schen Rechtes  selbst;  für  diesmal  gedenkt  aber 
Referent  seiner  Aufgabe  über  Bekkers  neuestes 
Werk  zu  berichten  so  schlicht  als  möglich  nach- 
zukommen. 

Der  erste  §  des  Buches  hat  zur  Ueberschrift 
den  noch  immer  und  vielleicht  auf  immer  mit 
dem  „Recht  des  Besitzes"  aufs  engste  verfloch- 
tenen Namen  und  bringt  über  den  Träger  die- 
ses Namens  einige  gewiß  nahe  liegende  aber 
doch  bis  jetzt  in  dieser  Weise  kaum  ausge- 
sprochene Betrachtungen.  Ebenso  hübsch  als 
zutreffend  bezeichnet  es  B.  als  einen  freilich  un- 
vermeidlichen Uebelstand,  daß  Savigny  nicht 
unter  Savigny  studiert  hat,  weshalb  er  selbst 
noch  tief  in  demselben  Rationalismus  drin  stecke, 


Bekker,  Recht  des  Besitzes.         1613 

von  dem  uns  zu  befreien  das  unsterbliche  Werk 
seines  Lebens  gewesen  ist.  Den  Stand  der 
Besitzlehre  seit  Savigny  (§.  2)  über- 
blickend constatiert  B.  unseren  Fortschritt  im 
Historischen  wie  bezüglich  des  praktischen  De- 
tails, welchem  bezüglich  der  „rein  theoreti- 
schen Fragen0  nur  unfruchtbare  «Zirkelsprünge" 
gegenüber  stehen.  Als  Grund  dieser  Resultat- 
losigkeit  wird  der  der  verschiedensten  Deutun- 
gen fähige  und  darum  nie  recht  zu  fassende 
Grand  des  Besitzschutzes  (§.3)  insAuge 
gefaßt,  sowie  darauf  (§.  4)  der  vielfach  als 
selbstverständlich  hingestellte  Satz ,  daß  aus  Un- 
recht kein  Recht  erwachsen  könne;  derselbe 
stellt  sich  dabei  als  ein  mit  dem  wirklichen 
Rechte  im  grellsten  Widerspruche  stehendes  Vor- 
urtheil  heraus.  In  der  Frage  sodann,  ob  ius 
oder  factum  (§  5)  findet  der  Verf.  die  3  Fra- 
gen enthalten,  ob  der  für  den  Juristen  existie- 
rende Begriff  des  Besitzes  auch  für  den  Laien 
existiere,  ob  der  Besitz  als  Zustand  zu  definie- 
ren sei  und  ob  die  Besitzfolgen  ein  Recht  aus- 
machen oder  nicht.  In  §.  6  folgt  eine  Ueber- 
sicht  der  Besitzarten  und  Besitzfolgen 
vor  der  Einführung  der  Interdicte.  Nach  einer 
allgemeinen  Uebersicht  der  Besitzfolgen  betrach- 
tet der  Verf.  successiv  die  Verpflichtung 
zur  Elagübernahme  (§.7),  sodann  speciell 
zur  Uebernahme  der  Noxalklagen  (§.  8  mit 
einem  beachtenswerten  Excurs  über  die  dop- 
pelte Haftung  des  Gewalthabers  und  des  der 
ductio  ausgesetzten  Schuldigen),  ferner  den  Be- 
sitz an  Menschen  (§.9),  worauf  der  Besitz 
als  Leistungs object  (§.  10)  folgt.  Der 
Verf.  constatiert  als  Leistungsobject  neben  den 
Extremen  des  dare  und  des  restituere  die  mittlere 
Gruppe  eines  dem  Empfänger  zu  verschaffenden 


1614      Gott,  gel  Anz.  1880.  Stock  5l 

habere,  das  den  als  possessio  bezeichneten  Be- 
ziehungen zu  Sachen  recht  ähnlich  sehe.  Aafe 
kürzeste  wird  der  von  den  Magistraten 
verliehene  Besitz  (§.  11)  angesichts  seiner 
notorischen  Unähnlichkeit  mit  dem  Interdicten- 
besitze  erledigt.  Ausführlicher  wird  der  Er- 
sitznngsbesitz  (§.  12)  bebandelt,  nm  seine 
Differenz  vom  Interdictenbesitze  zu  constatieren. 
Unter  den  über  die  causa  gemachten  Bemerkun- 
gen ist  dem  Referenten  aufgefallen,  was  über 
den  Titel  pro  derelicto  gesagt  wird,  der  Name 
nenne  die  causa  adquirendi  entschieden  nicht 
und  anstatt  diesem  Namen  entsprechend  bei  feh- 
lender Dereliction  den  Titel  fehlen  zn  lassen, 
wäre  es  correcter  gewesen,  „die  Ignoranz  des 
störenden  Eigenthums  bei  der  Occupation  mit 
der  Unkenntniß  der  Rechte  Dritter  beim  Kauf 
und  anderen  zweiseitigen  Erwerbsgesohäften 
gleichzustellen".  Allerdings  nun  hat  die  usu- 
capio  pro  derelicto  etwas  Eigenartiges  und  kann 
man  sich  fragen,  ob  beim  Erwerbe  durch  Occu- 
pation überhaupt  von  einem  Erwerbstitel  die 
Rede  sein  könne;  immerhin  aber  ist  die  Preis- 
gebung der  Sache  durch  den  Vorbesitzer  das 
einzige  hier  denkbare  Analogon  des  sonst  ge- 
forderten Erwerbstitels  und  kann  der  Fall  irr- 
thümlich  angenommener  Preisgebung  nicht  dem 
dies  irrthümlich  angenommenen  Eigenthums,  son- 
dern nur  dem  der  irrthümlich  angenommenen 
Ueberlassung  parallelisiert  werden. 

An  die  Rechtsfolgen  des  Besitzes  reiht  der 
Verf.  die  der  Besitzergreifung,  wobei  er  mit 
Recht  den  Charakter  der  Tradition  als  eines 
Bealvertrages  betont,  aber  schwerlich  mit  glei- 
chem Rechte  daraus  den  Satz  ableitet:  „Hand- 
lungsfähigkeit und  Veräußerungsfähigkeit  des 
Gebers  müssen  nur  im  Augenblicke  der  von  ihm 


Bebkür,  Recht  des  Besitzes,         1615 

abzugebenden  Uebertragungserklärung  nicht  auch 
in  dem  des  Besitzerwerbes  des  Nehmers  vor- 
handen sein". 

An  die   angegebene  Musterung  der  Besitz- 
arten    und    Besitzfolgen   reiht   sieh  naturgemäß 
die  Frage,  in  welcher  dieser  Bedeutungen  den 
Besitz  zn   schützen  die  Aufgabe  der  Interdicte 
war;   denn    daß   diese  an  irgend  eine  der  von 
ilmen  vorgefundenen  Bedeutungen   des  Besitzes 
sich  angeschlossen  haben,  wird  mit  Recht  voraus- 
gesetzt.    Daß  nun   speciell  die  interdicta  reti- 
nendae  possessionis  den  die  Rolle  des  Beklagten 
verleihenden  Besitz   im  Auge   hatten,  wird  na- 
mentlich dadurch  bewiesen,  daß  sie  einen  ande- 
ren Besitz  nicht  wohl  im  Auge  haben  konnten; 
jenen   gegenüber   wird  das   i  de  vi  als  ^etwas 
weniger   glücklicher  Vorläufer*4   aufgefaßt     Als 
Unterstützung  der  vorgetragenen  Hypothese  wird 
außer  der  eigenen  Tradition  der  römischen  Ju- 
risten namentlich   geltend   gemacht,   wie  leicht 
verständlich  von  ihr  aus  sowohl  das  Erfordere 
niß  des  nach  Person  und  Sache  möglichen  Eigen- 
tums als  die  absolute  Trennung  der  Besitzfrage 
von   der  Frage   des   Eigentbums  und   des  Er- 
werbsgrundes ist.    Dad  i.  de  prec0  scheidetauch 
Bekker  aus  der  Zahl   der  Besitzinterdicte  aus; 
er  findet  es  zweifellos,  „daß  die  Entstehung  der 
Klage  von   der    vertragsmäßigen    Einräumung, 
nicht  von  der  quasidelictsartigen  Vorenthaltung 
datiert".      Was   nun   den  Thatbestand  des  diel 
possessorischen  Interdicte  gewährenden  Besitzes 
atigebt,   so  war  zunächst    der  erforderliche  ani- 
mus nach  B.   ursprünglich    „nichts  anderes  ab 
die  Absicht  im  corpus  possessionis  sich  zu  be- 
bebaupten,   so  lange  wie  das  Recht  nur  irgend 
gestattet,  wenn  es  sein  muß  also  auch  die  Vin- 
dikation zn    übernehmen".     Was    den    „abge- 


1616      Gott  gel.  Anz.  1880.  Stück  51. 

leiteten"  Besitz  betrifft,  so  verneint  B.  die  Gleich- 
heit des  Pfandbesitzes  mit  dem  Eigenthnmsbe- 
sitze,  indem  jener  von  den  Römern  nnr  deshalb 
nicht  als  Rechtsbesitz  gedacht  worden  sei,  weil 
zur  Zeit  seines  Aufkommens  „das  pignns  selber 
keine  genügende  Anerkennung  als  dingliches 
Recht  gefunden  hatte".  Mit  Recht  findet  er  es 
verwunderlich,  wenn  z.  B.  der  Pfandgläubiger 
dem  Verpfänder  gegenüber  possessorisch  ge- 
schützt werden  sollte  in  der  Ausübung  der  am 
verpfändeten  Teich  ihm  gar  nicht  zustehenden 
Fischerei.  Auch  im  Prekaristenbesitz  ist  B.  ge- 
neigt eine  Art  Rechtsbesitz  zu  finden,  der  nur 
gleich  dem  ihm  correspondierenden  Rechte  nicht 
zur  ausdrücklichen  Anerkennung  als  solcher  ge- 
langt sei.  Dagegen  läßt  B.  die  Natur  des  dem 
Sequester  zustehenden  Besitzes  dahin  gestellt 
sein.  Bezüglich  des  corpus  nimmt  B.  zwei  frei- 
lich nie  hinreichend  „hart  aneinander  gestellte0 
Theorien  an,  deren  eine  die  possessio  als  Zu- 
stand erfaßt  habe,  während  nach  der  anderen 
der  durch  den  entscheidenden  Vorgang  possessor 
Gewordene  es  ohne  Weiteres  bleibe  bis  zum 
Eintritte  eines  die  entgegengesetzte  Wirkung 
äußernden  Vorgangs.  Anstatt  den  Gegensatz 
dieser  beiden  Theorien  sowie  die  verschieden- 
artige theils  präjudicielle  theils  vorwiegend  re- 
cuperatorische  Tendenz  der  intretinendae  possess, 
zu  beachten  und  diese  demgemäß  in  zweierlei 
Rechtsmittel  zu  zerlegen,  „haben  die  Römer 
vielmehr  noch  eine  Verschmelzung  zweier  biß 
dahin  getrennter  Thatbestände  vorgenommen8, 
nemlich  des  zur  usucapio  und  des  zu  den  Inter- 
dicten  berechtigenden  Besitzes. 

Unter  Uebergehung  verschiedener  vom  Ver£ 
berührter  und  geförderter  Fragen  wenden  wir 
uns  sofort  zum  Gesammtbilde,  welches   er  vom 


r 


Bekker,  Reiebt  $w  Blitzes.         1617 

Pognja  der  römischep  Juristen  zeichnet.  Nach- 
-Vlejfu  fängst  der  Besitz  als  ein  uraltes  aber  in 
seinem  Bestände  wie  in  seinen  Folgen  sehr  un- 
bestimmtes Etwas  bestanden  hatte,  führt  der 
Pxätor  ein  neues  an  eine  Besitzart  anknüpfen- 
de« Rechtsmittel  ein  zur  Constatierung  sowie 
.fttym  vorläufigen  Schutze  des  die  Beklagtenrolle 
verleihenden  Besitzes.  Zum  Gewinn  jener  Bolle 
find  der  Sicherung  gegen  Störungen  kommt 
4urch  die  exceptio  vitiosae  possessionis  die  Mög- 
lichkeit der  Wiedergewinnung  entzogenen  Be- 
sitzes ;  zugleich  gestalten  sich  die  Interdicte  ver- 
schieden für  Immobilien  und  Mobilien.  Das 
Werk  der  Juristen  ist  dann  die  —  natürlich 
nicht  absolute  —  Unificierung  des  Besitzes,  die 
jedoch  keineswegs  durchweg  in  befriedigender 
Weise  vollzogen  wird;  so  bedeutet  derselbe 
Ausdruck  den  redlichen  Besitzer  und  den  red- 
lichen Erwerber  sowie  den  Usucapienten  und 
den  von  der  Usucapion  ausgeschlossenen  redli- 
chen Erwerber.  Vor  allem  aber  ist  nicht  zur 
Entscheidung  gelangt  die  Grundfrage,  ob  der 
Thatbestand  des  Besitzes  einen  gleichmäßig 
durchbleibenden  Zustand  oder  einen  einmaligen 
Vorgang  fordert.  Nehmen  wir  aber  letzteres 
an,  so  fehlt  es  wieder  an  hinreichender  Be- 
stimmung sowohl  der  besitzerzeugenden  als  der 
besitzzerstörenden  Vorgänge.  Am  schwersten 
aber  wiegt  der  Vorwurf  unterlassener  Scheidung 
von  Thatbestand  und  Rechtfolge.  „Alles  in 
Allem:  Recht  und  Lehre  von  der  possessio)  wie 
die  erhaltenen  Quellen  diese  auf  uns  gebracht, 
werden  wir  begreifen  und  darum  verzeihen, 
aber  nicht  billigen  und  noch  weniger  festhalten 
flflrfen". 

Den  letzten   §  des  Buches  bildet  die  Präci- 
sierung  der  an  die  Gesetzgebung  zu  stellenden 

102 


1618      Gott  gel.  Anz.  1880.  Stück  51. 

Forderungen,  weniger  im  Sinne  bestimmter  die 
materielle  Gestaltung  des  Besitzrechtes  erschöpfen- 
den Vorschläge  als  im  Sinne  einer  Formulierung 
derjenigen  Principien,  zwischen  welchen  die  Ge- 
setzgebung wird  zu  wählen  haben.  Präcision 
und  Gon8equenz  ist  es  vor  allem,  die  der  Verf., 
wie  er  sie  an  den  Römern  vermißt,  so  von  un- 
serem Gesetzgeber  fordert. 

So  wäre  denn  das  Resultat  des  Buches  ein 
vorwiegend  negatives  und  zw.  ein  negierendes 
nach  mehr  als  einer  Richtung,  indem  es  verneint 
sowohl  die  Brauchbarkeit  des  römischen  Rechtes 
für  uns  als  auch  die  harmonische  und  conse- 
quente  Ausgestaltung  des  römischen  Rechtes 
selbst  und  endlich  verneint  die  Berechtigung 
der  so  oft  vergebens  gestellten  Frage  nach  dem 
„Grunde  des  Besitzschutzes"  in  dem  gemeinhin 
damit  verbundenen  Sinne.  In  allen  diesen  drei 
Verneinungen  wird  aber  ein  unbefangener  Beob- 
achter schwerlich  umhin  können  dem  Verf.  Recht 
zu  geben.  Auch  derjenige  aber,  welcher  ver- 
neinende Resultate  nicht  glaubt  als  wirkliche 
Resultate  ansehen  zu  dürfen,  wird  doch  das 
vorliegende  Buch  nicht  als  ein  resultatloses  be- 
trachten können,  da  es  über  die  historische  Ent- 
wickelung  des  römischen  Besitzrechtes  höchst 
beachtenswerte  Ausführungen  bringt.  Freilich 
könnte  mancher  auch  deren  positive  Resultate 
mit  dem  Schlagworte  abthun  wollen,  daß  es  sich 
hier  nicht  um  Facta,  sondern  um  Hypothesen 
handle.  Es  hieße  aber  Eulen  nach  Athen  tra- 
gen von  der  Unentbehrlichkeit  der  Hypothese 
für  die  Wissenschaft  reden  zu  wollen,  und  des 
Verf.  Hypothesen,  deren  keineswegs  aller  in 
diesem  kurzen  Berichte  gedacht  werden  konnte, 
sind  durchweg,  um  es  mit  einem  Worte  zu  sa- 
gen, so  gesunder  Natur,  daß  der  Boden,  auf  dem 


Bernheini,  Geschichteforsch,  a.  Geschichtsphil.  1619 

sie  gewachsen  sind,  den  weiteren  Anbau  reich- 
lich lohnen  wird.  Und  jedenfalls  wird  der  Verf. 
Hecht  behalten  mit  seiner  Schlußbemerkung,  daß 
es  leichter  sein  werde  „über  das  hier  Gebotene 
weiter  hinauszukommen  als  zurückzukehren  hin- 
ter den  Summenstrich,  den  ich  gezogen". 
Erlangen.  £.  Holder. 


Geschichtsforschung  und  Geschichts- 
philosophie von  Dr.  Ernst  Bernheim, 
Privatdozent  der  Geschichte  in  Göttingen.  Göt- 
tingen  1880.  Verlag  von  Robert  Peppmüller. 
138  S.    8°. 

In  diesem  kleinen,  vorzüglich  geschriebenen 
Werke  stellt  sich  der  Verfasser  die  Aufgabe, 
„die  inneren  Gründe  jener  Entfremdung  zu  er- 
kennen, welche  in  immer  höherem  Maße  zwi- 
schen Geschichtsphilosophie  und  Geschichtsfor- 
schung eingetreten  sei  und  dadurch  klar  zu  le- 
gen, unter  welchen  Bedingungen  dieselbe  be- 
seitigt werden  könnea.  Er  wirft  zu  diesem 
Zweck  zuerst  einen  Blick  auf  die  allgemeine 
Geschichtsauffassung  der  verschiedenen  Zeiten 
und  zeigt,  wie  sich  die  Geschichtswissenschaft 
von  niederen  Anfängen  aus  zu  dem  erhoben 
hat,  was  sie  heute  ist.  Auf  eine  Epoche,  in  der 
die  Grenzen  von  Poesie  und  Geschichte  noch 
ineinanderlaufen,  folgte,  nach  seiner  wohl  an- 
nehmbaren Eintheilung,  diejenige,  in  der  die 
reine,  naive  Erzählung  vorherrschte,  alsdann 
diejenige,  in  der  sich  mit  der  Erzählung  ein 
praktisch-lehrhafter  Zweck  verband,  endlich  die- 
jenige} in  der  man  sich  bestrebte,  „in  demVer- 

102* 


1680      Glitt,  gel.  Ans.  1880.  Sfflek  51. 


•lauf  der  Begebenheiten  den  Zvmmtm&bang  der 
Entwicklung  zu  erkennen".  Damit  seil  nicirt 
gesagt  «ein,  daß  nicht  eine  Auffassung,  die  erst 
später  die  Jurraehende  wurde,  schon  ftttber  ein- 
zelne Vertreter  hatte,  oder  daß  nicht  orack  beute 
bedeutende  Spuren  der  älteren  Auflaflsuagen  u 
bemerken  wären. 

Uniengbar  ist  nun  aber,  daß,  je  höhere  Ziele 
der  Geschichtswissenschaft  gesteckt  worden,  je 
größer  die  Fülle  der  Aufgaben  erschien,  die  je- 
ner Begriff  der  Entwicklung  in  sich  einschließt, 
derto  lebhafter  sich  das  Bestreben  kundmachte, 
cioe  eigene  Disckpün  «au  schaffe«,  die  (diesem 
Gegenstande  gewidmet  Bein  sollte.  Es  ist  .die 
öeBchicbtsphilosophie^als  deren  eisten  Begrün- 
der der  Verfasser,  ohne  die  bedeutenden  .As- 
regungen  der  Franzosen  gering  zu  schätzen, 
Herder  feiert.  'Die  .große  (Mahr  war  allerdings 
damit  gegeben,  daß  .der  .historische  Stoff  > einem 
philosophischen  System  z«  liebe  Mtnechtge- 
schnitten  und  in  seiner  {Behandlung  einer  &J- 
sehen  Methode  unterworfen  würde.  In  <  der  That 
haben  die  beiden  Richtungen  dariGeaehiebtephi- 
lesophie,  welche  der  Verf.  asmumnt,  dies  Aar 
Folge  gehabt.  Er  nennt  sie  die  ideatpbilosop bi- 
sche Richtung,  als  denen  vorzüglichste  Vertreter 
er  Kant,  Fichte,  Schelling,  Hegel  hervorhebt, 
und  die  socialktisoh-naturwissenschafthehe  Rich- 
tung, die  er  in  Oendoroet,  Qomte,  Buckle,  Da 
Bois-Reymond  repräsentiert  findet  Mit  großer 
Feinheit  wird  durchgeführt,  wie  jede  dieser  bei- 
den Richtungen  „intensiv  nur  eine  Seite  des 
Problems  in  Angriff  nahm",  welches  behandelt 
werden  sollte,  die  eine  die  Frage  mach  den 
Faktoren,  die  andere  -die  Frage  nach  dem  .Worth- 
resultate  des  geschichtlichen  Verianfeg.  Esurird 
versucht  nachzuweisen,   „wie  ;beide  Bjchtunggfi 


Bernheim,  Geschichteforsch,  u.  Gesehichtephil.  1621 

im  tenner  einseitigerer  Verfolgung'  ihrer  Tendenz; 
sieh  ku  Systemen  abschlössen,  welche  dnreb 
ihre  Einseitigkeit  in  prinzipiellon  und  methodi- 
schen Gegensatz  Kur  konkreten  Gcecbichtswia- 
genecbaft  geriethen  und  damit  den  ursprüngli- 
chen Boden  unter  nek  verloren".  Demnächst 
wird  hervorgehoben,  daß  die  Geschichtsphüose« 
phie  in  Lotae  eine  ^Wiederauf habme  des  Ge- 
aammtproblems" ,  eine  Wiederanknüpfung  an 
Herder  vorgenommen  und  damit  die  Scheide- 
wand niedergerissen  habe,  welche  die  „exakte 
Ferscbung^  von  der  „Gesamnrtauffaasungu  zu 
brennen  drohte.  Die  Gescbiohlaphilosophie  er- 
scheint  somit  wieder  „auf  die  Bahnen  der  De- 
taalforschung"  geleitet,  sie  erscheint  tder  exak- 
ten Geschichtswissenschaft  und  deren  Methode 
durchaus  homogen  und  ist  im  Stande  alle 
werthvollen  Elemente^  welche  die  unvollkomme- 
nen gesehichtsphilosopMsehen  Versuche  enthal- 
te», in  sich  aufzunehmen". 

Das  ungefähr  ist  der  Gedankengang  der 
vorliegenden  Schrift.  Es  ist  ihr  noch  eine 
ftgihe  von  Anmerkungos  und  Ausführungen  bei- 
gefügt worden,  welche  das  gründlichste  Studium 
des  Verf.  bezeugen.  Vieles,  was  diese  Schrift 
enthält,  ist  dem  Ref.  ganz  wie  aus  der  Seele 
geschrieben  und  er  betrachtet  es  als  ein  gun- 
stiges Zeichen  der  Zeit,  daß  ein  geschulter, 
durch  tüchtige  Specialarbeiten  erprobter  Histo- 
riker von  Fach  überhaupt  den  Muth  gefunden 
haty  einen  Gegenstand  zu  berühren,  an  dem  die 
meisten  der  Fadhgenossen  vorbeigehen,  sei  es, 
weil  sie  ihn  nicht  sehen  wollen,  oder  weil  sie 
ihn  nicht  sehen  können.  Ohne  Widerspruch, 
wenn  er  auch  möglicher  Weise  kein  Echo  fin-« 
defy  kann  jedoch  die  Auseinandersetzung  des 
Verfassers  nicht  bleiben.     Dieser  Widerspruch 


1622      Gott  gel.  Adz.  1880.  Stück  51. 

richtet  sich  nicht  sowohl  gegen  Einzelheiten, 
nicht  sowohl  gegen  die  Auswahl  der  gegebenen 
Beispiele  geschichtsphilosophischer  Versuche,  ob- 
wohl sie  zn  manchen  Bedenken  Anlaß  geben 
könnte,  als  vielmehr  gegen  einen  Fundamen- 
talsatz,  auf  welchen  offenbar  sehr  großer  Werth 
gelegt  wird. 

Fragt  man,  welche  der  bekämpften  Richtun- 
gen die  schärfere  Kritik  des  Verf.  erfährt,  von 
welcher  er  die  größeren  Gefahren  in  der  heuti- 
gen Zeit  befürchtet,  so  ist  es  nicht  die  s.  g. 
idealphilosophische,  sondern  die  s.  g.  sociata- 
stisch-naturwissenschaftliche.  Vor  allem  wendet 
er  sich  gegen  Buckle.  Er  läßt  sich  sogar  zn 
der  Behauptung  fortreißen,  daß  dieser  „die  Be- 
deutung der  Religion,  Literatur  und  der  Staats- 
regierung für  werth-  und  einflußlos  halte 
gegenüber  exakt  wissenschaftlicher  Aufklärung", 
eine  Behauptung,  die  z.  B.  das  achte,  eilfte 
und  dreizehnte  Kapitel  von  Buckles  Werk  an 
vielen  Stellen  widerlegen.  Ich  bin  weit  entfernt 
davon,  die  s.  g.  sozialistisch-naturwissenschaft- 
liche Richtung  der  Geschichtsphilosophie  und 
insbesondere  Buckle  gegen  die  erhobenen  Vor- 
würfe durchaus  vertheidigen  zu  wollen.  Es  ist 
ganz  wahr,  daß  diese  Richtung  zu  einer  „be- 
schränkten Behandlung  des  Materials  und  der 
Probleme"  verführt,  daß  sie  die  Versuchung 
nahe  legt,  „die  ganze  Sphäre  des  Individuellen 
zu  vernachlässigen"  und  über  der  Erforschung 
der  wirkenden  Faktoren  die  Frage  nach  dem 
Resultate  und  Werthmasse  der  Geschichte  außer 
Acht  zu  lassen.  Auch  scheint  mir  die  Verwen- 
dung, welche  Buckle  von  der  Statistik  zn  ma- 
chen sucht,  ganz  abgesehen  von  den  Einwen- 
dungen, die  neuerdings  gegen  Quetelet  und 
seine  Methode   erhoben  worden   sind,   ftir  ge- 


Bernheim,  Geschichte  forsch,  u.  Geschichtsphil.  1623 

schichtsphilosophische  Zwecke  sehr  wenig  frucht- 
bar zu  sein.    Aber  weil  die  Mittel,   welche  die 
Vertreter   dieser  Richtung    häufig    angewendet 
haben,   verfehlt  waren,   soll   deshalb   auch  das 
Ziel   als  falsch  betrachtet  werden?    Weil  man 
auf  diesem  Wege  sich  verirren  kann,    soll  man 
es  deshalb  überhaupt  nicht  für  erreichbar  hal- 
ten dürfen?    Nach  der  Meinung  des  Verfassers 
wäre  allerdings   ein   für  alle  Mal   davon  abzu- 
rathen.    Er   findet,    daß   die  socialistisch-natur- 
wissenschaftliche  Richtung  die  Eigenart  der  hi- 
storischen  Methode   verkenne,    daß   sie   irriger 
Weise  die  Methode  der  Naturwissenschaften  auf 
die  Behandlung  des  geschichtlichen  Stoffes  über- 
trage.    Die   Naturforschung   verfahre,    wie   er 
auseinandersetzt,  vorwiegend  induktiv.    Für  sie 
hat  ferner,  nach  seinen  Worten,  „das  Besondere 
mit  seiner  eigentümlichen  Differenz  kein  eigen- 
werthiges,  wissenschaftliches  Interesse  mehr,  so- 
bald  es  als  Exemplar  einer   allgemeinen  Gat- 
tung oder  als  identischer  Fall  einem  allgemeinen 
Gesetz  untergeordnet  ist".     Die   Geschichtsfor- 
schung  dagegen   kombiniere  in  jedem  Moment 
ihrer   Thätigkeit  die   induktive  und  deduktive 
Verfahrungsweise.     Sie  befinde  sich  „in  einem 
fortwährenden  Hin-  und  Hergehen  zwischen  dem 
Besonderen  und   dem  Allgemeinen,   beziehungs- 
weise dem  Ganzen  ihrer  Objekte,  um  endgül- 
tig    zu     dem    Besonderen     zurückzu- 
kehren". 

Die  Frage  entsteht,  ob  diese  Gegenüberstel- 
lung begründet  ist.  Man  mag  zugeben,  daß  die 
Thätigkeit  des  Naturforschers  im  ganzen  richtig 
charakterisiert  worden  sei,  wennschon  nicht  we- 
nige dagegen  Einspruch  erheben  werden,  daß 
das  Besondere  kein  eigenwerthiges,  wissenschaft- 
liches Interesse  mehr  für  sich  habe,   sobald  es 


1624      Gott.  gel.  Am.  188fr  Stock  51. 

als  Exemplar  einer  allgemeinen  Gattung  oder 
als  identischer  Fall  einem  allgemeinen  Gesetze 
untergeordnet  worden  sei.  Mag  dem  aber  sein 
wie  ihm  wolle:  wenn  man  das  künstlerische 
Element,  das  für  die  Darstellung  allein  von 
Wichtigkeit  ist,  einmal  aus  dem  Spiele  läßt,  s* 
wird  man  finden,  daß  die  Tbätigkeit  des  Hi- 
storikers, nach  den  eigenen  Andeutungen  des 
Verf.  derjenigen  des  Naturforschers  viel  näher 
verwandt  ist,  als  er  es  anzunehmen  scheint.  Zu- 
gegeben, daß  Induktion  und!  Deduktion1  fort- 
während mit  einander  wechseln,  beweisen  nicht 
die  sämmtlichen  S.  95,  96  angeführten  Beispiele, 
daß,  wie  in  der  Naturforschung,  worauf  es  doch 
wesentlich  ankommt,  immer  mit  der  Induktion, 
mit  der  Schlußfolgerung  vom  Besonderen  auf 
das  Allgemeine  begonnen  wird?  Und  ferner 
zugegeben,  um  mit  dem  Verfasser  selbst  zu  re- 
den, daß  die  Aufgabe  des  Historikers  darin  be- 
steht, „alle  Einzelerscheinungen  in  dem  allge- 
meinsten Gesichtspunkte,  dem  der  Entwicklung 
des  Menschenwesens  überhaupt,  der  Humanität, 
zusammenzufassen",  ist  nicht  eben  darin  das 
Bestreben  vorgezeichnet,  nicht  endgültig 
zu  dem  Besonderen  zurückzukehren, 
sondern  vielmehr  vom  Besonderen  zti  dem  All- 
gemeinen aufzusteigen?  Mit  einein  Worte: 
Genau  wie  die  heutige  Naturforschung,  so  wfll, 
oder  sollte  doch,  die  Geschichtsforschung,  um 
wiederum  des  Verfassers  Redewendung  zu  fol- 
gen, „das  Einzelne  im  Zusammenhange  der 
Entwicklung  sehn".  Sie  fällt  in  letzter  Linie 
mit  der  s.  g.  Geschichtsphilosophie  zusammen. 
Und  dies  ist  ebenso  nothwendig  und  vernünftig 
als  es  willkürlich  und  unvernünftig  Wäre,  von 
einer  besonderen  Philosophie  der  Phyöik,  Astro- 
nomie und  Mathematik  zu  reden. 


Bernheim,  Gescbichtsforseh.  u.  Gescbichtsphil.  1625 

Ein  durchgreifender  Unterschied  bleibt  aber 
zwischen  diesen  Disciplinen  nnd  denjenigen, 
welchen  auch  die  Geschichtswissenschaft  zuge- 
rechnet wird,  bestehn.  Sie  wird  nicht  in  dem 
Sinne  von  allgemeinen  Gesetzen  reden  können, 
daß  sie  im  Stande  wäre,  untrüglich  vorauszu- 
sagen, dies  und  jenes  Ereignis,  diese  und  jene 
Kette  von  Ereignissen  werde  diese  und  jene 
Folgen  haben,  oder  auch  beim  Mangeln  dieses 
und  jenes  Ereignisses  u.  s.  w.  würden  die 
Dinge  in  bestimmter  Weise  anders  verlaufen 
sein.  Um  dazu  fähig  zu  sein,  müßte  der  Histo- 
riker wie  der  Naturforscher  mit  Maaß,  Gewicht, 
Berechnung  arbeiten  können.  Eben  darum  er- 
scheinen, wie  Ref.  an  anderer  Stelle  (Sybels  hi- 
storische Zs.  N.  F.  Band  VIII.  193)  anzudeuten 
sich  nicht  enthalten  konnte,  die  so  sehr  belieb- 
ten hypothetischen  Betrachtungen  in  historischen 
Werken  nur  als  müßige  Erzeugnisse  einer  ge- 
schäftigen Phantasie.  Was  geschehen  wäre, 
wenn  Oaesar  nicht  ermordet  worden  wäre,  wenn 
die  Angelsachsen  über  die  Normannen  gesiegt 
hätten  statt  des  Umgekehrten,  wenn  Napoleon 
vor  dem  Erscheinen  Blüchers  Wellington  bei 
Waterloo  hätte  zum  Weichen  bringen  können: 
das  entfällt  aus  dem  Bereiche  der  historischen 
Wissenschaft.  Denn  diese  hat  es  nur  mit  dem 
zu  thun,  was  wirklich  geschehen  ist.  Aber  soll 
ihr  deshalb  versagt  sein,  danach  zu  fragen,  ob 
nicht  gewisse  Erscheinungen  der  Vergangenheit 
in  einer  gesetzmäßigen  Ordnung  mit  einander 
verknüpft  sind,  ob  sich  eine  Reihe  von  anschei- 
nend vereinzelten  Thatsachen  nicht  einer  allge- 
meinen Regel  einfügen  läßt?  Gervinus  hat, 
und  nicht  als  der  erste,  den  Nachweis  zu  führen 
gesucht,  daß  sich  in  dem  gleichartigen  Wechsel 
der  Verfassungsformen   ein    allgemein   giltiges 


1626      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  51. 

„Gesetz  aller  geschichtlichen  Entwicklung" 
offenbare.  Tocqueville  hat  einen  großen  Theil 
seiner  gewaltigen  Geistesarbeit  darauf  verwandt, 
darzulegen,  daß  eine  gradweise  wachsende  „Aus- 
bildung der  Gleichheit"  in  den  politischen  und 
socialen  Verhältnissen  der  Völker  unserer  Kul- 
tur vorgegangen,  daß  eine  demokratische  Revo- 
lution in  den  Gesetzen,  Ideen,  Gewohnheiten 
zum  Siege  gelangt  sei,  und  daß  die  Demokra- 
tie auf  die  verschiedensten  Lebensgebiete  im- 
mer einen  bestimmten  Einfluß  geäußert  habe. 
Einen  berühmten  Historiker,  der  von  der  geisti- 
gen Richtung  eines  Gervinus  oder  Tocqueville 
gleich  weit  entfernt  ist,  habe  ich  den  Satz  aus- 
sprechen und  begründen  hören,  daß  jedes  Mal, 
wenn  zwei  Civilisationen,  zwei  groß«  geistige 
Strömungen  im  Begriff  gewesen  seien ,  sich  mit 
einander  zu  vereinigen,  die  Tendenz  der  Er- 
richtung eines  Universalreiches  sich  gleichzeitig 
geltend  gemacht  habe. 

Mögen  diese  Behauptungen  nun  währ  oder 
falsch  sein:  sie  zeigen,  daß  die  Geschichtsfor- 
schung sich  nicht  davor  scheut,  Fragen  aufzu- 
werfen und  zu  beantworten,  wie  sie  ganz  und 
gar  nach  dem  Sinne  der  s.  g.  socialistisch-na- 
turwissenschaftlichen  Geschichtsphilosophie  sein 
würden.  Nur  darf  sie  nicht,  wie  diese  es  so 
häufig  gethan  hat,  einer  vorgefaßten  Meinung 
zu  Liebe  dem  geschichtlichen  Stoffe  Gewalt  an- 
thun,  etwas  Wesentliches  wegschneiden  oder 
gar  anflicken  nach  Willkür.  Nur  wird  sie  im- 
mer der  Mahnung  des  Verf.  eingedenk  bleiben 
müssen,  statt  sich  sofort  „mit  der  Lösung  der 
letzten  Gesammtprobleme  zu  beschäftigen,  die 
zahlreichen,  ungelösten  Einzelfragen  in  Angriff 
zn  nehmen a.  Daß  bei  einer  solchen  Erforschung 
der  Naturnothwendigkeit    von    Erschei- 


Bernheim,  Geschichtsforscb.  u.  Geschichtsphil.  1627 

nungen  der  Vergangenheit  ein  „Ignoriren  des 
Individuellen"  stattfinden  werde,  braucht  man 
nicht  zu  befürchten.  Es  wird  ihm  allerdings 
nicht  eine  so  hohe  Bedentang  beigemessen  wer- 
den können,  wie  vom  Verf.  der,  ans  einer 
Wendung  anf  S.  81  zu  schließen,  anch  die  Ent- 
wicklung der  modernen  Staaten  in  erster  Linie 
„der  Sphäre  des  Individuellen"  d.  h.  also  doch 
wohl  dem  Einfluß  der  jeweiligen  einzelnen  In- 
haber der  Begierungsgewalt  zuzuschreiben 
scheint.  Aber  es  wird,  wie  es  von  Lotze  S.  87 
gerühmt  wird,  „dem  Wollen  und  Handeln  des 
Individuums  ein  wohlbegründetes  Maaß  sponta- 
ner Wirksamkeit  gewahrt  bleiben a.  Es  giebt 
den  Ereignissen  ohne  Zweifel  einen  eigentüm- 
lichen Charakter,  daß  z.  B.  Alexander  und  nicht 
Philipp  das  makedonisch-persische,  daß  Karl 
der  Große  und  nicht  Pipin  das  neue  römische 
Reich  begründeten.  Caesar,  Napoleon  prägen 
ihrer  Zeit  den  Stempel  ihrer  Persönlichkeit  auf, 
mag  man  auch  der  Ansicht  sein,  daß  in  ihrer 
Zeit  der  Boden  für  einen  Caesar  und  Napoleon 
schon  bereitet  war.  Die  Reformationsgeschichte 
der  einzelnen  Länder  Europas  wird  nicht  zum 
wenigsten  durch  die  Verschiedenheit  der  Indi- 
vidualität aller  einzelnen  Führer  der  Bewegung 
modificiert,  und  schon  deshalb  würde  es  unge- 
schichtlich sein,  diese  Bewegung  auf  eine  ein- 
zige Persönlichkeit  zurückzuführen.  Ebenso  aber 
verhält  es  sich  mit  der  Geschichte  der  Künste, 
der  Wissenschaften  u,  s.  w. 

Ein  Schriftsteller  wie  Carlyle  fordert  frei- 
lich mehr.  „Ich  halte  dafür,  sagt  er,  daß  die 
Universalgeschichte  die  Geschiente  der  großen 
Männer  ist".  Man  hat  auf  diese  Anschauung 
mit  Glück  die  Bezeichnung  des  „Heroenkultus" 


1628      Gott.  gel.  Anz.  1890.  Stück  51. 

angewandt.  Wir  können  uns  nicht  zu  ihm  be 
kennen.  Dem  Genius  des  Einzelnen  bleibe  sein 
Ansprach  auf  das  unsterbliche  Verdienst  schö- 
pferischer That  gewahrt,  aber  auch  der  gewal- 
tigste Einzelwille,  der  reichste  Genius  ist  nur 
Glied  einer  unzerreißbaren  Kette  und  steht,  nag 
er  sich  dessen  bewußt  sein  oder  nicht,  unter 
dem  Banne  einer  Macht,  die  außer  ihm  liegt, 
der  Macht  der  Ideen. 

„Künftig  wird  die  Philosophie  der  Ge- 
schichte, heißt  es  sehr  treffend  in  Döllingers 
Rede  über  die  Universitäten  sonst  und  jetzt, 
den  Nachweis  zu  liefern  bedacht  sein,  daß  es 
geistige  Mächte,  Ideen  sind,  welche  die  Welt- 
geschichte beherrschen  und  gestalten*.  „Für  die 
menschliche  Ansicht,  sagt  W.  von  Humboldt, 
welche  die  Pläne  der  Weltregierung  nicht  un- 
mittelbar erspähen,  sondern  sie  nur  an  den 
Ideen  errathen  kann,  durch  die  sie  sich  offen- 
baren, ist  daher  alle  Geschichte  nur  Verwirk- 
lichung einer  Idee,  und  in  der  Idee  liegt  zu- 
gleich die  Kraft  und  das  Ziel;  und  so  gelangt 
man,  indem  man  sich  bloß  in  die  Betrachtang 
der  schaffenden  Kräfte  vertieft,  auf  einem  rich- 
tigeren Wege  zu  den  Endursachen,  welchen  der 
Geist  natürlich  nachstrebt".  Man  sieht,  wie 
sich  hier  die  beiden  geschichtsphilosopbischen 
Richtungen,  welche  der  Verf.  annimmt,  ergän- 
zen. Hier  wird  das  Gesammtproblem  erfaßt, 
hier  ist  keine  Vernachlässigung  der  Faktoren 
um  des  Werthresultates  und  keine  Vernach- 
lässigung des  Werthresultates  um  der  Faktoren 
willen  vorgezeichnet.  Da  nun  aber  die  Ideen 
des  Einzelnen  gewissen  Gesetzen  folgen,  soll  es 
uns  nicht  erlaubt  sein,  auch  für  die  Ideen  der 
Geschichte,  ohne  vorgefaßte  Meinung  und  will- 


Bernheim^eacbiohteforsch.  u.  Geschichtsphil.  1629 

kttrliche  Konstruktion  nach  genauestem  Detail- 
stadium,  solchen  Gesetzen  nachzuforschen? 

Doch  vielleicht  ist  der  Verf.  auch  seinerseits 
pichjt  abgeneigt,  diese  Sätze  zuzugeben.  Viel- 
leicht ist  ihm  der  Begriff  der  „Entwicklung", 
der  „Humanität"  dasselbe,  was  Humboldt  die 
„Verwirklichung  der  Idee".  Vielleicht  findet  es 
seinen  Beifall,  daß  schon  Herder  das  Walten 
v<w  „Naturgesetzen"  in  der  Geschichte  gesehen 
hat.  Dann  hätte  er  aber  als  letztes  Ziel  der 
Thätigkeit  des  Historikers  nicht  das  Zurück- 
kehren vom  Allgemeinen  zum  Besonderen  an- 
nehmen und  das  Bestreben,  auch  in  der  Ver- 
wirklichung der  Ideen,  in  dem  geschichtlichen 
Stoff  Naturgesetze  zu  erkennen,  nicht  an  sich 
als  eine  gefährliche  Ueberhebung  verurtheilen 
dUrfen. 

Diese  wenigen  Andeutungen  mögen  genügen, 
um  darüber  keinen  Zweifel  zu  lassen,  daß  ,der 
Verf.  uns  mit  einer  Arbeit  erfreut  hat,  die  auch 
da,  wo  sie  zum  Widerspruch»,  reizt,  höchst  an- 
regend wirken  muß.  Möge  sein  Beispiel  Nach- 
ahmung finden,  auch  in  dem  Punkte,  daß  sich 
immer,  wie  bei  ihm,  mit  aller  Schärfe  der  Kri- 
tik die  Fähigkeit  verbinde,  die  einzelnen  Er- 
scheinungen der  geschichtsphilosophischen  Lite- 
ratur in  ihrem  eigenthümlichen  Werthe  zu 
schätzen 

Bern  Oktober  1880.  Alfred  Stern. 


Kurzgefaßte  syrische  Grammatik 
von  Theodor  Nöldeke.  Mit  einer  Schrifttafel 
von  Julius  Euting.  Leipzig,  T.  0.  Weigel  1880. 
(XXXII  und  281  S.  .  Oct.). 

Seit  geraumer   Zeit   war  mehrfach  das  Be- 


1630      GOtt.  gel.  Anz.  1880.  Stück  51. 

dttrfniß  nach  einer  handlichen,  aber  das  Wesent- 
liche enthaltenden  und  dabei  auf  modern  wis- 
senschaftlicher Grundlage  stehenden  syrischen 
Grammatik  empfunden.  Als  ich  mich  entschloß,  ein 
solches  Buch  abzufassen,  dachte  ich  mir  die  Auf- 
gabe, wenige  Abschnitte  ausgenommen,  ziemlieh 
leicht :  hatte  ich  mir  doch  bei  meinen  langjährigen 
Wanderungen  durch  die  wenig  lachenden  Ge- 
filde der  syrischen  Literatur  eine  gewisse  Ver- 
trautheit mit  der  Sprache  erworben  und  mancherlei 
grammatische  Cofiectaneen  gemacht,  außerdem 
hatte  ich  ja  mehrere  nah  verwandte  Mundarten 
grammatisch  genau  untersucht  und  einige  sy- 
stematisch dargestellt  Und  doch  war  jene  Auf- 
fassung irrig.  Wollte  ich  nicht  die  einseitige, 
nur  zum  Theil  genügend  begründete  und  zu- 
weilen gradezu  falsche  Tradition  der  Maroniten 
(Amira  und  Nachfolger)  wiedergeben, '  so  mußte 
ich,  das  sah  ich  bald,  auch  für  die  Laut-  und 
Formenlehre  den  Stoff  mühsam  Stück  für  Stück 
herbeischaffen.  Ich  wußte  längst,  daß  die  eini- 
germaaßen  vollständige  Darstellung  der  syri- 
schen Formen,  besonders  aber  der  Lautregeln 
und  gar  der  Schreibweise  nur  von  einem  Sol- 
chen gegeben  werden  kann,  welcher  lange  Zeit 
auf  die  minutiöse  Durchforschung  zahlreicher 
Handschriften  zu  verwenden  hat:  ich  wußte 
aber  nicht,  wie  schwer  es  sei,  mit  dem  mir  zu 
Gebote  stehenden  Mitteln  und  selbst  mit  der 
Hülfe  liebenswürdiger  Freunde,  die  an  den 
Quellen  sitzen  (Wright,  Zotenberg,  Guidi),  auch 
nur  das  nothdürftige  Material  für  eine  kurze 
Grammatik  zusammenzubringen.  Wenn  die  Laut- 
und  Schriftlehre  daher  etwas  mager  und  un- 
gleichmäßig ausgefallen  ist  und  sich  vielleicht 
auch  die  Formenlehre  eine  ähnliche  Beurtheilung 
gefallen  lassen  muß,  so  liegt  das  zum  Theil  an 


Nöldeke,  Syrische  Grammatik.        1631 

den  Verhältnissen.  Natürlich  hätte  ich  leicht 
einzelne  Abschnitte  sehr  viel  reicher  ausstat- 
ten können,  aber  das  wäre  gegen  den  Plan 
des  Ganzen  gewesen.  Daß  ich  die  s.  g.  „Ac- 
centett  nicht  berücksichtigt  habe,  wird  hoffent- 
lich Billigung  finden.  Ich  halte  es  sogar  für 
sehr  zweifelhaft,  ob  eine  Behandlang  derselben, 
soweit  sie  nicht  zur  Interpanction  dienen,  auch 
in  eine  ausführliche  Grammatik  gehört. 

Immerhin  darf  ich  sagen,  daß  ich  durchweg 
nach  guten  einheimischen  Quellen  gearbeitet, 
aber  bei  deren  Beurtheilung  strenge  Kritik  an- 
gewandt habe.  So  dankbar  wir  namentlich 
Barhebraeus  für  seine  sprachlichen  Mittheilungen 
sein  müssen,  so  haben  wir  doch  immer  zu  be- 
achten, daß  zu  seiner  Zeit  die  syrische  C  alt  Ur- 
sprache längst  eine  todte  war  und  daß  er  nur 
so  weit  zuverlässig  ist,  als  er  sich  auf  sichere 
alte  Ueberlieferung  stützt.  Von  ziemlich  unter- 
geordnetem Werth  ist  für  uns  die  Beurthei- 
lung der  sprachlichen  Erscheinungen  von  Sei- 
ten der  syrischen  Grammatiker,  und  es  scheint 
mir  sehr  überflüssig,  in  einer  Grammatik  ihre 
grammatische  Terminologie  wiederzugeben,  we- 
nigstens soweit  sie  eine,  oft  ganz  mißverstand 
liehe,  Uebersetzung  theils  griechischer,  theils  ara- 
bischer Ausdrücke  ist. 

Für  die  Syntax  lag  in  gedruckten  Werken 
gutes  Material  in  Fülle  vor.  Es  wäre  mir  leicht 
gewesen,  ihr  den  doppelten  Umfang  zu  geben. 
Die  Syntax  umfaßt  so  schon  beinahe  die  Hälfte 
des  Buchs:  wir  Semitisten  sind  ja  glücklicher- 
weise schon  von  den  arabischen  Grammatikern 
her  gewohnt,  diesen  Theil  der  Sprachwissen- 
schaft in  seiner  vollen  Bedeutung  zu  würdigen. 
Ich  darf  es  aussprechen,  daß  hier  zum  ersten 
Mal  der  syrische  Satzbau  nach  dem  Sprachge- 


1632      Gott,  gel.  Anz.  1880.  Stück  frl, 

brauch  guter,  alter  Schriften  dargestellt  ist  Paft 
ich  bei  Weitem  mehr  durch  Beispiele  rede  als 
durch  formulierte  Regeln,  wird  hoffentlich  ge- 
billigt werden.  Diese  Beispiele  habe  ich,  ga#z 
wenige  ausgenommen,  alle  selbst  aus  den  syri- 
schen Schriftstellern  gesammelt 

Ich  hatte  gehofft,  das  Buch  auf  10  Bogen 
beschränken  zu  können,  aber  es  fand  sich  bald, 
daß  ich,  wenp  ich  nur  das  Notwendigste  ge- 
ben wollte,  auch  bei  knappster  Fassung  den 
doppelten  Baum  einnehmen  mußte. 

So  sehr  ich  auch  bei  dieser  Arbeit  die  ver- 
wandten Dialecte  und  Sprachen  immer  im  Auge 
behalte,  so  habe  ich  doch  mit  gutem  Bedacht 
directe  Sprachvergleichung  ausgeschlossen.  Trotz- 
dem dürften  besonnene  Sprachvergleicher  in  der 
Lage  sein,  daraus  Nutzen  zu  ziehn.  Die  Ein- 
wirkung des  griechischen  Sprachgebrauchs  auf 
den  syrischen  hätte  ich  vielleicht  noch  etwas 
häufiger  bezeichnen  können,  als  ich's  gethan  habe 

Die  Mängel  meines  Buches  sind  mir  nur  zu 
gut  bekannt,  und  doch  hoffe  ich,  daß  dasselbe 
nicht  bloß  Anfängern,  sondern  auch  Vorge- 
schrittneren   gute  Dienste  wird  leisten  können. 

Auf  die  von  E  u  t  i  n  g  autographierte  Schrift- 
tafel erlaube  ich  mir  noch  besonders  aufmerk- 
sam zu  machen. 

Für  die  vortreffliche  Ausstattung  spreche  ich 
der  Verlagshandlung  wie  der  Druckerei  (Drugu- 
lin)  meinen  besten  Dank  aus. 

Straßburg  i.  E.  Th.  Nöldeke. 


Für  die  Redaction  verantwortlich :  S.  Rehnüch,  Director  d.  Gott.  pl.  In. 
Verlag  der  Dwtoricttschm  Vortags- BuchJumdkmf. 
Druck  der  DieUrich'schm  Univ.-  Bnchdntcktrei  (W  IV.  Äaestnwl 


.f     fs      *>     *f 


1633 

Göttingische 

gelehrte    Anzeigen 

unter  der  Aufsicht 
der  König!.  Gesellschaft;  der  Wissenschaften. 

Stück  52.  29.  December  1880. 


Inhalt:  Ans  dem  Uterar.  Nachlasse  Ton  Johann  Ludwig  Moale.  Von 
0.  M&jer.  —  F.  v.  A 1 1  e  n  ,  Die  Bohlwege  (Römerwege)  im  Herzog- 
thnm  Oldenburg.  Yon  C.  Kostmann.  —  K.  Yischer-Mer  ian, 
Henman  Sevogel  von  Basel  und  sein  Geschlecht.  Yon  R  Wackernagd. 
—  L.  Lemme,  Die  religionsgeschichtliche  Bedeutung  des  Dekalogs. 
Vom  Verf. 

s:  Eigenmachtiger  Abdruck  von  Artikeln  der  Gott.  gel.  Anz.  verboten  s 


Ans  dem  literarischen  Nachlasse 
von  Johann  Lndwig  Mosle,  Großherzog- 
lich Oldenburgischem  Generalmajor.  Mit  einem 
kurzen  Lebensabrisse.  Herausgegeben  in  Anlaß 
der  hundertjährigen  Stiftungsfeier  der  Literar- 
Gesellschaft  in  Oldenburg.  Oldenburg,  Schulze- 
sche Hofbuchhandlung  und  Hofbuchdruckerei 
(o.  J.).    IV.  und  254  S.  in  8°. 

Durch  Gerh.  Ant.  v.  Halem,  welcher  die  An- 
regung dazu  in  dem  hamburger  Kreise  Klop- 
stock8  erhalten  hatte,  ist  im  December  1779 
in  Oldenburg  die  heute  noch  dort  bestehende 
„Literarische  Gesellschaft"  gestiftet  worden,  de- 
ren Programm  lautete  und  noch  lautet:  „unsere 
literarischen  Kenntnisse  durch  Leetüre  und 
freundschaftliche    Unterhaltung    zu    vermehren, 

103 


1634      Gott  gel.  Adz.  1880.  Stück  52. 

und  in  vertrautem  Kreise  gebildeter  Männer", 
denn  nur  aus  Männern  besteht  sie,  „den  Genuß 
geselliger  Freude  zu  verschönern"  (Jansen 
Aus  vergangenen  Tagen  etc.  Oldenburg  1877. 
S.  67).  Sie  versammelt  sich  wöchentlich  ein  Mal 
bei  einem  der  statutenmäßig  nicht  mehr  als 
zwölf  Mitglieder,  die  sich  durch  Cooptation  er- 
gänzen, und  ist,  sagt  Jansen,  .der  feste  Kern 
geblieben,  welcher  die  verwandten  und  gleich- 
strebenden Geister  der  Stadt  in  sich  vereinigte, 
und  auf  die  Entwickelung  des  Geschmacks  und 
des  Literaturinteresses  in  ihrem  Kreise  einen 
großen  Einfluß  geübt  hat".  Zu  ihrem  Säcular- 
feste  hat  sie  die  vorliegende  Schrift  erscheinen 
lassen,  durch  welche  das  Andenken  eines  zwei 
Jahre  vorher  verstorbenen  Mannes  festgehalten 
wird,  den  sie  mehr  als  vierzig  Jahre  lang  zum 
Mitgltede  gehabt  hatte. 

Der  General  Mosle  (gesprochen  Mosle,  die 
Familie  war  lotharingisch  und  hieß  eigentlich 
deMoncelet),  Sohn  eines  gräflich  bentinck'schen 
Beamten  in  Varel,  geb.  1794,  gehört  zu  der 
durch  den  Aufschwung  von  1813  von  den  Stu- 
dien zu  den  Waffen  abgerufenen  Blttthe  deut- 
scher Jugend.  In  einem  der  hier  mitgetheiiten 
Aufsätze  —  „mein  Soldatenberuf",  S.  17  f.  der 
Schrift  —  erzählt  er  mit  der  farbenfrischen  Le- 
bendigkeit, welche  den  Jugenderinnerungen  der 
Genossen  jener  Zeit  eigen  zu  sein  pflegt,  wie 
er  als  Student  der  Rechte  zu  Straßburg,  der 
einzigen  deutschen  Universität,  die  er  als  An- 
gehöriger des  napoleonischen  Reiches  besuchen 
durfte,  auf  die  ersten  Nachrichten  von  dem  rus- 
sischen Schicksale  der  großen  Armee  und  des- 
sen Folgen,  mit  vier  Landsleuten  sich  durch- 
schlich: wie  sie  über  Heidelberg,  wo  sie  sich 
immatriculiren  ließen,   um  Pässe  zu  bekommen, 


Ans  dem  lit.  Nachlaß  von  J.  L.  Mosle.     1635 

and  Erlangen  nach  Böhmen  gelangt,  in  die 
preußische  Armee  eintraten  und  als  freiwillige 
Jäger  am  Feldzage  von  1813  theilnahmen,  bis 
sie  von  ihrem  Landesherrn  abberufen  wurden, 
am  bei  Formation  der  oldenburgischen  Trappe, 
bei  der  es  an  Officieren  fehlte,  in  dieser  Eigen- 
schaft verwendet  zu  werden.  In  ihr  machte 
Mosle  alsdann  den  Feldzag  von  1815  mit,  und 
ist  nach  dessen  Beendung,  da  sein  Beruf  ihm 
lieb  geworden  war,  oldenburgischer  Soldat  ge- 
blieben: mit  Ernst  und  Ausdauer  Kriegswissen- 
schaften studierend,  bald  auch  zu  militärisch- 
organisatorischen Arbeiten  und  dann  als  militä- 
rischer Lehrer  der  jüngeren  Officiere,  auch  des 
damaligen  Erbgroßherzogs,  herangezogen,  zu- 
letzt längere  Zeit  Regimentscommandeur,  viel- 
fach in  seinem  Berufsstande  sich  auszeichnend 
und  ausgezeichnet;  bis  er  sich  im  Jahre  1857 
in  den  Buhestand  versetzen  ließ,  in  dem  er  dann 
noch  zwanzig  Jahre  lang  gelebt  hat.  Neben 
den  militärischen  veranlaßten  ihn  von  früh  her 
anch  bürgerliche,  politische,  volkswirtschaft- 
liche, ästhetische  Interessen  zu  lebhafter  Bethei- 
ligung. In  Folge  davon  wurde  er  als  Liberaler 
alter  Schule  im  April  1848  vom  Großherzoge 
zum  Bundestagsgesandten,  später  zum  Bevoll- 
mächtigten bei  der  provisorischen  Deutschen 
Centralgewalt  ernannt,  und  erhielt  und  über- 
nahm in  Folge  davon  in  den  nächsten  Jahren 
verschiedene  diplomatische  Aufträge,  bis  er, 
nach  der  österreichischen  Reconstruction  des 
alten  Bundestages,  im  Sommer  1851  wieder  in 
seine  Militärstellung  auf  seinen  Wunsch  zu- 
rücktrat. 

Aus  diesem  Leben,  und  zwar  sowohl  aus 
seiner  activen,  wie  aus  seiner  letzten  beschauli- 
chen Periode,  sind  hier  Aufzeichnungen  mitge- 

103* 


1636      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  52. 

theilt  worden,  die  im  Allgemeinen  ab  autobio- 
graphische Fragmente  zu  bezeichnen  sind.  Si$ 
zerlallen  in  zwei  sich  allerdings  siebt  streng 
scheidende  Gruppen :  die  eine  mehr  persönlicher, 
die  andere  mehr  politisch-zeitgeschichtlicher  Na- 
tur. Zu  ersterer  zählt,  außer  dem  sehen  er- 
wähnten Aufsätze  über  die  Wahl  des  militäri- 
schen Bernfes  (S.  17—52),  eine  Erinnerung  ap 
den  Militärschriftsteller  G.  H.  v.  Berenhorst  und 
die  Wirkung  seiner  Betrachtungen  über  die 
Kriegskunst  auf  ihre  Zeit  und  auf  Mosle  (53— 
70),  eise  überaus  anmuthige  ästhetisch- patrioti- 
sche kleine  Studie  über  Kleists  Prinzen  von 
Homburg  (7 1 — 80),  sodann  Manövererinnerungen 
von  1842  (87-103)  und  teplitzer  ans  verschie- 
denen Jahren  (218—225).  Zu  der  zweiten 
Gruppe  gehören  eine  Darstellung  zweier  Sen- 
dungen nach  Oesterreich  im  Herbste  1848,  nebst 
einer  sich  mit  der  Zukunft  von  Oesterreich  und. 
Preußen  beschäftigenden  Denkschrift  aus  dem 
December  desselben  Jahres  (104—178)!  ferner 
die  sehr  anziehende  und  charakteristische  Er- 
Zählung  einer  Anfangs  Februar  1851  gehabten 
Audienz  bei  Friedrich  Wilhelm  IV.  (179-192), 
und  aus  der  Zeit  des  Druckes,  die  dem  Auf- 
geben der  preußischen  Unionsbestrebungen  folgte, 
die  Aufsätze:  „Noch  nicht  verzweifeln"  vom 
Sept.  1852  (193-203),  „Oesterreich  oder  Preu- 
ßen« 1857)  (204—217),  „Rückblick  auf  1859 
und  Hinausblick  vorwärts«  Decbr.  1859  (226  — 
233).  In  diesen  zeitgeschichtlichen  Aufzeich- 
nungen eines  Mitlebenden,  der  die  Gelegenheit 
gehabt  und  genutzt  hat,  tiefer  in  den  inneren 
Zusammenhang  der  damaligen  Entwickelten 
zu  blicken,  und  die  daher  nicht  ohne  quellen- 
mäßigen Werth  sind,  reden  die  Erfahrungen, 
Empfindungen  und  Ueberlegungen  eines  beson- 


Aus  dem  lit.  Nachlaß  vod  J.  L.  Mosle.     1637 

Irenen,  dfentschgesinnten  und  von  da  ans  Preu- 
Ben  geneigten  Mannes,  der  sein  warmes,  ganz 
dem  Vaterlande  gehöriges  Herz  zähmt,  daft  es 
flicht  verzage,  und  der  die  idealen  Momente  der 
Entwicklung  auch  da  noch  zu  erkennen  und 
zu  schätzen  versteht,  wo  sie  zu  verschwinden 
schienen.  So  wird  in  mehr  als  einer  Richtung 
ein  Werthvotter  Inhalt  hier  geboten. 

Einiges  von  diesen  Aufsätzen  ist  in  militäri- 
schen Kreisen  gelesen ,  Anderes  ist  aus  Briefen, 
das  Meiste  ist  vorgelesen  worden  an  Abenden 
4er  Literarischen  Gesellschaft.  Und  wenn  durch 
den  Eindruck,  welchen  man  aus  den  ebenso 
unterrichtenden  wie  unterhaltenden  Mittheilungen 
Mosle's  von  dessen  Persönlichkeit  erfährt,  man 
sich  an  das  goethe'sche  Wort  in  den  Wahlver- 
wandtschaften über  den  gesellschaftlichen  Vor- 
zug innerlich  gebildeter  Officiere  erinnert  findet, 
so  gewährt  es  eine  nicht  minder  erquickliche 
Freude,  in  den  Kreis  einer  Gesellschaft  zu 
blicken,  welche  für  Vorlesungen,  wie  die  hier 
veröffentlichten,  Ruhe  und  Empfänglichkeit  und 
dasjenige  anregende  Entgegenkommen  besaß,  in 
dessen  Sonne  allein  dergleichen  Früchte  reif 
werden.  Sie  hat  durch  diese  Publicationen  nicht 
bloß  einem  langjährigen  bedeutenden  Mitgliede, 
sondern  auch  dem  Geiste,  der  in  ihr  selbst  wal- 
tet, ein  schönes  Denkmal  gesetzt. 

0.  Mejer. 


Die  Bohlwege  (Römerwege)  im  Her- 
zogthum  Oldenburg  untersucht  durch  Frie- 
drich v.  Alten  1873—1879.  Mit  einer  Karte. 
Oldenburg,  Gerhard  Stalling  1879.    24  S.    4°. 

Die  erste  Entdeckung  und  umfassende  Aus- 


1638      Gott  gel.  Anz.  1880.  Stück  52. % 

grabung  eines  Bohl  weges  wurde  bekanntlich  be- 
reits im  Jahre  1818  in  der  Provinz  Drenthe  im 
Bourtanger  Moor  zwischen  Valthe  und  Ter  Haar 
durch  den  Oberingenieur  Karsten  vorgenommen. 
Damit  war  zugleich  der  Vorwurf  gegeben  zu 
einer  der  lebhaftesten  literarischen  Fehden  nnd 
einer  so  disparaten  Beurtheilung  eines  klar  vor- 
liegenden Tatbestandes,  wie  es  früher  oder  später 
nur  selten  in  Gelehrtenkreisen  vorgekommen  ist. 
Nachdem  die  erfahrensten  Alterthumsforscher 
wie  van  Lier,  Scheltema,  Hofstede,  Adema,  We- 
stendorp  u.  A.  sich  unbedenklich  der  Karsten- 
schen  Ansicht  angeschlossen  hatten,  wonach  je- 
ner Bohlweg  den  Römern  zuzuschreiben  und  als 
ein  Theil  der  bei  Tacitus  (ann.  I.  63)  erwähn- 
ten, von  Domitius  erbauten  pontes  longi  anzu- 
sehen sei,  glaubte  eine  von  der  k.  niederl." Aka- 
demie der  Wissenschaften  eingesetzte  Prüfungs- 
commission diese  hohe  Zeitstellung  nicht  für 
hinlänglich  bewiesen  halten  zu  müssen  und  trat 
der  Meinung  Spandau's  bei,  der  in  dem  Bohl- 
wege einen  vom  Kloster  Ter  Apel  im  15.  Jahr- 
hundert angelegten  Eirchenpfad  erkennen  wollte. 
Obgleich  man  später  bei  dieser  Hypothese  nicht 
stehen  blieb,  vielmehr  bald  einen  dänischen  Kö- 
nig des  12.  Jahrhunderts,  bald  den  Bischof  Bern- 
hard von  Galen  im  17.  Jahrhundert,  auch  die 
Franken  oder  Alemannen  als  Erbauer  jener 
Brücken  heranzog,  behielt  im  Allgemeinen  doch 
die  Ueberzeugung  die  Oberhand,  daß  sie  dem 
Mittelalter  angehörten;  bis  endlich  durch  eine 
im  Jahre  1848  von  dem  trefflichen  Janssen  nach 
sorgfältigen  Lokaluntersuchungen  veröffentlichte 
Abhandlung  (Drenthsche  Oudheden  pag.  66  ff.), 
worin  er  besonders  Gewicht  legte  auf  die  in  der 
Richtungslinie  und  näheren  Umgebung  des  Bohl- 
wegs entdeckten  römischen  Alterthümer,  der  ur- 


v.  Alten,  Bohlwege  im  Herzogth.  Oldenburg.    1639 

gprünglichen  Meinung,  wenigstens  in  Holland, 
wieder  Geltung  verschafft  wurde.  In  seiner  Er- 
wartung eine  Summe  von  3000  fl.,  die  er  zur 
vollständigen  Aufdeckutig  der  Valther  Brücke  für 
erforderlich  hielt,  beschaffen  zu  können,  fand  er 
sich  leider  getäuscht. 

Ganz  ähnlich  wie  in  Holland  wechselten  auch 
in  Deutschland,  wo  inzwischen  auf  oldenburgi- 
schem Gebiete  im  Jahre  1829  die  Bohl wege  von 
Eömbek  und  Brägel  entdeckt  und  beschrieben 
waren,  die  Meinungen  hinsichtlich  des  Alters 
dieser  Anlagen.  Obgleich  schon  früh  die  be- 
rufensten Autoritäten,  und  zwar  zuerst  Berghaus 
im  Jahre  1819  in  diesen  Blättern,  sich  für  den 
römischen  Ursprung  ausgesprochen  hatten,  fand 
seit  den  vierziger  Jahren  die  entgegengesetzte 
Annahme  mehr  und  mehr  bei  uns  Eingang,  der 
Art,  daß  in  neuerer  Zeit  die  Bohlwege  förmlich 
in  Mißcredit  geriethen  und  alles  historische  In- 
teresse eingebüßt  hatten. 

Ein  um  so  höheres  Verdienst  ist  es  daher, 
wenn  Herr  von  Alten,  unbekümmert  um  die 
herrschende  Stimmung,  nicht  nur  Jahrelang  sich 
einer  mühevollen  Untersuchung  der  Oldenburger 
Moore  hinsichtlich  der  Bohlwege  unterzog,  son- 
dern diese  Arbeit  auch  zu  einem  solchen  Ende 
hinausführte,  daß  fernerhin  die  Erbauung  der 
Bohlwege  durch  die  Römer,  als  eine  ihrer  wich- 
tigsten und  großartigsten  Hinterlassenschaften, 
nicht  mehr  in  Frage  gestellt  werden  kann. 

Die  Beweisführung,  welche  der  Verfasser  in 
der  vorliegenden  (der  Literar-Gesellschaft 
in  Oldenburg  zur  Säcularfeier  1879  De- 
cember 15  ,in  treuer  Angehörigkeit*  gewid- 
meten) Schrift,  an  die  Janssen'sche  Abhand- 
lung gleichsam  anknüpfend,  klar  und  sach- 
gemäß ohne  weitere  Polemik  entwickelt,  läßt  in 


1640      Gott  gel  Adz.  1880.  Stück  52. 

dieser  Beziehung  gar  keinen  Zweifel  meto  auf- 
kommen und  stützt  sieh  einmal  auf  die  topo- 
graphisch einheitliche  Richtungslinie  der  Brücken, 
dann  anf  ihre  einheitliche  Technik  nnd  endlieh 
auf  die  in  ihrer  Nähe  vorkommenden  römischen 
AlterthUmer. 

Es  dürfte  bei  der  Bedeutung  des  Gegenstan- 
des gerechtfertigt  erscheinen,  hier  wenigstens  die 
Hauptpunkte  mit  kurzen  Worten  näher  zu  erörtern. 

Nach  den  bis  jetzt  vorliegenden  Aufgrabun- 
gen  lassen  sich  bei  den  Bohlwegsanlagen  im 
Wesentlichen  zwei  Hauptrichtungen  unterschei- 
den. Die  eine  geht  in  nordöstlicher  Richtung 
von  Leer  über  Kernels  bis  zur  Südspitze  des 
Jadebusens  und  ist  hinreichend  festgestellt  durch 
die  von  dem  Verf.  im  Lengener  Moor,  dann  bei 
Conneforde  und  bei  Jethausen,  südlich  von  Va- 
rel gemachten  Entdeckungen.  In  welcher  Weise 
dieser,  im  Volke  als  Römerstraße  bekannte  Weg 
sich  weiter  nördlich  oder  nordöstlich  fortsetzt, 
bedarf  noch  näherer  Ermittlungen;  dagegen 
scheint  eine  Abzweigung  der  Hauptstraße,  in 
der  Richtung  auf  Oldenburg  zu,  durch  eine  bis 
jetzt  freilich  erst  in  geringer  Erstreckung  öst- 
lich von  Nord-Edewecht  durch  von  Alten  frei- 
gelegte Moorbrücke  constatiert  zu  sein. 

Der  zweite  Haupttractus  fällt  genau  in  die 
Linie  von  Ter  Haar  über  Lathen,  Sprakel,  Lö- 
ningen  nach  Vechta;  erstreckt  sich  also,  mit 
geringer  südlicher  Abweichung,  von  Westen 
nach  Osten  auf  eine  Entfernung  von  etwa  100 
km.  Bei  Valthe,  in  der  Provinz  Drenthe  be- 
ginnend, zieht  sich  der  3  7»  Meile  lange  Bohl- 
weg zunächst  nordöstlich;  geht  dann  mit  schar- 
fer Wendung  in  die  östliche  Richtung  über,  bis 
er  bei  Ter  Haar  auf  festem  Geestboden  endet 
Hieran  schließt  sich  ein  im  Ruiterbroker  Moore 


v.  Alten,  Bohlwege  im  Herzogtb.  Oldenburg.  1641 

aufgefundener,  aber  durch  Culturen  bereits  im 
vorigen  Jahrhundert  zerstörter  Bohl  weg,  der 
sich,  nachdem  er  in  der  Nähe  von  Landegge 
die  Ems  überschritten,  östlich  durch  das  Tinner 
Dosen-Moor  fortsetzt,  wo  ei*  westlich  von  Spra- 
kel  im  Jahre  1860  entdeckt  wurde.  Zwischen 
Sprakel  und  der,  in  östlicher  Richtung  etwa  60 
km  entfernten  Ortschaft  Brägel  nahe  der  olden- 
burgischen Grenze,  eine  Strecke,  die  übrigens 
vorherrschend  festen  Geestboden  aufweist,  sind 
bis  jetzt  keine  Bohlwege  freigelegt;  aber  die 
östliche  Richtung  der  ganzen  Heerstraße  er- 
scheint durch  die,  durch  Herrn  von  Alten  genau 
ermittelte  Lage  des  Bohlwegs  zwischen  Brägel 
und  Schobrink  vollständig  gesichert.  Mutb  maß- 
lich wurde  in  der  Nähe  von  Barnstorf  die  Hunte 
überschritten;  doch  fehlen  bis  jetzt  nähere  Ju- 
dicien um  die  Straße  in  nordöstlicher  oder  öst- 
licher Richtung  weiter  verfolgen  zu  können. 
Aus  der  Lage  der  von  Nieberding  aufgefunde- 
nen Moorbrücke  bei  Römbek  scheint  dagegen 
zn  folgen,  daß  eine  aus  der  Gegend  von  Osna- 
brück herkommende  Straße  sich  zwischen  Scho- 
brink und  Barnstorf  mit  der  westlichen  Haupt- 
straße vereinigt  haben  muß. 

Man  wird  hiernach,  so  lückenhaft  wie  die 
bis  jetzt  entdeckten  Bohlwege  unter  einander 
auch  dastehen,  nicht  daran  denken  wollen,  den 
einzelnen  Strecken  eine  selbständige  Bestimmung 
zuzuschreiben;  vielmehr  stellen  sie  sich  deutlich 
dar  als  Bruchstücke  eines  großen  Straßen- 
systems, dessen  Hauptlinien  im  Generellen  die 
Richtung  von  West  nach  Ost,  diejenige  Richtung 
also,  in  welcher  die  Römer  von  der  Ems  her  in 
Germanien  vordrangen,  inne  halten;  wobei  noch, 
wie  von  Alten  nachweist,  der  Umstand  bemer- 
merkenswerth   erscheint,   „daß  da,   wo  mehrere 


1642      Gott  gel.  Anz.  1880.  Stück  52. 

dieser  Wege  nahe  bei  einander  von  W.  nach  0. 
führen,  sie  sowohl  in  Holland  wie  in  Olden- 
burg jedesmal  con  vergierend  nach  Ost,  sich 
östlich  des  zu  überschreitenden  Moores  treffen". 

Der  Ausführung  dieser  Bauten  liegt  im  All- 
gemeinen nicht  nur  ein  und  dasselbe  technische 
Princip  zu  Grunde,  das  Bestreben  nämlich,  die 
größte  Schnelligkeit  in  der  Herstellung  mit 
möglichster  Solidität  zu  vereinen,  sondern  auch 
in  den  Details  der  Arbeiten  zeigt  sich  eine 
geradezu  überraschende  Gleichartigkeit 

Die  einzelnen  Bohlen  sind  durchschnittlich 
2,75  m  lang  und  30—50  cm  breit,  niemals  ge- 
sägt, sondern  stets  einmal  oder  zweimal  gespal- 
ten; doch  ist  ihre  obere  Seite  mit  dem  Beile 
gut  geglättet.  Sie  ruhen  auf  Langschwellen, 
und  zwar  auf  einer  mittleren  und  auf  zwei  je 
1  m  davon  entfernten  Seitenschwellen,  die  aus 
schweren,  hart  vor  einanderstoßenden  Stämmen 
bestehen,  deren  Oberfläche  behauen  ist.  Um  ihr 
seitliches  Ausweichen  zu  verhindern,  ist  (wie 
bei  Römbeck)  entweder  jede  einzelne  Bohle,  in 
der  Kegel  aber  nur  jede  fünfte  oder  sechste,  an 
ihren  Enden  mit  einem  etwa  10  qcm  großen 
Loche  versehen,  durch  welches  ein  60 — 70  cm 
langer,  viereckig  bearbeiteter,  zugespitzter  Pfal 
getrieben  wurde.  Von  wenigen  Ausnahmen  ab- 
gesehen, liegen  die  Bohlen,  höchst  zweckgemäß, 
klinkerweise  geordnet,  d.  h.  sie  greifen  etwa  in 
einer  Breite  von  6  cm  eine  über  die  andere. 
Und  da  nun,  nach  den  vorliegenden  Untersu- 
chungen, ebensowohl  in  Holland  wie  in  Olden- 
burg und  Hannover  jedesmal  die  Kante  der 
östlich  liegenden  Bohle  über  der  westlichen 
liegt,  so  folgt  unwiderleglich,  als  ein  für  die 
einheitliche  Herstellung  der  Bohlwege  geradezu 
entscheidendes  Ergebniß,  daß  der  Bau  aller  die- 


v.  Alten,  Bohlwege  im  Herzogtb.  Oldenburg.  1643 

8er  Straßen  in   der  Richtung   von  West  nach 
Ost  ausgeführt  sein  muß. 

Von  dieser  einfachen  und  doch  soliden  Con- 
struction, bei  welcher  überall  kein  Eisen  verwen- 
det wurde,  ist  nur  in  seltenen  Fällen,  deren  Er- 
wähnung hier  zu  weit  führen  würde,  und  eigent- 
lich nur  dann,  wenn  besonders  ungünstige  Bo- 
denverhältnisse eine  größere  Tragfähigkeit  des 
Planums  verlangten,  abgewichen  worden.  Man 
wird  dem  Verfasser  unbedenklich  zugestehen, 
„daß  diese  offenbar  von  demselben  Volke  in- 
sich  sehr  nahe  liegender  Zeit  ausgeführten  Wege 
auf  eine  bestimmt  ausgebildete  Kriegstechnik 
und  feste  Gliederung  hinweisen,  die  wir  keinem 
germanischen  Volksstamme,  sondern  nur  den 
Römern  zuschreiben  können". 

Die  aus  dem  früheren  Mittelalter  und  aus 
späterer  Zeit  herrührenden ,  .  durch  die  Moore 
angelegten  Verbindungswege  (Polderwege,  Sand- 
wege, Konrebberswege,  Specken)  lassen  sich 
durch  ihre  mangelhafte  Ausführung  leicht  von 
den  eigentlichen  Römerwegen,  wohin  offenbar 
auch  die  800  Ruthen  langen  Moorbrücken  von 
Großenhein,  Amt  Lehe,  zu  rechnen  sind,  unter- 
scheiden. 

Nun  kommt  aber  als  drittes  Moment  noch 
hinzu,  daß  sowohl  auf*  wie  neben  diesen  Moor- 
straßen und  in  der  Richtung  derselben  im  trock- 
nen Geestboden  römische  Alterthümer  vorherr- 
schend gefunden  werden ,  und  auch  römische 
Lagerplätze  in  ihrer  unmittelbaren  Nähe  sich 
nachweisen  lassen. 

Die  in  Holland  in  der  Umgegend  von  Valthe 
gemachten  Römerfunde  hier  ganz  bei  Seite  las- 
send, erwähnen  wir,  nach  den  Angaben  des 
Verfassers,  das  römische  Gastell  bei  Bokeloh, 
so  wie  die  römischen  Lagerplätze  zwischen  den 


1644      Gott.  gel.  Adz.  1880.  Stück  52. 

Ortschaften  Garen  und  Marren,  mit  einer  Münze 
des  Maxentius  und  sehr  schönen  Bronzefiguren. 
Ganz  besonders  zahlreich  sind  die  Münzfunde 
vertreten,  unter  denen  in  nördlicher  Richtung 
Jever  mit  nicht  weniger  als  5000  Denaren  aas 
der  Zeit  von  69 — 81  p.  Chr.  und  Bingttm  bei 
Leer  mit  18  Münzen  von  139 — 2  a.  Chr.  in  Be- 
tracht kommen.  Südlich  von  hier  bis  in  die 
Gegend  des  Tinner  Bohlwegs  scheinen  römische 
Alterthümer  überhaupt  zu  fehlen;  woraus,  wie 
der  Verfasser  bemerkt,  zu  schließen,  „daß  die 
Römer  auf  dieser  weiten  Strecke,  vor  deren 
Mitte  etwa  Bourtange  liegt,  das  rechte  Ems-Ufer 
nicht  betreten  haben".  Desto  häufiger  treffen 
wir  dann  wieder  auf  Spuren  ihrer  Anwesenheit 
in  der  Nähe  und  Richtung  des  genannten  Bohl- 
wegs: bei  Lintloh  wurden  300  Münzen  aus  der 
Zeit  von  54 — 180  p.  Chr.  gefunden,  bei  Land- 
egge 3  Goldbrakteaten,  bei  Herrenstedt  Münzen 
von  Hadrian  bis  Antonin,  bei  Spahn  solche  des 
Augustus  und  der  Faustina,  bei  Duneburg,  Lö- 
ningen,  Märschendorf  einzelne  Denare  und  bei 
Damme  viele  römische  Münzen,  von  denen  keine 
jünger  war  als  die  Zeit  des  Germanicus. 

Hierzu  kommen  von  sonstigen  Alterthümern 
unzweifelhaft  römischen  Ursprungs  die  Bronze- 
kessel von  Nieholt,  Böen,  Ganderkesee,  Stolze- 
nau ;  sowie  die  bei  Füllen,  Bunnen  und  Damme 
entdeckten  Bronzestatuetten  und  Spängen.  Da 
die  meisten  von  den  in  Oldenburg  gemachten 
Funden  erst  in  den  letzten  Jahren  bekannt  ge- 
worden sind,  seit  dort,  besonders  auf  Anregung 
des  Herrn  Verfassers,  das  lebhafteste  Interesse 
für  die  Alterthümer  des  Landes  erwacht  ist,  so 
läßt  sich  voraussetzen,  daß  ihre  Zahl  noch  we- 
sentlich vergrößert  wird.  Einzelnes  Hefte  aus 
hannoverschem  Gebiet    sich   gleich  nachtragen: 


v.  Alten,  Hohlwege  im  Berzogth.  Oldenburg.  1645 

u.  a.   ein  in   der  Hasseler  Heide  nördlich  von 
Bassam    ausgehobener    römischer   Bronzekessel 
mit    zwei   eisernen  Griffen,    nnd   ein   zweiter, 
prachtvoller  Krater   aas   der  Gegend  von  Stol- 
stenau.    Aach  möchten   die  im  Osnabrück'schen 
mehrfach  in  Gräbern  entdeckten  kleinen  Tohn- 
pfeifen  hierher  zu  zählen  sein,  die  in  der  Form 
vollkommen   übereinstimmen   mit   den    eisernen 
Pfeifen  aas  römischen  Stationen  des  Waadtlan- 
des,  des  Berner  Jura,  Belgiens  u.  s.  w.     Wenn 
aber,   einer   nicht  sehr  competenten  Quelle  fol- 
gend, der  Verfasser  (S.  8)  auch  römische  Waf- 
fenfunde  in  der  Nähe  der  Düendorfer  Schanzen 
erwähnt,  so  sieht  Referent  sich  in  der  Lage,  in 
diesem  Falle  einen  Irrthum  constatieren  zu  müs- 
sen; denn   anter  den  dort  gefundenen  ziemlich 
werthlosen  Eisensachen   ist   auch  nicht  ein  ein- 
ziges Stück  vorhanden,   das   nur  im  Entfernte- 
sten auf  römischen  Ursprung  hindeuten  könnte. 
Wir  werden  nach  dem  vorhergehenden  dem 
Herrn  Verfasser  nur  mit  vollster  Ueberzeugnng 
beipflichten,    wenn   er  als  Gewinn   seiner  aus- 
dauernden,  beschwerlichen  Untersuchungen   die 
Bohlwege  schlechthin  als  Römerwege  oder  pontes 
longi  auf  dem  Titel   seines  Werkes  ankündigte. 
Er  hat  durch  diese  Wiederentdeckung  des  wah- 
ren Charakters  jener  vielberufenen  Wegeanlagen 
einen   Beitrag   von   unberechenbarer  Tragweite 
geliefert  für  die  ältere  Geschichte  unseres  Vater- 
landes.    Mag   einstweilen   noch    dahin   gestellt 
bleiben,  wo  wir  speciell  die  für  die  Marschroute 
des  Cäcina  (ann.  1.  c.)  in   Betracht    kommende 
Strecke  der  pontes  longi   zu  suchen  haben,  — 
so  viel  ist  klar,  eine  wissenschaftliche  Bearbei- 
tung der  strategischen  Operationen  und  Bewe- 
gungen  der  Römer  im  nordwestlichen  Deutsch- 
land wird  künftighin  nicht  anders  möglich  sein 


1646      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  52. 

als  auf  der  Basis  der  Bohlwegsanlagen.  Gewin- 
nen diese  dadurch  eine  geradezu  nationale  Be- 
deutung, so  steht  nm  so  mehr  zu  wünschen,  dad 
eine  systematische  Durchforschung  der  Moore 
Oldenburgs  und  Hannovers  regierungsseitig  in 
die  Hand  genommen  oder  wenigstens  befordert 
werde,  als  die  Zerstörung  jener  wichtigen  Denk- 
mäler mit  dem  Fortschreiten  der  Moorculturen 
und  der  Torfgewinnung  in  rapidester  Weise 
überhand  zu  nehmen  droht. 

Gelle.  Hostmann. 


Henman  Sevogel  von  Basel  nnd 
sein  Geschlecht,  von  E.  Vischer-Me- 
rian.  Basel,  Benno  Schwabe,  Verlagsbuchhand- 
lung.   1880.    XVI  und  122  S.    groß  4°. 

Das  Buch  verdankt  persönlichen  Bezügen 
seine  Entstehung.  Der  Verfasser,  von  Beruf 
nicht  Gelehrter  sondern  Fabrikant ,  sammelte 
geschichtliche  Notizen  über  die  ihm  eigentüm- 
lich zustehende  Burg  Wildenstein  im  Jura  nahe 
bei  Basel.  Unter  den  frühern  Herren  dieses 
Schlosses  erschienen  die  Sevogel,  und  von  die- 
sen erweckte  das  meiste  Interesse  Henman,  der 
bei  S.  Jacob  ruhmvoll  gefallene  Anführer  der 
Basler.  Die  Studien  über  ihn  erweiterten  sich 
bald  zu  Studien  über  sein  ganzes  Geschlecht 
und  riefen  dem  Plan  einer  vollständigen  Fami- 
liengeschichte. Die  für  diesen  Zweck  umsichtig 
und  exact  durchgeführte  Ausbeutung  des  um- 
fangreichen Quellenmaterials  ergab  zunächst 
einen  Aufsatz,  welcher  in  der  historischen  Ge- 
sellschaft zu  Basel  vorgetragen  wurde ;  aus  ihm 


Vischer-Merian,  Henman  Sevogel  von  Basel.   1647 

erwuchs  in  nochmaliger  Ueberarbeitung  das  vor- 
liegende Werk. 

Diese  Genesis  erklärt,  warum  das  Bach  ge- 
schrieben wurde.  Denjenigen,  welcher  sich 
wandern  möchte  über  den  Aufwand  so  ausge- 
dehnter Forschung  für  einen  Gegenstand  von 
anscheinend  so  beschränkt  localem,  ja  persönli- 
chem Interesse,  und  noch  mehr  über  die  so  statt- 
liche Publication  ihrer  Ergebnisse,  entschädigt 
nicht  nur  die  Freude  an  der  Art  und  Weise  der 
Darstellung,  welche  jedem  Fachmann  Ehre  ma- 
chen würde  (ohne  doch  jedem  schreibenden 
Fachmann  zu  Gebote  zu  stehen),  und  das  Wohl- 
gefallen an  der  Ausstattung  des  Buches,  welche 
von  der  äußern  Gestalt  anderer  Geschichtswerke 
allerdings  sehr  verschieden  ist,  sondern  er  wird 
zugleich  erkennen,  daß  das  Buch  auch  einer 
allgemeineren  über  örtliche  Grenzen  hinaus- 
gehenden Betrachtung  fähig  und  werth  ist. 

Henman  Sevogels  Geschlecht  erlebte  8  Gene- 
rationen und  dauerte  vom  Beginn  des  14.  bis 
zum  Ende  des  15.  Jahrhunderts.  Es  gehörte 
also  der  Zeit  an,  in  welcher  das  Bürgerthum 
politisch  und  social  zur  Macht  wurde,  und  zeigt 
ans  diese  Entwickelung  an  sich  selbst  in  den 
lebendigsten  Zügen. 

Der  erste  Sevogel,  welchen  die  Urkunden 
nennen,  ist  Heinrich,  1322.  Sein  Beruf  wird 
nicht  angegeben;  doch  läßt  eine  Stiftung  ihn 
als  wohlbegüterten  Mann  erscheinen.  Im  übri- 
gen erfahren  wir  nichts  von  ihm,  erst  sein  gleich- 
namiger Sohn  tritt  in  ein  helleres  Licht.  Die- 
ser betrieb  den  Beruf  eines  Wechslers  (was  wohl 
schon  der  Vater  gewesen  war),  und  hatte  zu- 
gleich das  Amt  eines  bischöflichen  Steuerein- 
nehmers. Er  war  reich,  besaß  Häuser  und 
Zinse  in  beiden  Städten  und  Güter  in  den  um- 


1648      GOtt.  gel.  Anz.  188a  Stück  52. 

liegenden  Dörfern.  Auch  am  öffentlichen  Leben 
nahm  er  Theil,  erst  als  Beisitzer  im  Gericht  des 
Schultheißen,  dann  als  Zünftiger  im  B*th.  1362 
oder  1363  starb  er  und  hinterließ  zwei  Söhne, 
einen  Heinrich  and  einen  Conrat.  Jener  starb 
schon  1366  und  hatte  keine  männliche  Nach* 
kommenschaft;  Conrat  dagegen,  mit  Elsine  zem 
Rosen  vermählt  (ist  das  sicher?  meint  die  an- 
gezogene Stelle  nicht  eher  Gonrats  Schwester 
Elsine,  Henmans  zem  Hosen  Frau?),  setzte  das 
Geschlecht  fort  Auch  er  war  Wechsler  und  er- 
scheint alljährlich  unter  der  Zahl  derjenigen, 
welche  der  Stadt  Geld  geliehen  haben;  auch  er 
war  Vertreter  der  Hausgenossen  im  Bath  und 
saß  ebenfalls  im  Gericht  Unter  ihm  scheint 
das  Ansehen  seines  Geschlechtes  schon  gestie- 
gen zu  sein ;  die  Zeugnisse  der  öffentlichen  Thä- 
tigkeit  mehren  sich,  auch  die  Wohnung  wurde 
geändert,  was  ein  nicht  unwesentliches  Merk- 
mal ist;  das  alte  bescheidene  Stammhaas  bei 
der  Wechslerlaube  ward  verlassen,  und  zwei 
Höfe  in  den  vornehmen  Quartieren  auf  Burg 
und  zu  S.  Feter  trugen  nun  den  Namen  der 
Sevogel.  Conrat  starb  1374,  und  sein  Sohn 
Peterman  war  sein  Erbe,  dazu  bestimmt,  den 
Grund  für  die  künftige  erhabenere  Stellung  des 
Hauses  zu  legen.  Schon  seine  Heirath  mit  Mar- 
garetha  Marschalk,  aus  altem  ritterlichem  Ge- 
schlechte, öffnete  ihm  dazu  den  Weg«  Sofort 
nach  seines  Vaters  Tod  trat  er  in  den  Rath, 
doch  nicht  mehr  wie  jener  als  Zünftiger,  son- 
dern als  Achtbürger,  als  Mitglied  der  hohen 
Stube.  Es  ist  nicht  bekannt,  in  welcher  Weise 
ein  solcher  Uebertritt  geschah.  Reichthnm  and 
politische  Bedeutung  waren  es  wohl,  die  ihn 
veranlaßten  und  rechtfertigten;  vielleicht  war  er 
Bedingung,   vielleicht    Folge    der    Heirath    mit 


Vischer-Merian,  Henman  Sevogel  von  Basel.  1649 

Margarethä  Marschalk,  jedenfalls  aber  von  höch- 
ster Bedentnng  für  Stellung  nnd  Geschick  des 
Hauses.  Peterman  Sevogel  gehörte  von  nun  an 
einem  ganz  neuen  Kreise  von  Menschen,  An- 
schauungen, Rechten  und  Pflichten  an.  Diese 
Veränderung  der  Stellung  ist  natürlich  von  Ein- 
fluß auch  auf  den  Bestand  der  Quellen,  und 
zwar  so,  daß  die  Nachrichten  derselben  über  die 
einzelnen  Träger  des  Namens  jetzt  eher  seltener 
fließen  als  über  die  frühern  Sevogel  und  jeden- 
falls anderes  enthalten.  Von  jenen  stammen 
zahlreiche  Urkunden  über  Kauf  und  Tausch  und 
Fröhnung  von  Grundstücken,  Häusern,  Zinsen: 
Zeugnisse  ihres  auf  Erwerb  gerichteten  Lebens; 
—  bei  diesen  verstummen  die  Quellen  beinahe 
völlig  in  dieser  Richtung,  und  anderes  tritt  zu 
Tage;  wenn  auch  die  Menge  der  gemeldeten 
Thatsachen  vielleicht  geringer  ist,  so  erlauben 
dieselben  doch  einen  giltigen  Schluß  über  das 
ganze  Handeln  und  Treiben  der  Betreffenden. 
So  auch  mit  Peterman  Sevogel.  Seiner  Standes- 
veränderung entsprach,  daß  seine  hauptsächliche 
Thätigkeit  nun  dem  Rathe,  dem  Gerichte,  den 
anderweitigen  Beamtungen  gewidmet  ward;  mit 
ihr  im  Zusammenhang  stand  auch  der  Erwerb 
einer  ritterlichen  Wohnung,  des  schon  genann- 
ten Wildensteins.  Denn  wenn  auch  Peterman 
selbst  dem  Ritterstand  nicht  angehörte,  so  war 
doch  seine  Gemahlinn  ritterbürtig,  und  erhoffte 
er  dies  für  seine  Nachkommen.  Um  so  erwünsch- 
ter war  der  Familie,  jetzt  schon  rittermäßigen 
Besitz  zu  erwerben.  Schloß  und  Berg  Wilden- 
stein waren  Eigenthum  der  Domprobstei  Basel 
und  von  ihr  erbliches  Lehen  eines  Zweiges  der 
von  Eptingen.  Von  ihnen  kamen  sie  an  die  von 
Baden,  von  diesen  an  das  Deutschordenhaus 
Beuggen.    Diese  Gomthurei    nun  verkaufte  das 

104 


1650      Gott,  gel.  Anz.  1880.  Stück  52. 

Got  1388  an  Petennan  Sevogel,  welcher  sodann 
in  den  folgenden  Jahren  es  durch  weiteren  An- 
kauf umliegender  Güter  zn  einem  stattlichen  Be- 
sitz abrundete.    Aber  schon  1398  starb  er,  noch 
im  besten  Mannesalter,  und  hinterließ  einen  ein- 
zigen Sohn,  Bernhard.     Ueber  diesen  wird  nur 
weniges  und  unbedeutendes  berichtet    Auch  er 
hatte  den  Sitz  im  Bath  inne,  lebte  wohl  meist 
auf  dem  Wildenstein,  und  starb  frühe  1418  oder 
1419.    Seinem,  wiederum  einzigen,  Sohne  Hen- 
man   war  es  vorbehalten,   dem  Namen  Sevogel 
einen   weithin   schallenden  Klang  zn  verleihen. 
Dies  jedoch  nicht  durch  die  Thaten  seines  nicht 
lange  dauernden  Lebens;  dieselben   sind    ohne 
wesentliche  Bedeutung.    In  den  Bath  wurde  er 
nur   einmal   gewählt,   Schloß   Wildenstein    war 
seine  bleibende  Wohnung,   hier   weilte    er    mit 
Vorliebe.    Von  den  Verhältnissen  der  Stadt  löste 
er  sich  immer  mehr  ab,   er   veräußerte   Besitz- 
ungen, die  dort  lagen,  und  erwarb  Güter  in  der 
Nähe   seiner  Burg.     Das  Leben   eines  Junkers 
auf  dem  Lande  scheint  ihm  völlig  behagt  zu 
haben.    Wenn   wir  ihn  in  der  Stadt  antreffen, 
so  ist  es  das  eine  Mal   bei  einer  Schlägerei  in 
der  adlichen   Trinkstube,  das  andere  Mal   bei 
einem  Proceß,  den  er  mit  einer  Klosterfrau  zu 
führen    hat.     Alle   andern   urkundlichen  Nach- 
richten  beziehen   sich   auf  Verhältnisse    seines 
Besitzes  in  der  Landschaft,  Verhandlungen  mit 
seinen   Pächtern,   Erwerb   von  Gütern   n.  8.  w. 
Daß  er  einmal  einen  Basler,  an  welchen  er  An- 
sprache zu  haben  meinte,  der  Freiheit  zuwider 
vor  den  Dinghof  zu  Bubendorf  lud,  anstatt  ihn 
vor   dem    Schultheißen    zu   Basel    zu    suchen, 
?™a  *  iauch   aus  8einem  Selbstbewußtsein  als 
st&rfn!  u      2?   und   aus  der  Abneigung  gegen 
städtisches  Wesen  entsprungen  sein.    Im  Baths- 


Vischer  Merian,  Henman  Sevogel  von  Basel.  1651 

buche  wird  sein  Name  oft  genannt,  meist  ohne 
Angabe  der  Sache ;  wo  diese  angeführt  wird,  ist 
es  immer  ein  Zwiespalt  zwischen  dem  Rath  und 
dem  stolzen  Schloßherrn.  Alle  diese  Verhält- 
nisse fanden  ihr  Ende,  ihren  Ausgleich,  ihre 
Versöhnung  im  Jahre  1444.  Beim  Herannahen 
des  Dauphins  wurde  Henman  Sevogel  zum 
Hauptmann  der  in  Liestal  liegenden  Baslerischen 
Besatzung  ernannt.  Zu  ihm  stießen  die  von 
Farnsburg  entsendeten  Eidgenossen;  der  Politik 
Basels  gemäß  mußte  er  sie  vom  Angriffe  des 
Feindes  abzuhalten  suchen;  als  dies  nicht  ge- 
lang, konnte  eine  Natur  wie  die  seine  nicht  zu- 
rückbleiben. Er  schloß  sich  ihnen  an,  seine 
Ehre  zu  retten,  anbesorgt  um  Settung  seines 
Lebens,  ja  des  Todes  gewiß.  Mit  den  andern 
fiel  auch  er  bei  S.  Jacob  und  erlöste  mit  ihnen 
seine  Vaterstadt.  Die  Wittwe,  Gredanna  von 
Eptingen,  und  der  minderjährige  Sohn  Hans 
Bernhard  blieben  auf  dem  Schlosse  Wildenstein ; 
aber  das  Verhältniß  zur  Regierung  scheint  auch 
jetzt  kein  gutes  gewesen  zu  sein;  ja  man  darf 
sogar  glauben,  daß  Hans  Bernhard  das  Bürger- 
recht verwirkt  habe.  Denn  1452  wurde  es  ihm 
wieder  geschenkt,  um  der  Verdienste  seines  Va- 
ters willen.  Der  Friede  schien  damit  hergestellt 
zu  sein,  und  Hans  Bernhard  wurde  selbst  in  den 
Bath  gewählt  Da  ereignete  sich  ein  unglück- 
licher Vorfall,  Hans  Bernhard  tödtete  im  Tur- 
nier den  Hans  Waltenhein,  auch  aus  patricischem 
Geschlecht,  und  damit  begann  der  Zwiespalt 
von  neuem.  1463  ward  er  geschlichtet,  ,Hans 
Bernhard  erhielt  die  Vogtei  Waidenburg,  1464 
trat  er  wieder  in  den  Rath  und  blieb  darin, 
1471  starb  er.  Das  Bild  seines  Lebens  ist  ein 
unerfreuliches ;  es  glich  in  manchem  demjenigen 

104* 


1652       Gott.  gel.  Anz.  1880,  Stttck  52. 

seines  Vaters,  aber  es  hatte  nicht  wie  jenes 
einen  großartigen  Ausgang,  der  alles  gut  machte. 
Mit  Hans  Bernhards  Kindern  erleseh  das  Ge- 
schlecht. Der  Sohn  Bans  Heinrieb  wird  nur 
weaig  erwähnt,  und  nicht  in  rühmlicher  Weise. 
Streit  mit  der  Stadt  war  auch  ihm  ah  Erbe 
zugefallen,  mit  seiner  Schwester  Veroniöa  und1 
ihrem  Vormund  lebte  er  ebenfalte  in  Feind- 
schaft; er  ward  gefangen  gesetzt,  nur  gegen 
Drfebde  freigegeben.  Damit  verstummt  ober 
ihn  und  das  Geschlecht  jegliche  Kunde.  Vero- 
nica vermählte  sich  mit  Jacob  vo»  Hertenstein, 
dem  nachmaligen  Schultheißen  von  Luzern.  Aber 
noch  eipmal  taucht  der  Name  Sevogel  auf,  in 
recht  seltsamer  Weise.  Ein  Reisender  meldet» 
wie  er  1483  au  Cairo  unter  den  Mameluken 
einen  (Conrat)  Sevegel  aus  Basel  getroffen  habe. 
E»  ist  nieht  aufgeklärt,  in  welchem  Verhältnis 
dieser  zu  der  Familie  Henmans  standi  Viel- 
leicht daß  er  einem  Nebenzweig  angehörte,  von 
welchem  hie  und  da  Spuren  sich  finden;  eigen- 
thttmlioh  ist  es  auf  jeden  Fall,  den  Namen  im 
fernen  Osten  unter  den  Heiden  verklingen  zu 
hören. 

So  verlief  die  Geschichte  des  Hauses  Se- 
vogel. Ihre  einzelnen  Momente  sind  vorwiegend 
localer  Natur,  aber  das  gesammte  Bild  hat  et- 
wa» typisches.  Denn  wohl  in  den  meisten 
Städten  des  deutschen  Mittelalters  ist*  die  En* 
wickelung  fieser  Familien  ein»  entsprechende. 
In  Basel  selbst  können  Gescblfeebter  namhaft 
gemacht  werden,  die  sich  ganz  ähnlieb  empor- 
Pf^tet  haben :  die  Zscheckabürlin  und  nament- 
M*  die  Offenburg.  Und  dasselbe  muß  auch 
anaerawo  der  Fall  sein.  Im  14.  Jahrb.  treten 
aie  ersten  Träger   des  Namens  auf,    sie  treibe» 


Vischer-lfcrian,  Henman  Sevogei  von  Basel.   1653 

Geschäfte  als  Krämer  and  Wechsler,  sie  erwer 
ben  Geld  und  damit  Ansehen ;  zum  Ansehen  des 
Reichthums  gesellt  sich  bald  die  Würde  der  po- 
litischen Thätigkeit,  and  dadurch  ist  der  Ein- 
tritt in  eine  höhere  gesellschaftliche  Sphäre  all- 
mählig  ermöglicht,  im  15.  Jahrh.  meist  ver- 
wirklicht. Was  als  Bürger  begann  heißt  jetzt 
Janker  and  lebt  als  solcher.  Das  ist  aber  auch 
meist  das  Ende  der  Existenz;  mit  dem  16.  Jh. 
erhebt  sich  eine  ganz  neue  Schicht  des  Bttrger- 
thams,  and  jene  alten  Geschlechter  verschwin- 
den. So  auch  die  Sevogei;  ihr  Aasgang  zeigt 
sowohl  einen  Verfall  der  Persönlichkeit  als  auch 
einen  Ruin  der  äußern  Umstände.  Und  da  fra- 
gen wir  billig:  welchen  Werth,  welche  höhere 
Bedeutung  hatte  aber  der  Held  des  ganzen  Ge- 
schlechtes and  die  Hauptperson  dieses  Baches, 
Henman?  Er  hat  ein  im  Grande  unbedeuten- 
des Leben  gelebt,  das  Leben  eines  nicht  sehr 
begüterten  Jankers  damaliger  Zeit,  wie  es  viele 
gab  and  wie  die  meisten  rahm-  and  sparlos  da- 
hingegangen sind.  Daß  bei  ihm  dieses  Dahin- 
gehen nicht  ein  gewöhnliches  war,  ist  sein 
Glück;  es  gab  ihm  einen  historischen  Namen, 
den  er  sonst  nie  and  nimmermehr  verdient  hätte. 
Alle  Nachrichten  über  sein  Leben  zeigen  ihn 
uns  als  einen  Mann  von  herrischem,  raschem 
and  anbekümmertem  Geist,  aber  nirgends  be- 
richten sie,  daß  er  etwas  wesentliches  leistete. 
Im  gewöhnlichen  Leben  war  ihm  kein  Anlaß 
zu  ersprießlicher  Thätigkeit  gegeben,  erst  am 
Tage  der  Schlacht  bot  sich  die  Gelegenheit; 
daß  er  sie  hier  ergriff  and  ohne  Zandern  in  den 
Tod  ging,  lag  aar  in  seiner  Natur.  Aber  der 
so  heldenmüthige  Untergang  hat  ihm  einen 
Nimbus  verliehen,   der  bis   heute  strahlt,   and 


1654      Gott  gel.  Auz.  1880.  Stück  52. 

seinen  Namen  zum  beliebtesten  des  Volkes  ge- 
macht. 

Dies  der  Inhalt  des  Vischer'schen  Buches. 
Dem  Texte  folgt  ein  umfassender  Anhang,  worin 
urkundliche  Belege,  sowie  Regesten  mitgetheilt 
sind.  Von  jenen  begrüßen  wir  das  Weisthum 
der  Wechsler  von  1289,  die  Wachtordnung  von 
1374,  den  Stenerrodel  von  1401,  and  den  Aus- 
zug ans  dem  Reisebericht  des  Andrea  Gattaro 
als  besonders  schätzbare  Gaben. 

Ueber  die  Behandlung  des  Stoffes  brauchen 
wir  nur  weniges  beizufügen.  Die  Darstellung 
ist  frisch,  oft  geistreich,  sorgfaltig  stäts  auf  die 
Quellen  zurückgeführt,  aber  nicht  immer  mit 
genügender  Unterscheidung  des  in  den  Text 
und  des  in  die  Anmerkungen  oder  in  den  An- 
hang gehörenden,  so  z.  B.  die  Ausführung  über 
Geldverhältnisse  auf  S.  23  und  36.  Auch  die 
Wiedergabe  der  Urkunden  hätte  etwas  conse- 
quenter  sein  dürfen,  namentlich  was  die  Ma 
iuskel  und  Minuskel  und  die  Vocalzeichen  an- 
belangt. 

Zum  Schlüsse  noch  ein  Wort  über  die  äußere 
Gestalt  des  Buches.  Dieselbe  ist  für  sich  allein 
schon  Gegenstand  der  Besprechung  gewesen,  so 
daß  ich  mich  kurz  fassen  kann.  Es  ist  viel- 
leicht das  erste  Buch,  welches  streng  wissen- 
schaftlichen Werth  hat  und  zugleich  in  seiner 
äußern  Form  einen  so  ästhetischen  Genuß  be- 
reitet. Dazu  dient  sowohl  die  vorzügliche  tech- 
nische Ausführung  des  Papiers,  des  Drucks,  der 
Fertigstellung,  als  die  reiche  und  gehaltvolle 
Illustration  (34  Holzschnitte,  2  Radierungen  und 
2  Lichtdrucke,  die  beinahe  sämmtlich,  ausgenom- 
men die  n.  14.  16.  20.,  gut  gewählt  und  ausge- 
zeichnet wiedergegeben  sind).     Dieselben  ver- 


Lemme,  Religio nsgesch.  Bed.  des  Dekalogs.   1055 

eint  verleihen  dem  Buche  ein  eigentümliches, 
höchst  vornehmes  Aussehen,  welches  die  ge- 
rühmte Schönheit  der  heutigen  sog.  Prachtwerke 
weit  übersteigt. 

Basel.  Rudolf  Wackernagel. 


Die  religionsgeschichtliche  Bedeu- 
tung des  Dekalogs.  Prolegomena  zu  einer 
alttestamentlichen  Lehre  von  der  Sünde.  Von 
Lie.  Ludw.  Lemme,  Privatdocent  und  Inspek- 
tor des  Johanneums  zu  Breslau.  Breslau,  Louis 
Köhler,  1880.    XVI.    148  S.    8°. 

Die  alttestamentliche  Kritik  ist  in  einer  Um- 
wälzung begriffen.  Die  Gesammtauffassung  der- 
selben richtet  sich  nämlich  zum  guten  Theil  dar- 
nach, wie  die  Entstehung  des  Pentateuchs  ge- 
dacht wird.  Während  nun  noch  vor  wenigen 
Jahren  die  sogen.  Graf  sehe  Hypothese  das  Ge- 
meingut Einzelner  war,  hat  diese  Ansicht  von 
der  Entstehung  der  alttestamentlichen  Urkunden, 
welche  das  früher  angenommene  Verhältniß  der 
den  Pentateuch  konstituierenden  Quellen  nahezu 
umkehrt,  in  den  letzten  Jahren  entscheidend  an 
Boden  gewonnen.  Nachdem  schon  Duhms  auf 
Kuenen  fußende  Arbeit  über  die  Theologie  der 
Propheten  für  die  Ansicht  einen  wichtigen  Be- 
weis aus  der  Prophetie  erbracht  hatte,  hat  sich 
Wellhausen  (Geschichte  Israels,  l.B.  Berlin  1878) 
das  Verdienst  erworben,  der  Hypothese  eine  all- 
seitige kritische  und  geschichtliche  Begründung 
zu  geben,  die  von  Kautzsch  (Theol.  Literatur- 
zeitung 1879.  S.  25  ff.)   als  durchschlagend   an- 


1656      Gott.  gel.  Auz.  1880.  Stück  52. 

erkannt  wurde.  Freilieb  konnte  der  Ton,  in 
dem  W.  die  einschlägigen  Dinge  behandelte, 
wie  die  Art  der  Würdigung  der  alttest^njentli- 
chen  Religion  bei  vielen  das  Bedenken  wach- 
rufen, ob  diese  Hypothese  nicht  den  Offenba- 
rungsgehalt  des  alten  Testaments  aufhebe,  und 
ob  sie  daher  überhaupt  für  die  Theologie  ac- 
ceptabel  sei  ;  und  so  hat  W.  sicher  eben  so  viele 
zurückgeschreckt  als  gewonnen.  Seine  Resul- 
tate werden  sich  ferner  $n  dpa  meistep  Punk- 
ten Correkturen  oder  Begrenzungen  gefallen 
lassen  müssen.  Aber  das  bleibende  Verdienst 
darf  ihm  nicht  abgesprochen  werden,  mit  rück- 
sichtsloser Offenheit  der  Sache  auf  den  Grund 
gegangen  zu  sein  ohne  Reserve  und  ohne  Ver- 
schleierungen und  so  der  alttestamentlichen  Kri- 
tik die  Basis  gewonnen  zu  haben,  auf  der  eine 
gedeihliche  Weiterarbeit  möglich  ist. 

Nach   der  kritischen  Ansicht  der  Graf  sehen 
Hypothese  ist    nun,   wenn   die  Entstehung  des 
Deuteronomiums    unter  Josia    als  fester  Punkt 
genommen  wird ,    die  jahvistische  Quelle  in  der 
Zeit  der  ältesten  Prophetie,  von  der  wir  schrift- 
liche Urkunden    besitzen,    entstanden,    dagegen 
ist  die  früher  sogenannte  Grundschrift  oder  der 
Priesterkodex,    der   die  kultisch-rituelle  Gesetz- 
gebung enthält,   ein  Produkt  der  mit  dem  Exü 
eingetretenen    Entwicklung   de*   alttestamentli- 
chen Religion,    die  Tora  ist  zum  Abschluß  und 
zur  geschichtlichen  Einführung  gekommen  durch 
tmA  Hllf nach  8tebt  das  Gesetz  nioht  am  An- 
iang  der  Entwicklungsgeschichte  <fcs  alten  Bun- 
ttJL  80nder?.  in   der  Ph^se  derselben,  die  den 
ueoergang  büdet   zur  Period   des  Levitisinus. 

set7^  1       .diese  Ansicht  als  bewiesen  voraus- 
setzen konnte,  stellte  sich  ip  dem  vorlegenden 


Lernuie,  Religionsgesch.  Bed.  des  Dekalogs.    1657 

Buche  far  mich  die  Frage  nach  dem  Ausgangs- 

Sunkt  der  alttestamentüchen  Religionsgeschicht*. 
lebmen  wir  die  Schriften  der  Propheten  als 
feststehende  Basis  der  Untersuchung,  so  fragt 
sich  einerseits,  was  sie  als  vorhanden  voraus- 
setzen, andererseits,  wie  weit  sie  Neuschöpfer 
4er  von  ihnen  vorgetragenen  Ideen  sind.  Läßt 
sich  verständiger  Weise  ein  ans  dem  Volke 
hervorgegangener  Prophet  wie  Arnos  nur  als 
Repräsentant  der  im  judäischen  Volke  lebenden 
Religiosität  ansehen,  und  ergiebt  sich  ans  4er 
gesammten  Prophetie  ein  fester  Gemeinbesitz 
eines  im  Volke  wurzelnden  Grundstocks  religiö- 
ser Ueberzeugungen  und  Anschauungen,  so  fragt 
sich,  wo  der  Anfang  derselben  zu  setzen  ist, 
and  ferner,  wenn  dieser  nach  allen  Ueberliefo- 
rungen  des  alten  Testaments  in  Mose  liegt,  ob 
wir  ein  in  seine  Zeit  zurückreichendes  Zeugnjß 
von  ihm  besitzen,  das  uns  einen  Einblick  in 
den  Gehalt  seiner  religiös-ethischen  Ueberzeu- 
gungen und  den  Inhalt  seines  Wirkens  zu  ver- 
schaffen geeignet  ist.  Das  ist  die  Frage,  deren 
Beantwortung  ich  mir  in  dem  vorliegende» 
Buche  zur  Aufgabe  machte,  die  Frage  nachdem 
ursprünglichen  Gehalt  des  Mosaismus  und  damit 
zugleich,  da  die  ursprünglich  treibenden  Ideen 
zugleich  das  Wesen  jeder  Religion  charakteri- 
sieren, nach  dem  Wesen  der  alttestamentUcben 
Religion.  Ein  authentisches  Denkmal  der  Reli- 
gionsstiftung  Moses  aber  besitzen  wir  in  dem 
Dekalog.  Und  indem  ich  den  Nachweis  er- 
brachte, daß  dieser  in  der  Ex.  20  vorliegenden 
Form  abgesehen  von  einigen  späteren  Zusätzen 
und  Veränderungen  in  seinen  wesentliche» 
Grundbestandteilen  als  mosaisch  angesehen  wer- 
den muß,  machte  ich  es  mir  zur  Aufgabe,  den 
Gehalt  der  religiösen  und  sittlichen  Ansobawm* 


1658      Gott.  gel.  Anz.  1880.  Stück  52. 

gen  Moses  ans  dem  Dekalog  zu  entwickeln.  Ich 
trete  hiermit  in  Gegensatz  zu  dem  herrschenden, 
auch  in  Herrn.  Schultz'  alttestam.  Theologie  be- 
folgten Verfahren,  welches  die  Bedeutung  Moses 
durch  eine  ganz  unzuverlässige  Auswahl  aus 
den  geschichtlichen  Berichten  festzustellen  unter- 
nimmt, indem  nach  willkürlichen  Gesichtspunk- 
ten das  vermeintlich  Sagenhafte  von  dem  ver- 
meintlich Geschichtlichen  unterschieden  wird, 
—  wobei  der  Dekalog  vielfach  an  einem  ganz 
andern  Ort  als  die  Thätigkeit  und  Bedeutung 
Moses  zur  Besprechung  kommt.  Erst  wenn  der 
Dekalog  als  ein  Geistesprodukt  des  Mose  er- 
wiesen, und  der  Inhalt  der  durch  ihn  vermittel- 
ten Gottesoffenbarung  wie  die  Bedeutung  seines 
Werks  aus  einem  genuinen  Zeugniß  Moses  selbst 
festgestellt  ist,  ist  eine  wissenschaftliche  Basis 
für  die  Untersuchung  gewonnen. 

In  erster  Linie  bedurfte  es  freilich  einer 
Sichtung  und  Läuterung  der  traditionellen  Vor- 
stellungen von  dem  Sinn  der  einzelnen  Worte 
des  Dekalogs,  die  hier  um  so  nöthiger  war,  je 
leichter  bei  einem  Objekt  des  katechetischen 
Unterrichts  der  Mißverstand  zur  Herrschaft 
kommt.  So  wird  gewöhnlich,  obgleich  die  Will- 
kür dieser  Auslegung  auf  der  Hand  liegt,  das 
zweite  Wort  („Du  sollst  dir  kein  Bild,  das  am 
Himmel  oben  und  auf  der  Erde  unten  und  im 
Wasser  unter  der  Erde  ist,  zum  Idol  machen!") 
von  der  bildlichen  Verehrung  Jahves  verstan- 
den, während  es  einzig  auf  Creatur Vergötterung 
in  dem  Sinne  der  abgöttischen  Verehrung  von 
Jahve  untergeordneten  Naturkräften  gedeutet 
werden  kann.  So  wird  weiter  das  dritte  Wort 
(„Du  sollst  nicht  deines  Gottes  Jahve  Namen 
zum  Nichtigen,  Eitlen  hintragen  !a)  vorwiegend 
von  „fluchen,  schwören,  lügen,  trügen"   verstan- 


Leuime,  Religionsgescb.  Bed.  des  Dekalogs.    1659 

den,  während  es,  da  „Jahves  Name"   nach  alt- 
testamentlichem  Sprachgebrauch  Gott  selbst  nach 
der  Offenbarungsseite  seines  Wesens,  nach  sei- 
ner Immanenz  in  der  Welt  ist,  einzig  auf  aber- 
gläubische   Handinngen    gehen    kann,    durch 
welche   die   göttlichen  »  in   der  Welt  wirkenden 
Kräfte  Gottes  in   den  Dienst  des  Menschen  ge- 
stellt und  seiner  Weltbeherrschung  eingeordnet, 
also  der  nichtigen,  eitlen,  vergänglichen  Creatur 
gleichgestellt  werden.     Erst  auf  Grund  dieser 
grammatisch-historischen   Erklärung    läßt    sich 
der  religiöse  Gehalt   der  drei  ersten  Worte  des 
Dekalogs  völlig  würdigen :  die  in  ihnen  liegende 
Gottesvorstellung  ist  die  der  freien,  selbstkräfti- 
gen,  der  Welt  schlechthin  überlegenen  Persön- 
lichkeit, welche  die  Natur  und  den  Weltlauf  ab- 
solut  beherrscht,    welche    diese  Herrschaft   in 
einer    grundlegenden   Heilsthat    der   Erlösung, 
durch   die  das  Volk  Israel  zu  Jahves  Volk  ge- 
worden ist,    bethätigt  hat,   und   welche  so  ein 
alleiniges  und  ausschließliches  Anrecht  auf  die 
Verehrung  desselben  hat.    Auf  der  Basis  dieser 
Gottesvorstellung  wird  in  den  drei  ersten  Wor- 
ten des  Dekalogs  als  Sünde  vom  Boden  Israels 
jede   religiöse  Aktivität  ausgeschlossen,  die  ein 
irgendwelches  Wirken   auf  die  Gottheit  präten- 
dierte,  so  daß  das  wirkliche  Abhängigkeitsver- 
hältniß   zu   Gott  in   eine  Abhängigkeit  Gottes 
vom  Menschen  umgekehrt  wurde,  sei   es   1)  in 
der   freien   Wahl  des   Gegenstandes    der  Ver- 
ehrung oder  2)  in   der  selbstthätigen  Bildung 
des  sinnlichen  Objekts  der  Anbetung   oder  3) 
in   der  willkürlichen  Benutzung  der  göttlichen 
Kräfte  für  die  eigenen  Zwecke.    Dem  direkten 
religiösen  Verhältniß   zu  Gott   (als  einem  Verb, 
schlechthinniger   Abhängigkeit  von  dem  Herrn 
Himmels  und  der  Erde)  entspricht  die  im  vier- 


1660      Gott,  gel.  Anz.  1880.  Stück  52, 

ten  Wort  des  Dekalogs  („Gedenke  des  Bah* 
tags,  ihn  zu  heiligen"  u.  s.  w.)  geforderte 
„Ruhe  für  Jahveu.  Und  indem  so  die  mosai- 
sche Gottesidee  ausschließende  Stellung  nimmt 
gegen  jede  heidnische  Religiosität,  erlangt  hier 
der  Mensch  wahrhafte  Freiheit  gegenüber  der 
Welt,  insofern  er  sich  eins  weiß  mit  einem  Gott) 
der  die  Natur  und  den  Weltlauf  absolut  selbst 
kräftig  beherrscht  und  darum  auch  seinen  Ver- 
ehrern die  Unabhängigkeit  von  der  Welt  m 
gewährleisten  im  Stande  ist:  für  seine  Weltbe- 
herrschung wird  also  der  Mensch  einerseits  asf 
die  Hingabe  an  Gott,  andererseits  (im  vierten 
Wort)  auf  die  Arbeit  verwiesen.  Ueberschreitet 
so  die  mosaische  Gottesidee  schlechtbin  das  Ni- 
veau jeder  heidnischen  Gottesvorstellung,  so 
muß  auch  die  Verehrung  Jahves  einen  von  der 
heidnischen  Gottesverehrung  verschiedenen  Cha- 
rakter annehmen.  Wo  die  Gottheit  in  Analogie 
mit  der  menschlichen  Gattung  aufgefaßt  wird, 
also  noch  nicht  frei  ist  von  sinnlichen  Bedürf- 
nissen, ist  das  Opfer  als  Gabe  an  die  Gottheit 
notbwendig  in  dem  Sinne  der  Befriedigung  der 
sinnlichen  Seite  ihres  Wesens.  Indem  die  mo- 
saische Gottesvorstellung  von  Jahve  als  dem 
Herrn  Himmels  und  der  Erde,  der  nicht  in  die 
Welt  verflochten  ist,  jede  sinnliche  Natorseite 
abstreift,  fallen  auch  alle  sinnlichen  Bedürfnisse 
weg,  die  kultischen  Leistungen  verlieren  ihren 
objektiven  Werth  für  Gott,  und  die  Gottesver- 
ehrung bekommt  rein  ethischen  Charakter,  in- 
dem von  religiösem  Gesichtspunkt  ans  eine  im 
Dienst  Jahves  zu  leistende  Aktivität  einzig  in 
Beziehung  auf  die  gottgeweihte  religiöse  Ge- 
weinschaft gefordert  wird.  So  werden  im  De- 
kalqg  keinerlei  Forderungen  kultischer  Art  ge- 
stellt, dem  Sabbath,  dessen  Feier  in  voraosii- 


Lemme,  Religionsgesch.  Bed.  des  Dekalogs.    1661 

ftfcer  Zeit  kultischen  Inhalt  hatte,  wird  vielmehr 
torch  Mose   eine  andere   den  religiösen  Grund- 
danken  desMosaismus  entsprechende  Deutung 
geben.    Die  Hingabe  an  Gott,  die  der  Deka- 
wg  fordert,  besteht  principiell  nicht  mehr  in  der 
Därbringung  einer  äußeren,  für  Gott  werthvollen 
Habe,  sondern  (wie  das  schon  im  vierten  Wort 
«mm  Ausdruck  kommt,   in  dem  sich   der  Ueber- 
gang  von  den  religiösen  zu  den  sittlichen  Vor- 
acbriften    vollzieht)   in    einer   ethischen   Selbst- 
Mngabe,  die  ruht  auf  dem  Selbstverzicht  gegen* 
ttfcer  der  nicht  mehr  blos  als  Bethätigungsgebiet 
dtes  Egoismus,   sondern   als  Ort  der  Gottesherr« 
Schaft  angesehenen  Welt.    Die  Verehrer  Jahves 
müssen  ihre  Religiosität  bethätigen  in  der  Er- 
batltung  und  Förderung  der  religiösen  Gemein* 
Schaft   als   dem   Ort  der   Jahve- Verehrung,  in 
dem   Gottes  Selbstzweck   in   der   Durchsetzung 
seiner  Herrschaft  auf  Erden  sich  verwirklicht, 
wie  denn  die  letzten  sechs  Worte  des  Dekalogs 
einzig   das  Handeln   der  Israeliten  auf  die  Ge- 
meinschaft Israels    zu    regeln   bestimmt    sind. 
(Der  „Nächste",  der  geliebt  werden  soll,  ist  im 
A.  T.  nur  der  Volksgenosse).   Sünde  in  sittlicher 
Hinsicht  ist  die  willkürlich  sich  selbst  gegen  die 
Erhaltung  und   Behauptung    der   Gemeinschaft 
durchsetzende   Autonomie   des  Naturtriebs,   die 
des  Selbstzweck  höher  stellt  als  die  Zwecke  der 
Gemeinschaft.    Und  die  letzten  sechs  Worte  des 
Dekalogs  haben   darum   den   Zweck,   den   die 
Sehranken   der   Gemeinschaft    durchbrechenden 
Egoismus,  der  sich  durchsetzt  in  der  zügellosen 
Entfesselung  der  Triebe,  vom  Boden  Israels  als 
Sünde  auszuschließen.    So  bekommt  durch  Mose 
die   alttestamentliche   Religion    im    Unterschied 
von  allen  heidnischen  Religionen  rein- ethischen 
Charakter;  sie  bestimmt  sich  in  Mose  als  dieReli- 


1662      Gott  gel.  Anz.  1880.  Stttck  52. 

gion  der  Negation   der  Sünde,  als   die  sie 
nothwendige  und  unerläßliche  Vorstufe    der  al 
solnten  Religion,  des  Christenthums,  ist. 

Im  Vergleich  mit  der  von  Mose  ausgehend« 
und   in  ihm  wurzelnden  späteren  Entwickeln] 
der   alttestamentlichen  Religion   bezeichnet 
im  Dekalog   enthaltene  Auffassung  der    Go1 
idee  und  der  ihr  korrekten  Gottesverehrung 
höchste   Höhe    der   religiösen   Erkenntnis 
A.  T.'s  überhaupt,  die  bleibend  den  tieferen  Ge-j 
halt    der    alttestamentlichen    Religiosität    aos-| 
machte  und  bestimmte.    Diese  von  mir  zur  Gel-| 
tung  gebrachte  Ansicht,  die  in  Widerspruch  tritt) 
zu  der  Neigung,  den  Kanon  des  Fortgangs  vom 
Niederen  zum  Höheren  auch  auf  das  Verhältnis 
Moses  zur  Folgezeit  anzuwenden,  entspricht  dem 
von    Schleiermacher    zur    Geltung     gebrachten 
Grundsatz,   daß   das  Wesen  der  Religionen  an 
reinsten  an  ihrer  Quelle  zu  Tage  trete.     Dieser 
Grundsatz  wird  formell  fast  allgemein    als  rich- 
tig anerkannt,   aber  sachlich   fast  nnr  hinsicht- 
lich des  Chris  tenth  ums  verwerthet.    Es  läßt  sich 
jedoch   auch   für   die  alttestamentliche  Religion 
eben    aus  dem  Dekalog,   als    der  Gründungsur- 
kunde  und  dem  großartigsten  Denkmal    dersel- 
ben, der  Beweis  erbringen,  daß  ihr  wahres  We- 
sen am  vollendetsten  und  reinsten  an  ihrem  Ur- 
sprung,   in  ihrer  Stiftung  durch  Mose  zu  Tage 
getreten  ist. 

Nach  dem  Dekalog  besteht  die  Leistung  Mo- 
ses wesentlich  darin,  daß  er  vermöge  einer  ur- 
sprünglichen Gottesoffenbarung  Israel  über  die 
F«  kJ^o8*011  hina»sgeführt  und  vermöge  der 
a3  Dng  einer  ^bischen  Gottes-  und  Welt- 
hpft  „Ä  ein  neues  Verhältniß  zwischen  Gott 
wort«    ^  Me.n?chheit  begründet  hat.    Die  Zehn- 

™>  aie  sich  nirgends  als  Gebote  gesetzlicher 


Hierame,  Religionsgesch.  Bed.  des  Dekalogs.    1663 

Art  geben,    sondern   wesentlich   den  Charakter 
:  religiös-sittlicher   Mahnrede   tragen,  sind   nicht 
'Gesetzesparagraphen,  sondern  Lebensworte  eines 
Seligionsstifters.    Mose  ist  deshalb  zu  würdigen 
Triebt  als  Urheber  einer  Staatsverfassung,  nicht 
als  Gesetzgeber,    sondern  als  der  größte  grund- 
legende Prophet  des  alten  Bundes:   sein.  Werk 
ist  wesentlich    anzusehen    als   Religionsstiftung. 
Das  durch  ihn  erst  zu   einer  Nation  gewordene 
Volk  Israel  wird,  indem  es  als  Volk  Träger  der 
religiösen  Idee  sein  soll,   umgesetzt  in  eine  re- 
ligiöse Gemeinde. 

Aber  indem  der  Dekalog  die  religiös-sittlichen 
Normen  gab,  die   das  Leben   des  Volks  regeln 
sollten,  trat  derselbe  hierdurch  doch  in  Analogie 
mit  rechtlichen  Bestimmungen,  und  so  war  die 
Vermischung  der  religiös-sittlichen  Forderungen 
mit  dem  juridischen  Gebiet  unvermeidlich.  Dazu 
kam,  daß  im  Dekalog  selbst  schon  eine  Forde- 
rung zeremonialer  Art  enthalten  ist,  nämlich  die 
Forderung   der  Sabbathruhe   des   siebenten  Ta- 
ges.   Indem  diese  in  Eine  Reihe  tritt  mit  rein 
religiösen  und  rein  sittlichen  Forderungen,   die- 
sen also  scheinbar  gleichwerthig  ist,  so  liegt  im 
vierten  Wort  des  Dekalogs  die  Wurzel  des  Ze- 
remonialgesetzes  wie  der  Anfang  zur  Vermischung 
des  Religiös-Sittlichen  mit  der  kultisch-rituellen 
Zeremonialgesetzgebung.      Trotz    jener    Hoch- 
schätzung  des  Dekalogs    ist  also  auch  anzuer- 
kennen,  daß    in   ihm   die  Keime  vorliegen,  die 
zu  dem   die  geschichtliche  Erscheinung  der  alt- 
testamentlichen  Religion  bezeichnenden  Ineinan- 
der  des  Religiös-Sittlichen  und  des  Juridischen 
und  Zeremonialgesetzlichen  führen  mußten.  Selbst 
,      jedem   gesetzlichen   Maßstab  überlegen   als  der 
reine  Ausdruck  der  mosaischen  Religiosität  und 
Sittlichkeit,  trägt  der  Dekalog  doch  die  Wurzel 


1664      G»tt  gel.  Anz.  1880.  Stück  52. 

des  Gesetzes  in  sich,  zu  dem  HiLspätere  Ent- 
wickelung  der  alttestamentlichen  Religion  ge- 
führt hat  und  führen  mußte. 

Ich  beschränke  mich  darauf,  nur  die  wich- 
tigsten Grundgedanken  wiederzugeben,  für  die 
ich  in  meinem  Buche  die  Beweise  zu  erbringen 
gedachte.  Ob  man  dieselben  als  durchschlagend 
anerkennt,  das  hängt  nicht  nur  von  einer  mit 
der  Rücksichtnahme  auf  den  Ideengehalt  des 
ganzen  A.  TVs  Handln  Hand  gehenden  Würdi- 
gung der  Zehn worte  "ab,  sondern  auch  von  der 
historischen  Auffassung  der  Periode,  welche  der 
Gründungszeit  der  alttestamentlichen  Religion 
folgte.  Kann  man  diese  von  Mose  bis  zum  Kö- 
mgthum  reichende  Periode,  Über  welche  uns  die 
dem  Buch  der  Richter  zu  Grunde  liegende  alte 
Quelle  den  besten  Aufschluß  giebt,  nicht  als 
eine  Zeit  religiöser  Produktivität,  sondern  nur 
als  eine  Zeit  religiösen  Verfalls  ansehen,  so  oral 
der  höhere  Gehalt  ji er  israelitischen  Volksreftgion, 
den  dfe  jahvistische  Urkunde  und  die  propheti- 
sche Literatur  als  überlieferten  Besitz  Israels 
erkennen  lehrt,  in%die  vor  jener  Periode  liegende 
Zeit  zurückreichen.  Eine  Vergleichung  nament- 
lich der  älteren  ProBhetie  mit  dem  Gehalt  des 
Dekalogs  bestätigt  durchweg  die  von  mir  ge- 
wonnenen Resultate.        * 

Breslau.  L.  Lemme. 


(Schluß  des  Jahrgangs  1880.) 


Fttr  die  Redaction  verantwortlich:  E.  Ethnisch,  Director  d.  Gott.  gel.  Anr. 

Verlag  der  DUtericNachm  YMtw-BmckkamdkmQ. 

Druck  der  Dieitrich'schm  Univ.- Bttckdnutoni {W  Jfr.  Jfrcstar). 


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