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. P 26 /. /
Ibarvaro College librae?
FROM THE
ICHABOD TUCKER
FUND
ESTABLISHED IN 1875 BY THE
BEQUEST OF ICHABOD TUCKER,
CLASS OF 1791, AND THE GIFT OF
MRS. NANCY DAVIS COLE, OF
SALEM
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G öt tiugis che
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I
gelehrte Anzeigen
- Unter der Aufsicht
der
'• -rtr. h
Köiigl. Cfadkckaft 4er WisseDgckaftea
I-
1§§0.
Zweiter Band.
Göttingen.
Dieterich'sche Verlags-Bachhandlung.
1880.
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BP3^7'/
hapvard
Si -zt-^w
/< /f
JUL3U880 m
GSttingische
gelehrte Anzeigen
anter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück 27. 7. Juli 1880.
Inhalt: Leo Meyer, Ab im Griechischen, Lateinischen und Go-
thischen. Vom Ytrf. — Brietwechsel des Freih. E. H. Gr. v. Menee-
hach mit Jacob und Wilhelm Grimm herausg. v. C. Wendeler.
Yon B. Thiele. — The D ip avamsa. Ed. and transl. by H. Olden-
berg. Ton K Jacobi. — B. F. Soott.A Treatise on the Theory of
Determinants. Yon A, Enneper.
=r Eigenmächtiger Abdruck von Artikeln der Gott. gel. Ans. rerboten s
. An im Griechischen, Lateinischen
\ und Gothischen. Ein Beitrag zur verglei-
'. chenden Syntax der indogermanischen Sprachen
von Leo Meyer. Berlin, Weidmannsche Buch-
handlung. 1880. 64 Seiten in Octav.
Die große Bedeutung der Partikel äv imGe-
sammtleben der griechischen Sprache hat schon
von je her die besondere Aufmerksamkeit der
classischen Philologen auf sich gezogen. In
den griechischen Grammatiken nicht bloß, son-
dern auch in manchen besonderen zum Theil
sehr werthvollen Abhandlungen und Bemerkun-
gen ist der Werth des äv im griechischen Satz
nach den verschiedensten Richtungen hin dar-
gelegt und beschrieben. Dabei ist aber die
Frage nach der ursprünglichen Bedeutung des
äv und nach seiner Entwicklungsgeschichte kaum
53
834 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 27.
fy
noch flüchtig berührt. Sie gehört der verglei-
chenden Grammatik, da diese ja, wie immer ^ <
wieder von Neuem hervorgehoben werden darf, «od*
keine andere Aufgabe hat, als die Entwicklungs- w
geschichte der Sprache zu ermitteln. au
Wenn ausgesprochen wird, daß ein griechi- ßx
sches 8%oipk dp durch lateinisches höherem wie- foi
dergegeben zu werden pflegt und daß umge- *&
kehrt da, wo der Lateiner ein einfaches höherem ü
gebraucht, der Grieche dafür sxo*(jh äv zu sa- äa
gen pflegt, so handelt sichs dabei auch umVer- 'n
gleichung von Sprachen mit einander, im ge- !ia
wählten Beispiel um die Vergleichung vonGrie- 5a
chisch und Lateinisch, und so kann man überall,
wo aus einer Sprache in die andere übersetzt
werden soll, in gewissem Sinn von Sprachver-
gleichung sprechen: von solcher Sprachverglei-
chung aber ist doch die noch wesentlich ver-
schieden, für die sich der Name der verglei-
chenden Grammatik oder der vergleichenden
Sprachwissenschaft in einer jetzt schon recht
reich entwickelten Litteratur bestimmt ausgebil-
det hat. Sie will mittelst der Vergleichung
verschiedener Sprachen — so daß also Sprach-
vergleichung nur eine bestimmte Methode ist,
Sprache zu behandeln — zunächst gemeinsam
zu Grunde liegendes Aelteres, weiter aber über-
haupt geschichtliche Entwicklung der Sprache
ermitteln. Um das gewählte Beispiel wieder zu
benutzen, hat also die vergleichende Sprach-
wissenschaft nicht einfach zu lehren, daß grie-
chisches ixo*[H äv im Lateinischen durch höhe-
rem wiedergegeben zu werden pflegt, sondern
sie hat die Aufgabe zu fragen, wie jenes höhe-
rem an und für sich sowohl nach der Seite der
Form als nach der Seite der Bedeutung sich
entwickelt hat, was also ein sogenannter Con-
Leo Meyer, An im Griech. Lat. u. Gothisch. 835
junctiv des Imperfects eigentlich ist, und auf
der anderen Seite, was eine optativische Form
, wie ex<»t** im Grande ist nnd bedeutet, und wie
solche Bedeutung sich durch das zugefügte äv
umgestalten konnte, und weiter, wie das äv an
und für sich nach Form und Bedeutung sich
entwickelte, auf welchem Grunde es ruht.
Da alle sprachliche Bedeutung sich selbst-
verständlich an sprachliche Form anschließt, ja
ohne solches äußere Gewand für uns gar nicht
zu denken ist und nur in ihm von uns erkannt
werden kann, so geht alle sprachliche Unter-
suchung natürlich zunächst vom Aeußern aus.
So handelt sichs bei Prüfung der Partikel äv
zunächst um die Geschichte seiner Form. Wie
diese ursprünglich beschaffen gewesen ist, kön-
nen wir noch nicht bestimmen, es ist aber schon
von hohem Werth für uns, daß wir dem grie-
chischen äv gegenüber auch im Lateinischen
und Gothischen ein entsprechendes an wieder
finden. Daß diese drei verschiedenartigen an
(äv), die einander äußerlich ganz gleich sind,
auch aus ein und demselben Grunde historisch
sich entwickelt haben, also ursprünglich eins
sind, steht allerdings nicht ohne Weiteres fest, es
wird aber zum höchsten Grade der Wahrschein-
lichkeit erhoben, sobald sich erweisen läßt, daß
auch der begriffliche Inhalt oder die Bedeutung
jener verschiedensprachigen an, da darin eine
thatsächliche Uebereinstimmung nicht besteht,
sich aus dem gleichen Grunde entwickeln konnte.
Dieser Erweis aber läßt sich mit Leichtigkeit
führen und es stellt sich damit also für uns als
Thatsache heraus, daß die Grundlage des grie-
chischen «j>x schon in der Zeit existierte, in
der Griechisch, Lateinisch und Gothisch oder
im weiteren Sinne Germanisch — was eben aus
53*
836 Gott gel- Anz. 1880. Stück 27.
ihrer Verwandtschaft anter einander folgt —
noch nicht getrennte Sprachen waren, sondern
noch eine Einheit bildeten. Diese Griechisch-
lateinisch-germanische Spracheinheit aber fällt
mit der sogenannten europäischen Einheit der
indogermanischen Sprachen noch zusammen, da
germanische Sprache dem Slavischen und Li-
tauischen verwandtschaftlich näher steht, als
den beiden classischen, und diese wiederum dem
Keltischen näher verwandt sind, als dem Ger-
manisch-Littauisch-Slavischen, Wir können also
die Entwicklungsgeschichte unseres cm in sehr
alte Zeit zurückverfolgen/ wir wissen vom Bo-
den der vergleichenden Grammatik aus, daß es
schon in d^a r Zeit als adverbielles Wörtchen ent-
wickelt gewesen sein muß, in der alle westindo-
germanischen Sprachen sich noch nicht zu ihren
verschiedenen Abtheilungen entwickelt hatten.
Welche Bedeutung aber wohnte jenem so
ermittelten alten, vorgriechischen, vorlateinischen,
vorgermanischen, an inne? Da sich die Bedeu-
tungen des griechischen, lateinischen und gothi-
schen an durchaus nicht decken, also insofern
nicht wohl von einer altertümlichen Einheitlich-
keit derselben die Bede sein kann, so bleibt zu
prüfen, in welcher der genannten drei Sprachen,
denen das an erhalten blieb, dieses die alter-
tümlichste, sinnlichste und gleichsam greif-
barste Bedeutung zeigt. Das ist aber deutlich
der Fall im Lateinischen. Hier bezeichnet cm
das Oder der Doppelfrage oder ein fragendes
„im anderen Fallu, wie in rides an ploräs
„lachst du oder (= „im andern Fall") weinst
du"? Aus den älteren lateinischen Dichtern
und zwar insbesondere aus den Bruchstücken
der Komiker und Tragiker ist der Gebrauch des
l
Leo Meyer, An im Griech. Lat u. Gothisch. 837
lateinischen an in etwas weiterem Umfange
(Seite 6 bis 9) aufgewiesen.
Mit dem lateinischen an zeigt seine innere
Verwandtschaft überall ganz deutlich noch das
gothische an, das in unserer gothischen Bibel-
übersetzung im Ganzen nur an fünf Stellen
(drei bei Lukas nnd zwei bei Johannes) vor-
kömmt, die (Seite 10 nnd 11) sämmtlich ge-
nauer betrachtet sind. Das gothische an ist
überall in Fragen verwandt, die ein besonderes
Bedenken oder Zweifeln des Fragenden aus-
drücken sollen, wie Lukas 18, 26, wo Luthers
Worte lauten „wer kann denn selig werden?",
die entsprechenden gothischen mit ihrem an
aber sich etwa würden übersetzen lassen „oder
wer kann selig werden?", wie sitfhs an einen
leicht zu ergänzenden unmittelbar vorausgehen-
den Gedanken „nach deinem Ausspruch müssen
ja alle zu Grunde gehen a, anschließen würde.
An die Betrachtung des gothischen an schließt
sich sodann (Seite 11 bis 59) die des griechi-
schen äv, dessen Gebrauch für den Umfang der
homerischen Sprache in unversehrter Vollstän-
digkeit dargelegt ist Vorangestellt ist (Seite 12
bis 15) die Verbindung des äv mit augmentier-
ten Verbalformen, wie in der öfter wiederholten
Wendung rj % äv noM xiQÖwv qsv „gewiß es
wäre viel vorteilhafter gewesen" der jedesmal
vorausgeht dJJl iyd ov m&dpyv „aber ich folgte
nicht", aus der etwas anders gestaltet der Ge-
danke sich ergiebt „ich folgte nicht, oder es
war (= „wäre gewesen") vorteilhafter".
In sehr belehrender Weise wird solche Auf-
fassung durch das Gothische bestätigt. In
Sätzen der bezeichneten Art, in denen sichs also
um Verbindung des äv mit augmentierten Ver-
balformen handelt, stellt nämlich Wulfila mehr-
838 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 27.
fach der fraglichen griechischen Partikel gradezu
das gothische criththau gegenüber, das sonst
ganz gewöhnlich für das bestimmte „oder" ge-
braucht wird. Und etwas häufiger noch als je-
nes aiththau steht das kürzere thau, das sonst
auch „oder" ist, an der Stelle des griechischen
äv. Das than aber steht einige Male auch da
für äv, wo das letztere sich mit Modusformen
verbindet und zwar in abhängigen Sätzen, wie
zum Beispiel in hvarjis thau ize rnaistsvösi dem
griechischen ttg äv sty pei^cov avtcSv („es kam
ein Streit unter sie,) welcher etwa der größeste
von ihnen wäre" gegenüber. Das thau oder
äv läßt sich in solchen Verbindungen ungefähr
durch „etwa, vielleicht, möglicher Weise, unter
gewissen Umständen" tibersetzen, das heißt seine
ursprünglich bestimmter gerichtete Bedeutung
„oder", das ist „im anderen Fall", erscheint
nun etwas abgeschwächt und so umgestaltet zu
der Bedeutung „in irgend einem beliebigen (oder
denkbaren, möglichen) Fall".
Auf diesem Bedeutungsgrunde aber hat sich
aller weitere Gebrauch des äv entwickelt, seine
namentlich im Relativsatz beliebte Verbindung
mit dem Conjunctiv und seine vorwiegend in
Hauptsätzen beliebte Verbindung mit dem Opta-
tiv, für welche letztere sich dann der bestimm-
tere Werth des sogenannten Conditionalis heraus-
gebildet hat. Den aufgeführten drei verschie-
denartigen Verbindungen des äv aber, also der
mit augmentierten Formen, der mit dem Con-
junctiv in Relativsätzen und der mit dem Opta-
tiv in Hauptsätzen zur Bezeichnung des Condi-
tionalis ordnen sich alle übrigen Verwendungs-
arten des äv in griechischen Sätzen mehr oder
weniger unter.
Zu bequemerem Gebrauch ist eine ziemlich
V
1
Briefw. Meusebach's mit Jac. u. Wilh. Grimm. 839
ausführliche Inhaltstibersicht zugefügt, in der
unter anderem anch sämmtliche homerische Stel-
len mit ßv, sowie anch die mit inj* (für im)
Sv) nnd ijv (für sl &v\ nebst den entsprechen-
den Verweisungen aufgeführt worden sind.
Dorpat. Leo Meyer.
Briefwechsel des Freiherrn Karl
Hartw. Gregor von Mensebach mit Ja-
cob nnd Wilhelm Grimm. Nebst einleiten-
den Bemerkungen über den Verkehr des Samm-
lers mit gelehrten Freunden, Anmerkungen und
einem Anhange von der Berufung der Brüder
Grimm nach Berlin. Herausgegeben von Dr.
Gamillus Wendeler. Heilbronn, Verlag von
Gebr. Henninger. 1880. CXXIV u. 426 S. gr. 8°.
Erhaben über die Staffel des bloßen Ruhmes,
selbst eine hohe Stufe desselben angenommen,
ist das beneidenswerthe Loos, das freilich nur
wenigen gefallen ist, Lieblinge ihres Volkes zu
sein. Nur solche Männer erreichten dieß, welche
des eigenen ^Volkes Art tiefinnerlich erfaßt und
durch epochemachende Leistungen in lichtem
Glänze der Vollkommenheit zur Erscheinung
gebracht haben. Zu der Schaar dieser Auser-
wählten zählen für uns Deutsche die Brüder
Grimm, Jacob mit seinem stärkeren und tieferen
Geiste, Wilhelm mit seinem milden und treuen
Herzen, beide in herzlicher Eintracht verbunden,
nicht bloß durch die Bande des Blutes, die die
Natur um sie geschlungen hatte, sondern auch
durch den Einklang ihrer Herzen eins, nicht un-
ähnlich dem hohen Dichterpaare, das kurz vor
840 Gßtt. gel. Anz. 1880. Stück 2T.
ihrer Zeit in noch erhabenerer Größe zusammen
lebte, dachte und schuf. Denn nichts anderes
zieht neben der Bewunderung der Geistesgröße
und der bedeutenden wissenschaftlichen Leistun-
gen den Geist und das Herz der Deutschen so
zu den Brüdern hin, welche in ihrer stillen Stu-
dierstube, im Staube der Bibliothek oder im
Hörsäle der Hochschule ihre Welt fanden und
doch so wirksam für den geistigen Fortschritt
ihrer Nation schafften, als das, ich möchte fast
sagen, instinktive Gefühl, daß wir in beiden die
echtdeutschen Tugenden verkörpert sehen: die
ideale Auffassung des Ganzen wie des Einzel-
zelnen, den beharrlichen Fleiß, des Forschers
Tiefe, die Kraft der That und die feste und
unerschütterliche männliche Ueberzeugung, die
nichts scheut und für sie alles hingiebt, selbst
die eigene Existenz, daneben aber auch Milde
der Gesinnung und selbstlose Liebe für andere.
So waren die Brüder Grimm, und so leben sie
im Herzen ihres Volkes fort, an dessen geistiger
Größe sie wie wenige haben mitschaffen helfen.
Von ihnen nun erzählt das Buch, auf das wir
durch diese Besprechung die Aufmerksamkeit
unserer Leser hinlenken möchten. Indem aus
dem Meusebach'schen Nachlasse und dem der
Brüder Grimm eine große Anzahl von Briefen
zum ersten Male zum Vorschein kommen, ver-
dient es von vornherein unsere vollste Beach-
tung. Freilich nicht in dem Sinne, in welchem
der Herausgeber sein Werk vollendet hat. Wir
befinden uns mit ihm, der sein Augenmerk zu-
meist und zu ausschließlich auf Meusebach ge-
richtet hat, in principiellem Gegensatze. Man
mag den Freiherrn von Meusebach für einen
nicht ganz gewöhnlichen Menschen ansehen und
es deshalb für angezeigt halten, über ihn der
•i
r ^>
Briefw. MeoBebach'g mit Jac a. Wilb. Grimm. 841
gelehrten Welt mühsam gesammelte Notizen in
reichlicher Fülle darzubieten, aber in einem
Werke , wo er neben den Grimms erscheint,
trete er bescheiden znrück, wie der handwerks-
mäßige Handlanger gegen den Künstler, wie
der Schüler gegen den ausgezeichneten Lehrer,
wie der Dilettant gegen den kritisch denkenden
und genial schaffenden Meister, endlich — es
dauert ans fast, es zu sagen ! — wie der klein-
liehe und oft wenig Liebe und Zuneigung er-
weckende, engherzige Sonderling gegen den
innig zu verehrenden und mit allen Tugenden
des Herzens geschmückten guten Menschen. Es
ist wahrlich nicht gut für Meusebach's Nach-
ruhm, wenn über ihn noch mehr derartige
Actenstücke, wie es viele der vorliegenden Briefe
sind, bekannt werden, das bedenke der Heraus*
geber wohl, falls er etwa noch mehr über Meu-
sebach veröffentlichen will! Wir kannten bis-
her noch wenig über ihn, höchstens einige Le-
bensnotizen (vgl. J. Zacher im Brockhausischen
Conversationslexicon, 10. A. 1853, Bd. 10 S.
435), und das Meiste, was wir von ihm wußten,
entstammt Aeußerungen seiner ihm unendlich
überlegenen Freunde, welche vielfach Schwächen
zugedeckt haben. Jetzt, wo wir hier und in den
vor Jahresfrist erschienenen „Fischartstudien
des Freiherrn K. H. Gr. v. Meusebach", von
demselben Herausgeber, auf welche wir gleich zu-
rückkommen werden, ihn selbst in seinem Thun,
Beden und Wollen kennen gelernt, hat er ge-
gen früher viel verloren. Wir wollen ihm wahr-
lich seine Verdienste nicht schmälern, und das
Wenige, was er selbst mit seiner Bibliothek fttr
die Geschichte der deutschen Literatur des 15., 16.
u. 17. Jahrh., besonders für „Fischart" und das
„Volkslied" geleistet hat, und alles, was er für
i
842 Gott. gel. Adz. 1880. Stück 27.
#
andere als ein wahrer Chalkenteros, aber auch
nicht selten als ein Koprophoros k la Gottsched
sammelte und auszog, endlich was das Bedeut-
samste ist, durch seine in ihrer Art einzige Bi-
bliothek überhaupt zu leisten ermöglichte, soll
< ihm unvergessen bleiben, aber im eigenen Inter-
esse des Mannes verschone man uns mit Weite-
rem über ihn. Alles, was wir von ihm zu wis-
sen begehren, was allgemeines Interesse an ihm
hat, ist jetzt tibergenugsam bekannt ; eine gute
Zusammenstellung davon bietet die „Allgemeine
Zeitung", 1880, Beilage zu Nro. 102, auf Grund
der Wendeler'schen Publikationen. Und will
man uns das nicht zugestehen und Meusebach
höher stellen, nun so schreibe man, wenn die
auf S. IV erwähnten „Geheimbtichera und auto-
biographischen Aufzeichnungen endlich erlangt
sein werden, eine Biographie des Mannes, wel-
che lesen mag, wer sich für ihn interessiert,
aber in Werken, wo andere viel bedeutendere
Männer auftreten, stehe er bescheiden im Hinter-
grunde.
Nach diesen Auseinandersetzungen wird es
dem Herausgeber nicht Wunder nehmen, daß
wir seine Einleitung, welche volle 124 Seiten
umfaßt, für mißlungen erklären. Mit großem
Fleiße hat derselbe Gelehrte im vorigen Jahre
aus den Schätzen der Kgl. Bibliothek in Berlin,
die i. J. 1849 Meusebach's Bibliothek angekauft
hat und zum Theil auch seine Correspondenz
besitzt, die „Fiscbartstudienu Meusebach's ver-
öffentlicht, ein Werk, über das ich hier nicht
zu urtheilen habe, und das ein Meister der Li-
terarhistorie , K. Goedeke, in diesen Blättern
(1880, S. 336-350) bereits besprochen hat;
seinem Urtheile stimme ich übrigens von gan-
zem Herzen bei. In diesen „Fischartstudientf
r
Briefw. Meusebach's mit Jac. u. Wilh. Grimm. 843
findet sich eine 96 Seiten lange Einleitung über
die literarischen Bestrebungen Meusebach's, und
von dieser ist unsere Einleitung einfach eine
Fortsetzung oder Ergänzung. Mag es nun wirk-
lich vor jenes Buch hingehören, so Vieles und so
Vielerlei von dem, was Meusebach geleistet bat
oder viel öfterer leisten wollte, zu erörtern, was
aber hat es in aller Welt mit dem Briefwechsel
zwischen den Grimm's und Meusebach zu
thun, wenn wir belehrt werden, welchen Studien
Meusebach besonders nachhieng, und mit wel-
chen Männern er vornämlich verkehrte? So er-
fahren wir von seinem Verhältnisse, ehe er
nach Berlin tibersiedelte, zu Jean Paul, J. G.
Jacobi, Goethe, Görres, Laßberg, dann seitdem
er nach der Preußischen Hauptstadt versetzt
war, wie er mit dem General v. Clausewitz und
dessen Gattin Marie geb. Gräfin Brühl, mit Hoff-
mann v. Fallersleben, Zeune und dem Luther-
sammler Eraukling stand; dann wird Laßberg's
noch einmal gedacht (S. XXIII— XXV), ferner
besonders eingehend sein Verkehr mit Ebert
geschildert, sowohl solange dieser in Wolfen-
btittel der Bibliothek vorstand und noch mehr
in seiner Dresdener Stellung, dann wird zum
zweiten Male das Verhältniß zu Hoffmann von
Fallersleben berührt (S. XXX VIII -L VII), na-
mentlich dessen Liebe zu Meusebach's Tochter,
der „Arlikona" der Hoffmann'schen Lieder, be-
handelt; wenig erquicklich ist weiter das, was
von dem Verkehre zwischen Hailing und Meuse-
bach (S. LVII-LXXXV) erzählt wird, und wo-
durch nicht gerade schöne Streiflichter auf Meu-
sebach's Charakter fallen; ebensowenig ist er
gegen W. Wackernagel und K. F. Förstemann
liebenswürdig, obschon letzterer eine Zeit lang
Erzieher der Meusebach'schen Kinder war. Bes-
t
844 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 27.
ser war das Verhältniß zu M. Haupt (S. XCVIH
— CX und CXVII— CXX), das Stand hielt, und
weshalb auch Haupt bei dem Verkaufe der
Meusebach'scben Bibliothek an den Preußischen
Staat sehr erfolgreich tbätig war (S. CXX —
CXXIII); desto herber ist aber wiederum der
Mißton, mit welchem der lange und innige Ver-
kehr mit Lachmann (S. CX— CXVII) durch das
am 17. August 1837 von Meusebach übersandte
ebenso brüske als lakonische Billet abgebrochen
wurde: „Lassen Sie uns, Herr Professor, einen
persönlichen Umgang aufgeben, der keinem von
uns gut und nützlich ist" — , ein „Produkt über-
reizter Nerven", wie Wendeler selbst ganz rich-
tig bemerkt. Und bei alle dem erfahren wir
fast Nichts von den Brüdern Grimm, kaum daß
sie gelegentlich einige Male erwähnt werden,
wie z. B. S. Ln, CIV, CXI, CXIII! — Ich
denke mir, zu diesem unseren Werke mußte
eine ganz andere Einleitung geliefert werden.
Meusebach's erster Brief ist vom 10. Juli 1820,
Wilhelm Grimm's letztes Schreiben vom 9. Juli
1846, aber die eingehendere Correspondenz
schließt eigentlich schon mit dem Jahre 1836
(vgl. Brief Nr. 97 v. Meusebach, S. 227—233),
also ungefähr ein Jahr vor der Amtsentsetzung
der Brüder in Göttingen. Was heißt das für
die Grimms. Darauf mögen die folgenden all-
gemein bekannten bibliographischen Notizen ant-
worten. In jener Zeit erschienen von Jacob
Grimm: seine deutsche Grammatik, Bd. I 1819,
dessen wichtige 2. Ausgabe 1822, Bd. II 1826,
Bd. III 1831, seine deutschen Rechtsalterthümer,
Meusebach gewidmet, 1828, sein Reinhart Fuchs
1834, seine deutsche Mythologie 1835, von Wil-
helm Grimm: dessen „Deutsche Heldensage" 1829
und der „Freidank" 1834, vieler kleiner, doch
Briefw. Meusebacb's mit Jac u. Wilh. Grimm. 845
auch sehr werthvoller Arbeiten nicht zu geden-
ken. Das heißt nichts anderes, als daß es jene
Zeit war, in welcher die Grimms, namentlich
Jacob, sich zn epochemachenden Meistern in
ihrem Fache ausgestalteten, wo der „hehre
Freundeskreis, der die Gründer der deutschen
Philologie und ihre nächsten Vertrauten ver-
band" (vgl. J. Zacher im Necrolog v. M. Haupt,
Zeitschrift f. deutsch. Pbilolog. Bd. V S. 456),
in gegenseitiger Unterstützung und mündlichem
wie schriftlichem Verkehre sich so wirksam
förderte. In diese Schaffenszeit also, wie sie
kaum großartiger und folgenreicher je in der
Geschichte der deutschen Wissenschaft dagewe-
sen ist, führt uns der „Briefwechsel" mitten
hinein, und daß wir hierüber in besonderen
Fällen auf das eingehendste belehrt werden, ist
die Wichtigkeit desselben. Hier mußte die Ein-
leitung einsetzen und in systematischer Zusam-
menstellung alles das darlegen, was wir aus den
Briefen, besonders Jacob Grimm's erfahren. Ich
würde dabei zwischen Jacob und Wilhelm capi-
telweise geschieden und bei jedem die ein-
zelnen Werke besonders behandelt haben,
wobei ja namentlich für den 2. Theil der Gram-
matik, für die Rechtsalterthümer und den Rein-
hart Fuchs der Löwenantheil abgefallen wäre,
und sich die wichtigsten Aufschlüsse ergeben
hätten. Man kann hier so recht eigentlich in
die geistige Werkstätte der Grimms hinein-
blicken,, und kann lernen, in welcher Weise sie
ihre großartigen Werke schufen, man kann sie
endlich förmlich bei ihrer Arbeit belauschen.
Und wie viel neue Lebensbezüge der Brüder
erfahren wir noch, große und kleine Sorgen,
Aufschlüsse über ihr Jugendleben, über ihre po-
litischen Anschauungen, namentlich Jacob's, ihr
846 Gott. gel. Adz. 1880. Stück 27.
Familienleben und ihre Freund scliaftsbe Ziehun-
gen! Daran maßte sich noch das anschließen,
was sich über die anderen gleichstrebenden For-
scher ergiebt, über Lachmann, Benecke u. a.
Eine solche Einleitung würde eine Fundgrube
sein für die Geschichte der Geistesentwicklung*
der Grimms und vieler anderer Gelehrter, wel-
che die deutsche Philologie geschaffen haben ;
jetzt aber muß man sich die einzelnen Notizen
mühsam zusammensuchen und kann deshalb den
Ueberblick über das Ganze schwer festhalten,
ohne durch den Notizenkram über Meusebach
irgendwie entschädigt zu werden. Nehmen wir
noch die letzten Briefe hinzu und den „Anhang
von der Berufung der Brüder nach Berlin" (S.
255—300), für welchen wir dem Herausgeber
nicht dankbar genug sein können, und in wel-
chem die feinsinnigen Billets von Friedrich Wil-
helm IV., der Brief Alexander's von Humboldt
und die stürmischen Bitten Bettina's von Arnim
zuerst an den Kronprinzen, dann an den König
unser Interesse zumeist auf sich ziehen, so spielt
in jene Zeiten auch der Plan, das „Deutsche
Wörterbuch" zu schaffen, mit hinein, und somit
konnte auch die Entstehungsgeschichte dieses
unseres großen Nationalwerkes, das der Vollen-
dung noch so fern ist, durch bisher unbekannte
Nachrichten in größere Klarheit gertickt werden.
In Summa also: eine solche Einleitung mit sol-
chen Aufgaben, die zu lösen dabei durchaus
nicht zu schwierig waren, mußte doch wahrlich
eher des Schweißes werth sein als das, was wir
jetzt finden. Denn viel Arbeit steckt in dem Buche,
und zwar eine in mancher Hinsicht erfolgreiche
Arbeit, da die Briefe selbst in musterhafter Ge-
nauigkeit abgedruckt und die Anmerkungen mit
großer philologischer Akribie gearbeitet sind, so
Briefw. Meusebach's mit Jac. a. Wilb. Grimm. 847
daß, von einem andern principiellen Mangel, den
ich gleich berühren werde, einmal abgesehen,
nor Einzelheiten zu finden sind, die theilweise
unrichtig, theils unerklärt geblieben sind. Die-
ser principielle Mangel hängt aber mit dem der
Einleitung innerlich zusammen. Denn einmal
richtet der Verfasser, seiner ganzen Auffassung
nach, auch bei der Erklärung sein Augenmerk
zu viel auf Meusebach ; und er hat deshalb auch
dessen Briefe, die oft nur zum Theil grammati-
sche Sammlungen sind, nicht einschneidend ge-
nug gekürzt. Nicht genug, sage ich, denn an
vielen Stellen ist es geschehen. Aber jene
Sammlungen haben doch Jacob Grimm vorge-
legen; was er benutzen konnte, hat er benutzt.
Was nützen sie also jetzt noch? Mir liegt z.B.
das Handexemplar Hoffmann's von Fallersleben
von dem Meusebach'schen Werke vor: „Zur
Recension der deutschen Grammatik, unwider-
legt herausgegeben von Jacob Grimm, 1826",
das auf Meusebach's Anordnung (sein Name
steht auf dem Umschlage) von Jacob Grimm
mit einer Dedication an Hoffmann gesandt
wurde. In ihm hat letzterer auf S. 28, 29. 34
u. 52 „Nachträge u notiert. Es hieße die Ge-
duld der Leser in unberechtigter Weise in An-
spruch nehmen, wenn ich diese unbedeutenden
Stellen hier oder anderswo mittheilte. Eine gleiche
Entsagung mußte Wendeler üben. Und zum ande-
ren giebt der Herausgeber keine umfassenden
Ueber- und Ausblicke und setzt das Einzelne
nicht genügend in Zusammenhang mit dem Gan-
zen, um das es sich handelt, sondern er geht zu
sehr in's Kleine, ja Kleinliche; dieses zu erklä-
ren, genügt ihm oft, so daß er also nicht das
in unserem Sinne vollkommen erreicht hat, was
er auf S. IV als seinen Plan hinstellt, oder doch
848 Gott gel. Anz. 1880. Stück 27,
als einen Theil des von ihm Erstrebten, „zur
Entwicklungsgeschichte der zwischen den Schrei-
benden verhandelten wissenschaftlichen Fragen
• . . weiteren Stoff zu liefern u ; wenigstens hat
er ihn selbst nicht verwerthet. Im Ganzen be-
weist Wendeler allerdings in den Anmerkungen
reiche Belesenheit, einsichtige Kritik und im
Allgemeinen umfassende Gelehrsamkeit Aller-
dings nicht immer tadellosen Geschmack, denn
sein Stil ist öfters schwerfällig, wobei wir na-
türlich von den vielen Stellen absehen, wo der
Gegenstand eine trockene Aufzählung von Na-
men, Daten, Büchertiteln u. s. w. bedingt. In
letzter Hinsicht ist mir die Publikation A. Beif-
ferscheid's „Freundesbriefe von Wilh. und Jac.
Grimm, 1878 in demselben Verlage erschienen,
sympathischer. Ein Vorzug des Wendeler'schen
Buches ist aber unstreitig das ruhige und be-
sonnene Urtheil des Verfassers, wovon sich nur
einzelne Ausnahmen finden, wie z. B. in der
Anmerkung zu S. CXX, da es ziemlich gewagt
ist, auf Grund von Angaben Hoffmann's von
Fallersleben, dessen Selbstbiographie Wendeler
doch sonst richtig würdigt, Angaben, die ein
Mann wie Jul. Zacher über Selbsterlebtes macht,
corrigieren zu wollen ; zum Ueberflusse erwähne
ich, daß ich aus Zacher's eigenem Munde weift,
daß er seine Behauptung voll aufrecht hält.
Solche Stellen nun, die eine allgemeine Be-
deutung haben und auch so behandelt werden
mußten, sind, abgesehen natürlich von denen,
an welchen es sich um die Werke der Grimms
im Allgemeinen handelt, z. B. folgende: Seite
6 Jac. Grimm's Urtheil über die lat. Lettern
seiner Grammatik, S. 90 über J. Grimm's Vater-
landsliebe, S. 96 u. 106 über Orthographie (denn
der kurze Hinweis S. 346 genügt nicht), wozu
Briefw. Meusebach's mit Jac. a. Wilh. Grimm. 849
Meusebach's Bemerkung auf S. 100 von allge-
meinerer Bedeutung ist, ferner S. 107 J. Grimm's
Bemerkung über den Unterschied zwischen alt-
klassischer und deutscher Philologie; S. 111
Meusebach's Ansicht über wissenschaftliche Ar-
beiten, S. 117 ff. J. Grimm's Bemerkungen über
seine Versetzung nach Göttingen und seine An-
hänglichkeit an Hessen, u. s. w., u. s. w. Daß
viele Stellen anders oder genauer hätten erklärt
werden können, scheint mir zweifellos, freilich
läßt sich über Manches und besonders über das
Maß streiten, da das Wissen ja so verschieden
ist, was der einzelne Leser zu dem Buche mit-
bringt Aber da ich glaube, Wendelerwünscht,
daß sein Buch nicht bloß von Gelehrten von
Fach studiert werde, sondern daß es auch der
gebildete Laie liest, so hätte er noch Manches
hinzufügen müssen. Ich greife einige Beispiele
heraus, bei denen ich eine Erklärung vermisse,
oder wo beziehungsweise eine Berichtigung
hätte eintreten müssen. So fehlt auf S. 42 zu
den Worten: „auch wäre mir unlieb, damit
stecken zu bleiben wie Bretschneider" eine ge-
nauere Erklärung, was Meusebach damit sagen
will, denn H. G. Bretschneider ist doch kein so
bekannter Schriftsteller, daß alle ihn kennen,
und noch unbekannter als sein Name sind in
unserer Zeit seine Werke. Ferner wer ist S.
75 ZI. 16 v. o. der „Oa, den J. Grimm grüßen
läßt? Ich denke, daß Grimm den „Fischart-
orden" meint, auf jenen Scherz Meusebach's ein-
gehend, der alle, die für seine geplante Fischart-
ausgabe sammelten, zu Rittern desselben er-
nannte, während er selbst sich als Großmeister
gerierte, wenigstens so angeredet ward, z. B.
von dem demüthigen Hailing; die Abkürzung
hat wahrscheinlich F. 0. (vgl. S. 112) auch
54
850 Gott gel Anz. 1880. Stück 27.
hier sein sollen, und es ist wohl denkbar, daft
J. Grimm das „F." aus Versehen weggelassen bat,
Ferner zu S. 97 und 99 fehlen Nachrichten tlber
Professor Klenze in Berlin und Horner in Zürich.
AufS. 104 sagt Wilh. Grimm: „sie erinnerte mich
an die stumme Schönheit, ich denke von öel-
lert"; Wendeler moniert dies nicht und. läßt
also W. Grimm's Irrthum stehen, da jenes
Lustspiel nicht von Geliert, sondern von Job.
EL Schlegel ist üeher das Wort „Dingrötel"
S. 140 wäre meiner Ansicht nach ebenfalls eine
Anmerkung durchaus am Platze gewesen, da
nicht jeder in der Geschichte des deutschen
Rechtes so heimisch ist, um diesen Ausdruck zu
kennen; ebensowenig werden sich die wenig-
sten über das tertium comparationis auf S. 146
klar sein, wo „Lessing's Bruder in Breslau" er-
wähnt ist, da das „Leben Fibers" schwerlich
zu den noch gelesenen Werken Jean Paul's ge-
hört; ebenso stößt man bei den Worten auf S.
153 an : „wogegen Beuthert hochdeutsche Ueber-
tragung unter aller Kritik schlecht und elend
ist", ohne daß man Aufschluß bekommt; end-
lich mußte die auf S. 225 genannte Horazaus-
gabe v. Gottschling (1724. 1764) näher charak-
terisiert werden. Bei der Masse des Erklärten
ist dieß aber verhältnißmäßig recht wenig, und
dürfen wir daher, von obigen Einschränkungen
abgesehen, dem Fleiße des Herausgebers unsere
Anerkennung nicht versagen; wer selbst schon
commentierte Ausgaben angefertigt hat, weiß,
wie oft selbst eine kurze und unscheinbare
Notiz viel Arbeit und Mühe kostet, während
die längsten Anmerkungen meistentheils die
leichtesten sind. Somit hoffen und wünschen
wir, daß das Buch, welches trotz der gerügten
Mängel eine schöne Leistung ist, als wichtiges
The Dtpavamsa ed. and transl. by Oldenberg. 851
QneHenwerk für die Kenntnis der Geschichte
der deutseben Philologie die vielseitigste Beach-
tung nnd Schätzung finden möge.
Detmold. Richard Thiele.
The Dtpavamsa. An ancient Buddhist
historical record. Edited and translated by
Hermann Oldenberg. London. Williams
and Norgate 1879. 227 p. 8°.
Lange war Tumour's jetzt vergriffene Aus-
gabe des Mahävamsa, von welchem eine neue
kritische Ausgabe ein dringendes Bedürfnis ist,
das einzige veröffentlichte Document der Ge-
schichte Ceilons, welche ja wegen ihrer engen
Beziehung zu der älteren Geschichte Indiens von
hohem Interesse ist. Jetzt liegt uns der ältere
Dfpavamsa, Text und englische Uebersetzung,
in Dr. Oldenberg's vortrefflicher Bearbeitung
vor. In beiden Werken wird derselbe Zeitraum,
nämlich die Geschichte der Insel von ihrer Co-
Ionisierung bis zum Jahre 302 nach Chr., dem
Tode des Königs Mahäsena, aus demselben Ge-
sichtspunkte, nämlich dem Verhältnisse der Ge-
schichte zur Lehre Buddha's, behandelt. Wenn
wir also wenig materiell neues über diesen Zeit-
raum aus dem Dtpavamsa lernen, so können
wir doch jetzt die Angaben Mahänäma's im Ma-
hävamsa an der Hand des älteren Werkes con-
trollieren und nachweisen, was davon auf wirk-
lich alter Tradition beruht. Schon dadurch
allein würde der Dtpavamsa von unschätzbarem
Werthe für die historische Forschung sein, wenn
54*
852 Gott gel Änz. 1880. Stück 27.
wir auch kein neues historisches Material aus
ihm schöpfen könnten.
In der Einleitung zn seiner Ausgabe erör-
tert Dr. 0. zuerst die Frage nach den Quellen
des Dtpavamsa und weist in einleuchtender
Weise nach, daß dieselbe sowohl für dieses
Werk als auch für den Mahävamsa die singha-
lesische Atthakathä des Mahävihära-Klosters ge-
wesen sei Daraus daß die von Buddhaghosa
aus dieser Atthakathä citierten Verse mit den
entsprechenden Stellen des Dtpavamsa meist
wörtlich übereinstimmen, schließt Dr. 0., daß
der D. größtenteils nur eine Zusammenstellung
der in dieser Atthakathä enthaltenen Päli-Verse
und anderer, welche unter der gemeinschaftli-
chen Bezeichnung poränä begriffen werden, mit
wenig eingreifender Ueberarbeitung und Zuthat
seitens des unbekannten Zusammenstellers sei.
Zu derselben Ansicht führen auch die häufigen
Wiederholungen ganzer Partien im Dtpavamsa.
Ob allerdings jene Päli-Verse von dem Verfasser
jener Atthakathä selbst herrühren, oder ob sie
vielmehr von demselben aus älteren Werken
entlehnt sind, wie ich anzunehmen geneigt bin,
läßt sich vor der Hand nicht entscheiden. Ma-
hänäma steht seinen Quellen freier gegenüber;
er gießt den ihm überlieferten Stoff in vollstän-
dig neue Form. Sprache und Metrik handhabt
er mit Gewandheit und Verständnis, während
der Dtpavamsa in beiden Beziehungen unbe-
holfen, ja roh ist Auf die Fehlerhaftigkeit in
grammatischer Beziehung hat Dr. 0. schon hin-
gewiesen. Aber auch der Versbau liegt ebenso
sehr im Argen. Die Gesetze des Qloka, sowohl
der älteren Zeit wie sie aus dem Dhammapa-
dam etc., als auch der späteren, wie sie aus
dem Mahävamsa etc. erkannt werden können.
The Dtpavamsa ed. and transl. by Oldenberg. 853
sind bis auf den jambischen (nicht dijambischen)
Ausgang des ardhagloka vernachlässigt Wir
haben es also weder mit einer volkstümlichen,
noch schulmäßig ausgebildeten Verskunst zu
thun, sondern mit den ersten unbeholfenen Ver-
suchen der Singhalesen in Pili- Versen zu
schreiben.
Der historische Stoff ist sehr ungleichmäßig
behandelt Wir haben: die mythische Vorge-
schichte Ceilon's, Aufzählung der Dynastien,
Geschichte der buddhistischen Concilien, Sekten
und Kirchenhäupter; dann folgt, die größere
Hälfte des Werkes einnehmend, die Geschichte
A$oka's, Mahinda's und Devänampiya Tissa's;
zum Schlüsse in vier Gapiteln die dürftige Chro-
nik des Zeitraumes von 200 vor bis 300 nach
Chr. Aus dem mannigfaltigen Inhalte will ich
nur das mit meinen speciellen Studien sich be-
rührende, das auf die Jainas bezügliche kurz
hervorheben. Ihr Name ist Nigantha, was Las-
sen Ind. Alt IP 114, note 5. irrthümlicher Weise
in Nighanta umwandelte. Sie werden an erster
Stelle unter denjenigen Ketzern genannt, wel-
chen Afoka vor seiner Bekehrung seine Gunst
zuwandte VI 26, wie sie ja auch in einer sei-
ner Inschriften erwähnt werden. Ferner wird
ein Nigantha Namens Giri erwähnt, welcher
den fliehenden König Vattagämani verhöhnte.
Nach dem Mataävamsa waren die Jainas noch
früher in Ceilon angesessen; denn der fünfte
König, Pandukäbhaya erbaute ihnen den Tfr-
thäräma. Diese Notizen sind insofern von gro-
ßem Interesse, als sie für die frühe Verbreitung
des Jainismus nach dem äußersten Süden Indiens
beweisend sind. Der Jainismus hat ja nach
Caldwell, Burnell, Graul und Andern eine große
Rolle in der Civilisierung der Dravidischen
854 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 27.
Völker gespielt, und läßt sich derselbe an der
Hand der Inschriften dort in die älteste Zeit
hinein verfolgen.
Der Dipavamsa, dessen Popularität einstens
so groß war, daß er auf Geheiß des Königs
Dhätusena öffentlich an einem Feste zu Ehren
der Statue des Mahinda vorgelesen wurde,
scheint in Geilon selbst später gänzlich in Ver-
gessenheit gefallen zu sein. Denn alle Hand-
schriften desselben, welche Dr. 0. zu jseiner
Ausgabe benutzt hat, führen in letzter Instanz
auf eine birmanische Handschrift, wie sich ans
einigen eclatanten Fehlern, welche in allen Mss.
wiederkehren und sich leicht als Verwechselun-
gen ähnlicher birmanischer Zeichen ergeben,
nachweisen läßt. Dieser birmanische codex ar-
chetypus war nach Dr. 0. sehr ungenau ge-
schrieben und die dadurch in den Abschriften
entstandenen Fehler haben spätere Schreiber
yathamati yathägakti verbessert. Ihre besseren
Lesarten sind daher häufig nur Gonjecturen,
welche mit Vorsicht geprüft sein wollen. Dr.O.
hat sich die Aufgabe gestellt, den Text des co-
dex archetypus in seiner Ausgabe zu reconstruie-
ren, und hat der naheliegenden Versuchung
widerstanden, einen äußerlich correcten Text
herzustellen. Die conjecturellen Verbesserungen
desselben, manchmal der Schlechtigkeit des Ma-
terials entsprechend ziemlich gewaltsamer Art,
sipd in die Anmerkungen verwiesen. Daß Pr.
O.'s Plan bei der Beschaffenheit des Materials
der von der strengen Kritik allein zulässige
war, wird man zugeben müssen, und daß er
sich seiner schwierigen Aufgabe mit richtigem
Tacte entledigte, wird jeder bei dem Gebrauche
des Buches erkennen. Pie Uebersetzung setzt
diejenige Gestalt des Textes voraus, welche er
The Dfpavaipsa ed. and transl. by Oldenberg. 855
nach Aufnahme der von Dr. 0. vorgeschlagenen
Verbesserungen erhalten würde; sie ist muster-
haft und giebt das Original meistens getreu
wieder.
Zum Schlosse will ich Einiges, was ich mir
hei der Lecture bemerkt habe, in Vorschlag
bringen, wobei Verbesserungen des Textes durch
Conjecturen natürlich ausgeschlossen sein müs-
sen. I 1 dh&tu wird von 0. ungenau Genitiv
genannt Es ist der unflectierte Stamm, welcher
alle Casus vertreten kann. Sporadisch kommt
dies auch im Jaina-Präkrit vor cf. Kalpasütra
p. 101. Wir dürfen hierin den ersten Anfang
der Umgestaltung des ganzen Casus-Systems
sehen, welcher in den modernen Sprachen In-
diens vollzogen ist I, 53 sollte cittakkhane
nicht einfach „in einem augenblicklichen Ge-
danken" bedeuten, ohne daß dabei an die kba-
nikakathä zu denken wäre, welche mir übrigens
-mit dem Aehnlichkeit zu haben scheint, was
die indischen Philosophen mit kshanikatva „mo-
mentary existence of all things" als buddhisti-
sche Ansicht bezeichnen. I 77 lies sapakka-
mäsä vasanam vavatthitam: May all Rakkhasa
of Giridipa dwell in their appointed dvelling.
sapakkamäsä weiß ich auch nicht zu deuten.
Es ist Überflüssig und stört das Metrum, statt
Giridipa Giridipe zu lesen. II 11 nivattahetu-
kam wohl „without cause" wie nivrittakäranam,
und auf vinassanti oder kuppanam zu beziehen.
16 avagaccha ist 2. sing, imperat. Das Hemi-
stich gfehört noch zur Bede Buddha's, wie aus
dem folgenden Verse hervorgeht. 31 über-
setze: Do not cause this throne which is pro-
tection, to destroy you etc. statt: Destroy that
small throne, but do not destroy each other.
Ill 2 yathäkatham according to tradition III 3
856 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 27. •
ist näma und VI 70 vividh&m Glosse und so in
den Text gekommen. IV 18 u. 19 gehören zu-
sammen ; asamkampi . . . bhfimi: the not trembling*
ground; die Accusative sind abhängig von na
sakkä pativattetum. 20 anmnattam Druckfehler
för arm0. V 64 vielleicht zu lesen: bhäsite na
'saha pafihe, er war den gestellten Fragen nicht
gewachsen?? VI 6 vielleicht: Niganthas and
Acelakas of whom (ti) the one aieParibbäjakas,
the other Bräbmanas, an other heretics. XI 33
bei nandiyävatta und vaddhamäna hat man
wohl eher an die gleichnamigen und häufig zu-
sammengenannten mystischen Zeichen nandyä-
vartta und vardhamanaka zu denken, als an
eine „Muschel" und ein „Mädchen". Jedoch
vergleiche XVII, 82. XII 15v tibersetze: The
Thera having instructed his mother (in the
doctrine of) etc. made her firm in the true faith
and the religion of the islanders. XVIII 27
devamänusä ist wohl ein dvandva mit fehlender
Instr. Endung : venerated by gods and men. Als
Eigenname wäre devamänusä zu auffällig. XIX
ist wohl zu tibersetzen . . . atthaatthalikä (?) great
stones, crystal and silver, all together twelf
(sorts of materials). XX 6 u. 35 für tävakälika
würde ich die Bedeutung containing water the
whole year vorschlagen. Es steht nur bei ta-
läka, weshalb die vorgeschlagene Bedeutung
besser passen würde, als die von Dr. 0. suppo-
nierte: (which he gave) for a certain time (to
the fraternity).
Dr. Oldenberg hat durch seine in jeder Be-
ziehung vorzügliche Arbeit der Wissenschaft
einen bedeutenden Dienst geleistet.
Münster i. W. Hermann Jacobi.
Scott, Determinants. 857
A Treatise on the Theory of Deter-
minant s and their applications in analysis and
geometry. By S. F. Scott. Cambridge: At
the university press (Leipzig : F. A. Brockhans).
1880. XII u. 251 pp. gr. 8°.
Die ersten Versuche einer systematischen
Darstellung einer Theorie der Determinanten rüh-
ren von Cauchy und Jacobi her. In der
Abhandlang „Sur les functions qui ne peuvent
obtenir qne deux valenrs ägales et de signes
contraires par suite des transpositions opäräes
entre les variables qu'elles renferment" (Journal
de rßcole Polytechnique. Cahier 17. p. 29—112.
Paris 1815) hat Cauchy die Hauptsätze der
Lehre der Determinanten bewiesen und Bezeich-
nungen eingeführt, welche später allgemein ge-
worden sind. Es bezieht sich dieses besonders
auf die Anwendung doppelter Indices und die
Schreibweise einer Determinante in Form eines
Quadrats. Die Arbeiten seiner Vorgänger hat
Jacobi im XXII. Bande des „Journal für Ma-
thematik" (Berlin 1841) in drei Aufsätzen zu-
sammengefaßt und bedeutend erweitert. Diese
Aufsätze sind: „De formations et proprietatibus
Determinantium" (p. 285—318). „De Determi-
nantibus functionalibus" (p. 319 — 359). «De
functionibus alternantibus earumque divisione
per productum e differentiis elementorum con-
flatnm« (p. 360—371). Es läßt sich wohl ohne
Uebertreibung behaupten, daß Jacobi 's Ar-
beiten die Grundlagen der wichtigeren nachfol-
genden Erscheinungen in der Theorie der De-
terminanten geworden sind. Namentlich ist die
Begründung und Darstellung der sogenannten
„Functionaldeterminanten" das eigenste Werk
von Jacobi, wodurch der große Mathematiker
858 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 27.
eine Verbindung von Algebra und Analysis her-
gestellt hat, die eine Quelle wichtiger und inter-
essanter Untersuchungen geworden ist. Die
Abhandinngen von Canchy nnd Jacobi sind,
schon durch die Art und Weise ihrer Publica-
tion, nur für Mathematiker von Fach bestimmt,
da das Studium der bemerkten Abhandlungen
eine große Vertrautheit mit mathematischen
Rechnungen voraussetzt, die zuweilen einen
hohen Grad von Abstraction zeigen. So war es
denn ein sehr dankenswertes Unternehmen, als
1851 u. d. T.: „Elementary theorems relating
to Determinants" (London : Longman) S p o 1 1 i s-
wood in Übersichtlicher, leicht verständlicher
Form eine Theorie der Determinanten ver-
öffentlichte, die, von allerlei Mängeln und Un-
genauigkeiten abgesehn, als Leitfaden dienen
konnte. Eine sehr erweiterte Reproduction sei-
ner Arbeit hat Spottiswood im „Journal für
Mathematik" (T. 51. p. 209—271 u. 328-381)
1856 gegeben, welche eine Umarbeitung und
Verdopplung der ursprünglichen Schrift von 63
pp. in 4° enthält. Diese kleine literarische
Uebersicht findet ihren natürlichen Abschluß mit
den Werken von Brioschi und Baltzer.
•
Von dem Werke Brioschi's „La teorica dei
determinants Pa via. 1854, ist 1856 eine deut-
sche Uebersetzung u. d. T.: „Theorie der De-
terminanten und ihre hauptsächlichen Anwen-
dungen. Von Francesco Brioschi." mit einem
Vorwort von Professor Schellbach erschienen.
Wenige Jahre später datiert das vortreffliche
Werk Baltzer 8 „Theorie und Anwendung der
Determinanten". (Leipzig 1857, vierte Auflage
1875). Das Werk von Baltzer ist de* Vor-
läufer einer Reihe von Schriften über Determi-
nanten geworden, von denen nor die Hamen:
Scott, Determinants. 869
Salmon, Hesse, Dölp, Hattendorff,
Mansion, Günther, Dostor genannt sein
mögen, die znm größten Theil nur die elemen-
taren, algebraischen Hauptsätze enthalten, in
Verbindung mit Versuchen neuer, leicht ver-
ständlicher Herleitungen*). Das vollständigste
Werk über Determinanten bleibt das Baltzer1-
scbe, wenn auch in demselben einige Anwen-
dungen der Determinanten fehlen, die für die
speciellen Zwecke mehrerer der oben genannten
Autoren mehr geeignet erscheinen. Das in der
Ueberschrift genannte Werk von Scott, wel-
ches seinem Umfang nach der Schrift von
Baltzer nachstrebt, verdient eine besondere
Erwähnung, wegen der Versuche des Verfassen
die Hauptsätze auf eine neue Art zu begründen,
welche auf Ideen von Grassmann beruhn.
In der Schrift: „Die Ausdehnungslehre von 1844
oder die lineale Ausdehnungslehre ein neuer
Zweig der Mathematik. Von H. Grassmann"
(Leipzig 1878) findet sich unter Anhang III
p. 281 — 283 „Einfachste Rechnungsregeln für
die neue Analyse". Es ist diese Art von Rech-
nung, welche Scott gebraucht hat, um eine
Determinante von der Ordnung oder vom Grade
n, durch ein Product von nFactoren darzustel-
len, wo jeder Factor einfach eine lineare Summe
von n Tennen ist. Jeder Term ist das Product
einer Quantität, auf welche die gewöhnlichen
algebraischen Regeln anwendbar sind, in eine
Art von Einheit, für welche ganz besondere Re-
geln der Multiplication gelten. Eine solche
*) Es ist selbstverständlich, daS die obige Aufzahlung
sich nur auf didaktische Schriften bezieht, nicht aber auf
besondere wissenschaftliche Abhandlungen, wie z.B. Ana-
lytische Theorie der Determinanten. Von E. Schering.
Göttingen 1877.
860 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 27.
Summe nennt Grassmann einen Factor erster
Ordnnng eines combinatorischen Products, nach
dem Verfasser heißt die Snmme eine alternierende
Zahl.
Da diese alternierenden Zahlen noch weniger
bekannt sein möchten, so mögen zum besseren
Verständniß folgende Erläuterungen folgen. Es
seien e* und eq Einheiten sui generis, för welche
folgende Multiplicationsregel gilt:
1)
P 9 """"" ™~~ ^8f*
also
2)
e\ = 0.
Sind nun
o1? dg, .. an)
U\j Ög) • • On)
gewöhnliche algebraische Quantitäten, so heißen
A und B alternierende Zahlen, wo:
A = a1el + a*ei + •• + a*en>
B = b1el +62c2 4" •• +* bne*.
Die Stellung der a und b gegen die e ist be-
liebig, nur ist die Stellung zweier e durch die
Gleichung 1) bedingt. Wegen der Gleichungen
1) und 2) folgt :
AB =
Der Verfasser fttgt zu den Gleichungen 1) und
2) noch die Annahme:
hinzu. Es ist dann:
, Scott, Determinants. 861
e9eq .. e8 = (— l)r«i«i •• «h — (— 1)*,
wo r die Anzahl der Inversionen (Derangements
bei Cramer: Introduction k l'analyse des lignes
courbes algäbriques. G6n&ve 1750. p. 658) in
ep€q . . e8 bedeutet Eine Determinante von
n.n Elementen läßt sich mittels der Gleichungen
1), 2) und 3) auf folgende Art in Form eines
Prodnctes darstellen :
P — («i,i«i -Mi,*«* + ••• + «i-*) X
0*2,1 Cl + «»,*«» + •••+«*»»*") X
In gewöhnlicher Schreibweise ist:
P =
a
ii
IS
• • &\n
a
21
a
SS
a
«»
ß*i ß»j
ö»m
Die dargelegte sinnreiche Methode eine Determi-
nante als ein Product darzustellen wird in dem
Buche gebraucht, um die wesentlichsten Eigen-
schaften der Determinanten zu entwickeln. So
viel Bestechendes auch in mancher Hinsicht, na-
mentlich was die Kürze der Beweise anbelangt,
die Einführung der durch elie2 .. bezeichneten
neuen Einheiten hat, kann doch der Referent
das Bedenken nicht unterdrücken, daß das Hinein-
ziehn von Ausdrücken, auf welche die einfach-
sten Regeln der Algebra nicht anwendbar sind,
immer etwas Fremdartiges, man könnte sagen,
Unmathematisches hat Die Sätze, auf welchen
die Lehre der Determinanten beruht, sind ihrer
882 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 27.
Natur nach ßo elementar, die von Jacob i ge-
gebene Darstellung einer Determinante nach den
Elementen einer Horizontal- oder Verticalreihe
geordnet, ist eine so einfache und nützliche,
daß es wohl kaum der Erfindung von Ausdrücken
bedarf, welche mehr alsProducte der Laune wie
der Notwendigkeit erscheinen. Sieht man hier-
von ab, so muß man dem Verfasser zugestehn,
das von ihm gebrauchte Hülfsmittel, mit großem
Geschick verwerthet zu haben.
Das Buch zerfällt in vierzehn Capitel, deren In-
halt kurz angegeben werden soll. In I und II
sind Definition und allgemeine Eigenschaften
der Determinanten enthalten. Das III. Capitel
bietet eine ziemlich ausführliche Darstellung der
Subdeterminanten mit einer Anwendung der al-
ternierenden Zahlen auf den Satz von Laplace.
Der Ausdruck von Subdeterminanten als Diffe-
rentialquotienten der primitiven Determinante in
Beziehung auf ein oder mehrere Elemente, hat
Veranlassung zur Bildung von Differentialquo-
tienten einiger besonderen Determinanten ge-
geben. Die Multiplication zweier Determinanten
und der erweiterte Satz über die Multiplication
von Determinanten, nebst einigen besonderen
Fällen, bildet den Inhalt des IV. Capitels. Viel-
leicht ist die Stellung dieses Capitels gegen das
Vorhergehende nicht die richtige. Bei den ein-
facheren Anwendungen der Determinanten, na-
mentlich auf Geometrie, ist das Multiplications-
theorem von überwiegender Bedeutung. Es
möchte sich deshalb empfehlen, diesen Satz so
bald wie möglich in einem Lehrbuch nach den
Hauptsätzen anzuführen. In einer oft citierten
Abhandlung : „Sur quelques applications des de-
terminants ä la G6om6triea (Creile Journal t. 40,
p. 21—47) nimmt Joachimsthal nur das
Scott, Determinants. 863
Multiplicationstheorem in Anspruch, zu einer
Reihe ebenso interessanter wie scharfsinniger An-
wendungen. Als Anwendungen des Multiplica-
tionstheorems sind im V. Capitel die Determi-
nanten von Determinanten untersucht. Das
nächste VI. Capitel beschäftigt sich mit Deter-
minanten von besonderen Formen, namentlich
solchen, für welche aq,p = ± a,,,*. Dieses Ca-
pitel enthält, wie überhaupt fast das ganze Buch,
manche interessante Einzelheiten, die allerdings
nicht für da» Selbststudium zweckmäßig erschei-
nen. Der Unterschied zwischen fundamentalen
Sätzen und mehr nebensächlichen Ausführungen,
wird durch Anhäufung von Detailuntersuchungen
zu leicht verwischt Das VIL Capitel möchte
wohl, ungeachtet seines geistreichen Inhalts, in
einen Anhang zu verweisen sein. Der Verfasser
untersucht Determinanten, in welchen die Ele-
mente mehr wie zwei Indices haben. So folgen
auf die gewöhnlichen Determinanten zunächst
solche, deren Anfangsglied die Form:
^111^*222 •*• ^*»n
hat. Es werden zuerst die dritten Indices per-
mutiert, unter Beachtung der gewöhnlichen Zei-
chenregel. Darauf werden in jedem der so er-
haltenen 1. 2 . . n Tenne die zweiten Indices
permutiert, natürlich wieder mit Rücksicht auf
die Vorzeichen. Das Aggregat der [1.2. . .w]*
Tenne bildet eine sogenannte cubische Deter-
minante. Wie man so zu Determinanten höhe-
rer Ordnung aufsteigen kann ist leicht ersichtlich.
In Capitel VIII ist die Elimination in Beziehung
auf einige einfache Fälle dargestellt. Das nächste
Capitel unter dem Titel „Rational functional de-
terminants" entspricht dem § 10 bei Baltzer
und behandelt alternierende Functionen. Unter
der wohl nicht geeigneten Ueberscbrift „On Ja-
864 Gott gel. Adz. 1880. Stück 27.
cobians and Hessians" sind in Cap. X die Haupt-
sätze der Theorie der Fnnctionaldeterminanten
entwickelt, ferner ist die Transformation viel-
facher Integrale nebst Anwendung auf ein Bei-
spiel gezeigt. Die homogenen Functionen zwei-
ten Grades und Substitutionen bilden den Inhalt
des XL Gapitels. Das nächste Gapitel enthält die
Determinanten von Functionen derselben Varia-
bein, die bekanntlich bei den linearen Differen-
tialgleichungen zur Verwendung kommen. Eine
sehr zweckmäßige Anwendung von Determinan-
ten auf Kettenbrüche bietet das XIII. Capitel.
In dem XIV. Gapitel sind zahlreiche Anwendungen
der Theorie der Determinanten auf Geometrie
gemacht Das Werk schließt mit 92 Aufgaben,
welche als Beispiele der im Text gelehrten Me-
thoden dienen.
In der Vorrede bemerkt der Verfasser, daß
er immer, wenn möglich, die Originalarbeiten
eingesehn habe, was eine Durchsicht des Buches
auch bestätigt Im Texte sind nur die Namen
der Autoren genannt, am Ende des Werks ent-
hält ein kleines alphabetisches Register die Na-
men der Autoren in Verbindung mit ihren auf
Determinanten bezüglichen Abhandlungen oder
Separatwerken. Der Verfasser besitzt, nach sei-
nem Buche zu urtheilen, umfassende Kenntnisse
in der neueren Literatur des von ihm behandel-
ten Gegenstandes, namentlich ist auch die deut-
sche Literatur zahlreich vertreten. Die klare
Darstellung wird wesentlich dadurch gefördert,
daß der Verfasser sich von der leidigen Gewohn-
heit mancher neueren Schriftsteller, abnormer Be-
nennungen und Bezeichnungen, frei gehalten hat.
Enneper.
FOr die Redaction verantwortlich: R Bekmsch, Director d. Gott. gel. Anz.
Commissions- Verlag der Diettrich'achtn Vm-kys- Buchhandlung.
Druck der DteUnch'schm Unit.- Buchdrucker* (W. F\r. Katstnti).
865
Gö tti ngische
gelehrte Anzeigen
anter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück 28, AUG 9 !2C: 14. Juli 1880.
Inhalt: D. Berti, Documenti intorno a Giordano Bruno da Nola.
Von a Sigwart. — Auszüge au« syrischen Akten persischer Märtyrer
fibers, u. erlaut, t. G. Hoffmann, von Tk. Noldeke. — A. H u t h , The
Life and Writings of H. Th. ßnckle. Ton W. FrUd*n&%*g. — Bert-
hold tob Begensbnrg, Deutsche Predigten heraneg. v. fr. Pfeiffer.
2. Bd. t. Jos. Strobl. Ton K. Qoedeke.
s Bigenmachtiger Abdruck von Artikeln der Gott. gel. Ans. rerboten s
Domenico Berti, Documenti intorno a
Giordano Bruno da Nola. Roma, coi tipi del
Salviueci 1880. 114 S. 8°. [Koma-Torino-
Firenze, Bocca Fratelli e O].
Der um die Geschichte der Wissenschaft in
Italien hochverdiente Gelehrte, der in seiner
Vita di Giordano Bruno 1868 die Actenstücke
der venetianischen Inquisition über den Proceß
Bruno's veröffentlicht und damit zum erstenmal
eine znverlässige Quelle für seine Biographie
geboten hatte, giebt jetzt eine Sammlung des
ganzen urkundlichen Materials heraus, das er
mit unermüdlichem Eifer seither gewonnen, und
theilweise schon im Anbang zu seiner Schrift
über Copernicus (Copernico e le vicende del
sistema copernicano in Italia 1876) publiciert
hatte. Das Bändchen umfaßt 1. einen neuen,
nach Vergjeichung mit den Originalien sorgfäl-
55
866 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 28.
tig revidierten Abdruck der venetianischen Ac*
ten, 2. Auszüge ans den Archiven der römischen
Inquisition, die im Jahre 1849 ein italienischer
Gelehrter zu machen begonnen hatte, and die
das letzte Lebensjahr Brunos (1599—1600) auf-
hellen, 3. zwei gleichzeitige handschriftliche Zei-
tungsnachrichten (Awisi) ans einem vaticani-
schen Codex, welche die Vernrtheilung und Hin-
richtung Brunos erzählen, 4. eine Mittheilung
Gabereis, wonach Bruno's Name in der Liste
der italienischen Flüchtlinge in Genf unter dem
Jahre 1578 eingetragen ist, 5. endlich eine jetzt
zum erstenmal allgemein zugängliche Notiz über
ungedruckte Manuscripte Bruno's, welche 1866
von der Buchhandlung Tross in Paris ausge-
boten und von dem russischen Gelehrten Abra-
ham Noroff erworben wurden, und deren Be-
schreibung der Katalog seiner Bibliothek giebt.
Es sind im Ganzen 9 größere und kleinere Auf-
sätze, unter denen besonders Liber triginta sta-
tuarum erwähnt werden mag. Die Auszüge,
welche aus denselben gegeben werden, lassen
eine Herausgabe dieser Manuscripte lebhaft
wünschen, da sie nach verschiedenen Seiten
unsere Eenntniß der Lehre Bruno's zu ergänzen
versprechen.
In den begleitenden Notizen des Herans-
gebers sind nur einige Ungenauigkeiten in der
Chronologie (z. B. S. 82 Note, S. 90) zu berich-
tigen ; ich erlaube mir dafür auf das heurige
Programm der hiesigen philosophischen Facultät
zu verweisen, in dem ich die Chronologie, die
sich aus dem obigen Material ergiebt, festzu-
stellen gesucht habe.
Tübingen, Juni 1880. C. Sigwart.
Anm. der Redaction. Die Tübinger Universitats-
Berti, Documenti int a Giordano Bruno. 867
schrill, auf welche Hr. Prof. Dr. v. Sigwart am Schleuse
Bezug nimmt, fuhrt den Titel:
Verzeichnis der Doctoren, welche die philosophische
Facultat der Königlich Württembergischen ßberhard-
Karls-Universit&t in Tübingen im Decanatsjahre 1879
—1880 ernannt hat. Beigefügt ist: Du Lsbensgc-
schichte Giordano Bruno's von Dr, Christoph Sigwart.
Tübingen, gedruckt bei Heinrich Laupp 1880. I resp.
41 Seiten. 4°.
Der Inhalt dieser Sigwart'sohen Abhandln Dg ist viel
reicher und umfassender, als man sich auf Grund der
Erwähnung, welche sie vorhin von Seiten ihres Verfassers
fand, vorgestellt haben dürfte: es ist eine vollständige
Lebensskizze Giord. Bruno's, von der wissenschaftlichen
Gediegenheit, die man bei Arbeiten Sigwart's gewohnt
ist. Da derartige akademische Publicationen durch den
Buchhandel, die buchhändleripche Novitäten-Verbreitung,
nur wenig bekannt werden, auch wenn sie, sobald
man um ihre Existenz bereits weiß, auf buchhändleri-
schem Wege recht wohl zu erlangen sind (die Tübinger
Universität«- Schriften z. 8. pflegt man durch Franz Fues
in Tübingen beziehen zu können), so wird Manchem da-
mit gedient sein, daß wir ihm die in Rede stehende Ar-
beit Sigwart's über Giordano Bruno ausdrücklich und bi-
bliographisch genau nennen.
Auszüge aus syrischen Akten per-
sischer Märtyrer übersetzt und durch Unter-
suchungen zur historischen Topographie erläu-
tert von Georg Hoffman n. Leipzig in Com-
mission bei F. A. Brockhaus 1880. A. u. d.T.:
Abhandlungen für die Kunde des Morgenlandes
hg. von der Deutschen Morgenländischen Ge-
sellschaft VII. Band. No. 3. — 325 S. 8°.
Die hier übersetzten syrischen Acten von
Märtyrern des persischen Reichs sind bis auf
55*
868 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 28.
zwei Stücke, von denen in den letzten Jahren
wenigstens der Urtext erschienen war, völlig
neu. Sie geben uns eine überaus willkommene
Bereicherung unsrer Kenntnis der religiösen,
politischen und socialen Verhältnisse Vorder-
asiens zur Zeit der Säsäniden. Daß Hoffmann
die noch ungedruckten Acten nur im Auszuge
übersetzt hat, mag zunächst durch äußere Um-
stände veranlaßt sein, thut aber ihrem Interesse
kaum Abbruch. Die erbaulichen Beden und
Betrachtungen werden die meisten Leser gern
entbehren, während wir zu seiner umfassenden
Gelehrsamkeit und seinem Tact das Zutrauen
haben können, daß er nicht leicht etwas wis-
senschaftlich bemerkenswerthes übersehen ha-
ben wird.
Hoffmann weist mehrmals darauf hin, daß
viele dieser Erzählungen zu Gunsten einzelner
Klöster oder Kirchen verfaßt sind, welche wirk-
lich oder vorgeblich die Gebeine der betreffen-
den Heiligen bewahrten. Hängt doch selbst die
große Sammlung der Acten von Märtyrern aus
der Zeit Sapor's IL durch Märüthä aufs engste
damit zusammen, daß dieser deren Gebeine in
Martyropolis (Maijäfäriqin) zusammenbrachte ;
glücklicherweise begnügte er sich, an den alten
Berichten einige Stiländerungen anzubringen
und sie mit schwülstigen Einleitungen zu ver-
sehn. Jene Tendenz braucht der historischen
Treue nicht nothwendig zu schaden, aber ge-
fährlich ist sie immer. Wirklich hat sie sogar
vollständige Erdichtungen hervorgerufen, welche
höchstens einzelne Anhaltspuncte in der Ueber-
lieferung benutzten; das zeigt z. B. Hoffmann
von dem hier tibersetzten Liede auf den h. Hor-
mizd, welches im 13. Jahrhundert in der Ab-
sicht gemacht ist, dem Hormizjl-Kloster die Im-
Syrische Akten pen. Martyr., v. 0. Hoffmann. 869
munität von seinem Metropoliten zu ver-
schaffen.
Ueber die große Verfolgung durch Sapor,
von welcher die vortrefflichen Acten der römi-
schen Ausgabe berichten nnd deren ganzer
Schrecken sich in den ergreifenden Worten des
Aphraates 488 ff. wiederspiegelt, erfahren wir
aus Hoffmann's Acten kaum etwas neues, abge-
sehen von einigen Notizen in der Geschichte der
Märtyrer von Karchä. Die erste, ganz legenden-
hafte, Erzählung von den Märtyrern des zu Ga-
ramaea gehörenden Tür BeraYn (nach Hoffmann's
Darlegung S. 262 im kurdischen Gebirge} ist
in Wirklichkeit zeitlos. Das 9. Jahr Sapor s ist
willkürlich gewählt, noch dazu recht unpassend,
da damals (317/8 n. Chr.) noch keine Christen-
verfolgung bestand, wie denn der Erzähler auch
offenbar keine Ahnung davon hat, daß der Groß-
könig zu jener Zeit höchstens 8 Jahr alt war.
Die lose Anknüpfung an die Geschichte durch
die Einführung des aus den echten Acten be-
kannten Eunuchen Guhischtäzädh macht die
wunderreiche Legende noch nicht glaubhafter.
Dieselbe scheint übrigens noch in der Säsäniden-
zeit zu Gunsten eines wundertätigen Heilig-
thums geschrieben zu sein.
In solcher Weise knüpft an die echten Ac-
ten auch die Erzählung vom h. Säbhä, in wel-
cher die Gefangenen von Beth Zabhde (Römi-
sche Ausg. I, 134) auftreten. So leicht der Be-
arbeiter dieser Locallegende hierauf kommen
konnte — denn deren Schauplatz lag nach
Hpffmann's Nachweis (S. 28) gar nicht weit von
Beth Zabhde — , so falsch ist es, denn das
Martyrium der Gefangenen fand weit von ihrer
Heimath im SO. Statt. Daß die Zeitbestimmung
der echten Acten (s. meine Tabarl-Uebersetzung
870 Gott, gel. Anz. 1880. Stück 28.
410) durch eine Anzahl möglichst schlecht stim-
mender Synchronismen (S. 24) vermehrt und
daß die Zahl der Gefangenen von „ungefähr
9000u auf 900,000 erhöht wird, paßt ganz zu
dem Charakter der Erzählung. Der Verfasser
benutzt überdies stark den erst im Anfang des
6. Jahrhunderts geschriebenen Julianus- Roman.
Wann dieser Säbhä wirklich gelebt hat, können
wir trotz der Zeitbestimmungen der Legende
nicht wissen.
Noch viel weniger Anspruch auf historische
Geltung kann die imUebrigen sehr interessante
Legende von Mucain (der Name Mösvog Wad-
dington 241 2°) machen. Dieser Heilige reitet
auf einem Löwen, der ihn mit Wildprett ver-
sieht, und bekehrt in der Gegend von Europus
(am mittleren Euphrat) die Heiden „einige wirk-
lich, andre nur, weil sie sich vor dem Löwen
fürchteten" (S. 32). Bei den seltsamen Vor-
stellungen, die der Erzähler von den Verhält-
nissen Sapor's und Constant! n's hegt, möchte
ich nicht einmal an dem Kriege des Perser-
königs gegen „die Griechen4* (Jaunäje) als von
den „Römern" verschieden, ernstlichen Anstoß
nehmen. Ob Mu'ain je als Heiliger gelebt hat,
folgt aus diesen Acten wenigstens noch nicht.
Nur das dürfte feststehn, daß sein Heiligthum
in Beziehung zu Klöstern auf dem zum persi-
schen Reich gehörenden Sindschär-Bergen stand.
Zeitlos ist ferner auch die Geschichte des
Behnäm, welcher in den Tagen Julian's, der
sich bei syrischen Fabulanten mit Sapor in
die Rolle des blutdürstigen Wütherichs theilen
muß, umgebracht sein soll, und zwar im Jahre
663 Sei. (351/*), wo jener Kaiser noch gar nicht
regierte. Aus der Erzählung scheint hervorzu-
gehen, daß man schon früh über die Gründung
Syrische Akten perg. Märtyr., v. G. Hoffmann. 871
des hochberühmten Matthäusklosters (uoweit Ni-
neve) keine wirkliche Kunde hatte; diese Le-
gende steht wenigstens einer sonstigen Angabe,
wonach es bedeutend älter sein müßte, nicht im
Wege. Wenn Bebnäm als Sohn des Sanherib
erscheint, so soll dies hier allerdings nicht der
alte Assyrerkönig sein ; aber da sich Localsagen
wenig um Zeitunterschiede kümmern, so mochte
der Heilige sonst immerbin als Sohn oder Ab-
kömmling des biblischen Sanherib's gelten;
machte doch auch jüdische Sage die großen
Lehrer Schemaja und Abtalion zu Abkömmlingen
dieses Bösewichts (Gittin 57 b)>
Einen völlig verschiednen Charakter zeigen
dagegen die sehr glaubhaften Acten aus der
zweiten großen Verfolgung in der letzten Zeit
Jezdegerd's I. und nach dem Regierungsantritt
Bahrain's V. (Gör) S. 34—43. Wir sehn hier
wieder deutlich, wie jener Fürst durch den Ze-
lotismus einiger Christen, welche die persischen
Heiligthümer schändeten, fast gezwungen wurde,
seine tolerante Politik aufzugeben, so daß selbst
römische Stimmen diesen Uebereifer tadeln müs-
sen (Theophanes p. 128 Bonn), wie dann aber
Bahräm, der ganz in der Hand der Priester
war, eine wirkliche Verfolgung erregte. Ich
kann nicht leugnen, daß mir die Bestätigung
meiner Auffassung der beiden Könige durch
diese, auf genauer Kunde der Verhältnisse be-
ruhenden, Documente recht erfreulich gewesen
ist. Im Einzelnen ist hier viel merkwürdiges ;
ich weise nur darauf hin, daß Bahräm die von
seinem Vater gegebne Erlaubnis, die Todten zu
begraben, zurücknahm; sie widersprach ja den
Satzungen der Keichsreligion.
In die dritte und letzte allgemeine Verfol-
gung unter Jezdegerd II. gehört das Martyrium
872 Gott, gel. Anz. 1880. Stück 28.
des Pethion, Freitag den 25. Teschrt I im 9.
Jahre des Königs (== Freitag den 25. Oct.
446)*). Der Verfasser hat einiges gate Mate-
rial benutzt, namentlich auch Aber die frühere
Geschichte des Mannes, giebt aber viel fabel-
haftes und läßt sich, seinen Heiligen zu ehren,
trotz seiner guten Kenntnis persischer Verhält-
nisse zu der thörichten Erzählung veranlassen,
die persischen Priester, die das Feuer über alles
rein und heilig hielten, hätten den Pethion öf-
fentlich und feierlich bei lebendigem Leibe ver-
brennen wollen. Zu Hoffmann's Annahme, daß
diese Acten aus dem Persischen übersetzt seien,
sehe ich keinen genügenden Grund: das Syri-
sche war ja gewiß bis tief nach trän hinein
Kirchensprache der persischen Christen.
In dasselbe Jahr fallen auch die sehr genau
erzählten Hauptereignisse der kurzen Kirchen-
geschichte von Karchä dhS Bhgth SSlüch, dem
heutigen Kerkük, welche nach der Ausgabe von
Moesinger und einer, leider lückenhaften, Hand-
schrift des Brit. Mus. übersetzt wird. Diese
Schrift ist allerdings frühestens gegen die Mitte
des 6. Jahrhunderts compiliert und sehr un-
gleichartig, aber selbst ihr erster Theil enthält
trotz der mit Hülfe der Bibel und eines Chro-
nographen zu Stande gebrachten willkürlichen
Construction schon mancherlei, was nicht bloß
für Geographie, sondern auch für Kirchen- und
Profangeschichte von Bedeutung ist Daß die
ersten Seleuciden in der Landschaft Garamaea
mehrfach Städte angelegt haben, ergiebt nicht
bloß der Name Selüch selbst, sondern auch
Bi(th) Niqätdr. Aus den chronologischen An-
*) Der 26. Oct. 446 ist wirklich ein Freitag • dies
Datum bestätigt die Richtigkeit meines Ansatzes seiner
Regierangszeit.
Syrische Akten pers; Martyr., v. G. Hoffmann. 873
gaben, die wohl dnroh Verkürzung des Berichte
von Seiten des Compilators andeutlich geworden
sind, darf man vielleicht schließen, daft sich die
erste fest geschlossene christliche Gemeinde in
jener Gegend um 170 gebildet hat. Bei weitem
der wichtigste Theil der Schrift ist der, welcher
von den Martyrien unter Jezdegerd II. handelt
Sabhä der Heidenbekehrer soll gestorben
sein 799 Sei. (= 487/8) im Jahre 261 der Herr-
schaft der Perser. Dies ist nicht die alte Beichs-
ära (Tabari-Uebersetznng 410), sondern der
Erzähler datiert nach der gewöhnlichen Weise
die Regierung des ersten Königs von 538 SeL
und begeht dabei den naheliegenden Fehler,
diese Zahl 538 selbst, statt, da beides laufende
Jahre sind, 537 abzuziehn. Wir haben hier
also wieder bloß ein ausgerechnetes Da-
tum, und es ist die Frage, ob auch auf jenes
799 irgend Verlaß ist. Denn sonst enthalten
diese Acten, worin ein persischer Priester Zeus,
Apollo, Kronos und Bedach (der Venusstern)
als seine Götter nennt, so gut wie gar nichts
historisches über den Heiligen. Was darin ge-
schichtlich ist, bezieht sich auf eine viel spätere
Zeit : es ist die Verödung des Heiligthums wäh-
rend der furchtbaren Noth- und Pestzeit unter
Sch6rÖe (628 n. Chr.), vgl. Tabari-Uebersetznng
385, und die Anlage der Filiale in Garamaea.
Auf ganz sicherm Boden stehn wir wieder
in der Geschichte zweier vornehmer Perser,
Gregor (Plränguschnasp) und Jazdpanäh, welche,
da sie zum Christentum übergegangen waren,
im Jahre 542 unter Chosrau I. dem Reichsgesetz
nnd der Unduldsamkeit der Magier zum Opfer
fielen. Namentlich die Geschichte Gregor's ist
sehr wichtig*).
*) Die Ereignisse von Gregor** Leben lassen sich
874 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 28.
Noch viel werthvoller ist aber die letzte und
ausführlichste Erzählung, die von Georgios
(Mihrämguschnasp), auch einem zum Christen-
thum übergetretenen Perser vom höchsten Adel,
welcher am 14. Jan. 615 unter Chosrau II.
mehr auf Anstiften seiner confessionellen christ-
lichen Gegner als der persischen Priester ge-
kreuzigt ward. Die Acten sind von einem ver-
trauten Schüler und Verehrer verfaßt, sicher vor
dem Tode Chosrau's II. (Februar 628), da die
Königinn Schirln noch als solche vorausgesetzt
wird. Sie führen uns ein in das Leben des
hohen Adels wie des christlichen Clerus; wir
sehen, wie sich die christlichen Geistlichen durch
confessionellen Eifer und Streben nach Macht in
die gehässigsten Streitigkeiten verwickeln, welche
dem nicht minder großen Zelotismus der persi-
schen Priester nur zu viel Gelegenheit zur Be-
thätigung geben, so tolerant oder so lässig die
Obrigkeit auch sein mag. Die Stellung des
monophysitischen „Reichs Sanitätsrathsu Gabriel,
welcher starken Einfluß auf die Königin hatte,
wird durch diese Acten erst recht an's Licht ge-
stellt.
Schon aus dem Wenigen, was ich angeführt
mehrfach gut datieren von seiner Bekehrung im Jahre
518 bis zu seinem Tode Charfreitag 542. Ob der Be-
ginn der Bekehrung am Frawardigän-Tage des Jahres
518 auf den 5. März oder den 6. April fallt, A hängt davon
ab, ob a damals die Epagomenen vor dem Abän oder vor
dem Adhar des gemeinen persischen Jahres standen; in
jenem Fall meint der Syrer den syrischen, in diesem den
persischen Monatsnamen i^. — S. 80 muß es wohl
heißen »im Jahre 44 (statt 40)« sei Chosrau zur Regie-
rung gekommen, nämlich im Jahre 44 des Kawädh (nicht
»des Friedens«). Die nicht genau stimmenden Angaben
im Anfang der Erzählung 850 Sei. (= 53%) und 10 des
Chosrau (54°/J sollen beide wohl nur runde Zahlen sein.
Syrische Akten pers. Märtyr., v. G. Hoffmann. 875
habe, wird man einigermaßen anf den hohen
geschichtlichen Werth dieser Texte schließen.
Am meisten Gewicht lege ich darauf, daß wir
hier Schriften haben, welche uns von derDenk-
und Lebensart großer und einflußreicher Kreise
im persischen Reich unmittelbare und frische,
wenn auch nichts weniger als unparteiische,
Darstellungen geben. Dazu erfahren wir sehr
viel neue Einzelheiten über Einrichtungen des
Reiches. Die betreffenden Erörterungen zu mei-
ner Tabarf-Uebersetzung ließen sich durch das
neue Material vielfach ergänzen. Auch meine
Liste der Mitglieder des Hauses Mihrän (Tab.
139 f.) läßt sich danach vermehren; die Be-
ziehung dieses Geschlechts zur Stadt Rai wer-
den auch hier ausdrücklich erwähnt (S. 78).
Unbedenklich darf man den Georgios und seine
nahen Verwandten diesem Hause zuzählen, ob-
wohl sein persischer Name Mihrämgnscbnasp mit
m geschrieben wird; gehört er doch einem Über-
aus vornehmen Adelsgeschlecht an, das dem
König nahe steht und selbst aus königlichem
Blute ist (d. h. Arsacidischem, nicht Säsänidi-
schem). Nicht unwahrscheinlich ist auch, daß
das große Haus <£üc, dem der Heidenbekehrer
Säbhä angehört (S. 68), in <taüo Mihrän zu
verbessern ist; bei der Unzuverlässigkeit dieser
Legende brauchte übrigens diese Angabe noch
nicht grade wahr zu sein. Noch mehr würde
ich zögern, meine Stammtafel der Säsäniden aus
der Geschichte des Märtyrers Säbhä mit 2 bis
jetzt unbekannten Brüdern Sapor's II. zu be-
reichern (S. 24), wenn es auch immerhin mög-
lich ist, daß die sonst fabelhafte Erzählung diese
Namen aus guter Quelle hat.
876 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 28.
Wer sich nur ein wenig mit den Schwierig-
keiten des Pehlewt beschäftigt hat, der wird
begreifen, wie wichtig schon in rein grammati-
scher Hinsicht die zahlreichen persischen Namen,
Titel und sonstigen Wörter in diesen Acten sind,
welche uns die persischen Laote im Wesentli-
chen so geben, wie sie den Syrern in's Ohr
fielen. Die Thatsache, daß trotz der alterthüm-
lich historischen Orthographie des Pehlewt die
Lantformen um 500 und selbst früher den neu-
persischen schon sehr nahe kamen, bestätigt
sich hier wieder durch viele Einzelheiten. Inter-
essant ist, daß neben dem, wohl im 4. Jahrhun-
dert nach damaliger persischer Aussprache von
den Syrern fixierten, mopat oder möhpat (im
Phl. noch noiaia geschrieben) hier für das Jahr
542 schon das ganz neupersische mobedhän-
mobedh steht (S. 88, 800). — Die Schreibweise
dux»? ouo leh dinih wGut-Gläubigkeita, d. h.
„wahrer Glaube" und ou^dj^ tarsdgth „Chri-
stenthum" (109, 976, 978) = np. {Si^> ju,
^jUy setzt die von mir nachgewiesene Auf-
fassung der Abstractendung als ih außer Zweifel.
Freilich sind in den, durchweg ziemlich spä-
ten, Handschriften die persischen Namen und
Wörter zum Theil ziemlich entstellt und bei
einigermaaßen unsichern Formen müssen wir
immer mit der Möglichkeit, ja Wahrscheinlich-
keit solcher Entstellungen rechnen. Und auch,
wo die Form leidlich sicher steht, bleibt die
Deutung oft recht ungewiß. Hoffmann hat hier
mit großem Scharfsinn und fester Methode viel
geleistet. Ich weise z. B. hin auf seine Er-
klärung des entstellten Titels, welcher „Ordner
der Magier" übersetzt wird; sein moghän an-
Syrische Akten pers. Martyr., v. 6. Hoffmann. 877
darebedh (50, 438) ist entschieden dem von mir
angesetzten moghän arzbedh vorzuziehn. So
stellt er auch vortrefflich den pahragbän „Wäch-
ter" (97, 864) her. Beiläufig bemerkt, ist es
von Interesse, daß wir grade von allerlei persi-
schen Polizeibeamten ziemlich viel erfahren.
Daß die gesAraje eine Art Gensdarmen waren,
steht jetzt fest. Die Bezeichnung kommt schon
201 in Edessa vor.
Begreiflicherweise fehlt es nun aber nicht an
Fällen, wo Andre andre Deutungen persischer
Formen als die von Hoffmann gewählten vor-
ziehen werden. So scheint er mir mit Unrecht
den in den Acten von Karchä und sonst gefun-
denen Radh (als Beamtennamen, Tabari Uebers.
447) zu Gunsten sehr fragwürdiger Namens-
formen zu verwerfen ; man beachte, daß an allen
betreffenden Stellen v> (oder $?, das so nicht
möglich ist) vor dem Namen eines kleinen Lan-
des steht Noch viel weniger kann ich seine
Aussprache Tohmjazdgerd (mit o) und deren
Deutung billigen. Diesen Namen von Tarn-
chosrau, Tamsdbor zu trennen, geht doch nicht
an; darin ist aber das a durch die griechischen
und lateinischen Schreibweisen gesichert, wäh-
rend gegen o oder u schon die stete Abwesen-
heit des wau im Syrischen Bedenken erregt.
Der Ausfall des h braucht bei den Syrern gar
nicht auf bloßer Nachlässigkeit zu beruhen:
tarn konnte aus tahm ganz so werden wie s(i)-
tam aus stahm, diram aus drahm (jujüum sitamba
aus stahmbak, vrgl. noch pul aus puhl). Zu der
Bedeutung „Stark-Cbosrau" u. s. w. vgl. den
bei Sebßos III, 18*) vorkommenden Namen
*) Ich war vor Kurzem durch die Güte des Hrn.
Dr. Wenzel in den Stand gesetzt, eine von ihm mit Bei-
878 GÖtt. gel. Anz. 1880. Stttck 28.
Dschamtean-Chosrov = ^y^s> q'^I-> od. q!cX^L>
2S»s> „Ewig-Chosrauu. Das ein einziges Mal
bei einem Armenier vorkommende Dzambchosrov
(Lagarde, Ges. Abhh. 193) gehört sicher zu den
zahlreichen Entstellungen solcher Eigennamen
in den (wie es scheint, durchweg späten) Hand-
schriften armenischer Historiker; einen anlau-
tenden Palatal hätten unmöglich gleichzeitige
Römer, Griechen und Syrer tibereinstimmend als
t aufgefaßt. — Den persischen „Vorläufer" (S.
14 f.) würde ich einfach peäasptg (wäre np.
*peäaspi) nennen; die Vocalpuncte können bei
solchen Wörtern keine Autorität beanspruchen.
— Der Name der Stadt, welche die Araber
Dschundaisäbür nennen, kann nicht mit band
Jöamma gebildet sein (41, 351), denn dies
Wort hat ein ursprüngliches ft, welches nicht zu
g (arabisiert -) wird; auch kann der lange
Endvokal der ersten Hälfte schwerlich das i des
St. constr. ausdrücken. — Mähburzin (65 f.), der
nicht in Mihrburzin verändert zu werden brauchte,
möchte ich eher für einen „Kreisrichter" (äahr
däwer) als für einen „Reichssecretär" halten;
äahr ist ja zunächst die Unterabtheilung der
Provinz (arabisch »j^), und bei j*o? läßt sich
eben so leicht an däwer (_» wie in pO und
öfter im Phl. für e der Schlußsilbe) denken als
an dapir (dawir); vgl. den Titel SnadaöovaQ
(späh-dädh(a)war, s. Lagarde, Ges. Abhh. 187),
„Heeresrichter" = dem yCLc i**5^ bei den
Osmanen. Und so könnte ich noch gegen eine
Anzahl von Erklärungen persischer Wörter Ein-
hülfe Hübschroaun's angefertigte Uebersetzung dieses
wichtigen armen. Historikers zu benutzen.
Syrische Akten pers. Martyr., v. G. Hoffmann. 879
sprach oder doch Bedenken erheben , glaube
aber nicht, daß hier irgend ein Anderer auch
nur so viel würde geleistet haben wie Hoffmann.
Dadurch, daß er alle irgend significanten
Wörter und Stellen unter der Uebersetzong im
Urtext giebt, erhält auch der Semitist will-
kommnes Ifaterial. Es ist nicht zufällig, daß
diese Erzählungen, welche sich viel um concrete
Dinge bewegen, für das syrische Lexicon eine
ziemliche Ausbeute gewähren; die weggelassenen
erbaulichen Reden wären gewiß auch in dieser
Hinsicht viel weniger ergiebig ausgefallen. Hoff-
mann weist darauf hin, daß schon die syrischen
Glossensammler unsre und andre Märtyreracten
vielfach benutzt haben, natürlich nicht eben mit
großer Umsicht.
Nur für ein einziges Stück, die Geschichte
von Karchä, lagen Hoffmann, wenigstens theil-
weise, zwei Textquellen vor; die Londoner Hand-
schrift verbessert denn auch ziemlich viele Feh-
ler von Moesinger's Ausgabe. Sonst hatte er
durchgehends nur eine Handschrift. Selbstver-
ständlich mußte er da manchmal zur Conjectural-
kritik greifen. Hie und da hat er auch einmal
ohne dringende Noth geändert. So ist )7*g&
25, 199 richtig; es heißt „frische, ungegerbte" s.
Martyr. I, 186 unten, 193 unten; ßoediger, Ghrest.
(ed. 2) 114; Off.Sanct. Maron. II (Romae 1666),
261a. 265b. 272a. — Die 58, 503 gemachte
Veränderung ist mindestens überflüssig ; qWn\«)o
ist „stellten als weiter zu tradieren hintf, „be-
stimmten". — 88, 800 ist keine Verbesserung
nothwendig als t.n°n statt «n°no und weiter
etwa t^c^Do für poio; ]Z) ooi f^ ist „bevor
er noch kamtf („war der König fortgegangen").
880 GOtt. gel. Anz. 1880. Stück 28.
Im Ganzen wird aber wohl ein zukünftiger
Herausgeber dieser Acten die meisten Verbesse*
rangen Hoffmann's einfach in den Text nehmen,
wenn auch zu erwarten ist, daß die Heranziehung
neuer Handschriften noch manches richtiger oder
doch sichrer stellen wird. Da wird sich auch
wohl für 21, 153 (Gardahi 143 unten> oiiiof **o
bar amneh „sein College" als Lesart ergeben.
Soweit Hoffmann eigentliche Uebersetzung
giebt und nicht bloß den Inhalt kürzer zusam-
menfaßt, entspricht der deutsche Text dem syri-
schen sehr genau, hie und da fast zu wörtlich.
Der des Syrischen Unkundige kann sich auf
die Uebertragung sicher verlassen; wo der Sinn
einer Stelle etwas zweifelhaft ist, deuten das
die Anmerkungen meistens an. Das schließt
natürlich nicht aus, daß sich noch etliche kleine
Verbesserungen anbringen ließen; von solchen
i ^*^Qt (15, 106) ist
„buntes Zeug«. — 33, 272 bloß „ward kalt"
(statt „gefror44). — 40, 341: ^o steht vom
„abdecken, wegnehmen einer Hülle oder eines
Hindernisses", aber „abrollen4* ist es nicht grade,
so daß aus dem Verbum nichts für die Natur
des davon betroffnen Daches folgt. — 54 unten
war zu übersetzen: „Einigen schnitt man die
Füße ab, Einigen u. s. w.44 — 59, 515 ist aus
Jes. 11, 11 genommen, wonach sich die richtige
Uebersetzung ergiebt. — Daß i-i-ijaio, ?A*Xijoio
schlechtweg „Convertit44, „Convertitinn44 heißen
könne (99, 882. 100, 897), bezweifle ich; die
Neubekehrten aus vornehmem Geschlecht, welche
mit ihrem üebertritt mindestens schweren Ver-
mögensverlust auf sich nahmen, mochten eben
Syrische Akten pers. Martyr., v. 6. Hoffmann. 881
damit schon den Rang von „Confessoren" er-
werben. — 103, 915 bezweifle ich, daß )^u
= nebhrä „Kralle" ist; ^ entspricht hebräi-
schem län vom Zusammenhalten eines weiten
Gewandes durch einen Gurt; nebhärä scheint
„Palm bast" zu sein (BA 6150), daher wohl
„Strick". — 105, Lin. 2 (Anm. 937) übersetze:
„er solle sich eine ihm bequeme Person aus-
suchen" (nehze wie Gen. 22, 8). — Eb. 939 ist
dalmän auszusprechen und zu übersetzen : .warum
(Uebergang in directe Rede) habt ihr uns
nicht u. s. w.a ; dalman als nquippe quem" scheint
mir nicht möglich. — Die Uebersetzung von
109, 989 klingt mindestens undeutlich; es muß
wohl heißen „auch ist es bei alle dem {hand
chtdleh?) ohne Unterscheidungsvermögen". —
to9 htcL> 111,1006 heißt „Kopfüber"; es kommt
grade beim Kreuzigen öfter vor. Da, wie wir
hier sehen, die Perser dem Gekreuzigten bald
ein Ende bereiteten (ganz wie in derselben Zeit
die Araber, s. Ibn Hischäm 641), so ist die An-
wendung dieser Lage wenigstens noch nicht
das Aeußerste an Grausamkeit ; übrigens scheint
mir aus der Erzählung nicht mit Notwendigkeit
zu folgen, daß der Kopf während der Execution
selbst unten gehangen habe. — 112, 1023 ist
bloß vom „Abwischen" des Blutes die Rede.
Schon Hoffmann's Anmerkungen geben ein
überaus reiches Material zur sprachlichen und
sachlichen Erklärung. Noch weit mehr gilt das
von den Excursen, welche beinahe zwei Drittel
des Buches einnehmen. Den größten Umfang
haben die auf dem Titel allein erwähnten, geo-
graphischen und topographischen Erörterungen,
welche namentlich die Landschaften betreffen,
die später die Provinz Mosul ausmachten, so*
&6
882 Gott, gel. Anz. 1880. Stück 28.
wie einige benachbarte, sieh jedoeh zum Theil
aneh auf weit entlegene Gegenden erstrecken.
Er hat in möglichster Vollständigkeit die An-
gaben der orientalischen und griechischen Schrift-
steller gesammelt, und dazu mit größter Sorg-
falt und Spürkraft alle zugänglichen neueren
Reisebeschreibungen und Karten durchsucht ;
der Erfolg ist, daß er der Geographie der be-
treffenden Länder eine ganz neue Gestalt gege-
ben hat. Ich kann mir nicht die Zeit nehmen,
seinen sämmtlichen Wanderungen nachzugehn,
brächte auch nur schwer das dazu nöthige Kar-
tenmaterial zusammen ; aber wo ich ihm gefolgt
bin, habe ich ihn überall als einen sichern Füh-
rer gefunden. Ich darf mir hier wenigstens in
so fern ein Urtheil erlauben, als ich für den
größten Theil der von ihm behandelten Länder
gleichfalls Sammlungen aus den altern Schrift-
stellern angelegt hatte, die an Vollständig-
keit nicht viel hinter seinen zurückstehn, durch
deren isolierte Benutzung ich jedoch, wie sich
nun zeigt, mehrfach auf irrige oder doch recht
zweifelhafte Ergebnisse geführt war. Neu er-
schlossene orientalische Quellen werden hier
wohl noch manches ergänzen und berichtigen;
noch weit mehr werden das genaue topographi-
sche Aufnahmen und Beschreibungen thun, aber
diese Untersuchungen Hoffmann's werden auch
in späteren Zeiten noch einen großen Werth be-
halten. Es wäre sehr zu wünschen, daß er in
so sorgfaltiger Weise ganz trän und die ge-
sammten Euphrat- und Tigrisländer in einem
systematischen Werke behandelte.
Andre Excurse betreffen Historisches, Mytho-
logisches und Kirchliches. Vortrefflich ist be-
sonders die Erörterung der kirchlichen Wirren,
welche das Geschick des Georgios bestimmten.
Auch die seltsamen heidnischen und halbheidni-
Syrische Akten pers. Märtyr., v. G. Hoffmann. 883
sehen Secten, an denen es in diesen Ländern,
namentlich unter den Kurden, von Alters her
nie gefehlt hat, werden mehrfach beleuchtet
Dabei ist auch von den Orgien die Rede, wel-
che sie begehen sollen. An sich wäre es nicht
unglaublich, daß derartige Verirrungen des reli-
giösen Sinnes bei einigen dieser scheuen Ge-
nossenschaften vorkämen; nur muß man daran
festhalten, daß solche Behauptungen von Seiten
religiöser Feinde nicht als Zeugnis angesehn
werden können. Welche Scheußlichkeiten haben
schon im Alterthum Judenfeinde dem jüdischen,
Juden dem christlichen Gultus nachgesagt (Jo-
sephus, c. Ap. 2, 8; Origenes c. Gelsum 6, 27)!
Und noch Schauerlicheres berichten die mandäi-
schen Schriften von den Christen. Religiöser
Haß erstickt ja nicht bloß im Morgenlande den
Sinn für Wahrheit!
Daß die Abhandlungen über die Göttinnen
Beduckt und Nanai ohne große Resultate blei-
ben, liegt in der Natur des Stoffs. Im Gegen-
satz zu dem immer noch zu beliebten wissen-
schaftlichen Synkretismus sucht Hoffmann die
verschiedenen Göttergestalten zunächst zu son-
dern, ohne zu verkennen, daß die Völker selbst
gern practischen Synkretismus trieben. Die Er-
örterungen über die Nanai führen ihn in etwas
gar zu entlegene Gebiete. Ueberhaupt ist zu
fürchten, daß gar manches, was gelegentlich in
dem Buche behandelt wird, trotz des guten In-
dex späteren Forschern entgehen wird, weil sie
es darin nicht vermuthen können.
Auch über Religion und Kirchenverfassung
der Perser handelt Hoffmann mehrfach eingehend.
Namentlich sind seine Untersuchungen über die
religiöse und politische Bedeutung der drei gro-
ßen heiligen Feuer hervorzuheben. Im Einzel-
nen bleibt da freilich manches unsicher, aber
56*
884 Gott. gel. Anz. 1880. Stttck 28.
mit der Gesammtanschauung, die übrigens zum
Theil nur angedeutet wird, bin ich wenigstens
sehr geneigt* mich einverstanden zu erklären.
Den Namen des einen Feuers stellt Hoffmann
als Guschnasp (Wischnasp) mit n fest. Das
andre kann m. E. nach den Pehlewtformen auf
den Gemmen und in Büchern und nach dem
syrischen loja kaum anders als Frawäflbag)
A
geheißen haben. Dagegen daß *Adarfrawä(bag)
auch als Personenname erscheint, wage ich jetzt
keinen Widerspruch mehr zu erheben, so auf-
fällig es immerhin ist, daß dieser Name auf den
Gemmen so häufig ist; es muß wohl ein rechter
Priestername gewesen sein.
Durch das ganze Buch ziehn sich sprach-
liche Erörterungen über Semitisches und Irani-
sches. Dabei ist wieder viel vortreffliches, aber
auch manches gewagte. Bedenklich scheint mir
z. B. die Etymologie von qeterqä „Köcher"
61, 535 und die Annahme, gessä „Seite, Lende"
stehe für galsä und bedeute eigentlich „Gesäß" ;
jjjb>. ist doch allem Anschein nach zunächst
„sich erheben, in die Höhe richten". — Daß
Ijg^c „Eunuch", als Euphemismus ftir-gauwäzä,
gauwäjä zu sprechen sei und den „Mann des
Inneren" bezeichne, ist mir noch immer wahr-
scheinlicher als die 13, 89 gegebne Erklärung,
zumal im Mandäischen firwifi» mit a geschrieben
wird (S. R. I, 217, 24). — Die 111, 1011 und
sonst angenommene Diminutivbedeutung der Fe-
mininbildung an sich bedarf jedenfalls genaue-
rer Begrenzung, und ]Anooo , das den hellen
und zur Zeit seines größten Glanzes alle Sterne
weit überstrahlenden Planeten Venus bedeutet,
würde ich mich nicht leicht entschließen als
„Sternlein" aufzufassen. — oL*»tj* soll bloß
Syrische Akten pers. Märtyr., v. G. Hoffmann. 885
durch Verschreibung aas /jl^'j* entstanden
sein (64, 555); dies ist bei aer großen Verbrei-
tung jener Form in den besten alten Hand-
schriften und der geringen Aehnlichkeit von ^
und wi grade in der älteren arabischen Schrift
recht anwahrscheinlich. Das np. v^V dage-
gen wird allerdings nur auf falscher Aassprache
von t-jLuMji beruhen. — o^° *8* &ew& nicht
Arabisierung von dahigän (296), da bei dem
Worte keine Spur einer Form mit I vorkommt,
wie denn dahigän auch schwerlich Singular sein
könnte; Grundform ist etwa dehakan, woraus
dehgän, das ja auch in den persischen Wörter-
büchern aufgeführt wird. — Arabisches 0y>
mit persischem gang zusammenzubringen (250,
1984), ist mehr als mislich. — Den altpersischen
framätäratn „Gebieter" hatte ich keineswegs über-
sehen (293, 2268), aber die Kürze des Vocals
in ma von buzurg framadhdr scheint mir die
Ableitung von framä auszuschließen, denn dann
könnte nur ma oder mü stehn. — In Formen
wie «jttis^iv^D (113, 1030) kann ich nur
Schreibfehler erkennen. Wie hier, so verschwen-
det Hoffmann auch sonst noch gelegentlich sei-
nen Scharfsinn auf sprachliche Erklärung bloßer
Schreibersünden.
Im Folgenden gestatte ich mir noch, an
einige Stellen des Buches Bemerkungen ver-
schiedner Art anzuknüpfen. Daß der weise
H a i q ä r bei den Späteren dem Buche Tobit ent-
stammt (182), ist unbestreitbar, und wenn der
vorislämische christliche Dichter cAdl b. Zaid
(t gegen 600) den Haiqär als mächtigen Erie-
gesflirsten bezeichnet (Dschawäliqi ed. Sachau
54), so kann das immer noch auf einem Mis-
Verständnis jener Figur beruhn, aber der Uirf-
886 Gott gel Anz. 1880. Stück 28.
X<xQo$9 yAxl%aQOQ9 *A%atxaQoq bei Clemens I, 69
(Dind.), Diog. Laert V, 50, Strabo 762 ist doch
auf alle Fälle älter, mag es mit der Berufung
auf Demokrit und Theophrast auch stehn, wie
es will. — Der Name Sanatruk kommt aller-
dings noch in der ältesten Säsänidenzeit vor,
aber der S. 185 genannte Aethiope heißt Mas-
rüq und hat nur durch die Byzantiner einen
Arsacidennamen bekommen. — Für die Verbes-
serung JLä (S. 186) bin ich sehr dankbar;
sie kommt für meine Uebersetzung des Tabart
zu spät, aber in der Textausgabe kann sie noch
verwerthet werden. Weniger kann ich mich mit
der Verbesserung von 2 Kön. 19, 13 = Jes. 37, 12
(163, 1273) einverstanden erklären: die Stadt ni9,
an? ist durch 2 Kön. 17, 24, 31 gesichert, und die
Nifalbildung msnjan wäre beispiellos. — Das ziem-
lich häufige a^9 welches im Stadtnamen Köche
liegt (177, 1582) scheint persischer Herkunft zu
sein, s. de Goeje im Glossar zu den Geographen
s. v. — 218, 2 lies „beinahe 51/* geographische
Meilen". — 227 Zeile 4 v. u. (die Klammer)
lies: Irbil (Arbela) für Dabil. — Der in Anm.
1997 S. 253 ausgesprochnen Vermuthung, Beth
ArmajS „Aramäerland" als Name des nördli-
chen Iräq stamme erst aus der Bibel und solle
„Heidenland" bedeutet, kann ich nicht bei-
stimmen. Das Arsaciden- wie das Säsäniden-
reich hatten ihre Hauptstadt in einer nicht von
Iraniern, sondern Aramäern bewohnten Provinz;
da mußte sich ihnen eine solche Benennung wie
Süristdn leicht ergeben. Svqoi, heißen die ein-
heimischen Bewohner dieser Gegend (im Gegen-
satz zu den dortigen 'Ellrjvsc, welche später als
herrschende Rage immer mehr durch Iranier er-
setzt wnrden) bei Josephus. In der Landes-
sprache konnten diese 2i>qo$ nur Armäje hei-
Syrische Akten pers. Martyr., v. 6. Hoffmann. 887
ßen, wie Säristdn nur Bäh ArtnäjS. Aehnlich
nannte man ja ein den Persern nnterworfnes,
von Arabern bewohntes Gebiet im Norden Bäh
*Arbhäj$ „Araberland", wie andrerseits eben in
diesen Acten das zum Vasallenstaat von Hira ge-
hörige Ambär als „Stadt der Araber" bezeichnet
wird (S. 83). Wir sehn, daß man damals für die
Verschiedenheit der Nationalität wohl ein Auge
hatte. - „Das Haus des Zöllners Jazdin" (S. 265)
kann unmöglich etwas anderes als ein Privat-
hans sein, denn nur im St. constr. vor Substan-
tiven ist bäh „Land, Ort, -hausen". Der Iden-
tificierung von Karchä mit dem Karchinä der
Araber (S. 272) stellt sich eine neue Schwierig-
keit in den Weg: J^s>/ ist nämlich kaum
verschieden von »rmp Sabb. 152a, dessen
Nisba rwrrnp Berach. 33*; demnach ist die
syrische Schreibung bei Barh. erst durch die
arabische beeinflußt und der Name gar nicht
mit *p3 gebildet. — Die geographische Be-
stimmung von mpiTi durch »y^oJt (274, 2152)
ist gewiß richtig; die verkürzte Form 8y>5Jüt
ist auch bei den Arabern die gewöhnliche, s.
schon Belädhorl 290. — Die arabische Form
x O*
^jy L für Be(th) Qardü (283, 2236) ist wohl
nur durch das so oft damit zusammen genannte
^JlJj Ij B$(th) Zabhde veranlaßt. — Die Form
Azadhafroz (294) steht als die von Tabart ge-
brauchte sicher; nach den andern Quellen
(Hamza, Belädhori) könnte etwa noch Dädh-
afröz in Frage kommen, keinenfalls Adharafröz.
— Warum schreibt Hoffmann den Kirchenvater
nach ostsyrischer Weise Aprem mit p? Das
sieht ja fast aus, als sollte dieser Hort der Recht-
gläubigkeit noch zumNestorianer gemacht werden.
Doch es wird hohe Zeit, abzubrechen, so viel
888 Gott gel. Anz. 1880. Stack 28.
Veranlassung zu weiteren Bemerkungen und Er-
örterungen der überaus reiche Inhalt des Buches
noch böte. Es ist zu wünschen, daß jeder, der
sich ernstlich mit Geschichte, Geographie und
Religion Vorderasiens beschäftigt, dasselbe flei-
ßig benutze. Insbesondere hoffe ich das von
den Lesern meiner Tabarf-Uebersetzung ; sie
werden darin außerordentlich viele Ergänzungen
und auch allerlei Berichtigungen des von mir
Beigebrachten finden.
Dem in der Vorrede ausgesprochenen Wun-
sche, daß wir in nicht zu ferner Zeit eine neue,
kritische und möglichst vollständige Ausgabe
aller syrischen „Acta martyrum orientalium" er-
halten mögen, Rann ich mich nur anschließen.
Neues syrisches Material, das erreichbar sein
dürfte, ist immer noch vorhanden; auch wären
wohl einige arabische Bearbeitungen heranzu-
ziehn. Hoffmann's Buch wird auch nach dem
Erscheinen der Originaltexte einen bleibenden
Werth behalten.
Straßburg i. E. Th. Nöldeke.
The Life and Writings of Henry
Thomas Buckle by Alfred H. Huth. Lon-
don, Sampson Low & Co. 1880. 2 voll. V. 322
und IV. 320 S. gr. 8°.
Obwohl die „Geschichte der Civilisation in
England" schon eine erhebliche Literatur her-
vorgerufen hat, wobei auch die Persönlichkeit
und das Leben des Autors mehrfach Gegen-
stände der Betrachtung geworden sind, so
fehlte doch bisher eine ausführliche Mono-
graphie wie das vorliegende Werk, welches den
Zweck verfolgt Buckle's Leben eingehender als
es bisher geschehen ist darzustellen und im
Zusammenhang damit ganz besonders auch
\
Huth, Life and Writings of Buckle. 889
seine schriftstellerische Thätigkeit zu beleuchten.
Der Verfasser rühmt in der Vorrede die
Bereitwilligkeit, mit welcher die Freunde
Bnckle's sein Unternehmen gefördert und ihm
namentlich die Briefe desselben zur Verfügung
gestellt haben. Außerdem benutzt er Buckle's
Tagebücher und eine große Reihe von Berich-
ten und Mittheilungen über denselben. Manches
bringt er endlich auch aus seiner eigenen Er-
innerung bei sowie aus den Erzählungen seiner
Eltern, welche mit Buckle seit 1857 bekannt
und befreundet waren.
Aus einer wohlhabenden Londoner Kauf-
mannsfamilie entsprossen, blieb Buckle wegen
seiner Kränklichkeit von früh an auf den Um-
gang mit den nächsten Angehörigen und einem
kleinen Kreise vertrauter Bekannten beschränkt;
auch die Schule, der er keine Reize abzuge-
winnen vermochte, besuchte er nicht lange.
Mit 19 Jahren ward er durch den Tod seines
Vaters, in dessen Geschäfte er kurze Zeit ge-
arbeitet hatte, unabhängig. Von nun an rich-
tete er, wie er selbst später erzählte, ohne eine
Universität oder eine ähnliche Anstalt zu be-
suchen, anch ohne sich einem bestimmten Be-
rufe zuzuwenden, sein ausschließliches Augen-
merk darauf, mittels einer umfassenden Lektüre
den Gang der menschlichen Gultur kennen zu
lernen und seine Beobachtungen hierüber in
einem ausführlichen und — wie er hoffte —
epochemachenden Werke niederzulegen. Ohne
Anleitung machte er hierzu jahrelange Studien
in fast allen Zweigen menschlicher Wissenschaft,
indem er trotz seiner Kränklichkeit 9 bis 10
Stunden täglich der Arbeit widmete. Am 15.
Oktober 1842 schreibt er in sein Tagebuch:
„Ich bin entschlossen von heute an meine ganze
Energie dem Studium der Geschichte und der
890 Gott. gel. Adz. 1880. Stück 28.
Literatur des Mittelalters zu widmen. Ich bin
darauf geführt nicht eigentlich wegen des Inter-
esses, welches der Gegenstand gewährt — ob-
wohl derselbe viel verlockendes hat — , sondern
weil darüber verhältnismäßig so wenig bekannt
und veröffentlicht ist". Zehn Jahre später hat-
ten die Arbeiten Buckle's schon eine bestimmte
Gestalt angenommen; im Februar 1852 schreibt
er: „Ich bin seit lange tiberzeugt, daß der Fort-
schritt bei jedem Volke von Principien — oder
wie man gewöhnlich sagt: von Gesetzen — be-
herrschtwird, die ebenso regelmäßig und sicher
wirken wie diejenigen, welche die physikalische
Natur regieren! Die Entdeckung dieser Gesetze
bildet den Gegenstand meines Werkes. Mit Rück-
sicht hieraufstrebe ich danach einen allgemeinen
Ueberblick über die sittlichen intellectuellen und
politischen Eigentümlichkeiten der großen Staa-
ten Europa's zu gewinnen, und ich hoffe die
Umstände klarzustellen, unter denen jene Eigen-
tümlichkeiten sich gebildet haben. Dies wird
zu der Wahrnehmung gewisser Beziehungen (re-
lations) zwischen den verschiedenen Epochen
(stages) führen, durch welche jedes Volk in sei-
ner Entwicklung hindurchgegangen ist. Diese
allgemeinen Beziehungen beabsichtige ich dann
im einzelnen zur Anschauung zu bringen,
und durch eine sorgfältige Zergliederung der
Geschichte Englands zu zeigen, wie dieselben
unsere (d.i. die englische) Civilisation beherrscht
haben, und wie die Gestalt, welche unsere An-
schauungen, unsere Literatur, unsere Gesetze
und Sitten in jeder Epoche zeigen, aus der je-
desmal vorangehenden naturgemäß erwach-
sen ist".
Hier sind, wie wir sehen, die Hauptlinien
des Werkes schon deutlich skizziert, doch erst
im Jahre 1857 erschien der erste Band;, dem
Hath , Life and Writings of Buckle, 891
1861 der zweite folgte. Sie enthalten beide
nun die Einleitung und auch diese nicht voll-
ständig, da sie auf 3 Bände berechnet war.
Im dritten Bande wollte Buckle — wie im
zweiten Schottland und Spanien — so Deutsch*
land und die Vereinigten Staaten von Nord-
amerika zum Gegenstand seiner Betrachtung
machen, während den übrigen Bänden, wie
schon in jenem Briefe von 1852 angedeutet ist,
die Anwendung der Methode im einzelnen auf
die Geschichte Englands vorbehalten blieb.
Das große Aufsehen, welches die „Geschichte
der Civilisation u überall hervorrief, der Ruhm
und die vielen Ehren, welche sich auf den bis-
her völlig unbekannten Autor herniedersenkten,
änderten Buckle's einfache Lebensgewohnheiten
nicht und unterbrachen kaum den ruhigen Ver-
lauf seines Lebens. Nur einmal trat er vor die
Oeffentlichkeit, indem er in der Königlichen
Akademie zu London eine Vorlesung hielt. Er
wählte zu derselben eins seiner Lieblings«
themata, über den Einfluß der Frauen auf den
Fortschritt der Bildung (gedruckt in B.'s Miscel-
laneous and posthumous works edited by Helen
Taylor, vol. I). Bald darauf erwies Buckle, daß
es ihm nicht an Muth fehle für die Ideen von
Toleranz und Denkfreiheit, die er in seinem
Werke verfochten, auch im einzelnen concreten
Fall einzutreten, indem er sich eines armen Ar-
beiters annahm, der, sonst unbescholten, von
dem Eichter Sir John Coleridge wegen Läste-
rungen gegen das Christenthum mit einer schwe-
ren Gefängnisstrafe belegt worden war (vgl.
Letter to a gentleman respecting Pooley's case,
in den Miscell. and posth. works, vol. I).
Um dieselbe Zeit traf ihn ein harter Schlag,
nämlich der Tod der lange kränkelnden, von
ihm zärtlich geliebten Mutter, mit der er, da er
892 Gdtt gel. Adz, 1880. Stück 28.
unverbeirathet geblieben war, zusammen lebte
(1859 April 1). Aach Buckle's eigene ohnehin
schwächliche Constitution war durch das anhal-
tende Arbeiten im höchsten Grade erschöpft,
sodaß es för ihn nothwendig wurde sich eine
längere Erholung zu gönnen. Am 20. Oktober
1861 verlieft er England nnd wandte sich zu-
erst nach Aegypten, von wo es ihm gelang
durch die Wüste nach Palästina vorzudringen.
Während seine Stimmung sich mehr und mehr
hob und auch sein körperliches Befinden sich
immer befriedigender zu gestalten schien, ergriff
ihn ein typhöses Fieber, welches, zu spät in
seiner wahren Natur erkannt, ihn am 29. Mai
1862 vierzigjährig zu Damascus hinraffte. —
Auf Einzelheiten in der Darstellung des vor-
liegenden Werkes näher einzugehen ist hier
nicht der Ort; wohl aber drängt sich dem Le-
ser die Frage auf, ob nicht bei einem Lebens-
laufe, wie der Buckle's war, der Biograph weit
mehr als es hier geschieht bestrebt sein mußte,
das innere Leben in den Vordergrund zu rücken
und speciell den Entwicklungsgang der vielen
eigenartigen Gedanken und Urtheile Buckles,
wie sie uns aus seinem Werke entgegentreten,
im einzelnen zu verfolgen und darzulegen? Frei-
lich konnte, wie Miss Taylor richtig bemerkt,
nur ein vertrauter Genosse der Studien und
Ideen Buckle's dieser Aufgabe in vollem Maße
gerecht werden, während der Verfasser des vor-
liegenden Werkes bei Buckle's Tode noch im
Knabenalter stand. Aber einen gewissen Er-
satz konnten jedenfalls die Briefe bilden, die
ihm in großer Anzahl zur Verfügung standen.
Hier jedoch ist der Autor seines Gegenstandes
nicht Herr geworden: er druckt die Briefe ab,
aber er versucht nicht die in ihnen hier und
dort gegebenen Aufschlüsse und Andeutungen
Hath , Life and Writings of Buckle. 893
zusammenzufassen und ans ihnen — soweit
möglich — ein Bild des inneren Entwicklungs-
ganges seines Helden zn gewinnen. Sein Werk
ist weniger eine Verarbeitung als eine Zusam-
menstellung des zur Verfügung stehenden Ma-
terials) und zwar ist für diese Zusammenstellung
fast ausschließlich die Zeitfolge der einzelnen
Ereignisse oder Briefe maßgebend statt der in-
neren Zusammengehörigkeit der Gegenstände.
Auch die Auswahl des Stoffes läßt zu wünschen
übrig. Eine große Zahl der aufgenommenen
Briefe ist ohne ein besonderes Interesse und
wäre besser fortgeblieben; sehr überflüssig ist
ferner die ausführliche Beschreibung des Schach-
turniers, an dem Buckle 1851 sich betheiligte,
und die aus den „London Illustrated News" re-
producierte Liste der Theilnehmer, Namen, wel-
che für das vorliegende Werk gänzlich un-
fruchtbar sind.
Noch sei ein Blick auf das vierte Kapitel
gestattet, wo der Autor bei der Besprechung
der „-Geschichte der Civilisation in England"
Buckle's Verhältnis zu seinen Vorgängern und
die Stellung seines Buches in der Literatur un-
tersucht. Er bekämpft zunächst die Ansicht,
daß Buckle im wesentlichen auf den Schultern
Comte's stehe, denn, wie er ausführt, ist einmal
der Zweck des „Cours de Philosophie positive"
und der „History of Civilization" ein verschie-
dener, zweitens aber berühren sich Comte und
Buckle zwar in einer großen Menge einzelner
Punkte von meist untergeordneter Bedeutung,
während doch die Hauptgedanken, die leitenden
Gesichtspunkte bei beiden weit von einander
abweichen. Als solche, von denen Buckle be-
stimmte leitende Gedanken übernommen habe,
macht der Verfasser Vico für den Satz namhaft :
da» Leben des Menschen auf der Erde beruht
894 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 28.
nicht anf Willkür, sondern vollzieht sich nach
einer gewissen Ordnung; Montesquieu: der
Mensch wird durch Naturgesetze beherrscht ; und
Kant : die Gesetze der Geschichte darf man nur
aus den Handlungen der Menge, nicht aus denen
der Individuen ergründen wollen* Als eigensten
Gedanken Buckle's aber hebt der Verfasser vor
allem den Satz hervor: die Sittengesetze sind
abhängig von den Gesetzen der intellectuellen Welt.
Ein näheres Eingehen hierauf würde einer
Besprechung des Buckle'schen Gesehichtswerkes
gleichkommen, gehört somit nicht hieher. Aber
Referent kann seine Verwunderung nicht unter-
drücken, daß Huth sich so sehr über die Kritik
beklagt, welche die „Geschichte der Civilisation"
gefunden, und die Angriffe der Kritiker tbeils
auf mangelhaftes Verständnis, theils auf bösen
Willen Neid Engherzigkeit u. s. w. zurückführt,
da ihm selbst Buckle's Werk als unverletzlich,
alle dessen Gedanken und Lehren als schlech-
terdings unwiderlegbar und zwingend erscheinen.
Um dem Unverstand der Kritiker abzuhelfen,
giebt er selbst im dritten Kapitel eine Skizze
des Gedankenganges und der leitenden Ideen;
aber mag auch diese Darlegung richtig sein, so
ist es doch eine ganz andere Frage, ob die Ge-
danken und Lehren Buckle's selbst richtig seien,
und zwar kann diese Frage sicherlich nicht
durchaus bejahend beantwortet werden, nachdem
— um nur der Beurtheilungen Buckle's in Deutsch-
land zu gedenken — z. B. Droysen „Ueber Er-
hebung der Geschichte zum Bange einer Wissen-
schaft" und ein Aufsatz im 9. Bande der „Preu-
ßischen Jahrbücher* über „Englische Geschichts-
philosophie" auf die erheblichen Fehler der Me-
thode Buckle's und die mangelhafte philosophi-
sche Schulung seines Geistes hingewiesen haben.
In einem Anhang beschäftigt sich Huth mit
. j
Berthold's v. Begensb. Deutsche Predigten. 895
Glennie's „Pilgrim Memories", am zu zeigen,
daß diese Schrift nicht den Ansprach erheben
darf, Buckle's Wesen und Gedanken richtig er-
faßt and wiedergegeben zu haben. Es folgt dann
noch ein schätzenswerthes and wie es scheint
Tollständiges Verzeichniß der Literatur über
Buckle und seine Schriften sowie ein branch-
barer Index. Die beiden Bände der Biographie
sind vorn je durch ein Bildnis Buckle's geziert,
welches denselben in seinem 24., bezw. 35. Le-
bensjahre darstellt.
Marburg. Walter Friedensburg.
Berthold von Begensburg. Vollstän-
dige Ausgabe seiner deutschen Predigten mit
Einleitungen und Anmerkungen von Franz
Pfeiffer. Zweiter Band von Joseph Strobl.
Wien, W. Braumüller 1880. XXX, 696 S. gr.8°
Der Titel giebt zugleich den Inhalt an, nem-
lich: Predigten 36 — 71 nebst Einleitung, Les-
arten und Anmerkungen. Danach ist Pfeiffers
Plan theils beschränkt, theils erweitert. Denn
der erste Band verhieß 1862: „Vollständige Aus-
gabe seiner Predigten", also auch der lateini-
schen, die jetzt nicht genannt werden, un^ „An-
merkungen und Wörterbuch". Jetzt ist das
Wörterbuch ausgeschlossen, dafür sind „Einlei-
tung und Lesarten" neu hinzugesetzt. Die Ein-
leitung enthält auf 20 Seiten eine Bechenschaft
über das handschriftliche Material in der jetzt
beliebten Ausführlichkeit, und die „Lesarten",
die mit Anmerkungen durchflochten sind, aber
vorzugsweise Varianten enthalten, füllen 400 eng-
gedruckte Seiten. So hatte Pfeiffer die Arbeit
nicht gemeint, der zwar auch Lesarten geben
896 Gott. gel. Anz. 1880. Stttck 28.
wollte, aber Anmerkungen, „die, so weit es no-
ting scheint, einen Commentar bringen sollten,
der das erklärt, wozu das Wörterbuch nicht der
Ort ist". Ueberdies war es seine Absicht, eine
erschöpfende Charakteristik Bertholds und seiner
Beredsamkeit zu geben, die das in den Fredigten
Zerstreute zu einem Gesammtbilde zusammen
fassen sollte. Der jetzige Herausgeber entschul-
digt sich, daß er zu einem solchen Gesammtbilde
nur Bruchstücke bringe, damit, daß es, ohne die
lateinischen Predigten heranzuziehen, nicht mög-
lich sei, Pfeiffers Vorhaben auszuführen. Auch
seien die Predigten des Mittelalters in französi-
scher und englischer Sprache heranzuziehen, von
denen er leider noch zu wenig kenne, um einen
Einfluß auf die deutschen Predigten außer Zwei-
fel setzen zu können. Wir werden deshalb auf
die Herausgabe der lateinischen Predigten ver-
tröstet, die auf dem Titel mit Schweigen flber-
gangen sind. Ein „Gesammtbild", wie es Pfeiffer
sich dachte, freilich nur dachte und auch münd-
lich nur ganz allgemein gehalten erwähnte, hätte
sich auch aus den deutschen Predigten entwerfen
lassen und würde vielleicht auch Leser „außer-
halb des engeren Fachkreises" veranlaßt haben,
die einzelnen Züge desselben in den Predigten
selbst aufzusuchen und diese zu lesen, da das
Buch, #rie es ist, jetzt wohl nur auf ein Stu-
dium der Fachgenossen Aussicht hat, die mit
ihren Specialfächern und auserwählten Autoren
beschäftigt kaum Zeit finden werden, die Pre-
digten zu lesen, geschweige die Lesarten zu stu-
dieren, und jedenfalls nicht leisten werden, was
der Herausgeber sich auf eine ungewisse Zu«
kunft aufgespart hat. K. Goedeke.
Für die Redaction verantwortlich: E. Rehniach, Director d. Gott. gel. Anz.
Commissions- Verlag der Dieterich' sehen Verlags -Buckhandlung.
Druck der Dieter ich' sehen Univ.- Buchdrucker* (W. Jfc Kasstntr).
897
Gö tti ng ische
gelehrte Anzeigen
anter der Aufsicht
der Eönigl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück 29. AUG 9 1880 21# Juli 188°"
Inhalt: Zeitgenössische Berichte zur Geschichte Busslands. Heraus-
geg. y. E. Herrmann. Bd. II. Ton G. Schüren. — M. W lass ah, Zur
Geschichte der Negotiorum gestio. Ton E. Holder. — Vardham&na's
Ganaratnamahodadhif ed. by J. Eggeling. Part. I. Von Th. Zacharku.
— D. Hume, Eine Untersuchung in Betreff des menschl. Verstandes,
übersetzt erläutert etc. von J. H. Ton Kirchmann. Ton 0. K Müller.
= Eigenmächtiger Abdruck von Artikeln der Gott. gel. Ans. rerboten ss
Zeitgenössische Berichte zur Ge-
schichte Rußlands. Herausgegeben von
Ernst Herrmann. Band II: Peter der
Große und der Zare witsch Alexei. Vor-
nehmlich nach und aus der gesandtschaftlichen
Correspondenz Friedr. Christian Weber's. Leip-
zig, Duncker & Humblot, 1880. LXXXH. und
225 SS. in 8°.
Dieser zweite Band der Zeitgenössischen Be-
richte enthält vornehmlich Auszüge aus der im
Staatsarchiv zu Hannover aufbewahrten gesandt-
schaftlichen Correspondenz Webers, des be-
kannten Verfassers vom Veränderten Rußland.
Vorausgestellt hat der Herausgeber drei ab-
handelnde Capitel: 1. Sonderfriedensverhandlun-
gen des Zars mit Schweden 1716—1718; 2.
der Zarewitsch Alexei und die inneren Wirren
57
898 Gott, gel. Anz. 1880. Stück 29.
1715— -1718; 3. Verschiedenes (allerlei Persona-
lien). Drei Anhänge bringen: 1. einen Bericht
von Lobs über den russischen Hof im J. 1715;
2. Relations touchant la degradation et l'impri-
sonnement "du Zarewitz, 3. Nachtrag zu Vocke-
rodt's Denkschrift
Worauf sich des Herausgebers Aufmerksam-
keit bei den Relationen von Weber besonders
gerichtet hat, besagt der Titel. Es war nicht
beabsichtigt, eine vollständige Uebersicht ihres
Inhalts zu geben. Vielmehr ist gerade, was S.
III. die eigentlich gesandtschaftlich-politische
Thätigkeit genannt wird, außer Betracht geblie-
ben, offenbar mehr aus zufalligen, als methodi-
schen Gründen, da der Herausgeber kein Be-
denken getragen hat, in seinem Gapitel I. Ac-
ten des Marburger Archivs durchweg aus dem
für Weber abgelehnten Gesichtspunkt zu be-
handeln.
Die Auszüge, so wie sie vorliegen, bringen
vorwiegend Beiträge zur inneren und Hof-Ge-
schichte Rußlands aus den Jahren 1714 bis
1720. Man kann über die Zweckmäßigkeit sol-
cher Publicationen, über den Werth von Ge-
sandtschaftsberichten und die beste Art ihrer
Benutzung sehr abweichender Ansicht sein und
wird doch aus der Hand des vielverdienten
Herausgebers dankbar hinnehmen müssen, was
ursprünglich offenbar nicht zur Publication, son-
dern zu gelegentlicher Verwendung excerpiert
worden, nun aber auch zu Nutz und Frommen
Anderer an's Licht gestellt ist.
Allerdings darf man sich durch die Namen
Weber und Herrmann nicht verleiten lassen, das
Buch mit zu großen Erwartungen in die Hand
zu nehmen und ohne Vorsicht zu benutzen.
Weber hielt sich in Moskau und Petersburg
Herrmann, Zeitgenöss. Ben z. Gesch. Rußlands. 899
zuerst in den Jahren 1714 bis 1716, sodann von
1718 bis in den September 1719 auf. Seine
zweite Anwesenheit fällt mit der Tragödie von
Alexei und deren Nachspiel zusammen, trifft
somit in eine Zeit, da die fremden Gesandten
von Argwohn und Mißtranen umstellt waren
und alle mit einander nicht den zehnten Theil
dessen zu erkundigen vermochten, was uns heute
in den von Ustrjalow und Jessipow veröffent-
lichten Quellen vorliegt. Zieht man ferner in
Betracht, daß der Zar den größten Theil des
Jahres 1716 nicht dabeim war; daß auch in den
Jahren 1714 und 1715 gerade die wichtigeren
in Betracht kommenden Verhandlungen nicht
am Zarischen Hofe, sondern in Hannover und
London spielten; daß eine zusammenfassende
Darstellung der inneren, russischen Vorgänge
von Weber selbst in seinem Veränderten Ruß-
land bereits vorweggenommen ist, so ergiebt sich
ein Maßstab für den Werth des etwa noch un-
bekannten Restes.
Dazu kommt, daß in Webers Berichten über-
haupt keine Quelle ersten Ranges vorliegt. Der
geheime Zusammenhang der Dinge ist ihm meist
verborgen und im Ganzen ist er nur ein, aller-
dings nicht verächtlicher, Zeitungsschreiber. Das
Beste in dem vorliegenden Bande rührt nicht
einmal von ihm selbst her; eines der interessan-
testen Stücke, No. 159, Danzig 31. Jan. 1720,
kommt auf Schlippenbach's Rechnung.
Der Herausgeber hat mit Recht auch allerlei
persönlichen Angelegenheiten einen Platz ge-
gönnt, da sich die Stellung des Berichterstatters
in der russischen Gesellschaft und zu seinem
Hofe nun ziemlich deutlich ergiebt. Er ist
sicher nie zu einem Gefühl maßvoller Unab-
hängigkeit gelangt Von einem Gesandten wird
57*
900 Gott gel. Anz. 1880. Stück 29.
man über gewisse Verhältnisse ein freies Ur-
theil wenigstens in officiellen Depeschen aller-
dings nicht erwarten. Es versteht sich von
selbst, daß Areskin, der Leibarzt des Zaren, und
die jacobitischen Exulanten überall schlecht weg-
kommen, wie die letzteren es meist wohl auch
verdient haben, indeß merkt man die Absicht,
auch wenn man sie dem Schreiber nicht zu
strenge anrechnet. Bedenklicher ist, daß er mit-
unter Dinge verschwiegen zu haben scheint, die
seinem Hofe und den Ministern, besonders Berns-
dorff, empfindlich sein konnten. Ein merkwür-
diges Beispiel findet sich in No. 136. St. Peters-
burg 6. Mai 1718. Auf der Hochzeit des jun-
gen Grafen Mussin-Puschkin kommt der Zar u. a.
auf die Frage vom Kaisertitel und äußert sich
sehr discret gegen den Baron Loss, der weis-
lich schweigt, worauf der Discurs auf die be-
vorstehende Campagne übergeht. „Sie (d. h.
der Zar) raisonnierten den Tag mit uns Frem-
den sehr weitläuftig". So weit der Bericht We-
bers bei Herrmann. Nun besitzen wir über die-
selben Vorgänge im Haager Archiv eine se-
crete Relation von de Bie, welche zum Theil
auch gedruckt ist [Materialien zur Geschichte
der russ. Flotte (russisch). 1865. 4, 153—155].
Darnach wandte sich der Zar nach einem Ge-
spräch mit dem Holländischen Gesandten an
den neben demselben sitzenden Weber mit der
Frage: wie es mit den vom General Dücker er-
öffneten Unterhandlungen (zwischen Schweden
und England-Hannover) stehe und als der An-
geredete verwirrt schwieg, fuhr der Zar mit
scharfen Reden fort: es berühre ihn peinlich,
daß dergleichen Unterhandlungen vor ihm ge-
heim gehalten würden, während er den Ge-
sandten seiner Alliirten die diplomatische Cor-
Herrmann, Zeitgenöss. Ber. z. Gesch. Rußlands. 901
respondenz mit Görtz im Original vorgelegt
habe; eine Behauptung, aufweiche, nach deBie,
Weber genug zu antworten gehabt hätte, wenn
Ort und Zeit es zuließen. Der Zar bemerkte:
trotzdem sei er von Allem unterrichtet und
wisse auch, daß der Secr. Schrader mit Dücker
nach Gothenburg gegangen sei; das habe er
nicht erwartet; unterdessen aber suche man
ihm gar alle Verbündete abwendig zu ma-
chen und alles nur, um sich dafür zu rächen,
daß er genöthigt gewesen sei, Mecklenburg mit
seinen Truppen zu besetzen; den König von
England klage er nicht an, wohl aber dessen
Minister. Einer der Anwesenden, es dürfte der
preußische Gesandte gewesen sein, warf da-
zwischen : Ja, wenn sich Alles voraussehen ließ,
wie es gekommen, wäre wohl dem König von
Dänemark nicht gestattet worden, sich Bremens
nnd Verdens (die mittlerweile in hannoversche
Hände übergegangen waren) so leichten Kaufs
zu bemächtigen. Der Zar hub wieder an: er
habe es immer ehrlich mit seinen Alliirten ge-
halten; jetzt führe er schon neun Jahre den
Krieg allein und werde ihn noch neun Jahre
fortführen, auch wenn alle Verbündete ihn in
Stich ließen. Abermals fiel Jemand mit der Be-
merkung ein: in Schweden liege eine große
Flotte zum Auslaufen bereit. Darauf der Zar:
Wohl möglich, aber, wenn der Oommandeur
nicht Herr seiner Bewegungen ist und ein Frem-
der das Steuer führt, so richtet er nichts aus.
Damit wollte er andeuten, daß Schweden durch
englisches Geld gerüstet und regiert werde und
fügte hinzu : mit seiner Flotte könne er ruhig
im Hafen liegen und die Schweden unbeküm-
mert hin- und herschwimmen lassen, so lange
ihr Herz danach stände. Nun müßte man von
902 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 29.
den Constellationen jener Zeit nichts wissen,
um die Bedentang dieser zarischen Reden zu
verkennen; zugleich wird Jedem, der mit den
damals an den Höfen von Hannover nnd St.
James herrschenden Intriguen bekannt ist, die
Adresse einleuchten, an welche der Zar seine
Bemerkungen gebracht wissen wollte und wie
sie vor Allen auf Bernsdorff zielten. Was de Bie
so berichtet, wird von Weber selbst in einem
am Tage seiner Relation, 6. Mai, an St. Saphorin
gerichteten Schreiben im Allgemeinen bestätigt:
„Pendant que chacun est attentif icy ä decouvrir
fa bonne ou mauvaise fortune des criminels
d'Etat le Zar se ronge Pesprit dans la pensee
oü il est (Tune paix particuliere entre l'Angleterre
et la Suede, je pretens en avoir des avis cer-
tains et il me Va dit luy memeu. Und in der
directen Relation an den Hof von allem keine
Silbe !
Stände das unbedingt fest, so wäre damit
immerhin ein Haltpunkt gegeben. Der Ge-
schichtschreiber kommt nicht selten in die Lage,
auch in unscheinbaren Dingen Gewißheit fordern
zu müssen; oft haben tausend solcher kleiner,
mitunter sehr mühsam zu erwerbender, Gewiß-
heiten, zu einander zu treten, ehe sich ein siche-
res Urtheil in einer ausschlaggebenden Frage er-
giebt und, je länger die Reihe der Vorfragen,
um so unleidlicher eine Lücke, am unleidlich-
sten, wenn sie ganz ohne Noth sich einstellt
Hier steht nun die Sache so, daß sich mit vol-
ler Zuversicht gar nicht entscheiden läßt, ob
die Unterlassung dem Berichterstatter oder dem
Herausgeber zur Last fällt. Das letztere mag
unwahrscheinlich genug sein, da der Heraus-
geber sich nicht versagt, viel weniger erhebliche
Dinge, die viel weniger unter seinen eigent-
Herrmann, ZeitgenBss. Ber. z. Gesch. Rußlands. 903
lichen Gesichtspunkt fallen, zur Mittheilung zu
bringen und kaum angenommen werden darf,
daß er gerade den wichtigsten Theil jenes Dis-
cnrses weggeschnitten habe, allein unmöglich ist
es doch nicht Und damit — an dem einen
Beispiel — ist das Gefühl der Unsicherheit ge-
kennzeichnet, mit dem man solchen Excerpten-
Pablicationen gegenübersteht Der an sich zwei-
felhafte Werth der Weber'schen Berichte ist nun
vollends in Zweifel gestellt.
Dazu kommt, daß nur gewisse Fundgruben
ausgebeutet, andere unberührt geblieben sind.
Es ist nicht ersichtlich, ob nur die Manualacten
Webers oder daneben auch seine ausgefertigten
Relationen oder bald nur die einen, bald die
andern benutzt wurden. Auf die Manualacten
scheinen u. a. die mitunter beigesetzten Blatt-
ziffern zu deuten; auf Benutzung der Originale
der Umstand , daß viel und zwar oft sehr wich-
tige Bestandteile dem Herausgeber entgangen
sind, was bei der Hannoverschen Ganzlei- und
Archivordnung, welche die Materialien sowohl
für Rescripte, wie für Relationen, ziemlich strenge
auseinanderhielt, nicht eben befremden kann.
Die Folgen sind bedauerliche Lücken und Fehl-
schlüsse. So findet sich zu Weber an Robethon,
Riga. 31. Jan. 1717 und zwar zum Satz: „je
puis vou8 assurer que 284 (Menschikow) n'a
pas oublie les mauvais services, que je lui ai
rendus en agissant contre lui par ordre de S.
M. il y a pr&s d'un anu, die Erläuterung ge-
geben: „In der Stettiner Angelegenheit". Allein
diese hatte für den Zar und Menschikow schon
im J. 1714 und zwar ohne besondere Einmi-
schung des Hannoverschen Hofes ausgespielt.
Dagegen war im Sommer 1715 eine geheime
Ordre an Weber ergangen, auf alle Weise zu
904 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 29.
verbindern, daß Menschifcow ein Commando in
Deutschland erhielte (Rescr. vom 1. Juli/21. Juni
1715) und schon im August stand es fest, daß
Scheremetew commandieren würde (Rel. vom 6.
Aug. P. S.). Diese Schriftstücke fehlen ver-
mutlich bei den Weberschen Acten; sie finden
sich unter Nord. Krieg. 63.
Von den Rescripten ist nur gelegentlich et-
was beigezogen; von der Correspondenz Webers
mit Robethon ein Theil; von den Briefen an
Bernsdorff wenig; von den Relationen an St.
Saphorin nichts, obwohl sie im Auftrage erstat-
tet wurden und Manches enthalten, was anderswo
nicht zu finden ist, wie denn die Lage nach des
Zarewitsch Tode kaum anderswo so meisterhaft
zwischen den Zeilen geschildert ist, wie in dem
Schreiben aus Reval vom 11/1 August, zum
Schluß: „S. M. jouit d'une parfaite sante. Elle
se promenera une quinzaine de jours en mer
pour exercer ses matelots. Elle a präsentement
l'esprit plus tranquil, ayant remis le calme
dans son Empire, et le bon Dieu ayant retirä
le Zarewitz de cette vie avant que S. M. J. eut
signe la sentence de mort, que 124 Juges ont
prononc6e contre luytt.
Kiel. Juli. C. Schirren.
Zur Geschichte der negotiorum ge-
stio. Eine rechtshistorische Untersuchung von
Dr. Moriz Wlassak, Docenten der Rechte
an der Universität Wien (jetzt außerordentl. Pro-
fessor in Czernowitz). Jena, Verlag von Gustav
Fischer 1879. VII. 207 S. 8°.
Zwei Fragen sind es hauptsächlich, welche
den Verf. beschäftigen:
Wlassak, Negotiorum gestio. 905
1) welches der Ursprung der neg. gestorum
actio ist, d. h. ob dieser zu suchen ist im ins
civile oder im praetorischen Edicte.
2) welches das ursprüngliche Anwendungs-
gebiet der Klage ist, insbesondere
a) welche Geschäfte sie begründen sowie
b) wem sie ursprünglich zusteht (ob nur
dem Geschäftsherrn oder auch dem Geschäfts-
führer).
Die erste Frage hat den Verf. zu einer
Untersuchung „über das Verhältnis des Prätors
zum Civilrecht" veranlaßt, bis zu deren Vorle-
gung er das Urtheil über ihr in seiner Schrift
mitgetheiltes Resultat zurückzuhalten bittet.
Mit vollstem Rechte geht der Verf. aus von
der Thateache, daß einerseits die Digesten die
negotiorum gestio im Anschlüsse an den Wort-
laut des Edicts behandeln und andererseits die
in ihr wurzelnden Actionen unzweifelhaft bonae
fidei actiones im eigentlichen Sinne sind. Aus
dem ersteren Umstände schließt der Verf. den
prätori8chen Ursprung jener Klagen ; denn, dies
ergebe die angedeutete für sich zu veröffent-
lichende Untersuchung, wo ein Edict existiere,
habe die darauf gestützte Klage ausnahmslos
prätorischen Charakter, enthalte nie eine iuris
civilis intentio. Erst im Laufe der Zeit sei die
n. g. „ein Bestandteil des Civilrechts geworden,
so daß an die Stelle der anfänglich in factum
in einer späteren Periode in jus concipierte,
mit dem Beisatz ex fide bona versehene Klagen
getreten sind (S. 21)u. Der Erläuterung des
so angenommenen Entwicklungsgangs ist der
§. 12 des Buches „der Uebergang praetorischer
Sätze in das Civilrecht" gewidmet. Der Verf.
vergleicht einen solchen Uebergang „mit der
Aufnahme von Sätzen des ius gentium in das
906 Gott. gel. Anz. 1880. Stttek 29.
römische Recht und mit der Reception des letz-
teren in den deutschen Ländern" (S. 153 f.) d.h.
mit zwei Dingen, die in Wirklichkeit nicht nur
mit jener anderen „Reception", sondern auch
unter sich nichts gemein haben. Durch die Re-
ception des römischen Rechtes wurde dieses aus
einem uns fremden zu unserem eigenen Rechte;
die „Reception des ius gentium" dagegen ist
mit seiner römischen Erkenntniß und Aner-
kennung gegeben; beschränkt sich das ius ci-
vile auf den Verkehr der römischen Bürger, so
ist andererseits weder erweislich noch glaublich,
daß eine einmal für den Verkehr der Römer
mit Fremden als maßgebend anerkannte Norm
erst noch einer „Reception" bedurft habe, um
auch fttr den Verkehr der Römer unter sich zur
Geltung zu kommen. Was aber jene Verwand-
lung prätorischen Rechtes in civiles anlangt, so
scheint der Annahme eines zu ihr drängenden
Bedürfnisses die Thatsache zu widersprechen,
daß im Laufe der Entwicklung der Inhalt des
prätorischen Edictes selbst mehr und mehr die
Natur eines wirklichen und definitiven Rechtes
annimmt, daß also das prätorische Recht ohne
Abstreifung seiner edictalen Form immer mehr
eine diese überragende Bedeutung gewinnt. In-
dem also das Edictsrecht als solches immer
tiefer im allgemeinen Rechtsbewußtsein sich ein-
wurzelt und immer mehr seinem eigenen Ur-
heber über den Kopf wächst, so ist angesichts
dieser fortschreitenden Givilisierung des Edicts
eine eigentliche Verpflanzung bestimmter aus
dem Edicte erwachsener Rechtsverhältnisse auf
civilen Boden nicht zu erwarten und so auch in
Wirklichkeit schwerlich wahrzunehmen. Wenn
sich der Verf. auf die Analogie des in das ge-
meine Kaufrecht übergegangenen Aedilenedictes
Wlassak, Negotiorum gestio. 907
beruft, so ergiebt sieb ans seiner eigenen durch-
aus zutreffenden Charakteristik dieser That-
sache die Unzulässigkeit ihrer analogen Ver-
werthnng für prätorisebes Recht, welchem durch-
aas nicht gleich dem ädilitischen die Natur eines
Sonderrechtes zukam. Wenn sich der Verf. fer-
ner auf die detaillierte Ausgestaltung prätori-
scher Institute durch die Jurisprudenz und die
civile Natur des von dieser constatierten Rech-
tes beruft, so hat hiergegen schon Krüger
(Arch. f. civ. Praxis 62. S. 500) Widerspruch
erhoben; ist dem prätorischen gegenüber die
Auctorität des Civilrechts eine unbegrenztere, so
kann doch unmöglich die Auctorität dessen,
was Deutung prätorischer Satzung ist, die die-
ser gezogenen Grenzen der Geltung über-
schreiten. Indem der Verf. die civile Natur der
bonae fidei actiones als etwas schlechthin fest-
stehendes betrachtet, sieht er sich genöthigt die
negotiorum gestorum actio ursprünglich in factum
coneipirt sein zu lassen. Er verfehlt natürlich
nicht für den Uebergang von dieser Formulie-
rung zur bonae fidei actio und damit von der
prätorischen zur civilen Natur die Doppelformeln
beim Depositum und Commodätum anzuführen,
ohne sich dadurch irre machen zu lassen, daß
im Gegensatze zu diesen Fällen bei der nego-
tiorum gestio die ursprüngliche formula in fac-
tum coneepta spurlos verschwunden wäre. Wei-
tere von ihm erwähnte Receptionsfölle sind
1) das Aufkommen der Givilklage aus dem
Precarium; vom Entwickelungsgange, den der
Verf. für die n. g. annimmt, unterscheidet sich
aber dieser Fall nicht nur dadurch, daß auch in
ihm das Interdict neben der Givilklage stehen
geblieben ist, sondern vor allem beruht diese
auf einem ganz anderen Gesichtspunkte als je-
908 Gott gel. Anz. 1880. Stück 29.
nes, so daß hier von einer Reception keine
Rede sein kann.
2) Die Möglichkeit gesetzlicher Er-
setzung prätorischer Rechtsverhältnisse durch
civile wird niemand bestreiten wollen , weshalb
die lex Junia (und vollends das Sc. Juventianum,
welches mit seinen Erweiterungen durch Ausge-
staltung civilrechtlicher Klagen einer prä-
torischen Concurrenz macht*) nichts beweist.
3) Endlich beruft sich der Verf. auf den
Eigenthumserwerb durch Tradition, welcher als
civiler Erwerb von res nee maneipi eine par-
tielle Ausdehnung des nach prätorischem Rechte
an allen Arten von Sachen stattfindenden Er-
werbes auf das ins civile sei. Es wäre aber wohl
an der Zeit der Annahme, daß erst „das Civil-
recht der späteren Zeittt einen Eigenthumserwerb
durch Tradition kenne auf den Leib zu rücken**).
Wie anders als durch Tradition sollen wir ins-
besondere seit dem Aufkommen der Münze uns
Geldzahlungen vollzogen denken? Oder soll es
etwa bis zum Auftauchen der prätorischen Ge-
setzgebung am Gelde kein Eigenthum gegeben
haben?
So können wir bis auf Weiteres — d. h.
insbesondere bis auf die etwaige Beseitigung
unserer Bedenken durch die in Aussicht ge-
stellte Untersuchung — des Verfassers Recep-
tionsgedanken uns nicht aneignen, müssen viel-
mehr die Frage aufwerfen, ob der Verfasser die
Vereinbarkeit des edictalen Ursprunges mit dem
formularen Charakter der negotiorum gestorum
*) Dies gilt ebenso von der Concurrenz eines pr&to-
rischen und civilen Rechtsmittels zum Schutze der Re-
paratur eines Weges.
**) 8. gegen dieselbe neuestens namentlich Bech-
mann Kauf I. S. 305 ff.
Wlassak, Negotiorum gestio. 909
actio nicht auf einem anderen Punkte hätte su-
chen, ob er nicht die Frage hätte a ui werfen
und näher untersuchen müssen, ob wirklich die
bonae fidei actio als solche so nothwendig dem
ins civile entspringe als er annimmt Verglei-
chen wir die bonae fidei actio mit der civil-
rechtlichen condictio einerseits, der prätori-
schen in factum actio andererseits, so haben die
beiden letzteren, wie auch der Verf. betont, das
Gemeinsame, daß sie bezüglich des Rechtspunk-
tes den Richter schlechthin der höheren Autori-
tät des ins beziehungsweise des Magistrates
unterordnen. In ganz anderer Art ist dagegen
die im bonae fidei iudicium maßgebende bona
fides ein Gegenstand freien richterlichen Er-
messens, so daß man versucht ist zu sagen, beim
strictum iudicium entscheide der Wille des Rech-
tes, bei der in factum actio der des Prätors,
beim bonae fidei iudicium dagegen der eigene
Wille des Richters. Doch wäre dabei ein Dop-
peltes übersehen. Wann etwas ex bona fide
geschuldet sei, ist allerdings keine Frage des
strictum ius, aber eben so wenig eine Frage
richterlichen Beliebens; vielmehr ist es eine
Frage der Sitte und der öffentlichen Meinung,
also des allgemeinen wenngleich noch nicht zur
festen Gestalt einer bestimmten Rechtsnorm ver-
dichteten Willens. Fragen wir uns .aber, was
den Richter ermächtigt den noch nicht zu einem
schlechthin zwingenden erstarkten allgemeinen
Willen zu berücksichtigen, so ist es die prätori-
sche Anweisung in der Formel. Ist diese un-
zweifelhaft prätorischen Ursprungs, so wird man
nicht umbin können das Gebot der richterlichen
Berücksichtigung der bona fides auf den Prätor
zurückzuführen. Während bei der in factum
actio der Richter ein Organ des prätorischen
910 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 29.
Willens ist, fungiert er im bonae fidei indicium
als Organ des allgemeinen Willens, aber eines,
soweit es sich um Berücksichtigung der bona
fides handelt, erst durch den Prätor zum äußer-
lich zwingenden erhobenen allgemeinen Willens.
Die Entstehung des bonae fidei iudicium kann
aber eine doppelte sein. Entweder hat auf
Grund eines bestimmten Thatbestandes schon
von Rechtswegen eine Schuld existiert; der Prä-
tor hat aber durch die bonae fidei clausula
den Richter bezüglich ihrer Beurtheilung auf die
bona fides verwiesen. Daß die ältesten bonae
fidei indicia modificierte stricta iudicia sind,
zeigt die Formel des bonae fidei iudicium, welche
nur durch die beigefügte bonae fidei clausula
von der des strictum iudicium sich unterschei-
det. Oder aber — dies ist die zweite Ent-
stehungsart von bonae fidei iudicia — der Prä-
tor hat ein neues iudicium geschaffen, jedoch
nicht so, daß er wie bei rein prätorischen Kla-
gen für die Ableitung gewisser Forderungen
aus gewissen Thatbeständen die Verantwortung
selbst übernahm, sondern so, daß er dieselbe
wie beim strictum iudicium dem Richter über-
ließ und ihn nur anwies ex fide bona zu ur-
theilen, d. h. die Forderungen des nationalen
Rechtsgefühles als Forderungen des Rechtes zu
behandeln. Ein solches bonae fidei iudicium
war prätorischen Ursprunges, soferne erst der
Prätor die Forderung zur klagbaren erhoben
hatte; er war aber damit nur einer Forderung
der öffentlichen Meinung, des nationalen Ge-
wissens nachgekommen, und nicht seine eigene
Auctorität, sondern dieses nationale Gewissen
sollte die richterliche Beurtheilung beherrschen,
so daß das charakteristische Merkmal eigentlich
prätorischer Klagen hier nicht zutraf.
Wlassak, Negotiorum gestio. 911
Eine Klage dieser Art nan erblicken wir in
der actio negotiorum gestoram. Wer fremder
Angelegenheiten angerufen sich annimmt, wird
in der Regel sowohl ein Mann von rechtlicher
Gesinnung sein als auch dem dominus negotii
persönlich nahe stehen; diesem das Resultat der
in seinem Interesse unternommenen Geschäfts-
führung nicht vorzuenthalten, war eine selbst-
verständliche Pflicht des Ehrenmanns und Freun-
des, so daft es zu ihrer Realisierung eines in-
dicium nicht bedurfte. Wohl aber mochte im
Falle erheblicher vom negotiorum gestor aufge-
wendeter Kosten, sowie vollends, wenn diese
den erzielten Nutzen überstiegen, die Abrech-
nung zwischen beiden zu Irrungen Anlaß geben.
War der Erfolg des Unternehmens und damit
seine nachträgliche Genehmigung seitens des
dominus unsicher, so mochte dies abschrecken
von der Befriedigung eines Bedürfnisses, welches
für das römische Rechtsleben in ungleich höhe-
rem Maße bestand als für das unsrige. Daher
die prätorische Einfährung eines iudicium zur
Beurtheilung von Verbindlichkeiten, deren prin-
cipielle Anerkennung seitens jedes rechtlich
Denkenden sich von selbst verstand, deren Fest*
Stellung im einzelnen Falle jedoch durch eine
unparteiische Abwägung seiner verschiedenen
Momente bedingt war.
Unmöglich können wir demnach der vom
Verf. vertretenen Ansicht beitreten, daß die di-
reeta actio älter sei als die contraria. Daß sie
durch Cicero (Top. XVII §. 66) nicht bewiesen
wird, hebt er selbst hervor, und ebenso, daß die
Berichte der Juristen über die Motive des Prä-
tors geradezu in erster Linie an die contraria
actio denken lassen. Den Hauptgrund, weshalb
der Verf. dennoch die contraria actio für jünger
912 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 29.
hält, bildet die Analogie des commodatum und
depositum. Bei der negotiorum gestio wissen
wir aber eben nichts von der in factum actio,
die uns bei jenen Verhältnissen neben der bonae .
fidei actio überliefert ist, und der durchaus plau-
sible Gedanke an ein höheres Alter der in fac-
tum actio und an ihre Abstammung aus einer
keine contraria actio kennenden Zeit vermag
also für die negotiorum gestio nichts zu bewei-
sen. Wenn sodann der Verf. von der negotio-
rum gestio behauptet, es lasse sich kein Fall
denken, wo ein Anspruch des dominus von vorn-
herein ausgeschlossen wäre, wogegen vielfach
eine contraria actio nicht entstehe, so ist dem
entgegen zu halten, daß gerade im wichtigsten
Falle der defensio es an jedem Stoffe flir eine
actio des dominus fehlt, während eine solche
des gestor um so dringenderes Bedürfniß ist
Dieses Bedürfniß leugnet freilich der Verf. fftr
die ältere Zeit, da der älteste negotiorum gestor
der procurator sei, der in der Regel nicht mit
eigenem, sondern mit dem Gelde des dominus
bezahlt haben werde.
Das eben erwähnte Argument beruht auf des
Verfassers Ansicht vom ursprünglichen Anwen-
dungsgebiete der Klage, der wir uns nunmehr
zuwenden. Mit Berufung darauf, daß das Edict
nirgends das Erforderniß eigener freier Ent-
schließung statuiere, bezieht er es auf Jede
Art von Geschäftsführung, mochte diese nun
ihre Veranlassung in einem privaten Auftrage,
amtlicher Bestellung oder aber weder in dem
einen noch in dem anderen, sondern lediglich
in dem freien Entschlüsse des Gestors oder
sonstigen Umständen haben". Dem Einwurfe,
daß dem sonstigen Entwickelungsgange die An-
nahme einer späteren Entstehung der besonderen
Wlassak, Negotiorum gestio. 913
Klagen bezüglich besonderer Fälle der Führung
fremder Geschäfte zuwiderlaufe, sucht der Verf.
durch Berufung auf analoge Fälle zu begegnen.
Unbegreiflich ist es, wie er angesichts der Man-
cipation von einer „von den Proculianern ange-
regten Ausscheidung der emtio venditio aus
dem ursprünglich Kauf und Tausch umfassen-
den Begriffe der permutatio" reden konnte (vgl.
Bechmann Kauf S. 5 ff., ein wie es scheint
dem Verf. unbekannt gebliebenes Werk !). Gleiche
Verwunderung erregt die Zurückfübrung der
actio vi bonorum raptorum auf eine „Spaltung
des Diebstahlsbegriffsa.
Ein auffallender Widerspruch ist es übrigens,
wenn der Verf. das Edict in erster Linie auf
den Fall autorisierter Vertretung berechnet
sein läßt und zugleich auf ein hohes Alter des-
selben den Passus von den negotia quae cuius-
que, cum is moritur, fuerint anführt, während
doch in Fällen dieser letzten Art die Geschäfts-
führung unmöglich eine autorisierte ist.
Um darzuthun, daß die negotiorum gestio äl-
ter sei als andere Geschäftsführungsklagen, be-
handelt der Verf. das Verhältniß der n. g.
1) zum Mandate. Das seiner Meinung ent-
sprechende Altersverhältniß beider bezeuge schon
die Thatsache, „daß wir in realen Thatbeständen
die historisch frühesten, im formlosen Parteien«
consens den am spätesten zur Anerkennung ge-
langten Entstehungsgrund von Schuldverhältnis-
sen zu erblicken haben". So seien die ältesten
Geschäfte „nicht nur Formal-, sondern zugleich
auch Realcontracte" ; daneben aber „erscheinen
in ältester Zeit nur solche Thatbestände als
rechtlich relevant, denen . . . äußerliche Faß-
barkeit eigen ist". Selbst Delictsschulden, be-
tont der Verf., hätten ursprünglich durch den
58
914 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 29.
äußern Erfolg als solchen hinreichend begründet
erschienen. Jedenfalls vermögen aber solche
„älteste" Anschauungen für die Zeit prätorischer
Rechtsschöpfung nichts zu entscheiden und wenn-
gleich es höchst wahrscheinlich ist, daß ursprüng-
lich das Mandat nicht ohne die Zuthat einer
stattgehabten gestio verpflichtete, so beweist dies
noch keineswegs, daß die mandatmäßig über-
nommene gestio an verpflichtender Kraft vor der
aus eigenem Antriebe unternommenen nichts
voraus hatte. Ist doch die condictio sine causa
der Darlehnsforderung doch wohl nachgebildet.
2) Am günstigsten ist der Theorie des Ver-
fassers die Thatsache, daß die Klagen aus der
cura nicht der tutelae, sondern der neg. gest
actio nachgebildet oder vielmehr nach seiner
Annahme eine unmittelbare Anwendung dieser
sind. Daß nach dem Wortlaute des Edictes
die Verwaltung des curator unter den Begriff
der negotiorum gestio sich subsumieren ließ, ist
unzweifelhaft, beweist aber nicht, daß bei der
Aufstellung des Edictes der Begriff der negotio-
rum gestio ebenso allgemein gedacht als ge-
faßt war.
3) Für die aus mehr als einem Grunde be-
denkliche Annahme, daß tutelae actio erst durch
Abzweigung aus der negotiorum gestio entstan-
den sei, beweist nicht, was der Verfasser be-
tont, daß die Klage aus der cura sich auf ne-
gotiorum gestio und nicht, wie wir erwarten,
auf die Analogie der Tutel gründet; wiegtauch
sachlich diese vor, so rechtfertigt sich doch für
die Formulierung der Klage die Anknüpfung
an die negotiorum gestio hinreichend dadurch,
daß der curator eben kein tutor, wohl aber ein
Führer fremder Geschäfte ist, daß also die Aus-
dehnung der neg. gestorum actio auf den Fall
Wlassak, Negotiorum gestio. 915
der cnra formell näher lag als die der tu-
telae actio.
Hat so der Verf. u. E. nicht bewiesen, daß
die negotiorum gestorum actio die Mutter aller
wegen Geschäftsführung existierenden Klagen
ist, so wird ihm doch in der Annahme zu fol-
gen sein, daß dem Begriffe der negotiorum gestio
bestimmte von anderweitiger Geschäftsführung
sie abgrenzende Kriterien fehlen; negotiorum
gestorum actio findet statt wegen Führung frem-
der Geschäfte, um deren willen nicht wegen
ihres besonderen Charakters besondere Klagen
existieren. Verheißt der Prätor ein indicium
für den Fall, daß einer die Geschäfte eines an-
deren besorgt, so erklärt er damit, daß die Ei-
genschaft des negotium als eines alienum für
sich verpflichtet, also nicht blos in Verbindung
mit solchen Umständen, welche bisher sie erst
zu einer rechtlich verpflichtenden erhoben hatten
und welche neben der allgemeinen Verpflich-
tungskraft der negotiorum gestio ihre besondere
Bedeutung behalten.
Auch der Verf. nimmt übrigens bezüglich der
Geschäftsführungsklagen nicht blos eine fort-
schreitende Specialisierung, sondern ebenso um-
gekehrt einen Fortschritt vom Besonderen zum
Allgemeinen an; letzteren namentlich dadurch,
daß er den Praetor zunächst nur an den Fall
autorisierter Vertretung denken und damit un-
sere Klage einen eigenthtimlichqn Kreislauf be*
schreiben läßt, kraft dessen gerade ihr ursprüng-
licher Hauptfall später aus ihrem Anwendungs-
gebiete ausscheidet. Sodann aber läßt er sie
ursprünglich — freilich ohne wirklichen positi-
ven Anhaltspunkt — auf die processualische
Vertretung beschränkt sein und erblickt gerade
im Proceßvertreter einen unzweideutigen Zeugen
58*
916 Gott gel. Anz. 1880. Stück 29.
ihrer Anwendung auf die autorisierte Vertretung
wegen ihrer Anwendung auf das Verhältniß des
procurator zum dominus litis. Daß der älteste
Proceßvertreter der cognitor gewesen, läßt er
nicht gelten. Namentlich drei Dinge sind es,
die er gegen diese Annahme vorbringt, nämlich
1) die Undenkbarkeit, daß die im Obligationen-
rechte nie durchgedrungene echte Stellvertretung
schon im älteren Proceß existiert haben sollte,
sowie 2) die Thatsache, daß Tutoren und Cura
toren nicht wie Cognitoren, sondern wie Procu-
ratoren behandelt wurden, endlich 3) den Fort-
schritt, welchen die Cognitur der Procurator ge-
genüber bezeichne, weshalb im Laufe der Ent-
wickelung nicht etwa die Cognitoren zu Procu-
ratoren, sondern gewisse Procuratoren zu Cogni-
toren geworden seien. Es ist aber nicht rich-
tig, daß der Cognitor, der ja gleichfalls domi-
nus litis ist, den Begriff der echten Stellvertre-
tung verwirkliche, und daß für Vormünder
nicht die Stellung des cognitor maßgebend war,
beruhte darauf, daß ihre Bestellung gleich der
des procurator für den Gegner res inter alios
acta ist; die spätere Gleichstellung anderer Ver-
treter mit den Cognitoren sodann beruht auf
der Gleichstellung anderweitiger Legitimation
mit der Bestellung gegenüber dem Gegner.
Wäre der Werth einer Schrift lediglich zu
bemessen nach der Zahl und Bedeutung ihrer
sicheren Resultate, so würden wir die Arbeit
des Verfassers recht niedrig taxieren müssen.
Wir würden ihr aber damit entschieden Unrecht
thun und uns in auffallenden Widerspruch
setzen zu dem Interesse und Genuß, mit wel-
chem gleich dem Recensenten gewiß Viele den
Ausführungen des Verfassers gefolgt sind. Die
Arbeit ist flott gedacht und flott geschrieben;
Vardham&na's Ganaratnam. ed. by Eggeling. 917
sie zeugt von höchst lebendiger Erfassung ihres
Stoffes und wenn ihrem Verfasser der Mnth zu
wissenschaftlichen Wagnissen in hohem Grade
eigen ist, so zeigt ihn uns seine Schrift auch
nicht entblößt von der Ausrüstung, ohne die das
Wagniß Thorheit ist. Mit lebhaftem Interesse
sehen wir weiteren wissenschaftlichen Unter-
nehmungen desselben entgegen und zweifeln
nicht daran, daß mit der Zeit dieselben mehr
und mehr reife Früchte abwerfen werden.
Erlangen. Eduard Holder.
Vardham&na's Ganaratnamahodadhi,
with the author's commentary. Edited, with cri-
tical notes and indices, by Julius Eggeling.
Part I [adhyäya I— HI, 197]. pp. X, 240. 8°.
London: Trübner & Go. Printed for the Sans-
krit Text Society by Stephen Austin and Sons,
Hertford. 1879.
Zwei Arten von Gana setzt Pänini in seinen
grammatischen Kegeln voraus: dhätugana, Wur-
zelreihen, und §abdagana, Reihen von Wörtern.
Für jene, die Wurzeln, besitzen wir längst die
ausgezeichnete Publication Westergaard's : Ra-
dices linguae Sanscritae (1841); für diese, die
Gana im engeren Sinne des Wortes, stand uns
bis auf die jüngste Zeit nur der alphabetische
Ganapätha in Böhtlingk's Ausgabe des Pänini
(1840), welcher hauptsächlich auf den Angaben
der Calcuttaer Herausgeber des Pänini (1810)
basiert, zu Gebote. Es muß natürlich von gro-
ßem Interesse sein zu erfahren, welche Wörter
Päqini im Auge gehabt hat, wenn er in einem
918 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 29.
Sfitra eine Reihe von Wörtern, auf welche ein
und dieselbe Kegel Anwendung finden soll, mit
dem Anfangsworte citiert; hat z. B. das Wort
Malina in dem Gana zu P. II, 4, 31 gestanden
oder nicht? Ferner erscheinen in den Gana
viele Wörter, die in der Literatur nicht mehr
nachweisbar sind, und deren Erklärung nicht
selten Schwierigkeiten bereitet. Daß aus dem
Vyäkarana-Mahäbhäshyam des Patanjali nicht
viel zu gewinnen sein werde, war schon aus
Aufrecht's Bemerkungen in seinem Catalog der
Oxforder Sanskrithandschriften (1859) p. 160»
zu schließen; und seitdem das ganze Werk all-
gemein zugänglich geworden ist (1872), hat sich
herausgestellt, daß es noch viel weniger giebt
als man hätte erwarten können. Für den gro-
ßen Gana ardharcädi z. B. sichert es nur —
außer dem Worte ardharca selbst — die drei
Wörter Mrshäpcma, gomaya und saraha. Unter
diesen Umständen begrüßen wir das Erscheinen
des zuerst von Böhtlingk (Einl. z. P. p. XXXIX),
dann von Goldstücker (Pänini : his Place etc. p.
177) beschriebenen Ganaratnamahodadhi, da die-
ser, wie es scheint, allein im Stande ist, uns
näheren Aufschluß wenigstens über die Bedeu-
tung der schwierigen und seltenen Ga$a- Wörter
zu geben; denn welche Gana dem Pänini vor-
lagen, als er seine Grammatik verfaßte, erfahren
wir von Vardhamäna nicht, wir durften es auch
von einem Grammatiker, der im 12. Jh. n. Chr.
lebte, der seine metrische Version des Gana-
pätha gar nicht für Pänini's Werk, sondern für
eine uns unbekannte moderne Grammatik schrieb,
nicht erwarten, und wir müssen die Hoffnung
aufgeben, jemals von dem genauen Wortlaut
der Gana des Pänini Eenntniß zu erlangen, falls
wir nicht an eine große Treue der indischen
Yardhamäna's Ganaratnam. ed. by Eggeling. 919
Tradition in grammatischen Dingen glauben nnd
annehmen wollen, daß etwa dieKägikä, der äl-
teste nns erhaltene commentarios perpetuus zum
P., die Gana in ihrer ursprünglichen Fassung
vorführt Wenn wir aber bedenken, daß mancher
Gana als eine unbegrenzter Erweiterung ausge-
setzte Beispielsammlung (äkrtigana vgl. Gana-
ratnam. p. 46, 10 ; Gegensatz wohl niyato ganah
p. 168, 12) bezeichnet wird; wenn wir sehen,
wie spätere Grammatiker, selbst solche, welche
fast gänzlich von P. abhängen, von sonstigen
Aenderungen abgesehen die Gana sogar mit
einem anderen Worte beginnen als Pänini: so
wird unser Glaube an eine sichere Ueberlieferung
der Gana-Wörter beträchtlich erschüttert, und
wir werden uns hüten irgend eines der im über-
lieferten Ganapätha enthaltenen Wörter, mit
Ausnahme des ersten, als für Pänini's Zeit gül-
tig anzusehen.
Der Hauptwerth von Vardhamäna's Gana-
ratnamahodadhi liegt für uns auf dem Gebiete
der Lexicographie ; und in dieser Hinsicht ist das
Werk bereits von Goldstücker in seinem unvoll-
endeten Sanskrit English Dictionary benutzt wor-
den. Vardhamäna erklärt eine große Anzahl von
schwierigen Gana- Wörtern vom Standpunkte der
indischen Grammatik aus; er giebt die Bedeu-
tung an, soweit dieselbe nicht von selbst klar
ist, und citiert endlich eine Menge Stellen —
auch aus dem Veda, was besonders hervorzuheben
— . als Belege. Freilich ist es ihm nicht überall
gelungen, die richtige Erklärung der Wörter zu
geben, denn zu seiner Zeit waren sie längst nicht
mehr im lebendigen Gebrauche : Citate aus Kunst-
gedichten zeigen nur, wie die Wörter von den
betreffenden Dichtern aufgefaßt wurden, im übri-
gen sind sie von zweifelhaftem Werthe. Vardha-
920 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 29.
mäna verdankt seine Gelehrsamkeit wohl haupt-
sächlich denjenigen Grammatikern, welche er im
zweiten Verse der Einleitung preist; da ihre
Werke nur zum Theil erhalten oder bis jetzt be-
kannt geworden sind, so bietet seine Aufzählung
ein gewisses Interesse. Es werden genannt Qä-
läturiya d. h. Pänini, Qakatängaja oder Qäka-
täyana, Gandragomin (über dessen Grammatik
wir bald Näheres aus Indien zu erfahren hoffen),
Digvastra d. h. Devanandin (vgl. Nandin p. 84.
212. Zeitschrift der D. M. G. 28, 114), Bhartrhari,
Verfasser des Väkyapadtyam u. s. w., Vämana,
Verfasser des Avigräntavidyädharavyäkaranam
(vgl. Vi§räntanyäsa p. 131, 15. 167, 10), Bhoja,
bekannt als Autor des Sarasvatikanthäbharanam;
endlich der dipakakartä d. h. Qrlbhadre§varasüri
(vgl. p. 177,7), ein Zeitgenosse des Vardhamäna
(? ädhunika p. 2, 14). Im Gommentare nennt
Vardhamäna noch den Qivasvämin,Kätyäyanaund
Patanjali. Nach Böhtlingk Einl. z. P. p. XL,
dem auch Eggeling Preface p. IX sich anschließt,
ist der Ganaratnamahodadhi nicht zu Pänini's
Werke, sondern zu irgend einer neueren Gramma-
tik bestimmt gewesen: Referent ist der Ansicht,
daß sich Vardhamäna allerdings in der Anord-
nung der Gana, in der grammatischen Termino-
logie u. s. w. an einen bestimmten, bis jetzt un-
bekannten Grammatiker angeschlossen, die Ga^a
selbst aber aus den verschiedensten Quellen zu-
sammengetragen hat. Für manche Gana führt
er die Autoritäten an, Bhoja für Mmgukädi^ vrn-
därakädi, matallikädi und khasücyädi p. 151, 3.
156, 11, Gandra, Durga u. s. w. für nabhrädadi
p. 191, 10 (Andere beginnen diesen Gana mit
näka oder ndkha; bei Pänini stehen die Wörter
im Sdtra), Candra und Bhoja für sa oder scmäna
vor rüpa u. s. w. p. 192 (s. Beiträge z. Kunde
Vardhamäna's Ganaratnam. ed. by Eggeling. 921
d. idg. Sprr. V, 43), vgl. endlich Arunadatta p.
119, 16 und Qakatängaja in III, 180, p. 218.
Man sollte übrigens glauben, daß Vardhamäna
im Anfange seines Werkes den Grammatiker,
dem er sich in der Folge stillschweigend an-
schließt, genannt haben müsse; and wenn der
Anonymus sich unter denen befindet, welche im
2. Einleitungs verse an der Spitze stehen, so
möchte man vermuthen, daß es der an letzter
Stelle genannte Bhoja ist, und zwar weil dieser
Grammatiker wenigstens in dem bisher veröffent-
lichten Theile des Ganaratnamahodadhi am hau-
•
figsten citiert wird, nämlich etwa 50 Mal. Auch
in anderen Werken wird eine (angeblich) von
Bhoja verfaßte Grammatik häufig erwähnt; so
z. B. von Devaräjayajvan in der Einleitung zum
Nighantubhäshya (Bhojaräjiyam vyäkaranam).
Dem Schreiber dieser Zeilen ist nur eininCata-
logen oft aufgeführtes Bhojavyäkaranam bekannt,
welches von Vinayasägara, einem Jaina, im Auf-
trage eines Königs Bhoja, Sohnes des Bhära-
malla, verfaßt ist ; es besteht aus mehr als 2000
Versen und basiert im Wesentlichen auf dem
Särasvatavyäkaranam. Das von Vardhamäna und
Anderen citierte, ohne Zweifel in Sütra abge-
faßte (vgl. p. 89, 1. 130, 12. 176, 13. 222, 10.
228, 12) Bhojavyäkaranam ist noch aufzufinden.
Von dem Vyäkaranam, das Vardhamäna bei sei-
ner Arbeit zu Grunde legte — sei es nun das
Bhojavyäkaranam gewesen oder nicht — können
wir uns nach dem was bis jetzt vom Ganara-
tnamahodadhi veröffentlicht ist, nur schwer eine
Vorstellung machen, zumal da wir nicht genau
wissen, inwieweit Vardhamäna's Anordnung der
Gana mit der Anordnung des Stoffes in der un-
bekannten Grammatik harmoniert. Nur so viel
liegt auf der Hand, daß sich der Anonymus ia
922 Gott. gel. Adz. 1880. Stück 29.
der Terminologie nicht weit vonPänini entfernt
haben kann. In Einzelheiten weicht er von P.
ab und berührt sich da vielfach mit anderen,
späteren Grammatikern, yut gebraucht er, wie
Andere idut, für P. ghi, p. 122, not. 3. at fttr P.
tap p. 68, vgl. hat p. 162, 1. 163, 15. däyan p.
95. ßkan 161, 10 thikan 235, 15. akari 161, 15.
201, 3. atan 163, 2. ghyan 175, 2 vgl. Vopadeva,
und Kät. IV, 2, 35. 6, 59. — tana p. 181, 8.
193, 15. 17.
Vardhamäna citiert eine große Anzahl von
Autoren und Werken ; und da wir die Abfassungs-
zeit des Ganaratnamahodadhi kennen — 1140
A. D. — , so sind diese Citate fttr uns nicht ohne
Interesse. Die folgenden Namen mögen hier eine
Stelle finden (die im Texte nicht ausdrücklich
genannten sind in Klammern eingeschlossen):
Ajaya p. 183. Ajitadeväcärya 175. Anarghyarä-
f^havam. [Eatantram.] Kädambarl 13. Kälidäsa;
ein Citat aus dem achten Sarga des Kumära-
sambhava findet sich p. 119, 8|. Kumärila 112.
Jayäditya 42. 114. Jämbavatlharanam 12. Ji-
nendrabuddhi 219. Tribhuvanamänikyacaritam
194. Dhananjaya 97. Parimala 117. Päräyanikäh
46; die Stelle stammt wohl aus der Kä^ikä zu
P. 8, 3, 48. [PriyadarQikä.] Ratnamati 45. 73. 91.
153, ein Grammatiker, der anderwärts einBauddha
genannt wird. [Räjagekhara's Bälarämäyanam.]
Vardhamäna citiert sich selbst 139. 182. 183;
verfaßte künstliche Gedichte: Jcriyäguptake 190,
schrieb ein Siddharäjavarnanam 235. — Säga-
racandra 106. 115. 144. Sudhäkara 41. 162.
In der Nachweisung der citierten Stellen hat
Eggeling Außerordentliches geleistet ; selbst
Werke, die noch ungedruckt oder doch nicht all-
gemein zugänglich sind, finden sich in den No-
ten angeführt Nur hätten wir mehr Verweise
Vardhamana's Ganaratnam. ed. by Eggeling. 933
auf Pänini und seine Commentatoren gern ge-
sehen ; insbesondere bei jeder Regel des Anony-
mus, dem Vardhamäna folgt, einen Verweis auf
das betreffende Sütra des Pänini. p. 10, 5, kac-
eana jivati te mala vgl. den (loka in der KäQ.
P. 3, 3, 153. — p. 20, 4 uta° vgl. ebendaselbst
P. 3, 3, 154. 152. Das ungenau gegebene ve-
dische Gitat p. 31, 15 ans der Väj. S. schöpfte
Vardhamäna wohl ans Bhäshya (oder Käfikä)
zu P. 6, 3, 109. 8, 1, 56.
Außer Vardhamana's Werk hat es gewiß noeh
andere Versificierungen der Gana gegeben und
sie würden, wenn aufgefunden, vielleicht über
Manches Licht verbreiten, was im Ganaratnama-
hodadhi noch dunkel ist. Spuren von metrischen
Gana sind nicht selten, vgl. p. 177, 8. svasrädi
Eätantram p. 40. Der von Räjendraläla Mitra,
Descriptive Catalogue (Calcutta 1877) p. 13 be-
schriebene Ganapätha scheint hierher zu gehören.
Ein ganz modernes Werk über dieGa^a in Ver-
sen ist die von Eggeling für die letzten 5 Bogen
benutzte Ganaratnävalf des Bhatta Yajne^vara,
Baroda 1874, die sich an die Grammatik des
Pänini anschließt (8 adhyäya, 226 gana) und zum
großen Theil aus dem Ganaratnamahodadhi ge-
schöpft ist (asya granthasya nirmäne Ganaratna-
mahodadhih \ abhün mukhyah sahäyah). Yajne$-
vara hatte sich schon vor dieser Publication durch
seinen Äryavidyäsudhäkara (Bombay 1868) vor-
teilhaft bekannt gemacht.
Eggeling's Ausgabe des Ganaratnamahodadhi
ist eine in jeder Beziehung musterhafte Leistung.
Wir hoffen auf eine baldige Vollendung des Wer-
kes; mögen die Preface p. IX in Aussicht ge-
stellten Indices, durch welche dasselbe erst brauch-
bar gemacht wird, nicht ausbleiben und noch um
ein alphabetisches Verzeichniß der citierten Stel-
924 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 29.
len, Autoren und Werke vermehrt werden. Druck
und Ausstattung des Werkes sind vortrefflich
und bestätigen nur den alten Ruf der Firma
Stephen Austin & Sons. — p. 45, 5 würden wir
väkye (Lesart der Handschrift C) in den Text
setzen, p. 46, 5 ekesham Druckfehler statt
eteshäm? p. 104, 14 ist vermuthlich samjfiäyäm
ashtanah zu schreiben wie 170, 8.
Der Ganaratnamahodadhi erscheint unter den
Auspicien und auf Kosten der von Goldstücker
begründeten Sanskrit Text Society. Leider wird
diese Gesellschaft, wie uns Eggeling Preface p.
X berichtet, mit dem Drucke des vorliegenden
Werkes ihre Thätigkeit beschließen.
Greifswald. Th. Zachariae.
Eine Untersuchung in Betreff des
menschlichen Verstandes von David
Hume, Esq. Uebersetzt, erläutert und mit
einer Lebensbeschreibung Hume's versehen von
J. H. von Kirchmann. Dritte Auflage.
Leipzig, 1880. Erich Koschny (L. Heimann's
Verlag). X u. 214 Seiten. 8°.
Man ist zuweilen der Ansicht, daß es haupt-
sächlich nur unseren Nachbarn jenseits der Vo-
gesen vorbehalten sei, bei Uebertragung aus«
ländischer Werke Sinn störenden Mißverständ-
nissen nicht ganz zu entgehen. Dieses Vorur-
theil gründlichst zu beseitigen, ist das Verdienst
und zwar das einzige Verdienst der vorliegen-
den Uebersetzung der Hume'schen Hauptschrift ;
und als eine in diesem Sinne hervorragende
Leistung möge dieselbe denn ausnahmsweise
hier einer kurzen Würdigung unterzogen wer-
den. — Von ziemlicher Wichtigkeit für dasVer-
Home tibersetzt von J. H. v. Kirchmann. 925
ständniß der weiteren Ausführungen Hume's ist
es, zu wissen, daß er 2 Arten von Beweisfüh-
rungen annimmt, deren eine sich auf Relationen
zwischen Vorstellungen, und deren andere sich
auf Thatsachen beziehe, und daß er dieselben
als demonstrative und moralische Beweisführun-
gen von einander unterscheidet. Die hierauf
bezügliche höchst verständliche Stelle lautet fol-
gendermaßen: »all reasonings may be divided
into two kinds, namely demonstrative reasoning
or that concerning relations of ideas and moral
reasoning or that concerning matter of fact and
existence €. v. Kirchmann übersetzt (S. 37):
„Alle Begründungen zerfallen in zwei Arten,
nämlich in beweisende, d. h. in solche, welche
sich auf Begriffe und moralische Gründe stützen,
und 2) in Begründungen von Thatsachen und
Dasein". Es ist wohl kaum möglich, einen ein-
fachen und wichtigen Satz gründlicher mißzu-
verstehen. Weiterhin bemerkt Hume, daß, wenn
der Sohn eines längst verstorbenen oder abwe-
senden Freundes vor uns erschiene, alsdann die
Vorstellung des Verstorbenen oder Abwesenden
in uns mit großer Lebhaftigkeit wachgerufen
werden würde (»Suppose, the son of a friend,
who had been long dead or absent, were pre-
sented to us; it is evident, that this object
would instantly revive its correlative idea and
recal to our thoughts all past intimacies and
familiarities«). Ohne Ueberlegung tibersetzt (S.
55) der Herausgeber: „Wenn der todte oder
abwesende Sohn eines Freundes vor uns er-
schiene" u. s. w. In der Aeußerung Hume's
»Our authority over our sentiments and passions
is much weaker than that over our ideas« giebt
v. K. (S. 68) »weaker« mit „früher" wieder (!),
so daß die Uebersetzung des Satzes ungefähr
926 Gott gel. Anz. 1880. Stück 29.
das Gegentheil dessen aussagt, was Harne
meint, und überdies auch der darauf folgende
Satz allen Sinn verliert Ganz ähnlich wird
(S. 22) der Satz »all our ideas or more feeble
perceptions are copies of our impressions or more
lively ones« in folgender Weise wiedergegeben:
„alle unsere Vorstellungen oder früheren Em-
pfindungen sind Nachbilder unserer Eindrücke oder
lebhafteren Empfindungen". Wenn Hume sagt:
»but what is the connexion between them, we
have no room so much as to conjecture or
imagine«, so übersetzt v. E. (S. 64): „was aber
das Bindende zwischen beiden ist, dafür haben
wir nur das weite Feld der Vermuthungen und
Voraussetzungen", eine Uebersetzung, die eben-
falls dem Sinne der Hume'schen Worte in einem
sehr wesentlichen Punkte nicht gerecht wird.
Und wenn Hume sagt: ich brauche nicht aus-
führlich die vis inertiae zu untersuchen (»I need
not examine at length the vis inertiae«), so
läßt ihn unser Uebersetzer (S. 73) den Wunsch
gegentheiligen Inhaltes aussprechen: „Es be-
darf endlich einer Untersuchung der vis iner-
tiae". Wenn sich ferner Hume den Schmuck
der Rhetorik für Gegenstände vorbehält, die
dazu mehr geeignet seien (»and reserve the
flowers of rhetoric for subjects which are more
adapted to them«), so hält unser Humekenner
seinen Philosophen für viel zu bescheiden, als
daß er sich einiger rhetorischer Leistungen hätte
fähig halten können, und übersetzt demgemäß
(S. 79) : „den Schmuck der Beredtsamkeit über-
lasse ich Denen, die dazu geschickter sind".
Nachdem Hume hervorgehoben hat, daß der Lauf
unserer Gedanken und Vorstellungen dem Laufe
der Naturvorgänge entspreche, fährt er fort:
utCustom is that principle by which this corre*
Home übersetzt von J« EL y. Kirchmann. 927
spondance has been effected«, v. K. übersetzt
(S. 56): „Gewohnheit ist das Princip, welches
diese Vorstellungen (1) bewirkt1*. Ebenso
wie in der ersten Auflage spricht v. E. auch noch in
der dritten, nochmals durchgesehenen Auflage (S.
66) von „Muskeln und Nerven der Lebensgeister",
und ebenso wenig hat Verf. seine frühere An-
sicht geändert (vergl. S. 83, Z. 2 v. u.), daß
clue oder clew mit „Schlüssel" und (S. 82)
public spirit mit „der öffentliche Geist0 (!) wie-
derzugeben sei. Den Satz »The case is the
same with the probability of causes as with that
of chance« .übersetzt v. E. in seiner zwanglosen
Manier folgendermaßen (S. 59): „Es verhält sich
mit der Wahrscheinlichkeit der Einzelfälle
wie mit dem Zufall". Was sich Verf. hierbei
gedacht hat, entzieht sich weiterer Nachfor-
schung. Auf jeden Fall ergiebt das Nachfol-
gende mehr als klar, daß hier von Ursachen
die Rede ist, falls darüber überhaupt ein Zwei-
fel möglich wäre. Viel zu compliciert für die
Eräfte unseres Uebersetzers erscheint folgender
Satz: »An infinite number of real parts of time
. . . appears so evident a contradiction, that no
man, one should think, whose judgment is not
corrupted, instead of being improved, by the
sciences, would ever be able to admit of it«.
Denn derselbe übersetzt (S. 155): „Eine unend-
liche Zahl von wirklichen Zeittheilen ... er-
scheint als ein so offenbarer Widerspruch, daß
man meinen sollte, kein Mensch mit gesundem
Verstände könnte ihn je zulassen, und doch
wird er durch die Wissenschaft be-
wiesen" (!!). Uebersetzer scheint nach dieser
vortrefflichen Probe auch betreffs der Bedeutung
von „improve" etwas mangelhaft orientiert
zu sein.
928 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 29.
Es bedarf wohl keiner weiteren Beispiele,
um zu einer richtigen Werthschätzang dieses
Uebersetzungsversuches zu gelangen. Rec, der
Anlaß gehabt hat, die ganze Uebersetzung mit
dem englischen Texte zu vergleichen, glaubt
sich berechtigt, zu erklären, daß es gar nicht
möglich ist, auf Grund dieser Uebersetzung ein
volles Yerständniß der Ausführungen Hume's zu
erlangen, und daß es schwer ist, zu entscheiden,
was staunenswerther sei, die Geduld und harm-
lose Anspruchslosigkeit des philosophischen Pu-
blikums, die nun bereits eine dritte (sehr starke)
Auflage dieses traurigen Produktes ermöglicht
hat, oder die Herzhaftigkeit des Uebersetzers,
dem Publikum ein derartiges, gedankenlos hin-
geworfenes Machwerk zu bieten.
Nach dem Maße von Sachverständniß, wel-
ches in der einfachen Uebertragung des engli-
schen Textes entwickelt ist, läßt sich nun leicht
auch der Werth der beigefügten „Erläuterungen"
des Hume'schen Werkes bemessen. An und für
sich verdienen ja die Bestrebungen des Heraus-
gebers, die Hauptwerke der bedeutenderen Phi-
losophen dem Publikum leicht zugänglich zu
machen, nur volle Anerkennung. Wo aber diese
Bestrebungen derartige Produkte an's Licht för-
dern, wie das vorliegende Werk und die vom
Herausgeber bewerkstelligte deutsche Ausgabe
des Locke'schen Hauptwerkes — . denn auch
diese zeugt von ähnlicher Leichtfertigkeit — ,
da ist es Pflicht der Kritik, solche Fabrikate
endlich einmal in der richtigen Weise zu kenn-
zeichnen. G. E. Müller.
Für die Redaction verantwortlich : E. Behnisck, Director d. Gott. gel. Anz.
Commissi oii8 -Verlag der Dieterich'achen Verlags- Buchhandlung,
Druck dir Diefaich sehen Univ.- Buchdruckerei (W. Fr. Katstnm).
929
6 öttingische
i »
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück 30. 28. Juli 1880.
Inhalt: A. Brückner, Peter der Grosse. Yon C. Schirren. — Ad.
Wurti, La the'orie atomiqne. Von 0. Schumann.
= Eigenmächtiger Abdruck von Artikeln der Gott. gel. Ans. ?erboten sr
Peter der Große. Von Dr. Alexander
Brückner. Mit Portraits. (Allgemeine Ge-
schichte in Einzeldarstellungen. Herausgegeben
yon Wilhelm Oncken. Dritte Hauptabteilung.
Sechster Theil.) Berlin. G. Grote 1879. VI
und 573 SS. in 8°.
Laut der Vorrede will der Verf. in dieser
Geschichte Peters des Großen die seit Herrmann
in Rußland hervorgetretenen Rohmaterialien und
Monographien, namentlich den yon Ustrjalow
und Solowjew mitgetheilten Actenstoff, verwer-
ten ; die anecdotische Geschichtschreibung durch
eine ernste Darstellung ablösen; nicht nur eine
Biographie, sondern einen Beitrag zur Weltge-
schichte in umfassendem Sinne liefern. Er
bringt sein Werk neben dem größeren Leser*
kreise auch den Fachgenossen dar : es will somit
59
930 Gott! gel. Anz. 1880. Stück 30.
nicht bloß populär oder — wie die Onckensche
Sammlang jüngst von einem Mitarbeiter bezeich-
net worden ist — halbpopulär, sondern es will
mehr sein. Mit Recht. Ein gelehrtes Buch
kann bei Mängeln, welche an einem populären
unverzeihlich wären, immer noch seinen Werth
behalten; ein populäres, das nicht vor urteils-
fähigem Forum in Ehren besteht, taugt überall
nichts.
Indem nun dieses Buch auf russischen Vor-
arbeiten beruht und zu deutschen Lesern redet,
stellt sich die Frage, wie es sich zur russischen
und wie es sich zur deutschen Literatur verhält
Zunächst ist zu bemerken, daß der Verf. seinen
Vorgängern nicht gerecht wird. Den alten
anecdotischen Standpunkt hat schon Herrmann
verlassen und Ustrjalow und Solowjew haben
ihn nicht wieder eingenommen; auch bringen
sie mehr, als bloßen Stoff. In der Verarbeitung
wird der Verf. etwas voraushaben wollen; allein
tiefer, als sie, dringt er unter die Oberfläche
nicht ein und an Fülle der Mittheilungen steht
er ihnen nach. Von der auswärtigen Politik
Peters des Großen wird ein Busse aus diesem
Buche wenig lernen und über die inneren Ver-
hältnisse sicher nichts, was ihm nicht anderswo
gründlicher vorgetragen wäre. Anders der deut-
sche Leser. Er findet da Manches, was Herr-
mann seinerzeit noch nicht hat bringen können,
einen überhaupt nicht allzubekannten Stoff und
eine Art der Darstellung, welche den Ansprü-
chen, an die man ihn gewöhnt bat, entgegen
kommt. Denn es ist einzuräumen, daß sich das
Buch eine gewisse Manier neuerer Geschicht-
schreibung anzueignen gewußt hat und ihr
gleichsam den Spiegel vorhält.
Die Zeiten sind lange vorbei, wo ein histo-
Brückner, Peter der Große. 931
rischer Vortrag aus tiefgehendem, die verborge-
nen Quellen in sich leitendem, Bau gesättigt
hervorbrach, gleichmäßig hinfloß und jederzeit
einen klaren Trunk freigab, der sich nicht stoß-
weise aufdrängte oder gar erst vor des Trin-
kenden Auge zusammenkochte, um mit chemi-
schem Recept verabreicht und mit Löffeln bei-
gebracht zu werden Um das Bild zu verlassen:
auch in dem vorliegenden Bache wird der Le-
ser die Entwickelung des historisch gewordenen
nicht lebendig nachzuerleben bekommen, nicht
nachlebend zu begreifen und, so begriffen, als
innere Erfahrung frei zu besitzen; sondern er
wird Alles zertbeilt, zerworfen, appretiert, oc-
troyiert erhalten in großen und kleinen Essays,
aus großen und kleinen Gesichtspunkten, wie er
daran gewöhnt worden ist carolingisch , mittel-
alter-kaiserlich, hanseatisch, protestantisch, na-
tional, liberal, cultur-, weit- und unhistorisch.
Der Stoff ist in sechs Bücher getheilt: Lehr-
jahre ; Wanderjahre ; Innere Kämpfe ; Auswär-
tige Politik; Innerer Ausbau; Schluß. Die drei
ersten gehen bis 1700, nehmen indeß allerlei
Bebellionen der späteren Zeit und die Geschichte
Alexeis vorweg; die andern führen bis 1725
herab. Diese Eintheilung widerstreitet der na-
türlichen Entwickelung der Dinge. Die Bebel-
lion von Astrachan von 1705 — 1706, welche S.
285 — 295 in die Einleitung zur Geschichte
Alexeis verwebt ist, gehört nach S. 396 in die
Geschichte des Nordischen Krieges; der Auf-
stand Bulawins von 1708, S. 295-302, gehört
ebendahin nach S. 403 ; der Proceß Alexeis nicht
vor 1700, sondern in das Jahr 1718. Innerhalb
der Bücher, vom vierten an, wird der Stoff
ebenso willkürlich zerlegt: über das Wie, Wo
und Wann entscheiden wechselnde, zufallige
59*
/
932 Gott. gel. Adz. 1880. Stttek 30.
Gesichtspunkte, die sich bei ernsterer Erwägung
unhaltbar erweisen. Fast nirgends ein heiler
Kern; meist hat man den Eindruck einer sammt
der Schale zerhackten und in Prisen verabreich-
ten Nuß.
Der Grundfehler liegt darin, daß der Nordi-
sche Krieg, welchem der Verf. kein eingehendes
Studium gewidmet hat, in seiner tieferen Bedeu-
tung nicht erkannt worden ist, während er in
Wirklichkeit nicht nur das Leben des Zaren
und seine auswärtige Politik, sondern auch die
innere Entwicklung und die petrinische Reform
nach Anlaß und Verlauf ganz überwiegend be-
dingt. Ohne diese Einsicht ist eine richtige Be-
handlung des Stoffs unmöglich; in ihrem Lichte
ordnet sich alles anders: die Geschichte Alexeis
wird zur Episode; die Feldzüge Scheremetews
von 1705. 1709. 1711 gewinnen für die innere
Geschichte eine neue Bedeutung und dulden
nicht länger, auseinandergerissen und fragmen-
tarisch notiert zu werden; Senat, Heer, Flotte,
Kirche, Handel, Recht, Gericht, alles, was sich
irgend zum Kriege in Bezug bringen ließ, er-
scheint dem Kriege dienstbar geworden. Was
vor 1700 liegt und auf 1721 folgt, ist Vor- und
Nachspiel und verdankt, was es in ernsterem
Sinne bedeutet, dem großen Drama in der Mitte.
Indeß auch ohne diese Einsicht, welche sich
bei tieferem Quellenstudium aufdrängt, mußte
der Verf. mit seinem Stoffe anders verfahren.
Es verträgt sich schlecht, die anecdotische Ge-
schichte, „wie der Ernst des Stoffes es erfor-
dert", in den Hindergrund verweisen und dabei
der Jugendgeschichte Peters über hundert Sei-
ten; seinen und seiner Russen ersten europäi-
schen Reisen sechszig; dem Nordischen Kriege
von 1710 bis 1721, mit Ausschluß der türki.
Brückner, Peter der Große. 933
gehen Campagne, nicht volle dreißig Seiten wid-
men, oder elenden, italienischen Reiseerinnerun-
gen Scheremetews und Anderer sechs Seiten and
dem Nystädter Frieden zwanzig Zeilen. Auch
wenn der Verf. für alles dergleichen eine Art
Entschuldigung in der früheren Richtung seiner
Studien finden wollte, so bleibt doch der Um-
stand zu beklagen, daß nun die drei ersten Bü-
cher einigermaßen sorgfältig, die drei letzten
unverantwortlich nachlässig gearbeitet sind,
während die Weltgeschichte, zu welcher der
Verf. einen Beitrag in umfassendem Sinne an-
kündigt, mit Peter dem Großen erst nach Aus-
gang des dritten Buches in nähere Berührung
kommt und diese Anzeige eben darum vornehm-
lich mit den drei letzten Büchern zu thun hat.
Meist läßt sich, noch ehe der Text studiert
wird, den Anmerkungen, welche ja selten feh-
len, absehen, ob ein Autor seine Quellen be-
herrscht und ob sein Buch etwas verspricht.
Wer auf S. 51 1 neben fllnf Zeilen von der Aus-
bildung der russischen Wehrkraft durch Peter
den Großen verwiesen wird auf „d. Werk von
Brix, Geschichte der russ. Heereseinrichtungen,
Berlin 1867tf — schon im Titel heißt es: „von
den frühesten Zeiten bis zu den von Peter d.
Gr. gemachten Veränderungen" — , der weiß
ohne weiteres, daß der Verf. mit der Sache un-
gefähr so gut bekannt sein wird, wie mit dem
Brix. Für den unglücklichen Zug Lybeckers
wird S. 420 auf Fryxell verwiesen: ungefähr
gleich großen Werth hätte filr die Vorgänge bei
Mühlberg eine Verweisung auf Nösselt. Oder
es werden S. 366 Anm. 4 zur Schlacht von
Narwa n. A. citiert, „Die schwedischen Werke
von Adterfekl, Fryxell, Nordberg, die liefländische
Bisteria Kelchs*; das liest sich so, wie wenn
934 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 30.
man anderswo citiert fände: die deutschen
Werke von Hrotsuit, Giesebrecbt, Widukind,
Eberhards Reimchronik von Gandersheim.
Von Hilfsmitteln hat der Verf. für den ersten
Theil ziemlich viel, für den zweiten sehr wenig
benutzt. Die polnische Literatur ist ihm ganz
fremd geblieben; ebenso, mit Ausnahme einiger
der schlechtem ins deutsche übersetzten Werke,
die schwedische. Es findet sich keine Spur,
daß er auch nur die kleineren Arbeiten Carls-
son's oder das treffliche Werk von Malmström
gekannt habe, von schwedischen Quellensamm-
lungen zu schweigen. Für den Nordischen
Krieg hat er, neben einigen russischen Werken,
fast nur Droysen und Mahon befragt.
Noch weniger verrathen sich Quellenstudien.
Daß keine neuen Quellen erschlossen werden,
soll nicht zum Vorwurfe gereichen.. Dergleichen
hängt nicht vom Willen allein ab. Auch fern
von Archiven läßt sich ein gutes Buch schrei-
ben und die Versuchung, ein schlechtes zu
schreiben, ist minder groß. Wo sich ein un-
übersehbares Arbeitsfeld öffnet, die Zeit drängt
und ein neuer Ehrgeiz mit neuen Illusionen äng-
stigt, da verwandelt sich der Forscher nur zu
leicht in eine Art Goldwäscher, rafft zusammen,
was ihm unter die Hand kommt und stürzt zum
Verleger. Massen ungeheuren Gesammtwerths
bleiben in Gestalt feinerer Körner als eitel Sand
liegen und wer sich einmal an die Manier ge-
wöhnt hat, wird sie schwer wieder los. Leider
ist sie auch außer Archiven verbreitet und der
Verfasser ist ohne große Versuchung in densel-
ben Fehler verfallen. Aus allezeit zugänglichen
Fundgruben greift er heraus, was ihm auf den
ersten Blick verwendbar erscheint und kümmert
sich nicht um den Rest; selbst die Beilagen
Brückner, Peter der Große. 935
Ustrjalow's und, was er die Acten bei Solowjew
nennt, hat er nur flüchtig benutzt Obwohl er
meint, Rohmaterialien zu verwerthen, passiertes
ihm vielmehr, ihren Werth nicht einmal erkannt
zu haben.
Wenn unter so ungünstigen Bedingungen
sein Buch nicht durchaus mißrathen ist, so ver-
dankt er das nächst seinen russischen Vortretern
großenteils dem Umstände, daß die Vorgänge
jener Zeit im Ganzen bereits zu fest stehen, als
daß sie leicht bis zur Unkenntlichkeit entstellt
werden könnten. An argen Verstoßen fehlt es
freilich nicht. So wird es sich schwer entschul-
digen lassen, daß das Verhalten des Zaren zur
Sequestration von Stettin nirgends richtig her-
vortritt und daß seine und seiner Alliirten Po-
litik von 1713 bis 1716 schon darum ein unge-
löstes, freilich überhaupt nicht gestelltes, Bäth-
sel hat bleiben müssen, weil der Verf. kaum
glaublicher Weise im Mai 1713 nicht etwa Sten-
bock, sondern die Festung Tönningen capitulie-
ren läßt.
Vor allzu häufigen Fehltritten gleicher Art,
mit welchen ihn sein Mangel an Umsicht be-
drohte, hat ihn sein Mangel an Initiative be-
wahrt und dieser zwiefache Mangel macht die
Anzeige des Buchs zu einer unerfreulichen Auf-
gabe. Einem Führer auf neuen Wegen, welche
ans Ziel fahren, geht man mit Anerkennung
nach; von falschen Wegen läßt sich zurückfüh-
ren ; wer aber auf gebahnten Pfaden bald links,
bald rechts den Basen abtritt, dem müßte man
Schritt und Tritt markieren und würde doch
nichts ändern. Denn der Fehler liegt in der
Methode oder vielmehr darin, daß statt aller
Methode das Ungefähr herrscht.
So wird man finden, daß der Verf. um so
936 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 30.
rascher und bündiger urtheilt, je schlechter er
orientiert ist: er ist da jederzeit mit einem
Apergü auf gut Glück zur Hand und that seinen
Sprach ganz ohne Noth und Anlaß. Wo er
mehr weiß und vielerlei zu erwägen hat, geräth
er in's Schwanken und gelangt zu keinem rechten
Ergebniß. Ein merkwürdiges Beispiel ist S. 262
— 264 zu finden: da hat der Zar im Strelitzen-
proceß von 1698 bei weitem nicht so grausam
gewüthet, wie bei gewissen Gelegenheiten das
Volk; er übt eine durchweg herrschende Pra-
xis; fügt den früheren Martermethoden nichts
hinzu und doch, „selbst mit damaligem russi-
schen Maaßstab gemessen", sind seine an den j
Strelitzen verübten Greuel „exorbitant" und „bie- I
ten ein Schauergemälde, wie es nur etwa zu
Zeiten in Berichten über Aehnliches aus China,
Japan, Birma und andern orientalischen Reichen
sich findet". In Summa: das Verfahren Peters
wa;r ebenso gewöhnlich, wie exorbitant.
Dagegen über Karl XIL, S. 453, ein kurzes,
bündiges Urtheil: „Es zeugt von dem Mangel
staatsmännischer Einsicht bei dem Schweden-
könige, daß er es unterlassen hatte, sich um
die Bundesgenossenschaft der Türkei ernstlich
zu bemühen. Er unterhielt in Constantinopel
keinen ständigen Gesandten. Mit dem Pascha
von Otschakow stand er, während seines Auf-
enthalts in Polen, in Briefwechsel; aber es wur-
den keinerlei Vereinbarungen getroffen. Erst
nach der Schlacht von Poltawa begannen "ernst-
liche Unterhandlungen". Hier nöthigte den
Verf. nichts zu einem Urtheil über Karls XIL
staatsmännische Einsicht; es genügte an den
Thatsachen, sofern sie begründet waren. Nuv
ist richtig nur das Eine; vor der Schlacht vog,
Poltawa bstf der König keinen ständigen Ge-
Brückner, Peter der Große. 937
sandten in Gonstantinopel gehabt ; alles Uebrige
ist falsch oder verschoben. Es ist falsch, daft
der König sich um die Bandesgenossenschaft
der Türkei nicht ernstlich bemüht habe. Der
Verf. hat nichts erwogen, was in Betracht
kommt, vor Allem nicht den Umstand, daß die
schwedische Feldkanzlei mit der gesammten
nach dem Abzug aus Sachsen geführten mili-
tärischen und diplomatischen Correspondenz bis
anf wenig Fragmente bei Poltawa verbrannt
und mit ihr eine historische Quelle ersten Ran-
ges für alle hier aufzuwerfenden Fragen ver-
siegt ist. Dennoch wissen wir immerhin Man-
ches; wir wissen, daß bereits Ende 1707, An-
fang 1708 eine Gesandtschaft nach Constanti-
nopel ins Auge gefaßt war; wir kennen die
Beziehungen zu mehr als einem türkischen Pa-
scha; die Verhandlungen mit dem Chan, welche
sich bis nach Gonstantinopel erstreckten; die
Stellung des Chan; die Zustände in Gonstanti-
nopel; die zurückhaltende Politik der Pforte.
Von alledem ist nichts in Anschlag gebracht,
und doch ist Alles, von entlegneren Quellen zu
schweigen, schon bei Nordberg und in den Ma-
terialien aus dem Archiv des russischen Gene-
ralstabs (russisch. 1871) deutlich genug consta-
tiert. Wer des Königs staatsmännische Ein-
sicht, welche in ihrer Weise vielmehr groß und
durchdringend war, ableugnen will, darf seinen
Beweis nicht dort suchen, wo er gar nicht zu
finden ist.
Der Verf. hat sich eben von der herkömm-
lichen Auffassung irre leiten lassen, und leitet
nun weiter in die Irre. Nicht besser steht es
mit seinen Beweisen für das, im Uebrigen gar
nicht zu leugnende, nach der Schlacht bei Pol-
tawa gewaltig gesteigerte, Ansehen des Zareju
938 Gott gel. Anz. 1880. Stttck 30.
Mit welchem Maaße soll der Leser es messen,
wenn er auf S. 416 erfährt, wie der Zar da
„mit einem Schlage considerabel in Europa ge-
worden der Kurfürst von Hannover legte
seine Bereitwilligkeit an den Tag, von dem
Bündnisse mit Schweden abzustehen und sich
Rußland zu nähern; es war begreiflich, daß die
diplomatischen Vertreter im westlichen Europa
eine ganz andere Stellung einnahmen, als zuvor",
und zehn Seiten später, S. 426: „es war kein Wun-
der, wenn« (in England, in Hannover, im übri-
gen westlichen Europa) »die Stimmung nach der
Schlacht von Poltawa noch unfreundlicher wurde.
Als Kurakin im November 1709 nach Hannover
kam, beschränkte sich der Kurfürst im Verkehr
mit dem Gesandten nur auf allgemeine Phrasen"
u. s. w., u. s. w. Es ist ja möglich, daß der
Leser bei S. 426 vergessen haben wird, was auf
S. 416 zu lesen war, aber dem Verf. brauchte
das darum nicht auch zu passieren. Der preu-
ßische Plan zur Theilung Polens vom Jahre
1709 ist dem Verf. aus Droysen IV, 1. bekannt;
Droysen IV, 4. S. 284—290 scheint ihm ent-
gangen zu sein. Nichts nöthigte ihn, statt an-
derer bei weitem wichtigerer Dinge, gerade in
einer Geschichte Peters d. Gr. von diesem thö-
richten. Entwürfe Notiz zu nehmen; sicher be-
rechtigte ihn nichts zu folgender Betrachtung,
S. 422 : „ Wie sehr die Bedeutung des Zaren
dabei geschätzt wurde, zeigt der Umstand, daß
man ihm die Ausführung der Theilung, d.h. die
Zuweisung der einzelnen Beutestücke, anheim-
gab und ferner der Bußland zugedachte Beute-
antheil, welcher nicht weniger, als das schwe-
dische Li vi and und einen großen Theil Lit-
thauens" (bei Droysen: einen großen Bereich
auf der Seite Litthauens) „umfaßte". Mit glei-
r
Brückner, Peter der Große. 939
chem Fug ließe sich in der Fabel rühmen, der
Katze sei anheimgegeben worden, die Kastanien
aus dem Feuer zu holen. Nicht besser steht es
mit dem großen Beuteantheil , da ein Strich
Landes an der litauischen Grenze doch nicht
ohne weiteres einen großen Theil Litauens be-
deutet. Endlich wird — wie bei einem preußi-
schen Tbeilungsproject ohnehin zu erwarten war
— das, was Kußland zugedacht ist: outre la
Livonie Suädoise une certaine ätendue de terre
du coste de la Lithuanie reichlich durch das
aufgewogen, was Preußen sich selber vorbehält :
la Prusse Polonoise et la Samogitie, der Expec-
tanz auf Kurland gar nicht einmal zu geden-
ken. Mit diesem Beweise für das hohe Ansehn
des Zaren nach der Schlacht von Poltawa ist
es somit auch nichts.
In seiner lockern Art deckt der Verf. nicht
selten ahnungslos Lücken in seinem Wissen auf,
die Staunen erregen. So bemerkt er unter dem
J. 1716 u. a.: „Um die Mächte zur Anerkennung
dieser Erwerbung" (Livland) „zu nöthigen
mußte die russische Flotte in der Ostsee hin
und her kreuzen und die schwedische Küste be-
drohen". Anscheinend ein unverfänglicher Satz
und auch richtig, sofern er nicht ein einzelnes
Jahr meint, sondern nur schildern will, was
schließlich mit zum Triumphe von 1721 ver-
hilft. Nur daß er nirgends so unglücklich an-
gebracht werden konnte, wie eben dort, wo der
Verf. ihn hinstellt und wo ihn nimmer hinge-
stellt hätte, wer von der russischen Flotte im J.
1716 etwas Gründliches weiß. Allerdings —
und das ist ja bekannt genug — kreuzen auch
im J. 1716 russische Schiffe in der Ostsee; rus-
sische Galeeren fahren Truppen nach Kopen-
hagen und wieder zurück. Aber wie? unter
940 Gott. gel. Adz. 1880. Stück 30.
welchen Voraussetzungen? unter welchen Be-
dingungen? unter welchen Beziehungen zur eng-
lischen) holländischen und dänischen Seemacht?
mit welchem Verlaß auf sich selbst? mit wel-
chem Erfolg? Erst mit der Antwort auf diese
Fragen legt sich der Charakter der Expedition
von 1716 dar. Mit einigen Notizen aus Mahon
wird der Sache nicht näher getreten. In den
Materialien zur Geschichte der russischen Flotte
(-*- 1725. Vier Bände. 1865—69. russisch) ist
die volle Antwort zu finden, aber vom Verf.
nicht gesucht, der diese unschätzbare Samm-
lung nicht eines Blickes gewürdigt hat. Kein
Wunder, daß ihm das J. 1716 ein unverstande-
nes Bäthsel bleibt und es ist nicht etwa ein
Jahr, wie irgend ein anders: in der zarischen
Politik und im Leben des Zaren bezeichnet es
einen Culminations- und Wendepunkt ; sein Ver-
lauf ist einfacher, als man sich vorzustellen
pflegt, geht aber durch eine Reihe so innig ver-
bundener Stadien, daß, wer eins verkennt, leicht
das Verständniß aller verfehlt. Es ist nur ein
untergeordnetes Merkmal von der Art, wie der
Verf. seine Studien anstellt, daß er zwar die
dänische Declaration über die Eopenhagener
Vorgänge nennt, aber von des Zaren Gegende-
claration nichts zu berichten weiß; strenger ver-
urtheilt ihn dieses, daß er für die Tragweite jener
Vorgänge keinen andern Maaßstab findet, als die
kühle Mittheilung unter dem Texte, Ranke
lege viel Gewicht auf das Scheitern der Unter-
nehmung und bemerke, dieser Umstand habt
die Allianz zersprengt. Ranke hat hier, wie
gewöhnlich, Recht, aber wo bleibt der Biograph
Peters des Großen?
Da so der Schlüssel für 1716 fehlt, ist das
Verständniß für alles Nachfolgende verschlossen
Brückner, Peter der Große. 941
und ein Mißverständnis reibt sieh an's andre.
So .heißt es S. 435 unten : „Im Ganzen war der
Zar geneigt, die Friedensvermittlung Frankreichs
anzunehmen: er wünschte sehnlichst den Krieg
beendet zn sehen und schrieb u. A. an Schereme-
tjew, er solle ihm doch seine Ansichten über
die Art der Erreichung dieses Zieles mittheilen44.
Nun ist ja wahr, daß der Zar ein solches Schrei-
ben u A. auch an Scheremetew hat ergehen las-
sen, aber, nackt hingestellt, ist die Notiz mttssig
und in dem ihr gegebenen Zusammenhange lei-
tet sie irre. Der Leser kann nicht ahnen, wo*
von der .Verf. nichts weiß oder doch nichts ver-
räth: Daß dieses Schreiben nur für das Ver-
ständnis des Zaren von Werth ist und etwas
ganz anders bedeutet, als darin gesucht ist:
dem tiefen Ingrimm über die Kopenhagener
Vorgänge und die seitdem gefährlich verschobene
Lage hat es Luft machen und die Doppelver-
antwortung für das Geschehene und für das
demnächst Bevorstehende hat es auf fremde
Schultern wälzen sollen. Daß der Zar aus
Sehnsucht nach Frieden in gutem Ernste bei
Scheremetew Rath gesucht hätte, wird Jedem,
der den alten FeldmaTschall und seine Briefe
(1774. 1778. 1879.) kennt, nur komisch erschei-
nen. Mit solcher Art Geschichtschreibung läßt
sich schwer zu ernster Auseinandersetzung
kommen.
Im fünften Buch bespricht der Verf. auf fünf-
zig und einigen Seiten die inneren Beformen,
nachdem im zweiten Buch, Gap. 4, die Reform-
anfänge dargestellt waren. Auch hier ist der
Stoff auseinandergerissen, die Auswahl dürftig,
die Behandlung oberflächlich. Am besten ist
noch, Dank Petrowski's Untersuchungen über
den Senat (1875), der Abschnitt: Inneres Staats-
942 Gott. gel. Adz. 1880. Stück 30.
leben, gerathen. Der erste Band der von Ka-
latschow herausgegebenen Senatsverfttgangen
bat dem Verf. freilich noch nicht vorgelegen;
ob er aber daraus etwas zu entnehmen gewußt
hätte, steht dahin, da er selbst Petrowski nur
obenhin ausschreibt. Um so wunderlicher macht
sich daneben das höchst subtile Bedauern, S.
497, Anm. 2, daß die Staatsrechts geschicht-
lichen Werke Gradowski's, Petrowski's u. A.
über die Bedeutung des „Kabinets" nicht
genügenden Aufschluß geben ; namentlich wun-
derlich, wenn man erwägt, daß Peter, wo es
ihm paßte, ohne alle staatsrechtliche Scrupel
selbst den Senat als Mädchen für Alles gebraucht
hat. Im dritten Capitel wird von der Kirche
gehandelt und der Verf. citiert dabei von Gor-
tschakow's Arbeiten das Werk über die Kloster-
behörde 1868., ohne es anscheinend mehr als
einmal aufgeschlagen, jedenfalls, ohne es be-
nutzt zu haben. Er hat sich damit eine un-
schätzbare Fundgrube von Aufschlüssen über die
innere, namentlich die wirtschaftliche, Politik
Peters d. Gr., obwohl sie aufs bequemste zur
Hand lag, entgehen lassen. Was aus andern
Büchern über die „Wirtbschaft" zusammenge-
stellt ist, leidet an den oft gerügten Mängeln:
willkürliche Auswahl, lockere Verknüpfung, un-
bedachtes Urtheil. Ein Beispiel für viele, S.
519: „Peter hoffte seine Unterthanen für die
Geschäfte des internationalen Großhandels fähig
machen zu können. Zu diesem Zwecke
ging er als Kaufmann mit einigen Handelsunter-
nehmungen den Russen als Beispiel voran"
u. s. w., S. 520: „Mit der äußersten Strenge
suchte der Zar seinen Unterthanen u. A. begreif-
lich zu machen, daß Ehrlichkeit mehr Vortheil
bringe, als Betrügerei, daß z. B. Waarenfälschung
Brückner, Peter der Große. 943
die rassischen Waaren in Mißcredit bringe. In
einem Ukas vom Jahre 1716 bedroht Peter die-
jenigen mit dem Tode, welche den guten Hanf
mit dem schlechten mischen u. s. w., es sei
über dergleichen Betrügereien seitens der Ras-
sen von englischen Kaufleuten Klage geführt
worden. Solchen Uebelständen war schwer ab-
zuhelfen. Die zu Controlirenden waren schwer
zu bessern ohne allgemeine Hebung des sittli-
chen Niveaus der Gesellschaft. Von den Con-
troleuren war auch nicht viel Pflichtgefühl und
Moralität zu erwarten". Die Thatsache des Uka-
ses steht fest. Alles aber, was der Verf. dran-
hängt, fällt beim ersten Ruck wieder herunter,
vom „Zweck" an, den der Zar bei seinen Han-
delsunternehmungen verfolgt haben soll, bis zu
den Controleuren und dem sittlichen Niveau der
Gesellschaft sammt Pflichtgefühl und Moralität.
Im März 1716 hat der Zar bei Todesstrafe ver-
boten, guten Hanf mit schlechtem zu mischen«
Im März 1717, auch im Februar und Juni, be-
fiehlt er dem Senat, dafür Sorge zu tragen, daß
gute und schlechte Juften bei Leibe nicht ge-
sondert auf den Markt kämen, sondern ordent-
lich gemischt, damit die fremden Kaufleute in
Archangel sich nicht wieder zu solchem „Betrug"
verabreden könnten, wie die Engländer in Pe-
tersburg, welche die guten Juften zuerst weg-
kauften und dann die schlechteren weiter nicht
haben wollten; Sbornik der russ. hist. Gesell-
schaft. Band XL 1873. S. 184. 190. 197, eine
Sammlung, welche der Verf. freilich auch so gut
wie gar nicht ausgebeutet hat. Ein Gommentar
ist entbehrlich.
Das sechste Buch, nicht ganz zwanzig Sei-
ten stark, ist in seinem ersten Gapitel: „Mitar-
beiter" (des Zaren) wohl nur als Text zu Bil-
944 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 30.
dem tbeilweise zu entschuldigen. Das zweite,
letzte, Capitel führt die Ueberschrift : „Zur Cha-
rakteristik Peters" und bildet einen dem Gan-
zen angemessenen Abschluß, dem noch einige
Zeilen : „Urtheile der Nachwelt4* angehängt sind.
Nun mag vielleicht ein oder ein anderer Le-
ser nicht recht begreifen, wie sich bei so viel
Flüchtigkeit, Unzuverlässigkeit und Willkür im
Einzelnen schließlich zu einer Charakteristik Pe-
ters d. Gr., zu Abwägung seiner Vorzüge und
Schwächen, Würdigung seines Genius und An-
weisung der ihm in der Geschichte Rußlands
und der Welt gebührenden Stellung habe ge-
langen lassen, da doch, was in den Elementen
verfehlt ist, in der Composition vollends unhalt-
bar sein, ja im Grunde jeder gesunden Verbin-
dung widerstreben muß. Wer so reden wollte,
würde indeß nur Mangel an Belesenheit oder
Gelehrigkeit verrathen und darthun, daß er noch
nicht begriffen habe, wie man dergleichen Auf-
gaben zu lösen hat Das Verfahren ist einfach:
man entwickele nur nichts in historischer Folge-
richtigkeit von innen heraus und das Problem
ist verschwunden. Man wolle nur nicht die
Dinge selbst reden lassen, was allzuviel Studien
und zu große Einsicht erfordert; sondern rede
frisch über die Dinge; dann bedarf es keiner län-
geren Vorbereitung, um auf die schwierigsten,
wie auf die einfachsten Fragen eine Antwort zu
finden und über Alles, was unterläuft, einen
Spruch zu thun. Gewisse Traditionen und eine
gewisse Manier helfen jedes Bedenken beseiti-
gen und die Sache macht sich ohne Anstoß.
Dem besser geschulten Leser werden der-
gleichen Fragen überhaupt nicht aufstoßen, denn
er fühlt sich sofort aufs Angenehmste erfaßt
und über alle Schwierigkeiten hinweggehoben.
Brückner, Peter der Große. 945
Nach den ersten Worten der Einleitung hat er
begriffen, worin die Entwickelang Rußlands im
Allgemeinen besteht, auf dreizehn Seiten absol-
viert er ein Compendium russischer Geschichte
bis auf Peter d. Gr. und, längst darauf abge-
richtet, sich in drei Sätzen den Geist des Mittel-
alters, in drei anderen das Gesetz der neueren
Zeit, in etlichen mehr die großen Wege und in
beliebig vielen die kleineren Schliche der Vor-
sehung aufdecken zu lassen, sieht er den kom-
menden Dingen voll Zuversicht entgegen ; schrei-
tet an der Hand bequemer, über den Vorgängen
schwebender : combinierender, motivierender, prä-
nnd poatdestinierender Apergus, nirgends von
Bath, Antwort und Urtheil verlassen, mit größ-
ter Gedanken- und Zeitersparnis von Seite zu
Seite, bis er auf der letzten (S. 573) erfährt,
daß sich die Thatsachen und Entwickelungs-
reihen in der Geschichte, unabhängig von ein-
zelnen Menschen, von selbst vollziehen: daher
wird er sich auch nicht wundern, wenn mittler-
weile, unabhängig von ihm, im Pandämoninm
seines Gehirns neben den alten Göttern auch
der russki bog, eine Art russischer Vorsehung,
seinen Sitz genommen hat und über seine
göttlichen Absichten mit Kasan, Archangel, Liv-
land, mit Polen, Gustav Adolf und Peter dem
Großen weiter kein abendländisches Mißver-
ständniß gestattet. Hoffentlich vorläufig nur als
halbpopulärer Gott.
Zum Schluß komme ich auf Livland, den
am härtesten bestrittenen Eampfpreis und in ge-
wissem Sinne das A und 0 des Nordischen
Krieges. Viel mag der Verf. davon nicht reden
und das sei ihm weiter nicht verdacht. Aber,
was er bringt, ist kläglich. Anfang, Mitte und
60
946 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 30.
Ende hebe ich hervor und schließe mit einigen
Zwischenbemerkungen.
Am Anfang wird S. 354 die Frage gestellt:
wann gedieh in dem Zaren der Gedanke an
den schwedischen Krieg zur Reife? und die
Antwort lautet: „Die peinlichen Eindrücke in
Riga — — haben nicht unmittelbar in dem
Zaren den Wunsch zu einem Angriffskriege
erweckt". Die Antwort ist keine Antwort, denn
Wunsch und Reife sind so weit von einander
entfernt, wie Ansätze zu Blttthe und Frucht.
„Die peinlichen Eindrücke in Riga", heifit es,
„welche man später zu einem casus belli auf-
bauschteu. Der „man" ist S. 357 der Zar, der,
so wohlüberlegt, wie möglich, erzählt : im August
1698 zu Rawa habe er den König August auf-
gefordert, ihm zu helfen, jene Beleidigung zu
rächen, welche Dalberg in Riga ihm angethan;
derselbe Zar, der, als er eilf Jahre darnach die
ersten Bomben mit eigner Hand nach Riga
hineinwirft, S. 418 seinem Herzenskinde Men
schikow schreibt: „Ich danke Gott dafür, daß
es mir vergönnt ist, mich an dieser verdammten
Stadt zu rächen". Was hindert den Verf. dem
Zaren Glauben zu schenken, der doch gewiß
am besten gewußt haben wird, was ihm zuerst
die Kriegslust in's Herz gebracht hat? Und
was hätte „man" dabei „aufzubauschen" ge-
habt? Statt aller Antwort verschiebt der Verf.
von Neuem die Position und belehrt uns so:
„Als im Jahre 1870/71 Deutschland Elsaß-
Lothringen erwarb, bemerkte ein geistreicher
Zeitgenosse im Gespräche mit Thiers, Deutsch-
land führe Krieg gegen Ludwig XIV.; ebenso
hätte man bei dem Ausbruche des nordischen
Krieges sagen können, Rußland führe den
Krieg gegen Gustav Adolph. Was galt neben
Brückner, Feter der Große. 947
solchen Interessen die persönliche Empfindlich-
keit in Veranlassung jener Episode in Riga im
J. 1697 ?a Es ist schwer, in Kürze zu antwor-
ten, so schief und verschoben ist die Frage;
weder Zeiten noch Orte quadrieren. Was der
geistreiche Zeitgenosse am Ende des deutsch-
französischen Krieges bemerkt, das soll dem
geistreichen Epigonen für den Anfang des rus-
sisch-schwedischen Krieges einleuchtend sein;
was von Ingermanland gilt, das soll von Liv-
land gelten. Ferner: wenn Interessen gelegent-
lich Gefühle unterdrücken, welche ihnen im
Wege sind, so stehen sie Gefühlen gewiß
nicht im Wege, welche ihnen dienen. Das ganze
Apergü hat keine andere Wirkung, als die
Dinge vollends in schwankende Nebel zu hüllen.
Fest steht eins und davon schweigt der Verfas-
ser: in den Jahren 1698. 1699. 1700. 1701.
1702. 1703 hat der Zar nicht daran gedacht,
Livland von Gustaf Adolf für sich zu erobern.
Sich rächen und verwüsten hat er gewollt und,
sobald er an's Behalten dachte, hörte er auf zu
verwüsten, nicht einen Moment früher. Darin
liegt auch eine Antwort auf die Frage vom
Anfang.
So steht es bei dem Verf. mit dem Anfang.
Mit der Mitte steht es S. 423 so: „Am 4. Juli
(1710) kapitulierte Riga. Der Zar erließ die
bekannten Gnadenbriefe zum Schutz der neuen
Provinz. In großer Freude stattete er seinem
rührigen Mitarbeiter Kurbatow von dem hoch-
wichtigen Ereignisse Bericht abtt. Die bekann-
ten Gnadenbriefe ! Der rührige Mitarbeiter Kur-
batow !
Vollends macht das Ende S. 445 wenig zu
schaffen: „Ende April 1721 trafen die russi-
schen Diplomaten — in Nystadt ein — — Um
60*
948 Gott, gel Anz. 1880. Stück 30.
die Schweden noch mürber zu machen, fand
abermals ?in Verheerungszug nach Schwede^
statt. In Betreff Livlands wurden dfie Schweden
nachgiebiger. Nur wegen Wibprgs gab es noch!
hitzige Debatten — — . JSndli^h waren ^lle
Schwierigkeiten beseitigt. Am 3. Sept/ erhielt
Peter die Nachricht von dem am 30. Aijig. unter-"
zeichneten Frieden. Livland, Estland, Inger-
manland, ein Theil Kareliens mit Wib^rgs-Län
waren erworben; Finland würde zurückgegeben,
Rußland zahlte zwei Millionen Thaler14.
Warum diesem ergreifend einfachen Ausgang
allerlei Extratouren mit Livland vorausgehen
ist unerfindlich. Was kümmert den, der vom
Nystadter Frieden nichts weiter erfährt, etwa
der russisch-preußische Garantievei^rag „vom
1/12 Mai 1714?u Und wer, «Jen dieser Vertrag
interessieren sollte, wäre dapn nicht begierig,
etwas mehr zu erfahren, als der V^r£ 8. 4$i
mitzutheil$n für gut befindet, wenn qp, na$k der
Bemerkung: der Zar habe die pr^ische Garan-
tie für Kardien und Ingrien, der Köpig vop
Preußen die Zariscbe für Stettin in Ansprijcfc
genommen, heißt: „Im Gespräch mit Golow-
kin äußerte der König nebst vielen Klagen
über die Franzosen, er werde sich fortan auf
Niemand verlassen, als auf den Zaren? den er
liebe und verehre. So kam denn der Garan-
tievertrag zu Stande. Im Art. 4 war ausge-
macht worden: Weitere Eroberungen des Zaren
gegen Schweden wird Preußen nicht hinderi},
der Zar das Aufnehmen des preußischen Hauses
befördern". Weitere Eroberungen ? Aber der Zar
hatte, Karelien und Ingrien ungerechnet, dajpals
bereits erobert: so gut wie ganz Finland, gp.pß Est-
land, ganz Livland; wie weit gedachte er denn
noch zu gehen und wie weit gedachte der König
I*
Brückner, Peter der Große. 949
von Preußen ihn gehen zu lassen? Nan ist von
weiteren Eroberungen gegen Schweden freilich
bei Drdyßen, S. 97 Anm. zu lesen ; im Vertrage
selbst aber handelt es sich nur darum, wie viel
von dem bereits Eroberten dem Zaren zu garan-
tieren sei. Was hinderte den Verf., sich den
Vertrag selbst anzusehen? Was hinderte ihn
vollends, dich dort, wo er seine Kunde vom Art.
4 hernahm, auch belehren zu lassen, daß im
Art 3 die preußische Garantie außer Ingrien und
Kardien auch Estland sammt Reval umfaßte?
Schrieb er das Falsche ab, warum ließ er das
Richtige bei Seitfe, da doch ohne Art. 3 weder
Motiv, noch Tragweite des Vertrags begreiflich
sind? Oder hätte er überhaupt nicht geahnt,
daß sich der Vertrag ebenso wohl gegen Polen
wie gegen Schweden richtet und daß der Art. 4
vornehmlich auf Livland zielt? Wußte er das
nicht, was zwang ihn von Dingen zu reden,
von denen er nichts weiß? Endlich ist das
Datum falsch. Allerdings wird es bei Droysen
in der Anmerkung auf S. 97 so vorgefunden,
Übfer S.92 steht richtig: 12. Juni (St. n.). Nach
Datum und Inhält hätte dich der Verf. an einer
äkr Quellen, etwa russ. Sammlung der Gesetze
Ao. 2816, umsehen sollen.
In der russischen Gesetzessammlung ist zwar
die Denkschrift Ilgens vom Dec. 1713, welche
der Verf. S. 430 beiziehen zu müssen glaubt,
nicht zu finden, allein, was Droysen aus ihr an-
führt, brauchte doch nicht gerade entstellt zu
werdfcä. Nun aber tritt uns statt der vier von
Ilgen Erörterten und von Öroysen richtig aus-
einandergehaltenen Alternativen bei dem Verf.
nur flie nackte Beiürwdftung einer Allianz mit
äbtföeden entgegen. Uebef das Nähere ver-
gtelfcüfc iriatf Droysen IV, 2. 76—77. Eines ist
950 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 30.
indeß hier nicht zu nmgehen. Ans den von
Droysen mitgetbeilten königlichen Marginal-
notizen jener Denkschrift hat sich der Verfasser
nach seiner hazardierenden Art eine herausge-
griffen und es gerade mit dieser unglücklich
getroffen, obwohl er sich für den Wortlaut auf
Droysen berufen kann. Wo nehmlich Ilgen
einem Frieden das Wort redet, bei welchem das
Gleichgewicht im Norden hergestellt und das
Uebergewicht des Zaren eingeschränkt werde,
da habe der König notiert: „Gut, aber der Zar
muß Petersburg mit Hafen und allen Pertinentien
behalten, Liefland, Kurland mit". Also, ein
halbes Jahr vor jenem Garantievertrag, den der
Verf. auf Ingrien und Garelien beschränkt sein
läßt, der in der That auch Estland umfaßt,
allein Livland entschieden nicht . und Kurland
noch weniger, da wandelt den König von Preu-
ßen eine so wunderliche Laune von Freund-
schaft und Freigebigkeit an, daß er perempto-
risch erklärt, der Zar müsse durchaus auch Liv-
land und Kurland behalten, und zwar richtet er
diese Erklärung, ohne irgend gedrängt zu sein,
vertraulich an seinen vertrautesten Staatsmini-
ster in demselben Moment, wo dieser ihm, wenn
dem Verf. zu folgen wäre, die Allianz mit
Schweden, selbst auf die Gefahr eines Krieges
mit Rußland, anräth und nur einen solchen Frie-
den als wtinschenswerth bezeichnet, durch wel-
chen das Uebergewicht des Zaren eingeschränkt
werde. Welcher doppelte und dreifache Wider-
sinn! Dessen gar nicht zu gedenken, daß von
Anbeginn bis an's Ende des Nordischen Krieges
Preußen für sich selbst um die Anwartschaft
auf Kurland wirbt; daß es Livland noch in der
eilften Stunde, als der Friede von Nystädt
schon vor der Thür steht, mit größter Anstren-
Brückner, Peter der Grolle. 951
gung, freilieb unter der Hand, dem Zaren vor-
zuenthalten, sich abmüht Das steht so un-
widerleglich fest, daft dagegen nichts, was der
König mit seiner bekanntlich nicht allzuleser-
lichen Hand irgendwo aufgezeichnet haben
mochte, aufzukommen vermag und mindestens
ein Schreibfehler statuiert werden müßte. Nun
kann sich aber Jedermann aus dem Original
überzeugen, daß hier kein Schreib- sondern ein
Lesefehler in Betracht kommt und daß, wie auf
alle Fälle gelesen werden muß, von des Kö-
nigs Hand, und zwar aufs deutlichste, auch
wirklich hingeschrieben steht: „Out, aber der
Zar muß Petersburg mit Hafen und allen Perti-
nentien behalten, Liefland, Kurland nit*
Kiel. Juli C. Schirren.
La thöorie atomique, par Ad. Wurtz.
II. Ed. Paris, Librairie Germer Bailli&re et Cie.
1879. 241 S. 8°. — Deutsch als 37. Bd. der In-
ternationalen wissenschaftlichen Bi-
bliothek. Leipzig,: F. A. Brockhaus. 1879.
Das vorliegende Buch ist theilweise eine
freie Bearbeitung des von demselben Verfasser
1864 veröffentlichten Werkes „Legons sur quel-
ques points de philosophie chimique"; es sind
jedoch mehrere gänzlich neue Kapitel demselben
beigefügt. Die Schreibweise ist eine elegante
nnd klare und es wäre das Buch entschieden
als ein sehr gelungenes zu bezeichnen, wenn
nicht leider einige grobe Flüchtigkeiten in dem-
selben enthalten wären; zudem sind noch in
ihm fremde Werke stärker benutzt als dies, in
952 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 30.
Deutschland wenigstens, für statthaft erachtet
wird.
Der Verfasser zeigt zunächst in einer ge-
schichtlichen Einleitung, wie die Arbeiten von
Lavoisier, Berthollet, Prout und Richter das
Feld für die Aufstellung der Atomtheorie ge-
ebnet haben, und kommt dann zu dieser selbst
und ihrer Formulierung durch Dalton. Bei Be-
sprechung des Antheils, den Gay-Lussao, Ampfere
und Berzelius durch ihre Arbeiten auf den Aus-
bau der Theorie erlangt haben, thut er auch
Avogadro's, dessen Arbeit er in das Jahr 1813
statt 1811 und 1814 verlegt, Erwähnung, was
in dem älteren oben citierten Werke nur bei-
läufig in einer Randbemerkung geschehen war.
In diesem schrieb er nämlich die Entdeckung
und Aufstellung des Volumgesetzes ausschließ-
lich Ampfere (p. 18) zu; in der neuen Bearbei-
tung tritt diese Sache in ein ganz anderes Licht
und dadurch in Uebereinstimmung mit der von
Gannizzaro (Sunto di un corso di filosofia chi-
mical857), Lothar Meyer (Mod. Theor. 3. Aufl.
p. 22 — 25) und Anderen gegebenen Entwicklung.
Nach Anführung des Boyle-Gay-Lussac'schen
Gesetzes, durch dessen Entdeckung die Atom-
theorie eine bedeutende Stütze erhielt (vergl. Mod.
Theor. p. 30), folgt die weitere Bearbeitung des
Volumgesetzes durch Prout, Dulong-Petit und
Mitscherlich. — Die deutsche Ausgabe schreibt
durch das ganze Buch mit seltener Consequenz
Proust, indem sie den Engländer mit seinem et-
was älteren französischen Fachgenossen ver-
wechselt.
Uebergehend zu dem Einfluß, den Berzelius
auf die Entwicklung dieses Gesetzes geübt hat,
bringt Wurtz zunächst dessen Anschauungen über
dasselbe und im Anschluß daran die Entdeckung
Wurtz, La theorie atomique. 953
der mit denselben nicbt stimmenden Dampf-
dichten des Hg, S nnd P, darauf die, in Folge
dessen, durch Gmelin vertretene nene Einfüh-
rung der Aequivalentgewichte. Beide An-
schauungen werden vom Verfasser kritisch be-
leuchtet. Die Unhaltbarkeit jeder von ihnen
führt zur Aufstellung der Typentheorie durch
Gerhardt und Laurent und zu der durch sie be-
wirkten Umänderung der Berzelius'schen Atom-
gewichte. Allgemeine Klärung brachte jedoch
erst Gannizzaro durch richtige Unterscheidung
zwischen Atom und Molekel. Hierdurch ent-
standen die mit den Gesetzen von Dulong-Petit
und Avogadro tibereinstimmenden Atomgewichte,
die mit wenigen Ausnahmen auch noch die
heute angenommenen sind. Pag. 68 ist eine
Tabelle dieser Atomgewichte gegeben ; in dersel-
ben findet sich Cäsium mit Ce bezeichnet,' während
Cerium ganz fehlt. Um die Uebereinstimmung
obiger Gesetze mit den Atomgewichten noch
deutlicher zu zeigen, giebt Wurtz p. 77 eine
den Mod. Theor. p. 53 entnommene Zusammen-
stellung der aus den Atomgewichten und der
aus den Dampfdichten berechneten Molekular-
gewichte. Pag. 86 bezeichnet er eine Molekel
mit 2 Atomen mit Claijsius als zweiatomig und
unterscheidet atomig von der Atomigkeit. Es
wäre wohl besser dieses letztere von ihm öfter
gebrauchte Wort in dieser Bedeutung ganz zu
vermeiden und statt dessen das viel bezeichnen-
dere, von ihm selbst ebenfalls gebrauchte Wort
«valence** — chemischer Werth — einzuführen
(siehe darüber Mod. Theor. p. 140). Auf p.
155 bezeichnet Wurtz das Wort übrigens selbst
als unzweckmäßig, überschreibt aber trotzdem
das ganzö zweite Buch mit dem Haupttitel
„Atomicity . — Nach Erklärung der scheinbaren
954 Gott, gel Anz. 1880. Stück 30.
Ausnahmen vom Avogadro'schen Gesetze durch
die Dissociation kommt er zu den Abweichun-
gen vom Gesetz von Dulong-Petit. Die Erklä-
rung derselben sucht er in den verschiedenen
ätiotropen Modifikationen der betreffenden Ele-
mente, die darin bestehen, daß sich eine ver-
schiedene Anzahl von Atomen zu einer Molekel
verbindet. Es muß also in Folge dessen eine
größere oder geringere Wärmemenge bei der
Temperaturerhöhung zu innerer Arbeit verbraucht
werden. Für die Gase giebt er hierbei als
bemerkenswerth an, daß ihre Atomwärme gleich
der Hälfte derjenigen ist, welche ihnen im star-
ren Zustande zukommt, eine schon vor ihm von
Lothar Meyer hervorgehobene Thatsache
(Mod. Theor. p. 1 10). Nachdem er kurz die Moleku-
larwärme und die Bunsen'sche Entdeckung über
die Flüchtigkeit der Haloidsalze besprochen hat,
geht er zur dritten Methode der Molekular- und
Atomgewichtsbestimmung , dem Isomorphismus
über. Er kommt dabei zu denselben Schlüssen
wie Lothar Meyer, so daß selbst die Darstel-
lung, p. 106 unten und p. 107, sehr an die in den
Mod. Theor. gegebene (p. 127—128) erinnert
Das sechste und siebente Kapitel ist seinem
älteren Werke Phil. chim. vollständig neu hin-
zugefügt. Der Verfasser behandelt darin die
Classifikation der Elemente und das periodische
System. Zur Geschichte dieses Systemes, die
Herr Wurtz etwas verkennt, auf die aber näher
einzugehen nicht in meiner Absicht liegt, ver-
gleiche Lothar Meyer „Zur Geschichte der pe-
riodischen Atomistik", Berichte der deutschen
ehem. Gesellschaft XIII p. 259. In der Be-
schreibung der in diesem System stattfindenden
Regelmäßigkeiten bringt er p. 115 eine Tabelle,
die mit den von Lothar Meyer, Mod. Theor.
Wurtz, La theorie atomique. 955
p. 293 and 296, gegebenen Tabellen eine un-
verkennbare Uebereinstimmung zeigt Die Un-
terschiede beider möchte ich mir erlauben et-
was näher zu erläutern. Wurtz setzt das Atom-
gewicht des W = 84 statt 184 nnd das Volnm
der Ga 1,17 statt 11,5, ferner sind die Dichtig-
keiten beim AI nnd Si vertauscht. Alles Feh-
ler, die anch in der deutschen Ausgabe nicht
verbessert sind. Abgesehen von diesen kleinen
leicht zu übersehenden Irrthümern befinden sich
aber auch starke Inconsequenzen in der Ta-
belle. Obschon Wurtz p. 68 ausdrücklich dem
von Dumas angenommenen Werthe Ag = 108
vor dem von Stas bestimmten Ag = 107,94
den Vorzug geben zu wollen erklärt, schreibt
er doch eine ganze Reihe von Atomgewichten
aus den Mod. Theor. unverändert ab, welche
weder zu dem einen noch zu dem andern
Werthe, sondern nur zu dem von Stas für
H = 1, 0 = 15,96 berechneten Ag = 107,66
passen. So steht z. B.
p. 69 Br = 80
AI = 27,5
Ba = 137,2
La = 92
U = 120
p. 115 Br = 79,75
AI = 27,3
Ba = 136,8
La = 139
U = 240
Wurtz hat außerdem nicht beachtet, daß seine
Annahme Ag = 108, Cl = 35,5 mindestens
die Hälfte der von ihm berechneten Atomge-
wichte um etwa ein halbes Prozent ihres Wer-
thes vergrößern mußte. Die von ihm weiter
angeführten Regelmäßigkeiten sind sämmtlich
schon vor ihm von Lothar Meyer beschrieben
worden (Mod. Theor. p. 299 ff.); ganz ebenso
verhält es sich mit den im vorletzten Abschnitte
dieses Kapitels gegebenen Beziehungen, wie:
956 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 30.
doppelte Periodizität der electrochem. Eigen-
schaften der Elemente (Mod. Theor. p. 316 ff.);
Affinität eine periodische Funktion des Atom-
gewichtes, mit Tabfelle der Oxide (Mod. Theor.
p. 322); Zusammenhang der Oxide mit den
Hydraten, mit Tabelle (Mod. Theor. p. 324).
Siehe auch Mendelejeff (Liebig's Ann. Suppl.
Bd. 8).
In ähnlicher Weise behandelt er die Atom-
nnd Molekularvolumina, indem er vorzüglich
die Periodizität derselben hervorhebt. Die Ent-
deckung dieser Thatsache bezeichnet Wurtz in
der franz. Ausgabe geradezu als das Verdienst
Mendel e jeff's und verschweigt gänzlich, daß dies
zuerst von Lothar Meyer (Ann. Chem. Pharm.
S. B. 7. p. 354) nachgewiesen wurde. Gegen
die Berichtigung dieses Fehlers durch den deut-
schen Herausgeber hat Würtz (Berichte der deut-
schen chem. Ges. XIII p. 7) ausdrücklich Ver-
wahrung eingelegt. Am Schluß des ersten Bu-
ches erwähnt er die Kopp'schen Untersuchungen
titer die Molekular- und Atomvolumifia und
führt die von ihm gefundenen allgemeinen Re-
geln an.
Das zweite Buch ist in seiner ersten Hälfte
eine freie Bearbeitung des älteren Werkes Le-
mons sur qu. points de Phil. chim. Es behan-
delt in der Hauptsache den chemischen Wferth
der Atome in ihren Verbindungen.
Wurtz beginnt deshalb mit der Entwicklung
dieses Begriffes und beschreibt den Einfluß, den
die Typentheorie auf dieselbe, ausgeübt hat. Er
knüpft daran die heutigen Anschauungen über
den ehem. Werth, indem et zunächst die Ver-
schiedenheit zwischen ihm und der Affinität
nachweist und darauf zu der Veränderlichkeit
des chem. Werthes übergeht , den er als ab-
Wurtz, La thäorie ^topiique. 957
hängig von dem zweiten in die Verbindung ein-
tretenden Stoffe bezeichnet! Es ist dies wohl
zuerst in sehr ähnlicher Weise von Erlenmeyer
(Zeitschrift für Chemie und Pharm. 7 p. 629)
1864 ausgesprochen worden. (Vgl. auch Lothar
Meyer, Mod. Theor. §. 131 und 134). Die ^en-
derung des ehem. Werthes sucht Wurtz weiter
als eine Function des Atomgewichtes hinzustellen.
Auch dies ist vor ihm schon von Lothar Meyer
geschehen (Mod. Theor- §. 172). Die Ursache
der Veränderlichkeit glaubt er in der Bewegungs-
forra der aufeinander einwirkenden Molekeln zu
finden. (Vergl. Mod. Theor. p. 264). Von den
rein atomistischen Verbindungen übergehend zu
den sogenannten Molekularverbinaungen erklärt
er die Bildung z. B. des Ammonyimchjorideg ala
entstanden aus der Affinität des Clflores ijicht
zum Stickstoff) sondern zu allen vorhandenen,
Atomen. Er sagt: „durch den Vorgang dieser
Vereinigung bildet sich ein qeqer Gleichgewichts-
zustand zwischen allen Elemente*} in einpr sol-
chen Weise, daß die Affinitäten zwischen den
Atomen des Stickstoffes, dep Wasserstoffes und
des Chlores zur Bildung dieses neuen Zustandes
beitrage^ (Deutsche Auqg. p. 224). jLekule
bezeichnet in seinem Lehrbuch der organischen
Chemie p. 142 und 145 (auph Coipptes rend.
1864 T. 58. p. 510) den Grunjd des Zusammen-
hanges in sehr ähnlicher Weise als die Wirkung
der Resultante aller Anziehungskräfte der Mo-
lekel 2WÄ auf die Molekel HCl. Ebenfalls über-
einstimmend mit der Ansicht Kekule's bekämpft
Wurtz die Annahme eines Unterschiedes zwischen
molekularer und atpjnistischer Anziehung, er
hebt deshalb die Unterschiede zwischen der heu*
tigen atom is tischen Anschauung und der Radikal-
theorie hervor, von denen er der ersteren den
958 Gott gel. Adz. 1880. Stück 30.
Vorrang ein räumt, da sie nicht allein die Zahl
der isomeren Verbindungen zu bestimmen er-
laubt, sondern uns auch befähigt einen Einblick
in den inneren Bau der Molekeln zu thun. Er
bekämpft deshalb die Ansicht Berthelot's, der
annimmt, daß ein und derselbe Körper, je nach
der Art, in welcher er entstanden ist, verschie-
dene Isomere bilden könne. (Aehnlich der An-
schauung Eolbe's, der z.B. annimmt, daß [CS]0
und [C0]8 isomere Verbindungen sind. Uebri-
gens geben Lossen's substituierte Hydroxylamine
und Polysulfide wirklich solche Isomere). Von
der gebräuchlichen Darstellung der ehem. For-
meln in einer Ebene geht er über zu der räum-
lichen Anordnung derselben durch Beschreibung
der van't Hoffschen Theorie.
Das vierte Capitel ist wohl als ein physika-
lisches zu bezeichnen, es enthält sehr starke An-
klänge an „die kinetische Theorie der Gase" von
0. E. Meyer. Im Beginn sind die älteren An-
schauungen über die Constitution der Materie
beschrieben, es wird erwähnt Anaxagoras, Demo-
krit, Descartes, Kant und Schelling, ebenso die
Ansicht Poisson's und die Hypothese der trans-
mundanen Atome von Lesage. Nach dieser ge-
schichtlichen Einleitung kommt Wurtz zur heuti-
gen kinet. Theorie der Körper und behandelt
ausführlich die kinet Theorie der Gase.
Ausgehend von der Ansicht Bernoulli's bringt
er die sich aus derselben ergebende Auffassung
über die Entstehungsart des Druckes durch die
Zahl der Stöße der Molekeln in der Zeiteinheit
und die Heftigkeit derselben, das Boyle'sche Ge-
setz und die von Glausius berechnete Molekular-
geschwindigkeit (für Luft G = 485), ebenso
die sich gleichfalls durch die Theorie erklären-
den Abweichungen vom Boyle-Gay-Lussac'schen
Wurtz, La theorie atomiqae. 959
Gesetze. Von jetzt an nähert sich die Darstel-
lung immer mehr der von 0. E. Meyer in der
kinet. Theorie der Gase gegebenen. Wurtz be-
spricht die Berechnung der Weglänge aus der
Beibnng und benutzt als Beispiel folgende Zah-
len : die Weglänge L = 0,00000909 die Stoßzahl
y = 4700 Millionen, wo die mittlere Geschwin-
digkeit Q = 447 m gesetzt ist. Es sind diese
Zahlen der kinet. Theorie p. 140 entnommen.
Wurtz läßt dabei außer Acht den Unterschied
des Q von 0. E. Meyer und des O von Clau-
sius. Er sagt einige Zeilen früher, daß es sich
hier um die mittleren Geschwindigkeiten handle,
trotzdem benutzt er p. 229 unten die Clausius'-
sche Zahl, die gar nicht die mittlere Geschwin-
digkeit, sondern den der mittleren lebendigen
Kraft entsprechenden Werth der Geschwindigkeit
angiebt. (Siehe kinet. Theor. p. 42). Die Weg-
länge L giebt er als 25 mal kleiner als die
kleinste durch das Mikroskop wahrnehmbare
Größe an. (Kinet. Theor. p. 141 oben). Der Ver-
fasser schließt an diese Betrachtung in derselben
Reihenfolge, wie es in der kinet. Theorie von
0. E. Mey er geschehen ist, die Folgerungen aus
der Theorie an. Berechnung des Molekular-
durchmessers aus dem Condensationskoeffizienten
(kinet Theorie §. 102) und nach van der Waals
(kinet. Theorie §. 103), des Querschnitts und des
Volumes der Molekeln (kinet. Theorie §. 104) ; Zahl
und Entfernung der Molekeln (kinet. Theorie §.
105), ihr absolutes Gewicht (kinet. Theorie §. 106).
Auf p. 234 oben giebt Wurtz als Zahl der Mo-
lekeln in lcc Gas bei 1 Atmosphäre Druck 21
Trillionen an (kinet. Theorie p. 232), weiterhin auf
p. 234 dagegen meint er, daß auf lmgrLuft 10
Trillionen Molekeln kämen, auf 1 mgr Wasserstoff
960 68tt. gel. Anz. 1880. Stück 30.
144 Trillionen. Die Zahlen sind entnommen der
kinet. Theorie pag. 234. In denselben ist
aber leider ein Rechenfehler enthalten, es fehlt
nämlich in ihnen der Factor 1, 77. Führt man
denselben ein, so ergiebt sich für Luft 21 . 800
= 16800 statt 12 . 800 = 10000, also auf 1 mgr
Luft 16,8 Trillionen; ganz das Gleiche ist beim
Wasserstoff der Fall : statt 140 Trillionen ist zu
setzen 235 Trillionen. Die von Wurtz weiter
zur Bestätigung der Theorie erwähnten anderen
Grenzbestimmungsmethoden finden sich auch in
der kinetischen Theorie wieder (§. 107). Es
sind an beiden Orten dieselben Beispiele und
auch die Reihenfolge ist abgesehen davon, daß
Wurtz die Flammenfärbung durch Kochsalz vor
das Rosanilin setzt, die nämliche. Im letzten
Theile dieses Gapitels ist wie in der kinet.
Theorie eine Beschreibung der Thomson'schen
Wirbeltheorie enthalten. Damit schließt das Werk.
Ehe ich das Referat beende, möchte ich noch
die Aufmerksamkeit der Leser auf einen in den
Berichten der deutschen ehem. Gesellschaft zwi-
schen den Herren Wurtz und Lothar Meyer
geführten Briefwechsel aufmerksam machen (XIII
p. 6, 220, 453). Er behandelt die Benutzung
der „Mod. Theorien" durch Herrn Wurtz. Es ist
dies Werk in dem Wurtz'schen Buche dreimal
citiert, einmal p. 77, sich beziehend auf die auf
derselben Seite befindliche Tabelle, das zweite-
mal p. 118 wegen der am Schluß angehefteten
Curve der Atomvolumina, und das letzte Mal
p. 121 betreffend die Tabelle auf p. 115. Das
Buch von 0. E. Meyer „die kinet Theorie
der Gase" ist gar nicht erwähnt.
Breslau. Dr. Otto Schumann.
Fttr die Redaction verantwortlich: JBL Rsknisch, Director d. Gott. gel. Anz.
Commissions' Verlag der DieUrich'sehm Ynriaga -Buchhandlung.
Drnck der DieiericK sehen Univ.- BuchdrucUr* (W. fr. Kcmtntr).
961
O $t tingis che
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück 31. 4. August 1880.
Inhalt: W. Heibig, Die Italiker in der Po-Ebene. Von W.
Deecke. — £. Landsberg, Ueber die Entstehung der Regel »Quic-
quid non agnoscit glossa, nee agnoscit forum11. Von A. Ubbdohde. —
F. du Bois-Reymo'nd, Zur Geschichte der trigonometrischen Rei-
hen. Von A. Sachse. — F. Muncker, Lessing's persönl. n. literar.
Verhiltniss zu Klopstock. Von K. Goedeke.
ss Eigenmächtiger Abdruck yon Artikeln der G6tt. gel. An«, rerboten er
Die Italiker in der Poebene. Von
Wolfgang Hei big. Mit 1 Karte und 2 Tafeln.
Leipzig, Breitkopf & Härtel, 1879. — X und
140 S. 8°.
Das Werk führt sich als ersten Band von
„Beiträgen zur italischen Cultur- und Kunstge-
schichte" ein und behandelt im ersten Haupt-
abschnitte (cap. I — III) die „Pfahldörfer in
der Poebene", im zweiten (cap. IV — X) die
„Italiker in den Pfahldörfern", mit durchge-
führtem Vergleich, einerseits mit den altgriechi-
schen, andrerseits specieller mit den etwas spä-
teren altlatinischen Zuständen, wie sie die Aus-
grabungen auf dem Albaner Gebirge und dem
Esquilin, neben den Nachrichten der Alten, uns
kennen gelehrt haben. Es folgt eine Erläute-
rung der Karte der norditalischen Pfahldörfer,
61
962 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 31.
wie der beiden Tafeln, welche die Haupt-
formen des pfahldörflichen and altlatinischen
Handwerks parallelisierend zur Anschannng
bringen, dann verschiedene Notizen und Nach-
träge, endlich ein Register.
Der Verfasser, durch günstige Stellang besser
als sonst Jemand mit den reichen neueren For-
schungen der Italiener über die prähistorischen
Zustände ihres Vaterlandes bekannt und seit
einer Reihe von Jahren mit den grundlegenden
Arbeiten zu einer altitalischen Gultur- und
Kunstgeschichte beschäftigt, hat aus seinen um-
fassenden Stadien folgende Anschauung ge-
wonnen.
Urbewohner der Apenninhalbinsel und Sici-
liens waren die Ligurer, ein wildes Jagd-
und Raubvolk, in Höhlen oder rohen, zu un-
regelmäßigen Dörfern gruppierten Hütten woh-
nend (Reste im Thal der Vibrata). Ligurisch
sind unter andern die Namen Bodencos (= Po),
Ilva, Gimin(i)us, Sabate, Alba u. s. w. Im
Laufe des zweiten Jahrtausends vor Christus
stiegen dann die I ta 1 i k e r , nach ihrer Trennung
von den Griechen, von den Alpen in die Poe-
bene hinab. „Unbehülfliche, lediglich aus Holz
gezimmerte Wagen bewegten sich, von Rindern
gezogen, schwerfallig vorwärts. Sie sind be-
packt mit den Greisen und Kindern, dem Haus-
und Ackergeräth, plumpen Thongefaßen, primi-
tiven hölzernen Pflügen, Aexten mit steinerner
Schneide. Zwischen den Wagen gewahren wir
Viehheerden, meist Thiere von kleiner Ra§e, ab-
gemagert durch die langen Strapazen. Die
Männer, welche längs des Zuges einherschrei-
ten, sind mit groben wollenen oder linnenen
Stoffen, z. Th. auch wohl mit Thierfellen be-
kleidet. Vielleicht trägt ein Häuptling an dem
Heibig, Die Italiker in der Poebene. 963
ledernen Gürtel ein bronzenes Messer, doch mehr
als Zierde und Spielerei, als zum wirklichen
Gebranch. Weitaas die Mehrzahl dagegen ist
lediglich mit steinernen Waffen ausgerüstet.
Trifft in einer Lichtung des Urwaldes der Zug
mit einer Horde der Urbevölkerung zusammen,
dann sausen von beiden Seiten die mit Feuer-
steinspitzen bewehrten Pfeile, und kracht das
Steinbeil auf italische, wie auf ligurische Schä-
del". Es basiert diese Schilderung auf den Fun-
den in den von Hei big den Italikern zuge-
schriebenen Pfahldörfern. Und zwar setz-
ten jene anfangs die aus den früheren Sitzen
mitgebrachte Sitte des Baues im Wasser fort
— es sind solcher Bauten in den lombardischen
Alpenseeen etwa 70 gefunden, in Piemont 4 —
dann, zuerst im Süden des Gardasee's, begannen
sie ähnliche Pfahldörfer auf trocknem Bo-
den anzulegen, aus alter Gewohnheit, aber auch
wohl der Vortheile wegen, welche eine solche
Lage der Hütten gegen Ueberschwemmung und
Bodenfeuchtigkeit bot. In der Lombardei (bei
Ghiari, Pontevico, Castiglione, Mantua) sind 19
solcher Dörfer gefunden worden ; in der Emilia,
südlich vom Po, wo der Gebrauch erst zu seiner
vollen Entwicklung kam (bei S. Donino, Parma,
Reggio, Modena) 69; in der Romagna, wo er
erlosch, nur 1 (bei Imöla). Die Reste dieser, in
der Regel mehrmal, wie die aufeinander liegen-
den Schichten zeigen, durch Feuer zerstörten
Dörfer, eine fruchtbare schwärzliche Erde bil-
dend, heißen daher terremare (eig. im Sing,
terra marna = Mergelerde) und sind besonders
von Gastaldi (schon 1861), dann von Pigorini
und Strobel, vonBoni, Chierici, Crespellani u.a.
erforscht worden, s. die Zusammenstellung von
Pigorini im Bullet, d. Istit. 1876, p. 10 ff. Da
61*
964 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 31.
nach waren die Dörfer eckig-oblong, roh orien-
tiert (wohl um Sonne und Schatten gleichmäßig
zu vertheilen), meist in der Nähe von Wasser-
läufen angelegt, 3—4, selten 1 — 10, Hectares
groß, umgeben von einem Graben und einem oft
mit Holzwerk versehenen Erdwall. Innen erhob
sich ein Pfahlbau von Ulmen-, Steineichen- oder
Eastanienholz mit Bohlendecke und Sandschicht,
darauf die runden Stroh- oder Reisighütten.
Die Abfallhaufen und Geräthreste zeigen Betrieb
der Viehzucht (Rind, Schwein, Ziege, Schaf,
Pferd und Hund) und des Ackerbaus (Waizen,
Bohne, Flachs, Rebe), geringe Jagd, keinen
Fischfang. Genossen wurden auch wilder Ho-
nig, Eicheln und wildes Obst, darunter die jetzt
in Folge von geringer Abkühlung des Klimas
in der Poebene verschwundene Pimpernuß, wäh-
rend die Kastanien schon damals, wie jetzt,
keine Früchte getragen zu haben scheinen. Das
Korn wurde gequetscht und als Brei genossen,
nicht gebacken; vielleicht gab es auch sehon
Leinsamenbrei; Wein wurde noch nicht gekel-
tert. Der Flachs wurde gefasert (Flachsklopfer)
und gesponnen (Spinnwirtel) , Bindfaden und
Seile auch aus Waldrebe und Ginster bereitet,
ein roher Webstuhl war bekannt (Weberge-
wichte); Korbflechterei und Lederbereitung -{Le-
derschaber und -pfriemen) sind durch Reste ge-
sichert. Im Norden des Po überwiegen bei
weitem noch Steinwaffen und -geräthe, im Sü-
den schon die Bronze, die aber nur gegossen
ward (Gußformen) und wenige primitive Ge-
räthe lieferte, keine Nage], Spangen, Ringe
u. s. w., selten ein Schwert, mehrere zweiklin-
gige Rasiermesser, auch Palstäbe u. s. w. Es
fehlen andre Metalle, auch Glas und Smafte;
hin und wieder finden sich Bernsteinperlen. Die
Helbig, Die Italiker in der Poebene. 966
Thonge&fte sind roh, ohne Drehscheibe ge-
macht, auften geglättet, oft mit eigentümlichem
durchbohrtem halbmondförmigem Henkel; aus
Knochen und Horn sind Pfeilspitzen, Pfriemen,
Haarnadeln mit Krönung von durchbrochener
Badform, Kämme u. s. w. Die einzige Verzie-
rung der Qeräthe besteht aus noch nicht orga-
nisch verbundenen graden und krummen Linien»
Dreiecken, Kreisen, bald eingegraben, bald her-
ausgearbeitet. Ein paar unförmliche Thierfigu-
ren haben sich gefunden, kein Idol. — Als cha-
racterifitische Züge der Lebensrichtung treten
hervor bäuerliche Thätigkeit und ein fest orga-
nisierter, nach außen abgeschlossener Gemeinde-
verband, uritalische Eigenschaften. — Aus der
Yogelperspective hätte sich die Poebene damals
gezeigt als eine „im Wesentlichen mit Wäldern
bedeckte Landschaft. Innerhalb der Waldmasse
sah man an vielen Stellen und namentlich in
den Umgebungen der Stromrinnen Lichtungen;
in jeder ein Pfahldorf mit den gelben Stroh-
hätten, unmittelbar um das Dorf herum die Ge-
treide- und Flachsfelder, die Bohnen- und Wein-
pflanzungen, weiterhin nach dem Rande des
Waldes zu die Wiesen, auf denen die Heerden
weideten — alles dies wie helle Bildchen einge-
sprengt in die dunkelgrüne Masse der umgeben-
den Forsten".
Die so geschilderte friedliche Existenz der
Italiker in der Poebene nun wurde im zwölften
Jahrhundert v. Chr., in Folge derselben Völker-
bewegung, welche durch Vertreibung der Thessa-
ler aus Epirus Anlaß zur dorischen Wanderung
gab, durch den Einbruch der gleichfalls von
Norden her einwandernden kriegerisch wilden,
ungefähr auf derselben Culturstufe stehenden
Etrnsker unterbrochen. Dreihundert umbri-
966 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 31.
sehe Städte, d. h. italische Pfahldörfer sollen
diese zerstört haben. Als Adel und Priester
(Lucumones) beherrschten sie die leibeigen ge-
wordene italische Bauernschaft. Doch verödete
offenbar besonders die Emilia; die große Masse
der Italiker drängte sich in die Bomagna zu-
sammen oder ging über den Apennin, nach bei-
'den Bichtungen hin von denEtruskern verfolgt.
Der Pfahlbau hörte auf: auch die Etrusker be-
siedelten selten die niedergebrannten Stätten.
Es folgt nun eine von Heibig absichtlich
noch im Dunkel gelassene Zwischenepoche,
während welcher die geometrische Decoration,
die Schmiedekunst, der Gebrauch der fibulae
und andre Fortschritte sich in der Poebene ver-
breiteter: es soll davon der zweite Band der
„Beiträge" handeln. Erst spät beginnt dann die
eigenthtimlich etruskische Cultur: die Schrift
verbreitet sich von den chalcidischen Colonieen
am tyrrhenischen Meere aus seit 700 v. Chr.;
im Westen gewinnt das Handwerk eine beson-
dere Physiognomie erst mit den nach kartha-
gischen Mustern verfertigten vasi di buchero,
im Osten gar erst mit den Reliefstelen und
Bronzefiguren, seit 500 v. Chr. Und schon um
400 v. Chr. bricht ein neuer, der keltische,
Völkersturm über die Alpen ins Poland ein.
Was nun aber die Italiker betrifft, so sucht
Heibig ausführlich den Nachweis zu führen,
daß die Cultur derselben in ihren neuen Wohn-
sitzen in Mittelitalien, speciell in Latium, wie
sie uns theils aus den Nachrichten der Alten,
theils aus den Nekropolen des Albaner See's
und den Ausgrabungen am Esquilin in Born be-
kannt ist, die unmittelbare, natürliche, durch
Wanderung, neue Umgebung, fremde Einflüsse
bedingte Fortentwicklung des aus den Pfahl-
Heibig, Die Italiker in der Poebene. 967
dörfern erschlossenen Znstandes ist Wir finden
im alten Latium, auch Samnium nnd Umbrien,
dieselbe Lebensrichtung auf bäuerliche Thätig-
keit, auf Zucht und Ordnung nnd festen Ge-
meindeverband : „Das Pfahldorf war die Zelle,
ans der allmählich das italische Gemeinde- und
Staatswesen herauswuchs". Wir finden bei allen
späteren Italikern die Orientierung, durch die
Etrusker zu kunstvoller Limitation ausgebildet,
aus den alten Grundlagen neu entwickelt Wir
finden die gleiche Abneigung gegen Jagd und
Fischfang, noch keine Weinkelterung, dieselbe
bildlose Götterverehrung; ferner die gleiche Art
des Wohnungsbaus (casa Romuli, aedes Vestae,
xafaal der Lares compitales u. s. w. ; Hütten
bei Bologna, in der Emilia, im Thal der Vi-
brata) und der Befestigung (Holz wall von Ae-
clanum), eine wenig höhere Stufe des Hand-
werks (Drehscheibe, Schmiedekunst, Eisen als
Schmuck, fibulae, Lockenringe) und der Verzie-
rung (Hakenkreuz, Anfange des Mäander und
des mit inneren Linien gefüllten Parallelogramms).
Vielfach wird der ältere Gebrauch im Cultus noch
bis in späte Zeit festgehalten : runde Tempel der
dea Dia, des Hercules, ja noch des divus Augustus ;
pons sublicius ohne Metallnägel ; einfaches Thon-
geschirr beim Opfer; hasta, nicht Schwert, als
heilige und Hauptwaffe; die ancilia u. s. w.
Merkwürdige Uebereinstimmung zeigen die halb-
mondförmigen Henkel, die Radkrönung der
Haarnadeln, die kreisförmigen Verzierungen.
Der innere Zustand des königlichen Roms, in
dem es keine cloaca, kein Pflaster, keine Stra-
ßenpolizei (aediles), dagegen Landwirthschaft
und Viehzucht gab, wird als wenig den eines
alten Pfahldorfes überragend geschildert: „Der
Grundton war während der trockenen Jahres-
968 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 81.
zeit hellgrau, während der feuchten gelbbraun.
Um die aus Lehm, Stroh oder Holz aufgeführ-
ten Wohnstätten lag Unrath von Menschen und
Vieh, zerbrochenes Haus- und Ackergeräth herum.
Auf den Straßen wandelten die Quiriten einher,
gekleidet in grobe wollene oder linnene Stoffe,
die zuweilen mit geometrischen Mustern verziert
waren, im Sommer von Staubwolken umhüllt,
während des Winters in Koth watend". — Ge-
wisse Abweichungen, speciell Rückschritte ge-
gen die Pfahlbaucultur werden zu erklären ge-
sucht oder beseitigt: so das Vorwiegen von
Gerste und Spelt gegen den Waizen der Pfahl-
dörfler; das Zurücktreten des Flachsbaus in La-
tium, während er in Samnium erhalten scheint;
die spätere Verachtung der Bohne (aber gens
Fabia, Modius Fabidius, Ealendae fabariae
u. s. w.); das angebliche Gesetz Numa's über
Fischopfer u. dergl. — Das spätere römisehe
Wohnhaus, wie der tuskanische Tempel, werden
auf griechischen Einfluß zurückgeführt; aber in
der Vorliebe für Substructionen und Tempelter-
rassen ist vielleicht eine Nachwirkung des ein-
stigen Pfahlbaus zu erkennen.
Dies ist im Wesentlichen die Ansicht des
Verfassers, der gute Begründung, innerer Zu-
sammenhang und geistvolle Ausführung nicht
abgesprochen werden können. Als abgeschlos-
sen aber kann die Untersuchung noch nicht gel-
ten, da neue Funde die Sachlage täglich mo-
dificieren, ja erheblich ändern können. So theilt
H eibig selbst in den Nachträgen den Fund
mehrerer aus Bronze gegossener Schwerter in
einem Pfahldorf, noch dazu der Lombardei, mit,
während bis dahin das Fehlen des Schwertes
als characteristisch für jene Epoche galt Auf-
fällig aber bleibt vor Allem, bei der sonstigen
Heibig, Die Italiker in der Poebene. 969
Rohheit der Pfahldörfler, der ausschließliche An-
bau des Waizens, während die Gerste nach-
weislich schon gräco-italisches Gemeingut war,
und die Pflege des Weinstockes , gegenüber
Hehn's gründlichen Ausführungen. Auch der
Bernsteinhandel und die Pferdezucht würden in
bedenkliches Alterthum hinaufgerückt. Freilich
ließe sich wohl manches Bedenken durch zeit-
liche Hinabrttckung der italischen Periode der
Poebene erledigen, aber es würden dann andere
Schwierigkeiten auftauchen. Vielleicht wird der
zweite Band noch Manches aufklären: wenn
ich nicht irre, werden für denselben besonders
die mannigfaltigen, sehr verschiedenartigen Grab-
stätten in näherer und weiterer Umgegend von
Bologna mit ihren reichhaltigen Funden in Be-
tracht kommen. Schwerwiegend scheint mir
ferner die jetzt vielfach aufgeworfene Frage, ob
wirklich der Metall guß und noch dazu der-
jenige eines so künstlichen Products, wie
die Bronze ist, der Schmiedekunst voran-
gegangen sein kann? Woher ferner kam
das Zinn? Und mußte den aus den Alpen kom-
menden Völkern nicht das Eisen bekannt sein?
Daß Pfahlbauten in der Balkanhalbinsel, in den
Alpen, im Jura, bis in recht späte Zeit fort-
dauerten, ist bekannt: auch die, wahrscheinlich
illyrischen, Veneter kannten sie (Altinum, viell.
Atria, Bavenna). Jedenfalls bleibt noch viel zu
erwägen! Von Etymologieen hielte sich der
Verfasser besser fern: columen, culmen hat sicher
mit culmus (xdlapo<;) nichts zu thun; ebenso-
wenig Füfetius mit faba; die Entlehnung von
attilus aus ittltg ist sehr zweifelhaft; caprea,
hinnuleus beweisen ebensowenig wie Reh bock
oder Hirschkuh. Im Ganzen ist das Werk,
ft '
972 Gott, gel Anz. 1880. Stück 31.
Olosfiie als selehe gewesen sei, was die Aus-
scheidung der von der Glosse vernachlässigten
Stellen bei der Reception veranlaßt habe. Theife
waren manche von Accnrsius nicht gloseierten
Stellen doch von anderen Glossatoren mit Be-
merkungen verseben. Vor allem aber haben
auf die Art der Reception die Glossatoren viel
weniger Einfluß geübt, als die Postglossatoren;
jene sind in Deutschland nur durch das Medium
der „Doctores" bekannt geworden. Die Frage
nach dem Einflüsse der Glosse spitzt sich dem-
nach darauf zu : haben die Gommentatoren die
unglossierten Stellen vernachlässigt? Grund-
sätzlich sprechen sich die Postglossatoren hier-
über nicht aus. Es bleibt also zu untersuchen,
ob sie un glossierte Sätze anwenden. Sollten
wir finden, daß sie es nicht thun, so ist damit
noch nicht bewiesen, daß man die unglossierten
Stellen für ungültig hielt: es kann vielleicht der
Anlaß gefehlt haben, sie zu citieren; sie kön-
nen auch neben gleichbedeutenden Stellen zu-
fällig weggelassen sein. Es ist hier zu unter-
scheiden zwischen systematischen Gommentaren
und Consiliensammlungen. In den ersteren ist
allerdings das Ueberspringen einer unglossierten
Stelle bisweilen concludente Thatsache. Indes-
sen sind umgekehrt gerade solche rein theoreti-
sche Werke für die praktische Gültigkeit der in
ihnen aufgeführten Stellen nicht entscheidend.
Was die Consiliensammlungen betrifft, so be-
weiset das bloße Nichtvorkommen einer Stelle
nichts. Hier kömmt es darauf an, ob das blosvon
unglossierten Stellen aufgehobene frühere Recht
als geltend betrachtet wird: daraus folgt, daß
jene unglossierten Stellen als ungültig betrach-
tet wurden (§. 5 S. 14—16). Um dies sicher
zu erkennen hat Vfr. die einzelnen den Glossa»
Landsberg, Qnicquid non agnoscit glossa ct. 973
toren bekannten, aber nicht glossirten Stellen
nach Witte, Biener und v. Savigny zu-
sammengestellt. (§. 6 8. 16 — 20). Von ihnen
kommen namenflieh in Betracht 1. 1 Cod. de
aleat. 3, 43 (lex alearum) von Azo glossiert;
1. 1 Cod. de dnob. reis 8, 39 (40) (unecht) nnd
die beiden in die 9 Collationen der glossierten
Novellen aufgenommenen unglossierten — Now.
63 (Coll. V, 15) und 110 (Coll. VIII, 6). §. 7
S. 21—29 bringt danach die Prüfung der Werke
der Postglossatoren. Hier ist es nun höchst
merkwürdig, daß gleich ein Schüler des Fran-
cisco Accursius, Jacobus de Bei visio, geb.
1270 f 1335, in seinem Commentare de au ten ti-
efe Nov. 63 ausführlich bespricht und als prak-
tisch behandelt. Von Nov. 110 sagt er: nullius
est utüitatis, keineswegs aber, sie sei ungültig,
weil unglossiert. B a r t o 1 u s behandelt im Com-
mentar zum Authenticum unter Berufung auf
Jacobus de Belvisio Nov. 63 ebenfalls als un-
zweifelhaft gültig. Bald us erörtert ausführlich
die lex alearum; Paulus de Castro führt
wenigstens kurz ihren Inhalt an, wenn schon mit
dem bedenklichen Ausdrucke : licet hie sit quae-
dam autentica graeca. Bartholomaeus de
Saliceto wirft zu derselben Stelle die Frage
auf: an huic legi per consuetudinem contrariam
possit derogari? Aliqui dieunt quod sie, quasi
illud sit prohibitum non iure positivo. Unde
attende quod dicit beatus Thomas . . . Raymun-
dns. Also, trotz dem Bestreben, das unbequeme
und thatsächtich oft genug übertretene Spielver-
bot zu beseitigen, kein Gedanke an das be-
queme Mittel der Berufung darauf, daß die
Glossa ordinaria fehle! Somit gelangt §. 8 S.
29— 33 zu folgendem Resultate. Der Einfluß
der Glosse ist absolut siegreich gewesen hin-
974 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 31,
sichtlich aller in die tres collationes extraordi-
nariae verwiesenen 36 der den Glossatoren be-
kannten 134 Novellen. Man hielt sie, wie die
Glosse es gethan, einfach für unnütz : eben ihrer
allseitig anerkannten Unbrauchbarkeit halber
sind sie nicht recipiert. . Anders mit den beiden
in die 9 collationes ordinariae aufgenommenen
nicht glossierten Novellen und mit der lex alea-
rum. Die Glosse hielt sie freilich für unprak-
tisch; allein die Folgezeit war darüber doch
zweifelhaft. Wenn sie später völlig außer Ge-
brauch gekommen sind, so beruht das nicht auf
der Auctorität der Glosse; wohl aber trifft nun-
mehr der Umstand, daß sie nicht glossiert sind,
wie bei den übrigen Stellen, mit ihrer aner-
kannten Unbrauchbarkeit zusammen. Indessen
vollzog sich diese Entwickelung keinesweges so
einfach: es trat die Zeit der Renaissance da-
zwischen. Zu dieser wendet sich Kap. 2. Im
16. Jahrh. ergänzte man die Lücken in der bis-
her bekannten Ueberlieferung der justinianischen
Rechtsbücher; man wandte sich, getragen von
der historischen Behandlung des Stoffs, auch
den schon früher bekannten unglossierten Stel-
len zu. Die französische Rechtsschule, welcher
Glossatoren und Postglossatoren für Barbaren
gelten, hat durchaus kein Bedenken gegen die
Verwendung der neuaufgefundenen Stücke des
corpus iuris; sie werden in den zahlreichen
neuen Ausgaben an ihren Ort eingerückt, die
Novellen ohne Rücksicht auf die Collationen nach
ihrer natürlichen Reihenfolge, glossiert und un-
glossiert durch einander gemischt, geordnet.
(§• 9. S. 33—37). Dagegen erhebt sich be-
greiflicherweise Widerstand, theils als bewußte
Opposition, theils als unbewußte vis inertiae.
Hauptrepräsentant der bewußten Opposition ist
Landsberg, Quicquid non agnoscit glossa ct. 975
Alberen« Gentilis, etwa 1550—1610 oder
1611, einer der vielen wandernden Italiäner je-
ner Zeit, ganz auf dem Standpunkte der dama-
ligen italiänischen Praktiker in der Rechtsan-
Bchammg der Commentatoren. Seine Ausführun-
gen laufen darauf hinaus, es seien die unglos-
sierten Gesetze ungültig, denn sie seien ja nicht
durch denlongus usus getragen, welcher letztere
sich wieder auf die Glosse gründe. Nee nego
ego tarnen, fügt er jedoch hinzu, invalescere
etiam auetoritatem aliartfm [sc. legum nee glos-
sataruml. (§. 10 S. 37—46). Die bloße vis in-
ertiae dagegen scheint bei den italiänischen
Praktikern zu herrschen: sie nehmen, von den
neu aufgefundenen Stücken, durch welche frühe-
res Recht abgeändert wird, durchaus keine No-
tiz, so namentlich nicht von Nov. 135 über die
bonorum cessio, von Nov. 162 über die Conva-
lescenz von Schenkungen unter Ehegatten und
von 1. 4b rest. Cod. 9, 16. (Nach der Benutzung
bezw. Nichtbenutzung von 1. 22 rest. Cod. de
fide instr. 4, 21 scheint Vfr. nicht gesehen zu
haben). Umgekehrt wird die lex alearum be-
nutzt. (§. HS. 46—53). Deutschland umfaßt
beide Strebungen: den Humanismus der Re-
naisssance und das sterile Festhalten an der
Weise der Scholastiker, jenen vorzugsweis bei
den Theoretikern, dieses bei den Praktikern.
(§§. 12—14. S. 53—71). Indessen trat anfangs
die Theorie zur Praxis nicht gerade in einen
einschneidenden Gegensatz; sie erkannte die
Praxis an, welche gewisse Stellen als ungültig
behandelte. [Hinzugefügt sei, daß auch Sic ha r-
dus, 1511— 1552, des Zasius Schüler, in Cod.
Just, praelectiones ad rubr. cit. 43, lib. 3. §. 8
und ad rubr. tit. 7. lib. 4. §. 7 die lex alearum
für praktisch hält]. Dies änderte sich aber nach
976 Gött. gel Anz. 1880. Stück 31.
1583, d. h. nach dem Erscheinen der ersten
Gothofredischen Aasgaben des corpus iuris,
welche sowohl die leges restitutae des Codex
als sämmtliche Novellen in der seither üblichen
Ordnung bringen. Es ist auffallenderweise ein
Praktiker, P. M. Wehner, der in seinen Con-
silia 1616 in Deutschland zuerst die neuaufge-
fundene Nov. 162 als praktisch citiert. Die
große Zahl der Theoretiker behandelt freilich
viele unglossierte Stellen als unpraktisch, nicht
jedoch aus dem Grunde, weil die Glosse fehlt;
anderseits aber werden manche neuaufgefundene
Novellen, insbesondere Nov. 162, unzweifelhaft
als geltendes Recht vorgetragen. — Die not-
wendige Verschmelzung dieser beiden getrenn-
ten Eichtungen erörtert Kap. 3. Vorbereitet
wird sie dadurch, daß die Praxis sich allmäh-
lich hebt und durch Carpzows Auctorität be-
stimmter und gleichmäßiger und damit der theo-
retischen Bearbeitung fähig wird. Carpzow
hält in der hier fraglichen Hinsicht den Stand-
punkt der bisherigen Praxis fest: er übergeht
z. B. schweigend Nov. 162, betrachtet dagegen
die lex alearum als gültig, allerdings mit dem
Zusätze, die condictio der im Spiele verlornen
Sachen sei in Sachsen usu unmöglich geworden.
Ebenso steht Mevius. Indem nun die Praxis
siegt, entsteht unser Canon als Zeugniß für die
damit erfolgte Ausgleichung des alten Gegen-
satzes. Bei Arth. Duck f 1649, de usu et
auctoritate iuris Romani, findet sich, vielleicht
infolge englischer Rechtsanschauungen, wie sol-
che ähnlich auf Alb. Gentilis gewirkt hatten,
bereits der Ausspruch: Has ergo solas Consti-
tutiones recemmus, quae usu Academiarum et
Curiarum aamissae sunt. Wichtiger noch ist
wohl der Einfluß Brunnemanns f 1672, der
Landsberg, Quicquid non agnoscit glossa ct. 977
geradezu sagt : Graecas — Constitutione», quia in
Imperio nostro non receptee, et vix ullam in
imperio nostro Romano-Germanico fidem mereutur,
nee in forum reeeptas babemus. (S. aueb S. 87.)
Dagegen commentiert er die lex alearum (§. 15.
S. 72 — 77). Vollzogen wird die Verschmelzung
von Theorie und Praxis durch den usus modernus
pandeetarum. (§. 16. S. 77—92). Den ent-
scheidenden Zeitpunkt bezeichnet annähernd die
Jahreszahl 1660. Der Praxis sich anschließend
sprachen die Theoretiker die Ungültigkeit der
unglossierten Gesetze aus, vergaßen jedoch da-
bei die lex alearum auszunehmen; und so wurde
jener Satz allmählich zur ausnahmslosen Rechts-
regel. Besonders einflußreich ist gewesen Lau-
terbach, Collegium theoretico-practicum. In
den prolegomena dazu wird §. V nr. 7 den le-
ges restitutae des Codex und §. VI nr. 4 den
unglossierten Novellen die rechtsverbindliche
Kraft abgesprochen. Indessen bleibt Lauter*
bach seiner Regel nicht ganz getreu; insbe-
sondere erklärt er ad tit. Dig. 24, 1 cap. 13
gegen Bachovs Zweifel unter Berufung auf
die Praxis Nov. 162 für gültig. Referent fügt
hinzu, daß L. auch die lex alearum als praktisch
behandelt, lib. XI. tit. V. Nr. VI sq. XIII sqq.;
die Rückforderung des gezahlten Spielverlustes
ist nach ihm nur durch locales Gewohnheits-
recht beseitigt. Nr. XIX. Aehnlich giebt
Struv, syntagma aus Nov. 162 eine Klage.
Doch ist dergleichen nur noch ein verhallender
Nachklang. Erwähnung hätte m. E. auch ver-
dient Schilter, praxis iur. Rom. in foroGerm.
(Ed. 1. 1686). Exercit. ad pand. XL VI §. VIII.
„Nov. 135. At Justinianus CXXXV tali casu re-
misit cessionis necessitatem. — Ex qua tarnen
novella nulla authentica in codicem relata fuit,
62
978 Gott. gel. Adz. 1880. Stück 31.
unde Rittershusius colligit, iam tum aevo Irnerii
hoc ius in desuetadinem abiisse, et renovatum
iu8 D(igestorum) et C(odiciß) pp. Sed quam
authenticarum aactoritas antiquior Irnerio sit,
videtur hujus novellae observantiam nunquamin
foro viguisse". — Die entscheidende Formulie-
rung unsrer Regel stammt von Samuel Stryk.
Nachdem er noch in seinen Dissertationes 1679
über die Anwendbarkeit unglossierter Novellen
sich schwankend geäußert hatte, sagt er in sei-
nen Succinctae annotationes ad Lauterbachü
Compendium Digestorum: Quos textus non
agnoscit glossa, eos non agnoscit forum. Vfr.
giebt an, er habe diese Stelle durch Heim-
bach, Authent. proleg. p. DCXCV gefunden.
Nach der Darstellung des Vfrs. dürfte jedoch
der unkundige Leser sich von dem fraglichen
Werke ebenso wenig eine klare Vorstellung ma-
chen können, als nach derjenigen He im bach 8.
Wenn nämlich der letztere einfach citiert Stry-
ckius ad 1. 1. (sc. Lauterbachium in praef.
Collegii theoretico-practici litt. C), und der Vfr.
Stryk in seinen Erörterungen zu Lauterbachü
Collegium Theoretico-Practicum, — so wird man
etwa an eine Ausgabe Lauterbachs mit Noten
Stryks denken. Eine Berichtigung dieser An-
nahme wird man auch in Jöcher's Angabe
nicht finden können, der Gelehrtenlex. Thl. 4.
S. 901 zu Stryk bemerkt: „Ueber dieses gab er
mit Zusätzen oder doch mit Vorreden heraus —
Lauterbachü compendium digestorum etc. Auch
v. Holtzendorffs Encyclopädie nennt das
betr. Werk nicht. In Wahrheit ist es ein Buch
ftir sich, und zwar ein ganz stattlicher Quartant,
der in der mir vorliegenden fünften Ausgabe Lips.
1708 vom Index abgesehen 1086 Seiten zählt
Der Titel lautet; Sam. Strykii, Icti succinctae
Landsberg, Quicquid non agnoscit glossa et 979
annotationes ad W. A. Lauterbachii, leti Cele-
berrimi compendium Digestorum pp. Unter An-
führung der Stichwörter bei Lauterbach werden
zu »dessen Buche Glossen gegeben. Die Vor-
rede y. 14. März 1700, ursprünglich wohl zur
vierten Ausgabe verfaßt, erzählt, daß das Werk
den Abdruck von Vorlesungen biete, welche
Stryk in Frankfurt a. 0., Wittenberg und Halle
zu Lauterbach gehalten habe, und welche auf
Wunsch der Zuhörer anfänglich ausschließlich
für deren Gebrauch in drei Auflagen gedruckt
seien. Aus Stryks Satze ist dann in leicht
begreiflicher Weise die übliche Fassung des
Canon entstanden , deren richtiger Sinn gemäß
diesem Ursprünge vollends unzweifelhaft er-
scheint. Eben daraus aber ergiebt sich, daß
die übliche Formel : quod non agnoscit glossa — ,
oder quidquid n. a. gl. schon im Anfange des
18. Jh. aufgekommen sein muß, nicht erst, wie
Heimbach meint, in Silberrads Bemerkun-
gen zu Heineccii historia iuris, bezw. bei Ze-
pernick. Bei der Fassung: quos textus non
agnoscit glossa ct. war ein Mißverständniß über
den Sinn der Regel ganz unmöglich; ein sol-
ches Mißverständniß aber findet sich schon bei
Mencken 1707 und bei Olearius 1708.
Beide bekämpfen noch unsern Canon. Die
Mehrzahl der Schriftsteller dagegen erkennt
ihn unbedingt an, theils nur sachlich, wie
Voet 1707, theils ausdrücklich, wenn schon
in etwas abgeänderter Fassung, so B run-
quell 1727, Kopp 1741 u. a., so daß Rit-
ter in einer Anmerkung zu Heineccii hi-
storia iuris civilis 1751 ihn schon als tritum
illud bezeichnen konnte. Nur vereinzelt noch
erhebt sich Widerspruch, so bei Beck, de No-
vellis Leonis, 1731, der übrigens unsern Satz
02*
980 Gott. gel. Adz. 1880. Stück 31.
wie seine Vorgänger Mencken und (Hearing Jfö
versteht, als solle nach ihm die Interpretation
der Glosse für ans bindend sein, ihn zugleich
jedoch auch in seiner richtigen Bedeutung an-
greift. Hiergegen erging nun die schlagende
Widerlegung Zepernieks 1779. Damit ist
der Satz fest fundiert und seither nicht wieder
angefochten worden.
Marburg. August Ubbelohde.
Zur Geschichte der trigonometri-
schen Reihen. Eine Entgegnung von Paul
du Bois-Reymond. Tübingen. Verlag der
H. Laupp'schen Buchhandlung. 62 S. 8°.
Die vorliegende Broschüre beschäftigt sich
mit meiner Inauguraldissertation „Versuch einer
Geschichte der Darstellung willkürlicher Functio-
nen einer Variablen durch trigonometrische
Beihen. Göttingen 1879." Ich muß Herrn
du Bois-Reymond meinen Dank dafür ausspre-
chen, daß er mich auf einige Irrthttmer in der-
selben aufmerksam gemacht hat, umsomehr als
er so liebenswürdig war, meinen Namen dabei
ganz zu verschweigen.
Ich kann nicht umhin, ihm darin Recht
zu geben, daß es unstatthaft ist, von vorn-
herein die Festsetzung zu treffen, eine Func-
tion solle an einer Unstetigkeitsstelle den Mit-
telwerth aus den beiderseitigen Grenzwerthen
annehmen. Was dagegen die „Reform vorschlage"
betrifft in Betreff der Definition des Ausdruckes
„eine Reihe stellt eine Function dartf, so habe
ich solche gar nicht machen wollen, sondern
Du Bois-Reymond, Z. Gescb. d. trigon. Reihen. 981
habe nur mit dem Leser eirfe Uebereinkunft ge-
troffen darüber, was ich in meiner Dissertation
anter diesem Ausdrucke verstehen wolle; nnd
ich weiß nicht, wie man einem Autor dies Recht
streitig machen kann. Der Zusatz in meiner
Dissertation pag. 23 „eine Annahme, die aber
Riemann a. a. 0. gar nicht macht" beruht auf
einem Irrthum, und ist ganz zu streichen. Herr
da Bois-Reymond tadelt mich weiter, daß ich
auf pag. 25 meiner Dissertation an der Stelle
„daher schreiben sich manche seiner (nämlich
Herrn du Bois-Reymond's) von den gemeinhin
angenommenen völlig abweichenden Resultate"
nicht lieber Ansichten oder Anschauungsweisen
gesagt habe. Er hat wirklich nicht ganz Un-
recht damit, daß mein Ausdruck hier nicht cor-
rect ist, aber meine Bescheidenheit hat mich da-
mals nur daran verhindert, direct zu sagen, daß
die Ansichten oder Anschauungsweisen des Hrn.
du Bois-Reymond einfach falsch sind.
Herr du Bois-Reymond geht von der gänz-
lich irrigen Voraussetzung aus, daß meine Dis-
sertation eine gegen ihn gerichtete Streit- und
Angriffsschrift sei. Er stellt dabei die Behaup-
tung auf, daß nicht ich der intellectuelle Ur-
heber meiner Dissertation sei, sondern Herr Pro-
fessor H. A. Schwarz in Göttingen, der mich
aus „Gelehrtenmißgunst" (pag. 55) dazu aufge-
stachelt habe. Es ist sonst nicht üblich, derar-
tige Beleidigungen, ohne den Beweis dafür beizu-
bringen, auszusprechen, schon weil das odium
leicht auf den Beleidigenden zurückfallen kann.
Da es nun Herrn du Bois-Reymond nicht
genehm ist, den üblichen Weg zu beschreiten,
so kann ich seine Insinuationen mit gebühren-
dem Schweigen übergehen. Wenn aber Herr
du Bois-Reymond (pag. 54) schließen möchte,
982 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 31.
daß „die gegen ihn gerichteten Ergüsse aus
Vorlesungen von Herrn Professor Schwarz oder
aus einer ähnlichen Quelle geschöpft seien", so
will ich ihn von dieser Besorgniß gern befreien.
Ich habe niemals die Ehre gehabt, bei Herrn
Professor Schwarz eine Vorlesung zu hören,
vielmehr war Plan und Anlage meiner Disser-
tation bereits, ehe ich nach Göttingen kam, so-
weit fertig, daß ich im März 1878 darüber einen
Vortrag im Berliner mathematischen Seminar
gehalten habe.
Die andern sachlichen Einwendungen des
Herrn du Bois-Reymond beziehen sich auf seine
Schriften. Er richtet zwar seine Verteidigung
nur gegen „die Dissertation", aber da ich nun
einmal der intellectuelle Urheber und der Ver-
fasser derselben bin, so muß ich mich wohl der
Mühe unterziehen, ihm zu antworten.
Herr du Bois-Reymond will mir in drei
Punkten entgegentreten. Erstens wirft er mir
ein „Verschweigungssystem" gegenüber seinen
Arbeiten vor, zweitens soll ich „in einer längst
von ihm erledigten Streitfrage eine beschränkte
Auffassung nachträglich zur Geltung bringen",
drittens soll ich „seinen Integralbegriff in völlig
sinnloser Weise bemängeln" (pag. 1).
Dem ersten Punkt ist der Abschnitt 2
der Broschüre gewidmet. Ich soll absichtlich
die verdienstlichen Arbeiten des Herrn du Bois-
Reymond verschwiegen haben. Davon habe ich
bis zum Erscheinen der Broschüre Nichts ge-
wußt, im Gegentheil habe ich die Verdienste
des Herrn du Bois-Reymond hervorgehoben, na-
türlich nur da, wo ich Verdienste anzuerkennen
hatte. Man möge dies aus den Stellen pag.
18, 20, 24, 37, 38, ganz besonders aber pag. 46
ersehen, wo es heißt: „Wohl aber haben wir
DuBois Reymond, Z. Gesch. d. trigon. Reiben. 983
eine Erweiterung der Theorie darin zu erken-
nen, wenn Herr Prof. P. da Bois-Reymond nach-
weist, daß» wie man auch eine Function fix) in
eine Reihe /"(«)= £(awsinn3 -f bHco%nz)f
deren CoefScienten an und bn zuletzt unendlich
klein werden, entwickeln möge, die CoefScien-
ten doch immer die Fourier'sche Gestalt haben,
wenn die Integrale einen Sinn haben"; und
weiter : „der obige Satz . . . giebt allen bisheri-
gen Untersuchungen die gewünschte Vervoll-
ständigung". Das ist doch gewiß eine uneinge-
schränkte Anerkennung. Herr du Bois-Reymond
weiß auch meine Motive. Er sagt pag. 15 : „Der
Umfang des Verschweigungsgebietes erscheint
unter Voraussetzung zweier Motive vollkommen
bestimmt. Es sind diese: Erstens trägt man
Scheu, die Prioritätsfrage in Betreff des zweiten
Mittelwerthsatzes zu berühren. Zweitens will
man vermeiden, gegenüber den neuen Zeichen
£>- OJ ^ und den daran sich knüpfenden Opera-
tionen Stellung zu nehmen". Nähme nicht Herr
du Bois-Reymond die Priorität für jenen Mittel-
wertbsatz „nachdrücklichst" (pag. 14) für sich
in Anspruch und hätte er nicht das Verdienst,
auf eine längst bekannte Sache „neue" Zeichen
angewandt zu haben, so würde er solchen Ver-
muthungen schwerlich Raum gegeben haben.
Denn der „zweite Mittel werthsatz" und jene
Zeichen spielen zwar in den du Bois-Rey-
mond'schen Schriften eine gewichtige Rolle, aber
mit den Fortschritten in der Theorie der tri-
gonometrischen Reihen haben sie gar nichts
zu thun.
Der Behauptung des Herrn du Bois-Reymond,
daß ich so viel Verdienst ungerechter Weise
984 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 31.
verschwiegen hätte, liegt doch wohl die Voraus-
setzung zu Grunde, daß seine Arbeiten gelesen,
vielfach erwähnt und mit Anerkennung »verar-
beitet" worden sind (pag. 26). Ich glaube, auch
in dieser Beziehung stehe ich gerechtfertigt da,
denn wenn nicht gerade die Arbeiten des Herrn
du Bois-Reymond seit dem Erscheinen seiner
jüngsten Broschüre die Aufmerksamkeit der Ma-
thematiker in höherem Grade erregt haben, so
könnte jene Voraussetzung leicht auf einem Irr-
thum beruhen.
Im Speciellen fühlt sich Herr du Bois-Rey-
mond dadurch beschwert, daß ich seine Theorie
allgemeinerer Darstellungsformeln überhaupt nicht
erwähne. Aber er erkennt ja selbst an, daß
dieses „Verschweigen" »mit dem äußeren Plan
der Geschichte in gewissem Zusammenhang stehe«
(pag. 6). Zunächst behandele ich das Fourier-
sche Doppelintegral überhaupt gar nicht, dann
aber haben auch die Verallgemeinerungen von
Herrn du Bois-Reymond und die auf diesem Ge-
biete „seinem Spürsinn zur Beute gefallenen
Sätze" (pag. 46), die mir alle sehr wohl bekannt
sind, zur Aufklärung über die Natur der trigo-
nometrischen Reihen gar nichts beigetragen.
Von der Abhandlung des Herrn du Bois-
Reymond „Untersuchungen über die Convergenz
und Divergenz der Fourier'schen Darstellungs-
formeln, Cap. I — III" sage ich „sie führe zu
keinen greifbaren Resultaten", em Ausdruck,
der die Grenzen erlaubter Kritik gewiß nicht
tiberschreitet. Demgegenüber meint Herr du
Bois-Reymond »bleibe kaum für eine andere
Vermuthung Raum, als daß die Dissertation ur-
theilt, ohne die Arbeit zu kennen, oder daß es
ihr am geeigneten Organ zum Greifen fehlt",
(pag. 50). Mir aber bleibt nur die Bitte an
Du Bois-Reymond, Z. Gesch. d. trigon. Reihen. 985
Herrn du Bois-Reymond, doch gefälligst die Mo-
tivierung meines Urtheils tlber seine Arbeit auf
pag. 23 und 24 meiner Dissertation beachten
zu wollen.
Da nun nach Herrn du Bois-Reymond meine
Abhandlung zu wenig Rücksicht auf seine Un-
tersuchungen nimmt, so scheint es ihm nützlich
„diese Lücke in der Geschichtsschreibung" (pag.
15) alsbald möglichst auszufüllen. Es werden
daher im 2ten Abschnitt „Allgemeine
Grundzüge einer Geschichte der tri-
gonometrischen Reihen" entwickelt, in
denen „die Arbeiten, durch welche sich Herr
du Bois-Reymond an den Forschungen be-
theiligte" die Hauptrolle spielen. In einem
5ten, 26 Seitem langen Abschnitt „lie-
ber den Giltigkeitsbereich der Dar-
stellungsformeln für beliebige Func-
tionen" wird der „zeitraubende Wiederherstel-
lungsproceß" (pag. 54) . fortgesetzt. Dieser Ab-
schnitt soll als ein „Zusatz" — Herr du Bois-
Reymond hätte auch sagen können : als der von
jedem Kenner seiner Arbeiten gewiß schon längst
erwartete Zusatz — zu seiner Abhandlung in
Borchardfs Journ. Bd. 79 pag. 38 sqq. ange-
sehen werden; „dort gegebene Sätze sollen
»sorgfaltiger« hergeleitet und gegen andere zu
gleichem Zwecke aufgestellte abgewogen wer-
den" (pag. 28).
In den Gedankengang dieses Abschnittes ge-
hört auch die Behauptung des Herrn du Bois-
Reymond (pag. 26), „daß er die Priorität in Be-
zug auf alle Sätze der neuen Integraltheorie
habe" ; und weiter der Anhang, welcher eine
Prioritätsfrage in Betreff eines neuen Mittel-
werthsatzes, dem von Herrn du Bois-Reymond
eine wahrhaft fundamentale Bedeutung beige-
986 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 31.
legt wird, „wenn möglich aus der Welt schaffen
soll« (pag. 14).
An zweiter Stelle (Abschn. 3: Die
Bedeutung von Grenzen unendlicher
Operationen an Sprungstellen) wird mir
von Herrn du Bois-Reymond meine Kritik sei-
ner „eigentlichen Werthbestimmung derFourier-
schen Reihe" (siehe Math. Ann. Bd. 7 pag. 254)
vorgeworfen. Die Gründe, warum ich die du
Bois-Reymond'sche Anschauung von dem Werthe
der Fourier'schen Reihe an Sprungstellen ver-
werfe, sind zwar auf pag. 15 — 17 meiner Dis-
sertation auseinandergesetzt , doch sei hier noch-
mals kurz darauf hingewiesen, daß der
lim. tif**f(a)äa+jt [C0BJte/^(«)C0S*aÄa
*=°° »*=*, l -H Ä=l ~ti
+ sin kxT nf(a) &mkada]\
—IT
•
bei gleichzeitiger Bewegung der Argumente
zwar an allen Stetigkeitsstellen mit dem Werthe
der Fourier'scben Reihe übereinstimmt, aber
nicht an den Unstetigkeitsstellen, wo die Fou-
rier'sche Reihe nur den Mittelwerth aus den bei-
derseitigen Grenzwerthen annimmt, jener lim.
aber jeden dazwischen liegenden Werth an-
nehmen kann. Herr du Bois-Reymond schreibt
pag. 18: »Ein Mißverständniß, das ich mir kaum
erklären kann, ist, daß ich irgendwo den Nach-
weis zu führen versucht, die Fourier'sche Reihe
stelle an der Unstetigkeitsstelle alle Werthe der
Function zwischen den angrenzenden Werthen
dar. Angesichts der Schärfe, mit der ich mich
ausdrückte, läßt diese Behauptung bloß die Deu-
tung zu, daß der Verfasser die Abhandlung nur
vom Hörensagen kennt und entweder Mißver-
Da Bois-Reymond, Z. Gesch. d. trigon. Reihen. 987
standenes gehört oder Gehörtes mißverstanden".
Damit möchte ich Herrn du Bois-Reymond doch
bitten, gefälligst seine Abhandlung in den Math.
Ann. Bd. 7, ganz besonders aber folgende Stelle
auf pag. 254 vergleichen zu wollen : „Also sind
alle Werthe, welche die Fonrier'sche Formel und
die Fourier'sche Reihe an der Sprungstelle re-
präsentiert, eingeschlossen zwischen den Gren-
71 7t
zen äf(xi — ®) und äf(xi +0), ein Intervall,
das sie continuirlich ausfüllen, und kein Werth
liegt außerhalb«. Ich möchte wohl wissen, ob
Herr du Bois-Reymond nun noch Lust hat, die
Frage aufzuwerfen, ob ich Mißverstandenes ge-
hört, oder Gehörtes mißverstanden.
An dritter Stelle (Abschn.4: zum In-
tegralbegriff) beschwert sich Herr du Bois-
Reymond über folgenden Passus meiner Disser-
tation pag. 25: „Herr Prof. du Bois-Reymond
nimmt freilich in seinen Schriften über die Fou-
rier'schen Integrale wieder den Cauchy'schen
Standpunkt ein in Betreff der Definition des be-
stimmten Integrals, den Riemann wegen seiner
Willkürlichkeit verwirft. Daher schreiben sich
manche seiner von den gemeinbin angenomme-
nen völlig abweichenden Resultate". Dieser von
mir als nebensächlich angesehene Passus ist
allerdings vielleicht zu kurz gefaßt, und ich will
daher hier die Begründung beifügen, aus der
man auch ersehen wird, warum ich von einem
Cauchy 'sehen Standpunkt rede.
Die von Riemann anerkannte Definition des
bestimmten Integrals einer Function f(%), die
innerhalb des Integrationsgebietes unendlich wird,
ist auf mehrfache Integrale erweitert worden.
Wird z. B. eine sonst im Integrationsgebiete O
stetige und endliche Function zweier Variablen
988 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 31.
f(x>y) an einer Stelle X0 Y0 unendlich, so
schließe man von G ein kleines Flächenstück
aus, welches die Stelle X0 F0 enthält. Wenn
das Integral über den übrig bleibenden Theil
von G erstreckt einer festen Grenze A zu-
strebt, wie man auch das aasgeschlossene Flä*
chensttick bis zum Verschwinden verkleinert,
so versteht man unter A den Werth des über
das Gebiet G erstreckten Doppelintegrals.
Andernfalls hat das Integral keine Bedeu-
tung. Herr du Bois-Reumond nimmt in sei-
nen Schriften über die Fourier'schen Doppel*
integrale einen Standpunkt ein, der von der
consequenten Fortentwicklung der Riemann'schen
Definition verschieden ist. Er beruft sich dabei
auf Cauchy (Math. Ann. Bd. 4. pag. 366). Herr
du Bois-Reymond definiert nämlich ebenda »Ein
bestimmtes Doppelintegral / *dxf 1 dyf(xy\ wo
Xo Yo
X0 Xx Y0 Y1 Zahlen bedeuten, ist das Resul-
tat des Ueberganges der variablen Grenzen
xo X\V^V\ des unbestimmten Integrals
Jx'dxf*dyf{xy) in die Zahlen X0 Xt Y0YX€
und wendet diese Definition auch für den Fall
an, daß X0 Y0 ein Unendlichkeitspunkt der
Function ist. Die Folgen einer solchen Defini-
tion, auf welche Rieniann's Urtheil über die
Cauchy'schen Hauptwerthe, daß sie schon wegen
ihrer großen Willktirlichkeit zur allgemeinen
Einführung wohl kaum geeignet seien, zutrifft,
treten denn auch bald hervor. Herr du Bois-
d*F(xy)
Reymond giebt nämlich, indem erf(xy) = - ^
setzt, dem bestimmten Doppelintegral die Form :
F(xx y o - F{x, rt) - F(xr r0) + ^(x, re),
Du Bois-Reymond, Z. Gesch.d. trigon. Reihen. WQ
und folgert nun, daß je nach der Reihenfolge,
in der x0 xx y0 yx ihre festen Werthe anneh-
men, das Integra] im Allgemeinen 14 verschie-
dene Werthe (oder auch unendlich viele) be-
sitze. Herr du Bois-Reymond sagt nun pag. 24 :
„Es ist lediglich eine aus der Luft ge«
griffene Unwahrheit, daß manche meiner
»Resultate« von den gemeinhin angenommenen
völlig abweichen. Nicht ein Beispiel weiß ich
dafür". Ich meine das angefahrte wird hin-
reichen, um sich zu überzeugen, wie man so
merkwürdigen Ergebnissen gegenüber auf die
„analytischen Grundvorstellungen" des Herrn du
Bois-Reymond zurückgehen muß, und daß man
nicht eher zur Klarheit kommt, als bis man
„diese analytischen Grund Vorstellungen" (pg. 55)
als unzulässig oder auch als falsch erkannt hat.
Der Broschüre ist noch ein Schlußwort
beigefügt. Bemerkenswerth ist darin das bei
einem Autor von so eigener „Aengstlichkeit",
wie sich Herr du Bois-Reymond pag. 26 selber
schildert, gewiß auffallende Geständniß, „daß er
seine Aufsätze zumTheil schneller, als ihm lieb
war, habe veröffentlichen müssen, pour prendre
dateu\ Demnach wird mich gewiß meine Er-
wartung nicht täuschen, daß er „bei nächster
Gelegenheit" auch die in der vorliegenden Bro-
schüre „untergelaufenen Irrthümer verbessert",
(pag. 55).
Straßburg i. E. Dr. Arnold Sachse.
L e s si n g s persönliches und literarisches Ver-
hältnis zu Klopstock. Von Franz Muncker.
Frankfurt a. M. Literarische Anstalt Rütten &
Löning. 1880. VII, 232 S. 8°.
Die philosophische Facultät der Universität
990 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 31.
München stellte 1875 das im Titel genannte Thema
als Freisaufgabe and krönte im folgenden Jahre
des Verfassers eingereichte Arbeit, aus welcher
durch nachträgliche Erweiterungen und Beschrän-
kungen das gegenwärtige Buch hervorgegangen
ist. Dasselbe besteht aus vier Abschnitten: I.
Einleitung, Klopstock und Lessing. II. Lessing
über Klopstock, seine Anhänger und Gegner bis
1755. III. Lessing und die Berliner Freunde
über Klopstock und Wieland von 1755 bis 1767.
IV. Lessings Freundschaftsbund mit Klopstock
1767—1781. Schließlich werden im Anhange
einige bisher ungedruckte Schriftstücke, Nicolais
Bandbemerkungen zu seinem Exemplar der Oden
Klopstocks, ein Brief Mendelssohns an Gleim über
den Tod Adams und 13 Briefe Klopstocks mit-
getheilt, deren erster, der von Klopstock bis-
her bekannt gewordene älteste vom Oct. 1738,
aus einer alten Gopie der hiesigen Bibliothek
entnommen wurde. Ein Namenregister hilft das
Gelesene leicht wiederfinden.
Der Verfasser hat mit voller Sachkenntniß
und jugendlicher Begeisterung für Lessing wie
Klopstock geschrieben und manche kleine Ein-
zelheiten neu ans Licht gezogen, die das Bild
der behandelten Persönlichkeiten und ihrer Zeit
und Zeitgenossen vervollständigen, ohne dasselbe
wesentlich zu verändern. Wir erfahren, was wir
bereits wußten, nur daß der Verfasser unter den
üblichen Gesichtspunkten ästhetischer Auffassung
die Quellen, die Werke der Dichter und Schrift-
steller, die alten Zeit- und Streitschriften, sowie
die gedruckten Briefsammlungen unmittelbar und
selbständig wieder benutzt hat, um daraus die
nun einmal für unerschütterlich geltenden An-
sichten aufs neue zu bestätigen. Es wird nicht
leicht jemand das Wagestück versuchen, die
Dichter Deutschlands im 18. Jh. vor Klopstock
Muncker, Lessing and Klopstock. 991
and Lessing, die man gewöhnlich als Gottsche-
dianer bezeichnet, über den Schöpfer der Messiade
oder den der Minna and Emilie zu erheben,
eher vielleicht, den letzteren als Dichter einige
Stufen unter den üblichen Grad der Schätzung
herabzurücken, um ihn jenen za näheren, und
ohne Schwierigkeit würde sich darthun lassen,
daß einige jener älteren Dichter und besonders
einer derselben die Geringschätzung nicht ver-
dient hat, unter der er, in Folge der Partei-
streitigkeiten und des daraus erklärlichen Spot-
tes, mehr witzigen als billigen Charakters, immer
zu leiden hatte. Auch der Verf. wiederholt die
landläufigen Urtheile über Schönaich, dessen
Hermann er nach Form und Inhalt einen mis-
glückten Versuch nennt; Sprache und Vers seien
holperig und langweilig, die Erfindung eintönig
und unkünstlerisch, Phantasie und Empfindung
mangle völlig. Es handelt sich um ein erzäh-
lendes Gedicht von 1751, das dem unglücklichen,
auch von Klopstock getheiltem Wahne zufolge,
es lasse sich in neuerer Zeit ein Epos machen,
als Epos gelten sollte, sich aber doch nur Hel-
dengedicht nannte und damit nicht gerade zu-
viel sagte, da jedes erzählende Gedicht einen
Helden zu haben pflegt und Hermann auch im
weitern Sinne den Namen eines solchen trägt.
Ich will mich nicht zum Retter dieses Helden-
gedichtes aufwerfen, aber ich hätte gewünscht,
daß der Verf. sein Urtheil, soweit es thunlich
war, durch einige Züge aus dem Gedichte er-
wiesen oder doch modificiert hätte. In jenen
Jahren des verhimmelnden, allen, auch den
poetischen Boden anter den Fußen verlierenden äeraphis-
mos war eine Ernüchterung wohl angebracht und selbst
die Form der trocha'ischen Tetrameter, die Schönaich
keineswegs holperig handhabt, war den halsbrechenden
Hexametern gegenüber von relativer Bedeutung und nicht
992 Gott, gel Anz. 1880. Stück 31.
zu verachten. Selbst die Dichterkrönung, die den Spott
herausforderte und auf das Gedicht, seinen Urheber und
dessen Gönner in Apoll lenkte, ist gar nicht so lächerlich,
wie sie dargestellt wurde, da sie ein deutsches Ge-
dicht betraf, wahrend die Poeten sonst gewöhnlich nur
durch lateinische Verseleien Anspruch auf den poetischen
Lorbeer gewannen. Doch diese Bemerkungen treffen nur
einen gelegentlichen Theil der Arbeit, die jedoch auch
im Wesentlichen an der traditionellen Auffassung fest hält
und noch von >ewig gültigen Gesetzen« spricht, nach de-
nen Lessing die einzelnen Bezirke des geistigen Strebens
gesondert habe. Theoretisch bis auf einen gewissen Grad,
aber die Theorie ist ohne durchschlagende Wirkung ge-
blieben, selbst bei Lessing, und in der Gegenwart völlig
außer Kurs gesetzt. Ebenso war seine dramaturgische
Theorie lediglich eine Verfassung auf dem Papier, nach
der niemand als er selbst, und auch er mit großen Li-
cenzen, gearbeitet hat. Wie es um die Zerstörung der
»falschen von außen aufgedrängten Muster« des Dramas
beschaffen war, wäre auch wohl einmal genauer zu unter-
suchen. Es würde sich dabei zeigen, daß nach wie vor
die lieben Franzosen die Herrschaft behielten, im Lust-
spiele nicht nur, sondern auch in der Tragödie, und fer-
ner müßte sich zeigen, daß die von ihm erläuterte und
gestützte aristotelische Theorie, wenn sie durchgedrungen
wäre, un8ern Dichtern keine Richtschnur, sondern nur
eine neue von außen gekommne Fessel geworden wäre.
Während Aristoteles von einer Fülle dramatischer Er-
zeugnisse Beines Volkes Begriffe abstrahierte, war die
Sache bei Lessing geradezu umgekehrt, und weil er keine
Producte seines Volkes vorfand, die ihm durch andern
als bloß formellen Werth Achtung hätten abtrotzen kön-
nen, versuchte er, die Theorie, die von Kunstwerken her-
geleitet war, die ihm imponierten, als >ewiges Gesetze
geltend zu machen. Sein Mangel war, wie auch der Verf.
S. 42 sehr wohl erkennt, daß er bei der ästhetischen Kri-
tik stehen blieb, nicht bis zur historischen sich erheben
konnte, die allein gerecht und allein fruchtbar heißen
kann. Der Verf., der ähnliche Studien wie die hier ge-
botnen in Aussicht stellt, wird darin vielleicht den histo-
rischen Maßstab etwas liebevoller handhaben; hier wal-
tet noch wesentlich der ästhetische. K. Goedeke.
Für die Redaction verantwortlich : K Rehnisch, Director d. Gott. gel. Anz.
Commissions -Verlag der Dieterich'schen Verlags- Buchhandlung.
Jfruck der DieteHcK sehen Ihm.- Buchdruckerei ( W. Fr. Kaestner).
€& s* r* «> y *f
993
Göttingische
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück 32. 11. August 1880.
Inhalt: A. Mannheim, Cours de geome'trie descriptive de l'E-
cole Polytechniqne. Von H. 0. Zeuthen. — Th. Kjerulf, Udsigt
over det sydlige Norgee Geologi. Von 0. Lang. — V a m a n a ' s Stu-
regeln, bearb. von C. Cappeller. Von Th. Zachariae. — Hans Sachs1
Samintliche Fastnachtspiele, herausgeg. y. £• Goetxe. Bdoh. I. Von
K O'oedske.
s Eigenmächtiger Abdruck von Artikeln der Gott. gel. Anz. verboten s
Cours de geom^trie descriptive de
l'&cole Polytechnique, comprenant les
elements de la geometrie cinematique ; par A.
Mannheim. Paris, Gauthier- Villars 1880. —
In-8yo, de 460 pages, et illustre de 249 figures
dans le texte.
Der erste Theil dieses vor kurzem erschiene-
nen Buches führt den Titel: Untersuchung
der verschiedenen Darstellungs wei-
sen räumlicher Gebilde.
Da die Studierenden, welche in die Ecole
Polytechnique aufgenommen werden, bereits nut
den Elementen der darstellenden Geometrie ver-
traut sind, so beginnt der Verfasser in der er-
sten Vorlesung mit der Theorie der Schatten-
constructionen. Er behandelt sodann die Co-
tierungsprojection (zweite Vorlesung), die Central-
63
994 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 32.
projection (3. bis 9. Vorlesung), die Cavalier-
perspective (10. und 11. Vorlesung), die axono-
metrische Projection (12. Vorlesung, — ohne je-
doch auf den P o h 1 k e ' sehen Satz und auf die
an denselben sich anschließenden Betrachtungen
einzugehen), und die isometrische Projection
(13. Vorlesung).
Da der Verfasser sich in diesem ersten Ab-
schnitte ziemlich nahe an die bekannte Behand-
lungsweise in dem ausgezeichneten Werke von de
la Gournerie: Traite de Perspective lineavre
anschließt, so erwähnen wir hier nur eine Lö-
sung der Aufgabe: „Eine Ebene auf eine zar
Bildebene parallele Ebene herabzuschlagen", und
einige geometrische Anwendungen der Cavalier-
perspective einer Kugel.
Der zweite Theil mit dem Titel »Curven
und Flächen; theoretische Ergänzun-
gen und Anwendungen« enthält Sätze und
Constructionen über ebene und doppelt ge-
krümmte Curven, über abwickelbare und wind-
schiefe Flächen, über Schraubenflächen u. s. w.,
sowie über allgemeine Flächen. In der letzten
Vorlesung (der 31.) werden die topographischen
Flächen behandelt.
In diesem zweiten Theile sucht der Verfasser
eine einheitliche Methode in die Beweise zu
bringen, indem er von den Sätzen der kine-
matischen Geometrie Gebrauch macht.
Wir werden uns hier vorzugsweise mit den An-
wendungen dieser Methode beschäftigen, die dem
Buche ein sehr großes wissenschaftliches Inter-
esse verleiht. Aber zuvor wollen wir noch eine
Eigenschaft des ganzen Werkes hervorheben,
die es zu einem vorzüglichen Unterrichtsmittel
macht: die Darstellung ist durchweg klar und
einfach; sie ist hinreichend ausführlich und sorg-
Mannheim, Conra de g£omätrie descriptive. 995
fältig, um dem Leser eine vollständige Vor-
stellung von den vorgefahrten Materien zn ver-
schaffen, und dabei doch so kurz und elegant,
daß sich dieselben leicht dem Gedächtnis ein-
prägen. Man weiß, wie schwer es ist, zumal
bei der Beschreibung räumlicher Figuren, diese
beiden Vorzüge zu vereinigen.
Herr Mannheim wurde veranlaßt, in seine
Vorlesungen über darstellende Geometrie die
Elemente der kinematischen Geometrie einzu-
führen, als im Jahre 1867 der Conseil de per-
fectionnement de Vlicole Pdytechnique den Pro*
fessoren eine größere Freiheit in der Behand-
lung des vorgeschriebenen Stoffes einräumte.
Im ersten Augenblick wird man sich wundern,
daß Herr Mannheim diese Freiheit nicht dazu be*
nutzt hat, um die Zöglinge der berühmten Schule,
aus der Poncelet und Chasles hervorgegan-
gen sind, mit den Elementen der projectivi-
schen Geometrie bekannt zumachen, die ja
so nahe Beziehungen zur darstellenden Geometrie
hat Wir glauben sogar, daß eine kurze Dar*
legung der Anfangsgründe der projectivischen
Geometrie das Verständniß sowohl der darstel-
lenden als der kinematischen Geometrie so sehr
erleichtert hätte, daß die darauf verwandte Zeit
vollständig wieder eingebracht worden wäre.
Aber da der Verfasser eine Wahl zwischen der
projectivischen und der kinematischen Geometrie
für nöthig gehalten hat, und da seine eigenen
Arbeiten in das Gebiet der letzteren fallen, so
finden wir es natürlich, daß er geglaubt hat,
seinen Zuhörern durch Einführung der kinema-
tischen Principien nützlicher werden zu können.
Wie dem auch sei, die Geometer werden sich
über diese Wahl nicht zu beklagen haben, die
Herrn Mannheim Gelegenheit gegeben hat, im
63*
996 Gott gel. Anz. 1880. Stück 32.
Zusammenhang und in elementarer Weise die
Methoden darzustellen, deren er sich in einer
Reihe interessanter geometrischer Untersuchun-
gen bedient hat, die schon seit lange ihre Auf-
merksamkeit auf sich ziehen.
Nach der Auffassung des Verfassers ist die
kinematische Geometrie die Lehre von den Ver-
rückungen (deplcLcements), das ist die Lehre von
der Bewegung als einer bloßen Ortsveränderung,
unabhängig nicht nur von den Kräften, sondern
auch von der Zeit. Das letzte Merkmal unter-
scheidet sie von der Kinematik. Wie diese von
der Zusammensetzung unendlich kleiner Bewe-
gungen handelt, so handelt die kinematische
Geometrie von der Zusammensetzung unendlich
kleiner Verrückungen, wobei die Größe der Ver-
rückungen dieselbe Bolle spielt, wie die Ge-
schwindigkeit in der eigentlichen Kinematik.
Wir können zwar diesen Unterschied nicht für
wesentlich halten; allein der Verfasser bezeich-
net dadurch das Gebiet der Kinematik, mit dem
er sich beschäftigt.
Zur kinematischen Geometrie gehört in er-
ster Linie die Theorie der conjugierten Botations-
axen und der von ihnen gebildeten reciproken
Figuren. Es ist bekannt, daß jede unendlich
kleine Verrückung eines starren Systems auf
unendlich viele Arten durch zwei Botationen
hervorgebracht werden kann. Die eine der bei-
den Axen kann eine beliebige Gerade des Bau-
mes sein; durch sie ist dann die andere, welche
die conjugierte Axe heißt, vollständig bestimmt
Die den Geraden einer Ebene conjugierten Axen
gehen alle durch einen festen Punkt der Ebene,
ihren Brennpunkt (foyer). Da die Verschiebung
dieses Punktes senkrecht zur Ebene erfolgt, so
flieht man; daß umgekehrt ein gegebener Punkt
Mannheim, Cours de gäoiuetrie descriptive. 997
nur für eine einzige Ebene Brennpunkt ist Von
besonderem Interesse sind diejenigen Geraden,
welche mit ihren conjugierten Azen zusammen-
fallen: für diese wird die Zerlegung der Ver-
rückung des Systems unmöglich. Die Verschie-
bung eines beliebigen Punktes einer solchen Ge-
raden ist senkrecht zu derselben und der Punkt
ist Brennpunkt einer durch die Gerade gehen-
den Ebene. — Die den unendlich fernen Ge-
raden conjugierten Axen sind unter einander
parallel; eine unter ihnen wird zur Axe einer
Schraubenbewegung des Systems.
Die ersten Anfänge dieser allgemeinen Theo-
rie*) finden sich in einer Mittheilung von Herrn
Chasles an die Societe philomatique : „Note sur
les proprietes generates du Systeme de deux corps
semblables entryeuxy et places d'une maniere
quelconque dans Vespace; et sur le emplacement
fini ou infvniment petit (Fun corps solide libreu
(Bulletin des sciences math. p. Ferussac, Nov.
1830**); und sie ist vollständig entwickelt in
einer Abhandlung desselben großen Geometers,
die in den Gomptes rendus von 1843 Veröffent-
licht ist: „Proprietes genSrales du mou-
vement infiniment petit d'un corps so*
lide Hire dans Vespaceu. In dem Zeit-
raum zwischen diesen beiden Arbeiten haben
sich andere bedeutende Geometer mit der Zu-
*) Die Grundlage der ebenen kinematischen Geo-
metrie findet sich schon in einer Mittheilung an die So-
eUU philomatique aus dem Jahre 1829, die kürzlich in
dem Bulletin de la SociSte Maihimatique (1878) abge-
druckt worden ist*
**) Da ich diese Abhandlung nicht zu Gesicht be-
kommen habe, so citiere ich sie nach dem ausgezeichne-
ten Buche von Herrn Schell: »Theorie der Bewegung
und der Kräfte«. — Man vgl. auch die Note XXXIV
im Aperpu kktorique des Herrn Ghasles.
998 Gott gel. Anz. 1880. Stück 32.
sammensetzuäg unendlich kleiner Rotationen be<
schäftigt: Poinsot in seiner 1834 der Akademie
vorgelegten „Theorie nouvette de la rotation des
eorpsu and Möbius in einem interessanten Auf-
satz im Crelle'schen Journal von 1836. Es ist
noch zu bemerken, daß unter einem geometri-
schen Gesichtspunkt der allgemeine Theil der
kinematischen Geometrie identisch ist mit der
statischen Geometrie, welche Möbius aus den
statischen Principien Poinsot's entwickelt hat
(in einer Abhandlung im 10. Bande des Crel-
le'schen Journals und in seinem „Lehrbuch der
Statik«, Leipzig 1837).
Wir wollen nicht versuchen die Schriftsteller
aufzuzählen, welche seitdem, neben Herrn Chasles,
dieselbe Theorie weiter ausgebildet haben, theils
vom Standpunkt der Kinematik aus — für
diese verweisen wir auf die Anmerkungen in
dem Mannheim'schen Buche — , theils vom
Standpunkt der Statik aus, während noch an«
dere eine rein geometrische Theorie der Strecken
daraus entwickelten. Wir begnügen uns, daran
zu erinnern, daß unter einem geometrischen Ge-
sichtspunkte diese Theorien zusammenfallen mit
der Theorie der linearen Complexe von P 1 ti o k e r.
Denn der allgemeinste lineare Complex gerader
Linien kann betrachtet werden als zusammen-
gesetzt aus Geraden, die mit ihren conjugierten
Axen in Beziehung auf eine passende Ver-
rückung eines starren Systems zusammenfallen.
Ebenso bilden die Geraden, welche für jede
mögliche Verrückung eines starren an vier Be-
dingungen gebundenen Systems mit ihren con-
jugierten Axen zusammenfallen, die allgemein-
ste lineare Congruenz (geradliniges Strahlen-
system).
Hr. Mannheim hat hervorragende Verdienste
Mannheim, Coors de geometrie descriptive. 999
um die Weiterentwicklung dieser allgemeinen
yon Chasles, Poinsot and Möbius gegründeten
Theorien; man verdankt ihm hauptsächlich Un-
tersuchungen über die Verrückungen starrer
Systeme, die weniger als fünf Bedingungen un-
terworfen sind. Es genügt, in dieser Beziehung
an seine im Jahre 1869 in den „Memoires pri-
sentes par divers savants" veröffentlichte Ab-
handlang „ßtude sur le deplatement cFune
figure de forme invariable11 zu erinnern. Was
aber den Untersuchungen des Herrn Mannheim
die größte Wichtigkeit verleiht, ist der Reich-
thum und die Mannichfaltigkeit der Anwen-
dungen, welche er von der kinematischen
Geometrie gemacht hat, und das Geschick mit
dem er dieselben so weit durchzuführen weiß,
bis er — fast in jedem einzelnen Falle — die
eleganteste Construction und Beweisführung er-
hält. Er hat zur Vervollkommnung des Werk-
zeuges, das er kinematische Geometrie nennt,
beigetragen ; aber vor allem hat er uns mit des-
sen Handhabung bekannt gemacht.
Bei diesen Anwendungen beschränkt sich
Herr Mannheim keineswegs auf den Gebrauch
der oben besprochenen allgemeinen Sätze, die
der kinematischen und der statischen Geometrie
gemeinsam sind. Vielmehr bedient er sich un-
mittelbar der kinematischen Schlußweisen, die
zum Beweise jener allgemeinen Sätze geführt
haben. Die unendlich kleinen Verrückungen er-
setzen dabei die Differentiationen der Analysis;
mit ihrer Hilfe zieht er auch die Veränderungen
der bewegten Systeme in den Kreis der Be-
trachtung, und leitet daraus geometrische Eigen-
schaften unbeweglicher Systeme her.
Diese nämlichen Methoden, deren sich Herr
Mannheim bei der Mittheilung seiner eigenen
1000 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 32.
Untersuchungen zu bedienen pflegt, finden sich
in dem vorliegenden Buche wieder, und wäh-
rend er daraus die Beweise der durch das
Programm der £cole Polyteehnique vorgeschrie-
benen Lehrsätze schöpft, giebt er zugleich in
Nachträgen eine seiner wichtigsten anderweiti-
gen Anwendungen der kinematischen Geometrie.
Wir werden daher im Verlaufe unseres Berich-
tes Gelegenheit haben auf diese Anwendungen
näher einzugehen und kehren jetzt zur Analyse
der einzelnen Vorlesungen zurück.
Das Ende der 13. Vorlesung, welches schon
zum zweiten Theile des Buches gehört, die 14.
und der größte Theil der 15. Vorlesung enthal-
ten die Elemente der ebenen kinematischen Geo-
metrie und Anwendungen auf die^ Construction
von Normalen und Krümmungsmittelpunkten.
Die Untersuchungen erhalten eine feste Grund-
lage, indem der Verfasser Definitionen und
Lehrsätze den Clements de Calcul infinitesimal
von Duhamel entlehnt. Er untersucht die Be-
ziehungen zwischen der Krümmung der Bahnen
und der Krümmung der Enveloppen der ver-
schiedenen Punkte und Geraden eines ebenen
Systems und giebt Beispiele der analogen Be-
ziehungen bei veränderlichen Systemen. Von
den speciellen Beispielen in diesen Vorlesungen
nennen wir eine elegante kinematische Herlei-
tung einer Construction der Axen einer Ellipse,
von der zwei conjugierte Durchmesser gegeben
sind, (die Construction war auf anderem Wege
schon im ersten Theile abgeleitet worden), und
Constructionen der Krümmungsmittelpunkte der
Ellipse und der Evolute einer Ellipse.
Der Rest der 15. Vorlesung, die 16. und der
erste Theil der 17., in welchen von der kine-
matischen Geometrie kein Gebrauch gemacht
Mannheim, Coarg de gäoraetrie descriptive. 1001
wird, enthalten die Definitionen und die wich-
tigsten Sätze und Gonstrnctionen aus der Theorie
der Curven doppelter Krümmung, der einhüllen*
den und geradlinigen, insbesondere der ab-
wickelbaren Flächen. Leider findet man in
diesen Vorlesungen nichts über Enveloppen von
Flächen, die yon zwei variabeln Parametern ab-
hängen und gelangt so nicht zu der doppelten
Betrachtungsweise einer beliebigen Fläche: als
Ort von Punkten oder aber als Enveloppe von
Ebenen.
Am Ende der 17. Vorlesung nimmt der Ver-
fasser die kinematische Geometrie wieder auf
mit der Untersuchung der unendlich kleinen
räumlichen Verrückungen eines ebenen Systems
und einer Geraden. Die gefundenen Resultate
wendet er in der 18. Vorlesung an, welche der
geometrischen Optik gewidmet ist. Mit Hilfe
der Sätze über die Veränderung einer bewegli-
chen Strecke beweist er den Satz von Malus
und Dupin über gebrochene Strahlen. Der Rest
der Vorlesung enthält eine sehr elegante geo-
metrische Discussion der Wellenfläche; der Ver-
fasser findet verschiedene Definitionen derselben
und giebt mehrere Methoden zur Construction
von Normalen und zur Bestimmung der singu-
lären Punkte und Tangentialebenen an. Bei
einer spätem Gelegenheit kommt er auf dieselbe
Fläche zurück, um ihre Krümmung zu bestim-
men und ihre Nabelpunkte auf ebenso elegante
Weise zu ermitteln.
Die Sätze über die Verrückung einer Gera-
den liefern ein ausgezeichnetes Mittel für das
Studium der geradlinigen Flächen und die Con-
struction der längs einer Erzeugenden berühren-
den Hyperboloide. Der Verfasser zieht zu An-
fang der 19. Vorlesung Nutzen daraus. Erfährt
1002 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 32.
hierauf in der kinematischen Geometrie fort,
und nachdem er die Hauptsätze über die con-
ju gierten Rotationsaxen aufgestellt hat, leitet er
daraus den für die Normalenconstruction wich-
tigen Satz ab, daß die Normalen an die Bahn«
flächen {surfaces trajedoires) der Punkte eines
starren an vier Bedingungen gebundenen Sy-
stems durch zwei feste Gerade gehen. Diese
Geraden können imaginär sein; aber der Ver-
fasser zeigt, wie man in diesem Falle zu ver-
fahren hat. Neben den kinematischen Hilfs-
mitteln bedient sich Herr Mannheim mit Vortheil
der Relationen zwischen den beiden Projectionen
derselben Figur, indem er eine Gerade einführt,
die er Hilfsgerade nennt, und die sich als sehr
nützlich erweist zu Constructionen in Bezug auf
ein Element einer windschiefen Fläche.
Die Normalen an die Bahnflächen der Punkte
eines starren an vier Bedingungen gebundenen
Systems bilden eine allgemeine lineare Con-
gruenz. Da der unendlich kleine Theil einer
beliebigen Gongruenz, oder ein unendlich dün-
nes Strahlenbtindel*), als linear betrachtet wer-
den kann, so führt der eben citierte Satz zu
den Haupteigenschaften der unendlich dünnen
Strahlenbündel. Im Anschluß an die Untersu-
chung eines Bündels von Normalen an eine
Fläche entwickelt der Verfasser in der 21. bis
23. Vorlesung seine geometrische Theorie der
Krümmung der Flächen. Leider hat die kine-
matische Geometrie bisher keinen hinreichend
*) Noch ehe Plücker seine neue Geometrie der Ge-
raden im Räume ausgebildet hatte, sind die unendlich
dünnen Strahlenbündel von Herrn Kummer untersucht
worden. Man sehe seine auch von Herrn Mannheim ci-
tierte Abhandlung: Allgemeine Theorie der geradlinigen
Strahlensysteme (Crelle's Journal, Band 57).
Mannheim, Cours de geomötrie descriptive. 1008
einfachen Beweis von der Realität der beiden
Hauptschnitte zu geben vermocht ; aber nachdem
dieselbe auf anderem Wege erwiesen ist, ergiebt
sich ihre Rechtwinkligkeit unmittelbar ans den
kinematischen Betrachtungen. Die Krtimmungs-
theorie des Herrn Mannheim beschränkt sich
übrigens keineswegs auf kinematische Beweise*)
bekannter Lehrsätze; vielmehr verdankt man
ihm viele werthvolle Erweiterungen, von denen
einige in seinen „Vorlesungen" Aufnahme ge-
funden haben. Wir führen davon an: Erweite-
rungen des Meusnier'scben Satzes, elegante Con-
structionen über die Durcbschnittscurve zweier
Flächen und Sätze über Normalenflächen; an-
dere werden im Anhang zur 30. Vorlesung ge-
geben oder wenigstens angedeutet.
Die 23. Vorlesung enthält die Anwendung
der Krümmungstheorie, hauptsächlich des Satzes
über die conjugierten Tangenten, auf die Con-
struction der Schattencurven. Auch diese Vor-
lesung ist reich an interessanten Gonstructionen ;
doch unterlassen wir es, auf Einzelheiten einzu-
gehen.
In den folgenden Vorlesungen beschäftigt
sich der Verfasser mit den verschiedenen Schrau-
benflächen. Da jede unendlich kleine Bewegung
als eine Schraubenbewegung betrachtet werden
kann, so ist einleuchtend, daß die kinematischen
Methoden hier sehr wirksam sind. Wir heben
vor allem die Anwendung hervor, welche der
Verfasser von der einer Ebene adjungierten Ge-
raden macht, d. h. von der während einer un-
*) DaB diese theoretischen Beweise noch nicht ganz
vollständig sind, sieht man zum Beispiel daran, daß die-
selben die Möglichkeit einzelner Aasnahmepunkte nicht
offen lassen , fur welche — analytisch gesprochen — der
Taylor'sche Lehrsatz nicht anwendbar ist.
1004 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 32.
endlich kleinen Verrttckung zur unendlich fer-
nen Geraden der Ebene gehörigen conjugierten
Axe. Die Projection der zu einer Ebene P ad-
jungierten Geraden auf eine zur Ebene P senk-
rechte Ebene Q wird zur Charakteristik der
Ebene Q. Während eine Ebene eine stetige
Schraubenbewegung ausführt, beschreibt die zu-
gehörige adjungierte Gerade einen senkrechten
Kreiscylinder. Der Nutzen dieser Sätze flir
Constructionen, die sich auf Schraubenflächen
beziehen, ist augenscheinlich.
Der Verfasser besitzt jetzt die Mittel, um die
Theorie der abwickelbaren und windschiefen
Flächen zu vervollständigen, sowie einfache und
elegante Lösungen derjenigen Aufgaben zu ge-
ben, bei denen diese Flächen durch vorgeschrie-
bene Curven oder Flächen bestimmt werden
(27. bis 30. Vorlesung). Bei mehreren dieser
Aufgaben wird eine windschiefe Fläche als der
geometrische Ort der Kante eines Flächenwin-
kels von unveränderlicher Größe definiert Da-
bei wird dann ein Element der Fläche erzeugt
durch eine Rotation um diejenige Gerade, wel-
che der zur Kante senkrechten Ebene adjungiert
ist. Ein Ausnahmefall tritt ein, wenn die ad-
jungierte Gerade mit ihrer conjugierten Axe im
Unendlichen zusammenfällt, weil dann die an-
gewandte Zerlegung der Verrttckung des Flä-
chenwinkels unmöglich wird ; aber der Verfasser
ist im Irrthum, wenn er auf Seite 437 seines
Buches und auf Seite 5 des Bulletin de la So-
ciete Mathematique de la France sagt, daß die-
ser Ausnahmefall im allgemeinen eintritt, sobald
die Charakteristik einer Seite des Flächenwin-
kels senkrecht zur Kante ist. Denn hieraus
folgt im allgemeinen nichts weiter, als daß das
erzeugte Flächenelement abwickelbar wird, und
Mannheim, Cours de geometrie descriptive. 1005
nur dann, wenn die Charakteristiken beider Seiten
auf der Kante senkrecht stehen, erhält man ein
windschiefes Flächenelement, welches nicht mehr
anf die angegebene Weise erzeugt werden kann.
In seiner ersten Mittheilung über diesen Aus-
nahmefall in den Comptes rendus entgeht Herr
Mannheim dem genannten Fehler, indem er aus-
drücklich fordert, daß das Element windschief
sein soll.
Wir bemerken noch, daß der Anhang zur
30. Vorlesung besondere Beachtung verdient, in-
sofern er als Einleitung zu denjenigen Unter-
suchungen des Herrn Mannheim und seiner Nach-
folger dient, die in dem Buche keinen Platz fin-
den konnten.
Man wird aus unserer Darstellung nur schwer
den Plan ersehen können, nach dem der ' Ver-
fasser den Stoff im zweiten Theile angeordnet
hat. Und in der That finden sich Untersuchun-
gen über denselben Gegenstand an ganz ver-
schiedenen Stellen, weil der Verfasser, der haupt-
sächlich die Anwendungen seiner Principien im
Auge hatte, diese unmittelbar an jeden Fort-
schritt der Theorie anreihte. Wie nützlich auch
dieses Verfahren beim mündlichen Vortrage sein
mag, wo man durch häufige Wiederholungen
den Zusammenhang der theoretischen Principien
hervortreten lassen kann, und wo man den Zu-
hörern eine klare Vorstellung von den verschie-
denen Figurenclassen gleich von ihrer ersten
Einführung an verschaffen kann, so hätten wir
doch in den gedruckten „Vorlesungen" eine
andere Anordnung vorgezogen. Hauptsächlich
glauben wir, daß es besser gewesen wäre, die
Entwicklung des theoretischen Theiles der kine-
matischen Geometrie in einem einzigen Abschnitt
zu vereinigen, und dann in den Anwendungen
1006 GOtt gel. Anz. 1880. Stück 32.
darauf zu verweisen. Wir wollen an einem
Beispiel die Richtigkeit dieser Bemerkung zei-
gen. Selbst wenn man in den Compies rendus
den vollständigen Wortlaut der Sätze über den
oben besprochenen Ausnahmefall liest, in wel-
chem die Verrückung eines Flächenwinkels sich
nicht mit Hilfe einer Rotation bewerkstelligen
läßt, sieht man nur schwer ein, daß es unmög-
lich ist, die Verrttckung durch eine Translation
in der Richtung der Kante herbeizuführen. Aber
diese Unmöglichkeit hat durchaus nichts auf-
fallendes mehr, wenn man diesen Specialfall
unter den allgemeinen Fall unterordnet, in wel-
chem es sich darum handelt, eine Verrückung
in zwei Rotationen zu zerlegen, von denen die
eine um eine Gerade stattfindet, die sich selbst
conjugiert ist.
Wir könnten noch einige Bemerkungen über
den Mangel an Allgemeinheit in der Formulie-
rung mehrerer Sätze und Discussionen machen;
so macht der Verfasser z. B. keinen Gebrauch
von der Zeichenregel der Strecken einer Ge-
raden ; aber da die Beweise selbst die wtin-
schenswerthe Allgemeinheit besitzen, so wollen
wir nicht weiter Gewicht darauf legen.
Neben den werthvollen Untersuchungen und
den fruchtbaren Methoden des Herrn Mannheim,
von denen wir zu berichten hatten, mußten wir
soeben einen Umstand erwähnen, mit dem wir
uns nicht einverstanden erklären konnten. Lei-
der konnte unser kurzer Auszug nicht alle
Schönheiten des Buches, als Ersatz, erkennen
lassen. Viele derselben entgehen sogar einer
raschen Leetüre, bei der man sich damit be-
gnügt, dem Verfasser bis zu dem Punkte zu fol-
gen, wo man sieht, daß die aufgewandten Mit-
tel zur Ueberwindung der Schwierigkeiten der
Kjerulf, Udsigt over det sy dl. Norges Geologi. 1007
gestellten Aufgaben aasreichen. Um den vollen
Genuß von der eleganten Ausführung der Lö-
sungen zu haben, muß man sie bis zu Ende
verfolgen. Wir laden daher unsere Leser ein,
durch ein sorgfältiges Studium diese Schönhei-
ten selbst kennen zu lernen.
Kopenhagen. EL G. Zeuthen.
Udsigt over det sydlige Norges
GeologL Med i texten indtagne tegninger,
profiler, planer, en atlas, 39 plancher i trae-
snit, indeholdende grafiske fremstillinger samt
den geologiske undersögelses oversigtskart i
1 : 1000000. Udgivet ifölge foranstaltning af
den kongelige norske Regjerings Departement
for det Indre. Dr. Theodor Kjerulf. Chri-
stiania, trykt hos W. G. Fabritius 1879. —
Groß-Quart. 262 S., Atlas in Querfolio mit 39
Tafeln und der auf Leinwand gezognen Ueber-
sichtskarte.
Die Geologie des südlichen und
mittleren Norwegen. Uebersichtlich bear-
beitet und im Auftrage der Königlich Norwegi-
schen Regierung, Departement Air das Innere,
herausgegeben von Dr. Theodor Kjerulf.
Autorisirte deutsche Ausgabe von Dr. Adolf
Gurlt. Mit zahlreichen Holzschnitten, Karten
und Tafeln. Bonn, Verlag von Max Cohen &
Sohn (Fr. Cohen). 1880. 350 Seiten. 4°.
In übersichtlicher Darstellung bietet hier der
Chef der „geologischen Untersuchung" von Nor-
wegen die Resultate, welche in dem Zeitraum
1008 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 32.
von 20 Jahren, seitdem die Landesuntersuchung
organisiert worden ist, gewonnen worden sind;
er legt gewissermaßen Rechnung ab und darf
mit t großem Stolze auf das Errungene blicken,
denn unter seiner Leitung und mit beschränkten
äußern Mitteln, dagegen großentheils durch
seine eigene Forschung und seine schnelle and
geistvolle Auffassung ist es gelungen, in so kur-
zer Zeit umfassende Kunde von dem geologi-
schen Bau des ganzen südlichen und mittleren
Norwegens zu erlangen, von einer Strecke der
Erdoberfläche, die etwa 200,000 Quadrat-Kilo-
meter umfaßt.
Ist auch die Zahl der dem Verfasser zur Be-
nutzung gebotenen und zum Theil sehr werth-
vollen Vorarbeiten nicht ganz unbeträchtlich
gewesen, so haben doch nicht alle derselben
sein Unternehmen stützen und fördern können,
im Gegentheil verschleierte die in einzelnen der-
selben herrschende Naturanschauung die wahre
Sachlage und kostete es viele Mühe, das Un-
richtige zu erkennen und als solches nachzu-
weisen, um zu einem freieren Gesichtspunkte
hindurchzudringen. Der Kritik, der Arbeitskraft
und der Ausdauer des Verfassers ist es gelun-
gen, auch diese Schwierigkeiten zu überwinden,
er hat die geologischen Kenntnisse nicht nur
vermehrt, sondern auch gesichtet, und es wird
deshalb die geologische Kunde von Norwegen
für immer die Trägerin des Ruhmes von Theo-
dor Kjerulf sein.
Die Darstellung der gewonnenen Resultate
ist vom Verfasser, unter Hinweis auf die betr.
Monographien, in sehr knapper Form geboten;
statt eingehende und umfangreiche Schilderun-
gen hat es Kjerulf vorgezogen, zahlreiche Ab-
bildungen und graphische Darstellungen zu ge-
Kjernlf, Udsigt over det sy dl. Norges Geologi. 1009
ben (es sind deren 280) and größtenteils dem
Texte einznflechten, indem er von letzteren und
wohl mit Recht erwartet, daß sie auf dem kür-
zesten Wege in die Geologie Norwegens ein-
führen. Als zusammenfassende Darstellung der
geologischen Erkenntniß von Norwegen muß man
die dem Original- Werke beigegebne, in der deut-
schen Ausgabe leider weggelassene, geologische
Uebersichtskarte auffassen; wenn dieselbe auch
nicht allen Wünschen genügt, so bietet dieselbe
doch ein klares Bild von der Art und Weise, in
welcher nach des gründlichsten Kenners Ansicht
das südliche und mittlere Norwegen aufge-
baut ist
Bei der großen Reichhaltigkeit des Werkes
erscheint es unmöglich, ein vollständiges und
eingehendes Referat zu geben, ohne den erlaub-
ten Raum zu überschreiten; ich kann mich da-
her nur darauf beschränken, in den gröbsten
Zügen den Inhalt zu skizzieren.
Der „Ueberblick" beginnt mit Betrachtung
der „losen Decke", der jüngsten, glacialen und
postglacialen Bildungen; es ist das ein Capitel,
das zur Zeit um so größeres Interesse finden
dürfte, wo der Kampf der Theorien über die
Bildung der norddeutschen Diluvial- Ablagerungen
so lebhaft entbrannt, eine Relation aber zwischen
letzteren und den Glacial-Gebilden Skandinaviens
schon längst sicher ermittelt ist. Nach einer Auf-
zählung und theilweise bildlichen Darstellung der
glacialen und postglacialen fossilen Fauna werden
die Erscheinungen erörtert, welche für Hebung
und zwar eine nicht stätige Hebung (Terrassen,
Strandlinien) des Landes seit jener Zeit spre-
chen; daran schließt sich die Betrachtung der
erratischen Blöcke, der Scheuerstreifen und der
alten Moränen.
64
1010 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 32.
Von jeher ist die Umgebung von Christiania
als der Schlüssel zur geologischen Erkenntniß
Norwegens betrachtet worden; deshalb beginnt
nun auch die Darstellung des eigentlichen Fel-
senbans von Norwegen mit der Schilderung des
Christiania-Beckens. Die Silurische Formation
wie der ihr auflagernde, als devonisch ver-
muthete aber petrefactenfreie Sandstein (Sand-
sten-etagen) werden in Kurzem geschildert und
dienen zur Darstellung von der verticalen Ver-
keilung der Petrefacten sowie von der Mächtig-
keit der „Etagen" eine Anzahl ideeller Sche-
mata (die in der deutschen Ausgabe mit Recht
auf eins reduciert worden sind). An eine kurze
Charakteristik der Gänge von Eruptivgesteinen
in dieser Gegend knüpft die Betrachtung der
Contact-Erscheinungen an und wird als lehr-
reichstes Beispiel der Granit von Drammen vor-
geführt, seine Lagerungs- Verhältnisse eingehen-
der dargestellt und besonders die Erzführung sei-
ner Contactzone hervorgehoben. Die Schilde-
rung der Faltungen und Verwerfungen der
Schichten, die nun folgt, beschränkt sich schon
nicht mehr auf das Christiania-Becken allein,
wo allerdings gerade Schichten-Faltungen in
wunderbarer Schönheit zu finden sind.
Unter den petrefactenführenden Silurschichten
des Christiania-Beckens finden sich nun petre-
factenleere Gesteine (fjelde) lagernd, deren Cha-
rakteristik zunächst ein großer Abschnitt ge-
widmet ißt, um dann die Verhältnisse dieser
Grundgebirge und der alten ihnen auflagernden
Sedimentärschichten (Quarz- und Sparagmit-
formation etc.) für das Central-Gebiet Norwegens
und für das Gebiet Drontheims getrennt, ein-
gehender zu erörtern (Seite 74 — 182; die Sei-
tenzahlen zeigen, wie summarisch diese Inhalts-
Kjerulf, Udßigt over det sy dl. Norges Geologi. 101 1
Angabe ist). Betreffs der nun folgenden (S. 183
— 224) Schilderung der Eruptivgesteine, für de-
ren ältere Glieder Norwegen eine unerschöpfliche
Schatzkammer ist, wird mit dem Referenten
wohl jeder Petrograph den fühlbaren Mangel
eingehender, mikroskopischer, chemischer und
zugleich auf der geologischen Local-Untersu-
chung beruhender Untersuchungen bedauern.
Von zahlreichen Abbildungen ist das folgende
Capitel begleitet, das der Structur der Gesteine
und Erzablagerungen gewidmet ist; ersichtlich
mit Vorliebe ist darin die transversale Schieferung
geschichteter Gesteine behandelt.
Eine der Haupt-Aufgaben einer geologi-
schen Landesuntersuchung ist das sorgfältige
Studium der Lagerstätten nutzbarer Mineralien;
dem entsprechend finden denn auch in diesem
Berichte die Erz-Lagerstätten des südlichen Nor-
wegens gehörige Berücksichtigung; nach kurzer
Entwicklung der Theorie von der Bildung erz-
erfüllter Räume werden die Erzvorkommen nach
der Natur ihrer Erze zusammengestellt auf-
gezählt.
Den Schluß bildet ein Capitel handelnd von
der Gestaltung der Oberfläche, insbesondere von
den Richtungen der Thäler und Fjorde, in dem
mit Recht hervorgehoben wird, wie die Ober-
flächen-Formen in erster Reihe durch den inne-
ren Gebirgsbau bedingt werden, und wie schon
die Goncordanz in den Richtungen der Fjorde
und Thäler dazu führt, letztere als aus großen
Spaltensystemen, welche die Oberfläche schnei-
den, hervorgegangen anzunehmen und nicht allein
als Froducte der allerdings mitwirkenden, aber
doch nur oberflächlich thätigen Erosion.
Diese Inhalts-Uebersicht wird, hoffeich, eine
64*
1012 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 32.
Idee von der Masse des in diesem Werke be-
bandelten Materials gegeben haben.
Es bleibt nun zu wünschen, daß nachdem
anter der energischen Direction und zum großen
Theil durch die eigenen Forschungen Kjemlfs
ein Ueberblick über den geologischen Bau des
südlichen und mittleren Norwegens gewonnen
ist, eingehende Detailuntersuchungen folgen und
der geologischen Erkenntniß festere und exactere
Begründung erringen mögen. Dabei werden
allerdings voraussichtlich die bisherigen An-
schauungen nicht immer Bestätigung finden,
sondern die Enthüllung von Irrthümern kann
auch nicht ausbleiben. Bei der staunenerregen-
den Menge von Forschungs-Resultaten, welche
die Wissenschaft Ejerulf verdankt, ist es ja
eigentlich selbstverständlich, daß ein oder das
andere bei eingehenderer Forschung sich als
nicht fest begründet erweisen muß, schon nach:
dem Erfahrungssatze: »Irren ist menschlich«.
So kann z. B. Referent auf Grund eigener Be-
obachtung die geologische Skizze der Insel
Nackholm bei Christiania, die von Ejerulf be-
reits 1857 im Nyt Magazin f. Naturvidenska-
berne, 9. Band S. 293 gebracht und nun auch
in die „Udsigt etc.tf auf Tafel XXIV (Deutsche
Ausgabe S. 251) aufgenommen worden ist, als
falsch bezeichnen. In ihrer jetzigen Form hat
die Skizze bedeutendes geologisches Interesse,
da sie zeigt, wie auf Nackholm der „Grttnsteintf,
welcher sich sonst im Christiania-Silurbecken
immer jünger erweist als der „Syenit-Porphyr
(BP)tf, z. Th. älter ist als dieser und von ihm
in Gängen verworfen wird. Diese ganz wun-
derbare Thatsache, welche für die geologische
Altersbestimmung der Eruptiv-Gesteine höchste
Wichtigkeit besitzt, wird also schon 20 Jahre
Kjeralf, Udsigt over det sydl. Norges Qeologi. 1013
lang von Kjerulf behauptet und doch hätte sich
Kjeralf leicht überzeugen können, wenn er nur
wenige Musestunden opferte, einmal nach Nack-
holmen ruderte und die Sachlage mit Hilfe des
Hammers revidierte, daß dieses Verhältniß gar
nicht existiert, daß seine Darstellung irrig ist
und daß ebenso wie der eine, Süd-Nord strei-
chende Grünsteingang (mit T bezeichnet im
Nyt Magazin) auch die Nordost-Südwest strei-
chenden Grünsteingänge (Tg ebendaselbst) durch
den Syenit-Porphyr hindurchsetzen. — So wie
in diesem Falle wird beim weiteren „Ausfeilen"
des im großen Guß gelungenen Werkes voraus-
sichtlich auch manche andere Partie umgestal-
tet werden müssen.
Was schließlich die deutsche Ausgabe be-
trifft, so darf man den Verfasser beglückwün-
schen, einen nicht nur gewandten, sondern auch
sachverständigen Uebersetzer gefunden zu ha-
ben, der das Werk ersichtlich mit Liebe behan-
delt hat; diese hat er auch darin bethätigt, daß
er der Uebertragung ein Vorwort, enthaltend
eine Darstellung von der historischen Entwick-
lung unserer geologischen Kenntnisse Norwegens,
vorausgeschickt und ein Sach-Register, welches
man am Originalwerke schmerzlich vermißt,
hinzugefügt hat ; auch dem Texte hat der Ueber-
setzer einzelne Anmerkungen ein geflochten (die
auf Seite 56 stehende, den Sparagmit betreffende
Anm. aber wäre sicherlich besser durch einen
Hinweis auf S. 126 ff. ersetzt worden, denn eine
Arkose oder ein regenerierter Granit, als wel-
chen man sich dieser Anmerkung zu Folge den
Sparagmit vorstellen muß, ist dieser entschieden
nicht; den Handstücken nach zu urtheilen, wel-
che Referent im geolog. Museum zu Christiania
gesehen, ist Sparagmit eher als Conglomerat zu
1014 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 32.
bezeichnen und unterscheiden sich selbst die
Arkose-ähnlichsten Partien, wie Kjerulf angiebt,
von einem regenerierten Granit durch den Man-
gel des Glimmers). — Auch die deutsche Ver-
lagshandlung verdient Anerkennung für die
Ausstattung der Uebersetzung, indem das Werk,
obwohl in kleinerem Format gedruckt, sich sehr
stattlich ausnimmt; nur ist, wie schon betont,
zu bedauern, daß der deutschen Ausgabe die
geologische Uebersichtskarte nicht gleich beige-
geben ist. 0. Lang.
Vämana's Stilregeln bearbeitet von
C. Cappeller. Straßburg (Karl J. Trübner) &
London (Trübner & Co.). 1880. pp. XII, 38. 8°.
Seiner im Jahre 1875 veröffentlichten Aus-
gabe von Vämana's Lehrbuch der Poetik läßt
Cappeller jetzt eine Bearbeitung des fünften
Capitels (präyogikam) unter dem Titel 'Väma-
na's Stilregeln* folgen. Wir danken dem Ueber-
setzer für seine fleißige und sorgfältige Arbeit,
durch die er uns das Verständniß eines schwie-
rigen Werkes erleichtert und speciell allen de-
nen, die sich für die indische Grammatik inter-
essieren, einen großen Dienst erwiesen hat. In
der Einleitung erörtert Cappeller die Frage nach
der Lebenszeit desVämana und seiner etwaigen
Identität mit dem Verfasser der Kägikä von
Neuem und kommt p. VII zu dem Resultate,
'daß unser Vämana wohl ein Zeitgenosse des
Verfassers der Kä^ikävrtti gewesen sein kann,
wenn wir beide etwa um 1000 setzen, daß sie
aber wahrscheinlich verschiedene Persönlich-
Vämana's Stilregeln bearb. v. Cappeller. 1015
keiten waren'. In der Vorrede zur Textausgabe
des Vämana hatte Cappeller die Identität des
Verfassers der Kä$ikä und der Kävyälamkära-
vrtti als wahrscheinlich hingestellt und anter
Voraussetzung dieser Identität die Abfassung
beider Werke in das 12. Jahrb. versetzt. Wir
haben nie glauben können, daß Vämana so spät
gelebt habe. Jetzt sieht sich Cappeller genö-
tbigt, auf Grund der Thatsache, daß Abhinava-
gnpta (zwischen 975 und 1050) in seinem
Werke über Alamkära den Vämana unter sei-
nen Autoritäten aufführt, den Verfasser der Poe-
tik mindestens in das Jahr 1000 zu setzen. In-
dessen es scheint kein Grund vorhanden, den
Vämana nicht für noch älter zu halten. Denn
ob in IV, 1, 10 mit kaviräja der Dichter des
Räghavapändaviyam gemeint ist, ist im höch-
sten Grade zweifelhaft; und inwiefern der Um-
stand, daß Vämana drei Stellen aus dem utta-
rakhandam des Eumärasambhava (nämlich 8, 31.
62. 63) citiert, für eine spätere Datierung äußerst
wichtig ist (p. IV Anm.), — darüber hat sich
Cappeller nicht weiter ausgesprochen. Es wird
demnach alles darauf ankommen, den Nachweis
zu führen, daß der Verfasser der Poetik kein
Anderer ist als der Verfasser [eines Theiles] der
Kä^ikä, von dem wir im Anschluß an Bühler
bis auf Weiteres annehmen wollen, daß er um
800 geschrieben habe. Wir müssen nun zu-
geben, daß es Cappeller gelungen ist, Gründe
ins Feld zu fähren, welche gegen eine Identi-
ficierung der beiden Vämana's zu sprechen
scheinen. Allein was zunächst die Gana's an-
betrifft, so ist es eine mißliche Sache, mit den-
selben zu operieren. Obwohl die Kägikä jetzt
gedruckt vorliegt, so wissen wir doch nicht ge-
nau, was für Gana's dem Vämana wirklich vor-
1016 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 32.
gelegen haben; man sehe nur die vielen Va-
rianten in BälaQästrin's Ausgabe; und Cappeller
sagt mit Recht, daß wir bei den Gana's, welche
in der Kävyälamkäravrtti angefahrt werden, oft
in Zweifel sind, ob Vämana dieses oder jenes
Wort in dem betreffenden Gana las oder nur
gelesen, d. h. hinzugefügt wissen wollte.
Nur in vier Fällen liegt nach Cappeller's An-
sicht ein directer Widerspruch zwischen den
Angaben in der Kävyälamkäravrtti und der
Kägikä vor ; nämlich in Kävy. V, 2, 33. 64. 65.
75, wonach carat zu den pacädi's, muktä zu den
vinayädi's, praMbhä, vikrti^ dvitd zu den pra-
jnädi's, und tüaka zu den ajirädi's gehören,
während diese Wörter an den betreffenden Stel-
len der Kägikä fehlen. Nun ist aber pacädi
ein sogenannter äkrtigana, wie in der Kä^ikä
angegeben wird; ebenso auch vinayädi und
prajnädi nach Vardhamäna im Ganaratnamaho-
dadhi, der übrigens für mauktikam p. 237, 4,
pratibham 214, 10, vaikrtam 212, 17 und dvai-
tam 211, 5 eintritt Mit dem Gana ajirädi
dürfte es sich ähnlich verhalten. Ferner macht
Cappeller darauf aufmerksam, daß uns in der
Kävyälamkäravrtti zuweilen Auffassungen ent-
gegentreten, die von denen der Kä$ikä grund-
verschieden sind. Aber konnte nicht Vämana,
nachdem er das eine Werk verfaßt hatte, in
dem anderen eine etwas veränderte Ansicht vor-
tragen? Zu dem einen von Cappeller ange-
führten Falle ist übrigens zu bemerken, daß
Vämana in Kävy. V, 2, 86, wo sämipyam und
tfipsä einander gegenüberstehen, von dem Casus
spricht, der von upari regiert wird, während in
dem Commentar zu P. 8, 1, 7, wo dem särm-
pyam das auttarääharyam entgegengesetzt wird,
von der Verdoppelung der Wörter upari u. s.w.
Vämana's Stilregeln bearb. v. Cappeller. 1017
die Bede ist. Wir können demnach trotz der
von Cappeller geltend gemachten Bedenken die
Identitätshypothese nicht aufgeben, solange nicht
ein stricter Gegenbeweis geführt wird. Wir
sehen aber in der Qabdafuddhi (so heißt der
letzte Abschnitt von Vämana's Lehrbach der
Poetik) nicht, wenigstens nicht ausschließlich,
praktische Begeln für einen Dichter der reines
Sanskrit schreiben will (vgl. Cappeller, p. VIII),
denn reines Sanskrit kann man nur ans der
Grammatik lernen — gabdasmrteh gabdaguddhih
I, 3, 4. Vämana wollte vielmehr an Beispielen
zeigen, was ein Dichter meiden müsse, and was
er sich allenfalls erlauben könne. Wir nehmen
an, daß er alles das, was ihm nicht nur nach],
sondern auch während der Abfassung der
Kä§ikä einfiel (vgl. Cappeller, p. VI), und was
er in derselben recht gut hätte unterbringen
können, wenn er gewollt hätte, in einem be-
sonderen Capitel seiner Kävyälamkäravrtti zu-
sammengefaßt hat. Die Kä;ikä ist ein klarer
nnd nüchterner Commentar zum Pänini, frei von
allem unnöthigen Beiwerk, und fast gänzlich
frei von den vielen Citaten, womit die späteren
Erklärer ihre Commentare zu füllen pflegen.
Hier fand sich kein Platz fittr 'weitere Ausfüh-
rungen oder Modificierungen' der Begeln Pä-
nini's (Cappeller p. IX).
Wenn es nun aber nicht gelingen will, durch
Vergleichung der Kä$ikä mit der QabdaQuddhi
zu einem sicheren Besultate zu gelangen: so
ist nur noch ein Weg offen, die Zeit in der
Vämana lebte einigermaßen genau zu bestim-
men, nämlich eine Untersuchung über die Stel-
lung, die die Kävyälamkäravrtti ihrem Haupt-
inhalte nach unter den verwandten Werken der
indischen Literatur einnimmt. Wir hoffen, daß
1018 Gott, gel Anz. 1880. Stttck 32.
uns Cappeller die von ihm p. XI in Aussicht
gestellte Bearbeitung der vier ersten Capitel lie-
fern und darin den Versuch machen wird, in
der angedeuteten Richtung die Zeit V&mana's
zu bestimmen. Zwar sind wichtige Werke noch
nicht veröffentlicht, wie außer den von Bühler
in Kashmir gefundenen Werken das Sarasvatf-
kanthäbharanam : aber genug ist vorhanden, um
zu zeigen, daß Vamana's Lehrbuch mit zu den
ältesten Werken über Alamkära, die auf uns
gekommen oder bis jetzt bekannt geworden sind,
gehören muß. Bei einer Vergleicbung der Ka-
vyälamkäravrtti mit verwandten Werken würde
man z. B. zu achten haben auf die Zahl der
Stilarten (riti); Dandin nennt zwei (scheint
allerdings mehr zu kennen), Vämana drei, bei
Späteren steigert sich die Zahl auf sechs. Be-
merkenswerth ist, daß Vämana keinen besonde-
ren Abschnitt über die sogenannten rasa hat,
wie Mammata, Vägbhata, Vidyänätha u. a. Viel
würde gewonnen sein, wenn man wüßte, woher
Vämana die Verse entlehnt hat, die er in der
Kegel mit atra gloMh einleitet, vgl. z. B. I, 1, 5
und sonst.
Einleitung p. VII ff. giebt Cappeller eine
Inhaltsübersicht des von ihm übersetzten Theiles
der Kävyälamkäravrtti. Er zeigt, wie sich Vä-
mana in der Anordnung der Sütra der Qabda-
Quddhi fast ausnahmslos an die Reihenfolge von
Pänini's Regeln angeschlossen hat, ein Umstand,
der unsere Vermuthung, kein Anderer als der
berühmte Commentator des Pänini habe auch
das vorliegende Werk verfaßt, nur bestätigt.
In der Uebersetzung der oft recht schwie-
rigen Regeln ist es Cappeller überall gelungen,
den Sinn genau wiederzugeben; eine wörtliche
Uebersetzung wollte er nicht liefern, eine solche
Vämana's Stilregeln bearb. v. Cappeller. 1019
wäre auch, bei der Natur des Stoffes, kaum
möglich gewesen. In dem Satze: anukaroü
bhagavato näräyanasya V, 2, 46 hängen die Ge-
netive von anukaroü ab, vgl. Mallin&tha zuKu-
märasambhava 1, 44 (45), oder zn Kirätarjunt-
yam 7, 28, wo die in Bede stehende Stelle ge-
geben wird. — Die Anmerkungen (p. 23 ff.)
sind durchweg mit großem Fleiße gearbeitet.
Sie bringen kurze Erläuterungen, Auszüge aus
dem Commentare des Gopendra und werthvolle
Sammlungen von Stellen aus Dichtern, tbeils
zur Rechtfertigung, theils zur Widerlegung des
Vämana. Besonders nützlich sind die Verweise
auf den Paribhäshendugekhara: bedauern müs-
sen wir nur, daß auf das Mahäbhäshya augen-
scheinlich keine Rücksicht genommen worden
ist. Im Einzelnen hätten wir etwa Folgendes
zu bemerken. V, 2, 1 (Stilregeln p. 25): Von
den Ekageshaformen, welche Vämana anführt,
finden wir Bhavau im Petersburger Wörterbuche
belegt; vgl. auch unter Giva. — V, 2, 14 (Stil-
regeln p. 26): das Bhäsnya zu P. 2, 1, 24 hat
bubhukshu nicht ; pipäsu ebensowenig. V, 2, 40
(Stilr. p. 12. 28): Patanjali kann zu P.3, 2, 162
die Bemerkung karmakartari cäyam ishyate
nicht machen, da zu der angeführten Stelle des
Pänini gar kein Bbäsbya existiert, wie aus Auf-
recht's Catalog der Oxforder Handschriften p.
158 b zu ersehen ist. V, 2, 49 (Stil. p. 29):
Der Accusativ fem. sutanüm wird von Ujjvala-
datta aus Mägha 7, 12 angeführt. — Im Com-
mentar zu dem folgenden Sütra (Stilr. p. 29)
ist der Lehrer, welcher die Formen aläbuh, kar-
hmdhüh als Beispiele zu einem värttika P. 4,
1, 66 anführt, nicht Eätyäyana, sondern Patan-
jali, oder der Bbäshyakära wie Mallinätha zu
Kumärasambhava 5, 43 sagt. — V, 2, 53 (Stilr.
1020 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 32.
p. 15. 30): Ich glaube nicht zu irren, wenn ich
annehme, daß sich Vämana hier auf das Bhä-
shya zu P. 6, 4, 144 (Benares edition, 7, 42, a)
bezieht. Habe ich Recht, so ist gägvate pra-
tishedha iti zu übersetzen mit 'bei gägvata findet
Verbot Statt', nicht mit 'bei gänzlichem Verbote'.
— V, 2, 79 (Stilr. p. 32): davayati findet sich
nicht nur im Bhattikävya, sondern auch im
Bhäshya zu P. 6, 4,' 155. — Vämana V, 2, 86
hätte auf die Kärikä zu P. 2, 3, 2 verwiesen
werden können ; vgl. die Lesart der Handschrif-
ten B und D.
In dem Verzeichniß der im fünften Kapitel
behandelten Wörter (Stilregeln p. 34 ff.) vermis-
sen wir nur vyavasita und pratipanna V, 2, 45.
Zum Schluß giebt Gappeller Berichtigungen und
Nachträge zur Ausgabe des Vämana. In dem
Verzeichniß der Citate könnte man noch nach-
tragen anukaroti V, 2, 46, JcuvälayavanamIVfS}
22, henacit pürvayuMo 'pi nivibandhah glathi-
hrtah I, 3, 6, jivanti V, 2, 61, nivir ägrantha-
nam oder ntvt samgranthanam näryä jaghana-
sthasya väsasah (aus der Nämamälä) I, 3, 6, pa-
titam V, 2, 82, lävanya0 V, 2, 12, subhru him
sambhramena V, 2, 50 u. a. m. Unter den
neuen Nachweisen vermissen wir Eum. S. 1, 35
für lävanya utpädya und Qigup. 10, 21 für
yoshid ity abhilaldsha, vgl. Gappeller selbst Stil-
regeln p. 27. 24. Ferner fehlt ürv. v. 105 für
varatanur athaväsau (schon vonPischel nachge-
wiesen), dürayati V, 2, 79 steht Kumäras.
8, 31 : die Stelle ist zuerst von Cowell in einer
Anzeige der ersten Ausgabe von Eumärasam-
bhava VIII (Calcutta 1862) besprochen worden,
vgl. Indische Streifen II, 372, oder Beiträge zur
Kunde der idg. Sprachen V, 50, wo ich die
beiden anderen von Vämana aus dem achten
Vämana's Stilregeln bearb. v. Cappeller. 1021
sarga des Kumärasambhava citierten Stellen be-
reits nachgewiesen habe. Uebrigens liest die
Calcnttaer Ausgabe von 1868 dhünayaty avanate
vivasvati; wenn avcmate richtig ist, so würde
Cappeller's Uebersetznng der Worte, Stilregeln
p. 20, zu ändern sein. — md bhaih gaganka III,
2, 7 wird besprochen von Trilocanadäsa in sei-
ner Panjikä zu Kätantram 3, 6, 90 p. 536 ed.
Eggeling. — gaJcyam cänena gvatnämsädibhir
api hshut pratihantum steht im Eingange des
Mahäbhäshya p. 8 Kielhorn = p. 55 Ballantyne
= Benares edition fol. 15a. Bei sarjihitaiJcapade
nityä Vämana V, 1, 2 hätte auf die Siddbänta-
kanmudf zu P. 8, 4, 18 verwiesen werden
können.
Wir gestatten uns noch einige Verbesserungs-
vorschläge zur Textausgabe des Vämana zu ge-
ben. In der anukramanikä p. XII v. 5 lies
gabdagodhanam. p. 17, 15 vermuthen wir sve-
davisarah. Im Sütra III, 1, 4 fehlt samadhi
zwischen samatä und mädhurya. p. 41, 6 lies
sämänyäprayoge (vgl. P. 2, 1,56). Im Commen-
tare zu IV, 3, 9 lese man tarn cevagabdo dyo-
tayatUi. Die Handschrift B giebt das Richtige
an die Hand. Vämana will sagen, daß die ut-
prekshä mit Wörtern wie iva (manye, ganke}
dkruvam, nünam u. s. w.) angezeigt werde;
Kävyäd. 2, 234. Kävyapr. (Calcutta 1866) p.
276. 277. Sähityad. 692. — In dem Verzeich-
niß der Versanfänge stehen kusumagayanam und
padärthe an falscher Stelle.
Greifswald. Th. Zachariae.
1022 Gott. gel. Anz. 1880, Stück 32.
Sämmtliche Fastnachtspiele von j
HansSachs. In chronologischer Ordnung nach !
den Originalen herausgegeben von Edmund '
Goetze. I. Bändchen. Zwölf Fastnachtspiele
aus den Jahren 1518—1539. Halle a.S. M. Nie-
meyer. 1880. XVI, 159 S. 8°. !
Von den 85 Fastnachtspielen des Nürnberger
Dichters erscheinen hier 12, so daß wir noch 6
— 7 Bändchen, im Ganzen also etwa 70—80 Bo-
gen zu erwarten haben. Hoffentlich wird die
Theilnahme des Publikums das schöne Unter-
nehmen begünstigen und vielleicht auch weitere
Versuche, den alten Dichter in weitere Kreise
einzuführen und ihn von neuen Seiten zu zeigen,
möglich machen. Denn, wie ich höre, sollen den
Fastnachtspielen nicht nur die Schwanke folgen,
was sehr zu wünschen wäre, sondern auch, was
nicht minder erwünscht sein würde, die Meister-
lieder, die sich, mit Hülfe seines Gesamtregisters,
aus den Meistergesangbüchern wol noch ziemlich
vollständig zusammenbringen lassen, freilich dann
den fünffachen Umfang der Fastnachtspiele er-
reichen würden. Diese letzteren werden hier
„nach den Originalen" herausgegeben, d. h. theils
nach der Folioausgabe des 16. Jh., theils nach
älteren Einzeldrucken, theils nach der eignen
Handschrift des Dichters. Unter den vorliegen-
den Stücken ist nur das 12., das pachen-
holen im teutschen hoff nach dem Auto-
graph mitzutheilen gewesen. Dies Spiel sticht
seiner äußeren Erscheinung nach sehr vorteil-
haft von den übrigen ab. Es hat durchweg
kleine Anfangsbuchstaben, mit Ausnahme der
Versanfänge, und eine fast gleichförmige Schrei-
bung, die freilich von Hs. Sachs noch nicht bis
zur nothwendigen Einfachheit durchgeführt wurde,
aber doch um vieles einfacher ist, als die der
Hans Sachs' Fastnachtspiele ed. Goetze. 1023
nach den alten Drücken wiederholten Stücke 1
— 11, die von Setzern oder Gorrectoren auf das
willkürlichste durch große Anfangsbuchstaben
und Gonsonantenhäufung verunziert sind. Ich
hätte gewünscht, daß der Herausgeber, dem die
Autographe des Hans Sachs vollständig bekannt
sind und der daraus eine Form, wie der Dichter
sie handhabte, ableiten konnte, jene Entstellun-
gen beseitigt hätte. Ich gehe aber noch weiter,
indem ich wünsche, daß auch die durchaus un-
nützen ck nach Gonsonanten in einfaches k, und
das w und v, wo es nach heutigem Gebrauche
u vertritt, umgeschrieben wäre und würde, ob-
gleich jene ck, w, v von Hans Sachs eigner
Hand geschrieben sind. Er war darin gar nicht
consequent; so steht S. 147, nach seiner Hdschr.,
naws: haus im Keime und kurz vorher der-
selbe Reim naus: haus, und S. 149 außerhalb
des Heimes dicht hinter einander zeugen und
zewgen, S. 151 im Reime stopfen: dropffen.
Wo es sich darum handelt, durch Festhaltung
solcher Formen bibliographischen Zwecken zu
dienen, mag die genaue Wiedergabe nützlich sein,
da sich an kleinen Verschiedenheiten der Art
andre Drucke erkennen lassen ; da es hier aber
auf solche Zwecke nicht ankommt, sehe ich kei-
nen Grund ab, die Treue der Reproduction auch
auf solche Dinge auszudehnen. Ich weiß wol,
daß nenerdings wieder für die buchstäbliche
Wiedergabe gesprochen wird und daß man sich
auf Jacob Grimm beruft, der an Meusebach 1828
(über Fischart) schrieb : „Es ist nichts zu ändern,
sondern alles zu lassen, wie in den ältesten
drucken, mit allen ihren guten, schlechten und
schwankenden Schreibungen u. Derselbe J. Grimm
schrieb mir am 21. Dec. 1855, als ich im Gengen-
bach alles buchstäblich wiedergegeben hatte:
„Es herrscht zwar jetzt die bequeme ansieht, und
1Q24 Gott. gel. Adz. 1880. Stück 32.
auch Sie scheinen ihr zugethan, daß man beim
Wiederabdruck ihre elendeste Orthographie und
sogar ihre druckfehler beibehalten müsse, wo-
durch, wie ich glaube, nur ein ärgerliches bun-
tes aussehen der texte entspringt und nicht das
geringste gewonnen wird. Wenn wir ein mhd.
gedieht herausgeben, schreiben wir nach der
mhd. sprachregel und ändern danach die fehler
der hss. ; bloß bei wichtigen werken, z. b. den
Nibelungen kann es geboten sein den ersten ab-
druck einer hs. buchstäblich zu machen, noch
viel weniger Schonung gebührt aber der fehler-
haften Schreibung des 16. 17. jh. Allen reformen
in Schreibung, spräche, ja in den größten dingen
überhaupt stehen zwei hindernisse entgegen
1) man will sich nicht genieren, und jede bes-
serung legt anfangs einen kleinen zwang auf.
2) man hält die angewöhnung des fehlers für be-
rechtigt, da doch nie der fehler, nur das gute
ein recht hat unsere beharrliche Versessenheit
in allen sprach und schreibsünden hängt mit der
in unserm öffentlichen leben genau zusammen,
wir sind ein pedantisches volk, und freilich auch
mit den guten eigenschaften gesegnet, die daran
kleben. Doch was mir hier eben in die feder
kam, ist viel weniger durch Ihr buch als durch
eine menge von andern in mir rege geworden".
Das Beschwichtigen im letzten Satze möchte ich
auch des Herausgebers wegen nicht unterdrücken,
der seine Treue wenigstens nicht auf die eigent-
lichen Fehler der Vorlagen erstreckt, aber von
jeder Aenderung gewissenhaft Rechenschaft giebt
und nicht lediglich einen, sondern alle Drucke
und erreichbaren Handschriften verglichen hat,
ohne sich in einen wüsten Variantenkram zn
verlieren. K. Goedeke.
Für die Redaction verantwortlich: E. Rehniach, Director d. Gott. gel. Ans.
Commissions- Verlag der Düforich'schsn Ywlaga- BuchkandUm§.
Druck der DieiericK sehen Univ.- Buchdruck** (W. Fr. Katstn*).
1025
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück 33. - 18. August 1880.
Inhalt: Urkundenbuch der Stadt Strassborg Bd. I, bearb. v. W.
Wiegand. Von A. SeutUer» — A. ▼. Gonsenbach, Der General
H. L. y. Erlach von Castelen. Bd. I. Von A. Stern. — B. Lepsius,
Nubi&che Grammatik. Ton A. Erman.
ss Eigenmächtiger Abdruck von Artikeln der Gott. gel. Anz. verboten ss
Urkunden und Akten der Stadt
Strasburg herausgegeben mit Unterstützung
der Landes- und der Stadtverwaltung. Erste
Abtheilung: Urkundenbuch der Stadt Straßburg.
Erster Band : Urkunden und Stadtrechte bis zum
Jahr 1266, bearbeitet von Wilhelm Wie-
gand. Straßburg, Karl J. Trübner 1879. pp.
XV und 585 SS. in 4°.
Jedem, der sich schon mit deutscher Städte-
geschichte und speciell mit der Straßburgischen
beschäftigt hat, ist es empfindlich schwer fühl-
bar geworden, daß die zugänglichen, d. h. ge-
druckten Quellen weder die Zuverlässigkeit
bieten, die man jetzt fordert, noch diejenige
Vollständigkeit haben, die man nach dem Stande
der Archive als erreichbar voraussetzen darf.
Was den letztem Punkt betrifft, so wird man
6ä
1026 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 33.
sich zwar allerdings nicht der Illusion hingeben
dürfen, als könnten noch Quellen von der Be-
deutung ersten Ranges zu Tage gefördert wer-
den: der Rahm ist durch die Arbeit früherer
Zeiten abgeschöpft, und sollte wirklich noch ein
solches Stück erster Qualität entdeckt werden,
so wäre das immerhin mehr einem außergewöhn-
lich günstigen Zufall zu verdanken als daß man
auch nur mit Wahrscheinlichkeit darauf hätte
zählen können. Dafür ist die wissenschaftliche
Arbeit jetzt auch eine andre als früher, die
steigt mehr in's Detail hinab und bedarf dazu
auch eines neuen Quellenbestandes. Wenn zu
Schöpflin's und Grandidier's Zeiten auf lange
Zeit ausreichend erschien, was sie in ihren Ur-
kundenwerken mittheilten, so verlangt der
jetzige Stand der Forschung mehr, der, wie er
aus den bisherigen Quellenwerken herausge-
wachsen ist, so nun hinwiederum den Anstoß zu
neuer Quellensammlung giebt. Einem solchen
Bedürfnisse für Straßburg kommt das vorliegende
Buch entgegen, das den ersten Band eines, wie
schon der Titel ausweist, umfangreich geplanten
Werkes bildet. Die beiden großen Abtheilungen,
aus denen das Werk bestehen soll, sollen um-
fassen einerseits die Urkunden Straßburgs bis
zum Jahre 1400, andererseits die Briefe und
Acten zur politischen Geschichte Straßburgs in
der Reformationszeit (1517 bis 1555). Für jetzt
liegt der erste stattliche Band des Urkunden-
buchs vor, enthaltend die Urkunden bis 1266
und die drei ältesten Stadtrechte, letztere nach
den Ausgaben von Grandidier und Mone. Be-
züglich der Aufnahme schon gedruckter Urkun-
den entschloß sich die Commission, welche dad
Unternehmen leitet, im Princip dafür, daß die-
ses neue Werk das gesammte urkundliche Ma-
Urkundenbuch der Stadt Straßburg. 1027
terial zur Geschichte Straßburgg enthalten,
somit anch das schon Gedruckte (wenigstens
im Regest) aufnehmen solle. Die in der Ein-
leitung hiefür angeführten Gründe (Fehler- und
Lückenhaftigkeit selbst bei Schöpflin und Wen-
cker, große Seltenheit des wichtigen zweiten Ban-
des von Grandidier's Histoire d' Alsace) recht-
fertigen dieses Vorgehen. In Folge davon ent-
hält dieser erste, 619 Nummern umfassende
Band etwa die Hälfte, nämlich 276, bisher noch
ungedruckte Urkunden, von den andern aber 92
nach besserer Vorlage als bisherige Drucke,
251 wenigstens nach gleichen Vorlagen verbes-
serte und blos für 98 mußte auf jede Handschrift
verzichtet und rein auf die Drucke zurückge-
gangen werden. Letzteres gilt leider gerade
für das erste Stadtrecht. Was von urkundlichem
Material in Straßburg vorzufinden war, scheint
vollständig benutzt zu sein, namentlich ist es
erfreulich, daß das prachtvolle Gopialbuch in
Pergament vom Jahre 1370 nunmehr endlich
einmal ausgiebigster Benutzung unterworfen wor-
den ist, sowie daß das Bezirksarchiv (früher
das Departementalarchiv) zahlreiche bisher un
gehobene Schätze hat hergeben müssen. Den
heutigen Anforderungen entsprechend ist bei je-
der Urkunde angegeben, wo das Original liegt
(so weit ein solches benutzt werden konnte)
und wo sie schon gedruckt ist. In kritischen
Noten über Echtheit, Datumbestimmung, Zuver-
lässigkeit des Texts u. drgl. ist mit weiser
Sparsamkeit das Nöthige gegeben, ebenso in
Litteraturnachweisungen.
Indem man dieses Urkundenbuch durchgeht,
gewinnt man überall den Eindruck sorgfältig-
ster und zuverlässigster Genauigkeit, die Ver-
gleichung mit einzelnen seiner Zeit von mir ge-
65*
1028 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 33.
nommenen Abschriften bestätigte mir, daß ge-
wissenhaft gearbeitet worden. Ueber Einzel-
heiten und Kleinigkeiten mag man dabei nicht
rechten, wie z. B., daß die auf S. 391 blos in
einer Note zu No. 513 erwähnte Urkunde der
sechs Geschwornen und der Bürger von Mols-
heim wohl unter besonderer Nummer, wenn auch
regestweise, hätte in den Text aufgenommen
werden dürfen; sie entgeht einem leicht an dem
ihr zugewiesenen Plätzchen, und ist doch für
jene kritischen Ereignisse unter Walther von
Geroldseck wichtig genug. Ein besonderes Lob
verdienen die von M. Baltzer gefertigten Regi-
ster, ein Namenregister und ein Sach- und Wort-
register. Die bisherigen Urkundenwerke be-
gnügen sich meist mit einem Namenregister,
und wo ein Sachregister beigefügt ist, beschränkt
es sich wohl auf Worte, die der heutigen Spra-
che nicht mehr geläufig sind. Das hier vorlie-
gende Sach- und Wortregister hat sich so enge
Schranken nicht gezogen, sondern „weist hin
auf Stellen, die sachlich oder sprachlich von be-
sonderem Interesse schienen". Nach der Rich-
tung, auf die ich es näher angesehen habe,
finde ich es vortrefflich, nämlich bezüglich der
Privatrechtsinstitute. In dieser Beziehung darf
der hier eingeschlagene Weg für künftige Ur-
kundensammlungen als ein maßgebendes Muster
gelten, es ist die richtige Mitte gehalten zwi-
schen Ueberfülle und Dürftigkeit und die Ueber-
sichtlichkeit gewahrt, ohne die ein Register un-
brauchbar ist.
Nach dem Gesagten brauchen wir nicht bei-
zufügen, daß wir dem Unternehmen den besten
Fortgang wünschen. Die Hauptschwierigkeiten
beginnen erst mit den späteren Bänden, nämlich
die Auswahl des Abzudruckenden und die Ent-
Urkundenbuch der Stadt Straßbarg. 1029
Scheidung tiher Vollständigkeit oder Regest. Für
die Zeit bis ungefähr 1300 ist man dieser Fra-
gen fast gänzlich enthoben, man nimmt mit we-
nigen Ausnahmen Alles auf und giebt es voll-
ständig wieder. Für das 14. Jahrhundert kann
man nicht mehr so verfahren, wenn man nicht
endlose Bände füllen will. Das Richtige zu
treffen erfordert großes Geschick, es ist z. B.
dem jetzt erscheinenden Codex diplomatics Ca-
vensis mit Recht zum Vorwurf gemacht worden,
daß er in Urkunden über Privatrechtsgeschäfte
die Cautelen und Formeln (Clausein, Pönalstipu-
lationen u. dgl.) von der Mitte des 2. Bandes
an weggelassen habe. Aber sie ausnahmslos im-
mer wieder abzudrucken, ist auch des Guten zu
viel. Mit verständig und geschickt angebrach-
ten Verweisungen ist da viel zu machen, aber
es erfordert Sinn und Verständniß für alle mög-
lichen Einzelheiten. Ein Urkundenbuch muß so
sehr allen nur denkbaren Zweigen der Ge-
schichtsforschung dienen, daß Regesten, welche
die vollständige Urkunde ersetzen sollen, zu
ihrer Herstellung der vielseitigsten Rücksicht-
nahme bedürfen. Das Straßburger Urkunden-
werk liegt in so guten Händen, daß wir eine
glückliche Lösung dieser Schwierigkeiten erwar-
ten dürfen.
Basel 13. Juli 1880. A. Heusler.
1030 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 33.
Der General Hans Ludwig von Er-
lach von Castelen. Ein Lebens- und Cha-
rakterbild aus den Zeiten des dreißigjährigen
Kriegs. Bearbeitet nach zeitgenössischen Quel-
len von Dr. August von Gonzenbach.
I. Theil, mit einem Band Urkunden. Bern, Druck
und Verlag von K. J.Wyss 1880. X, 671. VII,
265 SS. 8°.
Als im Herbste des Jahres 1875 im Schlosse
Spiez am Thuner See die dort befindliche Bi-
bliothek öffentlich versteigert wurde, kam neben
den gedruckten Büchern auch eine Reihe von
Manuskript-Bänden zum Vorschein, die seit lan-
ger Zeit daselbst verborgen gelegen hatten. Es
war der handschriftliche Nachlaß des Generals
Hans Ludwig von Erlach, Gouverneurs von Brei-
sacb, Akten und Correspondenzen aller Art, von
höchstem Interesse vor allem für die Geschichte
des dreißigjährigen Krieges. Es machte großes
Aufsehen, als man erfuhr, daß diese merkwür-
dige Sammlung der Gefahr in alle vier Winde
zerstreut zu werden, ' preisgegeben worden sei,
und daß zwölf Foliobände nebst einem Quart-
band, Originalcorrespondenzen des Marschalls
Turenne enthaltend, in der That ihren Weg in
die Hände von Antiquaren verschiedener Natio-
nalität genommen hätten. Besäße die Schweiz
eine Einrichtung wie England, die sich gleich-
falls im deutschen Reiche sehr zur Nachahmung
empfehlen würde: eine Commission zur Auf-
suchung auch im Privatbesitze befindlicher hi-
storischer Manuskripte, über deren Thätigkeit
in officiellen Berichten Rechenschaft abzulegen
wäre: schwerlich wäre das Dasein und die Be-
deutung jener 104 Folianten unbekannt geblie-
Gonzenbach, Der General H. L. v. Erlach. I. 1031
ben, die mit der allgemeinen Bezeichnung
„alte Schriften" unter den Hammer kamen.
Bei so bewandten Umständen war es als ein
großes Glück zn betrachten, daß der Verfasser
des vorliegenden Werkes rechtzeitig eingriff, um
neunzig jener Mannskriptbände für ein Mitglied der
"Familie von Erlach zu ersteigern. Außer die-
sen wurden von der Gesammtzahl der hundert-
undvier Foliobände noch zehn weitere Bände
durch Wiedererwerbung nach Bern verbracht,
sodaß sich daselbst, theils im Privatbesitze,
theils im Besitze der Stadtbibliothek der kost-
bare Schatz ziemlich vollständig vereinigt fin-
det*). Diese Papiere waren, trotzdem sie gleich-
sam neu entdeckt werden mußten, der histori-
schen Forschung durchaus nicht fremd geblie-
ben. Auf ihnen beruhte eine nur handschrift-
lich existierende Biographie des Generals von
Erlach, die ein Abkömmling seines Geschlechtes
1767 vollendete. Sie führt den Titel „Memoires
pour servir k l'histoire de la vie du general
d'Erlach et de Farmee weymarienne sous les
rois de France Louis XIII. et Louis XIVtf. Da
eine Biographie Erlachs nothwendig auch der
Erkenntnis des Lebens und Wirkens Bernhards
von Weimar zu gute kommen mußte, so ließ
der Großherzog Karl August eine Abschrift von
diesem Werke anfertigen. Der Verfasser des-
selben gab 1784 seine „Memoires historiques
concemant M. le general d'Erlach" im Drucke
heraus, vier Bände, die er Karl August wid-
mete. Auch wurden nach Verlangen Karl Au-
gusts und auf Betreiben Goethes später Ab-
schriften einer Anzahl der Erlachschen Akten-
*) H. von Gonzenbach hat über den Inhalt der ein-
zelnen Bände Bericht erstattet in den Forschungen zur
deutschen Geschichte XVIII. p. 409—419.
1032 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 33.
stücke angefertigt und im Weimarer Archiv de-
poniert. Sie sind mehrfach benutzt worden, und
nicht zum wenigsten ihnen war es zu danken,
daß auf das Andenken des Generals von Erlach
in fast allen Geschichtswerken, die sich mit ihm
und seiner Epoche beschäftigen, ein tiefer Schat-
ten gefallen ist.
Erlach galt nämlich gemeiniglich als ein
„ Judas", als ein Mann, der sich von Frankreich
habe bestechen lassen, gegen seine Pflicht zu
handeln1, als ein Verräther an seinem Herrn,
Herzog Bernhard von Weimar, dessen Brüdern
und der weimarischen Armee, als der Urheber
der deutschen Gebietsverluste an der Westgrenze
des Reiches. Namentlich hat Rose in seiner
Biographie Bernhards von Weimar viel dazu
beigetragen, dem Generalmajor von Erlach
einen schlechten Namen zu machen. Andere
Schriftsteller, wie Barthold, haben in dasselbe
Horn geblasen. Wolfgang Menzel behauptete,
Erlach habe den ganzen Nachlaß Bernhards ge-
raubt und sich seine Pretiosen angeeignet. Erst
vor wenigen Jahren hat sodaun Molitor in
seiner fleißigen Schrift „Der Verrath von Brei-
sach 1639. Ein Beitrag zur Geschichte des
Verlustes der Landgrafschaft im Elsaß nebst
Breisach und Sundgau an Frankreich im dreißig-
jährigen Kriege, Jena 1875a viele der erhobe-
nen Vorwtife aufs schärfste zugespitzt, „So
ward deutsches Land, sagt er bei einem Rück-
blicke auf die Ereignisse, schmählich verkauft
. . . Dem Mäkler beim Verkauf, dem geheimen
Leiter des Verrathes, wurde von Frankreich rei-
cher Lohn zu Theil, auch außer dem, den er
sich selbst im unehrlichen Handel vorbehalten.
Seine Pension wurde um 18,000 Livres erhöht
und er zum General-Commandanten von Brei-
j
Gonzenbacb, Der General H. L. v. Erlacb. I. 1033
each und den davon abhängenden Plätzen und
Landen ernannt. Freiburg, Neuenburg, Rhein-
felden, LaufFenburg, Landskron, Tbann, Säckin-
gen unterstanden so seinem Kommando. In
beinahe unumschränkter Weise herrschte er in
Breisach, nahm sofort die Wohnung im Schlosse
in Beschlag und ließ sich auch die gerichtlich
verschlossenen Zimmer, in denen Herzog Bern-
hards Kleinodien und sonstige Unterlassene
Habe aufbewahrt war, ungeachtet des Ein-
spruchs von dessen Beamten, eröffnen. Von
den Formen neu zu gießender Geschütze ließ
er des verstorbenen Herzogs Wappen nehmen
und dafür das seinige darauf setzen. Des ver-
blichenen, edlen Gebieters und Gönners Anden-
ken sollte verwischt werden, Herzog Bernhard
sollte vergessen werden, wie er ihn vergessen
hatte, da er sein reiches Erbe an Frankreich
verschacherte, dem letzten Willen des kaum
Verstorbenen entgegen, der ausdrücklich das-
selbe „bey dem Reich Teutsch er Nation
erhalten wissen wollte".
Man muß bedenken, daß diejenigen Histori-
ker, welche Erlach zum schwärzesten Verräther
machten, sich auf ein sehr unvollständiges Ma-
terial stützten. Sie benutzten, von gedruckten,
namentlich französischen Werken zu schweigen,
Archivalien, unter denen die in Kopie nach
Weimar gelieferten die erste Stelle einnahmen.
Diese aber haben einen sehr singulären Cha-
rakter. Es sind vor allem die Gorrespondenzen
der weimarischen Fürsten, Berichte der Beamten
des verstorbenen Herzogs Bernhard, seiner Se-
kretäre und Diener, des nach Breisach entsand-
ten weimarischen Kammerjunkers von Krosig
u. a. m. Bei allen diesen Gewährsmännern
kommt das weimarische Interesse zum Aus-
\
1034 GOtt. gel. Anz. 1880. Stück 33.
druck, die Ansicht der Civilbeamten inr Lager,
welche derjenigen der Soldaten oft schroff gegen-
übersteht. Das nothwendige Korrektiv, die Aus-
sage der Gegenpartei fehlt Es würde ebenso-
wenig zu rathen sein, eine Geschichte des
8chmalkaldischen Krieges bloß nach kaiserlichen
oder des Friedensschlusses von Basel bloß nach
preußischen Quellen zu schreiben. Kommt nun
noch dazu, daß Gerüchte und unsichere Aeuße-
rungen für erwiesene Wahrheit angenommen,
oder daß in den Text gewisser Aktenstücke An-
gaben gelegt werden, die sie für ein unbefan-
genes Auge nicht enthalten, so ist es leicht er-
klärlich, daß sich ein mit sittlicher Entrüstung
ausgesprochenes Urtheil allmählich befestigen,
fortpflanzen und verschärfen konnte. In diesem
Falle hat ohne Zweifel noch ein anderes Motiv
mitgewirkt, um das angedeutete Ergebnis her-
beizuführen. Je schlechter man Erlach machte,
desto glänzender erschien Bernhard von Wei-
mar. Die Schuld, die möglicher Weise ihn ge-
troffen haben würde, soferne die Geschicht-
schreibung sich überhaupt auf Zutheilung von
Schuld und Unschuld einlassen wollte, traf nun-
mehr seinen Untergebenen. Denn das Wort
„wie der Herr, so der Diener" wollte man doch
nicht im umgekehrten Sinne gelten lassen.
Soweit sich Irrthümer aus der mangelhaften
Kenntnis des historischen Materials herschreiben,
kann den früheren Forschern kein Vorwurf ge-
macht werden, wenn sie es sonst an der nöthi-
gen Vorsicht und Kritik nicht haben fehlen las-
sen. Doch ist es menschlich, daß ein später
Kommender, dem es gegönnt ist neue wichtige
Funde zu verwerthen, seiner Beurtheilung der
Vorgänger auf demselben Arbeitsfelde oft eine
etwas scharfe Form giebt. Iji diesem Falle be-
Gonzenbach, Der General H. L. v. Erlach. I. 1035
findet sich der hochverdiente Verfasser des vor-
liegenden Werkes, in welchem wohl auch ein-
mal eine an sich nicht anfechtbare Aeußerung
eines der früheren Forscher als ein Versehen
aufgefaßt erscheint. Durch eine Reihe von hi-
storischen Arbeiten bereits rühmlich bekannt,
ist H. von Gonzenbach nicht davor zurückge-
schreckt, in seinem hohen Alter Hand an ein
Werk zu legen, das niemand, der sich mit der
Geschichte des dreißigjährigen Krieges beschäf-
tigt, fortan ungestraft wird tibersehen dürfen.
Kann es auch nicht ähnliches Aufsehen erregen
wie Wittich's „Magdeburg, Gustav Adolf und
Tilly", so hat es doch mit dem genannten
Werke darin einige Aebnlichkeit, daß es gleich-
falls darauf angelegt ist, eingebürgerte Ueber-
lieferungen in ihrer Grundlage zu erschüttern
und durch eine ganz neue Anschauung zu er-
setzen. Es vemient vollkomme» den Namen
einer „Rettung". Die Notwendigkeit, sich mit
den früheren Beurtheilern Erlachs auseinander-
zusetzen hat allerdings eine Breite der Darstel-'
lung hervorgerufen, welche bie und da doch
wohl etwas hätte eingeschränkt werden können.
Mitunter möchte man auch wünschen, daß diese
und jene hypothetische Betrachtung, wie sie in
historischen Untersuchungen immer mißlich ist,-
bei Seite geblieben wäre*). Ebenfalls wird die
*) S. 402 wird z. B. die Hypothese aufgestellt, es
sei sehr zu bezweifeln, ob die von Bernhard eroberten
Lande zum Reiche zurückgekehrt wären, wenn er den
allgemeinen Friedensschluß als souveräner Fürst von El-
saß, Breisgau und der bischöflichen Lande von Basel er-
lebt hätte. Eine solche hypothetische Betrachtung schwächt
aber die Position des Verf. Denn jeder Gegner wird
ihm einwenden können, man wisse darüber gar nichts.
Ganz anderes Gewicht hat dagegen ein Satz wie der auf
1036 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 33.
Ausdrucksweise des H. Verfassers hie und da
befremden, nicht bloß wegen der häufigen Ver-
werthung von Fremdwörtern, sondern auch we-
gen ungewöhnlicher, unserem Sprachgefühl wi-
derstrebender Wendungen (z. B. S. 179. „Diese
antiösterreichische Politik färbte zu jener Zeit
auf die in französischem Dienst stehenden
Schweizerregimenter aba). Dagegen wird es un-
geteilten Beifall finden, daß der Darstellung
des Lebens Erlachs, die im vorliegenden ersten
Bande bis zum Jahre 1644 geführt wird, noch
ein starkes Heft Urkunden beigefügt worden ist,
Sie beziehen sich in erster Linie auf das Ver-
hältnis Erlachs zum Herzog Bernhard von Wei-
mar in den Jahren 1637 — 39. Hatte man sie
bisher aus den Memoires historiques concernant
le general d'Erlach nur französisch gekannt, so
erhält man nun Gelegenheit, sje im deutschen
Urtexte zu tesen. Eine photographische Wie-
dergabe des letzten eigenbändigen Schreibens
des Herzogs an Erlach und ein Bildnis des Ge-
nerals sind dankenswerthe Zugaben.
Es erscheint unnöthig, an dieser Stelle, mit
Benutzung der ausführlichen Mittheilungen des
Verfassers in kurzen Zügen die Geschichte der
Jugend und des früheren Mannesalters Erlachs
zu erzählen, zumal ein Artikel der allgemeinen
S. 401 : »Wenn das Elsaß und Breisach laut dem Frie-
densvertrag bei Frankreich verblieben sind, so geschah
dies nicht deswegen, weil die Direktoren . . . die Ver-
träge Herzog Bernhards erneuert haben, sondern deshalb,
weil die Heilbrunner Verbündeten das Elsaß dem König
von Frankreich unter der Bedingung in Schutz und
Schirm gegeben haben, daß Frankreich dem Kaiser . . den
Krieg erkläre, und weil der Kaiser und das HausOester-
reich ... so sehr geschwächt worden sind, daß sie beim
Friedensschluß das Pfand nicht zu lösen . . vermochten«.
Gonzenbach, Der General H. L. v. Erlach. I. 1037
deutschen Biographie erst kürzlich in ganz ge-
nügender Weise dieser Aufgabe entsprochen hat.
Es sei nur daran erinnert, daß Johann Ludwig
von Erlach 1595 in Bern geboren war, unter der
Fahne Christians von Anhalt, Johann Georgs von
Brandenburg-Jägerndorf, Christians von Braun-
schweig, dann unter Gustav Adolf im polnischen
Feldzuge kämpfte, im Jahre 1627 in die Heimat
zurückgekehrt, als Soldat und Staatsmann der
vaterländischen Republik und den evangelischen
Ständen der Eidgenossenschaft wackere Dienste
leistete, bis er 1637 Beziehungen zu Herzog
Bernhard von Weimar anknüpfte, als General-
major in seine Arm6e eintrat, von ihm als Un-
terhändler nach Paris entsandt wurde und sich
an seiner Seite im Felde auszeichnete. Er ge-
wann sein volles Vertrauen, wurde von ihm zum
Gouverneur des eroberten Breisach und zum
Statthalter der übrigen eingenommenen vorder-
österreichischen Gebiete ernannt, wiederum in
officiellem Auftrag nach Paris geschickt und
von dem sterbenden Herzog mit drei anderen
Offficieren an die Spitze des Heeres gestellt.
Die Obersten beschlossen ihn als höchst Kom-
mandierenden anzuerkennen, bis sie von Frank-
reich oder Schweden ein anderes Haupt erhal-
ten hätten. Er war also die wichtigste Persön-
lichkeit dieser wichtigen Kriegsmannschaft ge-
worden und konnte auf ihr Schicksal bedeutend
einwirken. Daß mit ihrem Schicksale aber
auch dasjenige der von ihr besetzten Gebiete
innig verknüpft war, gab dem Generalmajor
von Erlach, mochte er es wollen oder nicht,
damals zugleich auch eine bedeutende politische
Stellung.
An diesem Punkte setzt nun die Kontroverse
ein; welche der Verfasser hauptsächlich gegen
1038 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 33.
K. Molitor führt, der diesen Gegenstand zuletzt
vor ihm behandelt hat. Die beiden Gegner ha*
ben neuerdings ihren Streit in verschiedenen Ar-
tikeln des Gorrespondenzblattes der deutschen
Archive ausgefochten. Man kann sich durch ein
Studium dieser Artikel den besten Ueberblick
über die ganze Frage verschaffen und wird fin-
den, daß Molitor mit anerkennenswerthem Frei-
muth auf manche früher ausgesprochene Be-
hauptung verzichtet. Ein solcher Rückzug
konnte aber in allen Ehren angetreten werden,
da die Erschließung neuer Quellen erst die Mög-
lichkeit einer Aenderung der früheren Beurtbei-
lung gab, und Molitor darf daher von sich sa-
gen, er sei berichtigt aber nicht gerichtet. „Was
die Kardinalfrage betrifft", giebt er zu, die Ue-
berzeugung gewonnen zu haben, „daß von einer
bewußten Unrechtlichkeit des Generals, von
einem Verrathe also, nicht die Rede sein kann".
Dagegen erklärt er, an Erlach bleibe haften
„der Vorwarf grober Fahrlässigkeit, der Un-
überlegtheit, des Außer-Acht-Lassens der nöthi-
gen Umsicht sowie der Parteilichkeit zu Gun-
sten Frankreichs". Und zwar vorzüglich des-
halb, weil er dem erstberufenen Erben, dem
Herzog Wilhelm von Weimar so gut wie gar
kein Entgegenkommen bewiesen, weil er nichts
für ihn gethan habe, während er sich gleich
von vornherein auf Frankreichs Seite gestellt,
der französischen Bewerbung Sympathie und
thätige Unterstützung entgegengebracht habe.
Zunächst darf man hier wohl eine psycholo-
gische Betrachtung vorausschicken. Wenn ein
Deutscher diese Fragen behandelt, so liegt es
nahe, daß sein patriotisches Gefühl ihn gegen
denjenigen einnimmt, dem er den zeitweiligen
Verlust deutscher Gebietsteile glaubt zuschreiben
Gonzenbach, Der General H. L. v. Erlach. I. 1039
zu müssen. Er wird ihn leicht wenn nicht ge-
radezu für einen Verräther, so doch für fahr-
lässig nnd unüberlegt halten, weil er' nicht so
gehandelt hat wie ein deutscher Patriot des
neunzehnten Jahrhunderts gehandelt haben
würde. Dem gegenüber betont der Verfasser
des vorliegenden Werkes an mehr als einer
Stelle, daß es sehr verfehlt wäre einen solchen
Maßstab an die Dinge des siebzehnten Jahrhun-
derts zu legen. Es führt zu einer falschen Auf-
fassung Bernhards von Weimar selbst, der doch
ein Deutscher war, um wie viel mehr des Gene-
rals von Erlach, der Deutschland nicht einmal
der Geburt nach angehörte. „Die religiösen
Streitigkeiten, sagt A. von Gonzenbach einmal,
hatten die Idee des Vaterlandes, die überhaupt
erst viel später stark geworden ist, tiberwuchert;
Feinde in's Land zu rufen und zwar nicht nur
Spanier, Schweden und Franzosen, sondern auch
Halb Barbaren wie Ungarn, Siebenbürgen und
Türken, galt zu jener Zeit nicht als Landes-
Verrath. Der Nationalitätenbegriff war noch so
wenig entwickelt, daß die Kaiserkrone, wie ein
Jahrhundert früher, Franz I. von Frankreich, so
in neuester Zeit von einzelnen Reichsständen
Gustav Adolph und selbst Ludwig XIII. ange-
tragen worden waru. Niemand wird deshalb
leugnen wollen, daß nicht einzelne hervorra-
gende Geister in dominierender Stellung die
patriotische Idee im modernen Sinne dann und
wann erfaßt und ihrer Verwirklichung zugestrebt
hätten. Poetische Ahnung hat es mit Bezug auf
Wallenstein zur Anschauung gebracht, und dem
großen Dichter hat es nicht an Bestätigung
durch den großen Historiker gefehlt. Auch
Bernhard von Weimar scheint gegen Ende sei-
nes Lebens die Wendung gemacht zu haben,
1040 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 33.
daß er sein eigenes Interesse mit dem allge-
meinen deutschen zu verbinden sachte. Indem
er sich bestrebte „eine dritte Partei" zwischen
Frankreich und Schweden zu bilden, mochte er
hoffen seinen Glaubensgenossen SicherBeit, sich
selbst ein schönes FürsteQthum, seinem Vater-
lande den Frieden zu gewinnen und Deutsch-
land doch große Territorial Verluste zu ersparen.
Er aber war ein deutscher Fürst von Ansehen,
er konnte mit viel weniger Verantwortlichkeit
handeln als ein Untergebener, seine letzte Ab-
sicht in sich verschließen, zögern und abwar-
ten, auf die Zukunft rechnen. Erlach dagegen
mußte ausführen, was im Interesse des Heeres
nöthig war, ohne nach den Folgen fragen zu
dürfen, mußte es rasch ausführen, wenn nicht
die Armee verloren gehen sollte, hatte sich nicht
darum zu kümmern, ob die Verfügung über das
Heer auch die Verfügung über die Lande nach
sich ziehen würde. Es kann nicht genug be-
tont werden: Was er that, that er als Soldat,
nicht als Staatsmann; politische Erwägungen
mußten bei ihm hinter militärischen zurücktreten,
wie sehr auch sein Verhalten auf die Politik
einwirken mochte. Es dünkt mich, als ob H.
Molitor dies verkenne. Er hat ja unzweifelhaft
Recht, sich auf das Testament Bernhards zu be-
rufen, nach welchem einer der Brüder Bernhards,
womöglich von Schweden „mentenirt", die „er-
oberten Lande" erben und nur wenn „keiner
sie annehmen wolle", Frankreich den Vorrang
haben solle, immer unter der Bedingung, daß
die Armee darin verbleibe und daß beim Uni-
versalfrieden eine Restitution an's Reich statt
finde. Für den Politiker mochte das „annehmen
wolle" genügen, um ihm darauf hin ein dila-
torisches Verhalten zu erlauben. Für den Sol-
Gonzenbach, Der General H. L. v. Erlach. I. 1041
daten maßte das „annehmen könne" zuerst in
Frage kommen, weil es ihm nicht gestattet war,
in kritischer Lage 'zu zögern. Erwägt man nun
aber die Lage der Herzöge von Weimar, blickt
man auf ihr Benehmen, so wird man zu dem
Schlüsse gedrängt, daß sie die Macht nicht hat-
ten, die Aufgabe zu erfüllen, die ihnen durch
das Testament gestellt worden war. Durch den
Prager Frieden gebunden, ohne genügende Mit-
tel, von den Schweden nicht unterstützt, wie
hätten sie auch beim besten Willen fortführen
sollen, was Bernhard, und selbst dieser mit noch
immer zweifelhaftem Erfolge, begonnen hatte?
Die Unentschlossenheit, die Zögerungen, die auf
weimarischer Seite hervortreten, beweisen, daß
man sich über das eigene Gefühl der Macht-
losigkeit nicht täuschte. Auf „die Fährlichkeit
der Lage und die Unmöglichkeit langen Zu-
wartens" brauchte der Herzog Wilhelm nicht
erst durch Erlach aufmerksam gemacht zu wer-
den. Molitor selbst hat darauf hingewiesen, daß
in Weimar lange Conferenzen darüber geführt
wurden. Man war sich über die Fährlichkeit
der Lage und die Unmöglichkeit langen Zu-
wartens, was hier so ziemlich zusammenfiel,
ganz klar. Aber man kam nicht vom Flecke,
nicht weil man nicht gewollt hätte, sondern
weil man nicht konnte.
Erlach dagegen mußte handeln. Ihm, als
Soldaten, lag es ob, die Armee „der guten
Sache" zu retten, und nach den Auseinander-
setzungen des Verfassers ist es schwer einzu-
sehen, wie dies anders hätte geschehen können
als durch schleunige „Erneuerung der Dienst-
verträge Herzog Bernhards". Diese Erneuerung
kam freilich Frankreich zu gute, und Erlach
hatte nie ein Geheimniß daraus gemacht, daß
66
1042 Gott, gel. Änz. 1880. Stück 33.
ihm die französische Allianz selbst noch Wün-
schenswerther erscheine als die schwedische.
Man kann daher wohl zugeben, daß er „par-
teiisch zu Gunsten Frankreichs" war, wie er es
immer gewesen, aber diese Parteilichkeit schloß
gerade die gertigte „Fahrlässigkeit" und „Un-
überlegtheit" aus. Er handelte mit voller Ueber-
legung und folgte darin den Spuren seines Her-
ren, mochte dieser später auch gewünscht haben,
den eingeschlagenen Weg zu verlassen. Sein
Herr hatte dem französischen Monarchen willig
„einen Reuterdienst" gethan, er hatte erbeutete
Fahnen nach Paris senden lassen, er sah im
Könige von Frankreich seinen obersten Kriegs-
herrn; warum sollte der Fremde den deutschen
Fürsten an deutschem Patriotismus tibertreffen?
Wenn Bernhard für das Schicksal der eroberten
Lande nicht besser gesorgt hatte, vielleicht nicht
besser hatte sorgen können, als es geschehen
war, warum sollten die Direktoren der weima-
rischen Arm6e, Männer die das Schwert und
nicht das Scepter führten, sich ihrer Zukunft
mit größerem Eifer annehmen? wenn ihn der
Tod verhinderte, sein letztes Wort in dieser
Sache zu sprechen, warum sollten sie es für ihn
thun? Uebrigens verspricht der Verfasser in
der Fortsetzung seines Werkes nachweisen zu
wollen, „daß bei den Verhandlungen in Münster
und Osnabrück der Generalmajor von Erlach
weit mehr für die reichsunmittelbaren Städte im
Elsaß und deren Verbleiben beim Reiche ge-
wirkt habe als die Reichsstände am Fürstentage
in Osnabrück, bei welchen der Kaiser wenig
Unterstützung gefunden hat".
In einer anderen Streitfrage von geringerer
Bedeutung, betreffend die Erweiterung der Be-
fugnisse Erlachs als Gouverneur von Breisach,
Gonzenbacb, Der General H. L. v. Erlach. I. 1043
scheint ein Mißverständnis vorzuliegen, welches
der Verfasser wohl selbst noch Gelegenheit fin-
den wird aufzuklären. Der Raum dieser Blät-
ter verbietet darauf einzugehen und auszuführen,
daß auch diese Angelegenheit sich nicht zu einer
Anklage wegen pflichtwidrigen Verhaltens des
Generalmajors wird verwenden lassen. Endlich
sei gleichfalls an dieser Stelle nur in Kürze er-
wähnt, daß es dem Verfasser inzwischen gelun-
gen ist, die beiden von Böse II. 420 erwähn-
ten Briefe Erlachs an Des Noyers aus Paris zu
erhalten. Sie sind ganz unschuldiger Natur und
rechtfertigen in nichts die gehässige Beschuldi-
gung, als habe Erlach versprochen, hinter dem
Bücken des Herzogs und nach seinem Tode
eine verrätherische Correspondenz mit dem fran-
zösischen Minister zu führen. Möge es dem
Verfasser vergönnt sein, sein wichtiges Werk bald
zu vollenden, das als die bedeutendste Vorarbeit
einer schon lange entbehrten neuen Monographie
über Bernhard von Weimar betrachtet wer-
den muß.
Bern Juli 1880. Alfred Stern.
Nu bische Grammatik. Mit einer Ein-
leitung über die Völker und Sprachen Afrika's.
Von B. Lepsius. Berlin, W. Hertz 1880.
CXXVI und 506 pp. 8°.
Fast vier Jahrzehnte sind verflossen, seit
Lepsius seinen langjährigen Aufenthalt in Ae-
gypten, mit dem für die Aegyptologie eine neue
Epoche begann, auch dazu benutzte, die Spra-
chen des oberen Nilthaies zu erforschen. Be-
66*
1044 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 33.
sonders für das am weitesten verbreitete der
dortigen Idiome, für das Nuba, brachte er um-
fangreiche Sammlungen heim. Auch später in
Europa bot sich ihm Gelegenheit, das Gesam-
melte mit einem Nubier gründlich und in Muße
zu revidieren, so daß ihm ein bis in das Detail
hinein absolut zuverlässiges und genaues Mate-
rial zu Gebote stand — ein Material, wie es
für andere illiterate Sprachen leider nur selten
vorliegt.
Bei der Fülle wichtiger Arbeiten aber, die
aus der Herausgabe und Verwerthung der
Schätze der Preußischen Expedition erwuchsen,
mußte die Publikation der Nubischen Gramma-
tik immer wieder zurückgestellt werden. Erst
in den letzten Jahren konnte der Verfasser die-
selbe abschließen.
Von den drei Dialekten, in die dasNubische
zerfallt, hat Lepsius den mittleren, den Mahas-
dialekt, zu Grunde gelegt; die beiden andern,
der des nördlichen Kenuzdistrictes , und der
südlichste, das Dongolaui, sind nur an zweiter
Stelle behandelt. Mahasleute waren es ja, von
denen Lepsius die Sprache erlernte und die ihm
das Marcusevangelium übertrugen und revidier-
ten. Und wenn auch zwei derselben zugleich
des Eenuz mächtig waren, so blieben die Lücken
doch zu zahlreich, um eine gleichmäßige Be-
handlung der drei Dialekte zu erlauben. Desto
erfreulicher war es, daß während des Druckes
die Nubagrammatik Reinisch's erschien, die eine
reiche Sammlung von Texten aller Dialekte ent-
hält. Aus ihnen konnten die betreffenden Ab-
schnitte des Lepsius'schen Werkes noch vervoll-
ständigt werden.
Die Sprache, wie sie uns nun in dem vor-
liegenden Buche entgegentritt, hat in ihren ein-
/
Lepsius, Nubiscbe Grammatik. 1045
fach schönen Lautverhältnissen für unser Ohr
etwas höchst ansprechendes; desto fremdartiger
mnthet uns aber ihr Bau an. Eins ist auch bei
flüchtigem Anblick klar: an eine Verwandtschaft
mit dem großen benachbarten Sprachstamm, dem
hamitischen, ist in keiner Weise zu denken.
Unter den autochthonen Sprachen Afrika's wer-
den wir dem Nuba seinen Platz suchen müssen.
Lepsius unterzieht zu diesem Zwecke in der
Einleitung seines Werkes die gesammten Spra-
chen Afrika's einer genauen Musterung und bei
dem hohen Interesse der hier in Betracht kom-
menden Fragen wollen wir auf diesen Theil des
Werkes etwas näher eingehen.
Gewöhnlich theilt man jetzt die nicht hami-
tischen Völker Afrika's in vier Gruppen, von
denen die erste die nördlichen schwärzesten
Stämme umfaßt, die zweite die Fellata und
Nuba, die dritte die Bantu oder Kaffern, wäh-
rend die vierte die Buschmänner und Hotten-
totten begreift. Sie alle, höchstens die vierte
Gruppe ausgenommen, haben soviel Verwandt-
schaft im Körperbau, daß man sie als einen
Stamm betrachten kann, um so mehr, als die
stark variierende Farbe der verschiedenen Völ-
ker im Wesentlichen nur durch die klimatischen
Verhältnisse ihrer Wohnsitze verursacht ist. In
der That fällt die Zone der schwärzesten Neger
mit der höchsten Isotherme zusammen.
Ihre Sprachen hingegen sind weit davon ent-
fernt einheitlich zu sein. Nur eine große
Gruppe läßt sich jetzt noch ausscheiden: die
der Bantusprachen, von denen wir im Osten das
Kafir, T&wana und Swahili, im Westen Herero,
Pongue und Fernando Po kennen. Südlich von
ihrem Gebiete wohnen die Hottentotten und
Buschmänner, nördlich aber bis hin zu den Ha-
1046 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 33.
miten herrscht das bunteste Sprachgemisch. Es
ist nun Lepsius' scharfsinnige Vermuthung, daß
es gerade der Zusammenstoß mit den Hamiten
war, der dieses Gewirr von Sprachen hervor-
rief. Als über Suez die libyschen Stämme, über
Babelmandeb die kuschitischen einbrachen und
den Norden und Osten Afrika's eroberten, zer-
trümmerten und verschoben sie allmählich die
ursprünglich einfachen Völkerverhältnisse des
Continents. Die nördlichen Negervölker wurden
aus ihren Sitzen vertrieben, ihre Entwickelung
wurde gestört; kein Wunder, daß diese zer-
sprengten und aus dem Zusammenhang der
nächst verwandten Idiome ausgelösten Sprachen
sich schnell differenzierten.
Es stände schlimm um diese Hypothese,
wenn sich, wie dies Friedrich Müller auf das
entschiedenste behauptet, keinerlei Verwandt-
schaft zwischen den Bantusprachen und denen
nördlicher Neger nachweisen ließe. Daß dem
nicht so ist, daß sich im Gegentheil mannich-
fache und auffallende Berührungspunkte finden,
sucht Lepsius des weiteren nachzuweisen und
ich glaube, es ist ihm durchaus gelungen. Na-
türlich darf man bei diesen Sprachen, die ihren
Wortschatz so ungemein leicht und schnell än-
dern, nicht hoffen, noch lautlich gleiche Stämme
zu finden; nur Analogieen im grammatischen
Bau kann man erwarten. Auch diese Analo-
gieen finden sich weitaus nicht in allen Spra-
chen in gleicher Weise, aber auch vereinzelt ist
ihr Vorkommen von Gewicht. Im Folgenden
einige besonders bezeichnende Beispiele.
Die Bantusprachen unterscheiden bekanntlich
verschiedene Klassen der Nomina (z. B. Thier,
Mensch, Baum u. s. w.) durch feste Präfixe.
Lepsius, Nabische Grammatik. 1047
Nun diese so auffallende Erscheinung*) findet
sich in einigen der Nordsprachen in ganz ähn-
licher Weise, nur daß es hier meist Suffixe sind,
die als Klassenbezeichnungen fungieren.
Und wie aus dem Gebrauche, diese Präfixe
des Substantivs auch bei seinem Verbum, seinem
Adjectiv u. s. w. zu wiederholen, sich in den
Bantusprachen eine Art von Allitteration erge-
ben hat — z. B. abantu betu abahle „unsere
schönen Leute" — so finden wir auch in nörd-
lichen Sprachen Beste dieser so eigentümlichen
Erscheinung. Es nehmen z. B. im Pul (Fellata),
Wolof und Umale vokalisch anlautende Nomina
den konsonantischen Anlaut ihres Substantivs
an: adg utru ein großer Kopf,
dget dgutru ein großer Mann,
hurt butru eine große Mauer
— wie mir scheint ein deutlicher Beweis, daß
auch diese Sprachen einst wie die Bantu Klas-
senpräfixe besessen haben!
Nicht minder charakteristisch ist es, daß
sich in zahlreichen Nordsprachen ebenso wie in
den Bantusprachen eins der sonderbarsten Aus-
drucksmittel angewendet findet, das die Sprache
überhaupt kennt: die Intonation, d.h. die Schei-
dung sonst gleichlautender Worte durch die ver-
schiedene Höhe der Stimmlage. Sonst ist die
Intonation nur noch in China beobachtet wor-
den; das gleichmäßige Auftreten einer so selte-
nen Erscheinung in den Nordsprachen und im
Bantu ist daher wohl zu beachten.
Wenn wir so die Lepsius'sche Hypothese
einer ursprünglichen Einheit der nichthamiti-
*) Lepsius erklärt sie sehr fein und ansprechend aus
der hohen Wichtigkeit, die das Wesen der einzelnen Ob-
jecto für den Naturmenschen hat.
1048 . Gott. gel. Anz. 1880. Stück 33.
sehen Sprachen Afrika's als bewiesen ansehen
dürfen — soweit man in solchen Fragen über-
haupt von Beweis sprechen kann — so werden
wir nun auch dem Nubiscben einen gleichen
Ursprung zuweisen müssen. Freilich ist gerade
diese Sprache dem Einfluß hamitischer Nach-
barn dauernd seit langer Zeit ausgesetzt gewe-
sen und hat deshalb — ebenso wie z. B. die
Sprache der Pul, das Fulfulde — besonders tief
greifende Modification en des ursprünglichen
Baues erlitten. Ebenso hat ja auch der Körper-
bau der Nubier starke Beeinflussung erfahren;
nur die sogenannten freien Nuba in den Bergen
südlich von Kordofan bewahren noch heut einen
Negertypus.
Dazu kommt noch eine Thatsache, die das
Nuba zweifellos als eine nicht hamitische Spra-
che kennzeichnet: ihm fehlt das grammatische
Geschlecht. Es ist Lepsius' Verdienst, fdie zu-
erst von Bleek constatierte Thatsache, daß nur
Indogermanen und Aegyptosemiten (wie ich nach
Benfeys Vorgang die Hamiten und Semiten nen-
nen möchte) ein durchgeführtes grammatisches
Geschlecht besitzen, in ihrer eminenten Wich-
tigkeit begriffen zu haben. Dieser Satz, der so
viel ich weiß, sich bis jetzt ausnahmslos*) als
richtig erwiesen hat, weist denn auch denjeni-
gen Sprachen Afrika's, die wir bis jetzt noch
nicht besprochen haben, ihre Stelle an. Das
Hottentottische unterscheidet sowohl beim Nomen
*) Wenn die Negersprachen Bari und Oigob beim
Nomen den Geschlechtsunterschied durch / und n schei-
den, so sind wohl, wie Lepsius ansprechend vermuthet,
diese Präfixe ursprünglich alte Klassenpräfixe, von denen
das eine das Starke, Große, das andere das Schwache,
Kleine bezeichnete. Noch jetzt werden sie ähnlich ge-
braucht.
1
Lepsius, Nubigehe Grammatik. 1049
als beim Pronomen und in der Verbal bildung
das Geschlecht. Da es nnn zudem ganz wie die
knscbitische Gruppe der Hamiten b für das Masc.,
t und s für das Femininum verwendet und auch
sonst in seinem Bau eher mit diesen Sprachen
Verwandtschaft zeigt, als mit denen der Bantu-
Völker, so werden wir schwerlich fehlgreifen,
wenn wir mit Lepsius diese besonders in laut-
licher Beziehung stark verkommenen Sprachen
als ein versprengtes Glied der großen hamiti-
schen Familie ansehen.
Fassen wir noch einmal die Resultate dieser
Sprachnntersuchungen zusammen, so erhalten
wir folgendes Bild der Völkerbewegung Afrikas.
Die ursprüngliche Bevölkerung des Continents
war eine einheitliche, von deren Sprache wir
uns am besten aus der der Bantustämme einen
Begriff machen können. Von Osten drangen
die mit den Semiten auf das nächste verwand-
ten harmtischen Völker ein und drängten die
schwarze Bevölkerung allmählich weiter und
weiter zurück. Die libyschen Stämme occupier-
ten ganz Nordafrika bis hin zum atlantischen
Ocean und bis zum Stidrand der großen Wüste;
die Aegypter*) nahmen das Nilthal bis zu den
*) Es ist bei dem heutigen Stande der Forschung
noch nicht möglich, genauer das Verhältnis der einzel-
nen hamitischen Sprachen zu einander anzugehen. Ehe
nicht der Bau des Altägyptischen gründlicher durchforscht
ist, ist jedes Arbeiten auf diesem Felde mißlich. Die
jetzt in der Sprachwissenschaft herrschenden Anschauun-
gen von ägyptischer Sprache, wie sie unter andern in
Friedrich Müller's Werken auftreten, entsprechen nicht
der wirklichen Sachlage. Das Altägyptische ist viel ent-
wickelter, als man gewöhnlich annimmt, aber als Sprache
eines Culturvolkes verfiel es ungleich schneller als seine
in der Wüste lebenden Schwestern. Wie fremdartig er-
scheinen schon das Neuägyptische und das Koptische den
1050 Gott. gel. Anz. 1880. Stttck 33.
Katarakten in Besitz; die Kuschiten endlich be-
setzten die Ostküste bis tief nach Süden herun-
ter. Durch diese großartige Invasion fremder
Stämme wurden die Ureinwohner durcheinander
versprengt; ihre Volkskraft wurde gebrochen
und, einmal unter ferner stehende Idiome zer-
streut, bildeten sich die einzelnen Dialekte
schnell zu selbstständigen Sprachen aus. Natür-
lich erzeugten sich Mischbevölkerungen, bei de-
nen die Sprache dann noch weiter abliegende
Wege einschlug; die Pul im Westen, die Lo-
gone*) im Innern, die Nuba und Barea im
Osten sind Beispiele dieses Processes. Dann
aber erfolgte im Süden ein Bückschlag, die
Bantu Völker drangen wieder gegen die Ostküste
vor, der südlichste Zweig der Kuschiten wurde
abgeschnitten und ward im Lauf der Jahrtau-
sende bis in den äußersten Winkel des Conti-
nents gedrängt. Noch heut besteht dieser ver-
lorne Posten der Hamiten, freilich in einer Ge-
stalt, die kaum seinen Ursprung ahnen läßt: es
sind die Hottentotten.
Noch ein zweites mal hat übrigens nach
Lepsius* Ansicht Nordafrika eine kuschitische
Invasion erfahren. Denn, wie Maspero, identi-
ficiert er das kuschitische Volk der Puna, das
am erythräischen Meer saß, mit den Phöniciern,
deren Urheimath ja nach mehrfachen Berichten
ebenfalls an jenen Gestaden lag. Und wie je-
ner hält er auch die Hycsosinvasion für einen
Wanderzug des phönicischen Volkes. Daß die
Hycsos keine Semiten waren, ist jetzt wohl all-
Semitischen Sprachen gegenüber, während z. B. bei dem
heut gesprochenen Tamäseq die Verwandtschaft mit dem
Semitischen noch auf den ersten Blick klar ist!
*) Die Haasasprache ist hamitisch, wie Lepsius mit
Recht festhält.
Lepsius, Nabische Grammatik. 1051
gemein anerkannt; auch die Phönicier werden
nicht als Semiten dargestellt und die vorge-
schlagene Abstammung der beiden Völker, die
ja mit der Tradition übereinstimmt, hat viel
Ansprechendes. Schwieriger scheint es mir für
die Kuschitische Invasion in Babylonien sichere
Beweise zu finden; die Keilinschriften ergeben
nichts, was dahin deutete*).
Es steht zu vermuthen, daß Lepsius' Ansich-
ten über die Völker Afrika's auf ethnologischer
Seite auf starken Widersprach stoßen werden.
Stehen doch die Resultate der sprachlichen Un-
tersuchung in entschiedenem Gegensatz zu denen
der ethnologischen Forschung.
Der consequenteste Vertreter dieses Stand-
punkts, Robert Hartmann, erklärt ja sämmtliche
Hamiten **) für ebenso autochthon wie die Neger
und auch die Gelehrten, die die Resultate der
Ethnologie und die der Linguistik zu vereinigen
suchen, werden sich schwer dazu entschließen,
die Hottentotten oder die Hausa als Hamiten
anzusehen. Aber dieser Widerspruch ist ja zum
guten Theil nur ein scheinbarer. Mit Recht be-
merkt Lepsius, die Verbreitung und Vermischung
der Völker gehe ihren Weg und die der Spra-
che, wenn auch stets durch diesen bedingt, den
*) Als Curiosum sei erwähnt, daß Maspero die Ku-
schiten unter anderm auch nach Earien und nach Indien
ziehen läßt» aus ihrem Namen aber den Hindu Kusch (!!)
als ihre Urheimath erschließt.
**) Die Bezeichnung Retu, die Hartmann und andere
Ethnologen für die Aegypter gebrauchen, sollte man doch
besser vermeiden. Abgesehen davon, daß es mißlich ist,
aas einer einzigen Stelle zu schließen, daß sich die Ae-
gypter im Gegensatz zu fremden Völkern nur als »Men-
schen« bezeichnet hätten, ist es auch unmöglich, die
wirkliche Aussprache der Gruppe rdu, rd, rt anzugeben.
Die Schreibung Ludu in manchen populären Werken ist
nur den biblischen 0*mb ZQ Liebe aufgebracht.
1052 Gott gel. Anz. 1880. Stück 33.
ihrigen, oft gänzlich verschiedenen. Wohl mö-
gen Völker, die heut hamitisch sprechen, kaum
noch einen Tropfen hamitischen Blutes in sich
haben nnd andere vollends, wie die Hansa, mö-
gen rein antochthonen Ursprungs sein — für
die Linguistik sind sie trotzdem ihrer Sprache
wegen Ham i ten. Auch dürfen wir nicht ver-
gessen, daß es eine durch nichts zu beweisende
Annahme ist, wenn wir jene alten Völker-
stämme, die sprachlich eine Einheit bildeten,
nun auch als Einheit im ethnologischen Sinne
fassen. Wer vermöchte heut zu sagen, ob nicht
die Hamiten, die einst Afrika überschwemmten,
selbst aus den verschiedensten Elementen be-
standen? Später wird vielleicht einmal ein Zu-
sammenarbeiten des Ethnologen und des Sprach-
forschers, wie man es jetzt zu fordern pflegt,
ungeahnte Aufschlüsse gewähren ; für den Augen-
blick, wo beide Wissenschaften noch in den
Anfängen stehen, kann es nur zu vorschnellen
Eesultaten führen.
Ueber die Geschichte des nubischen Volkes,
um noch einmal zu diesem zurückzukehren,
läßt sich leider nur weniges feststellen. Noch
der Zeitgenosse des Ptolemaeus Philadelphus,
der äthiopische König Arkamen, besaß das
linke Nilufer, wie seine dortigen Bauten bewei-
sen. Hingegen Eratosthenes und Strabo sagen
bereits, es sei von den unabhängigen Nubiern
bewohnt*). Scharfsinnig vermuthet Lepsius,
daß dieses so plötzlich hervortretende Volk iden-
tisch ist mit dem alten Negervolke der Uaua,
*) Strabo nennt sie Libyer, natürlich ihrer Wohn-
sitze wegen. Ebenso übersetzt ein koptisch-arabisches
Glossar (No. 50 der Pariser Bibliothek) XjAithc mit
Nubier und Af £lh mit Nubien.
Lepsius, Nabische Grammatik. 1053
das wir schon in den ältesten Zeiten ägypti-
scher Geschichte an der Südgrenze Aegyptens
sitzen finden. Während des Emporblühens des
Reiches Kas, wo ägyptische Cultur eine zweite
Heimat fand, treten diese nördlichen nicht ha-
mitischen Völker in den Hintergrund; bei sei-
nem Verfall gewinnen sie ihre Unabhängigkeit
wieder. Für diese Vermuthnng spricht auch,
daß zur gleichen Zeit auf dem arabischen Ufer
des Nils in ähnlicher Weise Stämme kuschiti-
scber Nation, die Blemmyer und Megabarer,
aufzutreten beginnen. Erst gegen die Mitte des
sechsten Jahrhunderts n. Chr. wurden die Nu-
bier zum Ghristenthume bekehrt; die Blemmyer
blieben noch Heiden, wie wir aus der Inschrift
ihres Besiegers, des nubischen Königs Silko
erfahren. Das nubische Beich muß sich damals
bis tief nach Süden erstreckt haben, noch über
die Atbaramündung hinaus — darauf deutet, ne-
ben den Angaben der arabischen Schriftsteller,
auch die lokale Tradition, die noch heute
manche jetzt rein arabische Orte als „nubischu
bezeichnet. Erst am Ende des I3ten Jahrhun-
derts erlag es den Arabern.
In neuerer Zeit ist von Heinrich Brugsch in
seiner Gqpchichte Aegyptens die Ansicht aufge-
stellt worden, die Nuba seien die Abkömmlinge
der alten Aethiopen, der K a s , die danach kein
hamitisches Volk sein würden. Er stützt sie
auf die Namen der äthiopischen Könige, in de-
nen sich mehrfach eine Endung qa h findet,
welche er für identisch mit dem „Artikel** des
Nubischen hält. Einen Artikel besitzt das Nu-
bische nicht; gemeint ist die Endung des Dativ
und Accusativ zugleich bezeichnenden Objectiv-
casus gä9 Jcä, die auch da gebraucht wird, wo
man ein Substantiv absolut hinstellt. Ist schon
1054 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 33.
diese Identification gewagt, so sind es die Ety-
mologien, die Brugsch giebt, noch mehr, äabaqa
bedeutet nach ihm „der Katera , sdbataqa „der
Sohn des Katers", Kasta „der Sohn des Pfer-
des", Psamatik „der Sohn der Sonne", Nimrod
„der Sohn des Panthers". Die nubischen For-
men für diese Namen wären:
sab Obj. säbki\ im Mah. säppa.
säbintöd Obj. säbint ottä (für säbint ödga\
Brugsch's to „der Sohn" ist nur sekun-
däre Form für tod.)
Jcagintod Obj. kagintötta.
Für den „Sonnensohn" wüßte ich gar keine
Erklärung und bei dem „Panthersohn" (der
doch mindestens nimrintod heißen müßte) hat
Brugsch sogar das arabische nimr zu Hülfe ge-
nommen! Und ebensowenig sprechen die Fremd-
worte des Nubischen dafür, daß dieses Volk
zwei Jahrtausende eine halb ägyptische Cultur
besessen habe. Sicher erst aus koptisch-christ-
licher Zeit stammen*):
nähe M. Sünde: no&e
tu D. Sohle: Twye
tibbe K. D. tiffe M. reinigen: tMo
korgos M. K. gelb: xQÖxwg
kirage M. Sonntag: xvquxxij.
Weniger genau zur koptischen Form stimmen:
ädi M. edi K. Hyaene: hdt goerre
nah M. nobre K. D. Gold: wfe hoy&
tüb M. K. Ziegel: dbt -xaifce
nibid K. D. Matte : nbd flechten nefrt Matte
siwid K. Schwert: sft cHqe
kon-alli M. D. Gesichtsspiegel: ei*A
fenti M. benti D. Dattel: bnt Äeiu.
*) urü »König«, was Brugsch citiert, ist das nob.
urü »Haupt«; wäre es Fremdwort, hätte es doch auch
gewiß sahidische Form.
r
Lepsius, Nabische Grammatik. 10f>5
Entschieden deuten auf ältere Entlehnung
mvrti K. Damm, minne K. M. Taube, wel K. D.
Hund, deren Aequivalente im Koptischen theils
fehlen, theils nicht passen. Zufall mag es sein,
daß fale M. bde E. D. herausgehen, (auch von
der Saat) und wäie M. fliegen an die gleichbe-
deutenden altägyptischen Verba pr und pa an-
klingen.
< Kurz es finden sich im Nubischen durchaus
keine Spuren, daß diese Sprache einmal die der
Weltmacht Kusch gewesen wäre. Auch den
Namen des nubischen Königs Semamun (Qua-
trem&re, Mämoires II p. 102) darf man nicht
als Beleg für einen einstigen Amonskultus der
Nubier anführen. Er war in griechischer Zeit
in Aegypten häufig (Stvapovviq, Wtyapovpis)
und wird ebenso wie andere heidnische Namen
von den Kopten beibehalten sein.
Die Frage nach der Nationalität der alten
Aethiopen hat übrigens eine besondere Wichtig-
keit, da sie darüber entscheidet, welche Sprache
bei der Entzifferung der meroitischen Inschrif-
ten*) zu Grunde zu legen ist. So interessant
es wäre, in diesen eine ältere Gestalt des Nu-
bischen zu gewinnen, so scheint es mir nach
dem Gesagten wenig wahrscheinlich.
Zum Schluß dieser Auseinandersetzung sei
hier noch eines nubischen Wortes erwähnt, das
mir für die Geschichte des Volkes von Interesse
*) Eine Reihe von Buchstaben der fraglichen In-
schriften gleicht so genau demotisch-hieratiachen Zeichen
(e, I, a, *, t, m, ma, gf p, d, b)} daß man versucht
ist, sie für identisch mit diesen zu halten. Eine sehr
häufig vorkommende Endung wäre danach b und dies
wprde zu der Masculinarendung der kuschitischen Spra-
chen auf das beste passen. Möchte doch Brugsch end-
lich einmal die bilingue Inschrift, in deren Besitz er ist,
zugänglich machen 1
1056 Gött. gel. Anz. 1880. Stück 33.
scheint. Während derKenuz- und derDongoIa-
dialekt das Wasser ausschließlich essi nennen,
haben die zwischen jenen sitzenden Mahas
ebenso ausschließlich dafür das Wort aman,
das denn auch, wie Lepsius bemerkt, fast als
Schiboleth zwischen den Kubischen Stämmen
gilt. Dies aman aber — es ist dies, soviel ich
weiß, noch nicht bemerkt worden — ist aus
dem Tamääeq entlehnt*). Damals muß der Ma-
hasstamm jedenfalls einmal weiter nach Westen
zu gewohnt haben. Nun wissen wir, daß Dio-
kletian einen nubischen Stamm aus der Um-
gegend der Oase Ghargeh als Schutz gegen die
Blemmyer in das Nilthal verpflanzte. Er wies
ihnen freilich die Sitze an, die heute die Eenuz
inne haben; doch wäre es ja wohl möglich,
daß die Einwanderer sich später etwas weiter
stromaufwärts gezogen hätten. Es kommt hinzu,
daß der Kenuz- und der Dongolastamm sich
sprachlich sehr nah stehen, beide werden Nach-
kommen der alten Nilnubier sein, in deren ent-
völkertes Gebiet der Oasenstamm eindrang.
Man übersehe nicht, daß noch heute die Mahas-
leute die beiden anderen Dialekte als oäkirtn
baMid „die Sklavensprache" bezeichnen. Schon
dies deutet darauf, daß sie sich einstmals als
Eroberer, als Herren der seßhaften, schwächeren
Stämme gefühlt haben.
Berlin. Adolf Erman.
*) Aach für ein anderes ebenfalls nur dem Mahas
angehöriges Wort: kel »Gebiet, Grenze« liegt eine Her-
leitung aus derselben Quelle verführerisch nah, doch mag
dies Zufall sein.
Für die Redaction verantwortlich : & Rehnisch, Director d. Gött. gel. Anz.
Commissions -Verlag der Dieterich' sehen Yet lags- Buchhandlung,
Druck der JHeierich'schen Univ.-JJuchdruckeiei ( W. Dr. Kaestnmh
l,-^ V fc--
*.J
SEP 2Q 1880 1057
G b tti ng i sehe
gelehrte Anzeigen
anter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück 34. 25. August 1880.
Inhalt: J. Wiclif, De Christo et suo adversario Aniichristo
herausgeg. von Buddensieg. , Von Fr. Düsterdieck. — P. Tannery,
Thaies et ses emprunts ä l'Egypte. Yon G. Teklunüüer. — H. Lau-
rent, Theorie e'le'mentaire des fonetions elliptiques. Yon A. Bnnetwr.
— A. Hartmann, Taubstummheit und Taubstummenbildung. Von
K. Burkner.
B Eigenmächtiger Abdruck von Artikeln der Gott. gel. A nz. verboten ss
De Christo et suo adversario Anti-
christ o. Ein polemischer Tractat Johann
Wiclifs aus den Handschriften der K. K.
Hofbibliothek zu Wien und der Universitäts-
bibliothek zu Prag zum ersten Male herausge-
geben von Dr. Rudolf Buddensieg. Gotha.
F. A. Perthes 1880. 59 Seiten in Quart.
Wenn der Herausgeber dieses gegen das
Papstthum gerichteten Tractate, im Anschluß an
englische und deutsche Werke über den Oxfor-
dischen Vorreformator, in der vorliegenden Ar-
beit uns die erste Probe der lateinischen Streit-
schriften Wiclifs darbietet, so verdient er damit
die freudigste Anerkennung. Die Streitschrift
ist von so entschieden evangelischer Haltung,
namentlich auch in ihrer in der That einiger-
maßen unerwarteten Mäßigung und in der ein-
67
1058 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 34.
sten, die polternden Worte meidenden Ruhe, daß
sie als ein edler Beitrag zu der Geschichte Wic-
lif s und der reformatorischen Vorarbeiter über-
haupt erscheint. Da der Herausgeber bezeugt,
daß er Gelegenheit gehabt habe, fast sämmtliche
lateinische Streitschriften Wiclif s, welche noch
in dem handschriftlichen Schatze der Wiener
Bibliothek liegen, abzuschreiben — etwa 25
Nummern — so werden wir auf weitere Mit-
theilungen von seiner geschickten Hand hoffen
dürfen. In den Vorbemerkungen (S. 5 — 32)
bringt der Herausgeber zuvörderst auf Grund
gediegener Studien die erforderlichen Bemer-
kungen über den gegenwärtigen Stand der
Wiclifliteratur, über die lateinischen Werke
Wiclif s und deren Werth, über die polemischen
Schriften Wiclifs insbesondere, sodann über die
Stellung unsers Tractats innerhalb der Polemik
Wiclifs, über Eintheilung und Inhalt unsers
Tractats, über die Abfassungszeit (etwa i. J.
1383/84) und die Echtheit desselben. Dann fol-
gen sehr sorgsame Angaben über die verschie-
denen Handschriften mit ihren Correcturen, und
endlich werden die bei der Edition befolgten
Grundsätze dargelegt. Die Wiclif sehe Schrift
selbst folgt S. 33—58; unter dem Texte sind
die erforderlichen kritischen Nachweisungen aus
den verglichenen Handschriften gegeben.
Durch die kritischen Anmerkungen werden
wir in dankenswerther Weise in den Stand ge-
setzt, die sorgsame Arbeit, welche der Heraus-
geber der Feststellung des Textes gewidmet hat,
zu würdigen und ein eigenes Urtheil dieserhalb
zu gewinnen. Einige Male hat er angesichts
der fehlerhaften Angaben in den Handschriften
zu Gonjecturen seine Zuflucht nehmen müssen.
Nur in seltenen Fällen wird man Bedenken tra-
Wiclif , De Christo et suo adversario et 1059
gen, ihm zuzustimmen; es finden sich auch ein-
zelne Stellen, an denen eine Gonjectur gerecht-
fertigt erschienen sein würde, während der
Heraasgeber bei den Handschriften beharrt. Ich
zweifle z. B. nicht, daß das ipsis §. 73, zu welchem
der Heraasgeber ein Fragezeichen setzt, in ipsi
zu verbessern ist; die Abschreiber haben das
ipsis mit den Worten papis aspirantibas in
falsche Verbindung gebracht and vielleicht auch
durch das sogleich folgende ipsis pastoribos
sich beirren lassen. Für anrichtig dagegen
halte ich die Gonjectnr des Heraasgebers in
§. 87, wo er anstatt der handschriftlichen Les-
art infinita vielmehr nach einer vorangehenden
Textaassage diffinita schreibt Der Sinn dieser
Conjectnr würde nicht angeeignet sein; aber
die Meinung Wiclif s ist die, daß infinita — ca-
piuntur - tanqaam fides zusammen zu fassen
ist and sich der Sinn ergiebt : anzählige Satzan-
gen in Betreff von Privilegien, Ablässen a. dgl.
werden, wenn der Papst es so bestimmt, von
den einfaltigen Christen wie Glaubenssätze hin-
genommen. Der Ausdruck infinita steht hier
wie §. 126. 131. 134. Zu capiuntur vgl. §. 92.
Falsch erscheint mir ferner die Conjectur one-
roso §. 131 ; denn dies Wort ist nicht mit loco
zu verbinden, sondern das richtige onerose be-
zeichnet, wie bedrückend die Gegenwart eines
Papstes an einem Orte sei, während Christas
ganz anders sich verhalten habe. In §. 134
wird vicarie, statt vicarii, nur ein Druckfehler
sein. Gleichfalls als Druckfehler notiere ich
§. 24 prineipum arith. statt prineipium; §. 87
hodlie statt hodie; §. 137 eunt statt sunt. Auch
§. 121 (Z. 2 v. u.) ist ein Druckversehen im
Texte. Daß der Herausgeber die Formen pote-
67*
1060 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 34.
rit, poterunt z. B. §. 93 unangetastet gelassen
hat, scheint mir richtig; dies mag Wiclif ver-
antworten, welcher übrigens an andern Stellen
auch potuerunt schreibt. — Sehr interessant ist
der Inhalt des Tractats. Wiclif eröffnet seine
Polemik mit einer Definition des Kirchenbegriffs,
welche nahezu mit denselben Worten in dem
Tractat de Ecclesia von Huß sich wiederfindet.
Die Kirche ist predestinatorum universitas. Sie
umfaßt drei große Abtheilungen; sie ist eine
triplex ecclesia, nämlich ecclesia triumphancmm
in celo, eccl. militancium hie in mundo und
eccl. dormiencium in purgatorio. Die eccl. mi-
litancium zerfällt ihrerseits wiederum in drei
Theile: die eccl. clericorum, qui debent esse
propinquissiini ecclesiae triumphanti et juvare
residuum ecclesiae militantis, ut sequatur Chri-
stum propinquius, qui est caput tocius ecclesiae.
— Secunda pars militantis ecclesiae dicitur esse
militum ita, quod sicut prima pars istius eccle-
siae dicitur instrumentum oratorum, ita secunda
pars ecclesiae dicitur corporalium defensorum.
Dies sind also die Machthaber, welche als Glie-
der der Kirche für die äußerliche Sicherheit,
für ihren irdischen Bestand zu sorgen haben.
Endlich tercia pars ecclesiae dicitur wulgarrom
vel laboratorura — also die Masse des Laien-
volks. Et in harmonia ista trium parcium ad imi-
tacionem trinitatis increatae consistit sanitas
corporis istius ecclesiae militantis. Dieser letzte
Satz, welcher den Ausgangspunkt für die Wic-
lifsche Polemik gegen die antichristlichen Ge-
staltungen in der päpstlichen Kirche bildet, ist
von dem Herausgeber bei seiner Darlegung des
Inhalts unsers Tractats nicht richtig verstanden
oder nicht recht beachtet; denn irrthümlich be-
Wiclif, Dte Christo et suo adversario cl 1061
riehtet er (S. 17), daß die vorhin zuerst genann-
ten drei Haupttheile der Oesammtkirche in Har-
monie stehen müßten, wenn die Kirche gesund
sein solle. Aber aueh wenn Wiclif nicht durch
den eben ausgeschriebenen Satz seine wahre
Meinung von der Bedingung für das Wohlsein
der Kirche unzweideutig auf die dreifache Glie-
derung des zweiten jener drei Haupttheile, näm-
lich der ecclesia militans, bezöge, würde die
Sache sich von selbst verstehen. Denn dafür,
daft die volle Harmonie zwischen der eccl.
triumphans, der militans und der dormiens
stattfinde, ist von Gottes wegen gesorgt; diese
Harmonie kann durch menschliche Sünde nicht
getrübt werden; aber innerhalb der eccl. mili-
tans, in der irdischen Entwicklung der Kirche,
kann und wird Verwirrung und Verderbung
eintreten. Nur von den Schäden dieser eccl.
militans handelt unser Tractat (vgl. §. 36. 48.
58. 62. 69. 75. 101).
Wiclif beginnt seine polemischen Erörterun-
gen §. 1 — 35 mit einer materia abstracta, wie
er selbst sagt, nämlich mit allgemeinen, mehr
religionsphilosophisch als biblisch-theologisch ge-
haltenen principiellen Sätzen über die Einheit
und Reinheit der Kirche, d. h. der eccl. mili-
tans, welche insbesondere durch die quatuor
sectae noviter introductäe, d. h. durch den cle-
rus cesarens, die monachi (Benedictiner) die
canonici (Augustiner) und die fratres (erscheint
Dominikaner und Franeiskaner zu meinen §. 12 f.)
in Verwirrung gebracht wird. Indem er dann
aber zu conereteren Sachen, d. h. zur histori-
schen und biblisch-theologischen Würdigung des
anticftristlich ausgearteten Papstthums, welches
ja i« Ron* And in Avignon zwei einander ent-
1062 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 34.
gegenstehende Vertreter hatte, sich wendet, be-
handelt er zuerst (§. 36 — 96) die allgemeineren
Fragen: ob Petrus und ob sein angeblicher
Nachfolger als das Haupt der Kirche angesehen
werden dürfe, da ja nach der Schrift Christus
dies Haupt sei und ob der Papst in Glaubens-
sachen unfehlbar sei. Hierauf folgt der spe-
ciale Theil (§. 97-140), in welchen an 12
einzelnen, in drei Gruppen geordneten Punkten
der Gegensatz des Papstes gegen Christus nach-
gewiesen wird; hier wird z. B. die Wahrheit,
die Armuth, die Sanftmuth Christi der päpstli-
chen Falschheit, Ueppigkeit, Herrschsucht gegen-
über gestellt. Charakteristisch ist die feste
Gründung der Wiclifschen Polemik in der hei-
ligen Schrift; hierin liegt die wahrhaft evange-
lische, auf die Reformation gleichsam weissagende
Art derselben. Aber Wiclif f ersteht auch andere
Saiten anzuschlagen. Den auf Weltherrschaft
gerichteten Ansprüchen des Papstes gegenüber
macht er geltend, daß die weltliche Macht des
Papstes vielmehr vom Kaiser herrühre (§. 61);
und im Hinblick auf Sylvester hält er es für
sehr wahrscheinlich, daß er, gleich dem Petrus,
später zu bitterer Reue über sein Verbrechen
(de isto crimine §. 65) gelangt sei. In Beziehung
auf sein eigenes Vaterland weist Wiclif mit be-
sonderer Energie die Herrschaft des Papstes
zurück, damit der König nicht wie ein subregu-
lus subditus an ti christo erscheine. Uebrigens
ist die Haltung der Polemik durchaus maßvoll,
ohne Leidenschaftlichkeit und frei von unziem-
lichen Ausdrücken. Genau genommen sagt
Wiclif, worauf auch der Herausgeber aufmerk-
sam macht (S. 15), nirgends geradezu, daß der
Papst der Antichrist sei; er stellt dies vielmehr
als eine verbreitete Ansicht hin (videtur multis
Tannery, Thalfei et ses emprunts k rägypte. 1063
§. 68. 97) und giebt die Merkmale an, ans de-
nen der Leser sich selbst sein Urtheil bilden mag.
Hannover. Dr. Fr. Dttsterdieck.
Paul Tannery, Thalfes et ses emprunts
äl'Egypte. — Revue philosophique, dirigäe par
Ribot 1880 Mars p. 299—318.
Die Freunde der Geschichte der Philosophie
erlaube ich mir auf diese Arbeit Tannery's auf-
merksam zu machen, die jedem Kenner des
Fachs sofort als eine originelle und hervorra-
gende Leistung erscheinen wird.
Tannery geht von der herrschenden Meinung
aus, die er als Vorurtheil bezeichnet und durch
Citat aus Z e 1 1 e r belegt, als wenn die Griechen
von den Orientalen bloß mathematische und
astronomische Kenntnisse, aber keine Anregung
zur Philosophie gewonnen hätten. Um in die-
ser schwierigen Frage Licht zu schaffen, will
Tannery zuerst die von Thaies wirklich entlehn-
ten mathematischen und astronomischen Kennt-
nisse genau festzustellen suchen und dann zwei-
tens daraus auf die Beeinflussung der philoso-
phischen Ideen nach der Analogie schließen.
Und daß wir hier nicht mit einem schwärmeri-
schen Versuch, wie er uns noch von den Tagen
Röth's her in Erinnerung ist, zu thun haben,
das wird schon dadurch einleuchtend, daß Tannery
mit ruhiger Besonnenheit die Begründung der
Wissenschaft und Philosophie dem originellen
Genie der Griechen zuschreibt
Demgemäß untersucht Tannery zuerst, wie
Thaies den Eintritt der Sonnenfinsterniß habe
1064 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 34.
bestimmen können. Die Annahme von Th. H.
Martin, als sei diese ganze Geschichte eine
bloße Fabel, genügt ihm nicht; denn wenn auch
Thaies die erst zu Hipparch's Zeit erreichten
astronomischen Kenntnisse und Instrumente noch
nicht besessen, so sagten doch die orientalischen
Astronomen ja schon Jahrhunderte vor Thaies
die Finsternisse voraus, ohne die Bahnelemente
zu kennen. Da nun die Saros-Periode von 223
synodischen Monaten, nach welcher die Finster-
nisse fast genau in gleicher Ordnung wieder-
kehren, durch Eudoxus von Gnidus (nach S c h i a-
parelli) erst aus Aegypten geholt wurde, so
schließt Tannery, daß Thaies sie zwar noch nicht
kannte, aber auf seinen Reisen von einem Astro-
nomen eine gewisse Reihe von vorausbestimmten
Finsternissen erfahren hatte und nach Verifica-
tion einiger derselben es wagte, jene berühmte
Finsterniß auf sein Gonto zu nehmen und voraus-
zusagen.
Was nun zweitens die geometrischen Kennt-
nisse des Thaies betrifft, so zeigt Tannery, daß
Eudem und Pamphila und Plutarch dem Thaies
nur durch Conjectur einige wichtige Lehr-
sätze der Geometrie zuschrieben, indem sie still-
schweigend voraussetzten, daß die wissenschaft-
lichen Gründe gewisser von ihm ausgeübten
Feldmesserkünste ihm auch bekannt gewesen
sein müßten. Allein es sei durchaus unerlaubt.
Jemandem sofort auch die Principien seiner
Gonsequenzen und die Gonsequenzen seiner Prin-
cipien zuzuschreiben; es genüge vollkommen,
um die wirklich bezeugten Kenntnisse des Tha-
ies zu verstehen, ihn auf seinen Reisen mit der
vorgeschrittenen Feldmesserkunst der Aegypter
bekannt werden zu lassen. Ohne irgend einen
Lehrsatz der Geometrie bewiesen zn haben, neck
Tannery, Thal&s et ses emprunts k l'Egypte. 1065
beweisen oder anwenden zu wollen, hätte er die
Höhe der Pyramiden ans der Länge des Schat-
tens bestimmen können, wenn er nur die Stunde
abwartete, in welcher die Länge des Schattens
der Höhe der Gegenstände gleich ist. Ebenso
könne man, ohne die Aehnlichkeit der Dreiecke
zu Hülfe zu nehmen, bloß mit dem Winkelmaß
einen einfachen Feldmesserkunstgriff ausüben,
um die Entfernung eines unzugänglichen Punk-
tes zu bestimmen. Thaies Kenntnisse überstie-
gen daher nicht das Niveau der ägyptischen
Feldmesser, deren Praxis in Europa bis zur Re-
naissancezeit geherrscht habe. Die Geometrie
als Wissenschaft habe dem Thaies keine Lehr-
sätze zu verdanken, sondern sei von Pythagoras
zuerst speculativ angefaßt, während Thaies und
auch die Aegypter, wie aus dem Papyrus Rhind
zu ersehen, nur praktische Feldmesserkünste
übten.
Dieser Vorstellung von Thaies entspreche
nun genau seine Weltanschauung. Denn die
aus den angeblichen Schriften desselben entlehn-
ten Behauptungen, als habe er den Durchmesser
der Sonne auf V* Grad berechnet und den klei-
nen Bären als Pol angegeben, seien unzuver-
lässig oder den Aegyptern und Phöniciern ab-
gelernt. Da Thaies keine Ahnung von der Ku-
gelfgestalt der Erde hatte und die Sonne täglich
im Meere versinken ließ, das Wasser als Prin-
cip, als „Noua,. betrachtete u. s. w., so zeige
sich, daß er mit jenen praktischen Kenntnissen
der Aegypter auch ihre populäre Weltauffassung
mit nach Milet gebracht habe.
Damit stimme auch die Annahme, daß alles
voll von Göttern sei, überein, die sich ohne tie-
fere Reflexion allen Völkern nahe legte und bei
den Aegyptern auch in ihrer Medicin (nach
1066 Gott. gel. Anz. 1880. Stttck 34.
M a s p e r o) hervortrete. Erst Anaximander habe
eine mechanische Erklärung der Welt versucht
und überhaupt die originell griechische Arbeit
der Wissenschaft begonnen.
Ich schätze an dieser Abhandlung Tanne-
ry's nicht bloß die feine und scharfsinnige
Durchführung, sondern besonders auch den siche-
ren Blick, mit dem er sofort den Zusammenhang
der ägyptischen und griechischen Cultur er-
kannte. Da Tannery sichtlich weder meine
„Studien zur Geschichte der Begriffe" noch die
„Neuen Studien z. G. d. B.a kannte, so freue
ich mich um so mehr, daß er ganz von selbst
mit meinen Auffassungen übereinstimmte und
von sich aus einen neuen von der herrschenden
Tradition abweichenden Weg einschlug, der ohne
Zweifel richtig ist und noch zu vielen Aufschlüs-
sen führen wird.
Wenn es mir erlaubt ist, zu dem Referat
noch einige Bemerkungen hinzuzufügen, so möchte
ich gestehen, daß ich mich im Ganzen noch et-
was skeptischer gesinnt fühle, als Tannery sich
zeigt. Ich lasse vieles durchaus unentschieden
und fühle kein Bedtirfniß, früher Ja oder Nein
zu sagen, ehe die volle Notwendigkeit erkannt
ist. So ist es mir z. B. noch unentschieden, ob
Thaies nicht einige Schifferregeln in Versen auf-
geschrieben hat, die dann später den Namen
„nautische Astrologie" erhielten. Mir erscheint
es auch zu kühn, wie Tannery die Voraussagung
der Sonnenfinsterniß erklärt, und ich möchte
glauben, daß Thaies mit dem Saros bekannt ge-
wesen sei, wie auch Wolf in seiner Geschichte
der Astronomie annimmt. Daß solche Kennt-
nisse sich nicht immer fortpflanzen und daß ein
und dieselbe Eenntniß in verschiedenen Zeiten
von Neuem aufgebracht, oder wenigstens dem
Tannery, Thalfes et ses emprunts ä rägypte. 1067
znm Verdienst angerechnet wird, der sie zuerst
publiciert nnd schulmäßig tradiert, das ist ja
aus der Geschichte der Wissenschaften auch
bekannt. Thaies war immerbin ein Weiser; er
konnte nicht, ratblos und unwürdig, ungeprüfte
Notizen auf sein Risico übernehmen und sich
dafür rühmen lassen.
Wenn ich auch Tannery bei seiner geschick-
ten Analyse der geometrischen Kenntnisse des
Thaies im Ganzen beipflichte, so möchte ich
doch einem Gefühl, das mir dabei entsteht, Aus-
druck geben. Wir brauchen nämlich nur unsre
Tischler zu befragen, so werden wir erfahren,
daß sie alle den Mittelpunkt eines Kreises fin-
den, die Länge der Peripherie mit praktisch ge-
nügender Genauigkeit bestimmen können und
sonst eine Menge technischer Kenntnisse be-
sitzen, aber gar nicht darnach verlangen, die
wissenschaftlichen Gründe dafür einzusehen, so-
fern diese der Technik nicht unmittelbar nützen.
Thaies jedoch wird vom ganzen Alterthum ge-
rade als Philosoph gerühmt ; seine Beschäftigung
mit. praktisch unnützen Dingen ist das Salz der
von ihm erzählten Anekdoten : ein solcher Mann,
der nicht ein Gewerbe aus der Feldmesserkunst
machte, sondern sein Leben der Beobachtung
der Natur und dem Nachdenken weihte und
nicht wie Heraklit in die Politik und in die re-
ligiösen Aufgaben verwickelt war, ein solcher
Mann, meine ich, konnte auch nicht bloß mit
Colportage einiger ägyptischer Kunstgriffe und
Ansichten sich begnügen. Ich stelle ihn mir
der Tradition gemäß vor als beschäftigt mit
Aufstellung eines Gnomon; er bestimmt den Pol,
die Mittagszeit, die Eintheilung der Stunden, der
Solstitien und Aequinoctien, er mißt den Durch-
messer der Sonne vielleicht mit der Wasseruhr;
1068 Gott gel. Anz. 1880. Stück 34.
er benutzt bei dieser Praxis ganz von selbst die
ihm durch Ausprobieren gültig gewordenen Sätze
von der Gleichheit der Scheitelwinkel, der Gleich-
heit der Winkel an der Basis des gleichschenk-
lichten Dreiecks, der Bestimmtheit des Dreiecks
durch eine Seite und die beiden anliegenden
Winkel u. s. w. Tannery hat gewiß Kecht, daß
Thaies weit entfernt blieb von der speculativen
Kraft der Pythagoreer, wie ja seine Befangen-
heit in der ägyptisch-theologischen Weltauffas-
sung beweist, aber dennoch muß er der Mann
gewesen sein, von dem das große Genie des
Anaximander seine Anregung empfing, und es
kündigt sich in meinem Gefühle immer der
große Unterschied zwischen einem Feldmesser
und einem Manne an, der die Feldmessertechnik
auf den Himmel anwendete, wie dies von Tha-
ies die ganze Tradition einstimmig behauptet
So sehr ich daher auch Tannery's scharfsinnige
Argumentationen anerkenne, so möchte ich doch,
um das Gleichgewicht mit der Tradition wieder-
zugewinnen, stark betonen, daß wir uns den
Thaies als selbständig praktischen
Astrologen zu denken haben, und Plato's
Anekdote von der thracischen Sclavin und die
ökonomische Anekdote des Aristoteles weisen
darauf hin, wie sich gerade an Thaies Namen
die Idee einer rein theoretischen Beschäftigung
knüpfte. Lassen wir den Thaies also mit Tan-
nery auch nichts Neues entdecken, sondern bei
ägyptischer populärer Kunst bleiben, er muß
aber dennoch durch eigene Praxis eine
selbständige Ueberzeugung von der
Wahrheit des Gelernten gewonnen haben
und dadurch der Chorführer der originellem grie-
chischen Astrologie und Philosophie geworden
sein. Ich glaube nicht, daß Tannery dies be-
}
Tannery, Thalfe et ses emprnnts k Fßgypte. 1069
streiten wollte; er hat aber vielleicht versäumt,
es genügend zu betonen und uns dadurch mit
dem unauslöschlichen Eindruck der Tradition zu
versöhnen.
Zum Schluß möchte ich noch ein paar ge-
legentliche Bemerkungen Tannery's besprechen.
Es freut mich, wie der scharfsinnige Verfasser
die Schwierigkeit hervorkehrt, daß Anaximenes
trotz Anaximander die horizontale Bewegung
der Sonne um den Norden der Erde gelehrt
haben solle (p. 313). Diese Frage wird er in
meinen Studien zur Geschichte der Begriffe ge-
löst finden. Es freut mich auch, wie er ganz
als selbstverständlich die axdcfrj des Heraklit in
der ägyptischen Sonnenbarke wiederfindet und
an die goldene Schale des Stesichorus erinnert,
worin er mit meinen Ausführungen in den Neuen
Studien Band I u. II zusammentrifft. Ich sehe
darin ein Indicium, daß diese Gedankengänge
natürlich und richtig sind. Wenn er endlich
p. 318 die Seelenwanderungslehre den Aegyptern
abspricht, so scheint mir damit ein neues sehr
interessantes Problem aufgestellt zu sein. Tan-
nery erinnert an die Geten und Cimmerier als
Quelle dieses Mythus; wir werden aber wohl
nirgends als bei den Indern eine so strenge
Dogmatik dieser Lehre und einen so massen-
haften Gebrauch derselben finden. Trotzdem ist
die älteste Indische Litteratur von diesem gan-
zen Gedankenkreise vollständig frei. Dagegen
ist der uralte ägyptische Mythus vonAnegu und
Batau eine Seelenwanderungsgeschichte mär-
chenhafter Art und jeder verstorbene Aegypter,
dessen Mumie im Grabe sicher ruhte, konnte
auch bis zur Wiedervereinigung mit seinem Kör-
per beliebig in allerlei Gestalten erscheinen.
Auch das ganze Verhältniß der Götter zum
1070 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 34.
Pharao und zu den Menschen und Thieren über-
haupt nach der ägyptischen Theologie scheint
es mir nahe zu legen, daß, wenn sich auch noch
keine Herodotische Seelenwanderungsdogmatik
in ägyptischen Monumenten gefunden hat, die
Grundlage solcher Vorstellungen doch in Aegyp-
ten gegeben war. Da Tannery nun die Metem-
psychose als ägyptische Vorstellung nicht an-
erkennen will, so sind wir ihm für eine wich-
tige Frage großen Dank schuldig; es kann aber
bisher weder Für noch Gegen mit Entschieden-
heit geurtheilt werden. Das Für hat die grie-
chische Tradition auf seiner Seite. Für meine
Arbeit über Heraklit bleibt diese Frage ohne
Wichtigkeit, da Heraklit das Verhältniß der
Götter und Menschen und die Schicksale der
Seele nur soweit berührt, als sie auch aus dem
Todtenbuche bekannt sind.
Ich wünsche der Abhandlung von Tannery
die gebührende Beachtung von Seiten der Deut-
schen Forscher und begrüße sie als den ersten
neuen Schritt, der seit meinem Heraklit und
ganz unabhängig von demselben in der Auf-
hellung der Zusammenhänge griechischer und
ägyptischer Gultur gethan ist.
Dorpat. G. Teichmüller.
Theorie elementaire des fonctions
elliptiques, par H. Laurent. Paris. Gau-
thier-Villars. 1880. 184 pp. gr. 8°.
Die Theorie der elliptischen Functionen des
Hrn. Laurent ist eine Zusammenstellung von
Aufsätzen aus den Nouvelles Annales de Mathe-
Laurent, Fonctions elliptiques. 1071
matiques, 2. eerie t. XVI, XVII and XVIII, aas
den Jahren 1877, 1878 und 1879. Der Zweck
der Schrift ist wesentlich eine Ableitung und
Uebersicht der fundamentalen Gleichungen aus
der Theorie der elliptischen Functionen zu ge-
ben, soweit diese Resultate bei Anwendungen
in der Geometrie und Mechanik in Betracht
kommen. Sieht man von einigen Bemerkungen
über die Transformation der elliptischen Func-
tionen ab, so behandelt die Schrift des Hrn.
Laurent das Gebiet der elliptischen Functio-
nen bis zu den Transformationen in einer sehr
gedrängten Weise; die Schrift soll als Einlei-
tung zum Studium größerer Werke dienen, viel-
leicht eignet sie sich mehr als Kepetitorium der
wichtigsten Sätze aus der Lehre der doppelt
periodischen Functionen.
Die ersten 40 pp. enthalten einen kurzen
Ueberblick über die Lehre der Functionen einer
complexen Variabein. Auf die Definition der
Function einer complexen Variabein folgt un-
mittelbar das Integral mit imaginären Grenzen
in Verbindung mit dem Theorem von Cauchy.
Hieran schließt sich die Betrachtung des Falls,
wenn die Function unter dem Integralzeichen
nicht immer endlich bleibt, worauf eine kurze
Darstellung der Besiduenrechnung folgt. Nach
Anwendung der erhaltenen Resultate auf einige
bestimmte Integrale werden Betrachtungen über
das Verschwinden und Unendlichwerden von
Functionen gegeben. In gedrängter Darstellung
folgen: Entwicklung einer Function nach dem
Satze von Maclaurin, Entwicklung einer pe-
riodischen Function nach Potenzen einer imagi-
nären Exponentialgröße , fundamentale Sätze
über algebraische Functionen nach Puiseux,
nebst einigen Anwendungen. Auf pag. 40 — 48
1072 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 34,
sind die Resultate von Legendre betreffend
die Normalform eines elliptischen Integrals er-
ster Gattung und die drei Gattungen elliptischer
Integrale mitgetheilt. Nach Hinweis auf die
Umkehrung der Integrale wird die doppelte Pe-
riodicität der inversen Functionen untersucht.
Die Normalform des einfachsten elliptischen In-
tegrals führt auf sin am x nebst einigen ein-
fachen Eigenschaften dieser Function. Der
nächste Abschnitt enthält Untersuchungen über
die doppelt periodischen Functionen, mit beson-
derer Rücksicht auf Jacobi's berühmte Ab-
handlung: „De functionibus duarum variabilium
quadrupliciter periodicis, quibus theoria transcen-
dentium Abelianarum innititur" (Crelle's Journal
t. XIII). Trotzdem aber ist weder die Abhandlung
citiertnoch überhaupt Jacob i genannt, während
doch die Aufstellung des Satzes, daß eine Func-
tion einer Variabein nicht mehr wie zwei Pe-
rioden haben kann, welche gleichzeitig weder
reell noch rein imaginär sein können, eine her-
vorragende mathematische Leistung Jacob i 's
ist. Auf die zuerst ebenfalls von Jacob i ge-
machte Bemerkung, daß der Werth eines unend-
lichen Products von der Anordnung seiner Fac-
toren abhängig ist, wird sin am x als Quotient
zweier unendlichen Producte dargestellt, mit
dem Bemerken, das erhaltene Resultat könne,
in Folge der Herleitung, nur als sehr wahr-
scheinlich angesehen werden. Diese Aufstellung
scheint auf einer doppelten Absicht zu basiren,
erstens, damit der Leser endlich einen analyti-
schen Ausdruck für sin am x kennen lernt,
zweitens, um unter dem nicht ganz geeigneten
Namen : Hülfsfunctionen die Theta-Functionen
Jacob i's einzuführen. Ohne weitere Zuziehung
der Producte werden die Theta-Functionen de-
r
I Laurent, Fonctious elliptiques. 1073
I finiert und nach den Principien der allgemeinen
Functionentheorie in Form von Reihen darge-
stellt. Die Fondamentaleigenschaften der vier
Theta-Functionen, Zusammenhang und Verschwin-
den derselben sind Gegenstand einer ziemlich
vollständigen Darstellung. Unter dem Namen
einer Formel von Gauchy ist pag. 82 die
Entwicklung von
(1 + g„)(i + ar-i)(i + ^)(l + gijri)
X (1 + a**1*) (1 + g*"*1 #-»)
ausgeführt und später auf m = oo ausgedehnt,
ein nicht ganz unbedenkliches Verfahren. Der
Vergleich der erhaltenen Reihenentwicklung mit
einer der Theta-Reihen führt p. 85 zur Darstel-
lung der vier Theta-Functionen in Form unend-
licher Producte. Aus zwei Bedingungen, wel-
chen die Quadrate der Theta-Functionen ge-
nügen schließt der Hr. Verfasser, daß sich zwei
dieser Quadrate linear durch die beiden andern
ausdrücken lassen; einfacher läßt sich sagen,
daß die Quotienten zweier Quadrate sich linear
durch einen bestimmten Quotienten ausdrücken
lassen. Die Betrachtung der Differentialquotien-
ten von Theta-Functionen liefert eine Differen-
tialgleichung, deren Betrachtung die elliptischen
Functionen zur Folge hat. Auch dieser Weg
der Begründung der elliptischen Functionen fin-
det sich p. 86—89 eingeschlagen, woran sich
einige Tableaux der wesentlichsten Eigenschaf-
ten der drei elliptischen Functionen reihn. Auf
p. 93 wird das Product
H(x+a)H{x — a)
durch Theta-Functionen mit den einzelnen Ar-
68
1074 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 34.
gumenten x und a dargestellt, dann dem Leser
überlassen ein Tableau von Formeln, betreffend
Producta von Theta-Functionen mit den Argu-
menten x + a und x — a, selbst zu beweisen,
was wohl bei einigen derselben nichts weniger
wie einfach ausfallen möchte. Wird die Lehre
der elliptischen Functionen auf diejenige der
Theta-Functionen begründet, so scheint es in
erster Linie absolut nothwendig das berühmte
Theorem Jacobi's, das sogenannte Multipü-
cationstheorem der Theta-Functionen aufzustellen.
Hierdurch läßt sich eine wiederholte Anwendung
einer Reihe von Sätzen vermeiden. Die Theta-
Functionen mit zusammengesetzten Argumenten
geben, wenn auch nicht grade auf sehr natür-
lichem Wege, das Additionstheorem der ellipti-
schen Functionen. Diese Herleitung ist p. 95
an einem Beispiel durchgeführt. Da wohl
schwerlich auf diese Weise das Additionstheo
rem dem Leser sich einprägen kann, so fügt
der Hr. Verfasser das Additionstheorem der el-
liptischen Integrale erster Gattung nach La-
grange bei. Referent würde unter allen Um-
ständen die von Euler gegebene Deduction
vorziehn, welche die Erweiterung eines Verfah-
rens ist, dessen sich zuerst Fagnano zur Un-
tersuchung gewisser Integrale bedient bat. Auf
die Additionsformeln der elliptischen Functionen
folgen allgemeine Betrachtungen über die dop-
pelt periodischen Functionen nebst Anwendung
auf die elliptischen Integrale zweiter Gattung
und Herleitung der Function Z(x) von Jacobi.
Auf pag. 112 werden diese Betrachtungen unter*
brochen, um darzuthun, wie sich das elliptische
Integral dritter Gattung einfacher auf andere
Weise durch Theta-Functionen ausführen läßt.
Die Multiplication der elliptischen Functionen
r
Laurent, Fonctions elliptiques. 1075
findet sieh kurz berührt, etwas ausführlicher
sind die Reihenentwicklungen von sin am x,
cos am x und 4 am x behandelt, nebst einigen
Consequenzen aus denselben. Die Bemerkungen
über die allgemeine Transformation der ellipti-
schen Functionen können nur den Anspruch von
Andeutungen machen. Geometrisch ist die Trans-
formation von Landen dargestellt, mit Be-
ziehung auf die Berechnung elliptischer Integrale.
Hierauf folgen einige Anwendungen der ellipti-
schen Functionen auf elliptische Integrale, end-
lich schließt eine Gesammtübersicht der gewon-
nenen Formeln p. 138 — 141 den theoretischen
Theil der Schrift. Im Verhältniß zu dem ge-
ringen Umfang des Werkes nehmen die Anwen-
dungen einen ziemlichen Theil ein, dieselben be-
ziehn sich auf Geometrie und Mechanik. Zu-
erst werden Ellipsen- und Hyperbelbogen unter-
sucht, nebst Beweis des Satzes von Landen,
daß sich ein Hyperbelbogen durch zwei Ellip-
senbogen ausdrücken läßt. Es folgt dann die
geometrische Herleitung des Additionstheorems
der elliptischen Integrale erster Gattung von
Lagrange mit Hülfe eines sphärischen Drei-
ecks. Das Additionstheorem wird auf die
Ertimmungslinien des einschaligen Hyperboloids
kurz angewandt, eine interessantere Anwendung
bietet eine Erwähnung der schönen Anwendung
der elliptischen Transcendenten auf ein Problem
der Elementargeometrie von Jacobi (Crelle's
Journ. t. III p. 376—389), nebst Beweis eines
Satzes von Poucelet. Der Beweis des Ad-
ditionstheorems der elliptischen Integrale zwei-
ter Gattung, in der von Legendre gegebenen
Form, findet eine Anwendung auf den Satz von
Fagnano. Aus dem VIII. Bande des „Jour-
68*
1076 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 34.
nal de Mathematiques" ist nach dem Vorgange
von Hrn. S er ret die Gleichung einer Curve
entnommen, deren Bogen auf elliptische Inte-
grale erster Gattung führen. In Beziehung auf
Quadratur bieten die Gurven dritten Grades eine
Anwendung der elliptischen Integrale. Die bei-
den Abhandlungen von Clebsch: „lieber die-
jenigen Gurven, deren Goordinaten rationale
Functionen eines Parameters sind" (Journal für
Mathematik, t. 64 p. 43 — 65) und „Ueber diejeni-
gen Gurven, deren Goordinaten sich als elliptische
Functionen eines Parameters darstellen lassen"
(ibid. p. 210-270) sind auf pag. 59-68 ver-
wertet. Einige Bemerkungen über die elasti-
sche Gurve schließen die geometrischen Anwen-
dungen der elliptischen Functionen. Aus der
Mechanik sind zwei Beispiele behandelt: die
Drehung eines Körpers um einen Punkt und das
conische Pendel.
Die vorstehenden Angaben lassen ersehen,
daß der Inhalt der Schrift ein ziemlich reich-
haltiger ist, die sehr knappe Form der Darstel-
lung gestattet eine rasche Uebersicht des behan-
delten Gegenstandes, was wohl der eigentliche
Zweck der aus den „Annales de Mathematiques"
gesammelten Aufsätze ist.
Bei dieser Gelegenheit möge noch eines an-
dern, größeren Werks über elliptische Functio-
nen gedacht werden, über welches Referent in
den Gott. gel. Anz. 1877 p. 248—256 berichtet
hat. Von dem englischen Werke „An elemen-
tary Treatise on Elliptic Functions. By Arthur
Cay ley. Cambridge 1876" ist von dem aus-
gezeichneten Mathematiker Hrn. F. Brioschi
eine italienische Uebersetzung erschienen unter
dem Titel:
Cayley, Fnnzioni ellittiche. 1077
Trattato elementare delle fnnzioni
ellittiche, di Artnro Cayley. Tradnzione
rivednta e accresciuta d'alcune appendici da
F. Brioschi. Milano (Hoepli) 1880. XV nnd
450 pp. gr. 8°.
Zn dem Originalwerke hat der Uebersetzer
82 pp. Zusätze beigefügt, welche eine werthvolle
Ergänzung der Arbeit des Hrn. Cayley bil-
den. Der erste Appendix bezieht sich auf die
Multiplication der elliptischen Functionen und
hat zum Gegenstande den Beweis des Satzes
von Jacob i, daß Zähler und Nenner von
sin am nu sich mittelst der Differentialquotienten
zweier irrationalen Quantitäten ausdrücken las-
sen (Crelle's Journal t. IV. p. 187). Während
Jacobi die Fälle n = 2, % 4, 5 aufstellt, ist
von Hrn. Brioschi durch eine geschickte An-
wendung des Theorems von Abel die allge-
meine Formel bewiesen. Der zweite Appendix
bezieht sich auf die Transformation. Der dritte
Appendix, welcher allein 69 pp. umfaßt, beban-
delt in fünf Capiteln die Lösung der Gleichun-
gen fünften Grades. Diese umfangreiche Ab-
handlung ist, mit geringen Modificationen, die
italienische Uebersetzung der Abhandlung von
Brioschi: Die Auflösung der Gleichungen
vom fünften Grade (Mathematische Annalen.
1878. t. XIII. p. 109-160). Bekanntlich ent-
hält diese Abhandlung eine Zusammenstellung
der Untersuchungen des Hrn. Brioschi über
die Lösung der Gleichungen fünften Grades,
welche Untersuchungen sich in verschiedenen
italienischen Publicationen zerstreut finden. Wem
es nur darum zu thun ist die gehaltreichen Zu-
sätze des Hrn. Brioschi kennen zu lernen,
findet dieselben, bis auf die beiden ersten kur-
1078 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 34.
zen Appendices, in der oben erwähnten Abhand-
lang vollständig vor.
* Enneper.
Taubstummheit und Taubstummen-
bildung. Nach den vorhandenen Quellen so-
wie nach eigenen Beobachtungen und Erfahrun-
gen bearbeitet von Dr. Arthur Hartmann,
Ohrenarzt in Berlin. Mit 19 Tabellen. Stutt-
gart, Ferdinand Enke; 1880. 212 S. 8°.
Wie Verfasser im Vorworte angiebt, enthält
die Monographie hauptsächlich medicinische und
statistische Fragen; über die letzteren bat er
Aufnahmen über größere Bezirke, nicht aus Taub-
stummenanstalten zu Rathe gezogen. Als besten
Weg zu einer Ermittelung der Statistik und der
socialen Verhältnisse der Taubstummen wird eine
allgemeine Erhebung bei Gelegenheit der näch-
sten Volkszählung im Deutschen Reiche em-
pfohlen, wie sie leider von Seiten der deutschen
Gentralstellen für Statistik abgelehnt worden ist
Im I. Gapitel, „über die Taubstummheit im
Allgemeinen", erwähnt Verf. die Ansichten der
Alten, denen es bereits bekannt war, daß Taube
zugleich stumm geboren werden, und die That-
sache, daß es erst am Ende des 17. Jahrhunderts
durch Ammon bekannt wurde, daß die Stumm-
heit nicht auf Fehlern der Sprachwerkzeuge,
sondern auf dem Mangel des Gehöres beruhe.
Auch wird der große Einfluß des Gehöres auf
die Sprache und der Sprache auf das Denken
und die Bildung von Begriffen gewürdigt.
Gap. II. über die „besondren Eigenschaften
der Taubstummen", enthält zunächst eine Wider-
Hartmann, Taubstummheit u.Taubstummenb. 1079
legung der früher and auch jetzt noch zuweilen
den Taubstummen angedichteten spezifischen
körperlichen Gebrechen, speziell einer schlechten
Entwicklung der Lungen ; jene Resultate, welche
solchen Anschauungen zu Grunde liegen, be-
trachtet Verf. als unwahrscheinlich oder durch
subjective Voraussetzungen beeinflußt, er glaubt
vielmehr, daß das häufige Vorkommen von Phthise
dem Umstände zuzuschreiben sei, daß die Taub-
stummen im Allgemeinen in den ungünstigsten
Verhältnissen leben. Auch bezüglich ihrer Cha-
raktereigenschaften nimmt Verf. die Taubstum-
men in Schutz; den gegentheiligen, auf Täu-
schung beruhenden Angaben gegenüber führt er
die Bescheidenheit, Dankbarkeit und Anhäng-
lichkeit an, welche den meisten Taubstummen
innewohnen; das nicht abzuleugnende Vorkom-
men von Fehlern glaubt Verf. zum großen Theile
einer mangelhaften Erziehung zuschreiben zu
müssen, zumal viele von den üblen Angewohn-
heiten verschwinden, wenn die Gebrechlichen in
günstigere Verhältnisse, unter Schulaufsicbt kom-
men. Bezüglich der Intelligenz stehe der Taub-
stumme zwar auf einer tieferen Stufe als der
Vollsinnige, doch sei der Unterschied bei wei-
tem nicht so groß, wie er nicht selten von
Taubstummenlehrern im Interesse ihrer Anstalt
hingestellt werde. Psychische Störungen treten
wohl hie und da auf, aber nicht in Folge des
Gehörmangels, sondern in Folge von Hirnkrank-
heiten. Als eine besondre Eigenschaft der
Taubstummen bezeichnet Verf. die vorzügliche
Entwicklung der übrigen Sinnesorgane, die sich
namentlich beim Gesichtssinne geltend mache.
Gerade das vicariierende Eintreten des Auges
sei für das von den Taubstummen oft mit er-
1080 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 34.
staiinlicher Fertigkeit geübte Ablesen der Worte
vom Munde des Sprechenden äußerst wichtig.
Manches von dem in diesem Capitel enthal-
tenen mag vielleicht etwas zu viel zu Gunsten
der Taubstummen ausgefallen sein, doch ist wohl
darin dem Verfasser unbedingt zuzustimmen,
wenn er die so oft unschuldig verurtheilten
Taubstummen in Schutz nimmt und offenbare
Irrthümer und Märchen zu beseitigen trachtet
Im Cap. III. wird „die Erkenntnis der
Taubstummheit, ihr Verhalten zur Idiotie und
Aphasie" besprochen. Der großen Schwierigkeit
einer Gehörprüfung bei kleinen Kindern wegen
wird, wie Verf. betont, die Taubheit in der Re-
gel nicht vor dem zweiten Lebensjahre bemerkt,
wenn das Kind nicht zu sprechen anfangt; je
älter das Kind, desto leichter sei die Diagnose.
Ob gleichzeitig Blödsinn vorbanden, könne oft
erst nach dem Beginne der Bildungsversuche
festgestellt werden, doch sei die Thatsache, daß
Idioten besonders häufig noch andre Krankhei-
ten aufweisen, für die Differentialdiagnose zu
verwerthen.
Als Merkmale der Idiotie werden außerdem
Gleichgiltigkeit, Schlaffheit, Unreinlichkeit und
mangelnder Nachahmungstrieb angeführt , Er-
scheinungen, wie sie Referent ebenso wohl bei
Taubstummen wie bei Blödsinnigen zu beobach-
ten Gelegenheit gehabt hat.
Daß Stummheit in seltenen Fällen wirklich
durch Störungen in den Sprachwerkzeugen be-
dingt ist, illustriert Verf. durch einen Fall von
Parese der Zungenmuskeln bei einem Erwach-
senen in Folge eines Sturzes bei normalem Ge-
höre und intacten geistigen Fähigkeiten; auch
zählt Verf. einige Fälle von Aphasie mit psy-
chischen Defecten aber normalem Gehöre aus
Hartmann, Taubstummheit u.Taubstummenb. 1081
der eignen Beobachtung und ans der Litteratnr
auf. Die in den früheren Statistiken so häufig
vertretenen Fälle von Stummheit ohne Taubheit
hält Hartmann größtenteils für Fälle von
Idiotie.
Cap. IV. enthält die „Taubstummenstatistik",
bei welcher nach des Verf. Ansicht zu beachten
ist, daß die bei Volkszählungen gewonnenen
Werthe in der Kegel nur ganz annähernde, zu
geringe Werthe ergeben. Auch sei es von Wich-
tigkeit, die erworbene Taubstummheit von der
angeborenen zu trennen, zu welchem Behufe
Verf. für neben den allgemeinen Erhebungen
einhergehende Sondererhebungen von Seiten der
Aerzte, wie sie für die Regierungsbezirke Mag-
deburg und Cöln angestellt worden sind, plaidiert.
Es werden die zu solchen Zwecken geeigneten
Fragen in einem vollständigen, aber möglichst
kurzen Fragebogen zusammengestellt.
Im Cap. V. werden die „Ergebnisse der
Taubstummen Statistik" besprochen ; dieselben
zeigen, daß die Verbreitung der Taubstummheit
in verschiedenen Ländern sehr verschieden ist;
am wenigsten verbreitet ist das Gebrechen in den
Niederlanden (auf 10,000 Einwohner 3,4 Taub-
stumme), am meisten in der Schweiz (10,000 : 24,5).
Das Gesammtresultat ist, daß unter 246 Millio-
nen Menschen 191,000 Taubstumme, (also durch-
schnittlich 7,77 auf 10,000) kommen. In Ge-
birgsländern ist die Krankheit weit häufiger als
in Flachländern.
Bezüglich des Geschlechtes der Taubstum-
men ergiebt die Statistik, daß das männliche
wesentlich mehr als das weibliche (In Preußen
1871 100:85,1) zur Taubstummheit neigt. Auf-
fallend ist, daß Verf. bei der Statistik die ver-
schiedenen Confessionen berücksichtigt,
1082 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 34.
denn, wenn unzweifelhaft die Joden verhältnis-
mäßig viele Taubstummen aufzuweisen haben,
so liegt das doch nicht an ihrem mosaischen
Glauben, sondern an ihrem Stamme, ein Um-
stand, welcher bei der Judenfrage überhaupt
nur allzuoft unbeachtet bleibt. Hinsichtlich der
Aetiologie der Taubstummheit bei den Juden
möchte Referent viel weniger die Ehen zwischen
Blutsverwandten als die, zum Theil durch Un-
sauberkeit erzeugte, Neigung der Juden zu
Krankheiten, namentlich der Augen und Ohren,
verantwortlich machen.
Cap. VI. enthält „die Ergebnisse der spe-
ziellen Statistik bezüglich der angeborenen
Taubstummheit". Hiernach ergeben ältere An-
gaben für das Verhältniß des Taubgeborenen
und Taubgewordenen den Bruch 2 : 1, während
neuere Zusammenstellungen das Gegentheil be-
weisen; Verf. meint daher, daß wohl das rich-
tige Verhältnis in der Mitte liege, d. h. daß
die Hälfte der Taubstummen ihr Gebrechen von
Geburt an, die andre Hälfte erworben habe.
Da es übrigens oft sehr schwierig ist, zwischen
der angeborenen und erworbenen Taubstumm-
heit zu unterscheiden, so werden die Statistiken
in dieser Richtung stets sehr mangelhaft aus-
fallen.
Als Ursachen der angeborenen Taubstumm-
heit führt Verf. folgende an:
1) Vererbung, sowohl directe von den Eltern
auf die Kinder, als indirecte von Verwandten
auf Verwandte. Hartmann hat zwei Elternpaare
mit angeborener Taubstummheit beobachtet,
dem einen entsprossen 4 taubstumme Mädchen
(die Mutter der Frau war auch taubstumm) und
ein vollsinniger Knabe; dem andren 3 taub-
stumme Kinder. Die Zusammenstellung aus der
Hartmann, Taubstummheit u. Taubst ummenb. 1083
Litteratur ergiebt bei 9 Ehen zwischen 2 Taub-
stummen ausschließlich 14 vollsinnige Kinder,
bei 206 zwischen Taubstummen und Vollsinni-
gen geschlossenen Ehen 377 vollsinnige und nur
6 taubstumme Kinder, darunter 3 von einem
Elternpaare.
Einen interessanten, von Moos beobachteten
Fall von indirecter Vererbung theilt Verf. aus-
führlich mit; seinen statistischen Untersuchun-
gen zu Folge ist die indirecte Vererbung rela-
tiv ziemlich häufig.
Auch bei dem mehrfachen Vorkommen der
angeborenen Taubstummheit bei Geschwistern
nimmt H. eine von den Eltern vererbte Anlage
an ; die Literatur ergiebt, daß von einem nor-
malen Elternpaare einmal sogar 8 taubstumme
Kinder abstammten.
2) Blutsverwandtschaft der Eltern. Nach
Bondin's Berechnung sollen 28,35% aller Fälle
von Taubstummheit durch Blutsverwandtschaft
entstanden sein; doch sind, wie Verf. richtig
betont, in dieser Hinsicht die Statistiken beson-
ders unzuverlässig, weil sie ganz widerspre-
chende Resultate ergeben.
3) Ungünstige sociale Verhältnisse, zu wel-
chen namentlich Feuchtigkeit der Luft, Woh-
nungen in armen und übervölkerten Stadtthei-
len und gewisse Beschäftigungen zugezählt
werden.
4) Sonstige Ursachen, nämlich Krankheiten
der Eltern; Verf. hält die Angaben über diesen
Punkt für sehr unzureichend, und insbesondre
glaubt er, daß die Trunksucht des Vaters oder
das Verhalten der Mutter während der Schwan-
gerschaft, denen häufig eine große Bedeutung
beigemessen wird, nur selten für das Gebrechen
verantwortlich gemacht werden könne.
1084 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 34.
Cap. VII. enthält „die Ergebnisse der spe-
ziellen Statistik bezüglich der erworbenen Taub-
stummheit". Die erworbene Taubstummheit ent-
steht durch Krankheiten, welche die Gehör-
werkzeuge zerstören, seien es locale Ohrkrank-
heiten, Hirnkrankheiten oder Allgemeinkrank-
heiten. Das Hauptcontingent sollen die Hirn-
krankheiten, nächst diesen Typhus und Schar-
lach stellen. Wie jedoch Verf. richtig hervor-
hebt, sind die Angaben über die ursächliche
Krankheit sehr unzuverlässig, weil sie in der
Regel von den Eltern ausgehen, denen der
Name und Charakter des Leidens oft unbekannt
ist. Besonders häufig verursacht Meningitis
cerebrospinalis Taubstummheit, und, wie Verf.
glaubt, handelt es sich hier in den meisten Fäl-
len um Entzündungsprocesse im Labyrinthe,
welche die Zerstörung des Nervenapparates zur
Folge haben.
In Cap. VIII. wird das „Hörvermögen der
Taubstummen" einer eingehenderen Besprechung
unterzogen; es ist bekannt, daß bei einer gro-
ßen Zahl von Taubstummen die Taubheit keine
complete ist; um den Grad der Hörfähigkeit zu
ermitteln, bedient sich H. einer großen Tisch-
glocke und einer großen Stimmgabel; er theilt
die Taubstammen in vollständig Taube, solche,
welche den Glockenton (Schallgehör), Vocale
(Vocalgehör) oder Worte (Wortgehör) zu hören im
Stande sind. Die Statistik ergiebt, daß mehr
als die Hälfte aller Taubstummen vollständig
taub sind, der vierte Theil Schallgehör, der
siebente Theil Wort- und Vocalgehör besitzt
Zu berücksichtigen ist hierbei, wie Verf. hervor-
hebt, daß sehr häufig das Gehör auf beiden
Ohren verschieden ist.
Cap. IX. enthält eine Aufzählung der „der
Hartmann, Taubstummheit a. Taubstummenb. 1085
Taubstummheit zu Grunde liegenden un atomi-
schen Veränderungen"; die in der Literatur
vorgefundenen Sectionsergebnisse sind in einer
Tabelle zusammengestellt. Sie betreffen Mis-
bildungen, anatomische Veränderungen in der
Paukenhöhle und im Labyrinth und Hörnerven-
stamm , und schließlich Veränderungen im
Hirne.
Ueber „die Heilbarkeit der Taubstummheit"
erfahren wir in Gap. X., daß dieselbe in der
That mitunter möglich ist; doch sind, wie Verf.
betont, die in der Litteratur gesammelten Fälle
nicht zu verwerthen. Von vornherein auszu-
schließen ist die Heilbarkeit bei Fällen von
Taubstummheit nach Hirnkrankheiten, Cerebro-
spinalmeningitis etc. Heilversuche sollen unter«
nommen werden bei eitrigen Entzündungen und
sonstigen chronischen Mittelohr- sowie bei Na-
senrachenkrankheiten.
Ueber „natürliche und künstliche Geberden-
sprache" handelt Cap. XI, das erste der zum
pädagogischen Theile des Buches gehörende.
Die künstliche Geberdensprache, in welcher Je-
der sich eine große Gewandheit aneignen kann,
ist jedem Taubstummen eigen; dieselbe hat nur
den Nachtheil, daß man feinere Schattierungen
mit ihrer Hülfe nicht ausdrücken kann, weil
uns „für alle nur irgendwie complicierten ab-
stracten Begriffe die Bezeichnung durch Ge-
berde fehlt". Da in früherer Zeit die Geberden-
sprache sehr cultiviert wurde, suchte man die-
sem Uebel stände durch Erfindung bestimmter
Zeichen für bestimmte Begriffe abzuhelfen; so
entstanden verschiedene Arten der künstlichen
Geberdensprache, welche jedoch sämmtlich den
Nachtheil haben, daß die Taubstummen,* welche
sich ihrer bedienen, nur mit Solchen verkehren
1086 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 34.
können, welche die Ausdrucksweise gleichfalls
erlernt haben.
Cap. XL enthält die bei der „Erziehung der
Taubstummen im Elternhause und in der Schule"
zu befolgenden Grundsätze, deren erster ist, alle
in dem taubstummen Kinde schlummernden
Fähigkeiten zu wecken und möglichst auszubil-
den ; besondres Gewicht ist, nach Verf. Meinung,
auch auf die moralische Erziehung zu legen,
welche mit Strenge aber, wie alle Theile der
Erziehung, mit größter Geduld durchzuführen
ist. Betreffs der Wahl einer Gelegenheit zur
Taubstummenbildung äußert sich H. dahin, daß
die Externate (Taubstummenschulen) den Vor-
theil der elterlichen Aufsicht und familiären Ge-
sellschaft, sowie des nothwendigen Umganges
mit Vollsinnigen, die Internate (Taubstummen-
anstalten) hingegen den Vortheil einer größeren
Förderung des positiven Wissens darbiete; so-
wie, daß beim Privatunterricht, welcher die Vor-
züge des Einzelunterrichts besitzt, der Lehrer
ein wirklicher Taubstummenlehrer sein und ebenso
viel Zeit auf den Zögling, wie dies in den Schu-
len geschieht, verwenden müsse. Am meisten
zu empfehlen wäre demnach der Besuch einer
Taubstummenschule nebst Privatunterricht.
Die im Cap. XIII. skizzierte „Geschichte des
Taubstummenunterrichtes^ bietet durchaus nichts
Neues ; es wird besonders darauf aufmerksam
gemacht, daß der in Deutschland allgemein an-
gewandte Lautunterricht der beste ist, weil er
die Taubstummen in den Stand setzt, mit Voll-
sinnigen zu verkehren. Derselbe zerfällt (Cap.
XIV.) in einen mechanischen Theil (Articula-
tionsunterricht, Sprechen und Absehn vom Munde)
und einen intellectuellen Theil (Verständniß der
Hartmann, Taubstummheit u.Taubstummenb. 1087
Sprache und ihrer Begriffe, Entwicklung der
geistigen Fähigkeiten).
In einer „Physiologie der Sprachlaute" wer-
den die Laute in Kehlkopflaute, (Annäherung
der Stimmbänder), nämlich Vocale, Resonanten
(m9 n, ng) und den Hauchlaut h, in Mundlaute
(Verschlußänderung der Mundhöhle), nämlich
Verschluß-, Reibungs- und Zitterlaute (Lippen-
laute, vordre und hintre Zungenlaute) getheilt.
Nachdem das Kind durch ExspirationsUbungen
den richtigen Gebrauch der Respirationsluft er-
lernt und durch Auflegen seiner Hände an den
Kehlkopf des Lehrers und den eigenen Kehl-
kopf die Schwingungen des Kehlkopfes kennen
gelernt und nachzuahmen versucht hat, übt es
sich im, vom Lehrer demonstrierten, Formen der
Mundhöhle. Es würde zu weit führen, die Me-
thoden hier des Näheren zu betrachten, da ohne-
hin der Verf. nichts wesentlich Neues hinzuge-
fügt hat. Bekannt ist auch, daß den Kindern
Begriffe dadurch beigebracht werden, daß ihnen
für jedes erlernte Wort eine den Begriff dar-
stellende Abbildung in ein Heft eingeklebt und
mit den Schriftzeichen des Wortes unterschrie-
ben wird.
Im Cap. XV. beantwortet Verf. die Frage
,Was wird erreicht?" Er führt aus, daß in
Deutschland der Taubstummenunterricht die
Zöglinge befähigt, sich mit Vollsinnigen zu un-
terhalten; in wie weit freilich die Sprache der
Taubstummen rein werde, hänge von dem Unter-
richte ab; nur ungefähr ein Drittel aller in An-
stalten Erzogener werde so weit gebracht, daß
sie mit Jedermann sprechen können, während
ein zweites Drittel leidlich, das dritte aber gar
nicht sprechen lerne.
Daß „die Taubstummen nach ihrem Aus-
1088 Gott. gel. Anz. 1880, Stück 34.
tritte aus der Schule" (Cap. XVI.) am besten
Handwerker werden, ist klar; ebenso betont
Verf. mit Recht die Notwendigkeit, daß die
Taubstummen auch nach dem Austritte noch in
dauernder Uebung bleiben, weshalb er die Fort-
bildungsschulen sehr befürwortet. Die Mädchen
sollen schwerer unterzubringen sein, namentlich
heirate nur ein kleiner Theil (6,3% von den
Männern, 3% von den Mädchen).
Ueber den „gegenwärtigen Stand des Taub-
stummenbildungswesens" enthält Gap. XVII sta-
tistische Notizen, aus welchen hervorgeht, daß
in den meisten Ländern nur ein (oft sehr ge-
ringer) Theil der Taubstummen in wenigen
(Sachsen, Nordamerika) alle gebildet werden
können.
Die „Rechtsverhältnisse der Taubstummen"
werden (Cap. XVIII.) nur flüchtig berührt, und
zwar die Fragen des Schulzwanges, der Heiraten,
der Vormundschaft, sowie der Rechts- und Hand-
lungsfähigkeit und Zurechnungsfähigkeit; und
schließlich wird noch die Combinatipn von
„Taubstummheit und Blindheit" besprochen
(Gap. XIX.) und das Vorkommen von Retinitis
pigmentosa bei angeborener Taubstummheit er-
wähnt.
Das Buch enthält zwar für den Fachmann
kaum etwas Neues, dürfte aber Jedem, der sich
für die unglücklichen Taubstummen interessiert
zur Belehrung über einzelne Fragen, besonders
über 'die Statistik, zu empfehlen sein.
E. Bttrkner.
Für die Redaction verantwortlich : E. Rehniseh, Director d. Gott. gel. Anz.
Commissions- Verlag der DtetericK sehen Yeriags- Buchhandlung.
Druck der DieUricK sehen Univ.- Buchdruckern (W. Fr. Kasstner).
^^ *>T*
y
SEP 271880 1089
OOttingische
gelehrte Anzeigen
anker der Aufsicht
der Kftnigl* Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück 35. JT 1- September 1880.
Iakalt: Kerne ägypto logiqne. I. 1. Yon A Aman. —
B. Bot he, Theologische Encyclopidie herueg. toh H. Knppeline. Von
Fr. Düstsrdiack. — flygiea. Bd. XL1;0 F6r handling» r vid Srencka
JAksue - 8i I Ukapete aammankonieter. Ar 1879. Von
s LigesjBAehtiger Abdruck von Artikeln der Gott. gel. Abs. Terboten s
Revue £ gyptologique publice sous la
direction de MM. H. Brugsch, F. Chabas,
Eng. Revillout. Premiöre Annee No. 1.
Paris. Ernest Leroux, 6diteur. 1880. 48 Seit.
4 Taf. 4°.
Seit längerer Zeit verfügt die Aegyptologie
über fünf periodische Publikationen, die ihr
mehr oder minder ausschließlich gewidmet sind.
In Deutschland erscheint Lepsius' Zeit-
schrift im 18 ten Jahrgange, in England die
Transactions der Society of biblical archaeology,
in Frankreich, neben den nur größere Arbeiten
enthaltenden Etudes egyptologiques, die Melanges
d'archeologie egyptienne et assyrienne*). Neben
*) In neuester Zeit unter dem Titel: Hecueil de tra-
vaux relati/s a La philologte et d farcheologie eyyptunnei
et aseyriennes.
69
1090 Gott gel. Adz. 1880. Stück 35.
dieser von den offiziellen Vertretern der franzö-
sischen Aegyptologie redigierten Zeitschrift gab
noch Chabas, der bedeutende Gelehrte von
Chälons, die Ägyptologie heraas and jetzt, wo
das Weitererscheinen dieser durch Chabas'
schwere Erkrankung unmöglich geworden ist,
tritt eine neue Vierteljahrsschrift, die Revue
egyptologique an ihre Stelle. Als eine Art Fort-
setzung der Ägyptologie kennzeichnet sie sich
durch das Patrouat, das nach dem „avis de
Tediteuru Chabas über sie ausübt, jedoch wird
ihr Inhalt ohne Zweifel mannichfaltiger sein,
als es der der Zeitschrift von Chälons zu sein
pflegte. Sind es doch zwei der genialsten Ver-
treter der Aegyptologie, die die neue Revue
herausgeben: Eugen Rev illout und Hein-
rich Brugsch. Die vorliegende erste Nummer
enthält Aufsätze beider Herausgeber und es
verlohnt auf dieselben näher einzugehen.
Die Beiträge zur Chronologie der Ptolemäer,
die Revillout uns giebt, beruhen auf einer rei-
chen Sammlung demotischer Akten, die sich auf
den Grundbesitz thebanischer Choachytenfamilien
beziehen und die sich in ununterbrochener Reihe
vom Ende der Perserherrschaft bis auf Euerge-
teß I. hin erstrecken. Wir können in ihnen die
Geschichte einiger Grundstücke durch Generatio-
nen verfolgen ; wir sehen sie verpfänden und
schließlich dem Gläubiger cedieren, wir sehen
sie theilen und mit Hypotheken belasten, sie
werden wieder verpfändet und verfallen aufs
neue — kurz diese Aecker haben eine wechsel-
volle Geschichte, die zu mannichfachen Akten-
stücken Veranlassung giebt. Es liegt auf der
Hand9 wie wichtig ein so in sich zusammen-
hängendes Material für chronologische Unter-
suchungen ist
Revue fegyptologiqne. I. 1. 1091
Für Philippus Arjrbidaeus erwähnen die Ur-
kunden *ls höchstes Begierungsjahr das achte,
für Alexander IL das dreizehnte — beides im
Einklang mit den früheren Annahmen, wenn
man bedenkt, daß es in jener Zeit in Aegypten
Brauch war, als erstes Jahr die Monate vom
Begierungsantritt bis zum Neujahrstage, dem
1. Thoth, zu rechnen. Die beiden Zahlen redu-
eieren sich also auf sieben und zwölf. Es folgt
sodann ein König „Ptolemaeus Sohn des Ptole-
maeus", den Kevillout zweifellos richtig für So-
ter, für Ptolemaeus Lagi hält. Als den Vater
des Gründers der Dynastie bat man bis jetzt
einen Lagos angenommen — wir werden nun-
mehr dieses Lagos als einen Spitznameu jenes
macedonischen Kriegers ansehen müssen. Wird
dQcii laymg auch im Griechischen von furchtsa-
men Menschen gesagt und vermeidet doch, wie
Lumbroso schon früher bemerkt bat, die Septua-
giuta, die ja für einen Lagiden angefertigt ist,
dieses Wort.
Andere Akten sind vom 19. beziehentlieh
vom 21. Jahre,
des Ptolemaeus, Sohnes des Ptolemaeus
und des Ptolemaeus seines Sohnes
und der Arsinoe Philadelphe
datiert. Man denkt zunächst auch hier an So*
ter, aber einmal nahm dieser erst im 20. Jahre
seipen Sohn zum Mitregenten an und ferner
wurde Arsinoe, nach Gbampollion Figeac's in-
schriftlich bestätigter Berechnung, erst im 7.
Jahre des zweiten Lagiden Philadelphe, d. h.
Gemahlin ihres Bruders. Auf diesen, auf Phi-
ladelphjis, werden wir demnach die beiden Da-
ten zu beziehen haben. Wir müssen annehmen,
daß er (etwa so lange ihn sein enterbter Bruder
Keraunos bedrohte) im Namen seines verstqrbe-
69*
1092 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 35.
nen Vaters fortregierte, ähnlich wie ja auch So-
ter noch nach Alexanders IL Tode in dessen
Kamen die Herrschaft führte. Im 29. Jahre
sehen wir dann Philadelphia selbstständig auf-
treten, dafür heißt sein Vater von nun an in
Theben „Gott" und in Memphis „Gott Soter".
Auch die Regierungsdauer des Philadelphus
läßt sich aus unsern Quellen controlieren, sie
war richtig auf 38 Jahr angenommen.
Eine andere von Revillout bebandelte Frage
betrifft die Beinamen der Ptolemäer, die nach
der bisherigen Annahme beim Regierungsantritt
verliehen wurden. Von den Vornamen der hiero-
glypbischen Titulaturen ist dies ja natürlich
richtig, aber diese waren in griechischer Zeit
außerhalb der Priesterscbaft ohne jede Bedeu-
tung. Die griechischen Beinamen hingegen, un-
ter denen die Ptolemäer göttlich verehrt wur-
den und unter denen sie gewöhnlich bekannt
sind, erhielten die Könige erst bei besonderen
festlichen Gelegenheiten als eine Dankbezeugung
vom Clerus zuerkannt. So wurde der Cultus
der „Götter Philadelphentt zwischen den Jahren
19 und 21 des zweiten Ptolemäers geschaffen
und der der „Götter Euergeten" zwischen den
Jahren 4 uud 15 des Euergetes I. In der That
wissen wir durch das Dekret von Ganopus, daß
ihm die Priester im 9. Jahre den Namen Euer-
getes zuei kannten, weil er (eine Notiz, die sich
auch noch bei liieronymus richtig erhalten hat,
wo man sie aber anzweifelte!) die einst ge-
raubten Götterbilder aus Persien zurückgebracht
hatte. —
Ein Artikel von Brugscb betrifft das ägypti-
sche Wort udnu*), dessen Bedeutung noch im-
*) Nicht a'dennu oder gar ädonnu, wie der Verfasser
Revue Egyptologique. I. 1. 1093
mer dunkel war. Brugsch weist nun nach, daß
es in einem Texte vom Monde beißt dbfRä „er
vertritt die Sonne" in einem andern ddnnf Rä
und daß der so für adn gewonnene Sinn „ver-
treten" auch in anderen Texten paßt. Es ist
dieser unscheinbare Fand von besonderer Wich-
tigkeit, da ddnu einer der häufigsten Titel im
neuen Reiche ist. Man hat ihn bisher gewöhn-
lich nicht richtig dennu umschrieben und „Offi-
cieru oder ähnlich übertragen. Zweifellos ist
ddnu ein Titel wie Wahl oder lieutenant. So
finden wir nun, daß fast jedes Amt seinen
„Stellvertreter" besaß, vom „Stellvertreter beider
Länder" d. h. dem Chef der Regierung an bis
berab zum „Stellvertreter des Harem" und zum
„Stellvertreter der Werkstätten des Pharao".
Schwerlich werden wir fehl greifen, wenn wir
nach Analogie anderer Länder und anderer Zei-
ten in diesem Stellvertreter den eigentlichen
Ansüber des Amtes sehen, mit dessen Titel ein
hoher Hofbeamter geschmückt war. Nicht also
Pendati, der vornehme Herr der sich „Vorsteher
der Bauten von Hermonthis" nennt, wird die
Tempel dieser Stadt erbaut haben, sondern dies
that sein ddnu, der Schreiber Aähmes. Uebri-
gens ließen sich derartige Zustände längst aus
der Ueberfülle von Aemtern, die die ägyptischen
Großen bekleideten, vermuthen.
Auf eine andere Arbeit Brugsch's, über den
ägyptischen Namen des Mareotissees, hier ein-
zugehen, würde zu weit führen.
Berlin. Adolf Erman.
transBoribiert; das n-nti-ti ist ebenso nu zu lesen wie
p-pa-a pa zu lesen ist. Da aeg. r%nu k. e?of*n, aeg. tnu
k. Tiniit dem Stadtnamen Anu jij$ entspricht, werden
wir auch für aaeg. ddnu im Naeg. eine Aussprache adun
oder ädon annehmen müssen.
1094 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 35.
Theologisehe Encyclopädie von
Richard Rothe. Aas seinem Nachlasse
herausgegeben von H. Ruppelius, Pfarrer.
Wittenberg. Hermann Koelling. 1880. VIII.
und 158 Seiten in Octav.
Der Herausgeber, welcher ursprünglich be-
absichtigt hatte, das im Winter 1859/60 von
ihm nachgeschriebene Gollegienheft drucken zu
lassen, ist in der Lage gewesen, statt dessen das
Rothesche Heft selbst, welches dem mündlichen
Vortrage zu Grunde gelegen hat, zu veröffent-
lichen. Gestrichen sind jedoch die Rotheschen
Randbemerkungen, welche sich auf andere
Schriftsteller und auf die Literatur der einzel-
nen Disziplinen beziehen und welche — wie der
Herausgeber sagt (S. IV) — auch im Co! leg
nicht vorkamen; im Texte finden sich übrigens
mancherlei literarhistorische und kritische An-
gabeil, namentlich wird sehr oft und wörtlich
Schleifennacher (Kurze Darstellung des theologi-
schen Studiums) angeführt, in dessen Spuren
Rothe sich bewegt.
Das von Rothe aufgestellte System der theo-
logischen Wissenschaften ist das folgende. Der
erste Haupttbeil, die speculative Theologie, um-
faßt die Ethik und die Apologetik ; wir werden
aber alsbald sehen, wie Rothe, abweichend von
Schleiermacher, in der That eine besondere
Disciplin der Apologetik nicht gelten läßt, son-
der den gesammten speculativen Unterbau der
Theologie in der Disciplin, welche er Ethik
nennt, beschreibt Der zweite Haupttheil, die
historische Jbeologie, umfaßt drei Gruppen von
Disciplinen, nämlich erstens die biblische oder
exegetische Theologie (im Besondern: biblische
Literaturgeschichte, biblische Kritik, biblische
B. Roth«, Theologische Encyclopädie. 1095
Archäologie, biblische Hermeneutik und biblUohe
Theologie), zweitens die kirchenhistorische Theo-
logie (im Besondern: allgemeine Kirchenge-
schichte , Geschichte der Kirchenverfassung,
Dogmengeschichte, kirchliche Archäologie), end-
lich drittens die positive Theologie (im Beson-
dern: Dogmatik, Symbolik, Statistik). Der
dritte Hanpttheil, die praktische Theologie, um-
faßt erstlich das Eirebenregiment (im Besondern :
das Kirchenrecht nnd die Polemik), zweitens die
Gemeindeleitang (im Besondern: Liturgik, Ho-
miletik, Katechetik und Pastorallehre).
Auf eine eingehende Beurtheilnng dieser
Rotheschen Aufstellungen kann es jetzt nicht
ankommen, schon deshalb nicht, weil die gegen-
wärtige Veröffentlichung derselben wesentlich
eine pietätsvolle Erinnerung an die gesegnete
Wirksamkeit des ehrwürdigen akademischen
Lehrers ist, nicht aber den Zweck hat, eine be-
deutsame Förderung der Wissenschaft zn ge-
währen. Indessen mag einiges zur Charakteri-
stik der Bothe'scben Anschauungen bemerkt
werden. Die Construction der speculativen
Theologie erscheint im Hinblick auf das große
Hauptwerk Bothe's über die theologische Ethik
nicht unerwartet. Aber die vorliegenden ency-
elopädisehen Erörterungen lassen in der That
weniger ethisches Material in dieser Disciplin
erwarten, als Bothe in jenem Hauptwerke, nicht
ohne reichgegliedertes Detail, gegeben hat. In
seiner Ethik findet sieh doch dasjenige, was
man in einer Wissenschaft dieses Hamens sucht,
während er von seinem encyclopädischen Stand-
punkte aus nrtheilt, daß wir „die Ethik, wie sie
in der Regel auftritt, nicht sonderlich vermissen
werden, wenn sich kein Ort dafftr finden sollte
ifi den drei Hanpttbeilen der Theologie" (3. 14).
1096 Gott gel. Anz. 1880. Stück 35.
Demgemäß finden wir bei der Construction der
positiven Theologie (S. 102) zunächst nur die
Frage: „Nicht auch noch eine theologische
Ethik?" Es folgt dann (8. 105. 119) die ver-
neinende Antwort: die „Lebenssätze" seien wie
die „Glaubenssätze" nichts Anderes als Dogma-
tik in historischem Sinne; „die kirchliche Ta-
gend- und Pflichtenlehre" ist durchaus Dogma-
tik und gehört in diese" (S. 114). Dagegen ist
diejenige Ethik, welche Rothe als den Haupt-
theil, ja eigentlich als das Ganze der specula-
tiven Theologie voranstellt, diejenige Disciplin,
welche vermöge ihrer speculativen Eigenart den
wissenschaftlichen Charakter aller einzelnen
theologischen Disciplinen begrtjndet und den
organischen Zusammenhang mit der Wissen-
schaft überhaupt sichert. Und in der eigen-
tümlichen Weise, wie Rothe seine speculative
Theologie aufbaut, bezeugt sich ebenso sehr sein
wissenschaftlicher Sinn wie sein frommes Ge-
mttth. Indem er die Speculation lediglich von
dem Selbstbewußtsein ausgehen läßt, versteht er
dies Selbstbewußtsein von vorn herein auch als
Gottesbewußtsein; und indem er die volle Frei-
heit des speculativen Denkens fordert, will er
zugleich das Ergebnis desselben unter die un-
bedingte Norm der biblischen Offenbarungsur-
kunden gestellt wissen, so daß der Denker
seine Arbeit von Neuem beginnen und die
ohne Zweifel gemachten Fehler verbessern soll,
wenn das Ergebnis seiner Speculation der Norm
der heiligen Schrift nicht entspricht (S. 25).
Die speculative Theologie umfaßt nach Rothe
einestbeils die Theologie im engern Sinne, d. h.
die speculative Durchführung des Gottesgedan-
kens, und die Kosmologie, welche in Physik
und Ethik zerfällt Von der Physik, welche so-
R. Rothe, Theologische Encyclopädie. 1097
mit als Theil der speculativen Theologie er-
seheint, ist übrigens nicht weiter die Rede; wir
werden sofort zur Ethik (Güter- Tugend- und
Pflichtenlebre) geführt. Sodann aber wird die
Apologetik aus dem System der theologischen
Wissenschaften gestrichen (S. 33 ff.). Daß diese
Disciplin, über deren Begriff und encyclopädi-
scbe Stellung im System der theologischen Wis-
senschaften gestritten wird, nicht im Sinne einer
Principienlebre. wie ein Prolegomenon, zu ver-
stehen sei, ergiebt sich für Rothe bei seiner
Beschreibung der speculativen Theologie von
selbst; nnd wenn er ferner mit Recht das un-
klare Znsammenfallen der Apologetik mit der
Dogmatik abweist, so bleibt für ihn, da er end-
lich auch die Apologetik als Theorie der Apo-
logie nicht erforderlich findet, nur die Beseiti-
gung dieser besondern Disciplin übrig. Dies
widerstreitet aber dem thatsächliehen Verhältnis
nicht minder als der theoretischen Würdigung
der Sache. Und irre ich nicht, so steht bei
Rothe diese Beseitigung der Apologetik mit an-
dern Mängeln seiner Aufstellungen in Verbin-
dung. In der Beschreibung der kirchenge-
schichtlichen Disciplinen vermißt man die Ge-
schichte der Ausbreitung der Kirche; und in
der Beschreibung der praktischen Theologie
fehlt die Theorie der Mission. Dies alles scheint
mir in einem gewissen innern Znsammenhange zn
stehen; und ich meinerseits beurtheile die mir
sich darstellenden Mängel von dem Standpunkte
ans, welchen ich in meiner Abhandlung über
die Apologetik (Jahrbücher für deutsche Theo-
logie. 1866. Heft 3, 4) bezeichnet habe und
trotz der Gegenbemerkungen von Sack (das.
1867. S. 412) noch für richtig halte. Die Apo-
logetik ist mir die wissenschaftliche Theorie der
1098 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 35.
Apologie und gilt mir deshalb, im Zusammen-
hange mit der Lehre von der Mission, als ein
Theil der praktischen Theologie. — Von der
Apologetik blickt man unwillkührlich auf die
Polemik. Diese ist von Rotbe, im Sinne Scbleier-
macher's, ihrem Wesen nach richtig bestimmt;
aber eigentümlich mnthet es an, daß wir —
wenigstens in der Hauptdarstellung S. 138,
welche in den Bemerkungen über Symbolik
eine gewisse Correctur findet — diese Polemik
dem Kirchenregimente zugewiesen finden. Aber
es ist doch ein anderes Ding, wenn das Kir-
chenregiment wegen Häresie Anstellung im
Pfarramte verweigert oder Absetzung verfügt,
und ein anderes, wenn nach Anweisung der
polemischen Wissenschaft die Widerlegung einer
Häresie von einem Theologen gegeben wird.
Liegt vielleicht die fehlsame Bestimmung in Be-
treff der Polemik in derselben Richtung, von
welcher aus sich die auffallende Aussage (S. 157)
ergeben hat, daß der Geistliche „alle seine Ob-
liegenheiten als Beamter des Staatesu zu voll-
ziehen habe? Aber es scheint mir nicht recht
angemessen, bei der Kritik der Rothe'schen An-
sichten zu verweilen. Möge meiner herzlichen
Verehrung des Heimgegangenen Mannes noch
ein aufrichtiges Wort wegen der Veröffentlichun-
gen aus seinem Nachlasse gestattet sein. Auch
in dem vorliegenden Werke finden wir manch-
mal wahrhaft goldene Worte, z. B. das über
die sittliche Beschaffenheit des zum geistlichen
Amte sich Vorbereitenden. Und wenn aus den
jetzt gedruckten Vorlesungen die ehrwürdige Ge-
stalt des geliebten Lehrers wieder vor die Er-
innerung der Zuhörer tritt, so ist das eine er-
bauliche Freude. Aber der ferner Stehende
-wird ohoe irgend eine üttcksiebt der Pietät zu
R. Rothe, Theologische Encyclopädie. 1099
verletzen, fragen dürfen, ob die Veröffentlichung
eines solchen Heftes, wie das vorliegende ist,
weitern Kreisen wahrhaft dienlich, insbesondere
ob sie vollkommen im Sinne des verewigten
Verfassers sei. Ich gestehe, daß ich das Eine
wie das Andere bezweifele; ich meine, daß es
auch um der Pietät gegen den seligen Rothe
willen nicht wohlgethan sein kann, hente ans
seinem Nachlasse Sachen zu veröffentlichen,
welche auch damals, als er selbst noch daran
arbeitete, keineswegs druckfertig waren. Schon
im Jahre 1859/60 hätte Rothe sicherlich nicht
drucken lassen, was wir S. 57 lesen: „Eine
neue Bahn scheint Const. Tischendorf einschla-
gen zu wollen". Das Unfertige liegt aber nicht
in den einzelnen Mängeln, sondern darin, daß
(vgl. S. 115f. 130f. 136f. 142f. 150) für grö-
ßere Partieen zwiespältige Darstellungen zu
Tage treten, da der Herausgeber bemerkt, wie
im Colleg die Sachen anders als im vorliegen-
den Hefte vorgekommen seien. Ich bin des-
halb, auch in meiner liebevollen Erinnerung an
den seligen Rothe, nicht im Stande, die gegen-
wärtige Mittbeilung aus dem Nachlaß mit der-
selben Freude zu begrüßen, mit welcher ich hier
die Arbeiten über die Pastoralbriefe und über
den ersten Brief Johannis angezeigt babe. Hie-
bei wirkt auch der Umstand mit, daß der vor-
liegende Druck die nöthige Sorgfalt gar zu
sehr vermissen läßt. Es ist ein widerwärtiges
Geschäft, auf Versehen und Druckfehler hinzu-
weisen ; aber zur Begründung meiner Klage
fianß ich wenigstens einiges hier anführen :
S. 38, 6 Vires st. Vives. 8, 56 Will st. Mill.
S. 68, 2 v. u. fehlt „nicht*. S. 75, 14. 80, 5
v. u. 84, 27. 28. 85, 14 (müßte). 87, 4. Diese
aus der Mitte des Buchs notierten Fehler habe
1100 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 35.
icb mir gemerkt, nachdem ich bei der Lecture
der vorangehenden Partie auf die nachlässige
Corrector aufmerksam geworden war.
Sollten noch weitere Mittheilungen aas
Rotbe's Nachlaß in Aussicht stehen (vgl. S. IV),
so wird sich die rechte Vorsicht bei der Wahl
und die gebührende Sorgfalt bei der Ausfüh-
rung empfehlen.
Hannover. D. Fr. Düsterdieck.
Hygiea. Medicinsk och farmaceutisk mä-
nadsskrift. Utgifven af Svenska Läkare-Säll-
skapet. Redigerad af Dr. Marten Sondän. Un-
der medverkan af Prof. Dr. A. Jäderholm, Prof.
Dr. C. J. Rossander, Dr. F. W. Warfvinge och
Dr. P. J. Wising. Fyrationdeförsta bandet.
Stockholm 1879. Kongl. boktryckeriet, P. A.
Norstedt & söner. IX und 776 S. in Octav.
Förhandlingar vi d Svenska Läkare-
Sällskapets sammankomster. Ar 1879.
ProtokollsfÖrande: Sällskapets Sekreterare Dok-
tor Wallis. Stockholm 1879. Kongl. bok-
tryckeriet, P. A. Norstedt & söner. VII und
264 S. in Octav.
Der 41ste Band der Hygiea zeichnet sich
durch einen ungewöhnlichen Reicht hum an inter-
essanten Originalien ans sämmtlichen Zweigen
der praktischen Medicin aus. Selbst die Denti-
stik ist darin repräsentiert, und zwar durch
einen Aufsatz von Otto Ulmgren, in welchem
unter Anknüpfung an einige in der Praxis des
Verfassers vorgekommene Fälle der gegenwär-
tige Standpunkt der Lehre von der Retention
von Zähnen in den Kiefern dargelegt und unter
Bezugnahme auf die Arbeiten von Salter über
Hygiea. Bd. XLL 1101
den GegeDßtand and unter Wiedergabe der von
demselben veröffentlichten Tafeln beleuchtet wird.
Die rein casuistischen Mi tt hei Jungen, welche
in manchen früheren Bänden der Zeitschrift
das größte Contingent der Publicationen stellen,
sind diesmal verhältnißmäßig spärlich vertreten.
Was ihnen an Zahl abgebt, ersetzt freilich
reichlich das wissenschaftliche Interesse, welches
sich an die einzelnen diesmal mitgetheilten
Fälle knüpft. Unter diesen ist besonders der
im Juni hefte von 0. Med in ausführlich be-
schriebene Fall von Cysticercus cellulo-
sae cerebri bemerkens werth , der zweite
Krankheitsfall dieser Art, der überhaupt in der
schwedischen Literatur sich findet, und von dem
ersten, welchen Professor Gellerstedt in Lund
1853 in der Hygiea beschrieb, insoweit wesent-
lich verschieden, als es sich diesmal um aus-
schließliches Vorkommen von Cysticerken im
Gehirn handelt, während Gellerstedt's Patient
Finnen im ganzen Körper und namentlich in
der Musculatur hatte. Der Fall bildet auch in-
sofern eine Rarität, als es sich um Hirucysti-
cerken bei einem 14jährigen Mädchen handelt
und das fragliche Leiden jedenfalls relativ sel-
ten in den jüngeren Lebensaltern auftritt, ob-
8chon dasselbe in den früher von Griesinger im
Archiv für Heilkunde (18ö2; gegebenen »Statistik
unter 55 Fällen dreimal bei jugendlichen Indi-
viduen unter 20 Jahren, einmal sogar bei einem
6jährigen Kinde, angetroffen wurde. Wenn man
die von Griesinger für die Diagnose der Hirn-
cysticerken a. a. 0. hervorgehobenen Anhalts-
punkte genau in's Auge faßt, wird man sich
kaum wundern dürfen, wenn in dem fraglichen
Falle die Erkennung des Leidens erst auf dem
Leichentiscbe geschah, denn es findet sich dar-
1102 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 35.
unter nur ein einziger zuverlässiger positiver
Punkt, die Auffindung von Cysticerken im Un-
terbautzellgewebe, und gerade dieses diagnosti-
sche Moment, das bei vorhandenen Hirnerscbei-
nungen allerdings deren Natur ziemlich sieber
stellen würde, fehlte bei der Patientin. Mög-
licherweise hätte übrigens der während der Be-
handlung im Stockholmer Kinderhause bei der-
selben beobachtete Abgang eines Bandwurm-
Stucks zum Verdacht auf das Vorhandensein der
seltenen Affection fuhren können uud erscheint
es jedenfalls gerechtfertigt, ein solches Vor-
kommmß den für die Diagnostik wichtigsten Mo-
menten hinzuzufügen, da ja die Affection die
entweder noch bestehende oder vorher bestan-
dene Existenz einer Taenia voraussetzt. Der
somnolente Zustand, in dem die Patientin in das
Krankenhaus aufgenommen wurde, ließ zuerst
an einen Typhus denken, aber die plötzliche
Erholung nach drei Tagen ließ diese Diagnose
völlig haltlos erscheinen. Als dann später bei
erhöhter Temperatur Anfälle von Bewußtlosigkeit
mit Mydriasis und träger Reaction der Pupille,
zeitweise Nystagmus, Zähneknirschen und ge-
linde Zuckungen in den Armmuskeln eintraten,
dachte man an Meningitis oder mindestens an
eine heftige Reizung der Hirnhäute und Hirn-
oberfläche, bis man später sich durch ophthal-
moskopische Untersuchungen von dem Vorhan-
densein von Stauungspapillen überzeugte und da-
mit zu der Vermuthung eines starken Hirndruck
erzeugenden Exsudats oder Tumor im Gehirn
gelangte. Als dann noch später eine Parese
verschiedener Muskeln des Unken Auges (od$r
Contractur der Antagonisten) eintrat, wurde die
Existenz eines Hirnabscesses wahrscheinlich, wo-
für auch die Krampfanfälle und daß Fieber zu
Hygiea. Bd. XLL 1103
sprechen schienen. Die Verschlimmerung der
Convalsionen, die Zunahme der Stauungspapillen,
das Sinken der von Anfang an beschränkten
Intelligenz, ohne daß Lähmungssymptome in ir-
gend einem anderen Nervengebiete sich einstell-
ten, machte die Diagnose wiederum hinfällig.
Sklerose des Gehirns blieb wegen der fehlenden
charakteristischen Läbmungserscheinnngen völlig
außer Frage. So war der Fall, wie Medin sich
ausdrückt, für die behandelnden Aerzte ein gro-
ßes Fragezeichen, bis die Section des Rätbsels
Lösung gab, indem dieselbe die Pia mater über
der convexen Fläche des Gehirns mit Cystiecer-
cusb lasen besäet zeigte, deren auf dem convexen
Tbeile des liuken Stirn , Parietal und Occipital-
lappens nicht weniger als 200 vorhanden waren,
während auch die übrigen Theile der Hirn-
hemisphärenoberfläcbe, auch der unteren, keines-
wegs frei blieb und die Hirnrinde selbst Hun-
derte der fraglichen Blasen aufwies, die übri-
gens in ihrer Umgebung nicbt als Entzündungs-
reiz gewirkt hatten. Auch im Innern des Groß-
hirns wurden einzelne Blasen, überall in der
grauen Substanz, entdeckt, während die ganze
Marksubstanz des Kleinhirn u. s. w. frei war.
Sicher wird man manche Symptome, namentlich
die psychischen Störungen und das Fehlen der
Lähmungserscheinungen, bei einem so rasch sich
entwickelnden Hirnleiden, wie sie sich in Medin's
Falle offenbaren, mit Griesinger als Momente be-
trachten dürfen, die für das Vorhandensein von
Hirncysticerken verwerthet werden konnten, aber
wir dürfen auch Griesinger's Ausspruch nicht
vergessen : .„Es ist einmal so, daß sich die Hirn-
krankheiten nicht so einfach wie ein pleuritisches
Exsudat oder eine Mitraliserkrankung diagnosti-
oieren lassen".
1104 Gott gel. Anz. 1880. Stück 35.
«
Von sonstigen casnistischen Mittheilnngen bie-
tet ein im Novemberheft enthaltener, von Dr. W.
Bergsten in Norrköping beschriebener Fall von
Stummheit ein Beispiel eines theilweise durch Ent-
wöhnung vom Sprechen in einer einsamen Gegend
von Ostergötland entstandenen theilweise auch
wohl zur Erregung des Mitleids vorgeschützten
Mutismus. Von medico-legalem und gleichzeitig
psychiatrischem Interesse ist ein von Medicinalrath
Ha 11 in ausführlich besprochener Fall von zwei-
felhaftem Geisteszustände eines wegen Fälschung
in Untersuchung befindlichen Kaufmanns, der
von dem Gefäugnitiarzte für zurechnungsfähig
erklärt, auf Beschluß des Mediciualcollegiums
dem Oberarzte des Hospitals in Hernösaud, Dr.
Oedmao, zur psychiatrischen Untersuchung und
Begutachtung zugewiesen wurde, welcher in sei-
nem ausführlichen Gutachten das Vorhandensein
von Folie circulaire darthat und die Unzurech-
nungsfähigkeit des Angeklagten auch zur Zeit
des begangenen Verbrechens zur Evidenz erwies,
welcher Ansicht das schwedische Mediciualcolle-
gium beipflichtete. Aus der Chirurgie gehört
hierher eine von G. Boiling im Kraukeuhause
zu Wisby ausgeführte Kuiegelenksresection, zu
welcher Tumor albus den Anlaß gab; aus der
Geburtshülfe ein Beitrag zur spontanen Ruptur
der Gebärmutter während der Entbindung mit
glücklichem Ausgange, welchen Stadtarzt V. Moss-
berg in Eskilstuna beobachtet und beschrieben
hat. Der letzte Fall ist um so merkwürdiger,
als ein Grund für die spontane Uterusruptur nicht
auffindbar ist, zumal da die Wehenthatigkeit in
keiner Weise eine stürmische oder outnerte war.
Von den nicht an einen einzelnen Fall sich
anlehnenden Aufsätzen heben wir in elfter Linie
eine von jfroi. einer. Dr. J. Bonsdorff über
Hygiea. Bd. XU. 1106
die von ihm bei Behandlung von Diphtherie be-
folgte Methode hervor, die es dem Verfasser er-
möglichte, die Prognose bei Diphtheritis als eine
sehr günstige zu betrachten, da ihm anter An-
wendung derselben im Laufe von zwei Decen-
nien bei mehr als tausend Kranken nur 3 Todes-
fälle vorkamen, welche z. Th. der zu späten Ein-
leitung der betreffenden therapeutischen Maß-
regel Schuld zu geben sind. Die BonsdorfFsche
Methode ist übrigens im Wesentlichen nichts an-
deres wie die ja au6h in Deutschland von ein-
zelnen Aerzten gepriesene Abkratzungsmetbode,
combiniert mit Cauterisation vermittelst concen-
trierter Lapislösung, und basiert auf der An-
nahme, durch Entfernung des Exsudats und des
sämmtlichen mortificierten Gewebes das Auftreten
einer allgemeinen Infection verhüten zu können.
Die Beseitigung des Exsudats geschieht bei Bons-
dorff, welcher übrigens zwei Formen der Diph-
theritis, eine mildere mit mehr oberflächlichem
und ausgedehntem Exsudate und eine schwerere,
mehr in die Tiefe dringende Affection, unter-
scheidet, in der Regel mittelst eines wei-
chen Pinsels, in schwereren Fällen mittelst eines
härteren, den man mit Nachdruck so lange an-
zuwenden hat, bis die ganze Exsudatmasse ent-
fernt ist Unmittelbar hierauf wird der feuchte
Pinsel in Höllensteinpulver getaucht und sobald
letzteres sich gelöst hat, die ganze Wundfläche
cauterisiert. Es ist gewiß sehr zu billigen, daß
Bonsdorff eine genaue Beschreibung des Ver-
fahrens giebt, das, wenn man berechtigt ist, den
diphteritischen Proceß im Halse als primitive lo-
cale Erkrankung zu betrachten, welcher erst als
secundäre Affection allgemeine Blutvergiftung,
ähnlich wie auf das primäre Ulcus die Lues,
folgt, für rationell zu erklären und seiner Aus-
70
1106 ÖOtt. gel &nz> 1880. Stick 36.
giebigkeit wegen über diejenigen VerfabcungtH
weisen gestellt werden muß, welche den mUnün
chen Zweck durch Einblasen von Schwefelpulver
oder durch Gurgelwäaser aus einer Schwefel-
blumen-Schüttelmixtur, wie solche neuerdings voa
Gold in der dänischen Ugeskrift for Läger be-
fürwortet wurde, zu erreichen suchen. Die Wir-
kung der Schwefelblumen und aller antisepti-
scher Gurgelwässer bei Diphtherie kann nur eine
oberflächliche sein und man darf Heileffecte von
denselben wohl kaum anders als in den aller-
dings die größte Mehrzahl der Diphtheritisfalle
ausmachenden leichteren Erkrankungen mit ober-
flächlichem Torsillenbelag erwarten. Jedenfalls,
haben die Methoden von Bonsdorff und Gold den
Vorzug vor den in Deutschland üblich geworde-
nen Massenausspülungen mit Lösungen von chlor-
saurem Kali, daß sie nicht durch das Medicament
selbst das Leben der Patienten gefährden.
Von therapeutischem Interesse erscheint anoh.
der Schluß der auf die antiseptische Behandlung
bezüglichen Arbeit von Prof. Bossander ia.
Stockholm, worauf wir in unserem letztjährigen
Referate die Aufmerksamkeit lenkten. Der vor-
liegende Schlußtheil der Abhandlung betrachtet
die antiseptische Therapie der Gtelenkaflectionen,
in Bezug auf welche Rossander seine günstigen
Erfolge bei Anwendung der intraarticulären Dou-
chen bei Synovitis catarrbalis und purulent*,
selbst in solchen Fällen, die durch Massage und;
andere therapeutische Mittel nicht gehoben wur-
den, betont. Besonders empfiehlt er. die Methode .
bei Hydrarthros, während er bei minimen Er-
güssen bei gleichzeitiger bedeutender Verdickung
Einspritzung von Jodtinctur der antiseptischen
Ausspülung vorzieht und bei frischen, traumati-
schen Ergüssen und Hämarthros die Massage-
Hygiea. Bd. XLL 1107
Behandlung ab ebenso günstig wirkend und min-
der gefährlich vorzieht Am Ende der Abhand-
lung knüpft Bossander an den von Scheve bei
Kniescheibenbruch gemachten Vorschlag einer
Entleerang der Kniegelenksflüssigkeit unter Anti-
sepsis seine eigenen Erfahrungen über die Be-
handlung der Tractura patellae an, bei der er
allerdings den von Scheve betretenen Weg nicht
verfolgte. Sossander ist mit Recht der Ansicht,
daß eine fibröse Vereinigung der Bruchstücke
der Kniescheibe ein weit weniger ungünstiges
Resultat bilde als die bei der gewöhnlichen Be-
handlung so häufig eintretende Ankylose und hat
deshalb in neuester Zeit nach dem Vorgange von
Metzger die Massage angewendet und nach we*
nigen Tagen die Kranken gehen lassen, wobei
er bisher ganz vorzügliche Resultate erhielt, in-
dem das Gelenk von seiner vollkommenen Be-
weglichkeit und Kraft nichts verlor. Es bestä-
tigen diese, bis jetzt an drei Fällen gemachten
• Beobachtungen übrigens die den deutschen Land-
ärzten schon länger bekannte Thatsacbe, daß
die Nicbtwiederverdnigung der gebrochenen Pa-
tella durch Knochencallas nicht so viel zu be-
deuten hat, wie man den Angaben der chirurgi-
schen Lehrbücher nach insgemein glaubt Wir
haben selbst einen Fall gesehen, in welchem die
Patella durch den Hufschlag eines Pferdes ge-
trennt worden war und die Heilung nur durch
ligamentöse Vereinigung zu Stande kam, ohne daß
die Functionsfahigkeit des Kniegelenks gelitten
hatte.
Von sonstigen der Chirurgie angehörigen Ab-
handlungen hat eine von G. Santesson auf
Prostata steine bezügliche besonderes Interesse.
Der Verfasser unterscheidet drei Arten derselben,
von denen die eine von der Blase aus in die
70*
1108 Gott. geL Anz. 1880. Stack 35.
Prostata gelangen and dort stecken bleiben and
sich vergrößern, während die beiden anderen
autocbthone Prostataerzeugnisse sind and entweder
verkalkte Entzündungsprodacte oder die anter dem
Namen der Corpora amylacea bekanntenBildangen
vorstellen. Nea ist es wohl, was Santesson durch
Mittheilung eines concludenten Falles darthnt, daft
die letztgenannten den Kern für Blasensteinbildung
abzugeben im Stande sind. Der betreffende Fall
bezieht sich auf einen alten Mann, an dem die
Lithotripsie ausgeführt wurde und der schon
früher 14 und in den Tagen vor der Operation
noch weitere 3 charakteristische Prostatasteine
entleert hatte ; nach der Operation gingen 2 grö-
ßere Blasensteinstücke ab, von denen das eine
einen vollständig den Prostatasteinen gleichenden
Kern einschloß. Diese Genese eines Blasensteins
scheint indessen nur ausnahmsweise vorzukommen,
wie ein anderer Fall lehrt, in welchem beim
Vorhandensein von Blasensteinen die Lithotripsie
wegen äußerst zahlreicher Prostataconcremente
nicht ausgeführt werden konnte, die durch den
Steinschnitt herausgeförderten Blasensteine ins-
gesammt keinen Prostatastein einschlössen.
Aus dem von der Stadt Stockholm neu ge-
gründeten, für 300 Kranke berechneten und im
Pavillonsysteme gebauten Sabbatsberg-Hospital,
über dessen innere Einrichtung ein längerer Auf-
satz von Warfwinge, welcher den diesmaligen
Band der Hygiea einleitet, den Leser orientiert,
bringt Ivar Svensson mehrere interessante
Ovariotomien und Oolotomien, deren Mittheilung
wir mit um so größerer Freude entgegen nehmen,
als sie uns Bürgschaft dafür leistet, daß die Er-
fahrungen in dem neu gegründeten Institute der
Wissenschaft dienen werden.
Außer einem an englische Reiseerinnerungen
Hygiea. Bd. XLI. 1109
anknüpfenden Artikel von Jobn Berg über
subcutane Osteotomieen haben wir als von chi-
rurgischer Bedeutung noch einen Artikel von
Engdahl über Aetherisation hervorzuheben, durch
welchen die bekanntlich in den letzten Jahren in
Großbritannien wieder lebhaft discutierte Chloro-
form-Aetherfrage in Skandinavien importiert wird.
In dem für die Anwendung des Aethers plaidie-
renden Aufsatze haben wir neue Gesichtspunkte
nicht aufzufinden vermocht; es wird im Wesent-
lichen Alles wiederholt, was die Aetherfreunde
in Lyon und in den Vereinigten Staaten Gutes für
ihren Schützling ausfindig gemacht haben, wobei
man im Drange des Enthusiasmus es mit der
Kritik nicht immer so genau nimmt, wie es dem
nicht auf der Zinne der Partei stehenden Arzt
wünschenswerth erscheinen muß. Man behauptet
z. B. unter Anwendung eines stark nach Schola-
stik schmeckenden Deductionsverfahrens , daß
kein sicher verbürgter Aethertodesfall existiere,
ohne zu bedenken, daß es unter Benutzung ana-
loger Entlastungsbeweise einem guten Sachwalter
leicht gelingen würde, auch das Chloroform von
der böswilligen Verläumdung zu befreien, daß
jemals dadurch ein Menschenleben zu Grunde ge-
gangen sei. Es ist gewiß richtig, daß der Aether
minder gefahrlich ist als das Chloroform, aber
es kann auch keinem unparteiischen Sachver-
ständigen, der die Literatur der Aethertodesfälle
durchstudiert, entgehen, daß es Fälle giebt, wo
der während der Operation vorgekommene Tod
ans nichts anderem wie aus der Einwirkung des
Anaestheticums erklärt werden kann. Man wird
überhaupt eine wahrhaft wissenschaftliche und
befriedigende Lösung des Aether-Chloroformstreits
nur dann herbeiführen können, wenn man sich
des einseitigen Feldgescbreies : Hie Aether, hie
Chloroform entschlägt und jedem der beiden
1110 68tt. gel Anz. 1880. Stück 35.
Agentien das seinige giebt, denn beide haben
ihre Vorzüge, beide ihre Schattenseiten unter ge-
wissen Verhältnissen. Es muß die Aufgabe sich
dahin stellen, daß der Chirurg weder ausschließ-
lich das Chloroform noch ausschließlich den Ae-
ther als Anaestheticum bei seinen Operationen
benutze und daß er in jedem Einzelfalle die für
das eine oder das andere sprechenden Indicatio-
nen genau erwäge, um die richtige Auswahl zu
treffen. Die einzelnen Verhältnisse, welche hier
in Betracht kommen, zu beleuchten, ist hier nicht
der Ort und mag es genügen zu betonen, daß
wenn wir auch keineswegs allen Deductionen
Engdahl's beipflichten können, wir doch seine
Absicht, das Monopol des Chloroforms als A-
naestheticum im Norden zu beseitigen, nur bil-
ligen können, da es in Wirklichkeit Individuen
und Erankheitszustände giebt, bei welchen das
Chloroform geradezu nicht angewendet werden
darf, ohne das Leben aufs Spiel zu setzen.
Ebensowenig aber würde es gerechtfertigt sein,
das Monopol des Chloroforms durch ein solches
des Aethers zu ersetzen, der hinsichtlich seiner
Verwendbarkeit dem Chloroform gegenüber ge-
wisse Nachtheile darbietet, die auch durch die
neueren Inhalationsverfahren und Einathmungs-
apparate englischer Autoren nicht völlig besei-
tigt werden.
Die übrigen Arbeiten gehören, mit Ausnahme
eines Aufsatzes von E. Edlund über Waiden-
burg's transportablen pneumatischen Apparat,
einer Abhandlung von 0. Sandahl über Coto-
und Paracotorinde und einer Mittheilung von
Ekman über die Mineralwasserfabrikation der
Nordstern-Instructionsapotheke , sämmtlich der
Hygieine an. Unter diese Kategorie fällt auch
die von Professor W. Netze 1 gehaltene Festrede
über die Natur des Puerperalfiebers und die wich-
Hyglea. Bd. XLI. 1111
tigsten Maßregeln ear Verhütung desselben, in
welcher der Verfasser die ja nach langem Kampfe
zu allgemeiner Geltung bei den Geburtshelfern
gelangte Theorie von Semmelweis, daß die Fe-
bris puerperalis als septische Infection erscheint,
vertritt. Von besonderem Interesse sind die in
der Arbeit enthaltenen Angaben über die Ver-
hältnisse des Kindbettfiebers in Schweden und
Stockholm, die theils auf officielle Daten, theils
auf eine Zusammenstellung von Professor Ce-
derschiöld sich gründen.
Ebenfalls durch statistische Notizen aus
Schweden und speciell ans Göteborg aasgezeich-
net ist ein Aufsatz von Professor Elias Hey-
man über den Einfluß gesander Wohnungen auf
die Mortalität der Arbeiter, in welchem Übrigens
außer den bekannten, auf Pest h bezüglichen un-
garischen Untersuchungen eine Reibe in techni-
schen Zeitschriften zerstreuter Zahlenangaben
zusammengestellt ist, aus denen das beberzi-
genswerthe Resultat sich ergiebt, daß das Sterb-
Hchkeitsverhältniß der Arbeiterbevölkerung durch
gesunde Wohnungen auf das gleiche Niveau mit
derjenigen der am besten Bituierten Classen der
Bevölkerung gebracht werden kann. Wie die-
ses Ergebnis von Hey man's Untersuchungen,
sind aueh die von ihm darauf begründeten For-
derungen in hohem Grade beachtungswerth.
Auf die Hygieine der Gebäude beziehen sich
aueh zwei treffliche Aufsätze von Dr. Curt
Wallis im letztem Hefte der Zeitschrift, von
denen der eine die verschiedenen Methoden der
Bestimmung des Kohlensäuregehalts der Luft zu
hygieinischen Zwecken zum Gegenstande hat,
während der zweite die von Wallis mit Unter-
stützung des Stockholmer Sanitätsinspectors M.
Son din und der Ingenieure J. Edberg und
0. Ann eil ausgeführten Analysen der Luft in
1112 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 35.
den Theatern und verschiedenen Kaffeelocalen
Stockholms vorführt und in hygieinischer Be-
ziehung erörtert. Die in Bezug auf die Stock- j
bolmer Theater gefundenen Zahlen des Kohlen- "
Säuregehalts sind wahrhaft überraschend, um
nicht zu sagen erschreckend, denn während nach
der bei uns allgemein gültigen Annahme "eine
Luft mit mehr als 0,7 per mille bei längerer
Einathmung unhygieinisch ist und eine Atmo-
sphäre, welche durch Respiration und Perspira-
tion auf einen Kohlensäuregehalt von mehr als
1 per mille gebracht wurde, als gesundheits-
schädlich aufgefaßt werden muß, scheint der ge-
wöhnliche Kohlensäuregehalt der Luft in der
Mehrzahl der Stockholmer Theater während eines
Spielabends 3 — 4 per mille zu sein, während er
sich nur ausnahmsweise auf 1 — 2, dagegen häu-
figer auf 5 — 6 — 7 stellt. Diese Durchschnitts-
zahlen, die sich vielleicht noch höher gestellt
hätten, wenn die analytischen Untersuchungen
nicht in der allerkältesten Jahreszeit ausgeführt
wären, contrastieren auch mit den wenigen An-
gaben, welche sich über Theaterluft in der Li-
teratur bisher vorfinden. In den Londoner Thea-
tern ist z. B. nach Hart der höchste Kohlen-
säuregehalt 3,2 (Parterre im Standard-Theater)
und der mittlere zwischen 1 und 1,5, in New-
York nach Sander's Handbuch der öffentlichen
Gesundheitspflege bei schwach besetztem Theater
1,2—2,4 und bei starkem Theaterbesuch 1,3—4,1.
Es ist natürlich nicht gestattet ohne Weiteres der-
artige Zahlen zu parallelisieren, weil eben nicht
in allen Punkten des Locals die Luftbeschaffen-
heit genau dieselbe ist, weil die verschiedenen
Stunden des Theaterabends an sich differente
Resultate ergeben, die noch dazu durch die ver-
schiedene Anzahl der Zuschauer variiert werden.
Alle diese Momente sind indessen von Wallis
Hygiea. Bd. XLI. 1113
gebührend berücksichtigt und die angeführten
Mittelzablen müssen als exact bezeichnet werden,
indem sie einen Ansdrnck für die Luftbeschaffen-
heit geben, die bei einem zu */s besetzten Zu-
schauerräume maßgebend ist. Im Uebrigen
glauben wir, daß die an sich so auffälligen Ver-
hältnisse der Stockholmer Theater in einem auch
von Wallis besonders betonten Umstände ihren
hauptsächlichsten Grund haben. Es ist dies das
frühe Anzünden der Gasflammen, welche bei den
ziemlich mangelhaften Heizvorrichtungen ihren
Theil zur Erwärmung des Zuschauerraums zu
liefern berufen sind und wodurch sich auch in
ungezwungenster Weise die eigenthümliche Höhe
des Kohlensäuregehalts beim Beginne der Vor-
stellung erklärt. Derselbe ist im Anfange des
ersten Acts schon gleich 3,4 und ' steigt dann
keineswegs unaufhaltsam, sondern nur bis zum
dritten Acte bis 4,1, um dann wieder auf 3,95
reap. 4,0 abzusinken. Diese Zahlen ergeben, daß
die natürliche Ventilation ausreicht, um einen
Eohlensäureexceß von einer gewissen Größe zu
beseitigen und es ist im hohen Grade wahrschein-
lich, daß die nach den gleichzeitigen Untersu-
chungen von Wallis in den fraglichen Localen
constant bis zum Schlüsse steigende Temperatur
durch die damit verbundene Erhöhung der Ven-
tilation das Wiederherabgehen des Kohlensäure-
gehalts bedingt. Solche Untersuchungen, wie sie
von Wallis ausgeführt wurden, haben unseres
Eraehtens eine hohe Bedeutung für die öffent-
liche Hygieine und sollten insbesondere auch,
wie dies in Schweden übrigens von Elias Hey-
man geschehen ist, auf Schullocalitäten und
analoge Räume, die täglich oder häufig von einer
Menge Menschen benutzt werden, Ausdehnung
finden. Man erhält dadurch einen bestimmten
Ausdruck, durch Gewicht und Zahl bestimmt,
1114 Gott. gel. Anz. 1880. Stttck 35.
fthr die Verschlechterung der Luft in einer ge-
gebenen Zeit, einen quantitativen Maßstab flir
Gebrechen, die man zwar allgemein zugiebt und
mitunter mit Eifer rügt, über deren Umfang aber
man bis auf die neueste Zeit nur vage Vorstel-
lungen hatte. Kann man diese Uebelstände mit
bestimmten Zahlen beweisen, so wird man auch
dadurch eher als durch bloßes Raisonnement
deren Beseitigung erwirken können.
Wie die beiden letztgenannten Arbeiten auf
die Luft, so beziehen sich .zwei andere auf das
Wasser. In der einen handelt Albert Atter-
berg über untaugliche Trinkwässer und deren
Reinigung durch Filtration. Der Verfasser hat
sich zur Aufgabe gestellt, die verschiedenen Fil-
trierapparate in Bezug auf ihr Vermögen, Trink-
wasser von organischen Stoffen zu befreien, de-
ren quantitative Bestimmung mittelst der Chamä-
leonprobe ausgeführt wurde, zu prüfen. Das Rei-
nigungsmaterial in den benutzten Filtern war theils
Kohle, theils der neuerdings ja bei uns vielbe-
sprochene Eisenschwamm. Als den wirksamsten
Apparat erkannte Atterberg das von dem Eng-
länder Cheovin construierte Kohlenfilter, des-
sen Werth daran erkannt werden kann, daß nach
seiner Anwendung eine Verminderung des Sauer-
stoffverbrauches um 99,1 °/o constatiert wurde.
Der zweite auf das Wasser bezügliche Aufsatz
trägt einen specielleren Charakter, indem ersieh
auf die Hygieine der Brunnen- und BadecurÖrter be-
zieht, für welche A. Lewertin einen vom Staate
angestellten sachverständigen Inspector fordert
Schließlich gehört in die Kategorie der hygiei-
nischen Arbeiten der Bericht von G. Dunir
über seine, im Auftrage des schwedischen Medi-
cinal-Directoriums an Ort und Stelle gemachten
Untersuchungen über die Pest im Gouvernement
Astrachan. Der Aufsatz giebt eine klare Ueber-
Hygiea. Bd. ILL 1115
sieht der vom Verfasser gewonnenen Resultate
über Entstehung und Ausbreitung der Krankheit
und über die hygieinischen Verhältnisse des frag-
lichen Gouvernements. Wir wollen bemerken,
daß der Verfasser zu diesem rein wissenschaft-
lichen Berichte noch einen zweiten Reisebericht
in der Tidskrift i militär bälsovärd veröffentlicht
bat, der die äußeren Gontouren der russischen
Reise mehr hervortreten läßt und in höchst inter-
essanter Weise die Reiseeindrücke Dun&r's wie-
dergiebt, die er auf seinem nicht ohne Schwie-
rigkeiten und Abenteuer ausgeführten wissen-
schaftlichem Ereuzzuge sammelte. Uebrigens
ist Dun6r nicht der einzige Schwede, der in
öffentlicher Mission den Pestbezirk bereiste, in-
dem auch das GroßfÜrstenthum Finnland den
Dr. Axel 0. Spoof aus Abo absandte, von
welchem ein etwas verspäteter Bericht in derii
ersten und zweiten Hefte des 22. Bandes der
Fin sk a Läkare Sällskapet Handlingar vorliegt
Daß die orientalische Pest in Schweden mit dem-
selben Interesse und der nämlichen Besorgniß
verfolgt worden ist wie bei uns, ergiebt sich
nicht allein aus der Abordnung dieser Sachver-
ständigen, sondern auch bei einem Blicke auf
' die Verhandlung der Schwedischen Gesellschaft
der Aerzte, in welcher die Pest in Persien und
im südlichen Rußland den Gegenstand wieder-
holter Discussionen bildete.
Was die letztgenannten Verhandlangen betrifft, bo
bieten dieselben neben den in der Hygiea publicierten
Originalartikeln, welche ja sämmtlioh zuerst in derSvenska
Lakare Sällskap vorgetragen wurde, noch ein so reichliches
. wissenschaftliches Material, daß eine nur einigermaßen er-
schöpfende Darstellung des Inhalts kaum möglich ist und
wir uns darauf beschranken müssen, auf einzelne inter-
essante Vortrage und Mittheilungen aufmerksam zu ma-
chen. Besonders stark vertreten ist hier die Casuistik,
was nicht auffallen kann, wenn wir uns vergegenwärtigen,
daß in die Hygiea k diesem Jahre nur wenige casuisti-
1116 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 35.
sehe Beiträge, hauptsächlich die auswärtiger Vereinsmit-
glieder aufgenommen warden. Ganz überraschend ist in
dem vorliegenden Bande der Verhandlung die Zahl der
gynäkologischen und geburtshülflichen casuistischen Mit-
teilungen, an denen Professor Netzel einen großen An-
theil besitzt. Wir finden von demselben der Reihe nach
Mittheilungen über Hysterotomie und die von Schröder
angegebene Modification der Cervicalexcision durch die
Vagina mit einem Falle der letzteren Operation; einen
Fall von plötzlichem Tode während der Entbindung, in
welchem die Todesursache nicht entdeckt werden konnte;
einen Fall von Tubarsch wan gerschaft mit Berstung der
Tuben. Ebenso reichliche Beiträge lieferte Professor A.
Andersson, einen Fall von normaler Gravidität neben
einem Lithopädion, einen Fall von Entbindung bei
Becken Verengung und narbiger Cervicovaginalstenose und
zwei Fälle von Fötus compressus in Folge von Nabel-
strangumschnürung; ebenso bringen Professor Ceder-
schiöld, Groth, Sonden und Ivar Svensson auf
Gynäkologie und Geburtshülfe bezügliche Aufsätze. Hieran
reiht sich auch ein von Warfwinge und Svensson
berichteter Fall von Kaiserschnitt bei einer Todten mit
glücklichem Ausgange für das Kind. Der Fall kam in
dem neuen Sabbatsbergs- Hospitale vor und bot dadurch,
daß die Mutter in einer Krankenanstalt während der Ge-
burt unter Erstickungserscheinungen zu Grunde ging, be-
sonders günstige Chancen für die Lebensrettung des Kin-
des, da der operative Eingriff so zu sagen auf der Stelle
ausgeführt werden konnte, doch bedurfte es sehr ange-
strengter Bemühungen, um durch künstliche Respiration
bei gleichzeitigem Hervorziehn der Zunge das scheintodte
Kind zum Leben zu bringen, nachdem andere Methoden
der künstlichen Athmnng fehlgeschlagen waren. Der Tod
der Mutter war, wie die Section nachwies, durch Throm-
bose der Pulmonalarterie erfolgt, zu deren Zustande-
kommen ein oomplicierter Herzfehler, Insuffizienz der
Mitralis und der Aorta der offenbare Grund war. In
ähnlicher Weise wie die Geburtshülfe ist übrigens auch
die Chirurgie durch eine Reihe von Mittheilungen von
Rossander, Svensson, Santesson u. A. vertreten,
ebenso die innere Medicin durch Vorträge von Professor
Bruzelius, Malmsten, Kjellberg und die pa-
thologische Anatomie durch solche von Key. Unter den
Mittheilungen von Bruzelius ist ein Fall periodischer
Hämoglobinurie hervorzuheben; mehrere Beispiele von
pernieiöser progressiver Anämie werden von Warfwinge,
Kjerner und F. Bruzelius mitgetheilt.
Förhandl. vid Svenska Läkare-Sällskapet 1117
Ton toxikologischem Interesse ist die auf 8. 81 von
Bruzelius] beschriebene Affection nach chronischem Miß-
brauch von Chloralhydrat nnd Morphin hervorzuheben,
welche, da sie bei zwei Personen beobachtet wurde, wohl
nicht als von jenen Medicamenten anabhängig betrachtet
werden kann. In dem einen Falle hatte ein im 6. Le-
bensdecennium stehender Mann 7 Jahre lang gegen neu*
ralgische Schmerzen taglich Morphin, schließlich zu 20
Ggm. im Tage, subcutan injiciert und daneben gegen die
bestehende Schlaflosigkeit allabendlich 2 — 3 Gramm Chlo
ralhydrat eingenommen. Der Kranke bekam plötzlich
einen epileptiformen Anfall mit Bewußtlosigkeit, welchem
ein den ganzen Tag über anhaltendes Coma folgte, nach
welchem Anfalle trotz sofortiger starker Verminderung
des Morphins und gänzlichem Weglassen des Chlorals
bedeutende Schwäche des Gedächtnisses und periodische
Geistesabwesenheit folgte. In dem zweiten Falle hatte
ein 35jähriger Mann ebenfalls gegen neuralgische Schmer«
zen etwa ein Jahr lang täglich 40 Cgm. Morphin subcu-
tan und 5 Gm. Chloral verbraucht und diesen Mißbrauch
auch fortgesetzt, nachdem die Neuralgie durch elektrische
Behandlung gehoben war. Auch bei ihm kam es, jedoch
erst nach vorherigem Auftreten von Hallucinationen und
psychischer Depression, zu einem ausgeprägten epilepti-
schen Anfalle, der sich nicht wiederholte. Es dürfte sich fra-
gen, ob der gleichzeitige Mißbrauch beider Narcotica diese
Erscheinungen herbeiführt, welche weder dem chronischen
Morphinismus noch dem Chloralismus angehören. Ohn-
machtsanfalle sind allerdings bei Morphiumsüchtigen von
Levinstein beobachtet, kommen aber, wie dies die nega-
tive Erfahrung des auf diesem Gebiete so bewanderten
Bnrkart (die chronische Morphin Vergiftung. Bonn 1880
p. 34) beweist, selten vor und sind offenbar mit den von
Bruzelius gesehenen epileptiformen Anfallen nioht zu
verwechseln.
Interessant ist auoh ein von Dr. C. Edling mitge-
teilter Selbstvergiftungsversuch eines Dienstmädchen mit
der Zündmasse von Sicherheitszündhölzern, die indeß
außer heftigen Leibschmerzen keine Intoxicationserschei-
nungen hervorrief. Möglicherweise stehen diese Symptome
mit einem Gehalte an doppeltchromsaurem Kali in Ver-
bindung, das neuerdings im Norden verschiedene tödt-
liche Vergiftungen veranlaßt hat. Nach Hamberg ka-
men in Schweden während des Jahres 1879 sogar drei
Todesfälle vor. Mit Recht weist letzterer darauf hin, daß
bei dieser Intoxication Magnesia als Gegengift nicht
1118 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 35,
brauchbar ist, da dieselbe mit Chromsäure eine leicht
lösliche Verbindung bildet, und daß deshalb als Gegen-
gift eine KreideemulBion sich empfiehlt. Wahrscheinlich
hat der in Edling's Vergiftungsfalle neben der Zündholz-
masse eingenommene Kalk die Einwirkung des Kalium-
bichromats wesentlich gemindert. Die neben dem dop-
pelt chromsauren Kali in den Sicherheitszündhölzern von
Jönköping vorhandenen minimalen Mengen von Phosphor
und Arsenik sind für die Giftigkeit der ersteren ohne Be-
deutung. Die bei dieser Gelegenheit ebenfalls bespro-
chenen Reibflächen enthalten nach Hamberg's Untersu-
chung Arsenik, theils von dem benutzten Schwefelantimon,
theils von dem amorphen Phosphor herrührend, welcher
letztere übrigens nach einer von Dr. Jolin ausgeführten
Analyse nicht allein Arsenik (etwa l°/o)> sondern auch ge-
wöhnlichen Phosphor in relativ großen Mengen (2%)
einschließen kann.
Es sei uns schließlich noch gestattet, einer Discussion
zu gedenken, welche in einer der späteren Sitzungen des
Jahres über die schwedische Gesetzgebung in Bezug auf
die mit Arsen gefärbten Möbelstoffe etc. stattfand. Diese
Discussion wurde hervorgerufen durch einen Vortrag
Kjellberg's über drei neue von ihm beobachtete Fälle von
chronischer Arsenvergiftung, in denen die Benutzung von
Wollstoffen, welche mit arsenhaltigen Farben gefärbt wa-
ren, das Bild der Vergiftung erzeugten. Von den drei
Fällen gehört der eine, in welchem eine in Norwegen
gekaufte Eiderdaunendecke die Erkrankung veranlaßte,
in die Rubrik derjenigen Fälle von Arsenicismus chroni-
cus, die durch die Auftragung von Arsenfarben auf die
Oberfläche von Zeugen herrühren und bietet somit nichts
Außerordentliches in Bezug auf seine Aetiologie. Da-
gegen sind die beiden anderen, wenn es sich dabei wirk-
lich um Arsenicismus chronicus handelt, interessante No-
vitäten, insofern sie den Beweis liefern würden, daß nicht
allein die mittelst eines Klebstoffes auf Zeuge fixierten
arsenhaltigen Farben gesundheitsschädlich sind, sondern
daß auch Zeuge, welche durch Imprägnation der Wolle
mit arsenhaltigen Farben gefärbt wurden, giftige Wir-
kungen äußern können. In dem einen Falle war es ein
Brüsseler Teppich, der als Bettvorlage benutzt wurde,
der die als Vergiftungserscheinungen gedeuteten Symptome
hervorrief, welche nach Entfernung des Teppichs aus der
Schlafkammer verschwanden. In dem zweiten Falle gab
ein mit einem braun gefärbten Ueberzuge versehenes
Schlafsopha bei verschiedenen Personen Veranlassung au
dem nämlichen Symptomcomplexe. Wir müssen Kjell-
Förhandl. vid Svemfr» Utae-SiUlßkaptt 1119
berg beistimmen, daß wenn et sieh um Falle von Arse»
P^ifrmn« chroniooß bandelt, dieselben niebt verstäubten
Arsenikalien entstammen, sondern einer gasförmigen Ver-
bindung, die siob unter gewissen, noch naber fest zu stel-
lenden chemischen Verhältnissen bildet, and wir halten
es für dringend angezeigt, daß die Sanitatspolizei sich
auch am Zeage kümmere, aaf denen die Arsenfarbe niobt
bloß äußerlich fixiert wurde. Wir müssen diese Forderung
um so mehr stellen, weil das Vorhandensein des chroni-
schen ArsenicismuB in den fraglichen Fallen von Kjellberg
so wahrscheinlich gemacht ist, wie es überhaupt nur im-
mer angebt. Es ist allerdings wohl richtig, daß der Com-
plex der Symptome bei der ohronisohen Arsen Vergiftung
ein etwas unbestimmter ist, der möglicherweise auch von
allerlei andern chronisch einwirkenden Schädlichkeiten
herrührt; Kopfschmerzen and Schwindel, allgemeine Mat-
tigkeit und analoge Erscheinungen in der Morgenfrühe,
die sich dann tags über mehr oder minder verlieren, sind
namentlich bei zarten Individuen mit Tendenz zu gastri-
schen Störungen und besonders beim weiblichen Gesohlechte
ein nicht seltenes Vorkommniß, ohne daß die Kranken
irgend wie mit Arsen zu thun haben. Das Aufhören die-
ser Erscheinungen nach Entfernung des arsenhaltigen
Stücks ist, wie der Beweis ex juvantibus et nocentibos,
nur dann von einer gewissen Sicherheit, wenn er wieder-
holt geliefert wird. In der Vergiftungsgeschichte mit
dem Schlafsophs ist dieser Beweis allerdings so häufig er-
bracht, die Symptome sind an verschiedenen Individuen
•eingetreten, sie haben sich jedesmal bei ganz Gesunden
nach der ersten Nachtrahe auf der inoriminierten Lager-
stelle eingestellt, daß wir hier keinen Zweifel hegen, ob-
schon der Nachweis des Giftes nur in dem Möbelzeuge,
nicht aber in den Secreten der Vergifteten geliefert wurde.
Dieser letztere Nachweis würde in dem angeblich durch
den Brüsseler Teppich veranlaßten Vergiftungsfalle unseres
Erachtens durchaus notbwendig sein, um die Diagnose za
sichern, Wir sind freilich nicht der Ansiebt, daß die
Verstäubung irgend eines anderen Farbstoffes des bunten
Teppichs mit den Wollpartikelchen die Krankheitserschei-
nungen bedingt habe, und namentlich dürfte bei der Un-
schädlichkeit relativ großer Mengen von Kupferverbindun-
gen den letzteren kein Antheil an der Erkrankung beige-
legt werden können. Aber, selbst wenn es sich um Ar-
senicismus chronicus bandelt, macht der Umstand, daß eine
zweite in demselben Schlafraume befindliche Person nioht
in gleicher Weise erkrankte, es wahrscheinlich, daß eher
die Wohnräume als der Schlafraum den Grund za der
1120 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 35.
Affection legten. Jedenfalls aber können wir, selbst zu-
gegeben, daß der Teppich die Ursache war, eine aas dem
Falle herzuleitende Berechtigung zur Kritik der neuesten
Kundgebung des Schwedischen Medicinalcollegiums nicht
erblicken. Die Forderung, daß alle gefärbten Zeuge voll-
kommen arsenfrei sein sollen, ist eine übertriebene und
die Interessen der Fabrikation und des Handels derartig
schädigende, daß sie nicht aufrecht erhalten werden kann.
Ist der in Rede stehende Fall ein solcher von chronischer
Arsen Vergiftung, so kann es sich eben nur um eine jener
körperlichen Prädispositionen handeln, welche wir mit
den Namen Idionsynkrasie belegen. Für solche besondere
Individualitaten kann man aber gewiß nicht das Interesse
vieler Anderer schädigende gesetzliche Schutzmaßregeln
fordern. Wir erinnern an die zum Schutze des Publikums
gesetzlich festgestellten Maximaldosen für heroisch wir-
kende Medicamente. Wollte man dieselben nach den
Idiosynkrasien gegen einzelne Stoffe normieren, so würde
man zur Angabe von Quantitäten gelangen, welche dem
Arzte und Apotheker bei ihrer Thätigkeit mannigfache
Vexationen brächten, ja wenn man in Analogie mit der
Kjellberg'schen Forderung die heroischen Medicamente
gesetzlich behandeln wollte, so müßte man den Gebrauch
mehrerer der wichtigsten überhaupt untersagen. Für die
Abwehr der chronischen Arsenvergiftung von nicht prä-
disponierten Individuen sind aber die vom Medicinalcol-
legium neuerdings aufgestellten quantitativen Normen des
zulässigen Arsengehalts von Zeugen, Tapeten u. s. w. nach
unserm Ermessen vollkommen ausreichend undwirmöoh- '
ten glauben, daß das Sophazeug inKjellbergs einem Ver-
giftungsfalle einen so reichlichen Arsengehalt liefern mußte,
daß dasselbe nach den schwedischen Gesetzen dem Ver-
kaufe entzogen worden wäre.
Wenn wir den Inhalt der Hygiea und der Verhand-
lungen der Gesellschaft der Schwedischen Aerzte im Jahre
1879 überblicken, so kann uns nicht entgehen, wie die
älteste der bestehenden medicinisohen Zeitschriften auch
jetzt noch, wo die periodische Literatur Schwedens sich
in Analogie mit den Verhältnissen in Deutschland all-
jährlich um neue Organe mehrt, an Reichhaltigkeit und
Mannigfaltigkeit nichts zu wünschen übrig läßt und dem
inländischen und ausländischen Arzte Belehrung in vollem
Maße gewährt. Th. Hnsemann.
Für die Redaction verantwortlich : R Behnisch, Director d. Gott. gel. Anz.
Commissions -Verlag der JHetericK sehen Verlags- Buchhandlung.
Druck der Dieterich! sehen Univ.- Buchdruckerei ( W. Fr. Kaestnerh
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1121
Gtfttingische
gelehrte Anzeigen
anter der Aufsicht
der K0nigl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück 36. Z& 8. September 1880.
Inhalt: Urkunden rar Geschichte Italiens im Mittelalter. Yon B.
Vmkdnvmn. — N. Porter, Physiological Metaphysics. Yon 0.
Ttichnüäer. — 0. ZÖckler, Die Lehre Tom Urständ des Menschen.
Ton Fr. ZMsfcrvtocL — J. Baechtold, Das giftokhaft* Schiff yon
Zürich. Von K. Qoedeke.
s Eigenmächtiger Abdruck von Artikeln der Gott. gel. Anz. verboten as
Urkunden zur Geschichte Italiens im Mittelalter.
I diplomi della cattedrale di Mes-
sina , raccolti da Antonino Amieo e pubblicati
snlla fede del codice della bibhoteea comunale
di Palermo per cnra di Baffaele Starrabba.
Fase. I— IV. Palermo 1876— 78. 256 p. gr.8°.
Memorie storiche Agrigentine per
l'arv. Giuseppe Picone. Memoria sesta snl
periodo della monarchia. Parte prima. Gir-
genti 1873. p. 449—568. I— CXXXVI. kl. fol.
Le carte, che si conseryano nello archirio
del capitolo metropolitano della citti di
Trani (dal IX. secolo fino all1 anno 1266),
pnbbl. da Arcangelo di Goacchino Pro logo.
Barletta 1877. 320 p. 8°.
Saggio di codice diplomatico for-
mato suüe antiche scritture delT arch i vi o di
71
1122 Gott gel. Anz. 1880. Stück 36.
stato diNapoliper Camillo Minieri-Riccio.
Voll. (964-1285). Napolil878. 324p. gr.8°.
II über poteris della citti e comune
di Brescia e la serie de' suoi consoli e po-
destä dalF anno 969 al 1438 per cura di An-
drea Val entin i. Brescia 1878. 223 p. 8°.
Analecta Vaticana edidit Dr. Otto
Posse. Oenoponti 1878. X, 219 p. 8°.
Acta pontificum Romanorum ine-
dita. I. — Urkunden der Päpste vom J. 748
bis zum J. 1198 gesammelt und herausgegeben
von J. v. Pflugk-Harttung (Julius Harttung).
Erster Band, 1—2. Abth. Tübingen 1880. VIII,
388 p. kl. fol.
Im Folgenden greife ich eine Anzahl von
den vielen Urkundenpublikationen heraus, mit
welchen die Geschichte des italischen Mittel-
alters in den letzten Jahren bedacht worden ist
und von denen doch die eine oder die andere
bei uns weniger Aufmerksamkeit gefunden ha-
ben mag, als sie meines Erachtens verdient
Ich stelle dabei an die Spitze eine Publikation
der überaus rührigen Societa Siciliana di Storia
Patria zu Palermo, deren umfassender Thätig-
keit nicht genug Anerkennung zu Theil werden
kann. In der kurzen Zeit ihres Bestehens hat
sie nämlich außer dem Archivio storico Siciliano,
das schon in einer stattlichen Reihe von Bän-
den vorliegt und viele Aufsätze und kleinere
Mittheilungen von bleibender wissenschaftlicher
Bedeutung enthält, eine nicht minder umfäng-
liche Reihe von Bänden mit Documenti per ser-
vire alia storia di Sicilia gefüllt, welche in die
vier Abtheilungen vertheilt sind: 1. Tabulari. —
2. Consuetudini e capitoli municipali (von AI-
camo und Castronuovo). — 3. Epigrafia (darin:
I diplomi della cattedrale di Messina. 1123
Le epigrafe ardbiche di Sic. illustr. dal prof.
Mich. Amari). — 4. Diplomatics (darin: Cor-
rispondenza di Carlo cTAragona con S. M. Fi-
lippo II, pubbl. da Stef. Vitt. Bozzo). Uns
soll hier nor die erste Serie beschäftigen, von
derem erstem Bande bisher vier Hefte erschie-
nen sind, welche eine Art Urkundenbuch des
Erzbisthams Messina enthalten. Ich sage aber
absichtlich: eine Art, — denn von dem, was
man bei nns von einem solchen Urkundenbuche
verlangen würde, ist diese Publikation allerdings
einiger Maßen verschieden. Wir müßten zu-
nächst als selbstverständlich voraussetzen, daß
der Herausgeber sich bemüht haben werde,
Alles zu sammeln, was von einschlagenden Ur-
kunden irgendwie erreichbar ist, während Baron
Baff. Starabba sich begnügt hat, eine ältere
Sammlung des Anton. Amico abzudrucken, wel-
che in der Handschrift: H. 4 der Stadtbibliothek zu
Palermo schon fertig vorlag. Amico freilich, von
dem jene Bibliothek auch noch andere werth volle
Collectaneen besitzt, hat wohl alles zusammen-
geschrieben, dessen er für seine Zeit habhaft
werden konnte, und es ist immerhin ein Ver-
dienst sowohl der Societä als auch des H.Star-
rabba diese ebenso fleißige als sorgsame Arbeit
der Forschung zugänglich gemacht zu haben,
welche allen Grund hat für diese Gabe von bis-
her 240 Urkunden aus den Jahren 1087 — 1429
dankbar zu sein und ihre Fortsetzung lebhaft
zu wünschen, besonders da höchst wahrschein-
lich die Originale dieser Urkunden zu Grunde
gegangen sind. Aber ich meine, aus den rei-
chen und wohlgeordneten Beständen des Staats-
archivs und aus den anderen Handschriften der
Stadtbibliothek zu Palermo würde noch manche
weitere Urkunde zu gewinnen gewesen sein;
71*
1124 Gott gel. Anz. 1880. Stück 36.
welche Amico entgangen ist, wie z. B. ans letz-
teren (EL 12. II p. 131) ein wichtiger Brief
Innocenz III. an den Erzbischof Berard von
Messina 1211 inni 10. Und da von der Aus-
gabe diejenigen Stücke nicht aasgeschlossen
wurden, welche schon anderweitig gedruckt wa-
ren, hätte es sich wohl empfohlen, auch die
Drucke etwas auf solche Stücke zu durchmustern,
welche bei Amico fehlten. Ich notiere von sol-
chen, die mir im Augenblick aufstoßen:
Constanze I. 1198 apr. 30 bei Gallo, ann.
della cittä di Mess. II, 77. 78.
Innocenz III. 1202 iuni 19 in Innoc. HL
epist. V, 60.
Innocenz III. c. 1202 sept bei Pirrns, Sic.
sacra p. 402.
Innocenz III. c. 1203 in Innoc. epist VI, 52.
Friedrich IL 1219 nov.7 im Tabul. reg. capell.
Panorm. nr. 27 (bei Pirrus p. 1360 irrig
zu 1235) u. s. w.
Annähernd vollständig ist dieses Urkunden-
buch des Erzbisthums Messina also nicht, aber
trotzdem, ich wiederhole es, eine immerhin dan-
kenswerte Leistung, in deren Verdienste sich
der alte Sammler und der neue Herausgeber
theilen, welcher letztere für anscheinend correk-
ten Druck gesorgt und jedem Stücke ein den
Inhalt genügend bezeichnendes kurzes Regest
mit den, soviel ich sehe, richtig reducierten Da-
ten vorausgeschickt hat. Angaben über die
Provenienz sind nicht gemacht worden, weil
sich solche in Amico's Handschriften wohl nicht
finden; willkommen aber wäre der Nachweis
etwaiger früherer Drucke gewesen.
Als Separatabdruck aus dem Arch. stör. Sic,
Nuova ser. III. fasc. 3 ist erschienen : Diplomi
Svevi inedüi. Lettera al dr. Ed. Winkelmann
Picone» Memorie storiche Agrigentine. 1125
del »ac. Isidoro CarinL Palermo 1879. 19 p.
8°. Dieser Brief des Domherrn and Staatsar-
chivars Carini wurde durch meine Bitte um Ab-
schrift oder baldige Bekanntmachung einiger Ur-
kunden der staufischen Zeit veranlaßt, welche
mir bei meinem Besuche Palermo's noch nicht
vorgelegen hatten. Herr C. theilt nun hier 4
Urkunden Friedliche II. und eine Manfred's
mit und fügt Notizen über noch mehrere Ur-
kunden dieser beiden Herrscher und Konrads IV.
hei, welche erst jüngst in das Staatsarchiv ge-
kommen sind und uns hoffentlich nicht eu lange
vorenthalten bleiben werden.
Von den Memorie storiche Agrigentine des
Herrn Picone sind mir die fünf ersten Ab-
theilungen nicht zugänglich geworden. Die
sechste Abtheilung soll die ganze Zeit von der
Eroberung Qirgenti's durch die Normannen bis
an das Ende des 18. Jahrhunderts umfassen und
die umfangreiche und obendrein elegant aus-
gestattete Arbeit beschließen, welcher wenige
deutsche Städte von der Bedeutung des heuti-
gen Girgenti etwas ähnliches an die Seite zu
stellen haben werden. Es liegt von dieser
sechsten Abtheilung aber erst ein Heft vor, wel-
ches die Stadtgeschichte bis in die Zeit der er-
sten savoyischen Herrschaft auf der Insgl fort-
führt; beigegeben sind demselben theils als
selbständiger Codice diplom. Agrig., theils zur
Begründung der vorangehenden Erzählung 80
Urkunden aus den Jahren 1093 bis 1784. Die
Urkunden der normannischen und staufischen
Zeit — es sind ihrer nur sieben — erscheinen
hier freilich nicht zum ersten Male, sind dafür
aber von sehr schätzbaren Erörterungen beglei-
tet; die späteren Urkunden sind dagegen aus-
nahmlos verschiedenen Handschriften entnom-
1126 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 36.
men. welche theils das Kapitelarchiv, theils die
Staatbibliothek von Girgenti (Bibl. Luchesiana)
bewahrt. Wenn wir nun in Betracht ziehen,
wie sehr der fleißige Verfasser der Memorie,
ein vielbeschäftigter Advokat, in jener sicilischen
Provinzialstadt aller jener literarischen Htilfs-
mittel entbehrt, deren Besitz uns als etwas
selbstverständliches erscheint, so werden wir
seine Leistung als eine höchst achtungswerthe
bezeichnen müssen und nur wünschen können,
daß ihm auch die Vollendung derselben be-
schieden sein möge. Vielleicht kann er dann,
da nachträgliche Ergänzungen nicht ausbleiben
werden, die Notiz verwerthen, daß 1225 bei
Girgenti ein „cannetum" erwähnt wird am Aus-
gange der „cava gigantum iuxta flumen" (Pa-
lermo, Bibl. com. Mss. F. 69. I. p. 401), oder
auch die für die Geschichte des Bisthums Gir-
genti interessante Urkunde von 1241, welche
ich in meinen Acta imperii inedita sec. XIII.
nr. 670 abgedruckt habe (aus Palermo, mss.
H. 6 p. 241).
Aufs Festland übergehend, wenden wir uns
der Arbeit des G. Pro logo in Betreff Trani's
zu. Derselbe giebt in der Vorrede zu seiner
Ausgabe der im dortigen Kapitelarchive be-
wahrten Urkunden zunächst allerlei Auskunft
über die merkwürdigen Schicksale dieses Ar-
chivs, welches leider viele Einbußen erlitten hat,
am Meisten wohl bei der Pest von 1656 durch
das kindische Verfahren der zur Desinficierung
aller Papiere eingesetzten „Deputati delle scrit-
turea, welche dieselben ins Meer legen ließen,
bis nach ihrer Meinung der Krankheitsstoff ge-
nügend vertilgt war, selbstverständlich aber
meistens auch die Schrift selbst. Eine theil-
weise Ergänzung der Lücken kann aus zwei
Le carte della citta di Trani. 1127
die UrkandeB der Stadt enthaltenden Copial-
btichern des 17. Jahrhunderts beschafft werden,
über deren jetzigen Aufbewahrungsort hier nichts
gesagt ist, während sie sich zur Zeit meiner
Anwesenheit in Trani im Besitze des Gay.
Vischi befanden. Ich bemerke bei dieser Ge-
legenheit, daß das in diplomatischer Beziehung
weniger wichtige der beiden (s. Neues Archiv
V, 18), nämlich die Zibaldoni des Vincenzo
Manfredi, die Quelle gewesen ist, aus welcher
Forges-Davanzati das Fragment des sog. Ano-
nymus Tranensis mitgetheilt hat ; leider sind die '
betr. Blätter und viele andere außerdem jetzt aus-
gerissen und es gelang mir nicht sonst irgend eine
Spar von jenem Anonymus zu entdecken, der übri-
gens nicht ganz unbedenklich scheint. Im weiteren
Verlaufe der Vorrede macht H. Prologo auf
einige Punkte sowohl der Stadt- als auch der
Landesgeschichte aufmerksam, welche durch die
von ihm gebrachten Urkunden beleuchtet und
berichtigt werden, und er verspricht über diesel-
ben noch besonders zu handeln. Ob es inzwi-
schen geschehen ist, weiß ich nicht und ich
hebe deshalb heraus, daß durch nr. 57 — ein
Mandat König Wilhelms II. vom 15. März 1167
— nicht blos die Ursprungszeit von lib. III.
tit. 31 der fridericianischen Constitutionen sicher
gestellt, sondern auch der Text des Gesetzes
wesentlich berichtigt wird, ein Ergebniß, wel-
ches deshalb für die künftige kritische Ausgabe
der Const, von Bedeutung ist, weil nun auch
der bisher als älteste und beste Textgrundlage
derselben angesehene cod. Paris. 4625 sich als
corrupt erweist. Wieder in anderer Beziehung
ist nr. 61 — Mandat Wilhelm's II. vom 16.
März 1170 — interessant, indem wir aus dem-
selben ersehen, daß Const. Ill, 83. I, 45 und
1128 Gott gel Anz. 1880. Stück 36.
I, 68 in dieser Reihenfolge ursprünglich eine
einzige zusammenhängende Constitution über
den Gerichtsstand der Geistlichen bildeten, die
aber dem bei der uns vorliegenden Redaktion
der Constitutionen befolgten Eintheilungsgrunde
zu Liebe willkürlich in drei Stücke zertrennt
worden ist.
Was die von H. Prologo publicierten Ur-
kunden selbst betrifft, so gehen dieselben von
834 bis an das Ende der staufischen Zeit, in
122 Nummern, denen noch vier undatierte fol-
gen und als nicht einreihbar nr. 127, eine Ur-
kunde Friedrichs II., die aber nach ihren Da-
ten: Fogie ultimo martii, octave indictionis —
mit Sicherheit ins Jahr 1250 zu setzen ist, sich
übrigens auch bei Gori, Arch. stör, di Borna a.
III. vol. II p. 75 findet. Die Urkunden sind,
wie das in Italien ziemlich allgemein üblich ißt,
eigentlich nur abgedruckt, nicht herausgegeben,
und die Thätigkeit des Editors, der übrigens
sowohl auf die Abschriften als auch auf die
Leitung des Druckes mehr Sorgfalt hätte ver-
wenden sollen, beschränkte sich auf das Vor-
setzen von Jahreszahlen und gelegentliche Be-
merkungen über die etwa vorhandenen Siegel.
Lob verdient das sonst in italienischen Publi-
kationen nur zu oft fehlende Orts- und Perso-
nenregister und auch die den Schluß des Gan-
zen machenden Regesten sind ganz zweck-
mäßig gearbeitet, indem wenigstens hier ältere
Drucke, obwohl lange nicht vollständig, ange-
merkt sind. Eine nicht unbedeutende Anzahl
von Urkunden hatte kurz vorher Giov. Beltrani
im Arch. stör, di Borna 1877 publiciert, wie
Prologo selbst nachträglich erfuhr. Von kaiser-
lichen und königlichen Urkunden für das Erz-
bisthum und die Stadt Trani aus den Jahren
Saggio di codice diplom., per Mioieri-Riocio. 1129
1198—1266 ist meines Wissens jetzt nichts mehr
angedruckt
Während EL Prologo den gesammten Ur-
knndenschatz der Domkirche von Trani bis zum
Jahre 1266 zugänglich macht, bietet H. Garn.
Ifinieri-Riccio in seinem Saggio nur eine durch
seine früheren und dann wieder, wie er sagt,
aufgegebenen Arbeitspläne bedingte Auswahl
ans den fast unerschöpflichen Massen des Staats-
archivs zu Neapel, welches unter seiner Ver-
waltung steht. Ein bestimmter Gesichtspunkt,
nach welchem die Auswahl getroffen worden,
läßt sich nicht erkennen ; maßgebend dürfte bei
derselben nur die Absicht gewesen sein, wirk-
lich Ungedrucktes zu bringen. Der erste Band
umfaßt nur Urkunden aus den Jahren 964 — 1285,
leider in etwas unbequemer Anordnung, indem
der Hauptreihe der Dokumente von p. 221 an
noch ein Appendix folgt, welcher 41 Urkunden
aus den Jahren 1130—1162 nachträgt. Die
Unbequemlichkeit des doppelten Nachschlagens
hätte dem Benutzer einiger Maßen erspart wer-
den können, wenn wenigstens in den am Schlüsse
stehenden Regesten der Anhang chronologisch
der Hauptreibe eingeordnet worden wäre, statt
ihr auch hier nachzuhinken ; sie kann uns aber
nicht abhalten, anzuerkennen, daß die Mitthei-
lungen selbst sehr werthvoll sind. Wir erhalten
hier z. B. außer einigen Urkunden normanni-
scher Könige auch vier Kaiserurkunden: von
diesen sind nr. 18 Constanze I. 1198 april für
Chieti, nr. 19 Friedrich IL angeblich 1215
april 16 für die Johanniter und nr. 23 Eon-
rad IV. 1252 Febr. fttr die Tochter des Guill.
Sarracenns hier zum ersten Male erschienen
und nurnr. 20 Friedrich IL 1241 ian. (= 1242)
schon bei Huill.-Br6h.VI, 22 gedruckt gewesen,
1130 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 36.
während ich jene nr. 19 nach besserer Ueber-
lieferung und mit berichtigten Daten (1215
März 17) jetzt in Acta imp. inedita sec. XIII,
nr. 127 geben kann. Wie sonst das Verhältnis
zwischen Gedrucktem und Ungedrucktem bei
den zahlreichen und sehr interessanten Privat-
und Gerichtsurkunden der älteren Zeit und dann
bei den Urkunden des ersten Anjou ist, welche
die Hauptmasse ausmachen, das vermag ich
nicht zu sagen. Man wird jedoch. EL Minieri
darin beistimmen müssen, daß auch dann, wenn
das eine oder das andere Stück doch schon
früher irgendwo gedruckt sein sollte, der Wie-
derabdruck ganz nützlich sein kann, und man
wird gerade auch bei den Urkunden CarFs I.
in Betracht ziehen, daß es bei der absolut un-
übersichtlichen Anlage von del Giudice's Codice
Angioino und dem völligen Mangel von Regi-
stern zu demselben fast unmöglich ist, festzu-
stellen, ob ein Stück etwa auch dort schon vor-
liegt. Eben deshalb aber darf man wohl H.
Minieri als dem Leiter des Staatsarchivs den
Wunsch aussprechen, daß dort darauf verzichtet
werden möge, Eins oder das Andere, so werth-
voll es auch sein mag, aus der stattlichen Reihe
der Registerbände der Anjou und aus den zahl-
reichen von ihnen erhaltenen Originalen heraus-
zugreifen und zu publicieren. Dagegen möge
man sich entschließen, etwa nach der Weise
Böhmens, nur wegen der Ueberftille des Stoffs
in noch knapperem Zuschnitte, endlich einmal
Regesten Carl's I. zusammenzustellen, in denen
auch die etwa schon vorhandenen Drucke an-
zuführen wären. FL Minieri, dessen zahlreichen
Arbeiten über Carl I. wir vielfache Belehrung
verdanken, wird ohne Zweifel selbst schon je-
nen Mangel schmerzlich empfunden haben und
r
Saggio di oodice diplom., per Minieri-Riccio. 1 131
er wird sieh durch Beseitigung desselben nicht
Mos bei seinen Landsleuten ein dauerndes Denk-
mal setzen und die Erforschung eines der wich-
tigsten Abschnitte italienischer Geschichte erst
wirklich möglich machen. Denn trotz Allem, was
über Carl T. publiciert worden ist, meistens anch
nur über die ersten Regierungsjahre desselben, was
wissen wir im Grunde von ihm, was von seinem
sehr ausgebildeten Verwaltungssysteme ? Die
vorgeschlagene Arbeit ist, ich gestehe es, eine
sehr umfängliche, aber sie ist auch eine sehr
lohnende und sie kann, wie die Dinge liegen, ^
kaum von anderen gemacht werden als von Be-
amten des Staatsarchivs, welche Hr. Minien ja
auch schon für diese Publikation zur Anferti-
gung der Abschriften u. s. w. herangezogen bat.
Im Einzelnen hätte ich bei seiner Ausgabe
etwa Folgendes noch zu bemerken. Nr. 22 ist
nicht ein Akt des Großjustitiars (magister iu-
stitiarius) des Königreichs, wie er in der Ueber-
scbrift angiebt, sondern des Provinzialjustitiars
von Principato und Benevent. In nr.23 beruht
der Name des Kanzlers Guillelmus de Ocra un-
zweifelhaft auf einem Lesefehler: derselbe heißt
bekanntlich Gualterius. Nr. 67 und 74 sind
nur zeitlich getrennte Ausfertigungen desselben
Mandats, welches sämmtliche Schenkungen Frie-
driche IL „postquam in Lugdunensi concilio
sententiam depositionis excepit" und ebenso die
seiner Söhne Konrad und Manfred für ungültig
erklärt. Nr. 127 und 145 sind ebenfalls iden-
tisch, zwei Ausfertigungen derselben Weisung
über Beamtencontrolle in Betreff verschiedener
Provinzen. — Aus dem reichen Inhalte der
Ausgabe hebe ich zum Schlüsse noch Einiges
hervor. Höchst interessant sind gleich die
Steuerrollen nr. 35—37. Sie beziehen sich auf
1132 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 36.
die 1268/9 im Ansätze von 1 augustalis für je-
des foculare und je 2 Monate zur Erhebung ge-
kommene allgemeine Beichssteuer und sie geben
den Betrag an, welcher von den einzelnen
Städten und Ortschaften in Terra di Lavoro,
Molise, Valle del Crati, Terra Giordana und
Terra di Bari gezahlt worden ist Abgesehen
von dem Maßstabe, welchen diese Bollen zur
Schätzung der Bedeutung der einzelnen Ort-
schaften in jener Zeit bieten, werden sie auch
für die mittelalterliche Geographie mit Nutzen
verwerthet werden können. Aber sollten die
Steuerrollen der anderen Provinzen des König-
reichs nicht auch im Begistro Angioino erhalten
und der Mittheilung werth sein? — Zu beach-
ten ist für die Verehrer des h. Thomas von
Aquino, daß in nr. 106 von 1272 „venerabilis
et religiosus vir fr. Thomas de Aquino ord.
pred.a als Testamentsexecutor des Bogerius de
Aquila erwähnt wird. — Für die Geschichte des
Münzwesens ist das Mandat nr. 140 vom 18.
iuni 1276 von Wichtigkeit, welches die Prägung
neuer Denare in Brindisi und Messina anordnet
und die Abbildungen der genehmigten Stempel
enthält, durch welche die beiden Prägestellen
sich gut unterscheiden lassen werden. — Zur
Geschichte der sicilischen Constitutionen endlich
bringt das Mandat nr. 160 vom 25. aug. 1277
einen willkommenen Beitrag, insofern hier eine
ganze Beihe von Constitutionen publiciert wird.
Unter diesen ist auch eine von 1268 nov. 14,
welche, wie ich in den Acta imp. p. 741 ge-
zeigt habe, zu der bisher nicht beachteten um-
fassenden Gesetzgebung gehört, die in dieser
Zeit von einem Hoftage in Trani aus erfolgte.
Mögen diese Andeutungen genügen, um darauf
aufmerksam zu machen, daß das bisherige Wis-
II liber poteris di Brescia. 1133
sen durch H. Minieri nach den verschiedensten
Seiten hin wesentlich erweitert wird.
Von bedeutenderen urkundlichen Publikatio-
nen. Oberitaliens nenne ich für dieses Mal nur
die von Andrea Valentini besorgte Ausgabe
des lAber poteris yon Brescia. Dieses große
Stadtbuch ist für die Reichsgeschichte schon so
oft benutzt worden, daß für dieselbe aus der
Ausgabe nicht mehr viel zu gewinnen sein wird,
nachdem sowohl die Eaiserurkunden als auch
die Akten der wichtigsten lombardischen Ver-
bandlungen, an welchen Brescia betheiligt war,
daraus längst gedruckt sind, die Meisten in
lacker's Forsch. Bd. IV. Darum behält die
Arbeit des H. Valentini aber doch ihren Werth,
da hier zum ersten Male der ganze Codex zu-
gänglich gemacht ist und die eigentliche Muni-
eipalgeschichte noch genug aus demselben be-
reichert werden kann. Auf eine ausführliche
Beschreibung der 3 Handschriften, in welchen
das Stadtbuch vorliegt, folgt p. 26—122 „In-
dice dei documents, welche unter 209 Nummern
theils in Auszügen, theils aber auch vollständig
mitgetheilt und p. 123 — 132 von einem „In dice
eronologieo" begleitet sind. Sie umfassen die
Jahre 1000 — 1286 (ein einziges gehört dem
Jahre 1311 an), bei Weitem die Mehrzahl
stammt jedoch aus der ersten Hälfte des 13.
Jahrhunderts und darunter sind wieder die wich-
tigsten diejenigen, welche sich auf das Verhält-
niß der lombardischen Städte zu Friedrich II.
beziehen, aber wie gesagt, schon früher ge-
druckt waren. Aus diesen Urkunden, leider
aber auch aus einigen sehr bedenklichen Chro-
niken von Brescia — über welche Wttstcnfeld's
Urtheil wohl mehr Berücksichtigung verdient
hätte als der etwas phunpe Angriff des EL Ol-
1134 Gott, gel. Anz. 1880. Stück 36.
dofredi-Tadini auf die deutschen Kritiker, die
„facchini della letteratura" (p. 143) — stellt Va-
lentini dann p. 132 — 210 die Consuln, Podesta,
Vicare und Capitane von Brescia bis 1438 zu-
sammen, ein sehr dankenswerthes Unternehmen,
dem Nachahmung von Seiten der übrigen grö-
ßeren Städte Oberitaliens zu wünschen ist. Den
Schluß seiner fleißigen Arbeit macht ein vom
abb. Zamboni am Anfange dieses Jahrhunderts
angelegtes Verzeichniß der damals in zwei eiser-
nen Kisten im Dome bewahrten städtischen Ur-
kunden, zu welchem der Herausgeber jedes
Mal, wo er es konnte, den jetzigen Aufbewah-
rungsort (meist in der Bibl. Quiriniana oder im
Municipio) beigefügt hat, und es würde wenig
zu wünschen übrig bleiben, wenn nur dem Gan-
zen Begister beigegeben wären und wenn der
Abdruck der Urkunden etwas mehr den mo-
dernen Anforderungen an solche Ausgaben an-
genähert wäre.
Unrecht aber wäre es, wollte man gerade
H. Valentini aus der von ihm gewählten Be-
handlung des Textes, aus dem doch sehr will-
kürlichen Gebrauche großer und kleiner Buch-
staben, aus der weder alten noch modernen
Interpunktion, der nicht immer vorgenommenen
Auflösung der Abkürzungen u. s. w. einen be-
sonderen Vorwurf machen. Das sind vielmehr
Uebelstände, an welchen sämmtliche italienische
Urkundenausgaben der neueren Zeit fast ohne
Ausnahme kranken, und wer öfters mit solchen
zu thun gehabt hat, wird sich kaum noch wun-
dern, in ihnen derartigen Sätzen zu begegnen,
wie z. B. bei Minieri p. 33: „Ad cuius restitu-
tionis. Confirmationis et gratie nostre memo-
riam et stabilem firmitatem, presens Privilegium
per mag. Bodulfum de podiobonizi notarium, et
r
Analecta Vaticana ed. Posse. 1135
Meiern nostram Scribi. et nostre Maiestatis Si-
gillo Jussimus Communiri. Was soll mit der
Wiedergabe dieser wüsten Sehreibart eines Co-
pials von 1550 für eine Urkunde Ton 1252 ge-
wonnen werden? Die italienische Regierung
hat bei den größeren Archiven Palaeographen-
Schnlen gegründet und ich meine, es müßte die-
sen doch ebenso gut möglich sein, in diesen
eine durchgreifende Wirkung zu üben und Ord-
nung zu schaffen, als der ecole des chartes.
In Deutschland sind wir freilich auch noch nicht
zu vollkommener Uebereinstimmung in unseren
Ausgaben gelangt und es wird, namentlich bei
Publikationen, welche von Privaten besorgt wer-
den, schwer sein, mit einem Male den Anfor-
derungen Sickel's und dem Vorbilde der neuen
Ausgabe der Diplomata in den Monumenta Ger-
maniae in allen Stücken nachzukommen. Aber
in jenen elementaren Dingen ist doch für alle
Veröffentlichungen, welche wissenschaftliche Gel-
tung beanspruchen, Einverständniß schon er-
zielt. Ich denke daher, daß es unsern südlichen
Nachbarn, welche jetzt das Feld mittelalterlicher
Quellen so rüstig bearbeiten, nicht allzu schwer
fallen könnte, ihre Ausgaben in ein etwas
menschlicheres Gewand zu kleiden und das Ver-
ständnis des Inhalts etwa in dem Maße zu er-
leichtern, wie es z. ß. in Posse's Acta Vati-
cana ohne allen Schaden für die Sache ge-
schehen ist und tagtäglich bei uns geschieht.
Das Buch des Dresdener Staatsarchivars Dr.
Posse ist durch die Weiterführung des Cod.
dipl. Saxoniae regiae veranlaßt, für welche es
sich als noth wendig erwies, auch die römischen
Sammlungen heranzuziehen. Indem der Ver-
fasser namentlich die für Rainald's Annales
ecclesiastici gefertigten und in der Vallicelliana
1136 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 36.
bewahrten Abschriften aus den Registerbänden
des Vatikanischen Archivs durcharbeitete, erga-
ben sich ihm so beträchtliche Ergänzungen und
Berichtigungen zu Potthast's Regesta pontificum,
daß man für die Mittheilung derselben nur
dankbar sein kann, obwohl sie Mos die Jahre
1254 — 1287 betreffen und in denkbar knappe-
ster Form gehalten sind. Es sind 1411 Re-
gestennummern, welche die erste Abtheilung der
Acta Vaticana (p. 1—116) ausfüllen. Hr. Posse
hat seinen Auszügen stets die genaue Bezeich-
nung des betreffenden Archivbandes beigefügt,
aus welchen die von ihm in der Vallicelliana
benutzte Abschrift stammt, und rühren diese
Angaben, wie es nach der ziemlich dunkel ge-
haltenen Vorrede den Anschein hat, von den
Beamten des Vatieanischen Archivs selbst her,
so muß man in diesem Entgegenkommen einen
wichtigen Fortschritt begrüßen, der früher oder
später dazu führen kann, daß man wenigstens
für jene entlegenen Zeiten den Forschern die
Benutzung des Archivs selbst verstattet. — Der
zweite Theil des Buches (p. 117—194) enthält
Abdrucke verschiedener päpstlicher Erlasse aus
den Jahren 1255 — 1372, meistens solcher, welche
irgendwie eine Beziehung auf Thüringen nnd
Sachsen haben, obwohl sich auch Allerlei findet,
das für die allgemeine Reichsgeschichte von
Interesse ist, wie z. B. die Erlasse Clemens IV.
gegen Conradin. Ich bemerke bei dieser Ge-
legenheit, daß die von mir einst in Forsch, z.
deutschen Gesch. XV, 284 nach einem Berliner
Formelbuche mitgetheilte Bulle dieses Papstes
gegen Conradin, welche ich in den oct. 1267
setzen zu müssen glaubte, nun durch Posse's
Regesten als zum 18. nov. 1266 gehörig erwie-
sen ist, und so wird, je weiter die Erforschung
Acta pontificum Bom., ed. v.Pflngk Harttung. 1 137
dieser Zeiten eindringt, auch sonst wohl sich
Anlaß bieten, das Verdienst des Heransgebers
nm die Bereicherung und Erweiterung unsers
Wissens anzuerkennen. Ein sorgfältig gearbei-
teter Index nominum erleichtert die Benutzung
des Buches.
Geht die Publikation Posse's wenigstens mit-
telbar auf das päpstliche Archiv selbst zurück,
so hat H. Dr. v. Pflugk-Harttung in seinen
Acta pontificum Romanorum umgekehrt den
Versuch gemacht dasselbe so zu sagen zu er-
gänzen, die verlorenen Bestandtbeile desselben
aus den Zeiten vor der Wahl Innocenz1 III.
(1198), mit welchem die erhaltenen Register-
bände anheben, überall in der Welt aufzusuchen,
diplomatischer Kritik zu unterwerfen und, soweit
sie noch nicht genügend gedruckt sind, nach
und nach in mehreren Serien zum Abdrucke zu
bringen. Denn darin muß man ihm beistimmen,
daß es ganz unfruchtbar gewesen wäre, mit der
Ausgabe zu warten, bis sämmtliche einschla-
gende Urkunden zusammengebracht worden wä-
ren. Die in die Welt ausgegangenen päpstli-
chen Urkunden bilden eben eine Masse, die
sich niemals erschöpfen läßt, während auf dem
von dem Herausgeber beliebten Wege das ihm
in jedem Augenblicke Zugängliche auch sogleich
der Wissenschaft nutzbar gemacht werden kann.
Wie das hier geschehen ist, darüber giebt ein
ausführliches Vorwort Rechenschaft und ich ver-
weise um so lieber auf dasselbe und auf die
Ausgabe selbst, je schwieriger es ist die Wieder-
gabe der diplomatischen Feinheiten in kurzen
Worten zu beschreiben und je weniger ich selbst
im Stande bin, das Verfahren des Herausgebers
an den von ihm benutzten Originalen zu prüfen,
welche in weit zerstreuten Archiven, namentlich
1138 Gott. gel. Anz. 1880. Stttck 36.
auch Frankreichs, hewahrt werden. Aber mir
scheint, daß die von ihm gewählte Methode der
Ausgabe selbst ziemlich hohen diplomatischen
Anforderungen entspricht, daß die Akribie in
der Behandlung der Einzelheiten, so weit ich
sehe, kaum etwas zu wünschen übrig läßt und
ebenso den Eifer des Herausgebers bekundet als
seine umfassende Kenntniß der Eigentümlich-
keiten der bisher arg vernachlässigten päpstli-
chen Diplomatik. (Vgl. zu nr. 56 das über das
Siegel des Gegenpapstes Clemens III. Gesagte).
Uebungen in der päpstlichen Diplomatik werden
diese Acta pontif. ganz vortrefflich zu Statten
kommen. Daß ferner die hier publicierten 453
Stücke auch für mancherlei andere historische
Zwecke reichliche Ausbeute gewähren werden,
ist selbstverständlich, obwohl sich dieselbe, so-
lange die verheißenen Spezialregister ausstehen,
schwer schätzen läßt, da jene Urkunden sich
auf sehr verschiedene Zeiten, Lokalitäten und
Personen beziehen, auch zum Theil dem Ge-
brauche der päpstlichen Kanzlei entsprechend
recht formelhaft sind. Ich möchte gerade aus
dem letzteren Grunde den Herausgeber zur Er-
wägung einladen, ob es sich bei der nächsten
Serie von Urkunden, die er in Aussicht stellt,
nicht mehr empfehlen dürfte, nur die, sei es in
diplomatischer Beziehung, sei es ihrem Inhalte
nach wirklich wichtigen Stücke in vollständigem
Abdruck zu bringen, bei den übrigen aber sich
mit einem Auszuge zu begnügen, der nur die
bezeichnenden Stellen in wörtlichem Anschlüsse
an die Vorlage wiedergiebt. Ich fürchte sonst,
daß die Masse des Stoffes tiberflüssig anschwel-
len und die bedeutende Arbeitskraft des Heraus-
gebers ohne rechten Vortheil für die Wissen-
schaft abnutzen möchte, nachdem derselbe sich
Acta pontificum Rom., ed. v. Pflagk-Harttung. 1 139
rasefa und, wie seine letzten Publikationen zei-
gen, mit Erfolg in dieses ihm früher fremde Ge-
biet hineingearbeitet hat. Was könnte allein
Italien für seinen Zweck noch beisteuern! Ich
bemerke das aber mit der stillen Hoffnung, daß
wenn der Herausgeber die Möglichkeit fände,
den nächsten Band der Acta pont. mit vorwie-
gend auf Italien bezüglichen Papsturkunden zu
Allien, die italiänischen Fachgenossen durch die-
sen ihnen näher liegenden Stoff auch auf die
demselben gebührende diplomatische Behandlung
aufmerksam werden könnten, welche bei ihnen trotz
guten Willens und aller solchen Publikationen wie
jenen Böhmer's, Ficker's, Sickers u. A. bereit-
willig gespendeten Lobsprüche noch so ziemlich
Alles zu wünschen übrig läßt. Wie sehr müßte
dadurch der wissenschaftliche Werth ihrer um-
fänglichen und im Uebrigen ganz verdienstli-
chen Leistungen auf dem Gebiete der Urkunden-
publikation erhöht werden!
Heidelberg. Winkelmann.
Noah Porter, Physiological Metaphysics;
or the apotheosis of science by suicide. A
philosophical meditation. — Princeton Review,
New York. November 1878. p. 916—944.
Da der Dilettantismus in der Philosophie
unter dem Namen Positivismus jetzt in Deutsch-
land reißende Fortschritte macht, so ist es nütz-
lich zur Orientierung der noch Unbefangenen,
wenn die Philosophen, welche die Geschichte
der Philosophie beherrschen, zuweilen einZeug-
72
*
1140 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 36.
niß ablegen über ibre Stellung zu den zeitge-
mäßen Strömungen. Ein solches Zeugniß und
zwar von schneidigster Schärfe des Urtheils und
von stolzer Festigkeit des Standpunkts haben
wir in der Abhandlung von Noah Porter. Por-
ter, Professor der Philosophie und Präsident des
Yale College in Connecticut, hat durch die Ge-
schichte der Philosophie einen sicheren Blick
zur Diagnose der verschiedenen zeitgenössischen
Strömungen in der Philosophie gewonnen. Er
erkennt sofort, daß die Männer, welche heutzu-
tage von der Naturwissenschaft und speciell
von der Physiologie aus einen Abstecher auf
die Philosophie gemacht haben, nur Fremdlinge
auf diesem Gebiete sind und in die Fußstapfen
der untergeordneten Richtung treten, die durch
Hobbes bekannt ist. Er hätte noch weiter zu-
rückgehen können ; denn Hobbes führt auf die
Epikureer zurück, und diese auf Demokrit und
die Sophisten, so daß geschichtlich betrachtet
der moderne Positivismus nichts anderes ist als
die mit Hülfe der modernen naturwissenschaft-
lichen Bildung umgeformte alte Sophistik des
Protagoras, welche durch die großen Patriarchen
der Philosophie, durch Sokrates, Plato und Ari-
stoteles, in Schatten gestellt wurde und in ge-
rechte Mißachtung kam. Gebildet durch die
philosophischen Lehren, welche durch diese gro-
ßen Denker für die menschliche Cultur gewon-
nen und durch mehr als zwanzig Jahrhunderte
als das Salz aller geistigen Bildung vererbt sind,
kann Porter nur mit Ironie den Bestrebungen
zusehen, die gegenwärtig wieder die positivisti-
schen Künste des Protagoras in Geltung bringen
wollen. So ist schon der Titel seiner Abhand-
lung geprägt durch die Ironie des Humors, wenn
er schreibt: „Physiologische Metaphysik oder
Noah Porter, Physiological Metaphysics. 1141
die Apotheose der Wissenschaft durch Selbst-
mord". Er nennt die Männer, welche auf den
falsch, d. h. materialistisch and sensaalistisch
verstandenen Begriff der Entwicklung pochen,
der Reihe nach her, die James Mill, John Stuart
Mill, Alexander Bain, John Tyndall, Thomas
H. Huxley, Erasmus Darwin, Herbert Spencer,
George H. Lewes und John Fiske. Die zuge-
hörigen Franzosen und Deutschen, welche mit
in diesem Strome schwimmen, erwähnt er nicht.
Alle diese hoffen die Apotheose der Wissen-
schaft zu erreichen, indem sie von den natur-
wissenschaftlichen und sociologischen Specialge-
bieten zur Metaphysik übergehen, um durch eine
letzte mechanische Formel alle Erkenntniß zu
vollenden. Porter will nun nicht auf die Einzel-
heiten dieser Theorien eingehen, die in der
Princeton Review schon zum Ueberdruß erörtert
sind, sondern von höherem Standpunkt diese
ganze Weltansicht, die er vorzugsweise
nach der extremsten Spencer'schen Form auf-
faßt, in ihrem Verhältniß zur Gewiß-
heit und Zuverlässigkeit der Wissen-
schaft selbst betrachten. Dabei ergiebt sich
ihm, daß die physiologische Metaphysik durch
ihren Begriff von Wissenschaft selbst die Auto
rität alles Wissens zerstöre und also einen theo-
retischen Selbstmord vollbringe.
1. Demgemäß untersucht Porter zuerst den
Proceß der Erkenntniß, wie er von Spencer auf-
gefaßt wird, und findet, daß dieser zwar naiv
bekennt, daß alle psychischen Phänomene uns
nur durch unser Bewußtsein zugänglich würden
und daß wir von einer Beziehung zwischen die-
sen Phänomenen und dem Nervensystem nicht
das Mindeste wahrnehmen könnten, daß wir aber
dennoch glauben müßten, es sei Bewußtsein
1142 Gtött. gel. Anz. 1880. Stück 36.
(mind) und Nerven thätigkeit nur die
subjective und objective Kraft von
einem und demselben Ding. Deswegen
könne man, da man weder von Seele, noch von
Materie etwas wisse, beliebig die Formen des
einen durch die Formen des andern bestimmen
und beschreiben und mithin das ganze Gebiet
des geistigen Lebens auf die einfachsten Nerven-
stöße (nervous shock) zurückführen als auf die
letzte Wurzel. Nun bestehe nach Spencer die
ganze Entwicklung (evolution) darin, daß ur-
sprünglich gleiche Tneilchen der Materie auf
einander wirken; eins thut, eins leidet; die Em-
pfindung sei das Bewußtsein von der Form, un-
ter welcher die Substanz gerade existierte. Nach
den Lehren der Chemie müßten wir die Ver-
schiedenheiten auf verschiedene Gombinationen
gleicher Theilchen zurückführen und indem nun
das Verschiedene sich untereinander wieder
integrierte und die Integrationen sich wieder
differenziierten , so ginge parallel damit der
subjective Ausdruck des Bewußtseins eine un-
endliche Entwicklung ein.
Porter führt nun die deductio ad absurdum
dadurch, daß er diese Prämissen annimmt und
demgemäß die Spencer'sche Entwicklungslehre
selbst als eine solche bestimmte Stufe der Inte-
gration der Nerventhätigkeit setzt. Was folgt
daraus? Da die Entwicklung nicht innehält, so
muß sich, objectiv betrachtet, dies complete Pro-
duct der Nerventhätigkeit wieder differenziiren
und in neuen Verbindungen wieder zu ganz an-
dern Erscheinungen integrieren, oder subjectiv
betrachtet, die Spencer'sche Theorie muß sich
wieder aufheben und in eine neue Theorie über-
gehen, d. h. die Spencer'sche Entwicklungslehre
begeht einen theoretischen Selbstmord, da sie
Noah Porter, Physiological Metaphysics. 1143
sich nor als ein wieder aufzuhebendes Phäno-
men in dem Entwicklungsgange hinstellt.
Hiermit hat Porter sehr gut die Unwissen-
schaftlichkeit dieser sogenannten Entwicklungs-
theorie nachgewiesen. Er hätte noch hinzu-
fügen können, daß diese Zerlegung der Substanz
in eine subjective und objective Seite von Spi-
noza und der Stoa stammt, daß dieser Spinozis-
mus an Hemiplegie leidet, wie ich dies zu
nennen pflege, weil die subjective Seite von den
objectiven Phänomenen nichts wissen kann nach
der Voraussetzung, und daß endlich diese ganze
Erkenn tnißtheorie, da jedes ideale Maß im We-
sen der Natur fehlt, auf die Protagoreiscbe So-
phistik hinauslaufen muß und die Wahrheit da-
durch, wie Plato humoristisch sagte, nicht bloß
auf das Maß des Menschen, sondern auch auf
das was dem Affen oder dem Schwein so zu
sein scheint, zurückgeführt wird. Diese Ent-
wicklungsmänner haben überhaupt von der Ge-
schichte der Wissenschaft, in welcher sie sich
versuchen, keine Ahnung und tragen deshalb
wieder die rohsten Einfälle vor, deren Kurz-
sichtigkeit schon längst erkannt und verurtheilt
war. Seit Plato gilt es bei allen Denkern als
ausgemacht, daß die Wahrheit zeitlos feststeht
und nur gefunden oder entdeckt werden
kann, aber nicht durch zufällige Stöße und Er-
schütterungen der Nerven erst entsteht.
2. Der zweite Punkt, den Porter hervor-
hebt, betrifft das erkennende Subject (the Jcnomng
agent). Dieses wird durch die physiologische
Metaphysik zerstört, weil sie für ihre Theorie
von den Nervenerschütterungen und deren sub-
jectiver Seite keinen Gebrauch von einer ein-
heitlichen und selbständigen Seele machen kann.
Die Seele ist deshalb nur ein „physiologischer
1144 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 36.
Ausdruck", eine metaphysische Abstraction und
bedeutet nur die vorübergehenden Zustände der
unbekannten Kraft nach der subjectiven Seite,
die nach der objectiven als Phänomene des
Nervensystems betrachtet werden. Porter be-
gnügt sich hier nun bloß damit, auf den Mangel
an irgend einem Beweise hinzudeuten, und hebt
seinerseits hervor, daß gerade unser Fortschritt
in wissenschaftlicher Erkenntniß die zunehmende
Gewißheit von unserm Selbst erfahrungsgemäß
mit sich bringe. Porter hätte vielleicht etwas
ausführlicher sein müssen, da diese physiologi-
sche Metaphysik von der Seele als dem inneren
Sein der Einheit des Körpers sehr beliebt und
in der That dem logisch ungeschulten Denken
ganz angemessen ist, wie sie denn auch bei den
rohsten Anfängern der Philpsophie, bei den so-
genannten Jonischen Physiologen zuerst auftritt
und noch bei Aristoteles festgehalten wird. Bei
Aristoteles hatte man dies bisher nicht deutlich
bemerkt und ich habe es in meinen Neuen Stud,
z. Gesch. d. Begriffe Band III (über die prakti-
sche Vernunft bei Aristoteles) zuerst ausführlich
nachgewiesen. Gerade diesen schwächsten Punkt
der antiken Philosophie haben die modernen
Positivisten zu ihrer Hauptlehre gemacht, da er
ohne Weiteres der Vorstellung zugänglich ist;
die Größe der Griechen aber, die in der Ent-
deckung der Ideenwelt liegt, blieb ihnen ver-
borgen und so konnten sie natürlich auch das
Ewige und die Einheit in dem sich wissenden
Ich nicht finden.
3. In dritter Linie wendet sich nun Porter
diesen Ideen zu, die er als die Grundlagen der
Wissenschaft (conditions of knowledge) bezeich-
net. Die physiologische Metaphysik erkennt die
Notwendigkeit der Categorien und Axiome an,
r
Noah Porter, Physiological Metaphysics. 1145
erklärt sie aber physiologisch und mechanisch
durch häufige Wiederkehr von Uebergängen von
einer Empfindung zu einer andern. Ein solcher
Uebergang sei selbst eine schwache Empfindung,
die durch Wiederholung stark, werde und sich
dann vererbe und so als Axiom und Gategorie
zur Geltung komme, da sie physiologisch in der
Coordination der molecularen Oehirnthätigkeiten
bestehe.
Porter findet hier nun erstens die Tendenz
znr Variation vergessen. Es sei unbegreif-
lich, weshalb bei Zeit, Raum, Ursache und Wir-
kung u. s. w. das Gesetz der Veränderung sei-
nen Dienst versage und gerade bloß die Cate-
gorien ganz unverändert verharren sollen. Es
müßten vielmehr nach den Voraussetzungen der
Theorie allmählich neue Categorien auftreten
und mit der Entwicklung der Structur des Ge-
hirns zugleich die Wissenschaften selbst aufge-
löst werden. Insbesondere sei das Spencer'sche
Gesetz der Entwicklung selbst in seiner ewigen
und allgemeinen Gültigkeit durch bloße Wieder-
holung von etlichen Affectionen nicht erklärt
und die Theorie der Entwicklung hätte also für
ihre eigne Selbsterhaltung nicht gesorgt.
4. Da jede Theorie auch darnach geprüft
werden muß, ob sie alle vorliegenden Phäno-
mene erklären kann, so bespricht Porter schließ-
lich noch die Sphäre der wissenschaftlichen
Untersuchung. Hier zeigt sich, daß die physio-
logische Metaphysik Spencer's nichts zu sagen
weiß von der Unendlichkeit von Raum und Zeit
und von Gott als einem absoluten, allwissenden
und allmächtigen Wesen. Porter will gern ein-
räumen, daß Spencer diese Ideen als Pseudo-
Ideen hinstellen könne, aber er fordert, daß
seine Theorie erklären solle, wie die Menschheit
1146 Gott. gel. Anz. 1880. Stock 36.
überhaupt auf diese Gedanken kam. Ans der
Ladung mit und Entladung von Nervenkraft,
aus Stellung und Umstellung von Hirnmolecülen
sei allenfalls die Entstehung von Bildern end-
licher Gegenstände abzuleiten; die physiologi-
sche Metaphysik kenne aber keinen Apparat,
der uns den Inhalt jener Ideen ahnen lasse.
Wenn Spencer solche Dinge für ' unerkennbar
erkläre, so sei dies sehr naiv; denn man müsse
das Etwas, das wir für unerkennbar ausgeben,
doch erst kennen. Von dem Inhalt solcher
Ideen könne aber freilich der Mechanismus des
Gehirns keine Auskunft geben und eine Philo-
sophie, die über Raum, Zeit und Gott nichts zu
denken wisse, habe sich zur Selbstvernichtung
verdammt.
Porter schließt mit allgemeinen Betrachtun-
gen. Er unterscheidet zwei verschiedene Be-
griffe von Entwickelung. Die Entwicklungs-
lehre der physiologischen Metaphysik hält den
Mechanismus für das Weltregiment und will
Leben und Geist als complexe Formen mechani-
scher Vorgänge auffassen, wodurch der ganze
Lauf der Dinge ein stupides Spiel von
Permutation und Combination wird.
Porter erinnert daran, daß es noch einen andern
Begriff von Entwickelung gebe, der einen Plan
und eine vernünftige Ordnung in sich
schließe und deshalb auch für die Ethik und
Politik die Ideen von Pflicht und Recht begründe,
während die mechanische Entwicklungslehre ma-
terialistisch und atheistisch nur den nackten
Egoismus und den brutalen Kampf um Vor-
herrschaft übrig lasse. Während man so gern
Protest einlege gegen die Einmischung von theo-
logischen Gedanken in die Philosophie, so solle
man doch auch nicht vergessen, daß diese phy-
Noah Porter, Physiological Metaphysics. 1147
Biologische Metaphysik ihren großen Erfolg der
Unwissenheit über die Lehren der Philosophie
verdanke und daß ihre Anhänger ebenso blind
und romantisch seien in ihrer Verliebtheit
in hochtönende Phraseologie, wie sie dies den
theologischen Richtungen vorzuwerfen pflegen.
Ich will gern bekennen, daß ich mit Ver-
gnügen über diese Arbeit Porter's Bericht er-
stattet habe. Ich fühlte beim Lesen derselben
die Befriedigung, die man immer hat, wenn man
einem freien Manne begegnet, der nicht scla-
visch der Zeitströmung folgt und nicht wie die
kraftlosen Modepuppen sich Gedanken und
Worte nach der neuesten Fa$on zuschneiden
läßt aus Angst, nicht für modern zu gelten.
Porter hat die rechte Bildung, die durch gründ-
liches Studium der Geschichte der Wissenschaft
gewonnen wird. Er kann deshalb den frivolen
Charakter der modernen sophistischen physiolo-
gischen Logik und Metaphysik leicht erkennen.
Ich brauche nicht zu sagen, daß seine Betrach-
tungen Beifall finden werden bei den feineren
Naturen, die in der Philosophie wirklich zu
Hause sind; ich glaube aber nicht, daß seine
Kritik die jetzt herrschende Sophistik des Posi-
tivismus beseitigen wird. Die Sophistik blühte
neben Sokrates und Plato, sie blühte als Sen-
sualismus neben Leibnitz und wird weiter blühen,
es mögen auch die gründlichsten und edelsten
Männer gleichzeitig lehren, weil die Weltan-
schauungen immer den Naturen der Menschen
entsprechen. Wie soll ein Kurzsichtiger in die
Ferne sehen, und wie soll ein Krüppel mit einem
Gesunden Schritt halten! Für die große Masse,
der es versagt ist, zur Freiheit des Gedankens
zu gelangen, wird deshalb der Positivismus die
passendste Weltansicht bleiben. Suum cuique!
Dorpat G. Teichmüller.
V
1148 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 36.
Die Lehre vom Urständ des Men-
schen geschichtlich und dogmatisch-apologe-
tisch untersucht von 0. Zöckler, Dr. u. Prof.
d. Theol. Gütersloh, C. Bertelsmann 1879. 337
Seiten in Octav.
Den in der vorliegenden Monographie be-
handelten Gegenstand hat der Verfasser aller-
dings schon in seinem umfassendem Werke über
die Beziehungen zwischen Theologie und Natur-
wissenschaft vor Augen gehabt ; aber die gegen-
wärtige spezielle Erörterung ist nicht nur viel
reicher im Detail, sondern unterscheidet sich von
jener frühern Darstellung auch darin, daß gegen-
wärtig neben dem geschichtlichen Gesichtspunkte
der dogmatisch-apologetische eintritt. Der Inhalt
des Werkes ist folgendermaßen geordnet. In der
Einleitung wird zuvörderst der „Stand der Frage"
beschrieben und den naturalistischen, der bibli-
schen Anschauung entgegengesetzten Ansichten
gegenüber der dem Verfasser vorschwebende
Zielpunkt mit den Worten bezeichnet (S. 7):
„Wir behaupten einen inneren und höheren Ur-
ständ an der Spitze der Menschheitsentwickelung
nicht als bloßen Glaubenssatz, sondern als eine
durch schwerwiegende Zeugnisse auch der Wis-
senschaft gedeckte Wahrheit". Die Lehre vom
Urstande selbst wird sodann erstlich aus der
kirchlichen Ueberlieferung, zweitens aus den
Zeugnissen der heiligen Schrift dargelegt und
drittens mit den analogen Traditionen des Hei-
denthums verglichen. Hierauf folgt die Schilde-
rung der Opposition seitens des modernen Na-
turalismus , und somit gelangt der Verfasser zur
^Prüfung der vorgeschichtlich-anthropologischen
(paläontologischen) Gegeninstanzen" und der
„sprach-, religions- und culturgeschichtlichen
r
Zöckler, Lehre vom Urständ des Menschen. 1 1 49
Instanzen". Nachdem dann die besondere Frage
wegen des Ursitzes des Menschengeschlechts ver-
handelt ist, wird in zwei Kapiteln „die Lang-
lebigkeit der Patriarchen als Nachglanz der Pa-
radiesesherrlichkeit8 gewürdigt und „das Alter
des Menschengeschlechts" überhaupt untersucht.
Den Schluß bildet eine Erörterung, in welcher
der Verfasser die ihm sich darbietende Lösung
des Problems empfiehlt, nämlich „die richtig ge-
faßte Theorie vom Kindesalter der Menschheit
als Lösung des Räthsels der Urstandsfrage".
Sowohl die theologische wie die naturwissen-
schaftliche Seite des Problems hat der Verfasser
mit der ihm eigenen ausgezeichneten Gelehr-
samkeit und mit umsichtig urtheilendem Ver-
ständnis behandelt. Den der biblischen An-
schauung sich entgegen stellenden naturalisti-
schen Theoremen und Hypothesen weiß er mit
entsprechender Sachkenntnis zu begegnen, in-
dem er namentlich auch solche Urtheile natur-
wissenschaftlicher Forscher beibringt, welche
entweder unmittelbar in apologetischem Interesse
zu verwerthen sind oder doch die antibiblischen
Hypothesen, wenn diese für zuverlässige Ergeb-
nisse der Wissenschaft ausgegeben werden sol-
len, in ihrem zweifelhaften Werthe erkennen
lassen. Ob ihn sein apologetisches Interesse bei
der Erörterung solcher Fragen, zu deren Beant-
wortung die biblische Offenbarung nicht be-
stimmt und deren Behandlung dem Theologen
als solchem nicht befohlen ist,, vielleicht über
die sichere Grenzlinie hinausgeführt habe, wird
auch derjenige, welcher mit dem Verfasser in
dem Glauben an das göttliche Heilswort der
Schrift einig ist, fragen dürfen ; und ich ge-
stehe, daß ich die S. 323 angeführte und mit
Frage- und Ausrufungszeichen begleitete Aeuße-
1150 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 36.
rang eines katholischen Theologen, es möchten
gewisse Zahlangaben der Bibel unbeschadet der
Inspiration abzuändern sein, nicht zu beanstan-
den weiß. Ich scheue mich auch nicht vor
einem weitern Schritte, nämlich vor der Aner-
kennung von heiligen Sagen, als einer der ge-
schichtlichen und sittlichen Ordnung entsprechen-
den Form der Bezeugung geoffenbarter Heils-
wahrheit. — Auch in Betreff der theologischen
Erörterung der lediglich religiösen Materien wird
der Verfasser auf allseitige Zustimmung nicht
rechnen dürfen. Mit vollem Rechte allerdings
stellt er den christlichen Grundbegriff von dem
dreieinigen Wesen Gottes hin, indem er das
ewige Urbild bezeichnen will, zu dessen Abbild
der Mensch erschaffen sei; hiebei gehört auch
die bestimmtere Hinweisung auf den Sohn zu
der biblisch wohlbegrtindeten Speculation. Aber
für unberechtigt halte ich eine Aussage wie
diese (S.61): „Ein höheres Analogon zur mensch-
lichen Leiblichkeit muß auch in Gott vorhanden
sein", und gleicherweise den Satz (S. 64 f.), daß
der Mensch nicht als Einzelperson, sondern als
Vielheit menschlicher Individuen, als Mensch-
heitsfamilie, die Gottheit abbildlich darstellen
solle, und zwar, „weil der Schöpfer selbst kein
einsames Leben führt, sondern ein Leben in der
Liebe, ein Leben in liebender innertrinitarischer
Gemeinschaft". Vorsichtiger und richtiger haben
die Alten psychologische Analogien des Menschen
zu dem dreieinigen Urbilde geltend gemacht
und die Liebesgemeinschaft der Menschen nach
der Liebe des Schöpfers zur Creatur bestimmt.
In einem von dem Verfasser besonders her-
vorgehobenen Momente hält er sich auf der
richtigen, schriftmäßigen Bahn. Er betont den
Unterschied zwischen einem göttlichen Eben-
Baechtold, D. glückhafte Schiff von Zürich. 1151
bilde im engern Sinne, das um der Sünde wil-
len verloren sei, and einem trotz der Sünde un-
verlorenen Gottesbilde; er führt ferner aus, wie
nur allmählich das durch den Sündenfall be-
dingte Herabsinken der monogenistisch verstan-
denen Menschheit von der ursprünglichen Inte-
grität stattgefunden habe, und zeigt, wie dieser
Anschauung gemäß auch die sich mindernde
Lebensdauer als ein Erbleichen der ursprüngli-
chen Herrlichkeit sich darstelle. In der Linie
solcher Gedanken scheinen auch mir die wahren
Zielpunkte dogmatisch-apologetischer Erörterung
zu liegen.
Hannover. Dr. Fr. Düsterdieck.
Das gltickhafte Schiff von Zürich.
Nach den Quellen des Jahres 1576 von Dr. Ja-
kob Baechtold. Zürich 1880 (Mittheilungen
der Antiquarischen Gesellschaft in Zürich XL1V.)
55 S. gr. 4 und 2 Tafeln.
Die gegenwärtig fast nur durch Fischart's
Gedicht bekannte Schiffahrt der Züricher zum
Hauptschießen 1576 in Straßburg hat schon
früher ihre Beschreiber gefunden, aber nicht so
gründlich, umfassend und quellenmäßig wie in
der vorliegenden Schrift des um die ältere
schweizerische Literatur sehr verdienstvollen
Herausgebers von Hans Salat's Chronik und
Dichtungen und den Dramen des Nie. Manuel.
Nicht nur, daß die Geschichte in der Darstellung
der Quellen mit lehrreichen Erörterungen gege-
ben wird, sondern auch die sich an die Scbiff-
fahrt knüpfende Literatur wird ausführlich be-
handelt und die interessanteren Gelegenheitsge-
dichte werden vollständig mitgetheilt. Nur das
fischart'sche Gedicht selbst hat der Verf. nicht
1152 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 36.
wieder abdrucken lassen, da es schon öfter wie-
der herausgegeben ist. Aber gerade das, was
über diese Dichtung gesagt wird, ist von be-
sonderm Interesse. Wir wußten, daß Fischart
in seinen prosaischen Schriften sich überall an-
lehnt, so daß ihm kaum ein eignes Wort zuge-
traut werden kann; wir wußten durch Heinrich
Kurz, daß er auch in einer seiner Dichtungen,
dem Jesuitenhütlein , eine fremde Dichtung: zum
Grunde legte; aber seine übrigen Dichtungen
galten für selbstständige Schöpfungen. Jetzt er-
fahren wir, daß auch sein glückhaftes Schiff, das
für durchaus original gehalten wurde, nicht ohne
Anlehnungen zu Stande gebracht ist. „Wie aus
verschiedenen Stellen hervorgeht (heißt es S. 22)
ist Rudolph Gualther (der eine Argo Tigurina in
lat. Distichen auf die Schiffahrt dichtete, die
S. 49 abgedruckt ist) eine Quelle Fischart's.
Nicht nur schöpft dieser im Eingang manches
aus der lat. Vorlage, sondern die Einführung des
Vaters Rhein, der den Gesellen jenen ermuntern-
den Zuspruch hält, ist Gualther's Erfindung*.
Auch ein anderes, ein deutsches Gedicht auf den
Gegenstand .muß Fischart ebenfalls gekannt
haben", wie denn durch Gegenüberstellung eini-
ger Verse beider unzweifelhaft bestätigt wird.
S. 21 unten ist von einer erweiterten Redaction
des glückhaften Schiffes Fischart's die Bede,
wozu die dort angeführte Stelle keine Veranlas-
sung giebt, da dort nur gesagt ist, Fischart selbst
führe Verse aus seinem Gedichte an, die in den
bekannten Drucken nicht stehen. Diese Verse
hat Hr. ßaechtold glücklich gefunden und ab-
drucken lassen; vgl. Gott. gel. Anz. 1880 S. 350.
K. Goedeke.
Für die Redaction verantwortlich : E. Behntoch, Director <L Gott. gel. Ans.
Commissions- Verlag der Dieterich: sehen Verlags 'Buchhandlung.
Druck der DieiericK ecken Univ.- Buchdruck** (W. Fr. Katstntr).
w
1153
G Ottingis che
OCT 18 18* j
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften«
Stück 37. 15. September 1880.
Inhalt: Die tirolischen Weisthümer herausgeg. von Ign. Zingerle
und K. Tb. v. Inama-Sternegg. Th. I— III. Von Ludw. SUub. — Acta
hiatorica res gestas Poloniae lllustrantia, toI. HI. ed. G. Waliaoewski.
Von SL Lukas. — C. Wolfsgruber, Giovanni Gersen, sein Leben
und sein Werk De Imitatioae Christi. Von Fr. D&sterdieck.
as Eigenmächtiger Abdruck von Artikeln der Gott. gel. Anz. verboten ss
Die tirolischen Weisthümer im Auf-
trage der kaiserlichen Akademie der Wissen-
schaften herausgegeben von Ignaz V. Zingerle
und K. Theodor von Inama-Sternegg. I.
Theil: Unterinnthal. Wien, Wilhelm Brau-
müller, k. k. Hof- und Universitätsbuchhändler.
1875. IL Theil: Oberinnthal. Ebend. 1877.
ni. Theil: Vinstgau. Ebend. 1880.
Weisthümer sind bekanntlich schriftliche, in
früheren Jahrhunderten entstandene Aufzeichnun-
gen, welche zunächst die in den Stadt- und
Landgemeinden geltenden Gebräuche und Ge-
wohnheitsrechte, festgestellte Gränzverhältnisse,
die mannichfachen Gaben und Leistungen, w^Jche
die Landleute ihren Herrschaften schuldeten und
dergleichen Dinge durch die Schrift vor der
Vergessenheit bewahren und den kommenden
Geschlechtem überliefern sollten. Jacob Grimm;
73
1154 Gott gel. Anz. 1880. Stück 37.
der 1839 die erste Sammlung solcher Weis-
thümer herausgegeben, sprach damals in der
Vorrede die Hoffnung aus, „daß dieselben unsre
Bechtsalterthümer unglaublich bereichern und
beinahe umgestalten , wichtige Beiträge zur
Kunde der deutschen Sprache, Mythologie und
Sitte liefern, überhaupt aber gewissen Partien
der früheren Geschichte Farbe und Wärme ver-
leihen werden".
Der Anfang war auch hier sehr schwer.
Jacob Grimm beklagt sich z. B. an einer an-
dern Stelle, daß ihm die Archive zu Speier and
zu Idstein nicht zugänglich gewesen; er werde
sich überhaupt am Schlüsse der ganzen Samm-
lung über alle Hindernisse, die sich seiner va-
terländischen Arbeit entgegenstellten, offen äußern
u. s. w.
Mit der Zeit mag er aber doch weniger Ur-
sache zu Beschwerden gefunden haben, denn er
hat das Sündenregister, mit dem er drohte, nicht
aufgestellt. Er selbst brachte seine Sammlung
auf vier Bände und Richard Schröder, der sie
fortsetzte, fügte noch zwei andre hinzu; auch
sind seitdem in mehreren deutschen Ländern
die dort gesammelten Weisthümer gesondert ans
Licht getreten ; kurz es zeigt sich jetzt einige»
Leben auf diesem Felde.
Heute gedenken wir nun von den tirolischen
Weisthümern zu sprechen, welche im Auftrage
der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften
die Professoren Ignaz V. Zingerle und E.Theo-
dor von Inama- Sternegg zu Innsbruck heraus-
gegel^n haben. Bis jetzt sind drei Bände fer-
tig geworden, deren erster 1875 erschien. Sie
umfassen die Weisthümer von Unterinntbal, von
Oberinnthal und die des Vinstgau's. Wenn sich
die Herausgeber in der Vorrede des ersten
Die tirolischen Weisthümer. 1155
Bandes zu einem feierlichen Ansdrnek ihres
Dankes „fttr die ihnen von so vielen Seiten in
erfreulicher Weise zn Theil gewordene Förde-
rung und Unterstützung" veranlaßt sahen, so
mag man daraas entnehmen, entweder daß die
Zeiten überhaupt den Weisthümern jetzt gün-
stiger oder daß wenigstens die Tiroler sich um
ihre Rechtsalterthümer lieber annehmen, als die
andern Deutschen.
Die tirolischen Weisthtimer entstammen, wie
sich von selbst versteht, verschiedenen Zeiten.
Die jüngsten sind in den letzten Jahrhunderten,
die ältesten, die nachgerade sehr selten, im vier-
zehnten niedergeschrieben worden; deß wegen
können sie denn auch als fortlaufende Beweis-
stücke für die Geschichte der tirolischen Mund-
arten betrachtet werden. Allerdings ist ihre
Schreibung nie consequent, mitunter auch offen-
bar verdorben und der Text reich an Worten
und Redensarten, die jetzt nicht mehr zu
verstehen sind, allein gerade dieser Umstand
läßt nns das versprochene Glossar, das noch
nicht erschienen ist, um so gespannter erwarten.
Durch die älteren Formen der Flur- und Orts-
namen, welche diese Weisthümer so reichlich
bieten, wird auch die Erklärung derselben we-
sentlich gefördert werden. Nur nebenbei sei
hier bemerkt, daß Bd. I. S. 221 in einem Weis-
thxtm des sechzehnten Jahrhunderts auch in
das Inn zu lesen ist, eine gewiß selten vorkom-
mende Uebereinstimmung mit der Sprache der
Nibelungen, welche bekanntlich jenen Strom auch
als Neutrum behandelt.
Der erste Band enthält also die Weisthümer
aus dem untern, der zweite die aus dem obern
Innthale. Die Herausgeber unterlassen nicht
zu bemerken, daß die des Unterinnthaies durch-
73*
1156 Gott gel. Anz. 1880. Stück 37.
ans im baierischen Dialecte geschrieben sind,
wogegen aus denen des Oberinntbales oft die
alemannische Mundart herausklinge. Diese be-
ginnt — obgleich die Eingebornen durchaus
nicht zugeben, daß sie Schwaben seien oder
schwäbisch sprechen — schon zu Zirl, dem ersten
oberinnthalischen Dorfe, das nur drei Stunden
von Innsbruck liegt. Je mehr aber der Wande-
rer am Inn hinaufsteigt, desto mehr begegnen
ihm auch romanische Orts-, Hof- und Flurna-
men — eine Erscheinung, die sich im Gebiete
der Etsch fortsetzt. So bezeugen denn auch
diese Weisthümer, daß die Bewohner des Ober-
innthals und des Vinstgaues großentheils ger-
manisierte Romanen sind, welche die Sprache
der eingewanderten Alemannen angenommen.
Alle diese Gegenden sind daher, wie sich von
selbst versteht, viele Jahrhunderte lang zwei-
sprachig gewesen, denn die Deutschen saßen ja
da auch schon seit dem Zerfall des römischen
Reichs. Wie lange sich aber z.B. die Einwoh-
ner von Mals, dem bedeutendsten Flecken an
der obern Etsch, noch halbwegs für Italiener
hielten, mag daraus hervorgehen, daß sie bis
ins fünfzehnte Jahrhundert herein ihre Urkun-
den lateinisch verfassen ließen, während in den
andern Gebieten der Grafschaft Tirol um jene
Zeit die deutsche Sprache schon lange als Amts-
sprache galt. Im Jahre 1610 beklagt sich
zwar der Abt des nahe gelegenen Marien-
bergs, daß fast die ganze benachbarte, Ge-
meinde Burgeis sowohl in gemeinen Gesprächen
als in öffentlichen Zusammenkünften „allein
die barbarische Engadeinerische Sprache ge-
brauche", allein in den sämmtlichen Weisthü-
mern, auch in den ältesten, wie in dem von
Nauders aus dem Jahre 1436, findet sich doch
Die tirolischen Weisthümer. 1157
nicht die mindeste Erwähnung einer zweiten
Nationalität, viel weniger eines Sprachenstreits,
obgleich uns im Texte zahlreiche Romanismen
"begegnen. Auch die Statuten des jetzt zu
Graubünden gehörigen Münsterthales vom Jahre
1427 geben durch kein Wort zu erkennen, daß
sie eigentlich für ein ladinisches Völklein ge-
geben sind, was um so mehr auffällt, als selbst
in dem dicht an der Oränze liegenden Dorfe
Münster die deutsche Sprache erst seit einem
Jahrhundert die Oberhand gewonnen, die übri-
gen Orte aber jetzt noch romanisch zu sprechen
pflegen.
Diese Weisthümer bieten uns also in ihrer
Sprache ein sehr unzuverlässiges Bild des da-
maligen Volksthums. Wir dürfen nicht verges-
sen, daß im dreizehnten Jahrhundert noch im
Unterinnthale bei Hall romanische Landleute
saßen und daß damals und bis ins sechzehnte,
wie das ganze Oberinnthal, so auch das Vinst-
gau noch romanisch gesprochen haben müsse,
weil ja nach Ulrich Campell das bei Meran ge-
legene Partschins um 1550 noch nicht germani-
siert war. Die Grödner und die Enneberger,
die doch auch zu Deutschtirol gehören, sind es
selbst heute noch nicht, obgleich sie immer un-
ter deutscher Herrschaft standen und diese im-
mer in deutscher Sprache mit ihnen amtierte.
Herr Professor von Inama irrt also noch
fortwährend, wenn er in seiner neu erschiene-
nen Deutschen Wirtschaftsgeschichte (S. 21,
Note) behauptet, daß der Besiedelungs- und
Germanisierungsproceß Deutschtirols in drei bis
vier Jahrhunderten (also etwa bis zum Jahre
800 oder 900) in der Hauptsache abgeschlossen
gewesen — denn dies läßt sich höchstens vom
Unterinnthal annehmen, während im ganzen
1158 Gott gel. Adz. 1880. Stück 37.
übrigen Lande der besagte Proceß in jener Zeit
erst seinen Anfang nahm. Herr Professor
v. Inama irrt ferner, wenn er an der erwähnten
Stelle behauptet, ich hätte mich über diesen
Punkt seiner Zeit (in der A.A. Z. Herbst 1875)
unnöthig gegen ihn ereifert, da ich mich doch
nur verwundert habe, wie ein Gelehrter an
eine ihm ganz fremde Aufgabe gehen konnte,
ohne im mindesten nachzusehen, ob und was
für Literatur darüber vorhanden sei, und wie
er dann in die misliche Lage gerieth, das rha-
tische Alpenland für eine unerschöpfliche Wild-
niß, für einen jungfräulichen Hochwald zu hal-
ten, den erst die Germanen gelichtet, während
jenes Land doch schon seit vollen vierhundert
Jahren unter römischer Herrschaft gestanden,
als römische Provinz vollkommen römisch ein-
gerichtet und mit Städten, Dörfern und Schlös-
sern reichlich versehen war.
Für Tirol wird man auch nie zugeben kön-
nen, daß die Cultur von den Höhen herabge-
kommen, denn gerade die großen Dörfer, die
im Thale liegen, führen jetzt noch meist rhäti-
sche Namen. Betrachten wir z. B. nur jenes
Stück des Unterinnthals, welches sich vom Zil-
lerbach bis zur Sill erstreckt. Da münden
mehrere Seitenthäler mit ihren Bächen in das
Hauptthal und an jeder solchen Mündung sitzt
ein uraltes rhätisches Dorf. Jedes dieser Dör-
fer begann aber seiner Zeit auch wieder seine
Golonien zu entsenden, die sich in seinem Seiten-
thale und an dem Bache ansetzten, und so
entstanden auf den Hängen und Höhen herum
jene zerstreuten Niederlassungen oder Höfe, die
jetzt noch denselben Namen führen wie jene,
nur daß jedesmal ein „Berg" hinzugefügt ist
So liegt der Pillberg ober Pill, der Weerberg
r
Die (erotischen Weisthttmer. 1159
ober Weer, der Wattenser Berg ober Wattens,
der Volderer Berg ober Volders. Warum soll
man nun annehmen, daß die Leute da allent-
halben früher den rauhen Berg eingenommen,
als das bequeme Thal? Daß dagegen auf den
niedern und leieht zugänglichen Anhöben, wo'
Altrans, Lans und Sistrans, wo Mutters und
Natters liegen, die Gultur so alt sein könne,
wie im Thale, soll nicht bestritten werden.
Die enge gedrängte Bauart des Kerns die-
ser rhätischen Dörfer hat mich übrigens schon
lange auf die Vermutbung geführt, sie möchten
einst alle in irgend einer Weise, mit Mauern,
Wällen oder Palisaden, befestigt gewesen sein.
Es würde übrigens viel mehr Zeit und Mühe
erbeischen als wir aufzuwenden haben, wenn
wir die in den Tiefen dieser Weisthümer ver-
borgenen linguistischen , rechtsgeschichtlichen
und ethnologischen Kleinodien hier ausführlich
besprechen wolten, zumal da einem solchen Un-
ternehmen manche Vorarbeiten vorausgehen
müßten, die noch nicht vorbanden sind. Wir
wollen daher aus jenem Beichthum nur einige,
mehr in die heitre, als in die wissenschaftliche
Richtung einschlagende Züge herausheben uud
damit schließen.
Der höchste und wichtigste Tag im Jahre
war diesen biedern Landsleuten der Kässontag,
gewöhnlich Kassuntag geschrieben und dieser
ist der Sonntag Invocavit, der erste in den Fa-
sten. Da mußte die ganze Gemeinde, so viele
daran „Theil hatten", ohne einige Zuwissen-
thuung (ohne besondre Aufforderung) um zwölf
Uhr Mittag an dem gewöhnlichen Ort erschei-
nen und „so jemand ohne genügsame Ursachen
nit erschienen, so soll ein jeder unnachläßlich
also bald gestraft werden per ein Gulden"
1160 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 37.
(Weisthum von Latsch 3. 239). An diesem
Tage war die allgemeine „Landsprache", es
trat das Gericht zusammen, es wurden Urtheile
gefällt nnd Vergleiche abgeschlossen, das alte
Herkommen, nämlich das Weisthum des Ortes,
verlesen, wiederholt gebilligt nnd bestätigt oder
auch abgeändert nnd erneuert Mancher For-
scher wird vielleicht mit Vergnügen bemerken,
daß in geringfügigen Straffällen selten Geld-
strafen erhoben wurden; meistens war die
Buße eine Bazeide (41/* Maß) oder eine Uern,
Yhrn (urna, 55 Maß) etschländer Landweins,
der wahrscheinlich am nächsten Sontag un-
ter Zuziehung des Straffälligen vertrunken
wurde.
Eine in Tirol sehr rühmlich bekannte Stif-
tung war einst das Spital zu St. Valentin auf
der Maiser Haide, welches Ulrich Primele von
Burgeis im J. 1140 ins Leben gerufen hat
Eine Pergamenturkunde vom Jahre 1489 ent-
hält seine Statuten, die unter anderm fest-
setzen, daß der Maier (Verwalter) des Spitals,
wenn Ungewitter, Schnee, Kälte eintrifft, ein
paar Ochsen und ein Boß ausschicken soll und j
wenn dann Pilgrime und arme Lent auf dem
Weg gefunden würden, die vielleicht krank,
blöd, nackt und bloß wären, so soll sie der
Maier gegen Sanct Valentins Spital zum Hof
führen, sie beherbergen und versorgen mit Es-
sen und Trinken. Haben dann solche Leute
Geld, so sollen sie Essen und Trinken bezah-
len; hätten sie aber nit Geld, so soll's der be-
zahlen, der alle Ding bezahlt.
Sehr angenehm berührt die energische Men-
schenfreundlichkeit, welche aus dem nächsten
Satze spricht. Dieser lautet wie folgt:
„Item es soll auch der Hof ein offenes
Die tirolischen Weisthttmer. 1161
Haus und Spital sein. Das Feuer soll nimmer,
weder Tag noch Nacht zngedeckt werden und
soll allwegen Holz beim Herd sein: wer da
kommt und sich da wärmen will, damit daß er
Feuer und Holz finde, daß er sich wärmen
möge, daß er nicht erfriere. Ob aber einer
käme und sich wärmen wollte und kein Holz
daselbst beim Herde fände, der soll um sich
sehen und wo er sieht Schüssel, Stuhl, Bänke,
Teller, Löffel und dergleichen, das mag er neh-
men, zerhacken und zerschlagen, ins Feuer le-
gen, damit Feuer machen und sich wärmen, daß
er nicht erfriere".
Auch die kleine Ortschaft Schlinig, welche
hinter der Abtei Marienberg liegt, jetzt einund-
zwanzig Häuser zählt und nur über hohes Ge-
birge zugänglich ist, auch sie hatte im sech-
zehnten Jahrhundert „die Artikel und Punct
der bäuerlichen Rechte" aufzeichnen lassen und
handelt einer der wenigen sechs Artikel „vom
Wirt und wie sich ein jedlicher Wirt halten
soll". Der Wirth wurde damals in Schlinig
noch alle Jahre gewählt und der Biedermann,
auf den die Wahl gefallen , durfte sich dem
Vertrauen seiner Mitbürger nicht entziehen. —
Daß man noch ebenso einfach als genügsam
lebte, zeigt die Bestimmung, daß der, welcher
zu einem Wirth erwählt war, innerhalb vierzehn
Tagen Wein im Haus haben sollte; „thäte er's
aber nit, solle er durch die Dorfmeister um eine
Urne Wein gestraft werden".
Damit sich aber der Erkorene nicht über
sein Unvermögen zu beklagen habe, sollen je-
dem angehenden Wirth zu Anfang von der Ge-
meinde vier Gulden „ftirgesetzt und geliehen
werden". Dieselbigen vier Gulden sollte aber
ein jeder Wirth zu Ausgang des Jahres, wenn
1162 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 37.
ein andrer erwählt war, seinem Nachfolger über-
antworten und bar hinausgeben, damit dersel-
bige angehende Wirtb auch einen Anfang
habe.
Anzuerkennen ist ferner die züchtige Sprache
dieser Weisthümer. Auch in heikein Dingen
sind sie um einen anständigen Ausdruck nie
verlegen. Das feine Gefühl der Landleute ver-
langte z. B., daß auch von den Hausthieren nur
mit einer gewissen Entschuldigung gesprochen
werde und diese glaubte man in dem Worte:
reverenter zu finden. „Das reverenter Schwein"
heißt es öfter — „die reverenter Kühe, das
reverenter Vieh, der reverenter Pfarrstiertt.
Für ebenso berühmte als anspruchsvolle
Kanzel- und Grabredner mag der Vergleichung
halber angeführt werden, daß nach dem Dorf-
buch vom Jahre 1607 im vinstgauischen Latsch
für eine Leichenpredigt, „da es begehrt wird",
sechs Kreuzer zu bezahlen waren.
Wie schon oben gesagt wurde, sind in die-
sen Weisthümern auch sehr viele sprachliche
Findlinge zu erheben. Außer dem Glossar, das
unft die deutschen Idiotismen erläutern wird,
mag wohl auch eine erklärende Arbeit über die
«deutschen Ortsnamen nicht überflüssig erschei-
net]. In sprachlicher Beziehung ist unter vielem
aAdern auffallend, daß die Weisthümer und na-
mentlich die älteren, das Subst. Gohärenz und
das Verbum cohärenzen ganz und gar fttir
Gränze und gränzen gebrauchen und es scheint
kein Zweifel, daß hier zu Lande die beiden letz- .
teren aus den beiden ersteren hervorgegangen
sind, während sie im übrigen Deutschland von
slav. graniza abgeleitet werden.
Wir glauben mit dem Ausspruch schließen
zu dürfen, daß sich die wackern Herausgeber
Acta Joannis III. regn. ill. e<L Waliszewski. 1163
durch diese zwar sehr schätzbaren, aber auch
«ehr mühevollen und ermüdenden Arbeiten den
Dank aller Germanisten und wohl auch aller
tirolomanen Romanisten verdient haben.
München. Ludwig Stenb,
Acta quae in archivo ministerii re-
run* exterarum gallici ad Joannis III.
regnnm illustrandum spectant. Vol. pri-
nium, Acta aba. 1674 ad a. 1677 continens, ed.
Dr. Casimir-us Waliszewski. Cracoviae,
sumptibus academiae liter. Cracoviensis, 1879.
in 4°, XXVIII et 546 pp.
(Auch unter dem allgein. Titel: Acta historica
res gestas Poloniae illnstrantia, vol. III. Der
Titel auch polnisch).
Gegenwärtiger Band bildet. den ersten einer
großen van der Krakauer Akademie der Wis-
senschaften zur 200jährigen Feier des Entsatzes
von Wien unternommenen Monumentalpublika-
tion, welche zum Zwecke hat, alles auf die Ge-
schichte Johann1» III. bezügliche vornehmlich
in den verschiedenen europäischen Archiven
zerstreute Material zu sammeln und dem Studium
der vaterländischen Geschichte zugänglich zu
machen. Wie soll man nun diplomatische Pa-
piere edieren? Herausgeber, der sich noch im
J. 1875 der Aufgabe unterzogen, das in dem
Depot des französischen Ministeriums des Aus-
wärtigen befindliche Material zum Zwecke obi-
ger Publikation zu bearbeiten, raisonniert fol-
gendermaßen über diese unseres Erachtens schon
längst genügend gelöste Frage: Drei Methoden
1164 Gott gel. Anz. 1880. Stück 37.
gebe es, diplomatisches Material zu edieren ;
erste beruhe in der Publikation allen im Are
vorgefundenen Materials (wohl eher eine Ub-^
Methode), und zwar in extenso; die zweite
der Veröffentlichung nur gewisser Aktenstficl
in extenso, bei völliger Außerachtlassung and<
rer; die dritte in der Herausgabe aller irgend-
wie historisch wichtigen Akten, doch nicht mehr
in extenso, sondern in Excerpten oder Ausztt^
gen. HG. ist selbstverständlich für keine dieser
Methoden: von der ersten könne im Ernst kaum
die Rede sein, angesichts der 55 Foliobände,
die das Archiv zur Geschichte Johann'« ID. J
enthalte; die zweite sei aus dem Grunde ver-"
werflich, weil ja oft aus langathmigen, aber
sonst wenig wichtigen Akten nur hie und da
ein Passus verdiene herausgehoben zu werden;
endlich sei die dritte Methode darin fehlerhaft,
daß, da oft die wahre Bedeutung eines Akten-
stückes nicht sowohl in dem einen oder anderen
Passus liege, als in dem allgemeinen Inhalt oder
dem Gedankengange des Schriftstückes, eher
eine Mittheilung in extenso oder doch eine ge-
naue Inhaltsangabe rathsam erscheine. — Man
sollte glauben, HG. werde nun consequent mit
sich selbst eine Methode adoptieren, welche die
Vorzüge der drei von ihm verworfenen in sich
schließend 1) die wichtigsten Aktenstücke in
extenso geben werde; 2) von den Akten der
zweiten Kategorie in wörtlichen Excerpten das,
was an ihnen eben wichtig ist, endlich 3) mehr
oder minder genaue Inhaltsangaben der an und
für sich minder wichtigen Dokumente. Dem ist
aber nicht so. HG., der bis hieher ganz logisch
deduciert hatte, macht nun ganz unvermuthet
eine Art gefährlichen salto mortale, und der bis
dahin bescheidene Herausgeber entpuppt sich
JLcta Joannis HI. regn. ill. 6<L Waliszewski. 1 1 65
i
auf einmal vor unseren Augen als ein für
Sine Leser allerdings sehr wohlgesinnter Histo-
ter. Doch fassen wir ihn nur selber die von
thm adoptierte Methode charakterisieren.
Die angeführten Methoden (sagt er in seiner
-Einleitung) leiden an dem Uebelstande, daß, in-
dem sie alle das Material in ganz eigentümli-
cher Weise zerstückeln und zerbröckeln, der Le-
ser hiedurch genöthigt wird, erst selber diese
Brocken mühsam in logische Gruppen zusammen-
zuleimen, um aus ihnen gewissermaßen die
Ziegel zu bilden, die ihm zu seinem historischen
Bau dienen sollen. Eben diese Arbeit wolle
nun HG., nachdem er sich ihr einmal selber
unterzogen, seinen Lesern ersparen, und zu die-
sem Behufe habe er eine andere von den be-
sprochenen ganz verschiedene Methode ange-
nommen. Er habe nämlich aus dem Material,
das vor ihm gelegen, Alles herausgepreßt, was
nur irgendwie Werth für den Forscher haben
konnte; er habe hier abgeschrieben, dortexcer-
piert, anderswo wiederum nur ein wichtiges Da-
tum oder Factum notiert; aber alle diese
historischen Atome in ein organisches
Ganze zu verbinden gesucht, nicht so-
wohl indem er die trockene chronologische
Nachfolge, sondern jene ideale Kegel zu
Grunde genommen, welche die Wir-
kungen mit denUrsachen und chrono-
logisch weit von einander liegende
Begebenheiten mit einander verbinde
u. s. w.
Nun genügt .schon ein flüchtiger Blick auf
das Resultat dieser zusammenfassenden Arbeit,
um sich zu überzeugen, in welchen argen Feh-
ler HG. mit seiner Methode logischer Gruppen
und organischer Einheiten verfallen ist. Hierin
1166 Gott, gel. Anz. 1880. Stück 37.
bat er allerdings Recht: die logische Reihen-
folge sei der rein zeitlichen vorzugehen. Doch
fragt es sich: war dies seine Aufgabe ab
Herausgeber, und wo ist denn die Bürgschaft,
daß, indem er den sicheren Führer, den ihm
die chronologische Nachfolge an die Hand ge-
boten, muthwillig über Bord geworfen, er aaeh
wirklich die logische Reihenfolge eingeführt,
auch in der That den logischen Zusammenhang
der Begebenheiten entdeckt und nach demselben
seine Urkunden geordnet hat. In der Publika-
tion diplomatischer Papiere, die sich in fortlau-
fender Reihe alle auf einen und densel-
ben, oder doch mehrere aber eng verwandte
Gegenstände beziehen, ist und bleibt der chro-
nologische Faden immer der bequemste, gewis-
sermaßen untrügliche, jedenfalls der thatsäch-
liehe; jene logischen Zusammenhänge hingegen,
die HG. eingeführt, sind etwas ganz Subjectives,
Relatives, rein Imaginäres. A logicien logicien
et demi, sagt ein wohlbekanntes französisches
Dictum. Diese elementare Wahrheit hätte B6.
nicht außer Acht lassen und nicht den sicheren
Boden verlassen sollen, um sich auf einen ganz
fictiven Grund zu stellen.
Der falschen Auffassung entspricht denn
auch das Resultat der 4jährigen Arbeit des
HG. Es ist, um es nur offen herauszusagen,
ein Chaos. Wenn HG. darüber Klage führt,
daß die von ihm als fehlerhaft verworfenen Me-
thoden das Material allzusehr zerbröckeln, so
behaupte ich im Gegentheil, er, der HG. habe
erst in der That das schöne Material, das er
vorgefunden, mit seiner logischen Methode so
arg zugerichtet, daß es wirklich stark zerbröckelt
und demnach zum historischen Bau bei weitem
weniger tauglich ist Der starke Band, den wir
r
Acta Joannis in. regn. ill. ed. Waliszewski. 1 1 67
vor UBS haben, mit seinen vielleicht paar tau-
send tbeils ganz mitgetbeilten, tbeils excerpier-
ten, theils nnr erwähnten Aktenstücken ist ein
wahres Labyrinth, in dem leider die Logik des
Heransgebers den fehlenden * Ariadnefaden zu
ersetzen durchaus nicht im Stande ist. Da HG.
es nicht für rathsam erachtet, seiner Sammlung
schon gleich im Isten Bande einen Index bei-
zufügen, da auch die am Schlösse des Bandes
beigebrachte table gönärale des documents auf
67 Qaartseiten nicht den Inhalt des Bandes
bringt, sondern (meines Erachtens ganz un-
nöthiger Weise) die Inhaltsangaben aller in
den betreffenden Archivfolianten enthaltenen,
selbstverständlich nicht immer streng chronolo-
gisch geordneten Schriftstücke (wobei denn frei-
lich die meisten dieser Documente mit einem
„sans importance" wegkommen): so weiß man
wirklich nicht, woran man sich zu halten hat,
wenn man in der ungeheuren Zahl dieser Akten
das eine oder andere Stück herausfinden will.
Da sind Dokumente in extenso, französische
Exeerpte, polnische Inhaltsangaben, historische
Erzählung, kritische Ausflüge, mitunter Charak-
terschilderungen und philosophische Betrachtun-
gen, in buntem Wirrwarre alle durch einander
geworfen, dabei die Chronologie wie schon ge-
sagt, nur im Großen und Ganzen berücksichtigt,
sonst aber meistens gänzlich außer Acht gelas-
sen, so etwa, daß man vom Monat Juni in den
August binüberspringt, dann in den Juli zurück-
tritt, dann wiederum wohl in den Mai geführt
wird u. ». w. Wie mitunter das Material be-
handelt wird, sollen ein paar Beispiele belehren.
S. 47—48 ist die eine Hälfte einer wichtigen
Depesche mitget heilt; folgt dann der Common-
tar des HG*., folgen andere auf dieselbe 'An-
1168 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 37.
gelegenheit bezüglichen Aktenstücke, endlich S.
52 folgt auch der Rest jener oben theilweise
gegebenen Urkunde, der freilich eine andere
Angelegenheit behandelt. Ein Gleiches wieder-
holt sich §. 51 u.*S. 71. Ist in dem histori-
schen Bau des HG. kein Platz für irgend ein
Schriftstück, erlaubte der logische Zusammen-
hang nicht, es irgendwo anzubringen, so ge-
schieht wohl, daß es aus dem Text in die an-
ter dem Text stehenden Anmerkungen degra-
diert wird, so S. 151, 327, 455. Ueberhaupt
giebt es in dem Bande viele Akten, von denen
man nicht anders sagen kann, als daß sie ver-
loren gegangen oder besser, daß HG. sie ver-
loren hat, ich meine diejenigen Schriftstücke,
deren Zusammenhang mit den übrigen dem
HG. nicht recht einleuchtete. Diese werden
dann in eine Art besonderen Abschnittes ge-
bracht, der durch ein orthographisches Zeichen
— ) von dem vorhergehenden und dem folgen-
en unterschieden werden soll. Große Verlegen-
heiten bereitet dem HG. stets die Versailler
Correspondenz : bald folgt auf den Brief des
Gesandten unmittelbar die Antwort des ersten
Ministers oder des Königs, bald werden diese
letzteren in Gruppen zusammengefaßt und monats-
weise gegeben (also beispielsweise nach der
Correspondenz aus Polen aus dem Monat Mai
die aus Versailles), doch hält sich HG. nicht
consequent daran. Mit einem Wort, da zumal
wo die diplomatischen Fäden sich verwickeln
und kreuzen, wo es der Correspondenten meh-
rere giebt, oder wo private Angelegenheiten der
Botschafter die öffentlichen durchziehen, zeigt
sich bei allem sonstigen Scharfblick des HG.,
dem nur schwerlich Anerkennung versagt wer-
den dürfte, die vollkommene Unzulänglichkeit
s
Acta Joannis III. regn. ill. ed. Walisze wski. 1169
der so fiüfechEch von ihm eingeschlagenen Me»
tbode.
Diese Methode ist nnn freilich nicht das Ko-
lumbus-Ei des HG. Sie ist oder sie soll wohl
keine andere sein, als die, welche vor 45 Jah-
ren Mignet mit dem ersten Bande seiner Ne-
gotiations relatives k la succession d'Espagne
in die historische Wissenschaft mit einer Mei-
sterschaft eingeführt hatte, der ein Bänke seine
Anerkennung nicht hat versagen können. Nun
wird aber das Obengesagte den Unterschied
zwischen Beiden wohl klar gemacht haben, und
in der That möchte ich das in Bede stehende
Buch eher des confusen Orlich sogenannter Ge-
schichte des preußischen Staats im 17. Jahrh.
an die Seite setzen, wobei jedoch die Verglei«
chung entschieden zu Gunsten des HG. ausfallen
müßte, der auch bescheiden genug ist, seine
Arbeit nicht als eine Geschichte der französisch*
polnischen Diplomatie unter Johann HL, son«
dem als das bloße Material dazu ansehen zu
wollen — eine Bescheidenheit, die rühmens-
werth wäre, wenn nicht gerade sie die unselige
Halbheit in der Auffassung des HG. verschul-
det hätte, welche es bewirkt hat, daß uns weder
ein quellenmäßiges Geschichtswerk, noch auch
ein anspruchsloses Urkundenbuch , sondern eine
von einem mehr oder minder entbehrlichen Com-
mentar durchzogene sehr confuse Materialien-
Sammlung vorliegt.
Was nun diesen Commentar betrifft, so soll
nicht im Mindesten in Abrede gestellt werden,
daß HG., dem es an constructiver Fähigkeit
und scharfsinniger Combinierungsgabe ganz und
gar nicht fehlt, daselbst nicht mitunter Manches
ausgesprochen hätte, was der einstige Historiker
Johann'« III. werde berücksichtigen müssen ; im
74
1170 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 37.
Ganzen tritt jedoch der historische Dilettantis-
mus des HG. auch hier stark hervor. Be-
hauptungen werden gewagt, die nichts weniger
als begründet sind, schwierige Probleme auf
wahrhaft dilatorische Art mit einem Machtwort
entschieden (so beispielsweise die Absicht Jo-
hanna III. Polen in ein erbliches Königthum
zu verwandeln und sich absolut zu machen, s.
S. 151); nicht selten tritt eine überraschende
Unkenntniß der allgemeinen Geschichte an den
Tag, so wenn HG. ein Schriftstück, betitelt:
projet d'articles (Tun traite ä faire avec le roi
de Pologne als einen Gommentar zu dem am
11. Juni 1675 zwischen Frankreich und Polen
abgeschlossenen Schutz- und Trutz-Bündnisse an-
sieht, und es daher aus dem benannten Jahre,
1675, stammen läßt, mit der ausdrücklichen,
rein aus der Luft gegriffenen Bemerkung, daß
es aus der Kanzlei des Bischofs von Marseille
(damaligen französischen Gesandten in Polen)
komme (S. 212), während doch in diesem Pro-
ject, anderer Merkmale nicht zu gedenken,
ganz deutlich von den in Folge des Nimwe-
ger-Friedens dem französichen Könige in
Deutschland zuerkannten Erwerbungen die
Bede ist. Ein ander Mal, in der mysteriösen
Sache des H. Brisacier, eines französischen
Abenteurers, der sich durch Vermittlung des
polnischen Königs, Dank einer wirklichen oder
fingierten Blutsverwandtschaft, mit ihm, von Lud-
wig XIV. den Titel eines due et pair de France
erschachern wollte, versteigt sich HG., um die
Behauptungen französicher Schriftsteller zu wi-
derlegen, wonach zwischen Johann III. und der
Mutter des erwähnten Brisacier einst, vor Jah-
ren, unerlaubte Beziehungen stattgefunden hät-
ten, sogar bis zu der Muthmaßung, solche Be-
Acta Joannis III. regn. UL ed. Walisze wski. 1171
Ziehungen hätten vielmehr zwischen der fran-
zösischen Königin (Maria Theresia) und ihrem
Secretär, dem erwähnten Brisacier, bestanden.
Deutet dies doch auf eine völlige Unkenntniß
des Charakters und der Neigungen der erwähn-
ten Prinzessin, von der ihr Gemahl, als sie ge-
storben, bekanntlich die Worte gesagt hat:
G'est le seul deplaisir qu'elle m'ait donne. —
Rühmend muß ich des HG. Gewissenhaftigkeit
in der Gitierung erwähnen.
Nachdem vor mehreren Jahren die Krakauer
Akademie der Wissenschaften den Grundsatz
als bindend für sich aufgestellt hatte, daß alle
akademischen Publikationen, die nicht nur die
polnische, sondern die allgemeine Wissenschaft
interessieren könnten, in einer auch den aus-
ländischen Gelehrten zugänglichen Sprache ver-
öffentlicht werden sollten, so dürfte man billig
glauben, daß, da gegenwärtige Publikation im
Verlage und unter den Auspizien der Akademie
erschienen, obiger Grundsatz in ihr befolgt wor-
den wäre, wie beispielsweise in der soeben
herausgegebenen Correspondenz des Cardinais
Hosius, und andern. Dem ist aber nicht so.
Außer einem allgemeinen Verzeichniß aller in
den betreffenden Archivbänden enthaltenen Ak-
ten und ihrem Inhalt, welcher in französischer
Sprache gegeben ist, sind die Einleitung sowohl
als alle übrigens ziemlich dürftigen Anmerkun-
gen, und vor Allem der die Aktenstücke ver-
bindende und excerpierende Commentar in pol-
nischer Sprache verfaßt. Dies ist um so be-
dauernswerther, als die Aktenstücke mit ver-
schwindend wenigen Ausnahmen alle in fran-
zösischer Sprache abgefaßt sind, als ferner HG.,
der seine Doctorthese an der pariser faculty de
droit mit brillantem Erfolg vertheidigt, der fran-
74*
1172 Gott gel. Anz. 1880. Stück 37.
zösischen Sprache in hohem Grade mächtig ist,
und als endlich der Inhalt des zu besprechen-
den Bandes nicht nur ein speziell polnisches,
sondern ein allgemein geschichtliches Interesse
und zwar in ziemlich hohem Maße zu bean-
spruchen im Stande ist.
Es ist dieser Inhalt ein zu reichhaltiger, als
daß ich es versuchen könnte, mehr als einen
sehr allgemeinen Begriff von ihm hier zu ge-
ben. Nicht weniger als 18, und rechnet man
die Copieen ab, 15 starke Archivfolianten hat
HG. in den — freilich auch starken — Band,
den wir besprechen, zusammengepreßt. Nur ne-
benbei sei bemerkt, daß uns diese Sparsamkeit
des HG. ein wenig übertrieben scheint Aas
dem obenerwähnten Aktenverzeichniß ersieht
man, daß sehr wichtige Aktenstücke ganz un-
gedruckt geblieben sind, so z.B. der p> 524 er-
wähnte offizielle Bericht der polnischen Regie-
rung über die Ereignisse vor und bei Zurawno
(24. Sept bis 18. October 1676). Nun bat frei-
lich gegenwärtige Publication vor Allem den
Zweck, die diplomatische Geschichte Johanns III.
zu beleuchten, doch, frage ich, wo hofft man
denn besseres Material für jene, die kriegeri-
schen Ereignisse finden zu können? Wenn nicht
unbekannt ist, wie arg es mit der polnischen
Kriegsgeschichte steht, wie oft unsere ganze
Kunde über wichtige und zwar glorreiche Feld-
züge auf ein paar lumpigen Notizen beruht, die
uns ein mehr oder minder gut unterrichteter
Chronist oder auch ein beschränkter Memoiren»
Schreiber, der vor lauter Bäumen in der Regel
den Wald nicht sah, hinterlassen haben, der
wird das Verlangen nicht ungerechtfertigt fin-
den, daß solche amtliche Aufzeichnungen nicht
vernachlässigt werden. Dieses nur beispiels-
Acta Joannis IIL regn. ill. ed. Waliszewski. 1 173
weise, denn auch sonst finde ich, daß HG. zu
stark Papier and Druckerschwärze gespart hat
— Der gegebene Inhalt nun wird gebildet
durch die Originaldepeschen der französischen
Gesandten in Polen (des Bischofs von Marseille
und des später ihm zugesellten, zuletzt allein
thätigen Marquis de Bethune) an das Versailler
Cabinet und durch die meist in Minuten ent-
haltene Correspondenz, dieses letzteren. Die
Correspondenz geht in diesem ersten Bande von
Anfang 1674 (dem Interregnum nach dem Tode
König Michaels) bis Ende 1677, einem Zeit-
punkte, in welchem der bis dahin klare Hori-
zont des französisch-polnischen Einverständnisses
wegen Nichterfüllung gegenseitiger Verpflichtun-
gen sich ganz unvermerkt zu trüben anfängt,
und das daraus keimende Mißvergnügen des
polnischen Hofes allmählich österreichischen Ein-
flüssen Platz zu machen beginnt, die freilich
erst in dem Bündniß vom 31. März 1683 und
in seiner Consequenz, der Entsetzung Wiens, ih-
ren vorläufigen Höhepunkt erreichen. In die-
sem ersten Zeitabschnitte indessen herrscht die
französische Politik unumschränkt in Polen, des-
sen König von jeher der französischen Partei
ergeben, jetzt dem französischen Einflüsse zum
guten Theil seine Krone verdankt und als ge-
wesener französischer Mousquetier und Gemahl
einer französischen Marquise, sich ganz und
gar nicht sträubt, wie bis nun so auch ferner-
hin, an dem Triumphwagen des roi-soleil mit-
zuziehen. Diesem so wohlgesinnten König die
Hände loszubinden, ihn von dem von seinem
Vorgänger ihm übermachten schweren Ttirken-
kriege zu befreien, und ihn dann, sei es auf
den Kaiser oder den Kurfürsten von Branden-
burg zu hetzen, ihn zu diesem Behufe, dort mit
1174 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 37.
Schlesien^, hier mit Ostpreußens Erwerbung, in
beiden Fällen mit klingenden Snbsidien zu kö-
dern — das sind die Absichten nnd Ziele der
französischen Diplomatie. Es gelingt ihr denn
auch, nach vorgängigen noch im J. 1674 abge-
schlossenen Präliminarien, den König am 11.
Juni 1675 znm definitiven Abschluß des ersehn-
ten Schutz- und Trutzbündnisses zu bringen *),
doch der Ttirkenkrieg zieht sich, allen Friedens-
bestrebungen zum Trotz, bis in das dritte Jahr
hin, wo denn endlich nach Wechsel vollem, ein
hohes dramatisches Interesse beanspruchendem
Kampfe der Friede von Zurawno (1676 16. Oc-
tober abgeschlossen) dem König zur Erfüllung
seiner Verpflichtungen freie Hand zu lassen
scheint. Indeß die in Folge der schwedischen
Niederlagen veränderte Sachlage in Norddeutsch-
land, sowie die Schwierigkeiten, welche die
polnische Verfassung jedem selbständigen Han-
deln des Königs entgegensetzt, lassen auch das
folgende Jahr 1677 verstreichen, ohne daß Polen
an dem großen europäischen Kampfe thätigen
Antheil genommen. Die Pläne auf Schlesien
werden gänzlich fallen gelassen und nur in
Ungarn wird unter französischem Einflüsse und
geheimer Connivenz des polnischen Königs, zum
größten Theil mit abgedankten polnischen Trup-
pen, eine schwache Diversion versucht. End-
*) S. 210. Dieses wichtige Document ist hier nach
dem Original abgedruckt worden. Wenn ich mich recht
erinnere, so ist dasselbe Aktenstück schon früher im An-
hange zu Mörner's Buch: Preußens Staatsverträge abge-
druckt worden, und zwar gleichfalls nach dem Original.
Eine Vergleichung dieser beiden Abdrücke wäre wün-
schenswert!) gewesen, doch ist Mörner's Buch, wie so
viele andere wichtige deutsche Publicationen, auf der
Pariser National-Bibliothek nicht vorhanden.
Acta Joannis in. regn. ill. ed. Waliszewski. 1 175
lieh verspricht ein Btindniß Johanns ITT. mit
Schweden (21. August 1677) bessere Aussichten
für das folgende Jahr.
Dies der Inhalt des Bandes, der in seinen
allgemeinsten Grundzügen freilich schon ans
Pomponne's Denkwürdigkeiten bekannt' war.
Manches ganz Nene wird hier der ausländische
Gelehrte finden, helle Streiflichter fallen zumal
anf die bei Mignet so vernachlässigten preußi-
schen und ungarischen Angelegenheiten. Was
speziell die polnischen Sachen betrifft, so be-
greift man, daß bei der vertrauten Stellung, die
die französischen Gesandten, und namentlich der
zweite von ihnen, Bethune, als Schwager der
Königin, an dem polnischem Hofe einnahm,
das in Bede stehende Material von ganz eigen-
tümlicher Wichtigkeit für den Forscher sein
muß. Der französische Gesandte ist in der
That, wenn auch nicht der allmächtige (denn
das ist ja der polnische König selbst nicht), so
doch entschieden der allumfassende und Alles
beeinflussende Minister des polnischen Königs:
wie die äußere, so bestimmt er auch die ihr
in diesem Zeitraum untergeordnete innere Poli-
tik; keine Stelle wird vergeben, ohne daß sein
Einfluß hiebei im Spiele wäre, bei allen Fra-
gen wird regelmäßig er zu Rathe gezogen,
Nichts von Bedeutung wird ohne ihn entschie-
den; ja da der polnische Schatz in der Regel
leer ist und also er das Subsidiengeld hergeben
muß, so ist er gewissermaßen auch der Schatz-
meister des polnischen Hofes. Hiemit soll nun
freilich nicht gesagt werden, daß der siegge
krönte General, dem er zum Throne verholfen,
zu seinem gehorsamen Diener herabsinkt. Bei
aller seiner durch die Umstände wohl noch
mehr als durch seine persönlichen Neigungen
1176 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 37.
bedingten Abhängigkeit von dem französischen
Hof tritt nns dennoch die Persönlichkeit des
glorreichen Türkenbesiegers in sehr respectable?
Gestalt vor die Augen, jedenfalls aber in einer
Weise, die von der bisherigen bedeutend ab-
weicht Wie verfrüht auch schon heute das
endgiltige Urtheil über Sobieski sein müßte,
dies scheint aus dem neuen Material mit ziem-
licher Klarheit hervorzugehen, daß die bisherige
Anschauung, die in ihm in erster Linie nur
den sympathischen Liebhaber und den tüchtigen
Haudegen gesehen, eine ziemlich unhistorische
gewesen. An die Stelle des bisherigen bald
sinnlich sentimentalen, bald feurig stürmischen
Romanhelden tritt uns aus gegenwärtigem Ma-
terial ein Mann von hoher, durchdringender In-
telligenz, von bedächtiger Erwägung, von kalt-
berechnendem Verstände, mit einem Worte ein
geschulter Politiker entgegen. Für seine seltene
Geistesgegenwart nur ein Beispiel: Der Ge-
sandte des siebenbürgischen Wojewoden, de?
über einen geheimen Tractat mit dem polnischen
Könige zu unterhandeln gekommen ist, begeht
in feierlicher Audienz den Fehler, anstatt sei-
nes Creditivs das geheime, für den König allein
bestimmte Schreiben seines Herrn zu überrei-
chen. Schon hat der Großkanzler das Schrei-
ben laut zu lesen begonnen, als der König bei
den ersten Worten den Irrthum gewahrend ihm
plötzlich das Schreiben aus der Hand nimmt
und ohne eine Miene zu verändern darin zu
lesen fortfährt, aber indem er den geheimen
Inhalt des Briefes durch die üblichen Phrasen
der offiziellen Gorrespondenz ersetzt, ohne, wie
es der dabei wahrscheinlich gegenwärtige fran-
zösische Gesandte ausdrücklich bemerkt, bei den
anwesenden Senatoren auch nur den geringsten
Acta Joannis III. regn. ill. ed. Waliszewski. 1177
Verdacht zu erwecken (Bethune an Louis XIV.
23. Mai 1677, S. 395). — Dem kühnen Enthu-
siasten, den wir bis dahin freilich nur ans der
intimen Correspondenz mit seinem „Herzliebsten
Marieehen" und etwa ans dem unhistorischen
Roman des H. Salvandy gekannt haben, ent-
fallen wohl mitunter Worte, wie sie im Munde
eines Schülers Macchiavell's nicht anders hät-
ten lauten können. „. . . Eventus non causae
bellorum quaeruntur" sagt er wohl gelegentlich
zum schwedischen Gesandten, bei Erwägung
der Aussichten eines in Gemeinschaft mit den
Schweden gegen den Kurfürsten von Branden-
burg zu unternehmenden Feldzuges. — Meiner
Ansicht nach ersteht uns freilich in dem neuen
Material nicht nur der berechnende und erwä-
gende Sobieski, sondern, und das ist sicherlich
nur eine Consequenz jener Eigenschaften, der
ewige Gunctator Sobieski. Eben jener Wider-
streit der so entgegengesetzten Eigenschaften,
einer leicht erregbaren, feurigen Gemüthsart bei
einer trotzdem bedächtig erwägenden, fast ver-
schlossenen, immer argwöhnischen, fast möchte
man sagen geheimnisvollen Seele, scheint mir
die unglückselige Zauderei veranlaßt zu haben,
die die Gesandten so oft als irresolution und
lenteur bezeichnen, die ihn selbst die schönsten
Gelegenheiten seines Lebens unbenutzt verstrei-
chen und seinem Volke, das er auf andere Bah-
nen zu führen berufen schien, seine eminenten
Gaben nicht recht frommen ließ. — Hr. W. geht
in seiner macchiavellistischen (wenn ich mich so
ausdrücken darf) Auffassung Sobieskfs freilich
zu weit, wenn er, ganz im Widerstreit mit dem
urkundlichen Material, das er selber herausge-
geben, behauptet, Sobieski hätte in der Wahl-
angelegenheit von 1674 von Anfang an nur
daran gedacht, sich selbst den Weg zum Thron
1178 Gott, gel, Anz. 1880. Stück 37.
zu bahnen, und hätten ihm die französische und
neuburgische Candidatur, zu denen er sich
öffentlich bekannte, nur als Mittel gedient, jene
eigenen ehrgeizigen Pläne zu erreichen. Ich
glaube wo anders den Beweis erbracht zu ha-
ben, daß dem nicht so war, daß Sobieski in
der That dem Cond6 die Krone zuwenden wollte,
und daß er an sich selbst erst dann zu denken
begann, als es sich herausstellte, daß weder der
französische Kandidat, noch auch sein Ersatz-
mann, der Herzog von Neuburg, angesichts des
Widerstandes der lithauischen Partei, welche
den Lothringer trug, werde durchdringen können.
Der Text der Urkunden ist fast überall
richtig gelesen, doch bemerke ich, daß S. 236
anstatt der Conjectur des HG., der in dem
Satze: „Le pape ä qui par la seule concession
d'une petite partie des dimes dTtalie Ton don-
nait ä entendre qn'il faisait beaucoup, se con-
tenta de la colore, an die Stelle des sinnlosen
edlere — de la collecte setzen will, wohl de
Vaecorder zu lesen wäre; ähnlich S. 311 anstatt
j'ai manque — j'ai marque. S. 334 in dem
Satze: «Tai compris la politique que Ton avait
de rendre mon emploi possible et desagreable —
penible et d6sagreable. S. 352 anstatt: La reine
d6sira ^engager M. de Maligny — cPenvoyer.
S. 60 müßte wohl anstatt: ... il donneront (sie)
le bäton et le pouvoir de grand marshal —
il gardera gesetzt werden, denn nur dieses
giebt den richtigen Sinn.
Eine schöne dem HG. nach Inhalt und Form
alle Ehre machende Einleitung geht den Docu-
menten voraus. Die äußere Form der Publika-
tion ist einer Akademieschrift würdig, das ganze
Werk auf 4—5 Bände berechnet, die alle vor
1883 im Drucke erscheinen sollen.
Parias. S. Lukas.
Wolfsgruber, Giovanni Gersen. ^ 1179
Giovanni Gersen, sein Leben und
sein Werk de Imitatione Christi vonDr.
Coelestin Wolfsgruber. Mit Facsimiles meh-
rerer wichtiger Codices. Augsburg. Max Huttier.
1880. 268 Seiten in Octav.
Wenn die Arbeit des Verfassers dieselbe An-
erkennung verdiente wie die Leistung des Ver-
legers, so würde eine kritische Anzeige dieses
Werkes nur Lobsprtiche enthalten. Die Ausstat-
tung in Papier und Typen ist sehr hübsch ; auch
die Facsimile-Beigaben, deren letzte ein saube-
res Bildchen hat, sind sehr sorgfältig hergestellt.
Aber zu der Eleganz der Ausstattung stimmen
recht übel die zahlreichen Druckfehler, welche
wesentlich dem Verfasser zur Last fallen werden ;
namentlich in französischen Citaten finden wir
recht häßliche Fehler (vgl. S. 43, Z. 3 v. u.
103, 6 v. u. 105, 2 v. u. 136, 6. 150, 4. 177, 13.
17. 184, 4 v.u. 199, 6 v.u. 209, 4. 8, wo hinter
Saint der Name fehlt. Ferner : 52, 2. 59, 9 v. u.
62,23. 63,3.21. 163,21. 168,13).
Der Verfasser ist ein Benedictiner in dem
Schottenstifte zu Wien. Seine vorliegende Ar-
beit reiht sich den zahllosen Versuchen der Be-
nedictiner an, den in der ganzen Christenheit
gefeierten Tractat de imitatione Christi einem
Autor ihres Ordens, und zwar dem angeblich in
das 13. Jahrhundert gehörenden Abte von St.
Stephan in Vercelli Giovanni Gersen, zu vindi-
cieren. Der Verfasser ist seiner Sache zweifellos
gewiß. Der berühmte Tractat ist, wenn wir ihm
glauben, schon ein Jahrhundert vor der Existenz
des Thomas a Kempis geschrieben, und zwar in
Italien, von einem Benedictiner, von dem Abte
Joh. Gersen, welchem man i. J. 1874 in Ca-
vaglia, seiner Vaterstadt, schon ein Denkmal ge-
1180 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 37.
setzt bat und welchem man auch in Vercelli
eins zu setzen beabsichtigt. Aber selbst solchen
Beweisen gegenüber wird die historische Kritik
bei ihrem Zweifel, ob es jemals einen Abt Joh.
Gersen gegeben habe, verharren.
Das Werk des Verfassers zerfällt in zwei
Haupttheile. Zunächst wird uns „das Leben des
Giovanni Gersen" (S. 3— 16) vorgeführt; sodann
handelt der zweite Theil (S. 19—206) von „Ger-
sen's Schrift De imitatione Christi", indem im
ersten Abschnitt zur Charakterisierung jener
Schrift; der Inhalt derselben angegeben und die
„Vortrefflichkeit" derselben gerühmt wird, wäh-
rend im zweiten Abschnitte die „Frage nach dem
Verfasser" erörtert wird. Im Anhange (S. 209 ff.)
werden zuerst die unserm Verfasser bekanntge-
wordenen Handschriften derlmitatio, sodann die
handschriftlichen Erörterungen über den Autor
des Tractats, welche sich namentlich in österrei-
chischen und baierischen Bibliotheken befinden,
aufgeführt. Dann folgt eine tabellarische Ueber-
sicht über „die Controversisten und ihre Schrif-
ten", endlich kommen die schon erwähnten Fac-
simile-Beigaben. Nicht nur solche Leute, welche
der lutherischen und reformierten Ketzerei (vgl.
S. 134) huldigen und in geschichtlichen Dingen
recht ungläubig sein können, sondern auch sehr
gute Katholiken haben den Vercellenser Abt Joh.
Gersen für ein Phantasiegebilde angesehen. Mit
hohem Interesse wird man also die von unserm
Verfasser dargebotene Lebensbeschreibung des
Mannes zur Hand nehmen; aber man wird auch
nicht leicht eine gründlichere Enttäuschung er-
leben. Wenn wir von dieser Lebensbeschreibung
das geographische, literarische und sonstige Bei-
werk abrechnen, wenn wir ferner die Mittheilun-
gen aus derlmitatio und — wie doch angesichts
Wolfsgruber, Giovanni Gersen. 1181
der äußerst zweifelhaften Frage nicht nur nach
der Autorschaft,' sondern anch nach der Existenz
des Gersen billig ist — die ans derselben erho-
bene Charakteristik des Mannes beiseitelassen,
so bleibt in der That an beglaubigten geschicht-
lichen Daten gar nichts übrig. Der Verfasser
selbst muß mit dem Geständnis beginnen (S. 3),
daß wir von Gersen »wenig oder gar nichts wis-
senc, und er hat zu bedauern (S. 14), daß „un-
sere directen Zeugnisse für Gersen — mit Aus-
nahme der Manuscripte der Imitatio Christi —
nicht über den Anfang des 17. Jahrhunderts
hinausreichen und daß wir keine gleichzeitigen
Documente mehr haben a.
Wenn nun die Manuscripte, welche ja zum Theil
über die Zeit des Thomas a Kempis hinaufreichen sollen,
wirklich für die Existenz des Jon. Qersen and für dessen
Autorschaft in Betreff der Imitatio Zeugnis ablegten, so
würden dies directe und vielleicht sogar gleichzeitige
Zeugnisse sein. Aber die Sachen stehen vielmehr so, da£
es schwer begreiflich sein würde, wie man den Muth fin-
det, derartige Zeugnisse immer wieder vorzubringen,
wenn nicht die Eifersucht und die Eitelkeit der Bene-
dictiner einerseits und andererseits der Angehörigen freie*
ren Vereinigungen, wie die Brüder des gemeinsamen Le-
bens bildeten, und anderer Orden, wie der Augustiner,
iheilweis auch der Jesuiten, seit etwa drei Jahrhunderten
Anlaß zu einer literarischen Fehde gegeben hätte, welche
wegen der Unzahl der Streitschriften, wegen der Heftig-
keit des Kampfes, wegen der Betheiligung von höchsten
Organen des Staats und der Kirche und wegen der ver-
wunderlichen Beschaffenheit der Argumente und vorge-
führten Zeugnisse schwerlich ihres gleichen hat. Um
von unsers Verfassers Leistung in dieser Hinsicht eine
Vorstellung zu gewinnen, müssen wir über seine Lebens-
beschreibung des Joh. Gersen hinausgreifen und uns an
den zweiten, kritischen Haupttheil seines Buches halten.
Schon in der Vita (S 14 f.) wird auf ein angeblich hand-
schriftliches Zeugnis Bezug genommen, welches uns nach-
her (S. 149 f.) noch einmal mit vielen Worten vorgehal-
ten wird. In dem angeblich aus dem 14* Jahrhundert
1182 Gott, gel, Anz. 1880. Stück 37.
stammenden Cod. Cavensis findet sich in dem ersten Ini-
tialen neben dem Bildnisse eines schwarzen Mönchs die
Umschrift : Joannes Gersen De Canabaco Abbas S. Steph.
Vercell. Ordinis S. Benedicts Giaruit An. 1220. Wenn
hiebei alles in Ordnung wäre, so würde die Sache mit
einem Schlage erledigt sein. Aber die Sache ist durch-
aus nicht in Ordnung; die inhaltsreiche Inschrift ist ein
Falsum. Gregory, welcher im Anfange dieses Jahrhun-
derts den Codex gefunden hat und für Joh. Gersen als
eifriger Anwalt aufgetreten ist, erwähnt jene Inschrift
noch nicht. Erst im J. 1877 wird ihr der Geburtsschein
ausgestellt. Mit einem andern handschriftlichen Zeug-
nisse für Gersen verhält es sich folgendermaßen. Im
Jahre 1830 fand Gregory bei einem Pariser Antiquar
einen Codex der Imitatio, angeblich aus dem 14. Jahr-
hundert. Nach einer Notiz auf dem Einbände hatte der
Codex einst einem Mitgliede der Familie De Advocatis
(degli Avogadri) gehört. Gregory forscht weiter nach
und findet in Italien nicht nur den als einstigen Besitzer
des Codex genannten Mann als i. J. 1527 lebend, son-
dern auch ein altes Familientagebuch, welches glück-
licherweise von 1845 bis 1850 reicht und in welchem
zum Jahre 1849 notiert ist, daß ein Graf A vogadro einen
schon seit langer Zeit der Familie gehörenden Codex der
Imitatio verschenkt habe. Wer nun dies alles für baare
Münze hält und jenen in Paris gefundenen Codex fur den
i. J. 1349 verschenkten annimmt, der kann allerdings
nicht mehr zweifeln, daß die Imitatio einen andern Au-
tor haben müsse, als den i. J. 1380 geborenen Thomas
a Eempis. — Nehmen wir zu solchen urkundlichen Er-
örterungen unsere Verfassers noch ein Argument anderer
Art, so wird seine Kunst hinreichend charakterisiert sein.
In der Imitatio findet sich ein Wort des Franciscus von
Assisi, und zwar mit der Formel ait. »Aus dem Prae-
sens ait schließen wir, daß die Im. von einem Zeitge-
nossen des hl. Fr. geschrieben ist« (S. 192).
Handschriften und Incunabeln führen sehr deutlich
auf die längst ausgesprochene Meinung, daß der ver-
meintliche Vercellenser Joh. Gersen sein Scheinleben le-
diglich einer Verwechslung mit dem berühmten Kanzler
Joh. Gerson verdankt. Diesem ist häufig die Abfassung
des Buches, welches auch mit zweifellos Gersonschen
Tractaten wiederholt ediert wurde, zugeschrieben. Den
Namen Gerson finden wir in den Handschriften nicht
Wolfsgruber, Giovanni Gergen. 1183
selten verkürzt in Gen., Ges. and verderbt in Genen,
Gessen. Nicht selten begegnen ans handschriftliche An-
gaben über den Autor, welcher einerseits Joh. Gersen
genannt, andererseits zugleich als Pariser Kanzler be-
zeichnet wird. Alles was unser Verfasser zur Verdunke-
lung dieses Punktes und für seinen Schützling Gersen
von Vercelli gesagt hat, scheint mir vergeblich geredet
zu sein.
Günstiger kann sich, glaube ich, das Urtheil über
einen andern Theil seiner Arbeit gestalten, ich meine
die Bedenken, welche er gegen die Autorschaft des Tho-
mas a Eempis geltend macht. Daß der Cod. Antver-
piensis vom Jahre 1441, welchen Hirsche seiner Edition
zu Grunde gelegt hat, nicht die Originalhandschrift des
Thomas, sondern nur eine von diesem angefertigte, und
zwar ziemlich fehlerhafte, Copie sei, scheint mir unser
Verfasser mit guten Gründen zu behaupten. Die neue
Facsimile-Ausgabe der Handschrift, welche Gh. Ruelens
besorgt hat (The Imitation of Christ, being the auto-
graph manuscript of Thomas a Kempis. London 1879),
wird hoffentlich zur Gewinnung eines sichern Urtheils
wesentlich beitragen. Darin scheint mir unser Verfasser
Recht zu haben, wenn er leugnet, daß die Notiz am
Ende der Handschrift »Finitus et completus anno Domini
1441 per manus fratris Thomae Eempensis. In monteS.
Agnetis prope Zwollis« zweifellos bezeuge, daß dieselbe
das Autographon des Autors sei Im Hinblick auf die
sonst vorhandenen Bezeugungen, daß Thomas, gleich den
übrigen Brüdern von St. Agnes, pro domo et pro pretio,
fleißig Bücher abgeschrieben und daß er daneben auch
selbst Tractate verfaßt habe (composuit), liegt es recht
nahe, jene Notiz auf den bloßen Abschreiber zu be-
ziehen; der Name desselben war in der That wichtig,
um für die Treue der Abschrift, wenn sie verkauft wer-
den sollte, Bürgschaft zu gewähren. Es wird aber auf
eine genaue Prüfung des innern Gehaltes der Handschrift
ankommen, um endlich die Streitfrage zu erledigen.
Auch dasjenige, was Wolfsgruber in Betreff der übri-
gen, für Thomas geltend gemachten Handschriften ein-
wendet, namentlich in Betreff der Kirchheimschen und
der Gaesdonckschen Handschrift, wird zu einer neuen
Prüfung der Urkunden Anlaß bieten.
Unter den Gründen der innern Kritik, welche unser
Verfasser gegen Thomas geltend macht, scheint mir be-
1184 Gott. gel. Adz, 1880. Stück 37,
sondern von Gewicht, was er wegen der Marienverehrung
vorlegt, welche in den unzweifelhaft ächten Schriften des
Thomas stark hervortritt, in der Imitatio aber kaum
eine Spur hat. Dagegen ist die Bemühung Wolfsgrubers,
die zahlreichen und ganz unverkennbaren Germanismen
in der Redeweise des Buches zu beseitigen, ohne Zweifel
als vergeblich zu bezeichnen. Unbefriedigend ist ferner
die Erörterung unsere Kritikers über die beiden wichti-
gen Zeugnisse far Thomas, welche sich bei Johann vom
Busch, in seiner Windesheimer Chronik, und bei dem
Abt Trithemius in seinem Catalogue finden. Beide Man-
ner sind Zeitgenossen des Thomas. DerErstere bezeich*
net mit dürren Worten den Thomas als den Verfasser
der Imitatio, ein Zeugnis, dessen Wolfsgruber, gleich
seinen Vorgängern, sich nur dadurch erwehren kann,
daß er die bezüglichen Worte für einen spätem Zusatz
erklärt (S. 70. 104. 134). Die Aussage des Trithemius
ist allerdings unbestimmter; schon zu seiner Zeit, kaum
ein Menschenalter nach dem Tode des Thomas, war es
ungewiß geworden, ob dieser oder etwa sein Bruder die
Imitatio geschrieben habe. Diesen Zweifel drückt der
gelehrte Abt aus; aber er hegt nicht den leisesten Zwei-
fel darüber, daß das Buch aus dem Kloster St. Agnes
herstamme und von einem der beiden Brüder verfsßt
sei. Es ist zu hoffen, daß Hirsche, welchem das erfor-
derliche Material zu Gebote steht, in dem noch zu er-
wartenden zweiten Bande seines Werkes über die Imi-
tatio die noch unsicher erscheinenden Momente der kri-
tischen Frage befriedigend erledigen wird.
Eine besondere Anerkennung verdient Wolüsgruber
fur die in dem Anhange gegebenen Beschreibungen des
umfangreichen handschriftlichen Materials und für die
tabellarische Uebersicht der Con trovers- Literatur, in wel-
cher die Gersenisten, die Gersonisten und die Thomisten,
nach den drei Jahrhunderten des Streites geordnet, in
langen Reihen, wenn schon nicht unbedingt vollzählig,
mit ihren Schriften aufgeführt werden.
Hannover. D. Fr. Düsterdieck.
Für die Redaction rerantwortlich : R Rehnisck, Director d. Gtött. gel. An*.
Commissions -Verlag der Diefaich'achmi Verlags - Buchhandlung.
Druck der Dieterich' sehen Univ.- Buchdruckerei ( W. Fr. KaestnerK
1185
Göttingische
'CT 1 8 lEc J
OCT 18
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsieht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stfiok 38. 22. September 1880.
Walt: II Bepesto di Farfa. Vol. II. Ton A. «. Rtumont
— <*. Busolt, Dm Lakedaimanier mnd ihre Bundesgenossen. 1. Bd.
Von Brich Wüück. — W. Rutherford, An experimental research
on the physiological actions of drags on the iocretion of bile. Yon
Tk. Bmßmmn,
= Eigenmächtiger Abdruck Ton Artikeln der Gtitt. gel. Ans. Terboten ss
II Begesto di Farfa compilato da Gre-
gorio di Catinoe pubblicato dalla Societä
romana di storia natria a cnra di I. Giorgi
e U. BalzanL vol. II. Roma presso la So-
ciety 1879. XVI und 251 S. Fol. mit 2 Facsi-
miles.
Ueber Entstehung und Bedeutung des Re-
g;stenwerks von Farfa, welches in seinem Haupt-
eile dem letzten Decennium des eilften Jahr-
hunderts angehört, ist seit den spätem Zeiten,
des siebzehnten, in welchem dessen Benutzung
^u historischen Zwecken mit Du Gange ernst-
lich begann, mehrfach gehandelt worden. Ma-
billon und Muratori sprachen von dem Werke,
jener in dem Musaeum Italicum, dieser in den
Antiquitates m. aevi, Pier Lnigi Galletti erlangte
nicht ohne Mühe von den Mönchen die Erlaub-
75
1
1186 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 38.
niß eine Abschrift zu nehmen, unterzog sich der
langwierigen Arbeit und schenkte dieselbe,
welche nicht weniger als 14 Bände umfaßt, der
Vaticanischen Bibliothek. (Notizie spettanti alia
vita del P. Abate D. P. L. Galletti. Rom 1793.
S. 130 if., 155). Ozanam besprach in seinen
Documents in^dits von 1850 (S. 94—99) die
ebendaselbst (S. 185—194) mitgetheilten Einlei-
tungen in Bezug auf die Grühdungsgeschichte
des Klosters und' auf die Anlage des Regeste.
L. C. Bethmann, der im XI. Bande der Scripto-
res in den Mon. German, hist die Hist. Farfen-
ses druckte, handelte dabei von dem Urkunden-
werk, von welchem er glaubte es sei zur Zeit
der französischen Plünderungen nach Paris ge-
schafft und von dort zurückgebracht worden,
eine in andere Werke übergegangene irrige An-
gabe. Der fleißige Fortsetzer der Muratorischen
Annalen, Antonio Coppi, hat von den neueren
Schicksalen des Farfensischen Codex in hohem
Alter (1863) in einer handschriftlichen Notiz
berichtet, welche gegenwärtig demselben beige-
geben ist und von einem der Herausgeber,
J. Giorgi, in dem Aufsatze: „II Begesto di
Farfa" imArchivio dellaSocieta romana di Sto-
ria patria, Bd. IL, S. 409 ff., mitgetheilt wird.
Dieser Auskunft gemäß, ist Bd. III. der Gal-
lettischen Abschrift abhanden gekommen, indem
er mit den Büchern des Gardinal-Staatssecretärs
Zelada, in dessen Gabinet er lag, nach seinem
Tode (1801) nach Toledo gesandt wurde. Nach
der Aufhebung der geistlichen Orden in der
Napoleonischen Zeit nahm der Unterpräfect von
Bieti, zu dessen Bezirk Farfa gehörte, den rie-
sigen Band weg und benutzte denselben als
Fußschemel. Ein in Born befindlicher Oheim
des Präfecten Grafen Camill Tournon, Fortin (?),
II Regesto di Farfa. Vol. II. 1187
vernahm von dem Verbleib des Codex and lieft
ihn sich senden, am ihn zu untersuchen. Als
dann im J. 1814 die Franzosen abzogen, war
das Regest von Farfa schon mit den Fortin'-
schen Büchern verpackt, um die Reise nach
Frankreich zu machen. Durch Intervention des
als Literat bekannten nachmaligen Marchese
Luigi Biondi wurde dies verhindert und die
neapolitanische provisorische Regierung lieft die
Handschrift in die Vaticanische Bibliothek brin-
gen, wo der Scriptor Luigi Armellini (der in
der Umwälzung von 1848 — 49 eine Rolle ge-
spielt hat) den Auftrag erhielt, die Gallettische
Copie zu vervollständigen. Die Arbeit war be-
gonnen, als die Wiederherstellung der Klöster
erfolgte, und der zum Abt von Farfa ernannte
P. Alessandri das Regest reclamierte, es jedoch
auf Veranlassung des mit ihm bekannten Goppi
einstweilen zum Behuf der Vollendung der Co-
pie in der Vaticana lieft, wo es geblieben ist,
da nach Alessandri's Tode keine neue Reclama-
tion erfolgte.
Die Geschichte Farfa's und die eigentüm-
liche Stellung des Klosters in den Beziehungen
zwischen Papstthum und Kaiserthum und den
zwischen beiden ausgebrochenen Kämpfen, sind
zu bekannt und namentlich in neuerer Zeit zu
oft in Betracht gezogen worden, als daß es no-
ting wäre hier darauf hinzuweisen. Auch für
Rom als mittelalterliche Stadt ist die Bedeutung
dieser Geschichte eine große, abgesehen von
dem Besitz, welchen die zu den Kaisern hal-
tende Abtei innerhalb ihrer Mauern hatte. So
war es leicht erklärlich, daft die römische Ge-
sellschaft für vaterländische Geschichte alsbald
nach ihrer Gründung (1878) den Plan der
Herausgabe des Regests von Farfa entwarf;
75*
1188 Gott gel. Anz. 1880. Sttck 38.
welches den Anfang der von ihr, neben dem
periodisch erscheinenden Archiv (bis jetzt Bd. I
— III) beabsichtigten Bibliothek bilden sollte.
Die HH. Ignazio Oiorgi nnd Ugo Balzani wur-
den mit der Heransgabe beauftragt, welche Er-
sterer gewissermaßen in dem obenerwähnten
Aufsatz verkündete. Der erste Theil des Wer-
kes liegt nun vor, und die Ausstattung ent-
spricht allen Anforderungen, die man heutzu-
tage an eine solche Publication machen kann,
welche nicht auf buchhändlerischen Absatz an-
gewiesen, aber ebensowenig vom gewöhnlichen
Verkehr ausgeschlossen ist. Das Format ist
klein Folio, der Druck, aus der mit Recht schon
seit mehreren Jahren gerühmten Anstalt von
Francesco Vigo zu Livorno, vortrefflich nnd mit
Lettern altern Stils, das gelbliche Büttenpapier
gleichmäßig und dauerhaft. Der Band enthält,
außer dem kurzen Vorwort, das Verzeichnis
nebst der gedrängten Inhaltangabe der in dem-
selben abgedruckten Documente No. 1 bis 299,
welche vom J. 705 bis 857 reichen, Prolog und
Praefatlo Gregorio's di Catino, das Verzeichniß
der wichtigeren mitgetheilten päpstlichen Privi-
legien und kaiserlichen, königlichen und herzog-
lichen Verleihungen, jenes der Aebte mit den
betreffenden chronologischen Angaben, endlich
den Vorbericht des Johannes Grammaticus, wel-
cher die Texte verglich und kundgiebt, wie un-
ter Abt Berardus, dem zweiten des Namens aus
florentinischer Familie, im J. 1092 während der
Regierung Kaiser Heinrichs IV., Gregorio di
Catino, der Sohn Donone's des Herrn dieses
Gastells, die Abschriften der Urkunden des Klo-
sters unternahm. Die Herausgeber haben sich
streng an dem vom Originalcodex gebotenen
Text gehalten und nur die Interpunction ge-
r
II Regesto di Farfa. Vol. II. 1189
regelt; wo dies Original Worte von jüngerer
Hand enthält, ist dies im Druck angegeben.
Jedem Document ist die Jahreszahl mit kurzer
Inhaltsangabe (wie gesagt zu Anfang des Ban-
des als Register zusammengestellt) am Rande
beigefügt; sachliche Anmerkungen unter dem
Text sind in verhältnißmäßig geringer Zahl. Da
die in dem Regest enthaltenen Urkunden in den
Originalen fast sämmtlioh verloren sind, war
von anderweiter kritischer Arbeit kaum die
Bede.
In der Ordnung der Publication der erste,
ist der vorliegende Band in der Reihenfolge der
zweite des Werkes — der erste wird zuletzt er-
scheinen, und da die Zahl der von Gregorio di
Catino und von seinem Neffen Todino copierten
Documente sich auf ungefähr 1360 beläuft, so
wird noch einige Zeit darüber hingehn, bis man
mit demselben die von Gregorio seiner riesigen
Arbeit beigefügten Register, welche wesentlich
für den praktischen Gebrauch der Sammlung
bestimmt waren, die Geschichte von Farfa, wel-
che wie gesagt ein wichtiges Kapitel bildet und
theilweise scharfe Contraste mit jener der Re-
formklöster des Mittelalters darbietet, und die
verschiedenen das Regest selber betreffenden
Mittheilungen erhalten wird. Einen Prodromus
bildet in gewisser Hinsicht der schon erwähnte
Aufsatz von Giorgi in der Zeitschrift der römischen
historischen Gesellschaft, der von dem Ursprung,
der Wiederherstellung und altern Geschichte des
Klosters und von den verschiedenen Werken
Gregorio's di Catino handelt und von drei wich-
tigen Beilagen begleitet ist. Die erste bespricht
den verlornen Libellus constructions Farfensis
mit Bezug aut den von Bethmann aufgefundenen
und publizierten Text. Die zweite enthält drei
1190 Gott. gel. Anz. 1880. Stttck 38.
ächte und eine unächte Kaiserurkunde, die Tier
einzigen ans dem Farfenser Archiv vorhandenen,
heute in der römischen Biblioteca Vittorio Ema-
nuele. Die älteste von Otto II. 981, wnrde von
Muratori sehr lückenhaft herausgegeben; die
zweite, von Heinrich IV. 1065, findet sich ^ im
Regest (im Original ohne Datum); die dritte,
von Conrad III. 1138, ist eine demselben Jahr-
hundert angehörende Fälschung; die vierte von
Friedrich L, 1185. Beide letztere sind Güter-
bestätigungen. In der dritten Beilage wird von
der bekannten antipäpstlichen Streitschrift „Ortho-
doxa defensio imperialis" gehandelt und deren
Entstehung in die dem Februar 1111 kurz
vorausgegangene Zeit gesetzt.
Die vaticanische Bibliothek- Verwaltung und
die römische Municipalität haben die schöne
Publication, von welcher hier nur eine kurze
Anzeige gegeben werden kann, bereitwilligst
gefördert.
Burtscheid. A. v. Renmont.
Die Lakedai monier und ihre Bundes-
genossen von Georg Busolt. Erster Band:
Bis zur Begründung der athenischen Seehege-
monie. Leipzig. B. G. Teubner 1878.
Seit K. 0. Müllers Dörfern ist kein Werk
erschienen, das in so ausgedehnter Weise die
politischen Verhältnisse des gesammten Pelopon-
nes behandelt wie diese Schrift Busolt's, nur
mit dem Unterschiede, daß Müller die Geschichte
der Halbinsel vom Standpunkt des dorischen
Stammes aus betrachtet, während B. in bewuß-
Bosolt, Die Lakedaimonier. Bd. L 1191
ter Polemik gegen die Auffassung Spartas als
eines specifisch dorischen Staates diesem viel-
mehr eine „großlacedämonische Politik u zuschreibt
und aus ihr die Entstehung des peloponnesischen
Staatenbundes erklärt. Diese Darstellung, wel-
che Keferent durch den Ausdruck „nüchtern"
am besten zu kennzeichnen glaubt, insofern sie
die von militärischer Ueberlegenheit unterstützte
Herrschgier Spartas als einzige Richtschnur sei-
ner Politik hinstellt, vertritt B. gegenüber ab-
weichenden Ansichten früherer Gelehrten, so be-
sonders Kortüm's, der einen alten Stammbund
der peloponnesischen Dorier annahm, und E.
Curtius', welcher die lacedämonische Hegemonie
im Anschluß an Olympia als religiösen Mittel-
punkt sich entwickeln läßt. Die lebhafte Pole-
mik B.'s ist es vor Allem, welche der Lecture
seines Werkes einen Reiz verleiht, den gewiß
nicht Ref. allein empfunden hat. — Der erste
Band, der bis jetzt vorliegt, zerfällt nach einer
vom Stoffe selbst bedingten Eintheilung in drei
Hauptabschnitte. Bevor die Entstehung eines
Bundes dargestellt werden kann, müssen die
einzelnen Glieder, die ihn bilden sollen, nach
ihrem Wesen untersucht werden; daher beginnt
das Werk mit einer Geschichte der Lacedämo-
nier, bei der die innere Entwickelung in den
Vordergrund tritt (Seite 1—65). Es folgt als
zweiter Theil die Geschichte der anderen pelo-
ponnesischen Staaten (außer Achaja) bis um
die Mitte des 6. Jahrh. (66—244), wobei die
äußere Geschichte Spartas überall da, wo es zu
den Nachbarn in Beziehung tritt, mitberücksich-
tigt ist. Aus diesem Theile des Werkes soll
unten ein Abschnitt etwas genauer betrachtet
werden. Den Schluß (245—477) bildet die Er-
zählung, wie die lacedämonische Hegemonie
1192 Gott gel Anz. 18 SO. Stück 38.
entstand und im Perserkriege sich fctun efstett
Male bewährte.
Mit besonderem Interesse hat Referent di*
auf die Geschichte Korinths bezüglichen län-
geren and kürzeren Stellen des Wef kes gelegen.
Die Geschichte dieser Stadt ist in den letzten
Jahren mehrfach behandelt worden, am bemfer-
kenswerthesten von E. Curtius (Hermes X, 2,
213 sq.) , der durch Heranziehung des Münz-
wesens neue Resultate bes. für das Verhältnis
zu den Colonien zu gewinnen versucht. Hier-
von abgesehn muß sich die ältere Geschichts-
schreibung von Eorinth begnügen eine Anzahl
verstreuter und abgerissener Einzelnotizen tnit
den ausführlichen Berichten des Öerodot und
Nikolaus von Damaskus zu combinieren oder bei
den zahlreichen Widersprüchen sich für die eine
oder andere Quelle zu entscheiden. Büsolt hat
für die Zeit der Tyrannis, bei der allein die
Quellen etwas reichlicher fließen, entschieden,
vielleicht, wie wir sehen werden, zu ehtscoifeäen
Stellung genommen. Doch wir beginitött mit
den Bakchiaden. Busolt läßt (Seite 238) ihre
Herrschaft mit d. J. 956 änfebgen; et kofctiiiit
auf diese Zahl, indem er nach detiQ Fragtiietit
des Diodor die Regierungszeit dter viei- fcöfiige
vor Bakchis (Aletes 38, Iiion ä8, Age\kä I 37,
Prumnis 35) addiert und vöh 1104 als dein
Jähre der dorischen Wanderungen ättfeieht
Wenn auch Ö. auf diese Zählen schwertich
großes Gewicht legt, so ist doch zu bemerken,
daß die Bakchiaden eher herunter zu drücken
sein dürften. Da bekanntlich b6i Diodor die
Gesammtsumme der Posten (412) mit seiner Ab-
gabe von 447 jähren nicht tibereitistitntnt (feine
Unannehmlichkeit, die sich bei der ftegiertrags-
angabe der Kypöeliden bei Aristoteles wieder-
Btrtolt, Üie Läkedahnonier. Bd. I. 1193
Mft), *6 muß Entweder von einem späteren
Jätire abgerechnet werden, weil Manche, wie
Didymns, (Schol. Find. 0. XIII, 17) den AleteB
eiü Hensehenalter später als den Heraklidenzng
ansetzten*), oder es muß eine Regierangszeit
von 35 Jahren ergänzt werden. Thut man dies,
so tritt der schematische Charakter der Königs-
liste recht deutlich hervor. Sie bestimmte näm-
lich drei Könige (Aletes, Ixion, Agelas) zu je
38 Jahren, drei andere (den aasgefallenen,
Pfmnnis und Bakchis) zu je 35 Jahren,
zwei zu 30 (Agelas II und Aristomedes), zwei
zu 25 (Eudemos and Alexander). Agemon, der
Usurpator, und der von Pausanias und durch
seinen Namen als letzter charakterisierte Tele-
stes, die mehr historisches Gepräge tragen, ha-
ben allein abweichende Begierungsjahre (16 und
12). Automenes, der erste einjährige Prytane,
würde als König irrth timlich hinzugefügt und
seih Jahr dem Agelas abgezogen, dem somit 37
Jahre verbleiben. Dies erscheint wenigstens
Reftrenteb die natürlichste Erklärung dieser
hfccbst problematischen Regierungsangaben. Ist
fettet ein Käme mit 35jähriger Regierung aus-
gefallen, so ist es, wie auch Plafi (Tyrannis
147) annimmt, wahrscheinlicher, daß er vor
Bakchis, ja auch noch vor Prumnis, welcher
Vater des Bakchis heißt, stand, um den nhns
reveal des Pausanias (2, 4, 3) gerecht zu wer-
*) Steinmetz (Herodot und Nikol. Dam. 10) und
Wagner (de Bacch. Cor. 21) mit willkürlicher Verände-
rung von tß' bei Teleetes in »{', die Steinmetz nicht
braucht, weil in der Didotschen Ausgabe des Diodor dem
Aristomedes al.-demos 35 Jahre anstatt 80 zufallen. So
will auch E. 0. Müller Dor. 11, 504. Dann kommen
naöh der ändern Erkl&rnngsweise auf den Ausgefallenen
nur 80 Jahre, und das Zahlenspiel bleibt dasselbe.
1194 Gott gel. Anz. 1880. Stück 38.
den. Dadurch würde der Anfang der BakchijM
denherrschaft nach dem Ende des Jahrhundali '
(920) verlegt; denn 657 betrachtet auch B. (S.
200) als das Jahr ihres Sturzes. Keinesfak
aber kann nach der Liste des Diodor die Zeü
von 956—657 durch die Könige von Bakcbk
bis Telestes (173 Jahre) und durch die Zeit der
Prytanie (90 Jahre) genügend ausgefüllt wer-
den. Demnach würden die ältesten bekanntes
Freiheitskämpfe der Megarer aus dem 10. Jährt,
die nach dem attischen Archonten Phorbas, dem
5. bei Eusebius, datiert sind, eher in einer Zeit
korinthischer Schwäche vor dem Auftreten des
kraftvollen Bakchis zu denken sein. Wenn
aber B. von dieser Zeit an die Megarer „alle
Angriffe der Korintber erfolgreich zurückweisen"
läßt, so widerspricht dem die Nachricht, daß,
wenn einer der Bakchiaden gestorben war, die
Megarer sich zur Todtenklage in Korinth ein-
finden mußten (K. 0. Müller Dor. I, 88). Man
hat dies wohl mit Rücksicht auf Herod. 6, 58
und Pausan. 4, 14, 4 als Uebertragung sparto-
nischer Verhältnisse auf korinthische aufgefaßt,
wahrscheinlich aber war solche Todtenklage der
Hörigen um ihre Herren alte Dorersitte und
deshalb die Nachricht von dem Klagegang der
Megarer nach Korinth, die auf Demon zurück-
geht, nicht zu verwerfen. Darnach fällt die
endgültige Losreißung Megaras später, wie auch
B. Niese (d. hom. Schiffskatalog 46) noch aus
anderen Gründen annimmt.
Eine gute Analogie findet die Stellung der
Bakchiaden zum übrigen Adel, die von Duncker,
Curtius, G. F. Unger (Philol. XXVIII, 414 sq.)
und dem Refer. (Jabrb. 1876 p. 590) bebandelt
wurde, in dem, was B. (S. 172) über die Aristo-
Basolt, Die Lakedaimonier. Bd. I. 1195
kratie innerhalb der Aristokratie bei den Eleern
ausführt.
WasPausanias (IV, 11, 1. 15, 8. 19, 1) von
der Theilnahme der Korinther an beiden messe-
nischen Kriegen erzählt, behandelt B. Seite 101.
Er läßt Korinth's Bundesgenossenschaft mit
Sparta für den ersten gelten, bestreitet sie aber
mit beachtenswerthen Gründen fllr den zweiten
(646—629), indem er die Unwahrscheinlichkeit
eines Bündnisses des Kypselns (657—627) mit
Sparta hervorhebt und die Nachricht ans einer
Wiederholung dessen, was vom ersten Kriege
bekannt war, erklärt. Gerade umgekehrt pole-
misiert K. 0. Müller (Dor. I, 144) gegen die
Möglichkeit, daß Korinther im ersten Kriege
nach dem Süden hätten durchkommen können,
während er S. 151 bezüglich des zweiten
Krieges sich weniger skeptisch äußert. E. Cur-
tius, gr. G.4 I, 193 läßt die Korinther aus Feind-
schaft gegen das mit Messenien verbündete
Sicyon im zweiten Kriege auf Seite Sparta's
treten, wogegen zu bemerken ist, daß zur Zeit
der Tyrannis die beiden Nachbarstaaten nicht
in feindlichem Verhältnisse standen. Isodemus,
der Orthagoride, lebt am Hofe zu Korinth (Nik.
Dam. 61), und bei der Freiwahl der Agariste
gereicht dem Hippokieides beim Kleisthenes die
Verwandtschaft mit den Kypseliden zur Empfeh-
lung (Her. 6, 128). Eher könnte dieses Motiv
auf den ersten Krieg passen, obwohl wir über
Feindschaft von Sicyon und Korinth im 8. Jahrh.
außer der Notiz bei Pausan. 4, 11, 8 weiter
keine Nachricht haben. — Grote, Duncker,
Kohlmann (quaest. Messen.) gedenken der Be-
theiligung der Korinther an den messenischen
Kriegen gar nicht.
Ref. entscheidet sich für B.s Ansicht, würde
1196 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 38.
aber noch lieber auch eine Betheiligung Korintto
am zweiten Kriege zugeben als die Notiz ganz
nnd gar verwerfen. Wenn ein Eintreten des
abgelegenen Korinth in den Kampf auffällig ist,
so kann man auch nicht glauben, daß Myron
ohne alte Ueberlieferung Unwahrscheinliches er-
dichtet hat. Eher konnte ein Verherrlicher des
zweiten Krieges auf die Analogie des ersten ge-
stützt sich eine solche Fiction erlauben. In
den Parteiverhältnissen liegt aber nicht, wie bei
dem zweiten Kriege, ein Grund zum Zweifel. An-
lehnung der Bakchiaden an Sparta ist durchaus
wahrscheinlich ; nach ihrem Sturze flieht ja auch
ein Theil von ihnen dorthin. Es sind überhaupt
Beziehungen und Einflüsse der Spartaner anf ,
den nördlichen Peloponnes nach des Ref. An-
sicht nicht mit solcher Bestimmtheit zu leugnen
wie dies Busolt für die frühere Zeit thut Ganz
besonders ist anzunehmen, daß Pheidon von
Argos, den B. nicht in das 7. Jahrhundert, son-
dern nach der Ueberlieferung in die Mitte des
8. setzt, indem er gegen Sparta und Konnte
feindlich auftrat, diese veranlaßte sich zu ver-
bünden. Für direct oder indirect geleistete
Hülfe wird der Anschluß der korinthischen Bak- |
chiaden an Sparta erfolgt sein, aus dem allein j
sich der auch von B. nicht bezweifelte Zuzog j
im ersten messenischen Kriege erklärt. So ur-
theilt auch Haacke, Gesch. Kor. bis zum Sturee
der Bakchiaden (Programm von Hirschberg
1871) pag. 17. Daß es für die Korinther schwie-
rig gewesen sein mag, den Kriegsschauplatz
sicher zu erreichen und wieder zu verlassen, }
kann man K. 0. Müller zugeben ; auch die Stelle ■
des Pausanias hebt diesen Punkt hervor. Des-
halb aber die ganze Nachricht über Bord zu
werfen, ist nicht nöthig. Die Tradition ist viel
BuBolt, Die Lakedaimonier. M I. 1197
zu dürftig und der Möglichkeiten, wie man »ich
den Hergang denken kann, sind viele. Aach
die See kommt dabei in Betracht, wenigstens
rühmten sich die Samier den Lacedämoniern
mit Schiffen gegen die Messenier zu Hülfe ge-
kommen zu sein (Her. 3. 47). Aas diesen Grün-
den stimmt Refer. Busolt in seiner Auffassung
von Eorinths Stellung zu den messenischen Erie-
gen bei.
Sehr eingehend hat B. die Zeit der korin-
thischen Tyrannis behandelt and dabei auch so
detaillierte Quellenkritik geübt, wie kaum Je-
mand seit Steinmetz (Herodot and Nikol. Da-
mascenes. Progr. v. Lüneburg 1861). Es hat
Referenten überrascht, daßB. dieser Schrift, die
sich wesentlich auf gleicher Grundlage bewegt,
wie seine Untersuchungen auf Seite 202 f., and
zam Theil mit seinen Resultaten zusammentrifft,
nicht Erwähnung gethan hat. Die Ansieht von
Steinmetz, daß Nikolaus Damasc. als die Haupt-
quelle der Kypselidengeschichte angesehn wer-
den müsse, wird allerdings von E. Curtius (Or.
G.4 I, 643) und stillschweigend auch von B.,
wenn auch von verschiedenem Standpunkte aas,
bekämpft, aber nicht mit tiberzeugenden Grün-
den. Gegen Cartius ist za bemerken, daß der
Widerspruch, den des Aristoteles Ausdruck Kv-
tpsXog i* dtiitaymytag (tvqccvpos xatiotq pol. 5,
8, 4) mit des Nikolaus Erzählung von Kypselis
als Polemarchen enthält, sehr unbedeutend, wenn
überhaupt vorhanden ist. Das Amt diente nur
dazu ihn beim Volke bekannt und beliebt za
machen; den Sturz der Bakchiaden bewirkteer
nicht als noXtpctQxog, sondern als irifActywyog.
Sagt doch Nikolaus selbst: idtipay»-
ye* %6 nXij&og. Ferner umschreibt Aristoteles
das, was er a. a. 0. 4h wv upmv nennt, einige
1198 Gott gel; Anz. 1880. Stück 38.
Zeilen vorher durch die Worte ix x&v alqemv
im tag xvQlag dQ%dq. Für ein derartiges
wichtiges Amt aber kann man die Polemarchie
schon deshalb schwerlich ansehn, weil dann bei
der starren Exclusivität der Bakchiaden ein Halb-
bürtiger nicht in ihren Besitz gekommen sein
würde. Wenn aber Curtius weiter gegen Stein-
metz geltend macht, daß „die Darstellungs weise
die Lücken anderweitiger Ueberlieferung prag-
matisierend zu ergänzen suche", so mag dies
für die Jugendgeschichte richtig sein — besonders
ist durch Aufgabe der Rettungskiste nebst Ety-
mologie der Erzählung etwas von ihrer naiven
Unwahrscheinlichkeit genommen worden — aber
das Folgende macht wenigstens auf Refer,
durchaus nicht den Eindruck künstlicher Con-
struction. Daß sich der Bericht des Nikolaus
„von der poetischen Darstellung entfernt", kann
doch noch nicht als ein verdächtiges Moment
angesehen werden. Der Hergang ist sicher
nicht so poetisch gewesen; warum sollen wir
also eine nüchterne Ueberlieferung verwerfen?
Zur Zeit alsEphorus schrieb, aus welchem nach
Aller Urtheil Nikolaus schöpfte, kann in Korinth
der wahre Sachverhalt sehr wohl noch bekannt
gewesen sein ; über die Aemter gab es vielleicht
alte Aufzeichnungen. Selbst außerhalb Eorinths
bewahrte die Tradition da und dort Einzelhei-
ten, die wir aus den Hauptquellen nicht ken-
nen: Pythänetus wußte, was dem Periander an
Melissa gefallen, Timäus, was er mit den Stei-
nen des alten Ilion gemacht hatte. In den Go-
lonien lebten doch sicher wenigstens die Namen
ihrer Gründer fort. Ueberhaupt war die An-
zahl der Schriftsteller, die sich besonders mit
Periander beschäftigten, sehr groß; die doppelte
Qualität als Weiser und Tyrann machte die
Busolt, Öie Lakedaimonier. Bd. I. 1199
Persönlichkeit interessant. Manche übten anch
Kritik wie Antenor und Dionysios 6 Xafadexx;
gestützt auf erhaltene Einrichtungen ans der
Kypselidenzeit (Plut. de Her. mal. 22. cf. anch
Demetrius gegen Timäus Strab. 13, 600).
Sollte es nach alledem nicht möglich sein,
daß unabhängig Von Herodot sich gute Ueber-
lieferungen erhielten und daß des Ephorus Quel-
len wirklich „reicher und besser" waren?
Busolt betrachtet als die zuverlässigste Quelle
für die Kypselidenzeit das, was unter dem Na-
men des Heraklides Ponticus uns vorliegt und
aus Aristoteles geschöpft zu sein scheint. (Mül-
ler F. H. G. II, 212). Manches aber in der
kurzen Stelle muß befremden und bedenklich
machen gegen diese Autorität Daß der durch-
aus nicht echter Sage entstammende Heros Ko-
rinthus auftritt, mag noch hingehn. Auffällig
ist das Fehlen jeder Notiz über Kypselus, ohne
welche die Worte IlsQiavdQOc ds nqmtoq psti-
cttjfö ttjv aQxrjv doQvcpÖQovg ixwv keinen Sinn
haben. Denn in ihnen liegt natürlich ein Gegen-
satz gegen Kypselus. Auch das Säcken aller
Kuppelweiber muß ein Mißverständniß sein; es
paßt nicht zu dem auch von Busolt constatier-
ten Aufblühen des Aphroditecultus in Korinth
und ist von Steinmetz (13) aus Verwechselung
von anidvae und xatidvae erklärt worden (an-
ders Volquardsen, Bursians Jahresber. XIX, 80).
Ja Busolt selbst verwirft S. 201 in der Polemik
gegen Duncker indirect diese Erzählung als ein
Product „unberechtigter späterer Tradition", und
doch steht sie bei Heraklides. Den Angaben
dieses Schriftstellers ist also auch nicht vollstän-
dig zu trauen und seinem Urtheil ebensowenig.
Denn wenn Periander wirklich alle Kupplerin-
nen ersäuft hätte, so war dies keinesfalls im
1200 Gott. gel. Anz. 1880. Stack 38.
Sinne der damaligen Koriniher eine m00*o*$gfe,
wie Heraklides andeutet, sondern eins der nicftt
seltenen Beispiele von Perianders Grausamkeit
In diesem Punkte bekennt Referent nicht von
der Beweisführung B.s überzeugt worden zu
pein und zwar aus folgenden Gründen. Aristo-
teles vertheidigt zwar an einer Stelle eine
Maßregel des Periander, sagt auch dieTyrannis
habe in Sicyon lange Bestand gehabt an «of?
äQXoptvoiq i%Q(Zvio petQltog xal noXXd totg vo-
poig idovXsvov xal did %d noXefuxog Yeviti&ah
Klsio&ivfjg ovx yv sixataqiQQvywQ xal %d mXXa
vafg impeXelatg iöfjfMxyuiyovP und fährt dann
fort, daß es auch in Korinth ähnlich gewesen
sei: %d d} alua %ai%d xal tatntjS* i [*€V ydq
KvxpeXog dqpaYwydq ^v xal xatd vqv ctQXyv d$€ri-
Xeos ädoQVCpOQfjws, UsqiavÖQoq ff iyiv&o psv
WQavnxdg dXXd noXspixog (pol. V, 9,21). Aber
zeigen nicht gerade die letzten Worte in ihrem
Zusammenhang und Gegensatz, daß Aristoteles
sich die Herrschaft des Periander anders dachte
als die des Eypselus, daß er beim V^ter milde
Behandlung des Volkes, beim Sohne aber die
Kriegsmacht als hauptsächliches Fundament der
Herrschaft annahm? Mit dieser Darstellung
stimmt auch im Ganzen Nikolaus überein und
B. nennt ihn deshalb den Träger „einer den
Eypseliden nicht günstigen Tradition". Das
kann man aber doch nicht sagen, wenn man
unter „Eypseliden" nach einem, wenn auch nicht
streng logischen, so doch allgemein verbreiteten
Sprachgebrauch den Eypselus und sein Haus
versteht. Nikolaus nennt den letzten bakchiadi-
schen Prytanen naqdvopoq und inax&qq und
entschuldigt damit gewissermaßen die That des
Eypselus; diesem weiß er nur Gutes nachzu-
sagen (nQäwg wz«); die Mittel, die er zur Be-
i
r
Busolt, Die Lakedaimonier. Bd. I. 1201
festigung seiner Herrschaft anwandte, waren
verhältnißmäßig milde; die Gegner wußte er
ohne Grausamkeit zu beseitigen. Wenn nun
derselbe Schriftsteller, der so gemäßigt über den
ersten Tyrannen urtheilt, dem zweiten rffwf-
%rjg und ßta vorwirft, so liegt in diesem Gegen-
satz die Gewähr wenigstens dafür, daß nicht
principielle Voreingenommenheit gegen die Ty-
rannis das Urtheil dictiert hat, wie beiHerodot.
So stimmen also Aristoteles und Ephorus darin
überein, wo sie den Geist der korinthischen
Tyrannis charakterisieren, zwischen Vater und
Sohn einen Unterschied zu machen. Diesen
Unterschied werden wir nun freilich nicht darin
zu suchen haben, daß Periander die Verwaltung
des Staates schlechter geführt hätte als Kypse-
lus, sondern darin, daß er, minder geübt sich
selbst zu beherrschen als sein Vater, den Im-
pulsen augenblicklicher Leidenschaft nachgab
und so zu Thaten sich hinreißen ließ, die er
selbst bald bereute, ohne dadurch den Haß, den
sie ihm zuzogen, abwenden zu können. Alles
das, was nach dieser Richtung hin von Perian-
der erzählt wird, die Tödtung seiner Frau, der
Beschluß über die korcyräischen Knaben, wohl
auch die Hinrichtung der Radine von Samos
und ihres Liebhabers (Strab. 8, 347) einfach
für Erdichtung des Adels zu erklären, ist all-
zuwillkürlich. Vor Allem drängt sich die Frage
auf: warum wurde dergleichen dem Periander
angedichtet und nicht dem Eypselus, der zuerst
die Bakchiaden gestürzt und vertrieben hatte,
gegen den sich also ihr Haß viel directer rich-
ten mußte? Herodot allerdings läßt auch ihn
als blutigen Tyrannen erscheinen, aber es muß
immer betont werden, daß bei Herodot das Ur-
theil über die Kypseliden einem erklärten Geg-
76
1202 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 38.
ner der Tyramris in den Mund gelegt wird.
Wie Thucydides, so ließ natürlich auch Herodot
die Personen reden, dg av idoxovv avtft Ixcetitpt
tisqI %&v del nctQovuov tä diovxa (idfooia slruTv.
Wir brauchen also nicht den Herodot, sondern
nur den Sosikles für das Gesagte verantwortlich
zn machen. Wenn aber diese Bemerkungen
den Eypselus entlasten, den kein Anderer an-
klagt, so sprechen sie deshalb noch nicht den
Periander frei, der mit Ausnahme des Heraklides
vom gesammtem Alterthume als ein tyrannischer
Anwandlungen fähiger Fürst geschildert wird.
Auch daß die öffentliche Meinung ihn ge-
rade als den „Systematiker der Tyrannistf be-
zeichnete (Ar. pol. 5, 9, 2), beweist wie er ge-
wissermaßen als der Normaltyrann in der Er-
innerung der Menschen fortlebte; zu dieser ty-
pischen Figur aber konnte er schwerlich wer-
den, wenn er nicht auch Acte der Grausamkeit
beging, wie man sie von einem Tyrannen er-
wartet. Ziemlich gut bezeugt ist die Versen-
dung der korcyräischen Knaben nach Asien;
außer Herodot und Nikolaus haben, wie schon
oben bemerkt, noch zwei andere Schriftsteller
kritisch den Vorfall behandelt; über das Ver-
dienst der Bettung stritten Samier und Knidier ;
letztere konnten ihren Anspruch durch npai}
Imttlsia* und tptjcplcfjHxtcc bei den Korcyräern
unterstützen. Grund genug die Thatsache an
sich nicht mit Volquardsen (Bursians Jahresber.
7. Band, 384) zu verwerfen oder mit Duncker
durch Hinweis auf die Nichtbeweisbarkeit des
Zweckes (in? Jxfopjf) abzuschwächen. Richtiger
urtheilt wohl Movers, der den Periander kurz-
weg einen Sclavenhändler nennt (Phoen. II,
109). Auch B. läßt den Bericht des Herodot
wenigstens als möglich gelten, nennt die Hand-
Busölt, Die Lakedaimonier. Bd. I. 1203
hnkg „eine an sich abscheuliche" und sucht sie
ürir durah das schwere Leid, das die Korcyräer
dem Periander angethan hatten, etwas zu ent-
schuldigen. Referent kann dem beistimmen, nur
die Parallele mit dem Verkauf von Weibern
und Kindern eroberter Städte in die Sklaverei
trifft in sofern nicht zu, als die Sclaverei eine
allgemein in Hellas bestehende, im Einzelnen
auch durch humane Behandlung und schützende
Zufluchtsorte (so auch in Lechäon, Hesy ch A£%cnov)
gemilderte Institution war, die Entmannung aber
nach dem Brauche der Orientalen den helleni-
schen Sinn empören mußte.
Daß Periander seine Begierungsweise ge-
wechselt habe, sagt Sosikles ; B. bezweifelt diese
Notiz, nach Ansicht des Refer, mit Unrecht.
Die Verbindung mit Thrasybul kann dahin ge-
stellt bleiben, aber psychologisch betrachtet ist
es durchaus glaubhaft, daß ein Fürst, der am
Anfang seiner langen Regierung die Tradition
de? Milde bewahrte, allmählich, gereizt durch
Nachstellungen, verbittert durch traurige Erfah-
rungen in der eigenen Familie, bei einem von
Natur leidenschaftliehen Charakter gewaltthätig
und grausam wurde. Die Bestätigung dieser
Sinnes wandelung durch Herodot kann wenig-
stens nicht als ein Gegenbeweis aufgefaßt wer-
den; warum soll man der kypselidenfeindlichsten
Tradition nicht etwas relativ Günstiges für Pe-
riander glauben? Dann aber scheint bei der
Annahme einer solchen Sinneswandelung die
doppelte Ueberlieferung von einem milden und
eitlem grausamen Periander sich am natürlich-
sten zu erklären, natürlicher wenigstens, als
wenn man alles Ungünstige einfach als Ver-
leumdung des Adels verwirft und sich auf He-
raklides als einzig glaubwürdigen Gewährsmann
76*
1204 Gott, gel Anz. 1880. Stück 38.
verläßt. Diese Frage steht mit dem Sturze der
Dynastie in engem Zusammenhang. B. denkt
sich diesen so, daß einige Adelige denPsamme-
tich ermordeten und mit Hülfe des Pöbels eine
Zerstörung Alles dessen, was an die Tyrannis
erinnerte, ins Werk setzten, während die Menge
der Bürger mit der Herrschaft der Kypseliden
ohne Zweifel wohl zufrieden gewesen wäre.
Hiergegen ist Folgendes zu bemerken: schon
Periander besaß nicht die Popularität seines
Vaters; dies beweist die Einführung der Leib-
wache, die Attentate, auf welche Nikolaus (fr.
59) anspielt und die auch der Verfasser des
Briefes bei Diog. L. I, 64 in seinen Quellen
vorfand, der Wunsch noch bei seinen Lebzeiten
die Erbfolge geordnet zu sehn ; vielleicht gehört
hierher auch die wunderbare Art seines Selbst-
mordes (bei Diog. L. I, 96), wenn anders ein
Kern von Wahrheit in der Erzählung steckt
und diese dahin aufzufassen ist, daß Periander
sein Grab vor Zerstörung schützen wollte. Wie
Psammetich regierte, wissen wir freilich nicht;
aber wenn Aristoteles die Dauer der Tyrannis
auch in Eorinth aus der fi€rQ$ötfjg erklärt, so
ist der Schluß nicht zu kühn, daß ein Abwei-
chen von dieser (ieiQ*6rtjg dem Sturze der Ty-
rannen vorausging. In Sicyon bestanden die
Einrichtungen des Kleisthenes noch 60 Jahre
lang nach seinem Tode ; dort also trat wirklich
der Demos ein für die Politik seiner bisherigen
Führer. In Korinth aber half der Demos nach
Nikolaus die Verfassung umgestalten, zerstörte
die Häuser der Tyrannen, confiscierte ihre Gü-
ter, schändete ihre Gräber. Busolt erklärt:
dies that nicht das Volk, sondern der zu den
entgegengesetztesten Handlungen zu fanatisie-
rende Pöbel. Aber dies ist bloße Vermuthung,
Busolt, Die Lakedaimonier. Bd. I. 1205
gegen den Wortlaut und bei der wohlbegründe-
ten Annahme geschwundener Popularität eine
ganz unnöthige Beschränkung. Die Revolution
in dem von Eorinth abhängigen Ambracia war
jedenfalls ein Abbild der Bewegung in der Mut-
terstadt ; von ihr aber sagt Aristoteles (pol. 5, 3,
6) : iv yAfkßqa*iq TIsQiavdQOv (den Neffen, nach
Andern den Vetter des Tyrannen) (WveußaXwv
totg im&spiyoig ö <%*oc %6v tvQctvvov el$ kav-
%6v nsQ^ctrjoe tfjv nohuiav. Ist es nach alle-
dem nicht wahrscheinlicher, das Mißvergnügen
des Volkes über die immer drückender werdende
Herrschaft als einen Hauptfactor bei dem Sturze
der Eypseliden anzuerkennen? Busolt selbst
sagt (S. 212) : „freilich hätte die zu große Be-
vormundung und Beaufsichtigung, welche die
Tyrannis über die einzelnen Bürger ausübte, auf
die Dauer unerträglich werden und eine leb-
hafte Opposition auch im Bürgerstande wach-
rufen müssen, welcher die Tyrannis früher oder
später erlegen wäre". Diese Worte widerlegen
im Grunde selbst B's vorausgegangene Auf-
stellungen; denn wer vermag hier den Termin
für „früher oder später" zu bestimmen? Die
Bevormundung war eben bereits unerträglich
geworden, hatte eine Opposition wachgerufen
und ihr erlag die Tyrannis. Daft dabei der
Adel mitbetheiligt war, schließt B. mit Recht
aus dem oligarchischen Charakter der neuge-
schaffenen Verfassung ; nur hätte er nicht im
Vorhergehenden dem Periander „die Beseitigung
der Beste der Adelspartei" zuschreiben dürfen
(Seite 208). Sollen darunter die Bakchiaden
verstanden werden, so ist der Ausdruck zu un-
bestimmt.
Mit der Frage, ob Sparta an dem Sturze
der Tyrannis in Eorinth betheiligt gewesen sei,
1206 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 38.
beschäftigt sich B. ausführlich an zwei Stellen
seines Buches (212—215. 225. 303—307) und
kommt, wie schon Grote und Duncker, zu dem
Resultat, daß dies nicht der Fall war. Refer,
bekennt, daß die Frage für ihn noch eine offene
ist; denn den sehr beachtenswerthen Erwägun-
gen gegen die Betheiligung Sparta's steht das
indirecte Zeugniß von Thucydides und Aristote-
les, das directe des Plutarch gegenüber. Jeden-
falls gebührt B. das Verdienst Alles, was die
Tradition von der Tyrannenfeindschaft der Lace-
dämonier erschüttern kann , zusammengestellt
und ausführlich erörtert zu haben. Er hat da-
mit die Zustimmung Volquardsens (in Bursians
Jahresbericht, Band XIX, 81) gewonnen, wäh-
rend Ad. Holm (revue historique 1880 pag. 156)
weniger das Resultat als die Beweiskraft von
B's Gründen anzweifelt, Zurborg (Jenaer Lit-
teraturzeit. 1878 p. 657) aber auf den innern
Gegensatz zwischen dem aristokratischen Sparta
und der demokratischen Tyrannis hinweist, der
in den meisten Fällen zu einer feindlichen Stel-
lung habe führen müssen.
Für einen entschiedenen Irrthum hält Ref.
die Beziehung von Theognis 891—894 auf die
Ereignisse des Jahres 507 (Seite 314). Nach
den Auseinandersetzungen von W. Vischer in
dieser Zeitschrift (G. g. A. 1864 pag. 1373 sq.),
denen sich auch der neueste Herausgeber des
Theognis (J. Sitzler, Theogn. rel. p. 138) an-
schließt, kann sich die Stelle nur auf ein der
Eypselidenherrschaft gleichzeitiges Ereigniß be-
ziehen, da die Bezeichnung der Eorinther durch
das Wort KvipsXldcu 80 Jahre nach dem Sturze
der Kypseliden und zu einer Zeit, wo eine den
Kypseliden feindliche Partei in Korinth herrschte,
eine Geschmacklosigkeit wäre, die wir dem
J
I
Rutherford, Physiological actions of drugs etc. 1207
Dichter nicht zutrauen dürfen. Die Verse müs-
sen älter sein als Theognis und stehen in Zu-
sammenhang mit der Einmischung Perianders
in die Verhältnisse von Euböa, als deren wahr-
scheinliche Folge die Gründung Potidäas auf
der Chalcidice betrachtet werden kann (Nikol.
Dam. fragm. 60 gegen E. Curtius im Hermes
a. a. \j» /u&öj»
Zittau. Erich Wilisch.
An experimental research on the
physiological actions of drugs on the
secretion of bile. By William Ruther-
ford, M.D., F.R.S.S.L. & E., Professor of the
Institutes of Medicine in the University of
Edinburgh. Edinburgh: Printed by Neill and
Comp. MDCCCLXXIX. 132 S. in Quart.
Die Lehre von den sogenannten Cholagoga
hat für Großbritannien eine weit größere Bedeu-
tung als für den europäischen Continent, nicht
nur, weil dort in Folge des häufigeren Aufent-
haltes von Engländern in tropischen Gegenden
Leberkrankkeiten ausgeprägter Art in großer
Zahl zur Beobachtung gelangen, sondern auch,
weil vermuthlich in Folge der abweichenden
Diät Zustände vorübergehender Biliosität zu den
gewöhnlichen Erscheinungen gehören. Es hat
daher gewiß nichts Auffälliges, daß gerade in
England im Laufe der letzten Decennien die
gallentreibenden Mittel den Gegenstand mannig-
facher Arbeiten und Discussionen bildeten, zu-
mal seit den Arbeiten yon Bennett die durch
Jahrhunderte lange Tradition geheiligte Vorstel-
lung von der Cholagogen Wirkung der hauptsäch-
lichstem gallentreibenden Medicamente als eine
1208 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 38.
physiologisch unhaltbare hingestellt werden und
die klinische Forschung dadurch in einen dia-
metralen Gegensatz zu dem experimentellen Sta-
dium der Pharmakodynamik gestellt war. Daß
die klinische Forschung sich hier dem physio-
logischen Versuchsergebnisse unterzuordnen hat,
liegt auf der Hand, denn wenn der Arzt auch
im Stande ist, die Wirkung eines die Schweiß-
und Speichelsecretion anregenden oder beschrän-
kenden Mittels zu erkennen oder am Kranken-
bett festzustellen , so entzieht sich die Gallen- *
secretion beim Menschen seiner directen Beob-
achtung und die Schlüsse aus der Farbe der
Excreta sind sehr wenig zuverlässig, um so mehr
als bei anscheinend stark cholagoger Action es
in der Regel streitig bleiben muß, ob es sich um
eine wirkliche Steigerung der Secretion oder
nur um eine Vermehrung der Gallenabfuhr han-
delt. Natürlich war durch jene Untersuchungen
von Ben nett, welche überhaupt die Nichtexi-
stenz cholagoger Mittel darlegen sollte, keines-
wegs der Werth der alten vermeintlichen Chola-
goga in der Behandlung biliöser Zustände ver-
nichtet; man mußte, wenn wirklich Bennett's
Untersuchungen maßgebend waren, sich nur nach
einer andern Erklärung für die Wirksamkeit dieser
Stoffe umsehen. Uebrigens war die Ben net t9-
sche Studie, abgesehen von berechtigten Ein-
wänden, welche sich gegen die Versuchsmethode
erheben ließen, zum Abschlüsse der Frage über
die Existenz der Cholagoga auch insofern nicht
ausreichend als die Zahl der untersuchten Me-
dicamente, die allerdings die Hauptrepräsentan-
ten der in England gebräuchlichen Cholagogen
Mittel, das Calomel und das viel gepriesene
Taraxacum, einschloß, eine relativ kleine ist
Schon aus diesem Grunde war es geboten, die
Arbeit aufs Neue aufzunehmen.
Ratherford, Physiological actions of drags etc. 1209
Dieser Mühe hat sich Professor Rather ford
in Edinbarg anter Beihttlfe der Herren E. V i g-
nal and William J. Dodds im Laufe der
Jahre 1874—79 mit solchem Fleiße und derar-
tiger Ansdaaer unterzogen, daß wohl kaumeine
Classe von Arzneimitteln so vollständig erforscht
ist, wie die der gallentreibenden Substanzen.
Physiologie und Pharmakologie sind ihm dafür
in gleicher Weise zu Danke verpflichtet, und
wir zweifeln nicht, daß auch die Therapie da-
durch einen reellen Gewinn haben wird, da sich
die Untersuchung auf manche Stoffe erstreckt
hat, welche bei uns als therapeutische Agentien
kaum dem Namen nach bekannt sind. So hat
Rutherford seine Aufmerksamkeit verschiede-
nen Pflanzenstoffen zugewandt, welche von der
amerikanischen eklektischen Schule als bei Le-
berkrankheiten und biliösen Zuständen angeb-
lich mit großem Erfolge benutzt werden, und in
seinen Versuchen erkannt, daß dieselben beim
Hunde die Oallensecretion in auffalliger Weise
erregen. Stoffe wie Iridin von Iris versicolor,
Evonymin von Evonymus atropurpurea, Leptan-
drin von Leptandra Virginica, Juglandin von
Juglans cinerea, Menispermin von Menispermum
Canadense u, a. m. sind unseren Praktikern
völlig unbekannte Dinge und selbst den meisten
Pharmakologen ist über ihren Gebrauch nicht
mehr bekannt als aus dem 1854 unter dem Ti-
tel „Positive medical agents" erschienenen Ka-
taloge, der von den Eklektikern benutzten „Re-
sinoide" in deutsche Handbücher der Arznei-
mittellehre übergegangen ist. Indem Ruther-
ford durch das physiologische Experiment den
steigenden Einfluß dieser Mittel auf die Abson-
derung der Galle darthat, der in der Mehrzahl
derselben sich mit Reizung der Darmschleimhaut
1210 Gott gel. Anz. 1880- Stflok 38.
verbindet, beweist uns aufs Nene den intimen
Connex zwischen dem physiologischen Experi-
mente an Thieren und der therapeutischen An-
wendung der Medicamente. Allerdings kann man
nicht sagen, daß ein Stoff, der die Gallensecre-
tion beim Hunde erregt, deshalb auch bei Stö-
rungen der Leberfunction des Menschen ein vor-
zügliches Mittel abgeben müsse; indessen ist,
wenn die betreffende Wirkung beim Hunde in
evidenter Weise hervortritt, eine gewisse Wahr-
scheinlichkeit vorhanden, daß sie auch am ge-
sunden Menschen sich äußern werde und daß
bei functionellen Störungen der Leberthätigkeit,
welche ohne bedeutende anatomische Veränderun-
gen verlaufen, ein vorübergehender oder selbst ein
stationärer Heileffect sich ergeben wird. Bei den
erwähnten Resinoiden der amerikanischen Eklek-
tiker bestätigt der physiologische Versuch die
bereits empirisch festgestellte günstige Wirkung
bei Leberaffectionen, und da Rutherford in
Verbindung mit verschiedenen schottischen Aerz-
ten sich auch beim Kranken von der Richtigkeit
der amerikanischen Angaben überzeugt hat, da
ferner diese Stoffe die bei uns gebräuchlichen
Cholagoga in ihren physiologischen Effecten an
Thieren übertreffen, da sie überdies die chola-
goge Action z. Th. nicht mit starker Irritation
des Darms combinieren, welche, wie dies Ru-
therford's Versuche erweisen, überall, wo sie
hervortritt, die Wirkung auf die Leber beein-
trächtigt und schmälert, so steht zu erwarten,
daß einzelne jener Medicamente auch in Europa
Anwendung finden werden. Es wird dies um
so eher der Fall sein, wenn jene sogenannten
Resinoide wirklich rein chemische Verbindungen
wären, die dann unter allen Umständen dieselbe
Activität besitzen müßten; in Wirklichkeit sind
Rutherford, Physiological actions of drugs etc. 1211
es nur gereinigte alkoholische Extracte, die bei
weniger- vorsichtiger Bereitung oder vielleicht
selbst bei zu gut gemeinter Reinigung das eigent-
liche active Princip in geringerer Menge ein-
schließen und dadurch mitunter ihren Effect ein-
büßen können. Die Reindarstellung der eigent-
lich wirksamen reinen Substanzen ist unseres
Erachtens eine Vorbedingung für eine ausge-
dehnte therapeutische Verwerthung der neuen
Arzneikörper.
Uebrigens sind wir der Ansicht, daß nicht
allein diese Cholagoga der Eklektiker, sondern
auch eine größere Anzahl anderer Stoffe, die
bei uns bisher in anderen Richtungen therapeu-
tisch benutzt und in ihrer Wirkung auf die Le-
berthätigkeit bisher nicht gewürdigt, nach den
Untersuchungen Ruther fords sich als Erreger
der Leberthätigkeit beim Hunde erwiesen, wie
Natriumbenzoat, Natriumsalicylat und Ammonium-
phosphat, die Beachtung der Praktiker verdienen.
Sehen wir von der so gewonnenen Erweite-
rung des Gebiets der Cholagoga, die uns in der
vorliegenden Schrift geboten wird, aber auch
gänzlich ab, so haben wir von wissenschaftlichem
Gesichtspunkte aus einen gewiß ebenso hoch an-
zuschlagenden Gewinn durch dieselbe, indem sie
gewisse fest gewurzelte Anschauungen beseitigt,
die sich bezüglich der Heilwirkung bestimmter
Medicamente von Generation zu Generation fort-
erbten. Rutherford betont selbst in dieser
Beziehung die bei englischen Aerzten allgemein
verbreitete Theorie der curativen Wirkung der
Ipecacuanha bei Dysenterie. Man glaubt dort all-
gemein, daß die durch das Mittel bei Dysente-
rischen bedingten biliösen Evacuationen durch
eine antispasmodische Action des Medicaments
zn erklären seien, durch welche es die Hebung
1212 Gott, gel. Anz. 1880. Stock 38.
eines im Darme bestehenden Krampfes und die
Fortschaffung aufgestauter Galle ermögliche.
Diese Voraussetzung, welche übrigens auch sonst
zu den neuesten pharmakodynamischen Forschun-
gen über Emetin und Ipecacuanha nicht beson-
ders stimmt, muß gewiß aufgegeben werden, seit
Rutherford's Versuche eine sehr bedeutende
Vermehrung der Gallensecretion unter dem Ein-
flüsse von Ipecacuanha ergeben haben. Ecla-
tanter noch als dieses Beispiel dürfte die Be-
richtigung unserer Vorstellungen über die chola-
goge Wirkung des Karlsbader Wassers sein.
Man nimmt allgemein an, daß die oft genug
constatierte günstige Wirkung der Quellen von
Karlsbad bei Störungen der Leberfunction auf
der Action des darin enthaltenen Natriumbicar-
bonats beruhe. Nach Rutherford's Unter-
suchungen muß dieser Effect weit eher auf das
Natriumsulfat bezogen werden, dessen cholagoge
Action die des Carbonate bei Weitem übertrifft.
Merkwürdig ist die große Wirkungsdifferenz des
Natrium- und Magnesiumsulfats in cholagoger
Hinsicht. Während Glaubersalz auch in ab-
führenden Dosen die Gallensecretion vermehrt,
tritt beim Bittersalz nur die den Purganzen im
Allgemeinen zukommende Verminderung der frag-
lichen Absonderung zu Tage. Es liegt hierin ein
Fingerzeig für die Praktiker, nicht wie bisher
Magnesiumsulfat und Natriumsulfat als völlig
gleichwerthige Heilpotenzen zu betrachten, was
sie übrigens auch wegen ihrer differenten Ein-
wirkung auf Herz und Blutdruck nicht sein
können. Man wird, wie ich an einem andern
Orte dargelegt habe, die cholagoge Action ge-
wisser Bitterwässer auf ihren großen Gehalt an
Glaubersalz zurückzuführen haben, der in ein-
zelnen Mineralquellen dieser Art sogar den an
Rutherford, Physiological actions of drags etc. 1213
Magnesiumsulfat and Magnesiamchlorttr überragt.
Es ist mir nicht zweifelhaft, daß man gerade mit
Bücksicht auf die Batherford' sehen Unter-
suchungen die anter dem Namen der Bitterwäs-
ser zusammengefaßten Mineralquellen in glauber-
salzfreie, glaubersalzarme and glaubersalzreiche
Bitterwässer wird abtheilen müssen. Quellen,
wie Sedlitz und Janos Hunyady, sind denen von
Kis Czäg, Friedrichshall and Kissingen sicher-
lich nicht gleichwertig.
Interessant ist ferner, daß die Bntherford-
schen Experimente die physiologische Basis für
manche am Krankenbette gewonnene Erfahrungen
liefern. Butherford sagt selbst, daß sämmt-
liche durch sichere klinische Beobachtungen als
bei Leberaflectionen nützlich festgestellte Medi-
camente sich auch als cholagog beim Hunde be«
währt haben. Das ist insofern wohl zu erwägen,
als die moderne Skepsis denWerth mancher so-
genannter Lebensmittel in Frage gestellt hat,
selbst da, wo deren Action durch tausendfältige
Beobachtung der Praktiker und durch das Vo-
tum von Autoritäten verbürgt wird. Buther-
ford setzt z. B. den Rhabarber, die anima he-
patis vergangener Jahrhunderte, in ihre alten
Rechte wieder ein. Er bringt eine neue Stütze
für die rationelle Verwendbarkeit des Königs-
wassers, ja sogar für das Hauptlebermittel der
deutschen Rademacherianer, das Chelidonium,
für letzteres freilich nur indirect, indem er die
cholagoge Wirkung des Sanguinarins constatiert,
jenes Besinoids aus Sanguinaria Canadensis,
dessen sich die Eklektiker nach Art unseres
Schöllkrautextracts bedienen und das als Haupt-
bestandteil den gleichen Stoff wie letzteres, das
Chelerythrin, enthält
Die Resultate der vorliegenden Untersuchung
1214 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 38.
müssen die Aufmerksamkeit der Pharmakologetf
und Aerzte um so mehr erregen, als sie, wie be-
reits bemerkt, ans jahrelangen Untersuchungen
hervorgegangen sind und als außerdem auch die
befolgte Experimentalmethode die Ergebnisse
als weit sicherer ergründet und concludenter er-
scheinen läßt als die der vorangehenden Arbei-
ten. Ehe die uns vorliegende Schrift, ein Se-
paratabdruck aus dem 29sten Bande der Trans-
actions of the Royal Society of Edinburgh, in
ihrer gegenwärtigen Form erscheinen konnte,
haben in den Jahren 1875, 1877, 1878 und 1879
detaillierte Veröffentlichungen der bezüglichen
Versuche in den Spalten des Brit. med. Journ.
uns ein ausreichendes Bild von der Thätigkeit
und Unverdrossenheit des Verfassers geliefert.
Wenn man bedenkt, daß jeder Versuch eine
Beobachtungsdauer von 6—9 Std. erforderte,
wird man begreifen, daß es kaum für einen Ein-
zelnen möglich gewesen wäre, die Arbeit zum
Abschlüsse zu bringen, welche, wie bemerkt,
das ganze Heer der Purganzen und Drastica,
die Cholagoga der Eklektiker und eine große
Anzahl anderer Medicamente in ihrer Action auf
die Lebensthätigkeit behandelt. Nur durch selbst-
lose Hingebung an seine Aufgabe konnte Ru-
therford dahin gelangen, für die medicinische
Lehre der Gholagoge die wissenschaftliche Grund-
lage zu schaffen und für die rationelle Behand-
lung bestimmter Leberaffectionen mittelst ge-
wisser Arzneimittel eine Richtschnur aufzustellen.
Die werthvollen praktischen Errungenschaften
dieser Arbeit, welche der kranken Menschheit
zu Gute kommen, lassen dieselbe als besonders
geeignet erscheinen, um den in der neuesten Zeit
ja auch bei uns herangebrochenen Streit über
die Zulässigkeit der Vivisectionen zu beleuchten.
Batherford, Physiological actions of drugs etc. 1215
Allerdings haben Rutherford's Experimente, da sie
die Anwendung des Chloroforms ausschlössen , welches
selbst auf die Leberthätigkeit influiert und deshalb den
Einfluß des zu prüfenden Cholagogums in jedem einzelnen
Y ersuche modificiert hätte, einer großen Zahl von Hun-
den betrachtliche Schmerzen gemacht. Bedenkt man je-
doch, daß die Resultate der Arbeit geeignet sind, für die
Zukunft weit betrachtlicheres Leiden nicht nur beim
Menschen, sondern auch bei Hunden und anderen Thieren
zu erleichtern, so ist in der That durch die von Ruther-
ford ausgeführten Vi visectionen unendlich mehr Schmerz
erspart als gemacht worden. Es mag gestattet sein, zu
bemerken, daß Rutherford's Arbeiten in eine Zeit fie-
len, wo in England die Agitation der Antivivisectionisten
die höchsten Wogen schlug, welche in der That die Fort-
führung des wahrhaft wissenschaftlichen Werks zu hin-
dern und das ganze Gebäude zu zerschellen drohten, wenn
nicht die energische Haltung der Rrit. med. Association
dem wohlgemeinten, aber unverständigen Treiben ein
Quos ego entgegengerufen hätte. Die letztgenannte Cor«
poration hat übrigens das Werk auch noch in anderer
Weise erheblich gefördert, indem das Scientific Grants
Committee der Brit. med. Association zur Deckung der
höchst beträchtlichen Kosten des Versuchsmaterials 200
Pfd. St. als Beisteuer bewilligte.
Was die Experimentalmethode in der vorliegenden
Untersuchung anlangt, so hat Rutherford von jenen
älteren Verfahren abstrahiert, welches sich der Hunde mit
permanenten Gallenfisteln bediente, wie dies insbesondere
von Nasse, Kölliker und Mueller, Scott und
Ben nett mit seinen Mitarbeitern geschehen ist; gewiß
mit Recht, da die ungehinderte Bewegung des Thiers eine
exacte Aufsammlung der Galle aus der Gallenfistel un-
möglich macht. Rutherford's Methode schließt sich
an diejenige von Roh rig, welcher in seinen Versnoben
von 1873 sich zuerst der temporären Gallenfisteln bei
curanisierten und fastenden Hunden bediente ; doch wurde
statt der von dem deutschen Experimentator ausgeführten
Schätzung der Schnelligkeit der Gallensecretion durch
Zählung der Secunden, welche zwischen dem Falle der
einzelnen Tropfen aus der eingeführten Canüle verstrichen,
die Bestimmung der Gesammtmenge der in einer gege-
benen Zeiteinheit ausfließenden Galle angewendet, theils
wegen des in der That zeitraubenden und ermüdenden
Charakters jener Bestimmungsweise, theils wegen eines
1216 Gott. gel. Adz. 1880. Stück 38.
derselben anhaftenden Fehlers, indem die Viscositat des
Secrete einen wesentlichen Einfluß auf die Zeit hat, in
welcher ein einzelner Tropfen ausfließt. Dieser Fehler
dürfte mannigfache Verschiedenheiten erklären, welche
zwischen den Ergebnissen der Röhr ig 'sehen und Ba-
th er ford' sehen Studien, z. B. in Bezug auf Crotonöl
und Magnesia sulfurica, zu Tage treten.
Wie die Pharmakologie und Therapie dem schotti-
schen Forscher für seine mühsamen und umsichtigen Sta-
dien zu Dank verpflichtet ist, haben wir in einer größe-
ren Anzahl von Thatsachen ausführlich dargethan. .Wir
wissen jetzt mit Bestimmtheit, daß es Stoffe giebt, welche
erregend auf die Leberfunction wirken, ohne gleichzeitig
die Secretion der Darmdrüsen überhaupt oder in hervor-
ragender Weise zu erregen. Zu dieser Gruppe gehören
Ipecacuanha, Natriumbenzoat, Ammoniumbenzoat, Na-
triumsalicylat, Ammoniumphosphat und verdünnte Aqua
regia. Bei anderen fällt eine stimulierende Einwirkung
auf die Leber mit einer solchen auf die Darmdrüsen zu-
sammen. So bei Iridin, Evonymin, Podophyllum Phyto-
lacca, Baptisin, Hydrastin, Juglandin, Septandrin, San-
guinarin, Colchicum, Rhabarber, Aloe, Coloquinten, Ja-
lappe, Natriumphosphat, Natriumsulfat, Kaliumsulfat, Tar-
tarus natronatus und Quecksilbersublimat. Die letztge-
nannte Reihe, welche Rutherford mit der enteren als
hepatic stimulants zusammenfaßt, bildet einen Gegensatz
zu den meisten Abführmitteln, welche, wie Magnesium-
sulfat, Mangansulfat, Ricinusöl, Gutti und Calomel, auf
die Darmdrüsensecretion erregend, dagegen auf die Gallen-
secretion herabsetzend wirken, welche letztere Action von
nichtabführenden Stoffen bisher nur bei Plumbum acetd-
cum coDstatiert wurde. Die einzelnen Hepatioa Stimu-
lantia bieten in dem Grade ihrer Wirksamkeit und in
ihrem Verhalten gegen andere Organe so mannigfache
Verschiedenheiten, daß dem Arzte die Auswahl des fur
den einzelnen Fall passenden Stoffes nicht schwer fallen
dürfte. Jedenfalls bilden die Resultate der Ruther-
ford'sehen Untersuchung eine Aufforderung für den
Praktiker, einzelne weniger bekannte Mittel bei biliösen
Zuständen, vielleicht auch bei Gicht und Dysenterie, zu
versuchen. Th. Husemann.
Für die Redaction Yerantwortlich : JE, Behniach, Director d. Gott. gel. Aas.
Commissions -Verlag der DieteiicK sehen Verlags- Buchhandlung.
Druck der Dieterich sehen Univ.- Buchdruckerei (W. fr. Kaestner).
Tj>
j, // <> * -'f
1217
6 öttingis che
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften«
Stück 39. 29. September 1880.
Inhalt : Acta Joannis bearb. t. Tb. Zahn. Von Th. Zahn. —
Drei Weltkarten zur Veranschaulichg. der Linien gleicher magnet.
Variation, Inclination n. Horizontal-Intensit&t herausgeg. y. d. Deut-
schen Seewarte. Von Fr. HimsUdt — R. Tigeratedt, Studien
über mechan. Nervenreizung. 1. Abth. Von Th. Husematm.
ss Eigenmächtiger Abdruck von Artikeln der Gott. gel. Anz. verboten s
Acta Joannis unter Benutzung von C.
v. Tischendorfs Nachlaß bearbeitet von Tb.
Zahn, Dr. u. o. Prof. d. Theol. in Erlangen.
Erlangen, Verlag von ADeichert. 1880. CLXXII.
263 SS. 8°.
Es wäre dem Unterzeichneten lieber und der
Sache in manchem Betracht gewiß dienlicher ge-
wesen, wenn die Acta Joannis in diesen Blättern
durch Dr. 0. v. Gebhardt, welcher darum gebe-
ten war und bereits zugesagt hatte, einer ein-
gehenden Besprechung unterzogen worden wären,
anstatt daß nun der Herausgeber selbst seine
Arbeit anzeigt. Der freundlichen Aufforderung
zu diesem Tausch wollte ich mich jedoch nicht
entziehen, weil sich dadurch ungezwungen und
bald eine Gelegenheit bietet, über neues Material
zu berichten, welches erst einige Wochen nach
77
1218 Gott gel. Anz. 1880. Stück 39.
dem Erscheinen vorliegender Ausgabe in meine
Hände gekommen ist.
Von den beiden Legenden, deren Text hier
dargeboten und nach Form nnd Inhalt in der
Einleitung ausführlich erörtert ist, kann die
erste, vollständig erhaltene, als deren Verfasser
sich Prochorus (AG. 6, 5), ein angeblicher Schü-
ler des Apostels Johannes einführt, weder als
Zusammenstellung alter Ueberlieferungen, noch
als Dichtung und kulturgeschichtliches Denkmal
ihrer Entstehungszeit einen bedeutenden Anspruch
erheben. Die Meinung, durch welche Thilo und
wahrscheinlich auch Tischendorf zur Sammlung
bedeutender Materialien für eine Ausgabe des
Prochorus sich bestimmen ließen, daß in diesem
sehr ausführlichen Buch die meisten älteren Tra-
ditionen über Johannes verarbeitet seien, hat
sich bei der Vergleichung mit den bei den Kir-
chenvätern zerstreuten Angaben und mit den
Fragmenten der älteren Johannesacten durchaus
nicht bestätigt. In bewußtem Gegensatz zu den
bis dahin allein verbreiteten Johannesacten, de-
ren heterodoxe Theologie nicht Jeder mit in
den Kauf nehmen mochte, hat „Prochorus"
frühstens gegen Ende des 5. Jahrhunderts sei-
nen Roman gedichtet; und er hat sich zwar
nicht über den Geschmack seines eigenen nnd
der folgenden Jahrhunderte, aber gar sehr über
sein dichterisches Vermögen getäuscht. Trotz-
dem erschien die Verwerthung der von Tischen-
dorf Unterlassenen Abschriften und Collationen,
welche dem Herausgeber anvertraut wurden,
deren Ergänzung durch eigene Forschung nnd
der Versuch einer ersten vollständigen Ausgabe
schon darum geboten, weil sonst die im ge-
schichtlichen Interesse sehr nothwendige Unter-
j
Acta Joannis, bearb. v. Zahn. 1219
»Hebung der Johanneslegende auf vielen Punk-
ten durch ein unbekanntes Gespenst gestört zu
werden drohte; denn die nach einer einzigen
lückenhaften Hs. gedruckte Editio princeps des
M. Neander (1567) war auch denjenigen, welche
sich bisher mit der Sache befaßt haben, dem
größten Theil ihres Inhalts nach unbekannt,
weil man sich durch einen verstümmelten Nach-
druck des J. Grynaeus (1569) irreführen ließ;
und der während der Vorbereitungen zu gegen-
wärtiger Ausgabe erschienene Druck desAmphi-
lochius (1879) ist kaum als lesbar zu bezeich-
nen. Anforderungen freilich, wie sie der an die
Behandlung classischer oder gelehrter kirchli-
cher Literatur Gewöhnte und mit der Art der
handschriftlichen Ueberlieferung legendarischer
Texte nicht Vertraute stellen möchte, wird kein
Herausgeber auf diesem Gebiet genügen können,
zumal nicht der Erste, welcher eine große Zahl
der vorhandenen Hss. eines im Mittelalter so
oft abgeschriebenen Buchs, wie das des Procho-
rus, kritisch zu verarbeiten versucht. Das Ur-
theil darüber, ob es im vorliegenden Fall ge-
lungen ist, einen glaubwürdigen Text herzu-
stellen, wird vor allem davon abhängen, ob die
Annahme einer durch systematische Interpolation
.entstandenen Recension (B), welche in dencodd.
Mosqu. 162 und Coislin. 306 am reinsten er-
halten ist, und die Bevorzugung der von dieser
Recension unberührten, in sich freilich wieder
sehr mannigfach entarteten Tradition als richtig
anerkannt wird. Für Letzteres war nächst der
inneren Kritik des Stils und der Materien der
Umstand maßgebend, daß alle Uebersetzungen,
soweit sich der Herausgeber Kenntnis von den-
selben verschaffen konnte, gegen die Recension
B stimmen, die lateinische, die koptische, die
77*
1220 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 39.
altslavische and, wie es scheint, auch die arme-
nische ; denn diese enthält eine bei keinem Zeu-
gen der Recension B vorkommende, aber außer-
halb derselben ziemlich stark verbreitete Inter-
polation über die Abfassung der Apokalypse.
Nur die lateinische Version konnte durchweg
verglichen werden und erwies sich trotz ihrer
Verwilderung als ein sehr brauchbares Hülfs-
mittel. Sie würde in ganz anderem Maße ver-
wertet worden sein, wenn der Herausgeber
nicht ausschließlich auf den zuerst 1577 erschie-
nenen und zuletzt in der Maxima Bibl. V. P.
(1677) II, 1, 46 sqq. wiederholten Text derselben
angewiesen gewesen wäre. Erst kürzlich ge-
lang es mir, auf antiquarischem Wege um einen
Spottpreis eine lateinische Hs. zu erwerben,
welche den gedruckten Text in einem ganz
neuen Lichte zeigt. Es ist eine saubere Papierhs.
in Folio. Unter dem ersten Tractat steht foL
55 v. : Explicit fratris franconis liber de Gratia
scriptus manu fratris hujus domus Johannis Em-
brice anno tricesimo nemo sup XV0. ultima fe-
bruarij*). Im selben Jahre 1539 am Tag der
sieben Brüder hat derselbe Bruder Johannes zu
Emmerich am Niederrhein mit ähnlichen Worten
sein Explicit unter den zweiten und letzten Theil
des Bandes (fol. 98 v.) geschrieben. Auf den
Tractat Franco's folgt fol. 56 r. — 90 r. der la-
teinische Prochorus. Die erste Beobachtung,
welche sich bei der Vergleichung mit dem ge-
*) Der Schreiber ist wahrscheinlich ein Genosse des
1467 gegründeten Hauses der Brüder des gemeinsamen
Lebens zum h. Gregor in Emmerich, s.WassenbergiEm-
brica. Glivis 1667 p. 63. 165 sqq. Der Tractat des
Franco ist in der Max. Biblioth. Pair. XXI, 293-327
gedruckt.
Acta Joannis, bearb. v. Zahn. 1221
druckten Texte aufdrängte, war die, daß kaum
eine Zeile genau übereinstimmend lautet; die
zweite, daß es sieb am zwei verschiedene Re-
censionen einer and derselben Uebersetzang han-
delt; die dritte, daß der gedruckte Text, den
ich im Folgenden nach der Maxima Bibl. citiere
und durch B bezeichne, eine abscheuliche Um-
arbeitung und Verstümmelung der im Cod. Em-
brieensis (= E) natürlich nicht fehlerlos, aber
doch leidlich gut erhaltenen ursprünglichen
Uebersetzung ist Für den zweiten Satz ist
schon der Umstand beweisend, daß in E ganz
dieselbe ausführliche Episode über die Romfahrt
des Johannes, wie in B p. 52 sq. , sich findet,
welche nicht aus einem griechischen Prochorus-
text geflossen, sondern vom Uebersetzer aus
einer ganz andersartigen lateinischen Legende
herübergenommen ist (s. meine Einl. XVII— XIX).
Sonderbarste Uebertragungen wie tv%V ^oleoag
durch murus (ttfgog) civitatis B p. 50 e, iv ®oq$
tij note* durch in foro civitatis B p. 62 b , von
aller griechischer Tradition abweichende Na-
mensformen wie Prodiana = I7QoxX*avtj B p.
64 e theilt E mit B. Ebenso wie die gemein-
same Herkunft beider Texte aus einer und der-
selben Uebersetzung liegt aber auch am Tage,
daß E im Vergleich mit B durchweg die ur-
sprünglichere Gestalt darstellt. Seine Abwei-
chungen von B sind größtenteils Ueberein-
stimmungen mit dem griechischen Text. Hier
findet man an der in der Einleitung p. XX n. 2
besprochenen Stelle übereinstimmend mit dem
griech. Text scriniarius Seleucus nomine, ebenso
die echten Namensformen Bomana (B Romeca),
Domnus (B Theon), Epycurus (B Epidaurus),
Mareon (B Marnon). Wo in B die Namen nicht
nur verändert oder wie B p. 54 b verstümmelt
1222 Gott. gel. Anz. 1880. Stock 39.
sind, sondern gänzlich fehlen (B p. 54 f. Fora
oder Flora, p. 58 d Proclu topos, p. 60 c Lithu
hole, p. 63 f. Myrinusa und Ehox, p. 65 c Ma-
uritius, p. 66 e Katastasis oder Katapausis), hat
E überall mehr oder weniger genaue Aequiva-
lente des Originals. Wenn in diesen Fällen die
Abweichung des gedruckten Textes wahrschein-
lich daraus zu erklären ist, daß die dem Druck
zu Grunde liegende Hs. schlecht geschrieben
oder doch für den Herausgeber schwer zu lesen
war, worunter dann begreiflicher Weise mehr
als alles Andere die phantastischen Person- und
Ortsnamen des Prochorus zu leiden hatten, so
ist im übrigen die vom griech. Text so viel
weiter abweichende Recension B nur als das
Ergebnis einer durchgreifenden und muthwilli-
gen stilistischen Umarbeitung der älteren Ver-
sion zu begreifen. Der Bearbeiter fand es gut
statt der dem Original (m. Ausg. p. 3, 1) ent-
sprechenden Uebersetzung : Factum est . . . con-
gregati sunt zu schreiben : Factum est atrfem . . .
ut congregarentur. Oder statt: Omnes scimus
quoä hijs sortitus es in locis et non potes exire
de hoc civitate (cf. m. Ausg. p. 5, 10) Folgendes :
Scimus omnes, haec loca tuae dispensationi esse
commissa et non licere ab Hierosolyma disceäere.
Mannigfaltiges hat B oft vereinfacht, Charakte-
ristisches verwischt, Sonderbares beseitigt und
im ganzen mehr gekürzt als erweitert. Anstatt
der genauen Angabe über die Zusammensetzung
der militärischen Begleitung des Johannes (m.
Ausg. p. 47, 9), welche in E nicht gerade rich-
tig, aber nicht minder umständlich reproduciert
ist, hat B p. 53 b: et fuerunt ad nos tenendum
missi nttmero centum. Das dort zuerst und dann
sehr oft vorkommende nqotixtoqeq (protectores)
hatte der Uebersetzer sonderbar genug durch
I
J.J
Acta Joannis, bearb. v. Zahn. 1223
j : procurators wiedergegeben and den damit wech-
selnden Ausdruck ßaaihnot gewöhnlich durch
'<■ mmcii regales, einmal auch durch reguli. Wäh-
rend nun B meistens diese höheren Militärs mit
ihren Untergebenen in dem farblosen milites zu-
sammenfaßt, hat er einmal p. 53 c doch auch
procwratores. Der Name Domitianus, welcher
im griechischen Prochorus gar nicht vorkommt,
findet sich auch in E nicht außerhalb der schon
erwähnten größeren Interpolation und einer noch
zu erwähnenden, welche aus derselben lateini-
schen Quelle stammt; B dagegen hat ihn von
dort auch in die dem griechischen Text ent-
sprechenden Theile wiederholt eingetragen p.
54 a, 55 b, 66 b. Wenn es schon bisher nicht
zweifelhaft sein konnte (s. m. Einl. Lsq.), daß
der Ausfall eines Berichts über den Tod des
Apostels der lateinischen Version nicht von jeher
eigen gewesen sei, so wird das jetzt durch E in
erwünschter Weise bestätigt. Hier folgt näm-
lich auf die Worte, welche den Schluß des ge-
druckten Textes bilden, zunächst die wie eine
Kapitelüberschrift geschriebene Angabe De dru-
siana et filio vidue suscitato et de veneno quod
libit ac latronibus ab eo suscitatis ac mültisaliis
quaere in sequenti tractatu sc. Mileto etc. Nach-
dem hiermit auf das von fol. 90 r. an folgende
Buch des sogenannten Mellitus von Laodicea
(hier AßZ^o_ geschrieben) hingewiesen ist, folgt
De m&rte sei johannis cap. XLII1. Mansimus
apud ephestm etc. und am Schluß dieses Kapi-
tels Explicit traetatus prochori diseipuli sei
johannis de gestis eiusdem. Dieses Schlußkapitel
enthält alles für den Schluß des griechischen
Prochorus Charakteristische, nämlich: die chro-
nologischen Angaben zur Biographie des Jo-
1224 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 39.
hannes, die Siebenzahl der Schüler, die ihn zum
Grabe geleiten, die kreuzförmige Gestalt des
Grabes, den Befehl an Prochorus, nach Jerusa-
lem zurückzukehren, die allmählige Bedeckung
des im Grabe liegenden Apostels mit Erde
u. 8. w Daneben finden sich nun aber auch
zwei Züge, welche dem griechischen Prochorus
fremd sind und dagegen in der bei Abdias und
Mellitus in verschiedener Gestalt erhaltenen la-
teinischen Legende sich finden. Johannes be-
giebt sich nämlich von einer domus dei hinaus;
und es heißt dann: venimus in locum quendam,
in quo loco destructo templo dyane edificata et
consecrata fuerat ecclesia in eius honore et no-
mine. Vgl. m. Einl. p. CXIIIsq. Ferner liest
man gegen den Schluß : et cum perfodissemus in
loco ülo non invenimus corpus eius sed tantutn
manna, quod nunc usque hodie saturire non de-
sinit Gf. m. Ausg. p. 252 Text u. Anm. Zu
dieser lateinischen Quelle war der lat Procho-
rus schon mit den letzten Worten des gedruck-
ten Textes: benedidus qui venu in nomine do-
mini übergegangen (vgl. Einl. XVII). Ob nun
das in E folgende, nur registrierte, auch in die
Kapitelzählung nicht aufgenommene Stück von
Drusiana u. s. w. schon vom Uebersetzer hier
in den Prochorustext eingeschaltet war, und ob
überhaupt E in Allem, was er über B Hinaus-
gehendes und nicht aus dem griechischen Pro-
chorus Stammendes enthält, ein treuer Zeuge
des ursprünglichen lateinischen Prochorus ist?
Das scheint nicht bezweifelt werden zu können
in Bezug auf das letzte Kapitel des gedruckten
Textes, wo durch Abkürzung und stilistische
Aenderung Widersprüche entstanden sind, welche
in dem vollständigen Text von E sich nicht
finden. Es wäre von Wichtigkeit in Bezug auf
r
Acta Joannis, bearb. v. Zabn. 1225
den Bericht über die Abfassung des johannei-
schen Evangeliums, wo E statt der Worte : tunc
Joannes misertus eorum dixit: filioli mei (B p.
66 d) Folgendes bietet: tunc beatus Johannes ip-
sorum misertus est propter lachrimas quas fuder
rant coram ipso et propter supplicationes plurir
morum episcoporum et legationes aliorum dixit ad
eos: filioli mei. Vgl. m. Einl. p. CXXVIIsqq.
Doch wird sich über Dies und Anderes sicher
erst dann urtheilen lassen, wenn noch andere
Hss. des lat. Prochorus verglichen sind. Hrn.
v. Gebbardt verdanke ich den Nachweis einer
solchen des XIII. saec. (Catal. de la bibl. royale
des Dues de Bourgogne I, 198) und einer an-
dern des XV. saec. (Biblioth. de Puniversiti de
Lifege. Catal. des mss. 1875 p. 128). Die letz-
tere jedenfalls enthält den in B fehlenden Schluß ;
denn nach der Inhaltsangabe erstreckt sich die
Erzählung der Thaten des Johannes usque ad
dormitionem ipsius. Ohne weitere Bedeutung
scheint die Bearbeitung des lateinischen Procho-
rus durch den Karthäuser Petrus Dorlandus
(f 1507) zu sein, welche sich zu Douai befindet
(Catal. g6n6ral des mss. des bibl. des d£parte-
ments T. VI, 590).
Auf größeres Interesse als die Ausgabe des
Prochorus dürfen die hier gesammelten Frag-
mente der Johannesacten des Leucius Charinus
rechnen. Die drei ersten waren bereits durch
Thilo (1847) zusammengestellt. Das umfang-
reichere Fr. IV, welches hier zum ersten Mal
gedruckt ist, hat darum eine über seinen eige-
nen Inhalt hinausreichende Wichtigkeit, weil es
eine sichere Handhabe zur Kritik der lateini-
schen Bearbeitungen der leucianischen Johannes-
acten bietet. Fr. V ist nur ein in kurzen deut-
schen Worten gegebenes Register der Materien,
1226 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 39.
welche im lateinischen Leucius die Lücke zwi-
schen Fr. IV und VI ausgefüllt haben. Fr. VI
ist eine neue Ausgabe des zweiten Theils der
von Tischendorf herausgegebenen Uq&Iiq yIa>dv-
vov (Acta apocr. p. 272—276), dessen Text mit
Hülfe der syrischen und der armenischen Ueber-
setzung und unter steter Berücksichtigung der
lateinischen Bearbeitungen ganz neu zu con-
struieren war. Bei den Untersuchungen über
diese Trümmer der ältesten Johanneslegende
war es unvermeidlich, auch auf die anderen apo-
kryphischen Apostelgeschichten, wenigstens vor-
übergehend einzugehn; aber unthunlich war es
andrerseits, bei dieser Gelegenheit eine alle
angeblich leucianischen Apostelgeschichten um-
fassende Untersuchung vollständig vorzutragen.
Vergleichsweise einfach liegt die Sache bei den
Thomasacten, verwickelter bei den Andreasacten.
Vollends weit von dem vorliegenden Gegenstand
würde eine erschöpfende Beantwortung der
Frage abgeführt haben, ob irgend welche Petrus-
acten gleichen Stammes mit den Acten des Jo-
hannes, des Thomas und des Andreas seien. Daß
es leucianische oder überhaupt gnostische Petrus-
acten im Unterschied von katholischen gegeben
habe, bezweifle ich. Die Untersuchungen von
Lipsius über die Quellen der römischen Petrus-
sage (1872) erleichtern es nicht gerade, den
wirklichen Sachverhalt zu erkennen und klar-
zulegen, und mit dem Nachweis von Fehlern im
Fundament wie in der Ausführung der Unter-
suchungen eines Anderen wäre wenig gethan
gewesen. Es wird vor allem erforderlich sein,
daß die von Tischendorf aus einem auf Patmos
befindlichen Codex des IX. saec. schon früher
excerpierten (Acta apocr. p.XXsq.), später voll-
ständig abgeschriebenen (Anecdota sacra et
Acta Joannis, bearb. v. Zahn. 1227
prof. p. 239) Acten des Petrus und Acten des
Paulus an's Licht gezogen werden. Tischen-
dorfs Gopie ist bis jetzt vergeblich unter seinen
nachgelassen Papieren gesucht worden.
Auch für die leucianischen Johannesacten ist
mein Embricensis nicht ohne Bedeutung ver-
gnüge dessen, was er hinter dem Prochorus auf
fol. 90 r.— 98 v. giebt mit der Ueberschrift
Item alia historia de eodem und der Unter-
schrift Explicit historia sancti johannis evange-
listae descripta etc. Diese als einheitlicher Trac-
tat eingeführte und in 12 Kapitel getheilte hi-
storia enthält in c. 1 — 9 den sogenannten Mel-
litus, darauf als c. 10 einen meines Wissens
noch nicht gedruckten und auch nicht druckens-
werthen kurzen Tractat mit dem Titel Quod
admonente sancto petro in gaUiam discipulos mir
sit. Die Hauptsache darin ist ein Zahn des
Johannes , welchen sein Schüler Patiens nach
Metz gebracht haben soll. Darauf folgt als
c. 11 das den Johannes betreffende Kapitel aus
dem sogen. Isidor (De vita et obitu utriusque
test sanctorum) ohne Ueberschrift und Quellen-
angabe, und ebenso als c. 12 aus Bufin-Euse-
bius (h. e. HI, 23) die Erzählung über den un-
ter die Bäuber gerathenen Jüngling. In solcher
Zusammenstellung legendarischer Stücke mit dem
Buch des Mellitus und Zusammenfassung dersel-
ben unter gemeinsamem Titel und fortlaufender
Kapitelzählung erkennt man die Vorstufe zu
solchen förmlichen Compilationen, wie ich sie
in der Einl. p. XVIII sq. zu besprechen hatte.
Der Text des Mellitus selbst in E unterscheidet
sich bedeutsam und theilweise recht vorteilhaft
von den mir zugänglichen gedruckten Texten,
dem des Florentiniuli, welchen Fabricius- wieder-
holt hat (M1) und demjenigen in der Biblioth.
1228 Gott gel. Anz. 1880. Stück 39.
Casin. II, 2 (M*). Die zahlreichen kleineren
Lücken in M1 sind in E wesentlich ebenso wie
in M2 ausgefüllt nnd z. B. die zu Acta Joa. p.
236, 7 notierte, durch Abspringen von einem
venumdantes zum anderen veranlaßte Verwirrung
in M1 ist hier vermieden. Es enthält ferner E
die größeren in M2 fehlenden Stücke, z. B.
Alles was bei Fabricius cod. pseudep. N. T. III,
611 — 613 von denique narravit bis poenas pas-
suri perpetuus zu lesen ist. Dagegen fehlt in
E ebenso wie in M1 die große Einschaltung in
Bibl. Cas. II, 2, 67 b. 68 a und die kleinere 1.
1. p. 71b. Vgl. m.Einl. p. XVII sq. CXXXII n.
2. Wichtiger dürfte sein, daß E vom Anfang
der Abschiedsrede des Johannes an, von wel-
cher M1 und M2 (Fabric. Ill, 621 sq. Bibl.
Casin. II, 2, 72) nur den Anfang geben, viel
ausführlicher ist und ziemlich genau mit Abdias
(Fabric. II, 582-590) übereinstimmt. Diese Ge-
stalt der Erzählung wird auch im Mellitus die
ursprüngliche sein, denn es ist unwahrschein-
lich, daß ein Legendenschreiber, welcher als
sein Hauptthema den Lebensausgang des Apo-
stels hingestellt hat, über diesen so kurz im
Vergleich mit dem Vorangehenden sollte hinweg-
gegangen sein, wie nach M1 M2. In der Le-
gendenliteratur zeigt sich ebenso häufig die
Neigung zu gewaltsamer Abkürzung als zu will-
kürlicher Erweiterung. Besonders die nicht
zum Verständnis der Handlung unerläßlichen
Reden haben oft wie auch in diesem Fall unter
jener Neigung zu leiden gehabt. Eine mecha-
nische Compilation aus Mellitus und Abdias
liegt jedenfalls in E nicht vor ; denn statt der
aus dem lateinischen Leucius stammenden und
von Abdias unverändert gelassenen Sätze in er-
ster Person (Fabric. Ill, 589: qui interfuimus
Acta Joannis, bearb. v. Zahn. 1229
etc.) heißt es in E: alii gaudebant, alii flebant;
gaudebant quia tantam cernebant gloriam; do-
lebawt, quia tanti viri aspectu et praesenti specie
defraudabantw. Diese Umbildung des bei Ab-
dias unverändert gebliebenen Textes des lat.
Leucius entspricht dem Verfahren des Mellitus
überhaupt, welcher nirgendwo vergessen hat,
daß er sich in der Vorrede von dem Augen-
zeugen Leucius, dessen Bericht er in gereinig-
ter Gestalt reproducieren will, scharf unterschie-
den hat.
Schließlich sei es gestattet, die Aufmerksam-
keit der für die Johanneslegende interessierten
Leser auf die gestrenge Kritik hinzuweisen,
welche Hr. M. Bonnet in der Revue critique
(1880 No. 23) meinen Acta Joannis hat ange-
deihen lassen. Dem Herausgeber noch niemals
kritisch bearbeiteter und zum Theil noch nie
gedruckter Texte wird nicht gerade häufig das
Glück zu Theil werden, sofort nach dem Er-
scheinen seiner Arbeit von einem Gelehrten be-
urtheilt zu werden, welcher seit mehreren Jah-
ren mit den Vorbereitungen zu einer eigenen
Ausgabe ziemlich derselben Texte beschäftigt
ist. Dies Glück würde im vorliegenden Fall
reiner empfunden worden sein, wenn Hr. Bonnet
seinen Unmuth darüber, daß ich ihm mit meiner
Arbeit zuvorgekommen bin, noch etwas mehr
überwunden und sich nicht so sehr angestrengt
hätte zu beweisen, daß auch nach meiner Ar-
beit für die seinige noch Raum sei. Vermuth-
lich wird auch durch diese, wenn sie erscheint,
das Ziel der Vollkommenheit noch nicht erreicht
sein. Das Druckfehlerverzeichniß am Schluß des
Bandes könnte ich heute schon beträchtlich ver-
mehren. Auch haben sich bei der Uebertragung
der Texte aus den ersten Copien und Collatio-
1230 Gott. gel. Am. 1880. Stück 39.
nen in das für die Druckerei bestimmte Mam-
script einige Schreibfehler eingeschlichen. Da-
hin gehört das (pavsloa (statt imtpavelq) p. 231,1,
welches Hr. Bonnet besonders scharf hervorge-
hoben zu haben scheint, um seinen Lesern zu
beweisen, daß ich öq>$$ oder, wie es drei Zeilen
später heißt, o <><p*g für ein Femininum halte.
Doch müßte ich auch einige Worte in diesem
Fragmente VI p. 225 — 234 von vornherein* un-
richtig gelesen oder copiert haben, wenn Hr.
Bonnet, welcher in der beneidenswerthen Lage
gewesen ist, die betreffende Hs. drei Monate
lang zur Hand zu haben, und welcher jeden-
falls mehr Uebung im Abschreiben griechischer
Texte besitzt, wie ich, überall richtig gelesen
und copiert hat, was ich jetzt nicht entscheiden
kann. Th. Zahn.
Drei Weltkarten zur Veranschau-
lichung der Linien gleicher magneti-
scher Variation (Declination), Incli-
nation und Horizontal-Intensität nach
Gauß'schen Einheiten für 1880 . 0. Herausgege-
ben von der deutschen Seewarte, Abtheilung II.
Verlag von L. Friedrichson u. Comp. Hamburg.
Den oben genannten Karten ist von der deut-
schen Seewarte in den Annalen der Hydrogra-
phie und maritimen Meteorologie, 1880 Heft VII
ein Begleitschreiben beigegeben, aus welchem
ersichtlich, daß dieselben ausgearbeitet sind:
„einmal, um den in der Neuzeit ausgeführten
Beobachtungen, bei welchen die Reduction ai|f
die Normalstände thunlichst zur Durchführung
Weltkarten cL magnetischen Variation etc. 1231
gekommen ist, und den Einzelaufnahmen einen
größeren Einfloß bei der Darstellung zu sichern,
sodann aber auch, und zwar in erster Linie um
den Bedürfhissen der Navigation Rechnung zu
tragen . . ." Die große Wichtigkeit genauer
und zuverlässiger Karten der magnetischen Ab-
weichungslinien fttr die Schiffahrt liegt wohl für
Jedermann auf der Hand, eine genauere Beur-
theilung der Karten in dieser Richtung entzieht
sich jedoch dem Schreiber dieses ganz und gar,
und soll hier lediglich der Versuch gemacht
werden, die Hauptabweichungen der vorliegen-
den Karten von den Gauß-Weber'schen hervor-
zuheben.
In der Vorrede zu dem diese Karten enthal-
tenden Atlas des Erdmagnetismus, dessen Er-
scheinen vor jetzt 40 Jahren eine höchst wich-
tige Epoche in der Geschichte des Erdmagnetis-
mus bezeichnet, oder richtiger gesagt, diese Ge-
schichte erst beginnt, schreibt Weber: „Aehn-
liche Bestimmungen (wie jene dem Atlas zu
Grunde liegende Rechnungen) werden in der
Folge wiederholt werden" . . . und „der gegen-
wärtige Atlas eröffnet also die Reihe von Atlas-
sen, welche in angemessenen Zwischenzeiten er-
scheinen sollen, um von nun an die Grunddata
der Geschichte des Erdmagnetismus vollständig
und übersichtlich vor Augen zu legen tt. — Es
ist bekannt, daß Gauß und Weber sich später
anderen Arbeiten zugewendet haben und die
„Resultate aus den Beobachtungen des magne-
tischen Vereins zu Göttingen" längst aufgehört
haben, zu erscheinen. Es darf deshalb als ein
für die Wissenschaft in hohem Grade wichtiges
Ereigniß bezeichnet werden, daß die deutsche
Seewarte sich der ebenso schwierigen als mühe-
vollen Aufgabe unterzogen bat, das reichliche
1232 Gott, gel. Anz. 1880. Stück 39.
Material, welches in neuerer Zeit die zahlreichen
Beobachtungsstationen und wissenschaftlichen
Expeditionen aller Nationen geliefert haben, zu
sammeln, zu sichten und in der anschaulichen
Form von Karten niederzulegen. Für die
Zwecke der Navigation wird diese Form nicht
nur ausreichen, sondern wahrscheinlich auch die
einzig wttnschenswerthe sein, für rein theore-
tische Betrachtungen glaube ich, würde es sehr
angenehm sein, daneben eine Zusammenstellung
der für die Festlegung der Curven maßgebend
gewesenen Zahlen zu haben, wie eine- solche
auch dem Gauß-Weber'schen Atlas angefügt ist
Bei der Zeichnung der Curven ist das ohne
Zweifel einzig richtige Princip befolgt, nirgends
den durch locale Verhältnisse bedingten Aus-
biegungen Ausdruck zu geben, darum erscheinen
mir aber auch für die Beurtheilung der Ent-
stehung dieser Linienzüge jene grundlegenden
Zahlen wtinschenswerth.
Die zur Einzeichnung der Curven benutzten
Weltkarten sind nach der Mercatofcs-Projection
entworfen und zwar mit den Gränzen 80° n. B.
und 68° s. B., wie a. a. 0. angegeben aus Bück-
sicht auf ihre Bestimmung für die Schiffahrt
Aus gleichem Grunde, um ihren practischen Ge-
brauch ohne Zirkel zu ermöglichen, ist die
Gradeintheilung von je 2 zu 2 Graden fort-
schreitend, gewählt, ein Umstand, der gewiß bei
der Entnahme von Einzelwerthen eine große
Bequemlichkeit gewährt, der aber auch dem
einen oder anderen Beschauer wegen der sehr
großen Anzahl von eingezeichneten Linien leicht
die Uebersicht der Curvenzüge erschweren kann.
Für die Vergleichung der vorliegenden Karten
mit den Gauß-Weber'schen mag noch bemerkt
werden, daß letztere zwischen den Breiten
r
Weltkarten d. magnetischen Variation etc. 1233
70° s. Br. 70° n. Br. gezeichnet sind und des-
halb die Vergleichung sich nur auf das Gebiet
von 68° s. B. bis 70° n. B. erstrecken kann.
Der Character der Curvenzüge in zwei entspre-
chenden Karten ist bei allen 3 Paaren vollstän-
dig derselbe, so daß schon dem oberflächlichsten
Blicke sie sich als gleichartig zu erkennen
geben.
Die Declinations-Karten.
Die Karte der Seewarte stellt die isogoni-
schen Linien dar, welche den um je einen Grad
fortschreitenden Declinationen entsprechen. Das
Gebiet westlicher Declination zerfallt auf beiden
Karten in 2 getrennte Flächen. Die größere
von diesen erstreckt sich der Breite nach über
die ganzen Karten von 70° n. B. bis 68° s. B.
und wird im Osten und Westen begränzt von
einer Linie verschwindender Declination. Den
Verlauf dieser Linien charakterisieren im we-
sentlichen die folgenden Zahlen:
Breite
Längen
Längen
Ostgränze
Westgränze.
Weber Seewarte
Weber Seewarte
70° n.
45° ö. 30° ö.-
96° w. 98° w.
10° s.
88° ö. 88,5° ö.
47° w. 51° w.
20° s.
121° ö. 116,5° ö.
43° w. 49° w.
40° s.
134° ö. 130° ö.
33° w. 42° w.
Das Gebiet hat sich also in der Weise geän-
dert, daß südlich vom Aequator bis zum 40ten
Breitengrade die ganze Fläche ein wenig nach
Westen verschoben ist, nördlich vom Aequator
aber die Westgränze nahezu unverändert ge-
blieben, während die Ostgränze nicht unbedeu-
tend weiter westlich gerückt ist, so daß die
Halbinsel Kola, die Küstenländer des weißen
Meeres und die südlich hiervon gelegenen Län-
78
1234 Gott gel. Adz. 1880. Stück 39.
derstrecken Rußlands bis zur Nordwestküste des
caspischen Meeres von dem Gebiete westl. Decl.
zu dem östl. übergegangen sind. In dem In-
nern dieses Gebietes westl. Decl. findet sich bei
Weber ein Kreuzungspunkt zweier Linien glei-
cher Decl. (22° 130 ™ 13° n. B. 4° ö. L. Von
diesem aus wächst der Zahlenwerth der Decl.
nach N.N.W, und S.S.O. und nimmt ab nach
W.S.W. und O.N.O. Ein ähnlicher. Punkt findet
sich auf der Karte der Seewarte, jedoch gegen
jenen bedeutend nach Westen verrückt, ohnge-
fähr 16° n. B. 24° w. L. Die Decl. beträgt c.
19,3°. Von ihm wächst die Decl. nach N.N.W.
und S.S.O. in derselben Weise wie bei Weber
und nimmt auch nach W.S.W, und O.NO. ab.
Da die gleichmäßige Abnahme von 19,3° bis 0°
sich aber jetzt in der Richtung nach O.N.O.
über ein weit größeres, nach W.S.W. über ein
desgleichen kleineres Gebiet ausbreitet, so lie-
gen die einzelnen Curven in der östl. Hälfte et-
was weiter von einander, in der kleineren westl.
Hälfte etwas enger zusammen. Aus allen Ab-
weichungen zusammen ergiebt sich dann das
nicht zu übersehende Resultat, daß die Werthe
der Declination in der Osthälfte des oben be-
zeichneten Gebietes, in ganz Europa und Afrika
im Durchschnitt um mindestens 5° abgenommen
haben, in der Westhälfte dagegen eine Zunahme
von nicht ganz derselben Größe aufzuweisen
haben. Die Scheidelinie bildet auf der nörd-
lichen Halbkugel etwa 25° w. L. auf der Süd-
seite eine Linie, die von 60° s. B. 50° ö. L. nach
einem Punkte des Aequators von 20° w. L. führt.
Einige den Karten entnommene Werthe zur
Illustration :
Weltkarten d. magnetischen Variation etc. 1235
Lange Breite Weber Seewarte
Petersburg 30°19'ö. 59°56'n. 6,8° 1,2°
Göttingen 9°56'ö. 51°32'n. 20,5° 13°
Neapel 14°16'ö. 40°52'n. 18,9° 10,7°
Mozambique 40,5° ö. 15° s. 20,5° 13,5°
New-York 74,2° w. 40,6° n. 2° 7°
Pernambuco 34,9° w. 8° s. 6° 11,2°
Das zweite kleinere der oben erwähnten Ge-
biete westl. Decl. wird auf beiden Karten um-
schlossen von einer Linie verschwindender Decl.
die in sich zurückkehrt und in der Projection
ohngefähr die Gestalt einer Ellipse besitzt , de-
ren äußerste Punkte nach Weber im Süden und
Norden 15° n. B. 130° ö. L. und 63° n. B. 130°
ö. L. im Westen und Osten 45° n. B 112° ö.L.
und 45° n. B. 138° ö. L.; auf der Karte der
See warte entsprechend: 1) 15° n. B. 130° ö. L.
2) 69° n. B. 130° ö. L. 3) 48° n. B. 106° ö. L.
4) 48° n. B. 151° ö. L.
Außer der hierdurch gekennzeichneten
Vergrößerung des Gebietes verdient noch be-
merkt zu werden, daß innerhalb desselben bei
Weber die Werthe der Decl. nach der Mitte zu
bis zu dem Maximum von 2,5° wachsen, nach
den Zeichnungen der Seewarte aber ein weit
schnelleres Wachsen bis c. 8° stattfindet.
In dem übrig bleibenden Theile der Erd-
oberfläche ist die Decl. östlich. Es ist ein sehr
bemerkenswerter Umstand, daß die Vergleichung
der beiden Karten hier keine den vorigen Ab-
weichungen an Größe entsprechende aufzufinden
vermag. Weber giebt einen Punkt 15° s. B.
140° w. L. an, in welchem die östl. Decl. im
Verhältniß. zu der Umgebung ein Minimum ist
(5° 15'). In der Karte der See warte findet sich
der entsprechende Punkt nördlicher, ohngefähr
145° w. L. auf dem Aequator und der Werth
78*
1236 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 39.
der Decl. ist etwas kleiner, dagegen sind die
den Punkt umgebenden Curven von Süden und
Norden stärker abgeplattet als bei Weber, so
daß der Werth der Decl., abgesehen von der
ganz nächsten Umgebung auch hier nur wenig
Aenderung zeigt. Z. B. :
Länge
Breite Weber Seewarte
Samoa-L
Tahiti
Valparaiso
9«
— 8,6°
5,8°
— 7,3°
13,8«
—14,6°
9«
— 8,6«
16,3°
—16,5°
12«
—10°
172° w. 13° s. — 9° —
149° w. 18° s. -
72° w. 33° s. -
Galapagos-I. 90° w. 1° s. —9° —
San Francisco 122,5° w. 37,8° n. -
Sandwich-I. 155° w. 20° n. -
Das negative Zeichen soll die Decl. als östlich
kennzeichnen im Gegensatz zu der durch + be-
zeichneten westl.
Die Inclinationskarten.
Die Inclination ändert sich, wie hinlänglich
durch Beobachtungen erwiesen ist, an ein und
demselben Orte nur sehr wenig mit der Zeit.
Lamont's Berichte ergeben für München für die
Zeit vom Jahre 1853 bis 1871 nur eine Aende-
rung im Ganzen von 0°48' und es ist deshalb
nicht wohl möglich, aus Karten, in denen die
Isoklinen von 10° zu 10° fortschreitender Incli-
nationen eingezeichnet sind, diese Aenderung
für den Zeitraum von 40 Jahren mit Sicherheit
festzustellen. Die Vergleichung der Karten kann
nur in's Größere gehende Abweichungen fest-
stellen, ist aber trotzdem nicht ohne Interesse,
indem sie damit ein Mittel an die Hand giebt,
die Sicherheit des den Zeichnungen zu Grunde
gelegten Beobachtungsmaterials zu beurtheilen.
Da an einem Orte die allmählige Aenderung
der Inclination mit der Zeit eine große Abwei-
Weltkarten d. magnetischen Variation etc. 1237
chnng in den Linien nicht hervorbringen kann,
so kann das Vorhandensein einer solchen als
Beweis dafür dienen, daß hier die den verschie-
denen Karten zu Grunde liegenden Beobachtun-
gen stark von einander abweichen, diese Ge-
gend der Karte also noch mit Unsicherheiten
behaftet ist, während andererseits das Fehlen
bedeutender Abweichungen unser Zutraun in
die Zuverlässigkeit der Karten bedeutend er-
höhen muß. Das letztere ist bei den hier be-
trachteten Karten fast auf der ganzen Erdober-
fläche der Fall.
Die Linie verschwindender Incl. theilt die
Erdoberfläche nahezu parallel dem Aequator
verlaufend in 2 Theile, deren nördlich gelege-
ner -f-> deren südlicher — Incl. besitzt, d. h.
in jenem zeigt der Nordpol, in diesem der Süd-
pol einer Magnetnadel nach unten. Die ge-
nannte Linie durchschneidet den Aequator bei
Weber in zwei nahezu diametral sich gegenüber
liegenden Punkten in 8° ö. L. und 174° w. L.,
hat ihre stärksten Abweichungen von demselben
nach Norden 50° ö. L. 14,5° n. B., nach Süden
in 40° w. L. 15,5° s. B. Auf der Karte der
Seewarte geht dieselbe Linie bei 4,5° w. L. und
bei 164° w. L. durch den Aequator hindurch,
weicht nach Norden am stärksten ab in 50°
ö. L. 11° n. B. nach Süden in 40° w. L. 15,5°
s. B. Mit dieser Linie nahezu parallel laufen
die Isoklinen von ± 10° 20° 30° auch noch
± 40° auf beiden Seiten in ziemlich gleichen
Abständen von einander, so daß hierdurch eine
beträchtliche Abweichung sich ergiebt für den
Theil der Erdoberfläche, welcher zu beiden Sei-
ten des Aequators sich bis 30° n. B. und 30°
s. B. erstreckt und im Osten und Westen bis
90° ö. L. und 20° w. L. und zwar ist in der
1238 Gott. gel. Anz. 1880. Stttck 39.
größeren östl. Hälfte dieses Gebietes, in Hin-
dustan, Persien, Arabien und dem Osten von
Afrika mit dem betreffenden Tbeile des indi-
schen Oceans nach der Seewarte die Inclination
bedeutend größer (4° — 8°) als nach Weber (wo-
bei der Begriff größer für negative Incl. mit
Rücksicht auf das Zeichen zu nehmen, also
— 23 > — 30) im Westen von Afrika und dem
angränzenden Tbeile des atlantischen Oceans
hingegen beträchtlich kleiner. Da dies die ein-
zigen bedeutenderen Abweichungen sind und
diese in Gegenden fallen, in welchen das Be-
obachtungsmaterial meist neueren Datums ist,
immerhin aber auch noch ein spärliches, so wird
man einerseits bei der umsichtigen Benutzung
des Materials seitens der Seewarte*) wohl in
deren Karte den der Wirklichkeit sich besser
anpassenden Werth zu suchen haben, anderer-
seits aber doch auch diese Werthe noch mit
Vorsicht aufnehmen müssen. Interessant würde
es sein, die Beobachtungen und Rechnungen zu
kennen, auf Grund welcher diese Abänderungen
vorgenommen sind.
Zum Schluß mag noch bemerkt werden, daß
für Europa die Vergleichung der Karten mit
Sicherheit erkennen läßt, daß nach ihnen im
Westen die Inclination etwas abgenommen, im
Osten ebenso zugenommen hat. Die Scheide-
linie bildet ohngefähr 10° ö. L.
Die Karten der Horizontal-Intensität.
In der Karte der Seewarte ist die Horizon-
tal-Intensität**) nach absolutem Maaße gemessen
und differieren die durch 2 auf einander fol-
*) Vergl. den Aufsatz, Ann. d. Hydrographie 1880
Heft VII.
**) Zur Abkürzung der Buchstabe H.
Weltkarten d. magnetischen Variation etc. 1239
gende Curven dargestellten Werthe um' 0,2 die-
ser Einheiten. Die Webersche Karte mißt die
H mit einem Maaße, nach welchem die ganze
Intensität in London im Jahre 1834 1372 be-
trug und differieren die Werthe der auf einan-
der folgenden Curven um 100 dieser Einheiten.
Zur Vergleichung mit der erstgenannten dient
der Reductionsfactor 0,0034941.
Weber verzeichnet 3 Punkte mit einem Ma-
ximum der H 1) 1° n. B. 103° w. L. 2) 13°
n. B. 103° ö. L. 3) 23° s. B. 172° w. L. mit
den Werthen 3,73, 3,67 und 3,47. Von diesen
größten, wie man sieht, in der Nähe des Ae-
quators gelegenen Werthen nimmt die H nach
beiden Polen zu ab.
Auf der Karte der Seewarte finden sich nur
den beiden ersten Maximumpunkten entspre-
chende und zwar liegen beide etwas nördlicher.
Dem ersten entsprechend findet sich der Werth
4 in 10° n. B. 102° w. L.; der zweite, ebenfalls
mit dem Werthe 4 liegt 20° n. B. 85 ö. L.
Nach dem Südpol zu ist dann die Abnahme der
Werthe ohngefähr dieselbe wie bei Weber, nach
dem Hordpol auf der östlichen Halbkugel eine
stärkere, auf der westlichen eine etwas schwä-
chere, so daß man etwa ein in der Richtung
des Aequators laufendes Band von 20° n. B.
bis 20° s. B. zusammenfassen kann, in welchem
die H durchweg größer als bei Weber ist; der
größte Unterschied beträgt c. 0,45 Einheiten.
Eine namhafte Lücke findet sich zwischen dem
Aequator und 20° s. B. nach Osten und Westen
von 0° und 90° w. L. begränzt, also etwa die
Mitte von Süd-Amerika und den westlich davon
gelegenen Theil des atlantischen Oceans um-
fassend, in welchem gerade umgekehrt die
Werthe der Seewarte kleiner als die Weber's
1240 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 39.
sind. Südlich von dem beschriebenen Bande
giebt die Seewarte mit wenigen, der Größe
nach allerdings bedeutenden Abweichungen klei-
nere Werthe als Weber, (größte Differenz 0,64).
Im übrig bleibenden Norden endlich sind die
Werthe auf der neuen Karte für die Osthälfte
durchweg kleiner, für die Westhälfte mit weni-
gen Ausnahmen größer, als die entsprechenden
bei Weber. Der größte Unterschied beträgt hier
0,24. Im Durchschnitte sind die Abweichungen
auf der südlichen Halbkugel erheblich größer
als auf der nördlichen. Werfen wir noch be-
sonders einen Blick auf Europa, so zeigt sieh
der lOte Grad östlicher Länge, derselbe, der
auch in der Inclinationskarte erwähnt wurde,
als einer Gränzscheide zweier Gebiete, deren
westlich gelegenes eine Zunahme, deren östliches
eine Abnahme zeigt. Die Zu- und Abnahme,
beide wachsen mit zunehmender Entfernung von
der mittleren Scheidelinie. Es entspricht sich
hier sehr deutlich ein Wachsen der Inclination
und Abnehmen der H. Im Ganzen zeigen hier
die Karten für die H die größte Uebereinstim-
mung und wie aus dem Gesagten hervorgeht, in
den Abweichungen eine gewisse Regelmäßigkeit,
während eine solche fast in keinem anderen
Theile der Erdoberfläche zu finden ist. Bedenkt
man, daß gerade hier das reichste Beobachtungs-
material vorliegt, so können die Unregelmäßig-
keiten in den übrigen Gebieten wohl zu der
Bemerkung Veranlassung geben, daß unsere
Kenntniß von den Veränderungen der H eine
noch sehr unsichere ist.
Es läßt sich dies den Verhältnissen entspre-
chend auch nicht wohl anders erwarten. Der
Zeitraum innerhalb dessen dieH mit zuverlässi-
gen Instrumenten, ja überhaupt nur, gemessen
Weltkarten d. magnetischen Variation etc. 1241
wird, ist noch ein sehr kurzer, die Zahl der
Beobachtungsstationen nnd Einzelbeobachtungen,
so sehr sie in den letzten Jahren auch gewach-
sen, im Vergleich mit dem ungeheuer großen
zu erforschenden Gebiete doch nur eine ver-
schwindend kleine und endlich sind die Verän-
derungen der H so kleine Größen, daß zu ihrer
genauen Feststellung schon eine große Reihe
von Beobachtungen gehört. Wir dürfen nicht
erwarten, schon jetzt aus der Vergleichung nur
zweier Karten das Gesetzmäßige dieser Verän-
derungen zu erkennen; nach Jahrhunderten wer-
den die vorliegenden Karten als Anfangsglieder
einer langen Reibe ihren Werth bei der Auf-
stellung allgemein gültiger Gesetze des Erd-
magnetismus besitzen, für jetzt besteht der
Hauptwerth aller drei Karten, abgesehen von
ihrem practischen Nutzen, darin, daß sie eine
weitere kräftige Stütze der Gauß'schen Theorie
bilden und indem sie von Neuem veranschau-
lichen, daß der zur Erforschung des Erdmagne-
tismus eingeschlagene Weg der richtige ist, eine
frische Aufmunterung enthalten zum eifrigen
Weiterstreben.
Die deutsche Seewarte hat sich durch die
sorgfältige Ausarbeitung der Karten unzweifel-
haft ein großes Verdienst um die Theorie des
Erdmagnetismus erworben und muß es beson-
ders allen den eifrigen Beobachtern eine große
Genugthuung sein, ihre mühevoll gesammelten
Daten in einem Werke von bleibendem Werthe
in unmittelbare Beziehung zu dem großen Gan-
zen gebracht zu sehen. Indem die Seewarte
auf diese Weise durch mühevolle Arbeiten den
Einzelbeobachtungen durch ihr Zusammenfügen
eine höhere Bedeutung verschafft und bei der
gewiß berechtigten Annahme, daß sie bereit
1242 Gott. gel. Anz. 1880. Stttck 39.
sein wird, sich nach Verlauf eines angemessenen
Zeitraumes derselben Aufgabe zu unterziehen,
erwirbt sie, glaube ich, auch das Recht, bis zu
einem gewissen Grade einen Einfluß auf die
Ausführung von Beobachtungen geltend zu ma-
chen und es würde gewiß von Erfolg: sein,
wenn sie unter Hinweis darauf, daß die ein-
zelne Beobachtung auch nur als einzelner Bau-
stein eine Verwendung finden und von Nutzen
sein kann, und daß die Gleichmäßigkeit des
Materials von der höchsten Wichtigkeit ist, den
Versuch machen wollte, an alle Beobachtungs-
stationen von Neuem die Aufforderung zu rich-
ten, die seiner Zeit Gauß auch in den Berichten
des magnetischen Vereins ausgesprochen hat,
daß in Zukunft auf allen Stationen gleichmäßig
in regelmäßigen Intervallen an fest bestimmten
Terminen vollständige, d. h. alle drei Elemente
umfassende Beobachtungen angestellt werden.
Die Keductionen der zu verschiedenen Zeiten
angestellten Beobachtungen auf einen Zeitpunkt
geben allerdings ein Mittel an die Hand, uns
annähernd von Zeitunterschieden unabhängig zu
machen und ohne sie wird auch keine Zusam-
menstellung möglich sein, aber abgesehen von
der großen hierzu nöthigen Arbeit fehlt es auch
diesen Keductionen noch an einer sicheren
Grundlage und können auch sie eine solche nur
durch lang fortgesetzte gleichzeitige Beobach-
tungsreihen erhalten. Die Einzelbeobachtungen
und die Aufnahmen ganzer Länderstrecken sind
für die Ausfeilung der Karten von größter Be-
deutung, das höchste und vornehmste immer im
Auge zu haltende Ziel bleibt aber die Kennt-
niß der erdmagnetischen Verhältnisse der ge-
sammten Erdoberfläche und diese, sowie die Pe-
rioden in den Veränderungen können wir nur
Tigerstedt, Studien üb. mech . Nervenreizung. 1 243
durch unermüdlich fortgesetzte mit Rücksicht auf
ihren Zweck, d. h. eben in regelmäßigen Zeit-
intervallen an möglichst gleichmäßig über die
Erdoberfläche vertheilten gleichzeitig angestell-
ten Beobachtungen kennen lernen. Nur hier-
durch dürfen wir eine Befestigung und Erwei-
terung der Theorie erwarten, und nur von einer
festbegründeten Theorie werden wir Antwort
auf die zahlreichen noch offenen Fragen erwar-
ten dürfen.
Freiburg i. B. F. Himstedt.
Studien über mechanische Nerven-
reizung von Robert Tigerstedt. Erste
Abtheilung. Mit 6 Tafeln. Helsingfors, Druckerei
der Finnischen Litteratur - Gesellschaft. 1880.
92 Seiten in groß Quart.
Die in der vorliegenden, dem bekannten
Professor am Carolinischen Institute in Stock-
holm, Gustaf Retzius, gewidmeten Schrift
dargestellten Untersuchungen basieren auf Ar-
beiten, welche im Frühjahr und Herbst des
Jahres 1879 in dem von Professor K. H all-
sten geleiteten physiologischen Institut der
Universität Helsingfors und mit Unterstützung
der Mittel des gedachten Instituts ausgeführt
wurden. Das auf Kosten der Finnischen Ge-
sellschaft der Wissenschaft herausgegebene vor-
züglich ausgestattete und reichlich mit Tafeln
versehene Buch liefert einen interessanten Bei-
trag zur Lehre der sogenannten Muskel- und
1244 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 39.
Nervenirritabilität, die man bisher ausschließlich
oder doch fast ausschließlich unter Benutzung
der elektrischen Ströme als Reiz studierte. Zur
genaueren Erkenntniß ihres Wesens bietet diese
Art der Reizung freilich mannigfache Schwie-
rigkeiten und Hindernisse, zunächst darin be-
stehend, daß, um die Worte Ludimar Her-
mann's zu wiederholen, der elektrische Reiz
nicht durch eine Stromdichte, sondern durch
einen Differentialquotienten derselben auszu-
drücken ist, dessen Werth, selbst wenn die
Curve der Stromesschwankung genau bekannt
wäre, beständig wechselt, außer wenn diese
Linie gradlinig ist. Man macht hier gewöhn-
lich die stillschweigende Annahme, daß der vor-
zugsweise erregend wirkende steilste Theil der
Curve in seiner Neigung nur abhängt von den
Ordinatenwerthen, zwischen denen in constant
bleibender Zeit die Schwankung stattfindet, so
daß also, z. B. bei uniformen Schließungen oder
uniform hervorgebrachten Inductionsströmen, die
Steilheit der Stromstärke, resp. des inducieren-
den Stroms, proportional ist. Hierzu kommt in
zweiter Linie die durch die elektrischen Reize
auf die irritabelen Gewebe ausgeübte chemische
Wirkung, deren Stärke und Bedeutung bisher
völlig unbekannt sind, die aber vielleicht die
verschiedenen Erscheinungen in erheblicher
Weise beeinflussen. Die Anwendung mechani-
scher Reize gestaltet die Verhältnisse in der
That weit einfacher. Die Effecte derselben sind
in genauester Weise meßbar, die Stärke der-
selben ist mit Sicherheit zu modificieren, es
läßt sich mittelst derselben eine circumscripte
Stelle des Nerven treffen und die Erzeugung
chemischer Processe fällt weg. So schien es in
der That geboten, diese Art der Reize zu ver-
r
Tigersted t, Studien üb. mech. Nervenreizung. 1245
snchen, und um die Nerven- nnd Muskelphy-
siologie unserer Tage zu consolidieren und zu
erweitern, auf ein Verfahren zurückzugreifen,
welches schon in elementarer Weise Hall er
und Fontana anwenden und dessen sich auch
bei ihren neuro- nnd myop by Biologischen Stu-
dien Heidenhain und Dubois-Reymond
intercurrent bedienten. Der Fortschritt, der sich
gegenüber den Untersuchungen der letzteren in
denen von Tigerstedt bekundet, liegt inson-
derheit in der Benutzung eines in der Abhand-
lung genau beschriebenen und durch Zeichnung
erläuterten Apparats, der es erlaubt, die Inten-
sität des Reizes approximativ genau zu messen,
und innerhalb weiter Grenzen, von Null bis zum
maximalen Werthe des Reizes, und so langsam
man will, die Reizstärke zu verändern, ferner
den Nerv ohne Platzwechsel an jedem beliebigen
Punkte seiner Länge, vom Austritte aus dem
Rückenmarkscanale bis zum Eintritte in den
Muskel zu reizen. Der Apparat ist ferner so
eingerichtet, daß das den Reiz ausübende fal-
lende Gewicht nur möglichst kurze Zeit auf den
Nerven ruht, um nicht länger als nöthig auf
diesen zu drücken, und daß die Möglichkeit vor-
handen ist, dem Nerv gleichzeitig einen anderen
Beiz mit dem mechanischen zuzuführen. Dieser
mit den gewöhnlichen Instrumenten zur Auf-
zeichnung von Muskelbewegungen verbundene
Fallapparat wird sich meines Erachtens bald
Eingang in die Laboratorien verschaffen, nicht
nur, um verschiedene von Tigerstedt bisher
in Folge der durch das Klima des Versuchsorts
bedingten Schwierigkeit , die nöthige Anzahl Ver-
suchstiere herbeizuschaffen, nicht in Angriff ge-
nommenen physiologischen Fragen zu beant-
worten, sondern auch zur Untersuchung der
1246 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 39.
Wirkung gewisser Gifte, die eine hervorragende
Action auf Nerven und Muskelreizbarkeit besitzen.
Tigerstedt's eigene mit seinem Apparate
ausgeführte Untersuchungen betreffen vorwaltend
die Ausdauer des Nerven, die Abhängigkeit der
Muskelzuckung von der Intensität des mechani-
schen Reizes und die Irritabilität eines und des-
selben Nerven an verschiedenen Stellen; doch
hat derselbe, von den hierauf bezüglichen Ver-
suchsreihen abgesehen, einzelne orientierende
Versuche angestellt, welche die Brauchbarkeit
der Methode auch für andere Fragen der Ner-
venphysiologie darlegen.
Es sei uns gestattet, besonders auf das
Schlußcapitel hinzuweisen, in welchem der Ver-
fasser das quantitative Verhältniß zwischen
dem Beize und der Arbeit des Muskels aus-
führlich erörtert, ein Capitel, welches ge-
wissermaßen den Glanzpunkt der Abhandlung
bildet und vorzugsweise den Werth der Unter-
suchungsmethode zu schätzen erlaubt, indem
erst durch diese ein bestimmter experimenteller
Anhalt für die Beurtheilung einer höchst wich-
tigen, aber auch zugleich intricatesten Frage
der Nervenphysik geliefert wird. Was uns die
bisherige Physiologie darüber bot, waren nur
Hypothesen, auf Raisonnement ohne experimen-
telle Basis gegründet. Die meist angenommene
und namentlich von Hermann und Heiden-
heim ausgesprochene Anschauung geht dahin,
daß die bei der Muskelarbeit auftretende Kraft
im Muskel selbst ihre Entstehung hat und durch
den auf den Nerv einwirkenden Reiz blos aus-
gelöst wird. Diese Auslösungstheorie läßt je-
doch die Frage unerörtert, wohin die bei direc-
ter und indirecter Reizung in dem Reize zuge-
führte Kraft gelangt, in welcher Beziehung
Tigerstedt, Stadien üb. mech. Nervenreizung. 1247
nur Bernstein nnd Hällstän sich ausspra-
chen, and zwar dahin, daß die lebendige Kraft
des Reizes in der Arbeit des Maskeis wiederge-
funden werde and somit einen Theil derselben
ausmache.
Da in Tigerstedt's Versuchen die
Werthe des mechanischen Reizes and der Ar-
beit, welche der Maskel bei seiner Contraction
leistet, mit demselben Maaße gemessen sind,
läßt sich, unter Berücksichtigung der Versuchs-
ergebnisse von Fick und Harteneck über
die Wärmeentwicklung bei Muskelarbeit, ein
Verhältniß der Kraft des Reizes mit der Summe
der Kraft bei der durch dieselben hervorgerufe-
nen Muskelcontraction berechnen. Wenn sich
dadurch ergiebt, daß einem Reize von circa
7500 Milligrammillimetern Stärke eine Muskel-
arbeit von 530,000 Milligrammillimetern ent-
spricht, so wird man den Satz gerechtfertigt
finden, daß jedenfalls der von einem einzelnen
mechanischen Reize ausgelöste Effect mindestens
70 Mal so stark ist, wie die Kraft des Irrita-
ments. Dies ist aber nur der niedrigste Werth,
und unter anderen Verhältnissen ergiebt sich eine
Proportion von 1:100—320, so daß die Kraft
des Reizes in der That von verschwindender
Geringfügigkeit der Muskelarbeitsleistung gegen-
über ist und man nicht umhin kann, die Quelle
des Functionszustandes des Muskels, sowie der
hierbei entwickelten Arbeit und Wärme als
ganz and gar im Muskel selbst liegend und nur
durch die im Nerven dem Muskel zugeleitete
Reizung ausgelöst anzusehen. Die lebendige
Kraft des Reizes aber wird offenbar zunächst
zur Aaslösungsarbeit verwerthet, denn es steht
fest, daß letztere zur Stärke des Reizes in
einem gewissen, bisher nicht bestimmbaren Ver-
1248 Gott gel. Anz. 1880. Stück 39.
hältnisse steht, insofern die Auslösung nicht für
eine jede Stärke des Reizes sich aufweist, son-
dern nur bei einem gewissen endlichen Werthe
desselben beginnt, daß die Stärke der Auslösung
in gewissem Grade von der Stärke des Seizes
abhängt und für einen einzelnen Beiz eine ge-
wisse Grenze nicht übersteigt, obschon unter
besonderen Umständen die ausgelöste Arbeit be-
deutend vergrößert wird (Tetanus). In Bezug
auf den Functionszustand im Nervensystem de-
duciert Tigerstedt aus seinen Untersuchungen
die Bichtigkeit der von Fechner und Hei-
denhain zuerst aufgestellten, dann von Hall-
st an und Wundt ausführlich begründeten
Theorie, daß dieselbe in einer Wellenbewegung
bestehe.
Nach dem Mitgetheilten wird die gründ-
liche., umsichtige und anregende Studie des
finnländischen Physiologen gewiß auf eine freund-
liche Aufnahme im Kreise der deutschen Fach-
genossen rechnen können. Die Schrift zeigt,
daß Fonds und Bäume des Helsingforser phy-
siologischen Instituts, über welches Hällst6n
in dem Nordiskt medicinsk Arkiv ausführliche
Mittheilungen machte, in zweckentsprechender
und für die Wissenschaft Frucht bringender
Weise Verwendung finden. Sie ist auch eine
Illustration zu der immer mehr sich Bahn bre-
chenden Benutzung der deutschen Sprache von
außerdeutschen Gelehrten für Veröffentlichungen,
welche ausschließlich für enge wissenschaftliche
Kreise berechnet sind.
Theod. Husemann.
Für die Redaction verantwortlich : S. Heimisch, Director d. Gott. gel. An*.
Commisgions- Verlag der Dieterich'schen Verlags -BuchhatuUunff.
Druck der Dieierich' sehen Univ.- Buchdrucker* (W. Ft. Itu&tncr).
r*
.. -.- -^
1249
Göttingische
gelehrte Anzeigen
anter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften«
Stück 40. 6. October 1880.
Inhalt: W. Sartorius ▼. Waltershausen, Der Aetna;
herausgeg. etc. von A. ▼. Lasaulx. Yon B. Roambuach. — M. J o e 1 ,
Blicke in die Religionsgeschichte zn Anfang des 2. christlichen Jahr-
hunderts. Von G. Siegfried. — 0. Lehmann, Die tachygraphischen
Abkürzungen der griechischen Handschriften. Von 7. Qardthausen.
ss Eigenmächtiger Abdruck von Artikeln der Gott. gel. Anz. verboten s
Der Aetna. Nach den Manuscripten des
verstorbenen Dr. Wo 1 f g a n g S ar t o r i u s F r ei-
herrn von Waltershaasen herausgegeben,
selbständig bearbeitet and vollendet von Dr.
Arnold von Lasaalx. — Erster Band: Sar-
torias' Reisebeschreibung aad die Geschichte der
Eruptionen. Mit dem Bildniß von Sartorius,
einer Karte in Lichtdruck, XIV Kupfertafeln
and verschiedenen Holzschnitten. Leipzig, Ver-
lag von Wilhelm Engelmann. 1880. X and
371 S. 4°.
Mehr denn drei, fast vier Jahre nach dem
Tode Sartorius' von Waltershaasen erscheint die-
ser erste Band eines Werkes, an dessen Vorbe-
reitung and Ausführung derselbe vier Decennien
unermüdlicher Arbeit, liebevoller Hingebung,
opferreicher Mühen gewandt hat, anbeirrt durch
79
1250 Gott. gel. Anz. 1880. Stttck 40.
Gefahr und maacbe sehiei1 unüberwindliche
Schwierigkeit seinem selbstgesteckten Ziele zu-
strebend. Niemand, der den von Sartorius' von
Waltershansen eigener Hand verfaßten Theil
dieses ersten Bandes durchliest, wird sich dem
Eindruck entziehen können» einer ungewöhnlich
ideal angelegten Natur nahe getreten zu sein.
Mit bewegtem Herzen, wie er sie schrieb* wird
man die folgenden Worte lesen : „Nur der eine
Gedanke, mit dem Einsatz meiner Existenz
meine Lebensaufgabe zu erreichen, hat mir
schließlich über alle Hindernisse hinweggeholfen,
bis es mir nach langem Ringen vergönnt wor-
den ist, mich meinem wissenschaftlichen Ideale
zu nähern. Jetzt stehe ich dicht vor dem Ziele
meiner Wünsche, sowie vor dem Rande meines
eigenen Grabes, und ich muß es als eine gün-
stige Fügung, als eine Gnade des Geschicks
bezeichnen, daß die von jugendlicher Begeiste-
rung getragene Arbeit am Abend meines Lebens
einen befriedigenden Abschluß gewonnen hat.
Es ist mir jetzt, als ob die Träume meiner Kind-
heit sich verwirklicht hätten ; alle Gefahren, alle
Sorgen, die mich umringten, und so manche Wi*
derwärtigkeiten, die mir nicht erspart wurden,
sind in die Ferne gerückt, und nur dankbar
kann ich auf eine Vergangenheit zurückblicken,
welche, durch die Zeit geklärt, wie auf einem
Nebelschleier großartige Bilder und theuere
längst dahin geschwundene Schatten an meiner
Seele vorüberziehen läßtla (pg. 4). — Das Ziel
selbst zu erreichen, war ihm nicht vergönnt.
Einer andern Hand war es vorbehalten, das
von Sartorius von Waltershausen handschriftlich
hinterlassene Material zu ordnen, zu sichten, zu
vervollständigen und zu veröffentlichen. Wir
wünschen und sind überzeugt, daß die Pietät
Sartori us Y. Waltershausen, Der Aetna. Bd. I. 1251
dbs Jünger* der Gesdiäftsgewandtliete de« Li-
quidators tre« zur Seite bleiben wird. — Die
Stelle, an Welcher diese kurze Besprechung Platz
findet, wird es entschuldigen, wenn wir darauf
hinweisen, daß dureb ein eigenes Schicksalsspiel
die Georgia Augusta in demselben Decennium
zwei Geologen verlor, denen beiden es nicht be-
schieden war, ihre Lieblingswerke zu vollenden.
Sartorius von Waltershausen starb kurz vor
Abschluß seines Aetnawerks, Karl von Seebacb
wurde dahingerafft im Vollgenuß der wissen-
schaftlichen Arbeitskraft. Mögen auch seine
Studien über die mittelamerikanischen Vulkane
der Geologie nicht verloren gehen !
Der Herausgeber und Bearbeiter der von
Sartorius von Waltershausen Unterlassenen, auf
sein Aetnawerk bezüglichen Manuscripte, Herr
Prof. Dr. Arnold von Lasaulx in Kiel, eröffnet
nach einem kurzen, den Sartorius'schen Plan des
Werks und die eigenen Aenderungen desselben
darlegenden Vorwort diesen ersten Band mit
einem warmempfundenen Nachruf an den Ge-
schiedenen. Die Einflüsse, die auf den Knaben
und Jüngling bestimmend wirkten, der äußere
Lebensgang, die literarische Thätigkeit Sarto-
rius' vdn Waltershausen und seine Stellung zum
öffentlichen Leben werden in übersichtlicher und
geschickter Weise dargelegt. Es ist nicht leicht,
den wirklichen Verdiensten Sartorius* von Wal-
tershausen gerecht zu werden; — ein kaum
Geschiedener steht er doch der heutigen Gene-
ration von Mineralogen und Geologen überra-
schend fern und es ist zu fürchten , daß selbst
dieses posthüme Aetnawerk ihn den Lebenden
nicht auf die Dauer näher rücken wird. Sollte
es da nieht vielleicht am Platze gewesen sein,
in dem „Gedenkblatt" des Herausgebers auch
79*
1252 Gott. gel. Aflz. 1880. Stück 40.
die wissenschaftliche Stellang Sartorius' von Wal-
tershansen in die rechte Beleuchtung zu rücken?
Nicht der Mangel persönlicher Tüchtigkeit and
nachhaltigen Verdienstes, nicht die verhältnis-
mäßig vollständige Abschließung gegen herr-
schende Persönlichkeiten und Kreise bedingt es,
daß Sartorius so bald nach seinem Tode, ja z.
Th. schon während seines Lebens in den Hinter-
grund tritt und kaum noch lebendig nachwirkt
Er hat mit Glück eingegriffen und hat nicht
ohne Erfolg mitgearbeitet in Fragen, die noch
heute die wissenschaftlichen Kreise bewegen,
denen er angehörte; er hat in seinem Aetna-
Atlas ein Werk von hoher wissenschaftlicher Be-
deutung hinterlassen. Der Grund seiner auffal-
lenden Ablösung von der mitlebenden und nach-
folgenden Generation ist zunächst darin zu su-
chen, daß ihn sein Geschick an einen Wende-
punkt in der Entwicklung seiner Wissenschaft
stellte; seiner ganzen Bildung und Beanlagung
nach gehörte er einer endenden Epoche an und
vermochte es nicht, sich in die beginnende ein-
zuleben. , In der Zeit seiner eigenen Entwicklung
vollzog sich eine Sonderung seiner Wissenschaft
in einzelne Disciplinen, deren Bearbeitung eine
immer mehr sich steigernde Specialisierung der
Forscher bedingte. An die Stelle der Ausbildung
auf breiter Basis trat die strenge Schulung, die
Beschränkung des eigenen Forschungskreises.
Nun aber war Sartorius von Waltershausen sei-
ner ganzen Natur nach nichts weniger als Spe-
cialist, seine längeren Abwesenheiten aus der Hei-
math thaten wohl das ihrige, ihm einen engeren
Anschluß an die eine oder die andere der sich
entwickelnden Disciplinen zu erschweren. Das
Ziel, dem er nachstrebte — engbegrenzt, wie es
schien — verlangte dennoch eine sich nach man-
Sartorius v. Waltersbau sen, Der Aetna. Bd. I. 1253
chen Richtungen hin zersplitternde Thätigkeit. So
kam es denn, daß die einzelnen Zweige der mi-
neralogischen Wissenschaft sich rascher ent-
wickelten, als er seihst; trotz seines reichen
Kenntnißschatzes anf dem Gebiete der allgemei-
nen Naturwissenschaften und der Mathematik
beherrschte er bald keine Einzelheit mehr in
ihrem ganzen Umfange und sprach demzufolge
trotz so manchen glücklichen Griffes (Feldspath-
theorie, vulkanische Gesteinsbildung) in keiner
Frage mehr das entscheidende Wort. Das er-
klärt uns auch, wie so oft bei seinen Arbeiten
die reale Grundlage und die Methode der Be-
handlung in einem auffallenden Widerspruch
stehen, so z. B. wenn er die Methode der klein-
sten Quadrate auf die Berechnung ziemlich man-
gelhafter Silikatanalysen anwendet und diese
eigenthttmliche Stellung gegenüber seiner Wis-
senschaft ist auch wohl die Ursache geworden,
daß Sartorius trotz seiner gewinnenden liebens-
würdigen Persönlichkeit, seiner hohen Begabung
und seiner Stellung an einer Universität, wie
der Georgia Augusta, so wenige Schüler gebil-
det hat.
Da der Herausgeber es nicht für opportun
gehalten hat, die wissenschaftliche Persönlich-
keit des Verfassers in seinem Gedenkblatt eines
Weiteren zu entwickeln und in ihrem historischen
Werden zu beleuchten, so sind wir demselben
doppelt dankbar, daß er uns in dem ersten
Theile dieses Bandes, dem Bericht über die Rei-
sen Sartorius' von Waltershausen in den Jahren
1835—69 (p. 3 — 190\ der mit Ausnahme redac-
tioneller Aenderungen und unbedeutender Kür-
zungen unverändert mitgetheilt wird, einen vol-
len Einblick in die Art und Weise, das Denken
und Empfinden des Verf. gestattet. Wenn auch
1254 Gfltt. gel. Adz. 1880. Stück 40.
die wissenschaftliche Ausbeute, welche dem Le-
ser dieses Thciles zufallt, der Natur der Saobe
nach keine große ist, so wird ihm dafür reiche
Entschädigung in den vielfach anregenden und
belehrenden Schilderungen von Dingen und
Menschen. Es war ein für einen Privatmann
überaus kühnes Unterfangen, ohne jegliche geo-
dätische Grundlage an die geologische Unter-
suchung und Kartierung des Aetna-Gebietes mit
über 30 QMeilen Fläche heranzutreten. Mitbe-
wundernswerther Beharrlichkeit hat Sartorius von
Waltershausen seine Aufgabe gelöst, von der
Gradmessung zwischen Portillo und Gnrna, N.
von Biposto an durch die topographische Auf-
nahme hindurch bis zur geologischen Special-
karte des Val del Bove im Maaßstab 1 : 15000,
yon welcher er nur zwei Sectionen unvollendet
zurückließ.
Den zweiten Theil dieses ersten Bandes bil-
det die Geschichte der ätnäischen Eruptionen,
welche Sartorius von Wpltershaüsen (und woW
mit gutem Grunde) an das Ende das ganzen
Werkes stellen wollte. Er hatte die auf diß ein-
zelnen Ausbrüche bezüglichen Quellen im Ori-
ginaltext zusammengestellt ; der BerflusgeW Hr.
von Lasaulx giebt statt dessen mehr abgerundete
Beschreibungen, denen die historischen Angaben
in deutscher Uebersetzung eingewoben sind. Ref.
ist der Meinung, daß eine Geschichte der fttn&i-
schen Eruptionen nur dann einen wirklichen,
wissenschaftlichen Werth haben kann, wenn sie
sich auf eine mit philologischer Sorgfalt ange-
stellte Kritik der Quellenangaben ' stützte ; lag
diese außerhalb des Planes, dann war es ent-
schieden besser, die Quellentexte im Original
möglichst vollständig mitzutheilen und dem Le-
ser die kritische Verwerthung zu überlassen.
Sartoriusv.Waltershausen, Der Aetna. Bd. I. 1265
der theilweise schwierigen Zugänglichkeit
der älteren Qaellen wäre eine solche diplomati-
sche Wiedergabe in hohem Grade erwünscht ge-
wesen; die dem Leser gebotene, keineswegs im-
mer dem Sinne des Originals adäquate Ueber-
setznng ist ohne eigentliches Interesse, die an
einzelnen Stellen hervortretende Kritik entbehrt
vielfach des tieferen Eindringens. Es würde die
angezogenen Grenzen einer kurzen Besprechung
weit überschreiten, wollte Ref. versuchen, seine
in manchen Punkten abweichende Auffassung
der von ihm nur zum kleinen Theil eingesehe-
nen Quellen ins Einzelne zu begründen. Es
mag genügen, dieses weiter unten an einem Bei-
spiele zu thun. — Ohne Zweifel liegt in der
Aufzählung und Beschreibung der historischen
Aetna-Eruptionen nur der allerkleinste Theil der
Aetna-Gescbicbte vor uns; den wesentlichsten
Abschnitt derselben dürfen wir erst am Schluß
des 2. Bandes dieses Werkes erwarten. Dort
werden dann gewiß auch die Fragen, die sich
bei der vergleichenden Betrachtung der noch
thätigen mediterranen Vulkancentren von selbst
aufdrängen, ihre Beantwortung finden. Jedes
derselben, das sioilische, das liparische, das ve-
suvische im weiteren Sinne, und das santorini-
sche hat eine so ausgesprochene Individualität
in der petrographisohen Natur der Eruptions-
produkte, in dem ganzen geologischen Aufbau,
in der Gruppierung der einzelnen Entwicklungs-
epochen, daß wir mit Spannung der zu erhoffen-
den Darstellung der Aetna-Geschichte entgegen-
sehen. Vervollständigt diese in günstiger Weise
unsere ziemlich genauen Kenntnisse des Vesuvs
und Santorins, dann dürfte ein bedeutender Schritt
auf dem Gebiet der Vulkanologie nach vorwärts
gethan sein. Es wäre verfrüht, diesen Gegen-
1256 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 40.
stand hier weiter zu verfolgen; die Besprechung
des zweiten Bandes wird dazu die geeignete
Gelegenheit bieten.
Das Verständniß der Einzelbeschreibungen
der historischen Aetna- Ausbrüche wird in hohem
Grade unterstützt und erleichtert durch die nach
der großen Sartorius von Waltershausen'schen
Karte im Maaßstab 1 : 200000 verkleinerte, nach
den neuesten Eruptionen (der Lavastrom von
1879 ist entschieden zu breit dargestellt) er-
gänzte, im Lichtdruck ausgeführte Uebersichts-
karte des Aetna und seiner Lavaströme. Auch
die vielen und durchweg höchst gelungenen
Eupfertafeln und Holzschnitte, die diesen ersten
Band zieren, tragen in reichem Maaße zur Ver-
anschaulichung und leichteren Auffassung des
Textes bei. Bei der Besprechung der einzelnen
Ausbrüche ist die betreffende Literatur in dan-
kenswerther Weise und, soweit Ref. es zu be-
urtheilen vermag, in meistens absoluter Voll-
ständigkeit angegeben. Im Großen und Ganzen
dürften die verschiedenen Lavaströme histori-
scher Zeit mit genügender Genauigkeit fixiert,
die die einzelnen Ausbrüche begleitenden Er-
eignisse und ihr genaues Datum nach Möglich-
keit festgestellt sein. Daß indessen im Einzel-
nen eine wiederholte Discussion der vorhande-
nen Nachrichten und eine kritische Quellenfor-
schung noch manche Berichtigung und Erweite-
rung bringen kann, mögen die folgenden Bei-
spiele zeigen.
Zu der Eruption vom 5. Febr. 252 p. Ch.
ist zu bemerken, d«ß sich bei Fazellus (ich be-
diene mich der Ausgabe Panormi, apud Joannem
Matthaeum Maidam, et Franciscum Garraram.
Anno Domini MDLVIII) wohl dieselbe Eruption
als in das Jahr 254 fallend erwähnt wird. Es
Sartorius v. Waltershausen, Der Aetna. Bd.I. 1257
heißt daselbst Dec. I. cap. IV. pg. 59 wörtlich:
Sed et anno salntis 254 Calend. February, et
secundo anno post obitum Divae Agathae, cum
Aetna ignitos globos eructasset, Catanenses, qui
snperstitioso genilitatis cultu eo tempore detine-
bantur, Divae Agathae ob Christi fidem a Quin-
tiano martyrio affectae, sepulcbro saxum quod-
dam impo8itum hac divina inscriptione : Mentem
sanctam, spontaneam, honorem Deo, et patriae
liberationem, insigne deprehendentes, miracnlo
perculsi tumulum aperiunt: velum quo ejus
corpus tegebatur, contra ignem objiciunt. Quo
facto (mirum visu) incendium statiro, velut illius
veli aspectum reformidans, relicta urbe alio cur-
sum tetendit. Catanenses postea Christi fide
imbuti eo exemplo adducti, quoties Aetna ignes
emittit, id velum incendiis objiciunt etc.
Eine der bestbeobachteten der älteren Erup-
tionen war diejenige von 1536 ; bei ihr ergossen
sich Lavaströme nach drei verschiedenen Rich-
tungen und sie ist die erste, bei welcher histo-
risch beglaubigt, jene verheerende Erscheinung
der Schlammströme vorkam, wie der Herausge-
ber Hr. von Lasaulx mit Recht, auf einen Be-
richt des Baron di Burgis sich stützend (p. 227),
hervorhebt. Indessen auch bei Fazellus, dessen
Bericht in deutscher Uebersetzung, z. Th. nicht
ganz richtig mitgetheilt wird, ist dieses Phäno-
men sehr deutlich beschrieben. Die Schilderung
des Fazellus (1. c. p. 60 und 61) lautet wört-
lich : Anno siquidem salutis 1536 nono Cal. Apri-
lis flaute austro et sole ad occasum vergente
nubes atra montis apicem opernit, et inter earn
rubor emicuit. Tum repente ex ipso cratere
ignei torrentis vasta vis erupit, paulatimque in
modum fluminis magno moatis murmure, ac
terraemotu defluens orientem versus descendit,
1258 Gott gel. Anz. 1880. Stück 40.
lacnmque (cuius supra in description« meminimns)
illapsus magnam ibi repertam lapidum congeriem
liquefecit. Quae supra Randatium oppidum prae-
cipiti, sed falcato volumine decurrens ovium gre-
ges, et animalia pleraque obviantia statim de-
mersit. Die Uebersetzung bei v. Lasaulx giebt
ein entschieden falsches Bild dieses Ereignisses,
wenn sie uns einen über die Stadt Randazzo
herabeilenden Lavastrom vorführt. Zunächst
zeigt der Wortlaut, daß ein Gipfelausbruch (ex
ipso cratere) stattfand, der unter vulkanischem
Getöse und von Erdbeben begleitet nach Osten
herabstieg und in die Lacus genannte Localität
hineinglitt. Die langsame Bewegung eines Lava-
stromes, selbst bei ziemlich jäher Unterlage, ist
deutlich durch die Worte descendit und illapsas
von Fazellus wiedergegeben, der sich selbst einen
Augenzeugen nennt (quae ipsi visu sumus assecnti
commemoremus). Die lacus genannte Localität
beschreibt Fazellus* gelegentlich seiner Aetnabe-
steigung (1. c. pag. 58) mit folgenden Worten:
Duce igitur praevio in parvam vallem descen-
dimus, quam, quod ex liquefactis in altonivibus
decurrens ibi stagnet aqua, summoque totios
montis subsit tumulo, lacum appellant. Der Gi-
pfelstrom endete nun offenbar in diesem unter
dem Krater liegenden, mit Wasser oder Schnee
und losen Auswurfsmassen gefüllten Thälchen.
Offenbar ist das magnam ibi repertam lapidnm
congeriem liquefecit nicht als ein Schmelzen von
Gesteinsmasse zu verstehen, denn Lavaströme
schmelzen überhaupt bekanntlich keine großen
Gesteinsmassen und wenn das dennoch in die-
sem Falle geschehen wäre, so hätte sich höch-
stens wieder ein langsam fließender Lavastrom
bilden können. Es entwickelte sich vielmehr von
diesem lacus aus ein Schlammstrom, wie deut-
Sartorius v . Waltershausen, Der Aetna. Bd. I. 1259
lieh ans der mit decurrens (nicht descendens)
und demersit geschilderten Bewegung hervorgeht.
Diese stürzte sich in jäher, aber sichelförmig
gekrümmter Windung (nicht über die, sondern)
oberhalb der Stadt Randazzo herab und begrub
Schafheerden etc. Daher ist es denn auch nicht
zu verwundern, daß nach Randazzo zu und
darüber hin kein Lavastrom von 1536 nachweis-
bar ißt, wie richtig hervorgehoben wird.
Darauf fährt Fazellus in der Schilderung der-
selben Eruption folgendermaßen fort : Ex eodem
quoque summo montis cratere mirum, ac hor-
rendum visu profluvium igneum occidentem ver-
sus supra Brontem et Adranum oppida eodem
tempore effluere coepit. Liquescentes enim lapi-
des sulphurei, ac bituminosi vi ventorum depulsi
lento fluxu, et intermisso, veluti ferrum candens,
decurrebant: et qui primum defluxerunt, sensim
amisso calore in priorem naturam, ac materiam
subnigram indurescebanl Post rivus alter igneus
descendens non supra priorem fluebat, sed inter
ipsius arenosam cutem et priorem ignem jam
eoncretnm immiscens sese cursum medium sibi
sua vi faciebat : ita ut et cutis superior, et super-
ficies prioris aeque esset dura. Qui vero ignis
recens erat, supter fluebat instar testudinis, quae
sub testa dura vivens lente tarnen graditur. Ita
fluenta, quae prius induruerant, novis cedebant,
a quibus in partes disjiciebantur. Novissimis
itaque semper vincentibus multiplicabatur incen-
dium ad latitudinem stadij unius, profunditatemque
cubitorum circiter duodecim. Cumque totum re-
frixisset*) profluvium, lapidum molarium conge-
riam ab ore crateris ad terminum usque fluxus
subnigram recens eructatam perpetuo reliquit.
*) In der Uebersetzung bei v. Lausaulx steht »sich
zurückgewandt hatte« ♦
1260 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 40.
Offenbar auch ein ziemlich mittelmäßiger Strom,
der sieb unmöglich, wie v. Lasaulx übersetzt,
über die Städte Bronte und Adernö ergießen
konnte, sondern, wie ja auch der lateinische
Text deutlich sagt, ein Gipfelstrom, der sich
oberhalb der genannten Städte nach W. hin den
Berg herabzog. Nach den Angaben über seine
Breite (etwa 200 m.) und seine Tiefe (etwa 7 —
8 m.) kann derselbe bei normalen Proportionen
nur sehr wenige Km. Länge gehabt haben. Die
Beziehung des zweiten nach oberflächlicher Er-
starrung des ersten hervorbrechenden Stromes
scheint mir ebenfalls in der Uebersetzung nicht
richtig zum Ausdruck gelangt zu sein. Ref.
glaubt darin die recht correcte Beschreibung
eines Vorganges zu sehen, den er am Abend des
11. April d. J. an einem kleinen Gipfelstrome
des Vesuv in sehr verkleinertem Maßstabe be-
obachtete und würde demnach die Stelle von
Post rivus alter etiam etwa folgendermaßen wie-
dergeben. „Ein später herabsteigender zweiter
Lavastrom floß nicht über den ersten hin, son-
dern sich zwischen den schon festgewordenen
ersten Strom und dessen lockere Decke ein-
drängend, brach er sich durch seine Wucht eine
Bahn dazwischen, so daß also die obere Decke
(unter der) und die Oberfläche des ersten Stro-
mes (auf der der zweite floß) gleichmäßig hart
waren. Der neue Strom aber floß darunter hin,
ähnlich wie eine Schildkröte unter ihrem harten
Panzer doch lebendig fortschreitet; auf diese
Weise machte der zuerst erstarrte Strom dem
zweiten Platz, von dem er theilweise auseinander-
geworfen wurde (durch gelegentliche Sprengung
des Schlackensackes des ersteren). Indem also
das Nachdrängende immer die Oberhand ge-
wann, wuchs der Strom zur Breite eines Stadium
und zur Tiefe von etwa 12 Ellen an, u. s. w.a
Sartorius v. Waltershausen, Der Aetna. Bd. I. 1261
Je jüngeren Datums die Eruptionen Bind, um
so präciser und lehrreicher werden natürlich die
Beschreibungen der Beobachter, unter denen zu-
mal Orazio Silvestri hervorragt Die Details,
welche über die die Eruptionen begleitenden und
bedingenden Spaltenbildungen , die einzelnen
Phasen der Ausbrüche, das gegenseitige Ver-
halten der Lavaströme, wenn sie in gleichen oder
verschiedenen Stadien der Fluidität unter wech-
selnden Winkeln zusammentreffen, mitgetheilt
werden, sind vom höchsten Interesse. Bei man-
chen Angaben, zumal über strittige Phänomene,
wünschte man wohl eine strengere Begründung
des Thatbestandes , so z. B. , wenn v. Lasaulx
(pag. 318) am 2. October 1878 im Kraterboden
Exhalationen nicht nur von schwefliger Säure,
sondern auch von ammoniakalischen Ga-
sen wahrgenommen haben will.
Den Schluß des ersten Bandes bildet ein al-
phabetisches Verzeichniß der Aetna-Literatur —
eine gewiß willkommene Beigabe.
Heidelberg, August 1880.
H. Rosenbusch.
M. Joel, Blicke in die Religionsgeschichte
zu Anfang des zweiten christlichen Jahrhunderts.
L Der Talmud und die griechische Sprache
nebst zwei Excursen: a. Aristobul, der soge-
nannte Peripatetiker, b. die Gnosis. Breslau und
Leipzig. Druck und Verlag von S. Schottlaender.
1880. S. VII. 177. kl. 8°.
Es ist keine Frage, daß zu einer wirklich
geschichtlichen Erkenntniß der Anfange und der
frühesten Entwickelurig des Ghristenthums die
jüdischen Quellen in noch ganz anderer Weise
1262 G6tt gel. Aaz. 1880. Stück 40.
herangezogen werden mttssety als dies bisher
geschehen ist. Haben doch die hervorragend-
sten Darsteller der Geschichte des Urchristen-»
thums es gerade hierin am Meisten fehlen! las-
sen und dadurch den Werth ihrer Arbeiten auf
das Empfindlichste beeinträchtigt. Wie sehr ist
nicht Strauß durch seine Unfähigkeit sieh iö
die Natur des Semitismus überhaupt und insbe-
sondre in die religiöse Anschauungs- und Em-
pfindungsweise des Judenthums hineinzuversetzen
an einer wahrheitsgetreuen Erfassung der Sache
gehindert worden, von der er reden wollte.
Baur hat nicht blos sein philosophischer Sche-
matismus geschadtt, in welchem er die lebens-
volle historische Entwickelung nöthigen wollte
sich auf gut hegelisch in These, Antithese und
Synthese abzuhaspeln, mehr noch behinderte ihn
die Unkenntniß des Judenthums als des mütter-
lichen Bodens, aus welchem das Christenthum
hervorsproßte. Renan fühlte diesen Mangel,
aber er glaubte dem Genius, zumal dem franzö-
sischen, müsse es gelingen, durch einen kühnen
Sprung das Ziel zu erreichen, an das man nur
nach mühevoller Wanderung gelangen kann.
Er citiert zwar den Talmud öfter, aber da er
Halacha und Aggada für zwei einander bekäm-
pfende Richtungen des Judenthums hält, deren
erste im Rabbinismus und deren zweite im Chri-
stenthum sich fortgesetzt habe: so kann man
dreist behaupten, daß er keine Zeile im Talmud
wirklich gelesen hat. Mit ein paar geistreichen
Apercus ist die Sache nicht gethan, es gilt hier
vereinzelte talmudische Notizen aus tiefen Schach-
ten emporzufördern, sie zu sichten, ihre oft rät-
selhafte Form zu deuten, sie unter einander zu
combinieren oder in Beziehung zu setzen mit
dem Material, was Kirchen- und Profanscbrift-
I9teller aus der griechisch-römischen Periode der
r
Jo€l, Blick« m die Religkrasgescbichfe. 1263
christlichen Literatur bringen. Jeder Beitrag,
der bo die Sache angreift, ist willkommen, auch
Wenn nicht alles Einzelne sich als haltbar er-
weisen sollte. — Zu den literarischen Erschei-
nungen dieser Art gehört auch das oben ange-
zeigte Buch, das dem Titel nach als Anfang
weiterer Untersuchungen eine Erörterung zu-
nächst des Verhaltens bringt, welches die Tal-
mudlehrer der griechischen Sprache gegenüber
beobachtet haben.
Man kann nicht sagen, daß der Verf. in der
eigentlichen Hauptabhandlung dem Leser die
Auffassung seiner Beweisführung besonders er-
leichtert habe. Episodische Untersuchungen un-
terbrechen den Gang der Darstellung (vgl. S.
7 — 9. 22. u. a. *) und die Anordnung der Be-
weismomente ist nicht der Art, daß der Leser
auf geradem Wege zum Ziele geführt wird.
Wir haben uns deshalb im Interesse der Deut-
lichkeit der Mühe unterzogen, eine Neuordnung
des gesammten Beweismaterials vorzunehmen,
werden aber dabei immer die betreffenden Seiten-
zahlen des Verf. anführen, woraus der Leseram
Besten ersehen wird, wie weit obiger Vorwurf
begründet ist und wodurch derselbe zugleich in
die Lage versetzt wird, unser Keferat wie un-
sere Einwendungen, die wir dem Verf. zu ma-
chen haben, mit Leichtigkeit controllieren zu
können.
In dem Tractate Sopherim (I, 8. 9) findet
sich ein seltsam verworrener Bericht über die
Uebersetzung der Thora in das Griechische.
Es ist danach der Pentateuch unter dem Könige
*) Besonders auch die ganze Untersuchung über die
mündliche Lehre s. S. 57—67, welche doch zu der Frage
nach dem Verhalten der Talmudlehrer zum Griechischen
nur in einem sehr lockeren Zusammenhange steht. Eigent-
lich gehört nur S. 67 hierher.
1264 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 40.
Ptolemäus zweimal übersetzt worden und zwar
einmal von 5 Alten und dann von 72 Alten«
Offenbar liegt hier eine nur unklar gewordene
alte geschichtliche Erinnerung vor, denn die
Thora ist ja wirklich 2mal in's Griechische über-
setzt worden: einmal nach alter Ueberlieferung
von denLXX unter Ptolemäus Philadelphus (cf.
Megilla 9a), das 2te Mal zur Zeit Trajan's und
Hadrian's, wo die Uebersetzungen des Aquila
Theodotion und Symmachus entstanden. Die
5 Alten sind vielleicht eine Erinnerung an die
5 griechischen Uebersetzer in den Octaplia des
Origenes (S. 4). — Es ist außerdem aber auch
eine weitere Verwirrung in den Bericht des
Tractates Sopherim eingedrungen, welche wir
aber nicht mit dem Verf. in dem Widerspruche
finden, in welchem derselbe scheinbar zu Tal-
mud Jerusch. 1, 1 steht, insofern dieser nämlich
sagt, daß die Thora nach ihrem vollen Bedarf
in keiner andern Sprache wiedergegeben wer-
den könne als in der griechischen, der Tr. So-
pherim dagegen sagt: „Die Thora hatte nicht
genügend übersetzt werden können". Denn die-
ser Widerspruch, glauben wir, wird sich lösen
lassen durch die Erwägung, daß im Tractat So-
pherim eben nur gesagt werden soll, daß die
erste Uebersetzung der Thora in das Griechische
nicht genügt habe und man deshalb zu
einer zweiten geschritten sei. Die Verwirrung
besteht nach unserm Dafürhalten blos darin,
daß das Zeitverhältniß umgekehrt und die Ueber-
setzung der 5 zur ersten, die der 72 zur zwei-
ten gemacht worden ist.
Es giebt aber diese Erscheinung Veranlas-
sung eine allgemeine Untersuchung anzustellen
über das wechselnde Verhalten der Talmudlehrer
gegenüber der griechischen Sprache.
Die griechische Bibelübersetzung war eine
Jofil, Blicke in die Religionsgeschicbte. 1265
Thateache ehe es talnmdische Lehrer gab. Es
konnten diese also nur nachträglich sich dar-
über äußern, ob ihnen diese Thateache gefalle
oder nicht Auch -im letzteren Falle war aber
die Thatsacbe selbst jedenfalls nicht wieder aus
«der Welt zu schaffen. Dadurch erklärt es sich,
daß wir je nach der Lage der Zeit wechselnde
Aeußerungen talmudischer Lehrer über das in
Bede stehende Factum besitzen. (S. 6). —
Die alte sehr liberale Halacha, daß die Bü-
cher der heiligen Schrift in jeder Sprache ritual
gültig geschrieben werden können wird in der
Mischna von R. Simon ben Gamaliel (Megilla
1, 8) auf die griechische Sprache eingeschränkt,
wozu die Gemara (Megilla 9) die Begründung
aus Genes. 9, 27 fügt, daß Japhet in Sem's Zel-
ten wohnen soll (S. 10). Im Talmud Jeruschalmi
1, 1 wird dieser Vorzug sogar soweit gestei-
gert, daß allein die griechische Sprache als das
branchbare Werkzeug für die Uebersetzung der
Thora bezeichnet wird (S. 5). Auch an andern
Stellen wird das Erlernen des Griechischen
nicht nur gestattet, sondern die eigenthümliche
Schönheit dieser Sprache hervorgehoben Sota
7, 3. Megilla 1, 9 (S. 13). — Mit dieser Aus-
zeichnung des Griechischen contrastiert das in
der Mischna Sota 9, 14 ausgesprochene Ver-
bot des Erlernens des Griechischen, welches seit
116 p. Chr. im Kriege des Quietus unter Trajan
gegeben wurde (S. 10). Vergeblich sucht die
Gemara Sota extr. den Widerspruch dieses Ver-
botes und der obigen Lobpreisungen des Grie-
chischen dadurch auszugleichen, daß sie das
Verbot gegen den Wortsinn auf griechische
Weisheit bezieht (S. 11). Diese offenbar falsche
Deutung kann uns in der Auffassung des Fac-
tischen nicht beirren. Wir haben hier ohne
allen Zweifel die auffällige Erscheinung, daß
80
1266 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 40.
von Anfang des 2ten Jahrh. p. Chr. an ein
energischer Versuch gemacht wurde, den (re-
branch der griechischen Sprache ans den jüdi-
schen Kreisen zu verdrängen (S. 13). Wir fra-
gen nach dem Grande. Die Antwort lautet im
jerusalemischen Talmud: „wegen der Angeber".
Diese Bezeichnung wechselt nun im Talmud
constant mit der der Minäer (Minim). Das nö-
thigt uns zu fragen, was haben die Minim mit
dem Folemos schel Kitos (dem Kriege des Quie-
tus) zu schaffen und — mit der griechischen
Sprache ?
Diese Frage beantwortet nun der Verf. da-
mit, daß er zunächst auseinandersetzt, daß die
Minim diejenigen Judenchristen waren, die anti-
national dachten und diese ihre antinationale
und antinomisti8che Auffassung der Lehre Mosis
durch Exegese des griechischen alten Testa-
ments begründeten (S. 15). Man hätte dabei
nur gewünscht, daß er es etwas klarer heraus-
gesagt hätte, daß es damals dreierlei Arten von
Juden gab: 1) gesetzestreue und christusfeind-
liche, 2) gesetzestreue und christusgläubige (S.
26 — 29) [Ebioniten, Standpunkt der Apokalypse]
und 3) antionationale durch Paulus beeinflußte,
hellenistische Judenchristen, die allmählich auch
in Palästina sich Einfluß zu verschaffen wußten
und von den orthodoxen Juden als Minim be-
zeichnet wurden. Dies Alles kann wer will
sich allenfalls aus den Ausführungen von S. 26
—30 herausconstruieren, man hat es aber gern,
wenn einem so etwas gleich der Schriftsteller
selbst klar macht.
Doch wir fragen weiter: was thaten diese
Minim? Antwort: sie führten aus dem griechi-
schen A. T. exegetische Beweise gegen die ge-
setzliche Auffassung der Lehre Mosis. Dann
thaten sie also ungefähr dasselbe, was die Hei-
Jogi, Blicke in die ßeligionsgeschichte. 1267
denehristen auch thaten, was der Hebräerbrief,
der Barnabasbrief und Paulas und was die
Kirchenväter thaten. Man begreift nicht recht,
wo denn ihr Judenthum steckt*): sie sind anti-
national, antinomistisch und haben einen beson-
dern Abscheu gegen den Tempel, dessen Nicht-
Wiederaufbau für sie eine Lebensfrage ist (S.
15). Man sieht auch beim letzteren Punkte
nicht recht, weshalb dies so ist. Der Hebräer-
brief hatte es doch so deutlich gemacht, wie
gut es sich ohne den Tempel auskommen lasse
und wenn es auch eifrigen Christen eiue Genug-
thuung gewähren mochte, den Tempel zerstört
zu sehen und dieser Umstand polemisch von
ihnen verwerthet wurde (cf. S. 31): so sieht man
doch nicht ab, wie das antinomistische Christen«
thum in seinem Lebensnerv gefährdet worden
wäre, wenn im 2ten Jahrhundert der Tempel
wieder aufgebaut worden wäre. In solchem
Falle hätten die Antinomisten doch wahrschein-
lich nur den Rath des Hebräerbriefs befolgt
und wären außerhalb des Lagers gegangen und
hätten Christi Schmach getragen (Hebr. 13, 13).
Der Verf. übertreibt hier offenbar. Dem anti-
nomistischen Judenchristenthum mochte daran
liegen, die Macht des orthodoxeu Judeuthums
nicht durch Wiedererbauung des Tempels ge-
stärkt zu sehen, aber eine Frage des Seins oder
Nichtseins (S. 32) kann man unbefangener Weise
hier nicht finden. — Doch sehen wir weiter,
wie stand es denn mit diesem Tempelbau?
Nach Megilla 1, 6 hatte R. Josua ben Chananja
bei wiederholten Romreisen den Kaiser Trajan
bewogen den Wiederaufbau des Tempels zu ge-
statten (S. 24. 25), was auch unser Verf. in die-
ser Weise für historisch zu halten scheint. Wir
*) Was man z. B. bei dem auch aas der griechischen
Bibel exegisierenden Philo sehr deutlich sieht.
00*
1268 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 40.
Bind der Meinung, daß hier nur eine den be-
rühmten Rabbi verherrlichende Legende vor-
liegt, Trajan mochte ans allgemeinen politischen
Gründen den Versuch machen, die Juden gün-
stig zu stimmen. Aus Freude darüber setzten
die Juden den Trajanstag als einen besondern
Festtag ein, was auch wir mit dem Verf. fttr
die wahrscheinlichste Deutung des Trajanstages
halten (S. 23. 24). Dann aber legten sich die
Minim in's Mittel, welche nach Genesis rabba
c. 64 ganz in der Weise der Samariter (Esra
4, 13) verfuhren und wohl politisch genommen
nicht mit Unrecht den Tempelbau als die Be-
gründung eines neuen Aufruhrherdes dem Kai-
ser gegenüber darstellten (S. 17). Die nicht-
jüdischen Quellen verlegen diese Vorgänge in
die Anfangszeit des Hadrian. Aber man muß
wohl dem Verf. Recht geben in seiner Darle-
gung, daß hier die Nachricht des Midrasch den
Vorzug verdient (S. 17—24).
Die Minim setzten nun bei Trajan die Auf-
hebung der Genehmigung des Tempelbau's
durch und es kam zu einem gewaltigen Auf-
stande der Juden, bei welchem auch 2 Haupt-
beförderer der Tempelsache, Pappus und Lollia-
nus (Achija und Schemaja) (S. 16—19) um's
Leben kamen, da sie Trajan nach Jenisch. Me-
gilla 1, 4. Taanit 2, 1 zu Laodicea hinrichten
ließ. Recht klar ist der Grund nicht, warum
sie hingerichtet wurden. Der Verf. meint, das
wahre Motiv sei ihre Arbeit für den Tempelbau
gewesen (S. 21), allein das konnte sie nicht
straffällig machen, so lange die Erlaubniß nicht
zurückgenommen war. Sie haben sich sicher
beim Aufstande betheiligt und sind dabei umge-
kommen. Die legendenhaften Schilderungen ih-
res Martyriums im Talmud (S. 22) haben dabei
Keinen historischen Werth. — Daß hierdurch
Joel, Blicke in die Religionsgeschichte. 1269
bei den orthodoxen Juden und Judenchristen
eine heftige Erbitterung gegen die Minim erregt
wurde, die an alle diesem Unheil Schuld wa-
ren, kann man sich denken und so finden wir
denn auch die Spuren davon in verschiedenen
talmudischen Erzählungen, die der Verf. S. 33
— 36 anführt. Merkwürdig ist nur, daß wir da-
bei in allen historischen Berichten immer nur
von einem Aufstande der Juden gegen die rö-
mische Obrigkeit lesen und nie davon, daß sie
über die Minim als über diejenigen hergefallen
seien, gegen die sie doch als die eigentlichen
Urheber des Unglücks am leidenschaftlichsten
erregt sein mußten. Auch der Verf. schweigt
S. 32 über diesen auffallenden Umstand.
Was war aber nun die weitere Folge dieser
Ereignisse? Der Verf. sagt: die Juden hätten
daraus erkannt, welche Gefahren eine nicht auf
den Urtext zurückgehende Schriftdeutung mit
sieb bringe und daher infolge dessen nach die-
sem Kriege das Erlernen des Griechischen gänz-
lich verboten, damit jene antinationale Richtung
der Minim nicht weiter um sich greife (S. 15).
— Das ist doch wohl ein befremdendes Resul-
tat Man fragt unwillkübrlich , sollte das wohl
bei dem Haß, den man gegen die Minim
hegte, zu befürchten gewesen sein? sodann:
sollten denn wohl die Minim zu ihren Machina-
tionen gegen den Tempelbau vorzugsweise durch
den Besitz der griechischen Bibel bewogen sein?
Doch gewiß ebensowenig als seiner Zeit jene
Guthäer, die ohne eine Ahnung von der griechi-
schen Bibel und ihrer Deutbarkeit zu haben dem
Könige Artaschasta es deutlich zu machen wußten,
daß es ein gefährlich Ding sei, den Juden die Wie-
dererbauung ihrer Stadt und ihres Tempels zu
gestatten, da alsbald wieder der nationale Grö-
ßenwahn aufflammen werde. Und in der That
1270 Gott. gel. Adz: 1880. Stück 40.
gehörte kein Griechisch dazu, um dieses zu
greifen. — Auch würde das Verhot des
chisch Lernens wohl einen Sinn gehabt hal
wenn man letzteres den Minim hätte verbi(
können und sie dadurch hindern, sich ans
griechischen Bibel mit ihren judenfeindlichötl
Fälschungen Waffen zu holen (vgl. S. 41), aber]
den eignen Leuten deshalb das Griechische ver-'
bieten, weil die Gegner es mißbrauchen, war
eine Handlungsweise, von der der Verf. auf &
42 selbst sagt, „daß ein solches Verbot in jener
Zeit weder eine bedeutende Wirkung haben
noch den Lehrern selbst auf die Länge Beeilt
sein konnte". In der That wäre es ein völliger
Schlag in's Wasser gewesen. Seltsam nimmt
es sich dann aus S. 43 zu lesen: „Zur negati-
ven Abwehr trat die positive", d. h. zu deutsch,
nachdem man eben das Griechische verboten
hatte, tibersetzte man selber die Bibel in's Grie-
chische. Das Richtige wäre doch hier offenbar
gewesen, zu sagen: es begegnen uns im Talmud
zwei Richtungen, die eine dringt auf gänzliche
Ausrottung des Griechischen, die andere ein-
sehend, daß dies ein Ding der Unmöglichkeit
sei, arbeitet darauf hin, an die Stelle der LXX
die den jüdischen Interessen möglichst günstige
Uebersetzung des Aquila zu setzen. Auf diese
Uebersetzung wandte man dann den Grundsatz
des T Jerusch. an: daß eine vollkommen adä-
quate Darstellung der Gedanken der Thora nur
in der griechischen Sprache möglich sei. Der
Verf. meint nun, daß diese Bevorzugung der
neuen griechischen Uebersetzung besonders ver-
anlaßt sei durch die neu aufkommende Methode,
welche die ganze mündliche Ueberlieferung
durch künstliche Deutung aus dem Schriftwort
ableitete. Für diese Manipulation sei die grie-
chische Uebersetzung mit ihren Pleonasmen be-
, I-
I
^f JoSl, Blicke in die Religionsgeschichte. 1271
sonders günstig gewesen, wie z. B. Genes 2, 16.
17 ßqmüu tydyq, &avdm äno&avsta&s (S. 45).
Aber man sieht nicht ein, inwiefern hier der
Grundtext ungünstiger steht, können doch in
demselben die absoluten Infinitive Vd« undmfc
ebensogut weggelassen werden. Auch ist nicht
zuzugeben, was der Verf. S. 47 ausführt, daß
man erst aus der griechischen Uebersetzung die
Deutungsfähigkeit des Textes erkannt habe.
Allerdings kamen durch diese Uebersetzung neue
Deutungsmöglichkeiten hinzu, aber in erster
Linie bot doch solche der Grundtext mit den
verschiedenen Möglichkeiten seiner Vocalisation
und Aussprache. Wenn z. B. Hieronymus von
5( seinem praeceptor Judaicus erfuhr, daß man
*' :nn in Zefanja 2, 14 siccitas gladius oder cor-
vus (:nh . syi . a^) übersetzen könne, so ist
an dieser Deutekunst sicher die griechische Ue
* bersetzung unschuldig, vgl. auch das vom Verf.
jj selbst S. 69 angeführte Beispiel aus Eohelet 12.
: 12. JiBrtfc = nütt oder tiiyn (nö^nq). Oder
vgl. das Gesetz' "der Vertausctung* verwandter
Laute zur Gewinnung eines neuen Sinnes: z.B.
' Genes 25, 25 mto w» = s-n* iö^n Mann der
Jagd und der List; oder das (besetz der Buch-
stabenumdrehung: Genes 4, 26 tk „damals" ver-
kehrt in rrt dieser (wobei zugfeich Hauchver-
tauschung) *u. dgl. m. Das können wir wenig-
stens dem Verf. nicht glauben und halten es für
unerwiesen, daß die Veneration des Schriftwor-
tes in Alexandria und bei den griechischen Ju-
den eine größere gewesen sei als bei den Pa-
lästinern und daß diese ganze Schriftbehandlung
erst von jenen zu diesen gekommen sei*) (S.
*) Aach stimmt zu dieser Annahme schlecht, was
der Verf. S. 36 sagt von dem Eindrucke, den die jüdi-
schen Lehrer von der großen Gefahr der griechischen
Auslegungsweise erhielten. Der hätte doch füglich nicht
1272 Gott gel. Anz. 1880. Stück 40.
52). In der Gesetzesdeutung waren sicher die
Palästiner die Lehrer und die Alexandriner oder
Hellenisten würden nicht gewagt haben in die-
ser Weise mit dem Texte umzuspringen, wenn
nicht die palästinische Deutekunst ihr Vorbild
gewesen wäre, das sie alsdann allerdings in der
Uebertragung auf die griechische Bibel gehörig
ausgebeutet und bis zur Garrikatur übertrieben
haben. Außerdem benutzten sie es im Interesse
philosophierender Allegoristik, wovon die Palä-
stiner nie etwas wissen wollten. — Unzweifel-
haft ist, darin stimmen wir dem Verf. (S. 47 —
50) bei, daß diese ganze Deutekunst bona fide
gemacht wurde. Es galt eben die Schrift als
die einzige Wahrheitsquelle und zugleich auch
als die Quelle jeder Wahrheit, d. h. man ver-
traute, daß ihr Reichthum alles in sich berge
nach dem Worte: „wende und wende sie, alles
ist darin". So galt es denn auch als zulässig,
jedes Wort der hebräischen Bibel durch beliebige
fremdsprachliche zu deuten, wovon der Verf. auf
S. 51 Beispiele anführt und für welche Regel
als auch bei Philo herrschend Referent in seiner
Abhandlung in Merx Archiv f. w. Erf. d. A. T.
Bd. 2, p. 152. 157. 160 Belege angeführt hat
Ueberhaupt kam es zu einer ganz besondern
Technik, welche zur Auffindung der speziellen
Einzelwahrheit vermittelst eines Systems von
Deuteregeln (n*n73, bei Philo vöpoi, xavovsq %q$
ällriyoQlaq) befähigte. Doch wurde bestimmt,
daß diese Vielfältigkeit der Deutekunst nur auf
die Bibel, nicht auf andere Bücher (Ghizonim)
angewendet werden dürfe, diese solle man lesen
als ob man einen Brief lese, d. h. ohne weite-
res Kopfzerbrechen, sich mit dem nächsten ein-
fachen Sinne begnügend (vgl. S. 69), oder aber
zur Ausbildung sehr ähnlicher Systeme hagadischer Deute-
regeln fuhren können.
Joel, Blicke in die Religionsgeschichte. 1273
wenn sie zur schlimmeren Sorte der Ghizonim
gehören, zu den eigentlichen Ketzerbüchern
(Sifre Minim), so solle man sie gar nicht lesen*
Den auffallenden Umstand, daß auch das sonst
so hochgeschätzte Buch des ben Sira in einer
Stelle des Jerusch. Sanhedr. X p. 28* unter den
letztern aufgeführt wird, sucht unser Verf. durch
Conjectur zu beseitigen, indem? er vorschlägt,
statt Sifre ben Sira (»T'o) zu lesen Sifre ben
Satda (*höo) Bücher des Sohns der S. = christ-
liche Bücher (S. 74) was sich nicht geradezu ab-
weisen läßt, sich aber auch nicht grade beson-
ders empfiehlt, da der Verf. dies nur noch durch
zwei weitere Möglichkeiten, in denen noch eine
dritte eingekapselt liegt, zu stützen weiß, näm-
lich durch die Muthmaßung, daß unter dem mit-
genannten Ben Tiglah sich ein Apokalyptiker
verbirgt, desgleichen unter dem Namen Ben Laa-
nah anter der Voraussetzung, daß in dessen Apo-
kalypse der Wermuth eine Bolle gespielt habe.
Wem diese Instanzen genügen, dem wollen wir
nicht weiter abreden.
Auf die Hauptabhandlung des Verf. folgen
2 größere Excurse, deren erster die Frage nach
der Echtheit der unter dem Namen des Aristo-
bulos bei Eusebius und ohne diesen Namen bei
Clemens Alexandrinus aufgeführten Fragmente
einer erneuten Prüfung unterzieht. Man muß
dieser Untersuchung das Lob eines sehr metho-
dischen und umsichtig erwägenden Verfahrens
zusprechen und wir glauben, daß der Verf.,
wenn auch nicht alle seine Beweise etwas Zwin-
gendes haben, doch das Resultat seiner Kritik
zu einem hohen Grade der Wahrscheinlichkeit
erhoben hat. — Nachdem Valckenaer in seiner
berühmten diatribe de Aristobulo Judaeo 1806
so nachdrucksvoll für die Echtheit der genann-
1274 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 40.
ten Fragmente eingetreten war, regte sich kein
rechter Widerspruch weiter hiergegen, bis neuer-
dings Lobeck in seinem Aglaophamus I, 439 ff.
die bisher wenig beachteten inneren Gründe ge-
gen die Echtheit, welche aus den Textverschie-
denheiten des orphischen Gedichts bei den Kir-
chenvätern fließen, hervorhob. Der Verf. schlägt
nun seinerseits das Verfahren ein, die äußeren
Gründe, welche seiner Zeit Hody in de biblio-
rum textibus originalibus I, c. IX geltend machte,
in verstärkter Form wieder vorzuführen und
dazu dann den Beweis aus der inneren Beschaf-
fenheit der Fragmente zu fügen. Den letzteren
halten wir für gelungener als den ersteren. Denn
das argumentum e silentio, worauf dieser hinaus-
läuft, behält immer etwas Unzureichendes, obwohl
wie wir gleich sehen werden, in einem Falle
wirklich etwas daran ist. Daß nämlich Josephus
in seinem Buche contra Apionem an der Stelle,
wo er alte griechische Autoren aufzählt, die et-
was von den Jud$n wissen, nicht eine alte jü-
dische Schrift eines Aristobulos über Orphica
und Homerica erwähnt, die bis auf Abraham und
Mose zurückgeht, ist ja freilich auffallend: aber
man kann doch deshalb nicht gleich mit dem
Verf. schließen (S. 86) : „hätte er wenn die Ari-
stobulea ihm vorgelegen, nicht mindestens wohl-
gefällig gesagt: er könnte zwar noch andre Be-
weise für das hohe Alterthum und die Bedeu-
tung der Juden aus Orpheus, Hesiod u. s. w.
anführen, wenn er es nicht verschmähte, aus un-
glaubwürdigen und gefälschten Stücken zu be-
weisen ?tf — Was will dieser Schluß anderes
besagen als: so hätte ich's gemacht, wenn ich
Josephus gewesen wäre? — Etwas günstiger
steht es aber mit dem silentium des Justin, weil
man hier sagen kann: er hätte doch gewiß, da
er die Gedanken des orphischen Gedichts vor*
Joel, Blicke in die Religionsgeschichte. 1275
trägt, die for seinen Zweck viel günstigere Form
desselben bei Aristobnlos benutzt, wenn er diese
gekannt hätte. Nnr daß wir ancb bier dem
Schriftsteller nnsere Einsicht der Sache nnd
unsre Ansicht von zweckmäßigerem Verfahren
unvrillkührlich unterschieben. — Die hierauf fol-
gende innere Kritik des Verf. ist ein recht fein
gearbeitetes Gewebe, an dem man seine Freude
haben kann. Er geht davon aus, daß bei Justin
in der cohort ad Graecos c. 25 von Plato ge-
sagt wird, daß er in dem „alten Wort", auf das
er sich berufe, auf Moses hindeute, in dem or-
phischen Gedichte bei Justin sei aber keine Er-
wähnung des „alten Worts", dagegen tauche
dasselbe in der Fassung des Orphicum bei Euse-
bius in v. 9 und 36 auf, so daß hier auch Or-
pheus als sich auf das „alte Wort" berufend ge-
schildert werde. Da zeigt sich also ein gewisser
Fortschritt von Justin zu Eusebius, in welchem
letzterer das dort von Plato Gesagte auf Orpheus
überträgt. — Das orphische Gedicht sodann bei
Jnstin legt dem Orpheus ein Testament (dia$fj-
xcu) in den Mund, welches eine Art Palinodie
eine Bekehrung von früheren polytheistischen
Ansichten zum Monotheismus enthält. Bei Cle-
mens Alexandrinus kommt dann ein Einschiebsel
hinzu, das sich auf Abraham als den einzigen
bezieht, der damals Gott erkannt habe (powo-
y€V^g »£ dnoQQOol* (pvlov ävoa&GV XctXdcttmv).
Eusebius fügt dazu im Anfang einige Einschieb-
sel „von den Satzungen der Gerechten" von
dem „Allen gegebenen göttlichen Gesetze« von
dem „alten Wort", dann kommt bei ihm der Zu-
satz des Clemens vom „chaldäischen Sprößling"
nnd in v. 36. 37 der Zusatz: „wie das Wort
der Alten (lautet), wie der Wassergeborene (d. h.
Moses) befohlen von Gott belehrt, da er auf dop-
pelter Tafel das Gesetz empfangen". — * Man
1276 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 40.
sieht deutlich die fortschreitende Erweiterung
des Gedichts aus dieser Zusammenstellung, so-
wie seinen Ursprung, der nicht lange vor Justin
zu suchen ist. — Wenn man endlich die prosai-
schen Stücke vergleicht: das was hei Clemens
Alex, ström. VI, 680 (Sylb.) und bei Eusebius
XIII c. 12 über den 7 ten Tag gesagt ist, dort
von Clemens als eigne Weisheit, hier von Euse-
bius als aristobulisch vorgetragen, so bekommt
man allerdings den Eindruck, daß wir es in
beiden Fällen mit derselben christlichen An-
schauung zu thun haben, die nur bei Eusebius,
um sie jüdisch erscheinen zu lassen, in etwas
abgeblaßter Form gegeben ist.
Der 2te Excurs über die Gnosis richtet sich
zuerst auf den Nachweis, daß die sogenannten
orientalischen Elemente derselben fast durchweg
bereits griechisch vermittelt seien, bisweilen bei
näherer Betrachtung sich sogar unmittelbar aus
dem Griechenthum herleiten lassen. So z. B.
die Syzygienlehre ausHesiod u. a. — Den Vor-
schlag des Verf., die Gnosis in eine naive und
tendentiöse zu theilen, überlassen wir als zu we-
nig in diesen Fragen bewandert den Kirchen-
historikern zur Prüfung. Von Werth aber sind
uns die Mittheilungen des Verf. über die Ein-
flüsse griechischer Anschauungen auf die jüdi-
sche Gnosis gewesen, insofern sie mit reichem
Material die Gefahr illustrieren, welche dem jü-
dischen Monotheismus durch das Eindringen grie-
chischer Philosopheme drohte und zugleich eine
Anschauung davon geben, wie das Judenthum
dieser Gefahr durch Modification dieser Lehren
zu entrinnen suchte. In Betreff der Einflüsse
der platonischen Seelenlehre wäre noch an Gü-
demann's rel. geschieh tl. Studien 1876 S. 8 zu
erinnern.
Die Beziehung der iiftD unw ^sa in Cha-
JoSl, Blicke in die Religionsgeschicbte. 1277
giga 14b auf den sr^niö p« (den Grundstein
der Welt) der sich zur Zeit des 2ten Tempels
angeblich im Allerbeiligsten befand, die der Verf.
auf S. 167 vorschlägt, ist eine feine Combination,
nur paßt der Ausdruck der Talmudstelle, der
auf mehrere Steine weist, nicht recht darauf.
An Druckfehlern sind uns begegnet: S. 8
Noeldecke st. Noeldeke. S. 10 u. 13 Solah st.
Sotah. S. 33 Roch st. Bosch. S. 98 yßdÖM st.
ißddfjbtj.
Daß des Verf. Schrift werthvolle Beiträge für
das Verständniß des 2ten Jahrb. p. Chr. enthält
und reich ist an feinen Detailuntersuchungen
wird man aus unsrer Darlegung ersehen haben
und wir hoffen, daß man unsre Einwendungen
als aus sachlichem Interesse hervorgegangen er-
kennen wird, nicht aus der Absicht, das Buch
irgendwie herabzusetzen.
Jena. C. Siegfried.
Die tachygraphischen Abkürzungen
der griechischen Handschriften. Von
Dr. Oskar Lehmann, Mitglied des Egl. Ste-
nographischen Instituts zu Dresden. Mit Ge-
nehmigung des K. Sachs. Ministeriums des In-
nern herausgegeben vom Kgl. Stenographischen
Institute zu Dresden. Mit 10 Tafeln in Licht-
druck. Leipzig, B. G. Teubner 1880. VI und
111 8. 8°.
Es ist früher wohl gelegentlich der Wunsch
geäußert, von der grundlegenden commentatio
palaeographica J. Fr. Bast's eine neue Ausgabe
zu besitzen. Dieser Wunsch ist bis jetzt nicht
erfüllt, und wird auch wohl schwerlich jemals
erfüllt werden, zumal da wir jetzt ein Buch be-
sitzen, das bestimmt ist die Bastsche Abhandlung
theilweise zu ersetzen. In Bezug auf den Um-
1278 Gott, gel Anz. 1880. Stück 40.
fang decken sich allerdings beide Untersuchungen
durchaus nicht: während Bast sich nicht auf die
Abkürzungen beschränkt, hat Lehmann aus den
Abkürzungen speciell die tachygraphischen aus-
gesucht, um dieselben zum Gegenstand einer ein-
gehenden Untersuchung zu machen, die er mit
großem Fleiße und anerkennnenswerther Umsicht
geführt hat.
Nach einer kurzen Einleitung über Abkür-
zungen und über Tachygraphie behandelt er in
dem eigentlichen Haupttheile I. die Zeichen für
Buchstaben und Silben in alphabetischer Ordnung
und II. die Zeichen für Wörter APA9 TAP etc.
Man sieht also: die Anordnung des Stoffes ist
eine sachliche und nicht, wie Ref. gewünscht
hätte, eine chronologische.
Man kann die Abkürzungen aus verschiedenen
Gründen zum Gegenstand einer Untersuchung
machen. Entweder kann man fragen, was die
Zeichen bedeuten; oder: in welcher Zeit lassen
sie sich zuerst nachweisen, wie groß war die
Masse der gebräuchlichen Abkürzungen in einem
bestimmten Jahrhundert, um dadurch einen An-
haltspunkt für die Datierung einer Handschrift
zu gewinnen. — Was nun den ersten Punkt be-
trifft, so war Bast's Kenntniß keine so geringe,
als man denken könnte. Bast verstand aller-
dings nicht viel von der griechischen Tachy-
graphie, aber er kannte die Bedeutung der ta-
chygraphischen Abkürzungen; ungefähr so, wie
Jemand im Stande ist, eine mathematische Formel
anzuwenden, selbst wenn er nichts davon versteht,
wie sie gebildet und erklärt wird. Bast und
vor ihm schon Andere hatten theils durch auf-
merksame Leetüre, theils durch Heranziehung
anderer Handschriften oder Drucke, in denen die
Abkürzungen aufgelöst waren, den richtigen Werth
der zunächst räthselhaften Zeichen erkannt. Aber
*
ehmann, Taehygraphische Abkürzungen. 1279
hier blieb natürlich noch Manches zu than für
Einen, der wirklich griechische Tachygraphie zu
lesen verstand, und es ist das Verdienst des
Verf. hier manches gebessert zu haben durch
rationelle Auffassung und richtigere Erklärung.
Auch was den zweiten Punkt, die chronolo-
gische Seite betrifft, so springt sofort ein ent-
schiedener Vorzug des Lehmannschen Werkes
in die Augen: daß der Verf. fast ausschließlich
sicher datierte Handschriften benutzt und jedes-
mal die Jahreszahl, oder doch das Jahrhundert
der Handschrift hinzufügt, aus der Abkürzungen
citiert werden. — Gerade deshalb wäre es wün-
schenswert gewesen, wenn der Verf. noch einen
Schritt weiter gegangen wäre und die Chrono-
logie zur Grundlage des Ganzen gemacht hätte,
so daß der Leser sich leicht einen Ueberblick
darüber verschaffen könnte, wie groß der Schatz
von Abkürzungen war, der zu einer bestimmten
Zeit in Cure gesetzt war. Wenn die Aufgabe
aber von dieser Seite zu lösen versucht wurde,
dann verstand es sich von selbst, daß sie nicht
auf die tachygraphischen beschränkt werden,
sondern alle Abkürzungen umfassen mußte.
Dieser Mangel in der Anlage hängt aufs
Engste zusammen mit dem Material, das benutzt
wurde: der Verf. hat fast nur nach Schriftpro-
ben, nicht nach Handschriften gearbeitet Es
liegt nicht der mindeste Vorwurf darin, weil
dieses Ziel sich nur durch weite und kostspielige
Reisen hätte erreichen lassen und weil der Verf.
sich nur an gute und zuverlässige Schriftproben
gehalten hat Allein Schriftproben bleiben doch
eben nur Proben, die eine, höchstens zwei Sei-
ten der Handschrift wiederzugeben pflegen, die
noch dazu meistens nach anderen Gesichtspunk-
ten ohne, Rücksicht auf die Abkürzungen für
die Reproduction ausgewählt sind. Wer also
1280 Gott. gel. An». 1880. Stück 40.
mit Nachbildungen arbeitet, kann keinen Ueber»
blick geben über die von einem Schreiber ii
einer bestimmten Zeit gebrauchten Abkürzungen.
Das ist allerdings eine Forderung, der keine der
älteren Sammlungen — auch meine eigene nicht
— genügt, die aber im Laufe der Zeit sich im-
mer mehr als unabweislich herausstellen wird.
Wer sich später einmal diese Aufgabe steUt,
wird sich natürlich nicht auf die tachygraphi-
schen Abkürzungen beschränken dürfen, sondern
alle Abkürzungen in den Bereich seiner Unter-
suchung zu ziehen haben. Eine derartige Untersu-
chung ist allerdings schwierig, aber auch in hohem
Grade lohnend, namentlich für die Bestimmung
der späteren undatierten Minuskelnhandschriften.
Da der Verf. sich dieses Ziel nicht ge-
steckt hat, so dürfen wir ihm nicht vorwerfen,
daß er es nicht erreicht hat. Die Erwartungen,
die der Titel erweckt, werden befriedigt; wir be-
sitzen in dem vorliegenden Werke einen zuver-
lässigen Führer durch ein schwieriges Gebiet,
das Manche bis vor Kurzem nur ungern betra-
ten, weil die tachy graphischen Abkürzungen sich
einem rationellen Verständniß zu entziehen, und
tastenden oder rathenden Versuchen des Lesers
oder Abschreibers Preis gegeben zu sein schienen.
Mit dieser Auffassung ist es nun definitiv zu
Ende. Nicht als ob ich mit allen Einzelheiten
dieses Werkes vollständig einverstanden wäre;
im Gegentheil, es bleiben noch Differenzpunkte
genug übrig, selbst in principiellen Fragen ; trotz-
dem aber trage ich kein Bedenken, das vorlie-
gende Werk zu empfehlen als werthvolle Ergän-
zung meines Handbuchs der Griechischen Palaeo-
graphie. V* Gardthausen.
Für die Redaction verantwortlich : S. Behnisch, Director d. Gott. gel. Anx.
Commissions -Verlag der Dieterich'schm Verlags- BHchhcmdhmg.
Druck der Dieterich'schm Univ.- Buchdruckerei ( W, Fr. Kaestmer).
/
1281
Gö tti ng i sehe
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück 4L 13. October 1880.
Inhalt: Joh. Steenstrup , Normannerne. I— in. 1. Von Aow-
rad v. Maturer. — W. His, Anatomie menschlicher Embryonen. I. Von
W. Krause.
ss Eigenmächtiger Abdruck von Artikeln der Gott. gel. Anz. verboten ss
Normannerne, af Johannes G. H. 11.
Steenstrup. Bd. I, 1876; Bd. II, 1878; Bd.
III, Heft 1. 1879. Kopenhagen, Rudolph Klein.
Die Untersuchungen über die Geschichte der
Normannen, welche der junge dänische Geschichts-
forscher Johannes Steenstrup seit einigen Jahren
zu veröffentlichen begonnen hat, sind all erwarte
mit großem Interesse aufgenommen worden. Die
beiden ersten Bände des diesem Gegenstande
gewidmeten Gesammtwerkes wurden insbesondere
auch in deutschen Zeitschriften einläßlich be-
sprochen, zumal in der Historischen Zeitschrift
durch Karl von Amira, und in der, inzwischen
eines kläglichen Todes verblichenen, Jenaer Li-
teraturzeitung durch den Unterzeichneten. Die
Gelehrten Anzeigen haben indessen von dem
Unternehmen bisher noch keine Notiz genom-
bl
1282 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 41.
men, und so mag denn das neuerdings erschie-
nene erste Heft seines dritten Bandes hier zur
Sprache gebracht werden, wobei freilich ein
mehrfaches Zurückgreifen anf die früheren
Bände nicht vermieden werden kann und will.
Wie weit nordgermaniscber Einfluß durch
Vermittlung normannischer Niederlassungen in
Frankreich, England, Italien, Rußland auf die
politischen und Gulturzustände des übrigen Eu-
ropas bestimmend eingewirkt habe, und wie sich
dieser Einfluß allenfalls unter die versehiedepen
Zweige der Nordgermanen vertheile, ist eine
alte Streitfrage, welche freilich im Norden un-
gleich lebhafter erörtert zu werden pflegt als
bei uns in Deutschland. Während wir nicht
nur auf die zweite Hälfte der Frage nur sehr
geringen Werth zu legen, sondern sogar die
erste ziemlich kühl und theilnamslos zu erörtern
pflegen, ist man im Norden sehr geneigt, die
ganze Frage vom Standpunkte der Nationalehre
aus zu behandeln, also einerseits den Einfluß
der Nordgermanen überhaupt auf die Entwick-
lung des übrigen Europas zu überschätzen, und
andererseits das Vorherrschen des dänischen,
norwegischen oder selbst schwedischen Elemen-
tes als ein Streitobject unter dänischen und
norwegischen, allenfalls auch schwedischen und
isländischen Verfassern zu betrachten. Eine
leidenschaftslose, und zugleich in alle Einzeln-
heiten des viel verschlungenen Stoffes ein-
gehende Untersuchung der Frage müßte hier-
nach ein ganz ungewöhnliches Interesse bieten,
und eine solche stellt uns der Verf. in der That
in Aussicht. In der Vorrede zu seinem ersten
Bande erklärt er nämlich, daß Untersuchungen
über die Geschichte des anglo-normännischen
Hechtes, und der Versuch, womöglich die Ge-
Steenstrup, Normannerne. 1283
setzgebung festzustellen, welche in Dänemark
vor den Provinzialrechten gegolten habe, ihm
die Notwendigkeit einer neuerlichen gründlichen
Prüfung der Geschichte der Normannen klar ge-
macht haben, and von hier aas ergiebt sich,
daß die Aufgabe, welche er sich setzt, eine
zwiefach abgestufte ist, indem er in erster Li-
nie eine neue, kritisch gesichtete Darstellung
des Verlaufes der Vikingerzüge zu geben beab-
sichtigt, in zweiter Linie aber das richtige Ver-
ständnis der Rechtsordnung, welche die Nor-
mannen sei es nun in die eroberten Lande mit-
gebracht oder in diesen angenommen haben,
und derCultur erschließen will, welche sie über
Europa ausbreiteten. Zweifellos ist es dabei
die zweite Hälfte dieser Aufgabe, um deren Lö-
sung es dem Verf. hauptsächlich zu thun ist,
wie sie denn auch in der That das ungleich
tiefere Interesse bietet; die äußere Geschichte
der Vikingerzeit dagegen soll ihm nur als Mit-
tel zum Zweck dienen, sofern deren vorgängige
Klarstellung für die Beantwortung jener zweiten
Frage die unumgänglich notwendige Voraus-
setzung bildet. In der Ausführung freilich ge-
staltet sich die Sache, vorläufig wenigstens noch,
wesentlich anders, indem zwar die äußere Ge-
schichte der normannischen Heerfahrten mit
großer Ausführlichkeit vorgetragen , dagegen
aber deren Ergebniß für die Verfassungs- und
Culturgeschichte der ihnen ausgesetzten Länder
keineswegs festgestellt wird. So bietet demnach
zur Zeit Steenstrup's Werk über die Normannen
bereits eine sehr brauchbare und sehr verdienst-
liche Vorarbeit für eine zukünftige Lösung je-
ner tiefergehenden rechts- und culturgeschicht
liehen Frage; ob es aber selbst deren Lösung
bringen werde oder nicht, läßt sich, solange
81*
1284 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 41.
dasselbe noch nicht abgeschlossen vorliegt, in
keiner Weise ersehen.
Ueber die nöthige sprachliche Vorbildung
gebietend, — großer Vertrautheit mit den Quel-
len sich erfreuend, deren Zerstreutheit gerade
in diesem Falle ganz ungewöhnliche Schwierig-
keiten bereitet, — endlich mit unermüdlichem
Fleiße und gesunder Kritik ausgestattet, bringt der
Verf. zu seiner Darstellung der äußeren Ge-
schickte der Vikingerzeit die unerläßlichsten
Vorbedingungen in reichem Maße mit, und auch
das Bestreben, von allen und jeden nationalen
Sympathien und Antipathien sich vollständig frei
zu halten, ist bei ihm unverkennbar vorhanden.
So ist ihm denn auch gelungen, nicht nur, so-
weit sein Werk reicht, eine wohlgeordnete Dar-
stellung der einzelnen Vikingerzüge zu geben,
sondern auch eine Reihe allgemeinerer Ergeb-
nisse zu gewinnen, oder doch neue Gesichts-
punkte aufzustellen, welche, sei es nun als ge-
sicherte Thatsachen, oder doch als sehr beach-
tenswerthe Merkzeichen für künftige Forschun-
gen begrüßt werden dürfen. In der ersteren
Beziehung ist zu bemerken, daß der Verf. in
seinem zweiten Bande die Vikingerzüge gegen
Westen während des 9. Jahrh., und im dritten
die dänischen und norwegischen Reiche auf den
britischen Inseln während der Zeit der Dänen-
herrschaft behandelt, d. h. bis in den Anfang
des 11. Jahrh. herab. Auf das Einzelne der
geschichtlichen Begebenheiten einzugehen ist
natürlich hier nicht am Platze, da bei der un-
absehbaren Fülle isolierter Thatsachen, um die
es sich dabei handelt, ein Buch über ein Buch
geschrieben werden müßte, wenn man prüfend
nachgehen wollte; dagegen mögen ein paar Be-
merkungen allgemeinerer Art verstattet sein,
Steenstrup, Normannerne. 1285
welche sich auf die Art heziehen, in welcher
'- der Verf. seinen Stoff behandelt Seinen ersten
Band beginnt derselbe mit einer Besprechung
der Quellen zur Geschichte der Nonnannen
- (I, S. 1 — 48) : und auch im weiteren Verlaufe
seines Werkes kommt er wiederholt auf diesel-
ben zurück, sei es nun um, erhobenen Einwen-
'- düngen gegenüber, den geringeren Werth zu
: rechtfertigen, welchen er den isländisch-norwe-
- gischen Sagen beilegt (II, S. 373—78): oder
- um gelegentlich eine Uebersicht über die Quel-
j len für die irische (II, S. 105-7; S. 108— 9) oder
* welsche (III, S. 185—89) Geschichte zu geben.
\ Aber diese Bemerkungen sind, so angenehm und
\ nützlich sie auch für den Leser sein mögen,
doch allzuwenig eingebend, als daß sie diesen
über das Verfahren aufklären könnten, welches
der Verf. bei Benützung seiner Quellen einhält,
oder daß sie vollends dieses Verfahren in sol-
chen Fällen zu rechtfertigen vermöchten, in wel-
chen dasselbe allenfalls beanstandet werden
könnte. Ein paar Beispiele mögen diese Be-
merkung verdeutlichen. Sowohl bezüglich der
irischen Geschichtsquellen als auch in Bezug auf
die angelsächsische Chronik macht der Verf.
wiederholt darauf aufmerksam, daß dieselben
nicht eben selten die Chronologie gestört zeigen,
sei es nun, daß einzelne Einträge unter eine
falsche Jahrzahl, oder allenfalls sogar unter ver-
schiedene Jahrzahlen zugleich eingestellt sind,
oder daß für längere Zeitabschnitte die verzeich-
neten Jahresangaben der richtigen Zeitrechnung
gegenüber consequent verschoben sind. Man
erwartet nun darüber Aufschluß, wie weit etwa
ha erstem Falle eine Verderbniß des Textes in
allen oder in einzelnen Hss., und wieweit im
letzteren Falle etwa eine Verschiedenheit des
Jahresanfangs oder der Berechnung des Aus-
^ i
1286 Gott gel. Adz. 1880. Stück 41.
gangspunktes für das chronologische System der
einzelnen Quelle maßgebend geworden ist; der
Verf. beschränkt sich aber den irischen Quellen
gegenüber auf die Feststellung des Verhältnisses,
in welchem einzelne Jahresangaben derselben
zu anderweitig nachweisbaren Jahrzahlen stehen,
und bezügl. der ags. Chronik auf den Aussprach
(III, S. 30), daß man versäumt habe, dieselbe
einer tiefergehenden Untersuchung in der Rich-
tung auf ihre genealogische Entstehungsweise
und das Studium ihrer chronologischen Angaben
zu unterziehen. Der Verf. hat sich ferner schon
in seinem ersten Bande (S. 60 — 61) mit den
„3. scipu Nordmanna of Hseredalandea beschäf-
tigt, welche nach einem Eintrage der ags. Chro-
nik zum Jahre 787 „f>a serestan scipu Deniscra
monnatf gewesen sein sollten, welche England
heimsuchten; er hat sodann in seinem zweiten
Bande (S. 15 — 20) eine ausführliche Erörterung
über diese Stelle gegeben, und ist nunmehr in
seinem dritten Bande (S. 91 u. 101—104) noch
mals auf dieselbe zurückgekommen. Er be-
schränkt sich dabei nicht auf die, vollkommen
richtige, Bemerkung, daß der auf diese Schiffe
bezügliche Bericht nicht gleichzeitig mit der
berichteten Begebenheit aufgezeichnet sein könne,
und daß derselbe überdies eine doppelte Textes
gestaltung verrathe, welche erst hinterher ver-
kehrter Weise verbunden worden sei, daß ferner
von den 6 uns näher bekannten Hss. nur drei
(D. E. u. F.) sowohl die Bezeichnung der Schiffe
als nordmännischer als die Herkunft derselben
aus Haeredaland erwähnen, wogegen zwei an-
dere (B. u. C.) nur die erstere, nicht die letz-
tere Notiz enthalten, und die sechste (A.) von
beiden Umgang nimmt und somit die Schiffe
nur als dänische bezeichnet, sondern er bean-
standet auch die Richtigkeit jener Angabe theils
Steenstrup, Normannerne. 1287
ans inneren Gründen, indem von norwegischen
Heerfahrten nach England im Gegensatze zu den
dänischen vor dem 10. Jahrh. nirgends die Bede
sei, und überdies eine geographische Bezeichnung
der Heerleute nach ihrer Herkunft erst gegen
die Mitte des 9. Jahrh. hin aufkomme, während
man sie bis dahin nur in unbestimmterer Weise
als Fremde, Heiden u. dgl. bezeichnet habe,
tbeils auch aus aus dem äußeren Grunde, daß
die sämmtlichen lateinischen Chroniken, welche
auf der ags. Chronik fußen, die Schiffe weder
als normannische noch als aus Hseredaland kom-
mend bezeichnen. Da nun Heinrich von Hun-
tingdon die, als dänisch bezeichneten, Schiffe
„praedationis causa" England anlaufen läßt, soll
eine Corruptel in unseren Hss. vorliegen, und
für „of hseredalande" gelesen werden „ofer-
basrian-dset land" oder etwas Aehnliches. Das
ist nun sicherlich sehr scharfsinnig ausgedacht;
aber so billigen Kaufes kommt man doch nicht
über ausdrückliche Quellenzeugnisse weg. Die
angeblichen inneren Gründe zunächst beweisen
gar Nichts. Der Verf. selbst bemerkt, daß die
ags. Chronik, von dem hier fraglichen Eintrage
zum Jahre 787 abgesehen, zum ersten Male zum
Jahre 833 dänischer Heerleute gedenke, wäh-
rend sie zu den Jahren 793, 794 und 832 die
fremden Eindringlinge lediglich als Heiden be-
zeichne; es sind dies aber auch die sämmtlichen
Einträge, welche sich auf derartige Einfalle be-
ziehen, und stehen sich somit für die Jahre 787
— 833 zwei Angaben, welche die Herkunft der
Fremden bezeichnen, und drei, welche sie unbe-
zeichnet lassen, gegenüber. Ueberdies folgen
schon zu den Jahren 835 und 837 zwei weitere
Nennungen des Dänennamens, während man zum
Jahre 838 wieder die Heiden erwähnt findet;
1288 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 41.
es ist hiernach rein zufällig, wenn zum einen
Jahre die eine, zum andern die andere Bezeich-
nungsweise gebraucht wird. Daß ferner engli-
sche Chronisten um die Grenzscheide des 8. und
9. Jahrhunderts den Namen der norwegischen
Landschaft Hördaland kennen konnten, ist um
Nichts auffälliger als daß Einhards Annalen zum
Jahre 813 die Landschaft Westarfolda, oder die
aquitanische Chronik zum Jahre 843 die West-
faldingi kennen (Pertz I, S. 200 und II, S. 253),
woran der Verf. keinerlei Anstoß nimmt (I, S.
52 — 3); tritt doch gerade Hörctaland auch noch
in Odds Lebensbeschreibung des Königs Olaf
Tryggvason (cap. 15, edd. Munch; cap. 19. edd.
Hafn.) neben Drontheim und Wigen, Helgeland
und den Hochlanden als ein Haupttheil Norwe-
gens auf, und sind doch andere norwegische
Provinzialnamen dem Beowulfs- und Wanderer-
liede, ja schon um Jahrhunderte früher dem
Jordanes bekannt *). Die von der ags. Chronik
abweichende Gestaltung des Berichtes in den
späteren lateinischen Geschichtswerken ist aller-
dings beachtenswert!), aber sie beschränkt sich
nicht auf den hier fraglichen Punkt, vielmehr
nennt z. B. Actalweards Chronik den Namen des
gerefa, welchen die fremden Heerleute todt-
schlagen (Beaduheard) und dessen Amtssitz
(Dorchester), während die ags. Chronik von bei-
den Namen Nichts weiß, |so daß also sicherlich
verschiedene Berichte über den Vorgang vor-
handen waren, von denen die eine Quelle die
eine, die andere eine andere Nachricht aufbe-
wahren mochte. Die auf Heinrich von Hun-
*) Nach Grein's üebersetzung wäre sogar im Wan»
dererlied, V. 81 zu losen: »mid Hsednumand med Hsere-
dum«, statt »haelef)um«; Bibliothek der ags. PoSsie, I,
S. 253.
r^
Steenstrup, Normannerne. 1289
tingdon's Bearbeitung gestützte Conjectur aber
würde, um plausibel zu erscheinen, jedenfalls
eine eingehende Untersnchung über den von
ihm überhaupt benutzten Text der ags. Chronik
und über das Filiationsverbältniß der drei Hae-
rectaland nennenden Hss. dieser letzteren voraus-
setzen und könnte zudem doch nur diesen Land-
schaftsnamen beseitigen, während sie doch die
für den Verf. kaum weniger anstößige Bezeich-
nung der Schiffe als norwegische bestehen las-
sen würde. Jene Conjectur verstößt aber über-
dies gegen die bekannte kritische Regel, daß
im Zweifel der schwerer erklärlichen Lesart der
Vorzug vor der leichter erklärlichen zu geben
sei, und in der That läßt sich ja zwar ganz
gut begreifen, wie dies auch 6. Storm bereits
ausgeführt hat (Norsk historisk Tidsskrift IL
Rsekke, IL Bd. S. 276), daß ein späterer Bear-
beiter den ihm fremden Landschaftsnamen als
unverständlich beseitigt oder allenfalls auch aus
dem „ofhaere3alandaa ein „oferbserian J>aet land tf
herausgelesen haben mag, aber keineswegs ver-
stehen, wie Jemand dazu gekommen sein sollte,
aus dem ganz verständlichen „oferhserian J>set
landtt jenen völlig fremdartigen Provinznamen
zu machen. So wird also doch wohl die Lö-
sung des Räthsels darin zu suchen sein, daß
neben einem Berichte, welcher die drei Schiffe
als norwegische bezeichnete und aus der Land-
schaft Hörctaland kommen ließ, ein anderer
stand, welcher auf sie den ungleich bekannte-
ren Dänennamen anwandte; aus ihrer Vereini-
gung entstanden die Einträge in unseren Tex-
ten der ags. Chronik, die nur dadurch verschie-
den gestaltet wurden, daß einzelne Abschreiber
das ihnen Unverständliche beseitigten. Trotz
alles aufgewandten Scharfsinnes scheint mir
1290 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 41.
hiernach der Verf. nicht vermocht zuhaben, das
Zeugniß zu entkräften, welches die ags. Chronik
für eine norwegische Heerfahrt in England, sei
es nun am Schlüsse des 8. oder am Anfang
des 9. Jahrh. ablegt; der Grund aber dieses Miß-
erfolges dürfte wesentlich in einem allzu mecha-
nischen Operieren mit einzelnen Stellen zu su-
chen sein, aus denen sich Manches herauspres-
sen läßt, was bei breiterer Quellenbetrachtung
nicht in dieselben gelegt werden würde. Ue-
brigens möchte ich diesen Ausspruch nicht miß-
verstanden wissen. Wer einen Gegenstand be-
handelt, welcher auf die Gescbichtsquellen des
Nordens, Englands, Schottlands und Irlands, des
gesammten Frankenreichs und weiterhin sogar Ita-
liens, Spaniens und Afrika's ganz gleichmäßig
einzugehen zwingt, von dem kann nicht ver-
langt werden, daß er für dieses gesammte Ge-
biet selbständige and erschöpfende quellenge-
schichtliche Detailforschungen anstelle, und wo
der Stoff in eine so unabsehbare Fülle isolierter
einzelner Thatsachen und Quellenberichte sich
zerbröckelt, wie dies bei der Geschichte derVi-
kingerfahrten der Fall ist, da wird eine mehr
spitzige als breite, von einer Einzelheit zur an-
dern springende Darstellung fast unvermeidlich
werden. Nicht ein Tadel gegen den Verf. soll
also ausgesprochen, sondern nur darauf auf-
merksam gemacht werden, daß und in welcher
Richtung die Schwierigkeit der Aufgabe noch
weitere Arbeit zu erfordern scheint. — Mit dem-
selben Vorbehalte möchte ich noch einen zwei-
ten Punkt zur Sprache bringen. Die Unter-
suchungen des Verf. bewegen sich guten theils«
auf einem Gebiete, auf welchem Geschichte und
Sage sich berühren. Der Verf. hält dafür (I,
S. 14), daß die Sage stets die Möglichkeit in
Steenstrup, Normannerne. 1291
sich trage, ein verkanntes Stück Geschichte zu
sein, und daß es die Aufgabe der historischen
Kritik sei, den Kern historischer Wahrheit her-
auszufinden, welchen die Sage verbergen könne.
Man wird nun aber beide Sätze unterschreiben,
und daneben doch der Meinung sein können,
daß für die praktische Anwendung mit ihnen
nur Wenig gethan ist, sofern sie nämlich einer-
seits die große Schwierigkeit ungelöst lassen,
im einzelnen Falle zu bestimmen, wie weit eine
einzelne Nachricht geschichtlichem oder sagen-
mäßigen Charakters sei, und andererseits keine
Kriterien an die Hand geben, vermittelst deren
sich der historische Kern aus der sagenmäßigen
Umhüllung einigermaßen sicher herausschälen
ließe. Man kann dankbar des Verf. 's scharf-
sinnige Bemerkung begrüßen, daß Saxo Gram-
maticus keine Vikingerzeit kennt, vielmehr die
ihr entstammenden Volkssagen benutzt habe,
um die Vorzeit seines dänischen Alleinherrscher-
geschlechtes mit gewaltigen Eroberungsztigen
auszustatten, und man mag dennoch Anstand
nehmen die einzelnen Erzählungen dieses Ge-
schichtsschreibers mit einzelnen Vorgängen der
Vikingerzeit identificieren zu wollen, da sich
hier ein viel zu großes Bereich von Möglich-
keiten darbietet, als daß man mit einigem Grade
von Sicherheit das thatsächlich Richtige zu tref-
fen hoffen dürfte. Man kann gerne des Verf.'s
Erörterungen über den Werth des Geschichts-
werkes Dudo's von St. Quentin (I, S. 30 ff.) sich
anschließen und darum dennoch den Angaben
gründlich mißtrauen, welche dieser über alles
Das macht, was hinter den Einfällen der nordi-
schen Heerleute in Frankreich zurückliegt. Dudo
bezeichnet nicht nur die Dänen und Dänemark
wie so manche andere mittelalterliche Schrift-
1292 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 41.
steller als Daci und Dacia, sondern er setzt auch
in seinem ersten Buche das Land an die Donau
and läßt es von einem Kranze üherhoher Alpen-
gebirge umgeben sein, während das Volk, wie
ein Bienenschwarm aus der Insel Skandza aus-
gezogen, zwischen Geten oder Gothen, Sar-
maten, Alanen u. dgl. wohnt, und sich selbst den
Namen der „Danai vel Dania beilegt, der Ab-
kunft von Antenor sich rühmend. Niemand wird
diese Angaben als historisch richtig oder auch
nur als der einheimisch normannischen Tradition
entnommen betrachten wollen; warum soll es
nun aber anders stehen mit dem Berichte, den
der Verf. in seinem zweiten Buche über Rollo's
Herkunft giebt? Der Vater Rollo's, „senex qui-
dam in partibus Daciae", ist dem Geschicht-
schreiber nicht einmal dem Namen nach be-
kannt, als „dux" bezeichnet, soll er aber nahezu
das ganze dänische Reich und dazu Nachbar-
staaten von Dacia und Alania besessen haben.
Zwischen seinen beiden Söhnen und dem däni-
schen Könige, welcher wiederum ungenannt
bleibt, entsteht nun ein Zwiespalt, der in con-
fusester Weise theils durch das Bestreben des
Königs, den Beiden ihre Besitzungen abzuneh-
men, theils aber dadurch motiviert wird, daß
diese der dänischen Jugend, welche der König
einer Hungersnoth halber aus dem Lande trei-
ben wollte, ihre Hülfe zugesagt hatten. Nach-
dem ein Bruder im Kampfe gefallen war, weicht
Rollo mit 6 Schiffen aus dem Lande und geht
zunächst nach der Insel Skandza, von dort aber,
durch wiederholte Träume belehrt, auf die Heer-
fahrt nach England und weiterhin nach Frank-
reich. Man sieht, aus Jordanes hat Dudo seine
Dacia „in modum coronae — praemagnis Alpi-
bus emunita" (vgl. Jordanes, de reb. get, cap. 5 :
Steenstrup, Normannerne. 1293
„ad coronae speciem arduis Alpibus emunita")
und seine Insel Skandza, aus welcher „velut
examen apum ex eanistrotf (vgl. cap. 1: „velut
examen apum ernmpens") die wilden Völker
herausbrechen, wie denn auch die wunderliche
Vermischung der Daci und Dani in des Jorda-
nes Zusammenwerfen der Geten und Gothen
ihr Vorbild hat; aus einheimischer Ueberliefe-
rung konnte er allenfalls haben, daß Kollo nicht
aus Dänemark, sondern aus der Insel Skandza,
d. h. doch wohl Norwegen, nach den britischen
Inseln und weiterhin dem Frankenreiche ge-
kommen war und daß Zerwürfnisse mit einem
Könige seine Auswanderung veranlaßt hatten,
während für ihn zugleich feststehen mußte, daß
die Mannschaft Rollo's eine vorwiegend dänische
war. Aus diesen Ingredienzien hat er dann
seine Erzählung zusammengebraut, deren Fabel-
haftigkeit uns doch ebenso wenig an der Glaub-
würdigkeit seiner Nachrichten über das 10.
Jahrh. zu beirren braucht, als wir angelsäch-
sischen oder isländischen Stammbäumen hin-
sichtlich ihrer späteren Glieder zu mißtrauen
brauchen, weil deren frühere auf Woden oder
Freyr zurückführen. Von dieser Seite her steht
also Nichts im Wege, an der Angabe der nor-
dischen Quellen festzuhalten, daß Rollo mit
Gönguhrölf identisch sei, dem Sohne Rögnvald-
jarls, welchen K. Haraldr härfagri aus Norwe-
gen verwiesen hatte und welcher in Irland eine
Tochter hinterließ, von der eine Reihe vorneh-
mer Häuser auf Island abstammte; die Chrono-
logie aber kann um so weniger einen Ausschlag
geben, als dieselbe hinsichtlich der nordischen
Quellen ganz in der Luft schwebt.
Es bleibt noch übrig, die allgemeineren Er-
gebnisse zu bezeichnen, welche unser Verf. für
1294 Gott gel. An*. 1880. Stück 41.
die Wissenschaft mehr oder minder festgestellt
hat. Ich rechne dahin in erster Linie den Satz,
daß der Normannenname in den fränkischen
Quellen keineswegs die Norweger speciell be-
zeichnet, vielmehr generell die Nordgermanen
überhaupt umfaßt, so daß sich in keiner Weise
aus seinem Gebrauche ersehen läßt, ob im ein-
zelnen Falle Angehörige des einen oder anderen
Zweiges dieses Stammes gemeint seien. Es ge-
hört dahin zweitens der weitere Satz, daß die
Heerfahrten und Niederlassungen nordgermani-
scher Männer im Frankenreiche und im [größe-
ren Theile von England ganz tiberwiegend von
Dänemark ausgingen, wogegen auf den Orkneys
und Shetland nicht nur, sondern auch auf den
Hebriden, Irland und der Nord- und Westküste
von Schottland die norwegischen Heerleute die
Hauptrolle spielten. Beide Sätze sind allerdings
nicht völlig neu, und z. B. ich selber habe die-
selben bereits vor einem Vierteljahrhundert
ziemlich bestimmt ausgesprochen (Die Bekeh-
rung des norwegischen Stammes zum Christen-
thume I, S. 48 ff. und S. 65. 66) ; aber zum er-
sten Male finden sie sich hier nicht nur ausgespro-
chen, sondern auch ausführlich belegt und über-
dies bis in's Einzelnste hinein in ihren Conse-
quenzen verfolgt, so daß man wohl sagen kann,
daß sie in des Verf. Hand erst ihre richtige Ge-
stalt und Bedeutung angenommen haben. Auf
einzelnen Punkten mag allerdings in der Durch-
führung jener Sätze allzu einseitig verfahren
worden sein; aber da andererseits nicht geleug-
net werden will, daß in einzelnen Fällen auch
einmal norwegische Heerschiffe das Festland
heimgesucht, oder norwegische Männer und
Schiffe an wesentlich dänischen Unternehmun-
gen sich betheiligt haben mophten (I, S. 58—59),
Steenstrup, Normannerne. 1295
sind solche Uebertreibungen im Grande ziemlich
unschädlich. Ich habe z.B. oben die Nachricht,
welche die ags. Chronik über die 3 Schiffe ans
Hördaland giebt, im Widerspruche mit dem Verf.
festhalten zu sollen geglaubt ; aber es mag ja
sein, daß zu einer Zeit, da nach Dikuil die
Faeröer bereits anfingen „causa latronum Nor-
mannoruma von ihren keltischen Bewohnern ver-
lassen zu werden, ein paar norwegische Schiffe
auch an die englische Küste gelangten, ohne
daß darum der dänische Grundcharakter der
nach dieser Gegend gerichteten Unternehmungen
in Frage zu stellen ist Ich meinte an der nor-
wegischen Abstammung Rollo's und an dessen
Identität mit dem Gönguhrölf der nordischen
Quellen mich nicht beirren lassen zu sollen ; aber
damit will ebensowenig der vorwiegend däni-
sche Charakter der von ihm geführten Schaaren
bestritten werden, als etwa später die norwegi-
sche Abkunft 0 'laf Tryggvason's oder O'laf Har-
aldsson's dem überwiegenden Dänenthume der
Heere Eintrag thut, an deren Spitze oder in
deren Mitte sich beide befanden, und anderer-
seits erklärt sich gerade von hier aus sehr ein-
fach der dem Verf. (1, S. 172) so anstößige
Umstand, daß nach Snorri die Nachkommen
Rollo's sich stets ihrer norwegischen Abkunft
rühmten, während doch gleichzeitig die Nor-
mandie als ein mit Dänemark verwandtes Land
galt. In keiner Weise haltbar erscheint mir da-
gegen, was der Verf. über die Ursachen der
Normannenztige ausführt (I, S. 192—261). Dudo
erzählt bekanntlich, daß die Vielweiberei und
das zügellose Geschlechtsleben im Norden wie-
derholt zu einer Uebervölkerung, und diese wie-
der zu bösen Familienzwisten geführt habe; da
habe man sich denn genöthigt gesehen, einen
1296 Gott. gel. Anz. 1830. Stück 41.
durch das Loos bestimmten Theil der jungen
Mannschaft aus dem Lande zu treiben, und auf
Heerzüge im Auslande anzuweisen. Unser Verf.
hält diese Angabe für vollständig begründet,
und sucht aus den Quellenangaben über die
Zahl der Schiffe bei einzelnen Heerfahrten und
der Gefallenen in einzelnen Schlachten die Ue-
bervölkerung, aus anderen Quellenzeugnissen die
Existenz von Polygamie und zahlreichen Concu-
binatsverhältnissen im Norden nachzuweisen,
und zugleich . wahrscheinlich zu machen, daß
auch eine zeitweise Austreibung eines Theils
der jüngeren Mannschaft in Folge einer eigen-
tümlichen Gestaltung des altdänischen Erb-
rechtes stattgefunden habe. Die letztere Be-
hauptung scheint mir durch Karl von Amira
bereits gründlich widerlegt worden zu sein; aber
auch die beiden ersteren Sätze scheinen mir
Nichts weniger als bewiesen oder auch nur
wahrscheinlich gemacht. Wir haben allen Grund
anzunehmen, daß Polygamie und Goncubinat im
Norden, wenn auch rechtlich gestattet, doch
höchstens nur bei vornehmeren und reicheren
Männern einigermaßen üblich war, und wir wis-
sen überdies durch die Erfahrung, daß Zügel-
losigkeit in geschlechtlichen Dingen nicht lieber-
Völker ung, sondern eher Entvölkerung eines
Landes zur Folge zu haben pflegt. Nicht min-
der lehrt die Erfahrung, daß die Natur, zumal
in älteren und einfacheren Zeiten, einer drohen-
den Uebervölkerung gegenüber sieht auf ganz
anderen Wegen zu helfen weiß, duren Vermeh-
rung nämlich der Sterblichkeit, zumal unter
Kindern. Die großen Ziffern aber, welche hin
und wieder für die Vikingerschiffe und Heere
angegeben werden, erklären sich theils aus der
Kleinheit der ersteren, dann der bunten Mischung
Steenstrup, Normannerne. 1297
und raschen Veränderlichkeit der letzteren, wel-
che dieselben durch vorübergehenden Zusammen-
schluß früher getrennter Abtheilungen nicht nur,
sondern auch durch Anschluß unruhiger Ele-
mente aus aller Herrn Ländern sich rasch ver-
stärken ließ, theils mögen dieselben aber auch
auf Uebertreibungen beruhen, welche die er-
hitzte Phantasie der geängstigten christlichen
Bevölkerung sehr begreiflich macht. Die Be-
rufung dagegen auf Uebervölkerung und Hun-
gersnoth als Erklärungsgrund von Auswande-
rungen ist eine so ungemein allgemein verbrei-
tete, daß sie wohl als eine sagenmäßige, nicht
aber als eine geschichtliche wird gelten dürfen,
sofern nicht ausnahmsweise im einzelnen Falle
besondere Beweise für deren thatsächliche Be-
gründung beigebracht werden können. Es ist
ferner zwar vollkommen richtig, wenn der Verf.
zwischen einer ersten Periode der Heerzüge un-
terscheidet, bei welcher es sich nur um Plünde-
rungen während des Sommers, und einer zwei-
ten, bei welcher es sich auch um dauernde Nie-
derlassungen im fremden Lande den Winter über
handelt; aber auch Unternehmungen der letzte-
ren Art sind nicht als Völkerwanderungen an-
zusehen, wenn auch Weiber und Kinder gele-
gentlich mit auf der Fahrt waren, vielmehr han-
delt es sich immer nur um willkührlich zusam-
mengelaufene Schaaren, welche sich darum ebenso
leicht wieder trennen, wie sie sich vereinigt ha-
ben. Gerade von hier aus erklärt sich, daß, wie
dies auch Karl von Amira bereits ausgesprochen
hat, die nordgermanische Rechtsüberlieferung
unter den Ansiedlern im Auslande rasch ge-
brochen, die nordgermanische Sprache unter
ihnen rasch vergessen wurde; der vom Verf.
selbst nicht ohne Glück angestellte Versuch, in
1298 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 41.
den Gesetzen K. Frodi's III. nicht das Recht
des dänischen Reiches, sondern dänischer Heer-
leute zu erkennen, und dasselbe mit angeblich
von Herzog Rollo erlassenen Rechtsvorschriften
zu vergleichen, weist sogar selbst darauf hin,
daß es nicht das Landrecht der Heimath, son-
dern nur ein Complex von „vikingalög" war,
was allenfalls auf die Zustände der nordischen
Colonielande einwirken mochte, — mit Aus-
nahme natürlich der wenigen unter ihnen, wel-
che, wie Island und die Fseröer, die Orkneys
und Shetland, eine dichte und so gut wie unge-
mischte Bevölkerung nordischen Stammes er-
hielten. Ich will aber auf die zerstreuten An-
gaben, welche der Verf. da und dort über den
Einfluß nordgermanischer Anschauungen und
Ueberlieferungen auf die Zustände der besetzten
Provinzen macht, hier nicht weiter eingehen, da
derselbe hoffentlich im weiteren Verlaufe seines
Werkes diese Frage in zusammenhängenderer
Weise betrachten wird; auf zwei Punkte möchte
ich dagegen allerdings schon jetzt aufmerksam
machen. Einmal nämlich dürfte , um darüber
in's Klare zu kommen, wie weit nordischer Ein-
fluß auf die von Nordleuten besetztet» Land-
schaften eingewirkt habe, vorab eine Feststel-
lung der Zustände dieser Landschaften unmit-
telbar vor dem Beginne der nordischen Einwan
derung erforderlich sein. Gerade diejenigen
beiden Lande, welche bei der hier zu erledigen-
den Frage in erster Linie in Betracht zu kom-
men haben, England nämlich und das Franken-
reich, zeigen vor dem Eindringen nordgermafli-
scher Bevölkerung in Recht und Cultur das stid-
germanische Element herrschend, wenn auch
durch Chri8tenthum und Römerthum vielfach be-
einflußt und umgestaltet; nicht jede Aehnlichkeit
Steeostrup, Nonnannerne. 1299
zwischen englischen oder normannischen Zu-
ständen mit dänischen oder norwegischen darf
hiernach, -wie William Stubbs (The constitutional
History of England I, S. 203, Anm. 1) bereit«
treffend bemerkt hat, auf dänischen oder nor-
wegischen Einfluß zurückgeführt werden, viel-
mehr ist es sehr häufig lediglich die zwischen
allen Zweigen des germanischen Gesammtvolkes
bestehende Verwandtschaft, welche hier und dort
verwandte Erscheinungen zu Tage treten läßt.
Zweitens aber fehlen uns fast alle Angaben über
Recht und Cultur der Nordgermanen zu der
Zeit, da sie mit den christlichen Völkern des
Südens und Westens noch nicht in Berührung
getreten waren. Wir sind darauf angewiesen,
unsere Anschauungen über die älteren Zustände
jener ersteren fast ausschließlich durch Bück-
schlüsse uns zu bilden, welche wir aus Auf-
zeichnungen aus ungleich späterer Zeit zu ziehen
genöthigt sind, und es entsteht somit die Frage,
ob nicht die Zustände, von welchen diese spä-
teren Aufzeichnungen Zeugniß geben, durch Ein-
flüsse beherrscht sind, welche erst späterer Zeit,
und vielleicht sogar ausländischer Einwirkung
zugewiesen werden müssen. Neben die Frage,
wie weit nordgermanischer Einfluß auf Recht
und Cultur Englands oder der Normandie ein-
gewirkt habe, stellt sich hiernach die zweite,
nicht minder bedeutsame Frage, wie weit die
Zustände des Nordens ihrerseits durch fränki-
schen, deutschen, englischen Einfluß umgestaltet
worden seien, und wir dürfen unseren Blick
auch der Möglichkeit nicht verschließen, daß
Erscheinungen, welche in England und der Nor-
mandie einerseits, und in Dänemark oder Nor-
wegen andererseits gleichmäßig wiederkehren,
allenfalls den letzteren Landen von den ersteren
82*
1300 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 41.
her zugeführt sein könnten. Wie wichtig dieser
letztere, bisher weniger beachtete Gesichtspunkt
ist, leuchtet ein, seitdem durch die Untersuchun-
gen Sophus Bugge's und A. Chr. Bang's die
Wahrscheinlichkeit nahe gelegt ist, daß der In-
halt der sog. älteren und jüngeren Edda guten-
theils aus christlichen und altclassischen Quel-
len herstammt, und über die britischen Inseln
dem Norden zugeführt worden ist. Möge der
Verf. bei der Fortsetzung seines mühevollen
Werkes auch derartigen Anforderungen gerecht
werden !
München, den 23. August 1880.
Eonrad Maurer.
Anatomie menschlicher Embryo nen
von W. His. I. Embryonen des ersten Monats.
Mit 17 Holzschnitten und Atlas. Leipzig, Ver-
lag von F. C.W. Vogel. 1880. 184 S. in Octav.
Die vorliegende erste Lieferung dieser Mono-
graphie ist der medicinischen Gesellschaft in Ba-
sel gewidmet. Wie bekannt liegt für die mensch-
liche Embryologie eine Hauptschwierigkeit in
der Beschaffung des erforderlichen Materials.
Nach Ort und nach Zeit zerstreut bietet sich,
wie Verf. bemerkt, dem einen oder anderen Be-
obachter ein brauchbares Object dar und der
Kreis von Erfahrungen, über welche die Wis-
senschaft zur Zeit gebietet, besteht aus Frag-
menten, die .zu sehr verschiedenen Zeiten, von
sehr verschiedenen und vor allem von sehr ver-
schieden qualificierten Beobachtern gesammelt
worden sind.
His, Anatomie menschl. Embryonen. I. 1301
Dem Verf. stand nun ein besonders reichhal-
tiges und kostbares Material sehr frühzeitiger
menschlicher Embryonen zur Verfügung. Haupt-
sächlich war dasselbe der Aufmerksamkeit prak-
tischer Aerzte in Basel zu verdanken.
Es giebt nur zwei Möglichkeiten, in den Be-
sitz von sehr jungen menschlichen Embryonen
zu gelangen: in der Leiche oder durch Abortus.
Selbstmord kommt bei Schwangeren als solchen
zwar vor, aber selbstverständlich erst in späte-
ren, nicht im ersten Monate, wo die Frauen
nichts von ihrem Zustande wissen. In anato-
mischen Anstalten wird man also nur ganz aus-
nahmsweise Hoffnung haben, auf ein solches
Präparat zu stoßen. Mehr Aussicht bietet sich
anscheinend der pathologischen Anatomie, da
von den vielen jungen Frauen, welche jährlich
an acuten Krankheiten, Verletzungen, chirurgi-
schen Operationen, Vergiftungen etc. zu Grunde
gehen, immerhin eine kleine Anzahl entspre-
chende Objecte möchte liefern können. Aber
die Tagebücher selbst von großen pathologi-
schen Instituten wissen kaum jemals über einen
solchen Fall zu berichten und dies ist schwer-
lich einer mangelnden Aufmerksamkeit der
pathologischen Anatomen zuzuschreiben, sondern
vielmehr dem Umstände, daß Abortus unter die-
sen Verhältnissen häufig eintritt — selbstver-
ständlich unter dem Bilde einer unzeitigen, oder
wie es scheint öfter einer rechtzeitigen Men-
struation. Auf diesen Punkt wäre die Aufmerk-
samkeit der Assistenten an weiblichen Hospital-
Abtheilungen besonders zu lenken.
Es bleibt also der Abortus. Wird, wie Verf.
sehr richtig bemerkt, bei einem jeden Falle, in
welchem bei einer Frau die Periode über die
Zeit hinaus sich verzögert bat, eine nachträg-
/
1302 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 41.
liehe Blutung: auf ihren Charakter gehörig ge-
prüft und dabei sorgfältig auf etwa ausgestoßene
Blutklumpen gefahndet, so steigert sich jeden-
falls die Aussicht auf Mehrung des bis jetzt
noch so sparsamen Materials. — Besondere Be-
achtung verdienen dabei die so häufigen Fälle
von habituellem sich mehrfach wiederholendem
Abortieren.
Ref. glaubte diese Auseinandersetzungen be-
sonders hervorheben zu müssen, weil der Fort-
schritt der Wissenschaft so sehr von dem Be-
kanntwerden der Sachlage abhängig ist. Auf
technische Details einzugehen, ist hier nicht der
Ort; doch muß erwähnt werden, daß der Verf.
ca. 60°/0igen Alkohol zur vorläufigen Conser-
vierung empfiehlt. Die Uebersendung an einen
Fachmann würde in derselben Flüssigkeit nach
Umhüllung des Ei's mit loser Baumwolle zu ge-
schehen haben.
Was die Untersuchungsmethoden (S.
6—13) anlangt, so sind exaete Zählungen und
Messungen deren unentbehrliche Basis. Lineare
Vergrößerungen von 14 Mal bis 40 Mal wur-
den angewendet, Photographien auf Glas auf*
genommen, die bei Herrn Th. Honikel in Leip-
zig auch käuflich zu haben und im stereosko-
pischen Bilde, wie Bef. aus eigener Anschauung
weiß, von bewundernswerter Schönheit sind.
Außerdem wurden die Embryonen schließlich
gefärbt, in Schnittserien zerlegt, daraus durch
plastische Synthese reconstruiert und wo mög-
lich nachmodelliert.
Die acht großen Foliotafeln des Atlas zei-
gen, daß diese Methoden den strengsten Anfor-
derungen an Näturtreue, Anschaulichkeit, sogar
an Schönheit Genüge leisten. Zu bedauern ist
nur, daß in kleinen Städten ein hinlänglich ge-
His, Anatomie menschl. Embryonen. I. 1303
schickter Photograph zur Zeit wohl zu den sel-
tenen Ausnahmen gehören dürfte.
In einer zweiten Lieferung beabsichtigt Verf.
die etwas weiter vorgeschrittene Entwicklungs-
stufe der Embryonen von 1—2,5 cm Körper-
länge zu besprechen. Die vorliegende erste
Lieferung enthält die Beschreibung von sieben
Embryonen aus dem ersten Monat, die 2 bis
8 mm Länge besaßen. Vorangestellt sind zwei
ziemlich gleich entwickelte von 7,5 resp. 7 mm
Längsdurchmesser.
Insofern ist die Beschreibung zuerst casui-
stisch. Diese beiden werden genau beschrieben
auf Basis von z. B. 59 Schnitten, in welche der
zweiterwähnte, durch Hämatoxylin gefärbte
Embryo zerlegt worden war. Ferner folgt die
weniger umfangreiche Darstellung (S. 100—145)
der fünf anderen zum Theil viel jüngeren und
weniger gut conservierten Embryonen. Unter
ausführlicher kritischer Beleuchtung der bisheri-
gen casuistischen Literatur (S. 147 — 164) wird
dann der Versuch gemacht, die Entwicklung des
ersten Monats in zehn Stadien einzutheilen und
letztere nicht nur mit den von Thieren bekann-
ten zu parallelisieren, sondern auch dieselben
auf Zeit zu reducieren, das relative Maß mit-
hin in ein absolutes zu verwandeln.
Dies führt auf die Altersbestimmung sehr
junger Embryonen (S. 166 — 169). Die moderne,
namentlich von Leopold vertretene Ansicht, der
auch Verf. beipflichtet, sieht bekanntlich die
Menstruation als aufräumenden Abschluß einer
Reihe die Ei-Aufnahme verbreitender Verände-
rungen an, so daß das Ovulum der ersten aus-
bleibenden Periode zum Embryo wird, falls je-
ner Abschluß nicht eintritt. Damit hängt die
Auffassung des ampullaren Tubenendes als Re-
1304 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 41.
ceptaculum serainis und die Annahme eigent-
licher intermenstrueller Conceptionen zusammen.
Ref. hat schon früher die unausbleibliche Er-
schöpfung der in den Spermatozoen aufgehäuf-
ten Spannkräfte moniert, sobald erstere einmal
in Bewegung gerathen sind, um dieser Auffassung
zu widersprechen. Man muß alsdann freilich zwi-
schen permanent sich bewegenden und solchen
Spermatozoen unterscheiden, die durch geeignete
Zusatzflüssigkeiten auch nach längerer Zeit noch
wieder in Bewegung gebracht werden können.
Auch wäre auf den Hund hinzuweisen, woselbst
die charakteristische Blutung in Uebereinstim-
mung mit der älteren, früher allgemein adop-
tierten Annahme steht. Selbstverständlich wird
damit der Darstellung des Verf., daß dieDotter-
furchung innerhalb der Tube abläuft, nicht das
Mindeste in den Weg gelegt.
Nun giebt es einige Fälle in der Literatur,
wo die Embryonen sechs Wochen nach der letz-
ten Menstruation z.B. 2 mm lang waren (Allen
Thomson); in anderen Fällen hatte ein solcher
nach drei Wochen z. B. 4,5 mm Länge (Hensen).
Die richtige Erklärung ist offenbar, daß die erst-
genannten Embryonen auf einer früheren, etwa
14tägigen Entwicklungsstufe abgestorben waren.
Verf. verweist in Betreff des Hensen'schen ganz
normalen Embryo's auf zukünftige Erfahrungen
der Gynaekologen, welche jene moderne Auffas-
sung bestätigen oder erweitern sollen.
So sorgfältig und zuverlässig auch die Be-
schreibungen des Verf. sich herausstellen, so
hätte Ref. trotz der dadurch unvermeidlich wer-
denden Wiederholungen eine etwas ausführ-
lichere Darstellung in dem hier besprochenen
Capitel der Altersbestimmungen erwünscht ge-
funden. Vielleicht nur zufolge der subjectiven
His, Anatomie menschl. Embryonen. I. 1305
Auffassung des Ref. zeigt sieb gerade an die-
sem Punkte eine Lücke nicht allein in der Li-
teratur, sondern auch in der Wissenschaft, die,
wenn überhaupt von irgend Jemand, am leich-
testen vom Verf. ausgefüllt werden könnte. Die
Darstellung müßte — mag das nun zur Zeit völlig
thunlich sein oder nicht; die Forderung darf
ausgesprochen werden — in gutem Sinne dog-
matisch sein, d. h. mehr der Art eines Hand-
buches entsprechen. Alles allgemein Bekannte
weglassend, könnte mit kurzen Worten gesagt
sein: so und so sieht ein Embryo dieses oder
jenes Stadium aus, dies sind die Maaße seiner
wichtigeren Körpertheile, dies die Unterschiede von
den nächst-entsprechenden Entwicklungsstadien
thierischer Embryonen. Eine derartige Formu-
lierung würde so zu sagen praktischer sein, in-
dem man jetzt stets auf die gesammte Gasuistik
zurückzugehen genöthigt ist, wenn man verglei-
chen will. Vielleicht gefallt es dem Verf. zum
Schluß der zweiten Lieferung, den Deside-
raten, zunächst nicht des praktischen Arztes,
sondern des gynaekologischen Fachmannes, der
sein Wissen an der Hand einer so prachtvoll
ausgestatteten Monographie erweitern will, ohne
Repudiation wie gesagt von Wiederholungen
entgegenzukommen.
Im Gegensatz zu obiger Anforderung liegt
der Schwerpunkt des Werkes räumlich wie
sachlich in der Beschreibung der beiden schon
erwähnten, zum ersten Male in vollständige
Schnittserien zerlegten Embryonen von 7, 5 und
7 mm Körperlänge. Hier handelt es sich näm-
lich nicht nur um die Schilderung der Embryo-
nen selbst, sondern um eine (S. 22 — 98) um-
fassende Entwicklungsgeschichte der einzelnen
Systeme und man sieht, von welcher Bedeutung
1306 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 41.
es ist, wenn Verf. seine ohnehin schwerwiegende
Stimme für einen bestimmten Entwicklungs-
modus dieses oder jenes Organes oder Systems
gerade beim Menschen in die Wagschale
legt.
In der Beschreibung der äußeren Gliede-
rung jener beiden Embryonen ist ein Druck-
fehler stehen geblieben, den Ref. erwähnt, weil
es sich um einen wichtigen Punkt in Betreff
der Homologie der Extremitäten handelt. Bei
2 — 3 cm langen Embryonen sind die Sohlen-
fläche des Fußes, die hintere (nicht die vordere,
wie im Text steht) Fläche des Unterschen-
kels medianwärts, das Knie lateralwärts ge-
richtet.
Was die einzelnen Systeme anlangt, so be-
streitet Verf. in Betreff des centralen Ner-
vensystems die Hensen'sche Ansicht, wonach
die Nervenfasern Verbindungsfäden zwischen je
einer centralen und einer peripherischen, resp.
terminalen Ganglienzelle darstellen, und schließt
sich vielmehr der älteren Ansicht von Bidder
und Kupffer an. Letztere Autoren lassen be-
kanntlich die Nervenfasern als Ausstrahlungen
von Zellenausläufern aus den Gentralorganen
hervorwachsen und hierdurch vermag man nach
dem Verf. allen Thatsachen gerecht zu werden.
Für die richtige Auffassung der Lehre von den
Nervenendigungen ist die Differenz von Bedeu-
tung und es wäre nicht unmöglich, daß z. B.
für die motorischen Nerven Hensen Recht hätte
und für die sensiblen Bidder und Kupffer, wenn
man nämlich das Verhalten im vorderen Epithel
der Cornea als maßgebend ansieht. Den ver-
breitetsten Angaben würde dadurch allerdings
entscheidend widersprochen werden.
Im peripherischen Nervensystem
His, Anatomie menscbl. Embryonen. I. 1307
stellt sich das Ganglion ciliare als Ausläufer
des Trigeminusganglion dar, das Ganglion geni-
culnm hält Verf. aber nicht für sympathisch,
sondern für einen Theil des vielfach gespaltenen
Ganglion acusticum oder acustico-faciale, wel-
ches nämlich das Ganglion spirale cochleae, den
lateralen vorderen Acusticuskern und das Gang-
lion vestibuläre umfaßt.
In Betreff des Ganglion geniculum führt je-
doch eine neueste, dem Verf. noch nicht zugäng-
liche Untersuchung von Duval (Journal de l'ana-
tomie etc. par Robin. 1880. S. 535) zu einer
anderen Auffassung. Danach gehört jenes
Ganglion dem Glossopharyngeus an.
In der Höhe des unteren Endes des Facialis-
kerns findet sich nämlich in der Medulla oblon-
gata eine Verlängerung des Glossopharyngeus-
kerns nach oben. Sie erscheint auf dem Quer-
schnitt als ovaler, scharf umschriebener, gangliö-
ser Kern. Derselbe liegt hinter dem Facialis-
kern, medianwärts von der aufsteigenden Trige-
minuswurzel, vor dem lateralen hinteren Acufti-
cuskern. Aus diesem obersten Theile des Glosso-
pharyngeuskerns entspringt nun unerwarteter
Weise nach Duval beim Menschen wie beim
Affen (Cebus) die Portio intermedia n. acustici
s. Wrisbergii. Dieselbe ist hiernach eine oberste
Glossopharyngeuswurzel und ihre Fasern gelan-
gen, wie Duval -vermuthet, in der Bahn der
Chorda tympani zum vorderen Theil der Zunge,
dessen Geschmackssinn sie vermitteln. Für diese
Parthie liefert die Chorda auch die vasomotori-
schen Nerven und das Ganglion geniculum würde
nach dem Gesagten zusammen mit dem Ganglion
jugulare des Glossopharyngeus als Intervertebral-
ganglion des letzteren zu betrachten sein.
Am Acusticus ist, wie der Verf. bemerkt, sein
frühzeitiges Auftreten bemerkenswert!].
1308 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 41.
In der Höhe der bereits angelegten Ganglia
jugularia und des Plexus ganglioformis n. vagi
gehen Faserbttndel aus der ventralen Hälfte der
Formatio arcuata hervor, welche an die Ober-
fläche des verlängerten Markes gelangen und
in die genannten Ganglien tibergehen. Vert
hält sie für motorische Vagus-, resp. GIosso-
pharyngeusfasern. — Sie dürfen nicht ^mit den
vielfach supponierten motorischen Wurzeln der
genannten Nerven verwechselt werden, welche
dorsalwärts verlaufend noch innerhalb der Me-
dulla oblongata sich den austretenden sensibeln
Wurzeln anlegen.
Von den Sinnesorganen ist erwähnens-
werth, daß das Auge nur 0,5 mm Durchmesser
hat; am Gehörbläschen sind bereits zwei Aus-
buchtungen als Anlagen von Bogengängen zu
erkennen.
Ueber die Eingeweide ist zu bemerken,
daß die Milz als Mesenterialfalte erscheint, vom
Pancreas aber noch keine Spur zu erkennen
war. Die Zunge entsteht hinter der Vereini-
gungsstelle vom zweiten und dritten Schlund-
bogenpaar und zwar ihrer ganzen Länge nach
aus paariger Anlage. Wie es scheint, betheili-
gen sich wenigstens an der Anlage der Thymus
die Epithelien der dritten und vierten Schlund-
spalte. Hieraus würde die Aehnlichkeit mit
dem äußeren Habitus einer acinösen Drüse zu
erklären sein, die lymph-adenoide Substanz würde
sich in der Umgebung entwickeln und die con-
centrischen Körperchen des Thymus müßten
als Reste jener Epithelanlage angesprochen
werden.
Vor 4er Einmündungssteile des WolfFschen
Ganges in die Cloake zweigt sich der blind
endigende Nierengang ab. — Der Allantoisgang
His, Anatomie menschl. Embryonen. I. 1309
scheint am Chorion blind zu endigen. Das Vor-
kommen einer freien Allantois beim Menschen
bestreitet Verf., auf welche nicht ganz aninter-
essante Controverse hier so wenig wie auf die
„Hypothesen zur Ausfüllung noch bestehen-
der Beobachtnngsltickentf (S. 169—173) weiter
eingegangen werden kann, und hält einen
vom Ref. abgebildeten menschlichen Embryo
für einen Vogelembryo. Die Grundlage dieser
Ansicht bilden ein stark corrumpierter Holz-
schnitt und eine in Betreff des Auges etwas
idealisierte Lithographie, für welche beiden
Kunstleistungen Ref. die Verantwortung bereits
abgelehnt hat
Es ist kein richtiges Princip, wenn man sich
auf den Standpunkt stellt: was ein Autor sagt,
ist gleichgültig; es kommt darauf an, was er
abbildet. Bei der Herausgabe von Handbüchern
oder Monographien kann man es allenfalls er-
zwingen, daß die Abbildungen fertig vorliegen,
bevor das Manuscript in die Druckerei geht oder
wenigstens noch bei Gelegenheit der Corrector
auf Fehler der Lithographen aufmerksam ma-
chen, die ja das niemals verstehen, was sie wie-
derzugeben haben. Bei Journalaufsätzen ist die-
ser Ausweg für gewöhnlich verschlossen.
Beim Gefäßsystem werden die verschie-
denen Umwandlungen, welche die Aortenbogen
successive erfahren, auf Aenderungen der Stro-
mesrichtung zurückgeführt, die namentlich aus
der Vorwärtsneigung des Kopfes resultiert.
Nach kurzer Erörterung der Abgrenzung der
Körperregionen gegen einander wird noch die
Frage erörtert, ob der menschliche Embryo
einen Schwanz besitze oder nicht. Diese Ange-
legenheit ist einigermaßen Tagesfrage geworden,
1310 Gott gel. Anz. 1880. Stück 41.
■seit die populäre naturwissenschaftliche Presse
sich der Sache angenommen hat.
Schon Ecker hat sich gegen sozusagen ten-
dentiöse Folgerungen verwahren zu müssen ge-
glaubt. Kef. vermag so wenig wie der Verf.
selbst einzusehen , welche mißzuverstehenden
Folgerungen oder welches besondere Interesse
in Betreff der Evolutionstheorie sich vernünfti-
ger Weise an die Discussion der Frage knüpfen
ließen, ob am freien Ende der Wirbelsäule, sei
es des Menschen oder z. B. des Frosches als
Varietät zuweilen einige Wirbel mehr oder
weniger vorhanden sind, deren überhaupt 34,
höchstens 35, existieren. Interessant aber ist
die vom Verf. vollkommen sichergestellte Tat-
sache, daß beim menschlichen Embryo keine
überzähligen, zur Rückbildung bestimmten Wir-
bel angelegt werden. Eine ächte Schwanz-
anlage, in dem Sinne eines gegliederten, von
der Fortsetzung der Wirbelsäule durchzogenen
und nur aus Bestandteilen der animalen Lei-
beswand zusammengesetzten, den Anus distal-
wärts überragenden Anhanges ist auf höchstens
zwei Segmente beschränkt und dieselbe mißt bei
den erwähnten Embryonen nicht über 0,25 mm
Länge.
Als inconstant und als eine Abspaltung vom
Bauchstiel — oder dem späteren Nabelstrang
nach Abrechnung des Stieles der Nabelblase
(Darmstiel S. 21) und der epidermoidalen Hülle
— betrachtet Verf. einen von Ecker beschriebe-
nen Schwanzfaden, nämlich einen dünnen und
fein zugespitzt auslaufenden Körperanhang, der
«nach Ecker außer Chorda dorsalis und dem
Ectoderm keine Organanlagen besitzt, während
L. Gerlach in einem solchen Falle zwar keinen
r
His, Anatomie menschl. Embryonen. I. 1311
Knorpel aber einen ventral wftrts gelegenen Mus-
kel gefunden hat.
Was nun endlieh die kleineren, dem Verf.
zu Gebote stehenden Embryonen anlangt, so
können jene beiden weiter vorgeschrittenen Em-
bryonen als Basis der Vergleichung dienen.
Von besonderem Interesse ist noch ein die
Höhlen des Körpers und die Anlage des
Zwerchfelles behandelnder Abschnitt (S. 125
— 134), welcher der Beschreibung eines 2,6 mm
langen Embryo's eingeschaltet ist.
Die Höhle, worin das Herz gelegen ist, be-
zeichnet Verf. als Parietalhöhle ; die paarigen
Längsspalten neben dem Darmkanal als Rumpf-
höhlen. Erstere wird dorsalwärts von einer
frontal gestellten Substanzplatte, dem primären
Zwerchfell oder Septum transversum begrenzt; so-
weit dasselbe reicht, scheidet es die Rumpf-
höhlen von der Parietalhöhle. Ob die letztere
mit den oberen Enden oder Brustfortsätzen "der
ersteren überhaupt communiciert, ist dem Verf.
zweifelhaft geworden; jedenfalls kann es nur
durch eine enge Spalte geschehen (S. 127).
Jene Fortsätze werden durch das Eingeweide-
rohr in der Medianebene getrennt. Merkwürdig
ist es nun, daß die Parietalhöhle ursprünglich
eine Höhle des Hinterkopfes darstellt — sie
wurde auch als Halshöhle bezeichnet — und
mitsammt dem Aortenbulbus später als Theil
der Brusthöhle erscheint. — Die Leber entsteht
innerhalb der Bauchwand resp. des Septum
transversum aus einer vom Darm gelieferten
epithelialen und einer parablastischen (His)
oder mesodermatischen Anlage. Die erstere be-
steht auf etwas vorgeschrittener Stufe aus einer
prominierenden Anschwellung des Septum trans-
versum, in welche von hinten und unten her
1312 Gött. gel. Anz. 1880. Stück 41
der Lebergang, ursprünglich ein mitei w
sener Theil des Darmrohres, eindringt. ~ Fi
ergiebt sich, daß aus dem Septum tra>nsv<
der vordere, zwischen Herz und Leber li<
Theil des Diaphragma hervorgeht. Die
Hälfte des Brustraumes communiciert
mit dem Bauchraume. Denn nach einer
reu Untersuchung des Verf. beim Hühncbcij
spaltet sich im parietalen Theil des Hinter-
kopfes die animale (also quergestreifte) Muskat]
platte in eine dünnere obere und dickere unteffij
Schicht. Letztere wird zur Herzwand und Mifr
kelhaut des Pharynx, legt sich hinter dem Her-
zen der ersteren an und bildet somit einen Ab-
schluß zwischen Parietal- und Rumpfhöhk.
Diese Uebergangsplatte wird zum Diaphragma
und von Kölliker als Mesocardium laterale, voi
Cardiat als Cloison mesodermique bezeichnet;
beide Autoren betrachten die Parietalhöhle ab
Theil der ursprünglich allgemeinen Körperhöhle,
ohne, wie Verf. bemerkt, dafür weitere Gründe
beizubringen.
Aus obiger fragmentarischen Berichterstattung
geht jedenfalls hervor, eine wie außerordent-
lich wichtige und genau ausgeführte Bereiche-
rung der menschlichen wie zum Theil der all-
gemeinen Embryologie durch die vorliegende
Monographie gegeben ist. Wiederholt (vergL
S. 1302) mag der Wunsch werden, daß die
fleißigen Leistungen des Verf. auch bei der
zu erwartenden zweiten Abthßilung durch zahl-
reiche Zusendungen von Embryonen unteretütet
W. Krause.
Pftr die Redaction verantwortlich: S. RehniacJi, Director d. GHJtt.gel.Anx.
Commissions- Verlag der Dütmch'sehm Yerlaga-Buckhmdlmg.
Pruck der Dieitiich'Bch** Univ.- Buchdruckmei (W. fr. Kotshurk
pjc
"' r>- r« -?r.. ■* ^
V ^ I
1313
Go tti ng ische
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück 42. 20. October 1880.
Inhalt: Jurien de la Graviere, La Marine des Anciens. Von
R. Werner. — S. Riezler, Geschichte Baierns. 2. Bd. Tom Ver-
fasset: — Begistrande der geographisch-statistischen Abtheilung
des Grossen Generalstabes. X. Jahrgang. Ton 0. Krümmet.
ss Eigenmächtiger Abdruck von Artikeln der Gott. gel. Ana. verboten a
La Marine des Anciens. Par le Vice-
Amiral Jurien de la Graviere, Membre
de rinstitut. 2 Bde. Paris 1880. E. Plön & Cie.
Unter den älteren Marinen hat sich die fran-
zösische von jeher des Rufes erfreut, das allge-
mein und wissenschaftlich am meisten gebildete
Officiercorp8 zu besitzen. Diese „Wissenschaft-
lichkeittf ist früher von den Engländern oft ver-
spöttelt worden; sie meinten, dieselbe habe
nicht hindern können, daß die Franzosen zu
Ende des vorigen und Anfang dieses Jahrhun-
derts stets geschlagen seien. Man darf jedoch
nicht vergessen, daß diese dauernden Nieder-
lagen nicht lediglich durch Mangel an Praxis
verschuldet wurden, sondern daß ein anderer
wichtiger Factor dazu mitwirkte. Seit der Re-
generation der französischen Marine durch Lud-
83
1314 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 42.
wig's XIV. großen Minister Colbert war erstere
eine aristokratische Waffe. Zu ihrem Officier-
corps zählte sie die Träger der vornehmsten
Namen des königlichen Frankreichs und sie litt
deshalb durch die Revolution verhältnißmäßig
mit am meisten. Der größte Theil ihrer älteren
Officiere fiel durch Henkershand oder wanderte
in das Exil und dies erleichterte den Engländern
bedeutend ihre Siege. Aboukir und Trafalgar
würden sich jetzt nicht wiederholen.
Seit dem letzten Jahrzehnt haben übrigens
die Engländer in dieser Beziehung ihre An-
schauungen wesentlich geändert. Sie räumen
jetzt der Theorie ihre Rechte ein, haben eine
Marine-Academie gegründet und suchen ihren
Officieren eine höhere wissenschaftliche Bildung
zu geben. Um darin mit den Franzosen zu
concurrieren, müssen sie jedoch ihre Erziehungs-
methode noch modificieren. Ihre Kadetten tre-
ten als unreife Knaben von 13 — 14 Jahren ohne
wissenschaftliche Grundlage ein und werden in
den ersten Jahren fast nur practisch ausgebildet.
Dadurch lassen sich die Lücken einer systema-
tischen Schulung des Geistes später nur schwer
ausfüllen. Die französischen Officiersaspiranten
bringen jene Grundlage jedoch mit und die be-
sten Abiturienten der berühmten Militairschule
von St. Cyr werden der Marine tiberwiesen.
Dieser Unterschied zwischen den beiden
größten Marinen zeigt sich auch auf dem Ge-
biete der Marine Literatur. Frankreich steht
darin nicht nur seinem Rivalen, sondern auch
allen übrigen Nationen voran. Namentlich in
den beiden gediegenen Zeitschriften „Revue
maritime et coloniale" und „Revue des deux
Mondes" begegnen wir ausgezeichneten Arbeiten
Jurien de la Graviere, La Marine des Anciens. 1315
und unter den Autoren nimmt Admiral Jurien
de la Graviore eine hervorragende Stelle ein.
Auf dem Felde des Seewesens eine aner-
kannte Autorität, genießt er als Schriftsteller
einen wohlbegrllndeten Ruf. Er beherrscht nicht
nnr vollständig sein vielseitiges Fach, sondern
leistet auch als Geschichtsforscher Außergewöhn-
liches. Sein vorliegendes Werk, sowie das kurz
zuvor von ihm erschienene „Les Marins du XIV
et XV sifecle" liefern den Beweis dafür.
Um „La Marine des Anciens" zu schreiben
war ein sehr umfassendes Quellenstudium latei-
nischer und griechischer Schriftsteller erforder-
lich, und daß der Verfasser letztere nicht in der
Uebersetzung, sondern in der Ursprache zu
Rathe gezogen hat, geht ans dem Buche selbst
hervor. Für einen Marineofficier ist das immer-
hin anerkennungswerth.
Der vom Admiral gewählte Titel seines Wer-
kes ist nicht ganz correct. Dasselbe führt uns
nicht die ganze antike Marine vor, sondern
nur zwei Episoden derselben. Die erste begreift
den Zeitraum von der ersten Invasion Griechen-
lands durch die Perser unter Darius bis zur Re-
gierung Alexander des Großen, d. h. jene 150
Jahre, in denen Griechenland zu großer politi-
scher Bedeutung heranwuchs, die Führung der
Völker im Mittelmeere übernahm und den Glanz-
punkt seiner Macht erreichte, um darnach ab-
wärts zu steigen, in Bürgerkriegen sich zer-
fleischend zusammenzubrechen, seine asiatischen
Colonieen an die Perser zu verlieren und den
eigenen Nacken mit der Schlacht von Ghäronea
unter das Joch macedonischer Herrschaft zu
beugen.
Die zweite Episode ist ein Stück sicilischer
Geschichte vom Beginn der Regierung des älte-
83*
1316 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 42.
ren Dionysos bis zum Tode des Agathokles und
in ihr sehen wir hauptsächlich die Kämpfe der
Syracusaner mit den Karthagern behandelt.
Das gewaltige Bingen der letztern mit den
Römern, deren Emporkommen zur See, sowie
die großartige Entwickelung des Seewesens un-
ter den Epigonen Alexanders des Großen wer-
den dagegen vom Admiral nicht besprochen.
Von seiner Fruchtbarkeit auf schriftstellerischem
Gebiete dürfen wir jedoch erhoffen, diese Er-
gänzung später noch zu erhalten.
Jedenfalls hat das vorliegende Buch jedoch
den Vorzug, uns die. Seekriegsgeschichte jener
beiden Zeiträume, welche die Geschicke der
darin verflochtenen Staaten, ihre Stellung zu
einander und zur damaligen Weltherrschaft be-
dingte, zum ersten Male in übersichtlichem und
erschöpfendem Zusammenhange vorzuführen.
Obwohl der Verfasser vorwiegend vom Stand-
punkte des Seeofficiers aus geschrieben hat, ist
er weit davon entfernt, einseitig zu werden oder
das speciell Fachliche ungebührlich in den Vor-
dergrund zu stellen. Seine Darstellung ist all-
gemein verständlich, lebendig, elegant und fes-
selnd und wird deshalb von Nichtseeleuten mit
nahezu gleichem Interesse gelesen werden, wie
von seinen Fachgenossen.
Wenn man an der glänzenden Diction etwas
aussetzen will, so ist es, daß sie bisweilen an
das Theatralische streift. Ebenso verführt der
rege Geist des Verfassers ihn hier und dort,
einzelne Lücken zwischen Thatsachen durch
eigene Ideen zu überbrücken, ohne daß man
gewahr wird, wo die Grenzen liegen. Beides
muß man jedoch dem französischen Naturell zu
Gute halten und der Werth des Ganzen wird
dadurch nicht beeinträchtigt, ebensowenig wie
J urien de la Gra vifere, La Marine des Anciens. 1317
durch die eingeflochtenen philosophischen Be-
trachtungen, die zuweilen etwas weit von der
Materie abschweifen. Dies letztere scheint der
Admiral auch selbst zu fühlen und sucht es
zu entschuldigen, wenn er an einer Stelle sagt:
„Mon metier n'est pas de philosopher; ce n'est
pas pour cela, que je fus envoye, il y a plus
«Tun demi-sifecle k l'ecole navale. Je ne puis me
defendre cependant de glisser quelque fois sur la
pente, oü tant d'autres, qui ne s'y sont gufere
mieux prepares que moi, s'aventurent".
„Die Weltgeschichte ist eine stete Wieder-
holung". Diesem Ausspruche eines berühmten
Philosophen beipflichtend, sucht er in seinem
Buche den Nachweis für dessen Richtigkeit zu
fuhren. Dies Bestreben zieht sich wie ein ro-
ther Faden durch die Arbeit, und namentlich
ist der Verfasser bemüht darzuthun, daß die
heutige Seekriegführnng trotz der Verschieden-
heit der Streitmittel in ihren Grundztigen zu der
Tactik und Strategie der Alten zurückgekehrt
ist. Wo dies noch nicht geschehen, empfiehlt er
die Rückkehr dringend, wenn die Flotten in gro-
ßen Kriegen nicht nur eine untergeordnete, son-
dern eine entscheidende Rolle spielen sollen.
Die Lösung dieser letzteren Aufgabe findet
er in dem Bau einer Flottille, deren Fahrzeuge
so construiert sind, daß sie, wie dies bei den
Trieren der Alten geschah, bei gutem Wetter
an jedem nicht gar zu ungünstigen Küsten-
punkte, ohne dazu eines Hafens benöthigt zu
sein, in kürzester Zeit eine 40—50,000 Mann
starke vollständig kriegsbereite Truppe, Infan-
terie, Cavallerie, Artillerie mit Allem was dazu
gehört, aus- und einschiffen können. Dieser
Gedanke beherrscht den Admiral so, daß er
keine Gelegenheit vorbei gehen läßt, für ihn
1318 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 42.
Propaganda zu machen, wo ihm die Wechsel-
falle der besprochenen zahlreichen Seeschlachten
der Alten dazu irgend eine Handhabe bieten,
und er apostrophiert Frankreich mit aller mög-
lichen Ueberredungskunst, eine solche Flottille
zu schaffen.
Dabei sucht er jedoch den Verdacht des
Chauvinismus von sich abzuwälzen, indem er
sagt (S. 120): „Le temps ne nous manque pas
pour Studier ce probl&me, car grace k Dieu, On
n'entend gronder que je sache nul orage. Nous
pouvons done tout mener de front ä loisir: la
construction de la flotte, sans laquelle la flottille
ne pourrait sortir du port, Fetude de la flottille,
seul moyen, de mettre Tarmee de mer en mou-
vement. Quand nous aurons tout cela, je serai
encore d'avis, si la chose est honorablement
possible, de suivre le conseil de. Cineas, et de
rester ckez nous. Pour r6compenser notre sa-
gesse, Fequite de PEurope nous viendra peut-
etre en aide".
Der Sinn des letzten Satzes ist freilich etwas
dunkel und läßt sich in entgegengesetzten Rich-
tungen interpretieren.
Jedenfalls kann man vom nautisch-militäri-
schen Gesichtspunkte aus dem Admiral nur
darin beistimmen, wenn er in der Schöpfung
einer solchen Flottille das Mittel erblickt, um
den Flotten in Zukunft in Kriegszeiten eine be-
deutendere Stellung anzuweisen als sie bisher
hatten. Ebenso theile ich seine Ansicht, daß
die Technik im Stande sein müßte und würde,
Fahrzeuge zu schaffen, mit denen man so nahe
an den Strand geht, um die auf ihnen einge-
schifften Truppen, namentlich aber auch die
Pferde ohne weiteres an's Land zu schaffen.
Nur muß Herr Jurien de la Gravüre von dem
Jurien de la Graviore, La Marine des Anciens. 1319
unerschöpflichen Reichthum Frankreichs und
davon überzeugt sein, daß die Kammern fortan
eine eben so große Opferwilligkeit für die Ma-
rine an den Tag legen werden, als sie bisher
für die Armee bewiesen haben. Zu einer Flot-
tille im Sinne des Admirals und um 40,000
Mann, die er mit Recht als das Minimum einer
an eine feindliche Küste zu werfenden Truppen-
zahl betrachtet, darauf einzuschiffen, gehören 6 —
800 Fahrzeuge, deren Anschaffung eine ganz
gewaltige Summe bedingt.
Sollte des Admirals sehnlichster Wunsch aber
auch in Erfüllung gehen, so glaube ich nicht,
daß Deutschland seinem Nachbar auf diesem
Wege folgen würde. Zu dergleichen Experi-
menten sind wir einfach nicht reich genug, denn
wenn jene Flottille functionieren soll, dann gehört
auch eine so große Schlachtflotte zu ihrem
Schutze, daß man vollständig Herr des Meeres
ist. Trotzdem brauchen wir selbst aber nicht
sehr besorgt zu sein, wenigstens nicht an der
Nordsee. Die Watten ihrer Küste sind schlechte
Landungsplätze für Truppen, sie würden darin
stecken bleiben.
Der erste Theil des vorliegenden Werkes be-
ginnt nach einem kurzen Rückblicke auf die
ersten Anfänge und die Entwickelung der Schiff-
fahrt mit dem Einfalle des Darius in Griechen-
land, das damals der persischen Flotte noch
keine eigene entgegenzustellen hatte. Zuerst
begrub ein Sturm 300 Trieren mit 20,000 Mann
bei dem Berge Athos. Doch schon im nächsten
Jahre erschien die doppelte Zahl feindlicher
Schiffe mit einem neuen Heere, um in Attika
zu landen, freilich nur um bei Marathon aufs
Haupt geschlagen zu werden. Bei dem eiligen
Rückzüge der Perser erbeuteten die Griechen
1320 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 42.
sieben Trieren und sie wurden der Kern ihrer
späteren Seemacht.
„Baut Trieren0 ist die stete Mahnung des
Themistokles, der in weiser Voraussicht in einer
starken Flotte den alleinigen Schutz gegen die
drohende Wiederkehr der feindlichen Invasion
erblickt, und glücklicher Weise befolgen die
Griechen seinen Bath. Als 10 Jahre später der
junge Xerxes mit einem Heere heranzieht, wie
es weder vor noch nach ihm die Welt gesehen,
da begleiten 1200 Trieren und 3000 Transport-
fabrzeuge den gewaltigen Zug. Neptun fordert
zwar wiederum seine Opfer; bei Cap Sepias ver-
nichtet ein Sturm in einer Nacht vierhundert
der ersten, aber immer stehen noch 800 persi-
sche den 233 der Griechen gegenüber. Letztere
flankieren damit den Thermopylen-Paß ; wäh-
rend dort die 300 Spartaner Hecatomben von
Xerxes Garden zum Hades senden, entbrennt
bei Artemisium die erste große Seeschlacht, von
der die Geschichte uns berichtet, und die Welt
erblickt zugleich das wunderbare Schauspiel,
daß eine Frau dabei ein Commando führt. Ar-
temisia, die Königin von Halicarnassos, be-
fehligt das von ihr den Persern zugebrachte
Geschwader selbst. Sie evolutioniert meisterhaft
wie der erfahrenste Admiral, verrichtet Wunder
der Tapferkeit und Niemand vermag den von
den Griechen auf ihren Kopf gesetzten Preis zu
verdienen. Die Perser senden 200 Schiffe um
Euböa in den Euripus, um den Griechen in den
Rücken zu fallen, während sie mit fast drei-
facher Uebermacht in der Front angreifen wol-
len. ^ Doch die Griechen kommen ihnen zuvor.
Zwei Abende hinter einander machen sie mit
anbrechender Dunkelheit einen Vorstoß und ver-
nichten 50 Trieren, während ein Sturm jene 200
Janen de la G ravifere, La Marine des Anciens. 1321
bei Euböa zum größten Tbeile zerstört Am
dritten Tage greifen die Ferser an, doch in-
zwischen haben die Griechen ans Attika Ver-
stärkung von 53 neuerbauten Schiffen erhalten
und das Mißverhältniß der Zahlen wird dadurch
in etwas ausgeglichen. Von beiden Seiten wird
auf das blutigste gekämpft, die Verluste sind
groß, doch als die Nacht die Streitenden trennt,
ist der Sieg unentschieden. Die Griechen ziehen
sich nach Salamis zurück. Die Perser ankern
auf der Rhede von Fhaleron und ihr über die
Leichen der drei Hundert vorgedrungenes Heer
verbrennt Athen.
Die griechische Flotte zählt mit den erober-
ten persischen 336 Trieren; doch die Perser
verfügen noch über das doppelte und im Lager
der Griechen erhebt die Hydra der Zwietracht
bereits drohend das Haupt. Eurybiades der
Oberbefehlshaber der Flotte und die Pelopon-
nesier wollen einen andern Kampfplatz suchen,
der Athenische Nauarch Themistokles besteht
auf Salamis. Der peloponnesische Krieg wirft
seine dttstern Schatten voraus. Bereits wollen
die Verbündeten sich trennen; beim Kriegsrath
räth Artemisia, eben so klug wie tapfer, dem
Perserkönig von einem Kampfe ab, weil die
Feinde durch ihre Uneinigkeit in kurzem selbst
zerfallen werden, doch der ungeduldige Xerxes
beschließt zu seinem Unheil den Angriff und
dieser Entschluß eint noch einmal die Griechen.
Die Schlacht beginnt, regellos, ohne tactische
Disposition, im wilden Durcheinander Schiff ge-
gen Schiff, Mann gegen Mann. Sie dauert bis
zur Nacht ; Artemisia schwingt wie eine Minerva
den Speer; sie ist überall gegenwärtig, ihr Ge-
schwader bringt den Griechen Tod und Ver-
derben , doch ihr Muth und ihre Tapferkeit kön-
1322 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 42.
nen ihren Bundesgenossen nicht den Sieg ver-
schaffen. Mit starrem Auge sieht Xerxes vom
Fuße des Berges Aegaleos auf das Kampfge-
tümmel, die Seinen weichen, in dem Kampfe
Mann gegen Mann siegen der griechische Speer,
der Schild und der Kuiraß der Hopliten über
die Pfeile der nackten Asiaten. Das Prestige
seiner Waffen ist dahin, die Schlacht ver-
loren und Griechenland und Europa sind vor
den Barbaren gerettet. Sie fliehen zum Helle-
spont und die bei Myka^ gebliebene Flotten-
abtheilung wird bald daxsm von den Griechen
völlig vernichtet.
Die Beschreibung dieser Kämpfe ist meister-
haft, die Sprache schwungvoll und poetisch und
man wird unwillktihrlich davon hingerissen.
Man höre z. B. die Schilderung vom Beginne
der Schlacht bei Salamis S. 43:
„ . . . Voit-on d'ici ces guerriers, debout sur
la proue, la lance en arret, semblables aux
jauteurs, que nous montrent nos fötes (Schiffer-
stechen), ces hoplites balangant les longues jave-
lines, qu'on serait tente de prendre pour des
harpons de baleiniers, ces archers de Babylone
— les premiers archers du monde — Tare bände,
la flache sur le nerf, qui fremit, ces pilotes
prets ä faire tourner la tri&re sur eile meme
d'un seul coup de leur aviron de queue, ces
rameurs courbes sqr leurs bancs, les bras dejä
tendus, les trierarques enfin guettant du haut
de la potipe le moment propice pour aller
frapper de P6peron d'airain le flanc ennemi!
Attendez quelques minutes encore ; l'echo de Sa-
lamine va vous renvoyer la voix des celeustes,
et vous pourrez saisir le bruit lointain de prfes
de vingt mille rames battant ä la fois le tolet
de ebene vert et retombant dans l'eau en cadence.
Janen de la Gravüre, La Marine des Anciens. 1323
L'eau jaillit de toutes parts, une bände de thons
oo de marsouins ne se dibattrait pas avee plas
de furie dans la madrague. Quelle formidable
clamenr s'est sondain elev6e? Les Orecs ont
entonnäs lenr p6an de guerre, et „le tonnerre
de la langae perse" — on croirait entendre les
Tnrcs de Previsa ou de Lepante — roule en
grondant an devant des Hellenes. Vognez!
vognez! g6nereux champions sur lesqnels
l'Europe et TAsie ont les yeux, les proues aux
trois dents vont bientöt s'enfoncer dans la chair
vive des galferes!"
Welches Feuer, welche verve liegt darin,
wir glauben uns mitten in den Kampf versetzt
und ihn mit zu durchleben.
In der Kritik der Schlacht weist der Admi-
ral auf einen Umstand hin, der viel zum gün-
stigen Ausgange für die Griechen beigetragen,
und zieht daraus eine Lehre für die Neuzeit,
die auch wir Deutsche wohl zu beherzigen ha-
ben. Die Griechen stützten sich mit ihrer Flotte
anf Salamis und die. Mannschaften ihrer von
den feindlichen Spornen in Grund gerannten
Trieren retteten sich durch Schwimmen an das
nahe Ufer, während die Perser, die überdem des
Schwimmens unkundig waren, meistens ertran-
ken. Mit unsern Panzerschiffen ist heute die
Lage eine gleiche geworden, wie ehedem bei
den Trieren. Wie Lissa und das Unglück uns-
res „Gr. Kurfürst" gezeigt, kann ein Spornstoß
die Kolosse in wenigen Minuten in die Tiefe
versenken. Das Schwimmen allein reicht für
die Rettung der Mannschaften nicht mehr aus.
Man schlägt sich mit großen Panzern nicht in
unmittelbarer Nähe der Küste, sondern meistens
auf hoher See und während des Kampfes kann
man die Ertrinkenden nicht retten. „Schafft
1324 Gott gel. Anz. 1880. Stück 42.
Rettungsgtirtel ana ruft der Verfasser und man
möchte wünschen, daß dieser Ruf, der auch in
unserer Marine schon vor Jahren ertönt ist,
nicht auch noch ferner ungehört verhalle. Wäre
er beachtet worden, dann hätten wir nicht den
Verlust von 300 Menschenleben am 31. Mai
1878 zu beklagen gehabt.
In den weiteren Capiteln giebt der Admiral
nähere Data über die Entwicklung und Orga-
nisation der griechischen Bundesflotte unter
athenischer Führung, zu welcher die übrigen
Staaten zuerst ein Contingent von Schiffen, den
q>ÖQogy stellten, dann aber statt dessen ein jähr-
liches Aequivalent an Geld zahlten, das sich zu
Pericles Zeiten auf die für damals großartige
Summe von über 5 Millionen Mark belief. Mit
solchen Mitteln konnte Athen bald eine mäch-
tige Flotte schaffen und durch hohen Sold (21
Mark monatlich für den Matrosen) dieselbe mit
tüchtigen Mannschaften versehen. Gar bald
fühlten es die Perser, und kaum ein Jahrzehnt
nach Beendigung des medischen Krieges nahm
Cimon, der sich schon bei Salamis als Trierarch
ausgezeichnet, an der Küste von Pamphylien
den Persern 200 Trieren, plünderte Cypern und
Asien.
Es folgte das Zeitalter des Pericles, das der
höchsten Blüthe Griechenlands. Athen wurde
mit Kunstschätzen wunderbarer Art geschmückt,
aber auch die Marine, die Sicherheit und der
Schutz der Metropole nicht vergessen. Mit
einem Staatsschatze, der einmal die Höhe von
über 40 Millionen Mark erreichte, ließ sich et-
was thun. 300 Trieren lagen stets schlagfertig
zum Auslaufen; Stadt und Hafen wurden durch
eine Mauer von 48 km Länge und 56 Fuß Höhe
geschützt; doch die Macht, die ßeichthümer und
Jurien de la Graviore, La Marine des Anciens. 1325
das Wohlleben machten die Athenienser an-
maßend gegen ihre Bundesgenossen, daß bald
die Zwietracht hell aufloderte und den Bürger-
krieg zur Folge hatte. Die Seeschlacht beiAc-
tiuin im Jahre 436 zwischen den Flotten von
Corinth und Corcyra, wobei erstere gänzlich
vernichtet wurde, gab das Signal zum Beginn
des unglücklichen Peloponnesischen Krieges, der
Griechenland Jahrzehnte lang zerfleischte und
seine Kräfte aufzehrte. In spannender und
hochinteressanter Weise erzählt uns der Verfas-
ser die verschiedenen Phasen dieses Krieges,
dessen entscheidende Momente und oft wunder-
baren Wandelungen stets durch die Flotten her-
beigeführt wurden, und die zahlreichen Kämpfe
bieten ihm reichen Stoff, um aus den tactischen
Formationen, den strategischen Schachzügen, der
Fülle von klug ausgedachten Listen und glän-
zenden Thaten der Alten beachtungswerthe Leh-
ren für die Jetztzeit zu ziehen und darzuthun,
wie ein verständnißvolles Studium der antiken
Seekriegsgeschichte für unsere Seeofficiere un-
gemein fruchtbar und nutzbringend sein wird.
Die sich zunächst anschließende Darstellung
der von Alcibiades angeregten, wenn auch ohne
ihn ausgeführten Expedition nach Sicilien und
ihr für Athen so furchtbarer Ausgang ist nicht
weniger reich an fesselnden Momenten, und in-
teressant ist auch die Lehre, die der Verfasser
für Frankreich daraus zieht, indem er die Ex-
pedition mit Napoleons I. Zuge nach Rußland
vergleicht und auch wohl im Stillen an Mexiko
denkt, wo das Prestige des dritten Napoleon
zuerst erschüttert wurde, und wo der Admiral
selbst thätig war.
„Quelle moralite" sagt er „tirerons nous de
Pexpedition de Sicile? II s'en degage sans
1326 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 42.
doute de nombreuses lemons et des legons de
plus d'une sorte. N'en retenons qu'une, mais
que ce soit la plus importante. II est evident,
que dans ces vastes entreprises de guerre le
peril croit avec la distance; n'allons done pas
trop loin, quand il nous est loisible de nous en
dispenser. C'est peut-etre de la petite politique ;
e'est pourtant cette petite politique, qui nous a
fait, ce que nous sommes, nous n'avons done
pas le droit, de la dedaigner."
Der Verfasser hat Recht und dies Avis gilt
auch für deutsche Heißsporne, die unsere Pan-
zerschiffe gern auf dem Ocean eine Bolle spie-
len lassen möchten. Die Arena für unsere
Schlachtschiffe sind unsere deutschen Meere, ihre
Aufgabe die Vertheidignng unsrer Küsten ge-
gen Blokade und gegen Jurien de la Graviere's
Zukunfts-Flottille. Was darüber ist, das ist vom
üebel.
Der zweite Theil des Buches behandelt un-
ter dem Titel „La revanche des Persesu den
Zerfall Griechenlands in dem wieder ausgebro-
chenen Bürgerkriege, das blutige Ringen von
Athen und Sparta um die Oberherrschaft, das
Buhlen beider Staaten um persische Hülfe, die
Kämpfe von Syene, Kynossema, Abydos, Notion
und Mitylene. Sodann wird die Schlacht bei
den Argmusen geschildert, die größte zwischen
Griechen, in der 30,000 Athener eben so vielen
Spartanern gegenüberstanden und erstere sie-
gend 69 Trieren eroberten, und endlich der
entscheidende Kampf bei Aegos Potamos, wo
die mit persischem Golde neu gebaute pelopon-
nesische Flotte Athens maritime und politische
Macht tödtlich traf.
Sparta hatte die Hegemonie ; es triumphierte,
doch nicht lange. Es verwundete die Hand,
Jurien de la Graviore, La Marine des Anciens. 1327
die ihm zum Siege verholfen, und suchte Krieg
mit Persien. Pharnabazes berief den Athener
Conon an die Spitze seiner phöniziscben Flotte
und diese nahm Rache für Aegos Potamos; bei
Knidos vernichtete er die lacedämonische Flotte.
Wenige Jahre später maßte Sparta den schimpf-
lichen antacidischen Vertrag schließen nnd die
griechischen Colonieen in Asien fielen an die
Perser. Die Revanche von Darius' Nachfolgern
war damit vollständig geworden.
Noch 50 Jahre lang zwar kämpften Griechen
mit Griechen; abermals erschienen Trierenge-
schwader auf dem Meere und verrichteten auch
noch einzelne kühne Thaten, doch die einstige
Kraft war sowohl zu Lande wie zu Wasser für
immer gebrochen. Mit der Schlacht von Chä-
ronea starb auch die griechische Marine, die
150 Jahre lang das treibende und bestimmende
Moment der Weltgeschichte gewesen war.
Der dieser Besprechung zugemessene Raum
gestattet nicht näher auf die Behandlung einzu-
gehen, die der Verfasser diesem Abschnitte hat
angedeihen lassen, und ich kann deshalb nur im
allgemeinen bemerken, daß der Leser der Dar-
stellung mit ungeschwächtem Interesse folgt und
bis zum Ende in Spannung gehalten wird. Ein
Gleiches gilt in noch höherem Grade von dem
letzten Abschnitt „Les Tyrans de Syracuse" , in
dem die Karthager in die Geschichte eintreten.
Zwar führt uns der Admiral eingehend nur Dio-
nysos den Aeltern und Agathokles vor, von de-
nen er dem letztern eine besondere Vorliebe ent-
gegenbringt, aber in den beiden Männern, die
durch eigene Kraft sich aus niedriger Lebens-
sphäre auf den Thron schwangen und deren
lange Regierung nur eine ununterbrochene Kette
von gewaltigen Thaten aufweist, concentriert
1328 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 42.
sich auch die Geschichte von Syrakus und sie
sind es werth in so ausführlicher und glänzen-
der Weise besprochen zu werden. Die Vertei-
digung von Syrakus gegen die Uebermacht der
Karthager und ihre Besiegung durch Dionysos
lassen ihn als einen der größten Helden der
Geschichte erscheinen, und von dem Zuge des
Agathokles nach Libyen, während die Karthager
ihn selbst in Syrakus zu Lande und zu Wasser
auf das engste eingeschlossen hielten, sagt der
Verfasser mit Recht „L'expedition, que tenta en
Afrique l'habile aventurier, est assurement la plus
audacieuse et la plus habile operation que ja-
mais chef d'armee ait congue".
Vor allem sind die Thaten des Agathokles
aber des Studiums, der Marineofficiere werth und
darauf weist Jurien de la Graviore besonders
hin. „11 n'y a peut-etre parmi les modernes que
deux hommes, qui aient songe k evoquer Pombre
d'Agathocle: le patriarche de Fernay (Voltaire)
et moi. Le 30 mai 1779 la scene franchise en-
tendait le fils de Carcinus dire
L'argile, par mes mains autrefois fagonne,
A produit sur mon front Tor qui m'a couronne.
Voltaire faisait de la politique: il venait de
recevoir la visite de Franclin, moi, je ne m'oc-
cupe que de marine" beginnt der Admiral seine
Schilderung jenes Heroen und schließt die mei-
sterhafte Charakteristik mit den Worten: „Was
wir von Agathokles wollen sind keine Lehren
der Moral oder Politik, wohl aber Lehren fiir
die Marine. Seine Thaten zeigen uns das stete
Bestreben im Alterthum, das Meer als Heerstraße
zu benutzen. Wenn man daran denkt, was
früher mit den Trieren ausgeführt ist, dann be-
greift man nicht, wie wenig mit den neuen
Kriegsinstrumenten, welche die Wissenschaft in
Jurien de la Graviore, La Marine des Anciens. 1329
unsre Hände gelegt, naeh dieser Richtung ge-
schehen kann. Ich erinnere mich, wie schon
mein Vater es bedauerte, daß unsere Truppen-
transportmittel sogar noch hinter den Piroguen
der Wilden Oceaniens zurückständen, von denen
zwei zusammengekoppelt weit unsern Ausschif-
fhngs-Prähmen vorzuziehen seien, die bei jedem
geringen Seegang dem Sinken ausgesetzt sind.
Und siehe da, welche bizarre Aehnlichkeit bie-
tet uns jetzt das Doppeldampfschiff zwischen
Dover und Calais! Ist es nicht das Abbild der
seit undenklichen Zeiten von den Fidschi-Insu-
lanern gebrauchten Transportmittel Zwei be-
sondere parallele Schiffsrumpfe sind durch ein
gemeinsames Deck vereint. Ein gewaltiges
Schaufelrad arbeitet in der Mitte und vier
Schornsteine krönen das monströse Gebäude.
Man könnte sagen eine Citadelle schwömme da-
her, und doch ist es nur ein Schiff von kaum 7
Fuß Tiefgang und mit 13 Knoten Geschwin-
digkeit, das aber ein ganzes Regiment auf sei-
nem Deck tragen kann. Zeigt uns nicht dies
Schiff den Weg zur Flottille" kommt der Ver-
fasser auf seine Lieblings-Idee zurück, „und"
ruft er emphatisch aus „sollte damit nicht end-
lich der von mir so lang erträumte Typus wie
Aphrodite aus dem Schaum des Meeres empor-
steigen? Zwei hohle Cylinder mit Planken ge-
deckt, was bedürfen wir mehr, um Soldaten,
Geschütze und Pferde an das Ufer zu werfen?
Die Marine vermag den Feind aus weiter Ferne
zu treffen, weshalb vernachlässigen wir so mäch-
tige Kriegsmittel".
Wie ich schon bemerkt habe, verdienen die
Folgerungen und Lehren, welche der Admiral
aus der von ihm besprochenen Seekriegsge-
schichte der Alten zieht, durchweg Beachtung
84
1330 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 42.
und es ist an ihrer Richtigkeit wenig zu man-
geln. In einem Punkte befinde ich mich jedoch
nicht mit ihm in Uebereinstimmung, und zwar
in Bezug auf die Construction der Trieren. Zu
verschiedenen Malen widmet er denselben län-
gere Betrachtungen und sucht mit allen mögli-
chen Gründen nachzuweisen, daß die Trieren
und die späteren Kriegsschiffe der Alten, bis zu
den historisch feststehenden 16 -Reihenschiffen
hinauf, nicht etwa drei, fünf bis sechszehn Rei-
hen Ruder über einander, sondern nur je eine
R^ihe hatten und sie ihre Namen davon erhiel-
ten, daß die Ruder je mit drei, fünf und so wei-
ter Ruderern besetzt waren. Als Hauptargument
für seine Ansicht führt er an, daß schon bei
Penteren die obersten Ruder viel zu lang und
schwer seien, um von einem Manne regiert zu
werden, und daß die Schiffe mit mehreren Ru-
derreihen übereinander unmöglich die Beweg-
lichkeit und Manövrierfähigkeit besessen haben
könnten, wie man dies von ihnen weiß, weil
die Ruder von einander hätten unklar werden
müssen. Der gelehrte Verfasser hat über die-
sen Punkt alle möglichen Quellen aufgesucht,
nur zwei sehr wichtige sind von ihm übersehen
worden und zwar zwei deutsche, Böckh'g Haus-
haltung der Athener und Graser's De Veterom
re navali, sowie seine Monographie über die
Pentere und das darnach construierte im Ber-
liner Museum aufgestellte Modell eines solchen
Schiffes. Hätte er diese Quellen vorurtheilslos
befragt, dann würde er zu der Ueberzeugung
gekommen sein, daß seine Ansicht eine irrige
ist; daß die Trieren etc. nicht eine, sondern
drei etc. Ruderreihen über einander hatten und
selbst die Ruderer in den obersten Reihen der
von Demetrios Poliorketes zuerst gebauten Sechs-
Jurien de la Graviore, La Marine des Anciens. 133 1
zehnreihenscbiffe nur 27s/i Fuß lang waren.
Wenngleich nun die größten in Marinebooten
gebräuchlichen Ruder nur 21—22 Fuß Länge
haben, so lassen sich auch 30- und mehrftißige
ganz bequem von einem Manne regieren. Es
kommt dabei nur darauf an, wie groß ihr i n-
nenbords befindlicher Hebelarm ist, und die-
sen Punkt klärt ebenfalls Graser genügend bei
den antiken Schiffen auf. Ich habe in China
Boote mit einem 5 0 Fuß langen Ruder gesehen,
welches leicht und gewandt von einer Frau
gehandhabt wurde, allerdings befanden sich da-
von 10 Fuß und zwar beschwert innenbords.
Der Admiral spricht en passant zwar einmal
von den „tables attiques, sur lesquelles s'est
appuy6e l'ärudition allemandett , allein er erwähnt
weder Böckh noch Graser, obwohl er alle an-
dern von ihm benutzten Quellen namentlich auf-
führt. Ich empfehle ihm deshalb das Studium
jener Beiden, vielleicht wird dann seine Ansicht
über die Trieren eine andere. Daß er absicht-
lich sie ignoriert hat, weil es Deutsche sind,
traue ich ihm nicht zu, dazu steht er in meiner
Achtung zu hoch ; und wenn es dafür noch eines
concreten Beweises bedürfte, so citiere ich seine
Worte am Schlüsse des Werkes, wo er den
Franzosen auf das dringlichste räth im Frieden
sich für den Krieg vorzubereiten. „Je ne con-
nais qn'une nation au monde" sagt er dort „qui
ait su faire un serieux et intelligent usage des
loisirs d'une longue paix. Quand cette grande
et vaillante nation — je dis : grande et vaillante,
car au jeu de la guerre, comme aux autres j
jeux, il faut rester beau joueur, le depit ne rä-
pare rien — quand l'AUemagne, en unmot, dut
passer soudainement du champ de manoeuvre au
champ de bataille, ses soldats ne s'y presentment
84* I
1332 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 42.
pas 6tonues. Entre les exercices qui les avaient
pSriodiquement rassembl6s et le combat, auquel
on les conduisait, la difference etait k peine
sensible; il n'y avait que le danger de plus".
Einen solchen Ausspruch eines so hochstehen-
den und angesehenen Franzosen dürfen wir uns
schon gefallen lassen und er giebt zugleich
Zeugniß flir den vorurteilslosen Charakter des
Mannes.
Wiesbaden. R. Werner.
Geschichte der Europäischen Staaten. Her-
ausgegeben von A. H. L. Heeren, F. A. ükert
und W. v. Giesebrecht. Geschichte Baierns
von Sigmund Riezler. Zweiter Band (bis
1347). Gotha. F. A. Perthes. 1880. XIX u.
587 S. 8°.
Der zweite Band der bairischen Geschichte
hatte beim Jahre 1180 einzusetzen und sollte
nach dem ursprünglichen Plane den ganzen Rest
des Mittelalters umfassen; aber bei der Aus-
führung fand ich unmöglich, einen so ausge-
dehnten Stoff in einem nicht allzu dickleibigen
Bande zu bewältigen. Indem ich mir also beim
Tode Ludwig des Baiern einen Abschluß ge-
stattete, erhielt der Band zwei Bücher zuge-
wiesen: das sechste, Ausbildung und Befesti-
gung der Landeshoheit unter den ersten Wit-
teisbachern (1180—1294) und das siebente,
Ludwig der Baier ; zwei Zeitabschnitte von sehr
verschiedenartigem Inhalt, insofern dem ersten
eine fortschreitende Isolierung des Landes vom
Reiche, dem zweiten eine nicht nur im Reiche,
S. Riezler, Geschichte Baierns. Bd. IL 1333
sondern international weitausgreifende Politik
eigentümlich ist Gleich die ersten Decennien
bringen mit dem Verfalle des Reichs den ge-
waltigsten Aufschwung der territorialen Mächte
und je stärker von jeher das nationale Herzog-
thum in Baiern war, am so früher and leichter
gelingt hier Ausbildung and Befestigung der
herzoglichen Landeshoheit. Doch der Umfang
des Territoriums, in dem sich diese Entwicklung
vollzieht, ist namhaft verkleinert: es umschließt
nur mehr das heutige Altbaiern, das sich frei-
lich im Süden und Osten noch über Theile des
heutigen Tirols und Oberösterreichs erstreckt,
mit dem auch seit 1214 die rheinische Pfalz
verbunden ist. Eine weitere Kehrseite des lan-
desherrlichen Aufschwungs liegt in der gestei-
gerten Macht auch der anderen Reichsfürsten,
besonders der Bischöfe. Wüste Kämpfe mit die-
sen Nachbarn um Hoheitsrechte erfüllen den
ganzen Zeitraum. Wichtiger als deren Ergeb-
nisse ist für den Ausbau des bairischen Staats-
wesens die Thatsache, daß das Herzogthum un-
ter den drei ersten Witteisbachern und in ge-
ringerem Maße noch in der Folgezeit sein Ter-
ritorium im engeren Sinne, jenes nämlich, wo
ihm auch die Grafengewalt zustand, auf Kosten
der alten Grafenhäuser des Landes ganz außer-
ordentlich vergrößert, so daß es beim Tode des
dritten Witteisbachers schon ein etwa dreimal
größeres beherrscht als beim Regierungsantritte
des ersten. Mußte schon bei Schilderung dieses
Umsichgreifens vom Ausgang der meisten bairi-
schen Grafenhäuser gesprochen werden, so soll
doch erst am Schlüsse des Mittelalters die im
ersten Bande begonnene Uebersicht dieser Fa-
milien fortgesetzt und vollendet werden.
Monographische Arbeiten von Wissenschaft-
1334 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 42.
*
lieber Bedeutung lagen für keinen der Witteis-
bacher vor, die das sechste Buch bebandelt und
von denen der erste und der letzte, Otto L und
Ludwig II. unzweifelhaft als die tüchtigsten
und hervorragendsten Fürsten erscheinen. Wohl
waren ihre Beziehungen zum Reiche, Dank den
Werken von Winkelmann, Schirrmacher, Lo-
renz, fast durchweg klar gestellt, aber im übri-
gen bot sich mir reiche Gelegenheit mit altem
Schutt aufzuräumen und neuen Anschauungen
Bahn zu brechen. Darf ich mir gestatten einige
der letzteren hervorzuheben, so sei folgendes er-
wähnt. Die herkömmlichen Beinamen: Ludwig
der Kelheimer, Otto der Erlauchte, Ludwig der
Strenge sind einerseits nicht alt, beruhen ander-
seits nur auf Mißverständniß oder ungenügender
Eenntniß und sind deshalb fallen zu lassen.
Die alten Landtage des Herzogthums reichen
keineswegs bis an den Schluß dieser Periode
und es bestand keine historische Gontinuität
zwischen ihnen und dem neuen landständischen
Wesen, wie es im Beginne des 14. Jahrhunderts
durch das Zusammenwirken einer ausderwirth-
schaftlichen Umwälzung entspringenden Geld-
noth der Höfe und eines immer mächtiger auf-
tretenden corporativen Geistes erwuchs. Als
wichtiger Faktor in der wittelsbachischen Poli-
tik dieser Zeit darf das Streben nicht übersehen
werden, die Verluste von 1156 und 1180 im
Osten wenigstens theilweise wieder hereinzu-
bringen. Die beste Gelegenheit dazu hätte sich
Otto II. geboten, aber er versäumte sie that-
kräftig zu benutzen. Dieser Fürst erfährt über-
haupt keine günstige Beurtheilung und gegen-
über dem Lobe, das man der nationalen Politik
seiner letzten Jahre gespendet hat, wird betont,
daß diese in ihrer Kaiserfreundlichkeit doch auf
S. Riezler, Geschichte Baierns. Bd. II. 1335
demselben Motive des Eigennutzes beruhte wie
vorher, da sie den Papst gegen den Kaiser un-
terstützte. Otto's IL Reichspolitik war vorbild-
lich für lange Zeit: eine Verschwägerung mit
dem jeweils regierenden königlichen Hause ward
für das bairische die Vorbedingung der Reichs-
treue; und bis zu dem Tage, da Witteisbach
selbst die deutsche Krone erlangte, hat kein
deutscher Herrscher, der in Baiern zur Geltung
kam, diese Vorbedingung unerfüllt gelassen.
Der Uebertritt Ludwigs IL auf die Seite Otto-
kars um 1260 wird mit seiner zweiten Heirath
in Verbindung gebracht. Bei den zahlreichen
herzoglichen Städtegründungen betone ich als
mindestens mitwirkendes, theil weise bestimmen-
des Motiv den feindlichen Gegensatz gegen einen
benachbarten Bischof, der bereits so glücklich
war eine Stadt, d. h. eine ausgedehnte Burg zu
besitzen. Landshut läßt uns ein Satz in sei-
nem Stadtrechte als die älteste herzogliche Re-
sidenz erkennen. Dem landesherrlichen Beam-
tenwesen, der Verwaltung und Polizei kommt
schon in dieser Periode eine weit höhere Be-
deutung zu, als man in der Regel angenommen
hat. Eine reiche und noch wenig ausgebeutete
Quelle für diese Verhältnisse, wie überhaupt für
die inneren Zustände des Zeitraums fließt in
den bairischen Landfriedensordnungen , deren
äußere Geschichte uns Rockinger beleuchtet hat.
Eine werthvolle Quelle für den Staatshaushalt
dieser Zeit, aber auch nach manchen anderen
Richtungen nicht unergiebig, hat uns eine sorg-
fältige Edition des Freiherrn Edmund Oefele in
dem Rechnungsbuche des oberen Vitztumamtes
Oberbaierns aus den Jahren 1291 — 1294 er-
schlossen. Für die Anfänge der bairischen Mi-
noritenklöster konnte ich eine handschriftliche
1336 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 42.
Quelle benutzen, eine von P. Bernhard Müller
um 1703 auf Grundlage des Provinzialarchivs
verfaßte Chronik der oberdeutschen Minoriten-
provinz, welche die Würzburger Universitäts-
bibliothek besitzt. In ihr fand sich auch eine
interessante neue Notiz über Occam. Für die
Geschichte der Waldesier oder, wie sie damals
in Süddeutschland hießen, Lyonisten, zog ich ne-
ben den Quellen, welche Preger in seiner lehr-
reichen Abhandlung hierüber benutzte, die Nach-
richten der Jahrbücher von Mattsee heran. Es
wird gezeigt, daß diese Sekte nicht nur in
Oesterreich, sondern auch im östlichen Baiern
stark verbreitet war; als Sitz ihres Bischofs
wird nach einer wohl berechtigten Textesemen-
dation Einzenberg im Hausruckviertel vermuthet
Die merkwürdige Nachricht, daß der üebertritt
eines Fürsten zu der von der Kirche so grausam
verfolgten Richtung nahe gestanden und nur
durch dessen raschen Tod vereitelt worden sei,
möchte ich lieber auf Otto IL von Baiern als
auf den letzten Babenberger deuten. An der
bairischen Literatur erkenne ich eine volks-
tümliche Richtung, wie sie sich ausspricht in
den Predigten Bertholds von Regensburg, eine
frühzeitige Vorliebe für Schilderung des Volks-
lebens, wie sie im Meier Helmbrecht und in den
Liedern Nithards von Reuenthal hervortritt, als
charakteristischen Zug. Aus dem Kapitel der
Kunstgeschichte sei erwähnt, daß die Regens-
burger Bürger Konrad Hiltprandt und Ulrich
von der Prunlait, um 1271 Erbauer der Kirche
und des Klosters der Augustiner-Eremiten in
Regensburg, als die ältesten weltlichen Bau-
meister erscheinen, die sich in Baiern nachwei-
sen lassen.
Es kommt mir darauf an, das geschichtliche
S. ßiezler, Geschichte Baierns. Bd. IL 1337
Leben des Volkes nach allen Richtungen, in
Staat und Kirche, Gesellschaft und Wirtschaft,
Literatur und Kunst zu schildern. Bei solcher
Ausdehnung der Betrachtung verfolgt man auch
in der Geschichte die im wesentlichen unwan-
delbare, durch keine Schicksale, keine Erziehung
völlig zu verwischende zähe Natur des Stam-
mes, in der die vorzugsweise historischen Kräfte,
die Staats- und wohlstandbildenden Anlagen,
zurücktreten neben künstlerischen Fähigkeiten
nnd dem Trieb und Talent ein sinnlich-heiteres
Dasein zugegen.
Der größte Fluch der bairiscben Geschichte
in dem Zeiträume von 1255—1504 sind die
fortwährenden Landestheilungen und schwer ge-
nug lasten sie auch auf dem Geschichtschreiber.
Eine gesonderte Darstellung der ober- und nie-
derbairischen Verhältnisse wäre in diesem Bande
nicht passend gewesen, hie und da schon aus
dem Grunde, weil die letzteren für eine solche
zu unbedeutend erscheinen, insbesondere aber
und fast überall darum, weil die äußere Politik
wie die innere Entwicklung beider Landestheile
in enger Verbindung und Wechselwirkung steht
Die Darstellungen beider Regierungen mußten
daher in einander verwoben werden, wobei frei-
lich der Uebelstand nicht zu vermeiden war,
daß bei aufgehobener Einheit des Gesichtsfeldes
in die Erzählung etwas Sprunghaftes kommt.
In Ludwig dem Baiern ließ sich der König
und Kaiser nicht vom Baiernherzog sondern.
Wohl habe ich in der Hoffnung, auf diesem
Wege vielleicht eine Ueberschreitung des mir
angewiesenen Raumes vermeiden zu können,
anfangs den Versuch einer solchen Scheidung
gemacht, aber ich erkannte bald, daß dieses
Verfahren eine in Wahrheit glänzende Periode
1338 Gott. gel. Adz. 1880. Stück 42.
der bairiscben Geschiebte als ibre dürftigste
und thatenloseste erscheinen, daß es auch Lud-
wigs herzogliches Walten fast auf keinem Punkte
richtig verstehen ließe, daß es, kurz gesagt, zu
lauter Absurditäten führen würde. Indem ich
mich also davon abwandte, hielt ich gleichwohl
daran fest, nicht die ganze internationale und
deutsche Politik des Herrschers mit gleicher
Ausführlichkeit, jede Frage vielmehr nach Ver-
hältniß des Gewichtes zu behandeln, das sie
für die bairische Geschichte beansprucht. Kai-
ser Ludwig ist der erste Witteisbacher, von dem
die Quellen ein breiter angelegtes, mit lebhaf-
teren Farben ausgeführtes Charakterbild zu ent-
werfen gestatten, ein Vortheil, den ich mir um
so weniger entgehen ließ, je häufiger uns sonst
die Persönlichkeiten der mittelalterlichen Fürsten
zufolge des einseitigen Inhalts der Quellen ins
gestaltlos Allgemeine verschwimmen. Das Ur-
theil über Ludwigs Wirksamkeit wird dahin zu-
sammengefaßt, daß er für seine Familie das
beste, vieles auch für sein Land, für das Reich
aber am wenigsten geleistet hat. Ueber die
geringe Selbständigkeit, den Wankelmuth und
die Unzuverlässigkeit seines Charakters zeigen
sich hervorragende zeitgenössische Berichter-
statter einig, aber noch wichtiger ist, daß auch
die Akten keine Versuchung erwecken, gegen-
über diesen Urtheilen, neben denen das Lob
seiner Rührigkeit und diplomatischen Gewandt-
heit wohl bestehen mag, eine Ehrenrettung zu
unternehmen.
Unter den Hülfsmitteln für diesen ganzen
Zeitraum bairischer Geschichte beanspruchen die
Arbeiten Johann Friedrich Böhmers, seine Fontes,
Wittelsbachischen Kegesten und Regesten Kai-
ser Ludwigs mit den kostbaren Nachträgen
S. Riezler, Geschichte Baierns. Bd. II. 1339
Fickers den ersten Rang. Ich würde eine
Pflicht des Dankes zu versäumen glauben, wenn
ich nicht auch hier darauf hinwiese, wie sehr
ich durch dies alles gefördert wurde. Gegen-
über diesen außerordentlichen Leistungen eines
Frankfurters und Westfalen ist es um so be-
schämender von der Unzulänglichkeit einer in
Baiern entstandenen sprechen zu müssen. Das
Wittelsbachische Urkundenbuch im 5. und 6.
Bande der Quellen und Erörterungen zur bairi-
schen und deutschen Geschichte läßt schon im
13. Jahrhundert viele Lücken beklagen, im 14.
bietet es vollends nicht mehr als ein aufs Ge-
rat he wohl, ohne jedes System herausgegriffenes
Brnchtheil des reichen Stoffes, der zu veröffent-
lichen gewesen wäre. Die für den Bearbeiter
bairischer Geschichte so sehr zu wünschende
Arbeitstheilung ist hier nicht vollzogen und er
sieht sich gezwungen seinen Rohstoff in ausge-
dehntem Maße erst selbst aus den Archiven her-
vorzuziehen. Eine kleine Nachlese zum Witteis-
bachischen Urkundenbuche habe ich mittlerweile
in den Forschungen zur deutschen Geschichte
veröffentlicht. Von neuen Chronisten dieser Pe-
riode haben die jüngsten Bände der Monumenta
Germaniae in Editionen von Waitz und Weiland
manches auch für Baiern Wichtige gebracht. In
dem Chronic, pontif. et imperat. ßatispon., von
dem im 24. Bande der Monumente, S. 285— 288
Auszüge ediert sind, darf man wohl ein Werk
Eonrads von Megenberg vermuthen. Auf die-
sen unermüdlichen Vielschreiber weisen Zeit
und Ort der Abfassung, die unverhohlene Ab-
neigung des Verfassers gegen Minoriten und
Prediger, endlich die Nachricht des Andreas
von Regensburg, daß Eonrad Verfasser einer
sogenannten „großen Chronik" war. Die alte-
1340 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 42.
sten in deutscher Prosa geschriebenen Geschichts-
werke, die ans Baiern erhalten sind, finde ich
in den drei bairischen Fortsetzungen der säch-
sischen Weltchronik, in der bei Freyberg ge-
druckten kleinen Regensburger Stadtchronik und
in der Schlierseer Chronik bei Oefele. Erst
dann folgt die Mtthldorfer Stadtchronik.
Bei dem außerordentlichen Beichthum von
Ludwigs Geschichte hätte dieser Band nicht so
bald vollendet werden können, hätte ich mich
nicht vielfach durch Vorarbeiten unterstützt ge-
sehen. An der Darstellung der literarischen
Kämpfe, welche Ludwigs Streit mit der Curie
begleiteten, hatte ich mich selbst schon früher
versucht. Mittlerweile hat der Streit mit den
Päpsten selber, die wichtigste Seite von Lud-
wigs Regierung, in dem zweibändigen Werke
Carl Müllers die trefflichste Behandlung erfah-
ren. Auch die zwei akademischen Abhandlun-
gen Pregers zur Geschichte Ludwigs und des
Kirchenstreites kamen mir in hohem Maße zu
statten, wiewohl ich nicht allen ihren Auffassun-
gen zustimmen, besonders den Kaiser nicht ganz
so günstig beurtheilen kann. Ueberhaupt hat
sich die Forschung in den letzten Jahren mit
großem Eifer der Zeit Ludwig des Baiern nnd
dem ganzen vierzehnten Jahrhundert zugewen-
det. Ueber die geschichtliche Literatur dieser
Periode lagen neben der zweiten Auflage von
Lorenz werthvolle Abhandlungen von Wiehert,
M. Mayr, Aloys Schulte u. a. vor. Den Ueber-
blick über das literarische und künstlerische
Leben erlaubte ich mir, etwas vorgreifend auf
das ganze 14. Jahrhundert auszudehnen, da des-
sen zweite Hälfte für ein besonderes Kapitel zu
wenig Stoff enthalten hätte. Für die wichtige
Landesgesetzgebung Kaiser Ludwigs boten das
8. Riezler, Geschichte Baierns. Bd. II. 1341
gelehrte Werk des Freiherrn von der Pfordten
und ein Aufsatz Rockingers die gründlichsten
Untersuchungen; hervorzuheben war hier der
bedeutsame und gegenüber der älteren Periode
neue Zug, daß die Landesgesetzgebung nun
vom Fürsten ohne Mitwirkung der Landstände
ausgeht. Und doch hat das landständische We-
sen sich nirgend reicher und glänzender ent-
wickelt als in Baiern. Es schien nötbig gleich
seine Anfange scharf und eingehend ins Auge
zu fassen. In demselben Kapitel werden Ver-
waltung und Recht unter Ludwig dem Baiern
besprochen. Auch unter den Beamten dieses
Fürsten durften die königlichen nicht übergan-
gen werden. In den „Pflegen" oder Pflegge-
richten, die nun auftauchen, erkannte ich, so
nahe dieser Zusammenhang liegt, doch erst
nach längerem Umhertappen die alten Vogtei-
8prengel. Daß der bairische Stamm durch die
überaus zahlreichen Urkunden Ludwig des
Baiern, die ersten in deutscher Sprache ver-
breiteten Eaiserurkunden , auf die Gestaltung
der neuhochdeutschen Sprache Einfluß geübt
hat, ist eine meines Wissens hier zum ersten
Male ausgesprochene Annahme, welche Sprach-
forscher ihrer Beachtung und näheren Prüfung
würdigen mögen.
Donaueschingen. Sigmund Riezler.
1342 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 42.
Registrande der geographisch-sta-
tistischen Abtheilung des Großen Ge-
neralstabes. — A. u. d. T.: Neues aus Geo-
graphie, Kartographie und Statistik Europa's
und seiner Kolonien; Quellennachweise, Aus-
züge und Besprechungen zur laufenden Orien-
tierung. — X. Jahrgang, Berlin, E. S. Mittler
& Sohn, 1880. XIV und 596 SS. 8°. mit
einer Karte in Fol.
Unter den literarischen Hilfsmitteln, die dem
Geographen zu Gebote stehen, gehört die Re-
gistrande ohne Frage zu den bequemsten. Sie
hat vor den monatlichen Literaturübersichten
in Petermann's Mittheilungen den Vorzug größe-
rer Uebersichtlichkeit, vor denen in der Zeit-
schrift der Berliner Geographischen Gesellschaft,
die von Prof. Koner alljährlich geliefert werden,
der streng geographischen Anordnung, und be-
sonders ist sie ausgezeichnet durch die Repro-
duction mehr oder weniger ausführlicher Notizen
statistischen oder national-ökonomischen Inhalts,
die aus Zeitungen des Inlands und des Aus-
lands, aus schwer zugänglichen oder durch ihre
Sprache wenig benutzten Zeitschriften oder aus
officiellen Aktenstücken entlehnt und so den
Interessenten zur dauernden Benutzung darge-
boten werden. Einen specifischen Charakter
enthält die (Registrande' aber durch ihre auf die
militärische Leistungsfähigkeit der Staaten be-
züglichen sehr ausführlichen und hier und da
kritisch beleuchteten Zusammenstellungen, wie
ja überhaupt die 'Registrande' aus einem ur-
sprünglich nur im Manuscript angelegten Ab-
theilungsjournal des Großen Generalstabes her-
vorgegangen ist. So ausführliche Nachrichten,
wie sie hier über die Landesaufnahme, Karten-
I
Uegistrande d. geogr.-st. A. d. Gr. Generalst. 1343
Publikation geboten werden, erhält der Geograph
nicht leicht in irgend einer der vorhandenen
sonstigen Literaturübersichten. Gerade der vor-
liegende zehnte Jahrgang ist noch mit einer
besonderen kartographischen Zugabe geschmückt,
welche von den Fachgenossen mit ungeteiltem
Beifall aufgenommen werden wird, einer Ueber-
sichtskarte von Mitteleuropa nämlich, welche als
Index für die topographischen Kartenwerke der
Deutschen Staaten, Dänemarks, Südschwedens,
Polens, des cisleithanischen Oesterreichs, der
Schweiz und Ostfrankreichs zu gelten bestimmt
ist, und nicht nur das Gebiet, welches die
einzelnen Generalstabskartenblätter umfassen,
sondern auch deren Maaßstab und die etwa
für dasselbe x Gebiet noch vorhandenen Meß-
tischblätter in deutlichen Ziffern unmittelbar
ablesen läßt. Eine solche Indexkarte hat zu-
letzt Petermann im Jahrgang 1858 seiner 'Mit-
theilungen' geliefert, seitdem ist etwas gleich-
artiges nicht wieder publiciert worden. Für die
Beifügung dieser Karte muß man demnach der
Redaction der 'Registrande' ganz besonders
dankbar sein, da sie damit einem wahren Be-
dürfnisse abgeholfen hat.
Die bereits vorliegenden Bände der 'Re-
gistrande', die ein so glänzendes Zeugniß von
dem echt wissenschaftlichen Geiste sind, der
unseren Generalstab beseelt, hat der Unter-
zeichnete bei seinen staatenkundlichen Arbeiten
vielfach benutzt und ihre Brauchbarkeit in je-
der Beziehung erprobt. Da schien ihm indeß
ein Mangel hin und wieder fühlbar, den er bei
dieser Gelegenheit nicht unerwähnt lassen
möchte. Der Titel besagt zwar, deutlich das
von der 'Registrande' umfaßte Gebiet einschrän-
kend, daß sie nur 'Neues aus der Geographie,
1344 Gott gel. Anz. 1880. Stück 42.
Kartographie und Statistik Euro pa's und
seiner Colonien' bieten solle. Indeß sind
im allgemeinen Theile doch auch knappe, die
wesentlichsten Fortschritte berücksichtigende
Nachrichten gegeb en über die außereuropäischen
Erdtheile, z. B. über die Reisen in Afrika, über
Afghanistan etc. Dagegen vermied die 'Regi-
strande' bisher uns auch über die Vereinigten
Staaten von Nordamerika auf dem Laufenden
zu erhalten. Der Plan des Werkes hat ohne-
hin schon allmählich Erweiterungen erfahren;
vielleicht könnte nun die Redaction der 'Re-
gistrande' sich entschließen, in dem nächsten
Jahrgange den Fachgenossen auch Neues aus
der Geographie, Kartographie und Statistik der
Vereinigten Staaten zu bringen, aus die-
ser Hauptcolonie des gesammten Europas, die
immer intensiver nicht nur in wirtschaftlicher
Hinsicht (man denke an Getreidepreise, an die
Auswanderungen, an die Geschäftskrisen), son-
dern auch in politischer Beziehung ('radikale'
Partei Englands!) auf die Zustände des Mutter-
landes Europa zurückwirkt. Das Buch würde
dadurch freilich in seinem Umfang vergrößert,
der Preis erhöht werden, indeß dürfte es doch
den Fachgenossen dafür ein um so vollständi-
geres Hülfsmittel für ihre Studien werden.
Otto Krtimmel.
Für die Redaction Terantwortlich: K Beimisch, Director d. Gott. gel. Am.
Commissions. Verlag der DietericW sehen Verlags -Buckhcmdkmg.
Drack-der THeierich' sehen Univ.- Buchdrucker* (W. Ff. Katsiner).
r
•?* * « '/
1345
6 öt tingis che
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück 43. . . : 3 27. October 1880.
Inhalt: Einhardi Tita Karoli Magni. Post G. H. Pert« rec G.
Waiti. Editio IT. Ton 9. Waitz, — Lex Salica, none Ausgaben
yon A. Holder und von J. H. Hesseis und H. Kern. Yon J. Ikhrend.
— Rad. Wolf, Geschichte der Vermessungen in der Schwelt. Von
a F. W. PeUrs. — Meddelelser om Grönland. Heft I. Von
O. Lang.
ss Eigenmächtiger Abdruck tob Artikeln der Gott. gel. Ans. verboten ss
E i n h a r d i Vita Karoli Magni. Editio qnarta.
Post Q. H. Pertz recensuit G. Waitz. Han-
noverae impensis bibliopolii Hahniani. XXI und
39 S. in Octav.
Auch unter dem Titel:
Scriptores rerum Germanicarum in usum
scholarum ex Monumentis Germaniae recusi.
Die allgemeine Bezeichnung der Sammlung, zu
welcher dieses Heft gehört, konnte auf dem
hier vorangestellten Specialtitel nicht wiederholt
werden, da nur bei einem sehr kleinen Theil
es sich noch um einen Abdruck aus dem be-
treffenden Bande der Monumenta Germaniae
handelt. Diese Octavausgaben bieten nämlich
die erwünschte Gelegenheit, frühere Arbeiten zu
revidieren und neuere Forschungen oder jetzt
erst zugänglich gewordene Hülfsmittel zu be-
85
1346 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 43.
nutzen. Zu beiden war aber bei Einbards dem
Umfang nach kleiner, aber, wie jeder weiß, in
der historiographischen Literatur des Mittelalters
hervorragender Schrift voller Anlaß gegeben.
Pertz durfte sich rühmen, als er im J. 1829
im zweiten Band der Scriptores die Vita edierte,
mehr als 60 Handschriften zu kennen, von de-
nen er den größeren Theil benutzt hatte. Seit-
dem ist aber noch eine bedeutende Zahl bekannt
geworden; im ersten Heft des 6. Bandes des
Neuen Archivs der Gesellschaft für ältere Deut-
sche Geschichtskunde sind nicht weniger als 22
zusammengestellt, von denen Pertz keine Kunde
hatte; andere, über die ihm nur unsichere oder
ungenaue Nachrichten aus älteren Ausgaben
oder sonst zugekommen waren, konnten näher
bestimmt werden. Unter diesen sind mehrere,
die durch ihr Alter oder die Beschaffenheit des
Textes einen hervorragenden Platz in Anspruch
nehmen. Eine derselben, die Pertz nicht unbe-
kannt, aber von ihm nicht näher verglichen war,
hat später Jaffe benutzt, als er den Monumenta
Carolina (Bibliotheca rerum Germanicarum IV)
Einbards Buch einverleibte. Er stützte auf
diese Handschrift zugleich eine herbe Kritik
des von Pertz gegebenen Textes, der bei einem
Wust von Varianten sich keineswegs durch
Wiedergabe der echten Ueberlieferung aus-
zeichne. Schon dieser Vorwurf mußte, als es
sich um eine neue Auflage der aus den Monu-
menten abgedruckten und bereits zweimal wie-
derholten kleineren Ausgabe handelte, mir die
Aufforderung geben, die Sache einer selbstän-
digen Untersuchung zu unterziehen. Das Resul-
tat war, daß Pertz allerdings einer alten, noch
dem 9. Jahrhundert angehörigen Handschrift,
einer der ersten die ihm bei seiner Bearbeitung
Einhardi Vita Karoli Magni rec Waitz. 1347
begegnete und deren Text er durch mehrere andere
bestätigt fand, einen zu großen Werth beigelegt,
ihrer mehrfach eigentümlichen Ueberlieferung
mit Unrecht den Vorzug vor anderen, auch vor
dem bisher recipierten Text gegeben hatte. Es
begreift sich das, wenn man bedenkt, wie ge-
rade die ersten Arbeiten von Pertz fast überall
die Nachlässigkeit und Willkür der älteren Aus-
gaben aufdeckten, und auch in Einhards Buche
der Einfluß der ersten vielfach entstellten Edi-
tion Nuenars sich lange auch in den späteren
bemerken ließ. Nimmt man dazu, daß damals
wohl noch mehr als jetzt es als Hauptgrundsatz
philologischer Kritik galt, möglichst und bis zum
äußersten hin einer für richtiger erkannten oder
doch gehaltenen Ueberlieferung zu folgen, so
wird man es dem um die Quellen der Karolin-
gischen Geschichte hochverdienten Herausgeber
kaum zum sonderlichen Vorwurf machen kön-
nen, daß er sich hier in der Bevorzugung der
bezeichneten Wiener Handschrift vergriffen hat*).
Ganz richtig unterschied er als zweite Glasse
Handschriften, welche durch beigefügte Verse
Gerwards, eines Schülers Einhards, dagegen
Weglassnng der Vorrede und der auf Hrodland
bezüglichen Worte in dem Capitel über Karls
Hispanischen Krieg charakterisiert pind, be-
merkte auch, daß sie jedenfalls auf ein sehr
altes und dadurch besonderer Beachtung werthes
Exemplar zurückgehen müßten. Der Ueberliefe-
rung dieser Glasse auf die Gestaltung des Tex-
tes größeren Einfluß zu geben, ließ er sich aber
wahrscheinlich dadurch abhalten, daß kein älte-
rer Codex derselben ihm bekannt geworden,
*) Viel schlimmeres ist bekanntlich Jaffe später, und
nach Pertz, beim Monachus Sangallensis passiert.
85*
1348 Gott. gel. Adz. 1880. Stück 4a
einer, der ohne Zweifel dahin gehört, nur theil-
weise in seinem ursprünglichen Bestand erhalten
und deshalb nicht richtig eingereiht war. Aber
auch Jaff6 hat derselben keineswegs die ge-
bührende Beachtung geschenkt. Und eine ge-
nauere Untersuchung hat herausgestellt, daß er
ganz denselben Mißgriff gemacht hat, den er
Pertz vorwarf, einer einzelnen Handschrift einen
zu großen Einfluß auf die Gestaltung des Tex-
tes zu geben. Man kann anerkennen, daß die-
ser Pariser Codex im ganzen eorrecter geschrie-
ben ist als der Wiener und manche Worte und
Wendungen auf Grund desselben berichtigt wer-
den konnten; dagegen weicht er an wichtigen
Stellen viel weiter ab als jener, läßt eine be-
deutende Nachricht fort, fügt anderes hinzu was
der Mehrzahl der Handschriften, auch der gan-
zen Olasse B, fremd ist. Ich kann auch Jaffe's
Verfahren nicht für gerechtfertigt halten, wenn
er in dem einen Fall (wo es sich um Weglassung
des Satzes über das Verhalten von Karls Töch-
tern handelt) die Handschrift verläßt, in dem
anderen (wo den drei Goncubinen Karls, die
Einhard nennt, eine vierte sammt ihren Kindern
hinzugefügt wird) derselben folgt, und, nach
dem einmal angenommenen Grundsatz nur die
Varianten, von Wien anzugeben, auch hier nnr
bemerkt, daß diese Handschrift «abweicht Offen-
bar müssen die, übrigens wenig zahlreichen,
Handschriften, welche diesen Zusatz haben, als
eine besondere dritte Classe aufgeführt werden,
die sich wohl an A anschließt, aber, ebenso wie
B, cbarakteristische Abweichungen bat, die sich
auch in manchen einzelnen Worten zeigen. Und
dann ergiebt sich leicht der kritische Grundsatz,
daß wo zwei Classen übereinstimmen, B mit
einer der beiden andern, wenigstens die größte
Einhardi Vita Karoli Magni rec. Waitz. 1349
Wahrscheinlichkeit für die Richtigkeit dieser
UeberlieferuDg spricht Eben hiernach habe
ich eine neue Recension des Textes versucht,
die nan von den beiden letzten Ausgaben nicht
ganz unbedeutend abweicht.
Dazu standen mir Collationen dreier, den
Wiener und Pariser Handschriften an Alter
jedenfalls gleichstehender, bisher gar nicht be-
nutzter Handschriften zu geböte, und es fügte
sich glücklich genug, daß jede einer andern der
drei Classen angehört Von der Glasse B hatte
ich schon im J. 1837 eine alle übrigen dersel-
ben angehörigen Handschriften an Alter über-
treffende in Montpellier gefunden, die mir jetzt
durch hochgeneigte Vermittlung des Auswärtigen
Amts hierher gesandt und von mir genau ver-
glichen worden ist Theilt sie manche Eigen-
tümlichkeiten der von Pertz benutzten, so geht
sie doch oft genug ihre eigenen Wege, zeigt,
daß nicht alles was jene jüngeren darbieten, die-
ser Recension angehört, hat aber freilich auch
Abweichungen und Verderbnisse besonderer Art.
Dasselbe ist der Fall bei zwei Römischen Hand-
schriften, die Pertz nicht benutzen konnte, da
damals die Kataloge der Vaticana unzugänglich
waren, eine Notiz aber, welche dem Freiherrn
vom Stein zugekommen, beide zusammengewor-
fen, die Nummer eines Palatinos auf den andern
Codex in der Bibliothek der Königin Christine
übertragen hatte, was erst Bethmanns Notizen
aufgeklärt haben. Jetzt sind beide aufs sorg-
fältigste von Dr. Mau verglichen ; Christ, schließt
sich der Classe A, der alte Palatinus derClasse
C an. Alle drei dem ausgehenden 9. oder begin-
nenden 10. Jahrhundert angehörig, sind übrigens
im einzelnen nicht frei von .zahlreichen Corrup-
tionen, die in dieser Handausgabe zu verzeich-
1350 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 43.
nen unmöglich war, die aber zeigen, wie froh
nach verschiedenen Seiten hin der Text eines
Werkes aus der besten Karolingischen Zeit ver-
derbt worden ist, und wie es ganz unmöglich
sein würde, ihn auf Grund einer oder der an-
dern Handschrift zuverlässig herzustellen. Und
auch auf anderem Wege wird man kaum dabin
gelangen, volle Sicherheit in allem Einzelnen,
namentlich auch in der Schreibung der Namen
und der Orthographie zu erlangen. Bekanntlich
folgen hier die Schreiber keineswegs immer ih-
rer Vorlage oder sind auch nur constant im Ge-
brauch der einen oder der anderen Form; es
bleibt auch zweifelhaft, ob Einhard selbst die
Feder geführt oder nach dem Gebrauch der
Zeit dictiert hat. Aus diesen Gründen habe ich
Bedenken getragen, ungewöhnliche Formen, auch
wenn mehrere alte Handschriften sie bieten ('ad*
für 'at'; 'aliquod' für 'aliquot') und sie sonst in
dieser Zeit nicht selten sind, in Einhards Text
aufzunehmen. Einiges möchte auch dafür spre-
chen, daß die Handschriften B einen Text bie-
ten, der später noch Modificationen erfuhr, wie
er denn die Vorrede des Autors noch nicht hat
Uebrigens habe ich außer jenen drei, der von
Pertz vollständig abgeschriebenen Wiener und
der Pariser, bei der ich mich auf Jaffas Colla-
tion verlassen durfte, noch einige der älteren,
nach dem Material das für die Monumenta
früher gesammelt und sowohl in den reichen
Varianten SS. II wie in den in unseren Samm-
lungen bewahrten Collationen enthalten ist,
herangezogen. Von Interesse wäre außerdem
wohl eine Petersburger Handschrift des 10. Jahrb.
gewesen, auch vielleicht von Cotton Tiberius
C. XI, eine genauere Collation, als sie vor lan-
gen Jahren Färber gemacht; doch glaube ich
Einhardi Vita Earoli Magni rec. Waitz. 1351
sagen zu können, mehr für die Geschichte des
Textes als für die Feststellung desselben. Aller-
dings habe ich aber gemeint, auch auf jene
Blicksicht nehmen zu sollen, freilich nicht die
Verderbnisse späterer Handschriften, aber die
charakteristischen Lesarten der einzelnen Clas-
sen nnd der älteren Codices aufgenommen, über
das Verhältnis anderer in der Vorrede einiges
bemerkt. Hier ist schon jetzt eine kleine Be-
richtigung zu machen. Von den Handschriften,
die ich als abhängig von Christ. 339 (As) be-
zeichne, ist mir seitdem, zunächst für andere
Zwecke, Leiden Lat. Nr. 20, eine Handschrift
des 12. Jahrh, durch die erprobte Gefälligkeit
des Bibliothekars Herrn Du Rieu hier zugäng-
lich geworden, und ich muß da berichtigen,
daß dieselbe freilich in vielen charakteristischen
Lesarten mit jener übereinstimmt, aber keines-
wegs alle ihre Abweichungen von dem echten
Texte theilt; z. B. nicht c. 1 : 'pertinere dicebatur*
statt des richtigen 'pertinebat1 ; c. 3 nicht 'susce-
peraV wie auch A 1 (Wien) statt 'susciperet*
hat; nicht 'patrocinio' statt 'patrociniuni ; c. 4
fehlt nicht 'aliquid', nicht 'ut primo1. Dagegen
z. B. c. 31 die Worte 'in eodem vico', und ebenso
der Satz c. 6: Sed licet — esse conpletum (wo
durch einen unangenehmen Druckfehler S. 6 N. n
A 1 statt A 2 steht; ebenso S. 5 N. i und
S. 7 n. m). Der Codex stammt übrigens aus
einer guten Quelle, und man mag bedauern, daß
er defect ist, indem in der Mitte einer Lage ein
Doppelblatt fehlt (c. 1 8 : 'ad interiorem' — c. 29
'Aprilem Ostar'). An einer Stelle möchte ich
jetzt, durch ihn veranlaßt, von Pertz und Jaff6
abweichen, c. 11 statt 'cum magno venit exer-
citu' schreiben 'cum maximo v. e.'; denn zu B 1
und C2, die es haben, kommt diese Handschrift
1352 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 43.
der Classe A, und ich zweifle auch nicht, daß
es in C 1 steht and von Jaffe nur übersehen
ist, da der aas ihm abgeschriebene C* es bringt
Nur aus Versehen ist c. 30 'vocatom' statt (evo-
catam' stehen geblieben, da dies außer B auch
A 2 (mit ihm Leiden) und C haben. — Diese
Handschrift ist dann ohne Zweifel die Grund-
lage für die Cambridger (Pertz 10«), wie sich
daraus ergiebt, daß der Name Alcuins als Ver-
fasser, den beide bringen, in Leiden nach 'In-
cipit prologus', wie schon Delisle, Melanges de
paläographie S. 176 N. bemerkt hat, nachträg-
lich eingeschaltet ist, and zwar mit schwarzer
Dinte in die Rubra. Auch eine zweite Leidener
Handschrift, Voss 77, ist aus ihr abgeleitet, and
zu derselben Gruppe gehört, wie schon Pertz
bemerkt, jedenfalls Cassel (10 e), wo auch der
Satz c. 6 fehlt, und ebenso andere, die von je-
nem unter 10 und 11 aufgeführt werden.
Zur Classe B gehören die jüngeren Hand-
schriften in Kopenhagen und Hannover, die auf
der Recension des Walafrid Strabo beruhen;
aus ihnen habe ich die von diesem gemachte
Capiteleintheilung mit den dazu gehörigen Ueber-
schriften zum ersten Male mitgetheilt, wie die
Hrn. Bibliothekare Birket Smith und Bodemann
sie abzuschreiben die Güte gehabt haben. Ich
meine, es bat immer ein gewisses Interesse, die
Art und Weise, wie schon im 9. Jahrhundert
ein so namhafter Mann das Werk Einhards re-
digierte, zu kennen. Ich würde auch seine
Eintheilung der jetzt üblichen vorgezogen ha-
ben, wenn es nicht in die zahlreichen auf diese
bezüglichen Citate Verwirrung gebracht hätte.
Kur einmal bin ich um ein geringes von der-
selben abgewichen, wie in der Note bemerkt ist.
Endlich habe ich auch noch, wie einzelne
Einhardi Vita Karoli Magni rec. Waitz. 1353
Zusätze anderer Handschriften, die Glossen des
Steinfelder, jetzt im Brittischen Museum befind-
lichen Codex, die früher nur im Archiv gedruckt
waren, aufgenommen: da sie, wie der Codex,
wohl erst dem 12. Jahrhundert angehören, ha-
ben sie freilich geringen Werth. Auf die stark
abweichenden Lesarten, die Nuenars Text zu
gründe liegen, ist nur in einzelnen Fällen Rück-
sicht genommen.
Das Leben Einhards — diese Form behalte
ich mit Wattenbach bei, da wenigstens im Lateini-
schen Einhardus üblicher war als Einhartus — ,
das Pertz in der Einleitung ausführlich behan-
delt, ist seitdem vielfach Gegenstand eingehen-
der Darstellung und Erörterung gewesen: Ide-
ler, Teulet, 0. Abel, besonders Jaffe, Watten-
bach, Simson u. a. haben sich mit demselben
beschäftigt, ohne überall zu ganz gleichen Re-
sultaten zu gelangen. Darauf ist in Zusätzen
zu Pertz's Einleitung Rücksicht genommen,
auf die Frage aber nach dem Verhältnis Ein-
hards zu den großen Annalen an dieser Stelle
nicht eingegangen. Den erklärenden Anmerkun-
gen habe ich nur einiges beigefügt, was Jaffe
oder der Wiederholung seiner Ausgabe von
Wattenbach entlehnt ist, unter Beifüng ihrer
Namen.
Die auf Karls Geschichte bezüglichen Ge-
dichte, welche Pertz seit der zweiten Auflage bei-
gegeben, sind auch diesmal wiederholt, nur eini-
ges am Text zu bessern gesucht. Eine ein-
gehende Behandlung werden sie in Dümmlers
Sammlung der Earolingischen Gedichte, die in
naher Aussicht steht, finden.
Einen Druckfehler habe ich noch S. 26 Z. 14
bemerkt, wo 'Tantem* natürlich in 'Tandem'
zu berichtigen ist. G. Waitz.
1354 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 43.
1. Lex Sali ca mit der Mallobergiscben
Glosse nach den Handschriften von Toure-
Weißenburg-Wolfenbtittel und von Fulda-Augs-
burg-Münohen. Herausgegeben von Alfred Hol-
der. Leipzig. Druck und Verlag von B. G.
Teubner. 1879. IV u. 92 S. 8°.
2. Lex Salica emendata. Nach dem
Codex Vossianus Q 119. Herausgegeben von
Alfred Holder. Leipzig. Druck und Verlag
von B. G. Teubner. 1879. 63 S. 8°.
3. Lex Salica: The ten texts with the
Glosses and the Lex Emendata. Synoptically
edited by J. H. Hess els. With notes on
the frankish words in the lex Salica, by H.
Kern, Professor of Sanskrit in the University
of Leiden. London. John Murray. 1880. XLIV
a. 692 p. 4°.
Seit nahezu 40 Jahren stützt sich unsere Kennt-
niß des salischen Gesetzes wesentlich auf Par-
dessus' Loi Salique. Die früheren Ausgaben
sind durch dieselbe im Ganzen entbehrlich ge-
worden ; das erheblichste neue Material, welches
seitdem hinzugekommen, war der 1867 von
Hube publicierte Text der ehemals dem Collage
Clermont in Paris zugehörigen, dann v. Kel-
ler'sehen, jetzt in der Warschauer Centralbiblio-
thek befindlichen Hs. Die Bedeutung der Par-
d es su suchen Ausgabe ist seit ihrem Erscheinen
namentlich in Deutschland dankbar anerkannt
und nutzbar gemacht worden. Es mag in die-
ser Hinsicht nur daran erinnert werden, daß die
drei deutschen, auf Pardessus folgenden
Herausgeber: Waltz 1846, Merkel 1850 und
der Referent 1874, jeder einen eigenen Plan
und besondere Ziele verfolgend, doch alle drei
in der Hauptsache aus den Pardessus'schen Tex-
Nene Ausgaben der Lex Salica. 1355
ten geschöpft haben. Im Vorwort zur Anggabe
des Unterzeichneten wurde darauf hingewiesen,
daß möglicherweise durch die in den Monumenta
Germaniae zu erwartende Ausgabe neue Grund-
lagen der Textkritik beschafft werden würden.
Diese Erwartung hat sich bisher nicht bestä-
tigt ; dafür sind gegenwärtig von zwei verschie-
denen Seiten, und zwar merkwürdigerweise fast
gleichzeitig*), unserem Gesetz gewidmete Unter-
nehmungen ans Licht getreten, die eine voll-
ständig abgeschlossen, die andere erst im Be-
ginne befindlich. Wie erfreulich es auch ist,
daß dem ältesten und in vieler Hinsicht wich-
tigsten germanischen Stammesrecht so große Be-
mühungen zugewendet werden, so wird es doch
andererseits für diejenigen, die sich bisher auf
Pardessus verlassen haben, nicht minder tröst-
lich sein, aus den neuen Ausgaben die Ueber-
zeugung zu erlangen, daß die Textüberlieferung
desselben im Ganzen durchaus correct und ver-
läßlich ist. Dies schließt natürlich nicht aus,
daß eine erneute Handschriftenvergleichung nicht
nur Stoff zu mannichfachen Einzelberichtigungen
darbieten, sondern auch unsere Kenntniß über
Stellung und Beschaffenheit der verschiedenen
Texte erweitern und vertiefen kann.
In wie weit wir den obigen Ausgaben eine
Förderung nach der einen oder anderen Rich-
tung zu verdanken haben, ergiebt sich aus den
folgenden Bemerkungen über Plan und Einrich-
tung derselben.
Hesseis, ein in Cambridge lebender, wenn
wir nicht irren, bei der dortigen Universitäts-
bibliothek angestellter niederländischer Gelehr-
ter, richtet sein Augenmerk vorzugsweise auf
*) Die Holderschon Hefte sind kurz vor der Hessels-
Bchen Ausgabe erschienen.
1350 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 43.
die synoptische Form der Darstellung, die be-
kanntlich, nur auf viel unvollkommnerer Grund-
lage, schon von Laspeyres versucht worden
ist. Die Mittheilung des Gesetzes erfolgt bei
Hesseis in acht Spalten: zuerst die vier
Texte der ersten Familie (Pard. 1, Cod. Gnelf.
und Monac. und Pard. 2), dann der vermehrte
Text in 65 Titeln nach Pard. 3 mit Varianten
aus der , zweiten hieher gehörigen Hs., darauf
der Text in 99 Titeln*) mit Varianten aus fünf
Hss. darunter auch aus der von Hube bekannt
gemachten, sodann der Herold'scbe Text und
die Emendata, letztere ebenfalls nach der von
Pardessus zu Grunde gelegten. Hs. unter Bei-
fügung der von ihm mitgetheilten Lesarten.
Neu verglichen hat der Herausgeber hier zwei
St. Galler Hs. und wie es scheint, auch den
Leidener Codex Vossianus. Eine neunte Spalte
ist für Parallelstellen und kurze Bemerkungen
bestimmt. Hieran schließen sich die Balischen
Capitularien, die Extravaganten, die Pro- and
Epiloge und die Remissorien. Auch diese Be-
standteile werden, soweit die Hss. dazu Veran-
lassung bieten, synoptisch zusammengestellt. Der
Apparat, den Hesseis benutzt, ist demnach
mit geringen Erweiterungen derselbe wie bei
Pardessus und auch die Art der Benutzung
ist im Ganzen die gleiche. In den einzelnen
Textklassen werden dieselben Hss. zu Grunde
gelegt. Die Mittheilung der vollständig abge-
druckten Texte erfolgt genau nach dem Wort-
*) Es ist hier ein kleiner, den Ref. betreffender Irr-
thum zu berichtigen. Hesseis nennt als zu dieser Familie
gehörig Ms. Middlehill 1741, according to Behrend.
Es muß heißen according to Pardessus p. 114. Ich
selbst habe die Hs. nach Merkel als Middlehill 1786 be-
zeichnet.
Nene Aasgaben der Lex Salica. 1357
laut der betreffenden Hss., nur Interpunktionen
sind eingeschaltet und Abkürzungen aufgelöst,
letzteres wird durch Cursivdruck angedeutet
Auf Textkritik wird demnach verzichtet, die neue
Ausgabe will ebenso wie ihr französisches Vor-
bild nur Materialiensammlung sein« Nur aus-
nahmsweise wird, und zwar gewöhnlich in sol-
chen Fällen, wo dies auch schon von Par-
dessus geschehen ist, auf Irrthttmer des Schrei-
bers aufmerksam gemacht. Der Vorzug der
Hessels'schen Ausgabe vor der Pardessus-
schen besteht mitbin wesentlich darin, daß sie
es möglich macht, die verschiedenen Texte in
einem Blick zu überschauen. Daß sie auf einer
selbständigen sorgsam durchgeführten Handschrif-
tencollation beruht, kommt hierneben erst in
zweiter Linie in Betracht Jener zuerst erwähnte
Vorzug ist aber nicht gering zu veranschlagen
und wir dürfen es dem Herausgeber wie dem
Verleger zum Verdienst anrechnen, daß die ty-
pographischen Hindernisse einer derartigen Zu-
sammenfassung glücklich überwunden sind. Der
Druck ist klein aber scharf, wie denn überhaupt
die Ausstattung kaum etwas zu wünschen läßt
Hinsichtlich der Auswahl der Texte hätten wir aller-
dings den Wunsch gehabt, daß der Herausgeber
den Text in 99 Titeln in seinen beiden Gestal-
tungen, vollständig zur Darstellung gebracht
und sich für die letztere Form nicht auf die
bloße Angabe von Varianten beschränkt hätte.
Es sind dies zwar nur zwei Unterarten dersel-
ben Familie, allein sie repräsentieren einen,
wenn auch nicht dem Inhalt nach, so doch in
Bezug auf Fassung und Ausdruck so vielfach
von einander verschiedenen Text, daß ihre Ge-
genüberstellung mindestens ebenso berechtigt
gewesen sein würde wie die des Münchener
1358 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 43.
und des zweiten Pardessus'schen Textes. Baum
für die hierdurch erforderlich werdende neue
Spalte hätte sich finden lassen, wenn die Pa-
rallelstellen und sonstigen Bemerkungen als No-
ten unter den Text angebracht worden wären.
Auch Holder hatte, wie er in dem Vorwort
zu dem sub 1 genannten Hefte bemerkt, ursprüng-
lich die Absicht, eine synoptische Ausgabe des
Gesetzes zu veranstalten, hat aber später mit
Bücksicht auf die äußeren Schwierigkeiten einer
solchen hiervon Abstand genommen. Den jetzt
von ihm veröffentlichten Texten will er die in
Frankreich befindlichen Hss., d. h. die nicht die
Emendata enthaltenden (als Vertreter der letzte-
ren ist der Cod. Vossianus publiciert), und die
glossierte St. Galler Hs. anschließen. Demnächst
soll die Summe der Einzelausgaben in einer kriti-
schen Wiederherstellung des Grundtextes ge-
zogen werden. Die Hss. werden so wiederge-
geben, daß wir nicht nur einen wörtlichen Ab-
druck des in demselben enthaltenen Textes, son-
dern möglichst auch ein Bild der Hs. selbst
enthalten. „Kein Buchstab", sagt der Heraus-
geber, „ist im Abdruck verändert worden, ja
selbst die Interpunktion ist beibehalten, nur
sinnlose Wort- und Silbentrennungen glaubte
ich stillschweigend verbessern zu müssen. (Auch
dies ist indeß nicht immer geschehn. Ref.). Die
Compendien sind nach ihren Elementen aufge-
löst, diejenigen Fälle ausgenommen, wo ein
und dieselbe Wortform in derselben Hs. in ver-
schiedenen Gestalten vorkommt Was in der
Hs. ausradiert oder verwischt war, habe ich,
um den Satz nicbt zu erschweren, in runde
Klammern gesetzt, Verbesserungen zweiter Hand
durch Cursivdruck angedeutet". — Das Verfah-
ren, welches der Herausgeber hiernach in An-
Neue Ausgaben der Lex Salica. 1359
Wendung gebracht bat, führt zu einem Mittel-
ding zwischen Facsimilierung und Ausgabe der
Hs. Ueberall, wo in letzteren Verbesserungen
vorgenommen sind, wird sowohl der Ursprung»
liehe Wortlaut wie die Correctur mitgetheilt*).
Rasuren und leergebliebene Stellen der Vorlage
werden im Abdruck bezeichnet ; ein großer Theil
der Abbreviaturen ist unaufgelöst gelassen und
wird graphisch nachgebildet. Daß diese Art
der Reproduktion bei Texten, welche, wie dies
für die Hss. der lex Salica vielfach zutrifft, durch
die Barbarei und Nachlässigkeit der Schreiber
bis zur Unkenntlichkeit entstellt, aber dennoch
für die Textkritik von der größten Wichtigkeit
sind, eines gewissen Interesses nicht entbehrt,
liegt auf der Hand. Die Hol der 'sehen Aus-
gaben liefern den Beweis; daß sie auch nicht
ergebnißlos ist. Vergleicht man namentlich den
Abdruck des Codex Guelferb. bei Holder mit
der H es sei s' sehen Ausgabe, so ergiebt sich
eine ganze Anzahl wenn auch geringfügiger, so
doch nicht unbeachtenswerther Abweichungen,
wobei die Hol der 'sehe Mittheilung überall
die größere Glaubwürdigkeit in Anspruch neh-
men darf. Das Verzeichnis, welches Hesseis
(Introduction p. X, XI) von diesen Abweichun-
gen giebt, läßt sich noch erheblich vermehren.
Ebenso stellt sich heraus, daß die Auflösung der
Abbreviaturen bei Hesseis nicht immer unbe-
denklich ist. Trotz dieser Einzelergebnisse, die
in ähnlicher Weise, wenn auch nicht in dem-
*) Cursivlettern finde ich in dem sab 1 genannten
Hefte gar nicht, in dem sub 2 genannten nur selten ver-
wendet; dagegen werden sehr häufig Aenderungen des
ursprünglichen Textes durch kleinere Schrift zwischen den
Zeilen angedeutet. Das sind wohl, im Gegensatz zu den
späteren Correcturen, die vom Schreiber der Hs. selbst
herrührenden Verbesserungen.
1360 Gott gel. Anz. 1880. Stück 43.
selben Umfang für die Münchener und Leidener
Hss. zu gewinnen sind, ist indeß die Holder'-
sche Methode nicht zu billigen. Auch wenn
man eine wortgetreue unveränderte Wiedergabe
des handschriftlichen Textes vom Herausgeber
fordert, wird man doch an ihn mindestens die
Aufgabe stellen dürfen, daß er die Mühe und
Verantwortung für die Entzifferung selbst über-
nehme und nicht dem Leser anheimstelle. Diese
Verpflichtung findet allerdings an dem impossi-
bilium nulla obligatio ihre Grenze; Unmöglich-
keit der Entzifferung ist aber nicht schon da
anzunehmen, wo Zweifel übrig bleiben, weil
z. B. Abkürzungen in verschiedener Weise ge-
lesen werden können. Hier hat der Heraus-
geber nach gewissenhafter Ueberlegung, mög-
lichst im Sinne der Hs. die Entscheidung zu
treffen. Eine Reproduction der Hs. selbst ist
durch das von H. eingeschlagene Verfahren
doch nicht zu erreichen, dazu bedürfte es ande-
rer Mittel. Zu diesen allgemeinen Erwägungen
kommt noch die besondere Beschaffenheit der
Ueberlieferung bei unserem Rechtsdenkmal. Bei
vollständiger Durchführung des Planes, wie ihn
H. in seinem ersten Heft entwickelt hat, wür-
den wir einen Apparat erhalten, der selbst für
einen Fachmann nicht mehr zu bewältigen wäre
und höchstens für den von Nutzen sein würde,
der etwa selbst daran dächte, eine Ausgabe des
Gesetzes zu veranstalten.
Ungeachtet des Mißgriffes in der Anlage
ist , wie schon hervorgehoben , anzuerkennen,
daß die Publikation Holder's, soweit sie bis-
her erschienen ist, wissenschaftliche Ausbeute
gewährt. Sowohl in der Wiedergabe der Texte
wie in der Beschreibung und Charakteristik der
Hss. zeigt er sich als ein geschulter, äußerst
r
Neue Ausgaben der Lex Salica. 1361
sachkundiger Diplomatiker. Wir möchten uns
deshalb gestatten, den Wunsch auszusprechen,
daß er seinen Plan nicht ganz aufgeben, wohl
aber in modificierter Gestalt zur Ausführung
bringen möge. Eine unverkürzte Veröffentlichung
dürfte zur Zeit nur noch in Betreff derjenigen
Hss. erforderlich sein, die in der Hessels'schen
Ausgabe nicht genügend zur Geltung kommen.
- Ob und für welche Hss. ein derartiges Bedtirf-
niß vorhanden ist, läßt sich nicht von vorn
herein ermessen; am ersten möchte in dieser
Hinsicht die St. Galler Hs. in's Auge zu fas-
sen sein. Insofern eine solche Veröffentli-
chung erwünscht ist, möge uns der Herausgeber
eine genaue Wiedergabe des handschriftlichen
Textes zu Theil werden lassen, im Uebrigen
aber sich auf eine Nachlese zu den vorhande-
nen Ausgaben beschränken. Vor Allem aber
wünschen wir, daß er bald zu dem eigentlichen
Ziel seiner Arbeit, der Wiederherstellung des
Grundtextes gelangen möge. Seit Waitz, der
hierbei von nicht ausreichender Grundlage aus-
ging, ist ein derartiger Versuch nicht wieder
unternommen worden. Das Problem ist ebenso
schwierig wie anziehend und wir dürfen der
Lösung desselben durch Holder mit nicht ge-
ringer Erwartung entgegensehen.
Die Hess els' sehe Ausgabe enthält als eine
sehr werthvolle Zugabe eine ausführliche Erör-
terung Kern's über die fränkischen Wörter
der lex Salica, insbesondere über die Malbergi-
sche Glosse. Der ausgezeichnete Sprachforscher
hat bekanntlich bereits in einer 1869 erschienenen
Schrift die Reste fränkischer Sprache im sal. Ge-
setz zum Gegenstand seiner Untersuchung gemacht;
in dem vorliegenden Werk geht er, die früheren
Ergebnisse vervollständigend, zum Theil auch
86
1362 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 43.
erheblich von ihnen abweichend, nach der
Reihenfolge des Textes sowohl die latinisierten
germanischen Wörter wie die Glossen einzeln
durch, indem er sie in weiteren Zusammenhang
zu bringen und ihre Bedeutung festzustellen
sucht. Daß seine Erläuterungen nicht immer
ebenso überzeugend wie anregend sind, sondern
bisweilen einen etwas abenteuerlichen Eindruck
machen, ist natürlich. Wo es so sehr an der -
Handhabe für einen methodischen Angriff fehlt,
muß notwendigerweise die Phantasie einen
großen Tbeil der Arbeit auf sich nehmen; wie
bekannt, trifft dies auch für die Erklärungsver-
suche J. Grimm's in hohem Maaße zu. Wir
besitzen gegenwärtig für einen großen Theil
der fraglichen Wörter, namentlich wiederum
für die Malb. Glosse verschiedene, vielfach sehr
weit auseinander gehende Deutungen; eine
kurze Zusammenstellung derselben würde u. E.
ein sehr verdienstliches Unternehmen sein. Auf
Einzelheiten der neuesten Kern' sehen Erklä-
rungen einzugehen, ist hier nicht der Ort; in
Bezug auf die allgemeine Bedeutung der Malb.
Glosse neigt er sich der Auffassung zu, daß die-
selbe die Eeste eines altfränkischen, ebenfalls
bereits durch die Schrift vervielfältigten Ur-
textes darstelle und spricht die Vermuthung
aus, daß dieser Urtext selbst den Namen Mal-
berg (entsprechend dem Westgothischen Forum)
geführt habe. Wie sinnreich aber auch die
letztere Vermuthung ist, jene von Kern nicht
zum ersten Mal vertretene Auffassung ist kaum
wahrscheinlich; abgesehen von allem Anderen
spricht dagegen, daß uns von einem schriftlichen
aufgezeichneten fränkischen Text wohl andere
Ueberreste aufbehalten sein würden als verein-
zelte und zum Theil offenbar wenig bedeutende
Neue Ausgaben der Lex Salica. 1363
Wörter. Ebenso ist schwer anzunehmen, daß
wenn bereits in früherer Zeit eine fränkische
Schriftsprache existiert und zur Aufzeichnung
von Gesetzen gedient hätte, dieselbe später völ-
lig abhanden gekommen sein sollte. Zutreffen-
der ist es, wenn Kern auch dem ältesten latei-
nischen Text unseres Gesetzes nur eine origi-
nality of second order zuschreibt. Referent hat
an einem andern Ort die Ansicht vertheidigt,
daß schon bei der ersten Zusammenstellung der
lex Salica ältere Bestandtheile zu Grunde ge-
legt worden sind, so daß dieselbe mindestens
theilweise als eine Compilation erscheint. Ne-
ben schriftlich fixierten lateinischen Königsge-
setzen mögen hierbei auch durch mündliche
Ueberlieferung' fortgepflanzte Weisthümer in
germanischer Sprache benutzt worden sein. An-
haltspunkte für die Zeit, in welcher die Com-
pilation stattgefunden hat, ergeben sich aus den
Tit. 47 und 58.
Den Beschluß der Hess eis 'sehen Ausgabe
macht ein ausführliches sorgfältiges Glossar,
welches bei den Glossen und den von Kern
besprochenen Wörtern auf dessen Erläuterungen
verweist, die lateinischen, soweit nöthig, in eng-
lischer Sprache erklärt.
Greifswald, September 1880.
Behrend.
86
*
1364 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 43.
Geschichte der Vermessungen in
der Schweiz, als historische Einleitung zu
den Arbeiten der Schweizer geodätischen Com-
mission bearbeitet von Rudolf Wolf. Zürich,
Commission von S. Höhr. 1879. VI u. 320 S. 4°.
An der im Jahre 1861 von dem General-
lieutenant Dr. Baeyer in's Leben gerufenen
Europäischen Gradmessung hat die Schweiz
hervorragenden Antheil genommen; als Vorge-
schichte zu den theils bereits veröffentlichten,
theils demnächst zur Veröffentlichung kommen-
den Arbeiten der Schweizer geodätischen Com-
mission hat der durch zahlreiche historische Ar-
beiten bekannte Verfasser vorliegenden Band
veröffentlicht, und ein anschauliches und sorg-
fältig ausgeführtes Bild der Geschichte der
Schweizer Vermessungen von ihren ersten An-
fängen bis auf die neueste Zeit geliefert.
Für trigonometrische Vermessungen bietet
die Schweiz kein bequemes Feld. Wo die
höchsten Aussichtspunkte wegen ihrer schweren
Zugänglichkeit und allen Wechselfällen der
rauhen Witterung ausgesetzten Lage, die selbst
vielfach verhindert, auf die Dauer stabile Sig-
nale anzubringen, nur in vereinzelten günstigen
Fällen als Beobachtungsstationen benutzt wer-
den können, ist das Messen selbstverständlich
sehr erschwert, und so ist es denn gekommen,
daß bis in dieses Jahrhundert hinein nur die
weniger gebirgigen Gegenden im Westen und
Norden der Schweiz genauer vermessen und
hauptsächlich Verbindungen mit den französi-
schen Dreiecksnetzen erreicht waren, während
es verhältnißmäßig spät gelang, ein Dreiecks-
netz über die Alpen zu legen und dadurch eine
Wolf, Vermessungen in der Schweiz. 1365
Verbindung mit den Italienischen Dreiecken
herzustellen.
Der erste, welcher genauere Vermessungen
in der Schweiz ausführte, war Tralles. Der-
selbe maß im Jahre 1788 mit einer Ramsden'-
schen Stahlkette von 100 Fuß Länge, unter Be-
rücksichtigung von Temperatur, Unebenheiten
des Bodens u. s. w. zwei Grundlinien bei Thun,
und schloß hieran ein Dreiecksnetz, durch wel-
ches er die Lage der bedeutendsten Spitzen der
Berner Alpen bestimmte. Drei Jahre später
maßen Tralles und Hassler mit derselben Stahl-
kette eine Basis in der Nähe des Murtensees
(die Aarberger Basis). Es wurden daran einige
Dreiecke geschlossen, durch welche die Punkte
Chasseral, Hasenmatt, Bantiger, Dent de Beaume
bestimmt wurden. Eine erneute Messung der
Basis wurde von Tralles und Hassler im Jahre
1797 ausgeführt, und damit eine Triangulation
verbunden, welche sich vom Dent de Beaume
und Moleson bis zum Hohentwiel erstreckte.
Ungefähr während derselben Zeit vermaß Alter-
matt ein kleines über Solothurn gelegtes Drei-
ecksnetz.
Einige Jahre früher (1791 — 92) wurde von
Feer, der durch die mathematisch militärische
Gesellschaft in Zürich unterstützt wurde, eine
Basis auf dem Sihlfelde bei Zürich gemessen,
und damit einige Dreiecke verbunden, durch
welche einstweilen die Punkte Uetliberg, Geiß-
berg und die Kirchthtirme von Altstetten, Höngg
und Wipkingen bestimmt wurden. Die 10,000
Fuß lange Basis war mit unvollkommenen
Hülfsmitteln gemessen; die Bückmessung ergab
die Länge um 22 Fuß verschieden. Die Mes-
sung wurde 1793, dann 1794-97 mit voll-
1366 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 43.
kommneren Apparaten wiederholt, und die End-
punkte auf soliden Fundamenten festgelegt
Nach dem Einmärsche der Franzosen wur-
den neue Triangulationen ausgeführt. Oberst
Henry nahm 1803 ein Dreiecksnetz längs den
Jura in Angriff, welches sich auf eine Basis
bei Ensisheim stützte und im Jahre 1804 voll-
endet wurde; seine Messungen wurden 1818 —
24 von Oberst Coraboeuf durch eine neben-
laufende Kette controlliert, und die Resultate
beider Vermessungen von Puissant in der „Non-
velle description g6om6trique de la France.
Premiere partie. Paris 1832" publiciert und
verglichen, wobei sich die von Henry ermittel-
ten Winkel nicht gerade als mit großer Sorg-
falt gemessen herausstellten.
Zu erwähnen ist noch eine kleine von
Osterwald ausgeführte Triangulation zwischen
Anet und Yverdon, welche als Grundlage einer
Karte des Cantons Neuenburg dienen sollte.
Dieselbe wurde im Wesentlichen unter Tralles'
Leitung im Jahre 1801 ausgeführt.
Von ferneren Triangulationen sind zu nen-
nen eine von Feer im Jahre 1809 ausgeführte,
welche, von der Basis bei Zürich ausgehend,
sich bis zum Bodensee und dem Sentis erstreckte;
ferner eine von Trechsel unternommene Trian-
gulation, welche sich über den Canton Bern
erstreckte und sich an die Tralles'sche Basis
bei Aarberg anschloß, und eine zwei Jahre spä-
ter von Huber ausgeführte Vermessung des Can-
tons Basel, bei welcher als Basis eine der fran-
zösischen Dreiecksseiten benutzt wurde. Die
beiden letztgenannten, sowie das von Osterwald
in Neuenburg gemessene Dreiecksnetz wurden
von Pestalozzi im Jahre 1819 durch eine Ver-
Wolf, Vermessungen in der Schweiz. 1367
bindungstriangulation vereinigt. Endlich wurde
1821 der Canton Waadt von Pestalozzi vermes-
sen, wobei die der Trechsel'scben Triangulation
entnommene Seite Chasseral-Berra als Grund-
linie diente.
Somit war der westliche und nördliche Theil
der Schweiz vom Genfer bis zum Bodensee
durch ein fortlaufendes Netz verbunden, und es
befanden sich auf dem vermessenen Gebiete
zwei Grundlinien, die Aarberger und die Züri-
cher Basis, welche indessen unter sich kleine
Widersprüche zeigten, und auch wohl kaum mit
einer der Genauigkeit der Winkelmessungen
entsprechenden Schärfe gemessen waren.
Im Jahre 1825 wurde vom Auslande her ein
Anlaß zu einer genaueren Vermessung und der
Erweiterung des Schweizer Dreiecksnetzes ge-
geben. Es schrieb nämlich der Oberst Cam-
pana in Mailand an den Schweizer General-
quartiermeister Finsler, die Österreicher wünsch-
ten eine Verbindung ihrer Dreiecke mit den
französischen und bat um die Mitwirkung der
Schweizer Regierung. Zu diesem Zwecke war
es nöthig, in der Schweiz noch einige Ergän-
zungsarbeiten auszuführen und namentlich den
schwierigen Alpenübergang zu bewerkstelligen.
Die Ausführung dieses letztern Unternehmens
wurde dem Oberst Buchwalder übertragen.
Derselbe legte den Plan zu der Vermessung
an und führte einen Theil der bezüglichen Ar-
beiten in den Jahren 1826 — 31 aus. Die Ver-
bindung der Schweizer Dreiecksseite Rigi-Hörnli
mit der Oesterreicbischen Pizzo Forno Pizzo Me-
none geschah vermittelst der Punkte Scheye,
Sentis, Calanda, Scesaplana, Schwarzhorn, Cima
da Flix, Tambo und Pizzo Porcellizzo. Aus
den beiden letzten Punkten wurde der Pizzo
1368 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 43.
Menone und darauf das Dreieck Pizzo Menone-
Pizzo Forno-Tambo bestimmt.
Im Jabre 1832 tagte in Bern eine Commis-
sion Behufs der Besprechung der zur definitiven
Vollendung der trigonometrischen Vermessungen
notwendigen Maßregeln. Es wurde constatiert,
daß die Triangulation ihrem Abschlüsse nahe
sei, und nur noch wenige Dreiecke geschlossen
werden müßten, um den Anschluß an die aus-
ländischen Triangulationen in Vorarlberg und
der Lombardei zu bewerkstelligen und daß
noch der kleine Widerspruch in den Basis-
messungen von Aarberg und Zürich zu lösen
sei. Buchwalder wurde aufgefordert, die noch
fehlenden Dreiecke zu messen, und gleichzeitig
wurde beschlossen, Behufs einer Neumessung
. der Aarberger Basis einen Basisapparat, im We-
sentlichen nach dem Muster des von Schumacher
bei der Vermessung der Braaker Basis in Hol-
stein benutzten anfertigen zu lassen. Buchwal-
der bestieg 1832 in Folge des Commissionsbe-
schlu8ses den Sentis, ehe er aber noch die Mes-
sungen auf dieser Station beendigt hatte, wur-
den ihm bei einem heftigen Gewitter seine In-
strumente durch einen Blitzstrahl beschädigt,
sein Gehtilfe Pierre Gobat getödtet und er selbst
nicht unerheblich verletzt.
Im folgenden Jahre fand eine zweite Com-
missionssitzung statt, in welcher als Uebersicht
r des damaligen Bestandes der ausgeführten
Haupttriangulation ein 'Dreiecksnetz vorgelegt
wurde, welches sich vom Genfer bis zum Boden-
see erstreckte, in der Breite den größten Theil
der Schweiz umfaßte, und die Schweizer Drei-
ecke westwärts mit den Französischen, südwärts
mit den Oesterreichischen verband. Doch wa-
ren zur Herstellung der letzteren Verbindung
Wolf, Vermessungen in der Schweiz. 1369
noch einige Winkel zu messen, und die Aus-
führung dieser Schlußmessungen sowie die Be-
rechnung des gesammten Netzes wurde dem
Astronomen Eschmann übertragen.
Unterdessen war von dem Mechaniker Oeri
in Zürich ein neuer Basisapparat geliefert. Es
wurde zunächst, um die Brauchbarkeit des Ap-
parates zu prüfen und das Personal einzuüben,
im Frühjahr 1834 die Basis bei Zürich von
Neuem gemessen. Dagegen sollte die Aarberger
Basis zur eigentlichen Grundlinie der Schweizer
Triangulation dienen, und ihre Neumessung ge-
schah im Herbst 1834. Beide Messungen leitete
Escbmann.
Nachdem in diesem und den folgenden bei-
den Jahren die letzten noch fehlenden Winkel
von Eschmann unter mancherlei Schwierigkeiten
gemessen waren, wurde das gesammte Material
verarbeitet. Das Resultat zeigte eine durchaus
befriedigende Uebereinstimmung mit den von
General Campana für die Lombardei und Vor-
arlberg, und von General Pelet für Frankreich
ermittelten Dreiecksseiten, wie die folgende Zu-
sammenstellung ergiebt:
Anschluß Seiten.
Ausland.
Schweiz.
Diff.
Pizzo Forno-Pizzo Men one
Pizzo Menone-MonteLegnone
Komenberg-Frastenzersand
Fundelkopf-Fraßtenzei sand
Roemel-Faux d'Eneon
Chasseral-Faux d'Enson
Roemel-Chasseral
m
44572,77
21124,67
15985,23?
11957,95?
35997,22
26689,97
44159,55
m
44672,12 +
21124 64 +
15985,81
11959,94
35997,27
26689,80 +
44159,41 +
m
0,65
0,18
0,58?
1,99?
0,05
0,17
0,14
1370 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 43.
Die mit einem Fragezeichen bezeichneten
Werthe sind von Campana als nur provisorisch
bezeichnet worden.
Nachdem die Schweiz sich bereit erklärt
hatte, den Arbeiten der mitteleuropäischen (spä-
teren enropäischen) Gradmessung beizutreten,
wurde beschlossen, die Triangulation von Neuem
zu wiederholen, und wo möglich einen directeren
Uebergang über die Alpen zu bewerkstelligen.
In der That gelang esDenzler, in überraschend
einfacher Weise durch Hinzuziehung des Titlis
ein Netz über die Alpen zu legen. Die Be-
schreibung der neueren Messungen gehört in-
dessen nicht mehr zu der vom Verfasser be-
handelten Vorgeschichte der Schweizer Vermes-
sungen, und ist daher nur beiläufig berührt.
Außer der bisher in flüchtigen Zügen ange-
deuteten Geschichte der trigonometrischen Ver-
messungen bietet uns der Verfasser eine Ge-
schichte der topographischen Aufnah-
men und der Schweizer Karten, von den ersten
rohen Anfängen des löten Jahrhunderts an fortlau-
fend bis zu dem vortrefflichen noch nicht völlig
erschienenen topographischen Atlas der Schweiz
im Maaßstabe der Originalaufnahmen in 546
Blättern, welchem nach dem competenten Ur-
theile Petermann's kein anderes Land etwas
ähnlich Vollkommenes an die Seite zu setzen
hat. Mit der bekannten Ausführlichkeit des
quellenkundigen Verfassers sind die Lebensum-
stände derjenigen Topographen, welche Karten
eines Theils der Schweiz oder des ganzen Lan-
des gezeichnet, nebst Mittheilungen über Ge-
nauigkeit, Ausführung u. s. w. der Karten mit-
getheilt. Ebenfalls finden sich manche zum
Theil nicht uninteressante Mittheilungen über
Wolf, Vermessungen in der Schweiz. 1371
Profilansichten von Gebirgen, Panoramen nnd
ihre Verfertiger.
Höhenmessungen der Berge scheinen
zuerst am Anfange des vorigen Jahrhunderts
von Scheuchzer ausgeführt zu sein, und zwar
anfanglich auf trigonometrischem Wege, doch
führte dieser wegen der Kleinheit der gemesse-
nen Grundlinie zu keinem guten Resultate, und
es wurde daher der barometrische Weg für
zweckmäßiger gehalten. Scheuchzer maß 1709
die Höhe der Pfäfferser Felswand mit einer
Schnur, welche er von einem hervorragenden
Baum bis an den Taminabach herabgelassen
hatte, zu 119 Toisen, las oben und unten die
Barometerhöhe ab, und ermittelte sich daraus
eine Tafel für die barometrische Höhenmessung.
Besonders viele Höhenbestimmungen wurden
später von Deluc, Saussure und Eschmann an-
gestellt, und aus neuester Zeit ist namentlich zu
erwähnen eine Bestimmung der Höhe des Klosters
auf dem St. Bernhard durch Plantamour und Bur-
nier. Ein genaues Nivellement der Schweiz ist
in den Plan der Geodätischen Commission auf-
genommen, und die diesbezüglichen Arbeiten
nähern sich ihrem Abschluß.
Wie zu erwarten, ist der Geschichte der
Schweizer Sternwarten von dem Verfasser
ebenfalls gedacht. Namentlich haben die Stern-
warten zu Zürich, Genf und Neuenburg wesent-
liche Beiträge für die Geodäsie des Landes ge-
liefert durch Ausführung von Ortsbestimmungen
sowie in neuerer Zeit durch Pendelbeobachtun-
gen u. s. w. Dadurch, daß ihre gegenseitige
Lage trigonometrisch und astronomisch auf das
Genaueste ermittelt wurde, liefern sie für die
Ableitung der geographischen Positionen aller
1372 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 43.
übrigen Stationen des Schweizer Dreiecksnetzes
ein sicheres Fundament.
Kiel. C. F. W. Peters.
Meddelelser om Grönland, udgivne
af Commissionen for Ledelsen af de geologiske
og geographiske Undersögelser i Grönland. Forste
Hefte. Med 6 Tavler og 3 Kaart samt en Re-
sume des Communications sur le Grönland.
Kjöbenhavn. I Commission hos C. A. Reitzel.
Bianco Lunos Kgl. Hof-Bogtrykkeri. 1879.
195 S. 8°.
Freudig muß die gebildete Welt das Unter-
nehmen begrüßen, dessen erste Resultate in dem
vorliegenden Hefte mitgetheilt sind, und das
sich nichts Geringeres zum Ziele gesetzt hat
als die Erforschung Grönlands, eines Landes,
welches nicht nur an sich immer noch ein
Räthsel ist, sondern dessen Verhältnisse uns
auch die Schlüssel zu bieten versprechen zur
Lösung manch wichtigen, unser eignes Land
berührenden geologischen Problems. Das wis-
senschaftliche Interesse, und nicht Abenteuer-
oder Gewinnsucht, war auch bisher neben der
evangelischen Mission vorzugsweise die Trieb-
feder, welche entbehrungsfreudige und opfer-
bereite Männer zu längerem Aufenthalte in die-
ses unwirkliche Land lockte; die Zahl der
Forschungs-Resultate in Grönland ist denn Dank
der Arbeiten solcher Pioniere verhältnißmäßig
nicht so gering und insbesondere die Unter-
Meddelelser om Grönland. I. 1373
suchungen von Carl Ludwig Giesecke (1806 —
1813) und H. Rink (1848—1851) lüfteten etwas
den über Grönland rahenden Schleier. Aber
gerade die gewonnenen Resultate, wie sie in H.
Rink's „Grönland* (2 Bde., Kjöbenhavn 1857)
veröffentlicht sind, zeigten wie viel uns dort
noch verborgen ist und zu erforschen bleibt.
Man muß daher dem Herausgeber des vorliegen-
den Heftes, F. Johnstrup, Professor der Geolo-
gie und Mineralogie an der Universität zu Ko-
penhagen, ganz besonderen Dank wissen, daß
er den dänischen Reichstag und das Ministerium
für eine systematische Erforschung Grönlands
zu interessieren verstand; in der Erkenntniß,
daß es eine Ehrenpflicht des dänischen Staates
sei, die Erforschung eines dänischen Kronlandes
selbst zu unternehmen und nicht erst in lässi-
ger Ruhe zu erwarten, daß fremde Naturfor-
scher diese Mühe auf sich lüden, bot der Reichs-
tag die nöthigen Mittel, um in den Jahren
1876-1881 (und hoffentlich auch noch längere
Zeit) Untersuchungen in Grönland vornehmen
zu können. Die Oberleitung der Untersuchun-
gen wurde einer Commission tibertragen, be-
stehend aus Johnstrup, dem schon genannten
Grönlandforscher Rink und N. F. Ravn, welche
Commission den Plan der Untersuchungen auf-
stellte, den ausgesandten Expeditionen die In-
structionen ertheilt und die gewonnenen Resul-
tate veröffentlicht. Es ist also jetzt mit Sicher-
heit zu erwarten, daß alle betreffs der Durch-
forschung Grönlands gehegten Wünsche, soweit
solche Durchforschung menschenmöglich ist, in
Erfüllung gehen und diese Erwartung wird
ganz besonders gestärkt in Betracht der schon
gewonnenen Resultate, von denen in dem vor-
1374 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 43.
liegenden 1. Hefte der „Mittheilungen über
Grönland" berichtet ist. Bei diesen Forschun-
gen gewinnen nicht nur Geologie und Geo-
graphie, wie man nach dem Titel und Pro-
gramm erwarten sollte, sondern der Inhalt des
ersten ausgegebenen Heftes schon bietet auch
dem Botaniker (das demnächst und vor dem
2ten erscheinende 3te Heft wird sogar, wie
Herr Prof. Johnstrup so freundlich war dem
Ref. mündlich mitzutheilen, rein botanischen In-
halts sein), Zoologen, Archäologen, Anthropolo-
gen, Physiker und Meteorologen Bereicherung
seines Wissens.
Das vorliegende Heft zeigt schon in seiner
Ausstattung, daß es werthvollen Inhalt bergen
müsse, und neben 3 vorzüglichen Karten und
zahlreichen, dem Texte eingedruckten Holz-
schnitten finden wir 4 in Farbendruck ausge-
führte Gletscher Bilder, die in künstlerischer
Beziehung nichts zu wünschen übrig lassen (da-
bei ist der Preis spottbillig zu nennen : 4 Mark).
Das Heft enthält zunächst einen Bericht der
Commission an das Ministerium des Innern über
die Untersuchungen in den Jahren 1876 — 1878.
Darauf folgen Berichte von einer Expedition,
welche Premierlieutenant Jensen , der Natur-
forscher Kornerup und Architekt Groth im Som-
mer 1878 ausführten, um einerseits die Strecke
der Westküste zwischen 62° 25' und 64° 10'
n. Br. geographisch und geologisch aufzuneh-
men, andrerseits aber auch die dortigen Glet-
scherverhältnisse genau zu studieren. Zu letz-
term Zwecke haben diese heldenmüthigen Män-
ner eine 22tägige, erfolggekrönte Excursion über
das Innlandeis gemacht und muß man wirklich
die Energie, den Muth und die Umsicht sowohl
Meddelelser om Grönland. I. 1375
rers (Jensen) als auch der übrigen Ex-
mitglieder bewandern; and nicht bloß
>ndern auch der Wissenschaft darf man
nschen, daß sie heil und gesund zurück-
sind.
mitgetheilten Berichte sind folgende: im
indet sich die ganze Reise von Jensen
ben; über die dabei gewonnenen geolo-
Beobachtungen berichtet A. Kornerup,
3 gesammelten Pflanzen J. Lange, über
uriscbe Leben auf den ans dem Innen-
hervorragenden Berggipfeln A. Korne-
)t die astronomischen und meteorologi-
eobachtungen Jensen und über des Ver-
les Wetters in West-Grönland und über
rdlichen atlantischen Ocean vom 25. bis
1878 N. Hoffmeyer.
Schluß des Heftes bildet ein in franzö-
Sprache geschriebener zusammenfassen*
icht Johnstrup's über die Resultate der
ion ; für denselben werden diesem ausge-
ben Forscher vor Allen die des Dänischen
[igen dankbar sein, welchen der Inhalt
?tes auf diese Weise leichter zugänglich
t ist; doch verdient dieses Resume auch
Anerkennung, weil Johnstrup einen hi-
en Rückblick auf die früheren Forschun-
Grönland wirf! und ferner die geologi-
Resultate dieser Expedition von allge-
!n Standpunkten aus beleuchtet.
einem eingehenden Berichte über diese
te glaubt Referent zur Zeit absehen zu
und zwar einfach aus dem Grunde, weil
itersuchungen noch nicht abgeschlossen
Nur zwei Errungenschaften dieser Expe-
jeien hervorgehoben: Die Oberfläche des
1376 Gott. gel. Anz. 18<80. Stück 43.
Innenlandseises , über welche die Expedite]
ihren Weg nahm, zeigte im Gegensatz zu noifcj
grönländischen Beobachtungen, eine verhält
mäßig siarke Steigung landeinwärts (im Allj,
meinen 0°49', der Küste nahe sogar 2014')in»l
erreichte in 36 km Entfernung von der See eine
Höhe von 5000' (also die Meereshöhe der Schnee-
koppe im Riesengebirge) ; daselbst traten aus dem|
Eis-Oceane inselartig vereinzelte Berggipfel her-
vor („Jensens Nunatakker"), ein sprechender
weis dafür, daß sich auch das „Landu unter dei
Gletscherdecke zu bedeutender Höhe erhebt;
diese Berggipfel beherbergten eine verhältnil
mäßig reiche Flora, aber nur spärliche Fauna
solche Nunatakker liefern wahrscheinlich an siel
schon Schutt für in diesen Gegenden vorhanden*
Moränen, welche in Nunatakker-freien Strich«
der Grönländischen Eisdecke vermißt werdei
vorzugsweise aber veranlassen sie auch dei
Gletscher durch die in ihrer Umgebung kräftiget
Abtbauung, einen Theil seiner Grundmoräm
daselbst als Randmoräne zu lassen.
Den Dank für die bis jetzt schon unter Auf)
Wendung großer Kosten nicht nur, sondern auch]
unter Mühen, Entbehrungen und Gefabren errun<
genen Resultate dürfte man augenblicklich am1
Besten dadurch abstatten, daß man dem ganzen
Unternehmen und allen Theilhabern daran ein
herzliches „Glückauf" wünscht.
Ö. Lang.
Für die Redaction verantwortlich : E. Heimisch, Director d. GÖtt. gel. Anz.
Commissi oüß- Verlag der Dieterich 'sehen Verlags -BuchhaMdiwty.
Druck der DieiericK 'sehen Univ.- Buchdruckeiei (W. Fr. Kaesinerh
1377
Gö tti ng ische
elenrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der König]. Gesellschaft der Wissenschaften,
ück 44. 3. November 1880.
Inhalt: Itinera hiero solymitan a et descriptiones terrae
;tae bellis Sanctis anteriore, ed. T. Tobler et A. Molinier. Yon Vf.
ä. — Par Palimpsestorum Dublinensium: The Codex
riptns Dublinensis ot St. JUtthew's Gospel (Z), etc. By T. K. Ab-
. Von 0. «. GebhardL — V. Rye Bei, Gregorins Thanmatnrgns,
Leben und seine Schriften. Yon Fr. Baetkgtn.
eigenmächtiger Abdruck von Artikeln der Gott. gel. Ans. verboten s
Itinera hierosolymitana et descri-
ones terrae sanctae bellis sacris ante-
a et latina lingua exarata ediderunt Titus
bler et Augustus Molinier. Genevae
is J. G. Fick 1879. (LV. 418. 8°).
(Publications de la societe de l'orient latin,
ie geograpbique I. IL)
Als Titus Tobler im Jahre 1863 den Antoninus
•tyr einzeln herausgab, äußerte er den an-
jgentlichsten Wunsch, daß „wenigstens der
t aller das heilige Land betreffenden Be-
eibungen vom Bordeaux-Pilger bis auf die
uzzüge theilweise nach Handschriften ver-
ert im Original zusammengestellt und etwa
Einem Bande herausgegeben werde". Sieht
ab von den wenigen Palästina-Schriften
bezeichneten Zeitraums, welche in andern
87
1378 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 44.
Sprachen als der lateinischen abgefaßt sind, so
findet man jenen Wunsch buchstäblich in vor-
liegendem Buche erfüllt. Das befriedigende
Bewußtsein, dies ganz durch eigene Arbeit ge-
leistet zu haben, wäre Toblern beschieden ge-
wesen, wenn er nur ein Jahr länger gelebt
hätte. Von den 16 Stücken, aus welchen sich
die ganze Reihe der bieher gehörigen Schrift-
werke zusammensetzt, waren schon 6 gedruckt,
andere drei druckfertig, die Einleitungen da*u
wenigstens in deutscher Sprache vollendet, als
der Tod ihn abrief (21. Jan. 1877) und Auguste
Molinier in die Lücke eintreten mußte. Es war
für Tobler ein Leichtes gewesen, den Auftrag
der Societ6 de l'Orient latin zu übernehmen, da
Niemand auf diesem Gebiet mehr vorgearbeitet
hatte als gerade er. Hatte er doch in seinen
beiden Sammelwerken : Palaestinae descriptiones
ex saeculo IV, V et VI (S. Gallen 1869) und
Descriptiones terrae sanctae ex saec. VIII, IX,
XII et XV (Leipzig 1874), wozu noch die schon
erwähnte Einzelausgabe des Antoninup kommt,
sämmtliche Relationen von Palästina-Reisenden
der vorkreuzzüglichen Periode mit Ausnahme
des Arculfus unter Zuziehung handschriftlichen
Materials bereits kritisch herausgegeben und
durch erklärende Anmerkungen illustriert; auch
was sonst aus dieser Zeit an Tractaten über die
heiligen Stätten und an statistischen Uebersicb-
ten über die kirchliche Eintheilung des Landes
vorlag, war von ihm theilweise gleichfalls pu-
bliciert, jedenfalls aber im Laufe seiner Palä-
stina-Forschungen zur Kenntniß genommen und
verwerthet worden. Dem fleißigen Manne ge-
nügte die einfache Wiedergabe des Alten nicht;
der Fortschritt macht sich durchgängig bemerk*
lieh. Viele freilich werden die reichhaltigen
Itinera hierosolymitana. 1379
Anmerkungen der früheren Ausgaben vermissen,
n welchen Tobler eine ganz unvergleichliche
Fachkunde entfaltet hatte, oder werden sie den
knappen Einleitungen, die der vorliegende Band
►ietet, die inhaltreichen „Vorläufer zu den No-
entt vorziehen, wie sie Tobler in den Descri-
ttiones von 1869 und 1874 gegeben, aber wer
rollte mit der Soci6te de l'Orient latin rechten,
renn ihr Programm bloße Texte mit Varianten
:nd kurzgefaßte Einleitungen verlangte?
Die Correctheit der Texte ist ohne Frage
l der neuen Ausgabe bedeutend gefördert wor-
an. Schon Tobler suchte behufs genauerer
estetellang derselben den handschriftlichen Ap-
arat zu vermehren, aber der französische Ge-
ihrte, der in seine Nachfolge berufen wurde,
atwickelt nicht geringeren Eifer im Suchen von
odices, auch für materiell minder wichtige
tflcke, wo sich Tobler nicht selten mit der
Wiedergabe guter Drucke begnügt hatte, und
i gelang ihm deren ziemlich viele zu finden,
»gar an Orten, die seinem Vorgänger leichter
Teichbar gewesen wären. Ja mitten unter der
rbeit flößen ihm Handschriften zu, deren Va-
anten nur noch in Nachträgen oder am Fuß
;r Einleitungen untergebracht werden konnten.
ies ist allerdings für den Benutzer lästig und
weckt in ihm leicht den Eindruck, als ob auch
e gegenwärtigen Ausgaben noch nicht auf
tllständig beigebrachtem Handschriftenmaterial
hen and deshalb einen definitiven Text immer
>ch nicht bieten.
Die Reihe der hier in einem handlichen
tnde vereinigten Schriften, welche mit dem
nerar des Jerusalemfahrers aus Bordeaux (333)
ginnt, enthält nach dem Bisherigen in der
luptsache längst bekannte Pilgerberichte; ich
87*
1380 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 44.
zähle auf die Römerin PauJa (386. 404), den
Antoninus Martyr aus Piacenza (um 570) in
zwei Recensionen, deren kürzere sich durch kla-
rere Fassung und richtigere Nomenclatur gegen-
über der volleren auszeichnet, den französischen
Bischof Arculfus (um 670), den hl. Willibald,
Bischof von Eichstätt (723—726), nach den bei-
den ihm gewidmeten Lebensbeschreibungen!
endlich den nordfranzösischen Mönch Bernardus
(um 870, nicht 970, wie sonderbarer Weise alle
Handschriften haben). An ihrem Orte eingefügt
sind ältere Beschreibungen der hl. Orte, welche
nicht die Form des Reiseberichts tragen, aber
doch entweder auf Selbstanschauung basiert sind
oder neben anderem Zusammencompilierten mit-
unter Notizen aus dem Munde von Pilgern auf-
behalten haben. Bei dieser Classe von Palä-
stina-Schriften stoßen wir auf Neues, bisher
nicht Ediertes. Hiezu kann man schon den
Theodosius wenigstens theilweise rechnen.
Ich meine nicht sowohl den Originaltractat die-
ses sonst unbekannten Diacons oder Archidia-
cons — ihn hatte Tobler schon 1869 als Theo-
dori liber de situ terrae sanctae ediert (jetzt ist
durch bessere Handschriften Theodosius als Au-
torname festgestellt). So gut als neu ist viel-
mehr das kleinere Werk de situ terrae sanctae
secundum Theodosium, welches meist Excerpte
aus dem Vorigen enthält. Tobler hatte es ver-
nachlässigt, weil die darin herrschende Confu-
sion ihn anwiderte (s. seine Ausgabe des Tbeo-
dericus v. J. 1865 S. 244 ff. Palsestinae descri-
ptions p. 124); erst Molinier hat ihm die nö-
thige Aufmerksamkeit geschenkt und nach und
nach neun Handschriften zusammengebracht,
mit deren Hülfe besonders die Ortsnamen des
Theodosius richtiger wiedergegeben werden
Itinera hierosolymitana. 1381
können. Als vollkommene Novitäten dagegen
«grüßen wir zwei freilich nur je ein Blatt fül-
3nde Schriften : den ans einem Mailänder Codex
ezogenen Breviarius de Hierosolyma, eine dem
'heodosins verwandte und nm dieselbe Zeit
. h. vor der Mitte des sechsten Jahrhunderts
erfaßte Beschreibung der Gultusstätten inner-
ilb der hl. Stadt, und den in der Pariser Ar-
raalbibliothek entdeckten Tractat : Qualiter sita
it civitas Jerusalem. Ueber das Alter des letz-
ren wagt Molinier keine feste Ansicht zu
ißern, indem ebenso gewichtige Gründe für die
otstehungszeit um das Jahr 975 als für die zu
ifang des zwölften Jahrhunderts sprechen. Ich
aube, daß die erstere Zeitbestimmung geradezu
möglich ist, indem der Tractat die Kirche
ncta Maria Latina als bereits bestehend auf-
irt, welche doch sicher zwischen 1063 und
80 von den Amalfitanern gegründet wurde,
t mehr Recht wäre derselbe in die Zeit nach
m ersten Kreuzzug eingereiht worden.
DieSoci&e de TOrient latin eröffnet mit dem
'liegenden Band die geographische Abtheilung
er Publicationen. Mit der bekannten Eleganz
' typographischen Ausstattung hält auch in
sem Theile die Correctbeit des Drucks glei-
>n Schritt. Nur der Domcapitular Suttner
i Eich städt hat es sieb gefallen lassen mtis-
, daß sein Name (p. XLII) in „Süttuez" um-
taltet wurde.
Stuttgart. W. Heyd.
1382 Gott, gel. Anz. 1880. Stück 44.
Par Palimpsestorum Dublinengium. The
Codex Rescriptas Dublinensis of St.
Matthew 's Gospel (Z). First published by
Dr. Barrett in 1801. A new edition, revised
and augmented. Also, Fragments of the Book
of Isaiah, in the LXX. version, from an ancient
palimpsest, now first published. Together with
a newly discovered Fragment of the Codex Pa-
latums. By T. E. Abbott, B.D., Fellow of
Trinity College, and Professor of Biblical Greek
in the University of Dublin. With two Plates
of Facsimiles. Dublin : • Hodges , Foster and
Figgis. London: Longmans, Green, and Co.
1880. 2 Photogr., 23 SS, 39 Bl., 1 Facsim. 4°.
Die editio princeps des berühmten Dubliner
Matt hau 8 -Palimpsests (Z), welche im Jahre 1801
der ehrwürdige, aber, wenn anders der drasti-
schen Charakteristik in Sidebotham's Public
Characters (No. 297, mit der Unterschrift ,A
Queer Fellow at College') zu trauen ist, etwas
wunderliche Dr. John Barrett veranstaltete,
konnte dazumal ohne Frage als eine ganz re-
spectable Leistung gelten. Was ein Menschen-
alter später namentlich Lachmann daran aas-
zusetzen fand (Theol. Stud. u. Krit. 1830 S.
832), betraf nicht sowohl die im Gegentheil von
ihm gerühmte Nachbildung der Textfragmente
in Kupferstich, als vielmehr die ,ungelehrte Be-
handlung' derselben durch den Herausgeber.
Die Berechtigung dieses Vorwurfs zugegeben,
so konnte doch nur ein unbegreifliches Mißver-
ständniß den letzteren ausschließlich für die
Mängel der Publication verantwortlich machen
und dagegen alles Verdienst für den ,artifex'
in Anspruch nehmen, ,qui Dublinensem scri-
pturam e lituris curiose eruit et affabre depin-
Codex Rescriptus Dublinensis. 1383
xit' (Lachmann in der Praefatio zum Nov.
Teslam, Or. et Lat T. I p. XXIII sq.). Denn
abgesehen von der in der Sache selbst liegen-
den Unwahrscheinlichkeit dieses Hergangs, wird
derselbe durch eine ganz unzweideutige Aus-
lage Barrett's (Prolegom. p. 1) direct ausge-
schlossen.
Daß aber auch die Entzifferung der rescri-
»ierten Blätter selbst dem ersten Herausgeber
licht tiberall geglückt war, wies zuerst Tre-
bles nach. Im Jahre 1853 (so ist S. 12 Z. 21
tatt 1854 zu lesen) gelang es diesem um die
[ritik des neutestamentlichen Textes hochver-
ienten Gelehrten, nicht nur seinen Vorgänger
a Einzelheiten mehrfach zu berichtigen, son-
ern auch mit Hülfe chemischer Reagentien
>lche Stellen zu entziffern, auf deren Lesung
mer ganz verzichtet hatte. Und seiner Anre-
ung vornehmlich ist auch die Veranstaltung
iner neuen Ausgabe des Codex Dublin, zu
grdanken. Auf der Bibliothek des Trinity
ollege zu Dublin deponierte er ein Exemplar
38 Barrett'schen Werks, in welches er alle von
m gefundenen Verbesserungen und Zusätze
ngetragen hatte. Es schien nur nöthig, hier-
tch die noch vorhandenen Kupferplatten zu
»richtigen, und der Neudruck konnte vor sich
ihen (s. Account of the Printed Text of the
reek New Testament etc. By S. P. Tregelles.
»ndon 1854 p. 168). Indessen, als nach Ver-
ß von zwei Jahrzehnten das Werk wirklich
Angriff genommen wurde, ergab sich dem
mit betrauten Dubliner Professor T. E. Abbott
ld die Notwendigkeit, von dem nrsprtingli-
en Plane abzugehen und die ganze Hand-
irift aufs neue genau zu vergleichen. Es
Ute sich nämlich heraus, theils daß auch
1384 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 44.
Tregelles bisweilen geirrt, theils daß bei wie
derholtem sorgfältigen Bemühen die verbliche-
nen Schriftzüge doch in noch größerer Vollständig-
keit wiedererkannt werden konnten, als es bis-
her gelungen war*). ,If I have succeeded
beyond what could have been expected in
discovering letters and marks which escaped
Dr. Tregelles (over 400), it is because, being
resident in Trinity College, I was able litterally
„nocturna versare manu, versare diurna" this
important codex' — so äußert sich bescheiden
der Herausgeber (S. 13) und gewährt uns einen
noch deutlicheren Einblick in das mühselige
Geschäft, welchem er sich unterzogen, wenn er
hinzufügt: ,Xt has often beeil only after repea-
ted examination in different lights that the
existence of a mark or a letter has been placed
beyond all doubt'.
Treten wir, so orientiert, an die neue Aus-
gabe selbst heran, so geschieht es in der Er-
wartung, darin nun auch etwas völlig Neues
begrüßen zu dürfen. Es kann daher eine ge-
wisse Enttäuschung nicht ausbleiben, wenn wir
auf den ersten Blick gewahren, daß doch wie-
der die alten Kupferplatten benutzt worden
sind, und mancher wird dem Herausgeber hier-
aus einen ernsten Vorwurf machen. Denn die-
*) Das ist begreiflich, da Tregelles Dar karze Zeit,
Out. bis Anfang Nov. 1853, dem Codex widmen konnte
(Account p. 167). Wie aber zwischen dem von ihm in
Dublin deponierten Ms. und seinem 1868 veröffentlichten
Supplement to Dr. Barrett's Transcript of the Cod.
Dublin. Rescr. solche Verschiedenheiten haben zu Tage
treten können, wie sie Abbott S. 12 f. aufzählt, ist im
Hinblick auf die scrupulöse Gewissenhaftigkeit, durch
welche Tregelles' Arbeiten sich sonst auszeichnen, in
hohem Grade auffallend und befremdlich.
Codex Rescriptus Dublinensis. 1385
ses Mittelding zwischen Facsimile und Typen -
drnck ist in der That ganz ungeeignet, eine
richtige Vorstellung vom Original zu gewähren.
Mit Hülfe der beigegebenen Photographie kann
eder sich leicht davon überzeugen, daß nicht
iiir der Gesammtcharakter völlig verfehlt, son-
lern auch im Einzelnen oft gerade das, worauf
:s ankam, beharrlich verpfuscht ist. Das gilt
tamentlich von dem ganz eigenartigen A, wel-
bes man kaum wieder erkennt, ferner von
f A M, und nur in etwas geringerem Grade
ucb von E K Y X 42. Den Namen Facsimile
erdient also diese mißlungene Nachbildung ge-
iß nicht. Erwägt man aber die eigentbtim-
chen Schwierigkeiten, mit welchen eine der-
rtige Publication verbunden ist, so wird man
e Beibehaltung der alten Platten wenigstens
iter der Voraussetzung entschuldbar und er-
ärlich finden, daß der Herausgeber nur die
ahl hatte zwischen jenen und einem Ab-
uck mit gewöhnlichen Typen. Entschloß er
5h nämlich zu letzterem, so mußte er auf eine
irstellung der Raumverhältnisse des Originals
n vornherein verzichten. Und doch kam ge-
de im vorliegenden Falle hierauf viel an.
tr wenn jedem Buchstaben genau die Stelle
gewiesen wurde, welche er im Original ein-
nmt, — und die Berichtigung der editio
nceps in dieser Hinsicht bat der Herausgeber
h augenscheinlich angelegen sein lassen, —
p dann vermögen auch diejenigen, welchen
• Codex selbst nicht zugänglich ist, mit eini-
• Sicherheit die zahlreichen Lücken zu er-
izen, welche bald zu Anfang, bald am
iluß, bin und wieder auch inmitten der Zei-
auftreten. Ob dieses Geschäft nicht da-
ch hätte erleichtert werden können, daß
1386 Gott, gel. Anz. 1880. Stück 44.
nicht nur, wie in der ersten Ausgabe, die wirk-
lich gelesenen Bachstaben nnd Bachstabentheile
zur Darstellung gebracht, sondern auch ur-
sprünglich beschriebenes Pergament von unbe-
schriebenem, erhaltenes von zerstörtem unter-
schieden und gegebenen Falls angedeutet wurde,
auf wie viele Buchstaben die vorhandenen Spu-
ren oder der verfügbare Baum etwa (schließen
lassen, — darüber wollen wir mit dem Seraus-
geber nicht rechten. Was wir aber lebhaft
vermissen, das ist eine genaue Abgrenzung der
Fragmente in der Form, in welcher sie gegen-
wärtig vorliegen. Von der traurigen Verfas-
sung, in welche unglaublicher Unverstand diese
werthvolle Urkunde des neutestamentlichen Tex-
tes gebracht hat, gewinnt man zwar im allge-
meinen aus der S. 4 f. gegebenen Beschreibung
ein deutlicheres Bild als es auf Grund der dürf-
tigen Angaben Barrett's möglich war. Man er-
fährt auch (S. 5 f.), was schon Tregelles erkannt
hatte, daß nach Barrett's Zeit der Codex
neu gebunden nnd bei dieser Gelegenheit ohne
jede Rücksicht auf die alte Schrift beschnitten
worden ist; ,and thus many words and parts of
words read by Dr. Barrett are now gone irre-
coverably'. Forscht man aber danach, an wel-
chen Stellen das Manuscript in so barbarischer
Weise beschädigt worden ist, so bleibt uns der
Herausgeber die Antwort schuldig. Nur gele-
gentlieh (S. 15) erfährt man, daß die letzte
Zeile auf Taf. XIX, welche in der neuen Aus-
gabe ebenso figuriert wie in der Barrett'schen,
,has been cut away since his time', und wenn
man den Text der LXII. Tafel mit der diese
Seite wiedergebenden Photographie vergleicht,
so gewahrt man dort von Zeile 7 an zu Anfang
der Zeilen bald halbe, bald ganze Buchstaben,
Codex Rescriptns Dublinensis. 1387
welche offenbar dasselbe Schicksal gehabt ha-
ben. Auf diese beiden Fälle aber beschränkt
sieh die Verstümmelung sicher nicht; und wenn
sie auch vielleicht sonst nirgends so erheblich
ist wie von dem der XIX. Tafel entsprechenden
Blatt berichtet, so wird man doch ein Gefühl
der Unsicherheit nicht los. Je zweifelloser es
igt, daft Barrett nicht tiberall richtig gelesen
hat, desto näher lag es, deutlich zwischen dem-
jenigen zu unterscheiden, was nur von ihm
allein, und demjenigen, was auch von dem
neuen Heransgeber bezeugt wird. Durch ab*
reichenden Druck des jetzt nicht mehr Vorhan-
lenen wäre eine solche Unterscheidung auch
nit Benutzung der alten Platten leicht zu ver-
einigen gewesen«
Diese Ausstellung hindert uns natürlich nicht,
ten erfolgreichen Bemühungen des Herausgebers
im Entzifferung des Codex Dublin, volle Aner-
:ennung zu zollen. Einer Zusammenstellung
er gefundenen Berichtigungen sowie der nun
um ersten mal eruierten Lesarten begegnen wir
. 13 ff. Die merkwürdigste unter den letzteren
ndet sich Taf. L Z. 4 f., wo Barrett nur svmus
ud, zu Anfang der folgenden Zeile, icyqacfaia
elesen hatte. Alle sonst bekannten Handschrif-
n bieten an dieser Stelle (Matth. 21, 42) ein-
,cb sv tatg YQaifaH;, und es war nicht leicht
t sagen, was im Codex Dublin, dagestanden
it. Barrett bemerkte zwar: ,Post iv täte oc-
rrit in X (so nannte er die später allgemein
it Z bezeichnete Hs.), quod non legi potuit;
d scriptum fuisse videtur vel ayla$g vel fy*rf-
>cr*£' (sie). Tregelles aber vermochte weder
) eine noch die andere Lesart zu verificieren
d blieb schwankend zwischen */"**$ und ditto-
iphiertem n»*?. Durch die Raumverhältnisse
1388 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 44.
aber ißt ohne allen Zweifel das eine so gut wie
das andere ausgeschlossen, und da Abbott nach
t»K noch vfis lesen konnte, so wird man sich
bei dem allerdings auffallenden, aber in seiner
Entstehung aus Joh. 8, 17 (*«• iv td> vopw de
zw vfjteviQm) erklärlichen vfitrsQcug zu beruhigen
haben. Es stand nämlich ursprünglich am Schluß
der vierten Zeile evmMSvptTs, was bei der gro-
ßen Ungleichheit der Zeilenlängen sehr wohl
anzunehmen ist, und zu Anfang der fünften
Zeile vor aifyQacpmo noch ein q, das mit dem
Rande weggeschnitten ist.
Die vier ebenfalls rescribierten Blätter mit
Fragmenten des Jesaias, welche in der Ausgabe
acht Seiten füllen (30, 2—31, 7 und 36, 17—
38, 1), hatte schon Barrett in demselben Codex
entdeckt, aber nicht veröffentlicht. Holmes und
Parsons benutzten eine Collation (citiert als Cod.
VIII), die aber auf Vollständigkeit keinen An-
spruch machen kann. Der vorliegende, die alte
Schrift möglichst genau nachbildende Abdruck
alles desjenigen, was entziffert werden konnte,
wird daher von denen, die es angeht, nicht
übersehen werden dürfen. Das Verhältnis die-
ser mit Cod. Z mindestens gleichaltrigen Frag-
mente zu Vat, Sin. und Alex, wird S. 20 — 22
in Parallelcolumnen veranschaulicht.
Den Schluß des Bandes bildet ein wie es
scheint wohl gelungenes farbiges Facsimile eines
im Jahre 1847 nach Dublin verschlagenen Frag-
ments des berühmten Wiener Italacodex, welchen
in demselben Jahre Tischendorf unter dem Na-
men Evangelium Palatinum veröffentlichte. Es
ist ein einzelnes Blatt, welches Matth. 13, 13
da einsetzt, wo der Text bei Tischendorf ab-
bricht, und von letzterem, nach einer kleinen
Lücke, ebendaselbst v. 24 abgelöst wird. Diese,
Ryssel, Gregorius Thaumaturgus. 1389
die Zugehörigkeit zara Codex Palatinns über
jeden Zweifel erbebende Wahrnehmung bot sich
dem Heraasgeber unabhängig von Herrn T. Gra-
ves Law dar, welcher in der Academy vom
1. März 1879 zuerst darauf aufmerksam gemacht
hatte. 0. v. Gebhardt.
Gregorius Thaumaturgus, sein Leben
md seine Schriften nebst Uebersetzung zweier
)isher unbekannter Schriften Gregors aus dem
Syrischen von Lie. Dr. Victor Ryssel, Do-
;ent an der Universität Leipzig. Leipzig, Ver-
ag von L. Fernau. 1880. 160 S. 8°.
Je seltener sich in unseren Tagen Philolo-
en mit theologischen Fragen befassen und je
äufiger die Theologie philologische Bestreb un-
en auf ihrem Gebiet für nutzlosen und gele-
entlich auch langweiligen Sport ansieht, desto
eudiger ist jedesmal das Erscheinen eines
Werkes zu begrüßen, dessen Verfasser das Inter»
jse für beide Disciplinen in sich vereinigt. Die
3uste oben angezeigte Veröffentlichung des
errn Dr. Ryssel zeigt einmal wieder, welche
ereicherungen der Theologie mit Hülfe der
lilologie zugeführt werden können. Der lu-
llt dieses Werkes ist im Wesentlichen das Re-
itet eingehender Studien auf dem Gebiet der
riseben Literatur. Es ist noch nicht möglich,
it vollkommener Sicherheit über den Werth
3ser Literatur zu urtheilen, da man trotz der
träglichen Anzahl von Bänden im Verhältniß
dem was einst vorhanden war doch nur
ucbßtücke kennt, die zum größten Theii einem
1390 GOtt. gel. Anz. 1880. Stück 44.
einzigen Kloster entstammen. In Städten wie
Karput, Mardin und Mossnl sind nachweisbar
noch Bibliotheken mit wahrscheinlich sehr werth-
vollen Werken vorbanden. Originalwerke über
die Religion der Sabier, auf deren reichen und
interessanten Inhalt man aus den kurzen Ueber-
sichten Barhebräyä's schließen kann, existierten
sicher noch gegen Ende des dreizehnten Jahr-
hunderts; daß von den Werken Theodors von
Mopsueste viel mehr als die veröffentlichten
Fragmente noch jetzt in syrischen Klöstern vor-
handen ist, darf man als sicher voraussetzen.
Aber solche Schätze wollen noch gehoben sein
— wenn sie dem Zahn der Zeit und der Zer-
störungswuth so lange Widerstand leisten, bis
es möglich sein wird, sie zu bergen.
Die bis jetzt bekannten Werke befinden sich
in den Sammlungen von Born, London (Oxford,
Cambridge) und Paris, wozu die kleine Berliner
Collection kommt. Soweit man aus diesen
Sammlungen über die syrische Literatur urthei-
len kann, besteht der Werth derselben zum
großen Theil darin, daß sonst verloren gegan-
gene Werke anderer Literaturen in ihr aufbe-
wahrt sind, oder daß die zum Theil auch in
sehr alten Handschriften erhaltenen Ueber-
setzungen griechischer Bücher Texteszeugen für
eine Zeitepoche sind, aus der in der griechischen
Literatur nur wenig Manuscripte zur Verfügung
stehen. Selbständige Productivität war den Syrern,
wie es scheint, nur in geringem Maaße gegeben,
aber sie fühlten einen außerordentlich energi-
schen Drang, sich die geistigen Errungenschaf-
ten anderer Völker, vor allen der Griechen, an-
zueignen. Später wurden sie Nachahmer der
Araber; aber die Araber selbst. haben durch
Vermittlung der Syrer griechische Bildung em-
Ryssel, Gregorius Thaumaturgus. 1391
pfangen, die sie dann freilieb selbständiger und
origineller als ihre unmittelbaren Lehrmeister
verarbeitet haben.
Jene Uebersetznngen der Syrer ans dem
Griechischen umfaßten das gesammte Wissens-
gebiet, die kirchliche Literatur wie die pro-
ane; selbst Homer spraeh in Edessa syrisch,
Lber die kirchliche Literatur war wohl von An-
ang an die weit umfangreichere und jedenfalls
berragt sie in den erhaltenen Resten die pro-
ine bei weitem. — Ein Stück aus dieser bei
en Syrern aufbewahrten kirchlichen Literatur
ildet den Hittelpunkt der oben genannten
chrift des Herrn Ryssel: er hat zwei durch
e Lagarde in seinen Analecta Syriaca 1858
lerst veröffentlichte und bis dahin unbekannte
ßhriften Gregors durch eine Uebersetzung auch
riehen Kreisen zugänglich gemacht, denen sie
Folge ihrer Unbekanntschaft mit dem Syri-
hen fremd geblieben waren. An diesen Mit-
Ipnnkt hat sich nun aber in Folge sorgfältiger
•beit ein reiches Material angesetzt, welches
•rrn Ryssel vollkommen berechtigte, seiner
onographie den umfassenden Titel „Gregor ins
laumaturgus, sein Leben und seine Werkea
geben. Allerdings bemerkt der Verfasser mit
icht, daft das vorhandene Material unzurei*
end ist, um eine Biographie zu schreiben, da
abgesehen von den Schriften Gregors, in
er Reihe farbloser chronologischer Daten be-
bt and die Lebensbeschreibung Gregors durch
l Nyssener keinen historischen Werth hat;
ein eben jene Daten sind von Herrn Ryssel
; großer Sorgfalt zusammengestellt, und, was
rthvoller ist, von der kirchlichen Wirksam-
t und schriftstellerischen Thätigkeit Gregors
d mit sorgfältiger Benutzung des Vorhände-
1392 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 44.
nen Materials and sehr anzuerkennender Bele-
senheit ein anschauliches Bild entworfen.
In einer Einleitung handelt der Verf. von
Gregors Bedeutung für die Kirche und die
christliche Wissenschaft seiner Zeit Im An-
schluß an die oratio panegyrica in Origenem
wird hier zunächst ein Bild von dem Entwicke-
lungsgange Gregors unter der Leitung des Ori-
genes bis zur Bückkehr nach Cappadocien ent-
worfen; sodann bietet die epistola canonica
einen Einblick in das maaß- und taktvolle Wir-
ken des Kirchenvaters, welches er als Bischof
unter schwierigen Verhältnissen bethätigte. Mit
Recht findet Herr Ryssel in der kühnen und
starken und doch milden und gewinnenden kirch-
lichen Wirksamkeit Gregors seine eigentliche
Bedeutung , während seine schriftstellerische
Thätigkeit, im Alterthum überschätzt, gegen
diese Tugenden in den Hintergrund trat Die
kurze Charakteristik des edlen Kirchenfürsten
S. 5 f., welche liebende Hingabe an den Gegen-
stand in Verbindung mit kritischem Blick über-
all durchschimmern läßt, ist außerordentlich an-
ziehend geschrieben.
Es folgen drei Excurse. Der erste giebt
einen chronologischen Abriß des Lebens Gre-
gors. Die wenigen überlieferten Daten werden
hier zusammengestellt und auf ihre Glaubwür-
digkeit hin geprüft, die Geburt mit ziemlicher
Sicherheit kurz vor 210, der Tod um 270 an
gesetzt. Die Erwählung zum Bischof setzt R.
in das Jahr 240, während Gieseler, Hase u. A.
244 annehmen.
Der zweite Excurs handelt von Gregor dein
Wunderthäter in der kirchlichen Literatur. Von
den hier angeführten patristischen Zeugnissen
hätten doch die im Anhang S. 59 ff. erwähnten
Ryssel, Gregorius Thaumaturgus. 1393
nicht getrennt werden sollen, zumal da Herr
Ryssel nicht ambin kann auf die im Anhange
behandelte Biographie Gregors durch den
Ny ssener schon S. 21 einzugehen, and ander-
seits consequenter Weise die S. 22 erwähnte
syrische Lebensbeschreibung des Wunderthäters
mit demselben Rechte in den Anhang hätte ver-
wiesen werden können. Durch diese allzusehr
vorherrschende Schematisierung hat das Bach
einen etwas tabellarischen Charakter erhalten,
der sich bei der Sprödigkeit des Stoffes nicht
ganz vermeiden ließ, aber doch wohl ein wenig
hätte gemildert werden können.
Excurs III giebt eine Uebersicht über die
Schriften Gregors, ihren Inhalt und ihre Echt*
heit. Zuerst sind die Gesammtausgaben ange-
führt, dann bei jeder einzelnen Schrift wieder
die Stelle, wo sie in den Gesammtausgaben ab-
gedruckt ist, sowie die Einzelausgaben. So-
weit ich nach dem Material der hiesigen Biblio-
thek urtheilen kann*) sind die hier gemachten
Angaben sehr sorgfältig und erschöpfend. Zu
S. 36 ist zu bemerken, daß auch die Homilia
in sancta theophania sich in den Werken des
Chrysostomus findet. (Chrysostomi opp. ex rec.
A. Savilii T. 7 p. 657—661. Altonae 1612.
fol.). — Der Uebersicht über die Ausgaben
schließt sich bei jeder einzelnen Schrift ein Ab-
riß des Inhaltes an, worauf endlich die Frage
der Echtheit erörtert wird. Die einzelnen
Schriften werden nach bekanntem Schema in
echte, angezweifelte und unechte eingetheilt.
*) Ein griechischer Text der Metaphrase zum Pre-
diger z. B. existiert auf hiesiger Bibliothek nicht. Der
Königlichen Bibliothek zu U Ott in gen, weiche mir bereit-
willigst die Pariser Ausgabe zur Verfügung stellte, spreche
ich auch hier meinen ganz ergebenen Dank aus.
88
1394 Gott gel. Adz. 1880. Stück 44.
Bei der Inhaltsübersicht der Metaphrase zum
Prediger Salomo S. 28 bemerkt Herr Rysael:
„Die Metaphrase Gregors ist eine gedrängte
freie Uebersetzang des Predigers Salomonis,
welche nicht viel mehr Baum beansprucht als
der hebräische Text selber. Da sie von vorn
herein keine wortgetreue Uebersetzung des Ur-
textes sein will, so schließt sie sich aufs engste
an den Text der Septuaginta an" u. s. w. Hr.
Ryssel scheint demnach anzunehmen, daß Gre-
gor bei seiner Bearbeitung den hebräischen
Text in irgendeiner Weise mit herangezogen
habe. Diese Annahme überraschte mich. Kennt-
nisse des Hebräischen wären allerdings bei
einem Schüler des Origenes sehr wohl annehm-
har, und die Metaphrase würde, falls Gregor
wirklich den Urtext wenn auch nur spärlich
berücksichtigt hätte, bedeutend an Interesse ge-
winnen. Ich habe mich jedoch überzeugt, daß
lediglich der Text der Septuaginta zu Grunde
gelegt ist, und vielleicht hat sich Herr Eyssel
selbst nur ungenau ausgedrückt. Gregor folgt
den Abweichungen der LXX vom masoretischen
Text durchgängig; eine Uebereinstimmung mit
letzterem gegen LXX ist nirgends nachweisbar,
und wenn er sich hin und wieder etwas weiter
vom griechischen Text entfernt, so beruht dies
darauf, daß die Uebersetzung des Predigers bei
LXX eine so sclavische ist, daß der Context oft
genug gradezu unverständlich geworden ist.
Zum Beweise mag dienen, daß das Accusativ-
zeichen ntt sehr häufig wie bei Aquila durch
ovv c. acc. (oder gen.) wiedergegeben wird, vgl.
2, 17. 3, 10. 17. 4, 3. 7, 27. 29. 8, 8. 15.
17. 9, 15. 10, 7. 12, 9. Die Verbindung
bD na demnach aipnavta vgl. 4, 4. 8, 9. 17.
9, 1 (bis). 11. 10, 5. 12, 14. Natürlich mußte
Ryssel, Greg on us Thanmaturgus. 1395
dies und Aehnliches in einer Metaphrase, die
das Buch verständlich machen wollte, wegfallen;
dagegen sind die Abweichungen der LXX vom
Urtext auch in der Umschreibung fast immer
noch erkennbar. Zum Beweise führe ich fol-
gende Stellen an. 1, 17. Die Worte xal edcoxa
xaqdiav pov %ov yvwreu üoifiav xal yvwow, wel-
che nach dem Zeugniß des hexaplarischen Sy-
rers von Origenes unter Asteriscus eingefügt
wurden, fehlen bei Gregor. — ibid. für mbbin
hat Gregor wie LXX na^aßokdg. — 1, 18 «*n
o*s] LXX nly&og yvoooeoog, wofür Schleusner
xax(M><J€o>$ vermuthet; aber schon Gregor um-
schreibt (aij^v . . . aoifia (ktv) yviatov §nsa&a$.
— 2,2 bbirra] LXXneQKfoqdv, Gregor (yilmva)
slxfj <p€QO(Mvov. — 2, 15 Ende haben LXX den
Zusatz drin o ä(pQOV ix nsQiGGevfjuxiog XaltX,
welcher sich in Umschreibung ebenfalls bei Gre-
gor findet. — 7, 7 nann] LXX tiysvtiag avtov;
Godd. Ill 161. 248. al evioviag atnov ; die erste
Lesart bezeugt Gregor: trjv ysvvaiav svozaow
%&v äya&mv. — 7, 18 nan btt] LXX pij fuaVgs
(«Jf %*lQ(i aov); vgl. Gregor: %**(>* dräyvqh —
8, la ziehen LXX und Gregor zu 7, 29. — 8,
lb »a???] LXX luafffrijottcu; Gregor ploovg . . .
afyov • . . ilsyiet. — 8, 3 bnan b«J ziehen
LXX und Gregor zu v 2. — 9, 2 bsn] LXX
(Aatariitjg (= b^Ji); Gregor: paxawnovetv icfai-
veto (beide ziehen dies zu v. 1). — 11, 10
nnniin] LXX und Gregor äroia. — Aus die-
sen Beispielen ergiebt sich zugleich, daß die
Metaphrase für die Kritik der Septuaginta
nicht unwichtig ist, zumal da Gregor ein nicht
emendiertes Exemplar benutzte.
Hin und wieder weicht Gregor nun freilich
von seiner Vorlage bedeutender ab, setzt hinzu
oder kürzt, vgl. 8, 10. 9, 1. 10, 10; an allen
88*
1396 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 44.
solchen Stellen weicht er aber ebensosehr vom
masoretischen Text wie von dem der Septua-
ginta ab. Auf eine Benutzung des Hebräers
könnten, so viel ich sehe, nur zwei Stellen fäh-
ren. 5, 16 haben LXX für b^ar *«* iv nivfai
= baen (so lies); in dem entsprechenden Ab-
schnitte bei Gregor finden sich die Worte *atu-
vaXwoac, top eccvtov ßlov9 welche auf bser hin-
zudeuten scheinen; allein da sich bald darauf
bei ihm die den LXX entsprechenden Worte
finden : öxötog p£v dav xw toiovm ai fjpäocuj niv-
# o g di t) f«iy, so geht jenes xatapaXoiaag viel-
mehr auf q>ayetv der LXX v. 17, und Gregor
hat v. 16 u. 17 in seiner Bearbeitung umge-
stellt oder in seiner Vorlage umgestellt vorge-
funden. — Die zweite Stelle, welche auf Be-
nutzung des Hebräers führen könnte, ist 12, 9.
Hier haben LXX für ösn n« gv» tov avbqto-
nov, Gregor tov Xabv tovtov. Der Schein di-
recter Uebersetzung aus dem Hebräischen
schwindet jedoch, wenn man sieht, daß Codd.
23. 253. wirklich civ tov Xaöv lesen. Da sich
andere Beispiele von Berührungen mit dem He-
bräer gegen LXX schwerlich werden beibringen
lassen, so ergiebt sich, daß die Metaphrase Gre-
gors nicht nur keine „wortgetreue Uebersetzung",
sondern überhaupt keine Uebersetzung ist, ja
daß Gregor, wenn er überhaupt Hebräisch ver-
stand, doch den Hebräischen Text gar nicht an-
gesehen hat, da er sonst einige offenbare Miß-
verständnisse der Septuaginta beseitigt haben
würde.
Den Schluß des dritten Excurses bilden aus
verschiedenen Quellen gesammelte Fragmente.
Bei vier kleineren Stücken, die bei de Lagarde
Analecta pag. 64 veröffentlicht sind und der
Ueberschrift nach einer sonst unbekannten
Ryssel, Gregorias Thaumaturgas. 1397
Schrift Gregors „über die Auferstehung" ent-
stammen, hat Herr Kyssel entdeckt, daß sie
vielmehr der Apologie des Origenes von dem
Märtyrer Pamphilus entnommen sind. Auch der
Ursprung jener Ueberschrift ist mit ziemlicher
Sicherheit nachgewiesen. — Da Herr Ryssel
verspricht, zum Zweck der Vergleichung mit
dem lateinischen Text des Rufinus eine „wort-
getreue" Uebersetzung des Bruchstückes p. 48
zu geben, so hätte er die Worte «j*j| < MgHu
i^olitt^ welche (auch nach der Form der
Frage) dem (quomodo) ausus est aliquis dicere
des Rufinus entsprechen, nicht übersetzen sollen
(48, 7. 6. v. n.) „so frevelt der, welcher sagtu.
Auch 49, 23 führt Rufius (50, 5) „non erubue-
runttf flir ojUoJ V (Lag. 64, 27) auf etwas An-
deres als: „und deswegen hören manche von
ihnen nicht auf"; übersetze: „und deswegen
haben es manche von ihnen nicht verschmäht";
vgl. hebräisch -jk».
Aus exegetischen Schriften wird S. 55 unter
anderen ein Fragment aus einer practischen
Auslegung des Matthäus nach Gallandi mitge-
theilt. Die von Professor Paul Caspari an Hrn.
Ryssel gemachte Mittheilung, daß sich in unge-
druckten und alten gedruckten Gatenen noch
reiche Ueberreste aus dem schriftstellerischen
Nachlasse Gregors finden, kann ich wenigstens
zum Theil bestätigen. Das oben genannte
Fragment zum Matthäus findet sich mit einigen
Varianten auch in „Symbolorum in Matthaeum
torn. alt. quo continetur catena patrura graeco-
rum XXX collectore Niceta interprete Corderio".
Tolosae 1647 fol. p. 242 f. Das Fragment ist
hier zugleich etwas vollständiger ; es fährt näm-
1398 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 44.
lieh nach dem Worte naqanxw^ata fort: W-
Ürjactv xai ol dnötftoXoi oqp&aXpoi xai ywg SXov
tov xdtfpov. iXeyev ovv avtotg naqayyiXXmv 6
xvoiog- idv ifAftg <Svf\xs xai py ävazQUniJTs, (f(S;
ovtsg tov (Toopatoc, idov oXov td öoofia tov xötf-
pov mtfoStiata*. si 6s bpstg äXsg Svtsg ptaQav-
&fji€, xai (pu)$ ovtsg GxonGxHjts, to oxötog nooov
o ianv b xdapog. Außerdem findet sich in der-
selben Catene ein anderes Herrn Ryssel unbe-
kannt gebliebenes Fragment auf S. 596 (lies
598) zn Matth. 18, 20, welches den Charakter
der Echtheit anr «sich trägt (vgl. die Anmerkung
Ryssels auf S. 57). Ich lasse dasselbe hier ab-
drucken, onotav 5öa dv td Giopa €v%op&vov
ahfj tavta xai fj xccQÖia vojj, tote navtdg nQcty-
patog oii idv almjtfijtai äv&oconog ysvij Gerat
aitto naqd tov &sov. did ydo tovto fAfjös ngög
töv nX^alov uvd $%hv vnoxQiaw ivtyaws, ervp-
(fwvcog toXg wjc xaQÖiag iv&vptjfiaGt did ötopa-
tog nqogXaXovviog tw nltjGiov.
Es folgt S. 65 ff. der Kern von Herrn Rys-
sels Arbeit, die Uebertragung der beiden im
Syrischen erhaltenen Schriften und Untersuchun-
gen über die Echtheit derselben. — Die Schrift
an Philagrius über die Wesensgleichheit beginnt
mit dem Dilemma, welches sich aus der Ein-
fachheit des göttlichen Wesens und derDreiheit
der Namen Vater, Sohn und Geist ergiebt; es
könnte nämlich scheinen, daß durch die Drei-
zahl die Einzigartigkeit des göttlichen Wesens
aufgehoben würde. Allein dies ist wirklich nur
Schein; denn während die Menschen allerdings
in ihren Gedanken mit jenen drei Bezeichnungen
die Theilbarkeit des göttlichen Wesens verbin-
den, sind diese in Wirklichkeit nur verschiedene
Namen des einen untheilbaren göttlichen We-
sens, welche mit Beziehung auf das
Ryssel, Gregorius Thaumaturgus. 1399
Heilswerk verwendet werden. — Man
sieht, daß die Sabellianer in Neocaesarea wohl
Anlaß hatten, sich auf Gregor zu berufen. Auch
das opoovoiog der Ueberschrift ist bekanntlich
um die zweite Hälfte des dritten Jahrhunderts
sabellianisch und wurde in dem Svnodalbe-
schluß von Antiochia 269 verdammt. Die (nicht
ganz feststehende) Anwesenheit Gregors auf die-
ser Synode würde kein entscheidendes Zeugniß
gegen die Ursprünglichkeit jener Ueberschrift
sein, nur wäre die Schrift sicher vor 269 ver-
faßt. Anderseits erklärt sich aus Inhalt und
Ueberschrift leicht, wie die Schrift über die
Wesensgleichheit schon früh im Original ver-
loren gehen konnte.
Die zweite Schrift über die Leidensunfähig-
keit und Leidensfähigkeit Gottes, an einen sonst
unbekannten Theopompus gerichtet, ist bedeu-
tend umfangreicher als die erste. Da Herr Rys-
sel eine ausführliche Inhaltsübersicht vorausge-
schickt hat, kann hier auf eine Recapitulation
verzichtet werden ; ich beschränke mich auf das
Hervorheben einzelner Punkte.
Besonders interessant ist in mehrfacher Hin-
sicht Cap. 19. Gregor polemisiert hier gegen
epikuräische Ansichten, als ob Gott in ewig se-
liger Ruhe (dtaQa^ta) und Abgeschiedenheit
ohne Einfluß auf die Regierung der Welt sieb
an sich selbst genügen lasse, also auch nicht
Leiden auf sich nehmen könne. Er widerlegt
solche Ansichten damit, daß er sagt, in diesem
Falle sei das Geschlecht der Sterblichen weit
erhabener als der vollkommene Gott, denn von
ihnen hätten viele für ihre Vaterstadt und aus
Liebe zu den Freunden ihr Leben nicht ge-
schont; sie seien so über die Leiden durch ih-
ren Willen erhaben gewesen und wegen ihres
1400 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 44.
Muthes seien ihnen die Leiden nicht mehr als
Leiden erschienen. — Herr Ryssel macht S.
118 mit Recht darauf aufmerksam, daß die nan
folgenden Beispiele, welche direct aas Schriften
classischer Autoren entlehnt sind, ein schwer-
wiegendes Zengniß für die Echtheit der Ab-
handlung abgeben. — Was S. 88 über die Cor-
ruption des Namens Kodrus gesagt ist, ist mir
nicht ganz verständlich geworden ; es wird wirk-
lich Theseus im griechischen Original gestanden
haben. Ueber die Corruption von Eigennamen
bei der Herübernahme in ein fremdes Idiom,
nicht allein in der Schrift, sondern auch in der
Sprache selbst, vgl. übrigens noch de Lagarde,
Analecta p. XII. — Leukippus, der sich hat
tödten lassen [getödtet wurde] S. 88. (Lag. 57, 20)
ist Lykiskus. Ueber den Tod dieses Führers
der Aetoler, der als Anhänger der Römer be-
kannt war, läßt sich Genaueres nicht nachwei-
sen ; doch macht mich Professor Blaß auf fol-
gende zwei Fragmente des Polybius aufmerksam.
Polyb. 32. 20 a, 1 on Avxicxov toi AhaXov
taQaxtodovg ovtoq xal ÖOQvßwdovg, dvcuoeödytos
dl toi to v, tö i£fjg ol AhcoXol [övyecfQOPfjCavxal]
wpovöfjöav ivdg äv9qmnov naqa%(aQ^aavtoq x%X.
— §3 du Avxtoxog xdxiawg tSv xaXiag xa-
TiaTQstpe töv ßiov xts. *). Die unmittelbare Quelle
Gregors kann eine lateinische gewesen sein;
auch Livius hat über Lykiskus berichtet, vgL
42, 38. 45, 28.
Die Uebersetzung beider Schriften ist im
Allgemeinen durchaus zuverlässig, was um so
mehr anzuerkennen ist, als dieselben durch die
Aufpfropfung griechischer Syntax auf semitischen
Sprachschatz oft ziemlich dunkel geworden sind.
•) vgl. auch 32. 21, 1.
Ryssel, Gregorius Thauroaturgus. 1401
Ein interessantes Beispiel dafür, daß man bei der
deutschen Uebertragung einer syrischen Ueber-
setzung ans dem Griechischen nicht selten nur
dann zum Verständniß gelangt, wenn man auf
das griechische Originalwerk zurückgeht, führt
Herr R. S. 137 an ; vgl. auch noch ZDMG. Bd.
32. 1878. p. 736, und Elias von Tlrhän p. 54.
Daß bei solchem Sachverhalt immerhin einige
Mißverständnisse unterlaufen sind, ist nicht zu
verwundern. So ist gleich im Anfange der
Schrift über die Wesensgleichheit S. 65 Ijoij
|^m ou\d mit den Worten: „eines solchen Mei-
sters" unrichtig übersetzt; was sollte das auch
für ein Meister sein? es ist vielmehr %oi%ov %ov
nccpfisydXov. Der Satz 66, 16 ff. ist unverständ-
lich und hat außerdem S. 109 zu falschen Fol-
gerungen Anlaß gegebenes, darüber nachher.
— 76, 20 (vgl. die Anmerkung S. 152). Merk-
würdiger Weise findet Herr Ryssel hier in ganz
einfachen Worten eine Schwierigkeit, wo keine
ist. Uebersetze: „Der aber, welcher allein gut
ist und unbegrenzte Schönheit". Die Worte
spielen an auf Matth. 19, 17 und Zach. 9, 17.
ta.£*) zu lesen, wie Herr R. anheimgiebt, ist
falsch, nur ^d und ^o dürfen ohne o ge.
schrieben werden, und durch loo^ könnte ein
Begriff wie dya&atavvfj nicht ausgedrückt sein.
Derselbe Fehler findet sich 51, 5, wo ebenfalls
„gut" für „vollkommen" einzusetzen ist. — -
76, 11 v. u. tibersetzt Herr B. <?**-» ^ (ohne
*) Die Form >oQfl> S. 132 Z. 6 v. u. ist noch be-
denklicher.
1402 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 44.
Pluralpunkte geschrieben) durch „alles Starke" ;
er dachte doch nicht an ^inu»? — 77, 13 hin-
ter „Gottheit" setze ein : „an sich". — 77, 7 v. u.
Aläd fD „in dem dn aufnimmst" ; Herr R. sah
das cß für Lämadh an und bedachte nicht, daß
seine Uebersetzung A^aAio ,3 verlangt hätte.
— 81, 7 lies: „wie man sagen kann". —
82, 6 f. lies : „und jenes unbegreifliche und un-
faßbare Kommen Gottes zum Tode für thörich-
tes Reden halten". — 87, 13 v. u. sind die
Worte: „in meine (menschliche) Gestalt" zu
streichen; das n\i? dient nur zur Hervor-
hebung des iA< Gregor meint nämlich, nur
der Mensch in seinem beschränkten Erkennen
verknüpft mit dem Kommen Gottes eine Verän-
derung seines Wesens, während Gott in Wirk-
lichkeit der ewig unveränderliche bleibt, vgl.
68, 9 ff. — 91, 1 geben die Worte: „daß grade
damals die Lacedämonier im Kriege gegen seine
Mitbürger im Vortheil waren" keinen Sinn; die
Lacedämonier waren doch nicht grade im Vor-
theil, als sie von den Persern umgangen waren;
im syrischen Text steht außerdem nicht „Lace-
daemonier", sondern Macedonier; es liegt nahe,
hierin eine Corruption aus „Lacedaemonier" zu
erblicken, am besten fehlt aber das Wort ganz
und es ist zu tibersetzen: „und er hörte, daß
damals der Kampf für seine Mitbürger schwer
geworden sei". — 97, 13 v. u. ist mit IaooJ
nicht Gott, sondern Theopompus angeredet,
ebenso wie Z. 15 v. u. 99, 12 v. u. Gregor
hat Beispiele angeführt, welche beweisen sollen,
daß das Ideal des Menschen nicht in unthätiger
Ryssel, Gregorius Thaumaturgus. 1403
Ruhe besteht, sondern daß es seine Pflicht ist,
zu reden und zu handeln, wenn die Umstände
es verlangen, mögen auch Gefahren damit ver-
bunden sein. Theopompus verstummt und Gre-
gor redet ihn an: „Nun, warum schweigst du,
mein Guter, bei dem Untergange dieser Aller,
[welche ihre Pflicht erfüllend untergingen] weil
sie um Hülfe zu leisten als weise Männer sich
nicht die Ruhe erwählten? Das ist das We-
sen der Tugend, o Guter u. s. w. — 99, 1
^oou Joa£ oük heißt nicht: „sie opfern der-
selben ihr Glück", sondern: „sie preisen den-
selben" sei. den Wahnsinn der Geldgier (pcrxa-
gifav). — Z. 5 f. lies: „so daß sie (die Seele),
wenn sie davon durch die Tugend gereinigt
wird, gesundet**.
Auf die Uebersetzung der beiden im Syri-
schen erhaltenen Schriften folgt S. 100 — 123
eine eingehende Untersuchung über die Echtheit
derselben. Referent hält diesen Abschnitt in
mancher Hinsicht für den gelungensten Theil
der Arbeit und glaubt, daß die Autorschaft Gre-
gors durch Herrn Ryssels Untersuchungen für
beide Schriften in der That gesichert ist. Die
Gründe für die Echtheit sind allerdings fast
ausschließlich innere, allein grade diese sind
durchaus überzeugend. Herr Ryssel weist zu-
nächst nach, daß die Schrift über die Wesens-
gleichheit (und ähnlich nachher die zweite) ihrer
dogmatischen Terminologie nach aus dem drit-
ten Jahrhundert stammt und daß ihr Inhalt dem
Lehrtypus eben dieser Periode entspricht. Sehr
treffend sind hier die Parallelen, welche aus
Tertullian herangezogen werden. Herr R. kommt
nun aber seinem Ziel näher, indem er aus den
Werken des Origenes nachweist, daß der Ver-
1404 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 44.
fasser zunächst der Schrift über die Wesens-
gleichheit höchst wahrscheinlich ein Schüler des
Origenes war. Da nun die Anschauungen Gre-
gors über das trinitarische Verhältnis der gött-
lichen Personen, wie sie in der Lobrede an Ori-
genes vorliegen, sich im Allgemeinen und Ein-
zelnen mit denen aus der Schrift über die We-
sensgleichheit decken , so hindert Nichts, in je-
nem Schüler des Origenes unsern Gregor zu er-
kennen, wie die syrische Uebersetzung der
Schrift dies bezeugt. — Eeferent wünschte, Hr.
Ryssel hätte sich mit diesem Resultat begnügt.
In dem an und für sich sehr lobenswerthen
Streben genauer festzustellen, in welcher Ab-
sicht Grfcgor seine Schrift verfaßt habe, glaubt
R. zu dem Resultat gekommen zu sein, der
Adressat der Schrift sei der bekannte Gegner
des Christenthums Porphyrius, und der jetzige
Name der Ueberschrift Philagrius sei nur eine
Corruption aus jenem. Ich halte die hierauf
bezüglichen Erörterungen Herrn Ryssels für ver-
fehlt. Corruptionen von Eigennamen sind in
syrischen Schriften häufig genug, auch Ver-
tauschungen ähnlich klingender kommen vor
(vgl. oben Leukippus und Lykiskus), obgleich
schon seltener. Aber solche Corruptionen sind
doch nur bei seltener vorkommenden Namen
häufig, während der Philosoph Porphyrius den
Syrern wohlbekannt war. Ferner, der Schluß
der Schrift S. 70: „Vieles also, o Hochge-
ehrter, vermochten wir zu finden u. s. w.tf,
sowie der Anfaug S. 63 wäre einem Gegner
gegenüber urban, ist aber doch in der Vertei-
digungsschrift eines Christen gegen einen eifri-
gen Bestreiter des Christenthums höchst un-
wahrscheinlich. Herr Ryssel beruft sich endlich
zu wiederholten Malen (S. 66. 109. 111) auf
Ryssel, Gregorius Thaumaturgus. 1405
die Methode der Beweisführung, welche Gregor
anwandte and welche in philosophischen Deduc-
tionen mit Vernachlässigung des Schriftbeweises
bestand. So richtig diese Bemerkung ist, so
wenig klar sind die Folgerungen, welche Herr
Ryssel S. 66. 109. 111 daraus zieht. WennHn
R. S. 66 übersetzt : „es möge deshalb die Schrift
zu uns kommen und uns sagen, wie es sich ge-
ziemt über Gott zu denken u. s. w.u, so ist da-
mit doch wohl die heil. Schrift gemeint. Aber
deren Gültigkeit bestreitet Porphyrins ja grade,
und Gregor selbst verwendet sie nach der obi-
gen Bemerkung in seiner Beweisführung nicht.
Die Bemerkung S. 109 „Das einzige Gitat (S.
45, 21 f.) hat Gregor nur deshalb beigefügt,
weil es ihm nach S. 43, 23 (vgl. Z. 19) darauf
ankam, seinem Gegner jeden Vorwand zu ent-
reißen", und die ähnliche S. 111 (unten) 112 ist
mir offen gestanden nicht klar geworden. Hr.
R. macht hier darauf aufmerksam, daß Porphy-
rins in seiner Streitschrift vor Allem die Auto-
rität der heil. Schrift zu erschüttern gesucht
habe. Dagegen habe er dem religiösen Glau-
ben Ersatz schaffen wollen durch . . . Zusammen-
stellung alter Sprüche, in denen er göttliche
Orakel sah. „Wahrscheinlich bezieht sich hier-
auf die Stelle S. 43 Z. 20 f., wo Gregor aus-
einandersetzt, daß seine Meinung nicht ein lee-
rer Wahn sei, der sich weder aus der Schrift
noch durch die Zeugnisse alter Sprüche bewei-
sen lasse. Diese Wendung hat nur einem Geg-
ner gegenüber Sinn und Bedeutung, welcher ne-
ben [?] oder vielmehr über die heil. Schrift alte
Sprüche als beweiskräftige Zeugnisse setzte, in-
dem es hierbei dem Gregor darauf ankam, dem
Porphyrius jeden Vorwand, auf den er sich
stützen könnte, zu entreißen tf. — Wenn Gregor
1406 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 44.
seinem Gegner jeden Vorwand entreißen wollte,
und wenn dieser Gegner „neben [?1 oder viel-
mehr über die heil. Schrift alte Sprüche als be-
weiskräftige Zeugnisse setzte" , so mußte Gre-
gor in jenem Streben seine Beweise ebenfalls
aus der heil. Schrift und aus alten Sprüchen
entnehmen. Er thut ja aber grade das Gegen-
theil, im besonderen findet sich von alten Sprü-
chen bei Gregor keine Spur, also werden Herrn
Ryssels Deductionen nicht richtig sein. Die
hier angerichtete Verwirrung nun beruht auf
einer falschen Uebersetzung S. 66, wo das
Wort ]Ai*io mehrfach durch „Schrift" wieder-
gegeben ist, was man als heil. Schrift verstehen
muß. Aber y YQa<p*l heißt im Syrischen l&As
oder «joäd So.) bildlich auch jb>) A*o
)Lm09 r|**m; u. dgl., während }a^o loyos ist,
und dies an der angeführten Stelle im Sinne
von „Frage, Untersuchung" verstanden werden
muß. — Es wird also sein Bewenden dabei ha-
ben, daß Gregor seine Schrift an einen uns un-
bekannten Christen Namens Philagrius richtete,
welcher seinerseits Gregor gegenüber seine Be-
denken über die einschlägigen Fragen ausge-
sprochen hatte. Die rein philosophische Me-
thode der Beweisführung findet sich auch in
der Schrift an Theopompus.
Den Schluß der Arbeit des Herrn Ryssel
bilden sprachliche Nachträge. Der Verf. han-
delt hier von dem Charakter der syrischen
Uebersetzungen, giebt textkritische Bemerkungen
zur xarä (a£qos ntaug und lexikalische Materia-
lien zur Erläuterung und Rechtfertigung der
Uebersetzung der zwei Schriften über die We-
Kyssel, Gregorius Thaumaturgus. 1407
sensgleichheit und Leidensunfähigkeit. Die Ma-
terialien sind mit großem Fleiß aus der Leetüre
des Verf. gesammelt, hätten aber doch wohl et-
was gekürzt werden dürfen. Wozu solche Be-
merkungen wie S. 150 n vaV> m pl. von >oi*$,
dem gewöhnlichen Wort für <ptlog Freund"
nebst Beleg ; oder S. 151 „1?oä^ häufiges Wort
für Schöpfer" nebst Belegen ; oder S. 156 „?ifo^
nXovxo^ nebst Belegen?
Zu den textkritischen Bemerkungen auf S.
139 ff. sind folgende Nachträge zumachen. Um
den Syrer 32, 9 in Uebereinstimmung mit dem
Griechen 104, 3 zu bringen, müßte auch das
Po vor }£ujoAa fehlen und ,-»? nachher ergänzt
werden. Da aber solche Aenderungen zu ge-
waltthätig sind, so liegt wahrscheinlicher ein
Hißverständniß des Uebersetzers vor. — Das o
vor )Aa»f»*\ 35,4*) repräsentiert kein xal vor
%itv svöttjia 106, 27 , sondern war nothwendig
geworden in Folge der Uebersetzung des Parti-
cipiums fjtaQtvQovfjtdyrj durch das Yerbum finitum
(ein solches ist ijotAfl^o nach syrischem Sprach-
gebrauch). — 35, 21 des syr. Textes ist statt
\.d\ >as* IZQ.i.Ntjp nach %<a Idioouan toi) natQÖg
•
107, 9 zu lesen la)? |/on\»fa. — 36,25 fehlt
naov$ des Griechen 108, 10. - 36, 29 (= 108, 15)
las der Syrer Xqic%ov 'Iyaov, wie Cod. Sinait.
Es wird übrigens jnn^N herzustellen sein. —
37, 8 (= 108, 26) fand der Syrer hinter nvsv-
*) In den folgenden Stellen bezieht sich die erste
Zahl auf den syrischen Text, die zweite auf den grie-
chischen.
1408 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 44.
paws noch ayiov. — Ibid. las er dvrdpsi oder
es ist 1^»mx> herzustellen. — 37, 12 (= 108, 31)
Syrer : nvevuawg avtov. — 38, 18 (= 109, 35)
Syrer: jg äylag für ex Maqiag — 39, 17 (=
110, 31) nach slxova hat der Syrer älydivifv.
— 39, 25 (= 111, 2) nach %6 nvsvpa Syrer +
%o äyio». — 41, 17 (= 112, 27) nach änslov-
aao&s Syrer + dlld tjyuxa&fite. — 41, 18 (=
112, 29) fehlt beim Syrer i^yrnv. — 42, 4. 5
(== 113, 7) nach ylwoa&v Syrer + äMty d* £Q-
ptjvsia yXvooüv. — 42, 29 (= 113, 35) fehlt
bei dem Syrer öslag. — Alles dies ist nicht
grade von großer Wichtigkeit, aber bei Text-
vergleichungen soll man genau sein.
Der Druck des Buches ist correct, die Aus-
stattung sehr gut.
Zum Schluß noch eine Bemerkung. Ich ver-
wahre mich ausdrücklich dagegen, als wäre es
meine Absicht gewesen, durch meine ziemlich
zahlreichen Einzelbemerkungen , Ergänzungen
u. dgl. den Werth der Arbeit des Herrn Dr.
Byssel herabzusetzen; dieselben sollten im Ge-
gentheil für das Interesse zeugen, mit welchem
ich seinen belehrenden Ausführungen gefolgt
bin. Wenn mir hierbei einige Punkte auf-
stießen, die der Ergänzung oder Berichtigung
bedurften, so war das natürlich, denn ein auf-
merksamer Leser wird stets Gelegenheit haben,
Unhaltbares und Unrichtiges aufzudecken. In
der Anzeige eines Buches aber soll man sich
nicht auf ein Referat oder auf Lob und Tadel
beschränken, sondern durch Hervorhebung und
Verbesserung des Unrichtigen und Ergänzung
des Mangelhaften den Gegenstand selbst för-
dern. Hanc veniam damus petimusque vicissim.
Kiel. Friedrich Baetbgen.
Für die Redaction verantwortlich : K Kehniech, Director d. Gott. gel. Anz.
Commiuiona-Verlag der Dteterich'schm Verlags- BuehJuutdhaiff.
Druck der Dieterich'schen Univ.- Buchdruckerei ( W Fr. Kaestnerh
NOV J 9 j880 1409
G ö t tingische
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück 45. 46. 10. u. 1 7. Nov. 1880.
Inhalt: Neuere etruskologische Publication en. Yon W. Deecke. —
T. Liri ab urbe condita libri XXYI— XXX, rec. A. Luchs. Von M.
Mütter. — A. Cybulski, Geschichte der Polnischen Dichtkunst in
der 1. Hälfte des lauf. Jahrhunderts. Von W. Nehring.
s Eigenmächtiger Abdruck von Artikeln der Gott. gel. Ans. Terboten s
Neuere etroßkologische Poblicationen.
Appendice al Corpus Inscriptionum
Italicarum ed ai suoi Supplement di Ario-
dante Fabretti, edita per cura di Gian Fran-
cesco Gamurrini. Firenze, Mar. Ricci, 1880.
4°, VIII und 106 p., X t (81.).
Ich füge, weil noch wenig oder gar nicht
benutzt, hinzu:
Terzo Supplemento alia raccolta delle
antichissime lscrizioni Italiche, per cura di Ario-
dante Fabretti. Torino, Bocca, 1878, 4°,
250 p. und XVII t. (%.).
Etruskische Studien, von Dr. Carl
Pauli, Göttingen, Vandenhoeck u. Ruprecht,
8°. Erstes Heft: Ueber die Bedeutung der
etruskischen Wörter etera, lautn* eteri und lautni,
1879, 112 p.; zweites Heft: über die etruski-
89
1410 Gott. gel. Adz. 1880. Stück 45. 46.
sehen Formen arn#ial und lardiaJ, 1880, 76 p.
(©t. I u. II).
Der Kürze wegen werde ich ferner Fa-
bretti's Hauptwerk durch g. bezeichnen, das
erste Supplement durch Sß., das zweite durch
©., das Glossar durch ©.; meine Ausgabe von
0. Müller's Etruskern durch 2R.; meine Schrift
«Corssen und die Sprache der Etrusker, eine
Kritik" durch Ä. ; meine „Etruskischen For-
schungen", Heft I— IV, durch go.; meine Auf-
sätze über Etruskisches in Bezzenberger's
.Beiträgen zur Kunde der indogermanischen
Sprachen" durch 33. ; C o rs s e n ' s „Sprache der
Etrusker" durch ß. — Den Zahlen werde ich die
Bedeutung „Band (v.), Heft (seh.), Seite (p.),
Spalte (c), Zeile (1.), Nummer (n.), Tafel (t.)a
nur beifügen, wo ein Zweifel entstehn könnte.
Gamurrini's Werk enthält kaum 20 nicht-
etruskische Inschriften, dagegen 930 etruski-
sche; ebenso liegt in Fabretti's Terzo Supple-
mento der Schwerpunkt in den 400 etruskischen
Inschriften, denen nur 80 altitalische, meist
messapische, gegenüberstehen, s. meine Anzeige
in Bursian's Jahresbericht XIX, 1879, 27 ff. Ich
werde daher hier nur den Gewinn für die
Etruskologie aus beiden Werken registrie-
ren, in besonderem Anschluß an meine beiden
Beilagen „die etruskische Sprache" und „Schrift
und Zahlzeiohen der Etrusker" am Schlüsse von
0. Mtiller's Etruskern.
Ich beginne mit der Schrift (2».H, 513—
32, nebst t. : & Osservazioni paleogr. in 88. p.
145 ff.):
1) Alphabet von Grosset o (Rusellae)
Ä. 57, III, viell. chiusinischen Ursprungs: a, c,
e, v, z, h, &, i, k, 1, m, n, p, 6, q, r, s, t, u,
Neuere etruskologische Publicationen. 1411
(f> Xy f> also vollständig, wie sonst nur das erste
nolanische 3W. II, t. c. VIII, p. 528 (nach Qf.
2766, XLIV), ziemlich alt, da die Buccherofa-
brication gegen 300 v. Chr. aufhörte. Am ähn-
lichsten ist das erste chiusinische Alphabet 3Ä.
II, t. c. XI (nach Sß. 163—4, V), nur daß dies
rechtsläufig und vom n an unvollständig ist;
das p nähert sich am meisten dem zweiten no-
lanischen Wt. II, t. c. IX, 17; nach s folgt das
etwas schräge q, mit viereckigem Kopf nach
rechts, von phönicischer Form ; ihm entspricht im
ersten nolamschen Alphabet das bei9Jt.II, t. falsch-
lich unter o gesetzte und umgekehrte, einem lat.
Q ähnliche Zeichen (s. g. XLIX), das also n. 19
sein müßte; das dort stehende etr. umbr. osk.
f aber gehört dann an den Schluß und kann
nicht aus dem griech. koppa entstanden sein
(9ft. II, 528), sondern ist eher eine Modification
aes h, dem es auch lautlich bei den Italern
sehr nahe stand.
2) Die Buchstaben der sogen, servia-
nischen Mauer auf dem Esquilin und alter
Gebäudereste auf dem Palatin St. 916, zu er-
gänzen durch Bruzza Bull. d. comm. arch,
communale di Borna 1878, p. 177 f.: a, c, e, v,
h, i, k, 1, n, o, p, u; Siglen au, ua, he; nicht
etruskisch wegen o, der Formen des h und p,
des Fehlens der characteristischen Aspiraten
und Spiranten (s. H. Jordan Kritische Bei-
träge 153; 358); die linksläufige Bichtung eini-
ger Zeichen beweist nichts, da sie sicher auch
altitalisch war (bustrophedon X. 438, XIV).
Etruskische Buchstaben zeigen perusinische
Mauerblöcke *ß. 361 bis ; 31. 739 a— g, VIII.
3) m. Das umbrische m: ausschließlich
auf dem Bronzetemplum von Piacenza go. IV,
22; dann in der Nähe der Grenze in Arezzo
89*
1412 Gott gel. Anz. 1880. Stück 45.46.
3t. 97, IV; Chiusi 3t. 258 = 354; 393 c (s. g.
402—3); im umbrischen Familiennamen um-
risni in Volterra 3t. 51, III; in einer Inschrift
unbek. Herkunft 3t. 841 (von mir controliert).
In 3t. 43, III (campan.) ist a zu lesen (s. %
40 n, II). — Die Form w im venetischen Adria
8. 861 — 2 ist von zweifelhafter Etrascität; sa-
bellisch %. 439, XIV; griechisch $. p. 190.
4) 6 fehlt auf dem Bronzetemplum go. IV,
24, wohl durch umbrischen Einfluß; es bezeich-
net sicher ursprünglich den tönenden Zischlaut,
dagegen s den tonlosen ; eine weitere Erweichung
ist z (nicht immer = ts, ds ; gegen SR. II, 330).
5) y, griechisch gestielt in tiyile = Jicpdog
31. 319; s. yila %. t. XVII, 16 (von Pauli @t
II, 59 angezweifelt). Unsicher scheint mir
hermyia 3t. 438, VI (Corrector?).
Üeber Wechsel der Aspiraten und
Spiranten, und von v und u s. unten in
der Lautlehre, obwohl derselbe, besonders
letzterer, häufig nur graphisch ist, z. B. auf
dem Templum (go. IV, 23), in sertvru S. 222,
III u. s. w. Ebenso wechseln in einer In-
schrift c und Je %. 295, V (go. Ill, 250, 22), s.
g. 2753 bis (©. 1104; go. ebdt. 25).
Werthlose Verschnörkelungen, Ver-
stümmelungen, Umdrehungen von Buch-
staben z. B.. 3t. 105, IV; 745—6 = %. 316—7,
V; 92, IV = g. 471; T. 402 u. 408, XII =
(£. I, XX, 6 u. XXIII B, 3 u. s. w. tiber-
gehe ich.
Buchstabenverschlingungen ($.231
ff.) sind häufig, ungewöhnlich kühn auf Vasen-
füßen z. B. krl, kl u. s. w. 31. 40 äff., II;
627 eff. — Ob in den Grabinschriften der Fa-
milie rutane £. 218-20, III (aus Chiusi) Ver-
schlingung, Verstümmlung oder falsche Lesung
Neoere etruskologische Pa bli cation en. 1413
vorliegt, ist schwer zu entscheiden. Auf der
Schüssel von Talamone 21. 67, III lese ich
p[uln]- Manses, s. go. Ill, 283.
Es folgen die Zahlzeichen (SR. II, 532 ff.,
t. ; ?ß. p. 241 ff.). Die glohuli der Münzen und
Würfel (SR. t. c. XI -XX, n. 31) zeigt ein or-
vietanischer Krug 8t. 637; ein anderer 81. 636
das Münzzeichen für V* (2ß. t. c. I, n. 31). Die
Umkehr der 5 nach römischer Weise in Z. 316
— 7, V = 81. 745—6 ist, der Umschreibung we-
gen, sehr zweifelhaft (s. sonst *ß. p. 249). Das
schräge Kreuz der 10 ist bisweilen mehr oder
weniger gerade gerichtet, z. B. X. 330, X =
2059 (s. 5p. p. 111; es folgt lupu, s. Ä. 7, 1);
367, XI (s. 2R. II, 533). Das lat. Zeichen für
50 entspricht noch genau dem umgekehrten
etruskischen 81. 916 (serv. Mauer) und 81. 114,
IV (Thontafel v. Arezzo). Letztere Tafel hat
auch das etr. Mtinzzeichen für 100 (9ft. II, t. c.
VI, n. 31), auch auf einer lat. etr. Inschrift von
Orte (8t. p. 16, Note). Umgekehrt hat ein etr.
Block von Perugia (81. 739 h) das lateini-
sche Zeichen für 100, aber linksläufig. —
Der Berichtigung bedarf die Behauptung 3R. II,
533, „bei 4, 8 u. s. w. finde sich die Subtrac-
tion nicht angewendet"; vgl. *ß. 432 (= 34
Jahre); g. 364 bis c (18 J.; 5ß. p. 250: 22 J.);
81. 641 (18); g. 322 (38 J.); ja, sie kommt
vielleicht bei 7 vor in : g. 254 (27 J.) ; %. 325,
IX (47 J.); *ß. 378 (47 J.), obwohl Fabretti
33 und 53 J. deutet; unsicher, weil verstüm-
melt, ist g. 2275 (s. go. III, 43, 31). Römische
rechtsläufige Schreibung dagegen ist anzuneh-
men in : g. 2124 (6 J. ; ein Alter von 4 J. wird
nie angegeben); g. 61 (12; zweimal, nordetr.);
g. 363 (14 J.); F. 325 bis i (62 J., mit etr.
Zeichen für 50). — Zahlen sind vielleicht auch
1414 Gott. gel. Adz. 1880. Stück 45. 46.
die schrägen Kreuze unter den orvietanischen
Grabinschriften %. 296 u. 298, V (von mir con-
troliert), in letzterem Falle zwischen z und r,
etwa zfilagnuce] XX rfül „er war 20 Jahre
zilag" (ein Amtstitel, s. 3Jc. II, 505 u. unten).
Zu meinem Anfsatz über die Zahlwörter
JB. I, 257 ff. (vgl. £. p.l— 21) ist nur eine In-
Schrift nachzutragen 31. 658, Sarkofag von Bo-
marzo, nach Vettori eslen | a#rum:s, was ich
in eslem | [zja^rumis = 44 bessere, vgl ciem-
za^rms' g. 2071 (33. I, 271, verbessert 3R. II,
503). 81. 799, 6 ist ps'l st. esl zu lesen; s. 1. 7.
Ich gehe über zur Lautlehre.
Doppelschreibung 1) der Vocale (3ft.
II, 330—2, § 3), neue Fälle nur bei i: kaviiesi
81 771, IX (go. Ill, 88, 50); puriiazas ». 783,
IX, beide aus Gorneto; rupiias 9L 938; aiianes
81. 939 (Garn, ohne Grund atranes, s. aiacenas
SC. 298, V); tin^uracriina St. ' 936 (Abtheil, un-
sicher), alle 3 aus Suessola, also local; sonst
creiicesa %. 190 (Fremdwort), viell. fasciiu SL
11 (Adria, wenn etr.); mii 8L 648 (Strigiliß).
Nach einem Vocal ist das erste, vor einem
Vocal das zweite i als anaptyktischer Halb-
vocal anzusehn; in 21. 936 u. 648 könnte die
Verdopplung die Länge bezeichnen. Gefälscht
ist nach Garn. 81. p.65 isimin#ii %. 388 a (nach
©.), also bei Wit. zu tilgen; verlesen ist niifalus
%. 412, XII (nach g.) st. mi fal[t]us, s. go. Ill,
246, 11 ; lat. etr. ... oiius tutiiia %. 267 st. ...
ponius tutiiia 3t. 416. — 2) der Consonan-
ten (SW. II, 332—3, § 4), sehr selten: sakknos
81. 4 (nordetr., wohl gallisch) ; callia = Gall(i)a
81. 148-50, V = $. 222 bis c u. %. 110—11
(go. Ill, 146), auch schon bei Stf.; annieX.210
und dazu gehörig 21. 162, halblatinisiert, wie
Neuere etruskologische Publicationen. 1415
annae %. 318 (2R. II, 333, Note 6); viell. mele-
cravicees (oder -ticcis) 81. 799, 6, IX.
Die Syncope der Vocale zwischen Con-
sonanten ist eine der verbreitetsten und wich-
tigsten Thatsachen der etr. Lautlehre, s. die
reichen Beispiele bei 3Ä. II, 333—53, § 5 und
93. II, 176 — 8. Sie ist hervorgegangen aus der
starken Betonung der ersten Wortsilbe, fast
ausnahmslos der Stammsilbe, da Präfixe fast
ganz fehlen (über ein vortretendes e- s. unten).
Man hat dabei eine ältere, vorgeschichtliche
Syncope zu unterscheiden, die sich nicht mehr
urkundlich nachweisen, sondern nur vermuthen
läßt, und eine jüngere, aus den Denkmälern zu
belegende oder nach Analogie sicher zu er-
schließende. Die letztere ferner ist entweder
regelmäßig oder isoliert, einfach oder doppelt,
ja dreifach z. B. arcmsnas g. 2163 wohl aus
*arcumesinas. Im Ganzen kann man annehmen,
daß vor allen mit n, m, 1, r, s, z, auch c (x)
und t (#) beginnenden Endungen nach vorher-
gehendem Gonsonanten ein Vocal ausgefallen
ist; ebenso in allen, zwei aufeinanderfolgende
Gonsonanten enthaltenden Suffixen wie -cn-,
-tn-, -#n-, -In-, -rn-, -mn-, -sn- ; -cl-, -^l-, -tl- ;
-tr-, -#r- u. s. w.; bei drei Consonanten ist in
der Begel doppelte Syncope anzunehmen, wie
z. B. in puplna %. 290 neben puplinal 91. 147
einerseits, und lat. etr. popili Ä. 750 (etr. pupli)
andrerseits. Die Art des ausgefallenen Vocals
bleibt oft zweifelhaft, zumal nicht selten ein
anderer an seine Stelle tritt, indem das durch
die Syncope entstandene sogen. Schwa oder der
Stimmton eines tönenden Gonsonanten zu einem,
meist der vorhergehenden oder folgenden Silbe
assimilierten oder der Natur des Gonsonanten
homogenen Vocal erstarkt (s. unten Vocalein-
1416 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 45.46.
schub). Mitunter mag auch die Vocallosigkeit
das Ursprünglichere sein. Erleichtert wnrde die
Syncope wahrscheinlich dadurch, daß denEtrua-
kern die liquidae nnd nasales sonantes geläufig
waren, denn daß diese häufig gesprochen wer-
den mußten, scheint zweifellos: vgl. folgende,
zumTheil neue Beispiele : für 1: papünis 31.274;
satZnal SC. 368 ; cucZnial %. 367 ; 370 ; hercüna 9L
752; titini 21. 901—2; am Schlüsse in den Genitiven
auf -1 st. -al: las?, lvsZ,, marisZ, vetisZ, selvansl,
cilensZ, fuflunsZ u. s. w., und mit angehängtem s
oder z in den Zahlwörtern ceatyZs, muval^s,
sem^algh; esZz u. s. w. ; ferner für r: epr^ni,
-ne 81. 136 und sonst; aprte, r&e ®. 142 und
2045; seprsnei %. 191; menrva (oft); cezrtlial
@. 23 u. 24; putrnei g. 435 bis; nufrznas ©.
1252; am Schlüsse in der Pluralendung -r st.
-ar: #etlvmr go. IV, 42; #ulutyr ebdt, 59 ne-
ben #lu#u g. 315, mit angehängtem s in tivrs
g. 2119; auch sonst: ameva^r g. 1914 A 2; im
Götternamen a^uvitr, -vistr, -vizr; mit genitivi-
schem 8 in : ucrs g. 602 ; petrs 91. 549 u. s. w. ;
dann für m: arcmsnas (s. ob.) und arsmsnei 91.
169; sehtmnal g. 1376; ra#msnal g. 497, am
Schlüsse vor s in turms (Göttername, Nomin., ß.
I, 315), le#ms (desgl., Genit. v. le#am, go. IV,
38), daneben le#ws, ein Wechsel, der sich eben
aus der tönenden Aussprache des Nasals er-
klärt; im Zahlworte za^rms u. s. w.; auch im
Wortanfange in ml-, mn- s. 2ft. II, 390 u. mlusna,
dama^ ... 91. 799, 8; endlich fürn: casntinial
91. 716; arcwti g. 679; presnte, -sw#e (oft);
tar^ntes 91. 52, III; cestwsa g. 534 ter d; am
Schlüsse in sal#w, sal#n (2R. II, 393) und vor
s in tesws F. 1914 A. 4; 22 u. s. w. Als Folge
der tönenden Aussprache kann dann auch die
Ausstoßung des n gelten, wie in den mit ar#-
Neuere etruskologische Publicationen. 1417
beginnenden Formen des Vornamens arw# ($o.
III, 42 ff.; 49 n. s.w.), in ravtfas 5ß. 231 (wenn
richtig, s. go. Ill, 300, 38) neben ravn^u, ram#a
n. s. w.; in caätra g. 2536 bis neben casntra
§. 2161 = KatiadvdQa; viell. in prestiesa %.
726 qnat. b, und mit neuem Einschab in presitze
21. 956 neben preswte u. s. w. Auch die Um-
stellung in pre#nse, veln#i u. 8. w. (9ft. II, 436)
hängt vielleicht damit zusammen. Dieselbe tö-
nende Aussprache ist wohl auch für v anzuneh-
men in gisvlicä 31. 1922, und im Anlaut in
desi (= yelesi, velsi) 3t. 712— 18; vlesas g. 534
ter h; dus (= velus) 3t. 262; lat. etr. vle, des
5ß. 251 ter aa ; und für f in : pul/ha 3t. 286
neben pulufnal %. 498 und lat. etr. pulfennia
31. 287 ; vel/rei 31. 777 aus vel^rei neben vel-
#ara, velce u. s. w. ; im Anlaut im Stamme
/remsn-, wo das f oft abfällt, s. unten. Das s
wurde in der durch die Syncope herbeigeführ-
ten Stellung zwischen Gonsonanten oft gleich-
falls tönend, und zwar zunächst zu h (s. oben),
dann zu z, dies wieder zu r, endlich fiel es ganz
aus: so erscheint der eben erwähnte Namensstamm
in den Formen: (f)remsn-, (f)remzn-, (f)remrn-,
(f)remn- s. unten; aus cap(i)sn- wird cap^n-,
capzn-, capn- 9ft. II, 432 u. 437 ; fuflunsl wird
fuflunl go. IV, 49 u. s. w. Endlich die Tenues
p, c, t aspirieren sich, assibilieren sich, fallen
aus: vgl. lat. etr. Vestergennia, etr. vestrcnas,
vez#rnei, vestrnalisa u. s. w. (33?. II, 437);
andre Beispiele unten. Hiernach wird es zwei-
felhaft, ob nicht auch Schreibungen wie fZznal
3t. 516; spftur 31. 304; hrcle 31. 652; Irt 3t. 62;
selbst Ms 31. 608 die wirkliche Aussprache wie-
dergeben; vielleicht sogar prfl 31. 799 (2mal),
ps#i 3t. 704. Die Vertretung einer nasalis so-
nans durch a, wie griechisch durch a, ist
s
1418 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 45. 46.
wohl anzunehmen in den mit ara#- beginnenden
Formen des Vornamens ara#, zumal, wie ich
unten nachweisen werde, jetzt arun# als Grand-
form sicher steht; neben ara#- findet sich frei-
lich auch aran#-, und sogar arna#- in arna#a-
lisa 31. 126 (vgl. go. Ill, 38 ff.); ferner viell. in
ramcbta, -a#as go. Ill, 298 neben ravw#u, rav-
#as (s. oben), doch kommen auch rame#- und
ramu#- vor (ebdt.) ; ferner in areata, ara#a =
Idgtddvti, wenn es aus *area#n entstanden ist
33. II, 163, 6). Ja selbst liquida sonans 'scheint
urch a vertreten zu sein (s. Fick in S3. V,
311 fttr's Griechische) in ratacs 8t. 799, 1, IX
„Bruder" oder „Brudersohnu, das am wahr-
scheinlichsten aus (f)ratrcs entstanden ist =
umbr. fratreks, fratrexs, lat. *fratricus (nach
Breal tabl. Eugub. 216); ebenso dann patocs
g. 896; Z. 177 (wozu patacsalisa g.905 bis b),
Beiname der tlesna, aus *patrcs = lat. patri-
cus, das wirklich vorkommt. Man könnte auch
versucht sein, die mit \a&- beginnenden For-
men des Vornamens lar# nicht durch Ausstoßung
des r, sondern aus lr#- zu erklären, s. die oben
angeführte Form lrt u. s. w. (go. Ill, 191, 207
u. s. w.).
Einige neue interessantere Beispiele zur
Syncope sind noch folgende, bei denen der
syncopierte Vocal, wenn er sich feststellen lieft,
in Klammern eingefügt ist (die Ordnung wie
SR. II, 333 ff.) : vor n : canp(a)nas %. 2335, 1
(Z. p. 232 , nach S.) ; cresp(i)nie %. 667 (so
lese ich jetzt auch crespnie %. 937 bis st -smie
s. 3R. II, 454); tiucunt(i)nal 31. 694; statsne g.
1779 neben statinal ä. 194 ; *al(u)nal Z. 109 (s.
31. 333); hilar(u)nia 31. 192 (s. 191); cvrnal,
xurnal, -niaä Z. 225—6 ; % 178, 447—8 neben
curunia Z. 233 (so stelle ich her), vgl. curunial
Nenere etruskologische Publicationen. 1419
g. 1828; vor h vet(u)li «. 929; sept(i)le X.
213 (auch g. 713 bis); vor r: sep(u)re X.
154—5 (s. 165, 6t H, 6); sat(u)res go. IV,
66; selva$(u)res «. 690 (s. 687), wichtig
ftlr die Endung -tre, -#re überhaupt; vor m:
luc(u)me6 «. 7, I = X. 405, XII (danach
zu verbessern go. Ill, 236, 10); set(i)me 8.
Ill (lat. etr., s. 212); tel(a)mun «. 749 (».
II, 170, 95); vor s (rf): scan(e)sna ». 298
(s. 574); dann in den Nominativen mar(i)s,
ne#un(u)s, selvan(n)s, auch fuflun(u)s, turm(u)s,
äe^lans, ismin^ians n. 8. w., soweit nicht etwa
das s znm Stamme gehört und Einschnb anzu-
nehmen ist ; ferner in den Genitiven cat(u)sa X.
171 (go. IV, 47); lar#(i)s «. 437; vel(u)ft X.
164 (zuzufügen go. Ill, 110); eter(a)Ä g. 1935
(©t. I, 21, 31); tin(a)s go. IV, 29; viell. avils,
usils, tivs u. s. w.; vor z\ in den Deminutiven
lar(#i)za go. Ill, 212 (s. «. 257); arn(£i)za
go. Ill, 52; ravnt(u)za, ram(#a)za ebdt. 300,
meist mit nachfolgender Consonanten-Elision ;
vor mutis: cult(e)ce 31. 245; al(e)tnas, -nei 8f.
585 ; 579 ; in den Fremdwörtern nefts, nefts (Ä.
799, 2; g. 2033 bis E b, wo nefiä'; Ea nefsi,
wohl beide verlesen) = nepo(t)s, und prumfts,
prumts, prumaM (mit Einschub des a) = pro-
nepo(t)s (H. 799, 2; g. 2033 bis De; Fa, wo
prumste st. prumfts); Lehnwort ist auch eulena
g. 2177 (Vulci) =' campan. cul*na g. 2882 (X.
p. 233) = lat. culigna, gr. xv^tj (©. I, 433;.
S. 32). — Syncope von Diphthongen zeigen
die griechischen Lehnwörter: clutmsta Ä. 951
= KlvtcupvrjöTQa (58. II, 168, 65), und uystie
8L 853, wenn es wirklich = *Hq>cu(no$ ist.
Der Syncope entgegen steht der Vocal-
einschub (äfe. II, 353ff.; ». II, 178-9): 1)
Verlautbarung eines durch Syncope ent-
standenen sog. Schwa oder Entwicklung
1420 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 45. 46.
.des Stimmtons eines damit begabten vorher-
gehenden oder nachfolgenden Gonsonanten zu
selbständigem Vocale (2K. II, 353-4, § 6),
theils mit vorwirkender Assimilation:
rapalnisa 21. 287 (s. g. 670 bis c) ; ala^sntre 2t.
772 = 'Mtgavdgog, neben el(x)sntre 33. II, 166,
.46; fuflunswl = *-sal, neben -si go. IV, 48;
theils rückwirkend: punpana %. 90 neben
pumpun-, pumpn-; viell. par#anas SC. 168 neben
part(i)unus X. 367-71 (vgl. S3. II, 169,79);
wahrscheinlich vescanei (aus ania) X. 241 ne-
ben vescun-, vescn- %> 244—5; 94—5; curanei,
-anial ®. 966; 21. 733 neb. curunia, cunmial,
cyrnal u. s. w.; su^anei £$f. 562 ter c neben su-
,#un-, sutn-; ferner hermanas 21. 388 neben her-
men-, hermn- ; veli#ana 21. 556 — 8 neben velitn-,
vel#in-, veltn-; ale#anei £. 388, auch wohl
ale^ans £. 333 neben ale#n-, aisin-, altn-;
zweifelhafter Art herinalasa £. 210 neben -lisa;
theils ohne Assimilation: prumatfs g. 2033 bis
D c neben pronepo(t)s, prumts, s. ob. ; numasis
21. 707 neben numsis ebdt, -sis 21. 706, sonst
numis-, geschwächt numes-, daneben numus-
(äft. II, 354) ; schwerlich ist in jener isolierten
Form das a von numa erhalten ($o. III, 265);
marcenei 21. 449 neben marcan-, marcn-, auch
hier schwerlich mit erhaltenem e von marce
(go. III, 246). — 2) sonstiger Vocalein-
schub (äR. II, 354-7, § 7; 33. II, 179), wie-
der theils vo rwirkend assimiliert, wie in pe
tevis 21. 696, wonach auch g. 1698 peteyi st
-eci herzustellen ist, neben petvi von petu (9K.
II, 387), vgl. lat. pälign. helevis = Helvius 21.
946; theils rückwirkend, wie wohl in ar-
na#alisa 21. 126, sonst arn#- ; viell. in akipuval
21. 897 (wenn richtig abgetheilt) neben alpn
alpuialisa, mit anderm Einschub alapu (33?. II?
Neuere etruskologische Publicationen. 1421
354); theils ohne Assimilation, wie viel!, in
presitze Sl. 956 neben prest- aus presnt-, pre-
sent-, da schwerlich das i direct aus dem ur-
sprünglichen e entstanden ist und auch nicht
dies, sondern zunächst das n ersetzt. Die Hülfs-
vocale sind in diesen Beispielen aus dem Stimm-
ton von v, n, 1, s entstanden.
Der Syncope zunächst steht die Vocal-
s.chwächung und -verdumpfung,im Gan-
zen auch, wie jene, auf den Accent zurückzu-
führen, aber viel seltener. Zur Schwächung
von e zu i in der Endung -ena (2J£. II, 358) ist
nachzutragen ca%enei g. 366 neben Gaecina
(richtiger mit i), lat. etr. cacina, syncop. kaikna,
kaixna, ceicna; zur Schwächung von mamerce,
-merse aus mamarce go. Ill, 250—1 die Ver-
dumpfung zu mamurces St. 933; andere Fälle
sind: setimesa 31. 212 neben setume; vilasinei
£. 354 neben vilasunial *ß. 314; titilnei Sl. 420
neben titulni 31. 903; melisnas 31. 593 neben
mlusna 31. 799, 8, meluta, melutnei ©. 1151
u. s. w. Am consequentesten ist die Schwächung
und Verdumpfung bei den griechischen
Lehnwörtern (93. II, 179), vgl. neu: zin-
^repus Sl. 62 = avvTQo<poq\ zimu#e (d. i. zi-
mü#e) ebdt. = Jiopijdqs', uystie Sl. 852 —
"H<pcu<fvoq ; regelmäßig am Wortende -e = -ogt
•tilg, -aog u. s. w. z. B. neu: tiyile, tifile Sl.
319, 887 = di(piXog u. s. w.; vgl. auch enie
Z. 393 = '£jW (?) ; uni = Juno go. IV, 33.
Verschiedene Suffixe (3K.II, 360) bin
ich dagegen eher geneigt anzunehmen in : mu-
ranies, -anis X. 403—4 neben mur(r)en-, murin-
0DI. II, 358); atrunias 31. 207 neben atranes
Sl. 757 ; statt velunu %. 247 ist velus' zu lesen.
Wechsel der Vocale in, betonten
Stammsilben ist selten (äK. II, 362, § 8),
1422 Gott. gel. Anz. 1880. Stüek 45.46.
neu: harmna . .. 9L 823 neben herm(e)n-, hir-
min-; valtsnisa 21. 169 neben velts(a)n-, veltn-
(vgl. valisa zu vel?); virisa %. 213 neben se-
ries St. 312; vilasinei St. 354, -sunial *ß. 314
neben yela&nal 9t. 544: es scheint Einfluß des
folgenden r nnd 1 vorzuliegen; ebenso hat man
in einen, eieu = ceneu, cecu (vgl. bes. 9L
123 u. 124) eine Einwirkung des n zu sehn.
Metathesis (3Ä. II, 364, §9), keine neuen
sichern Beispiele: tnu^uras 91. 353 neben tin-
£uri X. 224, tintfur . . . St. 936, ist, da tn kein
etr. Anlaut ist, wohl in tiij^uras zu bessern;
neben ale#ans 2. 333 (Genit. von ale#na) tritt
jetzt ale^anei %. 388 (s. ob.) ; über vlesi u. s. w.,
lat. etr. volesio 21. 44, sonst velsi, denke ich so,
daß im erstem Falle der italische Accent blieb
und der Vocal der Vorsilbe schwand, im letzte-
ren der etr. Accent eintrat und die zweite Silbe
syncopiert ward; ähnlich viell. aus mamarce:
marce, aus mamarce: mamerce, mamurce s. %.
HI, 246 ff. ; 9t. 933 (auch maerce ? %o. III, 251, 28).
Epenthese (3K. II, 364—6, § 10), neue
Beispiele sichrer Fälle: veila 2. 289 = velia;
veisi 91. 184; %. 130 = vesi; vuisi, -sinei, -sini
% 601, 351, 353; X. 227—8 (auch %. 122 =
6. I, 963 ergänze ich jetzt vuisina[l]) neben
vus-, vus(i)n-; unsichre neue Fälle: veini £.118,
neben ven- (veni 91. 754), aber auch vin-; und,
wegen der Doppelconsonanz bedenklich: heimni
91. 544 neben #emni 91. 546 (wenn nicht aus
hemini); veiena .. 91. 603 neben vecnisa 9t. 276,
falisk. vecineo, -inea; reisnei 21. 525 neben re-
c(i)nia 91. 734 u. s. w. Wegen cagenei gf. 366,
lat. etr. eacina, könnte man auch kaikna, kaigna,
oeiena = Gaecina bierherziehn ; ebenso paipnas $.
372, pepnas St. 343, 351, wegen papni 9t. 669
— 70, lat. Papinius; und in Endungen: anaini,
Neuere etruskologische Publicationen. 1423
aneini, anch anini, wegen anani (Wt. II, 369);
velainal 81. 342 wegen velanei, -anial ©. 1906;
apeinal, auch apini (3Ä. II, 373; doch 8. ©t. I,
56), wegen apa (go. III, 32 — 3); dann auch vel-
xeini (aus -aini) $. 1382 (*ß. p. 104) wegen
Yetyanei 81. 101, viell. vel^(ans) = Volcanus
%o. IV, 53; schwieriger Algen sich atainei
(wenn nicht von Atta, Ata), aveinas (neben avei
@. 212) und andre der gleichen Deutung.
Zu den Vocalverbindungen (2Ä. 11,366
-82, § 11; 93. II, 181—3) finden sich reich-
liche neue Beispiele.
1) ai: neu in airiu 8t. 152, wozu viell.
haire 31. 182, doch s. auch gaireals; aisiu 81.
61, ygl. Alöoi, aisaru, aisinal; lucairce 21. 799,
4 ; im Suffix lat. etr. munainal 81. 872 ; statt ster-
linai 8L 522 ist -nal zu lesen. Wegen des Ueber-
gangs in ae s. dort; in ei, e, i s. oben; zuCae-
cina gehört wohl sicher auch hekinas $1. 48
(Volterra); zu cainei, auch SI. 218 herzustellen,
cene 8(. 229; s. muteni(a) = mutainei ©t.1, 71.
Triphthongisch erscheinen : cuaitnal (wenn nicht
zn trennen) 31. 766, vgl. *uetus 8t. 299, aber auch
cve^nal u. s. w. 9K. II, 385 ; andrerseits : aiianes 8t.
939 (s.ob.); #ne §1. 935, wozu *aes' 81. 117 her-
zustellen, = caie, kavie; %aial 81. 701 = caial
81. 702; unsicher vetyaias %. 223 (wegen velca-
cias %. 222); aiecure %. 229; vasaiuco 81. 13
(Adria): jedenfalls ist hier i überall Halb vocal,
s. ii. — Ueber paislene !£. 169 a u. b s. go.
HI, 349, 72. — Auffällig ist calaina 81. 651 =
gr. raXyvij (?).
2) ae: selten; = gr. a* in aezsun 81. 63
(Klügm.) = Alcoav; aus aie in petraeä 81.
840 zu lat- Petreius, gr. IJsiQatog; aus avie
(wie in xa.es', s. oben) in ylae 81. 395, V
— Flavius. Auffällig ist lat. etr. paethinia 81.
274 = pe#nei ebdt., vgl. peWna g. 675 bisd;
1424 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 45.46.
gegen Epenthese (s. ob.) spricht pe#unei 3f.904
neben pe#nei %. 903 bis, s. auch unter ei; lati-
nisiert sind lat. etr. praesenti 51. 724 u. taniae
21. 649. Zweifelhaft sind: laersina oder aersina
21. 571 = X. 292, V (ich glaubte hersina zu
lesen) und lat. etr. laetona 21. 721 (scheint weib-
licher Eigenname, schwerlich zu Latona gehö-
rig, eher zu etr. le#iuni 5JJ. 209). Schon Gam.
hat laetyu 81. 116, V in la zjxu, und vlesiae 2f.
717 in vlesi ay verbessert.
3) au : Verdichtung zu a und u in : [cjlaunin
21, 535 = claniu 21. 532; viell. in saupinas £.
305, V (ich las rupinas) neben supie, supnai,
-nal 21. 435; 833;' 45; paulisa %. 178, pauli^a
%. 255, III (wenig sicher) neben pulis (so lese
ich), pulia, pulialisa 21. 736; 319; 355; aupusla,
aupnisa 21. 711; 900 neben upus g. 790; ansla
%. 159 neben usil, Name des Sonnengottes, Sa-
bin, ausel; vgl. noch auzrenas 21. 788 (ich las
-inas); statt autrisa 21. 214 ist plautrisa zu le-
sen, s. t. V, p. 88. Aus avi ist au entstanden
in: utauni 21. 82 neben uhtave = Octavius;
caunei 21. 181 = cavinei (so ist zu bessern) 8.
92; daneben kainei 21. 91 (beide auf t. IV) s.
go. Ill, 392. Griechisch scheint die auch in
Marzabotto gefundene Spangenmarke aucissa SL
495 = Avy^sGaa, Avyqoaa; lateinisch ist der
Name faustine[i] 21. 181.
4) ei: im Stamme neu in cei^urneal %. 308;
309 b u. c neben ce#urn-; veies 21. 744, 8.
veianus u. s. w. (SÄ. II, 373), wozu neu veanes
%. 173 mit Ausstoßung des i; lat. etr. saeinal
21. 406 ist wohl verschrieben aus seianal, s.
seiesa, seianti u. s. w. (33?. II, 372; 374), lat.
Seianus. Verlesen sind : ceicu 21. 83 aus ceisu
%. 439 bis (s. 21. 746 = X. 317); veitavial ».
732 aus uhtavial g. 1857 bis a (wo uvit-) ;
Neuere etruskologiscbe Publicationen. 1425
eipine J. 119 ans vipine (so schon Fabr.); statt
uneitas ft. 809 bis = 8. 41, II will Garn, unei-
as lesen, sicher unrichtig. Im 81. 797 — 8
möchte ich peitu lesen (mit Heibig) , vgl. peitui,
petvi u. s. w. äß. II, 387; 81. 691—702; pei-
^esa auf Münzen (go. II, 51, XIV) und oben
unter ae. Zu den Genitiven auf -eis, -eis 3Ä.
II, 374 kommen: vereis %. 1848; %. 180;
viell. vez[e]is 81. 35. — Griech. ^ scheint ei zu
vertreten in atleit (so lese ich) 81. 843 = a#-
Jftft; peleis 81. 952 = dor. Htjl^g?
5) eu: neu in: reusti 81. 872 (lat. etr.), wozu
reustial auf einer noch unpublicierten chiusini-
sehen Todtenkiste; so lese ich auch reusti st.
cleustl g. 889 = ciyesti 81. 597; vgl. reusi,
reusial g. 534 bis 1 u. i, viell. identisch, s. un-
ter „Assibilierung" ; seurusa 81. 520; am Wort-
ende in tumeus (= e-u?) 81. 685, wohl aus
-ius. Als zweifelhaft bezeichnet Garn, mit Recht
hiseuc 21. 193, trotz hisu Sß. 229 bis; hisucna
©. 77 = 81. 888; verlesen ist veneuve 81. 117
aus venel ve.
6) ia: Ueber den Unterschied der Feminin-
bildungen auf -ia, -i und ei, e, sowie der Ge-
nitive auf -ial und -al s. fto. 1, 61 ; 3ft. II, 475 flf. ;
doch bedarf die Sache noch weiterer Untersu-
chung, zumal Yermengung beider Bildungen
nicht zu leugnen ist. Die erste Art hält im
Ganzen das i in -ial fest oder bricht es höch-
stens in -eal, vgl. auch im Nominativ neu
hampnhea 8t. 722 (lat. etr. = -phnea); die
zweite schwächt -eial durch Ausstoßung des i
in -eal (s. unten ua) z. B. neu cei^urneal £.
308; 309 b u. c, und assimiliert dies gewöhn-
lich in -al, d. i. -äl aus -aal (Tl. II, 331 piu-
taal, umranaal). Ueber arn#ial, lar^ial s. un-
ten beim Genitiv. Den Schwund des i vor a
90
1426 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 45.46.
(3ft. II, 376) erkläre ich jetzt durch Uebergang
in den Halbvocal, der sich dem vorhergehenden
Gonsonanten assimilierte, demnach in der Schrift
schwand, und bei vorhergehender Doppelconso-
nanz auch in der Aussprache schwinden mußte,
z. B. #ania, *#anja, #anna, #ana; se#ria, *se-
#rja, *se#r(r)a; arn^ial, *arn#jal, arn#(#)al.
Bei jenem liegen die Uebergangsformen noch
vor in lat. etr. thannia, thanna ($o. III. 153).
Zur Epenthese führte der Halbvocal durch Mou-
illierung des 1 in veilia, veila ausvelia (*velja),
woneben andrerseits vela aus *vella (*velja) s.
go. Ill, 114.
7) ie: einmal iie in kaviiesi s. ob.; als männ-
liche Wortendung wechselt es mit i und e, und
ist so wohl auch in uystie 21. 852 = °H(pai<rio$
hineingekommen.
8) ea: neu in: meas 21. 842 (Heros); sveas
%. 106 = St. 312 (Genit. masc.) ; leasies 2t. 49,
III ; creals 21. 799, 3 ; zweifelhaft Realie %. 290
bis IV (gefälscht oder verzeichnet?) ; verschrieben
ist kneave 21. 238 st. knaeve (SR, II, 368).
9) iu: entwickelt aus u (neue Thatsache;
sonst oskisch und böotisch, s. G. Meyer Griech.
Gramm. 95) in partiunus 2. 371 neben partu-
nus %. 367—8; tiucuntnal 21. 694, tiuc[u]nti (so
stelle ich her) 21. 696 neben tucuntineä g. 1172.
Die Endung iu hat doppeltes i in fasciiu 21. 11
(s. ob.) ; zweifelhaft ist viuns 21. 74 (wohl sicher
verlesen).
10) ui: in a^uilnu 21. 654 (räthselhaft) ; un-
sicher: cuinni 21. 673 (Index cuimni; ich ver-
muthe cumni ©. 961 = Cominius); nuinei 2L
265; nuisu 21. 266 (weibl.); nuirni 2t. 268, die
beiden letzten jedenfalls stark entstellt; statt
cuiunia X. 232 ist curunia zu lesen, s. ob.
11) ua: in luanei 21. 256; im Genit. auf -ual
Neuere etrnskologische Pnblicationen. 1427
st -rial (8. ob. ia), neu: acnatrual 8. 800—1!
IX (wo in 800 falsch -trul).
12) ue: %uetus 31. 299; entstellt ist petuel
8L 700 (eher aus -aal, als -ues); ebenso larsue
%. 489 aus larste fr 867 ter s.
Der Wechsel zwischen u und* (9R.II,
383—88, § 12) ist zum Theil rein graphisch,
besonders an der umbrischen und latinischen
Grenze.
l)w statt t>: in utauni und cannei (s. ob.
unter au), wohl wirkliche Vocalisierung ; rau*
St. 128, Abkürzung von ravn^u (go. III, 303);
sehr unsicher ulunisa £. 165 (im Index; der
Text hat ulusina) neben vluni X. 256; vgl. go.
m, 191, 16 ; ©t II, 6 (uelsina[lj) u. 14 (ajuni).
2) v statt u: oft auf dem Bronzetemplum
(go. IV, 23): #vf, 2mal, neb. #ufl#as; lvn und
lvsl neben Lynsa; cvl neb. culsu; in Endungen:
tluscv; te#vm und #etlvmr, tiberall nur gra-
phisch; ebenso in arv^enas %. 293 (ich las
ara#-, doch s. V) und arvn^alisa 81. 957 ; in
cyrnal 8f. 447 neben %urnal 81. 448; cvspi 81.
251 (nicht crspi s. p. 88) neben cusperiena g.
1383; viell. #vrinal g. 534 bis c neben #uri-
nial 21. 160, turini 21. 735 (wenn nicht herin-)«
Wirklicher Uebergang des u in v fand statt vor
Vocalen in: car^vanies 8t. 930 (campan.) neben
carcu ©. 780; cisvite. -tesa %. 354; 31. 776
neben cisu; pumpva[l] %. 157 neben pumpu;
viell. in s[v]e#vis 81. 914 (wenn richtig ergänzt)
neben sveitu, svetiu. Unsicher ist der Werth
des v in: evle 81. 177 (aus evile?); cevcias 81.
354 = 258 (wo -iaä); ttvcles 81. 786 (zu tiu?
go. Ill, 352); vprtfsa 81. 248 (im Index upr-)
viell. v pr#sa. Entwicklung eines u zu uv in:
petuvi 81. 702; viell. alupuval 81. 897 (wenn zu
alpu); dagegen uv aus ital. ouf uu in luvcti,
90*
1428 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 45. 46.
lavces 8t. 779-80 = @. 119—20 (wo falsch
luk- cti; luk- cas), s. 2». II, 387—8; nuveä Ä.
705 zu lat. Novius ; verdichtet luci, nui (nuis 8t.
462; nui .. 31. 461 = SC. 86-7) u. s. w. Un-
sicher ist #uyes' 81. 104, doch s. #ues g. 1915.
Die Erweichung des l zu i (3K. II,
388—9, § 13) wird gesichert durch clantinei 81.
259 neben ciantinei Sß. 198; zweifelhaft bleibt,
ob puliac 81. 319 Eigenname oder = puiac
„und Gattin" ist.
Gonsonantenverbindungen (3Ä. II,
389-412):
1) Anlaut (2tt. II, 389-91, § 14), neu:
s«acial 81. 412; i;Zesi 81. 712-18 (s. auch $.
534 ter h); seltnere: tlu&cv go. IV, 60; #Zu#u
g. 315; mZusna, müama# .. 21. 799, 8; sZafra
81. 463 (sichert sclafra g. 754) ; sZicale . . 8t.
799, 4; viell. stframenas St. 307 (@t. II, 53, 65).
2) Auslaut (äß. II, 391—95, § 15), neu:
le#ms, letfws. go. IV, 38; OeWvmr ebdt. 42;
aanrs g. 2607, XLIV (nicht -nas); neßs (nefts)
und pruw(/)fc, s. ob.; tivs go. IV, 7; gesichert
tar^na^ 81. 799, 3; seltnere: ratacs 81. 799, 1;
pute ebdt. 6; petfri 81. 549.
3) Inlaut (2R. II, 396—412, § 16), neu:
XKfstie 31. 852 ; lucmes 8t. 7, I = St. 405 ; ala-
X&itre 81. 772; preside 81. 956; ru^wa (lu-) 8t.
799, 5 u. 4; ne#^as ebdt. 3; crxltce 8t. 245;
\elfrei 8t. 777; herein* (so lese ich) St. 752;
tarnte 81. 47; arntffisa J. 141; 170; a,rsmsnei
8t. 169; Creame 81. 667 (auch g. 937 bis, s.
ob.); faswfru 81. 179 = St. 212; husmatre 8t.
799, 7; ae#sun 81. 63 (Kltigm.); luvcnal St. 314;
seltnere: pafetfe g. 1022 bis (nachzuholen);
vaftswisa 81. 169; es^unac 8t. 580; casnflnial 81.
716; apriw^vale 81. 799, 5; insni 81. 45; cufcna
g. 2177; pefcmä 8t. 39; rawis 81. 799, 8;
Neuere etruskologische Publicationen. 1429
sterZinal (so ist zu lesen) 8. 522; t&rxntek 31.
52, III; cawpwas g. 2335 (s. ob.); luvcti 2L 779
(s. ob.). Unsicher sind : vpr&sa, &. 248 (s. ob.) ;
ruyrius 21. 640 (©. I, 761 ruyuius); hermgpia 3L
438 (s. ob.); varjri 3t. 799, 6; lartoes %. 165
(s. ©t. II, 6); anawsäs 91.703; in irnhu St. 290
bis steckt, wenn die Inschrift echt, arn#. —
Ueber scheinbar unaussprechliche Verbindungen
wie flznal, spltur u. s. w. s. unter „Syncope".
Aspiration 2K. II, 412-21, § 17; 95 II,
183—5, neue Fälle:
1) anlautend vor Vocalen: #aie, xaes',
*aial 3t. 935; 117; 701; *alnal %. 109 (s. 3i.
333); xaerui 5ß. 169 d neb. caeru 21. 434; fr-
eies, xur^les g# 2070 — 1 neben curce 31. 561,
curcesp, g. 534 quat. c; gurnal, -nias £. 225
—6; «. 178; 448 (s. 447); ^anr (Göttin, (5. I,
351) neb. tanr 31. 87 ; #etlvmr neben te#vm go.
IV, 40; tfe^ureä g. 1133-4 neben te^urias 21.
367 (nicht ye#-); ^itna 8. 683 (s. 136); #vri-
nal, ^urinial s. ob.; wahrscheinlich: #u#e 31.
201 (s. 514); viell. tfivcles 31. 786 (s. ob.); von
^umiltni 31. 202 = tum Sß. 173 bis m ist eins
verlesen.
2) inlautend zwischen Vocalen: Aspi-
ration in a#u, axunie ®. 237 wird wahrschein-
lich durch akuni 31. 873, auch lat. etr. Aconius;
ferner cei^urneal £. 308 — 9, ce#urnei %. 215
neben cetisnas, -nal ß. II, 617, -nei 31. 232;
le^aria u. s. w. X. 235—41 (s. le#e SR, II,
416); te#vm neben #etlvmr s. ob.; mu^ienas
«. 599 (nicht su# ... 93. I, 93, I), mutfuna %.
108 neben mutie, mutual X. 124; 99 (31. Ind.
p. 98). Nachzuholen ist ca^enei g. 366 zu
Gaecina; lati#e u. s. w. (3Ji. II, 415, Note 156 a)
wegen latites 21. 466.
1430 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 45,46.
3) vor oder nach Consonanten: ph(y>)
inhampnhea (= phnea) 81. 722 (lat. etr.) neben
canpnas (s. ob.) ; X in lau%me Fo. III, 223 neb.
lucmes 81. 7, I; velx(ans) = Volcanus go. IV,
53, viell. zu vel#-, velc- SÄ. II, 417 ; car^vanies
81. 930 (s. ob.) ; [ka]i*naä 81. 19 (s. 16 u. 17) und
oben ca^enei; [fjrau^ni 8t. 551 (s. ©. 520); es%unas
81. 580 (s. g. 2335) ; # in den Endungen -#(u)r-,
-#(i)n-, auch -#, -#a, -#e, -#i, -#u u. s. w. z. B.
selvatfres 81. 690, -Surf 8t. 687 neben falatres 8t.
584; ale^nas neben altnas 81. 585; 579; veli-
#ana 81. 556 — 8 = vel#ina, velt(s)na (s. vele-
#ia SR. II, 416); ferner in par^anaä neben par-
t(i)unus (8. ob.); camar^isunia 81. 357, V (ein
Wort?) neben Camars, Gen. -artis; viell. sme-
#vis Ä. 914 (s. ob.). Statt p^li6 81. 736 lese
ich pulis ; klan# . . . 8t. 544 ist in klair & . . .
zu theilen.
Psilosis, nur in Lehnwörtern sicher zu er-
kennen (SB. II, 185), zeigt das oben citierte
zin#repus = <fvPtQoq>og.
Spiranten SÄ. II, 421—26, § 18:
_ 1 ) h : für x aus c in : hameris 8t. 886 (=
1859 bis, wo -riä) zu Camers; hampnhea
722 (lat. etr.) zu Campanus, s. hamyna u. s.w.
SR. II, 424 (nicht zu '^(ftog); harpitial % 220
zu scarp-, carp- 8t. 719; ©. 785; hekinaö 8t. 48
(aus Volterra) zu Caecina; hapirnal g. 253 zu
caprinal 8t. 267 (viell. 268), kajjrnas 8t. 782;
viell. haire 81. 182 (Index haine?) zu gaireals,
Caere. Zu setume (SÄ. II, 423) aus sehtume =
Septimius s. neu: setimesa, setme 8t. 212; 111.
Verlust des anlautenden h viell. in airiu neben
haire (s. ob.); elcie 2. 252 = 81. 445 neb.
b elk sä g. 726 bis; esetunias 2. 250 neb. hesei
g. 1608 ($. p. 105). - Neu und sehr auffällig
ist der Uebergang eines anlautenden l in A im
Neuere etrnskologische Pablicationen. 1431
Familiennamen letari, levari = hetari, hetfari I.
235—41 , III ; vgl. noch letarinal *ß. 202 ; he-
taria 31. 445; viel). e#ari 31. 443; er scheint
Weiterbildung des einfacheren Namens lete,
le&e (9R. II, 416) zu sein, zu dem also viell.
auch hedesial Ä. 848 gehört; als Mittelstufe ist
wohl ein lh anzunehmen, wie es sich auch in
romanischen Sprachen entwickelt hat. Liegt
dieser Uebergang auch dem für einzelne Fälle
Dicht zu läugnenden Schwund des schließenden
genitivischen 1 zu Grunde?
2) v : Ausfall in caie (cae) = kavie s. unter
Vornamen; abgel. caini(e) = cavini(e), s. cavi-
nei 8. 92; ylae 3t. 395 = *ylavie, s. y[l]ave,
g>lavi g. 314 B.
3) f: für <p (ph) aus p in : nefts und prnmfts,
s. ob.; pufluna 31. 55, auch pufl .. . go. II, 51,
72x (s. ätt. II, 426, Note 175) neben pupluna =
Populonia ; fuflun(u)s u. s. w. , nebst fufle zu
fup[le] go. IV, 49 (letzteres schon 3». II, 426);
viell. furnal St. 745 zu purni @. 1493. Aus v
▼erhärtet ist es viell. in scefia 31. 708 (s. scefi
g. 1778) neben sceva, scevias ©. 1673, aber
auch lat. Scaefius in Unteritalien. Unsicher ist
fei = vel 81. 839 (ich vermuthe felcinates), doch
s. f. g. 1923 (go. Ill, 363).
4) Wechsel der Spiranten und Aspi-
raten: zu herina u. s. w. 3W. II, 422 gehören
noch ferinisa %. 172; yerinaÄ 21. 38, herzu-
stellen g. 123, XXII und 248, XXIII (3R. II,
423); zu lat. etr. tifilia, thiphiliae 5ß. 251 ter g
und h kommen tifile 31. 887 ; tiyile 31. 319 =
Jltpiloq; zu lam^e, lan«jpe, laye Sß. 120 — 134
fügt sich lanfi 31. 497. Für % ist f eingetreten
in velfrei 81. 777. Neben d erscheint h, wohl
nicht nur graphisch (äR. II, 423), in heimni 31.
1432 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 45. 46.
544-5; he ... ni 2t. 548 = Semni 8t. 546;
hesei %. 1608 (*ß. p. 105^ = tfesia 21. 200;
bupriu 21. 196 = Z. 221 neben tfupre 21. 579.
Zweifelhaft bleibt der Wechsel von & und % in
medium, -umi g. 2339; 21. 799, 7 neben metf
5ß. 399; medium g. 2033 bis E a. — Die neuen
Formen nefts und prurafts entscheiden dafür,
daß der Uebergang von pt in ht (SÄ. II, 423)
durch (ft (pht), ft stattgefunden hat, nicht durch
et, gt, wofür egtur = "Extcoq zu sprechen schien
(S3. II, 166, 45)
Zischlaute SÄ. II, 426-34, § 19. Neue
Beispiele der Assimilation sind (ich ordne
anders, als bei SÄ.):
1) Dentale: valtsnisa 21. 169 zu veltni
(SR. II, 427); viell. ceristli, -lial (3«. II, 465)
zu geritnal 21. 231 bis; assimiliert: fasi, fasntru
2t. 119; 179 = St. 212 für *fass- aus fast-,
fasfr-; gvesnas 21. 689 aus gvest- (Sjß. n, 420);
viell. reusi, reusial aus reust- (s. ob. unter eu);
tluscv = *tlut-scu, vgl. ^lu^u, #ulutyr go. IV,
60. Erweichung zu z: presitze 21. 956 zu
pres(n)te; seianzi 2t. 122, sonst seianti. Assi-
milation und Ausfall von t, & vor z in Deminu-
tiven 8. unten. Unsicher spaziafl] 2t. 278 (s. p.
88 u. 102).
2) Gutturale: arsmsnei 2t. 169 neb. arem-
snas g. 2163; lat. etr. corsli 21. 409 zu gurcle,
gurgle s. ob. ; Bestätigungen und Erweiterungen
bekannter Fälle: rescial 2t. 63, viell. reisnei
2t. 525 zu rec-, rec(i)n- SR. II, 429, vgl. recinia
21. 734, recusa 21. 329, recua (auf einem Spie-
gel, nach Klügmann), so daß resgualc & 2497
sicher auch hierhergehört ; fels ... St. 900,
weiter erweicht felza 2t. 586, flznal 2t. 516,
felzumnati 21. 180 zu feie- SR. II, 429 u. 434,
vgl. viell. felcinatcs 21. 839; ähnlich velznal 2f.
Neuere etruskologiscbe Publication en. 1433
59 zu velc- SR. II, 433. Auf Assibilierung be-
rubt wahrscheinlich aucb der Wechsel von c
mit s im Anlaut durch Vermittlung von sc,
doch könnte man allerdings auch sc als das
Ursprüngliche ansetzen, vgl. canzna ©. 757,
nebst (s)kansinaia g. 2184 (Sß. p. 111) und
^ansnei *ß. 179 mit scan(e)sna, san(e)sna ü£. 225
—6; 31. 574; 298; 46; ebenso carpnate ©. 785
nebst harpitial 31. ^220 mit lat. etr. scarpus,
scarpiae, etr. scarpal auf der Bilinguis 31. 719,
lat. etr. scarpia g. 1183, etr. scarpini g. 1977,
campan. scarpunies Sß. 519 (= 31. 850, wo irrig
carnunies), und sarpus 3t. 718; mit fehlender
Urform slafras 3t. 463 neb. sclafra %. 754; mit
fehlender Mittelform sleparis, -ris neb. clepatras,
KXsonctxqiq, -tqcc $. II, 172, n. 141 u. 128.
3) Wechsel von s und z: aezsun 31. 63
(Kltigm.) = Afamv* zintfrepus 31. 62 = <svv-
tQocfog- cuizlania 3t. 127 neb. cuisl-, cuisl- ©.
951; 2082, wo das tönende s regelrecht den
Uebergang bildet (s. ob).
Neu , aber sicher ist der Uebergang des aus
s entstandenen z in r in fremrnal $• &04 neb.
fremznei 3t. 143, mit Verlust des anlautenden
f: remrnei 31. 295 neb. remznei 3t. 144 und
remsna $• 69? bis d; 3t. 881; endlich mit Aus-
stoßung des inneren r: fremnal $♦. 2569 ter neb.
remne 5- 204, herzustellen aus renine 3t. 37 ;
remni 31. 296; 397 u. s. w. s. 3K. II,' .342 ; 431;
437 ; S3. I, 106.
Nasale 3K. II, 434—36, § 20. Wechsel
von m und n neu in le#ms, le#ns, Genit. von
le#am gfo- IV, 38, ob. erklärt; Ausfall in:
ucusna 2. 152 = ugumsna %. 151 ; arntu 3t.
706 = arntnu 31. 707, s. arntni äR. II, 435
(arnti ©t. I, 59 ; II, 4) ; viell. in veltfuruscles
£. 306, tfivcles 31. 786, wenn die Endung =
1434 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 45.46.
clens ist (33. I, 99); ferner pluca = Plunca;
#a(n)si; #u(n)su; pe(n)znei@t.I,*30; 47; 93; 89.
Ab- und Ausfall von Consonanten
(8R.II, 436—37, §21-22, mangelhaft):
1) Anlaut: c = sc = s s. ob. ; f ist ab-
gefallen in remsna n. s. w., s. ob.; dann in
ratacs 81. 799, 1 = umbr. fratreks; verschrie-
ben ist viell. stacias 21. 154 neb. stlacial 21. 412.
2) Auslaut: über das s (6) des Nomina-
tivs s. 3R. II, 481 ff. Den Abfall des genitivi-
schen s (£) und 1 in weiterem Umfange an-
zunehmen (s. für das 1 z. B. @t. II, 56), kann
ich mich noch nicht entschließen, wenn auch
einzelne Fälle nicht zu läugnen sind und ich
vielleicht noch zu ängstlich bin (s. go. Ill, 408,
Note zu p. 44). Das s und 1 sind als Schluß-
buchstaben der Inschriften oft erloschen oder
undeutlich geworden, so daß sie gar nicht ge-
sehn, oder als i oder Trennungspunkt verlesen
sind ; das 1 ferner ist häufig nur durch einen Ha-
ken an einem (nicht immer am linken, Fabr. $.
p. 232, s. 21. 719, VIII) Fuße des vorhergehenden
oder folgenden a angedeutet, der leicht undeutlich
wird und unbeachtet bleibt, s. Garn. Lesung ä.
513 sepana* can st. seplanal- clan; ähnlich ist
as in der Bilinguis g. 460, t. XXIX in einem
Buchstaben geschrieben durch s-artige Krüm-
mung des linken Striches des a.
3) Inlaut: über assibilierte Dentale, Zisch-
laute, nebst, r, Nasale s. ob. Der Ausfall des
c (x) in frauni (SR. II, 437) wird bestätigt
durch 8. 182 = [f]rau^ni 51. 551; zweifelhaft
bleibt er mir auch jetzt noch (s. SÄ. ebdt. Note
195 a) in larn- wegen lar, vein- neben vel (go.
Ill, 391—2), bei welchen beiden man auch
ebenso gut Ausfall eines t (#) annehmen könnte,
wegen fitrt (lar#), velt- (vel#-); ferner in pern-
wegen perna 31. 414 = perperna 81. 415 (lat
Neuere etruskologische Publicationen. 1435
etr.) ; purn- wegen parenaie g. 2404, IJovQimog
u. s. w.; auch findet sich nie marn- neben
qiarc(a)n-. Nur bei tarna neben tarcna, targna
ist die Identität wahrscheinlicher, 8. neu tarnai
31. 654. — Zum wahrscheinlichen Ausfall des t
in seple (äß. II, 437) vgl. jetzt noch seplanal
31. 514, V (wo seplnal), auch 513 (s. ob.), ne-
ben septle %. 213. — An der Entstehung von
cnpna aus cupsna ©. 966, s. auch cupslna (2Ä.
II, 397), neu cupsnei 81. 247 neben cupslnei 8.
246, bin ich irre geworden durch cupuna 21.
448 = cupna 91. 447, was an lat. caupo er-
innert; doch könnte das u auch Einschub sein;
vgl. capna aus capsna (3R. II, 437) oben. —
Ein f ist elidiert in prumts, pruma£s neben
prumfts, s. ob.; über Elision des aus c oder p
entstandenen h s. 9K. II, 423 (dazu viell. lavsie
= *lauhsie = laujsie aus *laucusie, s. unt. ;
lautni, lat. Lautinius = lauctni(e) @t. I, 69 ff.) ;
über v ebdt. 425. — Die stärkste Elision findet
in den mit z gebildeten Deminuitiven der Vor-
namen statt (go. Ill, 377—8, § 6) : theils viell.
mit Assimilation oder richtiger Aufgehn des as-
sibilierten Dentals in den folgenden weichen
Zischlaut: arnz- = arnt(i)z-, arn#(i)z-; larz-,
viell. laz- = lart(i)z-, lar#(i)z-, s. lardiza 8.
257 ; ramz- == ramt(a)z-, ram£(a)z-; theils mit
Elision eines r oder 1 (vgl. eben (laz-): ve(i)nz-
=5= vener(i)z-, venel(i)z- ; viell. #epea = £epr(i)za.
— Nachlässige Schreibung nehme ich an in
vel*aia6 %. 223 = velcacias X. 222 ; paislene %.
169 a u. b, II neb. patislane, u. s. w. ; verschrie-
ben ist auch hampnhea ä. 722 st. -phnea; ver-
lesen parce S. 489 st. pacre = g. 867 ter s.
Ueber die unregelmäßige Lautvertretuung in
griech. Lehnwörtern s. S3. II, 185—6.
Jordan's Vorwurf (Krit. Beitr. p. 46 „man er-
staunt") trifft mich gar nicht, da ich catmite
1436 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 45. 46.
und ravvpydfjGy marmis und Mclgn^aaa , an de-
ren Identität er selbst nicht zweifelt, nur
gegenübergestellt, aber eine Erklärung gar
nicht versucht hatte. Seine wohlfeile Annahme
eines griech. *rcc&o(Aijdiig steht vollkommen in
der Luft; den Wechsel in MagpTjccrog = ilfag-
nijdaog (schon von mir citiert), klärt er selbst
nicht auf. Ebenso ist mir Einschub des t in
neuste, u#8te = 90dv(f(a)£vg immer noch wahr-
scheinlicher, als sein erfundenes *>OdrfftV; vgl.
amytiare g. 1070; a[m]ytia[re] St. 395 = !^h
(puxQaoc, wofür man ja auch ein **/ip<p&idQaog
erfinden könnte. Die Unregelmäßigkeiten wer-
den dadurch doch wahrlich nicht geringer, daß
man sie in die griechischen Dialecte verlegt,
statt sie beim Uebergang in eine fremde Spra-
che und ein fremdes Laütsystem stattfinden zu
lassen. Dasselbe gilt von seinem *SijA*$ oder
*04X$g = 04ng; *Atct%\ ^MeXlsQO^dvttjg u. S.w.
Die stärkste Entstellung aber scheint vorzuliegen
in heplenta H. 384, wonach g. 1019, XXXV
heqplen[t]a herzustellen ist, kaum, nach Gamur-
rini, = Msyaniv&qg ; eher steckt ein mit c Jmio-
zusammengesetzter Name darin.
Unaufgeklärt ist der Vorschlag eines e,
von früher her beobachtet in Etruria, Etruscus
neb. TvQarjvög, Tu(r)scus, und in esal, esl = zal
(4) s. 83. 1, 258 ff. Neu hinzu kommt die von mir
entdeckte Identität von eprtfne und purine (s.
bes. 21. 136 u. 132), viell. = Porsena.
Wortbildungssuffixe 2K. II, 437—75,
§ 23, noch keineswegs tiberall sicher von Fle-
xionssuffixen zu unterscheiden: wenig neue;
manche Varianten und bisher nicht belegte Häu-
fungen. Ich ordne sie nach dem ersten Conso-
nanten des Suffixes wie bei 3Ä. : tar-cste 21. 47
(neu), s. -ste 3W. II, 465; es-etunias !£. 250, s.
tu 3R. II, 442 ; vel-ifrana 8. 556—8, vgl. ale-
Neuere etruskologische Publicationen. 1437
#anei %. 388; -#ans £.333, wahrscheinlich mit
eingeschobenem a statt urspr. i, s. SR. II, 442 ;
ger-itnal 31. 231 bis, neb. -atn, -etn, -utn SR. II,
443, s. Note 212 ; fal-atres (neu) ä. 584, s. -#ri
SR. II, 444 , wozu jetzt vela#ri auch als Perso-
nenname %. 122 , vgl. noch unter n und v ;
ftje[l]-a#urnas 21. 596 (neu, wenn richtig geleseuj,
s. -#ura SR. II, 444, bes. telafluras, dann aber
auch veltfurna u. s. w. ebdt. 453; lemn-itru 21.
748, neb. -tru, -atru SR. 11,444; #et-lvm-r (neu)
neben te#vm go. IV, 42; a^u-ilnu (neu) 21.654,
s. -lunu SR. II, 447 ; ak-iltus (neu) 21. 104, s. *-lte,
-ltna SR. II, 448; sep-uriu (neu, unsicher) %. 165
neb. sepre SE. 154 — 5, vgl. -uru SR. II, 452 ; kut-
ramis (neu, aber wenig sicher) 21. 861, s. aska-
mie g. 2614 quat. (SR. II, 454, Note 233);
cam-artfisunia 21. 357 (ein Wort?), vgl. Camars,
Gen. -artis u. cal-isunia SR. II, 464; le#-am
(neu) fjo. IV, 38, s. -um SR. II, 454, auch te#vm,
tfetlvmr ob.; tet-uminas (so trenne ich ab) 21.
385, s. -umena, -mina SR. II, 454; kar-iunas 21.
90, cusiunas 21. 542 neb. -una SR. II, 458 ; mef-
anetnal (neu) 21. 219, s. -ntn SR. II, 462; tus-
nutnie 21. 377 , nicht -na, wie SR. II, 462 steht ;
huzr-natre (neu) 21. 799,7 (oder huz rnatre?), s.
husrnana SR. II, 454; . . . m-na#uras 21. 799, 8,
s. -mnati, -mnatial 21. 180; SR. II, 441; *lun sa
(weibl.), zu erschließen aus lvn, lvsl, lat. Lynsa,
s. $o. IV, 52; vgl. noch munsal 2(. 932; num-
isies 21. 934 neben -si, -asi, -esi, -usi SR. II,
463, vgl. lat. Numisius; auch anisal 21. 116, V;
tlu-scv aus *tlut-scu go. IV, 59, s. Etru-scus,
Tu(rjscu8 ; at-isnalial (neu) 21. 335, s. -ale SR. II,
445; puriiazas 21. 783, s. -azu SR. II, 466; parc-
azesal 21. 438; aprintfvale 21.799, 5; sel-va#uri,
-va#res 21. 687 ; 690, s. selvans u. s. w. ; svu-
taf 21. 652 (Kltigm.); ercefas 21. 802, 4; tum-eus
1438 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 45. 46.
91. 685 ; anues £. 296, V (nicht anjes) ; unklar
iat melecravicces (oder -ticcis) 21. 799, 6. Fremd-
wörter sind: nefts, prum(f)ts, presitze, luvcti,
erantra, tucipa u. 8. w. Zu theilen ist ive*fria-
nas 21. 633 (Index ivetfr ) in i ve#nanas,
8. -nana 2Ä. II, 460; unsicher ist ananstis 21.
703 und manches Andre, bes. in den größeren
Inschriften 21. 799; 802; 804; 912 bis. — üeber
die männlichen und weiblichen Götternamen
auf -ans, -ens, -uns s. unten.
Bildung der Feminina äR. II, 475-81,
§ 24: unia: atrunias 21. 207; esetunias £.250;
arniunia 21. 166; -da: #upl#a, #uf(u)l#a, jetzt
als weibl. Gottheit gesichert (= Ops?), s. go.
IV, 29; 2R. II, 479, Note 270; -a: *lunsa, Ge-
nit. lv(n)sl, lat. etr. Lynsa go. IV, 52; 8. ©t. I,
44; consonantisch: tetfvm (= Minerva,
Ty&v'g?) go. IV, 40; cilens (= Lua?) ebdt.49.
Flexionsendungen 2Ä. II, 481—508,
§ 25, nicht überall erkennbar und deutbar, sehr
lückenhaft :
1) Nominativisches s (S)} fest in den
männlichen Lehnwörtern nefts, prum(f)ts, ratacs,
patacs (patacsalisa g. 905 bis b) und den viel-
leicht entlehnten Götternamen maris, selvans,
vetis (Gen. -sl), wohl auch ne#an(u)s; ebenso
in den einheimischen fnflun(u)s, cilens (weibl.,
Gen. -sl), auch wohl setflans, ismintfians, tur-
m(u)s, s. 9R. II, 183; ferner für die Genitivbil-
dung auf -al im Vornamen laris (Gen. -isal) und
verschiedenen Familiennamen auf -is und -us
(Gen. -isal, -usal). Diese Ansicht scheint mir
jetzt natürlicher, als Stämme auf -s anzuneh-
men (go. IV, 58 u. 68). Daneben haben letztere
Wörter allerdings auch einen abgestumpften No-
minativ, wie lar(i), tfurice, vetu u. s. w., und
bilden dann Genitive auf -sa, -s, wie lariBa, la-
r
Neuere etrusfcologische Publicationen. 1439
ris und larus ; vetus(a) u. s. w. — Möglich wäre
übrigens an sich auch Identität von -sal und
-sla, so daß das s das genitivische and die En-
dung eine doppelte wäre ; aber es fehlt ein ent-
scheidendes Beispiel, und die specifische, wenig-
stens ursprüngliche Bedeutung von -sla, wonach
es einen von einem andern Genitiv abhängigen
Genitiv bezeichnet (<3t. II, 55) ist für -sal nicht
nachzuweisen.
2) Genitivisches -sa (-so), verkürzt -s (i),
regelmäßig männlich; jetzt auch sicher für lar# :
lartfisa 31. 221 ; lartfis 31. 171 (g. 597 bis m zu
bessern); lartfs 91. 437; also auch wohl lar£i6
1864 (gegen go, III, 191, 15; ©t. II, 6; s.
II, 489). Ueber Syncope und Elision s. ob.
— Weiblich vetuniasa 31. 298; viell. #anasa 31.
401 (VI #ana-sa); etwa 20 mal (i)as, -(i)as.
Ob tivs von tiv (Mond) weiblich ist? go. IV, 7.
Weiterbildung: aupusla 31. 711; faltusla 31436;
arn^rusla 31. 17; herzustellen vel#urusla Sß. 437
(@t. 11, 17); ferner papaslisa 31. 120, herzustel-
len 121.
3) Genitive auf ~o,l. ^ßauli @t. II ge*
langt über die Genitive von arn#, -0ia; lar#,
-#ia zu folgenden Resultaten: perusinisch
männl. -ial, selten -eal, -al, weibl. vermuthlich
-ias; gemeine tr. ml. -al, viel seltner -eal, -ial,
wb. -ias; südetr. ml. -al und -ial, wb. -iah
Ich hatte bisher alle Formen auf -ial, -eal ftir
weiblich gehalten (go III, 47 u. 200), muß aber
jetzt für eine Anzahl Fälle z. B. in den Manci-
ni'schen und Golini'schen Gräbern von Orvieto,
den in go. I, 47, 9 2—93 besprochenen Inschrif-
ten, und andern zustimmen, auch mitunter Ab-
fall des schließenden 1 zugestehen (s. ob.). Zwei-
felhaft bleiben noch die männlichen Nominative
arn#i, lartfi. Weiblich scheint lartfa (= lar-
1440 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 45. 46.
#ial) zu sein in mi lar#a tartinaia (so lese
und theile ich) «. 834, X = g. 2333 ter, vgl.
denselben Bau in $.300; g. 2184 bis. - Wei-
terbildungen: arntfalisa 31. 136; 138; 328; neu:
arvntfalisa 31. 957; arnatfalisa 31. 126; ferner
lartfialisa 31. 137 ; 326; lar£ial[is]la 31. 803; neu:
latflis 31. 873 (s. latfl g. 429 bis a; lartfalis g.
737 ; go. Ill, 190—1) ; herzustellen [ljar#ali[sja
«. 292, V, unklar lat. etr. arisalisa 31. 420, Vi
(lari . . ?) ; vgl. sonst go. Ill, wo %. schon aus-
genutzt ist. Von weiblichen Gentilnamen auf
-alisa etwa ein Dutzend neue Fälle, wie pulia-
lisa 3t. 355. Bei sutfunal; puia 31, 200 ist g.
2078 a u. b (f. p. 112; t. X, 10) und ft. 25,
79 zu vergleichen; es ist nicht mit Garn, männ-
lich zu fassen; die Grabschrift des Mannes, die
dazu gehört, fehlt.
Zweifelhaft bleibt der Genitiv culsans von
culsu, culsu go. IV, 62; unklar ist auch creals
31. 799, 3.
4) Dativisches -si (-si): viell. kaviiesi
31. 771, IX, (go. Ill, 88, 50), doch auffällig
bei mi.
5) Pluralisches -(a)r: tfetlvm-r neben
tetfvm go. IV, 42; viell. #uluty-r neb. #lu#u
ebdt. 59; tanas-ar 31. 794; tev-ar a# 31. 795
(vgl. clen-ar-asi, tiv-r-s), letztere beide unklar;
s. auch . . . picanar 31. 804, 8.
6) m „und44: eslem [zjaflrumis 31. 658 =
vier und vierzig, s. ob.; unklar bleiben: seu-
rem 31. 799, 3 ; sna . . . ram 31. 802 u. s. w. ; s.
auch metfluini 31. 799, 7. Ueber c „und" 8.
unten.
7) Zahladverb, auf z\ viell. in . . . . rflz
31. 740, wenn etwa [hjudz = „sechsmal44 zu le-
sen ist.
8) Perfectisches ce:turce „gab44 31.380;
r
Neuere etraskologische Pablicationen. 1441
amce „war« 3. 799, 9; svalce „verschied" Ä.
776 = %. 354 (in g. 2101 sind zwei Personen
genannt); erce «. 802, 6 (s. g. 2279), dazu
ercefas? ebdt. 4; viell. arce „hätte" ä. 804,2;
neu: acasce S. 799, 3 (s. acazr Sß. 419; 6. I,
565); lucairce ». 799, 4; zince S. 740 (= zi-
la^nce?); filce Ä. 802, 7. Ueber mulvanriice
u. s. w., s. 95. I, 102; go. Ill, 155 u. 88 (%.
771 ; 607—8).
9) Andre Endungen: -ü: pa^anati g.
2335 b neben pa^anac %. 799, 5; viell. vargti
». 799, 6; .. reketi ». 912 bis; -fr, -0i: tar*-
nalff 21. 799, 3 (-tfi oder -öl %. 322, s. 3Ä. II,
393); viell. tfutuifli ». 799, 8; arimcifli ä. 804,
6; die Zugehörigkeit von alumna# ä. 799J 7
wird zweifelhaft durch alumnatfe ebdt. 5 (s.
Suffix: -ate); va: marunu^va 81. 740 ; neurud-cva
(lutfcva) 21. 799, 4 u. 5 ; viell. aprinfrva-le ebdt.
5; ich möchte hierher ziehn auch eitva, etva g-
2056 (Z. 318); 2340; 1933, einmal freilich etve
g. 1915; -eri: ce%aneri 81. 802, 5 (cexasie 4;
ce#a 3, auch 804, 2); neu hermeri 81. 799, 4
(hermu 5, 7 u. 8); viell. armrier ebdt. 9. Auch
-sie und -u scheinen danach Flexionsendungen
zu sein (doch s. lau%usie, helmu u. s. w.); an-
dere stecken noch in den Inschriften 8. 799,
802, 804, auch wohl 912 bis, aber die Aus-
scheidung ist zu unsicher. Ein neues Beispiel
zu -das fehlt (äK. II, 507).
Zum Vocabular ä». II, 508—12, § 26
sind hinzugekommen:
1) Götternamen: ani = Janusgo. IV, 24;
catfa(nia) = Celeritas (Solis) 46, vgl. catfas 81.
799, 4; cilens = Lua 49; velx(ans) = Volcanus
53; vetis = Vedius 68 ; teflvm = Minerva, Tti&*'$}
nebst fletlvmr = Fata (minora) 42; tiv = Luna
(bestätigt tivrs = mensium) 7 ; tluscv, nebst #lu#u
91
1442 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 45. 46.
(tfulutv) = Neptunus, Consus 60; #uf(u)l£a
#upl£a = Ops 29; le#am = Lar, Genius 38;
*lvnsa = Lynsa 52; satre = Saturnus 65; sel-
vans = Silvanus 54; ferner vesuna (Göttin) 8.
652, auch italisch ; vgl. umbr. etr. daneben vesia
g. 70, 71, 88 b (von 6. I, 515 irrig als Fami-
lienname gefaßt); rätbselhaft: meas 21. 842 (He-
ros); svntaf 91. 652 (Jüngling); aminfr $. 374
(Genius) und Anderes. Interessant ist: tanr 9.
87, III (st. Gam. vnat), die zweite Statuette der
Göttin #anr, s. mi : tfanrs g. 2607, XLIV ; mera
= menrva go. IV, 50, viell. auch auf dem Spie-
gel Bull. 1880, 68; tins, Gen. v. tin(i)a go. IV,
28, neb. tinas 2- 356, tins «. 88, IV, vgl.
tins'cvil; rescial 31. 63 und recua (Brief voa
Kltigm.) neb recial und res^ualc (go. I, 60);
cvl ... = culäans von culsu go. IV. 62 , vgl.
culsu ». 799, 6, cvls.. «. 804, 5; lasl, Gen.v.
lasa go. IV, 43; malavis neb. malavis% 81. 773
u. s. w. Ob auf den Münzen von Populonia ä.
54 und 56 statt metalu (yetaru), metl (nach
Garn. = metallnm) etwa setaln, s'etl = sedlans
zu lesen ist, bleibt, bes. des t wegen, zweifel-
haft. — An netsvis = haruspex klingt entfernt
an die von G. Löwe gefundene placid. Glosse:
nartheterem: auspice(m) Tuscum, neben Deaer-
ling's (p. 68, 10, unter N) artheraterem (oder
-torem): aruspicem Tuscum.
2) Andre Wörter: nefts = nepos, Enkel;
prum(f )ts, prumafl s (auch g. 990?) = pronepos, Ur-
enkel (demnach #ura = progenies, Nachkomme);
ratacs = *fratricus, Bruder?; patacs = patricus
(Beiname), alle 4 aus dem Italischen entlehnt;
ferner purine nebst purtäva-, epr#n- = Porsena
(IJQvtav$g?\ ein Ehrenamt z. B. g. 2100eisnevc
epr^nevc- mastrevc = et fuit sacerdos (etr. ital.
ais-, eis- u. s. w. = deus, divinus) et Porsena
Neuere etrnskologische Publicationen. 1443
(so schon Sayce und Taylor für purtävana, -vav-
cti) et magister (S. II, 13); in $. 387 ((£. I, t.
XIX, 2) gehören die Worte von lupu bis cez-
palgals an den Schluß, vgl. *ß. 388: dann ist
dort zil%nu; cezpz: parts vana: #unz = fuit Zi-
lag (ein andres Amt, s. äß. II, 505 und sonst)
octies, Porsena semel; hier zilagnuce zilcti
purts'vavcti = functus est munere Zilax(is) et
Porsenae u. s. w. ; vgl. noch purine 31. 132;
pur# ... *ß. 399 ; eprtfni «. 136 ; eprtfne fr 2033
bis Ea; eprtfneva und -nevc g. 2057 = %.
329, X. Auch in maru, mar(u)nu(%) erkenneich
jetzt mit Corssen (I, 236) einen Amtstitel. Ueber
alpan = imago s. $o. IV, 62 ; mutna (nicht su)
„Sarkophag" fjo. III, 110 (21. 664, VII); itun(a),
nevi(ku), ni(pe), p(uln) = „Schale, Krug" go.
Ill, 170; 259; 263; 286 (s. ä. 67) u. s. w.
Griechische Lehnwörter (85. II, 161
— 86), neu: atleit 21. 843 = d&Xtjvqg?; aezsun
& 63 = AUsmv\ calaina 31. 651 = T«^V^?;
evru . . = Ev Quoin] Bull. 1875, 84 (nachzutra-
gen); enie X. 393 = 'Evvvi? erus 81. 62 « fatdg ;
zindrepus ebdt. = ovvtQocpog; heplenta 31. 384,
heylenMa g. 1019 =7/itto-?; metvia 21. 63
(nach Kltigm. auch Gerh. t. CLXXXIII) = Mq-
ö€hx (vgl. latva = Atfda); pemyetru (nicht
aem- Jß. II, 165, 29) %. 393 = ns(p)(pwdii ;
tiyile, tifile 21. 319; 887 as Jiydog (s. tifilia,
thiphiliae, lat. etr. Sß. 251 ter g und h); uqpstie
21. 852 = "Hcpcutnog. Neue Formen sind: ala-
%sntre 21. 772 = 9A^ap6Qog; zimu^e 21. 62;
zimite (Klügm. -maite) 21. 650 = Jiofjujdfjg;
peleis 21. 952 = IJfjXevg, I7fji.ijg? (sonst pele);
telmun 21. 749 = Tslafiuov.; utuse 21. 650 = 'O dvo-
csvg; nachzutragen ist a[m]<ptia[rej %. 315 =
UfjupHXQctos (s. S3. II, 165, 34). Ein noch nicht
publicierter Spiegel hat priumne = Hgiapog
91*
1444 Gott gel. Adz. 1880. Stück 45. 46.
8. JB. II, 169, 86 und ecapa? (Brief vod Klüg-
mann).
Ueber etera und lautni (33. III, 26 — 53; £.
22 — 36) handelt Pauli Studien I: er faßt jenes
als libertus, ich früher als servus; dies als ser-
vus, ich libertus. Mir scheint etera = adopta-
tus oder eher alumnus zu sein (briefliche Ver-
muthung von Alibrandi) ; neue Fälle : etera | au-
pusla 81. 711, VIII öung gestorben); lartfi reci [
nia velu* | etera 81. 734 (weibl., statt eteraia?);
verstümmelt ist 21. 676. Die Bedeutung von
lautni ist zu meinen Gunsten jetzt sichergestellt
durch die Bilinguis 81. 719, VIII
lat. 1 - scarpus * scarpiae * 1* tucipa
etr. larntf • scarpal • lautni
Voller Name H. 559 a#: larce | tfupre: tet |
nis': lautni; ebenso 91. 670 ar papni lautni
(näml. papnis', s. 669) ; eine Freigelassene als Ge-
mahlin des früheren Herrn 81. 707 puia- arntnus'|
numsis | numasis * lautni #a (s. 706) ; ähnlich 91.
221 lartfia: camei: lartfisa: lau: s'atnas' (näml.
puia). Fremden Namen hat der lautni 81. 176
erantra; 81. 319 tiyile (scheinbar Gentilname 2T.
887); etr. Vornamen larfr 81. 460; 871; ar(n^)
887 (neben tifile); ebenso die lautnida lat etr.
ramta 81. 422; hasti SC. 411. Verstümmelt oder
abgekürzt ist: laut(n)i 31. 871; lautni(£)a 8L
876; lautni(^a) 81 422; unvollständig sind 81.
365 c; 442; 876; ob lv 81. 839 = lavtni, ist
zweifelhaft (eher = luvci); in 81. 460 ist viell.
#anas: tutlu[nias] zu lesen. Die Verbindung
la • eteri begegnet nur 81. 96, hinter puiac, aber
doch wohl auf den vorhergehenden erloschenen
Mannesnamen zu beziehn. Unpubliciert (Brief
von Heibig) aus Perugia: zepanu: lautni: frauc-
nal , mit Fremdnamen. Endlich möchte ich
Neuere etruskologische Pubücationen. 1445
tins' | Int Ä. 88, IV als Jovis libertns fassen ;
vgl. lautni flufultfas' = libertns Opis ft. 804
(33. Ill, 51, 101; ©t. I, 65, 99; auch p. 105).
Zur Conjunction -c „und" fto- I, 7—37
sind neue Beispiele: satlnal c £.368; sentinal-c
81. 164; acnatrual-c ». 800—1; pulia-c ». 319,
viell. = puia-c 8. 95—96; 790; pa^ana-c ä.
799, 5 (vgl. -nati ft. 2335 b) ; zweifelhaft valis-ic
ä. 7 = %. 405, da der Ring doch schwerlich
zwei Personen (Brüdern) gehört hat ; eher steckt
clan darin. Ueber ft. 2100 8. ob. ; auch das c in
purtsva-v-c-ti Sß. 388 faßte ich dort als „und".
— Ueber den Genitiv auf -al fto. I, 41—83
s. ob. : er ist jetzt wohl allgemein anerkannt.
Die etruskischen Münzen fto. II (SR. I,
379 — 434) haben wenig Besserungen und Zu-
wachs erhalten (Ad. Kltigmann Bull. 1877, 146
— 51). Auf der Goldmünze n. 1 (p. 5) liest
Fabretti (Atti d. R. Accad. d. Torino XV; 21
Dec. 1879) jetzt wohl mit Recht velznani st.
-papi, so daß sie sicher nach Volsinii gehört
(sonst velzu, velsu, s. n. 6 u. 7); zum Suffix s.
2R. II, 461; lat. Volsanus = Volsnanus? —
Auf n. 33 (p. 19) las ich Herbst 1878 im Briti-
schen Museum kami, so daß sie viell. nach Ca-
mars = Clusium gehört. — Neues Exemplar zu
n. 68 x (p. 48) mit pufluna und metal u (nicht
vetaru), viell. = setaln(s) = setflans H. 56,111;
nur s'etl (Gam. metl = met all am) auf 31. 54,
III. — Ein Ex. von n. 84 a (p. 54), 81. 846,
bringt die lat. Inschrift c. piso und stammt aus
dem hannibalischen Kriege (etwa 210 v. Chr.),
wie ich bereits SR. I, 431 vermuthete (Garn,
p. 74 hat mich mißverstanden).
Vornamen fto. Ill (3K.I, 442—74). Nach-
träge:
1) arn& (@t. II): Grundform aruntf sicher durch
1446 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 45.46.
31. 89; arun£[i]a (gen. m.) 8. 542, vgl. arantta %
640; arvntfalisa 31. 957; viell. ary#enas (nicht
aratf) %. 293 (abgeleit. Gentilname) ; neuarnada-
lisa 21. 126; abgel. Gentiln. : arntnu, arntu 8.
706—7 ; arnörusla 8. 17 (Vor oder Beiname?).
Identität von ar and a#- entschieden durch 8. 401
(bilinguis) ; ar 406 (lat. etr.) ; at- sicher durch 8.
211; 441; neu lat. etr. artal 21. 407 = arnflal.
— Ueber männl. arntfi ©t II, 69; go. III, 40.
2) aule: aul- 8. 279; a- (= aulia) 8. 81;
neu aus'- = aules 8. 177 ; lat. etr. aule 8. 872;
Gentil. aulias' 31. 163 (@t II, 21). - Viell.
nachzutragen aviles 8. 732 = g. 1857 bis a.
3) caie: kavi 81. 12; kaviiesi (Dativ?) ».771
= go. III, 88, 50; zwfl. caval 8. 300 = 892
= *cavial ? (Gentil.) s. cavla[l] @t. I, 72 ; aspi-
riertes Gentil. %aie, xaes', j^aial s. ob.
4) cneve: kneave 8.238 (st. knaeve?); viell.
camp. cn[ajive 8. 931.
5) vel: lat. etr. 8. 414 (2mal); Gen. vlas ä.
262; velu 8. 665 (Deminutiv?); neu velisa ä.
241 (weibl. Dem.), lat. etr. schon g. 855 = 951
(go. III, 121). Ob hierher valis-ic 8. 7? s.va-
lisa g. 959. Ueber fei = vel s. unter f.
6) velöur: vel# 21. 659; Gen. velturus JL
574, VII; velöurusla *ß. 437 (nach ©t. II, 17);
wohl verschrieben vetfurus' 21. 385, V (schwer-
lich 21. 551, wo ein Gentil. zu erwarten).
7) velxe: viell. richtig, wegen v%* 21. 656
(Nom. und Gen.), s. go. Ill, 4, 1.
8) venel: 21. 117 (nicht -eu).
9) dan(i)a : etr. unasp. tania 21. 438, VI ; tana
21. 673; Gen. tfanasa 8. 401 (t. VI 0ana- sa?);
Sanas 21. 460 (st. sunas?). — In 21. 298 igt*-
Rest von a#- oder 1#-; lat. etr. tana 8. 421.
10) öanxvil (£. 60—66), herzustellen ans
0nevi:l8.544; flanxvpl] 21. 742 « g. 2092 (go.
HI, 160); aus tfanial 2C. 592 = go. III, 162,28.
Neuere etruskologische Publicationen. 1447
11) euker 21. 104; Gen. tfucerus ä. 465
(unsicher).
12) lar: nach meiner jetzigen Auffassung (s.
ob.) nicht von lari und laris zu trennen. Un-
sicher lat. etr. [l]arisalisa 21. 420, VI.
13) laree: Gen. lareces 2t. 904.
14) larO (©t. II): verhauen larntf = lat. I-
% 719 (nach am« ?); Gen. larflisa 21. 221 ; lartfis
21. 171; larfrs ». 437; erweitert latflis 21. 873;
herzustellen laflafl] 21. 531 ; [l]arflali[s]a 21. 292,
V; abgekürzt lrt 21. 92 = g. 471; Demin. neu
larfliza «. 257; weibl. lartia 21. 882; larti 21.
672; lafli 21. 139; 181, V (Gam. irrig Irfli und
lati); 318. Unsichrer Deutung ist larta 21.465;
über lartfa (Geuit. Fem.) 21. 834, X = g. 2333
ter (in go. III vergessen, obwohl in S3. I, 103,
29) s. ob. — Lat. etr. larth 21. 419; Gen. Jar-
thal 21. 415; weibl. lartb[ia] 21. 405; larthi 21.
409 ; 424. Die andern Formen schon in go. III.
— Ueber männl. lar^i ©t. II, 70—1 (schon g.
Ill, 196); männlich sind auch die Gen. larflia-
lisa 21. 137; 326; lar#ial[is]ia 21. 803; über
lartfe (Index 96) s. %uarfle.
15) lau%me: unaspiriert lucmes (Gen.) 21. 7,
I =a 4. 405, XII (danach zu bessern go. M>
236, 10); vergleicht man lujumes *ß. 335 (go.
Ill, 225), so wird wahrscheinlich, daß lucumu
go. Ill, 232, trotz seiner Verkürzung im lat.
Lucumo, Deminutiv von luc(u)me, urspr. *laucurae
ist; dies aber ist Ableitung von *laucu, woraus
la%u und lu^u, s. Iu^us (Gen.) 21. 904 ; zu *laucu
verhält sich dann lau%usie go. Ill, 225, wie ce-
xasie zu ce*a, vgl. schon go. Ill, 375, §. 5.
16) lauxusie: s. oben; viell. Gen. lavsies' 21.
23, II; vgl. [la]uxsie g. 355 (go. Ill, 226) und
Lausus bei Vergil; nicht sicher echt lavises' 6.
I, 919 (Bronzen von Val di Cembra).
1448 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 45.46.
17) luvci: luci (männl.) 21. 565; viell. lv H.
389.
18) marce: Gen. mamarces 21. 782— 3, IX;
mamurces 21. 933 (neu, campan.); marces 2L
763, VIII.
19) numusie: neu numisies 2t. 934 (s. lat.
Numisiu8).
20) ravnfiu, ram&a (2. 68— 70): rau- 2t. 128
(s. go. Ill, 300, 42 und 303, 54) ; [r]amu#a «.
580 (auch von mir copiert, aber in den go. ver-
gessen); lat. etr. ramta 21. 422.
21) se&re: s## (Gen. masc.) 2t. 400; se#ras'
21. 279; lat. setra 2t. 754; Genttl. ist se#ra[l]
2t. 346; vgl. noch ©t. I, 9-10; II, 6; 25.
22) tar%i 21. 400, VI (2mal); viell. tarjia
(weibl.) 21. 122; vgl. tartf 5ß. 301 (g. III,
333, 1).
23) %uarde : herzustellen [#u]ar#e (nicht
larfre) 21. 905, III. Ob cuaitnal 2t. 766 zu tren-
nen ist, und in cu eine Abkürzung der Stämme
cuint- oder cuart- steckt, bleibt zweifelhaft.
24) fastia: fas#i 2t. 101; fasi 2t. 119 (s. fas-
g. 1578; go. Ill, 359, 21); lat. etr. hastia 2t.
41;J (2mal), viell. herzustellen aus nastia2l. 418;
hasti 21. 411; vgl. noch ©t. I, 14; 33.
Ein neues sicheres männliches Vornamen-
siglum scheint tr* 21. 584, wohl = pränest. Tr,
08k. tr-, also *trepi = Trebius; dazu dann die
Gentilnamen : trepi, trepu, trepalu, treple, trepuni
u.s.w. G. 1844 ff., vgl. ©t. 1,93. — Gam. faßt
hermi (nicht #ermi) 21. 725 als weiblichen Vor-
namen, indem er siate[i] ergänzt; man kann
aber auch siatefs] setzen ; auch 21. 686 zwingt
keineswegs, hermi als Vornamen anzuerkennen.
— Ob in tfivcles 21. 786 ein tiufs] cle[n]s steckt,
bleibt sehr zweifelhaft: s. go. Ill, 352 und vel-
tfuruscles 3J. I, 99 ; @t. II, 53, 59. Ueber pesna
s. ©t. I, 96 (go. Ill, 272).
Neuere etruskologische Publikationen. 1449
Die Zahl der neuen Familiennamen (30?.
I? 474 -498) und Beinamen (ebdt. 498— 502)
ist bedeutend und beträgt wohl 200: ein größer
Theil ist oben gelegentlich angeführt worden.
Besonders interessant sind etwa noch folgende,
wobei ich die sogen, nordetr. Formen und vieles
Unsichere bei Seite lasse: anicisa (lat. etr., Gen.) 21.
471; antei (abzutrennen aus fantei) 8. 688 ; asate
8. 98 — 9, einen Stadtnamen asa = Ära voraus-
setzend (?); afus' (abgetrennt, Genit.) 8. 385, s.
afur (Beiname?) 8. 903; campes 8. 464; cana
8. -222, bisher Appellativum (§o. 1, 55) ; cresa (?)
5E. 173 bis n; cvertfesa (Gen.) 8. 331; erkace-
nas 8. 572; veni (weibl.) 8. 754, s. veini %.
118, sonst venu; vilasinei %. 354, s. vilasunial
5ß. 314; zilini 8.178, s. lat. etr. selenia 8.529;
helmus (campan.) 8. 934; lat. etr. hollon . . .
8. 424, danach herzustellen hollonis £. 115;
Realie (Bein ?, unsicher) %. 290 bis; tfafure
(Bein.) 8. 547, s. toessap. Tafar-, Tabar- *ß.
526 - 30 ; imatu 8. 203, s puratum 9ft. II, 442,
Note 208; kilnei, -n[al] 8. 544; 548, vgl. Cil-
nius und g. 2031 (@t. I, 51, 56) ; lakenas 8.
755, VIII, zu laue-?; maruce j. 174, vgl. Mar-
rucini; lat. etr. ocriclo 8. 825, vgl. ucrislane;
orsminnius, -ia 8. 836 = ursmini g. 2095 quat. ;
parfnal 5ß. 256 (nachzuholen); pelcnis' 8. 39
vgl. Paelignus (?) ; plance 8. 523; prasinfa] 8.
107, erklärt das bisher räthselhafte a prasna r
g. 854 (go. Ill, 303) ; lat.^etr. raveia St. 264 bis,
vgl. rave . . ia 8. 424 ; salpe (Bein., unsicher)
8. 168, vgl. Salpinates 2R. I, 327 ; s'antfatnei 8.
59, vgl. samatnei, semusaflnis' u. s.w.; scalutia
21. 885 ; scenatia 21. 433 ; lat. etr. sandina (weibl )
21. 469; scania 21. 419, vgl. scansna; s'ilunis'
21. 859; starnitfi, -#a[l] 2t. 700; 704; supie 2t.
435, vgl. supl-, supn- ; sure (Gentil.)8. 108, s. go.
1450 Gott gel. Anz. 1880. Stück 45. 46.
in, 332 und surn-; taqpusa iL 459, s. ta^unia;
teli 3f. 306, s. telaflura; tete iL 368, sonst teta;
umpres «. 697, vgl. Umber ; Ultimi «. 350, vgl
ultimne ; gumtu 1. 254 und 257 *u s. w. — Inter-
essant ist, daß nach 31. 799 die Nachkommen
des lar(i8) pule den abgeleiteten Namen paleoa
führen (s. auch 800 u. 801). — In 21. 253, V
lar# : latini : clanti : latinial : lardal | scires : clan:
(im Text falsch atinial) scheint der Sohn den
Familiennamen der Mutter angenommen zu ha-
ben, deren Name auch voransteht; scire ist
sonst Beiname der petf (u)na. — Bemerkenswerth
sind ferner iH. 231 bis vel: cesusa: xeritoal:
clan; ähnlich -21.338 vel: velsi: viscesa: vi:
tlesna[l] : clan, vgl. 9K. II, 485 ff. — Grabschrif-
ten von Mann und Frau zusammen sind: ?(. 8t
(trenne a • vusnei) ; 92 (Vorn. d. Frau fehlt) ; 95
u. 96 mit puiac „und Gattin", beide verstüm-
melt; 319 mit puliac (s. ob.); 445 (zweifelhaft,
s. 174 u. SC. 252; Fälschung?); 502; 654 (but
zwei Familiennamen); 706 und 707 (gehören
zusammen) ; 908. Zusammen gehören auch 544
a u. b, zu lesen: vel: heimni tutia[l] klan;
0[a]n%vil : kilnei : velasnal : &e%. — Das etr. ml
„ich bin" erscheint lat. 5(. 529, sonst oft (In-
dex p. 98); sutfi nur «. 904.
Weitere Ausführungen muß ich für eine an-
dere Gelegenheit aufsparen: es bietet dazu
Gamurrini's verdienstliches Werk noch reiche
Gelegenheit.
W. Deecke.
r
i
V
Livias, rec. A. Luehs. 1451
T. Livi ab urbe condita libri a vice-
8imo sexto ad tricesimum, rec. Augu-
stus Luchs. Berolim ap. Weidmannos 1879.
CL u. 393 SS. gr. 8°.
Bis zum Jahre 1869 galt für die Kritik der
III. Dekade des Livius der Grundsatz, daß die-
selbe sich einzig auf den Cod. Puteanus (Nr.
5730 der Pariser Bibl.) zu stützen habe und
daß alle übrigen uns bekannten HSS. auf diesen
zurückgehen. Die in den jüngeren HSS. und
älteren Ausgaben sich findenden Abweichungen
vom P und die Ergänzungen der in ihm vor-
handenen Lücken setzte man auf Rechnung der
Abschreiber, Erklärer, Herausgeber. Auf die
Unrichtigkeit dieser — selbst von einem so
scharfsinnigen Kritiker wie Madvig noch bis
zum Erscheinen der II. Auflage seiner Emenda-
tiones Livianae (1877) mit Zähigkeit festge-
haltenen und vertheidigten *) — Ansicht zuerst
hingewiesen zu haben, ist das große Verdienst
des Nürnberger Rektors Heer wagen. In sei-
ner Comm. crit. de T. Livii XXVI, 41, 18—44,1
Nürnb. 1869 lieferte dieser den unanfechtbaren
Beweis, daß das im P fehlende, in dem verlore-
nen Cod. Spirensis — von der Speierer HS.
gaben nur noch die in der Edit. Froben. II
(1535) durch Rhenanus überlieferten Lesarten
Zeugniß — und anderen HSS. vorhandene resp.
*) ImProoemiom zurlll.Dek. in seinen -Emend. (Aufl.
II, p. 271) gesteht er seinen Irrtbum offen ein: 'quae
contra proferebantur nimis pertinaciter sprevi, de lacu-
narrnn duarum maiorum supplements temere Weissen-
bornio assensas, in quo etiam Hertzio nonnihil iniuriae
feci. Eum errorem . . . nunc correxi, reficto hocprooe-
mie* usus iis, quae primus Ileerwagenus ♦ . docte et vere
disputavit etqs.'
1452 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 45.46.
vorhanden gewesene Stück XXVI, 41, 18-43,8
nicht, wie man bisher gewöhnlich angenommen,
spätere Ergänzung eines gelehrten Italiäners*)
aus dem 15. Jahrb., sondern echt livianisch sei.
Er zog daraus die ganz richtige Folgerung,
daß neben dem Put. noch eine zweite, verschie-
dene, aber mindestens gleich gute Textesquelle,
wenigstens für die zweite Hälfte der III. Dekade,
vorhanden gewesen sein müsse, aus welcher der
von Khenanus excerpierte, seitdem verschollene
Spirensis geflossen sei. Heerwagens Schluß
fand glänzende Bestätigung einmal durch den
fast gleichzeitig von Halm in der Münchener
Bibl. gemachten Fund eines, das Stück XXVIII
39, 16—41, 12 enthaltenden, Blattes des Cod.
Spirensis, aus welchem man das Alter dieser
HS. (saec. XI) feststellen konnte**), und dann
durch die von Studemund in den Analecta
Liv. Berol. 1873 p. 6 — 31 vorgenommene
Herausgabe der (von Baudi de Vesme entdeck-
ten) Fragmente eines sehr alten Turiner Livius-
Palimpsestes, welcher derselben Handschriften-
Familie wie der Spir. angehört (s. weiter unten).
Es mußten nun die bisher wenig beachteten
jüngeren HSS. klassificiert und diejenigen her-
ausgesucht werden, welche dem Spir. zunächst
verwandt sind. Dies that Th. Mo mm sen (in
den Analecta Liv.) — wie Weißenborn Vorw.
zur III. Aufl. von Liv. Bd. VI, 1 der Weidmann.
Ausg. sagt — „in einem Umfange und mit
einer Schärfe, wie nie vorher geschehen". So
war für die dringend nothwendig gewordene
*) Aischefski Ausg. IV p. 194: 'callidas üle Italos,
qui banc lacunam ex Polybii fragmentis satis scite ex-
plevit\ Vgl. Madvig Em. Liv. ed. I p. 203.
**) Halm, Sitzungsberichte der bayer. Akad. d. Wiss.
1869. n, S. 580-584.
r
Livius, rec. A. Luchs. 1453
neue Edition dieses Theiles der III. Dekade in
den Grundztigen der Weg vorgezeichnet, auf
welchem weiterzugehen war. Dieser wichtigen
und mühevollen Aufgabe unterzog sich der
jetzige Professor A. Luchs in Erlangen, ein
Schüler Wölfflins, und er hat sie mit großem
Fleiße und sicherem Urtheil auf der soliden
Grundlage eines genauen Studiums und sorg-
fältigen Eingehens auf den Sprachgebrauch, wie
dasselbe Wölfflins Schule eigenthümlich ist,
glücklich gelöst.
Zunächst lag ihm ob, die von Mommsen be-
zeichneten jüngeren HSS. ganz zu vergleichen,
ihre Verwandtschaft unter einander zu bestim-
men und zu untersuchen, wie weit sie für die
Textes-Emendation zu verwenden seien. Welche
umfangreiche und mühsame Arbeit dies gewe-
sen ist, lassen die in den Prolegomena Pars I
Codicum enarratio p. VIII— LX niedergelegten
Resultate schließen, die wir kurz wiedergeben
wollen.
Zuerst führt Luchs den Beweis, daß alle von
Rhenanus und Gelenius in den Adnotationes zur
Ed. Froben. II (Basel 1535) vorgebrachten lec-
tiones und emendationes, bis auf wenige von
Luchs namhaft gemachte, aus dem cod. Spiren-
sis (S) genommen sind. Dies ergiebt sich aus
der Vergleichung derselben einerseits mit der
älteren Ed. Froben. 1531, andrerseits mit den
dem S verwandten jüngeren HSS., von denen
Luchs nur die besten zuzieht, welche geeignet
sind die Ueberlieferung dieser Handschriften-
familie erkennen zu lassen.
Der Cod. Puteanus (dem 6. oder 7. Jahrh.
angehörig) entstammt demselben Archetypus,
aus welchem die Urhandschrift (2) des Spiren-
sis geflossen. Somit gehen alle uns direkt
1454 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 45.46.
oder indirekt bekannten HSS., welche die tll.
Dekade überliefern, auf &nen, vor dem 6. Jahrb.
geschriebenen, znm Tbeil lückenhaften und von
Schreibfehlern entstellten Codex zurück. Sie
theilen sich (s. das Stemma codicum bei Luchs
p. VII), in zwei Familien, die des Put. (und
seiner Nachkommen, des Vat., Bamberg., Col-
bert.), der die ganze Dekade enthält und nur zu
Anfang und Ende verstümmelt ist, und die des -2,
der Urhandschrift des Spirensis. Aus dieser
stammt, außer dem Taurinensis (s. oben), der
nicht mehr vorhandene cod. 21, der Vater des
Spirensis und eines (auch verlorenen) dem Spir.
ganz ähnlichen und dieselben Abschnitte ent-
haltenden Cod. gemellus 2*. Auf letzteren sind
alle in Betracht kommenden jüngeren HSS. (die
namhaftesten: Harl. 2684. Harl. 2493. Laur.
LXIII 21 Vat. Pal. 876. Flor. Laur. LXXXIX)
zurückzuführen, aus welchen (sammt den Les-
arten der Ed. Frob. II) die Ueberlieferung der
^-Familie rekonstruiert wird. Den Weg, auf
welchem Luchs zu den angegebenen Resul-
taten kommt, ihm im Einzelnen nachzugehen,
würde im Rahmen dieser Besprechung zu weit
führen. Wir können nur unsere Zustimmung zu
der methodischen und überzeugenden Art und
Weise, wie er die Untersuchung führt, hier aus-
sprechen.
Es existiert also, um dies noch einmal zu-
sammenzufassen, für die Bücher 27 — 30 (eigent-
lich 26,30,9-26, 31, 2; 26, 41, 18—26, 43,9;
26, 46, 2—27, 7, 17; 27, 9, 8 bis Ende des 30.
B.) eine doppelte, gleich gute Ueberlieferung,
die des Put. und die des <£*). An Interpolatio-
*) So bezeichnen wir fortan der Kürze halber die auf
die Urhandschrift des Spirensis zurückgehende Ueber-
lieferung.
Living, rec. A. Luchs. 1455
neu, aber nicht bedeutenden, und Fehlern leiden
beide. Die Fehler und Lücken des P werden
an unzähligen Stellen durch die Lesarten des
2 berichtigt, resp. ergänzt (wie dies großenteils
schon in den alten Ausgg. zu Tage tritt). Wo
P und 2 gleich gute Lesarten zu bieten schei-
nen, ist sorgfältiges Abwägen nöthig. Damit
kommen wir in das Gebiet des II. Theils der
Proleg. 'de arte critiea factitanda'. In ihm ver-
schafft Luchs vielen bisher vernachlässigten
Lesarten des 2 die gebührende Geltung.
Im cap. I 'de vocibus spuriis' macht er zuerst
die verbal tnißmäßig wenigen, durch Versehen
oder Kachlässigkeit der Abschreiber entstande-
nen Einschiebsel im 2 namhaft. 29, 10, 6, wo
2 sacrificantibus ipsis Pythio Apollini omnia
laeta exta faisse, P sacr. ips. Pythio Apoll on i
laeta fuisse hat, möchte ich das neben exta un-
haltbare omnia nicht mit Luchs für einen ans
Apoll oni entstandenen Fehler halten, sondern
eher liegt dieser Stelle eine Vermischung zweier
Lesarten zu Grunde: 1., omnia laeta fuisse (s.
31, 7, 15 qui mihi sacrificanti . . laeta omnia
prosperaque portendere, vgl. 26, 41, 17), was ohne
sacrificia vom Resultate der Opfer auch für eine
Gottheit wohl gesagt werden kann, und 2., laeta
exta fuisse, was auch ich vorziehe, s. 31, 5, 7 laeta
exta fuisse u. Frgm. 17 Weiß, adeo laeta exta
immolanti fuisse scribit Livius. Leo's*) Ansicht,
daß sich die Lesarten omnia laeta fuisse und
omnia laeta extitisse gegenüberständen und zwi-
schen ihnen zu wählen sei , ist entgegenzu-
halten, daß eine Verbindung wie omnia laeta
*) In der Rec. des Luchs'schen Buches Rhein. Mus.
N. F. XXXV, 2 S. 243.
1456 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 45. 46.
existunt = sunt bei Liv. nicht zu finden ist
Existere bezeichnet entstehen, hervorkommen,
auftreten (= oriri, exoriri, gigni, prodire); nur
10, 34, 14 ist fides extitit ungefähr = fides
fait*).
Absichtliche, aber nur aus einem oder meh-
reren Worten bestehende Interpolationen zur Er-
klärung oder Ergänzung einer Stelle kommen
hier und da im 2 vor, doch ist von dergleichen
auch der P nicht frei. Als eine solche braucht
man aber nicht mit Luchs das 28, 20, 1 in c.tr.
verstümmelte contra (P) anzusehen, wenn man
es lokal 'gegenüber' auffaßt; zur Wortstellung
vgl. 9, 37, 3 ad instruendum contra. Contra
würde zugleich erklären, weshalb die Städter
die hinter ihrem Rücken erfolgende Erstürmung
der Burg nicht wahrnehmen. — Die Echtheit
der Worte, um welche der 2 reicher ist als P,
hat Luchs meistens ausreichend belegt. Ver-
stärkt können die Beweise u. a. werden 27, 10, 6
senatus mandat consulibus, ut ad populum quo-
que eos producerent. Das in P fehlende quoque
entnimmt Luchs dem -5*. Daß in solchen Verbin-
dungen quoque bei L. gebräuchlich ist, bezeugt
auch 41, 7, 5 cum eum in senatu fatigassent
interrogationibus . . in contionem quoque pro-
duxerunt, vgl. 24, 32, 1. 43, 8, 3. — 27, 16,6
wird passim als aus dem Vorhergehenden wie-
derholt von allen Herausgebern gestrichen.
Luchs hat es mit Recht aufgenommen. Das
Unanstößige dieser Wiederholung beweisen na-
mentlich 25, 18, 1 cum passim popularentur . .
*) Eine Vermischung zweier Lesarten liegt auch 29,
23, 4 — iam enim et nubilis erat virgo — zu Grande;
sowohl iam enim als et ist in Parenthesen bei Liv. in
diesem Sinne statthaft.
Livius, rec. A. Luchs. 1457
milites palatos passim revocarunt. 26, 39, 21. 22
passim .. passim. 2, 51, 4. 5. 22, 2, 7. 9. 22,
48, 4. 5. — Das von Luchs 28, 5, 15 bei prope
. . . erant restituierte iam (Put. nur prope; so
Weißenb., Madv. u. s. w.) ist eine echt liviani-
sche Verbindung, s. 36, 34, 2. 1, 35, 1; vgl.
2, 1, 6. 2, 63, 2.
In cap. II de interpolationibus et synony-
mis werden die bemerkenswerthesten Interpola-
tionen des 2 aufgeführt und besprochen. Als
eine solche weist er u. a. auch die Lesart des
2 fasces et secures praelatae sunt 28, 27, 15
mit Recht zurück und hält an der des P fasces
cum securibus fest. Daß fasces cum securibus
bei Liv. stehender Ausdruck ist, wo dieselben
als zusammengebunden bezeichnet werden sol-
len, zeigt außer den beiden von L. beigebrach-
ten Stellen auch Frg. 23 Weiß, spolia, inter
quae quinque fasces cum securibus. Werden
hingegen Beile und Ruthenbündel ganz allge-
mein erwähnt als Insignien des imperium (3,
57, 2. 8, 33, 18. 22, 27, 3. 28, 24, 14 zwei-
mal. 31, 29, 7. 35, 16, 4), oder wird der Be-
fehl gegeben sie aufzubinden (3, 36, 5. 3, 45, 7.
8, 32, 10), so sagt Liv. virgae securesque, v. et
s., v. ac 8., sec. et fasces, f. securesque.
Wo 2 und P differieren, aber Gedanke und
Sprachgebrauch beide Lesarten gleich gut er-
scheinen läßt, hat sich L. hier meist für den P
entschieden, womit man sich im Allgemeinen
einverstanden erklären muß. 27, 19, 5 indeß
ist die Lesart des 2* taciti der des P tacite
vorzuziehen; denn obgleich auch letzteres in
dem hier verlangten Zusammenhang und Sinne
einmal (24, 14, 3) vorkommt, so ist das Adv.
doch überhaupt bei Liv. selten (sichere Stellen
sind nur 2, 58, 8. 5, 28, 1. 24, 14, 3), wäh-
rend das Adjektiv in dieser Verbindung und
92
1458 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 45.46.
sonst tiberwiegt; s. außer der von Luchs citier-
ten Stelle noch 33, 32, 3 alii alia non taciti
solum opinabantur, sed sermonibus etiam fere-
bant, vgl. 28, 44, 28. 23, 31, 7. 34, 31, 1 und
37, 57, 15. — 27, 22, 13 vermuthet L., daß'
das orerentur des 2* dem caperentur des P vorzu-
ziehen sei. Dies bestätigt auch 39, 16, 13.
4, 45, 4. 34, 26, 4; 27, 3. Vgl 4, 7, 6. 2,
50, 3 consilia ex re nata.
In cap. Ill de praepositionibus wird nach-
gewiesen, daß die Verderbnisse, die sich auf
Präpositionen beziehen, im 2 und P sich ungefähr
die Wage halten. 27, 1, 8 (einer vielbesprochenen
Stelle) schreibt Luchs nach 2* pugnantium (P
oppidantium). Gegen diese Lesart macht Leo mit
Recht geltend, daß die Reiter nicht den Käm-
pfenden, sondern den Reserven in den Rücken
fallen. Er schlägt vor subsidiantiuin, was aber
— wie er selbst angiebt — nur b. gall. 8, 13
vorkommt, jedenfalls unlivianisch ist (L. sagt
subsidia oder subsidiarii) ; oder opperientium
(Höfer), gegen welches Verbum der Umstand
spricht, daß L. es nur an zwei Stellen (32, 30, 8
und 40, 16, 5) absolut gebraucht und nie in
dem hier verlangten Sinne anwendet Meine
Ansicht ist, daß pugnantium an einen falschen
Ort gerathen ist und eine Zeile höher stehen
muß. Die Stelle lautete wohl ursprünglich: ut,
cum pedestres acies occupassent praesenti oerta-
mine oculos animosque pugnantium, circumvecti
pars castra hostium, pars terga (nämlich eben-
falls hostium) invaderent Für die Zusetzung
von pugnantium zu oculos animosque sprechen
einerseits Stellen wie 26, 46, 4. 34, 47, 4 cla-
moresque a praesenti certamine animos pugnan-
tium avertebant. 26, 5, 9. 38, 6, 5, andrerseits,
daß Liv. bei invadere terga gewöhnlich das all-
gemeine hostium bat; s. 38, 6, 5. 9, 23, 15
Livius, rec. A. Luchg 1459
(einmal 1, 27, 8 Fideuatium). Die in denHSS.
zu terga gesetzten Genitive sind wohl einem
Leser zuzuschreiben, der dazu einen Genitiv
vermißte. — Oft ist es unmöglich sich mit Si-
cherheit für die Ueberlieferung des 2 oder P
zu entscheiden, meist lassen sich für beide Ana-
logien beibringen, so z. B. für den Gebrauch der
Verba simplicia oder composita, für die eine
oder die andere Präposition, mit der ein Ver-
bund zusammengesetzt ist. Auch hier verfährt
L. mit großer Vorsicht und ist bestrebt seine
Wahl sorgfältig zu begründen. — 30, 25, 6
schreibt er mit dem 2 neque rostro ferire cele-
ritate subterlabentem poterant neque transilire
armati ex humilioribus in altiorem navem. Die
von L. versuchte Verteidigung von subterlaben-
tem ist nicht überzeugend. Subterlabi läßt sich
durch die Analogie des 31, 10, 6 vorkommenden
subterfugere (quae ingentem illam tempestatem
belli Punici subterfugissent) nicht belegen, denn
hier ist das Bild von Schiffen, die unter dem
über ihnen stehenden Unwetter wegschlüpfen,
ganz angemessen und natürlich; an unserer Stelle
hingegen, wo die vor labi gesetzte Präposition
die Möglichkeit des Entschlüpfens sinnlich an-
schaulich erklären soll, ist das eigentlich ge-
brauchte subterlabi von dem größeren Schiffe,
welches an den kleineren vermöge seiner Schnel-
ligkeit nur vorbei-, nicht darunter hinweg-
schlüpfen kann, unrichtig. Subterlabi ließe sich
allenfalls als gedankenlose livianiscbe Ueber-
setzung des Polybianischen Ausdrucks imox&Qoij-
oyg tfjg recug (15, 2, 12) denken. Dem hier ge-
forderten Sinne entspricht immer noch am be-
sten das Weißenbornsche, aus der Verderbniß des
P superlabentem hergestellte sua jwaelabentem
(paläograpbisch noch wahrscheinlicher: sua prae-
terlabentem).
92*
1460 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 45.46.
Cap. IV handelt von der Wortstellung. Wie
schon Madvig nachgewiesen, findet sich in P
an vielen Stellen eine verkehrte Wortstellung.
Hierfür bietet 2, in welchem dieser Fehler
seltener ist, an den meisten Remedur ; doch ent-
scheidet sich auch hier L. nur nach gründlicher
Zuratheziehung des Sprachgebrauchs für den P
oder 2". Wo für beide Arten der Wortstellung
Analogien da sind, folgt er der Majorität der
Parallelstellen. Wenn auch in seinen Stellen-
sammlungen zuweilen einige Beispiele feh-
len, oder Angaben zu berichtigen sind, so ist
doch meist das von ihm gezogene Gesammtre-
sultat nicht anzufechten. Lassen sich z. B. 27,
42, 14 für das von ihm verworfene prima luce
des P (2 luce prima) außer der einen von ihm
citierten Stelle auch noch 3, 69, 6. 44, 35, 16
anführen, so bat doch der 2 mit 6 Stellen ge-
gen 3 die größere Wahrscheinlichkeit für sich.
— 28, 3, 2 zieht L. die Stellung ne tarnen ho-
stibus (2) dem ne hostibus tarnen des P vor
und bringt 6 Stellen bei, wo ne oder ut tarnen
dicht zusammenstehen. Was ut tarnen betrifft,
so ist, wenn ein Wort hervorgehoben werden
soll, wie hier hostibus, dies bei L. öfters auch
zwischen ut und tarnen gesetzt: 2, 44, 4. 23,
5, 11. 31, 10, 4. 33, 31, 11. 42, 9, 5, vgl. 9,
20, 8. Ne und tarnen stehen allerdings dicht bei
einander, vgl. auch 22, 28, 8. - 30, 18, 5 stellt
L. mit 2 inlustres equites (P eq. inl.) und fügt
hinzu: similiter nobilis praemitti solet. Dies ist
dahin zu berichtigen, daß nobilis außer an den
drei von ihm citierten Stellen noch an 10 an-
deren nachgestellt ist: 2, 56, 11. 3, 37, 8.
8, 29, 10; 39, 12. 9, 6, 10. 24, 47, 12. 26, 27,7.
31,21,18. 39,9,5; 36,4. So wäre das Verhält-
mß 13 : 13. — Die Gründe, welche Luchs für die
nach dem 2 gegebene Wortstellung in den Pro-
Living, rec. A. Luchs. 1461
digien-Angaben 28, 11, 4. 6. 27,37, 5 beibringt,
halte ich nicht für stichhaltig. L. meint, die
Wortstellung des P multo manasse sudore (2
multo sudore manasse) entspreche der Einfach-
heit des Prodigienstils nicht. Dagegen lassen
sich, auch aus Prodigien-Angaben, Stellen an-
führen, welche beweisen, daß die Wortstellung
nicht immer eine so schlichte ist:*) 3, 10, 6 in-
genti concussa motu est. 22, 1, 10 cruentis ma-
nasse respersum maculis. Ib. cruentas in corbem
spicas cecidisse. 24, 10, 11 legiones se arma-
tas .. videre. 41, 9, 5 multa in foro aedificia.
28,11,2 duo perlapsi angues. Zur Trennung
mit esse zusammengesetzter Verbalformen (P
natum infantem esse) vgl. 3, 10, 6. 35, 9, 3. 36,
37,4. 39, 56, 6. Auch die Wortstellung 28, 11, 6
eins noctis (P) möchte ich der des 2 noctis eius
vorziehen, weil Liv. fast immer das Pron., na-
mentlich wenn es betont ist, vor nox stellt; er
sagt immer ea nocte (5,39, 8. 26, 17, 8. 32, 12,
10. 38,27,7. 43,22,2); ebenso eadem nocte
3, 18, 1. 9, 16, 8. 41, 21, 13. hac nocte 44,38,
7 ; 39, 6. illa nocte 3, 26, 12. Aber noctis illius,
quae 6, 17, 4. noctem earn, quae 25, 25, 11. Wie-
derum 27,50, 1. 39,17,5 ea nocte, quae; nur
40,12,9; 12 noctis huius ohne folg. Relativ.
Die Capitel V de temporibus et modis und
VI de numeri8 sind weniger umfangreich. Wo
Luchs selbst Textesverbesserungen (meist in
cap. VII variae adnotationes criticae begründet)
*) Vgl. auch Luterbacher 'der Prodi gien glaube und
Prodigienstil der Römer'. Progr. Bargdorf 1880 S. 42:
'mehr and mehr scheint Livius sich vom Satzbau des
alten Prodigienstils frei gemacht zu haben, und zuweilen
ist es ihm denn auch gelungen schöne Perioden aus den
Prodigienangaben zu konstruieren. Dahin gehört z. B.
auch 27,37,1 — 3, wenn man richtig interpungiert u. s. w.'
1462 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 45.46.
vornimmt — es sind dies wenige Stellen —
läßt er sich fast nur vom Sinne leiten, die pa-
läographische Wahrscheinlichkeit tritt mehrfach
zu stark in den Hintergrund.
Mehreren seiner Vorschläge können wir nicht
zustimmen. So z. B. der Conjektur 27, 49, 2
ubi regendi spem incidissent (HSS regendis per-
tticissent *), namentlich wegen der Unklarheit
in der Beziehung von regendi. Eher noch
möchte das Weißenbornsche ubi regentis spre-
vissent, vgl. 5, 28, 4, mit Hinzuftigung von impe-
rium, vgl. c. 14, 10 elephantus insidentis magistri
imperio regitur, annehmbar sein. Spernere, asper-
nari imperium von solchen, die den Gehorsam
verweigern, ist bei Liv. sehr gewöhnlich : 6, 4, 5.
8, 30, 11 ; 31, 3 ; 32, 7 ; 34, 3 u. s. w. — 26, 22,
8 vixdum requiesse auris a strepitu et tumultu
hostili, quo paucos ante menses asserint (so P,
Weißenborn unhaltbar arserint) prope moenia
Romana. Luchs schreibt statt des verdorbenen
asserint: scansa sint. Dies ist deshalb sehr be-
denklich, weil Liv. weder von scandere noch von
dessen Compositis Passivformen bildet, außer tran-
scendi 37, 56, 8 und das unpers. transcensnm
est 27, 15, 18. 33, 17, 13; ferner conscensum est
21, 49, 10 ; auch von descendere kommen nur
wenige und zwar ebenfalls unpers. passiv. Formen
vor: descensum est und esset; superscando und
suprascando kommen überhaupt nur je einmal
und zwar aktivisch vor (7, 26, 2. 1, 32, 8);
escendere einmal passiv, unpers. 37, 3, 7 escen-
ditur in Capitolium; ascendere nur aktivisch.
Sollte in asserint nicht zu suchen sein ascende-
rint prope <Poeni> moenia R. (26,48,5 u. ö.)?
*) Wenn Leo a. a. 0. S. 240 die Lesart regendi
spem vicissent für unanstößig hält, so ist dagegen zu be-
tonen, daß dieser Ausdruck auch unlivianisch ist.
Li vine, rec. A. Luchs. 1463
— So ist auch 26, 26, 6 das von Luchs ge-
schriebene ementita (hds. edita Acta) sinnent-
sprechend und an sich gut lateinisch, kommt
aber in passiv. Bedeutung bei Liv. nicht vor.
Auch möchten wir das in diesem Sinne gut livia-
nische ficta der HS. nicht ohne triftigen Grund
beseitigt wissen. Eher halten wir edita für den
Ueberrest oder für verdorben aus einem zu
ficta gehörigen Adverb oder Ablativ (vgl. im-
pudenter ficta 30,19,11). — 29,32,10 schreibt
Luchs totaque Africa fama mortis Masinissae
vulgata varie animos adfecit statt des hds. re-
pleta, (welches trotz Weißenborns Vertheidigung
unhaltbar ist) ohne paläographische Wahrschein-
lichkeit. Alanus hatte perlata vorgeschlagen,
das aber ohne Bezeichnung der Bichtuug wo-
hin? selten vorkommt (nur 22, 30, 7, vgl. 10,
27,4). Näher liegt vielleicht repens oder re-
p<ente al>lata, vgl. 22, 7, 7 repens clades allata
und c. 8,1. 6,42,4., vgl. 32,31,2. 22,21,6.
Noch wollen wir einige wenige Stellen be-
rühren, die schon von anderer Seite (Leo in der
citierten Recension des Luchs'schen Buches) be-
sprochen sind. Leo meint, daß 26, 49, 12 der
Lesart des 2 zu folgen und alia me angit cura
(P. alia me cura . . stimulat) zu geben sei,
wegen des bei Liv. stehenden Sprachgebrauchs
cura angit. Aber auch cura stimulat ist gut li-
vianisch (44, 17, 6 ; 44, 1), wenn auch cura an-
git häufiger ist. Es ist eben wieder eine der
vielen Stellen, wo es fast unmöglich ist, mit
Entschiedenheit die eine oder die andre Ueber-
lieferung zu wählen. — An der vielbehandelten
Stelle 30, 18, 7 verwirft Leo alle bisherigen Les-
arten und Vermuthungen (intermixtus, in per-
mixtis, inter permixtos, turbae permixtus), weil
alle übersähen, daß man im Handgemenge nicht
mit Lanzen kämpft Daß aber cuspis (ebenso
1464 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 45. 46.
spiculum) = hasta auch vom Stoße mit der
Lanze im Nahkampfe gebraucht wird, bezeugen
Stellen wie 4, 19, 4 (Weißenborn zu § 5 'wie-
derholte Stiche' und zu 2, 19, 8 infestis hastis
'mit eingelegten Lanzen') 8, 7, 10. 11. Vgl.
bell. gall. 8,48. Liv. 25,18,13. - Das 29, 17,
15 von Leo für das fehlerhafte fuit des P ver-
muthete vitiant (virgines, ingenuos) würde in
diesem Sinne bei Liv. an. sIq. sein. Wir halten
fuit, das noch dazu im 2 fehlt, für ein bloßes
Versehen des Schreibers. — Noch geringere,
namentlich paläographische, Wahrscheinlichkeit
hat 30,29,4 seine Vermuthung securitate statt
des hds. si. — Auch die Conjeetur Leos 27,47,
9 fessique aliquot somno ac via Ulis sternunt
corpora passim halten wir nicht für richtig. Die
Verbindung fessi somno läßt sich zwar durch
Dichterstellen (s. Weißenb.) vertheidigen. Wenn
man aber die Wahl hat zwischen dem poeti-
schen und sonst bei Liv. nicht vorkommen-
den fessi somno und dem bei Liv. in ähnlichen
Verbindungen stehenden fessi vigiliis , wird
man sich unschwer für letzteres entscheiden.
Vielleicht möchte aus somno der Abi. eines Ge-
rundiums (vgl. stando ac vigiliis 2, 65, 1. 3,
60,4. 38,27,1) herzustellen sein. Der Mose Abi.
illis widerspricht dem livianischen Sprachge-
brauch. — Wenn Leo 27, 50, 1 conjiciert ex
nocte (HSS. ea nocte), so ist dasselbe Bedenken
zu erheben. Liv. verbindet ex in diesem Sinne
mit einem Substantiv und Pronomen (ex eo
tempore, ex tanto intervallo, ex illa — ex qua
die, ex eo anno ; vgl. ex eo, ex quo). Somit müßte
es wenigstens ex ea nocte heißen.
Wir fassen unsere Ansicht über die Luchs-
sche Ausgabe am Schlüsse dahin zusammen,
daß, wenn auch der . Herausgeber nicht darauf
ausgegangen ist, viele und glänzende eigene
Cybulski, Gesch. d. polnischen Dichtkunst. 1465
Emendationen zu geben — das Verdienstliche
der Arbeit liegt eben auf einem anderen Ge-
biete — , dieselbe doch, durch Fleiß, Gediegen-
heit und gesundes Urtheil vortrefflich, für die
Textesneugestaltung der zweiten Hälfte der III.
Dekade grundlegend und von hervorragender
Bedeutung ist.
Stendal. Moritz Müller. ^
Geschichte der Polnischen Dicht-
kunst in der ersten Hälfte des laufen-
den Jahrhunderts von Dr. Adalbert Cy-
bulski, weiland Professor an der Berliner Uni-
versität. 2 Bde. Posen, fcupan'ski, 1880. XVI.
332 u. 270 SS. 8°.
Cybulskfs Name dürfte dem deutschen Pu-
blicum bekannt sein: er wirkte an zwei deut-
schen Universitäten als Docent, in Berlin habi-
litierte er sich im Jahre 1841 für das Fach der
sl avischen Sprachen und wurde im Sommer des
Jahres 1860 nach Breslau berufen in die durch
den Abgang Gzelakowski's erledigte Professur
der slavischen Philologie, wo er, nahe an 59
Jahr alt, in voller Lebenskraft plötzlich am 16.
Februar 1867 starb, tief betrauert von allen, die
ihm näher gestanden. Bald nach seinem Hin-
scheiden gab Zupaiiski seine in Berlin in den
Jahren 1843 und 1844 gehaltenen Vorlesungen
über die neueste polnische Poesie heraus in pol-
nischer von Herrn Dobrowolski bestens besorgten
Uebersetzung mit einem Vorworte von Kraszewski,
in Posen 1870 in 2 Bänden. Das Interesse, wel-
ches der polnischen Uebersetzung von dem pol-
nischen Publicum geschenkt wurde, bestimmte
den Verleger, jetzt dieselben im Jahre 1 843 und
1844 in Berlin von Cybulski gehaltenen Vorle-
1466 Gott. gel. Adz. 1880. Stück 45. 46.
sungen im Originaltext herauszugeben, und
dem deutseben Publicum ein Buch zu über-
reichen, welches geeignet ist, sein Interesse
in Anspruch zu nehmen. Cybnlski war durch
seine Erlebnisse, seine Stellung und durch sein
warmes Interesse für die literarische Bewe-
gung bei den Polen im In- und Auslande wie
selten Jemand berufen, den in der neuesten reich
und in eigenartiger Pracht entwickelten polnischen
Poesie sich auslebenden Geist zu interpretieren:
in seiner Darstellung und in seinen Urtheilen
spricht sich der unverfälschte, unmittelbare Ein-
druck aus, den die poetischen Werke der hochbe-
gabten, ausgezeichneten polnischen Dichter der
neueren Zeit, wie Mickiewicz, Stowacki, Kra-
siriski, Pol u. a. auf das polnische Volk vor und
nach der Revolution von 1830 machten. In den
Tagen des Bestandes des polnischen Staats war
die Poesie in Polen, mehr als irgendwo, eine
ruhige, reflectierende Kunst, die den Zeitereig-
nissen ihren Glanz und ihre Weihe lieb, od$r
im Angesicht von bestehenden öffentlichen Ge-
brechen ihre ernste, didactische Stimme erhob,
sich in zeitgemäßen Formen gefiel und mehr an
die vorgezogenen Geister im Volke sich wandte,
— selbst in ihren besten Repräsentanten von
Kochanowski bis Krasicki war sie auf die zu-
nächstliegenden Erscheinungen des Lebens ge-
richtet. Seit dem Beginn dieses Jahrhunderts
nahm sie einen hohen Flug und zog den durch
harte Schicksalsschläge erregten Geist des Vol-
kes mit schwungvoller Kraft hinauf in eine Welt
der höchsten Lebensideale und der höchsten Be-
geisterung für alles Nationale, ihre Repräsentan-
ten wurden bewußt oder unbewußt zu geistigen
Führern des Volkes. Cybulski hebt diesen Cha-
rakter der neueren polnischen Poesie wiederholt
hervor, indem er darauf hinweist, daß ihre be-
Cybulski, Gesch. d. polnischen Dichtkunst. 1467
steil Vertreter den letzten Zweck ihres Dichtens
nicht allein in der Ennst selbst, sondern in der
Verktindung einer bestimmten Idee suchten, daß
sie die Verkörperung des Volksbewußtseins, Trä-
ger des Zeitgeistes, begeisterte Erleuchter d*s
Volkes waren oder als solche galten, und um so
größeren Einfluß ausübten, je inniger sie sich
mit dem Volke, mit dessen Dichten und Trach-
ten, seiner Vergangenheit und Zukunft eins fühl-
ten. Die Hauptrichtung der neueren polnischen
Poesie, sagt Cybulski an mehreren Stellen, ist
die politisch-nationale (I, 30), es komme in ihr
vorzugsweise darauf an, alle Momente hervorzu-
heben, die dem nationalen Leben seine zukünf-
tigen Bahnen vorzeichnen und seine Begenera-
tion vorbereiten (I, 176). Dieses Streben nach
nationaler Selbständigkeit sei aber nicht exclusiv-
national, es beruhe vielmehr auf dem Boden all-
gemeiner europäischer Entwickelung, mit der Po-
len stets geistige Gemeinschaft hatte. Im Ande-
ren bei sich zu sein , die Errungenschaften der
europäischen Cultur in nationaler Weise zuver-
werthen und weiter zu führen, dies sei der Kern
des Trachtens der Polen im geschichtlichen und
literarischen Leben. Die polnische Dichtkunst
der neuesten Zeit habe einen europäischen Cha-
rakter, nehme die Ideen der Zeit auf und ver-
arbeite sie (II, 261). Durch diese und ähnliche
allgemeine Gedanken wird die Stellung der neue-
ren polnischen Poesie innerhalb der allgemein
europäischen beleuchtet, und den Vorträgen Le-
ben und Wärme verliehen, deren Einwirkung man
bei der Leetüre sich gern hingiebt, und dabei die
Digressionen des Vortragenden auf das historische,
politische und philosophische Gebiet nicht allzu
streng beurtheilt, eben weil sie uns genau in die
geistige Atmosphäre hineinführen, in welcher der
Vortragende lebte. Ich glaube das Belebende
1468 Gott, gel Anz. 1880. Stück 45. 46.
der Vorlesungen vornehmlich in zwei Momenten
zu erblicken: in der Beurtbeilung der neueren
polnischen Poesie vom Standpunkte der politi-
schen Zeitereignisse, indem die Revolution des
Jthres 1830 als der Mittelpunkt des poetischen
Schaffens der polnischen Dichter dargestellt, und
dabei in einem besonderen Abschnitt nach den
unmittelbarsten persönlichen Eindrücken des Vor-
tragenden in Liedern gleichsam lebendig vorge-
führt wird ; und zum anderen in der höchst inter-
essanten Polemik gegen Mickiewicz. Dieser be-
kannte polnische Dichter, auch in wissenschaft-
licher Beziehung ausgezeichnet, ein Schüler Grod-
decks, wurde, nachdem er in Lausanne Professor
der lateinischen Sprache und Literatur gewesen,
im J. 1840 nach Paris als Professor der sla vi-
schen Sprachen und Literaturen am College de
France berufen, und trug hier die Culturge-
schichte der slavischen Völker in einer kenntniß-
und geistreichen Weise vor, welche die allge-
meinste Aufmerksamkeit auf sich zog, so daß
seine Vorlesungen von seinen Zuhörern in perio-
dischen lithographierten Blättern herausgegeben
wurden, und in den weitesten Kreisen das größte
Interesse fanden. (Sie wurden herausgegeben
unter dem Titel: Les Slaves cours profess^ au
College de France par Adam Mickiewicz 5 voll.
Paris 1849; in polnischer Uebersetzung in 4
Bänden in Posen 1850, und von Wrotnowski bei
Zupanski 1865 ; in deutscher Uebersetzung von G.
Siegfried [Kimaszowski] Leipzig 1843 in 4 Bänden,
später, 1849 in einer neuen Titelausgabe). Nach-
dem Mickiewicz in den ersten zwei Jahren die Cul-
turgeschichte und die Geschichte des literarischen
Lebens der Slaven in lichtvoller und geistreicher
Darstellung geschildert hatte, nicht ohne dabei
politische Gedanken auszusprechen, verfiel er im
dritten und vierten Jahre, inzwischen mit dem
Cy bulski, Gesch. d. polnischen Dichtkunst. 1469
Sectirer Towiahski bekannt geworden, in eine
mystische, auf Weltbeglückung gerichtete Ten-
denz, welcher eine vorgefaßte Interpretation der
neuesten polnischen Dichtungen dienstbar gemacht
wurde. Zu dieser „messianischen" Tendenz stellt
sich Gybulski wiederholt in Gegensatz, sucht sie
in ihrer Nichtigkeit, und den wahren Beruf der
, polnischen Dichter nach ihren poetischen Wer-
ken zu zeigen. So wie er den Dichter Mickie-
wicz hochstellt, ist er ein strenger Kritiker der
von dem Pariser Professor im Cours de litera-
ture slave geäußerten Ansichten über die gegen-
wärtige und zukünftige Mission der slav. Völker.
Neben den allgemeinen Gesichtspunkten, nach
denen die Entwickelung der polnischen Dicht-
kunst der zwanziger und dreißiger Jahre unseres
Jahrhunderts (der Titel ist nicht genau) inter-
pretiert wird, geht eine Beurtheilung der einzel-
nen poetischen Werke nach bestimmten ästheti-
schen Grundsätzen ergänzend und beleuchtend
einher. Man wird die Urtheile Cybulskis heute,
nachdem das Studium der polnischen Literatur-
geschichte angefangen bat, bedeutend sich zu
vertiefen, kaum in allen Punkten theilen können,
die heutige Kritik, die der Epoche der beurtheil-
ten poetischen Kunstwerke nicht mehr so nahe
steht, wie Cy bulski, und weniger in Gefahr ist,
von den gleichzeitigen Stimmungen beeinflußt zu
werden, hat vielfach andere Standpunkte einge-
nommen, aber auch bei nicht übereinstimmenden
Ansichten ist man die Anerkennung schuldig,
daß in den Vorträgen von Cy bulski in manchen
Partieen sorgfältige Studien zu bemerken sind,
wie es bei Cybulski nicht anders zu erwarten war.
Einige dieser eingehend studierten Fragen hat
Prof. Cybulski später noch besonders behandelt,
wie die politisch-literarische Bewegung vor 1830
und die Beurtheilung der Dziady von Mickie-
1470 Gott, gel Anz. 1880. Stück 45. 46.
wicz („Die letzte Revolution Polens und die ihr
vorangehende politisch-literarische Bewegung" in
Prutz's Liter, bistor. Taschenbuch 1846; Dziady
Mickiewicza, rozbiör Krytyczny in den Jahrbü-
chern der Posener Gesellschaft der Freunde der
Wissenschaften 1863). In der Abhandlung über
die „Ahnenfeiertf (Dziady) von Mickiewicz ver-
tieft und entwickelt Cybulski die in den Vorle-
sungen I, 230 ausgesprochenen Gedanken nach
philosophischen Gesichtspunkten, indeß wird diese
Auffassung durch die in neuerer Zeit zu Tage
geförderten biographischen Commentare aus dem
Leben des Dichters nicht bestätigt.
Im Ganzen sind die Vorlesungen Cybulskis
geeignet, das Interesse für die neuere polnische
Literatur bei dem deutschen Publicum zu wecken
und zu fördern, sie sind geeignet, in das Studium
derselben einzuführen, vornehmlich erleichtern
die zahlreichen geschickt angelegten Analysen
der hervorragendsten neueren polnischen Dich-
tungen das Verständnis der Leetüre der Werke
selbst, die in deutscher Uebersetzung in großer
Anzahl vorhanden sind. Es seien die Vorlesun-
gen Cybulskis über die neuere polnische Poesie
hiermit empfohlen.
Die Ausgabe ist besorgt von Herrn L. Kurtz-
mann mit anerkennenswerter Sorgfalt. Einsehr
verständig angelegtes Inhaltsverzeichnis ermög-
licht einen bequemen Ueberblick über die Dispo-
sition des Ganzen und ein rasches Finden des-
jenigen, was man sucht, so daß ein Namenver-
zeichnis kaum nöthig ist. Die polnischen Lieder
und kleineren Gedichte, sowie Citate aus größe-
ren, welche der Vortragende seinen Zuhörern in
polnischer Sprache mittheilte, werden hier in
deutscher Uebersetzung geboten, der Heraus-
geber nahm sie zum Theil aus vorhandenen Pu-
blicationen, wie Spazier (übersetzte Pan Tadeusz
Cybulski, Gesch. d. polnischen Dichtkunst. 1471
Leipzig 1836), Gaudy (Historische Gesänge der
Polen L. 1833), Drake (Polnische Miscellen 1826),
Blankensee (Mickiewic'z Werke Berl. 1836),
Koniecki (Blttthen der slavischen Poesie Berl«
1855), Kannegießer (Konrad Wallen rod von Mick.
1834), Nitschmann (Poln. Parnass Leipz. 1875\
Just. Kerner, F. A. Maercker (Dziady in Dioscu-
ren 1836), Gumbert, Zuker (Lyrische Ged. poln.
D. Leipz. 1869), C. v. Warzbach, Dr. Weiß
(Balladen and Romanzen von Mickiewicz. Kon-
rad Wallenrod 1871), Dr. Zipper (Maria von
Malczewski H. 1872), Dr. Winklewski, S. Lipi-
ner u. a. ; theils wufden von den Herrn Nitsch-
mann, Dr. Weiß und Selmar für diese Ausgabe
einige Gedichte übersetzt und dem Herausgeber
zur Verfügung gestellt; theils übersetzte Hr. L.
Kurtzmann selbst sehr viele in den Vorlesungen
angeführte Gedichte, wobei er sich meist der
reimlosen ry thmischen Verse bediente. Alle diese
Uebersetzungen entsprechen dem Geist und oft
dem Wortlaut der bezüglichen Originalgedichte
genau, manche sind mit großem Talent über-
setzt. — Dem Texte sind stellenweise kurze er-
klärende oder bibliographische, auf deutsche
Uebersetzungen und Besprechungen der polni-
schen Poesien bezügliche Noten beigegeben. Man
kann dem Herausgeber nur zu Dank verpflichtet
sein, daß er überall, wo sich die Gelegenheit dazu
bot, die vorhandenen deutschen Uebersetzungen
oder in deutscher Sprache geschriebene Abhand-
inngen und Aufsätze über die neueren polnischen
Dichtwerke verzeichnet hat. Man sieht aus die-
sen Nachweisen, die sicher noch zahlreicher wä-
ren, wenn Beschränkung nicht durch den
Stoff selbst geboten wäre, daß das Interesse
für die neuere polnische Literatur in Deutsch-
land verhältnißmäßig groß ist, — Störend sind
einige sprachliche und sachliche Fehler, welche
1472 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 45. 46.
leicht beseitigt werden konnten: so die Namen
Klacel, Chodani, Batiuszkow, Zend Avesta, welche
unrichtig gedruckt sind; so „vergebene Erhebung"
für „vergebliche Erhebung" (II, 34), das Bestat-
tung für die B. (206), „Czacki schuf Ungeheures"
(I, 93), wofür an der entsprechenden Stelle in
Prutz's Taschenbuch 1846 S. 91 richtig „Außer-
ordentliches" steht, u. ä.
Ich will diese Besprechung des interessanten
Buches nicht schließen, ohne die Bemerkung aus-
gesprochen zu haben, daß es wohl wünschens-
werth wäre, diese Uebersicht der neuesten pol-
nischen Poesie vervollständigt zu sehen. Prof.
Cybulski hat seine Vorträge nicht zu Ende ge-
führt, und so findet man über manchen Dichter,
so findet man z. B. über „Pan Tadeusz", das
beste, was Mickiewicz schrieb, fast kein Wort in
den Vorlesungen. Die Zeit ließ es nicht zu,
aber wäre auch Cybulski mit seinem Pensum zu
Ende gekommen, so war doch damals die neuere
polnische Poesie noch zu keinem erkennbaren Ab-
schluß gelangt, andererseits ist zu bemerken, daß
sie zwar überwiegend nach einer Richtung hin-
drängte, welche in den Vorlesungen besonders be-
leuchtet worden ist, der politisch-nationalen, daß
sie aber in ihrer freien Entwickelung auch Blüthen
zeitigte, welche von dem politischen Hauch der
Zeit nicht berührt wurden, und die im nationalen
Gewände den allgemein menschlichen Geist ath-
men. — Vielleicht wird das Interesse, welches
für Cybulskis Vorlesungen im Publicum sicher
zu erwarten ist, eine Vervollständigung dersel-
ben in dem angeregten Sinne veranlassen.
Breslau. W. Nehring.
Für die Redaction verantwortlich : E. Rehnisch, Director d. Gott. gel. Abx.
Commissions-Verlag der DieteiicK sehen Verlags- Buchhandlung.
Vntck der DietericK sehen Univ.- BuchdrucJurei {W fr. JttueAtir/,
1473
G Ott in ff is che
Dr.C 3 lO'JO
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück 47. 24. November 1880.
Inhalt: A. Delattre, Les inscriptions historiques de Ninive et
de Baby lo ne. A. Schäfer, Die biblische Chronologie vom Ausznge
ans Aepypten bis zum Beginne des Babylonischen Exils. Von J. Oppert
— W. F. Loebisch und P. v. Rokitansky, Die neueren Arznei-
mittel in ihrer Anwendung und Wirkung. Yon Th. Htuemann.
ss Eigenmächtiger Abdruck von Artikeln der Gott. gel. Anz. verboten ss
Les inscriptions historiques de
Ninive et de Babylone. Aper§u general de
ces documents, examens raisonnees des versions
par A. Delattre S. J. Paris, Ernest Leroux.
1879. 90 SS.
Die biblische Chronologie vom Aus-
zuge aus Aegypten bis zum Beginne
des Babylonischen Exils, mit Berücksich-
tigung der Resultate der Aegyptologie und der
Assyriologie. Von der theologischen Facultät
zu Wtirzburg gekrönte Preisschrift. Von Aloys
Schäfer, Dr. theol. Münster, Russell's Verlag.
1879. IV, 141 SS.
Die Schriften dieser beiden geistlichen Her-
ren nehmen ganz besonders unser Interesse in
Anspruch, und sind, jede in ihrer Weise, geeig-
net, durch die in verschiedener Art zweckmäßige
Behandlungsweise des Stoffes, den Dank des
93
1474 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 47.
Lesers hervorzurufen. Die Verfasser gehören
nicht zu den eigentlichen Fachmännern auf as-
syriologischem Gebiete: es ist daher um so
höher anzuerkennen, daß sie der neuen Wissen-
schaft ihre Kraft und ihre Leistungsfähigkeit
zugewandt haben. Die Schrift des Herrn De-
lattre, eines Mitgliedes der Gesellschaft Jesu,
stammt aus Belgien; sie ist somit die erste Ar-
beit über Ninive und Babylon, die, soweit wir
uns erinnern, in diesem Lande entstanden ist
Das andere Werk ist das eines Deutschen, und
namentlich dazu berufen, den oberflächlichen
Ansichten siegreich entgegenzutreten, die einige
unserer bekannten Assyriologen im Kampfe
gegen Historie und Historiker bis jetzt zu ver-
breiten gesucht haben.
Wir wollen uns zuerst mit dem Buche des Hrn.
Delattre beschäftigen, da dasselbe ein Resume
anderer Arbeiten ist, und namentlich die dan-
kenswerte Aufgabe hat, die in jüngster Zeit,
nicht ohne eigene Schuld einiger Gelehrter, et-
was zu streng kritisierte junge Wissenschaft, zu
der Achtung und der Anerkennung zu verhel-
fen, die ihr mit Fug und Recht gebührt. Die-
ses ist ein Gesichtspunkt, der unsere Erkennt-
lichkeit verdient.
Der Verfasser betitelt den ersten Abschnitt
seines Buehes: „Typus der historischen Inschrif-
ten: Untersuchung der Uebersetzungen". Un-
beschadet der Anerkennung, die wir im Allge-
meinen dem Verfasser nicht versagen, hätten
wir gewünscht, daß er nicht nur leicht zugäng-
liche Uebersetzungen aus zweiter Hand benutzt
hätte: wenn er auch sagt, daß Hr. Mönant we-
sentlich nur die des Referenten wiederholt hat,
so wäre es vielleicht besser, zuweilen auf die er-
sten Original werke zurückzugehen. Sehr häufig,
Delattre, Inscriptions historiques. 1475
trotz ihrer unläugbaren Fortschritte, begegnet
es auch wirklich selbständigen Forschern, daß
sie ältere richtige Ansichten durch spätere un-
wahre zu ersetzen suchen: denn auch die fort-
schreitende Wissenschaft darf sich nicht für un-
fehlbar halten.
Um die Uebersetzungen zu prüfen, muß man
selbstverständlich auf die Originaltexte zurück-
gehn: wir haben mit Freuden bemerkt, daß Hr.
Delattre dieses zu thun versucht hat, obwohl
wir nicht immer seinen Vorschlägen beitreten
können. Ein merkwürdiges Beispiel dieser Art
bietet sich S. 20: dort verwahrt sich der Ver-
fasser dagegen, Mißcredit auf die Assyriologie
jeu werfen, und betheuert, sein einziges Ziel
sei die Wahrheit. Dann gab es doch, um sie zu
finden, noch andere Uebersetzungen, als die
Rodwell's und Menants. Hr. Delattre fragt mit
Recht, wie es möglich sei, dieselbe Phrase zu
übersetzen, durch:
„zerschmetternd die widerspenstigen Gott-
heiten". (Menant).
oder:
„dahinschreitend über alle seine Feinde".
(Rodwell).
Diese allerdings höchst sonderlichen Ueber-
tragungen ersetzt der Autor durch folgende:
„zerschmetternd den Schädel der Rebellen".
Der wahre Sinn, den Hr. Delattre in andern
Uebersetzungen, bei Hincks, Rawlinson und dem
Ref. gefunden haben würde, ist:
„verbeerend das Gebiet der Rebellen"*).
Hierzu sagt Hr. D. in einer Note:
„Das assyrische guttat, welchem Hr. Menant
den Sinn „Gottheit" und Hr. Rodwell den Sinn
*) Siehe Exp. en Mesop. 1. 1, p 342. Histoire p. 1 18.
93*
1476 Gott gel. Anz. 1880. Stück 47.
„Alles" beilegt, kommt von der Wurzel GLL,
welche das hebr. galgölet und das syr. gogulto
„Schädel", erzeugt".
Wir geben Hrn. Delattre recht, wenn er die
Uebersetzungen der von ihm citierten Autoren
nicht annimmt: sonst hat auch er Unrecht. Er-
stens wissen wir, wie „Schädel" auf Assyrisch
hieß, nämlich gaggultu (Gramm, assyr. § 221):
zweitens giebt es Stellen, wo guttat diesen Sinn
nicht haben kann: „Schädel der Länder"
würde nichts bedeuten (W.A.L II, 66, 3). Da
Hr. Delattre schon mit Recht die Wurzel GLL
anzieht, hätte er getrost auch an gelilah „Ge-
biet" denken dürfen.
So tibersetzt Hr. Delattre ein Wort ina mir
lisa „in seinen Furthen" durch : „ich überschritt
den Euphrat während seiner Fluthhöhe". Die
Assyrer waren nicht so unpraktisch : außerdem
müßte dann doch das Wort anstatt von mala
„füllen" von ala „steigen" abgeleitet werden.
An andern Stellen citiert Hr. D. die aller-
dings originalen Uebersetzungen der Cylinder As-
surbanhabals durch George Smith*), dem dann
Hr. Menant gefolgt ist. Bei dieser Gelegenheit
kommt auch, bei Anführung einer Stelle, die
der phantasiereiche Fox Talbot tibertrug, und
in dessen Fußstapfen leider mein französischer
Schüler getreten ist, der berühmte „Sagittarius"
zum Vorschein, der im August aufgehn soll, und
daher das Erstaunen des Hrn. Alfred von Gut-
schmid erregt hat. Es mußte ein solches Phä-
nomen allerdings Jedermann befremden. Aber
die Assyriologie ist auch dafür nicht verant-
*) Diese sind gewiß Originalübersetzungen, sogar die
einzigen der jüngeren Assyr iologen. Indessen weist Hr. I).
mit Recht darauf hin, daß der Wortschatz sich schon in
den früheren Uebert ragungen erklärt findet.
Delattre, Inscriptions historiques. 1477
wortlich, denn andere Gelehrte werden mit uns
übersetzen : „Im Monat Ab, dem Monat der Sicht-
barkeit des Sirius". Der Stern, der immer zu
gleich mit den hellsten Sternen citiert wird, er-
schien zu Ninive in der Mitte des siebenten
Jahrhunderts vor Christi Geburt, gegen den 24.
Juli julianisch, zuerst wieder in den Strahlen
der aufgehenden Sonne*).
Wir übergehen verschiedene andere Aus-
einandersetzungen des Verfassers, namentlich
die Fragen, die er in Betreff der Bibel aufwirft.
Ueber die chronologische spricht er sich nicht
wissenschaftlich genug aus: ob ein bedeutender
Archäolog und Kunstkenner auf classischem und
asiatischem Gebiete seine Ansicht ändert in Be-
zug auf eine nicht assyriologische , sondern ma-
thematisch-chronologische Frage , das darf den
Geschichtsforscher oder den Chronologen nicht
beeinflussen.
Der Verfasser schließt seine Arbeit mit einem
wohlwollenden Ueberblick über den heutigen
Stand der Assyriologie, und knüpft an diesen
einige Wünsche in Betreff der Schaffung einer
Lexicographic. Der Wunsch ist gutgemeint:
aber gerade diese Lücke ist diejenige, deren
Ausfüllung am meisten Zeit und Fleiß erfor-
*) Das Wort nanmurti in der Phrase: arah nanmurti
Mul Ban\ »in mense apparitionis Sirii«, ist richtig von
Fox Talbot als heliakischer Aufgang, nnd unrichtig von
Menant als »cotisacre k l'etoile ä de l'arc« übertragen
worden. Auch heißt der Bogen, wie längst Referent ge-
funden hat, nicht B an, sondern IZ. BAN. Wahrschein-
lich heißt BAN »jagen «, so daß es der »Jagdstern« ist,
dessen Gegenwart am Himmel , namentlich vor einigen
Jahrtausenden, allerdings die Jagdzeit bezeichnet. Un-
sere Benennung: »großer Hand« hat keinen andern Ur-
sprung. Der Bogen ist das t Jagdholz« oder »Jagdwerk-
zeug«.
1478 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 47.
dert. Die Herstellung dieses Lexicons ist eine
Aufgabe, deren theilweise falsche Lösung mehr
wissenschaftliches Unheil stiften möchte, als eine
mangelhafte Kenntniß des Wortschatzes bis jetzt
gethan : besser ist , einige Lücken in der Ueber-
setzung zu lassen, als alles zweifelhafter Ueber-
tragung anheim zu geben.
Das Buch des Hrn. Aloy 8 S chäfer ist eine
selbständige Arbeit. Es behandelt ausführlich
und mit kritischer Schärfe einen Gegenstand,
der in letzterer Zeit häufig zum Gegenstand von
Monographien gemacht worden ist, und nichts-
destoweniger bringt es Neues: seit den Zeiten
Ideler's und Böckh's ist es eine der besten Ar-
beiten, die überhaupt auf chronologischem Ge-
biete entstanden sind, und die theologische Fa-
cultät von Würzburg hat, indem sie derselben
den Preis zuerkannte, den ungeteilten Beifall
aller wahrhaft Sachverständigen geerntet.
Wir haben uns über denselben Gegenstand
schon mehrere Male in diesen Blättern ausge-
sprochen. Die Anzeigen, die wir über die Bü-
cher der Herrn von Gutschmid (Gott. gel. Anz.
1876) und E. Schrader (Gott. gel. Anz. 1879)
erscheinen ließen, haben den Leser über den
Kern der historisch-chronologischen Frage ge-
nugsam aufgeklärt. Es giebt indessen Manches,
was man nicht zu oft sagen kann : auch wissen-
schaftliche Dinge, die einige Leute bei einmali-
gem Hören oder Lesen nicht begreifen wollen
oder auch nicht fassen können. Obgleich ganz
exacte, mathematisch nachgewiesene Ergebnisse
sich nicht mit künstlerischen Erzeugnissen ver-
gleichen dürfen, ähneln sie hierin manchen Mu-
sikstücken, die gewissen Hörern nicht bei der er-
sten Aufführung zusageif, sondern erst nach mehr-
Schäfer, Biblische Chronologie. 1479
facher Wiederholung des Beifalls derselben Per
sonen sicher sind.
Welcher Mißbrauch mit der Zeitrechnung als
Anwendung von Additions- und Subtractions-
exempeln getrieben wird, ist jedem zur Genüge
bekannt Eine gewisse Gonjekturalkritik oder
-unkritik wird auch hierfür gebraucht: Zahlen
werden verändert, um in ein Rechenexempel ein
gewünschtes Resultat hineinzubringen: es läßt
sich gegen das Resultat an und für sich arith-
metisch gar nichts sagen. Denn wenn man von
einem Posten eine Zahl wegnimmt, und die Dif-
ferenz zu einem andern Posten hinzufügt, so
beträgt die letzte Summe gerade um die abge-
zogene Zahl weniger, als die beiden ursprüng-
lichen Posten zusammen ausgemacht hätten.
Nur — und hierin unterscheidet sich die ächte
Chronologie von der nachgemachten — ändert
die erstere historisch verbürgte Posten nicht,
ohne den Beweis für die Notwendigkeit dieser
Verbesserung beizubringen, und diese Notwen-
digkeit darf eben nicht nur durch die Absicht, ein
bestimmtes Resultat zu finden, begründet sein.
So wenig wie irgend ein Mathematiker ein Zei-
chen vertauscht, oder ein Potenzchen ändert,
oder eine Function durch eine andere ersetzt,
weil die neuen Zeichen, Potenzen oder Functio-
nen „besser convenieren" würden, so wenig darf
man sich der Laune hingeben, historische An-
gaben nicht zu respectieren, weil erfundene den
Privatinteressen des Autors besser zusagen.
Dieser Spuk trieb namentlich sein Unwesen
in der biblischen Chronologie vor und nach dem '
Exodus. Vor dem Exodus giebt es überhaupt
keine Zeitrechnung, sondern nur ein fictives Sy-
stem von Perioden und Cyclen, die allerdings
seit Jahrhunderten verkannt waren. Aber bat
1480 Gott. gel. Adz. 1880. Stück 47.
mau nicht auch in dieser, mindestens ante-chro-
nologischen, Periode alle Zahlen geändert, oder
aus der Septuaginta substituiert und in den
hebräischen Text hineingebracht, und umge-
kehrt? Sogar die Stühle der zehn Patriarchen
wurden umgesetzt, weil man dann bequemer
seine Sonderideen durch Rechenexempel veran-
schaulichen konnte.
Nicht allein die Chronologie, sondern die
Geschichte selbst wurde verballhornt, und man
schuf sich seine Geschichte zu seiner Privatrech-
nung. Ein englischer Bankier, ein gentleman
durch und durch, sah für einen Glaubenssatz
an, daß Darius der Meder, nach ihm Darius
Hystaspis, siebzig Wochen, das ist, sieben mal
siebenzig Jahre vor Christi Geburt, den baby-
lonischen Belsazzar besiegt und Babylon einge-
nommen habe. Da, seiner Ansicht gemäß, der
Stifter der christlichen Religion 3 vor der ge-
wöhnlichen Aera geboren ward, mußte die Ein-
nahme Babylons durch die Perser im Jahr 487
v. Chr. stattgefunden haben. Und hieraus ent-
wickelt der Mann in einer Schrift: Cyrus the
second, namentlich nach Annius von Viterbo*)
und ähnlichen authentischen Quellen (die aller-
dings den von gewöhnlichen Menschen geachte-
ten Autoren, wie Herodot, Berosus und Ptole-
mäus, zuwiderlaufen), daß der Cyrus, der Astyages
Enkel war, niemals Babylon eingenommen ; die-
ses habe ein Sohn des Eambyses gethan, und
zwar nicht der Sprößling des geduldigen Gat-
ten der Mandane , sondern der Nachfolger des
gewaltigen Eroberers von Aegypten.
Demselben Kambyses wurden noch kürzlich,
*) Dem Annius von Viterbo verdanken wir einen
falschen Berosus, einen ditto Manetho.
Schäfer, Biblische Chronologie. 1481
larch eine falsche Lesung einer Zahl, von An-
lern historische Fakten angedichtet*). Ans
chronologischen Gründen ist auch die biblische
Seschichte, ohne nnd gegen die Bibel, vollstän-
dig neu erfanden worden. Gegen diese Er-
findungen hat sich Hr. Dr. Schäfer mit Recht
aufgelehnt. Machte der englische Bankier aus
irei historischen Personen fünf, so knetete eine
ändere Schule fünf Menschen zu dreien zusam-
men: was ist nun der Wahrheit gemäßer, aus
einem Mann fünf Drittel oder drei Fünftel zu
machen? Der Unterschied der Richtigkeit wird
sich genau auf Null bestimmen lassen.
Hr. Schäfer beginnt sein Buch mit den
Worten: „Insofern die heilige Schrift ein histo-
risches Buch ist, hat sie auch eine Chronologie".
Diese richtige Ansicht ist nun noch prägnanter
gemacht durch die nicht mitfder einsichtige Stel-
lung der Frage selbst. „Hiermit ist unsere Auf-
gabe vorgezeichnet, ob aus den Daten der hei-
ligen Schrift als verglichen mit den sichern
oder wahrscheinlichen Resultaten der Ae-
gyptologie und Assyriologie, ein chronologisches
System zu gewinnen sei*.
Der Verfasser entwickelt, nachdem er sich
über die verschiedenen die Zeitrechnung be-
treffenden Fragen ausgesprochen, und nament-
lich mit glücklichem Tact und mit Gelehrsam-
keit die ägyptischen Angelegenheiten berührt
hat, die geschichtlichen Daten der biblischen
Geschichte vom Exodus an. Die Genesis läßt
er bei Seite, und kümmert sich weder um das
Datum der Geburt Adams, noch um dasjenige
des Todes Sems. Er setzt, indem er an die in
*) Siehe das Ute Jahr des Eambyses, das im Jour-
nal asiat. 1880, I, p. 548 and Revue historique, Joillet
1880, gehörig gewürdigt ist.
1482 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 47.
der assyrischen Eponymenliste erwähnte Sonnen-
finsterniß von 809, am 13. Juni jul. anknüpft,
den Auszug aus Aegypten, nach dem zur Zeit
Salomos geltenden System, um 1492 v. Chr.,
und den Tod des weisen Königs 976*). Mit
Schärfe weißt Hr. Schäfer nach, daß jene Son-
nenfinsterniß nicht die vom 15. Juni 763 vor
Chr. sein kann, und daß eine Unterbrechung
in den Eponymenlisten nothwendig angenommen
werden muß; er verwirft das kindliche Aus-
kunftsmittel einiger sogenannten Chronologen,
die den Texten zuwider, aus Phul und Tiglat-
pileser eine Person machen. Er führt auch
die Folgerungen aus, die aus jener sonderlichen
Selbstüberhebung und Verschmähung geschrie-
bener Texte mit unbarmherziger Consequenz er-
wachsen. Nach dem System, welches der säch-
sische Hofcaplan mit Recht verurtheilt, müßte
der Großvater Uzia mit seinemfinkel
Ahaz zu gleicher Zeit regiert haben**).
Er schöpft, wie es sich gebührt, die jüdische
Zeitrechnung aus der historischen
Quelle für dieselbe, aus der Bibel, und
zeigt hierbei viele Gelehrsamkeit und Belesen-
heit in den Autoren früherer Jahrhunderte, die
nur neuere Oberflächlichkeit geringschätzen darf.
Wir haben in den Gott. gel. Anz. 1879 S.
776 ff. diesen Gegenstand in der vom Verf. aus-
geführten Idee auseinandergesetzt, so daß wir
nicht mehr auf denselben hier zurückzukommen
brauchen: wir verweisen daher einfach auf die-
sen längern Artikel, der den Gegenstand so er-
schöpfend als möglich behandelt. Es handelt
*) Wir setzen diese Begebenheit anf 1493 und 978,
eine unwesentliche Differenz.
**) S. Salomon et ses snccesseurs. Gott. eel. Ans. 1879,
S. 786 ff.
Schäfer, Biblische Chronologie. 1483
sich, wie dem Leser vielleicht erinnerlich sein
wird, um die Frage: ob die sich anf Keilschrift-
täfelchen findenden Eponymenlisten ununterbro-
chen sind, oder ob sich in ihnen, wie wir es für
feststehend ansehen müssen, eine Lücke von 46
bis 47 Jahren befindet. Diese Frage ist von
einigen unserer Fachgenossen behandelt worden,
als ob eine die allgemeine Geschichte angehende
chronologische Frage allein von den Leuten zu
beantworten sei, die Keilschriften mehr oder
minder richtig lesen. Die wissenschaftliche Streit-
frage hat aber ein viel weiteres Competenzfeld ;
sie ist assyriologisch nur insofern, als es sich
gelegentlich um das Verständniß der Texte und
um einige Controversen in der Erklärung der-
selben handelt. Im gegebenen Falle existieren
solche verschiedene Meinungen aber gar nicht:
die Frage entzieht sich folglich der Befugniß
der Keilschriftforschung , um dem allgemeinen
Urtheil der Historiker anheimzufallen.
Hier liegt der große Irrthum eines Tbeiles
der Fachmänner. Wo es sieh um biblische Ge-
schichte handelt, sind Gottlob! die Keilschriften
nicht die einzigen Quellen: denn wenn dieses
wäre, wüßten wir ja gar nichts. Sie bedenken
nicht, daß man, einer gewissen Eitelkeit wegen
und seiner eigenen Disciplin zu Liebe, doch
nicht das Recht hat, andersartige, in sich und
durch sich verbürgte historische Angaben zu
verwerfen. Der innere Werth, die mathemati-
sche Präcision der biblischen Angaben, ihr Ue-
bereinstimmen mit sich selbst, der Accent der
Wahrheit, mit dem sie ausgesprochen sind, die
Interesselosigkeit jeglicher Unwahrheit, sowie
die Unmöglichkeit, gerade diese Daten zu er-
finden, wenn sie nicht wahr wären: alle diese
Momente wiegen derartig schwer, daß sie die
1484 Gott gel. Anz. 1880. Stück 47.
eigensinnig sich auf eine unbewiesene Nicht-
unterbrechnng der assyrischen Eponymenlisten
steifende Verwerfung der jüdischen Angaben in
die Höhe schnellen. Wir übergehn die aus den
Eeilschrifttexten selbst zu entnehmenden Be-
weise für die Unterbrechung dieser Listen, Be-
weise, die doch auch der Autorität der Bibel
nicht schaden, und die man in den Gott. gel.
Anz. 1879, S. 796 ff. nachlesen kann. Es giebt
nur eine Chronologie, und diese müssen wir
aus allen Documenten, die sich auf dieselbe
Zeit beziehen, schaffen; wir dürfen daher gerade
die Texte nicht ausschließen, die vor allem das
für unsern Zweck authentischeste Gepräge tra-
gen. Befänden wir uns, angesichts der assyri-
schen Eponymenlisten, solchen vagen und unbe-
stimmten Angaben gegenüber, wie es z. B. die-
jenigen des Buches der Richter sind, so würde
es auch Niemandem einfallen, an eine Unter-
brechung der Listen zu denken. Ob mit Recht,
wäre freilich eine andere Frage: doch ohne die
absoluteste Notwendigkeit, würde man auf die-
sen Gedanken gar nicht gerathen sein. Aber
einem Documente gegenüber, wie es verschie-
dene Gapitel des zweiten Buches der Könige
sind, ist eine solche Nachsicht selbst gegen Ori-
ginaldocumente nicht möglich: denn wie wir es
schon gesagt haben, das assyrische Docu-
ment, das an Fülle der Angaben und an prä-
ciser Schärfe dem hebräischen gleichkommt,
soll erst noch gefunden werden! Es
ist somit unmöglich, in einer allgemein ge-
schichtlichen Frage, einseitig nur die Autorität
eines Textes zu berücksichtigen: wir haben das
Recht, assyrische Geschichte aus assyrischen
Quellen zu studieren, aber nicht dasjenige, jüdi-
sche Geschichte ausschließlich nach fremden
Schäfer, Biblische Chronologie. 1485
Bruchstücken herstellen zu wollen. Ein histori-
sches Actenstück belehrt uns, daft Ludwig XVIII.
29 Jahre regierte; dürfen wir, nach diesem
allein, die englische Zeitrechnung bestimmen,
und mit Vernachlässigung deutscher Quellen
nach dieser mißverstandenen Angabe die Ge-
schichte Deutschlands maßregeln? Dazukommt,
daß wir keine fortlaufende Geschichte Assyriens
haben: wir besitzen eine biblische Chro-
nologie, wir haben keine assyrische.
Diesen Ausspruch, den wir schon einmal ge-
than, wiederholen wir hier, da er bei einigen
Leuten Anstoß erregt hat, so grundwahr er auch
ist. Hätten wir nicht die Angaben der Bibel
und der Griechen, so wären wir übe? das Alter
der assyrischen Monumente von Ninive, Calach
und Babylon ebenso im Unklaren, als wir es
heut zu Tage über, das Zeitalter des Menes
sind. Wir müßten uns streiten über die Frage,
ob Sanherib und Sargon vor Nebuchadnezar
oder nach ihm gelebt haben, wir dürften nur
vermöge allgemeiner, kunstgeschichtlicher Grund-
sätze über das Zeitalter der Texte und Sculp-
turen von Nimrud klar werden können. Ohne
die Liste des Ptolemäischen Canons wären wir
außer Stande, die Tausende von juristischen
Täfelchen, die doch nach Königsjahren, nach
Monaten und nach Tagen datiert sind, ihrer
Reihenfolge nach zu ordnen: wir könnten durch
zwei Texte höchstens befähigt sein, zu schlie-
ßen, daß Neriglissor vor Nabonid regiert haben
muß, und daß Kambyses nach Cyrus herrschte.
Das aber wäre auch alles. Wenn wir also die so
reichen Documente der mesopotanischen Gefilde
ordnen können, wenn wir uns einer annähernd
sehr richtigen Anschauung über die Stellung der
Jüngern Texte in der Folge der Zeiten rühmen
1486 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 47.
dürfen, so verdanken wir dieses lediglich nicht
assyrischen Quellen, sondern den griechischen
Geschichtsschreibern und der byzantinischen
Chronographie. Wie wir es anfangen würden,
unabhängig von derselben überhaupt eine Zeit-
bestimmung zu erzielen, wird Niemand uns an-
zugeben befähigt sein. Die Erwähnung der
bekannten Sonnenfinsternis ist eine unbestimmte
Angabe, die nur dadurch präcis werden konnte,
daß man die Zeit, in der sie stattgefunden ha-
ben mochte, nämlich 91 Jahre nach dem Tode
Ahabs ziemlich genau kannte; sie hat aber ohne
die genaue Untersuchung der nichtassyrischen
Elemente zu Irrthümern führen müssen, da man
sie auf ein unrichtiges Phänomen bezog.
Man kann nicht behaupten wollen, daß wir
eine assyrische Chronologie haben, wenn wir
sie eben noch nicht besitzen: es ist ja mög-
lich, daß wir dereinst durch assyrische Quellen
ebenso unmittelbar, ohne Hülfe fremder Anga-
ben und ausländischer Stützpunkte eine assyri-
sche Zeitrechnung schaffen können, wie man
unabhängig eine chinesische Chronologie aus
einheimischen Documenten feststellen kann*).
Aber jetzt haben wir die Elemente dazu nicht,
und dieses hat namentlich ein Mitarbeiter der
Augsburger Allgemeinen Zeitung schlagend nach-
gewiesen, in einem Aufsatz betitelt: „Die assy-
rische Keilschriftforschung und die biblische
Chronologie **).
Die Absiebt des gelehrten Verfassers war
solches freilich nicht. Er behauptete das Gegen-
theil, daß es nämlich eine assyrische Cbronolo-
*) Siehe Oppolzer in den Monatsberichten der Ber-
liner Akademie der Wissenschaften, 1880 p. 166 ff.
**) Siehe Beilage der A. A. Z. 20.-22. April 1880.
Schäfer, Biblische Chronologie. 1487
gie gäbe: aber seine Behauptung ist auch der
einzige Beweis, den er bringt Actore non pro-
bante absolvitor reus. Der Beklagte, in specie
facti , der Referent , wegen des obigen Aus-
spruches, darf sich aber erlauben, dem Herrn
Verfasser des Artikels zu bemerken, daß auch
e r weiß, daß es assyrische Eponymenlisten giebt,
und daß in diesen einer Sonnenfinsterniß Er-
wähnung gethan wird. Aber zur Feststellung
einer assyrischen Chronologie gehört noch mehr;
eine solche Angabe muß sich eben nur auf ein
Datum beziehn können. Hier aber macht sich,
neben der Ansicht des Verfassers, der fh zeich-
net, die Hrn. Schaefers und des Referenten gel-
tend, und zwar auf Grund der biblischen Chrono-
logie, von der der Artikel , trotz des Titels, auch
nicht ein Wort sagt. Daß für Abrahams Zeit-
alter die unterste Gränze 1700 vor Chr. sei, kann
doch unmöglich als biblische Chronologie be-
trachtet werden. Wenn man dann noch „von
einigen Jahrhunderten, von 2000 Jahr vor Chr."
spricht, so ist dieses für einen „Chronologen"
sehr gutmttthig, und derartige Naivetäten, die
schwerlich einem Ideler begegnet wären, be-
weisen nur, daß die chronologischen Arbeiten
der neuesten Zeit für den Hrn. fh vergebens
gemacht worden sind.
Die Biblische Chronologie feststellen, heißt
aber nicht nur decretieren, daß Salomo 932
v. Chr. und Ahab 854 v. Chr. gestorben sei.
Will man diese Daten annehmen, so muß man
auch nachweisen, wie man sich denn eigentlich
die Zeitbestimmungen für alle diejenigen Könige
vorstellt, welche zwischen Salomo und Ahab
einerseits, und andererseits von Ahab bis zu der
Zerstörung Samarias (721 v. Chr.) geherrscht
haben. Man muß also sich dazu bequemen, dem
1488 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 47.
Leser mit dürren Worten und mit präcisen Zah-
len anzugeben, wann Jerobeam I., Baesa, Josa-
phat, Jehu, Joas von Jada, Amazia, Joas von
Israel, Jerobeam IL, Uzia, Jotham, Menabem I.,
Pekah, Ahaz and Hiskia regiert haben. Der
Verfasser der Preisschrift hat sich diese Auf-
gabe gestellt und darauf geantwortet: der Herr
fh hat sich dieselbe nicht einmal vorgeführt,
und hierin gleicht er eben den Qu&sichronolo-
geo, die über biblische Zeitrechnung zu schrei-
ben glauben, im Grunde aber dieselbe jung-
fräulich unberührt lassen. Den Forscher über
jüdische Geschichte läßt der elamitische König
Earaindas vollständig kalt, selbst wenn man ihm
beweisen könnte, daß letzterer gegen 1477 ge-
herrscht hat.
Die wirkliche Schwierigkeit, welche die Be-
stimmung der biblischen Chronologie mit sich
führt, ist aber jenem Autor so unbekannt geblie-
ben, wie eine andere Thatsache, die freilich
noch überraschender ist für Jemanden, der be-
hauptet, es gäbe eine assyrische Chronologie.
Bis jetzt haben wir in den Keilschriften eine
einzige Stelle, aus welcher man, unabhängig
von der Angabe der Juden und der Griechen,
einmal eine assyrische Zeitrechnung, wenigstens
für die späteren Epochen, entwickeln können
wird. Nun, von dieser einzigen Angabe hat der
geehrte Mitarbeiter der Allgemeinen Zeitung
keine Kenntniß.
Dieser Passus findet sich in der Inschrift
Assurbanhabals (W. A. I. t. II, pl. 32) und lau-
tet wie folgt:
„Im Monat Tammuz fand eine Finsterniß des
Herrn des Tages, des Gottes des Lichtes statt
Die untergehende Sonne ließ davon ab zu leuchten,
und wie diese, ließ auch ich davon ab, während
Schäfer, Biblische Chronologie. 1489
(? Lücke der Zahl) Tage den Krieg gegen Elam
zu beginnen".
Der König erzählt dann, wie er im Ab,
dem Monde „des Sichtbarwerdens des Sirius"
den Krieg gegen Teumman, König von Elam,
begonnen habe.
Das Phänomen, von welchem hier die Rede
ist, kann kein anderes sein, als die ringförmige
Sonnenfinsterniß vom Dienstag 27. Juni julia-
nisch, 20. Juni gregorianisch, des Jahres 661
vor Chr. (—660), 9,340; nach P.Pingr6, fiel die
Mitte auf l1/* Uhr Abends mittlerer pariser Zeit,
also 4 Uhr 10 Minuten mittlerer Zeit von Ninive.
Die Bewohner der Westküste Mexicos sahen die
Sonne ringförmig verfinstert aufgehen: die cen-
trale Linie furchte eine Ecke Nordamerika,
zog dann über den Atlantischen Ocean, die Aco-
ren, Spanien, Südfrankreich und Süditalien, um
unweit Südarabiens zu erlöschen. Die Finster-
niß war zum Theil auch in Ninive sichtbar: die
centrale Eklipse endete gegen 6 Uhr, und die
allgemeine konnte, noch einige Zeit in Ni-
nive sichtbar, gegen Sonnenuntergang vollstän-
dig beendet sein. Das Bedeutende ist, daß
nicht allein der Monat, sondern auch die Tages-
zeit der Erscheinung überliefert ist.
Der Feldzug des Ninivitischen Königs ge-
gen Elams Herrscher Teumman, der sich auf
vielen Bildwerken verewigt findet, fand also im
Sommer 661 v. Chr. statt. Es war nach eini-
gen Texten der dritte, nach andern der fünfte
Feldzug: dieser Unterschied trägt wenig dazu
bei, den assyrischen Texten so ausschließliche
Autorität, allen anderweitigen Angaben gegen-
über, zu verschaffen; in zwei Inschriften rech-
nete der König nach zwei verschiedenen Weisen.
Man kann also, wegen dieser abweichenden Rech-
U4
1490 Gott, gel, Anz. 1880. StUefc 47.
Btrnggwefae, das- Jahr de* Thronbesteigung As-
surbanhabals nicht genügend bestimmen; Nach
dem Ptolfemäischen Canon hörte Assarhaddon,
de» Königs Vater, auf, 668> v. Chr. m Babylon
zu herrschen, und Bein Bruder, Saosductii» (Sä-
mul-sum-yukin oder vielleicht Sam&s-sum-yukin*)
bestieg den Thron**). Vorläufig müssen wir
noch die Epoche der Nabonassariseken Aera als
vollständig richtig gelten- lassen, da sich die be-
kannten drei Mondfinsternisse vom Jahre 721
und 720 vor Christo auf das erste und zweite
Jahr des Mardokempadus, d. i. Merodach-bala-
dans beziehen, und sie in dieser Form dtenr gro-
ßen Astronomen Hipparchos überliefert waren.
Da der Name des chaldäischen Königs sieh
dreimal im Almagest wiederfindet, ist es wahr-
scheinlich, wenn nicht gewiß, daß die alexan-
drinischen Daten direct keilschriftlichen Anga-
ben entnommen waren.
Gewißheit über die Epoche des Regierungs-
antritts des assyrischen Königs würden wir ha-
ben, wenn wir noch die vollständige Liste der
Eponymen aus den zehn ersten Jahren Assur-
ftttnhabals besäßen: aber leider bricht das fort-
laufende Fragment schon mit dem dritten Jahre
dieses Königes ab. Auch dieses würde nieht ftfr
die Frage genügend sein ; wir müßten die Archontie
kennen, unter welcher Teumman1 besiegt wurde.
Unglücklicherweise scheint hier der Zufall un-
serer Wißbegierde spotten zu wollen': ein klei-
*) Oder Samas-mukin: die wahre Fora* ist zur
Stande noch unbekannt. Bekennen wir diese« frehnüfchig.
Letztere Form würde sich genau an das corrumpierte
S&osduchin des Ptolemäischen Canons und an Sammughea
anschließen.
**) Die Epoche des Jahres 80 NäbonasSaf ist der «,
Februar 668.
Schäfer, Biblische Chronologie. 1491
nes Täfelchen, welches einen Bericht an den
König enthält, spricht von dieser Finsterniß, die
der Schreiber in Aegypten beobachtet hatte, wo
sie bedeutender war als in Assyrien. Aber letz-
teres Täfelchen ist auch ohne Datum, so daß
nns noch diese Hoffnung bis jetzt abgeschnitten
worden ist. Alles, was wir noch über den
Punkt mit einiger Sicherheit angeben können,
ist, daß die Eponymie des Belsunu in das Jahr
660 fiel, was wir aus einem von uns zuerst er-
klärten, häufig später von andern veröffentlich-
ten Täfelchen schließen müssen, wo eine Son-
nenfinsternis am Ende Sivans umsonst erwartet
wurde, was sich nur auf dieses Jahr und zwar
auf den 16. Juni julianisch 660 beziehen kann*).
Die Kriegszüge Assurbanhabals sind außerdem
nicht chronologisch, sondern geographisch ge-
ordnet; so fiel zum Beispiel der Anfang der
arabischen Kriege schon in die Eponymie Bel-
sunu , während sie auf dem großen Prisma erst
der Einnahme von Susa folgen, welche min*
destens zwölf Jahre später Statt hatte als jene
Archontie, und deren auch der von 660 v. Chr.
stammende Text mit keiner Sylbe erwähnt**).
Man sieht aus dem Vorhergehenden, daß wir
noch sehr langer Zeit und namentlich noch
vieler glücklichen Funde bedürfen, um
nns über die einfachsten Fragen der assyrischen
*) S. die Inschrift in meiner Gn&mmaire assyrienne
p. 110.
**) Nach einem bestimmten Zeugnis (W. A. I. pl. 2)
ist die Eponymie der Thronbesteigung Assurbanhabals
(s. meinen Aufsatz in D. M. 1868, p. 148) die des Mar-
la-armi fur Ninive, die 667 fallen mußte. Hatte Aesar-
haddon schon früher den Thron an Saosduchin abgetre-
treten? Die eigenthämlichen Beziehungen dieser beiden
Bruder widersprechen dieser Ansicht nicht.
94*
1492 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 47.
Chronologie aufzuklären. Die einzige alles be-
stimmende Keilschriftangabe, die wir heute ken-
nen, haben wir aber nicht im Urtext;
Hipparchos von Alexandria Jiat das Verdienst,
sie für uns übersetzt zu haben.
Wir werden auch einmal, wie gesagt, eine
unabhängige assyrische Chronologie haben
können, wenn wir nämlich eine fortläufende Ge-
schichte haben, die uns aber noch fehlt.
Die Einnahme Samarias setzt Hr. Schäfer in
das Jahr 721, mit dem Referenten, und mit al-
len früheren Autoren. Der Grund dieser An-
sicht liegt in der Angabe des Regierungsantritts
des Babyloniers Merodachbaladan, der eben durch
die hipparchische Ueberlieferung sicher gestellt
ist Nach dem Canon, der durch die assyrische
Keilschrift (siehe meine Uebersetzung der gro-
ßen Inschrift von Khorsabad, zuletzt in Records
of the Past, t. VI, p. 14) bestätigt wird, re-
gierte Merodachbaladan 12 Jahre, ehe Sargon
Babylon einnahm. Diese Waffenthat fallt in
das 12te Jahr Sargons, und zwar nicht in sein
12tes Regierungsjahr (sanat), gerechnet vom Re-
gierungsantritt, sondern in die 12te Eponymie,
die seinem Regierungsantritt folgte (palu)*).
Es wäre dieses also die Archontie des Ninip-
halik-pani von Nisan 710 (9,291) bis Nisan
709 (9,292). Im Sebat dieses Jahres, also Fe-
bruar 709, nahm Sargon Babylon, und mit dem
17. Februar julianisch beginnt die Epoche Sar-
gons im ptolemäischen Canon, d. i. das Jahr 39
Nabonassars. Babylon ist also, wenn das Ide-
ler'sche Princip in Anwendung zu bringen ist,
*) In dieser Hinsicht schließe ich mich der Ansicht
an, daß sanat das Jahr von der Thronbesteigung an,
palu das Eponymenjahr, und zwar vom Nisan bis Adsr
ausdrückt.
Schäfer, Biblische Chronologie. 1493
kurz nach dem Februar 20 jul., 12 gregoria-
nisch, in des Assyrers Hände gefallen. Sargon
kam, wie er selbst sagt, noch zur rechten Zeit,
um die Feste des Sebat zu begehn, die durch
kleine olivenförmige Keilschriftdocumente (s.
mein Dour-Sarkayan p. 27) ans dem 9ten bis
12ten Jähre Merodachbaladans noch besonders
bekannt sind.
Dazu kommt noch, daß eine im Louvre be-
findliche Tafel aus dem Marchesvan desArchon
Mannu-ki-Assur-lih, Statthalters von Tille, aus-
drücklich dieses Datum als dem 12 ten Jahre
Sargons angehörig bezeichnet, obgleich andere
Documente ( W. A. I. III, 2, 15), das dreizehnte
für diese Eponymie angeben*). Setzte man
nun auch, mit Hrn. Schrader und Hrn. fh, die
Eponymie in 709, so würde doch, selbst nach
Verwerfung der von dem verstorbenen George
Smith mit Erstaunen verificierten Angabe des
Louvredocumentes, der Regierungsanfang nicht
höher fallen, als Februar 721.
Hr. Schrader hat einfach folgende Rechnung
gemacht: 763 (Datum der vermeintlichen Fin-
sterniß) minus 41 = 722. Diese Rechnung be-
streiten wir gar nicht. Aber ist nun der Re-
gierungsantritt Sargons, 722 wohlgemerkt Februar
9,279? Wenn der ehrenwerthe Hr. fh behaup-
tet, Hr. Schrader habe dieses „endgültig
nachgewiesen" und „gezeigt", daß zwischen
dieser Angabe und dem ptolemäischen Canon
kein Widerspruch obwaltet (!), so beweist und
zeigt dieses endgültig nur, daß Hrn. fh
die Auffassung des wirklichen Sachbestandes so
vollständig als nur möglich entschlüpft ist. Ein
*) Wir dürfen nicht unterlassen, diese Widersprüche
in »gleichzeitigen Doonmenten« besonders hervorzuheben.
1494 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 47.
so feiner Unterschied, eine so präcise Bestim-
mung antiker Daten, läßt sich nicht durch ein
einfaches, übrigens von uns unbestrittenes Sub-
tractioosexempel (763 — 41 = 722) absprechend
über das Knie brechen.
Dem Herrn Schäfer, wie auch uns, ist der
Eponymenturnus vorgehalten worden, der in-
dessen nichts für uns, und nichts gegen
ans beweist, und über welchen wir uns schon
(Gott. gel. Anz. 1879, S. 797 f.) genügend aus-
gesprochen haben. Für unsere Ansicht dieser
Unterbrechung spricht nicht absolut, daß unter
neun Namen, acht verschieden sind und in
neun Jahren fast alle Beamte gewechselt sein
müßten. Derartiges ist ja schon vorgekommen.
Ebenso ist möglich, daß der Assur-bel-kaYn,
Landeshauptmann, wenn der Name in beiden Stel-
len dieselbe Person bezeichnet, 56 Jahre im Amte
verblieben ist. Uebrigens setzt derselbe Name
mit derselben Function noch keineswegs eine
persönliche Identität voraus. In einer juristi-
schen Inschrift vom 8ten Sebat des ersten Jah-
res Neriglissors (Januar 558) heißen zwei Rich-
ter beide Marduk-sakin-sum („Me rod ach giebt
den Namen", ein sonst nicht häufig vorkommen
der Name), und einer der vier Verkäufer des
Ackers heißt ebenso: dieses macht also drei
Personen desselben ziemlich seltenen Namens in
derselben Inschrift!
Alles derartiges ist kein Beweis und sich
damit aufhalten, eitel Geschwätz. Die Aemter
*) Wir haben mehrere Beispiele von langen Amts«
Verwaltungen, so ist Samsiel dreimal Eponymus 826, 816
und 798, während 29 Jahre; Musallim-Ninip Statthalter
von Tille 839 und 812 (27 Jahre), Nirgal-Essis von Be-
seph 850 und 821 (29 Jahre) und noch andere. Es sind
auch hier wenigstens gleichlautende Namen.
Schäfer, Biblische Chronologie. 1495
.sind geblieben, die Namen haben alle gewech-
selt bis auf einen, der nicht noth wendig die-
selbe Person bezeichnen maß. Alle können in
nenn Jahren gestorben sein, and dann nützt un-
ser Einwand nichts! oder der eine kann 56
Jahr Landeshauptmann geblieben, oder mit der
ninivitischen Herrschaft in seinen früheren Po-
sten wieder eingesetzt worden sein. Der ein-
zige Beweis, den man führen kann, ist: nach-
zuweisen, daß zwischen einem Zeitpunkte jen-
seits der von uns angenommenen Lücke, und
einem andern Punkte dieseits derselben, eine
Zeit von m Jahren, die sich durch die Con-
tinuität der Liste ergeben würde,, und nicht
•eine Summe von m -f- 46 Jahren verflossen ist.
Bis dabin aber, daß man dieses Resultat er-
reicht hat, wird man sowohl dem Hrn. Schäfer,
als dem Kef. erlauben, nicht allein auf das von
der Chronologie der Bibel eingelegte Veto, son-
dern auch auf die in unserm Artikel der Gott,
gel. Anz. entwickelten Widersprüche mit den
Keilschriften selbst hinzuweisen*).
Und wenn man uns vorwirft, wir handelten
-nur so, um eine Uebereinstimmung mit dear
biblischen Zeitrechnung zu erzielen, so geben
wir dieses in vollstem Maaße zu, und rühmen
uns dessen als einer durch die Einsicht gebote-
nen Handlungsweise. Natürlich muß die
assyrische Zeitrechnung mit der biblischen über-
einstimmen; wenn nicht, so ist eine von ihnen,
oder es sind alle beide falsch. Man kann nicht
eine österreichische und eine preußische Chro-
nologie schaffen , in der man entweder von
*) Diese sind die Sonnenfinsterniß der Regierung
Assur-nazir-babals and das Fehlen der sonst nothigen
Angabe der für Ninive höchst bedeutenden Sonnenfinsterniß
von 809.
1496 Gott. gel. Adz. 1880. Stuck 47.
Franz II. (1792) oder von Franz I. (1804) rech-
net, oder vielleicht gar 64 (nicht 46) Jahre aus
der deutschen Kaisergeschichte streicht, indem
man auf Franz II. sofort Wilhelm I. folgen läßt*).
Herr Dr. Schaefer hat seine Ansichten klar
entwickelt ; wir hätten nur einige Reserven über
das von ihm, freilich nicht ganz absolut, be-
folgte System der jüdischen Jahresanfänge zn
*) Dem Hrn fh. bin ich übrigens für die ehrenvolle
Art, mit der er meines Namens gedenkt, in vollstem
Maaße dankbar uud verpflichtet. Ich glaube daher, daß
sein Ausdruck »unwahre Behauptungen« in Betreff des
Turnus aus einem Druckfehler entstanden ist: denn »un-
wahr« ist doch nur die Art und Weise, wie er meine
Ansicht darstellt (s. Gott. gel. Anz. 1. c.) In diesen Sei-
ten, in welohen ich die Meinungen, die ich nicht theile,
und das was man mir entgegenhalten könnte, besprochen,
wird auch wohl Niemand ein »Machtwort« erblicken,
durch das ich die »Laien irreführen« will. Ich bin alt
genug, um zu wissen, daß sich überhaupt Niemand so
leicht »irre fuhren« läßt. Wahrscheinlich ist dem Hrn. fh
nnbekannt geblieben, was einem meiner jungen Freundein
München passiert ist, nämlich dem Hrn. Dr. Fritz Horn-
mel, der schon einige gute Seiten über Assyriologie ge-
schrieben, und von dem wir hoffentlich bald (als Folge
anderer verdienstlicher Bücher) eine tüchtige Erstlings-
arbeit auf as8yriologischem Gebiete zu erwarten haben.
Die Münchner Facultät, obgeioh aus »Laien« bestehend,
ließ sich bei dessen Habilitation als Docent so wenig »irre-
führen«, daß einer der Lehrer die Assyriologie als etwas noch
embryonenhaftes bezeichnete, denn was einer Melchior lese,
spreche ein Anderer Caspar aus, und ein Dritter Baltba-
sar. Auch »schleudere ich diese Machtworte nicht ge-
gen die jieutsche Schule« : der ehrenwerthe Hr. fh glaubt
wohl, ein Buch, welches den Titel führt: »die Assyriolo-
gie in Deutschland«, rühre von mir her. Dem ist aber
wirklich nicht so. In den Gott. gel. Anz. habe ich das-
selbe nur beurtheilt. Die »deutsche Schule" besteht über-
dies bis jetzt nur aus zwei verdienten Lehrern, die An-
derer Schüler sind , und zwei oder drei Zöglingen ; es ist
doch erlaubt, denke ich, zu beurtheilen was sie leistet
Schäfer, Biblische Chronologie. 1497
machen. Die Bücher der Könige rechnen die
Jahre von dem Anfang der Regierung
jedes Königs. Dieses haben wir in unserm
„Salomon et ses successeurs" mit mathemati-
scher Strenge nachgewiesen *). Das nte Jahr eines
Königs heißt, daß von seinem Regierungsantritt
bis zu dem bezeichneten Zeitpunkte, n — 1 Jahr
und ein Bruchtheil (den wir durch griechische
Buchstaben andeuten) verflossen sind. Regiert
Uzia 52 Jahre, und stirbt er im 2ten Jahre des
Pekah, welcher letztere in Uzias 52ten Jahre
zur Herrschaft gekommen ist, so ist dieses kein
Widerspruch, denn:
Uzia hat regiert vor Pekah 51 + *
„ „ „ mit Pekah 1 -f - %
Uzia hat also regiert : 52 + (*+*) Jahre,
wo a und % zusammen geringer sind als ein
halb. Uzia hat also etwas länger regiert als
volle %52 Jahre.
Dagegen steigt Asa auf den Thron im 20ten
Jahre Jerobeams L, der in Asa's zweitem Jahre
stirbt. Jerob&am hat also nicht ganz 22 Jahre
regiert, denn:
Jerobeam herrscht vor Asa 19 + ß
„ „ mit Asa 1 -j- y
Jerobeam herrscht im Ganzen 20 -f- (ß -|- y\
wo ß + r größer ist als anderthalb (s. p. 1498).
Wenn aber der Text von n Jahren spricht,
so heißt dieses mit Nichten im nten Jahr: es
steht nirgends, daß das 23te Jahr des Joas von
Juda das 28te Jebus gewesen sei. Es heißt (Kö-
nige II, 10, 36), daß Jehu 28 Jahre **) regiert,
und (ib. 3, 1), daß er im 23ten Jahre des Joas
*) Salomon p. 17.
**) »Und die Tage, die Jehu über Israel geherrscht,
sind acht und zwanzig Jahre in Samariac
1498 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 47.
gestorben sei. Hr.Scbaefer „erwartet" das22te.
Die Angaben der Bibel über Jehu, in dessen
7 ten Jahr Joas den Thron bestiegen hatte, lauten:
Jehu herrschte vor Joas 6 -\- o
„ „ mit Joas 22 + n
Jehn herrschte also 28 + (° + *),
das heißt, er starb nicht im 28ten, sondern nach
Beginn des 29ten Jahres seiner Regierung.
Hr. Schaefer hat nun die scheinbaren Wider-
sprüche dadurch zu erklären gesucht, daß er
für Juda und Israel zwei verschiedene Jahres-
anfange annahm. Der geringste Fehler dieser
ganz gratuiten Hypothese, die durch keinerlei
Andeutung vertheidigt werden kann, ist, daft
durch sie keine der erwähnten Widersprüche
gehoben wird. Wir wählen unter vielen andern
folgendes Beispiel: Abia herrscht 3 Jahre, vom
18ten bis 20ten Jahre Jerobeams I. Wie setit
uns nun ein verschiedener Jahresanfang, der
doch mindestens hätte genau bestimmt rferden
müssen, über die genannten Schwierigkeiten hin-
weg? Die Herrscherzeit des Abia bildet den
Unterschied von:
17 + ce, gerechnet von Jeroheans Thronbe-
steigung, und
19 + ßy (ß muß sehr groß sein, s. p. 1497) das ist
2 + (ß — <*\ wo die Differenz zwischen ß
und a größer ist als ein halb : in unserm „Sa-
lomon" schlagen wir vor : von März 9,041 bis
December 9,043.
Dieses' ist die einzige Möglichkeit, die an-
derthalb hundert einschlägigen Daten der Kö-
nigsbücher aufzufassen. Da das Einfachste auch
immer das Wahre ist, so ist ihre Entstehung
auf folgende Art zu erklären. Der oder die
Verfasser der Königsbücher und der Chroniken
hatten die oft citierten „Annalen der Könige
Schäfer, Biblische Chronologie. 1499
von Judatf and „Annalen der Könige von Israel"
vor sich. In diesen Jahrbüchern waren die Be-
gebenheiten nach Jahren und Monaten verzeich-
net , von Abib bis Abib, dem ersten Monat, und
die Jahre zählten alle von einem Zeitpunkte
an, von dem Terapelban oder von dem suppo-
nierten Datum des Exodus. Der oberflächlichste
Einblick in diese Annalen machte es ungemein
leicht, das Jahr einer Regierung für ein gegebe-
nes Ereigniß festzustellen, und diese Bestimmun-
gen, vom Tage der Thronbesteigung an gerech-
net, sind es, die uns in den Büchern der Kö-
nige überliefert sind.
Nicht allein die modernen Könige, die Sul-
tane und die Päpste verfuhren in dieser Weise, son-
dern lange vor Einführung einer dem Geschichts-
schreiber unentbehrlichen Aera in das Volks-
leben, zählten alle orientalischen Könige ihre
Jahre von dem Jahrestag ihrer Herrschaft. In
Babylon ist die Sache durch die datierten juri-
stischen Docnmente nachgewiesen: das er-
ste Jahr des Königs begann mit dem Datum
seiner Thronbesteigung, und rechnete sich nicht
von dem ersten Nisan, der seinem Begierungs-
antritt folgte*). Man nannte dieses erste Jahr
auch „Jahr der Thronbesteigung" und „Jahr des
Regierungsantritts"; gewöhnlich, jedoch nicht
immer, wurden die Monate bis zum Adar, dem
Schlüsse des Civiljahres, so bezeichnet. Man
kann in Babylon keinen Unterschied statuieren
*) Siehe meinen Beweis in der Schrift: Revised chro-
nology of the latest Babylonian kings, in den Transactions
of the Society for Biblical archaeology, 1878. Die
falsche Annahme hätte ein Jahr bis auf 25 Mondläufe we-
niger einen Tag, oder 737 Tage bringen können. Das
ass. paht allein bezog sich auf ein Eponymenjahr, und
nicht auf ein Regierungsjahr.
1500 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 47.
zwischen diesem Antritts- und dem „ersten*
Jahre : in den vierzig Jahren von Nebuchad-
nezzars Tode bis Darios, wo sich die juristi-
schen Täfelchen zu hunderten finden, bekämet
wir sonst sieben Jahre zu viel: außerdem giebt
es zwei Urtheile vom Elul und Tischri des lten
Jahres des Pseudo-Smerdis, der nur sieben Mo-
nate von Ab bis Nisan regierte, und der also
nur einen Elul und einen Tischri, nämlich die
seines „Antrittsjahres" gehabt hatte. Einige
neuere Entdeckungen bestätigen diese Ansicht,
die übrigens ganz natürlich ist und sich eigent-
lich von selbst versteht*).
Diese und andere minder wesentliche Mei-
nungsverschiedenheiten thun indessen der Bear-
theilung des Buches nicht den mindesten Ab-
bruch. Wir beglückwünschen den Autor, daß er
der oberflächlichen Anschauung einer gewissen
Schute entgegengetreten, und daß er dieses mit
einer reifen Sachkenntnis und einer technischen
Gelehrsamkeit bewerkstelligt hat, die der Wahr-
heit zur baldigen allgemeinen, ungetheilten An-
erkennung verhelfen wird.
Paris, August 1880. J. Oppert.
Die neueren Arzneimittel in ihrer
Anwendung und Wirkung. Dargestellt von
Dr. Wilh. Fr. Loebisch, a. ö. Professor, und
Dr. Prok. Freiherr v. Rokitansky, o. ö. Pro-*
fessor an der Universität Innsbruck. Wien, 1879.
Urban & Schwarzenberg. 64 S. in Octav.
Die gesonderte Behandlung der in allerjüng-
*) Gerade deshalb findet sie auch nicht sogleich
überall Eingang ; die andere Ansicht, mit dem Jahrewod*
chen , die natürlich als falsche Idee, Vertheicliger ge-
funden hat, vereinfacht gar nichts in der Jahreszahlung.
Loebisch u. Rokitansky, D. neuer. Arzneimitt. 1501
ster Zeit in die Praxis eingeführten sogenannten
modernen Arzneimittel hat gewiß gerade jetzt,
wo der Arzneischatz wesentliche Bereicherangen
erfahren hat, ihre volle Berechtigung. Für den
Praktiker ist es außerordentlich angenehm, eine
Zusammenstellung des wichtigsten über diejeni-
gen Arzneimittel zu erhalten, über welche ihn
die in seinem Besitze befindlichen Handbücher
der Materia medica im Stiche lassen. Für die
wissenschaftliche Ausbildung der Aerzte sind
solche Werke von besonderer Bedeutung, da den
einzelnen Stoffen eine ausführlichere Arbeit ge-
widmet werden kann als dies der Raum selbst
der ausgedehntesten pharmakologischen Hand-
bücher gestattet, und dadurch die einzelnen Ar-
tikel sich geradezu zu wirklichen Monographieen
gestalten. So ist es z. B. der Fall in der be-
kannten Histoire des nouveaux medicaments von
Guibert, der vorzüglichen Preisschrift, deren
nicht bloß ephemere Bedeutung durch eine zweite
Auflage und Uebersetzung in fremde Sprachen
zur Genüge anerkannt ist und welche nament-
lich in der deutschen Bearbeitung von Richard
Hagen ein Musterwerk bildet, das später ana-
logen Arbeiten zum Anhalte dienen kann. Daß
seit dem Erscheinen der zweiten Auflage dieses
Buches eine hinreichende Zahl von Medicamenten
dem Arzneischatze zugewachsen ist, um gewisser-
maßen ein Supplement zu rechtfertigen, lehrt ein
Blick auf den Inhalt der vorliegenden Studie
von Loebisch und Rokitansky, diemitnur
wenigen Ausnahmen ausschließlich Stoffe be-
spricht, welche in Guibert-Hagen nicht ent-
halten sind.
Die Schrift von Loebisch und Roki-
tansky behandelt übrigens keineswegs Alles,
was in den letzten Jahren an Medicamenten neu
vorgeschlagen wurde, vielmehr nur solche Stoffe,
1502 Gott, gel Anz. 1880. Stock 47.
welche eine verbreitete Anwendung gefanden h*\
ben, und entspricht damit vorzugsweise den
dürfnissen und auch den Wünschen des prakl
sehen Arztes. Abgesehen vielleicht vom Trii
thylamin, der letzten unter den vonLoebiscl
und Rokitansky abgehandelten Substai
dessen speeifische Wirkung bei acutem Rheuma-]
tismus durch die sicherere der Salicylsäure um
des salicylsauren Natriums in Schatten gestel
worden ist und welchem, nur die von Weiß
flirwortete Verwendung bei Chorea minor tibri|
bleibt, dürften die sämmtlichen übrigen hier
gehandelten Stoffe das Prädikat wirklicher Er-
rungenschaften für die Therapie und dauern-»!
der Bereicherungen des Arzneischatzes verdienen«
Es sind dies in der von den Verfassern einge-
haltenen Reihenfolge, die wohl rein willkürlich,!
ohne ein besonderes Eintheilungsprincip gewählt]
wurde, Amylnitrit, Pilocarpin, Pankreatin, (Fleisch*
pankreas-Klystiere) , Apomorphin, Salicylsäure
und Ghloralhydrat. In der That ist mit diesen
Medicamenten die Kerntruppe unserer neuen Er-
werbungen gegeben; indessen wenn wir auch
wohl begreifen können, daß die Verfasser es ver-
schmäht haben, einzelne Novitäten abzuhandeln,
welche in Folge gewisser naiver Anschauungen,
namentlich durch den Glauben an eine Specif*
cität ihrer Wirkung bei bestimmten pathologi-
schen Zuständen und Veränderungen, auf den
therapeutischen Markt gebracht wurden, wie
Cundurango, Xanthium strumarium, Blatta oriea-
talis, so giebt es doch unseres Erachtens noch
eine Anzahl moderner Medicamente, welche ne-
ben jenen Matadoren der modernen Arzneimittel
in einer Schrift wie die vorliegende eine Be-
sprechung hätten finden sollen. Ich möchte in
dieser Beziehung namentlich auf die Araroto,
Loebiscbu. Rokitansky, D. neuer. Arzneimitt. 1503
ferner auf Acidum pyrogallicum und Thymol
hin weisen. Die Besprechung dieser Stoffe ver-
missen wir mit um so größeren Bedauern, weil
die Darstellung der von Loebisch und Ro-
kitansky abgehandelten Substanzen den Be-
dürfnissen des Praktikers so überaus angepaßt
ist, daß dieselben gewiß gerne den Umfang der
Schrift um 1 — 2 Bogen vermehrt sehen würden,
welche ihnen Belehrung über die Wirkung und
Anwendung jener Stoffe, die in den meisten
Handbüchern nur kurz erwähnt sind, verschafften.
Was die einzelnen Artikel anlangt, so hätte
beim Amylnitrit vielleicht die Anwendung bei
Chloroformasphyxie, für welche namentlich in
allerneuester Zeit einige englische und ameri-
kanische Aerzte plaidieren, etwas ausführlicher
besprochen werden können. Nach unseren eige-
nen Erfahrungen über die antidotische Wirkung
bei Thieren, welche mit letalen Dosen Chloral-
hydrat vergiftet wurden, können wir freilich die
sanguinischen Hoffnungen einzelner dieser Aerzte
nicht theilen. Ist es auch logisch, aus den be-
lebenden Wirkungen einiger Tropfen Amylnitrit
auf die Herzaction eine Indication zur Anwen-
dung des Mittels bei Ohnmachtsanfällen und
Wiederbelebungsversuchen von Ertrunkenen und
Erstickten zu schließen und hat auch Maxi-
mo^witsch reelle Erfolge bei Rohlenoxydver-
giftung constatiert, so müssen wir andererseits
doch vor einer outrierten Anwendung warnen,
d& dadurch offenbar die asphyktrischen Zustände
m Folge der durch das Amylnitrit bedingten
Veränderung des Hämoglobins gesteigert werden.
Zu dem itia Üebrigen trefflich bearbeiteten
Artikel über Pilocarpin gestatte ich mir die phar-
macognostische Bemerkung, daß der Name Jabo-
randi allerdings nichts, wie M e r at und D e 1 e n s
richtig angeben , als eine GoUeetivbezeiehnung
1504 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 47.
für mehrere verschiedenen Familien angehörige
Pflanzen darstellt, daß aber dasjenige Jaborandi,
dem die eigenthümlichen diaphoretischen und
sialagogen Wirkungen zukommen, nur von Pilo-
carpusspecies sich ableitet. Es würde dies für
die lateinische Benennung der betreffenden Droge
insofern von Bedeutung sein, als dieselbe correct
Folia Pilocarpi und nicht, wie es gewöhnlich
geschieht, Folia Jaborandi zu benennen wäre.
Trefflich gearbeitet ist der Artikel über
Pankreatin und die Fleischpankreas-Klystiere,
der allerdings durch die weiteren nach dem Er-
scheinen der vorliegenden Schrift publicierten
Untersuchungen einige Bereicherungen erfahren
würde, ein Umstand, der da, wo es sich um Zu-
sammenfassung der Verhältnisse eines noch mit-
ten in der Untersuchung begriffenen Stoffes han-
delt, leicht eintreten kann und z. B. auch beim
Pilocarpin sich geltend macht, während die übri-
gen Stoffe, wie Apomorphin, Amylnitrit und ins-
besondere Salicylsäure und Chloralhydrat, als
ziemlich abgeschlossen betrachtet werden kön-
nen. Die praktische Behandlung des Stoffes
in allen diesen Artikeln, welche dem Werkchen
eine große Verbreitung sichern wird, läßt es
hoffen, daß die Verfasser in einer zweiten Auf-
lage die durch die neuesten Beobachtungen sich
ergebenden Zusätze und Modificationen anzu-
bringen Gelegenheit haben werden und dürfte
dann auch die Berücksichtigung der oben her-
vorgehobenen modernen Medicamente und der
seit dem Erscheinen der Schrift bei den Prak-
tikern sich Eingang verschafft habenden Stoffe
(Peptone, Quebracho) sich empfehlen,
Theod. Hasemann.
Für die Redaction yerantwortl ich: E. Behnisch, Director d. Gott. g9l.Au.
Verlag der Ditttrich' sehen Vriags-BuchJumtUm*.
ömck der Dieierich' sehen Unit.- Buchdruck«« (W. Fr. Km+m)>
Jp*-* *<s
: . 1505
(jötti ng ische
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück 48. 1. December 1880.
Inhalt: Chr. v. Sara uw, Die Feldzüge Karl's XII. Yon C. Schir-
ren. — R'A. Li peius, Die edeasenisctie Abgarsage. Von E. Nestle.
— B. Hartmann, Handbuch der Anatomie des Menschen. Von
iL v. Brunn.
= Eigenmächtiger Abdruck von Artikeln der Gott. gel. Anz. verboten ss
Die Feldzüge Karl's XII. Ein quellen-
mäßiger Beitrag zur Kriegsgeschichte und Ka-
binetspolitik Europa's im XVIII. Jahrhundert
von Christian von Sarauw, Königl. dän.
Kapitän a. D. Mit einer Uebersichtskarte und
sechs lithogr. Tafeln. Leipzig, Bernh. Schlicke.
1881. XII u. 328 S. in 8°.
Verfasser und Verleger hätten sich für alle
Zwecke mit dem Haupttitel begnügen sollen.
Der Zusatz: Beitrag zur Kriegsgeschichte, ist
müßig; der Zusatz: Beitrag zur Kabinetspolitik,
kaum berechtigt und die Bezeichnung: quellen-
mäßig, erweckt gleichfalls Erwartungen, die
nicht erfüllt werden. Von dem Aushang ab-
gesehen hat das Buch einen durchaus legitimen
Anspruch, so hingenommen zu werden, wie es
sich darbietet. Mehr als eine verständige Ueber-
95
1506 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 48.
sieht unter Benutzung bekannter Hilfsmittel hat
der Leser nicht zu erwarten. Auch auf sichere
Führung darf er nicht rechnen, wie denn der
Verf. selbst in seinem Gesammturtheil schwankt.
In der Schlußbetrachtung kennt er nur zwei
entgegengesetzte Auffassungen : während die
eine in den Feldzflgen Karls XII. nichts er-
blicke, als ein tolles Gewirr abenteuerlicher
Züge, erkenne die andere überall einen wohl-
durchdachten Plan und eiserne Consequenz in
der Ausführung; der letzteren Auffassung schließt
der Verf. sich an und zieht die Summe mit dem
Satz: Karl vereinigte in sich alle Eigenschaf-
ten, die ein großer Feldherr besitzen muß, um
mit Recht diesen Namen zu verdienen. In der
Einleitung dagegen heißt es: während Einige
ihn als ein fast unerreichtes Muster eines Heer-
führers preisen, mäkeln Andere gewaltig an
seiner Kriegführung herum; zwischen beide Ex-
treme will der Verf. sich stellen und schreibt:
die Wahrheit liegt, wie so oft, auch hier wohl
in der Mitte.
Soweit nun verständige Auffassung argen
Uebertreibungen auszuweichen pflegt, hat der
Verf., trotz seiner Schlußbetracbtung, in der
That eine gewisse Mitte eingehalten: ob er
aber damit im Einzelnen das Richtige trifft,
weiß er ebensowenig, wie der Leser und kann
es ebensowenig wissen, weil er von den Um-
ständen und Bedingungen des einzelnen Falles
nur im Allgemeinen, nicht selten ganz unzu-
reichend, unterrichtet ist.
Gebricht es demnach an quellenmäßiger Be-
gründung, so hat sich der Verf. seine Aufgabe,
zum Nachtheil ihrer Lösung, des Weitern anch
dadurch erleichtert, daß er gegen unfaßbare
Gegner polemisiert. Fast immer heißt es : „man"
v. Sarauw, Die Feldzöge Karl's XII. 1507
behauptet, pflegt zu behaupten u. dgl., worauf
die Widerlegung folgt. In den meisten Fällen
aber ist das, was zu beweisen gesucht wird,
entweder nie angestritten worden oder längst
eingeräumt.
Was sich bei nicht sehr verwickelten Be-
denken vorträgt, wird, wenn auch keine rechte
Ueberzeugung, doch auch keinen lebhaften Wi-
derspruch hervorrufen. Man kann sich die Ant-
wort etwa auf folgende Fragen gefallen lassen:
warum brach Karl XII. von Seeland nicht ra-
scher nach Livland auf; warum lag er solange
in Lais; warum so lange in Kurland; was be-
zweckte sein Streifzug nachKowno; warum zog
er von Warschau nicht früher gegen Pinczow;
warum ließ er sich auf die zeitraubende Bela-
gerung von Thorn ein?
Wenn aber von S. 87 bis S. 223 unternom-
men wird, darzuthun, nicht nur — was inner-
halb gewisser Grenzen zugegeben werden mag
— daß die Züge des Schwedenkönigs von 1702
bis 1706, weit entfernt, planlos hin und her zu
streifen, vielmehr der Ausfluß einer einzigen
Idee waren, die mit eiserner Gonsequenz fest-
gehalten wurde ; sondern auch, daß des Königs
starres Festhalten an der Absetzung Augusts
nicht im geringsten ein großer politischer und
militärischer Fehler, vielmehr durchaus richtig
und zweckentsprechend, war und wenn der Verf.
nun seinen Beweis damit einleitet, daß er Oxen-
stierna's Denkschrift, welche die deutlichsten
Spuren von Altersschwäche an sich trage, ein
völlig irrelevantes Actenstück von größerer Red-
seligkeit, als Einsicht nennt, so erwartet man
billig, durch die folgenden Ereignisse die in-
nere Hohlheit von Oxenstjerna's Warnungen, die
siegreiche Zweckmäßigkeit von des Königs wi-
95*
1508 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 48.
derstrebenden Entschlüssen proclamiert zu fin-
den und nimmt fortschreitend im Gegentheil
wahr, wie sich nichts weiter darlegt, als etwa
eine Verkettung von Umständen, wo ein Schritt
den andern nach sich zieht, bis schließlich mit-
ten aus allen Wirkungen und Folgen auch dem
naivsten Leser die Ueberzeugung aufgeht, wie
weise der alte Oxerstjerna gewarnt und wie un-
abwendbar der König sein Verhängnis über
sich herabgezogen hat. Es wird nie gelingen,
darzuthun, daß ihm seine polnische Politik durch
die Verhältnisse dictiert wurde; vielmehr trifft
man überall auf Stadien, wo eine Umkehr mög-
lich und heilsam gewesen wäre; das Hinderniß
lag dann nicht in den Umständen und, wer es
dort sucht, verschließt sich dem Verständniß der
Dinge und der Personen. Auch hat der Verf.,
trotz seiner unzulänglichen Detailkunde, begriffen,
daß Karl XII. die Tragweite jener Idee nicht
voraussah und nicht voraussehen konnte. An-
fangs läßt er ihn der Meinung sein, mit der
Entthronung König Augusts die erste Aufgabe,
welche er sich gestellt hat, lösen zu können.
Unmittelbar vor der Lösung läßt er ihn ein-
sehen, daß an die zweite Aufgabe — die Züch-
tigung des Zaren — erst dann gegangen wer-
den könne, wenn nicht nur der eine König ent-
thront, sondern auch der andere auf dem Thron
befestigt sei; abermals eine Zeitlang darnach
zeigt sich, daß auch dieses nicht genüge, son-
dern daß vorgängig auch der Frieden in Polen
hergestellt sein müsse und das Ergebniß aller
Mühen ist zuletzt, daß es in Polen statt eines
Königs ihrer zwei, statt des Friedens Bürger-
krieg giebt. Da bleibt freilich nichts übrig, als
der Zug nach Sachsen und, trotz S. 70, ein
neuer Act der Waffengewalt. Nun mag man
v. Sarauw, Die Feldzüge Karl's XII. 1509
über die militärischen Operationen vom Frieden
von Travendal bis zum Frieden von Alt-Ranstädt
denken, wie man will, das Urtheil über des
Königs Politik hängt nicht von seiner Strategie
ab nnd auch diese hat zuletzt doch nur nach
Pnltawa geführt. Anders läßt sich die Summe
nicht ziehen, auch wenn der Rechnungsansatz
gemacht wird, wie vom Verfasser. Allerdings
ist noch ein anderer Ansatz denkbar, bei wel-
chem beide, der alte Oxenstjerna und der kö-
nigliche Held, besser zu ihrem Rechte kommen ;
die Summe bleibt freilich dieselbe, aber das
Verständniß dringt tiefer an die Wurzel und die
Rechnung umfaßt gleich auch alle Vorgänge
nach dem Frieden von Alt-Ranstädt.
Selbst den Verf. begleitet auf den russi-
schen Feldzug nicht mehr die Zuversicht, daß
des Königs Wege an sich die besten sind. Be-
greiflich genug. In Polen gab es wohl gewal-
tige Kreuz- und Querzttge, aber jeder war auf
ein faßbares Ziel gerichtet; alle mit einander
bildeten, im Verlaufe der Jahre, ein meßbares
Netz, welches zuletzt, trotz Allem, dem König
August über den Kopf fahrt. Nur etwa beim
Zug gegen Lemberg (1704) wandeln auch den
Autor Bedenken an. Nach Ueberschreitung der
rassischen Grenze thut sich ihm plötzlich eine
ungeheure Leere der Landschaft, eine halbe
Windrose für den Marsch von Truppen und Ge-
danken auf. Das Woher ist deutlich genug,
aber zeichen- und aussichtslos erscheint das
Wohin und Warum. Da ist nur zu bald der
erste, beste Wegweiser willkommen und wäre
es ein Byron'scher Mazepa; je früher er sich
einstellt, um so willkommener ; wenigstens reitet
es sich mit ihm bequem bis an's Ende; ja dem
König wird der Vorwurf nicht erspart, nicht
1510 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 48.
rasch genug von Mohilew nach Paltawa aufge-
brochen zu sein, wo dann leider König und
Autor zuletzt gleich rathlos ankommen, S. 261
verglichen mit S. 326. Nun fällt es freilich
schwer, ohne neue Quellen die herkömmliche
Darstellung, welche nur ganz im Allgemeinen
das Richtige trifft, zu corrigieren und es ist
einzuräumen, daß der Verf. auch für die Jahre
1708 und 1709 seine verständige Art nicht ge-
rade verläugnet, aber einer Einsicht, welche
schon in alten Quellen zu Gebote stand, hat er
sich ohne Noth verschlossen , nachdem er ihr
S. 252 auf die Spur gekommen war: der Ein-
sicht in den untrennbaren Zusammenhang des
Ausgangs von Pultawa, sammt allen Etappen,
die von Narwa dahin geführt haben, mit dem
Genius des Königs. Mit Unrecht hat der Verf.
die Führung von Löwenhaupt und Gyllenkrok
durch das Labyrinth der russischen Campagne
verschmäht; schon bei ihnen ist der Schlüssel
zu finden, der dann auch die ßäthsel von
Bender, Stralsund und Fredrikshall erschlie-
ßen hilft.
Zutreffend, obwohl schwach bewiesen, ist die
Behauptung, daß den König nicht krankhafter
Eigensinn, sondern wohlerwogene Gründe jeden
Antrag, den Rückweg von Bender ohne sehr
starke Bedeckung anzutreten, abweisen ließen.
Es brauchen nicht erst Geheimquellen aufge-
schlossen zu werden, um darzutbun, daß er da-
bei unfehlbar in den Untergang gezogen wäre.
Im Uebrigen wird der Verf. der Haltung des
Königs weder in Bender, noch in Stralsund ge-
recht. Was er endlich von den Campagnen in
Norwegen sagt, erscheint mir verfehlt.
Die Auffassung, welche ihn beherrscht und
sich zuerst S. 3 kurz angedeutet findet, geht
v. Sarauw, Die Feldzüge Karl's XII. 1511
darauf hinaus, daß Karl XII. keine Eroberungs-
politik verfolgt und nur den Besitzstand Schwe-
dens habe aufrecht halten wollen; erst gegen
Ende seiner Laufbahn scheine er sich mit dem
Gedanken vertraut gemacht zu haben, daß alle
Erwerbungen Gustav Adolph's unwiederbringlich
verloren seien und dann habe er wohl den Plan
gefaßt, durch Eroberung Norwegens einen weit
werthvolleren Ersatz zu suchen. Diese Auf-
fassung ist stark zu modificieren. Auch wenn
man die Ueberschätzung des vermeintlichen Er-
satzes auf sich beruhen läßt, so steht es doch
über allem Zweifel, das Karl XIL das Verlorne
nie unwiederbringlich verloren gegeben hat.
Wenn man ferner zugeben mag, daß er für den
Besitzstand Schwedens kämpfte, und daß er in
unvergleichlich höherem Maaße von dem Ver-
langen nach Rache, sofern der Ausdruck um
der Kürze willen gestattet wird, als von der
Sacht nach Eroberungen getrieben wurde, so
darf doch nicht verschwiegen bleiben, daß er,
anderer Pläne nicht zu gedenken, sein Auge
bald anfangs auf Kurland richtete und entschlos-
sen blieb, es zuletzt zu behalten. Da der Verf.
davon nichts weiß, so fehlt ihm der volle Maaß-
stab für die schwedisch-polnischen Beziehungen ;
für die Verhandlungen, welche der Erhebung
von Stanislaus und dem Bündniß von Warschau
vorausgehen; noch mehr für das Verhältniß zu
Preußen; endlich und nicht zum letzten für das
Verständniß des Königs und seiner Pläne. Die
drei letzten Jahre wiederum treten erst dann in
richtiges Licht, wenn sie nach des Königs In-
tentionen, nicht, wie der Verf. will, als Resig-
nation und Abschluß, sondern als Wiederauf-
nahme des Nordischen Krieges begriffen wer-
den. Wenn irgend in der Lautbahn des merk-
1512 Gott. gel. Adz. 1880. Stück 48.
würdigen Mannes, so spielt in diesen Jahren
die Eroberungspolitik gegenüber den Rache-
motiven eine nur untergeordnete Rolle. Es ist
kaum zu bezweifeln, daß Karl Xu. in Gyllen-
borgs und der Jacobiten thörichte Anschläge
ernstlich nie eingetreten ist, allerdings aber hat
er sie mit einer gewissen Schadenfreude ge-
währen lassen und seine norwegischen Feldztige
sind ebenso sehr aus dem einfachen Umstände,
daß, nach dem Aufgange des Eises im Sand,
Anfang 1716, zunächst kein anderes Kriegs-
theater offen stand, als aus dem Verlangen zu
erklären, nicht sowohl an Dänemark, als an
den westlichen Mächten für den aufgenöthigten
Frieden von Travendal Rache zu nehmen. Denn,
wenn er irgend etwas auf Erden hoch hielt, so
war es sein Wille und, wenn er irgend etwas
zertrat, so war es der Widerstand gegen seinen
Willen. Er konnte nur Er sein oder nichts;
kein Sterblicher ist je so untheilbar sich selbst
sein Eines und Alles gewesen und doch von
der gemeineren Selbstsucht Sterblicher frei. Der
Tod galt ihm wenig, gemessen an Zwang. Mit-
ten in den tausend Gefahren, die ihn umdräng-
ten und in die er sich stürzte, ist er dem Unter-
gang nur dreimal ausgewichen : als er nach
Pultawa über den Dniepr setzte; als er bei
Bender dem plötzlich steigenden Fluß entging;
das letzte Mal bei Stralsund. Fremdem Willen
hat er sich nur einmal gefügt und bis an sein
Ende hat er den Alliirten nicht vergessen, daß
seine siegreichen Truppen vor der Zeit, die
er sich gesetzt, von Seeland hatten abziehen
müssen.
Wer von dem Leben eines Helden berichtet,
hat unstreitig das Recht, auch von seinem Tode
zu erzählen. Wäre nur davon nicht allzuviel
v. Sarauw, Die Feldzüge Karl's XII. 1513
schon geredet! Für das Verständniß der Feld-
ziige ist am Ende die Frage, ob Karl XII.
durch eine feindliche Kugel gefallen sei, von
geringem Belang und auch für das Verständniß
des Helden entbehrlich. Das Interesse an der
Frage liegt ganz wo anders und dem Verf. hät-
ten statt zweier Seiten über den vermeintlichen
Unsinn eines Meuchelmordes einige Worte ge-
nügen sollen. Denn so einfach, wie er meint,
stellt sich die Antwort nicht. Die Kugel aus
der Festung vermag jedenfalls nicht zu bewei-
sen, daß sonst keine für den König gegossen
war; darauf aber kommt im Grunde mehr an,
als, welche Kugel schließlich traf. In dieser
Beziehung mag die Hygiea 1860 das letzte
Wort geredet haben; in jener hat selbst Paludan-
Müller, wenn überhaupt, doch nur das zu wider-
legen vermocht, wovon er gewußt hat und es
dürfte noch mancher Zweifel zu heben sein,
ehe die Sache für immer abgethan ist.
Auch sonst hätte sich der Verf. einige Ab-
schweifungen versagen sollen, die für seine Auf-
gabe nichts eintragen konnten, selbst wenn sie
von reicherem Material ausgingen, als die dürf-
tige Auseinandersetzung über den Frieden von
Alt-Ranstädt. Der Kabinetspolitik des achtzehn-
ten Jahrhunderts ist mit so leichtem Minen-
werke nicht beizukommen. Ebenso wäre es
rathsam gewesen, Patkuls nur kurz zu geden-
ken, da Erörterungen über seine Gefangen-
nahme und seine Kerkerhaft, selbst bei besse-
rer Kenntniß der Thatsacben, in einer über-
sichtlichen Darstellung der Feldzüge Karl's XII.
nicht recht am Orte sind. Im buchstäblichen
Sinne nicht am Orte ist der Patkul auf S. 18,
wo er, freilich nicht leibhaftig, ab6r doch im
Geiste 1697 bei Rawa erscheint, während er in
1514 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 48.
der That erst ein volles Jahr später in die
Kreise König August's tritt; ebensowenig S. 68
an der Düna 1701, angeblich als einer der ober-
sten Führer der Sachsen und in der Schlacht
verwundet, während er damals weder an der
Düna gewesen ist, noch die Sachsen geführt,
zwar eben um jene Zeit eine Wunde davonge-
tragen hat, aber von der Hand eines französi-
schen Abenteurers im Duell; endlich gleich we-
nig S. 115, wo er als General-Lieutnant in rus-
sischen Diensten über die livländische Grenze
fällt und am 29. Juli 1702 die Schweden bei
Hummelshof schlägt, während er in Wirklich-
keit am selben Tage durch Kaschau in Ungarn
reist und weder vorher, noch nachher von Ruß-
land her in Livland einbricht. Dergleichen Irr-
thümer waren am leichtesten zu vermeiden,
wenn der Verf. sich auf Nichts einließ, was
nicht mitten auf seinem Wege lag.
Ein Werk über die Feldzüge Karl's XU
läßt sich nicht gut besprechen, ohne mit eini-
gen Worten auch der Schlachten-Schilderun-
gen zu gedenken. Wie weit sie dem sen-
gationsbedürftigen Leser zusagen werden, steht
dahin. Sie sind eben im Stil alles Uebrigen
gehalten. Daß sie von den dem Verf. zugäng-
lichen Relationen abhängig geblieben sind, be-
gründet keinen Vorwurf. Von erheblich takti-
scher Bedeutung ist ohnehin kaum eine und,
wenn man sie von allem Umschweife, mit des
bald Sieger, bald Besiegte sie verbrämt haben,
entkleidet, so reducieren sie sich fast durch-
gehends auf zwei einander rasch ablösende Mo-
mente: Angriff und Flucht. Der Verf. dürfte
mitunter aus ihnen etwas zu viel gemacht ha-
ben, obwohl er sich ganz unparteiisch, auf Schi-
lenburgs Autorität hin, trotz eingelegter Ver-
v. Sarauw, Die Feldzttge Karl's XII. 1515
rahrung, für die Retirade von Punitz fast ebenso
r wärmt, wie für die Siege des Königs. We-
igstens einer dieser Affären sei zum Schluß
twas näher gedacht.
Von der Schlacht bei Klissow bemerkt der
rerf., sie habe vier Stunden gedauert, und sei
on allen Schlachten Karls XII. die in takti-
cher Beziehung interessanteste, weil nicht nur
larauf losgeschlagen, sondern wirklich gekämpft
md während des Kampfes manövriert worden
ei ; auch habe, während die sächsische Armee
Iber 48 zum Theil schwere Kanonen verfügte,
lie schwedische kein einziges Stück Geschütz
gehabt. Diese Angabe ist irrig und die Schil-
ler ung, welche vorwiegend auf schwedischen
Erstellungen beruht und zudem die Terrain-
Verhältnisse nicht hinreichend klar legt, ist
nehrfach zu corrigieren. Statt aller Auseinan-
Lersetzungen gebe ich einige Beiträge aus den
Quellen und gedenke von bisher unbekannt ge-
bliebenen schwedischen Relationen hier nur vor-
hergehend eines Schreibens Gederhielm's an sei-
len Bruder, dd. Pintzow, 20/10 Juli (Bibl. Ups.)
Sine der besten mir bekannt gewordenen Rela-
ionen ist nach den Angaben Trampes, welcher
leben Flemming einen Reiterangriff ausführte,
in König Friedrich IV. erstattet, dd. Krakau,
}6 Juli (Kopenh. Arch.) Es heißt in derselben:
,Den 19 ten früh brachten die ausgeschickten
Parteien die Nachricht bei uns ein: daß die
Schweden aufgebrochen und in vollem mouve-
nent wären, ohne daß zu erfahren gewesen,
wohin sie sich gewandt hätten. Man schloß in
unserem Lager aus ihrer Schwäche, daß sie un-
sere attaque nicht abwarten, sondern sich bei
Zeiten retiriren wollen; derhalben der ganze
inke Flügel beordert wurde sich marchfertig zu
1516 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 48.
machen, um gleich nach Mittage dem Feind
nachzusetzen and ihn wo möglich aufzuhal
Der Feind aber benahm uns diese Mühe, dei
noch vor Ablauf der Mittagsstunde avertirte
Feldwache : daß der Feind sich sehen ließe am
aus dem vor uns gelegenen Holze auf der Hob
hervorrückte, derowegen unser linker Flügel
welcher schon gesattelt hatte, aufsitzen und d
corps d'armee und der rechte Flügel gleicbfaDi
in Eile herausrücken und sich en ordre de baj
taille stellen mußte, da eben die Kron-Arm
im Anzüge war und sich an unseren rechte
Flügel schloß. Es war aber das terrain an
die situation unsers Lagers solcher Gestalt
schaffen, daß dessen linker Flügel in einer an
gleichen Niederung, die Infanterie und abson
derlich der rechte Flügel aber auf einer gleich
falls ungleichen Höhe mit untergemischten Mo
rasten stand, an dessen linken Flügel ein Doi
und ein anderes nebst dem adeligen E
Elischoff (woselbst das Hauptquartier war)
der Mitte gelegen. Fast hinter dem gan
Lager hin war ein dick bewachsener, tiefer and
auf V* Meile breiter Morast, worin als in einen
inaccessiblen Ort die Bauern ihre Sachen in Si-
cherheit gebracht hatten. Vor der Fronte des
linken Flügels und des corps war etwas Feld
und darauf abermahl ein doch nicht allenthalben
inpracticabler Morast neben vielen Zäunen and
kleinen Gräben, folglich aber ein offenes and
bis 1 ä 2 Kanonenschüsse hügelan nach einem
Holze sich ziehendes Feld, welches sich ftr der
gantzen Linie hin erstreckte, mit dem Unter-
schiede, daß gegen den rechten Flügel erwähn-
a u -Z * daran ein Dorf &eleeen) sich genähert,
™id kein Morast darzwischen befunden worden.
Ais nun der Feind aus dem Holze gegen unsero
v. Sarauw, Die Feldzüge Karl's XII. 1517
linken Flügel ganz dicke hervor und unter dem
Holze weg gegen unsern rechten Flügel gezogen,
folglich auch bei dem gegen nnsern rechten
Flügel gelegenen Dorfe hervorgekommen, hat
er eine Fronte gemacht, welche unsere halbe
Linie nicht übertroffen, und geschienen, sich en
ordre de bataille setzen zu wollen: da inzwi-
schen die unsrige sich fertig zum Streite mach-
ten und die Stücke (womit wir dem Feind auch
überlegen waren) so wohl bei der Cavallerie
als Infanterie anführen, und mit selbigen auf
den Feind, sobald er zu erreichen gewesen,
wiewohl mit wenigem effect spielen ließen.
Worauf der Feind zwar etliche Mal antwortete,
aber mit noch geringerer Wirkung, weil alle
Kugeln Überweg gingen. Als man nun in de-
liberation stand, wie der Feind in solcher posi-
tur über obenerwähnten Morast anzugreifen sein
würde, zog selbiger sich unvermuthlich und in
großer Eile vor unserm linken Flügel ganz weg
nach dem rechten und avancirte mit ganzer
Macht gegen die Krön- Armee. Welche ihm
zwar gleich entgegenrückte, aber kaum das
Feuer erwartete, sondern sich umkehrte und
spornstreichs ohne Umsehen nach ihrem alten
Lager, so eine halbe Meile davon gelegen, da-
von lief. Die Teutsche Armee hätte sich zwar
hierdurch nicht schrecken lassen sollen, weil sie
dem Feinde an Macht noch überlegen war,
allein die zwei auf dem rechten Flügel stehen-
den Dragoner-Regimenter hielten nicht besser
den Stich, sondern wendeten nach einer de-
charge gleichfalls den Rücken. Der Feind hielt
hierbei gute contenance und ging auf die übrige
Cavallerie los, die eben sowenig als die vorige
zu halten waren. Der linke Flügel hatte sich
inzwischen vor- und rechtwärts gezogen, um dem
1518 Gott, gel Anz. 1880. Stück 48.
vor seiner Fronte entwichenen Feinde in den
Blicken oder in die flanque zu gehen, wank
aber durch die difficile Passirnng des vor sick
gefundenen Morastes so lange aufgehalten, dal
der Feind mit den übrigen fast fertig war, be-
vor er ihn erreichen konnte, sintemahl, wie n
verwundern, dieses alles in weniger als einer
halben Stande verrichtet war. Doch chargirte
das erste Treffen des linken Flügels anfänglich
den Feind sehr wohl unter Anführung des Hnu
General Trampens. Es währte aber solche
avantage nicht lange, weil die ganze feindliche
Macht sich dagegen wendete und das andere
Treffen gedachten Flügels zurückblieb, und nicht
fort zu bringen war, das erstere zu secundiren,
dahingegen die Schwedischen esquädrons von
ihrer infanterie souteniret wurden, wodurch
auch dieser Flügel zu weichen und das Feld
zu räumen gezwungen wurde. Unsere infanterie
hatte sich bisher fast gar nicht beweget, da
nun zuletzt die Reihe an sie kam, wollte sie
sich zwar anfanglich wehren, nachdem aber
das Steinauische Regiment über einen Haufei
geworfen war, entfiel den übrigen auch der
Muth, welche sämmtlich durch die Flucht das
Leben zu retten suchten und dem Feinde das
ganze Feld nebst der ganzen Artillerie und das
Lager räumen mußten. Die flüchtende Kro*
Armee nahm ihren Weg über die Höhe nebst
einigen teutschen Regimentern und entkas
glücklich. Die übrigen Alle aber wendeten skh
gegen den hinter sich habenden großen Moras^
in welchem, weil er an vielen Orten unergründ-
lich und eine viertel Meile breit gewesen, vide
Pferde und Menschen theils von dem verfolgen-
den Feinde erschossen, theils versunken und
unterdrücket worden. Der König selbst kam
y. Saraaw, Die Feldzüge Earl's XII. 1519
auch mit genauer Noth and großen Mühen hin-
durch. Die Bambtliche bagage, welche sieh
gleichfalls dahin gewendet, ist hin and wieder
versunken nnd stecken geblieben nnd dem ver-
folgenden Feinde in die Hände gefallen, so daß
wenig davon echappiret*. Mit dieser Darstel-
lung stimmt der Bericht zweier Augenzeugen
aufs Genaueste ttberein, nur daß beide das
Schlachtfeld verließen, als die sächsische In«
fanterie noch kämpfte: Patkul an Moreau, dd.
Erakau. 20. Juli und Ritter an Beichling. dd.
Groß-Strehlitz. 21. Juli. (Dresd. Arch.) König
Augast, welcher gleichfalls vor Ausgang der
Bataille über den Morast entkam und dessen
Schreiben an den Gardinal-Primas dem Verf.
nicht unbekannt geblieben ist, schreibt am 27.
Juli aus Erakau an Fürstenberg: „Vous orres
appries la facheusse nouvelles de nostre Ren-
contres, qui est de verrites seur naturelles, et
1>as heumenes car sellon le jeugemen heamen
ennemies estes perdeus et si par la lachestes
de nos jen qui est cosse de tout (der Gedanke
bricht hier ab) iel nen serres pas echapes un
ammes des Svedoies estens degas tout en vel-
lopes, mes ces trop long a en parier". Endlich
ergebt sich einer der, freilich nur mit Rock und
Hemd, glücklich entkommenen Polen über die
gleich erfolgreichen Sachsen voll Ingrimm so:
„ich hab mein tag größere Hunßfeter nicht ge-
sehen wie die Sachsen, die da durchgegangen
seyndt biß tornowiz und von daren biß nach
Sachsen", Joh. von Felkersam, dd. Erakau, 1.
Aug. (Schw. RA. Acta Hist. Polska Mäns br.)
Kiel, Nov. C. Schirren.
1520 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 48.
Die edessenische Abgarsage kritisch
untersacht von Richard Adalbert Lip sins.
Braunschweig, C. A. Schwetschke und Sohn
(M. Bruhn). 1880. 92 SS. 8°.
Vorliegende Schrift, welche Lipsius im Na-
men der theologischen Facultät Jena's zu Hase' 8
öOjährigem Jenenser Professor-Jubiläum (am 15.
Juli d. J.) veröffentlicht hat, untersucht die be-
kannte altchristliche Erzählung, daß Abgar der V.
Ukkämä, d. h. der Schwarze, Toparch von Edessa,
13—50 unserer Zeitrechnung, Christus brieflich
zu sich gebeten, damit er ihn heile, von Christus
die Antwort erhalten, er werde ihm einen seiner
Jünger schicken, daß dies geschehen, Abgar
durch Thaddäus (Addai) geheilt, mit seiner Stadt
zum Christenthum bekehrt worden sei. Diese
Erzählung, für welche bis vor Kurzem der um
324 schreibende Vater der christlichen Kirchen-
geschichte Eusebius die einzige Quelle war,
hat dadurch ein neues Interesse erhalten, daß
der Engländer Cureton 1864 Bruchstücke und
Phillips 1876 das Ganze einer syrischen
Schrift Doctrina Addern veröffentlichen konnten,
welche das Original der von Eusebius einer
syrischen Handschrift des edessenischen Archivs
entnommenen Berichte zu sein schienen (s. dar
über GGA. 1877. 6. 161/84). Nach derneuent
deckten syrischen Quelle ist von Abgar's Schrei-
ber Labubna die Geschichte des Briefwech-
sels und seiner Folgen aufgezeichnet, von dem
tabularius Hannan (Ananias), der die Briefe be-
sorgt hatte, dieselbe beglaubigt und im edesse-
nischen Archiv niedergelegt worden, wo die
Gesetze des Königs und die Kaufs- und Ver-
kuufscontrakte sorgfältig aufbewahrt wurden.
Wie sehr die ganze Sache einer neuen Unter-
t
\
^ie ede88enische Abgarssge. 1523
* ^P^t *°^ gesegnet sein und
*% ^6 ^^wältigen auf ewig". Man
V ^ % X?m (f 378) in seinem
tf<£^ % ^ Over beck, Ephr.
^ * ^ ** X 1865 p. 141) dar-
^ *jfo & **4 % dies, indem die
-J&& Y%*> \^ 'isctpulum acce-
neu* eine all-
^t man die
berhaupt
^ti ent-
>\ ^SK**" «1 weder
& Q% ^+4* ''**' discipulum
** i^k^s ^orotheus, in der
^ i^f .l (Chron. Pasch, ed.
r/°+ t 6 ifjv imöToXtjv AvyccQto
&J* jfj xa* IctOapsvoq avtov to
.6 Erachtens wenigstens, nur
^usammenziehung der bekannten
*d weist nicht auf eine andere Form
., wornach Thaddaeus, und nicht Han-
gen Brief ttberbracht hätte*).
Auf die Abweichungen des armenischen Be«
lichtes bei Moses von Khorni, auf den Brief*
:jechsel des Abgar mit Tiberius, zu dem bei
Moses noch ein Schreiben des Toparcben an den
jungen König Nerses von Armenien und Ardasches
von Persien hinzukommt, lassen wir uns nicht ein
nod constatieren nur, daß nach Lipsius S. 41 die
•&4 vor Moses, d. h. vor 470 und nach Eusebius,
& h, uact 324 verfaßt sein muß* Letztere Bestim-
*) Oder sollte der diacipulus nicht Thaddaeus, son-
jwn Thomas sein, welcher nach Moses von Khorni und
Kares die Antwort niedergeschrieben?
96*
1522 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 48.
genommen werden. In unsern Ausgaben (und
Handschriften?) beginnt die Antwort Christi
gleich in der zweiten Person : ppxagtog stm-
cuvaaq iv ipol pij scoQctxwg /je ; in der syrischen
Uebersetznng dee Eusebius, die uns in einer
yom Jahr 411 datierten Handschrift erhalten
ist, ebenso bei Moses von Chorni, ebenso hei
Gregorios Hamartolos (Tischendorf, Anecdota
sacra et profana 102) in der dritten Person,
ganz allgemein : /uaxu ?*ot 6 mdievaag etc, : letz«
tere Lesart ist schon auf Grund der Stellen
Mtth. 11, 6. Joh. 20, 29 entschieden vorzuziehen.
Der Differenz dagegen, daß Ananias bei Euse-
bius wxvdQOfAog (in der syr. Version*) aobno
tdbellarius), in DA dagegen *nVott tabularius
heißt, möchte ich nicht so viel Gewicht bei-
messen als Lipsius thut, und möchte namentlich
in «nbiM nicht eine spätere tendenzmäßige
Aenderung sehen, weil ein Scbneliläufer für die
ehrenvolle Sendung „eine zu geringe Person
schien". Einmal nemlich ist vcbvQ ein den
Syrern schon aus der Peshito ganz geläufiges
Wort, während anVöö überaus selten ist; man
wird also nicht das gewöhnlichere in isiß sel-
tene und eigentlich weniger gut passende Wort
geändert haben; sodann ist zweifelhaft, ob
Nnbintt in DA überhaupt die Bedeutung dos
lateinischen tabularius und nicht vielmehr eben
die von tabellarius bat, so gut wie letzteres
Wort später nicht mehr blos den %axvä$o(*4>s =*
YQa(A(iaTo<fOQO{% sondern auch den wwrgaf1*
bezeichnet hat, Von den sonstigen Abweichun-
gen, welche der Briefwechsel in der DA auf-
weist, ist die wichtigste am Schluß der Autwort
*) Von den östlichen Syrern tebMlSra, von den
liehen t^b^alara gesprochen (wie ipiscu pä und apiaoöpS),
Lipsius, Die edessenische Abgarsage. 1523
Christi: „Deine Stadt Boll gesegnet sein nnd
kein Feind soll sie bewältigen auf ewig". Man
bat gefragt, ob Ephräm (f 373) in seinem
Testament (syrisch auch bei Overbeck, Ephr.
Syri . . . opera selecta. Oxon. 1865 p. 141) dar-
auf anspiele ; Lipsius verneint dies, indem die
Worte benedicta civitas ... Edessa quae ex vivo
Filii ere benedictionem per eins discipulum acce-
pit; ilia igi&ur benedictio in ea maneat eine all-
gemeinere Deutung zulassen. Nimmt man die
Stelle genau, so ist in derselben überhaupt
keine Anspielung auf die Antwort Christi ent-
halten, denn diese ist ja auf keinen Fall weder
mündlich noch schriftlich per eins discipulum
überbracht worden. Die Bemerkung des angeb-
lichen Bischofs von Tyrus, Dorotheas, in der
Schrift über die 70 Jünger (Chron. Pasch, ed.
Dind. II, 122) Taddcuog 6 trjv imöwtyv AvyccQoa
änoxofHGccg iv 'Edecatj xcu laaapevog avtov %o
na&og ist, meines Erachtens wenigstens, nur
eine ungenaue Zusammenziehung der bekannten
Legende, und weist nicht auf eine andere Form
derselben, wornach Thaddaeus, und nicht Han-
nan, den Brief ttberbracht hätte*).
Auf die Abweichungen des armenischen Be-
richtes bei Moses von Khorni, auf den Brief*
Wechsel des Abgar mit Tiberius, zu dem bei
Moses noch ein Schreiben des Toparchen an den
jungen König Nerses von Armenien und Ardasches
von Persien hinzukommt, lassen wir uns nicht ein
nnd constatieren nur, daß nach Lipsius S. 41 die
DA vor Moses, d. h. vor 470 und nach Eusebius,
d, h. nach 324 verfaßt sein muß. Letztere Bestim-
*) Oder sollte der discipulus nicht Thaddaeus, son-
dern Thomas sein, welcher nach Moses von Khorni und
Mares die Antwort niedergeschrieben?
96*
1524 Gott. gel. Adz. 1880. Stüek 48.
mnng folgt aber aas den bis jetzt vorliegenden
Daten niebt nothwendig. Denn angenommen,
Eusebias and DA gehen aaf dieselbe Quelle
zurück, so kann die Legende sich zu der in DA
vorliegenden Gestalt entwickelt haben, ehe
Eusebius die ursprüngliche Quelle benutzte.
Deswegen ist es doppelt willkommen, daß die Ver-
wandtschaft von DA mit andern syrischen Schrift-
stücken eine genauere Zeitbestimmung ermög-
licht: diese sind die Acten der edessenischen
Märtyrer Scharbil undBarsamyä, nament-
lich die des letztem, and das sogenannte Ckro-
nicon Edessenwm. Ueber die Fragen, die sich
an diese Märtyrerakten knüpfen , s. S. 41 f., wo
zweimal aus Versehen das 15 Jahr des Tibe-
rias statt des Trajan genannt ist; warum
Lipsias beständig BarscÄamia schreibt, weiß ich
nicht (syr. ] ■vo,ff)^o lat. ßareimaeus), eben so
wenig, wer der Gott jivim (der Blinde?) ist,
der in diesem und ähnlichen Namen verborgen
ist (noch im Jahr 715 d. Griech. heißt ein Toch-
tersohn Ephräms |iSnm^>^ = Uuhd p^^). Die
edessenische Chronik kommt in Betracht,
weil 1) das große mit Skalptaren geschmückte
Königsgrab, in welchem Abgar nach DA den
Thaddaeus beisetzen läßt, offenbar dasselbe ist,
das sich ein Abgar nach der Chronik im Jahr
400 d. Griechen erbauen läßt (and nicht das
Coemeterium des 'AbSelänia [bar Abgar], in
welchem Scharbil and Habib beerdigt werden
Caret. 61. 83); weil 2) der Platz fcsZ Aus
Beth tebbärä, auf dem sich nach DA die Ein*
wohner Edessa's zur Anhörung der Predigt des
Thaddäus versammeln, derselbe ist, aaf dem Ab-
Lipsiüs, Die edesscnische Abgarsage. 1525
gar bar Mann laut der Chronik nach der Ueber-
schwemmung des Jahrs 202 seinen Winterpalast
baute ; weil 3) dasselbe unzweifelhaft echte Do-
cument, das von dieser Ueberschwemmung be*
richtet, unter andern eingestürzten Gebäuden
einen »Tempel der Kirche der Christen" er-
wähnt und eine Unterschrift bietet, die offenbar
in DA nachgeahmt ist. Aber all diese Daten
führen noch zu keinem sichern Resultat, und
eben so wenig die Notiz, die gleicherweise den
Acten des Scharbil wie des Barsamya wie der
DA angefügt ist, daß Barsamya in den Tagen
des römischen Bischofs Fabian n 8 gelebt habe.
Lipsius scheint dieselbe an allen 3 Orten als
integrierenden Bestandteil der betreffenden
Stücke anzusehen, während Cureton und Phil-
lips sie als Zusätze eines ebenso unwissenden
als gedankenlosen Schreibers betrachteten; mir
scheinen sie nicht vom ersten Verfasser der 3
Stücke, aber von einem im allgemeinen gut unter-
richteten Manne zu stammen , ohne daß ich die
Angabe erklären könnte, daß Serapion von Anti-
ochien 190 — 211, der den Barsamya ordinierte,
seinerseits durch Zephyrinus von Rom 199 — 217
ordiniert worden sein soll.
Aber weiter. In DA wie bei Moses von
Chorene ist auch von einem Bilde Christi er-
zählt, das der Ueberbringer der Briefe Hannan,
der zugleich Abgar's Hofmaler war, mit kunst-
vollen Farben malt, seinem Gebieter mitbringt
und das dieser mit großer Freude in seinem
Palast aufstellt. Man lese S. 53 ff. nach, wie aus
diesem einfachen Bericht die Sage von dem
wunderbaren Palladium Edessa's entsteht, das
der Kaiser Romanus im Jahr 994 nach Con-
stantinopel schaffen ließ. Nur eine Form der
Legende, die bei Cedrenus und Constantin Por-
1526 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 48.
phyrogenetes sich findet, maß angeführt werden.
Nach dieser lieft Abgar das Bild in einer Nische
über dem Stadtthor an Stelle eines Götzenbildes
anbringen; ein abtrünniger Enkel will es wie-
der wegschaffen, der Bischof verbirgt die Nische
durch einen Ziegelstein. Nach 5 Jahrhunderten
wird die Stelle durch Offenbarung wieder auf-
gefunden und auf dem schützenden Ziegelstein
ein zweites Bild , der getreue Abdruck des er-
sten. Ein solcher war nach Gonstantin auch
schon vorher in Hierapolis entstanden, als der
Gesandte Abgar's dasselbe dort in einem Haufen
Ziegelsteine über Nacht verborgen hatte. Wie
alt ist diese Legende, wie alt ist überhaupt die
Sage von den wunderbar entstandenen Christns-
bildern? Eine ziemlich sichere Antwort erlaubt
uns eine leider nur fragmentarisch erhaltene,
von Lipsius S. 67 behandelte Geschichte, die
uns Zacharias von Mitylene ans dem Jahr
557 berichtet. Er erzählt:
... als sie (eine Frau, die allem nach Hypatia biet,
s. u.) eines Tags in ihrem Park spazieren ging, sah
sie in der Wasserquelle, die im Park war, ein Bild
Jesu unseres Herrn (tHp'n = thcojy), gemalt auf Lein-
wand and im Wasser liegen und als sie es herauszog,
wunderte sie sieh, daß es nicht verderbt war, and
trocknete es mit dem Kleid ab (ttVplD = nwitütm^
das sie anhatte und ging zu dem der sie unterwiesen
(ihr den Katechumenenunterricht erteilt), und seigto ei
ihm und da fand sich auch auf dem Kleid eil
Abdruck dessen, das aus dem Wasser gekommen
war, mit allen Einzelheiten. Eins der Bilder kam
nach Cäsarea einige Zeit nach dem ' Leiden unserei
Herrn, das andere wurde (eben) in der Stadt trbltthlp
aufbewahrt und ihm zu Ehren ein Tempel erbaut tob
Hypatia (fcr&Bltt)' die Christin wurde. Nach einiger
Zeit brachte eine andere Frau aus der Stadt n*nw^
das zum (obenerwähnten) Gebiet von BPOtttt gehört,
die davon erfahren hatte, auf irgend eine Weise ein
Lipsius, Die edessenische Abgarsage. 1527
Exemplar (oder eine Gopie) der Bilder von fer^TOp
in ihre Stadt und man nannte es in jener Gegend
ax**Qonoufio$ nicht mit Händen gemacht«.
Auch sie baut einen Tempel ihm zu Ehren; im
27. Jahr Justinians III. Ind. wird Stadt und
Tempel von Barbaren verbrannt und hierauf mit
Genehmigung des Kaisers eine Collectenrund-
reise mit dem Bilde veranstaltet. Im 33. Jahre
Jnstinians 562 nach Chr. Geburt, IX. Ind. schreibt
der Berichterstatter. Cäsarea ist vielleicht Pa-
neaS; wo Beronice das Erzbild Christi aufstellen
ließ; eben daher stammt nach DA auch Thad-
däus; die Abgarsage setzt also die christliche
Deutung iener Statue in Paneas, somit die An-
fange der Veronicasage, schon voraus. Ob die
Abgarsage, wie sie in DA vorliegt, aueh die
Helena legende schon voraussetze, das ist die
dritte Frage, mit der sich Lipsius von S. 67
ab beschäftigt und die er bejahend beant-
wortet
In DA findet sich nemlich der seltsame Be-
rieht, daß die Frau des Kaisers Claudius, von
Petrus bekehrt, in Jerusalem das Kreuz Chriöti
aufgesucht und die Echtheit desselben daran er-
kannt habe, daß ihre jungfräuliche "Tochter, die
beim Eintritt ins h. Grab todt niederstürzte, durch
Auflegen desselben wieder lebendig wurde.
Nicht in DA, aber in andern syrischen Quellen
wird diese Legende mit der in allen Einzelhei-
ten ähnlichen Helenalegende so verbunden, daß
unter Trajan von den Juden das Kreuz den
Christen wieder abgenommen, 20 Klafter tief
verborgen, und von Helena mit Hilfe des Judas,
der als Christ und Bischof Jerusalems Cyriacus
beißt, wieder gefunden wird. Lipsius sieht nun
in der erst genannten Legende lediglich eine
spätere Doublette der Helenasage. „Seit dem
1528 Gott gel. Anz. 1880. Stück 48.
man das Kreuz Christi wieder auf Golgatha
zeigte, begehrte die fromme Reflexion Aufschluß
über seine früheren Schicksale, und die ein-
fachste Befriedigung dieses Verlangens bot eine
Erzählung, welche das völlige Seitenstück zu
der bereits ausgebildeten Helenalegende bereits
zu den Zeiten Jakobus des Gerechten das Kreuz
Christi auffinden, dann aber unter Trajan es
wieder vergraben ließ, bis es unter dem ersten
christlichen Kaiser von neuem zum Vorschein
kam". Eine Bestätigung dieser Auffassung
möchte Lipsius auch in dem Namen finden, der
jener Gemahlin des Claudius gegeben wird,
Protonike; dies soll an das constantinische
iv tovxeo vixa erinnern, so schon Nöldeke, oder
symbolisch diejenige bezeichnen, an der sich
zuerst der Sieg des Kreuzes bewährt
habe; und man hätte dafür noch anführen kön-
nen, daß im Syrischen wirklich Eigennamen wie
jalHi\> S*libhäs*Jchä = das Kreuz hat ge-
siegt, ^&Q4Li|2l tfWaiäo* oder mit Umstellung
IpTbom* 'iscf&Wa Jesus hat gesiegt vor*
kommen. Dennoch kann ich diese Auffassung
nicht ganz theilen; einmal nemlich findet sich
nirgends, wo die Helenalegende zur Geltung
kam, also im ganzen Abendland, die geringste
Spur eines solchen Verlangens, wie Lipsius es
voraussetzt; man begnügt sich einfach mit der
Thatsache, daß Helena das Kreuz gefunden und
läßt sie höchstens noch nachträglich die Kreu-
zesnägel dazu finden; sodann findet sich die
erst genannte Erzählung in DA und einer Pa-
riser HS. ohne alle Verbindung mit der Helena-
sage*) und die Geschichte von der Vergrabung
*) Die Quellen, die sie mit der Helenalegende
Lipsius, Die edessenische Abgarsage. 1529
des Kreuzes anter Trajan macht doch ganz den
Eindruck nur zn dem Zweck erfanden zu sein,
zwei parallele, ursprünglich für sich bestehende,
Legenden zu verknüpfen; drittens ist die Deu-
tung und die Lesung des Namens Protonice
durchaus nicht so sicher, als man meistens an-
nimmt. In der sehr guten Petersburger Hand-
schrift der DA heißt sie an allen 3 Stellen
laxjai^, das, vom ersten Buchstaben abge-
sehen, beispielsweise auch Britannica gelesen
werden könnte; die Schreibung «■niio^Ofra, die
allein zwingend auf „Protonicetf führt, findet
sich nur einmal in der Pariser Handschrift, die
in der Ueberschrift statt dessen u&üQ^a
bietet; das sehr alte Londoner add. ms. 12174
bietet 2mal unno^ das man gleich gut
Patro- und Petro-nice lesen kann. Loftus
hat Patronica, Abbe Martin (früher) Patro-
nicia, ebenso Alishan nach seinem Armenier
gelesen, in einer andern armenischen Quelle
soll sich Parthunike finden. Ich wage keine
Entscheidung, möchte aber die von Zahn vorge-
schlagene Beziehung auf die geistlichen Erobe-
rungen des Petrus nicht so entschieden verwer-
fen wie Lipsius thut, da Petrus in der Legende
eine so hervorragende Rolle spielt; jedenfalls
aber sehe ich in der Protonicelegende ein Ge-
bilde der christlichen Phantasie, das zwar auf
dieselbe Thatsache zurückführt, wie die He-
lenalegende, nemlich das Vorzeigen des Kreuzes
knüpfen, zeigen sie nicht ursprünglicher, sondern bieten,
wie Wright bei Lipsius S. 70 mit Recht hervorhebt:
only an abridgement of the corresponding parties of the
Acts of Ad'lai.
1530 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 48.
in Jerusalem, auch so ziemlich derselben Zeit
angehört wie diese , aber völlig anabhängig
von ihr and wohl auch noch etwas froher als
sie in Edessa entstanden ist, während diese
dem Abendland angehört Freilich ist die Ver-
bindung der Protonicelegende and der Abgar-
sage, noch eben so dunkel, wie der Zusammen-
hang der bei Moses von Ehorni zwischen der
Geschichte der aas Josephus bekannten adiabe»
nischen Helena und der Abgarsage hergestellt
ist, und wie der Einfluß, den die Geschichte
dieser adiabenischen Helena auf die Legenden
von der Mutter Gonstantins geübt hat. Es wäre
sogar möglich, daß auch noch eine Erinnerung
an die Glementinen in den beiden Söhnen der
Protonice, und in dem Schriftenwechsel zwischen
Petras and Jacobus in DA verborgen ist. Wie dem
allem aber sein mag, so viel scheint mir Lipsius
zu völliger Evidenz gebracht zu haben, daß ans
in DA nicht ein uraltes, sondern ein erst im
IV. Jahrh. entstandenes edessenisches Local-
legendenwerk vorliegt. Die syrischen Texte,
welche von der Kreuzauffindung handeln, hoffe
ich" bald mit deutscher Uebersetzung zu ver-
öffentlichen; dort wird sich Gelegenheit geben
noch manches genauer zu bestimmen. Wenn
z. B. in der syr. HS. 12174 wie Lipsius S. 81
hervorhebt, die Zeit von der Auferstehung bis
zur zweiten Kreuzauffindung auf 201 Jahr an-
gegeben ist, so ergiebt der Zusammenhang, daß
es statt Auferstehung Vergrabung des Kreuzet
unter Trajan heißen sollte, und die Chronologie
ist in Ordnung. An Kleinigkeiten erlaube ich
mir noch hervorzuheben, daß die Inschrift auf
dem geheimniß vollen Siegel Christi S. 21 und
60 verschieden angegeben ist ; S. 17, 12 v. n
ist das erste /wy zu streichen ; S. 24, 11 lies 32
__j
Lipsius, Die edes&cnische Abgarsage. 1531
statt 33; S. 72 ist der alexandrinische Cyrill
und der jerusalemische verwechselt; in der dort
angeführten Stelle sagt Julian, nicht Cyrill:
TfjV €§ a€Qog mtiovGav aamda . • . nqooxvveiv
ag>€Pvs$ xa* asßsö&cu, to zov ütavQOV 7iqq<Txv-
vbwb %v lov , ewovceg atnov tixiayQatpovvteg tv
%w pst&mo xa* tiqo ttav oixrjfjuxtoov syyQctipovieg.
Vor das Jahr 363 fallend dürfte die Stelle eines
der ältesten Zeugnisse für die Verehrung des
Kreuzes sein.
Münsingen (Württemberg) , d. 20. Oct. 1880.
Diaconus Dr E. Nestle.
Nachschrift. Durch die Güte des Verf. erhielt
ich am 2. Nov. einen Separatabdruck von 8. 187/92 des
neuen Jahrgangs der Jahrbücher für protestantische Theo-
logie, worin Lipsius auf Grund einiger Mittheilungen von
Noldeke, 0 verbeck und Dr. Max Bonnet eine Reihe Be-
richtigungen und Ergänzungen »zur edessenischen Abgar-
sage« veröffentlicht. Mehrere derselben finden sich schon
in der vorstehenden Anzeige, ich hebe nur noch hervor,
daß das von mir S. 1526 für no*x*lov gehaltene Wort
von Noldeke a. a. 0. 190 durch yaxtohor wiedergegeben
wird, und da£ derselbe Gelehrte das dort genannte Ca-
sarea wegen der daneben genannten pontischen Stadt
Amasia für Caesarea Cappadociae halt. Zu dem von
Lipsius S. 26, Anm. 1 und Noldeke S. 167 besprochenen
ättoipov fcö\a> wäre Lagarde Nachrichten 1879. St. 9.
237/9 zu vergleichen gewesen.
Münsingen, 8. Nov. 1880»
Handbuch der Anatomie des Men-
schen für Studirende nnd Aerzte, von Dr.
Rob. Hartmann, Professor an der Universi-
tät zu Berlin. Mit 465 in den Text gedruckten
1532 Gott gel. Anz. 1880. Stück 48.
zum Theil farbigen Abbildungen, großentheib
nach Original -Aquarellen oder ädeuxCrayoas-
Zeicbnungen des Verfassers. Straßburg, B. Schultz
& Comp. 1881. LX u. 928 S. 8°.
Die medicini8che Literatur der letzten Jahre
weist eine beträchtliche Anzahl von theils aus-
führlichen, theils kürzer gefaßten, mit Abbildun-
gen versehenen anatomischen Handbüchern auf.
Gruppiert man dieselben nach demselben Prin-
cip, nach welchem die Mitglieder der Abgeord-
netenhäuser sich in Parteien trennen, so kommt
dieses Werk auf den äußersten rechten Flügel
wegen Nichtberücksichtigung oder Verwerfung
fast aller Errungenschaften der letzten 15 Jahre.
Als Beweis für diesen Ausspruch sei beispiels-
weise erwähnt, daß die Darstellung der Zellen*
gränzen der einschichtigen Epithelien der serösen
Häute etc. durch salpetersaures Silber als trüge-
risch bezeichnet und verworfen wird (S. XXII);
daß ferner die Becherzellen zum bei Weitem
größten Theil als Kunstproducte hingestellt wer-
den (S. XXVI); weiter, daß der Ranvier'schen
Bindegewebskörperchen gar keine Erwähnung
geschieht, vielmehr über die zelligen Elemente
des Bindegewebes nur gesagt wird: „Es lassen
sich im reifen Bindegewebe wohl häufig Kerne,
aber seltener dieselben einschließende Zellen
wahrnehmen" (S. XXXI) ; desgleichen, daß die
Histologie der quergestreiften Muskelfaser mit
den Sarcous elements Bowman's schließt, die
Resultate der Arbeiten Hensen's, Krause's, Mer-
kers, Engelmann's nicht mit einer Silbe erwähnt
werden (S. LI); endlich, daß der Schilderung
des Canalis cochlearis, speciell des CortTsehen
Organes nur die Untersuchungen von Reichert
(1864) zu Grunde gelegt sind, während die Re-
Hartmann, Handbuch der Anatomie. 1533
sultate aller späteren Arbeiten fast gar keine
Erwähnung finden.
Die Darstellung ist im Allgemeinen kurz
und bündig. Zu bedauern ist, daß sich eine
nicht unbedeutende Zahl von Irrthümern einge-
schlichen hat, welche nirgends weniger atn
Platze sind, als in einem für den Gebrauch der
Studierenden bestimmten Handbuche. Folgende
Fälle seien genannt. S. XL VII hei At es: „Das
Wach8thum des Knochens durch innere Wuche-
rung, durch Expansion des Gewebes, das sog.
interstitielle Wachsthum, geht an den jugend-
lichen Röhrenknochen vom gesammten Epiphy-
senknorpel, an älteren von dem an den Enden
des Knochens eine Grenzschicht zwischen (z.
Th. schon ossificierter) Epiphyse und Diaphyse
bildenden Knorpelstreifen aus". Und auf der
nächsten Seite steht zu lesen: „Ich schließe
mich unbedingt denen an, welche ein gleich-
zeitiges interstitielles Wachsthum und ein sol-
ches durch Apposition zulassen; ein Röhren-
knochen wächst in seiner Dicke durch Apposi-
tion, in seiner Länge durch Expansion". Das
klingt doch, als hätte jemals Jemand daran ge-
zweifelt, daß die Röhrenknochen von den Epi-
physenknorpeln aus in die Länge wüchsen, —
das ist nie geschehen. Dies Wachsthum ge-
schieht aber bekanntlich ebensogut durch Osteo-
blasten, wie das periostale, — ist ebensogut ein
appositionelles, wie jenes. Unter expansivem
Wachsthum verstehen ja alle Histologen die
(hypothetische , ohne Osteoblasten vor sich
gehende) Vergrößerung eines bereits fertig ge-
bildeten Knochenstückes durch Einlagerung neuer
Knochentheilchen zwischen die bereits vorhan-
denen !
S. 121 steht: „Das Gelenk. Hierbei treten
1534 GOtt gel. Anz. 1880. Stück 48.
zwei mit KnorpelttberzQgen versehene congruence
Knochenflächen zusammen and bleiben an ein-
ander beweglich". Da „congruent" bedeutet
„gleich und ähnlich", ist diese Definition unhaltbar,
S. 160 ist die Schambeinfuge als reine Syn-
chondrose ohne Höhle beschrieben, während sie
doch in den bei Weitem meisten Fällen eine
solche besitzt.
S. 386 u. 87 ist der Verlauf der Harnkanäl*
eben nicht nur verwirrt, sondern auch falsch
beschrieben. Verf. hat die Henle'sche Angabe,
daß die Sammelröhren in der Nähe der Nieren-
oberfläche arcadenförmig in einander umbiegen
und aus den Arcaden die Verbindungscanäle
entsenden ganz mißverstanden: er läßt die en-
gen Ganäle, nachdem sie in der Pyramide die
Schleifen gebildet haben, in den Pyramidenfort-
sätzen zur Oberfläche ziehen und dort abermals
sich zu zweien in Arcaden vereinigen.
S. 801. Bei Besprechung der Vertheilimg
der Stäbchen und Zapfen der Retina ist das
Fehlen der ersteren in der Fovea centralis nicht
erwähnt.
S. 832. „Die Vorhofswand oder Reissner-
sehe Membran heftet sich, schräg auf-
wärtssteigend an eine kammartige Hervorragung
(Ligamentum spirale) der äußeren Wand des
häutigen Schneckencanals an. An letzterer be-
finden sich oberhalb des Lig, spirale die geföft
reiche Stria vascularis und das von einem Ge-
fäß (Vas prominens) durchzogene Ldgam. spirale
accessorium" : während doch bekanntlich an das
Lig. spir. sich die Membr. basilaria ansetzt
Endlich mag noch bemerkt sein, daß die auf
S. 496 und im Register vorkommende Bezeichnung
filae coronariae von Hartmann, nicht von Heule
Hartmann, Handbuch der Anatomie. 1535
herrührt, welcher letztere fila eoronaria, im
Singular filum eoronariam hat.
Die zahlreichen (465) zum Theil farbigen
Abbildungen Bind größtenteils sehr elegant aus-
geführt Aber auch sie weisen einige sehr in
die Augen fallende Fehler auf. In Fig. 123 ist
der Muse. obl. abd. ext. mit schräg aufwärts-
gehenden Fasern gezeichnet, während er sich
aus schräg abwärtsgehenden zusammensetzt. In
derselben Fig. sieht man unter dem untersten
Ursprung des Muse, trapezius (XII Brustwirbel)
noch 12 Dornfortsätze, während in Wirklichkeit,
falls die proc. spinosi spurii des Kreuzbeins be-
sonders stark entwickelt wären, nur 9 dasein
dürften. Ein widriges Geschick hat die Gesäß-
muskeln verfolgt In Fig. 121 sind Glutaeus
max. und med. nicht unterscheidbar, wiewohl
sie in der Natur dadurch, daß der Glut, med.,
soweit er den max. nach oben überragt, an
seiner Oberfläche sehnig ist, sowie durch die
Richtung ihrer Fasern sehr gegeneinander ab-
stechen. Am schlechtesten ist in dieser Hinsicht
Fig. 138 gerathen, wo der Glut max. als von
der ganzen Crista ossis ilei, fast bis an die Spina
ant. sap. entspringend dargestellt ist, so daß er
den medius vollständig verdeckt und sich mit
seinem Vordenrande fast an den hinteren Rand
des Muse, tensor fasoiae anlegt. Auch die das
Schulterblatt bewegenden Muskeln sind übel
weggekommen. In Fig. 124 reicht der Ansatz
der Mm. Rhomboidei am medialen Scapular-
rande bis zum oberen Winkel statt nur bis zum
Anfang der Spina scapulae, und der M. levator
scapulae setzt sich am oberen Rande des
Schulterblattes fest, statt am oberen Theil des
hinteren Randes. Falsch ist weiterhin die
„halbschematiscbe" Fig. 129, welche den Ansatz
1536 GOtt. gel. Anz. 1880. Stück 48.
des Mose, biceps brachii zeigen soll. Die Apo-
neurosis bieipitis verwebt sich in der Figur mit
der Fascie der lateralen Unterarmmaskeln, in
der Natnr geht sie nach der entgegengesetzten
Seite. Eine noch kaum beobachtete Lage zeigt
ferner in Fig. 114 die Ohrspeicheldrüse, welche,
im Gegensatz zum Text auf S. 308, weit über
den Jochbogen hinauf reicht und mit ihrer Haupt-
masse außen auf demselben liegt. Daß in der
einen Medianschnitt durch den unteren Rumpf-
theil einer gefrorenen Weiberleiche darstellenden
Fig. 239 die Scheide ein weit klaffendes Lumen
zeigt, steht im Gegensatz zu allen übrigen neue-
ren Angaben und Zeichnungen, auch zu dem
Hartmann'schen Text.
Schließlich glaube ich es aussprechen zu
sollen, daß stellenweise eine etwas andere Aus-
wahl der Abbildungen im Interesse der Lernen-
den wünschenswert!! wäre: an der einen Stelle
sind reichlich viele, an der anderen zu wenige.
So hätten meiner Ansicht nach die auf S. 428
und 429 dargestellten beiden Weiberrümpfe mit
und ohne Pubes wegbleiben können, ohne dein
Verständnis der Sache zu schaden, während
andrerseits eine Vermehrung der Abbildungen
der Kopfnerven, etwa um eine Zeichnung der
Zungennerven, deren Verständnis dem Studie-
renden sehr erleichtern würde.
Die Ausstattung des Buches von Seiten der
Verlagsbuchhandlung ist eine vorzügliche zu
nennen. A. v. Brunn.
Für die Redaction verantwortlich: E. Rehnisck, Director d. Gott. gel.
Verlag der DUtericKwhn Verlags- BuckkmuOmy.
Druck der JHeUrich'sehm Univ.- Buchdruck*« (W fr. JQmsJmt).
'.'«'» f
1537
GUttingische dec'-sij.
gelehrte Anzeigen
anter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.
Stück 49.50. 8.u.l5.Dec. 1880.
Inhalt : W. E. H. L e c k y , Geschichte Englands im 18. Jahrhun-
dert, deutsch T.P.Löwe. Bd. 1.2. Von B. Pauli. — R. Lipschitz,
Lehrbuch der Analysis. Yon S. Günther. — A. Dauhre'e, Synthetische
Studien zur Experimental-Geologie, deutsch von A. Gurlt. Yon 0.
Lang. — B. Delbrück, Einleitung in das Sprachstudium. Yon
A. Beezenberger.
s Eigenmachtiger Abdruck von Artikeln der Gott. gel. Anz. verboten rs
Geschichte Englands im achtzehn-
ten Jahrhundert von William Edward Hart-
pole Lecky. Mit Genehmigung des Verfassers
nach der zweiten verbesserten Auflage des eng-
lischen Originals übersetzt von Ferdinand Löwe.
Leipzig und Heidelberg, C. F. Winter'sche Buch-
handlung. Bd. I, 1879 (XXIV. 619). Bd. IL
1880 (XVI. 692). 8°.
Mit besonderer Vorliebe wird neuerdings,
vor allen in England selber, wie -sie es denn
auch in hohem Maße verdient, die Geschichte
des Zeitalters des Parlamentarismus behandelt.
Der Periode der Königin Anna allein ist in we-
nigen Jahren von hervorragenden Schriftstellern
des In- und Auslands eine wiederholte Darstel-
lung zuTheil geworden, obwohl man nicht eben
sagen kann, daß die Aufgabe ihrer Bedeutung
97
1538 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 49.50.
gemäß, seibat zuletzt nicht von Burton, auch
schon gelöst worden wäre. Auf einem umfas-
senderen Gebiete aber überragt Lecky's Ge-
schichte Englands im achtzehnten Jahrhundert
(England in the eighteenth century), welche aller-
dings in der zweiten Bearbeitung erst znr Hälfte
vorliegt, bereits alle anderen mit demselben
Gegenstande sich befassenden Werke, Der
Verfasser, durch seine „Geschichte des Ratio-
nalismus" und seine „Europäische Sittenge-
schichte" auch in Deutschland längst vorteil-
haft bekannt, scheint sich durch solche Vor-
studien insbesondere für ein Stück vaterländi-
scher Geschichte im Zeitalter der Aufklärung
gerüstet zu haben, ohne darüber jedoch die an-
deren Erfordernisse einer gediegenen historischen
Arbeit zu verabsäumen. Er hat es an gründ-
licher Forschung in einheimischen und selbst
auswärtigen Archiven wahrlich nicht fehlen
lassen und hat sich eine großartige Belesenheit
auf allen Gebieten der politischen und cultur-
liehen Entwicklung der Epoche angeeignet. Sein
Stil, der vielleicht weniger die Kunst lebens-
voller Erzählung als klarer Erörterung anstrebt,
ist dennoch leicht und schwungvoll. Reich an
Gedanken und thatsächlichen Urtheilen hält er
sich frei von aller rhetorischen Manier, während
beständige Verweisungen in den Noten die er-
wünschten Belege eingehender Untersuchung
bieten.
Nach einem reiflich erwogenen Plan wird
der gewaltige Stoff in große übersichtliche Grup-
pen gegliedert, denn der Verfasser wollte weder
streng annalistisch von Jahr zu Jahr vorschrei-
ten noch den Hauptnachdruck auf biographische
Schilderung oder den Wechsel von Krieg und
Frieden legen. Ihm kam es vielmehr darauf
Lecky, Geschichte Englands im 18. Jabrh. 1539
an, 'solche Thatsacben in ihrer vollen Bedeutung
hervorzuheben, welche die nachhaltigen Kräfte
der Nation, die mehr haftenden Züge des na*
tionalen Lebens in ihrer Entwicklung zeigen:
.das Steigen und Sinken der Monarchie, Aristo-
kratie und Demokratie, der Kirche und des Dis-
sent, der land wirtschaftlichen, industriellen und
commerziellen Interessen, die wachsende Macht
des Parlaments und der Presse, die Geschichte
der politischen Ideen, der Kunst, der Sitten und
des Glaubens, die Wandlungen in der socialen
und ökonomischen Lage des Volks, die Ein-
flüsse, welche abändernd auf den Nationalcha-
rakter eingewirkt haben, die Beziehungen des
Mutterlandes zu seinen Dependenzen nnd die
Ursachen, welche das Fortschreiten der letzteren
beschleunigt oder verzögert haben". Man sieht,
ein überaus reiches Programm, das allerdings
manche in der Regel oder über die Gebühr be-
vorzugte Seiten der Geschichtserzähluug einiger-
maßen zurückdrängt, für welches sich dagegen
der ausschließlich chronologische Faden weniger
eignet, während andererseits ein Wiederan-
knüpfen an einen Faden, der fallen gelassen
worden, und selbst gelegentliche Wiederholung
nicht vermieden werden kann. Trotzdem wird
durch geschickten Einschlag der fortschreitende
Gang energisch fest gehalten und um so stär-
keres Licht auf die in ihrer Einheit vorgeführ-
ten großen Gegenstände geworfen. Vor allem
aber, scheint mir, ist die Objectivität zu rüh-
men, mit welcher der Verfasser fast überall an
seinen Gegenstand herantritt. Verläugnet er
auch den Briten keineswegs, so zeigt er sich
doch wie wenige seiner Landsleute frei von
Vorurtheil und über den Parteigegensatz er-
haben, der ihre Geschichtswerke mit nur selte-
97*
1540 Gott. gel. Adz. 1880. Stück 49.50.
neu Ausnahmen von engen und selbst unge-
rechten Urtheilen nicht frei hält. Er selber hebt
mit liebenswürdiger Anerkennung den zwischen
seiner Darstellung und der Lord Stanhope's be-
stehenden Unterschied hervor, dessen Werk
über die Geschichte Englands von 1714 bis
1783 seit einer Reihe von Jahren einen hohen
Ruf besitzt ohne daß es wegen tiefer Forschung,
unparteiischer Auffassung oder fesselnder Dar-
stellung zu den Meisterwerken gezählt werden
dürfte. Indeß gerade ein Vergleich Lecky's mit
Lord Stanhope spricht entschieden zu deserste-
ren Gunsten, indem eben in denjenigen Stücken,
auf welche ich hingewiesen, sich ein sehr be-
deutender Fortschritt zu erkennen giebt.
Darum ist es auch recht sehr erfreulich, daß
wie einst dem Geschichtswerke Lord Stanhope's
so nunmehr auch dem Lecky's die Ehre einer
deutschen Uebersetzung zu Theil wird. Wie
sehr auch Gegenwart und Zukunft Deutschlands
sich von einer Nachahmung des englischen Par-
lamentarismus fern halten wird, auf ein Studium
der treibenden Kräfte nicht nur in Staat und
Kirche des Inselreichs, sondern eben so sehr in
allen Gebieten geistiger und materieller Cultur
während jenes Jahrhunderts, welches den dröh-
nenden Wirkungen der französischen Revolution
voraufgieng , werden Geschichtsforscher und
Staatsmänner des Festlands so wie Deutschlands
insbesondere immer wieder mit Nutzen sich zu-
rückwenden. Dies ist denn auch bei seiner Ar-
beit dem Uebersetzer, der sich, wie er auf dem
Titel hervorhebt, früher schon durch üebertra-
gung ehstnischer Märchen und der Fabeln Kry-
lofs aus dem Russischen bekannt gemacht hat,
entschieden gegenwärtig gewesen, indem er nicht
nur das gehaltreiche Werk des englischen Ge.
Lecky, Geschichte Englands im 18. Jabrh. 1541
Schichtschreibers in fließendem Deutsch wieder
zu geben bestrebt gewesen ist, sondern sich
auch mit dem Verfasser in unmittelbaren Ver-
kehr gesetzt hat, um dessen Zusätze und Be-
richtigungen einzuflechten und, wenn erforder-
lich, in zweifelhaften Fällen von ihm Belehrung
einzuziehn. Das von der Verlagshandlung treff-
lich ausgestattete und namentlich höchst dan-
kenswerte mit lateinischen Typen gedruckte
Buch liest sich denn auch in der Uebersetzung
fast eben so gut wie das Original, indem es
nur höchst selten einen Anstoß bietet.
Aus dem zweiten Bande, den ich erst ganz
kürzlich durchgenommen, habe ich behufs ge-
legentlicher Verwendung folgende Kleinigkeiten
angemerkt. S. 37 muß es bei Begründung des
Marischal College in Aberdeen: zu Ende des
sechszehnten statt achtzehnten Jahrhunderts
heißen. S. 164 wird father Walshe besser
durch Pater als Vater, S. 165 forged durch ge-
fälscht und nicht, wenn auch sinnbildlich,
durch geschmiedet wiedergegeben. S. 295 muß
es heißen die lieblichen Ufer (shores) von
Glendalough — eines Binnensees — statt Kü-
sten. Warum wird S. 593 fellow of Lincoln
college durch Genosse und nicht wie schon
früher mit Collegiat des Lincoln Stifts tibersetzt?
Auch hätte Herr Löwe, wie er doch in anderen
Fällen thut, die englische Bezeichnung beibe-
halten und durch eine -Beifügung in Klammern
erklären können. Endlich genügt Stiftung,
wie es öfter vorkommt, für establishment keines-
wegs. Es bedeutet jedesmal Staatskirche, ent-
weder die englische oder die schottische, oder
noch besser in der jetzt unter uns häufiger wer-
denden Form Verstaatlichung der Kirche,
wie disestablishment Entstaatlichung. Der Ueber-
1542 Gott. gel. Adz. 1880. Stück 49.50.
setzer hat im Uebrigen mit großer .Sorgfalt an
vielen Stellen in und unter dem Text kurze
Bemerkungen beigegeben, um dem deutschen
Leser typisch englische Begriffe und Verhältnisse
geläufig zu machen. Daß er in seiner Vorrede
und späterhin unter dem Text gegen schiefe,
ungünstige und ungerechte Beurtheilung Frie-
drichs IL von Preußen Einsprache erhebt und
eben so warm wie sachgemäß auf die nament-
lich von Ranke längst zurückgewiesene Contro-
verse wegen der Besitzergreifung Schlesiens
verweist, ist nur in der Ordnung. Aber es muß
doch Wunder nehmen, daß ein so gelehrter Ge-
schichtschreiber wie Lecky, der sich beiläufig
selber auf Ranke's Preußische Geschichte be-
ruft, über das einst von Macaulay den Englän-
dern zugemuthete Zerrbild des großen Königs
kaum hinausgekommen ist, daß er, während er
sich für den siebenjährigen Krieg auf Garlyle
stützt, dessen Gesammtanschauung doch wieder
nicht gelten läßt. Man ist demnach in Eng-
land, wie es scheint, immer noch nicht im
Stande, sich von den Schmähungen Voltaire's
loszumachen und die Verwicklungen während
der beiden ersten schlesischen Kriege, zu wel-
chen doch das unbefriedigende Verhältnift zwi-
schen dem Königthum Georgs IL und einer
trostlosen parlamentarischen Regierung nicht
zum Wenigsten beigetragen, kühl objectiv zu
entwirren. Friedrich treulos zu nennen, weil er
unzuverlässige Verbündete, die ihn im Stich
ließen, aufgab und sein Pfand, das ihm keiner
gönnte, auf eigene Hand in echten Besitz ver-
wandelte, ist unhistorisch. Die britische Kurz-
sichtigkeit in auswärtigen Dingen, man möchte
fast sagen die Unfähigkeit, sie zu ergründen,
erscheint um so greller, als dieselbe Nationsich
Lecky, Geschichte Englands im 18. Jahrh. 1543
während Pitt's großen Ministeriums den Preußen-
könig als Bundesgenossen gern gefallen ließ
and ihn sogar begeistert als protestantischen
Helden feierte, ihm aber wiederum keine Thräne
nachweinte, als er gerade in Folge des Partei-
wechsels naeh der Thronbesteigung Georg's III.
nicht nur die Subsidien der englischen Regie-
rung einbüßte, sondern von derselben erst recht
treulos in Stich gelassen worden ist.
Von solchem Tadel abgesehen versteht es
Lecky sehr wohl die auswärtigen Dinge in der
Verflechtung der allgemeinen Staatsthätigkeit
Großbritanniens zur Geltnng kommen zu lassen,
indem er Kriege und Feldzüge, Verhandlungen
und Friedensschlüsse und beider Wechselwirkung
mit dem Gange der inneren Politik und der
großen Umwandlungen im öffentlichen und ge-
sellschaftlichen Leben meist in kurzen, kräftigen
Strichen vorführt. Es tritt dies zumal im er-
sten Bande hervor, der von der Revolution,
welche die Stuarts abschüttelte, und dem spani-
schen Erbfolgekriege ausgieng und nach dem
Sturze Walpole's die Betheiligung des Insel-
staats an weiteren Kriegszügen einleitete. Der
große Nachdruck in seinen Kapiteln liegt aber
allerdings dem ganzen Plan des Werks gemäß
in den meist vortrefflich gelungenen Ausführun-
gen über die Parteipolitik in der ersten Hälfte
des achtzehnten Jahrhunderts, als auf allen öf-
fentlichen Gebieten des nationalen Lebens so
viele neue, der concentrierten Staatsgewalt meist
wenig förderlichen Kräfte in Schwang geriethen.
Er liegt vor allen in der breiten, alle Licht-
und Scha^enseiten mit gerechter Parteilosigkeit
beleuchtenden Darstellung des parlamentarischen
Friedensregiments Sir Robert Walpole's, die
überhaupt als Glanzpunct dieses Bandes er-
1544 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 49.50.
scheint, weil sie in allen früheren Behandlungen
nicht ihres gleichen hatte.
Aus dem zweiten, in hohem Grade lesens-
werthen Bande will ich einiges Wenige etwas
ausführlicher hervorheben.
Der Verfasser nimmt Stellang zu den natio-
nalen Fragen, an denen es ja auch von jeher
auf den britischen Inseln nicht gefehlt hat. Er
steckt sich dabei als Ziel : „den Ursachen nach-
zuforschen, seien es heilsame oder schädliche,
welche die Nationen zu dem gemacht haben,
was sie sind, ist die wahre Philosophie der Ge-
schichte". Nachdem er in fesselnder Weise die
unendlichen Fortschritte geschildert , welche
Schottland trotz allen Hemmnissen kirchlicher
Intoleranz der Unionsacte von 1707 und selbst
das keltische Hochland der definitiven Kata-
strophe von 1746 zu verdanken gehabt hat, in-
sonderheit sich gegen das unbillige Urtheil aus-
gesprochen, welches Buckle über die schottische
National kirche fällte, befaßt er sich in dem bei
Weitem größten und wichtigsten Abschnitt die-
ses Bands mit dem Stande der irischen Frage
im achtzehnten Jahrhundert. Was liegt ihm,
dem geborenen, für die engere Heimath warm
fühlenden, in seltenem Freimuth aufgeklärten
und gediegen geschulten Iren näher als eine
Untersuchung der verschiedenartigen Gründe,
aus denen hier Land und Leute bis zur Stunde
Glück und Fortschritt, wie sie in England und
Schottland herrschen, nicht theilen. Er bietet
denn auch eine Leistung, wie wir sie bis dahin
nicht besaßen, die auf der sorgfältigsten Durch-
forschung alles nur irgend zugänglichen Mate-
rials, namentlich auch auf fleißigster Benutzung
der im Londoner und Dubliner Staatsarchiv be-
wahrten Acten und Gorrespondenzen, auf einer
gesunden Kritik und im Ganzen wiederum höchst
Lecky, Geschichte Englands im 18. Jahrh. 1545
anerkennenswerten Selbständigkeit beruht. So
werden unendlich viel gründlicher und vielseiti-
ger die Beschlüsse erörtert, welche auf dem von
Jakob II. im Jahre 1689 in Dublin versammel-
ten Parlament gefaßt worden, als das von der
blendenden Schilderung desselben Hergangs bei
Macaulay ausgesagt werden kann. Dem Buche
Fronde's The English in Ireland, das wie alle
Arbeiten dieses Verfassers durch novellistische
Behandlung anziehen will, aber nicht minder
auf unzureichenden Vorarbeiten beruht und mit
polemischer Leidenschaft Irland und die Iren
bekämpft, wird in beinahe durchlaufendem
Commentar die verdiente Zurechtweisung zu
Theil. Trotzdem trifft man auch bei Lecky
Blößen, welche zu Einwendungen Anlaß geben.
Sehr dankbar wird ihm jeder sein, daß er
die Entwicklung der irischen Frage vor dem
achtzehnten Jahrhundert noch einmal einer ein-
gehenden Prüfung unterzieht. Dabei geht er
aber zu weit, wenn er in breiter, von Wieder-
holungen und selbst Widersprüchen nicht ganz
freier Darstellung die große Rebellion von 1641
nicht als eine, namentlich von den ultramonta-
nen Mächten drinnen und draußen auf vollstän-
dige Vernichtung der Eroberungscolonie abge-
sehene Erhebung gelten lassen will. Sie soll
weder mit der sicilischen Vesper, noch mit der
Bartholomäusnacht verglichen werden dürfen.
Des Ignatiustags, October 23, als vorausbe-
stimmten Termins, wird an keiner Stelle ge-
dacht. Gewiß waren die Ursachen sehr com-
pliciert, aber die agrarischen Motive sind doch
damals wie späterhin nicht die ausschließlich
vorherrschenden und allein auf das Schuldregi-
ster Englands zu schreiben gewesen. Mit wie
starken Gründen auch der Verfasser an anderer
1546 Gott gel. Adz. 1880. Stück 49. 50.
Stelle den Katbolicismus eine niedrigere Reli-
gionsform als den Protestantismus nennt und
ihn als besonders unpassend für eine mit gro-
ßen Schwierigkeiten ringende Nation bezeichnet,
so hätte er doch gerade da, wo er in vorzügli-
cher Weise das Loos Irlands mit dem Schott-
lands vergleicht, den großen Gegensatz in der
Reformationsgeschichte beider Länder hervor-
heben und die Ursachen anführen müssen, wes-
halb in dem einen Lande erst mit der Los-
reißung von Rom der Gesittung des germani-
schen Staatswesens das Thor aufgethan wurde,
während in Irland erst, nachdem Nativisten und
angloirische Gonvertiten ultramontan geworden,
die grauenhafte Wendung eintritt, daß trotz
allen Pönaledicten, trotz Cromwell und Wil-
helm III. weder von durchgreifender Unterwer-
fung noch von Aufrichtung eines geordneten
Staatswesens die Rede sein konnte. Eben so
irrig ist es, wenn Lecky im Anschluß an den
Widerspruchsgeist moderner physiologischer and
ethnographischer Speculation in England die
unterscheidenden G haraktermerkmale verschie-
dener Ra$en nicht gelten lassen will and ge-
radezu behauptet, daß „sie doch nur wenig
Licht auf die englische und die irische Ge-
schichte werfen". Verwendet er doch selber
auf jeder Seite seiner lehrreichen Auseinander-
setzung die Momente eben dieser Theorie mit
großem Geschick. Woraus anders entsprang
denn die schändliche Mißhandlung von Seiten
der „verderbten und egoistischen Regierung
Englands ... die Handelsgesetzgebung, welche
die irische Industrie zerstörte, die Confisciernig
irischen Bodens, welche den gesammten socialen
Zustand des Landes zerstörte, der skandalöse
Mißbrauch des Patronats, der nicht nur die De*
Lecky, Geschichte Englands im 18. Jahrb. 1547
moralisierung, sondern auch die Verarmung der
Nation bewirkte", und das ganze namenlose
Elend, welches blinde Zwangsgewalt dnrch
Kirche und Staat im achtzehnten Jahrhundert
über Land und Volk, Schule und Haus, den
Beruf und das Leben des Einzelnen gebracht
hat, ein System, das keinen katholischen Sol-
daten in den Regimentern duldete und doch
nicht zu verhindern im Stande war, daß un-
zählige Nationaliren den Landesfeinden dienten,
ein System, das von wenigen mit gerechterem
Zorn, beredteren Worten und schlagenderer Be-
weisführung verurtbeilt worden ist als von Lecky
selber. Wer wird nicht seinen Satz unterschrei-
ben: „Die meisten großen Uebelstände irischer
Politik während der beiden letzten Jahrhunderte
entsprangen aus dem Factum, daß die verschie-
denen Klassen und Confessionen des Landes
niemals wahrhaft zu einer Nation verschmol-
zen, daß die Abstoßung von Rage oder Religion
stärker war, als die Anziehung gemeinsamen
Volksthums, und daß folglich die ganze Energie
und Intelligenz des Landes selten oder nie für
eine gemeinschaftliche Sache auftrat".
lieber das herrliche Kapitel, welches das
Aufsteigen William Pitt's und das Regiment,
das durch ihn so ruhmvoll geworden, bis zum
Tode Georg's IL vorführt, kann ich mich kür-
zer fassen. Es enthält im Ganzen eine ge-
rechte, schöne Würdigung des älteren Pitt und
darf zugleich als vollgiltiges Zeugniß der be-
deutenden historischen Kraft betrachtet werden,
die sich in Lecky entfaltet. Er ist im Stande
dem Zurücktreten des leidigen Parteiregiments
vor dem großen Minister hohe Würdigung zu
zollen, was vollends durch eine Gegenüberstel-
lung mit Walpole meisterhaft beleuchtet wird,
1548 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 49.50.
und gleichwohl selbst dem Könige Georg II.
gerade in Bezog auf die constitutionelle Ent-
wicklung eine Anerkennung zu Theil werden z«
lassen, wie sie bisher bei englischen Geschiebt-
Schreibern kaum anzutreffen war. Er hebt her-
vor, daß Pitt, ein Minister des Auswärtigen und
des kriegerischen Erfolgs im großen Stil, dem
in England kein anderer zu vergleichen, ein
Staatsmann, der die ihm bewilligten reichen Fi-
nanzmittel selbstlos und wirkungsvoller als je
einer anzuwenden verstand, nichtsdestoweniger
als Staatssecretär anderen weise „die Bürde
und das Odium finanzieller Maßregeln und des
ganzen parlamentarischen Getriebes überließ*.
Er bot das lebendige Beispiel,, daß die Eigen-
schaften eines großen Ministers für die inneren
Angelegenheiten schwerlich jemals mit der Mei-
sterschaft in den auswärtigen Fragen zusammen-
treffen. „In finanziellen Dingen und in der
Handelspolitik war er äußerst unwissend". Seine
Auffassung der Politik gieng vielmehr dahin,
„der Nation den Stolz des Patriotismus, des Mu-
thes und des Unternehmungsgeistes einzuflößen".
Mit vollem Recht aber wird zugleich darauf auf-
merksam gemacht, daß unmittelbar hinter der
stolzen Eroberung Kanadas bereits die Nemesis
auftauchte, indem dadurch die englischen Pflan-
zungen in Nordamerika zwar von der Nachbar-
schaft französischer Gegner, aber auch von dem
wirkungsvollsten Zwangsmittel befreit wurden,
das sie bisher an das Joch des Mutterlandes ge-
kettet hatte.
Endlich mag noch die Lecture des letzt»
Kapitels: Die religiöse Neubelebung (Revival)
dringend empfohlen werden. So wenig die
Schattenseiten des Methodismus, die Verzerrun-
gen, die er über die ganze angelsächsische Welt
Lecky, Geschichte Englands im 18. Jahrh. 1549
gebracht hat, verschwiegen werden, während
sich der Verfasser vielmehr auch in Behandlung
theologischer und wissenschaftlicher Probleme
wohl bewandert zeigt, weiß er doch der hohen
Bedeutung der Brüder Wesley und ihres kraft-
vollen Genossen Whitfield so wie der durch sie in
den breiten Schichten des Volks nachhaltig ent-
fachten religiösen Begeisterung in seltener Weise
gerecht zu werden. Er stellt die Wirkung ihrer
Thätigkeit geradezu auf eine Linie mit der
Pitt's. In diesem ergreifenden Abschnitt fällt
bereits eine Fülle von Licht auf die nachfolgende
Generation und wird namentlich mit Erfolg der
Beweis erbracht, daß der Methodismus neben
anderen Gründen in hohem Grade dazu beige-
tragen hat, daß England nachmals so wenig
von der Gluth des französischen Revolutions-
fiebers ergriffen wurde.
Man darf mit Recht auf Fortsetzung und
Vollendung einer so ausgezeichneten Arbeit wie
Lecky's England im achtzehnten Jahrhundert
gespannt sein, der überzeugt ist, daß die Dinge
auf Erden mehr als eine Seite haben.
R. Pauli.
Lehrbuch der Analysis von Rudolf
L i p s c h i t z. Erster Band. Grundlagen der
Analysis. 1877. XVI. 594 S. Zweiter Band.
Differential- und Integralrechnung. 1880. XIV.
734 S. Bonn. Verlag von Max Cohen & Sohn
(Fr. Cohen).
Wenn ein Mann, der bei der Neugestaltung
der höheren Analysis selbst eine hervorragende
1550 Gott gel. Adz. 1880. Stück 49.50.
Kolle gespielt hat, es unternimmt, eine anfas-
sende, von den ersten Grundlagen bis zu den
höchsten Problemen aufsteigende Darstellung
eben dieser Wissenschaft zu liefern, so wird
man ein solches Lehrbuch mit ganz anderen
Gefühlen zur Hand nehmen, als wenn man
es mit einem der gewöhnlichen Compendien,
wie sie jedes Jahr in nur zu großer Anzahl
hervorbringt, zu thun hat Sagt man sich
doch, daß selbst dann, wenn man mit dar
Behandlung einzelner Materien, mit einzelnen
der zu Grunde liegenden didaktischen Grund-
sätze nicht einverstanden sein sollte, doch jeden-
falls etwas Ganzes, in sich Abgeschlossenes zu
erwarten ist, das in seinem Totaleindruck för
Alles, was man allenfalls im Detail anders an-
gelegt sehen möchte, reichlich zu entschädigen
vermag. Das Lipschitz'sche Werk nun ist gans
dazu angethan, diese unsere allgemeine These
zu rechtfertigen, um so mehr als die ganze Dar-
stellungsweise, wenigstens nach dem Urtheil des
Referenten, eine solche ist, wie sie auch der
ebensosehr den pädagogischen als den rein wis-
senschaftlichen Gesichtspunkt berücksichtigende
Fachmann wünschen muß. Das Princip, vom
Einfacheren zum Complicierteren fortzuschreiten,
ist stets gewahrt, ohne daß doch dem Anfänger
die Gelegenheit zu allgemeinen Ausblicken ent-
zogen wäre, die Hervorhebung wichtiger Sätze
durch auszeichnenden Druck erleichtert das Sta-
dium, sowie das Nachschlagen gleich sehr, und
diesem letzteren Zwecke dienen auch die beiden
sorgfaltigen Inhaltsverzeichnisse in untadelhafter
Weise. Wir haben mit Einem Worte sowohl ein
Unterrichtswerk vor uns, mittelst dessen der
Studierende sein analytisches Wissen begründen
und befestigen soll, als auch ein Hand- nnd
Lipschitz, Lehrbuch der Analysis. 1551
Nachschlagebuch, welches den weiter Vorge-
rückten rasch über irgend einen Punkt orien-
tieren kann. Wir wollen nicht leugnen, daß, un-
serer persönlichen Ansicht zufolge, diesem dop-
pelten Zwecke durch eine minder sparsame Bei-
gabe literarischer Nachweise noch ausgiebiger
hätte Rechnung getragen werden können, indeß
muß jedem Autor das Recht zugestanden wer-
den, dergleichen mehr äußerliche Fragen nach
seinem eigenen Ermessen zu regeln.
Der erste Band beginnt mit allgemeinen Er-
örterungen über den Begriff der Zahl und über
die einfachen Rechnungsoperationen. Der Be-
weis für das allgemeine associative Gesetz der
Multiplikation*) wird im Sinne Lejeune-Dirich-
let's durch den Schluß von n auf (n + 1) ge-
führt. Es folgen Sätze über die Primzahlen,
Aufsuchung des größten gemeinsamen Theilers
mittelst der euklidischen Methode der Staffel-
division, zahlentheoretische Lehrsätze über die
Anzahl der Theiler einer Zahl sowie über das
Gauß'sche <p(m). Hierauf vollzieht sich die Er-
weiterung unseres Zahlengebietes durch Ein-
führung der negativen und gebrochenen Zahlen
und die damit zusammenhängende Bruchrechnung.
§. 14 giebt die „Definition der positiven Wurzel
des nten Grades aus einem gegebenen positiven
Bruche" ; dieser Abschnitt ist als eine vorzüg-
liche Einführung des angehenden Mathematikers
in das Rechnen mit Grenzwerthen zu betrach-
*) Die Hervorhebung der für die drei direkten Grund-
operationen, theils insgesammt, theile nur partiell cha-
rakteristischen Gesetze der Commutativität, Distribuüvität
und Associativität, welche von den englischen Mathema-
tikern, insbesondere von Hamilton , formuliert worden
sind, vermissen wir nur ungerne, jedoch fast ausnahms-
los, in deutschen Werken.
1552 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 49.50.
ten. Je früher man die richtige Auffassung von
diesem für die moderne Mathematik charakteri-
stischen Fundamentalbegriff der Grenze gewinnt,
nm so besser; insbesondere machen wir auch
darauf aufmerksam, daß (S. 45) der Sinn des
Gleichheitszeichens in den identischen Gleichungen
lim (a + 6) = lim a + lim 6,
lim (aft)- lim a. Hm St lim £ = ~
K ' b lim o
in der allein richtigen Weise dahin erklärt wird,
„daß, wenn man für jeden Grenzwerth einen
hinreichend weit vorgerückten Bruch aus der
betreffenden Reihe*) substituiert, die Differenz
der rechts und links vom Gleichheitszeichen be-
findlichen Ausdrücke numerisch beliebig klein
wird". Mit Hülfe dieser Prämissen gelingt es,
die Eindeutigkeit einer positiven raten Wurzel
aus einem positiven Bruche nachzuweisen und
mittelst Einführung der irrationalen Größen den
bis dahin, trotz der negativen und gebrochenen
Zahlen, noch immer discontinuierlichen Verlauf
der Zahlenlinie in einen lückenlosen, stetigen
zu verwandeln. Wir bemerken nochmals, daß wir
das Verfahren des Verf., gleich auf das Wurzd-
ausziehen den Limitencalcul zu begründen, für ein
richtiges und seine Durchführung der Idee für
eine gelungene halten, allein gerade deshalb
scheint uns die Bemerkung (S. 64) nicht noth-
wendig, daß erst an einer weit späteren Stelle
gezeigt werden könne, „wie sich durch eine in
unbeschränkter Anzahl wiederholte Anwendung
*) Es ist hier eben die Reihe der, nach irgend einem
Bildungsgesetze, auf einander folgenden Näherupgswertfiß
gemeint.
Lipschitz, Lehrbuch der Analysis. 1553
der vier Grundoperationen ein bestimmtes Re-
sultat gewinnen läßt". Wir meinen, wer mit
offenem Auge die vorhergehenden Erörterungen
über Irrationalität verfolgte, kann über diese
Möglichkeit nicht mehr im Unklaren sein.
Der zweite Abschnitt ist der Algebra ge-
widmet. Er beginnt mit einer geschichtlichen
Notiz über die Begriffsbestimmung dieses Wor-
tes, wie sie bei Newton, Euler u. a. vorkommt,
und zwar wird hier die Euler'sche Definition
adoptiert. Nachdem noch der Unterschied zwi-
schen constanten und variablen Größen auseinan-
dergesetzt ist, beginnt das Studium der ganzen
rationalen Funktionen, die Auflösung der linea-
ren und quadratischen Gleichungen und, mit
letzteren zusammenhängend, die Rechnung mit
complexen Werthen. Geometrisch werden diese
letzteren vorläufig noch nicht untersucht, viel-
mehr ist ihre graphische Darstellung der allge-
meinen Theorie der höheren Gleichungen vorbe-
halten. Es reiht sich jetzt an die allgemeine
binomische Gleichung, welche Gelegenheit giebt,
die goniometrischen Funktionen in sehr hüb-
scher, induktorischer Weise mit in den Kreis
der Betrachtung zu ziehen. An den bei der Lö-
sung jener Gleichung auftretenden algebraischen
Formen treten nämlich gewisse Eigenschaften
zu Tage, welche der der Geometrie Kundige
auch beim Sinus und Cosinus wahrgenommen zu
haben sich erinnert; diese Analogie wird ge-
prüft und als Identität erkannt. Damit ist denn
die Aufstellung aller n Wurzeln der Gleichung
<»» = C ermöglicht ; nicht minder gelingt leicht
die Zurückführung von V A-\-Bi auf die Nor-
malform (S. 101 ff.). Die Einheitswurzeln wer-
den sorgfältig auf ihre zahlentheoretische Be-
98
1554 Gott, gel. Anz. 1880. Stück 49. 50.
äetitttdg biif untersucht *j ; des Ferneren wirt
gtfeeigt, wie Ernheitswurzöin von höherer aus
Solchen von niedrigerer Otdnting durch Multi-
plikation hergeleitet werden können ; datirit ver-
bindet der Vierf. dite Zerfällnng eines Braches
in Pärtialbrticbe, sowie die Auflösung einfacher
diophantischer Gleichungen. Getreu der Überall
in dem Buche befolgten Maxhnfe, sich nicht
sfrenge an das Absolut-Nothwendige zu halten,
sondern durch Exkurse in verwandte Wissens-
gebiete dem Leser Anregung und einen Einblick
in den innigen Zusammenhäng zwischen den
einzelnen Disciplinen zu gewähren, giebt §. 41
eine gedrängte, jedoch alle wichtigen Punkte
umfassende Uebersicht über die Lehre vött der
Kreistheilung. Der Gauß'sche Satz wird (S.
137) dahin formuliert, daß die Theilung des
Kreises in eine bestimmte Anzähl n gleicher
Theile auf geometrisch- elementarem Wege stets
dann erfolgen könne, „wenn die um die Ein-
heit verminderte Primzahl n gleich einer Potenz
der Zahl Zwei ist". Diese Formulierung könnte
möglicherweise zu Mißverständnissen Veranlas-
sung geben, indem ja die Primzahl n nicht all-
gemein gleich (2P + 1); sondern gleich
2<*> -f 1
sein muß. §. 42 erläutert das Wesen dfet car-
tesischen Punktcoordinaten, setzt diese durch
Einführung des polaren Systemes mit den com-
plexen Zahlen in Verbindung und leitet so hin-
*) 8. 113, Z. 12 v. u. sollte von der Bemerkung,
daß für eine Primzahl n gewisse weitere Folgerungen
sich ergeben, der Fall « = 2 ausgenommen worden sein-
Denn für diesen giebt es Dicht, wie angegeben, Mos
'•* — 1), sondern n reelle Ein h ei ts wurzeln.
Lipschitz, Lehrbuch der Analysis. 1555
ober zu der allgemeinen Theorie der Gleichun-
gen, welche die folgenden Paragraphen erfüllt
Der Fundamentalsatz der Algebra, zu desseri
endgültigem Beweise die Mittel an dieser Stelle
noch nicht vorhanden sind, wird durch ein-
gehende algebraische Untersuchung wenigstens
insoweit vorbereitet, daß der Lernende (S. 164)
die einstweilige Gewißheit erhält, „daß die Zer-
legung einer rationalen ganzen Funktion des
ttten Grades von x in Faktoren des ersten Gra-
des, wenn sie überhaupt möglich ist, nur auf
eine einzige Weise möglich ist". Es folgt eine
kurze Darlegung jener combinatorischen Wahr-
heiten, welche sjch bei der Diskussion der sym-
metrischen Würzelverbindungen, sowie beim bi-
nomischen Lehrsatz als nothwendig erweisen.
Die Ersetzung der Unbekannten (resp. Verän-
derlichen) durch eine andere, linear mit ihr ver-
bundene, Größe derselben Art führt, unter Zu-
htilfenabme des binomischen Theorems, zu den
verschiedenen Ableitungen einer ganzen Funk-
tion, die hier rein algebraisch, ohne Rücksicht
auf ihre funktionentheoretische Bedeutung als
Differentialquotienten, behandelt werden. Aeußerst
ausführlich wird die Auflösung der kubischen
und biquadratischen Gleichungen vorgetragen,
welche uns besonders im Interesse der letzte-
ren, deren principielle Stellung in den meisten
Lehrbüchern viel zuwenig hervorzutreten pflegt,
verdienstlich erscheint. Die Ausführungen des
§. 54 hätten vielleicht, da sie doch nur einem
speziellen Falle des allgemeineren §. 39 gelten,
etwas gekürzt werden können. Dagegen bietet
die Diskussion der Wurzeln einer Gleichung
vom vierten Grade Anlaß, einige elementare Be-
griffe aus jener Disciplin einzuführen, welche
unter dem Namen der Substitutionentheorie für
98*
1556 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 49.50.
die neuere Algebra so wichtig geworden ist
Von großer Tragweite, insbesondere auch als
Vorbild für Verfasser zukünftiger algebraischer
Lehrbücher*), ist in dieser Hinsicht §. 58, der
von der „Darstellbarkeit der rationalen ganzen
symmetrischen Verbindungen yon n Elementen
durch n symmetrische Grundverbuidangena han-
delt. Als Spezialisierungen der hier vorgetra-
genen allgemeinen Lehren erscheinen das soge-
nannte Differenzenprodukt und die Diskriminante
einer Gleichung. Nunmehr ist die erforderliche
Basis vorhanden, um auf die Frage nach der
Auflösbarkeit einer Gleichung zurückzugreifen,
von der die weitere Frage, ob die Auflösung
auch stets durch explicite algebraische Formen
geleistet werden könne, wohl zu trennen ist.
Ein interessanter historischer Exkurs**) leitet
den Beweis des algebraischen Fundamental -
satzeS ein, welcher, mit größter Sorgfalt und
Ausführlichkeit geführt, nicht weniger als 6
Paragraphen und 34 Seiten in Anspruch nimmt
Da sich hiebei die Auffindung des größten ge-
meinschaftlichen Theilers für zwei ganze alge-
braische Funktionen nicht umgehen ließ, so
*) In «einer Anzeige der Matthiessen'aohen > Grund -
züge der antiken und modernen Algebra« (Schloemilch's
Zeitschr. f. 1879, 1. Heft) hatte Schreiber dieses das
Fehlen solch' all gemeiner Einleitung als einen Mangel
dieses sonst so verdienstvollen Werkes zu verzeichnen.
**) Es scheint Herrn Lipsohitz unbekannt zu sein,
das der Aaszug aaeRurani's mehr berühmtem als bekann-
tem Werke, welchen er (S. 247) mit Recht for sehr wün-
schenswert^ erklart, von dem Wiener Mathematiker
v. Ettingshausen in dessen »Zeitschrift für Physik and
Mathematik« (1. Band, Wien 1826, 8. 258 ff.), freilich
viel zu kurz and nicht klar genug, gegeben worden ist.
Vgl. auoh Jahrgang 1819 der »Memorie del istituto Lom-
bard o-Veneto«.
Lipschitz, Lehrbach der Analysis. 1557
wird jetzt für solche Funktionen jene Betrach-
tung nochmals durchgeführt, welche auf S! 8 ff.
für ganze Zahlen angestellt worden war; als
ein Nebenprodukt dieser Untersuchung ergeben
sich die Kettenbrtiche, für welche die wichtig-
sten Lehrsätze abgeleitet werden. Kapitel III
entwickelt den Begriff der homogenen Funktion
und den damit in nächster Beziehung stehenden
der linearen Transformation. Hieran knüpft
das nächste Kapitel die Lehre von den Deter-
minanten, welche, ganz den Anforderungen
neuerer Schulschriftsteller über diesen Gegen-
stand entsprechend, zunächst nur für ein zwei-
gliedriges, sodann für ein * dreigliedriges und
erst zuletzt für ein allgemeines System linearer
Gleichungen gebildet werden. In dieser Art
neu und gewiß beachtenswerth ist die ein-
gehende Zergliederung des Spezialfalles eines
linearen Systems von verschwindender Determi-
nante (§. 75). Mit Kapitel VI*), welches die
Theorie der quadratischen Funktionen von be-
liebig vielen Variablen enthält, betritt der Verf.
ein Territorium, zu dessen Erforschung er selbst
wie kein Zweiter beigetragen hat, und es wird
deshalb seine Darstellung hier noch weit mehr
*) Wenn S. 860 gesagt wird, die ganzen homogenen
Funktionen irgendwelchen Grades hätten »die gemein-
same Eigenschaft, immer in Faktoren des ersten Grades
zerlegbar zu sein, vorausgesetzt, daß die Rechnung mit
oomplexen Größen zugelassen ist«, so sehen wir hierin
lediglich eine ganz passende Rüokerinnerung an den
Standpunkt, den die Analysis unmittelbar vor Gauß ein-
nahm, und welchem dieser selbst durch die Ausdrucks-
weise seiner Inauguraldissertation noch einige Rechnung
zu tragen fur erforderlich hielt. Es ist uns nicht ver-
standlich, wieso man, was thatsäohlioh geschehen, dem
Verf. obigen Satz als eine anachronistische Redeweise
zur Last legen will.
1558 Gott, gel/ Anz. 1880. Stück 49. 50.
denn anderswo es beanspruchen können, nicht
blos unter dem didaktischen, sondern auch un-
ter dem spezifisch -wissenschaftlichen Gesichts-
punkt studiert und beachtet zu werden. Wir
weisen in Sonderheit hin auf die geometrische
Repräsentation dieser Funktionell; sind diesel-
ben binär, so ergiebt sich in der Ebene ein
Netz von Parallelogrammen (S. 363 ff.), sind sie
ternär, ein parallelepipedisches Raumgitter (S.
405 ff.), und von diesen Bildungen lassen sich
durch verhältnismäßig einfache Rechnung viele
Eigenschaften nachweisen, welche der direkten
geometrischen Betrachtung erhebliche Schwie-
rigkeiten entgegensetzen würden*). Außerdem
ist als wichtig für die Mechanik und zumal für
die moderne Metageometrie zu nennen die ele-
gante Ueberftthrung einer quadratischen Form
in eine Summe von Quadraten (S. 394 ff.) und
die Behandlung der unter dem Namen „Träg-
heitsgesetz" bekannten fundamentalen Eigen-
schaft quadratischer Formen, über deren Ent-
stehung vom Verf. (S. 428) nähere geschicht-
liche Aufschlüsse gegeben werden. Diese Ent-
wicklung beschließt den zweiten Abschnitt, der
sowohl seiner Anlage als auch der Eigenart der
darin behandelten Materien nach für den Lehr-
*) Welchen Werth diese Auffassung, zumal wenn
man sie auch in die Zahlentheorie überträgt, sowohl für
diese als auch für die krystallographische Physik and
für die Molekulartheorie überhaupt besitzt, beweisen be-
sonders die, hierin auf die alteren Untersuchungen von
Bravais sich stützenden Untersuchungen von Selling (Bor-
chardt's Journal, 77. Band; Liouville's Journal, 3. Serie,
3. Band; dort besonders S. 62 ff.)* Auoh gehören hierher
Camille Jordan's und Sohncke's Bestimmung aller über-
haupt existierenden regelmäßigen Punktsysteme im
Baume.
Lipachitz, Lehrbuch der Analysis. 1559
gang in der algebraischen Analysis neue und
wohl zu beherzigende Perspektiven eröffnen
dürfte.
Ungleich conservativer , wenn dieser Aus-
druck hier als erlaubt gilt, ist der aus dem dritten,
vierten und fünften Abschnitt bestehende Schluß
des ersten Bandes gehalten, welcher also spe-
ziell das umfaßt, was man nach Euler „Analy-
sis des Endlichen" nennt. Die Darstellung
mußte sich hier mehr in den gewohnten Bahnen
bewegen, indeß findet man auch hier die prin-
cipiellen Fragen nach der Stetigkeit, Gonver-
genz u. s. w. besonders in den Vordergrund ge-
stellt und die aus Abel's grundlegender Studie
über die Binomialreihe entfließenden Grundsätze
für eine wissenschaftliche Behandlung der Reihen-
lehre wohl verwerthet. An die Spitze wird die
geometrische Progression gestellt; an sie schließt
sich die Theorie der rekurrenten Reihen, die
Zerlegung einer beliebig gebrochenen Funktion
in Theilbrüche und die Interpolationsformel von
Lagrange. Schon bei Besprechung der ConVer-
genz einer geometrischen Reihe wird (S. 471)
jenes geometrischen Veranschaulichungsmittels
gedacht, welches in einem um den Nullpunkt
der complexen Zahlenebene beschriebenen Kreise
besteht und für die Gonvergenzuntersucbungen
in neuerer Zeit eine so überaus hohe Wichtig-
keit erlangt hat. Die Exponential-, logarithmi-
schen , goniometrischen und cyklometrischen
Funktionen*) beschließen den vierten Abschnitt.
Im fünften begegnen wir an erster Stelle den
.unendlichen Reihen und Faktorenfolgen; für
*) Herr Lipschitz schreibt durchgehende »Arcus tan-
gentis«, wogegen sieh sprachlich kein Widersprach er-
heben läßt.
1560 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 49.50.
diese letzteren werden in §. 111 direkte, d. h.
von zuvoriger Logarithmierung unabhängige,
Convergenzregeln aufgestellt. Es ist dies ein
Gebiet, dessen Darstellung in vielen Lehrbüchern
bisher einen schwachen Punkt bildete. Endlich
finden wir im letzten Abschnitt noch die Reihen-
entwickelung für sämmtliche algebraische und
transcendente Grundfunktionen , nach neuer,
strenger Methode und durchweg unter Voraus-
setzung complexer Argumente durchgeführt.
Insbesondere möge §. 119, die „vollständige
Werthbe8timmung der Binomialreiheu enthaltend,
wegen seiner hodegetischen Bedeutung für ähn-
liche, umfassendere Aufgaben hier namhaft ge-
macht werden. Im letzten Paragraphen treten
auch bereits die einfachen trigonometrischen
Reihen auf, welche nach Sinus oder Cosinus
der Multipla irgend eines Winkels fortschreiten
und im zweiten Bande unter ganz anderen Ge-
sichtspunkten zu betrachten sind*). — Wir ge-
hen in unserer Schilderung nunmehr zu dieser
zweiten, fast ura drei Jahre später erschienenen
Hauptabtheilung des großen Werkes über.
Dieselbe umfaßt, wie auf seinem Titelblatt
bemerkt ist, die Differential- und Integralrech-
nung, also, nach älterem Sprachgebrauche, die
höhere Analysis, zu der im ersten Bande abge-
*) Ein paar unbedeutende und kaum sinnstörende
Druckfehler mögen gelegentlich Erwähnung finden. S.
98, Z. 6 v. a. ist das Wort »horizontale Reihe« an eich
zwar nicht falsch , aus dem Zusammenhange , besonders
in Vergleichung mit 8. 108, erhellt jedoch, daß dafür
»vertikale Reihe« gesetzt werden muß. S. 171, Z. 16 v.o.*
lies aQ = Co - j)j 8tatt a< > c_ m ibid z lß
v.
o. I. *' statt *' , S. 588, Z. 16 v. 6. 1. f! statt *
18 3 3
Lipschitz, Lehrbuch der Analysis. 1561
handelten niederen oder algebraischen im Gegen-
satz. Wie schwankend und unklar diese Gegen-
überstellung war, ergiebt sich recht deutlich
auch aus unserer Vorlage; muß doch auch in
den sogenannten höheren Galcul eine Menge
Algebraisches mit hinein verwebt werden *) und
war doch auch schon im ersten Bande die
Hereinziehung des Begriffes „Abgeleitete Funk-
tion" zur Notwendigkeit geworden! Wir be-
merken auch gleich, daß der Verf. zwischen
Differential- und Integralrechnung keine strenge,
äußerlich hervortretende Scheidung eintreten
läßt, sondern dem einleitenden Abschnitt über
das Differentiiren gleich die entsprechenden
Sätze über die inverse Operation des Integrie-
rens folgen läßt. Wir glauben nach eigenen
Erfahrungen diese Art des Vorgehens als die
zweckmäßigste bezeichnen zu dürfen.
Den Anfang des zweiten Bandes bilden ana-
lytisch-geometrische Reflexionen über geometri-
sche Oerter, von denen gleich eine Anwendung
auf die Bestimmung der Berührenden an ebenen
Curven gemacht wird. Der hiebei sich erge-
bende Ausdruck
f(x + h)-f(x)
wird näher untersucht und auf seinen Grenz-
werth geprüft. Es folgt die Ableitung der wich-
tigsten Differentialquotienten; bei der Bestimmung
*) Wir denken hierbei hauptsächlich an den schö-
nen Exkurs auf das sogenannte Hauptaxenproblem, in
welchem der Algorithmus des höheren Calculs selbst fast
gar nicht zur Anwendung kommt, und welcher deshalb
wohl auch ganz gut in den ersten Band hätte aufgenom-
men werden können.
1562 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 49.50.
von d (x — 5) : dx begnügt sich der Verf. nicty
wie so manche andere Autoren, das Versage*
der vorher entwickelten allgemeinen Method*
einfach zn constatieren, sondern er studiert <Ef
hier auftretende Unterbrechung der Stetigkeit
näher (S. 33 ff.) und gelangt so dazn , den bit-
her blos angedeuteten Begriff des mathematiscfc
Unendlichen in strikter Weise festzustellen &
42). Sehr angenehm wird es für die das Baüfi
benutzenden Studierenden sein, daß ab und t$
Beispiele sammt vollständiger Durchrechnung
gegeben sind (S. 50 für eine irrationale gebro-
chene Funktion). Die Differentiirung von t
und log x knüpft an an den Grenzwerth rot
1 n
(1 + -) , welcher durch Betrachtung einer Reiki
von Ungleichungen gefunden wird. Nacl
der erste Differentialquotient für alle eleme
ren Funktionen bestimmt ist, wird venni
der Differenzen verschiedener Ordnungen
den höheren Differentialquotienten überge,
(S. 86 ff.), und daran reiht sich unmittelbar
Integration, welche als Umkehrung derAufj
einen Differenzenquotienten zu bilden, den Grei
werth eines Summenausdruckes zu finden
Sowohl durch logische Erwägung, als
durch die geometrische Interpretation der S
menformel gelangt man zu der Ueberzeugung,
für jede Funktion von der Art, wie sie bi
vorkamen, die Integration möglich ist (§.
Als ein sehr instruktives Beispiel für die
lichkeit, eine solche Integration durch d'
Schlüsse und ohne Beihülfe der aus der
rentialrechnung herzuholenden Umkehrun
mein zu vollziehen, wird die Quadratur
beliebigen parabolischen Curve dienen,
in §. 24 geleistet wird. Erst jetzt wird
Lipschitz, Lehrbach der Analysis. 1563
gewiesen, daß das einen Sunimenaasdruck dar-
stellende bestimmte Integral mit dem anbe-
stimmten identisch ist, sobald in letzteres seine
Grenzen eingesetzt werden. Unter den die er-
stere analytische Form betreffenden Sätzen fehlt
anch nicht der für die Aaswerthang bestimmter
Integrale so wichtige Mittelwerthsatz (§. 26),
der durch die neueren Forschungen von F.
Meyer, Hankel, Du Bois-Reymond mannigfache
Erweiterungen erfahren hat. Der Taylor'sche
Lehrsatz, welcher in älteren, nach dem Lagrange'-
schen Vorbilde gearbeiteten Werken an die
Spitze gestellt zu werden pflegte, gelangt nun-
mehr, im III. Kapitel, zur Besprechung; man
begiebt sich bei diesem Arrangement allerdings
des Vortheiles, die hauptsächlichsten Differen-
tialquotienten auf anscheinend gleich bequeme
wie leichtverständliche Weise sich verschaffen
zu können, allein erstlich gewinnt man so eine
weit größere Strenge in der Behandlung jener
Grundlehren und zweitens ergiebt sich jetzt
Taylor's Beihenentwickelung zugleich mit ihrem
Restausdruck, ohne welche sie, wie dies bei La-
grange wirklich der Fall war, völlig in der
Luft schwebt. Die früher blos elementar be-
handelten Potenzreihen für #*, ax u. s. w. können
nunmehr als besondere Fälle der Maclaurin'-
schen Reihe erhalten werden; zugleich giebt
die Aufgabe, arc tang durch eine solche Reihe
auszudrücken, Gelegenheit, das einstweilen Nö-
thige über die Differentiation bei complexen
Variablen zu sagen. Kapitel IV. beschäftigt
sich mit der Lehre vom Größten und Kleinsten,
die durch gut gewählte Beispiele illustriert und
mit der geometrischen Theorie von den meht
oder minder innigen Oskulationen der Curven
in Beziehung gesetzt wird. S. 190 ff. ist vftw
1564 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 49. 50.
Krümmungskreis die Rede. Weiter gehört hier-
her die , im Verhältnis zu anderen Materie»,
wohl etwas zn kurz weggekommene AufgtJh}
den Werth der nnter unbestimmter Form
scheinenden Brüche zu bestimmen*), die „Um-
formung der Interpolationsformel von La
in eine von Newton herrührende Gestalt*
eine geistreiche Untersuchung über die bek
Crux der Metaphysik des höheren Galculs:
unendlichkleinen Größen von verschiedener
nung.
Bislang waren die Funktionen, mit de
sich der Verf. beschäftigte, nur von einer ei
gen unveränderlichen Größe abhängig. Glei
im Beginn des diese Beschränkung aufheben'
V. Kapitels wird der Leser in mustergültig«
Weise in eines der schwierigsten aber aud
interessantesten, dazu gerade von Herrn Li}*
schitz mit großem Erfolge bearbeitetes Kapitel
der mathematischen Principienlehre eingeföW>
nämlich die Lehre von den mehrfach ausgedebf»
ten Mannigfaltigkeiten **). Die in §. 46 gegeben*
*) Wie an manchen anderen Stellen kommt d*
Verf. auch hier auf die gleich im Anfang des antat:
Bandes behandelten Elemente der Grenzwerthreohniiif
(b. o.) zurück und zeigt, wie alles dort Gesagte numnak
von einem höheren Standpunkt aus gerechtfertigt *
scheint. Mit Recht erinnert er hier wie dort daran, <hi
dies Verfahren, einen Werth zwischen immer enger «i
enger zusammenzuziehende Schranken einzuschließen, Ar
Idee nach ein altgriechisches sei ; es ist eben die bfr
rühmte Exhaustionsmethode des Archimedes.
**) Zur Verdeutlichung wird hierbei angenomM
die ein und derselben Gruppe angehörigen Einzeldngt
stimmten jeweils mit den bezüglichen Individuen andfl*
Gruppen in allen Punkten überein; nur eine bestinuÄ
auszeichnende Eigenschaft, etwa die Farbe, trenne fit
Gruppen. Da die Mannigfaltigkeit der Farben jedoA
von anderen homogenen Mannigfaltigkeiten sich tSM
1
Lipschitz, Lehrbuch der Analysis. 1565
Erklärung des partiellen Differentiirens gestattet
den Beweis des Euler'schen Theorems von den
homogenen Funktionen, sowie eine neue Auf-
fassung der Unterdeterminante. Geometrischen
Anwendungen, d. h. der Tangentialebene und
Normale, sind die §§. 49 und 50 gewidmet, §.
51 giebt den analytischen Ausdruck für die Be-
grenzung einer nfach ausgedehnten Mannigfal-
faltigkeit. Auf den neuen und eleganten Be-
weis für die Relation
dxdy dy dx }
deren Richtigkeit an dem von Schloemilch ge-
brauchten geometrischen Bilde sozusagen ad
oculos demonstriert werden kann, durch Rech-
nung aber weit schwerer nachzuweisen ist, sei
besonders hingewiesen. Den Schluß des inhalts-
reichen V. Kapitels macht eine wesentlich com-
binatorische Untersuchung über die vollständi-
gen Differentiale und Differentialquotienten ver-
schieden hoher Ordnungen, die natürlich blos
mit Hülfe des polynomischen Lehrsatzes ge-
führt werden konnte. Das VI. Kapitel (§§. 54,
55) ist nur kurz; in ihm wird die Taylor'scbe
Reihenentwickelung auf eine arbiträre Anzahl
von Variablen ausgedehnt und auch die Newton'-
sche Interpolationsmethode entsprechend erwei-
tert. Eine nennenswerthe Bereicherung des üb-
lichen Lehrstoffes in der Theorie des Maximums
und Minimums stellt §. 59 dar, überschrieben
unwesentlich unterscheidet (vgl. Erdmann, Die Grund-
lagen der Geometrie), so wäre vielleicht die Wahl irgend
einer andern Eigenschaft zur Charakteristik der Gruppen
vorzuziehen.
1566 Gott. gel. Anz. 1880. ätück 49.50.
„Methode der unbestimmten Multiplikatoren",
Es ist diese Methode darauf zurückzufahren, dal
ein Zgliedriges System von der Form
k-l
dVk
df
^-^—^(- — ^1,1.-^»^
* = 1
dieselbe Determinante liefert, wie diejenige,
welche dem durch die totalen Differentiale
d(fi = ^ dxx -f- ^-% dx% + ••• + -^r-'dXn
dx1
dx
2
dx.
bestimmten Gleichungssysteme entspricht Für
die relativen Maxima und Minima werden, nach
eingehender Diskussion der für dieselben be-
stehenden Kriterien, interessante Beispiele bei-
gebracht. Es wird nämlich (vgl. oben) gezeigt,
wie man für Curven und Flächen der zweiten
Ordnung die Hauptaxen bestimmen kann, wo-
ran sich dann (S. 348 ff.) die Ossifikation der
quadratischen Mittelpunktsflächen schließt. Als
in dieses Kapitel gehörig definiert der Verf. die
Aufgabe so, daß der Ausdruck (x* + x* -f x%)
zu einem Maximum oder Minimum gemacht
werden soll, während zugleich eine willkürliche
quadratisch-temäre Form dieser drei Variablen
einen unveränderlichen Werth behält. Bekannt-
lich liegt der Schwerpunkt des Problemes in der
Ueberführung obigen Ausdruckes in eine Summe
aus drei anderen Quadraten, und diese Trans-
formation wird durch eine elegante Determinan-
tenbetrachtung geleistet. — Das achte Kapitel
behandelt die Geometrie der doppelt gekrümm-
ten Raumcurven einschließlich ihrer ßektifika-
Lipschitz, Lehrbuch der Analysis. 1567
on und Krümmungskreise; auch wird im An-
shluß hieran der Krtimmungskreis eines ebenen
lächenschnittes und das Krümmungsmaaß der
lachen behandelt; als Corollar ergiebt sich im
rsten Falle das Theorem von Meusnier, im
weiten dasjenige von Euler, welches den Krttm-
Qungsradius eines beliebigen Hauptschnittes
lurch die Werthe der beiden Hauptkrümmungs-
lalbmesser auszudrücken lehrt.
Inhalt des neunten Kapitels ist die Technik
les Integrierens für die verschiedenen Gattun-
gen der integrablen Funktionen. Die Integra-
ion der rational-gebrochenen Funktionen führt
iu einer nochmaligen ausführlichen Diskussion
les bereits früher eingehend erörterten Proble-
aaes der Partialbruchzerlegung. §. 69 zeigt, wie
man gleich von vornherein die vorgelegte Funk-
tion in zwei Theile zerlegen kann, deren Inte-
grierung resp. zu algebraischen und zu trans-
scendenten Ausdrücken gelangen läßt. Daß
diese Zerfallung, auf welche zuerst Hermite hin-
gewiesen zu haben scheint, in der ihr hier zu
Theil gewordenen Darlegung nicht bloß ein
Specimen gelehrten Scharfsinnes, sondern ge-
radezu von praktischer Brauchbarkeit ist, er-
kennt man (S. 409) an einem vollständig durch-
gerechneten Beispiel, dessen Erledigung nach
der üblichen, älteren Methode einige Seiten
früher verglichen werden kann. In kürzerer
Darstellung folgt die Integration irrationaler
und trigonometrischer Funktionen, soweit sich
dieselbe in geschlossenen Formen durchführen
läßt. Die Integration durch unendliche Reihen
wird besonders an der Auswerthung des ellip-
tischen Integrales erster Art spezialisiert. War
aber bis jetzt die Funktion, welche sich unter
dem Integralzeichen befand, für das durch die
1568 Gott gel. Anz. 1880. Stück 49.50.
Grenzen festgelegte Intervall endlich und stetig,
so bandelt es sich jetzt in den §§. 73 und
74 darum, die Definition des Integrales auch für
Funktionen mit einzelnen Unstetigkeiten and
Unbestimmtheiten sowie auch auf ein anendli-
ches Integrationsintervall auszudehnen. Gele-
gentlich dieser letzteren Aufgabe schiebt der
Verf. eine längere Diatribe über die Verglei-
chung der Verminderungsgeschwindigkeit einer
Potenz und einer Exponentialgröße ein, wofür
ihm der Lehrer der Analysis um so dankbarer
sein wird, als die bezüglichen Thatsachen zwar
häufig als selbstverständlich vorausgesetzt, kaum
irgendwo aber so gründlich analysiert werden
wie hier (S. 444 ff.). Mit Hülfe des in §. 75
mitgetheilten Satzes von der Differentiirung un-
ter dem Integralzeichen wird nun an gewisse
„ausgezeichnete bestimmte Integrale" herange-
treten; insbesondere werden die wichtigsten
Eigenschaften der Euler'schen Integrale abge-
leitet. Kapitel X enthält die Darstellung der
Funktionen durch trigonometrische Reihen, also
wiederum eine mit dem Namen des Verf. aufs
Engste verknüpfte Spezialdisciplin, insofern das
von Lipschitz aufgestellte Kriterium eben für
die Möglichkeit einer solchen Darstellung die
früher von Dirichlet angegebenen Bedingungen
erheblich verschärft und zugleich erweitert*).
Als ein mehr elementarer Auszug aus diesen
Untersuchungen ist besonders §. 80 und §. 81
zu betrachten. Im letzteren stellt sich die Not-
wendigkeit heraus, von einer zuerst durch Le-
*) Bezüglich der Lipschitz'schen Arbeiten über diese,
als besonders fein und schwierig anerkannten Fragen
kann man die Angaben von Sacbse (S. 246 — 248 des 8.
Heftes der »Abhandl. z. Gesch. d. Math.«, Leipzig 1880)
nachsehen.
Lipschitz, Lehrbuch der Analysis. 1569
jeune-Dirichlet hervorgehobenen Eigentümlich-
keit convergenter Reihen Notiz zu nehmen, daß
nämlich die Anordnung der Glieder anf den
Werth der Reihe nicht ohne Einfluß ist. Mit
Beachtung dieses Faktums gelingt es dann zu-
letzt, den Begriff der „unbedingt convergenten
trigonometrischen Reihe" festzustellen. — Im
nächsten Kapitel begegnen wir der Integration
totaler Differentialgleichungen, und zwar thut
der Verf. mit Berufung auf seine schon früher
(im Jahre 1868) publicierten Ergebnisse dar,
daß unter gewissen sehr allgemeinen Voraus-
setzungen die Möglichkeit, ein System gewöhn-
licher Differentialgleichungen vollständig zu inte-
grieren, immer bestehe, ja daß der Integration
eines solchen Systemes eindeutige Bestimmtheit
zukomme (§. 87). Daß bei den sich anschlie-
ßenden allgemeinen Betrachtungen über Integra-
tion und Integrationsconstante auch die Mannig-
faltigkeits-Terminologie vielfach zur Erläute-
rung beigezogen wird, braucht kaum gesagt zu
werfen. Eine sehr ausführliche Erörterung wird
den linearen Differentialgleichungen zu Theil;
schließlich wird als Beispiel die Gleichung
= öle
dt2 g
mittelst der — hier allerdings ohne diesen ihren
gewöhnlichen Beinamen auftretenden — hyper-
bolischen Funktionen integriert (S. 530 ff.*). —
*; Es wäre zu wünschen, daß auch von Seite unse-
rer Koryphäen das Beispiel gegeben würde, sich der in
Frankreich und England schon längst fast selbstverständ-
lichen Bezeichnung zu bedienen, welche der cykliseh-
goniometrischen Formelsprache nachgebildet ist, und den
99
1570 Gott. gel. Adz. 1880. Stück 49.50.
Eine sehr vollständige Theorie der doppelten
und dreifachen Integrale bringt das zwölfte Ka-
pitel. Den principiellen Auseinandersetzungen
ist zwar auch hier wiederum eine besondere
Beachtung geschenkt, indeß ist auch dem mehr
praktischen Theile und zumal den so vielseiti-
gen geometrischen Anwendungen ihr Recht ge-
worden. So findet sich S. 551 ff. die merkwür-
dige, angeblich von Cauchy herrührende, Eva-
luirung von
ß-*dx
— 00
mittelst stereometrischer Ueberlegungen. Bei der
Substitution neuer veränderlicher Größen in
einem mehrfachen Integral (§. 95) konnte natür-
lich auch die, übrigens bereits früher betrachtete,
Funktionaldeterminante nicht entbehrt werden.
§. 97 entwickelt ein generelles Theorem für die
Integration der von zwei Variablen abhängigen
Differentialausdrücke, und auf dieser Basis wer-
den die noch allgemeineren Integrabilitätsbe-
dingungen für eine größere Anzahl von verän-
schleppenden Exponentialausdrücken den Abschied zu
geben. Die von Herrn Lipschitz gegebene Schlußformel
nimmt sich in der folgenden (Gudermann'schen) Form
fe = *l(0)Cof[v^5T)(<-g] +
rb (0) ©in [V7^ (*_ *0)] . -^
gewiß weit übersichtlicher aus als in der Gleichung (41)
des Buches. Auch hat der complicierte Satz dieser Glei-
chung es verschuldet, daß sie mit zwei kleiuen Druck-
fehlern behaftet ist — nebenbei bemerkt, den einzigen,
welche uns außer den vom Autor selbst am Schlüsse
namhaft gemachten bei der Lektüre des zweiten Bandes
aufgestoßen sind.
Lipschitz, Lehrbuch der Analysis. 1571
derlichen Größen fixiert. §. 100 generalisiert
die in §. 95 nur für den speziellen Fall der
Oberflächen- und Körperintegrale durchgeführte
Transformation der vielfachen Integrale. — In Ka-
apitel XIV, dem letzten des umfangreichen ersten
Abschnittes, bildet die „Umkehrung eines Syste-
mes von Funktionen" das Thema. Hier hält es
der Verf. für geboten, die zweifachen Mannig-
faltigkeiten nach Riemann's Vorgang in einfach
und in mehrfach zusammenhängende zu sondern,
um so die eindeutige Umkehrung eines Syste-
mes von zwei Funktionen in bequemerer Weise
durchführen zu können. In §. 103 wird darge-
than, inwiefern dieses Umkehrungsproblem sich
auf die Integration von Differentialgleichungen
zurückführen läßt. §. 104 endlich hat es wie-
der mit geometrischen Anwendungen zu thun;
insbesondere wird der Ausdruck für das Quadrat
des Linienelementes in der Ebene wie im Räume
abgeleitet und mit Bezug auf den Begriff allge-
meiner krummliniger Goordinaten näher unter-
sucht. Weiter kann die höhere Analysis nicht
geführt werden, solange man sich im Bereiche
des Reellen bewegt, und so ergiebt sich die
Notwendigkeit, diesen Spielraum zu erweitern.
Das von Herrn Lipschitz beobachtete Verhalten
hat mit dem euklidischen System das gemein,
daß die Einführung neuer Begriffe und An-
schauungsweisen immer gerade dann eintritt,
wenn mit dem bis dahin verwendeten Materiale
Alles geleistet ist, was mit dessen Leistungs-
fähigkeit sich vereinbaren ließ, und wenn zu-
gleich alle Vorbedingungen zum Beweise neuer
Sätze parat liegen. Der zweite Abschnitt, „Dif-
ferential- und Integralrechnung für complexe
Größen" betitelt, hat in Folge dieser Einrichtung
des Ganzen verhältnismäßig leichteres Spiel,
99*
1572 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 49.50.
Es wird hier zuvörderst der allgemeine Be-
griff einer algebraisch-rationalen Funktion defi-
niert und gezeigt, was man unter deren Diffe-
rentialquotienten zu verstehen habe. Anschlie-
ßend daran wird der Funktionsbegriff auf com-
plexe Argumente überhaupt erstreckt und von
dieser Erweiterung Gebrauch gewacht zur Auf-
lösung der Aufgabe von der conformen Abbil-
dung. §. 107 erörtert die Behandlung solcher
Funktionen einer complexen Veränderlichen,
welche durch eine der vier Spezies mit einander
verknüpft sind, §. 109 lehrt die Differentiirung
von Funktionen, deren Argument selbst wieder
eine Funktion der complexen Variablen ist. Das
zweite Kapitel behandelt die Umkehrung einer
Funktion unter den jetzigen, allgemeineren
Voraussetzungen; §. 111 erledigt die einfache-
ren Fälle dieses Problemes, wogegen im näch-
sten Paragraphen die bei der Aufgabe, mittelst
der Gleichung
t -{- iu = (x + iy)n
(x + iy) a's Funktion von (t-\-iu) darzustellen,
hervortretende Vieldeutigkeit die Uebertragung
der Funktionswerthe auf eine Riemann'sche
Fläche fordert. Der Fundamentalsatz der alge-
braischen Gleichungen tritt nunmehr ebenfalls
in einer ganz neuen Gestalt wieder hervor. Ka-
pitel III integriert die Funktionen complexer
Variablen, und zwar giebt die Durchführung
dieser Forderung für eine Potenz Gelegenheit,
die bereits geläufigen Begriffe der logarithmiscben-
und Arcusfunktionen von einer ganz anderen
Seite kennen zu lernen. Hiemit in engster Ver-
bindung steht §. 119, worin gezeigt wird, daft
die elementare Wahrheit log (ab) = log a -\- log 6
Lipschitz, Lehrbach der Analysis. 1573
auch im Gebiete des Complexen noch zu Recht
besteht. Der Beweis wird dadurch geführt, daß
eine algebraische Relation zwischen gewissen
bestimmten Integralen angeschrieben und von
dieser aus auf eine ebenfalls algebraische Glei-
chung zwischen den oberen Grenzen jener Inte-
grale geschlossen ward. Man weiß, daß bei dem
Versuche, einen ähnlichen, bei den elliptischen
Integralen obwaltenden, Umkehrungsproceß zu
generalisieren, Abel auf die Conception seines
berühmten Universalgesetzes der höheren Ana-
lysis geführt ward. So kann es uns denn nicht
wundern, daß der Verf., den erwähnten Spezial-
fall zur Grundlage nehmend, in §. 120 den
A beliehen Satz selbst in seiner ganzen Allge-
meinheit in Angriff nimmt und auf S. 706 zu
einer neuen Fassung desselben durchdringt, de-
ren Wortlaut sehr zur Aufhellung und Verbrei-
tung dieses berühmten Theoremes beitragen wird.
Abstrakt ist das Raisonnement selbstverständlich
und muß es auch, der Natur der Sache nach,
sein, allein auf der anderen Seite ist es doch
auch von hohem Interesse, durch rein analyti-
sche und mit relativ einfachen Mitteln operie-
rende Betrachtung eine Theorie dargestellt zu
sehen, deren Inhalt dem Verständniß nur mit
Hinzuziehung geometrischer Interpretation bisher
zugänglich gemacht werden zu können schien.
— Kapitel IV nimmt das für reelle Funktionen
schon früher erschöpfend behandelte Problem
der Entwickelung in Potenzreihen von Neuem
unter Zugrundelegung complexer Veränderlichen
auf, und stützt sich dabei auf das bekannte
Theorem
«o - SÄ*>
1574 Gott gel. Anz. 1880. Stück 49.50.
durch dessen Aufstellung Cauchy dem grölen
durch Riemann vollzogenen Fortschritt in seiner
Weise bereits vorgearbeitet hatte. —
Wir hoffen, daß unsere Analyse des Lip-
schitz'schen Werkes den Leser über dessen rei-
chen Inhalt, dessen strenge Methode sowie auch
über einzelne hervorstechende Vorzüge in's Klare
gesetzt hat. Auch dem Anfanger keineswegs
unzugänglich, wird es doch seine volle Kraft
erst in den Händen jenes Studierenden entfal-
ten, der, mit dem — sit venia yerbo — hand-
werksmäßigen Theile des höheren Calcnls schon
hinlänglich vertraut, die Principien nnd den in-
neren Zusammenhang dieser Wissenschaft ken-
nen lernen will. Für solche Leser, denen wohl
auch ein sehr großer Theil der bereits in die
Lehrpraxis übergetretenen jüngeren Mathematiker
beizuzählen sein wird, dürfte kein zweites Hand-
buch so gute Dienste leisten, wie dieses, das
sich auch durch seine vornehme änßere Aus-
stattung vortheilhaft beim Publikum einge-
führt hat.
Ansbach. S. Günther.
Synthetische Studien zur Experi-
mental-Geologie. Von A. Daubräe, Mit-
glied des Instituts, General-Bergwerks-Inspector,
Director der National- Bergwerksschule, Professor
der Geologie an dem Museum für Naturwissen-
schaften zu Paris. Autorisirte deutsche Aug-
gabe. Von Dr. Adolf Gurlt. Mit 260 in
den Text eingedruckten Holzstichen und 8 Ta-
feln. Braunschweig, Druck nnd Verlag von Frie-
drich Vieweg u. Sohn. 1880. XXIII u. 596 S. 8°.
Daubrte ist als der erste zu nennen, der
Daubree, Synth. Stud. z. Experimental-Geol. 1575
<
seine Arbeitskraft vorzugsweise dem „geologi-
schen Experimente tf gewidmet hat. Vor ihm
ivar der experimentelle Weg nur selten be-
schritten worden, während Daubrße's Vorgehen
schon viele Forscher, zumal unter seinen Lands-
leuten, zur Nachfolge und zur speciellen Culti-
vierung der synthetischen Methode veranlaßt hat.
Gleich seine erste Arbeit: Memoire sur le gise-
ment, la constitution et Vorigine des amas de
minerai d'etain, annales des 'mines, 3. eerie, t.
XX. 1841 fand solche Anerkennung, daß der
Verfasser sich ermuthigt sah, den eingeschlage-
nen Weg der experimentalen Versuche weiter zu
verfolgen, um der Lösung geologischer Probleme
nahezukommen und um die Stichhaltigkeit vor-
handener Hypothesen zu prüfen. Von den Früch-
ten seines ausdauernden Fleißes konnte er in
ungefähr 130 größeren und kleineren Arbeiten
berichten, die in verschiedene Zeitschriften zer-
streut sind ; zusammengefaßt und z. Th. ergänzt,
dabei zugleich stofflich geordnet bietet sie
Daubräe nun in seinen „Etudes synthetiques
de Geologie Expörimentale", Paris, 1879—1880,
deren autorisierte deutsche Ausgabe dem Refe-
rate zu Grunde liegt. Diese deutsche Ausgabe,
um das gleich vorauszuschicken, ist von einem
als gewandter Uebersetzer anerkannten, sachlich
selbst interessierten Forscher besorgt und, trotz-
dem sie um die Hälfte billiger ist als die fran-
zösische, von der Verlagshandlung doch sehr
vorteilhaft ausgestattet und mit „genau den-
selben" zahlreichen Abbildungen geschmückt wie
das Original.
Nach dem Materiale zerfällt das Werk in
zwei Haupttheile, welche im Original auch zeit-
lich getrennt erschienen sind; der erste behan-
delt rein geologische Phänomene theils cherai-
1576 Gott gel. Anz. 1880. Stüek 49. 50.
scher and physikalischer, theils mechanischer
Natur, während der andere die „Anwendung
der experimentalen Methode auf verschiedene
ko8mologi8che Erscheinungen a zeigt und der Un-
tersuchung der Meteorite gewidmet ist. Theore-
tische Betrachtungen und Schlußfolgerungen feh-
len in dem Werke begreiflicher Weise auch
nicht und finden sich immer an die Referate
Über die Experimente geknüpft.
Lassen wir vor der Hand den Inhalt der
Einleitung außer Betracht und gehen wir sofort
auf den behandelten Stoff näher ein, über des-
sen Umfang man nicht nur durch das sehr aus-
führliche Inhaltsverzeichnis des Werkes, son-
dern auch durch ein Vorwort einen Ueberblick
erhält, so finden wir zunächst Erzlagerstätten
in Betracht gezogen. Nach einer Uebersicht
und Eintheilung der Erzlagerstätten nach ihrem
Bestände folgt die durch spätere Untersuchun-
gen ergänzte, schon angeführte Erstlingsarbeit
des Verfassers über Zinnlagerstätten, deren Bil-
dung der Verfasser, gestützt auf die Vergesell-
schaftung der Gang-Mineralien und auf die Re-
sultate synthetischer Versuche, der Einwirkung
von Fluor haltigen Dämpfen zuschreibt. Aehn-
liche Verhältnisse wie für Zinnstein gelten für
Titan- und Eisenoxyde (Rutil und Eisenglanz;
wohl einem Schreibfehler zu Folge wird, bei-
läufig bemerkt, auf S. 47 Kieselsäure als in
Wasser nach gewöhnlichem Begriffe .lösliche
Substanz" angegeben), ganz anders aber lie-
gen nach D. die Verhältnisse für Schwefelmetall-
und Bleilagerstätten; in meisterhafter Darstel-
lung berichtet er von dem Vorkommen (24 ver-
schiedener) neugebildeter Mineralien in den
Becken der Thermalquellen zu Bourbonne-les-
Bams und an anderen Orten und demonstriert
Daubree, Synth. Stud. z. Experimental-Geol. 1577
an ihnen in exacter Weise die Bedingungen ih-
ter Bildung. Zum Schluß dieses ersten Capi-
tis berichtet der Verf. ttber Versuche zur Dar-
stellung von polarisch-magnetischem Platin und
von Chromeisen in Vergesellschaftung mit ge-
diegenem Platin.
In dem 2. Capitel wendet Daubree seine Me-
thode auf ein Thema an, betreffs dessen Miß-
verständnisse nur zu leicht von Anfang an vor-
liegen und eine Verständigung deshalb oft und
so auch in diesem Falle schwierig erscheint :
nämlich auf die metamorphi sehen Ge-
steine. Man muß sich da zunächst klar wer-
den darüber: was begreift der Verfasser unter
Metamorphismus? Daubree dehnt diesen Begriff
weiter aus, als dies von der Mehrzahl der Geo-
logen geschieht und als wie gerechtfertigt er-
scheint. Beim Gontactmetamorphismus oder
Metam. durch Juxtaposition sind nach Meinung
des Referenten diejenigen Producte nothwendig
von einander getrennt zu halten, welche dem
Acte des Gontactes und diejenigen, welche nur
der eingetretenen Nachbarschaft zweier Gesteine
zuzuschreiben «sind ; als letztere müssen wohl in
der Mehrzahl der Fälle dieZeolithe, ferner Ghlo-
rit, Epidot u. a. m. gelten, welche durch gegen-
seitige Ueactionen der mit Mineralstoffen bela-
denen Gebirgswasser (Verwitterungslösungen)
entstehen, die im Gestein circulieren oder auch
von einem Gestein zum anderen ziehen, und er-
scheint es deshalb nicht gerechtfertigt, dieselben
in eine Kategorie mit den eigentlichen Contact-
mineralien wie Andalusit, Granat, Vesuvian
u. a. m. zu stellen; daß Daubree dies thut, ver-
wirrt die zu lösenden Fragen. Dieser schon
bei den viel einfacheren Verhältnissen des Con-
tact-Metamorphismus empfundene Uebelstand ist
~4_
1578 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 49. 50.
noch fühlbarer in der Darstellung des regiona-
len Metamorphismus : Prodncte der einfachen
und der complicierten Verwitterung wie der Ztx*
Setzung (nach Roth's Terminologie) gelten dem
Verfasser als durch einen einzigen oder dock
im Wesentlichen identischen Prozeß entstanden,
durch einen „hydrothermalen". Gestützt auf
Beobachtungen in der Natur sowie auf Versuche
über die Wirkung überhitzten Wassers bei- der
Bildung von Silikaten schreibt Daubröe bezüg-
lich des Contactmetamorphismus dem Wasser in
den Eruptivgesteinen folgende Rolle vor: „1.
Sobald es in Verbindung mit diesen Gesteinen
auftritt, verursacht es zusammen mit der Wärme
ihre Erweichung" (soll wohl nicht bedeuten, daB
die eruptiven Gesteinsmassen vor der Eruption
starr und fest gewesen seien, sondern daß da«
beigemengte Wasser die Magmen vor schneller
Erstarrung sichere und ihre „Erweichung" oder
ihren flüssigen Zustand länger andauern lasse;
der Ref.); „2. sobald es in dem Grade, wie sie
fest werden, aus ihnen entweicht, durchströmt
und metamorphosiert es die benachbarten Ge-
steine; 3. „sobald es bis an die Erdoberfläche
gelangt, entweicht es entweder als Dampf oder
in Gestalt von Thermalquellen". — Für die Be-
hauptung der Silikat-Bildung auf hydrotherma-
lem Wege aber führt der Verf. vier Punkte an:
„1) Die Bildung auf nassem Wege findet bei
Temperaturen statt, die unvergleichlich viel nie-
driger liegen als die Schmelzpunkte" ; da ist
zu bemerken, daß Schmelzpunkt und Erstarrungs-
punkt überhaupt einander nicht nothwendig ent-
sprechen müssen und daß letzterer nicht allein
durch die Gegenwart von Wasser, sondern aneb
von anderen Stoffen alteriert wird. „2) Die
wasserhaltigen Silikate zeigen sich in der N*
Daubree, Synth. Stud. z. Experimental Geol. 1579
tar oft in Begleitung von wasserfreien, so daß
sich beide unter analogen Bedingungen gebildet
zu haben scheinen a (doch sollen secundär ge-
bildete Gesteinsgemengtheile von primären im-
mer unterschieden werden!). w3) Der Quarz
ist außerordentlich häufig in der Natur. Wir
sehen nun aber, sobald das überhitzte Wasser
mit einer großen Zahl von löslichen und unlös-
lichen Silikaten in Berührung kommt, sich so-
gleich einen Theil Kieselerde ausscheiden und
zu einem echten kristallinischen Quarze wer-
den, der in nichts der glasigen Substanz gleicht,
welche durch Schmelzung des Quarzes erbalten
wird". Dem ist einerseits entgegenzuhalten,
daß es gelungen ist, auch aus Schmelzfluß „ech-
ten krystallinischen" Quarz zu erhalten , andrer-
seits daß die Quarze der Rhyolithe und Dacite
nichts davon verrathen, daß Wasser zu ihrer
Bildung nöthig gewesen sei. „4) Endlich sehen
wir statt gleichförmiger Massen, wie die Schmel-
zung sie gewöhnlich hervorbringt, in den Pro-
ducten des nassen Weges Gemenge verschiede-
ner krystallisierter Substanzen, deren Art der
Verwachsung, wie auch in den meisten Gestei-
nen, ganz unabhängig von den ihnen eigenen
Schmelzgraden ist". Ref. muß hier beifügen,
daß durch Schmelzung bei Weitem nicht immer
„gleichförmige Massen" resultieren, sondern auch
„Gemenge verschiedener krystallisierter Substan-
zen" , wie dieses schon die älteren Versuche
Bischofs und ganz unumstößlich die neueren
Experimente von Fouquä und Michel-Levy er-
kennen lassen; für die Structur ist eben die
Zeitdauer der Erstarrung und wahrscheinlich
auch der bei derselben herrschende Druck von
größter Wichtigkeit.
Im 3. Capitel behandelt Daubräe die vulca-
1580 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 49.50.
irischen Erscheinungen; auf den hier zunächst
geschilderten Versuch über die Möglichkeit einer
capillaren Infiltration von Wasser in poröse Körper
bei starkem Gegendrucke von Dampf, behält Be£
sich vor später zurückzukommen. Der Verf. siebt
diese Möglichkeit (und damit stillschweigend zu-
gleich die Wahrscheinlichkeit ihres gewöhnli-
chen Vorgangs) für erwiesen an und construiert
nun folgende Theorie der vulcanischen Kraft:
„Nehmen wir eine unterirdische Höhlung an,
die durch nicht ganz undurchdringliche Gesteine
von den marinen oder continentalen Wassern der
Erdoberfläche getrennt ist; ferner, daß diese
Höhlung so tief liegt, um eine hinreichend hohe
Temperatur zu haben44. Es wird dann das
Wasser der Erdoberfläche in diese Höhlang ein-
dringen, sich hier als Dampf ansammeln „und
seine Spannung könnte viel höher werden als
der hydrostatische Druck einer Flüssigkeits-
säule, die bis zu der Oberfläehe des Meeres
oder der Speisewasser reicht". Diese Einsicke-
rung des Wassers soll aber trotz dieses Druckes
weiter stattfinden und soll auf diese Weise „das
niedersinkende Wasser für den Druck auf La-
ven, die eine drei Mal größere Dichtigkeit be-
sitzen, sowie auch für ihr Aufsteigen bis weit
über sein eigenes Niveau, die Ursache werden (!!).
Im zweiten Abschnitte des 1. Theiles be-
trachtet der Verf. „mechanische Erscheinungen"
und zwar im ersten Capitel Zerrei bungs- und
Transporterscheinungen ; Daubree bietet hier
zweifellos sehr werthvolle Resultate von Versu-
chen über die Bildung der Geschiebe, des San-
des und Schlammes; obgleich dieselben nicht
mehr als neu zu bezeichnen sind (sie sind schon
im Jahre 1857 veröffentlicht worden), so schei-
nen sie doch wenig beachtet zu werden and sei
Danbree, Synth. Stud. z. Experimental-Geol. 1581
es deshalb gestattet, einige der wichtigsten hier
anzuführen: „Das Hauptproduct der gegenseiti-
gen Abreibung von festen Gesteinen im Wasser
ist nicht, wie man oft angenommen hat, Sand,
Bondern Schlamm". — Die Erscheinung, daß in
Flußbetten die Geschiebe von den Quellen nach
der Mündung zu in der Mehrzahl kleiner wer-
den, ist nicht allein der Abreibung zuzuschrei-
ben, sondern auch dem schwierigeren Trans-
porte der größeren Geschiebe gegenüber dem
der kleineren. — Die Körner des künstlichen
Sandes sind nur gelegentlich abgerundet; der
durch Zerreibung von Granit entstandene Sand
ist eckig und bleibt eckig. Durch Druck und
Reibung, wie unter der Last von Gletschern,
entstehen Sande von ungleich großem (anisome-
rem) und unregelmäßig geformtem Korne. Kalk-
stein liefert nur beim Zerfallen in situ Sand,
sonst nur Schlamm. Eine Abrundung von Ge-
schieben und isomeren Sandkörnern findet nur
dann statt, wenn sie hinreichend groß sind, um
nicht im Wasser suspendiert zu werden und*
auch wieder klein genug, um der Strömung zu
folgen. Die Größe von Körnern, welche in
sehr schwach bewegtem Wasser schwimmen
können, scheint etwa 0,1 mm mittlerer Durch-
messer zu sein; aller Saud, der feiner ist, wird
ohne Zweifel eckig bleiben. Demnach „haben
die von Wellen getragenen Sandkörner die Ten-
denz zu einer begrenzten Größe und diese Mi-
nimalgröße hängt bei Materialien von gleicher
Dichtigkeit von der Geschwindigkeit des Was-
sers ab, in dem sie abgerieben wurden. Daher
kommen die Sandsteine mit abgerundeten Kör-
nern, deren gleichmäßige Größe so auffallend ist".
Im nächsten §. dieses Gapitels finden wir
die durch fließendes Wasser bewirkten Aufbe-
1582 Gott gel. Adz. 1880. Stück 49.50.
reitungserscbeinungen an der Vertbeilang des
Goldes im Bette des Rheins demonstriert; be-
kanntlich schätzte Daubree 1846 den Gesammt-
werth des Goldes in dem Rheinbette zwischen
Rheinan und Philippsburg zn mindestens 115,
in der ganzen Oberrheinebene aber za 166 Mil-
lionen Francs. — Sehr wichtig für die chemi-
sche Geologie and mittelbar auch für die Boden-
Wirtbschaft sind die Resultate der im folgenden
§. geschilderten Versuche über die chemische
Zersetzung von Silikaten, wie des Feldspaths,
bei ihrer mechanischen Zerstörung: Feldspath-
bruchstücke mit destilliertem Wasser lange Zeit
in einer rotierenden Sandsteintrommel behan-
delt, erleiden eine merkliche Zersetzung, welche
sich in der Anwesenheit von Kalisilikat bemerk-
lich und das Wasser alkalisch macht; wie der
Verf. aber betont, müssen die mechanische Zer-
theilung und die Auflösung durch Wasser gleich-
zeitig erfolgen, um eine solche Zersetzung her-
vorzubringen. — Der letzte §. dieses Capitels
endlich betrifft einen Gegenstand, welcher in
neuerer Zeit wieder erhöhtes Interesse gewon-
nen hat, nämlich die Streif ung der Gesteine und
ihre Anwendung auf das erratische Phänomen.
Der Verf. hat „Scheuersteine" in Maschinen ge-
faßt und ihre Einwirkung sowie ihre eigenen
Formveränderungen während des Vorganges
selbst beobachtet; er kommt zu dem Resultate,
daß die Einwirkung der Gesteine auf einander
nicht allein von ihrer Härte, sondern auch von
ihrer Geschwindigkeit abhängig ist; diejenigen
Glacialisten, welche dem Eise und speciell der
Grundmoräne der Gletscher eine (respective
schlammige) Plasticität zuschreiben wollen, mö-
gen übrigens in Obacht behalten , daß nach
Daubree's Angabe nur in starrer Substanz ge-
Daubree, Synth. Stud, z, Experimental-Geol. 1583
faßte Scheuersteine mechanisch wirken können,
indem letztere sich in plastische Massen ein-
drücken und wirkungslos bleiben.
Das 2. Capitel handelt von Gebirgsstörungen
und Gesteinsspalten und berichtet von zahlrei-
chen Experimenten, deren Combination in den
wichtigsten Fällen nicht als glücklich bezeich-
net werden kann (s. u.). Innerhalb dieses Ca-
pitels ist auch von einem Versuche berichtet,
eine Spiegelglasplatte durch Torsion zu zer-
reißen und ist die dabei entstandene Ordnung
von Sprüngen in der Glasplatte mit derjenigen
von Spalten in manchen Schichtgesteinen ver-
glichen; ein solcher Vergleich erscheint auf den
ersten Blick ungeheuerlich in Anbetracht des
verschiedenen Materials nicht sowohl als viel-
mehr des mechanischen Prozesses, der Torsion;
die Ungeheuerlichkeit verschwindet aber bei
Erwägung des local ungleich vertheilten Druckes
(etwa durch Belastung) von vielen Schichtkör-
pern. Als ein gewiß werthvolles Resultat von
Daubree'8 Versuchen sei aus dem Inhalte dieses
Capitels noch das hervorgehoben, daß Klüfte
und Verwerfungen von sehr verschiedenen Rich-
tungen, und selbst senkrecht zu einander ver-
laufende, gleichzeitig durch eine und dieselbe
Kraft bewirkt werden konnten. Ferner ist die
Nomenklatur zu erwähnen, welche der Verf.
einzuführen versucht: nämlich: „Lithoklase" für
eine Gesteinsspalte im Allgemeinen, „Paraklase"
für eine von einer Verschiebung begleitete Zer-
reißung und „Diaklase" für eine Kluft ohne
Verwerfung. Die Abhängigkeit des Bodenreliefs
von der Gegenwart und Anordnung der Litho-
klasen wird durch einige beigegebene Detail-
karten illustriert.
In dem folgenden Capitel beschäftigt sich
1584 Gott. gel. Anz. 1880. Stock 49.50.
Daubräe mit der Schieferung der Gesteine, der
Verzerrung von Versteinerungen and gewissen
Stracturerscheinangen bei Gebirgsketten. Es ist
hier nöthig zu betonen, daß das, was der Verf.
von der Schieferung berichtet, sich wesentlich
nur auf die discordante Schieferung bezieht
Die Darstellung Daubree's ist dabei allerdings
derart, als ob Schieferung immer nur secandär
sei, d. h. in bereits festen Massen entstehe,
während doch für die Mehrzahl der geschiefer-
ten Gesteine die Annahme zunächst liegt und
nicht selten auch durch eingehende Forschung
gefestigt wird, daß der Druck , welcher die
Schieferung bewirkt, schon bei der Bildung des
Gesteins seinen Einfluß geübt und die lamella-
ren Gemengtheile planparallel geordnet hat, so-
wie daß die Gentripetalkraft diesen Druck ge-
liefert hat. — Der Verf. sucht nun die betreffs
der discordanten Schieferung maßgebenden,
schon von Sorby experimentell festgestellten,
allbekannten Thatsachen zu ergänzen. Nach
Daubree ist die Schieferung gewissermaßen und
einzig eine Fluidalstructur; die Bedingungen
ihrer Bildung sind: „1. daß die Substanz glei-
ten und durch ein beginnendes Plätten sich
verlängern kann ; 2. daß die comprimierte Masse
einen eigenthümlichen Grad von Plasticität be-
sitzen müsse; denn zu trocken zerreißt sie; zn
weich verlängert sie sich ohne Schieferblätter
zu bilden".
Das letzte Capitel dieses Theiles handelt von
der Beibungswärme in Gesteinen und kommt
der Verf. damit auf den Metamorphismns
zurück.
Der zweite Theil des Werkes zeigt, wie
schon angegeben, die Anwendung der experi-
mentalen Methode auf das Studium kosmologi-
Daubrfe, Synth. Stud. z. Experimental Geol. 1 585
scher, Erscheinungen, nämlich der Meteorite.
In der Einleitung dazu werden die Erscheinun-
gen beim Niederfall der Meteorite geschildert
und die Classification der letzteren nach ihrem
Bestände mitgetheilt, welche Classification von
der in Deutschland ziemlich allgemein angenom-
menen Rose'schen in verschiedenen Punkten ab-
weicht. Dieser Theil des Buches zerfällt in
zwei große Abschnitte: in dem ersten werden
die chemischen, im andern die mechanischen Er-
scheinungen behandelt.
Der Verf. versuchte mit Glück eine Synthese
der Meteorite und gelang ihm zunächst, durch
Schmelzung von den Eisenmeteoriten im Be-
stände entsprechenden Massen, die Widman-
8tätten'schen Figuren darzustellen. Nach Schmelz-
versuchen mit echten Steinmeteoriten ahmte er
solche auch durch Reduction irdischer Silikat-
gesteine, sowie durch theilweise Oxydation von
Siliciumverbindungen nach; betreffs der ge-
wöhnlichen Vergesellschaftung des Kohlenstoffs
und Schwefeleisens in Eisenmeteoriten aber ga-
ben seine Versuche wenigstens wichtige Finger-
zeige. — Das zweite Capitel dieses Theiles ent-
hält weniger Referate über Experimente, als
vielmehr theoretische Betrachtungen über die
Bildung der Erde und der Meteorite, sowie Ver-
gleiche irdischer Substanzen, resp. Mineral-Com-
binationen, mit denen der Meteorite. Auf alle
Einzelheiten dieses Gapitels einzugehen, gestat-
tet der Raum nicht; nur auf einen Punkt sei
fragend hingewiesen: nach Daubräe bilden Oli-
vin-Massen eine Kugelschale der Erdtiefe und
sind die Olivin-Individuen und -Knollen z. B.
der Basaltgesteine nur losgerissene und vom
eruptiven Magma mit in die Höhe genommene
Theile dieser Schicht oder Kugelschale; wenn
100
1586 Gott. gel. Adz. 1880. Stück 4& 5a
nicht Olivin als solcher zu Tage trete, dans
erscheine wenigstens ein Qxydationsproduct da-
selben, etwa ein Bisilikat (Enstatit); wie er-
klärt es sieh nun, daß manche jüngere Eruptiv-
gesteine äußerst arm an Bisilikaten und über-
haupt Magnesium-, resp. Eisenverbindu»gen sind?
Im zweite» Abschnitte finden wir Studien
über die kugelige oder chondritische Stroctnr
yon Meteoriten, über polyedrische für dieselben
charakteristische Formen (and ihre experimen-
telle Nachahmung mit comprumerteri Gasen),
sowie über die charakteristischen Näpfchen
(Daubree's „Piezoglypte", welche auch durch
Anwendung plötzlicher Hitze nachzuahmen sind),
endlich über polierte und gestreifte Rutsch-
flächen innerhalb der Meteorite seihet. Im
Schlußcapitel auch dieses Theils sind dann die
theoretischen Schlußfolgerungen aus den vorher
beschriebenen Experimenten« auf die Verhältnisse
der Meteorite zusammengestellt.
Werfen wir nun einen Blick zurück «nid be-
trachten das Werk als Ganzes, so wird vor
stehende, nur das Wichtigste hervorhebende In-
haltsangabe wohl schon genügend die unge-
meine Reichhaltigkeit desselben erwiesen haben;
aber das, Werk will nicht bloß als eine Znsani*
menstellung vieler werthvoller wissenschaftlicher
Daten gelten, sondern als ein organisches
Ganze den Werth der in ihm angewandten! ex-
perimentalen Methode erweisen* Wir kommen
damit auf das Thema der Einleitung des Ba-
ches zurück, in welcher der Verfasser die Ten-
deBz des Werkes darlegt und für die veo ihm
cültivierte Methode zu gewinnen sucht. Seinen
Worten kann man nur zustimmen, wenn er
da sagt: „Es ißt schließlich die Beobachtung
der Thatsachen in der Natur, die verbündet
mit Urtheilskraft und logischer Schlußfolgerung,
Daubrfo, Synth. Stud. z. Experimental Geol. 1587
uns diejenigen Kenntnisse verschafft, welche
wir beute nicht allein von der Zusammensetzung
der Erdrinde, sondern auch von vielen Abschnit-
ten ihrer Geschichte besitzen; ihre Bolle ist
unstreitig die wesentlichste in der Geologie.
So ausreichend die Methode der Beobachtung
ist, um zu aligemeinen Schlüssen zu führen, so
kann sie doch oft nicht gewisse Vorstellungen
oder eine wirkliehe Beweisführung ersetzen" ;
al» Bundesgenosse biete sich ihr alsdann das
Experiment. Mit dem letzteren kann man sich
„an viele Fragen wagen, wenn auch nieht um
sie vollständig zu lösen, so doch um sie wenig-
stens aufzuklären und ihre Lösung vorzube-
reiten". Also soll das Experiment nicht die
Beobachtung ersetzen, sondern nur stärken oder,
wie Chevreul gesagt hat: „der Versuch kommt
erst nach der directen Beobachtung, a posteriori,
um der Schlußfolgerung alsGontrole zu dienen".
Daubr6e will nun mit seinem Werke dem syn-
thetischen Experimente einen gesicherten Platz
unter den Methoden geologischer Forschung
eingeräumt wissen und hofft, daß die allgemeine
Pflege des Experimentes für die Wissenschaft
eine neue Epoche des Aufschwungs herbeifüh-
ren werde : „indem die Geologie sieh als Grund-
lage die Beobachtung und das logische Urtheil
bewahrt, muß sie auch noch experimental wer-
den; sie wird sieh dann, nach dem Worte von
Baco, aufklären „durch das Eisen und das Feuer
der Erfahrung".
Dieser von dem Verf. erklärte Zweck ist
nun eigentlich sehen und besonders in Folge
seines Vorganges erreicht, indem, wie bereits
angegeben, das synthetische Experiment in
neuerer Zeit allgemeinere Anwendung gefunden
bat als früher. Doch kann Referent der opti-
100*
1
1588 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 49.-50.
mistischen Verheißung Daubr&'s gegenüber
nicht unterlassen, bei der Pflege der experimen-
talen Methode auch eine strenge Kritik anzu-
empfehlen, sowie noch besonders auf ihre
Schwächen und Gefahren hinzuweisen.
Behält man nämlich immer im Auge, daß
das Experiment für die Geologie nur dann
Werth hat, wenn es die in der Natur direct
beobachtete, resp. aus den Beobachtungen durch
Schlußfolgerungen ermittelte Combination von
Verhältnissen wiederholt, so drängt sich dem
Forscher nur zu oft die Gewißheit auf, daß wir
in betreffenden Fällen und zwar zumal bezüg-
lich der wichtigsten Fragen experimentell
nichts ermitteln können, indem wir die
in Betracht kommenden Verhältnisse nicht nach-
zuahmen vermögen. Auch der erfinderischste
Experimentator, dem das Glück die Verfügung
über unbeschränkte Mittel, Maschinen wie Ma-
terial, gewährt, kann z. B. doch nur in ver-
schwindend spärlicher Menge einen Factor ein-
führen, der bei vielen geologischen Prozessen,
z. B. bei Schichtenfaltungen, in ungeheuren
Massen thätig und sicher von der größten Wich-
tigkeit ist: das ist die Zeitdauer.
Dann aber beut die Gultur des Experimentes
auch manche Gefahren, welche ein Mißtrauen
gegen dieselbe immer rechtfertigen werden.
Ganz abgesehen von der Exclusivität, mit wel-
cher manche Experimentatoren bei einem ge-
lungenen Versuche den von ihnen eingeschlage-
nen Weg (die von ihnen eingeführte Combina-
tion von Verhältnissen) als den von der Natur
nothwendiger oder einziger Weise befolgten
ausgeben, wird die wissenschaftliche Erkenn t-
niß von Seiten des Versuches oft dadurch be-
einträchtigt, daß stillschweigend im Experimente
Daubree, Synth. Stud. z. Experimental-Geol. lf>8!>
Verhältnisse statuiert werden, deren thatsäch-
liche Existenz beim natürlichen Vorgange durch
Beobachtungen keineswegs erwiesen oder nur
wahrscheinlich gemacht ist; in nicht seltenen
Fällen werden sogar beim Versuche Verhältnisse
combiniert, welche beim natürlichen Prozesse
sicher nicht vorliegen; endlich gehört es nicht
in den Bereich der Unmöglichkeiten, daß die
experimentell gemachten Beobachtungen und er-
haltenen Resultate ganz irrig und unrichtig ge-
deutet werden. Die in solcher Weise angeb-
lich experimentell bewiesenen Vorgänge sind
ein für das Gedeihen wissenschaftlicher Er-
kenntniß um so schlimmeres Gift, je größer die
Autorität des Experimentators ist, indem letztere
nur zu leicht eine ernste, eingehende Kritik
fernhält. Aber solche Kritik ist bei der Trag-
weite des experimentellen Beweises nirgends
nothwendiger als hier. Daß diese Uebelstände
wirklich vorkommen und daß die erwähnten
Gefahren der Wissenschaft drohen, das ist nicht
so schwer nachzuweisen und zwar selbst an
von Daubree ausgeführten Experimenten. Bei
seiner großen Reichhaltigkeit bietet das vor-
liegende" Werk eben auch Beweismaterial in
dieser Richtung.
Für die Thatsache, daß im Experimente zu-
weilen Verhältnisse combiniert sind, deren Ver-
bindung für den natürlichen Prozeß gar nicht
erwiesen oder nnr wahrscheinlich gemacht ist,
liefert Daubree schon in seiner ersten Arbeit
ein Beispiel. Wenn nämlich der Verf. daselbst
erst die Mineral Combinationen der Zinnerzgänge
und darnach die Methode schildert, durch welche
ihm einzelne Mineralien derselben wie Apatit,
Topas u. a. künstlich darzustellen gelang, so
will er doch wohl damit sagen, daß die Mine
ralien jener Gänge auf die angegebene Weise
1590 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 49. 50.
entstanden seien; dann hätten aber diese den
jetzigen Zinnerz-Gängen entsprechenden Spalt-
räume oder vielmehr die Spaltwände in Roth-
gloth, was den Topas betrifft, sogar in Weift-
glath stehen müssen: die geologische Wahr-
scheinlichkeit dieses Falles berührt Daubree
aber gar nicht. — Ein anderes Beispiel biete*
seine Experimente über Schichtenbiegungen.
Daubräe experimentiert nämlich mit Platten ans
Bronze, Zink, Eisen und besonders ans gewalz-
tem Blei, ferner Glas, sowie mit Wachs, ge-
mischt mit verschiedenen Substanzen wie Gyps,
Harz, Terpentin ; das sind alles Substanzen, de-
nen die geologischen Körper, die Schichtge-
steine, selbst bei Annahme eines „Pelomorphia-
mustf derselben, betreffs Tenacität und speziell
Elasticität schwerlich entsprechen. Dabei wa-
ren die untersuchten Körper nie in allseitigem
Gontacte mit ihresgleichen, sondern konntet
dem Drucke nach irgend einer Seite) wenn
auch bei einzelnen Versuchen nur in beschränk»
tem Maße ausweichen. Die natürlichen Verhält*
nisse waren also hier entschieden nicht richtig
nachgeahmt.
Daß aber selbst ein Forscher von Daubree's
Bedeutung im Stande ist, die experimentell er*
haltenen Resultate irrig zu deuten, das bezeugt
zunächst sein Versuch zur Herstellung von
Schieferung. Daubree preßte plastische Massen
(Thon) unter der hydraulischen Presse in der
Art, daß die Massen ausbiegen und ausflie-
ßen konnten und zwar durch eine in einer Me-
tallmatrize angebrachte Oeffnung von geringem
Querschnitte; die hinausgepreßten Masaen, Cy-
linder und Säulen darstellend, besaßen dann
eine Schieferung, deren Structorflächen dei
Seitenflächen der Cylinder oder Säulen, reap,
den Grenzflächen der Oeffnung innerhalb dar
Daubr6e, Synth. Stud, z. Experimeütal-Geol. 1 591
Met&Ihnatrize, parallel waren, also bei runder
Austrittsöffnung lauter concentrische runde Gy-
linderfläehen bildeten, bei rechteckiger Oeffnung
aber sieh auch anter rechten Winkeln und pa-
rallel den Säulenflächen schnitten. Statt nnn
schon durch diese der Form der Austrittsöffhung
entsprechende Anordnung der Schieferungsflächen
aufmerksam gemacht die Bedingung der Schie-
ferang in der Metallmatrize zu suchen, erblickt
Daubrfe ihren Grund im Acte des „Gleitens"
oder Fließens (siehe oben S. 1584). Wenn das
der wahre Grund wäre, so dürfte man erwar
ten, daß gegenäber den zuletzt geflossenen die
Sechsmal weiter geglittenen Partien der Cylinder
und Säulen eine sechsmal vollkommnere Schiefe-
rang aufwiesen! „Gleitflächentt in dem Sinne,
daß die verschiedenen concentriscben Cylinder-
oder Säulenschalen unter sich ungleiche Ge-
schwindigkeit besessen hätten und an einander
hingeglitten wären, sollen nämlich diese Schiefe-
rungsflächen nicht sein, denn Daubree berichtet
nichts Ton angleicher Bewegung. Nach Ansicht
des Referenten bewirkt nur der einseitig, resp.
seitlich einwirkende Druck der die Austritts-
ötfnung umschließenden Metallmatrize ebenso
die Schieferang wie die äußere Form der Cy-
linder und Säulen, entsprechend dem schon von
Sorby experimentell erwiesenen Gesetze, daß
blättrige Gemengtheile, durch deren Anordnung
eben Schieferung bedingt ist, ihre Blattflächen
rechtwinklig zur Richtung eines auf die plasti-
sche Masse wirkenden Druckes legen (resp. daß
bei nicht hinreichend plastischer Masse und wo
es an blättrigen Gemengtheilen mangelt, in glei-
cher Weise orientierte Absonderungsflächen ent-
stehen). Im Augenblicke, wo die plastische
Masse den Innenraum der Presse durch die Ma-
trize verläßt, wirkt aus der Ausfluß-Richtung der
1592 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 49.50.
geringste Druck , denn nach dieser Richtung
hin können die Massentheilchen ausweichen,
gleiten und fließen, von den Rändern der Aus*
trittsöffnung aber wird in diesem Augenblicke
der größte Druck ausgeübt, welcher Druck auch
den Cylinder oder die Säule formt, und dieser
Druck allein bewirkt die Schieferung. In der
Beziehung hat Daubree allerdings recht, daß
eine Substanz behufs ihrer Schieferung einen
gewissen Grad von Plasticität besitzen und sich
in der Eage befinden müsse, dem auf sie ein-
wirkenden Drucke seitlich ausweichen, also
„gleiten" zu können, aber dieses „Gleiten" ist
ebensowenig wie die Plasticität die Grundur^
sache der Schieferung, sondern der einseitige
Druck, welcher sich als solcher auch dadurch
erweist, daß er da, wo für eine vollkommene
Scbieferung nicht alle Bedingungen vorliegen,
wenigstens der Schieferung analoge Erscheinun-
gen (Absonderung) bewirkt, während ohne den
einseitigen Druck auch in plastischen und in
gleitenden Massen nichts derartiges auftritt
Einen Beweis für die Richtigkeit dieser Erklä-
rung liefern u. a. auch die mächtigen Innen-
lands • Eismassen Grönlands ; dieselben gleiten
einen in seiner ganzen Länge noch gar nicht
ermittelten Weg-, sie müssen also nach Daubrfe's
Ansicht eine ausgezeichnete Schieferung oder
analoge Absonderung parallel ihrer Flußrichtung
besitzen. Nach Kornerup's werthvollen, neuer-
dings veröffentlichten Mittheilungen (in Meddelel-
ser om Grönland, 1. Heft. 1879, p. 124; vergL
auch beig. Karte C) findet sich aber eine ent-
sprechend orientierte Spaltenbildung im Glet-
schereis nur dort, wo ein Gletscher, resp. ein
Gletscherarm, durch Felsenmassen seitlich ein-
geengt ist und gewissermaßen ein Felsen-Thor
(zwischen zwei „Nunatakker* a. a. 0.) passirt,
Daubree, Synth. Stud. z. Experimental-Geol. 1 593
wo also diese Felsmassen einen Drnck aus-
üben, dem das Eis nur durch Absonderung ant-
worten kann.
Ein anderes, noch drastischeres Beispiel ir-
riger Deutung liefert der Versuch, auf den
Daubräe seine vulcanische Theorie stützt (s. o.
S. 1580). Daubrte hatte ein Hohlgefäß (v), des-
sen Oeffnung durch eine aus Vogesen-Sandstein
bestehende runde Platte von 2 cm Dicke und
16 cm Durchm. in der Weise verschlossen war,
daß diese Platte zugleich den Boden eines oben
offenen Hohlgefäßes (e) bildete; das erstere,
luftdicht geschlossene Gefäß (v), die sogen.
Kammer, war in Verbindung mit einem Queck-
silbermanometer und konnte durch ein Ventil
auch dem Luftzutritt geöffnet werden; der ganze
Apparat aber war derartig construiert, daß er
im Ganzen möglichst gleichmäßig erwärmt wer-
den konnte. Wenn nun Wasser in das offene
Gefäß e gethan und der Apparat bei geschlos-
sener Kammer v erwärmt wird, so bemerkt
man „bald an dem Steigen des Manometers,
daß sich Wasserdampf in der unteren Kammer
(v) ansammelt Bei einer Temperatur von 160°
erreicht die Quecksilbersäule ungefähr 68 cm
Höhe, was ungefähr 1,9 Atmosphären-Druck
entspricht". Wenn man dann den Hahn (das Ventil
der Kammer) „ein wenig öffnet, um etwas Dampf
entweichen und die Quecksilbersäule einige Cen-
timeter fallen zu lassen, und ihn dann wieder
schließt, so stellt sich der ursprüngliche Druck
sogleich wieder her und das geschieht so oft/
als man dieses Spiel wiederholt Es findet dp
bei also eine wirkliebe Speisung statt und f
kann nur von dem Wasser in dem Gefäße 7
rühren, das durch das Gestein eingedrung^
trotz des Gegendruckes in der Darapfk;
Es muß noch bemerkt werden, daß das.
1596 Gott. gel. Adz. 1880. Stück 49.50.
nommen, wenn letztere seine Behauptungen be-
stätigten; andere dagegen and zumal ausländi-
sche finden nur selten Erwähnung. Dieser Uebel-
stand bringt es mit sich, daß man aus dem vor-
liegenden Werke im Allgemeinen nicht den Stand-
Eunkt der Wissenschaft zu den einzelnen be-
andelten Fragen ersieht, sondern nur erfahrt,
welcher Ansicht der Verfasser über dieselben ist
Damit wären wir von der Betrachtung der
experimentellen Methode zu Daubrees Werk zu-
rückgekommen; um aber das Referat über das-
selbe nicht mit einem Tadel schließen zu müs-
sen, erlaubt sich der Referent noch einen Um-
stand besonders hervorzuheben, welcher dem
trotz seiner Mängel hochzuschätzenden Werke
zum Schmucke dient: das ist die aus den mei-
sten Referaten zu erkennende feine Beobachtungs-
und Combinations-Gabe des Verfassers, welche
er nach Meinung des Ref. am Schönsten da be-
thätigte, wo er nicht über eigene Experimente,
sondern über direct in der Natur beobachtete
Verhältnisse (gewissermaßen von der Natnr aus-
geführte Experimente) berichtet; ich erinnere in
dieser Beziehung nur an die schon in seiner
Erstlingsarbeit enthaltenen Beobachtungen der
Mineral-Gombinationen von Zinnerzgängen, sowie
an diejenige der in Thermalquellen zu Bourbonne,
zu Plombteres u. a. 0. neugebildeten Mineralien,
0. Lang.
Einleitung in das Sprachstudium.
Ein Beitrag zur Geschichte und Methodik der
vergleichenden Sprachforschung von B. Del-
brück. Leipzig, Druck und Verlag von Breit-
kopf und Härtel. 1880. VIII und 142 SS. 8°.
(Indogermanische Grammatiken. Band IV).
Die vorliegende Schrift bildet einen Tfaeil
Delbrück, Einleitung in d. Sprachstudium. 1597
der im Verlage von Breitkopf and Härtel er-
seheinenden Sammlung indogermanischer Gram-
matiken and soll dazu dienen, „das Studium die-
ser Grammatiken and damit zugleich das Ver-
ständniß der vergleichenden Sprachforschung in
ihrer neuesten Gestalt zu erleichtern" (p. V\
Diesem Zweck entsprechend hat sich der Herr
Verfasser auf das Gebiet der indogermanischen
Sprachen und, wie erangiebt, auf die Laut- und
Flexionslehre beschränkt (p. V). In der That
aber hat er auch die Stammbildungslehre durch-
aus nicht unberücksichtigt gelassen, die, wie wir
von G. Meyer erfahren (Griecb. Gram. p. VIII),
nach dem Plane jener Sammlung (ebenso wie
die Syntax) von den einzelnen Grammatiken
ausgeschlossen ist — eine Ausschließung, die
man aber durchaus nicht billigen kann und an
die Whitney in seiner indischen Grammatik sich
mit Recht nicht gekehrt hat.
Delbrücks Schrift ist nicht für Sprachforscher
von Fach, „sondern wesentlich für diejenigen ge-
schrieben, welche aus der vergleichenden Sprach-
forschung kein Specialstudium machen" (p. VI).
Daß dieselben durch Delbrücks Darstellungen
ein überall deutliches Bild von der Art, wie wir
arbeiten, von den Zielen, auf die wir unser Au-
genmerk ganz besonders richten, von den Fra-
gen, deren Lösung uns mehr beiläufig beschäf-
tigt, erhalten werden, bezweifle ich, und gewiß
hat Delbrück der Besprechung einiger Hypothe-
sen einen größeren Baum überlassen, als mit
Rücksicht auf den nächsten Zweck dienlich war ;
dagegen gestehe ich unumwunden, daß ich Del-
brücks Beurtheilung der von ihm besprochenen
Personen und Lehrsätze, die übrigens selbstver-
ständlich nicht immer originell ist, meist sehr
ansprechend finde: sein Urtheil ist überall maß-
1598 Gott. gel. Am. 1880. Stück 49.50.
voll, er bemüht sich sichtlich überall unpartei-
isch za schildern und zn entscheiden, und wen
ihm das nicht an jeder Stelle gelangen ißt, wenn
z. B. sein VI. Kapitel hin und wieder zu einem
Plaidoyer für einige ihm benachbarte Gelehrte
wird, so wird ihm niemand das verargen, der
die dabei zn berücksichtigenden Verhältnisse
kennt
Die vorliegende Schrift zerfällt in einen hi-
storischen und einen theoretischen Tbeil; dort
(in vier Kapiteln) behandelt Delbrück Franz
Bopp, Bopps Zeitgenossen und Nachfolger bis
auf August Schleicher, Schleicher selbst und
endlich „neue Bestrebungen14, hier (in drei Ka-
piteln) die Agglutinationstheorie, die Lautge-
setze, die Völkertrennungen. — Mein allgemeines
Urtheil habe ich oben schon ausgesprochen, auf
wenige Einzelheiten gehe ich im folgenden ein.
„Nach einem Jahrzehnt — sagt Delbrück &
52 — wird die Umschreibung [der grundsprach-
lichen Formen] vielleicht wieder eine andere
Färbung angenommen haben, und es ergiebt
sich somit die Folgerung, daß die Ursprache
nichts ist als ein formelhafter Ausdruck fttr die
wechselnden Ansichten der Gelehrten über des
Umfang und die Beschaffenheit des sprachlichen
Materials, welches die Einzelsprachen aus der
Gesammtsprache mitgebracht haben. Mit dieser
Definition der -Ursprache ist zugleich die Frage
nach dem historischen Werthe der oonslrnierten
Formen entschieden41. Zulässiger wäre es ge-
wesen,, wenn Delbrück die Ursprache — deren
Wiederherstellung übrigens nach meiner Meimag
nicht nur eine unabweisbare Forderung, sonders
sogar das höchste Ziel unserer Wissenschaft ist
— als einen formelhaften Ausdruck des mit Rück-
sicht auf die und die Fragen wissenschaftlich
Delbrück, Einleitung in d. Sprachstudium« 1599
erkannten oder vermeintlich erkannten definiert
hätte; seine Aenßerung über den historischen
Werth der eoastruierten Formen würde dann
auch weniger absprechend geworden sein. So
wie die angeführten Sätze dastehen, können sie
den unerfahrenen allzu leicht zu oberflächlicher
Beurtbeilung wichtiger Bestrebungen und zn der
Ansicht verleiten, daß wir überhaupt noch zn
gar keinen feststehenden Resultaten gekommen
seien» — Aehnlich muß ich über andere Sätze
Delbrücks urtheilen, so über das, was er über
Aufstellung und Wiederherstellung von Wurzeln
sagt (SS. 76, 84) ; aber ich verzichte auf eine
Discussion desselben und bemerke nur, daß ich
es kaum für denkbar gebalten hätte, daß es ein
Sprachforscher für „Sache der Verabredung" er-
klärt, „ob man cpeQ sagen will, oder (poQ oder
(fat> oder endlich <?qu.
S. llö1) erkennt Delbrück eine Wirkung der
Analogie in dem „Dativ des Farticipiums Myom,
welcher durch die Verbindung mit X4y*rt*g9 M«
yavxa u. s. w. verhindert wurde zu Myova* zu
werden" und fügt hinzu „dieselbe Bewandtniß
hat. es mit *4qou und m*v%iu. Aber die Dative
Sg. coDSonantischer Stämme auf i = s* (G*
Meyer Gr. Gram. §. 345) machen Delbrück»
Annahme sehr zweifelhaft
S. 12ö ff. wendet sick Delbrück gegen meine
Ausführungen in diesen Anzeigen 1879 &652ÖV-
Was er sagt, ist indessen subjectiv und erschüt-
tert in keiner Weise meine a. a» 0. dargelegten
Ansichten und das Gewicht der Thatsachen, auf
welche sich dieselben stützen und welchen ich
hier noch zwei anreihen will: 1) Der Gote sagte
jpammuh, ßanuh gegenüber hvammeh, hvanöh\
wer erkennt hier nicht ein Schwanken zwischen
verschiedenen lautlieben Möglichkeiten ? Konnte
ein solches aber überhaupt stattfinden, so muß
1600 Gott gel. Adz. 1880. Stück 49. 50.
gerade der, welcher annimmt oder zugiebt, daft
eine Form tausend andere in ihre Analogie zie-
hen könne (vgl. S. 107), die Möglichkeit za-
geben, daß ein und dieselbe Lautgruppe in x For-
men eine, in y Formen aber eine andere Ent-
wicklung zeige. 2) Von einem Mädchen ans
der Gegend von Prökuls, mit dem ich täglich
litauisch spreche, höre . ich die Accuss. Sg. von
tos und käs oft tä und kä, meist aber tan und
kän (welche Form Kurschat auch aus Deutsch-
Erottingen kennt) und ebenso veskan sprechen,
nie aber höre ich in ihrer Aussprache einen an-
deren Accus. Sg. mit auslautendem n*). Wie
kann man dem gegenüber von ausnahmelosen
Lautgesetzen reden ? — Doch ich brauche diese
Frage nicht an Delbrück zu richten , da er S.
128 erklärt, „daß völlige Gesetzmäßigkeit des
Lautwandels sich nirgend in der Welt der ge-
gebenen Thatsachen findet".
S. 1321) bringt Delbrück einen Satz aus einem
Programm Sonnes in Erinnerung, für dessen
Mittheilung wir ihm dankbar sein müssen. Im
Anschluß daran erlaube ich mir die Aeußerun-
gen Sonnes E.Zs. 13. 41 5 ff. (über die Diektasis)
und 15. 112 Anm. 2 („z& KdotoQe, vediscber
Dual in voller Kraft"), Ebels ib. 1. 293 (avdqda
= nrshu\ A.Kuhns ib. 11.381 (über die Flexion
von broßar) hervorzuheben — Aeußerungen, die
neueren Arbeiten gegenüber mindestens von hi-
storischem Interesse sind.
Königsberg i. Pr. A. Bezzenberger.
*) In diesen Formen tan, kän finde ich ein Gegen-
stück zu mittelfrank. dat, voat a. b. w., deren von Ptul
aufgestellte Erklärung (s. S. 125 der vorliegenden Schrift)
ich nur als einen Gewaltakt bezeichnen kann.
Ffir die Redaction verantwortlich : E. Rehmach, Director d. Gdtt. gel.Au-
Verlag der DUUrich'achm Ytrkva-Buchhcmdtume.
Druck der DüUrtch'achm Univ.- Buchdruck*** (W **-. ffitfnfnir)
^^ ft' ' * S'
1601
Göttin fische
DEC 88 BW
gelehrte. Anzeigen
unter der Aufsicht
der Eönigl. Gesellschaft der Wissenschaften«
Stück 51. 22. December 1880.
Inhalt: J. M. S es tier, La Piraterie dans PAntiquite. Von R.
Werner. — E. I. Bekker, Das Recht des Besitzes bei den Römern.
Ton E. Holder. — E. Bernheim, Geschichtsforschung und Geschichts-
philosophie. Yon A. Stern. — Th. Nöldeke, Kurzgefasste syrische
Grammatik. Vom Verf.
™ Eigenmächtiger Abdruck von Artikeln der Gott. gel. Ana. verboten s
La Piraterie dans l'Antiquite. Par
J. M. S es tier. Paris, A. Maresq aine. 1880.
VII. 320 S. 8°.
Der Verfasser giebt uns die Geschichte der
Piraterie im Mittelmeere, als dem Gentrum des
antiken Völkerlebens, von den ältesten Zeiten
an bis zur Regierung Gonstantin des Großen.
Indem er sich die Aufgabe stellte, ihrem Ur-
sprünge nachzuforschen, ihre verschiedenen Er-
scheinungsformen in Betracht zu ziehen und
die Wandelungen zu erklären, die sie im Laufe
der Jahrhunderte unter dem Einflüsse der fort-
schreitenden Civilisation und infolge großer
weltbewegender Ereignisse erfahren hat, mußte
er in großen Zügen auch die Geschichte und
Geschicke der verschiedenen Mittelmeervölker
sehildern, da dieselben ohne Ausnahme im Pi-
101
1602 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 51.
ratenthum wurzeln tnd mit ihm langt Zeit auf
das engste verflochten bleiben.
Die 'Schifffahrt reicht in das höchste Alter
hinauf. Dr. Dümichen hat ans den Tertpd-
gräbern bei Saqara in der Nähe des Serapeums
Darstellungen von Seeschiffen copiert, die
dem 17 ten Jahrhundert v. Chr. angehören und
von andern Fahrzeugen, die noch 1000 Jahre
älter sind. Die verhältnismäßig große techni-
sche Vollkommenheit der ersteren läßt darauf
schließen, döß die alten Aegypter, reöp. Ptröfli-
cier schon viele Jahrhunderte früher die See
befuhren. Gleichzeitig mit der Schifffahrt trat
aber auch der Seeraub auf und lange Zeit deck-
ten sich beide Begriffe. Erstere war anfäng-
lich nur Mittel zum Zweck des Letzteren, der
seinerseits wieder ein Gebot der Notwendigkeit
wurde, um die Existenz der Küstenbevölkerun-
gen zu sichern.
In jenen Urzeiten, wo man Ackerbau und
seßhafte Lebensweise nicht kannte und die Aus-
beute der Jagd oft nicht vor Hunger schützte,
lebte jede kleine aus der Familie hervorgegan-
gene Volksgemeinschaft streng abgeschlossen
für sich. Sie betrachtete alle außerhalb ihres
Kreises stehenden Menschen als ihre Feinde
und ihren Besitz als gute Beute. Sich dieser
durch List oder Gewalt zu bemächtigen und
damit das eigene Leben zu fristen oder annehm-
licher zu gestalten, galt nicht nur für erlaubt,
sondern auch für ruhmvoll. Fanden in diesen
Umständen schon die ersten Landkriege ihre
Erklärung und Berechtigung — wie viel ver-
lockender mußte es nach Erfindung der Schif-
fahrt erscheinen, solche Raubzüge zur See zu
unternehmen, wobei weit weniger Gefahr drohte,
der Nachbar ungewarnt überfallen und die ge-
Sestier, La Piraterie dans l'Antiquit& 1603
rftetehte Beate ungefährdet fortgeschafft werden
könnte.
Es war deshalb nur natürlich, daß imAlter-
thum von allen Ktistenvölkern Seeraub betrie-
ben wurde und als erlaubtes Gewerbe galt, dem
kein Makel anhaftete.
Den meisten Sagen der mythologischen und
heroischen Zeiten liegen piratische Acte zu
Grande und sie waren Ursache vieler großen
Kriege jener Periode. Die Sagen von Bacchus,
die Argonautenfahrt, der trojanische, ja selbst
der peloponnesische Krieg — sie alle entspran-
gen aus Seeräubereien von Individuen oder von
Volk gegen Volk, und die alten Schriftsteller
haben für die von ihnen beschriebenen zu
Schiffe gemachten Züge mit ihren Gewalttaten
kein Wort des Tadels, sondern sehen in den
Thätern nur Helden. Es dauerte unendlich
lange Zeit, bis sich das Rechtsgefühl unter den
Völkern so weit herausbildete, um die Piraterie
vom Standpunkte der Moral aus zu verdammen.
Können wir es auch verstehen, wenn Homer
seine Helden Ulysses, Achilles, Nestor und an-
dere, „die mit ihren Schiffen das schäumende
Meer durchzogen, um Beute zu machen", darob
verherrlicht, so ist es uns doch schwer begreif-
lich, wie zur Zeit der höchsten Blüthe und Ci-
vilisation Griechenlands ein Schüler des Socra-
tes, der ebenso hochgebildete wie milde Xeno-
phon jenen verbrecherischen Seezügen noch das
Wort rederi konnte. „Nur eines Vortheils" sagt
der berühmte Historiker in seiner Geschichte
der athenischen Republik, „entbehrt Athen. Wäre
es atif einer Insel gelegen, so könnte es ohne
Furcht vor Repressalien seine Kaperflotten aus-
senden, soweit sich seine Herrschaft des Meeres
erstreckt".
101*
1604 Gott. gel. Adz. 1880. Stück 51.
Ja selbst noch Jahrhunderte später werden
von Rom aus die Piraten zwar energisch ver-
folgt, aber weniger, weil man sie als außerhalb
des Gesetzes stehend betrachtet, sondern weil
sie so mächtig geworden sind, daß sie das ganze
Italien in Schach halten. Wurde doch selbst
Cäsar von ihnen aufgehoben und mußte sich
mit 50 Talenten lösen. Freilich ließ er sie spä-
ter aufgreifen und sie, wie er ihnen während
seiner Gefangenschaft scheinbar im Scherze ge-
droht, sämmtlich an's Kreuz schlagen, aber eben-
falls nur, weil sie sich nicht gescheut hatten,
sich an seine Person zu wagen.
Eine juristische Qualification der Piraten als
Verbrecher finden wir zum ersten Male um das
Jahr 200 n. Chr. bei dem berühmten römischen
Rechtsgelehrten Ulpianus, welcher zwischen hostes
und praedönes unterscheidet.
Unter solchen Umständen war es erklärlich,
wie das Seeräuberwesen im Mittelmeere fco viele
Jahrhunderte lang eine große Rolle spielen und
Dimensionen annehmen konnte, von denen wir
uns heute kaum einen Begriff zu machen ver-
mögen; wie verschiedene Machthaber mit ihm
pactierten, um politische Erfolge zu erringen,
und wie mit Hülfe von Piratenflotten Schlachten
geschlagen und Siege errungen wurden, die auf
die Geschicke mächtiger Völker bestimmend Ein-
fluß übten.
An der Hand der Geschichte unternimmt es
der Verfasser, diese verschiedenen Phasen in
seinem Buche darzustellen.
Von allgemeinen Betrachtungen über die pri-
mitiven socialen Zustände der ^Menschheit aus-
gehend und den auf Schifffahrt begründeten
Sagenkreis kurz berührend, führt Sestier uns
die Völker selbst vor, welche im Alterthume die
Sestier, La Piraterie dans PAntiqnite. 1605
Mittelmeerküsten bewohnten und einander in
dem Streben nach der Gewalt auf dem Meere
ablösten.
Die Phönizier machen den Anfang. Seit
den frühesten Zeiten bis zu den medischen Krie-
gen sind es diese kühnen und unternehmenden
Seefahrer, welche allein das Meer beherrschen.
Im Norden dringen sie bis zu den Hyberboräern
vor und umschiffen im Süden Afrika. Sie holen
Gold yon Colchis, Silber aus Spanien, Zinn aus
England und Bernstein von der Ostseeküste,
aber sie füllen auch gleichzeitig die Sclaven-
märkte von Sidon und Tyrus mit der lebenden
Waare, die sie auf ihren Fahrten geraubt. Da-
bei gründen sie überall Colonien ; im Osten und
Westen erwachsen Tochterstädte und aus ihnen
Nationen, die mit dem Mutterlande um den Be-
sitz des Meeres ringen, um ihn schließlich zu
gewinnen.
Die nächsten Erben der Phönizier sind die
Griechen, ihnen folgen die Karthager, doch ne-
ben diesen großen Räubern existiert noch eine
Reihe kleinerer. Etrusker, Ligurier, Illyrier,
Carier, Cilicier — sie durchfurchen mit ih-
ren Kielen beutegierig das Meer. Von allen
Küsten, von allen Inseln aus wird Seeraub ge-
trieben, nur eine ebenfalls phönicische Golonie,
Rhodus, macht eine ehrenvolle Ausnahme. Sie
will nur auf friedlichem Wege gedeihen, be-
kämpft Jahrhunderte lang mit unbeugsamer
Energie die Piraten und weiß wenigstens die
Umgebung der Insel auf 20—30 Meilen Ent-
fernung von ihnen rein zu halten.
Nach den punischen Kriegen tritt Rom no-
minell die Herrschaft auf dem Mittelmeere an,
das sein Volk stolz als nostrum mare bezeich-
net, aber in Wahrheit besitzt es sie nicht. Es
1606 Gott gel. Anz. 1880. Stück 51.
versäumt an die Stelle dor vernichteten kartha-
gischen eine eigene genügende Kriegsflotte zu
setzen. Dieser Umstand nnd der Verfall der
Republik, die ihre Kraft in innern Kämpfen ver-
zehrt, lassen die Piraten in drohender Weise
ihr Hanpt erheben.
Mithridates macht sie im Jahre 88 v. Chr.
zu seinen offenen Alliierten gegen die Römer.
Von allen Seiten strömen sie ihm zu und anter
seiner Flagge werden sie der Schrecken des
Orients. Mit ihrer Hülfe entreißt er seinen Tod-
feinden die östlichen Provinzen und läßt an
einem Tage 100,000 Römer ermorden. Alle von
Rom abhängige Staaten fallen ihm zu, nur das
kleine tapfere Rhodus widersteht und nimmt
die römischen Flüchtlinge unter seinen Schatz.
Vergebens sacht der pontische König seine
Mauern zu brechen und die rbodische Flotte zu
vernichten; selbst zur See von dem so viel
schwächeren aber tapfern und gewandten Geg-
ner geschlagen, muß er unverrichteter Sache
abziehen. Bald darauf wird er von Sulla zum
Frieden gezwungen, verliert einen großen Theil
der eroberten Länder, muß 2000 Talente zahlen
und 70 Trieren ausliefern, aber die Piraten
sind damit nicht getroffen. Sie treiben nach
wie vor ihr unheilvolles Wesen und Roms blu-
tige Bürgerkriege erleichtern ihr Spiel. Von
ihrem Hauptsitze Gilicien aus beherrschen sie
nunmehr das ganze Mittelmeer , capern alle
Zufuhren für Italien, verwüsten dessen Küsten
und bedrohen Rom mit einer Hungersnoth. Da
endlich beschließt der Senat etwas gegen sie zu
thun. Er entsendet Murena und Dolabella, doch
sie richten nichts aus, und erst ihr Nachfolger
Publius Servilius ist glücklicher. In blutiger
Seeschlacht besiegt er die Cilicipr, erobert in
Sestier, La Piraterie dans l'Antiquite. 1607
dreijähriger Campagne in Eleinasien eine große
Zahl ihrer festen Plätze und zerstört ihr mäch-
tigstes Bollwerk Isaura, aber trotzdem gelingt
es ihm nicht, sie tödtlich zu treffen. Sie wech-
seln nur den Schauplatz ihrer Thätigkeit und
wählen jetzt Greta als Zufluchtsort. Der gegen
sie gesandte Marcus Antonius wird unter Ver-
last des größten Theils seiner Flotte von ih-
nen geschlagen und erst fünf Jahre später ge-
lingt es Quintus Metellus Greta zu unterjochen.
Er vernichtet die ihm von den Piratenadmirälen
Lasthenes und Panares entgegengestellten 24000
Mann, aber auch dies genügt keineswegs, dem
Unwesen zu steuern. Wie einer Hydra erwach-
sen dem Piratenthum immer neue Köpfe.
Auch daß Lucullus sich in Sinope 32 großer
Schiffe bemächtigte und 8000 Gorsaren tödten ließ,
verschlug wenig ; ihre Flotten zählten weit über
1000 Fahrzeuge, mehr als 400 Städte waren in
ihrer Gewalt, ihr Admiral Athenodoros erstürmte
fast unter den Augen des Lucullus Dolos, raubte
dessen Tempelschätze und führte seine sämmt-
liehen Bewohner als Sclaven fort.
Ihre Erfolge und die erbeuteten großartigen
Beichthümer machten die Räuber immer über-
müthiger. Die Hintertheile ihrer Schiffe strotz-
ten von vergoldeten Verzierungen, ihre Rie-
men (Ruder) waren versilbert, Purpurteppiche
schmückten die Verdecke. Sie machten die
verwegensten Angriffe auf die Italischen Küsten,
zerstörten die Villen der Reichen, nahmen Cä-
sar, Gladius, die Tochter des Marcus Antonius
und andere Patrizierinnen, Praetoren und sonstige
hohe Staatsbeamte gefangen, um schwere Löse-
gelder zu erpressen, verbrannten eine römische
Flotte im Hafen von Ostia und blockierten her-
metisch ganz Italien.
1608 Gott. gel. Anz, 1880. Stück 51.
Ein Nothscbrei ging durch das Land. Der
Tribun Gabinius konnte in Folge dessen 67 v.
Chr. ein Gesetz einbringen, das seinen Freund
Pompejus auf 3 Jahre mit unumschränkter Ge-
walt über sämmtliche Küsten des Mittelmeeres
bis 400 Stadien landeinwärts bekleidete. Die
römische Republik lag in den letzten Zuges
und die lex Gabinia war der erste Schritt zur
Dictatur und dem Kaiserreiche. Die Volksver-
sammlung bewilligte Pompejus nicht weniger
als 500 Kriegsschiffe, 120,000 Mann Infanterie
und 5000 Mann Cavallerie; alle Verbündeten
Roms wurden zur Hülfeleistung aufgefordert
und wieder waren es die Rhodier, welche be-
reitwillig die besten Schiffe stellten. Schon auf
die bloße Nachricht von den gewaltigen Rü-
stungen hin flohen die Piraten, aber entgingen
deshalb dem drohenden Schicksale nicht» Pom-
pejus überspannte mit seinen Flotten das ganze
Mittelmeer wie mit einem Netze und nach 40
Tagen waren die Räuber entweder vernichtet
oder in ihre Schlupfwinkel geflüchtet, nament-
lich nach Cilicien und Lycien. Doch Pompejus
folgte ihnen mit 60 schweren Schiffen dorthin
und führte den entscheidenden Schlag. In we-
niger als drei Monaten wurden durch seine
Truppen 10,000 Piraten getödtet, 20,000 zu Ge-
fangenen gemacht, 400 ihrer Schiffe genommen,
1300 andere in Grund gebohrt, ihre Arsenale
und Waffenplätze verbrannt und 120 ihrer fe-
sten Plätze und Zufluchtsorte erobert
Damit waren sie in's Herz getroffen. Rom war
jetzt endlich wirklich Herrin des Meeres und
zwanzig Jahre lang bis zum Tode Cäsars wag-
ten sich die Piraten nicht mehr hervor.
Fast erscheint es wie ein tragisches Ver-
hängniß, daß alsdann der Sohn desjenigen Man-
Sestier, La Piraterie dans l'Antiquite. 1609
lies, der mit so furchtbarer Energie das Corsa-
renthum vernichtet und damit der Civilisation
einen so großen Dienst geleistet hatte, es wie-
der zum Leben erwecken sollte. Sextns Pompe-
jus, der sich nach der Ermordung Cäsars Sici-
liens bemächtigte, strebte darnach sich zum
Herrn des Meeres zu machen und rief alle ver-
borgenen Piraten Afrikas, Asiens und Spaniens
zu sich. Bald gebot er über eine großartige
Flotte ; wiederum wurde ganz Italien blockiert
und Rom von einer Hungersnoth bedroht.
Octaviu8 trat ihm zur See entgegen. Drei-
mal blieb Sextus Sieger, ein viertes Mal ver-
nichtete ein Sturm fast sämmtliche Schiffe des
Octavius, trotzdem ließ er neue Flotten bauen
und fand in Agrippa den geeigneten Befehls-
haber für dieselben. Im Jahre 36 n. Chr. kam
es zur entscheidenden Schlacht; auf beiden Sei-
ten standen sich je 300 Schiffe gegenüber und
es wurde mit der größten Hartnäckigkeit ge-
kämpft, doch Sextus vollständig geschlagen. Er
rettete nur 17 Trieren und entkam nach Asien.
Noch einmal versuchte er dort, sich mit Hülfe
der Piraten die Herrschaft des Orients zu si-
ehern, aber das Glück hatte ihn verlassen. Von
Octavius gefangen genommen endete er zu Mi-
let unter dem Beile des Henkers.
Mit dem Tode des Sextus hatte das Piraten-
thnm die letzte Kraft eingebüßt und den Mittel-
punkt verloren. Seine zersprengten Theile wur-
den durch Octavius in Illyrien, Dalmatien, Epi-
rus, Griechenland und Kleinasien in ihre ge-
heimsten Schlupfwinkel verfolgt und erbarmungs-
los ausgerottet. Schlagfertige Kriegsflotten ver-
hüteten fortan die Wiederkehr dieser Pest und
unter dem Kaiserreich blieb das Mittelmcer 300
Jahre von ihr befreit. Handel und Verkehr
1610 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 51.
konnten sich frei entwickeln, und wenn man
auch dann und wann von vereinzelten pirati-
schen Handlungen hörte, so erhoben sie sich
doch nicht wieder zu größerer Bedeutung. Erst
mit dem Verfall des Kaiserreichs und Beginn
der Völkerwanderung geschah letzteres, bis Con-
stantin einen wirksamen Damm entgegensetzte,
die Verbreitung des Ghristenthums allmählich
mildernden Einfluß auf die Sitten zu üben be-
gann und den Anstoß zu der Entwicklung
eines humanen Völkerrechtes gab.
Indem der Verfasser noch die Rhodischen
Seegesetze einer Betrachtung unterzieht and
nachweist, daß dieselben in ihrer Vortrefflichkeit
bis zur neueren Zeit die Grundlage des See-
rechts der verschiedenen europäischen Nationen
bildeten, schließt er sein Buch mit dem Capitel
„La Piraterie et la Literature14. In ihm sucht;
er darzuthun, eine wie hervorragende Rolle die
Piraterie in den Werken der alten Schriftsteller
spielt, wie sie die Gemüther der Völker stets
lebhaft beschäftigt hat, und öfter sogar zum
Gegenstande öffentlicher philosophischer Discus-
sionen gemacht worden ist.
Der obige kurz skizzierte Inhalt des Buches
zeigt die Reichhaltigkeit des Stoffes. Der Au-
tor hat es verstanden bei einer erschöpfenden
Behandlung seine Darstellung in eine ange-
nehme Form zu kleiden. Nicht nur dem Ge-
schichtsforscher wird das Werk willkommen
sein und Nutzen bringen, sondern auch das ge-
sammte gebildete Publicum wird dasselbe mit
großem Interesse lesen und gern aus ihm das
Nähere über eine so merkwürdige Erscheinung
des Alterthums erfahren, die trotz ihres verwerf-
lichen und aller Moral widersprechenden Cha-
Sestier, La Piraterie dans l'Antiquite. 1611
rakters sich Jahrtaneende zu behaupten wußte
and in so furchtbarer Weise auftreten konnte.
Das Buch ist mit großer Sorgfalt geschrie-
ben; Styl und Ausdrucksweise sind vortrefflich
und fließend. Eine erfreuliche Wahrnehmung ist
es, daß der Franzose Sestier es nicht unter seiner
Würde gehalten hat, auch deutsche Forscher auf
diesem Gebiete zu Rathe zu ziehen. Unter den
von ihm benutzten Quellen führt er Mommsen,
Ukert, Tölke, Movers, Böckh, Humboldt und
andere an. Sein Quellenstudium ist überhaupt
ein sehr umfassendes gewesen und das Werk
ein Produkt ernster und sorgsamer Arbeit.
Um so auffallender ist es jedoch, daß einige
Male bei lateinischen Citaten ein falscher Casus
gebraucht werden konnte. Mag S. 143 in „in-
terdictum mari Antiati populo estu das mari
auch als Druckfehler gelten, so ist offenbar 8.
213 in dem Satze „Ce vieillard corycien — Co-
rycium senem dont Virgile fait Möge, 6tait un
de ces anciens pirates" der lateinische Ausdruck
irrthümlich in den Accusativ statt in den Nomi-
nativ gesetzt und ein Druckfehler ausgeschlos-
sen, da sich S. 245 dieselbe falsche Construc-
tion in dem Satze wiederholt: „le farouche pi-
rate cilicien devint l'heureux etpaisiblejardinier
— Corycmm senem — que chante Virgile4*.
Wiesbaden. B. Werner.
Das Becht des Besitzes bei den Bo-
rn ern. Festgabe an J. G. Bluntschli zum Dok-
torjubiläum von E. 1. Bekker. Leipzig, Breit-
kopf u. Härtel. 1880. 418 S. 8°.
Wenn Bekker seinerzeit die von ihm in der
1612 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 51.
Krit. Vierteljahrgschrift für Rechtsw. (Bd. 18 S.
1 ff.) besprochenen Brnns'schen Besitzklagen
schwer zu lesen gefanden hat, so wird man im
Gegensätze dazu seinem eigenen Besitzrechte,
dessen Vorläufer jene Besprechung war, nach-
rühmen müssen, daß von allen seit Savigny er-
schienenen Behandlungen dieser so oft in An-
griff genommenen, aber immer noch nicht über-
wundenen Materie außer derjenigen Jherings
sich keine so leicht liest als die seinige. Auch
inhaltlich aber stehen sich Bruns und Bekker
so sehr als Antipoden gegenüber als dies auf
dem gemeinsamen Boden historischer Rechtsbe-
trachtung überhaupt möglich ist. Es wäre keine
undankbare Aufgabe dem Gegensatze zwischen
zwei einander so nahe stehenden Rechtsforschern
nachzugehen in Beziehung auf das Streben nach
praktisch unmittelbar verwendbaren Resultaten,
in Beziehung auf die Auffassung unseres Ver-
hältnisses zum römischen Rechte wie auch be-
züglich des Verhaltens zu den verschiedenen
Entwickelungsstufen und Documenten des römi-
schen Rechtes selbst; für diesmal gedenkt aber
Referent seiner Aufgabe über Bekkers neuestes
Werk zu berichten so schlicht als möglich nach-
zukommen.
Der erste § des Buches hat zur Ueberschrift
den noch immer und vielleicht auf immer mit
dem „Recht des Besitzes" aufs engste verfloch-
tenen Namen und bringt über den Träger die-
ses Namens einige gewiß nahe liegende aber
doch bis jetzt in dieser Weise kaum ausge-
sprochene Betrachtungen. Ebenso hübsch als
zutreffend bezeichnet es B. als einen freilich un-
vermeidlichen Uebelstand, daß Savigny nicht
unter Savigny studiert hat, weshalb er selbst
noch tief in demselben Rationalismus drin stecke,
Bekker, Recht des Besitzes. 1613
von dem uns zu befreien das unsterbliche Werk
seines Lebens gewesen ist. Den Stand der
Besitzlehre seit Savigny (§. 2) über-
blickend constatiert B. unseren Fortschritt im
Historischen wie bezüglich des praktischen De-
tails, welchem bezüglich der „rein theoreti-
schen Fragen0 nur unfruchtbare «Zirkelsprünge"
gegenüber stehen. Als Grund dieser Resultat-
losigkeit wird der der verschiedensten Deutun-
gen fähige und darum nie recht zu fassende
Grand des Besitzschutzes (§.3) insAuge
gefaßt, sowie darauf (§. 4) der vielfach als
selbstverständlich hingestellte Satz , daß aus Un-
recht kein Recht erwachsen könne; derselbe
stellt sich dabei als ein mit dem wirklichen
Rechte im grellsten Widerspruche stehendes Vor-
urtheil heraus. In der Frage sodann, ob ius
oder factum (§ 5) findet der Verf. die 3 Fra-
gen enthalten, ob der für den Juristen existie-
rende Begriff des Besitzes auch für den Laien
existiere, ob der Besitz als Zustand zu definie-
ren sei und ob die Besitzfolgen ein Recht aus-
machen oder nicht. In §. 6 folgt eine Ueber-
sicht der Besitzarten und Besitzfolgen
vor der Einführung der Interdicte. Nach einer
allgemeinen Uebersicht der Besitzfolgen betrach-
tet der Verf. successiv die Verpflichtung
zur Elagübernahme (§.7), sodann speciell
zur Uebernahme der Noxalklagen (§. 8 mit
einem beachtenswerten Excurs über die dop-
pelte Haftung des Gewalthabers und des der
ductio ausgesetzten Schuldigen), ferner den Be-
sitz an Menschen (§.9), worauf der Besitz
als Leistungs object (§. 10) folgt. Der
Verf. constatiert als Leistungsobject neben den
Extremen des dare und des restituere die mittlere
Gruppe eines dem Empfänger zu verschaffenden
1614 Gott, gel Anz. 1880. Stock 5l
habere, das den als possessio bezeichneten Be-
ziehungen zu Sachen recht ähnlich sehe. Aafe
kürzeste wird der von den Magistraten
verliehene Besitz (§. 11) angesichts seiner
notorischen Unähnlichkeit mit dem Interdicten-
besitze erledigt. Ausführlicher wird der Er-
sitznngsbesitz (§. 12) bebandelt, nm seine
Differenz vom Interdictenbesitze zu constatieren.
Unter den über die causa gemachten Bemerkun-
gen ist dem Referenten aufgefallen, was über
den Titel pro derelicto gesagt wird, der Name
nenne die causa adquirendi entschieden nicht
und anstatt diesem Namen entsprechend bei feh-
lender Dereliction den Titel fehlen zn lassen,
wäre es correcter gewesen, „die Ignoranz des
störenden Eigenthums bei der Occupation mit
der Unkenntniß der Rechte Dritter beim Kauf
und anderen zweiseitigen Erwerbsgesohäften
gleichzustellen". Allerdings nun hat die usu-
capio pro derelicto etwas Eigenartiges und kann
man sich fragen, ob beim Erwerbe durch Occu-
pation überhaupt von einem Erwerbstitel die
Rede sein könne; immerhin aber ist die Preis-
gebung der Sache durch den Vorbesitzer das
einzige hier denkbare Analogon des sonst ge-
forderten Erwerbstitels und kann der Fall irr-
thümlich angenommener Preisgebung nicht dem
dies irrthümlich angenommenen Eigenthums, son-
dern nur dem der irrthümlich angenommenen
Ueberlassung parallelisiert werden.
An die Rechtsfolgen des Besitzes reiht der
Verf. die der Besitzergreifung, wobei er mit
Recht den Charakter der Tradition als eines
Bealvertrages betont, aber schwerlich mit glei-
chem Rechte daraus den Satz ableitet: „Hand-
lungsfähigkeit und Veräußerungsfähigkeit des
Gebers müssen nur im Augenblicke der von ihm
Bebkür, Recht des Besitzes, 1615
abzugebenden Uebertragungserklärung nicht auch
in dem des Besitzerwerbes des Nehmers vor-
handen sein".
An die angegebene Musterung der Besitz-
arten und Besitzfolgen reiht sieh naturgemäß
die Frage, in welcher dieser Bedeutungen den
Besitz zn schützen die Aufgabe der Interdicte
war; denn daß diese an irgend eine der von
ilmen vorgefundenen Bedeutungen des Besitzes
sich angeschlossen haben, wird mit Recht voraus-
gesetzt. Daß nun speciell die interdicta reti-
nendae possessionis den die Rolle des Beklagten
verleihenden Besitz im Auge hatten, wird na-
mentlich dadurch bewiesen, daß sie einen ande-
ren Besitz nicht wohl im Auge haben konnten;
jenen gegenüber wird das i de vi als ^etwas
weniger glücklicher Vorläufer*4 aufgefaßt Als
Unterstützung der vorgetragenen Hypothese wird
außer der eigenen Tradition der römischen Ju-
risten namentlich geltend gemacht, wie leicht
verständlich von ihr aus sowohl das Erfordere
niß des nach Person und Sache möglichen Eigen-
tums als die absolute Trennung der Besitzfrage
von der Frage des Eigentbums und des Er-
werbsgrundes ist. Dad i. de prec0 scheidetauch
Bekker aus der Zahl der Besitzinterdicte aus;
er findet es zweifellos, „daß die Entstehung der
Klage von der vertragsmäßigen Einräumung,
nicht von der quasidelictsartigen Vorenthaltung
datiert". Was nun den Thatbestand des diel
possessorischen Interdicte gewährenden Besitzes
atigebt, so war zunächst der erforderliche ani-
mus nach B. ursprünglich „nichts anderes ab
die Absicht im corpus possessionis sich zu be-
bebaupten, so lange wie das Recht nur irgend
gestattet, wenn es sein muß also auch die Vin-
dikation zn übernehmen". Was den „abge-
1616 Gott gel. Anz. 1880. Stück 51.
leiteten" Besitz betrifft, so verneint B. die Gleich-
heit des Pfandbesitzes mit dem Eigenthnmsbe-
sitze, indem jener von den Römern nnr deshalb
nicht als Rechtsbesitz gedacht worden sei, weil
zur Zeit seines Aufkommens „das pignns selber
keine genügende Anerkennung als dingliches
Recht gefunden hatte". Mit Recht findet er es
verwunderlich, wenn z. B. der Pfandgläubiger
dem Verpfänder gegenüber possessorisch ge-
schützt werden sollte in der Ausübung der am
verpfändeten Teich ihm gar nicht zustehenden
Fischerei. Auch im Prekaristenbesitz ist B. ge-
neigt eine Art Rechtsbesitz zu finden, der nur
gleich dem ihm correspondierenden Rechte nicht
zur ausdrücklichen Anerkennung als solcher ge-
langt sei. Dagegen läßt B. die Natur des dem
Sequester zustehenden Besitzes dahin gestellt
sein. Bezüglich des corpus nimmt B. zwei frei-
lich nie hinreichend „hart aneinander gestellte0
Theorien an, deren eine die possessio als Zu-
stand erfaßt habe, während nach der anderen
der durch den entscheidenden Vorgang possessor
Gewordene es ohne Weiteres bleibe bis zum
Eintritte eines die entgegengesetzte Wirkung
äußernden Vorgangs. Anstatt den Gegensatz
dieser beiden Theorien sowie die verschieden-
artige theils präjudicielle theils vorwiegend re-
cuperatorische Tendenz der intretinendae possess,
zu beachten und diese demgemäß in zweierlei
Rechtsmittel zu zerlegen, „haben die Römer
vielmehr noch eine Verschmelzung zweier biß
dahin getrennter Thatbestände vorgenommen8,
nemlich des zur usucapio und des zu den Inter-
dicten berechtigenden Besitzes.
Unter Uebergehung verschiedener vom Ver£
berührter und geförderter Fragen wenden wir
uns sofort zum Gesammtbilde, welches er vom
r
Bekker, Reiebt $w Blitzes. 1617
Pognja der römischep Juristen zeichnet. Nach-
-Vlejfu fängst der Besitz als ein uraltes aber in
seinem Bestände wie in seinen Folgen sehr un-
bestimmtes Etwas bestanden hatte, führt der
Pxätor ein neues an eine Besitzart anknüpfen-
de« Rechtsmittel ein zur Constatierung sowie
.fttym vorläufigen Schutze des die Beklagtenrolle
verleihenden Besitzes. Zum Gewinn jener Bolle
find der Sicherung gegen Störungen kommt
4urch die exceptio vitiosae possessionis die Mög-
lichkeit der Wiedergewinnung entzogenen Be-
sitzes ; zugleich gestalten sich die Interdicte ver-
schieden für Immobilien und Mobilien. Das
Werk der Juristen ist dann die — natürlich
nicht absolute — Unificierung des Besitzes, die
jedoch keineswegs durchweg in befriedigender
Weise vollzogen wird; so bedeutet derselbe
Ausdruck den redlichen Besitzer und den red-
lichen Erwerber sowie den Usucapienten und
den von der Usucapion ausgeschlossenen redli-
chen Erwerber. Vor allem aber ist nicht zur
Entscheidung gelangt die Grundfrage, ob der
Thatbestand des Besitzes einen gleichmäßig
durchbleibenden Zustand oder einen einmaligen
Vorgang fordert. Nehmen wir aber letzteres
an, so fehlt es wieder an hinreichender Be-
stimmung sowohl der besitzerzeugenden als der
besitzzerstörenden Vorgänge. Am schwersten
aber wiegt der Vorwurf unterlassener Scheidung
von Thatbestand und Rechtfolge. „Alles in
Allem: Recht und Lehre von der possessio) wie
die erhaltenen Quellen diese auf uns gebracht,
werden wir begreifen und darum verzeihen,
aber nicht billigen und noch weniger festhalten
flflrfen".
Den letzten § des Buches bildet die Präci-
sierung der an die Gesetzgebung zu stellenden
102
1618 Gott gel. Anz. 1880. Stück 51.
Forderungen, weniger im Sinne bestimmter die
materielle Gestaltung des Besitzrechtes erschöpfen-
den Vorschläge als im Sinne einer Formulierung
derjenigen Principien, zwischen welchen die Ge-
setzgebung wird zu wählen haben. Präcision
und Gon8equenz ist es vor allem, die der Verf.,
wie er sie an den Römern vermißt, so von un-
serem Gesetzgeber fordert.
So wäre denn das Resultat des Buches ein
vorwiegend negatives und zw. ein negierendes
nach mehr als einer Richtung, indem es verneint
sowohl die Brauchbarkeit des römischen Rechtes
für uns als auch die harmonische und conse-
quente Ausgestaltung des römischen Rechtes
selbst und endlich verneint die Berechtigung
der so oft vergebens gestellten Frage nach dem
„Grunde des Besitzschutzes" in dem gemeinhin
damit verbundenen Sinne. In allen diesen drei
Verneinungen wird aber ein unbefangener Beob-
achter schwerlich umhin können dem Verf. Recht
zu geben. Auch derjenige aber, welcher ver-
neinende Resultate nicht glaubt als wirkliche
Resultate ansehen zu dürfen, wird doch das
vorliegende Buch nicht als ein resultatloses be-
trachten können, da es über die historische Ent-
wickelung des römischen Besitzrechtes höchst
beachtenswerte Ausführungen bringt. Freilich
könnte mancher auch deren positive Resultate
mit dem Schlagworte abthun wollen, daß es sich
hier nicht um Facta, sondern um Hypothesen
handle. Es hieße aber Eulen nach Athen tra-
gen von der Unentbehrlichkeit der Hypothese
für die Wissenschaft reden zu wollen, und des
Verf. Hypothesen, deren keineswegs aller in
diesem kurzen Berichte gedacht werden konnte,
sind durchweg, um es mit einem Worte zu sa-
gen, so gesunder Natur, daß der Boden, auf dem
Bernheini, Geschichteforsch, a. Geschichtsphil. 1619
sie gewachsen sind, den weiteren Anbau reich-
lich lohnen wird. Und jedenfalls wird der Verf.
Hecht behalten mit seiner Schlußbemerkung, daß
es leichter sein werde „über das hier Gebotene
weiter hinauszukommen als zurückzukehren hin-
ter den Summenstrich, den ich gezogen".
Erlangen. £. Holder.
Geschichtsforschung und Geschichts-
philosophie von Dr. Ernst Bernheim,
Privatdozent der Geschichte in Göttingen. Göt-
tingen 1880. Verlag von Robert Peppmüller.
138 S. 8°.
In diesem kleinen, vorzüglich geschriebenen
Werke stellt sich der Verfasser die Aufgabe,
„die inneren Gründe jener Entfremdung zu er-
kennen, welche in immer höherem Maße zwi-
schen Geschichtsphilosophie und Geschichtsfor-
schung eingetreten sei und dadurch klar zu le-
gen, unter welchen Bedingungen dieselbe be-
seitigt werden könnea. Er wirft zu diesem
Zweck zuerst einen Blick auf die allgemeine
Geschichtsauffassung der verschiedenen Zeiten
und zeigt, wie sich die Geschichtswissenschaft
von niederen Anfängen aus zu dem erhoben
hat, was sie heute ist. Auf eine Epoche, in der
die Grenzen von Poesie und Geschichte noch
ineinanderlaufen, folgte, nach seiner wohl an-
nehmbaren Eintheilung, diejenige, in der die
reine, naive Erzählung vorherrschte, alsdann
diejenige, in der sich mit der Erzählung ein
praktisch-lehrhafter Zweck verband, endlich die-
jenige} in der man sich bestrebte, „in demVer-
102*
1680 Glitt, gel. Ans. 1880. Sfflek 51.
•lauf der Begebenheiten den Zvmmtm&bang der
Entwicklung zu erkennen". Damit seil nicirt
gesagt «ein, daß nicht eine Auffassung, die erst
später die Jurraehende wurde, schon ftttber ein-
zelne Vertreter hatte, oder daß nicht orack beute
bedeutende Spuren der älteren Auflaflsuagen u
bemerken wären.
Uniengbar ist nun aber, daß, je höhere Ziele
der Geschichtswissenschaft gesteckt worden, je
größer die Fülle der Aufgaben erschien, die je-
ner Begriff der Entwicklung in sich einschließt,
derto lebhafter sich das Bestreben kundmachte,
cioe eigene Disckpün «au schaffe«, die (diesem
Gegenstande gewidmet Bein sollte. Es ist .die
öeBchicbtsphilosophie^als deren eisten Begrün-
der der Verfasser, ohne die bedeutenden .As-
regungen der Franzosen gering zu schätzen,
Herder feiert. 'Die .große (Mahr war allerdings
damit gegeben, daß .der .historische Stoff > einem
philosophischen System z« liebe Mtnechtge-
schnitten und in seiner {Behandlung einer &J-
sehen Methode unterworfen würde. In < der That
haben die beiden Richtungen dariGeaehiebtephi-
lesophie, welche der Verf. asmumnt, dies Aar
Folge gehabt. Er nennt sie die ideatpbilosop bi-
sche Richtung, als denen vorzüglichste Vertreter
er Kant, Fichte, Schelling, Hegel hervorhebt,
und die socialktisoh-naturwissenschafthehe Rich-
tung, die er in Oendoroet, Qomte, Buckle, Da
Bois-Reymond repräsentiert findet Mit großer
Feinheit wird durchgeführt, wie jede dieser bei-
den Richtungen „intensiv nur eine Seite des
Problems in Angriff nahm", welches behandelt
werden sollte, die eine die Frage mach den
Faktoren, die andere -die Frage nach dem .Worth-
resultate des geschichtlichen Verianfeg. Esurird
versucht nachzuweisen, „wie ;beide Bjchtunggfi
Bernheim, Geschichteforsch, u. Gesehichtephil. 1621
im tenner einseitigerer Verfolgung' ihrer Tendenz;
sieh ku Systemen abschlössen, welche dnreb
ihre Einseitigkeit in prinzipiellon und methodi-
schen Gegensatz Kur konkreten Gcecbichtswia-
genecbaft geriethen und damit den ursprüngli-
chen Boden unter nek verloren". Demnächst
wird hervorgehoben, daß die Geschichtsphüose«
phie in Lotae eine ^Wiederauf habme des Ge-
aammtproblems" , eine Wiederanknüpfung an
Herder vorgenommen und damit die Scheide-
wand niedergerissen habe, welche die „exakte
Ferscbung^ von der „Gesamnrtauffaasungu zu
brennen drohte. Die Gescbiohlaphilosophie er-
scheint somit wieder „auf die Bahnen der De-
taalforschung" geleitet, sie erscheint tder exak-
ten Geschichtswissenschaft und deren Methode
durchaus homogen und ist im Stande alle
werthvollen Elemente^ welche die unvollkomme-
nen gesehichtsphilosopMsehen Versuche enthal-
te», in sich aufzunehmen".
Das ungefähr ist der Gedankengang der
vorliegenden Schrift. Es ist ihr noch eine
ftgihe von Anmerkungos und Ausführungen bei-
gefügt worden, welche das gründlichste Studium
des Verf. bezeugen. Vieles, was diese Schrift
enthält, ist dem Ref. ganz wie aus der Seele
geschrieben und er betrachtet es als ein gun-
stiges Zeichen der Zeit, daß ein geschulter,
durch tüchtige Specialarbeiten erprobter Histo-
riker von Fach überhaupt den Muth gefunden
haty einen Gegenstand zu berühren, an dem die
meisten der Fadhgenossen vorbeigehen, sei es,
weil sie ihn nicht sehen wollen, oder weil sie
ihn nicht sehen können. Ohne Widerspruch,
wenn er auch möglicher Weise kein Echo fin-«
defy kann jedoch die Auseinandersetzung des
Verfassers nicht bleiben. Dieser Widerspruch
1622 Gott gel. Adz. 1880. Stück 51.
richtet sich nicht sowohl gegen Einzelheiten,
nicht sowohl gegen die Auswahl der gegebenen
Beispiele geschichtsphilosophischer Versuche, ob-
wohl sie zn manchen Bedenken Anlaß geben
könnte, als vielmehr gegen einen Fundamen-
talsatz, auf welchen offenbar sehr großer Werth
gelegt wird.
Fragt man, welche der bekämpften Richtun-
gen die schärfere Kritik des Verf. erfährt, von
welcher er die größeren Gefahren in der heuti-
gen Zeit befürchtet, so ist es nicht die s. g.
idealphilosophische, sondern die s. g. sociata-
stisch-naturwissenschaftliche. Vor allem wendet
er sich gegen Buckle. Er läßt sich sogar zn
der Behauptung fortreißen, daß dieser „die Be-
deutung der Religion, Literatur und der Staats-
regierung für werth- und einflußlos halte
gegenüber exakt wissenschaftlicher Aufklärung",
eine Behauptung, die z. B. das achte, eilfte
und dreizehnte Kapitel von Buckles Werk an
vielen Stellen widerlegen. Ich bin weit entfernt
davon, die s. g. sozialistisch-naturwissenschaft-
liche Richtung der Geschichtsphilosophie und
insbesondere Buckle gegen die erhobenen Vor-
würfe durchaus vertheidigen zu wollen. Es ist
ganz wahr, daß diese Richtung zu einer „be-
schränkten Behandlung des Materials und der
Probleme" verführt, daß sie die Versuchung
nahe legt, „die ganze Sphäre des Individuellen
zu vernachlässigen" und über der Erforschung
der wirkenden Faktoren die Frage nach dem
Resultate und Werthmasse der Geschichte außer
Acht zu lassen. Auch scheint mir die Verwen-
dung, welche Buckle von der Statistik zn ma-
chen sucht, ganz abgesehen von den Einwen-
dungen, die neuerdings gegen Quetelet und
seine Methode erhoben worden sind, ftir ge-
Bernheim, Geschichte forsch, u. Geschichtsphil. 1623
schichtsphilosophische Zwecke sehr wenig frucht-
bar zu sein. Aber weil die Mittel, welche die
Vertreter dieser Richtung häufig angewendet
haben, verfehlt waren, soll deshalb auch das
Ziel als falsch betrachtet werden? Weil man
auf diesem Wege sich verirren kann, soll man
es deshalb überhaupt nicht für erreichbar hal-
ten dürfen? Nach der Meinung des Verfassers
wäre allerdings ein für alle Mal davon abzu-
rathen. Er findet, daß die socialistisch-natur-
wissenschaftliche Richtung die Eigenart der hi-
storischen Methode verkenne, daß sie irriger
Weise die Methode der Naturwissenschaften auf
die Behandlung des geschichtlichen Stoffes über-
trage. Die Naturforschung verfahre, wie er
auseinandersetzt, vorwiegend induktiv. Für sie
hat ferner, nach seinen Worten, „das Besondere
mit seiner eigentümlichen Differenz kein eigen-
werthiges, wissenschaftliches Interesse mehr, so-
bald es als Exemplar einer allgemeinen Gat-
tung oder als identischer Fall einem allgemeinen
Gesetz untergeordnet ist". Die Geschichtsfor-
schung dagegen kombiniere in jedem Moment
ihrer Thätigkeit die induktive und deduktive
Verfahrungsweise. Sie befinde sich „in einem
fortwährenden Hin- und Hergehen zwischen dem
Besonderen und dem Allgemeinen, beziehungs-
weise dem Ganzen ihrer Objekte, um endgül-
tig zu dem Besonderen zurückzu-
kehren".
Die Frage entsteht, ob diese Gegenüberstel-
lung begründet ist. Man mag zugeben, daß die
Thätigkeit des Naturforschers im ganzen richtig
charakterisiert worden sei, wennschon nicht we-
nige dagegen Einspruch erheben werden, daß
das Besondere kein eigenwerthiges, wissenschaft-
liches Interesse mehr für sich habe, sobald es
1624 Gott. gel. Am. 188fr Stock 51.
als Exemplar einer allgemeinen Gattung oder
als identischer Fall einem allgemeinen Gesetze
untergeordnet worden sei. Mag dem aber sein
wie ihm wolle: wenn man das künstlerische
Element, das für die Darstellung allein von
Wichtigkeit ist, einmal aus dem Spiele läßt, s*
wird man finden, daß die Tbätigkeit des Hi-
storikers, nach den eigenen Andeutungen des
Verf. derjenigen des Naturforschers viel näher
verwandt ist, als er es anzunehmen scheint. Zu-
gegeben, daß Induktion und! Deduktion1 fort-
während mit einander wechseln, beweisen nicht
die sämmtlichen S. 95, 96 angeführten Beispiele,
daß, wie in der Naturforschung, worauf es doch
wesentlich ankommt, immer mit der Induktion,
mit der Schlußfolgerung vom Besonderen auf
das Allgemeine begonnen wird? Und ferner
zugegeben, um mit dem Verfasser selbst zu re-
den, daß die Aufgabe des Historikers darin be-
steht, „alle Einzelerscheinungen in dem allge-
meinsten Gesichtspunkte, dem der Entwicklung
des Menschenwesens überhaupt, der Humanität,
zusammenzufassen", ist nicht eben darin das
Bestreben vorgezeichnet, nicht endgültig
zu dem Besonderen zurückzukehren,
sondern vielmehr vom Besonderen zti dem All-
gemeinen aufzusteigen? Mit einein Worte:
Genau wie die heutige Naturforschung, so wfll,
oder sollte doch, die Geschichtsforschung, um
wiederum des Verfassers Redewendung zu fol-
gen, „das Einzelne im Zusammenhange der
Entwicklung sehn". Sie fällt in letzter Linie
mit der s. g. Geschichtsphilosophie zusammen.
Und dies ist ebenso nothwendig und vernünftig
als es willkürlich und unvernünftig Wäre, von
einer besonderen Philosophie der Phyöik, Astro-
nomie und Mathematik zu reden.
Bernheim, Gescbichtsforseh. u. Gescbichtsphil. 1625
Ein durchgreifender Unterschied bleibt aber
zwischen diesen Disciplinen nnd denjenigen,
welchen auch die Geschichtswissenschaft zuge-
rechnet wird, bestehn. Sie wird nicht in dem
Sinne von allgemeinen Gesetzen reden können,
daß sie im Stande wäre, untrüglich vorauszu-
sagen, dies und jenes Ereignis, diese und jene
Kette von Ereignissen werde diese und jene
Folgen haben, oder auch beim Mangeln dieses
und jenes Ereignisses u. s. w. würden die
Dinge in bestimmter Weise anders verlaufen
sein. Um dazu fähig zu sein, müßte der Histo-
riker wie der Naturforscher mit Maaß, Gewicht,
Berechnung arbeiten können. Eben darum er-
scheinen, wie Ref. an anderer Stelle (Sybels hi-
storische Zs. N. F. Band VIII. 193) anzudeuten
sich nicht enthalten konnte, die so sehr belieb-
ten hypothetischen Betrachtungen in historischen
Werken nur als müßige Erzeugnisse einer ge-
schäftigen Phantasie. Was geschehen wäre,
wenn Oaesar nicht ermordet worden wäre, wenn
die Angelsachsen über die Normannen gesiegt
hätten statt des Umgekehrten, wenn Napoleon
vor dem Erscheinen Blüchers Wellington bei
Waterloo hätte zum Weichen bringen können:
das entfällt aus dem Bereiche der historischen
Wissenschaft. Denn diese hat es nur mit dem
zu thun, was wirklich geschehen ist. Aber soll
ihr deshalb versagt sein, danach zu fragen, ob
nicht gewisse Erscheinungen der Vergangenheit
in einer gesetzmäßigen Ordnung mit einander
verknüpft sind, ob sich eine Reihe von anschei-
nend vereinzelten Thatsachen nicht einer allge-
meinen Regel einfügen läßt? Gervinus hat,
und nicht als der erste, den Nachweis zu führen
gesucht, daß sich in dem gleichartigen Wechsel
der Verfassungsformen ein allgemein giltiges
1626 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 51.
„Gesetz aller geschichtlichen Entwicklung"
offenbare. Tocqueville hat einen großen Theil
seiner gewaltigen Geistesarbeit darauf verwandt,
darzulegen, daß eine gradweise wachsende „Aus-
bildung der Gleichheit" in den politischen und
socialen Verhältnissen der Völker unserer Kul-
tur vorgegangen, daß eine demokratische Revo-
lution in den Gesetzen, Ideen, Gewohnheiten
zum Siege gelangt sei, und daß die Demokra-
tie auf die verschiedensten Lebensgebiete im-
mer einen bestimmten Einfluß geäußert habe.
Einen berühmten Historiker, der von der geisti-
gen Richtung eines Gervinus oder Tocqueville
gleich weit entfernt ist, habe ich den Satz aus-
sprechen und begründen hören, daß jedes Mal,
wenn zwei Civilisationen, zwei groß« geistige
Strömungen im Begriff gewesen seien , sich mit
einander zu vereinigen, die Tendenz der Er-
richtung eines Universalreiches sich gleichzeitig
geltend gemacht habe.
Mögen diese Behauptungen nun währ oder
falsch sein: sie zeigen, daß die Geschichtsfor-
schung sich nicht davor scheut, Fragen aufzu-
werfen und zu beantworten, wie sie ganz und
gar nach dem Sinne der s. g. socialistisch-na-
turwissenschaftlichen Geschichtsphilosophie sein
würden. Nur darf sie nicht, wie diese es so
häufig gethan hat, einer vorgefaßten Meinung
zu Liebe dem geschichtlichen Stoffe Gewalt an-
thun, etwas Wesentliches wegschneiden oder
gar anflicken nach Willkür. Nur wird sie im-
mer der Mahnung des Verf. eingedenk bleiben
müssen, statt sich sofort „mit der Lösung der
letzten Gesammtprobleme zu beschäftigen, die
zahlreichen, ungelösten Einzelfragen in Angriff
zn nehmen a. Daß bei einer solchen Erforschung
der Naturnothwendigkeit von Erschei-
Bernheim, Geschichtsforscb. u. Geschichtsphil. 1627
nungen der Vergangenheit ein „Ignoriren des
Individuellen" stattfinden werde, braucht man
nicht zu befürchten. Es wird ihm allerdings
nicht eine so hohe Bedentang beigemessen wer-
den können, wie vom Verf. der, ans einer
Wendung anf S. 81 zu schließen, anch die Ent-
wicklung der modernen Staaten in erster Linie
„der Sphäre des Individuellen" d. h. also doch
wohl dem Einfluß der jeweiligen einzelnen In-
haber der Begierungsgewalt zuzuschreiben
scheint. Aber es wird, wie es von Lotze S. 87
gerühmt wird, „dem Wollen und Handeln des
Individuums ein wohlbegründetes Maaß sponta-
ner Wirksamkeit gewahrt bleiben a. Es giebt
den Ereignissen ohne Zweifel einen eigentüm-
lichen Charakter, daß z. B. Alexander und nicht
Philipp das makedonisch-persische, daß Karl
der Große und nicht Pipin das neue römische
Reich begründeten. Caesar, Napoleon prägen
ihrer Zeit den Stempel ihrer Persönlichkeit auf,
mag man auch der Ansicht sein, daß in ihrer
Zeit der Boden für einen Caesar und Napoleon
schon bereitet war. Die Reformationsgeschichte
der einzelnen Länder Europas wird nicht zum
wenigsten durch die Verschiedenheit der Indi-
vidualität aller einzelnen Führer der Bewegung
modificiert, und schon deshalb würde es unge-
schichtlich sein, diese Bewegung auf eine ein-
zige Persönlichkeit zurückzuführen. Ebenso aber
verhält es sich mit der Geschichte der Künste,
der Wissenschaften u, s. w.
Ein Schriftsteller wie Carlyle fordert frei-
lich mehr. „Ich halte dafür, sagt er, daß die
Universalgeschichte die Geschiente der großen
Männer ist". Man hat auf diese Anschauung
mit Glück die Bezeichnung des „Heroenkultus"
1628 Gott. gel. Anz. 1890. Stück 51.
angewandt. Wir können uns nicht zu ihm be
kennen. Dem Genius des Einzelnen bleibe sein
Ansprach auf das unsterbliche Verdienst schö-
pferischer That gewahrt, aber auch der gewal-
tigste Einzelwille, der reichste Genius ist nur
Glied einer unzerreißbaren Kette und steht, nag
er sich dessen bewußt sein oder nicht, unter
dem Banne einer Macht, die außer ihm liegt,
der Macht der Ideen.
„Künftig wird die Philosophie der Ge-
schichte, heißt es sehr treffend in Döllingers
Rede über die Universitäten sonst und jetzt,
den Nachweis zu liefern bedacht sein, daß es
geistige Mächte, Ideen sind, welche die Welt-
geschichte beherrschen und gestalten*. „Für die
menschliche Ansicht, sagt W. von Humboldt,
welche die Pläne der Weltregierung nicht un-
mittelbar erspähen, sondern sie nur an den
Ideen errathen kann, durch die sie sich offen-
baren, ist daher alle Geschichte nur Verwirk-
lichung einer Idee, und in der Idee liegt zu-
gleich die Kraft und das Ziel; und so gelangt
man, indem man sich bloß in die Betrachtang
der schaffenden Kräfte vertieft, auf einem rich-
tigeren Wege zu den Endursachen, welchen der
Geist natürlich nachstrebt". Man sieht, wie
sich hier die beiden geschichtsphilosopbischen
Richtungen, welche der Verf. annimmt, ergän-
zen. Hier wird das Gesammtproblem erfaßt,
hier ist keine Vernachlässigung der Faktoren
um des Werthresultates und keine Vernach-
lässigung des Werthresultates um der Faktoren
willen vorgezeichnet. Da nun aber die Ideen
des Einzelnen gewissen Gesetzen folgen, soll es
uns nicht erlaubt sein, auch für die Ideen der
Geschichte, ohne vorgefaßte Meinung und will-
Bernheim^eacbiohteforsch. u. Geschichtsphil. 1629
kttrliche Konstruktion nach genauestem Detail-
stadium, solchen Gesetzen nachzuforschen?
Doch vielleicht ist der Verf. auch seinerseits
pichjt abgeneigt, diese Sätze zuzugeben. Viel-
leicht ist ihm der Begriff der „Entwicklung",
der „Humanität" dasselbe, was Humboldt die
„Verwirklichung der Idee". Vielleicht findet es
seinen Beifall, daß schon Herder das Walten
v<w „Naturgesetzen" in der Geschichte gesehen
hat. Dann hätte er aber als letztes Ziel der
Thätigkeit des Historikers nicht das Zurück-
kehren vom Allgemeinen zum Besonderen an-
nehmen und das Bestreben, auch in der Ver-
wirklichung der Ideen, in dem geschichtlichen
Stoff Naturgesetze zu erkennen, nicht an sich
als eine gefährliche Ueberhebung verurtheilen
dUrfen.
Diese wenigen Andeutungen mögen genügen,
um darüber keinen Zweifel zu lassen, daß ,der
Verf. uns mit einer Arbeit erfreut hat, die auch
da, wo sie zum Widerspruch», reizt, höchst an-
regend wirken muß. Möge sein Beispiel Nach-
ahmung finden, auch in dem Punkte, daß sich
immer, wie bei ihm, mit aller Schärfe der Kri-
tik die Fähigkeit verbinde, die einzelnen Er-
scheinungen der geschichtsphilosophischen Lite-
ratur in ihrem eigenthümlichen Werthe zu
schätzen
Bern Oktober 1880. Alfred Stern.
Kurzgefaßte syrische Grammatik
von Theodor Nöldeke. Mit einer Schrifttafel
von Julius Euting. Leipzig, T. 0. Weigel 1880.
(XXXII und 281 S. . Oct.).
Seit geraumer Zeit war mehrfach das Be-
1630 GOtt. gel. Anz. 1880. Stück 51.
dttrfniß nach einer handlichen, aber das Wesent-
liche enthaltenden und dabei auf modern wis-
senschaftlicher Grundlage stehenden syrischen
Grammatik empfunden. Als ich mich entschloß, ein
solches Buch abzufassen, dachte ich mir die Auf-
gabe, wenige Abschnitte ausgenommen, ziemlieh
leicht : hatte ich mir doch bei meinen langjährigen
Wanderungen durch die wenig lachenden Ge-
filde der syrischen Literatur eine gewisse Ver-
trautheit mit der Sprache erworben und mancherlei
grammatische Cofiectaneen gemacht, außerdem
hatte ich ja mehrere nah verwandte Mundarten
grammatisch genau untersucht und einige sy-
stematisch dargestellt Und doch war jene Auf-
fassung irrig. Wollte ich nicht die einseitige,
nur zum Theil genügend begründete und zu-
weilen gradezu falsche Tradition der Maroniten
(Amira und Nachfolger) wiedergeben, ' so mußte
ich, das sah ich bald, auch für die Laut- und
Formenlehre den Stoff mühsam Stück für Stück
herbeischaffen. Ich wußte längst, daß die eini-
germaaßen vollständige Darstellung der syri-
schen Formen, besonders aber der Lautregeln
und gar der Schreibweise nur von einem Sol-
chen gegeben werden kann, welcher lange Zeit
auf die minutiöse Durchforschung zahlreicher
Handschriften zu verwenden hat: ich wußte
aber nicht, wie schwer es sei, mit dem mir zu
Gebote stehenden Mitteln und selbst mit der
Hülfe liebenswürdiger Freunde, die an den
Quellen sitzen (Wright, Zotenberg, Guidi), auch
nur das nothdürftige Material für eine kurze
Grammatik zusammenzubringen. Wenn die Laut-
und Schriftlehre daher etwas mager und un-
gleichmäßig ausgefallen ist und sich vielleicht
auch die Formenlehre eine ähnliche Beurtheilung
gefallen lassen muß, so liegt das zum Theil an
Nöldeke, Syrische Grammatik. 1631
den Verhältnissen. Natürlich hätte ich leicht
einzelne Abschnitte sehr viel reicher ausstat-
ten können, aber das wäre gegen den Plan
des Ganzen gewesen. Daß ich die s. g. „Ac-
centett nicht berücksichtigt habe, wird hoffent-
lich Billigung finden. Ich halte es sogar für
sehr zweifelhaft, ob eine Behandlang derselben,
soweit sie nicht zur Interpanction dienen, auch
in eine ausführliche Grammatik gehört.
Immerhin darf ich sagen, daß ich durchweg
nach guten einheimischen Quellen gearbeitet,
aber bei deren Beurtheilung strenge Kritik an-
gewandt habe. So dankbar wir namentlich
Barhebraeus für seine sprachlichen Mittheilungen
sein müssen, so haben wir doch immer zu be-
achten, daß zu seiner Zeit die syrische C alt Ur-
sprache längst eine todte war und daß er nur
so weit zuverlässig ist, als er sich auf sichere
alte Ueberlieferung stützt. Von ziemlich unter-
geordnetem Werth ist für uns die Beurthei-
lung der sprachlichen Erscheinungen von Sei-
ten der syrischen Grammatiker, und es scheint
mir sehr überflüssig, in einer Grammatik ihre
grammatische Terminologie wiederzugeben, we-
nigstens soweit sie eine, oft ganz mißverstand
liehe, Uebersetzung theils griechischer, theils ara-
bischer Ausdrücke ist.
Für die Syntax lag in gedruckten Werken
gutes Material in Fülle vor. Es wäre mir leicht
gewesen, ihr den doppelten Umfang zu geben.
Die Syntax umfaßt so schon beinahe die Hälfte
des Buchs: wir Semitisten sind ja glücklicher-
weise schon von den arabischen Grammatikern
her gewohnt, diesen Theil der Sprachwissen-
schaft in seiner vollen Bedeutung zu würdigen.
Ich darf es aussprechen, daß hier zum ersten
Mal der syrische Satzbau nach dem Sprachge-
1632 Gott, gel. Anz. 1880. Stück frl,
brauch guter, alter Schriften dargestellt ist Paft
ich bei Weitem mehr durch Beispiele rede als
durch formulierte Regeln, wird hoffentlich ge-
billigt werden. Diese Beispiele habe ich, ga#z
wenige ausgenommen, alle selbst aus den syri-
schen Schriftstellern gesammelt
Ich hatte gehofft, das Buch auf 10 Bogen
beschränken zu können, aber es fand sich bald,
daß ich, wenp ich nur das Notwendigste ge-
ben wollte, auch bei knappster Fassung den
doppelten Baum einnehmen mußte.
So sehr ich auch bei dieser Arbeit die ver-
wandten Dialecte und Sprachen immer im Auge
behalte, so habe ich doch mit gutem Bedacht
directe Sprachvergleichung ausgeschlossen. Trotz-
dem dürften besonnene Sprachvergleicher in der
Lage sein, daraus Nutzen zu ziehn. Die Ein-
wirkung des griechischen Sprachgebrauchs auf
den syrischen hätte ich vielleicht noch etwas
häufiger bezeichnen können, als ich's gethan habe
Die Mängel meines Buches sind mir nur zu
gut bekannt, und doch hoffe ich, daß dasselbe
nicht bloß Anfängern, sondern auch Vorge-
schrittneren gute Dienste wird leisten können.
Auf die von E u t i n g autographierte Schrift-
tafel erlaube ich mir noch besonders aufmerk-
sam zu machen.
Für die vortreffliche Ausstattung spreche ich
der Verlagshandlung wie der Druckerei (Drugu-
lin) meinen besten Dank aus.
Straßburg i. E. Th. Nöldeke.
Für die Redaction verantwortlich : S. Rehnüch, Director d. Gott. pl. In.
Verlag der Dwtoricttschm Vortags- BuchJumdkmf.
Druck der DieUrich'schm Univ.- Bnchdntcktrei (W IV. Äaestnwl
.f fs *> *f
1633
Göttingische
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der König!. Gesellschaft; der Wissenschaften.
Stück 52. 29. December 1880.
Inhalt: Ans dem Uterar. Nachlasse Ton Johann Ludwig Moale. Von
0. M&jer. — F. v. A 1 1 e n , Die Bohlwege (Römerwege) im Herzog-
thnm Oldenburg. Yon C. Kostmann. — K. Yischer-Mer ian,
Henman Sevogel von Basel und sein Geschlecht. Yon R Wackernagd.
— L. Lemme, Die religionsgeschichtliche Bedeutung des Dekalogs.
Vom Verf.
s: Eigenmachtiger Abdruck von Artikeln der Gott. gel. Anz. verboten s
Ans dem literarischen Nachlasse
von Johann Lndwig Mosle, Großherzog-
lich Oldenburgischem Generalmajor. Mit einem
kurzen Lebensabrisse. Herausgegeben in Anlaß
der hundertjährigen Stiftungsfeier der Literar-
Gesellschaft in Oldenburg. Oldenburg, Schulze-
sche Hofbuchhandlung und Hofbuchdruckerei
(o. J.). IV. und 254 S. in 8°.
Durch Gerh. Ant. v. Halem, welcher die An-
regung dazu in dem hamburger Kreise Klop-
stock8 erhalten hatte, ist im December 1779
in Oldenburg die heute noch dort bestehende
„Literarische Gesellschaft" gestiftet worden, de-
ren Programm lautete und noch lautet: „unsere
literarischen Kenntnisse durch Leetüre und
freundschaftliche Unterhaltung zu vermehren,
103
1634 Gott gel. Adz. 1880. Stück 52.
und in vertrautem Kreise gebildeter Männer",
denn nur aus Männern besteht sie, „den Genuß
geselliger Freude zu verschönern" (Jansen
Aus vergangenen Tagen etc. Oldenburg 1877.
S. 67). Sie versammelt sich wöchentlich ein Mal
bei einem der statutenmäßig nicht mehr als
zwölf Mitglieder, die sich durch Cooptation er-
gänzen, und ist, sagt Jansen, .der feste Kern
geblieben, welcher die verwandten und gleich-
strebenden Geister der Stadt in sich vereinigte,
und auf die Entwickelung des Geschmacks und
des Literaturinteresses in ihrem Kreise einen
großen Einfluß geübt hat". Zu ihrem Säcular-
feste hat sie die vorliegende Schrift erscheinen
lassen, durch welche das Andenken eines zwei
Jahre vorher verstorbenen Mannes festgehalten
wird, den sie mehr als vierzig Jahre lang zum
Mitgltede gehabt hatte.
Der General Mosle (gesprochen Mosle, die
Familie war lotharingisch und hieß eigentlich
deMoncelet), Sohn eines gräflich bentinck'schen
Beamten in Varel, geb. 1794, gehört zu der
durch den Aufschwung von 1813 von den Stu-
dien zu den Waffen abgerufenen Blttthe deut-
scher Jugend. In einem der hier mitgetheiiten
Aufsätze — „mein Soldatenberuf", S. 17 f. der
Schrift — erzählt er mit der farbenfrischen Le-
bendigkeit, welche den Jugenderinnerungen der
Genossen jener Zeit eigen zu sein pflegt, wie
er als Student der Rechte zu Straßburg, der
einzigen deutschen Universität, die er als An-
gehöriger des napoleonischen Reiches besuchen
durfte, auf die ersten Nachrichten von dem rus-
sischen Schicksale der großen Armee und des-
sen Folgen, mit vier Landsleuten sich durch-
schlich: wie sie über Heidelberg, wo sie sich
immatriculiren ließen, um Pässe zu bekommen,
Ans dem lit. Nachlaß von J. L. Mosle. 1635
and Erlangen nach Böhmen gelangt, in die
preußische Armee eintraten und als freiwillige
Jäger am Feldzage von 1813 theilnahmen, bis
sie von ihrem Landesherrn abberufen wurden,
am bei Formation der oldenburgischen Trappe,
bei der es an Officieren fehlte, in dieser Eigen-
schaft verwendet zu werden. In ihr machte
Mosle alsdann den Feldzag von 1815 mit, und
ist nach dessen Beendung, da sein Beruf ihm
lieb geworden war, oldenburgischer Soldat ge-
blieben: mit Ernst und Ausdauer Kriegswissen-
schaften studierend, bald auch zu militärisch-
organisatorischen Arbeiten und dann als militä-
rischer Lehrer der jüngeren Officiere, auch des
damaligen Erbgroßherzogs, herangezogen, zu-
letzt längere Zeit Regimentscommandeur, viel-
fach in seinem Berufsstande sich auszeichnend
und ausgezeichnet; bis er sich im Jahre 1857
in den Buhestand versetzen ließ, in dem er dann
noch zwanzig Jahre lang gelebt hat. Neben
den militärischen veranlaßten ihn von früh her
anch bürgerliche, politische, volkswirtschaft-
liche, ästhetische Interessen zu lebhafter Bethei-
ligung. In Folge davon wurde er als Liberaler
alter Schule im April 1848 vom Großherzoge
zum Bundestagsgesandten, später zum Bevoll-
mächtigten bei der provisorischen Deutschen
Centralgewalt ernannt, und erhielt und über-
nahm in Folge davon in den nächsten Jahren
verschiedene diplomatische Aufträge, bis er,
nach der österreichischen Reconstruction des
alten Bundestages, im Sommer 1851 wieder in
seine Militärstellung auf seinen Wunsch zu-
rücktrat.
Aus diesem Leben, und zwar sowohl aus
seiner activen, wie aus seiner letzten beschauli-
chen Periode, sind hier Aufzeichnungen mitge-
103*
1636 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 52.
theilt worden, die im Allgemeinen ab autobio-
graphische Fragmente zu bezeichnen sind. Si$
zerlallen in zwei sich allerdings siebt streng
scheidende Gruppen : die eine mehr persönlicher,
die andere mehr politisch-zeitgeschichtlicher Na-
tur. Zu ersterer zählt, außer dem sehen er-
wähnten Aufsätze über die Wahl des militäri-
schen Bernfes (S. 17—52), eine Erinnerung ap
den Militärschriftsteller G. H. v. Berenhorst und
die Wirkung seiner Betrachtungen über die
Kriegskunst auf ihre Zeit und auf Mosle (53—
70), eise überaus anmuthige ästhetisch- patrioti-
sche kleine Studie über Kleists Prinzen von
Homburg (7 1 — 80), sodann Manövererinnerungen
von 1842 (87-103) und teplitzer ans verschie-
denen Jahren (218—225). Zu der zweiten
Gruppe gehören eine Darstellung zweier Sen-
dungen nach Oesterreich im Herbste 1848, nebst
einer sich mit der Zukunft von Oesterreich und.
Preußen beschäftigenden Denkschrift aus dem
December desselben Jahres (104—178)! ferner
die sehr anziehende und charakteristische Er-
Zählung einer Anfangs Februar 1851 gehabten
Audienz bei Friedrich Wilhelm IV. (179-192),
und aus der Zeit des Druckes, die dem Auf-
geben der preußischen Unionsbestrebungen folgte,
die Aufsätze: „Noch nicht verzweifeln" vom
Sept. 1852 (193-203), „Oesterreich oder Preu-
ßen« 1857) (204—217), „Rückblick auf 1859
und Hinausblick vorwärts« Decbr. 1859 (226 —
233). In diesen zeitgeschichtlichen Aufzeich-
nungen eines Mitlebenden, der die Gelegenheit
gehabt und genutzt hat, tiefer in den inneren
Zusammenhang der damaligen Entwickelten
zu blicken, und die daher nicht ohne quellen-
mäßigen Werth sind, reden die Erfahrungen,
Empfindungen und Ueberlegungen eines beson-
Aus dem lit. Nachlaß vod J. L. Mosle. 1637
Irenen, dfentschgesinnten und von da ans Preu-
Ben geneigten Mannes, der sein warmes, ganz
dem Vaterlande gehöriges Herz zähmt, daft es
flicht verzage, und der die idealen Momente der
Entwicklung auch da noch zu erkennen und
zu schätzen versteht, wo sie zu verschwinden
schienen. So wird in mehr als einer Richtung
ein Werthvotter Inhalt hier geboten.
Einiges von diesen Aufsätzen ist in militäri-
schen Kreisen gelesen , Anderes ist aus Briefen,
das Meiste ist vorgelesen worden an Abenden
4er Literarischen Gesellschaft. Und wenn durch
den Eindruck, welchen man aus den ebenso
unterrichtenden wie unterhaltenden Mittheilungen
Mosle's von dessen Persönlichkeit erfährt, man
sich an das goethe'sche Wort in den Wahlver-
wandtschaften über den gesellschaftlichen Vor-
zug innerlich gebildeter Officiere erinnert findet,
so gewährt es eine nicht minder erquickliche
Freude, in den Kreis einer Gesellschaft zu
blicken, welche für Vorlesungen, wie die hier
veröffentlichten, Ruhe und Empfänglichkeit und
dasjenige anregende Entgegenkommen besaß, in
dessen Sonne allein dergleichen Früchte reif
werden. Sie hat durch diese Publicationen nicht
bloß einem langjährigen bedeutenden Mitgliede,
sondern auch dem Geiste, der in ihr selbst wal-
tet, ein schönes Denkmal gesetzt.
0. Mejer.
Die Bohlwege (Römerwege) im Her-
zogthum Oldenburg untersucht durch Frie-
drich v. Alten 1873—1879. Mit einer Karte.
Oldenburg, Gerhard Stalling 1879. 24 S. 4°.
Die erste Entdeckung und umfassende Aus-
1638 Gott gel. Anz. 1880. Stück 52. %
grabung eines Bohl weges wurde bekanntlich be-
reits im Jahre 1818 in der Provinz Drenthe im
Bourtanger Moor zwischen Valthe und Ter Haar
durch den Oberingenieur Karsten vorgenommen.
Damit war zugleich der Vorwurf gegeben zu
einer der lebhaftesten literarischen Fehden nnd
einer so disparaten Beurtheilung eines klar vor-
liegenden Tatbestandes, wie es früher oder später
nur selten in Gelehrtenkreisen vorgekommen ist.
Nachdem die erfahrensten Alterthumsforscher
wie van Lier, Scheltema, Hofstede, Adema, We-
stendorp u. A. sich unbedenklich der Karsten-
schen Ansicht angeschlossen hatten, wonach je-
ner Bohlweg den Römern zuzuschreiben und als
ein Theil der bei Tacitus (ann. I. 63) erwähn-
ten, von Domitius erbauten pontes longi anzu-
sehen sei, glaubte eine von der k. niederl." Aka-
demie der Wissenschaften eingesetzte Prüfungs-
commission diese hohe Zeitstellung nicht für
hinlänglich bewiesen halten zu müssen und trat
der Meinung Spandau's bei, der in dem Bohl-
wege einen vom Kloster Ter Apel im 15. Jahr-
hundert angelegten Eirchenpfad erkennen wollte.
Obgleich man später bei dieser Hypothese nicht
stehen blieb, vielmehr bald einen dänischen Kö-
nig des 12. Jahrhunderts, bald den Bischof Bern-
hard von Galen im 17. Jahrhundert, auch die
Franken oder Alemannen als Erbauer jener
Brücken heranzog, behielt im Allgemeinen doch
die Ueberzeugung die Oberhand, daß sie dem
Mittelalter angehörten; bis endlich durch eine
im Jahre 1848 von dem trefflichen Janssen nach
sorgfältigen Lokaluntersuchungen veröffentlichte
Abhandlung (Drenthsche Oudheden pag. 66 ff.),
worin er besonders Gewicht legte auf die in der
Richtungslinie und näheren Umgebung des Bohl-
wegs entdeckten römischen Alterthümer, der ur-
v. Alten, Bohlwege im Herzogth. Oldenburg. 1639
gprünglichen Meinung, wenigstens in Holland,
wieder Geltung verschafft wurde. In seiner Er-
wartung eine Summe von 3000 fl., die er zur
vollständigen Aufdeckutig der Valther Brücke für
erforderlich hielt, beschaffen zu können, fand er
sich leider getäuscht.
Ganz ähnlich wie in Holland wechselten auch
in Deutschland, wo inzwischen auf oldenburgi-
schem Gebiete im Jahre 1829 die Bohl wege von
Eömbek und Brägel entdeckt und beschrieben
waren, die Meinungen hinsichtlich des Alters
dieser Anlagen. Obgleich schon früh die be-
rufensten Autoritäten, und zwar zuerst Berghaus
im Jahre 1819 in diesen Blättern, sich für den
römischen Ursprung ausgesprochen hatten, fand
seit den vierziger Jahren die entgegengesetzte
Annahme mehr und mehr bei uns Eingang, der
Art, daß in neuerer Zeit die Bohlwege förmlich
in Mißcredit geriethen und alles historische In-
teresse eingebüßt hatten.
Ein um so höheres Verdienst ist es daher,
wenn Herr von Alten, unbekümmert um die
herrschende Stimmung, nicht nur Jahrelang sich
einer mühevollen Untersuchung der Oldenburger
Moore hinsichtlich der Bohlwege unterzog, son-
dern diese Arbeit auch zu einem solchen Ende
hinausführte, daß fernerhin die Erbauung der
Bohlwege durch die Römer, als eine ihrer wich-
tigsten und großartigsten Hinterlassenschaften,
nicht mehr in Frage gestellt werden kann.
Die Beweisführung, welche der Verfasser in
der vorliegenden (der Literar-Gesellschaft
in Oldenburg zur Säcularfeier 1879 De-
cember 15 ,in treuer Angehörigkeit* gewid-
meten) Schrift, an die Janssen'sche Abhand-
lung gleichsam anknüpfend, klar und sach-
gemäß ohne weitere Polemik entwickelt, läßt in
1640 Gott gel Adz. 1880. Stück 52.
dieser Beziehung gar keinen Zweifel meto auf-
kommen und stützt sieh einmal auf die topo-
graphisch einheitliche Richtungslinie der Brücken,
dann anf ihre einheitliche Technik nnd endlieh
auf die in ihrer Nähe vorkommenden römischen
AlterthUmer.
Es dürfte bei der Bedeutung des Gegenstan-
des gerechtfertigt erscheinen, hier wenigstens die
Hauptpunkte mit kurzen Worten näher zu erörtern.
Nach den bis jetzt vorliegenden Aufgrabun-
gen lassen sich bei den Bohlwegsanlagen im
Wesentlichen zwei Hauptrichtungen unterschei-
den. Die eine geht in nordöstlicher Richtung
von Leer über Kernels bis zur Südspitze des
Jadebusens und ist hinreichend festgestellt durch
die von dem Verf. im Lengener Moor, dann bei
Conneforde und bei Jethausen, südlich von Va-
rel gemachten Entdeckungen. In welcher Weise
dieser, im Volke als Römerstraße bekannte Weg
sich weiter nördlich oder nordöstlich fortsetzt,
bedarf noch näherer Ermittlungen; dagegen
scheint eine Abzweigung der Hauptstraße, in
der Richtung auf Oldenburg zu, durch eine bis
jetzt freilich erst in geringer Erstreckung öst-
lich von Nord-Edewecht durch von Alten frei-
gelegte Moorbrücke constatiert zu sein.
Der zweite Haupttractus fällt genau in die
Linie von Ter Haar über Lathen, Sprakel, Lö-
ningen nach Vechta; erstreckt sich also, mit
geringer südlicher Abweichung, von Westen
nach Osten auf eine Entfernung von etwa 100
km. Bei Valthe, in der Provinz Drenthe be-
ginnend, zieht sich der 3 7» Meile lange Bohl-
weg zunächst nordöstlich; geht dann mit schar-
fer Wendung in die östliche Richtung über, bis
er bei Ter Haar auf festem Geestboden endet
Hieran schließt sich ein im Ruiterbroker Moore
v. Alten, Bohlwege im Herzogtb. Oldenburg. 1641
aufgefundener, aber durch Culturen bereits im
vorigen Jahrhundert zerstörter Bohl weg, der
sich, nachdem er in der Nähe von Landegge
die Ems überschritten, östlich durch das Tinner
Dosen-Moor fortsetzt, wo ei* westlich von Spra-
kel im Jahre 1860 entdeckt wurde. Zwischen
Sprakel und der, in östlicher Richtung etwa 60
km entfernten Ortschaft Brägel nahe der olden-
burgischen Grenze, eine Strecke, die übrigens
vorherrschend festen Geestboden aufweist, sind
bis jetzt keine Bohlwege freigelegt; aber die
östliche Richtung der ganzen Heerstraße er-
scheint durch die, durch Herrn von Alten genau
ermittelte Lage des Bohlwegs zwischen Brägel
und Schobrink vollständig gesichert. Mutb maß-
lich wurde in der Nähe von Barnstorf die Hunte
überschritten; doch fehlen bis jetzt nähere Ju-
dicien um die Straße in nordöstlicher oder öst-
licher Richtung weiter verfolgen zu können.
Aus der Lage der von Nieberding aufgefunde-
nen Moorbrücke bei Römbek scheint dagegen
zn folgen, daß eine aus der Gegend von Osna-
brück herkommende Straße sich zwischen Scho-
brink und Barnstorf mit der westlichen Haupt-
straße vereinigt haben muß.
Man wird hiernach, so lückenhaft wie die
bis jetzt entdeckten Bohlwege unter einander
auch dastehen, nicht daran denken wollen, den
einzelnen Strecken eine selbständige Bestimmung
zuzuschreiben; vielmehr stellen sie sich deutlich
dar als Bruchstücke eines großen Straßen-
systems, dessen Hauptlinien im Generellen die
Richtung von West nach Ost, diejenige Richtung
also, in welcher die Römer von der Ems her in
Germanien vordrangen, inne halten; wobei noch,
wie von Alten nachweist, der Umstand bemer-
merkenswerth erscheint, „daß da, wo mehrere
1642 Gott gel. Anz. 1880. Stück 52.
dieser Wege nahe bei einander von W. nach 0.
führen, sie sowohl in Holland wie in Olden-
burg jedesmal con vergierend nach Ost, sich
östlich des zu überschreitenden Moores treffen".
Der Ausführung dieser Bauten liegt im All-
gemeinen nicht nur ein und dasselbe technische
Princip zu Grunde, das Bestreben nämlich, die
größte Schnelligkeit in der Herstellung mit
möglichster Solidität zu vereinen, sondern auch
in den Details der Arbeiten zeigt sich eine
geradezu überraschende Gleichartigkeit
Die einzelnen Bohlen sind durchschnittlich
2,75 m lang und 30—50 cm breit, niemals ge-
sägt, sondern stets einmal oder zweimal gespal-
ten; doch ist ihre obere Seite mit dem Beile
gut geglättet. Sie ruhen auf Langschwellen,
und zwar auf einer mittleren und auf zwei je
1 m davon entfernten Seitenschwellen, die aus
schweren, hart vor einanderstoßenden Stämmen
bestehen, deren Oberfläche behauen ist. Um ihr
seitliches Ausweichen zu verhindern, ist (wie
bei Römbeck) entweder jede einzelne Bohle, in
der Kegel aber nur jede fünfte oder sechste, an
ihren Enden mit einem etwa 10 qcm großen
Loche versehen, durch welches ein 60 — 70 cm
langer, viereckig bearbeiteter, zugespitzter Pfal
getrieben wurde. Von wenigen Ausnahmen ab-
gesehen, liegen die Bohlen, höchst zweckgemäß,
klinkerweise geordnet, d. h. sie greifen etwa in
einer Breite von 6 cm eine über die andere.
Und da nun, nach den vorliegenden Untersu-
chungen, ebensowohl in Holland wie in Olden-
burg und Hannover jedesmal die Kante der
östlich liegenden Bohle über der westlichen
liegt, so folgt unwiderleglich, als ein für die
einheitliche Herstellung der Bohlwege geradezu
entscheidendes Ergebniß, daß der Bau aller die-
v. Alten, Bohlwege im Herzogtb. Oldenburg. 1643
8er Straßen in der Richtung von West nach
Ost ausgeführt sein muß.
Von dieser einfachen und doch soliden Con-
struction, bei welcher überall kein Eisen verwen-
det wurde, ist nur in seltenen Fällen, deren Er-
wähnung hier zu weit führen würde, und eigent-
lich nur dann, wenn besonders ungünstige Bo-
denverhältnisse eine größere Tragfähigkeit des
Planums verlangten, abgewichen worden. Man
wird dem Verfasser unbedenklich zugestehen,
„daß diese offenbar von demselben Volke in-
sich sehr nahe liegender Zeit ausgeführten Wege
auf eine bestimmt ausgebildete Kriegstechnik
und feste Gliederung hinweisen, die wir keinem
germanischen Volksstamme, sondern nur den
Römern zuschreiben können".
Die aus dem früheren Mittelalter und aus
späterer Zeit herrührenden , . durch die Moore
angelegten Verbindungswege (Polderwege, Sand-
wege, Konrebberswege, Specken) lassen sich
durch ihre mangelhafte Ausführung leicht von
den eigentlichen Römerwegen, wohin offenbar
auch die 800 Ruthen langen Moorbrücken von
Großenhein, Amt Lehe, zu rechnen sind, unter-
scheiden.
Nun kommt aber als drittes Moment noch
hinzu, daß sowohl auf* wie neben diesen Moor-
straßen und in der Richtung derselben im trock-
nen Geestboden römische Alterthümer vorherr-
schend gefunden werden , und auch römische
Lagerplätze in ihrer unmittelbaren Nähe sich
nachweisen lassen.
Die in Holland in der Umgegend von Valthe
gemachten Römerfunde hier ganz bei Seite las-
send, erwähnen wir, nach den Angaben des
Verfassers, das römische Gastell bei Bokeloh,
so wie die römischen Lagerplätze zwischen den
1644 Gott. gel. Adz. 1880. Stück 52.
Ortschaften Garen und Marren, mit einer Münze
des Maxentius und sehr schönen Bronzefiguren.
Ganz besonders zahlreich sind die Münzfunde
vertreten, unter denen in nördlicher Richtung
Jever mit nicht weniger als 5000 Denaren aas
der Zeit von 69 — 81 p. Chr. und Bingttm bei
Leer mit 18 Münzen von 139 — 2 a. Chr. in Be-
tracht kommen. Südlich von hier bis in die
Gegend des Tinner Bohlwegs scheinen römische
Alterthümer überhaupt zu fehlen; woraus, wie
der Verfasser bemerkt, zu schließen, „daß die
Römer auf dieser weiten Strecke, vor deren
Mitte etwa Bourtange liegt, das rechte Ems-Ufer
nicht betreten haben". Desto häufiger treffen
wir dann wieder auf Spuren ihrer Anwesenheit
in der Nähe und Richtung des genannten Bohl-
wegs: bei Lintloh wurden 300 Münzen aus der
Zeit von 54 — 180 p. Chr. gefunden, bei Land-
egge 3 Goldbrakteaten, bei Herrenstedt Münzen
von Hadrian bis Antonin, bei Spahn solche des
Augustus und der Faustina, bei Duneburg, Lö-
ningen, Märschendorf einzelne Denare und bei
Damme viele römische Münzen, von denen keine
jünger war als die Zeit des Germanicus.
Hierzu kommen von sonstigen Alterthümern
unzweifelhaft römischen Ursprungs die Bronze-
kessel von Nieholt, Böen, Ganderkesee, Stolze-
nau ; sowie die bei Füllen, Bunnen und Damme
entdeckten Bronzestatuetten und Spängen. Da
die meisten von den in Oldenburg gemachten
Funden erst in den letzten Jahren bekannt ge-
worden sind, seit dort, besonders auf Anregung
des Herrn Verfassers, das lebhafteste Interesse
für die Alterthümer des Landes erwacht ist, so
läßt sich voraussetzen, daß ihre Zahl noch we-
sentlich vergrößert wird. Einzelnes Hefte aus
hannoverschem Gebiet sich gleich nachtragen:
v. Alten, Hohlwege im Berzogth. Oldenburg. 1645
u. a. ein in der Hasseler Heide nördlich von
Bassam ausgehobener römischer Bronzekessel
mit zwei eisernen Griffen, nnd ein zweiter,
prachtvoller Krater aas der Gegend von Stol-
stenau. Aach möchten die im Osnabrück'schen
mehrfach in Gräbern entdeckten kleinen Tohn-
pfeifen hierher zu zählen sein, die in der Form
vollkommen übereinstimmen mit den eisernen
Pfeifen aas römischen Stationen des Waadtlan-
des, des Berner Jura, Belgiens u. s. w. Wenn
aber, einer nicht sehr competenten Quelle fol-
gend, der Verfasser (S. 8) auch römische Waf-
fenfunde in der Nähe der Düendorfer Schanzen
erwähnt, so sieht Referent sich in der Lage, in
diesem Falle einen Irrthum constatieren zu müs-
sen; denn anter den dort gefundenen ziemlich
werthlosen Eisensachen ist auch nicht ein ein-
ziges Stück vorhanden, das nur im Entfernte-
sten auf römischen Ursprung hindeuten könnte.
Wir werden nach dem vorhergehenden dem
Herrn Verfasser nur mit vollster Ueberzeugnng
beipflichten, wenn er als Gewinn seiner aus-
dauernden, beschwerlichen Untersuchungen die
Bohlwege schlechthin als Römerwege oder pontes
longi auf dem Titel seines Werkes ankündigte.
Er hat durch diese Wiederentdeckung des wah-
ren Charakters jener vielberufenen Wegeanlagen
einen Beitrag von unberechenbarer Tragweite
geliefert für die ältere Geschichte unseres Vater-
landes. Mag einstweilen noch dahin gestellt
bleiben, wo wir speciell die für die Marschroute
des Cäcina (ann. 1. c.) in Betracht kommende
Strecke der pontes longi zu suchen haben, —
so viel ist klar, eine wissenschaftliche Bearbei-
tung der strategischen Operationen und Bewe-
gungen der Römer im nordwestlichen Deutsch-
land wird künftighin nicht anders möglich sein
1646 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 52.
als auf der Basis der Bohlwegsanlagen. Gewin-
nen diese dadurch eine geradezu nationale Be-
deutung, so steht nm so mehr zu wünschen, dad
eine systematische Durchforschung der Moore
Oldenburgs und Hannovers regierungsseitig in
die Hand genommen oder wenigstens befordert
werde, als die Zerstörung jener wichtigen Denk-
mäler mit dem Fortschreiten der Moorculturen
und der Torfgewinnung in rapidester Weise
überhand zu nehmen droht.
Gelle. Hostmann.
Henman Sevogel von Basel nnd
sein Geschlecht, von E. Vischer-Me-
rian. Basel, Benno Schwabe, Verlagsbuchhand-
lung. 1880. XVI und 122 S. groß 4°.
Das Buch verdankt persönlichen Bezügen
seine Entstehung. Der Verfasser, von Beruf
nicht Gelehrter sondern Fabrikant , sammelte
geschichtliche Notizen über die ihm eigentüm-
lich zustehende Burg Wildenstein im Jura nahe
bei Basel. Unter den frühern Herren dieses
Schlosses erschienen die Sevogel, und von die-
sen erweckte das meiste Interesse Henman, der
bei S. Jacob ruhmvoll gefallene Anführer der
Basler. Die Studien über ihn erweiterten sich
bald zu Studien über sein ganzes Geschlecht
und riefen dem Plan einer vollständigen Fami-
liengeschichte. Die für diesen Zweck umsichtig
und exact durchgeführte Ausbeutung des um-
fangreichen Quellenmaterials ergab zunächst
einen Aufsatz, welcher in der historischen Ge-
sellschaft zu Basel vorgetragen wurde ; aus ihm
Vischer-Merian, Henman Sevogel von Basel. 1647
erwuchs in nochmaliger Ueberarbeitung das vor-
liegende Werk.
Diese Genesis erklärt, warum das Bach ge-
schrieben wurde. Denjenigen, welcher sich
wandern möchte über den Aufwand so ausge-
dehnter Forschung für einen Gegenstand von
anscheinend so beschränkt localem, ja persönli-
chem Interesse, und noch mehr über die so statt-
liche Publication ihrer Ergebnisse, entschädigt
nicht nur die Freude an der Art und Weise der
Darstellung, welche jedem Fachmann Ehre ma-
chen würde (ohne doch jedem schreibenden
Fachmann zu Gebote zu stehen), und das Wohl-
gefallen an der Ausstattung des Buches, welche
von der äußern Gestalt anderer Geschichtswerke
allerdings sehr verschieden ist, sondern er wird
zugleich erkennen, daß das Buch auch einer
allgemeineren über örtliche Grenzen hinaus-
gehenden Betrachtung fähig und werth ist.
Henman Sevogels Geschlecht erlebte 8 Gene-
rationen und dauerte vom Beginn des 14. bis
zum Ende des 15. Jahrhunderts. Es gehörte
also der Zeit an, in welcher das Bürgerthum
politisch und social zur Macht wurde, und zeigt
ans diese Entwickelung an sich selbst in den
lebendigsten Zügen.
Der erste Sevogel, welchen die Urkunden
nennen, ist Heinrich, 1322. Sein Beruf wird
nicht angegeben; doch läßt eine Stiftung ihn
als wohlbegüterten Mann erscheinen. Im übri-
gen erfahren wir nichts von ihm, erst sein gleich-
namiger Sohn tritt in ein helleres Licht. Die-
ser betrieb den Beruf eines Wechslers (was wohl
schon der Vater gewesen war), und hatte zu-
gleich das Amt eines bischöflichen Steuerein-
nehmers. Er war reich, besaß Häuser und
Zinse in beiden Städten und Güter in den um-
1648 GOtt. gel. Anz. 188a Stück 52.
liegenden Dörfern. Auch am öffentlichen Leben
nahm er Theil, erst als Beisitzer im Gericht des
Schultheißen, dann als Zünftiger im B*th. 1362
oder 1363 starb er und hinterließ zwei Söhne,
einen Heinrich and einen Conrat. Jener starb
schon 1366 und hatte keine männliche Nach*
kommenschaft; Conrat dagegen, mit Elsine zem
Rosen vermählt (ist das sicher? meint die an-
gezogene Stelle nicht eher Gonrats Schwester
Elsine, Henmans zem Hosen Frau?), setzte das
Geschlecht fort Auch er war Wechsler und er-
scheint alljährlich unter der Zahl derjenigen,
welche der Stadt Geld geliehen haben; auch er
war Vertreter der Hausgenossen im Bath und
saß ebenfalls im Gericht Unter ihm scheint
das Ansehen seines Geschlechtes schon gestie-
gen zu sein ; die Zeugnisse der öffentlichen Thä-
tigkeit mehren sich, auch die Wohnung wurde
geändert, was ein nicht unwesentliches Merk-
mal ist; das alte bescheidene Stammhaas bei
der Wechslerlaube ward verlassen, und zwei
Höfe in den vornehmen Quartieren auf Burg
und zu S. Feter trugen nun den Namen der
Sevogel. Conrat starb 1374, und sein Sohn
Peterman war sein Erbe, dazu bestimmt, den
Grund für die künftige erhabenere Stellung des
Hauses zu legen. Schon seine Heirath mit Mar-
garetha Marschalk, aus altem ritterlichem Ge-
schlechte, öffnete ihm dazu den Weg« Sofort
nach seines Vaters Tod trat er in den Rath,
doch nicht mehr wie jener als Zünftiger, son-
dern als Achtbürger, als Mitglied der hohen
Stube. Es ist nicht bekannt, in welcher Weise
ein solcher Uebertritt geschah. Reichthnm and
politische Bedeutung waren es wohl, die ihn
veranlaßten und rechtfertigten; vielleicht war er
Bedingung, vielleicht Folge der Heirath mit
Vischer-Merian, Henman Sevogel von Basel. 1649
Margarethä Marschalk, jedenfalls aber von höch-
ster Bedentnng für Stellung nnd Geschick des
Hauses. Peterman Sevogel gehörte von nun an
einem ganz neuen Kreise von Menschen, An-
schauungen, Rechten und Pflichten an. Diese
Veränderung der Stellung ist natürlich von Ein-
fluß auch auf den Bestand der Quellen, und
zwar so, daß die Nachrichten derselben über die
einzelnen Träger des Namens jetzt eher seltener
fließen als über die frühern Sevogel und jeden-
falls anderes enthalten. Von jenen stammen
zahlreiche Urkunden über Kauf und Tausch und
Fröhnung von Grundstücken, Häusern, Zinsen:
Zeugnisse ihres auf Erwerb gerichteten Lebens;
— bei diesen verstummen die Quellen beinahe
völlig in dieser Richtung, und anderes tritt zu
Tage; wenn auch die Menge der gemeldeten
Thatsachen vielleicht geringer ist, so erlauben
dieselben doch einen giltigen Schluß über das
ganze Handeln und Treiben der Betreffenden.
So auch mit Peterman Sevogel. Seiner Standes-
veränderung entsprach, daß seine hauptsächliche
Thätigkeit nun dem Rathe, dem Gerichte, den
anderweitigen Beamtungen gewidmet ward; mit
ihr im Zusammenhang stand auch der Erwerb
einer ritterlichen Wohnung, des schon genann-
ten Wildensteins. Denn wenn auch Peterman
selbst dem Ritterstand nicht angehörte, so war
doch seine Gemahlinn ritterbürtig, und erhoffte
er dies für seine Nachkommen. Um so erwünsch-
ter war der Familie, jetzt schon rittermäßigen
Besitz zu erwerben. Schloß und Berg Wilden-
stein waren Eigenthum der Domprobstei Basel
und von ihr erbliches Lehen eines Zweiges der
von Eptingen. Von ihnen kamen sie an die von
Baden, von diesen an das Deutschordenhaus
Beuggen. Diese Gomthurei nun verkaufte das
104
1650 Gott, gel. Anz. 1880. Stück 52.
Got 1388 an Petennan Sevogel, welcher sodann
in den folgenden Jahren es durch weiteren An-
kauf umliegender Güter zn einem stattlichen Be-
sitz abrundete. Aber schon 1398 starb er, noch
im besten Mannesalter, und hinterließ einen ein-
zigen Sohn, Bernhard. Ueber diesen wird nur
weniges und unbedeutendes berichtet Auch er
hatte den Sitz im Bath inne, lebte wohl meist
auf dem Wildenstein, und starb frühe 1418 oder
1419. Seinem, wiederum einzigen, Sohne Hen-
man war es vorbehalten, dem Namen Sevogel
einen weithin schallenden Klang zn verleihen.
Dies jedoch nicht durch die Thaten seines nicht
lange dauernden Lebens; dieselben sind ohne
wesentliche Bedeutung. In den Bath wurde er
nur einmal gewählt, Schloß Wildenstein war
seine bleibende Wohnung, hier weilte er mit
Vorliebe. Von den Verhältnissen der Stadt löste
er sich immer mehr ab, er veräußerte Besitz-
ungen, die dort lagen, und erwarb Güter in der
Nähe seiner Burg. Das Leben eines Junkers
auf dem Lande scheint ihm völlig behagt zu
haben. Wenn wir ihn in der Stadt antreffen,
so ist es das eine Mal bei einer Schlägerei in
der adlichen Trinkstube, das andere Mal bei
einem Proceß, den er mit einer Klosterfrau zu
führen hat. Alle andern urkundlichen Nach-
richten beziehen sich auf Verhältnisse seines
Besitzes in der Landschaft, Verhandlungen mit
seinen Pächtern, Erwerb von Gütern n. 8. w.
Daß er einmal einen Basler, an welchen er An-
sprache zu haben meinte, der Freiheit zuwider
vor den Dinghof zu Bubendorf lud, anstatt ihn
vor dem Schultheißen zu Basel zu suchen,
?™a * iauch aus 8einem Selbstbewußtsein als
st&rfn! u 2? und aus der Abneigung gegen
städtisches Wesen entsprungen sein. Im Baths-
Vischer Merian, Henman Sevogel von Basel. 1651
buche wird sein Name oft genannt, meist ohne
Angabe der Sache ; wo diese angeführt wird, ist
es immer ein Zwiespalt zwischen dem Rath und
dem stolzen Schloßherrn. Alle diese Verhält-
nisse fanden ihr Ende, ihren Ausgleich, ihre
Versöhnung im Jahre 1444. Beim Herannahen
des Dauphins wurde Henman Sevogel zum
Hauptmann der in Liestal liegenden Baslerischen
Besatzung ernannt. Zu ihm stießen die von
Farnsburg entsendeten Eidgenossen; der Politik
Basels gemäß mußte er sie vom Angriffe des
Feindes abzuhalten suchen; als dies nicht ge-
lang, konnte eine Natur wie die seine nicht zu-
rückbleiben. Er schloß sich ihnen an, seine
Ehre zu retten, anbesorgt um Settung seines
Lebens, ja des Todes gewiß. Mit den andern
fiel auch er bei S. Jacob und erlöste mit ihnen
seine Vaterstadt. Die Wittwe, Gredanna von
Eptingen, und der minderjährige Sohn Hans
Bernhard blieben auf dem Schlosse Wildenstein ;
aber das Verhältniß zur Regierung scheint auch
jetzt kein gutes gewesen zu sein; ja man darf
sogar glauben, daß Hans Bernhard das Bürger-
recht verwirkt habe. Denn 1452 wurde es ihm
wieder geschenkt, um der Verdienste seines Va-
ters willen. Der Friede schien damit hergestellt
zu sein, und Hans Bernhard wurde selbst in den
Bath gewählt Da ereignete sich ein unglück-
licher Vorfall, Hans Bernhard tödtete im Tur-
nier den Hans Waltenhein, auch aus patricischem
Geschlecht, und damit begann der Zwiespalt
von neuem. 1463 ward er geschlichtet, ,Hans
Bernhard erhielt die Vogtei Waidenburg, 1464
trat er wieder in den Rath und blieb darin,
1471 starb er. Das Bild seines Lebens ist ein
unerfreuliches ; es glich in manchem demjenigen
104*
1652 Gott. gel. Anz. 1880, Stttck 52.
seines Vaters, aber es hatte nicht wie jenes
einen großartigen Ausgang, der alles gut machte.
Mit Hans Bernhards Kindern erleseh das Ge-
schlecht. Der Sohn Bans Heinrieb wird nur
weaig erwähnt, und nicht in rühmlicher Weise.
Streit mit der Stadt war auch ihm ah Erbe
zugefallen, mit seiner Schwester Veroniöa und1
ihrem Vormund lebte er ebenfalte in Feind-
schaft; er ward gefangen gesetzt, nur gegen
Drfebde freigegeben. Damit verstummt ober
ihn und das Geschlecht jegliche Kunde. Vero-
nica vermählte sich mit Jacob vo» Hertenstein,
dem nachmaligen Schultheißen von Luzern. Aber
noch eipmal taucht der Name Sevogel auf, in
recht seltsamer Weise. Ein Reisender meldet»
wie er 1483 au Cairo unter den Mameluken
einen (Conrat) Sevegel aus Basel getroffen habe.
E» ist nieht aufgeklärt, in welchem Verhältnis
dieser zu der Familie Henmans standi Viel-
leicht daß er einem Nebenzweig angehörte, von
welchem hie und da Spuren sich finden; eigen-
thttmlioh ist es auf jeden Fall, den Namen im
fernen Osten unter den Heiden verklingen zu
hören.
So verlief die Geschichte des Hauses Se-
vogel. Ihre einzelnen Momente sind vorwiegend
localer Natur, aber das gesammte Bild hat et-
wa» typisches. Denn wohl in den meisten
Städten des deutschen Mittelalters ist* die En*
wickelung fieser Familien ein» entsprechende.
In Basel selbst können Gescblfeebter namhaft
gemacht werden, die sich ganz ähnlieb empor-
Pf^tet haben : die Zscheckabürlin und nament-
M* die Offenburg. Und dasselbe muß auch
anaerawo der Fall sein. Im 14. Jahrb. treten
aie ersten Träger des Namens auf, sie treibe»
Vischer-lfcrian, Henman Sevogei von Basel. 1653
Geschäfte als Krämer and Wechsler, sie erwer
ben Geld und damit Ansehen ; zum Ansehen des
Reichthums gesellt sich bald die Würde der po-
litischen Thätigkeit, and dadurch ist der Ein-
tritt in eine höhere gesellschaftliche Sphäre all-
mählig ermöglicht, im 15. Jahrh. meist ver-
wirklicht. Was als Bürger begann heißt jetzt
Janker and lebt als solcher. Das ist aber auch
meist das Ende der Existenz; mit dem 16. Jh.
erhebt sich eine ganz neue Schicht des Bttrger-
thams, and jene alten Geschlechter verschwin-
den. So auch die Sevogei; ihr Aasgang zeigt
sowohl einen Verfall der Persönlichkeit als auch
einen Ruin der äußern Umstände. Und da fra-
gen wir billig: welchen Werth, welche höhere
Bedeutung hatte aber der Held des ganzen Ge-
schlechtes and die Hauptperson dieses Baches,
Henman? Er hat ein im Grande unbedeuten-
des Leben gelebt, das Leben eines nicht sehr
begüterten Jankers damaliger Zeit, wie es viele
gab and wie die meisten rahm- and sparlos da-
hingegangen sind. Daß bei ihm dieses Dahin-
gehen nicht ein gewöhnliches war, ist sein
Glück; es gab ihm einen historischen Namen,
den er sonst nie and nimmermehr verdient hätte.
Alle Nachrichten über sein Leben zeigen ihn
uns als einen Mann von herrischem, raschem
and anbekümmertem Geist, aber nirgends be-
richten sie, daß er etwas wesentliches leistete.
Im gewöhnlichen Leben war ihm kein Anlaß
zu ersprießlicher Thätigkeit gegeben, erst am
Tage der Schlacht bot sich die Gelegenheit;
daß er sie hier ergriff and ohne Zandern in den
Tod ging, lag aar in seiner Natur. Aber der
so heldenmüthige Untergang hat ihm einen
Nimbus verliehen, der bis heute strahlt, and
1654 Gott gel. Auz. 1880. Stück 52.
seinen Namen zum beliebtesten des Volkes ge-
macht.
Dies der Inhalt des Vischer'schen Buches.
Dem Texte folgt ein umfassender Anhang, worin
urkundliche Belege, sowie Regesten mitgetheilt
sind. Von jenen begrüßen wir das Weisthum
der Wechsler von 1289, die Wachtordnung von
1374, den Stenerrodel von 1401, and den Aus-
zug ans dem Reisebericht des Andrea Gattaro
als besonders schätzbare Gaben.
Ueber die Behandlung des Stoffes brauchen
wir nur weniges beizufügen. Die Darstellung
ist frisch, oft geistreich, sorgfaltig stäts auf die
Quellen zurückgeführt, aber nicht immer mit
genügender Unterscheidung des in den Text
und des in die Anmerkungen oder in den An-
hang gehörenden, so z. B. die Ausführung über
Geldverhältnisse auf S. 23 und 36. Auch die
Wiedergabe der Urkunden hätte etwas conse-
quenter sein dürfen, namentlich was die Ma
iuskel und Minuskel und die Vocalzeichen an-
belangt.
Zum Schlüsse noch ein Wort über die äußere
Gestalt des Buches. Dieselbe ist für sich allein
schon Gegenstand der Besprechung gewesen, so
daß ich mich kurz fassen kann. Es ist viel-
leicht das erste Buch, welches streng wissen-
schaftlichen Werth hat und zugleich in seiner
äußern Form einen so ästhetischen Genuß be-
reitet. Dazu dient sowohl die vorzügliche tech-
nische Ausführung des Papiers, des Drucks, der
Fertigstellung, als die reiche und gehaltvolle
Illustration (34 Holzschnitte, 2 Radierungen und
2 Lichtdrucke, die beinahe sämmtlich, ausgenom-
men die n. 14. 16. 20., gut gewählt und ausge-
zeichnet wiedergegeben sind). Dieselben ver-
Lemme, Religio nsgesch. Bed. des Dekalogs. 1055
eint verleihen dem Buche ein eigentümliches,
höchst vornehmes Aussehen, welches die ge-
rühmte Schönheit der heutigen sog. Prachtwerke
weit übersteigt.
Basel. Rudolf Wackernagel.
Die religionsgeschichtliche Bedeu-
tung des Dekalogs. Prolegomena zu einer
alttestamentlichen Lehre von der Sünde. Von
Lie. Ludw. Lemme, Privatdocent und Inspek-
tor des Johanneums zu Breslau. Breslau, Louis
Köhler, 1880. XVI. 148 S. 8°.
Die alttestamentliche Kritik ist in einer Um-
wälzung begriffen. Die Gesammtauffassung der-
selben richtet sich nämlich zum guten Theil dar-
nach, wie die Entstehung des Pentateuchs ge-
dacht wird. Während nun noch vor wenigen
Jahren die sogen. Graf sehe Hypothese das Ge-
meingut Einzelner war, hat diese Ansicht von
der Entstehung der alttestamentlichen Urkunden,
welche das früher angenommene Verhältniß der
den Pentateuch konstituierenden Quellen nahezu
umkehrt, in den letzten Jahren entscheidend an
Boden gewonnen. Nachdem schon Duhms auf
Kuenen fußende Arbeit über die Theologie der
Propheten für die Ansicht einen wichtigen Be-
weis aus der Prophetie erbracht hatte, hat sich
Wellhausen (Geschichte Israels, l.B. Berlin 1878)
das Verdienst erworben, der Hypothese eine all-
seitige kritische und geschichtliche Begründung
zu geben, die von Kautzsch (Theol. Literatur-
zeitung 1879. S. 25 ff.) als durchschlagend an-
1656 Gott. gel. Auz. 1880. Stück 52.
erkannt wurde. Freilieb konnte der Ton, in
dem W. die einschlägigen Dinge behandelte,
wie die Art der Würdigung der alttest^njentli-
chen Religion bei vielen das Bedenken wach-
rufen, ob diese Hypothese nicht den Offenba-
rungsgehalt des alten Testaments aufhebe, und
ob sie daher überhaupt für die Theologie ac-
ceptabel sei ; und so hat W. sicher eben so viele
zurückgeschreckt als gewonnen. Seine Resul-
tate werden sich ferner $n dpa meistep Punk-
ten Correkturen oder Begrenzungen gefallen
lassen müssen. Aber das bleibende Verdienst
darf ihm nicht abgesprochen werden, mit rück-
sichtsloser Offenheit der Sache auf den Grund
gegangen zu sein ohne Reserve und ohne Ver-
schleierungen und so der alttestamentlichen Kri-
tik die Basis gewonnen zu haben, auf der eine
gedeihliche Weiterarbeit möglich ist.
Nach der kritischen Ansicht der Graf sehen
Hypothese ist nun, wenn die Entstehung des
Deuteronomiums unter Josia als fester Punkt
genommen wird , die jahvistische Quelle in der
Zeit der ältesten Prophetie, von der wir schrift-
liche Urkunden besitzen, entstanden, dagegen
ist die früher sogenannte Grundschrift oder der
Priesterkodex, der die kultisch-rituelle Gesetz-
gebung enthält, ein Produkt der mit dem Exü
eingetretenen Entwicklung de* alttestamentli-
chen Religion, die Tora ist zum Abschluß und
zur geschichtlichen Einführung gekommen durch
tmA Hllf nach 8tebt das Gesetz nioht am An-
iang der Entwicklungsgeschichte <fcs alten Bun-
ttJL 80nder?. in der Ph^se derselben, die den
ueoergang büdet zur Period des Levitisinus.
set7^ 1 .diese Ansicht als bewiesen voraus-
setzen konnte, stellte sich ip dem vorlegenden
Lernuie, Religionsgesch. Bed. des Dekalogs. 1657
Buche far mich die Frage nach dem Ausgangs-
Sunkt der alttestamentüchen Religionsgeschicht*.
lebmen wir die Schriften der Propheten als
feststehende Basis der Untersuchung, so fragt
sich einerseits, was sie als vorhanden voraus-
setzen, andererseits, wie weit sie Neuschöpfer
4er von ihnen vorgetragenen Ideen sind. Läßt
sich verständiger Weise ein ans dem Volke
hervorgegangener Prophet wie Arnos nur als
Repräsentant der im judäischen Volke lebenden
Religiosität ansehen, und ergiebt sich ans 4er
gesammten Prophetie ein fester Gemeinbesitz
eines im Volke wurzelnden Grundstocks religiö-
ser Ueberzeugungen und Anschauungen, so fragt
sich, wo der Anfang derselben zu setzen ist,
and ferner, wenn dieser nach allen Ueberliefo-
rungen des alten Testaments in Mose liegt, ob
wir ein in seine Zeit zurückreichendes Zeugnjß
von ihm besitzen, das uns einen Einblick in
den Gehalt seiner religiös-ethischen Ueberzeu-
gungen und den Inhalt seines Wirkens zu ver-
schaffen geeignet ist. Das ist die Frage, deren
Beantwortung ich mir in dem vorliegende»
Buche zur Aufgabe machte, die Frage nachdem
ursprünglichen Gehalt des Mosaismus und damit
zugleich, da die ursprünglich treibenden Ideen
zugleich das Wesen jeder Religion charakteri-
sieren, nach dem Wesen der alttestamentUcben
Religion. Ein authentisches Denkmal der Reli-
gionsstiftung Moses aber besitzen wir in dem
Dekalog. Und indem ich den Nachweis er-
brachte, daß dieser in der Ex. 20 vorliegenden
Form abgesehen von einigen späteren Zusätzen
und Veränderungen in seinen wesentliche»
Grundbestandteilen als mosaisch angesehen wer-
den muß, machte ich es mir zur Aufgabe, den
Gehalt der religiösen und sittlichen Ansobawm*
1658 Gott. gel. Anz. 1880. Stück 52.
gen Moses ans dem Dekalog zu entwickeln. Ich
trete hiermit in Gegensatz zu dem herrschenden,
auch in Herrn. Schultz' alttestam. Theologie be-
folgten Verfahren, welches die Bedeutung Moses
durch eine ganz unzuverlässige Auswahl aus
den geschichtlichen Berichten festzustellen unter-
nimmt, indem nach willkürlichen Gesichtspunk-
ten das vermeintlich Sagenhafte von dem ver-
meintlich Geschichtlichen unterschieden wird,
— wobei der Dekalog vielfach an einem ganz
andern Ort als die Thätigkeit und Bedeutung
Moses zur Besprechung kommt. Erst wenn der
Dekalog als ein Geistesprodukt des Mose er-
wiesen, und der Inhalt der durch ihn vermittel-
ten Gottesoffenbarung wie die Bedeutung seines
Werks aus einem genuinen Zeugniß Moses selbst
festgestellt ist, ist eine wissenschaftliche Basis
für die Untersuchung gewonnen.
In erster Linie bedurfte es freilich einer
Sichtung und Läuterung der traditionellen Vor-
stellungen von dem Sinn der einzelnen Worte
des Dekalogs, die hier um so nöthiger war, je
leichter bei einem Objekt des katechetischen
Unterrichts der Mißverstand zur Herrschaft
kommt. So wird gewöhnlich, obgleich die Will-
kür dieser Auslegung auf der Hand liegt, das
zweite Wort („Du sollst dir kein Bild, das am
Himmel oben und auf der Erde unten und im
Wasser unter der Erde ist, zum Idol machen!")
von der bildlichen Verehrung Jahves verstan-
den, während es einzig auf Creatur Vergötterung
in dem Sinne der abgöttischen Verehrung von
Jahve untergeordneten Naturkräften gedeutet
werden kann. So wird weiter das dritte Wort
(„Du sollst nicht deines Gottes Jahve Namen
zum Nichtigen, Eitlen hintragen !a) vorwiegend
von „fluchen, schwören, lügen, trügen" verstan-
Leuime, Religionsgescb. Bed. des Dekalogs. 1659
den, während es, da „Jahves Name" nach alt-
testamentlichem Sprachgebrauch Gott selbst nach
der Offenbarungsseite seines Wesens, nach sei-
ner Immanenz in der Welt ist, einzig auf aber-
gläubische Handinngen gehen kann, durch
welche die göttlichen » in der Welt wirkenden
Kräfte Gottes in den Dienst des Menschen ge-
stellt und seiner Weltbeherrschung eingeordnet,
also der nichtigen, eitlen, vergänglichen Creatur
gleichgestellt werden. Erst auf Grund dieser
grammatisch-historischen Erklärung läßt sich
der religiöse Gehalt der drei ersten Worte des
Dekalogs völlig würdigen : die in ihnen liegende
Gottesvorstellung ist die der freien, selbstkräfti-
gen, der Welt schlechthin überlegenen Persön-
lichkeit, welche die Natur und den Weltlauf ab-
solut beherrscht, welche diese Herrschaft in
einer grundlegenden Heilsthat der Erlösung,
durch die das Volk Israel zu Jahves Volk ge-
worden ist, bethätigt hat, und welche so ein
alleiniges und ausschließliches Anrecht auf die
Verehrung desselben hat. Auf der Basis dieser
Gottesvorstellung wird in den drei ersten Wor-
ten des Dekalogs als Sünde vom Boden Israels
jede religiöse Aktivität ausgeschlossen, die ein
irgendwelches Wirken auf die Gottheit präten-
dierte, so daß das wirkliche Abhängigkeitsver-
hältniß zu Gott in eine Abhängigkeit Gottes
vom Menschen umgekehrt wurde, sei es 1) in
der freien Wahl des Gegenstandes der Ver-
ehrung oder 2) in der selbstthätigen Bildung
des sinnlichen Objekts der Anbetung oder 3)
in der willkürlichen Benutzung der göttlichen
Kräfte für die eigenen Zwecke. Dem direkten
religiösen Verhältniß zu Gott (als einem Verb,
schlechthinniger Abhängigkeit von dem Herrn
Himmels und der Erde) entspricht die im vier-
1660 Gott, gel. Anz. 1880. Stück 52,
ten Wort des Dekalogs („Gedenke des Bah*
tags, ihn zu heiligen" u. s. w.) geforderte
„Ruhe für Jahveu. Und indem so die mosai-
sche Gottesidee ausschließende Stellung nimmt
gegen jede heidnische Religiosität, erlangt hier
der Mensch wahrhafte Freiheit gegenüber der
Welt, insofern er sich eins weiß mit einem Gott)
der die Natur und den Weltlauf absolut selbst
kräftig beherrscht und darum auch seinen Ver-
ehrern die Unabhängigkeit von der Welt m
gewährleisten im Stande ist: für seine Weltbe-
herrschung wird also der Mensch einerseits asf
die Hingabe an Gott, andererseits (im vierten
Wort) auf die Arbeit verwiesen. Ueberschreitet
so die mosaische Gottesidee schlechtbin das Ni-
veau jeder heidnischen Gottesvorstellung, so
muß auch die Verehrung Jahves einen von der
heidnischen Gottesverehrung verschiedenen Cha-
rakter annehmen. Wo die Gottheit in Analogie
mit der menschlichen Gattung aufgefaßt wird,
also noch nicht frei ist von sinnlichen Bedürf-
nissen, ist das Opfer als Gabe an die Gottheit
notbwendig in dem Sinne der Befriedigung der
sinnlichen Seite ihres Wesens. Indem die mo-
saische Gottesvorstellung von Jahve als dem
Herrn Himmels und der Erde, der nicht in die
Welt verflochten ist, jede sinnliche Natorseite
abstreift, fallen auch alle sinnlichen Bedürfnisse
weg, die kultischen Leistungen verlieren ihren
objektiven Werth für Gott, und die Gottesver-
ehrung bekommt rein ethischen Charakter, in-
dem von religiösem Gesichtspunkt ans eine im
Dienst Jahves zu leistende Aktivität einzig in
Beziehung auf die gottgeweihte religiöse Ge-
weinschaft gefordert wird. So werden im De-
kalqg keinerlei Forderungen kultischer Art ge-
stellt, dem Sabbath, dessen Feier in voraosii-
Lemme, Religionsgesch. Bed. des Dekalogs. 1661
ftfcer Zeit kultischen Inhalt hatte, wird vielmehr
torch Mose eine andere den religiösen Grund-
danken desMosaismus entsprechende Deutung
geben. Die Hingabe an Gott, die der Deka-
wg fordert, besteht principiell nicht mehr in der
Därbringung einer äußeren, für Gott werthvollen
Habe, sondern (wie das schon im vierten Wort
«mm Ausdruck kommt, in dem sich der Ueber-
gang von den religiösen zu den sittlichen Vor-
acbriften vollzieht) in einer ethischen Selbst-
Mngabe, die ruht auf dem Selbstverzicht gegen*
ttfcer der nicht mehr blos als Bethätigungsgebiet
dtes Egoismus, sondern als Ort der Gottesherr«
Schaft angesehenen Welt. Die Verehrer Jahves
müssen ihre Religiosität bethätigen in der Er-
batltung und Förderung der religiösen Gemein*
Schaft als dem Ort der Jahve- Verehrung, in
dem Gottes Selbstzweck in der Durchsetzung
seiner Herrschaft auf Erden sich verwirklicht,
wie denn die letzten sechs Worte des Dekalogs
einzig das Handeln der Israeliten auf die Ge-
meinschaft Israels zu regeln bestimmt sind.
(Der „Nächste", der geliebt werden soll, ist im
A. T. nur der Volksgenosse). Sünde in sittlicher
Hinsicht ist die willkürlich sich selbst gegen die
Erhaltung und Behauptung der Gemeinschaft
durchsetzende Autonomie des Naturtriebs, die
des Selbstzweck höher stellt als die Zwecke der
Gemeinschaft. Und die letzten sechs Worte des
Dekalogs haben darum den Zweck, den die
Sehranken der Gemeinschaft durchbrechenden
Egoismus, der sich durchsetzt in der zügellosen
Entfesselung der Triebe, vom Boden Israels als
Sünde auszuschließen. So bekommt durch Mose
die alttestamentliche Religion im Unterschied
von allen heidnischen Religionen rein- ethischen
Charakter; sie bestimmt sich in Mose als dieReli-
1662 Gott gel. Anz. 1880. Stttck 52.
gion der Negation der Sünde, als die sie
nothwendige und unerläßliche Vorstufe der al
solnten Religion, des Christenthums, ist.
Im Vergleich mit der von Mose ausgehend«
und in ihm wurzelnden späteren Entwickeln]
der alttestamentlichen Religion bezeichnet
im Dekalog enthaltene Auffassung der Go1
idee und der ihr korrekten Gottesverehrung
höchste Höhe der religiösen Erkenntnis
A. T.'s überhaupt, die bleibend den tieferen Ge-j
halt der alttestamentlichen Religiosität aos-|
machte und bestimmte. Diese von mir zur Gel-|
tung gebrachte Ansicht, die in Widerspruch tritt)
zu der Neigung, den Kanon des Fortgangs vom
Niederen zum Höheren auch auf das Verhältnis
Moses zur Folgezeit anzuwenden, entspricht dem
von Schleiermacher zur Geltung gebrachten
Grundsatz, daß das Wesen der Religionen an
reinsten an ihrer Quelle zu Tage trete. Dieser
Grundsatz wird formell fast allgemein als rich-
tig anerkannt, aber sachlich fast nnr hinsicht-
lich des Chris tenth ums verwerthet. Es läßt sich
jedoch auch für die alttestamentliche Religion
eben aus dem Dekalog, als der Gründungsur-
kunde und dem großartigsten Denkmal dersel-
ben, der Beweis erbringen, daß ihr wahres We-
sen am vollendetsten und reinsten an ihrem Ur-
sprung, in ihrer Stiftung durch Mose zu Tage
getreten ist.
Nach dem Dekalog besteht die Leistung Mo-
ses wesentlich darin, daß er vermöge einer ur-
sprünglichen Gottesoffenbarung Israel über die
F« kJ^o8*011 hina»sgeführt und vermöge der
a3 Dng einer ^bischen Gottes- und Welt-
hpft „Ä ein neues Verhältniß zwischen Gott
wort« ^ Me.n?chheit begründet hat. Die Zehn-
™> aie sich nirgends als Gebote gesetzlicher
Hierame, Religionsgesch. Bed. des Dekalogs. 1663
Art geben, sondern wesentlich den Charakter
: religiös-sittlicher Mahnrede tragen, sind nicht
'Gesetzesparagraphen, sondern Lebensworte eines
Seligionsstifters. Mose ist deshalb zu würdigen
Triebt als Urheber einer Staatsverfassung, nicht
als Gesetzgeber, sondern als der größte grund-
legende Prophet des alten Bundes: sein. Werk
ist wesentlich anzusehen als Religionsstiftung.
Das durch ihn erst zu einer Nation gewordene
Volk Israel wird, indem es als Volk Träger der
religiösen Idee sein soll, umgesetzt in eine re-
ligiöse Gemeinde.
Aber indem der Dekalog die religiös-sittlichen
Normen gab, die das Leben des Volks regeln
sollten, trat derselbe hierdurch doch in Analogie
mit rechtlichen Bestimmungen, und so war die
Vermischung der religiös-sittlichen Forderungen
mit dem juridischen Gebiet unvermeidlich. Dazu
kam, daß im Dekalog selbst schon eine Forde-
rung zeremonialer Art enthalten ist, nämlich die
Forderung der Sabbathruhe des siebenten Ta-
ges. Indem diese in Eine Reihe tritt mit rein
religiösen und rein sittlichen Forderungen, die-
sen also scheinbar gleichwerthig ist, so liegt im
vierten Wort des Dekalogs die Wurzel des Ze-
remonialgesetzes wie der Anfang zur Vermischung
des Religiös-Sittlichen mit der kultisch-rituellen
Zeremonialgesetzgebung. Trotz jener Hoch-
schätzung des Dekalogs ist also auch anzuer-
kennen, daß in ihm die Keime vorliegen, die
zu dem die geschichtliche Erscheinung der alt-
testamentlichen Religion bezeichnenden Ineinan-
der des Religiös-Sittlichen und des Juridischen
und Zeremonialgesetzlichen führen mußten. Selbst
, jedem gesetzlichen Maßstab überlegen als der
reine Ausdruck der mosaischen Religiosität und
Sittlichkeit, trägt der Dekalog doch die Wurzel
1664 G»tt gel. Anz. 1880. Stück 52.
des Gesetzes in sich, zu dem HiLspätere Ent-
wickelung der alttestamentlichen Religion ge-
führt hat und führen mußte.
Ich beschränke mich darauf, nur die wich-
tigsten Grundgedanken wiederzugeben, für die
ich in meinem Buche die Beweise zu erbringen
gedachte. Ob man dieselben als durchschlagend
anerkennt, das hängt nicht nur von einer mit
der Rücksichtnahme auf den Ideengehalt des
ganzen A. TVs Handln Hand gehenden Würdi-
gung der Zehn worte "ab, sondern auch von der
historischen Auffassung der Periode, welche der
Gründungszeit der alttestamentlichen Religion
folgte. Kann man diese von Mose bis zum Kö-
mgthum reichende Periode, Über welche uns die
dem Buch der Richter zu Grunde liegende alte
Quelle den besten Aufschluß giebt, nicht als
eine Zeit religiöser Produktivität, sondern nur
als eine Zeit religiösen Verfalls ansehen, so oral
der höhere Gehalt ji er israelitischen Volksreftgion,
den dfe jahvistische Urkunde und die propheti-
sche Literatur als überlieferten Besitz Israels
erkennen lehrt, in%die vor jener Periode liegende
Zeit zurückreichen. Eine Vergleichung nament-
lich der älteren ProBhetie mit dem Gehalt des
Dekalogs bestätigt durchweg die von mir ge-
wonnenen Resultate. *
Breslau. L. Lemme.
(Schluß des Jahrgangs 1880.)
Fttr die Redaction verantwortlich: E. Ethnisch, Director d. Gott. gel. Anr.
Verlag der DUtericNachm YMtw-BmckkamdkmQ.
Druck der Dieitrich'schm Univ.- Bttckdnutoni {W Jfr. Jfrcstar).
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